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John Henry Mackay Geſammelte Werke
Achter Band
Sr Geſammelte Werke
John Henry Mackay
Erſter Band: Gedichte Zweiter Band: Gedichte (Schluß) — Neue Gedichte Dritter Band: Kinder des Hochlands — Helene — Sturm Vierter Band: Moderne Stoffe — Die Menſchen der Ehe Fünfter Band: Die letzte Pflicht und Albert Schnells Untergang Sechſter Band: Zwiſchen den Zielen Siebenter Band: Der Schwimmer Achter Band:
Die Anarchiſten
Dieſe Gefamt- Ausgabe wurde im Sommer des Jahres 1911 in der Buchdruckerei von Wilhelm Hecker in Graͤfenhainichen in einer Auflage von 1200 Exemplaren gedruckt. Davon wurden 50 Exemplare auf hand⸗ geſchoͤpftem van Gelder (in acht Ganzlederbaͤnden ge⸗ bunden zu 120 Mark) abgezogen, die — handſchriftlich vom Verfaſſer numeriert und ſigniert — nur direkt von dem Verlage Bernhard Zack in Treptow bei Berlin, Kiefholzſtraße 186 zu beziehen ſind.
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Geſammelte Werke
von
John Henry Mackay
In acht Baͤnden
Achter Band:
Die Anarchiſten
Treptow bei Berlin Bernhard Zacks Verlag 1911
Die Anarchiſten
Kulturgemaͤlde aus dem Ende des XIX. Jahrhunderts
Von
John Henry Mackay
Treptow bei Berlin Bernhard Zacks Verlag 1911
Die Anarchiſten
Kulturgemaͤlde aus dem Ende des XIX. Jahrhunderts
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Vorwort zur Volksausgabe
Mit dem Erſcheinen einer wohlfeilen Volksausgabe meiner „Anarchiſten“ verwirklicht ſich mir ein immer gehegter Lieblingswunſch, den die Umſtaͤnde bei der Drucklegung des Werkes ſelbſt nicht zuließen und deſſen Erfuͤllung ſich ſeitdem alle jene Schwierigkeiten entgegen⸗ geſtellt haben, die bei der Ungunſt der heutigen Verhaͤlt⸗ niſſe jede freiheitliche Handlung zu einer Unmoͤglichkeit zu machen ſich verſchworen zu haben ſcheinen.
Die Schwierigkeiten ſind uͤberwunden und von neuem tritt, nachdem zwei Jahre vergangen, mein Werk an die Offentlichkeit, ſich heute vor allem an jene wendend, denen es bisher ſchwer zugaͤnglich geweſen iſt: an die deutſchen Arbeiter.
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Zu ihnen ein erſtes und vorausſichtlich auf lange hinaus letztes, kurzes Wort zu ſprechen, darf ich mir nicht verſagen. So feſt hat ſich in den deutſchen Arbeitern — mit dem Wachſen der ſozialdemokratiſchen Partei — im Verlauf der letzten Jahrzehnte die Überzeugung einge: wurzelt, daß die Befreiung der Arbeit, welche gleichbe— deutend iſt mit der Schwächung und dem Tod der Privi— legien des Kapitals, nur moͤglich iſt, wenn dies letztere
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den Händen des Einzelnen entzogen und auf dem Wege gewaltfamer Enteignung „Eigentum der Geſellſchaft“ ge: worden iſt, und ſo unerſchuͤtterlich ſcheint mir dieſer Glaube geworden zu ſein, daß ich nicht ſehe, was anders ſie von dieſem Irrtum abzubringen imſtande ſein koͤnnte, als die Erfahrung. Wie bitter dieſe Erfahrung und wie groß die Enttaͤuſchung ſein wird, ahnt nur der, der gleich mir weiß, daß jede Unterbindung wirtſchaftlicher Bewegungs⸗ freiheit zugleich eine Verſtaͤrkung des traurigen Zuſtandes gegenſeitiger Abhaͤngigkeit bedeutet.
Aber moͤge ſie gemacht werden, wenn es denn nicht anders fein kann!
Freilich: die großen Demagogen unferer Tage, die ſonſt ſo klein ſind, wird dann der Tod der ungeheuren Verantwortlichkeit, welche ſie auf ſich geladen, enthoben haben und vergebens werden ihre opferfreudigen Kaͤmpfer ſuchen, ſie zur Rechenſchaft zu ziehen fuͤr das, was ſie verſprochen und immer wieder — verſprochen.
Den Kindern dieſer Kaͤmpfer wird, vor die traurigſte Notwendigkeit geſtellt, nichts anderes uͤbrig bleiben, als ihr Heil endlich in der Freiheit, und nur in der Freiheit allein, zu ſuchen.
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Drei große Feinde hat der Arbeiter als Feinde zu erkennen und zu uͤberwinden: die Politiker, die Philan⸗ thropen und — ſich ſelbſt. Erſt wenn er eingeſehen haben wird, daß die Knechte, um die Herren zu verdraͤngen, nicht erſt ſelbſt zu Herren von Knechten geworden ſein muͤſſen und daß die Erreichung dieſes Zieles — des
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Zieles aller und jeder Politik — ihn um keinen Schritt ſeiner wirtſchaftlichen Befreiung naͤher bringt, da dieſe allein eine Folge harmoniſcher Entwicklung im ſozialen Organismus ſein kann; erſt wenn er ſich von jenen neuen und letzten Predigern einer alten, in ihren Todes⸗ zuckungen ſich noch einmal aufbaͤumenden Religion, den Weltverbeſſerern und Utopiſten mit den heißen Koͤpfen und den lauwarmen Worten, den Ethikern und Moraliſten jeder Art, losgemacht hat, die da alle nicht begreifen koͤnnen und wollen, daß es nicht die Menſchen, ſondern die Verhaͤltniſſe zu aͤndern gilt, aus welchen heraus die Menſchen „gut“ und „boͤſe“ werden; erſt wenn er durch und durch begriffen haben wird, daß nichts auf der Welt ihm zu helfen imſtande iſt, als er ſelbſt, und dieſe Er— kenntnis ihn zu neuen, durch kein „Klaſſenbewußtſein“ mehr getruͤbten, gruͤndlicheren Erwaͤgungen der Be— dingungen, unter denen er lebt und leidet, und damit zu ganz veraͤndertem und ausſichtsreicherem Handeln treibt, erſt dann, ſage ich, kann er hoffen, die Ketten ſeiner Abhaͤngigkeit zu brechen und von ſich zu werfen.
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Die Beſprechungen, welche meinem Werke und ſeinen Überfegungen fo reichlich zuteil geworden find, haben ihm nichts nehmen und mir nichts geben koͤnnen. Die Abſicht, auf einige derſelben zu antworten, gab ich auf; ich uͤberzeugte mich, daß der Liebe Muͤh' doch umſonſt ſein wuͤrde. Von den Kommuniſten wurden keine anderen, als die alten Argumente vorgebracht — daß ich ſie aufs neue widerlegen wuͤrde, durften ſie ſelbſt nicht erwarten;
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den profeſſionellen Kritikern der Literatur waren die hier behandelten Fragen voͤllig verſchloſſen — ein Verſtaͤndnis daher nicht zu erwarten; die große Tagespreſſe, die „Dirne der öffentlichen Meinung“, ſchwieg natürlich — fie wußte warum; und die meiſten von den Organen der ſozial⸗ demokratiſchen Preſſe, welche ſich das Werk unter aus⸗ druͤcklicher Zuſicherung einer Beſprechung von Zuͤrich ſenden ließen, kamen in ihrer feigen Servilitaͤt und jammervollen Abhaͤngigkeit noch rechtzeitig von einem Entſchluſſe zuruͤck, deſſen Ausführung an allerhoͤchſter Stelle ein nicht un⸗ begruͤndetes Mißfallen erregt haben wuͤrde.
Den wenigen, die ernſthaft geleſen, uͤber was ſie ſchrieben, dankte ich im ſtillen.
So ſchwieg ich auf alles. Nur ein einziges Mal ſchloß ich klatſchend einen ſchamloſen Mund, der die ungeheuerliche Luͤge gegen mich anwandte, zu ſagen, die revolutionären Kommuniſten ſeien von mir als Raͤuber und Moͤrder geſchildert worden, waͤhrend dieſes ganze Buch nur ein einziger Proteſt gegen den geſetzmaͤßigen Diebſtahl, den privilegierten Raub und den ſanktionierten Mord des Staates iſt. Daß ich heute — angefichts jo vieler ſtarrender Bajonette und raſſelnder Saͤbel — mehr als je von der voͤlligen Ausſichtsloſigkeit eines gewaltſam gefuͤhrten Kampfes fuͤr die Sache der Arbeit uͤberzeugt bin, bekenne ich ebenſo ungeſcheut, wie die ſtets neue Freude, welche ich empfinde, wenn ich hoͤre, daß es meinen Worten gelungen iſt, den einen oder andern vor unbe⸗ ſonnenem Vorgehen bewahrt, d. h. den Klauen der Ge— walt, der Verfolgung und dem Gefaͤngnis entriſſen und fuͤr die Taktik des paſſiven Widerſtandes — den ſiegreichen
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Kampf einer hoffentlich nicht mehr ſo fernen Zukunft — gewonnen zu haben. Wie berechtigt dieſe Frage iſt, wird mir dann am meiſten klar, wenn ich ſehe, wie unaus⸗ geſetzt weiter vom ſicheren Auslande her durch ebenſo unſinnige und toͤrichte, wie zweckloſe und feige Handlungen Sicherheit und Leben der „Genoſſen“ aufs Spiel geſetzt wird. Die Volksausgabe der „Anarchiſten“ iſt unveraͤndert geblieben. Bei einer Stelle empfand ich indeſſen die Verpflichtung, nicht ſie zu aͤndern, ſondern ſie ſo durch einige ergaͤnzende Zeilen zu erklaͤren, daß ſie hinfort keinem Mißverſtaͤndnis, welches einigemal glaubte ſich als Be— ſchuldigung gebaͤrden zu duͤrfen, mehr ausgeſetzt iſt.
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Ich habe auf die von vielen Seiten an mich gerich— tete Frage zu antworten: warum ich, um meinen Ideen eine weitere Verbreitung zu geben, nicht agitiere, nicht propagandiere, nicht in den Verſammlungen ſpreche und diskutiere, und vor allem, weshalb ich nicht auf dem einzigen Wege, auf dem die Mehrzahl der Menſchen heute allein noch erreichbar iſt, dem der Preſſe, zu ihnen gehe.
Ich erwidere darauf: weil ich es nicht kann; weil ich es nicht koͤnnte, auch wenn ich es wollte. Die Gaben der Menſchen ſind verſchieden. Ich bin ein Kuͤnſtler, vielleicht nicht „durch und durch“, denn mein Intereſſe gehoͤrt vielem im Leben, doch ſo manches laſtet auf mir, von dem ich mich, ich fuͤhle es, nur befreien kann in dichteriſchem Schaffen. Die Herausgabe und Leitung einer Zeitung aber wuͤrde mich toͤten, und ein Hervordraͤngen
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meiner Perſon in den lauten, rohen Kampf des Tages und ſeiner Meinungen waͤre mir vollends unmoͤglich.
Man erwarte alſo nichts von mir, als „von Zeit zu Zeit ein Buch“. Vielleicht, daß ich die hier begonnene Arbeit direkt wieder aufnehme; aber ſo lange die großen, klaren Grundlinien der Weltanſchauung des Anarchismus noch ſo wenig begriffen worden ſind, ſo lange der Boden, auf dem ſie ſich aufbaut, noch ein ſo unbetretener iſt, ſo lange noch immer wieder anzukaͤmpfen iſt gegen das voͤllige und in ſeiner Allgemeinheit beiſpielloſe Mißver⸗ ſtehen des Wortes allein, ſo lange draͤngt mich nichts zu umfaſſenderen und begruͤndeteren Darlegungen.
Moͤge daher vorerſt dies Werk noch einmal ſeine ungeſchwaͤchte Kraft erproben und das Bollwerk der Vor: eingenommenheit von neuem berennen, immer dieſelbe Stelle, bis ein Weg ſich oͤffnet.
Ich habe meine letzte Lanze fuͤr die Freiheit noch nicht gebrochen. Aber die Wahl meiner Lanzen, ich muß ſie mir immer vorbehalten.
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Das letzte Wort den Freunden der Freiheit: meinen bekannten, meinen unbekannten Freunden
Alles, ſie moͤgen davon uͤberzeugt ſein, wird auch hier getan werden, wenn die Zeit dazu gekommen iſt: mit den rechten Maͤnnern werden ſich auch die rechten Wege, und dann auch die Mittel, ſie zu beſchreiten, finden. Nach dem ſo glaͤnzend gegebenen Beiſpiel meines großen amerikaniſchen Freundes, deſſen Sein und Wirken allein ſchon genuͤgen muͤßte, um keinen Augenblick die
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Hoffnung ſinken zu laſſen, wird ſich auch hier eine Propaganda entfalten, gewiß aus kleinen Anfaͤngen heraus, aber unternommen und ins Werk geſetzt mit jener aus Wiſſen, Erkenntnis, Überlegung, Entſchloſſenheit, Zaͤhigkeit, und Mut geborenen Überlegenheit, welche zwar gelang— weilt und ermuͤdet, nicht aber entmutigt und beirrt werden kann, da ſie nicht zu uͤberreden, ſondern einzig und allein zu uͤberzeugen beſtrebt iſt.
Dann wird dieſes Buch ein Anfang geweſen ſein ... Das wuͤnſcht keiner heißer, als ich.
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Nur der verſteht die Freiheit, welcher ſie liebt. Wer ſie aber — und das iſt alle Zukunft — liebt als die Notwendigkeit ſeines Lebens, der muß ſie auch, durch alle Irrtuͤmer hindurch, verſtehen lernen .
Aus dem Wirrwarr und dem Widerſtreit der Meinungen hebt ſich klar, verſtaͤndlich, ſiegreich allein am Ende unſeres Jahrhunderts die Lehre von der Souveraͤnitaͤt des Indi— viduums.
Wer wagt es zu leugnen, daß ſie das Ziel aller menſchlichen Entwicklung iſt?
Barbarei und Knechtſchaft vergangener Zeiten haben uns endlich zu der Erkenntnis gebracht, daß Kultur und Ziviliſation erſt in jenem Zuſtand der Geſellſchaft ihre hoͤchſten Triumphe zu feiern imſtande ſind, in welchem mit dem letzten Vorrecht auch die Gewalt, die es ſchuͤtzte, der Staat, geſchwunden iſt: dem Zuſtande gleicher Freiheit, wo ein verfeinerter und hoͤchſtgeſteigerter Egoismus auch den letzten gelehrt hat, daß feine Freiheit waͤchſt und ab⸗
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nimmt mit der Freiheit des anderen, daß er in demſelben Maße unabhaͤngiger wird, als er ſeinem Naͤchſten erlaubt, unabhaͤngig von ihm zu ſein.
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Vergebens werden wir weiter verſuchen, uns den letzten Konſequenzen zu entziehen, zu denen die Logik des Denkens uns mit unfehlbarer Sicherheit und unaufhalt⸗ ſamer Kraft treibt.
Denn wir duͤrſten nach Gluͤck, dem Gluͤck auf Erden. Und nicht eher — den trüben Fanatikern des Kommunis⸗ mus, wie den ſchwankenden Machthabern der Gewalt gleich zum Trotz — werden wir ruhen, bis wir uns dieſes Gluͤck, welches die Freiheit iſt, errungen haben.
Berlin, im Fruͤhjahr 1893.
John Henry Mackay.
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Einleitung
Das Werk der Kunſt hat fuͤr den Kuͤnſtler zu ſprechen, der es ſchuf; die Arbeit des betrachtenden Forſchers, welcher hinter ihr zuruͤcktrat, erlaubt ihm zu ſagen, was ihn trieb, ſich zu aͤußern.
Der Vorwurf der Arbeit, die ich vollende, erlaubt mir nicht nur, ſondern verlangt von mir, ſie mit einigen Worten zu begleiten.
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Zuvor das eine: wer mich nicht kennt und in den folgenden Blaͤttern etwa ſenſationelle Enthuͤllungen in der Art jener verlogenen Spekulationen auf die Urteils- loſigkeit des Publikums erwartet, aus welchen dieſes ſeine ganze Kenntnis der anarchiſtiſchen Bewegung ſchoͤpft, der gebe ſich nicht die Muͤhe, uͤber dieſe erſte Seite hinaus zu leſen.
Auf keinem Gebiet des ſozialen Lebens herrſcht heute eine heilloſere Verworrenheit, eine naivere Oberflaͤchlich—
keit, eine gefahrdrohendere Unkenntnis, als auf dem des
Anarchismus. Die Ausſprache des Wortes ſchon iſt wie
das Schwenken eines roten Tuches — in blinder Wut
ſtuͤrzen die meiſten auf dasſelbe los ohne ſich Zeit zu
ruhiger Pruͤfung und Überlegung zu laſſen. Sie werden vin 2
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auch dieſes Werk zerfetzen, ohne es verſtanden zu haben. Mich werden ihre Stoͤße nicht treffen.
London und die Ereigniſſe des Spaͤtjahres 1887 haben mir als Hintergrund meines Gemaͤldes gedient.
Als ich im Anfang des darauf folgenden Jahres noch einmal fuͤr einige Wochen auf den Schauplatz zu⸗ ruͤckkehrte, hauptſaͤchlich um meine Eaſt End Studien zu vervollſtaͤndigen, ahnte ich nicht, daß gerade die von mir zu eingehenderer Schilderung gewaͤhlte Gegend durch die Frauenmorde Jack „des Aufſchlitzers“ bald nachher in aller Munde ſein wuͤrde.
Das Kapitel uͤber Chicago wurde nicht abgeſchloſſen, ohne daß ich auch das dicke Bilderbuch fuͤr große Kinder, mit dem ſeitdem der Polizeikapitaͤn Michael Schaack den infamen Mord ſeiner Regierung zu rechtfertigen ſuchte: „Anarchy and Anarchists“ (Chicago, 1889), einer Durch⸗ ſicht unterzogen haͤtte. Es iſt nichts weiter, als ein — nicht unwichtiges — Dokument ſtupider Brutalitaͤt ſowohl, wie raffinierter Eitelkeit.
Die Namen von Lebenden ſind von mir in bewußter Abſicht nirgends genannt; der Naͤherſtehende wird trotzdem faſt uͤberall unſchwer die Zuͤge erkennen, die mir Vor⸗
bilder geweſen ſind. 1 *
Zwiſchen der Niederſchrift des erſten und des letzten Kapitels liegen drei Jahre. Immer neu auftauchende Zweifel zwangen mich immer wieder, oft auf lange hinaus, zur Unterbrechung der Arbeit. Ich begann ſie vielleicht zu fruͤh; zu ſpaͤt beende ich fie nicht.
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Nicht jede Seite der Frage konnte ich erſchoͤpfen; meiſt war es mir nicht vergoͤnnt mehr zu geben, als die Schlußſaͤtze oft langer Gedankenreihen. Die voͤllige Unvereinbarkeit anarchiſtiſcher und kommuniſtiſcher Welt: anſchauung, die Zweckloſigkeit und Schaͤdlichkeit gewalt⸗ ſamer Taktik, ſowie die Unmoͤglichkeit irgend einer „Loͤſung der ſozialen Frage“ durch den Staat wenigſtens hoffe ich bewieſen zu haben.
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Das neunzehnte Jahrhundert hat die Idee der Anarchie geboren. In ſeinen vierziger Jahren wurde der Grenz⸗ ſtein zwiſchen der alten Welt der Knechtſchaft und der neuen der Freiheit geſetzt. Denn es war in dieſem Jahrzehnt, daß P. J. Proudhon die titaniſche Arbeit ſeines Lebens mit: „Qu'est-ce que la propriété?“ (1840) be⸗ gann und Max Stirner ſein unſterbliches Werk: „Der Einzige und ſein Eigentum“ (1845) ſchrieb.
Sie konnte vergraben werden unter dem Staube zeitweiligen Ruͤckſchrittes der Kultur. Aber fie iſt uns vergaͤnglich.
Sie iſt bereits wieder erwacht.
Seit zehn Jahren kaͤmpft in Boſton, Maſſ., mein Freund Benj. R. Tucker mit der unbeſieglichen Waffe ſeiner „Liberty“ fuͤr Anarchie in der neuen Welt. Oft habe ich in den einſamen Stunden meiner Kaͤmpfe meinen Blick auf das funkelnde Licht gerichtet, das von dort aus die Nächte zu erhellen beginnt. ..
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Als ich vor nun drei Jahren die Gedichte meines „Sturm“ der Offentlichkeit übergab, begruͤßten mich freund⸗ liche Stimmen als den „erſten Saͤnger der Aua
Ich bin ſtolz auf dieſen Namen.
Aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß es heute nicht ſo ſehr darauf ankommt, Begeiſterung fuͤr die Freiheit zu erwecken, als vielmehr von der unbedingten Notwendigkeit oͤkonomiſcher Unabhängigkeit, ohne welche ſie ewig der weſenloſe Traum der Schwaͤrmer bleiben wird, zu uͤberzeugen.
In dieſen Tagen der wachſenden Reaktion, die in dem Siege des Staatsſozialismus ihren Hoͤhepunkt er— reichen wird, iſt die Forderung unabweisbar fuͤr mich ge—⸗ worden, hier auch der erſte Verfechter der anarchiſtiſchen Idee zu ſein.
Ich hoffe, ich habe meine letzte Lanze fuͤr die Freiheit noch nicht gebrochen.
Rom, im Fruͤhjahr 1891.
Erſtes Kapitel Im Herzen der Weltſtadt
151 ber London hin begann ſich ein naßkalter Oftober-
abend zu breiten. Es war der Oktober desſelben Jahres, in welchem noch nicht fuͤnf Monate vorher jene albernen Feierlichkeiten der fuͤnfzigjaͤhrigen Regierungszeit einer Frau, welche ſich „Koͤnigin von Großbritannien und Irland und Kaiſerin von Indien“ nennen ließ, in Szene geſetzt waren, nach denen das Jahr 1887 das „Jubilee Year“ genannt wurde.
An dieſem Abend — es war der letzte einer Woche — ſuchte ſich durch wirre, enge und faſt leere Gaſſen ein Mann aus der Richtung von Waterloo Station her nach der Eiſenbahnbruͤcke von Charing Croß ſeinen Weg. Als er langſam, wie ermuͤdet von einem ſtundenweiten Gange, die Holztreppe, welche zu dem ſchmalen, neben den Schienen fich hinziehenden Fußgaͤngerpfad der Bruͤcke führt, hinauf: geſtiegen und ungefaͤhr uͤber der Mitte des Fluſſes an— gelangt war, trat er in eine der runden Ausbuchtungen nach der Waſſerſeite hin und ſtand dort eine Weile, waͤhrend er die Menſchen hinter ſich vorbeitreiben ließ. Es war mehr eine Gewohnheit als eigentliche Ermattung, die ihn Halt machen und die Themſe hinunterblicken ließ.
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Da er trotz feines bereits dreijährigen Aufenthaltes in London nur ſelten „jenſeits der Themſe“ geweſen war, fo verſaͤumte er nie, bei Überfchreitung einer der Bruͤcken den großartigen Anblick, den London von einer jeden unter ihnen bietet, wieder in ſich aufzufriſchen.
Es war noch eben hell genug, daß er bis nach Waterloo Bridge hin zu ſeiner Rechten die dunklen Maſſen der Lagerhaͤuſer und auf dem Spiegel der Themſe zu ſeinen Fuͤßen die Reihen der aneinandergekuppelten weitbauchigen Frachtkaͤhne und Floͤße erkennen konnte, doch flammten bereits überall die Lichter des Abends in das dunkle, gaͤhnende Chaos dieſer ungeheuren Stadt hinein. Wie parallele Linien zogen ſich die beiden Laternenreihen auf Waterloo Bridge hin und jedes der Lichter warf ſeinen ſcharfen, flimmernden Schein tief und lang nieder in die zitternde, dunkle Flut, waͤhrend zur Linken in terraſſen⸗ foͤrmigem Aufſtieg die ungezaͤhlten kleinen Flammen, welche die Embankments und den Strand mit ſeiner Umgebung allabendlich erhellten, aufzuleuchten begannen. Der ruhig Daſtehende ſah drüben auf der Bruͤcke die voruͤberhuſchen— den Lichter der Cabs; er hörte hinter ſich die Züge der Suͤdoſtbahn raſſelnd und droͤhnend in die Halle von Charing Croß hineinraſen und wieder hinaus; ſah unter ſich die traͤgen Wellen der Themſe mit faſt unhoͤrbarem Plaͤtſchern an der ſich tief herabziehenden dunkelſchwarzen Schlammaſſe lecken; und indem er ſich zum Weitergehen wandte, oͤffnete ſich vor ihm — von weißen Fluten elektriſchen Lichtes taghell durchleuchtet — die Rieſenhalle des Bahnhofs von Charing Croß, dieſer ae eines Tag und es nicht raſtenden Getriebes.
FRE. A
Er dachte an Paris, ſeine Heimatſtadt, als er langſam weiterſchritt. Welcher Unterſchied zwiſchen den breiten, flachen und hellen Ufern der Seine und dieſen ſtarren, ragenden Maſſen, auf welche ſelbſt die Sonne keinen Schimmer von Freude zu zaubern vermochte!
Er ſehnte ſich zuruͤck nach der Stadt ſeiner Jugend. Aber er hatte London lieben gelernt mit der leidenſchaft—⸗ lichen, eiferſuͤchtigen Liebe des Trotzes.
Denn man liebt London entweder oder man haßt es
Wieder blieb der Wanderer ſtehen. So hell war die rieſige Halle erleuchtet, daß er die Uhr an ihrem Ende deutlich erkennen konnte. Die Zeiger ſtanden zwiſchen der ſiebenten und achten Stunde. Das Leben auf dem Fußwege ſchien ſich verſtaͤrkt zu haben, als ob eine Menſchenwelle von diesſeits nach jenſeits hinuͤber ge— ſpuͤlt wuͤrde. Es war, als ob der Zoͤgernde ſich nicht losreißen koͤnne. Er betrachtete einen Augenblick das un— ablaͤſſige Spiel der Signalarme an dem Einfahrtspunkte der Halle; dann verſuchte er uͤber die Schienen hinweg und durch das Gewirr von Eiſenpfoſten und Waggons Weſtminſter Abbey mit ſeinen Blicken zu erreichen; aber er konnte nichts als das ſchimmernde Zifferblatt am Turm von Parliament Houſe erkennen und die dunklen Umriſſe gigantiſcher Steinmaſſen, welche ſich drüben er— hoben. Und uͤberall hingewirrt die tauſend und aber— tauſend Lichter
Wieder wandte er ſich nach der freien Seite, an welcher er vorher geſtanden hatte. Unter ſeinen Fuͤßen rollten dumpfbrauſend die Zuͤge der Metropolitan Railway hin; die ganze Weite des Viktoria Embankment lag bis
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Waterloo Bridge halbhell erleuchtet unter ihm. Starr und ernſt hob ſich die Nadel der Kleopatra in die Hoͤhe.
Zu dem Manne herauf drang das Lachen und Singen der Burſchen und Maͤdchen, welche allabendlich die Baͤnke der Embankments belegt halten. „Do not forget me — do not forget me“ war der Refrain. Ihre Stimmen klangen hart und ſchrill. „Do not forget me“ — uͤber⸗ all konnte man es im Jubilee Year in London hoͤren ... Es war das Lied des Tages.
Wer das Geſicht des eben über den Bruͤckenrand Ge: beugten jetzt beobachtet haͤtte, dem waͤre ein ſeltſamer Ausdruck von Härte nicht entgangen, der es ploͤtzlich be— herrſchte. Der Fußgaͤnger hoͤrte nichts mehr von dem verhaltenen, hier gedaͤmpften Laͤrm und dem trivialen Geſang. Ein Gedanke hatte ihn wieder beim Anblick der gewaltigen Kai-Anlage zu ſeinen Fuͤßen gepackt: wieviel Menſchenleben mochten wohl unter dieſen weißen Granitquadern, fo ſicher und unuͤberwindlich aufein— andergetuͤrmt, zermalmt ſein? Und er dachte wieder jener ſchweigenden, unbelohnten, vergeſſenen Arbeit, welche all' das Große, das er um ſich ſah, geſchaffen.
Schweiß und Blut werden abgewaſchen und der Ein— zelne erhebt ſich lebend und bewundert auf den Leichen von Millionen Ungenannt⸗Vergeſſenen .
Als ſtachele ihn dieſer Gedanke auf, ſchritt Carrard Auban weiter. Indem er die Steinboͤgen am Ende der Brücke durchmaß, die Überreſte der alten Hungerford Suſpenſion Bridge, ſah er zu Boden und ging ſchneller. Wieder, wie immer, lebte er in den Gedanken, welchen auch er die Jugend ſeines Lebens gewidmet hatte, und
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wieder packte ihn die grenzenloſe Größe dieſer Bewegung, welche die zweite Haͤlfte des neunzehnten Jahrhunderts die „ſoziale“ genannt hat: dorthin Licht zu tragen, wo noch das Dunkel herrſcht — in die duldenden, unter— druͤckten Maſſen, deren Leiden und langſames Sterben „den Anderen“ das Leben gibt..
Aber als Auban die Bruͤckentreppe niedergeſtiegen war und ſich in Villiers Street, jener merkwuͤrdigen kleinen Straße, die vom Strand nach dem Stadtbahnhof von Charing Croß hinabfuͤhrt, befand, wurde er wieder von dem ihn umrauſchenden Leben gefeſſelt. Unaufhoͤrlich draͤngte es ſich an ihm vorbei: dieſer wollte noch den Zug erreichen, der eben jene, welche ſo eilig den Strand zueilten — verſpaͤtete Theaterbeſucher, die ſich vielleicht wieder in den Entfernungen Londons geirrt — ausgeſpieen hatte; hier redete eine Proſtituierte auf einen Herrn im Seidenhut ein, den ſie mit einem Wort und einem Blick ihrer muͤden Augen hierher gelockt hatte, um mit ihm uͤber den „Preis“ handelseinig zu werden; und dort draͤngte eine Schar hungriger Gaſſenkinder ihre ſchmutzigen Geſichter an die Scheiben eines italieniſchen Waffelbaͤckers, gierig jede Bewegung des unermuͤdlich Arbeitenden ver— folgend — Auban ſah alles: er hatte dieſelbe Aufmerk— ſamkeit eines im Beobachten geuͤbten Auges fuͤr den zehn— jaͤhrigen Jungen, welcher den Voruͤbereilenden einen Penny abzubetteln ſuchte, indem er vor ihnen her auf dem feuchten Straßenpflaſter Rad ſchlug, und fuͤr die verkommenen Zuͤge jenes Burſchen, welcher ſofort, als er ſtehen ge— blieben war, ſich an ihn draͤngte und ihm die neueſte Nummer der „Matrimonial News“ — „für alle unent—
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behrlich, welche zu heiraten wuͤnſchen“ — aufzuſchwatzen ſuchte, aber ſich ſofort dem Naͤchſten zuwandte, als er ſah, daß er keine Antwort erhielt.
Auban ging langſam weiter. Er kannte dieſes Leben zu gut, als daß es ihn noch verwirrt und betaͤubt haͤtte; und doch packte und feſſelte es ihn immer wieder aufs neue mit ſeiner ganzen Gewalt. Er hatte waͤhrend dieſer Jahre Stunden und Tage ſeinem Studium gewidmet, und immer und uͤberall fand er es neu und intereſſant. Und je mehr er ihre Stroͤmungen, ihre Abgruͤnde und ihre Untiefen kennen lernte, deſto mehr bewunderte er dieſe einzige Stadt ... Seit einiger Zeit war dieſe Zu: neigung, welche mehr war als Anhaͤnglichkeit und weniger eigentlich als Liebe, zu einer leidenſchaftlich erregten ge⸗ worden. London hatte ihm zu viel — weit mehr als dem Bewohner und dem Beſucher — gezeigt; und nun wollte er alles ſehen. Die Unruhe dieſes Wunſches hatte ihn denn auch an dem heutigen Nachmittag hinuͤber⸗ geſtoßen auf das jenſeitige Themſeufer, zu ſtundenlangen Wanderungen in Kennington und Lambeth — jenen Vierteln eines entſetzlichen Elends — um ihn muͤde und zugleich entmutigt und erbittert zuruͤckkehren zu laſſen, und ihm jetzt am Strand den Widerſchein wie die Kehr—⸗ ſeiten jenes Lebens zu zeigen.
Er ſtand nun an dem Eingang des dunklen und oͤden Tunnels, welcher unter Charing Croß durch auf Nor⸗ thumberland Avenue zulaͤuft. Die ſchrillen und zitternden Toͤne eines Banjo ſchlugen an ſein Ohr; eine Gruppe von Voruͤbergehenden hatte ſich zuſammengeſchart: in ihrer Mitte ſchlug ein Knabe in zerriſſenem Karrikatur⸗
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koſtuͤm und mit uͤberrußtem Geſicht — wer hat die bizarren Geſtalten dieſer „Neger⸗Komoͤdianten“ nicht ſchon an den Straßenecken Londons ihre laͤrmenden Singtaͤnze auffuͤhren ſehen? — ſein Inſtrument, waͤhrend zu den Tönen desſelben ein Mädchen mit jener mechaniſchen Gleichguͤltigkeit tanzte, die keine Ermuͤdung zu kennen ſcheint. Auban warf, indem er ſich vorbeidraͤngte, auch in das Geſicht dieſes Kindes einen Blick: Gleichguͤltigkeit und doch zugleich eine gewiſſe Ungeduld lag auf ihm.
— Sie ernaͤhren ihre ganze Familie, die armen, mur⸗ melte er. In der naͤchſten Minute hatte ſich die Menge zerſtreut und das kleine Paar ſich zur naͤchſten Straßen⸗ ecke durchgedraͤngt, dort Spiel und Tanz von neuem zu beginnen, bis der Policeman ſie forttrieb, der ge— haßte, der gefuͤrchtete.
Auban durchſchritt den Tunnel, deſſen Steinboden von Schmutz überſaͤt war und aus deſſen Ecken eine ver: peſtete Luft aufſtieg. Er war faſt leer; nur hin und wieder ſchlich eine unerkennbare Geſtalt an den Waͤnden hin und an ihm voruͤber. Aber Auban wußte, daß an naßkalten Tagen und Naͤchten hier, ſo gut wie an Hunderten anderer Durchgaͤnge, ganze Reihen von Uns gluͤcklichen lagen, dicht aneinander und gegen die kalten Waͤnde gepreßt, und immer gewaͤrtig, im naͤchſten Augen⸗ blick vom „Arm des Geſetzes“ auseinander getrieben zu werden: Haufen von Kot und Lumpen, verkommen in Hunger und Schmutz, die „Parias der Geſellſchaft“, die in Wahrheit Willenlofen ... Und während er die Stufen am Ende des duͤſteren Ganges emporſtieg, ſtand vor ihm plöglich wieder jene Szene, welche er vor nun etwa einem
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Jahre an dieſem ſelben Orte erlebt hatte, mit einer fo erſchreckenden Deutlichkeit, daß er unwillkuͤrlich ſtehen blieb und ſich umſah, als muͤſſe ſie ſich leibhaftig vor feinen Augen wiederholen —:
Es war an einem feuchtkalten Abend, gegen Mitter: nacht, die Stadt in Nebel und Rauch wie in einen un— durchſichtigen Schleier gehuͤllt. Er war hierhergegangen, um einzelnen der Obdachloſen die wenigen Kupferſtuͤcke zu geben, welche ſie brauchten, um die Nacht uͤber in einem der Lodging-Haͤuſer, ſtatt in der eiſigen Kaͤlte der Nacht, zu verbringen. Als er dieſe Stufen niedergeſchritten war — der Tunnel war uͤberfuͤllt mit Menſchen, die, nachdem ſie alle Stadien des Elends durchgemacht hatten, am letzten angelangt waren —, ſah er vor ſich ein Ges ſicht auftauchen, welches er nie wieder vergeſſen hatte: die von Ausſatz und blutigen Geſchwuͤren entſetzlich ent— ſtellten Zuͤge eines Weibes, welches — an der Bruſt einen Säugling — ein etwa vierzehnjaͤhriges Mädchen an der Hand nach ſich mehr ſchleppte als zog, waͤhrend ein drittes Kind, ein Junge, ſich an ihren Rock anklammerte.
— Zwei Schilling nur, Gentleman — zwei Schilling nur. Er war ſtehen geblieben, um ſie zu fragen.
— Zwei Schilling nur — ſie iſt noch ſo jung, aber fie wird alles tun, was Sie wollen ... und dabei zog ſie das Maͤdchen naͤher, welches ſich zitternd und weinend abwendete. \
Ein Schauder überlief ihn. Aber die flehende und wimmernde Stimme des Weibes ertoͤnte weiter.
— Bitte, nehmen Sie ſie doch mit. Wenn Sie es nicht tun, ſo muͤſſen wir draußen ſchlafen — nur zwei
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Schilling, Gentleman, nur zwei Schilling, ſehen Sie nur, fie iſt fo huͤbſch ... Und wieder riß fie das Kind an ſich.
Auban fuͤhlte, wie das Entſetzen ihn uͤberſchlich. Er wandte ſich unbewußt und unfähig, ein Wort hervor: zubringen, zum Gehen.
Aber er hatte noch keinen Schritt getan, als ſich das Weib ploͤtzlich ſchreiend vor ihn auf den Boden hinwarf, das Maͤdchen losriß und ſich an ihn anklammerte.
— Gehen Sie nicht fort! Gehen Sie nicht fort! ſchrie es in entſetzlicher Verzweiflung. — Wenn Sie es nicht tun, ſo muͤſſen wir verhungern — nehmen Sie ſie mit — hierher kommt ſonſt niemand mehr, und auf den Strand duͤrfen wir nicht — tun Sie es doch — tun Sie es doch!
Aber, als er ſich, ohne es zu wollen, umſah, ſprang die vor ihin Liegende ploͤtzlich auf.
— Rufen Sie keinen Policeman! Nein, rufen Sie keinen Policeman! rief ſie aͤngſtlich-ſchnell. Da, als ſie aufſtand, gewann Auban ſeine Ruhe wieder. Er griff wortlos in die Taſche und reichte ihr hin, was er an Geld erfaßte.
Das Weib ſtieß einen Freudenſchrei aus. Wieder nahm ſie das Maͤdchen am Arm und ſtellte es vor ihn hin.
— Sie wird mit Ihnen gehen, Gentleman, — ſie wird alles tun, was fie wollen ... fügte fie fluͤſternd hinzu. Auban wandte ſich ab und ging ſo ſchnell wie moͤglich durch die Reihen der Schlafenden und Betrunkenen dem Ausgange zu; keiner hatte der Szene geachtet.
Als er am Strand war, fuͤhlte er, wie ſein Herz jagte und ſeine Haͤnde zitterten.
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Acht Tage nach dieſem fuchte er Abend für Abend in dem Tunnel von Charing Croß und ſeiner Umgebung nach dem Weibe und den Kindern, ohne ſie wieder finden zu koͤnnen. Es hatte etwas in den Augen des Maͤdchens gelegen, das ihn beunruhigte. Aber der Augenblick war zu kurz geweſen, als daß er haͤtte erkennen koͤnnen, was dieſer Abgrund von Furcht und Elend verbarg...
Dann vergaß er uͤber dem ungeheuren Jammer, welcher ſich ihm taͤglich zeigte, dieſe eine Szene, und taͤglich ſah er wieder auf den Straßen die Kinder der Armut — Kinder von dreizehn und vierzehn Jahren — ſich darbieten — und war unfaͤhig, zu helfen!
Wer war bemitleidenswerter, die Mutter oder die Kinder? Wie groß mußte das Elend ſein, wie entſetzlich die Verzweiflung, wie wahnſinnig der Hunger der beiden? Aber mit Abſcheu ſpricht die Frau der Bourgeoiſie von dem „Scheuſal von Mutter“ und von dem „vers kommenen Kinde“ — die Phariſaͤerin, welche unter der Hand desſelben Elends genau denſelben Weg gehen würde. — —
Mitleid! Jaͤmmerlichſte unſerer Luͤgen! Unſere Zeit kennt nur Ungerechtigkeit. Es iſt heute das groͤßte Ver⸗ brechen, arm zu ſein. Gut ſo. Um ſo ſchneller muß die Erkenntnis kommen, daß die einzige Rettung darin beſteht, dieſes Verbrechen zu unterlaſſen.
— Die Wahnſinnigen, murmelte Auban vor ſich hin, — die Wahnſinnigen — ſie ſehen alle nicht, wohin Mit⸗ leid und Liebe uns gebracht haben —. Seine Augen waren umſchattet, wie von der Erinnerung an die Kaͤmpfe, welche dieſe Erkenntnis ihm auferlegt hatte.
Wie deutlich er heute abend beim Durchſchreiten des
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Tunnels wieder die wimmernde, verzweifelte Stimme des Weibes und ihr draͤngendes: „Do it! do it!” zu hoͤren glaubte! Und aus dem truͤben Dunkel tauchten wieder die ſcheuen, krankhaften Augen des Kindes auf.
Er kehrte um und durchſchritt abermals den Tunnel. Bevor er ſich jedoch dem Strand zuwandte, bog er in eine der Seitenſtraßen ein, welche ſich nach der Themſe hinunter—⸗ ziehen. Er kannte ſie alle: — dieſe Gaſſen, dieſe Winkel, dieſe Ein⸗ und Durchgaͤnge: hier war der nuͤchtern⸗graue Hinterbau des Theaters, deſſen Frontſeite den Strand mit Licht uͤberſchwemmte; und jenes ſchmale, dreiſtoͤckige Haus mit den blinden Fenſtern war eines jener beruͤchtigten Abſteigequartiere, hinter deren Mauern ſich allnaͤchtlich Szenen der Verworfenheit abſpielen, welche ſich auch die ſinnlich⸗entartetſte Phantaſie nicht auszumalen wagt. Hier wohnte noch das Elend, und in jener naͤchſten, ſtillen Straße ſchon der Wohlſtand — und ſo wirrten ſich beide durcheinander bis zu der kleinen Kirche von Savoy inmitten ihrer kahlen Baͤume und bis zu den vor— nehmen, verſchloſſenen Bauten des Temple mit ſeinen herrlichen Gaͤrten
Auban kannte alles: ſogar den ewig⸗-leeren, breiten, gewoͤlbten Gang, der unter den Straßen durch nach den Embankments fuͤhrt und von deſſen verlaſſener, ge⸗ heimnisvoller Stille aus das Leben des Strand fich an— hoͤrt wie das ferne Rauſchen einer immer letzten und immer erſten Welle auf oͤdem Sandufer
Die Kälte wurde mit der vorruͤckenden Stunde em⸗ pfindlicher und ſickerte in der nebligen Feuchtigkeit Londons
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nieder. Auban begann muͤde zu werden und wollte nach Hauſe. Er bog zum Strand ab.
Der „Strand!“ Weſt⸗End und City verbindend lag er vor ihm da, erhellt von den ungezaͤhlten Lichtern ſeiner Laͤden, durchrauſcht von einer nie ſtockenden und nie endenden Menſchenflut: zwei geteilte Stroͤme, der eine hinauf nach St. Pauls, der andere hinunterwogend nach Charing Croß. Zwiſchen beiden der betaͤubende Wirrwarr eines ununterbrochenen Verkehrs von Wagen: ein Bus, ſchwerfaͤllig, uͤberſaͤt mit bunten Reklamen, be⸗ laden mit Menſchen, hinter dem andern; ein Hanſom, leicht, behend auf den Zweiraͤdern dahinhuſchend, hinter dem andern; droͤhnende Laſtwagen; rote, geſchloſſene Poſtwagen der Royal Mail; ſtarke, breite Forewheelers: und dazwiſchen ſich durchwindend, in der dunklen Maſſe kaum erkennbar, dahinſauſende Bycicles.
Das Eaſt⸗End iſt die Arbeit und die Armut, anein⸗ andergekettet durch den Fluch unſerer Zeit: die Knecht⸗ ſchaft; die City iſt der Wucherer, der die Arbeit verkauft und den Gewinn einzieht; das Weſt⸗End iſt der vornehme Nichtstuer, der ſie verbraucht. Der Strand iſt eine der ſchwellendſten Adern, durch welche das geldgewordene Blut rinnt; er iſt der Rival von Oxford Street, und ſtraͤubt ſich dagegen, von ihr beſiegt zu werden. Er iſt das Herz von London. Er traͤgt einen Namen, den die Welt kennt. Er iſt eine der wenigen Straßen, in welchen du Menſchen aus allen Stadtteilen ſiehſt: der Arme traͤgt ſeine Lumpen und der Reiche ſeine Seide hierher. Wenn du dein Ohr oͤffneſt, kannſt du Sprachen der ganzen Welt hören: die Reſtaurants haben italienische Eigen⸗
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tuͤmer, deren Kellner franzoͤſiſch mit dir ſprechen; unter den Proſtituierten ſind mehr als die Haͤlfte Deutſche, die entweder hier untergehen oder ſich ſoviel erwerben, daß fie in ihr Vaterland zuruͤckkehren und dort „anſtaͤndig“ werden koͤnnen.
Am Strand liegen die maͤchtigen Gerichtshoͤfe, und
man weiß nicht, ob man Schauſpieler oder Verruͤckte vor ſich hat, wenn man die Richter in ihren langen Maͤnteln und ihren weißgepuderten Perücken mit den zierlich -albernen Zoͤpfen — alles aͤußerliche Wuͤrdeabzeichen einer wuͤrde— loſen Komoͤdie, die jeder vernuͤnftige Menſch innerlich verlacht und verachtet, und die jeder mitſpielt, wird er geladen, — wenn man ſie in ſeine hohen Torboͤgen hineineilen ſieht; der Strand vereinigt eine verwirrende Anzahl von Behoͤrden, von deren Exiſtenz du nie in deinem Leben gehoͤrt haſt, wenn ſie dir genannt werden, in feinem kalten Somerſet-Haus; und der Strand hat ſeine Theater, mehr Theater, als irgendeine Straße der Welt.
So iſt er der erſte Gang des Fremden, der am Bahn— hof von Charing Croß anlangt, und den ſeine meiſt engen und aufeinander gepreßten Haͤuſer enttaͤuſchen; ſo wird er deſſen letzter ſein, wenn er London verlaͤßt, der, dem er ſeine letzte Stunde ſchenkt.
Auban tauchte unter in das Menſchengewoge. Jetzt, wo er an Adelphi vorbeiging und das elektriſche Licht die Straße — die Gasflammen weit uͤberſtrahlend — mit ſeinem hellweißen Licht uͤberſchimmerte, konnte man ſehen, daß er leicht hinkte. Es war faſt unbemerkbar, wenn er ſchnell ging, aber wenn er langſam dahinſchlenderte,
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zog er den linken Fuß nach und ftügte ſich feſter auf ſeinen Stock.
Am Bahnhof von Charing Croß hatte ſich das Leben geſtaut. Auban ſtand einige Augenblicke an einer der Ein⸗ fahrten. Der Eingang zu Villiers Street, welche er wenige Minuten vorher unterhalb gekreuzt hatte, war belagert von Blumenverkaͤuferinnen, welche teils hinter ihren halb— geleerten Koͤrben froͤſtelnd und muͤde kauerten, teils die Voruͤbergehenden mit ihrem unaufhoͤrlichen: „Penny a bunch!“ zum Kauf ihrer kuͤmmerlichen Blumenbuͤndel zu verlocken ſuchten. Ein Policeman trieb eine von ihnen roh zuruͤck; ſie hatte ſich mit einem Schritte auf das Pflaſter gewagt, und ſie durften keine Linie uͤber die Grenze der Seitenſtraße hinaus. Das gellende Durch— einanderſchreien der Zeitungsjungen, die ihre letzte Spezial⸗ Editions los fein wollten, um noch in „Gattis Hunger- ford Palace“ Charlie Coborn — den „inimitable — in feinen „Two lovely black eyes“ bejubeln zu koͤnnen, wäre umerträglich geweſen, wenn es nicht von dem Wagengeraſſel auf den Steinen des Vorhofes von Charing Croß, welches der mit Aſphalt und Holgpflafter ver: woͤhnte Weſt Ender faſt nicht mehr kennt, und dem heiſern Rufen der Omnibus-Kondukteure uͤbertoͤnt worden waͤre.
Mit jener Sicherheit, die nur ein langes Vertraut⸗ ſein mit dem Straßenleben der Großſtadt verleiht, be⸗ nutzte Auban die erſte Sekunde, in welcher die Wagen— reihen einen Durchgang zeigten, um die Straße zu uͤberſchreiten, und waͤhrend ſich hinter ihm in der naͤchſten die Fluten ſchloſſen, ging er an der Kirche von St. Martin
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vorbei, warf einen Blick auf den totenſtill daliegenden Trafalgar Square, durchſchritt die enge und dunkle Green Street, ohne ſich im geringſten um den Cabby zu kuͤmmern, der ihm von ſeinem Bock aus mit unterdruͤckter Stimme zurief, er habe ihm „etwas zu ſagen“ — etwas von einer „jungen Dame“ — und befand ſich nach drei Minuten an den erleuchteten Eingaͤngen der „Alhambra“, von welchen verſpaͤtete Beſucher ſich nicht abweiſen laſſen wollten, da ſie noch einen Stehplatz in dem uͤberfuͤllten Hauſe zu erlangen hofften. Auban ging gleichguͤltig vor— uͤber, ohne einen Blick auf die ſchillernden Photographien der uͤppigen Balleteuſen — Reklameproben aus dem neuen Monſtreballett „Algeria“, dem halb London zu— ſtroͤmte — zu werfen.
Der Garten in der Mitte von Leiceſter Square lag in Dunkel gehuͤllt. Die Statue Shakeſpeares war nicht mehr erkennbar von den Gittern aus. „There is no darkness but ignorance“ — ftand dort. Wer las Wir
An der Nordjeite der Square herrſchte lautes Leben. Auban mußte ſich durch Scharen franzoͤſiſcher Proſtitu— ierten, deren lautes Lachen, Schreien, Schelten alles übertönte, durchdraͤngen. Ihre überladenen und geſchmack—⸗ loſen Toiletten, ihre ſchamloſen Anerbietungen, ihre un— aufhoͤrlichen Bitten: — „Chéri, cheri — “, mit denen fie ſich an jeden Voruͤbereilenden drängten und ihn ver— folgten, erinnerten ihn an die Mitternachtsſtunden der Außen⸗Boulevards von Paris.
uberall ſchien ihm ſeine Zeit die entſtellteſte Seite ihres Geſichtes zu zeigen.
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Vor ihm her gingen zwei junge Englaͤnderinnen. Sie waren kaum aͤlter als ſechzehn Jahre. Ihre aufgeloͤſten und von der Naͤſſe feuchten blonden Haare hingen lang uͤber den Nacken hinab. Als ſie ſich umwandten, zeigte ihm ein Blick in ihre muͤden, blaſſen Zuͤge, daß ſie ſchon lange fo gewandert waren — immer dieſelbe kurze Strecke, Abend für Abend —; an einer Straßenecke erzählte eine Deutſche im Kölner Dialekt einer andern mit weitſchallender. Stimme — alle Deutſchen ſchreien in London — ſie habe ſeit drei Tagen nichts Warmes und ſeit einem uͤber⸗ haupt nichts gegeſſen: die Geſchaͤfte wuͤrden immer ſchlechter; und an der naͤchſten entſtand ein Zuſammen⸗ lauf von Menſchen, in welchen Auban hineingeſtoßen wurde, jo daß er die Szene mit anſehen mußte, die, ſich nun abſpielte: eine Alte, welche Streichholzſchachteln verkaufte, war mit einem der Frauenzimmer in Streit geraten. Sie ſchrieen einander an. „Da“ — brüllte die Alte und ſpie in das Geſicht der vor ihr Stehenden, aber in derſelben Sekunde hatte ſie die Beſchimpfung zuruͤck empfangen. Einen Augenblick ſtanden beide ſprach⸗ los vor Wut. Die Alte ſteckte zitternd ihre Schachteln in die Taſche. Dann ſchlugen ſie ſich gegenſeitig unter dem Beifallsgebruͤll der Umſtehenden die Naͤgel in die Augen und waͤlzten ſich ſchimpfend auf dem Boden um— her, bis einer der Zuſchauer ſie auseinander riß, worauf ſie ihre Sachen — die eine ihren zerbrochenen Schirm, und die andere ihren Fetzen von Hut — auflafen und der Haufe ſich lachend nach allen Seiten zerſtreute.
Auban ging weiter, dem Piccadilly Circus zu. Dieſe Szene — eine unter unzaͤhligen — was war ſie weiter,
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als ein neuer Beweis dafuͤr, daß die Methode, das Volk in Roheit zu erhalten, um dann von dem „Mob“ und ſeiner Verkommenheit zu ſprechen, noch immer vortrefflich anſchlug?
Muſikhallen und Boxereien — fie füllen die paar freien Stunden der aͤrmeren Klaſſen Englands aus, an den Sonntagen Gebete und Predigten —: vortreffliche Mittel gegen „das gefaͤhrlichſte Übel der Zeit“ — das Erwachen des Volkes zu geiſtiger Selbſttaͤtigkeit.
Auban ſtieß unwillkuͤrlich heftig mit dem Stocke, deſſen Griff er feſt umſpannt hielt, auf den Boden.
Der Square, den er eben verlaſſen, Piccadilly und Regents Street — ſie ſind allabendlich und allnaͤchtlich die belebteſten und frequentierteſten Maͤrkte lebendigen Fleiſches für London. Hierhin wirft die Not der Welt— ſtadt, unterftügt von den „ziviliſierten“ Staaten des Feſt⸗ landes, ein Angebot, das ſogar eine unerſaͤttliche Nach— frage uͤberſteigt. Von dem Anbruch der Daͤmmerung bis hinunter zum Aufflimmern des neuen Tages beherrſcht die Proftitution das Leben dieſer Zentralpunkte des Ver— kehrs und ſcheint die Are zu ſein, um welche es ſich aus— ſchließlich dreht.
Wie wundervoll bequem — dachte Auban — e es ſich doch die Herren Leiter unſeres oͤffentlichen Lebens! Wo ihre Vernunft vor dem Scheunentor ſteht und ſie nicht weiter koͤnnen, gleich heißt es: ein notwendiges Übel. Die Armut — ein notwendiges Übel; die Proſtitution — ein notwendiges übel. Und doch gibt es kein weniger notwendiges und kein größeres Übel, als fie ſelbſt! Sie ſind es, die alles ordnen wollen und alles in Unordnung
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bringen; alles leiten wollen und alles von den natuͤr— lichen Wegen ablenken; alles foͤrdern wollen, und alle Entwicklung hemmen ... Sie laſſen dicke Bücher ſchreiben, daß ſei immer ſo geweſen, und muͤſſe immer ſo ſein, und um doch etwas zu tun, wenigſten ſcheinbar, begeben ſie ſich an die „Reformarbeit“. Und je mehr ſie reformieren, deſto ſchlimmer wird es ringsumher. Sie ſehen es, aber ſie wollen es nicht ſehen; ſie wiſſen es, aber ſie duͤrfen es nicht wiſſen! Weshalb? Sie wuͤrden ſonſt unnuͤtz — und heutzutage muß ſich doch jedermann nuͤtzlich machen. Mit dem „materiellen Dahinleben“ iſt es nicht mehr getan. „Betrogene Betruͤger! vom erſten bis zum letzten,“ ſagte Auban lachend vor ſich hin; und es lag faſt keine Bitterkeit mehr in ſeinem Lachen.
Aber dieſer Mann, welcher wußte, daß es nie und nirgendwo Gerechtigkeit auf der Erde gab, und der den Glauben an eine himmlliſche Gerechtigkeit als die be— wußte Luͤge erkaufter Prieſter verachtete, oder als die bewußt: und gedankenloſe Hingabe an dieſe Luͤge fuͤrch— tete, ahnte, ſo oft er die Hand an die eiternde Wunde der Proſtitution legte, mit Schaudern, daß hier ein Weg war, auf welchem langſam, unendlich langſam, eine träge Gerechtigkeit von den Leidenden zu den Lebenden hinauf— kroch.
Was iſt dem Beſitzenden das Volk — das Volk, welches „nicht zu gut behandelt werden darf“, damit es nicht uͤbermuͤtig wird? Gleichberechtigte Menſchen mit den gleichen Wuͤnſchen an das Leben, wie ſie ſelbſt? Toͤrichte Schwaͤrmereien! Eine Arbeitsmaſchine, die beſorgt werden muß, damit ſie ihren Dienſt tun kann. Und es fiel
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Auban die Strophe aus einem engliſchen Liede ein: „Unſere Soͤhne dienen ihnen bei Tage, unſere Toͤchter dienen ihnen bei Nacht — — .
Ihre Soͤhne — gut genug zur Arbeit. Aber in der Entfernung — in der Entfernung. Ein Druck der Hand, die fuͤr ſie arbeitet? Arbeit iſt ihre Pflicht. Und dieſe Haͤnde ſind ſo ſchmutzig — von der Arbeit eines ewig waͤhrenden Tages.
Ihre Toͤchter — gut genug, als Abzugskanal fuͤr den truͤben Strom ihrer Luͤſte zu dienen, der ſich ſonſt uͤber die unbefleckten und reinerhaltenen Seelen der eigenen Muͤtter und Toͤchter ergießen wuͤrde. Ihre Toͤchter bei Nacht! Was kauft das Geld vom Hunger und der Ver— zweiflung nicht?!
Aber hier — hier allein! — zieht die ſo Geopferte ihre Moͤrder hinein in den Strudel ihres Verderbens.
Wie eine dunkle, drohende Wolke breitet ſich uͤber unſer ganzes geſchlechtliches Leben — das hier zuͤgellos raſende, dort in die Unnatur der Ehe gepferchte — ein Heer furchtbarer Krankheiten aus, bei deren Namen jeder erbleicht, der ſie hoͤrt, da keiner vor ihnen ſicher iſt. Und wie es einen bereits unuͤberſehbaren Teil der Jugend unſerer Tage durchfreſſen hat, ſo ſteht es ſchon wie die Erfüllung eines unausgeſprochenen Fluches über einer noch im Schlummer liegenden Generation.
Auban wurde gezwungen aufzuſehen. Aus dem Reſtaurant des London Pavillion, deſſen Gasfackeln ihre Lichtſtroͤme uͤber Piccadilly Circus hinwarfen, taumelte eine Schaar von jungen Männern der jeunesse dorée. Auf ihren geiſtloſen, brutal-verlebten Geſichtern ſtand ihre
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ganze Beſchaͤftigung nur allzudeutlih: Sport, Weiber und Pferde. Sie waren natuͤrlich in full dress: aber die Zylinderhuͤte waren eingedruͤckt und aus den ſchwarzen Fraͤcken ſahen von Whisky und Zigarrenaſche beſchmutzte
und zerknitterte Hemden hervor. Unter rohem Gelaͤchter
und zyniſchen Ansrufen umſtellten die einen einige der Halbweltlerinnen, waͤhrend die anderen nach Hanſoms ſchrien, die eilfertig angefahren kamen; die ſich kreiſchend wehrenden Frauenzimmer wurden hineingeſchoben und das Singen der Trunkenen erſtarb in dem Fortrollen der Wagen.
Auban uͤberſchaute den Platz. Dort vor ihm — Piccadilly hinunter — dehnte ſich eine Welt des Reich— tums und des Wohllebens aus: die Welt der ariſtokra— tiſchen Palaͤſte und der großen Klubs, der luxurioͤſen Läden und der faſhionablen Kunſt — das ganze uͤberſaͤttigte und raffinierte Leben der „großen Welt“ ... das Trugleben des Scheins.
Der Blitz der kommenden Revolution muß hier zuerſt einſchlagen. Es kann nicht anders mehr fein...
Als Auban die Straße uͤberſchritt, fiel ihm die zerlumpte Geſtalt eines Mannes auf, der unablaͤſſig, jo oft der Wagenverkehr es zuließ, den Übergang von den Spuren der Wagen und Pferde reinigte, und jedesmal, wenn
ſein Beſen die Arbeit getan, beſcheiden auf die Auf⸗
merkſamkeit derer wartete, deren Fuͤße er vor einer Be— ruͤhrung mit den Schmutze bewahrt hatte: und es kam Auban die Luſt an, zu ſehen, wie viele dieſen Dienſt uͤberhaupt bemerken wuͤrden. Er lehnte ſich etwa fuͤnf Minuten an den Laternenpfahl vor dem Eingangbogen von
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Spiers und Ponds Reſtaurant am Criterion, und ſchaute der unermuͤdlichen Arbeit des Alten zu. In dieſen fünf Minuten überfchritten etwa dreihundert Perfonen trockenen Fußes die Straße. Den Alten ſah keiner.
— Ihr macht keine guten Geſchaͤfte? fragte er ihn, als er ihm naͤher kam.
Der Alte griff in die Taſche ſeines zerfetzten Rockes und zeigte ihm vier Kupferſtuͤcke.
— Das iſt alles in drei Stunden. — — Das iſt nicht genug fuͤr euer Nachtlager, ſagte Auban und legte ein Sixpenceſtuͤck hinzu.
Und der Alte ſah ihm nach, wie er langſam mit ſeinen muͤhſamen Schritten uͤber den Platz ging.
Hinter Auban verſanken die Lichter des Platzes, die hellen gleichmaͤßigen Haͤuſer des Quadrants von Regents Street; und waͤhrend ſich die Weite hinter ihm verengerte und der brauſende Laͤrm ſich verlor, ſchritt er ſicher weiter und immer weiter hinein in das dunkle, geheimnisvolle Straßengewirr von Soho.
Um dieſelbe Stunde — die neunte war nicht mehr fern — kam von Oſten aus der Richtung von Drury Lane her auf Wardour Street zu mit der unſichern Schnelligkeit des Ganges, welche verraͤt, daß man ſich in einer fremden und unbekannten Gegend befindet und doch gerne ſchnell ein beſtimmtes Ziel erreichen moͤchte, ein Mann von etwa 40 Jahren in der unauffälligen Kleidung eines Arbeiters, die ſich in London nur durch ihre Einfachheit von der des Buͤrgers unterſcheidet. Als
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er — überzeugt, daß er bei weiterem Forteilen in der eingeſchlagenen Richtung ſchwerlich bald ſeine Ungeduld befriedigen wuͤrde — ſtill ſtand und vor einem der zahl— loſen Public⸗Haͤuſer einen der dort herumſtehenden Burſchen nach ſeinem Wege fragte, zeigte deſſen vergeb— liches Bemuͤhen, die erbetene Auskunft moͤglichſt klar und verſtaͤndlich zu machen, daß der Frager ein Aus: laͤnder ſein mußte.
Indeſſen ſchien dieſer endlich die Erklaͤrungen ver: ſtanden zu haben, denn er ſchlug eine von der vorher genommenen voͤllig verſchiedene Richtung ein. Er wandte ſich dem Norden zu. Nachdem er noch zwei oder drei der gleich dunklen, ſchmutzigen und einander völlig gleichenden Straßen durchgangen hatte, befand er ſich plotzlich in dem betaͤubenden Lärm einer jener Ver— kaufsſtraßen, in denen die Bevoͤlkerung der aͤrmeren Viertel am Samstag abend mit dem Lohn der ver⸗ gangenen Woche ihre Beduͤrfniſſe fuͤr den folgenden Tag einhandelt. Die Seiten der Straße waren beſetzt mit zwei endloſen Reihen von ſich dicht hintereinander draͤngen⸗ den Wagentiſchen und Geſtellen, dicht beladen mit jedem von den tauſend Erforderniſſen des taͤglichen Lebens, und zwiſchen ihnen ebenſo wie auf den engen Trottoirs an den geoͤffneten und uͤberfuͤllten Laͤden vorbei, draͤngte und quetfchte ſich eine unruhige und feilſchende Maſſe, deren Schreien und Laͤrmen nur von dem gellenden Durcheinanderrufen der anpreiſenden Verkaͤufer uͤbertoͤnt wurde. Die Straße war in ihrer ganzen Laͤnge von dem flackernden Scheine unzaͤhliger Petroleumflammen in eine blendenden Helle, eine Helle, wie ſie das Licht des Tages
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nie hierher brachte, getaucht; die feuchte Luft erfuͤllt mit einem dicken und qualmenden Rauch; der Boden uͤber— ſaͤt mit zertretenen Abfaͤllen aller Art, welche das Gehen auf dem glitſchrigen, unregelmaͤßigen Steinpflaſter noch erſchwerten.
Der Arbeiter, der nach dem Wege gefragt hatte, war in das Gewuͤhl hineingeraten und draͤngte ſich durch, ſo ſchnell es ging. Er hatte kaum einen Blick fuͤr die rings aufgeſpeicherten Schaͤtze: die Baͤnke mit den großen, rohen, blutigen Fleiſchſtuͤcken; die hochbeſpeicherten Karren mit Gruͤnkraut jeder Sorte; die Tiſche, voll von altem Eiſen und Kleidern; die langen Reihen von aneinander gebundenem Schuhwerk, welche ſich uͤber ihm fort und über die Straße ſpannten; für den ganzen undurch- dringlichen Wirrwarr des Kleinhandels, welcher ihn um— toſte und umdruͤckte. Als ſich unter dem Schimpfen der Menge ein Karren ruͤckſichtslos durch das Gewuͤhl ſtieß, nahm er die Gelegenheit wahr, hinter ihm her— zugehen, und kam ſo ſchneller, als er gehofft hatte, an die Ecke der naͤchſten Kreuzſtraße, wo ſich das Leben wieder verteilte und einen Augenblick des Stillſtehens ermoͤglichte.
Da, als er ſich umſah, erblickte er auf der andern Seite der Straße ploͤtzlich Auban. Überraſcht, ſeinen Freund ſo unverhoffter Weiſe und in dieſer Gegend zu ſehen, eilte er nicht ſogleich zu ihm; und dann — als er ſchon die Straße halb uͤberſchritten hatte — trat er in das Gedraͤnge zuruck, von dem Gedanken getrieben: Was tut er hier? — Er blickte in der naͤchſten Minute aufmerkſam zu ihm hinuͤber.
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Auban ftand mitten in einer Reihe von halbbetrunkenen Männern, die den Eingang des Public-Hauſes umlagerten, in der Hoffnung, von einem ihrer Bekannten eingeladen zu werden: — „Have a drink!“ Er ſtand da, etwas sornübergebeugt, mit beiden Händen auf feinen zwiſchen die Knie geklemmten Stock ſich ftügend und unverwandt in das an ihm vorbeitreibende Gewuͤhl ſtarrend, als warte er darauf, aus ihm ein bekanntes Geſicht auf: tauchen zu ſehen. Seine Zuͤge waren ernſt; um den Mund lag eine ſcharfe Falte und ſeine tiefliegenden Augen hatten einen ſtarren und truͤben Blick. Seine glattraſierten Wangen waren mager und die ſcharfe Naſe gab den Zuͤgen ſeines ſchmalen und feinen Geſichtes den Ausdruck ſtarker Willensfaͤhigkeit. Ein dunkler weiter Mantel fiel nachlaͤſſig an der ungewoͤhnlich langen und ſchmalſchul— trigen Geſtalt nieder, und als ihn der andere von der gegenuͤberliegenden Straßenecke aus ſo daſtehen ſah, fiel ihm zum erſten Male auf, daß er ihn ſeit Jahren nie anders geſehen hatte, als in demſelben weiten Anzug von demſelben bequemen Schnitt und derſelben einfachſten, dunklen Farbe. Genau ſo ſchlicht und doch ſo auffaͤllig war ſeine aͤußere Erſcheinung geweſen, als er ihn — wie lange war es her: ſechs oder ſieben Jahre ſchon? — in Paris kennen gelernt hatte, und genau ſo unveraͤndert wie damals mit denſelben gleichen ſcharfen und truͤben Zuͤgen, die hoͤchſtens blaͤſſer und grauer geworden waren, ſtand er heute da druͤben, nachlaͤſſig und unbekuͤmmert in gruͤbelnden Gedanken inmitten des ſich uͤberhaſtenden und freudloſen Treibens des Samstagabends von Soho.
Da kam er auf ihn zu: ſtarr geradeausblickend.
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Aber er ſah ihn nicht und wollte an ihm vorüber: gehen.
— Auban! rief der andere.
Der Gerufene fuhr nicht zuſammen, aber er wandte ſich langſam zur Seite und ſah mit einem leeren und abweſenden Blick in das Geſicht des ihn Rufenden, bis der andere ihn am Arm packte:
— Auban!
— Otto?! fragte der Angerufene da, aber ohne Er: ſtaunen. Und dann, faſt flüfternd, und in dem belegten, halb noch im Grauen belegten Tone des Erwachenden, der von ſeinem ſchweren Traume erzaͤhlt, leiſe, um ihn nicht zur Wirklichkeit zu wecken: „Ich dachte an etwas anderes: — an das Elend, wie groß es iſt, wie ungeheuer, und wie langſam das Licht kommt, wie langſam ...“
Der andere ſah ihn erſtaunt an. Aber ſchon lachte Auban jaͤh erwacht auf und in ſeinem gewohnten be— herrſchten Tone fragte er dann:
— Aber in aller Welt, wie kommſt du aus deinem Eaſt End nach Soho?
— Ich habe mich verlaufen. Wo iſt denn eigentlich Oxford Street? Dort, nicht wahr?
Aber Auban nahm ihn laͤchelnd an der Schulter und drehte ihn um.
— Nein dort. — Paß auf: vor uns liegt der Norden der Stadt, die ganze Laͤnge von Oxford Street; hinter uns der Strand, den du wohl kennſt; dort, wo du her— kommſt — du kommſt doch von Oſten? — iſt Drury Lane, und das fruͤhere Seven Dials, von dem du gewiß ſchon gehoͤrt haſt. Seven Dials, die fruͤhere Hoͤlle der Armut;
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jetzt „ziviliſiert“. Haſt du noch nicht die beruͤhmte Vogel⸗ haͤndlerſtraße geſehen? — Sieh, fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten, und machte mit ſeiner Hand eine Bewegung nach Oſten hin, — in dieſen Straßen bis Lincolns Inn Fields draͤngt ſich ein großer Teil des Elends von Weſt End. Was glaubſt du wohl, was man nicht geben wuͤrde, koͤnnte man es ausmiſten und nach dem Oſten draͤngen? — Was nuͤtzt es, daß ſie weite Straßen durchſchlagen, genau ſo wie Haußmann, der Seinepraͤfekt, es in Paris getan hat, um den Revolutionen ſo leichter begegnen zu koͤnnen, was nuͤtzt es? Es draͤngt ſich nur dichter aufeinander. Es vergeht kein Samstag⸗ abend, an dem ich dieſes Viertel zwiſchen Strand und Regents Street und Lincolns Inn, zwiſchen Strand und Orford Street nicht uͤberſchreite — es iſt ein Reich fuͤr ſich und ich habe hier reichlich ſo viel geſehen wie im Eaſt End. — Biſt du zum erſten Male hier?
— Doch, wenn ich mp irre. War denn nicht früher der Klub hier?
— Ja. Aber näher an Oxford Street. — Übrigens wohnen hier eine Menge Deutſche — nach Regents Street zu in den beſſeren Straßen. —
— Wo iſt denn das Elend am ſchlimmſten?
— Am ſchlimmſten? — Auban dachte einen Augen— blick nach. — Wenn du in Drury Lane einbiegſt — die Courts der Wild Street; dann das ſchreckliche Gewirr von faſt zuſammenbrechenden Haͤuſern in der Naͤhe des Old Curioſity Shop, den Dickens beſchrieben hat, mit den ſchmutzbedeckten Durchgaͤngen; überhaupt die Neben⸗ ſtraßen von Drury Lane, beſonders im Norden, an den
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Queen Streets; und weiter hierher vor allem die fruͤheren Dials, die Hölle der Hoͤllen —.
— Kennſt du alle Straßen hier?
— Alle —.
— Aber du kannſt nicht viel auf ihnen ſehen. Die Tragoͤdien der Armut ſpielen ſich hinter den Mauern ab.
— Aber doch der letzte Akt — wie oft! — auf der Straße.
Sie waren langſam weiter gegangen. Auban hatte ſeinen Arm in den des andern gelegt und ſtuͤtzte ſich muͤde auf ihn. Trotzdem hinkte er ſtaͤrker als vorher.
— Und wo gehſt du hin, Otto? fragte er.
— Zum Klub. Willſt du nicht mit? | — Ich bin etwas müde. Ich war den ganzen Nach-
mittag drüben. Dann, da ihm einfiel, daß der andere in dieſen Worten nur einen Vorwand für eine Ablehnung ſehen moͤchte, fuͤgte er ſchneller hinzu: — Aber ich gehe ſchon mit; es iſt eine gute Gelegenheit; ſonſt komme ich in naͤchſter Zeit doch nicht hin. — Wie lange wir uns uͤberhaupt nicht geſehen haben! —
— Ja, faſt drei Wochen ſchon nicht!
— Ich lebe immer mehr fuͤr mich. Du weißt es ja. Was ſoll ich in den Klubs? Dieſe langen Reden, immer uͤber dasſelbe: was ſollen ſie nuͤtzen? Das alles iſt nur ermuͤdend. |
Er merkte wohl, wie unangenehm es dem andern war, was er ſagte, und wie ſich dieſer gleichwohl mit der Richtigkeit ſeiner Worte abzufinden ſuchte.
— Ich bin noch immer, wie fruͤher, jeden Sonntag
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nachmittag von fünf Uhr an zu Haufe. Weshalb kommſt du nicht mehr?
Weil bei dir alles mögliche zuſammenkommt! Bour⸗ geois, und Sozialdemokraten, und Literaten, und Indivi⸗ dualiſten —.
Auban lachte auf. — Tant mieux. Die Diskuſſionen koͤnnen dadurch nur gewinnen. Die Individualiſten ſind doch die ſchrecklichſten, nicht wahr, Otto?
Sein Geſicht war voͤllig veraͤndert. Eben noch finſter und verſchloſſen, zeigte es jetzt einen herzlichen Zug von Freundſchaft und Freundlichkeit.
Aber der andere, welcher mit Otto angeredet war und Trupp hieß, ſchien davon nur unangenehm beruͤhrt zu werden, und er nannte einen Namen, der zwar von Aubans Stirn nicht die Ruhe, aber voͤllig von ſeinen Lippen das Laͤcheln ſcheuchte.
— Fuͤnfzehn Jahre! Und wegen nichts! ſagte der Arbeiter grollend und empoͤrt.
— Aber warum lieferte er ſich auch ſo unvorſichtig in die Haͤnde ſeiner Feinde? Er mußte ſie doch kennen.
— Er wurde verraten!
— Weshalb vertraute er ſich andern an! fragte Auban wieder. — Jeder iſt von vornherein verloren, der auf andere baut. Auch das wußte er. Es war ein zweck loſes Opfer!
— Ich glaube, du haſt keinen Begriff von der Groͤße ſeines Opfers und ſeiner Hingabe, grollte Trupp.
— Lieber Otto, du weißt recht gut, daß mir über: haupt das Gefuͤhl des Verſtaͤndniſſes fuͤr alle ſogenannten Opfer abgeht. Was hat das Unterliegen des Genoſſen, des
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beiten, des ehrlichſten vielleicht von allen, für einen Nutzen gehabt? Sage mir das!
— Es hat den Kampf erbitterter gemacht. Es hat die einen aus ihrer Lethargie aufgeruͤttelt, die andern — uns — mit neuem Haß erfuͤllt. Es hat — und ſeine Augen flammten, waͤhrend Auban fuͤhlte, wie der Arm, den er hielt, in krampfhaftem Zorn erbebte — — es hat in uns den Schwur erneuert, für jeden Ge: fallenen am Tage der Abrechnung hundertfache Suͤhne zu fordern!
— Und dann?
— Dann, wenn dieſe verfluchte Ordnung dem Boden gleich gemacht iſt, dann wird ſich die freie Geſellſchaft auf den Truͤmmern erheben.
Auban ſah wieder auf den heftig Sprechenden nieder, mit dem traurigen, ernſten Blick, mit dem er ihn vorhin begruͤßt hatte. Er wußte ja, daß in der zerriſſenen Bruſt dieſes Mannes nur ein Wunſch und eine Hoffnung noch lebten, die Hoffnung auf den Ausbruch der „großen“, der letzten Revolution!
So waren ſie vor Jahren uͤber die Boulevards von Paris gegangen, und hatten ſich berauſcht an den toͤnenden Worten der Hoffnung; und waͤhrend Auban laͤngſt allen Glauben verloren hatte, nur den einen nicht: an die langſam, langſam wirkende Macht der Vernunft, welche endlich jeden Menſchen dahin fuͤhren wird, fuͤr ſich, ſtatt fuͤr andere zu ſorgen, und ſo mehr und mehr auf ſich ſelbſt zuruͤckgekommen war, hatte ſich der andere ebenſo mehr und mehr in den Fanatismus einer Verzweiflung
hinein verloren, welcher ſich taͤglich von neuem das vii 4
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ſchimmernde Geſpenſt der „goldenen Zukunft“ vor Augen zauberte und den letzten Halt an der Wirklichkeit aus den Haͤnden gab, welche ſich ſehnſuͤchtig und vertrauend um den Nacken der Liebe ſchmiegten.
— In fuͤnfzehn Jahren, ſo brach jetzt wieder lodernd die Flamme der Hoffnung aus ſeinen Worten, — kann viel geſchehen! —
Auban antwortete nicht mehr. Er war machtlos dieſem Glauben gegenuͤber. Langſam gingen ſie weiter. Die Straßen wurden leerer und ſtiller. Es lag noch immer dieſelbe bruͤtende Feuchtigkeit in der undurchſicht⸗ barer werdenden Luft, wie vor drei Stunden. Der Himmel war eine nebelgraue Wolkenmaſſe. Die Laternen brannten unſtaͤt⸗flackernd. Zwiſchen den beiden Maͤnnern lag das Schweigen der Entfremdung.
Sie waren auch aͤußerlich ſehr verſchieden.
Auban war groͤßer und hagerer, Trupp muskuloͤſer und proportionierter. Dieſer trug einen kurzen, braunen Vollbart, waͤhrend jener ſtets mit peinlicher een raſiert war.
Waren fie allein, fo ſprachen fie ſtets, wie auch an dieſem Abend, franzoͤſiſch miteinander, welches Trupp ohne Muͤhe, wenn auch nicht ganz korrekt, Auban aber ſo ſchnell ſprach, daß ſelbſt ſeine Landsleute oft Muͤhe hatten, ihm zu folgen. Seine Stimme hatte einen ſelt⸗ ſamen Klang von Haͤrte, der zuweilen der Waͤrme ſeiner Lebhaftigkeit, öfter aber noch einer feinen Ironie wich. —
Vor ihnen begann das Gewirr der kleinen und engen Gaſſen ſich zu lichten. Sie ſtiegen einige Stufen hinauf. Da lag Oxford Street!
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— In fuͤnfzehn Jahren, brach Auban das Schweigen, — haben die Ketten der Knechtſchaft in den Laͤndern des Kontinents die Handgelenke der Voͤlker faſt durchſchnitten, ſo daß ſie ſich zum Schlag nicht mehr heben koͤnnen. Hier werden dieſelben Haͤnde in gleicher Zeit gefeſſelt ſein, wie der Mund, der jetzt noch proteſtiert und ſich muͤde redet.
— Ich kenne die Arbeiter beſſer als du. Bis dahin werden ſie ſich laͤngſt erhoben haben.
— Um mit Kanonen, die ſelbſttaͤtig in jeder Sekunde einen, und in einer Minute ſechzig Schuͤſſe abgeben, nieder⸗ gemaͤht zu werden. Ja. Ich kenne die Bourgeoiſie beſſer und ihre Leute.
Sie ſtanden in Oxford Street: in naͤchtigem Licht und Leben.
— Da ſieh hin — glaubſt du, dies Leben — fällt mit einem Schlag und durch Einzelner Willen?
— Ja, ſagte Trupp und zeigte nach Oſten. — Dort liegt die Zukunft. 2
Aber Auban fragte: „Was iſt die Zukunft? Die Zukunft iſt der Sozialismus. Die Toͤtung des Indi⸗ viduums in immer engeren Grenzen. Die gaͤnzliche Un: ſelbſtaͤndigkeit. Die große Familie. — Lauter Kinder, Kinder ... Aber auch das muß durchgemacht werden.“
Er lachte bitter und indem er dem Blick ſeines Freundes folgte: „Dort liegt — Rußland!“ Dann ſchwiegen beide wieder.
Oxford Street dehnte ſich aus — eine unuͤberſehbare Linie von verſchwimmendem Licht und brauſendem Dunkel hinauf und hinunter.
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— Es gibt drei London, ſagte Auban, gepackt von dem Leben, — drei: London am Samſtagabend, wenn es ſich betrinkt, um die folgende Woche zu vergeſſen; London am Sonntag, wenn es ſeinen Rauſch im Schoß der allein ſeligmachenden Kirche ausſchlaͤft; und London, wenn es arbeitet und arbeiten laͤßt — an den langen, langen Tagen der Woche.
— Ich haſſe dieſe Stadt, ſagte der andere.
— Ich liebe ſie! ſagte Auban leidenſchaftlich.
— Wie anders war Paris!
Und die gemeinſamen Erinnerungen tauchten auf.
Aber Auban draͤngte vorwaͤrts.
— Wir kommen nie zum Klub.
Sie uͤberſchritten geradeswegs Oxford Street und gingen die naͤchſte Querſtraße nach Norden hinauf. Auban ftügte fich wieder ſtark auf den Arm feines Freundes.
— Aber ſage jetzt, wie geht es euch?
— Es geht ganz gut, trotzdem wir immer noch keinen „Vorſtand“ haben. Erinnerſt du dich noch, welcher Laͤrm ſich erhob, als wir ſeinerzeit den Klub ganz nach kommuniſtiſchem Prinzip einrichteten: ohne Vorſtand, ohne Beamten, ohne Statuten, ohne Programm und ohne feſtgeſetzte Zwangsbeitraͤge? Voͤlliger Untergang in Un- ordnung wurde uns prophezeit und ſonſt noch alles mögliche. Aber wir kommen immer noch ganz gut zu⸗ recht und in unſeren Verhandlungen geht es ganz fo zu wie in anderen, wo die Glocke des Praͤſidenten regiert — es redet immer einer nach dem anderen, wenn er etwas zu ſagen hat.
Auban laͤchelte.
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— Ja, ſagte er, — das koͤnnen die Ordnungsſchreier nicht verſtehen, wie vernünftige Menſchen zuſammen— kommen und zuſammenbleiben koͤnnen, um ſich uͤber ihre gemeinſamen Intereſſen zu beſprechen, ohne daß der einzelne ſeine Zugehoͤrigkeit in Rechten und Pflichten auf einem Wiſch garantiert erhaͤlt. — Aber daraus, daß dieſe Verſuch nicht mißlungen iſt, ſehr ihr doch noch keinen Beweis fuͤr die Moͤglichkeit der Konſtituierung der ganzen menſchlichen Geſellſchaft auf gleichen Grundlagen? Das waͤre doch heller Wahnſinn.
— So, das waͤre heller Wahnſinn? Wir finden das nicht. Wir hegen dieſe Hoffnung, beteuerte Trupp hartz naͤckig.
Auban fiel ein: „Was macht euer Blatt?“
— Es geht langſam. Lieſt du es?
— Ja. Aber doch nur ſelten. Ich habe das wenige Deuſch verlernt, das ich auf der Schule hoͤrte.
— Wir redigieren es auch zuſammen. Ohne Kommiſſion, ohne Redakteur. An einem Abend der Woche kommen zuſammen, die Luſt und Zeit haben, und das Eingelaufene wird verleſen, beſprochen und zuſammengeſtellt.
— Deshalb iſt der Inhalt aber auch ſo merkwuͤrdig verſchieden und uneinheitlich. Nein, hinter einem Blatte muß eine Perſoͤnlichkeit ſtehen, eine volle, intereſſante Perſoͤnlichkeit —
Trupp unterbrach ihn ungeſtuͤm.
— Ja, und dann hätten wir wieder das ‚Führer: tum‘. Aus einem Verwalter wird immer ein Regierer — er ſah nicht das beiſtimmende Nicken Aubans — — hier im Kleinen, dort im Großen! Unſere ganze Be—
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wegung hat darunter furchtbar gelitten, unter dieſem Zen— tralismus. Wo im Anfang reine Begeiſterung war, iſt ſie in Selbſtgefaͤlligkeit aufgegangen; wirkliches Mitgefuͤhl und Liebe in dem Streben, ſelbſt die Retter zu ſpielen. So haben wir denn uͤberall ſchon oben und unten, die Herde und den Leithammel, auf der einen Seite den Duͤnkel, auf der anderen Seite gedankenloſe und fanatiſche Nachbeterei der Parteilehren —
— Aber du haſt mich in der Tat voͤllig mißverſtanden. Als ob ich je etwas anderes geglaubt haͤtte! Ich mißtraue uͤberhaupt einem jeden, der ſich anmaßt, andere vertreten, fuͤr andere ſorgen und die Verantwortung fuͤr anderer Angelegenheiten auf ſeine eigenen Schultern nehmen zu wollen. Kuͤmmere dich um deine eigenen Angelegen— heiten und laß mich fuͤr die meinen ſorgen — das iſt ein gutes Wort. Und wirklich Anarchismus.
— Ich bin auch Anarchiſt. N
— Nein, mein Freund, das biſt du nicht. Du ver⸗ trittſt in jeder Beziehung das Gegenteil der wirklich anarchiſtiſchen Ideen. Du biſt durch und durch Kommu— niſt, nicht nur deinen Anſichten, ſondern deinem ganzen Empfinden und Wuͤnſchen nach.
L Wer will mir das Recht beſtreiten, meine Ans ſichten anarchiſtiſch zu nennen?
— Niemand. Aber ihr bedenkt nicht, welche unheil: volle Verwirrung entſteht durch das Zuſammenwerfen ſo voͤllig verſchiedener Begriffe. Indeſſen warum jetzt uͤber die alte Frage ſtreiten! Komm am Sonntag. Wir koͤnnten wieder einmal diskutieren. Weshalb nicht?
— Meinetwegen. Du biſt und bleibſt ja doch der
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Individualiſt, zu dem du geworden biſt, ſeitdem du die ſoziale Frage „wiſſenſchaftlich“ ſtudiert haſt! Ich wollte, du waͤreſt noch derſelbe, der du warſt, als ich dich ſah in Paris, mein Lieber!
— Nein, ich nicht, Otto! ſagte Auban und lachte laut auf.
Trupp war gereizt.
— Du weißt nicht, was du verteidigſt! Iſt der In⸗ dividualismus etwa nicht die Entfeſſelung aller ſchmutzigen Leidenſchaften des Menſchen, des Egoismus vor allem, und hat er nicht all dies Elend geſchaffen, — die Freiheit auf der einen —
Auban blieb ſtehen und ſah den Sprechenden an.
— Heute Freiheit des Einzelnen? Heute, wo wir im komplizierteſten und brutalſten Kommunismus ſtecken, wie nie vorher? Heute, wo der einzelne von ſeiner Ge— burt an bis zu feinem Tode vom Staat, von der Gemein: ſchaft mit Beſchlag belegt wird? — Geh die Welt zu Ende und ſage mir, wo ich dieſen Verpflichtungen ent— gehen und Ich ſein kann. Ich will hingehen in dieſe Freiheit, die ich vergebens geſucht habe, ſo lange ich lebe.
— Aber deine Anſichten geben der Bourgeoiſie nur neue Waffen in die Hand —
— Wenn ihr die Waffen nicht ſelbſt gebraucht, die einzigen uͤberhaupt, an die ich noch glaube. Nur dann. — Und ſicher: ſie, — dieſe langſam reifenden Ideen des Egoismus (mit Abſicht brauche ich dies Wort) — ſie ſind in gleicher Weiſe gefaͤhrlich den heutigen Zuſtaͤnden wie ſie es ſein werden, wenn wir in den Hafen des alles begluͤckenden Volksſtaates, in den verdichteten Kom—
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munismus, eingelaufen find — gefährlicher als all eure Bomben und alle Bajonette und Mitrailleufen der heutigen Machthaber.
— Du haft dich fehr verändert, ſagte Trupp ernſt.
— Nein, Otto. Ich habe mich nur ſelbſt gefunden.
— Wir muͤſſen darauf zuruͤckkommen. Es muß ſich entſcheiden —
— Ob ich noch zu euch gehoͤre oder nicht? Das iſt doch wohl nur eine Redensart. Denn der Freie — und du willſt doch die ganze, unbeſchraͤnkte Autonomie des Individuums — kann nur ſich ſelbſt gehoͤren.
Sie waren jetzt in Charlotte Street eingetreten, die in ihrer Laͤnge und truͤben Dunkelheit vor ihnen lag.
Sie bogen in eine der Nebenſtraßen ein, in einen der faſt menſchenleeren und halbhellen Durchgaͤnge, welche ſich oͤſtlich nach dem Lärm von Tottenham Court Road hinziehen.
— Wir muͤſſen jetzt deutſch ſprechen, ſagte Auban in dieſer Sprache, die aus ſeinem Mund ungeuͤbt und fremd klang.
Sie ſtanden ſtill vor einem ſchmalen, hellange— ſtrichenen Hauſe.
uͤber der Tuͤr, auf der durch das dahinter flackernde Licht erhellten Scheibe ſtand der Name des Klubs.
Trupp ſtieß ſchnell die Tuͤr auf und ſie traten ein.
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Zweites Kapitel
Die elfte Stunde
Am Abend des Freitags der naͤchſten Woche fuhr Carard Auban die endlos lange City Road mit dem Omnibus hinunter. Er ſaß neben dem Kutſcher — einem
Gentleman mit Seidenhut und tadelloſem Außern — und
verfolgte ungeduldig die allmaͤhliche Abnahme der Ent— fernung, welche ihn von ſeinem Ziele trennte. Er war erregt und mißgeſtimmt. Als der Wagen am Finsbury Square hielt, ſprang er ſchnell ab, eilte das Pavement bis zur naͤchſten Querſtraße hinunter, nachdem er einen orientierenden, pruͤfenden Blick auf die Lage der Straßen geworfen hatte, und befand ſich nach wenigen Minuten an den Treppen von South Place Inſtitute.
Schon von weitem war eine ungewoͤhnlich ſtarke Menſchenanſammlung bemerkbar. In Entfernungen von je einigen Schritten ſtanden Poliziſten. Die Tuͤren des dunklen, kirchenartigen Gebaͤudes waren weit geoͤffnet; als Auban ſich mit dem Strom langſam hineindraͤngte, wechſelte er mit einigen Bekannten, die ſich dort aufge- ſtellt hatten und die Zeitungen ihres Vereins oder ihrer Rich— tung verkauften, fluͤchtige Worte des Grußes. Aus den Ant- worten ſprach oͤfters Erſtaunen oder Freude, ihn zu ſehen.
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Er nahm mit, was er von den feilgebotenen Blaͤttern erlangen konnte: „Commonweal“ das intereſſante Organ der Socialist League; „Justice“, das Parteiorgan der Socialdemocratic-Federation; und einige Nummern der neuen deutſchen Zeitſchrift „Londoner Freie Preſſe“, dem Unternehmen einer Anzahl deutſcher Sozialiſten ver— ſchiedenſter Richtung, welches einen Zentralpunkt ihrer Anſichten bilden und der Propaganda unter dem deutſch— redenden Teil der Londoner Bevoͤlkerung dienen ſollte. Auban kehrte nie von dieſen Meetings zuruͤck, ohne die Bruſttaſche mit Zeitſchriften und Pamphleten angefüllt zu haben.
An der inneren Eingangstuͤr wurde die Reſolution des Abends verteilt; große, klarbedruckte Quartblätter.
Der Saal war von ziemlich gleicher Breite und Tiefe; an den Waͤnden zog ſich eine breite Galerie hin, die bereits faſt gefuͤllt war. Im Hintergrund befand ſich eine mannshohe Empore, auf der eine Anzahl von Stuͤhlen fuͤr die Sprecher aufgeſtellt war. Sie war noch leer. Der Saal machte den Eindruck einer zu kirchlichen Zwecken beſtimmten Halle. Darauf deutete auch die Form der Baͤnke hin. d
An dieſem Abend jedoch war nichts bemerkbar von dem gleichguͤltigen, mechaniſch-ſtillen Treiben einer reli— giöfen Verſammlung. Eine aufgeregte, lebhaft bewegte, ihre Gedanken laut austauſchende Menge nahm die Baͤnke ein. Auban uͤberſah fie ſchnell. Er ſah zahlreiche bekannte Geſichter. An der Ecke des Saales, in der Naͤhe der Plattform, ſtanden einige der Redner des Abends. Auban durchſchritt die Reihen der ſich ſtetig fuͤllenden Baͤnke
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und ging auf die Gruppe zu. Mit einzelnen wechſelte er einen ſtillen Haͤndedruck; anderen nickte er zu.
— Nun, Sie werden doch auch ſprechen, Mr. Auban? wurde er gefragt.
Er ſchuͤttelte abwehrend den Kopf.
— Ich mag nicht engliſch reden, uͤberhaupt nicht reden. Das iſt vorbei. Und was ſollte ich ſagen? Was man ſagen moͤchte, darf man nicht ausſprechen. — Es iſt ein gemiſchtes Meeting? fragte er dann leiſer einen neben ihm Stehenden, den bekannten Agitator eines deutſch— revolutionaͤren Klubs.
— Jawohl, Radikale, Freidenkeriſche, Liberale — alles moͤgliche. Sie werden ſehen, die meiſten Redner werden ſich dagegen verwahren, Sympathie mit dem Anarchismus zu hegen.
L Haben Sie Trupp nicht bemerkt?
— Nein, der wird wohl nicht kommen. Ich habe ihn noch nie auf einer dieſer Verſammlungen geſehen.
Auban ſah ſich um. Der Saal war bereits zum Erſticken gefuͤllt; die Gaͤnge zwiſchen den Baͤnken dicht beſetzt; um die große Gruppenphotographie der Chicagoer Verurteilten, welche im breiten Goldrahmen unter dem Rednertiſche hing, draͤngte ſich eine Anzahl von Arbeitern. An dem Tiſche daneben machten ſich mehrere Zeitungs— reporter ihre Papierpauſen zurecht.
An den Eingaͤngen wurde das Gedraͤnge immer leb— hafter. Die Tuͤren waren weit geoͤffnet. An dem Schieben und Stoßen konnte man ſehen, daß große Maſſen noch Einlaß begehrten. Einzelne draͤngten ſich gluͤcklich bis zu den vorderſten Sitzen vor, wo noch Raum war, wenn
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man zuſammenruͤckte. Als Auban dies ſah, ſicherte auch er ſich ſchnell einen Platz, denn ſein lahmes Bein er— laubte ihm nicht ein ſtundenlanges Stehen.
Er ſtemmte ſeinen Stock auf und kreuzte die Fuͤße. So blieb er den ganzen Abend ſitzen. Er konnte den ganzen Saal uͤberſehen, da er auf einer der ſeitlichen Baͤnke ſaß; die Rednerbuͤhne lag dicht vor ihm.
Er zog die Reſolution aus der Taſche und las ſie aufmerkſam und langſam durch, wie auch die Namen: liſte der Sprecher: „mehrere der hervorragendſten Radikalen und Sozialiſten.“ Er kannte die Namen und ihre Traͤger ſaͤmtlich, obwohl er kaum einen von ihnen im letzten Jahre wiedergeſehen hatte.
„Das Recht der freien Rede“ ſtand auf der Tages: ordnung. „Sieben Männer wegen Abhaltung einer öffent: lichen Verſammlung zum Tode verurteilt.“ Die Re— ſolution lautete: „— Daß die engliſchen Arbeiter in dieſer Verſammlung eindringlich ihre Mitarbeiter in Amerika auf die große Gefahr fuͤr die oͤffentliche Freiheit auf— merkſam zu machen wuͤnſchen, welche entſteht, wenn ſie zugeben, daß Buͤrger fuͤr den Verſuch des Widerſtandes gegen die Unterdruͤckung des Rechtes auf öffentliche Ver: ſammlungen und der freien Rede beſtraft werden, da ein Recht, fuͤr deſſen Erzwingung das Volk beſtraft wird, dadurch offenbar zu keinem Recht, ſondern zu einem Unrecht wird.
Daß das Schickſal der ſieben Maͤnner, uͤber welche das Todesurteil für Abhaltung einer oͤffentlichen Ver— ſammlung in Chicago, auf der mehrere Poliziſten bei dem Verſuch der gewaltſamen Vertreibung des Volkes
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und der Unterdruͤckung der Sprecher getoͤtet wurden, verhaͤngt iſt, von groͤßter Wichtigkeit fuͤr uns als eng— liſche Arbeiter iſt, da ihr Fall heute der Fall unſerer Kameraden in Irland und vielleicht morgen der unſere iſt, wenn nicht die Arbeiter auf beiden Seiten des At— lantic einſtimmig erklaͤren, daß Alle, welche ſich in die Rechte der Abhaltung oͤffentlicher Verſammlungen und der freien Rede miſchen, ungeſetzlich und auf ihre eigene Gefahr hin handeln. Wir koͤnnen nicht zugeben, daß die politiſchen Anſichten der ſieben verurteilten Maͤnner mit dem hineingezogenen Prinzip irgend etwas zu tun haben, und wir proteſtieren gegen ihre Verurteilung, welche, wenn ſie ausgefuͤhrt wird, in Wirklichkeit das Abhalten von Verſammlungen der Arbeiter in ihrem eigenen Intereſſe zu einem Hauptverbrechen in den Ver— einigten Staaten von Amerika ſtempeln wird, da immer die Moͤglichkeit fuͤr die Autoritaͤten gegeben iſt, eine Menge durch Gefaͤhrdung ihres Lebens zum Widerſtand zu reizen. Wir erwarten von unſern amerikaniſchen Kameraden, ſeien auch ihre politiſchen Anſichten noch ſo verſchieden, daß ſie die unbedingte Freilaſſung der ſieben Maͤnner, in deren Perſonen die Freiheiten aller Arbeiter jetzt gefährdet find, verlangen ...“
Als Auban geendet hatte, ſah er neben ſich einen alten Herrn mit langem, weißen Bart und freundlichen Geſichtszuͤgen.
— Mr. Marell, rief er ſichtlich erfreut, — Sie ſind wieder hier? Welche Überraſchung!
Sie ſchuͤttelten ſich herzlich die Haͤnde.
— Ich wollte Sie nicht ſtoͤren — Sie laſen.
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Sie ſprachen engliſch zuſammen.
— Wie lange ſind Sie wieder hier?
— Seit geſtern.
— Und waren Sie in Chicago?
— Ja, vierzehn Tage; dann in New Pork.
— Ich hatte Sie nicht erwartet —
— Ich konnte es nicht mehr ertragen, ſo kam ich wieder.
— Sie ſahen die Verurteilten?
— Gewiß, oft.
Auban beugte ſich zu ihm und fragte leiſe:
— Es iſt keine Hoffnung?
Der Alte ſchuͤttelte den Kopf.
— Keine. Die letzte liegt beim Gouverneur von Illinois, aber ich glaube nicht an ihn.
Leiſe ſprachen ſie weiter.
— Wie iſt die Stimmung?
— Die Stimmung iſt gedruͤckt. Die knights of Labour und die Georgianer halten ſich zuruͤck. — Es iſt uͤber⸗ haupt manches anders, wie man es ſich hier vorſtellt. Die Aufregung iſt ſtellenweiſe groß, aber die Zeit iſt noch nicht reif.
— Man wird alles verſuchen —
— Ich weiß nicht. Jedenfalls wird alles unmoͤg⸗ lich ſein
Sie ſchwiegen beide. Auban ſah noch ernſter aus als gewöhnlich, Aber was für ein Gefühl es war, welches ſeine Seele beherrſchte, war auch jetzt nicht zu erkennen.
— Wie ſind die Verurteilten?
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— Sehr ruhig. Einige wollen keine Begnadigung, und ſie werden in dieſem Sinne ſich ausſprechen. Aber ich fuͤrchte, die andern hoffen immer noch —
Es war nach acht Uhr. Die Verſammlung begann ungeduldig zu werden; die Stimmen wurden lauter.
Auban fragte weiter, und der Alte antwortete mit ſeiner ruhigen, traurigen Stimme.
— Sie werden ſprechen, Mr. Marell?
— Nein, mein Freund. Es iſt ein anderer, juͤngerer da, er kommt auch von Chicago, und er will einiges von dort erzaͤhlen.
— Sind Sie morgen zu Hauſe?
— Ja, kommen Sie. Ich werde Ihnen die Ver: handlungen geben und die neueſten Zeitungen. Ich habe viel mitgebracht. Alles, was ich auftreiben konnte. Viel. Sie werden, wenn Sie alles leſen wollten, ein gutes Bild unſerer amerikaniſchen Zuſtaͤnde bekommen.
— Ein neuer Prozeß wird nicht bewilligt werden.
— Hoffentlich nicht. Es wuͤrde ja nichts nuͤtzen, die Qual, die fo ſchon unerträglich iſt, würde nutzlos ver: laͤngert werden, es muͤßten neue, ungemeſſene Mittel vom Volke aufgebracht werden — noch einmal 50000 Dollars, aus Arbeiterpfennigen zuſammengehaͤuft — und wozu? — nein, die Hyaͤne will Blut —
— Und das Volk?
— Das Volk weiß ſelbſt nicht, was es will. Einſt⸗ weilen glaubt es noch nicht an den Ernſt der Sache, und wenn der Elfte da iſt, iſt es zu ſpaͤt!
In ihr Geſpraͤch miſchte ſich ein junger Englaͤnder,
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der Marell von der Socialist League her kannte. Auban ſah auf. Jener ſagte finſter:
— Nein, ich glaube noch immer nicht daran. Man mordet am Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Anz geſicht der Völker öffentlich nicht ſieben Menſchen, deren Unſchuld ſo klar erwieſen wie der Tag iſt; man ſchlachtet Tauſende und Abertauſende hin, aber man hat nicht mehr den Mut, in einem Lande mit den Inſtitutionen der Staaten ſo nur auf die Gewalt zu pochen und die Geſetze zu verhoͤhnen. Nein, ſie tun es deshalb nicht, weil es von ihrem Standpunkt aus ein Wahnſinn waͤre, das Volk auf ſolche Weiſe aufzuklaͤren und aufzuruͤtteln. Nein, ſie werden es nicht wagen! Sehen Sie hin, hier allein dieſe Vielen und ſo taͤglich in allen freieren Laͤndern, hier und druͤben, dieſe Verſammlungen, dieſe Zeitungen, dieſe Flut von Flugſchriften! Wo iſt der Menſch, der noch Vernunft und Herz hat und ſich nicht empoͤrt — ſind die Scharen zu zaͤhlen, die druͤben ſich erheben? Ihr Wille ſollte nicht ſtark genug fein, um jenen er: kauften Schurken Furcht einzujagen, daß ſie abſtehen von ihrer Freveltat? Nein, ſie werden es nicht wagen, Comrade! Es waͤre ihr eigenes Verderben!
Die beiden, zu denen er ſprach, zuckten die Achſeln. Was ſollten ſie ihm antworten? —
Sie hatten beide in dem Kampfe der beiden Klaſſen ſo viele Scheußlichkeiten von denen begehen ſehen, welche die Gewalt in Haͤnden haben, daß ſie ſich fragen mußten, was es ſein wuͤrde, das ſie noch in Erſtaunen und Ent⸗ ruͤſtung zu ſetzen vermoͤchte? —
Auban ſah, wie die Haͤnde des Alten zitterten, in
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denen er einen grauen, abgetragenen Hut hielt, und wie er dieſes leichte Zittern, in welchem ſich ſeine ganze innere Erregung kundgab, dadurch zu verbergen ſuchte, daß er nachlaͤſſig mit ihm ſpielte.
— Sie glauben, den Anarchismus ins Herz zu treffen, wenn ſie einige ſeiner Vertreter haͤngen, ſagte er nun. Auban merkte, daß er jetzt nicht naͤher auf das Geſpraͤch eingehen wollte, und ſchwieg.
Aber er dachte weiter: „Was iſt Anarchismus?“ — Die in Chicago Verurteilten? — Ihre Anſichten waren teils ſozialdemokratiſch, teils kommuniſtiſch, nicht zwei haͤtten auf irgendeine ihnen vorgelegte und die Grund— ideen betreffende Frage gleichlautend geantwortet — und doch nannten ſich alle und wurden alle „Anarchiſten“ genannt; aber wann hatte der Individualismus trotziger geſprochen als aus den Worten jenes jungen Kommuniſten, welcher feinen „Richtern“ zugedonnert hatte: „Ich ver achte euch, ich verachte eure Geſetze, eure „Ordnung“, eure Gewaltherrſchaft“ — und: „Ich bleibe dabei: wenn man uns mit Kanonen bedroht, werden wir mit Dynamit⸗ bomben antworten” —?
Und weiter der Greis, der neben ihm ſaß! Auch er nannte ſich „Anarchiſt“ ... Und was predigte er immer und immer wieder in ſeinen zahlloſen Flug— ſchriften? Die Liebe. f
— „Was iſt Anarchie?“ — fragte er. Und antwortete: „Es iſt ein Geſellſchaftsſyſtem, in welchem keiner die Handlungen ſeines Nachbarn ſtoͤrt; wo Freiheit frei von Geſetz iſt; wo Vorrecht nicht exiſtiert; wo Gewalt
nicht der Ordner menſchlicher Handlungen iſt. — Das vun 5
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Ideal iſt das zweitauſend Jahre früher von dem Nazarener verkuͤndete: die allgemeine Bruͤderlichkeit der ganzen menſchlichen Familie.“ — Und ſchmerzlich rief er immer wieder aus: „Rache iſt die Lehre, gepredigt von der Kanzel, von der Preſſe, von allen Klaſſen der Geſellſchaft! — Nein, Liebe! Liebe! Liebe! predigt! ...“
Auban, welcher ſich an dieſe Worte erinnerte, dachte daran, wie gefährlich es doch war, jo allgemein, fo ver⸗ ſchwommen, ſo obenhin zu denen zu ſprechen, die noch ſo wenig verſtanden, den Sinn und den Wert der Worte zu prüfen. So ballte ſich mehr und mehr das Unver: einbare und das Fremde zu einem Knaͤuel zuſammen, vor deſſen Loͤſung viele zuruͤckſchreckten, die ſonſt gerne den einzelnen Fäden nachgegangen wären...
Auban hatte den alten Herrn erſt vor kurzem kennen gelernt. Es war auf einer Debatte geweſen, in welcher uͤber die Unterſchiede des individualiſtiſchen und des kom— muniſtiſchen Anarchismus disputiert wurde. Mr. Marell war der einzige geweſen, welcher — wie er ſelbſt glaubte — den erſteren vertrat. Seine Darlegungen hatten Auban intereſſiert. Er hatte in ihnen trotz ihrer Inkonſequenz manches ſeinen eigenen Ergebniſſen Verwandte gefunden. So waren ſie miteinander bekannt geworden und hatten ſich einige Male geſehen, bevor jener nach Amerika zurück kehrte, um dort, wie er ſagte, noch zu tun, was in feinen Kräften ſtand. Da er nie über ſich ſprach, wußte Auban nicht, welcher Art diefe Bemühungen fein ſollten, und nach dem, was er heute abend von ihm gehoͤrt hatte, konnte er ſehen, daß auch ſie erfolglos ge— blieben waren. Jedenfalls ſchien dieſer Mann ein ſehr
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ausgezweigtes Netz von Verbindungen aller Art in der Hand zu haben, denn er kannte ſowohl alle bei dem Prozeß der acht beteiligten Perſoͤnlichkeiten, wie er auch uͤber die Ausdehnung der anarchiſtiſchen Lehren in Amerika, wie es ſchien, genau unterrichtet war.
Seine Flugblaͤtter waren ſaͤmtlich mit „Der Unbekannte“ unterzeichnet. — In London fiel der Alte wenig auf. Er ſprach ſelten oͤffentlich und die Flut der revolutionaͤren Bewegung Londons treibt zu viele Perſoͤnlichkeiten heute an die Oberflaͤche, um ſie morgen wieder zu verſchlingen, als daß in dieſem beſtaͤndigen Kommen und Gehen dem fluͤchtig Voruͤberziehenden beſondere Aufmerkſamkeit ge— ſchenkt werden koͤnnte. f
Er fragte den Englaͤnder jetzt nach einigen der An— weſenden. Auban lehnte ſich zuruͤck.
— Wer iſt das?
Er zeigte auf eine Frau in einfachem, dunklen Kleide, welche in ihrer Naͤhe ſaß. Ihre ausgepraͤgten Zuͤge ver— rieten lebendigſtes Intereſſe an allem, was um ſie her vorging, und ſie ſprach lebhaft und lachend mit ihrer Nachbarin.
— Ich weiß nicht, antwortete der Engländer, Aber dann erinnerte er ſich, ſie einmal in einem der deutſchen Klubs geſehen zu haben, und er fuͤgte hinzu:
— Ich weiß nur, daß ſie eine Deutſche iſt, eine deutſche Sozialiſtin. Ehrgeizig, aber ein gutes Herz. Sie hat lange in Berlin fuͤr die Abſchaffung der aͤrztlichen Unterſuchung der Proſtituierten gewirkt.
Der wißbegierige Alte fragte den vor ihm Stehenden
weiter. 5*
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— Und wer iſt das, mit dem ſie jetzt ſpricht?
Der Englaͤnder ſah hin. Es war ein junger Mann, den er ebenfalls nur fluͤchtig kannte. 5
— Ich glaube, das iſt ein Dichter, ſagte er. Sie laͤchelten beide.
— Er hat ein ſoziales Gedicht geſchrieben.
— Haben Sie es geleſen?
— O nein, ich leſe nicht deutſch.
— Er ſieht weder aus wie ein Dichter, noch wie ein Sozialiſt. Glaubt er, mit feinen Gedichten die Welt ver— beſſern zu koͤnnen? — Er wird eines Tages ſehen, wie nutzlos ſie ſind und daß die Menſchen zuerſt Brot haben muͤſſen, ehe ſie an anderes zu denken imſtande ſind. Wenn man nichts zu eſſen hat, hoͤrt die Poeſie auf.
Der Juͤngere laͤchelte uͤber den Eifer des Alten, welcher ungeſtoͤrt fortfuhr, waͤhrend Auban die Menge muſterte:
— Man kann die zarteſten Liebesgedichte ſchreiben und wie ein Metzgermeiſter den blutigſten Scheußlichkeiten zu— ſehen. Und man wird hingehen und eine Jubelhymne auf die „tapferen Krieger“ dichten, die Moͤrder, welche bluttriefend aus den Schlachten kommen. Man kann die „Leiden der Voͤlker“ beſingen und in der naͤchſten Stunde der „gnaͤdigen Frau“ im Ballſaale die Hand kuͤſſen, die kurz vorher den Bedienten geohrfeigt hat. Aber woruͤber ſprechen wir denn? Sagen Sie mir lieber, wer jener Mann dort iſt?
— Einer von unſeren Parlamentskandidaten. Ein charakterloſer Lump. Ein Schreier. Wenn er die Macht haͤtte, wuͤrde er ein Tyrann ſein. Aber auch ſo verdirbt er genug.
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Sie wandten jetzt beide ihre Aufmerkſamkeit der Ver⸗ ſammlung zu. Auban war noch immer in Gedanken verſunken. Die Stuͤhle auf der Empore hatten ſich be— ſetzt mit den Vertretern und Abgeſandten aller Ver— einigungen, welche das Maſſenmeeting einberufen hatten.
Man ſah einige Frauen unter ihnen. — Den Chair hatte ein blaſſer, etwa vierzigjaͤhriger Mann in der Tracht eines Prieſters der Hochkirche eingenommen. Er wurde mit Beifall begruͤßt, als ſeine Erwaͤhlung zum Chairman mitgeteilt wurde. Auban kannte ihn, es war ein chriſt⸗ licher Sozialiſt, der ſeit langen Jahren unter den Armen des Eaſt End wirkte. Wegen ſeiner Geſinnungen war ihm das Recht der Ausuͤbung ſeines Berufes entzogen worden. Die Kirche iſt der groͤßte Feind jedes Cha— rakters.
Er eroͤffnete jetzt die Verſammlung. Er ſagte, daß dieſelbe aus Menſchen der verſchiedenſten Lebensanſchau— ungen zuſammengeſetzt ſei, aus Radikalen und Anti⸗ ſozialiſten jo gut, wie aus Anarchiſten und Sozialiſten, die aber in dem einen Wunſche ſich geeinigt haͤtten, gegen die Unterdruͤckung des Rechtes der freien Rede zu prote— ſtieren. Er ſei kein Anarchiſt, wie die in Chicago Ver— urteilten, er habe eine ſtarke Abneigung gegen ihre Dok— trinen, aber er fordere fuͤr ihre Ausleger und Anhaͤnger genau dieſelbe oder eine noch groͤßere Freiheit, wie er ſie ſelbſt — der Prieſter einer chriſtlichen Kirche — fuͤr die Kundgebung ſeiner eigenen Anſichten fuͤr ſich in An⸗
ſpruch nehme. Fuͤr Alle ſei das Recht das gleiche, dem,
was ſie als Wahrheit erkannt haͤtten und fuͤr Wahrheit hielten, zu dienen, und darum verlange er im Namen
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feines Gottes und im Namen der Menſchlichkeit die Frei⸗ laſſung dieſer Männer.
Als er geendet hatte, wurde eine große Anzahl von Telegrammen, Zuſtimmungsadreſſen und Briefen aus allen Gegenden Englands verleſen. Viele derſelben wurden mit Jubel aufgenommen.
Auban wußte, daß manche dieſer Vereinigungen ihre Mitglieder nach Tauſenden zaͤhlten; er hoͤrte unter den verleſenen Namen einige von groͤßtem Einfluß. Maͤnner der Feder, deren Werke jedermann las — was taten ſie alle, die ebenſo wie er ſelbſt von der Ruchloſigkeit jenes Urteils uͤberzeugt waren? Sie beruhigten ihr Gewiſſen mit einem Proteſt. Was haͤtten ſie tun koͤnnen? Ihr Einfluß, ihre Stellung, ihre Macht — ſie waͤren vielleicht ſtark und eindringlich genug geweſen, die Ausuͤbung jener Tat unmoͤglich zu machen einer zum Bewußtſein gekommenen und allgemeinen Entruͤſtung gegenuͤber. Aber ihr Name und ihr Proteſt — er verhallte hier vor den wenigen wirkungslos. Auch ſie waren die Knechte ihrer Zeit, ſie, die ihre wahren Herrſcher haͤtten ſein koͤnnen.
Aus ſeinen Gedanken wurde Auban durch eine Stimme aufgerüttelt, welche er oft vernommen hatte. Neben dem Tiſche auf der Plattform ſtand eine kleine, ſchwarz ge— kleidete Frau. Unter der Stirne, welche halb von dichtem, kurz geſchnittenem Haar wie von einem Kranze bedeckt war, leuchteten ſchwarze, begeiſterte Augen. Die weiße Halskrauſe und das überaus einfache, faſt moͤnchiſche, lang niederwallende Gewand ſchienen einem vergangenen Jahr- hundert anzugehoͤren. Nur wenige aus der Verſammlung
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Schienen fie zu kennen; wer fie aber kannte, der wußte, daß fie die treueſte, tätigfte und leidenſchaftlichſte Vor— kaͤmpferin des Kommunismus in England war. Auch ſie nannte ſich Anarchiſtin.
Sie war keine hinreißende Sprecherin; aber in ihrer Stimme lag jener Stahlklang unerſchuͤtterlicher Über: zeugung und Ehrlichkeit, der den Hörer oft mehr packt als die glaͤnzendſte Vortragskunſt.
Sie gab ein Bild aller jener Ereigniſſe, welche in Chicago der Verhaftung und Verurteilung der Genoſſen vorhergegangen waren. Klar — Schritt fuͤr Schritt — zogen dieſelben an den Augen der Hörer voruͤber ...
Sie erzaͤhlte von dem Entſtehen und Wachſen der Achtſtundenbewegung in Amerika, von den Bemuͤhungen früherer Jahre, den achtſtuͤndigen Arbeitstag bei der Re⸗ gierung durchzuſetzen; von ihren Erfolgen ... Sie er⸗ klaͤrte, wie es gekommen war, daß die Revolutionaͤre von
Chicago ſich der Bewegung angeſchloſſen hatten, ohne ſich
uͤber ihre Bedeutung und ihren eigentlichen Wert zu taͤuſchen; von den unermuͤdeten Beſtrebungen der Inter— nationalen Arbeiteraſſoziation; und wie jene Maͤnner, welche jetzt ihren Tod vor Augen ſahen, an die Spitze der Stroͤmung getrieben wurden . .
Sie verfuchte dann, jene ungeheure Aufregung zu ſchildern, welche den Maitagen des vorigen Jahres voran— ging: die fieberhafte Spannung in den Kreiſen der Ar— beiter, die erwachende Angſt in denen der Ausbeuter ... Die reißende Zunahme der Streikenden, bis zu jenem Tage, dem erſten Mai, der, von allen erwartet, die Ent: ſcheidung herbeiführen ſollte .
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Dann ließ ſie die Maitage ſelbſt vor den Augen der Verſammlung emporſteigen: „— mehr als 25000 Arbeiter legen an ein und demſelben Tage ihre Arbeit nieder; in Zeit von drei Tagen hat ſich ihre Zahl verdoppelt. Der Streik iſt ein allgemeiner. Die Wut der Kapitaliſten iſt nur mit ihrer Angſt vergleichbar. Allabendlich werden an vielen Orten der Stadt Meetings abgehalten. Die Regierung entſendet ihre Buͤttel und laͤßt in eine dieſer friedlichen Znſammenkuͤnfte feuern: fuͤnf Arbeiter bleiben auf der Stelle.
— Wer hat die Mörder dieſer Männer zur Rechenſchaft gezogen? — Niemand!
Die Rednerin machte eine Pauſe. Man hoͤrte ihre innere Erregung aus dem Klange ihrer Stimme heraus, als ſie fortfuhr:
— Am folgenden Abend wird von den Anarchiſten auf dem Haymarket ein Meeting einberufen. Es iſt ordent- lich; die Anſprachen der Redner ſind trotz dem Vorher— gegangenen ſo wenig aufreizend, daß der Mayor von Chicago — bereit, bei dem erſten ungeſetzlichen Wort die Verſammlung aufzuloͤſen — dem Polizeiinſpektor bedeutet, er koͤnne ſeine Leute nach Hauſe ſchicken. Aber ſtatt deſſen laͤßt derſelbe ſie abermals gegen die Verſammelten anruͤcken. In dieſem Augenblick fliegt von unbekannter Hand eine Bombe in die Reihen der Mae Die Polizei eröffnet ein moͤrderiſches Feuer ...
— Wer hat die Bombe geworfen? — Vielleicht die Hand eines Verzweifelten, der ſich ſo gegen die neue Niedermetzelei verteidigen wollte; vielleicht — es war die in den Arbeiterkreiſen Chicagos vorherrſchende Meinung —
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einer der beauftragten Agenten der Polizei ſelbſt: denn wer kennt nicht die Mittel, zu denen unſere Gegner greifen, um uns zu vernichten? — War es ſo, dann hat er ſeine Sache wohl beſſer gemacht, als man ſelbſt erwartet hatte
— Wer hat die Bombe geworfen? — Wir wiſſen es ſo wenig, wie jene acht Maͤnner es wiſſen, die in dem ungeheuren Entſetzen, welches ſich nach dieſer Stunde uͤber Chicago breitete, aufs Geradewohl herausgegriffen wurden, da ſie die bekannteſten Namen in der Bewegung trugen, obwohl mehrere von ihnen uͤberhaupt auf der Verſammlung nicht zugegen geweſen waren. Aber was tat das? Es hinderte den Gerichtshof ebenſowenig, ſie gefangen zu nehmen, wie es ihn hinderte, ſie der ge— heimen Verſchwoͤrung fuͤr ſchuldig zu erklaͤren, trotzdem ſich einige unter ihnen nie vorher geſehen hatten.
— Weshalb ſind ſie verurteilt? ſchloß ſie. — Nicht weil ſie ein Verbrechen begangen haben — nein, weil ſie die Anwaͤlte der Armen und Unterdruͤckten geweſen ſind! Nicht weil ſie Moͤrder ſind — nein, weil ſie es gewagt haben, dem Sklaven uͤber die Gruͤnde ſeiner Sklaverei die Augen zu oͤffnen. Dieſe Maͤnner, deren tadellofer Charakter ſogar nicht von den gehaͤſſigſten Angriffen der „Organe der öffentlichen Meinung“ be= ſchmutzt werden konnte, werden gehängt, weil fie ſelbſt— los, wahr und treu ihren Überzeugungen gedient haben in einer Zeit, in welcher unangetaſtet nur der bleibt, welcher als Luͤgner mit den Luͤgnern geht!
Sie ſchwieg. Alles hatte geſpannt zugehoͤrt. Jetzt klatſchten viele.
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Auban verfolgte ſie mit ſeinen durchdringenden Blicken, wie ſie die Treppe der Empore in den Saal hinunterſtieg und ſich, als ſie alle Baͤnke beſetzt fand, unbekuͤmmert und gleichguͤltig auf den Stufen derſelben niederließ. Es war, als wollte er durch die Hand, welche ſie wie in koͤrperlichen Schmerzen vor die Augen breitete, hindurchſehen in die Tiefe ihrer Seele, um auch hier die Beſtaͤtigung feiner tiefſten Überzeugung zu finden, welche die letzte war, die zu erwerben iſt: die Selbſtſucht alles Seienden. Und auch hier ſcheute er ſich nicht einen Augenblick, ſich zu geſtehen, daß dieſe Frau gluͤcklicher ſein mußte in dieſem Leben voll Muͤhe, Aufopferung und Entſagung, als ſie es geweſen waͤre, wenn ſie jenes weitergelebt hätte, welches fie in Wohlhabenheit und Sorg— loſigkeit hatte aufwachſen laſſen, und welches ſie verlaſſen hatte, um — wie ſie und alle andern glaubten, — der „Sache der Menſchheit“ zu dienen, waͤhrend ſie auch dann nur, wenn auch voͤllig unbewußt, dem Rufe ihres eigenen Gluͤckes gefolgt war.
Das minutenlange Rauſchen und Sprechen im Saale legte ſich und Aubans Blicke und Gedanken wandten ſich wieder der Tribuͤne zu, von welcher die Stimme des Chairman den Namen des naͤchſten Redners herabrief.
— Sehen Sie dort, ſagte Mr. Marell zu Auban. — Dieſer junge Mann kommt von Chicago. Er wird Ihnen einiges von dort erzaͤhlen. Er iſt erſt heute von Liverpool hier eingetroffen.
Auban hoͤrte geſpannt zu: der Amerikaner erzaͤhlte einige der wenig bekannten Details des Prozeſſes, die das ganze Verfahren gegen die Angeklagten beſſer kenn—
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zeichneten als alles andere. Er beſchrieb die Hergaͤnge bei der Zuſammenſetzung der Jury, indem er die Worte des Bailiff anfuͤhrte: „Ich habe dieſen Fall in Haͤnden und weiß, was ich zu tun habe. Dieſe Leute werden auf alle Faͤlle gehaͤngt. Ich lade ſolche Maͤnner zur Wahl, welche die Verteidiger verwerfen muͤſſen — bis ſie bei denen angelangt find, welche fie wahllos annehmen muͤſſen ...“ Er ſchilderte die Perſoͤnlichkeiten des Staatszeugen, jenen verlogenen Schuft, der von der Polizei Geld erhalten hatte, um alles zu ſagen, was dieſe wollte ... die beiden andern Belaſtungszeugen, denen man die Wahl geſtellt hatte, entweder mitgehaͤngt zu werden oder frei auszu— gehen und die „Wahrheit“ zu ſagen. „Werden ſolche Menſchen nicht alles ſagen, was man von ihnen ver— langt, wenn ſie Tod oder Freiheit vor Augen haben?“ rief der Redner, und laute Zuſtimmungsrufe aus allen Teilen des Saales folgten ſeinen Worten. Als er dann die Worte jenes brutalen und beruͤchtigten Polizeihaupt— manns wiedergab: „— wenn ich nur tauſend dieſer Sozia— liſten und Anarchiſten gleichzeitig in einem Buͤndel zu— ſammen haͤtte, mit ihren verdammten Weibern und ihrer Brut, ich wuͤrde kurzen Prozeß mit ihnen machen“; und als er von jener ehrloſen „paid and packed jury“ welcher für ihre Dienſte“ von den Geldprotzen Chicagos durch den Mund eines ihrer Organe die Belohnung von hundert— tauſend Dollars angeboten war, ſprach, brach ein ungeheurer Sturm von Entruͤſtung und Verachtung los. Zwiſchenrufe wurden laut, Drohungen hoͤrbar, und noch wogte die Auf— regung zwiſchen den Reihen der Verſammlung, als ſchon der junge Amerikaner abgetreten war und einem kleinen
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Mann, gekleidet in langen Gehrock, mit dichtem und langem Vollbart, ſich lichtendem Haupthaar und unverkennbar ſlaviſchem Typus Platz gemacht hatte; und die Rufe der Entruͤſtung und des Unwillens verwandelten ſich plotzlich in jubelnde Zurufe des Erkennens und der Verehrung, der Begeiſterung und der Zuneigung.
Gewiß waren unter den Tauſenden nicht viele, welche dieſen Mann nicht kannten, der vertrauter begrüßt wurde, als irgendeiner der engliſchen Leader; die nicht ſchon vernommen hatten von ſeinen merkwuͤrdigen Schickſalen, ſeiner wunderbaren Flucht aus den Feſtungen Petersburgs, die ihn nach Frankreich und dort von neuem in das Gefaͤngnis fuͤhren ſollte, um ihn endlich hier in England eine letzte Zufluchtsſtaͤtte finden zu laſſen — vernommen in jener ſich widerſprechenden, ſich durchkreuzenden Weiſe, welche eine Perſon in den ferner ſtehenden Kreiſen von ſelbſt mit dem Schimmer des Fremden und Ungewoͤhn— lichen umgibt; welche nicht wußten, was dieſer Mann fuͤr die „Sache“ getan hatte und noch tat. Seine Schriften, verſtreut in den revolutionaͤren Organen des „anarchiſtiſchen Kommunismus“ aller Sprachen, waren es, die ſeit einer Reihe von Jahren fuͤr die kommuniſtiſchen Anarchiſten die unerſchoͤpfliche und oft einzige Quelle ihrer Propaganda bildeten. Jeder kannte ſie; jeder las ſie wieder. Seine Kraft, die er einſt der geheimen inneren Bewegung in Rußland gewidmet hatte, gehoͤrte nun der internationalen an; und gewiß hatte dieſe ebenſoviel an ihm gewonnen, als jene an ihm verlieren mußte. Dieſe Kraft war unerſetzlich, und weil jeder dies wußte, dankte es ihm jeder, der ihn ſah.
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Er war Kommuniſt. Das Blatt, welches in Paris in franzoͤſiſcher Sprache erſchien und welches er, dem der Aufenthalt dort unmoͤglich gemacht war, von London aus leitete, nannte ſich „kommuniſtiſch-anarchiſtiſch“. Er hatte es verſucht in geiſtvollen Aufſaͤtzen, welche in einer der bedeutendſten Monatsſchriften Englands erſchienen, die „wiſſenſchaftlichen Grundlagen“ ſeines Ideals zu geben, welches er glaubte Anarchie nennen zu duͤrfen. Aber auch aus dieſen Arbeiten, welche einen ungefaͤhren Begriff von dem Umfange der Kenntniſſe ihres Verfaſſers in bezug auf alle Fragen des Sozialismus und von ſeiner enormen Beleſenheit gaben, war es Auban nicht gelungen, ſich ein Bild von der Möglichkeit dieſer Theorien in der Wirklich—⸗ keit zu machen. Und er ſah auch aus dem Wahnglauben an dieſe neue und doch ſo alte Religion nichts ſprießen als eine neue Mißernte von Unfreiheit, Unordnung und innerlichſtem Elend ...
Waͤhrenddeſſen hatte der, dem dieſe Gedanken galten, in nervoͤſer Erregung — wie unzaͤhlige Male mochte er ſchon fo an dem Ufer des brauſenden Menfchenmeeres geſtanden haben! — darauf gewartet, daß ſich der Bei— fallsſturm legen moͤchte, der zu ihm hinaufbrauſte. Nun begann er in jenem harten, klaren Engliſch des Ruſſen, der die Sprachen aller Laͤnder ſpricht, in denen er lebt. Man glaubte ihn erſt nicht verſtehen zu koͤnnen; nach drei Minuten war es unmöglich, ein Wort feines leben— digen und hinreißenden Vortrages zu verlieren. „Als was erſcheinen die Vorgaͤnge in Chicago?“ fragte er. Und er gab die Antwort: „Als eine Rache an Gefangenen, die gemacht ſind in dem Kampf zwiſchen den beiden
großen Klaſſen. Wir proteftieren dagegen als gegen eine Grauſamkeit und eine Ungerechtigkeit. Es iſt die Schuld unſerer Gegner,“ rief er, „wenn ſolche Verbrechen den Kampf immer furchtbarer, immer erbitterter, immer un— verſoͤhnlicher machen. Es iſt das keine Angelegenheit, welche nur das amerikaniſche Volk angeht: das Unrecht, an den beſitzloſen Arbeitern jenes Landes veruͤbt, trifft uns mit gleicher Wucht. Die Arbeiterbewegung iſt ihrem ganzen Weſen nach international; und die Arbeiter jedes Landes haben die Pflicht, ihre Mitarbeiter in einem anderen aufzurufen und zu unterſtuͤtzen im Widerſtande gegen ſolche Verbrechen, welche an ihnen ſelbſt begangen werden!“
Er ſprach nicht ſehr lange; aber was er ſagte, erregte ihn wie die Hoͤrer gleichmaͤßig ſtark. Der unentrinnbare Ernſt ſeiner Worte, ſein blitzendes Auge, ſeine bebende Leidenſchaftlichkeit erweckten in dem Gleichguͤltigen eine Ahnung von der Bedeutung einer Sache, die er nicht verſtand, und ſtaͤrkte in deren Bekennern den Glauben an ihre Gerechtigkeit und an ihre Groͤße. In demſelben Moment, in dem er geendet, hatte er ſchon den Platz ver— laͤſſen, als wolle er ſich dem neu ausbrechenden Beifall entziehen, und ſaß im naͤchſten wieder ernſt und bleich unter den Zuhoͤrern, geſpannt mit ihnen die Worte ſeines Nachredners verfolgend, der — als Delegierter eines großen Londoner liberalen Klubs — darauf aufmerkſam machte, daß jene Ereigniſſe, welche heute druͤben ge— ſchehen, morgen ſchon hier im eigenen Lande ſich ereignen koͤnnten
Auban vernahm nicht mehr, was dieſer und jeder der noch nachfolgenden Redner ſagte. Er war in Ges
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danken verſunken. Noch immer ſaß er jo unbeweglich wie vor einer Stunde da, die Fuͤße uͤber den vorgeſtreckten Stock gekreuzt, die Haͤnde auf ſeinen Griff geſtemmt, und ſtarrte vor ſich hin. Die Stimmen der Redner, das Gemurmel wie das Beifallsrufen und ⸗klatſchen der Menge — das alles klang wie aus einer weit abliegenden Ferne zu ihm her. Er war oft in den letzten Tagen — beim Durchwandern brauſender Straßen — von dieſem Gefuͤhl der Abweſenheit uͤberwaͤltigt worden: dann dachte er an jene Tage, in welchen die Menſchheit aufatmend einmal wieder ſich befreit hatte von einem ihrer Tyrannen, und an die Tage, in welchen deſſen wertlofes und fluch— beladenes Leben geraͤcht wurde an vielen unſchaͤtzbar— teuren. Und er dachte an die Heldengeftalten jener Maͤrtyrer, an ihre ſchweigenden Opfer und an ihr nur einem Gedanken geweihtes Leben. Er dachte an ſie, ſo oft er einen von denen ſah, auf deren Stirnen noch der Schatten jener Tage zu liegen ſchien. Aber nicht mehr vermochte es ihm uͤber alles groß und beneidens— wert erſcheinen, jo zu leben und fo zu ſterben ... Vers fluͤchtigt hatte ſich jene Leidenſchaftsglut, welche ſeine ganze Jugend verzehrt hatte und welche in Aſche gelegt war unter den kalten Hauchen des Verſtandes, der un— aufhoͤrlich und raſtlos alle unſere wirren Gefühle be— kaͤmpft, bis er uns mit dem Glauben an die Gerechtigkeit auch den letzten genommen hat, und nun ſelbſt — als der einzig berechtigte — Leiter und Lenker unſeres Lebens geworden iſt.
Zuviel Blut hatte er fließen ſehen, als daß er nicht gewuͤnſcht haͤtte, die Erfolge des Friedens endlich zu er—
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blicken. Aber wie war das möglich, wenn das Ziel immer verſchwommener, die Wuͤnſche immer unmoͤglicher und die Leidenſchaften immer mehr entfeſſelt wurden?! —
Wieder ſollten ſich jene Tage, an welche er dachte, nun in Wirklichkeit wiederholen! Wieder das Blut der Unſchuldigen in Stroͤmen fließen, um die ungezaͤhlten Verbrechen, begangen von der Macht an der Schwachheit, der Willenloſigkeit, der Einſichtsloſigkeit, zu verbergen! Was wollten doch alle dieſe Menſchen, die hier ſo be— geiſtert ſchienen, ſo uͤberzeugende Worte der Wahrheit fanden? Proteſtieren? Wann hatte ſich das privilegierte Unrecht, welches die Macht der Gewalt ſich kaufte, je um Proteſte gekuͤmmert? —
Warum unterlagen ſie? Weil ſie die Schwaͤcheren waren. Aber was iſt Schuld? Iſt es nicht ebenſo große Schuld, ſchwach zu ſein, als ſtark zu ſein, wenn es uͤber⸗ haupt eine Schuld gibt? Weshalb waren ſie nicht die Staͤrkeren?
Mit der grauſamen Haͤrte ſeiner durchdringenden Logik pruͤfte und ſezierte er weiter. Der Schmerz, der hier ſo beredt aus allen Mienen und allen Worten ſprach: zuſehen zu muͤſſen dem Verbrechen, war er nicht doch geringer, als der, den der Verſuch, es tatſaͤchlich zu ver hindern, bereitet haͤtte? Weshalb ſonſt gaben ſie ſich alle hier zufriedeu, zu proteſtieren und nur zu proteſtieren?
Gewiß, fie hätten die Staͤrkeren fein konnen. Aber weshalb anders waren ſie es nicht, als weil ſie die Schwaͤcheren waren?
Es war eine große Leere und Kaͤlte in ihm nach der auflodernden Leidenſchaft. Es war ihm, als ſchwebe er
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in einer eiſigen Luftewigkeit ohne Raum und Grenze und verſuche in der Angſt des Todes ſich an dem Halt— loſen zu halten. — —
Der alte Herr, welcher neben ihm ſaß, ſah in dieſem Augenblick in Aubans Geſicht. Es war aſchgrau und in ſeinen Augen loderte ein zuſammenſinkendes Feuer.
Auf der Empore trat unterdeſſen unermuͤdlich ein Redner nach dem andern auf. Die Erregung ſchien noch im Wachſen zu ſein, obwohl gewiß in dem ganzen weiten Saale nicht einer war, der nicht von ihr bereits ergriffen war, mit Ausnahme jener Reporter vielleicht, die geſchaͤfts— maͤßig ihre Blaͤtter mit Notizen fuͤllten.
Auban hoͤrte nichts mehr. Einmal hatte er ſich halb erhoben, als habe er ſich entſchloſſen, zu ſprechen. Aber er hatte geſehen, daß die Reihe der Sprecher noch nicht erſchoͤpft war, und er gab es auf, jenes Wort zu ſagen, welches heute Abend nicht geſagt werden ſollte. —
Nur einmal noch in der folgenden letzten Stunde ſchaute er auf. Der Name eines Mannes war genannt worden, den England in die Geſchichte ſeiner Dichtkunſt des 19. Jahrhunderts laͤngſt neben die glaͤnzendſten un⸗ verwiſchbar eingetragen hatte; den das Kunſtgewerbe einen ſeiner Erneuerer und taͤtigſten Foͤrderer nannte; und der endlich einer der gruͤndlichſten Kenner und hervor— ragendſten Vertreter des engliſchen Sozialismus war. Dieſer merkwuͤrdige und einzige Mann — Dichter, Maler und Sozialiſt in einer Perſon und Meiſter in allem — hatte trotz ſeiner weißen Haare die Lebendigkeit und Friſche eines Juͤnglings. Unvergeßlich war noch immer für Auban einer feiner zahlloſen Vorträge, die er heute in
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irgendeinem der kleinen Klubſaͤle der Socialist League- Branchen in London vor Hunderten und morgen in Edin⸗ burgh oder Glasgow auf oͤffentlichen Verſammlungen vor Tauſenden hielt, geblieben: „The coming society“. Und nie hatte er ſich vor Aubans Augen verlockender und begehrlichztäufchender das Bild der „freien Geſellſchaft“ hingeſtellt als unter dem Banne dieſer Worte, denen der Dichter Zauber und Schoͤnheit, der Kuͤnſtler Plaſtik und Fuͤlle und der Denker Beweiskraft und Überzeugung zu leihen ſuchte. „Wie ſchoͤn es waͤre, wenn es ſo ſein koͤnnte — wie alles aufgelöft wäre in Harmonie und Frieden —“ hatte er damals gedacht.
Ein alter Barde und Patriarch und doch wieder der natuͤrlichſte, geſuͤndeſte alte Engländer — der Self-made— man — in blauem, hemdloſem Kragen und bequemſtem Anzuge ſtand er da und erzaͤhlte mehr, als er ſprach, von den Tagen von Chicago.
Der Beifall, mit dem ſein Kommen und Abtreten begruͤßt wurde, gab Zeugnis von der Popularitaͤt dieſes Mannes, deſſen Lebendigkeit und Tatkraft fuͤr die Sache der ſozialen Bewegung keine Ermuͤdung zu kennen ſchien. —
Die zehnte Stunde war lange vorüber, als der Chairs man ſich erhob, um mit ſeiner klaren lauten Stimme die Reſolution zu verleſen. Die Haͤnde flogen in die Hoͤhe — keine erhob ſich bei der Gegenfrage —: die Re— ſolution war einſtimmig angenommen. Ein Kabel⸗ telegramm wurde nach New Pork gefandt, wo am fol- genden Tage aus demſelben Anlaß ein demonſtratives Meeting ſtattfinden ſollte — es Age die Wünfche der hier Verſammelten über das Meer.
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Dann begann der Saal ſich langſam zu leeren. Die lebhaft ſprechende, aufgeregte Menge ſchob ſich allmaͤhlich durch die Tuͤren ins Freie, die Reporter packten ihre Blaͤtter zuſammen, einzelnes noch miteinander ver— gleichend, die Tribuͤne wurde leer. Nur jene Frau, welche zuerſt geſprochen hatte, ftand noch bei dem Chair: man, die Atheiſtin und Kommuniſtin neben dem Prieſter der Kirche und dem chriſtlich-ſozialen Demokraten.
Wahrſcheinlich ließ ſie ſich noch einige Namen und Notizen fuͤr ihr kleines, allmonatlich in vierſeitiger Staͤrke erſcheinendes Blatt geben. Als Auban jene beiden ſah, dachte er, wie innerlich ſich ihre Anſchauungen be— ruͤhrten und wie es doch nur Scheinwaͤnde waren, was ſie zwiſchen ſich ſahen. Und ferner: wie unvereinbar ſchroff er ſelbſt gerade dem, was jene verband, gegenuͤber— ſtand. f
Nachdem er ſich herzlich von dem alten Herrn, der noch von dem jungen Amerikaner zuruͤckgehalten wurde, verabſchiedet hatte, ging er langſam und allein hinaus.
An der Tuͤr ſtanden noch die Genoſſen mit ihren Blaͤttern, deren Namen ſie riefen.
Auban erkannte einen unter ihnen, welcher der „Autonomie“ angehoͤrte, einen jungen Mann mit blondem Bart und freundlichen Zuͤgen. Er fragte ihn nach Trupp und erhielt die Beſtaͤtigung, daß er nicht dageweſen war. — Als er hinaustreten wollte, erhielt er einen Schlag auf die Schulter. Er wandte ſich um. Vor ihm ſtand
ein ſeltſamer alter Mann, deſſen Geſicht man wohl nicht 6 *
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mehr vergaß, wenn man es einmal geſehen hatte. Es war alt, eingefallen, durchfurcht und ſcharf geſchnitten, der Mund lag zuruͤck, ſo daß das unraſierte Kinn hart hervortrat, die Oberlippe war von einem kurzgeſchnittenen, ſtruppigen Bart bedeckt, die Augen lagen hinter einer großen Stahlbrille verborgen, aber in Augenblicken der Erregung blitzend und dieſem alten Antlitz, welches Kummer und Muͤhſal veraͤndert hatten, um ſeine charakteriſtiſchen Eigenſchaften, ohne fie verwiſchen zu koͤnnen, nur ſchaͤrfer hervortreten zu laſſen, noch immer etwas Kuͤhnes ver- leihend. — Sonſt aber ſchien die Geſtalt des Alten gedruͤckt unter der ſchwer niederziehenden Wucht einer maͤchtigen, uͤberfuͤllten Ledertaſche, welche an ſeiner Seite hing. Um den Hals trug er ein viel geknotetes, bunt⸗ farbiges Wollentuch, welches das Hemd verdeckte und das er auch im heißeſten Sommer ſo wenig ablegte, wie den abgetragenen braunen Mantel.
— Halloh, alter Freund, rief Auban und ſchuͤttelte ihm die Hand, — ſeid Ihr auch da? — Kommt, wir wollen ein Glas trinken.
Der Alte nickte.
— Aber kein Ale, comrade, kein Brandy, nur eine Lemonade — ie
— Seid Ihr denn Temperenzler geworden? fragte Auban laͤchelnd. Aber der Alte ging bereits voran.
Sie traten in das große Public-Houſe an der naͤchſten Straßenecke. Die geraͤumige Privatabteilung am Ende war ziemlich leer, während die übrigen überfüllt waren. Auban erkannte eine Gruppe von engliſchen Sozialiſten,
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die ebenfalls ſoeben dem Meeting beigewohnt hatten. Man ſchuͤttelte ſich die Haͤnde.
Dann nahm er dem Alten ſeine Taſche ab, beſtellte und fie ſetzten ſich auf eine der Baͤnke.
Es wurde keine Verſammlung von Sozialiſten in London abgehalten, ohne daß dieſer Alte auf ihr zu ſehen war. Seit wie langen Jahren? Keiner wußte es. Aber jeder kannte ihn. Der eine oder der andere hatte auch wohl ſchon gelegentlich eine ſeiner originellen Reden oder Anſprachen gehoͤrt und gefragt, wer denn dieſer alte, grauhaarige Mann mit den ſcharfen Zügen ſei, der mit ſo jugendlicher Leidenſchaftlichkeit ſeine wilden Anklagen gegen das Beſtehende ſchleuderte und mit ſo jugendlicher Wärme fein Ideal der Bruͤderlichkeit und Gleichheit vers teidigte. Dann mochte er die Antwort erhalten haben, es ſei ein alter Kolporteur, der ſeinen Unterhalt durch den Verkauf ſozialiſtiſcher Broſchuͤren und Zeitſchriften verdiene.
Wer er aber wirklich war, wußten nur wenige.
Er erzaͤhlte gern, und ſo hatte er einmal zu Auban geſagt, daß er ſchon an der Chartiſtenbewegung teil: genommen; und Auban wußte auch, daß ſeine Broſchuͤren und Elaborate unter den Millionen Buͤchern des britiſchen Muſeums, dieſes einzigen wirklich ſozialen Inſtitutes der Welt, genau fo forgfältig gebunden, numeriert und Fa- talogiſiert zu finden waren, wie die ſeltenſte Handſchrift vergangener Jahrhunderte.
— Nun, was habt Ihr Neues? fragte er, als fie ſich geſetzt hatten.
Der Alte zog feine Ledertafche heran und packte aus.
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Sorglos und unbekuͤmmert um die Umſtehenden, ſtreute er ſeine Zeitſchriften und Blaͤtter um ſich her, waͤhrend er fuͤr Auban ausſuchte, was dieſer noch nicht beſaß, und mit ſeiner lauten Stimme ſeine originellen Urteile über den Wert und Unwert des einzelnen abgab.
— Was iſt denn das? fragte Auban und griff nach einem kleinen Heft, das ſeine Aufmerkſamkeit erregte. — „Impeachment of the Queen, Cabinet, Parliament and People. Fifty years of brutal and bloody Monarchy.“ Auban ſah erſtaunt auf die Ausſtattung dieſes ſeltſamen Opus: es war mit durchweg gleichgroßen, groben Buch— ſtaben geſetzt, welche nur zum kleinen Teil klar, aber dennoch bei ihrer unverhaͤltnismaͤßigen Größe ſtets er— kennbar herausgekommen waren; da das Papier von dem unregelmaͤßigen Druck durchſchlagen war, war immer nur eine Seite bedruckt und je zwei Blaͤtter zuſammengeklebt; und da das Ganze — acht ſolcher Blaͤtter ſtark — muͤh⸗ ſam und unregelmaͤßig mit der Schere beſchnitten war, ſo betrachtete es Auban mit einiger Verwunderung. Er las einige Zeilen, welche, unter ſeltſamer Verwendung der Abſaͤtze und Interpunktionszeichen, eine leidenſchaft⸗ liche Anklage im Lapidarſtil gegen die Koͤnigin bildeten. — „Revolt, workers, revolt! Heads off!“ — las er mit zentimeterhohen Buchſtaben auf einer der folgenden Seiten.
— Was iſt denn das?! fragte er.
Über das Geſicht des Alten zog ein Lächeln. „Das iſt mein Jubilaͤumsgeſchenk fuͤr die Koͤnigin,“ rief er. — Aber warum denn in dieſer primitiven Form?
Der Alte ſchuͤttelte ſeinen grauen Kopf.
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— Look here! fagte er und nahm ſeine Brille ab. — Meine alten Augen ſehen nichts mehr. Da muß ich mich behelfen und große Lettern nehmen, die ich fuͤhlen kann, mit den Fingerſpitzen, eine nach der andern. — Da iſt kein Druckfehler, nur die Interpunktion —
— Und Ihr habt das ſelbſt gedruckt?
— Geſetzt mit den Fingern ohne Augen, — und ohne Manuſkript, aus dem Kopf — gedruckt ohne Preſſe, immer nur eine Seite, geheftet und herausgegeben —
— Aber das war eine Rieſenarbeit.
— Schadet nichts. Aber es ift gut. Das muß der Arbeiter leſen!
Auban ſah ſtaunend auf den unfoͤrmlichen Druck und dachte mit einer Art von Bewunderung an die ungeheure Muͤhe, welche das Zuſtandebringen dieſer wenigen Blaͤtter dem Alten gemacht haben mußte. Ob es wohl im Zeit⸗ alter der Marinonipreſſen noch ein zweites ſolches Druck— werk gab, ſo grotesk in ſeinem Außern, an die Anfaͤnge Gutenbergſcher Buchdruckerkunſt erinnernd? Auban las: „Fuͤnfzig Jahre immer wachſender Wohlſtandsvoͤllerei und Verbrechen, begangen von den koͤniglichen, ariſtokratiſchen und verdammenswerten Klaſſen —“ ſo begannen ſie, und ſetzten ſich fort in einer wirr durcheinander geratenen Aufzaͤhlung der Koſten der Kriege, einer wahlloſen, meiſt aus. perfönlicher Erinnerung zuſammengehaͤuften Menge von Namen, um mit einer heftigen Verwuͤnſchung zu enden: „O, die Fluͤche von tauſend gemordeten, ver— hungerten Menſchen moͤgen uͤber dich kommen, Viktoria Guelph, auf Deine brutale und blutige Monarchie — “, und mit wachſendem Erſtaunen las Auban auch die
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letzte Seite, aus welcher ihm in ungefügten und wirren Worten eine heiße Empoͤrung entgegenloderte.
Auch die Englaͤnder, welche den Alten kannten, waren neugierig naͤher getreten. Man nahm ihm lachend ab, was er an Exemplaren bei ſich hatte.
Dann packte der Alte ſeine Sachen wieder in die Taſche, warf ſie mit einem kraͤftigen Ruck uͤber die Schulter, ſtuͤlpte ſeine Huͤte — er trug ſtets zwei Filz⸗ huͤte übereinander gezogen und es war das eine feiner uns verwuͤſtlichen Eigenheiten — auf den grauen Kopf und verließ mit lautem, hartem Lachen, von Auban begleitet, den Ort. Sie gingen zuſammen nach Moorgate-Station. Der Alte ſprach fortwährend, halb für ſich und fo un⸗ deutlich, daß Auban auch die andere Haͤlfte nur ſchwer verſtehen konnte; aber er kannte ihn und ließ ihn ruhig gewaͤhren, machte der Alte doch ſtets auf ſolche Weiſe ſeinem Grolle Luft.
Auch als er ſich ſchon mit einem feſten Haͤndedruck verabſchiedet hatte, ſah Auban ihn noch, wie er geſti⸗ kulierend und vor ſich hinredend weiter ging. Dann ver⸗ ſchwand er in dem treibenden Strom, und Auban trat an den Schalter von Moorgate-Station.
Auf der mittleren Plattform des unterirdiſchen Rieſen⸗ raumes fand er ſich wieder mit einer Anzahl Bekannten zuſammen, welche wartend daſtanden und fich unter⸗ hielten. Einige der Sprecher des heutigen Abends waren unter ihnen. Auban ſetzte ſich muͤde in eine Ecke.
Zuͤge raſten ein und aus; die Holztreppen hinab und
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hinauf drängten und polterten die Maſſen. Die Halle war durchzogen von dem weißgrauen Rauch und Dampf der Maſchinen. Er ſtrich über die Plattformen und die dort Stehenden hin, kraͤuſelte ſich um die unzähligen ge: ſchwaͤrzten Pfeiler, Balken und Pfoſten, legte ſich ſchmei⸗ chelnd wie ein Schleier an die Decke hoch oben, und ſuchte ſich endlich durch die Luftoͤffnungen ſeinen Weg hinaus auf die Straße, in das Leben, in den Laͤrm und in das Getoͤſe von London hinaus.
— Well, comrade, wurde der ihnen Nachſehende plotzlich von dem neben ihm Sitzenden, einem engliſchen Schriftſteller ſozialer Aufſaͤtze und Werke, gefragt, — was denken Sie uͤber Chicago?
Er war Auban nicht ſympathiſch, und daß dieſer nie ein Hehl aus ſeinen Sympathien und Antipathien machte, war ihm nicht unbekannt. Trotzdem draͤngte er ſich bei jeder Gelegenheit an ihn heran. Auban wußte ganz gut, daß er wie alles, ſo auch die entſetzlichen Vorgaͤnge, nach denen er fragte, kuͤhlen Herzens verarbeiten wuͤrde. Er ſah ihm unhoͤflich und ohne zu antworten ins Geſicht.
Dem andern war dieſer ſtarre und gleichguͤltige Blick unertraͤglich.
— Well, ſagte er wieder, — denken Sie nicht, daß der Bourgeoiſie keine Schaͤndlichkeit gegen das Volk zu ſchaͤndlich iſt, wenn es die Erhaltung ihrer elenden Vor: rechte gilt —?
— Certainly, Sir, ſagte Auban, — würden Sie, wenn Sie an das Ruder gelangt ſind, etwa eine andere Taktik befolgen? — und er ſah zu dem Frager empor, mit
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feinem ſarkaſtiſchen und überlegenen Lächeln, deſſentwegen er jo verhaßt war bei allen, die er nicht liebte. Und ohne ein weiteres Wort ſtand er auf, nickte und ſtieg ſchwer und langſam in den heranbrauſenden Zug, der ihn nach einer Minute voll Laͤrm, Wirrwarr und Tuͤren⸗ ſchlagen mit raſender Eile in der Richtung nach Kings Croß fort trug.
Drittes Kapitel
Die Arbeitsloſen
Nun hatte die Weltſtadt an der Themſe, die „größte Warze der Erde“, wieder ihr alljaͤhrliches Schauſpiel: den unheimlichen Anblick jener Scharen, welche nur ein Übermaß von Elend — das Schreckgeſpenſt des Hungertodes — aus ihren Hoͤhlen zu treiben vermochte, um ſich im Herzen der Stadt, auf jenem weltberuͤhmten Platze, welcher der Erinnerung an vergangene Tage „des Ruhms und der Groͤße“ geweiht iſt, mit der Frage zu beſchaͤftigen: „Was tun, um morgen noch zu leben? Wie dieſen langen Winter ohne Arbeit und ohne Brot uͤberſtehen?“ .
Denn dieſe Ungluͤcklichen, die laͤngſt gelernt hatten, daß es fuͤr ſie keine Rechte auf der Erde gab: weder auf einen Fußbreit ihres Bodens, noch auf das geringſte ihrer Guͤter — ſie hatten jetzt auch ihr letztes „Recht“: das Recht, ſich fuͤr andere totſchinden zu duͤrfen, ver— loren, und ſtanden Geſicht an Geſicht mit jenem Schreck— bild, welches der treueſte Begleiter der Armut durch ihr ganzes Leben iſt, dem Hunger.
Die Verzweiflung war es, die dieſe Menſchen, deren Beſcheidenheit und Genuͤgſamkeit ſo groß war, daß ſie
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aufhoͤrte, begreiflich zu fein, hinaustrieb unter die Augen des oͤffentlichen Lebens.
Der feuchte, unfreundliche Oktober ging zu Ende. Die Tage wurden kuͤrzer und die wilden Stunden des nächt: lichen Lebens laͤnger.
Schon in den Morgenſtunden fuͤllte ſich die weite, kalte Flaͤche von Trafalgar Square mit den Geſtalten des Elends.
Aus allen Teilen der Stadt kamen ſie her: gluͤcklich, wen die Not noch nicht zur Aufgabe der eigenen Woh⸗ nung, des Schmutzloches im Keller oder im fuͤnften Stock, und des Winkels von Zimmer gezwungen hatte; glücklich auch der noch, welcher im Laufe des Tages mit Hilfe eines guten Zufalls ſo viel hatte auftreiben koͤnnen, um in einem der Lodginghaͤuſer Unterkunft zu finden — aber auf den meiſten dieſer kranken, bleichen und muͤden Geſichter war nur zu deutlich erkennbar, daß ſie die kalte Nacht durch auf einer Bank am Themſe Embank⸗ ment oder in einem Torweg oder Durchgang von Covent Garden „geruht“ hatten.
Die „Unemployed!“ Ja, ſie machten wieder viel von ſich reden in dieſem Jahr der Gnade! Seit 35 Jahren traten ſie nun ſchon ſo Jahr fuͤr Jahr bei Beginn des Winters vor das Antlitz des Reichtums hin. Und jedes Jahr wurde ihre Zahl groͤßer, jedes Jahr ihr Auftreten ficheter, jedes Jahr ihre Forderungen beſtimmter! Noch ſtanden in wacher Erinnerung die Februarriots von 1886, bei denen es ohne Eigentumsberaubungen nicht abgegangen war. Sie hatten nichts gemein mit irgend⸗ einer Partei; ſie hatten keine erklaͤrten Fuͤhrer im Par⸗
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liament Houſe, welche ihre Rechte „vertraten“ — der Hunger war ihr Leiter und Treiber; keine Organiſation ſchloß ſie zuſammen, doch das Elend ſchweißte ſie anein⸗ ander. Woher kommen in den Tagen politiſcher und ſozialer Empoͤrungen plöglich die unbekannten Mitkaͤmpfer, wie Ratten aus ihren Löchern — ah, es find die Re: kruten der großen Armee des Schweigens, welche nie mitgezaͤhlt wurden und doch ſo oft die Entſcheidung herbeifuͤhrten ... Es find die Glieder jener großen Maſſe, welche ſich Volk nennt: die Rechtloſen, die Aus⸗ geſtoßenen, die Namenloſen, jene, die nie waren und nun plotzlich find, ein enthuͤlltes Geheimnis und ein weſen⸗ werdender Schatten, ein zum Leben erwachter Scheintoter, ein jaͤhlings zum Mann gereiftes, nie beachtetes Kind — das iſt das Volk!
Man rechnete nie mit ihm, da es keine Rechte be— ſaß; nun rechnet es ſich ſelbſt mit und ſeine Zahlen zermalmen
Ihr Luͤgner, die Ihr in ſeinem Namen groß geworden ſeid, unter ſeinem Deckmantel die Verbrechen Eurer Ge— walt begangen habt, wie ſeid Ihr ploͤtzlich zu nichte geworden! Ihr habt es betrogen, verraten und verkauft — ein Wort, ein Geſpenſt, ein Nichts war es, mit dem Ihr hantiertet nach Luſt und Gefallen — und nun tritt es plöglich vor Euch hin! Leibhaftig vor Euch hin!...
Gleichguͤltig, verſtaͤndnislos und hartherzig, wie immer, ſtand die Bourgeoiſie und ihre Regierung den Arbeits⸗ loſen auch in dieſem Jahre gegenuͤber. Als ihr taͤglicher Anblick unangenehm zu werden begann, rief ſie nach der Polizei, und ließ ſie vom Square vertreiben. Sie
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gingen in den Hyde Park; man ließ ſie auf den Square zuruͤckkehren, um fie von neuem brutal zu verjagen. Man reizte ſie, um ſie verhaften zu koͤnnen; und wenn ſie vor dem Richter ſtanden, erklaͤrte dieſer ihre Aufzuͤge fuͤr „theatraliſch“ — und keine Hand erhob ſich, dieſem Buben ins Geſicht zu ſchlagen; ſie wandten ſich an den Staat, mit der demuͤtigen Bitte um Arbeit, und der Staat gab ihnen die Antwort, daß er nicht imſtande ſei, ihnen zu helfen — aber ihr Blick reichte natuͤrlich nicht weit genug, um zu ſehen, daß gerade dieſer Staat es war, der fie verdarb; nur muͤder, hungriger und vers bitterter noch als vorher kehrten ſie von ihren frucht⸗ loſen Bittgaͤngen um — Arbeit bei den Behoͤrden zuruͤck; und wenn der frühe Morgen graute, ſtanden Scharen von ihnen hungernd und furchtbar erregt an den Gittern der Docks, wo alltaͤglich eine nicht geringe Anzahl kraͤftiger Haͤnde zum Aus- und Einladen der Dampfer gebraucht wurde. Wem es gelang, ſich durch ſtundenlanges Warten und ruͤckſichtsloſen Gebrauch der Faͤuſte und Ellbogen vorzudraͤngen und angenommen zu werden, dem war fuͤr einen Tag geholfen. Aber verhaͤltnismaͤßig — wie wenige waren das! Die meiſten kehrten, Verzweiflung im Herzen und einen Fluch uͤber dies elende Leben auf den Lippen, zuruͤck zu ihren Leidensgenoſſen, um zu hoͤren, wozu dieſe nun rieten — fie hatten ja „nichts zu tun“... Seit Wochen ſchon dauerten ihre Zuſammenkuͤnfte; und ſeit Wochen brachten die Londoner Tageszeitungen, froh, einen neuen Stoff zu haben, um ihre endloſen Spalten zu fuͤllen, lange Aufſaͤtze zu der Frage der „Unemployed“: viel weiſe Lehren — und keine Spur
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von Verſtaͤndnis fuͤr die eigentlichen Gruͤnde dieſes Elends; viel ſchoͤne Worte — und kein einziger Weg der Rettung fuͤr die Ungluͤcklichen. Jede unter ihnen wußte ein anderes Heilmittel gegen das Übel und brachte es vor mit dem laͤcherlichen Ton der Unfehlbarkeit — darin aber waren alle einig, daß es eine Schmach für „ein geordnetes Ge: meinweſen“ ſei, daß dieſes verkommene Geſindel ſich unterſtehe, ſein Elend auch noch oͤffentlich zu zeigen. Mochten ſie doch verhungern bei Tag und erfrieren bei Nacht, ſchweigend da draußen in ihren Winkeln und Loͤchern, wo man nichts davon ſah und hoͤrte, aber ſo die aͤſthetiſchen, zarten Gefuͤhle der guten Geſellſchaft durch den nahen Anblick all dieſes Jammers und Schmutzes zu verletzen, welche Frechheit! —
Es war an einem Sonntag — dem vorletzten Sonn— tag dieſes unerfreulichen und truͤben Monats — als Trupp ſich entſchloſſen hatte, ſeinen freien Nachmittag zu ver— wenden, um ſich von der Ausdehnung und der Bedeutung dieſer Zuſammenkuͤnfte ein richtigeres Bild zu machen, als er dies aus den Erzaͤhlungen ſeiner Genoſſen und ſeiner Mitarbeiter in der Werkſtatt zu gewinnen vermochte. Er war in Clarkenwell Green, dem altbekannten Ver— ſammlungsort ſo vieler Parteien und Jahre, um die Mittagsſtunde geweſen, hatte dort mit Ingrimm noch einen Teil der Reden mit angehoͤrt, und zog nun in einem ungewoͤhnlich ſtarken Zuge von Arbeitsloſen, dem eine rote Fahne vorangetragen wurde, den Strand hinunter und auf Trafalgar Square zu. Er hatte noch keinen Bekannten getroffen, war aber mit einem der neben ihm Gehenden in ein Geſpraͤch geraten, als dieſer, welcher ihn rauchen
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ſah, ihn um etwas Tabak gebeten hatte, „um den Hunger nicht fo zu fühlen”; und ihr Geſpraͤch war, trotzdem Trupp ſich nur ſchwer in Engliſch ausdruͤcken konnte und kaum die eine Haͤlfte ordentlich verſtand und die andere ſich erraten mußte, von dem, was ihm erzaͤhlt wurde, ſchnell lebhaft geworden, als er dem krank und verwacht Aus⸗ ſehenden in dem naͤchſtliegenden von Lockhardts Cocoa Shops mit feinen letzten Geldſtuͤcken einige Sandwiches gekauft hatte. Er hatte ja noch Arbeit — wie lange noch, das wußte er freilich auch nicht. Es war eine lange, alltägliche Geſchichte des Leidens, die jener ihm erzählte: elend bezahlte Arbeit den ganzen Sommer hindurch; ploͤtz⸗ liches Aufhoͤren derſelben; Stuͤck fuͤr Stuͤck des kleinen Hausrats zum Pfandhaus; das Fehlen bald auch des noͤtigſten Lebensunterhaltes; ſein kleines Kind geſtorben aus Mangel an Nahrung; die Frau im Arbeitshaus — und er ſelbſt: „ich haͤnge mich lieber auf, als auch dahin zu gehen“, ſchloß er.
Trupp betrachtete ihn — es war ein intelligent ausſehender, ſchon älterer Mann — und fragte dann:
— Wieviel Unbeſchaͤftigte, glaubt Ihr, gibt es augen⸗ blicklich in London?
— Sehr viele! ſagte der andere. — Sehr viele! — Sicher mehr als hunderttauſend, und wenn Ihr die Frauen und Kinder hinzuzaͤhlt, noch viel mehr! Eine halbe Million! Was auf Trafalgar Square zuſammen⸗ kommt, das iſt nur ein kleiner Teil, und von dem be: ſteht ein Fuͤnftel dazu noch aus gewerbsmaͤßigen Bettlern und Herumtreibern, Taſchendieben und Tagtotſchlaͤgern, und hat nichts zu tun mit dem Unemployed, welche
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nur ehrliche Arbeit haben wollen. Aber ſie geben uns keine und laſſen uns hungern. Wir ſind geſtern auch wieder zu dem Board of Works gegangen.
— Was iſt das? unterbrach ihn Trupp, der wenig wußte von den verzweigten Einrichtungen der Stadt.
— Es iſt die Behoͤrde, welche die großen Stadtbauten ausfuͤhrt — ihre Office iſt ganz nah dem Square — und da war einer unter den Sprechern, der legte klar, daß ſie die Themſearbeiten, von denen ſchon ſo viel geredet iſt, in Angriff nehmen und ſo ſehr vielen von uns Arbeit geben koͤnnten, und ein anderer, der ſprach von der Anlegung von Abzugskanaͤlen und der Gruͤndung von Armendoͤrfern in der Naͤhe von London —, aber ſie wollen nicht, ſie wollen nicht!
Trupp hatte aufmerkſam zugehoͤrt.
— Und dabei werden in London jaͤhrlich zweieinhalb Millionen Pfund Sterling fuͤr Armenabgaben aufgebracht; zwei Millionen allein aus freiwilligen Beitraͤgen. Wo das Geld hinkommt? — Ich wuͤnſchte, es zu wiſſen! —
— Ja, ſagte Trupp, — das ſind Eure Diener, die Diener des Volkes und die Verwalter ſeiner Angelegen— heiten —
— Und auf dem Polizeiamt ſind wir auch geweſen, und haben die Antwort erhalten, daß jeder, der be— ſchaͤftigungs⸗ und obdachlos angetroffen werde und ſich weigere, zum Arbeitshaus zu gehen, mit Gefaͤngnis, mit harter Arbeit beſtraft werden würde...
— Was ſeid Ihr?
— Ach, ich habe ſchon viel getan, wenn ich Hunger hatte und meine Arbeit nicht fand. Jetzt war ich bis
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vor zwei Monaten in einer Konſervenfabrik, machte Blechbuͤchſen — jeden Tag zwoͤlf Stunden, nie weniger, oft aber vierzehn —
— Und wieviel?
— Well, wenn es gut ging, 8 sh., meiſtens 7 Sh. oft nur 6 sh. die Woche.
Trupp lebte ſeit einiger Zeit im Eaſt End. Er kannte die Loͤhne der engliſchen Arbeiter. Er kannte Familien von acht Perſonen, welche zuſammen nicht mehr wie 12 sh. in der Woche verdienten, von denen ſie vier für ihr Loch von Zimmer zahlen mußten ... Er wußte, daß unter den Streichhoͤlzerſchachtel- und Sackverfertige⸗ rinnen und in hundert andern Branchen die Hungers— not beſtaͤndig graſſierte.
Die Hungersnot in der reichſten Stadt der Erde! Er ballte die Faͤuſte.
Er ſelbſt verdiente mehr. Er war ein ſehr kenntnis⸗ reicher und befaͤhigter Mechaniker, deſſen Arbeit eigenes Nachdenken erforderte. — Er war vom Kind zum Mann geworden in dieſem unermeßlichen Elend, deſſen Anblick ihn nie, in keinem Lande, in keiner Stadt verlaſſen hatte. Aber was er in London ſah an wahnſinnigem Luxus auf der einen und hoffnungsloſen Jammer auf der andern Seite, das uͤbertraf alles.
Er zog einen zerknitterten Zettel aus der Taſche, deſſen er ſich jetzt wieder erinnerte und uͤberflog ihn beim Weiterſchreiten. Es war das „Jubilee Manifesto“ der Socialdemocratic Federation.
Er überflog die folgenden Zahlen:
Vier Millionen Menſchen in Großbritannien abs
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haͤngig von Mildtaͤtigkeit ... die Arbeiter nicht imftande, mehr als den vierten Teil deſſen, was ſie hervorbringen, zu erhalten .. 30% der Kinder der Board Schools halbverhungert ... 54 Perſonen in einem Jahre an Hunger geftorben in London ... 80000 Frauen — zehn auf hundert — Proftituierte .
Bilder aus den „fünfzig Jahren des Fortſchritts“!
— Es iſt Eure eigene Schuld, ſagte er zu ſeinem Begleiter, waͤhrend ſie Fleet Street durchſchritten, die Straße der großen Zeitungen, deren Namen von allen Giebeln und von allen Waͤnden herniederriefen, — es iſt Eure eigene Schuld — (und das Gebraufe des immer mehr und mehr anſchwellenden Zuges, welcher ſich ernſt und drohend nach dem Strand zuwaͤlzte, ſchien die Wucht ſeiner Worte unterſtuͤtzen zu wollen — —) es iſt Eure eigene Schuld, wenn die Erde, die Euch gehoͤrt, nicht Euer iſt. Eure eigene Gedankenloſigkeit und Feigheit — das ſind Eure ſchlimmſten Feinde. Nicht die Handvoll elender Geldſaͤcke und Nichtstuer, ſagte er veraͤchtlich.
— Ah, Ihr ſeid ein Soziaͤliſt? meinte der andere laͤchelnd.
Trupp zuckte die Achſeln.
— Da ſeht hin, rief er laut in ſeinem ſchlechten und fehlerhaften Engliſch, — dieſe Laͤden, die Ihr gefuͤllt habt mit Brot, und an denen Ihr hungernd vorbeigeht; dieſe Magazine, die Ihr bis zum Brechen gefuͤllt habt mit Kleidern, wem gehoͤren ſie, wenn nicht Euch und Euren frierenden Kindern?
Es war keiner unter denen, welche aus dem unauf— haltſam dahinflutenden Zuge dieſe einfachen Worte ge—
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hoͤrt und verſtanden hatten, der ihnen nicht beigeſtimmt hätte, aber ſchweigend, ermattet und willenlos trugen fie alle ihren nagenden Hunger an dem zur Schau geſtellten uͤberfluß vorüber. Keine dieſer Hände, welche immer nur fuͤr andere gearbeitet hatten, immer nur die Taſchen anderer gefuͤllt, um ſelbſt leer, immer leer zu bleiben, ſtreckte ſich jetzt aus, um einen kleinen, verſchwindend kleinen Teil von dem wiederzunehmen, was ihnen vor: enthalten war — —
Schweigend und unſicher zogen ſie dahin, die langen Straßen des Reichtums hinunter, ſie, denen man alles genommen und nichts gelaſſen hatte: keinen Fußbreit Erde, keines jener vielgeprieſenen Menſchenrechte, keines auch der noͤtigſten Exiſtenzmittel, als eine furchtbare Anklage gegen ſaͤmmtliche Inſtitutionen einer irdiſchen Gerechtigkeit, als ein unabweisbarer, unwiderlegbarer Be— weis gegen die Exiſtenz einer goͤttlichen — und ſie, ſie wurden als eine Schmach der Zeit bezeichnet, ſie, welche nur die Opfer der Schmach ihrer Zeit waren. So wirrten am Ende des 19. Jahrhunderts uͤberall die Begriffe un— erkennbar durcheinander, und die Schuldigen glaubten ihrer Schuld zu entrinnen, wenn ſie Urſache und Wirkung der beſtehenden Verhaͤltniſſe miteinander ſophiſtiſch zu vertauſchen ſuchten. — Das waren Trupps Gedanken, als er ſchweigend in dem ſchweigenden Zuge die unab— ſehbar lange Straße hinunterſchritt. — Die Schar ſchien immer groͤßer zu werden, je mehr ſie ſich dem Trafalgar Square naͤherte. Trupp und der Arbeiter, mit dem er geſprochen hatte, gingen immer noch nebeneinander her. Aber ſie ſprachen nun nicht mehr. Jeder war mit
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ſeinen Gedanken beſchaͤftigt. Man hatte des erſteren Worte vernommen, und dieſer hoͤrte, wie ſie daruͤber diskutierten.
— Dieſe verdammten Deutſchen, rief ein junger Menſch, — ſind an allem ſchuld. Sie druͤcken unſere Loͤhne. Und er ſah ſich drohend nach Trupp um.
Trupp wußte gleich, was jener meinte. Er hatte ſchon zu oft von den „bloody Germans“ gehört, als daß er dieſe alte Anſchuldigung, welche den Ausbeutern ſo praͤchtig zu ſtatten kam, um die Augen ihrer Arbeiter von den wirklichen Urſachen ihres Elends abzulenken, nicht verſtehen ſollte.
Seine feſte Geſtalt, ſein duͤſteres, baͤrtiges Geſicht, ſeine ganze Haltung ſchienen dem jungen Menſchen indeſſen zu wenig vertrauenerweckend zu ſein, als daß er verſucht haͤtte, mit ihm Haͤndel anzufangen; und Trupp ließ ihn und die andern bei ihrem Glauben uͤber die Nieder— traͤchtigkeit der deutſchen Arbeiter, welche „nur nach England kommen, um den engliſchen ihr Brot zu ſtehlen“.
Aber es verminderte ſeinen Schmerz und ſeine Bitter— keit nicht, wenn er ſich vergegenwaͤrtigte, wer es wirklich war, der von Deutſchland nach England kam. Er kannte jene Scharen, welche nicht nur die Hoffnung auf einen beſſeren Verdienſt, ſondern auch auf ein freieres und menſchenwuͤrdigeres Daſein zum Verlaſſen der Heimat trieb: denn wie war es moͤglich fuͤr ſie zu leben unter dem beſtaͤndigen Druck eines wahnſinnigen Geſetzes — das Schandgeſetz, jo nannte es der Volksmund —, welches den Gedanken zu morden, das Wort zu erſticken, jeden Schritt und Tritt zu bewachen ſich vermaß? ...
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Als der Zug auf dem Square anlangte, war Trupp uͤberraſcht, zu ſehen, wie ſtark bereits die Menſchen⸗ anſammlung auf demſelben war. Die große, weite Flaͤche des Innenraumes war faſt gefuͤllt mit einer hin- und hertreibenden Menge und in ſaͤmtlichen umliegenden Straßen ſchien der Wagen- und Menſchenverkehr nicht ſchwaͤcher, wie an Wochentagen zu ſein.
Der ankommende Zug wurde mit ſtuͤrmiſchen Rufen empfangen. Trupp trat aus und blieb in der Naͤhe von Morleys Hotel ſtehen. Er ſah die Reihen den Square betreten, den Mann, der die rote Flagge getragen hatte, mit mehreren andern den Fuß der Nelſonſaͤule beſteigen, und er ſah, wie ſich dort im naͤchſten Augenblick eine tauſendkoͤpfige, aufmerkſam den Worten eines Redners lauſchende Menge anſammelte.
Er ſtand erhoͤht auf dem nach St. Martins Church ſich hinaufziehenden Wege. So konnte er den Fuß der Saͤule uͤberblicken, der dicht beſetzt war. Er ſah die heftigen Geſtikulationen der Redner, das Wehen der roten Fahne, und die ſchwarzen Helme der Polizeimann⸗ ſchaft, welche ſich in großer Anzahl unmittelbar unter den Redenden aufgeſtellt hatte.
Zuweilen wurde ihm der Ausblick durch ein voruͤber— fahrendes Cab oder einen dichtbeladenen Omnibus ge— nommen.
Ploͤtzlich ſah er, wie eine ungeheure Bewegung in die Maſſe kam, welche den Square beſetzt hielt — ein Auf— ſchrei des Schreckens und der Entruͤſtung gleichzeitig aus tauſend Kehlen brach in die Luft und gleich einer maͤchtigen dunklen Woge flutete die Menge zuruͤck, ſich weit uͤber
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die Treppen an der Nordſeite und die Straßen ergießend. .. Die Polizei hatte ploͤtzlich und gänzlich unvermittelt in ihrer ganzen aufgeſtellten Staͤrke einen Angriff auf die ruhig Zuhoͤrenden gemacht und trieb nun die Schreienden ruͤckſichtslos vor ihren geſchloſſenen Reihen her.
Trupp fuͤhlte, wie eine entſetzliche Wut in ihm empor— quoll. Dieſe uͤberlegte und abſichtliche Roheit machte ihm das Blut kochen. Er draͤngte ſich uͤber die Straße und ſtand an der ſteinernen Einfaſſung des Platzes; unter ihm lag der ſchon zur Haͤlfte geleerte Square. Mit Fauſtſchlaͤgen und Fußtritten jagten die Buͤttel die Wehr: loſen vor ſich her. Wer nur die geringſte Miene machte, ſich zur Wehr zu ſetzen, wurde niedergeriſſen und fortgefuͤhrt.
Ein junger Menſch hatte ſich ihren Haͤnden entriſſen. In fliegendem Lauf ſuchte er den Ausgang des Platzes zu gewinnen. Aber die dort Aufgeſtellten riſſen ihn ſo— fort nieder, waͤhrend die nach außen getriebene Menge dieſen Akt widerlicher Brutalitaͤt mit Ausrufen der Ver— achtung und Wut begleitete. f
Mit einem Satze ſprang Trupp, als er dies ſah, uͤber die Bruͤſtung, welche hier — ſie ſenkt ſich langſam von Norden nach Suͤden — noch meterhoch war. Er eilte dem Fuße der Saͤule zu, auf welchem noch immer einige der Redner ſtanden.
Der Fahnentraͤger hatte ſich gegen die Saͤule ge— ſtemmt und hielt die Fahne mit beiden Haͤnden. Er ſtand ganz allein. Aber er war augenſcheinlich entſchloſſen, nur der aͤußerſten Gewalt zu weichen.
Jetzt zog ſich die Polizei wieder langſam an den Fuß
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der Saͤule zuruͤck, wo ſie ſich von neuem aufſtellte; und auf dem Fuße folgte ihr von allen Seiten und von allen Eingaͤngen des Platzes wieder die Menge. In wenigen Minuten war die ganze weite Flaͤche wieder bedeckt mit einer dunklen Flut von Menſchen, deren Empörung ge: wachſen, deren Rufe nach der Fortſetzung der Rede un— geduldiger, deren Aufregung gewaltiger geworden war.
Wieder füllte ſich der Fuß der Säule: man hob und zog ſich gegenſeitig hinauf. Vor der Fahne ſtand ein junger Mann von etwa dreißig Jahren. Er war einer der beſten Redner und unter den Arbeitsloſen ſehr be— kannt. Er war totenbleich vor Erregung und blickte mit dem Ausdruck unverſoͤhnlichen Haſſes auf die Ge— ſtalten der Poliziſten zu ſeinen Fuͤßen nieder.
Einer der Konftabler rief zu den Rednern hinauf, daß er bei dem erſten aufruͤhreriſchen Wort jeden von ihnen auf der Stelle verhaften laſſen wuͤrde.
Mit einem unbeſchreiblichen Ausdruck der Gering— ſchaͤtzung ſah der junge Menſch auf ihn herab.
Trupp ſtand dicht vor der Reihe der Poliziſten. So dicht, daß er von der nachdraͤngenden Menge faſt ge— zwungen wurde, ſie zu beruͤhren. Aber trotzdem hob er ſeinen Arm in die Hoͤhe und rief den Obenſtehenden ein lautes „Go on!“ zu. Sofort wurde ſein Ruf den Umſtehenden zum Zeichen eines lauten Beifallklatſchens und zu unzaͤhligen Rufen aͤhnlicher Art.
Es ſchien erſt, als wolle die Polizei bei dieſem Aus— bruch des Gefuͤhls der Menge einen neuen Angriff machen. Aber ſie unterließ es und der Redner begann. Er ſprach uͤber das Recht der Redefreiheit in England und uͤber die
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verfuchte Unterdrückung desſelben, welche bis jetzt erfolg: los geblieben ſei. Vor ſich ſaͤhe er eine Menge, wie ſie in dieſem Jahre Trafalgar Square noch nicht getragen. — Hierher, unter die Augen der ganzen Welt, haͤtten ſie ſich geſtellt mit ihrer Forderung: „Brot oder Arbeit“. Und hier, im Angeſicht dieſer verſchwenderiſchen Reich— tümer, welche fie ſelbſt erſchaffen, würden fie ſich fo lange verſammeln, bis dieſe Forderung erfuͤllt worden ſei. — Sie haͤtten kein Fenſter gebrochen, und kein Stuͤck Brot an ſich genommen, um ihren Hunger zu ſtillen — ein Luͤgner ſei, wer das behaupte. Es waͤre ihnen ſehr angenehm geweſen, wenn wir es getan haͤtten — dann haͤtte die Polizei einen bequemen Entſchuldigungsgrund dafuͤr, daß ſie unſere friedlichen Verſammlungen geſtoͤrt und uns in brutalſter Weiſe zu Ausſchreitungen zu reizen geſucht hat. —
Neben Trupp ſtand der Reporter einer Zeitung, welcher muͤhſam im Stehen Chiffrenotizen machte. Er haͤtte dem gleichguͤltigen Manne das Papier aus der Hand reißen moͤgen. Angeekelt ſuchte er ſich einen Weg durch das ihn umgebende Gewuͤhl zu bahnen. Er kam nur Schritt fuͤr Schritt vorwaͤrts. Die Zuhoͤrer beſtanden nicht nur aus Arbeitsloſen mehr: viel verdaͤchtiges Ge— ſindel, welches in London bei jedem Anlaß ſich in un— glaublich großer Anzahl anſammelt, viele Neugierige, welche ſehen wollten, was es gaͤbe, ſowie eine Anzahl wirklich Intereſſierter hatte ſich unter ſie gemiſcht. Frauen mit ihren Kindern auf dem Arm, müde und hungrig, ſtanden dicht neben den aufgedonnerten Kleider— puppen des Weſtends, von denen die eine oder andere
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ſich auf den Square gedraͤngt hatte, nachdem ihr ver— ſichert worden war, es ſei „noch nicht gefaͤhrlich“; und unter der Menge ſah Trupp ein Geſicht, welches ihn empoͤrte: das freche, hoͤhniſch-laͤchelnde Geſicht eines Gentleman in hohem Hut, welcher unweit der Saͤule ſtand, und welcher jetzt in die Worte des Redners ein „Nonsense!“ hineinrief — offenbar ein hochgeſtellter Beamter, welcher — der Geduld und der Langmut des Volkes ebenſo vertrauend, wie den Knuͤtteln und den Revolvern feiner Poliziſten — ſich dieſe Frechheit heraus— nahm. Ein unwilliges Gemurmel entſtand, waͤhrend er ruhig mit ſeinem unverſchaͤmten Laͤcheln uͤber die ihn umſtehende Menge hinwegſah.
— Du Burſche, dachte Trupp bei ſich, — dir wird das Lächeln eines Tages ſchon vergehen —; aber faſt gleichzeitig ſtimmte er in das Gelächter ein, welches aus— brach, als dem Langen durch einen kraͤftigen Fauſtſchlag von hinten her der Zylinder uͤber Augen und Ohren ge— trieben wurde. Die Menge ſtob auseinander, und es entſtand um den fo Gezuͤchtigten, dem das Lächeln ver- gangen war, ſchnell ein leerer Raum. Die Polizei ruͤckte vor, obwohl ſie nichts von dem Vorfall geſehen hatte. Trupp wurde von der Menge fortgeriſſen. Er ſtand nun an der Oſtſeite des Squares.
Unterdeſſen hatten ſich auch die andern drei Seiten des Fußes der Saͤule mit Menſchen bedeckt und auch von ihnen wurde zu den Verſammelten hinuntergeredet. Nicht alles, was geſprochen wurde, ſtand im Zuſammen⸗ hang mit dem Zweck der Verſammlung, und aus der Stimme manches Redners klang mehr die Selbſtgefaͤlligkeit
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und die kindiſche Freude an den eigenen Worten, als die Empoͤrung uͤber die Zuſtaͤnde, welche er geißeln ſollte, und das Beſtreben, dieſe ſelbe Empoͤrung auch in den Herzen ſeiner Zuhoͤrer zu wecken und zur Flamme zu entfachen.
Trupp ſah mit einem boͤſen Laͤcheln einem dieſer heftig geſtikulierenden geſchaͤftsmaͤßigen Volksredner zu, der mit ermuͤdender Weitſchweifigkeit den hungernden Lon— donern von ihren hungernden Leidensgenoſſen in Indien ſprach und die Schaͤndlichkeiten, die von der engliſchen Regierung in dieſem ungluͤcklichen Lande veruͤbt ſind und veruͤbt werden, aufzaͤhlte, ſtatt ihnen die ebenſo großen Willkuͤrlichkeiten derſelben Regierung zu enthuͤllen, unter denen ſie zu leiden und langſam zu ſterben verdammt waren.
Lautes Gelaͤchter und hoͤhniſche Zurufe ließen ihn indeſſen gleich darauf von dem Schwaͤtzer ab- und ſich einem jener bemitleidenswerten Fanatiker zuwenden, welche bei allen ſolchen Verſammlungen ihre Miſſion erfuͤllen zu muͤſſen glauben, das verirrte Volk in die Arme und den Schoß der alleinfeligmachenden Kirche zuruͤckzufuͤhren: die Armen in ihrem Dulden und Leiden, und die Reichen in ihren Genuͤſſen zu ſtaͤrken. Trupp ſah ſich den ſchwargekleideten Mann neugierig an. Das glattraſierte fahle Geſicht, der ſcheue Blick der Augen und der ſuͤßliche Ton der leiernden Stimme waͤren ihm zu— wider geweſen, auch wenn der Mann nicht im Dienſte deſſen geſtanden haͤtte, das er haßte, weil er in ihm das Hauptmittel zur Verdummung und geiſtigen Unter— druͤckung des Volkes ſah.
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Aber nur mit Hohngelächter wurden die Worte des Miſſionars aufgenommen. Er wurde uͤberſchrieen von allen Seiten. Drohrufe wurden laut, ſich zu entfernen. Dann flogen Apfelſinen- und Nußſchalen nach ihm. Er ließ alles ruhig uͤber ſich ergehen und leierte ſo ruhig und monoton ſeine eingelernten Phraſen herunter, auf welche niemand hoͤrte, als ginge ihn das Ganze gar nichts an. Man draͤngte ihn fort von der Stelle, wo er ſtand. Kaum konnte er wieder Fuß faſſen, als er in ſeiner Rede fortfuhr. Das Gebahren dieſes neuen Chriſtus war laͤcherlich und jaͤmmerlich zugleich. Ploͤtzlich flog ein be— wundernswert ſicher gezieltes Ei auf den Sprecher zu — eine faule, breiige Maſſe ſchloß ihm klatſchend den Mund. Das war zu viel, ſogar fuͤr dieſen Maͤrtyrer. Er hielt nicht mehr ſtand. Beſchmutzt von oben bis unten, ſpuckend und ſich blitzſchnell duckend, ſchluͤpfte er zwiſchen den Umſtehenden durch, gefolgt von dem rohen Gelaͤchter der aufgeregten und ſchreienden Menge.
Trupp zuckte die Achſeln. Er wuͤnſchte, daß jedem Volksverderber und Wahrheitsfaͤlſcher der Mund auf gleich draſtiſche Weiſe geſchloſſen werden möchte.
Er wandte ſich ab und ließ ſich von dem Schwarm vor— uͤber an den Fontaͤnen, deren ſchmutzige Waſſerbecken überfät waren mit Abfällen aller Art, wieder zuruͤck nach der Nordſeite des Platzes treiben. Auch dort, an den Laternenpfaͤhlen des breiten Gelaͤnders ſich haltend, ſtanden jetzt Redner und riefen auf die tief unter ihnen im Square Stehenden ihre aufgeregten, abgehackten und aufregenden Saͤtze hinunter.
Einer von ihnen ſchien Trupp bekannt. Er erinnerte
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ſich, ihn bei den Verſammlungen der Socialdemocratic Federation geſehen zu haben. Es war ein Parteiſozia⸗ liſt. Trupp hoͤrte zu. Er verſtand wieder nicht alles, konnte aber doch aus einzelnen Schlagworten entnehmen, daß jener über die raſende Entwicklung der großkapita— liſtiſchen Ausbeutung, der immer drohender werdenden, durch ſie bedingten Hungerrevolten, die Vergeblichkeit der zu ihrer Unterdrückung angewandten Mittel ſprach, und wie er jenes alte, durch einen voreingenommenen Kopf hingeworfene und ſeitdem ſo feſt eingeniſtete Vorurteil angriff: es ſei der Mangel an Lebensguͤtern, welcher das Elend gewiſſer Schichten bedinge. Dann ging er auf die bekannten — zwiſchen ſozialdemokratiſchen und kom— muniſtiſchen Ideen die Wage haltenden — Theorien der Verteilung im Überfluß vorhandener Güter über und alles in Saͤtzen, von deren einzelnen Worten die Wiederholung langer Jahre jedes wie in Erz gegoſſen zu haben ſchien und — zur Phraſe gemacht hatte
Die Wirkung war indeſſen gering. Es waren wohl nur wenige, welche jedem Worte folgten und uͤberhaupt zu folgen vermochten. Die meiſten ließen ſich in der unaufhoͤrlichen Bewegung, welche ſie — wie der Wind die Halme eines weiten Feldes — hin und her riß, von einem Fleck zum andern treiben. Meiſt verſuchte die Stimme der Redenden vergeblich gegen ihren Schwall anzukaͤmpfen.
Um die Baͤnke an der Nordseite des Square hatte ſich eine laut laͤrmende Zahl von Kindern geſchart: von jenen Straßenarabern, welche zu jeder Tageszeit zu Hunderten die Hauptſtraßen Londons uͤberſchwemmen —
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hinausgeſtoßen von den Eltern, wenn ſie noch ſolche haben, und weitergeſtoßen von der gefuͤrchteten Fauſt der Poliziſten. Von jenen Kindern, welche nie eine Jugend haben; welche in ihrem Leben keine andere Natur, als die beſtaubte von Hyde Park geſehen haben, wo ſie an einem Sommerabende mit Hunderten ihrer Altersgenoſſen in der Serpentine badeten; welche ſich nie in ihrem Leben ſatt gegeſſen und nie ein nicht zerfetztes und rein⸗ liches Kleidungsſtuͤck auf dem Leibe haben; welche nie verdorben worden ſind, da ſie nie unverdorben waren.
Lachend und ſchreiend ſtanden und ſprangen ſie auf den ſchmutzigen und abgetretenen Baͤnken herum. Eines unter ihnen behauptete ſich eine Minute lang auf der Lehne einer derſelben: mit komiſcher Grandezza ahmte es die Bewegungen der Redner nach und ſchrie ſinnloſe Worte in das Gewuͤhl hinein. Sein ſchmutziges, fruͤh altes Geſicht ſtrahlte vor Vergnuͤgen. Dann wurde es hinabgeriſſen von den jauchzenden Kameraden.
Trupp lächelte wieder, aber herb. Es war dieſe kleine Szene wie die bitterſte Satire auf den bitterſten Ernſt. Er ſah in die ſchmutzigen, laſterhaften Geſichter der um ihn Stehenden — wohin ſein Blick fiel: Elend, Hunger und Verkommenheit. Und es waren ſeine Bruͤder; er fuͤhlte ſich zugehoͤrig zu ihnen allen; untrennbar mit ihnen verbunden durch ein gleiches Schickſal.
Über Trafalgar Square hing ein monotonzgrauer, ſchwermuͤtiger, ſonnenloſer Himmel. Hoͤher ſchien ſich dieſe kalte Kuppel gewoͤlbt zu haben als ſonſt.
Wieder ging von dem Fuß der Nelſonſaͤule aus eine große Bewegung durch die Maſſen. Man ſah ihn
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fih leeren. Man ſah die rote Fahne — über dem dunklen Meer von Koͤpfen — in der Richtung nach Weſt⸗ minſter hinunter ſchwenken. Und ohne daß eine Parole ausgegeben worden waͤre, folgten ihr ganz von ſelbſt die Tauſende. Zu einer ungeheueren Schlange reihten und verdichteten ſich die einzelnen Glieder. So waͤlzte ſie ſich Whitehall hinunter, vorbei an den Spitzen fo vieler Be: hoͤrden, vorbei an den Erinnerungen der Geſchichte, deren blutige Spuren von den Steinen dieſer beruͤhmten Straße von der Zeit fortgewaſchen waren, vorbei an den beiden Wachen der Horſe Guards, welche in ihren prahleriſchen Uniformen auf ihren wohlgenaͤhrten Pferden die Eingaͤnge jenes niedrigen Gebäudes bewachten ... Und hinauf durch die ſpalierbildende Zuſchauermenge, welche dem ſelt⸗ ſamen Zuge nachſtroͤmte, ſobald er vorbeigezogen war ...
Mitten in den Reihen ging Trupp. Etwas ſchneller ſchlugen ſeine Pulſe, waͤhrend er ſich fortgezogen und hinuntergeſchwemmt fuͤhlte von der Bewegung dieſes Tages.
Die Tuͤrme von Parliament Houſe tauchten immer klarer und ragender aus dem feinen Nebel auf. Dann lag Weſtminſter Abbey ploͤtzlich vor der unuͤberſehbaren Schar, welche ſich unaufhaltſam auf ihre Pforten ers
goß. Trupp verſuchte es, über die ſchwarzen Hüte,
welche ihn umgaben, einen Blick auf die Spitze des Zuges zu werfen. Wenn es doch zu einem Zuſammen⸗ ſtoß kaͤme! — war ſein gluͤhender Wunſch.
Aber ruhig ſah er die rote Fahne ſich von dem Haupteingang fort um die Ecke ſchwenken; der Zug ſtroͤmte ihr in geſchloſſener Ordnung nach.
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Die mannigfachſten Ausrufe umtönten ihn. Er wußte nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Und ploͤtzlich befand er ſich — der Zug hatte ſeinen Eintritt durch den oͤſtlichen Eingang nehmen muͤſſen — in dem großen Schweigen der herrlichen Hallen, welche Jahrhunderte mit ihrem Duft gefuͤllt und mit ihrem Ruhme geweiht hatten.
Er ſtand im Poets Corner der Weſtminſter Abbey, eingepreßt in der Menge, welche in den engen Baͤnken keinen Platz fand. Er ſah die Buͤſten und las die Namen, welche er nicht kannte. Was waren ſie? Und was waren ſie ihm? — Er kannte nur einen engliſchen Dichter, und feinen Namen fand er nicht . .. Percy Byſſhe Shelley. Der hatte die Freiheit geliebt. Darum liebte er ihn und las ihn, auch da, wo er ihn nicht verſtand. Er wußte nicht, daß engliſche Engherzigkeit und Beſchraͤnktheit ihn, wie Byron dadurch ausgezeichnet hatten, daß ſie ihm die Ehre eines Platzes in dieſer halbhellen Ecke unter ſo viel echtem Genie und fo viel falſcher Größe bis jetzt hartnaͤckig ver— weigert hatte.
Es war Gottesdienſt. Von der Mitte der Halle her, wie aus einer großen Entfernung, drang die dunkle, mono⸗ tone, halb ſingende Stimme des Geiſtlichen, welcher nach einer unmerklich kurzen Unterbrechung bei dem ſo unver⸗ hofften Eindringen ſeine Vorleſung fortſetzte, ſo auch die Gemeinde, feine erſchreckten Hörer, wieder beruhigend ... Trupp verſtand kein Wort. Die Menge um ihn herum ſtroͤmte einen ſtarken Duft von Schweiß und Staub aus. Sie ward aufgeregter, nachdem das große Ge— fuͤhl, welches ſie uͤbermaͤchtig beim Eintritt ergriffen hatte,
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wieder verſchwunden war. Einige hatten ihre Hüte aufs behalten; wenige andere ſetzten fie wieder auf. Mehrere beſtiegen die Baͤnke und ſahen uͤber die andern hinweg. Nur wenige halblaute Worte fielen in die großartige Erhabenheit dieſes Schweigens hinein. Trupp ſetzte ſich. Gegen ſeinen Willen war er erfaßt von einem ſeltſamen, unerklaͤrlichen Gefuͤhl, wie er es ſeit langer Zeit — ſeit unendlich langer Zeit — nicht mehr empfunden ... Je mehr der Raum uns umengt, deſto mehr empfinden wir
ihn, wenn die Fluͤgel unſerer Gedanken an ſeinen Waͤnden
ſich blutig ſchlagen; je weiter er uns umwoͤlbt, deſto mehr vergeſſen wir ihn und ſeine Schranken. Trupp blickte nieder und vergaß fuͤr die Zeit einer halben Stunde völlig, wo er war. — —
Sein ganzes Leben ſtieg ihm wieder auf. Aber die Umarmung dieſer Erinnerung war nicht ſanft und troͤſtend, wie die einer Mutter, zu welcher der Sohn zuruͤckkehrt, ſondern gewaltſam, unentrinnbar, zermalmend wie der tödliche Kuß eines Vampyrs es fein muß!
Sein ganzes Leben. Er war jetzt ein Mann von 35 Jahren, auf der Mittagshoͤhe feines Lebens, im Voll:
beſitz der Kraft feines Körpers.
Er ſieht ſeine Kindheit wieder, die durchhungerten,
zerſchlagenen Jahre ſeiner Kindheit, als Sohn eines
Tageloͤhners in einem ſchmutzigen Flecken des ſaͤchſiſchen Flachlandes; der Vater ein Schwachkopf; die Mutter eine ſtreitſuͤchtige, ewig unzufriedene Frau, von welcher er die eiſerne Energie und die unbaͤndige Leidenſchaft
geerbt hatte; mit der er in beſtaͤndigem Kampf lag, vin 8
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bis er ihr — denn der Vater kam nie in Betracht — eines Tages nach einer entſetzlichen Szene, in welcher ſich fein reifendes Gerechtigkeitsgefuͤhl gegen ihre grund loſen Vorwuͤrfe und Klagen aufgebaͤumt hatte, davon⸗ lie
Er ſieht ſich wieder als fuͤnfzehnjaͤhrigen, verwahr— loſten Knaben, ohne einen Pfennig Geld, zwei Tage lang von Flecken zu Flecken irren; er fuͤhlt den wuͤtenden Hunger wieder, der ihm endlich nach zwei Tagen den Mut gab, auf einem Bauernhof ſich ein Stuͤck Brot zu erbetteln; und wieder die mutloſe Verzweiflung, die ihn endlich dazu trieb — es war am Morgen des dritten Tages, einem naßkalten Herbſtmorgen (wie er ſich dieſes Morgens erinnerte!), an dem er ſich froſtzitternd und gänzlich erfchöpft von der Erde erhob — im naͤchſten Dorf nach Arbeit zu fragen. Es war in der Naͤhe von Chemnitz. Er tritt in eine Schmiede. Der Meiſter lacht und pruͤft die Muskeln ſeiner Arme. Er kann da⸗ bleiben, er darf ſich mit zum Fruͤhſtuͤck ſetzen, einer dicken, ſchmackloſen Suppe, welche von den Geſellen muͤrriſch genoſſen, von ihm gierig heruntergeſchlungen wird. Die andern ſpotten über feinen Hunger; aber nie hat ihn ein Lachen weniger geſtoͤrt. — Dann arbeitet er und lernt, mit raſendem Eifer, mit brennender Luft und Liebe an allem. Die Tage, Wochen, Monate vergehen ... Keiner kuͤmmert ſich um ihn. Am laͤngſten erſcheinen ihm die Abendſtunden nach beendeter Arbeit. Er weiß da nicht, was er tun ſoll. Einmal erwiſcht er ein Buch und nun buchſtabiert er Satz für Satz. Es iſt zufaͤlliger⸗ weiſe das „Arbeiterprogramm“ von Laſſale. Er hat es
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in einem Winkel ſeiner Dachkammer gefunden. Irgend jemand mußte es dort vergeſſen haben. Er verſteht kein Wort. Aber als der Meiſter ihn einmal uͤber die ſchmutzigen Blaͤtter gebeugt ſieht, reißt er ſie ihm aus der Hand und ſchlaͤgt ſie ihm hinter die Ohren. „Verfluchte Sozialdemokraten“, ſchreit er, „wollen ſie das Kind auch ſchon verderben!“ — Der Junge verſteht das wieder nicht. Er weiß nicht, was er Boͤſes ge— tan haben ſoll. Aber er hat das Wort „Sozialdemokratie“ zum erſtenmal gehoͤrt. Das iſt nun zwanzig Jahre her.
So ſchließt er ſeine erſte Freundſchaft. Denn ſeit dieſer Stunde intereſſiert ſich einer der Arbeiter, ein ſtrengglaͤubiger Anhaͤnger des emporbluͤhenden Allge— meinen deutſchen Arbeitervereins, welcher damals noch in unverſoͤhntem Gegenſatz zu der Eiſenacher Richtung der Arbeiterpartei ſtand, fuͤr ihn und ſtatt der ſchweren, wiſſen⸗ ſchaftlichen Arbeit jenes geiſtreichen Vorkaͤmpfers des deut— ſchen Sozialismus ſteckte er ihm eine auf duͤnnes Olpapier gedruckte Zeitung zu, welche an der Hand von Tageser— eigniſſen dem erwachenden Geiſte die ſozialen Schaͤden der Gegenwart beſſer illuſtrierte, als dies auch die leichteſt⸗ gefaßte volkswirtſchaftliche Abhandlung vermocht haͤtte. Er las da die zuſammengetragenen Schilderungen der
verderblichen Gegenſaͤtze: die haßerfuͤllten Schilderungen
der frechen Schwelgereien, der brutalen Herzloſigkeit, des ſchamloſen Übermutes auf der einen, die leidenſchaftlichen Darſtellungen der verzweifelten Armut, der verkauften Arbeit, der zertretenen Schwachheit auf der andern, ſchroff gegenuͤbergeſtellten Seite und ſein junges Herz wallte
uͤber vor Schmerz und Empoͤrung. Der Haß und die 8 *
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Liebe ſpalteten es fuͤr immer: der Haß gegen jene; die Liebe fuͤr ſie, welche gleich ihm litten. Die Menſchen zerfielen ihm bald in Bourgeois und Arbeiter, und bald ſah er in jenen nichts als berechnende Schurken und arbeitsſcheue Ausbeuter, in dieſen lauter Opfer, je edler, deſto ungluͤcklicher ſie waren..
Die Jahre vergehen. Als er mit neunzehn Jahren die truͤbe, unfreundliche Stadt verlaͤßt, hat er es durch eiſernen Fleiß in den Abendſtunden dahin gebracht, daß er fließend leſen, ſchwerfaͤllig, aber richtig ſchreiben kann. Er iſt Geſelle. Sein Lehrzeugnis iſt vorzuͤglich.
Es treibt ihn hinaus mit allen Faſern. Der große Krieg hat ausgewuͤtet. Waͤhrend in Paris der Flammen⸗ brand des Aufruhrs die Himmel roͤtet, bis er in Stroͤmen von Blut erliſcht, wandert er, den Thuͤringer Wald durch— kreuzend, Nuͤrnberg und Muͤnchen zu, wo er ein Jahr lang in einer großen Fabrik guͤnſtige Gelegenheit zur Aus— breitung ſeiner Berufskenntniſſe findet.
Noch immer ein begeiſterte Anhaͤnger der „vorge— ſchrittenſten“ Partei, regt ſich doch hier ſchon in ihm das inſtinktive Gefuͤhl des Widerſtrebens gegen ihre auto— ritativen Grundſaͤtze, welche auch das geringſte Abweichen von der ſanktionierten Form nicht erlauben ...
Es draͤngt ihn hinaus, dem Ausland zu. Er wendet ſich nach der Schweiz. In Unterbrechungen erreicht er Zürich, dann Genf. Und hier iſt es, wo er zum erſten⸗ mal das Wort „Anarchismus“ Hört. Nie hatte er es bis⸗ her in Deutſchland vernommen.
Es wird noch nirgends ausgeſprochen. Nur hier und da hoͤrt man es fluͤſtern. Noch weiß wohl keiner, was es
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beſagen will. Noch wagt keiner ſich an ſeine Erklaͤrung.
Noch ahnt keiner feine Bedeutung für die Zukunft ...
Mit 22 Jahren iſt er Revolutionaͤr!
Bis dahin war er Reformer geweſen.
Zum erſtenmal verkehrte er in den Kreiſen von Menſchen aller Nationen, welche ein ſeltſames Geſchick hierher zuſammengetrieben: Emigranten, Konſpirateure, Minierer — Maͤnner, Frauen, Juͤnglinge der europaͤiſchen Revolution, die einen noch blutend aus friſchen Wunden, die andern bedeckt bereits mit Narben. Alle erfuͤllt von jener fieberhaften Ungeduld, jener zitternden Leidenſchaft, jener ſchmerzlichen Sehnſucht, „etwas zu tun“, aber hier mehr und mehr den Kontakt mit den. heimatlichen Verhaͤltniſſen verlierend.
Sie erzaͤhlten ihm: die Jungen von ihren Hoffnungen, die Alten von ihren Enttaͤuſchungen und — ihren Hoffnungen. Zuweilen verſchwindet einer von ihnen: er hat eine „Miſſion“ zu erfüllen. Ein anderer kommt. Ihre Namen werden kaum genannt, nie behalten.
Es iſt eine ſeltſame Zeit fuͤr Trupp.
1864 hatte Marx in London die „Internationale“ begruͤndet. Ihre großen Erfolge gingen Hand in Hand mit einer immer groͤßer werdenden Ideenzerſplitterung der Mitglieder, welche hier das Privateigentum ver— teidigten, dort es negierten; hier den Kollektivismus ver— traten, dort ſich bereits immer mehr in die Nebelregionen des Kommunismus verloren. Auf den Kongreſſen zeigten ſich die Riſſe.
Da ſtemmt ſich eine eiſerne Fauſt in die Spalten und reißt ſie tiefer und klaffender. Bakunin, der ruſſiſche
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Offizier, der Schuͤler Hegels, der Leiter des Dresdener Aufſtandes, auf drei Tage ‚König von Sachfen‘, der ſibiriſche Verbannte, der raſtloſe Verſchwoͤrer, ewige Revo— lutionaͤr, der Prophet und der Schwaͤrmer, tritt dem eiſernen Tyrannen, dem genialen Gelehrten, dem be— ruͤhmten Schöpfer der Bibel des Kommunismus ent— gegen. Der Kampf zweier Loͤwen, die ſich gegenſeitig zerfleiſchen!
1868 entſteht die „Allianz der ſozialiſtiſchen Demo— kratie“. Und kurz ein Jahr, bevor Otto Trupp die Schweiz betreten, die Jurakonfoͤderation, die „Wiege der Anarchie“. Faſt drei Jahre bleibt er in der Schweiz er lernt fran— zoͤſiſch.
Als er noch einmal nach Bern kommt, bevor er das Land auf Jahre verlaͤßt, ſchließt ſich dort der Vorhang langſam uͤber dem letzten Akte jenes ungeheuerlichen Lebens ... Der Tod hatte bereits feine Tore für Michael Bakunin geoͤffnet. Noch immer macht der ſterbende Rieſe krampfhafte Anſtrengungen der Verzweiflung, nachdem ihn doch faſt alle ſchon verlaſſen, neue Scharen um ſich zu ſammeln und ſie hinaus zu ſenden in den hoffnungs— loſen Kampf . .. Es iſt vorbei. Nur Toren noch ſchwoͤren zu einer Fahne, die der Sturm von Jahrzehnten zerfetzt ... Nie hat ihr Traͤger erreicht, was er wollte: die Welt zu ſtuͤrzen. Aber gelungen iſt es ihm, die Fackel der Zwie— tracht in die ſtolze Hochburg der „Internationale“ zu ſchleudern .
Otto Trupp iſt einer ſeiner letzten Schuͤler.
Mit 24 Jahren iſt er Terroriſt! Er hat ſie aus— wendig gelernt: jene wahnſinnigen elf Grundſaͤtze „über
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die Pflichten des Revolutionaͤrs gegen ſich ſelbſt und gegen feine Revolutionsgenoſſen“, welche mit den ents ſetzlichen Worten der groͤßten Unfreiheit beginnen: „Der Revolutionaͤr iſt ein ſelbſtgeopferter Menſch. Er hat keine gewöhnlichen Intereſſen, Gefühle oder Neigungen, kein Eigentum, nicht einmal einen Namen. Alles in ihm wird verſchlungen von einem einzigen ausſchließlichen Inter— eſſe, einem einzigen Gedanken, einer einzigen Leiden— ſchaft — der Revolution.“ —
Erfuͤllt von dieſem einzigen Intereſſe, dieſem ein— zigen Gedanken, dieſer einzigen Leidenſchaft, betrat der dreiundzwanzigjaͤhrige Trupp ſein Vaterland wieder. Es durchwandernd von Suͤd nach Nord, wuchs ſeine Bitter— keit mit der Groͤße des Elends, welches er uͤberall ſah, wohin er kam.
Es war das Jahr, in dem ſich die beiden Richtungen des Sozialismus auf jenem Grund vereinigten, welcher beſtimmt war, eine der beſtorganiſierten, taͤtigſten und geſchloſſenſten Parteien zu tragen, jener, welcher vielleicht die naͤchſte Zukunft gehört ...
Von Stadt zu Stadt zieht er. Überall verſucht er, ſeine Minen in das „Beſtehende“ zu legen. Er reizt die Arbeiter auf, den Schneckengang der Reformen zu ver— laſſen; er zeigt ihnen den Weg der Gewalt als Erretter und Befreier. Und mancher, welcher nicht verſteht, die ungeduldigen Wuͤnſche ſeines leidenſchaftlichen Herzens mit den Zuͤgeln der Vernunft zu baͤndigen, fällt ihm zu.
Jetzt nennt er ſich Anarchiſt!
Nun wirkt er unter dieſem Zeichen. Das Wort
ſcheint ihm treffend genug zu bezeichnen, was er erſtrebt:
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er will keine Herrſchaft, weder die des Einzelnen, noch die einer Mehrheit. Indem er mit eiſerner Willenskraft ſich an alle moͤglichen Wiſſenſchaften heranwagt, zimmert er ſich das formloſe Gebaͤude einer Weltanſchauung zu— ſammen, in deſſen lichtloſen Raͤumen er ſich verirrt haͤtte, ſaͤhe er nicht durch das ſchlechtgefuͤgte Dach den blauen Himmel eines Ideals der Bruͤderlichkeit verheißend ſchimmern
Er vertraut nur noch der Revolution. Mit einem Schlage wird fie das Paradies des friedlichen Beiſammen— ſeins ſchaffen. Daher ſtrebt jeder Flug ſeiner Sehnſucht zu ihr. Fuͤr ſie wirbt er: fuͤr die große Revolution ſeines Standes, nach welcher keine mehr ſein wird.
So zieht er von Stadt zu Stadt. Unter wieviel falſchen Namen, mit wie oft ausgetauſchten Papieren, er weiß es nicht mehr ... Immer iſt er flüchtig: kein Tag vergeht, an dem er die Augen nicht offen, die Lippen nicht geſchloſſen halten muß, den Verfolgungen zu ent⸗ gehen. Oft nimmt ihn das Gefaͤngnis auf. Aber immer entlaͤßt es ihn wieder nach kurzen Zeitraͤumen: man hat ihm nichts nachweiſen koͤnnen.
Da fallen in Berlin ſchnell hintereinander die Schuͤſſe auf den Kaiſer. Er jubelt den Attentaͤtern zu, welche beide Fanatiker waren, der eine obendrein ein Idiot, der andere zudem ein Wahnſinniger. Die Reaktion ſiegt. Ihre ſchreckliche Zeit der Verkommenheit beginnt: die niedrigſten Gefühle wagen ſich zu Tage. Verfolgungs⸗ trieb, Denunzierungsſucht, Gehaͤſſigkeit erfuͤllen die Herzen.
Als Trupp — einer der erſten — verhaftet wird,
glaubt er das Gefaͤngnis nie mehr verlaſſen zu koͤnnen.
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Die Faͤden ziehen ſich uͤber ſeinem Haupte zuſammen. Ein wunderbarer Zufall rettet ihn. Waͤhrend man noch auf den Hochverraͤter und Verſchwoͤrer fahndet ver— urteilte man den Majeſtaͤtsbeleidiger zu einem halben Jahre, ahnungslos, wer es iſt, den man in Haͤnden hat. Jeden Tag ſah er in dieſem halben Jahre uͤber ſich das Schwert gezuͤckt, bereit, niederzufallen ... Aber es faͤllt nicht. Er iſt wieder frei. Unter harten Entbehrungen erreicht er die Grenze, erreicht er Paris. Die andere Periode ſeines Lebens beginnt: die des Fluͤchtlings im Auslande. Er weiß, er kann keinen Schritt mehr nach Deutſchland hinein tun, der nicht todbringend werden müßte... |
Aus dem verſteckten Schuͤrer und Wuͤhler, der ſchweig⸗ ſam uͤberallhin ſeine gaͤrende Saat verſtreut, wird nun der überall offen auftretende Propagandiſt, der Debattierer in den Klubs, der Redner an der Straßenecke und im Verſammlungslokal.
Die franzoͤſiſchen Anarchiſten haben das erſte anar— chiſtiſch⸗kommuniſtiſche Organ gegründet: „Le Revolte!“ — Die Anhänger der neuen Lehre, welche ſich langſam, aber ſicher weiter und weiter auszubreiten beginnt, machen den Anfang mit der anarchiſtiſchen Organiſation „freier Gruppen“, wobei ſie zum erſtenmal von dem Prinzip der Dezentraliſation ausgehen. Der Arbeiterkongreß von Marſeille 1879 iſt kommuniſtiſch; ſeine Bedeutung iſt noch nicht zu ermeſſen .. . die Spaltung zwiſchen Kommunis⸗ mus und Kollektivismus iſt — aͤußerlich noch kaum be— merkbar — innerlich bereits vollzogen. ö
Trupp iſt uͤberall. Sein durſtendes Herz hat nie
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raſtloſer geſchlagen, wie in dieſen Jahren der großen, er— wachenden, mit ſich fortreißenden neuen Bewegung. Was er bei den Franzoſen hoͤrt, traͤgt er in den noch kleinen, aber bereits wachſenden Kreis ſeiner deutſchen Genoſſen.
Da lernt er Carrard Auban kennen. Er ſieht dieſe reine, faſt kindliche Begeiſterung auf der Stirn des Fuͤnf— undzwanzigjaͤhrigen, dieſen unverſtaͤndlichen Mut, der ihn entzuͤckt, und dieſe alles vergeſſende Hingabe, welche ſich mit jedem Tag zu vermehren ſcheint. Aber kaum, daß er ihn kennen gelernt und ihn zum Freunde gewonnen, verliert er ihn auf lange wieder: Auban wird verurteilt. Die klingenden Worte ſeiner großen Rede vor den Richtern begleiten Trupp durch die beiden Jahre, welche ſie ge— trennt find...
Als fie ſich 1884 in London wieder ſehen — beide Flüchtlinge — ift Auban ein anderer geworden, Trupp derſelbe geblieben. Nur die Erinnerung an die unver— geßlichen großen Tage der Empoͤrung verbindet fie noch — —
Auban verſteht ihn jetzt erſt; aber er vermag ihn nicht mehr zu verſtehen.
In Deutſchland iſt die Lehre zur Tat geworden. Ploͤtzlich hat ſich der aufgeſchreckten Welt ein Haupt des Entſetzens gezeigt: Wien, Straßburg, Stuttgart, der Niederwald und die Ermordung Rumpffs — alle dieſe Taten ſind geſchehen, welche der Ausbreitung der Idee der Freiheit ſo unendlich geſchadet, den Feinden ſo manche neue moͤrderiſche Waffe in die Hand gegeben haben, ſo daß von nun an — auf unabſehbare Zeit hinaus — das Wort „Anarchismus“ gleichbedeutend mit „Mörder geworden iſt. Kann es ſich hier je klaͤren? Iſt es nicht
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verloren fuͤr Europa: preisgegeben dem ewigen Miß— verſtaͤndnis, der unerſaͤttlichen Verfolgung, dem wach— geweckten Haß?
Trupp iſt in London — — in den aufreibenden und kleinlichen Kaͤmpfen der Zwietracht des Tages ſind feine Kräfte vergeudet bis heute — — — — — —
Ploͤtzlich wachte Trupp auf. Er kam wieder zu ſich. Er ruͤckte an ſeinem Hut. Er ſah ſich um und hinauf zu den ſchwindelnden Woͤlbungen.
Die ſchleppenden Worte des Prieſters verhallten noch immer in klagenden Klaͤngen, kaum verſtaͤndlich in der ungeheuren Weite des Raumes. Voller und ſchoͤner ant— wortete der Geſang der Knabenſtimmen im Chore. Noch einmal, dann warfen die Wände — zitternd die erklingen— den Wellen des Schalles zu tiefer Schoͤnheit ineinander— ſchmelzend — die Laute nieder auf die ſchweigſamen Menſchen
Trupp ſah ſich wieder eng in die Menge gepreßt, aus deren Kleidern immer ſtaͤrker der feuchtdunſtige Ge— ruch aufſtieg, der ſich mit dem ſtaubigen Moderduft zu einer truͤben Schwuͤle vermengte.
Nun waren ſie alle ſtill geworden, die Arbeitsloſen. Ermuͤdet waren die einen, betaͤubt die andern; faſt alle gefangen genommen von der Seltſamkeit der Situation. Die meiſten waren wohl ſeit ihrer Jugendzeit in keiner Kirche mehr geweſen. Nun wurden ſie gegen ihren Willen gefangen von Erinnerungen, die ſie laͤngſt begraben hatten.
Manche lehnten in unruhigem Halbſchlummer dicht aneinandergeruͤckt an den Waͤnden der Baͤnke; andere
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flüfterten ſich in gedruͤcktem Tone, kaum atmend, Fragen zu: ſie wollten wiſſen, wer dieſe marmornen Geſtalten, in den Trachten ferner Zeiten, dem wunderbaren Haarputz, mit den ernſten Mienen, in den herausfordernden Stellungen ſeien . .. Waren das jene, welche die Macht hatten, fie glücklich zu machen, fie zu verderben? —
Von dem kecken Mut der Auflehnung, mit welchem ſie vor noch nicht einer Stunde vom Trafalgar Square fortgezogen waren, war wenig mehr zu ſpuͤren, nichts mehr zu ſehen. Ineinandergekeilt ſtanden ſie da — wie lange ſollten ſie denn noch ſo ſtehen? Weshalb gingen ſie nicht? — Was ſollten ſie hier? Hier wuͤrde ihnen doch keine Hilfe werden. Hier gab es doch keinen andern Troſt als Worte! Sie aber wollten Arbeit, Arbeit und Brot.
Bitterkeit verbreitete ſich unter den Harrenden. In Trupp wallte fie auf wie Feuer. Von der Kanzel her drangen ſo einfoͤrmig und ſo regelmaͤßig langſam, wie niederſickernde Tropfen, die Worte des Prieſters. Er verſtand fie nicht. Keiner vielleicht verſtand fie. Sie erzählten von Dingen, welche nicht von der Erde find ..
— Setzt all Euer Vertrauen auf Gott! lamentierte die klagende Stimme.
— Auf Gott! — toͤnten weich, in wundervollen Klaͤngen der Hoffnung und des Jubels, die jugendlichen Stimmen zuruͤck.
— Er allein kann Euch erretten! wieder der Prieſter.
Ahnten die Hungernden den unbewußten Hohn dieſes ſchrecklichen Glaubens, der Luͤge war vom Anfang an bis an das Ende? — Eine Bewegung der Unruhe entſtand
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unter ihnen. Alle waren erwacht; alle ſchuͤttelten den Schlummer der Betaͤubung von ſich ab.
Da tönte ein ſchrilles Lachen von den Lippen Trupps, in welchem ſich Unglaube, Haß und Verbitterung ver— mengten. Rufe antworteten ihm von verſchiedenen Seiten. Mehrere lachten ebenfalls. — Dann ſtoßweiſes Gelaͤchter, hier und da. Verwirrte Rufe.
Man bedeckte die widerwillig und mechaniſch ent— bloͤßten Koͤpfe. Ein Stoßen und ein Draͤngen entſtand.
Die meiſten ſchoben dem Ausgange zu. Schnell er— goffen ſich die Reihen in die friſche Luft. Die Ans daͤchtigen atmeten auf. Gott der Herr, ohne deſſen Willen kein Haar zu Boden faͤllt, hatte die Gefahr von ſeinen Kindern gewandt. Sie waren befreit von den Ruchloſen. Sie waren wieder unter ſich. Der Prieſter, welcher einen Augenblick geſtockt hatte bei dem ausbrechenden Laͤrm, ſetzte wieder ein, und die Augen der Zuruͤckbleibenden wendeten ſich voll Vertrauen und heiterer Ruhe wieder ihm, ihrem Hirten, zu.
Trupp grollte. Nichts waͤre ihm lieber geweſen, als ein Skandal an dieſem Orte.
Die eintoͤnige Helle des feuchtkalten Oktober-Nach⸗ mittags umfloß wieder die aus dem Daͤmmerlicht von Weſt— minſter Abbey, aus ihrem „heiligen Schweigen“, in den Laͤrm des Tages Hinaustretenden. Der größte Teil der Arbeitsloſen hatte draußen warten muͤſſen. Er hatte muͤrriſch und zweifelnd die beſaͤnftigenden Worte eines Großwuͤrdentraͤgers der Kirche vernommen; oder er hatte den bitteren Wahrheiten des chriſtlich-ſozialen Abtruͤnnigen beifallſpendend gelauſcht.
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Man einte ſich wieder zum Zuge nach dem vor kaum einer Stunde verlaſſenen Square. Man folgte dem Flattern der roten Fahne. Man engte ſich zuſammen in ge⸗ ſchloſſene Reihen, wie um den Hunger ſo weniger, die eigene Staͤrke ſo beſſer zu fuͤhlen.
Trupp wurde fortgeſchoben.
In taktmaͤßigen Schritten ſchlugen die ſchweren Fuͤße den harten Boden. Man faßte ſich unter. Ein unab⸗ ſehbarer Zug ſchob ſich durch die Enge von Parliament Biest
Und aus dieſem Zug ſtieg wie auf gemeinſame Ver⸗ abredung ein Geſang auf. Tief, duͤſter, ſchwermuͤtig und grollend zugleich, klang er aus tauſend Kehlen zum Himmel empor, wie die Rauchwolke, welche den Ausbruch des Brandes verkuͤndet .
Sie ſangen das uralte, unſterbliche Lied der „starving poor of Old England“.
Let them bray until in the face they are black, That over oceans they hold their sway, Of the Flag of Old England, the Union Jack, About which ! have something to say: ’Tis said that it floats o’er the free, but it waves Over thousands of hard-worked ill-paid British slaves, Who are driven to pauper and suicide graves —
The starving poor of Old England!
Und in maͤchtigem Chor den Refrain, in welchen jede Stimme einfiel:
’Tis the poor, the poor the taxes have to pay,
The poor who are starving every day,
Who starve and die on the Queen's highway — The starving poor of Old England!
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Noch ein Vers und noch einer —
’Tis dear to the rich, but too dear for the poor, When hunger stalks in at every door —
Und ſchließend mit furchtbarer, hoffnungdurchjauchzter, ſich ermannender Drohung:
But not much longer these evils we'll endure,
We the working men of Old England!
Trupp ſtieß ſich mit Gewalt aus feiner Reihe und bog in eine Nebenſtraße ein.
Hinter ihm verſaͤnk in den immer tiefer fallenden Schatten Weſtminſter Abbey. In ſeinem Ohr verhallten die truͤben, wehmuͤtigen Toͤne, in welchen die Hungernden ihre Leiden ausklagten . . .
’Tis the poor, the poor the taxes have to pay,
The poor who are starving every day, Who starve and die on the Queen’s highway — The starving poor of Old England!
Kein Richter, weder im Himmel noch auf Erden, vernahm die furchtbare Anklage dieſer Elenden, welche noch immer auf Gerechtigkeit warteten.
Mit geſenktem Kopf, die Lippen feſt aufeinander⸗ gepreßt, hin und wieder einen ſcharfen Blick um ſich werfend, um ſich uͤber die Richtung des Weges zu ver— gewiſſern, ſchritt Trupp dahin, wohl eine Stunde lang, dem Norden Londons zu.
Viertes Kapitel
Carrard Auban
Waͤhrend dieſes ſelben Nachmittags, an welchem ſo viel zerſetztes Blut nach dem Herzen der Weltſtadt zu⸗ ſtroͤmte, ſaß Carrard Auban in ſeinem ſtillen, hohen Zimmer in einer der Straßen noͤrdlich von Kings Croß, welche an Wochentagen nie ſehr belebt ſind, an Feſttagen aber von dem Fuß des Todes durchſchritten zu ſein ſcheinen.
In dieſem Raum wohnte er, ſeitdem er wieder allein war. Nun ſeit laͤnger als einem Jahr ſchon.
Es war einer jener nuͤchternen, kalten, ohne Komfort ausgeſtatteten Zimmer, fuͤr welche man woͤchentlich zehn Schilling bezahlt, in deſſen einſamer Stille man dafuͤr aber auch leben kann, ohne von einem Geraͤuſch des Außen⸗ lebens geſtoͤrt zu werden. Das ganze dreiſtoͤckige Haus war ſo Zimmer fuͤr Zimmer vermietet; die Bewohner des Hauſes ſahen ihre Landlady nur, wenn fie ihr die woͤchentliche Miete bezahlten, ſich ſelbſt untereinander faſt nie. Zuweilen begegnete ſich der eine mit dem andern auf der Treppe, um haſtig und grußlos voruͤber zu eilen.
Aubans Zimmer war durch eine ſpaniſche Wand, welche bis zur Haͤlfte der Deckenhoͤhe reichte, in zwei
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ungleiche Teile geteilt; ſie verdeckte das Bett und ließ eine groͤßere Haͤlfte frei, welche hauptſaͤchlich durch einen Tiſch von ungewoͤhnlichem Umfang gefuͤllt wurde. Die Groͤße dieſes Tiſches ſtand im Verhaͤltnis zu der maͤchtigen, bis an die Decke ſich erſtreckenden Buͤcheretagere, die eine Bibliothek beherbergte, deren Zuſammenſetzung in ihrer Art vielleicht einzig war. |
Sie umfaßte in erfter Linie die philoſophiſchen und volkswirtſchaftlichen Werke der großen Denker Frankreichs, von Helvetius und Say bis Proudhon und Baſtiat; nicht in gleicher Fuͤlle, jedoch in den beſten Ausgaben jene der Englaͤnder: von Smith bis hinauf zu Spencer. Beſonders beachtet waren auch hier die Vertreter der Freihandels— lehre. Ferner eine luͤckenhafte, aber ſehr intereſſante Sammlung von Schriften, Zeitungen, Broſchuͤren, Flug⸗ blaͤttern uſw. zur Geſchichte der Revolutionen des 19. Jahr⸗ hunderts, vorzugsweiſe zur Geſchichte der vierziger Jahre. Dieſes Erbteil ſeines Vaters, das er lange Zeit faſt un⸗ beachtet gelaſſen hatte, wußte der jetzige Beſitzer jeden Tag mehr und mehr nach ſeinem wahren Werte zu ſchaͤtzen.
Sodann enthielt die Bibliothek eine ungeordnete und kaum zu ordnende Fuͤlle von Material zur ſozialen Frage: dem Forſcher der Zukunft ſicherlich eine koͤſtliche Fund⸗ grube zur Geſchichte der Arbeiterbewegungen. Es war von Auban ſelbſt geſammelt; hier lag übereinander ge: ſtapelt, was der Tag ihm in die Hand gedruͤckt. Das war ein lebendiges Stuͤck der Arbeit ſeiner Zeit, und wahr⸗ lich nicht das ſchlechteſte
Das Erkennen war Auban letztes Ziel. Es galt ihm
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mehr als Kenntniſſe, die ihm nur Helfer und Handlanger waren, jenes zu erreichen.
Nur eine Reihe fuͤllten die Werke der dichtenden Kunſt. Hier ſtand Viktor Hugo neben Shakeſpeare, Goethe neben Balzac. Aber nur in ſeltenen Stunden der Erholung wurde nach dem einen oder nach dem anderen dieſer Baͤnde gegriffen.
Dieſer Tiſch, deſſen Platte aus einem einzigen, un⸗ geheuren Mahagoniſtuͤck gearbeitet war, und dieſe Bib— liothek, in welcher jedes einzelne Buch fuͤr den Beſitzer von beſonderem Wert war — denn dieſer hatte die Ge— wohnheit, jedes Buch, das er geleſen hatte und das ihm nicht wertvoll genug erſchien, von ihm zum zweitenmal geleſen zu werden, ſofort zu verbrennen — bildete den einzigen und ganzen Reichtum Carrard Aubans. Er hatte ihn von Paris nach London begleitet und er machte ihm die kalten Waͤnde der Fremde heimiſch.
Kein Kunſtwerk irgendeiner Art ſchmuͤckte den Raum; jeder Gegenſtand trug die Spuren einer täglichen Bes nutzung an ſich.
Nur zwei kleine Portraͤts hingen uͤber dem Kamin. Das eine ſtellte den großen Fanatiker der Revolution, deſſen wilde Kraft ſich gebrochen hatte an den Mauern weſteuropaͤiſchen Lebens, und das andere den großen Denker des Jahrhunderts, hinter deſſen maͤchtiger Stirn eine neue Welt nach Geſtaltung zu ringen ſchien, dar: Michael Bakunin und Pierre Joſeph Proudhon. Beide Bilder waren Auban eine Erinnerung an den einzigen Menſchen, der ihn unveraͤndert geliebt hatte, ſolange er ihn kannte.
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Aubans Augen ruhten auf Proudhons vertieften, großen Zuͤgen und er dachte an das maͤchtige Leben dieſes Mannes.
Er ſaß vor dem Kamin auf einem niedrigen Lehn— ſtuhl und hielt die Fuͤße nach der waͤrmenden Flamme hin geſtreckt. So in ſeiner ganzen hageren Laͤnge lag er da ſeit zwei Stunden, die Blicke bald in die leiſe kniſternde Glut gebohrt, bald fie langſam durch das Zimmer wandern laſſend, gleich als folgten ſie den immer wieder entfliehenden Gedanken.
Er traͤumte nicht. Er dachte, raſtlos und unablaͤſſig.
Er war ſehr bleich und auf ſeiner Stirn lagen wie Morgentau die feinen Perlen kalten Schweißes. Der gleich⸗ maͤßige, ſonſt wie gegoſſene Ausdruck ſeines Geſichts war geſtoͤrt durch die Muͤhe des Denkens.
Es war ein kuͤhler, feuchter, nebelſchwerer Oktober— nachmittag, von welchem die Sonne ſich mutlos abgewandt hatte.
Auban ſtarrte regungslos in die Glut des Feuers, das mit jeder Stunde, in der die Daͤmmerung von draußen her ſeine Fenſter mit dichteren Falten behaͤngte, das Zimmer mehr erleuchtete.
Er war ſeit einiger Zeit von einer Unruhe gequält, die er ſich nicht zu erklaͤren vermochte. Die Harmonie zwiſchen ſeinem Wollen und ſeiner Kraft war geſtoͤrt.
Zuweilen, wie in den letzten Tagen, glaubte er dem Manne zu gleichen, der ein fuͤrſtliches Vermoͤgen ver— ſchwendet hat und, zum Bettler geworden, nicht weiß, von was weiter leben. —
Dann wieder, wie heute, fühlte er, wie eine Über: 9 **
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fuͤlle von Kraft und Ideen ihn zu außergewöhnlichem i Handeln draͤngte.
Noch war er ſich nicht klar: war ſein Wille ſeiner Kraft nicht gewachſen, oder galt es nur, der vorwaͤrts treibenden den erſten Stoß zu verſetzen?
Es wuͤrde ſich entſcheiden.
Solange Auban denken konnte, hatte er gekaͤmpft, gekaͤmpft gegen alles, was ihn umgab. Als Knabe und Juͤngling wie ein Verzweifelter gegen aͤußere Feſſeln und wie ein Tor gegen das Unabaͤnderliche; wie ein Rieſe gegen Schatten und wie ein Fanatiker gegen das Staͤrkere. Als Mann mit ſich ſelbſt: den zaͤhen, aufreibenden, herben Kampf mit ſich ſelbſt, mit ſeinen eigenen Vorurteilen, feinen eigenen Einbildungen, feinen uͤbertriebenen Hoff: nungen, ſeinen kindiſchen Idealen.
Einſt hatte er geglaubt, die Menſchen muͤßten ſich von Grund aus aͤndern, damit er frei ſein koͤnne. Dann hatte er erkannt, daß er ſelbſt erſt frei werden muͤſſe, um frei zu ſein.
So hatte er denn angefangen, all den Wuſt aus ſeinem Gehirn fortzuraͤumen, den Erziehung, Irrtum, wahlloſe Lektuͤre dort aufgeſpeichert hatten.
Es mußte wieder hell und klar in ſeinem Kopfe werden, das fuͤhlte er, wenn er nicht in Nacht und Duͤſternis verſinken wollte. Es galt, ſich ſelbſt zu finden, innerlich unabhaͤngig zu werden von allen Feſſeln.
Er wurde wieder er ſelbſt. Hell und licht wurde es in ihm, von allen Seiten brach die Sonnenflut auf ihn herein und gluͤcklich wie ein Geneſender ließ er ſich von ihren Strahlen beſcheinen.
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Nun vermochte er ohne Bitterkeit ſeiner Jugend zu gedenken: uͤber ihre Irrtuͤmer zu laͤcheln und nicht mehr zu trauern uͤber Jahre, ſcheinbar verloren in einem Kampfe, den in unſerer Zeit jeder auszufechten hat, der ſich über fie erheben will...
Wer war Carrard Auban? — Und welches war ſein Leben geweſen bis heute?
Er war jetzt faſt dreißig Jahre alt. In dieſen dreißig Jahren hatte er ſich aͤußerlich eine unerſchuͤtterliche Ruhe und Überlegenheit, innerlich eine kuͤhle Gelaſſenheit, die ihn jedoch immer noch nicht vor heftigen Schmerz: und Grollempfindungen bewahrte, erworben ... Er war mit einem Wort: ein unerbittlicher Kritiker, fuͤr den es keine anderen Geſetze gab, als jene der Natur.
Er hatte ſeine Mutter nie gekannt. Das einzige faſt und das letzte, deſſen er ſich aus ſeiner erſten Jugend erinnerte, waren die wilden, unklaren, leidenſchaftlichen Erzaͤhlungen und Deklamationen eines alten, in Idealen verkuͤmmerten, leidenſchaftlichen Mannes geweſen, der mit ihm eine kleine, enge, ſtets unordentliche Stube in der Naͤhe des Boulevard Clichy — dieſen Straßen, in welchen ſich ſo oft die Verkommenheit mit dem Zug der Groͤße verſteckt — bewohnt hatte. Dieſer Mann war ſein Vater geweſen.
Wie ſein Vater zu der Heirat mit der jungen Deutſchen gekommen war, die ihre Jugendjahre in der ewig freud— loſen und ewig unterdruͤckten Stellung einer Erzieherin in Paris verloren hatte, wußte eigentlich nur Einer.
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Dieſer eine war ſein einziger Freund und hieß Adolphe Ponteur. Was Carrard von ihm, der zugleich des im ſechſten Jahre völlig verwaiſten Knaben einziger Be— ſchuͤtzer wurde, uͤber ſeinen Vater in ſpaͤteren Jahren er⸗ fuhr, war ungefaͤhr das Folgende:
Die Wiege Jean Jacques Aubans — er war nie auf dieſe Vornamen getauft, aber er nannte ſich nie anders — war getragen worden von den letzten Wogen der großen Revolution: ſein Vater war Getreidehaͤndler geweſen, der unter dem erſten Napoleon durch kluge Berechnung ſein verlorenes Vermoͤgen zehnfach wieder— gewonnen hatte. Jean Jacques wurde mit Hilfe des— ſelben faſt fuͤnfzig Jahre alt, ohne zu wiſſen, daß man zum Leben Geld braucht. Als er vor dieſe Wahrheit geſtellt wurde, war er ein durchaus lebensunkundiger, durchaus gluͤcklicher und durchaus einſamer, wenn auch nicht vereinſamter Mann. Ein Mann, der in dieſen fuͤnfzig Jahren unermeßlich viel geleſen und gelernt hatte, ohne jemals daran zu denken, das Gelernte zu ver- werten; ein Revolutionaͤr der Ideen der Menſchheit ohne verbitternde Hoffnungen und faſt auch ohne Wuͤnſche; ein Kind und ein Idealiſt von einer ruͤhrenden Unbe— fangenheit und einer erſtaunlichen Friſche des Körpers und des Geiſtes. Er hatte ſtets ſeinen Ideen, nie dem Leben gelebt und ein Weib nie berührt...
Ein halbes Jahrhundert war an dieſem Manne voruͤber— gezogen, ohne ihn in feinen Strudel geriſſen und ver— ſchlungen zu haben. Der Waffenlaͤrm des korſiſchen Erd— eroberers, des durch Gewalt Gehobenen und Geſtuͤrzten, durch Gewalt Großen und Kleinen, verfolgte ihn durch
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ſeine ganze Jugend. Doch er lauſchte auf die Taten des Tages nicht mehr, als Kinder auf die Vorzeiterzaͤhlungen ihrer Ammen und Erzieher lauſchen.
Die Revolution von 1830, ſie war fuͤr ihn nur ein Schatten, der ſtoͤrend auf ſeine Arbeit fiel...
Denn er beſchaͤftigte ſich damit, Malthus' ſchreckliche Irrtuͤmer, die Erde habe nicht Raum und nicht Nahrung genug fuͤr Alle, nachzurechnen, ohne ſie ergruͤnden zu koͤnnen.
Er ahnte das Herannahen eines neuen Kampfes, gegen den die politiſche Zwiſtigkeit des Tages nur ein Knabengezaͤnk war. Daher horchte er mit derſelben Auf— merkſamkeit des genialen St. Simon prophetiſchen Worten, wie den wilden Fluͤchen Babeufs, des Kommu— niſten; daher verfolgte er mit demſelben Eifer Fouriers Phalanſtère, die unmoͤglichen Phantaſien eines Toll— haͤuslers, und die Arbeiten der Reformer waͤhrend der Zeit des Julikoͤnigtums; und ſchwankend von einem zum andern ſah er heute in dem Ikarien des „Vater Cabet“ das gelobte Land, morgen in Louis Blanc, dem gleisne— riſchen Schoͤnredner, dem rettenden Heiland entgegen.
Von dem Proletariat ſelbſt, das in dem Morgen: grauen dieſer Jahrzehnte die erſten, ſchweren Atemzuͤge des Erwachenden tat und — noch unbewußt ſeiner Kraft — die rieſigen Glieder dehnte, ſah er nichts.
Von demſelben Augenblick an, in welchem ihn die Notwendigkeit des Erwerbs uͤberwaͤltigte, wurde dies anders: zehn Jahre genuͤgten, um aus dem zuruͤckge— zogenen, friſchen und lernfrohen einen verbitterten, ſchnell alternden und dennoch täglich mehr zum Leben erwachen— den Menſchen zu machen. Es waren nicht mehr die
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großen Gögen der Zeit, die er liebte — er begann über ſie zu ſpotten und an den Ideen, den kleinen Kaͤmpfen des Tages teilzunehmen, die ihn fuͤnfzig Jahre lang an⸗ gewidert hatten. Außerordentlich ſchwer lernte er, ſeine Kenntniſſe und Faͤhigkeiten zu verwerten; er lebte kuͤm⸗ merlich, in untergeordneten Beſchaͤftigungen verſchiedenſter Art; zu alt, um das Leben noch ganz verſtehen zu lernen, und zu jung in ſeinem jungen Erwachen, um es nicht mit dem ganzen Ungeſtuͤm eines unerfahrenen Zwanzig⸗ jaͤhrigen zu umfaſſen, wurde er von einer Enttaͤuſchung zur andern geriſſen, die ſein Urteil nicht klarer und ſeinen Fuß nicht ſicherer machten.
So ſah die Februarrevolution den alternden Mann auf den Barrikaden unter den Scharen der Aufſtaͤndiſchen, die ſich um das Phantom der politiſchen Freiheit ſchlugen. Seine Begeiſterung und fein Mut waren um nichts ges ringer, als die der Arbeiter in den blauen ee neben denen er ſtand.
Der Fall des Julikoͤnigtums erfuͤllte ihn mit maß⸗ loſen Hoffnungen. Seine Buͤcher lagen verſtaubt; aus⸗ geloͤſcht war hinter ihm die Vergangenheit feines ſtillen Denkerlebens.
Er war jetzt ein Arbeiter. Das Luxembourg, wo die Delegierten ſeines Standes auf verlaſſenen Sammetſeſſeln thronten, war ihm der Himmel, von dem er Rat und Hilfe auch fuͤr ſich erhoffte. Taͤglich ging er zu der Mairie ſeines Arrondiſſements, um den Betrag zu erheben, den der Staat ſich gezwungen ſah, an alle unbeſchaͤftigten Arbeiter — welche Arbeit haͤtte Jean Jacques in den Nationalwerkſtaͤtten tun koͤnnen! — auszuzahlen.
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Er ſah nicht die Wahnwitzigkeit dieſes Beſchluſſes, der zu neuen und blutigeren Kaͤmpfen fuͤhren mußte. Denn zweierlei hatte er in SO Jahren noch nicht gelernt: daß der Staat nur ausgeben kann, was er eingenommen hat; und daß daher alle Verſuche, die ſoziale Frage durch ihn, von oben her zu loͤſen, von vornherein ausſichtslos ſind.
Aber als er es an ſich haͤtte lernen koͤnnen, waͤhrend der Tage der Juniinſurrektion, in denen die Arbeit ihren erſten, wirklichen Kampf mit dem Kapital aufnahm und aus der furchtbaren Niederlage in dieſer merkwuͤrdigſten aller Schlachten die Lehre zog, daß die Vorrechte der Macht mit toͤdlicheren Waffen, als denen der Gewalt, bekaͤmpft werden muͤſſen, lag er krank unter der Wucht der ungewohnten Aufregungen danieder.
Zu feinem Gluͤck. Denn er, welcher ſchon die poli⸗ tiſche Revolution des Februar — die Abrechnung der Bourgeoiſie mit dem Koͤnigtum — mitgekaͤmpft hatte, deren Belangloſigkeit er nicht zu erkennen vermochte, wie haͤtte er ſich fern zu halten vermocht von den Tagen, in denen das Proletariat mit dem Buͤrgertum abzurechnen gedachte? Haͤtte er nicht ein trauriges Ende finden muͤſſen, verdurſtend und verfaulend in den ſchrecklichen Keller⸗ löchern, in die man die Gefangenen zufammenpferchte, oder verkommend als Deportierter in einer der uͤber⸗ ſeeiſchen Strafkolonien ſeines Landes? —
Er blieb davor bewahrt. Als er ſich erhob, ſtand das bebende Paris im Zeichen des Schreckens vor dem roten Geſpenſt des Sozialismus.
Auf den Kampfplatz war ein Mann getreten, deſſen
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Blick tiefer als irgendein anderer die Menſchen und die Dinge durchſchaute. Proudhon hatte ſein erſtes Journal, den „Représentant du Peuple“, gegründet und am 31. Juli in der Nationalverſammlung unter Hohnge— laͤchter und Beſchimpfungen ſeine beruͤhmte und beruͤchtigte Rede uͤber die Einkommenſteuer, die Unentgeltlichkeit und Gegenſeitigkeit des Kredits gehalten.
Doch Auban ſah in dem groͤßten und kuͤhnſten Manne ſeiner Zeit nichts als den Verraͤter an der „Sache des Volkes“, weil er die Schlachten des Juni nicht mit⸗ geſchlagen hatte.
Blind, wie er war, vermochte er ebenſowenig das Projekt zu begreifen — vielleicht das bedeutendſte und weittragendſte, das jemals einem menſchlichen Gehirne entſproſſen — welches Proudhon ein halbes Jahr lang als Banque d’Echange erörterte und vom Dezember 1848 bis zum April des naͤchſten Jahres als Banque du Peuple in ſeinem zweiten Journal „Le Peuple“ zu realiſieren verſuchte, bis die rohe Hand der Gewalt das faſt fertige Gebaͤude in den Grund hinein zerſtoͤrte, indem es den Baumeiſter einkerkerte.
Was der Vater in der Wildernis der Tage, vielleicht weil es ihm zu nahe ſtand, nicht zu erfaſſen vermochte, ſollte der Sohn nun in ſeiner ganzen Tragweite und ungeheuren Bedeutung erkennen: unabhaͤngig vom Staate vermittels des Prinzips der Gegenſeitigkeit jedem zu er— moͤglichen, ſeine Arbeit zum vollen Ertrage ihres Wertes auszutauſchen, und ſo ihn, mit einem Wort: zu befreien! —
Dieſe letzte, groͤßte, unblutigſte aller Revolutionen, die einzige, welche die Garantien eines dauernden Sieges in
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ſich traͤgt — an ihrem erſten Erwachen ging Jean Jacques faſt gleichguͤltig voruͤber.
Die Wahl Louis Napoleons zerſtoͤrte die letzte ſeiner Hoffnungen. Von nun an haßte er Cavaignac, den Wortbrecher, nicht mehr als dieſen Uſurpator.
Es dauerte lange, bis er ſich von der dumpfen Be— taͤubung erholen konnte. Es dauerte Jahre. Er lebte ſie in ſteter Sorge um ſein taͤgliches Brot. Dieſe Sorge war es vielleicht, die ihn noch am Leben erhielt. Seine ſpaͤte Heirat war mehr das Werk eines Zufalls, wie der uͤberlegung und des Wollens. Er traf mit der Frau ſeiner Liebe zuſammen in demſelben Hauſe, in welchem ſie Erzieherin war und in welches er kam, um ihre an zwei unbegabten Soͤhnen begonnene Erziehung zu voll— enden. Die traurige Abhaͤngigkeit ihrer Lage fuͤhrte ſie enger zuſammen: ſie intereſſierte ſich fuͤr ihn und er liebte das ſiebenundzwanzigjaͤhrige Maͤdchen aufrichtig.
Sie lebten zuſammen in einem ſtillen und nicht großen, aber ſicheren Gluͤck. Carrard wurde geboren als der Sohn eines Mannes, der laͤngſt die Mittagshoͤhe des Lebens uͤberſchritten hatte, und einer Frau, die noch weit von ihr entfernt war.
Die Mutter ſtarb bei der Geburt. Jean Jacques brach voͤllig zuſammen. Er war jetzt in der Tat ein alter und muͤder Mann. Er hatte ſeinen Glauben mit ſeiner Friſche verloren. Seine Leidenſchaft war verflogen, und was er dafuͤr zu geben ſuchte, waren nur noch leidenſchaftlich aufgeregte Deklamationen. Zwiſchen ihnen und den unbeholfenen Zaͤrtlichkeiten Adolphe Ponteurs wuchs der kleine Carrard auf und war ſechs Jahre alt,
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als ſein Vater mit einem ſchrecklichen Fluch gegen den dritten Napoleon und ohne einen Blick fuͤr ihn ſtarb.
Das iſt in großen Zuͤgen, was Adolphe Ponteur dem Kinde uͤber ſeine Eltern erzaͤhlte in den Jahren, in welchen er ihm ein beſſerer Vater war, als es der rechte je haͤtte ſein koͤnnen. Er teilte ſein ſchmales Brot, ſein enges Zimmer und ſein altes Herz mit dem Knaben; er wollte ihn ſchreiben und leſen ſelbſt lehren, und ſetzte ſeinen Stolz darein, es durchzufuͤhren, aber es ſtellte ſich heraus, daß es nicht Carrard, ſondern ihm ſelbſt an den Faͤhigkeiten dazu mangelte. So ſandte er ihn von ſeinem neunten Jahre ab in die große Stadtſchule ſeines Arrondiſſements.
Der Krieg von 1870 kam und der Knabe hatte ſein dreizehntes Jahr erreicht. Adolphe traͤumte von der Gloire ſeiner Landsleute und Carrard lebte unbekuͤmmert weiter.
Die Tage der Kommune waren da, in denen ganz Paris abermals ein Chaos von Blut, Rauch, Laͤrm, Wut und Wahnſinn zu ſein ſchien; mit Schrecken ſah Adolphe in den dunklen Augen des Knaben eine Flamme auf⸗ ſchlagen, welche ihn zum erſtenmal wieder an Jean Jacques erinnerte, und er, der ehrliche Kleinbuͤrger, der immer nur die aͤußeren Schrecken einer Revolution vor Augen gehabt hatte, ohne befaͤhigt zu ſein, ihre inneren Seg⸗ nungen zu erkennen, erſchrak daruͤber ſo, daß er den Entſchluß faßte, ſich von ihm zu trennen und ihn fort⸗ zubringen aus dieſem „vergifteten“ Paris, dieſem Paris, ohne das er ſelbſt nie haͤtte leben koͤnnen.
Er brachte ihn nach dem Elſaß, nach Muͤlhauſen, der langweiligen, großen Fabrikſtadt, der jetzt, nachdem
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ſich der „große Krieg“ ausgetobt hatte, die Aufgabe ge— worden war, auf der Grenze zwiſchen den erſchoͤpften, aber nicht verſoͤhnten Feinden zu balancieren. Ponteur beſaß dort eine alleinſtehende Verwandte, eine echte Fran⸗ zoͤſin, die nie ein Wort Deutſch gelernt hatte, und Carrard Verwandte von ſeiner Mutter her: einen deut⸗ ſchen Regierungsbeamten, der ſich die Berufung auf dieſen hoͤheren Poſten durch außergewoͤhnliche diploma⸗ tiſche Begabung verdient hatte, das heißt dadurch, daß er ſeine Gedanken und Gefuͤhle trefflich unter Worten zu verbergen verſtand.
Mademoiſelle Ponteur ging außerordentlich liebreich und aͤngſtlich mit Carrard um, gab ihm ein kleines Zimmer und zu eſſen, und ließ ihn im uͤbrigen tun und laſſen, was er wollte. In den vier Jahren, in denen er unter ihrem Dache, welches nichts mehr zu beſchuͤtzen hatte, als die ſtillen Erinnerungen vergangener Zeiten, lebte, geſchah es nicht ein einziges Mal, daß er mit einer Bitte zu ihr gekommen waͤre, und nicht ein einziges Mal, daß ſie es gewagt haͤtte, ihm einen Rat zu erteilen. Sie wußte ganz und gar nicht, was ſie mit ihm anfangen ſollte, und fühlte fich ſehr erleichtert, als fie merkte — und ſie merkte es in der erſten Stunde —, daß der Knabe bereits ſehr gut gelernt, mit ſich ſelbſt fertig zu werden.
Die Verwandtſchaft ſeiner Mutter erfuͤllte ihre Pflichten gegen ihn dadurch, daß ſie ihn jede Woche einmal an ihren Familientiſch lud, wo er inmitten einer Schar ver: zogener und laͤrmender Kinder ſaß, deren Sprache er anfangs gar nicht und ſpaͤter nur ſchwer verſtand, ſich
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immer ſehr unbehaglich fühlte und es mit der Zeit eben⸗ falls dahin brachte, daß man ſich nicht weiter um ihn kuͤmmerte und es nicht uͤbel vermerkte, wenn er mit ſeinen Beſuchen immer ſparſamer wurde.
Bei Mademoiſelle Ponteur lernte er ſein Alleinſein und ſeine Unabhaͤngigkeit ſchaͤtzen; bei ſeinen Verwandten ſog er einen unaustilgbaren Widerwillen gegen deutſches Buͤrgerleben in ſich ein.
Er blieb fuͤnf Jahre in dieſem Ort, fuͤnf Jahre, in denen er nie nach Paris zuruͤckkehrte. Seine Ferien ver⸗ brachte er auf Fußreiſen in den ſuͤdlichen Vogeſen, die ſo wenig bekannt und in ihrer Einſamkeit und keuſchen Herbheit ſo ſchoͤn ſind. Sein Blick ſah nach Paris, wenn er auf der Grenze der Gebirgshoͤhe hinſchritt.
Als er fuͤnfzehn Jahre alt war, fand er einen Freund in der fremden Stadt. Es war ein franzoͤſiſcher Arbeiter, der ſeinen Vater gekannt, auf irgendeine Weiſe von Carrard gehoͤrt hatte und ihn eines Tages anredete, als er von der Schule kam. Von dem Tage an ſaß Carrard jeden Abend, wenn die Feierſtunde geſchlagen hatte, in einer kleinen Wirtſchaft inmitten eines Kreiſes von Ar— beitern, unter denen keiner war, der nicht wenigſtens doppelt ſo viel Jahre gezaͤhlt haͤtte, als er ſelbſt, und von denen jeder die beſondere Pflicht zu haben glaubte, dem „pauvre enfant“, das hier „ſo allein“ war, etwas Liebes zu erweiſen. Der eine drehte ihm Zigaretten, der andere lehrte ihn Billard ſpielen und der dritte erzaͤhlte ihm von den vergangenen großen Tagen, als die Voͤlker verſucht hatten, ſich freizu machen: „Vive la Commune!“
Carrard hoͤrte von den Hoffnungen und den Wuͤnſchen
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des Volkes aus dem Munde derer, die zu ihm gehoͤrten. Er begann zu ahnen, zu ſehen, zu denken. Aber nur wie durch einen Schleier.
Die Schule wurde ihm zum Gefaͤngnis, da ſie ihn zwang das zu lernen, was er fuͤr unnuͤtz hielt, und ihn nichts von dem lehrte, was er zu wiſſen wuͤnſchte. Sie gab ihm auf keine ſeiner — nie geſtellten — Fragen eine Antwort. |
Er hatte keine Freunde unter feinen Schulgenoſſen. Er war nicht beliebt, aber keiner haͤtte es gewagt, ihm etwas in den Weg zu legen.
Nur einer ſuchte ſeine Freundſchaft; es war der aͤlteſte Sohn ſeiner Verwandten. Er hieß Friedrich Waller — Waller war auch der Maͤdchenname von Carrards Mutter geweſen — und war mit Carrard im gleichen Alter, mit dem er jahrelang dieſelben Klaſſen derſelben Schule beſuchte. Er war klug ohne beſondere Begabung, gleichguͤltig ohne ein inneres Intereſſe an Carrard je ganz erſticken zu koͤnnen, und von dem Wunſche beſeelt, deſſen Vertrauen zu erwerben, das dieſer ihm nie, auch in den gewoͤhnlichſten Dingen nicht, ſchenkte; und trotzdem ihn dieſe Unzugaͤnglichkeit oft erbitterte, verlor er in dieſen Jahren nie ein Gefuͤhl der Sympathie fuͤr Carrard,
das ſich bei ihm aus Intereſſe, Bewunderung und Neu— gierde zuſammenſetzte.
Carrard war in ſeinem achtzehnten Jahre ein hoch aufgeſchoſſener, blaſſer, äußerlich völlig leidenſchaftsloſer, innerlich ſich in Gedanken und Leidenſchaften verzehrender Menſch, der feine Tage in dumpfer Reſignation auf der Schulbank und in zwangloſem Verkehr mit ſeinen
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Freunden, den Arbeitern, bei Pere Frangois, und feine Nächte in wahnfinnigen Grübeleien über Gott und die Unſterblichkeit der Seele und über jenen tauſend Fragen, die jeder Denkende einmal an ſich und in fich ſelbſt ge⸗ loͤſt haben muß, verbrachte.
Als er fuͤnfzehn Jahre alt geworden war, vernahm er aus Paris die Todesnachricht ſeines alten Freundes — es war das letztemal in ſeinem Leben, daß er einen Schmerz durch Traͤnen zu lindern vermochte; zwei Jahre ſpaͤter ſtarb die Frau, bei der er jahrelang gelebt, und mit der er nie ein inniges, aber auch nie ein unfreund⸗ liches Wort gewechſelt hatte. Sie hatte ihn wirklich lieb gewonnen, aber nie den Mut gehabt, es ihm zu zeigen. Er hatte ihr nie mehr und nie weniger ent⸗ gegenbringen koͤnnen, als eine unveraͤnderliche, fremde Achtung.
Er verbrachte noch ein Jahr in einer andern Familie. Dann ging er mit einem leidlichen Zeugnis, mit dem er nichts anzufangen wußte, und mit einem unerſchuͤtterten Zukunftsglauben nach Paris zuruͤck. Wie eine ſchon ver⸗ loren geglaubte Mutter begruͤßte er die Stadt ſeiner Kindheit: tagelang tat er nichts anderes, als mit weit⸗ geöffneten Augen und klopfendem Herzen ſelig durch die Straßen zu irren und den Duft der Weltſtadt auf ſeine erregten Sinne wirken zu laſſen, dieſen Duft, welcher ſo berauſchend und ſo betaͤubend wirkt, wie der Kuß einer erſten Liebe in der erſten Nacht
Er ſuchte eine Beſchaͤftigung und freute ſich, daß er waͤhrend der erſten vier Wochen keine fand. Was ſchadete es, daß er in dieſen vier Wochen die kleine
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Summe verzehrte, die er als Hinterlaſſenſchaft eines Mannes, der ihn zaͤrtlich geliebt hatte, beſaß! Er wohnte in Batignolles. Mit der Sonne oft ſchon erhob er ſich und wanderte durch die betauten Wege des Pare Mon— ceaur und an dem antik ernſten Bau der Madeleine voruͤber, auf den weiten, hellen Platz, welcher in den letzten zwei Jahrhunderten ſo viel Blut getrunken hatte und dennoch dalag in ſeiner weiten, grauhellen Flaͤche, von der Sonne beſchienen, von dem rauſchenden Leben uͤberflutet, wie die heitere Stille im ewigen Aufruhr; wanderte hinunter an den ſchoͤnen, weitufrigen Fluß und ſah der Arbeit zu, die von hier aus Paris befruchtete, bis er ſich muͤde auf eine der Baͤnke des Tuilerien— gartens ſetzte und ſich von dem Lachen der Kinder um— toͤnen ließ, waͤhrend er in einem Buche blaͤtterte, in dem er nicht las. War dann der Mittag gekommen, und hatte er ſein Mahl in einem der unzaͤhligen be— ſcheidenen Reſtaurants des Palais Royal eingenommen, ſo konnte er ſtundenlang wieder vor einem der Cafés auf den großen Boulevards ſitzen und dieſes nervoͤſe, ewig erregte Leben in einer Art einſchlaͤfernder, ſuͤßer Betaͤubung an ſeinen halb geſchloſſenen Augen voruͤber— ſtroͤmen laſſen, bis er ſich aufraffte und, die Champs⸗ Elyſées hinunterſchlendernd, für die ſpaͤteren Nachmittags: ſtunden die ſchattigen Wege und die lauſchige Stille des Bois ſuchte, um erſt abends — nach einer fluͤchtigen Erfriſchung in einer der kleinen Wirtſchaften Auteuils — mit einem der Seinedampfer zur Cité wieder zuruͤckzu— kehren, wo er in ſtummer Andacht die in die Daͤmmerung
vertauchenden Türme von Notre-Dame gruͤßte. Selten vn! 10
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lockten ihn für den Reſt des Abends die öffentlichen Schauftellungen; aber er liebte es, das Quartier latin zu durchſchlendern, von einem Café zum anderen, und das laͤrmende Leben der Studenten und ihrer Maͤdchen zu beobachten; oder in der Gegend ſeiner Wohnung den Abend in einer Winkelſchenke im Geſpraͤch mit einem Arbeiter oder einem Kleinhaͤndler uͤber die Politik des Tages zu beſchließen, wenn ihn das gewaltige Treiben der Boulevards betaͤubt und ihre endloſen Lichterreihen geblendet hatten.
Es waren die Flitterwochen ſeiner Liebe. Eine irre, trunkene Seligkeit hatte ſich völlig feiner bemaͤchtigt. Nach den vergangenen Jahren der Einſamkeit und der Eins toͤnigkeit trank er an dieſem Becher der Freude, welcher vollgefuͤllt war bis zum Rande und ihm unleerbar er— ſchien.
— O Paris! ſagte Carrard Auban dann, — wie ich dich liebe! Wie ich dich liebe! — Gehoͤrſt du nicht auch mir! Bin auch ich nicht dein Kind? — Und der Stolz ſchwellte ſeine junge Bruſt und leuchtete aus ſeinen Augen, die nie ſo jung geweſen waren. Noch war er wie die emporwachſende Rebe, die ſich an fremder Größe auf: rankte und fie umſchlang mit den Armen der Sehn⸗ ſucht und der Hoffnung, an ihr allein zu erſtarken ..
Als ſich aber ſeine Luſt und ſein Geld dennoch zu Ende neigten und er daran denken mußte, zu ſehen, wie und wovon er weiter leben koͤnne, erſchrak er nicht. Es duͤnkte ſeinen mutigen Kraͤften nicht allzu ſchwer. Und doch war es nur ein ganz ſeltener und gluͤcklicher Zu— fall, der ihn an einem dieſer Tage im Jardin des
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Tuileries mit einem Herrn ins Geſpraͤch kommen ließ, welcher einen Sekretaͤr ſuchte und ihm dieſe Stelle gab.
Auban arbeitete bei ihm — ziemlich frei und nicht uͤbermaͤßig anſtrengend — fuͤr einen beſcheidenen Lohn, der indeſſen ſeinen Beduͤrfniſſen genuͤgte, faſt zwei Jahre. Die Arbeit intereſſierte ihn nicht. Er war kein methodiſcher und daher kein guter Arbeiter, wenn es galt, Briefe zu kopieren und die Bibliothek ſeines Be— ſchaͤftigers zu ordnen. Aber er wurde dieſem unentbehr— lich, wenn er ihm — dem engliſchen Spezialgelehrten, einem ſeltſamen Gemiſch von Gruͤndlichkeit, wenn es galt, eine belangloſe wiſſenſchaftliche Frage zu ergruͤnden, und kindiſcher Oberflaͤchlichkeit in den Folgerungen ſeiner For— ſchungen — half, ſein ſchlechtes Franzoͤſiſch zu verbeſſern, in der jener es liebte, ſeine wertloſen Entdeckungen nieder— zulegen. s
Als er nach England zurückkehrte, gab er — obwohl er nie auch nur mit einer Frage zu verſtehen gegeben, daß er an der Perfönlichkeit ſeines Sekretaͤrs das ge— ringſte Intereſſe genommen und in ihm etwas anderes als ein Werkzeug für feine Arbeit geſehen hätte — Auban eine Anzahl Empfehlungsbriefe, welche voͤllig nutzlos, und eine Summe in einer Hoͤhe, daß ſie dieſem fuͤr die naͤchſte Zeit ſehr nuͤtzlich war.
Auban war wieder frei fuͤr einige Zeit. Hatte er ſchon in dieſen zwei Jahren mit dem lebhafteſten Anteil die ſoziale Bewegung ſeines Vaterlandes verfolgt und manche Bekanntſchaft mit einzelnen Gliedern ihrer Reihen geſchloſſen, ſo ſtuͤrzte er ſich jetzt — mit einem gellenden Freudenſchrei — in ihre Flut.
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Sie nahm ihn auf, wie fie alles aufnimmt und ver- ſchlingt -
Weit, dunkel, geheimnisvoll, wie das unerforſchliche Dickicht eines Urwaldes lag das Gebiet der ſozialen Frage — der Menſchheit Zukunft — vor ſeinen Augen. Friſch, jung, bereit ſtand er vor ihr.
Hinter ſich eine verworrene Kindheit — Wege uͤber Felder, bereits begangene, und Pfade uͤber gemaͤhte Wieſen, bereits wieder uͤbergruͤnte —, und vor ſich das große Geheimnis, das Ideal, dem er ſein Leben weihen wollte! ...
Das Rauſchen der Stimmen in der Wildnis vor fich ſchien Antwort geben zu wollen jenen wirren Klagen, welche ſeine Wiege in der Dachſtube umtoͤnt hatten.
Und er begann.
Es war unmoͤglich mit lautereren Abſichten, heißeren Wuͤnſchen und kuͤhnerem Willen in den Kampf zu treten, welcher der Kampf unſerer und der kommenden Zeit iſt.
Auban, der noch nicht dreiundzwanzigjaͤhrige, ſah in dieſem Kampfe zwei Heerlager: auf der einen Seite ſtanden die, welche das Schlechte wollten; auf der anderen die, welche das Gute erſtrebten. Jene erſchienen ihm völlig korrumpiert, in der Aufloͤſung bereits begriffen, ſchon halb beſiegt; dieſe als der geſunde Boden, bereit, den Samen der Zukunft in ſich aufzunehmen.
Er war uͤberwaͤltigt von der Gerechtigkeit der Be⸗ wegung und ganz außerſtande, eine Kritik zu üben. Er war berauſcht von der Idee, ein Glied in dieſen Reihen zu ſein, die eine Welt zum Kampf herausforderten. Er
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fühlte ſich gehoben, von neuen, großen Hoffnungen erfüllt, geſtaͤrkt und wie verwandelt.
Wer, der in die Bewegung eintrat, hat nicht einmal die ähnlichen, die gleichen Gefühle gehegt? —
Er beſuchte die Verſammlungen und hoͤrte den Worten der verſchiedenen Redner zu. Je weiter dieſelben ſich nach „links“ neigten, deſto groͤßer war ſein Intereſſe und ſein Beifall. — Er wurde ein Gaſt in den Klubs, wo die Arbeiter verkehrten. Er lauſchte den Wuͤnſchen, wie er ſie aus ihrem eigenen Munde vernahm. Er las die Zeitungen: die radikalen, die ſozialen, die Tages⸗ blaͤtter und die Wochenſchriften. In jedem Freiheits⸗ ſchwaͤtzer ſah er einen Gott; und in jedem Phraſen⸗ politiker ſah er einen Helden ...
Er war bis dahin ohne beſondere Energie geweſen. Beſonders die letzten Jahre hatten ihn verflacht. — Nun wuchs ſeine Arbeitskraft. Er arbeitete wirklich. Die ganze, muͤhevolle Arbeit, die das erſte Eintreten in eine neue Welt von Begriffen erfordert.
Von allen Seiten ſtroͤmte ihm die Flut neuer Ge— danken zu. Er bewaͤltigte langſam den Wuſt der Bro— ſchuͤren, in denen ein verduͤnnter Extrakt wiſſenſchaftlicher Forſchungen oft in ſo ſeltſamer Weiſe dem ungeſchulten Gedanken gereicht wird. Dann begann er mit dem Studium von einigen der Hauptwerke des Sozialismus ſelbſt.
Seine Lebensgewohnheiten veraͤnderten ſich. Er wollte um keinen Preis ein Bourgeois ſein und ſcheinen. Er verlegte ſein kleines Zimmer nach dem Arbeiterviertel der Buttes Chaumont. Seine Kleidung vereinfachte er bis
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zur Beſcheidenheit, nie aber bis zur Unordentlichkeit. Er aß in den Tavernen mit den Arbeitern. Indeſſen ver— ringerten ſich ſeine Ausgaben dadurch nicht. Nur das Gefühl der Beſchaͤmung „beſſer“ zu fein als feine hun— gernden Brüder, empfand er nicht mehr bei dieſer immer— waͤhrenden, bewußten Selbſtentaͤußerung.
Getreu den Lehren, die er in ſich aufnahm, begann er zu arbeiten als Handarbeiter. Da er kein Handwerk gelernt hatte, mußte er lange taſten, um irgendwo feſten Fuß zu faſſen. Er wurde erſt Setzer, dann Korrektor in der Druckerei einer ſozialiſtiſchen Tageszeitung.
In dieſer Zeit ſchrieb er auch ſeine erſten Artikel. Nichts ſchließt die Menſchen ſchneller und enger anein⸗ ander, als der Kampf im Dienſte einer gemeinſamen Idee. Schnell iſt die Schlinge des Programms um den Hals geworfen. Sofort zieht ſie ſich zuſammen: deinen Beſtrebungen iſt hinfort das eine unverruͤckbare Ziel ge— geben; die Richtung deines Weges hinfort bezeichnet; der Gebrauch deiner Kraͤfte vorherbeſtimmt.
Das iſt die Partei!
Freiwillig war Auban den Reihen beigetreten. Jetzt war er nichts mehr als der Soldat, der geſchworen hatte, der voranflatternden Fahne zu folgen: wohin ſie weiſt, dort liegt das Ziel. Man appelliert an dein Ehrgefuͤhl, deine Treue, wenn deine Vernunft ſich ſtraͤubt. Du biſt nicht mehr frei — du haſt geſchworen, andere zu befreien!
Doch auch fuͤr Auban kam bald die Zeit, in welcher er faͤhig wurde, Kritik zu uͤben. Er ſah die ungeheure Zerriſſenheit dieſer Bewegung. Er ſah, daß ſich hier Ehr—
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geiz, Neid, Haß und die triviale Gemeinheit mit demſelben Pompe des Idealismus: den Wortgewaͤndern der Bruͤ— derlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit, umgab, wie bei allen anderen Parteien unſeres oͤffentlichen Lebens.
Er ſah es mit einem Schmerze, wie er ihn noch nie gefuͤhlt hatte.
Er war noch immer ſehr jung. Er wollte noch nicht begreifen, daß die leitenden Fuͤhrer der Parteien nicht daran dachten, dieſe Worte gegenſeitig ernſt zu nehmen; daß fuͤr die Konſervativen „das Wohl des Vaterlandes“, die „oͤffentliche Ruhe und Sicherheit“, fuͤr die Radikalen die „freie Konſtitution“, die „Buͤrgertreue“, und fuͤr die Arbeiterparteien „das Recht auf Arbeit“ und die ſchoͤnen Worte der Gleichheit und Gerechtigkeit nichts waren als Lockkoͤder, um mit ihnen die Urteilsunfaͤhigen in moͤglichſt großer Anzahl auf ihre Seite zu ziehen und ſo durch das Recht der Mehrheit die Staͤrkeren zu werden.
Hatte er nicht ſelbſt ein Jahr lang, in dem er faſt taͤglich fuͤr das Blatt ſeiner Partei ſchrieb, mit dieſen Worten gefochten — den Kampf in den Lüften! —, ohne ſie je zu pruͤfen? — Und zwar hatte er mit Begeiſterung und Ehrlichkeit gekaͤmpft, in dem guten Glauben, daß es keinen anderen und beſſeren Weg gaͤbe, die Unterdruͤckten und Verfolgten zu befreien.
Er wollte nur eines, nur eines: Freiheit! Freiheit! — Die Stimme ſeiner Vernunft, die wilden Klagen ſeines leidenſchaftlichen Herzens riefen ihm zu, daß nur in ihr das Gluͤck und der Fortſchritt der Menſchheit beruhe.
Durch alle Stadien der politiſch-ſozialen Bewegung trieb ihn dieſer unaufhoͤrliche Durſt nach Freiheit. Keine
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Lehre befriedigte ihn. Nirgends ſah er die Vorausſetzungen unantaſtbar, die Bedingungen erfüllt, die Garantien ge: ſichert.
Beſtaͤndig quaͤlte ihn der ſuchende Gedanke, das un⸗ befriedigte Gefuͤhl: es iſt nicht die Freiheit, die ganze Freiheit! Er fuͤhlte, wie ſich ſeine Abneigung gegen jede Autoritaͤt verſtaͤrkte. Darum legte er ſeine Stelle nieder.
In dieſer Zeit war es, als er Otto Trupp, den er ſchon oft geſehen, näher kennen lernte und mit ihm Freundſchaft ſchloß. Durch ihn erhielt er Kunde von der Bewegung der Arbeiter in Deutſchland und der Schweiz, von welcher ihm bisher wenig bekannt geworden war. Trupps Erzählungen machten einen großen Ein⸗ druck auf ihn.
Es war im Jahre 1881. Die Idee des Anarchismus befand ſich in Frankreich in rapidem Wachstum. Aus den Parteireihen des Sozialismus riß ſie Scharen von felbftändiger denkenden Arbeitern, von mit einzelnen Handlungen der leitenden Fuͤhrer Unzufriedenen, dann alle jene, deren fiebernder Ungeduld die Revolution — die Erloͤſung — zu langſam kam.
Wenn es keinen Staat, kein Privateigentum, keine Religion mehr gab, wenn alle Inſtitutionen der Herr⸗ ſchaft abgeſchafft waren, konnte es dann noch eine Herr: ſchaft geben? — Der herrſchenden Gewalt galt es Gewalt entgegenzuſetzen!
Die Idee der Zerſtoͤrung der alten Welt bemaͤchtigte ſich feiner. Erſt auf ihren Trümmern, wenn alles ver⸗ nichtet war, konnte ſich jene Geſellſchaft errichten, welche die Gleichheit als ihr oberſtes Prinzip erkannte.
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„Jedem nach feinen Fähigkeiten, jedem nach feinen Beduͤrfniſſen!“ Nun hatte er die Formel gefunden, in die er ſich fluͤchten konnte. Und ſeine Traͤume bauten das Gebaͤude der Menſchheitszukunft auf: ſie bauten es hoch, weit und ſchoͤn .. . Jeder würde zufrieden fein? alle Hoffnungen erfuͤllt, alle Wuͤnſche befriedigt. Die Arbeit und ihr Tauſch wuͤrden freiwillig ſein; nichts mehr, was ihre Grenzen beſtimmte, ſelbſt nicht ihr Wert. Die Erde gehoͤrt Allen ungeteilt. Jeder hat ein Recht auf ſie, wie er ein Recht hat, Menſch zu ſein. Und er baute das ſtolze Gebaͤude ſeiner Gedanken — er baute es in den Himmel
Dieſe Lehre des Kommunismus, welche ſo alt iſt, wie die Religionen, die aus der Erde nicht den Himmel, ſondern die Hölle gemacht haben, nannte er Anarchis— mus, wie ſeine Freunde ſie Anarchismus nannten. —
Nie waren ſeine Worte eindringlicher geweſen, nie hatten ſie eine groͤßere Begeiſterung erweckt. Er ſtand jetzt auf der aͤußerſten Grenze des Reiches der Parteien! Weiter zu gehen war unmoͤglich. Er opferte ſich auf. Er war tätiger als je, zu organiſieren und zu agitieren. Überall fand er neue Geſinnungsgenoſſen.
Es war das wildeſte Jahr ſeines Lebens. Kein Tag der Einkehr und keine Nacht der Ruhe.
Er war viel zu viel ein Mann der Tatkraft, der es liebte, poſitive Erfolge vor Augen zu haben, als daß ihn dieſe haſtende, fieberhafte Taͤtigkeit der Propaganda haͤtte befriedigen koͤnnen. Indeſſen erweiterte ſich ſchnell der Kreis ſeiner praktiſchen Lebenserfahrungen, ohne daß er es empfand. Er verſtand ſeine Genoſſen: ihre leiden—
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ſchaftlichen Anklagen, ihre ſchreienden Schmerzen, ihre erbitterten Fluͤche. Taͤglich ſah er hier die Hungernden und Darbenden um ſich, ſelbſt oft hungernd und ver— zweifelnd; taͤglich dort die ſchamloſe Praſſerei, den boden— loſen uͤbermut, die hoͤhnende Anmaßung — aufrecht er— halten nur durch Gewalt. Dann ballte ſich ſeine Hand und krampfte ſich ſein Herz zuſammen, dann predigte er ohne Bedenken aus tiefſter Überzeugung die Lehre: die Gewalt mit der Gewalt zu vernichten, dann erſchien
ihm als das erſte und wichtigſte, daß dieſe Hungernden
Brot, dieſe Frierenden Feuerung und dieſe Nackten Klei— dung bekaͤmen. Was waren alle Errungenfchaften der Wiſſenſchaft, alle Kunſt, alle Fortſchritte der Menſchheit gegenuͤber dieſen erſten und unverruͤckbarſten Forderungen! uͤberall lehrte er Gewalt, in allen Verſammlungen, allen Vereinen. Man wurde auf ihn aufmerkſam. Aber — wie meiſtens — war es auch hier nur ein Zufall, der die Entſcheidung herbeifuͤhrte.
Eine der Verſammlungen, in der auch er ſprechen wollte, wurde aufgelöft. Bei der Auseinandertreibung der Verſammelten wurde er von einem Poliziſten in brutaler Weiſe am Arm gepackt und gegen die Wand geſtoßen. Er ſchlug ihm die Fauſt ins Geſicht.
Vor dem Richter hielt er getreu den Prinzipien, welche „dem Revolutionaͤr vorſchreiben, in jedem moͤglichen Falle, beſonders aber vor Gericht, wenn die Umſtaͤnde es irgend erlauben, Propaganda zu machen“, — eine aufſehen— erregende Rede. Zahlloſe Male war von den Verurteilten die Kompetenz des Gerichtshofes in Zweifel geſtellt, nie aber
in dieſer Weiſe die Autoritaͤt jedes Geſetzes negiert worden.
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Man war uͤberraſcht, teils empört, teils amuͤſiert. Man hielt ihn nicht für zurechnungsfaͤhig. So verur— teilte man Auban nur zu einer anderthalbjaͤhrigen Ge— faͤngnisſtrafe.
Heute wiſſen die Gerichtshoͤfe der ziviliſierten Laͤnder Europas, wenn ſie dieſe Sprache vernehmen, daß ſie einen „Feind jeder Ordnung“ vor ſich haben, und laſſen ihn nicht mehr los.
1883, kaum ein Jahr nach Aubans Verurteilung, ſetzte der große Anarchiſtenprozeß der Sechsundſechzig zu Lyon die Gemuͤter in Bewegung und lenkte die allge— meine Aufmerkſamkeit auf die neue Lehre. Von dieſem Schlage, den die Regierung weitausholend fuͤhrte, waͤre auch Auban unzweifelhaft getroffen worden, haͤtten ihn damals nicht ſchon die Mauern des Gefaͤngniſſes um— ſchloſſen. Fuͤr die „oͤffentliche Meinung“ war nun auch in Frankreich der Name „Anarchiſt“ faſt gleichbedeutend mit Meuchelmoͤrder ..
Als Auban die Faͤuſte der Polizeiknechte an ſeinem Leibe fuͤhlte, wurde ihm das Weſen der Gewalt in ihrer ganzen Rohheit klar. Sein Stolz baͤumte ſich auf. Aber er war — „machtlos“. Die Idee, fuͤr die Sache der Menſchheit zu leiden, hielt ihn. Er ſah weder das kalte Laͤcheln der Richter, noch die ſtumpfen, neugierigen Blicke der Zuſchauer, die ihn betrachteten wie eine ſeltſame Abart ihres Geſchlechtes. Als er ſein Urteil vernahm, zuckte nicht eine Wimper ſeiner Augen. Anderthalb Jahre! — Das war nichts. Welch laͤcherlich-geringes Opfer, verglichen mit den tauſendfachen Opfern der Blutzeugen, — um nur an den Heldentod der Zarenmoͤrder zu denken!
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— die vor ihm gelitten hatten! Mit ſtolzer Ver— achtung betrat er das Gefaͤngnis.
Nie konnte einem Menſchen die erſte Zeit ſeiner Strafe ſchwerer, die letzte leichter geworden ſein, wie ſie ihm wurde.
Erſt glaubte er, die Luft und die Sonne der Freiheit nicht einen Monat entbehren zu koͤnnen. Er taͤuſchte ſich. Eine dumpfe und ſchwere Ruhe bemaͤchtigte ſich im An⸗ fang feiner: die Ruhe der Ermattung nach dieſen letzten ſtuͤrmiſchen Jahren! Sie tat ihm geradezu wohl. Er genoß ſie faſt wie eine heilſame Medizin. Nichts mehr von den ſtuͤndlichen Aufregungen! Nichls mehr von dem widerſtreitenden Laͤrm! — Lange ſtroͤmte das Blut aus all den Wunden, die ihm dieſe Jahre des Kampfes ge— ſchlagen. Als es ſich ſtillte, fuͤhlte er ſich ruhiger als je zuvor. i
Es wurde ihm möglich, ſich das eine und andere Buch zu verſchaffen. Mit der Gruͤndlichkeit, zu welcher ihn die Stille und Ode feiner Tage und Nächte zwang, über: dachte er Forſchung für Forſchung der großen national⸗ oͤkonomiſchen Denker ſeines Landes.
Das Bild der Welt nahm vor ſeinen Augen eine andere Geftalt an, je innerlicher er wurde. Seiner Zeit gleichſam entruͤckt, nicht mehr umtoſt von dem Wider⸗ ſtreit ihrer Wuͤnſche, gewann er den Standpunkt, ihre Strömungen zu uͤberſehen. Es war die Zeit, in der er auf ſich zuruͤckkam.
Im Spaͤtſommer 1884 verließ er fein Gefaͤngnis. Er war nicht mehr der alte. Er fand ſich ſchwer zurecht. Seine Kraͤfte hatten ihre Elaſtizitaͤt verloren. Er wurde
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von den Genoſſen freudig begruͤßt. Trupp war in London. Man half ihm nach Kraͤften. Aber es war nicht mehr dasſelbe. Sein Glaube war erſchuͤttert. Er duͤrſtete nach der Ergruͤndung der Wahrheiten der Volks— wirtſchaft. Er wollte wiſſen, welche Rettung ſie verſprach. Das war ihm jetzt das wichtigſte. Er wußte, daß er das nie und nimmer, weder aus den leidenſchaftlichen Diskuſſionen der Verſammlungen, den in allgemeinen Redensarten ſich ergehenden Artikeln der Zeitungen, noch aus der Broſchuͤrenflut der Bewegung erfahren wuͤrde.
Paris wurde ihm unerträglich. uͤberall ſah er in den Spiegel der Torheiten ſeiner Jugend. Das leicht⸗ fertige, laͤrmende, phraſenhafte Getriebe ſtieß ihn ab, widerte ihn an. Er ſehnte ſich nach einer großen, freien Stille.
Das einzige, was ſich ihm bot, war eine Stellung in einer großen Buchhandlung in London, wo er bei der Herausgabe eines weitangelegten franzoͤſiſchen Sammel— werkes beſchaͤftigt werden konnte. Er entſchloß ſich ſchnell.
Aber er ging nicht allein. Er nahm mit ſich ein Mädchen, das er ſchon vor feiner Verhaftung kennen gelernt hatte und welches ihm in der langen Zeit treu geblieben war.
Das Jahr, das Auban mit ihr verlebte, war das gluͤcklichſte feines Lebens. Aber die ſchmaͤchtige Flamme dieſes kurzen Gluͤckes erloſch, als er die Mutter in der— ſelben Stunde verlor, in der ſie ihm ein totes Kind gebar.
Das ganze Weſen dieſer einfachen und ebenſo natürs
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lich wie tief urteilenden Frau kennzeichnete ſich in der Antwort, die ſie einſt einem der Kommuniſten gab, welcher in dem bitteren Ton des Vorwurfs die Frage an ſie gerichtet hatte: N
— Haben Sie denn je etwas zu dem Gluͤcke der Menſchheit beigetragen?
— Ja, ich bin ſelbſt glücklich geweſen! — hatte fie ihm zuruͤckgegeben.
Als Auban ſie verloren, wurde er noch ernſter und feſter. Mehr und mehr begann er die Traͤumereien idealiſtiſcher Unerfahrenheit zu haſſen und zu fuͤrchten. Er wies ſie von ſich mit zerſetzender Kritik, oft mit herbem Spott. Man griff ihn deshalb jetzt ſchon von Seiten an, die ihn fruͤher mit Jubel begruͤßt hatten. Er ſah darin nichts wie einen Gewinn. Was er nie geweſen war, wurde er jetzt: ſkeptiſch. Hatte er fruͤher den Parteiſpaltungen des Tages zu viel Wert beigelegt, ſo war er jetzt — wo er das politiſche Poſſenſpiel nicht mehr ernſt nehmen konnte — geneigt, ſie zu unterſchaͤtzen.
Seitdem er in London war, hatte er in ſeinen freien Stunden begonnen mit dem Studium der juͤngſten Tochter der Wiſſenſchaft: der Volkswirtſchaft, dieſem nuͤchternen, ernſten, ſtrengen Studium, das ſo viel von dem Ge— hirn, ſo wenig von dem Herzen fordert. Sie zwang ihn, aufzuraͤumen mit dem Heer halbklarer Wuͤnſche; ſie zwang ihn logiſch zu denken; und ſie zwang ihn, die Worte auf ihren Sinn und Wert hin zu pruͤfen.
Es war Proudhon, der ihn zunaͤchſt maͤchtig anzog, dieſer gigantiſche Menſch, deſſen nie ermuͤdende For⸗ ſchungen alle Gebiete menſchlicher Taͤtigkeit umſpannen;
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Proudhon, deſſen leidenſchaftliche, gluͤhende Dialektik ſich ſo oft in die halbdunklen Irrgaͤnge des Widerſpruchs zu verlieren ſcheint, in welchen nur der uͤber den Parteien thronende Geiſt dem einzig und allein immer die volle Freiheit des Individuums Suchenden zu folgen vermag; Proudhon, der „Vater der Anarchie“, auf den immer und immer wieder ſich jeder zuruͤckgefuͤhrt ſieht, der die Wurzeln der neuen Lehre der Herrſchaftsloſigkeit bloß— zulegen verſucht .
„Das Eigentum iſt Diebſtahl!“ Das iſt alles, was die meiſten Sozialiſten von Proudhon wiſſen. Doch von Aubans Augen begannen die Schleier zu fallen.
Er ſah jetzt, was es war, das Proudhon unter Eigentum verſtanden hatte: nicht der Ertrag der Arbeit, den er ſtets gegen den Kommunismus verteidigt, ſondern die geſetzlich geſchuͤtzten Privilegien dieſes Ertrages, wie ſie in den Formen des Wuchers, vornehmlich denen des Zinſes und der Rente, auf der Arbeit laſten und die freie Zirkulation derſelben hemmen; daß Gleichheit bei Proudhon nichts anderes heißt als Gleichheit der Rechte, und Bruͤderlichkeit nicht Entſagung, ſondern kluge Erz kenntnis der eigenen Intereſſen in dem Lichte des Mu— tualismus; daß er die freie Aſſoziation zu einem be— ſtimmten Zwecke im Gegenſatz zur Zwangsvereinigung des Staates, „die Freiheit, welche ſich darauf beſchraͤnkt, die Gleichheit in den Mitteln der Produktion und beim Tauſche der Produkte aufrecht zu erhalten“, verteidigt, als die „einzig mögliche, gerechte und wahre Geſellſchaftsform“.
Auban erkannte jetzt den Unterſchied, den Proudhon machte zwiſchen Beſitz und Eigentum.
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„Der Beſitz iſt rechtlich, das Eigentum widerrechtlich.“ Deine Arbeit iſt dein rechtlicher Beſitz, ihr Ertrag dein Kapital; die Fruchtbarkeit dieſes Kapitals aber, das Monopol ſeiner Fruchtbarkeit, iſt widerrechtlich.
„La propriete, c'est le vol!“
So erkannte er die wahren Urſachen des grauen— haften Unterſchieds in der Verteilung der Waffen, von dem die Natur nichts weiß, wenn ſie uns auf den Kampf⸗ platz des Lebens ſtellt: wie es kommt, daß die einen
verdammt ſind, in den Grenzen, welche ihnen das „eherne
Lohngeſetz“ unerbittlich vorſchreibt, ihr Leben voll Muͤhe, Elend und Hoffnungsloſigkeit zu verbringen, waͤhrend die andern, der Konkurrenz enthoben, ſpielend den Magnet ihres Kapitals wirken laſſen, um dasſelbe durch die ihm verfallenen Ertraͤge fremder Arbeit ſtetig zu vermehren, das ſah er jetzt als klares Bild unter der Leuchte dieſer Forſchung.
Er ſah, daß die Minderheit dieſer letzteren mit Hilfe althergebrachter Vorurteile in den Stand geſetzt war, die Mehrheit zur Anerkennung ihrer Privilegien zu zwingen. Er ſah, daß das Weſen des Staates es war, welches ihnen ermoͤglichte: die einen in der Unkenntnis uͤber ihre Intereſſen zu erhalten; die andern, welche dieſelben er⸗ kannt hatten, zu vergewaltigen, ſich ihrer zu entaͤußern.
Er erkannte demnach — und dies war die wichtigſte und tiefeinſchneidendſte Erkenntnis ſeines Lebens, die die ganze Welt feiner Anſchauungen revolutionierte —, daß es galt, nicht die Lehren der Selbſtentaͤußerung und der Verpflichtung, ſondern vielmehr den Egoismus, die Er⸗ kenntnis der eigenen Intereſſen, zu verteidigen!
RR:
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Wenn es eine „Loͤſung der ſozialen Frage“ gab, ſo lag ſie hier. Alles andere war Utopie oder aber Knecht— ſchaft in irgendeiner Form.
So wuchs er langſam und ſtill in die Freiheit hin⸗ ein: tagsüber gebunden in die Sklaverei feiner müh: ſamen Arbeit und Abends im Verein mit der Frau, welcher ſeine Liebe gehoͤrte. Dann, als er ſie verloren hatte, wieder allein; nur einſamer, aber ruhiger und ſtaͤrker, als je zuvor ...
Sein beſter Freund war und blieb Trupp. Er hatte den Ernſt, die Feſtigkeit und das inſtinktive Zartgefühl dieſes Mannes mehr und mehr ſchaͤtzen gelernt. Trotz— dem verſtanden ſie ſich nicht mehr ſo gut. Trupp rechnete ſtets mit den Menſchen, wie ſie ſein ſollten und ſein
wuͤrden; Auban aber war in das Weſen der Freiheit ſo
eingedrungen, daß er eingeſehen hatte, wie wenig man die Menſchen zu ihrem Gluͤcke zwingen kann, die nicht gluͤcklich ſein wollen.
Er hoffte alles von dem langſamen Fortſchritt der Vernunft; jener alles von der Revolution, an deren Tagen das Licht der Freiheit ſich in Strömen überall hin ergießen wuͤrde, alle erleuchtend, weil alle Wuͤnſche erfuͤllend. Auban war zu ſich gekommen und wuͤnſchte, daß jeder ſo ſich finden moͤge; Trupp verlor ſich ſelbſt immer mehr und mehr an die Allgemeinheit. Trupp hatte ſich in den Dienſt ſeiner Sache geſtellt und fuͤhlte ſich ihr auf Leben und Tod geweiht; Auban wußte, daß die Freiheit zu nichts verpflichtet.
So wurde der eine immer mehr zur Aktivitaͤt an—
gefeuert, wie ein Roß vom Sporn des Reiters, wie ein vin 11
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Soldat von dem „Vorwaͤrts!“-Rufe ſeines Feldherrn, waͤhrend der andere ſich mehr von der Bedeutung der Taktik uͤberzeugte, die den Feind an ſich herankommen laͤßt und dann ſeine Angriffe abſchlaͤgt. So ſah der eine alles bleibende Heil nur aus einem blutigen, der andere nur aus einem unblutigen Kampfe hervor: gehen
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Fuͤnftes Kapitel | Die Kämpfer der Freiheit
Auban ſprang auf.
Es hatte geklopft. Der Boy des Bars, der jeden Sonn: tag kam, ſteckte ſeinen Kopf zur Tuͤr herein. „Sir?“ — Er moͤge in einer halben Stunde wieder kommen.
Auban ſah nach ſeiner Uhr. Er hatte abermals eine ganze Stunde vergruͤbelt ... Es war nun faſt fünf Uhr. Es dunkelte bereits und Auban entzuͤndete eine große Lampe, deren Schein vom Kaminſims aus das ganze Zimmer erleuchtete. Dann ſchuͤrte er das Feuer zu neuer Glut; fchob den Tiſch mit Anſtrengung gegen das Fenſter zu, ſo daß ein weiter Raum vor dem Kamin ent⸗ ſtand; und ſtellte endlich Stuͤhle in einem Halbbogen um dieſen herum. Nun hatten wohl acht bis neun Ver: ſonen Platz.
Er uͤberſah den Raum, der jetzt, nachdem die Fenſter durch Vorhaͤnge verhuͤllt waren, erwaͤrmt von dem aufflackernden Feuer und durchhellt von dem milden Licht, ein faſt behagliches Ausſehen erhielt.
Aber wie anders war es doch fruͤher geweſen: in den beiden kleinen Zimmern von Holborn, als ſeine Frau
noch lebte, fie, die fo gut verſtanden hatte, es jedem 11*
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behaglich zu machen, an den Sonntagnachmittagſtunden: den Zuruͤckhaltendſten zum Ausſprechen, den Geſchwaͤtzigſten zur Zuͤgelung ſeines Redefluſſes, den Mißtrauenden zur Teilnahme, den Phrafenhelden zum Nachdenken zu bringen, ohne daß er es ſelbſt bemerkte.
Es war damals nicht ſelten, daß Frauen dieſen Zus ſammenkuͤnften beiwohnten. Aber der Ton war immer gleich unbefangen und frei von jedem konventionellen Zwange geblieben.
Die Zeit ihrer kurzen Krankheit hatte die Zuſammen⸗ kuͤnfte jaͤh unterbrochen; ihr Tod die groͤßte Luͤcke in den Kreis geriſſen. Auban hatte die Idee dieſer Nachmittage, die von ihr ausgegangen war, nicht aufzugeben vermocht.
Sie kamen wieder zu ihm. Von der, welche alle vermißten, die ſie gekannt hatten, wurde nie geſprochen.
Wie viele waren in dieſen zwei Jahren bei ihm ein: und ausgegangen: wohl an hundert Menſchen! Faſt alle ſtanden ſie mehr oder minder in der internationalen Bewegung des Sozialismus. Ihre Ideale waren ſo ver⸗ ſchieden wie die Wege, auf denen ſie ihnen zuſtrebten.
Alle aber litten unter dem Drucke der heutigen Zu: ftände und ſehnten ſich nach beſſeren ... Das war das einzige Band, das ſie loſe zu dieſen Stunden ver— einigte. |
Viele verübelten es Auban, daß er feine Tür fo vers ſchiedenen Elementen oͤffnete. Manche ſahen darin ſchon eine Untreue. „Gegen wen?“ wurden ſie von ihm laͤchelnd gefragt. „Ich habe keinen leiblichen oder geiſtigen Herrn, dem ich Treue geſchworen haͤtte. Wie kann ich untreu geworden ſein?“
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So blieben die politischen Schwaͤtzer, die Partei— menſchen, die orthodoxen Fanatiker fort: alle jene, welche waͤhnten, des Himmels der Freiheit nur dann teilhaftig werden zu koͤnnen, wenn das Ideal ihrer Freiheit das Ideal aller geworden ſei.
Wieder und wieder kamen die einzelnen — Aubans wenige perſoͤnliche Freunde —, denen die Erfahrungen ihres Lebens gelehrt hatten, daß die Freiheit nichts iſt, als die Unabhaͤngigkeit voneinander: die Moͤglichkeit fuͤr jeden, auf ſeine eigene Weiſe frei zu ſein.
Es wurde gewoͤhnlich franzoͤſiſch geſprochen. Aber nicht ſelten auch engliſch, wenn die Anweſenheit von engliſchen Freunden es erforderte.
Fremde kamen und gingen in letzter Zeit wieder öfter. Auban bat niemanden, wiederzukommenz aber jeder fuͤhlte an ſeinem Haͤndedruck, mit dem er Abſchied nahm, daß er in acht Tagen ebenſo willkommen geheißen werden wuͤrde.
Das Recht der Einfuͤhrung ſtand jedem frei und wurde zuweilen ſo fleißig geübt, daß die Zahl der Anweſenden die Zahl der Stühle uͤberſchritt. Aber oft war Auban auch allein mit einem oder zweien ſeiner Freunde.
Meiſtens ſtand eine Tagesfrage im Mittelpunkt der gemeinſamen Unterhaltung. Oder eine Diskuſſion ent⸗ ſpann ſich und die Anweſenden teilten ſich in Teilnehmer und Zuhörer. Doch kam es auch vor, daß man zuſammen⸗ ruͤckend kleine Gruppen bildete und zwei, drei verſchiedene Sprachen das Gemach durchſchwirrten.
Einmal kam ein Menſch, keiner wußte woher, der
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ſich einige Zeit hernach als Spitzel entpuppte. Die Ent⸗ deckungsſucht nach Verſchwoͤrungen und Attentaͤtern hatte ihn auch hierher gelockt. Als er aber ſah, daß hier nicht von Dynamit, von Bomben, der „ſchwarzen Hand“, Ere- kutivkomitees und Geheimbuͤnden die Rede war, ſondern von wiſſenſchaftlichen und philoſophiſchen Fragen, die er nicht verſtand, verſchwand er wie er gekommen, nachdem er ſich einige Stunden unſaͤglich gelangweilt hatte.
Eine aͤhnliche Enttaͤuſchung erlebten einige jugend— liche Hitzkoͤpfe, die ſich einbildeten, das Werfen einer Bombe ſei eine groͤßere Tat und ſchaffe das ſoziale Elend ſchneller aus der Welt, als die muͤhſame Ergruͤn— dung der Urſachen dieſes Elends. Die Verachtung, mit welcher ſie hinfort von dieſem „philoſophiſchen Anar— chismus“ ſprachen, der völlig unfruchtbar ſei und mit der Befreiung der hungernden Menſchheit nicht das ge— ringſte zu tun habe, war ebenſo ſouveraͤn, wie leicht erklaͤrlich. 8
Auban hielt ſich bei den Diskuſſionen meiſt zuruͤck. Doch liebte er es nicht, wenn dieſelben den Boden der Wirklichkeit voͤllig verloren und in jene leeren Wort— ſchwallgefechte ausarteten, die nur ſchwer ein Ende und nie ein Ziel erreichten.
Heute aber wollte er — gedraͤngt von ſeinen Freunden und nicht zuruͤckgehalten von ſeinen eigenen Wuͤnſchen — in ihrer ganzen Schaͤrfe die Gegenſaͤtze zweier Weltanſchauungen hervorheben, deren unlogiſche Ber: miſchung eine Nacht von Widerſpruͤchen und Unklar: heiten geſchaffen hatte ..
Heute wollte er die letzten Unklarheiten, die noch
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uͤber ſeine eigene Perſon und ihre Stellung herrſchten, vernichten und damit einen Kampf beginnen, dem er feſt entſchloſſen war, auf lange hinaus ſeine beſte Kraft zu widmen
Er ſah gerade etwas ungeduldig nach der Uhr, als es klopfte. Aber der Eintretende war ihm ein völlig Fremder. Es war ein Mann von vierzig Jahren, der auf ihn zuging, ſich vorſtellte und ihm einen Brief uͤber⸗ reichte.
Auban uͤberflog denſelben, nachdem ſie ſich beide ge— ſetzt. Es war eine Empfehlung fuͤr den Überbringer, in leichtem, geiſtreichem Tone gehalten, und ſie kam von einem Manne, mit dem Auban vor Jahren in Paris oft auf derſelben Rednertribuͤne geſtanden hatte, wenn es gegolten, die Rechte der Arbeit zu verteidigen, der aber nun der Redaktion einer großen Oppoſitionszeitung des Tages angehoͤrte und ſeiner ſcharfen Feder wegen ſehr gefuͤrchtet wurde.
Halb eine Entſchuldigung, halb eine Selbſtverſpottung taͤndelte dieſer Brief zwiſchen unvergeſſenen Erinnerungen und der Wohlgefaͤlligkeit an Erreichtem hin und her ... Er empfahl der Guͤte Aubans einen Freund, der ſich von dem Studium der ſozialen Bewegung angezogen fuͤhle, wie „der Schmetterling von der Flamme“, und ins⸗ beſondere waͤhrend eines kurzen Aufenthalts in London einige Aufſchluͤſſe uͤber das dunkle Gebiet des Anarchis— mus zu erlangen wuͤnſche, in dem Auban ihn wohl beſſer zu leiten verſtehe, als er ſelbſt, deſſen „Blicke allzu
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ſehr gebannt ſeien in den Kreis des Tages, als daß eine verlorene Zukunft ihn noch zu locken vermoͤge ..“ Dann ein Gluͤckwunſch zu Aubans buchhaͤndleriſchem Erfolge, ein abermaliges Lächeln über gemeinſame Torheiten, von denen „die Erfahrung auch den letzten Duft des Reizes geweht“, und eine zeremonielle Verbeugung.
Auban ſtellte einige Fragen, um ſich dies veraͤnderte Bild ergaͤnzen zu koͤnnen. Dann erklaͤrte er ſich freund⸗ lich zu jeder Auskunft bereit, die von ihm gewuͤnſcht wuͤrde. Er freute ſich an den Klaͤngen ſeiner Sprache, er freute ſich heimlich an dieſem Beſuch, der einen Duft von Paris in fein Zimmer trug.
Dieſer Fremde war ihm ſympathiſch: ſeine einfache Kleidung, das ruhige, ſichere Weſen, ſein ernſtes Geſicht.
Er begann mit einer Frage.
— Sie wuͤnſchen von mir Aufſchluß uͤber die Lehre des Anarchismus. Wuͤrden Sie mir zuvor ſagen, was Sie bisher unter Anarchie verſtanden haben?
— Gewiß. Aber ich geſtehe, daß mir ein klares Bild nicht vorſchwebt. Das Gegenteil vielmehr: ein blutiges und rauchendes Chaos, ein Truͤmmerhaufen alles Be: ſtehenden, völlige Lockerung und Auflöfung aller Bande, die bisher die Menſchen verknuͤpften: der Ehe, der Familie, der Kirche, des Staates, eine zuͤgelloſe, durch keine Feſſel mehr in Ordnung gehaltene, ſich gegenſeitig zer⸗ fleiſchende Menſchheit —
Auban laͤchelte bei dieſer tauſendmal vernommenen Schilderung.
— So malt ſich allerdings in den meiſten Koͤpfen heute noch die Welt der Anarchie, ſagte er.
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— So wird ſie hingeſtellt bei jeder Gelegenheit von unſerer Preſſe, den politiſchen Parteien, unſeren Enzy⸗ klopaͤdien, den profeſſionellen Lehrern der Volkswirtſchaft, von allen. Indeſſen habe ich hierin ſtets nur die be— wußte Verleumdung der Feinde und die unbewußte Nach- plapperei der Maſſen geſehen.
— Sie haben recht getan, ſagte Auban.
— Aber ich geſtehe weiter, daß mir auch das entgegen— geſetzte Ideal: das harmloſe, friedliche, ungeſtoͤrte Zu— ſammenleben der Menſchen in Guͤtergemeinſchaft, welchem ſich der eine fortwährend feiner Intereſſen zu: gunſten des anderen und der Geſamtheit freiwillig ent— aͤußert, daß mir ein ſolches Ideal einer „freien Gefell- ſchaft“ als voͤllig unvereinbar mit der wahren Natur 5 Menſchen erſcheint —
Auban lächelte wieder. „Ich geſtehe dasſelbe von mir.“
Der andere war uͤberraſcht. „Wie?“ fragte er. „Und doch iſt dies das Ideal der Anarchie?“
— Nein, antwortete Auban, — im Gegenteil: es iſt das Ideal des Kommunismus.
— Aber — dieſe beiden haben ein Ziel?
— Sie ſind einander entgegengeſetzt wie Tag und Nacht, Wahrheit und Wahn, Egoismus und Altruismus Freiheit und Knechtſchaft.
— Aber alle Anarchiſten, von denen ich hoͤrte, ſind Kommuniſten.
— Nein, die Kommuniſten, die Sie kennen, nennen ſich Anarchiſten.
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— So gaͤbe es uͤberhaupt hier, bei uns in Frankreich, uͤberhaupt in Europa keine Anarchiſten?
— Soviel ich weiß nicht; jedenfalls nur hier und da in geringer Zahl. Indeſſen iſt jeder konſequente Indi— vidualiſt Anarchiſt.
— Und die ganze, taͤglich wechſelnde Bewegung des Anarchismus, welche ſo viel von ſich reden macht —?
— Iſt anti⸗individualiſtiſch und daher anti- anar⸗ chiſtiſch; iſt, wie ich ſchon ſagte, rein kommuniſtiſch.
Auban bemerkte, wie ſehr ſeine Worte uͤberraſcht hatten. Jener wollte von ihm Beſchaffenheit, Laͤnge und Ziel eines Weges wiſſen und nun hatte er ihm gezeigt, daß der Weiſer des Weges eine falſche Inſchrift trug ...
Er ſah den ernſten, nachdenklichen Ausdruck in den Zuͤgen ſeines Beſuchers und war nun uͤberzeugt, daß jenen in der Tat das Intereſſe an der Ergruͤndung einer zweifelhaften Frage zu ihm gefuͤhrt hatte.
Eine kurze Pauſe entſtand, waͤhrend der er ruhig wartete, bis der andere ſeinen Gedankengang vollendet hatte und das Geſpraͤch wieder aufnahm.
— Darf ich Sie nun bitten, mir zu ſagen, was Sie unter Anarchie verſtehen?
— Gerne ... Sie wiſſen, daß An-Archie ein der griechiſchen Sprache entſtammendes Wort iſt und in ge— nauer Überfegung „Herrſchaftsloſigkeit“ lautet.
Nun iſt ein Zuſtand der Herrſchaftsloſigkeit identiſch mit einem Zuftande der Freiheit: wenn ich keinen Herrn habe, bin ich frei.
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Anarchie iſt ſomit Freiheit.
Es gilt nun, den Begriff „Freiheit“ zu definieren, und ich muß ſagen, daß es mir nicht gelingen will, eine beſſere Definition zu finden als dieſe: Freiheit iſt die Abweſenheit der aggreſſiven Gewalt oder des Zwanges.
Er hielt einen Augenblick inne, wie um ſeinem Zu⸗ hoͤrer die genaue Aufnahme jedes ſeiner langſam und klar geſprochenen Worte zu ermoͤglichen. Dann fuhr er fort:
— Die organiſierte Gewalt nun iſt der Staat. Wie Gewalt ſein innerſtes Weſen iſt, fo iſt Raub fein Privi— legium; ſo iſt die Beraubung der einen zu Gunſten der andern das Mittel ſeiner Erhaltung.
Der Anarchiſt ſieht daher in dem Staat ſeinen groͤßten, ja ſeinen einzigen Feind.
Es iſt die erſte Grundbedingung der Freiheit, daß keinem die Moͤglichkeit genommen iſt, ſich ungeſchmaͤlert in den Ertrag feiner Arbeit zu ſetzen. Okonomiſche Un— abhaͤngigkeit — ſo lautet daher die erſte Forderung des Anarchismus: die Aufhebung der Ausbeutung des Men— ſchen durch den Menſchen. Dieſe Ausbeutung nun wird unmoͤglich gemacht: durch die Freigabe der Bank, d. h. die Freiheit in der Herbeiſchaffung von Austauſchmitteln, auf welchen kein geſetzlich geſchuͤtztes Vorrecht des Zinſes mehr laſtet; durch die Freigabe des Kredits, d. h. die Organiſation desſelben auf Grund des Prinzips des Mu— tualismus, der gegenſeitigen wirtſchaftlichen Staͤrkung; durch die Freigabe des Marktes und des Weltmarktes, d. h. die Freiheit des ungehinderten Tauſches und Aus— tauſches geſchaffener Werte von Hand zu Hand, wie von
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Land zu Land; durch die Freigabe des Grund und Bodens, d. h. die Freiheit in der Beſitzergreifung von Grund und Boden zum Zwecke perfönlicher Benutzung, falls derſelbe nicht zu gleichem Zwecke ſchon von anderen perſoͤnlich mit Beſchlag belegt wurde; oder, um alle dieſe Forde— rungen in eine zufammenzufaffen: die Ausbeutung des Menſchen durch den Menſchen wird unmoͤglich durch die Freiheit der Arbeit.
Hier ſchwieg Auban und wieder entſtand eine Pauſe.
— Sie naͤhern ſich, wie mir ſcheint, dem laissez-faire, laissez-aller der Verteidiger der freien Konkurrenz?
— Umgekehrt: die Mancheſtermaͤnner naͤhern ſich uns. Aber fie find weit hinter uns zuruck. Konſequentes Fort⸗ ſchreiten auf dem eingeſchlagenen Wege muͤßte ſie in— deſſen mit unfehlbarer Sicherheit dahin fuͤhren, wo wir ſtehen. Sie behaupten, die freie Konkurrenz zu befuͤr— worten. Aber in der Tat befürworten fie nur die Kon⸗ kurrenz der Mittelloſen unter ſich, waͤhrend ſie das Kapital mit Hilfe ſtaatlicher Gewalt der Konkurrenz ent⸗ ziehen: es monopoliſieren. Wir dagegen wollen es populariſieren: es jedem ermoͤglichen, Kapitaliſt zu werden, indem wir es durch die Freiheit des Kredits jedem zu— gaͤnglich zu machen ſuchen und es zwingen, wie jedes andere Produkt, an der Konkurrenz teilzunehmen.
— Dieſe Ideen find ſehr neu ...
— Sie ſind nicht ganz ſo neu, aber ſie ſind es heute wieder geworden, heute, wo alle Rettung nur, „von oben her“ erwartet wird, und wo man nicht einſehen will, daß die ſoziale Frage nicht anders geloͤſt werden kann, als durch die Initiative des einzelnen, der ſich endlich
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entſchließt, die Beſorgung ſeiner Angelegenheiten ſelbſt zu uͤbernehmen, ſtatt ſie in fremde Haͤnde zu legen.
— Es iſt mir nicht moͤglich geweſen, jedem Ihrer Worte bis in das Innere ſeines Sinnes zu folgen, aber ich glaube Sie darin nicht falſch verſtanden zu haben, daß Sie keine Pflicht der Unterordnung unter den Willen eines anderen und kein irgendwie geartetes Recht der Auf— erzwingung eines fremden Willens anerkennen?
— Ich beanſpruche das Recht der freien Entſchließung über meine Perſon, entgegnete Auban mit ſtarker Bes tonung. — Ich verlange und erwarte keine Zuerteilung von Rechten ſeitens der Geſamtheit und ich fuͤhle mich ihr gegenuͤber zu nichts verpflichtet. Setzen Sie an Stelle des Wortes „Geſamtheit“ was Sie wollen: „Staat“, „Geſellſchaft“, „Vaterland“, „Gemeinweſen“, „Menſch— heit“ — es bleibt ſich gleich.
— Sie ſind kuͤhn! rief der Franzoſe aus. — Sie negieren die Geſchichte!
— Ich negiere die Vergangenheit, ſagte Auban. — Ich habe von ihr gelernt. Das koͤnnen nur wenige von ſich ſagen. Ich negiere alle menſchlichen Inſtitutionen, welche ſich auf das Recht der Gewalt gruͤnden. Ich bin mir ſelber mehr wert, als ſie es mir ſind!
— Aber jene ſind ſtaͤrker als Sie —
— Noch. Eines Tages werden ſie es nicht mehr ſein. Denn worin beſteht ihre Macht? In der Torheit der Betoͤrten.
Auban hatte ſich erhoben. Auf ſeinen großen Zuͤgen lag der Ausdruck eines freien, ruhigen Stolzes.
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— So glauben Sie an den Fortſchritt der Menſchheit der Freiheit zu?
— Ich glaube nicht an ihn. Weh' dem, der glaubt! Ich ſehe ihn. Ich ſehe ihn, wie ich jeden Tag die Sonne Nie
Auch der Beſucher war aufgeſtanden. Aber Auban hielt ihn zuruͤck.
— Wenn Sie Luſt und Zeit haben, ſo bleiben Sie noch. Ich erwarte heute, wie jeden Sonntag, einige Freunde. Das Geſpraͤch wird wohl gerade heute auf manchen Punkt kommen, der Sie intereſſieren duͤrfte.
Mit offenbarer Freude wurde feine Einladung an genommen.
— Es waͤre mir allerdings nicht lieb, jetzt ſchon von einem Mahle aufſtehen zu muͤſſen, von dem ich kaum den erſten Gang genoſſen
Auban fragte wieder nach Paris, nach einzelnen Perſoͤnlichkeiten des Tages, nach manchem, was ihm die Zeitungen verſchwiegen.
Dann kamen ſeine Gaͤſte. Zuerſt Dr. Hurt, ein Eng⸗ laͤnder, der Arzt, welcher ſeine Frau gepflegt hatte, und ſeitdem ein regelmaͤßiger Beſucher der Zuſammenkuͤnfte bei Auban geworden war. Er war ein kurzangebundener, in ſich abgeſchloſſener Menſch, ohne jede Phraſe, ohne alle Sentimentalitaͤt, ein Charakter, deſſen hervorſtechende Eigenſchaften ein ſcharfer Blick unſchwer erkennen mochte: unbeugſamer Wille, ſtarke Neigung zu Spott, und zer⸗ ſetzende Unglaͤubigkeit.
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Auban ſchaͤtzte ihn außerordentlich. Es gab keinen unter ſeinen Freunden, mit dem er ſich ſo gern unter— hielt, wie mit dieſem ſkeptiſchen Englaͤnder, deſſen Logik vor keiner Konſequenz zuruͤckſchreckte.
Man ſprach von jetzt ab einige Zeit engliſch, das der Franzoſe verſtand. Der Doktor nahm den zweiten Platz am Feuer ein, ſeinen Lieblingsplatz, und waͤrmte feinen breiten Ruͤcken, indem er dies London verwuͤnſchte, wo Nebeldunſt und Qualm alles mit einer klebrigen Kruſte von Krankheitsſtoffen uͤberziehe ...
Er wurde unterbrochen durch Mr. Marell, den Ameriz kaner, welcher von einem jungen Mann von zwanzig Jahren begleitet wurde, der — ſichtlich zwiſchen einiger Verlegenheit und neugierigem Intereſſe kaͤmpfend — nur mit ſcheuer Zurückhaltung in Aubans offene Hand ein- ſchlug.
— Wie geht es, Mr. Marell?
— Well, ich bringe Ihnen einen jungen Schuͤler der ſozialen Wiſſenſchaft, einen deutſchen Dichter, ich denke, Sie haben ihn bereits geſehen auf dem Proteſtmeeting in Finsbury Hall, er moͤchte Sie kennen lernen —
Auban laͤchelte. Wieder eine neue Bekanntſchaft. Wo und wie der alte Herr ſie ſchloß, war ihm ein Raͤtſel. Aber natuͤrliche Herzensguͤte erlaubte dem Alten nicht nur nicht, je eine Bitte abzuſchlagen, ſondern ließ ihn ſogar in freundlicher Teilnahme jegliche ſogleich erraten. So mochte es auch diesmal geweſen ſein.
Faſt immer auf dem Wege zwiſchen England und den Staaten kannte er huͤben und drüben faſt jedermann aus der ſozialen Bewegung perſoͤnlich und wurde von
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faſt jedermann, mochte er welcher Richtung auch immer angehoͤren, gekannt und geliebt. Er brachte Auban die meiſten Gaͤſte, die dieſer alle gleich freundlich aufnahm.
— Das iſt recht, ſagte er auch jetzt, — die Dichter ſind immer die Freunde der Freiheit geweſen und die deut— ſchen Dichter vor allen. Als ich mein Deutſch noch nicht ganz vergeſſen hatte, las ich Freiligraths herrliche Ge: dichte — ah, wie herrlich ſie ſind, „Die Revolution“ und das Gedicht der Toten an die Lebenden, nicht wahr?
— Ja, ſagte der Deutſche mit freudeleuchtenden Augen, — und die „Schlacht am Birkenbaum“ ..
— Es iſt ein ſeltſames Volk, dieſe Deutſchen, ſagte Dr. Hurt, das Land des Individualismus, und doch dieſe huͤndiſche Winſelei. Ich kann nicht verſtehen, wie ein Mann aufrecht dort leben kann unter dieſen devot gebeugten Nacken.
— Nun, es ſind auch nicht wenige, die auswandern. Wie viele kommen allein zu uns nach Amerika — unter⸗ brach ihn der Yankee.
Wieder ging die Tuͤr.
Es war Trupp, der ernſt, wie immer, die Anweſenden mit einem Kopfnicken begruͤßte; ein ruſſiſcher Nihiliſt, deſſen Namen niemand kannte, von deſſen propagandi⸗ ſtiſcher Taͤtigkeit ſeine Genoſſen aber viel ſprachen; und endlich ein Anhänger der New Vorker „Freiheit“-Richtung, deſſen Kommen fuͤr Auban ſtets eine beſondere Freude war, trotzdem er ſich mit ihm noch weniger uͤber manche Fragen zu verſtaͤndigen vermochte, als mit Trupp.
Ihnen auf dem Fuße folgte der. letzte Beſucher des
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heutigen Nachmittags, ein Huͤne von Geſtalt, deſſen blonden Haaren und blauen Augen man ſofort den Nordlaͤnder anſah. Es war ein Schwede, welcher der jungen ſozialdemokratiſchen Partei ſeines Landes angehoͤrte, aber ſtark zum Anarchismus neigte und ſtets behauptete, es gaͤbe zwiſchen dieſem und ſeiner Partei nur einen einzigen Unterſchied, naͤmlich den der Taktik: was dieſe auf dem Wege politiſcher Reformen, das wollten jene auf dem der Gewalt erreichen; und da ihm der erſtere mit der Zeit zu lang erſchien, ſo war er geneigt, den zweiten einzuſchlagen. Er war ganz das, was man „Gefuͤhlsſozialiſt“ zu nennen pflegt.
Man bildete einen Halbkreis um das Feuer. Der Barboy erſchien und ging von einem zum andern, die Auftraͤge jedes einzelnen entgegennehmend. Indem ſich Auban auf dieſe Weiſe der Mühe zeitraubender Vor— richtungen und des ſtoͤrenden Anbietens enthob, ſicherte er jedem die Freiheit individueller Wahl. Das Wohl— behagen ſeiner Gaͤſte gab ihm recht.
Die Unterhaltung wurde ſchnell lebhaft.
Auban vermied zeremonielle Vorſtellungen ſeiner Gaͤſte. Aber er hatte eine gute Art, indirekt — im Laufe des Geſpraͤchs — den einen mit dem anderen bekannt zu machen. So wußte auch an dieſem Nachmittag bald jeder ſeiner acht Gaͤſte, wer der andere war, wenn er ihm nicht ſchon von fruͤheren Gelegenheiten her bekannt war. Es ſprachen nicht alle miteinander. Dr. Hurt ſchwieg ganz, hoͤrte aber aufmerkſam zu. Man war beides an ihm gewohnt. Auch der Ruſſe miſchte ſich nicht ein. Nachdenklich vor ſich blickend, ließ er ſich keines der ihn
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umſchwirrenden Worte entgehen, hinter jedem einen tieferen und eigentuͤmlicheren Sinn, wie beabſichtigt, ſuchend und findend. Er war zum viertenmal auf Aubans Nach: mittagen; und er war vor vier Wochen zum erftenmal auf ihnen erſchienen.
Die Freundlichkeit des alten Amerikaners, deſſen ernſte Unbefangenheit immer die gleiche war, und Aubans ruhige Zwangloſigkeit ließen indeſſen kein Unbehagen und kein laͤngeres Schweigen aufkommen.
Die meiſten rauchten. Nach einer halben Stunde war das Zimmer von Qualm erfuͤllt: die weißen Streifen des Rauches legten ſich wie Kraͤnze um dieſe, von der Natur fo verſchieden gebildeten Köpfe, um dieſe männlichen ernſten Stirnen und ſchlichen dann uͤber ſie hinweg zur Decke, wo fie zerflogen ..
Als eine Pauſe entſtand und die Gläfer von neuem gefüllt waren, beugte Auban, der zwiſchen feinem franz zöfifchen Beſucher und dem jungen Deutſchen, von dem der Amerikaner geſagt hatte, daß er ein Dichter ſei, ſaß, ſich vor und ſagte auf franzoͤſiſch:
— Trupp und ich wollten Sie bitten, meine Herren, uns an dem heutigen Nachmittage eine Stunde zu einer Diskuſſion uͤber die Frage: Was iſt Anarchismus? — zu geben. Und zwar nicht, wie ſonſt oͤfters, zu einer Diskuſſion uͤber eine ganz beſtimmte und ſcharf umgrenzte Frage, ſondern zu einer Diskuſſion uͤber die allgemeinen Grundfragen des Anarchismus ſelbſt. Denn wir fuͤhlen beide, daß ein Ausſprechen uͤber dieſelben noͤtig ge— worden iſt.
Er hielt inne, eine Zuſtimmung erwartend. Das
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Geſpraͤch hatte aufgehoͤrt. Man nickte ihm zu und er fuhr fort: .
— Wie? — wird der eine oder der andere unter ihnen fragen, wie? — Eine Diskuſſion uͤber die Grund⸗ prinzipien des Anarchismus? Ja, find denn dieſe Prin— zipien nicht laͤngſt feſtgeſtellt und ſomit jedem Zweifel enthoben? —
Nein! antworte ich darauf. — Trotzdem bald fuͤnf— zig Jahre vergangen find, daß das Wort Anarchismus! zum erſtenmal — im Gegenſatz zu der noch heute viel verbreiteten Auffaſſung, welche unter Anarchie nichts anderes als die Unordnung des Chaos verſtehen will — zur Bezeichnung eines Geſellſchaftszuſtandes gebraucht wurde; trotzdem in dieſen fünfzig Jahren der Anarchis— mus in allen ziviliſierten Laͤndern der Erde zu einem Teil der Zeitgeſchichte geworden iſt; trotzdem er die erſten, unzerſtoͤrbaren Steine zu ſeiner eigenen Geſchichte bereits gelegt hat; trotzdem es heute Tauſende von Menſchen gibt, die ſich ‚Anarchiiten‘ nennen (es find hier in Europa zehn- bis zwanzigtauſend und in Amerika wohl ebenſo viele), — trotzdem, ſage ich, gibt es nur eine ganz geringe Anzahl von Individuen, die das Weſen des Anarchismus in ſeiner ganzen Tiefe begriffen haben.
Ich will hier gleich ſagen, wer dieſe wenigen meiner Meinung nach find. Es find die Denker des Indivi— dualismus, welche ſeine Philoſophie auf die Geſellſchaft anzuwenden konſequent genug waren. Es ſind — in der intelligenteſten und bildungsreichſten Stadt des amerikaniſchen Weſtens, in Boſton — einige kuͤhne, be-
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deutende und voͤllig unabhaͤngig von jeder Zeitſtroͤmung denkende Menſchen, ebendort, wo der Anarchismus ſein erſtes und bis heute noch einziges Organ gefunden hat. Es find endlich ganz vereinzelte und überall hin ver: ſtreute Schuͤler Proudhons, fuͤr die dieſer Rieſe kein toter Mann iſt, ob auch der Sozialismus in laͤcherlicher Anmaßung ihn begraben zu haben waͤhnt ...
— Ich glaube, Sie koͤnnen noch hinzufuͤgen, ſagte Dr. Hurt, — daß es unter den großen Monopoliſten des Kapitals einige gibt, denen es klar ward, was ihre großen Vermoͤgen erhaͤlt und deren ſtetige Vermehrung ermoͤg⸗ licht, und denen daher ihr groͤßter Feind nicht ganz un⸗ bemerkt geblieben iſt.
— Wir alſo, die Arbeiter, die wir den Namen allen Verfolgungen zum Trotz hochgehalten haben, wir waͤren alſo keine Anarchiſten? — Wie? begann Trupp erregt.
— Zunaͤchſt iſt die Frage des Anarchismus nicht die Sache einer einzelnen Klaſſe, alſo auch nicht die der arbeitenden, ſondern ſie iſt die Sache jedes einzelnen Menſchen, dem ſeine perſoͤnliche Freiheit lieb iſt. So— dann aber, — Auban ſtand auf, trat einen halben Schritt in den Kreis vor und reckte ſeine hagere Ge— ſtalt in die Hoͤhe, waͤhrend er mit lauterer Stimme fortfuhr — ſodann aber, ſage ich, daß ihr — die, welche du eben im Sinne hatteſt, Otto, als du von den Arbeitern ſprachſt — allerdings keine An⸗ archiſten ſeid. Und um das zu beweiſen, gerade des⸗ halb habe ich heute gebeten, mir eine halbe Stunde zu⸗ zuhören.
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— Sprich erſt, warf Trupp ſcheinbar ruhig hin. — Ich werde dir antworten, wenn du fertig biſt.
Auban ſprach weiter.
— Ich kann ſagen, daß ich immer nur eines gewollt habe: die Freiheit. So kam ich an die Grenzen ſo mancher Anſchauungen, und ſo bin ich auch in die Be— wegung des Sozialismus gekommen. Dann habe ich mich von allem zuruͤckgezogen, mich ganz neuen Unter⸗ ſuchungen hingegeben und ich fuͤhle jetzt, daß ich nun⸗ mehr bei den Endreſultaten aller Forſchung angelangt bin: bei mir ſelbſt!
Ich ſpreche nicht gern mehr zu vielen. Die Zeiten, wo ſich bei mir die Worte leicht einſtellten, da die Ge: danken fehlten, ſind vorbei, und ich mache auf dies Vor— recht der Jugend, der Frauen und der Kommuniſten keinen Anſpruch mehr. Aber mit aller Schaͤrfe und Ruͤck⸗ ſichtsloſigkeit muß endlich Front gemacht werden gegen jene unklaren Beſtrebungen, Grundſaͤtze in der Theorie miteinander zu vereinigen, welche praktiſch verſchieden ſind wie Tag und Nacht. |
Es gilt alſo Stellung zu nehmen: hier oder dort. Fuͤr das eine und damit wider das andere. Fuͤr oder gegen die Freiheit!
Beſſer ehrliche Feinde, als unehrliche Freunde! —
Die Entſchloſſenheit dieſer Worte machte Eindruck auf alle Anweſenden. An dem Ernſt, mit dem Auban fie geſprochen, fühlte jeder, daß es ſich heute gewiſſer⸗ maßen um eine Entſcheidung handelte.
Jeder brachte daher den folgenden Auseinander—
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ſetzungen Aubans ein doppeltes Intereſſe entgegen und blieb waͤhrend ihrer Dauer ſowohl wie waͤhrend der Diskuſſion, die ſich zwiſchen ihm und Trupp an dieſelben knuͤpfte ein aufmerkſamer Zuhoͤrer, der nur hin und wieder eine Bemerkung, eine Frage hineinwarf.
Von Aubans Lippen fiel Wort um Wort gleich leiden⸗ ſchaftslos. Er ſprach mit gleichmaͤßiger Schaͤrfe, die keine Mißverſtaͤndniſſe zuließ, betonte aber das eine oder andere ſeiner Argumente, die Fundamentalſaͤtze einer unerbittlichen Weltanſchauung, ſtaͤrker.
Trupp redete mit der ganzen Waͤrme ſeines nach Gerechtigkeit duͤrſtenden Herzens. Wo ſein Verſtand ſich ſtraͤubte, Hinderniſſe zu nehmen, hob er ſich fort uͤber ſie auf den Fluͤgeln ſeiner unerſchuͤtterlichen Hoffnung.
Sie ſprachen nunmehr franzoͤſiſch. Es war keiner unter ihnen, dem dieſe Sprache voͤllig unverſtaͤndlich geweſen waͤre.
Auban begann von neuem und er ſprach fo langſam ein jedes ſeiner wohldurchdachten Worte, daß es ſcheinen mochte, er leſe ſie ab oder er habe ſie auswendig gelernt.
— Ich behaupte, begann er, — daß in der ſozialen Bewegung unſerer Tage eine große Spaltung entſtanden iſt, welche ſich taͤglich ſichtlich mehr und mehr erweitert.
Die neue Idee des Anarchismus hat ſich von der alten des Sozialismus getrennt. In zwei große Heer— lager ſammeln ſich die Bekenner der einen und die Anhaͤnger der anderen.
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Es gilt, wie ich ſagte, Stellung zu nehmen hier oder dort.
Tun wir das heute. Sehen wir, was der Sozialis— mus will, und ſehen wir, was der Anarchismus will.
Was will der Sozialismus?
Ich habe gefunden, daß es ſehr ſchwer iſt, auf dieſe Frage eine zufriedenſtellende Antwort zu geben. Ich ſehe ſeit zehn Jahren ſeine Bewegung vor mir in jeder ihrer Phaſen und habe fie in zwei Ländern aus perſoͤn— licher Erfahrung kennen gelernt. Ich habe mit der Geſchichte unſeres Jahrhunderts ſein Entſtehen und ſein Wachstum verfolgt — aber noch bis heute iſt es mir nicht gelungen, mir ein klares Bild ſeiner Ziele zu machen. Ich waͤre ſonſt vielleicht heute noch ſein An— haͤnger.
Wo immer ich nach ſeinen letzten Zielen fragte, wurden mir zwei Antworten.
Die eine lautete: „Es waͤre laͤcherlich, ſchon jetzt das Bild einer Zukunft zu entwerfen, die wir erſt vorbereiten wollen. Überlaffen wir ihre Geſtaltung unſeren Nach- kommen.“ 5
Die andere war weniger ſproͤde. Sie verwandelte die Menſchen in Engel, zeichnete mir mit beneidenswerter Schnelligkeit ein Eden von Gluͤck, Frieden und Freiheit und nannte dieſen Himmel auf Erden die „zukuͤnftige Geſellſchaft“.
Die erſte Antwort wurde mir von den Kollektiviſten, den Sozialdemokraten, den Staatskommuniſten; die zweite
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von den „freien Kommuniſten “, die ſich Anarchiſten nennen,
und jenen echt chriſtlichen Schwaͤrmern, welche keiner ſozialen Partei der Gegenwart angehoͤren, deren Zahl aber viel größer iſt, als man glaubt. Die meiſten Religions: fanatiker und Philantropen z. B. gehören zu ihnen.
In dieſer kurzen Darlegung, die ſich ſtreng inner: halb der Grenzen der Wirklichkeit bewegt und natuͤrlich nur mit den Menſchen rechnet, wie ſie ſind, immer ge— weſen ſind und immer ſein werden, muß ich von den zuletzt genannten voͤllig abſehen. Denn die einen, die freien oder revolutionaͤren Kommuniſten, wuͤrden in der ſozialen Bewegung nie dieſe Beachtung gefunden haben — trotzdem faſt jedes Jahrzehnt unſeres Jahrhunderts ſie neu entſtehen, ſich bilden und vergehen ſah: von Babeuf und Cabet an, uͤber den Schneider Weitling und die deutſch⸗ſchweizeriſche Kommuniſtenbewegung der vierziger Jahre hinaus bis zu Bakunin —, wenn ſie nicht eine Taktik befuͤrworten, deren gelegentliche Aus— uͤbung in den letzten zwölf Jahren den von ihnen faͤlſch⸗ lich angenommenen Namen — ‚Anarchiften‘ — in den Augen aller unſelbſtaͤndig Denkenden (und das ſind heute noch neun Zehntel aller Menſchen) fuͤr gleichlautend mit Raͤuber und Moͤrder gemacht haͤtte; und die anderen, die philantropiſchen Utopiſten — nun, ſolche hat es immer gegeben und wird es vorausſichtlich ſolange geben, als die Regierungen Elend und Armut mit Ge— walt ſchaffen.
Indem ich alſo von allen rein idealen Sozialiſten und ihren utopiſchen Wuͤnſchen abſehe und mich an die meinem Verſtand allein erfaßbaren Beſtrebungen der
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zuerſt genannten halte, beantworte ich in ihrem Sinne und mit ihren eigenen Worten die Frage: Was will der Sozialismus? — ſo:
Der Sozialismus will die Vergeſellſchaftlichung aller Produktionsmittel und die geſellſchaftliche, planmaͤßige Regelung der Produktion im Intereſſe der Geſamtheit.
Dieſe Vergeſellſchaftung und Regelung hat zu er— folgen gemaͤß dem Willen der abſoluten Majoritaͤt und zwar durch die Perſon der von ihr gewaͤhlten und ge— nannten Vertreter.
So lautet die erſte und wichtigſte Forderung der Sozialiſten aller Laͤnder, ſoweit ſie auf dem Boden der Wirklichkeit ſtehen und mit den von ihr gegebenen Ber: haͤltniſſen rechnen.
Es iſt mir natuͤrlich unmoͤglich, hier naͤher einzu— gehen:
Einmal auf die Möglichkeit der Durchfuͤhrung dieſer Prinzipien, die jedenfalls nur mit beiſpielloſem Terroris— mus und brutalſter Vergewaltigung des Individuums zu denken waͤre, an die ich aber nicht glaube; und ferner auf die gar nicht zu ermeſſenden Folgen, die eine — auch nur zeitweilige — unbeſchraͤnkte Diktatur der Mehrheit für die Entwicklung der Ziviliſation haben würde...
Wozu auch? Ich brauche nur hinzuweiſen auf die heutigen Verhaͤltniſſe, unter welchen wir alle leiden: die durch den Staat gewaltſam gefchaffenen und verteidigten Vorrechte, mit denen er das Kapital in der Form des Zinſes und das Land in derjenigen der Rente belehnt, einerſeits; und auf den vergeblichen Kampf der von dieſem Kapital abhaͤngigen Arbeit unter ſich, dieſem Kampf,
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in dem fie ſich rettungslos ſelbſt zerfleiſcht, andererſeits — ich brauche nur auf dieſe von uns allen ſo gehaßten Verhaͤltniſſe hinzuweiſen, um den ſelbſtaͤndig Denkenden einen Begriff davon zu geben, wie voͤllig null und nichtig die oͤkonomiſche und damit alle perſoͤnliche Freiheit werden muß, wenn dieſe Sondermonopole ſich verkoͤrpert haben wuͤrden in dem einen umfaſſenden, abſoluten Geſamt⸗ monopol der Gemeinſchaft, welche heute Staat und morgen Allgemeinheit heißt. 5
Ich ſage nur ſoviel:
Was heute eine gewaltſame Ausbeutung der Mehr— heit durch die Minderheit iſt, wuͤrde morgen eine in keiner Beziehung gerechtfertigtere gewaltſame Ausbeutung der Minderheit durch die Mehrheit ſein.
Heute: Unterdruͤckung der Schwachen durch die Starken. Morgen: Unterdruͤckung der Starken durch die Schwachen.
In beiden Faͤllen: privilegierte Gewalt, welche tut, was ſie will.
Nur ein Wechſel in der Herrſchaft wuͤrde alſo ſein, was der Sozialismus im beſten Falle zu erreichen im—⸗ ſtande waͤre.
Hier ſtelle ich meine zweite Frage:
Was will der Anarchismus? —
Und anknuͤpfend an das eben Auseinandergeſetzte gebe ich die Antwort:
Der Anarchismus will die Abweſenheit aller Herr— ſchaft, welche — auch wenn ſie die „Klaſſenherrſchaft“
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aufhebt — die Menſchen unabweisbar in die beiden großen Klaſſen der Ausbeuter und der Ausgebeuteten ſcheidet.
Alle Herrſchaft gründet ſich auf Gewalt. Wo immer aber Gewalt iſt, da iſt Ungerechtigkeit.
Gerecht allein iſt die Freiheit: die Abweſenheit aller Gewalt und allen Zwanges. Ihre Baſis wird gebildet durch die Gleichheit der Bedingungen fuͤr alle Menſchen.
Auf dieſer Grundlage gleicher Lebensbedingungen das freie, unabhaͤngige, ſouveraͤne Individuum, deſſen einzige Forderung an die Geſellſchafft in der Reſpektierung feiner Freiheit beſteht, und deſſen einziges ſelbſtgegebenes Geſetz die Reſpektierung der Freiheit der anderen iſt — das iſt das Ideal der Anarchie.
Erwacht dieſes Individuum zum Leben, ſo hat die Todesſtunde des Staates geſchlagen: an die Stelle der Regierung tritt die Geſellſchaft, an die des Staates treten die freien Vereinigungen zu beſtimmten Zwecken, an Stelle der Zwangsgeſetze die freien Kontrakte.
Die freie Konkurrenz, der Kampf „Aller gegen Alle“, beginnt. Die kuͤnſtlich geſchaffenen Begriffe der Staͤrke und Schwaͤche muͤſſen verſchwinden, ſobald die Bahn freigegeben iſt und die Erkenntnis des echten Egoismus ſich durchgerungen hat: daß das Wohlbefinden des einen das des anderen iſt und umgekehrt.
Sind mit der ſtaatlichen Gewalt die von ihr er— haltenen Privilegien machtlos geworden, ſo eroͤffnet ſich für den einzelnen die Möglichkeit, den vollen Ertrag ſeiner Arbeit zu erlangen, und erfuͤllt ſich damit die
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erſte Forderung des Anarchismus, jene Forderung, die er mit dem Sozialismus gemeinſam hat.
— Wann ich imſtande bin, mir den vollen Ertrag meiner Arbeit zu ſichern? unterbrach ſich Auban, als er einen fragenden Blick des Franzoſen auffing, und fuhr fort: 5
— Wenn ich mein Arbeitsprodukt zu ſeinem vollen Werte austauſchen und mit dem Erloͤs ein gleichwertiges zuruͤckkaufen kann, ſtatt, wie heute, gezwungen zu fein, meine Arbeit unter ihrem Werte zu verkaufen, d. h. mich vermittels Gewalt um einen Teil derſelben beſtehlen zu laſſen.
Nach dieſem Zwiſchenſatz nahm Auban den Faden ſeiner Rede wieder auf.
— Denn mit dem Verſchwinden der Gewalt ſieht ſich das Kapital, unfaͤhig der Arbeit laͤnger den bisherigen Tribut zu erpreſſen, genoͤtigt, am Kampfe teilzunehmen, d. h. ſich auszuleihen und zwar gegen eine Verguͤnſtigung, welche die Konkurrenz der Banken unter ſich in der Schaffung von Austauſchmitteln bis auf das geringſte Maß herabdruͤcken wuͤrde, ebenſo wie ſie die Anhaͤufung neuer Kapitalien in den Haͤnden einzelner unmoͤglich machen muͤßte.
Die Fruchtbarkeit des Kapitals iſt der Tod der Arbeit: der Vampyr, der ſie ausſaugt. Wird ſie unmoͤglich, ſo iſt die Arbeit frei.
Dann erſt, wenn die Hilfsmittel der Natur nicht mehr verftopft fein werden durch die gewaltſamen Vor⸗ richtungen einer allem geſunden Menſchenverſtand Hohn ſprechenden, unnatuͤrlichen Regierung, welche unter dem
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Vorgeben der Sorge fuͤr das Geſamtwohl mit dem Elend einer ganzen Bevölkerung den wahnſinnigen Luxus einer verſchwindenden Minderheit erkauft, dann erſt werden wir ſehen, wie reich ſie iſt, unſere Mutter. Dann wird in Wahrheit der Wohlſtand des einzelnen gleich—⸗ bedeutend ſein mit dem Wohlſtand der Allgemeinheit, aber ſtatt ihr ſich zu opfern, wird er ſie ſich untertaͤnig gemacht haben.
Denn das und nichts anderes will der Anarchismus: die Fortraͤumung aller kuͤnſtlichen Hinderniſſe, die ver— gangene Jahrhunderte aufgetuͤrmt haben zwiſchen dem Menſchen und ſeiner Freiheit, zwiſchen ihm und dem Verkehr mit ſeinen Nebenmenſchen, immer und uͤberall in den Formen des Kommunismus, und immer und uͤberall auf Grund jener ungeheuren Luͤge, von den einen erdacht in ſchlauer und doch ſo toͤrichter Selbſtverblendung, und von den anderen geglaubt in ebenfo törichter Selbſt— erniedrigung: daß der einzelne nicht fuͤr ſich, ſondern für die Geſamtheit lebe! ..
Vertrauend auf die Macht der Vernunft, die auf— zuraͤumen begonnen hat mit dem Wuſt der Ideen, ſehe ich ruhig in die Zukunft. Mag die Freiheit auch noch fern ſein. Kommen wird ſie. Sie iſt die Notwendigkeit, welcher die Menſchheit in dem einzelnen immer zugeſtrebt hat und immer zuſtreben wird.
Denn die Freiheit iſt kein Zuſtand der Ruhe, ſondern ſie iſt ein Zuſtand der Wachſamkeit, ſowie auch das Leben kein Schlaf, ſondern ein Wachen iſt, von dem uns erſt der Tod entbindet. ;
Ihre letzte Forderung aber ſtellt die Freiheit unter
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dem Namen des Anarchismus, indem ſie die Selbſtherr— lichkeit des Individuums verlangt. Unter dieſem Namen wird ſie ihren letzten Kampf kaͤmpfen in jedem einzelnen, der ſich empoͤrt gegen die Vergewaltigung ſeiner Perſon durch die ſozialiſtiſch gewordene Welt, die in unſeren Tagen ſich bildet. Kein einziger wird ſich dieſem Kampfe entziehen koͤnnen; ein jeder muß Stellung nehmen für oder wider
Denn die Frage der Freiheit iſt eine oͤkonomiſche Frage! — —
Laͤngſt hatte ſich aus Aubans Worten der uͤberlegende, abwaͤgende Ton verloren. Die letzten Saͤtze hatte er ſchnell, lebhaft, ergriffen geſprochen. Unter ſeinen Zu— hoͤrern war ihr Eindruck ein ſehr verſchiedener.
Keiner entgegnete ſogleich.
Da ſagte Auban noch:
— Ich habe Stellung genommen in den letzten beiden Jahren und ich habe Ihnen gejagt, wo ich ſtehe. Ob ich mich verſtaͤndlich gemacht habe und ob Sie mich ver— ſtanden haben — ich weiß es nicht. Aber ich weiß, daß mein Platz außerhalb aller Zeitſtroͤmungen iſt. Wen ich ſuche und wen ich finden werde, das iſt der Einzelne: Du — und Du — und Du —, Ihr, die Ihr in einſamem Ringen zu gleicher Erkenntnis gekommen ſeid. Wir werden uns finden, und wenn wir ſtark genug geworden ſein werden, dann ſchlaͤgt auch für uns die Stunde des Han⸗ delns. — Aber genug! —
Er ſchwieg und nahm zuruͤcktretend ſeinen alten Platz ein. 5
Es vergingen einige Minuten, in denen leiſe ver⸗
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ſchiedene Bemerkungen ausgetauſcht wurden, ehe Trupp ſeine Antwort begann. Er hatte waͤhrend Aubans Worten vorgebeugt dageſeſſen, das Kinn in die Hand und den Arm auf das Knie geſtuͤtzt, und ſich nichts entgehen laſſen.
Er ſprach kurz und uͤberzeugt, nachdem er die An— weſenden noch einmal mit ſeinem ſcharfen Blick uͤber— flogen hatte.
Es iſt da eben von zwei verſchiedenen Anarch —ismen geſprochen worden, von denen der eine gar keiner ſein ſoll. Ich kenne nur einen, das iſt der kommuniſtiſche Anarchismus, der ſich unter den Arbeitern zur Partei ausgebildet hat und der allein in „weiteren Kreiſen“, wie man zu ſagen pflegt, bekannt iſt. Er iſt ſo alt, ja aͤlter als unſer Jahrhundert, Babeuf hat ihn ſchon ge— predigt. Ob einige kleinbuͤrgerliche Liberaliſten einen neuen Anarchismus erfunden haben, das iſt mit voͤllig gleich— guͤltig und intereſſiert mich ebenſowenig, wie alle andern Arbeiter. Was Prondhon anbetrifft, auf den der Genoſſe Auban immer wieder zuruͤckkommt, ſo iſt er laͤngſt uͤberall abgetan und vergeſſen, ſogar in Frankreich, und an ſeine Stelle iſt uͤberall der revolutionaͤre, kommuniſtiſche Anarchismus des eigentlichen Proletariats getreten.
Wenn die Genoſſen wiſſen wollen, was dieſer Anarchismus will, der ſich in Widerſpruch zu den Staats- kommuniſten ſtellt, ſo will ich es ihnen gerne mit kurzen Worten ſagen.
Vor allem ſehen wir in dem Einzelnen nicht ein von der Geſellſchaft losgeloͤſtes Weſen, ſondern wir betrachten
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ihn als das Produkt eben dieſer Geſellſchaft, von der er alles hat, was er iſt und kann. Er kann alſo nur zuruͤckgeben, wenn auch in anderer Form, was er zuvor von ihr empfangen hat.
Er kann aus dieſem Grunde auch nicht ſagen: das und das gehoͤrt mir allein. Ein Privateigentum kann es unmoͤglich geben, ſondern alles, was produziert iſt und produziert wird, iſt geſellſchaftliches Eigentum, an das der eine ebenſoviel Anrecht hat wie der andere, da der Anteil, den der einzelne an der Erzeugung der Guͤter hat, auf keine Art und Weiſe gerecht beſtimmt werden kann. Aus dieſem Grunde proklamieren wir die Ge— nußfreiheit, d. h. das Recht eines jeden, ſeine Beduͤrf— niſſe frei und ungehindert zu befriedigen.
Somit ſind wir Kommuniſten.
Andererſeits ſind wir aber auch Anarchiſten. Denn wir wollen eine Geſellſchaftsform, in welcher jedes Mit⸗ glied ſein eigenes „Ich“, d. h. ſeine individuellen Talente und Faͤhigkeiten, Wuͤnſche und Beduͤrfniſſe zur vollen Geltung zu bringen vermag. Daher ſagen wir: Fort mit aller Regiererei! Fort mit ihr auch in Geſtalt einer Verwaltung. Denn aus einer Verwaltung wird immer eine Regierung. Wir verwerfen desgleichen den ganzen Stimmkaſtenzauber und erklaͤren die Fuͤhrer, die ſich angemaßt haben, an die Spitze der Arbeiter zu treten, fuͤr Schwindler.
Als Kommuniſten ſagen wir:
Jedem nach ſeinen Beduͤrfniſſen!
Und als Anarchiſten:
Jeder nach ſeinen Faͤhigkeiten!
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Wenn Auban ſagt, ein ſolches Ideal ſei nicht moͤglich, ſo antworte ich ihm, daß er die Arbeiter immer noch nicht kennt, obwohl er fie kennen koͤnnte, denn er hat lange genug mit ihnen verkehrt. Die Arbeiter ſind keine ſo ſchmutzigen Egoiſten wie die Bourgeois — wenn ſie einmal mit dieſen abgerechnet haben werden, wenn die letzte Revolution geſchlagen iſt, werden ſie ſich ſchon ein⸗ zurichten verſtehen.
Ich glaube, daß ſie nach der Expropriation der Aus⸗ beuter und der Wegnahme der Bank zunaͤchſt Alles Allen zur Verfügung ſtellen werden. Die leeren Palaͤſte werden ſchnell genug Bewohner finden und die vollgeſpeicherten Lagerhaͤuſer bald genug Abnehmer. Nur kein Kopfzer⸗ brechen deshalb!
Dann, wenn jeder Nahrung, Kleidung und Obdach zur Genuͤge haben wird, wenn die Hungrigen geſpeiſt und die Nackten bekleidet ſind — denn es iſt einſtweilen genug fuͤr alle da — werden ſie ſich gruppieren, werden, getrieben von ihrem Drang ſich zu betaͤtigen, in Ge⸗ meinſchaft produzieren und je nach Beduͤrfnis kon⸗ ſumieren.
Der Einzelne wird hoͤchſtens mehr von der Geſellſchaft zuruͤckempfangen, nie aber weniger, als er ihr gegeben hat. Denn was ſollte der Staͤrkere, der mehr produziert, als er konſumieren kann, mit dem Überfluß feiner Arbeit anfangen, als ihn dem Schwaͤcheren zukommen zu laſſen?
Und das ſollte keine Freiheit ſein? — Da wird nicht gefragt, wie viel oder wie wenig ein jeder produziert und ein jeder konſumiert, nein, ein jeder wird ſeine ge— vin 13
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leiſtete Arbeit den großen Lagerhaͤuſern uͤberliefern und ſich dort dafür nehmen, was er zu feinem Lebensunter⸗ halt braucht. Gemäß dem Prinzip der Bruͤderlichkeit —
Hier wurde Trupp durch ein ſchallendes Gelaͤchter Dr. Hurts unterbrochen. Eine allgemeine Bewegung entſtand. Die meiſten wußten nicht, was ſie denken ſollten. Auban war ungehalten.
— Ich finde es nicht zum Lachen, ſondern zum Weinen, Doktor, wenn Menſchen mit offenen Augen in ihr Verderben rennen, ſagte er.
Trupp ſtand auf. Seine ganze gedrungene Geſtalt war geſpannt bis auf den letzten Muskel. Er war nicht beleidigt, denn er fuͤhlte nicht ſich, ſondern ſeine Idee angegriffen.
— Mit Leuten wie Sie wird man allerdings kurzen Prozeß machen! — — rief er.
Aber Dr. Hurt, der ploͤtzlich ebenfalls ernſt geworden war, uͤberging dieſe Worte vollſtaͤndig.
— Wo leben Sie? fragte er bruͤsk. — Auf der Erde oder auf dem Mond? Was fuͤr Menſchen ſehen Sie? — Wollen Sie nie klug werden? —
- Und ſich abwendend, brach er abermals in Lachen aus:
— Man muß fo etwas hören, um es zu glauben: Zwei⸗ tauſend Jahre nach Chriſtus, nach zweitauſend Jahren der traurigſten Erfahrung in Befolgung einer Lehre, welche alles Elend geſchaffen, immer noch derſelbe Un⸗ ſinn in derſelben unveraͤnderten Form! — rief er.
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Mit einem Schlage hatte ſich die Stimmung geaͤndert. An die Stelle ruhiger Zuhörer, die ſich von ihrem Er— ſtaunen uͤber dieſe Unterbrechung erholten, traten erregte Teilnehmer, die fuͤr oder wider Partei nahmen.
Trupp zuckte die Achſeln.
Der Erfolg ſeiner Worte war ein unverkennbarer auf die meiſten geweſen. Auban ſah es mit einem unheim— lichen Erſtaunen: was er ſelbſt geſagt hatte, war ihnen fremde und kuͤhle Vernunft geweſen. Sie wollten eine Vollkommenheit des Gluͤcks — Trupp bot ſie ihnen.
Ob ſie moͤglich war? — Dieſe Frage kam keinem.
Es iſt doch ein boͤſes um die Hoffnung, dachten Auban und Hurt, und ihre Gedanken gruͤßen ſich ſchwei⸗ gend in einem Blicke —: ſie verachtet die Vernunft, welche muͤhſam zwar und allmaͤhlich nur, aber mit un⸗ fehlbarer Sicherheit Stein um Stein und Stockwerk um Stockwerk von dem Rieſengebaͤude des Wahns abtraͤgt ...
Der junge Deutſche hatte mit glaͤnzenden Augen an den Lippen Trupps gehangen. Noch voͤllig freind der
Bewegung erfuͤllte ihn die vernommene Schilderung des
Ideals mit Begeiſterung. O ſicher, hier war alles Gute, Edle, Wahre! ... Er ſtreckte nun Trupp feine Hand hin und ſagte: „Laſſen Sie mich Ihr Genoſſe ſein!“ —
Unbeweglich ſaß der Ruſſe. Keine Miene ſeines finſteren, jugendlichen und doch ſo maͤnnlichen Geſichtes veraͤnderte ſich. Der mit ihm gekommene Arbeiter wartete ruhig auf die Gelegenheit zu ſprechen.
Der alte Amerikaner wandte ſich an Dr. Hurt. Er zitterte vor innerer Bewegung.
— Glauben Sie mir, lieber Herr, der Sozialismus 13*
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iſt eine Sache des Herzens. Die ethiſchen Grundlagen der Moral —
Aber der unverbeſſerliche Doktor unterbrach auch ihn
ohne Achtung vor ſeinen weißen Haaren.
— Ich weiß nichts von den Grundlagen der Ethik, Sir, ich bin Materialiſt. Aber ſoviel hat mich ein hartes und ſaures Leben gelehrt, daß die Frage meiner Freiheit nichts iſt als eine Frage meiner ruͤckſichtsloſen Kraft, und daß Sentimentalitaͤt das groͤßte aller Laſter iſt!
Das unruhige Hin- und Herreden nahm ſichtbar zu. Jeder wollte den in ihm wogenden Gedanken Ausdruck geben.
Um Trupp hatte ſich ein Kreis gebildet, der aus dem jungen Deutſchen, welcher ſoziale Gedichte ſchrieb, Mr. Marell, dem Amerikaner, dem Schweden, dem die fremde Sprache Muͤhe machte, und Trupps deutſchem Genoſſen beſtand. Sie lauſchten ihm, wie er weiter den Kreis ſeiner Zukunftsbilder mit immer verheißender lockenden Farben ausfuͤllte.
Dr. Hurt und der Franzoſe ſprachen wieder mit⸗ einander.
Der Ruſſe ſah Auban an mit einem Blicke, als wolle er ihn ergruͤnden.
Aber dieſer dachte bei ſich, indem er dieſe acht Koͤpfe in ihrem unruhigen Wechſel betrachtete: Welches Bild fuͤr einen Maler! —
Das milde Profil des alten, weißbaͤrtigen Amerikaners und das weiche, glatte des jungen Deutichen . . . das duͤſtere, blaſſe Geſicht des Ruſſen, die Stirne mit wilden Haaren beſchattet, und das geiſtreiche des Franzoſen, mit
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dem modern zugeſtutzten Halbbart .. Dr. Hurts ſchmaler Kopf mit der knochig in raſtloſer Geiftesarbeit herausgearbeiteten Stirn, der Kopf eines Logikers, eines roͤmiſchen Imperatoren, und der haagrumwallte des Nord⸗ laͤnders mit den Eindlicheblauen Augen und ihrem ver⸗ trauenden Ansdruck, welcher ſich gleich blieb bei der er⸗ regten Diskuſſion
Wie ſind wir verſchieden, wir Menſchen! — dachte er weiter, und wir ſollten uns beugen koͤnnen unter das gemeinſame Geſetz eines Zwanges? — Nein, Freiheit immer und immer, im Kleinſten wie im Groͤßten
Laut ſagte er und trennte die Gruppe um Trupp wieder in den vorigen Kreis:
— Es tut mir leid, daß du unterbrochen wurdeſt, Otto — a
Aber Trupp fiel ein:
— Ich hatte geſagt, was ich zu ſagen hatte —
— Nun, um ſo beſſer. — Wollen wir aber nicht doch verſuchen, unſere Anſichten noch etwas eingehender zu entwickeln? Laß uns in Frage und Gegenfrage naͤher auf einzelnes eingehen.
Es herrſchte bald wieder die ruhige Aufmerkſamkeit, mit welcher man vorhin gefolgt war. Aber ſie war diesmal erzwungen, nicht natuͤrlich wie vorher. Mehrere nahmen an der Diskuſſion jetzt teil.
Aubau begann von neuem, immer zu Trupp ge⸗ wendet: — Ich will verſuchen, zu beweiſen, wie unvereinbar
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verſchieden die Weltanſchauungen des Kommunismus und des Anarchismus auch in allen ihren Folgerungen ſind:
Du willſt die Autonomie des Individuums, ſeine Selbſtherrlichkeit und das Recht ſeiner Selbſtbeſtimmung. Du willſt ſeine freie Entwicklung zu ſeiner natuͤrlichen Groͤße. Du willſt ſeine Freiheit. Wir ſind einig in dieſer Forderung.
Aber du haſt dir das Ideal einer Zukunft des Gluͤcks gebaut, wie es deinen Neigungen, deinen Wuͤnſchen, deinen Gewohnheiten am meiſten entſpricht. Indem du ihm den Namen „das Ideal der Menſchheit“ gibſt, biſt du uͤberzeugt, jeder „echte und wahre“ Menſch muͤſſe unter ihm ebenſo gluͤcklich ſein wie du. Dein Ideal 1995 das Ideal aller ſein.
Ich dagegen will die Freiheit, welche es jedem er- moͤglicht, ſeinem Ideale nachzuleben. Ich will in Ruhe gelaſſen werden, ich will verfchont bleiben von den Forderungen, die an mich im Namen des „Ideals der Menſchheit“ geſtellt werden.
Ich denke, das iſt ein großer Unterſchied.
Ich negiere nur. Du bauſt von neuem.
Ich bin rein defenſiv. Du aber biſt agreſſiv.
Ich kaͤmpfe einzig und allein fuͤr meine Freiheit. Du kaͤmpfſt fuͤr das, was du die Freiheit der andern nennſt.
Dein zweites Wort iſt die Abſchaffung, das meint: gewaltſame Zerſtoͤrung.
Es iſt auch meines. Nur meine ich mit ihm: Auf⸗ loͤſung.
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Du ſprichſt von der Abſchaffung der Religion. Du willſt ihre Prieſter verjagen, ihre Lehren ausrotten, ihre Bekenner verfolgen.
Ich vertraue der ſtetig zunehmenden Erkenntnis, welche das Wiſſen an die Stelle des Glaubens ſetzt. Okonomiſche Abhaͤngigkeit zwingt heute die meiſten Menſchen zur An⸗ erkennung irgendeiner noch herrſchenden Kirche und ver— hindert fie an dem Austritt aus dieſerſelben Kirche.
Sind die Feſſeln von der Arbeit gefallen, ſo werden die Kirchen von ſelbſt veroͤden, die Lehrer des Wahns und der Torheit keine Hoͤrer mehr finden, ihre Prieſter ver— laſſen ſein. i
Aber ich wäre der letzte, das Verbrechen gegen die Frei⸗ heit der Individuen gutzuheißen, welches einen Menſchen mit Gewalt zu hindern ſuchte, fuͤr ſeine Perſon Gott als den Schoͤpfer, Chriſtus als den Heiland, den Papſt als unfehlbar, und den Fitzliputzli als den Teufel zu verehren, fo lange er mich mit ſeinem Unſinn verſchont und von mir im Namen ſeines alleinſeligmachenden Glaubens keinen Tribut verlangt.
Man lachte: zweifelnd, amuͤſiert, gereizt und mit⸗ leidig mit ſolcher Schwaͤche dem Feind gegenuͤber.
Aber Auban fuhr unbekuͤmmert fort, denn er war feſt entſchloſſen, nun, da er einmal angefangen, auch das Letzte von dem zu ſagen, was er zu ſagen hatte.
— Du willſt die freie Liebe, gleich mir.
Aber was verſtehſt du unter freier Liebe? Was kannſt du unter ihr anders verſtehen, wenn du konſe— quent genug biſt, das Prinzip der Bruͤderlichkeit — wie
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du es in der Hingabe nud Entaͤußerung der Arbeit vertrittſt — auch auf dies Gebiet anzuwenden, und ſo:
Daß jede Frau die Pflicht habe, ſich dem Verlangen jedes Mannes hinzugeben, und kein Mann das Recht, ſich dem Verlangen einer Frau zu entziehen; daß die dieſen Binden entſproſſenen Kinder der menſchlichen Geſellſchaft gehören und daß dieſer Geſellſchaft die Pflicht ihrer Erz ziehung erwaͤchſt; daß die Sonderfamilie, wie der ein⸗ zelne, aufzugehen habe in der großen Menſchheitsfamilie, nicht wahr?
Ich ſchaudere, wenn ich an die Moͤglichkeit denke, daß dieſe Idee je die herrſchende werden koͤnnte.
Niemand haßt mehr die Ehe, als ich. Aber es iſt nur der Zwang der Ehe, welcher Mann und Weib ver— anlaßt, ſich einander zu verkaufen, die freie Wahl beeinflußt und hemmt, eine Trennung hindert und meiſt unmoͤglich macht, ein Elend ſchafft, fuͤr das es keine Erloͤſung gibt, als den Tod — es iſt nur dieſer Zwang der Ehe, den ich verabſcheue. Nie wuͤrde ich wagen, Einſpruch zu erheben gegen die freie Vereinigung zweier Menſchen, die der freie Wille zuſammenfuͤhrt und der freie Wille bis an ihr Ende zuſammenhaͤlt.
Aber ebenſoſehr wie die freie Vereinigung zweier Menſchen verſtehe ich auch die Neigung vieler Menſchen nach einem Wechſel des Gegenſtandes ihrer Liebe, und Vereinigungen fuͤr eine Nacht, fuͤr einen Fruͤhling — ſie ſollen ſo frei ſein, wie die heute von der oͤffentlichen Meinung allein ſanktionierten Ehen auf Lebenszeit.
Die Gebote der Moral erſcheinen mir laͤcherlich und einzig aus der krankhaften Sucht beſchraͤnkter Menſchen
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nach Regelung und Normierung natürlicher Verhaͤltniſſe hervorgegangen.
Und endlich fegt Ihr mit derſelben ſouveraͤnen Leichtig⸗ keit und einer Oberflaͤchlichkeit der Betrachtungsweiſe, wie fie wirklich nur der Kommunismus übt, auch das Privat: eigentum uͤber den Haufen.
Ihr ſagt: der Staat muß fallen, damit das Eigentum fällt, denn er beſchuͤtzt es.
Ich ſage: der Staat muß fallen, damit es beſteht, denn er unterdruͤckt es.
Ihr habt keine Achtung vor dem Eigentum, das iſt wahr: vor Eurem eigenen Eigentum habt Ihr keine Achtung, denn ſonſt wuͤrdet Ihr es Euch nicht Tag fuͤr Tag nehmen laſſen. Vertreibt das unrechtmaͤßige Eigen⸗ tum, d. h. das Fremdtum. Aber vertreibt es dadurch, daß Ihr ſelber Beſitzer werdet. Das iſt der einzige Weg, es wirklich „abzuſchaffen“, der einzige vernuͤnftige und ge— rechte, zugleich der Weg der Freiheit.
Nieder mit dem Staat, damit die Arbeit frei wird, die allein Eigentum ſchafft! — So rufe ich auch.
Wenn auf dem Gelde keine gewaltſam geſchuͤtzten Vorrechte mehr laſten —
Doch nun war Trupps Geduld zu Ende.
— Was? — rief er empört, — auch das Geld foll beſtehen bleiben, das elende Geld, welches uns alle be— ſchmutzt, erniedrigt, verſklavt hat?!
Auban zuckte die Achſeln. Er wollte aͤrgerlich werden, dann aber lachte er.
— Erlaube mir eine Gegenfrage: Wuͤrde es dich
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empoͤren, zugleich Arbeitgeber und Arbeiter zu ſein? Belohnter und Entlohner und als Teilnehmer Herr des Kapitals, ſtatt wie heute nur ſein Sklave zu ſein? — Ich denke nicht. Das Empoͤrende liegt nur darin, daß heute infolge gewaltſamer Beraubung Erwerb ohne Arbeit moͤglich iſt.
— Was ſoll denn nach deiner Anſicht den Wert der Arbeit beſtimmen? —
— Ihre Nutzbarkeit in der freien Konkurrenz, die ihren Wert aus ſich ſelbſt heraus beſtimmt. Jede andere Beſtimmung von oben herab iſt ungerecht und widerſinnig. Aber ich weiß wohl, daß der Kommunismus auch dieſe Frage ohne Kopfzerbrechen loͤſt: er wirft einfach alles auf einen Haufen — i
— Aber wir haben doch heute die freie Konkurrenz! — rief Trupp.
— Nein, wir haben die Konkurrenz der Arbeit, nicht aber in gleicher Weiſe die des Kapitals unter ſich. Ich wiederhole es. — Ihr ſeht die verderblichen Folgen dieſer einſeitigen Konkurrenz und die des gewaltſam mit Vor⸗ rechten belehnten Eigentums und Ihr ruft: „Fort mit dem Privateigentum!“ — Ihr ſeht nicht, daß es gerade das Eigentum iſt, welches uns unabhaͤngig macht, und Ihr ſeht nicht, daß es daher einzig und allein gilt, die Bahn zu ſeiner Erwerbung frei zu machen, um das Miß⸗ verhaͤltnis zwiſchen Herren und Knechten aufzuheben. Glaube mir: die Organiſation des freien Kredits, d. h. die Moͤglichkeit fuͤr jeden, in den Beſitz von Arbeitsmitteln zu gelangen, dieſe unblutige, tiefeingreifende, groͤßte aller Revolutionen wird eine Umgeſtaltung aller unſerer Lebens⸗
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verhaͤltniſſe zur Folge haben, von der ſich heute noch ſchwer eine Vorſtellung machen laͤßt.
Er ſchwieg und ſah, wie ſeine Worte befremdeten. Alle waren erregt. Nur Dr. Hurt ſaß kalt, logiſch Wort fuͤr Wort pruͤfend, und rechnend da. Die meiſten konnten ſich unter einer Revolution nur ein Chaos von Leichen und Truͤmmerhaufen denken und ſie ſchuͤttelten den Kopf bei Aubans Worten. Daher verſuchte dieſer ſich ver— ſtaͤndlicher zu machen.
— Wiſſen Sie, was die Abſchaffung des Zinſes und damit die des Wuchers zur Folge haben wuͤrde? — Eine ſtete Nachfrage nach menſchlicher Arbeit; die Ausgleichung des Angebotes und der Nachfrage; die Reduktion der Preiſe auf das geringſte Maß, und ſomit eine ungeheure Vermehrung der Konſumtion; den genauen Austauſch nach wirklichen Werten und ſomit eine moͤglichſt gerechte Ver: teilung des Reichtums. Als Folge dieſer großen oͤko— nomiſchen Revolution aber einen taͤglich wachſenden Wohlſtand des ganzen Landes, wie des Einzelnen ..
Nun lachte Trupp, empoͤrt und gereizt.
— Eine ſchoͤne Revolution! Und an ſolche Hirn— geſpinſte willſt du uns Arbeiter glauben machen?! — Wenn ich dich nicht vor mir ſaͤhe, ich haͤtte geglaubt, einen Bourgeois⸗Okonomen zu hören, — Nein, mein Lieber, die Revolution, die wir eines Tages ſchlagen werden, kommt ſchneller ans Ziel, als alle deine oͤko— nomiſchen Evolutionen! Wir kennen einen kuͤrzeren Prozeß: kommen und zuruͤcknehmen, was man uns ge ſtohlen hat mit offener Gewalt und mit wiſſenſchaftlichen Liſten!
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— Wenn die Bourgeoiſie nur einen nicht noch kuͤrzeren Prozeß mit Ihnen macht! warf Dr. Hurt ein. — Exempla docent! Das heißt: Lernt von der Geſchichte!
Das war ſeine Antwort auf Trupps vorhin ſcheinbar ganz uͤberhoͤrte Drohung.
Nur langſam legte ſich die Erregung, welche dieſe Worte hervorriefen. Man ſah in ihnen eine Inſchutznahme der Bourgeoiſie und entgegnete ihnen von allen Seiten.
Der Deutſche, welcher auf dem Boden der New Vorker „Freiheit“ und der „Pittsburger Proklamation“ ſtand und der erſten Sektion des „Kommuniſtiſchen Arbeiter⸗Bildungs⸗Verein“ angehörte, nahm jetzt das Wort.
— Von dem eigentlichen Anarchismus, der ſchon be⸗ ſtand, als man von dem Boſtoner kleinbuͤrgerlichen Libe⸗ ralismus um fuͤnfzig Jahre hinter ihrer Zeit zuruͤck⸗ gebliebener Mancheſterleute und der uͤberſpannten Sektiererei der „Autonomiſten“ noch nichts wußte — er zielte hier nach Auban und Trupp — und der heute noch die meiſten Anhaͤnger zaͤhlt, iſt uͤberhaupt noch nicht die Rede geweſen. Dieſer will den Kommunismus der freien Geſellſchaft, welche auf der Errichtung einer genoſſenſchaft⸗ lichen Organiſation der Produktion beruht. Er verwirft auch die Arbeitspflicht nicht, denn er ſagt: Keine Rechte ohne Pflichten. Er verlangt ferner, das die gleichwertigen Produkte von den Produktions-Genoſſenſchaften ſelbſt und ohne Zwiſchenhandel und Profitmacherei ausgetauſcht werden, und daß die Kommunen durch freie Geſellſchafts⸗ vertraͤge alle Öffentlichen Angelegenheiten regeln. In einer ſo organiſierten freien Geſellſchaft aber, in welcher ſich
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die meiſten ſehr wohl fuͤhlen werden, wird der Staat unnuͤtz.
— So geſtehen Sie der Mehrheit das Recht zu, ihren Willen mit Gewalt zu erzwingen?
— Ja. Der Einzelne hat ſich dem Wohle der All— gemeinheit zu unterwerfen, denn dieſes ſteht hoͤher.
Auban ſagte ruhig:
— Das iſt ein Standpunkt, der eine von den beiden, welche ich gezeichnet habe. Sie gehen den Weg des Sozi— alismus —
— Ein ſchoͤner Standpunkt fuͤr einen Anarchiſten! rief Trupp. — Und die Freiheit des Individuums, wo bleibt fie? — Das iſt nichts anderes als der zentraliſtiſche Kommunismus, den wir uͤberfluͤgelt haben. Die Flamme der Zwietracht, die vor einiger Zeit die Klubs ausein⸗ andergeriſſen und zur Gruͤndung eines eigenen Blattes geführt hatte, drohte wieder aufzulodern.) — Ich für mein Teil glaube, und dabei bleibe ich, daß in der kommenden Geſellſchaft ein jeder freiwillig ſein Teil Arbeit leiſten wird.
Der Franzoſe fragte ihn jetzt hoͤflich:
— Aber geſetzt den Fall, die Menſchen arbeiten nun nicht freiwillig, wie Sie es erhoffen? Wo bleibt dann das freie Recht, zu genießen?
— Sie werden es. Verlaſſen Sie ſich darauf, war Trupps Entgegnung.
— Ich glaube, es iſt beſſer, mich nicht darauf zu verlaſſen.
— Sie kennen die Arbeiter nicht.
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— Aber aus den Arbeitern werden Bourgeois, ſobald ſie zum Beſitz gelangt ſind, und ſie werden dann die erſten ſein, welche ſich gegen die Expropriation ihres Eigentums wehren werden. Sie laſſen die Natur des Menſchen außer acht, mein Herr; der Egoismus iſt die Triebfeder alles Handelns. Stellen ſie dieſe Feder ab, ſo arbeitet die Maſchine des Fortſchritts nicht mehr. Die Welt wuͤrde zerfallen in Ruinen. Die Ziviliſation haͤtte ein Ende erreicht. Ein Moraſt der Stagnation wuͤrde die Erde werden — aber es iſt das unmoͤglich, ſo lange die Menſchen auf ihr leben.
— Warum geht Ihr denn nicht mit gutem Beiſpiel voran und zeigt die Möglichkeit der praktiſchen Aus⸗ fuͤhrung Eurer Theorien? — wurde Trupp weiter gefragt.
Der ging dieſer Frage aus dem Wege, indem er ſie zuruͤckgab. Auban war es, der ſofort antwortete.
— Weil der Staat die Mittel der Zirkulation mono: poliſiert hat und uns an der Schaffung eines ſolchen mit Gewalt hindern wuͤrde. Unſere Angriffe richten ſich daher in erſter Linie gegen ihn und nur gegen ihn.
Die Diskuſſion zwiſchen Auban und Trupp ſchien ihr Ende erreicht zu haben und drohte ſich gaͤnzlich zu zerſplittern. Da machte Auban ſeinen letzten Verſuch, auf den Boden der Wirklichkeit zu zwingen, was un⸗ klare Wuͤnſche in leere Raͤume der Phantaſie erhoben.
— Noch eine einzige und letzte Frage an dich, Otto, erklang ſeine laute und harte Stimme, — nur dieſe einzige noch:
Wuͤrdet Ihr in dem Geſellſchaftszuſtand, den Ihr „freien Kommunismus“ nennt, die Einzelnen daran hindern, ihre
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Arbeit unter Zuhilfenahme eines von ihnen geſchaffenen Austauſchmittels untereinander auszutauſchen? Und ferner: Wuͤrdet Ihr ſie daran hindern, Grund und Boden in perfönlichen Beſitz zum Zwecke perſoͤnlicher Benutzung zu nehmen?
Trupp ſtutzte.
Die Anweſenden erwarteten wie Auban geſpannt ſeine Antwort.
Aubans Frage war unentrinnbar. Antwortete Trupp mit „Ja!“ ſo gab er zu, daß der Geſellſchaft das Recht der Gewalt uͤber den Einzelnen zuſtand, und warf damit die von ihm ſtets gluͤhend verteidigte Autonomie des Individuums uͤber den Haufen; antwortete er dagegen mit „Nein!“ ſo geſtand er das von ihm noch eben ſo emphatiſch negierte Recht des Privateigentums zu.
Er ſagte daher:
— Du ſiehſt alles mit den Augen des heutigen Menſchen an. In der zukuͤnftigen Geſellſchaft, wo alles zur freien Verfuͤgung aller geſtellt iſt, wo es einen Handel im heutigen Sinne alſo nicht mehr geben kann, wird jedes Mitglied meiner innerſten Überzeugung nach freiwillig auf die alleinige und ausſchließliche Okkupation von Grund und Boden verzichten..
Auban war wieder aufgeſtanden. Er war um etwas blaſſer geworden, als er jetzt ſagte:
— Wir ſind noch nie unehrlich gegeneinander ge— weſen, Otto. Laß es uns heute nicht werden. Du weißt ſo gut wie ich, daß dieſe Antwort eine Ausflucht iſt. Ich aber halte dich jetzt: beantworte mir die geſtellte Frage und beantworte ſie mit Ja oder Nein, wenn du
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willſt, daß ich jemals wieder eine Frage mit dir be⸗ ſpreche —
Trupp kaͤmpfte offenbar mit ſich. Dann antwortete er — und es war ein Blick auf ſeinen Genoſſen, welcher ihn noch ſoeben angegriffen, und dem gegenuͤber er nie und nimmer das Prinzip der perſoͤnlichen Freiheit in Schatten geſtellt haͤtte, der ihn jetzt ſagen ließ —:
— In der Anarchie muß jede Anzahl Mitglieder im⸗ ſtande ſein, ſich nach Belieben zu organiſieren und ſo ihre Ideen ins Praktiſche zu uͤberſetzen. Auch ſehe ich nicht ein, wer einen andern gerechterweiſe von dem Land und dem Hauſe, das er bebaut und bewohnt, vertreiben koͤnnte
— So habe und halte ich dich! rief Auban. Mit dem, was du eben ſagteſt, ſtellſt du dich in ſchroffen Gegenſatz zu den bis jetzt von dir verteidigten Grund⸗ fägen des Kommunismus.
Du haſt das Privateigentum zugeſtanden: an Roh⸗ produkten und an Land. Du haſt das Recht auf den Arbeitsertrag ungeſchmaͤlert befuͤrwortet. Das iſt Anarchie.
Die Redensart: Alles gehoͤrt Allen — iſt gefallen, geſtuͤrzt von deiner eigenen Hand.
Ein einziges Beiſpiel nur, um alle Mißverſtaͤndniſſe unmoglich zu machen: Ich beſitze ein Stuͤck Land. Ich verwerte ſeinen Ertrag.
Der Kommuniſt ſagt: das iſt ein Raub am all⸗ gemeinen Gut.
Aber der Anarchiſt Trupp — jetzt zum erſten Male nenne ich ihn ſo! — ſagt: Nein. Keine Macht der Erde hat ein anderes Recht, als das der Gewalt, mich von
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meinem Beſitztum zu vertreiben, mir den Ertrag meiner Arbeit auch nur um einen Pfennig zu ſchmaͤlern.
Ich ende. Mein Zweck iſt erfuͤllt.
Ich habe bewieſen, was ich beweiſen wollte: daß es zwiſchen den beiden großen Gegenſaͤtzen, in denen ſich die Welt der Menſchen bewegt, zwiſchen Individualismus und Altruismus, zwiſchen Anarchismus und Sozialismus, zwiſchen Freiheit und Autoritaͤt keine Verſoͤhnung gibt.
Ich hatte behauptet, daß alle Verſuche, das Unver⸗ einbare zu vereinen, ſich von dem Boden der Wirklichkeit in die Wolken der Utopie verlieren muͤſſen und daß jeder ernſte Menſch ſich zu entſcheiden habe: fuͤr den Sozialismus und damit fuͤr die Gewalt und gegen die Freiheit, oder fuͤr den Anarchismus und damit fuͤr die Freiheit und gegen die Gewalt!
Nachdem Trupp lange verſucht hat, dieſer Forderung zu entgehen, habe ich ihn durch meine letzte Frage ge— zwungen, ſich zu erklaͤren. Ich koͤnnte dasſelbe Experiment mit jedem einzelnen von Ihnen machen. Es iſt unfehlbar.
Trupp hat ſich fuͤr die Freiheit entſchieden. Er iſt — was ich nie geglaubt haͤtte — in der Tat ein Anarchiſt.
Auban ſchwieg. Trupp ſagte noch:
— Wir aber werden in der Anarchie die Grundſaͤtze des Kommunismus praktiſch ausfuͤhren und unſer Bei— ſpiel wird Euch fo ſehr von der Möglichkeit der Ver— wirklichung unſerer Prinzipien uͤberzeugen, daß Ihr ſie gleich uns befolgen und Euer Privateigentum freiwillig aufgeben werdet ...
Auban entgegnete nichts mehr.
Er wußte ganz gut, daß dieſe aͤußerliche Verſoͤhnung VII 14
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nur ein neuer und letzter Verſuch ſeines Freundes war, den tiefen Zwieſpalt zu uͤberbruͤcken, der fie innerlich ſchon lange geſchieden und nun auch aͤußerlich hierhin und dorthin geſtellt hatte, wie er die Neuen von den Alten ſchied.
— Ich und keiner kann retten, was ſich ſelbſt dem Untergange weiht ... dachte er bei ſich. Er beteiligte ſich von jetzt an nur noch am Geſpraͤch, wenn er direkt gefragt wurde. Es wurde ungemein lebhaft.
Noch nie war man ſo lange geblieben wie heute. Die achte Stunde war laͤngſt voruͤber und noch dachte außer Dr. Hurt und dem Franzofen keiner an Aufbruch.
Als der Doktor ſich von Auban verabſchiedete, ſagte er leiſe: „Hoͤren Sie, lieber Freund, ich komme an Ihren Sonntagen nicht mehr. Alles was recht iſt. Aber allzu wahnſinnig dürfen die Sprünge nicht fein, denen ich zus ſehen ſoll. Ihr ‚Genoffe‘ ſprang mit beiden Füßen geradewegs in den Himmel. Das iſt mir zu hoch —“
Damit ging er und Auban ſah ihm laͤchelnd nach. Auch der Franzoſe erhob ſich nochmals dankend. Auban wehrte ab:
— Nur Pfaͤhle und leere Geruͤſte haben wir aufge— ſchlagen. Aber es war unmoͤglich fuͤr heute, tiefer ein— zudringen. a
— Sie werden einen großen Kampf zu kaͤmpfen haben, den Sie ſich erleichtern koͤnnen, wenn Sie dies Wort fallen ließen, das unzaͤhlige, die Ihnen ſonſt nahe ſtehen, ja vielleicht ganz mit Ihnen uͤbereinſtimmen, abſchreckt und verjagt.
— Das Wort: Anarchie bezeichnet haarſcharf, was
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wir wollen. Feig und unklug waͤre es, dasſelbe um der Schwaͤchlinge willen fallen zu laſſen. Wer nicht ſtark genug iſt, es auf ſeinen wahren Sinn zu pruͤfen und es zu verſtehen, der iſt auch nicht ſtark genug zu eigenem, ſelbſtaͤndigem Denken und Handeln.
— Ich gehe in wenigen Tagen nach Paris zuruͤck. Darf ich unſerem Freunde Ihre Gruͤße uͤberbringen, Monſieur Auban?
— Ja. Sagen Sie ihm, er ſei ein ſchlechter Egoiſt, weil er zum Verraͤter an ſich ſelbſt geworden iſt. Er hat eine große Verantwortlichkeit auf ſich genommen. Der echte Egoiſt aber ſcheut jede Verantwortlichkeit, außer der für feine eigene Perſoen .
Der Fremde verabſchiedete ſich mit hoͤflicher Vers beugung.
— Wer war das? fragte Trupp.
Auban nannte den Namen.
— Er kam kurz vor Euch und heute zum ersten und zum letzten Male.
— So kennſt du ihn nicht? — Trupp ſchüttelte miß⸗ billigend den Kopf.
— Nein, nicht weiter.
— Das haͤtteſt du mir gleich ſagen ſollen!
Aber Auban entgegnete ihm ſcharf:
— Wir haben hier nichts zu verheimlichen. Wir ſind keine Freimaurer. Was wir geſprochen haben, kann jeder hoͤren, der es hoͤren will!
Er ließ ſich auf Dr. Hurts verlaſſenen Platz am Feuer nieder und ſtuͤtzte den Kopf in die Haͤnde. Alle ſprachen jetzt, ſelbſt der Ruſſe. Wie aus der Ferne
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klangen die verſchieden bewegten Stimmen an ſein Br
Aus dem, was geſprochen wurde, hörte er Trupps Sieg und ſeine eigene Niederlage heraus. Jetzt ertoͤnte die begeiſterte Stimme des Schweden:
— Es mag ſein, daß es weniger Genies geben wird. Das iſt kein Ungluͤck. Um ſo mehr Talente werden wir haben. Jeder wird Hand- und Kopfarbeiter zugleich ſein. Die Faͤhigkeiten werden ſich verteilen, ſtatt ſich zu konzentrieren. Im Durchſchnitt werden ſie groͤßer ſein —
— Und tauſend Eſel werden kluͤger ſein, als zehn Weiſe. Warum? Weil ſie tauſend ſind! fuͤgte Auban im Geiſte hinzu.
Man hatte ihn vergeſſen. Während er geſprochen hatte, war der kuͤhle Hauch der Vernunft über fie hinweg: gezogen. Nun war es wieder warm: die Waͤrme eines zukuͤnftigen, winterloſen, paradieſiſchen Lebens. Und ſie uͤberboten ſich in Schilderungen dieſes Lebens: ſie be— rauſchten ſich gegegenſeitig an ihren Worten; ſie vergaßen, wo ſie waren
Auban hoͤrte weiter.
Man ſpottete uͤber die ewige Frage der Gegner: wer dann ſpaͤter die ſchmutzige und unangenehme Arbeit ver: richten werde? — Es wuͤrden ſich genug Freiwillige fuͤr Alles finden — meinte der eine. Und der andere: es wuͤrde keine ſolche Arbeit mehr geben, Maſchinen ſeien erfunden für alles...
Nie war Auban mehr davon überzeugt geweſen, als in dieſem Augenblicke, daß die meiften Menſchen fich ſelbſt die groͤßten Feinde ſind, und nie hatte er mehr
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empfunden, daß die Herrſchaft der Liebe weit furchtbarer noch ſein muͤßte, als die Herrſchaft des Haſſes es war.
Er ſtrebte danach, die Vorrechte zu ſtuͤrzen. Aber dieſe Kommuniften negierten mit den Vorzuͤgen zugleich alle Werte, ſelbſt den der Arbeit. Sein Kampf ging gegen die Menſchen und gegen das, was ſie geſchaffen hatten in Torheit und Irrtum — ein Sieg war unaus— bleiblich; ihr Kampf aber richtete ſich gegen die Natur ſelbſt — ein Sieg, er war ewig unmoͤglich! —
Tiefer, weit tiefer noch lag der Riß, als wie er heute von ihm aufgedeckt war. Zwiſchen einer alten und einer neuen Weltanſchauung hatte der Kampf begonnen. Und das Chriſtentum in allen ſeinen Formen war das alte! —
Der groͤßte Verbrecher an der Menſchheit war der geweſen, welcher vorgegeben hatte, ſie am meiſten zu lieben. Seine Lehre der Selbſtentaͤußerung — ſie hatte die Entſagenden geſchaffen: das Elend, welches jetzt nach Befreiung ſchrie ... Der Gott mußte fallen in jeder Geftalt!... .
Noch über eine Stunde blieb man beieinander. All maͤhlich lenkte das Geſpraͤch auf die Ereigniſſe des Tages: Chicago und ernſte Riots in London ſtanden vor der Tuͤr. Man kam uͤberein, die Zuſammenkuͤnfte bei Auban fuͤr einige Wochen zu unterbrechen.
Als ſich der Amerikaner erhob und damit das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch gab, waren die meiſten uͤber— raſcht, zu ſehen, wie ſpaͤt es war.
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Auban ſchuͤttelte Allen die Hand, die Trupps hielt er einen Augenblick laͤnger als gewoͤhnlich, mit feſtem Druck, als wolle er noch einmal ſagen: Entſcheide dich! Entſcheide dich voͤllig! — Denn er gab in der Tat große Stuͤcke auf ihn.
Der junge Deutſche war offenbar ſehr wenig zu⸗ frieden mit Auban und ſuchte es auch nicht zu verbergen. Auban hatte nur ein Laͤcheln dafuͤr. Um ſo freundlicher war Mr. Marell.
— Well, Auban, ſagte er, und ergriff ſeine beiden Haͤnde, — Sie ſind ein ſeltſamer Menſch. Es iſt viel Richtiges in allem was Sie ſagen; aber es iſt Eis und Kälte, was Sie lehren, Eis und Kaͤlte; das Herz geht leer aus —
— O nein, Mr. Marell, die Freiheit iſt warm, wie die Sonne. Kalt ſind die Mauern des Kerkers allein. Das Herz wird reichere Schaͤtze zu geben haben, wenn es auf keine Gebote hin mehr ſchlaͤgt und ſchweigt. Un⸗ ſerer Vernunft aber ſollte es nie die Leitung unſeres Lebens entwinden — haben wir doch erſt heute wieder ge— ſehen, wie unfaͤhig es iſt, ihr in die Gebiete der Okonomie hinein zu folgen.
Auban war allein. Er ſtieß beide Fenſter auf. Waͤhrend der Rauch in dichten Wolken dem Zimmer ent: floh und der Aufwaͤrter hinter ihm die Glaͤſer fort⸗ raͤumte, lehnte er ſich an die Bruͤſtung des Fenſters und ſah hinaus auf die Straße. Jetzt, wo die Abendluft feine Stirne kuͤhlte, fühlte er, wie heiß er geworden war und wie ihn das Geſpraͤch ergriffen hatte.
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Und dafür deine Jugend! — dachte er bei ſich. Das Opfer ſchien ihm wieder, wie jo oft, zu groß für- die Erkenntnis, die es ihm gebracht hatte. Ja, ſie war kuͤhl und herb, wie der Amerikaner geſagt hatte, dieſe
Erkenntnis. Aber war ſie nicht wie ein erfriſchendes
Stahlbad geweſen nach dem erſchlaffenden Daͤmmerleben des Glaubens in tatenlofer Hoffnung? —
Und er erinnerte ſich, wie jung er noch war und wieviel ihm noch zu wirken bevorſtand, und auch wenn dieſes Wirken ſcheinbar ſo nutzlos ſein ſollte, wie der Verſuch, den er heute in engem Kreiſe gemacht hatte: dennoch erfuͤllte ihn eine große Kraft und eine ſtarke Freude, und zuruͤcktretend in das Zimmer, ſagte er vor ſich hin:
— Ja, fuͤr dieſe Erkenntnis der Freiheit deine Jugend!
Und die Waͤnde, die wie erſchrocken waren uͤber das ploͤtzliche Schweigen nach dem Laͤrm des Geſpraͤches, gaben ihm ſeine Worte zuruͤck:
— Ja, dafuͤr deine Jugend!
Sechſtes Kapitel Das Reich des Hungers
Das Eaſt End Londons iſt die Hoͤlle der Armut. Einer ungeheuren, ſchwarzen, regungsloſen Rieſenkrake vergleichbar liegt dort die Armut Londons in lauerndem Schweigen und umſchließt von dort aus mit ihren maͤch— tigen Fangarmen das Leben und den Reichtum der City und des Weſt End: die linksſeitigen breiten ſich uͤber die Themſe und umfaſſen das ganze jenſeitige Ufer — Rotherhithe, Deptford, Peckham, Camberwell, Lambeth, das andere London, den durch die Themſe geſchiedenen Suͤden; die rechten umſchleichen die noͤrdlichen Grenzen der Stadt in duͤnneren Faͤden. Sie vereinigen ſich dort, wo Batterſea mit Chelſea und Brompton ſich uͤber die Themſe hinüber verbindet ..
Das Eaſt End iſt eine Welt fuͤr ſich, getrennt von dem Weſten, wie der Diener von ſeinem Herrn. Man hoͤrt von ihm zuweilen, aber nur wie aus weiter Ferne, etwa ſo, wie man die Kunde von einem fremden Lande ver— nimmt, wo andere Menſchen mit anderen Sitten und anderen Gebraͤuchen leben ſollen ...
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Es war der erſte Samstag im November, zu welchem Auban ſeinem Freunde Trupp ſeinen Beſuch zugeſagt hatte. Er gedachte mit demſelben eine gemeinſchaftliche Eaſt End⸗Wanderung zu verbinden, die in dem Klub ruſſiſcher Revolutionaͤre ihren Abſchluß finden ſollte. Den Samstag hatten fie gewählt, weil mit den Nachmittags— ſtunden dieſes Tages die Arbeit in London aufhört: Aubans Geſchaͤft und Trupps Fabrik fuͤr die Zeit von 36 Stunden ſich ſchloß.
Auban verließ gegen ein Uhr ſein Geſchaͤft in einer der Nebenſtraßen von Fleet Street. Die Eile und das Getriebe des Geſchaͤftslebens ſchienen ſich verzehnfacht zu haben. Kaum vermochte er ſich durch das Gewuͤhl von Karren, hochbeladen mit friſchbedruckten Zeitungsballen, welche einen ſeltſamen Geruch von Feuchtigkeit ausſtroͤmten,
von Laſtwagen, deren fluchende Lenker nicht von der
Stelle kamen, von eiligen, aufgeregten, ſich uͤberhaſtenden
Scharen von Clerks, Dienſtmaͤnnern, Telegraphenboten, Kaufleuten nach Fleet Street durchzudraͤngen. Er wollte, um nicht allzu viel Zeit zu verlieren, nicht erſt nach Haufe gehen. So aß er in einem der naͤchſten uͤberfuͤllten Reſtaurants, waͤhrend er die neueſten Zeitungen durchflog. Überall die Unemployed . .. Trafalgar Square: Polizei⸗ attacken; die Verſammelten mit Gewalt vertrieben; neue Verhaftungen wegen aufreizender Sprache ... Obdach— loſe Frauen im Hyde Park; ſechzehn Naͤchte im Freien: verhungert und erfroren; die einen zum Hoſpital, die anderen ins Work⸗Houſe, die letzten in den Tod... Vorbereitungen fuͤr die Ermordung der Chicagoer Anar— chiſten: da die Galgen nicht ausreichen, iſt der Beſchluß
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gefaßt, ſie in zwei Abteilungen zu haͤngen, zuerſt vier, dann drei; enorme Maßnahmen, die Ordnung aufrecht zu erhalten; Gnadengeſuche der Verurteilten, von vieren von ihnen unterzeichnet; der Gouverneur unerbittlich ... Auban ließ die Blaͤtter ſinken.
Das war ſie taͤglich und ſtuͤndlich: die ungeheure Erniedrigung des Lebens, in welcher der eine zum Schlaͤchter, der andere zum Opfer wird! Der eine wie der andere bezwungen vom Wahn ... Und nirgends für beide ein Ausweg! Beide gehorchend dem von Menſchen geſchaffenen Scheingott der Pflicht. Und beide von ihm beherrſcht, im Leben und im Sterben! —
Auban beſtieg den naͤchſten Omnibus, deſſen Endziel Liverpool Street Station war. Er ſaß auf der Imperiale. Als er an der Statue der Koͤnigin und des Prinzen von Wales voruͤberfuhr, welche an Stelle des verkehr— hemmenden Tores von Temple Bar errichtet worden iſt, von dem aus in fruͤheren, dunkleren Zeiten die blutigen Haͤupter beſtrafter Verbrecher dem Volke gezeigt wurden, dachte er an den langſamen Aufſtieg der Menſchheit, den die ringende und klimmende genommen hatte in der Knechtſchaft. Wie weit wuͤrde ſie ſich einſt entwickeln in der Freiheit! — Wie lange konnte es noch dauern, und auch dieſe Bildwerke der Goͤtzen waren geſtuͤrzt, die Kronen, der Purpur gefallen, die Szepter zerbrochen, die letzten Reſte des Mittelalters vertilgt...
Dann galt es, den anderen Tyrannen zu bekaͤmpfen, den blinderen: das „ſouveraͤne Volk“. Das wuͤrde die graue Zeit ſein, die Zeit der Gewoͤhnlichkeit, der Nivellie— rung in der Zwangsjacke der Gleichheit, die Zeit der
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gegenſeitigen Kontrolle, des kleinen Haders an Stelle der großen Kämpfe, der ununterbrochenen Widerwaͤrtig⸗ keiten ... Dann würde der vierte Stand der dritte geworden ſein, der Stand der Arbeiter zum Stand der Bourgeois ſich „erhoͤht“ haben, und das Kennzeichen dieſer wuͤrden dann jene tragen: die Gewoͤhnlichkeit der Ideen, die phariſaͤiſche Zufriedenheit der Unfehlbarkeit, die ſatte Tugend! Und dann wuͤrden die echten Empoͤrer, die großen und ſtarken, in Scharen wieder erſtehen, die Kämpfer um das eigene, in jeder Bewegung bedrohte Ich ...
Der Omnibus ſchob ſich langſam, aber ſicher Fleet Street hinunter. An Ludgate Hill war das Menſchen⸗ gedraͤnge enorm. Nach Holborn Viadukt hin, jenem Wunderwerk eines modernen Straßenbaus, zogen ſich Nebel: die Eiſenbruͤcke von Farringdon Street war bereits von ihnen umhuͤllt. In der entgegengeſetzten Richtung, wo unter Blackfriars Bridge die Themſe rauſchte, war es hell. Als die auf dem naſſen Holzpflaſter ſtampfenden Pferde den bis auf den letzten Platz beſchwerten Wagen unter der Eiſenbahnbruͤcke der London Chatham und Dover Bahn durchzogen, muͤhſam St. Pauls zu, ſchien das Gedraͤnge unentwirrbar.
Aber St. Pauls tauchte auf mit ſeinen dunklen Maſſen, von deren ſchwarzem Hintergrunde ſich die weiße Marmorgeſtalt der Königin Anna abhob ... Das Herz der City, hier ſchlug es
Weiter. Vorbei an den gigantiſchen Maſſen, die in ihrer ſtarren Ruhe nur noch einer vergeſſenen Ver— gangenheit anzugehoͤren ſchienen.
Cheapſide hinunter floß ein ſchwarzer Menſchenſtrom.
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Endlich tauchte der große Geldkaſten, das fenſterloſe, niedrige, traͤge Gebaͤude der Bank, auf. Sein Tor war bereits geſchloſſen. Nun lag es da wie tot.
Auban war wieder ergriffen von dem ungeheuer— lichen Leben, welches ihn umtoſte.
Die unzaͤhligen Banken, welche ſich hier, wie die Kinder um ihre Pflegerin-Mutter, um die Bank von England lagerten, hatten gefchloffen. Alles eilte zum Dinner, nach Haufe, zur Ruhe ... Tauſende und Aber: tauſende von durch die Wochenmuͤhe ermatteten Menſchen jagten durcheinander, jetzt getrieben ein jeder von dem perſoͤnlichen Wunſche, auf ein paar Stunden die Zahlen⸗ reihen zu vergeſſen, die ſein Leben ausmachten, ſein Gehirn fuͤllten bis in den letzten Winkel.
Junge Clerks, kleine Laufbuben in den verſchiedenſten Uniformierungen, bekuͤmmerte Buchhalter, ernſte Geſchaͤfts— leute, „ſchwere“ Handelsherren, Spekulanten, Wucherer, große Geldfuͤrſten, welchen die Welt zu Fuͤßen liegt — wer wagt es, ihnen zu widerſtehen? — Alles hier durch- einander eilend, in raſendem Wirbel, ſcheinbar ein Chaos von Unordnung, in Wirklichkeit ſich loͤſend in bewunderns⸗ werter Ordnung. — |
Der Omnibus hielt hier länger. Man ftieg aus und ein. Scharen draͤngten nach, mußten zuruͤckbleiben. Aber alle fanden den Platz, welchen ſie ſuchten, in der faſt unuͤberſehbaren Reihe, in der ſich ein Omnibus faſt an den andern ſchloß ...
Auban uͤberſchaute von ſeinem Sitze das Menſchen— meer. Er verfolgte den und jenen mit ſeinen Blicken: einen jungen Kaufmann, offenbar war es ein Fremder, der
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wie verloren in dieſem Gewimmel ſtand, nicht wiſſend, nach welcher Richtung hin er ſich wenden ſollte; dann einen aͤlteren Herrn im Zylinder, tadellos einfach-ſchwarzem Gehrock, mit weißem Bart und einem Geſichtsausdruck, aus Hochmut und Klugheit gemiſcht, der zu ſagen ſchien: „Ich bin die Welt. Ich habe ſie gekauft. Sie iſt mein. — Was wollt ihr? Ich beſolde euch Alle: den Koͤnig und feinen Hofſtaat, den Feldherrn und feine Armee, den Gelehrten und ſeine Gedanken, und alle meine Leute, welche arbeiten, damit ich bin. Denn die Menſchen ſind dumm. Ich aber bin klug und ich habe ſie er— kannt..“
Auban wandte ſeine Blicke wieder der Bank zu. Hier war das Verſteck jenes großen Geheimniſſes, das alles Gluͤck und Ungluͤck in ſich ſchloß. Unloͤsbar fuͤr die meiſten war es fuͤr ſie die hoͤhere Macht, welche ihr Schickſal beſtimmt. Mit Grauen, mit Bewunderung, mit ſprachloſem Erſtaunen hörten fie von den unermeß— lichen Reichtuͤmern, an denen ſie keinen Anteil hatten. Woher kamen ſie? Sie wußten es nicht. Wohin gingen ſie? In die Haͤnde der Reichen — das ſahen ſie. Aber was brachte ſie hier zuſammen? Was verlieh ihnen dieſe unermeßliche Gewalt, die Welt zu formen nach dem Gutduͤnken ihrer Beſitzer? — Nein, ſie wuͤrden es nie loͤſen, dieſes entſetzliche Raͤtſel ihres eigenen Elends und des Gluͤcks der anderen. Hier lag der Vampyr, der ihnen allen den letzten Blutstropfen aus den Adern ſog, das Ungeheuer, welches ihre Frauen in die Ent— ehrung trieb und ihre Kinder langſam erdroſſelte — — Und ſie eilten ſchneller voruͤber an den dunklen Waͤllen,
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hinter denen das Gold lag, welches ihr eigenes Blut geweſen war.
Wenn ſie hoͤrten, daß auf dem Lande, in welchem ſie lebten, eine Staatsſchuld von ſo und ſo viel Millionen laſte, und man ihnen fagte, daß jeder unter ihnen an dieſer Schuld mithafte, fo ließ fie dieſe Albernheit voll kommen gleichguͤltig; was eine Milliarde war, wußten ſie nicht, aber die letzte nicht bezahlte Zimmerrente und die 5 sh.⸗Schuld im Fleiſchſhop lag druͤckend auf ihnen und erfuͤllte ſie mit Angſt vor den naͤchſten Tagen.
Zu manchen von ihnen begann der Sozialismus zu reden. Wenn er ihnen ſagte, daß nichts auf der Welt Wert habe, als die Arbeit, und ſie ſahen, daß die, welche nicht arbeiteten, im Beſitz aller Werte waren, ſo wurde es ihnen nicht mehr ſchwer, die einfache Folgerung zu ziehen, daß es ihre Arbeit fein mußte, welche die Beſitz⸗ tuͤmer jener ſchuf, mit anderen Worten, daß jene von ihrer Arbeit lebten, ſie um ihre Arbeit beitahlen . Was es war, das jene dazu ermoͤglichte, war fuͤr die meiſten nun wieder ein unentwirrbares Geheimnis: waren ſie doch in der Mehrzahl und jene nur wenige gegenuͤber ihren Maſſen! — Die Einſichtigeren ahnten, daß wohl nichts anderes helfen koͤnnte, als dem Schutz- und Trutz⸗ buͤndnis der Raͤuber ein gleiches Buͤndnis des Beraubten entgegenzuſtellen. So wurden ſie Sozialiſten.
Fuͤr Auban hatte das Geheimnis laͤngſt ſeine Schrecken, das Sphinxantlitz der Macht laͤngſt ſein Grauen verloren. Seine Studien hatten einen Schleier nach dem andern von dem verhuͤllten Bilde geriſſen und Auge in Auge ſtand er nun der jeden idealen Schimmers entkleideten
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Puppe des Staates gegenüber. Eine Holzpuppe — leer und hohl, ein ungeheurer Schwindel, ein Popanz war der Gott, vor dem alle knieten. Aufgezogen von einigen geſchickten Haͤnden, ſollten automatiſche Bewegungen von wirklichem Leben zeugen!
Die Einſichtsloſigkeit der betoͤrten Maſſen gab jenem Gerippe die ſchrecklichen Waffen der Vorrechte in die ſtarren Finger. Hier dieſe Bank, die groͤßte Englands, ſie war vom Staat belehnt worden mit der Schaffung von Papiergeld. So entſtanden ungeheure Reichtuͤmer, welche ein falſches Bild gaben von dem wahren Wohl— ſtand des Landes. Ohne Konkurrenz, wie es war, unter⸗ druͤckte ſchon dieſes eine Prinzip, deſſen Annahme und Durchfuͤhrung die Gewalt erzwang, den freien Verkehr, untergrub das Vertrauen auf die eigene und fremde Kraft, ſtellte ſich vernichtend zwiſchen Angebot und Nach— frage und ſchuf jene grauenhaften Unterſchiede des Be— ſitzes, welche die einen zu Herren erhöhten, die anderen zu Sklaven erniedrigten.
Das Monopol des Geldes, die Willkuͤr des Vorrechtes, ein allein geltendes Austauſchmittel zu ſchaffen, fiel es, fo fiel der Staat, und dem Verkehr der Menſchen unter: einander war freie Bahn gegeben —
Aber Aubans Gedanken wurden unterbrochen.
Der Omnibus ſetzte ſich endlich wieder in Bewegung, hinter ſich die rieſigen Gebaͤude des Geldverkehrs laſſend, die Bank und die Boͤrſe, von welcher herab wie blutiger Hohn die Worte der Bibel ſprachen: „The earth is the Lord's and the fulness thereof.“ |
Als er durch die fchmalen Straßen nach Liverpool
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Station ſich durchwand — die von braufendem Leben angefüllte Broad Street verlaffend, um trotz des Um: wegs ſchneller ans Ziel zu gelangen — war es Auban, als durchfahre er die kuͤhle, dunkle Tiefe eines engen Tales, ſo dicht umſchloſſen ihn wie Waͤlle dieſe hohen, ernſten, ſchweigſamen Haͤuſer, die nie ein Sonnenſtrahl erwaͤrmt zu haben ſchien.
An den Rieſenhallen der Stationen von Liverpool Street hielt der Wagen. — Auban betrat den großen Bar⸗Room an der Ecke der Straße. Seine Abteilungen waren uͤberfuͤllt. Man draͤngte einander, ſtehend, die Glaͤſer und Becher in der Hand, lebhaft ſprechend, diskutierend, ſich uͤberſchreiend. Die Tuͤren flogen in beftändiger Bewegung auf und zu; das Geld klapperte auf dem Holze.
Auban ſaß ziemlich lange in einer Ecke, in kleinen Zuͤgen ſein half and half ſchluͤrfend. Dann draͤngte er ſich durch die Menſchenfluten den Bahnhallen zu. An das Gitter des Eingangs gelehnt, inmitten einer Schar von ſchreienden Newsboys, Schuhpugern, Blumen- maͤdchen, Verkaͤufern aller Art und jeden Alters, ſtand ein kleiner, verwachſener Knabe, von niemand beachtet, mit finſterem Trotz vor ſich hinſtarrend, die Haͤnde in die ſchmutzigen Fetzen ſeiner Hoſe vergraben, zerlumpt, verkommen, ein Greiſengeſicht auf magerem Kinderkoͤrper. Auban ſah ihn und ſein geuͤbtes Auge erkannte ſofort den Hunger in dieſen Blicken. Er kaufte einige Orangen an dem naͤchſten Kaufwagen. Mit wortloſer Gier biß der Kleine in die Frucht, ohne aufzuſehen, einem ver⸗ hungernden Hunde gleich, der ſich uͤber einen Knochen
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ſtuͤrzt. Seit wie lange mochte er nichts genoſſen haben? Seit wie lange ſchon hier fo ſtehen, Trotz, Bitterkeit, Verzweiflung in dem kleinen Herzen, apathiſch vor ſich hinſtierend auf ſeine nackten, auf den kalten Steinen erſtarrenden Füße?
Auban uͤberrieſelte es kuͤhl. Das war der Anfang jenes Grauens, welches ihn jedesmal vereiſt hatte, wenn er zuruͤckkehrte aus dem Ringe der „Enterbten“, der ſchweigenden Ode des Eaſt Ends von London .. j
Als ihn die Bahn die kurze Strecke nach Shoreditch trug, tauchte in rieſenhaften Umriſſen aus hundert ver— einzelten Erinnerungen ein ſchattenhaftes Bild des uns geheuerlichen Lebens vor ihm auf: duͤſter, drohend, ſchweigſam und geſtaltlos-unfaßlich.
Er dachte ſo mancher andern Wanderung, auf welcher er lange Stunden das unermeßliche Reich des Hungers durchkreuzt hatte: des intereſſanten Nachmittags in dieſem Sommer, als er zu Fuß die ganze Isle of Dogs ums gangen hatte, betaͤubt von der Großartigkeit ihrer ſeit noch nicht zwanzig Jahren geſchaffenen Anlagen, erſchuͤttert von der Armſeligkeit dieſer verlorenen Straßenwinkel, in deren baufaͤllige Haͤuſer und truͤbſelige Huͤtten ein er— muͤdetes Geſchlecht ſeine Sorgenlaſten verſteckt zu haben ſchien. — Dann des Abends in Poplar, der dieſen Nach— mittag beſchloſſen hatte, an welchem er das Vergnuͤgen der Armen belauſcht hatte in einer Singſpielhalle niederſten Ranges, unter halbwuͤchſigen Buben in Hemdaͤrmeln,
und Maͤdchen in befedertem Straßenhute, den zinnernen vn! 15
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Topf mit Ale vor ſich, die Pfeife im Munde, auf dem 3 d.⸗Platz, dem beſten und zugleich einzigen, lauſchend den ſchreienden Stimmen einiger heiſeren Saͤngerinnen und Negerimitatoren, umbruͤllt von dem Laͤrm von hundert mitſingenden Stimmen. — Dann jenes andern Nach- mittags in Wapping, das er durchbummelt hatte mit dem alten Seemann, der ihm die enormen London Docks zeigte, ihn mitnahm am Abend in die St. George Street, die beruͤchtigte Schifferſtraße: in das Tanzlokal, wo baum⸗ lange Malayen, ſchweigſame Nordlaͤnder, Neger und Chineſen, die ganze ſeltſame, fremdartige, mit den Schiffen aus allen Laͤndern der Welt hierher zuſammengewuͤrfelte Geſellſchaft ſich durcheinander miſchte und wuͤhlte in Tanz und Ausſchweifungen; und in die Opiumkneipe bei der Muͤnze, das dunkle Loch, wo das unheimliche Schweigen des Todes uͤber totenaͤhnlichen, in ihr Laſter verſunkenen Geſtalten zu ruhen ſchien. — Und Auban dachte an ſeine einſamen Abendgaͤnge in dem ungeheuren Elend der Diſtrikte von Whitechapel und Bow, wo es faſt keine Straße mehr gab, die er nicht wieder und wieder durch⸗ kreuzt haͤtte im Entſetzen vor dem Schrecklichen, das er ſah, und im Grauen vor dem Schrecklicheren, das er hinter den ſchmutzigen Wänden und zerbrochenen Fenſter— ſcheiben ahnte.
Auban hatte weder koſtſpielige Leidenſchaften, noch beſondere Wuͤnſche an das taͤgliche Leben, deren Erfuͤllung ihm viel von ſeiner Zeit gekoſtet haͤtte. Seine Tage gehoͤrten zum groͤßten Teil ſeinem Berufe, der ihn übrigens nicht ſklaviſch an die Stunde band; feine Abend: ſtunden meiſt ſeinen volkswirtſchaftlichen Studien und dem
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Verfolgen des Ganges der Bewegung. Dann die Sonntag— nachmittage ſeinen Freunden. Was dazwiſchen noch lag, das verwendete er auf die Wanderungen durch die un— geheure Stadt. Dieſe Wanderungen waren ſeine einzige wirkliche Freude, ſein groͤßter Genuß. Er war gluͤcklich, konnte er ſich einen Nachmittag hierfuͤr frei machen; dann beugte er ſich uͤber die große Karte der Stadt, ließ ſeine Finger hierhin und dorthin ziehen, bis er den Anfangs⸗ und Endpunkt der heutigen Wanderung beſtimmt hatte. Wenn er ſich eintauchte in das geheimnisvolle Leben einer nahen Fremde, fühlte er ſich gepackt, fortgeriſſen, gehoben von der Groͤße ſeiner Zeit, die in nie ruhender
Kraft das Maͤchtige geſchaffen; wenn er zuruͤckkehrte in
ſein ſtilles immer, war er wie zermalmt unter dem Druck dieſes uͤbermaͤchtigen Lebens, das den einen zur Hoͤhe des Gluͤcks trug, um den andern hinabzuſchleudern in die Tiefe des Elends.
Oft hatte er ſchon daran gedacht, fuͤr eine Zeitlang wenigſtens ſeine Wohnung hierher zu verlegen, mitten hinein in die Miſere dieſes Lebens, um es ſo beſſer kennen zu lernen, als ihm dies je moͤglich werden konnte durch die Beobachtung der Außenſeite, aber immer hatte es ihm an Zeit gefehlt. So mußte er ſich an das halten, was er ſah und hoͤrte, wenn ihn die Gelegenheit hierher trieb. Und das war in der Tat ſchon genug.
Nun hatte Trupp dieſen Vorſatz ausgefuͤhrt. Er hatte ſeinem Freunde eine Karte geſchrieben: er habe einer Differenz mit ſeinem Meiſter wegen die Arbeit nieder— gelegt und wohne jetzt in der Naͤhe von Whitechapel. Er ſchlug ein Rendezvous in der Naͤhe von Shoreditch vor.
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Um 4 Uhr. Es hatte eben halb geſchlagen. Auban wartete ohne Ungeduld.
Trupp kam zur beſtimmten Zeit. Seine gedrungene, breitſchulterige Geſtalt bahnte ſich ſicher ihren Weg durch das Gedraͤnge. Wieder, wie an jenem Abend in Soho, ſah er Auban ſtehen, die Haͤnde auf den Stock geſtuͤtzt, leicht an den Eingangspfeiler von Shoreditch Station gelehnt, aber diesmal mit den ſcharfen Blicken die Um⸗ gebung und die Menſchen muſternd, nicht ſich in Ge⸗ danken verlierend.
Sie begruͤßten ſich. Der letzte Sonntagnachmittag wurde nicht erwaͤhnt.
Trupp war noch finſterer als gewoͤhnlich. Er er— zaͤhlte voll Bitterkeit von der frechen Brutalitaͤt ſeines Meiſters, der erbaͤrmlichen Fuͤgſamkeit ſeiner Mitarbeiter, der dumpfen Untaͤtigkeit ſeiner Genoſſen. Es muͤſſe wieder ein Beiſpiel gegeben werden, ſonſt ſchlafe Alles ein. Er ſah blaß aus, als habe er wenig geruht in den letzten Tagen. Seine Augen fladerten unruhig. — Sie gingen nach Hackney Road hinein, die traurig-lange Straße der Kuͤmmernis, wo die kleinen Shopkeepers wohnen. Dann wandte ſich Trupp ſuͤdlich, dem Diſtrikt von Bethnal Green zu.
Das Leben um fie herum verſtummte plotzlich. Die Straßen wurden enger, duͤſterer, farbloſer; der Schmutz immer groͤßer. Hier und da noch ein erbaͤrmlicher Laden mit Kleinkram und altem Getroͤdel. Sonſt nichts als ver- ſchloſſene Tuͤren und Fenſter, deren Scheiben laͤngſt im Schmutz erblindet waren.
Sie durchſchritten einige Straßen; dann, mit jaͤher
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Biegung einen ſchmalen Gang, welcher unter einem Hauſe durchfuͤhrte. Es ſchien etwas heller zu werden, denn die mehrſtoͤckigen Haͤuſer hoͤrten auf.
Sie ſtanden auf einem kleinen Platz. Von ihm aus— laufend zogen ſich in ziemlicher Regelmaͤßigkeit drei Gaſſen, welche von ſchmalen, ſaͤmtlich zwei Stockwerke hohen Haͤuſern gebildet wurden, deren enge Hinterhoͤfe anein⸗ anderſtießen.
Sie waren kaum fuͤnf Minuten bis hierher gegangen.
Trupp war noch finſterer als gewoͤhnlich. Auban merkte, daß dies der Ort 800 welchen er ihm vor allem zeigen wollte.
Er trat auf einen aufgewuͤhlten Erdhuͤgel und blickte auf das Bild, welches ſich ihm darbot.
Nie in ſeinem Leben glaubte er etwas Traurigeres, Niederdruͤckenderes, Troſtloſeres geſehen zu haben, als die ſtarre Einfoͤrmigkeit dieſer ſchmutzigen Loͤcher, von denen ſich in grauenhafter Symmetrie das eine an das andere reihte, bis ſich das zwanzigſte verlor in die graue Truͤbe dieſes froͤſtelnden Novembernachmittags. In den durch bruſthohe, zerbroͤckelte Mauern voneinander abgetrennten Hoͤfen, deren Enge kaum ein Ausſpannen der Arme geſtattet, ſchwammen truͤbe Lachen ſchleimigen Kotes; Haufen von Unrat waren in den Ecken aufgeſchichtet; zerbrochenes Geraͤte lag umher, wohin das Auge ſah; hier und da hing ein Lappen grauer Waͤſche, ein Fetzen Tuch bewegungslos in der kuͤhlen Luft. Die Stufen der zu den Tuͤren hinauffuͤhrenden Steintreppen waren zer— treten; die Laͤden der Fenſter hingen, meiſt zerbrochen, kaum noch in den Angeln; die Scheiben waren zer—
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ſplittert, kaum eine mehr ganz; die Löcher oft verklebt mit Papier; wo die Fenſterfluͤgel geöffnet ſtanden, ragten nackte Waͤnde.
Weit und breit keine Menſchenſeele. Es war, als ſei ſoeben der Tod rieſengroß durch dieſe Gaſſen ge— ſchritten und habe alles Atmende beruͤhrt mit ſeiner er⸗ loͤſenden Hand...
Dann ſah Auban, wie ſich etwas regte, in der Ferne. War es ein Tier, ein Menſch? Er glaubte, die gebuͤckte Geſtalt einer Frau zu erkennen. Aber er konnte nichts deutlich unterſcheiden in dieſer Entfernung. — Aus dem einen und andern der zahlreichen Schornſteine ſtieg ein ſpaͤrlicher Rauch auf und loͤſte ſich in in der bleigrau— farbenen Luft.
Kein Kuͤnſtler hat es je verſucht, dieſes Bild zu malen, dachte Auban, und doch brauchte er nur eine Farbe auf ſeine Palette zu ſtellen: ein ſchmutziges Grau.
Er horchte auf. Aus entlegener Ferne drang ein un⸗ unterbrochenes, dumpfes Rollen heruͤber in dieſe Verlaſſen⸗ heit und Stille: die zu dieſem einen drohenden Grollen zu: ſammengeballten tauſendfachen Laute des treibenden Lebens von London. Aber hier fand es kein Echo der Antwort.
Trupp war unterdeſſen hin und her geſchlendert: er hatte vor dem faulenden Koͤrper eines verendeten Hundes geſtanden, die verbogene, verroftete Laterne an der Straßen ecke betrachtet, welche bis auf den letzten Splitter ihre Scheiben verloren hatte, und ſuchte nun vergebens in dieſem ſtaubigen Sandboden nach einer Spur von Gruͤn — nicht ein einziger Grashalm fand Nahrung in dieſer verfluchten Erde.
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Verwahrloſung uͤberall, wohin der Blick fiel, die Ver⸗ wahrloſung des Hungers, welcher täglich ſeinen entſetz⸗ lichen Kampf mit dem Tode kaͤmpft.
Langſam riſſen die Freunde ſich los von dem trau⸗ rigen Anblick und verſtummt gingen ſie die mittlere Straße hinab. Hier und da oͤffnete ſich halb ein Fenſter, ein ſtruppiger Kopf bog ſich vor und ſcheue, neugierige Augen folgten halb furchtſam, halb gehaͤſſig dem voͤllig ungewohnten Anblick der Fremden. Ein Mann haͤmmerte an einem zerbrochenen Karren, der die ganze Breite der Straße verſperrte. Er erwiderte den Gruß der Vorbei: gehenden nicht: maßlos erſtaunt ſtarrte er ſie an, wie die Erſcheinung einer andern Welt; eine Frau, welche in einer Haustuͤrecke regungslos gekauert hatte, er— hob ſich erſchrocken, preßte ihr Kind mit beiden Haͤnden feſter gegen die von Lumpen kaum verhuͤllte Bruſt und ſtemmte ſich, wie zum Widerſtande bereit, gegen die Wand, keinen Blick von den Voruͤberſchreitenden laſſend; nur eine Schar von im Straßenſchmutz ſpielenden Kindern ſah nicht auf — man haͤtte ſie fuͤr Idioten halten koͤnnen, ſo lautlos trieben ſie ihre freudloſen Spiele.
Trupp und Auban gingen ſchneller. Sie kamen ſich vor wie Eindringlinge in die Geheimniſſe fremden Lebens, und ſie eilten, all dieſen Blicken der Furcht, des Haſſes, des Neides, des Erſtaunens, des Hungers zu entgehen.
Am Ende der Straße hockte eine andere Gruppe von Kindern zuſammen: ſie vergnuͤgten ſich an den Todes— zuckungen einer Katze, welcher ſie die Augen ausgeſtochen
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und die ſie am Schwanze aufgehaͤngt hatten. Wenn das blutende, gequaͤlte Tier mit den Fuͤßen zappelte, um ſich freizumachen, ſtießen ſie nach ihm mit der grauſamen, unheimlichen Freude der Kinder an ſichtbaren Schmerzen. Trupp trat mitten unter ſie mit ſchneller Bewegung. „Schneidet ſie los!“ herrſchte er ſie an. Aber er haͤtte ebenſogut deutſch reden koͤnnen, ſo wenig wurden die in ſeinem Munde hart und unnatuͤrlich klingenden Laute verſtanden. Mit maßloſem Erſtaunen ſahen die Kinder zu ihm empor, ohne zu wiſſen, was er von ihnen wollte. Er mußte ſelbſt das verendende Tier losreißen. — Zu Auban zuruͤckkehrend, gab er ſeiner Entruͤſtung uͤber die ſchaͤndliche Tierquaͤlerei lauten Ausdruck. Jener zuckte traurig die Achſeln. „Beſſere Verhaͤltniſſe, beſſere Sitten,“ ſagte er, „was anderes ſoll da helfen!“
Trupp ſchien jeden Winkel dieſer Straßen zu kennen. Er fuͤhrte den Weg hin und her, oftmals ſtillſtehend, wenn fie vor einem der Haͤuſer vorbeikamen, deſſen ges borſtene Mauern zuſammenbrechen zu muͤſſen ſchienen, wenn man ſich gegen ſie ſtemmte; dann wieder ſchmale, armbreite Durchgaͤnge findend, von deren Waͤnden eine ſchmutzige Feuchtigkeit herabtraͤufelte, auf dem Boden ſich ſammelnd zu ſtinkenden, ekelhaften Lachen — ſo fuͤhrte er wortlos und ſicher Auban durch das dunkle Labyrinth dieſes unermeßlichen Elends, deſſen traurige Einfoͤrmigkeit nicht enden wollte, nach welcher Richtung ſie ſich auch hinwenden mochten.
Sie kamen in einen hofartigen Raum, der rings von hohen, grauen Haͤuſern eingefaßt war. Gibraltar
Gardens ſtand auf einem Schild an der Straßenecke.
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„Gibraltar Gardens!“ ſagte Trupp. „Sie verhoͤhnen das Elend, das ſie geſchaffen haben!“ — Auf dem zer— ſplitterten Aſphalt des Hofes vergnuͤgten ſich einige Kinder mit Rollſchuhlaufen — in den „Gaͤrten von Gibraltar“, wo kein Grashalm gedieh! —
Die Freunde gingen weiter durch enge Straßen von ſehr alten, gebuͤckten, niedrigen Haͤuschen, durch deren Tuͤren man mit geſenktem Haupte gehen mußte. Troͤdler wohnten hier und fie hatten mit ihrem „second hand“- Geruͤmpel die Straße zum Erſticken vollgeſtopft; und dann waren die Wanderer ploͤtzlich im brauſenden Leben der Church Lane. Mit einem Schlage veraͤnderte ſich die Phyſiognomie der Umgebung: aus todesaͤhnlicher Ver— laſſenheit in das rauſchende Getriebe des Verkehrs eines Vorſonntagnachmittags!
Auban war ermuͤdet. Er hinkte ſtaͤrker. Auf ſeinen Wunſch betraten ſie auf eine halbe Stunde das naͤchſte Publichouſe, wo er ſich in eine Ecke drückte. Noch immer ſprachen ſie wenig miteinander; hoͤchſtens, daß ſie ſich gegenſeitig eine Beobachtung mitteilten. Es war ein Ginpalaſt niederſter Stufe, den ſie betreten hatten. Er fuͤhrte den Namen: „The chimney sweep“, wie Auban lachend ſah. Der ſaͤgemehlbeſtreute Boden ſtarrte von Schmutz und zertretenem Speichel; der Bar ſchwamm von durcheinanderrinnenden Getraͤnken aller Art, welche zu einer klebrigen Kruſte vertrockneten; hinter ihm, wo die großen Faͤſſer vom Boden bis zur Decke an den Waͤnden hinaufgeſchichtet waren, hatten die Aufwaͤrter unaufhoͤrlich zu tun, die ſich ihnen entgegenſtreckenden Haͤnde zu fuͤllen; der betaͤubende Geruch von Tabaksqualm
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und Branntwein, die feuchtwarmen Ausduͤnſtungen un⸗ gewaſchener Kleider und fich aneinander draͤngender Körper fuͤllte die Raͤume bis in die letzten Winkel.
Hier ſuchte das Elend ſein entſetzliches Gluͤck, indem es feinen Hunger vertrank. Es war das rechte Eaſt End⸗Publikum: Maͤnner und Weiber, die letzteren in faſt ebenſo großer Anzahl wie die erſteren; manche mit Saͤuglingen an den welken Bruͤſten, die meiſten aber alt oder doch ſo ſcheinend. Zwiſchen den Erwachſenen draͤngten ſich zerlumpte Kinder durch. Faſt alles war betrunken, in den erſten Stadien des Samstagrauſches, welcher am Sonntag ausgeſchlafen wurde. Auban machte Trupp auf eine Inſchrift an der Wand aufmerkſam: „Swearing and bad language strictly prohibited!“ . . Sie war einfach laͤcherlich, dieſe Aufforderung, um deren Drohung ſich kein Menſch kuͤmmerte.
Das Geſchrei und Toben war uͤberwaͤltigend. Es verſtummte keinen Augenblick und waͤlzte ſich in ſchwellen⸗ den Schallwogen hin und zuruͤck von einer Abteilung in die andere. Das lallende Stammeln eines Betrunkenen wurde uͤbertoͤnt von dem rohen Geſchimpfe eines erregten Alten, der behauptete, man habe ihm fein Glas aus: getrunken; nnd das wiehernde Gelaͤchter, mit dem man die beiden aufeinander hetzte, wiederum von dem wuͤtenden Kreiſchen eines Weibes, welches mit geballten Faͤuſten vor ihrem Manne ſtand, der ihr nicht folgen wollte. Junge Maͤnner, faſt noch Knaben, ſangen in einer Ecke mit ihren aufgeputzten Sweethearts Gaſſenhauer, oder zeigten ihnen Niggertaͤnze, indem ſie mit ſchweren Schuhen
im Takte den droͤhnenden Boden ſtampften und den
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Oberkoͤrper hin und herwarfen. Die ganze Aufmerk⸗ ſamkeit aller Weiber aber wurde plotzlich gefeſſelt: ein Baby fing an zu weinen; vielleicht fand es an der Bruſt ſeiner betrunkenen Mutter keine Nahrung mehr. Von allen Seiten beugte man ſich über das kleine, runzelige, graue Geſicht und jede der Frauen hatte ſechs Ratſchlaͤge für einen, es zu beruhigen. Die natürliche Gutmuͤtigkeit brach hervor; man wollte helfen. Trotzdem ſchrie das Kind immer ſtaͤrker, bis feine Klagen in Ger wimmer erſtarben.
Fuͤr Auban war das groteske Schauſpiel dieſes Lebens nicht neues. Er war oft in dieſen letzten Zufluchtsſtaͤtten des Elends geweſen, wo das Erſcheinen eines nicht zer— lumpten Menſchen ſchon ein Ereignis iſt.
Heute waren indeſſen die meiſten in ihrer Trunken⸗ heit bereits viel zu ſehr mit ſich beſchaͤftigt, oder in Streitigkeiten und Disputen miteinander verwickelt, als daß man ſich viel um die Fremden gekuͤmmert haͤtte. Nur an Trupp draͤngte ſich in zaͤher Hartnaͤckigkeit eine Alte, mit ihren blutunterlaufenen, trüben Augen ihn widerlich⸗zaͤrtlich anſtarrend und ihm im Idiom des Eaſt Ends, einem Slang, von dem er kein Wort verſtand, ihre Anliegen vorlallend. Er beachtete ſie nicht. Wenn ſie gegen ihn fiel, ſchob er ſie ruhig zuruͤck. Auf ſeinem Geſicht zeigte ſich dabei weder Ekel noch Verachtung. Auch dieſes Weib war ihm ein Glied der großen Menfchheitsfamilie, und ihm eine Schweſter.
Auf der Bank, Auban gegenuͤber, ſaß ein junges, voͤllig verwahrloſtes Maͤdchen. Aus ihren großen dunklen Augen ſchoß fie Blitze der Wut auf Trupp. Wes halb?
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Aus Haß gegen den Fremden, den ſie in ihm erkannt hatte? Aus Zorn uͤber der Alten Zudringlichkeit, oder uͤber feine kuͤhle Abwehr? Aus Eiferſucht? — Aus den Schimpf⸗ worten, die ſie ihm von Zeit zu Zeit zuſchleuderte, war es nicht zu erſehen.
Auban betrachtete ſie. Ihre verkommenen Zuͤge, auf denen Verachtung mit Gemeinheit und Haß ſich miſchte, waren noch immer ſchoͤn, trotzdem ihre rechte Backe blutig zerkratzt war und das Haar wirr auf die Stirne herabfiel. Ihre Zaͤhne waren tadellos. Ihr unordentlicher Anzug, die ſchmutzige Leinenjacke, war auseinandergeriſſen, wie in frecher Abſichtlichkeit herausfordernd, und ließ die noch kindlichen, weißen Bruͤſte ſehen. „Was brauche ich mich vor Euch zu genieren“, ſagten alle ihre Bewegungen.
Wie lange noch und auch die letzten Spuren von Jugend und Anmut waren hinweggewiſcht? — Welcher Unterſchied noch zwiſchen ihr und dieſer immer betrunkenen Alten, der Trupp jetzt, als ſie von neuem mit der ganzen Wucht ihres Koͤrpers gegen ihn fiel, ins Ohr ſchrie, er verſtehe kein Engliſch, er ſei ein Deutſcher? — i
— Are you darling? ſtammelte fie und näherte ihr Geſicht dem ſeinen. Doch in dieſem Augenblick wurde fie völlig von der Trunkenheit überwältigt. Einen gur⸗ gelnden Laut von ſich gebend, ſtuͤrzte ſie vornuͤber und lag regungslos auf dem glitſchrigen Boden. Die grauen Straͤhne ihres Haares bedeckten zur Haͤlfte ihr verzerrtes Geſicht.
Die Maͤnner lachten laut, die Dirne kreiſchte und uͤberhaͤufte Trupp mit einer Flut von Schimpfworten.
Auban war aufgeſtanden. Er wollte die Alte aufs
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heben. Aber Trupp hinderte ihn. „Laß fie liegen. Sie liegt dort gut. Wenn du alle betrunkenen Frauen auf— heben wollteſt, die wir heute ſehen, haͤtteſt du viel zu tun.“
Er hatte recht. Die Alte ſchlief bereits.
— Laß uns gehen, ſagte Auban. 2
Das junge Maͤdchen war auf Trupp zugetreten und ſtellte ſich ihm Bruſt an Bruſt gegenuͤber. Sie ſah ihn mit ihren großen, von krankhafter Gier funkelnden Augen an. Aber ſie ſagte kein Wort. Trupp ging ihr aus dem Wege, der Tuͤre zu.
— You are a fool! ſagte ſie da mit unbeſchreib⸗ lichem Audruck. Auban ſah noch, wie ſie auf ihren Platz zuruͤckkehrte und das Geſicht in den Haͤnden verbarg.
Als ſie auf der Straße ſtanden, erſchien ihnen das Brauſen des Lebens wie Stille nach dem Toben, das ſie eben umlaͤrmt hatte,
Es war dunkler und kuͤhler geworden. Feuchtigkeit ſchwaͤngerte die Luft. Je mehr der Abend nahte, deſto unruhiger und belebter wurde die Straße. Die Verkaͤufer an den Wagen, die den Straßenrand beſetzt hielten, einer dicht hinter dem andern, ſchrieen lauter. Die Berge von
Gruͤnkraut und Orangen ſanken zuſammen; die alten
Kleider und Schuhe lagen wild durcheinander geworfen, betaſtet von jo vielen pruͤfenden Händen; die second hand books wurden durchblaͤttert, indem man ſie in der zunehmenden Dunkelheit dicht zum Geſicht hob.
Die Verkaͤufer von Muſcheln und Schnecken, dem abſcheulichen Eſſen der Armſten, hielten die Straßenecken
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beſetzt. Der Anblick ihrer unappetitlichen Ware erfuͤllte mit brechendem Ekel
— Brick Lane! — ſagte Trupp ploͤtzlich.
Sie ſtanden am Eingang der vielgenannten Straße.
Whitechapel! — Eaſt End im Eaft End! Hölle der Hoͤllen!
Wo endeſt du, wo beginnſt du? — Deine urſpruͤng⸗ lichen Grenzen eines Diſtriks hat dein Name verwiſcht — heute denkt man bei ſeinem Klange an den dunkelſten Teil in der großen Nacht des Eaſt End, an die unheim— lichſte ſeiner Tiefen, an den bodenloſeſten ſeiner Abgruͤnde des Elends
Hier liegen die Menſchenleiber am unentwirrbarſten und am hoͤchſten aufeinander getuͤrmt. Hier kriechen die Scharen derer, die kein Name nennt und keine Stimme ruft, am ruheloſeſten uͤber- und durcheinander. Hier preßt die Not die menſchlichen Tiere am engſten zu einer unerkennbaren Maſſe von Schmutz und Unrat zuſammen, und ihr kranker Atem liegt wie eine verpeſtete Wolke uͤber dieſem Teile der maßloſen Stadt, deſſen engere Grenzen im Suͤden erſt der ſchwarze Streifen der Themſe be— ſtimmt
Von Norden nach Suͤden in leichter Windung zieht ſich Brick Lane. Sie beginnt, wo ſich Church Street in Bethnal Green Road verlaͤngert, der an dem Muſeum gleichen Namens endet, welches errichtet wurde, um dem Bildungs⸗ triebe der „aͤrmeren Klaſſe“ zu genügen, ebenſo wie der nahe Viktoria Park angelegt ward, damit ſie den kaͤrg—
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** 2 Bi en a; ee
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lichen Atemzug friſcherer Luft nicht ganz zu entbehren gezwungen war. Sie endet dort, wo ſich von Aldgate aus in unabſehbarer Länge Whitechapel Road und Mile End Road noͤrdlich, ſuͤdlich die ſtattliche, breite Commercial Road Eaſt, welche eher nicht als bei den indiſchen Docks ihr Ende findet, gabelartig abzweigen.
Wer Brick Lane einmal langſam durchwanderte, der kann ſagen, er ſei vom Peſthauch der Not geſtreift worden; wer ſich verirrte in ihre Nebenſtraßen, der ging an dem Abgrundrande menſchlichen Leidens. Wer ſehen will, wieviel die menſchliche, Natur zu ertragen imſtande iſt; wer noch immer dem Kindertraume glaubt, daß die Welt durch Liebe erloͤſt, die Armut durch Wohl: taten gelindert, das Elend durch Staatshilfe abgeſchafft werden koͤnne; wer die furchtbaren Wirkungen des Moͤrders Staat in ihre letzten Konſequenzen hinein verfolgen will: der betrete das Schlachtfeld von Brick Lane, wo die Menſchen nicht fallen mit zerſpaltenem Schaͤdel und durchſchoſſenem Herzen, ſondern wo der Hunger ſie muͤhe— los maͤht, nachdem die Not ſie ihrer letzten Kraft des
3 Widerſtandes beraubt ..
Es iſt eine lange Wanderung, Brick Lane hinab. Die Freunde gingen ſchweigend. Rieſige Lagerhaͤuſer, in der Ferne ſichtbar, gewoͤlbte Eiſenbahntunnel der Great Eaſtern Railway unterbrachen die Eintoͤnigkeit der an⸗ einander gepreßten Haͤuſerflucht. Oft hatten ſie Muͤhe, ſich durch die auf⸗ und niederwogenden Menſchenſtroͤme durchzuſtoßen. Die Gerüche wechſelten: faulende Fiſche, Zwiebeln und Fett, penetrante Duͤnſte geroͤſteten Kaffees, die Stickluft des Schmutzes, der verweſenden Stoffe ...
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Laͤden mit blutigem Fleiſch, auf Staͤbe geſteckt — „cats meat“; an jeder Straßenecke ein „Wine and Spirits“= Haus, zerriſſene Maueranſchlaͤge, auch hier noch in ſchrei— enden Farben; eine Schar junger Maͤnner zieht vorbei — ſie ſchreien und ſingen; die Nebenſtraße hinab taſtet ſich der Wand entlang eine betrunkene Geſtalt, vor ſich hinmurmelnd und geſtikulierend, vielleicht uͤberwaͤltigt von einem einzigen Glaſe Whisky, da der Magen ſeit Tagen nichts genoſſen hat...
Die Gegend wird immer unheimlicher. Das Juden: viertel, die Armſten der Armen. Die Opfer der Aus⸗ beuter, der „Sweaters“, Schneider und Kleinhandwerker. Unendlich genuͤgſam, Laſttiere im Ertragen des Unmdoͤg— lichen, bei achtzehnſtuͤndiger Arbeit oft zufrieden mit ſechs, ja mit vier Pence, voͤllig verſunken in dumpfer Ergebung, ſind ſie die willigſten Objekte der Ausbeuter und druͤcken die Löhne auf einen Punkt, der weit unter der Hunger: grenze ſteht. So ſind ſie der Schrecken und der Ab— ſcheu für alle Bewohner des Eaſt End, die fie töten mit ihrer zaͤhen Ausdauer und ihrer unheimlichen Entſagungs⸗ faͤhigkeit in dieſem furchtbaren Kampf einer mehr als erbarmungsloſen, einer raffinierten Konkurrenz.
Sie allein haben es vermocht, in Whitechapel feſten Fuß zu faſſen: ſo lagern ſie in der Mitte des Eaſt End, wie ein faulender Schwamm am Fuße eines rieſigen Baumes i Wieder in ftarrer Einfoͤrmigkeit begannen ſich nach
Oſten hin dieſe entſetzlichen Reihen zweiſtoͤckiger Haͤuſer hinzuziehen, deren graue Eintoͤnigkeit dem Auge nirgends Halt gebietet.
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So iſt Brick Lane, deren Ende Auban und Trupp nun erreicht haben: unbeſchreibbar in ihrer ſcheinbaren Gleichguͤltigkeit und ſchaurigen Duͤſternis — durchgehe ſie nicht einmal wie heute, ſondern hundertmal und nichts anderes verraͤt ſie dir von ihren verſteckten Geheimniſſen, ihren ſtummen Leiden, ihren toten Klagen, als das eine: daß fie keinen Gluͤcklichen noch ſah. ..
Whitechapel! Als die Freunde die ſchmutzige Enge von Osborne Street, dem Eingang zu Brick Lane, durch— ſchritten, begann die ſechſte Abendſtunde. Sie ſtanden in einem rieſigen Menſchenſtrom, der ſich Whitechapel und Mile End Road hinaufwaͤlzte: tauſende und abertauſende von Arbeitern, die den aͤußeren, den aͤußerſten Grenzen des Rieſenleibes der Stadt zuſtroͤmten. Durch den Nebel gluͤhten die roten Augen der Laternen, in langen, in letzter Ferne ſich vereinigenden Reihen. Die noͤrdliche Seite der Straße war dicht beſetzt mit zwei Reihen von Haͤndlern jeder Art, ihren Wagen und Verkaufsſtaͤnden, von denen herab qualmende Naphthalampen Lohen von Licht auf die Maſſen warfen, die ſich durch den engen Mittelweg drängten, ſtoßend, treibend, erregt, halb— betaͤubt ... Es iſt der große Abend, der Vorſonntag. Wer noch einen Penny ſein eigen nennt, gibt ihn aus.
Denn Whitechapel Road iſt das große, oͤffentliche, jedem zugaͤngliche Vergnuͤgungslokal des Eaſt End. An ihm liegen große Muſikhallen mit weiten Gaͤngen und hohen Etagen und Raͤngen, und hier kleine, verſteckte Penny⸗Gaffs, in denen wenig zu ſehen vor Tabaksqualm und nichts zu hoͤren vor Laͤrm iſt. — An ihm hat der Medizinmann mit der Wunderſalbe, welche alle Krank—
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heiten heilt — man braucht ſie innerlich, wie aͤußerlich, es bleibt ſich ganz gleich — ſowohl, wie der Schießſtand ſich aufgeſchlagen, die mit ihren wehenden Steinoͤlflammen die Gaslichter unnoͤtig machen. — An ihm findet man den Kraftmenſchen und die Meerjungfrau, das Wachs⸗ figurenkabinett und den famoſen Hund mit den Löwen klauen — man hat ihm die Vorderfuͤße geſpalten: alles zu ſehen fuͤr einen Penny.
Auban und Trupp ſahen nichts von allen dieſen Herrlichkeiten. Sie hatten eine Strecke weit dieſe Flut zu durchbahnen. Nur Schritt fuͤr Schritt gelangten ſie vorwaͤrts. Nun wieder nach Norden, von wo ſie ge— kommen ſind, einbiegend, fuͤhrte Trupp ſeinen Freund durch zwei, drei dunkle Gaſſen, und wieder durch einen jener niedrigen Durchgaͤnge, in welchem Staub, Kalk und Moͤrtel auf ſie niederfaͤllt von den Waͤnden, die ſie ſtreifen .. . Möglich ſtanden fie in einem jener ſtillen, abgelegenen Hoͤfe, welche ein Fremder nie betritt. Nichts war erkennbar hier, als die ragenden Steinmaſſen, die tags dem Lichte von oben her kaum einen Durchblick geſtatten konnten, ſo dicht ſchloſſen ſie ſich aneinander. Jetzt aber verloren ſie ſich voͤllig im Nebel und der ſinkenden Nacht. Auban glaubte ſich auf dem Grunde eines klaftertiefen Brunnens zu befinden, eingemauert zu ſein von allen Seiten, lebendig begraben, ohne Ausweg und ohne Licht.
Aber er fuͤhlte Trupps Hand wieder auf der ſeinen. Sie zog ihn fort. Hier hatte jener ſich eingemietet. Sein Zimmer lag zu ebener Erde, dicht neben der Tuͤr. Als ein Licht es erhellte, ſah Auban, daß es nichts enthielt
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als ein Strohbett, einen Tiſch und einen Stuhl. Der Tiſch war mit Papieren, Broſchuͤren und Zeitungen bedeckt. Waͤhrend er dieſe traurige Spaͤrlichkeit muſterte, ging Trupp hin und her, den Kopf geſenkt, die Haͤnde in die Taſchen verſteckt, wie er es immer tat, wenn er innerlich erregt war. Indem er Auban auf den Stuhl nötigte und ſich ſelbſt einen Koffer herbeizog, begann er, der die letzten Stunden fo ſchweigſam geweſen war, mit unter: drückter, wie erſtickter Stimme zu erzählen, was er in dieſen Tagen geſehen.
— Du meinſt wohl, dies Zimmer ſei duͤrftig? Weit gefehlt. Ich lebe fuͤrſtlich — bin ich doch der einzige im
ganzen Hauſe, der ein eigenes Zimmer fuͤr ſich allein beſitzt.
Ja, in dieſem „Family Hotel“ wohnen einige hundert Menſchen, einige Dutzend Familien. Hier und im erſten Stockwerk geht es noch: nur eine Familie teilt ſich in ein Zimmer, die Eltern, die Kinder, erwachſen, uner: wachſen, alles durcheinander. Weiter oben hinauf — ich war noch nicht dort, denn im dritten Stock wird der Schmutz und der Geſtank ſo, daß man umkehren muß — geht es nicht mehr ſo gut. Zwei Familien in einem Raum, nicht groͤßer als dieſer. Ob ſie ſich mit dem beruͤhmten Kreideſtrich helfen, ich weiß es nicht. Genug, fie behelfen ſich: Schlaf-, Wohn, Eßraum, Küche, Krank heits- und Sterbezimmer — alles in einem. Oder ein ſolches Loch von zehn Fuß Breite und ſechs Fuß in die Laͤnge wird bewohnt von ſechs, zehn, zwoͤlf Arbeitern — Schneidern. Sie arbeiten zwoͤlf, vierzehn, ſechzehn Stunden, oft noch laͤnger. Sie ſchlafen alle in dem einen Zimmer, auf dem Boden, auf einem Lumpenbuͤndel, wenn 165
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ſie nicht die Naͤchte bei giftigem Gaslicht durcharbeiten. Es koͤnnen Tage vergehen, Wochen, ehe ſie aus ihren Kleidern kommen. Was ſie verdienen? Das iſt ver⸗ ſchieden. Twopence die Stunde? Sehr ſelten. Meiſt ſoviel nicht in drei, oft aber erſt in ſechs Stunden. Haben ſie einen, anderthalb Schilling, wenn ſie aufhoͤren muͤſſen vor Erſchoͤpfung, ſind ſie froh. Fuͤr das Verfertigen eines Rockes, der im Laden fuͤr zwei Guineas verkauft wird, erhalten fie vier bis fünf, zuweilen nur — be⸗ guͤnſtigt ein Streik die Sweaters und erlaubt ihnen, jedes Angebot zu machen — zwei bis drei, ja einen Schilling. Willſt du noch mehr hören? — In der Schuhmacher: branche, bei den Verfertigerinnen der Matchboxes, den Hemdennaͤherinnen, den Spinnerinnen, iſt es ebenſo. Fuͤr das Anfertigen von einem Groß Streichholzſchachteln werden etwa zwei Pence bezahlt — die Arbeit erfordert drei bis vier Stunden; fuͤr das Naͤhen eines Dutzend Hemden vier oder gar drei und zweieinhalb; fuͤr das Polieren eines Groß Bleiſtifte — anderthalbſtuͤndige Arbeit — zwei Pence — und fuͤr alles finden ſich Haͤnde, die nicht ruhen, bis ſie ſich die Naͤgel von den Fingern ge— ſchunden haben.
Auban unterbrach ihn. Er kannte ſeinen Freund. Ließ er ihn gewaͤhren, ſo wuͤrde jener Stunde auf Stunde ſo, wahllos hier- und dorthin greifend in den Haufen aufgeſtapelter Erfahrung, eine Tatſache nach der anderen, ein Argument nach dem anderen hervorziehen, und in blutendem Schmerz zugleich und in ſchrecklicher Freude ein Bild hinſtellen, dem gegenuͤber alle Einwaͤnde wirkungs⸗ los bleiben mußten. Immer war fein ceterum censeo,
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wenn er erſchoͤpft und maßlos erregt ſchloß, die Revolution, die Vernichtung der alten Geſellſchaft, die Zerſtoͤrung alles Beſtehenden.
Er ließ ſich in ſeinem raſenden Laufe nicht aufhalten. Immer neue Felſen fand er, aus denen er Quellen fuͤr ſeine Theorien ſchlug. Unterbrochen ſchweifte er ab, kam auf ein anderes Gebiet und riß uͤberall, ohne ſich zu beſinnen, den Schleier herunter, jeden Sonnenblick einer möglichen Hoffnung auf langſame Beſſerung verſcheuchend, jeden Gedanken an eine friedliche Reform erſtickend, be: grabend unter der Laſt feiner Anklagen ... Dann, wenn er ſeine Zuhoͤrer eingehuͤllt hatte in die Schatten ſeiner Verzweiflung, fluͤſterte er, vor ſie hintretend, ihnen das eine Wort: „Revolution!“ zu und ließ ſie allein in der Nacht mit dieſem einzigen Stern ... So war er der Agitator geworden, deſſen Worte immer dann am hellſten gezuͤndet, wenn der Augenblick ſie geboren hatte. Die Lethargie der Gleichguͤltigkeit zu brechen, die Uns zufriedenheit zu ſchuͤren, den Haß und die Empoͤrung zum Ausdruck zu bringen, verſtand Trupp wie kein anderer. Daher war ſein Wirken unter den Indifferenten immer erfolgreich. Ein Organiſator war er nicht. So mied er mehr und mehr die Klubs. Diskuſſionen ging er gern aus dem Wege. Er verſtand nicht zu uͤberzeugen. Waren der Jubel und die Begeiſterung der Stunde verflogen, dann — in der grauen Eintoͤnigkeit des naͤchſten Tages, die den Kampf zwecklos, die den Sieg ausſichtslos er— ſcheinen ließ — bemaͤchtigte ſich vieler von denen, die er hingeriſſen, von neuem und ſtaͤrker das dumpfe Gefuͤhl der Unabaͤnderlichkeit, welches die geſpannte Sehne der
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Hoffnung zuruͤckſchnellen machte. Er war ein Wegzeiger; ein Wegfuͤhrer war er nicht.
Als Auban ihn unterbrochen hatte, griff ſein fieber— hafter Geiſt nach einer anderen Seite des Geſpraͤches. Er erzaͤhlte von den Kindern dieſes Elends, die geboren werden in dieſem, ſterben in jenem Winkel, mehr als dreißig unter hundert, bevor ſie ihr erſtes Alter zuruͤck— gelegt, von niemandem vermißt, gekannt kaum von der eigenen Mutter, nie gekleidet, nie geſaͤttigt; von den gluͤck— lichen, die bewahrt bleiben vor dem Leben der Ungewiß- heit, dem langſamen Tode des Hungers; von der Hoͤhe der Preiſe, welche die Armen für alles zu zahlen genötigt ſind, deſſen ſie beduͤrfen — vier, fuͤnf Schilling woͤchent— liche Miete an den Hausherrn fuͤr das Loch von Zimmer allein, waͤhrend der Verdienſt der ganzen Familie noch nicht zehn, zwoͤlf betraͤgt; von dem verhaͤltnismaͤßig ſehr hohen Schulgeld, das ſie fuͤr ihre Kinder zu zahlen ge— zwungen ſind, die ſie ſo noͤtig brauchen, um ein paar Pence die Woche mehr dem Verdienſt zufuͤgen zu koͤnnen; von ihrer voͤlligen Hilfloſigkeit in allem, bei dem Tode ihrer Angehoͤrigen zum Beiſpiel. Es waren in letzter Zeit dunkle Geruͤchte von entſetzlichen Vorkommniſſen in die Offentlichkeit gedrungen, fo unmöglich, daß jeder fie für die Ausgeburten eines kranken Gehirns, einer ſenſations⸗ luͤſternen Phantaſie hielt. Sie beruhten auf Tatſachen. Trupp beſtaͤtigte ſie.
Es war keine allzu große Seltenheit, daß Leichen unbeerdigt tagelang in demſelben Zimmer liegen blieben, das den uͤbrigen Familienmitgliedern Tag und Nacht zum Aufenthaltsorte diente.
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— Als ich hierher kam, ſagte Trupp, — war im Neben: hauſe ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren ge— ſtorben. An einem Fieber, einem scarlet fever, glaube ich. Jedenfalls war ſeine Krankheit anſteckend. Der Mann war out of work; die Frau bruſtkrank. Sie huſtete den ganzen Tag. Sie hatten vier Kinder; aber das zweit— aͤlteſte, ein Maͤdchen, kam nur nach Hauſe, wenn es keine andere Unterkunft fand. Sie und ihr Bruder waren die einzigen, die zuweilen etwas ins Haus brachten. Außerdem iſt da noch die alte irrſinnige Mutter der Frau, die nie von ihrem Winkel im Zimmer aufſteht. Der Sohn alſo ſtarb. Er war acht Tage krank geweſen. Natuͤrlich keine Pflege, kein Arzt, keine Nahrung. Die Leiche blieb auf demſelben Fleck liegen, auf dem der Kranke geſtorben war. Kein Menſch ruͤhrte ſie an. Statt nach Arbeit, lief der Mann einen ganzen Tag von einer Behoͤrde zur anderen. Von einem Diſtrikt wies man ihn in den anderen: dieſer hatte keinen Kirchhof, zu jenem ſollte er nicht gehoͤren. Er war Auslaͤnder, konnte ſich ſchwer verſtaͤndlich machen — kurzum, der Tote blieb, wo er war, ohne Sarg, unbeerdigt. Nach drei Tagen ſprach man im Hauſe von der Sache, nach fuͤnf drang der Geruch durch die Spalten der Tuͤr, nach ſieben Tagen ward er ſo unertraͤglich, daß ſich die Nachbarn in den naͤchſten Zimmern empoͤrten; erſt nach acht Tagen hörte ein Polizeimann davon und am neunten Tag end— lich ward die völlig in Verweſung übergegangene Leiche abgeholt! Die Zeitungen haben nichts daruͤber berichtet. Wozu auch? Es iſt ja doch alles umſonſt. — Neun Tage! Das erzaͤhlt ſich ganz gut, aber ich wette mit
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dir, keine Phantaſie malt ſich in Wirklichkeit das Bild dieſes Zimmers aus!
Er ſchwieg einen Augenblick. Auban fror. Er huͤllte ſich dichter in ſeinen Mantel und ſah auf das Licht, das zu erloͤſchen drohte.
Aber Trupp war noch nicht fertig. „Zuweilen werfen ſie eine Leiche in irgendeinen Winkel des Hofes, mag mit ihr geſchehen was will. — Hier gleich in der Naͤhe iſt eine Gaſſe, die nur von Dieben, Zuhaͤltern, Moͤrdern, einem Geſindel erſten Ranges bewohnt wird. Kinder gibt es da ſcharenweiſe. Als neulich eines derſelben ſtarb, blieb es liegen, wo es lag. Keinem ſollte es gehoͤren. Wer die Eltern waren, kein Menſch wußte es. — Von einem anderen Fall erzaͤhlte mir die Frau, die druͤben wohnt. Dort oben — uͤber uns — lebt ein Trunkenbold. Er hat eine Frau und ſieben Kinder. Die Frau arbeitet fuͤr die ganze Familie. Neulich ſtarb eines der Kinder — an jener unheimlichen Krankheit, fuͤr welche die Wiſſen⸗ ſchaft keinen Namen hat. „Langſame Erſchoͤpfung infolge ungenuͤgender Ernaͤhrung“ — nennen es nicht ſo die Be— richte in den Zeitungen gewöhnlich? — Die Frau verſetzt ihr allerletztes, nur um einen Sarg und ein paar gruͤne Zweige kaufen zu koͤnnen. Aber bis ſie das zuſammengebracht hat, daruͤber vergehen ein paar Tage. Eines Abends kommt der Mann nach Hauſe, natuͤrlich voͤllig betrunken. Der Sarg iſt ihm im Wege. Er nimmt ihn und wirft ihn mit der Leiche durch das Fenſter, aus einer Höhe von drei Stock⸗ werken. — Die Frauen haben den Menſchen am naͤchſten Tage faſt zerriſſen; die Maͤnner lachten bei ihrem Gin über den „smart fellow“. Das iſt Caſt End Leben.“ —
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Auban ſtand auf.
— Es iſt genug, Otto, ſagte er. — Kannſt du mir die Straße zeigen, von der du eben ſprachſt?
— Jetzt? — Ich werde mich huͤten! Wir kaͤmen nicht mehr mit heiler Haut heraus.
— Dann laß uns gehen. Als ſie in der Tuͤr ſtanden, faßte er Trupp ins Auge. — Du wirſt doch hier nicht wohnen bleiben?
— Weshalb nicht? — Bin ich etwa beſſer? Habe ich mehr verdient als dieſe Armen? — Einer mehr oder weniger, darauf kommt es nicht an.
— Doch. Einer weniger im Schmutz iſt immer beſſer als einer mehr. —
Als ſie auf dem ſchmalen Korridor ſtanden, oͤffnete ſich die gegenuͤberliegende Tuͤr. Ein duͤnner Lichtſtreifen erhellte ſchwach den Gang und ließ in der Heraustretenden eine juͤngere Frau erkennen. Sie murmelte etwas, als ſie Trupp ſah. Es klang wie eine Bitte und ſie wies in das Zimmer zuruͤck. Ein ſtickiger, modriger, verpeſteter Dunſt drang den Naͤhertretenden entgegen: der Dunſt von ungeluͤfteten Kleidern, faulendem Stroh, ſich zer: ſetzenden Speiſeſtoffen, untermengt und geſchwaͤngert mit den Miasmen widerlicher Krankheiten, entſtanden durch dieſe Unreinlichkeit, die wie ein Filz alles uͤberzog, und bedeckte — die Wände, den Boden, die Fenſter. Kaum war in der Dunſtwolke, welche trotz der Kaͤlte das un— heizbare Zimmer erwaͤrmte, ein Bett zu unterſcheiden, das faſt die ganze Länge einer Wand beſetzte. Von dieſem Bette empor erhob ſich eine Geſtalt, die ſicher nicht fuͤr menſchlich gehalten worden waͤre, haͤtte ſie nicht
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nach der Tür hin eine Flut von unverſtaͤndlichen Schimpf— worten geſtoßen: das Geſicht durch Laſter, Krankheit, Trunkſucht voͤllig entſtellt, den Kopf verbunden mit einem ſchmutzigen, blutgetraͤnkten Lappen, mager, entkraͤftet die von Lumpen kaum verhuͤllten Glieder, glich der Mann bereits mehr einem Toten, als einem Lebenden. Roͤchelnd fiel er zurück, ermattet von der Anſtrengung feiner willen:
und zielloſen Wut. Trupp ſprach mit der Frau. Auban
verſtand nur, daß es ſich um die Aufnahme des Kranken in ein Hoſpital — das Paradies der Armut — handelte. Er war muͤde und ſtumpf und ging voran. Trupp folgte ihm bald. Er mußte den Freund am Arme fuͤhren, ſo durchloͤchert war der knarrende Boden des dunklen Ganges, ſo ausgetreten die Steinflieſen der Treppe. „Das war auch einer von denen, die jeden Tag von der Polizei ins Armenhaus geſchafft werden koͤnnen — haben ſie doch ‚no visible means of existence! Sie haben eine wahnſinnige Angſt davor —“ ſagte Trupp.
Der Lichthof war menſchenleer wie vorher. Man haͤtte glauben ſollen, alle dieſe Haͤuſer, welche ihn bildeten, ſeien unbewohnt, ſo ſtill war es, ſo verriet nichts von Leben.
— Es iſt immer ſo, ſagte Trupp. — Die Kinder am Tage ſpielen nie laut.
An der Ecke der naͤchſten Straße ſtand eine Gruppe von Menſchen. Sie ſprachen lebhaft miteinander. Offen— bare Erregung ging von einzelnen aus. Als Auban und Trupp naͤher traten, kam eine Frau auf ſie zu. Sie heulte nach einem Arzte. Man machte den Fremden bereitwillig Platz. Sie durchſchritten einen Torweg. Ein
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Hof, halbdunkel, eng, ſchmutzig, lag vor ihnen. Auch hier ſtand eine Gruppe von Maͤnnern und Frauen, an die ſich Kinder draͤngten. Zwei Poliziſten gingen in regelmaͤßigen Schritten auf und ab, ſoweit der gemeſſene Raum es ihnen erlaubte.
Auban wollte wieder umkehren, als ſein Auge dem Scheine einer Laterne folgte, die auf der Erde ſtand und ein truͤbes Licht uͤber ein Buͤndel Stroh warf, auf dem eine menſchliche Geſtalt lag. Keiner hinderte ihn, als er naͤher trat. Die Umſtehenden draͤngten ſich her— zu; die Poliziſten ſchritten gleichguͤltig auf und ab. Man hielt Auban fuͤr einen Arzt. Es war die Leiche eines etwa fuͤnfzigjaͤhrigen Mannes, die da vor ihnen lag. Sie lag auf dem Ruͤcken, die Arme halb ausgeſtreckt zu beiden Seiten herabgefallen, die geöffneten Augen nach oben gerichtet. Der Koͤrper des Toten war nur bekleidet mit einem langen, ſchwarzen Rock, der auf der Bruſt auseinandergeriſſen auf dem nackten Fleiſche lag und den Hals mit dem emporgeſchlagenen Kragen um— ſchloß. Aus den ausgefranzten, kotigen und ver— ſchliſſenen ſchwarzen Hoſen ſahen die nackten, mit blaͤu— lichen Froſtnarben und Schmutz bedeckten Fuͤße hervor. Ein abgetragener, am Rande aufgeriſſener Zylinderhut war beiſeite gerollt. Die ungepflegten grauen Haare waren uͤber die Stirn gefallen; die linke Hand des Toten war geballt.
Auban beugte ſich uͤber ihn. Der Koͤrper war von einer ſchrecklichen Magerkeit: die Rippen des Bruſtkaſtens traten ſcharf hervor, die Gelenke der Haͤnde und Fuͤße waren jo ſchmal, daß eine Knabenhand ſie hätte um—
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ſpannen koͤnnen. Die Wangen waren eingefallen und ließen die Backenknochen hart hervorſtehen; die Naſe trat ſpitz hervor; die Lippen voͤllig blutleer, wie ſchmerz⸗ lich etwas geoͤffnet; die hervortretenden Zaͤhne ſcheinbar noch gut erhalten. Tief eingefallen waren die Schlaͤfen und die Halsgegend — die Leiche ſah aus, als ob ſie bereits monatelang in einem trockenen Raum gelegen haͤtte, ſo duͤnn und dicht uͤberſpann die gelbliche Haut die Knochen.
Auban ſah zu dem Poliziſten empor, der ſich neben ihn geſtellt hatte.
— Starved? fragte er halblaut.
Der Poliziſt nickte ernſt und gleichguͤltig. — Ver⸗ hungert! Durch die Umſtehenden, die bisher lautlos jeder Bewegung Aubans gefolgt waren, ging eine haſtige Er— regung. Von Lippe zu Lippe flog das Wort, und jede ſprach es nach in einer anderen Betonung des Grauens und der Furcht, als habe jeder ſein eigenes Todesurteil vernommen. Die Kinder draͤngten ſich enger an die Frauen, dieſe naͤher an die Maͤnner. — Ein junger Burſche tat einen hoͤhniſchen, lauten Ausruf; man ſtieß ihn fort. Dadurch kam Bewegung in die ganze Gruppe. Man draͤngte ſich durcheinander: Jeder wollte einen Blick in das Geſicht des Toten werfen.
Die beiden Poliziſten nahmen ihren Gang wieder auf, ab und zu beobachtende Blicke auf den einen oder andern gleiten laſſend.
Auban hatte ſich aus ſeiner knienden Stellung empor⸗ gerichtet. Die Hand des Toten war ſchlaff niedergefallen, wie er ſie aufgehoben hatte. Es war keine Spur von Leben mehr in dem entſeelten Körper.
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Als er ſich umwenden wollte, fuͤhlte er ploͤtzlich den eiſernen Fauſtgriff Trupps an ſeinem Arme. Er blickte auf und ſah in ein voͤllig verſtoͤrtes Geſicht. Trupps Augen waren in ſtarrem Entſetzen und ſprachloſem Staunen auf den Toten geheftet, als rufe derſelbe in ihm eine furchtbare Erinnerung wach.
— Kennſt du ihn? — fragte Auban.
Trupp gab keine Antwort. Er ließ keinen Blick von dem Leichnam.
Der Tote lag da und es ſchien ploͤtzlich nicht nur Trupp, ſondern auch Auban, als kehre in ſeine gebrochenen Augen ein letzter Strom von Leben zuruͤck und als er⸗ zaͤhlten ſie nun zum letztenmal in ſtummer Sprache die Geſchichte ihres Lebens: die Geſchichte eines Niederſtiegs von der Hoͤhe zur Tiefe
Trupp zog ſeinen Freund fort, aufſchreckend aus ſeinen Gedanken. Die Umſtehenden ſchauten ihnen in dumpfer Erwartung nach, da ſie noch immer in Auban einen Arzt vermuteten, Nur die beiden Poliziſten gingen weiter uns bekuͤmmert auf und ab: gleich wuͤrde einer ihrer Beamten mit einem Wagen kommen und morgen lag der Tote auf der Marmorplatte eines Seziertiſches .
Auf der Straße erzaͤhlte Trupp haſtig, mit noch immer von Grauen unterdruͤckter Stimme:
— Ich habe ihn geſehen — einmal — vor vier Wochen war es — in Fleet Street ... Er kam fie herunter — mir entgegen — ganz ſo, wie er eben dalag: ohne Schuhe, ohne Hemd, aber in Zylinder und in ſchwarzen Handſchuhen. Sein Anblick war nicht laͤcherlich — im Gegenteil: er war entſetzlich. Er ſah aus wie der leib—
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haftige Tod — mager wie ein Gerippe — wie ein Schatten! — ſo ſchlich er der Wand entlang, immer geradeausſehend, keinen Menſchen beachtend und von keinem beachtet. — Ein Gefuͤhl ſagte mir, ich ſolle es laſſen — aber ich erkannte den Hunger und ſo ging ich auf ihn zu und fragte ihn etwas. Er verſtand mich nicht. Ich glaube: er hoͤrte mich uͤberhaupt nicht. Als ich ihm aber einen Schilling reichte, warf er einen Blick auf das Geld, dann einen auf mich, als wolle er mich auf der Stelle erwuͤrgen, und warf, was ich ihm ge— geben — meinen letzten Schilling —, dem naͤchſten Straßenjungen zu. — Ich war natürlich jo verblüfft, daß ich ihn gehen ließ ...
Auban ſchuͤttelte den Kopf.
— Iſt es wirklich derſelbe? —
— Vergißt man das Geſicht, wenn man es einmal geſehen hat? —
Auban ſchwieg. Das Zuſammentreffen war ſeltſam doch es war nicht unmoͤglich. Trupp konnte ſich irren. Aber Auban glaubte ſelbſt nicht, daß ſein Freund ſich taͤuſchte.
Auch er war erſchuͤttert. Dieſes Geſicht — nein, man vergaß es nicht, hatte man es einmal geſehen. Trauriger aber noch, wie die blutloſen Wangen und die anklagenden Augen war ihm die Magerkeit dieſer ent— kraͤfteten, völlig erfchöpften, ausgeſogenen Glieder ge— weſen. Der Hunger mußte eine lange, geduldige Arbeit getan haben, ehe der Tod die lodernden Flammen dieſes Lebens hatte ausloͤſchen Fönnen! .
Vor Wochen noch ſtark genug, um mit der Kraft des
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. Stolzes jede Probe zu beſtehen, war es heute erſt erlegen:
in einen Winkel, den ſchmutzigſten, verſteckteſten aller, hatte der Sterbende ſich verkrochen — dort, von keinem unter dieſen Millionen geſehen, war er zuſammengeſunken; dort, von keinem gehoͤrt, hatte er den letzten Seufzer ausgehaucht —: müde, irr, ſtumpf, krank, verzweifelt war er — verhungert!
— Verhungert! ... Verhungert! ... Verhungert!
Trupp ſagte es immer wieder vor ſich hin.
Dann laut zu Auban:
— Das noch zu ſehen, haͤtten wir nicht erwartet! — Sieh, wie mir alles recht gibt! Aber die Rache, welche wir nehmen werden, ſie wird alles austilgen! —
— Nur nicht die Torheit! dachte Auban. Aber er ſagte es natürlich jetzt nicht.
— Es kann keine Schuld geben: was hat der Blinde verſchuldet, daß er blind iſt? — Nur Torheit, Torheit überall — ja, und fie wird ſich furchtbar raͤchen! ..
Ploͤtzlich ſtanden ſie am Eingange zu dem großen, breiten Lebensſtrom von Whitechapel Road.
Sie waren bis jetzt gegangen, ohne zu wiſſen wohin. uͤber dem, was ſie geſehen, war alles andere von ihnen vergeſſen. Nun ſchreckte ſie das Licht auf, das ſie ploͤtzlich uͤbergoß. Sie ſahen ſich um. Alles war wie es vor zwei Stunden geweſen. Wieder die Lichter! Wieder das Leben, das ſtroͤmende, rauſchende, immer und immer wieder ſiegende Leben nach den Schrecken des Todes!
— In den Klub! ſagte Auban. Es war das erſte
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Wort, das er ſprach. Er war ermüdet, hungrig, aber aͤußerlich wie innerlich ruhig, gleichſam erſtarrt. Trupp fuͤhlte nichts von Durſt und Erſchoͤpfung. Waͤhrend er mit der Sicherheit der Gewohnheit den Weg abſchnitt und Commercial Road kreuzte, blickte er vor ſich hin, duͤſter, verſchloſſen ſcheinbar, aber von Empoͤrung durch⸗ rüttelt, gemartert von einem dumpfen Schmerze.
Sie hatten nur noch wenige Minuten zu gehen. Eine Straße lag vor ihnen, in die Dunkelheit des Abends gehüllt, von keinem Lichte erhellt. Es war Berner Street, E. C. Die Haͤuſer liefen ineinander uͤber: kaum unter⸗ ſchied man Tuͤren und Fenſter in dem Schatten der Nacht. Nur der ſeit langem hier Vertraute haͤtte vermocht, hier ein beſtimmtes Haus zu finden. Auban taſtete ſich mit ſeinem Stocke mehr, als er ging.
Hier lag der Klub der juͤdiſchen Revolutionaͤre des Eaſt End. Trupp ſtand vor der Tuͤre ſtill und ließ den eiſernen Klopfer fallen. Es wurde ſofort geoͤffnet. Aus einem Zimmer, das zur Rechten lag, tauchten Koͤpfe auf, freundliche Haͤnde kamen Trupp entgegen, als er erkannt wurde. Auban ſah, mit welcher Freude er die entgegen— geſtreckten Haͤnde ergriff und wieder und wieder ſchuͤttelte. Er ſelbſt war ſeit einem Jahr nicht wieder hier geweſen. Er zweifelte, bekannte Geſichter zu finden. Aber er hatte ſich kaum unter die lebhaften Gruppen gemiſcht, welche die kleinen, niedrigen Zimmer des Erdgeſchoſſes fuͤllten, teils ſtehend, teils die Tiſche und Baͤnke beſetzend, als er eine Hand auf ſeiner Schulter fuͤhlte und in das Geſicht eines alten Kameraden blickte, den er ſeit Jahren, ſeit ſeinen Pariſer Sturmjahren, nicht mehr geſehen.
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— Auban!
— Baptiſte! — Die Erinnerungen flogen auf, wie eine Vogelſchar, deren Kaͤfigtuͤr ploͤtzlich die Hand des Zufalls öffnet. —
Der „International Working Mens Klub“ war neben der „Morgenroͤte“, der dritten Sektion des alten Kommuniſtiſchen Arbeiterbildungs-Vereins, der einzige Klub revolutionaͤrer Sozialiſten des Oſtends. Einge— wanderte Ruſſen und Polen bildeten die groͤßte Zahl der Mitglieder, welche ſich wohl auf zweihundert belaufen mochte. Ihr weites Feld der Propaganda war das ganze Whitechapel, das ja zum größten Teil von ihren Heimat— genoſſen bewohnt wurde.
Auban ließ ſich von ſeinem Freunde Stellen aus der Zeitung uͤberſetzen, welche der Klub mit Aufbietung großer Opfer woͤchentlich herausgab, von keiner Seite unterſtuͤtzt, von den reichen Glaubensgenoſſen des Weſt End (denen es mittels Beſtechung ſogar einmal gelungen war, das Blatt zeitweilig ganz zu unterdruͤcken) bitter— lich gehaßt und befehdet. Sie hieß „The Worker's Friend“ und war mit hebraͤiſchen Lettern in jener eigen⸗ tuͤmlichen Miſchung des polniſchen, deutſchen und eng— liſchen Idioms gedruckt, das von den ausgewanderten Polen hauptſaͤchlich geſprochen und nur ſchwer von anderen verſtanden wurde. a
Trupp ſtand in einer Gruppe von lebhaft auf ihn Einſprechenden. Man bat ihn zu reden. Er hatte offenbar keine Luſt. Aber er willigte ein und folgte ihnen nach dem oberen Saal, nachdem er haſtig ein Glas Bier
hinuntergeſtuͤrzt hatte. VIII 17
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Auban blieb ſitzen und ließ ſich zu eſſen geben. Der Bekannte, welcher ihn wiedererkannt hatte, be— ſtuͤrmte ihn mit Fragen. Sie erfuhren manches von ein⸗ ander: der eine ihrer Freunde war hierhin, der andere dorthin geſchleudert worden von der großen, maͤchtigen Woge der Bewegung. Alles hatte ſich verſchoben, ver— aͤndert, ein verwandeltes Ausſehen angenommen in dem Laufe dieſer wenigen Jahre.
Auban wurde noch ernſter, als er geweſen war. Er fuͤhlte wieder das Surren des weiter und weiter greifenden Rades, das Droͤhnen des zermalmenden Fußtrittes, welcher auch über ihn hinweggeſchritten war ... Über feinem Haupte ſchwebte kein Schwert mehr. Er fuͤrchtete nichts mehr, ſeit er nur noch für ſich kaͤmpfte. Aber noch immer rannen aus den Narben ſeines eiſernen Herzens die Tropfen des Schmerzes.
Sie ſprachen von dem, von jenem. Der war als Spitzel entlarvt worden? War es moͤglich? Keiner von ihnen haͤtte es gedacht. „Er war ein Schurke.“
— Er war vielleicht nur ungluͤcklich, meinte Auban. Aber das wollte der andere nicht gelten laſſen.
So ſprachen ſie eine Stunde zuſammen. Dann ſtiegen fie die enge Treppe hinauf zu dem Saale, der bis in den Hintergrund hinein von Menſchen gefuͤllt war. Er war mittelgroß und faßte kaum mehr als 150 Perſonen. Einfache, lehnenloſe Baͤnke durchs zogen ihn in die Quere und an den Laͤngswaͤnden hin. Überall bittere Armut, aber uͤberall auch das Beſtreben, dieſe Armut zu uͤberwinden. An den Waͤnden hingen einige
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Portraͤts: Marx, Proudhon, Laſſalle, wie er das goldene Kalb des Kapitalismus umſtuͤrzt; ein Karton in ſchwarzem Rahmen: „Mrs. Gundry“ — die geizige, habſuͤchtige, neidiſche Bourgeoiſie, die mit Schaͤtzen aller Art bes laden dem Hungernden die Bitte um einen Penny verſagt »
Ganz vorn ſchloß eine kleine Buͤhne den Raum. Hier ſtand an dem Tiſche des Chairman Trupp. Er ſprach deutſch. Auban draͤngte ſich etwas vor, um ihn zu ſehen. Er verſtand nicht mehr als einzelne Worte; kaum konnte er erraten, wovon geſprochen wurde. Erzaͤhlte er das Erlebnis feines heutigen Abends? ... Auban fuͤhlte die furchtbare Leidenſchaft, die in heißen Wogen der Glut von dort aus die Verſammlung uͤberflutete. Atemlos hing man an den Lippen des Redners, kein einziges ſeiner Worte zu verlieren. Durch dieſe jungen Leute, kaum dem Knabenalter entwachſen, dieſe Frauen, ermuͤdet und ge— brochen von der Laſt ihrer endloſen Arbeit, dieſe Maͤnner, welche — dem Boden der Heimat entriſſen — ſich hier doppelt und dreifach getaͤuſcht zuſammengefunden, ging es wie ein elektriſcher Strom. Selten hatte Auban auf allen Geſichtern eine ſolche Hingabe, ein ſo brennendes Intereſſe, ſo gluͤhende Begeiſterung geſehen wie hier. — Er kannte ſie. Fragen, die den Kindern des Weſtens hoͤchſtens Stoff zu ruhigem, gleichguͤltigem Meinungs⸗ austauſch geboten haͤtten, wurden hier diskutiert, als ob Leben und Tod an ihnen haͤnge; im Gegenſatz zu dem eigenen kummervollen, gedruckten, engen Leben nur das Ideal des Paradieſes! Kein anderes! Hoͤchſte Voll— kommenheit im Kommunismus: Frieden, Bruͤderlichkeit,
5:7?
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Gleichheit vor allem! Chriſten, Idealiſten, Träumer, Toren, das waren dieſe jüdifchen Revolutionaͤre des Oſtends — Stiefkinder der Vernunft, Bannertraͤger der Begeiſterung.
Trupp endete. Man draͤngte ſich zur Diskuſſion.
— Seid Egoiſten! haͤtte Auban ihnen zurufen moͤgen. — Seid Egoiſten! Der Egoismus iſt die einzige Waffe gegen den Egoismus Eurer glaubensverwandten Aus⸗ beuter, es gibt keine andere. Braucht ſie: kuͤhl, eiſern, uͤberlegen, ruhig, und Ihr ſeid die Sieger! ;
Aber er fprach feine Gedanken nicht aus. Auf die Zeit, in welcher er ſelbſt — begeiſtert und begeiſternd — der wilden Brandung aufgeregter Maſſen gegenuͤber geſtanden hatte, waren Jahre des Lernens gefolgt. Auf ſeinem Studienplan hatte nur ein Wort geſtanden: die Menſchen. — Seitdem er ſie kannte, wußte er, daß die Wirkung des geſprochenen Wortes um ſo groͤßer iſt, je allgemeiner, idealer es ſich gibt, je mehr es dem dumpfen Drange des Herzens entgegenkommt. Die Phraſe iſt es, welche uͤberall von der Menge bejubelt wird; das klare nuͤchterne Wort der Vernunft, entkleidet des Flitters, ſich wendend an das Eigenintereſſe, verneinend alle Moralgebote der Pflicht, verhallt unverſtanden und wir- kungslos.
Hatte er das nicht erſt wieder am vergangenen Sonntag erfahren?
Daher wuͤrde er, wollte er heute noch ſprechen, auch jetzt ſtatt jubelnden Beifalls nur Mißverſtaͤndnis ernten. —
Die Diskuſſion war in vollem Gange. Faſt jeder
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der an den Rednertiſch Tretenden ſprach mit dem brennendſten Eifer, zu überzeugen, zu überreden: kein Wort ging verloren. |
Trupp drängte ſich in den Hintergrund des Saales. Dort wurde er wieder von allen Seiten umringt. Man wollte Aufklaͤrung uͤber dieſen und jenen Punkt ſeiner Rede haben. Er antwortete jedem. — Auban hatte ſich geſetzt. Sein Bekannter hatte ihn verlaſſen. Er ver⸗ ſtand kein Wort. Er ſah die erregten Geſichter, die durch einen dünnen Nebel von Tabäksqualm ihn um⸗ wogten.
— Heute flammende Begeiſterung, morgen Er— nuͤchterung und Entmutigung ... Heute Haymarket, morgen Galgen ... Heute Revolution, morgen ein neuer Wahn und ſeine alte Herrſchaft! dachte er.
Trupp rief ihm zu, ob er mit in die „Morgenröte” gehe. Es ſei auch dort Verſammlung und er wolle auch dort reden. Aber Auban ließ ihn allein gehen.
Die Arbeiter-Marfeillaife wurde geſungen. Man be: gann auseinander zu gehen. Ein Durcheinanderdraͤngen entſtand.
Ein hochgewachſener, breitfchulteriger deutſcher Genoſſe mit blondem Bart und blondem Haar, das Glas in der Hand, ſang, den Kopf hoch erhoben, mit klarer, feſter Stimme, gleichſam tonangebend, die erſte Strophe des Liedes uͤber die andern hin:
„Wohlan, wer Recht und Freiheit achtet, Zu unſerer Fahne ſteht zu Hauf!
Ob uns die Luͤge noch umnachtet,
Bald ſteigt der Morgen hell herauf!
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Ein ſchwerer Kampf iſt's, den wir wagen, Zahllos iſt unſerer Feinde Schar — Doch ob wie Flammen die Gefahr Moͤg' uͤber uns zuſammenſchlagen,
Tod jeder Tyrannei!
Die Arbeit werde frei!
Marſch, marſch!
Marſch, marſch!
Und waͤr's zum Tod!
Denn unſere Fahn' iſt rot!“ —
Alle ſangen den Refrain mit.
Auban ſummte die franzoͤſiſchen Worte der Marfeil- laiſe ... Wie viele Male hatte er fie ſchon vernommen, wie viele Male ſie ſchon mitgeſungen? In Hoffnung, in Empoͤrung, in Verzweiflung, in Siegesſicherheit? — Von wem war ſie nicht ſchon geſungen worden!
Zufaͤllig ſah Auban, wie die Augen eines jungen Mannes, es war offenbar ein Pole oder Ruſſe, miß— trauiſch auf ſeiner fremden Geſtalt ruhten. Nun mußte er doch laͤcheln.
Sollte er ihm ſagen, wer er war? — Man kannte ihn nicht mehr. Aber noch haͤtte die einfache Nennung feines Namens genügt, um alle Zweifel und jedes Miß trauen ſofort zu verſcheuchen.
Aber er ließ es. Er ſah nach der Uhr: nicht mehr lange durfte er weilen, wollte er den letzten Zug der unterirdiſchen Eiſenbahn fuͤr Kings Croß auf Aldgate noch erreichen.
Er ging. Man war beim Schlußvers des Liedes an⸗ gelangt. Sie ſangen:
„Tod jeder Tyrannei! Die Arbeit werde frei!
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Marſch, marſch!
Marſch, marſch!
Und waͤr's zum Tod!
Denn unſere Fahn' iſt rot!
Denn unſere — Fahn' — iſt rot!
Denn unſere — Fahn' — iſt — — rot!“
Auban ftand auf der Straße. Sie war ſtaockfinſter. Muͤhſam taſtete er ſich nach der Stelle des großen Straßenvereinigungspunktes durch. Aber bevor er noch die erſten Gasflammen erreicht hatte, tauchte ploͤtzlich aus dem Dunkel ein rieſiges Gebaͤude vor ihm auf: in vier Reihen uͤbereinander zwoͤlf, vierzehn, zwanzig hell erleuchtete Fenſter ... Das war eine der großen Faktoreien, von denen jeder Pariſh des Oſtens von London vierzig bis fuͤnfzig zaͤhlt.
War es eine Seidenweberei? Auban wußte es nicht.
Dieſes Gebaͤude, haͤßlich, roh, laͤcherlich in der Form, ein viereckiges Monſtrum mit hundert roten, gluͤhenden Augen, mit den huſchenden Schatten menſchlicher Ge— ſtalten und den rieſigen Maſchinenarmen hinter ihnen, war es nicht das grelle Sinnbild der Zeit, die charakteri⸗ ſtiſche Verkoͤrperung ihres eigentlichſten Weſens: In⸗ duſtrie?
Der Hoͤhepunkt des Abends war erreicht, als Auban wieder an dem Kreuzungspunkt der beiden Rieſenſtraßen ſtand. Schon begann ſich die hier und da ausbreitende uͤbermuͤdung der Stille des Sonntags zu vermaͤhlen. Bald ſollten die Publichaͤuſer ſich ſchließen. In die Nebenſtraßen verloren ſich mehr und mehr Geſtalten aus dem großen Menſchenſtrom.
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Aber noch immer war das Gewuͤhl faſt undurch— dringlich. In fieberhafter Haſt wurden von den meiſten die letzten ſchalen Tropfen des ſchalen Trankes dieſes Samstagrauſches geſchluͤrft.
Aldgate war keine fünf Minuten mehr entfernt. Noch blieb Auban eine halbe Stunde Zeit, bis der letzte Zug der Untergrundbahn nach Kings Croß von Aldgate Station abging. Und bezwungen von einem inneren Drange, deſſen er ſich vergeblich zu erwehren ſuchte, bog er noch einmal in eine der noͤrdlichen Nebenſtraßen ein, in eine Nacht voll raͤtſelhafter Fremde ...
Nur wenige Laternen brannten hier noch, nur wenige Menſchen ſchlichen an ihm voruͤber. Dann kamen Quer— ſtraßen. Er bog nach Weſten ein.
Er paſſierte eine Gruppe von jungen Leuten. Sie waren in einem halblauten Disput begriffen, um den Poliziſten nicht auf ſich aufmerkſam zu machen, und achteten nicht auf Auban. Dieſer ging dicht an der Wand hin.
Aus einem vergitterten Fenſter fiel Licht. Er blieb ſtehen und ſpaͤhte durch die ſchmutzuͤberzogenen Scheiben. Es war die Küche, die common kitchen eines Lodging— hauſes, die er ſah, der gemeinſame Raum, in welchem ſich alle Beſucher aufhalten, ehe ſie die fuͤr eine Nacht gemietete Schlafſtelle aufſuchen.
Das Zimmer war uͤberfuͤllt. Es mußten ſich mehr als ſiebzig Perſonen in ihm befinden: ſie lagen, ſaßen und ſtanden in kleineren und größeren Gruppen umher; einige kauerten abſeits. Eine große Anzahl hatte ſich um den Kamin gedraͤngt. Dort bereiteten ſie ſich ihr Eſſen:
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ihren Tee, ihr Stuͤck Fiſch, ihren Fleiſchabfall. Sie warteten aufeinander. Sobald ein Geſchirr vom Feuer fortgezogen wurde, nahm ein anderes den Platz ein. Die Waͤrme der kargen Glut ſchien gering zu ſein, denn viele froͤſtelten in ihren Lumpen und drängten ſich an⸗ einander.
Nur ein Tiſch ſtand in der Mitte des Raumes. Kopf an Kopf uͤber ihn hingebeugt ſchliefen dort bereits die meiſten in wirrer Unordnung: Maͤnner, Frauen, Kinder durcheinander. Nur wenige aßen dort und auf den ſchmalen, an den Waͤnden ſich hinziehenden Baͤnken. Aber der Tiſch war mit gebrauchtem Geſchirr aus Blech und Zinn, mit Taſſen, Schüffeln und Tellern uͤberſaͤt, die von den ubermuͤdeten fortgeſchoben waren, ehe der Schlaf fie überwältigt hatte. Der Boden war uͤberſaͤt mit Ab— faͤllen aller Art: Kinder, die ſich losgemacht hatten von dem Schoß ihrer ſchlafenden Muͤtter, krochen wie blinde Huͤndchen auf ihm umher.
Der matte Schein des kohlenden Feuers erhellte not— duͤrftig dieſen Raum. Zwei qualmende Lampen an den Waͤnden waren dem Verloͤſchen nahe.
Nichts von dem, was er heute, nichts von dem, was er jemals in Eaſt End geſehen, hatte einen tieferen Eindruck auf Auban gemacht, als das ſchweigende, duͤſtere, unheimliche Bild dieſes Raumes.
War es die ſpaͤte Stunde, die ihre Wirkung auf ihn ausuͤbte? — War es die Überhitzung ſeines durch ſtundenlange Anſpannung ermatteten Gehirnes, die dieſe Ausgeburt gebar? — Oder trat ihm gerade jetzt, wo er allein war, ſo greifbar nahe, was er ſchon ſo oft
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geſehen: das Nachtbild des Abgrundlebens der Ver: ſtoßenen? —
Er hielt den Atem an, waͤhrend er mit ſeinen Blicken jeden Winkel des Bildes durchdrang.
Keine Phantaſie haͤtte einen troſtloſeren Raum und in ihm eine groteskere Gruppierung erſinnen koͤnnen, wie ſie ſich hier ihm zeigte: hier dieſer weiße Alte, dem der Stock der Hand entfallen war, während er vornüber: gebeugt eingeſchlummert war; dort das junge Maͤdchen, welches vor ſich hinſtarrte, waͤhrend ihr Zuhaͤlter ſie mit Schimpfworten uͤberhaͤufte; hier dieſe ganze Familie, die eine Gruppe bildete: der Vater offenbar ein beſchaͤftigungs⸗ loſer Arbeiter und die Mutter, verzweifelt uͤber ihre Lage, die Kinder beruhigend, die ſich um eine Scherbe ſtritten; dort die ſchlafenden Reihen — ſie lagen wie .
Und uͤber ihnen allen die truͤbe Dunſtwolke ewigen Schmutzes und ewigen Hungers. Keine Freude, kein Reiz, keine Hoffnung mehr ... Tag fo für Tag.. Nacht ſo fuͤr Nacht
Auban riß ſich mit Gewalt los von dem Bilde ohne Farbe, ohne Zeichnung, ohne Stimmung.
Er kannte dieſe Schlafhaͤuſer, in denen man Unter— kunft fand für einzelne Nächte. Zum uberfluß ſtand es auch dort noch mit weißen Buchſtaben auf der rot— geſtrichenen Wand: Die Nacht für 3 d. — 4 d. — und für 6 d. — Für 6 d. — das waren die „chambers“, wo jeder ſein eigenes Bett erhielt, deſſen Waͤſche alle paar Wochen einmal wenigſtens erneuert wurde, nachdem es zwanzig verſchiedene Koͤrper beherbergt. — Fuͤr 4 d.
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ſchlief ſchon alles in Reihen, ganz dicht aneinandergedraͤngt, den Raum bis auf den letzten Platz ausnutzend. — Fuͤr 3 d. endlich — das war das große Zimmer mit leeren Baͤnken, uͤber die man ſich legte, oder auch die Kuͤche, wo man auf der Stelle liegen blieb, auf der man eins geſchlafen war; fuͤr 3 d. gegen nichts anderes geſchuͤtzt, als gegen die eiſige Kaͤlte der Nachtluft und die Leben zerſtoͤrende Feuchtigkeit des Straßenpflaſters ...
Ein Mann taumelte zur Tuͤr heraus. Man hatte ihn fortgewieſen, da er nicht bezahlen konnte. Auban wollte ihn anreden, um ihm zu helfen, aber jener war voͤllig betrunken. Er taumelte weiter, vor- und ruͤck⸗ waͤrts, ſchlug mit den Haͤnden um ſich, und taſtete ſich lallend und ſchwankend an den Haͤuſerwaͤnden fort — hinein in die Nacht, die ihn verſchlang.
Auch Auban ging weiter. Er hatte vergeſſen, wo er war und zu welcher Stunde.
Ploͤtzlich beſann er ſich. Er mußte die Straße, die er gekommen, wieder zuruͤckgehen, um ſich zu orientieren, daß er richtig gegangen war. Dort lag die Straße, wo er eingetreten war — alſo geradeaus, wieder dem Weſten zu
Alle hundert Schritte jetzt nur noch ein unſtetes Licht. Enger und enger die Straße. Das Pflaſter immer ſchlechter, immer größere Schmutzlachen und Kehricht— haufen
Aber Auban wollte nicht mehr zuruͤck.
Die Tuͤr eines Hauſes ſtand offen. Wieder ein Lodging⸗Haus, aber eines der uneingeſchriebenen. Eines der beruͤchtigten rookeries, wie das Volk ſie nannte. Es
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war uͤberfuͤllt. Die ganze enge, ſteile Treppe, ſoweit Auban ſie uͤberſehen konnte, war beſaͤet mit zuſammengekruͤmmten, dunklen Menſchenleibern. Über- und nebeneinander wie Tote, welche in Haufen hierher geworfen waren, ſo lagen ſie da. Bis auf die Straße hinaus, auf die Schwelle noch, hatten ſie ſich hingekauert. Nichts war mehr deutlich erkennbar: das Fleiſch, das unter Lumpen und Fetzen hervorſah, war ſo ſchmutzig wie dieſe ſelbſt, ge— traͤnkt von Feuchtigkeit, Schmutz und Krankheit ...
Auban ſchauderte. Er eilte weiter. Eine Querſtraße. Dann eine hohe Mauer. Ein ſiebenſtoͤckiges Maſſen— wohnhaus, wie ein Rieſe ploͤtzlich aus dem Dunkel hervortauchend. Es blieb ſeitwaͤrts liegen. Immer ge: radeaus — dem Weſten zu.
In der naͤchſten Straße nun wieder einzelne Menſchen. Aber kaum erkennbar: an die Wand gemalte Schatten, oder wie verſteinert in den Haustüren hockend. Kein Laͤrm, kein Geſpraͤch; kein Lachen, kein Singen Totenſtille.
Auban begann jetzt an der Richtung des Weges irre zu werden. Wieder wurden die Straßen voͤllig ver— laſſen.
Er kannte doch dieſe Gegend. War er nicht hier ſchon bei Tage geweſen? Alles ſchien ihm veraͤndert. Dieſe Mauer zur Linken — nie hatte er ſie geſehen. War er fehlgegangen? Unmoͤglich! Er ſtrengte ſein erregtes Gehirn zum Zerſpringen an, indem er ſtehen blieb. Er uͤberlegte — ſo mußte und nicht anders konnte es ſein: ging er nach links, nach Suͤden, ſo mußte er in drei Minuten Whitechapel High Street, ging er geradeaus,
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nach Weſten, in derſelben Zeit Commercial Street er: reichen
Alſo vorwärts — geradeaus..
Er fuͤhlte erſt jetzt, wie muͤde er war. Sein lahmes Bein ſchmerzte. Am liebſten haͤtte er ſich auf den Boden gelegt, um zu ſchlafen. |
Aber er rief feinen Willen zu Hilfe und ging weiter.
Ein Gedanke ſtieg in ihm auf: wenn er jetzt an⸗ gefallen wuͤrde, wer wuͤrde ſeine Rufe um Hilfe hoͤren? — Niemand. Er hatte keine andere Waffe bei ſich als ſeinen Stock, der ihm ſchwer in der Hand zu liegen be— gann. — Begegnete ihm jemand und erkannte in ihm einen Fremden, ſo war es faſt unmoͤglich, daß er ſich die Gelegenheit, ihn zu berauben, entgehen laſſen wuͤrde ...
Ein ganz neues Gefuͤhl bemaͤchtigte ſich ſeiner. Es war nicht Furcht. Es war vielmehr das Grauen des Widerwillens, hier in dieſer Nacht, dieſem Schmutz, dieſer Einſamkeit angefallen zu werden von einem wilden Tier in Menſchengeſtalt und hier einen Kampf auf Leben und Tod beſtehen zu muͤſſen.
Er ſah ein, wie unvorſichtig es von ihm geweſen, ſich in dieſe faſt unvermeidliche Gefahr begeben zu haben. Er erinnerte ſich jetzt auch, daß er in dieſelbe Straße eingetreten war, an deren Eingang ihm vor einiger Zeit ein Poliziſt geſagt hatte, er moͤge ſie nicht paſſieren, wie er dies wahrſcheinlich jedem Beſſergekleideten ſagte.
Auban beſchleunigte nun ſeinen Gang aufs aͤußerſte. Aber die Mauer wollte kein Ende nehmen. Die Dunkel⸗ heit war undurchdringlich. Nicht auf zehn Schritte haͤtte er eine Wand von einem Menſchen unterſcheiden koͤnnen.
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Er umklammerte mit eiſernem Griff den Stock, ohne ſich auf ihn zu ſtuͤtzen. Er glaubte jeden Augenblick einen Angreifer aus dem Dunkel hervortauchen zu ſehen, ihn in feinem Nacken oder an ſeiner Seite zu fühlen... . Aber er war entſchloſſen, ſein Leben wenigſtens teuer zu verkaufen.
Er lief und ſchwang ſeinen Stock vor ſich her. Der Schweiß rann von feiner Stirn. Sein Grauen wuchs.
Wo war er? — Das war nicht mehr Whitechapel. Das war eine Nacht ohne Anfang und ohne Ende; eines Abgrunds ungemeſſene Tiefe.
Ploͤtzlich ſchlug ſein Stock gegen eine Wand. Und jetzt unterſchied Auban zu ſeiner Rechten auch wieder Haͤuſer und Fenſter. Eine kurze Straße, ſchwach erhellt von einer einzigen Laterne, und ſo eng, daß ein Wagen fie nicht hätte paſſieren koͤnnen, tat ſich auf. Sie muͤndete auf eine größere . ..
Auban befand ſich in der naͤchſten Minute auf der ganzen Breite von Commercial Street. Nach fuͤnf Minuten ſtand er keuchend unter der runden Glaskugel des Lichtes, das den Eingang zu den Schalterraͤumen und den nach der Tiefe fuͤhrenden Treppen erhellte.
Er hatte das letzte Ziel ſeiner heutigen Wanderung erreicht: Aldgate Station.
Noch blieben ihm genau zehn Minuten bis zum Ab— gang des Zuges.
Der ganze Weg vom Klub bis hierher hatte nicht laͤnger als eine halbe Stunde gedauert. Auban glaubte, es muͤßten Stunden vergangen ſein, ſeit der Geſang der Marſeillaiſe an fein Ohr gedrungen war.
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Waͤhrend er ſich anlehnte, um ſeine jagenden Pulſe zu beſchwichtigen, waͤhrend vor ihm die Straßenverkaͤufer ihre Bretter und Tonnen mit den Überreſten ihrer Waren fort— raͤumten und um ihn in beſinnungsloſer Trunkenheit und uͤberreizter Eile die Menſchen ſich ſtießen und drängten, wandte er noch einmal feinen Blick dem Oſten zu ...
Und mit einem Schlage fand er, was er geſucht hatte zu bezeichnen: der ungeheure Rachen des Rieſen— leibes von Eaſt End war dieſes Whitechapel, welches da gaͤhnend vor ihm lag! Was in die Naͤhe ſeines giftigen Atems kam, taumelte, verlor den letzten Halt, wurde zermalmt von unerbittlichen Zaͤhnen und verſchlungen, waͤhrend alle Laute des Elends, von dem Roͤcheln der Angſt bis zu dem Seufzen des Hungers, erſtarben in der ſtinkenden Dunkelheit ſeiner Tiefe. Und alle Laͤnder der ganzen Welt warfen ihren ganzen Abfall hinein in dieſes gierige Maul, damit ſich endlich dieſer ſchreckliche, kraftloſe, unerſaͤttliche Leib befriedigen koͤnne, deſſen Hunger unermeßlich und immer im Wachſen ſchien ...
Und waͤhrend Auban zuruͤckwich vor dem Dunſt, hatte er ploͤtzlich in der letzten ihm noch bleibenden Minute die grandioſe Viſion des Kommenden: weit oͤffnete dieſer Rieſenrachen ſeine geifertriefenden Kiefer und ſpie in wuͤrgender Wut eine enorme Schlammwoge von Unrat, Kot und Faͤulnis über London aus — — ... Und alles begrub — wie ein ins Wanken geratener Berg — dieſe ekle Woge: alle Größe, alle Schönheit, allen Reich⸗ tum... London war nur noch eine endloſe Lache von Faͤulnis und Moder, deren ſcheußliche Duͤnſte die Himmel verpeſteten und alles Leben langſam erſtickten ...
Siebentes Kapitel Die Tragoͤdie von Chicago
In drohende Wolken von Rauch und Blut ſchienen die Tage gehuͤllt, mit denen die zweite Woche des November begann.
Waͤhrend in London der Schrei nach „Arbeit oder Brot“ immer furchtbarer in die Ohren der privilegierten Raͤuber und ihrer Beſchuͤtzer drang, waren die Augen einer Welt nach Chicago gerichtet, auf die erhobene Hand der Gewalt. Wuͤrde ſie fallen? Oder „begnadigend“ ſich ſenken? —
Die Ereigniſſe des Tages uͤberhaͤuften und uͤber— ſtuͤrzten ſich.
Auban hatte die erſten Tage der Woche in ſeinem Bureau verbracht, hart arbeitend, denn er wollte ſich die beiden letzten moͤglichſt frei halten.
Als er Mittwoch nach dem Lunch ſein Kaffeehaus aufſuchte, ſah er Fleet Street und Strand beſaͤt mit buntfarbigen Flaggen und Wimpeln, die ſich ſeltſam von dem troſtloſen Grau des Himmels, dem ſchlammigen Schwarz des Straßenſchmutzes und den geſtauten Menſchenmaſſen, welche die Trottoirs zu beiden Seiten undurchdringlich beſetzt hielten, abhoben. Lord Mayors
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Show! Der neugewaͤhlte Buͤrgermeiſter der Stadt hielt alter Sitte gemäß feinen pomphaften Umzug und das Volk vergaß auf einige Stunden bei dem Anblick des bunten, kindiſchen Schwindels ſeinen Hunger.
Welche Zeit! dachte Auban. 10000 Pfund bezahlt die Stadt jaͤhrlich dieſem nichtsnutzigen Schwaͤtzer fuͤr ſeine wertloſen Geſchaͤfte und waͤhrend er in Guildhall mit ſchwelgeriſchem Raffinement tafelt, zernagt der Hunger nach einem Stuͤck Brot dieſe ungezaͤhlten Tauſende!
Er wollte nichts ſehen von der Prozeſſion. Er ſuchte ſich ſeinen Weg durch halbleere Nebengaſſen. Ein feiner Regen traͤufelte unablaͤſſig nieder. Mit der Feuchtigkeit durchdrang Kaͤlte und Unbehagen die Kleider.
Er kaufte ſich eine Morgenzeitung und durchflog fie haſtig. Trafalgar Square auf jeder Spalte! Ber: ſammlungen der Arbeitsloſen Tag fuͤr Tag — heute erlaubt, morgen verboten .. . Verhaftungen der Redner Beunruhigende Geruͤchte aus Deutſchland: die Krankheit des Thronfolgers ſoll unheilbar ſein .. . leiſe, aͤngſtliche Vermutungen über ihre Natur ... Krebs . die Wendung im Schickſal eines Landes zum Guten oder Boͤſen abhaͤngig von dem Leben und Sterben eines Mannes! ... — Frankreich — nichts ... — Chicago! .. Kurze Notizen über die Begnadigungsbriefe von vieren unter den Verurteilten an den Gouverneur von Illinois, in deſſen Hand nach Verwerfung des neuen Prozeſſes nun die letzte Entſcheidung liegt .. . über den Fund von Bomben in einer Zelle ... Natürlich! —: die Stimmung in weiten Kreiſen iſt den Verurteilten zu
guͤnſtig. Da werden plotzlich Bomben ‚gefunden‘ — vin 18
.
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gefunden in einer Nacht und Tag bewachten Gefaͤngnis⸗ zelle! — und ſie ſchlaͤgt wieder um! — Allzu gelegen
kam dieſer Fund in einem Augenblicke, wo die Geſuche um N
Begnadigung ſich mit Hunderttauſenden von Unterſchriften bedeckten, die, wie die Zeitungen eindringlich illuſtrierten, aneinandergelegt einen Raum von elf Meilen in die Laͤnge bedecken konnten, als daß die bewußte, uͤberlegte Abſicht dieſer Nachricht nicht unverkennbar geweſen waͤre.
Auban ballte die Zeitung zuſammen und warf ſie von ſich. Nun hatte er keine Hoffnung mehr. In ent⸗ ſetzlicher Deutlichkeit ſtiegen die kommenden Tage vor ihm auf und der Froſt ſchuͤttelte ihn wie Fieber.
Der elfte November fiel auf den Freitag. Vor dem mit Papieren, Zeitungsblaͤttern und Buͤchern uͤberladenen Tiſch in ſeinem Zimmer ſaß Auban. Es war um die fuͤnfte Stunde des Nachmittags und das Licht des Tages erloſch zwiſchen den trüben Straßenreihen.
Auban hatte den ganzen Tag damit verbracht, um noch einmal aus der Fuͤlle des Materials, das ihm ſein amerikaniſcher Freund vollſtaͤndig zur Verfuͤgung geſtellt hatte, die Tragoͤdie, über deren letzten Akt ſich heute der Vorhang geſenkt hatte, in jeder einzelnen ihrer Szenen, von Beginn bis zu Ende, vor ſich abſpielen zu laſſen.
Was er in allen ſeinen Teilen — miterlebend — entſtehen und wachſen geſehen hatte, ſtand nun vor ihm als geſchloſſenes Ganze.
Aber immer noch wuͤhlten feine Finger in den uͤber—
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einander gehaͤuften Zeitungen und durchblaͤtterten die Broſchuͤren in nervoͤſer Haſt, als ſuche er noch nach dieſem und jenem Punkt, auf den das Licht noch nicht hell genug gefallen war.
Die Unmoͤglichkeit ſeiner heutigen Arbeit, in voller Deutlichkeit das Ganze, wie das Einzelne zu durchſchauen, quaͤlte ihn bis zur Verzweiflung. Die Widerſpruͤche waren zu zahlreich. Nie würde ſich die Tragoͤdie völlig er⸗ hellen, uͤber welche heute der letzte Schleier gefallen war.
Dennoch hoben ſich in ſtarrer Erkennbarkeit die Tatſachen vor Auban empor.
Vor ſeinem Geiſte ſteht Chicago, der Vereinigten Staaten zweitgrößte Stadt: vor fünfzig Jahren noch ein kleines Grenzdorf, vor zwanzig ein Truͤmmer⸗ haufen, durch Feuersbrunſt zu ihm geworden uͤber Nacht, aber uͤber Tag wieder erſtanden, heute die praͤchtige Stadt an dem großen See, der große Kornſpeicher der Welt, der Mittelpunkt eines unermeßlichen Verkehrs, über: ſchaͤumend im Beſitz einer Kraft, von welcher das alternde Leben des Oſtens nichts mehr weiß ... In dieſer Stadt des rapiden Wachstums mit ihrer nun faſt erreichten Million Einwohner, von denen der dritte Teil Deutſche ſind, in ihrer ganzen furchtbaren Deutlichkeit die Folgen der ſtaatlich bevorrechteten Ausbeutung menſchlicher Kraft: das Anſammeln des Wohlſtandes in einzelnen Haͤnden zu ſchwindelhafter Hoͤhe und in treuer Wechſelwirkung damit immer größere Maſſen an den Rand der Unmoͤg⸗ lichkeit, ihr Leben zu friſten, getrieben ... Und in dieſe
gaͤrende Stadt, wie ein neuer und furchtbarer Brand, 185
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die Fackel der ſozialen Lehre geworfen: geſchuͤrt von tauſend Haͤnden greift die Glut mit einer Schnelligkeit um ſich, welche die Tage der Revolution als gekommen erſcheinen laͤßt ..
Die Gewalthaber ſchicken ihre Poliziſten; und das Volk ſchickt ſeine Fuͤhrer, hinter die es ſich ſtellt. Jene knuͤtteln und ſchießen ſtreikende Arbeiter nieder; und dieſe rufen mit ſchallender Stimme: „To arms! To arms!“ — und zeigen den Wahlſpruch: „Proletarier, bewaffnet Euch!“ als einzige Rettung.
Gewalt gegen Gewalt! Torheit gegen Torheit!
Die Bewegung zugunſten des achtſtuͤndigen Arbeits— tages in den Vereinigten Staaten, die „Achtſtunden⸗ bewegung“, deren Beginn um faſt zwei Jahrzehnte zurück- datiert und als deren Ende von einer Million Arbeitern, den „Knights of Labour“ mit 400 000 Arbeitern und den „Federated Trades Unions“ mit einer gleichen Anzahl an der Spitze, dem erſten Mai des Jahres 1886 entgegengeſehen wird, iſt das Ziel, um das von beiden Seiten gleich leidenſchaftlich gekaͤmpft wird ... Was die Forderungen früherer Jahre als ‚Recht‘ bereits hier und da auf dem Papier erobert hatten, blieb unerworbenes Recht.
Die 1883 gegruͤndete „Internationale Arbeiter-Aſſo⸗ ziation“ von Revolutionaͤren deutſcher Zunge in Chicago, die ſich Anarchiſten nannten, aber die kommuniſtiſche Lehre des gemeinſchaftlichen Beſitzes verteidigten, nimmt, obwohl ſie in dem allgemeinen Wahlrecht nur ein Mittel ſehen, die Arbeiter durch Vorſpiegelung der Erlangung politiſcher Rechte von der Erwerbung ihrer oͤkonomiſchen
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Gleichberechtigung abzuhalten, dennoch, um ſich ein wich⸗ tiges Propagandafeld nicht entgehen zu laſſen, Stellung in dieſer Frage, die bald zu der einzigen Frage des Tages wird.
Dem 1. Mai gehen in Chicago, dem Mittelpunkt der Achtſtundenbewegung, unerwartete Ereigniſſe voran: die Schließung einer großen Fabrik — die dadurch er— folgte Brotlosmachung von 1200 Arbeitern — haben Ver— ſammlungen zufolge, auf denen es zu ernſten Zuſammen⸗ ſtoͤßen mit den uniformierten, und den nichtuniformierten Poliziſten, den Privatdetektivs der Pinkertonſchen Schutz⸗ Patrouillen im ſpeziellen Dienſt der Kapitaliſten, den berüchtigten „Pinkertonianern“, kommt.
So wird am 3. Mai, nachdem an dom fo lange er⸗ warteten erſten in Chicago allein mehr als 40000 Ar— beiter, in den Staaten aber 360 000 die Arbeit nieder: gelegt haben, von denſelben ein Angriff auf die Arbeiter gemacht, und eine große Anzahl derſelben verwundet. Die Verſammlung des 4. Mai, auf den Haymarket einbe— rufen von dem „Exekutivkomitee“ der J. A. A., hat den Zweck, gegen dieſe Freveltaten der geſetzlichen Gewalt zu proteſtieren.
An demſelben Tage noch wird von einem der Fuͤhrer, dem Redakteur der großen deutſchen „Arbeiter-Zeitung“, ein Zirkular geſchrieben, das unter dem Namen „Rache— Zirkular“ zu einer entſetzlichen Beruͤhmtheit gelangen ſollte.
Es iſt in zwei Sprachen geſchrieben: das engliſche wendet ſich an die amerikaniſchen Arbeiter, die es auf— fordert, ſich ihrer Vorfahren wuͤrdig zu zeigen und ſich
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zu erheben, „wie Herkules in ſeiner Kraft“; das deutſche lautet: „Rache! Rache! „Arbeiter, zu den Waffen!
„Arbeitendes Volk, heute nachmittag mordeten die Bluthunde, Eure Ausbeuter, ſechs Eurer Bruͤder draußen bei Me. Cormicks. Warum mordeten ſie dieſelben? Weil ſie den Mut hatten, mit dem Los unzufrieden zu ſein, welches Eure Ausbeuter ihnen beſchieden haben. Sie forderten Brot, man antwortete ihnen mit Blei, eingedenk der Tatſache, daß man damit das Volk am wirkſamſten zum Schweigen bringen kann! Viele, viele Jahre habt Ihr alle Demuͤtigungen ohne Widerſpruch ertragen, habt Euch vom fruͤhen Morgen bis zum ſpaͤten Abend ge— ſchunden, habt Entbehrungen jeder Art ertragen, habt Eure Kinder ſelbſt geopfert — alles, um die Schatz kammern Eurer Herren zu fuͤllen, alles fuͤr ſie! Und jetzt, wo Ihr vor ſie hintretet und ſie erſucht, Eure Buͤrde etwas zu erleichtern, da hetzen ſie zum Dank fuͤr Eure Opfer ihre Bluthunde, die Polizei, auf Euch, um Euch mit Bleikugeln von der Unzufriedenheit zu kurieren. Sklaven, wir fragen und beſchwoͤren Euch bei Allem, was Euch heilig und wert iſt, raͤcht dieſen ſcheußlichen Mord, den man heute an Euren Bruͤdern beging und vielleicht morgen ſchon an Euch begehen wird. Arbeitendes Volk, Herkules, du biſt am Scheidewege angelangt. Wofuͤr entſcheideſt du dich? Fuͤr Sklaverei und Hunger, oder fuͤr Freiheit und Brot? Entſcheideſt du dich fuͤr das letztere, dann ſaͤume keinen Augenblick; dann, Volk, zu den Waffen! Vernichtung den menſchlichen Beſtien, die
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ſich deine Herrſcher nennen! Ruͤckſichtsloſe Vernichtung ihnen — das muß deine Loſung ſein! Denk' der Helden, deren Blut den Weg zum Fortſchritt, zur Freiheit und zur Menſchlichkeit geduͤngt — und ſtrebe ihre wuͤrdig zu werden!
Eure Bruͤder.“
Die Verſammlung auf dem Haymarket am Abend des 4. Mai iſt eine ſo ordentliche, daß der Buͤgermeiſter der Stadt, der mit der Abſicht gekommen war, die Ver— ſammlung beim erſten Anzeichen von Unordnung zu ſchließen, dem Polizeikapitaͤn bedeutet, er moͤge ſeine Leute nach Hauſe ſchicken.
Der Wagen, von welchem herunter die Redner ſprechen, ſteht in einer der großen Straßen, die auf den Heumarkt münden. Einige tauſend Menſchen ums geben ihn, die ruhig erſt den Worten des Verfaſſers des Manifeſtes, dann dem ausgedehnten Vortrag eines eng⸗ liſchen Leaders uͤber die Achtſtundenbewegung folgen; es ſind viele Details in ihnen, die das Verhaͤltnis des Kapitals zur Arbeit betreffen.
Ein dritter Redner ſpricht ebenfalls engliſch.
Am Himmel ſteigen Wolken auf, die mit Regen drohen, und der groͤßte Teil der Zuhoͤrer verlaͤuft ſich. Da macht, als der letzte Redner ſchließen will, die Polizei in einer Staͤrke von hundert Mann einen geſchloſſenen Angriff auf die noch Zuruͤckgebliebenen. In dieſem Augen— blick faͤllt, von unſichtbarer Hand geſchleudert, eine Bombe in die Reihen der Angreifer. Sie tötet auf der Stelle einen derſelben, verwundet ſechs andere toͤdlich, verletzt
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eine große Anzahl, etwa fuͤnfzig. Unter moͤrderiſchem Feuer der Polizei fluͤchten ſich die Reſte der Verſammlung in die Nebenſtraßen
In Chicago herrſcht der Wahnſinn der Furcht. Keiner unter den Gegnern ſieht in dem Bombenwurf die Selbſt⸗ verteidigung eines zur Verzweiflung Getriebenen. Und waͤhrend in den Arbeiterkreiſen die falſche Annahme um ſich wuchert, es ſei die berechnete Tat eines Polizeiagenten, die dem bedrohten und ſchreckbebenden Kapital ermoͤglichen ſollte, einen toͤdlichen Schlag gegen die Achtſtundenbe— wegung zu fuͤhren, bearbeitet die im Solde dieſes Kapitals ſtehende Preſſe die öffentliche Meinung mit ungeheuer— lichen Geruͤchten von blutigen Verſchwoͤrungen gegen „Recht und Geſetz“, mit der Wiedergabe von aufreizenden Stellen aus Zeitungsartikeln und Reden, waͤhrend ſie ſelbſt als das beſte Mittel, den Hunger der Tramps zu ſtillen, Blei und Kugeln, und fuͤr die Arbeitsloſen die Miſchung von Arſenik in ihre Mahlzeiten, um ſie los zu werden, empfohlen hatte
Die drei Redner des Abends werden verhaftet. Eben— ſo vier weitere bekannte Perſoͤnlichkeiten aus der Bewegung; ein achter, der Herausgeber des engliſchen Arbeiterblattes, des „Alarm“, ein Amerikaner, ſtellt ſich ſpaͤter freiwillig. . . Von den vielen, welche eingezogen und verhoͤrt waren, werden dieſe acht zuruͤckbehalten und vor die Schranken des Gerichts gefordert.
So ſtanden die Tatſachen der Vorgeſchichte vor Aubans Augen: eine Schlacht war geſchlagen worden in dem großen Kriege zwiſchen Kapital und Arbeit, und die Sieger ſetzten ſich nun zu Gericht uͤber ihre Gefangenen.
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Dem Kampfe aber war fuͤr geraume Zeit ein jaͤhes: Halt! — geboten.
Der zweite Akt der Tragoͤdie beginnt: der Prozeß.
Vor Aubans Augen hebt ſich langſam der Vorhang von dem Prozeß, wie er ihn verfolgt hatte in allen ſeinen Stadien nach den zahlloſen Berichten der Zeitungen, wie er ihn kannte aus den Reden der Verurteilten, und wie er ihn heute wieder durchgearbeitet nach den Auszuͤgen der Akten, die dem Supreme Court von Illinois über: geben waren.
Es war in der Tat eine muͤhſame Arbeit geweſen, der er den heutigen Tag gewidmet. Doppelt muͤhſam fuͤr ihn in der fremden, der ſeinen ſo fremden Sprache. Aber er wollte noch einmal und zum letztenmal pruͤfen, ob die Gegner wenigſtens den Schein des Rechtes auf ihrer Seite hatten.
Auch von dieſem Standpunkte aus iſt die Verurteilung der Angeklagten nichts als ein Mord. War wirklich eine Verſchwoͤrung im Werk geweſen, dahin gerichtet, die naͤchſten Attacken der Polizei mit Bombenwuͤrfen zu er— widern, ſo ſtand jedenfalls die individuelle Tat des 4. Mai in keiner Beziehung mit ihr. Fuͤr niemand kam die Torheit derſelben uͤberraſchender, als fuͤr die, welche unter ihren Folgen fo furchtbar leiden follten . ..
Zunaͤchſt iſt die Zuſammenſetzung der Jury eine will: kuͤrliche: wenn auch etwa taufend Bürger der Stadt ver— nommen werden, ſo ſind es doch nur ſolche, deren ein— geſtandene Voreingenommenheit gegen die Bewegung des Sozialismus die Verteidiger der Angeklagten zur Ab— lehnung zwingt, bis ſie ſich genoͤtigt ſehen, Maͤnner
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anzunehmen, die ſich nach eigenem Geſtaͤndnis zum Teil bereits ein Urteil gebildet haben, ehe noch die Unter⸗ ſuchungen begonnen. Von dem großen Arbeiterbezirk Chicagos, welcher der ganzen Bevoͤlkerungszahl der Stadt von dreiviertel Millionen Menſchen allein mit 150000 Einwohnern gegenuͤberſteht, kommen auf jene tauſend Vernommenen nur zehn; und dieſe zehn leben dazu noch in naͤchſter Naͤhe der Polizeiſtation. Der Staat verwirft die meiſten von ihnen; derer, die er annimmt, iſt er im voraus ſicher. Das iſt die Jury, in deren Haͤnde die Entſcheidung über Leben und Tod gelegt wird! ... Immer findet fich die mit Anmaßung gepaarte Dumm⸗ heit bereit, eine Rolle der Laͤcherlichkeit und der Ver: aͤchtlichkeit zu ſpielen; furchtbar wird ſie, wenn ihr, wie hier, die Brutalitaͤt der Gewalt ſich beigeſellt — dann wehe jedem, der ihr in die Hände fällt! ...
Die uͤbrigen Vorarbeiten beſtehen in der Inhaftnahme und Bearbeitung einer uͤbergroßen Anzahl von Perſonen aus der arbeitenden Klaſſe — keine Brutalitaͤt iſt dem Polizeihauptmann, einem eitlen Streber gewoͤhnlichſter Art, zu brutal, keine Hinterliſt zu niedrig, um aus ihnen herauszulocken, in fie hineinzulegen, was er wiſſen will: daß eine Verſchwoͤrung beſtanden hat. Er nimmt ge⸗ fangen, wen er will; er verlängert, verkuͤrzt die Haft nach Gutduͤnken; er behandelt ſeine Opfer, wie er will — niemand hindert ihn. Kein Kaiſer herrſchte je ſouve— raͤner, als die aufgeblaͤhte Winzigkeit dieſes brutalen Strebers.
Gegen Ende des Juli ſind auch die Vorarbeiten be— endet. Der Staatsanwalt ſtellt ſeine Anklage auf, die
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auf Verſchwoͤrung und Mord lautet. Der rieſige Prozeß, welcher Mitte Juni mit Zuſammenſetzung der Jury ſeinen Anfang genommen, tritt damit in ſein zweites Stadium. Einen Tag ſpaͤter beginnen die Vernehmungen der Zeugen unter beiſpielloſem Zudrang des Publikums, der unver— mindert bleibt, ſo lange ſie dauern.
Der Staat hat ſehr verſchiedene Zeugen. Die einen ſind vor die Entſcheidung geſtellt, mitangeklagt zu werden oder gegen die Angeklagten auszuſagen. Sie und ihre Familien haben von der Polizei Unterſtuͤtzungen erhalten und lange Unterredungen mit ihr gepflogen. Selbſt dar⸗ aufhin find fie nicht imftande, mehr zu ſagen, als daß Bomben verfertigt und verteilt worden ſind, aber ſie muͤſſen hinzufuͤgen, daß die Verteilung nicht zum Zwecke der Benutzung auf dem Haymarket-Meeting geſchah.
Ein anderer Hauptſtaatszeuge iſt ein notorifcher Lügner, von uͤbelſtem Rufe bei allen, die ihn kennen. Seine Ausſagen fallen am meiſten ins Gewicht. Auch er hat Geld von der Polizei erhalten. Er hat alles geſehen: wer die Bombe warf und wer ſie entzuͤndete; er weiß, wer abweſend war und wer anweſend; nur von den ge— haltenen Reden hat er nichts gehoͤrt. Und er kennt die ganze Verſchwoͤrung in allen ihren Einzelheiten ..
Alle dieſe Staatszeugen haben ſich untereinander widerſprochen — aber man breitet die blutigen Kleider der getöteten Poliziſten vor der Jury aus; der eine und der andere der Angeklagten hat nie eine Dynamitbombe geſehen — aber der Staatsanwalt verlieſt alberne Stellen aus dem gewiſſenloſen Buche eines profeſſionellen Re— volutionaͤrs uͤber „revolutionaͤre Kriegskunſt“; einige der
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Beſchuldigten haben in gar keinem Verkehr miteinander geftanden, kannten ſich kaum — aber die Geſchworenen werden mit Auszuͤgen aus Reden und Zeitungsartikeln uͤberſchuͤttet, welche die Erregung und die Leidenſchaft der Stunde geboren und die oft weit zurüchiegen . ..
Denn: „Die Anarchie iſt vor Gericht“. Indem dieſe acht Maͤnner geopfert werden, ſoll ein vernichtender Schlag gegen die ganze Bewegung gefuͤhrt werden, durch den man ſie auf lange Zeit hinaus zu laͤhmen gedenkt: Bourgeoiſie gegen Proletariat, Klaſſe gegen Klaſſe!
Die Verteidiger der Angeklagten tun ihr moͤglichſtes, die Opfer den Klauen der Gewalt zu entreißen. Aber indem fie gezwungen find, ſich auf den Boden des Geg⸗ ners zu begeben, um ihn zu bekaͤmpfen, auf das Terrain, welches wie zum Hohn das „allgemeine Recht“ genannt wird, muͤſſen ſie notwendigerweiſe unterliegen. Und ſie unterliegen.
Gegen Ende des Auguſt faͤllt das Urteil aus dem Munde der Jury, das ſieben Männer dem Tode über: liefert, bevor der Tod ſelbſt nach ihnen verlangt.
So iſt endlich das entſetzliche Narrenſchauſpiel dieſes Prozeſſes, welches den vierten Teil eines Jahres fuͤr ſich in Anſpruch genommen, beendet. — Ein neuer Prozeß, dringend verlangt, wird abgelehnt.
Vor dem Richter halten die Angeklagten ihre Reden, dieſe beruͤhmt gewordenen Reden, aus denen die Leiden, die Klagen, die Wuͤnſche, die ganze Verzweiflung und die ganze Hoffnung, alle Erwartung und aller Trotz des Volkes in allen Tönen des empoͤrten Herzens jo er—
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greifend, fo fühn, ſo einfach und ſo leidenſchaftlich, To ſtuͤrmiſch und — fo unklar ſprechen .
Noch ein volles Jahr vergeht, ehe der Schlaͤchter Staat feine Armel aufſtreifen kann, um mit feinen unerſaͤtt— lichen Haͤnden auch dieſe Opfer zu erwuͤrgen. Und faſt ſchien es anders kommen zu wollen. Denn waͤhrend von den Arbeitern willig alle noͤtigen Opfer gebracht werden, um alles noch moͤgliche zu ermoͤglichen, bereitet ſich in weiteren Kreiſen ein Umſchwung der Gefuͤhle vor und die Überzeugung von der Unſchuld der Verurteilten tritt an die Stelle der eingeſchuͤchterten Furcht und die des kuͤnſtlich erzeugten Haſſes.
Die Wetterfahne der ‚öffentlichen Meinung‘ beginnt ſich zu drehen.
Dennoch beſtaͤtigt der Supreme Court von Illinois, welchem im Maͤrz des folgenden Jahres der Fall zur neuen Pruͤfung uͤbergeben iſt, im September das Urteil.
Und ebenſo das Bundesgericht in Waſhington.
Der Tag der Ermordung ſteht vor der Tuͤr.
In den Haͤnden eines einzigen Mannes nur liegt jetzt noch die Macht, die fallende Hand des Todes auf—
zuhalten: es iſt der Gouverneur von Illinois. Ihm ſteht
das Recht der Begnadigung zu.
Drei der Verurteilten reichen ein Schreiben ein, in dem ſie die Anklage als ebenſo falſch wie abſurd be— zeichnen, aber bedauern, der Gewalt das Wort geredet zu haben; die uͤbrigen vier weiſen in Briefen voll Stolz, Mut und Verachtung die Begnadigung fuͤr ein Ver— brechen zuruͤck, an welchem fie unfchuldig find, Sie vers
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langen „die Freiheit oder den Tod“. In dieſen Briefen ſchreibt der eine: 5
„— — Die Geſellſchaft mag eine Anzahl der Anhänger des Fortſchritts, die unintereſſiert den Arbeitern gedient haben, hängen, aber ihr Blut wird Wunder wirken. Es wird den Niedergang der modernen Geſellſchaft und die Geburt einer neuen Ara der Ziviliſation beſchleunigen“
Der andere:
„— Die Erfahrung, die ich während, des 15 jährigen Aufenthaltes in dieſem Lande in bezug auf die Wahl und die Verwaltung unſerer oͤffentlichen Amter, die total von Korruption zerfreſſen ſind, gemacht habe, haben mir jeden Glauben an die Exiſtenz gleicher Rechte fuͤr Arm und Reich genommen, und die Handlungsweiſe der oͤffentlichen Beamten, der Polizei und der Miliz haben den feſten Glauben in mir hervorgerufen, daß dieſer Stand der Dinge nicht lange weiter beſtehen kann.“
Und der dritte, nachdem er dem Gouverneur die Wahl gelaſſen hat, ‚ein Diener des Volkes“ oder ‚ein Werk⸗ zeug der Monopoliften‘ zu fein:
„— Ihre Entſcheidung in dieſem Falle wird nicht allein mich, ſondern Sie ſelbſt, und die, welche Sie ver: treten, richten ...“
So druͤcken ſie ſich ſelbſt die Maͤrtyrerkrone tiefer in die trogigen Stirnen.
Von allen Seiten wird der Gouverneur beſtuͤrmt. Auf hundert und aberhundert Verſammlungen werden hundert und aberhundert Reſolutionen gefaßt, die gegen die Verurteilung proteſtieren. In allen Teilen der Welt
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erſchallen die Rufe der Sympathie, der Entruͤſtung, die Rufe nach Auffchub, nach Begnadigung .. . nur in Chicago ſelbſt ſchließt die Hand der Gewalt den Mund der Be— voͤlkerung mit brutaler Wucht.
Nur bei dreien wird der Tod zu lebendigem Be— graͤbnis verwandelt; fuͤnf ſollen ſterben.
Da, im letzten Augenblick, als die Wogen der oͤffent⸗ lichen Teilnahme den geplanten Mord unmoͤglich zu machen drohen, werden in der Zelle des einen Ver— urteilten ploͤtzlich Bomben ‚gefunden‘. Die feile Preſſe tut das ihre. Sie laͤßt ununterſucht, wie Bomben anders als mit dem Willen der Polizei dahin gebracht werden konnten, wo ſie zu ſo gelegener Zeit entdeckt wurden — fie läßt von neuem ihre Rufe der Angſt um die ‚ges faͤhrdete oͤffentliche Ordnung“ ertoͤnen, und fabelhafte Geruͤchte von blutigen Plaͤnen, das Gefaͤngnis, die ganze Stadt in die Luft zu ſprengen, erzielen ihre einſchuͤchternden Wirkungen. Die Woge der Sympathie weicht zuruͤck ...
Noch eine Szene: vor dem Manne, in deſſen Haͤnde die Gewalt, die Macht gegeben ſind, liegen weinende Frauen. Sie umfaſſen ſeine Knie: eine arme Mutter bittet um das Leben ihres Sohnes; eine Frau, die dem geliebten Manne nur durch die Gitterſtaͤbe des Gefaͤng— niſſes die Haͤnde zum Bunde reichen durfte, verlangt nach Gerechtigkeit; eine verlaſſene Gattin weiſt auf ihre zitternden Kinder, da die Worte ihr verſagen — aber nichts vermag das ſeelenloſe Bild von Stein zu rühren, in deſſen Herzen nur die Ode der Armlichkeit, in deſſen Hirn nur das Vorurteil der Gewoͤhnlichkeit herrſcht.
Schaudernd wendet ſich die Freiheit ab.
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Der Tragddie zweiter Akt ift zu Ende. Über die Todesqualen von achtzehn Monaten rollt endlich der ſchwarze Vorhang der Vergangenheit...
Auban erhob ſich und ſchritt auf und ab, die Haͤnde uͤber den Ruͤcken gekreuzt. Es war dunkel geworden. Das Feuer erloſch.
Es war in Gedanken verſunken. Das Raſcheln von Papier ſchreckte ihn auf: die Abendzeitung wurde durch die Tuͤrſpalte geſchoben. Er buͤckte ſich nieder und riß ſie haſtig an ſich.
Tod oder Leben — 2 —
Ein Schrei des Entſetzens rang ſich von ſeinen Lippen. Bei dem Schein des ſterbenden Feuers hatte er ein kurzes Telegramm durchflogen: „Special Edition — 6 Uhr — Chicago, 10. November — Schrecklicher Selbſtmord — der eine der Verurteilten — ſoeben mit einer Bombe — in ſeiner Zelle den Kopf zerſchmettert — Unterkiefer völlig fortgeriſſen —“
Die Luft ſeines Zimmers legte ſich ſchwer auf Auban. Er glaubte zu erſticken. Hinaus! — hinaus! — Haſtig ergriff er Hut und Stock und eilte fort.
Als er nach einer Stunde heimkehrte, fand er am Kamin, die qualmende Pfeife im Munde, die Zeitung in der einen, den Schuͤrhaken, mit welchem er das Feuer zu neuer Glut ſtocherte, in der andern Hand, Dr. Hurt. Er war uͤberraſcht. Es war das erſtemal ſeit dem Tode
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ſeiner Frau, daß jener ihn zu einer anderen Zeit als an den Sonntagnachmittagen beſuchte.
— Stoͤre ich Sie, Auban? — Hatte einen Kranken⸗ beſuch in der Naͤhe, dachte, es ſei gut, meine Fuͤße zu waͤrmen und ein vernuͤnftiges Wort zu reden in dieſen Tagen, wo die Menſchen ſich wieder einmal gebaͤrden, als ginge die Welt unter...
Auban druͤckte ihm kraͤftig die Hand.
— Sie haͤtten nichts Beſſeres tun koͤnnen, Doktor, ſagte er. Er ſprach jedes Wort klar und deutlich, aber ſeine Stimme war voͤllig klanglos. Dr. Hurt ſah ihm zu, wie er die Lampe entzuͤndete, Waſſer kochen ließ und Whiskyglaͤſer und Tabak heranſchob.
Dann ſaßen ſie ſich gegenuͤber, die Fuͤße der Waͤrme entgegengeſtreckt.
Keiner von beiden wollte offenbar das Geſpraͤch be— ginnen.
Endlich zeigte Auban auf die Zeitung, welche Dr. Hurt in der Hand hielt und fragte: „Haben Sie geleſen?“
Hurt nickte ernſt.
Aber als er in Aubans Geſicht ſah, wie blaß und entſtellt es war von niedergezwungenen Schmerzen, ſagte er beſorgt:
— Wie ſehen Sie aus!
Auban winkte abwehrend mit der Hand. Dann aber neigte er ſich vornuͤber und vergrub ſein Geſicht in beiden Haͤnden.
— Ich bin durch eine Nacht von Wahn gegangen! VII 19
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— ſagte er langſam und leiſe, den Vers eines modernen Dichters zitierend ...
Dr. Hurt ſprang auf und indem er zum erſtenmal die Maske ſeiner eiſigen Zuruͤckhaltung fallen ließ, legte er die Hand auf Aubans Schulter und ſagte:
— Auban, mein Freund, nehmen Sie es nicht ſo ſchwer! — Es mußte fo kommen, über kurz oder über lang...
— Was verlangen Sie? fuhr er dann ungeduldig werdend fort, — was verlangen Sie von den Regierungen? — Daß ſie die Haͤnde in den Schoß legen und ruhig zuſehen, wie die Flut der Bewegung ſie verſchlingt? — Nein, Sie, der Sie gleich mir wiſſen, daß Recht nichts anderes iſt als Gewalt, und der Kampf des Lebens nichts anderes als der Trieb nach dieſer Gewalt, nein, Sie koͤnnen in dieſem Ereignis von Chicago nichts ſehen als die traurige Epiſode eines gemeinen Kampfes, den Ihr Verſtand begreifen muß als eine Notwendigkeit.
Auban ſah den Sprecher an. Seine Augen loderten und ſeine Lippen bebten.
— Aber ich habe einen perſoͤnlichen Abſcheu gegen alle Feigheit. Und dieſe kaltbluͤtige Ermordung iſt eine Feigheit, wie ich mir ſie groͤßer und widerwaͤrtiger nicht denken kann! — Welcher Mut — die Toren hinter, die Vorurteile neben und die ‚göttliche Einwilligung“ uͤber ſich zu haben, und zu morden? — Welche Feigheit, eine Schlacht ſchlagen zu laſſen! — Nicht Mann gegen Mann zu ſtehen, ſondern ſich zu verſtecken hinter dem Talar des Geſetzes, den Bajonetten der Soldaten, den Faͤuſten roher Knechte — ſtupiden Tieren, die keinen andern Willen haben, als den ihrer Herren! — Welche
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Feigheit, ſage ich, die Dummheit in ihrer Mehrheit für ſich zu haben und dann zu ſagen, ich ſei im Recht!! — Gibt es wohl eine groͤßere? —
Da ſein Gaſt keine Antwort gab, fuhr er fort:
— Es gibt fuͤr mich nur eine wahrhaft vornehme und anſtaͤndige Geſinnung: die paſſive; und nur eine Betaͤtigung, deren Erfolge ich groß nenne: die der eigenen Kraft. Meine Achtung fuͤr alle jene, die aus ſich ſelbſt geworden find, mit ſich ſelbſt ſtehen und fallen, iſt un= begrenzt; aber ebenſo unbegrenzt iſt mein Abſcheu gegen jene, welche die Torheit auf die Schultern hebt, ſie heute zu erhoͤhen, um ſie morgen in ihr Nichts zuruͤckfallen zu laſſen.
— Ja, es wird alles zuſammengeworfen, das wahre und das falſche Verdienſt, ſagte Dr. Hurt.
— Warum gibt es noch Herrſcher auf Thronen? — Weil es noch Untertanen gibt. — Woher dieſes ſoziale Elend? — Doch nicht, weil die einen ſich erhoͤhen, ſondern weil ſich die andern entaͤußern. — Wir leben unter dem Fluche einer völlig unnatuͤrlichen Idee: der chriſtlichen. Wir haben die Außerlichkeiten der Religionen zum Teil abgeſchuͤttelt. Aber von dem Segen, haͤtten wir die Idee der Religion uͤber Bord geworfen, von dem friſchen Wind, der dann unſere Segel ſchwellen muͤßte, iſt noch wenig zu ſpuͤren. — Glauben Sie mir, Doktor, zwiſchen einem Bourgeois und einem Sozialdemokraten herrſcht eine innerliche Verwandtſchaft. Aber nichts fuͤhrt von beiden zu mir. Ein Abgrund liegt zwiſchen uns — zwiſchen den Bekennern des Staates und denen der Freiheit!
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— Sie denken wie die Natur, ſagte der andere nach⸗ denklich, — und daher iſt wohl die Geſundheit und die Wahrheit auf Ihrer Seite.
Und zuruͤckkommend auf das verlaſſene Geſpraͤch, fragte er:
— Und wurde Ihr Abſcheu nicht geweckt, als Sie von dem Bombenwurf hoͤrten?
— Nein. Ich ſah hier nur eine Tat der berechtigten Notwehr. Auf ihre eigene Verantwortung machte die Polizei einen Angriff auf eine friedliche Verſammlung. Ihre Brutalitaͤt wurde diesmal beſtraft, waͤhrend ſie fuͤr gewoͤhnlich frei ausgeht. — Ich beklage die Tat, nicht nur als voͤllig zwecklos, ſondern auch als ſchaͤdlich. Aber mehr noch beklage ich jene, welche nicht einſehen wollen, daß ſolche Taten immer nur die Ausbruͤche einer Ver: zweiflung ſein koͤnnen, die nichts mehr zu verlieren hat, da man ihr alles genommen. ;
— Und jene, welche immer nur andere zur Anz wendung von Gewalt zu reizen ſuchen, ohne ſelbſt je dabei zu ſein, wie lautet Ihr Urteil uͤber dieſe?
— Daß es jaͤmmerliche Feiglinge ſind, und daß das Blatt, das vor einiger Zeit ſchrieb, man möge doch endlich einmal dem Manne, der von New Vork aus unablaͤſſig nach dem Kopf eines europaͤiſchen Fuͤrſten ſchrie, ein Billett nach Europa kaufen, um ihm ſo die Gelegenheit zu geben, ihn ſich ſelbſt dort zu holen, gar nicht im Unrecht war ...
Dr. Hurt hatte ſich wieder geſetzt und eine ernſte Pauſe entſtand. Sie ſprachen uͤber anderes. Dann ſagte Hurt wieder:
— Ich fange an, dieſes Volk zu haſſen. Es iſt wie
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ein Moloch, der ſeine Arme geoͤffnet hat und nun Opfer um Opfer verſchlingt. Dieſes große Kind, das ſo lange mit Ruten gezuͤchtigt wurde, wird ploͤtzlich verhaͤtſchelt bis zur Laͤcherlichkeit. Es wird mannbar und erſtaunt uͤber die Kraft ſeiner eigenen Glieder. Wenn es ſich derſelben ganz bewußt geworden ſein wird, wird es alles zertrampeln, was ihm unter die Fuͤße kommt. Es hat der Gewalt all ihre Attituͤden bereits abgelauſcht: die laͤcherliche Unfehlbarkeit, den duͤnkelhaften Hochmut, die bornierte Selbſtgefaͤlligkeit. Ich ſage Ihnen, Auban, die Zeit iſt nicht mehr fern, wo es fuͤr jeden ſtolzen, freien und unabhaͤngigen Geiſt eine Unmoͤglichkeit ſein wird, ſich noch Sozialiſt zu nennen, da man ihn ſonſt in eine Linie ſtellen koͤnnte mit jenen elenden Kriechern und Er— folgsanbetern, die jetzt ſchon vor jedem Arbeiter auf den Knieen liegen und ihm den Schmutz von den Fingern lecken, nur weil er ein Arbeiter iſt!
Nun war Dr. Hurt der Erregte, waͤhrend Auban in eine bruͤtende Traurigkeit verſunken ſchien, die durch das, was er hoͤrte, nur noch vermehrt wurde, da er ihm bei— ſtimmen mußte.
— Jede Zeit hat ihre Luͤge, fuhr Dr. Hurt fort, — die große Lüge der unſeren iſt die Politik, wie die der kommenden das ‚Volk' ſein wird. Von ihrem reißen⸗ den Strom wird alles ergriffen, was klein, ſchwaͤchlich und unſelbſtaͤndig iſt. Alle Menſchen von ‚heute‘. Dort im Strom kaͤmpfen ſie ihre kleinen, wertloſen, alltaͤglichen Kaͤmpfe. — Die Menſchen aber von morgen, und zu ihnen gehoͤren wir, ſie bleiben am Ufer, oder ſie erreichen es wieder, nachdem der Strom ſie eine Zeitlang zu ver—
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ſchlingen drohte. Und dort, am Ufer der Erkenntnis, ſtehen wir, und darum wollen wir die Tagesereigniſſe unſerer Zeit, deren Zeugen wir ſind, an uns voruͤbergleiten laſſen. Nicht wahr? —
Auban war ergriffen. Zum erſtenmal in dieſer langen Zeit, die er ihn kannte, tat dieſer ſeltſame und ſeltene Menſch ſein Herz vor ihm auf und zeigte ihm deſſen vernarbte Wunden. Was mußte auch er gelitten haben, bis er ſo feſt, ſo hart und ſo einſam geworden war? —
— Wohl haben Sie recht! ſagte er. — Auch ich ſchwamm im Strome und auch ich ſtehe am Ufer. Und an meinen Fuͤßen und meinen Blicken treiben die blutenden Leichen von Chicago voruͤber.
— Es ſind nicht die erſten und es werden nicht die letzten ſein.
— Wohl haben Sie recht, ſagte Auban wieder. — Ich war mit unter denen, die im Strome kaͤmpften. Als ich zwanzig Jahr alt war, als ich nichts kannte von der Welt: die einen Menſchen in meinen Augen bewußte Suͤnder, die andern ſchuldloſe Engel waren, als mir die Folgen die Urſachen, und die Urſachen die Folgen zu ſein ſchienen — da haben ſie auf mich gehoͤrt, wenn ich zu ihnen ſprach. Wo ich den Mut dazu hernahm, vor Hunderten mit meinen Phraſen zu paradieren — ich weiß es heute nicht mehr. Ich war gefeit gegen alles: ich ſtand im Dienſte der Sache. Wie konnte ich da fehlen? — Aus dieſem Gedanken ſchoͤpfte ich meine ganze Kraft; nicht aus mir ſelbſt. Daher fo oft meine Unermuͤd⸗ lichkeit, mein unerſchuͤtterlicher Glaube, meine Gleichguͤltig⸗
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keit gegen mich ſelbſt. — Und je weiter ich mich von der Wirklichkeit entfernte, deſto naͤher kam ich meinen Hoͤrern. Und ging oft weiter, als ich wollte...
— Das war auch der Weg der Fuͤhrer von Chieago: ſie wurden vorwaͤrts getrieben und konnten nicht zuruͤck. Sie mußten ſich ſelbſt uͤberbieten, um ſich behaupten zu koͤnnen. Es iſt dies das oft ſo tragiſche Geſchick aller derer, die den Maßſtab ihres Wertes bei andern ſuchen.
— Mein Schickſal waͤre das ihre geweſen, ſprach Auban weiter. — uͤbrigens war ich nicht gluͤcklich. Ich glaube nicht, daß Selbſtaufopferung wirklich gluͤcklich machen kann. — Und ich haͤtte nicht ſo ſterben moͤgen — heute habe ich es wieder gefuͤhlt. Nein, ich will kaͤmpfen und ſiegen, ohne eine neue Wunde zu empfangen!
— Viele werden ſagen, das ſei ſehr bequem ...
— Moͤgen ſie es ſagen. Ich ſage: es iſt ſchwerer, als ſich ſelbſt hinzugeben, den Feinden zum Vergnuͤgen und den Freunden nicht zum Nutzen. — Und wollen Sie wiſſen was es war, das mich zu dieſer Erkenntnis brachte? Ein Laͤcheln, ein hoͤhniſches, eiſiges Laͤcheln. Es war, als ich meine Rede vor den Richtern hielt. Ich ſchleuderte ihnen Wahrheiten zu, welche die einen verbluͤfften, die andern zur Wut brachten. Ich ſprach von meinen Menſchenrechten und von ihren Rechten der Gewalt — kurz es war eine pomphafte, leidenſchaftliche und ganz ungewöhnliche Rede, ohne alle Politik und natürlich auch ohne irgendeinen Zweck, die kindiſche Rede eines idealen Menſchen. Es iſt immer laͤcherlich, mit ethiſchen Forde— rungen an Menſchen heranzutreten, beſonders an ſolche halbwilde, unverſtaͤndige, dumme Menſchen, die aus
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Paragraphen und Formeln alle Weisheit des Lebens ſchoͤpfen. Aber das empfand ich damals noch nicht. Waͤhrend ich indeſſen ſo ſprach — ich ſprach eigentlich mehr fuͤr die, welche mich nicht hoͤrten — ſah ich auf dem klugen Geſicht eines Beamten ein Laͤcheln, ein fpöttifches, mitleidiges, ſezierendes Lächeln, welches ſagte: Du Narr, was kuͤmmern wir uns um deine Worte, ſo lange ſie nicht Taten werden! —
Doch nein, ich muß mich verbeſſern: ich ſah das Laͤcheln nicht, denn ich ſprach ganz unbekuͤmmert weiter. Erſt ſpaͤter im Gefaͤngnis kam es mir zum Bewußtſein, daß ich es empfunden hatte, und nun verfolgte es mich lange Zeit — ich ſehe es heute noch, wenn ich die Augen ſchließe!
Durch die Mauerſpalten meines Gefaͤngniſſes grinſte es mich an. Es war ein Feind, den ich zu bezwingen hatte. Aber ich ſah, das war keiner, der ſich mit Worten in die Flucht ſchlagen ließ. Nur ein einziges Mittel gab es, ihn zu bannen: ſich ein gleiches Laͤcheln zu erwerben. Nur ihm gegenuͤber war jenes machtlos. Ich erwarb es mir. Ich hatte ja Zeit. Und alles erſchien mir veraͤndert, was ich erlebt und geſehen, unter dem Lichte dieſer neuen Betrachtungsweiſe. Ich ſehe die Menſchen, wie ſie ſind; die Welt, wie ſie iſt. Heute laͤchelt man nicht mehr uͤber mich.
— Es war ſicherlich die groͤßte Tat Ihres Lebens, Auban, daß Sie die Kraft hatten, ſich loszureißen und auf eigene Füße zu ſtellen. — Aber die Kommuniften — ſollte man es fuͤr moͤglich halten, daß die meiſten ſich empoͤrt uͤber die Begnadigungsgeſuche von einzelnen der
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Verurteilten ausſprechen?! — Darin einen Verrat, eine Erniedrigung zu ſehen, einen Wiſch zu unterſchreiben, mit dem ich mein Leben aus den Haͤnden meines Moͤrders retten kann! Tauſend ſolcher Fetzen würde ich unter: zeichnen und hinterher uͤber den Dummkopf lachen, der von mir ‚Ehrlichkeit‘ erwartet, während er mich durch Hinterliſt und Gewalt in ſeine Macht bekommt. Auban, dieſe Kommuniſten ſind Fanatiker, ſie ſind krank, ver⸗ worren, fie leiden an moraliſchen Hirngeſpinſten ...
— Ich habe am letzten Sonntag geſagt, was ich zu ſagen hatte, ſagte Auban ruhig.
— Und ohne allen Nutzen. Nein, dieſe Leute muͤſſen durch Erfahrung klug werden. Laſſen Sie ſie.
— Die Erfahrung wird furchtbar ſein. Es iſt traurig fuͤr mich, zu ſehen, wie immer die ſich neue Leiden ſchaffen, welche ſchon ſo viel gelitten haben.
Wieder glitt das Geſpraͤch ab und bewegte ſich waͤhrend der naͤchſten Stunde fern von Chicago.
Der Doktor hatte das Zimmer mit Rauch gefuͤllt,
3 den er in haſtigen, kurzen Stoͤßen aus feiner nie er— 4 kaltenden Pfeife ſtieß. Der ſtrenge Ernſt des Gemaches + war gemildert durch die Strahlen der Lampe und die 4 Flammen des Feuers. Ein Hauch der Behaglichkeit fait = erfüllte es mit der ſpaͤter werdenden Stunde.
— Kennen Sie das Maͤrchen von des Kaiſers neuen Kleidern? fragte Auban. — So iſt es auch mit dem Staat. Die meiſten Menſchen, ich zweifle nicht daran, find inner— lich davon uͤberzeugt, daß ſie weit beſſer ohne ihn fertig werden koͤnnten. Sie bezahlen widerwillig ihre Steuern, die ſie inſtinktiv als einen Raub an ihrer Arbeit empfinden.
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Aber der Gedanke, „es muͤſſe fo fein, da es immer fo geweſen“, laͤßt ſie das erloͤſende Wort nicht ausſprechen: ſie ſchielen einer nach dem andern, zweifelnd und zaudernd. Es gehoͤrt aber die ganze Unbefangenheit der unverfaͤlſchten Natur dazu, um dieſes kuͤnſtliche Hemmnis, die Quelle all unſeres aͤußeren Elends, mit den Worten umzuſtoßen: Aber er hat ja gar nichts an! Das Ganze iſt ja ein kraſſer, offen zutage liegender Schwindel duͤmmſter Art! — Und dieſes Wort der Erloͤſung iſt gefunden, es heißt: Anarchie! —
Auban ſprach weiter, da ſein Zuhoͤrer nachdenklich ſchwieg.
— Oder nehmen wir das folgende Beiſpiel: Es iſt am Morgen einer Schlacht. Zwei Heere ſtehen ſich gegenuͤber, die man hierher zuſammengetrieben hat, damit ſie ſich gegenſeitig vernichten. In einer Stunde ſoll die Metzelei beginnen. — Wie viele von beiden Seiten, glauben Sie wohl, wenn dem Willen des Einzelnen die freie Wahl gelaſſen waͤre in dieſer Stunde, wuͤrden bleiben, um zu Moͤrdern zu werden; und wie viele wuͤrden die auferzwungenen Waffen fortwerfen und heim— kehren zu den friedlichen Beſchaͤftigungen ihres Lebens? — Alle wuͤrden umkehren, nicht wahr? Bleiben vielleicht nur der kleine Haufe, dem Krieg und Gewalt anerzogene Berufe ſind. Und doch handeln alle die andern gegen ihren Willen, ihre Vernunft, ihr beſſeres Wiſſen, weil es ihnen nicht klar geworden iſt. Sie müffen Denn der Fluch des Wahns — ein Etwas, ein Unfaßliches, ein Unverſtaͤndliches, Schreckliches treibt fie... Sagen Sie mir, Doktor, was das iſt, dieſes Grauenhafte?
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— Gewohnheit, Dummheit und Feigheit, ſagte Hurt. — O, ich habe gar nichts gegen Kriege! Denken Sie das nicht! rief Auban, und er ſtieß mit den Haͤnden die Blaͤtter auf ſeinem Schreibtiſch zuſammen, damit jener nicht ſehen ſollte, wie erregt er wurde. — Nicht das geringſte. Raufbolde und Brutes hat es zu allen Zeiten gegeben. Aber moͤgen ſie allein unter ſich ihre Kaͤmpfe und Streitigkeiten ausfechten, und nicht andere, völlig unbeteiligte, am liebſten in Frieden lebende Menſchen zur Teilnahme an ihren Raufgelagen zwingen unter dem luͤgneriſchen Vorgeben, ihr eigenes Intereſſe erfordere es, im Namen des ‚heiligen Krieges für das Vater— land‘ und ähnlicher Schwindeleien ſich gegenſeitig dahin— zumorden! — Ich habe gar nichts gegen Kriege —, rief er noch einmal, — moͤgen ſie nur gefuͤhrt werden von denen allein, welche ſie wollen. Um ſo beſſer — geht aufeinander los, ihr brutalen Schlaͤchter, zerfleiſcht euch gegenſeitig, rottet Euch gegenſeitig aus, die Erde wird aufatmen, wenn ſie von Euch befreit iſt! — —
— Einſtweilen aber ſitzen wir noch in den Kaͤfigen unſerer Staaten, kauernd in ihren Ecken, uns gegenſeitig bewachend und beobachtend, immer auf der Hut, druͤcken uns an den Gitterſtaͤben hin, knurren uns an, bis wir aufeinander losſtuͤrzen, weil der Raum uns er⸗ druͤckt und das Futter uns zu ungleich zufliegt, ſpottete der Doktor.
Auban antwortete in gleichem Tone.
— Das iſt der Kampf ums Daſein, mein Freund, der Staͤrkere zermalmt den Schwaͤcheren — ſo hat die Natur es gewollt!
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— Ja, dieſe Phraſe, das Schlagwort einer unver: ſtandenen Wiſſenſchaft, kam ihnen zur gelegenen Zeit!
— Mit ihr entſchuldigen ſie ihre gewaltſame Unter⸗ druͤckung und Einengung der Natur in die unnatuͤrlichen Grenzen einer ſtaatlichen Zwangsgemeinſchaft und unter die ſtupiden Geſetze, die ſie fuͤr unfehlbar halten und die ſie doch ſelbſt geſchaffen. Es iſt immer dasſelbe: die Arbeit kann konkurrieren ſo lange, bis ſie inmitten des von ihr geſchaffenen uberfluſſes verhungert; das Kapital bleibt der Konkurrenz enthoben.
Bei Aubans Worten war Hurt wieder plotzlich ſehr erregt geworden.
— Alles kann ich vertragen, nur nicht, daß die Wiſſen⸗ ſchaft, die klare, ſichere, unerbittliche Wiſſenſchaft, die un⸗ beſtechliche, von dieſen Schwindlern der Gewalt und des ‚Beitehenden‘ ihren Dienſten nutzbar gemacht und in dieſer Weiſe verfaͤlſcht wird! rief er.
Auban ſpottete weiter.
— Und was fuͤr herrliche Exemplare der Gattung Menſch aus dieſem Kampf ums Dafein als die ‚Stärfften‘ hervorgehen, nicht wahr? — Ein Beiſpiel. Da iſt einer von unſeren oberen Zehntauſend, Mitglied der jeunesse dorée: hoher Hut, Monocle, Schnabelſchuhe. Er ruͤhrt keine Hand. Aber ſein Kapital arbeitet fuͤr ihn. Es wirft ihm jaͤhrlich 1000 Pfund in den Schoß. Er iſt faul, dumm, intereſſenlos, mit dreißig Jahren ein Wrack.
Da ſind andrerſeits hundert Arbeiter, junge Burſchen, tatkraͤftig, friſch, voll Mut und Willen, ihre Kraͤfte zu verwerten — ſie koͤnnen nicht, wie ſie wollen. Alles
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iſt ihnen verſchloſſen. Sie erlahmen, werden muͤde, ſtumpf, ſie erliegen. Ihr Leben iſt, wenn ſie ſterben, nichts geweſen als Arbeit und Schlaf. Sie beendeten jene nur, um ſich zu dieſem niederzulegen; und ſie ſtanden von dieſem nur auf, um ſich zu jener zu begeben.
Der eine hat die Mittel, um nicht zu arbeiten; die andern haben die Mittel nicht, um zu arbeiten. So ſaugt der Vampyr einen nach dem andern auf: er iſt das Produkt der vergeudeten Arbeit von hundert Men— ſchen. Ein krankes, unproduktives Leben hat hundert geſunde, produktive Leben ganz einfach vernichtet. Jenen hat das Nichtstun entnervt; dieſen die Überarbeit ent— kraͤftet.
Was iſt das, he? — Kampf ums Daſein? Goͤttliche Weisheit? Ordnung der Natur? —
Er machte einen Augenblick halt und ſah auf den Doktor, der maͤchtige Rauchwolken aus ſeiner Pfeife blies. Dann ſprach er weiter.
— Oder auch — ein anderes Bild, gleich anmutend. Die ‚gnädige Frau.. Den Tag über ließt ſie Romane, oder redet ihren Dienſtboten' in die Arbeit, von der ſie nichts verſteht. Abends laͤßt ſie ſich auf den Ball fahren. Was ſie auf dem Leibe traͤgt, der Schmuck der Diamanten hat an und fuͤr ſich gar keinen Wert —
— An und für ſich hat nichts Wert, unterbrach ihn Hurt.
— Aber es repraͤſentiert ein Vermoͤgen an Wert, fuhr Auban unbekuͤmmert fort.
Doch er wurde von neuem unterbrochen.
— Ach, laſſen wir das, Auban! murrte Hurt. — So
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lange die Arbeiter nicht vernuͤnftiger werden, ſind ſolche Exiſtenzen, und weit ſchlimmere noch, die unausbleibliche, ganz natuͤrliche Folge.
Es war ſpaͤt geworden, die Atmoſphaͤre des Zimmers druͤckend und heiß. Das Feuer war muͤde. Hurt ſah nach der Uhr. Aber bevor er ſich erhob, brach ploͤtzlich und ungeſtuͤm, wie eine Flamme, die heimliche, ſchamhafte, heiße, faſt widerwillige Liebe dieſes eigentuͤmlichen Mannes zu allen Unterdruͤckten und Leidenden aus zornigen Worten hervor, die polternd von ſeinen Lippen fielen:
— Dieſe Toren! Wollen ſie nie klug werden? — Bomben zu werfen, welcher Unfinn! — Um es den Regierungen nur ja recht leicht zu machen, ſie zu ver— nichten, nicht wahr? — Aber es ſcheint mir, daß dieſe Menſchen es darauf anlegen, ſich gegenſeitig in Opfern zu überbieten und nicht im Siegen, ſondern im Unter: liegen ihren Stolz ſuchen! Opfer uͤber Opfer! Nein, ich will nichts mehr damit zu tun haben, wenn ſie nicht klug werden wollen, ſo ſollen ſie es bleiben laſſen!
Er war aufgeſtanden. In ſcheinbar leichtem Tone fuͤgte er, ſich gegen Auban wendend, deſſen truͤbe Blicke ſich nicht von dem Tiſche wenden wollten, auf welchem die zerknitterten Zeitungen und Blaͤtter wie eine ungeloͤſte Aufgabe lagen, hinzu:
— Sie duͤrfen von mir nicht zu viel verlangen, Auban. Ich ſtehe jeden Tag an Totenbetten — was will das Leben weniger einzelner, die gewaltſam herausgeriſſen werden, bedeuten gegen jene Scharen, die niemand zaͤhlt und die keiner nennt, und die doch nur Opfer waren der anderen, obwohl ſie ſich nie zu wehren verſuchen!
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Er reichte ihm die Hand.
— Leſen Sie die Geſchichte. Schlagen Sie ſie auf, wo Sie wollen, uͤberall die Siegenden und uͤberall die Unterliegenden. Die Sache iſt immer dieſelbe geweſen, nur die Zahlen waren verſchieden. Ob ſie fallen: er— ſchoſſen auf dem Schlachtfelde, verhungert an der Straßen- ecke, erdroſſelt vom Galgen — bleibt es ſich nicht gleich? — Nicht zu fallen, zu ſiegen — dafuͤr ſind wir da!
Auban konnte nicht antworten. Eine unruhige Angſt hatte ihn ergriffen vor der Nacht, die kam, in der er allein mit ſich bleiben ſollte.
Hurt ſchickte ſich zu gehen an. Doch als er ſchon den Tuͤrgriff in der Hand hatte, wandte er ſich noch einmal zu Auban, trat auf ihn zu und ſagte: „ubrigens will ich Ihnen noch danken. Ich wollte es laͤngſt ſchon tun. F
Sie wiſſen, ich bin ein alter Skeptiker. Ich glaube an nichts und alle Utopien ſind mir ein Graͤuel. An die Freiheit als ein Ideal glaube ich alſo nicht. Aber Sie, nun — Sie haben eine Art gehabt, mir die Freiheit als ein business klar zu machen, daß ich Ihnen ſagen will, falls Ihnen daran etwas liegt: in Ihrem Sinne bin ich ein Anarchiſt!“
Damit druͤckte er ihm kraͤftig die Hand und die Blicke der beiden Maͤnner begegneten ſich fuͤr einen kurzen Augen— blick: nun kannten Sie ſich. Kein Blutbund war es, den ſie miteinander ſchloſſen. Kein Verſprechen, das ſie band, gaben ſie ſich. Keine Verpflichtung gingen ſie ein gegeneinander.
Aber ſie ſagten ſich mit dieſem Blicke: Wir wiſſen,
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was wir wollen. Vielleicht iſt die Stunde nicht allzu fern, wo wir uns ſtark genug fuͤhlen, der Gewalt Stand zu halten. Dann mag es ſein, daß wir zuſammenſtehen. Bis dahin: Wachſamkeit und Geduld! ...
Auban war allein. Und mit einer ungeſtuͤmen Be⸗ wegung richtete er ſich empor und durchmaß wohl eine Stunde lang ſein Zimmer, waͤhrend ſein Feuer voͤllig erloſch.
Als die Muͤdigkeit ihn ergriff, klang es in ſeinen Ohren wieder: Lies die Geſchichte!
Er griff wahllos nach dem naͤchſten Bande und las die Nacht durch bis zum Morgengrauen.
Er watete bis an die Knie durch das Blut der Ver: gangenheit. Er ſah das Entſtehen und Vergehen der Voͤlker. Er ſah die Verantwortlichkeit für ihr Leben auf die Schultern Einzelner gewaͤlzt, und er ſah dieſe Einzelnen unter ihr zuſammenbrechen, oder mit ihr ſpielen, wie das Kind mit dem Balle...
Er ſah, wie die, welche das ‚Gute wollten“, das Schlechte ſchufen: den Irrtum.
Er ſah, wie die, welche das Schlechte erftrebten‘, das Gute brachten: den Irrtum zerſtoͤrten. |
Er ſah, daß alles, was geweſen war, nicht anders haͤtte ſein koͤnnen, eben, weil es ſo und nicht anders geweſen. Nicht zu trauern und zu fluchen galt es daher, ſondern zu erkennen.
Erkannte Irrtuͤmer zu vermeiden — das war die
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Loſung, das der Nutzen und der Segen der Geſchichte, das war, was ſie lehrte. a
Auban las. Und uͤber den Truͤmmern von Voͤlkern vergaß er Chicago.
Dann ſchloß der Schlaf ſeine Augen. Behutſam zog er das Buch zwiſchen ſeinen Fingern fort. Es glitt zur Erde.
Nur das Licht brannte weiter.
Schwere Traͤume bedraͤngten den Schlaͤfer. Unruhig hob und ſenkte ſich ſeine Bruſt und der ſonſt in dem ſcharfen, harten Zug um die Mundwinkel verborgene Schmerz war aus ſeinem Verſteck hervorgekrochen und lagerte jetzt auf den mageren Wangen. Die blaſſen Lippen waren leicht geoͤffnet.
So ging die Nacht zu Ende, die gefuͤrchtete.
Als Auban erwachte, war der Morgen gekommen. Er wuſch ſich und kleidete ſich um.
Dann erſt griff er nach den Zeitungen. Er wußte, was er leſen wuͤrde. Als er ſah, wie ſeine Hand zitterte, welche das Blatt umſchlug, ging er noch einigemale auf und ab, bevor er begann. Er wollte ſtark ſein.
Dann las er, ohne Haft, bleich, mit einer unheim— lichen Ruhe. Aber ſein Herz ſtand ſtill.
Das war der letzte Akt der Tragoͤdie von Chicago: der Morgen des 11. November.
Die Stadt iſt im Zuſtand der Belagerung: jedes öffentliche Gebäude iſt bewacht — man befürchtet alles, vor allem Brandlegung: das Militaͤr iſt zuſammenge— zogen, die Feuerwehr alarmiert; in den Abſteigequartieren wird jeder Ankommende bewacht; die Mitglieder der Jury,
der Richter, der Staatsanwalt, die Haͤupter der Polizei vin 20
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find unter Schutz geſtellt ... Die größeren Fabriken haben geſchloſſen ... Das Gefängnis iſt umgeben von einer undurchdringlichen Reihe von bewaffneten Poli— ziſten ... Ein Tumult entſteht: eine verzweifelnde Frau irrt mit ihren weinenden Kindern laͤngs der lebendigen Mauer hin und verſucht in wahnſinniger Angſt zu ihrem Manne zu gelangen, ehe es zu ſpaͤt iſt. Sie wird von rohen Haͤnden gefaßt und muß die ſchrecklichſten Stunden ihres Lebens zwiſchen den ſteinernen Waͤnden einer Zelle verbringen.
Schweigen, das Schweigen der Furcht herrſcht wieder. In den umliegenden Straßen draͤngen ſich die Menſchen. Wo ſie ſich ſammeln, gehen ſie wieder auseinander. Sie find gelaͤhmt unter der Wucht dieſer Stunden ...
Im Innern des Gefaͤngniſſes:
Die Verurteilten ſind erwacht. Sie ſchreiben ihre letzten Briefe, ſie werden auch jetzt noch belaͤſtigt von der niedrigen Aufdringlichkeit eines Prieſters, den ſie von ſich weiſen, ſie nehmen ihre letzte Mahlzeit ein, ſie tauſchen durch die Entfernung ihrer Zellen letzte Worte der Freund— ſchaft und der Hoffnung miteinander aus, die der Sache gelten, fuͤr welche ſie ſterben; und was ſie bewegt, dafuͤr finden ſie Ausdruck in Strophen, die ihnen ihr Gedaͤchtnis gibt, und deren ungewohnter Schall droͤhnend und macht: voll die ſtarren Waͤnde entlang irrt:
Ein Fluch dem Goͤtzen, zu dem wir gebeten — Der uns geaͤfft, gefoppt und genarrt —
Ein Fluch dem Koͤnig, dem Koͤnig der Reichen, Der uns wie Hunde erſchießen läßt —
ee re
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Ein Fluch dem falſchen Vaterlande = Wo nur gedeihen Schmach und Schande
Und: „Poor creature! Afraid of the darkness, Who groan at the anguish to come? How silent I go to my home! Cease your sorrowful bell — I am well — — —
Und jenes unfterbliche Lied, in welches fie alle Vier einſtimmen, die Marſeillaiſe der Arbeit, der nach Be: freiung ringenden Arbeit — —:
i „Von uns wird einſt die Nachwelt zeugen! Schon blickt auf uns die Gegenwart ...“
Ja, die Gegenwart, welche bereit war, einer beſſeren Zukunft die Wege zu ebnen, nicht die, welche in ohn⸗ maͤchtiger Blindheit eine begrabene Vergangenheit wieder erſtehen laſſen wollte, hatte ihre Blicke in dieſer Stunde auf fie gerichtet, voll Schmerz und Trauer ..
Der Sheriff erſcheint. Die Verurteilten umarmen ſich, druͤcken ſich die Haͤnde, die gefeſſelt werden; die Hin⸗
richtungsbefehle, tote Worte, mit denen die Gewalt ihren
Mord zu beſchoͤnigen ſucht, werden verleſen. Der Gang zum Tode wird angetreten. l Sie durchſchreiten die Tuͤr, welche in den Hof des
Gefaͤngniſſes fuͤhrt: der Galgen ſteht vor ihren Augen.
Nacheinander ſteigen ſie die Stufen zu ihm hinauf, blaß,
aber ungebrochen. Weiße Kappen werden über ihre Köpfe
gezogen. In dieſem letzten Augenblick erſchallen hoͤrbar durch die Verhuͤllungen ihre Stimmen: — Die Zeit wird kommen, wo unſer Schweigen 20*
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maͤchtiger ſein wird als unſer Reden — — ertoͤnt die erſte. — Hurrah for Anarchy! — von einem Lachen noch
begleitet, die zweite. Und:
— Hurrah for Anarchy! Dies iſt der gluͤcklichſte Augenblick meines Lebens — faͤllt die dritte ein.
Endlich die vierte und letzte:
— Wird mir erlaubt werden zu reden? O Frauen und Männer meines lieben Amerika — —
Der Sheriff gibt das Zeichen. Da noch einmal:
— Laſſen Sie mich reden, Sheriff! Laſſen Sie die Stimme des Volkes gehoͤrt werden —
Die Klappe fällt ... Und Feiglinge ſehen, wie Helden ſterben. — — —
Bis hierher hatte Auban zu leſen vermocht, den folgenden Satz hatte ſein Blick nur geſtreift — denn vor ihm ſtand ploͤtzlich in greifbarer Deutlichkeit der Ge— faͤngnishof von Chicago: er ſieht die Menge von zwei⸗ hundert Perſonen, die ihn fuͤllt, die Zwoͤlf der Jury, die höheren Gerichtsbeamten, die Wächter, die Zeitungs: reporter — eine Herde feiger Knechte; er ſieht den Galgen, die vier Maͤnner, deren Zuͤge er ſo oft im Bilde geſehen, aufrecht, trotzig, groß; und er ſieht ihr Sterben, die zuckenden Bewegungen ihres Todeskampfes, welcher vier⸗ zehn Minuten dauert ... Vierzehn Minuten! Der Schlaͤchter tötet fein Vieh auf einen Streich, der Räuber ſein Opfer mit einem Schlag, nur dieſe Moͤrder ergoͤtzen ſich in ſcheußlicher Freude an dem „Sieg der Gerechtigkeit“,
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die fie felber find, und verſchanzen die eigene Feigheit hinter dem Worte, mit dem immer und immer bisher die Gewalt alle Verbrechen entſchuldigt hat: „Sein Wille geſchehe — ...“
So deutlich ſtand vor Aubans Augen, wie eine Viſion, das Ende der Tragoͤdie, daß er es nicht mehr ertrug und die Stirn vornuͤber auf die uͤber den Tiſch hingeſtreckten Arme ſinken ließ. So lag er lange. Denn er hatte alles niederzukaͤmpfen, was von neuem in ihm erwacht war an Schmerz, Groll, Wut, an Trauer und an Haß.
Als er ſich erhob, war er wieder er ſelbſt. Aber er durchmaß wieder und wieder die Laͤnge ſeines Zimmers mit ſeinen ruheloſen Schritten. -
Die Tragddie von Chicago —:
Welches Publikum! Jene ganze Menſchheit, die ſich ziviliſiert nennt! Kein Einziger unbeteiligt, Alle genötigt, Stellung zu nehmen ..
Auf der einen Seite: geſtillter Blutdurſt, viehiſche Freude, jubelnder Sieg der Gewalt; erleichtertes Auf— atmen nach uͤberſtandener Gefahr; prahlend die ſchmutzige Geſinnung der Alltaͤglichkeit mit Genugtuung uͤber den Triumph der Ordnung; bruͤſtend die Moral ſich mit ihrer eigenen Borniertheit; erwachende Reue der Gewiſſen; neue, Angſt vor dem nun kommenden; und: beginnende Er— kenntnis! —
Auf der anderen: Schreie des Schreckens, von Grauen und von Furcht erdroſſelt; ohnmaͤchtige Empoͤrung und knirſchender Zorn; Scham uͤber die eigene Feigheit, Wuth und Schmerz uͤber die der anderen; Bitterkeit, bis auf den
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Grund der Herzen ſich ſenkend; dumpfe Ergebung in das Unvermeidliche; tauſend Hoffnungen auf irdiſche Gerechtig⸗ keit begraben, tauſend neue auf den endlichen Sieg der Sache entſtanden, welche die Bluttaufe empfangen; Durſt nach Rache am Tage der Abrechnung, bis zur Unerträg- lichkeit geſteigert; ſentimentale Wehmut; und — — be⸗ ginnende Erkenntnis! — — —
Alle ſchlummernden Gefuͤhle, deren das Herz faͤhig iſt, geweckt! Alle Leidenſchaften, aus ihren Verſtecken ge— rufen, ſich bekaͤmpfend in der raſenden Gier, einander zu zerfleiſchen! In dieſe Wolken von Rauch und Blut jede uͤberlegung, jede ruhige Vernunft untergetaucht — das war es, was dieſer Mord ſchuf ..
Die Tragoͤdie von Chicago —:
Welche Szenen! Welcher Wechſel in ihnen!
Im erſten Akt:
Das Erbeben der Erde, welches den Ausbruch des Vulkans verkuͤndet.
Die Scharen ſammeln ſich auf beiden Seiten zum Kampf.
uͤberlegen, ſich ermannen, wollen; die Gefahr ahnen, alle Kraͤfte zu Hilfe rufen, ſich ruͤſten.
Der Laͤrm des Feldgeſchreis: Achtſtundentag!
Die erſten Zuſammenſtoͤße: das Pfeifen der Kugeln, das Knirſchen der Zaͤhne, das Geheul der Wut, die Schreie der Empoͤrung, das Stoͤhnen der Sterbenden, das Weinen der Weiber.
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uͤber unzaͤhlige gluͤhende Koͤpfe und jagende Herzen hin das Rauſchen fieberhafter Worte voll Glut und Feuer.
Ein donnernder Krach: Rauch und Geſchrei. Tod und Vernichtung.
Der Reigen der Leidenſchaften raſt voruͤber — —
— — — — — — — — — — — — — —
Im zweiten Akt:
Nach dem lauten, offenen Kampfe auf dem Felde der Offentlichkeit der ſtille, verſteckte, aber weit ſchrecklichere auf dem ‚Boden des Geſetzes“.
Weite Gerichtsſaͤle und enge Kerkerzellen. Gitterſtaͤbe, welche die Freunde von den Freunden ſcheiden, und hohe Gefaͤngnismauern, ſo hoch, daß die Sonne ſelbſt ſie nicht erſteigt ... O goldene Sonne der Freiheit — achtzehn Monde dich nicht zu ſehen und dann, ohne einen deiner Strahlen erhaſcht zu haben, nieder in die ewige Nacht —
— — — — — — — — — — — — — —
Der Vorhang war gefallen. Aber die Tragoͤdie war nicht zu Ende.
Nein, die, welche ſie in Szene geſetzt, hatten das Nachſpiel vergeſſen!
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Ein Nachſpiel, ein ungeahntes Nachſpiel mußte folgen mit unabwendbarer Notwendigkeit. Das war die Propa⸗ ganda, welche dieſe fluchwuͤrdige Tat geſchaffen: das Echo, das die Geſchichte des Lebens und Strebens in un— zaͤhligen noch ſchlummernden Herzen zur Antwort erwecken wuͤrde. Tauſende wuͤrden fragen: „Warum mußten dieſe Männer ſterben?“ — Tauſende würden antworten: „Für die Sache der Unterdruͤckten.“ — Und weiter: „Die Unter⸗ druͤckten ſind wir, jede Stunde ſagt uns das. Aber iſt es nicht unſere Beſtimmung, zu leiden?“ Und wieder die Antwort: „Nein, Eure Beſtimmung iſt, gluͤcklich zu ſein. Die Tage Eurer Befreiung ſind gekommen. Fuͤr Euer Gluͤck ſind dieſe Maͤnner geſtorben. Leſt ihre Reden — hier ſind ſie. Lernt aus ihnen kennen, wer ſie waren, was ſie wollten, daß ſie keine Moͤrder, ſondern Helden geweſen.“ — Und die Unterdruͤckten werden wach. Sie erheben die arbeitsmuͤden Stirnen, und es klirren die Ketten an ihren Haͤnden. Und jetzt hoͤren ſie ihr Klirren. Da packt ſie die Wut, ſie baͤumen ſich auf und die Ketten reißen. Und hoch die eiſernen Waffen durch die Lüfte ſchwingend, ſtuͤrzen ſie ſich auf die Unterdruͤcker, greifen und wuͤrgen die um Gnade Schreienden. Ihre Haͤnde wollen ablaſſen, aber eine Stimme ruft: „Chicago!“ Nur dies eine Wort: „Chicago!“ Und alle Gedanken an Gnade ſchweigen. Ohne Barmherzigkeit wird der groͤßte Kampf zu Ende gekaͤmpft, den die erbebende Erde je geſehen.
Zu den Graͤbern ihrer Toten treten die Sieger. Sie entblößen ihre Haͤupter und ſprechen: „Ihr ſeid geraͤcht. Schlaft in Frieden“.
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Und heimkehrend, lehren fie ihre Knaben, wer jene geweſen ſind, die ſo ſie ehrten, wie ſie lebten und wie ſie ſtarben.
Das würde das Nachſpiel der Tragoͤdie von Chicago en
—
uͤber die zerknitterten Zeitungen gebeugt lag Auban, ſie mit ſeinen Armen und ſeiner Stirne bedeckend, als koͤnne er ſo erſticken, was betaͤubend aus ihnen aufſtieg, wie der Dunſt friſchen Blutes ... Sein klopfendes Herz ſchrie nach einem Worte der Erloͤſung aus dieſer Stunde.
„Torheit —“ fluͤſterte ſein Verſtand ihm zu.
Aber er fuͤhlte, daß es ein zu wohlfeiles Wort war. Und ſo ſtarb es auf ſeiner Lippe.
Achtes Kapitel Die Propaganda des Kommunismus
Trupp war auf dem Wege zu ſeinem Klub.
Es war der Abend eines Tages, an deſſen Morgen die Londoner Zeitungen die naͤheren Nachrichten uͤber den Mord in Chicago gebracht hatten, und ſeit Trupp ſie geleſen, war er, wie getrieben von Gefuͤhlen, fuͤr die er keine Bezeichnung hatte, und wie gehetzt und verfolgt von unſichtbaren Feinden, die er nicht kannte, durch das unermeßliche Haͤuſermeer gewandert, ziellos, zwecklos, kreuz und quer, ohne zu wiſſen, was er tat...
Er ſah weder die Straßen, die er durchſchritt, noch die Menſchenſtroͤme, durch die er ſich ſeinen Weg bahnte. Wo er geweſen war, er wußte es nicht. Einmal hatte die Themſe vor ihm gelegen, und er hatte wohl eine Stunde lang, an das Gelaͤnder einer Bruͤcke gelehnt, geſtanden, ſtarr und verſtaͤndnislos niederblickend auf die ſchwarze Flut des Stromes; mehrere Male hatte er die Hauptadern des Verkehrs gekreuzt und ſich dann jedesmal inſtinktiv ſtillere und abgelegenere Straßen geſucht, wo nichts den jagenden Gedanken ſeines uͤberreizten Gehirnes in die
Zügel fiel.
NIE
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Er hatte den ganzen Tag nichts gegeſſen, als ein Stuͤck Brot, das er ſich, faſt ohne es zu wiſſen, beim Voruͤbergehen in einem Baͤckerladen gekauft, und nichts getrunken
Nicht einmal, was er gedacht hatte, haͤtte er zu ſagen vermocht. Und doch hatte ſich Gedanke an Ge— danke in ſeinem Gehirn geſchloſſen, in raſend ſchneller Aufeinanderfolge, die ſich ununterbrochen zu einer einzigen Kette gereiht hatten, deren zahlloſe Glieder ſaͤmtlich ein
Hund dasſelbe Zeichen trugen: Chicago! —
So oft er aufgeſehen und ſein Blick die gleichguͤltigen Geſichter der Menſchen getroffen hatte, war eine unbe— zaͤhmbare Wut in ihm emporgequollen, ihnen an die Gurgel zu ſpringen, um ſie aufzuruͤtteln aus ihrer Ruhe mit brutaler Gewalt. Nur wenn er, den Kopf geſenkt, dahingeſchritten war, hatte nichts an ihm von dem Sturme geſprochen, der ſein Inneres bis auf die tiefſten Gruͤnde aufwuͤhlte und Wogen ohnmaͤchtiger Wut in ihm empor trieb.
Erſt, als die Schatten des Abends ſanken, war er erwacht: wie aus einer dumpfen Betaͤubung, wie aus einem Opiumrauſche, nur daß ſeine Traͤume nicht ſuͤß und beſtrickend, ſondern folternd und herb geweſen waren, wie der eiſerne Druck einer Fauſt ..
Da erſt hatte er ſich umgeſehen; denn er hatte keine Ahnung, wo er war. Er war im Edgware Road, im Norden vom Hyde Park — noch weit genug vom Klub, noch eine halbe Stunde und laͤnger, aber er haͤtte ſich ja auch in den aͤußerſten Vorſtaͤdten von Highgate oder Brixton finden koͤnnen, ſtundenweit von Tottenham ent—
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fernt, und unfähig, den Klub heute abend noch zu er— reichen.
Noch halb betaͤubt von dem Schlage dieſes ent— ſetzlichen Tages, aber noch nichts von der toͤdlichen Er— mattung verſpuͤrend, die ſeinen Koͤrper ergriffen haben mußte nach dieſer raſenden Wanderung, machte er ſich mit ſchmerzenden Fuͤßen, ſchweißbedeckt am ganzen Koͤrper und zitternd vor Froſt in der kalten Abendluft auf den Weg.
Er wußte jetzt genau, welchen Weg er nahm, und er achtete darauf, den kuͤrzeſten zu finden.
Zwei Gefuͤhle hatten in dieſen letzten beiden Tagen unablaͤſſig in ihm gekaͤmpft.
Das eine war das der tiefſten Niedergeſchlagenheit. Der Mord in Chicago war vollzogen, ohne daß von den Genoſſen der Verſuch gemacht worden war, die Boll: ſtreckung zu hindern. Oder, wenn ſie nicht zu hindern, ſo doch zu unterbrechen. Zwar hatte er daran nie mit voller Hoffnung zu glauben gewagt, denn er wußte nur zu gut, wie ſelten die Worte mit den Taten uͤbereinſtimmen, aber dennoch war dieſer ungetruͤbte Sieg der Gewalt ein furchtbarer Schlag fuͤr ihn.
Das andere Gefuͤhl war ein Gefuͤhl der Beruhigung, wenn er daran dachte, wie unerſchoͤpflich die Quelle der Propaganda fließen wuͤrde, welche dieſem Maͤrtyrertode entſprang. Chicago war das Golgatha der Arbeiter ge— worden. Ewig, wie hier das Kreuz, wuͤrden dort die Galgen ragen.
Mit dem Inſtinkt aber, den eine faſt zwanzigjaͤhrige Anteilnahme an der ſozialen Bewegung ihm verliehen,
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ahnte er auch, daß die Frage des Anarchismus nun in ein anderes Licht geruͤckt war, in dem ſie für jeden Ber trachtenden von allen Seiten erkennbar nun ſtehen würde: in das Licht des Tages. Vieles, was bisher — bedeckt mit den Schleiern einer geheimnisreichen und fuͤr die meiſten unerreichbaren Zuruͤckgezogenheit — zweifelhaft geblieben war, mußte ſich jetzt entſcheiden. Ein wenigſtens zeitweiliger Stillſtand der Propaganda war ganz un⸗ vermeidlich. Die verlorene Spanne wuͤrde ſich wieder einholen laſſen — zweifellos. Aber uͤber der Pforte der naͤchſten Jahre ſtand für ihn und feine Genoſſen: Entz mutigung, Lethargie, Unluſt! —
Dies alles, aber auch noch manches andere, bedruͤckte ihn mit dumpfer Schwere. Zunaͤchſt die Stellung Aubans. Er verſtand ſeinen Freund nicht mehr. Seine Beweg— gruͤnde, ſeine Ziele waren ihm unerfaßlich geworden. Das er eins mit ihm noch war in den Mitteln, wie er glaubte, hielt ſie noch zuſammen.
Wie aber ſollten ſie ſich ferner noch verſtehen, nach— dem jener gerade das, was er, der Kommuniſt, als erſten und letzten Grund alles Elends und aller Unvollkommen— heit betrachtete: das Privateigentum, in Schutz nahm?
An der lauteren Ehrlichkeit Aubans konnte kein Zweifel aufkommen. Er waͤre laͤcherlich geweſen. Auban wollte die Freiheit. Er wollte auch die Freiheit der Arbeit. Er liebte die Arbeiter. Er hatte tauſend Beweiſe davon gegeben. Ihre Intereſſen waren die ſeinen.
Eine ſolche Liebe ſtarb nie. Trupp wußte das.
Aber trotz alledem: er verſtand ihn nicht. Er wuͤrde ihn nie verſtehen. Nie wuͤrde er in dem Privateigentum
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etwas anderes erblicken koͤnnen, als die Hochburg der Gegner. Und auf deren Zinnen ſtand Auban, ſein Freund, der Genoſſe ſo langer Jahre — er konnte den Gedanken nicht faſſen! .
Dazu kamen die perſoͤnlichen Zwiſtigkeiten und Miß⸗ verſtaͤndniſſe im eigenen Lager, in der Gruppe, zu welcher er gehoͤrte. Nie hoͤrten ſie auf. Immer waren ſie geweſen, ſo lange er denken konnte, und nie hatten ſie etwas von der Widerwaͤrtigkeit fuͤr ihn verloren, mit der ſie die beſten ſeiner Kraͤfte gelaͤhmt hatten, ſeit er in London war. Die Genoſſen waren ihm zu ſchlaff, zu untaͤtig, zu unentſchloſſen. Er hatte in den letzten Jahren ſeine Anſpruͤche an ſich und andere maßlos ge— ſteigert. Nun enttaͤuſchte ihn alles; nun wurde keine ſeiner Erwartungen mehr befriedigt. \
Alles blieb hinter ihnen zuruͤck. Er ſelbſt hatte keinen anderen Gedanken mehr, als den an die Sache. Dieſer Gedanke nahm ſein ganzes Denken und Handeln gefangen. Er verfolgte ihn waͤhrend der muͤhſamen Arbeit ſeiner Tage mit der zaͤhen Unablaͤſſigkeit, mit welcher ſonſt nur die Liebe das Weſen des Menſchen beherrſcht; er hielt ihn wach bis in die Nacht und verſcheuchte die Muͤdig— keit uͤber den zahlreichen Arbeiten der Propaganda, mit denen man ſeine Schultern belud; er druͤckte ihm die Feder in die des Schreibens ſo wenig geuͤbte Hand, wenn die Spalten des Blattes Luͤcken aufwieſen, und entzog ſeinem durſtenden Munde das Glas, um das Geld dafuͤr auf den großen Altar zu legen, der beladen war mit Opfern der Arbeit.
Dieſer Gedanke an die Sache war es, der aus ihm
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die in ihrer Art bedeutende Perſoͤnlichkeit gemacht hatte: er hatte ſeine Faͤhigkeiten verzehnfacht, ſeine Kraft in die Form der Beſtaͤndigkeit und Unerſchuͤtterlichkeit ge— goſſen, ſeinem Leben Ziel und Richtung gegeben. Er beherrſchte ihn und er war ſein Sklave, wenn auch ein Sklave, der keine ſeiner Feſſeln je fuͤhlt, weil er glaubt, frei zu ſein. Er hatte ſeinem Koͤrper den Zaum dieſes Gedankens auferlegt und er hatte es dahin gebracht, daß er ihm gehorchte, wie ein Roß ſeinem Reiter: es durfte keine Ermuͤdung und keinen Hunger kennen, wenn dieſer es nicht wollte.
Nicht weil er ſelbſt fuͤr ſich frei ſein, ſondern weil er durch nichts in dem Dienſt ſeiner Sache gehindert fein wollte, war er unverheiratet geblieben, oder viel: mehr: hatte er ſich nie auf laͤngere Zeit mit einem Weibe verbunden. Er war ein vorzuͤglicher Menſch, faſt in jeder Beziehung. Er hatte keine Fehler der Kleinheit; die Größe der Sache erſtickte fie. Von nicht gewoͤhn⸗ licher, wenn auch einſeitiger und wenig durchgebildeter Intelligenz, von unerſchuͤtterlicher Geſundheit, ohne Nerven und mit Muskeln von Stahl, mit einem eiſernen Willen und einem Zug ſchlichter Groͤße — ſo ſtand er da: an der Spitze des Volkes gleichſam, als ſein beſter und wuͤrdigſter Repraͤſentant, hoch aufgerichtet mit dem Stolze des Proletariers, der im erkannten Bewußtſein ſeiner Kraft, im Bewußtſein deſſen, daß er „Alles“ iſt, von einer bereits im Sinken begriffenen Klaſſe die Welt fordert, und ſie fordert mit dem Ungeſtuͤm eines Kindes, der Wut eines Empoͤrers, der Sicherheit eines Feldherrn, der ſeine Truppen kennt und weiß, daß ſie unbeſiegbar
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ſind. Und der fie fordert, ohne zu ahnen, was er vers langt.
Die Geſchichte braucht ſolche Menſchen, um ſie zu — verbrauchen. Sie find es, mit denen ſie ihre aͤußer⸗ lichen Schlachten ſchlaͤgt, indem ſie dieſelben an die Spitze der Maſſen ſtellt, deren Staͤrke entſcheidet.
Die Freiheit ſieht in ihnen nur Hemmniſſe. Denn ſie kaͤmpft nur in den Einzelnen, welche nichts repraͤſentieren als ſich ſelbſt.
Trupp war ein vorzuͤglicher Menſch. Aber er war oft auf beiden Augen blind. Er war ein Fanatiker. Er war zudem der Fanatiker einer Phantaſie. Denn eine Phantaſie iſt der Kommunismus, welche die Gewalt zu Hilfe rufen mußte, um troſtloſe Wirklichkeit zu werden.. —
Trupp ſchritt dahin, und ſeine wachen Gedanken ſchnitten tiefer noch, und ſchmerzlicher empfand er ſie, als die Narkoſe der Betaͤubung, unter der er den Tag uͤber gelegen hatte. Er naͤherte ſich ſeinem Klub. —
Die Revolutionäre des Sozialismus haben ſich ver⸗ ſtreut uͤber die ganze Welt. Sie haben den fernſten Erd— teil bereits erreicht und pochen mit ihren Faͤuſten an die entlegenſten Pforten.
Sie glauben die Morgengaͤnger des neuen Tages zu ſein, welcher der Menſchheit kommt.
uberall ſchließen ſie ſich zuſammen: hier nennen ſie ſich Partei und erſtreben auf den Wegen des allgemeinen Wahlrechts und ſtreng gefuͤgter Organiſationen unter er⸗
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waͤhlter Fuͤhrung Einzelner die politiſche Macht, um einſt in ihrem Beſitz die ſoziale Frage von oben herab loͤſen zu koͤnnen vermittels Gewalt; und dort nennen ſie ſich Gruppe und lehren den gewaltfamen Umſturz der aͤußeren Verhaͤltniſſe als einzige Rettung aus der unertraͤglichen Not, die immer ihren Hoͤhepunkt erreicht zu haben ſcheint und dennoch immer groͤßer wird, der Wolke gleichend, die naͤher und naͤher kommt, die wir geſtern noch kaum bemerkten, die heute ſchon mit ihrem drohenden Schatten uͤber uns ſteht, und die ſich morgen entladen wird — ſicherlich morgen; nur ihre Stunde, ihren Ort und die Groͤße ihrer Kraft kennen wir noch nicht.
uͤberall hin verſtreuen ſie ihre Flugblaͤtter, ihre Bro— ſchuͤren. Überall gründen fie ihre Zeitungen ... Die meiſten dieſer Gruͤndungen vergehen allerdings ſo ſchnell wieder, wie fie entſtanden find: fie ſterben an Erſchoͤpfung, ſie werden unterdruͤckt, aber ihre Zahl iſt doch ſo groß, daß ſie nicht mehr feſtzuſtellen iſt. Es ſind Samen⸗ koͤrner, auf unfruchtbaren Acker und unter das Unkraut gefallen: nur einzelne ſchlagen Boden, gehen auf, tragen Fruͤchte für wenige Sommer ... Aber die Hand, welche ſie ſaͤete, wird nicht leer; Mut, Ausdauer und Hoffnung fuͤllen ſie immer wieder ..
uͤber alle großen Staͤdte der Welt haben ſich die Revolutionaͤre des Sozialismus hin verteilt.
Aber in keiner der ganzen Erde iſt ihr Schwarm ſo bunt wie in London. Nirgends draͤngt er ſich ſo zu— ſammen; nirgends weicht er fo auseinander. Nirgends bekaͤmpft er ſich bitterer untereinander und nirgends ſteht er mit größerer Bitterkeit dem gemeinſamen Feinde gegen—
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uͤber, wie hier. Nirgends redet er ſo verſchiedene Sprachen, wie hier, und nirgends ſpricht er in verſchiedeneren Lauten verſchiedenere Anſichten aus.
Er weiſt alle Typen auf; und er zeigt ſie ſaͤmtlich ſowohl in ihren ausgepraͤgteſten und intereſſanteſten, wie auch in ihren verwaſchenſten und banalſten Formen.
Für den Neuling iſt er ein Chaos. Aber das Chaos wird ihm bald zum beſten Lernfelde, auf welchem er bald ſich heimiſch fuͤhlt.
Das Fluͤchtlingsleben von London hat eine große Geſchichte.
Als der engliſche Sozialismus, deſſen langſames Wachstum noch heute nicht zur Reife gediehen iſt, noch in den Windeln lag, kamen die Flüchtlinge der vier⸗ ziger Jahre nach London und begruͤndeten in dem „Kom— muniſtiſchen Arbeiter-Bildungs-Verein“ — auf Anregen von Maͤnnern wie Marr und anderen — den erſten Fluͤchtlingsbund der deutſchen Arbeiter in London, der einſt die Mutter ſo verſchieden gearteter Kinder werden ſollte, daß ſich dieſelben untereinander nicht mehr als Geſchwiſter anerkennen wollten . 8
Die Ruſſen kamen, mit Herzen an ihrer Spitze, der von hier aus ſeinen „Kolokol“ laͤutete; und Bakunin kam hierher aus ſeiner ſibiriſchen Verbannung. Freilig⸗ rath kam mit herrlichen Liedern auf bebenden Lippen; und Kinkel kam fuͤr kurze Zeit aus dem Gefaͤngnis von Spandau; und Ruge mit den zerſchlagenen Truͤmmern feiner „Jahrbuͤcher“ ... Hier lebte Mazzini, der große Patriot, der republikaniſche Verſchwoͤrer. Hier endlich
noch als auf dem verlaſſenen Meere.
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die Franzoſen: Louis Blanc, Ledru⸗Rollin und die Ge— noffen ihres Schickſals.
Alle fanden ſie Ruhe und Frieden hier, die fried— loſe Ruhe des Exils und das duͤrftige Brot des Ver— bannten
Dann hoͤren die großen Namen auf. Eine Pauſe tritt ein.
Als die achtziger Jahre nahen und die Lehre des freien Kommunismus, der den Namen Anarchismus ſich beilegt, mit der Perſon eines ihrer erſten und taͤtigſten Vertreter nach London kommt, und derſelbe dort in der „Freiheit“ ihr erſtes Organ gruͤndet, hat ſich der „Kom⸗ muniſtiſche Arbeiter⸗Bildungs-Verein“ bereits in drei Sektionen geteilt, die ſich bald gaͤnzlich in bitteren Kaͤmpfen untereinander trennen: hier die Sozialdemokraten, die „Blauen“; dort die Anarchiſten, die „Roten“. Einige Jahre ſpaͤter wird der Erſcheinungsort der neuen Zeitung nach New Pork verlegt; London aber, wo ſeit 1878, dem Jahre der Annahme des Sozialiſtengeſetzes in Deutſchland, die Bewegung in ein ganz neues Fahrwaſſer getreten iſt, wird abermals das Hauptquartier aller deutſchen Fluͤchtlinge, wenn auch in anderer Weiſe, als vor dreißig Jahren
Ihre Phyſiognomien, ihre Beſtrebungen, ihre Zwecke, wie ihre Ziele, ſie haben ſich total veraͤndert. — Alles iſt in Gaͤrung geraten. Alle ſtehen gegeneinander; alle, die kommen, — ermuͤdet von den erlittenen Strapazen, erbittert durch die maßloſen Verfolgungen, gereizt zu jeder moͤglichen Taͤtigkeit — werden hineingezogen: denn in dieſer Bucht des Exils brandeten die Wogen weit wilder
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Es ſcheint zeitweilig, als ob die Fluͤchtlinge den fernen Feind vergeſſen hätten, jo erbittert befämpfen ſie ſich untereinander. Von den Sektionen des Muttervereins loͤſen ſich ſchroff einzelne Gruppen ab, die ſelbſt den alten Namen nicht mehr behalten. Einzelne Perſonen, von Unruhe und Ehrgeiz angeſtachelt, ſuchen den Zwieſpalt zu benutzen, um die zerriſſenen Faͤden in der eigenen Hand wieder zu knuͤpfen und — zu behalten. Die Kaͤmpfe fuͤr und gegen dieſelben werden bis zur Erſchoͤpfung Wochen und Monate hindurch gefuͤhrt, bis ſie im Sande verlaufen und keine Spuren zurüclaffen als Entfremdung,
einen Stoß Flugblaͤtter mit Verdaͤchtigungen gegeneinander, und eine zweckloſe Broſchuͤre.
1887, im Jahre des Mordes von Chicago, waren die vier deutſchen Arbeiterklubs Londons nur noch durch das duͤnne und bereits bruͤchige Band der Affiliation mit⸗ einander verbunden. Nur einzelne der Mitglieder be: ſuchten ſich und verkehrten noch miteinander. Als Körper: ſchaften trafen ſie nur zuſammen, wenn es galt, mit den engliſchen Sozialiſten vereint eine Demonſtration zu ver: anſtalten, ein Meeting moͤglichſt impoſant in Szene zu ſetzen, oder die Tage des Maͤrz zu feiern.
Trupp fand ſeinen Klub an dieſem Abend ſtark beſucht. Gewöhnlich waren ſeine Räume nur an den Sonntags Nachmittagen und «Abenden gefüllt, wenn die Mitglieder nicht nur, ſondern auch ihre Frauen und Kinder, und die eingefuͤhrten Gaͤſte kamen, um den regelmaͤßigen muſikaliſchen und theatraliſchen Aufführungen beizuwohnen.
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Dieſe Aufführungen, zu welchem gegen Sirpence-Entree Jedermann Zutritt hatte, wurden veranſtaltet, um den Propagandakaſſen, dem Zeitungs- und Broſchuͤrenfonds, den zahllofen Gelegenheiten, die unaufhoͤrlich pekuniaͤre Unterſtuͤtzungen erheiſchten, neue Quellen zu eröffnen, und um bei Tanz und leichter Unterhaltung, in die oft nichts von den erregten Kaͤmpfen der Diskuſſionsabende und der geſchloſſenen Verſammlungen hineintoͤnte, die Sorgen der vergangenen Woche zu vergeſſen und die Gedanken an die kommende zu bannen.
Kaum vermochte ſich Trupp durch den engen Gang zu drängen, der von der Tür her zu der fchmalen, in den tiefer als die Straße liegenden Saal, hinunter⸗ ſteigenden Treppe fuͤhrte. Der links vor der Treppe liegende Barraum war uͤberfuͤllt. Die meiſten ſtanden vor dem Schenktiſch, allein oder in Gruppen, das Glas in der Hand, waͤhrend nur die kleinere Anzahl an den wenigen Tiſchen Platz gefunden hatte. Aber fuͤr Trupp fand ſich doch noch ein Eckplatz auf einer der Baͤnke. Man ruͤckte noch enger zuſammen und haſtig ergriff er das naͤchſte der ihm dargereichten Glaͤſer, es mit einem Zuge leerend.
Die Stimmung unter den Anweſenden war ſehr ver: ſchieden. Während einige Gruppen von den lauten Auss einanderſetzungen uͤber irgendeine Frage bewegt wurden, ſaßen andere faſt ſtumm. An dem Tiſch, wo Trupp noch Platz gefunden hatte, herrſchte druͤckendes Schweigen. An ſeinem anderen Ende ſaß ein junger Mann. Er las aus einer Zeitung vor, aber ſeine Stimme war undeutlich und Traͤnen ſtuͤrzten aus feinen Augen, als er die Einzel⸗
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heiten der Hinrichtung mitteilte. Man umſtellte ihn von allen Seiten. Auf allen Mienen lag ein drohender Ernſt. Aber nur unterdruͤckte Worte entflohen den zuſammen⸗ gepreßten Lippen und nur die Blicke gaben Zeugnis von dem, was die meiſten dachten.
Ploͤtzlich erkannte Trupp in einer Gruppe von Ge⸗ noffen, die an dem Ausſchank ſtanden, von dem aus der Wirt und ſeine Frau unermuͤdlich die Wuͤnſche der Gaͤſte zu befriedigen ſuchten, Auban. Sie hatten ſich ſeit acht Tagen, ſeit ihrem gemeinſamen Eaſt End-Ausflug nicht mehr geſehen.
Weshalb Auban heute Abend gekommen war? — Es war mehr ein Zufall als vorbedachte Abſicht geweſen, die ihn in die Naͤhe von Tottenham Court Road gefuͤhrt und ihm den Gedanken eingab, auf eine Stunde den Klub zu beſuchen. Der Tag war ihm in Arbeit ſchneller, als er zu hoffen gewagt, vergangen. Auf die Stuͤrme der Morgenſtunden war die Stille der Überwindung ge— folgt. Wer ihn an dieſem Abend ſah, fand ihn un⸗ veraͤndert kuͤhl und beherrſcht wie immer.
Er war gleich bei ſeinem Eintritt von Bekannten be— grüßt worden. Man hatte ihm die neuen Raͤumlich— keiten des Hauſes gezeigt: die oberen Zimmer, wo ein Billard ſtand und die kleinen Beratungen in geſchloſſenem Kreiſe abgehalten wurden, und den großen, im Erdgeſchoß liegenden Verſammlungsſaal, der ſehr geraͤumig war und mit feinen hellen, ſauberen Wänden einen ſehr freund lichen Anblick bot.
In fruͤheren Jahren hatten die Klubmitglieder nur das duͤſtere und unſaubere Hinterzimmer einer oͤffentlichen
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Wirtſchaft zu ihrer Verfuͤgung gehabt, wo ſie nicht mehr bleiben mochten, beſonders nachdem es ihnen durch die Streitigkeiten, die es wochen- und monatelang duürch⸗ hallten, verleidet war. Und mit der immer bereiten Opferwilligkeit hatten ſie ſich nun dieſes Haus gemietet, wo ſie ſich wohl fuͤhlten.
Im Barraum, der zu eng war fuͤr die ſich dorthin immer zuerſt Draͤngenden, war Auban ſchnell in ein Ge— ſpraͤch geraten. Man hatte von der letzten Diskuſſion gehoͤrt, die bei ihm ſtattgefunden, und viele Einwaͤnde gegen ſeine Theorien bereit.
Wie? — Er wollte das Privateigentum beſtehen laſſen und den Staat abſchaffen? Aber der Staat fei ja gerade zum Schutze des Privateigentums da. Und einer der Anweſenden fragte auf engliſch:
— Solange das Privateigentum beſteht, wird es des Schutzes beduͤrfen. Folglich kann der Staat nur fallen, wenn auch jenes faͤllt. Was haben Sie darauf zu ent⸗ gegnen?
— Es iſt moͤglich, daß das Privateigentum des Schutzes bedarf.
Ich werde mir dieſen Schutz kaufen, und ich werde mich mit Anderen zum Schutz unſeres Eigentums ver— binden, um es zu verteidigen, falls immer dies noͤtig ſein ſollte. Aber ich behaupte, daß neunundneunzig Prozent aller ſogenannten ‚Eigentumsverbrechen‘ von denen begangen werden, welche, von den heutigen Zus ſtaͤnden zur Verzweiflung getrieben, ihre Arbeit gar nicht oder nur tief unter der Grenze ihres Preiſes — an⸗ genommen, daß die Koſten die wahre Grenze des Preiſes
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bilden — verwerten koͤnnen. Ich behaupte daher, daß dieſe ſogenannten Verbrechen eine Seltenheit werden muͤſſen von der Stunde an, in der Jeder ſich den vollen Ertrag ſeiner Arbeit zu ſichern im Stande iſt, d. h. von der Stunde an, in der die ſtaatliche Einmiſchung aufhoͤrt.
Ferner behaupte ich, daß dieſer Selbſtſchutz eine viel wirkſamere Waffe ſein wird, als derjenige es iſt, welchen uns der Staat aufdraͤngt, ohne uns zu fragen, ob wir ihn verlangen. Ein Beiſpiel:
Ich waͤre nicht faͤhig, einen Menſchen zu toͤten, ſei es im Kriege, im Duell, oder auf irgendeine andere geſetzlich erlaubte“ Art und Weiſe. Aber ich würde nicht einen Augenblick zaudern, dem Einbrecher, welcher mit der Abſicht, mich zu berauben und zu ermorden, in mein Haus dringt, eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Und ich glaube, daß ſich dieſer Einbrecher dreimal beſinnen wuͤrde, den Einbruch zu wagen, wenn er ſicher waͤre, ſo empfangen zu werden, als wenn er, wie heute, weiß, daß mir bloͤdſinnige Geſetze die Verteidigung meines Lebens und meines Eigentums erſchweren, und ihm im ſchlimmſten Falle nur die und die Strafe erwaͤchſt.
Ich habe dieſes Beiſpiel zugleich fuͤr diejenigen ge— waͤhlt, welche noch immer nicht ein defenſives von einem aggreſſiven Verhalten zu unterſcheiden vermoͤgen, alſo auch nicht ein freiwillig eingegangenes und jederzeit wieder loͤsliches Buͤndnis zu gegenſeitiger Staͤrkung in beſtimmten Faͤllen, z. B. eine Lebensverſicherung uſw., von einem Staats⸗ weſen, welches dem Einzelnen einmal die Wahl des Eintritts nicht freiſtellt, und ihm ferner den Austritt nur unter der Be⸗ dingung ermoͤglicht, daß er das Land ſeiner Heimat verlaͤßt.
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Auban ſchwieg. Aber die, welche ihm zugehoͤrt hatten, knuͤpften lebhafte Auseinanderſetzungen an jeden dieſer Saͤtze. . Man ſuchte ihn in dieſe zu verwickeln. Doch Aus ban war heute nicht aufgelegt, viel zu ſprechen und er lehnte es ab. Er ſtieg die Treppe hinunter, die in den Verſammlungsſaal fuͤhrte. Der hatte ſich nun faſt gefuͤllt und Viele verlangten ungeduldig, man ſolle be— ginnen.
Auban blieb unweit der Treppe ſtehen, am Eingang des Saales, deſſen an der Wand ſich hinziehende Baͤnke nun faſt bis auf den letzten Platz beſetzt waren. Da ſeine Mitte frei blieb bildeten die Verſammelten einen ovalen Kreis, in dem jeder Einzelne von Allen erkennbar war. So blieben denn auch die meiſten auf ihren Plaͤtzen ſitzen, wenn ſie ſprachen.
An dieſem Abend waren wenig Frauen anweſend. Die Maͤnner waren meiſt jugendlich, in den zwanziger und dreißiger Jahren.
Die Verſammlung unterſchied ſich in nichts von aͤhn— lichen Zuſammenkuͤnften der Arbeiter, es waͤre denn die verhaͤltnismaͤßig große Anzahl von kuͤhnen und energiſchen Koͤpfen geweſen, die das Gepraͤge einer ungewoͤhnlichen Intelligenz und hervorragenden Willenskraft trugen. In— deſſen waren das auch hier, wie uͤberall, immer nur die Einzelnen, welche ſich ſo abhoben, daß man ſie ſofort erkannte als die Bahnbrecher einer neuen Richtung — die arttragenden Pioniere und die Rufer einer neuen und beſſeren Zeit.
Man ſprach uͤber Chicago. Viele ſprachen. Sofort
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wenn der eine geendet, begann ein anderer, und noch manche Hand ſtreckte ſich in die Hoͤhe zum Zeichen, daß die Liſte der Redner noch nicht zu ſchließen ſei.
Man ſprach meiſt kurz, aber heftig. Schon tauchten Plaͤne auf, in welcher Weiſe die Propaganda des Todes der Maͤrtyrer einzuleiten ſei.
Einig war man darin, daß etwas Außergewoͤhnliches geſchehen muͤſſe .
Dann kam die Debatte uͤber die Frage einer von den Klubs gemeinſam zu gruͤndenden und zu leitenden Schule fuͤr die Kinder aller Mitglieder, welche dieſe Kinder nicht von dem Kirchen- und Staatsglauben der heutigen oͤffent⸗ lichen Schulanſtalten vergiftet wiſſen wollten.
Die lauten Stimmen ſtoͤrten ploͤtzlich Auban. Sie paßten nicht zu dem Zuſtande, in dem er war. Über Chicago heute abend — in einer Verſammlung von ſolcher Groͤße: er fuͤhlte, das war nicht richtig; und die Schulfrage — er konnte da doch nicht helfen; ſeine Arbeit war eine andere.
Daher zog er ſich in den ſtilleren Hintergrund des Saales zuruͤck, wo einige Genoſſen ſaßen, die ſich hierhin mit ihrem Glaſe und ihren Zeitungen zurückgezogen hatten. Der eine las, der andere führte ein halblautes Geſpraͤch mit einem dritten, und der vierte war eingeſchlafen, uͤber— waͤltigt von der Muͤdigkeit der Arbeitstage. — Ein junger, blonder Mann mit freundlichem Geſichtsausdruck hielt ein Kind auf ſeinen Knien. Die Mutter desſelben war nicht lange nach der Geburt geſtorben und dem Vater, der es nicht allein zu Hauſe laſſen konnte, blieb nichts anderes übrig, als es mit in den Klub zu bringen, wo es auf:
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wuchs, gepflegt und gehaͤtſchelt von rauhen Haͤnden, aber bewacht von guten und treuen Augen und gehegt mit jener zarten Geſinnung der Liebe, welche nur in jenen Herzen wohnt, die nicht nur zu lieben, ſondern auch zu haſſen verſtehen ... Der junge Mann hatte ſich des Kindes beſonders angenommen und es hing mit ſeinen mageren, kleinen Armen oft ſtundenlang an ſeinem Halſe, waͤhrend ſich der Vater an einer Diskuſſion beteiligte; und nichts war ſchoͤner als die Sorgfalt und Guͤte, mit der er und die andern ihm die Mutter zu erſetzen ſuchten.
Auban laͤchelte, als er dieſes Bild wieder ſah. Er ſetzte ſich hinzu und ſcherzte mit dem Kinde, das keine Spur von Ermuͤdung verriet. Dann aber wurde er wieder uͤberwaͤltigt von ſeinen eigenen ſchweren und ernſten Gedanken, denn er hatte an demſelben Tiſche ein Geſicht geſehen, das er nur zu gut kannte. Es war ein Genoſſe, der unter dem Druck beſtaͤndiger Ver— folgungen wahnfinnig geworden war. Erſt uͤberreizt, dann von Schwermut befallen, war ſein Wahnſinn hier in London, wohin er ſich zuletzt gefluͤchtet, hier, wo er ſich in voller Sicherheit befand, zum Durchbruch ge— kommen. Er verbrachte die meiſte Zeit in dem Klub, wo er gewoͤhnlich in einer Ecke ſaß, keinen Menſchen ſtoͤrte und von allen, die ihn ſahen, mit freundlicher Teilnahme behandelt wurde. Helfen konnte ihm keiner mehr, aber man wollte ihn wenigſtens vor dem Irren— hauſe bewahren.
Auban redete ihn abſichtlich nicht an. Er haͤtte ihn nur gequaͤlt. Denn der Ungluͤckliche war am gluͤcklichſten,
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wenn man ihn allein in ſeinem Winkel ſitzen ließ, wo er ſtundenlang mit murmelnden Lippen vor ſich hin— ſtarren und mit den haſtigen Fingern unverſtaͤndliche Figuren auf die Tiſchplatte zeichnen konnte.. In Auban erweckte er ſtets die Erinnerung an einen anderen Genoſſen, den der Wahnſinn von einer anderen Seite erreicht hatte. Es war einer ſeiner jungen Pariſer Freunde geweſen. Feurig, begeiſtert, hingebend, lebte derſelbe nur fuͤr die Sache. Er haͤtte ſein Leben fuͤr ſie laſſen moͤgen. Er duͤrſtete danach, ſeine Liebe auch zu beweiſen und er fand keinen anderen Weg, als den einer „Tat“. Leiden⸗ ſchaftliche Reden und anfeuernde Verheißungen hatten ihn beeinflußt. Aber ſeine Natur, die vor Blutvergießen und Gewalt zuruͤckſchauderte, widerſtrebte. Und in dem langen Kampfe zwiſchen dem, was ihm als heiligſte Pflicht er— ſchien und dieſer Natur, die deren Erfuͤllung zur Un⸗ moͤglichkeit machte, war fein Geiſt erlegen ...
Waͤhrend Auban in dem Banne dieſer Erinnerung ſtand, hoͤrte er Trupps laute, klare Stimme, wie ſie den ganzen Raum bis in ſeine Ecken durchdrang:
— — — Nicht nur mit den Anſichten der Er: mordeten von Chicago, ſondern auch mit dem Bomben— wurf des 4. Mai, dieſer glorreichen Tat eines Helden, haben wir uns ſolidariſch zu erklaͤren! —
Und vernahm den Jubel, welcher dieſen Worten von allen Seiten folgte.
Es uͤberlief ihn kalt. Er haͤtte aufſtehen und ſeine Haͤnde beſchwoͤrend den Toren entgegenhalten moͤgen, welche ſich in den Abgrund zu ſtuͤrzen bereit waren, der ſich vor ihnen aufgetan. Aber ſeine Vernunft zeigte ihm
5 a = 5 hi
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auch ſofort das voͤllig Zweckloſe dieſes Vorhabens: ſtatt die Leidenſchaften zu daͤmpfen, wuͤrde ſein Wort ſie an dieſem Abend nur höher noch angefacht haben.
Er ſtuͤtzte den Kopf in die Hand.
Wenn moͤglich, wollte er noch heute Abend mit Trupp ein entſcheidendes Wort reden.
Er fuͤhlte, daß hier nichts mehr fuͤr ihn zu tun war. Er glaubte uͤberhaupt nur noch an Selbſthilfe. Sie wuͤrden ihren Weg weiter gehen und ihre Erfahrungen machen muͤſſen, vor denen er ſie nicht und keiner be— wahren konnte.
Und er ſtellte ſich wieder die Frage, die ihm oft in den letzten Jahren gekommen war: „Haſt du uͤberhaupt das Recht, zu helfen? zu beeinfluſſen? zu raten? — Gab es einen anderen Weg, als den der Erfahrung? Und mußte nicht jede Erfahrung ihre Zeit haben, um gemacht zu werden? War es richtig, ihr vorzugreifen? — —“
Auban hatte daher, ſeit er in London war, ſich nur
noch ſelten an Diskuſſionen beteiligt. Mit Vergnuͤgen
aber erinnerte er ſich immer eines Abends, als er in dem engen Barraum uͤber ihm in einer Geſellſchaft von vier oder fuͤnf anderen die Frage der Unentgeltlichkeit des gegenſeitigen Kredits diskutiert hatte. Jeder hatte ſich, nicht mit langen Auseinanderſetzungen, ſondern mit kurzen, knappen Fragen und Einwuͤrfen an dieſer Unterhaltung beteiligt, war zu Wort gekommen und im Stande geweſen, ſeine Gedanken zu formulieren und auszuſprechen, wie er es wollte, ſo daß jeder — als ſie auseinander gingen — lebhaft angeregt und begeiſtert von dieſer fruchtbaren Art und Weiſe des Gedankenaustauſches die Fortſetzung dieſes
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Abends verlangt hatte. Aber als man wieder beiſammen war, diesmal nicht ausnahmsweiſe mehr in kleinem Kreiſe, ſondern in der gewohnten groͤßeren Anzahl, war alles wieder in die fruͤheren Geleiſe gelenkt: ein einzelner Redner ſtand auf, redete zwei Stunden — gemaͤß dem Prinzip der perfönlichen Freiheit hatte jeder das Recht, zu reden ſo lange wie er wollte und keiner das Recht, ihn zu unterbrechen — ſchweifte ab, geriet bald auf ganz andere Gebiete, ermuͤdete die einen und langweilte die andern, ſo daß Auban die Sache aufgegeben und ſich mißmutig entfernt hatte. Das war der letzte Verſuch dieſer Art geweſen, den er unternommen.
Er hatte nicht nur Sympathie, ſondern auch Be⸗ wunderung fuͤr dieſe Maͤnner, welche ſich nach der harten Arbeit ihrer Tage mit den ernſteſten Fragen in hingebendſter Weiſe beſchaͤftigten, waͤhrend ſie ſahen, wie die andern ſich bei bloͤdem Kartenſpiel oder ſeichtem Geſchwaͤtz er⸗ holten. Er achtete ſie von Grund aus. Um ſo tiefer aber beklagte er die haltloſe Unklarheit ihrer Beſtrebungen, welche kein einziges Ziel erreichen, immer verzweifelter werden und nach tauſendfachen Opfern enden wuͤrden wie alle aͤhnlichen: in Blut und in Niederlagen.
Denn ſie kaͤmpften in Wirklichkeit nicht um die Ver⸗ beſſerung ihrer eigenen Lage. Sie kaͤmpften um Ideale, die unerreichbar waren, da ſie in der Luft ſchwebten. Mehr noch: ſie hatten nur Verachtung und Spott fuͤr alle ‚praftifchen‘ Beſtrebungen ihrer Klaſſe, ſich ſelbſt zu helfen, welche ihren ‚großen Zielen“ der Befreiung der Menſchheit uſw. gegenuͤber nuͤchtern und kleinlich erſchienen.
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Die Verwirrung in ihren Koͤpfen ſchien Auban faſt unheilbar, ſeit er ſie erkannte. Er hatte oͤfters Verſuche gemacht, zu ſehen, wie weit ſie ging und Reſultate ge— funden, die ihn erſt entſetzten, dann entmutigten,
So ſtellte er einmal einer Anzahl ſeiner Bekannten — einem wie den andern — die erſte und einfachſte aller Fragen.
— Wem gehoͤrt der Ertrag deiner Arbeit? — fragte er der Reihe nach: zunaͤchſt einige eingefleiſchte Sozial⸗ demokraten ſtrengſter Obſervanz; mehrere Kommuniſten, und zwar ſowohl folche, welche die Zwangsgeſellſchaft des Kommunismus in Schutz nahmen, als auch ſolche, welche in der Autonomie des Individuums das letzte Ziel ſahen und ſich fuͤr Anarchiſten hielten; endlich mehrere engliſche Sozialiſten. Waͤren ſie alle konſequente Denker ihrer Weltanſchauung des Sozialismus geweſen, ſo haͤtten ſie ſaͤmtlich ohne Ausnahme antworten muͤſſen: „Meine Arbeit gehoͤrt den andern: dem Staat, der Geſellſchaft, der Menſchheit ... Ich habe kein Recht auf ſie ...“ So aber erlebte es Auban, daß ein Sozialdemokrat ohne Beſinnen entgegnete: ſeine Arbeit gehoͤre ihm; und ein Autonomiſt: ſeine Arbeit gehoͤre der Geſellſchaft; daß die, welche ſich auf das bitterſte untereinander befehdeten, in dieſer einen Frage, aus der ſich alle anderen ergeben, uͤbereinſtimmten; und daß jene, welche auf ein und dem- ſelben ſtrengen Boden ſtanden, dieſelbe in direkt ent⸗ gegengeſetzter Weiſe beantworteten
In der Tat: noch nichts war geklaͤrt. Nicht klare Gedanken, ſondern dumpfe Gefühle, die noch nicht die Schwere des Erwachens von ſich geſchuͤttelt hatten, hielten
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die meiſten zuſammen. Mit dieſen Gefuͤhlen ſchlaͤgt man die Revolutionen, aber man ergruͤndet mit ihnen keine Wahrheiten. Erſt mußte das kuͤhle, friſche Bad der Er— fahrung den Erwachenden den Schlaf aus den Augen geſpuͤlt haben, ehe ſie an die Arbeit des neuen Tages zu gehen imſtande waren..
Es galt: geduldig zu ſein und den Mut nicht zu ver⸗ lieren.
Auban dachte wieder an Trupp und verlangte ihn zu ſehen. Im Saale fand er ihn nicht mehr und ſtieg da— her die Treppen wieder hinauf.
Als er den Schenkraum wieder betrat, ſah er den Geſuchten ganz allein im Geſpraͤch mit einem Manne ſtehen, deſſen Haltung und Kleidung ſofort verriet, daß er kein Arbeiter war, aber gerne als ſolcher erſcheinen wollte. Er ſtockte daher und fing in demſelben Moment einen Blick ſeines Freundes auf, den er auf der Stelle verſtand. Der Fremde, der einen Schluck aus dem vor ihm ſtehenden Glaſe genommen, konnte von dieſem blitzſchnellen, ſchweigenden Gedankenaustauſch nichts be— merkt haben.
Die meiſten der Anweſenden hatten ſich in den Saal hinunter begeben. Nur an dem Tiſche ſaßen noch einige Genoſſen, leſend und kartenſpielend. Auban ſetzte ſich zu ihnen, und zwar fo, daß er Trupp den Ruͤcken zus kehrte. Dann begann auch er in einer der herum— liegenden Zeitungen ſcheinbar aufmerkſam zu leſen.
Er konnte von dem hinter ihm gefuͤhrten Geſpraͤch
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nur einzelne Worte vernehmen, befonders, da deutſch ge⸗ ſprochen wurde. Die beiden Redenden daͤmpften ab: ſichtlich ihre Stimmen. Aber er hatte noch keine fuͤnf Minuten ſo geſeſſen, als er Trupps Hand auf ſeiner Schulter fuͤhlte:
— Du gehſt wohl mit? — Wir wollen noch ein Glas Bier trinken. Er wandte ſich ſofort um, und ſah im Aufſtehen noch, wie wenig der Fremde ſeine peinliche uͤberraſchung uͤber dieſe Aufforderung zu unterdruͤcken vermochte. i
Sie verließen alle drei zuſammen den Klub. Der Fremde verbarg ſeine Verlegenheit beim Durchſchreiten der Tuͤr hinter einer befliſſenen Hoͤflichkeit, mit der er Auban vorangehen ließ.
Als ſie auf der Straße ſtanden, ſagte Trupp laut zu Auban: „Ein ausgewieſener Genoſſe von Berlin. 'ne nette Gegend, nicht wahr? —“
Auban biß ſich auf die Lippen. Bei ſolchen Gelegen— heiten war ſein Freund einzig.
— Was ſind Sie? fragte er den Berliner in deutſcher Sprache.
— Ich bin Schuhmacher, aber ich finde hier keine Arbeit —
— So, Sie ſind Schuhmacher. Womit reinigen Sie denn Ihre Haͤnde, daß ſie ſo weiß ſind? fragte Auban weiter.
Nun wurde der andere ernſtlich beunruhigt. Ab— wechſelnd flog ſein ſcheuer Blick vom einen zu andern.
Er ging zwiſchen ihnen. Er wollte ſtehen bleiben, aber VIII 22
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Auban und Trupp gingen ſo unbekuͤmmert weiter, daß er nur fragen konnte: „Sie glauben mir nicht?“ —
Trupp brach in ein lautes Lachen aus, das ſo natuͤrlich klang, wie das eines Kindes.
— Ach was, der Genoſſe macht ja nur Unſinn! Wer wird Ihnen denn nicht glauben?
Und er wurde ploͤtzlich ſehr geſpraͤchig, ſo daß keiner der andern zu Wort kommen konnte. Alles aber, was er erzaͤhlte, drehte ſich um die Entlarvung von Spitzeln, Polizeiagenten und aͤhnlichem Geſindel. Er machte ſich luſtig uͤber die Dummheit ſowohl der Auftraggeber, als auch der Beauftragten. — Er ſprach auch von den frei⸗ willigen Spionen, die ſich in die Klubs und die Ver— ſammlungen geſchlichen hatten, fo lange überall umher— ſchnuͤffelten, bis ſie herausgeworfen wurden, worauf ſie ſchließlich die Zeitungen mit luͤgenhaften Berichten uͤber die kaum geſehenen und gar nicht verſtandenen Zuſtaͤnde gefuͤllt haͤtten. f
Trupps Abſicht war nicht mehr zu verkennen, be⸗ ſonders da er ſich um Auban, der, ſcheinbar in ſeine eigenen Gedanken verſunken, dahin ging, nicht kuͤmmerte, ſondern Schritt fuͤr Schritt dicht an der Seite des Fremden blieb, der ihm nicht entrinnen konnte und in dem jedes ſeiner Worte die Unruhe und Angſt ſichtlich ſteigerte.
Sie hatten eine enge und völlig duͤſtere Straße er⸗ reicht, die nur von einer einzigen Laterne erhellt wurde und ganz menſchenleer war. Mehrere Haͤuſer traten hier tief zuruͤck und ließen eine weite Ecke frei, ehe ſich die Gaſſe wieder verengte.
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Hier war Trupp an ſeinem Ziel, und er unterbrach fi ch plöglich ſelbſt.
Der Spitzel ſah, daß alles verloren war.
— Wohin gehen wir? ſtieß er mit Anſtrengung her vor und blieb ſtehen. — Ich will nicht weiter —
Da hatte ihn bereits die Fauſt Trupps gepackt und wuchtig gegen die Wand geſtoßen.
— Du Schurke! brach er los. — Jetzt habe ich dich!
Und zweimal fiel ſeine freie Hand auf die Wangen des Elenden nieder: einmal von rechts und einmal von links, und beide Male hoͤrte Auban das klatſchende Auf— ſchlagen dieſer eiſernen Hand.
Der Geſchlagene war wie betaͤubt. Nur wie zur Abwehr hob er die Arme empor, ſein Geſicht mit ihnen zu ſchützen. ö
Aber Trupp herrſchte ihn an: „Die Arme nieder!“ Und willenlos, wie ein Kind, das von ſeinem Lehrer gezuͤchtigt wird, ließ er fie wieder ſinken.
Noch einmal — und noch einmal ſauſte Trupps Hand nieder, und mit jedem Schlag machte ſich fein Zorn zugleich in Worten Luft: „Du Lump — du ge⸗ meiner Lump — du haſt uns verraten wollen, du Spion? — Warte, du kommſt nicht wieder!“
Und wieder fiel ſeine Hand.
— Helfen Sie mir — er erwuͤrgt mich — rang es ſich keuchend von den Lippen des von Todesangſt Er⸗ griffenen.
Aber Auban ſtand teilnahmlos, halb abgewandt, die
Arme uͤber der Bruſt verſchraͤnkt und ruͤhrte ſich nicht. 22*
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And wie eine Puppe von Stroh ſchuͤttelte Trupp fein Opfer. „Ja, erwuͤrgen ſollte man Euch Hunde,“ brach er wiederum los, „das waͤre das Beſte! — Euch alle mit⸗ einander, Euch Spitzel, Euch Schufte!“ — Und indem er den halb zur Erde Geſunkenen emporriß, ſchleifte er ihn, immer mit der einen Hand, die ſich in die Bruſt des andern unloͤslich eingekrallt zu haben ſchien, naͤher in den Schein des Lichtes, das unruhig flackernd niederfiel, und zeigte Auban das blaſſe, von Todesangſt entſtellte, unter dem Drucke dieſer moͤrderiſch-eiſernen Fauſt ver⸗ zerrte, feige Geſicht: „Auban, ſieh her: ſo ſehen ſie aus, dieſe Elenden, die das gemeinſte aller Handwerke treiben!“ Und er oͤffnete ſeine Fauſt, die wie ein Schraubſtock auf der Bruſt ſeines Opfers lag, und dieſes — kraftlos und von Schwindel ergriffen — taumelte zuruͤck, fiel nieder, raffte ſich wieder auf, murmelte einige unverſtaͤndliche Worte und verſchwand in dem Dunkel.
Die beiden Freunde wandten keinen Blick mehr nach dem Geſtuͤrzten. Während fie ſchnell Oxford Street zu⸗ ſchritten, erzaͤhlte Trupp die Einzelheiten dieſes neuen Falles. Von jetzt ab ſprachen die Freunde franzoͤſiſch.
Eines Tages ſei dieſer Menſch zu einem der Mit⸗ glieder gekommen, mit dem Empfehlungsbrief eines Berliner Genoſſen. Dieſes Mitglied habe den Über bringer auch in den Klub eingefuͤhrt, und eine Anfrage in Berlin habe beſtaͤtigt, daß die Empfehlung in Ordnung ſei. Dann aber habe ſich herausgeſtellt, daß der eigent- liche Empfänger derſelben mit dem Überbringer nicht identiſch ſei, daß alſo dieſer ſie von jenem erhalten und ſich unter fremdem Namen eingefuͤhrt haben mußte.
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Daraufhin habe man einen der Genoſſen in unauffaͤlliger Weiſe mit ihm zuſammen wohnen laſſen und eines Tages denn auch die ganze Korreſpondenz des ſo auf Schritt und Tritt faſt Beobachteten in die Haͤnde bekommen, aus der ſich ergeben habe, daß man es mit einem direkt im Solde der deutſchen Polizei ſtehenden Spitzel zu tun hatte, der gegen ein monatliches Gehalt ſeinen Auftrags gebern uͤber alle Vorgaͤnge in den anarchiſtiſchen Klubs Londons jede gewuͤnſchte Auskunft zu geben ſich ver— pflichtet. — Man habe einen Skandal im Klub ver⸗ meiden wollen, um der engliſchen Polizei nicht die ſo erwuͤnſchte Gelegenheit zu geben, in den Klub zu dringen.
Er ſelbſt, Trupp, habe die Zuͤchtigung eee von der Auban ſoeben Zeuge geweſen jet. N
Derartige Entlarvungen waren weder n noch be⸗ ſonders ſelten. Meiſtens kamen die, welche ſich dieſem ſchmutzigſten und veraͤchtlichſten aller Gewerbe widmeten, mit einer Tracht Pruͤgel davon; oft rochen ſie Lunte und entzogen ſich der Entdeckung rechtzeitig durch die Flucht. Das Mißtrauen unter den Revolutionaͤren war infolge der unablaͤſſigen Hetzereien, Verdaͤchtigungen, Verfolgungen ſehr groß geworden. Plaͤne von Wichtigkeit wurden nie in groͤßerem Kreiſe mehr beſprochen, blieben meiſt das Geheimnis ganz weniger Vertrauten, oft in der Bruſt eines einzigen verſchloſſen. — Noch groͤßer aber, als gegen unbekannte Arbeiter, war das Mißtrauen gegen geiſtige Arbeiter geworden, infolge der trüben Erfahrungen, die man mit Zeitungsſchreibern und Literaten gemacht hatte. Nichts war gerechtfertigter, als die Vorſicht gegen⸗ über dieſen Leuten: unter zehn waren ſicher neun, die
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unter dem Vorgeben, die Lehren des Anarchismus ſtudieren! zu wollen, nur in die Geheimniſſe der Propaganda einzudringen verſuchten, um ſodann ihren einſichts⸗ und urteilsloſen Leſern die haarſtraͤubendſten Schauergeſchichten uͤber dieſe Banden von Moͤrdern und Verbrechern“ auftiſchen zu koͤnnen. Daß durch dieſes Mißtrauen manch einer aus den Reihen des geiſtigen Proletariats, welcher unter dem Druck der heutigen Zuſtaͤnde ebenſo ſchwer, ja ſchwerer litt als der Handarbeiter, und daher von demſelben großen Haß gegen dieſe Zuſtaͤnde erfüllt war, verſcheucht wurde — wenn er kam, ſeine geiſtigen Kraͤfte in den Dienſt der „vorgeſchrittenſten aller Parteien“ zu ſtellen —, war eine Tatſache, die, wie Trupp ſagte, nicht „zu aͤndern war“. Um ſo groͤßer waren die Hoffnungen, welche Auban gerade auf dieſe zu ſetzen begann: ſie, durch keine Ruͤckſicht gehemmt, im Beſitz einer ſchwer auf ihnen laſtenden Bildung, würden ſicher die erſten und viel: leicht zunaͤchſt noch die einzigen ſein, welche die Konſe⸗ quenzen des Individualismus zu ziehen nicht nur bereit, ſondern auch faͤhig waren.
Trupp war in ſeinem Geſpraͤch bei einem Punkte angekommen, der ihn ſtets ſehr erregte. L Die Sozialdemokraten behaupten, ſagte er mit ſeinem bitteren Lachen, — alle Anarchiſten ſeien Spitzel; oder auch, wenn es ihnen gerade beſſer paßt, es gaͤbe uͤberhaupt keine Anarchiſten. — Ah, fuhr er empoͤrt fort, — es gibt nicht eine Gemeinheit, die von dieſer Partei nicht gegen uns begangen worden waͤre, vor allem von ihren ehrenwerten Fuͤhrern, welche die Arbeiter
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an der Naſe herumfuͤhren, daß es eine Schande iſt. Erſt haben ſie uns verhoͤhnt und verlacht, dann haben ſie uns verleumdet, verhetzt, haben uns uͤberall geſchadet, wo ſie nur konnten, vom Anfang an bis heute in uns die bitterſten Feinde geſehen, alles aus dem einzigen Grunde, weil wir verſuchten, dem Arbeiter die Augen uͤber die Nutzloſigkeit ſeiner Opfer, des Stimmkaſtenwahlſchwindels, der ganzen Parteimeierei zu oͤffnen. Du machſt dir keinen Begriff davon, Auban, wie korrupt die Partei in Deutſch⸗ land iſt: die koͤnigstreuen Preußen find nicht unſelb⸗ ftändiger und feiger ihrem Herrn und Meiſter, als die deutſchen Arbeiter, die zur Partei gehören, ihren Fuͤhrern“ gegenüber! ... Wie ſoll das enden? —
— Nun, meinte Auban ruhig, — zwiſchen den Arbeitern als Klaſſe und den Sozialdemokraten als Partei iſt ein gewaltiger Unterſchied. Es iſt nicht denkbar, daß die einen einmal in die andern voͤllig aufgehen. Daher brauchen wir uns auch vor der Zukunft nicht zu ſehr zu fuͤrchten. — Ich glaube ſogar, daß die wichtigſten Schritte zur Befreiung der Arbeit gar nicht von den ſozialiſtiſchen Parteien ausgehen werden, ſondern von den hier und da zur allmaͤhlichen Erkenntnis ihrer wahren Intereſſen gelangenden Arbeitern ſelbſt. Sie werden die Partei einfach beiſeite ſchieben.
Aber von euch werden ſie erſt recht nichts wiſſen wollen. Das muͤßt ihr euch klar machen. Denn erſtens koͤnnen ſie euch hoͤchſtens mit dem Herzen, nicht aber mit dem Verſtande verſtehen, und zur wirklichen Verbeſſerung ihrer Lage haben ſie gar nichts anderes noͤtig als ihren Verſtand, der ihnen den rechten Weg allein zeigen kann:
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ich meine den des Egoismus. Und zweitens habt ihr durch widerſinnige Vermengung aller Lebensanſchauungen, weit mehr aber noch durch eure Taktik die Vorurteile der Dummheit derart herausgefordert und ihnen ſchein⸗ bar recht gegeben, daß Schon ein erzeptionell ſelbſtaͤndiger Wille und ein ganz ſeltener Erkenntnistrieb dazu gehoͤrt, um euren Wegen nachzugehen. Oder aber ein heißes Herz — das habt ihr ja alle! —
— Als ob du das nicht haͤtteſt! lachte Trupp bie Ja, heiß genug, um die Sache der Freiheit immer zu lieben, wie ich hoffe. Aber nicht mehr heiß genug, um ſie durch Torheiten zu ſchaͤdigen.
— Rt nennſt du eine Torheit? — Unſere Taktik? —
— Das ſagſt du? — Frage ir; fait drohend.
5 Ja, ich.
— Nun, dann iſt es auch Zeit, daß wir uns eben darüber einmal gruͤndlich ausſprechen.
— Gewiß. Aber laß uns erſt allein ſein. Nicht hier auf der Straße.
Sie gingen haſtig weiter. Trupp ſchwieg. Als das Licht einer Laterne auf ſie fiel, ſah Auban, wie er am ganzen Koͤrper, wie von Froſt geſchuͤttelt, bebte, indem er mit dem Munde das einer Verletzung ſeiner Hand entſtroͤmende Blut aufſog, welche bei der Zuͤchtigung des Spitzels die Wand geſtreift haben mußte.
— Du zitterſt? fragte er, da er glaubte, die Auf regung ſei daran ſchuld.
Aber Trupp erklaͤrte ihm muͤrriſch, es ſei nie:
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er ſei nur den ganzen Tag herumgelaufen und habe das Eſſen darüber vergeſſen. Auban ſchuͤttelte den Kopf.
— Du biſt doch unverbeſſerlich, Otto! Den ganzen Tag nichts zu genießen, welcher Unſinn!
Er nahm ihn beim Arme und zog ihn fort. Sie traten in ein kleines, beſcheidenes Reſtaurant, das in Oxford Street lag. Dort wußten fie ein wenig bes ſuchtes Hinterzimmer. Als ſie auf dem braunen Leder: ſofa in der ſtillen Ecke ſaßen und Trupp haſtig und ſchweigend aß, waͤhrend Auban ihm zuſah, wie er mit feinen kraͤftigen Zähnen das Fleiſch zerbiß, erinnerte er ihn daran, daß ſie in dieſem ſelben Raum auch den erſten Abend in London verbracht hatten, an dem ſie ſich nach Jahren zum erſtenmal wieder allein gegenuͤber ſaßen, und er ſagte laͤchelnd: i
— Ft es nicht ganz wie damals?.
Aber Trupp warf ihm einen bittern Blick des Vor— wurfs zu und ſchob Teller und Glas von ſich. Seine augenblickliche Schwaͤche war verſchwunden und er war ganz wieder der eiſerne Menſch, deſſen phyſiſche Kraft unerſchuͤtterlich war.
— So, jetzt laß uns reden. Oder biſt du müde?
— Ich bin nicht muͤde, ſagte Auban.
Trupp ſann einen Augenblick nach. Er fuͤrchtete 05 kommende Geſpraͤch, denn er ahnte, daß es entſcheidend ſein wuͤrde. Er wuͤnſchte von Herzen ſeinen Freund durch ſeine Worte für die Sache der Revolution zuruͤckzu⸗ gewinnen, fuͤr den Kampf des Tages, in dem er und ſeine Genoſſen ſtanden, denn er wußte, wie unſchaͤtzbar ſeine Kraft war. Er wollte nicht durch Schroffheit einen
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Bruch abſichtlich herbeifuͤhren, aber er konnte auch die Vorwuͤrfe, welche ſich in ihm angeſammelt . nicht unausgeſprochen ſein laſſen.
— Seitdem du in London biſt, begann er, — und das Gefaͤngnis verlaſſen haſt, biſt du ein anderer. Ich kenne dich kaum mehr wieder. Du haſt dich an nichts mehr beteiligt: an keiner Verſammlung, keinem Plane, keinem Unternehmen mehr. Du haſt nichts mehr ge⸗ ſchrieben: keine Zeile mehr. Du haſt faſt jede Fuͤhlung mit uns verloren. — Welche Entſchuldigung haſt du dafuͤr?
— Welche Entſchuldigung ich habe? ange Auban mit einiger Schaͤrfe. — Wofuͤr? — Und gegenuͤber wem?
— Gegenuͤber der Sache! antwortete Trupp heftig.
— Meine Sache iſt meine Freiheit.
— Einſt war die Freiheit deine Sache.
— Das war mein Irrtum. Einſt glaubte ich bei den anderen anfangen zu muͤſſen; jetzt habe ich eingeſehen, daß es noͤtig iſt, bei ſich zu beginnen und immer von ſich auszugehen.
Trupp ſchwieg. Dann begann Auban:
— Wir haben vor vierzehn Tagen bei mir uͤber unſere Anſchauungen geſprochen, und ich hoffe dir gezeigt zu haben, wo ich ſtehe, wenn ich auch nicht hoffen darf, dir klar gemacht zu haben, wo du ſtehſt. Ich war bemuͤht, die eine Seite der Frage in ein grelles Licht zu ruͤcken. Die andere Seite liegt noch zwiſchen uns im Dunkeln: die der Taktik. Wenn wir nun heute Abend auch dieſe beleuchten, ſo ſetze ich voraus, du biſt davon uͤberzeugt, daß es nicht moraliſche oder aͤhnliche Bedenken
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ſind, die mich dazu veranlaſſen, dir zu ſagen: ich halte die Taktik, die ihr befolgt, die ſogenannte „Propaganda der Tat“, nicht allein fuͤr unnuͤtz, ſondern auch fuͤr ſchaͤdlich. Ihr werdet nie mit ihr einen dauernden Sieg erfechten.
Trupps Augen waren ſtarr auf den Sprechenden ge— richtet. Sie gluͤhten vor Erregung und ſeine blutende Hand, die er mit einem Tuch umwickelt hatte, fiel ge⸗ ballt auf den Tiſch.
— Gut, daß wir reden! rief er. — Du verlangſt alſo, daß wir die Haͤnde in den Schoß legen und uns ruhig morden laſſen ſollen?
Er ſprang auf.
— Du verteidigſt unſere Feinde! ſtieß er hervor.
— Im Gegenteil: ich habe eine Waffe gefunden, gegen die ſie machtlos ſind, ſagte Auban ruhig und legte ſeine Hand auf den Arm des Erregten, mit deren Druck er ihn auf ſeinen Platz zuruͤcknoͤtigte.
— Ich haſſe die Gewalt in jeder Form! ſprach er weiter; und von nun an ſchien er es zu ſein, der den anderen uͤberzeugen und gewinnen wollte fuͤr ſeine Idee: — Es gilt, die Gewalt unmöglich zu machen. Das ges ſchieht nicht, indem man ihr ebenfalls Gewalt entgegen⸗ ſetzt: der Teufel laͤßt ſich nicht durch Beelzebub aus— treiben.. Schon habt ihr in fo manchem Punkte eure Anſicht geaͤndert. Einſt waret ihr die Verteidiger der Geheimbuͤnde und der großen Vereinigungen, welche die Proletarier aller Laͤnder und jeder Sprache vereinigen ſollten — dann ſaht ihr ein, wie leicht es der Regierung
iſt, in die erſteren eines ihrer unſauberen Elemente ein⸗
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zuſchmuggeln, welches ihr das ganze Fadenbuͤndel auf einmal in die Hand gibt, und wie die letzteren noch jedesmal der Zerſplitterung, der Zeit und ihrem eigenen Schickſal erlegen ſind; und ſeitdem ſeid ihr immer mehr auf das Individuum zuruͤckgekommen, lehrt als das einzig Zweckmaͤßige das Zuſammenſchließen in moͤglichſt kleine Gruppen, die voneinander moͤglichſt wenig wiſſen, und die individuelle Tat als das einzig richtige; ſeitdem verwerft ihr ſelbſt das Vertrauen unter den intimſten Freunden in beſtimmten Faͤllen gaͤnzlich. — Einſt erſchien eure Zeitung in „Nirgendsheim“ und wurde von der „freien Gemeindruckerei“ gedruckt — heute erſcheint ſie, wie jede andere, mit Namen und Wohnung des Druckers auf der letzten Seite ... Und ſo iſt alles, die ganze Bewegung, mehr und . in das Acht der Öffentlichkeit gerückt,
Er ſchwieg einen Augenblick.
Dann ſagte er eindringlich: .
— Eure ganze Taktik iſt eine falſche. Vergeſſen wir doch nie, daß wir Krieg fuͤhren.
Was aber iſt das A und O aller: Kriegführung! — Jeder Leutnant kann es dir ſagen:
Mit moͤglichſt geringem Verluſt an Opfern dem Feinde moͤglichſt große Niederlagen beizubringen. i
Die moderne Kriegskunſt erkennt immer mehr er Wert der Defenſive an; fie verwirft immer mehr den nutzloſen Angriff.
Lernen wir doch von ihr, wie wir von u allem benen ſollten, was irgend uns nur nuͤtzen kann. —
Aber meine Bedenken ſind noch weit ernſterer FR
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Ich werfe euch ſogar vor, daß ihr die allererſte Be— dingung jeder Kriegsführung verachtet: die eigene Staͤrke, wie die des Feindes, genau kennen zu lernen.
Es muß geſagt werden: Ihr überfchägt euch, und ihr unterſchaͤtzt den Feind!
— Und was, fragte Trupp hohnvoll, — ſollen wir tun? Wenn ich fragen darf.
— Was ihr tun ſollt, weiß ich nicht. Das muͤßt ihr ſelber wiſſen. — Aber ich behaupte: der paſſive Widerſtand gegen die aggreſſive Gewalt iſt das einzige Mittel, dieſelbe zu brechen.
Trupp lachte, und zwiſchen den beiden Maͤnnern ent⸗
ſpann ſich ein erregtes Geſpraͤch. Jeder verteidigte ſeine
Taktik, indem er Beiſpiele heranzog, ihre Wirkung zu beweiſen.
Er war ſpaͤt, als ſie endeten: Auban durchdrungen von der Unmoͤglichkeit, ſeinen Freund je uͤberzeugen zu koͤnnen, und dieſer erbittert und gereizt über ſeinen ‚Ab:
fall‘,
Sie verließen das Public Houſe und ſtanden nach wenigen Schritten auf dem Platze, in dem Tottenham Court Road mit Oxford Street und den ſuͤdlichen Straßen zus ſammenſtoͤßt. Aber noch trennten fie ſich nicht. Indem ſie einige der engeren und weniger uͤberfuͤllten Straßen betraten und hier auf und nieder ſchritten, ſagten ſie ſich ihre letzten und entſcheidendſten Worte.
— Ihr arbeitet den Regierungen mit eurer Propa— ganda in die Haͤnde. Ihr erfuͤllt ihre liebſten Wuͤnſche. Nichts kommt ihnen gelegener, als eure Taktik, um zu Mitteln der Unterdruͤckung greifen zu koͤnnen, fuͤr die
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ihnen ſonſt jede Entſchuldigung fehlen würde. Beweis: die agents provocateurs, welche in ihrem Auftrage zu ſolchen Taten reizen. Es liegt eine ſchauerliche Komik in dem Gedanken, daß ihr — die freiwilligen Helfer der Gewalt ſeid, ihr, die ihr die Freiheit wollt!.
Er ſchwieg und von fern her drang der Laͤrm der Orford Street zu ihnen in dieſe dunkle und ſtille Neben⸗ ſtraße, nur von wenigen ſcheuen Geſtalten durcheilt, die ſich von dem Menſchenſtrom der Hauptſtraße wie Aſchenfunken losgeloͤſt hatten.
Trupp ſtand ſtill. An dem gepreßten Tone ſeiner Stimme erkannte Auban, wie ſchwer es ihm wurde, aus⸗ zuſprechen, was er ihm jetzt entgegnete.
— Du biſt kein Revolutionaͤr mehr! Du haſt dich losgeſagt von der großen Sache der Menſchheit. — Fruͤher haſt du uns verſtanden und wir verſtanden dich. Heute verſtehen wir dich nicht mehr, weil du uns nicht mehr verſtehſt. Du biſt ein Bourgeois geworden. Oder viel⸗ mehr: Du biſt immer ein Bourgeois geweſen. Geh hin, woher du gekommen biſt. Wir werden auch ohne dich ans Ziel gelangen.
Da lachte Auban. Er lachte ſo laut, daß die Vor⸗ uͤbergehenden ſtehen blieben und ſich umſahen. Und mit dieſem lauten, vollen, klaren Lachen, das bewies, wie wenig ihn dieſe Worte beleidigten, loͤſte ſich von ſeiner Bruſt, was ſie bedruͤckt hatte in dieſen Tagen.
— Ich ſollte Euch nicht verſtehen, Otto! ſagte er und ſein Lachen verſchwand vor dem Ernſt ſeiner Worte. Du glaubſt ſelbſt nicht, was du ſagſt. Ich ſollte euch nicht verſtehen, ich, der ich jahrelang mit euren Gefühlen
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gefühlt und mit euren Gedanken gedacht habe?! — Wenn ihr die Staͤdte an hundert Ecken zugleich in Brand ſtecktet, wenn ihr die Laͤnder verwuͤſtetet ſo weit euer Arm reichte, wenn ihr die Erde in die Luft ſprengtet oder in Blut ertraͤnktet — ich wuͤrde euch verſtehen! Wenn ihr Rache naͤhmet an euren Feinden, indem ihr ſie vernichtetet bis auf den letzten — ich koͤnnte es be⸗ greifen! Und wenn es nötig wäre, um die Freiheit end⸗ lich zu erringen — ich wuͤrde in euren Reihen ſtehen und kaͤmpfen bis zu meinem letzten Atemzuge! — Ich verſtehe euch, aber ich glaube nicht mehr an den gewalt⸗ ſamen Fortſchritt der Dinge. Und weil ich nicht mehr an ihn glaube, verwerfe ich die Gewalt als ein Kampf: mittel der Toren und Uneinfichtigen . . .
Und da ihm wieder die Worte einfielen, die Trupp eben geſagt, ſtieg das Lachen von neuem in ihm auf und er ſchloß:
— Wirklich, es fehlt nur noch, nach allem, was du mir heute geſagt, die Behauptung, daß ich die Taktik der Gewalt verwerfe, um — die Feinde zu ſchonen!
Aber wieder verſtummte ſein Lachen, als ſein Blick dem Trupps begegnete, der mit harter und faſt feind— ſeliger Stimme ſagte:
— Wer nicht fuͤr uns iſt, der iſt wider uns!
Die beiden Maͤnner ſtanden ſich gegenuͤber, ſo dicht, daß Bruſt ſich mit Bruſt zu beruͤhren ſchien. Ihre Blicke begegneten ſich in eiſerner Entſchloſſenheit.
— Gut, ſagte Auban, und feine Stimme klang fo ruhig, wie immer, — werft weiter Bomben, und laßt euch weiter dafuͤr haͤngen, wenn ihr denn nie klug werden wollt. Ich bin der letzte, der dem Selbſtmoͤrder
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das Recht beſtreitet, ſich ſelbſt zu vernichten. — Aber ihr lehrt eure Taktik als eine Pflicht gegen die Menſchheit, und ihr ſelbſt befolgt ſie nicht. Das iſt es, wogegen ich proteſtiere. Ihr nehmt eine furchtbare Verantwortung “er euch: die Verantwortlichkeit für das Leben anderer ...
— Fuͤr das Gluͤck der Menſchheit RATEN Opfer ge bracht werden, ſagte Trupp finfter.
— Dann bringt euch ſelbſt als Opfer! rief Auban. — Dann ſeid Maͤnner, und keine Schwaͤtzer! — Glaubt ihr wirklich an die Befreiung der Menſchheit mittels Ge— walt und kann euch keine Erfahrung von dieſem wahn⸗ ſinnigen Glauben heilen, dann handelt auch, ſtatt in euren Klubs zu ſitzen und euch gegenſeitig an euren Phraſen zu berauſchen! Dann erſchuͤttert die Welt mit euren Bomben, dann zeigt ihr das Geſicht des Schreckens, damit fie euch fürchtet, ſtatt euch wie heute nur zu haſſen! ..
Trupp war erblaßt. Noch nie war dieſer wundeſte aller Punkte zwiſchen ihnen in ſolch mitleidsloſer Weiſe beruͤhrt worden.
— Was ich tun werde, und nur von mir kann ich ſprechen, das weißt du nicht. Aber du wirſt es eines Tages erfahren, murmelte er. Nicht er war von den Worten Aubans getroffen worden. Er war eine Natur, die keine Feigheit und keine Unentſchloſſenheit kannte und die ſtark genug war, das Gewollte auch zu tun. Aber er fuͤhlte mit Bitterkeit, wieviel Wahres im allgemeinen in dem Vorwurf lag, den er ſoeben gehoͤrt.
Und er machte dem Geſpraͤche abſichtlich ein Ende, indem er ſagte:
— Was wollen wir denn eigentlich noch miteinander?
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— Mein Leben iſt meine Sache. Du biſt mein Freund geworden, weil du mein Genoſſe warſt. Meine Genoſſen ſind meine Freunde. Ich kenne keine andere Freund— ſchaft. Du haſt dich losgeſagt von der Sache — wir haben nichts Gemeinſames mehr. Du wirſt ſie nicht verraten, aber du wirſt ihr nichts mehr nuͤtzen, ſo, wie du jetzt biſt. Es iſt beſſer, wir ſcheiden.
Aubans Erregung hatte ſich wieder gelegt.
— Du mußt handeln, wie du es fuͤr das beſte haͤltſt, Otto. Wenn du mich ſuchſt, ſo wirſt du mich finden, indem du die Richtung nimmſt, welche die Freiheit weiſt. — Wohin aber gehſt du?
— Ich gehe mit meinen Bruͤdern, welche leiden wie ich! —
Sie gaben ſich die Hand mit demſelben feſten Druck, wie immer.
Dann gingen ſie auseinander: jeder von ihnen ſeinen eigenen, langen, einſamen Weg, in Gedanken verſunken. die ſo verſchieden waren wie die Richtung, die ſie nahmen. Sie wußten, daß es lange dauern wuͤrde, bis ſie ſich wieder ſehen ſollten; und ſie ahnten, daß ſie an dem heutigen Abend zum letztenmal allein miteinander ges ſprochen hatten.
Bis heute waren ſie Freunde geweſen; von nun an wuͤrden ſie Gegner ſein, wenn auch nur Gegner im Kampfe um ein Ideal, das ſie beide mit demſelben Namen nannten: Freiheit.
VIII 23
Neuntes Kapitel Trafalgar Square
London lag im Fieber.
Es erreichte ſeine hoͤchſte Hoͤhe am zweiten Sonntage des November, dem, welcher auf die Ereigniſſe in Chicago folgte.
Unter den vielen merkwuͤrdigen Tagen dieſes merk— wuͤrdigen Jahres ſollte dieſer 13. November eine erſte Stelle einnehmen.
Die „Unemployed“ waren ſeit einem Monat je nach Laune der Polizeigewalt heute von Trafalgar Square, dem beſtgelegenen oͤffentlichen Verſammlungsplatz der Stadt, vertrieben, um morgen wieder zu ihm zugelaſſen zu werden.
Dieſer Zuſtand wurde auf die Dauer unertraͤglich. Die Klagen der Hungernden wurden immer verzweifelter, während Hotelbeſitzer und Pfandleiher in den Verſamm⸗ lungen eine Schaͤdigung ihrer Geſchaͤfte ſahen und die Organe der ‚öffentlichen Gewalt‘ ihre Diener, zu ihrem Schutze herbeiriefen.
Ein Drekret des Polizeikommiſſaͤrs verbot im Ans fang des Monats die fernere Abhaltung irgendeines Meetings auf Trafalgar Square.
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Dreißig Jahre lang war dieſer Platz, „the finest site of Europe“, von allen Parteien zu unzaͤhligen Zu— ſammenkuͤnften bei den verſchiedenſten Gelegenheiten be— nuͤtzt worden. Ein Handſtreich ſollte alle vertreiben?
Die Frage nach der „Geſetzmaͤßigkeit“ dieſer Gewalt— tat war die erſte, die ſich erhob. Die Spalten der Zeitungen fuͤllten ſich mit Paragraphen aus vergilbten Geſetzesbuͤchern, denen ſolche aus noch vermoderteren ent— gegengehalten wurden; mit jenen Inſignien einer uſurpierten Macht, die den im Glauben an menſchliche Autorität Er⸗ zogenen mit geheimnisvollem Schauder vor dem Unfaß— baren erfuͤllen.
Jeder Buͤrger des Staates iſt Teilnehmer an den Geſetzen ſeines Landes, ſo ſagt man. Gibt es wohl einen einzigen unter Tauſenden, der weiß, was 57 George III, cap. 19, sec. 23, oder 2 and 3 Vic., c. 47, sec. 52 bedeutet? Hieroglyphen.
Natürlich war es dem Polizeihaͤuptling völlig gleiche gültig, ob feine Verfügung „geſetzlich“ oder „ungeſetzlich“ war. Hatte er die Macht, ihre Anerkennung heute zu erzwingen, ſo war ſie „geſetzlich“ und Trafalgar Square Eigentum der Koͤnigin und der Krone; war das „Volk“ ſtark genug, ihn und ſeine Leute morgen von Trafalgar Square zu vertreiben, ſo blieb der Platz, was er ge— weſen war, „Eigentum des Volkes“, und jedermann konnte auf ihm ſo viel und ſo lange reden, als er Hoͤrer fand, die ihm lauſchten. Oder auch noch laͤnger.
Die Frage der Arbeitsloſen trat mit einem Schlage in den Hintergrund. Dem Tory-Regiment ſtanden nun
plotzlich in Schlachtreihen die radikalen und liberalen 235
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Parteien gegenüber, welche die ſozialen verſtaͤrkten, und fie erhoben gegen den „Terrorismus“ jener ihren Ruf nach dem unveraͤußerlichen „Recht der freien Rede“.
Sie beſchloſſen die Abhaltung eines oͤffentlichen Meetings auf Trafalgar Square für Sonntag den drei- zehnten und ſetzten auf die Tagesordnung: „Proteſt gegen die neuerliche Einkerkerung eines iriſchen Volksfuͤhrers.“
Die Vorbereitungen zu der Schlacht wurden auf beiden Seiten mit fieberhaftem Eifer betrieben: jene waren feſt entſchloſſen, jeden Verſuch, in den Square zu gelangen, blutig abzuſchlagen, dieſe, ihn zu nehmen um jeden Preis.
Die Aufregung in der Stadt war mit jedem Tage gewachſen. Der Sonnabend brachte einen zweiten Ukas der Gewalt, in dem es verboten wurde, ſich Sonntag in Form einer Prozeſſion dem Square zu naͤhern.
Es gab nicht wenige, welche waͤhnten, am Vorabend einer Revolution zu ſtehen
Auban war ſpaͤter aufgeſtanden, als gewoͤhnlich. Sein Kopf war eingenommen. Dennoch hatte er ſich an ſeine Arbeiten begeben. Aber ein Beſuch unterbrach ihn.
Als er den Namen ‚Friedrich Waller‘ auf der ihm uͤberbrachten Karte las, zuckte er die Achſeln. Was wollte dieſer Mann noch immer von ihm? — Als Knabe hatte er ihm ſeine Freundſchaft angeboten, die Auban nicht begehrt hatte. Spaͤter — er hatte ſich ein großes Geſchaͤft in Lothringen gegruͤndet und war viel auf Reiſen — hatte er ihn zweimal in Paris aufgeſucht und Auban
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hatte dieſe Beſuche auf Rechnung ſeines damals ſo viel genannten Namens geſetzt, ihn kuͤhl empfangen, ihn kuͤhl entlaſſen. Jetzt, nach Jahren, naͤherte ſich aus jenen Kreiſen, die ihm ſtets bis in die tiefſte Seele hinein verhaßt geweſen waren, abermals dieſer Mann, mit welchem er nicht einen Gedanken, nicht ein Gefühl ge: meinſam hatte. Aber er wollte es heute erfahren, was jenen zu ihm trieb.
Er wollte ihn direkt nach ſeinen Abſichten fragen. Doch der andere kam ihm zuvor, indem er aͤußerte, es ſei wohl eine Pflicht, ſeine Verwandten nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Es war dasſelbe neugierige Intereſſe an dem fremdartigen Lebensſchickſal, das ihn einſt zu dem Knaben gezogen hatte. Er wußte wenig von Auban. Da er indeſſen die Freiheit ſeiner Anſichten ahnte, aͤußerte er vertraulich, auch er ſei nichts weniger als konſervativ, doch Auban werde wohl begreifen, wie ſehr ihn ſeine Stellung zwinge, die weitgehendſten Ruͤckſichten zu nehmen. Aber Auban hatte weder Geduld noch Verſtaͤndnis fuͤr Leute dieſes Schlages. Er huͤllte ſich in feine eifige Überlegenheit, uͤberging die Frage feines Verwandten nach feinem eigenen Schickſal vollſtaͤndig, tat keine Frage und aͤußerte feine Anfichten ſo ſchroff, wie ſie waren. Als der Beſucher ging, mußte er das Gefuͤhl haben, als ſei er beim Lauſchen an einer fremden Tuͤr ertappt worden, und nahm ſich vor, den heutigen Verſuch, Auban beizukommen, der ihm diesmal fo offen- kundig gezeigt hatte, wie wenig er von ihm und ſeiner ganzen Sippſchaft wiſſen wolle, fuͤr immer den letzten fein zu laſſen.
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Fuͤr Auban war dieſer Beſuch der Anſtoß zu Er⸗ innerungen an laͤngſt verrauſchte Jahre, denen er ſich lange hingab.
Welcher Unterſchied zwiſchen damals und heute!
Und doch ſchien es ihm zuweilen, als aͤhnele ſein jetziges Ich mehr dem Knaben, der einſam und ver⸗ ſchloſſen mit weichen und ungeuͤbten Fingern die ehernen Pforten der Erkenntnis in ſtillen Naͤchten, wenn niemand ihn ſah, zu oͤffnen ſich muͤhte, als dem Juͤngling, welcher ſie mit Feuerbraͤnden einſt zu ſtuͤrmen ſich vermaß.
Er war keine Natur, die es vertrug, unausgeſetzt dazuſtehen, tauſend Augen von allen Seiten auf ſich ge⸗ richtet. Er beſaß nicht genug Leichtfertigkeit, nicht genug Ehrgeiz, nicht genug Wichtigkeit und Selbſtgefaͤlligkeit dazu.
Es war gut, daß fein Schickſäl ſich fo gewendet hatte
Es war um die dritte Nachmittagsſtunde.
Auban kam langſam vom Norden der Stadt.
Alle Straßen, die er durchſchritt, waren faſt verlaſſen. Nur in Orford Street herrſchte ein kuͤmmerliches Leben. Die vierte Stunde konnte nicht mehr fern ſein, als er ſich Trafalgar Square naͤherte. In St. Martins Lane mußte er Halt machen: Menſchenmaſſen verſperrten die umliegenden Eingaͤnge der Nebenſtraßen. Er war in demſelben Augenblick gekommen, in dem die eine der vier Prozeſſionen, die in dieſer Stunde von vier ver⸗ ſchiedenen Seiten aus den Square zu erreichen ſuchten,
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die von Clerkenwell Green nahende, mit der fie hier er— wartenden Polizei zuſammenſtieß. Er draͤngte ſich vor, ſo weit es ging, doch war es ihm unmoͤglich, die letzte Menſchenreihe zu durchbrechen. Er mußte zwiſchen den Koͤpfen durch uͤber ſie hinweg zu ſehen ſuchen, was ſich ereignete.
Der Prozeſſion voran ſchritt eine Frau. Sie trug eine rote Fahne. Auban glaubte in ihr und den ſie umgebenden Maͤnnern, die feſter ihre Stoͤcke umfaßten, Mitglieder der Socialiſt League zu erkennen. Der Fahnen⸗ traͤgerin auf dem Fuße folgte die Muſik. Sie ſpielte die Marſeillaiſe. Der ſich anſchließende Zug war ziemlich lang. Auban konnte ihn nicht uͤberſehen. Nur flatternde Fahnen erhoben ſich uͤber das ſchwarze Gedraͤnge.
In geſchloſſener Linie erwarteten die Poliziſten den Zug. Sie lauerten, ihre Eichenknuͤttel gelockert haltend, auf das Zeichen des Superintendenten zum Angriff.
Als der Zug ſich ihnen auf Pferdelaͤnge genaͤhert hatte, toͤnten Zurufe hinuͤber und heruͤber und noch in demſelben Augenblicke erfolgte mit ſolcher Wucht ein Angriff der Polizei, daß die geſchloſſenen Reihen des Zuges wie aus— einandergeriſſen erſchienen. Ein wildes Handgemenge entſtand. Ein baumlanger Poliziſt war auf die Frau losgeſprungen und wand ihr die Fahne aus den mit Aufbietung aller Kraft hochgehaltenen Händen, Sie taumelte und brach ohnmaͤchtig zuſammen, waͤhrend ein heftiger Stockhieb den Hals des Angreifers traf. Die Muſikanten rangen um ihre Inſtrumente, die ihnen ent⸗ riſſen, zertreten und zerſchlagen wurden. Einige ſuchten ſie zu retten und flohen. Mit eiſerner Wucht fielen von
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ſeiten der Polizei die Knuͤttel nieder, unbekuͤmmert wohin
ſie trafen. Verzweifelt wehrten ſich die Angegriffenen. Die meiſten trugen ſchwere Stoͤcke und ſchlugen in raſender Wut um ſich. Das Durcheinanderwogen war unbeſchreib⸗ lich. Die Luft war erfuͤllt von Fluͤchen, Schmerzens⸗ ſchreien, Schimpfworten, dem ſchrillen Geheul der Menge, die, wo ſie konnte, ſich in den Kampf ſtuͤrzte, den dumpfen Schlaͤgen, dem Geſtampf ſchwerer Schuhe auf dem harten Boden, dem Klirren der durch Steinwuͤrfe zerbrochenen Laternen ... Man ſchlug, trat, kratzte ſich, packte fich, ſuchte ſich gegenſeitig zu Fall zu bringen, krallte ſich aneinander feſt, ſo ſich niederreißend.
Immer weiter drang die Polizei vor, die Menge vor ſich hertreibend, von ihr umſchloſſen, aber, ſich gegen⸗ ſeitig zu Hilfe eilend, mit den Schlägen ihrer Knuͤttel ſie zerſtreuend. Immer weiter wichen die Angegriffenen zuruͤck. Von einer geſchloſſenen Ordnung war keine Rede mehr. Die einen enteilten in ungeordneter Flucht, die andern kaͤmpften um den Platz, auf dem ſie ſtanden, bis ſie uͤberwaͤltigt, in die Mitte genommen und abgefuͤhrt wurden. Nach zehn Minuten war der Sieg der Uni formierten entſchieden: die Fahnen waren erbeutet, die Muſikinſtrumente zerſchlagen, der ganze Zug in fluͤchtender Unordnung ... Teils wurden die letzten feiner Reihen die ganze Laͤnge von Martins Lane hinauf verfolgt, teils in die engen Nebenſtraßen hineingetrieben, wo ſie ſich mit der heulenden Menge vermiſchten und von ihr mit und fortgeriſſen wurden in hoffnungsloſem Wirrwarr.
So auch Auban. Er ſah, wie eine kleine Abteilung von Poliziſten ſich mit hochgeſchwungenen Knuͤtteln auf
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den Eingang der Straße ſtuͤrzte, wo er ſtand, fuͤhlte, wie ſich der ihn umſchließende Menſchenknaͤuel ploͤtzlich in Bewegung ſetzte und, willenlos von ihm fortgeſchoben, befand er ſich in der naͤchſten Minute am entgegengeſetzten Ende der Straße, wo der Schrecken der Gejagten ſich in Zornworten, Gelaͤchter und Geheul loͤſte.
Dann ſtroͤmte alles wieder der Richtung auf Tra— falgar Square zu. Auch Auban nahm ſie. Er wollte ihn zu erreichen verſuchen, ohne von neuem in ein allzu großes Gedraͤnge zu geraten. Doch blieb ihm kein anderer Weg, als der an der Kirche von St. Martin vorbei.
Nach dem, was er eben geſehen, war er uͤberzeugt, daß keine der Prozeſſionen je den Square zu erreichen imſtande fein wuͤrde ..
Trafalgar Square lag vor ihm: im Norden begrenzt von dem ernſten Gebaͤude der Nationalgalerie, von großen Klubhaͤuſern und Hotels im Weſten und Oſten, faͤllt er in allmaͤhlicher Senkung nach Suͤden nieder, wo er, ſich ausweitend, noch einmal eine breite Buchtung bildet, bevor er ſich in große und maͤchtige Straßenfluchten teilt.
Seine innere, tiefer liegende Flaͤche, durch die Terraſſen der Straßen gebildet und ſuͤdlich die Nelſonſaͤule als impoſantes Wahrzeichen tragend, dieſe große, kalte, leere, nur mit zwei Rieſenfontaͤnen geſchmuͤckte Flaͤche, war heute, wie Auban auf den erſten Blick dar völlig in den Händen der Gewalt.
Ein Schrecken ergriff ihn, als er daran dachte, daß man den Verſuch wagen koͤnne, dieſe nicht an Zahl, aber
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an Ordnung und milttaͤriſcher Kampfgeuͤbtheit hundert— fach uͤberlegene Beſatzung von dem Platze zu vertreiben. Es war in der Tat ein Heerlager, welches ſich dort auf— geſtellt hatte: eine fluͤchtige Schaͤtzung ergab, daß ſeine Staͤrke 3—4000 Mann betragen mußte. Wer wollte die vertreiben? Nicht fuͤnfzig-, nicht hunderttauſend wuͤrden dazu imſtande fein.
Er verließ langſam ſeinen Stand und ließ ſich an der Nationalgalerie entlang treiben. Die Menſchenmenge, welche hier durcheinanderwogte, wurde von der Polizei in beſtaͤndiger Bewegung gehalten. Wo der Blick der Konſtabler auf eine Stockung fiel, dahin richteten ſie ihre Angriffe, indem ſie die Keile ihrer Leute dazwiſchen trieben. „Move on! Move on!“ trieb es unaufhoͤrlich jeden Fuß, der ſtehen blieb, zum Weitergehen an.
Auf Schritt und Tritt uͤberzeugte ſich Auban, waͤhrend er jetzt die Weſtſeite hinunterging, von dem wohluͤber⸗ legten Plan, der alle dieſe Vorbereitungen geſchaffen. Die nach dem Norden hinauffuͤhrenden Treppen waren mit Mannſchaften dicht beſetzt. In doppelter Reihe ſtanden hier und auf den beiden andern geſchloſſenen Seiten die Poliziſten, um jedes Überklettern der Ein⸗ faſſung und jedes Hinunterſpringen in die Flaͤche des Platzes zur Unmoͤglichkeit zu machen.
Ein Reporter, der Auban kannte, gab ihm außerdem
noch einige Zahlen, die er eben gehoͤrt und ſich nun
ſelbſt notierte, waͤhrend dieſer ihm mit einigen Einzel— heiten uͤber die Clerkenwell-Prozeſſion aushalf. Seit neun Uhr morgens ſei der Square ſchon beſetzt. Seit zwölf mit voller Macht. Etwa 1500 Konſtabler und
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an 3000 Poliziſten ſeien aufgeboten aus allen Enden Londons. Außerdem einige hundert Berittene. Die Life und die Grenadier Guards wuͤrden in Bereitſchaft ge—
halten. Die ſuͤdliche offene Seite des Square, in deren Mitte
ſich die Nelſonſaͤule auf einem maͤchtigen, in ſeinen Ecken von vier gewaltigen Loͤwen belagerten Fundamente erhebt, war am ſtaͤrkſten beſetzt, da keine Schranke hier den Eingang zur Innenflaͤche erſchwerte. In vier⸗ bis fuͤnffacher Tiefe ſtanden hier die Reihen der „Beſchuͤtzer der Ordnung“, in langer Linie war hier eine Abteilung berittener Poliziſten aufgeſtellt, welche von Zeit zu Zeit die Straßen beſtrich.
Hier, auf dem weiten Raum vor der Saͤule, der durch den Zuſammenſtoß von vier großen Straßen ge⸗ bildet wird, hier, um das Denkmal Karls J. herum, waren die Menſchenanſammlungen am groͤßten. Mit jeder Minute ſchienen die Maſſen zu wachſen. Von allen Seiten ſtroͤmten in kleineren und groͤßeren Trupps Teile der geſprengten Prozeſſionen heran, nicht mehr mit Fahnen und Muſik und in freudigem Kampfgefuͤhl, ſondern Arm in Arm aneinander geſchloſſen, aufs hoͤchſte erbittert durch die erlittene Niederlage, kaum mehr in der Hoffnung, noch in den Beſitz des Platzes zu gelangen, aber ent⸗ ſchloſſen, bei kleineren Zuſammenſtoͤßen die eine oder andere Scharte noch auszuwetzen. i
Auban ſuchte die Phyſiognomie der Menge zu er— kennen. Sicher beſtanden zwei von fuͤnf Teilen Aller aus Neugierigen, die gekommen waren, ein nie geſehenes Schauſpiel zu genießen. Sie ließen ſich von der Polizei
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treiben, wohin dieſe ſie haben wollte. Aber doch verlor wohl mancher unter ihnen ſeinen Gleichmut, wenn er Zeuge der Brutalitaͤten war, die um ihn her veruͤbt wurden, und wurde, indem er ſich auf die Seite der An— gegriffenen ſtellte, gegen ſeinen Willen Teilnehmer an dem Ereignis des Tages. — Sicher fiel ein weiteres Fuͤnftel auf den „Mob“: die Truͤbſeefiſcher, die Pick-pockets von Profeſſion, die Ruffians, die Tagediebe, welche beſſer leben als der ehrliche Arbeiter, die Zuhaͤlter der Dirnen, kurz auf alle die, welche „uͤberall dabei ſind“, da nichts ſie bindet. Sie waren meiſt in ſehr jugendlichem Alter. Als perſoͤnlichſte Feinde der Polizei, mit der fie in taͤg⸗ lichem Kampfe lebten, ließen ſie keine Gelegenheit vor— uͤbergehen, an ihr Rache zu uͤben. Mit Stoͤcken, Steinen, kurzen Meſſern bewehrt, verſetzten ſie den Poliziſten empfindliche Verletzungen, entzogen ſich dann blitzſchnell durch die Flucht, in die Maſſe ſpurlos unterduckend und im naͤchſten Moment mit Geheul und Geſchrei an einer andern Stelle wieder emportauchend, ihr Muͤtchen aufs neue zu fühlen. Überdem waren fie bei allen Zuſammen⸗ ſtoͤßen dabei, den Tumult erhoͤhend, den Wirrwarr ver⸗
mehrend, die Wut mit ihrem Schreien aufs hoͤchſte
ſtachelnd. — Und es waren nur noch die uͤbrigen zwei Fuͤnftel, welche, wie Auban ſchaͤtzte, auf die kamen, die in erſter Linie an dem heutigen Nachmittage beteiligt waren: die, welche in dieſem Kampfe eine ernſte politiſche Aktion ſahen, die Mitglieder der radikalen Parteien, die Sozialiſten, die Arbeitsloſen. Und jene wirklich Intereſſierten, die nicht nur Neugierde hierher gezogen, die beobachtenden und ur- teilenden Zuſchauer, zu denen er ſelbſt gehoͤrte.
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Er war im Suͤden des Platzes angelangt: halb ge— ſtoßen, halb geſchoben. Hier war das Gedraͤnge enorm und die Maſſen in ſtetig wachſender Erregung. Die vierte Stunde hatte eben geſchlagen: Auban erkannte den Zeiger auf Dents Uhr. Am Fuß der Nelſon⸗ ſaͤule fand ein heftiger Zuſammenſtoß ſtatt. Zwei Maͤnner, ein ſozialiſtiſcher Fuͤhrer und ein radikales Parlamentsmitglied, ſuchten ſich mit Gewalt Einlaß zu bahnen. Sie wurden nach kurzem Handgemenge über: waͤltigt und verhaftet.
Auban hatte nichts erkannt als geſchwungene Knuͤttel und Stoͤcke und erhobene Faͤuſte .. |
Er ſuchte feinen Weg fortzufegen, was aber mit Schwierigkeiten verbunden war. Die berittene Polizei ber ſtrich fortwaͤhrend den Weg zwiſchen der Saͤule und dem Denkmal Karls I., um ihn zu ſaͤubern. Die ineinander gekeilten Maſſen ſtroͤmten nach allen Seiten auseinander: preßten ſich bei den Laternenpfaͤhlen in kleine Gruppen angſtvoll zuſammen, fluͤchteten Whitehall hinunter, oder wurden nahe an die Reihen der Polizei gedraͤngt, von der ſie brutal weiter fortgetrieben wurden.
Auban wartete, bis die Pferdereihe an ihm voruͤber— gebrauſt war und erreichte dann einen der Übergaͤnge, wo er ſich an dem Laternenpfoſten ſicher glaubte. Aber ein Konſtabler trieb die hier Zuſammengefluͤchteten fort. „Move on, Sir!“ herrſchte er auch Auban an. Aber dieſer ſah ruhig in das erhitzte Geſicht des Zornigen und wies auf die von neuem anftürmenden Pferde. „Wohin?“ ſagte er. „Soll ich mich uͤberreiten laſſen oder in die Knuͤttel Ihrer Leute laufen?“ — Seine Ruhe machte
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Eindruck. Als die Straße wieder fuͤr eine halbe Minute frei wurde, erreichte er ſicher das Trottoir vor Morleys Hotel an der Oſtſeite des Squares.
Dort fühlte er ſich plöglich am Arm ergriffen. Vor ihm ſtand ein bekannter Englaͤnder. Sein Kragen war zerriſſen, ſein Hut beſchmutzt. Er befand ſich in hoͤchſter Aufregung. Nach einigen haftigen Fragen hin und her erzaͤhlte er, auch die große, von Suͤden her kommende Prozeſſion ſei aufgeloͤſt.
Waͤhrend ſie — von der Polizei in beſtaͤndiger Be⸗ wegung erhalten — ſich aneinander feſthielten, um nicht auseinandergeriſſen zu werden, und mit der Menge, in die ſie gekeilt waren, auf und nieder trieben, erzaͤhlte der Englaͤnder in atemloſer Haſt:
— Wir verſammelten uns in Rotherhithe: die radikalen und andern Vereine und Klubs von Rotherhithe, Ber— mondſey uſw. trafen auf unſerm Wege den Peckham Ra⸗ dical Club, die Vereinigungen von Camberwell und Wal— worth, und in Weſtminſter Bridge Road auch die von St. Georges — es war ein enormer Zug, mit zahl⸗ reichen Bannern, Muſikbanden, mit Gruͤn geſchmuͤckt, von einer unendlichen Menſchenmaſſe auf beiden Seiten begleitet, der in beſter Ordnung die voͤllig leere Bruͤcke von Weſtminſter uͤberſchritt.
Wie verabredet, ſollten wir in Bridge Street am Parliamant Houſe mit dem Zuge von Lambeth und Batterſea zuſammentreffen. Dann ſollte in gerader Linie
von Suͤden nach Norden, Whitehall hinauf, hierher
marſchiert werden. Denken Sie ſich: ein einziger großer Zug von impoſanter Laͤnge, der ganze Suͤden von London
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vertreten, der ganze jenſeits der Themſe gelegene Stadt— teil — von Woolwich und Greenwich bis Batterſea und Wandworth !.
Aber noch hatten unſere beiden Zuͤge ſich nicht ver— einigt, noch hatten wir Parliament Street nicht erreicht, als der Kampf begann. Ich befand mich ſo ziemlich in den erſten Reihen. Ah, die Brutes, im Galopp mit ihren Pferden in unſere Reihen hinein, die Fahnen zer— brochen und zerriſſen, niedergeſchlagen, was ihnen im Wege war —
— Es war gut, daß Sie nicht weiter kamen, unter⸗ brach ihn Auban, — denn ich habe gehoͤrt, daß in Whitehall die Life Guards in Bereitſchaft ſtanden. Ich wundere mich, daß ſie noch nicht hier ſind, denn die Situation wird erregter ...
— Aber wir haben uns gewehrt, rief der andere, — ich habe einen mit meinem Bleiknuͤttel — —
Er beendete ſeinen Satz nicht. Denn eine Abteilung Poliziſten begann das Trottoir zu leeren, draͤngte die dort Stehenden fort, und im naͤchſten Augenblick war Auban wieder allein. Er war wieder in die Naͤhe von Morleys Hotel: die Treppe war ſoeben bis auf den letzten Mann geleert worden und fuͤllte ſich nun mit Blitzesſchnelle wieder. Auch Auban ſicherte ſich einen erhöhten Platz
Von hier aus bot der frei uͤberſehbare Platz mit ſeinen Umgebungen einen großartigen Anblick. Seit vier Stunden war dieſe Menge, die ihn umwogte, in be ſtaͤndigem Wachſen begriffen und ſie ſchien jetzt ihre hoͤchſte Zahl, wie auch den Gipfelpunkt ihrer Erregung
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erreicht zu haben. Die Fenſter und Balkons der um⸗ liegenden Haͤuſer waren beſetzt bis auf den letzten Platz mit Zuſchauern dieſes ganz ungewoͤhnlichen, einzigen Schauſpiels, die jedem Zuſammentreffen der Polizei mit dem Publikum mit leidenſchaftlicher Aufmerkſamkeit folgten und die Brutalitaͤten der erſteren mit Beifall begruͤßten. Von den Balkonen der gegenuͤberliegenden Klubs herab machte ſich die goldene Jugend Londons, wie Auban vorhin bemerkt hatte, das harmloſe Vergnuͤgen, auf den ‚Mob‘ zu ſpeien, vor welchem ſie ſich in ihrer erhöhten Poſition ja fo ſicher, wie in der Kirche fuͤhlten ...
Im Suͤden des Platzes, dort, wo die Maſſen wie ein reißend angeſchwollener Strom das breite Bett der Straßen durchrauſchten, ſchien die Situation immer be— denklicher zu werden. Der Omnibusverkehr dauerte trotz⸗ dem — oft unterbrochen — fort. Hochbeladen ſchoben ſich die ſchweren Wagen Schritt fuͤr Schritt fort. Wie Barken ſchwammen ſie langſam durch die ſchwarze Menſchenflut. Auf ihren Verdecken ſtanden aufgeregte Menſchen, die mit den Haͤnden in der Luft umher fuchtelten und ſich die Gelegenheit, wenigſtens mit ver: einzelten Worten der Sympathie die Menge zu begruͤßen, nicht entgehen ließen. Und wie Schweife folgten den Wagen jedesmal eine Schar, der die Pferde und Raͤder Bahn brachen
Von dort aus ſah Auban ploͤtzlich eine außergewoͤhn⸗ liche Aufregung, wie ein elektriſcher Strom, durch die Maſſen gehen und naͤher und naͤher kommen. Schneller fluͤchteten ſie noch beiſeite als vorher und aͤngſtlicher und lauter wurden die Schreie und Rufe. Was war es? —
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Berittene tauchten auf.
Und:
— The Life Guards! ertönte es in hundert Stimmen. Die Polizei ſchien vergeſſen. Alle Augen hingen an den blanken Kuͤraſſen und den federbuſchumwallten Helmen der Reiter, die, etwa zweihundert an der Zahl, langſam auf die Nelſonſaͤule zukamen, dann rechts ſchwenkten und in ruhigem Zuge an der Treppe, wo Auban ſtand, vorbei ihren Weg nach der National Gallery nahmen.
Ein einzelner Herr in Zivil ritt an ihrer Spitze, zwiſchen den fuͤhrenden Offizieren, eine Papierrolle in der Hand.
Und:
— The Riots Act! tönte es wieder. Laute Ausrufe empfingen den Abgeſandten des Magiſtrats der Stadt.
— Wir ſind alle gute Englaͤnder und friedliebende Buͤrger — wir brauchen keine — ſchrie einer.
— Du verdammter Narr, ſteck' dein Papier ein — ein anderer.
Da, als die Truppen an der Treppe, wo Auban ſtand, vorbeiritten, hoͤrte Auban, wie das Schlagen der Pferdehufe auf dem harten Boden von dem Beifalls— geſchrei, dem Haͤndeklatſchen, den jauchzenden Zurufen der ihn Umſtehenden uͤbertoͤnt wurde, und er wollte ſeinen Ohren nicht trauen. Waren das wirklich Zeichen des Beifalls? — Es war nicht moͤglich. Es konnte nur Hohn und Spott ſein. Aber ſo unverhohlen war die Freude des Haufens bei dem unverhofften Anblick dieſes glitzernden Blechs, dieſes pomphaften Aufzuges, und ſo berechnet war deſſen Wirkung, daß er nicht mehr zweifeln
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konnte: dieſelben Menſchen, die noch eine Minute vorher die ſie niederknuͤttelnden und niederreitenden Poliziſten mit dem Heulen ihrer Wut und dem Ziſchen ihres Haſſes uͤberſchuͤttet hatten, dieſe ſelben Menſchen jubelten jetzt in ſinnloſer Freude denen zu, welche geſandt waren, ſie niederzuſchießen . .
Erſt hatte Auban unglaͤubig geſtutzt. Nun lachte er und ein Gedanke ergriff ihn. Er ließ einen ſcharfen Pfiff ertoͤnen. Und ſiehe da: um ihn herum wurde dieſer Pfiff aufgenommen und fortgepflaͤnzt, fo daß das Klatſchen des Beifalls eine Minute lang von dieſem Zeichen der Verachtung uͤbergellt wurde. Und Auban ſah, daß unter denen, welche jetzt pfiffen, dieſelben ſich befanden, die vorher zu den Beifallsrufern gehoͤrt hatten.
Da lachte er. Aber ſein Lachen ſchwand bald vor dem Ekel, der ihn uͤberkam angeſichts dieſer ſinnloſen Unzurechnungsfaͤhigkeit.
Was fuͤr alberne Kinder! dachte er. Eben noch bis aufs Blut von brutaler Hand gezuͤchtigt, jubeln ſie jetzt — wie das Kind der neuen Puppe — den bunten Fetzen dieſer laͤcherlichen Außerlichkeit zu, ohne den furchtbaren Sinn dieſes kindiſchen Schaufpiels auch nur zu ahnen! —
Als er mit dem Entſchluß, dem widerwaͤrtigen Poſſen⸗ ſpiel zu entgehen, die Treppe und den Platz verlaſſen wollte, rückten die zur Verſtaͤrkung geſandten Grenadier Guards zu Fuß mit aufgepflanzten Bajonetten an, uͤberall mit ihrem blinkenden Stahl Furcht und Entſetzen ver⸗ breitend; die Treppe fuͤllte ſich um die doppelte Anzahl mit den Erſchreckten, die endlich — wie es ſchien — ein⸗ zuſehen begannen, um was es ſich handelte, und daß
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vielleicht ein Zufall dieſes Spiel im Handumdrehen in den blutigſten Ernſt verwandeln konnte. Aber alles ſchien Drohung bleiben zu wollen. Ruhig umzogen die Truppen mehrmals die Außenſeite des Square. Nur einmal, als Auban bereits das Nordende bei St. Martin erreicht hatte, vernahm er, wie ein furchtbarer Angſtſchrei aus der Mitte der vor den eiſernen, unaufhaltſam in der ganzen Straßenbreite vorrückenden Bajonetten angſtvoll Fluͤchtenden das dumpfe Brauſen und Branden laut uͤbergellte.
Was war geſchehen? — Lag jemand erſtochen in feinem Blute? — War eine Frau erdruͤckt in dem end⸗ loſen Haufen? — Die Erregung war ungeheuer. Alles begann in der nun bereits ſichtbar ſinkenden Daͤmmerung von dem Taumel der Furcht ergriffen zu werden, trotz⸗ dem ſich die wenigſten durch ihn zum Verlaſſen des Platzes bewegen ließen.
Auban ging dem Strand zu. Hinter ihm her drang noch lange der Laͤrm. — Er ging ſo lange, bis die Menſchenmaſſen, welche in weitem Umkreis die um den Square liegenden Straßen durchwogten, aufhoͤrten und das gewoͤhnliche Getriebe begann. Er hegte den Wunſch nach Ruhe und Abgeſchloſſenheit. Daher ſuchte er das Speiſezimmer eines der großen engliſchen Reſtaurants auf und ſaß dort lange.
Hier blitzte das Silber und dufteten die Blumen auf den ſchneeweißen Gedecken der Tiſche, die ſich in den hohen Spiegelſcheiben der Waͤnde wiederſahen. Die Gaͤſte,
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die meiſten in Frack und in Geſellſchaftsanzug, traten ſchweigend ein und ließen ſich wuͤrdevoll auf ihre Plaͤtze nieder, der Wichtigkeit dieſes Augenblicks bewußt, in dem ſie ſich an das Studium des Menuͤs begaben. Über den mit dicken Teppichen belegten Boden eilten die Kellner mit unhoͤrbaren Schritten. Nichts war ver⸗ nehmbar in dieſem hohen, vornehmen, in dunklen Farben⸗ toͤnen gehaltenen Saale als das leiſe Klirren der Teller und Meſſer, das Rauſchen ſeidener Schleppen und zus weilen ein halblautes, melodiſches Lachen, welches das gedämpft geführte Geſpraͤch unterbrach ..
Auban aß ſo einfach, wie immer, nur beſſer und zu einem zehnfachen Preiſe, mit dem er den Aufenthalt in dieſen Raͤumen bezahlte. Und waͤhrend er die Tafelnden um ſich herum betrachtete, verglich er unwillkuͤrlich ihre ſicheren, leichten, eleganten, aber eintoͤnigen und un⸗ charakteriſtiſchen Erſcheinungen mit den Geſtalten, aus deren Mitte er kam: den ſchweren, herben Geſtalten des Volkes, welche Hunger und Entbehrung in allem nieder: gedrückt und oft entſtellt hatten bis zur Unkenntlichkeit ..
Als er nach einſtuͤndiger Ruhe wieder die Richtung nach Trafalgar Square nahm, kam er zufaͤllig an den Toren von Charing Croß Hoſpital vorbei. Der Ein⸗ gang und die ganze Straße, in der das Krankenhaus- lag, war dicht beſetzt: hier wurden die zerbrochenen Glieder wieder eingerenkt und die aufgeſchlagenen Köpfe zugenaͤht, die man ſich aus dem Kampf auf dem nahe gelegenen Schlachtfelde geholt hatte .
Der Anblick war ernſt und komiſch zugleich: hier wankte, von zwei anderen geſtuͤtzt, ein Mann heran,
Eh hl a ar Fe 5 4 *
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deſſen Geſicht mit Blut uͤberſtroͤmt war, welches aus einer klaffenden Stirnwunde ſchoß; dort trat ein bereits Verbundener aus der Eingangstuͤr, den einen Arm in der Binde, mit dem andern aber noch ſein zerbrochenes Blasinſtrument haltend. Hier hinkte ein Poliziſt, der mit feinem Pferde geftürzt war, herbei; und dort wurde ein Ohnmaͤchtiger auf einer Bahre herangetragen.
Auban draͤngte ſich naͤher und warf einen Blick in den Vorraum des Hoſpitals. An den Wänden ſaßen friedlich die Feinde nebeneinander, die einen bereits ver— bunden, die anderen wartend, daß endlich eine der uͤber— mäßig beſchaͤftigten Hände der Helfer ſich auch ihrer er— barmen moͤchte.
— Es ſind bis jetzt noch keine ſchwereren Verletzungen vorgekommen, ſagte einer der Umſtehenden.
Es iſt eine Komödie, dachte Auban, erſt hauen fie
ſich die Koͤpfe blutig, dann laſſen ſie ſich von derſelben
Hand flicken — ein harmloſes Vergnuͤgen. Pack ſchlaͤgt ſich, Pack vertraͤgt ſich.
Und er ging weiter, ſich ſeinen Weg nur mit Muͤhe durch die neugierige, gleichſam von dem friſchen Blut angelockte, eng um den Eingang zufammendrängende und nur den Verwundeten Platz machende Menge bahnend.
Als er den Strand wieder betrat, floh ihm ein ſchreiender, ungewoͤhnlich zahlreicher Menſchenhaufe ent— gegen und zwang ihn zum Stillſtehen. Die Polizei trieb alſo jetzt auch die Menge die Nebenſtraßen weit hin— auf...
Dennoch wollte er nicht umkehren, ohne noch zu
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dieſer Stunde, wo die Fittiche des Abends bereits tief über der Erde hingen, einen Blick auf das Schauſpiel geworfen zu haben, das in dieſer Zwielichtbeleuchtung einen ganz andren Charakter angenommen haben mußte.
Er wollte daher verſuchen, von Suͤden her den Square zu erreichen; und er bog vor dem Bahnhof Charing Croß in die links nach der Themſe abfallende Villiers Street ein. Dann durchſchritt er den Tunnel, der unter dem Bahnhof durchfuͤhrt. Genau fuͤnf Wochen waren ver⸗ gangen, ſeit er ihn zum letztenmal — vom jenſeitigen Ufer der Themſe kommend — an einem Samstagabend des Oktober, naßkalt wie der heutige, durchſchritten und — von traurigen Erinnerungen an fruͤhere Erlebniſſe erſchuͤttert — geflohen hatte. Heute hatte er keine Zeit zu Erinnerungen.
Er eilte vorwaͤrts. Als er in Northumberland Avenue, dieſer Palaſtſtraße, ſtand, ſah er, wie von Seotland Yard, dem Hauptquartier der Polizei, immer neuer Zuzug nach dem Square getrieben wurde. Er nahm denſelben Weg. —
Alles auf dem Square hatte ein veraͤndertes Aus⸗ ſehen erhalten: die Nelſonſaͤule ragte wie der rieſige Zeigefinger einer dunklen Rieſenhand drohend empor in das Dunkel; maͤchtig lag zur Rechten der enorme Rund⸗ bau des Grand Hotel mit ſeinen erleuchteten Fenſtern, hinter denen die Neugierigen immer noch nicht ver⸗ ſchwunden waren; ſchweigend lag die innere Flaͤche des Platzes, noch immer von der Polizei beſetzt; und durch die Straßen um ſie herum tobte noch immer der Kampf, der mit der einbrechenden Dunkelheit um ſo wilder ge— worden zu fein ſchien, je mehr er feinem Ende ſich nahte
an
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Die unzaͤhligen Lichter der Laternen waren aufge— flammt und beleuchteten mit zitternden Strahlen die dunklen Maſſen, die unter ihnen in fieberhaftem Uns geſtuͤm vorbeiwogten.
Noch immer ritten die Life Guards in Zuͤgen, die ſich begegneten, die Straßen auf und nieder. Ihre Uniformen, die Bruſtpanzer, die weißen Hoſen und die roten Roͤcke, blitzten, von den Lichtern uͤbergoſſen.
Immer maßloſer, brutaler und ungerechtfertigter waren die Angriffe der Polizei, vor allem die der Ber rittenen, geworden. In die dichteſten Menſchenhaufen in geſtrecktem Galopp hineinſprengend, ritten ſie nieder, was nicht ſchnell genug fluͤchtete, mit ihren Knuͤtteln auf die Fallenden und am Boden Liegenden niederſchlagend, gleichgültig dafür, wohin fie trafen, ob auf die Arme, Schultern oder Köpfe der Wehrloſen. In einem Augen: blick waren die Stellen, wo eben noch kein Stein haͤtte zur Erde fallen koͤnnen, nur noch bedeckt mit Kleider— fetzen, zertretenen Huͤten, zerbrochenen Stoͤcken.
Trotzdem die Ermuͤdung der Angreifer wie der An⸗ gegriffenen unverkennbar war, ſchienen alle noch einmal ſo erbittert. Das Geheul klang jetzt, wo nichts mehr ſcharf zu erkennen war, tieriſcher als zuvor.
Auban ſah Szenen, wohin er ſich wandte, die ſein Blut in Wallung brachten.
Er ſtand, ohne ſich ruͤhren zu koͤnnen, in einem Haufen, der wie erſtarrt war von Angſt, und zwar in der vorderſten Reihe. Ein alter Mann fluͤchtete auf ihn zu. Seine weißen Haare waren mit Blut gefaͤrbt. Einer der Reiter verfolgte ihn, mit ſeinem Knuͤttel auf ihn immer
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wieder niederhauend. Auban ſtuͤrzte vor. Aber er konnte nicht helfen. Denn von den Nachfolgenden wurde er mit ſolcher Heftigkeit fortgeriſſen, daß er ſelbſt zu fallen glaubte: die Polizei war von der andern Seite angeritten und hatte alles in Bewegung geſetzt..
Im Eingang zu Charing Croß konnte er endlich Fuß faſſen. Die Reiter kehrten um und raſten zuruͤck. Auban ſtellte ſich auf eine Treppe.
— Seit den Tagen der Chartiſten hat London ſolche Szenen nicht geſehen! — rief ein aͤlterer Herr neben ihm.
— Der Prinz von Wales hat die Bluthunde mit Branntwein betrunken gemacht, damit ſie uns morden! ſchrie ein Weib.
Und es ſchien wirklich ſo zu ſein. Aber nicht nur die Polizei war trunken, ſondern auch das Publikum, trunken vor Wut und Haß.
Am Eingang derſelben Straße, wo Auban ſtand, unfern des Grand Hotel, rottete ſich ein neuer großer Haufe zuſammen, offenbar bereit zum Widerſtande und ſich im Inſtinkt der Gemeinſamkeit eng zuſammenhaltend. Eine neue Abteilung der Polizei zu Fuß ruͤckte im Lauf: ſchritt an. Ein wuͤtendes Handgemenge entſtand. Steine durchflogen die Luft, Scheiben klirrten, man hoͤrte das Ringen der Kaͤmpfenden und das dumpfe Aufſchlagen der Stoͤcke, die Schreie und das dumpfe Grollen.
Faſt wollte die Polizei zuruͤckweichen. Aber ſchon kamen die berittenen Reihen angeſprengt und der Streit
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war entſchieden. Weit nach Charing Croß hinein wurden die Fluͤchtenden getrieben. Auban ward abermals willen— los von ihnen fortgeriſſen.
Die Funken, welche die jagenden Pferdehufe auf dem Boden ſchlugen, ſpruͤhten in der Dunkelheit ...
So wuͤrden der Laͤrm und die Zuſammenſtoͤße noch eine, hoͤchſtens zwei Stunden wuͤten, dann nachlaſſen; und dann würde der Kampf, auf der ganzen Linie zu⸗ gunſten der Gewalt ausgefochten, beendet und das Recht der freien Rede auf Trafalgar Square dem Volke vielleicht fuͤr immer, ſicher aber auf fuͤr lange hinaus verloren fein .
Bevor Auban den Square verließ, nahm er noch einmal mit einem langen Blick das Bild dieſes Schau— ſpiels in ſich auf, das ihm unvergeßlich bleiben wuͤrde. Ohr und Auge, beide ermuͤdet, tranken noch einmal die dunkle Weite des Platzes, das ſchwarze Meer der Menſchen, das Getoͤſe ſeiner Flut, die flirrenden Lichter — all die tauſend Laute der Leidenſchaft, in einen zuſammengeballt — und nicht mehr ſo laͤcherlich, ſondern faſt furchtbar war das Gebruͤll, welches einem einzigen Munde zu entſtroͤmen ſchien.
Auban entfloh ihm. Er ſehnte ſich nach Ruhe. Er ſehnte ſich nach einem Kampf, anders als dieſen, den er in ſeinen jungen Tagen ſo leidenſchaftlich, wie kein anderer, mitgekaͤmpft hatte, nach einem Kampf, deſſen Erfolg zweifellos war, weil er unerbittlich ſein mußte, in dem es andere Kraͤfte zu erproben galt, als die, welche heute
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im Spiele miteinander gerungen hatten, gleichſam, wie um ſich kennen zu lernen.
Als er den Fuß in den Wagen ſetzte, der ihn zu ſeinem ſtillen Zimmer bringen ſollte, hoͤrte er noch, wie bereits die Abendzeitungen, die das ſchilderten, was er an dieſem Nachmittage geſehen hatte, von den gellenden Stimmen ihrer Verkaͤufer ausgerufen wurden.
Zehntes Kapitel
Anarchie
Die Wochen vergingen. |
Der „bloody Sunday“ auf Trafalgar Square erregte die Gemüter nicht mehr zu leidenſchaftlichen Auseinander⸗ ſetzungen. Zwar hatte ſich am folgenden Sonntag zur Unterftügung der Polizei eine Schar freiwilliger Vaters landsverteidiger eingefunden, aber dieſelben hatten, nad): dem ſie ein paar Stunden lang auf dem Platz dem Geſpoͤtt und dem Hohn der neugierigen Menge, die keinen Verſuch machte, ein verlorenes Recht zuruͤckzu⸗ erobern, ausgeſetzt geweſen waren, von Regen durchnaͤßt und ohne die friſch gedrechſelten Knuͤttel geſchwungen zu haben, nach Hauſe ziehen muͤſſen. f
Nach dem großen Schauſpiel die Komik freiwilliger Selbſterniedrigung, nach dem „bloody Sunday“ die „laughing stocks!“
Der Square war und blieb leer.
Die Frage der „Arbeitsloſen“ war natuͤrlich nicht geloͤſt, aber fie war in den Hintergrund getreten und fie ſchrie nicht mehr in den gellenden Toͤnen des wee nach Antwort.
RN:
In Chicago waren die Leichen der Gemordeten unter beiſpielloſer Teilnahme der Bevölkerung zu Grabe ge: tragen worden. Es war geweſen, als habe man eine Schuld wieder gut machen wollen.
Die Zeit der großen Geſchehniſſe war voruͤber. Alles ging wieder ſeinen gewohnten Gang.
Die Tage waren um ſo kaͤlter und feuchter geworden, je ſchneller der Monat zu Ende ging.
Auban hatte weder Trupp, noch irgendeinen anderen ſeiner gewohnten Freunde wiedergeſehen. Nur Dr. Hurt war zuweilen gekommen, ſeine Fuͤße zu waͤrmen' und ſeine Pfeife bei ihm zu rauchen. Sie lebten ſich geiſtig mehr und mehr ineinander ein und verſtanden ſich beſſer und beſſer.
Die Sonntagnachmittag⸗Zuſammenkuͤnfte ſchienen nicht nur unterbrochen zu fein, ſondern gänzlich aufgehört zu haben. Auban dachte auch nicht daran, ſie wieder aufleben zu laſſen. Er war nun von ihrer Zweckloſigkeit uͤberzeugt. ‚
Auch die Klubs hatte er nicht mehr beſucht ſeit dem Abend ſeiner Auseinanderſetzung mit Trupp. Und — was die groͤßte Veraͤnderung in ſeinem Leben war — auch ſeine Wanderungen durch die Bezirke des Hungers hatte er aufgegeben. 5
Er hatte viel zu tun. Er begann jetzt mit der Arbeit ſeines Lebens, gegen die alles, was er bisher getan, nur Vorbereitung geweſen war. 8
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Fuͤr ſich ſelbſt hatte er in dieſer Zeit einen kleinen Sieg erfochten.
Die Leitung des franzoͤſiſchen Sammelwerkes, zu deſſen Mitarbeiterſchaft er vor drei Jahren nach London berufen war, war nach und nach ganz in ſeine Haͤnde uͤbergegangen. Dank ſeiner Gewiſſenhaftigkeit, ſeiner Umſicht, ſeiner Selbſtaͤndigkeit hatte das Unternehmen, das dem Abſchluß entgegenging, einen glaͤnzenden Erfolg erzielt. Trotzdem er der buchhaͤndleriſchen Firma, einer der groͤßten Englands, unentbehrlich geworden war, hatte dieſe es unterlaſſen, feine Dienſte angemeſſen zu bone rieren und ſeine Beſoldung nur wenig erhoͤht.
Er hatte lange auf die freiwillige Erfüllung dieſer Pflicht gehofft. Er wartete, bis er alle Truͤmpfe in ſeiner Hand hielt. Dann hatte er ſie eines Tages ausgeſpielt und ſeine Entlaſſung fuͤr das Ende des Jahres angezeigt.
Eine lange Unterredung mit den beiden Inhabern der Firma war daraufhin gefolgt. Bei dem Ausbruch ihrer moraliſchen Entrüftung über den Bruch des Kontraktes, der zwar weder ſchriftlich, noch durch irgendein Wort Aubans, ſondern von ihrer Seite, wie ſie ſagten, nur auf „Treu' und Glauben“ eingegangen war, waren ſie von Auban gebeten worden, doch jede Sentimentalitaͤt in einer geſchaͤftlichen Auseinanderſetzung beiſeite zu laſſen. Dann bewies er ihnen mit Zahlen, daß das einzige Verdienſt, das ſie ſich bei der Herausgabe des Werkes erworben, das Herleihen des Kapitals geweſen war, daß dieſes Verdienſt ſich aber ſo belohnt hatte, ihnen etwa vier Fuͤnftel des Ertrages ſeiner Arbeit zu ſichern.
Daraufhin ſeine Forderungen, als die Bitte an ihn
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geſtellt wurde, noch ein Vierteljahr zu bleiben, bis zum 5
vorlaͤufigen Abſchluß des Werkes: zunaͤchſt das Dreifache des Monatsgehaltes als bisher.
— Noch nie haͤtten ſie einem ihrer Angeſtellten ein ſolches Salaͤr gezahlt —
— Noch nie ſeien ihnen wohl auch von einem An⸗ geſtellten ſolche Dienſte geleiſtet worden —
Ferner, und das war Aubans Hauptſchlag geweſen, mit dem er ſich feine Zukunft wenigſtens in etwas ficher- ſtellen wollte: einen Gewinnanteil an jeder Auflage des Werkes.
— Ob eine ſolche Forderung wohl ſchon je geſtellt worden ſei —
— Das ſei ihm ganz gleichguͤltig. Es ſtuͤnde in ihrem Belieben, ſie anzunehmen oder zu verwerfen —
Sie taten das erſtere.
Endlich Aubans dritte Forderung: eine Entſchaͤdigung, im Verhaͤltnis zu dem Erfolge ſeiner Arbeit ſtehend, fuͤr die bisher geleiſtete Arbeit, ſofort auszahlbar.
— Das ſaͤhe verdammt einer Erpreſſung aͤhnlich —
— Mochten ſie es nennen, wie ſie es wollten. Er habe von ihnen gelernt. Ob ſie das wundere? Druͤckten ſie nicht auch etwa die Loͤhne ihrer Arbeiter nieder, ſo tief wie es nur ging? Er ſtemmte ſich dagegen und druͤcke wieder — f
Als er gegangen war, knirſchten die Kompagnons mit den Zaͤhnen. Als gewiegte Geſchaͤftsleute aber ge⸗ ſtanden ſie ſich ſtillſchweigend ein, daß ſie nie eine groͤßere Hochachtung fuͤr Auban empfunden hatten, als in dieſem Augenblick ..
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Den Kontrakt, den beide Parteien daraufhin auf— ſetzten, ließ Auban von einem der erſten Rechtsanwaͤlte pruͤfen und fuͤr richtig befinden, ehe er ihn unterſchrieb und ſich fuͤr weitere drei Monate band.
Dann war er frei fuͤr einige Zeit; und nie hatte er mit ſolcher Deutlichkeit gefuͤhlt, wie noͤtig dieſe pekuniaͤre Unabhaͤngigkeit war für das, was er tun wollte.
Noch ein Vierteljahr, und er war in der Lage, nach Paris zuruͤckzukehren. Nach Paris! Sein Herz ſchlug hoͤher bei dieſem Gedanken.
Er liebte London und bewunderte es, dieſes wunder— bare, maͤchtige London, und er liebte Paris. Aber dieſes liebte er doch anders..
London begann auf ihm zu laften mit feinen ewig grauen Himmel, feinem fahlen Nebel, ſeiner traurigen Daͤmmernis.
Eine Sonne ſtieg ihm auf. Und dieſe Sonne hieß Paris. Bald wuͤrde er wieder beſchienen ſein von ihren Strahlen, die jo warm waren, fo belebend, fo ſchoͤn ...
Von Aubans Schreibtiſch waren die Stoͤße mit Zeitungen und Broſchuͤren uͤber Chicago verſchwunden und neue Arbeiten bedeckten ihn, die ſeine ſpaͤrlichen freien Stunden erfuͤllten.
Er war ſich klar uͤber das, was er wollte.
Er ſtand allein: keiner ſeiner zahlreichen Freunde war in den letzten Jahren mit ihm gegangen; keiner unter ihnen war im Stande geweſen, mit ihm die letzten Konſe— quenzen zu ziehen.
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So hatte er ſie hinter ſich zuruͤcklaſſen muͤſſen, er, der raſtlos vorgeſchrittengwar, der Freiheit zu.
Aber er hatte neue Verbindungen angeknuͤpft und oft und immer wieder richtete ſich ſein Auge nach Amerika, wo von einer kleinen, aber ſtetig und ſicher wachſenden Schar ausgezeichneter Maͤnner ſeit Jahren bereits die Arbeit getan wurde, die in der alten Welt noch nicht angefangen war.
Alles draͤngte dahin, auch hier mit ihr zu beginnen.
Zwei Umſtaͤnde erſchwerten vor allem die Ausbreitung der Idee der Anarchie in Europa:
Entweder ſah man in einem Anarchiſten einen Dyna⸗ mitarden; oder, hatte man einen Blick in den Ideen⸗ kreis der neuen Partei geworfen, einen Kommuniſten.
Waͤhrend in Amerika bereits einige Lichtſtrahlen die trüben Blicke des Vorurteils und der Voreingenommen⸗ heit zu treffen begonnen hatten, waren in Europa noch alle verſchleiert. a
Zuvor mußte der uͤberall mißverſtandene Sinn des Wortes neugepruͤft, erkannt und erklaͤrt werden.
Die einen, die, welche alles nehmen, wie man es ihnen gibt, und in der Anarchie nur das Chaos und in dem Anarchiſten nur den gewaltſamen Umſtuͤrzler ſahen, mußten belehrt werden, daß Anarchie im Gegenteil das Ziel der Entwicklung der menſchlichen Geſellſchaft iſt und jenen Zuſtand bezeichnet, in dem die Freiheit des Individuums und feiner Arbeit Buͤrge iſt für fein Wohl, wie fuͤr den Wohlſtand der Allgemeinheit. 5 ö
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Und den anderen, jenen, die mit Recht an das Ideal der Freiheit im bruͤderlichen Kommunismus nicht glaubten, mußte gezeigt werden, daß die Anarchie die Freiheit des, Individuums, weit entfernt, ſie in Guͤtergemeinſchaft und Aufopferung zu ſehen, ſie im Gegenteil durch Bekaͤmpfung und Beſeitigung ganz beſtimmter, gewaltſamer Hemm— niſſe und kuͤnſtlicher Schranken zu erreichen ſucht.
War dieſe erſte, roheſte und undankbarſte Vorarbeit geſchehen und hatte ſich, wenn auch vorerſt nur unter Wenigen, die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß die Anarchie kein Himmel auf Erden iſt, und daß die Menſchen nur ihre wahre Natur und deren Beduͤrfniſſe zu erkennen, nicht aber dieſelbe „von Grund aus zu aͤndern“ brauchen, um die Freiheit zu ermöglichen, jo war die naͤchſte Auf: gabe gegeben: die Inſtitution des Staates zu kennzeichnen als groͤßtes und einziges Hemmnis der Menſchheit auf ihrem Wege der Entwicklung zur Kultur.
Es galt zu zeigen: daß der Staat die privilegierte Gewalt iſt und daß Gewalt es iſt, die ihn erhaͤlt; daß er es iſt, der die Harmonie der Natur in die Unordnung des Zwanges verwandelt; daß ſeine Verbrechen es ſind, die die Verbrechen ſchaffen; daß er hier unnatürliche Vorrechte verleiht, waͤhrend er dort natuͤrliche Rechte ſchmaͤlert; daß er die wetteifernde Entfaltung der Kraͤfte auf allen Gebieten laͤhmt, den fruchtbaren Handel unter: bindet und damit den Wohlſtand des ganzen Volkes untergraͤbt; daß er in allem die Mittelmaͤßigkeit vertritt und daß alles, was er zu tun unternimmt, weit beſſer, allgemein zufriedenftellender, vorteilhafter ohne ihn aus⸗ gefuͤhrt werden koͤnnte, wenn es der freien Konkurrenz
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der Privaten uͤberlaſſen bliebe; daß eine Nation je reicher und gluͤcklicher iſt, deſto weniger ſie regiert wird; daß der Staat, geſchweige je der Ausdruck des Willens der Geſamtheit zu ſein, vielmehr immer und immer nur der Wille derjenigen iſt, die an ihrer Spitze ſtehen; und daß die, welche an der Spitze ſtehen, zwar immer fuͤr ſich und die ‚Ihrigen‘, nie aber für die ſorgen, welche ihnen ihre Sorge anzuvertrauen toͤricht genug ſind; daß der Staat nur geben kann, was er zuvor genommen hat, da er unproduktiv iſt, und daß er immer weniger zu⸗ ruͤckgibt, als er erhalten — kurzum, es galt zu zeigen, daß er, alles in allem genommen, nichts anderes iſt, als ein ungeheurer, fortgeſetzter, ſchamloſer Betrug, ver⸗ mittels deſſen die einen auf Koſten der anderen leben, mag er ſich nun genannt haben oder nennen, wie er will...
War ſo auf einigen Punkten der Glaube an das allein ſeligmachende Idol des Staates erſchuͤttert und damit das Vertrauen in die eigene Kraft der Initiative geſtaͤrkt, ſo mußte jenen Geſetzen nachgegangen werden, die das wirtſchaftliche Leben beherrſchen. Es mußte die Wahrheit zur Erkenntnis gebracht werden, daß die Inter⸗ eſſen der Menſchen ſich nicht feindlich gegenuͤberſtehen, ſondern daß fie ſich harmoniſch vereinen, wenn ihnen nur der freie Spielraum zu ihrer Entfaltung nicht ge⸗ nommen oder geſchmaͤlert wird.
Die Freiheit der Arbeit — errungen durch den Fall des Staates, der das Geld nicht mehr monopoliſieren, den Kredit nicht mehr laͤhmen, das Kapital nicht mehr vorenthalten, die Zirkulation der Werte nicht mehr hemmen, mit einem Wort: die Angelegenheiten der Einzelnen nicht
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mehr kontrollieren kann — war fie zur Tatſache ger worden, ſo war die Sonne der Anarchie aufgegangen.
Ihr Segen — man wuͤrde ihn wie Waͤrme fuͤhlen, nach der langen Nacht voll Kaͤlte und Not
Aber verſprechen ſollte man nichts. Nur die, welche nicht wiſſen, was ſie wollen, verſprachen. Es galt zu uͤberzeugen, nicht zu uͤberreden.
Das erforderte andere Kraͤfte, als die der geſchwaͤtzigen Zunge, welche die Maſſen beredet, gegen ihren Willen zu handeln, ſtatt dem Einzelnen die Wahl ſeiner Entſchluͤſſe zu laſſen und ſeiner Einſicht zu vertrauen.
Die verſchiedenſten Wiſſensgebiete mußten herangezogen werden, um die Theorie der neuerwachenden Lehre zu beweiſen: die Geſchichte, um die Irrtuͤmer der Ver: gangenheit in der Zukunft zu vermeiden; die Pſychologie, um zu erkennen, wie die Seele den Bedingungen unter⸗ worfen iſt, die der Koͤrper ihr vorſchreibt; die Philoſophie, damit ſie zeige, wie alles Denken nur vom Individuum ausgeht, damit es zu ihm zuruͤckkehre .
Nachdem ſo alles getan war, um die Freiheit des Individuums als Gipfelpunkt der Entwicklung zu beweiſen, blieb noch eine Aufgabe uͤbrig. N
Nicht nur die Ziele mußten gezeigt, ſondern auch die beſten und ſicherſten Wege geſucht werden, auf denen dieſelben zu erreichen waren. In der Gewalt die groͤßte Feindin erblickend, galt es, die Gewalt zu vernichten. Auf welche Weiſe?
Auch ſie war gefunden. Nicht zu einem Kampfe galt es den bis an die Zaͤhne bewaffneten und in
allen Machtmitteln noch weit uͤberlegenen Staat heraus⸗ 25*
Ser
zufordern. Er wäre entſchieden, noch ehe er begonnen haͤtte. Nein, dieſes Ungeheuer, das ſich von dem Blute unſerer Arbeit naͤhrt und erhaͤlt, mußte ausgehungert werden, indem man ihm den Tribut vorenthielt, den es als ſelbſtverſtaͤndlich forderte. Es mußte an Er⸗ ſchoͤpfung ſterben, verhungern, langſam zwar, ohne Zweifel, aber ſicher. Noch hatte es die Macht und das Anſehen, ſeinen Raub unweigerlich einzufordern oder den Verweigerer zu vernichten. Eines Tages aber wuͤrde es einer Anzahl von Maͤnnern, von beſonnenen, ruhigen, unerſchuͤtterlichen Maͤnnern begegnen, die mit verſchraͤnkten Armen ſeinen Angriff mit der Frage zuruͤckſchlagen wuͤrden: Was willſt du von uns? — Wir wollen nichts von dir. Wir verweigern dir jeden Gehorſam. Laß dich von denen ernähren, die dich brauchen. Uns aber laß in Ruhe! —
An dieſem Tage wuͤrde die Freiheit ihren erſten Sieg erfechten, einen unblutigen Sieg, deſſen Ruhm die Erde mit der Eile des Windes durchfliegen und uͤberall die Stimme der Vernunft zur Antwort erwecken wuͤrde.
Was waren die Streiks, vor welchen die Ausbeuter zitterten, anderes, als paſſiver Widerſtand? Mußten die Arbeiter mit ihnen nicht Erfolge erzielen koͤnnen? Er⸗ folge, auf die ſie vergeblich warten wuͤrden, vertrauten ſie weiter dem ruchloſen Spiel politiſcher Gaukler.
Bisher in der Geſchichte des Jahrhunderts nur in vereinzelten Faͤllen hier und da und nur zeitweilig zur Erzwingung gewiſſer politiſcher Forderungen benuͤtzt, mußte einſt der prinzipiell angewandte paſſive Widerſtand gegen die Regierung — vor allem in der Form der Steuer:
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verweigerung — zur vorgehaltenen Waffe werden, an welcher der Staat langſam verbluten würde...
Bis dahin aber? ..
Bis dahin galt es zu wachen und zu warten.
Es gab keinen anderen Weg, das Ziel endlich zu er— reichen, als den der ruhigen, unermuͤdlichen, ſichern Auf⸗ klaͤrung und den des ſelbſt gegebenen Beiſpiels, das eines Tages Wunder wirken wuͤrde.
So lag vor Auban in ihrem ganzen Umfange die Arbeit, der er ſein Leben zu widmen entſchloſſen war. Er uͤberſchaͤtzte ſeine Kraft nicht. Aber er vertraute ihr. Denn ſie hatte ihn gefuͤhrt durch die Irrtuͤmer ſeiner Jugend. So konnte ſie keine gewoͤhnliche Kraft ſein.
Noch ſtand er allein. Bald wuͤrde er Freunde und Mitkaͤmpfer haben. Schon begann ſich in Paris unter den Kommuniſten eine ſtark individualiſtiſch-anarchiſtiſche Stroͤmung bemerkbar zu machen, die das Privateigentum in Schutz nahm.
In dieſen Tagen waren ihm die erſten Hefte einer neuen Zeitſchrift — offenbar mit den beſcheidenſten Mitteln gegruͤndet — zugeflogen, die ein glaͤnzender Beweis fuͤr die in gewiſſen Arbeiterkreiſen ſeines Landes herrſchende Intelligenz war. Die „L'Autonomie indi- viduelle“ hatte ſich frei gemacht vom Kommunismus und wurde nun von ihm ebenſo angegriffen, wie dieſer einſt von den Sozialdemokraten. Auban vertiefte ſich in die Lektuͤre der wenigen Blaͤtter, aus denen ihm ein Geiſt der Freiheit entgegenwehte, der ihn entzuͤckte ..
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Ein Klopfen an der Tuͤr unterbrach ihn.
Ein Brief wurde ihm uͤberbracht. Sein Inhalt bat um ein Rendezvous noch fuͤr dieſen Abend und trug keine Unterſchrift. Auban wollte ihn zuerſt beiſeite werfen. Dann aber, als er ihn zum zweiten Male las, nahm ſein Geſicht einen nachdenklichen Ausdruck an. In der Art und Weiſe, wie der Brief abgefaßt war, mußte etwas liegen, das ſeinen Entſchluß aͤnderte, denn er ſah nach der Uhr und blickte auf den großen Stadt⸗ plan von London, der an der Wand hing.
Mit der unterirdiſchen Eiſenbahn fuhr er über Black: friars von Kings Croß nach London Bridge. Er mußte umſteigen und wurde dadurch aufgehalten. Dennoch er— reichte er noch vor der angegebenen Stunde die Straße und das bezeichnete Haus. Als er an der verſchloſſenen Tuͤr klopfte, wurde dieſe ſofort geoͤffnet.
Auban brauchte den Namen nicht zu nennen, der ihm angegeben war. Er erſtarb auf ſeinem Munde in einen unwillkuͤrlichen Ausruf des Erkennens und des Er— ſchreckens, als er den Offnenden erkannte. Vor ihm ſtand ein Mann, der einſt eine der gefuͤrchtetſten und gefeierteſten Perſoͤnlichkeiten in der revolutionären Be: wegung Europas geweſen war, deſſen Name nun aber von den meiſten nur noch mit Haß und Verachtung genannt wurde. Jeden anderen haͤtte Auban jemals eher wiederzuſehen geglaubt, als dieſen Mann, der ihn ſchweigend empfing und jetzt ſchweigend die Treppe hin⸗ auf in ein kleines, niedriges Zimmer fuͤhrte.
Dort an dem einzigen Fenſter ſtanden ſie ſich gegen— uͤber und Aubans Erkennen wich dem Gefuͤhl innerſter
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n 5: *
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Erſchuͤtterung, als er ſah, was die wenigen Jahre, in denen er ihn nicht mehr geſehen, aus ſeinem einſtigen Bekannten gemacht hatten. Damals war er aufrecht und ſtolz gegangen; jetzt ſtand er vor ihm wie gebuͤckt unter der Laſt eines furchtbaren Schickſals. Noch konnte er das fuͤnfunddreißigſte Jahr nicht erreicht haben und ſchon waren ſeine Haare grau wie die eines Fuͤnfzig⸗ jaͤhrigen; einſt war ſein Laͤcheln ſo ſiegesgewiß und zwingend geweſen, daß keiner ihm widerſtehen konnte — heute war es traurig und ſchmerzlich, als er ſah, wie wenig Auban ſein Erſchrecken und ſeine Erſchuͤtterung bei ſeinem veraͤnderten Anblick zu verbergen vermochte. Da nannte ihn Auban leiſe, als fuͤrchte er, die Waͤnde koͤnnten ihn hoͤren, bei ſeinem wirklichen Namen, dieſem einſt ſo viel genannten, heute faſt vergeſſenen Namen.
— Ja, ich bin es, ſagte der andere, ohne daß das traurige Laͤcheln von ſeinen Lippen verſchwand. — Sie haͤtten mich wohl nicht einmal wiedererkannt, Auban?
Auban ſchuͤttelte gewaltſam feine Erregung ab.
— Wo kommen Sie her? Wiſſen Sie nicht —
— Ja, ich weiß, man iſt mir uͤberall auf den Ferſen, ſelbſt hier in England. In Frankreich wuͤrde man mich ausliefern und in Deutſchland begraben fuͤr Lebenszeit, wenn man mich haͤtte. Auch hier bin ich nicht ſicher. Aber ich mußte noch einmal hierher, ehe ich untertauche fuͤr immer. Sie wiſſen, weshalb —
Gewiß, Auban wußte es. Auf dieſem Manne lag der furchtbare Verdacht, einen Genoſſen verraten zu haben. Wie viel, wie wenig Wahrheit an dieſem Verdacht war,
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Auban konnte es nicht entſcheiden. Von ſozialdemo⸗ kratiſcher Seite war er zuerſt ausgeſprochen worden. Aber von dort aus waren ſchon fo viel gefliſſentliche Luͤgen über die Kommuniſten ausgegangen, daß auch dieſe aus der Luft gegriffen ſein konnte. Dann war er wiederholt worden von einer feindlichen Richtung im eigenen Lager. Der Beklagte hatte darauf geantwortet. Aber wollte oder konnte er nicht: kurz, die Sache war, trotz vieler Worte, nie ganz aufgeklaͤrt worden. Sicherlich war das uͤberhaupt in der Offentlichkeit unmoͤglich — uͤber zu vieles mußte geſchwiegen werden, was der Feind nicht erfahren durfte, zu viele Namen mußten ungenannt, die genannt, zu viele Verhaͤltniſſe unberuͤhrt bleiben, welche von Grund aus haͤtten eroͤrtert werden muͤſſen, als daß der ſo Angeſchuldigte je hoffen durfte, in aller Augen wieder unantaſtbar dazuſtehen.
Das war der Fluch der Knechtſchaft, mit dem die falſche Taktik einen an den andern band, ſo daß keiner ſich ruͤhren und regen konnte, wie er wollte.
Noch immer hätte der von allen Seiten bereits Un gegriffene aufrecht weiter wirken koͤnnen in dem alten Kreiſe der Genoſſen, wenn dieſe ſelbſt nicht auch wankend geworden waͤren. Da hatte er eines Tages alles hinter ſich abgebrochen und war verſchwunden. Sein Name wurde vergeſſen; vergeſſen wurde, was er getan hatte, nachdem mit feiner Perſon ihr großer Einfluß, der be: zaubernd geweſen war, wo er ſich geltend gemacht hatte, gewichen war.
Auban wußte es und er ſagte daher:
— Ihre Reiſe war nutzlos.
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— Ja, war die Antwort, und die Stimme war ſo truͤb, wie die Augen deſſen, der ſie gab, — ſie war nutzlos.
Er ließ wie voͤllig gebrochen die Stirn ſinken, als er noch leiſer fortfuhr, als ſchaͤme er ſich ſeines Wieder— kommens, wie einer Feigheit:
— Ich konnte es nicht mehr aushalten. Zwei Jahre bin ich allein geweſen. Da entſchloß ich mich, wieder— zukehren und einen letzten Verſuch zu wagen, mich zu rechtfertigen. Man glaubt mir nicht. Keiner glaubt WM 2%.
— So glauben Sie an ſich ſelbſt! ſagte Auban feſt.
— Heute dachte ich an Sie. Man hat mir von Ihnen geſprochen. Man warf Ihnen vor, daß Sie Ihre eigenen Wege gehen. Nun ja, Sie ſind noch der einzige, der ſich in der Wirrnis den freien Blick bewahrt hat. Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen ſind.
Er ſchien wie erſchoͤpft, als hätten ihn ſchon dieſe wenigen Worte ermuͤdet. Vor drei Jahren war er ein glaͤnzender Redner geweſen, welcher drei Stunden lang geſprochen hatte, ohne Ermattung zu zeigen.
Auban war tief erſchuͤttert. Er haͤtte ihm gern ge— ſagt, daß er ihm glaube. Aber wie konnte er das, ohne unehrlich zu ſein? — Ihm war jene ganze Angelegen— heit faſt fremd geblieben, ſo viel er auch uͤber ſie ge— hoͤrt hatte. Der andere ſchien es zu fuͤhlen.
— Ich muͤßte Ihnen die ganze Geſchichte erzaͤhlen, um Ihnen ein Urteil zu ermoͤglichen. Aber das wuͤrde Stunden dauern und vielleicht waͤre es dann doch nutzlos geweſen. Nur ſo viel, und das koͤnnen Sie mir
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glauben: ich habe einen Irrtum begangen, aber an dem Verbrechen, das man mir zur Laſt legt, bin ich un⸗ ſchuldig. Außerdem habe ich vieles verſaͤumt, was ich zu meiner Verteidigung gleich haͤtte tun muͤſſen. Das alles iſt jetzt zu ſpaͤt.
Er ſah nach der Uhr.
— Ja, es wuͤrde Stunden dauern und ich habe feine halbe mehr. Ich will noch heute fort.
— Wohin? fragte Auban.
— Zunaͤchſt die Themſe hinauf mit einem Schiff Und dann, und traurig laͤchelnd machte er eine Be: wegung mit der Hand in die Weite, — und dann weiter — irgendwohin — —
Er griff nach einer kleinen Reiſetaſche, die fertig ge— packt neben ihm lag.
— Ich habe nichts mehr hier zu tun, lasen Sie uns gehen, Auban. Begleiten Sie mich bis zur Bruͤcke, wenn es kein Umweg fuͤr Sie iſt.
Sie verließen das Zimmer und das Haus, ohne daß ihnen jemand nachſah. Bis zur London Bridge gingen ſie ſchweigend nebeneinander her.
Aber als fie die Brücke uͤberſchritten, brach der nieder⸗ gekaͤmpfte Groll des Ausgeſtoßenen doch los.
— Ich habe der Sache alles gegeben, was ich beſaß: meine ganze Jugend und mein halbes Leben. Nachdem fie mir alles genommen, hat fie mir nichts zurück⸗ gelaſſen, nicht einmal den Glauben an ſie ſelbſt.
— Es bleibt Ihnen noch ein halbes Leben, um den Glauben an ſich dafuͤr zuruͤckzugewinnen, dieſen einzigen Glauben, der nie enttaͤuſcht.
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Aber der andere ſchuͤttelte den Kopf.
— Sehen Sie mich an, ich bin nicht mehr, der ich war. Allen Verfolgungen habe ich Trotz geboten, dem Hunger, dem Haß, dem Gefaͤngnis, dem Tod — aber von denen, die ich mehr geliebt habe, wie mich ſelbſt, davongejagt zu werden wie ein raͤudiger Hund, das hat mich getroffen! — Ach, ich bin ſo muͤde! — ſo muͤde! — fo müde! .
Er trat in einen der Ruhepunkte der Brücke und ließ ſich auf eine der Baͤnke fallen, waͤhrend der Menſchen⸗ ſtrom weiterbrauſte. Auban ſetzte ſich neben ihn. Der Ton, mit dem der ungluͤckliche Mann die letzten Worte wiederholte, erſchuͤtterte ihn von neuem aufs tiefſte. Und waͤhrend hinter ihnen das grandioſe Leben die Bruͤcke uͤberſpuͤlte, erzählte er ihm, um ihm Zeit zu laſſen, ſich zu faſſen, von ſeinen eigenen truͤben Erfahrungen und Erkenntniſſen, und wie dennoch ſeine Kraft uner— ſchuͤttert und fein Mut ungelaͤhmt ſei, ſeit er ſich wieder: gefunden habe und nun — auf eigenen Fuͤßen ſtehend — tuend und laſſend, was er wolle — von keiner Partei, keiner Klique, keiner Richtung mehr abhaͤngig — keinem mehr Eingriffe in fein eigenes Leben geſtatte ...
Aber der andere ſaß teilnahmslos. Er ſchuͤttelte den Kopf und ſah vor ſich hin.
Ploͤtzlich ſprang er auf, griff nach ſeinem Gepaͤck, zeigte auf das Chaos von Schiffen und murmelte einige unverſtaͤndliche Worte.
Dann, noch ehe Auban ihm antworten konnte, um: armte er den Überraſchten mit Heftigkeit und eilte, mit
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der Hand ein Zeichen gebend, er wolle nicht weiter be— gleitet ſein, davon. Auban ſah ihm re nach.
Opfer über Opfer, und alle umfonft, dachte er. — Lange noch ſah er vor ſich das gealterte Geſicht und die ergrauten Haare des Verfolgten, der — ein ruheloſer Verbannter — einer neuen Welt voll Geſchicken ent⸗ gegen zog, ohne Kraft mehr und ohne Mut, ein Leben noch weiter zu beſtehen, das ihn betrogen hatte..
Der Abend begann.
Die Sonne ging unter.
uͤber London Bridge fluteten zwei unermeßliche Menſchenſtroͤme, heruͤber und hinuͤber zogen in zwei ununterbrochenen Reihen raſſelnd und droͤhnend die Wagen.
Das ſchwarze Gewaͤſſer der Themſe floß traͤge.
Auban ſtand an dem Bruͤckenrand und nahm, gegen Oſten gewendet, das große Bild auf, das ſich ihm bot. Überall über die Haͤuſermaſſen zu beiden Seiten der Flut erhoben ſich Tuͤrme, Saͤulen, Schornſteine, Kirchturm⸗ ſpitzen ... Unten aber ein Wald von Maſten, Stangen, Segeln... Links Billingsgate, Londons großer, berühmter Fiſchmarkt ... Weiter, dort, wo die vier Türme ragen, das dunkle, unheimliche Gebäude des Tower. Roͤtlich lag die untergehende Sonne, die blaſſe, muͤde Sonne Londons, minutenlang auf ſeinen Fenſtern: dann war auch ihr Schein ploͤtzlich erloſchen und grauhelle Daͤmmerung zog ihre Streifen um die dunklen Maſſen der Waren⸗
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nnen.
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haͤuſer, die g e der Schiffe, um die Pfeiler der Bruͤcke
Schon zeigte die Zifferuhr an den Adelaide Buildings auf die ſiebente Stunde, aber noch immer war das Aus— laden des mächtigen Überfeeftenmers zu Aubans Füßen nicht beendet. Starke Maͤnner trugen Kiſten und Ballen in langen Reihen uͤber ſchwankende Bretterſtege ans Ufer. Die Stirn, den Kopf und den Nacken mit eigentuͤmlich geformten Polſtern gegen den zermalmenden Druck der ſchweren Laſt geſchuͤtzt, ſahen fie, wie fie gebuͤckt unter ihrer Buͤrde einherſchritten, aus, wie Stiere im Joche ...
Eine große, wunderbare Stimmung uͤberkam Auban. Das war London, das rieſige London, welches mit ſeinen fünf Millionen menſchlicher Weſen ſiebenhundert Meilen Erde bedeckte; das war das London, wo jede fuͤnfte Minute ein Menſch geboren wurde, jede achte ein Menſch ſtarb. .. Das war das London, welches wuchs und wuchs, und, bereits unermeßlich, das Grenzenloſe er= ſtreben zu wollen ſchien .
Ungeheure Stadt! Unbegreiflich und unerfaßlich lag ſie da zu beiden Seiten des Fluſſes und die Wolken von Rauch, Dunſt, Laͤrm, die ſie ausſpie, lagen wie Schleier über ihrem ſchnaufenden Leibe .
Lichter um Lichter erflammten und vermengten der Feuchtigkeit der Nebel die Wärme der Glut. Ihre roͤt⸗ lichen Reflexe durchzitterten die Dämmerung.
London Bridge donnerte und droͤhnte unter den Laſten, welche fie trug.
Tag ſo fuͤr Tag, Woche fuͤr Woche, Jahr auf Jahr raſte ſo dieſes gewaltige Leben, das nie ermuͤdete.
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Immer fieberhafter wurden die Schlaͤge ſeines Herzens, immer gewaltiger die Taten feines Armes, immer kuͤhner die Plaͤne ſeines Gehirns.
Wann erreichte es den Hoͤhepunkt ſeiner Ziele? — Wann würde es ruhen?! — —
War es unſterblich? —
Oder drohte auch ihm die Vernichtung? —
Und wieder ſah Auban ſie nahen, die Wolken des Verderbens, die den Blitz ſenden wuͤrden, der dieſe un⸗ geheure Maſſe von Zuͤndſtoff entladen wuͤrde.
London, auch du biſt nicht unſterblich! .. Du biſt groß. Aber die Zeit iſt größer . .
Es wurde dunkler und dunkler.
Da wandte er ſich dem Norden zu, und wie er mit ſeinen ſchweren, langen Schritten dahinging, feſt auf den Stock geſtuͤtzt, ſah, wie immer, mancher Voruͤbereilende der hohen, hageren und ſtolzen Geſtalt nach, die der weite Mantel umflatterte.
Und wie Auban Straße um Straße kreuzte und ſich mit jeder ſeiner Wohnung naͤherte, hatte er bereits die Erſchuͤtterung dieſer letzten Stunden uͤberwunden, und ſchon kreiſten wieder mit unruhigen Schlägen die Flügel ſeiner Gedanken um das erſehnte Licht der Freiheit.
Wie wuͤrde ſich entwickeln und geſtalten, was noch als eben erſt befruchteter Keim im Schoß der Zeit ruhte?
Eines war ihm ſicher:
Schmerzlos mußte ſie ſich vollziehen, die Geburt der neuen Welt, ſollte ſie lebensfaͤhig ſein.
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Die ſoziale Frage war eine wirtſchaftliche Frage. So und nicht anders konnte ſie ſich loͤſen:
Mit der Schwaͤchung der ſtaatlichen Gewalt ſtellt ſich mehr und mehr das Individuum auf die eigenen Füße. Dem Gaͤngelbande des Paternalismus entfliehend, gewinnt es die Selbitändigkeit, eigenen Wollens und Handelns. Das Recht der Selbſtbeſtimmung uneinge⸗ ſchraͤnkt in Anſpruch nehmend, zielt es zunaͤchſt dahin, alle bisherigen Vorrechte null und nichtig zu machen. Nichts durfte von denſelben übrig bleiben, als ein uns geheurer Haufe modernden Papiers. Das unbenutzte Land, nicht laͤnger mehr beſchlagnahmt von denen, die es nicht bewohnen, wird bebaut und bevoͤlkert von jenen, die es okkupieren. Bisher brach gelegt, traͤgt es nun Frucht und Saat und reichlich naͤhrt es die befreiten Geſchlechter. Das Kapital, unfaͤhig, laͤnger ſich zu maͤſten von dem Schweiße fremder Arbeit, ſieht ſich genötigt, ſich ſelbſt aufzuzehren: ernaͤhrt es den Vater und den Sohn noch, ohne daß ſie die Hand zu ruͤhren brauchen, fo ſteht doch ſchon der Enkel vor der Alternative, den ‚Ruhm der Väter‘ zu ſchaͤnden und zu arbeiten, oder zu verhungern. Denn mit dem Schwinden aller Privi⸗ legien iſt die Pflicht der Selbſtverantwortlichkeit auf die Schultern des Individuums gelegt. Ob es an ihr ſchwerer tragen wird, als an den tauſend Naͤchſten⸗ pflichten, mit denen bis dahin der Staat ſeinen Buͤrger, die Kirche ihr Mitglied, die Moral den Gerechten be— lud? —
Nur eine Loͤſung der ſozialen Frage, nur die eine gab es: ſich nicht laͤnger in gegenſeitiger Abhaͤngigkeit
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zu erhalten — ſich und damit den andern den Weg zur Unabhängigkeit zu Öffnen! —; nicht laͤnger mehr an die Starken die laͤcherliche Anforderung zu ſtellen: „Werdet ſchwach!“ — nein, den Schwachen endlich zuzurufen: „Werdet ſtark!“ —; nicht länger mehr der Hilfe „von oben her“ zu vertrauen, ſondern endlich ſich ermannen zu eigener Tat.
Das neunzehnte Jahrhundert hat den „Vater im Himmel“ abgeſetzt. Es glaubt an keine göttliche Kraft mehr, der es untertan iſt.
Die Kinder des zwanzigſten Jahrhunderts aber erſt wuͤrden die echten Atheiſten ſein. Zweifler an der goͤtt⸗ lichen Machtvollkommenheit, mußten ſie beginnen, die un⸗ erbittliche Kritik ihrer Vernunft auch an die e jeder menſchlichen Autoritaͤt zu legen.
Das Bewußtſein der eigenen Wuͤrde mußte ſie durch⸗ dringen. Statt wie bisher in der Unterwuͤrfigkeit, der Hundetreue, der Hingabe ihren Stolz zu ſuchen, wuͤrden ſie erkennen, daß Befehlen eine Anmaßung, Gehorchen ein Entaͤußern, beides aber eine Selbſtentehrung iſt, die der Freie verachtet
Das in den Uniformierungen verkruͤppelte Geſchlecht mochte lange Zeit brauchen, um den natuͤrlichen Wuchs und die aufrechte Haltung des Stolzes wieder zu er- langen.
Auban war kein Träumer. Während er die Forde: rungen der Freiheit ſtellte, verlangte er von der Zeit nicht deren ſofortige Einloͤſung. Die großen Verſchiebungen der ſozialen Organe würden vielleicht Jahrhunderte er-
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fordern, ehe fie den normalen Zuſtand gleicher Lebens⸗ bedingungen fuͤr Alle erreicht hatten.
Deſto laͤnger wuͤrde der Prozeß der Entwicklung zur Freiheit dauern, je maͤchtiger und ſiegreicher die große Gegenſtroͤmung der Autorität werden würde,
Gewaltſame Ereigniſſe würden den friedlichen Gang der Entwicklung überall unterbrechen. Sie waren uns vermeidlich. Zu groß waren der Haß, die Blindheit, die Unſicherheit auf beiden Seiten geworden, als daß nicht Zufammenftöße erfolgen mußten, unter denen die Erde in Schauern erbeben wuͤrde.
Die Natur der Dinge mußte ihren Lauf nehmen.
Die Logik der Tatſachen zerſtoͤrte die Wuͤnſche der Unmoͤglichkeit.
Immer muͤſſen ſaͤmtliche Torheiten ihren Zoll der Erfahrung gezahlt haben, ehe ſich dieſe an das Licht noͤtigen laͤßt.
Der Sozialismus war die letzte Univerſal-Dummheit der Menſchheit. Auch dieſe letzte Leidensſtation auf dem Wege zur Freiheit mußte zuruͤckgelegt werden.
Dann erſt konnte der Gott des Wahns ans Kreuz geſchlagen werden.
Dann erſt, wenn aller Glaube mit zerbrochenem Genick zu Boden lag und keiner Hoffnung mehr — um in die Himmel zu enteilen — die Fluͤgel leihen konnte, dann erſt war die Zeit gekommen fuͤr das wahre „Reich auf Erden“: das Reich des Gluͤcks, der Freude und des Lebensgefuͤhls, welches die Freiheit war... .
Aber die Freiheit hatte auch einen maͤchtigen Helfer: die Zwietracht im Lager ihrer Feinde.
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Überall Zerriſſenheit; überall Unruhe; überall Angſt. Und überall der Ruf nach mehr Gewalt! Gewalt, Ge walt — ſie ſollte alle Schaͤden heilen. Und die Armeen wuchſen aus der Erde, die Voͤlker ſtarrten in Waffen und die Angſt vor der blutigen Zukunft ſcheuchte den Schlaf aus den Augen der Sehenden.
Die Gewalthaber wußten nicht mehr ein und aus. Gleich jenem Feldherrn des Altertums riefen ſie, man ſolle das Meer peitſchen, das mit ſeiner Woge das Deck uͤberſchwemmte und Mann und Maus zu verſchlingen drohte.
Kriege, mit deren Blutſtroͤmen die Inhaber der Macht die Flammen der Empoͤrung ihrer Voͤlker zu loͤſchen ver⸗ ſuchen wuͤrden, waren unvermeidlich, Kriege, wie die Welt fie nie geſehen
Zu groß war die begangene Schuld geworden und furchtbare Suͤhne wuͤrde genommen werden!
Dann, nach dem Chaos der Revolutionen und den Metzeleien der Schlachten, wenn die verwuͤſtete Erde in Erſchoͤpfung zuſammengebrochen war, wenn die bitterſte Erfahrung den letzten Glauben an die Autoritaͤt ver⸗ nichtet haben wuͤrde, dann wuͤrde vielleicht verſtanden, wer ſie waren und was ſie wollten, ſie, die einzigen, welche ruhig und gefaßt in dem Taumel um ſie her der Freiheit vertrauten, die ſie nannten mit dem Namen: Anarchie
Wie es wogte und brauſte, dieſes London! — Wie mit dem Sinken des Abends ſeine Pulſe ſchneller und
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ſchneller ſchlugen! — Was deuteten dieſe tauſendfachen Stimmen?
Weiter und weiter war Auban gegangen, bis er ſeine Wohnung erreichte. ö
Nun war er wieder in der erſt vor Stunden ver— laſſenen Stille ſeines Zimmers.
Noch gluͤhte das Feuer im Kamin. Aber bevor er ſeine Arbeit wieder aufnahm, ruͤckte er einen Stuhl heran und ſaß ſo eine kurze Zeit: die Haͤnde gegen die Waͤrme ge— ſtreckt und, vornuͤber gebeugt, die Blicke in die Glut ge— richtet.
Eine große, faſt gewaltige Freude uͤberkam ihn, wie er ſie nie gefuͤhlt.
Die Mauern dieſes Zimmers, die Nebel Londons, das Dunkel des Abends — alles verſank vor dem Bilde, welches er ſah:
Eine lange Nacht iſt vergangen. Langſam erhebt ſich die Sonne uͤber die ſchlafenden Daͤcher und die ruhenden Felder.
Ein einſamer Wanderer durchſchreitet die Weite.
Auf den Graͤſern am Wegrande zittert noch der Tau der Nacht. Aus den Hainen am Huͤgelrande erklingen die erſten Stimmen der Voͤgel. Über die Gipfel der Berge kreiſt der erſte Aar.
Allein geht der Wanderer. Aber er fühlt feine Eins ſamkeit nicht. Die keuſche Friſche der Natur teilt ſich ihm mit.
Er fuͤhlt: es iſt der Morgen eines neuen Tages.
Dann begegnet ihm ein zweiter Wanderer. Und ein dritter. Und ſie verſtehen ſich mit ihren Blicken, waͤhrend ſie aneinander voruͤberziehen.
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Das Licht ſteigt und ſteigt. Und der Morgen⸗Waller breitet weit die Arme und begruͤßt es mit dem befreienden Schrei der Freude
So war Auban.
Der Fruͤhrot⸗Gaͤnger bei Anbruch des neuen Tages war er.
Nach einer langen Nacht voll Irrtum und Wahn ging er durch einen Morgen voll Licht.
Die Sonne der Erkenntnis war ihm aufgegangen und ſie ſtieg hoͤher und hoͤher.
Viele Jahrtauſende mußten vergehen, ehe die Idee der Anarchie erwachen konnte.
Alle Formen der Knechtſchaft mußten durchgangen werden. Immer die Freiheit ſuchend, um in der ge wechſelten Form nur dieſelbe Unfreiheit zu finden, waren die Voͤlker getaumelt.
Nun war die Wahrheit gefunden, alle Formen zu verwerfen, welche Zwang waren. Die Gewalt begann zu unterliegen.
Die wilde Jagd nahte ſich dem Ende.
Noch aber hatte es zu kaͤmpfen, zu kaͤmpfen, zu kaͤmpfen — nicht zu ermuͤden und niemals zu ver— zweifeln!
Nicht um nichtige Ziele handelte es ſich. Das Gluͤck der Freiheit, das erſtritten werden wollte, war unver⸗ welklich.
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Wie der Wanderer war Auban.
Und wie der Fruͤhlicht⸗Gaͤnger breitete auch er die Arme, gruͤßte die Zukunft mit dem Rufe der Freude und nannte ſie mit dem unſterblichen Namen: An⸗ archiel
Dann ging er an ſeine Arbeit.
Auf ſeinen hageren, herben Zuͤgen lag ein ruhiges, großes, ſicheres Laͤcheln.
Es war das Lächeln der Unbeſiegbarkeit.
Inhalt des achten und letzten Bandes.
Die Anarchiſten. Kulturgemaͤlde aus dem Ende des XIX. Jahrhunderts.
Bae zur Volksausgabteene sn 9
N RE EEE Erſtes Kapitel.
In Heizen der Weltſtade . es Al Zweites Kapitel.
—. VVA. ß Drittes Kapitel.
FP“ ᷣͤ VV ˙¹Cir,r%ẽ .... N TEEN Viertes Kapitel.
„ t ee Fünftes Kapitel.
e . Sechſtes Kapitel.
e ,, . ee Siebentes Kapitel.
Die Zragöble von Chieng e . Achtes Kapitel.
Die Propaganda des Kommunismus. 514 Neuntes Kapitel.
JJ a 3, ee Zehntes Kapitel.
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Die erfte Auflage der „Anarchiſten“ erſchien Zürich 1891 (ſoweit ſich feſtſtellen ließ, in 1500 Exemplaren). — Die Volks⸗Ausgabe in 5000 Exemplaren Berlin 1893 und 1895. — Das ſiebente und achte Tauſend als „definitive Ausgabe“ Berlin und Leipzig 1903. — Waͤhrend demnach dieſe Auflage in dieſer Geſamt⸗ Ausgabe das neunte Tauſend bildet, erſcheint gleich⸗ zeitig das zehnte Tauſend in einer neuen Einzel⸗Ausgabe.
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550.
S. Bd.
Mackay, John Henry
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Gesammelte
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