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GESCHICHTE

DER

ATOMISTIK

ERSTER BAND.

GESCHICHTE

DER

4^4- 5/

ATOMISTI

VOM MITTELALTEE BIS NEWTON

VON

KURD LASSWITZ.

ERSTER BAND. DIE ERNEUERUNG DER KORPUSKULARTHEORIE.

HAMBURG UND LEIPZIG,

VERLAG VON LEOPOLD VOSS,

1890.

Alle Bechte vorbehalten.

Druck der VerlagtanstaU und Druckerei A.-G. (%'orm. J. F. Richter) in Hamburg^.

Vorwort.

Der vorliegende Versucli, eine Geschiclite der Atomistik herzustellen, ist aus den Bemühungen des Verfassers hervor- gegangen, die Korpuskulartheorie des 17. Jahrhunderts in ihrem Zusammenhange mit der Entstehung der modernen Natur- wissenschaft und Philosophie zu studieren. Er beschränkt sich deshalb auf die Zeit von dem beginnenden Kampfe gegen die scholastische Physik bis zur Einführung des Begriffs der fem- wirkenden Kräfte durch Newton; die antike Atomistik tritt somit nur unter dem Gesichtspunkte ihrer G-egner und Erneuerer auf. Im ersten Buche, welches vornehmlich einleitenden Charakter trägt, konnte der Verfasser nicht vermeiden, über Teile der griechischen und orientalischen Philosophie zu be- richten, in denen er die gebotenen Quellen einer selbständigen philologischen Kritik zu unterziehen nicht in der Lage war. Wenn die mathematisch-naturwissenschaftliche Vorbildung des Verfassers sich hier als ein Hemmnis erwies, so ist dieselbe hoffentlich der sachlichen Durchdringung des Hauptproblems zu gute gekommen, welches der Geschichte der Physik ange- hört und von der philologisch-historischen Seite allein nicht zugänglich gewesen wäre. Eine Beihe von Spezialfragen mufste berührt werden, über welche Vorarbeiten kaum oder doch sehr lückenhaft vorhanden sind; in dieser Hinsicht kann das Buch vielleicht dazu dienen, für gewisse Kapitel der allge-

VI VORWORT.

meinen Physik (z. B. Aggregatzustände, Bewegungslek cität, Elemente, Gravitation, Kohäsion, Vacuum Qmndzüge zu einer Geschichte derselben darzubietei weitere Bearbeitung zu erleichtem. Eine Anzahl von lungen zur Geschichte der Korpuskulartheorie, w( Verfasser im Laufe der Jahre veröffentlicht hat, sin sprechender Umgestaltung in die vorliegende Gesamtd eingereiht worden.

Die historischen Untersuchungen waren indessen Verfasser nur das Mittel, um in der Entwickelung < nach dem Wesen des Körpers eine abgeschlossene Thatsache zu gewinnen, an welcher ein erkenntnis Problem sich studieren lasse, nämlich die Theorie de insofern sie die Bedingungen der Naturerkenntnis übe enthüllen geeignet ist» Der systematische und der 1 Teil bilden daher für den Verfasser eine Einheit un( in der Darstellung nicht getrennt werden; um je( Leser je nach seinem Literesse die Benutzung des I erleichtem, sind die Kapitel, welche hauptsächli( matischto Charakter tragen, im Lihaltsverzeichnis gemacht, auch wird in dem am Ende des zweiten I findlichen Begister unter der Marke „Systematisc! Übersicht gegeben.

Dafs viele historisch-kritische und biographisch deren Erörterung nahelag, doch übergangen oder nu wurden, wird man hoffentUch als eine notwendige berechtigt finden. Trotzdem ist der Umfang des ^ angewachsen, dafs aus diesem rein äufserlichen G Zerlegimg in zwei Bände nötig wurde. Dieselbe sachlich durchaus zusammen, insofern erst der zweite Höhepunkt und Verfall der Korpuskulartheorie die i problem wirksamen Denkmittel ausreichend nachzuw mochte.

VOBWORT. vn

Indem der Verfasser seinen Versuch, in der kinetischen Korpuskulartheorie der Materie sowohl ein Problem als eine geschichtliche Entwickelung abzugrenzen, der Öffentlichkeit übergiebt, in der Hoffnung, damit einerseits für die Erkenntnis- kritik, andrerseits für die Geschichte der Philosophie einen Bei- trag zu ihrer Begründung auf wissenschaftliche Erfahrung zu liefern, erfüllt er zugleich die angenehme Pflicht, den Verwal- tungen der Bibliotheken, welche ihn bei seinen historischen Studien in zuvorkommendster Weise unterstützten, insbesondere dem Oberbibliothekar der herzoglichen Bibliothek zu Gotha, Herrn Geheimen Hofrat Dr. Pertsch sowie Herrn Bibliothekar Dr. Georges, desgleichen der Verlagsbuchhandlung für die Ausstattung des Buches, seinen aufrichtigen Dank auszu- sprechen.

Gotha, den 18. Oktober 1889.

Eurd Lafswitz.

r

Inhalt.

(Diejenigen Kapitel, welche hauptsächlich systematischen Inhalts sind,

wurden durch * ausgezeichnet.)

Nähere Nachweise geben die Kolumnentitel und das dem zweiten Bande beigefügte

Bach- und Kamensrogister.

Beite

Einleitung 1

Erstes Buch.

Die Atomistik im Mittelalter.

Erster Abschnitt. Die Atomisiih hei den Kirchenvätern ii

1. Abneigung gegen die Physik 11

2. Dionysius bei Eusebius 13

3. Lactantius 18

4. Augustinus 26

Zweiter Abschnitt. Die Korpiiskidnrtheorie im Mittelalter vor d^m Bekanntwerden der phisilcalischen Schriften des Aristoteles

im Ahendlande 31

1. Der Gebrauch des Wortes „Atom" 31

Isidorus. Beda. Eabanus Maurus.

2. Scotus Erigenas Lehre vom Körper 37

•3. Das Denkmittel der Substanzialität und der extreme Kealismus. . 43

4. Kealismus und Nominalismus 67

5. Die Elemente bei Piaton 60

6. Der Dialog „De generibus et speciebus" 67

7. Adelard von Bath 70

8. Wilhelm von Conches 72

9. Hugo von St. Victor 76

10. Die Korpuskulartheorie verschwindet wieder 78

X INHALT.

Seite

Dritter Abschnitt. Aristoteles 79

1. Objektive Wirklichkeit und Natur 79

2. Das Bekanntwerden der aristotelischen Physik 85

3. Die Lehre des Aristoteles 87

4. Beziehungen aristotelischer Naturbegriffe zu modernen 95

5. Aristoteles als Gegner der Atomistik 102

I. Gründe gegen die Zulässigkeit der Atomistik 103

A. Gründe gegen die Existenz des unteilbaren 103

B. Gründe gegen die Existenz des leeren Raumes 106

n. Gründe geg^en die Brauchbarkeit der Atomistik zu physika- lischen Erklärungen 109

A. Gegen die atomistische Erklärung der Schwere 109

B. Gegen die atomistische Erklärung der Verdichtung und

der Zunahme 112

0. Gegen die atomistische Erklärung der Veränderungen an

den Körpern 113

a. die Verschiedenheit der Grundstoffe 113

b. Entstehen und Vergehen, Veränderung der Eigen-

schaften 118

c. Die Mischung 124

D. G^gen die atomistische Erklärung der Seelen thätigkeiten. . . 129

^ 6. Beziehung der aristotelischen Einwände zur Physik und zum Eon- tinuitätsproblem 131

Vierter Abschnitt. Die Atomistik der MutakaUimun 134

1. Die Diskontinuität von Baum, Zeit und Bewegung 134

2. Die punktuellen Substanzen 141

3. Das Eontinuitätsproblem und die MutakaUimun 146

Fünfter Absclmitt. Jüdische und arabische Philosophen 151

1. Die Karaim 151

2. Saadia al-Fajjumi 152

3. Die Modifikation des Aristotelismus 157

4. Ibn Gabirol 162

5. Kabbala 168

6. Thn Koschd und die Araber 169

Sechster Abschnitt. Das Kontinuitätsproblem 175

* 1. Die Mathematik 175

Griechen (Archimedes), Inder, Araber.

2. Das Kontinuum in der Scholastik 186

3. Das Vacuum in der Scholastik 201

Siebenter Abschnitt. Korpuskulariheoretische Anregungen 208

1. Naturwissenschaft bei Arabern und Griechen 208

Die Korpuskulartheorie des Altertums 211

INHALT. XI

Seite

3. Die Physik 222

4. Die Chemie 223

5. Die Medizin 228

Achter Abschnitt. Die Frage nach dem Verhalten der Bestand- teile in der chemischen Verbindung 235

1. Die Streitfrage 235

2. Die Geschichte der Frage nach dem Beharren der Elemente in

der Verbindung 239

Neunter Abschnitt. Occam und Nicolaus de Autricuria 255

Zweites Buch. Die Erneuerung der Korpuskulartheorie.

Erster Abschnitt. Das Prinzip der innem Entvnckdung 263

1. Der Nenplatonismns 263

2. Das Denkmittel der Variabilität 269

3. Nicolas von Cues 274

4. Die Beseelung und die Eigenschaften der Dinge 288

Agrippa von Nettesheim.

5. Die chemischen Grundsubstanzen 294

Der angebliche Basilius Valentinus.

6. Paracelsus 298

Zweiter Abschnitt. Angriffe auf die aristotelische Elementenlehre, 306

1. Fracastoro 306

2. Cardano 308

3. Telesio und Patrizzi 312

4. W. Gübert 315

5. Der Fortschritt der Astronomie 322

6. Neuerungen in der Lehre von den Elementen 324

Verro. Bodin. Röslin. Kepler. Fludd. Carpentarius.

Dritter Abschnitt. Die Unvenmndelbarkeit der Ele^nente 332

1. Gorlaeus und d'Espagnet 332

2. Einführung von fünf Grundsubstanzen 339

3. Campanella 340

4. Van Helmont 343

5. Hermetische Physik 361

6. Vorbereitung zur mechanischen Naturauffassung 352

Taurellus.

Xn INHALT.

Vierter Abschnitt. CHordano Bruno

1. Allgemeines

2. Einheit und Minimum

8. Mathematische Atomistik

4. Physikalische Atomistik.

* 5. Kritik der Atomistik Brunos

I 6. Keine Anwendung der Atomistik auf Physik

, 7. Weltanschauung und Ausblick

Fünfter Absclinitt. Übergänge

1. Metaphysische und physikalische Atomistik

2. Eilhard Lubin

3. Jean Bodin

4. Francis Bacon

I a. Die Formen und die Aufgabe der Metaphysik

I b. Die Korpuskulartheorie

c. Spiritus und Bewegung

Sechster Abschnitt. Die Erneuerung der physikalischen misUk in DeutscKUmd durch D. Sennert (1619)

1. Seine Lehre

2. Vermittelnde Stellung

3. Sennerts Quellen

Siebenter Abschnitt. David van Goorle (1620)

Achter Abschnitt. Die Erneuerung d^ Atomistik in Fn : reich (1621) ....'

1. Gegner des Aristoteles in Paris

2. Sebastian Basso

3. Die Disputation des de Claves und ihre Folgen

Neunter Abschnitt. Die Erneuerung der Korpuskidartheor Italien

1. Berigard

2. Magnenus

3. Die neuen Probleme der Korpuskulartheorie

Einleitung.

Die Theorie der Materie sucht über die allgemeinen Bedin- gungen [Rechenschaft zu geben, auf welchen die Erfüllung des Baumes durch unterscheidbare sinnliche Qualitäten und der Wechsel derselben in der Zeit beruht. Ihre Geschichte ist aufs engste verknüpft mit der Entwickelung der Erkenntnis überhaupt; denn ihr Gegenstand umfafst den ganzen Inhalt aller sinnlichen Erfahrung. Jenes im Baum gegebene Verän- derliche, welches wir die Körperwelt nennen, ist das Mittel, in dessen Wechselwirkung der Mensch mit seinem eigenen Leibe sich gestellt findet. Ihm gegenüber hat er seine physi- sche Existenz zu verteidigen, ihm gegenüber will er seine geistige Überlegenheit aufrecht erhalten. Das unmittelbare sinnliche Erlebnis gilt es zu bewältigen, zu ordnen, zu beherr- schen; und die Vollendung dieser Beherrschxmg durch BegrijBT und Gesetz wäre ein Naturerkennen, welches in einer allge- meinen Theorie der Materie gipfelte. Deshalb steht die Theorie der Materie in einem Zentrum der Erkenntnisbestrebungen, in welchem sich die verschiedensten Motive kreuzen, und deshalb darf man erwarten, dafs eine Geschichte der Theorie der Materie vorzüglich geeignet sei, Aufklärungen über die Ele- mente zu geben, auf welche die menschliche Erkenntnis sich gründet.

Fragt man aber nach dem Inhalt dieser Theorie der Materie, welche historisch behandelt werden soll, so findet sich, dafs es gar nicht eine Theorie, sondern eine Vielheit von Theorien gibt. Diese müssen demnach zunächst nach inneren Gesichts- punkten ihrer Verwandtschaft geordnet werden. Ein solches

LoAwiti. 1

2 Einleitung: Die Theorien der Materie.

Bemühen stöfst indessen auf aufserordentliche Schwierigkeiten eben wegen jener engen Verquickung derselben mit allge- meineren Problemen, von welchen sie nicht lösbar sind. Man könnte versuchen, die übermächtige Mannigfaltigkeit der ver- schiedenen Lehren vom Wesen der Körperwelt nach ihrem Inhalte zu ordnen und unter Berücksichtigung der zu Grunde gelegten materiellen Prinzipien in Gruppen zu bringen. Da- durch entstehen Einteilungen wie die in atomistische und plerotische, in kinetische und dynamische Theorien, je nach- dem man einen in individuellen Teilen oder im Kontinuum er- füllten Baum voraussetzt, oder Annahmen über die Wechsel- wirkung der erfüllten Eaumteile bildet. Aber auf diesem Wege lassen sich weder die geschichtlich vorhandenen Stufen in allen ihren Schattierungen erschöpfen, noch gelingt es die grundsätzlich verschiedenen Lehren durchweg genügend zu trennen. Wohin wären die unteilbaren Flächenelemente eines Platon, wohin die Monaden eines Leibniz zu rechnen? Gehören sie zur Atomistik, oder wo liegen die Grenzen der letzteren? Hat nur die materialistische Lidividualisierung des Baumes durch Dbmokrit das Becht auf diesen Namen? Bedingen nicht die dynamisch wirkenden, intensiven Punkte oder Kraftzentren neuerer Physiker auch eine Atomistik? Die antike Atomistik ist konsequenter Materialismus, die moderne, sei sie dynamisch oder kinetisch, will mit metaphysischen Behauptungen nichts zu thun haben. Während die materialistische Atomistik zum Atheismus führt, finden wir bei den Mutakallimun, einer ortho- doxen Sekte des Islam, eine streng ausgebildete Atomistik, zu dem Zwecke, die natürliche Kausalität zum besten der Willkür Gottes aufzuheben, und der eifrige Katholik und fromme Dom- herr Gasskndi weifs die Atomenlehre mit dem Dogma der Kirche zu vereinen. Die beiden mächtigsten Beherrscher der Philosophie, Aristoteles und Kant, lehren beide die konti- nuierliche Erfüllung des Baumes ; darf man deshalb ihre Namen als Anhänger der plero tischen Theorie zusammenstellen? Es- ist offenbar, dafs bei der Begründung der Lehren von der Materie Einflüsse eine Bolle spielen, welche durch den rein theoretischen Inhalt derselben nicht ausreichend begründet werden können. Wir müssen uns daher nach einem anderen Einteilungsprinzip, umsehen.

Einleitung: Interesse der Theorien der Materia 3

JOieses Einteilungsprinzip finden wir in dem Interesse der Erkenntnis vom Wesen der Materie. Wir unterscheiden das erkenntniskritische, das metaphysische und das physikalische Interesse.

Das erkenntniskritische Interesse richtet sich auf die Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt. Es strebt daher in der Theorie der Materie diejenigen Bedingungen auf- zusuchen, auf welchen die Möglichkeit der Erkenntnis der £örperwelt beruht; diejenigen Denkmittel und Einheitsbe- ziehungen des BewuTstseins sind festzustellen, durch welche ein Teil aus der Gesamtheit des Erlebnisses der Menschheit sich als gesetzmäfsige. Veränderung einer Körperwelt im Baume darstellt.

Das metaphysische Interesse zielt auf Erkenntnis des Seins der Welt im ontologischen Sinne und behandelt die Frage nach der Materie von dem Gesichtspunkte aus, wie ihre Lösung verträghch ist mit den Prinzipien einer allgemeinen Weltan- schauung. Neben dem rein theoretischen Interesse, welches in dem Streben nach der Erkenntnis von einem Urgründe der Dinge besteht, wirken hier insbesondere religiöse und ethische Motive. Man will wissen, wie die Körperwelt gedacht werden mufs, damit eine einheitliche Weltanschauung zustande komme.

Das physikalische Interesse bezieht sich auf ein engeres Gebiet. Es wendet sich dem Probleme der Natur erklär ung zu und fragt, wie die Beschaffenheit der Körper zu denken ist, damit die beobachteten Erscheinungen sich daraus ableiten lassen. Hierbei handelt es sich weniger um Erzielung einer Übereinstimmung mit aUgemeinen Erkenntnisforderungen, als um Aufsuchung geeigneter Prinzipien zu einer technischen Vereinfachung physikalischer Probleme, Es entspringen Theo- rien lediglich aus den praktischen Bestrebungen der Physiker zur bequemeren Erklärung einzelner Naturerscheinungen. Ihre Urheber sind daher geneigt von Fall zu FaU zu urteilen. Sie verzichten auf eine Beantwortung der Frage nach den letzten Einheiten, auf welchen die Elemente der Körperwelt beruhen, und begnügen sich mit der Aufstellung von Hypothesen, welche in engeren oder weiteren Grenzen Bestätigung durch die Er- fahrung finden. Sie unterscheiden in der Erzeugung der Körperwelt nicht sinnliche und intellektuelle Quellen, nicht

4 Einleitung: Eorpuskalartheorie als Erklärung.

realistische oder idealistische Prinzipien, sondern si© bleiben innerhalb des Empirischen und gehen mit ihren Annahmen nur so weit, als es zur jedesmaligen Erklärung vorhandener Thatsachen nötig erscheint.

Die vom physikalischen Interesse beherrschte Theorie der Materie zeigt nun die Eigentümlichkeit, dafs sie von ihrem ersten geschichtlichen Auftreten an Korpuskulartheorie ist; d. h. sie legt zu Grunde die Annahme, dafs die Körperwelt zu erklären ist durch die Zusammensetzung derselben aus Korpus- keln, kleinen oder kleinsten Körperchen, welche sich von den sinnlich wahrnehmbaren Körpern dadurch unterscheiden, dafs ihnen nicht alle sinnlichen Eigenschaften zukommen, sondern nur solche Eigenschaften, welche zur Konstituierung des Kör- perlichen unentbehrlich erscheinen. Dadurch erzeugt sie eine wertvolle Vereinfachung der Erklärungen, indem die Mannigfaltigkeit der empirischen Qualitäten wesentlich redu- ziert wird. Die korpuskularen Theorien verlegen keineswegs, wie man häufig behauptet hat, die Erklänmg der Körperwelt nur um eine Stufe zurück, indem sie selbst wieder Körper vor- aussetzen, sondern sie fördern das Problem der Materie in der That; denn was sie ihren Ausführungen zu Grunde legen, das sind nicht Körper, wie sie die sinnliche Erfahrung bietet und wie sie eben erklärt werden sollen, sondern es sind Abstraktionen aus der sinnlichen Körperwelt, ein Produkt des Denkens, für welches zwar der Name des Körpers beibehalten ist, das jedoch in der sinnlichen Erfahrung nicht existiert. Solche Abstraktionen sind aber überhaupt der Weg, auf welchem alle Erklärung vom Mannigfaltigen zum Einfacheren und daher Allgemeineren fortschreitet. Die Erklärung besteht ja nicht in der Aufhebung sämtlicher Merkmale, sondern in ihrer Eeduktion auf die unentbehrlichen. Die Korpuskulartheorie bedeutet daher selbst im blols physikalischen Interesse mehr als eine Hilfshypothese. *Sie entspringt allerdings aus dem Bedürfnis des Physikers nach Hypothesenbildung, aber sie ist so eng verknüpft mit der allgemeineren Aufgabe der Theorie der Materie, dafs sie überall auf tiefer liegende Fragen zurückweist und einen philosophischen Charakter annimmt.

Denn mit der zunächst nur logisch vorgenonmienen Ab- straktion von gewissen sinnlichen Qualitäten, z. B. des Tones,

Einleitung: Erkenntniskritisches Problem. 5

der Farbe, nnter Beibehaltung anderer, wie der Härte, muTs zugleich die Frage nach dem Erkenntniswerte dieser Eigen- schaften auftreten, und damit haben wir ein erkenntniskritisches Problem. Es handelt sich dann um die Untersuchung, nicht wie die Vorstellung von der Körperwelt psychologisch zustande kommt, auch nicht welche logischen Operationen die Be- schreibung der Körper vereinfachen, sondern welcher Wert der Gewifsheit den einzelnen Aussagen beizulegen ist. „Der Körper ist rot" und „der Körper ist hart** erscheinen als Ur- teile, denen ein verschiedenes Gewicht in bezug auf ihre Allgemeingültigkeit zukommt, und es entsteht die Frage, in welchem Sinne einem Dinge überhaupt eine Eigenschaft zuge- sprochen werden kann. Wie ist es möglich, dafs wir etwas schwer oder rund, oder beides zugleich nennen? Damit sind wir ganz im Gebiete der Erkenntniskritik, welche die Möglich- keit der Erkenntnis nur an einem gesicherten Faktum wissen- schaftlicher Erfahrung studieren und ergründen kann, und eine solche historische Thatsache ist das Denken, welches in der Entwickelung der Korpuskulartheorie vorliegt.

Aus dieser eigentümlichen Grenzstellung der Korpuskular- theorie entspringen Bedeutung und Wert ihres Studiimis. Handelte es sich nur um eine Zusammenstellung der zahllosen Versuche, passende Hypothesen über die Konstitution der Materie aufzufinden, so wäre ein solches Unternehmen vielleicht nicht unbrauchbar als Material zur Geschichte einer allgemeinen Physik, aber der systematische Gewinn, welchen die Philosophie daraus ziehen könnte, dürfte ziemlich gering ausfallen. Weil aber diese Hypothesen in engem Konnex mit der allgemeineren Aufgabe der Theorie der Materie und dadurch mit der Er- kenntniskritik stehen, eröffnet eine derartige Arbeit viel weiter- reichende Aussichten. Die Gestaltung der Theorie der Materie durch das physikalische Interesse ist ein phi- losophisches Problem für sich. Hier mufs die Wirkung der mehr xmd mehr sich ausdehnenden empirischen Forschung auf das systematische Denken zu Tage treten. Indem die fortschrei- tende Erkenntnis des Verhaltens der Körperwelt zu neuen An- sichten über die Grundlagen und Bedingungen dieser letzteren führt, klärt sich die Frage nach der gegenseitigen Abhängig- keit der physikalischen Erkenntnis und der Bedingungen der

6 Einleitimg: Korpoikulartheorie der Techniker.

Erfahrong überhaupt. Eines der fundamentalen Probleme der Philosophie eröffnet sich der historischen Erforschung. Die Einwirkung des physikalischen Interesses auf die Theorie der Materie muTs man in ihrer geschichtlichen Bedingtheit und Ent- Wickelung erkannt haben, um daraus zu schliefsen auf die dauernden Bedingungen, welche der naturwissenschaftlichen Erfahrung zu Grunde liegen.

Im Beginn des menschlichen Nachdenkens ist das theore- tische Interesse an der Eörperwelt metaphysisch, d. h. auf die Erzeugung einer allgemeinen Weltanschauung gerichtet. Das physikalische Interesse tritt erst dort auf, wo sich das Bedürfiiis bemerklich macht, das Wesen der Körper einer gesonderten Betrachtung zu unterziehen. Dieses Bedürfnis ist zunächst ein rein praktisches. Es handelt sich um die technische Bewälti- gung der Natur. Die Heilkunde, die gewerbliche Bearbeitung der Naturkörper, Baukunst xmd Mechanik wecken das Bestre- ben, die an den Körpern beobachteten Veränderungen theore- tisch zu erklären, xmd fördern Ansichten über die Konstitution der Körper zu Tage. Die Festsetzungen der metaphysischen Theorien der Materie genügen diesen Praktikern nicht, oder vielmehr, sie gehen ihnen zu weit. Sie entnehmen von der spekulativen Bichtung der Philosophen nur, was ihnen fär ihre speziellen Zwecke brauchbar erscheint, um das Übrige beküm- mern sie sich wenig. Trotzdem stehen sie durchaus unter dein EinfluTs der philosophischen Theorien der Materie, sie schöpfen aus der Bildung ihrer Zeit und spiegeln die metaphysischen Lehren der Schulen wieder. Auf diese Weise hat sich bereits im Altertum aus den strengen Systemen der Metaphysiker eine Theorie der Techniker über die Materie entwickelt,' und diese Theorie war Korpuskulartheorie. Wir finden sie bei dem Mecha- niker Hero von Alexandrien, bei dem Arzte Asklepiades von Bithynien. Diese Korpuskulartheorie war keine Atomistik, aber sie steht mit der Atomistik eines Demokrit, wenn auch durch Aufnahme fremdartiger Elemente, in zweifelloser Ver- bindung. Der Entwickelimg jener Korpuskulartheorien aus den metaphysischen Lehrmeinungen nachzugehen, dürfte wohl beim Mangel an Quellen kaum möglich, bei der unausgebildeten Form jener aus technischen Interessen geflossenen Annahmen kaum lohnend sein.

Einleitung: Geschichte der Korpuskolartheorie. 7

Anders liegt die Sache, sobald die Theorie der Materie eine neue und ungeahnte Bedeutung dadurch erlangt, dais die Interessen der Techniker ersetzt werden durch das Auf- treten einer selbständigen Physik als Wissenschaft. Auch hier, sobald neben der Naturphilosophie die Physik mit eigenem IJntersuchungsfelde und eigenen Methoden erscheint, gewinnt sofort die korpuskulare Ansicht die Oberhand, und auch hier wird sie nicht durch die Philosophen, sondern durch die Tech- niker, insbesondere die Ärzte, übermittelt. Aber ihre ganze Ausbreitung, Vervollkommnung und Begründung ist überall von den Ansichten der Philosophen getragen oder gehemmt, insbesondere mit der ÜberUeferung der antiken Atomistik so eng verknüpft, dafs wir ein ebenso weites als vielversprechendes Feld für die historische Untersuchimg offen finden, und hier ist die SteUe, an welcher man hoffen darf, in der geschieht- Uchen Ergründmig bis an die Wurzeln zu gelangen und in der Entwickelung der Korpuskulartheorie den Zusammenhang des Fortschritts der Erkenntnis mit den Einflüssen der philosophi- schen Weltanschauung und des physikalischen Interesses klar- zulegen. Die Quellen verlieren sich nicht mehr im Dimkel der Überlieferung, sondern die Meinungen der Zeitgenossen sind im wesentlichen aus ihren gedruckten Werken zu entnehmen. Das Aufblühen der Empirie und die Entstehung der mathema- tischen Naturwissenschaft ist ein Ereignis der Neuzeit, in dessen Wirkungssphäre unsre eigene Geistesarbeit sich vollzieht; die moderne Wissenschaft steht selbst unter der Macht der Gedanken, welche die Korpuskulartheorie des siebzehnten Jahr- hunderts schufen und ausbildeten. Die Geschichte dieser Korpuskulartheorie bietet daher nicht nur das Interesse einer gelehrten Ausgrabung, sondern sie enthüllt einen Hauptlebens- nerven des modernen Denkens, die Lehre vom Wesen des physischen Körpers. Dadurch rechtfertigt sich der Versuch, zur Aufhellung jener Geschichte wenigstens einen Anfang dar- zubieten.

Unsre Aufgabe wagen wir nunmehr folgendermafsen zu skizzieren. Wir haben das historische Faktum der Entwicke- lung der Korpuskulartheorie aus den Quellen zu konstatieren, indem wir zu erkennen suchen, wie sich die vom Mittelalter erhaltenen Beste antiken Wissens unter dem Einflüsse des An-

g Einleitang: Die Aufgabe.

Wachsens empirischer und mathematischer Kenntnisse zu einer Wissenschaft vom Wesen des Körpers umgestalten. Dabei müssen wir versuchen, das metaphysische Interesse abzusondern, um diejenigen Gedankenreihen herauszufinden, in denen das Naturerkennen als ein selbständiger Prozefs sich darstellt. In diesem thatsächlichen historischen Vorgange fragen wir nach den Begriffen, welche das Denken zur Bewältigung des neuen Erfahrungsstoffes erzeugt, um aus ihnen die Einheitsbeziehungen des BewuTstseins zu ermitteln, durch die überhaupt Natur- erkenntnis möglich wird. Wenn es ein Ereignis gibt, woran die Denkmittel zu entdecken sind, durch welche Natur im wissenschaftlichen Sinne abgesondert wird aus dem Gesamt- inhalt des menschlichen BewuTstseins als ein gesetzmäfsiges Geschehen, so mufs dieses Ereignis nicht gesucht werden in dem psychologischen Vorgange, in welchem sich dem einzelnen Individuum seine Einsicht in den Naturzusammenhang klärt, sondern es mufs dort zu finden sein, wo die Wissenschaft von der Natur zum erstenmale das subjektive Interesse der meta- physischen Weltbetrachtung überwindet und als ein Ergebnis des Denkens von objektivem Geltungswerte, als ein unverlier- barer Gewinn der Menschheit von gesetzlicher Eealität her- vortritt.

Wir gehen daran, diese Denkmittel dort aufzusuchen, wo in der Geschichte der Wissenschaften Physik und Philosophie sich trennen, um an der Behandlung des Körperproblems das Wesen des Naturerkennens zu studieren. Von hieraus darf man hoffen, einen BückschluTs ziehen zu können, einer- seits auf die naturwissenschaftlichen Motive, welche die Ent- wicklung des europäischen Denkens, die wir die Geschichte der Philosophie nennen, wesentlich mitbestimmten, anderseits auf die aUgemeinen Grundlagen, welche die Erkenntniskritik der Physik zu bieten und zu sichern hat.

Erstes Buch.

Die Atomistik im Hittelalter.

Erster Abschnitt.

Die Atomistik bei den Kirchenvätern.

1. Abneififong gegen die Physik.

An Quellen für die antike Atomistik und an Überliefer- ungen ihrer Lehren hat es im Mittelalter nicht gefehlt. Aber dieselben waren ihr nicht günstig. Das theologische Interesse herrschte unumschränkt; die Theologie war diejenige Wissen- schaft, der alle übrigen zu dienen hatten, und unter diesen ihren BLilfswissenschaften glaubte sie der Physik am wenigsten zu bedürfen. Der Name der Physik fehlt unter der Zahl der sieben freien Künste, welche als das Trivium der Grammatik, Bhetorik und Dialektik und als das Quadrivium der Arithmetik, Musik, Q-eometrie und Astronomie den Kreis der Anfordenmgen erfüllen, den man an wissenschaftliche Bildung stellte. Ja die Beschäftigung mit der Physik galt eher für nachteilig und hinderlich, tmd selbst Gelehrte, welche sich derselben widmeten, sahen die naturwissenschaftlichen Studien doch immer als nebensächlich und nur geduldet an.^ Sogar Thomas von Aqüino erklärte noch das Streben nach Erkenntnis der Dinge für Sünde, soweit es nicht auf die Erkenntnis Gottes zielte.* Die Untersuchung der Natur überliefs man den Ärzten; der Name Physicus bedeutete lange Zeit hindurch nichts anderes als Medicus.*

* Vgl V. EiOKEN, MitUkdt WeltanscK S. 589 ff. Die vollständigen Titel der citierten Werke s. im Anhang.

" Swnma theologiae secunda sec. quaesi. 167, art. 1. Op. Venet. 1533, T. XI. p. 407.

JouRDAnc, Lot. Übers, d. Arist S. 242. —Vgl. den Artikel Physica in

Du Canoe, Glossar,

22 Verschwinden des physikalischen Intereues.

Schon in dem Entwickelungsgange der spätem sehen Philosophie hatte die Zurücksetzung der Physik dnrch das Überwiegen der theosophischen Spekulation sich vorbereitet und zum Teil vollzogen. Die Erklärung Platoks, dafs man in der Physik nur „Wahrscheinliches" lehren könne^, wuirde ver- hängnisvoll bei den Umständen und Tendenzen, unter denen das Mittelalter die Beste der Philosophie überkam. Plutarch gilt vieles in den Naturerscheinungen für so unbegreiflich, dafs er die Zurückhaltung des Urteils anempfiehlt,^ und dieser Meinung entspricht denn auch der Erfolg seiner X)hy8ikali8chen Betrachtungen. Das physikalische Interesse ist endlich im Neuplatonismus völlig verschwunden. Wir werden zwar später sehen, in welcher Weise neuplatonische Ideen auch bei der Erneuerung der Physik lebendig geworden sind, aber zunächst tritt nur der theosophische und metaphysische Charakter des Neuplatonismus in Wirksamkeit, welcher der naturwissenschaft- lichen Betrachtung und der mechanischen Erklärungsweise abgeneigt und feindlich ist.

Um so mehr kam er dem Bedürfnis des Christentums ent- gegen. Das Diesseits hat seinen Wert verloren, auf ein besseres Jenseits ist die Sehnsucht der Menschheit gerichtet. Aus dem Jenseits strömt das Heil ; ohne Vermittelung der Erkenntnis der Natur, welche nur ein Hemmnis und eine Fessel in der Hingabe an die ewige Wahrheit ist, offenbart sich das Geheimnis des Ewigen der sich in Gott versenkenden Seele. Das religiöse Erlebnis ist die machtvollste Angelegenheit der Menschheit geworden; die Probleme des Kosmos haben ihre Bedeutung verloren. „Gott und die Seele will ich erkennen." „Und nichts weiter?" „Gar nichts weiter". So redet die Ver- nunft zur Seele bei Augustinus.^

Gar nichts weiter soll erkannt werden, als das Verhältnis der Seele zu Gott, und gar nichts weiter kann erkannt werden; der Verstand ist machtlos, nur die Oifenbarung durch die Gnade Gottes vermag den Menschen zu erleuchten. Das ist das Thema, welches die Lehrer der Christenheit, die Kirchenväter,

* Timaeus, Cap. 5 am Schlufs. ' De primo frig. c. 23. [Schlulk] » SoUloquia I. c. 2. (§. 7). Op. Antwerpen 1700. Fol. T. I p. 267 (D). Vgl. DiLTHET, Geistesxcissenschaften, I. S. 326.

Verachtung der Atomistik. 13

unausgesetzt predigen, indem sie das religiöse Gefühl des Christen gegen die Macht der heidnischen Wissenschaft zu schützen und die christliche Lehre selbst mit einem dogma- tischen Fundament zu versehen suchen.

In diesem Streben nach Verteidigung des Christentums werden die Schriften der Kirchenväter die verbreitetste und am meisten studierte Quelle der alten Philosophie. Ihr belieb- testes tmd am häufigsten geschmähtes Angrififsobjekt aber bildet die Atomenlehre des Altertums. Sie können es nicht oft genug wiederholen, dass die Beschäftigimg mit der Physik, wie die griechischen Phüosophen sie trieben, nicht nur eine vergebUche Mühe (^armonovCa) sei, die auf gänzlich unnötiges und für das Leben Unbrauchbares verwandt wird und in ihrer Absicht weit über Mafs xmd Kraft menschlichen Denkvermögens hinausgehe, sondern dafs sie auch eine Gefahr für das Seelen- heil einschliefse, wie das Beispiel des Leükipp und Demokrit bewiese, die dadurch zum Atheismus geführt worden seien. Wenn schon theoretisch der Materialismus jener alten Philo- sophen so schwere Bedenken erregte, so bot der Umstand, dafs ein Epikur die atomistischen Theorien aufgenommen hatte, den willkommensten Anlafs, Spott, Hohn und Schmach auf eine physikalische Lehre auszuschütten, welche das Un- glück hatte, von dem Begründer der verdammungswürdigsten Ethik, dem verachtetsten aller Philosophen, vertreten zu werden.^

2. DionysiuB bei Eosebios.

Wir stellen die wichtigsten Berichte der Kirchenväter über die Atomenlehre und ihre Einwendungen zusammen.

Die ausführlichste und zugleich älteste Nachricht vom christlichen Standpunkte aus, welche uns über die antike Ato-

* Spezielle Wendungen gegen die Atomistik werden in der Folge erwähnt. Über Obiges vgL u. a. den Kommentar zu Prosper Aquitanicüs tkqI dxccQiartav cum noiis Lovaniensis Theologi in Op. St. Auoustini, Antw. 1703. T. XII. p. 31.

EuBEBii Praeparaiio Evangel 1. XV. c. 61. ed. Dindorf, Lips. 1867. II. p. 414.

Lactantius, Instit div. 1. III, c. 2, 3. Auch Coli Conimbric. in Phys. Aristot. 1. IV, c. 9. Quaest. I, art. 2. p. 78.

14 Der Bericht des Diontsivb Alexandrihub.

mistik erhalten ist, dürfte DioxYsirs Alexandrinus auch „der Grofse'^ genannt, in seiner ^^chrift Tifgl ffvctmg hinterlassen haben. Ein älterer Zeitgenosse des Sextus Empiriccs und DiouENES Laertius War er zugleich ein wissenschaftlich gründ- lich unterrichteter Mann, dessen Mitteilungen einen dauernden Wert besitzen.* Von besonderer AVichtigkeit aber ist es, daüs derselbe Umstand, dem wir die Erhaltung umfangreicher Teile jener Schrift verdanken, ihnen zugleich die weiteste Yerbreitnng in den Kreisen christlicher Gelehrsamkeit gegeben hat, indem dieselben von Eusebius in seine Praeparatio Evangelica auf- genommen wurden.

DiONYSius führt seinen Bericht über die Lehre der Ato- miker sogleich mit dem Urteil ein, dafs das All für eine un- endliche Vielheit von denjenigen gehalten werde, welche in vielfachen Verirrungen ihres Verstandes und mit man- cherlei Anführungen von Namen das AVesen des Alls zu aer- stückeln suchen und es als etwas Unendliches und Ewiges, ohne Anfang imd ohne Zweck hinstellen. „Die letzteren,'' so berichtet er weiter, „nehmen gewisse unvergängliche (d^&afggd)^ sehr kleine und der Menge nach unzählige Körper an, welche sie Atome nennen, sowie einen der Gröfse nach unbegrenzten leeren Raum. Sie behaupten nun, dafs diese Atome, wie sie zufallig im Leeren sich bewegten, von selbst durch einen un- ruliigen Drang miteinander zusammenstiefsen und infolge ihrer vielartigen Gestaltung sich untereinander verflochten und festhielten, und so diese Welt und was in ihr ist, ja sogar imendlich viele Welten bildeten. Dieser Ansicht waren Epikur und Demokrit; insofern weichen sie jedoch voneinander ab, als der erstero sämtliche Atome als sehr klein und daher nicht wahrnehmbar, Demorjut jedoch wenigstens einige Atome auch als sehr grofs annahm. Beide aber behaupten, dafs sie unteilbar (SrofAoO seien und wegen ihrer unauflöslichen Festigkeit so genannt würden. Andere haben die Bezeichnung der Atome verändert und sie toi Hose Körper (dficQ^ amika%a)

^ Geobo Roch, Die Schrift des alexandriniscken Bischofs Dümynu» det fjfrofsen ^Über die Natur*" J. D. Leipzig 1882. Die Übersetzung, welche Soca S. 28—41 gibt, benutze ich vielfach in der obigen Darstellung. AJt griechischer Text dient mir die Ausgabe der Opera des Eusebius von Dindorf, Lips. 1867. T. II p. 321 ff.

DiOKTsius Über die Atome. 15

genannt, Teile des Alls, aus welchen, da sie untrennbar (ddiaif€ta) sind, alles zusammengesetzt und in welche alles aufgelöst wird. Diesen Namen der „teillosen Körper" soll DionoR eingeführt haben; einen andren Namen, sagt man, habe ihnen Hbbaklides gegeben, indem er sie „Körperchen" (Korpuskeln, oyxo&) nannte, von welchem auch der Arzt Asklb- PIAJDES die Bezeichnung überkam."

Ihrer Substanz nach sind die Atome alle gleich, einfach und unvergänglich, sie unterscheiden sich nur ihrer öestalt und Gröfse nach; ihr gemeinsamer Fall im Leeren bildet eine grosse Wirbelbewegung, bei welcher die Atome auf vielfache Weise durcheinander gewirrt und geworfen werden. Dabei sammeln und vereinigen sich die gleichartigen Atome und es entstehen sämtliche Dinge, welche die Welt erfüllen. Die Ver- schiedenheit der Körper aber in ihren Eigenschaften und ihrer Dauer erkläre sich aus der verschiedenartigen Verbindxmg der Atome. „Von den Körpern sollen nämlich die einen festge- macht und engverbunden worden sein, so dafs sie zu überaus schwer trennbaren Verflechtungen wurden, andre dagegen sollen eine mehr oder minder lockere und schlaffe Verknüpfung der Atome empfangen haben, so dafs sie mehr oder weniger schneU ihren Zusammenhang verlieren."* Sowohl die sichtbaren wie die imsichtbaren Körper sind Bildungen der Atome; zu den ersteren gehören auch die Menschen, zu den letzteren die Seele. Selbst die Götter sind nach Epikur aus Atomen ent- standen und halten sich in den unbegrenzten leeren Bäumen aufserhalb der unermefslichen Welten auf; sie besitzen keine Güter und gewähren keine, sie sind frei von jeder Arbeit, schaffen nicht und wirken nicht regierend und richtend auf die Menschen. Die Welt ist also ein Werk des blinden Zu- falls, der „vemunftlosen Menge der Atome".

Nur einen kleinen Teü der uns erhaltenen Schrift des DiONYSiüS füllen die oben zusammengestellten Perichte über die Lehre der Atomiker, und auch diese sind mit Ausnahme des Anfangs ganz in die Polemik gegen die Atomisten einge- flochten. Man erkennt überall die Tendenz, durch die Absur- dität der atomistischen Lehre die Vortrefflichkeit der christ-

^ Cap. 25, 11. DiKDORP p. 324.

16 DioxTsu's gegen die Atomisten.

liehen Weltanschauung zu illustrieren, durch deren Offenbarung allein auch ein Verständnis der herrlichen Werke Gottes in der Natur sich eröffne. Daher wendet sich Dionysius hauptsächlich gegen die Lehre, dafs die gesamte Welt ohne Zweck und ohne göttliche Ordnung und Beihilfe entstanden sei; sie ist der •Stein des Anstofses für den Christen.

Die Atomiston sind blinde und bedauernswerte Menschen, dafs sie die weisen und schönen Werke Gottes als ein Produkt df:s Zufalls ansehen, von denen es doch heifst : y,Und Gott sah an alles was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gat.^ Kann doch nicht einmal ein Kleid, ein Haus oder ein Schiff von selbst entstehen oder sich erhalten, sondern es bedarf dazu der geregelten Leitung seiner Teile, und nun sollte das grofse ans Erd's und Himmfl bestehende Haus, der Kosmos, die Ordnung selbst aus der Unordnung geworden sein? ^Wie können die wohl geregelten Bewegungen und Salinen durch ungeregelten Antrieb hervorgebracht werden? Wie kann der harmonische ßeigen der Himmelskörper durch kunstfremde und unharmonische Instrumente zusammenstimmen?" Wer teilt die Atome in Klassen ein, dafs sie für ihre Aufgabe passen, dafs hier die Sonne, da der Mond entstand, oder wer leitete imd ordnete sie als Führer? Wirklich ein bewunderungswürdiger Freistaat, den die Selbstverwaltung dieser Atome bilden solll Sehen denn diese kurzsichtigen Menschen, welche jener Lehre anhängen, nicht, dafs die Begelmäfsigkeit der astronomischen Erschei- nungen, der Wechsel von Tag und Nacht, Sommer imd Winter, kurz die ganze Ordnung der Natur, durch die Atome uner- klärbar sind? „Aber wenn auch jene Elenden es nicht wollen, so ist es doch, wie die Gerechten glauben, der grofse Gott, der sie gemacht hat und durch seine Worte ihre Bahn leitet. Bringen euch denn, ihr Blinden^ die Atome Schnee und Begen, damit die Erde für euch und alle lebendigen Wesen auf ihr Nahrungsmittel trage? Warum fallt ihr denn nicht vor den Atomen nieder und opfert ihnen als Herren der Früchte? Ihr Undankbaren, die ihr nicht einmal von den vielen Qaben, welche ihr von ihnen em])fangt, die Erstlingsfrüchte ihnen weihet!" „Es mögen uns nun yme Männer, welche das Un- trennbare trennen, das Unteilbare teilen, das Unvereinbare vereinen, das Unfafsbare mit ihrem Verstände erfassen, sagen.

DiONTSius: Aus Atomen nichts Zweckmäfsiges. 17

woher der unsagbare Kreislauf der Himmelskörper kommt, da ja nicht ein einziger Haufen Atome planlos wie eine Schleu- der herumgedreht wird, sondern der stattliche Bundtanz gesetz- und gleichmässig dahinschreitet und im Kreise sich bewegt. Wie kommt es, daüs die ungeordneten, einsichtslosen und unter- einander unbekannten Atome alle miteinander dahinziehen?'' Noch viel unerklärlicher aber bleibt die zweckvolle Ein- richtung des Menschen. „Wieviel und was fiir Atome hat der Vater des Epieur ausfliefsen lassen, als er den Epikub erzeugte? Wie wurden sie, als sie in seiner Mutter Schofs eingeschlossen waren, verbunden, gestaltet, geformt, bewegt und vermehrt?'^ DiONYSius schildert nunmehr die Zweckmäfsigkeit der mensch- lichen Organe und ihr wohlgeordnetes Zusammenwirken. AUes dieses soll die vemunftlose Menge der Atome bewirkt haben. „Aber jene können, wenn sie zusammenkommen, weder ein thönemes Bild formen, noch eine steinerne Figur meifseln, noch ein goldenes oder silbernes Götterbild giefsen xmd zu- sammenstellen; sondern diese Künste und Fertigkeiten sind von Menschen erfunden worden. Wie sollten nun von Dingen, deren Abbilder und Zeichnungen nicht ohne Weisheit herge- stellt werden, die wahren Urbilder von selbst entstanden sein? Woher hat der Philosoph seine Seele, seinen Verstand und seine Vernunft? Hat er sie etwa von den unbeseelten, ver- stand- und vemunftlosen Atomen erhalten? Und hat ihm jedes von ihnen eine Erkenntnis und Lehre eingehaucht?*^ Es ist also ganz unmöglich, dafs die Atomisten die geistigen Thätigkeiten undinteressen der Menschen zu begründen vermögen . Woher woUen sie etwas von den Göttern wissen, da diese jeder Erfahrung unzugänglich sind? So fürchtet denn auch Epikur trotz seiner Beteuerungen keineswegs die Götter, er hat selbst keine Scheu vor dem Eide, sondern seine Schwüre „beim Zeus!" „bei den Göttern!" sind nur ^ein nichtiges, lügnerisches, unnützes und nichtssagendes Anhängsel zu seinen Worten, wie wenn er sich räusperte, ausspie, das Gesicht verzöge oder die Hand bewegte." Denn diese Anrufung der Götter war bei ihm eine sinnlose und nichtige Heuchelei, hervorgerufen durch die Furcht, den Athenern als Atheist zu erscheinen und das Schicksal des Sokrates zu erleiden. Niemals hat er ja die bunte Menge der lebenden Geschöpfe, mit denen die Weisheit

Laftwitz. 2

18 DiovTSics: Interesse nur theologiich.

des Herrn die Erde segnete, mit Verständnis betrachtet, noofa je das Auge in Andacht zum Himmel erhoben, tun jene deut- liche Stimme zu vernehmen: ^fDie Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Feste verkündiget seiner Hände Werk.**^

Wirklich physikalische Einwürfe gegen die Atomistik werden von Diontsius kaimi gestreift; denn wenn er anoh davon spricht, dafs die Yerschiedenartigkeit der £örper nach Axt und Dauer ebensowenig wie die Begelmäfsigkeit der Welt- ordnung durch Atome erklärt werden könne, die in ihrer Sub- stanz gleichartig, in ihrer Bewegung zwecklos und verwoiren seien, so fallt es ihm doch nicht ein, jene naturwissenBohafl- hchen Thatsachen etwa durch eine andere ph3rsikalisohe Hypo- these für besser erklärbar zu halten. Er sieht vielmehr nur den einen Ausweg, einen allweisen und allgütigen SchOpfer als Ursache der Welt und ihrer Ordnung anzunehmen. Die Natur betrachtet er unter keinem andren Gesichtspunkte, als dem, daraus Beweise für Gottes Schöpfermacht zu gewinnen. Das Interesse seines Erkennens ist ein metaphysisches, welches im theologischen gipfelt.

Von demselben Interesse geleitet hat Eusebius das Bruch- stück des DiONYsius in seine Prarparatio cvangelica aufge- nommen, um zu zeigen, wie hoch die christliche Weltan- schauung in ihrem fest gegründeten Glauben über den zur Lächerlichkeit führenden Hirngespinsten der Philosophen stehe.

3. Lactantius.

Die ausführliche Erwähnung, welche Lactantius der antiken Atomistik zu teil werden läfst, entspringt ebenfalls aus der Absicht, die Meinung derer zurückzuweisen, welche die gött- liche Vorsehung als schöpferische und leitende Kraft der Welt nicht anerkennen wollen. Er unterscheidet die Ansicht, dais die Welt aus dem willkürlichen Zusammentreffen ursprünglicher Anfänge (principia) sich verdichtet habe, von derjenigen dafe sie plötzlich von Natur hervorgetreten sei, jedoch ohne Hilfe

* Psalm 19, 2.

Ljlgtaktiüs: Gegen Leükipp. 19

eines künstliclieii Urhebers, gleichsam von selbst mid ohne bewnfste Gestaltong geworden. Beide Ansichten seien falsch.^

Die Widerlegung der Atomisten versucht er auf wissen- schaftlichem Wege, indem er ihnen allerlei Sinnlosigkeiten und Widersprüche nachzuweisen bestrebt ist. Er fragt zunächst, wo und woher denn jene kleinen Keime (semina) seien, durch deren Zusammentreffen die ganze Welt zustandegekommen sein soll. Wer hat sie je gesehen, wer gefühlt, wer gehört? Hat allein Leueipp Augen gehabt, er allein Einsicht? Er, der doch wahrUch mehr als irgend ein andrer blind und sinnlos war, indem er Zeug zusammenschwatzte, das weder ein Kranker phantasieren, noch ein Schlafender je träumen könnte! Die alten Philosophen haben behauptet, dafs alles aus vier Elementen entstanden sei. Aber dies pafste ihm nipht, damit er nicht in fremde FuTstapfen zu treten scheine; so nahm er denn an, dals der Ursprung der Elemente selbst ein andrer sei, nämlich ursprüngliche Teilchen, die weder gesehen noch berührt noch mit irgend einem Organ des Körpers sinnlich wahrgenommen werden können. „So klein sind sie,^ sagt er, „dafs keine Schärfe des Eisens fein genug ist, sie zu teilen.^ Daher legte er ihnen den Namen der Atome bei. Aber es fiel ihm ein, dals sie ja unmöglich so verschiedenartige Dinge von so grofser Mannigfaltigkeit, wie wir sie in der Welt sehen, bewirken könnten, wenn ihnen allen dieselbe Natur zukäme. Er sagt also, es, gebe glatte und rauhe, runde, eckige und mit Haken versehene Atome. „Wieviel besser wäre es gewesen zu schweigen, als so jämmerliche und nichtige Beden zu führen! Ich fürchte zwar, dals, wer so etwas widerlegen zu müssen glaubt, nicht weniger unsinnig erscheint; dennoch will ich ihm erwidern, als hätte er etwas gesagt.'^

Wenn die Atome leicht und rund sind, so können sie auf keinen Fall sich gegenseitig festhalten, so dafs sie einen Körper erzeugen; gerade als wenn jemand Hirse zu einem Haufen ballen wollte, wobei denn die Glätte der Kömer ihre Vereinigung in eine Masse nicht gestatten würde.

* Laotantius. De ira Dei ad Donatum Über unus. Op, omn, Biponti 1786. T. II. c. 10. p. 180—189.

2*

20 Lactantius: Gegen die Eigenschaften der Atome.

Wenn sie rauh und eckig und hakig sind, d zusammenhängen können, so werden sie auch teilbar trennbar sein; denn Haken und Ecken müssen notw weise vorspringen, so dafs sie abgeschnitten werden was aber abgeschnitten und zerrissen werden kann, ( auch gesehen und gefafst werden können.

„Die Atome'^, sagt Leukipp, „fliegen in nimmen Bewegung durch das Leere und werden hier- und dahin g wie wir es an den feinen Stäubchen in der Sonne sehe sie durchs Fenster ihre leuchtenden Strahlen sendet ihnen entstehen Bäume, Kräuter und alle Früchte, ai Tiere und Wasser und Feuer und alles, und in diesell alles wieder aufgelöst."

Eine solche Behauptung, entgegnet Lactantius, se lieh, so lange es sich um kleine Dinge handele. AI Leukipp soll auch die Welt aus den Atomen entstan( Nun hat er das Mais vollkommenen Wahnsinns erfüllt ; hinaus scheint es nichts mehr zu geben; dennoch 1 Mensch noch etwas hinzuerfunden. „Da ja alles unend sagt er, „kann überhaupt nichts leer sein. Es m unzählbare Welten geben."

Welche Gewalt der Atome konnte so grofs sein, unermefsliche Massen aus so kleinen Teilchen zusammt wurden? Was ist denn der Grund oder Ursprung jene] Denn wenn alles aus ihnen ward, woher sollen wir sa^ sie selber sind, welche die Natur in so grofser Menge Zeugung unzähliger Welten herbeiführte?

Aber geben wir zu, dafs er ungestraft über die faseln durfte, und reden wir über die Welt, in weL sind und welche wir sehen. Er sagt, alles sei aus un Körperchen (ex individuis corpusculis) geworden. W so wäre, würde kein Ding je des Samens seiner Gat dürfen. Vögel könnten ohne Eier entstehen und Eier b nicht gelegt zu werden, kein Lebewesen bedürfte der J Bäume und was aus der Erde erwächst besäfse keinen ih tümlichen Samen, während uns doch die tägliche E zeigt, dafs nur aus den Getreidekömem die Saat un

* Vgl. LucRETirs, De natura rerum. 1. II, v. 112 ff.

Lactantiüs: Nichts wird aus Atomen. 21

aus der Saat Getreide wird. Und wenn denn alles durch das Zusammentreffen und -ballen der Atome bewirkt wird, könnte dann nicht auch alles in der Luft entstehen, zumal wenn die Atome durchs Leere fliegen? Warum kann ohne Erde, ohne Wurzel, ohne Feuchtigkeit, ohne Samen kein Kraut, kein Baum, keine Frucht erzeugt werden? Daher ist es klar, dafs nichts aus Atomen sich bilde, insofern jedes Ding seine eigene bestimmte Natur habe, seinen Samen, sein von Anfang an gegebenes Gesetz.

Endlich hat sich Luerez, gleichsam der Atome, die er be- hauptete, vergessend, zur Widerlegung derjenigen, welche alles aus nichts werden lassen, folgender gegen ihn selbst sprechenden Argumente bedient:

Würden die Dinge aus nichts, so könnte aus jedem von ihnen Jegliche Gattung entstehen, und nichts bedürfte des Samens.

Und weiterhin:

Nichts kann werden aus nichts, dies also muls man bekennen. Eines Samens bedürfen die Dinge zu ihrer Erzeugung, AuÜEUspriefsen durch ihn zum milden Hauche der Lüfte. ^

Ist es glaublich, dafs dieser Mensch ein Gehirn gehabt hat, als er dergleichen sagte, ohne zu merken, dafs es gerade gegen ihn spricht? Denn dafs nichts aus Atomen werde, erhellt eben aus der Thatsache, dafs jedes Ding seinen bestimmten Samen hat. Sollen wir nun glauben, dafs auch das Wesen des Feuers und des Wassers aus Atomen besteht? Etwa weil sich Feuer herausschlagen läfst, wenn man Stoffe von grolser Härte heftig zusammenstöJGst? Sind wohl gar im Eis«i oder Kiesel Atome verborgen? Wer hat sie dort eingeschlossen? Warum springen sie nicht von selbst hervor, oder wie konnten die Feuerkeime in jenem äufserst kalten Stoffe verharren? Aber Kiesel und Eisen mögen auf sich beruhen: Durch eine gläserne, mit Wasser gefüllte Kugel wird, wenn man sie in die Sonne hält, von dem Lichte, das von dem Wasser widerstrahlt, Feuer ange- zündet, selbst in der härtesten Kälte. Soll man etwa auch

* LucBETiüs, De natura rerum. 1. I, v. 159, 160 und v. 205 207.

22 Lactavtiüs: Aus Atomen nichts ZweckmälÜBiges.

glauben, dals Feuer im Wasser sei? Aber von der Sonne kann Feuer selbst im Sommer nicht entzündet werden.

Wenn man Wachs anhaucht oder eine Platte von Marmor oder Metall von einem leichten Dunste berührt wird, so ver- dichtet sich allmählich Wasser aus den kleinsten Thautröpfchen. Ebenso entsteht aus den Ausdünstungen der Erde oder des Meeres Nebel, der sich entweder ausbreitet und alles, was er berührt, feucht macht, oder sich sammelt, vom Winde in die Höhe gerissen zu Wolken sich anhäuft und mächtige Regen- güsse herabsendet. Wo soll nun die Flüssigkeit entstanden sein? Im Dunst? In den Ausdünstungen? Im Wind? Nun aber kann nichts in etwas bestehen, das weder berührt noch ge- sehen wird.

Was soll man nun gar von den Tieren sagen, in deren Körper wir nichts ohne Vernunft, Ordnung und zweckmäfsige Gestaltung bereitet sehen, so dafs schon eine geschickte und sorgfaltige Beschreibimg aller Teile die Annahme zurückweist, als handele es sich hier um einen Zufall? Und wenn wir selbst von Gliedern, Knochen, Nerven und Blut glauben wollten, dafs sie durch Atome gebildet werden könnten, wie steht es mit Empfindung, Denken, Gedächtnis, Geist, Begabung? Durch welche Keime können sie zusammengebracht werden? „Durch die feinsten," sagt jener. So gibt es also auch gröfsere! Wie sollen sie dann untrennbar sein?

Femer, wenn das, was nicht gesehen wird, aus Unsicht- barem besteht, so folgt, dafs das, was man sieht, aus Sicht- barem bestehe. Warum also sieht niemand diese Bestandteile?

Aber ob man das Unsichtbare, dew im Menschen ist, be- trachtet, oder das Greifbare, was sinnenfällig ist, wer sieht nicht, dafs der Bestand beider ein vernunftgemäfser ist? Wie kann also das, was ohne vernünftige Überlegung zusammentrifft, etwas Yemunftgemäfses bewirken? Und da eine derartige Leistung über die Fähigkeit des Menschen hinausgeht, wem wäre sie mit mehr Becht zuzuschreiben, als der göttlichen Vorsehung?

Wenn es der Vernunft und Kunst bedarf, ein Menschenbild oder eine Statue zu schaffen, sollen wir glauben, dafs der Mensch selbst aus von ungefähr zusammentreffenden Brocken werde? Selbst die Höchste Kunst vermag nur einen äufseren

Lactantius: Aus Atomen nichts Himmlisches. 23-

UxnriGs der G-estalt zu geben, niolit Leben und Empfindung, geschweige denn Sehen, Hören, Blechen nnd die übrigen be- wundernswerten Anwendungen der sichtbaren wie verborgenen Organe. Welcher Künstler hat ein Menschenherz, eine Stimme oder die Weisheit selbst herstellen können? Welcher Mensch mit gesunden Sinnen glaubt, dais das, was der Mensch mit Vernunft und Überlegung nicht machen kann, durch den Zu- sammenstofs hie und da zusammenhängender Atome vollendet werden möge? Man sieht, in welche Sinnlosigkeit man ver- fallt, wenn man Erzeugung und Erhaltung der Dinge nicht Gott zuschreiben will.

Mögen wir zugeben, dais aus Atomen werde, was irdisch ist; soll das etwa auch vom Himmlischen gelten? Die G-ötter, sagen sie, sind unvergängUch, ewig, seUg, und sie allein sprechen sie frei von dem Entstehen aus dem Zusammentreffen der Atome. Denn wenn auch die Götter aus solchen beständen, so wären sie leicht zu zerstreuen, indem die Keime sich auf- lösen und in ihre Natur zurückkehren. Wenn also etwas ist, was die Atome nicht bewirken, warum denken wir nicht das Übrige ebenso?

Warum erbauten sich die Götter nicht eine Wohnung, ehe sie jene Anfönge der Welt erzeugten? Freilich, wenn nicht die Atome durch ihren Zusammenstofs den Himmel gemacht hätten, würden die Götter noch mitten im Leeren baumeln.

Durch welchen vernünftigen Batschlufs also haben sich die Atome aus dem verworrenen Haufen gesammelt, dafs aus den einen drunten die Erde sich ballte, darüber der Himmel sich spannte mit seiner Mannigfaltigkeit von Sternen, herrlicher als alles, was man auszudenken vermag? Wer diese greisen und erstaunlichen Wunder schaut, kann der glauben, dafs sie ohne Überlegung, ohne Vorsehung, ohne göttliche Vernunft, vielmehr aus feinen, kleinen Atomen erwachsen seien? Gleicht es nicht einem Wunder, sowohl dafs ein Mensch geboren wurde, der so etwas behauptete, als auch dafs es Leute gab, die es glaubten, wie Demokritos, der Schüler des Leükipp, oder Epirub, auf welchen die ganze Sinnlosigkeit jener Quelle nieder- strömte?

Nach dieser Abweisung der Atomisten wendet sich Lactan- Tius noch gegen die verwandte Lehre, dafs die Welt von

24 Laotantius: Gott ist Schöpfer.

Natur ohne bewulste Gestaltung (sensu et figura) entstanden sei. Er wiederholt, dafis ohne bewufste Überlegung und Leitung nicht etwas Zweckmäfsiges und Vernunftbegabtes ent- stehen könne. Der Mensch aber kann nichts Himmlisches machen; wer dies erschuf, der muTste den Menschen an Über- legung, Klugheit und Macht übertreffen dies konnte nur Gott sein.

Wenn das Zusammenströmen der Atome oder die des Geistes entbehrende Natur das, was wir sehen, bewirkte, warum konnte sie den Himmel machen, eine Stadt oder ein Haus aber nicht? MuTsten doch die Atome auch zu diesem Erfolge sich zusammen- finden, sintemal sie angeblich keine Lage unversucht lassen! Von der Natur, die keinen Geist hat, ist es nicht zu verwun- dem, dafs sie dies zu machen vergafs; aber warum es die Atome nicht thaten, bleibt unerklärt.

Was ist also das Ergebnis? Gott allein kann alle jene Herr- lichkeiten, dazu den Menschen mit seinem erfinderischen Geiste geschaffen haben. In der That leugnet selbst von den alten Philosophen niemand die göttliche Vorsehung mit Ausnahme jener zwei oder drei eitelen Verleumder. Daher ist auch ihre Meinung falsch, die Beligion sei von den Weisen als Ab- schreckungsmittel eingesetzt worden, damit die Menschen sich der Sünde enthalten. Es gibt eine Vorsehung Gottes; die Welt wird von Vernunft geleitet, also ist Gott der Stifter und Leiter der Welt. So ist die Religion wahrhaft begründet: Dem Schöpfer der Dinge, dem gemeinsamen Vater gebührt die Ehre der Anbetung. Soweit Lactantius.

Während Dionysius von vornherein darauf verzichtet, die aus einer gänzlich anderen Weltanschauung hervorgegangenen Lehren der Atomisten physikalisch zu widerlegen, sondern seine ganze Polemik gegen den Ausschlufs des Zweckbegriffs bei der Entstehung und Erhaltung der Welt richtet, versucht Lactantius aus einzelnen naturwissenschaftlichen Fragen der Atomenlehre Unzulänglichkeit und Widersprüche nachzuweisen. Je heftiger und gröber seine Sprache ist, um so schwächer sind jedoch seine Einwendungen. Es fehlt ihm vollständig an dem Ver- ständnis derjenigen Begriffe, welche der Atomistik zu Grunde liegen. Er erkennt nicht in den Atomen die Bepräsentanten der absoluten Bealität des Baumerfullenden, sondern behandelt

LiGTANTias: Verkennung der Atomistik. 25

sie wieder wie sinnliclie Körper, deren Zerstörbarkeit von ihrer Gestaltung abhängt. Vor allem aber ist ihm der Begriff der mechanischen Naturerklämng unfafsbar; deshalb erscheint ihm die Physik der Atomisten als etwas ganz Sinnloses. Er teilt den freilich allgemein verbreiteten Irrtum, dafs der Zufall die Bewegung der Atome bestimme, ohne zu- berücksichtigen, dafs nach der atomistischen Lehre, nachdem einmal eine bestimmte Position der Atome die eine zufallige heifsen kann gegeben war, alle andern Lagen durch notwendige Gesetze der Bewegung bedingt sind. Er versteht daher nicht, dafs gerade die Atomenlehre die Regelmäfsigkeit des Weltgeschehens garantiert und dafs sich Lukrez mit Eecht gegen die Willkür wendet, welche in einer Schöpfung aus nichts oder in einer qualitativen Verwandlung der Stoffe liegt. Ebenso verständ- nislos steht er vor dem Grundgedanken der Korpuskulartheorie, neu auftretende Eigenschaften von Körpern aus einer Lage- veränderung der Atome zu erklären. „Sind wohl gar in Eisen oder Kiesel Atome (des Feuers) verborgen? Wer hat sie dort eingeschlossen? Warum springen sie nicht von selbst hervor?" Diese Fragen, sowie seine Ratlosigkeit bei der Erklärung der Wirkung des Brennglases, zeigen in einleuchtender Weise die Unfähigkeit des Lactantius, das Wesen einer physikalischen Erklärung auch nur zu ahnen, und sie zeigen zugleich wieder, wie fem seiner Zeit das Bedürfnis einer solchen lag. Man braucht auf seine schwachen Einwände nicht weiter einzugehen; einem Zeitalter, das überhaupt wieder physikalischer Erklärungs- weise zugänglich wurde, konnten sie nicht gefilhrlich werden; Gassendi hat sich der leichten Mühe unterzogen, sie ausführlich einzeln zu widerlegen.^

Es bleibt auch bei Laotantiüs als wirksamer Einwand nur das metaphysische Literesse, welches sich gegen die mate- rialistische Weltanschauung überhaupt richtet. Hierbei ver- folgt er denselben Gedankengang wie Eüsebiüs: Die Zweck- mälisigkeit der Welt ist nur aus der Weisheit des Schöpfers zu erklären. Dieser Grundgedanke christlicher Weltbetrachtung kann durch spezielle physikalische Ausführungen nicht berührt

^ Änimadv. 3. Ed. Lugd. 1675. I, p. 107. ~ Syntagma phüosophicum. Opera omrna. Florent. 1727. I., p. 239 u. a.

26 Augustinus: Dbmokbit und Epikue.

werden; er steht der antiken Atomistik unversöhnlich gegen- über und wurzelt im theologischen Interesse. Aber gerade dieser Grundgedanke mufste bewirken, dafs man jede Atomen- lehre als eine dem Christentum feindliche und verwerfliche Meinung betrachtete und sie überhaupt nicht in den Kreis des Erwägenswerten einschlofs.

4. Augnstinos.

Hören wir noch das Urteil des Augustinus. „Es wäre mir besser, ** ruft er aus,^ ^ich hätte den Namen des Demokrit nie vernommen, als dafs ich mit Schmerz denken mufs, es sei einmal seiner Zeit irgend ein Mensch für grofs gehalten worden, der da glaubte, die Q-ötter wären Bilder, welche von festen Körpern fliefsen, ohne selbst fest zu sein. Diese Büder sollten mit Eigenbewegung überall umherschweifen und durch ihr Eindringen in die Seele des Menschen bewirken, dafs eine göttliche Macht gedacht wird, indem man in der That jenen Körper, von welchem das Bild herfliefst, für um so vorzüg- licher hält, je fester er ist. Denn nach jener Ansicht soll es überhaupt kein Denken geben als dadurch, dafs von den Kör- pern, welche wir denken, Bilder in unsre Seele gelangen. Als ob nicht diejenigen, welche derartige Weisheit aussannen, selbst unzählige Male auch Unkörperliches gedacht haben, wie z. B. die Weisheit und Wahrheit selbst; denn wenn sie solche nicht dachten, so möchte ich nur wissen, wie sie davon reden konnten ; wenn sie aber sie dachten, von welchen Körpern sollen dann die Bilder der Weisheit in ihren Geist gekommen sein?** „Allerdings soll Demokrit in Fragen der Naturwissenschaft auch darin von Epikur abweichen, dafs er dem Zusammenströmen der Atome eine gewisse lebendige und geistige Kraft für inne- wohnend hält. Epikur dagegen setzt im Beginne der Dinge nichts andres als die Atome, d. h. gewisse so kleine Körper- chen (corpuscula minuta), dafs sie weder geteilt noch durch Sehen oder Tasten sinnlich wahrgenommen werden können.

* Epistola ad Dioscorum, (Ep. 118, alias 56.) Op. Tom. II p. 248 flf., besonders 257 f. Auch in Ep. ad Nehridiumy (Ep. 3, al. 151), p. 4, wendet sich A. gegen die Atome und verteidigt die Teilbarkeit des Körpers ins Unendliche.

Augustinus: G^gen den Ausfiufs der Bilder. 27

Durch den zuftLlligen Zusammenstofs dieser Korpuskeln seien sowohl unzählige Welten als die lebenden Wesen und die Seelen selbst geworden, sowie auch die Götter, welche er in menschlicher Gestalt nicht in irgend eine Welt, sondern auTser- halb der Welten zwischen dieselben versetzt. Etwas anderes aber als Körper kann nach ihm überhaupt nicht gedacht werden. Damit wir diese denken, fliefsen, wie er sagt, Bilder von den Dingen selbst, welche nach seiner Ansicht aus Atomen gestaltet sind, hervor und dringen in die Seele ein; sie sind noch feiner als diejenigen, welche zu den Augen gelangen; denn auch das Sehen beruht auf Bildern."

Diese Theorie sei offenbar selbst vom Standpunkte ihrer Erfinder aus nicht haltbar; „denn wie können so grofse Bilder in den so kleinen Körper gelangen, und wie können sie die so kleine Seele berühren, zumal dies gleichzeitig geschehen müTste, da wir ja so vieles auf einmal zu denken vermögen." Sollte indes Dbmokrit die Seele für unkörperlich gehalten haben, so würde dieser Einwand nur den Epikur treffen; aber warum bemerkte auch jener nicht, dafs flir eine unkörperliche Seele die Annahme vom Herbeikommen und Berühren körperlicher Bilder zur Erklärung des Denkens weder nötig noch möglich sei? In Bezug auf das Sehen der Augen sind jedenfalls beide in gleicher Weise zu widerlegen; denn die so grofsen Körper der Bilder können auf keine Weise in ihrer Gesamtheit das so kleine Auge berühren." Den Einwand, dafs man doch nur ein Bild des Körpers sehe, während deren unzählige vom Körper ausgehen, suchen sie sagt Augustinus durch die Er- klärung zu beseitigen, dafs durch das unausgesetzte häufige Herabströmen der Bilder gewissermafsen eine Verdichtung derselben einträte, so dafs man sie nur als ein einziges sähe.

„Alle diese nichtigen Sätze hat schon Cicero damit zurück- gewiesen, dafs er an und für sich die Unmöglichkeit behauptete, unter den Voraussetzungen der Atomisten einen ewigen Gott zu denken." Denn entweder würde ein Gott, von dem fort- während körperliche Ausflüsse ausgehen, nicht ewig bestehen können, oder, falls man annimmt, dafs die abfliefsenden Atome stets durch neue ersetzt werden, so würde man auf diese Art beweisen können, dafs alle Dinge ewig seien, weil es ja an der Unendlichkeit sich ersetzender Atome niemals fehle.

28 AvousTiKua: Unerkennbarkeit der Atome.

„Das Schmerzlichste bei all jenen Faseleien liegt darin, dafs nicht der blofse Bericht darüber schon genügt, sie ohne jeden Widerspruch zu einem Gegenstande des Absehens zu machen. Vielmehr haben sich höchst geistreiche Männer der Mühe unterzogen, Dinge weitläufig zurückzuweisen, deren blofse Erwähnung auch für den Stumpfsinnigsten hinreichen müfste, sie mit Hohnlachen zu verwerfen. Denn wenn man einmal zugibt, dafs Atome existieren, wenn man zugibt, dafs sie sich in zufälligem Zusammentreffen stofsen und treiben, so muls man schliefslich auch zugeben, dafs die untereinander zufällig sich treffenden Atome irgend ein Ding so beeinflussen, dafs sie es seinem Wesen nach bestimmen, seiner Gestalt nach begrenzen, seine Oberfläche abschleifen, es mit Farbe schmücken und mit einer Seele beleben. Aber alles dies kann doch lediglich durch die Kunst der göttlichen Vorsehung geschehen, wie jeder be- greift, der lieber mit dem geistigen als mit dem leiblichen Auge sieht.'' „Dafs übrigens die Atome keineswegs zuzugestehen * sind, kann, ohne auf die Spitzfindigkeiten, die über die Teilung der Körper traditionell sind, einzugehen, leicht aus der eigenen Lehre der Atomisten erwiesen werden. Denn zweifellos be- haupten sie, dafs alles, was zur Natur gehört, nur Körper und das Leere sowie deren Accidentien sind, worunter sie, wie ich glaube, Bewegung und Stofs nnd konsequenterweise die For- men verstehen. Nun mögen sie angeben, in welches Genus sie die Bilder (imagines) setzen, die nach ihrer Meinung von den festen Körpern ausgehen und selbst keineswegs fest sind, so dafs sie, falls wir sie nicht durch Berührung mittels der Augen sehen oder der Seele denken, nicht wahrgenommen werden können, wenn sie auch selbst Körper sind. Denn dies halten sie für notwendig, damit sie von den Körpern ausgehen und zu den Augen oder selbst zur Seele gelangen können, die sie nichtsdestoweniger für körperlich erklären. Nun frage ich» ob auch von den Atomen selbst Bilder ausgehen. Wenn dies der Fall ist, wie können das noch Atome sein, von denen andere Körper sich abtrennen? Wenn nicht, so kann entweder etwas ohne Vermittelung durch Bilder gedacht werden, was sie lebhaft bestreiten, oder woher kennen sie dann die Atome, die sie gar nicht denken konnten? Doch ich schäme mich schon das zu widerlegen, was sie sich nicht gescheut haben,

Verachtung der Atomistik. 29

selbst zu denken. Da man aber sogar gewagt hat, derartiges zu verteidigen, so schäme ich mich nicht ihrer, sondern des Menschengeschlechts selbst, dessen Ohren dies vertragen konnten.'^

Die Ausführungen des Augustinus schliefsen sich an Cicero^ an. Sie ergänzen die Meinungsäufserungen des Diontsius und Lactantius über die Atome, indem sie auch die Wahmehmungs- und Erkenntnistheorie der Atomiker bekämpfen. Sie sind zu- gleich das Scharfsinnigste, was gegen die Atome gesagt ist; indem Augustinus die innere Konsequenz der Atomistik zugibt, bestreitet er die Unmöglichkeit der Atome mit Berufung auf die Unmöglichkeit, sie wahrzunehmen oder zu denken. Aber diese Widerlegung geschieht nur mit Wider wiUen; für den Christen wäre sie nicht nötig ; lieber möchte er diesen Schmutz gar nicht erst anrühren, jedoch läfst er sich herab, ihn zu entfernen, um zu zeigen, dafs auch dies ihm ein Leichtes sei.

Das Bild, welches das Studium der Atomistik in der patristischen Zeit darbietet, dürfte hiermit zur Genüge vervoll- ständigt sein. Die ausreichende historische Übermittelung und die thatsächliche Kenntnis der Atomistik stärkt nur die Ab- wendung von derselben. Je mehr die Macht der christlichen Lehre fortschreitet, um so mehr schwindet mit dem Literesse an den kosmischen und physikalischen Problemen das Ver- ständnis für eine kausale Erklärungsweise. Das Wunder reicht überall aus; es ist geschehen in der Weltschöpfung, es ist vollzogen durch das Leben des Heilandes, es wird erlebt all- täglich in der Seele des Christen, die durch die Gnade Gottes sich erlöst fühlt. Was also sollen die Bemühungen, äufserliche Erklärungen für die Wunder der Natur aufzufinden? Das über- lasse man den Heiden!

So lange der Mangel an physikalischem Literesse andauerte, war von vornherein für die Atomistik nichts zu hoffen. Aber die autoritative Macht der Kirchenlehrer sollte noch weit in die Zeiten hineinwirken, in welchen eine selbständige Wissenschaft sich wieder zu regen begann. Dir Verdammungsurteil verhin- derte einerseits die Beschäftigung mit korpuskularen Vorstel- lungen überhaupt und erschwerte sie anderseits für diejenigen.

* Hier namentlich De natura deorumy 1. I, c. 18, 19, 24, 25, 38, 39, 43.

30 Vemachläsngung der Atomistik.

welche sich zu derartigen Annahmen hingedrängt sahen. Ver- boten doch noch im Jahre 1245 die Dominikaner in ihrem Orden das Studium der Physik,^ obwohl sie die Notwendigkeit philosophisch-dialektischer Bildung anerkannten.^

So erklärt sich zunächst, dafs diejenigen Quellen der alten Atomistik, welche in ausführlicher Weise dieselbe darstellen oder gar verteidigen, wie Lucbetius' und Diooenes LAfiaiius, faUs sie überhaupt bekannt waren, doch der Beachtung für nicht würdig gehalten wurden. Vom siebenten bis zum zwölften Jahrhundert beschränkt sich die naturphilosophische Kenntnis im wesentlichen auf dürftige Überreste von Überlieferungen der alten Physik, welche die platonisch-aristotelische Elementen- lehre zur Grundlage hatten. Die neuplatonische Philosophie, welche dem Denkbedürfnis jener Zeiten am nächsten stand, gab, wie schon erwähnt, zur Erörterung von Fragen in wirk- lich physikalischem Sinne keine Veranlassung. Wo aber in zugänglichen Schriften der Alten, wie namentlich bei Cicero, der Atomistik Erwähnung gethan wurde, so geschah dies im polemischen Sinne und konnte nur das durch die Kirchen- väter genährte Vorurteil unterstützen. Trotzdem finden wir bei den beginnenden Versuchen, im Anschlufs an platonische Lehren zu einem eigenen Verständnis des Wesens der Körper zu kommen, eine Beihe von Qedankenentwickelungen, welche in der Geschichte der Korpuskulartheorie nicht übergangen zu werden verdienen.

^ „Non studeant in libris pbysiois.^ Wachsmuth, Europäische SUten" geschickte. Leipz. 1834. in. Bd. 1. T. S. 307.

' V. EiCKEN, a. a. 0. S. 593.

' Das Lehrgedicht des Lükbez findet sich in dem Katalog der Schriften des Klosters Bobbio im 10. Jahrhundert. Joürdain, a. a. 0. S. 269.

IsiDOBüs Über die Atome. 31

Zweiter Abschnitt.

Die Korpuskulartheorie im Mittelalter vor dem Bekanntwerden der physikalischen Schriften

des Aristoteles im Abendlande.

1. Der Oebranch des Wortes „Atom'^

Die Selbständigkeit des philosophischen Denkens hatte im siebenten und achten Jahrhundert ihren tiefsten Stand erreicht. Die Erinnerung an die Atome der Alten ist auf einige dürftige Notizen zusammengeschrumpft. Isidobüs Hispalensis (f 636) und Beda, genannt Yenerabilis (f 735) umfassen in ihren Schriften die ganze wissenschaftliche Bildimg ihrer Zeit.

Was IsiPOBUS über die Materie und die Elemente überliefert, ist unerheblich. Dagegen ist nicht ohne Interesse das kurze Kapitel seiner Etymologiae, in welchem er eine Zusammen- stellung dessen gibt, was man zu seiner Zeit über die Atome wufste, d. h. diejenigen Bedeutungen, welche man dem Wort Atomus beilegte.^ Demnach unterscheidet Isidob das Atom im

^ Sanoti Isidori HispalenBis episcopi Opera omnia. Ed. Mione. Paris 1850. T. m. p. 472, 473. Etymologiarum lib. XIII. De mundo et partibuB. Cap. 2. De atomis. 1. Atomos philosopbi vocant quasdam in mundo corporum partes tarn minutissimas, ut nee visui pareant, nee rofiijy, id est, seotionem reoipiant, unde et äiofioi dicti sunt. Hi per inane totius mundi irrequietis motibus volitare, et huc atque illuc ferri dicuntur, sicut tenuissimi pulveres, qui infusis per fenestras radiis solis videntur, ex üs arbores et herbas, et fruges omnes oriri, et ex üs ignem et aquam et universa gigni, atque constare quidam philosophi gentium putaverunt. 2. Sunt autem atomi, aut in corpore, aut in tempore, aut in numero, (aut in littera). In corpore, ut lapis. Dividis eum in partes, et partes ipsas dividas in grana, veluti sunt arenae, rursumque ipsa arenae grana divide in minutissimum pulverem, donec, si possis, pervenias ad aliquam minutiam, quae jam non sit, quae dividi vel secari possit. Haec est atomus in corporibus. 3. In tempore vero sie intelligitur atomus : annum, verbi gratia, dividis in menses, menses in dies, dies in boras ; adhuc partes horarum admittunt divi- nonem, quousque venias ad tantum temporis punctum, et quamdam momenti stillam, ut per nullam morulam produci possit, et ideo dividi jam non potest.

32 IsiDORus über die Atome.

Körper, in der Zeit, in der Zahl und in der Sprache, indem er darunter den kleinsten nicht mehr teilbaren Abschnitt des betreffenden Dinges versteht.

Von den Atomen im allgemeinen sagt er, vermutlich in Beziehung auf Luerez, den er auch an andern Stellen citiert: „Die Philosophen nennen Atome in der Körperwelt gewisse so auTserordentlich kleine Teile, dafs sie weder dem Anblick zugängHch sind, noch eine Zerschneidung erleiden können. Die- selben sollen in ruheloser Bewegung durch das Leere der ge- samten Welt fliegen und hier und dahin getragen werden, gleich den Sonnenstäubchen, so dafs aus ihnen alle Bäume, Kräuter und Früchte entspriefsen, auch Feuer, Wasser und alle Dinge aus ihnen werden und bestehen, wie einige Philosophen unter den Heiden geglaubt haben."

Die Atome der Körper erläutert er dadurch, dafs es eine Grenze der Teilung gebe. Man kann einen Körper, etwa einen Stein, in Teile zerlegen, die Teile selbst in Kömer, wie z. B. die Sandkörner, die Sandkörner selbst lassen sich wiederum teilen bis zu dem feinsten Staube, bis man endUch wenn möglich zu irgend einem kleinsten Teilchen kommen wird, welches nun nicht mehr geteilt oder zerlegt werden kann. Dies ist das Atom in den Körpern.

In der Zeit nennt er Atom den kürzesten, nicht mehr teil- baren Moment, in der Zahl die Einheit, in der Sprache den Buchstaben. „Ein Atom ist demnach, was nicht mehr geteilt werden kann, wie der Punkt in der Geometrie." Daher der aus dem Griechischen stammende Name.

IsiDORUs hält sich also einfach an die Wortbedeutung und nimmt keinerlei Anstofs, sowohl im Körper als in der Zeit un- teilbare Partikeln als Grenzen der Teilbarkeit anzugeben. Sein Interesse ist allerdings hier nur das, eine sprachliche Analogie auf verschiedenen Gebieten durchzuführen. Die Weltentstehung aus Atomen, welche die heidnischen Philosophen angeblich lehrten^

Haec est atomns temporis. 4. In numeris, nt pata octo dividantur in quataor, rursum quataor in duo, deinde duo in unom. Unus autem atomus est, quia insecabilis est. Sic et in littera; nam orationem dividis in verba, verba autem in syllabas, syllabam autem in litteras. Littera pars minima atomus est, nee dividi potest. Atomus ergo est, quod dividi non potest, ut punctus in Geometria Nam TOfiij Graece Sectio dicitur, ärofiog indivisio.

IsiDOBüs Über £fikü&. Bbda. 33

gibt er nicht blofs mit der nötigen Beserve, sondern er fugt an andrer Stelle, wo er auf Epieur zu sprechen kommt, fol- gende kräftige Bemerkungen hinzu. „Die Epikureer haben ihren Namen von einem gewissen Philosophen Epiourus, einem Verehrer der Eitelkeit, nicht der "Weisheit, den sogar die alten Philosophen selbst ein Schwein nannten; er wälzt sich gleich- sam im Kote des Fleisches, er nennt die Lust des Körpers das höchste Gut ; auch hat er behauptet, dafs die Welt nicht durch göttliche Vorsehung geschaffen oder geleitet sei ; vielmehr schreibt er den Ursprung der Dinge den Atomen zu, d. h. unteilbaren und festen Körpern, durch deren zufallige Zusammenstöise alles entsteht und entstanden ist. Sie behaupten aber, dafs Gott nicht wirke, dals alles aus Körpern bestehe, dafs die Seele nichts andres sei als ein Körper.^ ^

Das ist das Wamungsschild, welches Isidob der blofsen Erwähnung der Atomenlehre beigibt. Es dürfte seine Wir- kung nicht verfehlt haben. Mehr und mehr schwindet das Verständnis für die Physik der Alten.

Bbda beschränkt sich in seiner Schrift De natura rerum ebenfalls auf die Anführung der Lehre von den vier Elementen. In seiner kleinen Abhandlung De divisionüms temporum ent- nimmt er dem IsinoR einige seiner Angaben über die Atome. „Atome nennen die Philosophen gewisse in der Welt vorhan- dene so äufserst kleine Teile, dafs sie der Sichtbarkeit sich entziehen und der Zerlegung nicht fähig sind; sie werden gleich den Sonnenstäubchen hierhin und dahin getragen."*

Hier ist die Bemerkung fortgelassen, dafs die Atome sich im Leeren bewegen. Wer mochte sich auch darum kümmern,

» Lib. Vm. c. 6. §. 16, 16.

' Venerabilis Bbdab Opera. 8 Bde. Fol. Colon. Agripp. 1688. De d%v%8Uh nibua temporum Über. Tom. I. p. 90. Isidobüs diffinivit dicens: atomos phüosophi dicunt quasdam in mundo partes minutiBsimas, ut visui facile non pateant, nee sectionem recipiant : huc illucque ferantor sicut tenuissimi pulveres, qai infdsi per fenestras radiis Solls fugantur. Discipulus: Quot sunt genera atomorum? Magister: Quinque. D. Quae? M. Atomus in corpore, atomus in Sole, atomus in oratione, atomus in numero, atomus in tempore. D. Atomus in corpore quomodo est? M. Quicquid minimum in corporibus, quod secari aut dividi non potett, atomus didtur, veluti sunt minutissima grana arenarum: ut capillus dixit, Findere me null! possunt, praecidere multi. Est enim pilus in corpore, qui per longum vix dividi potest.

Lafiwitz. 3

34 Bbda. Arten der Atome. Zeitteilung.

was der verruchte Heide Epieub gelehrt? Der Klosterschüler brauchte keine Hiaweisung mehr auf das grofsartige System der alten Atomistik, auf die philosophische Verwertung der Atome zur Welterklärung, wovon doch IsmoR noch einige Worte zu sagen wuTste. Dagegen gefällt sich Beda darin, die Arten der Atome durch mechanische Einteilung um eine zu vermehren und das Zeitatom zahlenmäüsig abzugrenzen.

„Wieviel Arten Atome gibt es?" fragt der Schüler. Darauf antwortet der Lehrer: „Fünf." „Welche sind es?" „Das Atom im Körper, in der Sonne, in der Bede, in der Zahl und in der Zeit." Körperatom heifst dasjenige Kleinste in den Körpern, was nicht zerschnitten oder geteilt werden kann, wie die kleiusten Sandkömchen. Das Atom in der Sonne ist das Sonnenstäubchen, in der Sprache der Buchstabe^ in der Zahl die Einheit.

In der Zeitteilung speziell bezeichnet „Atomus" den 564. Teil eines Moments, indem man nämlich das Moment in 12 Teile,, und jeden derselben in 47 Atome teilt. Vier Momente sind gleich einer Minute und zehn Minuten gleich einer Stunde. Sechs Stunden machen einen Quadranten und vier Quadranten einen Tag. Die Stunde selbst zerfallt als hora Lunae in 5 puncti, von welchen jeder gleich 2 Minuten ist, dagegen als hora Solls in 4 puncti zu je 2Vs Minuten, so dafs in jedem Falle die Stunde 10 Minuten enthält. Es ergibt sich demnach folgende Zeitteilung nach Beda:^

1 hora = /e ^^"* .. x^ * . «' "^^ >=10iiiinuta=40momenta=22560atomi. V o puncti Lunae a 2 mmuta )

^ In der mir vorliegenden Ausgabe Colon. Agripp. 1688 lautet die Stelle T. I p. 89. {De divisionibus temporum Über.) Quingenti sexaginta quatuor atomi unum momentum efficiunt. Quatuor momenta unum minutum faoiunt. Decem minuta unum punctum. Quinque puncti in Luna boram fitdunt. Sex borae quadrantem. Quatuor quadrantes unum diem. Ein Vergleicb mit dem Abscbnitt „De minuto" (p. 90, 91) und den Glossen zu dem Bucbe ,,De ratione temporum*', Tom. 11 p. 46 f., zeigt, dafs statt decem minuta zu lesen ist duo minuta. Mit diesen Angaben stimmt überein Papias in Du Gange, Glossar,:

1 bora = 5 puncti = 15 partes = 40 momenta = 60 ostenta = 22560 atomi, und cod. lat. monac. 14836. fol. 77^—78' nacb Frikdt.btn, Die Zahlreichen und das elementare Bechnen dtr Griechen und BQmer etc. Erlangen 1869, S. 61,. wonacb :

Atomus als Element der Ehythmik. 36

Der Gebrauch des Wortes „Atomus" für den kleinsten Teil der Zeitmessung dürfte aus der Musik, resp. aus der Rhythmik stammen. Abistoxenüs bezeichnete die kleinste Maüseinheit des Taktes, aus welcher sich der B>hythmus aufbaut, mit XQ^vog nqäToq, wofür Spätere den Terminus (ffjfieioy setzten. Der Xfovog nqävoq ist eine meDsbare, keine unbestimmte Zeit, auch keine unendlich kleine Zeit, welche aber als unteilbares, letztes Element der Rhythmik und Metrik betrachtet wird. Ihre absolute Groüse ist jedoch nicht feststehend, sondern hängt, wie z. B. die Länge einer Achtelnote in der modernen Musik, von dem Tempo (dYwyii) ab, in welchem das Stück genommen wird.* Abistddbs Qüinotilianus nennt diese Zeit unteilbar (Sfofioq),* weil sie die kürzeste Zeit in Bezug auf unsre Wahrnehmung ist. Von diesem übernahm Marcianus Oapblla* die Angabe: „Primum igitur tempus est, quod in morem atomi nee partes nee momenta recisionis admittit, ut est in geometricis punctum, in arithmeticis monas, id est singularis quaedam ac se ipsa natura contenta .... Atque hoc erit brevissimum tem- pus, quod insecabile memoravi.^ Eier ist aus dem als Ganzes (uToftoO zu fassenden Taktteil bereits eine wirklich unteilbare Zeitgröüse geworden. Margianüs Capella war durch sein Buch über die sieben freien Künste der Lehrer des firüheren Mittel- alters. Von ihm haben offenbar Spätere seine Bezeichnung des kleinsten (nämlich in der Musik gebräuchlichen) Zeitteils übernommen. Aber bei Beda hat das Element des Taktes als Atomus auch eine absolute Gröfse erhalten, indem es als ein bestimmter Teil der Stunde definiert wird. Woher gerade die

1 hora = 5 poncti = 10 minuta = 15 partes = 40 momenta = 60 ostenta

= 480 unciae = 22560 atomi.

S. Günther gibt (Studien S. 244) nach einem Codex der Münohener Hof- und Staatabibl. (N. 7021) ans d. 14. Jbdt. 1 Uncia = 7 Atomi an, wofür ▼ermutlicb 47 zu lesen sein wird.

^ Aristoxenüs bei Pobphyrius ad Ptolem. harmon, p. 255, 256. Vgl. Wbstphal, System der antiken Bhythmiky Breslau 1865, S. 3. S. 117 f. * * lltgl fiownxijg, 1, 14. Ed. Jahn, 1882. p. 21. n^rog fi^y ovv im* /^öyo?

aro/Aog xal Hd^Knog, og xal ipjfifTov xakihat . . . ilax^mov di xaltä vor log tiqoc 'fiäg, 8g Im* n^xog xarak^jTnog atc&ijait,

' De nupiUa Philologiae et Mercurii et de Septem artHnis UbertUtbus libri navem. üb. IX. § 971. Ed. Kopp. Francof. ad Moen. 1836. p. 754.

3*

36 Atomus als Zeitmafs. Im Sprachgebrauch.

Einteilung des Momentums in 12 mal 47 Atome stammt| weüa ich nicht zn sagen. Dieselbe Einteilnng wie die Zeit eines Tages erfährt auch der Sonnenkreis des Jahres, der Zodiaoiu, und Bbda sagt, dafs namentlich die Astrologen (mathematioi) hier bis zum Atom zu kommen streben, um den Augenblick der Geburt eines Menschen mit möglichster Genauigkeit sa bestimmen. Auch den Gebrauch des Wortes bei den Ghram- matikem in der Einteilung des Rhythmus erwähnt er. Im übrigen aber ist zu bemerken, dals, wenn auch die Becheu kundigen notgedrungen so feine unterschiede machen, doch die Mehr- zahl der Schriftsteller unterschiedslos den kürzesten Zeitraum bald Moment, bald Punkt, bald Atom nennen.^

Das Wort Atom geht mehr und mehr in den allgemeinen Sprachgebrauch über, um irgend ein Kleinstes, nicht weiter Teilbares zu bezeichnen. Wie der Musiker und der Astrologe Ton Atomen sprach, wie der Grammatiker den einzelnen Laut ein Atom nannte,^ so benutzte man diesen Ausdruck allgemein, um einen Augenblick, ein Sandkorn, ein Stäubchen, irgend ein möglichst Geringes anzuzeigen. An eine philosophische Theorie wird dabei nicht mehr gedacht, das Wort hat seine metaphy- sische Bedeutung verloren und ist von den modernen Sprachen in eigenem Sinne aufgenommen.' Der Name der Atome wird um so populärer, je mehr die Erinnerung an den ursprünglichen Terminus schwindet.

Auch Babanus Maurus, der 856 als Erzbischof von Mainz starb, gebraucht das Wort Atom unbedenklich, ohne dabei eine Vertretung der atomistischen Theorien im Sinne zu haben, indem er fast wörtlich über die Atome das wiederholt, was Beda darüber gesagt hat.* Der Vergleich mit Isidorus zeigt,

* Bbda, a. a. 0. Op. II, p. 46.

^ Sbrgiüs, De Uttcra etc. ed. Keil. IV, p. 475. Littera sola non lukbet, quo solvatur. ideo a philosophis atomos dicitur.

'Im Italienischen ward es eu attimo = Augenblick, atomo = Sonnen- stäubchen.

^ Magnentii HaABAin Mauri Opera a Jac. Pamelio coUecta. Colon. Agrip- pinao 16l>6. Fol. Tom. I. p. 145. De universo hb. IX. c. 1. (De atoinia.) Einen Artikel gegen die Atome hat auch das berühmte Sammelwerk des VnroEKZ yoM Hbaüvais (t 1264), B. Speculi mojoris Vincentii Burgundi Pracsulis Bdvacenais, Venet 1591, T. I. f. 14»' (1. II, c. 2V

Rabanub Maübus. Sootüs Ebiqbna. 37

wie in den beiden folgenden Jahrhunderten die wissenschaft- liche Auffassung sich noch mehr eingeschränkt hat und durch pedantische Plattheit ersetzt wurde.

2. Scotos Erigenas Lehre vom Körper.

Die glänzendste Frucht des Neuplatonismus bot dem Mittel- alter Johannes Scotus Erigbna^ (f um 877) in seiner Theo- phanie. Auch die Theorie der Materie vermag, nach einer bestimmten Bichtung hin, aus den ausfohrlichen Darlegungen dieses gewissenhaften Denkers eine dauernde Weisung zu ziehen. Zwar ist ihm, dem strengen Idealisten, der sinnenmälsige Körper die unterste, wertloseste Stufe des Erfahrbaren, ein Nichtseien- des im Sinne der Theophanie; aber die Konsequenz seines Denkens zwingt ihn, auch die Möglichkeit des Daseins der Körperwelt zu untersuchen; und die Begriffe, welche er hierbei entwickelt, sind derart, dafs sie vom Boden des rationalen Bealismus, auf dem sie erwachsen sind, sich lösen lassen und einen bleibenden Wert for die Analyse des Körperlichen ge- winnen, indem sie von einer der Atomistik entgegengesetzten Abstraktion ausgehen.

Mit Übersetzung der Schriften beauftragt, welche man dem DiONTSiüS Areopagita zuschrieb, schlols er sich an die dort niedergelegten, wahrscheinlich aus dem Ende des fiinften Jahrhunderts stammenden neuplatonischen Lehren der Haupt- sache nach an, indem er die christliche Heilswahrheit mit Hilfe der Emanationstheorie zu begründen versuchte. Sein Interesse ist theologisch, wie das der ganzen scholastischen Zeit, deren erster kräftiger Denker er ist: alle Philosophie mufs beginnen mit dem Glauben an die geoffenbarte Wahrheit.

Die Welt ist für Erioena ein AusfluXs der göttlichen Güte, ein Sichtbarwerden Gottes, dessen ewiges und undenkbares Sein sich dem Verstände und den Sinnen offenbart, indem es als die Erscheinung der natürlichen Körper und die Mannig- faltigkeit ihrer Wirkungen in unsrem Bewulstsein auftritt. Vom Allgemeinen zum Besonderen steigt die Weltbildung

^ Sein Hauptwerk De dimsione naturtu Libri quinque ciüere ich nacli der Ausgabe Ozodü, 1681, Fol. Vgl. die Übersetzung von Noacx, Berlin 1870.

88 EmioBKA: Realiamoi der Begriffe.

herab, so dafs aus Gott, der obersten Einheit, erst die allge- meinste Gattung, die Wesenheit, dann nach und nach immer engere Gattungen, schliefslich die Arten, Individuen und Atome hervorgehen. Unter „Atomen" sind dabei nicht etwa Körper, sondern nur die „einzelsten", nicht weiter teilbaren Arten, Einzelwesen zu verstehen.^ Die allgemeinsten Begriffe werden ebenso wie die speziellsten, welche aus ihnen durch Hinzutreten immer neuer Merkmale sich bilden, als real existierende Wesen gedacht, wie in der traditionellen Auffassung die platonischen Ideen; sie existieren als Entfaltungen Gottes. Alle Begriffe werden hypostasiert, und zwar so, dafs in jedem Individuum auch die allgemeineren Begriffe, welche es bestimmen, die Gattungen, denen es zugehört, wesentlich subsistieren. Dadurch können sie an der Wesenheit, der allgemeinsten Gattung, teil- haben. Diese Lehre ist also rationalistischer Idealismus, denn es existiert nichts, als der Gedanke, insofern er reiner Begriff ist; und sie ist zugleich extremer Bealismus im spä- teren scholastischen Sinne, denn die Einzeldinge bestehen nur, insofern ihre allgemeineren Begriffe vor ihnen existieren.

In der „Einteilung der Natur" bildet die sinnliche Welt diejenige Art der Natur, welche geschaffen wird, aber selbst nicht schafft. Sie hat keine bleibenden Wirkungen und ist vergänglich, insofern sie Gegenstand der sinnlichen Wahr- nehmung ist. Die Gattungen, Arten und Atome (Individuen) dagegen, deren Zusanmientreten die Körper bedingen, haben als intelligible Wesen ewigen Bestand; alles ünkörperliche ist unvergänglich in der ewigen Wahrheit Gottes.

Erigbna untersucht, welche Kategorien von Gott ausgesagt werden können. Bei der Besprechung der Kategorien, welche

^ I, 26. I, 34. In dem Kommentar des Erioena eu Marcianüs Cafella heifst es: „Genus est multamm formarom substanüalis onitas. Seoundom quosdam sie definitor genas. Sursum est generalissimum genus, ultra quod nuUus intellectus potest ascendere, quod a Graecis dicitur ovoia, nobis essentia. Est enim quaedam essentia, quae comprehendit omnem naturam, cigus partioi- patione consistit omne quod est, et ideo dicitur generalissimum genus. Desoen- dit autem per divisionem, per genera, per species, usque ad specilissimam speciem, quae a Graecis atomos dicitur, hoc est individuum, vel inseoabile, ut unus homo, vel unus bos.** (NoHces et Extrtiits des Man. A. XX, part. n, p. 17.) Nach HAUBiAu, Bist de la phäoa, scolast. I. p. 172.

Erioena: Kategorien und Körper. 39

er noch in Kategorien des Zustandes und der Bewegung trennen will,* wird die Bedeutung der einzelnen Kategorien behandelt, und hierbei kommt es zur Erörterung einer Theorie der Materie. Es fragt sich: Was ist der sinnliche Körper? Der Nationalis- mus E&iOENAs muGs die Frage so stellen: Welche allgemeinen Begriffe müssen zusammentreten, um die Erscheinung des sinn- lichen Körpers zu erzeugen? Welche Kategorien sind am Be- griff des Körpers beteiligt?

Der Körper ist eine Zusammensetzung der vier Elemente Ton bestimmten Qualitäten, unter einer besonderen Art zusam- mengefafst, und besteht aus Stoff und Form. Wasser, Luft und Feuer drehen sich in beständiger Bewegung um die Erde als ihren Mittelpunkt; wie man dies an den sinnenfälligen Kör- pern bemerkt, so bringen auch die Elemente als allgemeine Körper in wechselseitiger Berührung miteinander die beson- deren Körper der einzelnen Dinge zustande, welche wiederum aus ihrer Besonderheit ins Allgemeine zurückkehren. Es sind jedoch nicht Substanzen, sondern nur Accidentien, welche durch ihr Zusammentreten die Körper bilden.* Denn wenn ihrem Stoffe eine einfache, unveränderliche Wesenheit inne- wohnte, so würde er durch keinen Vorgang aufgelöst werden können; da er sich jedoch wirklich auflöst, so steckt nichts Unauflösliches dahinter. Allerdings bleiben die Accidentien selbst, ebenso wie die Einzelarten und Atome (s. o.) immer und unzerstörhch, der Körper aber besteht nur in ihrer Vereinigung, so lange diese dauert. Dies gilt vom sinnlichen Körper, wozu indes die reinen Elemente nicht zu rechnen sind, welche ihrer unsagbaren Feinheit und Beinheit wegen jeden sterblichen Sinn übersteigen. Der Körper hat keinen essentiellen Bestand als Körper, sondern kann ganz und gar in UnkörperUches auf- gelös't werden; er besteht lediglich aus Unkörperlichem.* Alles, was jedem Körper zukommt, wie Wesenheit, Figur, Festigkeit,

* De divis. nat I, 16. p. 12. Des Zustandes: ovaia (essentia, Wesenheit, auch suhstantia), rtoaonjg (quantitas, Gröfse), xf7&og (situs, Lage), Tonog (locus, Ort); der Bewegung: notonjs (qualitas, Eigenschaft), ngos n (ad aliquid, Bezug), 15k (habitus, Verhältnis), xQ^rog (tempus, Zeit), n^nnv (agere, thun), na^tiv (pati, leiden).

« I c. 31, 32. p. 19. M, 60. p. 33.

40 Ekkcxa: Rum. Quatiaft. Oberilieb«.

Lage, Schwere n. 8. w., ist nicht etwas Köiperlichee, sondern etwas Tom Körper ünabhingiges, rein intelligibel. Anch der gestalÜoee Stoff, welcher nnr fär die Vemanft denkbar ist, ist nnkdrperiich; körperlich ist allein der gestaltete Stoff, welcher durch das Zusammentreten der Accidentien sinnlich wamehmbar wird.

Anch der Banm (Ort, locus) ist eine rein geistige (intelli- gible; Begri£bbestimmnng und keineswegs Körper. Et ist nnr der umfang, worin jedes in seinen bestimmten Grenien ein* geschlossen wird.^ Ebensowenig sind die Körper, oder diese sichtbare Welt nnd ihre allgemeinen xmd einzelnen Teile Bftnme. Körper nnd Bäume gehören ganx verschiedenen Gattungen an» Die Körper fallen nicht unter die Kategorie des Baumes, son- dern unter die der Gröfse. Quantität aber ist nichts andres als eine bestimmte Abmessung der Teile, welche entweder durch bloCse Vernunft oder durch natürliche Unterscheidung bestimmt werden, wodurch das auf natürliche Weise nach Länge, Breite und Höhe Ausgedehnte in bestimmten Grensen erscheint. Baum dagegen ist das Begrenzende, die Um- schlielsung der durch eine bestimmte Gbrenze bestimmten Dinge. Körper und Welt sind demnach nicht Baum, sondern sie werden im Baum als in einem bestimmten umfang ihrer Begrensung befaist. So sind auch die vier Elemente nicht Bäume, sondern im Baume umschrieben als die HauptteUe, von welchen die Gesamtheit der sinnlichen Welt erfällt wird.' Die Luft ist ein Körper, nicht aber der Baum.

Ihrer Ausdehnung nach gehören also die Körper unter die Kategorie der Ghröfse, nicht des Baumes; aber auch ihre Ober- fläche (Figur) gehört nicht unter die Kategorie des Baumes (Ortes), ebensowenig unter die der Grölse, sondern unter die- jenige der Qualität.' Dem Lihalte nach gehören natürliche wie geometrische Körper zur Quantität, der Oberfläche nach aber cur Qualität, je nachdem sie eben, dreieckig, viereckige vieleddg, rund oder fest sind. Die Grenzen der Körper sind offenbar nicht körperlich, sondern allein dem Denken Hausbar, rein begrifflich. Die Oberfläche ist der Anfang des festen Kör- pers, aber auch die Festigkeit ist unkörperlich. Was beim Punkt, bei der Linie, der Oberfläche, dem Festen sinnlieh

* I, 29. p. 18. « I. 35. p. 20. » 1, 28. p. 17.

E&igeha: Qualität Wesenheit und Körper. 41

sichtbar ist, sind Fignren unkörperlicher Dinge, nicht aber deren wahre körperlichen Substanzen selbst. Auch bei den natürlichen Körpern, mögen sie nun durch Mischung ihrer eigenen Elemente sinnlicher Art sein, oder sich wegen ihrer Feinheit dem sinnlichen Auge entziehen, lassen sich die Gfrenzen der Natur lediglich mit dem Denken durchschauen.^

Die Kategorien Quantität und Qualität sind den geome- trischen wie den physikalischen (natürlichen) Körpern gemein- schaftlich. Dagegen unterscheiden sich letztere durch den Anteil, welchen die Wesenheit (essentia) an ihrer Bildung nimmt. Zunächst ist festzustellen, dafs kein Körper für sich Essenz besitzt und dalSs die Essenz selbst nichts Körperliches ist. Sie ist vielmehr das für sich selbst bestehende, unvergängliche Einfache, der Körper dagegen, aus Stoff und Form zusammen- gesetzt, ist unbeständig und vergänglich. Die Wesenheit nimmt nicht Länge, Breite und Höhe ein, ist nicht teilbar, nicht hier gröiser, dort kleiner, sondern sie ist immer dieselbe, die aUge- meinste Gattung, eine untrennbare Einheit, allein der Yemunfb zugänglich, also kein Körper.'

Wenn nun auch die Wesenheit für sich kein Körper, der Körper keine Wesenheit ist, so bestehen doch die natürlichen Körper nur dadurch als wirklich, dalSs sie an der Wesenheit Anteil haben. Die Verwechselung von Quantität und Essenz bei den Körpern rührt daher, dafs bei deoi Naturkörpem sich beide nur durch das Denken trennen lassen, sinnlich aber immer vereinigt sind, indem erst ihre Vereinigung die sinn- liche Bealität des Körpers bedingt. Die geometrischen Körper haben keinen AnteU an der Wesenheit, wir betrachten sie nur im Geiste und sie heifsen darum mit Becht blofs vorgestellte Körper ; während dagegen natürliche Körper deshalb für solche gelten, weil sie in ihren natürlichen Wesenheiten bestehen, ohne diese nicht sein können und eben deshalb wirkliche Kör- per sind; denn sonst befänden sie sich nicht unter den natür- lichen Dingen, sondern wären blols mit der Vernunft gedacht. ,iE8 ist somit klar zu verstehen, dafs der Körper etwas anderes ist als Wesenheit, weil ein Körper bald der Wesenheit ent- behrt, bald derselben anhaftet, um etwas Wirkliches zu sein,

M, 44 p. 24. « I, 51. p. 28.

42 Ebioeka: Geometrischer und physischer Körper.

da er ohne die Wesenheit nicht wirklich entstehen könnte, während dagegen die Wesenheit, um zn bestehen, keineswegs eines Körpers bedarf, da sie ja durch sich selbst besteht.***

Jetzt läfst sich die Konstitution des Körpers erkennen. Die zufalligen Bestimmungen (Accidentien) der Quantität (nach Breite, Höhe, Länge) treten mit denjenigen der Qualität zu- sammen und liefern dadurch den Stoff des Körpers, wie er in den Elementen gegeben ist; die Form des Körpers, durch welchen er essentiellen Bestand hat, wird dagegen durch die Wesenheit geliefert.* Die Vereinigung von Wärme und Trocken- heit bildet das Feuer, die Vereinigung von Wärme und Feuchte die Luft, die Vereinigung von Feuchte und Kälte das Wasser, die Vereinigung von Kälte und Trockenheit die Erde. Aber diese Qualitäten für sich machen noch keinen sinnlich wahr- nehmbaren Körper aus ; ein solcher kommt erst dadurch zu- stande, dafs ein neues Accidens aus der Kategorie der Quan- tität, eine Gröfsenbestimmtheit, hinzutritt. Bealität als sin- licher, physikalischer Körper erhält jedoch diese Vereinigung von Qualität und Quantität nicht aus diesen Kategorien, son- dern durch die Beteiligung dieser Kategorien an derjenigen der Wesenheit (Essentia, auch Substanz) ; Eigenschaft und Grölse haben ihren Bestand erst an der Wesenheit. Erst durch die Vereinigung der intelligiblen Begriffe kann das Sinnlich-Räum- liche, was wir Körper nennen, entstehen. Darum besteht die ganze Welt aus Rein-Geistigem und kann sich wieder in dieses ohne Rest auflösen. Zwar die Accidentien selbst bleiben ewig unverändert, aber die sinnliche Welt, in welcher wir leben, ist für uns als Sitmenwesen nur von Bestand, insofern sie an die Wesenheit unsres Geistes als Zustand geknüpft ist. „Wir sind unsre eigene Wesenheit (Substanz), welche lebenskräftig und denkend ist und den Körper und alle Sinne, sowie jede sichtbare Form derselben überragt. Unser ist, ohne dafs er doch wir selber wäre, unser Leib, der an uns haftet, zusammen- gesetzt aus zufälligen Bestimmungen der Gröfse, der Qualität und andren; und dieser ist sinnlich, veränderlich, auflösbar, vergänglich." „Um uns endlich ist alles Sinnenfällige, das uns zu Gebote steht, wie z. B. die vier Grundstoffe dieser Welt

» I, 53. p. 29. NoACK S. 76. * I, 54. p. 30, 31.

Erioena: Unsere Wesenheit. Baum und Zeit als umfassend. 43

d die daraus zusammengesetzten Körper,^ durch die wir acbstum, Nahrung und Leben empfangen.^

DaJGs aber unser Körper mit der ganzen Sinnenwelt räum- h und zeitlich ist, beruht darauf, dals Baum und Zeit die ite Bedingung überhAupt sind, damit eine Wesenheit die im Erschaffenen gehört als solche bestehe und erkannt )rde. Gott allein besteht über dem Sein selber; alles andre rd nur im Raum begriffen, mit welchem die Zeit ein für alle- il zusammenfällt. Raum und Zeit sind nicht för sich, son- m immer nur zusammen denkbar. Dies gründet sich darauf, £3 der Raum die Bedingung des Umfassens, wie die Zeit die- lige des Zugleichs ist und beide Begriffe nicht trennbar id. Daher wird alles Geschaffene nur in und unter dem kum- und Zeitverhältnisse gedacht, d. h. es besteht nur in Od. Gott allein ist unbegrenzt; alles Übrige ist von Raum d Zeit begrenzt, welche vor allem Seienden zu denken sind.*

In diesem Seienden aber steht der zusammengesetzte lysische Körper auf der niedersten Stufe aller "Wesen. Auf Q folgt nichts niederes mehr, darum kann er auch nicht als rsache einer auf ihn folgenden und ihm nicht gleichen Natur ftreten. Denn Ursache kann nur ein höherer Begriff in 3zug auf einen niederen sein. Vergängliche Körper sind nicht rsache irgend welcher Wirkungen, da sie unter allen Naturen m letzten und untersten und fast gar keinen Platz einnehmen.'

Das Denkmittel der Snbstanzialität und der extreme Realismus.

Der erste Versuch im Mittelalter, die überlieferten Reste »3 antiken Denkens zu einer selbständigen Theorie des Kör- )r8 zu verbinden, bietet die passende Veranlassung zu einer Igemeineren Betrachtung.

Die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu erklären bedarf 1 der Erkenntnis gewisser Grundthatsachen von weltbedingen- )m Charakter, gewisser ursprünglicher Gesetze, welche Dasein id Zusammen der Dinge beherrschen, indem sie angeben, in elcher Weise die Verbindung des erfahrungsmäfsig Gegebenen atthabe oder gedacht werden könne. In der Geschichte der

» I, 55. p. 36. * I, 41. p. 22, 23. » II, 31. p. 89. Noack S. 227.

44 Deokmittel mb Einheitibesiehangeii.

Wissenschaft treten hauptsächlich zwei solcher GrondgesetiM der Relation hervor, auf denen die Möglickeit einer Welt- erklarung zu beruhen scheint; es sind die Snbstanzialit&t und die Kausalität Das Nachdenken findet die Dinge einer- seits als einen Komplex von Eigenschaften, welche einen be- harrenden Zusammenhang aufzeigen xmd damit die Identität des Dinges erkennen lassen; es findet sie andrerseits in einer gegenseitigen Beeinflussung, wodurch sie Veränderungen ihres Zustandes erleiden, somit eine Wirkungsfähigkeit besitzen. Die erste Thatsache führt auf den Begriff der Substanz und Inhä- renz, die zweite auf den Begriff der Ursache und Wirkung.

Die Erkenntniskritik entdeckt in diesen Gesetzen der Zn- sammenordnung Verfahrungsweisen des Bewulstseins, durch welche es Einheitsbeziehungen in der Fülle des Erlebnisses herstellt, synthetische Grundsätze, welche Bedingungen zur Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind. Sie erkennt damit die Grenzen, innerhalb deren diese Funktionen des Bewuistseins ausreichen, Erkenntnis zu erzeugen, und weifs, dals sie inner- halb dieser Grenzen der Erfahrung wirkliche Gesetze der Er- scheinungen, Garantien ihrer Objektivität sind. Wir nennen diese Einheitsbeziehungen Denkmittel, nicht im logischen oder psychologischen Sinne, sondern um Verbindungsarten der sinnlichen Data zu objektiven Einheiten zu bezeichnen. Die Erkenntniskritik lehrt, dals die Anwendbarkeit dieser Denk- mittel Grenzen findet und die FüUe des Erlebnisses nicht erschöpft, sondern unter Beihilfe weiterer Denkmittel nur die eine Seite des vollen Gemütslebens in derjenigen systematischen Form darzustellen gestattet, welche Wissen- schaft heilst.

Bevor aber die erkenntniskritische Analyse den Charakter des Seins enthüllte, welcher durch die verschiedenen Einheits- beziehungen des BewuTstseins dem unmittelbaren Erlebnisse zukommt, galten Substanzialität und Kausalität ftbr Gesetze des Seienden ohne Einschränkung.

Das Denkmittel der Substanzialität beherrscht die gesamte Metaphysik, insoweit sie vom Gedankenkreise Piatons abhängig ist; das Denkmittel der Kausalität hat in der modernen Wissenschaft seine Triumphe gefeiert.

Die kausale Erfassung und Erklärung der Erscheinungen

Erkenntnis darch Kaasalität. 45

ermöglicht eine Einsicht in den Zusammenhang und die Ein- wirkung der Einzeldinge, sie erfordert eine bestimmte Wirkung auf eine bestimmte Ursache und gestattet aus dem Eintreffen oder Ausbleiben der erwarteten Wirkung auf die Dichtigkeit der Erklärungsweise zu schliefsen oder die Voraussetzungen zu korrigieren. Demnach eröffnet sie der Erfahrung und ins- besondere dem Experiment jenen Einflufs, welcher die Umwäl- zung der Wissenschaften in der Neuzeit nicht zum wenigsten hervorgerufen hat. Wir sind daher gewohnt, nur in der kau- salen Erklärungsweise das Zeichen einer wissenschaftlichen Behandlung zu sehen. Und in der That führt erst die Er- kenntnis des Kausalzusammenhangs durch die theoretische Be- gründung zu einer praktischen Beherrschung der Natur. Die Theorie vermag ihre innere Wahrheit und Berechtigung nur nachzuweisen, indem sie bis zum einzehien Ereignis herabsteigt und den Einzelverlauf der Erscheinung gesetzlich garantiert, so dals keine Unbestimmtheit über die Wirkung des Allgemeinen mehr statthat. Das Gesetz der allgemeinen Gravitation gälte uns als keine wissenschaftliche Entdeckung, wenn es nur die Bahnen der Planeten als geschlossene Kurven oder die Sich- tung des fallenden Steines nach der Erde hin erschliefsen Uefse ; es hat seine Berechtigung in der Individualisierung, der es zugänglich ist, so dafs die genaue Lage des Weltkörpers zu gegebener Zeit, die Geschwindigkeit des Steines im gegebenen Momente bestimmt werden kann. Inwieweit die Anwendbarkeit der Mathematik hierbei eine Bolle spielt, ist eine andre Frage. Es handelt sich jetzt nur darum zu betonen, dafs allein die Kau- salität als Grundgesetz gestattet, bis in den Einzelverlauf der individuellen Ereignisse zu dringen, imd thatsächliche, beob- achtbare Wirklichkeit im gesetzlichen Zusammenhange erkennen lehrt. Dagegen birgt die kausale Erklärungsweise die Gefahr in sich, dais die Wissenschaft zu sehr im einzelnen sich verliere und den Forscher nur in den individuellen Dingen die Realität suchen läfst. Sie leitet zu einer atomistischen und mechani- schen Weltansicht, bei welcher die Dinge sich äufserlich stolsen und drängen und der innere und allgemeine Zusammen- hang verloren geht. Eine solche atomistisch-mechanische Er- klärungsweise hat aber nur in einzelnen Wissensgebieten ihre Berechtigung, sie ist nicht mehr anwendbar in denjenigen

46 I^ Denkmittel der SabsUnmlitit

Teilen der Erkenntnis, welche in den lebendigen Zusammen- hang der gesamten Gemütskrafte, in das innere Erlebnis der Menschenseele zu dringen verlangt.

Die aolserordentliche Fruchtbarkeit der Kausalität als Denkmittel hat bewirkt, dais es dem modernen Geiste, der an naturwissenschaftliche Methoden gewöhnt ist, schwer wird, die Bedeutung des Denkmittels der Substanzialität richtig za würdigen und zu verstehen, wie dasselbe die erste Epoche der europäischen Wissenschaft im Altertum und im Mittelalter beherr- schen konnte. Das Denkmittel der Substanzialität ist die Einheitsbeziehung, welche darin besteht, dafs . einem Subjekte Prädikate als nähere Bestimmun- gen anhaften und es zu einem wahrnehmbaren, mit Eigenschaften begabten Einzeldinge machen. Es erzeugt die Identität eines Dinges mit sich selbst. Diese Sub- stanziaUtät war es, welche dem wissenschaftlichen Denken zu- erst als ein geeignetes Mittel sich darbot, die Mannigfaltigkeit der Dinge für die Erkenntnis aufzulösen und den analysierenden Verstand zu tieferen Einsichten zu führen. Die Kausalität konnte erst volle Bedeutung gewinnen an und mit der Zer- gliederung der mechanischen Bewegung; diese aber bot der Abstraktion Schwierigkeiten, welche in den ersten zwei Jahr- tausenden des europäischen Denkens nicht überwunden wurden. Die Substanzialität dagegen, der Zusammenhang von Substanz und Accidens, in demjenigen von Subjekt und Prädikat in der Sprache direkt erkennbar, bot der Thätigkeit der Abstraktion ein leichter zu bearbeitendes Feld.

Dieser Marmorblock ist weifs, schwer, hart, spröde, kalt» Das Denken löst die Eigenschaften von dem Dinge und steht dadurch vor zwei neuen Fragen. Was sind die Eigenschaften ohne das Substrat, an dem sie haften? Und was ist das Ding ohne seine Eigenschaften? Was sind WeiUse, Schwere, Härte, Kälte? Sinnliche Quahtäten, welche offenbar nicht notwendig sind für die Existenz des Körpers, denn sie können teilweise auch fehlen; sie sind zufallig. Eines aber mufs dem Körper bleiben, das nicht sinnlich ist, seine Gestalt. Es gibt Gesetze der Körper, welche bestehen bleiben, wenn auch alles Sinnliche ab- gestreift ist. Der Würfel behält sechs Flächen und acht EckeUt die Summe der Winkel im Viereck bleibt gleich vier Bechten,

Psychologisches Denken und objektive Gesetze. 47

mag aucli der Würfel aus Marmor oder Holz bestehen, das Viereck einen Körper von Wachs oder Eisen begrenzen. Zahlen und !Baum stellen Wirklichkeiten vor, die von den sinnlichen Eigenschaften nicht berührt werden. Arithmetik und Geometrie, jene frühzeitigen Früchte des griechischen Geistes, bieten Gegenstände dar, welche eine neue Art des Seins aufweisen, eine Art des Seins, die den sinnlich wahr- nehmbaren Körpern nicht zukommt. So löst sich diese neue Seinsart von der sinnlichen Wirklichkeit ab ; sie ist das Sein im Denken, das Sein des Begriffs. Und während die sinnlichen Eigenschafben in unergründlichem Wechselreichtum unerfafsbar durcheinander sich wirren, erscheinen sie als das Vergängliche, unklare, Unwirkliche; die mathematischen Formen dagegen, Figur und Zahl, lassen sich klar vom Denken erfassen, sie sind nur im Denken, aber eben dadurch ewig, sicher, real. l3as psychologische Denken entdeckt allgemeine Gesetze ; was nach diesen allgemeinen Gesetzen gedacht werden mufs, ist als eine Bealität erkannt imd gesichert, der nicht mehr das blofs sub- jektiv-psychologische Sein, sondern objektive Geltung zukommt.

Soweit Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit wissen- schaftlicher Erkenntnis reicht, soweit haben wir Gesetzlich- keit, soweit ist objektive Bealität gewährleistet. Derartige Ge- setze von allgemeiner Geltung werden zwar mit Hilfe der Erfahrung aufgefunden, aber die Notwendigkeit imd AUgemein- giltigkeit kann ihnen nicht die Erfahrung leihen, sondern sie müssen ihren Ursprung in etwas haben, das der Erfahrung zu Grunde Hegt und daher Apriori heifst. Das ist die Bedeutung des Apriori; es ist der Ausdruck dafiir, dafs es objektive Bealitäten gibt, welche Bedingungen sind für die Möglichkeit der Erfahrung.

Die Entdeckung, dafs alle Bealität in einem Apriori ge- gründet sein mufs, ist die Wurzel der Ideenlehre und der unverlierbare Gedanke, welchen Platon in die Philosophie ein- fahrte. Solche Ejiterien der Gewifsheit, welche nicht aus der Sinnlichkeit begründet werden können, sind bei Platon die That- sachen der sittlichen Wertschätzimg, der allgemeinen Begriffe und der mathematischen Beziehungen. Gleichviel, von welcher dieser Voraussetzungen zur Möglichkeit der Erkenntnis sein System den Ausgang genommen habe, in der Vollendung des-

48 I^ Apriori bei Platov.

selben haben alle drei ihren Anteil an der Bestimmmig de« Wesens der ^Ideen.^ Die ethische Beurteilung nach Mustern kann nicht aus der Erfahrung allein stammen, weil sich diese gar nicht in derselben finden. Die sittlichen Ideen sind viel- mehr Forderungen, welche das Denken stellt und welche die Wirklichkeit bestimmen sollen, Prinzipien der Beurteilung.^ Wird nun dieser Mafsstab der Vollkommenheit, welcher dem Gebiete des Sittlichen entnommen ist, auf die Natur angewendet, so fragt es sich, ob er auch hier zu einer Erkenntnis dienen kann. Das Gute und das Schöne fallen bei Platon gemeinsam unter den Begriff des Vollkommenen, das sich als das harmo- nisch MafsvoUe, als die richtige Abmessung darstellt, welche die Bedingung zum zweckmäfsigen Sein ist. Die Wissenschaft vom Mafse aber ist die Mathematik. Daher wird die Mathe- matik das Mittel, durch welches die Ideen mit der Sinnen- welt im Zusammenhang stehen. In der Gesetzlichkeit der mathematischen Figuren haben die Dinge Anteil an der Voll- kommenheit der Ideen, und soweit sie daran Anteil haben, sind sie mit Gewifsheit zii erkenuen, und soweit sie mathe- matisch erkennbar sind, besitzen sie Bealität. Auf diese Weise erkannte Platon in der einzigen Wissenschaft, die es ftr ihn gab, in der Mathematik, jenen unvergänglichen Realwert, der im begrifflichen Denken liegt. Die Kealität, welche er in dem Apriori gefunden hatte, das er die Idee nannte, zeigt sich wieder im mathematischen Gesetz.*

Der Anteil an Realität, welcher den Dingen in Rücksicht auf ihre mathematische Form zugeschrieben wird, fuhrt infolge diT üntorsclieidung zwischen sinnlichen und rationalen Ele- nuMiten der Erfahrung zu dem Schlüsse, dafs nur den letzteren Roalität im oigantlichen Sinne zukommt.

Läfst die Abstraktion von den Sinnesqualitäten am Dinge noch ein Sein zurück, das, wie die Gegenstände der Mathe- matik, nicht mehr sinnlich ist, so scheint man annehmen zu dürfon, dafs dieser Rost dor sinnlichen Wirklichkeit gerade das ist, was dem Dinge seine Realität verleiht. Die Einzel- körpov unterschoidiMi sich durch ihre sinnlichen Eigenschaften;

^ V^l. Kamt ülior I*i.\ton, AV. (/. r T.. Kkhrbach S. 276. EBDUimr S. 265. * Vgl. CoiiKN, Plit:ous liiernMiir und die Mathfmatik. Marburg 1879.

Bealität der Begriffe. 49

gemeinsam ist ihnen die Bealität, Körper zu sein, mathemati- schen Bestimmungen zu imterliegen. In gleicher Weise unter- scheiden sich die Einzeldinge auch insofern sie nicht Kör- per sind durch ihre Eigenschaften, ihre accidentiellen Be- stinmiungen; gemeinsam aber ist ihnen der Begriff, die Zu- gehörigkeit zu einer Gattung, eine That des Denkens. Daher wird der Begriff, wie die mathematische Form, ebenfalls für eine andre und höhere Art des Seins erachtet als das Sinnliche ; fär diejenige Art des Seins, welche den Dingen ihre Bealität verleiht, durch welche sie im Denken sind und da- durch überhaupt sind. Die Gattimgen bleiben, die Einzeldinge vergehen. So wird die Beziehung des Merkmals auf den Be- griff, der Eigenschaft auf das Ding, kurzum das Denkmittel der Substanzialität zum Erzeuger der Bealität. Weil die Er- kenntnis nur in Begriffen möglich ist, weil nur Begriffe die Garantie gewähren, dalSs Wissenschaft bestehe, so erscheinen auch nur Begriffe als die wahren Bealitäten. Denn was wirk- lich ist, kann nicht entschieden werden im schwankenden Nebel der sinnlichen Erscheinung, sondern nur in der Klarheit des wissenschaftlichen Denkens, und Wissenschaft besteht nur in Begriffen.

Wenn Idee, mathematische Form und Begriff als Bedin- gungen dafür erkannt werden, dals ihrem Inhalte Realität zu- kommt, so kann, je mehr es gelingt, das sinnliche Erlebnis unter jene Einheiten zusammenzufassen, die sinnliche Erfahrungs- welt gesetzliche Bealität erhalten und objektiviert werden. Es kann eine Naturwissenschaft entstehen. Aber gleichviel wie der Meister seine Ideen gedacht hatte in der Fortbildung der Platonischen Lehre wurden dieselben nicht als Bedingun - gen der Bealität aufgefafst, sondern als selbständige reale Wesen, sie selbst wurden hypostasiert und als Substanzen hingestellt, welche jenseits der Sinnenwelt ein unabhängiges Dasein för sich führen. Infolge dieser Hypostasierung der Ideen und Allgemein begriffe wurde die Ideenwelt von der Sinnenwelt durch eine Kluft getrennt und die letztere ihres objektiven Geltungswertes entkleidet und zum Scheine herab- gedrückt. Aus jenem Mifsgriff entsprang die Unmöglichkeit, zu einer wissenschaftUchen Naturerkenntnis fortzuschreiten, weü der gesamte sinnHche Inhalt nunmehr einen Gegensatz

Laftwits.

50 Beschränkung der Erkenntnis «nf d. Gliederung d. B^giifie.

gegen die fiealität der in sich selbst existierenden Ideen bildete nnd diese der Erfüllung mit demselben gar nicht bedurften« Die Ideen sind jetzt Substanzen, und sie sind das einzige klar Erkennbare. Als Substanzen aber sind sie ewig und imver- änderlich, als Allgemeinbegriffe können sie nur in derjenigen Belation und Unterordnung stehen, welche den logischen Be- griffen in Bezug auf die ihnen untergeordneten Begriffe und Einzelyorstellungen zukommt. Was also an ihnen erkannt werden kann, sind diese logischen Beziehungen, und die Me* thode dieser Erkenntnis ist diejenige der Dialektik. Es gibt nur das Abhängigkeitsverhältnis des Allgemeinen zum Beson- deren und nur eine Wissenschaft in der Zergliederung und Zusammenfassung der Begriffe, der Gattungen und Arten. Damit ist das Denkmittel der Kausalität ausgeschlossen, es bleibt allein das Denkmittel der Substanzialität als die- jenige Einheitsbeziehung, welche die erkennbaren Bealitäten verbindet. Nichts anderes ist erkennbar als der logische Stammbaum der Begriffe, welcher eine starre Abhängigkeit, aber keinen Wechsel in der Zeit darbietet; es gibt demnach keine dynamisch-kausalen, sondern nur geometrisch-substaasielle Verhältnisse. Dies ist der Grund, weshalb in der ganzen von Platon abhängigen Entwickelimg des Denkens das Erkennen sich auf die logische Gliederung der Begriffe richtet und die Substanzialität das vorherrschende Denkmittel ist. Die alleinige Realität der Ideen drückt schon die Natur in ihrem Geltungs- werte herab, sie macht die Materie zimi Nichtseienden; indem damit zugleich das Denkmittel der Substanzialität als das allein ausreichende sich darstellt, wird auch jede Möglichkeit ausge- schlossen, in die Wechselbeziehung der sich gestaltenden Dinge und in die Fülle der Sinnlichkeit einzudringen.

Zu einer vollständigen Welterklärung reicht somit jene schon bei Aristotelbs vorliegende hypostasierende Auffassung der Platonischen Ideenlehre nicht aus.

Sie lehrt nur die eine Seite des Seins kennen; denn sie hat den zweiten Faktor der Weltexistenz, die Sinnlichkeit, künstlich und absichtlich ausgeschieden, und nun kariTi es ihr auf keine Weise gelingen, wieder zur Realität der Wahrnehmung und Empfindung zu gelangen. Wir werden später zu erwähnen haben, wie Abistotelbs durch die Betonimg der Realität des

Ausschlielsang der Sinnlichkeit. 51

Allgemeinen im Einzelnen auch demjenigen Werte gerecht zu werden versuchte, welchen Wahrnehmung und Empfindung für die Erkenntnis besitzen. Aber da auch ihTn noch keine Wissenschaft der Wahrnehmung imd Empfindung zu Grebote stand» so blieb er bei dem Begriffe der ,,substan2ialen Formen^ als Denkmittel stehen. Zwar wurde dadurch der un- mittelbaren Wahrnehmung ein gewisses Becht; die einzelnen Arten des Seins, die ,,Formen^, wurden erforscht an den Arten, in welchen die Einzeldinge psychologisch im Bewuistsein sich gestalten, und hier trat die Zuthat der Sinnlichkeit als der Stoff, als die Möglichkeit des Seins, neben die Form als gleich- berechtigter Faktor. Aber die Thatsachen der Empfindung waren bei dem Mangel einer mathematischen Naturwissenschaft in kein mathematisch darstellbares Abhängigkeitsverhältnis zu bringen, und die philosophischen Begriffe selbst entbehrten dadurch der möglichen Kontrolle an der Eriahnmg. So blieb es bei der Substanzialität als Erkenntnismittel. Wenn auch die Bealität im Einzeldinge liegen soll, so haftet das Wissen doch am allgemeinen Begriffe und vermag nicht bis in die Wirk- lichkeit der individuellen Erscheinung zu dringen.^ Daher wird alles Einzelne der sinnlichen Erscheinung, an welchem allein das allgemeine Gesetz zu prüfen wäre, in die Unbe- stimmtheit der Materie, die blofse Möglichkeit verlegt. Es bleibt dabei, daüs nur die Formen das Erkennbare sind, das Veränderliche aber an den Dingen erscheint zufaUig xmd uner- kennbar. Wo die Erfahrung sich mit den begrifflichen Fest- setzungen im Widerspruche zeigt, wird derselbe der Unbe- stimmtheit der Materie zugeschoben. Das ist der Verzicht auf die Erkenntnis des Einzelnen.^ Der Vorteil, welchen die Hervorhebung der Wahrnehmung als Erkenntnismittel zu bieten schien, geht so verloren, und es bleibt die Bealität der substan- zialen Formen allein übrig. Wie diese aber aufeinander wir- ken und sich vereinigen sollen, ist im einzelnen ein BÄtsel ; nur im allgemeinen ergibt sich eine systematische Ordnung der Dinge. Die kausal erklärende Naturwissenschaft wird mimöglich; aber die beschreibend einordnende vermag zu blühen. Und diese Zusammenordnung im harmonischen Ganzen

* Vgl. Cohen, Kants Theor. S. 21.

Vgl. IhLTHET, GeisUsio. I. S. 260.

52 Ebioevab Synthesii.

entspricht dem Zwecke, als demjenigen Erkenntnismittel, welches der Betrachtung des Allgemeinen korrespondiert.

Beim selbständigen Aufschwung des mittelalterlichen Denkens finden wir nun den Kampf mit all den Schwierigkeiten, welche die Einseitigkeit der griechischen Wissenschaft zur Folge hatte. Es beginnt die Periode, in welcher das Denken erst zur An- eignung der antiken Wissenschaft und dann über dieselbe hinaus zur Vollendung des modernen Erkennens hinaufschreitet. Erigena arbeitet noch vollständig mit dem Denkmittel der Substanzialität und sucht durch dasselbe in den Begriff des Körpers einzudringen.

Die allgemeinsten Begriffe, aus welchen die engeren her- vorgehen, sind bei Ebigena die Kategorien. Von ihnen aus bestimmen sich die Einzeldinge. Jedes Wesen besteht nur in dem allgemeineren Begriff, der es umfafst; was über ihm steht, vermag es nicht zu erkennen, sondern nur eine gleiche oder ihm untergeordnete Natur. So sind Körper und vemunftlose Dinge nur in der vernünftigen Seele als Bestimmungen der- selben vorhanden,^ d. h. sie allein gibt ihnen den !Raum als das ümschliefsende, welches sie als einheitliche Dinge zusammen- fafst, den Ort innerhalb der Erscheinungen. Ohne diesen all- gemeineren Begriff, der im Denken die Dinge definiert, sind diese nicht als Körper vorhanden, sondern sie lösen sich in ihre Einzelbestimmungen auf, die freilich jede für sich unver- gängliche Existenz (als Ideen) besitzen, aber keine sinnliche Welt mehr bilden.

Die schwierige Frage, wie die sinnlich wahrnehmbaren Körper mit ihren Eigenschaften zu bestehen vermögen imd welche Art des Seins ihnen zukommt, wird also bei Erigena dadurch gelöst, dafs im Denken der vernünftigen Seele ihre Accidentien vereint werden. Alle sinnlichen Eigenschafben, wie sie insbesondere in den Elementen repräsentiert sind, existieren imkörperlich; es gibt keine körperliche Materie, keine selbständigen Stoffe im Baume; erst wenn diese Einzelbegriffe der Eigenschaften durch einen höheren Begriff, der sie umfafst, ihre Synthesis erhalten, wenn sie in einem erkennenden Wesen definiert werden, büden sie den räumlich bestimmten, sinnüch

^ De div. nat l, 45. p. 24. Noagk, c. 43. S. 63.

Atomistik und Beaüsmiis. 53

wahrnehmbaren Körper. Man darf diese Synthesis des Den- kens natürlich nicht im Sinne der transcendentalen Apperception nehmen, sondern nur in dem Sinne der logischen Unterordnung des Merkmals unter den Begriff und der Art imter die Gattung, welche als Bealitäten gelten. Aber trotzdem ist es für die Theorie der Materie ein wichtiger und grundlegender Gedanke, daJfe durch die Verbindung, wie sie das Denken gewährt, die sinnlichen Körper als solche Bestand haben.

Die Elemente dieser Theorie der Materie sind somit durch- aus rational; sie bestehen nur als Begriffe im Denken. Auch die sinnlichen Eigenschaften haben Einzelexistenz, aber nicht als räumliche Körper, daher nicht als wahrnehmbare Objekte. Man sieht, dals diese Ansicht diejenige Seite der Welterklärung darbietet, welche der antiken Atomistik unzugänglich war: die Vereinigung der von der sinnlichen Wahmehmbarkeit durch Abstraktion gelösten rein rationalen Elemente zum sinnlichen Körper. Sie ist das genaue Gegenstück zur Atomistik, nicht so, dafs beide sich gegenseitig ausschlössen, sondern so, daXs, wenn es einem höheren Standpunkt gelänge, sie zu vereinigen, alsdann den Forderungen einer wissenschaftlichen Theorie der Materie eine breite Basis gegeben wäre. Die Atomistik es ist immer die antike, materialistisch-transcendente gemeint hatte die Sinnenwelt ebenfalls in rationale Elemente aufgelöst. Die Atome waren abstrakte Gedanken, wie sie denn auch cx^fAciTa und ISicu hiefsen und bei Platon zu ebenen Dreieken geworden sind ; aber sie enthielten noch räumliche Gestalt und mechanische Bewegung; sie waren getrennt durch den Begriff des Leeren, und somit konnte ihre Vereinigung nicht mehr durchgeführt werden, ohne ihren Begriff aufzuheben. Der Mechanismus der Atome konnte aus seinen abstrakten Baum- elementen zu keiner Synthesis gelangen, in welcher das Leben der sinnlichen Welt sich wiederfand. Denn die Atome waren zwar Gedankendinge, aber sie gehorchten nicht der einigenden Macht des denkenden Geistes, sie waren sich selbst und ihrer Mechanik überlassen, und diese selbst besafs kein Prinzip zur Begründung der Wechselwirkung.

Auch Ebigena, seinen neuplatonischen Vorbildern nach- gehend, analysiert die sinnliche Welt und schreitet mit der Abstraktion bis zu unsinnlichen, rein rationalen Elementen vor.

54 Vorzug des Realismus vor der Atomistik.

Aber ihm fehlt der geometrische Geist der Griechen, der bei Lkukipp und Demokrit in der geometrischen Gestalt, in der räumlichen imd zahlenmäfsigen Beziehung das Ewigbleibende erkannte, den rationalen Best, welchen die Abstraktion vom Sinnlichen zurückläfst. Für ihn war die Logik und Dialektik die einzige Wissenschaft, die Unterordnung der Begriffe das einzige Mittel, Zusammenhang und Ordnung zu denken. Der Baum ist ihm nur logische Bestimmung, Mittel der Definition. So löst sich der Baum aiif zugleich mit den sinnlichen Qualitäten; nichts Mechanisches bleibt zurück. Die einzelnen prädikativen Bestimmungen der Dinge führen ihr abstraktes Dasein als reale Ideen; filr sich allein bilden sie ebensowenig eine Sinnenwelt, wie die getrennten Atome im Leeren; sie sind ebenso unver- änderlich, ewig, ebenso selbständig imd unfhichtbar wie die Atome. Aber während die räumlichen Atome durch das Leere getrennt sind imd das Leben der Empfindung verloren haben, hängen die Ideen noch zusammen durch das Denkmittel der Substanzialität. Nicht nur in Gott, dem allgemeinen Orte aller Eigenschaften, auch in jedem höheren Begriffe einigt das Band der logischen Subordination die zerstreuten Scharen, und f&r jedes denkende Wesen schiefsen sie sofort zusammen zum lebensvollen Bilde der sinnlichen Welt durch die Synthesis dieses Denkens. Das ist der Vorzug des logischen Realismus und rationalen Idealismus vor dem mechanischen Atomismus imd rationalen Materialismiis, dais seine Abstraktionselemente nicht aller Einheitsbeziehung entbehren, dafs noch die Snb- stanzialität im Begriffe sie zusammenhält. Es scheint zwar, als sei dafür den Atomen die Kausalität der Mechanismus als einigendes Band gegeben ; aber das Denkmittel der Kausa- lität hat sich im rationalen Materialismus Demokrits selbst auf- gehoben. Kausalität setzt Veränderlichkeit voraus. Die Mög- lichkeit der Verändenmg aber vermag die antike Atomistik nicht nachzuweisen ; es fehlt noch ein Denkmittel, welobes dies leistet. Denn die Substanzialität reicht dazu nicht hin; indem sie die beharrliche Substanz setzt, schliefst sie die Veränderung aus. Die Eleaten behalten Becht, die Bewegung ist nicht möglich. Die sinnliche Erfahrung bewegter Sabstancen ist nicht begrifflich darstellbar, solange zwischen Sabetanaialität und Kausalität kein neues Denkmittel vermittelt. Die Atome

Nachteil des BeaUsmuB. 55

sollen ja völlig selbständig sein und auch im denkenden Geiste nicht mehr zusammenhängen; so behalten die Einwände des Aristoteles und Augustinus Recht, dafs die Atome weder wirken noch erkannt werden können. Aber freilich auf der andren Seite sind die Atome den logischen Begriffen unendlich überlegen; ist es möglich, jenen ursprünglichen Fehler, die Ausschliefsung jedes Zusammenhanges aufzuheben, ist es mög- lich, durch das Erfassen des Begriffs der Veränderlichkeit den Atomen das Denkmittei der Kausalität ohne inneren Wider- spruch zugänglich zu machen, dann gewinnen sie jene siegende Macht, welche die Kausalität als Denkmittei in der wissen- schaffclichen Naturerklärung voraus hat. Dann wird wissen- schaftliche Korpuskulartheorie möglich.

^Si^Qg&n. behält der rationale Idealismus alle jene Schwächen, welche mit der Substanzialität als wesentlichem Denkmittel verbunden sind. Auch Erigena vermag nur eine systematische Einteilung der Natur zu geben, zu einer Erklärung kann er nirgends kommen. FreiHch iBt es auch nicht seine Absicht; das Bedürfriis liegt ihm fem, er hat nur das theologische Interesse; aber sein Ausgangspunkt überhaupt würde es unmög- lich machen. AUes Einzehie hat seinen Seinswert nur im Allgemeinen, so kann auch im Einzelnen nichts erkannt, nicht eine Einzelthatsache der Natur erklärt werden. Denn die Ver- bindung der Einzeldinge und Arten im höheren Begriffe gibt nur die Thatsache des Zusammens, ohne über die Natur dieses Znsammens aufklären zu können. Das Denken liefert wohl eine Synthesis der Eigenschaften, aber keine Einsicht in die funktionale Al^ängigk^t derselben, mit einem Worte keine Elausalerklärung. So ist das Denkmittei der Kausalität für die Untersuchungen der . Physik gänzlich ausgeschlossen. Der physische Körper hat die unterste Stufe des Seins inne, von welcher keine Wirkung mehr ausgehen kann, weil es keinen tiefer stehenden Begriff gibt als den zusammengesetzten K&rper. Der physische Körper besitzt nicht die geringste Selbständigkeit, seine ganze Bealität wurzelt in den allgemeineren Begriffen. Wie die Atomistik in das körperliche Sein des Atoms die ganze Bealität der Welt verlegt, so entblöfst dieser Idealismus die Körperwelt aller physischen Realität. Eine Wirkung von Körper zu Körper besteht nicht, und die Mög-

56 Kritik Eeioekai.

lichkeit einer Mechanik ist zugleich mit der Aufgabe der Physik aufgehoben.

Wie diese beiden Seiten des reinsten iBationalismos, diese beiden Erzeugnisse der höchsten Abstraktion, die aus dem Genius Demoerits und Platons quollen, die materialistiflche Atomistik mit ihrer mechanischen Kausalität und die idealisti- sche Brcallogik mit ihren substanzialen Formen, einen Kampf ums Dasein führen, wie endlich die Entstehung einer neuen Wissenschaft durch die Entdeckung eines neuen Denkmittels die Vereinigung jener beiden bis dahin in ihrer Isolierung ohnmächtigen Denkmittel ermöglicht, das ist der Entwickelungs- gang des europäischen Denkens, den wir im Verlaufe unsrer Untersuchung zu verfolgen haben werden.

Vorläufig stehen wir ganz innerhalb der Machtsphäre der Substanzialität und sehen die Theorie der Materie von diesem Begrifie beherrscht.

Was Erigena zur Analyse des Körperbegriflfe von Seiten seines rationalen Realismus beigetragen hat, besitzt daher seinen wesentlichen Wert darin, dafs er zu der Fragestellung gelangte, welche Kategorien bei der Bildung des Körperbegriffs beteiligt sind. Hier macht sich am schwersten bemerklich die Abschei- dung der Itäumlichkeit, welche kein wesentliches Merkmal des Körpers sein soU, von dem Begrifie des Körpers. Es ist dies der verhängnisvolle Schritt, welcher durch die Verkennung des Wertes der Mathematik von vorherein Physik unmöglich macht. Nur Quantität, Qualität als Oberfiächengestalt, und Substanz als Wesenheit konstituieren den Körper ; die übrigen sinnlichen Eigenschaften treten als weitere Accidentien hinzu. Wie sohon gesagt, ergibt sich eine physikalisch anwendbare Gesetzmäfsig- keit aus dieser Analyse nicht, weü sie durch keine Unter- suchung des funktionalen Zusammenhangs der Sinnesempfin- dungen und durch keine mathematische oder mechanische Be- trachtungsweise unterstützt wird. Aber dies ist festzuhalten, dafs Quantität, Qualität und Substanzialität die konstituierenden Kategorien des Körperbegriffs sind, und zwar liat der Körper seinen Bestand durch die Teilnahme der beiden andern Kate- gorien an derjenigen der Substanz (Wesenheit). Dagegen fehlt das Merkmal der Veränderlichkeit, welches die Bedingung der naturwissenschaftlichen Behandlung der Körperwelt ist.

Gegengewicht gegen den Sensoalismns. 57

Dies ist die Folge der aUeinigeii Anwendung des Denkmittels der Snbstanzialität, wodurch die Möglichkeit einer Objektivierung der Empfindung, des wechsehiden Inhalts des BewuTstseins, ausgeschlossen wird.

Sieht man von diesem systematischen G-rundmangel ab, so bleiben als wertvolle Bestandteile für die Theorie der Materie bei diesem Vorboten des scholastischen Bealismus seine Fest- setzungen über die allein im Denken gegebenen Brcalitäten des Körperlichen. Die Abscheidung von der Sinnlichkeit ist in ihrer Einseitigkeit eine nötwendige Vorstufe tieferer Erkennt- nis. Die Abstraktion muTs uns die Gewifsheit geben, dafs die Realität des Körperlichen durch das Denken verbürgt ist; das ist das notwendige Gegengewicht gegen die Einseitigkeit des Sensualismus.

Die korpuskulare Theorie der Materie hat hier keine Stätte. Aber sobald das physikalische Interesse erwacht und das Denken die Körperwelt wieder in den Kreis seiner Thätigkeit zieht, findet es in den real existierenden Begriffen des schola- stischen Realismus eine Handhabe, auch dem Einzelkörper Selbständigkeit zu verleihen und damit den steten Antrieb, den Realismus wieder aufzuheben zu Gunsten des Nominalismus.

4. ReäUsrnns und Nominalismns.

Wie von einem fernen blühenden Lande durch heimkehrende Reisende eine Nachricht vermittelt wird von ungekannter Fülle des Lebens und nun Veranlassimg gibt zum gelehrten Streite über die Wahrheit des Gesehenen, so kam von den reichhal- tigen philosophischen Untersuchungen des Altertums über den Realitätswert der Begriffe und Dinge eine kurze Andeutung durch die Isagoge des Porphykiüs,^ welche Bobthius ins La- teinische übersetzt hatte, zum Mittelalter herüber und weckte den Streit des Realismus und NominaUsmus. Die platonische Ansicht in der von Aristotbles mifsdeuteten Form, dafs die allgemeinen Begriffe reale Existenz besitzen, wurde von späteren Scholastikern in der Formel Universalia ante rem auf den

* S. Victor Cousin, Ouvrages irUdits d^Äbilard, Paria 1836, p. LXVI ff., und Obbrweo-Hbinzb, II. S. 141.

5-< Nominftlismiu und Nfttarwinenschmft.

Lehrsatz des extremen Realismus gebracht, dafs die Univer- salien diese Existenz vor derjenigen der Individuen bes&fsen. Der gemäfsigte Bealismns. mehr aristotelischen Einflüssen nach- gebend, formoliert den Satz Upnrtr.<alia in re^ d. h. die all- gemeinen Begriffe existieren zwar real, aber nur in den Indi- viduen. Beiden gegenüber tri et der Nominalismus. welcher behauptet, daf's die allgemeinen Begriffe nur gemeinsame Namen für die gleichartigen Individuen seien, die unter denselben zusammengefafst werden: nur die Individuen existieren real, die Umverniilh iH»st rem.

Der extreme Realismus während der ersten Periode des mittelalterlichen Denkens vermag zur Entwickelung des Kör- perbegrifis nichts weiter beizutragen, während die einaelnen Wendungen des vermittelnden Realismus mit seinen smn Teil nominalistischen Neigungen Gelegenheit geben, auch das Wesen des Einzelkorpers der Betraehtimg zu unterziehen. In neuer Weise tordemd tritt erst der Nominalismus auf. Denn indem die Realität lediglich in die Individuen verlegt wird, die allgemeinen Begritfe zu Abstraktionsresultaten des denkenden Menschen werden« zu blofsen Namen, so gewinnt wieder das einzelne Naturobjekt volle Geltung, die Sinnlichkeit tritt in ihre Rechte: die Realität beruft sich auf die Wahrnehmung, und die Erfahrung lenkt die Aufmerksamkeit auf ihre uner- schöpflichen Thatsaehen. Darum geht das Anwachsen des Nominalismus Hand in Hand mit dem naturwissenschaftlichen Interesse.^ Aber in der ersten Periode der Scholastik ist die Elntwiekeluug soweit noch nicht fortgeschritten. Erst muiste die Physik des Aristoteles, erst die Naturwissenschaft der Araber bekannt sein, bis die selbständigen Regungen empiri- schen Naturerkennens mit dem Bedürfnis nominalistischer Be- griäsfassung sich lebenskräftig zeigen konnte. Noch herrscht das theologische Interesse ausschliefsUch, und ihm konnte nur mit dem Realismus gedient sein, der die Einheit des höchsten Begriffs, die Realität des dreieiuigen Gottes gewährleistete. Der Nominalismus scheiterte^ weil nach Roscbllots nomina- listischer Theorie die drei Personen in Gott als einselne Beali-

» Vgl. Äuoh F. SoHiLTiK, rhu. d. Nahfnc. I S. 221 «.

Realismns und Empirie. 59

täten aufgefafst werden muTsten. Das Trinitätsdogma der Tradition entschied, nicht das Interesse der selbständigen Forschung.

Aber schon vor dem Bekanntwerden des reineren Aristote- lismus zeigen sich bei einigen, besonders unter platonischem Einflüsse stehenden Denkern, die Spuren korpuskulartheoreti- scher Anschauungen, welche die notwendigen Folgen der Übertragung der Realität auf die Einzelwesen sind.

Die dialektische Untersuchung fuhrt auf physikalische Fragen, sobald der Versuch auftritt, zwischen den entgegen- gesetzten Meinungen gleichwertiger Autoritäten durch eigenes Nachdenken und selbständige Besinnung auf die eigene Er- fahrung des Lebens zu entscheiden. Der spekulierende Mönch mag den bunten Schimmer der Körperwelt verachten, aber die Nächstenliebe fordert die Pflege des Verwundeten und Kranken und leitet im Interesse der Heilkunde zur Betrachtung der organischen Gliederung des menschlichen Körpers, im Kloster- garten wachsen heilkräftige Kräuter, überall weben im ge- heimen thätig die Kräfte der Natur, in Keller und Konfekto- rium gären und destillieren würzige Säfte, die Metalle schmel- zen im Tiegel, alltägliche Operationen weisen auf Verbindung und Auflösung, Werden und Vergehen der Körper. Was ist es, das sich hier verändert? Was behält seine Bealität, in wie- weit haften unveränderliche Eigenschaften an der Substanz des Körpers? Wenn Aristoteles den Platon befehdet und mit jenem der gemäfsigte iBeaUsmus in den Einzeldingen die all- gemeinen Eigenschaften als real erkennt, so mag der Bruder Kellermeister immer den Wein mit Wasser verdünnen, Süfsig- keit, Duft und Stärke können ja doch in ihrer Bealität nicht davon berührt werden. Aber die Zunge straft die Dialektik Lügen. Also muis es, soll der KeaUsmus Becht behalten, doch nicht der Wein als Glanzes sein, in welchem die Süfsigkeit real ist, sondern diese Realität der Süfse mufs ' an jedem einzelnen Teilchen des Weines haften; denn nur dann wird erklärlich, dafs die geringere Menge der Weinteilchen unter die Wasser- teilchen gemischt die geringere Süfsigkeit zeigt. Sind die wahrnehmbaren Körper die letzten Einzeldinge, in denen die allgemeinen Eigenschaften real existieren, so werden ihre Ver- änderungen imverständlich. Vielmehr mufs alsdann die Teilung

60 AnDäherang an die Korpuskulartheorie.

der Körper weiter fortgesetzt, ihre kleinsten Teilchen müssen individualisiert und die Realitäten als an ihnen haftend gedacht werden. So führt jede Probe an der Erfahrung den fiealismus der korpuskulartheoretischen Ansicht näher, indem die fiealitftt sich mehr und mehr auf die kleinsten Elementarteile zurück- zieht.

Wir finden ausgesprochene Korpuskulartheorie bei einer Reihe von Schriftstellern, welche nicht, wie ScoTUS, die räum- liche Ausdehnung von vornherein vom Körper abtrennen, son- dern unter Beibehaltung derselben durch räumliche Zerlegung das Einzelwesen zu gewinnen suchen. Es ist der Einflois des reineren Piatonismus, der Konstruktion der Elemente aus geo- metrischen Körpern, der sich hier geltend macht, zugleich mit demjenigen des gemäfsigten aristotelischen Realismus. Bei der mangelhaften Kenntnis beider antiken Systeme wird das eigene Nachdenken über die Probleme der Materie angespornt, w&hrend zum Teil der Eklekticismus der alten Medizin sich merklich macht. Diese korpuskulartheoretischen Regungen fallen in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts.

6. Die Elemente bei Piaton.

Ehe wir in die Besprechung jener atomistischen Anklänge eintreten, erinnern wir in Kürze an das, was Platok in der Physik gelehrt hatte. ^ Wir hatten schon oben erwähnt, dafis Platon in den mathematischen Bestimmungen das Mittel fand, durch welches die Dinge an der Realität der Ideen teilnehmen. Was der Mafsbestimmung durch ein Mehr oder Minder tüng ist, heifst im Philebus das Unbegrenzte (unetQav)^ d. h. die extensive und intensive G-röfse als das Kontinuierliche, das noch keine Begrenzung hat. Diese erhält es durch die Grenze (ro TifQaOi d- h. die mathematische Bestimmung durch Zahl und Mafs;^ aus der Mischung des Bestimmbaren und des Be-

^ Vgl. dazu Zeller, Pkü. d. Gr., II, 1. S. 602 ff. Eine Zotunmen- stelluiig der Lehren Platons ans der speziellen Physik findet rieh bei RoTHLAUF, Die Physik PJatos, Progr. der k. KreisBealschule MGndhen, 1887 u. 1888.

' Vgl. hierüber und über den Zusammenhang mit dem ufT^im^ det JMt- ticus: J. A. KiLB, Platons Lehre roti der Materie, J. D. Marburg 1887.

Beschränkimg Platons. gl

stimmenden entsteht die dritte Gattung des Seienden, nämlich die Sinnendinge, insofern sie zweckmäfsig, nach Malsbestim- mungen eingerichtet sind. In den Künsten, insbesondere in der Musik, hatte sich gezeigt, wie aller Bestand der Schönheit und Harmonie auf Zahl- und Mafsverhältmsse gegründet ist. Wie der Künstler die Bedingungen seiner Schöpfung in den mathematischen Formen findet, so hat auch der Weltschöpfer durch ein mathematisches Verfahren das Immerseiende des Mathematischen in die Dinge hineinbilden können. Wir sehen hier, wie die erste Objektivierung, welche ein bestimmtes Ge- biet der Sinnesempfindungen durch das europäische Denken gefunden hat, nämlich die Beihe der Töne in der Akustik, auch den ersten grofsen Philosophen auf ein Denkmittel schliefsen lälst, das in der begrifflichen Fixierung, in der mathematischen Erkennbarkeit zugleich die Bedingung des wirklichen Seins umfaist. Die Lösbarkeit der Aufgabe der Philosophie, Grundbedingungen zur Möglichkeit der Erfahrung zu ermitteln, werden wir stets gebunden sehen an den Fort- schritt der Naturwissenschaft, der in der Objektivierung von Sinnesempfindungen durch mathematische Gesetze besteht.

An die Bestimmung der Dinge durch mathematische For- men ist gleichzeitig ihre Kealität und ihre Erkennbarkeit ge- knüpft. Dies erkannt zu haben ist Platons unsterbliches Ver- dienst. Aber hiermit steht er auch zugleich an der Grenze seiner Macht. Die Schranken, welche die noch in den ersten Anfängen stehende griechische Wissenschaft dem Genius Platons auferlegte, lielsen ihn daran zweifeln, dais die bunte Fülle der wechselnden Sinneserscheinungen an die Strenge der mathe- matischen Begriffe und Formen zur Genüge könne gefesselt werden, dafs die Naturdinge vom Schein zur wissenschaftlichen Erkenntnis, von der do^a zur Ini&vfifi/ifi durch menschlichen Verstand zu erhöhen seien. Und diese Begrenzung des natur- wissenschaftlichen Erkennens, welcher Platon in den dichteri- schen Vermutungen und Hypothesen des Timäus Ausdruck ver- liehen hat, ist es, die jene früher erwähnte Abwendung von der Naturforschung in der späteren griechischen Spekulation und in der ganzen christlichen Welt bestärkte. Nicht jener Platonische Grundgedanke, welcher um modern zu sprechen in der Mathematik das Objektivierungsmittel der Sinneserschei-

52 I^io Materie im Timäus.

nung sah, sondern der hypothetische Konstruktionsversuch des Kosmos aus der Materie des Timäus war es, welcher der voraristotelischen Scholastik den Anhaltspunkt gab, sich an Versuche über die elementare Zusammensetzung der Körperwelt zu wagen. Wir bewegen uns daher unter dem Banne der Physik des Timäus nur im Kreise von Vermutungen, welche auf nicht mehr als eine erleichternde Veranschaulichkeit der Vorgänge in der Körperwelt abzielen.

Hier nimmt Platon einen ungestalteten Orundstoff, die Materie (vXij, ^o vnoxeificvoi') an, welchen der Weltschöpfer nach mathematischem Gesetze zu bestimmten körperUehen Elementen formt. ^ Da die Welt sichtbar und greifbar sein sollte, so muTste sie Feuer und Erde enthalten; beide aber bedürfen einer Vermittelung, und die beste Vermittelung ist die durch die (stetige) Proportion; und da es sich hier nicht um Flächen, sondern um Körper handelt, so sind zur Vermitt- lung zwei mittlere Proportionalen erforderlich.' Diese werden gebildet durch Luft und Wasser, so dals sich verhält Feuer zu Luft, wie Luft zu Wasser, imd Luft zu Wasser, wie Wasser zur Erde.

Der Grund dieser Aufstellung Platons dürfte nicht auf arithmetischem,' sondern auf geometrischem Gebiete sa suchen sein imd auf der Beschäftigung Platons mit der dieGeotneter seiner Zeit anstrengenden Aufgabe über die Verdoppelung des Würfels beruhen, von welcher Platon nach dem Berichte des Edtokius von Askalon eine erste Auflösung gegeben haben soll.^ EbppoKBATES vou Chios hatte (nach dem Bericht des Eratosthbnbs) die Aufgabe durch Vergleich mit der Frage nach der Verdoppelimg des Quadrats auf die Konstruktion zweier mittleren Proportionalen zurückgeführt, imd diese Hippo- kratische Form der Aufgabe hat hier vermutlich Platon vorge- schwebt, wenn er von dem Erfordernis zweier mittleren Pro- portionalen bei der Verknüpfung von Körpern spricht. Es erklärt sich dann, warum Platon gerade zwei mittlere Propor-

* Zum Folg. vgl. Zeller a. a. 0. p. 671 ff .— « Tim, c. 7.

' S. BoEGKH, De Platonica corporis mundani fabrica eic, Oes. 1ä»ine Schriften, Leipz. 1866. III p. 229 f. Zrller a. a. 0. S. 671 A. 8.

* Cantob, GescK d, Math., I. S. 194 ff.

Die zwei mittleren Proportionalen. 63

tionalen als notwendig erklärt, weil er nämlich stillschweigend die Elemente wie ähnliche Körper betrachtet und ebenso still- schweigend zwischen den Elementen und ihren Eigenschaften eine Beziehung voraussetzt, wie zwischen ähnlichen Polyedern und ihren Kanten (oder Kubikzahlen und ihren Basen). Denn ohne dergleichen stillschweigende Annahmen würde die ganze Aufgabe der Einschaltung vollständig unbestimmt bleiben. Übrigens dürfte es sich bei dem Versuche, zwischen den Ele- menten eine Proportion aufzustellen, bei Platon wohl nur um einen gelegentlichen Einfall hsuideln, an dem er ohne weitere^ Ausführung vorübergeht. Die beiden mittleren Proportionalen, welche zwischen den Kanten zweier ähnlicher Körper von gege- benem Volumen einzuschalten sind, um aus der gegebenen Kante des einen die gesuchte des andern konstruieren zu können, sind bei der von Platon gelösten Konstruktionsaufgabe durch die mathematischen Qröisenbeziehungen zwischen Kör- pern und Kanten bestimmt. Bei zwei Elementen weils aber niemand, worauf sich überhaupt die Proportionalität beziehen und welche quantitative Belation derselben zu ihren Eigen- schaften bestehen soll. Daher kann es sich nur um eine unklare, mehr spielende als mathematische Analogie handeln. Gleichwohl hat der hingeworfene Gedanke Platons in späterer Zeit mehrfach zu dem Versuche Veranlassung gegeben, von ihm aus zu einer Art von quantitativer Bestimmung der Eigen- schaften der Elemente in ihrem gegenseitigen Verhältnisse zu gelangen, so z. B. bei Agbippa von NsTTiSSHEiM und Digbt.

Eine klarere Ableitung der Elemente, welche für die Ge- schichte der Korpuskulartheorie von nicht geringerem Einilufs gewesen ist, gibt Platon im Anschluis an die Elementenlehre des Pythagoreers Philolaus. Dieser hatte den kleinsten Be- standteilen der Erde den Würfel, denen des Feuers das Tetraeder, der Luft das Oktaeder und dem Wasser das Ikosaeder als Form zugeschrieben, während er für das alle umfassende Ele- ment, den Äther, das Dodekaeder in Anspruch nahm.^ Platon verschaffte den Elementarteilen der Körper eine geometrische Grundlage, indem er die regelmäfsigen Polyeder aus zwei Arten von ursprünglichen Dreiecken zusammengesetzt dachte,

» Zbllbr, Phä. d. Gr. I. S. 376.

64

Die SlemenUrdreieoke.

Flg. 1.

dem gleichschenklig-rechtwinkligen, und demjenigen rechtwink- ligen Dreieck, welches die spitzen Winkel im Verh&ltnis von 1 : 2 (30® und 60®) besitzt.* Erstere bilden zu je vieren au- sammengesetzt das Quadrat, letztere zu je sechs das reguläre Dreieck (S. Fig. 1). Aus 6 Quadraten setzt sich der Würfel zusammen, aus 4 regelmäfsigen Dreiecken das Tetraeder, ans 8 das Oktaeder, aus 20 das Ikosaeder, Demnach sind die

Grundbestandteile der Erde gleichseitig rechtwinklige, die der drei andern Elemente ungleichseitig rechtwinklige Dreiecke, und zwar enthält das Tetraeder (des Feuers) 4 . 6 = 24, das Oktaeder der Luft 48, das Ikosaeder des Wassers 120 solche Elementardreieke. Indem die letzteren bei der Zerdrückung und Zerspaltung der Elementarkörper sich trennen, können sie sich zu anderen Polyedern wieder ver- binden, das Ikosaeder gilt daher als äquivalent 27* Oktaedeni| das Oktaeder äquivalent 2 Tetraedern. Feuer, Lufb und Wasser können sich deshalb ineinander verwandeln, die Erde dagegen mufs Erde bleiben, da sie aus gleichschenklig-recht- winkligen Dreiecken zusammengesetzt ist, die keine andern regulären Polyeder ergeben. Das Dodekaeder bleibt von der Platonischen Konstruktion der Elemente ausgeschlossen, da es sich nicht in die angenommenen Elementardreiecke zerlegen läfst.

Dafs Platon die Körper aus Flächen bildet und sie wirklich als aus den sie begrenzenden Flächen zusammengesetzt be- trachtet, liegt daran, dafs das Unbegrenzte durch die Grenze selbst für ihn zum Körper wird; die geometrische Begrenzung verleiht die körperliche Realität. Es liegt nur weiterhin eine SubstanziaUsierung der Grenzen selbst vor, indem dieselben als nach Art und Zahl unveränderliche Dreiecke gedacht werden, denen selbst wieder Bewegung im Itaume zugesprochen wird. Man mufs berücksichtigen, dafs die Begriffe der realisierenden

* Tim. c. 20.

Platov: Ordnimg der Elemente. Yaoanm. 65

Bedingong und der substanzielleii Bealität dieser letzteren nicht immer ausreichend geschieden sind.

Für die Korpuskulartheorie ist nun das Wesentliche die Annahme, dafs die Elemente selbst aus wirklichen Korpuskeln bestehen, die eine gegenseitige Einwirkung und durch gewisse Gröisenverhältnisse geregelte Umgestaltung gestatten. Da die Elementardreiecke als gleich grofs vorausgesetzt werden, so hat das Wasser, dessen Korpuskeln 120 derselben enthalten, die gröfsten Teilchen, und die übrigen Elemente folgen in der entsprechenden Reihe. Die Erde ist wegen der Würfelgestalt ihrer Teüchen das unbeweglichste Element; infolgedessen nimmt sie den Platz in der Mitte der Welt ein ; um sie ordnen sich die Sphären von Wasser und Luft und Feuer nach ihrer natürlichen Schwere, die durch die Gröfse der Elementar- korpuskeln bedingt ist. Jeglichem Element ist die Richtung nach dem ihm verwandten eigentümlich, und jede Störung der natürlichen Ordnung hat ein Streben zur Wiederherstellung derselben zur Folge. ^ Alle Elementarkorpuskeln sind jedoch so klein zu denken, dafs keines irgend einer Gattung von uns gesehen werden kann und erst eine vielfache Zusammenhäufung der- selben die sichtbaren Massen bildet.^

Einen leeren !Eaum gibt es nach Platon nicht;* das ist aber so zu verstehen, dafs der Umlauf des Alls die Elemente zusammendrückt und dadurch keinen leeren Baum übrig läfst, es ist jedoch nicht ausgechlossen, dafs vorübergehend zwischen den Korpuskeln und bei ihrer Zertrennung leere, d. h. von keinen Elementarkörpem ganz erfüllte Räume übrig bleiben oder sich bilden; es können daher Poren entstehen, durch welche die kleineren Korpuskeln anderer Elemente hindurch- zugehen vermögen.* Platon versucht dann in der That eiue Reihe von korpuskularen Erklärungen.*^ So wird der Prozefs der Auflösung und des Schmelzens dadurch erläutert, dafs die Teile des Feuers und der Luft, wenn sie kleiner sind als die leeren Zwischenräume zwischen den Erdteilchen, zwischen diesen ohne Störung hindurchgehen können und die Massen der Erde nicht zum Schmelzen bringen, während die gröfseren

» Tim. p. 63. Tim. 56 B, C. » Tim. p. 58 A, p. 60 C, p. 79 B. * Tim. p. 60 B. » Vgl. Tim. c. 23—26.

LafiwiU. ^

66 Platon: Korputkalartheorie. Weltseele.

Teile des Wassers sich ihren Weg gewaltsam bahnen müssen und daher Auflösung erzeugen. Ist aber die Erde durch Ge- walt fest zusammengeprefst, so sind nur die Feuerteilchen im- stande, sich durchzudrängen und sie zu schmelzen. Ahnlich verhält es sich mit den andern Elementen und ihren Mischungen. Dabei sind zwei verschiedene Arten der Auflösung und Zer- setzung der Körper zu unterscheiden, je nachdem letztere durch das Eindringen in ihre Poren oder durch Zerspaltung der Korpuskeln, also durch Zerlegung in ihre Urbestandteile zerstört werden. Es entspricht dies ganz der modernen Vor- stellung der Zerlegung von Körpern in ihre Moleküle, resp. der letzteren in die Atome, also der mechanischen und der chemi- schen Zersetzung. Aus den getrennten Urbestandteilen können sich wieder neue Elementarkorpuskeln bilden.

Was veranlafst aber die Elementarteile, sich gerade in der gesetzmäfsigen geometrischen Weise zu bewegen und zusammen- zufügen? Um die Bewegung zu ermöglichen, bedarf es eines bewe- genden Prinzips, welches zwischen den ewigseienden Bestimmun- gen imd dem Körperlichen in der Mitte steht. Dieses Prinzip der Selbstbewegung ist die Weltseele, welche das All umfafSst und in Bewegung erhält und leitet. Sie vermittelt in derselben Weise zwischen den Ideen und der Sinnenwelt, wie das Ma- thematische; beide Begriffe sollen den Gedanken ausdrücken, dafs die sinnliche Erscheinung durch eine Anteilnahme an unveränderlichen Gesetzen Bealität erhält, und hierbei bezeichnet die Weltseele diesen Anteil an BeeJität 'von selten der dyna- mischen Wechselwirkung, das Mathematische von selten der gesetzlichen Bestimmung. Die Wechselwirkung der Dinge mufs durch [Gesetze geregelt sein, die bei Platon natürlich nicht mechanisch, sondern teleologisch bestimmt gedacht sind; daher wird *das Mathematische, welches zwischen Ideen und Er- scheinung vermittelt, als Weltseele bezeichnet, insofern es das Gesetz der Veränderung enthält. Das Prinzip der Veränder- lichkeit mufs durch Vernunft bestimmt sein, imd diese zweck- mäfsige Ordnung der Dinge in Bezug auf ihren Wechsel, die Anwendung des mathematischen Gesetzes auf die Bewegung, die Sicherung ihrer harmonischen Gestaltimg, soll die Weltseele ermöglichen. Das Prinzip der Bewegung ist also nach Platon in einer Beseelimg der Dinge gegründet, die Veränderung der

Platom: KorpoBkulartheorie als Spiel. 67

Körper geschieht jedoch allein durch Bewegung. Alle Veränderun- gen in der Körperwelt beruhen auf der Verdrängung der Kor- pnskehi durcheinander. Die Anziehung der Körper (wie beim Bernstein und Magnet) ist nur eine scheinbare, keine wirkliche. Alle Bewegung besteht darin, dais die Körper, da es kein Leeres gibt, andere verdrängen und in einen Kreislauf ver- setzen müssen, und dafs alle Elemente, wenn sie aus ihrem Orte gebracht sind, wieder an ihren natürlichen Ort zu gelangen streben.^

Wie wir sehen, hat Platon eine vollständige Anleitung zur Aufstellung einer Korpuskulartheorie gegeben, die er nicht einmal für schwierig hält, aber freilich auch für nicht mehr als ein unterhaltendes Spiel, das nur Wahrscheinliches zu ermitteln vermag. „Und wenn einer zur Erholung die Unter- suchungen über die immerseienden Dinge beiseite legen und die wahrscheinlichen Ansichten über das Werden genau in Betracht ziehen wollte, um. sich einen G-enufs zu verschaffen, dem keine Beue folgt, so dürfte er wohl ein geziemendes und verständiges Spiel im Leben treiben."^

Mit diesem „geziemenden und verständigen Spiele^ sehen wir denn sofort beginnen, sobald sich das Literesse des Nach- denkens wieder auf die selbständige Gestaltung der Körperwelt richtet. Man versucht sich Vorstellimgen zu bilden über die Art und Weise, wie die Verändenmgen der sichtbaren Körper sich durch die Gestaltung und Bewegung ihrer kleinsten Teil- chen veranschaulichen lassen.

6. Der Dialog „De generibus et speciebos''.

Der unbekannte Verfasser der Abhandlung De generibus et spedehus^ fragt sich, woher die Elemente stammen, aus denen die körperlichen Substanzen bestehen, imd will zu diesem Zwecke die Untersuchung nach Art der Physiker führen. Diese konnten die Natur der zusammengesetzten sinnlich wahrnehm- baren Körper nicht deutlich erkennen, wenn sie nicht die

» Tim. p. 80 C. « Tim, p. 59 C.

* Unter diesem Titel von Cousin in den Schriften Abälabds herausgegeben. Owrages inidita etc. Par. 1836. p. 505—550. Vgl. Übebwbg-Heinze 7. Aufl. n. S. 173.

5*

68 -Z)^ generibus et spedebua: Materie und Form.

Eigenschaften der Bestandteile zuvor erkannt hatten. Sie zerlegten daher dieselben immer weiter, bis sie durch das Denken zu den kleinsten Teilen gelangten, welche sie nicht weiter zerlegen konnten und daher als Ganze betrachten mufsten.^ Da nun die weitere Teilung dieser Ganzen nicht möglich war, 80 begannen sie zu untersuchen, ob ein derartiges Teilchen (essentiola) aus Materie und Form bestehe, oder ob es überhaupt einfach sei. Es zeigt sich, dals der Körper entweder warm, oder kalt oder von irgend einer anderen Form ist. Abgesehen von der Form bleibt nun die Materie zu betrachten, ob auch sie einfach sei; sie erweist sich als Körper und daher ihrerseits aus der Körperlichkeit und der Substanz bestehend. Eine weitere Zerlegung der letzteren nach Form und Materie führt auf die Fähigkeit, entgegengesetzte Eigenschaften anzunehmen, und auf das reine Wesen (mera essentia), wobei erstere wieder als Form, letzteres als die dazu gehörige Materie aufzufassen ist. Dies ist nun die letzte mögliche Zerlegung. Diese letzte Materie zeigt sich in jeder Hinsicht einfach und nicht wieder in Materie und Form zerlegbar. Die reine Wesenheit (mera essentia) wird daher das Universale genannt und ist ohne Form, weil sie nicht selbst wieder aus Formen besteht.

Hier kommt man also auf die mera essentia, das reine Sein, erst bei den kleinsten Teüen der Körper; und es ergiebt sich, der angegebenen Analyse entsprechend, folgende Synthese. Dadurch, dafs die zunächst als mera essentia gedachten Teilchen

^ A. a. 0. p. 538. Institerunt ergo (sc. Physici) ipsas partes componentes subdividendo, usque dum ad illam partem minutissimam intellectu venirent, quae in partes integrales dividi von poterat. Integraliam vero partium defi- ciente divisione investigare coeperunt, an talis essentiola ex materia constaret et forma, an omnino simplex esset. Invenit itaque ratio illa corpus esse calidum vel frigidum vel alterius formae. Higusmodi enim puto a Piatone appellata esse pura elementa. Belicta itaque forma, consideravit materiam, an et illa simplex esset. Invenit eam corpus, et ita constare ex corporeitate et substantia. Eelicta itaque forma consideravit materiam, sed et ipsam invenit constare ex susceptibilitate contrariorum forma, materia autem mera essentia. Quam item materiam undique speculantes simpliciter omnino invenerunt, nee omnino ex aliqua materia vel forma constantem. Hanc itaque meram essentiam cum aliis quae essentialiter rerum sensiüum [formas] sustinebant, universale appellavit, id est informe, non scilicet quod formas non sustinet, sed quod ex formis non constaret.

De gen, et apec. : Die Formen der Elementarteile. 69

die Eigenschaft haben, entgegengesetzte Formen anzunehmen, bekommen sie ihre Substanzialität, die Formen formen ihnen dieselbe ein, so dafs sie zur Substanz werden. Diese Substanz wird nun Materie einer neuen Bildung, indem als Form die Form der Elemente Wärme, Feuchtigkeit u. dergl. hinzu- tritt. Durch diese Information erst sind die kleinsten Teüe der Körper, die Integralkörperchen, entstanden. Sie sind die Individuen der Körperwelt. Dabei ist aber die Qualität und Quantität zu unterscheiden, um deutlich einzusehen, wie durch die erwähnte Zusammensetzung aus unkörperlichen Dingen die Elemente nach und nach entstehen, obgleich alle aus der allgemeinen und besonderen Materie und Form bestehen, so ist zu merken, dafs ein jedes Körperteüchen sich nur einer ganz bestimmten Quantität erfreut; indem die passenden Formen hinzutreten, vermehren sie nicht die Quantitäten, sondern ver- wandeln nur seine BeschaflFenheit.* Jeder Körper besteht aus einer sehr grofsen, aber nach Zahl und G-röfse ganz bestimmten Menge von kleinen Körpern oder Atomen, xmd dieser Sammlung von Einzeldingen kommt dann der Name der Art oder Gattung zu. Indem nämlich die entsprechende Form den ganzen Körper einformt, formt sie auch alle einzelnen Teile ein; indem z. B. ein bestimmter Teil der Materie „Mensch" zum Sokrates ein- geformt wird, erhalten auch alle einzelnen Teile desselben eine bestimmte Form. Aber die Form des Ganzen ist keineswegs die Form der einzelnen Teüe. Während die Form der Körper- lichkeit das Ganze ergreift, ergreift sie auch seine einzelnen Partikehi und macht sie dadurch körperUch; während aber die Belebtheit das Ganze zum Sokrates macht, formen andere Formen den Teilen andere Eigenschaften ein, geben den einen Atomen Farbe, andere macht die Form des Feuers zu Feuer, die des Wassers zu Wasser u. s. w. So kommt es, dafs die einzelnen Teilchen eines belebten Wesens nicht selbst belebt sind, sondern teüs Feuer, teüs Wasser, teils Luft und teils Erde*. Es erklärt sich daraus, wie Aristoteles sagen konnte.

^ A. a. 0. p. 539. Unumquodque indiyiduum corporis quantum est, tantmn in se habet fructum; habiles formae enim sapenrenientes quantitates non anxemot, sed aliam naturam fecerant.

* A. a. 0. p. 540. Sed quam statim corporeitas illud totnm afficit, tarn ttatiin raae corporeitates singulas illius totius particulas afficiunt, et faciunt

70 ^^ 9^' ^i ^c. : Neigang zur Atomistik.

dafs das, woraus das Tier besteht, eher sei als das Tier, und dafs Platon behauptet, aus der Hyle werden erst die Elemente und daraus das Übrige.

Man sieht, dafs sich diese Auffassung, indem sie die Gattungen und Arten für Sammlungen von Individuen erklärt, stark dem Nominalismus zuneigt, eine Ansicht, die schon durch PoRPHYRius Tmd Boethiüs vermittelt ist.^ Was aber hier von besonderem Interesse wird, ist der Umstand, dafs diese Einzeldinge körperlich gefafst werden. Wenn auch nicht die Materie als das Schaffende betrachtet wird, so ist das Entstehen der Dinge doch nur ermöglicht gedacht durch die Teilbarkeit der Materie und die Gestaltung ihrer Atome durch die Formen. Und dies ist es, worauf es für den Fortschritt der physikalischen Betrachtung allein ankommt. Es ist darin ein entschiedener Atomismus vertreten, insofern den einzelnen Partikeln von der Form des Ganzen imabhängige Formen zugeschrieben werden, welche zwar nicht die Natur des Ganzen als solchen, aber doch die Natur seiner einzelnen Eigenschaften bedingen. Wenn dieser Gedanke zu keiner tiefergehenden Auffassung der physischen Beschaffenheit führte, so ist das freilich bei der Abneigung der Zeit gegen naturphilosophische Spekulation nicht zu verwundem.

7. Adelard von Bath.

Durchaus verwandt diesen Lehren, welche den Bealismns soweit mäfsigen, dafs selbst die individuellen Körperteüchen an der Sealität teilnehmen, sind die Äufserungen Adelabds VON Bath,* die etwa aus derselben Zeit im Beginn des 12. Jahr-

corporeas essentias. Ita illa toti advenit animatio, et fadt quamdam essentiam animati corporis. Sed non jam aliqoibut partibns illiut totins advenit animatio, sed contrarinm illins, inanimatio; cum enim totum animatom sit, singolae par- ticolae illius inanimatae sunt.

Tandem Socratitas totam illam essentiam homanitatis informat, et Socratem facit. Tum statim vero alias atomos illius essentiae humanitatis afficiunt colores et formae ignis et ignem ÜBMdunt, alias formae aquae et aquam faciunt, alias formae aeris et aera faciunt, alias terrae et terram f., et sie singulae particulae vel ignis sunt vel aqua, yel aer, vel terra.

* Vgl. Bitter, Gesch. d. Fhüos, Bd. VIT S. 365.

' Von seinen Werken Quaestiones naturaiUs und De eodem et diverse gibt JouBDAiN Nachricht in Becherches s. Vage etc. des iraduct lat {TAristote, Parisl843.

Adxlabd von Bath: Körperwelt. 71

hiinderts stammen. Hier aber mischt sich nicht nur der platonische Einflnfs stärker, sondern vor allem derjenige arabischen Wissens ein. Adblard hatte auf weiten !Beisen im Orient namentlich naturwissenschaftliche Kenntnisse gesammelt, auch den Euklid übersetzt. Es ist kein Zweifel, dafs ihm die Schriften des Hippokratbs und Galenus aus arabischen Über- Setzungen bekannt waren, wie denn der Einilufs der Arzte immermehr hervortritt.

In Bezug auf seine Stellung zum !Bealismus äufsert sich ^i\Tn,kin% dem Abistoteles beistimmend, indem er hervorhebt dafs die Genera und Species den Individuen immanent anhaften ; denn wenn man bei den sinnlichen Objekten auf ihre Einzel- exLstenz achte, seien sie Individuen, achte man aber auf das Gleichartige in ihnen, so werden sie Species und Genera. In der Schrift De eodem et diverso hebt er hervor, dafs das Zeugnis der Sinne falsch sei und ihm kein Einflufs gebühre, indem er ausruft: „Wessen Blick vermag den xmendlichen Himmelsraum zu umfassen, welches Ohr seine Harmonie zu vernehmen, welches Auge die Atome zu scheiden, welches Gehör das Geräusch ihres Zusammenstofses zu vernehmen?'' Die körperliche Masse der sichtbaren Welt hat nach Adelard ihre Formen durch die Allweisheit des Schöpfers erhalten, aber ihre Prinzipien waren ohne Kraft und ohne Bewegung, und es bedurfte daher einer äuüseren Kraft, um der Welt angemessene Bewegung und Wachstum zu geben. Diese Kraft ist die der Seele, welche die unfähigen Körper leitet xmd bewegt.

Die Körperwelt wird nun in den Quaestiones naturales näher betrachtet. ^^i® Welt besteht aus vier Elementen, die, obgleich dem Auge unerkennbar, sich in allen ihren Teilen wiederfinden. Sie sind so eng verbunden, dafs fär unsere Sinne nichts durchaus einfach ist. Genau genommen mufs man sie also nicht durch Substantiva, sondern durch Adjectiva bezeichnen, weil diese das vorherrschende Prinzip ausdrücken. So herrscht z. B. bei den Vegetabiüen das erdige Prinzip vor, und die drei andern, Wasser, Luft und Feuer sind dabei in abneh-

Im Nachttehenden ist, unter Vergleich mit dem Original, die Übersetzung T. Stahr benutzt» S. 247—263, hauptsächlich S. 260, 261. Vgl. auch Haur^au, Bat de la pkiL scolast I p. 354. f.

72 Adblabd yov Bath: Belumren der Teile.

meuder Progression enthalten. Diese Kombination der Elemente und ihrer Eigenschaften erzeugt die feststehende Ordnung in den niederen Dingen, welche durch eine fortwährende Auf- lösung zu den ihnen ähnlichen zurückkehren. Nichts in der sinnlichen Welt wird ganz vernichtet. Wenn die Verbin- dung von Teilen mit anderen aufhört, so hört damit nicht ihre Existenz auf, sondern sie gehen nur eine andere Verbindung ein. Überhaupt muTs man Quantität und wirkende Eraft unterscheiden. Die erste ist der zweiten untergeordnet. Daher legen wir dem oder jenem Vegetabü die Eigenschaft der Wärme bei, obwohl^ der Quantität nach das erdige Prinzip in allen Vegetabilien vor- waltet. Die Verschiedenheit der Eigenschaften der Pflanzen entspringt aus der Eigentümlichkeit des sie nährenden Elements.^ Bei Adelard findet sich nun allerdings nicht hervorgehoben, (lals die Elemente als körperliche Partikeln der Körper zu be- trachten sind/ aber es ist doch der Gedanke deutlich aus- gesprochen, dafs die Teile der Körper eine selbständige Existenz haben imd nur durch den Wechsel ihrer Verbindungen die Veränderungen der Körper bedingt sind.

8. Wilhelm von Oonches.

Entschiedener tritt die korpuskulare Theorie der Materie hervor bei Wilhelm von Conches (geb. 1080). Dieser gelehrte Theologe war in naturwissenschaftlichen Fragen, unter denen er psychologische imd physiologische Probleme behandelt, wohl untemchtot, er kannte genau Platons Timäus^ dessen Koumientar Havk^au ihm zusehreibt, und höchstwahrscheinlich auch Schrift on dos Hippokrates und Galenus, welche der Mönch CoxsTANTiNVs Africani's, dor sich nach Reisen im Orient um lOöO im Klostor Montocassiuo nieiierliefs, übersetzt hatte.' Er macht aus soinoni Eklokticismus kein Hehl imd bekennt sioh

* .quoiquo lo principe torreux toit en quantite dans Im v^g^ttuz/ Stahr ül^rsotzt hior ««i* «loch u. s, w,**; der Sinn ist doch mber offenbar der, dals. obwohl diel^auxen h«upt9üchlich aus Erde bestehen, wir sie doch anter Unutinden wann nennen« weil die wirkende Kraft der Erde das Maiagebende, die Quantität das Unter^H^rdncte ist.

* JovRPAiN, a. A. O, S. UV.\ 5>. L>47. ÜBsawKa-HKixiK, II a 2Ä1.

Walthbb von St. Victob gegen Wilhblv vov Covchbs. 73

EU dem Augostinischen Satze, keine Lehrmeinung sei so falsch, dafs sie nicht irgend etwas Wahres enthalte. So ist er sich auch vollständig bewuTst, dafs seine Korpuskulartheorie mit der Lehre des so schlecht beleumundeten Epieub übereinkommt.^ unter diesen Umständen überrascht es nicht, dafs er mit der Kirche in Konflikt geriet. Der Prior Walthbr von St. Victor schrieb um das Jahr 1180 gegen Petrus Aba^elabdus, Gilbebtüs PoRBETANüS, Petbus Lombabdus und Pbtbus Pictavinus und nannte diese Männer quaiuor Franciae labyrinthos et novos Hae- reUeas. Von seinen vier Büchern finden sich Auszüge im jsweiten Bande von du Boulays Geschichte der Pariser Universität. Daselbst' erwähnt Waltheb gelegentlich, dafs das hebräische Wort Doc, welches sehr feinen Staub bezeichne, soviel bedeute als die aufserordentlich kleinen und fast unsichtbaren Pulverteilchen , welche Demoebit „mit seinem Epikub** wohl mit ihren Atomen gemeint habe, und knüpft hieran die Bemerkung, dafs Willielmus de Conchis aus der Zusammenfügung von Atomen, d. h. äusserst kleinen Körpern, alles werden lasse. Daraus schliefst er durch komplizierte Folgerungen auf eine Ketzerei bezüglich der Person Christi, die sich aus der Atomenlehre ergebe, und fügt hinzu, dafs er die Atome und Regeln der Philosophen und dergleichen Lächerlichkeiten ver- achte und verdamme, weil in den heiligen Schriften sich nirgends derartiger Unsinn finde.

In der That hatte sich Wilhelm von Conches genötigt ge- sehen einige Sätze, in denen er gegen die Kirchenlehre und die Bibel gefehlt habe, zu widerrufen.' Er that dies in der Vorrede zu seiner Schrift Dragmaticon philosophiae^ in Bezug auf das

* HAUBiAu, a. a. 0. I. S. 442.

' BuLAXUB, Histaria universcUis Universitatia Parisiensis. Paris 1665. Tom n. p. 659. Ex lib. IV. Gualteri de S. Victore. Minutissima ergo frustra pohreria et pene invisibilia hoc verbo Doc appellantur, quae forsitan Demo- oritus com Epicoro suo Atomos vocat. Inde Willielmus de Conchis ex Ato- momm id. minntissimorum corporum concretioiie fieri omnia .... Nos tarnen Qlanim Atomot et regulas Philosophorum et quid et aliquid et caetera h^jus- modi ridicola contemnimus et excommunicamus.

* Hiatoire Uteraire de la France. Par. 1763. XH. p. 464 ff.

* Dies ist der eigentliche Name der unter dem Titel : Dialogus de sub- ittmimt phyticia, ante annos ducentos confectus a Wtlhdmo Aneponymo phüo- wpho 1567 in Stralsburg erschienenen, dem Conches zugehörigen Schrift.

74 WiLHBLM VON CovcHBS: Die kleinfteii Teilohen.

Trinitätsdogma und seine Erklärung des mosaischen Sohöpfungs- berichts über das erste Menschenpaar. Die ihm vorgeworfene Annahme einer Weltseele liefs er schweigend fallen; er verwahrte sich dagegen, dafs man seine Atomenlehre mit jener Epikurs zusammenwerfe, und erklärte, dafs er, „soweit dies immerhin auf christlichem Standpunkte möglich sei, es mit Platon halten wolle.^ Gregenüber dem, was er in seiner Jugend geschrieben, solle sein jetziges Buch eine Verbesserung seines Irrtums geben. „Sonst imterscheidet sich diese letzte Schrift Wilhelm von Cokchbs', von ihrer dialogischen Form abgesehen, kaum von seinen Elementis phüosqphiae.^^

In diesen Elementis philoscphiae ^ welche auch unter dem Titel Phüosophia mundi vorliegen,' behandelt Wilhelm voh CJoNCHES im 1. Buche einige allgemeine metaphysische, natur- philosophische und theologische Fragen, während er in den drei folgenden die spezielle damalige Physik, d. h. Astronomie, Meteorologie und die Lehre vom Menschen, vom Äther Eur Erde herabsteigend, in Kürze darstellt. Er stellt es als einen Ghnmdsatz auf, dafs die Natur die Gegensätze fliehe, das Ähnliche aber zu vereinigen strebe. Über die Natur der sichtbaren Körper wolle er jedoch nur einige Vermutungen oder Wahrscheinliches vortragen und nicht behaupten, daJb seine Annahmen notwendige seien. Alle Körper bestehen aus Elementen.' unter einem Elemente aber hat man das ein- fachste und kleinste Teilchen eines Körpers zu verstehen; einfach in Beziehung auf die Qualität, minimal in Besiehung auf die Quantität. Diese Elementarteilchen den Ausdruck „Atome** vermeidet Wilhelm sind unsichtbar und nur ver- möge des Begriffs der Teilung im Denken zu erfassen.

^ Nach Wbrxbb, Wier^er SitzungsberickUy hist.-phihs, Klasse, Bd. 75. S. 310, 311.

* Vgl. Haür£aü, Bist de la phü. scol L p. 432. Sie iat u. a. abge- druckt unter dem Titel n§^ dM^oty, sive ekinentarum pkihsepkiae IM quatuor in Bedas Werken, Colon. Agripp 1688, T. II, f. 206 ffl, wonach ich eitlere. Das grofsere Werk Wilhelms de Cohohis ^Magna de naUtrie pfUkh Sophia^ (1474 erschienen) ist gegenwSriig nicht mehr zu finden. 8. Webneb, a. a. 0. S. 309. Überwbo-Heixzb, II S. 175.

' Elem. phäos. A. a. 0. p. 209. Omnia corpora ex elementis oonatant . . Elementum yero ut definiunt philosophi, est simpla et minima aliongns corporis particula; simpla ad qualitatem, minima ad quantitatem.

Wilhelm vok Concheb: Die Elemente. 75

Seine Beispiele entnimmt er, ebenso wie die gleichzeitigen Schriftsteller, von den Teilen des menschlichen Körpers. Dieser zerfällt in seine Organe, welche zunächst in gleichartige Teile zerlegt werden, wie Fleisch imd Knochen. Die. gleichartigen Teile können in die Hmnores, die Humores aber in Elemente, d. h. in die einfachsten und kleinsten Teilchen zerlegt werden. Das ist nichts anderes, als die Lehre Galens. Die Teilung kann in Bezug auf die Organe ctctu^ in Bezug auf die Humores und £lementa aber nur inteUectu geschehen.^

Wenn man nun fragt, wo denn die Elemente sind, so ist zu antworten, sie sind in der Zusammensetzung des mensch- lichen Leibes und anderer Körper, wie der Buchstabe in der Zusammensetzung der Silbe, wenn auch nicht für sich bestehend. Sie sind aber nicht Eigenschaften, sondern Materie ; Materie ist nftmlich das, was unter Annahme der Form in etwas anderes über- geht. Die Eigenschaften liegen in den Elementen, sind aber nicht dieElementeselbst. Die Elementesind vielmehr einfacheElementar- teilchen , die erst durch ihr Zusammentreten die Eigenschaften der Körper bedingen. Daher haben eben die Philosophen und Ärzte (physici), wo sie über die Natur der Körper handeln, die einfachsten und kleinsten Teilchen jener Naturen Elemente, gewissermalsen die ersten Anfänge (prima principia) genannt.

Bei der Schöpfung der Welt sind zuerst diese Elementar- teilchen und aus ihnen alles andere erschaffen worden.

Die Elemente sind in den sichtbaren Körpern durch Neben- einanderlagerung enthalten. Die kalten imd trockenen Teilchen bilden die Erde, die kalten und feuchten das Wasser, die warmen und feuchten die Luft^ die warmen und trockenen das Feuer. Es sind jedoch die wahrnehmbaren Körper, welche Erde, Wasser, Luft und Feuer heifsen, keineswegs die Elemente selbst. Wir nennen nur Erde einen Körper, in welchem die

^ A. a. 0. p. 209. Haec elementa nanquam videntur, sed ratione divi- tionis inteUigrantiir. Dividitur enim ut figaraliter dicatar humannm corpus in orgamca, ut in manos, et organica in homiomera. i. consimileB, seil, in partes oamiB et ossa. Homiomera autem in hamores, melancholiam, etc., humores antem in elementa i. in simplas et minimas particulas. cujus divisionis pars acta, pars sola ratione et cogitatione fieri potest .... Humores in elementa •oloa inteUectos dividere potest, quia ut ait Boetius in commento super Por- phyrinm, vis est intellectus conjuncta dividere et divisa conjungere.

76 Wilhelm tov Covchu: Korpuknlare Erklinaig«ii.

trocknen und kalten Teilehen vorherrschen. Die Erde ist aber porös und mit Wasser umgeben; daher ist es natürlich, dafii etwas von der Flüssigkeit des Wassers zwischen die Erdteilchen eindringt; dasselbe gilt von den LnftteUchen nnd noch weiter von den Teilchen des Feaers, dessen Kreis die ganze Welt nmgiebt : aas diesem Grunde finden sich in der wahrnehmbaren Erde die Elementarteilchen aller Art, aber die der Erde sind die mafsgebenden. Die übrigen sind nur zufUlig (accidentaliter) in der Erde, nicht von Natur (naturaliter), sie besteht nicht aus ihnen.

Es ist kein Zweifel, dafs hier eine durchaus korpuskulare Auffassung der physischen Veränderungen vorliegt. Die Ghrund- bestandteUe der Eörperwelt werden gedacht als Korpuskeln des Feuers, des Wassers, der Luft und Erde, und ihre Mischung bestimmt die Körper. Aus ihnen sucht Wilhelm von Gonchbs eine Erklärung der Körperwelt zu geben, doch reicht diese im allgemeinen nicht weiter als die Beminiscenzen an die platonisch-aristotelische Elementenlehre, insofern nicht Überliefe- run gen aus ärztlichen Kreisen vorliegen.

Die Bildertheorie der Atomisten zur Erklärung der Wahr- nehmung nimmt er nicht an; dagegen giebt er den Versuch einer ganz materialistischen Psychologie, indem er die Eigen- schaften der Seele im Gehirn in einer CeRula fantastiea, hgistica und memorialis lokalisiert.^ Auch in dieser kühnen Physiologie des Gehirns werden die Grundeigenschaften der Elemente zur Erklärung benutzt.*

9. Hugo von St. Victor.

In diesem Zusammenhange korpuskulartheoretischer Be- strebungen verdient auch die Ansicht des Mystikers HüGO von St. Victor (1097 1141), der durch seinen EJTiflnfe auf die Theologie und sein encyklopädisches Wissen von Bedeutung ist, eine Erwähnung. Die Erkenntnis durch den Verstand ist nach HuQO nicht ausreichend, die Wahrheit der Dinge unver- fälscht zu ergründen. Es steht daher auch die Erkenntnis der

' Man. lat de la Biblioth. nat. No. 6588. Nach HaürAait, I p. 485, 486. Über CoÄCHEs' Phytiologie und seine Abhängigkeit von CoimAXTiirvs ArwcAxrs vgl. Siebeck, Z. Pisychol. d. Schal, Arch, f, G, d, Fh, l 8. 581 1

HüGo voH St. Victob: Veränderang und Sein. 77

siimlichen Welt tief anter derjenigen des geistigen Prinzips der Dinge, die wir aus der Versenkung in das eigene Innere schöpfen. Trotz dieser dem Mystieismus eigenen Yeraclitung wissenschaftlicher Forschung sind seine physikalischen ünter- sachnngen bemerkenswert, weil er Werden und Vergehen als hlob wechselnde Verbindung eines Beharrenden auffafst.

Die Physik ist nach ihm die einzige Wissenschaft, welche sich mit den Dingen selbst beschäftigt, und zwar mit den- jenigen Dingen, welche im Gegensatz zu Gott und den himmlischen Wesen Anfang imd Ende haben und veränderlich sind. Sie untersucht die vielfach gemischten Wirkungen der Dinge in ihrer [Reinheit, indem sie durch ein Verfahren der Abstraction die W'irkungsart der Dinge aus ihrer Komplikation loslöst und for sich betrachtet. Aus dieser Sonderung des Wesens eines jeden Elementes gewinnt sie ein Urteil über die Entstehung und Wirksamkeit des Ganzen.^

Die Veränderlichkeit der Dinge bezieht sich nicht auf ihr Wesen, sondern nur auf den Wechsel ihrer Formen. Auch die Form geht nicht eigentlich unter, sondern nur über, d. h., wenn ein Ding gänzlich zu vergehen und seine Existenz zu verlieren scheint, so erleidet es im Grunde nur eine Veränderung. Verbundenes scheidet sich, Getrenntes wird vereinigt ; was hier war, geht dort hin, was jetzt war, tritt dann hervor. Überall giebt es nur örtliche und zeitliche Veränderungen, bei denen das Sein der Dinge beharrt.* Aus nichts entsteht nichts, und nichts kann in ein Nichts verwandelt werden; jede Natur hat ihre anfängliche Ursache und ihren ewigen Bestand.

^ Didascakm Libri Septem. Venetiis 1506. (Erste Ausgabe). Lib. 11 c. 18. t 124 Unks: Physicae autem est proprium actus rerum permixtos impermixte ittendere. Actus enim corporum mundi non sunt puri, sed compositi ab actibus pnronun, quos pbysica, cum per se non inveniantur, pure tamen et per se oontiderat; purum scilicet actum ignis, sive terrae, sive aeris, sive aquae; et ex natura nninscujusque per se considerata de concretione et efficientia totius judioat.

* A. a. 0. f. 121 links : Non enim essentiae rerum transeunt, sed formaes Ciim forma transire dicitur, non sie intelligendum est, ut aliqua res existen perire omnino et esse suum amittere credatur, sed variari potius; vel sie for- taani, nt quae juncta fuerant, ob invicem scparentur ; vel quae separata erant, oonjimgaiitar; yel quae hie erant, illuc transeant; vel quae nunc erant, tuno ■abnstant; in qnibus omnibus esse rerum nihil detrimenti patitur.

78 Wiederverschwinden der Eorpuskolartheorie.

Das sind in der That Grundsätze physikalischer Forschung, deren Erkenntnis zu jener Zeit ebenso überrascht, wie sie vor- läufig für die Entwickelung der Körperlehre unfruchtbar bleiben mufsten. Ihr Auftreten bei Hugo von St. Victor erkl&rt sich hier im Zusammenhange mit den im Anfang des 12. Jahr- hunderts sich regenden Einflüssen der antiken Wissenschaft.^

10. Die Korpuskulartheorie verschwindet wiedw.

Die hier zusammengestellten Ansichten aus dem Dialog De generibus et speciebus, aus Adblard von Bath, Wilhblm von CoNCHES und Hugo von St. Victor wären wohl geeignet gewesen, eine korpuskulare Theorie der Materie zu begründen und die antike Atomenlehre wieder zu verwerten. Aber die Zeit dazu war noch nicht gekommen.

Zunächst war das Interesse der Zeit noch ein ausschlieüsUch theologisches und die Kirche so übermächtig bestimmend f&r alles geistige Leben, dafs eine wirksame Behandlung physikalischer Probleme nicht aufkommen konnte. Die autoritative Ghewalt der Elirchenväter, welche sich gegen die Physik überhaupt, namentlich aber gegen jeden atomistischen Anklang gerichtet hatte, hält das Denken gefesselt. Selbständige Ansichten zu haben macht schon verdächtig, und wer etwas Eigenes pubU- zieren will, legt es einer fremden Person in den Mund, wie Adelard den Arabern, indem er sich zugleich über diesen Fehler seiner Zeit bitter beklagt.^

Ehe die Theorie des Körpers weitere Fortschritte machen konnte, mufste erst das naturwissenschaftliche Interesse wieder geweckt werden. Es geschah dies durch das Bekanntwerden der empirischen natunvissenschaftlichen Kenntnisse der Araber im Abendlande. Wir sehen, wie sogleich im ersten Beginn dieser Einwirkung arabischen Wissens das physikalische Interesse steigt, und wie es sofort sich in der Form der Korpuskular- theorie äufsert, wo das Nachdenken sich auf das Problem des Körpers richtet. Zu einer fruchtbaren Ausbildung dieser

^ Bei Xaver Pfeifer, Die Controverae über das Beharren der ElemenU in (len Verbindungen von Aristoteles bis zur Gegenwart (Dillingen 1879. S. 81) fehlt die Kenntnis dieses Zasammenhangs.

* S. JoüRDAix a. a. 0. S. 259.

Störung durch Abistotblss. 79

Anfönge fehlte freilicli alles ; Kenntnis der Natur , der Mathematik und Vertrauen in die eigene Kraft des Geistes.

Warum aber verlieren sich jene korpuskularen [Regungen w&hrend des nun nach und nach sich entwickekiden physika- lischen und mathematischen Wissens? Warum müssen fL voUe Jahrhunderte vergehen, ehe die längst bekannte antike Ato- mistik neues Leben gewinnt? Zugleich mit dem Füllhorn neuen und reichen Naturwissens, das der arabische Geist über das Abendland ausschüttete, brachte er der Atomistik den gefkhrlichsten Gegner, der, nach kurzem ausgerüstet mit einer Autorität, welche derjenigen der Kirche nichts nachgab, die antike Naturwissenschaft zugleich mit einer fertigen Theorie des Körpers übermittelte. Dieser Gegner war die Physik des Abistotelbs. Abistoteles bestritt die Atomistik. Dies erklärt dffli Kampf von fünf Jahrhunderten um das Problem des Körpers. Wir haben es von jetzt an mit der aristotelischen Physik zu thun.

Dritter Abschnitt.

Aristoteles.

1. Objektive Wirklichkeit und Natur.

Die Entwickelung der Physik als selbständiger Wissen- schaft ist der Kampf gegen den aristotelischen Begriff vom Körper, die Emanzipation von der Theorie der substanziellen Formen. Aber wissenschaftliche Begriffe werden nicht plötz- fich durch die That des Genius geschaffen, sie entstehen durch allmähliche Umbildung der vorhandenen Erkenntnismittel, durch Bewuüstwerden bisher der Menschheit verborgener Denkmittel. und diese Aneignung der Denkmittel ist gleichbedeutend mit der Erweiterung der wissenschaftlichen Erfahrung, mit der Gestal- tung der Natur als objektiven, gesetzmäfsigen Erfahrungsinhalts.

Aus dem wechselvoUen Inhalt des Bewufstseins, welcher das Oesamterlebnis der Menschheit ausmacht, wird im Laufe der Kulturentwickelung ein Teil als gesetzmäfsig erkennbar ausge-

80 Objektive WirkUchkeit und Netor.

schieden. Bänmlich und zeitlich bestimmte Grappen von Empfindungen kehren regeknäfsig wieder, Wandel der Tages- und Jahreszeiten, Auf- und Niedergang der G^stimei Blühen der Pflanzen und Reifen der Früchte, Gewohnheiten der Tiere, Vorgänge des eigenen Organismus. Soweit in derartigen Er- scheinungen Gesetzmäfsigkeit erkennbar wird, soweit entsteht eine neue Art der Existenz; an Stelle passiven Erwartens, un- bestimmten Erlebens, triebartigen Handelns tritt bewulistes Überlegen; es gibt etwas Erkennbares. Diese Erkennbarkeit ist das psychologische Zeichen derjenigen Art des Seins, welche wir objektive Wirklichkeit nennen. Das Nicht-Erkennbare bleibt immer subjektive Vermutung, Gegenstand des Fürchtens und Glaubens, Gebiet des Mythos. Dies schlieCBt nicht aus, dats gerade der Schwerpunkt des Lebens in diesen Gebieten liegt, in der subjektiven Gewalt der Gefühle. Aber das ist eine andere Art des Wirklichen.

Objektive Wirklichkeit nennen wir den Komplex räumlich zeitlicher Empfindungen, welcher einer gesetzlichen Bestimmbarkeit unterliegt. Derjenige Teil dieser objektiven Wirklichkeit, welcher als gesetzliches Geschehen im Saum durch die wissenschaftliche Erkenntnis gewährleistet ist, besitzt den höchsten Grad der Unabhängigkeit vom subjektiven Erlebnis: er heifst Natur im wissenschaftlichen Sinne.

Natur im wissenschaftlichen Sinne ist also dasjenige, was durch systematisches Denken als räumlich-zeitliche Erscheinung objektiviert, d. h. begrifflich fixiert und dadurch ge- setzlich garantiert ist. Daher darf man sagen, das Denken erzeugt die Natur, d. h. es existiert inmier nur soviel Natur, als Wissenschaft von derselben besteht. Natur ist nicht eine transcendente Welt von Objekten, mit ihr eigenen, unveränder- lichen Gesetzen, denen das menschliche Denken nach und nach sich anzupassen hätte, Natur ist auch nicht die bunte Mannig- faltigkeit der Erscheinung, insofern sie regellos vor unsem Sinnen auftaucht, sondern Natur, als das Objekt wissenschaft- licher Erfahrung, ist derjenige aus diesem Erlebnis herausge- schälte Teil, welcher durch ein Verfahren des BewuÜBtseins, das wir die Gesetzlichkeit des Verstandes nennen, als Wirklich- keit objektiviert ist, so dais er der Erkenntnis und der Dar- stellung in zweifellosen Gesetzen zugänglich und fUug ist.

stufen der objektiven Wirklichkeit. gl

Die Aufgabe und der Fortschritt der Naturwissenschaft besteht darin, immer weitere Gebiete des unmittelbaren Erieb- nisses der Menschheit zu gesetzlicher Natur zu objektivieren. Das Eintreten einer Mondfinsternis ist für den Wilden nicht Natur, sondern ein übernatürliches Ereignis; es ist gesetzlos, zufällig. Für die Stemkimdigen, denen die Wiederkehr der Verfinsterungen nach der Periode des Saros empirisch bekannt war, wurde die Finsternis aus dem fragwürdigen Erlebnis ziu* objektiven Wirklichkeit; für den modernen Astronomen, der den systematischen Zusammenhang bis auf die Minute beherrscht, ist sie Natur. Für jedes Zeitalter existiert nur soviel Natur (im wissenschaftlichen Sinne), als es durch den gleichzeitigen Standpunkt des Denkens zu schaffen vermag. Dies Erschaffen der Natur aber besteht in der begrifflichen Fixierung des in der sinnlichen Empfindung Gegebenen; je nachdem dieselbe gelingt, kann es zu verschiedenen Epochen des Geistes verschiedene Formen der Natur geben. Die Natur entwickelt sich mit der Menschheit.

Daher fallen die Ursachen zusammen, welche Naturwissen- schaft und gesetzmäfsigen Naturinhalt erzeugen. Unter dieser Auffassung ist die Fragestellung irreführend, warum den Alten die Erkenntnis der Natur verschlossen geblieben sei. Was ihnen Natur war, erkannten sie; was sie nicht erkannten, war ihnen unbestimmtes Erlebnis, daher Gegenstand des Mythos, des Aberglaubens, der Dichtung, wie die Heilkraft des Magnets, die Dämonenwelt der Erde und des Himmels. Man könnte höchstens fragen, warum ihr Denken nicht überhaupt ein anderes war; und darauf kann man keine andere Antwort geben als die Thatsachen der Kulturgeschichte.

Wenn ein Hirtenvolk der Flöte wohllautende Töne entlockt, 80 gehört diese akustische Erscheinung nicht zur Natur im wissenschaftlichen Sinne, so lange die Produktion derselben auf zufälligem Treffen oder vielfachem Probieren beruht; denn sie enthält keine Gesetzmäfsigkeit, welche ihre Objektivität garan- tiert, sie ist nur subjektives Erlebnis. Wenn aber Ptthagoras, oder wer es sonst war, die Abhängigkeit der Tonhöhe von der Saitenlänge erkennt, so wird damit der Ton als Naturgegen- stand räumlich objektiviert; er steht jetzt in gesetzmäfsiger Beziehung zur Erfahnmg. ist wissenschaftliche Erfahrung. Die

La&witx. ^

82 Objektivierang der Sinnesempfindangen.

Ersclieiuungen der Farben waren der Menschheit immer be- kannt, aber ihre begriffliche Fixierung ist erst Newton durch die Gröfse des Brechungsindex und weiterhin der ündnlations- theorie durch die Bestimmung der Wellenlänge gelungen ; seit- dem sind die Farben Natur geworden; vorher waren sie nur ein Erlebnis mehr oder weniger subjektiver Art. Zwar besafsen sie auch eine gewisse Objektivität, insofern sie nach Regeln technisch erzeugt werden konnten ; aber diese Stufe der Wirk- lichkeit beruhte auf sinnlicher Vergleichung, nicht auf be- grifflicher Fixierung; erst die Einreihung in die mathematisch darstellbare Erfahnmg gab ihnen den Charakter wissenschaft- licher Objektivität. Die Objektivität der Natur erstreckt sich nur, soweit wir die Natur gesetzlich beherrschen. In der gegen- wärtigen Entwickelung des menschlichen Denkens sind wir mit der Erkenntnis der Gerüche nicht weiter, als mit den Tönen und Farben vor ihrer begrifflichen Fixienmg. Es sind Em- pfindungen, die hauptsächlich Wert haben durch ihren Ge- fühlston und als Zeichen andrer Erscheinungen dienen können; so war es mit den Tönen, so mit den Farben. Gerüche be- sitzen nur Objektivität, insofern sie mit gesetzlichen Erschei- nungen gesetzlich verknüpfbar sind. Zur naturwissenschaft- lichen Objektivierung derselben durch das Denken gehört ihre mathematische Theorie. Wenn dieselbe der Menschheit ge- schenkt sein wird, dann wird das Gebiet der objektiven Natur um eine neue Provinz bereichert sein, und niemand vermag zn sagen, welche neuen Thatsachen der Erfahrung, welche neuen Verkehrsmittel der Bewufstseinszentren mit dieser Objekti- vierung der Empfindung verknüpft sein werden. Eine wissen- schaftliche Ozotik würde ebenso wie die Akustik und die Optik neue Naturobjekte schaffen. Dieselben sind jetzt so wenig vorhanden, wie die Spektrallinien für Aristoteles. Sie werden einst vorhanden sein; zwischen Ptthagobas und Newton lagen über zwei Jahrtausende.

Unter diesem Gesichtspunkte dürfen wir auch das aristote- lische Wissen von der Natm\ insofern es systematische Wissen- schaft enthielt, nicht ohne weiteres falsch nennen; es war nur das Wissen von einer andren Natur, die Erzeugung eines andren Naturinhalts als des unsren, welchen wir durch die G ALiLEi-NEWTONsche Naturwissenschaft objektivieren. Und

Naturwissenschaft bei Abistotblbs. 83

wenn der Fortschritt der Wissenschaften in der Zukunft durch die Weiterentwickelung der Denkmittel eine neue Umwälzung des Wissens vollzieht und die wissenschaftliche Darstellung des Erlebnisses anders gestaltet, so wird darum nicht unsre heutige Naturerkenntnis falsch, sondern es ist eine neue Ob- jektivierung des BewuTstseinsinhalts entstanden.

Für Aristoteles verwandelte sich ein Tropfen Wein auf zehntausend Kannen Wassers wirklich in Wasser.^ Dies war eine unwiderlegbare Beobachtung; konnte sie das Denken widerspruchslos in ein System einreihen, so war es eine gesetz- liche Thatsache. Das System der substanzialen Formen, welche die Materie zur Wirklichkeit bestimmen, lieferte den für Aristoteles und das Mittelalter genügenden Naturbegriff. Für die unmittelbare Empfindung findet die Verwandlung des Tropfens Wein in Wasser bei jener Mischung noch heute statt. Dafs wir sie nicht für Natur halten, bewirkt das wissenschaft- liche Denken. Erst die Gesamtheit der seit dem 17. Jahrhundert bekannt gewordenen physikalischen und chemischen Erfahrungen xmd die Systematisierung derselben im modernen Begriff der körperlichen Substanz erfordert, dafs auch gegen den Sinnen- schein die Erhaltung des Weins im Wasser wissenschaftliches Ergebnis ist; erst darum ist die Beharrung des Weintropfens im verteilten Zustande objektiviert, ist Natur. Natur- wissenschaft erzeugen heifst Empfindung objektivieren. Wofern Aristoteles Wissenschaft geschaffen hat, insofern hat er Empfin- dung zur Natur objektiviert.

Aber die Erweiterung der sinnlichen Erfahrung schuf immer neuen Empfindungsinhalt, den zur Naturgesetzlichkeit zu ob- jektivieren dem System der substanzialen Formen nicht gelang. Daher vollzog sich zugleich mit dem Anwachsen des Empfin- dungsinhcdts eine Umwandlung der Denkmittel der Menschheit. Vieles, was für Aristoteles Natur war, ist es für uns nicht mehr, weil es, wie z. B. der Einflufs der Planetensphären auf die sublunare Welt, nicht mehr in der Gesetzlichkeit unsres Denkens begründet ist. Thau und Regen fallen wie zur Zeit des Stagiriten; aber die Luft verwandelt sich nicht mehr in Wasser. Die Elemente haben eine andre Natur angenommen; erst von

* De gen, et corr. p. 328 a 28.

84 Philosophie und Einzelwiasenichaften.

dem Standpunkte dessen, was jetzt objektive Natur ist, erscheint der aristotelische Naturbegriff als eine Dichtung; er war es nicht für eine beschränktere Erfahrung.

Die Erzeugung der Natur durch das [Denken, d. h. die Schaffung neuer Denkmittel zur Objektivierung der Empfindimg, ist nicht die Funktion der Philoso pliie, sondern der Einzel- wissenschaften. In ihnen entwickeln sich die Begii£fe an den Problemen, welche im Gesamterlebnis der Menschheit auf- tauchen. Die Philosophie vermag als objektivierende Denkmittel nur so viele zu erkennen und aufzudecken, als bereits durch die Entwickelung der Einzelwissenschaften zur Verwendung gekommen sind. Daher gibt es keine Konstruktion des Natur- wissens a priori, obwohl Natur nichts andres ist als das Pro- dukt der sich differenzierenden GesetzUchkeit des Verstandes in ihrer Anwendung auf den Inhalt der Empfindung. Die Philosophie, und zwar die Erkenntniskritik, hat nicht die Denkmittel zu erfinden, sondern sie entdeckt sie an den Methoden der Naturwissenschaft.

um aber diese Methoden und den Entwickelnngsprozeifl der Naturwissenschaft zu ermitteln, muTs man an Aribtotblk anknüpfen. Denn unser modernes Naturerkennen ist aus dem seinigen hervorgegangen, wenn auch unter völliger Aufhebung desselben. Noch hat die Sprache eine Heihe von Wendungen erhalten, deren begriffliche Bedeutung sich vollständig verkehrt hat. Elemente, Materie, Bewegung, Schwere sind auch aristote- lische Erkenntnismittel der Physik; aber der moderne Physiker, der mit den ihm geläufigen Vorstellungen ohne geeignete Vor- kenntnisse an dcLS Studium der aristotelischen Physik gehen wollte, würde sich im Anfang in die bedenklichsten Miisver- ständnisse verwickeln.

Die historische Darstellung der Entwickelung des Körper- begriffs hat die Aufgabe, die Umwandlung des aristotelischen Begriffssystems in das der mathematischen Naturwissenschaft nachzuweisen. Zu der Zeit, in welcher die Denkmittel der modernen Physik geschaffen wurden, stand die Naturanschauung unter dem Einflüsse der aristotelischen Metaphysik. Die Männer, deren Geistesarbeit die aristotelische Lehre untergrab und umwarf, waren darum nicht weniger im Gedankenkreise des Stagiriten gebunden, ihr ganzes Leben war ein Bingen mit

AmsTOTELES als notwendiger Ausgangspunkt. g5

dem Begriff der substanziellen Formen, welcher ihr Denken beherrschte. Die Schule, durch welche sie selbst in ihren Jünglingsjahren gegangen, wirkte bewufst oder unbewufst auf ihre Manneskraft; in sich selbst mufsten sie den Entwickelungs- prozefs durchmachen, der sie von den Vorurteilen der Schule befreite. Und nicht minder stand die Gewalt der aristotelischen Lehre, deren Urheber als praecursor Christi in naturalibus von der Kirche mit einer unantastbaren Autorität versehen, deren Geist in der Gesamtbildung der Jahrhunderte festge- wurzelt war, der äuTseren Aufnahme und Verbreitung neuer und andersartiger Begriffe hemmend entgegen. Es ist vieUeicht der gröfste Kampf, der auf dem Gebiete der Erkenntnis ausgefochten wurde, welcher im 17. Jahrhundert die aristotelische Physik stürzte. Die einzelnen Phasen dieses Kampfes sind nur zu verstehen, wenn man zuvor des Inhalts der aristotelischen Lehre sich bemächtigt hat. Von ihr mufs die geschichtliche Darstellung der Korpuskulartheorie ihren Ausgang nehmen. Wir können daher, obwohl es an trefflichen Darstellungen der aristotelischen Philosophie nicht fehlt, ims der Aufgabe nicht entziehen, in Rücksicht auf unsren besondren Zweck die für die Theorie der Materie in Betracht kommenden Teile derselben im Folgenden ausführlich zu entwickeln.

2. Das Bekanntwerden der aristotelischen Physik.

Durch syrische Christen, welche als Arzte unter den Arabern verkehrten, erhielten diese Kenntnis von den Schriften griechischer Phüosophen. Nachdem schon vorher medizinische Schriften zuerst in das Syrische, dann aus dem Syrischen ins Arabische übersetzt worden waren, wurden Werke des Aristo- teles zuerst unter der Herrschaft von Almamun (813 833) ins Arabische übertragen. Neue Übersetzungen, welche im 10. Jahr- hundert durch christliche Syrer (Abu Bischr Matta, Jahja ben Aw, ISA BEN Zaraa u. a.) angefertigt wurden, fanden die weiteste Verbreitung und förderten wesentlich das Studium der Philosophie; sie sind es, deren sich Männer wie Ibn Sina (Avicbnna) und Ibn Eoschd (Averroes) bedienten. Infolge der Neigung der Araber zu medizinischen und naturv^-^issen- schafblichen Studien fanden bei ihnen auch die physikalischen

gg Verbreitung der Schriften des Abibtotblbs.

Schriften des Aristotelbs eine sorgfältigere Beachtung un^ ausführliche Erklärung.

Nachdem bereits im 11. Jahrhundert medizinische Schriften des Altertums durch arabische Übersetzungen dem Abendlande bekannt geworden waren, und die Araber, wie wir sahen, im An- fange des 12. Jahrhunderts auf Männer wie Wilhelm von Cohches und Adelard von Bath EinfluTs gewonnen hatten, erfolgte um 1150 die erste Übersetzung von aristotelischen Schriften (zu- gleich mit physikalischen Schriften des Ibn Sina und andrer Araber) aus dem Arabischen durch das Castilische ins Lateinische auf Veranlassung des Erzbischofs Baimond von Toledo. Bis gegen 1225 finden wir im Abendlande von physikalischen und metaphysischen Schriften des Aristoteles nur solche als bekannt vor, die durch das Arabische zum Teil in entstellter Weise übermittelt waren.

Das Lesen dieser naturphüosophischen Schriften wurde im Jahre 1210 durch ein Provinzialkonzil zu Paris verboten, des- gleichen wiederum 1215 in den Statuten der Pariser Universität. 1225 wurde auch die Schrift Erigenas De divisione naturae den Flanunen überliefert, aber 1231 deklarierte Papst Gregor IX. den Beschlufs des Provinzialkonzils von 1210 dahin, dals die verbotenen physikalischen Schriften so lange nicht gebraucht werden sollten, bis sie geprüft und vom Verdacht des Lrrtums gereinigt seien. Inzwischen nämlich hatte man angefangen (vielleicht wirkte das Verbot selbst gerade in diesem Sinne), die Schriften des Aristoteles aus besseren Quellen kennen zu lernen. Mit Eifer versuchte man sich griechische Handschriften zu verschaffen, nachdem fast alle Werke des Aristoteles nebst den Kommentaren des Ibn Boschd und andrer Araber bereits aus arabischen Quellen bekannt waren. Auch hat das Verbot an der Pariser Universität nach Boger Baco^ nur bis 1237 be- standen, und 1254 finden wir sowohl die Metaphysik als Physik des Aristoteles in den Kreis der offiziellen Lehrgegenstände der Facultas ariium aufgenommen. Wilhelm von Auvergne, Erzbischof von Paris (f 1248), ist der erste Scholastiker, bei welchem man die vollständige Kenntnis der aristotelischen Schriften findet. Er verwarf alles, was sich nicht mit der

^ Uberweg-Heivze n, S. 222.

Aufnahme des Abistoteles. g7

Bibel vereinigen liefs, und erklärte sich daher auch gegen die Atome.* Die Theologie sah ein, dafs sie aus Aristotblbs selbst die stärkste Stütze für ihr eigenes System entnehmen könne; und somit tritt Aristoteles um die Mitte des 13. Jahrhunderts seine Herrschaft definitiv an. Von da ab wird seine Autorität fast absolut, und nur um untergeordnete Fragen wagt die Aus- legung zu streiten. Das gröfste Verdienst um die Erkenntnis der peripatetischen Lehre haben bekanntlich Albert von Boll- 8TBDT, genannt Magnus, imd Thomas von Aquino. Ersterer gibt eine ausfuhrliche Darstellung und Erklärung der aristotelischen Doktrin, meist im Anschlufs an Ibn Sina, zum Teil auch an Ibn Boschd und Moseh ben MAififUN (Maimonides) ; letzterer veranlafste eine neue Übertragung aus griechischen Texten und kommentierte ebenfalls die Schriften des Philosophen.

Von hier ab wird die Zahl der Kommentare eine aufser- ordentlich grofse.

3. Die Lehre des Aristoteles.

Was uns in den wahrnehmbaren Dingen als klar und deutlich entgegentritt, das ist selbst nichts Einfaches, sondern bereits das Produkt eines Zusammenflusses. Methodisches Wissen aber gibt es nach Aristoteles nur durch Erkenntnis der ersten und einfachen Prinzipien, welche von Seite der Natur aus, d. h. im Grimde der Dinge, die Objekte der Sinnes- wahmehmung hervorbringen. Daher lehrt er, dafs der natur- gemäfse Weg der Physik, als der Wissenschaft von der Natur, von den sinnlichen Objekten ausgeht, welche für unsere Wahmehmimg ein Ganzes sind, aber nach demjenigen hinführt, aus welchem sie ursprünglich zusammengesetzt wurden. Aufgabe der Wissen- schaft ist es, in dem sinnlich gegebenen Ganzen die Elemente und Prinzipien aufzufinden, durch welche es bestimmt wird.^

^ Aggregatio iippartibiliuin impossibile est, ut quantitatem continuam &ciat vel augeat. Haec declaravit Aristoteles in libro suo, quem vocavit anditam. Joübdaiv, a. a. 0. p. 276.

Fhya. I, 1. p. 184 a. Die Citate nach Bekeer ed. maj. Bei der Dar- stellung ist yomehmlich benatzt die Übersetzung der physikalischen Schriften des Aristotbleb yon Praktl, Leipzig 1854, Bd. 1 und 1857 Bd. 2, sodann Zeller

88 Abistotelbs: Das Seiende. Form und Stoff.

Daher ruht die Physik auf der metaphysischen Grund- frage, wie das Seiende zu denken sei. Was ist die Substanz (oJcr/a)? Weder diejenigen Naturphüosophen haben recht, welche das Körperliche für das Seiende halten; denn sie können nicht zur Erklärung des Geistigen gelangen; noch kann auch Platon voll beigestimmt werden, wenn er nur die allgemeinen Begriffe als das Seiende erklärt. Allerdings ist nur das Allgemeine erkennbar und daher der eigentliche Gegenstand der Wissenschaft, allerdings ist das sinnlich Wahrnehmbare schwankend und wandelbar, so dafs hinter demselben das Wesen der Dinge aufzusuchen bleibt. Aber das Allgemeine kann nicht seine [Realität für sich, abgesondert von dem Einzelnen, besitzen, fem von allen Bestimmungen der Einzelobjekte. Denn es ist gerade dasjenige, was den Einzelwesen gemeinsam ist und haftet daher stets am Einzelnen. Für sich bestehende Substanz kann allein das Einzelwesen sein; denn Substanz ist dasjenige, was nur Subjekt für sich ist, nicht aber als Prä- dikat von andrem ausgesagt werden kann. So bleibt allein das Allgemeine erkennbar, obwohl dem durch die Sinne auf- fafsbaren Einzelwesen die Realität des Seins zukommen soll.

Es fragt sich nun, wie das Einzelwesen zu dieser Realität gelangt, wodurch es ein Bestimmtes ist. Der Begriff der Substanzialität, den Aristoteles als Denkmittel benutzen malB| führt zu einer Abstraktion, welche für die Physik verhängnis- voll werden sollte, wenn er auch für andre Wissensgebiete viel- leicht fruchtbar sein mag. Es ist die Abstraktion, welche das wirk- liche Ding in ein Bestimmendes und ein Bestimmbares zerlegt,, eine Analogie zu derjenigen Verf ahrungsweise , welche das bewufste Denken bei der Erreichung praktischer Ziele einschlägt, indem es einen vorhandenen Stoff mit zweckvoUer Bestimmung versieht. Das Allgemeine, welches das Einzelwesen zu dem macht, was es ist, nennt Aristoteles die Form {eldog, forma), und dasjenige, was durch die Form bestimmt wird, heifst der Stoff (vXfi, materia). Dieser Stoff wird zwar zur Wirklichkeit erst durch die Form, aber er ist nicht etwas Nicht-Seiendes schlechthin, sondern er ist die Möglichkeit des Geformt-

Phüos. d. Gr., 3. Aufl., II, 2. Vgl. auch Branüis, Äriatoleles und seine akade- wischen Zeitgenossen, Berlin 1857.

Abistotbles: Actus. Werden. Natur. g9

Werdens {divai^q^ potentia), sein Existenzwert beruht in der Fälligkeit, wechselnde Formen anzunehmen. Durch das Geformt- werden des Stoffes erheben sich Stoff und Form zur Wirklichkeit (ivreX^X^*^ ^^®r iy^Qy^^ccy actus). ^ Die Form setzt dabei als ihren Gegensatz den Mangel der Form, das Nichtgeformtsein (a^^f^otgj privatio) voraus. Auf diese Weise soll die Schwierig- keit gelöst werden, dafs das Seiende entweder aus bereits Seiendem oder aus Nicht-Seiendem entstehen müsse, was beides gleich unmöglich erscheint. Vielmehr entsteht jetzt dets Seiende weder aus einem Seienden, noch aus einem Nicht-Seienden, sondern aus einem Etwas, das beziehungsweise ist und beziehungs- weise nicht ist.^ Der Begriff des Werdens ist gewonnen durch den Gegensatz von Möglichkeit und Wirkhchkeit, denen Materie und Form entsprechen; auf sie soll die Physik sich gründen. Der Physik entsteht die Aufgabe, den Übergang von Möglichkeit in Wirkhchkeit zu untersuchen, wie er die in der Erfahrung uns entgegentretende Welt hervorzubringen vermöge. Dieser Übergang heifst Bewegung (x^vfjatg). Daher gilt es Abistoteles als Grundsatz, dafs, was von Natur aus ist, ent- weder ganz oder zum Teil in Bewegung sei; dies ist ein Er- gebnis der Beobachtung.' Im Gegensatz zum Kunstwerk, das den Trieb der Veränderung nicht in sich trägt, heifst Natur (fVffiq) alles das, was in sich selbst das Prinzip der Bewegung besitzt. So wird der Flufs der Dinge als ein inneres Leben des Kosmos zum Kennzeichen der Natur. Hierin drückt sich die ganze Bichtung der aristotelischen Naturauffassung aus. Es klingt fast modern, wenn es bei Aristoteles heifst, es ist ein Grundsatz der Erfahrung, dafs alles in der Natur in Be- wegung sei. Aber der Sinn dieser Worte ist ein dem modernen Naturverstehen gänzlich entgegengesetzter. Wir fassen die Bewegung mechanisch und sehen in ihr nur räumliche Ver- änderung, deren Thatsächlichkeit in jedem Punkte kausal-

^ Abistoteles nnterscheidet iyrfkfj^fia ij nQtorri, das Sein des wirklich Gewordenen, der actus primus der Scholastiker, z. B. der Verstand, die Blüte, ttnd iyf^tta, die Thätigkeit des wirklich Gewordenen, der actus secunduSf z. B. dai Benken, das Blühen. Das orstere ist die Wesenheit, das letztere die Wirk- Mmkeit der Dinge, eine Unterscheidang, die auch für die Geschichte der Ato- mistik Ton Bedeutung wurde- (Vgl. Abschnitt 8.)

Fhys. I, 2. p. 191b. ' Phjs. I, 2. p. 185 a. 12.

90 Abibtotelbs: Veränderung und Bewegung.

gesetzlich bedingt ist. Bei Aristoteles dagegen liegt in der Bewegung nichts Mechanisches, sondern er sieht in ihr nnr den Vorgang, wodurch ein Zweck, ein abgeschlossener Teil des Weltgeschehens, zu seiner Verwirklichung gelangt.^ Es ist dabei der Begriff der Bewegung in dem ganz allgemeinen Sinne der Veränderung (^traßoX'^) überhaupt genommen, so dafs die Bewegung im uns geläufigen engeren Sinne, näm- lich die räumliche, als ein spezieller Fall erscheint. Aristotkleb unterscheidet drei Arten der Bewegung, nämlich die quanti- tative (xard To noaov), d. h. die Veränderung der Körper durch Zunahme oder Abnahme (av^fjatg xat g^Mtng) der Gtröfse nach, die qualitative (xard to notov) oder Verwandlung (uXXoCwmc)^ bei welcher die Körper ihre Eigenschaften wechseln, und die räumliche (xard to nov) oder Ortsbewegung (^oqd)} Als eine vierte Art der Veränderung kann noch die des Werdens und Vergehens (yfvemq xal fd-oQa) genannt werden. Allen diesen Verändenmgen aber liegt die räumliche Bewegung als Bedingung zu Grunde. Denn die Zunahme oder das Wachstum besteht darin, dafs zu einem irgendwie geformten Stoff andrer Stoff, der der Wirklichkeit nach von ihm ver- schieden, der Möglichkeit nach aber ihm gleich ist, hinzutritt, und die Fonn jenes Stoffes annimmt, wodurch er nun auch aktuell (der Wirklichkeit nach) ihm gleich wird. Zur Ver- gröfserung des ersten Stoffes ist also das Hinzutreten und die Verwandlung, eine räumliche und eine qualitative Bewegung erforderlich. Aber auch die Verwandlung ist nicht ohne räum- liche Bewegung möglich, denn es müssen dazu ein Wirkendes (noiovv) und ein Leidendes (rtdaxor) zusammentreten, und es ist notwendig, dafs dasjenige, welches die Verwandlung her- vorbringen soll, das zu Verwandelnde berühre, was nur durch räumliche Bewegung zu erreichen ist. Endlich erfordert auch das Werden und Vergehen, wie sich noch genauer zeigen wird, die räumliche Bewegung.

Wenngleich aber die räumliche Bewegimg ein unentbehr- liches Glied in der Reihe der natürlichen Prozesse bildet, so

» Vgl. S. 96, 97.

Die letztere zerfällt wieder in zwei Arten, Selbstbewe^nng und Bewegung durch anderes, und diese kann eine vierfache sein: ^Ali?, w<n?, o/?«»^» dtv^mi. Zkller IT, 2. 3. Aufl. S. 390. Anm.

Aristoteles: Der Zweck. 91

widerspriolit doch Aristoteles entschieden dem Bestreben, alle Veränderungen auf räumliche Bewegung allein zurückzufuhren. Es würde daraus eine mechanische Erklärung folgen, welche keineswegs eine genügende Darstellung des Naturlaufs zu geben vermag, denn es würde dabei die wesentlichste Ursache des Werdens, der Zweck, gänzlich vernachlässigt werden.

Es gibt demnach im ganzen vier Ursachen des natürlichen Geschehens: Stoff, Form, Prinzip der Bewegung (t6 %'9'Bv ^ x^rtjciq) und Zweck (to av ev€xa). Erst wenn wir diese ersten Ursachen begriffen haben, ist das Bedürfnis des Wissens befriedigt: Alle vier bieten die Antworten dar, welche auf die Frage Warum möglich sind, und alle vier sind vom Physiker m berücksichtigen. Häufig treffen jedoch drei von diesen zu- sammen; nämlich Form und Zweck sind ein- und dasselbe und darum auch zugleich das Prinzip, d. h. der erste Grund der Bewegung; als solche stehen sie dem Stoffe gegenüber. Nur mit Berücksichtigung des Zweckes ergibt sich eine natür- liche Entwickelung von dem blofs möglichen Sein zur Wirk- lichkeit; denn nur das ist von Natur aus, was von dem in ihm liegenden Anfange in stetiger Entwickelung zu einem ge- wissen Endziele gelangt.^ Um nach Zwecken zu handeln, braucht die Natur ihr Verfahren sich nicht zu überlegen, sondern die Zweckthätigkeit ist ihr immanent; wo der Zweckbegriff vorhanden ist, da sind auch die Bedingungen des Geschehens gegeben. Obgleich so die Natur nach Zwecken wirkt, bringt sie doch auch vieles nach blofser Notwendigkeit hervor. Diese Notwendigkeit nämlich liegt im Stoffe; die Materie ist die not- wendige Voraussetzung, ohne welche der Zweck nicht verwirk- licht werden kann; infolge dieser im Stoffe und seinen Be- wegungen liegenden Bedingungen des Werdens geschieht alles nach bestimmter Gesetzmäfsigkeit. Beide Ursachen also, die Notwendigkeit der stofflichen Bewegung und den Zweck, mufs der Physiker angeben, in höherem Grade aber die Zweckursache, denn diese ist Ursache der Verwirklichung des Stoffes, nicht »ber der Stoff Ursache des Endzwecks.*

* FkjfS, n, 8. p. 199b. 15. tfvffft ynQ, Eca cctto nvoq iy ccvroTg nn^^g <ri^w/cü> » Phys. n, 9. p. 200a. 32.

92 Untauglichkeit des Zwecks als Erkenntnlsmittels d. Phjnik.

Mit der Erhebung der substanziellen Form, als des bestim- menden Zweckes des Einzeldings, zum Erkenntnismittel der Natur ist jede mechanische Erkläningsweise abgelehnt. Dadurch wird es Aristoteles unmöglich, ein Gebiet der Physik, in welchem nur mechanisohe Kausalität heiTscht, zu trennen von dem all- gomeinen Gebiete der Lebenserscheinungen, worin Thätigkeit des Bewufstseins sich Zwecke setzt und die Mittel zu ihrer Verwirklichung findet. Jede einzelne Erscheinung wird in ihrem Charakter als Ganzes, als sinnliches Geschehnis erhalten. Die Analyse, welche die allgemeinen Prinzipien, deren Kenntnis allein Wissenschaft ausmachen kann, aufsuchen soll, richtet sich nicht auf die Trennung von Teilursachen, indem sie die ver- sclilungenen gegenseitigen Einwirkungen der Dinge durch Ab- straktion zu sondern sucht, sondern sie richtet sich auf die verschiedenen Arten, wie Zwecke in vollkommener oder weniger vollkommener Weise erreicht, dauernde oder vergängliche Ziele erstrebt werden können. Überall herrscht die Übertragung aus den Vorgängen des Seelenlebens auf die Natur, und die aus dem bewufsten Erleben herausgewachsenen Formen der Sprache werden zum Leitfaden für die Aufsuchung physikalische Begriffe. Das Problem des Körpers löst sich daher nirgends rein von dem Problem der Veränderung überhaupt. Der Einzel- korper verwandelt sich in seinen Eigenschaften durch das Hinzutreten neuer Formen, wie der Begriff sich durch das Hinzutreten neuer Merkmale ändert. Es ist ein der Logik ent- nommenes Bild, das zur Erklärung dienen soll, aber eben darum keinen Einblick in die Einwirkung der Körper aufeinander zu geben vermag. Die Körper gewinnen keine Selbständigkeit imd Konstanz; sie begrenzen sich gegenseitig, und diese Um- schliofsung ist der Raum; der Raum ist daher nur durch die Verschiedenheit der Formen gewährleistet, welche die einzelnen Trile der Materie aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit führen. Es giebt keinen leeren Raum,^ sondern niir kontinuier- licho Körper, welche der räumlichen Bewegung fähig sind.

Da nun zur Erklärung des thatsächlichen Gtewirrs der natüiliclu^n Körper allein das Denkmittel von Substanz und Ari'idcns zur Vorfügiuig steht, so kann diese Erklärung nur in

' Näheres S. weiter unten, 5. Kap., I, B. S 106 f.

Abistoteles: Einteilung der Bewegung. Elemente. 93

einer Einteilung der Körper nach den in ihnen zum Ziele kommenden Veränderungen bestehen. Als Einteilungsgrund dient die räuniHche Bewegung, insofern dieselbe einem bestimmten Zwecke entspricht. Dieselbe ist entweder kreisförmig oder gerad- linig, oder aus beiden Arten der Bewegung zusammengesetzt. Einfache räumUche Bewegungen giebt es daher nur zwei, die in gerader Linie und die im Kreise.

Die letztere geht um den Mittelpimkt herum, die erstere SBU ihm hin oder von ihm fort. Daraus schliefst Aristoteles weiter, dafs es auch gewisse Körper geben müsse, denen diese Bewegungen als natürliche zukommen. Dies werden die ein- fachen Körper sein, und die übrigen Körper sind aus ihnen zu- sammengesezt in verschiedenem Mause, je nachdem bei ihnen die eine oder andere Bewegung überwiegt.

Die vollkommenste Bewegung ist die Kreisbewegung; sie hat keinen Gegensatz ; deshalb wird auch der Körper, welchem sie zukommt, ohne Gegensatz sein; sie allein kann ohne Ende dauern, daher eignet sie nur einem unvergänglichen und un- gewordenen Körper. Dieser Körper ist der Äther, aus ihm sind die himmlischen Sphären und die Gestirne gebildet, er ist das Göttliche in der Körperwelt, der ürstoff, welcher der Gott- heit am nächsten steht. ^

Gegenüber der unwandelbaren ßegelmäfsigkeit der himm- lischen Welt steht die Vergänglichkeit der irdischen. Sie ist gebildet aus den vier Elementen, welchen im Gegensatz zum Äther die geradlinige Bewegung eigentümlich ist. Damit ist zwischen der coelestischen und irdischen Welt eine unüber- brückbare Kluft befestigt, lediglich durch die künstliche Ein- teilung der Bewegung. In der sublunaren Welt nun mufs es zunächst gemäfs den entgegengesetzten Bewegungen nach dem Mittelpunkte hin und von ihm fort zwei entgegengesetzte Körper geben, denen diese Bewegungen natürlich sind; der erstere heifst Erde und ist das absolut schwere Element, der letztere Feuer und ist absolut leicht, es bewegt sich unter allen Umständen nach oben, wie die Erde nach unten sinkt. So bildet das Feuer über allen Körpern den äufseren

^ Über den Äther und die Elemente Ausführlicheres bei Zeller, U, 2. 8. 442 ff.y woran sich obige Darstellung anschliefst.

94 Aristoteles: Elemente und

Umkreis der irdischen Welt, die Erde das Centmm, unter allen Körpern. Zwischen diesen beiden entgegengesetzten Körpern müssen noch zwei vermittelnde bestehen; es sind Wasser und Luft; sie sind nur relativ schwer und leicht, so daCs vom schwereren zum leichteren geordnet sich die Reihe der Element« ergibt : Erde, Wasser, Luft, Feuer. Wasser und Luft können, als relativ schwer, auch unter die Erde herabsinken, wenn die sie stützenden Stoffe fortgenommen sind, während das Feuer dies nie von Natur, sondern nur infolge gewaltsamer Be- wegung könnte.

Aufser dieser Herleitung der vier Elemente aus der Natur der Bewegung gibt Aristoteles^ noch eine zweite Ableitung aus den sinnlichen Eigenschaften der Körper, indem er die Grundeigenschaften derselben untersucht.* Für den Tastsinn gibt es nur vier Eigenschaften, welche allen Körpern mehr oder weniger zukommen: Wärme und Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit. Die beiden ersten Eigenschaften sind nach Aki- STOTELES aktiver Natur, die letzteren dagegen passiver. Durch paarweise Zusammenstellung derselben ergeben sich sechs Kom- binationen, von denen jedoch zwei als unmöglich fortfallen, nämlich kalt-warm und feucht-trocken. Demnach bleiben noch vier Verbindungen von Eigenschaften übrig, welche die Elemente ergeben: warm-trocken: Feuer; warm-feucht: Luft; kalt- feucht : Wasser ; kalt-trocken : Erde. Dies sind die einfachen Körper (dnJLa awfiara) oder Elemente (tno^x^Ia), in welche alle andern Körper aufgelöst werden, während sie selbst in keine einfacheren Stoffe zerlegbar sind.

Die Elemente kommen nirgends rein vor, sondern alle irdischen Körper bestehen aus ihnen allen zugleich, wenn auch in iiiigleichem Mafse. Sie sind wirkliche Körper nicht blofs Grundeigenschaften und vereinigen sich materiell; sie können aber auch ineinander übergehen ; und zwar kann jedes Element in das andere verwandelt werden, die einander näher stehenden aber leichter als die mit ganz entgegengesetzten Eigenschaften. Vor allem sind sie nicht zu verwechseln mit

* De gen. et corr. II c. 2 u. 3.

^ Dos Warme, Kalte, Trockne, Feuchte als Elemente za betrachten, war bereits in den medizinischen Schulen gebräuchlich. Vgl. Zgllgb, II, 2, S. 441. A. 2.

ABI8TOTELB8: Verwandlang der Elemente. 95

den gleiclmaniigen irdischen Stoflfen; Erde, Wasser und Luft, wie sie in der Natur vorkommen, sind nicht die reinen, unver- mischten Elemente, und namentlich die Flamme darf nicht für den Feuerstoff gehalten werden, sondern sie ist nur eine Er- scheinung, welche durch besondere Steigerung der Wärme ent- steht.^ Von den beiden in jedem Elemente vorhandenen Grund- eigenschaften übei-wiegt die eine und bestimmt dadurch die wesentliche Eigenschaft des Elements; so ist die Erde insbe- sondere trocken, das Wasser kalt, die Luft feucht, das Feuer wann. Vermöge der zwei Grundeigenschaften aber wirken sie aufeinander umwandelnd, weil sie durch die Gemeinschaftlich- keit je einer Eigenschaft gegenseitige Anknüpfungspunkte ihrer Einwirkung haben; durch Aufhebung der Kälte des Wassers durch Wärme entsteht Luft, und wenn auch noch die Feuchtigkeit der Luft aufgehoben wird, so entsteht Feuer. Demnach sind alle £5rper in einer fortwährenden Umwandlung der Elementarstoffe begriffen; alles Werden und Vergehen innerhalb des Natur- susammenhangs ist nur ein solches umwandeln, bei welchem aber die Form der Quantität unverändert bleibt.*

Dies sind die allgemeinen Grundzüge der Theorie der Materie bei Aristoteles. Alle weiteren Einzelheiten werden bei der detaillierten Polemik des Philosophen gegen die Atomistik aur Besprechung kommen, soweit sie für die spätere Ent- wiokelung des Körperproblems von Interesse sind.

4. Besiehungen aristotelischer Naturbegriffe zu modernen.

Mit der Physik des Aristoteles wurde dem Abendlande zum erstenmale eine vollständige, tief durchdachte und dem Geiste des Mittelalters verständliche Theorie der Natur geschenkt.

* De gen. et corr. II, 3. S. 330b. 25.

Meteor. II, 3. p. 357 b, 30. «** yuQ «AAo xai allo yivtia& Tovrwy ^xaa- foy, t6 itilifog Tov Tik^&ovg ixdmov jovrcjy ^(vf^. Daselbst II, 3, p. 358 b, 29. 9m dtl rd avrd [AiQfi dtft^tyft, ovre yrjg ovrt &ttk(eTrfjg, dkkn fMvov 6 nag oyxog. Bei aller Verwandlang also soll doch die Quantität der Körper, die Masse, un- Terandert bleiben ; wobei man allerdings nicht weifs, wonach dieselbe gemessen wird. £b Bteht diese Anschauung in Beziehung mit der Erklärung der Aus- dehnung, welche nicht durch Hinzufügung neuen Stoffes geschieht, sondern durch den Übergang von der Potenz zum Aktus. Die scheinbar verschiedene Quantität ist doch potenziell in der Materie unveränderlich.

96 Aristoteles: Die Materie.

Indem sich dadurch das naturwissenschaftliche Interesse zu heben begann, wurde das Nachdenken über die Grundlagen und Prinzipien der Körperwelt zugleich in eine Bahn gelenkt, welche es weit abführte von derjenigen Auffassung der Ma- terie, die, wie die Folge erwies, der Schöpfung einer mathe- matischen Naturwissenschaft allein erspriefslich sein konnte.

Die Naturwissenschaft bedarf, wie es die antike Atomistik versucht hatte, der Individualisierung der Materie als des im Baum Beweglichen, als eines Substrates der mechanischen Kausalität. Statt dessen ist das, was Aristotsles Materie nannte, nichts Bäumliches, nichts Wirkliches, sondern ein Be- griff, frei von jeder physikalischen Vorstellung, der sich nur auf die Modalität unsres Denkens bezieht, das blofs Mögliche, gedacht in Bezug auf eine künftige Bestimmung. Der Marmor- block ist der Möglichkeit nach eine Statue, aber dies ist nur eine Bestimmung im Geiste des Zuschauers, welche nichts an der Wesentlichkeit des Marmors ändert. Für Aristotblbs aber ist der Marmor in Bezug auf die Bildsäule Materie, die Bild- säule die Form, und wenn er behauen wird, so geht er von der Potenz in den Aktus über und wird zur Bildsäule. Ebenso ist aber auch der Marmorblock Form, z. B. in Bezug auf den noch nicht gebrochenen Marmor im Schofs der Erde; und ebenso ist die Bildsäule Materie, z. B. in Bezug auf den Fries eines Tempels, zu welchem sie als Teil verwendet werden soll. Ja es spielt der Begriff der Materie soweit in das rein logische Gebiet, dafs die Gattungen geradezu als Materie, die Arten als die Formen betrachtet werden.* Was noch näher bestimmt werden kann, ist Materie. Materie bei Aristoteles sagt also nichts weiter aus, als dafs irgend etwas die Möglichkeit etwas zu werden in sich enthält ; und sein Fundamentalfehler ist eben der, dafs er die Möglichkeit zu einer Form der Existenz macht. Ebenso unbrauchbar für die Naturwissenschaft ist der aristote- lische Begriff der Bewegung. Die Bewegung ist für uns nur räumlich; bei Aristoteles heifst jede Veränderung Bewegung, und die Ortsveränderimg ist also nur ein Spezialfall der allge- meinen Bewegung. Innerhalb der räumlichen Bewegung mm kennen wir nur eine einfache Bewegung, auf welche wir alle

* Zeller, II, 2. S. 324.

Aristoteles: Bewegung der Stofife. 97

andern Bewegungen zurückfüliren, nämlich die geradlinige. Abistotelss unterscheidet deren zwei, die geradlinige und die kreislinige, die er zwar zusammenzusetzen weüs; aber er kann nicht die krummlinige Bewegung auf die geradlinige zurück- fähren. Während wir uns die Bewegung eines bestimmten Körpers als übertragbar denken, so deSa jeder Körper jede Bewegung erhalten kann, sich selbst aber indifferent gegen die Bewegung verhält, kommen nach Aristoteles den einfachen Körpern ihnen natürliche, unabtrennbare Bewegungen zu. Der Fenerstoff bewegt sich immer nach oben, der Erdstoff immer nach dem Mittelpimkt der Erde. Die Stoffe haben einen oatürUchen Ort, den sie zu erreichen streben, gravitieren aber nicht mehr, sobald sie sich an dem ihnen eigentümlich zuge- hörenden Orte (proprio loco) befinden. Die Orte wirken also wie Kräfte, aber immer nur in Betreff der einzelnen, bezüg- lichen Elemente. Statt der Trägheit der Elementarteilchen, also statt der Eigenschaft, in derjenigen Bichtung geradlinig fort- Eugehen, in welcher ihr letzter Bewegungsantrieb lag, sprach ihnen Aristoteles die Eigenschaft zu, immer in einer bestimm- ten, ihnen eigentümlichen Bichtung fortzuschreiten ; ein Prinzip, das darum nicht unberechtigt ist, weil es jedem Element auch in Bezug auf die Bewegung unveränderliche Eigenschaften gibt. Immer aber ist die räumliche Bewegung nur phorono- Dusch, nicht dynamisch, d. h. sie enthält nur Ortsveränderung, oicht Energie als eine Empfindungsthatsache, welche kausale Wirkungen vermittelt. Das Denkmittel der Veränderlichkeit fehlte Aristoteles ebenso wie dem Altertum überhaupt. Infolge- ieasen ist die Bewegung bei ihm keine selbständige Bealität, nrelche ihre Gesetzlichkeit in sich trägt, sondern nur ein Mittel, lurch welches der Naturzweck sich verwirklicht. Das Be- stimmende ist die geistig gedachte substanziale Form.

Der Begriff des Körpers in chemischer Hinsicht ist bei Ajostotbles ebenfalls das genaue Gegenteil des korpuskularen Begriffs, dessen die Chemie bei ihrer empirischen Erweiterung Bur theoretischen Grundlegung bedurfte. Allerdings sind die iristotelischen Elemente Körper (äni^a adfiara), nicht blofse Eigenschaften. Das erste Prinzip nämlich, die erste Materie, ist der potenzielle Körper, ehe er durch die Form aktuell wird ; las zweite sind die Grundeigenschaften, die Gegensatzpaare

Laflnrite. '^

98 Aristotelische und moderne Elemente.

(lvav%i(i(S€iq)^ Wärme, Kälte Feuchtigkeit, Trockenheit (die ahicu twv tnoixeiaiv)^ Das dritte Prinzip erst sind die Elemente selbst. Sie sind, wie unsre Elemente, an sich nicht weiter zerlegbar; aber sie können allerdings ineinander tunge- wandelt werden. Das können nun unsre Elemente, da sie nur empirisch unzerlegbar sind, bei weiterem Fortschritt der chemi- schen Analyse vielleicht auch, und es ist sogar sehr wahrscheinlich, dafs sie auf eine geringere Zahl von Grundstoffen und demnach auch ineinander übergeführt werden können. Aber das ist nur eine ganz äufserliche Ähnlichkeit mit den aristotelischexL Denn hier tritt des Philosophen prinzipieller Gegensatz zur Atomistik mit ins Spiel. Die Umwandlung unsrer Ele- mente ineinander, wenn sie gelänge, wäre immer nur durch Auflösung ihrer Moleküle in Atome eines gemeinsamen Grundstofife und darauf folgende Neugruppierung derselben möglich. Abistoteles eigentümlich ist dagegen die Annahme der qualitativen Veränderung. Seine Grundeigenschaften, durch deren Austausch die Elemente sich umwandeln, sind nicht wieder einfachere Stoffe ein Gedanke, der uns nahe läge , sondern sie sind Eigenschaften, die nicht für sich, sondern nur zusammen an den Elementen bestehen. Das ist die Folge von Aristoteles' Pealismus. Die Grundeigenschaften als allgemeine Begriffe sind die Formen, welche die potenzielle Materie ergreifen, und dadurch selbst in den Elementen Wirklichkeit Stofflich- keit — erlangen. Man kann hier allerdings fragen, warum jedes Element zwei solche Formen erhalten mufste ; das geschah, weü Aristoteles sonst die Grundstoffe nicht hätte aufein- ander wirken lassen können. Elemente mit einer einzigen Qualität hätten in der That zur Atomistik geführt. Die Natur der aristotelischen Elemente wird der modernen Auffassung näher gerückt, wenn man, statt sie mit Feuer, Luft, Wasser, Erde zu bezeichnen, ihnen lieber Namen beilegt, welche, sie unseren chemischen Elementen koordinieren; nvQ, d^Q, vdmq,. yri wären deutlicher für ims zu übersetzen durch Feuerstoff, Luftstoff, Flüssigkeitsstoff und Erdstoff, oder nach ihren Haupt- eigenschaften als Wärmestoff; Flüssigkeitsstoff, Kältestoff und

^ De gen, et corr, II, 1. p. .-329 a. 34. * Meteor, IV, 1, p. 378b. 10.

AiusTOTBLES: Mangel quantitativer Bestimmungen. 99

Trockenstoff. Dann würde man nicht erst die fremdartige Vorstellung zu überwinden haben, dafs alle Dinge aus Feuer, Wasser, Luft und Erde bestehen, sondern es läge uns näher, an ihre gegenseitige Einwirkung zur Erzeugung ganz neuer Stoffe in den Verbindungen zu denken. Ebenso ist es dann deutlicher, dafs die Erde z. B. nicht das Element Erde ist, sondern eine Verbindung von viel Trockenstoff mit etwas Kältestoff und wenig Wärmestoff und Flüssigkeitsstoff. Doch darf bei allen diesen Versuchen zu Vergleichungen mit modernen Be- griffen nicht vergessen werden, dafs dieselben immer schief ausfallen müssen, weil der Charakter und die Tendenz der aristotelischen Naturerklärung, welche auf der Vereinigung der Eigenschaften durch die substanziellen Formen, nicht der ma- teriellen Teilchen durch mechanische Kräfte beruht, von unsrer Denkgewohnheit durchaus verschieden ist. Auch die Bezeich- nung der Elemente als „AUotropien des Urstoffs" ^ ist daher irreführend, weil die Materie bei Aristoteles gar kein Stoff m unsrem Sinne, sondern nur die reine Potenzialität zum Sein ist.

Besonders auffallend ist in den Bestimmungen des Aristoteles der Mangel an Bücksicht auf das Quantitative. Wo sich Gröfsen- angaben finden, sind sie unbestimmt, und Experimente, wenn sie angeführt werden, haben oft so falsche Resultate, dafs die IJngenauigkeit auf der Hand liegt, so z. B. wenn angegeben wird, dafs ein Gefäfs voll Asche ebensoviel Wasser aufnehme, als wenn es leer sei. ^ Dieser Mangel, welcher vornehmlich die ältere Naturwissenschaft beschränkte, erklärt sich aus der Anwendung der Substanzialität als Denkmittel.^ Dadurch wurde die Aufmerksamkeit der Forschung allein auf qualita- tive Bestimmung der Substanz, wie des Subjekts durch seine Prädikate, gerichtet. Es gab kein Mittel, die Empfindung in genügender Weise räumlich zu objektivieren und dadurch Intensitätsunterschiede quantitativ darzustellen. Hier eben war die Grenze des antiken Denkens erreicht und damit die Beschränkung des Naturbegriffs beschlossen. Aristoteles hat

* S. Lobscheid, Aristoteles Einflupt auf die Enticickdimg der Chemie. Xfinster 1872. S. 17.

« Ihya. IV, 6, p. 213 a. Jl. ^ Vgl. S. 46.

7*

100 Arutotelks und die moderne Naturwinemchaft.

nicht Beobachtung und Erfahrung verachtet, aber ihm fehlte die Möglichkeit, das Empirische mathematisch zu fixieren.^

Die Begriffe der Materie, der Bewegung, der Elemente wurden unter Beibehaltung der Namen im 17. Jahrhundert vollständig umgeformt, indem das Denkmittel der sub- stanziellen Form durch das der mechanischen Kausalit&t ersetzt wurde. Dies war jedoch nur möghch durch Vermitte- lung eines Denkmittels, welches den Begriff der Veränderlich- keit mathematisch zu fassen gestattete, und das seinerseits erst an der neu entstehenden Wissenschaft zu Tage trat. Diese Wandlung des Denkens erschuf einen neuen Natnrbegriff, welcher die korpuskulare Auffassung der Materie erforderte. In der Folge zeigte sich, dafs dieser neue Begriff von der Natur einer aufserordentlichen Erweitenmg des Erfahrungskreises gleichkam. Beides, theoretischer und empirischer Fortschritt, geht so Hand in Hand und ist im Grunde der treibenden Ur- sachen dasselbe, dafs die Frage, wanun die moderne Natur- wissenschaft so spät entstanden sei, auf nichts andres heraus- kommt, als auf die Frage, warum das menschliche Denken seine verschiedenen Sphären erst nach und nach zu vervoll- kommnen und zu entwickeln vermag. Die Herrschaft der sub- stanzialen Formen imd der Mangel der mechanischen Natur- wissenschaft sind der Ausdruck desselben Kulturzustandes;' sobald die Entwickelung fortschritt, verwandelte sich auch der Naturbegriff und die Naturwissenschaft. Man würde den Wert der aristotelischen Physik unterschätzen, wollte man sich nicht gestehen, dafs sie den naturwissenschaftlichen Erfahrungsinhalt des Mittelalters vollständig umspannte. Wie Aristoteles das unmittelbare sinnliche Erlebnis begrifflich fafste, so objekti- vierte er die Empfindung zur Natur, so war die Natur fÖr die Wissenschaft jener Jahrhunderte, und nur wir vermögen jetzt zu erkennen, dafs es eines andren Naturbegriffs bedarf, imi der Erweiterung der Erfahrung gerecht zu werden.

Die Natur stellte sich unter dem Denkmittel der substan- ziellen Form als eine grofse Einheit dar, welche vom höchsten und ersten Beweger zum zweckvollen Kosmos geordnet war.

' Vgl. S. 51.

' Vgl. DiLTHEY, Einl i. d. Geistesxcissemch. S. 263.

Aristoteles: Der kosmische Zusammenliang. 101

n diesem Kosmos herrscht das Gesetz des Zweckes, dessen €heiiibare Abweichungen aus dem Widerstand der Materie »rklärt werden, was allerdings im einzelnen der Willkür jfreien ipielraum läfst. Im ganzen aber, entsprechend der ästhetischen lichtung des griechischen Geistes auf die schöne Form, waltet larmonie und Einklang.

Der Übergang der Elemente in einander hängt von der ^wegung des Himmels ab. Darauf wird Aristoteles durch Len Binflufs der Tages- und Jahreszeiten, also astronomischer rorg&nge, auf die Entwicklung des organischen Lebens hin- ^wiesen. Denn in Folge des allgemeinen Naturzusammen- langs wird alles Bewegte von einem andern bewegt, und das rate Bewegende, von dem alle Bewegung ausgeht, ist der limmel. Wärme und Kälte sind die aktiven Grundeigen- chB&en der Elemente, und sie werden beeinfluTst von den l-ertimen. Wäre nun die Bewegung der Gestirne in Bezug .uf die Erde stets eine gleichartige, so würde sie nach Aristoteles .uch nur eine gleichartige Wirkung hervorbringen können in ewiges Werden oder ein ewiges Vergehen. Sie ist aber ingleichmäTsig, und zwar wegen der Neigung der Ekliptik, der ichifife der Sonnenbahn. Weil die Sonne den verschiedenen ?eilen der Erde bald näher, bald femer steht, lösen sich Ent- tehen und Vergehen in ewigem Wechsel auf Erden ab. Im ■Vüfajahr spriefst das Leben in Blüten auf, im Winter geht es u Ghrunde. Wer vermag die KompUkation der Einflüsse zu rkennen? Den Menschen zeugt der Mensch und auch die k>nne^ dieser Satz könnte etwa in einem modernen populären Lofsatze über die Erhaltung der Kraft stehen er besagt weiter nichts, als dafs das organische Leben physiologischen ind kosmischen Einflüssen unterworfen ist. Unmittelbarer und a anderer Weise vermittelt mag sich Aristoteles den Zusammen- jmg zwischen kosmischen und elementaren Vorgängen vor- bellen, weil aus Mangel an physikalischen Einzelkenntnissen ofUIige äuJGsere Ähnlichkeiten in den Eigenschaften der Dinge fir innere Beziehungen genommen wurden aber es ist kein brund vorhanden, aus dergleichen Behauptungen, welche uns rie eine Frucht des Aberglaubens erscheinen, auf Unwissen-

^ Phji. n, 2, p. 194b. 13: ay&Qüjnog äy&QüJTToy ytvy^ xaX ^ktog.

102 Aristoteles: Würdigung scinei Natnnyitemi.

schaftlichkeit des aristotelisclien Natnrsystems zu schliefseiL Die Natur stellte sieh eben als ein Organismus dar, in welchem tausend Einzelheiten, die wir heut mechanisch erklären, ebenso unerklärt blieben, wie heutzutage die Thatsachen des Nerven- lebens. Die psychischen Bealitäten, welche als substanzielle Formen und Einheiten die Natur beherrschten, liefsen ftr tiefer ins einzelne gehende Erklärungen kein Bedürfnis aufkommen. Das beschreibende Bild genügte. In dieser Hinsicht als beschreibendes System gemäfs dem Denkmittel der Substanzialität erweist sich die Physik des Aristoteles als ein tiefsinniges und klar durchdachtes Werk dieses bewundernswerten Geistes, so dafs es fast zwei Jahrtausende hindurch unter allem Wechsel der Völkerschicksale und der Beligionen der Ausdruck der Naturauffassung bleiben konnte.

Diese gewaltige geistige Macht warf sich nun jenen ersten atomistischen Versuchen entgegen, welche bei dem Bekannt- werden arabischer Empirie und theoretischer Tradition im Abendlande sich schüchtern regten, um den Begriff des Körpers zu formulieren. Was von Platon zu Gunsten der Korpus- kulartheorie gesagt worden war, wurde durch Aristoteles erdrückt. Zwar ersclilofs sich mit seinen physikalischen Schriften die beste Quelle für die antike Atomistik; aber die Gegengründe waren unter dem Denkmittel der Substanzialität nicht zu widerlegen. Jahrhunderte waren nötig, diese Gegen- gründe abzuschwächen, bis die Arbeit des Altertums der Korpuskulartheorie wieder zu gute kommen konnte.

Wir haben jetzt die Ausführungen des Aristoteles gegen die Atomistik im einzelnen festzustellen.

5. Aristoteles als Gegner der Atomistik.

Der Idealismus des Aristoteles hebt den Materialismus der Atomisten auf. Der Begriff der Substanz wird getrennt vom Begriff des Körpers. Dafs das Körperliche Substanz sei, hat Aristoteles vor allem zu bekämpfen. Bei seiner Darstellungsart, welche stets die Ansichten seiner Vorgänger berücksichtigt und zu widerlegen sucht, mufste sich eine leb- hafte Polemik gegen die „Physiker", d. h. gegen diejenigen Naturphilosophen ergeben, welche aus der Natur des Körpers

Aristoteles als Gegner der Atomistik« 103

den Erklärungsgrund der Erscheinungen zu entnehmen streben. Unter diesen behandelt Aristoteles Leükipp und Demokrit ver- hältnismäfsig mit Auszeichnung, er läfst ihnen nicht selten Gerechtigkeit widerfahren und widmet ihnen die ausführlichsten Widerlegungen. Hierbei kommt es zu weitläufigen Auseinander- setzungen über physikalische, mitunter ziemlich ins Detail gehende Fragen, und zu einer eingehenden Darstellung des atomistischen Systems.^ Aui'ser den Hauptstellen sind in seinen physikalischen Schriften zahlreiche Bemerkungen eingestreut, welche direkt oder indirekt von den Ansichten der Atomiker Zeugnis ablegen und sie bekämpfen. Diese Mitteilungen des Abibtotsles wurden während des Mittelalters die Hauptquelle fttr die Kenntnis der alten Atomistik, da sie von jedem Ge- lehrten studiert werden muTsten. Sie gaben zunächst Ver- anlassung zu dialektischen Übungen, sodann zu Zweifeln, endlich zum Umsturz. An sie knüpft sich der Streit der Schule mit den Gegnern des Aristoteles; genaue Darlegung und übersichtliche Anordnung der Gründe des Aristoteles gegen die Korpuskulartheorie ist daher unerläfslich.

Die aristotelischen Einwendungen lassen sich in zwei HAuptgruppen teilen. In der ersten wird bewiesen, dafs die Annahme von Atomen unzulässig, in der zweiten, dafs sie unnötig ist.

I. Gründe gegen die Zulässigkeit der Atomistik.

Die Gründe für die Unzulässigkeit der Atome richten sich einerseits gegen die Möglichkeit einer unteilbaren Gröfse, andrerseits gegen die MögHchkeit des leeren ßaumes. Jeder dieser beiden Begriffe wird seinerseits wieder bekämpft, erstens aus mathematischen und zweitens aus mechanischen Gründen; d. h. erstens aus Gründen, die hergenommen sind von der Natur des Baumes und der stetigen Gröfse, zweitens ans solchen, welche aus der Betrachtung der Bewegung stammen.

A, Gründe gegen die Ezistenz des Unteilbaren.

Die Unmöglichkeit unteilbarer Gröfsen ergibt sich aus folgenden Begriffsbestimmungen : -

* Die Hauptstellen sind De gen. et corr. I, 8, De coelo III. 4 u. 7, Phys. IV, 6—9.

* i%y«. V, 3. 226 b u. 227 a.

104 Aristoteles: Gründe gg. d. Atom, aas d. Begriff des StetigezL

Zugleich (Sfia) in Bezug auf den Ort heüSst das, was sich an ein und demselben Orte befindet. Gesondert (x^Q^i) ist dasjenige, was an verschiedenen Orten ist. Diejenigen Dinge berühren sich {aTTzetf&ai) , deren änfserste Enden ,,zugleich^ sind. Dazwischen (fiera^v) nennt man das, wohin ein sich Veränderndes eher kommt, bevor es in naturgemälser Entwickelung sein Endziel erreicht. Aufeinanderfolgend (f^e^^g) ist dasjenige, was sich an ein andres reiht, ohne daüs etwas anderes von der nämlichen Gattung dazwischen ist Wenn sich das Aufeinanderfolgende auch berührt, so heilst es zusammenhängend (ix^fnvov). Das Zusammenhängende ist stetig (kontinuierlich, cvvexfQ)^ wenn die sich berührenden Grenzen der zusammenhängenden Teile ein und dieselben sind.

Danach ist es unmöglich, dafs aus Unteilbarem eine stetige Gröfse entsteht. Denn wenn unteilbare Gröisen sich berühren, so müssen sie gänzlich zusammenfallen, wenn sie sich aber nicht berühren, so kann auch keine stetige Gröise entstehen. Die Linie kann nicht aus Punkten bestehen.^

Da die stetige Gröfse nicht aus unteilbarem entstehen kann, so ist sie auch nicht adu in Unteilbares zerlegbar. Denn wäre dies der Fall, so würde ein Unteilbares das andere berühren, was, wie oben gesagt, nicht möglich ist.' Das Stetige ist daher ins Unendliche teilbar, doch ist die unendliche Teilbarkeit nur der Möglichkeit nach (potenziell, dvväfjtsi)^ nicht acfuj vorhanden.' Auch der Punkt ist nicht für sich, sondern nur potenziell im Teilbaren vorhanden.

Da schliefslich die unendliche Gröise nicht in Wirklichkeit existieren kann, so ist es auch nicht gestattet, wie die Atomisten thun, eine unendlich gröfse Anzahl von Atomen anzu- nehmen.

Auf jeden Fall gerät die Annahme von unteilbaren Gröisen demnach in Widerspruch mit der Mathematik.*

Sie gerät aber nicht minder in Widerspruch mit der Lehre von der Bewegung.

Wenn die Gröfse aus Unteilbaren bestände, so müiste Be- wegung ebenfalls aus gleichen unteilbaren Bewegungen bestehen.^

* Phys. VI, 1. 231b. De coelo III, 8. 306 b. « Phys. VI, 1. 281b. - » Phys, m, 6. 207 b. * De coelo III, 4. 303 a. 21. » Phys. VI. 1. 231b.

AB18TOTSLB8 : Gründe gg. d. Atome aus d. Begriff d. Bewegung. 105

3nn was vom Baume und mit demselben Hechte von der dt als geltend angenommen wird^ nämlich dafs sie, als i^JGsen, aus Unteilbaren beständen mülste auch von der ^wegung gelten. Dann aber würden die einzelnen Baumteile Dht nacheinander durchlaufen werden können, sondern mit m Beginn der Bewegung müTste diese auch zugleich schon endet sein ; das sich Bewegende müTste in dem Augenblicke, welchem es sich bewegt, bereits angelangt sein, und es kbe demnach keine Bewegung, sondern nur ein Bewegt- »wesen-sein. Aus demselben Grunde wäre in diesem Falle in unterschied der Geschwindigkeiten in der Bewegung >glich.'

Femer mufs alles, was sich verändert, teilbar sein; denn müssen, wenn Veränderung stattfinden soll, sich die Teile s zu Verändernden in verschiedenen Zuständen befinden. i nun das Unteilbare keine Teile hat, so kann an ihm eine nränderung überhaupt nicht stattfinden, weil es sich sonst als msses gleichzeitig in entgegengesetzten Zuständen befinden Übte.' Demnach wäre das Unteilbare sowohl der räumlichen »wegung als der Veränderung überhaupt unfähig.* Ähnliche .d noch weitergehende Betrachtungen über die Unmöglichkeit r Atome werden später bei der Beurteilung ihrer physikali- lien Brauchbarkeit zur Sprache kommen.

Dies sind die Einwendungen, welche Aristoteles gegen j Existenz unteilbarer Gröfsen macht. Wie man sieht, be- )hen sie sich auf den kontinuierlich erfüllt gedachten Baum; Igen die Atomistik können sie also nur dann gebraucht »rden, wenn die physischen Körper wirklich den Baum kon- Loierlich erfüllen. Sieht man von dem Problem der Wechsel- rkong ab, wobei allerdings die Frage nach der Kontinuität neuer Gestalt wiederkehrt, so scheinen die „mathematischen** nwände für die Physik hinfällig, wenn der Baum nicht stetig SUlt ist, wenn es einen leeren Baum gibt. Daher richtet ih die Kraft des Philosophen mit Sorgfalt auf die Wider- rung der Annahme eines leeren Baumes.

» Ihya. VI, 2. 233 b. » Phy^i. VI, 2 am Schlufs 233 b. » Phys. VI, 284b. 10—20. * Phjs. VUI im 10. Kapitel.

106 Aristoteles: Gegen das Vacuum.

B. Gründe gegen die Kcistcnz des leeren Baumes.

Dafs es einen leeren Baum nicht geben kann, folgert Aristoteles zunächst aus dem Begriffe des Batimes selbst. Der Baum oder Ort (ronoc) kann nur sein entweder Form, oder Stoff, oder Ausdehnung zwischen den äufsersten Ghrenzen, odw in Ermangelung weiterer Ausdehnung aufser dem Körper die (xrenze selbst.^ Form ist er offenbar nicht; ebensowenig der Stoff des Körpers oder der Körper selbst, denn diese sind das Umfafste, nicht das Umfassende. Auch ist er nicht der Zwischenraum zwischen den äufsersten Grenzen eines Körpers, weil dieser selbst veränderlich ist; und ebensowenig die Grenze oder die Gestalt der einzelnen Körper als solcher, denn diese bewegt sich mit ihnen und es würden sich demnach die Kör- per nicht in, sondern mit dem Baume bewegen. Der Baum eines Körpers ist vielmehr die Grenze des um schlief senden Körpers gegen den umschlossenen.*

Daraus folgt sofort die Unmöglichkeit des leeren Bamnes; denn der leere Baum wäre etwas Umschhefsendes, das nichts umschliefst. Man sieht dagegen, dafs dort, wo kein Körper ist, auch kein Baum sein kann.^

Allein auf diese Weise ist die Unmöglichkeit des Vacnmns direkt zu beweisen; denn nur zu zeigen, wie Anaxagoras thnt, dafs das, was man gewöhnlich für leer hält, mit Lufb erfällt, Luft aber ein Körper sei, kann gegen die Existenz des leeren Baumes noch nichts besagen. Dafs Luft ein Körper sei, wird nicht bestritten. Es ist vielmehr zu beweisen, dafs es keine von den Körpern verschiedene Ausdehnung gibt, und zwar weder ein zwischen dem Körper von ihm trennbar oder actxi befindliches (untermischtes) Leeres, wodurch die Stetigkeit der Körperwelt unterbrochen T\iirde (denn das behaupten Demokritos und Leukippos und viele andre der Naturphilosophen), noch auch einen leeren Baum aufserhalb der gesamten konti- nuierlichen Körperwelt.* Beides ist durch den Bamnbegriff bewiesen, wonach kein Bamn ohne Körper sein kann.

^ Hiys. rV, 4. 211b.

Dies ist ausgeführt Thys, IV c. 3 und 4. S. auch De coelo IV, 310 a. Zeller II, 2, S. 398.

' Phys. IV c. 6 und 7.

* Fhys. c. 6. 213 a, 213 b.

Aristoteles: Gegen das Yacuum. 107

Die Unmöglichkeit der Existenz des leeren Raumes zeigt sich femer darin, dafs die Körper in diesem Falle einen Eaum einnehmen würden, der sich von einem ebenso ge- stalteten imd ebenso grofsen leeren Eanm gar nicht unter- scheiden würde. Wenn nun derartige Gröfsen, Körper und leerer Baum, an denselben Ort zusammenfallen, so würde man zwei Bräume, den leeren und den vollen, ineinander haben, und mit demselben Rechte beliebig viele. Wozu aber soll ein Körper, da er seine Ausdehnung in sich selbst hat, noch einen solchen Raum aufserdem haben, durch welchen an seiner Masse gar nichts geändert wird?»

Ein aufserweltlicher leerer Raum ist nicht möglich, weil sich daraus der Widerspruch ergäbe, dafs ein Körper dort sein müfste, wo keiner sein kann.*

Die Atomisten haben die Annahme des leeren Raumes darauf gründen wollen, dafs ohne denselben Bewegung nicht möglich sei; nämlich die räumliche Bewegung und die Bewe- gung der Vermehrung (fOQci xal av^tjaig, vgl. S. 90) können nicht ohne Leeres stattfinden, weil das Volle den bewegten Körper oder einen neu hinzukommenden Körper nicht aufzu- nehmen imstande sei.^ Die Bewegung läfst sich aber auch ohne Annahme des Leeren erklären, da die Teile einander weichen können; ein Körper verläfst den Raum, in welchen ein andrer eintritt, wie dies bei den Wirbeln im Flüssigen der FaU ist.*

Vielmehr zeigt sich, dafs gerade unter Voraussetzung eines für sich bestehenden leeren Raumes alle Bewegung un- möglich wird.** Jedenfalls bedarf man des Leeren nicht als Ursache der räumlichen Bewegung; denn die Körper haben eine natürliche Bewegung nach oben oder unten, für welche im Leeren kein Grund zu sehen ist. Was sollte wohl mit einem Körper geschehen, der in das Leere hineingelegt würde, wohin sollte er bewegt werden? Es gibt ja doch im Leeren keinerlei Unterschiede der Richtung nach oben oder unten, weil es da-

* JPhya. IV. 8. 216 b. Zelleb a. a. 0. S. 400.

De eoelo I, 9. 279 a. Zeller a. a. 0. S. 401. » Phya. IV. 6. 213 b. 4 f.

* JPhya. IV. 7. 214a. 31.

* Die ganze folgende Entwickelung in Phys. IV, 8.

108 Aristoteles: Im Vacuum keine Bewegung moglioh.

selbst keinen Unterschied der natürlichen Orte gibt; daher kann sich im Leeren auch nichts bewegen. Jede Bewegung ist nämlich entweder eine gewaltsame oder eine natürliche, die gewaltsame aber setzt die natürliche voraus, so dals, wenn diese nicht mögUch ist, überhaupt keine Bewegung stattfinden kann. Die natürliche aber ist wegen der im Leeren herrschen- den Unterschiedslosigkeit aufgehoben. Zugleich ist die Be- wegung der geschleuderten Körper unmöglich, weil die Ursache ihrer Fortdauer, sei sie nun der sogenannte „G-egendruck^ oder der Stofs der verdrängten Luft, im leeren Baume wegfiele.

Aber nicht nur die Veranlassung zu einer Bewegung fehlt im Leeren, sondern auch jedes Hindernis der Bewegung; daher könnte im Leeren entweder nur stets Buhe oder stets Bewe- gung vorhanden sein, ein Übergang von einem zum andern ist nicht möglich. Ebenso könnte, da, wie schon erwähnt, im Leeren kein Unterschied der Bichtungen stattfindet, die Bewe- gung irgend eine bestimmte Richtung gar nicht haben. Da endlich die Geschwindigkeit eines bewegten Körpers nur durch den Widerstand des Mittels, in welchem die Bewegung vor sich geht, reguliert wird, im Leeren aber keine verschiedenen Grade eines solchen hemmenden Widerstandes existieren, so kann auch keinerlei Unterschied in der Geschwindigkeit stattfinden; viel- mehr muTs sich alles sowohl mit gleicher wie mit unend- licher Geschwindigkeit bewegen.^ Somit ist jede Bewegung im Leeren undenkbar.

Dies sind die mathematischen und mechanischen Über- legungen, welche Aristoteles ins Feld führt, um zu beweisen, dafs Atome und leerer Baum nicht existieren können.

Er versucht aber auch die durch Verwerfung der atomisti- schen Annahmen in den Erklärungsversuchen der Physik ent- standene Lücke seinerseits auszufiUlen, indem er zeigt, wie

^ Phys, IV. 8. 215 b. 12 f. Bei Aristoteles liegt an diesu Stelle bei dem von ihm gegebenen mathematischen Beispiel eine Verwechselung Yon arithme* tischem und geometrischem Verhältnis vor. Er sagt richtig, das Leere habe keine Verhältniszahl zum Vollen, wie die Null keine im Vergleich mit einer Zahl hat, nimmt aber ah Beispiel statt der geometr. Verhaltnine f , |, f , t die arithmetischen 4—3, 4—2, 4—1, 4—0, wobei das letztere natürlich eine endliche Bedeutung hat.

Aristoteles: Gegen die Brauchbarkeit der Atomistik. 109

ohne Annahme von Atomen die Haupterscheinungen der Physik sich erklären lassen.

n. Gründe gegen die Brauchbarkeit der Atomistik zu physikalischen Erklärungen.

Die Gtründe, mit welchen Abistoteles die Überflüssigkeit der atomistischen Hypothese nachzuweisen sucht, beziehen sich auf die hauptsächlichsten Veränderungen, welche man an der Körperwelt wahrnimmt und können nach folgenden G-esichts- punkten geordnet werden.

Zu erklären sind:

A) die räumliche Bewegung überhaupt und zwar insbe- sondere die Schwere;

B) die quantitative Bewegung, nämlich Verdichtung und Verdünnung, Ausdehnung und Zusammenziehung, das Wachstum ;

C) die qualitative Bewegung, und zwar

a) die Thatsache der Verschiedenheit der Grundstoffe;

b) die Veränderung der Körper in Bezug auf ihre Eigenschaften;

c) die gegenseitige (chemische) Verbindung der Stoffe untereinander ;

D) die Seelenthätigkeiten.

A. Gegen die atomistischc ErMärung der Schwere.

Was die Existenz der Bewegung überhaupt anbetrifft, so hat Aristoteles den Atomisten den Vorwurf zu machen, dafs sie eine immerwährende Aktualität und immerwährende Be- wegung annehmen, eben deshalb aber die Ursache und Art dieser Bewegung nicht erklären; sie sagen nicht, wie beschaffen und warum diese Bewegung soi.^

Es gelten nun gegen die Bewegung im leeren Kaum die oben (s. S. 107 f.) angeführten Einwände überhaupt*, in Bezug auf die Erscheinungen des Schweren und Leichten bieten sich indessen im Anschlufs daran noch einige besondere Schwierig- keiten dar.

^ Metaphys. I, 4 am Ende, und XII, 6.

110 Aristoteles: Schwere atomistisoh nicht erklSrbar.

Nach Demokbit fallen die Atome alle nach unten, die gröfseren schneller als die kleineren. Dadurch finde ein Zu- sammenstofsen derselben statt, infolgedessen die kleineren Atome nach oben getrieben werden.

Dagegen wendet Aristoteles, wie bereits erwähnt, ein, dafs es im leeren Eaume kein Oben oder Unten gäbe, mithin keine natürliche Bewegung, kein Leichter und Schwerer Alles müsse gleich rasch fallen, wenn man überhaupt einsehen könnte, wie eine Bewegung zustande kommen soll.*

Nach Platox bestehen die Körper aus Elementarflächen und zwar aus Dreiecken; schwer ist dann dasjenige, was mehr, leicht, was weniger solche Dreiecke enthält. Diese Annahme erklärt Aristoteles abgesehen von der Unmöglichkeit, dais ein Körper aus Flächen bestehen soll darum für falsch, weil alsdann eine grofse Menge Feuer schwerer sein würde, als eine kleine Menge Erde; denn erstere könnte so grois genommen werden, dafs sie mehr Dreiecke enthält als letztere. Nun aber, meint er, zeigt sich das Gegenteil; je mehr Feuer vorhanden ist, um so leichter ist es (um so mehr nämlich strebt es in die Höhe). Das Feuer hat absolut keine Schwere.

Besser als diese Erklärung läfst sich ireilich die Ansicht derjenigen hören (der Atomisten), welche nicht Flächen, sondern KörpcrUclies als Elementarteile betrachten. Da man nämlich bemerkte, dafs Körper bei gröfserem Volumen doch mitunter ein geringeres Gewicht als solche von kleinerem umfange haben, so behaupten sie, das Leere mache die Körper, indem es in dieselben eingeschlossen sei, leicht und bewirke zuweilen, dais Gröfseres leichter sei als E^leineres, weil es viel Leeres in sich enthalte. Dabei mufs jedoch das Verhältnis des Leeren zmn Vollen sorgfaltiger berücksichtigt werden. Sonst könnte z. B. im Vergleich mit wenig Feuer vieles Gold mehr Leeres ent- halten, und darum leichter sein; es kommt also auf die Menge des Körperhaften an. Aber wenn man den Nachdruck nur auf die Menge- des Körperhaften legt, so hat man wieder die Schwierigkeit, dafs es eine Menge Feuer geben mufs, welche ihrer Gröfse wegen mehr Körperhaftes enthält als eine kleine Menge Erde

^ Eingehender äufsert er sich kritisch über die Theorien der Schwere im 1. u. 2. Kap. des 4. Buches De coelo.

Aristoteles: Schwere atomistisch nicht erklärbar. Hl

und daher schwerer sein müfste. Indessen auch die Annahme, dafs das Leere in einem bestimmten Verhältnisse zum Vollen stehen müsse, ist nicht ausreichend. Denn in einer kleinen Menge Feuer wird dasselbe Verhältnis des Leeren zum Vollen herrschen wie in einer grofsen, und doch wird die grofse Feuermenge rascher nach oben getragen werden; und andrerseits wird bei gleichem Verhältnis des Leeren zum Vollen die gröfsere Masse Blei oder Gold rascher fallen als die kleinere. Diese Er- klärungen sind also nicht stichhaltig. Es wäre femer nicht zu verstehen, wie die Körper durch das in ihnen enthaltene Leere nach oben getragen werden sollen, ohne dafs das Leere sich mit nach oben bewegt. Wenn aber das letztere der Fall sein sollte, also das Leere nach oben, das Volle nach unten sich bewegte, so wäre eben erst zu erklären, warum das Leere nach oben, das Volle nach unten gehen solle, und aufserdem könnte man nicht sagen, warum das Leere sich nicht vom Vollen trenne. Überhaupt müfste es für das Leere dann wieder einen Ort (Kaum) geben, aus welchem und in welchen seine Ver- änderung vor sich ginge ; es ist aber [unbegründet, dem Leeren noch einen besonderen Raum zu geben, als ob es nicht schon selbst gewissermafsen ein Raum wäre.^ Letzteres ist so zu verstehen, dafs das Leere, indem es sich bewegt, selbst eine Art von Körper vorstellt und daher wieder eines besonderen Baumes bedarf, da der Ort, wohin es sich bewegt, selbst kein Leeres enthalten darf, wenn es daselbst Platz finden soll. Da f&r Aristoteles der Ort die Grenze des einschliefsenden Körpers ist, so kann das Leere nicht wieder in einem Leeren sein. Alle diese Erklärungen mit Hilfe des Leeren oder der Atome scheinen ihm vergeblich ; ebenso grundlos sei es, den Unterschied von Schwere und Leichtigkeit etwa auf Unterschiede der Qröfse und Kleinheit zurückführen zu wollen. Die Erklärung der Schwere ist vielmehr nur durch die Annahme von Be- wegungen möglich, die den Körpern naturgemäfs zukommen; es gibt für die einzelnen Körper natürliche Orte, nach denen sie streben. Ohne die Annahme absolut schwerer luid absolut leichter Körper würde es gar kein Streben nach oben geben,

* Die ganze Entwickelung De codo IV, 2. Vgl. zu dem letzten namentlich Fhya, IV, 8. 21Ga, 12G f.

112 Aristoteles: Verdichtung und Verdünnimg.

sondern nur ein Zurückbleiben hinter anderem, oder ein gewaltsames Getriebenwerden durch dieses nach der Höhe.

B. Gegen die atomistische Erklärung der Verdichtung und der Zunahme,

Die Atomistik behauptet, dafs es ohne Leeres keine Ver- dichtung oder Verdünnung geben könne.^ Nun muüi folgendes zugegeben werden: Wenn es keine Verdichtung gibt, so sind nur drei Fälle mögUch: Erstens, es gibt überhaupt keine Be- wegung; oder zweitens, es mufs beim Übergang der Stoffe in- einander das Raummafs derselben konstant bleiben, d. h. wemi Luft in Wasser verwandelt wird, zugleich ebenisoviel Wasser in Luft übergehen; oder drittens, das Weltall muüi an seinen (ifrenzen in eine überwallende Bewegung geraten infolge des gegenseitigen Drängens der Körper.

Nun gibt es aber Bewegung, und zwar nicht bloJGs die Kreisbewegung, bei der das Ausweichen der Stoffe noch denk- bar ist, sondern auch geradlinige Bewegung. Ebenso wider- spricht der zweite Fall der Erfahrung; denn wenn Wasser in Luft verwandelt wird, so entsteht ein gröfseres Volumen Luft. Drittens ist das Überwallen des Weltalls sinnlos, da es kein Leeres gibt. Alle diese Fälle sind also unmöglich und es muls daher jedenfalls eine Verdichtung und Verdünnung geben. Es scheint hier, als ob Abistoteles zur Anerkennung des leeren Raumes gedrängt werde, oder er muls imstande sein, die Ver- dichtung ohne Hilfe des Leeren zu erklären. Und dies ermöglicht er, indem er auf sein Grundprinzip von Materie und Form zurückgeht. Die Verdichtung und Verdünnung erklärt sich aus dem Übergange von der Potenzialität in die Aktualität, wobei der Stoff ein und derselbe bleibt. Nur was er vorher schon potenziell war, wird er jetzt aktuell, Kleines aus Grofsem und Grofses aus Kleinem. Wenn das Wasser Luft wird, so ist nicht derselbe Stoff durch Hinzufügung von mehr Stoff ein andrer geworden, sondern er ist nur das in Wirklichkeit (actu) geworden, was er der Möglichkeit nach schon war. Beim Übergang von Kälte in Wärme kommt ebenso- wenig wie bei einer Erhöhung der Wärme etwas Neues hinEu, das nicht bereits potenziell im Stoffe sich vorfand. So wird auch

* Die folgende Darstellung nach Phys. IV, 9.

Aristoteles gg. d. Atomistik: Zunahme. 113

die Masse der Körper nicht durch HinznfiigTmg neuen Stoffes ausgedehnt, sondern das Dichte {nvxvov) und Lockere (jjkxpov) sind in demselben Stoffe potenziell angelegt und kommen zu ihrer Aktualität in naturgemäfser , undurchbrechlicher Ent- Wickelung. Die Annahme eines Leeren ist dadurch vollkommen ausgeschlossen.

Auch die Zunahme der Körper ist nicht zu erklären durch das Hinzutreten neuer Körper, sondern wenn ein Körper wächst oder abnimmt, so vergröfsert oder verkleinert sich jeder Teil desselben.^ Diese Veränderung der einzelnen Teile aber beruht nicht auf dem Hinzukommen neuen Stoffes, sondern auf dem Hinzukommen neuer Form,' nämlich ebenfalls auf dem Über- gang von der Potenz zum Aktus. E[nochen und Fleisch setzen sich nicht, wie eine Mauer aus Ziegelsteinen, unverändert aus den Nahrungsstoffen zusammen,^ sondern letztere werden quali- tativ verändert.

C. Oegen die atomistische Erklärung der Veränderungen an den Körpern,

a. Die Verschiedenheit der Grundstoffe

Die Untersuchung über das Entstehen und Vergehen der Körper fOhrt auf die Betrachtung desjenigen, was diesem Wechsel zu Ghrunde liegt, auf die Elemente. Aristotelbs weist zunächst die Lehre der Eleaten zurück, welche das Werden leugneten und das schlechthin unveränderliche Sein annahmen, ebenso die des Heraklit von dem stetigen Flusse des Werdens, und wendet sich ausführlich gegen Platon, der alle Körper ans ebenen Flächen bestehen lasse, eine Lehre, die weder mathematisch noch physikalisch haltbar sei. Insbesondere fähre sie zu dem Widerspruche, dafs ebenso den Punkten, Linien und Flächen Schwere zukommen müfste; auch könnte dann einmal die QrbSse gelegentlich verschwinden, so dafs nur Punkte zorückblieben.^

Vielmehr müssen die Elemente eine natürliche Bewegung be- sitzen, sonst ist es nicht erklärlich, warum die Körper sich an bestimmten Orten geordnet haben und zur Kühe gekommen sind.

* Dt gen. et eorr. I, 5. 321a. 2. - De gen. et carr. I, 5. 321b. 23. - ^ De gen. et eorr. H, 7. 334 a. 20. * De Coelo III, 1. p.300a. 11.

8

Lalkwlta.

\H Abistotelks gg. d. Atom.: Zahl d. Onmditoffe.

Dies können Demokrit und Leueipp, welche behaupten, daCs die ursprünglich ersten Körper im Leeren und ünbegrensten immerwährend bewegt werden, nicht angeben.^

Es fragt sich nun, wieviele Grundstoffe man annehmen müsse. Ein einziges Element reicht nicht aus,' aber auch die Annahme von Demokrit und Leukipp ist nicht stichhaltig, daCs es unendlich viele erste Grundkörper gebe, welche der Gröfie nach nicht mehr teilbar seien und durch deren Zusammen- fügung und Verwickelung alles entstehe.' Sie machen dadurch gewissermafsen alles zu Zahlen, insofern doch die Eigen- schaften der Dinge durch die zahlenmäfsige Kombination der Atome bedingt werden; aufserdem behaupten sie, da der unter- schied der Körper in den Gestalten liege, der Gestalten aber unendlich viele seien, dafs darum auch die Zahl der einfachen Körper unbegrenzt sei, können aber über die Beschaffenheit dieser Figuren nichts Näheres angeben. Nur vom Feuer sagen sie, dafs seine Atome Kugelgestalt besäfsen, während die Atome der übrigen Elemente sich allein durch ihre Gröise unterscheiden sollen. Es ist aber gegen sie einzuwenden, dafs es nicht un- endlich viele Unterschiede der Körper, sondern nur eine begrenzte Zahl von Eigenschaften gibt, und dafs daher auch die Anzahl der Elemente nicht unendlich sein dürfte, abg^ehen von den mathematischen und mechanischen Schwierigkeiten, die sich aus der Annahme von unendlich vielen und unteilbaren Elementargröfsen ergeben und von denen schon firüher gesprochen worden ist. Dazu kommt, dafs, wenn jedes Element eine natür- liche Bewegung, und zwar als einfacher Körper eine einfache Bewegung hat, die Zahl der wirklich existierenden Bewegungen (nach unten und nach oben) viel zu klein und ebenso die Zahl der Orte nicht unbegrenzt ist, so dafs es schon aus diesem Grunde nicht unendlich viele Grundkörper geben' kann.^

Endlich ist die Annahme von unzählig vielen Formen der Grundkörper darum bedenklich, weil sie gar nicht notwendig ist; denn es lassen sich alle Körper aus Pyramiden zusammen-

^ De coeh III, 2. 300 b.

* Dies wird De coelo III, 5 ausführlich begründet. Vgl. auch Bbasdu II, p. 963 fif.

De coelo III., 4. 303a. --^ * De coelo m, 4. p. 303 b.

Aristoteles gg. d. Atom.: Ausdehnung. 115

setzen, die Polyeder aus geradlinigen Pyramiden, die Kugel aus acht Teilen.^

Die Atomisten geraten aber auch mit sich selbst in Wider- Spruch, namentlich in Bezug auf den Übergang der Elemente ineinander, denn wenn die Elemente sich durch die ver- schiedene Gröfse ihrer Atome unterscheiden, wie dies bei Luft, Erde und Wasser der Fall sein soll, so kann nicht ein Element aus dem andren entstehen; wenn nämlich immer zur Er- zeugung eines dieser Stoffe bestimmte Atome, z. B. die gröisesten, ausgeschieden .werden, so mufs einmal Mangel an den grofsten Atomen eintreten, nachdem die vorhandenen sämtlich schon ausgeschieden sind, so dafs die weitere Um- wandlung unmöglich wird.^ In der begrenzten Gröfse können ja doch nicht unbegrenzt viele Atome vorhanden sein.^

Auch ist es dann nicht zu erklären, warum bei der Um- wandlung von Luft in Wasser das ausgeschiedene Wasser schwerer ist als die Luft; durch blofses Zusammendrücken kann doch ein und dieselbe Gröfse nicht schwerer werden.* Wenn dagegen umgekehrt Luft aus Wasser wird, so nimmt die Luft als das Feinteiligere mehr Eaum ein, wie man bei der Ver- dampfung, wodurch selbst die einschhefsenden Gefäfse gesprengt werden, beobachtet. Diese Ausdehnung ist durch die ato- mistische Annahme gar nicht zu erklären, weil es durchaus nicht notwendig ist, dafs nach Trennung zweier Körper von- einander (so wird ja die Verdampfung erklärt) der eine Körper immer mehr Raum einnehme, als zuvor beide zusammen. Gibt es kein Leeres und keine selbständige Ausdehnung der Körper, so ist erwähnter Umstand ganz unfafsbar, gibt es aber ein Leeres und eine solche Auseinanderdehnung, 80 ist wenigstens die Notwendigkeit nicht einzusehen, weshalb der ausgeschiedene Körper immer sein Volumen vergröfsere.

Um die Umwandlung der Elemente ineinander zu erklären bleibt also nur übrig, anzunehmen, dafs sie wechselseitig aus- einander entstehen, entweder durch Umformung, wie aus dem-

^ De eoelo III, 4. 303a. 31. Aristoteles meint die acht Oktanten. S. aaeh S. 116 Anin.

De eoelo m, 4. 303 a. 27. » De coelo UI, 7. 305 b. 21. * De coelo m, 7. p. d06b. Daselbst auch das Folgende.

8*

11(3 Aristoteles gg. d. Atom.: RaamaasfSllmig.

selben Stücke Wachs eine Kugel und ein Würfel entstehen kann, oder durch Auflösung in ebene Flächen.

Die Annahme der Umformung erfordert notwendig auch die Annahme von Atomen; denn teilbare Würfel oder Pyra- miden würden nicht gerade immer in Würfel resp. Pyramiden zerfallen. Die Zerlegung in ebene Flächen erklärt nicht die Umwandlung aller Elemente ineinander (Platon nimmt die Erde davon aus), und läfst ja überhaupt das Entstehen nicht aus Körpern stattfinden.

Überhaupt ist der Versuch, den einfachen Körpern eine bestimmte Form zu geben, unbegründet.^

Erstens würde der Baum sich alsdann nicht lückenlos aus- füllen lassen, denn von den Flächenfiguren thun dies (in Bezog auf die Ebene) nur das reguläre Dreieck, Viereck und Sechseck, von den Körpern (in Bezug auf den Baum) nur zwei, Pyramide und Würfel.^ Man mufs aber notwendig mehr als diese zwei annehmen, weil man doch mehr Elemente aufstellt.

Zweitens zeigt sich, dafs alle einfachen Körper, zumeist aber Wasser und Luft, durch den sie umfassenden Ort in ihrer Gestalt bestimmt werden. Es kann also die Form des Ele- mentes nicht eine unveränderte bleiben, weil alsdann nicht das Ganze allseitig dasjenige berühren würde, von dem es umfalst

* De coelo III, 8.

' Diese Angabe des Aristoteles enthält eine grofse Unbestimmtheit Wenn nur reguläre Körperformen angewendet werden sollen, unter welcher Annahme allein die obige Angabe der genannten Figuren fiir die Ebene berech- tigt ist, so ist die Nennung der Pyramide nicht richtig, weil regulire Tetraeder sich nicht lückenlos aneinander legen lassen. Darf man aber anoh andre Xörperformen zu Hilfe nehmen, so ist man keineswegs auf Pyramide und Würfel beschränkt, sondern hat eine unbegrenzte Auswahl. Den Ausdruck „Pyramide" bezieht Pbantl a. a. 0. II, S. 327 u. 330 auf dreiseitige Pyramiden mit rechtwinklig-gleichschenkligen Dreiecken als Seitenflächen; diese geben, zu 8k mit den Spitzen aneinander gesetzt, das Oktaeder. Doch muls bemerkt werden, dals der Würfel aus derartigen Pyramiden nicht zusammensetsbar ist, sondern, wenn man kongruente gerade Pyramiden wählen will, aus 6 vierseitigen, die mit den Spitzen zusammen liegen, und deren Ghrundflächen die Seiten des Würfels bilden, entsteht. Vgl. übrigens die citierte Anm. von Psahtl über diese Stelle. Vgl. hierzu die Betrachtungen von Bogeb Baco im 6. Abschn., 3. Kap. Zu Platons Zeiten war es nach seinem eigenen Ausspruch mit der Stereometrie schwach bestellt. S. Cahtob, Gesch. d. Math. I S. 193.

Aristotkles gg. d. Atom.: Atomgestalten. 117

wird. Verlören jedoch bei der Ausfüllung eines andren Baumes die Elementarkörper durch Anpassung ihre Gestalt, so würden sie ja dadurch auch ein andres Element bilden, falls der Unterschied der Elemente im Unterschied ihrer geometrischen Form läge. Wie sollten dann aber bei mangelnder Anpassung Fleisch und E[nochen und die stetigen Körper entstehen?

Endlich stehen die bestimmten Figuren der Elementarkörper nicht im Einklang mit den Eigenschafben, welche durch die- selben erklärt werden sollen und um derentwillen man sie ihnen beilegte. Demokrit gab den Feueratomen Kugelform, Platon Pyramidenform, weil diese Figuren die leichtbeweg- lichsten wegen der Kleinheit ihrer Flächen (die sie weniger fest stehen lassen) seien und die meiste Kraft des Erwärmens und Brennens haben; denn das Brennen geschehe, wie jene behaupten, durch das Einschneiden der Ecken, die bei den Pyramiden am schärfsten sind, während die Kugel gewisser- maisen eine einzige Ecke sei.

Diese Erklärung ist aber deshalb nicht stichhaltig, weil alsdann den Elementen an jedem Orte dieselben Bewegungen zukämen, während alle Körper nur an fremdem Orte hinweg- Btreben, dagegen an dem ihnen eigentümlichen Orte nicht gravitieren; die Erde z. B. bleibt an ihrem natürlichen Orte in Eohe, bewegt sich aber fort, wenn sie nicht an demselben ist, ebenso die übrigen Elemente.

"Wenn dies von den geometrischen Formen der Elementar- körper herrühren sollte, so müfsten sich diese ja bei dem Orts- wechsel selbst ändern, am fremden Orte müXsten die Elemente, weU leicht beweglich, Kugel- oder Pjrramidenform haben, an ihrem eigentümlichen (olxeCtf)^ weil ruhend, Würfelform. Wenn femer das Feuer durch seine Ecken brennend wirkte, 80 müisten alle Elemente mehr oder weniger brennen, denn alle Körper haben Ecken (nach Demokrit ist ja auch die Kugel eine einzige Ecke). Ja sogar die mathematischen Körper SLüCsten dann brennen. Und wäre das Brennende Pyramide oder Kugel, so müfste das Gebrannte ebenfalls Pyramide oder Kugel werden; denn das Gebranntwerden besteht doch in der Übertrsguiig der Form des Feuers, weil das Gebrannte in Feuerhitze versetzt wird. Wenn man sich nun auch denken kann, daCs die verbrennenden Körper durch Pyramiden oder

118 Aristotkles gg. d. Atom.: Synkrisii.

Kugeln zersclmitten werden, so ist es doch gänzlich imbegründet, dafs sie wieder in Pyramiden und Kugeln zerschnitten werden sollten, gerade als wenn ein Messer oder eine Schere alles wieder in Messer und Scheren zerschnitte!

Überhaupt ist es kein Grund, dem Feuer seine Gestalt seiner zerteilenden Eigenschaft wegen zuzusprechen, da es doch viel- mehr verbindende Eigenschaft hat. Auch müfste dann das Kalte entgegengesetzte Form wie das Warme haben.

Es ergibt sich demnach, dafs weder die Existenz der vier Grundstoffe noch ihr gegenseitiger Übergang ineinander aus atomistischen Prinzipien genügend erklärt werden kann.

Was aber freilich das Entstehen und Vergehen, die Zusammensetzung aus den Grundstoffen anbetrifft, so mois man zugeben, dafs Demokrit eigentlich der einzige ist, der hierüber überhaupt wissenschaftliche Angaben gemacht hat. Dieselben sind nun weiter zu betrachten.*

b. Entstehen und Vergehen, Änderung der Eigenschaften.

Demokrit und Leükipp erklären das Entstehen und Ver- gehen durch das Zusammensichten {(fvyxQ$(ftg) und Aus- einandersichten (diaxQitfig) der Atome, die qualitative Änderung durch ihre Reihenfolge (raj^g) und Lage {&i(ftg).* Durch die Veränderung der räumlichen Anordnung der Teile, selbst wenn sich nur ein Kleines in seiner Bewegung ändert, kann das Ganze ein durchaus andres Aussehen bekommen; aus den nämlichen Buchstaben entsteht eine Tragödie und eine Komödie. In der That ist es schwierig, die Frage zu bejahen oder zu verneinen, ob das Entstehen ein Zusammensichten ist; in beiden Fällen ergeben sich Unmöglichkeiten, die im ersten Falle gar nicht, im zweiten nur sehr schwer zu lösen sind.

Der Hauptgrund, welcher gegen das Entstehen als ein Zusammensichten spricht, ist der, dafs es überhaupt keine unteilbaren Gröfsen geben kann. Die Gründe dafür sind schon wiederholt auseinandergesetzt worden. Ganz unhaltbar ist

^ De gen. et corr, l, 2. 315a 34. Vgl. auch I, 8. 324b 35 f.

' Dies und das Folgende nach De gen. et corr. I, 2. 815 b f. Dshokbit gebrauchte die technischen Ausdrucke r^ornj und dia&ty^ f&r die Lagefindenmg der Atome.

Aristoteles gg. d. Atom.: Teilbarkeit. 119

Platons Annahme von den unteilbaren Flächen, weil diese die Zusammensetzung gar nicht erklären können, während dagegen die Erklärung der Veränderungen der Körper durch den Lage- wechsel körperlicher Atome viel eher zulässig ist. Dies kommt daher, dafs Platon rein vom Begriffe des Ideal-Dreiecks ausgeht, während Demokbit mehr physikalisch verfahrt. In solchen Fällen kann man aber nur von der Erfahrung aus imd durch Anschauung des faktisch Vorhandenen zu sachgemäfsen Erklärungen kommen.

Eine aktuelle Teilung ins Unendliche kann es nicht geben, da der Körper sonst aus gröfsenlosen Punkten oder aus dem blofsen Zustande des Zusammengesetztseins und Sichberührens bestehen müiste; also muTs man doch in der aktuellen TeUung irgendwo bei Unteilbarem stehen bleiben. Unteilbare Bestand- teile aber können andrerseits, wie früher entwickelt, nicht zugegeben werden; potenziell geht die Teilung offenbar bis ins Unendliche. Diese Schwierigkeit löst sich dadurch, dafs die Punkte, in welchen geteilt wird, sich ja nicht aneinander anreihen, sondern immer nur einzeln sind; folglich kann die Teilung zwar an jedem beliebigen Punkte, aber nicht gleich- zeitig an allen Punkten erfolgen. Potenziell sind die Körper ins Unendliche teilbar, aktuell nicht. Die wirkliche Teilung gelangt nicht zu unendlich kleinen Teilen, aber allerdings zu einer Zerlegung des Körpers in kleinere Teile.

Und in dieser Hinsicht gibt es auch eine Zer- trennung und Zusammensetzung der Körper aus sehr kleinen Teilen. DasEntstehen und Vergehen schlechthin aber besteht nicht in der Zusammen- Sichtung und Auseinandersichtung von Atomen, sondern findet dann statt, wenn etwas als Granzes nacli Stoff und Form sich verändert. Die qualitative Änderung dagegen besteht nur in der Veränderung der Zustände. Wohl aber befördert die Zerteilung in kleinere TeUe jede Umwandlung und Veränderung.^

"Was mm das Ausüben und Erfahren von Einwirkimgen anbetrifft, so soll dasselbe nach der Ansicht fast aller Philo- sophen nur bei ungleichen Dingen stattfinden. Demokrit allein

» A. a. 0. p. 317 a.

120 Aristoteles gg. d. Atom.: Einwirkung.

behauptet, dafs nur gleiche Dinge aufeinander wirken.^ Beide Annahmen haben teilweise recht; denn um eine Einwirkung möglich zu machen, müssen die Dinge der O-attung nach über- einstimmen, der Art nach aber bich unterscheiden. Die Ein- wirkung erfordert nämlich einen Gegensatz, der in den Arten liegt, zugleich aber eine gewisse G-emeinsamkeit, welche durch die G-attung gegeben ist.

Es bleibt nun das „Wie^ der Einwirkun^^ das Mittel, durch welches die Körper aufeinander wirken, noch zu erklären.' Einige suchen dieses Mittel in den Poren der Körper, indem sie meinen, dafs sich dabei Jegliches leidend verhalte gegenüber dem, was als das am entscheidendsten Wir- kende in die Poren eindringt. Sie erklären auf diese Weise alle Sinneswahmehmungen, sowie die Durchsichtigkeit der Körper, weil das Durchsichtige Poren habe, die zwar ihrer Kleinheit wegen unsichtbar, aber dicht und reihenweise vor- handen sind, imd zwar um so dichter, je gröfser der Ghrad der Durchsichtigkeit ist. Auch die Mischung (chemische Ver- bindung) führen sie auf die Existenz der Poren zurück, indem sie behaupten, dafs diejenigen Körper Verbindungen eingehen, deren Poren sich symmetrisch zu einander verhalten.

Von allen Untersuchungen über diesen Gegenstand zeichnen sich am vorteilhaftesten diejenigen von Leükipp und DEMOKKrr aus, sowohl durch Methode und Konsequenz, als auch durch den sach- und naturgemäfsen Ausgangspunkt. Diese Philosophen wollten den Schlufsfolgerungen der Eleaten entgehen, durch welche Bewegung und Mannigfaltigkeit des Seins vernichtet wurden, wollten aber zugleich weder den Gegensatz zwischen Sein und Nichtsein aufheben, noch die Existenz des leeren Baumes als notwendige Bedingung der Bewegung und Vielheit des Seins leugnen. So suchte Leueipp zwischen der durch die Sinne gegebenen Erfahrung einer mannigfaltigen und be- wegten Welt imd der Behauptung der Eleaten von der Unver- änderlichkeit des Seins zu vermitteln und nahm daher an, dals das Leere ein wirkUch Nichtseiendes, nur das Volle ein Seien- des sei; das letztere aber sei nicht Eines, sondern der Menge

* De gen, ei corr. I, 7. 323 b.

^ Dies und das Folgende genau nach De gen. et corr. I, 8. p. 824b £

Abistotbleb gg. d. Atom.: Einwirkung. 121

ioh unbegrenzt, und unsichtbar wegen der Kleinheit der lassen« Die Vielheit des Seienden bewege sich im Leeren id bewerkstellige, indem es zusammentrete, ein Entstehen, id indem es auseinandergelöst werde, ein Vergehen. Die )genseitige Einwirkung aber werde bewirkt durch die gegen- itige Berührung; denn da das Seiende durch das Nicht- iende, nämlich das Lewe, getrennt sei, so sei es nicht Eines, indem ein Mannigfaltiges und veranlasse daher durch seine isammensetzung und Verwickelimg ein Werden, indem die oren dieses Zusammentreten imd Scheiden ermöglichen.

In ähnlicher Weise muTs auch Empedokles seine Erklärung if gewisse unteilbare Körper zurückführen, wenn er nicht den oren gegenüber das Körperhafte ganz aufgeben will; aber er t nicht imstande Entstehen und Vergehen und die qualitative ndemng der Elemente selbst zu erklären, wenn er nicht wieder lemente der Elemente annehmen will. Platon kann ebensowenig ne Erklärung dieser Vorgänge geben, da er bei Annahme von iteilbaren Flächen und Leugnung des leeren Baumes alles ir auf Berührung zurückführen kann. Leueipp jedoch, welcher lendUch viele Atome und unendlich viele Formen derselben )ben dem Leeren annimmt, kann sich zur Erklärung der Ent- ehung und Veränderung sowohl der Berührung als der leeren snschenräume bedienen. Gegen diese atomistische Erklärung )er ist mancherlei zu sagen.

Zunächst steht fest, dafs unteilbare Körper niemals eine inwirkung erfahren, noch ausüben können. Denn da sie Ibst unveränderlich imd eigenschaftslos sind, so könnte die inwirkung auf sie nur vermittels des Leeren geschehen, was ich undenkbar ist; und sie selbst können weder kalt noch irt sein. Führt man aber die Eigenschaft der Wärme auf e runde Form der Atome zurück, so müfste auch dem Kalten, B dem Gegenteile, eine bestimmte Form zukommen. Mit onselben Bechte müfste man aber auch der Schwere und eichtigkeit, der Härte und Weiche besondere Formen zu- brechen. Wenn nun Demokrit sagt, dafs jedes Atom je nach iner Ghröfse schwerer oder leichter sei, so müiste es in demselben rade auch wärmer oder kälter sein, und dann könnte es nicht .ehr unveränderlich bleiben, sondern die Atome müfsten eehselseitig aufeinander einwirken, das übermäfsig Warme z. B.

122 ARISTOTELES gg. d. Atom.: Einwirkang.

auf das unmerklich Warme. Ferner muls den Atomen, wenn ihnen Härte zukommt, auch Weiche zukommen; es liegt aber schon im Begriff des Weichen, dafs es Einwirkungen erfährt, denn Weiche ist ja gerade das, was die Fähigkeit hat, zorückEuweichen. Die Annahme von Atomen führt also auf Widersprüche.

Femer ist es ungereimt, dafs es wohl kleine nnteilbare Körper geben soll, grofse aber nicht. Denn wenn auch grölsere Körper leichter zermalmt werden als kleinere, so geschieht dies doch nur, weil gröfsere Körper häufiger an andere anstolsen, als kleinere, ein Umstand, der für den unteilbaren Körper nicht in Betracht kommen kann; das ünteilbarsein an sich könnte dem G-rofsen wie dem Kleinen, wenn es überhaupt möglich wäre, in gleicher Weise zukommen.

Femer entsteht die Frage, ob sämtliche Atome einer Natur sind, oder ob sie sich voneinander unterscheiden, so dafs etwa die Einen feurig, die andern erdig wären. Sagt man, dafs sie sämtlich von gleicher Natur sind, so ist nicht einzusehen, was sie dann voneinander trennen soll, oder warum sie bei gegenseitiger Berührung nicht Eins werden, wie wenn Wasser mit Wasser zusammenstöfst. Sagt man aber, dafs sie verschiedener Natur sind, so sind sie ja nicht mehr qualitätslos, und es liegt dann offenbar viel näher, diese Quali- täten zu Prinzipien und Ursachen des G-eschehens zu machen, als die Figuren der Atome. Übrigens besteht schon darin ein Unterschied zwischen ihnen, dafs sie beim gegenseitige Zusammenstofsen aktiv und passiv aufeinander wirken.

Weiterhin tritt die Schwierigkeit auf, zu erklären, was bei den Atomen das Bewegende sein soll. Hat die Bewegung der Atome ihre Ursache aufserhalb derselben, so müfsten sie selbst ja für die Einwirkung empfänglich sein, was doch ihrem Begriffe widerspricht. Bewegen sich die Atome aber durch sich selbst, so wäre jedes Atom gleichzeitig ein Bewegendes und ein Bewegtes und demnach in dieser Beziehung teilbar - oder die Gegensätze wären an einem und demselben Atom vorhanden und der Stoff wäre dann nicht blois der Zahl, sondern auch der Kraft nach ein einziger.

Was endlich die Erklärung der Einwirkungen durch das Eindringen der Körper in die Poren anbetrifft, so werden die Poren offenbar überflüssig, sobald sie angef&Ut

Aristoteles gg. d. Atom.: Poren. 123

sind;^ und dies mufs doch im Verlaufe der Einwirkung einmal geschehen. Denn wenn auch dann noch das Ganze eine Einwirkung erfährt, so könnte es dieselbe ebenfalls erfahren, wenn es keine Poren hätte, sondern kontinuierlich wäre. Desgleichen würde dann die Durchsichtigkeit der Körper sich aus den Poren nicht mehr erkl&ren lassen; denn weder an den Stellen, wo die Atome sich berühren, kann etwas hindurch gehen, noch durch die Poren, da diese voll sind. Was bleibt also in diesem Falle, wo alles gleichmäfsig voll ist, noch für ein Unterschied von der Porenlosigkeit? Nimmt man indes an, dafs die Poren an sich leer sind, notwendig aber Körper in sich aufnehmen müssen, so wird sich dieselbe Schwierigkeit ergeben. Sollen sie jedoch etwa so klein sein, dafs sie keine Körper mehr in sich aufnehmen können, so ist es lächerlich zu glauben, dafs es wohl kleines Leeres gebe, grofses aber nicht; oder etwa zu glauben, man verstehe hierbei unter dem Leeren etwas andres als den Ilaum des Körpers, so dafs es* für jeden Körper ein an Masse gleiches Leere geben müsse.

Überhaupt ist die Annahme von Poren gänzlich über- flüssig. Denn wenn die Atome keine Einwirkungen an ihren Berührungsstellen auszuüben vermögen, so werden sie dazu auch nicht beim Durchgange durch die Poren imstande sein. Findet aber Einwirkung durch Berührung statt, so werden sich die Körper je nach ihrer wechselseitigen natürlichen Bestimmung auch ohne Poren wirkend und leidend verhalten.

Poren in dieser Art anzunehmen ist also entweder falsch, oder doch zwecklos ; lächerlich aber wird es, wenn die Körper allseitig teilbar sind; denn inwiefern sie teUbar sind, können sie auch ohne Poren getrennt werden. Die qualitative Ein- wirkung hat vielmehr ihren G-rund in der Allseitigkeit des Überganges von der Potenzialität der Stoffe zur Aktualität. Eine Mannigfaltigkeit der Berührungen und Zustände fördert allerdings die Verwandlung, sie beruht aber nicht auf der Lageänderung von Atomen allein, wodurch vielmehr jede qua- litative Änderung aufgehoben werden würde. Das Erstarren

* Dnrcli diese Umschreibung glaube ich den Sinn der Stelle De gen. €i eoTT. I, 9, p. 326 b. 6 f. am besten zu treffen. Sie lautet: oaok fify •fr cfM? rff n»y nogtoy xtyijmtog (Prantl schreibt: 7(fjjanag) tfam rti nti&fj avfi-

124 ARiäTOTELES gg. d. Atom.: Mischung.

und Flüssigwerden der Körper hängt nicht von der Existenz starrer Atome ab, sondern gleichmäfsig ist das Ganze flüssig oder starr.

Die Bedingungen der qualitativen Änderung sind der spezifische unterschied zwischen dem Bewegten und Be- wegenden bei genereller Übereinstimmung und ihr Zusammen- treten durch räumliche Berührung.

c. Die Mischung.

Entstehen und Vergehen einerseits und qualitative Änderung andrerseits unterscheiden sich dadurch, dalk beim Entstehen und Vergehen das Ganze sich ändert und etwas ganz Neues wird, wobei ein Entstehen des einen durch ein Vergehen des andern und umgekehrt bedingt ist, dals dagegen bei der qualitativen Änderung etwas zu Grunde Liegendes unverändert bestehen bleibt.^ Zu unterscheiden vom Entstehen, durch die qualitative Änderung aber allerdings mitbedingt, ist die Mischung (fiC^tg).^

Die Einwendungen, welche von Einigen (den Eleaten) gegen die Möglichkeit der Mischung gemacht werden, bestehen in Folgendem. Wenn die Teile der Mischung ohne Änderung in der Mischung fortbestehen, so, sagen sie, könne man auch nicht von einer Mischung reden, denn es sei durch dieselbe nichts an dem früheren Zustande geändert worden ; wenn aber der eine oder der andere Teil der gemischten Dinge dabei ver- gangen sei, so findet ebenfalls keine Mischung statt, denn dann sei nur noch eben der unveränderte Teil vorhanden; wenn endlich alle Bestandteile als solche in der Mischung ver- gangen seien, so falle ebenso die ganze Mischung fort; denn was überhaupt nicht ist, kann auch nicht gemischt sein.

Demgegenüber mufs festgestellt werden, was man unter Mischung zu verstehen habe und wodurch sich dieselbe von dem Entstehen und Vergehen unterscheide.

Es zeigt sich nun, dass wir von einer Mischung nicht sprechen, wenn aus dem Holze Feuer wird; das Holz ist

* De gen. et corr. I, 4. Anfang.

' Das für die Geschichte der Korpuskulartheorie so sehr wichtige Thema der Mischung ist behandelt De gen. et corr, I, o. 10.

Aristoteles: Die Bestandteile in d. Mischung. 125

Während des Verbrennens nicht mit dem Feuer gemischt, son- dern das Holz vergeht und das Feuer entsteht; ebensowenig wird die Nahrung mit dem Körper gemischt. Es ist femer keine Mischmig, wenn die Form zur Materie tritt und ihr bestimmte Beschaffenheiten gibt; die geometrische Figur mischt sich nicht mit dem Wachse, das dieselbe annimmt, der Körper nicht mit dem Weifsen, überhaupt nicht Zustände mit Dingen; denn wir sehen ja, dafs die Zustände dabei unver- ändert bleiben. Überhaupt kann nicht jedes mit jedem ge- mischt werden, das Weifse und das Wissen und dergleichen. Sondern nur Substanzen (xnogtctä) können miteinander ver- mischt werden.

Da es nun aber zwei Arten der Existenz, nämlich die Potenz und den Aktus gibt, so darf man annehmen, dafs die Bestandteile in der Mischung in gewissem Sinne seiende imd auch nichtseiende sind. Es ist nämUch aus den Bestand- teilen dem Aktus nach etwas anderes durch die Mischung geworden (so dafs sie in Wirklichkeit nicht mehr existieren), der Potenz nach aber sind sie noch das, was sie vor der Mischung waren, und nicht zu Grunde gegangen.^

So löst sich die oben erwähnte Schwierigkeit. Das Be- Bultat der Mischung entsteht durch Zusammentreten von vor- her Getrenntem und kann wieder in seine Bestandteile getrennt werden. Also bleiben die Bestandteile weder aktuell beharren^ wie etwa der Körper und seine Eigenschaft weifs zu sein, noch auch vergehen sie bei der Verbindung, weil ihre Potenz in derselben bewahrt bleibt. In welcher Weise Aristoteles sich das Verhältnis zwischen den Bestandteilen und der Ver- bindung denkt, darüber gibt noch die Stelle^ AufschluTs, in welcher er den Unterschied untersucht, der zwischen der Ver- wandlung der Elemente ineinander und ihrer Veränderung bei der Bildung einer Verbindung besteht. Während bei der

* Diese Stelle, an welche sich die gSLUze Entwickelung der chemischen Atomistik anknüpft, lautet: (p. 327b 22—26) iTid ifiari m fjUy ffvyd^i m ttiyt^fi^ wy oyrtoy, iydfj^fnct ^i^&fvra tlyaC ntog xal fAij tJyat, iyf^yfi^ /ufy it ffiov Cnog 10V ytyoyuioq i^ ttvTtSy, dvydfid ö^it IxarfQov €t:ifQ ^aay vTQiy fn/- ^f m«, Kai O0X tinoltakoia.

De gen, et corr. II, 7. p. 334 a ff.

126 Aristoteles: Aktualität der Bestandteile.

Annalime, dafs die Verbindung nur in einer Synthese oline Verwandlung bestehe (Abistotelbs polemisiert gegen Emps- DOKLES), nur aus einem bestimmten Teilchen Fleisch Wasser, aus einem andren bestimmten TeUchen Feuer wieder hervor- gehen kann, will Aristoteles aus jedem beliebigen Teilchen sowohl das eine als irgend ein andres Element, je nach der form bestimmenden Kraft, welche hinzutritt, werden lassen. Die Verwandlung der Elemente ineinander bedingt die Annahme eines allen zu Grunde liegenden Stoffes (vXfj); nun tritt aber die Schwierigkeit auf zu erklären, wie aus den Elementen überhaupt etwas Neues, eine Verbindung mit neuen Eigen- schaften entstehen könne. Denn wenn die Bestandteile in der Verbindung nicht bewahrt bleiben, die Elemente aber nur ent- weder ineinander oder in den blofsen Stoff übergehen können,' wie soll da eine Verbindung, z. B. Fleisch, zustande kommen? Da ergreift Aristoteles folgenden Ausweg. Wenn z. B. Warmes und Kaltes zusammenkommen, so können diese Eigen- schaften in sehr verschiedenem G-rade vorhanden sein, da es ein mehr oder minder Warmes resp. Kaltes gibt ; ist nun diese G-radverschiedenheit so beschaffen, dafs die eine Eigenschaft schlechthin aktuell, die andere blofs potenziell ist, so wird keine Mischung, sondern ein Übergang der Elemente inein- ander eintreten. (Vgl. auch S. 128.) „Wenn aber nicht die eine dieser Eigenschaften ausschlieislich aktuell da ist, sondern das Kalte wie Warmes und das Warme wie Kaltes durch ihre Vermischung ihr Übermafs (rag vneQoxäg) gegenseitig tilgen, dann wird weder der blofse Stoff, noch einer der beiden Gegen- sätze schlechthin aktuell (ivreJLsxela ankü^ dasein, son- dern ein Mittelding ((Aera^v).^ Aristoteles fährt also, um die Verbindung mit neuen Eigenschaften möglich zu machen, einen Zwischenzustand zwischen der Potenzialität und Aktua- lität ein, etwas, das „nicht schlechthin aktuell^, also doch gewissermafsen aktuell und nicht schlechthin potenziell ist. Diese Unsicherheit in dem Fundament der Theorie der che- mischen Verbindung ist später der Anlafs zu einer der berühm- testen Streitfragen geworden, die eine weit über die Grenzen scholastisch-dialektischer Künste hinausgehende Bedeutung

» Daselbst p. 334 b. 6—20.

Aristoteles: Zusammensetzuiig und Mischung. 127

dadurch gewoanen hat, dafs alle diejenigen, welche die Natur der Verbindungen theoretisch klarstellen wollten, bei dieser Frage den stärksten Anstofs an Aristoteles nahmen und von ihr aus den Eingang zur Atomistik gewannen. Es ist dies der Grund, warum die Theorie der „Mischung" hier so aus- fuhrlich gegeben werden muss.

Eine zweite Schwierigkeit, welche mit der eben erledigten zusammenhängt, ist die, ob die Mischung blofs für die Sinnes- wahmehmung existiert, nämlich ob sie nur darin besteht, dafs die Bestandteile in so kleine Partikeln zerfallen und derartig nebeneinander gelegt werden, dafs die einzelnen nicht mehr sinnlich wahrnehmbar sind. Es fragt sich, ob damit schon die Mischung als chemische Verbindung vor sich gegangen ist, oder ob die blofse Nebeneinanderlegung der Teilehen niu* eine (mechanische) Mischung in der Art Uefert, wie man auch von einer Mischung von Gerste und Weizen spricht. Es mülste aber, sollte die Nebeneinanderlagerung schon Mischung sein, wirklich jedes Teilchen neben jedes kommen ; das ist jedoch wegen der Teilbarkeit der Körper ins Unend- liche nicht möglich. Demnach ist Zusammensetzung (avv&eatg) nicht dasselbe wie Mischung, und man darf von den Bestand- teilen eines Körpers, so lange sie in ihren kleinen Teilchen unversehrt erhalten bleiben, nicht sagen, dais sie schon gemischt seien ; ^ auch würde dann das Ganze nicht zu demselben Begriffe wie jedes seiner Teilchen gehören. Abistotsles behauptet vielmehr, dafs die Mischung etwas Ho- mogenes CofjtoiofiSQ^g) sei, gleichartig in allen seinen Teilen, so wie Wasser in allen seinen Teilen Wasser ist. Wäre die Mischung nur Zusammensetzung nach kleinen Teilen, so wäre sie nicht eine homogene Masse, sondern erschiene den Sinnen nur relativ als solche, so dafs für den Scharfsichtigeren das nicht mehr Mischung wäre, was es dem weniger Scharfsichtigen noch ist, und für einen Lynkeus überhaupt keine Mischimg existierte. Sie existiert aber alsdann auch nicht für die Tei-

* S. 828 a, 5 12. trift ö'ovx (<ntv fh Tciktc/taTcc dic(i(tf&ijyca, ovTf <Fvy&(aig ravTO xal /u/|k dkX^hsQov, (y^kor (6g ohf xtaa /aixqu aot^6f4fP(c df7 la jutyyv-

avToy koyot^ r^i tktfi ro uoQioy. ffauiy ö\ (fritQ 0*7 ufu7^t^(e{ u, i6 fii/d-fy ouoto- fMi^S kltmt, xnl cS<rr«(i tov vöttiog ro u({Hig v&otQy ovt(ü xru tov XQud^fyjog.

128 Aristoteles: Bedingungen der liischong.

luiig,weil dieselbe nicht so vor sich gehen könnte,daf8 jedes Teilchen in allen Fällen neben seinem zugehörigen Teilchen liegen bliebe.

Nachdem diese Ansichten über die Mischung zurück- gewiesen sind, gelangt Aristoteles nunmehr zur positiven Bestimmung der Bedingungen, unter welchen eine chemische Verbindimg vor sich gehen kann. Es sind deren drei.

Erstens müssen die zu mischenden Dinge gegen- seitig Einwirkungen aufeinander ausüben und auch voneinander erfahren können; dies thun diejenigen Dinge, deren Stoff ein imd derselbe ist. Diejenigen, welche nicht von gleichem Stoffe sind, wirken nur aktiv ohne selbst Einwirkungen zu erfahren und können nicht gemischt werden, so z. B. die Arzneikunst oder die Gesundheit mit dem Körper.

Zweitens müssen ihre Kräfte, d. h. ihre stofflichen Mengen in einem gewissen Gleichgewicht stehen. Ist dieses nicht der Fall, so tritt nicht Mischung, sondern Verwandlung ein. Ein Tropfen Wein zu zehntausend Kannen Wasser gesetzt, verbindet sich nicht mit demselben, sondern wird in Wasser verwandelt.^ Bei einer verhältnismäfsig gleichmäfsigen Massenverteilung aber verändern sich beide Bestandteile nach MaJGsgabe des Überwiegenden in ihrer Natur, jedoch so, daüs nicht letzteres dadurch entsteht, sondern etwas, was in der Mitte zwischen beiden liegt. Es ist also eine Gegensätzlichkeit der Bestand- teile zur Mischung erforderlich.

Drittens wird die Bildung der Verbindung befördert, wenn die Körper in kleine Teile zerlegt werden und diese in Berührung treten; denn alsdann wandeln sie sich um. Ghrolse Mengen wirken erst in längerer Zeit aufeinander. Daher sind diejenigen Körper am leichtesten mischbar, welche leicht be- grenzbar sind (denn leichte Zerteilbarkeit ist der Begriff des Leicht-begrenzbar-seins),^ und das sind vornehmlich die flüssigen Körper, insoweit sie nicht klebrig sind.

Danach läfst sich das Wesen der Mischung nach der Auf- fassung von Abistoteles dahin zusammenzufassen: Stoffe, welche, der gegenseitigen aktiven und passiven Einwirkung

^ Hier liegt eine jener Vemachlässigungen der quantitativen Beiiehangen vor, 8. S. 99 u. 83. Vgl. auch Meyeb, Aristoteles' Tierkunde. S. 405. ' Dies ist De coelo IV, 6 auseinandergesetzt.

Abibtoteles gg. d. Atom.: Erste Bewegung. 129

fähig, bei mäfsigen Unterschieden der Quantität (d. i. Inten- sität der Gegensätze) und in möglichst kleine Teile geteilt in Berührung treten, gehen eine Verbindung (fi^^ig) ein, bei welcher die Eigenschaften der Bestandteile eine gegenseitige Ausgleichung erfahren, so dafs die Bestandteile selbst potenziell erhalten bleiben, aktuell aber nicht mehr selbständig vorhanden sind, sondern imter qualitativer Änderung ihrer Natur sich zu «inem homogenen Körper mit nöuen Eigenschaften vereinigen.^

D. Gegen die afofnistisdic ErTclänmg der Seelenfhätiffkeiten.

Zu den Einwänden des Akistoteles gegen die Atomistik, welche aus mathematischen und physikalischen Bedenken fliefsen, treten noch als besonders schwerwiegend Gründe physiologischen und psychologischen Charakters. Nach Aristo- teles gehören dieselben zwar ebenfalls zur Physik, sie richten aich aber gegen Annahmen der Atomisten, welche durch die materialistische Grundlage der alten Atomistik bedingt sind, und haben daher im Verlauf der geschichtlichen Entwickelung hauptsächlich als ethisches und religiöses Motiv gegen die Atomistik gewirkt.- Sie werden hinfallig, wenn die Atomistik nicht mehr metaphysische, sondern nur physikalische Bedeutung bekommt.

Es ist schon erwähnt worden, dafs Demokrit von Aristo- TBLSS getadelt wird, weil er den ersten Grund der Bewegung nicht erklären kann. "Wenn sich Demokrit darauf berufe, dafs es immer so gewesen sei,^ oder dafs der Wirbel imd jene Bewegung, welche die Auseinandersichtung der Atome bewirke xind das All in der bestehenden Ordnung herstelle,* ohne Grund eintrete, so sei das eben keine Erklärung. Dieser Mangel der Atomistik, die Annahme einer ewigen Bewegung und Aktualität, hänge mit ihrer (falschlichen) Behauptung von der imendlichen Zahl der entstehenden und vergehenden Welten zusammen"^, sowie mit der Vernachlässigung der Zweckursachen*^ als der

De gen, et corr, I, 10. Schlufs 3*28 b. 22. ^' di- uf^ic roh' uixToly

" Vgl. über Augustinus S. 2G ff.

Phys. Vm, 1. 252a. 34. * Phijs. IT., 4. 1% a. 26. » Pkys, vm, 1. 250 b. 18. De coclo I, 8.

Uigl Cv^y yfvtcfo)g, V, 8. 789 b. 2.

Laftwits. •)

ISO Aristoteles gg. d. Atom.: Wahmehmimg.

wichtigsten Bedingung des Geschehens, infolge deren sie aUes auf die Notwendigkeit des Naturgeschehens znrüokfUire. Aristoteles sucht den G-rund dieser Irrtümer in dem erkenntnis- theoretischen Prinzip des Demoerit, indem er ihm vorwirft, die sinnliche Wahrnehmung mit dem Denken^ verwechselt und daher alles Wahrgenommene auch für Wahrheit' gehalten zu haben.

Die Sinneswahmehmung selbst werde von den Atomisten falsch erklärt. Da nämlich alle Einwirkimgen nach ihnATi nur durch die Berührung der Atome entstehen, so sehen sie sich genötigt, auch die Sinnesempfindungen darauf zurückzufahren, und erklären daher diese alle als Berührungen. Daraus aber folge, dafs alle Sinne nichts andres sind als der Tastsinn, was doch offenbar unrichtig sei.' Die Sinnesempfindung ist vielmehr Aufnahme der sinnlichen Form ohne Stoff, wobei sich nur die Wirkung des Körpers dem Wahrnehmenden mitteilt.* Ebenso falsch sei die Auffassung Demokrits von der Seele. Da die Seele vor allem das Bewegende ist, so nahm er an, dals sie, um bewegen zu können, selbst bewegt sein müsse. Deshalb sagt er, die Seele sei Feuer und warm; denn ihrer Beweg- lichkeit wegen müsse die Seele aus den leichtbeweglichsten Atomen, den kugelförmigen, bestehen, welche auch das Feuer bilden, sowie die sogenannten feinen Sonnenstäubchen (JlvcikaTa)j welche in den durch die Fenster dringenden Strahlen erscheinen und deren Allbesamung {navancQiiCa) er die Elemente der gesamten Natur nenne. Diese kugelförmigen Atome bezeichne Demoebit ebenso wieLEUKiPP deshalb als Seele, weil sie am besten in alles ein- zudringen und alles in Bewegung zu setzen vermögen. Ihr Eintreten und Wiederaustreten, wodurch das Gleichgewicht gegen den Druck von aufsen und der gesamte Lebensprozefs sich erhalte, werde durch das Ein- und Ausatmen bewirkt.^ Die Seelenatome seien durch den ganzen Körper verbreitet und bewegen dadurch den Körper. Wie aber soll dann die Ruhe erklärt werden?*

Die Seele ist vielmehr kein bestimmter Stoff, wie Dsmokrit annahm, weil sie alsdann nicht in jedem empfijidenden Körper

* Metaph. IV, 5. 1009 b. 1:^. « Be gen. et corr, I, 2. 315b. 9. » 2>« sensu c. 4. p. 442 a. 29. * Zeller 3. A. II, 2. S. 535. * Be amma I, 2. 403 b. 31— 404 a. 16. « Be anima I, 3. 406 b. 22.

Aristoteles gg. d. Atom.: Seele. 131

sein könnte; sonst würden in ein und demselben Kaume zwei Körper sich vorfinden.^ Sie ist nnkörperKcher Natur, daher auch nicht Bewegung. Denn als Bewegung müTste sie im Baume sein.' Allerdings hat sie ihren Sitz in einer Art ätherischen Stoffes, der Lebenswärme', mit welcher sie bei der Erzeugung von einem Körper in den andren übergeht, aber flie ist doch nur die Form des Körpers, wobei immerhin, wie die Form nicht ohne Materie, so die Seele nicht ohne Körper sein kann.

Man darf überhaupt nicht mit der Atomistik das Greistige aus dem Körperlichen ableiten, sondern gerade das Leben der Seele 18t das Erste, der Zweck, und das Körperliche nur das Mittel. Beide fireilich gehören zusammen, der Körper als die zu bewegende Materie, die Seele als der bewegende Zweck, die Form, und so ist denn die Seele die Entelechie, und zwar die erste^ Entelechie des natürlichen Körpers, d. h. die bewegende Kraft, durch welche der Körper Wirklichkeit des Lebens empfangt.^

6. Benehnng der aristotelischen Einwände zur Physik und

zum Kontinuitätsproblem.

Von den Gründen, die Aristoteles gegen die Atomistik anfthrt, ist derjenige Teil, welcher die Annahme der Atome aJs unbrauchbar und unnötig erweisen soU, meist physika- lischen Charakters. Er richtet sich auf den Nachweis, dafs durch die Atomistik nicht erklärt werde die Schwere, die Ver- dichtung und Zunahme der Körper, die Verschiedenheit der Grundstoffe und ihre Verwandlung, das Entstehen und die qualitative Änderung der Körper, die Mischimg (chemische Verbindung) und die Erscheinungen des Bewufstseins. Ihnen gegenüber stehen die positiven Erklärungen des Philosophen aus dem Prinzip des Übergangs der Materie von der Potenzia-

* De anüna I, 5. 409 b 2. - ' De anima 1, 3. 406 a. 15.

' J7<fj i^tjy ytvfatoig II, 3. 736 b 27. Über die Beziehung zwischen Lebens- irinne und Äther vgl. Zellek, a. a. 0. II, 2 S. 483 u. Meter, Aristoteles* Tierhmde, S. 410 f.

^ Die ^ente*' Entelechie, weil sie nicht blofs in der Wirksamkeit besteht, sondern anoh i. B. im Schlafe vorhanden ist. Vgl. über „erste" und „zweite" Snielechie S. 89 A. 1.

' De ofiMia n, 1.

9*

]|32 Folgen der aristotelischen Einwände.

lität in die Aktualität. Als der Fortschritt der empirischen Physik wieder die korpuskulare Theorie der Materie erforderte, mufsten jene aristotelischen Einwendungen erneuter Diskussion unterzogen werden, so lange man hoffen konnte, die Theorie der substanziellen Formen mit der Korpuskularphysik zu ver- einigen. Sie verloren jedoch ihre Bedeutung, sobald das Denk- mittel der substanziellen Formen überhaupt verschmäht und durch das der mechanischen Kausalität ersetzt worden war. Beruhte die Veränderung der Körperwelt nicht mehr auf dem Unterschiede von Möglichkeit und Wirklichkeit, so brauchten jene Einwendungen nicht im einzelnen widerlegt zu werden; sie waren beseitigt durch die Thatsache positiver Erklärungen auf Grund der Korpuskularphysik.

Anders verhält es sich mit demjenigen Teil der aristote- lischen Polemik gegen die Atomistik, welcher die Unzu- lässigkeit, d. h. die Denkwidrigkeit der Atome behauptet Dieselben zurückzuweisen kann die blofse Brauchbarkeit der Atome als physikalischer Hypothese nicht genügen. Behält Aristoteles mit jenen Einwänden recht, sind sie unwider- legbar, so kann das Bedürfnis der Physik nicht entscheiden, sondern es hat sich den allgemeineren Gesichtspunkten ein- heitlicher Erkenntnis unterzuordnen. Daher bedarf es für den Sieg der Korpuskulartheorie als philosophisch begründeter Lehre einer Widerlegung jener Einwendungen im erkenntnis- kritischen Interesse, einer Überwindung der von Aristoteles im Begriffe des Unteilbaren nachgewiesenen Widersprüche. Dieser Teil der aristotelischen Physik richtet sich einerseits gegen die Möglichkeit der teillosen Gröfse, andrerseits gegen die des leeren Raumes ; er ist in seinen Beziehungen zu Mathe- matik und Mechanik nicht direkt abhängig von der Theorie der substanziellen Formen, sondern beruht auf den Schwierig- keiten, welche das ProblemderKontinuität enthält. Dieses aber ist dem Denkmittel der Kausalität allein ebenso unzu- gänglich, wie dem der Substanzialität. Es genügte daher fär die Entwickelung der mathematischen Naturwissenschaft nicht, sich von den substanziellen Formen zu emanzipieren, sondern ihr Fortschritt beruhte gleichzeitig auf der Bewältigung ^des Kontinuitätsproblems. Die hier vorliegende, von den Eleaten aufgedeckte Antinomie hatte Abistoteles zu Gunsten

Beziehung auf das Kontinuitätsproblem. I33

der Stetigkeit der Materie entschieden und mit so wuchtigen Gründen gestützt, dafs die plerotische Theorie der Materie eine von der aristotelischen Physik selbstständige Festigkeit und Widerstandskraft erhalten hatte. Jeder Versuch einer Erneuerung der Atomistik hatte sich daher mit denjenigen Gkgengründen des Aristotelbs, welche sich auf die begriffliche ümnöglichkeit der Atome bezogen, selbst abzufinden. Es handelt sich um die Frage nach dem Begriff des Stetigen und damit im engsten Zusammenhange nach dem des Unendlich- kleinen. Wenn die Eleaten ihren Widerspruch gegen die Bewegung der Hauptsache nach auf den Satz gründeten, dafs jede Strecke eine unendliche Menge von Punkten aktuell ent- halte, eine solche aber nicht in endlicher Zeit durchlaufen werden könnte, so hatten sie damit die Frage nach dem Be- des Kontinuums ebenso angeregt, wie sie durch ihren des starren und unveränderlichen Seins den Keim zur Atomistik gelegt hatten. Akistoteles hatte nun, um die Ato- misten zu widerlegen, eine von Demokrit gar nicht aufgestellte mathematische Atomistik fingiert. Aber der Zusammenhang dieser mathematischen mit der physikalischen Atomistik war ein höchst schwieriges Problem für sich. Seine Überwindung konnte erst durch ein neues Denkmittel gelingen, dessen Aus- bildung der mathematischen Naturwissenschaft zur Vollendung verhalf, das in der Infinitesimalgröfse zur Wirkung kommende Denkmittel der Variabilität. Von diesem wird späterhin eingehend zu handeln sein.

Aristoteles hatte die Stetigkeit des Baumes auf die Materie übertragen, indem er den leeren Baum leugnete. Dadurch gelang es ihm, das physische Atom mit dem Baum- punkte zu identifizieren und ihm vernichtende Widersprüche nachzuweisen.

Nun konnte sich die Verteidigung der Atomistik darauf richteni die Möglichkeit des leeren Baumes zu behaupten, wie dies auch in der Folge versucht wurde. Zumeist aber war man bis gegen die Mitte des 17. Jahrhunderts bemüht, sich über das gefürchtete demokritische Vacuum mit allerhand Annahmen hinwegzuhelfen. So kommt es, dafs einige Ver- teidiger der Atomistik, statt die Möglichkeit [des Vacuums zu betonen, zunächst den zweiten möglichen Ausweg versuchten,

134 Philosophie bei den Arabern.

nämlich die diskontinuierliche Konstitution des Baumes wirklich zu behaupten. Beide Gedanken, und beson- ders charakteristisch den letzteren, treffen wir im Mittelalter bei den Mutakallimun.

Vierter Abschnitt.

Die Atomistik der Mutakallimun.

1. Die Diskontinuität von Baum, Zeit und Bewejfung.

unter der arabischen Philosophie versteht man nach dem gewöhnUchen Sprachgebrauch die Lehren derjenigen Philosophen mohammedanischen Bekenntnisses, welche sich der griechischen Philosophie, und zwar in ihrer durch die alexandrinische Schule gebotenen Form, anschlössen. Fast durchweg findet sich bei ihnen eine Verbindung des Aristotelismus mit neuplatonischen Elementen; und indem sie sich hauptsächlich mit der Aus- legung des Aristoteles beschäftigten, trugen sie in diesen mehr oder weniger selbständige Gedanken hinein. Die berühmtesten G-elehrten, welche hier in Betracht kommen, lebten in der Zeit vom 9. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, im Orient Alkindi, Alfarabi, Ibn Sina und Algazali, im Abendlande Ibk Badscha, Ibn Tüfail imd Ibn Roschd. Nur Alkindi ist ein eigentlicher Araber, zu Barsa am persischen Meerbusen geboren; die übrigen sind Perser oder Türken, resp. Spanier von Gheburt. Sie alle aber schrieben arabisch, weil dies die Sprache der Bildung und des Reiches war, in welchem sie lebten. Daher ihre Bezeichnung als Araber; der Name der Philosophen wurde von den Mohammedanern speziell denjenigen beigelegt, welche sich mit der griechischen Philosophie beschäftigten.

Neben den genannten Philosophen, deren ganze Richtung übrigens dem arabischen Geiste verhältnismäMg fremd blieb, hatte sich innerhalb des Islam, kaum ein Jahrhundert nach dem Tode des Propheten, ein ausgedehntes theologisches Sektenwesen erhoben.^ Den dogmatischen Theorien, welche in

^ Vgl. Ritter, Über unsre Kenntnis der arabischen JPhüosaphie und besonders über die Philosophie der orthodoxen arabischen Dogmatiker, Ctöttingen.

Der Ealam. 135

den Befehdungen dieser Sekten entwickelt wurden, haben zwar die Mohammedaner den Namen der Philosophie nicht erteilt, auch dürften die Produkte theologischer Spitzfindigkeit kaum unter diesen Begriff fallen ; trotzdem findet sich dasjenige, was der arabische Geist Eigentümliches in philosophischer Hinsicht geleistet hat, gerade in den Lehren dieser Sekten niedergelegt, Bnd es ist daher ganz berechtigt, den Kalam als die Philo- lophie des Islam zu bezeichnen. Bei einem grofsen Teile jener Sekten wurde eine bemerkenswerte Theorie der Materie aus- gebildet, eine in sich konsequente Atomistik, die namentlich durch Moses Maimonides auch den Scholastikern bekannt geworden ist.

Das Wort Kai am (Wort, Rede, Xoyog) bezeichnet die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Auslegung des Korans, wie sie seit dem 2. Jahrhundert der mohammedanischen Zeit- reohnung sich herausgebildet hatte. Die Anfange des Kaläms reichen also weiter zurück, als die Einführung der aristotelischen Philosophie bei den Arabern im 9. Jahrhundert unter Almamun. Sein ursprünglicher Zweck war die Bekämpfimg häretischer Sekten durch logische Gründe; späterhin aber richteten sich seine Waffen ebenfalls gegen die griechische Philosophie, imd die Männer des Kaläm, die Mutakallimun, mufsten sich daher auch mit den Prinzipien des Seins, der Ordnung der Welt imd dergleichen, mit Metaphysik, Physik und Mathematik ein- gehender beschäftigen.^ Dabei bezieht sich die Bezeichnung Hatakallim zunächst nur auf denjenigen, der die Methode des Kal&m befolgt, nicht auf eine bestimmte Parteiansicht Wer die Dogmen des Koran nicht ohne weiteres acceptierte, sondern ihre Wahrheit philosophisch zu prüfen versuchte, hiefs ein Mntakallim im G-egensatz zum Fakih, der die Glaubens- lehren getreu der Überlieferung hinnahm und nur die Kenntnis

4. 1844. S. 13 ff. Haarbrücker, Al-Schafirastanis Beligionsparteien und Ikii090pheH9thulen. Halle 1850. S. VII. Renan. Averroh et rAverroisme, Ptoit 1861. p. 89. 101. Munk, Melanges de Philosophie juive et arahe. Paris 1869. p. 838. A. Duoat, Histoire des philoftophes et des ihcologiens musul- Mm. Paris 1878. p. XIV.

* DiUTZSCH, Anecdota zur Geschichte der mittelalterl. Scholajitik unter Judm y$id Mo$Jemen. Leipzig 1841, p. *J94 Anm. 1^.

236 Mutakallimun: Name.

der religiösen Gesetze erstrebte. NocIl bei Maimonides gi der Name Mutakallimiin sowohl für die freisinnigen Mutazi als die orthodoxen Ascharija; erst später, nachdem die Pari der Mutazila untergegangen war, wird Mutakallimun gleic bedeutend mit Rechtgläubigen.^

Das Bestreben der Mutakallimim, die Glaubenslehren dur» philosophische Spekulation zu begründen, rechtfertigt für i den Namen „arabische Scholastiker". Der Ausdruck Loquent welcher sich bei lateinischen Schriftstellern gewöhnlich f dieselben findet, bezieht sich auf ihre Methode und ist c wörtliche Übersetzung von Mutakallimun, hebräisch Medabberi die Redenden. Nicht alle Mutakallimun sind Atomisten.* F die Geschichte der Atomistik kommen gerade die älter Mutakallimun in Betracht, deren Lehren Ibn Roschd oft erwähnt und besonders ausführlich und systematisch Maimonii im More Nevochim uns überliefert hat.^

Die Existenz des einzigen, unkörperlichen Gottes, an welch der Islam glaubte, mufste von den Mutakallimun bewies werden; und aus diesem Grunde war es ihre Hauptaufgal

* Nach Haarbrücker, Schahrastani etc. S. 388—392. Vgl. auch Hab N1DE8, More NevochitHj I. T. Kap. LXXI, in der franz. Übersetzung von Mu; Paris 1856) T. I. p. 335 f. und die Anmerkung von Müxk p. 335. DesgL Mir Notice ffur Eabbi Saadia Gaon etc. Paris 1838. Anm. p. 16 f.

' MrrNK, Mi'larujea etc. p. 328. p. 333.

^ Dafs die beste Quelle für die Lehre der Mutakallimun der More Nevod des Maimonides ist, s. bei Ritter „Über unsre Kenntnis^ etc. S. und MuNK in seiner franz. Ausgabe des More, nach welcher ich citi« T. I, p. 400 A. 2 ; Melanges etc. p. 323. Anm. Ibn Roscho gibt zi reiche Einzelheiten über die Mutakallimun in seiner gegen Aloazali geri teten Destructio destructionis. Für diese benutze ich die Ausgabe (in den samtwerken des Aristoteles) Venetiis 1560, Tom. X. Schmölders, Ei sur les ecoles philosophiques chez les Aräbes, Paris 1842 p. 133 flf., berückd tigt hauptsächlich die Werke der späteren Mutakallimun des 13. u. 14. Ja hundert». Seine Quellen s. p. 137, 138. Welche einzelnen Männer t besondere Sekten die betreffenden Lehren ausgebildet haben, ist für ( vorliegenden Zweck irrelevant, da es nur auf die Darstellung des Gesamtre tats hier ankommen kann und insbesondere auf die Form, in welcher dassc in die Entwickelung der europäischen Wissenschaft eingegriffen hat. Über allgemeinen Lehren der einzelnen Sekten s. die oben angegebenen Wei insbes. Dugat, ifistoire etc. Über den mit der Atomistik zusammenhängen« Occasionalismus der Ascharija s. d. Abhandlung von L. Stein (AicK /*. Gei d. Ph. II, S. 207—224), die jedoch im Text nicht mehr benützt werden koni

Mutakallimun : Die Atomistik. 137

ZQ zeigen, dafs die Welt nicht ewig, sondern geschaffen sei, um von da aus auf den Schöpfer zu schliefsen. Um Q-ottes absolute Allmacht und Freiheit unantastbar zu machen und die Schöpfung der uneingeschränktesten Willkür preiszugeben, zerstückten sie jeden Zusammenhang der Erfahrungswelt und lösten Körper und Bewegung, Eaum und Zeit in Splitter auf, deren unausgesetzte Schöpfung imd Zusammensetzung sie dem Belieben Gottes überliefsen, wodurch allein ihnen die Freiheit des Welt- Wirkenden garantiert schien. Nicht den Urgrund der Welt wollten sie in Q-ott sehen, denn diese Bezeichnung hätte schon die Notwendigkeit der Wirkung vorausgesetzt; sondern sie nannten ihn lediglich den „Wirkenden".^

Unter den philosophischen Q-rundansichten, welche den Untakallimun überliefert waren, eignete sich keine mehr als die Atomistik, eine für ihre Zwecke brauclibare Naturauffassung anzulassen und ihrem theologischen Bedürfnisse zu genügen. Die Lehren der Atomisten waren durch Aristoteles' ausführ- Kche Darstellungen bekannt. Es existierten auch, durch das Syrische vermittelt, Übersetzungen von Schriften, welche De- *ÄKIT selbst zugeschrieben wurden,- doch waren diese jeden- ^Wls nur alchymistischen Inhalts. Dagegen dürften Über- liefenmgen der skeptischen Schule von wesentlichem Einflüsse gewesen sein. Mag es im ersten Augenblick wunderlich erscheinen, dafs die griechische Atomistik, welche die absolute Notwendigkeit des Weltgeschehens, den gesetzmäfsigen Mecha- ^^^118 des Universums lehrt und dadurch als zum Materialis- mus und Atheismus fahrend betrachtet wird, hier dazu dienen ^^, eine direkt entgegenstehende Weltauffassung zu stützen, ^ genügt doch eine einzige Wendung des atomistischen Ge- d&ükens, um diese Gegensätze ineinander umschlagen zu °^*dien. DaJCs die Atomisten den Zufall in der Welt regieren '^^sen, ißt ihnen nicht weniger oft zum Vorwurfe gemacht worden, als dafs sie die Notwendigkeit auf den Thron erheben, '"irt man das atomistische Prinzip konsequent durch, so ver- "*ren die Atome jeden Zusammenhang untereinander; gegen die transcendenten Atome des Materialismus, ja überhaupt,

' More Nev. I. c. 69. p. 313. ' MuiTK, Mektnges etc. p. 322.

138 Mutakallimun: Verwertung^ der Atomiatik.

SO lange es nicht gelungen ist, den Begriff der Yerändenmg zu erfassen, ist der Einwand des Aristoteles unwiderlegbar, dafs Atome nicht aufeinander wirken können.^ Dieser Ein- wand fallt aber fort, wenn das metaphysische Interesse die Wechselwirkung ersetzt durch den Glauben an eine unmittel- bare und fortwährende Einwirkung Gottes auf die Welt. Als- dann bringt die Annahme isolierter Atome die Forderung mit sich, dafs die Ejraft Gottes unausgesetzt thätig sei, die Atome zu gruppieren, und so empfiehlt sich die Atomistik als Grund- lage der Physik, um aus naturphilosophischen Gründen den Verstand zur Annahme des Gottesbegriffes zu zwingen, von welchem das Gemüt durchdrungen ist. Von diesem bei ihnen feststehenden Begriffe des absolut freien Schöpfers sind die Mutakallimun ausgegangen und haben sich gefragt, wie die Welt beschaffen sein müsse, um ihrer Annahme zu genügen, worauf sie dann behaupteten, dafs sie dieser Annahme gemäfs sei.' Es genügte jedoch nicht, nur Gott auf die Atome wirken zu lassen, sondern es waren, teils durch den Qottesbegriff des Islam, teils durch die Einwendungen des Aristoteles gegen die Atomistik, noch andere wichtige Modifikationen der Atomen- lehre der Griechen notwendig für die Zwecke der Mutakallimun ; imd indem sie dieselben anbrachten, erwarben sie sich das Verdienst, die äulsersten Konsequenzen einer rein metaphy- sischen Atomistik ausgebildet zu haben.

Nach der Ansicht der Mutakallimun besteht die gesammte Welt, d. h. jeder Körper, aus sehr kleinen Teilchen {dschuß)^ Atomen, welche auf Grund ihrer Feinheit nicht teilbar sind,' Sie sind einfache, von jedem Zusammenhange gelöste Sub- stanzen, ohne jede Gröfse, also punktuelle Monaden. Erst durch ihre Vereinigung erhält das Zusammen derselben Gk*ölse und wird ein Körper. Einige meinten auch, daljs bei der Ver-

* De gen. et corr. I, 9. p. 326 a. S. S. 121.

« More I, c. 71. p. 344.

' Die folgende Darstellang der Atomistik der Matakalliman naoli Kap. 73 des 3fore Nevochinh ps. I, in der Übersetzung von Hükk p. 375 bis 419, in der lateinischen Übersetzung von Büxtorf (Basel 1629) aus dem He- bräischen des Samuel Ibn Tibbon p. 148—165. Speziellere Nachweisungen gebe ich nur dort, wo andre Stellen als das genannte Kapitel zu Rate gezogen sind.

Mutakallimun : Atome. Yacaam. 139

einignng von zweien dieser Atome jedes derselben ein Körper wird, 80 dafs zwei Körper entstehen. Es soll dies bedeuten, dab jedes Atom durch das Zusammentreten mit andern einen quantitativen Wert bekommt. Die Atome sind demnach punk- tuell, sie haben keine Ausdehnung und nehmen keinen Baum oin, besitzen aber eine bestimmte Position.^ Sie sind nicht im Makanj dem nach drei Dimensionen ausgedehnten Baume, aber im Bayyiz^ dem der Lage nach bestimmten Orte.' Durch diese bestimmte Position, die sie zu einander haben, ent- steht die Baumgröfse ; die Quantität wird erst durch die Lage- benehnng der Atome geschaffen. Es ist dies offenbar die ganz richtige und einzig mögliche Annahme, durch welche die Lehre von einfachen, punktuellen Atomen dem Einwände des Aribtotelbs,' dafs aus unteilbaren Pimkten keine Gröfse ent- stehen könne, zu entgehen versucht, und wir finden sie daher hier nicht zum letztenmale in der G-eschichte der Atomistik.

Alle Atome sind einander gleich und ähnlich und ohne jedweden Artunterschied. Alle Körper bestehen nur in der Aneinanderlagerung der Atome, so dafs die Vereinigung der Atome das Entstehen, ihre Trennung das Vergehen der Körper Wirkt. Doch bedienen sich die Mutakallimun nicht des Aus- dracks Vergehen, weil dies für die Atome nicht gilt ; sondern alle Veränderungen werden auf Vereinigung, Trennung, Bewegung lad Buhe zurückgeführt. Die Zahl der Atome ist nicht be- stimmt und unveränderlich, wie die alten Atomisten annahmen, sondern Gott schaffb und vernichtet dieselben fortwährend nach freiem Willen.

Neben den Atomen gibt es ein Vacuum, d. h. einen oder mehrere Bäume, wo absolut nichts ist, sondern welche leer •iiid von jedem Körper und frei von jeder Substanz. Es ist fiese Annahme notwendig, um die Bewegung der Atome denk- w zu machen, da man sich nicht vorstellen kann, dafs Körper umeinander eindringen; dies wäre aber notwendig, wenn der 8*ö«e Baum mit Atomen erfüllt wäre.

^ More nevochim I, c. 51. p. 185.

' Nach der Angabe von AL-DscHOKDSCHAyi im Kitäh alTnrifat (Buch der ^SiUirongen); bei Mükk, More^ p. 186 (Anm. d. S. 185). » 8. 8. 104.

140 Mutakallimun : Zeit. Bewegung.

Den Mutakallimun eigentümlich ist nun die weitere Wen- dung, welche ihre Atomistik nimmt, indem sie das, was für den Baum gelten soU, auch auf die Zeit übertragen. Die Zeit besteht nach ihnen aus einzelnen, diskontinuierlichen Zeit- momenten, welche ihrer kurzen Dauer wegen unteilbar sind. Wie die Stunde in sechzig Minuten, die Minute in sechzig Sekunden, die Sekunde in sechzig Tertien zerfallt, so gehen sie (sagt Maimonides) in der Teilung weiter und gelangen endlich zu „Decimen^ oder noch kleineren Zeitteilen, welche keine weitere Teilung zulassen soUen, so dafs die Zeit eine aus der Ordnung von Momenten bestehende Bealität wird. Indem sie die Zeit definieren als die Koexistenz einer beliebigen Er- scheinung mit einer andren bekannten Erscheinung,^ kann dieselbe nur aus solchen Zeitmomenten bestehen, nur eine Reihe von lauter einzelnen „Jetzt" sein, und sie beweisen damit zugleich die Endlichkeit der Zeit, da sie vor Beginn der Welt, als es nichts zu bestimmen gab, auch nicht existieren konnte.

Aus der Diskontinuität der Zeit folgt weiter auch die Dis- kontinuität der Bewegung. Die Bewegung besteht in der Übertragung jedes der bewegten Atome von einem iBaumatome zum benachbarten, so dafs die Atome des bewegten Körpers gewissermafsen ruckweise die einzelnen Atome ihres Weges, von einem zum andern schnellend, durchlaufen. Es gibt daher keinen Unterschied in den Geschwindigkeiten der Bewegungen, sondern wenn eine Bewegung langsamer erscheint als eine andre, so beruht dies nur darauf, dafs die Buhepausen bei der ersteren gröfser sind als bei der letzteren. Der Sinn dieser Ausführungen ist also der, dafs der bewegte Körper von Baumpunkt zu Baumpunkt springt, zwischen diesen Sprüngen aber gröfsere oder kleinere IntervaUe der Buhe eintreten, wodurch ein G-eschwindigkeitsuntersohied im Gesamterfolge sich zeigt. Den Einwänden gegen diese Vor- stellung begegnen die Mutakallimun im allgemeinen durch Berufung auf die mangelhafte Wahrnehmungsfähigkeit unsrer Sinne. ^

* ScHMüLDERs, Essai $ur les ecoles phüos. eto. p. 165.

' Näheres darüber weiter unten, S. 148 ff. Vgl. auch S. 146 u. 162.

Mutakallimun : Substanz und Accidens. 141

2. Die punktuellen Substanzen.

Im engsten Zusammenhang mit der atomistischen Auf- fasflnng von Baum und Zeit steht die Lehre der Mutakallimun von der Substanz. Sie behaupten nämlich, dafs die Substanz niemals getrennt sein kann von ihren Accidentien, welche stets in gröfserer Anzahl mit ihr verbunden sind. Und zwar haften diese zahlreichen Zustände nicht am G-anzen des Körpers, sondern an jedem einzelnen Atom. Jedes Atom ist unzer- trennbar von vielfachen Zuständen, wie Farbe und Q-eruch, Bewegung oderEuhe; nur die Grölse ist ausgenommen, sie ist kein Zustand und kommt nicht den Atomen, sondern nur dem Körper zu. Aber die Weifse des Schnees, die Bewegung des Körpers etc. existieren nur deshalb , weil jedes der Atome weüs oder bewegt ist.

Gleiches gilt von dem Leben, der Empfindung, dem Denken nnd Wissen; jedes Atom besitzt Leben und Empfindung, denn diese alle sind nur Zustände wie Weifse oder Schwärze. Über die Seele sind die Meimmgen jedoch insofern geteilt, als einige glauben, dafs die Beseeltheit lediglich ein Accidens eines einzigen von den Atomen ist, aus welchen der Mensch besteht, andre dagegen annehmen, dafs die Seele ein aus feinen, mit einem besonderen Zustande behafteten Atomen bestehender Körper ist, dessen Atome sich unter die Körperatome mischen. Jedenfalls gilt ihnen Beseeltheit ebenso wie Denken und Wissen als blofses Accidens; das Denken schreiben sie nur einem einzigen Atome zu, über das Wissen schwanken ihre Ansichten wie bei der Beseeltheit, ob es allen oder einem Atome allein zukomme.

Gegen ihre Behauptung, dafs die Zustände nicht dem Körper als Ganzem, sondern den einzelnen Atomen angehören, wird eingewendet, dafs Körper von lebhafter Farbe, in Pulver- form gebracht, dieselbe verlieren; sie verteidigen sich damit, dafs sie sagen, die Zustände haben keine Dauer, sondern werden fortwährend neu erschaffen. Damit kommen sie auf die wichtigste Konsequenz ihres Atomismus. Indem Gott das Atom, die einfache Substanz schafft, schafft er, so meinen sie, zugleich in ihr jeden Zustand, den er will; keine Substanz mit den untrennbar ver- bundenen Zuständen aber kann länger dauern als einen ein- ligen Augenblick. Sie versehwindet, sobald sie geschaffen ist,

142 Mutakallimun : Momentane Dauer.

und Gott schafft sie sofort wieder aufs neue. Sobald Gott mit dieser Schöpfung der Zustände aufhört, verschwindet auch die Existenz der Substanz. In dieser Behauptung von der fortwährenden schöpferischen Thätigkeit Gottes schlielst sioh das Endziel ihrer Beweise, die Loslösung der Natur von jedem gesetzmäfsigen Zusammenhange und die absolute Willkur Gottes in voller Konsequenz mit ihrer atomistischen Fassung der Zeit zusammen. In den Quellen^ wird als Grund für die Annahme von der momentanen Dauer der Substanz (abgesehen von dem Zweck, wozu sie dieselbe machen, nämlich um jede» Naturgesetz aufzuheben) angegeben, dals sie es als eine im Begriffe des Accidens, der zufäUigen Eigenschaft liegende Sache ansehen, nur einen Moment zu existieren, geschaffen zu werden und zu verschwinden. Es würde, wenn man eine gewisse Zeitdauer des Accidens zuliefse, ein Grund ftir sein Verschwin- den angegeben werden müssen und Gott dann entweder das Nichtsein schaffen oder ein Kausalzusammenhang entstehen, was von den Mutakallimun nicht zugegeben werden kann. In der That wäre wohl auch die Diskontinuität der Zeit nicht anders zu verstehen als unter Voraussetzung dieser punk- tuellen Substanzialität. Denn wenn die Zeit nur aus einzelnen Momenten besteht, so müssen doch diese einzelnen Momente voneinander getrennt gedacht werden, wie die !Baumatome durch das Leere. Was aber kann hier das Trennende sein? Ist das Zeitatom charakterisiert durch die Existenz der Sub- stanz mit ihren Zuständen, so wird man folgerecht annehmen müssen, dafs die Intervalle zwischen den Zeitmomenten durch die Nichtexistenz gebildet werden, gleichviel, ob hier die Pri- vation genügt oder, wie die Mutakallimun annahmen, ein be- sonderer Schöpfungsakt für das Nichts von Seiten Gottes nötig ist. Die Kontinuität der Welt, die Dauer des Universums ist nur ermöglicht durch eine unausgesetzte Erneuerung der Schöpfung; es gibt eigentlich nicht eine Welt, sondern eine unbestimmbare Anzahl zeitlich aufeinanderfolgender Welten, die uns als eine einzige erscheinen; und es steht durchaus in

* More p. 389, 390. Schmölders, Essai etc. p. 173. Ayerrobs, Deslructio desiructioniSy Disput metaphys. ü. p. 72 b. 73. Disput, phys, IV. p. 352. Vgl. auch Ritter, Über unsre Kenntnis der arab. Philosophie etc. S. 32.

Mutakallimun : Fortwährende Schöpfung. 143

dem Belieben Gottes, diese Welten so aufeinander folgen zu lassen, dafs sie einen Zusammenliang für uns bilden. Damit ist nun freilich das Kausalgesetz aufgehoben, der atomistische Oedanke bis in die äufserste Konsequenz durchgeführt, jede Kontinuität des Geschehens zerstört und die Wissenschaft ver- nichtet.^

Um so unantastbarer steht die absolute Willkür des Schöpfers fest. Da die Erfahrung uns einen Zusammenhang des Geschehens zeigt, so kann nur Gott es sein, der alle Zu- stände in der passenden Weise aufs neue schafft. Wenn der Mensch schreibt, so ist es nicht dieser, der die Handlung aus- fUurt und die Feder bewegt, denn kein Zustand kann von leinem Substrat auf ein andres übergehen; sondern Gott schafit in jedem Momente den Zustand des WoUens zum Sclireiben, den Zustand der Fähigkeit, die Feder zu bewegen, den Zustand der Handbewegung, den Zustand der Bewegung der Feder. Alle diese Zustände sind nur koezistent, aber lücht kausal. Wenigstens ist dies die richtige Konsequenz ans den früheren Annahmen, welche die Ascharija gezogen luiben.

Endlich schafft Gott nicht nur die positiven Zustände, sondern ebenso die negativen, die Privationen. Auch die Euhe ab Gregensatz der Bewegung, die Unkenntnis als Gegensatz des Wissens, der Tod als Gegensatz des Lebens sind reelle, in den Substanzen positiv vorhandene Zustände, welche Gott fortwährend aufs neue schafft und die an sich nur je einen Moment dauern. Gegenüber dieser Ansicht der überwiegenden Hehrheit der Mutakallimun geben nur einige Mutazila für gewisse Zustände die blofse Privation zu, jedoch keineswegs ftr alle. Insbesondere behaupten gerade die Mutazila, dafs «• zur Vernichtung der Welt nicht ausreiche, dafs Gott auf- ^e die Atome mit ihren Zuständen zu schaffen, sondern dafs tt an diesem Zwecke direkt den Zustand des Zerstörtseins lohaffen müsse. Für die Physik, wenn man von einer solchen toter diesen Umständen noch sprechen darf, ergibt sich die

^ Es mafs hier erwähnt werden, dals nicht alle Mutakallimun bis zu ^KKn letzten Konsequenzen fortgehen, sondern einige auch, freilich ohne System, ttne Dauer gewisser Zustände oder der Substanzen zugeben. Vgl. die in vor. Anm. citinten Stellen. Die konsequente Ansicht ist jedenfalls die im Text gegebene.

144 Mutakallimun : Aufhebung jedes Zosunmenhangs.

Folgerung, dafs der Unterschied zwischen Materie und Form, sowie überhaupt alle spezifischen und generischen Verschieden- heiten in den Dingen fortfallen. Es gibt nichts als die Sub- stanz (das Atom) mit ihren Accidentien, die physischen Formen sind lediglich Zustände und nur durch diese unterscheiden sich die im übrigen als Substanzen völlig gleichartigen Atome. Kein Zustand kann einem andren Zustande zukommen oder von ihm getragen werden, sondern alle Eigenschaften haben ihren Sitz unmittelbar in derselben einzigen Substanz. Denn könnte eine Eigenschaft einer andren inhärent sein, so würde ja mit dieser die erstere verschwinden und die absolute Unab- hängigkeit alles Seienden voneinander unterbrochen werden. Mit dem Verschwinden jedes Art- und G-attungsunterschiedes ist auch die Nichtexistenz der Universalien ausgesprochen und eine Art von Konzeptualismus erklärt. Es giebt kein Ver- hältnis der Dinge zu einander und nichts, was eine Vermittelung zwischen niederen und höheren Begriffen vorstellt, sondern alles ist unmittelbar abhängig von Q-ott.

Man wird nicht erwarten, aus den atomistischen Voraus- setzungen der Mutakallimun irgend welche Konsequenzen zur Erklärung der Natur gezogen zu sehen; denn ihr einziger Zweck ist, die Natur zu zerstören und Gott allein an ihre Stelle zu setzen. Es ist daher unwesentlich, dafs sie noch besonders die Nicht-Existenz einer wirklichen Unendlichkeit betonen; die Zahl der Atome steht doch jedenfalls in Gottes Hand.

Ihre Philosophie gipfelt in dem von ihnen aufgestellten Begriffe der uneingeschränkten Zulässigkeit. Sie behaupten, dafs alles, was die Einbildungskraft sich vorstellen könne, auch für die Vernunft zulässig sei. Der regelmäisige Verlauf der Dinge ist nur Gewohnheitssache; ebensogut könnte das Gegenteil von allem Wirklichen geschehen, das Feuer könnte statt nach oben sich nach unten bewegen und kalt sein und doch Feuer bleiben, das Wasser nach oben gehen und Wärme erzeugen imd doch Wasser bleiben; Elephanten können die Gröfse von Mücken haben und Mücken die von Elephanten.

Mit diesen absurden Konsequenzen haben die Mutakallimun ihre Absicht erreicht. Sie haben für Gott die absolute Freiheit des Agierens, aber für sich zugleich die des Behauptens geschaffen.

Mutakallimun: Historische Bedeutung. 145

Es ist gewifs nicht ohne Bedeutung für die Geschichte der Ato- mistik, dafs ihre zersetzende [Richtung einmal bis zur letzten Kon- sequenz durchgeführt worden ist. Damit wurde gezeigt, dafs der atomistische Gedanke auch zur Vernichtung der Physik und der Wissenschaft überhaupt führen kann und führen mufs, wenn man ihn auf ein Feld überträgt, das seinem Wesen widerspricht. Wenn der Versuch gemacht wird, das Problem der Kontinuität, welches sich im Räume, in der Zeit und in der Bewegung darbietet, dadurch aufzuheben, dafs man diese Gröfsen, welche im Gegensatz zur Körperwelt als kontinuierliche ge- geben und nur als solche begrifflich zu fassen sind, ebenfalls atomistiBch zu konstruieren sucht, so mufs sich jedesmal die Zerstückelung der Welt ergeben. Wir sehen daher auch in der neueren Philosophie, als man das Unzureichende des car- tesischen Substanzbegriffs zur Begründung der Wechselwirkung erkannte, den Occasionalismus in Bezug auf den fort- währenden unmittelbaren Eingriff Gottes ganz in die Fufs- tapfen der Mutakallimun treten. Es ist bemerkenswert, dafs der Begründer des Occasionalismus, Cordemoy, von Descabtes wieder fur Atomistik abfallt (s. 5. Buch). Der fortwährende unmittel- bare Eingriff Gottes entspricht einer Atomisierung der Zeit nnd der Kausalität, während bei Leibniz sich die Konsequenz der Atomistik in einer ebenfalls an die Mutakallimun erinnern- den Punktualisierung der Substanz äufsert.

In Bezug auf die Atomistik der Mutakallimun darf man sich wohl fragen, ob dieselbe durch ihre Seltsamkeit blofs von der Atomistik abgeschreckt habe, oder ob sie nicht auch andrerseits in positiver Hinsicht die Prüfung der Frage ange- regt haben dürfte, wie weit die Berechtigung der atomisti- a^en Theorie reichen könne.

Der Widersinn, zu welchem die Zerstückung der Zeit in diskontinuierliche Momente führt, konnte wohl darauf hinweisen, dalB auch für den Kaum an die Zusammensetzung aus Punkten nicht gedacht werden dürfe. Der physikalisch Interessierte mniiste dadurch auf die angemessenere Auffassung der Atome als körperlich ausgedehnter kleiner Massen aufmerksam werden, während der Theologe, welcher die mechanische Gesetzraäfsig- keit beseitigen wollte, das Wort Atom nicht mehr als das Symbol des Atheismus zu verabscheuen brauchte. In ähnlicher

Lilkwits. 10

146 Mutakallimun : Einfluls von Abibtotklbs.

Weise dürften während des Mittelalters Gedanken in manchem Leser des Marc Nevochim angeregt worden sein, die, wenn sie auch nicht zu öffentlichem oder systematischem Ausdruck kamen, doch bei der inneren Abwägung der philosophischen Theorien nicht ganz ohne Einflufs geblieben sein werden.

3. Das Kontinuitätsproblem und die

Die Atomistik der Mutakallimun bildet eine Illustration zu der Gegnerschaft des Aristoteles gegen Dkmokrit und ist zugleich ein naturgemäfser Ausflufs aus derselben. Sie ist der Versuch einen Einwand zu vermeiden, welcher die Atomistik Demokrits gar nicht trifft. Denn offenbar ist sie entstanden durch den Vorwurf, welchen Aristoteles dem Demokrit macht,* indem er nachweist, dafs die Kontinuität der Bewegung die der ßaum- und Zeitgröfse voraussetze. Er fuhrt dort aus, dafs die DiskontinuierUchkeit einer dieser Gröfsen die der beiden andern zur Folge haben müsse. Da nun die Mutakallimun den Kaum atomistisch fafsten, so sahen sie sich genötigt, auch Zeit und Bewegung folgerecht als unstetig anzusehen.* Auf diesa Weise fanden sie sich zwar mit der Mechanik in einer Hin- sicht nicht ungeschickt ab, aber sie gerieten allerdings in Wider- spruch mit der Mathematik.

Die Einwände des Aristoteles gegen das Bestehen des Kontinuums aus Unteilbarem sind ja unumstöfslich, soweit sie sich auf das rein Mathematische beziehen; der !ßaiun be- steht nicht aus Punkten; aber diese Einwendungen konnten nichts gegen Demokrit sagen, lo lange die Unmöglichkeit des leeren Raumes nicht ebenso scharf bewiesen werden konnte. Demokrit ist es nicht eingefallen, den Baum aus Punkten bestehen zu lassen, sondern er setzte nur den physischen Körper aus Atomen und Poren zusammen, wobei die Atome nicht punktuell, sondern endlich ausgedehnt sind. Insbesondere Epikur hatte diese blofs physische Unteilbarkeit der Atome

' S. S. 104, 105.

'^ Als Erfinder dieser Lehre vom „Sprung" (tafra) gilt An-Natztzam, der Begründer der nach ihm benannten mutazilitischen Schule der Natztzamija.. S. Haabbrücker, Schahrastani S. 56. Duoat, p. 103.

Anregungen durch die Mutakallünun. 147

unter Atifreohterhaltung ihrer matliematischen Teilbarkeit be- tont.^ Bei den Mutakallimun liegt jedocli die Sache anders. Zwar nehmen sie ebenfalls den leeren Raum zwischen ihren Atomen an, aber die Atome selbst fassen sie ausdehmmgslos , punktuell, und aus ihrer atomistischen Fassung der Zeit und der Bewegung geht hervor, dafs sie sich von der Bemerkung des Aristoteles über den Zusammenhang von Kaum, Zeit und Bewegung getroffen fühlten, dal's sie also den Raum wirklich als aus Punkten zusammengesetzt dachten.

Gregen die atomistische Auffassung des Kontinuums durch die Mutakallimun richten nun die arabischen Peripatetiker ihre Angriffe, und es erhebt sich von hier aus ein Streit um diese I^e, der sich durch die ganze abendländische Scholastik liinzieht. Soviel dialektische Wortspalterei hierbei auch mit unterläuft, so hatte die Diskussion doch zur Folge, dafs der Begriff der stetigen Gröfse und des Grenzübergangs zum Unendlichkleinen eine Untersuchung und allmähliche Klärung erfuhr, welche im Beginn der neuen Zeit sowohl der Physik als der Mathematik zu gute kam. Die Atomistik der Muta- kallimun, welche die Physik aufheben sollte, wurde ein Ferment in dem geistigen Q-ärimgsprozefs, als dessen klares Ergebnis die mathematische Naturwissenschaft sich abschied. Es fehlte dem Altertum und es fehlte dem Mittelalter das Denkmittel, im Eontinuum das Moment begrifflich zu fixieren, den Begriff der festen Grenze mit dem des fliefsenden Progresses zu ver- einigen und das TJnendlichkleine zu gewinnen.* Aber es fehlte ihm nicht an dem Bewufstsein, dafs hier ein noch ungelöstes Problem vorliegt, dais auch Aristoteles in dieser Frage noch Bedenken offen lasse. Wir werden Gelegenheit haben, die Diskussion des Kontinuitätsproblems im Mittelalter wiederholt «u berühren.® Die absurden Konsequenzen der Mutakallimun swangen zu immer neuen Prüfungen; sie hatten etwas Ver- lockendes und reizten um so mehr zur Widerlegung. Was ihre arabischen Gegner in dieser Hinsicht gethan, ging durch die Kommentare zu Aristoteles in den Besitz des Abend- landes über.

' Vgl. Zellkb, 3. Aufl. I, S. 778. A. 1. 8. S. 50, 55, 133. ^ Vgl. Abschn. VI.

10^

148 Mutakallimun : Mathematische Einwände.

Die Entgegnungen auf die mathematische Atomistik lassen sich darauf zurückführen, dafs, wenn Körper, Linien und Flächen aus Punkten bestehen sollen, entweder diese Punkte selbst wieder teilbar sein müfsten, oder alle GröJCsenverschieden- heit aufgehoben werden würde. Auf den Widerspruch, der in der Teilbarkeit des Atoms liegt, geht der Einwand, welchen Algazali im Makazid-dl-Filasifa macht, indem er sagt:^ Die Teile an der Peripherie eines Bades durchlaufen in gleicher Zeit einen gröfseren Raum als die in der Nähe des Zentrums; wenn nun die Teile des Umfangs gerade nur den Haum eines Atoms durchlaufen, so müssen die in der Mitte einen kleineren Baum zurücklegen und der Baum eines Atoms würde also teilbar sein. Es ist dies offenbar nur ein andrer Ausdruck für die schon von Aristoteles gemachte Bemerkung, dais bei atomistischer Fassung des Baumes und der Zeit verschieden rasche Bewegungen eine Neuteilung des als unteilbar Gesetzten erfordern würden.* Auch das unter dem Namen Bota Aristoteles bekannte Paradoxon^ gehört hierher.

In der Schule der Skeptiker wurde ein ähnlicher Gedanke gegen die Möglichkeit der geometrischen Figuren überhaupt gewendet, indem man auf den Widerspruch hinwies, der darin liegen soll, dafs eine tun den einen Endpunkt bewegte Gerade mit jedem ihrer Punkte einen Kreis beschreibe, diese konzen- trischen Kreise nun aber verschieden grofs sein sollen, während doch jeder mit seinem Nachbarkreise zusammenfallen müsse, den er unmittelbar berührt.*

Die Mutakallimun selbst liefsen sich nicht auf eine Wider- legung dieser Einwände durch eine Diskussion des Kontinuitäts- begriffs ein, sondern sie gaben den Widerspruch zwischen Denken und Sinnenschein zu, gründeten sie doch darauf ihre eigene Atomistik. Sie beriefen sich vielmehr zur Becht- fertigimg der thatsächlichen Erfahrung nur auf die unzureichende Schärfe der Sinne, welche die Diskontinuität des Wirklichen

^ Nach ScHMÖLDEBS, a. a. 0. p. 224. Vgl. auch More neeochim I, S. 382. « Phys. VI, 2. p. 233b 18 ff.

* Mechanica, c. 24. p. 855 a 28 ff. Vgl. hierzu den Abschnitt über Galh^ei im 4. Buch und m. Abhandl. über Crolileis Theorie d. Mat, Vierte^ahrsschr, f, w, Fhilos. 1888. XIII. S. 42.

* Sextus Empiricus adv. Math, 1. III. § 66 ff. Ed. Fabbiciub p. 322.

Mutakallimun : Mathematische Einwände. 149

niclit wahrzunelimen vermag. Diesen erscheine eine Bewegung wie z. B. die des fliegenden Pfeils, als eine stetige, während sie thatsächlich aus sehr rasch abwechselnden Momenten der Bewegung und der Ruhe bestehe. Auch wenn ihnen entgegnet wird, dalj3 sich z. B. bei der Drehung eines Mühlsteins die Teile der Peripherie rascher bewegen als die am Zentrum, so dals also die letzteren kleinere Buhepausen haben müfsten als die ersteren, während doch der Mühlstein ein sehr fest zusammenhängendes G-anze sei,^ entgegnen sie, dafs sich die Atome des Steines je nach Bedürfnis voneinander trennen und nur misere beschränkte Sinnlichkeit dies nicht wahrnehmen könne. Auch dann noch muTs die Mangelhaftigkeit der Sinne mr Eechtfertigung herhalten, wenn den Mutakallimun ent- gegnet wird, daJCs bei ihrer Auffassung jeder Unterschied zwischen kommensurablen und inkommensurablen, rationalen und irrationalen Linien fortfalle, weil durch die Atome alle Linien in rationale Verhältnisse treten. Es wäre dann z. B. nach ihnen die Seite des Quadrats gleich der Diagonale. Denn in einem Quadrate von n^ Punkten enthalte die Diagonale

¥ig. 2.

ebensoviel Punkte als jede Seite, nämlich n. Überhaupt würde unter solchen Umständen das ganze 10. Buch des Euklid über die irrationalen Grröfsen überflüssig. Infolgedessen sollen auch einige Mutakallimun geradezu behauptet haben, dafs das Quadrat ein Ding sei, das gar nicht existiere; sie meinten dies jedenfalls, wie die Skeptiker, in Bezug auf die Erkennbar- keit, dafs wir nämlich von einem Unterschied der Seiten und

* More nevochim I. S. 387. Dies ist nur eine andre Wendung des S. 148 augefuhrten Einwandes von Aloazali (s. Schmöldcrs a. a. 0.). Alüazali führt duelbit (nach Munk, More S. 383 A. 2) sechs Gründe an, von welchen der bei ScHXöLDERs angegebene der sechste ist. Scdmölders gibt aufserdem den enten, welcher mit der Ausführung des Aristoteles gegen das Bestehen des Kontinuams aus Punkten übereinkommt. Der vierte wird von Mukk a. a. 0. gegeben und sogleich erwähnt werden.

150 Mutakallimun : SinneBtäuBchangeD. Bekapitulation.

der Diagonale nur infolge einer Sinnestäuschung reden, wie uns ja z. B. auch infolge der Perspektive oft gleiche Linien ungleich lang erscheinen. Denn nicht nur auf die Grenzen unsrer Wahrnehmungsfähigkeit, sondern auch auf die grofse Zahl der Sinnestäuschungen berufen sie sich bei der Begrün- dung der Atomistik, so z. B. auf die Wirkungen der Per- spektive, die optischen Täuschungen durch brechende Mittel, subjektive Änderung des Farbensinns, Kontrasterscheinungen (beim Geschmack) und ähnliches.

Gerade diese Einwendungen gegen die Atomistik der Mutakallimun sind es, welche derselben eine Stelle in der Geschichte des Körperproblems verschaiFen. Sie weisen bereits auf die Rolle hin, welche der Kontinuitätsbegriff in der Naturwissenschaft wie in der Mathematik zu spielen hat. Dieser Zusammenhang der Frage nach dem Stetigen mit der Entwickelung des mathematischen Denkens wird später zu einer besonderen Behandlung der hier erwähnten Kontroversen Veranlassung geben.

Für die Erkenntnis der verschlungenen Wege, auf denen die Deukmittel des menschlichen Geistes in der Wechsel- wirkung sämtlicher Interessen der Kultur sich vervollkommnen, ist jene Atomistik der Mutakallimun ein im hohen Grade fesselndes Objekt. Sie bietet das seltsame Schauspiel, wie ein vermeintlicher Streit der beiden grofsen Griechen, Demokrit und Aristoteles, um eine Lehre, in welcher sie thatsächlich einig sind, nämlich in der unendlichen mathematischen Teilbarkeit des Baumes, im orientalischen Geiste den Gedanken anregt, beiden gerecht zu werden; wie dadurch die Forderung des Kaläm, die Willkür Gottes zu beweisen, thatsächlich erreicht wird, wie die Arbeit der beiden gröfsten Physiker durch die Verschmelzung ihrer Lehren von Grund aus zerstört, die Gesetzmäfsigkeit der Welt, die sie beide erklären wollten, vernichtet wird; und wie doch schliefslich die Zersetzung der Erkenntnis dazu dienen muls, das tiefste Problem, in dessen Lösung die Möglichkeit modemer Wissenschaft wurzelt, der Zukunft des abendländischen Geistes zugänglich zu machen.

Atomistik der Karaim. 151

Fünfter Abschnitt.

Jüdische und arabische Philosophen.

1. Die Karaim.

Mafsgebenden Einflufs haben Methode und Lehren der MutakaUimun auf die jüdische Sekte der Karaim (Anhänger des Textes) ausgeübt, -welche von der babylonischen Akademie durch Anan ben David, einen ihrer vorzüglichsten jüdischen Liehrer (um 761 n. Chr.), ausging und durch ihre liberalere Auffassung der Dogmen mit den Begründern des Kalum, den Mutazila, viel Ähnlichkeit hatte.^ Die Karaim (Karäer oder Earaiten) entlelmten nicht nur die Art ihrer Beweisführung, ja selbst den Namen von den MutakaUimun,- sondern es gab auch Gelehrte unter ihnen, welche, um die Endlichkeit des Saumes und der Zeit beweisen zu können, die Atomenlehre anerkannten. Während einige sich auf die atomistische Fassung des Eaumes beschränkten, übertrugen andere diese Lehre auch auf die Zeit, indem sie den Verlauf derselben nur als ein gleichmäfsiges Fortschnellen des Moments in die Vergangen- heit ansahen: andere wieder machten denselben Schlufs auch für die Bewegung uncl „nahmen an, dafs die Bewegung nur das Streben eines Atoms zum andren, ohne eigentliche wahre Verschiedenheit (der Geschwindigkeiten) sei, so dafs die Be- wegung nicht unendlich teilbar, sondern immer gleich (schnell) ist, und die schnellere oder langsamere Bewegung nur in der ge- ringeren oder gröfseren Hemmnis durch Pausen uns so erscheint."^ Die jüdischen Schrift gelehrten, welche sich der Atomistik in mehr oder minder ausgeprägter F(;rm zuneigten, hatten auch 2wei BibelsteUen aufgefunden, welche sie auf die Lehre von den Atomen deuteten, Spr. 8, 22 imd Hieb 28, 12. Diese, wie

* MuKK, Mtlanges etc. p. 170— 47:^.

* Maimoxides, 3[ore NcvocJum I, c. 71. trad. p. 3[rsK p. *XM\ 337. :UG.

* SjlADU, Emunot tvc-TKot oder Glaubenslehre und rUihisohhir. Nach dei Ubertetzuug von Julius Fürst, Leipzig 1845. 1. Abscliniti c. G. S. GO. Gl.

152 Saadia: Gegen die Earaim.

sich denken läfst, höchst gezwungene Deutung der in jenen Stellen gepriesenen „Weisheit" auf die Atome wird von Saadia, dem diese Angabo entnommen ist, als unzulässig nachge-

wiesen.^

2. Saadia al-FajjumL

Saadia ben Joseph al-Fajjümi, geboren zu Fajjum in Ägypten um 892, wirkte zu -Sora in Babylonien als Vorsteher der jüdischen Schule und starb 942. Er ist der erste, welcher im Gregensatz zu den Karaim das rabbanitische Beligionsge- bäude mit philosophischen Beweisen zu stützen versuchte. In seinem Buche TJber Glauboislehre und Meimmgen (oder „Glauben und Wissen" oder „Religion und Philosophie"), 933 in arabischer Sprache verfafst, verteidigt er den religiösen Glauben gegen fremde Lehrmeinungen und bekämpft bei dieser Gelegenheit ausführlich die Atomistik. Er findet, dafs der oben erwähnte (von den Eleaten herrührende) Einwurf gegen die unendliche Teilbarkeit des Baumes, der seine Glaubens- genossen zur Annahme der Atomistik getrieben habe, höchst sonderbar sei, da die unendliche Teilbarkeit nicht wirklich besteht, sondern vom Gedanken gesetzt wird und ein wirkliches Vor- nehmen der Teilung ins unendliche ja ganz unfalsbar ist; vielmehr ist Zeit und Kaum in Wirklichkeit endlich und nur das Denken nimmt die unendliche Teilbarkeit an.* Saadia setzt dann die Ansicht der Atomisten, als welche er Leükipp, Anaxagoras, Demokrit, Epikur nennt, auseinander und schreibt ihnen die Annahme zu, dafs der Schöpfer die Welt aus den Atomen zusammengesetzt habe. Die Konstruktion der Welt aus Atomen schildert Saadia unter Verbindung mit der (mifs- verständlich aufgefafsten) platonischen Lehre folgendermafsen:^

„Die zweite Ansicht ist die Meinung dessen, welcher sagt, der Schöpfer der Dinge habe ideelle (nur in der Idee exi- stierende) ewige Körper gehabt; aus diesen habe er die zu-

* Saadia, a. a. 0. I, 19. S. 73. I, 20. S. 75.

« Saadia, a. a. 0. I, 6. S. 61.

' Saadia, Emunot we-Btot. c. 1. (S. 26 ed. Leipzig]. Die obige Übersetzung verdanke ich der Güte von S. Maybaüm in Berlin. Bei Fürst (Leipzig 1845) I, 17. S. 69.

Saadia: Angebliche Weltbildang aus Atomen. 153

sammengesetzteu Körper geschaffen. Er behauptet dies, weil es kein Ding gebe, das nicht aus einem Dinge entstanden sei. Da äe (die Anhänger dieser Ansicht) ihr Denken nach oben ricliteten und sich damit beschäftigten sich vorstellig zu machen, wie der Schöpfer die zusammengesetzten Dinge aus den ideellen geschaffen, sagten sie : Wir stellen uns vor, dafs er ans ihnen kleine Punkte zusammenfügte, nämlich Teile, die nicht geteilt werden können. Von diesen haben sie nun die Vorstellung, dafs sie aufserordentlich fein seien, feiner, als man sich die Staubteilchen denken kann. Aus solchen machte er eine gerade Linie ; dann schnitt er diese Linie in zwei gleiche Stücke; dann fügte er das eine mit dem andren dia- gonalisch zusammen, so dafs sie die Form eines griechischen S (hehtiger: eines griecliischen A'),^ ähnlich der Form eines arabischen Lam-Elif ohne Untersatz (^) annahmen. Dann idilng er sie fest an. dem Orte, wo sie sich durchschnitten, dann schnitt er sie an dem Orte der Festschlagung durch und machte aus dem einen Stück die grofse höchste Sphäre, und machte aus dem andern die kleineren Sphären. Dann bildete er ans jenen ideellen Teilen eine kreisartige Form und schuf aus ihnen die Sphäre des Feuers; dann bildete er aus ihnen eine achtseitige Form und schuf daraus die Sphäre der Erde; dann bildete er aus ihnen eine zwölfseitige Form und setzte anf sie den Umkreis der Luft ; dann bildete er daraus eine awanzigseitige Form und schuf daraus alle Meere. Solches behaupten sie und darauf setzen sie ihren Glauben. Es brachte sie zu diesem Ausspruche die Nichtanerkennung des Nicht- seienden ; diese Formen, mit deren Einführung sie sich mühten, sollten den Formen der vorhandenen Elemente gleichen." Gegen diese Ansichten erhebt Saadia zwölf Einwände : „Zuerst diejenigen vier, die uns belehrten, dafs die Dinge einen Anfang haben; femer die andern (vier), die uns belehrten, dais der Schöpfer der Dinge sie aus nichts geschaffen liabe. Nachdem sie von diesen acht Einwänden belastet sind, fände ich noch vier andre Einwände, die sie sich gefallen lassen müssen. „Erstens: Sie glauben an etwas, desgleichen nie wahrge- nommen worden, nämlich an die ideellen (Teile), die sie in

* Vgl. Timaeus, p. B, C.

154 Saadia: Einwände gegen die Atomistik.

ihrer Vorstellung dem Staube vergleichen, dem allerfeinsten, einem Teile, der sich nicht teilen läfst; das ist undenkbar.

„Zweitens: Ich bin der Meinung, dai's diese Dinge, die sie behaupten, weder warm noch kalt, weder feucht noch trocken sein können, da sie ja sagen, dafs aus ihnen die vier Elemente geschaffen seien. Ich bin auch der Meinung, dafs man ihnen weder Gestalt, noch Geschmack, noch Geruch, noch Grenze, noch Mafs, nicht Viel oder Wenig zuschreiben kann; sie gehören weder dem Räume noch der Zeit an. Denn alle diese Dinge sind Accidentien der Körper; aber jene Dinge sind ja ihrer Ansicht nach vor den Körpern gewesen. Das ist wiederum ein Undenkbares. Sie wollen nicht, dafs etwas aus nichtetwas entstanden sei und lassen sich auf etwas ein, was unwahrscheinlicher und unfafsbarer ist.

„Drittens : Ich halte es für unwahrscheinlich, ja für falsch, dafs etwas nicht mit Form Begabtes sich so verwandeln könne, dafs es die Form von Feuer, Wasser, Luft und Erde annähme, dafs das, was seiner Form nach nicht lang, breit und tief ist, sich so verwandeln kann, dafs es lang, breit und tief werden kann; ebenso, dafs das, was gegenstandlos ist, sich so ver- wandeln könne, dafs es die jetzt sichtbaren Gegenstände ent- hielte. Sollten nach der Meinung jener alle diese Wandlungen und Veränderungen angehen, weil der weise und allmächtige Schöpfer sie verwandeln und verändern kann, so kann ja auch seine Weisheit und Allmacht etwas aus nichts schaffen. Fort also mit diesen trüglichen Ideellen (d. h. Atomen)!

„Viertens läfst sich auch das nicht vertreten, womit sie sich durch den Glauben an Schneiden, Zusammenfügen, Zusammen- setzen, Befestigen, den zweiten Schnitt und alles, was mit solchen Dingen zusammenhängt, abgemüht haben. Keines dieser Dinge läfst sich beweisen, es sind nur An- nahmen und Hj'^othesen. Ja, ich glaube sogar, dafs sie einen Widerspruch in sich tragen. Nämlich: Wenn der ihrer Ansicht nach Wirkende die Ideellen in Körper ver- wandeln kann, so kann er sie ja auf einmal verwandeln, so dafs die einzelnen Thätigkeiten überflüssig werden; wenn er sie aber nur allmählich verwandeln kann, wie die Geschaffenen nur eine Sache nach der andern thun können, so kann er ja noch weniger Ideelles in Körper verwandeln. Also belasten

Saadia: Theologisches Interesse. 155

sie sich mit diesen Irrtümern, wobei sie dazu weder Zeichen noch Wunder anerkennen und doch nicht umhin können, Nicht wahrnehmbares zuzugeben."

Aus der Verworrenheit dieser Angaben Saadias, dessen Bach, das allerdings nur einen populären Charakter beanspruchte,^ ' ein Jahrhundert nach der Übersetzung der aristotelischen Schriften ins Arabische abgefafst wurde, läfst sich erkennen, wie schwer es dem orientalischen Geist , sowohl Mohammedanern wie Juden wurde, sich in die Anschauungen der griecliischen Philosophie einzuarbeiten, ein Prozefs, der übrigens dem Abendlande nicht weniger Mühe verursacht hat.

Saadias Polemik gegen die Atomisten oder gegen die Lehren, die er für atomistische hielt, bildet ein Gegenstück zu der viel klareren Darstellung dos Moses Maimonides, welchem die Entwickelung des Kalam von zwei weiteren Jahrhunderten vorlag, während deren sowohl die Kenntnis der griechischen Quellen eine bessere*, als auch die Durchdringung der Konse- quenzen der Atomistik eine tiefere geworden war. Während -dieses ganzen Zeitraums aber bemerkt man keine Veränderung an der geringen Bedeutung, welche die Atomistik für die Physik als solche besafs. Es handelt sich lediglich um das theologische Interesse, und die Physik wird nur betrieben, um als "Waffe im Streite der religiösen Parteien zu dienen. Ab- gesehen von den Studien der Arzte, bei denen aber bei weitem die praktischen Fragen vorwalten, sind theoretische Betrach- tungen über physikalische Prinzipion nur an solchen Stellen zu finden, wo dieselben für die Entscheidung einer theologischen Frage von Bedeutung werden. Und das gilt von Mohammedanern, Juden und Christen im gleichem Mafse.

* Eaufiiank, Geschichte der Attrihuicnk'hrVy Gotha 1877. S. 7f).

' So gibt der um die Mitte des 11. Jahrhunderts wirktiiidc Karäcr Aiirox BEK Elia in seinem Werke Lebtn.sbainn im vierten Kapitel eine Darstellung der Atomistik, in welcher er den Unterschied der antiken Atomistik von der der Mntakallimun deutlich hervorhebt. Auch unterscheidet er das mathemati- tche Atom, das eine blofse Abstraktion sei, von dem physischen Atom, das der physisch schlechthin unteilbare Grundstoff der Dinge sei. Im Gegensatz zu HoSES BE2r Maimun steht er der Atomenlehre bedeutend wohlwollender gegtn- tiber. S. Delitzsch, Anccdoia ::ur Geschichte der mittelalterlichen SchoIaMii: wiier Juden und Moslemen. Leipzig 1811. p. XIX.

156 Saadia: Auferstekang.

Eine dieser Fragen, über welche sich Saadia ausfuhrlich ausspricht, ist die nach der Auferstehung des Leibes, und sie gibt Gelegenheit, einen Blick auf die für die Theorie der Materie historisch so bedeutungsvoll gewordene Ansicht über die Natur der chemischen Verbindung zu werfen, wie sich die- selbe zu jener Zeit darstellt. Da die Grundstoffe des Körpers, nachdem sein Leben entflohen ist, sich auseinanderlösen und zu ihren natürlichen Orten zurückkehren, dann aber zur Entstehung neuer Körper wieder verwendet werden können, so entsteht die schwierige Frage, wie es unter diesen Umständen möglich sein soll, dafs bei der Auferstehung der Toten die Leiber reproduziert werden, im Falle ihre Elementarstoffe wiederholt verschiedenen Körpern angehört haben. Saadia macht in dieser Hinsicht geltend, dafs die Menge der Elemente unzählige Male gröfser sei als derjenige Teil derselben, welcher zur Zusammensetzung der Körper verwendet wird. Die Natur- forscher wissen z. B., sagt er, dafs das Luftelement zwischen der Erde und dem ersten himmelskörperlichen Teil um tausend- neunundachtzigmal (weil aus 33 mal 33 gewonnen) umfäng- licher ist, als die ganze Erde mit ihren Bergen, Meeren, Pflanzen und lebenden Wesen.^ Unter diesen Umständen ist es nicht nötig, dafs der Schöpfer dieselben Elementarteile zweimal zur Herstellung eines Körpers benutze, sondern es steht ihm ausreichender Stoff zu Gebote, um jedem Körper seine Elemente für die Auferstehung aufzuheben. Wenn ein Körper durch einen andren geschaffenen Körper (z. B. durch Feuer) zerstört wird, so werden nur seine Teile voneinander gelöst, diese, als Elemente, bleiben unverändert und kehren nur an ihre uranfanglichen Orte zurück, „die im Körper schon liegende Wärme zum Feuerelement, seine Feuchtig- keit und Kälte zu ihren Urstoffen."* Während bei den nicht menschlichen Körpern die Elemente nach der Auflösung sich mit den übrigen Elementen wieder vermischen, bleiben die Bestandteile des Menschen unvermischt mit den ursprünglichen Elementen für die Auferstehung bewahrt.

Man darf hieraus folgern, dafs Saadia die Eigenschaften

* Saadia, Emunot we-Dtot, übsrs. v. Fürst. VII, 4. S. 383, 384. » Saadia, a. a. 0. VII, 5. S. 386,

Umgestaltung des Aristotelismus. 157

der Elemente anch in den Körpern als beharrend voraussetzt. Der Gedanke, dafs die Elemente bei ihrer Verbindung und Trennnng eine Änderung erleiden könnten, scheint ihm fremd zu sein.

3. Die Modifikation des Aristotelismus.

Nach Saadias Tode verbreitet sich die Philosopliie vom Orient nach dem Occident, wo die spanischen Juden sich von der babylonischen Akademie in Sora unabhängig machen und eine eigene Schule zu Cordova gründen. Und noch ehe hier die arabische Philosophie zur Blüte gelangt, finden wir in der sweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts in Spanien einen be- achtenswerten, 'selbständigen jüdischen Denker, Salomon Ibn &ABIROL aus Malaga. Seine Wirksamkeit als Dichter und Philosoph in Spanien fallt nur kurze Zeit nach der Veröffent- lichung der grofsen Encyklopädie des Ibn Sina, welcher in Ispahan lehrte. Der erste bedeutendere arabische Philosoph in Spanien, Ibn Badscha (j 1138), sclirieb mehr denn fünfzig Jahre später, im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts.

Wenn es das wesentlichste Verdienst der jüdischen und arabischen Philosophen ist, dafs sie die aristotelische Doktrin dem Abendlande vermittelten, so haben sie doch auch eigentümlichen Charakter derselben aufgedrückt.

Der reine Aristotelismus ist durch sie, hauptsächlich im Interesse des Monotheismus umgestaltet, teils mit neuplato- nischen Elementen versehen, teils durch die naturalistische Neigung des arabischen Geistes jenem Gedankenkreise näher gerückt worden, welcher in der Neuzeit die Entstehung der Naturwissenschaft ermögUchte.

Alle diese fremden Einflüsse drängen sich an denjenigen Stellen ein, an welchen das Grebäude der peripatetischen Philo- sophie Fehler des Bauplans oder Mängel der Ausführung auf- weist. Sie sind zunächst eingefügt als Aushilfen und Stützen, um das System des Philosophen zu festigen. Denn im grofsen und ganzen herrscht die aristotelische Weltansicht unbeschränkt. Aber indem sie gleich Keilen in das Gefüge des Systems sich hineindrängen, lockern sie allmählich den Bau. Was als verbin- dender Bitt unsicherer Bestandteile dienen sollte, hebt die Homo- genität des Ganzen auf und öffnet dem vorwärtsdrängenden, der

158 Mängel des aristotelischen Substanzbegriffs.

Schule feindlichen Geiste einer neuen Zeit einen Zugang ins Innere des Systems, um dasselbe von innen heraus, gleichsam durch Ausweitung seiner schwächeren Stellen, zu zersetzen und zu stürzen.

Die Entwickelung des 'Körperbegriffs findet während der Herrschaft des Aristoteles im Mittelalter nur dort eine För- derung, wo sich im Innern des peripatetischen Lehrgebäudes ein derartiger Verwitterungsprozefs vollzieht und die ein- gedrungenen fremden Quellen die schwachen Stellen im Körper selbst zur Auflösung bringen.

Die bedenklichste dieser Stellen war das Verhältnis von Form und Materie zum Substanzbegriff. Substanz ist das Einzelwesen, das Einzelwesen selbst aber besteht nur in der Vereinigung von Form und Materie. Weder Form noch Materie sollen für sich als Substanzen gedacht werden, den- noch wird die Form vielfach als Substanz bezeichnet^, ist sie doch als das Zweckbestimmende und Begriffliche am Dinge das eigentlich Wirkliche, die Wirklichkeit Bedingende. Andrerseits beruht die Möglichkeit von Einzelwesen auf der Individuation der allgemeinen Materie; es scheint also, als ob auch der Stoff Substanz sein könnte. Aristoteles diskutiert diese Frage im 7. und 8. Buche der Metaphysik, aber seine unbestimmte Ent- scheidung kann wenig befriedigen. Die Form soll Substanz der Wirklichkeit nach, Materie Substanz der Möglichkeit nach sein. Wenn aber Substanz das für sich Existierende ist, wie kann etwas blofs der Möglichkeit nach Existierendes Substanz genannt werden ? Und wie kann, da Substanz nur das Einzel- wesen ist, die noch nicht zum einzelnen bestimmte Materie Substanz sein oder werden? Form und Materie sind unvergäng- lich, nur die Einzelwesen werden und vergehen; also vergehen gerade nur die Substanzen, und Form und Materie, die selbst unvergänglich sind, bleiben bei der Trennung der Körper in völlig unbestimmtem Verhältnisse.

Es liegt somit hier eine unlösliche Schwierigkeit, die sich wohl historisch aus der verschiedenen Herkunft der Bestand- teile des aristotelischen Systems erklärt, systematisch aber zu immer neuen Deutungen führen mufste, die, je nachdem der

* Vgl. Zki.lku, l'hü. d, ariechen, 3. A. 11, 2. »S. 344 f.

Umformungen des aristotelischen SubstauzbegritTs. 159

eine oder andre Gesichtspunkt überwog, die Auflösung des künst- lichen Zusammenhangs beförderten. Eine derartige Schwäche des Systems der substanziellen Formen konnte niu- dem Ge- dankenkreise der Korpuskulartheorie zu gute kommen. Wie bestimmt war hier der Substanzbegriff gefalst! Bei der an- tiken Atomistik sind die Atome, als der raumerfüllende Stoff, inch die an und für sich existierende Substanz. Des Gegen- satzes einer gestaltenden Form, unabhängig von der Materie, bedarf es hier nicht. Freilich enthielt die Wechselwirkung dieser Atome ein Problem, welches den vorsichtigen Denker zurückschrecken mochte. Aber war nicht eine gleich grofse Schwierigkeit im Substanzbegriff der Materie und Form bei Aristoteles vorhanden? War es nicht ebenso zulässig, eine ursprüngliche Anordnung des Schöpfers oder eine immanente Gestaltungskraft in der substanziellen Materie zu denken, als über dem dunkeln Verhältnis der substanziellen Form zur Materie zu grübeln? Ist man aber bei diesem Schritte ange- langt, so geht das Denkmittel der substanziellen Form über in die Vorstellung einer zwischen den Teilen der Materie thätigen Kraft, durch welche die Individuation derselben be- stimmt wird. Das ist die Brücke zur neuen Physik, welche die Metaphysik durch eine Veränderung des Substanzbegriffes schlägt; die Formen sind nicht mehr unabhängig von der Materie, die Materie selbst wird zur Substanz, sie trägt ihre Bestimmungsfahigkeit in sich selbst. Ein derartiger Substanz- begriff besitzt eine Hinneigung zum Materialismus, indem er die Materie zur alleinigen Substanz macht. Ob dann diese Substanz als im Kaume kontinuierlich oder diskontinuierlich gefafst wird, das ist eine weniger wesentliche Frage, deren Entscheidung der Physik überlassen bleiben mag, sofern sie sich mit dem Begriff des Kontinuums auseinandersetzen kann. Es gibt indessen noch eine zweite Umformung des Ma- terialismus, welche, von dem gleichen Zweifel ausgehend, zu einer verwertbaren Fassung des Körperbegriffs hinführt, aber durch eine rein idealistische Ausgestaltung. Diese entstellt ebenfalls durch eine Verschmelzung der Begriffe von Materie und Form zu einer einheitlichen Substanz, jedoch so, dafs nicht das stoffliche, sondern das begriffliche Prinzip als Träger des gestaltuugsvollen Seins gefafst wird. Werden dabei die

160 Jüdische und arabische Bichtung.

allgemeinen Begriffe als geistige Substanzen und selbständige Realitäten gedacht, so entsteht ein Rückschlag in den Plato- nismus , denkt man die Substanz als eine einzige, allumfassende, so entsteht ein System mit pantheistischer Färbung. Beide Fassungen gewähren die Möglichkeit, im Körperbegriff die- jenigen Feststellungen zu machen, welche demselben Unab- hängigkeit und Selbständigkeit in der Gestaltung der sinE- lichen Welt gewähren und daher der Physik ein Gebiet der Wirksamkeit vorbereiten, sobald das rein metaphysische und theologische Interesse sich abschwächt. Denn jene geistigen Substanzen oder die allgemeine Substanz müssen in der Ent- wickelung zur Vielheit der Dinge auf feste, aus der Natur des Denkens fliefsende Bestimmungen über das Wesen des Körpers führen.

Beide Gegenströmungen gegen den reinen Aristotelismus, die materialistische wie die pantheistische, finden wir im Mittelalter wirksam; beide bringen der ursprünglichen Lehre des Stagiriten in der scholastischen Auffassung derselben fremde Elemente zu. Ihre Quellen sind in dem Charakter der- jenigen Nationen zu suchen, durch deren Arbeit die peripate- tische Philosophie dem Abendlande überliefert worden ist, in dem strengen Monotheismus der Juden und Moslemen. Wo die jüdische Weltauffassung zu selbständiger Philosophie vor- schreitet, finden wir die pantheistische Neigung, so bei Ibk Gabirol, von welchem Duns Scotus seine Anregung empfing, und so später bei Spinoza. Wo der Islam seinen Einflufe geltend macht, zeigt sich ein materialistischer Zug; so im Peripatetismus des Ibn Sina und besonders des Ibn Boschb.

So lange nicht die Erkenntnistheorie klargelegt hat, dafs religiöses Gefühl und theoretische Einsicht zwei verschiedene TeiHnhalte des allgemeinen Erlebnisses der Menschheit sind, so dafs kein wissenschaftliches Resultat das frei vom Verstandes- gesetz waltende Gottesbewufstsein erschüttern, kein Bedürfriis des Glaubens die Denkmittel der konstruierenden Theorie ver- wirren kann, so lange die Unvergleichbarkeit der Werte noch nicht bekannt war, welche religiöse Wahrheiten als erlebte und theoretische als erkannte besitzen, so lange der Dogmatismus die Realität Gottes und die Realität der Welt als durch die- selben Denkmittel erkennbar betrachtete, so lange muJfete die

Glauben und Wissen. 101

natnrwissenschaftliche Erkenntnis der Welt sich mit den Hofi*- nungen des Glaubens in ein Verhältnis setzen. Auf kritischem Standpunkte ist die objektive Natur der Ausdruck der Gesetz- lichkeit des Verstandes, der religiöse Glaube der Ausdruck des lebendigen Weltgefühls des einzelnen Ich, und beide Ge- biete können nicht konkurrieren und kollidieren, weil sie dis- parate und gleichberechtigte Objektivationsstufen des Bewufst- seins sind, welche als solche nebeneinander bestehen. Für den Dogmatismus müssen beide Realitäten, Gott, den wir glauben, und die Welt, die wir erkennen, sich entweder miteinander ins Einvernehmen setzen lassen, oder die eine muTs der andren sich unterordnen. Glauben und Wissen sind dann nicht da- durch versöhnt, dafs sie verschiedene Richtungen desselben Be- wuTstseins darstellen, sondern die Versöhnung mufs äufserlich in ihrem Stoffe gesucht werden. Entweder wird dann die wissenschaftliche Erkenntnis, d. h. die Objektivierung der Elmpfindung zur Natur, eingeschränkt durch die Rücksicht auf autoritative Glaubenssätze, oder der Gottesbegriff wird den veränderlichen Stufen der theoretischen Erkenntnis unterworfen, umgestaltet, beseitigt.

Gilt es nun innerhalb des Dogmatismus im Interesse der weltlichen Erkenntnis ein Gebiet für das Denken frei zu machen, so mufs Gott eine derartige Stellung zur Welt be- kommen, dafs innerhalb der Welt eine erkennbare Gesetz- lichkeit übrig bleibt. Dies vermag der reine Aristotelismus nur teilweise zu leisten. Der Einflufs der Materie einerseits, die Zweckthätigkeit der substanziellen Formen andrerseits lassen soviel Unbestimmtheit im einzelnen und soviel schöpfe- risches Eingreifen im ganzen zu, dafs gerade darum Aristotelks der Kirche und dem Wunderglauben des Mittelalters eine fundamentale Stütze wurde. Die Entwickelung der Natur- erkenntnis als Wissenschaft aber forderte Gesetzlichkeit des Geschehens bis in das Einzelne hinein, und zwar erkennbare Gesetzlichkeit. Einer solchen vermochte der absolute Mono- theismus entgegenzukommen, indem er den Schöpfer der Welt 80 hoch über diese selbst hinaushebt, dafs innerhalb derselben Baum für den Streit der mannigfaltigsten Meinungen über Beschaffenheit und Entwickelung des Kosmos bleibt. Je erhabener der Begriff des einen Gottes gefafst wird, desto

Lalkwitz. H

162 Transcendenz und Immanenz Gottes.

selbständiger wird der Wandel der Dinge, denn desto mehr inufs man überzeugt sein, dafs seine Allweisheit im voraus die Gesetze der Welt so durchdacht und geordnet hat, dafs sie für ihr Bestehen und ihre Entfaltung keines willkürlichen Eingrijffs mehr bedürfen.

Zwei Eichtungen gibt es hier wieder, in welchen die Stellung Gottes zur Welt gedacht werden kann, um die selb- ständige Gesetzlichkeit derselben zu garantieren. Entweder steht Gott transcendentüber der Welt, die er ein fär allemal so ge- schaffen, dafs sie nach ihren eigenen Gesetzen selbständig abrollt ; dann mufs die Möglichkeit der gesamten Weltentwickelung in die Substanz selbst gelegt sein, die Materie mufs bereits alle die Keime enthalten, von Ewigkeit her angelegt, aus denen der Weltprozefs sich entwickelt. Oder Gott ist der Welt immanent, der göttliche Geist ist die weltbewegende Kraft selbst, und die sich gesetzmäfsig entfaltende Welt gewisser- mafsen der Körper, dessen Bewegung und Entfaltung uns den immanenten Gott offenbart.

Diese beiden Fassungen des monotheistischen Gottes- begriffs gehen paraJlel mit den beiden Umgestaltungen des Aristotehsmus, welche derselbe infolge seiner unzureichenden Fest- setzungen über das Verhältnis von Materie und Form zur Substanz erleiden mufste. Wird die Materie zur Substanz und damit zur Trägerin des Weltgeschehens, so ist dies mit dem Mono- theismus vereinbar, wenn Gott transcendent und die Welt ihrem eigenen inneren Getriebe überlassen bleibt. Wird die Form, der allgemeine Begriff, die Idee zur Substanz, in deren Entwickelung sich Gott als sinnliche Welt offenbart, so stellt sich der Welt- prozefs als eine Entfaltung der Immanenz Gottes dar, welche ebenfalls eine begriffliche Bestimmung, also Erkenntnis, zuläfst. Der ersteren, naturalistisch gefärbten Auffassung nähert sich die Philosophie des Arabers Ibn ItoscHD, der letzteren, zum Pantheismus neigenden, die des Juden Ibn Gabirol.

4. Ibn Oabirol.

Die Annahme einer einzigen Materie, welche sowohl als körperliche wie als geistige Substanz auftritt, lehrte Salomon BEN Jehüda Ibn Gabirol, geboren um 1020 in Malaga, dessen Schrift Melcor liajjim (Föns vitae, Lebensquelle) zwar weniger

Ibx Gabirol: Lebensquelle. 163

auf seine Glaubensgenossen, noch weniger auf die Araber, aber in hobem Grade auf die christlichen Scholastiker gewirkt bat. Diese hielten ihn für einen arabischen, einige vielleicht for einen cbiistlichen Philosophen und kannten ihn unter dem Namen Avicebrox.^

Ibn Gabirol will durch seine ganz allgemeine Fassung der Begriffe Materie und Form einerseits die Einheit der Substanz aller Dinge, der körperlichen wie der geistigen, herstellen und äe dadxurcb in einheitlichen Zusammenhang mit Gott bringen, und andrerseits aus dieser Verbindung die Existenz des schöpferischen Wülens Gottes beweisen, durch welchen dieselbe bewirkt wird.* Dieser Wille Gottes, über welchen er in einem andren, uns nicht erhaltenen Werke gehandelt zu haben scheint, igt die „Lebensquelle", aus welcher Form und Stoff der ganzen Welt fliefsen, die göttliche Schöpferkraft, welche alle Dinge schaffe." Wir haben hier nur auf Gabirols Substanzbegriff einzugehen, insofern derselbe Grundlage der Körperwelt wird. Dieser Substanzbegriff wird im zweiten Buche der Lehensqu^Ue erörtert, nachdem im ersten über Materie und Form überhaupt gehandelt worden ist. Das dritte Buch bespricht dann die ein- fachen Substanzen, die Mittelwesen zwischen Gott und Körper- welt, das vierte beweist, dafs dieselben aus Materie und Form bestehen, das fünfte führt auf die allgemeine Materie und Form und den Willen Gottes.

Die Eigenschaften der einzigen, allem Existierenden zu Grunde liegenden Materie sind die folgenden. Sie besitzt Existenz für sich und haftet nicht an der Existenz von irgend etwas andrem, sie ist eine einzige, einheitliche, aber

' Die Identität des von den Scholastikern citierten Avtci:bron mit Ibn Oabxbol hat SIünk nachgewiesen, LitteraturhlaU des Oriente, 1845, N. 4G. col. 721. Sein Hauptwerk Fonji vitae ist von Mukk nach den umfassenden Aus- lagen,, welche ScHEM Tob Ihn Falaqü£Ba im 13. Jahrhundert hebräisch gegeben hat, ins Französische übersetzt in den Mi' langes de pUilos. juiir et arabe, Paris 1859, nach welcher Ausgabe ich citicre. Es existiert auch eine lateinische ObersetKong, die den Scholastikern vorlag. Ibn Gabirols tiefsinnige religiöse Dichtungen haben noch jetzt Bedeutung. S. Abraham Gkjgkr, Salomo Gabirol md seine Dichtungen^ Leipzig 1867.

Vgl. Bitter, Die christliche Fliilo^ophie etc. Güttingen 1858. 1 Bd. S. 611.

S. Kaufmann, Geschichte der Attrihutenlehre in d,jud. Jieligiunsphihffophie, Gotha 1877. S. 93 f.

11*

164

Ibs Gabirol: Sabsistenz der Begriffe.

Trägerin der Verschiedenheit, sie ist in jedem Dinge Ursache seines Wesens und Namens. ^ Diese allgemeine Materie besitzt als solche keine Form; dagegen sind die Formen Gmnd der Verschiedenheit der Dinge, die sichtbaren Formen bedingen die Verschiedenheit in der Körperwelt, die unsichtbaren die im Bereich des Greistes.* Alle Begriflte werden von Ibn G-abirol hypostasiert; jeder BegriflP mit Ausnahme des der allgemeinsten Materie haftet an einem (subsistiert in einem) andren, an ihm selbst haften wieder andre Begriflte; allen Begriflten wird demnach die Eigenschaft der Subsistenz als eine gemeinschaftliche beigelegt imd real gefafst, und diese reale Subsistenz ist eben die allgemeine Materie, an welcher alle Dinge haften. AuISser dieser, welche ir.ir in sich selbst subsistiert, haben alle andern Begriflte eine doppelte Beziehung; sie bestimmen ein Allgemeineres, an welchem sie haften, und werden ihrerseits durch ein Spezielleres bestimmt, das in ihnen subsistiert. Für das Allgemeinere, das sie durch ihre Eigenart bestimmen, sind sie Form, für das Speziellere, durch welches sie bestimmt werden, bilden sie die Materie; und so ergibt sich eine Reihe der Begriflte, vom höchsten und allgemeinsten bis zum niedrigsten fortschreitend, in welcher jeder zugleich Materie und Form ist.® Durch nach- stehendes Schema wird darzustellen versucht, wie die Subsistenz- reihe sich nach Ibn Gabirol für den physischen Einzelkörper gestaltet.*

Schema der Subsistetiz der Begriffe für den physischen Einzelkörper

iiach Ibn Gabirol.

m

3.

Das Wissen Gottes. Allgemeine geistige Materie. Allgemeine körperliche Materie. Allgemeine himmlische Materie. Allgemeine natürliche (irdische) Materie. Besondere natürliche (irdische) Materie, Körperlichkeit. (Substanz derselben.) Quantität. Körpergestalt. Oberflächengestalt. Y Farbe.

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i

^ Extraits de la source de vie de Sal, Ibn Gabiroly I, 6. Münk, Melanges «tc. p. 7. * A. a. (). 1, 7. p. 8. » A. a. 0. II, 1. p. 11. * A. a. 0. 1, 9. U, 1. II, 3. II, 23.

Ibn Gabirol: Körperlichkeit. 165

Jeder dieser Begriffe ist Form für den darüber-, Materie {Qt den daronterstehenden. So ist also die Substanz der Körperlichkeit das Formbestimmende für die besondere Materie der snblonaren Welt nnd Materie für die Quantität. Als solche bekommt sie erst Gröfse durch die Form der Quantität, und die Quantität selbst gehört nicht zur Substanz selbst. Sie ist f&r den Intellekt ebenso verschieden von der sie tragenden Substanz, wie ihrerseits die sinnlichen Accidentien, Farbe, Grestalt n. s. w., von der Quantität für die Sinne verschieden nnd. In der wirklichen Erscheinung existieren aber alle diese Eigenschaften vereinigt und nur das Denken trennt ihre Begriffe von einander.

Man sieht, dafs über der Substanz der Körperlichkeit Ibn Oabirol noch fiinf höhere und feinere Materien kennt, die inein- ander subsistieren. Sie alle sind nur intelligibel, und ebenso ist auch die Körperlichkeit intelligibel, aber die niedrigste der intelligiblen Substanzen. Sie ist es, welche die „neun Ka- tegorien^ trägt und die intelligible Welt mit der sinnlichen in Verbindung setzt. An der untern Grenze der intelligiblen Materien stehend, bildet sie das Substrat der Körperwelt; sie ist passiv im Verhältnis zu den übergeordneten Substanzen, welche in Bezug auf sie aktiv sind. Denn die Materie der Körperlichkeit ist an der Bewegung behindert durch die Form der Quantität; so gleicht sie der Flamme, welche durch die Einmischung von Feuchtigkeit in der Lebhaftigkeit ilirer Be- wegung gehemmt wird, oder der Luft, welcher trübende Nebel versagen, vom Glänze des Lichtes durchdrungen zu werden. Aber sie bildet das Mittel, durch welches die höheren geistigen Substanzen auf die Körper wirken ; von diesen wird sie bewegt ; jedoch belastet durch die Quantität und zu weit entfernt von der ersten Quelle aller Bewegung, ist sie nicht imstande selbst Bewegung mitzuteilen. Der Beweis dafür, dafs die Form der Quantität ein Hemmnis für die Bewegung der Körpersubstanz ist, wird aus der Erfahrung entnommen, dafs die Körper in dem Mafse, wie ihre Gröfse sich vermehrt, an Trägheit und Schwerfälligkeit zunehmen und ihre leichte Beweglichkeit ein- büfsen.^

7) A. a. 0. II, 14. p. 24.

166 ^^v Gabirol: Individuation.

Wenn der Mensch die Eigenschaften dieser Substanz der Körperlichkeit kennt, so kennt er auch die Zweckursache, durch welche die Dinge von der Potenz zum Aktus übergehen. Diese Annahme der Formen geschieht durch den göttlichen Willen, und die Erkenntnis der Körperwelt leitet auf die Kenntnis der höheren intelligibeln Substanzen hin und dadurch auf die Kenntnis des göttlichen Willens.^

Die Substanz der Körperwelt ist nicht räumUch sie haftet ja nicht am Baume, sondern an der nächst höheren intelligibeln Substanz , sie ist vielmehr die Trägerin der Räumlichkeit, der Ort der Quantität, in welcher der Itaum real existiert.* Es gibt aber nicht nur einen sichtbaren niedren Raum für die körperlichen Dinge, sondern auch das Urbild desselben, einen unsichtbaren höheren für das Geistige.*

In Wirklichkeit ist die ganze Welt eine einzige Einheit und ein Kontinuum, aber je weiter man von der absoluten und höchsten Einheit, in welcher es weder Anfang noch Ende, weder Veränderung noch Verschiedenheit gibt, zur Körperwelt herabsteigt, um so zerrissener und verworrener werden die Teüe, um so mehr verschwindet die Klarheit der einheitlichen Existenz. Durch die Verkörperung werden die Einheiten der Substanzen zusammengesetzt und geteilt, vervielfältigt, ver- dichtet und eingeengt, und man kann die Verschiedenheit der Einheiten in der Materie, welche dieselben trägt, sichtlich wahrnehmen. So sind z. B. die Teile des Feuers aufserordent- lich geeint, einfach und gleichartig, so dafs seine Form als eine einzige ohne Vervielfachung erscheint, während wir die Teile der Luft und des Wassers in viel gröberer Weise getrennt und zerstreut finden, so dafs ihre Teile und Einheiten vom Blicke durchdrungen werden können.* In gleicher Art hat man auch das Haften der Gröfse an der Substanz zu verstehen, indem sich nämlich die Einheiten vervielfachen und durch ihre Vereinigung die Gröfse bilden. Die einfachen Substanzen lassen keine Teilung zu; die Einheit kann nur geteilt werden durch die zusammengesetzte Substanz, welche ihr zum Sub- strat dient. Die Gröfse besteht wieder aus Einheiten, denen

* A. a. 0. II, 17—20. p. 25-27. « A. a. 0. II, 21. p. 28. 8 A. a. 0. II, 25. p. 30. * A. a. 0. II, 26, 27. p. 31-34.

Ibx Gabibol: Einheit der Materie. 167

allen die Form der Eiulieit gemeinsam ist, während sie sich nur durch ihr Substrat unterscheiden. Die Einheit bedingt das Wesen der Materie ; einer feinen imd einfachen Materie ist die Einheit konform und bildet mit ihr ein aktuell unteilbares Ding; einer groben Materie gegenüber ist die Einheit zu schwach, um sie zu einen und ihrem eigenen Wesen zu verähn- lichen; infolgedessen tritt die Trennung und Zerstreuung der Materie und die Vervielfältigung und Teilung der Einheit ein.^ Zwischen Gott und der Körperwelt mufs ein Mittleres existieren. Diese Vermittelung bilden die einfachen geistigen Substanzen, deren man im ganzen drei oder, wenn man will, fünf anzunehmen hat, nämlich der allgemeine Intellekt, die all- gemeine Seele, welche als vernünftige, vitale und vegetative BU unterscheiden ist, und die Natur. Jede folgende ist der vorangehenden untergeordnet, die Natur bewegt die Elemente, indem sie ihre Anziehung, Umwandlung und Ausscheidung bewirkt; die Körper haben keinerlei Bewegung in sich selbst.^ Des Aristoteles Begriff von Materie und Form, wonach jeder Gattungsbegriff für den allgemeineren als spezialisierende Form, für den engeren als zu bestimmende Materie angesehen werden kann, ist bei Ibx Gabirol mit Hilfe neuplatonischer Hypostasierungen und Emanationslehren zu einem metaphysischen System geworden, das offenbar vielfach an Scotus Erigexa erinnert. Daher wird auch, was bei jener Gelegenheit über das Denkmittel der Substanzialität zu sagen war, zum grofsen Teil auf Ibn Gabirol anwendbar sein. In andrer Hinsicht aber steht die Lehre Gabirols der Entwickelung des natur- wissenschaftlichen Denkens viel entgegenkommender gegenüber, nämlich durch die Annahme einer einzigen, allen geistigen wie körperlichen, himmlischen wie irdischen Dingen zu Grunde liegenden Materie. Ist auch diese Materie nichts Körperliches, sondern zunächst eine Beziohungsform zwischen Begriffen, so bildet sie doch ein gemeinsames Band zwischen allen Dingen und Teilen des Universums. Der innere Konnex der Dinge ist nicht mehr durch die Formen, sondern durch die Materie gewährleistet, und beide Prinzipien des Seins sind einander näher gebracht. Die Selbständigkeit der Materie ist ge-

» A. a. 0. II, 28. p. 35. = Ml-xk, MvUuujcs etc. p. 1I>0, -jGÜ

168 Das Buch Jezira.

wachsen, sie geht nicht erst in den sinnlichen Dingen zur Wirklichkeit über, sondern sie besteht vor den sinnlichen Dingen, sie ist zur Wirklichkeit aus dem göttlichen Wissen hervorgegangen. Hier liegt ein Ansatzpunkt fär .die Materiali- sierung der Substanz.

6. Die Kabbala.

Indem die Individuation der allgemeinen Materie als eine Einformung von Begriffen, gewissermafsen eine Vervielfältigung ursprünglicher Einheiten vorgestellt wird, bekommen auch die Einzelkörper eine Bestimmtheit aus jenen Grundeinheiten. Ist die Anzahl der letzteren beschränkt, so erscheint die Sinnen- welt als eine durch Rechnung auflösbare Kombination fester Grundformen. Hier darf an die Kabbala erinnert werden.

Das Buch Jezira^ welches schon im 10. Jahrhundert für ein altes Werk gehalten und dem Erzvater Abraham zuge- schrieben wurde, nimmt als allgemeine Grundprinzipien die 10 Zahlen und 22 Buchstaben. Diese 32 Dinge hat Gott zu- erst geschaffen und in die Luft (den Hauch, Spiritus) einge- zeichnet,^ welche dadurch in bestimmte Verhältnisse geteilt wurde ; aus ihnen hat er alle geistigen wie körperlichen Dinge zusammengesetzt und gebildet. Die Zahlen (Sephiroth) und Buchstaben finden sich somit auf der Grenze der intelligibeln und sinnlichen Welt und bilden ein begrenztes System von Prinzipien, aus denen das gesamte Universum in geheimnis- voller Weise sich zusammensetzt. Die Grundanschauung, dafs alle Dinge aus Zahlen und Buchstaben sich zusammen-

^ Das Buch Jezira liegt mir in lateinischer Übersetzung vor in y^Arüa Cahbalisticae scriptores". Herausg. v. Pistorius, Basileae 1582 und mit dem Kommentar von Rittanoelius, Amstelod. 1642. In ersterer heifst es Kap. 11 (p. 870): „Viginti duae Literae, Fundamenta, Tres matres: Septem duplices: Duodecim simplices: Tres matres, Emes: id est, aer, aqua et ignis. Aqua quieta, ignis sibilans, aer spiritus. Viginti duas literas sculpsit, ponderavit, trans- mutavit, composuit, et creavit cum illis omnem animam creatam et creandam. Viginti duae literae sunt sculptae in voce, incisae in spiritu, collocatae in prolatione, in quinque locis. In gutture, in palato, in lingua, in dentibus, in labiis." Vgl. noch Munk, Melanges etc. p. 34. Anm. 2, wo eine hierbinge- hörige Stelle aus dem (nicht edierten) Kommentar von B. Saadia Gaon ange- führt ist.

Eabbala. Alfarabi. Iß9

setzen lassen, so wie ja ihre sprachlichen Bezeichnungen aus einer begrenzten Zahl von Lauten entstehen, erinnert an das alte und viel gebrauchte Beispiel, dafs die verschiedensten Dinge ans den gleichen Atomen entstehen können, so wie die verschiedensten Worte aus den gleichen Buchstaben. Dieser Gedanke einer Zusammensetzung der Welt aus wenigen un- veränderlichen Elementen und die unverkennbare Beziehung der Lehre des Buches Jezira auf die p3i;hagoreische Zahlen- spekolation, die ihrerseits nicht selten mit der Atomistik in Yerbindong gesetzt worden ist, veranlassen die hier gegebene Erw&hnong der Kabbala, deren Einilufs während des Mittel- alters und auch später noch kein unbedeutender war. Die ftbrigen Lehren der Kabbala können jedoch übergangen werden. Die kabbalistische Anschauimgsweise ist eine phantasierende und der ganze Aufbau ihres Systems steht daher der streng wissenschaftlichen Entwicklung fremd gegenüber.

6. Ibn Roschd und die Araber.

Von andrer Seite als bei Ljn Gabirol führte der natura- listische Zug, welcher das arabische Denken auszeichnet, in den metephysischen Grundlagen der arabischen Phüosophie zu einer Betonung der Bedeutung der Materie als Weltprinzip. Falst auch Alfarabi (f 950), noch stark im neuplatonischen Ge- dankenkreise befangen, die Materie als Emanation Gottes, und zwar als die letzte der Emanationen, so sind doch die phan- tastischen Mittelwesen zwischen ihr und dem weltbildenden Intellekte, dem ersten Ausflusse Gottes verschwunden, und an die Stelle der Dämonen ist die Weltseele getreten, welche die Fixstemsphäre bewegt, und auf welche in bestimmter Rang- ordnung die Beweger der niedrigeren Sphären folgen. Aus dieser neuplatonischen Reminiscenz ist in Verknüpfung mit einer Andeutung des Aristoteles im 8. Kapitel des 11. Buches der Metaphysik ^ darüber, dafs die Anzahl der Planetensphären eine gleiche Zahl unbewegter, ewiger Substanzen bedingen dürfte, die charakteristische Leliro der arabischen Kosmologie hervorgegangen, dafs jede Sphäre eine bewegende Intelligenz

» p. 1073 a 29 bis 1073 b 1 (nach d. älteren Einteilung das 12. Buch\

170 Alfarabi. Ibn Sina.

besitzt, welche ebenso ihre Form ist, wie die Seele des Menschen als seine Form betrachtet werden kann. Diese Kette von Weltbewegem ist eingeschoben, um die Einheit Gottes mit der Vielheit der Materie zu vermitteLi; aber es ist ein astro- nomisches System zur Aushilfe des metaphysischen verwendet worden. So zeigt sich überall bei den Arabern die Neigung, beobachtete Vorgänge der Natur und physische Abhängigkeiten an Stelle der blofs logischen Inhärenz zu setzen und auf diese Weise dem Naturverständnis näher zu kommen. Im Gegensatz zu Alpababi nimmt Ibn Sina (980 1055), sich enger an Aristotelss anschliefsend, in Übereinstimmung mit diesem an, dafs die Materie gleich Gott von Ewigkeit her bestehe. Diese Annahme einer ewigen, unerschaiBFenen Materie bleibt von nun ab ebenfalls ein bemerkenswertes Eigentum der arabischen Philosophen, wodurch sie sich in Gegensatz zu der christlichen Scholastik stellen. In dieser Materie sind und das lehrt auch schon Alfababi Materie und Form aufs engste und notwendig verbunden, so dafs keine ohne die andre sein kann; nach Alfababi besteht z. B. die Form der vier Elemente in den ihnen eigentümlichen Bewegungen, weil durch dieselbe ihre Verschiedenheit hervorgebracht wird. Wenn aber Ibn Sina die Ewigkeit der Materie annimmt, zugleich mit der Einheit des nur auf das Allgemeine gerichteten thätigen Ver- standes Gottes, so bleibt ihm die Vielheit der Erfahrungswelt zu erklären übrig. Hier betont er nun in besonders lebhafter Weise das Prinzip der Individuation. Die Materie ist der Grund der besonderen Dinge, welche kein notwendiges, sondern nur ein mögHches Dasein haben, sie ist der Grund der Vielheit der Individuen; nur von Seiten der Materie kann ein Unter- schied zwischen sonst gleichen Individuen existieren.

Wir werden auf dem Gebiete der physikalischen Theorie Ibn Sina noch weiter zu erwähnen haben. In der Metaphysik be- sitzt den bedeutendsten Einflufs für die Ent Wickelung der Theorie der Materie der gröfste und letzte der arabischen Philosophen, Ibn RoscHD,^ geboren zu Cordova 1 126, gestorben in Marokko 1198.

^ Vgl. Renan, Äverroes et VAverroisme^ Paris 1861, und die erwähnten Geschichtswerke von Ritter : Christi. Fhilos. I S. 586 ff. Gesch. d. Phil, VIII. S. 115 ff. MiNK, Melanges S. 418 ff.

Ib5 Roschd: Eduktion der Formen, 171

Abistoteles ist für ihn der absolute Philosoph, welcher den höchsten Grad des menschlischen Denkens besafs, der erreicht werden konnte; zu seinen Schriften verfafste er ausführliche, in einigen dreifache Kommentare, so dafs man ihn schlecht- weg den Kommentator nannte. Als solcher war sein Einflufs anf die Scholastik ein weitreichender und bedeutungsvoller, insbesondere durch zwei eigenartige, aber nicht ohne Konse- quenz aus dem aristotelischen Systeme gezogene Anschau- migen. Es sind dies die Lehre von der Eduktion der Formen aus der Materie imd von der Einheit des speku- ktiven Verstandes in allen Menschen. Die letztere steht mit der ersteren in Verbindimg, insofern der allgemeine aktive Verstand nicht in den einzelnen Individuen den potenziellen oder materiellen Verstand hervorrufen könnte, wenn nicht in denselben die Disposition dazu läge. Da nun der Ver- stand nur die Formen erfassen kann, die Indi\H[duen aber durch die Materie bedingt sind, so müssen die Formen bereits in der Materie angelegt sein.

Da die Materie ebensogut ewig ist wie Gott, so kann nach Ibn Soschd nichts Neues geschaffen, sondern nur das Vorhandene in andren Verhältnissen in Bewegung gesetzt werden. Der "Weltbeweger (Gott) bewirkt daher nichts andres, ab dasjenige, was bereits in der Potenzialität vorhanden war, zur Aktualität zu führen. Neue Formen vermag er nicht zu erschafifen, da aus nichts nicht etwas werden kann, sondern alle Formen sind bereits in der Materie keimartig an- gelegt und werden nur von Gott durch Vermitteluug der höheren Formen zur Wirklichkeit entfaltet. Der ganze Welt- prozeÜB ist somit eine Bewegung, eine Entwickelung der schon vorhandenen Formen in neuen Anordnungen. Die Form kommt nicht mehr als ein Aufserliches hinzu, sondern die Bewegung der Sphären zuletzt also Gott läfst dieselbe aus der Potenzialität zur Energie kommen. Bei dieser Auffassung der Materie hat das aristotelische System der substanziellen Formen eine Wendung zu einheitlicher Weltauflfassung bekommen, welche der Entwickelung einer allgemeinen Theorie der Natur nur günstig sein konnte. Und in der That ist ja der averroistische Gedanke von einer zeitlichen Entwickelung der in der Materie ein für allemal angelegten Formen in immer neuer Gestalt

172

Ibn Boschd: Immanente Notwendigkeit.

wiedergekehrt. Die Formen werden zu Kräften, der Weltl weger wird beiseite geschoben und die Ewigkeit von St< und Kraft macht den Wechsel des Weltenlaufes aus.

Ibn Boschd selbst hebt die Notwendigkeit und Ewigkeit d Naturlaufs, die unveränderliche Herrschaft des Naturgeseta hervor. Die Seelen und die Gedanken selbst, als Form schon in der Materie angelegt, sind ebenfalls an den grofs Kreislauf gebunden, welcher den ganzen Weltprozefs bild( In Natur und Verstand kann nichts Neues entstehen, n Ewiges sich wiederholen und an veränderten Stellen auftrete „Daher darf auch die Wissenschaft des Menschen nicht i entstanden angesehen werden, noch darf sie jemals vergehe ja sie darf sich weder mehren noch mindern. Ist doch c ganze Welt ein System von ewiger Dauer. Die Sphären d Welt halten ihren beständigen Kreislauf inne; auch die Sphä des Mondes verändert ihre Bahn nicht; unaufhörlich hat \ den Lauf der irdischen Dinge bewegt, uns informiert, u darin wird kein Wandel eintreten.**^

Enthält schon diese Auffassung des Weltlaufs als eines sich selbst abgeschlossenen Bewegungsprozesses einen Hinw< auf die der Atomistik verwandte mechanische Weltauffassui so wird sie noch von besonderer Bedeutung für die Geschid der Naturerkenntnis durch die Aussicht, welche sie für die I forschung der Materie eröffnet. Denn so lange die Form aufserhalb der Materie standen, blieb diese für den Verstai der ja nur die allgemeinen Formen erfassen soUte, unbegre lieh. Liegen aber die Formen schon in der Materie selbst, werden wir ja auch dieselben Formen in uns selbst auffind und wir werden hoffen dürfen, einen durchdringenden Einbli in das innere Wesen der Materie zu gewinnen. Durch die Hoffnung mufs die Beschäftigung mit der Theorie der Mate: einen wesentlichen Aufschwung erlangen. Aus der gewiss« mafsen verächtlichen Stellung, welche die Materie in der Eei der Begriffe einnahm (eine Folge der neuplatonischen A schauung), wird dieselbe durch Ibn ItosCHD emporgehoben, i ist nicht mehr der tote Stoff, sondern der nur noch unbelel

* Ritter, Die christlidie PMosophie etc. I S. 599.

Ibk Boscbd: Interesse am Naturerkennen. 173

Eeim, welcher die gesamte Weltentwickeluug in sicli trägt, und die Erforschung derselben mufs als ein des Geistes wür- diger Gegenstand angesehen werden.

So fuhrt die Philosophie der Araber in ihrer glänzendsten Entwickelung auf eine Würdigung derjenigen Forschung, in welcher sie selbst bereits Bedeutendes geleistet hatten, der Natui*- Wissenschaft. Von allen arabischen Philosophen hat Ibn Boschd am sichtbarsten und wirksamsten die aristotelische Philo- sophie mit der eigentümlichen Bichtung des arabischen Geistes auf Welterkenntnis zu verschmelzen gewuüst und dadurch ein neues Lebenselement dem Abendlande zugeführt, die Wert- schätzung der Naturwissenschaften.

Nun mochte wohl, was praktische Verwertung der Wissen- schaften anbelangt, Heilkunde, Astronomie, Alchymie, der IgiTiflnP« dieser Disciplinen für die Gestaltung des Lebens von selbst ins Auge fallen, auch der Vorteil der Mächtigen und Beichen derselben bedürfen. Was es dagegen für einen Wert haben könnte, die reine Theorie der Naturerscheinungen zu betreiben, das liefs sich viel schwerer einsehen. In Theologie, Dialektik und Logik den subtilsten Grübeleien sich zu ergeben, besafs seinen guten Sinn; denn warum sollte der Geist nicht das Wesen des Geistes erkennen, mit welchem man es hier zu thun hatte? Aber den Vorgängen in der Materie nachzu- sinnen, die dunkle Nacht der stojßflichen Körperwelt lichten zu wollen, das mufste ebenso überflüssig imd vergeblich er- scheinen, als es dem theologischen Interesse gefährlich war. Darum war es für die Entwickelung der Naturwissenschaften von so grofser Bedeutung, dafs arabische Bildungselemente in die Einseitigkeit der christlichen Theologie eindrangen und lugleich mit der Physik des ARiSTOXEiiES auch die averroistische Anffassimg seiner Philosophie bekannt wurde. Denn Ibn Boschd sucht m zeigen, dafs die Körperwelt uns kein undurchdring- liches Geheimnis zu bleiben braucht, da sie selbst die Formen enthält, welche unser Geist zu erfassen vermag. Ibn Roschd weist die reale Welt, die uns rings umgibt und unser Leben in ihre wechselnden Wirbel hineinzieht, nicht von sich; er will ihren vollen Inhalt umfassen, sie bildet ihm ein Ganzes, dessen geschlossenem Kreise nichts Existierendes sich entziehen kann. Und so bürgert er den Gedanken wieder ein, dafs der

174 XaturwissenschafUiches Interesse der Araber.

Mensch ein Glied des Naturzusammenhanges ist; er arbeitet der weit vorgeschrittenen Entfremdung des Menschen von der Natur entgegen und streut fruchtbare Keime in den von der Theologie überwucherten Boden, die vorläufig noch durch Jahrhunderte langsam unter der Erde sich entwickeln, bis sie bei der Wiedererweckung der Naturwissenschaften sich lebens- voll entfalten.

Die Kontinuität wissenschaftlicher Bildung, im Abend- lande durch das Eindringen der erobernden germanischen Stämme unterbrochen, hatte im Orient sich erhalten. In über- raschender Anpassungsfähigkeit hatten die Araber mit der Gründung ihrer Weltreiche die Civilisation der unterworfenen Völker in sich aufgenommen und wieder nach dem Westen zurückgetragen. Von Spanien aus verbreitete sich durch jüdische und arabische Denker und Arzte der Einflufs gelehrter Bildimg und längst entschwundenen Wissens auf das christ- liche Europa ; und diese Erweiterung des Gesichtskreises baute sich nicht nur auf aus den Ergebnissen des griechischen Den- kens, sondern sie enthielt neue, der Wissenschaft des Alter- tums fremde Elemente, geflossen aus der Beobachtung eines phantasiereichen Naturvolks unter dem klaren Himmel seiner weiten Steppen, und aus der Priesterweisheit einer uralten Kultur, welche an den Ufern des Indus und Ganges den Ge- heimnissen der Schöpfung nachgesonnen hatte. Die Araber vereinten Orient und Occident. Ihr scharfer Verstand und ihre rege Auffassungsgabe, geübt an den Erscheinungen der Natur, die alltäglich und allnächtlich den Beduinen umgaben, erfafste mit gleicher Lebendigkeit die Theorien der Griechen wie die Phantasien der Inder. Ihr auf die Wirklichkeit des Lebens gerichtetes Interesse durchsetzte die abstrakte Meta- physik des Aristoteles mit konkreten Anschauungen. Und weil ihr Urteil mehr gegründet war auf die intuitive Eingebung des Augenblicks als auf analysierende ICritik, so vermochten sie die Geometrie des Archimedes, die Medizin Galens und die Metaphysik des Aristoteles ohne Schwierigkeit zu vereinigen mit der Zahlanschauung der Inder und der eigenen Weltkunde, die sie auf Kriegs- und Handelszügen sammelten. Ihr empirisches Wissen nahm unter dem Einflüsse der Schriften der Griechen rasch die Gestalt der Wissenschaft an. Solch internationalen

Das Irrationale. 175

TTrspxnngs sind Mathematik und Naturwissenschaften in Europa.

Mit dem Eindringen der arabischen Kultur im Abendlande und den alhnählichen Begungen des naturwissenschaftlichen Intereeses hat sich ein Wendepunkt in der Entwickelung der Wissensohaften eingestellt. Neben der Herrschaft der aristote- lischen Metaphysik beginnen sowohl Mathematik als empirisches Natnrwissen neue Anregungen zu bieten. Der Einflufs derselben anf die Gestaltung des Körperproblems ist zu erwägen.

Sechster Abschnitt.

Das Koiitiiiuitätsproblem.

1. Die Mathematik. (Oriechen, Inder, Araber.)

Indem Aristoteles es unternahm, die Unmöglichkeit des leeren Raumes nachzuweisen, um die Kontinuität der Materie mit derjenigen des Raumes identifizieren zu können, fand er nch in Bezug auf die Annahme der unendlichen Teilbarkeit des Baumes vollständig in Einklang mit dem Geiste der griechischen Mathematik, welcher eine solche als Grundsatz galt.^ Als die Pythagoreer den Begriff des Irrationalen ent- deckten, standen sie vor demselben als einem Mysterium, das mit den Schauern der Ehrfurcht erfüllt.* Das Irrationale (älo- füv) war zugleich das Unaussprechliche, Unbegreifliche, Bild- lose (ävedeov)} Diese Absonderung des Irrationalen von dem Rationalen zieht sich als ein charakteristisches Merkmal durch die ganze griechische Mathematik, der sie ihre Bedeutung und

^ SuPLicius, Comment. in lil>r. j}hys, Arisiot. cd. Bekker IV. p. 327 a 41. Deutsch bei Bbetscusosider, Geom. vor Eukl S. 102.

' S. das Pboklus zugeschriebene Scholion zum 10. Buche des Euklid. EndidM Elementa ed. Heibero Lips. 1888. T. V. p. 417, 11—20.

Über den Gebrauch der Worte tlovfiufiQoy (inkommensurabel), pjyror (rational) und äloyov (irrational) bei Ecklid vgl. Nesselmamn S. 1G5 ff. a. Cantob, GeseK d. M. I. S. 231.

176 Beschränkung der griechischen Mathematik.

ihre Beschränkung verleiht. Zahl and Gröfse sind bei allen griechischen Mathematikern völlig getrennte BegriflEe ; ^ sind die Seiten eines Rechtecks inkommensurabel, so hat das Pro- dukt ihrer Mafszahlen keinen Sinn.^ Das Irrationale gilt nicht als Zahl, und Euelides spricht dies ausdrücklich in dem Satze aus : „Inkommensurable Gröfsen verhalten sich zu einander nicht wie Zahlen. ***

Es ist dieselbe Denkart, vermöge deren die Hellenen den Schritt nicht thun konnten, das Irrationale imter die Zahlen aufzunehmen imd Zahl- und Baumgröfse in Verbindung zu setzen, welche in Platons Rationalismus zu Tage tritt, indem sie die sinnliche Anschauung als Erkenntnismittel ausschliefst. Nur die allgemeinen Begriffe sollten durch ihre verstandes- mäfsige Bearbeitung zur Wahrheit führen können, das unmittel- bar Sinnliche gab keine Erkenntnis des wahrhaft Seienden. Die Mathematik beschränkte sich selbst in einseitiger Weise. In jedem Beweise mufste aufs gewissenhafteste untersucht werden, ob die vorgeschlagene Hilfslinie möglich, die ange- nommene Konstruktion statthaft sei, der Anschauung der Figur blieb dabei nichts überlassen. Dadurch verschlofs man sich den Weg, zu einem befriedigenden Gebrauche des Stetigkeits- begriffs zu gelangen. Das Kontinuum in Baum, Zeit und Bewegung bedarf allerdings, um wissenschaftliches Hilfsmittel zu werden, einer begrifflichen Fixierung, aber dieselbe kann nicht durch das Denkmittel der Substanzialität allein unter dem Ausschlufs der Sinnlichkeit vor sich gehen. Vielmehr liegt die Lösung des Problems in der Erkenntnis der eigen- tümlichen Verschmelzung, in welcher die Gegebenheit in der Anschauimg mit dem Denken steht, und die Antinomie im Wesen des Kontinuums konnte daher auch nicht eher bewäl- tigt werden, als bis man die Gleichberechtigung von Verstand imd Sinnlichkeit in der Erzeugung der Erfahrung erkannt hatte. Das Denken führt notwendig zu den Widersprüchen, welche Zeno klar gelegt hatte, wenn man nicht einen neuen Begriff gewinnt für dasjenige, was der Anschauung unmittelbar als konti-

» S. Hankel, Gescih, d. M. S. 102.

' Vgl. H. Vogt, Der Gremhegriff in der Elemeniarmathematiky Breslau 1885. S. 49.

8 EUm. X, 7. Ed. Heibero III p. 23.

Griechische Mathematik: Zahl. 177

nnierliche Veränderung zugänglich ist. Aristoteles empfand dies wohl, wenn er sagte, dafs Sich-bewegen kein Zählen sei, denn ersteres gehe stetig, letzteres diskontinuierlich vor sicli.^ Aber er wollte trotzdem den Begriff der Bewegung unter Ab- lösung von der Anschauung durch das Denken allein erfassen, ohne jenen neuen Begriff zu besitzen, und schied daher die stetige Baumgröfse prinzipiell von der diskreten Zahlgröfse.^ Die griechischen Geometer schliefsen aus ihren Beweisen die Anwendung der stetigen Bewegimg aus.

Wir finden somit die griechische Mathematik auf die geometrische Konstruktion und die Aufsuchung von Verhält- nissen zwischen geometrischen Gröfsen beschränkt. Geometri- sches lä&t sich nicht durch Arithmetisches beweisen, aufser in gewissen Fällen, wo die Gröfsen Zahlen sind ; arithmetische Beziehungen werden allerdings geometrisch versinnbildlicht, wenn die Zahlen als kommensurable Strecken darstellbar sind.' Im allgemeinen aber handelt es sich in Geometrie und Arith- metik um ganz verschiedene Gegenstände. Der Übergang von der einen zur andern ist eine fisrdßaatg slq a/2o yfvoc. Das ist ein Satz des Aristoteles.* Daher war es den Griechen unmöglich, zu einem Begriff des Unendlichkleinen zu gelangen, welcher eine fruchtbare und positive Grenzmethode zugelassen hätte. Probleme, welche auf eine solche hätten führen können, sind vielfach von ihnen behandelt worden, sie beginnen schon mit dem Gedanken des Antiphon, den Kreis zu erschöpfen, indem er über den Seiten des eingeschriebenen Quadrats gleich- schenklige Dreiecke beschreibt, über deren Seiten desgleichen, und so fort; und Bryson gelingt es bereits durch Anwendung des umschriebenen Polj'gons eine obere Grenze zu finden. Aber die Annäherung an den wahren Wert vermittels der sogenannten Exhaustionsmcthodo wird niemals durch einen wirklichen Grenzübergang erreicht. Die Lehre von der Pro- portionaUtät der Seiten ähnlicher Figuren, die Quadratur des Kreises, selbst die berühmte Quadratur der Paral)el durch Archimedes, welche auf ein rationales Resultat führt, werden

* Be lin. insecab. p. 969 b. 2. « A. a. 0. p. 9G9a. 12—17.

* So in Euklids Elementen, 7., 8. u. 9. Uuch. S. Vüot, a. a. O. S. 4«, 49.

* Anal posL I, 7. p. 75b, 3 ff.

Lahwits. 12

178 Griechische Mathematik: Gleichheit.

in der Weise behandelt, dafs gezeigt wird, wie die Abweichung des gesuchten Verhältnisses von einem bekannten rationalen kleiner gemacht werden kann als eine beliebig kleine Zahl; aber dazu wird immer noch ein apagogischer Beweis gefügt, dafs das Verhältnis der die krumme Fläche erschöpfenden Polygone nicht gröfser oder kleiner sein könne als das der Flächeninhalte der krummlinigen Figuren. Und dieser Beweis wurde in jedem einzelnen Falle ausführlich wiederholt.^ Nie- mals konnten sich die griechischen Mathematiker entschlieJDsen, den Rest, von welchem bewiesen war, dafs er beliebig klein gemacht werden konnte, als eine wirklich verschwindende Gröfse anzuerkennen. Dieser Grenzbegriff der gegen Null konvergierenden Gröfse war ihnen fremd. Zwischen dem durch eine endliche, wenn auch noch so kleine Zahl ausdrückbaren Unterschiede und der Gleichheit geometrischer Figuren war eine unüberbrückbare Kluft, welche wohl durch einen indirekten Beweis umgangen, aber nicht im geraden Anlauf übersprungen werden konnte. Denn in der Zahl gab es keinen stetigen Übergang von der Ungleichheit zur Gleichheit, Zählen ist ja keine Bewegung. Wäre nicht die Anschauung als Erkenntnis- mittel ausgeschlossen gewesen, so hätte dieser Übergang zur Grenze nahe gelegen. In der sinnlichen Erfahrung macht es nichts aus, ob zwei Gröfsen absolut gleich sind, oder ob ihr Unterschied nur unterhalb der Grenzen der Wahmehmbarkeit liegt. Das Denken allein kann zu einer Gleichsetzung zweier verschiedener Gröfsen nicht gelangen, wenn es hierzu den erschöpfenden Weg einschlagen mufs, den Unterschied immer und immer wieder durch Teilung zu verringern; denn dieser unendliche Progrefs ist nicht ausführbar. Es kommt darauf an, ein Denkmittel zu gewinnen, den in der Anschauung vollzogenen Akt der Gleichsetzung auch im Denken zu formulieren, ohne den unendlichen Progrefs zu vollziehen. Dieses Denkmittel eröffnet sich im Infinitesimalbegriff. Aber derselbe schliefst die Vorstellung der Bewegung ein, wie er auch zugleich die angeschaute Bewegung erst begrifflich fixieren lehrt. Er macht die blofse empirische Vernachlässigung des sinnlich nicht mehr erkennbaren Unterschieds zur begrifflichen Gewifsheit des

» Hakkel, a. a. 0. p. 125 f. Caktor, p. 190. 262 u.a.

Exhaustions- und Grenzmethode. 179

Verschwindens, indem er eine neue Definition der Gleichheit {gestattet. Diese beruht darauf, dafs die Gröfse nicht als eine fertige, wie unter dem Denkmittel der Substanzialität, betrachtet wird, sondern als eine werdende, gegeben durch ein Gesetz des Werdens. Gleich ist dann dasjenige, was unter gleichem Gesetze entsteht, was durch dieselbe Bedin- gung des Werdens gegeben ist. Dieses Verfahren des Denkens ist unbeschreibbar und nicht ableitbar aus demjenigen Verfahren, welches in der blofsen Analyse der gegebenen Gb^fse besteht; denn diese Analyse kommt eben zu keinem Ende, sie hat das einmal Gesetzte in neuen und immer neuen Teilen vor sich. Die Exhaustionsmethode war ein solches analytisches Verfahren, bei welchem niu: zuletzt nachgewiesen wnrde, dals das erhaltene Resultat richtig ist. Die Grenz- methode dagegen ist positiv synthetisch. Sie setzt durch einen besonderen Denkakt die Grenze; ebenso setzt sie den Punkt während seiner Bewegung auf der Linie. Wie der Substanz- begriff die Realität eines als seiend Gegebenen fixiert und er- kennen lehrt, so fixiert der Infinitesimalbegriff die Realität eines Veränderlichen und läfst das Werdende als werdend erkennen. Das sinnliche Zeichen des Werdenden aber ist die Empfindung, für sie hatte der Grieche keine Wissenschaft. Das Denkmittel der Substanzialität erfafste nur das Seiende. So blieben die Figuren starr im Kontinuum des Raumes, die Zahl starr in ihrer Diskontinuität, einen Übergang gab es nicht. Das Kontinuum selbst wurde nicht durch Bewegung erzeagt, sondern es war das, dessen Teile so beschaffen waren, dafs der Anfang des einen Teils das Ende des andren bildete. Das ist ebenfalls eine analytische, keine synthetische Definition. Der Mangel der begrifflichen Beherrschung des Kontinuums schied nicht nur Geometrie und Arithmetik voneinander, son- dern er richtete auch innerhalb der Wissenschaft der stetigen Banmgröfse eine trennende Schranke auf zwischen der geraden und der krummen Linie, der ebenen und der gekrümmten Fläche. Der Begriff der Länge einer geraden Linie läfst sich diu'ch das Verhältnis derselben zur Einheit definieren; was es aber heüsen soll, dafs eine krumme Linie ein Verhältnis zu einer geradlinigen Mafseinlieit besitze, kann man nicht absehen, denn letztere ist auf der ersteren nicht abtragbar. Das Problem

12*

ISO GröÜBe und Richtung.

der Eektifikation macht das Fehlen eines Denkmittels deutlich erkennbar, welches alle Arten des Kontinuums durch Fixierung des Gesetzes ihrer Erzeugung beherrschen und den Begriff der Länge auch noch bei einer Bichtungsänderung der Linie festhalten läfst. Es bedarf eines besonderen Grund- satzes, welcher besagt, wodurch die Länge einer krummen Linie bestimmt, die Vergleichbarkeit gekrümmter und gerader Linien ermöglicht werden soll. Euklid hat daher zwar Sätze aufstellen können, dafs die Flächen der Blreise sich ver- halten wie die Quadrate, die Volumina der Kugeln wie die Kuben ihrer Durchmesser, weil es sich hier um die Verhältnisse von Flächen zu einander, resp. von Körpern zu einander handelte; aber er hat keinen Satz aufgestellt, dafs die Peripherien der Kreise sich wie ihre Durchmesser, die Oberflächen der Kugeln wie die Quadrate ihrer Durchmesser verhalten, weil es ihm an einem Grundsatz gebrach, dem Verhältnis einer krummen zu einer geraden Linie, einer Kugelfläche zu einer ebenen Figur einen Sinn beizulegen.^

Der erste unter den alten griechischen Mathematikern, welcher den Versuch machte, diese Schwierigkeit zu bewältigen, Gerades und Krummes demselben, durch die gleiche Mafsein- heit bestimmbaren Gröfsenbegriff zu unterwerfen, war Archimedes (287 212 v. Chr.); mit Recht wird er daher der modernste unter den antiken genannt. Er stellt für die Gröfsen- vergleichung von krummen und geraden geometrischen Gebilden ein besonderes Postulat auf, indem er fordert, dafs von allen Linien mit gleichen Endpunkten die gerade die kürzeste ist, und jedesmal diejenige die kleinere, welche von der andren ganz oder teilweise umschlossen wird; entsprechendes nimmt er von den Flächen an.^ Auch zeigt sich die ganze Schärfe seines Verfahrens in der ausdrücklichen Voraussetzung, dais dieser Überschufs der einen Gröfse über die andre eine end- liche Gröfse derselben Art sei, indem Archimedes ausspricht, dafs die Differenz durch wiederholte Setzung müsse gröfser gemacht werden können als jede der verglichenen Gröfsen.*

^ Vogt, a. a. 0. S. 42.

* De spJiaera et cylindrOy Postulata 1—4. Ed. Heibero, Lips. 1880. I, p. 8, 10. Deutsche Übersetzung von Nizze, Stralsund 1824. S. 44.

A. a. 0. Postulatum 5.

Abchimedrs: Messung der krummen Linie. 181

Hierdnrch vermochte er knimme Linien imd Oberflächen durch

Längen und ebene Figuren zu messen und zu seinen berühmten

S&tzen zu gelangen, durch welche er die Oberfläche der Kugel

und Kugelkalotte und den Mantel des Cy linders durch die

Kreisfläche auszudrücken lehrte. In der That hat hiermit

Abchijcedes einen Schritt zur methodischen Erweiterung der

griechischen Mathematik gethan. Sein Kommentator Eütokius

glaubt ihn besonders deshalb rechtfertigen zu müssen, dafs er

die Kreisperipherie gleich einer Länge setzte, und bei Archi-

MEDES selbst sieht man an der aufserordentlichen Vorsicht, mit

welcher er jeden Schritt unternimmt, dafs er sich der Neuheit

des Grebietes bewufst war, auf welchem er sich bewegte.

Almlich wie die Entdecker der Differenzialrechnung erstaunt

er über die Fruchtbarkeit der eigenen Methode, und deshalb

legt er keiner seiner Entdeckungen mehr Wert bei, als

derjenigen über die Kugel und den ihr umschriebenen

Cylinder. Diese Figuren sollten auf seinen Grabstein ge-

meüselt werden; Cicero erkannte daran das Grabmal des grofsen

Denkers.^

Aber so tief und schwierig ist das Problem der Bewältigung des Kontinuitätsbegriffs, dafs selbst der freie Genius eines Archimedss nicht über diesen ersten Anfang hinauskam. Inner- halb der Baumgröfse gelang es ihm, einen gemeinsamen Be- griff fär die gerade und krumme Linie als kontinuierliche Oröfse zu ermitteln; aber das war nur eine einzelne Seite des allgemeinen Problems der Veränderung, nur diejenige, welche rieh auf die Veränderung der Richtung bezog. Er fand ein Verfahren, den qualitativen Unterschied zwischen Gerade und Snunm als einen quantitativen der Extension zu erfassen, aber im letzten Grunde beruht die Berechtigung seines Postulats doch auf einem kühnen Vertrauen in die Aussage der An- schauung, nicht auf einer begrifflichen Sichenmg durch ein neues Denkmittel für die kontinuierliche Veränderung. Die &ewi£sheit seiner Sätze suchte er vielmehr wieder in der An- wendung der Exhaustionsmethode, bis zur Einführung des Un-

^ Die Existenz ecliter syrakusanischer Münzen mit den angegebenen Figuren ist» vie mir von sachkundigster Seite mitgeteilt wird, durchaus zu bestreiten.

1^2 Gerade und krumm.

eiidlichkleinen wagte er sich nicht vor.^ Immerliin kann man das Verdienst nicht hoch genug anschlagen, welch 3S in dem Zugeständnis liegt, das Archimedes der Anschauung machte, indem er die Lage und Gestalt der Linie über ihre Gröfse entscheiden liefs. Denn ohne eine solche Einsicht, dafs im Kontinuum des Raumes eine Beziehung besteht zwischen der gesetzlichen Veränderung der Richtung und der Gröfse einer Linie, wäre es unmöglich gewesen, jene Beziehung durch einen BegriflF zu fixieren, wie es der Lifinitesi- malrechnung gelang. Deshalb beansprucht Archimedes einen Platz unter denjenigen, welche das neue Denkmittel zur Be- wältigung der kontinuierlichen Veränderung vorbereiten, ob- wohl er selbst noch unter demjenigen der Substanzialität steht. Es giebt vielleicht wenige Fälle, an denen so deutlich wie bei der einfachen Aufgabe, eine krumme Linie durch eine gerade zu messen, die realisierende Macht des Begriffs hervor- tritt, an denen man so klar erkennen kann, dafs nicht die alltägliche sinnliche Erfahrung, sondern das methodische wissen- schaftliche Denken darüber entscheidet, was Natur ist und als Wirklichkeit die Schicksale von Jahrtausenden bestimmt. Nichts scheint leichter als den Umfang eines Baumstammes zu messen, indem man eine Schnur darum legt ; aber von diesem trivialen Experiment hängt für die Kulturentwickelimg nichts ab, die Empirie des Zimmermanns enthält keinen weltbewegenden Faktor. Wenn dagegen der hellenische Geist die Sicherheit dieser Messung festzustellen sucht, wenn er sich fragt, welcher Begriff die Gewifsheit verbürgt, dafs Krummes eine Länge besitze, wenn er in dem ganzen Lihalt des Bewufstseins kein Mittel findet, welches die krumme und die gerade Linie nicht durch die Unzuverlässigkeit der Sinne, sondern durch das Ewigseiende eines mathematischen Gesetzes vergleichbar macht, dann trennt sich ihm das Gerade und das Krumme als etwas im innersten Grunde Unvereinbares, dann scheidet Ari- stoteles die geradlinige und die krummlinige Bewegung als

^ Es mag hierbei erwähnt werden, dals Archimedes nach der Richtung des Uuendlichgrofsen durch seine Ausführungen über die Darstellbarkeit beliebig grofser Zahlen in seinem F^ammites (Ed. Heibero, II p. 243 flf.) dem Verständ- nis der Relativität des mathematischen Unendlichkeitsbegriffs vorge.arbeitet hat. Vgl. Cantor, a. a. 0. S. 267 und S. Günther. Math, im Altertum. S. 20, 21.

Erweiterung des Zahlbegriffs. 183

das, was Erde und Hiinmel charakteristisch sondert, und baut über der sublunaren Welt die Ewigkeit der coelestischen. Und hier ist eine Realität geschaffen, welche die Menschheit be- herrscht, so lange das Denken den vermittelnden Begriff nicht findet. Die Herrschaft der Kirche und die Hoffnung der Gläubigen hängt an dieser Unterscheidung, das Heil der Menschheit scheint zu wanken, wenn jene absolute Trennung bezweifelt wird, um Bruno flammt der Scheiterhaufen und Galilei fallt in Bufse und Siechtum.

Was Archimedes in beschränkter Weise versuchte, galt es von einem allgemeineren Standpunkte aus zu erreichen zu verstehen, dafs nicht blofs die Veränderung der Richtung, dafs die Veränderung der Dinge überhaupt als eine Art der Gröfse darstellbar sei. Die Vorbereitung zur Lö- sung dieser Aufgabe lag zunächst in der Erweiterung des Zahlbegriffs. Das Kontinuum des Raumes, welches zugleich das der Materie war, mit jenem in eine Verbindung zu setzen, das war das Problem, wovon der Fortschritt der Wissenschaft abhing. Man hat versucht, den Raum ebenfalls diskonti- nuierlich zu fassen. Aber dies ist nicht der Weg, auf welchem die Übereinstimmung hergestellt werden konnte. Es wäre die Überspannung des Denkmittels der Substanzialität, wie sie sich auch im Monadenbegriffe zeigt, bei Bruno durch eine Substanzialisierung des Raumes, bei Leibxiz durch die Substanzia- Usierung der Bewegung als Kraft. Vielmehr kommt es darauf an, die Kontinuität des Raumes dem Denken zu unterwerfen, 80 dafs dieselbe fafslich und darstellbar wird. Der einzige Weg dazu ist der, die Diskontinuität der Zahl aufzuheben. Die Zahl mufs flüssig gemacht werden, damit sie mit dem Raum und der Bewegung unter den gleichen Begriff des Werden- den gebracht werden könne. Diesen Sprung vom Diskreten zum Stetigen zu wagen, die Zahl beweglich zu machen, das Irrationale in die Reihe der veränderlichen Zahlen aufzunehmen, dazu war das griechische Denken nicht imstande. Die Schärfe der Dialektik hat die Mittel der Erfahrung zorrissen; die Ma- terie war untrennbar vom Räume, also stetig; die Zahl war unstetig, also mit jenen nicht vereinbar. Das ist die Grenze der griechischen Wissenschaft.

Es gab ein Volk, in welchem diese dialektische Trennung

184 Indische Mathematik.

niemals vollzogen war, und doch die Arithmetik blühte. Eben- so abgeneigt der Schärfe hellenischer Begriffsanalyse wie hoch- begabt für die unmittelbare Anschauung und die intuitive Er- fassung des Gegebenen, haben die Inder durch ihr eminentes Zahlentalent eine eigenartige Mathematik entwickelt^ welche die griechische Geometrie zu ergänzen berufen war. Wie die Griechen die geometrische, so sind die Inder die arithmetische Nation, so dafs man in den überUeferten Schriften geradezu die Bestandteile nach ihrem griechischen oder indischen Ur- sprünge unterscheiden kann, je nachdem die Betrachtung geo- metrisch oder arithmetisch geführt ist.^

Obgleich man als sicher annehmen darf, dals gegenseitige Beeinflussungen der griechischen und indischen Mathematik Jahrhunderte hindurch bestanden haben, so hat sich doch zweifellos die indische Mathematik, insofern sie Rechenkunst ist, durchaus selbständig entwickelt, ihrem Charakter und ihren Resultaten nach von der griechischen verschieden. Die wissenschaftliche Algebra allerdings bei Diophant ist griechisch, aber die Art und Weise, in welcher wir heute die Anwendung der Zahlenrechnimg auf Geometrie behandeln, ist indischen Ursprungs.*

Bekanntlich ist die Null, durch welche das System des Stellenwerts der Ziffern ermöglicht wurde, eine indische Er- findung ; bei Brahmagupta finden wir die Einführung negativer Glieder bei den quadratischen Gleichungen, die Diophant noch fremd war ; Bhaskara kennt die Doppelsinnigkeit der Wurzeln, vor allem aber vollzogen die Inder die Emanzipation von den rationalen Zahlen.^ Sätze wie

r a ± Vh =V a + b±2 Vab

haben bei ihnen rein algebraischen Sinn bekommen, das Irra- tionale steht mit dem Rationalen auf gleicher Stufe, es ist zur

* Cantor, a. a. 0. I. S. 622, 623, 626.

* Hankel, a. a. 0. S. 203 £f.

^ „Wenn sich Diopuant", sagt Hankel a. a. 0. S. 194, „bereits von jeder geometrischen Interpretation seiner Regeln zur Verknüpfung zusammengesetzter Ausdrücke freigemacht hatte, so waren doch seine Operationen ausdrücklich auf Zahlen, d. h. rationale Gröfscn beschränkt.'' Diese Beschränkung kennt der Inder nicht.

Indische und arabische Mathematik. 185

ZaU geworden. Es ist dies freilich nicht die gröfste Leistung der indischen Mathematik, welche vielmehr in ihrer Trigono- metrie und ihrer unbestimmten Analytik zu suchen ist; aber es ist der Punkt, welcher für die Entwickelung der theore- tischen Naturwissenschaft von gröfster Bedeutung ist. Hier liegt die Überwindung der griechischen Einseitigkeit, eine Be- trachtongsart der Zahl, ohne welche die Entstehung der höheren Analysis und die Entdeckung des Infinitesimalbcgriffs nicht möglich gewesen wäre. Schon bei den Indem zeigt sich die zahlenmäfsige Auffassung des Raumes fruchtbar in ihrer Trigonometrie. Während der Grieche die Winkel durch die Verhältnisse gerader Linien bestimmt, denkt sich der Inder den Kreisradius sowie andre gerade Linien krummgebogen ^ und tmtersucht direkt, wieviel Grade und Minuten dieselben auf dem Kreisbogen einnehmen; so findet er den Badius gleich 3438 Minuten. Eine derartige Vorstellung setzt die Auffassung der Figuren als beweglich voraus und verschmelzt Krummes und Gerades, Irrationales und Bationales in einer Weise, welche dem Griechen als ein Widerspruch erscheinen xnüiste.

Wer aber brachte die indische Mathematik, welche aus direkten Quellen erst in neuerer Zeit bekannt geworden ist, vereint mit der griechischen Geometrie dem Abendlande und übermittelte dadurch demselben ein viel fügsameres Instrument für die Naturerfassung, als es die starre Geometrie der Griechen allein gewesen war, wenn auch dieses Instrument noch lange Jahre rosten sollte, ehe man Gebrauch davon zu machen verstand? Wieder sind es die Araber, welche auch hier die Gedanken- arbeit des Altertums mit einer Wendung überlieferten, die sie für das Naturwissen zugänglicher und brauchbarer machte, ebenso wie sie die aristotelische Metaphysik durch die materia- listischen Züge Ibn Boschds für die Erkenntnis des Naturzu- sammenhangs gelockert hatten.

Das Verdienst der Araber besteht in dieser Arbeit der Überlieferung und Verschmelzung.^ Sie betrieben die Mathe-

* Arcufication nennt Cantor, a. a. 0. S. 559, diesen Prozefs,

" Näheres darüber b. in den Werken über Geschichte der Mathematik,

Hansel S. 234, Caätor, S. 223. Auch Leclebc, Hist de la mid, I. p. 22*2 f.

SiDiLLOT, Matiriaux.

186 I^fts Kontinuum in der Scholastik.

matik hauptsächlich aus praktischem Interesse, namentlich wegen der Astronomie. Produktiv zeigten sie sich daher eigent- lich nur in der Rechenkunst und in der Trigonometrie. Durch ihre Berührung mit den Indern fanden sie Gelegenheit, den- selben die unmittelbare Anwendung der Algebra auf Geometrie und die gleichartige Behandlung der irrationalen und rationalen Gröfsen zu entlehnen. Sie haben dadurch, dafs sie sowohl geometrische als trigonometrische Sätze durch Formeln aus- drückten, uns eine wesentliche Vereinfachung der mathema- tischen Operationen geboten. Aber dafs in dieser indischen Methode ein Fortschritt lag, haben sie nicht erkannt. Vielmehr zeigt sich bei ihnen die Neigung, die Trennung zwischen Zahl und stetiger Gröfse wieder herzustellen, je mehr sie die griechische Mathematik und die strenge aristotelische Begriffsscheidung kennen lernten.

2. Das Eontinnnm in der Scholastik.

Während im Beginn des 13. Jahrhunderts das Abend- land in den Besitz der wichtigsten mathematischen Kennt- nisse des Altertums durch die Vermittelung der Araber gelangt ist, während Leonardo von Pisa und Jordanus Nbmo- KARius das vorhandene Material zu beherrschen und zu ge- brauchen lehren, läfst die Metaphysik des Aristoteles in der Philosophie einen Einflufs des in der Mathematik freier beweg- lich gewordenen Zahlbegriffs noch nicht aufkommen. Aber doch bemerkt man in den Streitigkeiten der Scholastiker, dafs der Begriff des Kontinuums einer unausgesetzten Bearbeitung unterliegt, und dafs hierbei mathematische Zweifel und Über- legungen eine wesentliche Rolle spielen. Die Frage, ob das Kontinuum aus unteilbaren Punkten bestehe oder nicht, kehrt in allen Kommentaren zu den Büchern über die Physik, über den Himmel imd über Werden und Vergehen wieder und findet zum Teil im Gegensatze zur Lehre des Aristoteles die weit- läufigste Erwägung. Die Litteratur darüber ist eine äufserst umfangreiche. Es mag versucht werden, daraus die wichtigsten Punkte zusammenzustellen, um zu erkennen, in welchem Zu- stande die Scholastik das Problem der Kontinuität überlieferte, als dasselbe von Seiten der Korpuskulartheorie zu Gunsten

D. Kontiuuam i. d. Scholastik: Aktuelle Punkte. Ig7

eines neuen Begriffs des Körpers unter verändertem Gesichts- pnnkte betrachtet werden mulste.

Aristoteles hatte erklärt, dafs im Kontinuum zwar un- endlich viele Punkte enthalten seien, aber nur der Möglichkeit nach (potentia), so dafs das Kontinuum zwar in jedem Punkte teilbar sei, aber nicht in Wirklichkeit (actu) geteilt werden könne, noch aus Unteilbaren bestände.^

Wenn nun auch Aristoteles überhaupt bestreitet, dafs es im Kontinuum etwas Unteilbares gebe, so glaubt doch die Mehrzahl der Scholastiker im Gegensatz zu ihm annehmen zu müssen, dafs im Kontinuum unteilbare Punkte reell und positiv bestehen. Zwar herrscht auch in dieser Frage keineswegs Einstimmigkeit im einzelnen, aber in der Hauptsache sind die Häupter der Schule einig, Thomas von Aqcino und Duxs Scotus stehen hier auf derselben Seite. Man beruft sich schon auf die älteren Ausleger des Aristoteles, wie Philoponus, Themistius und Simpliciü!?, imd weifs eine grofse Keihe neuerer Autoritäten zu nennen. Sachlich wird die Annahme dadurch begründet, dafs eine Reihe von That- sachen und Erscheinungen in Mathematik und Philosophie ohne die Existenz unteilbarer Punkte nicht zu verstehen sei. Eine vermittelnde Stellung nimmt Funseca ^ ein, indem er zwar der Fläche als Begrenzung des Körpers eine physische und reale Existenz, der Linie und dem Punkte aber nur mathe- matische und ideelle Geltung zuschreibt. Die Nominalisten dagegen fassen das Unteilbare lediglich als Privation, den Punkt als Negation der Linie, die Linie als Negation der Breite, d. h. der Flächenerstreckung, die Fläche als Negation der Tiefe, d. h. der körperlichen Ausdehnung. Sio stehen dem- nach hier auf Seite der reinen aristotelischen Lehre.

Mit der Bejahung der Existenz indivisibler Punkte im Kontinuum ist aber keineswegs die Frage bejaht, ob das Kon- tinuum aus Punkten bestehe. Dies wird vielmehr, wie sogleich weiter zu entwickehi, fast einstimmig von der Schule mit Aristoteles verneint.

Wir sammeln zuerst die Hauptpunkte für die erstere

* S. S. 104. Vgl. auch Lih. de Utms insvcah. p. 9G8 ff. ' Comment in Mvtaph. Ar ist. lib. II c. lu. quacst. 6.

188 ^^ Eontinaum i. d. Scholastik,

Frage.' Zunächst kann man annehmen, dafs die indivisiblen Punkte nur potentia bestehen. Wenn sie aber poientia bestehen, so können sie auch in den actus übergeführt werden. Dies kann entweder nur durch die AUmacht Gottes geschehen ; oder man kann auch annehmen, dafs sie in den Körpern acta be- stehen oder erzeugt werden. Eine derartige Überfuhrung in den actus ist auf dreierlei Weise denkbar. Erstens könnte sie durch die reale Zerlegung der Körper geschehen mittels phy- sischer Kräfte; dadurch kommen ja Flächen wirklich zum Vorschein, die bisher nur der Möglichkeit nach vorhanden waren. Wie nun aber die Flächen durch Zerlegxmg der Körper, so können wenigstens durch göttliches Vermögen auch Flächen und Linien zerschnitten werden, so dafs Linien und Punkte als Grenzen hervortreten. Zweitens findet eine Über- führung zur Wirklichkeit bei der Bildung von Figuren statt, wenn z. B. Körper ohne Ecken, wie die Kugel, in eckige Körper, wie den Würfel, verwandelt werden, so dafs Eck- punkte zum Vorschein kommen. Drittens werden Flächen, Linien und Punkte erzeugt durch die Designation des Denkens, wenn, wie dies in der Mathematik geschieht, eine eckenlose Figur durch Flächen und Linien zerlegt wird.

In jedem Falle ist wieder eine doppelte Ansicht möglich; es können nämlich die unteilbaren Punkte entweder nur als Endpunkte anerkannt werden, oder als kontinuierende im Zu- sammenhange der stetigen Gröfse. Endlich kann man auch die Indivisiblen sowohl unter sich, als von der körperlichen Masse realiter unterscheiden, oder auch den Punkt als Modus

^ Die Entwickelung dieser l'/ehre innerhalb der Scholastik bei den einzelnen Autoren zu verfolgen, wäre eine Aufgabe für die Geschichte des Eontinnitäts- Problems. Die Geschichte der Korpuskularphilosophie mnfs sich darauf be- schränken, das Gesamtresultat der mittelalterlichen Spekulation über das Eon- tinuum kennen zu lernen, wozu die ausführlichen Eommentare zn Aristoteles und die Hauptschriften der bedeutendsten Lehrer ausreichen. Es sind im Folgenden hauptsächlich benutzt: D. Fbancisci Tolbti S. J. Commentaria i. Uhr, phys, Arist Colon. Agripp. 1615. lib. 6. c. 2. p. 168 b— 175 a. Collegii Conirabricensis Soc. Jes. in 8. Ubr. phys. Arist Colon. 1596. T. L 1. 6. c. 2. p. 222—236. Vgl. dazu Süarez, Meiaph. disput Venet. 1605. T. II. p. 368 ff. und die Auszüge von Baumakn, 1 Bd. S. 19 ff. Für die Werke von Thomas dient die Ausgabe* Opera omnia^ Venet. 1593. Fol.

Bealität des Indivisiblen i. d. Scholastik. ls9

der Linie, die Linie als Modus der Fläche, die Fläche als Modus des Körpers betrachten.

Dafs Flächen, Linien und Punkte wahrhafte und positive Wesen sind, welche in der Grölise rmliter existieren, dafür werden mannigfaltige Gründe beigebracht. Der Punkt kar.n nicht weiter teilbar sein, weil ja die Teile des Kontinuums mit ihren gemeinsamen Grenzen zusammenhängen sollen ; wäre nun der Punkt noch teilbar, so würde er als Teil des Konti- nuums nicht als ein Ganzes und Einfaches, sondern gemäfs seinen einzelnen Teilen jedem Teile des Kontinuums gemein- sam, also keine Grenze sein.^ Etwas Positives aber mufs er sein, weil er als blofse Negation weiterer Erstreckung die Kontinuität an dieser Stelle abschneiden und aufheben würde.

Für die Realität der Indivisiblen sprechen zahlreiche phy- sikalische Thatsachen, vornehmlich für die der Fläche, aber auch für die der Punkte. Die Oberfläche mufs schon darum real sein, weil ihr viele Eigenschaften anhaften, wie die Figur des Körpers, die Farbe, die Undurchsichtigkeit ; wie könnte sie das Licht zurückwerfen, wenn sie nicht etwas Beales wäre? Die Körper berühren sich in Flächen, Linien und Punkten, also müssen dieselben in der Natur bestehen, so z. B. der Punkt, in welchem eine Kugel, und die Linie, in welcher ein Cylinder die Ebene berühren. Die Mathematik beweist viele Sätze von den Oberflächen u. s. w., welche wahre und reale Eigenschaften derselben lehren; also müssen sie auch wahre und positive Wesen im Kontinuum sein. Endlich läfst sich die actio uniformür difformis, die gleichmäfsige Ab- oder Zunahme der Intensität einer Wirkung im Kontinumn, nicht anders erklären als dadurch, dafs die einzelnen Grade physischer Eigenschaften eines homogenen Körpers den ein- zelnen unteilbaren Punkten desselben zukommen. Wenn z. B. die Luft von einem leuchtenden Körper bestrahlt wird, so nimmt die Helligkeit allmählich ab und jedem Teile der Luft kommt ein bestimmter HoUigkeitsgrad zu. Wenn nun dieser Helligkeitsgrad nicht von einem bestinmiten unteilbaren Luft- teilchen aufgenommen würde, so könnte ja dieser Teil in zwei geteilt werden, von denen jeder die gleiche Helligkeit besäfse :

* Vgl. dagegen Arist. Fhys.^ die oben S. lOi anjjefuhrten Stellen.

190 Eontinuum i. d. Scholastik. Endpunkte.

damit wäre aber die gleiclimäfsige Abnahme der Helligkeit unterbrochen. Diese Betrachtung gehört offenbar zu denjenigen scholastischen Überlegungen, an welchen die Atomistik ein- setzen konnte.

Aus diesen Gründen ist die Eealität der Existenz unteil- barer Punkte anzuerkennen. Wollte man auch zugeben, dafs dieselben nur dem Vermögen nach da sind, so mü&te hierbei doch unterschieden werden, dafs der Ausdruck potenHa zwar so verstanden werden kann, dafs er die reale Existenz aus- schliefst, aber auch so, dafs er nur die reale Teilung aus- schliefst. In diesem letzteren Sinne allein wollen viele Schola- stiker den Ausdruck potentia verstehen, um die Existenz der Unteilbaren zu retten und doch der ausgesprochenen Meinung des Aristoteles nicht unbedingt entgegenzutreten.

Die Frage, ob nur die Endpunkte oder auch die konti-» nuierenden Punkte real sind, wird von der Mehrzahl der Scho- lastiker für beide im bejahenden Sinne entschieden. Denn die Punkte dienen ja nicht nur zur Begrenzung des £ontinuums, sondern vor allem und hauptsächlich zur Verbindung seiner Teile. Streng genommen giebt es an den Körpern gar keine Punkte, die blofs „endende" wären, sondern alle Punkte sind zugleich „fortsetzende". Es ist ja nicht notwendig, dafs sie eine gerade Linie fortsetzen; vielmehr bedarf auch die ge- brochene ebenso wie die krumme Linie der Fortsetzung. Jeder Punkt an der Ecke eines Körpers kann betrachtet werden als Kontinuation der dort zusammenstofsenden geraden Linien. Wollte man jeden Pimkt, in welchem verschiedene Linien zusammen- stofsen, darum einen Endpunkt nennen, so könnte schlielslich jeder Punkt als Endpunkt betrachtet werden ; so stofsen z. B. alle Badien im Centrum des Kreises, alle Meridiane in den Himmelspolen zusammen, und doch sind diese Punkte offenbar kontinuierende Punkte. Demnach sind, wenn es überhaupt reale Punkte gibt, auch die kontinuierenden reaL Auch das Argument der Erklärlichkeit der actio uniformiter difformis sowie der Berührung einer Kugel oder eines Cylinders mit einer Ebene läfst sich für die Realität der Punkte innerhalb des Kontinuums anführen.

Körper und Oberfläche, ebenso Fläche und Grenzlinie, Linie und Punkte dürfen nicht als realiter ein- und dasselbe

Ob d. Koniinuam aus Punkten zusammengesetzt ist. ]91

betrachtet werden. Denn wenn Grenzfläche und Körper iden- tiscli wären, so würden sich zwei Körper nicht berühren, Bondem an der Grenzfläche, die ihnen gemeinschaftlich zukommt, einen Teil des Körpers gemeinsam haben, also sich durchdringen.

Körper, Flächen und Linien sind Gröfsen und teüen die Quantität der Substanz mit. Punkte aber sind keine Gröfsen. Schon daraus ergibt sich, dafs Funkte, obwohl sie in der Linie real enthalten sind, doch keineswegs für sich allein eine Linie ausmachen können. Die Quantität der Linien, Flächen und KCi^er, des Kontinuums überhaupt, rührt nicht von den Punkten her, sondern diese geben ihm nur die Eigen- schaft der Kontinuität, des stetigen Zusammenhangs. Daher ist das Kontinuum nicht aus unteilbaren Punkten zusammengesetzt und nicht in solche auflösbar.

Man hat also bei den Scholastikern zwischen den beiden Fragen streng zu unterscheiden, ob die Unteilbaren realiter im Kontinnom sind, und ob sie das Kontinuum zusammen- setzen. Die letztere Frage wird fast einstimmig im Sinne des Abistotelks verneint.

Allerdings gibt es auch hier Gegner. Dieselben behaupten, das Kontinuum bestehe aus Punkten, da ja doch Gott in solche es auflösen könne. Was sollte auch zwischen den Punkten sein? "Wenn eine Linie, so bestehe diese wieder aus Punkten, daher gebe es nichts als Punkte im Kontinuum. Die Geometer lehren, dafs die Linie durch Bewegung eines Punktes erzeugt wird; somit mufs sie auch aus Punkten bestehen, da die Be- wegung eines solchen keine andren Spuren zurücklassen kann. Da 68 nicht unendlich viele Teile geben kann, so mufs es ein Ende der Teilung, einen ersten Teil geben, und das Kontinuum muGs daher aus Unteilbaren zusammengesetzt sein. Gäbe es eine Teilung ins Unendliche, so würde doch Gott diese unend- £ch vielen Teile erkennen, und es gäbe also in den geschaffenen KOrpem eine reale Unendlichkeit, was nicht möglich ist.

Der Hauptgrund aber für die Zusammensetzung des Kon- tinuums aus Punkten wird hergenommen von der Analogie Bwischen Linie und Zahl mit Benutzung eines gelegentlichen Wortes von Aristoteles,^ dafs nämlich der Punkt zur Linie

* Top. 1. I, c. 18. 1). 108 b 26.

192 ^g* ^' ZusammensetzuDg d. Eont. aus Pankten.

sich verhalte, wie die Einheit zur Zahl. Nun bestehe die Zahl aus Einheiten, werde aus solchen zusammengesetzt und in sie aufgelöst; daher müsse dasselbe von der Linie in Bezug auf den Punkt gelten.

Endlich wird noch ein physikalischer -Orund angeführt. Wenn zwei Körper aneinander grenzen und man eine Linie durch diese Grenze zieht, so schneidet sie beide Oberflächen der aneinand ergrenzenden Körper. Dies mufs in zwei ver- schiedenen Punkten geschehen, denn die Punkte gehören ver- schiedenen Körpern an. Es schwimmt z. B. ein Stück Holz auf dem Wasser. An der Stelle, wo Wasser und Luft sich berühren, gibt es eine Grenzlinie des Wassers und eine solche der Luft; beiden mufs im Holze eine reale Linie entsprechen; daher besteht die Oberfläche des Holzes aus realen Linien. Oder man denke sich eine Linie durch den Himmel gezogen, welche zwei aneinandergrenzende Sphären schneidet. Zwischen ihnen ist nichts, denn es müfste ein Vacuum sein, das es nicht gibt. Die Linie hat daher zwei unmittelbar folgende Punkte, den Durchschnittspunkt mit der ersten und der zweiten Sphäre, welche voneinander verschieden und real sind, da sie zwei verschiedenen Planetensphären angehören.

Gegen diese Zusammensetzung des Kontinuums aus dis- kreten Indivisiblen richten sich neben der Autorität des Ari- stoteles zahlreiche Gründe, von denen wir folgende anführen. Die integrierenden Bestandteile der Linie sind wieder Linien und nicht die Punkte, so wie zwischen den einzelnen Mo- menten nicht wieder Momente, sondern Zeiten liegen. Es be- steht daher die Linie nicht aus lauter Punkten, sondern die unteilbaren Punkte haben nur die Aufgabe, die integrierenden Linien teile zu verbinden; sie verhalten sich den Bestandteilen der Linie gegenüber wie Formen, die ihnen die Kontinuität verleihen, so dafs die Linienteile, welche sonst als eine Vielheit von einfachen Einzelwesen auseinander fallen würden, durch sie ein einziges Ding für sich ausmachen.

. Wenn die Mathematiker die Linie durch Bewegung des Punktes entstehen lassen, so ist dies nur bildhch zu verstehen zur Bezeichnung der Teilbarkeit der Linie in ihrer Länge und zur Erklärung der Ausdehnung anderer kontinuierlicher Gröfsen.

Scholastik : Synkategorcmatisches Unendlich. 1 93

Unendlich viele Teile kann es allerdings adu nicht geben, woM aber potentia. Die Teilung ins Unendliche kann zwar nicht vollendet werden, aber sie kann beliebig fortgesetzt ge- dacht werden. Das Unendliche ist nicht ein fertiger, ab- geschlossener Begriff (terminus categorematicus), sondern es ist die Modifikation eines andren Begriffs (terminus syncategore- maticus). Daher existiert die Unendlichkeit der Teile nur synkategorematisch, d. h. in dem endlosen Progrefs, welcher gestattet, soviel Teile man auch genommen hat, immer noch neue hinzuzunehmen. Es gibt demnach keinen ersten Teil, auf welchen man bei der Teilung kommen könnte ; denn das eben ist der allein zulässige Sinn des Unendlichen, dafs man an kein Ende der Teilung, an keinen ersten Teil gelangt.^ Wenn man sagt, dafs Gott doch die aktuell unendlichen Teile erkennen müsse, so ist das eine Erschleichung. Denn wenn Gott das Kontinuum als actu aus unendUch \delen Indivisiblen bestehend erkennen würde, so wäre es eben kein Kontinuum mehr. Setzt man freilich voraus, dafs das Kontinuum so be- beschaffen sei, so würde auch Gott es so erkennen, aber man hat dann vorausgesetzt, was man erst beweisen soll, und was man nicht voraussetzen darf, weil es einen Widerspruch in sich enthält. Gott kann die adu unendlichen Indivisiblen im Konti- nunm, dessen Begriff sie aufheben, nicht erkennen, denn sonst wäre seine Erkenntnis falsch. Gott erkennt vielmehr die Un- endlichkeit der Teile, wie sie in potentia sind ; dadurch werden sie aber nicht adu^ denn er erkennt sie zwar disUndv^ aber keineswegs als distindas x)aric}<.

Die Berufung auf Aristoteles, betreffend die Analogie von Funkt und Linie mit Einheit und Zahl, sei unzulässig, denn das Verhältnis finde bei beiden nicht in demselben Sinne statt ; sonst müfste die Einheit in der Zalil ebenso eine Position haben, wie der Punkt in der Linie eine bestimmte Lage

* So sagt z, B. R. Baco {Opus icrtiinn c. 3J». p. 134.): Et ideo concen- dendum est, quod divisio in A puncto non rt*iiugniit divisiuui in aliquo puncto dato in pmesenti et in actu, sed in aliquo dando; nüc possnnt omuia puncta diviaionis dari simul, sed succeesive dantur in infinitum. Quia seinper post diTirionem in quocunque puncto restat divisio illarum partium quae sunt divisae, qnia quantae sunt. Vgl. jedoch dazu Scuxrs, Lib. II Seilten t. Dist. II. Quett. IX. Op. Tom. VI. p. 2r>0 ff.

Lalkvlts. IB

194 Scholastik: Qg, d. Aktualität der Indivisibeln.

besitzt, was aber nach Aristoteles nicht der Fall ist.^ Vielmehr bezieht sich der von Aristoteles gebrauchte Vergleich nur darauf, dafs, wie die Einheit für die Zahl, so der Punkt für die Linie das Prinzip ist.*

Der physikalische Einwand, dafs an der Grenze zweier Körper zwei unteilbare Punkte einer schneidenden Geraden entstehen, beweist noch nicht, dafs die Gerade nur aus Punkten besteht, wenn auch zwei Unteilbare unmittelbar an verschiedenen Subjekten haften. Es genügt z. B. auf dem schwimmenden Holze eine einzige Linie, um den beiden Grenzen von Wasser und Luft zu entsprechen, da sie beide in derselben Lage ver- bleiben. Der Punkt, in welchem die beiden Himmelssphären, z. B. die konvexe Seite der Mondsphäre und die konkave der Merkursphäre, durch eine vom Mittelpunkt der Erde gezogene Gerade geschnitten werden, ist für beide ein und derselbe , denn da die Sphären sich unmittelbar berühren, also ihre Gbrenzen zusammenfallen, so sind die Durchschnittspunkte vom Mittel- pimkt der Erde gleichweit entfernt, fallen daher ebenfalls zusammen.

Zu diesen Widerlegungen der für die Komposition des Kontinuums aus lauter Indivisiblen vorgebrachten Grründe treten nun weitere Beweise für die Unmöglichkeit jener Annahme, welche wegen ihres Zusammenhanges mit der Mathematik be- sonderes Interesse besitzen. Als Erfinder derselben, wenigstens der überraschendsten, dafs nänJich bei einer Zusammensetznng der Flächen aus Punkten die Diagonale des Quadrats der Seite kommensurabel und gleich sein müfste, rühmt sich Boger Baco.^ Wir haben jedoch schon gesehen, dafs dieser Einwand gegen die punktuelle Atomistik dem Grundgedanken nach aus dem Altertum stammt und durch die arabische Spekulation, im Gegensatz zu den Mutakallimun, seine bei den spätem Scho- lastikern übliche Form erhalten hat, in der er sich zuerst bei Algazali findet.* Jedoch scheint Roger Baco das Verdienst

^ Categ, c. 6.

- Top, I, c. 18. p. 108 b 30.

^ Opus tertium, c. 39. Ed. Brewer, London 1859. p. 132.

* In dieser Hinsicht ist zu berichtigen Werner, Die Kosmologie und cdlg, Naturlehre des R, Baco, Wiener Sitzungsber. d. k. Akad. d. Wiss. Phil.-hist. Klasse. Bd. 94. S. 525. Im übrigen findet man daselbst Näheres über das Yerhältnis.

Scholastik: Gg. die mathematische Atomistik. 195

sa besitzen, diese Beweise erneuert zu haben; ihre allgemeine Verbreitung haben sie dann durch Duns Scotts gewonnen.^ Sie wenden sich alle gegen die Auffassung, dafs die Linien ans unteilbaren Punkten von konstanter Gröfse bestehen, und weisen nach, dafs sich aus dieser Vorstellung Widersprüche ergeben. Denn es folgt daraus, dafs entweder der indivisible Punkt noch teilbar ist, oder dafs (um der Kürze wegen einen Ausdrack der neueren Geometrie zu brauchen) alle perspektivisch liegenden Gebilde gleich grofs sind. Zur Erläuterung mag folgen- der Beweis dienen, der die übrigen, welche auf gleichem Prinzip ruhen, fäglich vertreten kann. Es wird nämlich gesagt (s. Fig. 3, 8. 196) : Wenn A und B zwei benachbarte Punkte eines Kreises sind und CA imd CB die zugehörigen ßadien, so müssen diese einen kleineren konzentrischen Kreis schneiden. Schneiden sie diesen Exeis in zwei getrennten Punkten, so mufs der kleinere Kreis genau ebensoviel Punkte enthalten als der gröfsere ; und da nun unteilbare Punkte in der Gröfse sich nicht unterscheiden können, so müfste der kleinere Kreis gleich dem gröfseren sein, was unmöglich ist. Schnitten die beiden Radien aber den kleineren Kreis in zwei zusammenfallenden, d. h. in einem einzigen Punkte, so entstände ein Widerspruch gegen den Satz, dais zwischen zwei Punkten (A und D) nur eine einzige Gerade möglich sei. Wollte man etwa annehmen, dafs die beiden Badien, obgleich sie beide durch den Punkt D gehen, doch nicht zusammenfielen, so würde daraus folgen, dafs dieser Punkt selbst teübar sei. Offenbar kann man diesen sogenannten Be- weisen die mannigfaltigste Form geben, indem man von irgend einem Strahlbüschel ausgeht und zwei beliebige Figuren in demselben betrachtet, so dafs nun je einem Punkte der einen ein Punkt der andren entsprechen mufs. Ersetzt man das Strahlbüschel durch ein Bündel paralleler Strahlen, welche man sich der Seite eines Quadrats parallel denkt, so ergibt sich.

von Baoo und Scotus in vorliegender Frage sowie über die damit zusammen- hängende Kontroverse über die Räumlichkeit der Engel. Zur Naturphiloso- phie Bacos vgl. auch Goethe, Gesch, d. Farbenlehre XV. S. 472 flf.

* DüNS ScoTDS C Opera, Lugduni 1639) gibt seine Beweise im Kommentar rar Physik, Lib. VI. physicorum, Quaest. I. § 4. Tom. 11. p. 352 ff. und Lib. n. SaUent Distinci, II. Quaest. IX. Tom. VI. p. 230 ff.

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196

Scholastik: Fehlerhafter Übergang mr GiVDse.

dafa auch die Diagonale ebensoviel Punkte enthält als die Seite (n. Fig. 4). Man kann die innere Ursache, welche allen in diesen Beweisen zu Tage tretenden Widersprüchen zu Grunde liegt, zurückführen auf die fälschliche Annahme, dafa es gleich- giltig sei, auf welchem Wege mau zu einer Gröfse gelange, die man sich aus verschwindend kleinen Qröfsen zusammen- gesetzt denkt. Bekannthch aber ist die Grenze, zu welcher man bei einem Übergange ins Unendliche gelangt, abhängig von der Form dieses Überganges ; beachtet man dies nicht, so kommt man zu falschen Resultaten. Denkt man sich z, B. über den Teilen der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks beliebig viele kleine rechtwinklige Dreiecke konstruiert (s. Fig. 4),

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t 1

SO ist, wie leicht zu zeigen, die Summe der Katheten aller dieser Dreiecke gleich der Summe der Katheten des grofsen Dreiecks. Denkt man sich die Zahl der kleinen Dreiecke ins Unendliche vermehrt, so dafs sie schliefslich mit der Hypotenuse zusammenfallen, so folgt daraus, dafs die Summe der Katheten im rechtwinkligen Dreieck gleich der Hypotenuse sei. Da dies uimiöghch ist, so sieht man, dafs man nicht berechtigt ist, das Besultat dieses Überganges ins UnendUche, obgleich es, als vollendet vorgestellt, von der Hypotenuse nicht zu unter- scheiden ist, als identisch mit dieser zu betrachten. Denn die resultierende Gröfse hängt ab von dem Wege, auf welchem das Integral genommen wurde; indem man die Natur der Ge- nesis des gewonnenen Begriffs aulser acht läfst, hat man eine seiner konstituierenden Bedingungen aufgehoben und gelangt

Scholastik: Math. Beweise gg. die Atomistik. 197

natnrgemäfs zu Widersprüchen. Dies weist wieder daraufhin, dafs hier ein Denkmittel fehlt, welches den Charakter des Werdens einer Gröfse zu fixieren gestattet. Daher sind Betrachtungen dieser Art geeignet, klar zu machen, dafs die Auffassung des geometrischen Punktes, insofern er Element der Linien und Flächen sein soll, als starrer Gröfse statt eines veränderlichen Elements nicht zulässig ist.

In dieselbe Gruppe von mathematischen Beweisen gegen die Zusammensetzung des Kontinuums aus diskreten Punkten gehört der Einwand, dafs dann keine gerade Linie, überhaupt keine Figur (z. B. ein Kreis) in zwei gleiche Teile geteilt werden könne, wenn sie eine ungerade Zahl von Punkten enthielte, weil der Mittelpunkt übrig bliebe ; ebenso dafs nicht über jeder Geraden ein gleichschenkliges Dreieck errichtet werden könnte, weil nicht jede Gerade eine Mitte hätte. Die Teilung beliebiger Linien in proportionale Teile wäre nicht möglich, während andrerseits das ganze zehnte Buch des Euklid über die Irrationalitäten überflüssig werden würde, weil zwischen allen Linien rationale Verhältnisse bestehen müfsten. Dazu kommen endlich noch die Widersprüche, welche sich bei der Konstruktion von Figuren aus unteilbaren Linienelementen ergeben, weil man dabei auf die Existenz noch kleinerer Linien oder Flächen als die unteilbaren geführt wird. ^

Als ein Beispiel, wie auch in den Kreisen der Mathematiker die Kontroverse über die Existenz der Unteilbaren diskutiert wird, sei auf eine aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammende Schrift von Thomas Bradwardin (11349) hinge- wiesen, welche dieser der Widerlegung der Atomistik wid- met.* Nach ihm wird jedes Kontinuum durch unendlich viele Kontinuen fär dieselbe Art komponiert imd besitzt unendlich viele ihm eigentümliche Atome, aber es wird keineswegs aus Atomen zusammengesetzt (Satz 58, 70), weder aus einer imendlichen noch aus einer endlichen Anzahl, weder aus ver-

* Dieselben s. bei Aristot. De lin. imec. p. 970 a 5 flf. und Albertus Macnus, De Un. insec. c. 3. Opera, Lugdum 1651. T. II p. 281. Vgl. oben S. 148 f.

* Die Handschrift befindet sich in der Bibliothek des k. Gymnasiums zu Thom und ist auszugsweise veröffentlicht durch Max Curtze, Zeitschrift f Math, und Fhys. Bd. XIII. S. 85 ff.

198 Bradwabdik: Komposition des Kontinuams.

bundenen noch un verbundenen.^ In letzterem Falle würde weder die Verdichtung und Verdünnung, noch die Erhaltung und Wiedergewinnung der Gesundheit möglich, Itecht und Un- recht dasselbe sein (Satz 95, 98, 99, 106, 111). Aufser den von Aristoteles schon gegebenen Einwänden finden sich in der Zusammenstellung Bradwardins auch die von ScoTUS hervor- gehobenen, sogenannten mathematischen Beweise gegen die Atomistik. Sachlich bringt die Schrift nicht gerade neues, auf das Historische bezieht sich folgende Stelle. Nachdem die herrschende Meinung von der Komposition des Kontinuums aus ins UnendHche teilbaren Teilen angeführt ist, fährt Brad- w ARDIN fort: „Andre aber sagen, das Kontinuum werde aus Unteilbaren zusammengesetzt, indem sie dabei eine zweifache Unterscheidung machen ; Demokrit nimmt nämlich an, dafs das Kontinuimi aus unteilbaren Körpern, andre dagegen, dafs es aus Punkten zusammengesetzt werde, und letztere wieder in doppelter Weise, und zwar behaupten die zu dieser Sekte ge- hörigen Pythagoras, Plato und Waltherüs Modernus die Zu- sammensetzung aus endlichen Unteilbaren, andre aber aus un- endlichen Unteilbaren. Die letzteren zerfallen wieder in solche, welche wie Henricus Modernus die Zusammensetzung aus un- endlichen Unteilbaren in medietate conjufictis, und andre, welche wie Lycuf (?) (später lincof geschrieben) sie aus ad inviceni inediatis annehmen."

In dem entwickelten Zusammenhange der Lehren vom Kontinuum bei den Scholastikern überhaupt erscheinen die Betrachtungen Bradwardins nicht mehr in dem Lichte der Originalität, als sei er einer der ersten, welche Philosophie der Mathematik getrieben haben.^

Die erwähnten sogenannten mathematischen Beweise, ins- besondere derjenige, dafs alle perspektivisch liegenden Figuren aus gleich vielen Punkten bestehen müfsten, wenn das Konti-

^ Satz 137. Nullum continuum ex indivisibilibus infinitis integrari vel

componi.

138. ex infin. indiv. immediatis componi.

139. ex indiv. mediatis componitur.

140. ex athomis integrari.

Schlaf»: Continuum non continuari neo finitari per talia sed se ipso. * So bei S. GüsTUER, Gesch. d. niatJi. Unterr, S. 166.

Norainalistexi. Das Indivisible. 199

nntun aus solchen zusammengesetzt wäre, konnten übrigens auch gegen die Existenz von Unteilbaren überhaupt gewendet jßrerden. Darauf entgegnete man, dafs die betreflfenden Figuren unendlich viele Punkte enthielten, das Unendliche aber die Eigentümlichkeit besitze, dafs bei ihm der Begriff des Grofsen oder Kleinen keine Stelle habe; darum sei es auch nicht absurd, dafs Grofses und Kleines gleich viel Pimkte besitze.

Allen hier vorliegenden Schwierigkeiten entziehen sich DuBAKDUB, OccAM und die Nominalisten überhaupt durch ihre abweichende Auffassung der Realität der Begriffe. Für sie ist der Punkt, wie gesagt, etwas blofs Negatives, d. h. er dient nur zur Bezeichnung der Grenze und wird erst von dem denkenden Geiste selbst zur Ordnung der Lage und Teilung der Körper gesetzt. Den Punkt als etwas Positives und Reelles zu erklären, kann ihrer Ansicht nach für die Konstitution der Naturobjekte oder für Mathematik und Philosophie gar nichts leisten, sei somit eine überflüssige Annahme. In allen den Fällen, welche reelle Punkte zu erfordern scheinen, komme man damit aus, dafs dieselben durch die Designation des Denkens als Grenzen gesetzt werden; es gebe nur eine Art der kontinuierlich blei- benden Gröfse, den Körper.

In all den scholastischen Spekulationen, welche den Be- griff des Kontinuums zu erfassen streben, fehlt es noch an dem einzigen Lösungsmittel der Schwierigkeiten, dem Begriff der infinitesimalen Gröfse, d. h. einer Gröfse, welche ihre Eigen- schaft der veränderlichen Quantität bewahrt, und doch als ein Ganzes, für sich nicht Teilbares, sondern das Kontinuum als Gröfse Konstituierendes aufgefafst wird. Das Indivisible der Scholastik hat mit der Kategorie der Quantität nichts zu thun. Die Gröfse bleibt lediglich den Teilen des Kontinuums. Teile ssn haben und geteilt werden zu können, ist das Wesen der kontinuierlichen Gröfse ; die kontinuierliche Gröfse aber haftet nicht am Räume, sondern am Körper; Teilbarkeit, kontinuier- liche Quantität und körperliche Ausdelmung sind untrennbar verbunden. Die fortgesetzte Teilung führt nicht auf Unteil- bares, sondern immer wieder auf Gröfsen. Das Unteilbare selbst ist keine Gröfse, sondern es dient als Form zur Ver- bindung der Gröfsen, so dafs sie ein Kontinuum ausmachen. Das Indivisible, welches keine Gröfse hat, tritt zu den Teilen

200 I^&B Indivisible als Form des Eontinaumfl.

der körperlichen Ausdehnung, welche unter der Kategorie der Gröfse stehen, und bildet mit ihnen das Kontinuum. Die Verbindung zwischen dem Indivisiblen und der Gröfse zum Kontinuum erfolgt durch das Denk- mittel der substanziellen Form. "Weiter konnte die Scholastik den Begriff des Kontinuums nicht bewältigen. Es ist nur noch ein Schritt zur Erfassung des Indivisiblen als der unendlich kleinen Gröfse, welche das Kontinuum erzeugt, aber dieser Schritt ist innerhalb des mittelalterlichen Denkens un- möglich. Denn er erforderte für diesen Fall die Aufhebung des Denkmittels, auf welchem die gesamte "Wissenschaft be- ruhte, der substanziellen Form. So lange das Indivisible die Form, die quantitativen Teile der Ausdehnung die Ma- terie sind, und das Kontinuum aus der Vereinigung beider entsteht, so lange kann nicht jene Form und jene Materie als wesensgleich, das Kontinuum als aus dem Indivisiblen erwachsend vorgestellt werden. Es ist eben eine Umgestaltung der ge- samten Denkweise notwendig. Es wiederholt sich derselbe Prozefs, wie beim physikalischen Körper. Zur quantitativ ge- fafsten Materie kommt die substanzielle Form, um den phy- sischen Körper zu erzeugen.^ Ein Fortschritt zur Natur- erklärung wird erst möglich, wenn die substanzielle Form sich in den Bewegungscharakter der Materie auflöst. So sehen wir die Lösung des Kontinuitätsproblems wie diejenige des Problems des physischen Körpers an dieselbe Bedingung ge- knüpft, an die Aufhebung des Begriffs der substanziellen For- men und an die Gewinnung eines Mittels, den Begriff der Ver- änderung eines gegebenen Dinges nicht durch den Zweck dieser Veränderung, sondern durch die Natur der Verän- derung selbst zu fixieren. Im modernen Denken erfolgt die Verbindung zwischen dem Indivisiblen und der Gröfse zum Kontinuum durch den Begriff des Differenzials, die Ver- bindung der individuellen Teile der quantitativ gegebenen Materie zum physischen Körper durch den Begriff der Prin- zipien der Mechanik, deren gemeinsamer Ursprung aus

* Thomas Aqu. Opusc, 33. Tom. XVIL p. 212(4). Sublata enim quantitate eubstantia remanet indivisibilis. Ex materia autem 8ub quantitate existente et forma substantiali adveniente corpus physicum constituitur.

Das Indivisible und das Infinitesimale. 201

einem neuen Denkmittel sich erst in der Folge näher erör- tern läTst.

Das Indivisible der Scholastik und das Infinitesimale haben beide gemeinsam, dafs sie zur Erklärung der Kontinuität, zur Erzeugung der Einheit quantitativer Teile erdacht sind. In ihrem Gebrauche innerhalb der Mathematik sind sie daher beide das- jenige, was die Scholastik synkategorematische BegriiFe nennt, d. h. ihr Inhalt besitzt nur potenziellen Seinswert. Sie sind schliefslich beide nicht extensive endliche Gröfse. Trotz dieser Ver- wandschaft bleibt das Indivisible eine unfruchtbare Abstraktion, das Infinitesimale hat neue Wissenschaften geschaifen. Das Indivisible war nur das Resultat des überall angewendeten Denkprozesses der Substanzialität, der Zerlegung der Dinge in Bestimmendes und Bestimmtes ; unter ihm zerfiel das Konti- nunm in Punkte und Linien. Das Infinitesimale dagegen ist der Ausdruck einer neuen Art des Denkens, einer neuen Ver- fahrungsweise, Gegebenes zu erfassen, nämlich in synthetischer Hinsicht; die Dinge werden als w e r d e n d gedacht und in diesem genetischen Sinne begrifflich fixiert, ohne dafs der Gattungs- begriff des Kontinuums aufgehoben wird ; das Infinitesimale ist keine Gröfse in gewöhnlichem Sinne, d. h. keine extensive Gröfse, sondern eine werdende, zur Extension strebende, die man unendlich klein genannt hat. Bevor die scholastische Zergliederung des Kontinuitätsbegriffs dem neuen Denkmittel zu gute kommen konnte, mufste erst von andrer Seite das Bedürfnis neuer Erkenntnis sich bemerklich machen.

3. Das Vacuum in der Scholastik.

Im Zusammenhange mit dem Problem der Kontinuität steht die Frage, ob ein leerer Raum möglich sei. Für die gesammte Scholastik ist im Anschlufs an Aristoteles der Baum an den Körper geknüpft. Räumlichkeit, und zwar in dem Sinne, dafs damit sowohl die räumliche Ausdehnimg eines Körpers als auch eine bestimmte Lage desselben im Räume (Örtlichkeit) bezeichnet ist, können wir demnach nur an den Körpern kennen lernen. Sie bildet eine bestimmte Kategorie und ist als solche von der Qualität und der Substanz zu unter- scheiden. Insofern gehört sie zur Konstitution des Kölners

202 Scholastik: Kein Yacuum.

selbst lind drückt einen Modus des Seins des Körpers aus, wodurch er in einem bestimmten Orte eine wirkliche Gegen- wart hat ^ und jeden andren Körper daselbst ausschliefst. Kaum und Ort des Körpers sind also nicht blofs eine Bestimmung der einschliefsenden Körper. Aber aUerdings ist die gesamte Welt so geschaffen und geordnet, dafs immer nur Körper an- einander grenzen und jede Räumlichkeit eines Körpers zugleich mit der EinschUefsung durch andre Körper, mit einer begren- zenden Oberfläche verbunden ist. Eine Ausnahme findet allein mit dem äufsersten Himmelskreise selbst, dem Empyreum statt, welches von keinem andren Körper umschlossen wird, und gerade dadurch beweist, dafs Gegenwart an einem bestimmten Orte ein besonderer Modus des Körpers ist und nicht blofs von der Gegenwart umschliefsender Körper abhängt.^

Bei dieser Auffassung der Räumlichkeit als einer durchaus an die Körperlichkeit geknüpften Eigenschaft konnte das Wort Vadium nur den Sinn einer künstlichen Abstraktion haben, der in der Erfahrung nichts entspricht. Dadurch hatte schon Aristoteles jede atomistische Theorie der Materie niederge- schlagen, dafs er Raum und Körper im Kontinuum identifiziert hatte. Wenn im Beginn naturwissenschaftlichen Interesses die Frage nach dem Wesen des Körpers wieder auftreten und der Einzelkörper selbstständige Bedeutung erhalten sollte, so konnte bei der Herrschaft des horror vacui dies nur unter der Bedin- gung geschehen, dafs auch die korpuskular gedachte Materie den Raum stetig ausfülle. Daher tritt die Frage auf, welche schon durch Platon angeregt war, als er die Elementarteile der Körperwelt in den regelmäfsigen Polyedern suchte, ob und diurch welche gleichartige Körperfiguren der Raum stetig aus- gefüllt werden könne. Genügende Aufklärung ist wohl erst durch Maürolykus (1494 1575) in dieses Problem gebracht worden.

Roger Bacö, dessen Denken, wiewohl es noch völlig unter dem Gesichtspunkte der substanziellen Formen steht.

^ Nach ScoTus gehören zum örtlichen Sein des Körpers 6 Stücke: Esse in loco, esse in loco actuali, esse in loco detcrminato, esse in loco commensu- rative, esse in loco determinate hoc vel illo, esse in loco naturaliter vel violenter. Sent 11, dist. 2 qu. 6. Opera, Lugd. 1639. T. VI. ps. I. p. 188 ff.

" Vgl. SuAREz bei Baumann, a. a. 0. S. 56.

Roger Bago: Auafiillung des Raumes. 203

doch von einem selbständigen Zuge nach matliematischer Betrachtnngsart der Dinge gehoben wird, hat sich die Frage vorgelegt, welche regelmäfsigen Körper den Raum lücken- los auszufüllen vermögen. Er thut sich bei diesem Anlafs nicht wenig auf seine mathematischen Kenntnisse zu gute und beschuldigt andre der Ignoranz, zeigt sich aber selbst voll- ständig im Irrtum.^ Er glaubt nämlich die Frage nach der lückenlosen Ausfüllung des Baumes durch eine Untersuchung der Kantenwinkel in den Oberflächen der Körper (an den Ecken) entscheiden zu können, und statt auf die körperlichen "Winkel der Ecke Rücksicht zu nehmen, hält er sich allein an die Seiten. Da acht "Würfel, mit ihren Ecken vereinigt, den Raum erfüllen, und da die Summe der Seiten in jeder Würfel- ecke drei Rechte beträgt, so glaubt er, dafs 8 mal 3 oder 24 Rechte, als Kantenwinkel auf den Oberflächen der Köri)er verteilt, die Bedingung dazu sind, dafs diese Körper den Raum lückenlos ausfüllen. Xun beträgt im regulären Tetraeder jeder E^ntenwinkel -/s i?, die Summe derselben an einer Ecke -/s X 3 = 2 JB, also ergeben 12 Tetraeder 24 iZ, d. h. 12 Tetraeder sollen den Raum ausfüllen. Ebenso schliefst er, dafs 9 Okta- eder dieser Bedingung genügen, weil "A X 4 X 9 = 24. Er glaubt also, dafs nicht nur die Hexaeder, sondern auch Tetra- eder und Oktaeder den Raum lückenlos erfüllen, eine Ent- deckung, welche, wenn sie nicht eben unrichtig wäre, der platonischen Vorstellungsweise von der Gestaltung der Ele- mentarteile zu gute kommen wüi'de, so aber kein glänzendes Licht auf Bacos Selbstschätzimg und die Stereometrie seiner Zeit wirft. Obgleich aufser den kubischen Erdteilchen auch die Teilchen der Luft (oktaedrisch) und des Feuers (tetra- edrisch) nach dieser Annahme den Raum ausfüllen \\'ürden, so müfste man doch immer noch für das Wasser (ikosaedrisch) und den dodekaedrischen Himmel die Existenz eines leeren Raumes annehmen. Daher verwirft Baco die platonische Hypothese; denn einen leeren Raum hält er für unmöglich.-

Dafs die Existenz eines Vacuums unmöglich sei, darüber herrscht bei allen Scholastikern vollständige Übereizi stimmmig. Sie unterscheiden im allgemeinen drei Arten des leeren Raumes,

* Opuit tertium c. 40, p. 137. * A. a. 0. p. 140.

204 Scholastik: AufserweltllcheB Yacnum.

nämlich erstens den aufserweltliohen leeren Ranm, welcher jenseits des äuisersten Himmels, des Empyreiims, ge- dacht werden könnte; zweitens den innerweltlichen Baum, welcher sich, getrennt von den Körpern, zwischen denselben befinden soll; drittens den in den Körpern selbst angenomme- nen leeren Raum, die Poren, welcher zur Erklärung der Ver- dichtung und Verdünnung benutzt werden könnte.^ Der all- gemeine Hauptgrund, welcher gegen das Vacuum angeführt wird, ist der, wie oben erwähnt, im Begriff des Körperkonti- nuums begründete, und beruht darauf, dafs das Leere nur eine Privation* ist und der einigenden Form entbehrt.' Es trägt also in seinem Begriffe selbst die Unmöglichkeit seiner Existenz. Das aufserweltliche wie das innerweltliche Vacuum sind als in sich widersprechend und naturwidrig anzusehen. Einige Fragen, welche bei Besprechung des Vacuums in der Scholastik auf- tauchen, mögen noch kurz erwähnt werden.

In Bezug auf den Raum auTserhalb der "Welt hatte Aver- ROES* behauptet, dafs, wenn die Welt nicht, wie die Araber lehrten, von Ewigkeit bestände, sondern eine geschaffene sei, alsdajin vor Entstehung der Welt an Stelle derselben ein leerer Raum gewesen sein müsse. Die christlichen Scholastiker, welche eine Weltschöpfung lehrten, mufst^n diesen Einwand entkräften und konnten es unschwer, indem sie betonten, dafs vor der Erschaffung der Welt auch kein Raum, der zur Auf- nahme von Körpern geeignet gewesen sei, existiert hätte.

Auch auf die Vorstellung von der Gestalt der Welt hat der Glaube an die Unmöglichkeit des Vacuums Einflufs. Denn wenn das Empyreum nicht genau kugelförmig gestaltet wäre, so würde bei der Rotation desselben notwendigerweise ein Vacuiun entstehen. Eine etwaige Hervorragung, welche sich

^ Albertus Magnus, Phys. lib. IV. Tract. 11, c. 1. Op. Tom. II. p. 165a, Thomas von Aquiko, Phys, lib. IV. lect. 14. Qp. T. I f. 34, wo für Xirtes, wie Albertus schreibt, das richtige Xuthos steht. Vgl. Aristoteles Phys, lib. IV. c. 9. Vgl. z. Folgendem auch Comm. Coli. Conlmbric. in Phys, Arist 1. 4. c. 9. qu. 1 p. 77 ff. Toletus, comm. in phys, Ar. 1. 4. qu. 10. p. 129 D ff.

* Averroes, Destr. destr, disp. 2. eh. 71 B. ^ R. Baco. Op, iertium c. 43. p. 154.

* Comm, in phys. IV, comm. 6, Op, Arist. Venetiis 1560. T. IV. p. 101 E. und De coelo I., comm. 92 a. a. 0. T. V p. 66 B.

Scholastik: Innerweltliches Yacuum. 205

fortbewegt, würde ein Vacuum veranlassen, bis eine andre an diese Stelle tritt. Docli ist dagegen zu bemerken, dafs das Yacuum, als reine Negation, nicht ein positiver Erkläiiings- grund für physikalische Thatsachen werden kann, weshalb E, Baco ^ auf diesen Beweis für die Sphärizität der Welt keinen Wert legt. Auch lassen sich die Theologen, welche eine vier- eckige Gestaltung des Empyreums lehren, durch diese Bedenken nicht von ihrer Meinung abbringen. Bei Annahme der Kugel- gestalt der Welt ist übrigens die Unmöglichkeit eines Vacuums zugleich ein Grund für die Einzigkeit der Welt ; denn mehrere Welten müfsten leere Bäume zwischen sich haben.

Bei der Frage nach der Existenz eines leeren Baumes zwischen den Körpern kommen einige praktische Erfalirungen in Betracht, welche der Scholastik willkommene empirische Beweise für den horror vacni zu bieten scheinen. Es sind dies alle diejenigen Beobachtungen, welche wir gegenwärtig durch den Druck der Luft erklären, also hauptsächlich die Er- scheinungen des Saugens und Pumpens, femer die Thatsache, dafs Flüssigkeit aus einer kleinen Öffnung am untern Ende eines Gefafses nicht ausfliefst, wenn nicht der Luft an andrer Stelle ein Zutritt gewährt wird. Zu Bedenken gibt der Fall Veranlassung, dafs zwei ebene Platten voneinander gerissen werden, und es scheint, als ob im Momente der Trennung, da doch die Luft nicht mit unendlicher Geschwindigkeit in den Zwischenraum stürzen kann, ein Yacuum entstehen müsse. Dieses Bedenken widerlegt sich jedoch dadurch, dafs die Trennung der Platten in AVirklichkeit nicht auf allen Punkten zugleich, sondern niu: successive geschehen kann; gerade der Versuch, eine ebene Platte vom Wasser abzuheben, wobei die Platte vom Wasser benetzt bleibt, scheint ein neuer Beweis für die Unmöglichkeit des Vacuums.^ Auch die Erwägimg, dafs warmes Wasser, welches in einem luftdicht verschlossenen Ge- fafse dem Erkalten ausgesetzt wird, indem es sich zusammen- zieht, einen leeren Raum erzeugen müsse, könne nichts beweisen. Denn wenn sich das Wasser, wie allerdings anzunehmen, selbst

* Opus majutf p. 70, 71 nach Wkrxkr, Wiener Siizungsher. 1879. IM. 94 S. 529, 530.

Vgl. u. a. Comment. CoUeg. Conimbricensis in phys. Arist üb. IV. c. 9. Quaeat. 1. p. 77 u. 8H. Ferner Scütcs, l^ht/s. 1. IV. qu. 13. Tom. II p. 2G9.

206 Scholastik: Horror vacui,

in diesem Falle zusammenzieht, so wird entweder das Gefafs zerbrochen, oder es werden sich aus dem Wasser feine Exha- lationen entwickeln, welche den freien Baum ausfüllen. Ähn- liches würde eintreten, wenn man einen zusammengedrückten Schlauch, der luftdicht an ein Gefals mit "Wasser geschlossen ist, gewaltsam auseinanderziehen woUte, so dafs das Wasser gezwungen wäre, einen gröfseren Baum einzunehmen. Ein Grund mehr gemütlicher Natur, der für das Vacuum sprechen soll, dafs nämlich die Körper, xun. einen leeren Baum zu ver- meiden, häufig zu Bewegungen gezwungen würden, welche ihrem natürlichen Triebe widersprächen, wird durch den Hin- weis erledigt, dafs das Interesse des Ganzen und Allgemeinen den Sondertrieben der Einzelkörper vorgehe. Es herrsche in der Welt überhaupt eine natürliche Disposition, den Zusammen- hang der Körper aufrecht zu erhalten. Alle Dinge streben nach Vereinigung und suchen sich möglichst zu konzentrieren, so wie das Wasser sich selbst überlassen Kugelgestalt annimmt. Dieser natürliche Zusammenhang der Körper sei die physische Ursache, durch welche das Vacuum in der Natur vermieden wird. Die Bewegungen, zu welchen die Körper zu diesem Zwecke gezwungen werden, seien daher gar nicht in die Kate- gorie der gewaltsamen Bewegungen, sondern mit besserem Bechte in die der natürlichen Bewegungen zu rechnen. Dieses Streben der Körper nach Vereinigung und gegenseitiger Be- rührung erkläre auch, dafs selbst nicht einmal vorübergehend, für einen Augenblick ein Vacuum in der Natur entstehen könne, während ein dauerndes Vacuum als überhaupt zwecklos und zweckwidrig in der Natur gar nicht denkbar sei.

Aber noch ein Bedenken! Als Gott die heilige Jungfrau von der Erde in den Himmel versetzte, mufste da nicht ein leerer Baum in der Welt zurückbleiben? Hier hilft man sich mit der Annahme, dafs Gott dieses Vacuum als unnötig mit neuerschaffenen Körpern angefüllt habe.*

Bei der dritten Art des Vacuums endlich, dem leeren Baum zwischen den Teilchen der Körper, spielt die Frage nach der Ernährung der Pflanzen und Tiere eine Hauptrolle. Doch scheint sich in dieser Beziehung nichts zu finden, was

De Arriaoa, Cursus philosopMcuSy Lugduni 1669. p. 540.

Scbolasiik: Bewegung ini Yacuum. 207

über Aristoteles hinausginge, welcher die Lehre von den Poren ansfuhrlich bekämpfte. Auch R. Baco gibt in seinen Beweisen dafilr, dafs zur Ernährung Poren und Vacuum nicht nötig seien, nichts Neues von Bedeutung.* Obwohl die Erinnerung an die Poren durch die Mediziner aus der Schule der Metho- diker rege erhalten werden konnte, so hatten doch neben Ambtoteleb Galen und Avicenna dafür gesorgt, die Poren mit ihren ,,Säften^ auszufüllen.

Die Kontroverse, ob ein Vacuum durch den Willen Gottes oder denjenigen eines Engels erzeugt werden könne, mit ihren scholastischen Spitzfindigkeiten darf übergangen werden; zum Schlosse sei nur noch die Streitfrage erwähnt, ob in einem Vacuum, wenn es existierte, Bewegung mögHch sei. Denn diese letztere Frage ist von Aristoteles selbst und allen Scholastikern erörtert worden, weil Aristoteles aus seiner Beantwortung einen neuen Grund gegen den leeren B;aum der Atomisten entnehmen wollte. Nach Aristoteles müfste die Bewegung im Vacuum ohne Unterschied der Geschwindigkeiten, und zwar unendlich rasch, erfolgen, weil in demselben kein widerstehendes Medium vorhanden sei. Aristoteles sagt übrigens, daJGs Bewegung im Vacuum überhaupt nicht mögUch sei, die Scholastiker aber untersuchen mit Vorliebe die Frage, ob die hypothetische Bewegung momentan (in non tempore, in instanti) oder in endlicher Zeit (in tempore, successive) vor sich gehen würde. Averroes^ ist der Ansicht, dafs die natür- liche Bewegung im Leeren allerdings eine momentane sei, die- jenige aber, welche vom Willen des Bewegten abhänge, eine zeitliche. Dieser Ansicht schliefst sich Albertus Magnus^ an. Eine momentane Bewegung überhaupt leugnen dagegen Avi- cenna und Avempace, ^ sowie Thomas^ und Scotüs^; sie nahmen an, dafs auch im Vacuum die Bewegung successiv vor sich

* Op. tert c. 43, 44.

Comm. in Phys, Arist Lib. IV. comm. 71. Arist. Opera Venet. 1560. T. IV. p. 130D. ff.

" Phys. lib. IV. Tract. 11. cap. 6 u. 7.

* Nach Avebroes in der A. 2 citierten Stelle. » Physic, lib. IV. lect. XI-XIII. f. 51b ff.

Sentent lib. 11 distinct IL quaest. IX. Tom. VI p. 299 ff. Phys. L IV. quaest. 12. Tom. II. p. 264.

208 Korposkulartheoretische Anregungen.

gehe. R. Baco ^ erkennt ebenfalls die Gründe gegen die momen- tane Bewegung als richtig an, bemerkt aber sehr treffend, dafs die Bewegung im leeren Raum überhaupt keinen Sinn habe. Bei der Auffassung, welche Aristoteles von der Bewegung und vom Raum hatte, schlofs in der That der Begriff des leeren Raumes den der Bewegung aus und die ganze Frage erhebt sich nicht über die Reihe jener Schul-Problemata, an denen die Philosophie des Mittelalters so reich ist.

Siebenter Abschnitt.

Korpuskulartheoretische xVnregungen.

1. Naturwissenschaft bei Arabern und Griechen.

Das theologische und metaphysische Interesse des Mittel- alters war der Korpuskulartheorie abgeneigt, welche für das System der substanziellen Formen als etwas Überflüssiges erschien. Erst dort konnte ein Bedürfnis nach korpuskulartheoretischen Erklärungen sich zeigen, wo das Problem des Körpers infolge der unmittelbaren Berührung mit den Veränderungen der Körper- welt in den Vordergrund trat. Die Autorität der Kirchenväter und des Aristoteles hatte die Gedanken der Atomistik ver- bannt. Die Mathematik war noch nicht imstande, eine Hand- habe zu leihen, um vom Begriff des Kontinuums aus zu einer mechanischen, d. h. durch den Bewegungsbegriff geleiteten Konstruktion des physischen Körpers zu gelangen. Es fragt sich, inwiefern die empirische Kenntnis der Natur, welche von den Arabern ausging, dem Auftreten des Bedürfnisses nach korpuskularen Erklärungen entgegenkommen konnte.

Trotz vielfacher Arbeiten, welche die arabische wissen- schaftliche Litteratur zugänglich machten, sind wir noch nicht imstande, ein abschliefsendes Urteil über die Naturwissenschaft der Araber zu fällen. So\'iel ist jedenfalls sicher, dafs sie eine

* 02). lert c. 42 p. 149 ff.

Arabische und antike Naturforschung. 209

auBgedelinte und über die Leistungen der Griechen hinaus- gehende Natur erfahr ung besafsen. Die Mannigfaltigkeit ihrer Bodenprodukte und das Studium derselben, sowie die Zubereitung der Droguen, welche der Handel erforderte, kamen den chemischen wie medizinischen Kenntnissen in gleicher Weise zugute. Dazu trat eine hervorragende Geschicklichkeit in der Herstellung von praktischen Werkzeugen und Neigung und Fertigkeit zu quantitativen Bestimmungen. Die Araber liefern die Materialien zu einer Naturwissenschaft.

Eine Naturwissenschaft selbst dagegen, als Wissenschaft, haben sie nicht geschaflfen. In allem Theoretischen hingen sie von der Überlieferung der Griechen ab, die sie wohl mit neuem Stoffe zu ergänzen, aber nicht mit neuer Form zu beleben wufsten. Jenes Naturwissen selbst genügte indessen, um nach der Über- lieferung an das Abendland die Keime daselbst zur Entfaltung zu bringen, welche schon im Altertum überall da sich vorgebildet finden, wo praktische Naturerfahrung an die Erzeugung der Erscheinungen selbst herantrat, um statt der logischen Zer- legung in Form und Materie die physische Zerlegung und Bearbeitung der natürlichen Körper empirisch zu betreiben und theoretisch aufzuhellen.

Wir finden bereits im Altertum eine Betrachtungsweise der Natur, welche neben der Philosophie selbständig einher- geht. Seit des Aristoteles Zeit löst sich die Mathematik von der Philosophie ab und behandelt auf ihre Weise physikalische Probleme. Eüklides, Amstarchos, Archimedes, Eratosthenes, HiPPABCHOS und Heron von Alexandrien sind die Namen, welche diese Eichtung glänzend bezeichnen. Sie sind Mathe- matiker und zum Teil hervorragende Mechaniker. Dennoch darf man die unsterbUchen Leistungen eines Archimedes in der mathematischen Behandlung physikalischer Aufgaben nicht als Physik im modernen Sinne, d. h. als Kausalerklärung von Naturerscheinungen betrachten. Das Interesse ist durchaus mathematisch, die Entwickelungen bewegen sich lediglich auf geometrischem Gebiete, physikalische Aufgaben liefern nui- die Veranlassung. Auch beschränkt sich die mathematische Me- chanik des Archimedes auf das statische Gebiet, auf welchem er diurch die Entdeckimg des hydrostatischen Grundgesetzes die höchste physikalische Leistung des Altertums vollzog. Die

LaAwlti. 1^

210 Abohimedes als Physiker.

dynamisclieii Zweige der Physik finden jedoch noch keine mathematische Behandlung, so dafs Physik als Wissenschaft von der Empfindung noch nicht erzeugt wird. Auch hier ist das Denken festgehalten auf derjenigen Stufe, welche allein das Seiende betrachtet und in der Philosophie die Theorie der substanziellen Formen hervorrief ; das Werdende, wie es empirisch in der Empfindung gegeben ist, verschliefst sich vorläufig der begrifflichen Fixierung. Daher finden wir selbst bei Archimedes keinen Versuch, die Veränderungen der Körper physikalisch, d. h. durch Veränderungen in der Lage der Teilchen, zu erklären.^ Dennoch bedeutet für das Problem des Körpers die mathematische Betrachtungsweise des Archi- medes einen mächtigen Fortschritt gegenüber der dialektischen Behandlung durch die Philosoj^hen. Denn inwieweit quantita- tive Bestimmungen ermöglicht werden, die durch ihre mathe- matische Ableitung den Existenzwert objektiver Wahrheiten haben, insoweit wird wirklich objektive Natur erzeugt; nur dafs das zugängliche Gebiet durch die Beschränkung auf die Statik aufserordentlich eng und die eigentliche Aufgabe der Physik noch unbekannt bleibt. Immerhin haben wir hier eine wichtige Vorbereitung zur wissenschaftlichen Physik, welche, wie es scheint, für die Philosophen gar nicht zur Wirkung gekommen ist.^ Die gesamte mathematische Betrachtungsweise der antiken Geometer und ihrer Schüler unter den Arabern bildet einen vorläufig unvermittelten Kulturprozefs, welcher mit der logisch-dialektischen Betrachtimgsweise keine Kommuni- kation besitzt. Der Grund liegt darin, dafs noch ein Denk- mittel fehlt, wodurch das Denkmittel der substanzialen Formen, die Herrschaft der Zweckvorstellung in der Betrachtung der natürlichen Veränderungen, vereinigt werden könnte mit der mathematischen Vorstellungsart, welche quantitative und räumliche Beziehungen als eine innere Gesetzlichkeit der Dinge nachweist.

^ Vgl. über Archimedes oben S. 180 flf.

* Vgl. Ch. TiiußOT, Eev. arch. XIX. p. 47 f. p. 111 ff.

Atomistik und KorpuBkulartheorie. 211

2, Die EorpnsktQartheorie des Altertums.

Die antike Atomistik, in der Strenge, wie Demokrit sie gelehrt, beruhte allerdings auf dem Denkmittel, welches wir in der führenden Gedankenarbeit der Philosophie überall ver- missen, auf der mechanischen Kausalität. Aber gerade dieses hatte sich seinerseits vorläufig unfähig gezeigt, befriedigende Natur- erklärung zu l^fem, oder dem metaphysischen und theologischen Interesse zu entsprechen. Die Anwendbarkeit der Mathematik war auf dem damaligen Standpunkte derselben noch nicht ge- geben, die Bahnen der Atome und die Stöfse ihrer Massen konnte man nicht verfolgen oder konstruieren, der Begriff der Veränderung selbst blieb unzugänglich. Wenn es sich dagegen nicht um eine strenge mathematische Begründung, sondern nur um eine physikalische Erläuterung, eine Veranschaulichung der Vorgänge in der Körperwelt handelt, so bedarf es auch nicht einer Loslösung des im Leeren sich bewegenden Sub- strats von jeder sinnlichen Vorstellung. Die Atome selbst mögen zwar ihre Qualitätslosigkeit behalten, sie sollen nur GrrOfse, Gestalt und Bewegung besitzen, aber die Art dieser Bewegung, die gegenseitige Einwirkung der Atome und die Folgen dieser Einwirkung nehmen unter dem Einflüsse der in der sichtbaren Körperwelt beobachteten Vorgänge eine sinn- lichere Färbung an. Der Einwurf, dafs im Begriff des Atoms ein Widerspruch liege, weil das Unveränderliche, von allem andren getrennte Individuelle nicht in Wechselwirkung stehen könne mit andern Atomen, dieser Einwurf geht verloren. Die unmittelbare Erfahrung der Wechselwirkung wird auf die Atome übertragen, weil dieselben nicht mehr als metaphysische Substanzen, sondern als physikalische Partikeln der Körper selbst vorgestellt werden. Das ist die Goburtsstätte der Kor- puskularphysik. Das Atom wird zur Korpuskel, und die Kor- puskeln genügen dem Praktiker zur Verdeutlichung der von ihm an den Körpern beobachteten Veränderungen.

Diese Umwandlung der Atomistik in Korpuskulartheorie hat sich bereits im Altertum vollzogen; nur wissen wir wenig davon. Die Zahlen des Pytuagoras, die Idealflächen des Platox, die homoiomeren Elementarteilchen des Anaxagoras dringen in die Atomistik Demokrits ein und verschmelzen mit den

212 EkPHAKTOS. HeBAKLIDES PONTIGU8.

Atomen zur Korpuskel, welche dann solche Eigenschaften er- hält, wie sie der praktischen Verwendung geeignet erscheinen.

Von Ekphantos, welcher zu den Pythagoreem gerechnet wird, ist nur bekannt, dafs er lehrte, die sinnlich wahrnehm- baren Körper werden aus unteilbaren Körpern, Atomen, zu- sammengesetzt, welche sich im leeren Baum bewegen. Er fafste somit die pythagoreischen Einheiten als materielle Sub- stanzen auf, jedenfalls beeinfluTst durch die Atomistik. Seine Atome sollten nur drei Eigenschaften haben: öröJDse, Gestalt und Kraft (fjifysd'og, cx^^f*«, dvvagitg) ; was er jedoch dabei unter Kraft verstanden hat, läfst sich nicht ermitteln. Die Anzahl der Atome sah er als begrenzt und nicht unendlich an; als Ursache ihrer Bewegung nahm er eine göttliche Kraft an, welche er Geist und Seele nannte.^ So spärlich diese Nach- richten sind, so zeigen sie doch hier eine Atomistik, welche ungleich geeigneter als die demokritische war, späterhin zu einer Neubildung anzuregen ; denn die strenge Atomistik Demo- KKiTs schreckte ja ihres Materialismus wegen die christlichen Physiker von vornherein zurück. Etwaige Erneuerer der Ato- mistik hatten keine gröfsere Sorge, als sogleich dem Vorwurfe vorzubeugen, dafs sie mit der Atomistik auch den Materialis- mus annehmen wollten.

Über die Atome des Heraklides Ponticus wissen wir eigentlich nichts, als dafs er die kleinsten Teile, aus welchen die Welt bestehen soll, nicht Atome sondern oyxot genannt,^ dabei aber auch eine allgemeine göttliche Vemimft in der Welt angenommen hat. Von Interesse ist die Theorie des Schalles, welche Heuaklides gab', weil er hier im AnschluTs an seine atomistische Grundansicht den Ton als Erzeugnis rasch aufeinanderfolgender intermittierender Stöfse auffafst. Seine Atome unterscheiden sich von denen des Dbmokrit durch ihre Fähigkeit, Einwirkungen zu erleiden, so dafs sie auch eine wirkliche Verbindung eingehen können. Da Heraelides mit AsKLEPiADES zusammen genannt wird und die Berichte über beide gleichlautend sind, so werden wir bei dem Mangel

^ Die Belege bei Zeller, Phil d, Gr, 4. A. I S. 356 A. 1 u. S. 459 A. 2. ' Die Belege b. bei Abbllepiades (S. 213, Anm. 1.) » S. Zklleb, Bd. n A. 3. A. S. 887. A. 1.

ASKLEPIADEB TON BiTHTNIEN. 213

an Nachricliteu über Heuaklides annehmen müssen, dafs Askle- PIADES seine Atomenlehre aufgenommen hat.

AsKLEPiADES aus Prusa in Bithynien, welcher als Zeitgenosse des Cicero und Pompejus genannt wird, stellte eine medizinische Theorie auf, aus welcher später durch Themison die Schule der sogenannten Methodiker hervorging. In der Heükunde ging er davon aus, dafs der Körper aus unzähligen, durch die Verbindung von Korpuskeln gebildeten Kanälen (tcoqoi) bestehe, auf deren normaler Weite mit Bezug auf die normale Gröfse, Menge, Anordnung und Bewegung der Korpuskeln die Gesund- heit beruhe. Asklepiades nannte, wie Heraklides, diese Kor- puskeln oyxo^} Dieselben sind, so lange sie noch nicht zur Bildung der Körperwelt zusammengetreten sind, ohne jede sinnliche Qualität, nur vom Verstände zu erkennen (voiitoO, nur nach ihrer Gröfse und Gestalt voneinander verschieden (dvoikOioO und nur in Bezug auf diese veränderlich (na^xot, &Qawnoi). Diese Körperchen sind zwar von Anfang an neben- einander gelagert, aber nicht miteinander verbunden (ayaQfioO^* 80 dafs dieselben bei ihrer ewigen und unaufhörlichen Be- wegung (6$* alwvoq dvfjQifujroO sich gegenseitig stofsen und durch diese Stöfse in zahllose Bruchstücke (d-Qavaiiata, tpi^yfiara) zersplittert werden. Sie sind also nicht, wie die Atome des Demokrit, unteilbar, sondern zerbrechlich, weshalb sie auch nicht axo^oi sondern oyxoi. heifsen. Diese so entstandenen, nach Gestalt und Gröfse verschiedenen Splitter bilden nun durch ihr Zusammenströmen und Aneinanderhaften, je nach ihrer Menge und Ordnung, diejenigen Körper, welche durch die Sinne wahrnehmbar sind.

Wenn auch in dieser Theorie des Asklepiades die Konse- quenz des atomistischen Systems durchbrochen ist, so haben

^ Die Belegstellen für die Ansicht des Asklepudes s. in m. Abb. über SuniKKT, Viert f. w. Ph, JH S. 426, 427. Dazu noch Haeseb, Gesch. d. Med, I S. 265.

Über die Bedeutung von ävttQfiog s. d. in vor. Anm. citierte Abhandlung S. 427 ff. und Zellebs danach modifizierte Ansicht in d. 3. Aufl. seiner IkSL d. (Mechen in. A. S. 551 A. 5. Den von Zeller vorgeschlagenen Ausdruck fSr «vaQfMOii „nicht miteinander verbunden" habe ich hier aufgenommen, da derselbe als der weitgehendste das von mir früher gebrauchte ,, nicht zusammen- panend*' nicht ausschliefst, ohne eine schwer zu fällende definitive Entscheidung abzuschneiden.

214 Korpuskulartheorie der Mediziner.

wir dafür in ihr das ausgeprägte Vorbild der Korpuskular- theorie des 17. Jahrhunderts, eine Atomistik, welche nicht mehr an ein bestimmtes philosophisches System gebunden ist, aber wolilgeeignet, als Grundlage physikalischer Erklärung gebraucht zu werden. Die Schule der „methodischen" Arzte hat die Tra- dition dieser Korpuskulartheorie in ihrer rein physikalischen Bedeutung aufrecht erhalten und dem Humorismus Galens und der Araber gegenüber immer wieder betont.^

Daher haben wir hier einen jener Nebenwege entdeckt, auf welchem korpuskulartheoretische Gedanken zur Neuzeit hinüberwanderten, während Aristoteles die grofse Heerstrafse der Philosophie besetzt hielt. Caeliüs Aürelianüs, derjenige Methodiker, welchem wir die einzige ausführliche Nachricht über das System und die Atomistik des Asklepiades verdanken, hat ein ausführliches Lehrbuch hinterlassen, welches das ganze Mittelalter hindurch im Gebrauch und neben dem Herbarium des DiosKORiDES und den Werken des Hippokrates und Galen den Mönchen besonders empfohlen war.* So liegt hier eine stete Tradition atomistischer Lehren vor, welche für die Mediziner als theoretische Grundlage eine Autorität besafs, die der von Aristoteles verworfenen philosophischen Atomistik vollständig abging.

Eine weitere Anwendung der Korpuskulartheorie finden wir im Altertum bei dem berühmten Mechaniker Heron von Alexandrien (um 100 v. Chr.) .* Ihm ist der Gegensatz zwischen der logischen Behandlungsweise der Phänomene durch die Philo- sophen und der auf Beobachtung der sinnlichen Dinge durch die empirischen Mechaniker beruhenden Erklärungsart voll- ständig zum Bewufstsein gekommen.* Die Erscheinungen der Verdichtung und Verdünnung der Luft und andre Vorgänge sind ihm nur durch die Annahme erklärlich, dafs alle Körper aus kleinen Körpern (XhmoufQwv (fmficiTon') bestehen, zwischen denen leere Eäume eingestreut sich befinden, die kleiner sind

> S. 2. Buch, 6. Abschn.

' Cassiodorüs, De Instit. divin. liter. cap. 31. Op. ed. Garetus. 1G79. Toni. II, p. 556: Le^rite Hippocratem atquo Galenum Latina lingua conver- ßos . . . . deinde Aurelii Goelii de medicina . . .

8 Über die Zeit desselben S. Cantor, Gesch. d. Math. S. 313, 314.

* Pneumatica. In Veterum matJiematicorum opera. Paris 1693. p. 145.

Hebov vow Alexantriex: Poren und Korpuskeln. 215

als die Körperchen selbst.^ Diejenigen, welche den leeren Saum gänzlich leugnen, können freilich gut viele Worte machen, aber keinen Beweis aus der sinnlichen Erfahrung beibringen.* EinVacuum von gröfserer Ausdehnung gibt es allerdings nicht; dasselbe ist gegen die Natur. Es kann jedoch durch Zutritt einer äufseren Kraft hergestellt werden, und alsdann bewirkt es eben nach Aufhebung jener Kraft die in der Pneumatik auftretenden Erscheinungen. Die Körper entstehen durch Mischung der Elemente, die Elemente selbst aber sind korpus- kular zu denken. Die Luft besteht nach Ansicht der Natur- forscher ans kleinen Körpern, die uns meistens nicht wahr- nehmbar sind und sich gegenseitig berühren, jedoch nicht voll- ständig, sondern so, dafs wie bei den Körnern des Sandes am Strande Hohlräume zwischen ihnen bleiben.

Geiufse, welche leer erscheinen, sind nichtsdestoweniger mit Luft erfüllt, und die Luft verhält sich wie ein Körper, der das Eintreten eines andren Körpers in den Eaum, den er erfüllt, verhindert. Wenn man Wasser in ein Gefäfs giefst, 80 muTs dabei soviel Luft heraustreten, als Wasser hineinge- gossen wird. Kehrt man ein Gefäfs um und drückt es in das Wasser hinab, während man es dabei gerade hält, so tritt das Wasser nicht in dasselbe ein, auch wenn man das Gefäfs gänzlich untertaucht. Gestattet man aber mittels Durchbohrung des Bodens der Luft einen Ausweg, so strömt das Wasser hinein. Die Luft ist also ein Körper. Hauch und Wind ent- stehen durch die Bewegung der Luft, sie sind nichts andres als bewegte Luft. Man bemerkt dies, wenn die Luft beim Eintauchen des Gefässes ins Wasser aus der Bodenöffnung entweicht. Die Zusammendrückung der Luft erklärt sich aus der Verkleinerung der Hohlräume; wirkt die äufsere Kraft nicht mehr, so tritt der frühere Zustand wieder ein infolge der Spannkraft der natürlichen Körper, wie bei Spänen von Hom oder trockenen Schwämmen, die nach dem Zusammen- drücken ihr früheres Volumen wieder annehmen. Ähnliches findet statt, wenn die Luftteilchen durch eine äufsere Kraft, wie z. B. beim Saugen, ausein an dergezerrt werden. Es ent- steht dann ein Vacuum, das gröfser ist, als die Natur gestattet,

* A. a. 0. p. 152. » A. a. 0. p. 149.

216 Heron: Saugencheinungen. Elemente. Durchnchtigkeit.

so dafs infolge dessen die Teilchen wieder zu einander zurück- kehren. Dieser Rückgang findet sehr schnell statt, weil die Luftkörperchen bei ihrer Bewegung durchs Leere keinen Wider- stand zu überwinden haben, bis sie sich wieder aneinander- schliefsen. Darauf beruht auch das Anhaften eines Glases mit enger Öffnung an den Lippen, wenn man Luft aus dem- selben ausgesaugt hat; desgleichen das Füllen enghalsiger Flaschen, wie der medizinischen Eier (cJa iarg^xd^ ova medica), welches geschieht, indem man das ausgesaugte Gefafs mit dem Finger schliefst und unter der Flüssigkeit wieder öffnet, worauf an Stelle der fehlenden Luft die Teile der Flüssigkeit eindringen. Ahnliches findet bei den Schröpfköpfen statt, indem das Feuer die Luft in ihnen teilweise zerstört und dadurch verdünnt.

Die Elemente werden ineinander verwandelt. Bei der Zerstörung der Körper durch Feuer bleibt Kohle zurück, welche dasselbe Volumen (oder ein doch nur wenig geringeres) be- sitzt, wie das, welches vor der Verbrennung vorhanden war, während das Gewicht bedeutend abgenommen hat. Es sind nämlich die übrigen Teile ausgeschieden und je nach ihrer Dichte in Feuer, Luft oder Erde übergegangen. Die Dämpfe über glühenden Kesseln sind nichts anderes als verdünnte Flüssigkeit, die bei der Zerstörung durch Feuer in Luft übergeht. Weitere Beweise für die leeren Zwischenräume in den Körpern bietet die Durchsichtigkeit derselben. Ohne Poren könnte weder durch Wasser noch durch Luft oder irgend einen andren Körper Licht, Wärme oder irgend eine andre körperliche Wirkung hindurchgehen. Denn wenn die Lichtstrahlen beim Hindurchgehen durch Wasser dasselbe gewaltsam zerrissen statt durch die Poren zu treten so müfste dsis Wasser im Gefilsse überschäumen. Man beobachtet aber, dals ein Teil der Strahlen ohne Hindernis hindurchgeht, ein Teil zurückge- worfen wird. Die Reflexion könnte nicht stattfinden, wenn die Strahlen das Wasser zerteilten, denn dann müfsten alle Strahlen dasselbe in gleicher Weise passieren; so aber werden diejenigen zurückgeworfen, welche auf die Luftkörperchen selbst fallen, während die auf die Poren treffenden hindurch- gehen. Femer zeigt die Verteilung des Weines im Wasser, dafs Hohlräume in diesem vorhanden sein müssen.

Herons Eklekticismns. Vitruvius. 217

Beim Diamant könnte man zweifelhaft sein, ob er viel- leicht keine Poren enthielte, weil er weder verbrannt noch zerbrochen werden kann und, wenn man darauf schlägt, gänzlich in Hammer und Ambos eindringt. Aber das geschieht nicht wegen des Fehlens der Poren, sondern wegen seiner konti- nuierlichen Dichtigkeit. Die Feuerteilchen sind nämlich dicker als die Hohlräume im Stein und können daher nicht eindringen. Daher fahren sie auch keine Wärme in ihn ein.

Es ist somit bewiesen, dafs sämtliche Körper auch die Metalle ein gewisses Mafs von leeren Hohlräumen enthalten, das ihrer Natur entspricht. Jede Veränderung dieses natür- lichen Mafses an Vacuum durch Vergröfserung oder Verklei- nerung kann nur durch äufsere Kräfte bewirkt werden und strebt seinerseits wieder nach Ausgleichung.

Wir finden bei Heron vollständig die Korpuskulartheorie des praktischen Physikers, wie sie auch im 17. Jahrhundert wieder auftritt. Es kommt ihm nicht darauf an, seine physi- kalische Hypothese in den Zusammenhang einheitlicher Natur- erkenntnis zu bringen. Warum die Natur gerade blofs das bestimmte Mafs zerstreuten Vacuums, aber kein gröfseres zu- läfst, wird nicht erörtert. Über die Beschaffenheit der Kor- puskeln werden keine genaueren Angaben gemacht. Herons Ab- sicht richtet sich nur darauf, eine Erklärung der speziellen pneuma- tischen Probleme zugeben, mit welchen er sich gerade beschäftigt, und dazu genügt es ihm, aus den Annahmen der Atomiker ebensogut wie aus der Theorie der Mischung der Elemente und aus der Lehre vom Abscheu der Natur vor einem gröfseren Vacuum das herauszunehmen, was ihm im physikalischen Inter- esse verwertbar erscheint.

Wo die Ansätze zu empirischer Physik auftreten, sehen wir sie also zugleich mit Anfangen zur Korpuskulartheorie verknüpft. Auch spätere Techniker setzen für ihre Erklärungen derartige synkretistische Hypothesen ohne Bedenken voraus. So erklärt Vitruv das Brennen und Löschen des Kalkes aus einer korpuskularen Zusammensetzung der Grundstoffe.^ Die Steine bestehen aus den vier Elementen, je nach ihren Eigen- schaften in verschiedener Mischung. Wenn sie, in den Ofen

* De architeciura 1. U. c. 5, 2. Ed. Lohentzkn. Gotha 1857. S. 74—77.

218 ViTBUTs eklektische Korpuskulartheorie.

geworfen, von der heftigen Glut des Feuers ergriffen, die Ei- genschaft ihrer früheren Härte verloren haben, dann sind sie schliefslich, nachdem ihre Kraft ausgebrannt und erschöpft ist, von offenen und leeren Poren durchsetzt. Durch das Brennen sind Flüssigkeit und Luft herausgetrieben, während die Hitze noch im Stein latent erhalten bleibt. Wird nun der gebrannte Kalk in Wasser getaucht, so dringt die Flüssigkeit in die offenen Poren ein und treibt die Hitze aus dem Körper heraus, so dafs er aufkocht und nachher sich abkühlt. Daraus erklärt sich der Gewichtsverlust des Kalkes beim Brennen, welcher, bei gleich bleibendem Volumen, durch das Austreiben der Flüssigkeit ungefähr ein Drittel des Gesamtgewichts beträgt. Die Bindekraft des Kalkes beruht nun auf der Leere seiner Poren. In die offenstehenden Gänge und Hohlräume wird die Mischung des Sandes aufgenommen ; die Steine haften dadurch fest aneinander und gehen beim Eintrocknen mit den Bruch- steinen eine Verbindung ein, woraus die Festigkeit des Mauer- werks sich erklärt.

Die Stelle reicht aus, um die unbefangene Verschmelzung von Porismus imd Elementenlehre bei den Technikern zu zeigen.^ Die Verbindung ist offenbar rein mechanisch gedacht, im Sinne der Atomistik, nicht im Sinne der substanzialen Formen. Aber hier wie bei Heron sind Elemente und Atome zum Begriff der Elementarkorpuskel verschmolzen. Vitruv empfindet den ur- sprünglichen Gegensatz in den metaphysischen Begriffen der Philosophen gar nicht mehr. Er sagt, die Pythagoreer hätten die vier Elemente, Demokrit und Epikür die Atome als Ur- sprung aller Dinge erklärt; Demokrit aber, obwohl er nicht ausdrücklich Dinge, sondern nur unteilbare Körper als Ursprung bezeichnete, scheine nichtsdestoweniger dieselben Elemente gemeint zu haben, weil, wenn sie getrennt sind, sie weder der Verletzung, noch dem Untergange, noch der Zerschneidung aus- gesetzt sind, sondern ewig und ununterbrochen eine unend- liche Festigkeit in sich bewahren.* Diese Ansichten sind offen- bar in philosophischer Hinsicht laienhaft; aber gerade die

* Vgl. noch die Erklärung der Wirkung der Heilquellen durch Poren in den Körpern 1. VIII, c. 3, S. 4, 5 und die interessante Stelle über die Fort- pflanzung des Schalls nach Wcllenart, 1. V. c. 3. S. 6.

' A. a. 0. 1. n c. 2, ed. Lorgntzer S. G8.

BedeutuDf? d. Korpuskulartheorie der Techniker. 219

gröfsere Gleichgültigkeit gegen das metaphysische Interesse kommt dem physikalischen zu gute. Die Entwickelung der Korpuskulartheorie bedarf zunächst, bevor sie selbst wieder i n streng philosophischem Gedankengange begründet werden kann, der Zerstörung und Aufhebung der ihr feindlichen Vorstellungs- weisen, insbesondere der Alleinherrschaft der substanziellen Formen. Ahnlich, wie die Mathematik ihre Fortschritte nur machen konnte, weil die Inder von Anfang an frei waren von der geometrischen Denkart der Griechen, welche die Ent- wickelung der analytischen Arithmetik nicht zuliefs, so konnte auch die Physik nur vorwärtskommen durch die Unabhängig- keit der praktischen Empiriker von der Disziplin philosophischer Schulen. Beides geschah zunächst auf Kosten der Wissen- schaftlichkeit; aber das rohe Vorwärtsdrängen fand nach einer Sichtung hin statt, wo die Wissenschaft infolge beschränkter Prin- zipien sich ihren Weg selbst vermauert hatte und diese Mauer zunächst durchbrochen werden mufste, um der Empirie und in ihrem Gefolge einer höheren Theorie die Bahn frei zu machen. Daher sind jene eklektischen Hypothesen der Techniker nicht zu unterschätzen. Sie gehen Hand in Hand mit dem Interesse an einer Lösung des Körperproblems mit Hilfe der mecha- nischen Kausalität, und sie leisten inzwischen durch An- schaulichkeit und sinnliche Greifbarkeit, was ihnen an Klar- heit der Begriffe noch abgeht. Füi' die Physik ist eine Be- merkung von so quantitativer Bestimmtheit, wie die des Vitruv, dafs die Kalksteine beim Brennen ein Drittel an Gewicht ver- lieren, viel wichtiger als die scharfsinnigste Spekulation, ob die Form des Kalkes beim Brennen verloren gehe oder nicht. Die physikalische Hypothesenbildung verfahrt eklektisch und hält sich gern an vermittelnde Systeme. Daher darf man denjenigen Autoren, welche indirekt einer Förderung kor- puskulartheoretischer Ansichten günstig waren, auch L. Annaeus Seneoa^ zurechnen. Es ist der Materialismus der Stoi- ker, wodurch ihre Lehren im Gegensatz zur Theorie der sub- stanziellen Formen der physikalischen Auffassung der Natur entgegenkommen. Bei ihnen gilt alles als körperlich, die Eigenschaften werden wie Luftströmungen betrachtet und das

^ Naturalium tiuaesUonum libri VII. Opera ed. Fr. Haase. Lips. 1852. Vol. I.

220 Sekkca.

Sein der Eigenscliafteii in der Substanz wird in ähnlicher Weise vorgestellt, wie das Sein der Eigenschaften in der Mischung. Kor- puskular freilich ist die Physik der Stoiker keineswegs, der Stoff wird ausdrücklich als ins Unendliche teilbar erklärt. In dieser Hinsicht bekämpft der Stoicismus Demoerit ebenso, wie es der Ari- stotelismus that. Auch verhindert die Lehre von der allgemeinen Durchdringung der Körper, der xQä<f&g d$' oXmv, das Zustande- kommen eines brauchbaren Begriffs vom Körper. Dennoch ist die Physik der Stoa vielmehr geeignet als die aristoteUsche, korpuskularen Annahmen sich anzupassen und atomistische Elemente in sich aufzunehmen, weü sie von vornherein durch die körperliche Auffassung alles Seienden der naturwissenschaft- lichen Denkweise den Boden bereitet. Der Dynamismus der Stoiker kann in den Händen philosophisch ungeschulter Em- piriker leicht in anschauliche mechanische Vorstellungen um- schlagen und ist in seiner Unbestimmtheit jedenfalls wenig widerstandsfähig gegen die eklektischen Neigungen der physi- kaHschen Theorien.

Wenn auch der Materialismus der Stoa dem vom christ- lichen Interesse beherrschten Mittelalter nicht weniger bedenk- lich als derjenige der Atomistik erscheinen muTste, so gereicht doch anderseits das ethische Interesse, welches den Stoi- cismus leitet, der Kenntnisnahme und Beachtimg seiner Lehren zum Vorteil. Gewifs hat das ethische Pathos Sekegas nicht wenig dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit auch auf seine Physik zu lenken und seine „Sieben Bücher über naturwissen- schaftliche Fragen" zu einer im Mittelalter vielgelesenen Lektüre zu machen. Stand doch Senegas Person in hohem Ansehen, er selbst galt für einen Christen und seine physikalischen Be- merkungen wurden vielfach benutzt und studiert.* Wird man auch den Einflufs seiner rhetorischen Lobpreisungen der Physik * nicht zu hoch anschlagen dürfen, so bilden sie immerhin einen wertvollen Gegensatz zu den abfalligen Urteilen der Kirchen- väter über den Nutzen der Physik, indem sie die Erhabenheit

^ Namentlich in dem grofsen Sammelwerke des ViKCSimus Belloyacensis (de Beauvais, t um 1265) : Spectdi majoris VincentU Burgundi PrciesuUs Bei- vacensis tomi IV etc. Venetiis 1591. Über des Vinoentiüs naturwissenschaft- liche Ansichten berichtet Zöcklek, L S. 455 ff.

Natur, quaest L. I Prologus. L. HI, praef. 18., L. VI, c. 4, 2,

Seneca gegen die Atomistik. 221

der Natur über die kleinliclieii Bestrebungen der Menschen betonen.

Die direkte Ausbeute der Physik Senecas für die Theorie des Körpers ist freilich sehr unbedeutend. Gegen atomistische AnjQfassungen erklärt ^er sich wiederholt. Die Luft ist ihm der Träger der Kontinuität, der einheitliche Körper, welcher zu- gleich den Zusammenhang der Körper vermittelt.^ Sie darf weder korpuskular gedacht und mit der Zusammensetzung des Staubes aus einzelnen Teilchen verglichen werden, noch ent- halt sie untermischte leere Zwischenräume.* Demokkits ato- mistische Erklärung der Winde wird bestritten,» vielmehr der Luft eine innere, natürliche Kraft sich zu bewegen zuge- schrieben/ Es ist aber bezeichnend für die Unbestimmtheit der physikalischen Theorien, dafs Seneca wenigstens für Nebel, Wolken und die Exhalationen der Erde von bestimmten Kör- perchen spricht und geradezu fragt : „Ist es also nicht richtiger zu sagen, dals aus jedem Teile der Erde beständig viele Kor- puskeln aufsteigen, welche anfangs sich anhäufen, dann von der Sonne verdünnt zu werden beginnen, und weil alles, was eingeengt sich ausdehnt, einen gröfseren Kaum verlangt, da- durch der Wind entsteht?"^ Derartige Aufsenmgen tragen ganz den Charakter jener eklektischen, nur auf bequeme Erklärung des Nächstliegenden gerichteten Physik.^

An Anregungen, welche aus dem Altertum stammten, fehlte es demnach nicht, um das Problem des Körpers in physikalischer Hinsicht zu fördern.

Unmittelbar freilich zeigt sich die Wirkung dieser korpus- kolartheoretischen Anschauungen in der Wissenschaft des Mittelalters nicht. Aber derselbe Prozefs, der sich bei den Technikern und Mathematikern der Alten in der Emanzipation von der Philosophie vollzog, mufste sich wiederholen, wenn am Ausgange des Mittelalters die empirische Naturbehandlung gröfseren Einflufs gewann. Und dazu trug das Naturwissen der Araber wesentlich bei.

» L. n, 2, 1. n, 6, 6. * II, 6, 2. II, 7. = V, c. 3. * V, 5, 1. V, 4, 3.

Über das nytvuce der Stoiker vgl. 2. Buch I, 1 S. 266.

222 Alhazek.

3. Die Physik.

Die astronomischen Leistungen der Araber dürfen hier übergangen werden. Dagegen könnte man vermuten, in der Optik ein Feld anzutreffen, das auch zu theoretischen Fort- schritten in der Erkenntnis des Wesens der Körper Veran- lassung geben dürfte. Dazu war jedoch aristotelischer Einflufs bei den Arabern schon zu mächtig geworden. Ihr bedeutendster Schriftsteller im Fache der Optik ist Abu Ali al Hasan ibn AL Hasan ibn Alhaitam (f 1038), im Abendlande Alhazen ge- nannt, dessen Optik, 1269 von Witelo übersetzt, daselbst lange Geltung besafs und von Eisner 1572 durch den Druck ver- öffentlicht wurde.* Der Fortschritt seiner Optik besteht Ptolemäos gegenüber in der Einsicht, dafs das Sehen durch Strahlen geschieht, welche nicht vom Auge ausgehen, sondern in dasselbe eindringen (wie auch Aristoteles im Gegensatze zu Platon lehrte), sowie in dem Nachweis, dafs Einfalls- und Brechungswinkel nicht proportional sind; Euklid gegenüber darin, dafs nicht nur einer, sondern unzählige Strahlen von jedem Punkte des Objekts ausgehen. Auch leugnet Alhazen die momentane Fortpflanzung des Lichtes. Der ganze Cha- rakter seiner Optik ist jedoch der geometrische der späteren griechischen Physik und allein vom mathematischen Interesse beherrscht. Daher findet sich in derselben keine Spur einer Theorie des Lichtes, welche auf die Theorie der Materie zurückwiese. Man könnte derartiges am ehesten bei der Erklärung der Durchsichtigkeit erwarten, weil diese Frage bei Aristoteles ein Gegenstand des Streites mit den Atomisten war, welche die Durchsichtigkeit der Körper mit Hilfe der Poren erklärten. Aber Alhazen gibt als Grund der Durchsichtigkeit nur an, dafs die Form des Lichtes und der Farbe durch den durch- sichtigen Körper hindurchgeht, durch den imdurchsichtigen aber nicht, und zwar deshalb, weil der durchsichtige Körper die Form des Lichtes und der Farbe aufnimmt imd sie den Teilen

* Alhazeni Opticae Thesaurus. Baeil. 1572. FoL Vgl. Caktor. I S. 677. PooGKNüORFF, Gcsch. d. Phys. S. 73. Kobenberger, I S. 78 f. Über das Psychologische s. Siebeck, Zur Psychologie der Scholastik, Ärch. f. Gesch. d, PhiL 1889. n p. 416 ff.

Alkhaziki. 223

übermittelt, welche dem (ankommenden) Lichte entgegengesetzt liegen.^

Von gröfserer Bedeutung als die Teile der Physik, welche der damaligen Mathematik zugänglich waren, wird für die Entwicke- lung der Körperlehre der Fortschritt der Araber in quantitativen Bestimmungen, namentlich der spezifischen Gewichte der Körper, wobei sich die Kenntnis des archimedischen Gesetzes fruchtbar erweist. Nachdem schon Abu-r-Eaihan Albiruni eine Tabelle spezifischer Gewichte geliefert (f 1038/39), leistet Alkhazini in seinem Buch von der Wage der Weisheit (1121/22) eine Experi- mentaluntersuchung von überraschender Genauigkeit und gibt eine Tafel der spezifischen Gewichte von 50 verschiedenen Stoflfen.* Die mit seiner hydrostatischen Wage erreichten Resultate sind so sicher, dafs er daraus sogar die Abhängig- keit des spezifischen Gewichts des Wassers von seiner Tem- peratur erkennen konnte. Aber auch bei ihm ist der Stand- punkt der griechischen Naturkenntnis nur empirisch weit überschritten, in der Theorie zeigt sich kein Fortschritt über die griechische Wissenschaft hinaus.*

4. Die Chemie.

Den gröfsten Euhm der Araber machen die beiden Wissen- schafben der Chemie und der Medizin aus, in welchen die unmittelbare Beobachtung am direktesten zu Ansichten über die Natur der Körper führt. In der Chemie vor allem haben die Araber das Verdienst, die wirkliche Zerlegung der Körper an Stelle der dialektischen Zergliederung der Begriffe methodisch betrieben zu haben. Die alchy mistischen Studien kamen aus Alexandrien zu den Arabern, bei denen sie die leb- hafteste Förderung fanden. Das Problem der Metallverwand- lung, welche die Hoffnung erweckte, Gold zu machen, spornte zu immer neuen Anstrengungen. Dabei führte die empirische

' Opiie<ie thesaurus. I. 22. f. 13.

' Vgl. BOSKNB EROER S. 82.

* Über eine arabische Bestimmung der Tragkraft eines Magneten darch die Wage und ihre Veränderung s. Eiliiaud Wiepemanx in Wied^manns Ann. IV, S. 320.

224 Gebeb als Chemiker.

Umwandlung der Körper zu einer andren, auf die chemisclie Erfahrung gegründeten Elementenlehre, als die aristotelisclie.

Die Schriften, welche die Hauptlehren der arabischen Chemie enthalten und in lateinischen Übersetzungen während des ganzen Mittelalters die gröfste Autorität besafsen, sind bekannt unter dem Namen Gebers.^ Die Angaben über das Leben dieses Mannes, welches in das achte Jahrhundert fallt, sind schwankend und unsicher. Wahrscheinlich war sein Name Abu Musa Dschabir ben Hajjan bbn Abdallah al-Süfi al-Tarsufi AL-KuFi ; sein Geburtsort Tarsus, sein Wohnort Kufa daher seine Beinamen sein Lehrer Dschafbr al-Sadic, mit welchem er der Ähnlichkeit der Namen wegen verwechselt wurde. Li- wieweit die unter seinem Namen gehenden Werke ihm selbst und die darin niedergelegten Kenntnisse seiner eigenen Forschung zugehören, wissen wir nicht. Genug, dafs er uns den hochentwickelten Stand der Chemie bei den Arabern repräsentiert. Er kennt das Schmelzen, Lösen, Filtrieren, Krystallisieren, Destillieren und Sublimieren der Körper. Aufser den Kenntnissen der Alten, welche Plinius und Dioskorides überliefern, gibt er die Herstellung einer ganzen B.eihe andrer Körper an, vor allen die der Salpetersäure, wie es scheint auch unreiner Schwefelsäure. Mit Hilfe der ersteren stellte er z. B. salpetersaures Silberoxyd her, ebenso durch Zusatz von Salmiak Königswasser, in welchem er Gold auflöste.* Durch die Kennt- nis dieser Säuren bekam die Chemie eine ganz neue Gestalt, da es vorher den Chemikern an jedem kräftigen Lösungsmittel fehlte und sie nur auf den trocknen Weg angewiesen waren.

Dschabir berichtet über seine eigenen Ansichten und die seiner Vorgänger in Betreff der Entstehung der Metalle in seiner sogenannten Summa perfectionis ; ' seine Theorie, obwohl

^ Über ihn vgl. Wüstenfkld, S. 12. H. Kopp, Gresch. d, Chem., I S. 53. HoEFER, Hist. de la chim. I p. 329 ff. Poooendobff, Gesch. d. Fhys,^ S. 66 ff. Kopp, Beitr. 3. St. S. 13 ff. Leclerc, Bist de la med. S. 70 f.

* Kopp, Beär. S. 39, 40.

^ Gebri Arabis pbilosophi etc. Titql x^fjitiug Whri diXko, quibus titulum fecit: Summa perfectionis, aive perfecti magisterii. Ex Arabico in Latinum translati, incerto interpretc. In: Artis chemicae principes, Avicemma atqae Geber, Basileac 1572, p. 497—708. De principüs naturalibus et eorum effectu handelt ps. III des 1. Baches, p. 537 ff.

Geber: Grandstoffe. Me lallen tstehuug. 225

im einzelnen modifiziert, beherrschte lange Zeit hindurch die Chemie; sie läfst sich im wesentlichen dahin zusammenfassen, dafs Mercuritis nnd Sulfur die Prinzipien sind, durch deren Verbindung in verschiedenen Verhältnissen die Metalle, also zusammengesetzte Körper entstehen. Dschabir gibt an, dafs ältere Alchymisten als Prinzipien der natürlichen Körper den Spiritus foetens und die aqua viva, auch sicca genannt, angesehen haben. ^ Die Ansicht der Neueren dagegen sei die, dafs Queck- silber und Schwefel die Prinzipien der Metalle seien, jedoch nicht Quecksilber und Schwefel in ihrem natürlichen Zustande, sondern in einem veränderten (alteratum et in terram mutatum).

^ A. a. 0. c. 25. p. 537. Es scheint dies auf die Erklärung der Metall- entstehong durch Aristoteles hinzuweisen, nach welchem dieselbe dadurch zu stände kommt, dafs die feuchten Ausdünstungen (die trocknen bilden die übrigen Mineralien) im Erdinnern verhärten und mit dem Wasser sich verbinden. (ÄKiBTOT.y Meteor, DI, 6. p. 378 a. 26 f. Vgl. Platon, Timaeiis -p. bS.) Die ayad-u- /iiaoi^ ttTfiidtodtig (exhalatio vapida) des Aristoteles ist durch die arabische und lateinische Übersetzung zum spiritus foetens geworden, während die Ansicht des Aristoteles, dafs der Hauptbestandteil der Metalle Wasser sei, durch die aqua Viva repräsentiert wird. An diese von Theophrast aufgenommene Theorie erinnert aber auch die folgende Beschreibung Gebers, nur dafs hier die Begriffe Schwefel und Quecksilber eingetreten sind. Nach der Encyklo- padie „der lautem Brüder^ besteht die Ansicht über die Entstehung dieser Stoffe, welche Geber hier den „Neueren"" zuschreibt, nach Dietericis Angabe fJPhä. d. Arab. U. Mikrokosmos S. 13, 14.) in folgendem: „Alle Metalle be- stehen aus denselben Stoffen, nur in ihrer Zubereitung und der Einwirkung des Feuers liegt die Differenz. Sie gehen aber nicht direkt aus den Elementen hervor, es werden erst die Grundbestandteile derselben, Quecksilber und Schwefel, gebildet. Die verschiedenen Feuchtigkeiten im Innern der Erde nSmlich, sowie die dort verschlossenen Dünste, lösen sich, wenn die Grubenhitze sie rings umgibt, auf; sie verflüchtigen sich, werden leicht, steigen empor bis zum Oberrand der Tiefgründe und Höhlen und verweilen dort eine Zeit. Wird dann das Innere der Erde im Sommer kalt, so gerinnen sie, verdicken sich und kehren endlich niedertröpfelnd auf den Grund der Höhlen zurück ; dabei vermischen sie sich mit dem Staub und Lehm jener Landstriche. Sie verweilen nun dort eine Zeit, während die Grubenhitze sie fortwährend reifen und kochen läfst. Sie werden durch ihr langes Stehenbleiben daselbst geläu- tert und nehmen an Schwere und Dicke zu. Diese Feuchtigkeiten (Wasserteile) ▼erwandeln sich durch die Beimischung der Staubteile, sowie dadurch, dafs sie Dicke und Schwere annehmen und die Hitze sie reifen und kochen läfst, in zittemdes Quecksilber. Die öligen Luftteile aber werden mittelst der sich ihnen beimischenden Staubteile sowie dadurch, dafs die Hitze sie kocht, in der Zeit zu Schwefel.*'

Lafiiwitx.

226 Gkber: Chemische Prinzipien und Elemente.

Der Vorgang der Metallentstehung wird dabei so gedacht, dafs Quecksilber und Schwefel zunächst in einen erdigen Zustand sich verwandeln; aus jedem dieser beiden erdigen Stoffe wird durch die Wärme des Erdinnem ein fumus tenuissimus frei, und diese beiden äuTserst feinen Baucharten sind die unmittelbare Ma- terie für die Metalle.* Dieser im Erdinnem fixierte fumus ver- bindet sich alsdann mit dem Wasser in der Erde, so dafs eine sehr enge und durchaus gleichförmige Verbindimg aller Ele- mente entsteht. Diese Verbindung wird durch allmähliche Er- härtung zum Metall. Dschabir meint, dafs die Vertreter dieser Ansicht, wenn sie auch der Wahrheit nahe gekommen seien, doch die reine Wahrheit noch nicht gefunden hätten. Er selbst gibt drei Prinzipien der Metalle an, Sulfur, Arsenicum, Argentiim vivum,'^ von denen jedoch Ärsenict4m neben dem Schwefel weniger in Betracht kommt und als etwas dem Schwefel Nahestehendes behandelt wird. Die Eigenschaften und Wirkungen dieser Grundstoffe, die sich bei der Zusammen- setzung der Metalle aus ihnen geltend machen, werden aus- führlich auseinandergesetzt, wobei sich überall zeigt, dafs für die Art der Zusammensetzung die quantitativen Verhältnisse wesentlich sind. Theoretisch ist der Zusammenhang dieser chemischen Prinzipien mit den alten vier Elementen von Inter- esse. Von all den Prinzipien der Chemiker, sowohl den älteren als neueren, sagt Dschabir ganz im allgemeinen, dafs sie zusammengesetzte Körper sind und zwar von sehr gleichförmiger Substanz, weil in ihnen die Teile der Erde mit denen der Luft, des Wassers und des Feuers aufs innigste (durch Berührung der kleinsten Teile) vereint sind, so dafs dieselben bei der Auflösung sich nicht voneinander trennen können.* Wir haben es also bei den Grundbestandteilen der

^ A. a. 0. c. 26. p. 539. „Et hie duplex fumus est materia metallorum immediata." Vgl. dazu die Theorie des Aristoteles in vor. Anm.

A. a. 0. c. 27. p. 540. Vgl. dazu Kopp, Beitr, S. 44. Anm. 40.

' A. a. 0, c. 25. p. 537, 538. Expedit igitur nos ampliare sermonem nostrum et dilatare (dies geschieht c. 26) et singulum capitulum de singulo naturali principio tradere. (Dies sind die c. 28, 29, SO.) In genere autem dicimus, quod unumquodque ipsorum (also auch Quecksilber und Schwefel) est fortissimae compositionis et uniformis substantiae, et illud ideo, quod in eis partes terrae taliter partibus aeriis, aqueis et igneis per minima sunt nnitae.

Geber: Zusammensetzung der Metalle. 227

Metalle nicht etwa mit neuen Elementen, sondern mit eigentüm- Uolien engen Verbindungen der vier alten zu thun, die nun als solche die Verbindung zu Metallen eingehen. Die vier Elemente sind die potenziellen Bestandteile von Quecksilber und Schwefel, diese wieder die Materie für die wirklichen Metalle. Die Ver- mutung liegt nahe, dafs die aus der Praxis des chemischen Laboratoriums entstandenen technischen Bezeichnungen für Substanzen, auf welche die empirische Analyse immer wieder fährte, nnter dem Einflufs der griechischen Wissenschaft von den Arabern mit der Elementenlehre in Übereinstimmung gebracht worden sind. In welcher Art und Weise diese Elemente in den Verbindungen enthalten sind, darüber mufs man einge- hendere Spekulationen bei Dsghabir nicht suchen. Vielmehr weist er derartige Untersuchungen zurück, weil sie weder zu ersprielslicher Erkenntnis führen können noch für die Chemie notwendig sind.^ Der künstliche Weg zur Erzeugung der Metalle wird doch nicht derjenige sein können, welchen die Natur eingeschlagen hat.

Die Annahme, dafs die Metalle zusammengesetzte Körper seien, ist für die Entwickelung der theoretischen Chemie noch darum von besonderem Literesse, weil durch dieselbe der Vor- gang der Calcination (Oxydation) mit dem der Verbrennung in eine Linie gestellt und beide als eine Ausscheidung eines Bestandteiles betrachtet wurden. Alle Erklärungsversuche mnisten dadurch eine der gegenwärtigen Theorie gerade ent- gegengesetzte B^ichtung erhalten.

Im übrigen bietet die Chemie in ihrer ferneren Ent- wickelung zunächst für die Förderung des Körperproblems nur

ut nulla ipflorum alteram in resolutione possit dimittere, immo quaelibet cum qoftlibet resolvitur, etc.

^ Summa perfeciionufy ps. IL c. 10 u. 11. Nostra igitur intentio non est in priscipÜB naturam sequi, nee in proportione miscibilium elementorum, nee in modo miztionis ipsorum ad invicem, nee in aequatione caloris inspissantis : emn haec omnia sunt nobis impossibilia et penitus ignota. Und wenn den Oiemikem Torgeworfen wird, dafs sie dies alles nicht wüfsten, so concedimus eis ntiqne, sed non propter hoc nostram scientiam divinaminterimunt: quia nee aeire volumus illa, nee possumus, nee ad opus nostrum possunt pervenire. Wie die Metalle selbst aus Quecksilber und Schwefel zusammengesetzt gedacht wurden, darüber vergleiche man Kopp, Gesch. d, Chem. III, S. 97, 98. Beitr. 8. 46 ff.

15*

228 Chemiker. Ärzte.

die Erweiterung des empirischen "Wissens, da sie sich, wie bereits angedeutet, auf eigentliche Theorien der Materie nicht einläfst. Abu Beer al Razi (Rhases), Ibn Sina (Avicenna), Abul-Casim al Zahkawi (Albucasis) sind die am häufigsten genannten Namen von Chemikern.

In das Gebiet der Chemie gehört zwar die Frage nach der Existenz der Bestandteile in den Verbindungen, aber die- selbe ist so rein theoretischer Natur, dals sie hauptsächlich von den Philosophen abgehandelt wird, da ihre Lösung von der Bedeutung des Begriffs der „Form" abhängt und von der aristotelischen Physik ihren Ursprung nimmt. Der grofsen Wichtigkeit wegen, welche dieselbe für die Geschichte der Atomistik hat, ist sie in besonderem Kapitel zu besprechen.

Zunächst haben wir noch einen Blick auf die Geschichte der Medizin bei den Arabern zu werfen.

5. Die Medizin.

Die Medizin hat einen analogen Entwickelungsgang wie die übrigen Wissenschaften bei den Arabern durchgemacht, welche neben einem theoretischen Teile eine die Araber be- sonders interessierende praktische Bedeutung haben. In letz- terer Hinsicht mit Eifer ergriffen, ausgebaut und den neuen Verhältnissen angepafst, empfing die Heilkunde bei den Arabern doch ihre wissenschaftliche Form von den Griechen, und gerade der hier in Betracht kommende theoretische Teil derselben schliefst sich an die auch in der arabischen Philosophie herr- schende peripatetische Richtung an. Es genügt, aus der un- gemein grofsen Anzahl der uns überlieferten Namen arabischer Ärzte ^ einen einzigen Mann hervorzuheben, den berühmtesten unter allen, Ibn Sina (Avicenna), der uns schon als Anhänger des Aristoteles bekannt ist.* Wie Aristoteles in der Philo- sophie, so blieb Avicenna während des ganzen Mittelalters Alleinherrscher in der Medizin, und sein grofses systematisches Werk Al-Kanün fi^UTih (Canon medidnae) wurde in der That die Richtschnur, nach welcher die Ärzte Jahrhunderte hindurch sich bildeten.

* S. WüsTENPELD u. Leclerc. * Vgl. S. 170.

Humorismus. 229

Ibk Sina, wie fast alle arabischen Arzte, steht auf den Schaltern Galeks, des Verehrers von Hippokrates und Aristo- teles, des Gegners der Atomiker und Methodiker. Aus diesem Gnrnde und wegen ihrer Unbekanntschaft mit der lateinischen Litteratur der Medizin blieb die Heilkunde der Araber von dem Einflüsse der Methodiker frei, während derselbe im Abend- lande sich wirksam erhalten hatte, aber allerdings durch die Autorität von Hippokrates, Galen und Avicenna, deren Lehren namentlich von der berühmten Schule in Bologna gepflegt wurden, immer mehr gelähmt ward.

Die Wirkung der medizinischen Theorie der Araber ging nun, was den Einflufs auf die Bekämpfung der Atomistik be- trifil, mit dem Streben der Philosophie gänzlich Hand in Hand. Die Heilkunde berührt das Problem der Materie bei der Frage nach der Zusammensetzimg des menschlichen und tierischen £örpers. Hier mufste es für den Arzt von Wichtigkeit sein zu wissen, ob und in welcher Weise die Körper eigenartige Bestandteile besitzen, weil sich nur daraus die Ursache der Erkrankung und die Wirkung der Heilmittel erklären und be- stimmen liefs. In dieser Beziehimg hatte nun Hippokrates und seine Schule festgestellt, dafs der Körper aus den vier Elementen des Trocknen, Feuchten, Kalten und Warmen be- stehe; denn diese bilden die Nahinmgsmittel, die Nahrungs- mittel aber verwandeln sich im Körper in die Säfte {xvfioC, humores), deren es ebenfalls vier gibt, Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle {alfia, qik^yficc, x^^ ^avO^^ xal iidaiva), ^ Das Charakteristische in der Theorie der hippokratischen Schule bestand in diesem Humorismus, d. h. in der ausschliefs- lichen Berücksichtigung der flüssigen Bestandteile des Körpers. Im Gegensatze zu dieser Theorie stellte Asklepiades von Bi- thynien und nach ihm die „methodische" Schule die Be- hauptung in den Vordergrund, dafs der Körper aus unzähligen,

* Galbni, De elementis secundum Hippocratein lib. L, Galeni Opera ed. K6hk, Tom. I. p. 457, 477, 479, 480, 487. Hippocratis mQi tfvciog ih&ittonov 0. Galbhi eomment. in Galeni Op. ed. Kühn Tom. XV. p. 69. (c. 26): Die Sifte sind nicht gleichartig, sondern ixumor auiitov fjfti &vyic^(y k xal tf^vaty nJK imvtiöv, Galeiu in Hippocrati-^ librum de alimento eomment. I. (E. XV. p. 226). Über die Ächtheit der Schrift ntoi tfvcio; dy&^nov Vgl. Zeller, PÄiV. dL Gr.y n, 2. S. 441 A. 2.

230 Methodiker. Galekus.

durch die Verbindung von Korpuskeln (oyxot) gebildeten, mit Empfindung versehenen Kanälen {noqoi) bestehe. Die Gesund- heit beruhe nach dieser Theorie auf der normalen "Weite der Kanäle im Vergleich zu den normalen Verhältnissen der Kor- puskeln.^ Ein Fortschritt der Heilkunde lag in dieser Be- tonung der festen Bestandteile des Körpers durch die Metho- diker, und der Atomistik kam derselbe dadurch zu gute, dafs die medizinische Theorie statt auf aristotelische dadurch auf epikureische und stoisch-heraklitische, d. h. materialistische Grundlagen sich gestützt sah. Die Atomistik bekam hier einen B>ückhalt an einer Theorie, welche zu praktischen Resultaten führte, und es blieb eine Erinnerung an dieselbe in der Tra- dition der Mediziner lebendig, welche bei der Erneuerung der Wissenschaften ihre Rolle spielen sollte. Was die Herrschaft der methodischen Schule förderte, konnte auch der Atomistik nützlich sein ; die Gegner der Methodiker waren zugleich Feinde der Atomistik. Nun trat jedoch als der heftigste Gegner der Methodiker und Atomiker Claudius Galenus (geb. 131 n. Chr. zu Pergamus) auf, der Regenerator der Heilkunde; seine Schüler wurden später die Araber, und dadurch auch diese Gegner des Porismus.

Galen war in philosophischer Beziehung Eklektiker, stand aber der Hauptsache nach auf aristotelischer Grundlage.* Er bekämpft sowohl die Annahme von Atomen als die stoisch- heraklitische Ansicht von dem Hervorgehen der Elemente aus einem einzigen UrstofF, insbesondere auch die Körperlichkeit der Eigenschaften. Die Stoiker, bei denen Stoff und Kraft untrennbar verknüpft waren, hielten alles Wirkliche für kör- perlich;^ Entstehen und Vergehen geschah nach ihnen mit absoluter Notwendigkeit, und das Verhängnis (elfiagfi^rii) war identisch mit der Vorsehung {nQovota), die gesetzmäfsige Not- wendigkeit mit der göttlichen Vernunft. Diesen Ansichten, insbesondere aber der Atomistik Epikurs stellt Galen die

* Vgl. S. 214.

Vgl. Zeller, Phil d. Gr., III, 1. 827. Sprekokl, Briefe aber GaUns philosophisches System, in ^Beiträge zur Geschichte der Medicin*'^ Halle 1794. I. S. 117 ff. Häser, Gesch. d. Med. 1 S. 355 ff. Galen citiere ich nach der Ausgabe von Kühn, Lipsiae 1821.

» S. oben S. 219, 220.

Qalen gegen die Atomistik. 231

hippokratisch-aristotelische Theorie der vier Elemente entgegen und hebt dem Porismus der Methodiker gegenüber den Humo- rismus des HiPPOEBATES wieder hervor, alles durchdringend mit ausgesuchter Teleologie, welche die Zusammensetzung der Körper nur nach Mafsgabe ihres Zweckes betrachtet. Wenn man aber die weitschweifigen Bücher Galens durchgeht, um zu sehen, welche Argumente er gegen die atomistische Lehre vorgebracht habe, so ist die Ausbeute eine höchst geringe. Man kann sagen, es reduziert sich alles auf eine einzige, dem Hippokbates zugeschriebene Redensart, welche lautet: „Ich be- haupte, dafs der Mensch, wenn er aus einem einzigen Ele- mente bestände, nicht krank werden könne. "^ Diesen Beweis- grund wiederholt Galen bis zum Uberdrufs, und nach ihm finden wir ihn unzähligemal in der medizinischen Litteratur als vermeintlich imwiderleglichen Grund gegen die Atomistik angeführt. Wegen dieser historischen Bedeutung, welchen Galens Einspruch gewonnen hat, soll derselbe hier ausführ- lich dargelegt werden, zugleich als eine Ergänzung zu den ungleich schärferen Einwänden des Aristoteles gegen die Atomistik. Galens Polemik gehört mit zu den Hauptquellen für die Kenntnis der antiken Atomistik während des Mittelalters. Zunächst erleichtert siclr Galen die Bekämpfung der ver- schiedenen philosophischen Sekten dadurch, dafs er alle die- jenigen zusammenfafst, welche Grundstoffe ohne sinnliche Qualitäten annehmen, und unter absichtlicher Vernachlässigung aller übrigen Verschiedenheiten diese gemeinsame Grundansicht bestreitet. Auf diese Weise glaubt er die Atomiker Leukipp, Demokbit, Epikur, ebenso wie Anaxagoras, Empedokles und AsKLSPiABES mit einem Schlage vernichten zu können; denn sie alle nehmen an, dafs der zugrundeliegende Urstoff keine sinnlichen Qualitäten besitze.- Bei dieser Gelegenheit beschreibt

* 'Ifyw cT/ iffjutf fi iV lijy o itv^QMTiogy ovdfyioTf uv ^lytfv. HiPPOKB« n$qi ipiatog a&Qianoü cp. 5. Galeni op. XV, p. 35. Oaleih De coristitutione artis medicae c. 7. 1 p. 247. De elcmentU, c. 1. I p. 413, dsgl. pp. 419, 434, 449, 482, 483, 484 u. an vielen andern Stellen. De elem. I, 434 wird noch als Ansicht des Hippokrates angeführt, dafs, wenn der Mensch nur aus einem Elemente bestände, es auch nur ein Heilmittel geben könne.

De elem, I, p. 416, 417. Vgl. auch m. Abh. über Sesnert. Viertelj. w. i%. IIL S. 428.

232 Galex gegen die Atomistik. Empfindung.

er die Ansichten Demokrits und Epikürs vom gegenseitigen Stofse der unveränderlichen {dnad-if) Atome und gibt an, dafs letztere nach Epikur ihrer Härte, nach Leükipp ihrer Kleinheit wegen unteilbar seien.

Wenn man aber unveränderliche und noch dazu empfin- dungslose Atome annehme, so könne man die unbestreitbare Thatsache, dafs der Mensch erkranke und Schmerzen leide, nicht erklären. Denn das Erleiden von Schmerz erfordere zwei Bedingungen, Veränderung {dXXoCoaatq) und Empfindung (afa^iym^). Wenn man z. B. jemand in die Haut sticht, so kann ent- weder der Fall eintreten, dafs nur ein Atom, oder der, dafs zwei und mehrere getroflfen werden. Wird nur ein Atom berührt, so ist dies ja unveränderlich (dna&^g) und kann also doch keinen Schmerz erleiden; dasselbe aber gilt von den mehreren Atomen. Denn aus Unveränderlichem und Empfindungslosem kann nicht etwas entstehen, das der Veränderung und Empfin- dung fähig wäre; wenn der einzelne Diamant nichts fiihlt, so wird auch der Haufen von Diamanten nichts fühlen.^ Blofse Zusanmiensetzung kann ebensowenig etwas Neues ergeben wie blofse Teilung; Schnee bleibt Schnee, wenn nur die Teilchen getrennt werden. Erst Erwärmung verwandelt ihn.^ Aber selbst, wenn man mit Empfindung begabte Atome annähme, würde dies nichts helfen. Denn so wenig man Schmerz em- pfindet, wenn man zwei Finger, die doch für sich Empfindung haben, auseinanderbreitet, ebensowenig können zwei Atome Schmerz empfinden, wenn man sie voneinander trennt. Wie viel weniger also könnte der Mensch Schmerz empfinden, wenn er aus empfindungslosen Atomen bestände, da selbst die Annahme empfindender Atome zur Erklärung nicht aus- reicht.*

Die imklare Vorstellung von den Bedingungen und dem Umfange der Empfindung, resp. des Bewufstseins, ermöglichte diesen Vergleich, welcher einem oberflächlichen Denken gegen- über allerdings viel Verlockendes haben mochte und zur raschen Niederschlagung vorwitziger Schülerfragen dienen

^ De elem. I, p. 422. De constit. artis med. I. p. 245 fF. ' De constit. artis med., I. p. 252. ^ De elem. I p. 423. 431.

Galen: Elemente. Veränderung. 233

konnte. Es wird nicht nötig sein, hier auf die Berechtigimg desselben weiter einzugehen.

Was nun Galens eigene Ansicht betrifft, so ist haupt- sächlich seine Abweichung von Aristoteles in der Definition des Elementes zu bemerken. Sie besteht darin, dafs er das- selbe als den kleinsten Teil desjenigen Körpers, dessen Element es ist, erklärt. Doch ist es als solch kleinster Teil nicht den Sinnen wahrnehmbar und nicht in Wirklichkeit. Denn vieles entgehe der sinnlichen Wahrnehmung seiner Klein- heit wegen, und diese ist nicht mafsgebend zur Beurteilung dessen, was von Natur und in Wirklichkeit Element der Dinge ist.^ Im übrigen kommt Galen-, wie schon gesagt, auf die aristote- lischen vier Elemente. Bemerkenswert für die spätere Ent- wickelung der Ansichten über die Elemente ist dabei, dafs er der Ansicht der Stoiker, welche im Gegensatz zu Aristoteles dieLufl für kalt erkärt hatten, unentschieden gegenübersteht,^ 80 dafs ihn spätere sogar als Autorität für die Kälte der Luft anf&hrten. Die Elemente sind durchaus kontinuierliche Körper, sie sind der qualitativen Verändenmg und gegenseitigen Ver- wandlung fähig. Denn ohne Verwandlung der Elemente könnte nach Galens Ansicht niemals etwas der Gattung nach Ver- schiedenes entstehen;' blofse Zusammensetzung führe nur auf der Art nach Neues, z. B. Dreiecke auf Vierecke, u. dgl., nie- mals aber auf eine neue Form. Die Veränderung selbst ge- schieht lediglich durch die Gegensätze; wenn etwas Kaltes wann wird und umgekehrt, so ändert sich dabei allein die Eigenschaft, keineswegs aber der Körper.* Unter der Veränderung der Eigenschaften bleibt das Körperliche allen Elementen gemein- sam.^ Die Natur des gleichartigen Körpers hängt von den Verhältnissen der Mischung ab, zu welcher die Elemente zusammentreten.^ In welcher Weise jedoch die Bestandteile der Mischung in derselben enthalten sind, darüber stellt Galen

' De elem. I. p. 413.

De simpl. medicament. temper. I. 2, c. 1*0. IX p. 510. ' De elem. cp. 3. I. p. 430. Mof U uiv roir utj unußKkloyuov rag .Toior*yr«; itöy 9nn^t£tar ovx iyxtaQU ytrioO^iu ji nör hfouyff'on', tx Oi joiy uuccßcckkoyron' tyX^Q*'^'

* De teniperamentiit. I. p. 514.

* De elem. I. p. 479.

* De constit. artis med. c. 9. I. p. 254.

234 Galkn : Mischung.

keine Untersuchung an. Ob bei der Mischung nur die Eigen- schaften allein, wie Aristoteles annahm, oder auch die körper- lichen Substanzen sich gegenseitig durchdringen, das braucht der Arzt nicht zu wissen, und Hippokratbs hat nichts darüber gesagt.^ Zwar verweist Galen über die Natur der Mischung auf seine Bücher De tetnperamentis^ De mcdicamefitis und De cnrmidi methodo, aber in Bezug auf das Verhältnis der chemischen Verbindung zu den Bestandteilen in dem Sinne, wie die Frage sogleich an uns herantreten wird, findet sich dort nichts Näheres.

Dies sind die theoretischen Grundlagen der Medizin, welche Galen, dem Hippokrat folgend, wieder zur Geltung brachte und welche die Araber aufnahmen. Wie die Chemiker ihre besonderen Elemente, Quecksilber und Schwefel besafsen, so hatten nun auch die Mediziner besondere organische Elemente, Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle ; alle diese aber waren nur eigenartige Vermischungen der ursprünglichen Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde, welche durch ihr Vorherrschen die Eigenschaften der zusammengesetzten Grundstoffe bedingten. Wie das Beharren der ersten Elemente in ihren chemischen Verbindungen zu denken sei, darüber finden wir eine neue und für die Geschichte des Körperproblems wichtige Ansicht zuerst bei Ibn Sina ausgesprochen, welcher damit die theoretische Chemie erweiterte. Diese Frage erfordert um so mehr eine besondere Behandlung, als sie der eigentliche Kernpunkt ist, an welchem sich die Leistungsfähigkeit der Theorie der sub- stanziellen Formen in Bezug auf die Lösung des Körper- problems während des Mittelalters erprobt.

^ De elem. T, p. 4^9.

Bestandteile in der ^liBchung. 235

ALchter Abschnitt.

Die Frage nach dem Verhalten der Bestandteile in der chemischen Verbindnnj>\

1. Die Streitfrage.

Die aristotelisclie Theorie der chemischen Verbindung (fUl^ic) hatte Folgendes ergeben.^ Die Verbindung, d. h. der zusammengesetzte Körper, ist vollständig, seiner ganzen Masse nach, homogen, so dafs er bis ins Unendliche in gleich- artige (ofioiofie^^) Teile geteilt gedacht werden kann. Dem- nach sind die Bestandteile in ihm nicht blofs in minimale Partikeln geteilt nebeneinander gelagert (arrd^satc)^^ sondern sie sind in einem umgewandelten Zustande (di.i.oC(aatc) zur Ver- einigung (hvoxitq) gebracht.^ Diese Umwandlung besteht darin, dafs die gegensätzlichen Eigenschaften der Bestandteile einen Mittelzustand zwischen Aktualität und Potenzialität annehmen, in welchem sie ihr Übermafs (xdc v:raQoxac) gegenseitig aus- gleichen/ während die verbundenen Substanzen (fiix^^^rra, xoa- q^md) selbst nicht aktuell, aber ohne vergangen zu sein (ovx dnoktoXoTa), nämlich potenziell, so sind, wie sie vor der Ver- bindung waren.'^

Dies ist das E^esultat, welches man aus den bezüglichen Stellen klar schöpfen kann; weniger klar freilich ist die Be- deutung der ausgesprochenen Meinung selbst. An der einen SteUe ist von der Potenzialität der Substanzen, die doch nicht vergangen sein sollen, die Rede; an der andren von einem Mittelzustande der Gegensätze (irai^rCa) zwischen Aktualität und Potenzialität. Zum Verständnis dieser Auffassung mufs man sich der doppelten Bedeutung der Begriffe tv^Qy^ia und dvvafiig bei Aristoteles erinnern.^ Aristoteles unterscheidet eine erste Entelechie, den actus primus der Scholastiker, von

* Vgl. S. 124—129. - p. 3i>8a. 5-12. - ' p. 328b. 22. * p. 334b 6—20. ' p. 327 b 22— 2G. S. S. 8i). Anm. 1.

236 ^i^ Frage nach den Bestandteilen in d. Mischung.

der zweiten, dem actus secun^Jus. Der actus primus bezeichnet die wesentliche Existenz eines Dinges, sein substanzielles Sein; der actus secundus dagegen die aktuelle "Wirkung oder Thätigkeit desselben. Es entsteht nun die Frage, ob die Be- standteile in den Verbindungen nur ihre aktuelle Wirkung verloren haben, so dafs sie im gebundenen Zustande nicht diejenige Wirksamkeit entfalten können, welche sie im freien Zustande besitzen, oder ob sie auch den actus pn^imus^ die sub- stanzielle oder formale Existenz, eingebüfst haben. Der Wort- laut der aristotelischen Angaben spricht dafür, dafs die letztere als erhalten und nur der actus secundus als aufgehoben betrachtet werden soll. Denn es wird ausdrücklich gesagt, dafs die Be- standteile „nicht untergegangen", sondern „verändert" sind, was genau der angegebenen Auffassung entspricht. Da- mit stimmt auch, dafs Aristoteles von einem Mittelzustande der gegensätzlichen Eigenschaften, also einer Veränderung der Wirksamkeit redet, während der Forderung eines blofs po- tenziellen Bestehens der Substanzen selbst durch die Annahme entsprochen wird, dafs diese Potenzialität sich nur auf die Aufhebung des actus secundus^ nicht aber auf die des actx^ primus bezieht.^

Wenn man nun, wie es die Worte des Philosophen zu verlangen scheinen, die Frage so entscheidet, dafs blofs die Eigenschaften der Bestandteüe in den Verbindungen (im Vergleich zu ihrem Sein im freien Zustande) potenziell sind, die Bestandteile selbst dagegen ein formales, d. h. substanzielles Sein bewahren, so entsteht die Schwierigkeit, diese Auffassung mit der aristotelischen Vorstellung von der Homogenität der Verbindung in Einklang zu bringen. Denn wenn der zusammen- gesetzte Körper seiner ganzen Masse nach ein gleichmäfsiges Kontinuum sein soll, wie ist es dann denkbar, dafs doch inner- halb dieses Kontinuums die Elemente ihrer Form nach erhalten bleiben ? Wie ist es möglich, dafs, imi mit der Schule zu reden, die Verbindung eine einheitliche substanzielle Form be- sitzt? Hier ist eine Lücke, über welche Aristoteles fortge-

* Vgl. hierzu Pfeifer, Die Coniroverse über daa Beharren der Elemente in den Verbindungen von Aristoteles bis zur Gegenwart. Dillingea 1879. S. 5 u. 10-12.

Widenprücbe i. d. aristotelischen Theorie der Mischung. 237

gangen ist, oder welche er dadurch verdeckte, dafs er die in Betracht kommenden BegrijOTe nicht in der nötigen Schärfe ausbildete, sondern sich mit der unbestimmten und dehnbaren Vorstellung der Potenzialität begnügte. Dies aber ist gerade die schwache Stelle seiner Physik, an welcher die Korpus- kulartheorie mit bestem Erfolge ihre Hebel ansetzen konnte, um das Ganze aus den Fugen zu drängen. Denn wenn die Elemente wirklich formaliter in den Verbindungen noch er- halten sind, mögen auch ihre Eigenschaften sich gegenseitig binden, so ist die Verbindung doch nur eine Vereinigung der Elemente in der innigsten Mischung, und der Zusatz des Ari- stoteles, dafs dabei eine Verw^dlung stattfinde, wird immer nur einen Sinn haben für die äufsere Gesamtwirkung, nicht aber ftr den inneren Zustand der Bestandteile. Dafs indessen die Verbindung keine blofse Synthesis oder Synkrisis ist, das ist ja gerade der Hauptunterschied der aristotelischen Physik von der Lehre der Atomistik; und daran mufste Aristoteles fest- halten, um die unendliche Teilbarkeit der Materie zu bewahren. Wenn er nun zugab, dafs die Bestandteile unverändert in der Verbindung blieben, so hätte er auch zugeben müssen, dafs die zusammengesetzten Körper ungleichartiger Natur seien, daJCs man also bei fortgesetzter Teilung auf verschiedenartige Partikeln kommen müsse. Dann aber wäre die Verbindung nur eine mistio ad semnm, nur ein relativ gleichartiger Körper gewesen; nur für den Sinnenschein hätte sie existiert, nicht aber „für einen Lynkeus" und nicht für den Verstand. Und das widerspricht der ganzen Vorstellungsweise seines Systems. Man kann geradezu sagen, die Theorie der chemischen Verbindung ist auf aristotelischen Prinzipien unmöglich; die Lehre von der Materie und Form stöfst hier auf ein durch ihre Mittel Unerklärliches.

Dieselbe Abneigung, welche Aristoteles abhielt, diskrete Teile der Materie anzunehmen, weil er dieselben nicht in dem stetigen Baume unterzubringen wufste, zwang ihn, die Konti- nuität und Homogenität der Mischung zu proklamieren. Wieder sind es Schwierigkeiten des Kontinuitäts- begriffes, welche zur Einführung unklarer Mög- lichkeitsvorstellungen hintriebe u.

Wie das Irrationale von der Eeihe der Zahlen ausgeschlossen

238 Kontinuität und Mischung.

wurde, weil die letztere als unstetig galt, so hätte auch das Kontinuum des Baumes nach aristotelischen Begriffen nicht mit dem Körper verbunden werden können, wenn man die Unstetigkeit des letzteren zugegeben hätte. Hier aber mufste die Verbindung hergestellt werden, und da es an dem Denk- mittel fehlte, die Einheit des Körpers durch mechanische Prinzipien, welche die Bewegungen der Korpuskeln vermitteln, in befriedigender Weise zu begründen, so mufste auch der Körper für kontinuierlich erklärt werden. Wir finden hier wieder in der Beschränkimg auf das Denkmittel der Sub- stanzialität den Grund, weshalb dem Aristotelismus einer der wichtigsten Einblicke in die Natur der Körperwelt, die Theorie der molekularen Zusammensetzimg, verschlossen bleibe» muiste. Es bedurfte später langer Erörterungen, um sich klar zu machen, dafs ein Körper ims sehr wohl durchaus homogen erscheinen kann, obwohl er in seinen kleinsten Teilchen nicht mehr aus gleichartigen Bestandteilen zusammenge- setzt ist.

Nun erkennt man aber auch die grofse Wichtigkeit der scheinbar so abliegenden Frage nach dem Beharren der Be- standteile in den Verbindungen. Denn wurde dieselbe bejaht in dem Sinne, dafs die ins kleinste zerteilten Elemente sub- stanziell in den Zusammensetzungen erhalten blieben, so wat der Bann gebrochen imd die Korpuskulartheorie konnte ihren Einzug halten. Sennert hat diesen Weg im 17. Jahrhundert eingeschlagen. Und der ihm zunächst stehende Erneuerer der Atomistik, Sebastian Basso, sagt wohlbewufst, dafs die Er- kenntnis vom Beharren der Elemente in den Verbindungen der sicherste Schlüssel zur Naturwissenschaft sei.^ Eine Natur- wissenschaft auf korpuskulartheoretischen Grundsätzen war aber zugleich der Todesstofs für den Peripatetismus. „Haben die Elemente im Kompositum", so sagt ein eifriger Thomist unsrer Tage, „durch ihre eigene Form das Sein, dann kann ihnen die hinzukommende Form nicht mehr das erste oder substanziale Sein geben, sondern sie kann zu dem Sein der Elemente nur noch ein zweites, accidentelles Sein hinzufügen. Mit der Einheit der Substanz ist es dahin; das Kompositum

* Fhüosophiae nat. adv. Aristot libri XH. Amat. 1649. p. 12.

Wichtigkeit der Misch uugsfrage. 239

ist ein Aggregat von so vielen Substanzen, als Atome oder Elemente in demselben sieh verbunden haben. Damit ist dann aber auch die thömistische Lehre imd überhaupt die scholastische Körperlehre auf die Seite geschoben.'^ „Da nun gerade in der Lehre über das Vorhandensein der Elemente in den zusammen- gesetzten Körpern die scholastische Lehre gipfelt, so ist eine Abweichung hierin'' (nämlich von der thomistischen Auffassung) „soviel, als ein Aufgeben der peripatetischen Lehre. "^

Hiemach ist es klar, dafs in der Frage nach dem Begriff der chemischen Verbindung der Gipfelpunkt der scholastischen Physik zu finden ist und dafs die Geschichte der Korpuskular- lehre diese Spielereien mit den Begriffen von Materie und Form nicht stillschweigend übergehen darf.-

2. Die Oeschichte der Frage nach dem Beharren der Elemente

in der Verbindung.

Es läfst sich nicht leugnen, dafs die Behandlung der er- wähnten Frage bei Aristoteles eine gewisse Unklarheit ein- schliefst, welche zur Kommentierung auffordert ; wie gezeigt, handelt es sich namentlich darum, die von Aristoteles zuge- standene Thatsache, dafs die Elemente iji den Verbindungen, wenn auch in den Eigenschaften verändert, doch nicht unter- gehen, in Übereinstimmung mit der Lehre zu bringen, dafs die „Mischung" eine gleichartige, homogene Masse sei. Trotzdem gehen die älteren Kommentatoren des Aristoteles auf diese Frage nicht näher ein und nirgends über Aristoteles

* M. Schneid. Die Körperlehre (ks Johannes IJuns Scotus und ihr Ver- hdllma zum Thonmmus und Atomifsmus. Mainz 1879. S. 78.

' Über die Bedeutung, welche gerade diese Fragen in der katholischen Welt in letzter Zeit wieder gewonnen haben, führe ich noch die Worte ScH5BiD8, a. a. 0. S. 1, an: „Eine Lehre, die man vor noch nicht langer Zeit selbst in katholischen Schulen als eine scholastische Spitzfindigkeit erklärte, ist das Objekt des heftigsten Kampfes geworden. An der neugegründeten katho- liiohen Universität zu Poitiers teilt diese Lehre, wie uns Briefe berichten, Lehrer und Schüler in zwei Parteien. Die einen halten zur alten Lehre, dafs äie K5rper aus Materie und Form bestehen, die andern lassen die Körper im Sinne der modernen Chemie und Physik aus Atomen zusammengesetzt sein. Viele Streitachriften sind in der jüngsten Zeit in Frankreich, Italien und auch in Deutschland erschienen. Der Streit ist so heftig gew^orden, dafs selbst der h. Stuhl beschwichtigend einschreiten zu müssen glaubte."

240 ^3 Mischung. SiMPUcius. Philoponüs. Ibn Sika.

selbst hinaus. Wenn Simpliciüs einer Stelle, in welcher Aristoteles es vorläufig unentschieden läTst, ob die Elemente aktuell oder potenziell in den Verbindungen existieren,^ nur die Bemerkung hinzuzufügen hat, dafs diejenigen, welche das Entstehen lediglich aus der Zusanunensichtung erklären (wie Empedoeles und Axaxagoras), folgerecht annehmen müssen, dafs die Elemente aktuell bestehen bleiben, die übrigen, dals sie potenziell beharren,* so zeigt dies zwar, dafs er sich über die Konsequenzen der aktuellen Integrität klar war, nicht aber über die Schwierigkeiten, welche in der Vorstellung eines potenziellen Beharrens liegen. Auch Philoponüs kennt keine Streitfrage über die Bedeutung dieses potenziellen Beharrens und erörtert nicht die oben erwähnte Schwierigkeit, sondern begnügt sich, die Worte des Aristoteles zu verdeutlichen. Allerdings thut er dies in einer Wendung, welche noch klarer als das Original des Philosophen die Meinung ausspricht, dafs die Potenzialität der Elemente sich nur auf ihre Eigenschaften bezieht, indem er sagt, dafs dieselben vergangen zu sein schienen, weil sie an der Wirkung gehindert seien, insofern sie ihre Eigentümlichkeiten verloren hätten.'

Zu dem lebhaft behandelten Problem, als welches wir die vorliegende Frage im Mittelalter finden, wird sie erst durch die arabischen Erklärer des Stagiriten erhoben, und zwar legt zuerst Ibn Sina einen beabsichtigten Nachdruck darauf, dafs die Elemente formaliter in den Verbindungen bestehen bleiben.

Ibn Sina definiert unter dem Einflüsse der medizinischen Schulen die Elemente als Körper, welche die ersten Teile der zusammengesetzten Stoffe sind und in Körper von ver- schiedenen Formen in keiner AVeise geteilt werden können.^

^ De coelo III, 3. p. 302 a. 15.

SiMPLic. SchoUon. (Bekk. IV. p. 513 a 25) : infiötj loig avyxgiafi ij ixxgiCH Kyovaif Tijy yivtciv y(yfa&iu, (StrifQ 'E/Linfdoxl^g xal Uvtt^icyoQag, axokovdiä to h't()yft^ T€c moij^fuc iyurrdQXfty, lotg d( nkXotg aviacu rd dvyu/Lifi,

' Pfeiffer, a. a. 0. S. 13, 14.

* AviCENNAE Arabum medicorum principis» ex Gerardi CremonensiB ver- sioue et Akdreae Alpagi Belunenbis castigatione, a Jo. Costaeo et Jo. MoNOio annotatioiiibus jam pridem illustratiis etc. etc. Canon Medicinae, Venet. 1608. Lib. I. Doctrina 2. fol. 9 a. 52 f. Elementa sunt corpora,

Die Mitohnng: Ibv Bosohd gegen Ibr Sota. 241

9 Formen aber bleiben unverletzt und unverändert in den 'bindungen bestehen, während nur ihre Eigenschaften auf Inder wirken und Veränderungen erleiden.^ Die zusammen- Btzten Körper enthalten also die Elemente in cuiu. Die "vorhebung des substanziellen Beharrens der Elemente durch SlHA hatte die Behandlung dieser Frage durch Ibn B*oschd Folge, und des letzteren Widerspruch gegen Ibn Sinas dcht bezeichnet den Beginn des langdauemden Streites. EBBOEB ist der erste, welcher das Beharren der Formen der Be- idteile in den Verbindungen in Zweifel zieht und die ganze fgö einer eingehenden Untersuchung würdigt. Er erkennt, 8 die Annahme, nach welcher blofs die Eigenschaften der mente eine Veränderung erleiden, während ihre substan- len Formen nach der Verbindung dieselben sind wie vorher, 1 Einwurfe nicht entgehen kann, dafs im Grunde genommen lann doch keine Verbindung, sondern nur ein Zusammen- len der Elemente stattfinde. Wenn die Elemente allein mit )n Eigenschaften und nicht mit ihren Formen sich beein- sen, meint Avereoes, so bleiben sie aktuell in den Verbin- igen; dann aber hätte die Verbindung als solche keine •stanzielle Form, weil diese ja noch den Elementen zukäme, wäre überhaupt nicht Eins, und es könnte demnach keine rschmelzung der Eigenschaften der aktuellen Elemente ein- jen.* Er nimmt also an, dafs die Formen der Bestandteile ht aktuell erhalten bleiben ; aber er kann auch wieder nicht Äupten, dafs sie ganz und gar verloren gehen. Denn in Bern Falle würde die Form des Kompositums unmittelbar

nnt partes primae corporis humani et alionun, quae in corpora diversamm lamm dividi minime posaunt; ex quorum commiztione species diversae sratomm fiunt. Medicus autem physico credere debet, quod sunt quatuor lon plora.

^ Avio. Canon, f. IIb. 7. Vgl. insbesondere die Ännoiationeb zu dieser le von Costabus, f. 14 b 16 fif. AvEaROEs, De gen, et corr, comm. 90, in ft, cp.f Venetiis 1560, Tom. V. p. 297 c: Avicenna voluit dicere, quod Im AristoteUs est, quod miscibilia sunt in potentia in mixto, et illa esse in eesentüs, quas habebant separata; et dixit essentiam esse potentiam, qua I potest multa, et istam esse in rebus causam caliditatis et frigiditatis, et oiam esse principium humiditatis et siccitatis.

' Abistotblis opera, Venetiis 1560. c. comm. Avebeois. T V. De coelo 3. comm. 67, p. 232 A. S. auch f. Anm.

Lalkwits. 16

242 ^^^ MiscliuDg: AvEBROEs' MittelzuBland.

der ersten Materie zukommen, während diese doch nnr Materie der Elemente ist und erst durch Vermittelung der letsteren die Form einer Verbindung erlangen kann. Da ergreift nun AvERROES einen bedenklichen Ausweg. Er nimmt an/ dafo die substanziellen Formen der Bestandteile einer graduell©^ Verschiedenheit fähig sind, vermöge deren sie eine A^t

von Mittelzustand zwischen Aktualität und Potenzialität ^^

sitzen; sie sind nicht aktuell in den Verbindungen, aber ^ einem Zustande der Potenzialität, welcher dem Actus rx9^^ steht (potentia propinqua ad actum.) * Der unterschied di^^^ Auffassung von der aristotelischen besteht darin, dafs AverK^^ den Mittelzustand zwischen Potenz und Aktus, welchen ARrB*!"^ TELES für ^e gegensätzlichen Eigenschaften der Elemente *^" nahm, auf die Substanzen der Elemente selbst überträgt. -C'* es nun aber unzulässig wäre zu behaupten, dafs eine su*^ stanzielle Form eine graduelle Verschiedenheit, ein „Mehr oder „Minder" zuläfst, weil solche Veränderung nur den Accx*^ dentien zukommt, so nimmt Averroes weiter an, dafs di^ substanziellen Formen der Elemente sich in einem imvoll' kommenen Zustande befinden und zwischen Substanz und Accidens gewissermafsen in der Mitte stehen. Daher sei es nicht unmöglich, dafs diese substanzialen Formen sich gegen-

^ A. a. 0. p. 231 F. Dicamiis ig^tur, quod, si esset [qnod remanent formae elementorum in acta], necesse esset, ut nullum ens generaretnr ex eis diversnm ab eis in forma substantiali, sed tantum in accidentibus; et ideo neoesse est, cum ex eis generatur una forma, ut corrumpantur formae eomm secondnm medietatem.. quoniam, si corrumperentur secundam totum, tunc prima materia reciperet primo et essentialiter omnes formas et non reciperet formas composl- tomm mediantibus istis corporibus. Si igitur aliquis dixerit, qaod sequitnr ex hac, ut formae earum substantiales recipiunt magis et minus et haec est dis- positio accidentium, non formarum substantialium, (dictum est enim in multis locis, quod formae substantiales non recipiunt magis et minus) dicemus, quod formae istorum elementorum substantiales sunt diminntae a formis sub- stantialibus perfectis et quasi suum esse est medium inter formas et accidentia. Et ideo non fuit impossibile, ut formae eomm substantiales admiscerentur et proveniret ex collectione earum alia forma, sicut cum albedo et nigredo admiscentur, sunt ex iis multi colores medii. Vgl. auch De gen. et corr. lib I. eomm. 84 p. 296; eomm. 90 p. 297; lib. II, eomm 48 p. 307.

Paraphrasis super libr, de gen. et corr. Ärist. Vitalb Nibso interprete. Abist. Op. Venet. 15ö0. T. V. p. 314 D. 317 B.

Die Misohang: Ai^ebtus Maqkub. 243

seitig verbinden zu einer neuen Form, sowie aus der Verbin- dung von Weifs und Schwarz viele Mittelfarben entstehen.

Gegen diese Hypothese kann allerdings vom aristotelischen Standpunkte mit Recht eingewendet werden, dafs eine An- spannung oder Herabminderung (intensio et remissio) der Form eine Teilbarkeit derselben voraussetzen würde, welche den Prinzipien des Philosophen widerspricht; und dafs man auch nicht einsehen kann, wodurch aus den unvollkommenen Formen der Elemente die vollkommenere Form der Mischung entstehen soU. Ganz treffend bemerkt daher der Erklärer des Avicenna gegen Averroes, dafs, wenn man keine festeren Grundauf- stellungen mache, die Folgerungen selbst auch nicht viel sicherer stehen würden.*

Mit der genaueren Kenntnis der aristotelischen Physik kam zugleich die Auffassung der arabischen Peripatetiker zu den Scholastikern; und von nun an finden wir die Frage nach dem Beharren der Elemente von diesen aufgenommen.

Albertus Magnus schliefst sich in seinen Kommentaren an Avicenna, den er selbst als Gewährsmann nennt, an. Er widmet eine besondere Digressio der Frage, welches die bewirkende Ursache für die Entstehung der Mischung sei.^ Den Grund derselben findet er mit Aristoteles in einem aufserhalb der Mischung stattfindenden Vorgange, nämlich in der Bewegung der himmlischen Sphären. Darauf erklärt er,^ dafs es nach Avicenna ein doppeltes Sein der Elemente gebe. Das erste besteht in ihren natürlichen Eigenschaften der Wärme, Kälte Feuchtigkeit und Trockenheit. In Bezug auf das zweite, welches er an dieser Stelle nicht weiter erörtert, worunter aber

* Avic. Canon, Ännotationes f. 14b 32.

' Albertus Magnus. Opera recogn. Jammy. Lugduni 1651. T. 11. De gen, et corrupt f. 41. cap. IV.

' A. a. 0. f. 42 b cap. V. De secundo autem quaesito, seil, qualiter inixtibilia sunt in mixto attende quod sicut dicit Avicenna duplex est esse elementorum, scilicet primum, et secundura. Primam autem est esse quod habent in operatione qualitatum suarum quae sunt propriae ipsis, et fluunt ab essentiis ipsorum, quHe sunt calor, frigus, humiditas, et siccitas. Dicendum ergo quod quoad esse secundum non manent elementa omnino. Primum autem esse dupliciter dicitur, liberum et integrum, ut ita dicam, et ligatum et par- titum. Liberum autem et integrum voco, quando ignis yel aliud clementum acdpitur per se, sicut sunt elementa in suis sphaeris et locis naturalibus.

16»

244 ^e Mischling: Albertus Maoküb.

die Action der Elemente zu verstehen ist,^ meint er, dafs die Elemente nicht unverändert in der Mischung blieben. Nun aber macht er eine weitere Unterscheidung in Bezug auf das primum esse der Elemente, indem er einen freien und einen ge- bundenen (ligatum) Zustand derselben unterscheidet. Im freien Zustande sind die Elemente an ihren natürlichen Orten, im gebundenen aber dann, wenn sie gegenseitig von einander beeinfluTst werden. Daher bleiben die Elemente in der Ver- bindung, obwohl in gebundenem Zustande, doch in ihrem primum esse; deshalb aber kann auch Aristotblbs sagen, dais sie ihrer Potenz (virtute) nach bleiben.

Man mufs zugeben, dafs die Auffassung Alberts die Mei- nung des Aristoteles vermutlich am genauesten trifft. Die Elemente bleiben aktuell in Bezug auf den primus actus während der secundus actus aufgehoben wird, weil die Eigeo- schaften der Elemente sich gegenseitig binden. Dafs die sub- stanziellen Formen der Elemente in den Verbindungen unver- ändert behairen, hebt Albert auch noch an andern Stellen hervor, so im oben schon citierten Kommentar zu de CoelOy* wo er zugleich die Ansicht des Averroes ohne eigene Entscheidung erwähnt, und im Kommentar zur Physik,' wo er ganz im Sinne des Aristoteles betont, dafs nur die gegensätzlichen Eigen-

Ligatam autem yooo quando [non]* est ab alio alteratum, ei aliud alterans; et divisum in ipsum, et e conveno, ita quod plorimam unios sit cum plurimo alterius; et sie manent elementa in mixto quoad esse primum. Et ideo didt Aristot. quod virtute manent, virtute, inquam, quae fluunt a tali essentia elementi

quam habet in mixto.

* Dieses nnon** ist offenbar cn streiclien.

^ S. folg. Anm.

' Opera recogn. Jammt T. II. De coelo Lib. I. Tract. II. cap. 1. f. 160b. Et hanc responsionem (Avebeois) ego non approbo vel improbo, sed addo, quod elementorum formae duplices sunt, seil, primae et secundae. Primae quidem sunt a quibus est esse elementi substantiale sine contrarietate ; et secundae sunt, a quibus est esse elementi et actio. Et quoad primas formas salvantur meo judicio in composito.

° Physicorum lib. I. Tract. EL cap. 1. f. 71b.. . . . mixta per formas essentiales manent in mixtura ; sed qualitas miscibilium et accidentia per quorum reciprocam actionem patiuntur conversionem, mutantur et convertuntur cum amittant excellentias suas (an andrer Stelle intensiones genannt) quas habebant simplicia, et transeant ad medium quod competit mixturae.

Die Misohnng: Thomas yok Aqüino. 245

Schäften bei der Misclinng sich zu einem Mittleren ausgleichen, während die essentialen Formen erhalten bleiben.

Der Ansicht Albbrts entgegen tritt sein berühmter Schüler Thomas von Aqüino; dieser macht einen neuen Versuch, die Theorie der Mischung festzustellen, indem er die Erhaltung der substanziellen Formen schlechtweg leugnet. Der Beifall, welchen diese Lehre späterhin^ vielfach fand, verdankt sie wohl mehr der Autorität ihres heiliggesprochenen Urhebers, des doctor angelicus, des „Engels der Schule**, als der Ellarheit der darin ausgesprochenen Gedanken.

Thomas unterscheidet zunächst ganz im AnschluTs an Albbrt zwei Teile der Frage: erstens, wie die Elemente zur Mischung kommen; und zweitens, wie sie sich in derselben verhalten.* Die erste beantwortet er ebenfalls durch den Hin- weis auf den Einflufs der himmKschen Sphären, deren Wirkung er im einzelnen auseinandersetzt; er bemerkt hierzu, dafs auch der Wille der die Sphären leitenden Intelligenzen dabei in Be- tracht kommt.*

Was nun die Frage nach dem Verhalten in den Verbin- dungen betrifft, so weist Thomas zunächt die Ansicht des AviOBNNA und Albert zurück. Die Behauptung, dafs unter Ausgleichung der gegensätzlichen Eigenschaften zu einer mitt- leren die allgemeinen (generales) Formen der Elemente in der Mischung erhalten blieben, weil in der Mischung sonst eine Corruptio stattfinde und sich ein Widerspruch gegen den Begriff des Elementes ergäbe, welches ja das sei, aus welchem etwas zusammengesetzt werde, diese Behauptung erklärt er für unzulässig. Denn einerseits müfste, da die Formen der Elemente bKeben, die Materie in den Verbindungen mehrere Formen zugleich aufnehmen, was unmöglich ist und auf das Zusammen-

^ Sie ist nach einer Encyklica des Jesuiten-Generals vom 1. Nov. 1878 die offizielle Doktrin der Jesuitenschulen (Cobnoldt, Institutionea JPhüoaophiaey Bononiae 1878, p. 518, nach Schneid, a. a. 0. S. 113) und dürfte durch die Encyklica Äetemi Tatria Lbos XIII y. 4. Aug. 1879 {De pkiloaophia Christiana ad mentem Sancti Thomae Doctoris Ängelici in acholis cathoUcis instauranda) neue Kraft gewonnen haben.

' Thomae Aqüikatis doctoris Ängelici Opera omnia. Venetiis 1593. Fol. Tom. m. De gen. et corr. üb. 1. lect 24. £ 22 Ka.

» A. a. 0. f. 22 Jb.

246 1^6 Müchong: Thomas gg. Aticbkxa, Albbet» Avxbboes.

sein verschiedener Körper in demselben Saumteile heraus- kommen würde; andrerseits erfordere jede substanzielle Form eine besondere Disposition der Materie, es sei aber unmöglich, dafs entgegengesetzte Dispositionen, wie sie die Form des Feuers und des Wassers erfordere, in demselben Subjekte seien, es können daher auch z. B. die substanziellen Formen des Feuers und des Wassers nicht in demselben Teile der Mischung existieren.

„In noch gröfsere Widersprüche", fahrt er fort,* ^verwickehi sich die Ansichten derjenigen (Avbrroes), welche annehmen, dafs die Formen in gewisser Beziehung erhalten bleiben, indem sie eine Anspannung und Abschwächung derselben zulassen und behaupten, dafs die Formen der Elemente unvollkommen sind, sich der ersten Materie nähern und zwischen Substanz imd Accidens in der Mitte stehen." Denn weder könne es ein Mittleres zwischen Substanz und Accidens geben, noch können substanzielle Formen eine Anspannung oder Abschwächimg, ein Mehr oder Minder besitzen. Es müsse demnach, ein anderer Modus gefunden werden, durch welchen einerseits die Wahr- heit der Mischung salviert werde, andrerseits die Elemente nicht ganz zerstört, sondern irgendwie (aliqualiter) in der Mischung erhalten bleiben.^

Bei der Aufstellung seiner eigenen Theorie geht nun Thomas davon aus, dafs die gegensätzlichen Eigenschaften der Elemente graduelle Einwirkungen zulassen und sich daher zu einer mittleren Eigenschaft ausgleichen können, wie Schwarz und Weifs zu Grau. Diese unter Schwächung des Übermafses der elementaren Qualitäten entstandene mittlere Eigenschaft sei die eigentümliche Qualität der Verbindung; sie ist ver- schieden je nach den verschiedenen Mischungsverhältnissen die eigentümliche Disposition zur Form der Verbindung. So erhalten sich also nur die Eigenschaften unter gegenseitiger Ausgleichung in der Mischung, indem sie dadurch das Hinzu- kommen der neuen Form der Verbindung ermöglichen. Die substanziellen Formen sind verschwunden, aber, wenn auch

* A. a. 0. f. 23. Da.

* An andrer Stelle stellt er die Änderung der Elemente mit ihrer Cor- ruptio in eine Linie: alteratomm, id est corruptormn etc. De gen, lib L Schlufs.

Die lÜBchung: Thomas. Vergehen der Bestandteile. 247

moht aetUj so doch virtute in den Verbindungen. Diese in der Verbindung erhcdtene Eigenschaft oder WirknngsfUhigkeit, welche etwas anderes als die substanzielle Form ist, vertritt n&mlich die substanziellen Formen der Elemente in ihren Wirkungen,^ so dafs ihre Wirkungsfahigkeit gesichert ist.

Thomas setzt also an Stelle der substanziellen Formen, deren Erhaltung er nicht zugeben kann, die Eigenschaften der Elemente, indem er denselben ganz dieselbe Wirkungsfahig- keit zuschreibt, welche die Formen selbst haben würden. Wenn man jedoch berücksichtigt, dafs das Vergehen der Form im scholastischen Sinne mit der Vemichtimg des betreffenden Dinges gleichbedeutend ist, so versteht man freilich nicht, wie ein Element, das nicht mehr existiert, doch noch Eigenschaften besitzen und Wirkungsfähigkeiten entwickeln soll, welche das formale Sein desselben zu vertreten imstande sind. Thatsäch- lich wählt Thomas für die Existenzart der Elemente einen Ausdruck, der zwar sonst mit potentia gleichbedeutend ge- braucht wird, legt aber demselben einen Sinn unter, den man sireng genommen nur mit dem Worte actti verbinden kann. Die thomistische Lehre zeigt deutlich, dafs das strenge Fest- halten an dem peripatetischen Dogma von der formalen Ein- heit der Mistio notwendig zu systematischen Widersprüchen oder zwecklosem Wortsteit führt. Mit dieser Theorie des Thomas sind die grundlegenden Gedanken erschöpft, welche

^ A. a. 0. f. 23 Bb. Kemissis excellentiis elementarium qualitatura con- ititnitur ex eis quaedam qualitas media, quae est propria qualitas corporis miiti, differens tarnen in diversis secundum diversam mistionis proportionem ; et haec quidem qualitas est propria dispositio ad formam corporis misti, sicut qualitas simples ad formam corporis simplicis. Sicut igitur extrema inveniuntur in medio, quod participat uaturam utriusqut^ sie qualitates simplicium corporum inveniuntur in qualitate corporis misti. Qualitas autem simplicis corporis est quid aliud a forma substantiali ipsius: agit tame'n virtute formae sub- itantialis: alioquin calor calefaceret tantum, non autem forma substantialis eduoeretnr in actum, cum nihil agat supra suam speciem. Sunt igitur virtutes fonnarum substantialium simplicium corporum in corporibus mistis non actu led virtute. Et hoc est quod dicit Philosophus: non manent igitur elementa in miato actu, ut corpus album, nee corrumpuntur, nee alterum, nee ambo: nlvatnr enim virtus eorum.

Andere Stellen s. De gen. et corr. 1. 1. Schlufs, f. 24 F; lib. 2. lect. 8. f. 62 F ff. Summa theolog, P. I. Quaest. 76, art. II. ad 4. O^om X. f. 244 H f. und dai Opuacnlum de mistione elementorum, T. XVII f. 212.

248 ^0 MiBdiang: Thomisten. Scotus.

die Scholastik über diese Frage hervorgebracht hat. So unge- heuer auch die Litteratur darüber, so subtil und scharfsinnig die Untersuchungen sind, Neues konnten sie nicht mehr zu Tage fördern, so lange die aristotelischen Begriffe von Form, Materie und Mischung unverändert gelten sollten. Es bleibt daher über die verschiedenen Gestalten, in denen die alte Frage immer wieder auftaucht, verhältnismäXsig wenig zu sagen, da sich dieselben meist auf die Behauptungen von Avicenna, Albert, Avbrrobs oder Thomas zurückführen lassen.

Anhänger der Lehre, dafs die Elemente in den Verbin- dungen untergehen, sind naturgemäfs die meisten Dominikaner, so der dem Nominalismus zugeneigte Durandus de S. Porgiano, genannt Dr. resolutissimus (f 1332), aus dem 15. Jahrhundert Johannes Capreolüs, Dominicus Bannez, Chrysostomüs Javellus und viele andere, femer von der späteren Scholastik die Je- suiten ToLETus (geb. 1532), Franziskus Suarez (geb. 1548), DB Arbiaga ^ (geb. 1592), Thomas Compton imd jüngere mehr.* Überhaupt erfordert die Abweichung von dieser Lehre eine um so gröfsere Selbständigkeit, je mehr die scholastischen Lehren systematische Gestalt annehmen. Denn nicht nur die Thomisten leugnen das Beharren der Elemente, sondern auch das Haupt der anderen grofsen phüosophisch-theologischen Schule, welche dem Thomismus entgegentrat, Johannes Duns ScoTUS (t 1308), lehrt, wie beim Kontinuitätsproblem, so auch in dieser Frage der Hauptsache nach mit seinem Gegner über- einstimmend, dafs die Elemente der Substanz nach nicht in der Mischung bleiben.^ Auch der Neubegründer des Nomi- nalismus, Wilhelm von Occam, ist ein Gegner des Beharrens der Elemente.*

Bei DüNS Scotus gewinnt jedoch die Theorie der Materie eine von der aristotelischen Scholastik abweichende Form und

* Cursus phüos, Lugd. 1669, p. 703.

« S. Pfbifpbe, a. a. 0. S. 84, 39. Daselbst Näheres über die GrÜDde Einzelner für ihre Meinungen.

' Jo. DüNS ScoTi Doctoris subtilis etc. Opera, Lugduni 1639. Tom. VI. p. 753. L. II. Dist. XV. Quaest. unica. Vgl. auch Schneid, Die Körperlehre etc.

* Ein weiteres Verzeichnis von Namen der Verteidiger des Vergehens der Elemente in den Verbindungen findet man in Ccmment Colleg^i Conimbricensis in Libr. 1 De gen. et corr, Arist Moguntiae 1600. p. 358.

Duirs ScoTUS: Die Materie. 249

ist deshalb besonderer Erwäbnnng wert. Scotüs geht, wie er selbst sagt,^ anf die Annahme „Avicembbons" zurück, indem er eine einzige Materie für alle Wesen, sowohl die geistigen als körperlichen, lehrt und somit die Eigenart seiner philo- sophischen Stellung Ibn Gabirol verdankt. Sootus will die Materie nicht als reine Potenzialität auffassen, sondern er schreibt derselben auch ein Sein ohne Form zu; es ist dies der aetus entitativus, das Sein als Materie, welches dieselbe durch die Schöpfung hat. Besäfse die Materie kein Sein an sich, so könnte sie auch keine Verbindung mit der Form ein- gehen und keine Wirkung erleiden; denn was nicht wirklich ist, kann auch nicht passiv sein.^ Diese Materie nennt Scotus materia primo prima} Diejenige Materie, welche Quantität be- sitzt und bereits durch eine substanzielle Form bestimmt ist, nennt er dagegen niateria secundo prima; sie ist der Gegenstand des Werdens imd Vergehens, die Materie der organischen Körper ; die Form, welche ihr die Körperlichkeit verleiht, heifst forma corporeiiatis. Endlich unterscheidet er noch von den bei- den genannten die materia tertio prima als das Substrat für die mannigfaltige Gestaltung des Stoffes durch Kunst und äufsere Kräfte. Die Materie könnte im Gegensatz zur Lehre des Thomas durch Gottes Allmacht auch ohne Form bestehen, aber thatsächlich werden stets beide gleichzeitig durch die Schöpfung verbunden. Diese Verbindung ist keine nur acci- dentielle, sondern die Form verleiht der Materie den actus primaSj das absolute Sein; beide bilden eine substanzielle Ein- heit, eine einheitliche Substanz/

In der Frage nach dem Verhalten der Elemente in der Verbindung bestreitet Scotus sowohl die Ansicht des Averrobs von der Abschwächimg der substanziellen Form, als die des Avicekna von der Unveränderlichkeit der Bestandteile im Kom- positum, weil die Wirkungsart der Mischung eine spezifisch verschiedene von der Wirkungsart des Elementes sei.* Auch

' A. a. 0. De rer. princ. qu. 8, § 24. Tom. in. p. 52.

Tom. III. De rer, princ. qu. 7.

» A. a. 0. qu. 8 § 20. T. m p. 51.

A. a. 0. qu. 9 T. HI p. 59.

Libri II Sententiarum. Dist. XI. Tom VI. p. 749 flf. Dico ergo ad qoaettioiiem tenendo oppositum utriusque, quod elementa Don manent in mixto

250 ScoTüs: Die Formen.

wäre es mit der substanziellen Einheit des Kompositums un- verträglich, wenn die Bestandteile desselben ihre substanziale Form behielten. Scoxus stellt sich den Sachverhalt so vor, dafs die Elemente, indem sie ihr Sein in der Mischung ver- lieren, dadurch eine höhere Form des Seins angenommen habeu und ihr früheres Sein nur in dem Sinne behalten, wie da* Niedere im Höheren enthalten ist.^ Er nimmt eine Stufexv- ordnung der Formen an von den unvollkommenen Porm©^^ welche der Materie näher stehen und in ihrer Wirkscunk^^^ beschränkt sind, zu den vollkommenen Formen der geistig^^ Wesen und gab dadurch Veranlassung zu einer eingehend^^ Erörterung der Frage De intensione et rentissione formarum^ Ö^ ist die Form der Mischung eine höhere als die der Elemen'*'* und vermag die letztere in sich aufzunehmen, so dafs di^ zusammengesetzten anorganischen Körper eine substanziell^ Einheit bilden. Bei den belebten Körpern, inbesondere derXi Menschen, vereinigen sich jedoch die höheren Formen niolit> unmittelbar mit der matcria prinio prinia ; sondern da beim Todö eines lebenden Wesens, wenn also die Form des Lebens ent- weicht, doch noch die Form des Körpers bestehen bleibt, so half sich Scoxus mit der Annahme einer vermittelnden Form, der oben genannten forma corpordtatü. Trotzdem gewinnt er die vollkommene Einheit der substanziellen Form des Menschen, indem er alle die einzelnen Formen, die elementare, die des Kompositums, der Körperlichkeit, die vegetative und die sensi- tive Form einander imterordnet und die höchste sämtliche übrigen mit ihrer Einheit umfassen läfst.^ Die vorhergehende Form verhält sich zur höheren als Materie.* Diese B>elativität des Formbegriffs ist das Charakteristische für Scotüs und, wie man sieht, durchaus Ibn Gabirol nachgebildet.

In Bezug auf unsere specielle Frage bemerkt ScoTUS eine bisher übersehene Schwierigkeit, die ihn zu neuen unbestimmten

secundum substantiam, sive remissam (sicut dicit Commentator) eive non remissam, sicut ponit Avicenna . . . Non enim operatio mizti est ejusdem speciei cum aliqua Operations elementi (p. 753).

* A. a. 0. Tom. VI. p. 755.

* Vgl. Pbaktl, Gesch, d. Log, III S. 223.

* De rerum princ. qu. 9. § 51—53, T. III p. 71, 72.

* Vgl. Schneid, a. a. 0. S. 17. A. 3.

Die Mischung: Scotus. B. Baco. 251

Annahmen treibt. Es zeigt sich uämlich, dafs nach der tho- mistischen Theorie die Verbindung überhaupt gar nicht durch ^^ gegenseitige Wirksamkeit der Elemente entstehen kann. Denn in welchem Augenblicke soll sie entstehen? Sind die Elemente bereits in ihren Formen zerstört, so ist ja nichts Torbanden, was eine Verbindung eingehen könnte, die Mischung würde aus einem Nichtseienden erzeugt werden; bleibt aber eins der Elemente bestehen, so würde das Mixtum aus diesem Einzigen, nicht aber unter Korruption der Elemente entstehen. Wie soll auch aus den unvollkommenen Elementen das voll- kommenere Kompositum sich entwickeln ? ^ Um diese Schwierig- keiten zu erklären, nimmt Scotus an, dafs nicht die Wechsel- wirkung der Elemente, sondern ein allgemeines oder natürliches Agens die Verbindung erzeugt. Dieses Agens, das nicht näher bestimmt wird, eduziert die Form des Kompositums aus der Materie, es bringt dieselbe nicht von aufsen oder aus sich hinzu, sondern es bewirkt sie ursächlich in dem Kompositum.* Wieder stockt die Untersuchung am Problem der Veränder- lichkeit.

Auf diese Weise mehren sich für diejenigen, welche an dem scholastischen Begriffe von der substanziellen Einheit der Mischung festhalten woUen, immermehr die Schwierigkeiten, die Vorgänge in der Körperwelt zu beherrschen.

Diese Schwierigkeiten fallen jedoch fort, sobald eine selbst- ständigere Fassung der Materie versucht wird, wie das bei BoGBB Baco (f 1294) der Fall ist. Dieser geistvolle, wenn auch mitunter sich selbst überschätzende Franziskaner steht in der Auffassung der Fragen nach dem Wesen der materiellen Vorgänge hoch über seinen Zeitgenossen. Indem er neben der Vielheit und Vielfältigkeit der endlichen Formen eine gleiche Vielheit und Vielfältigkeit der stofflichen Substrate

* Opera Tom. VI. p. 755.

' Op. T. VI. L, IL Sent, Dist. XII. qu. 1. n. 17. Agens de potentia materiae praeexistentis et quae in fine generaiionis est pars compositi, educit fonnam, quae est altera pars compositi, quae prius non fuit in actu nee in re extra sicnt materia. Dazu vgl. De rer. princip, qu. 10. art. 2. § 10. T. III. p. 82. . . agentia naturalia sie generant compositum, quod quamvis generent per le, nihilominus sua actione educunt de potentia materiae illud, quo com- podtnm prindpale est tale, scilicet, formam

252 B. Baco: Die Materie.

voraussetzt,^ schwingt er sich über die ziellosen Streitigkeiten um die Form der Mischung mit einem Schlage empor; die Einheit der verschiedenen Stoffe ist für ihn gar keine sub- stanzielle, sondern eine blofs logische, sie bezieht sich nur auf die Gattung, welche die einzelnen Species umfalBt. Die Materie der Elemente ist verschieden von der Materie der zusammen- gesetzten Körper, sowie die Materie der unbeseelten zusammen- gesetzten Körper wieder eine andre ist als die der beseelten. Auf die Notwendigkeit einer Vielheit der Materie schUelBt Baco aus Erfahrungsresultaten, so namentlich aus der optischen Thatsache der Refraktion; die Brechung der von den Sternen kommenden Lichtstrahlen beweist ihm die Verschiedenheit der himmlischen und sublunaren Materie.* Dadurch, dafs Baoo die Form nicht mehr als das alleinige reale Gestaltungsprinzip der Materie ansieht, sondern mehr ihrer logischen Bedeutung nach als dasjenige betrachtet, wodurch wir die verschiedenen Arten der Stoflfe unterscheiden, gewinnt bei ihm die Materie einen viel gröfseren Einflufs als Grundlage der physischen Welt. Sie tritt aus der Schattenhaftigkeit blofser Potenzialität heraus und wird selbst bestimmend für die natürlichen Vor- gänge. Nicht die Form allein, sondern die Substanz als Kom- positum aus Materie und Form ist das Wirksame in der Natur.^ Baco sieht in der wirklichen Welt die Elemente und ihre Verbindungen als gesonderte, für sich wirkende Sub- stanzen. Es hängt diese Vorstellung mit der Neigung Baoos zu seinem philosophischen Individualismus zusammen, und er wird dadurch thatsächlich der Vorläufer einer für die Ent- wickelung der Naturwissenschaften höchst günstigen Weltauf- fassung. Die Wechselwirkung der Stoffe konnte nur erklärt werden, wenn man sich von der Verwandlungsf&higkeit der- selben frei machte und sie als unveränderliche Substanzen be- trachtete. Dazu war die BACOsche Veränderung des Form- begriffs aus dem Methaphysischen in das Logische der erste Schritt. Es war ein Schritt in der Richtung des Nominalismus,

* In den noch angedruckten Communia naturdliumf I ps. 2, dist. 1. c. 1. mitgeteilt von Werner, Wiener Sitzungsberichte 1879. Bd. 93. S. 532.

* Op, maoua p. 59. Comm. nat. 11 ps. I, c. 1. Nach Werner a. a. 0. S. 493. ' Opus tertium, c. 31. Ed. Brewer. London 1859. p. 108.

Die Mischung: Pbtbus Aubeolus. 268

von welchem selbständigere Begnngen zu Gunsten der Natur- wissenschaft nunmehr überhaupt auszugehen begrünen. Die Theorie der substanziellen Formen wird unterminiert durch die Geltung, welche die materielle Substanz gewinnt.

Bei Pbtbus Aürbolus (f 1321) findet sich in der Mischungs- frage eine Art von Yermittelungsversuch. Er nimmt an, dafs die Formen der Bestandteile in der Mischung nicht nur virtute sondern secundum aliquid sui bleiben, dafs irgend etwas B>eales, was ein realer Teü des Elementes war, auch in die Verbindung eingeht.^ Von den empirischen Gründen, welche er dafür an- fährt, ist derjenige bemerkenswert, dafs die Zusammensetzung der Nahrungsmittel aus verschiedenen Elementen für die Er- nährung nicht gleichgiltig sei. Er meint, dafs zwar nicht das Element unverändert, aber ein Teil desselben, eine „BeaUtät^ des Elements in der Verbindung enthalten sei ; diese „Bealität^ onterscheidet er von dem Elemente selbst und dessen sub- stanzieller Form. Die Zahl der Namen für wenig klare Be- griffe ist dadurch wieder um einen neuen vermehrt, aber doch aus dem richtigen Gefühle, dafs mit den vorhandenen Auf- fassungen der Widerspruch nicht lösbar sei.

Es ist nicht notwendig, die vorliegende Frage hier weiter ins Einzelne zu verfolgen. Im Allgemeinen vermehrt sich vom 14. Jahrhundert an die Zahl der Anhänger der Lehre vom Be- harren der Elemente, wenn man von der Menge der Theologen absieht, die lediglich in der strengen Zucht der Schule des Thomismus oder Scotismus stehen. Die Verteidiger des Be- harrens der Elemente schliefsen sich mehr oder weniger an Albertus Magnus oder an Averroes an, indem die Remissio der Formen, für welche Scotüs eingetreten war, der Auffassung des Averroes entgegenkam.^ Aus dem Ende des 15. Jahr- hunderts sei genannt der Kommentator des Averroes, Zimara, der in allen streitigen Fragen zwischen diesem und Aristoteles

* Ausführlich über die vorliegende Frage bei Aueeolus handelt Pfeiffer, a. a. 0. S. 44 54, an dessen Ausführungen ich mich hier anschliefse.

* Eine ausführliche Darstellung der Gründe und Gegengründe in der Frage über das Verhältnis der Bestandteile zur Mischung findet man bei ToLBTim, In lib. I de gener. et corrupt. Arist. Quaest. 17 u. 18. Gol. Agr. 1615, dl. 299 col. 3 fif. und namentlich in Comment. Golleg^i Gonirabricensis in lib. I Ariat de gen. et corr. Moguntiae 1600. Quaeet. III. p. 356 ff.

254 1^6 Mischung: Anhänger des Beharrens der Bestandteile.

zu vermitteln sucht, femer Augustikus Niphus und Gasparo CoNTARiNi, die mit Averroes das Beharren der Formen der Elemente in gemindertem Zustande annehmen; aus dem 16. Zabarella und der Jesuit G-irolamo Dandini, die sich der Ansicht Albert des Grofsen anschlössen. Bei Dandini findet sich der später noch mehrfach, so auch von dem Kommentator des Avicenna, Costaeüs, ausgesprochene Gedanke, dafs die Aktualität relativ zu fassen sei, d. h. ein Element könne sich in der Verbindung so befinden, dafs es in einer Hinsicht aktuell, in andrer potenziell sich verhalte.

Die Reihe der Namen von Gelehrten, welche sich für das Beharren der Elemente ausgesprochen haben, könnte wesent- lich vermehrt werden, wenn man die Arzte hinzufügte, die sich über diese Frage äufsem. Denn gemäfs ihres Bildungs- ganges sind sie wesentlich Schüler des Avicenna und daher geneigt, das Beharren der Elemente in den Verbindungen an- zunehmen. Statt vieler sei hier nur des berühmtesten von allen, Fernel (f 1558), gedacht, welcher das Beharren der Elemente in sehr lebhaften Ausdrücken verteidigt.^ Mit dem Niedergange der Scholastik und der allmählichen Verwerfung ihrer Hypostasierungen verliert die besprochene Frage ihren inneren Wert; sie gewinnt aber zugleich ihre volle historische Bedeutung, indem gerade sie für mehrere Männer der Über- gangszeit zur Neubegründung der Naturwissenschaft und Philo- sophie ein Stein des Anstofses wird, der sie vom Wege scho- lastischer Begriffsspalterei zur Untersuchung der Thatsachen ablenkt. Nur die Korpuskulartheorie war imstande, den ver- schlungenen Knoten, welchen sich die Metaphysik der sub- stanzieUen Formen hier zur eigenen Fessel geschürzt hatte, zu durchhauen, indem sie dem Begriffe des Körpers und der chemischen Verbindung eine andre Gestalt gab.

* Physiol. c. 6. lib. 2. Univ. med, ed. Plant. Lutet. 1567. fol. 78.

Rückblick. 255

Neunter Abschnitt.

Occarn und Nicolaus de Autricuria.

Wir haben eine Beihe von Momenten kennen gelernt, lolie innerhalb der scholastischen Theorie des Körpers als rnngsmittel wirken, auch während des Mittelalters und der TTSchaft des Aristoteles korpuskulartheoretische Vorstellungen Bewegung zu erhalten. Arabische und jüdische Denker ^ken die Bedeutung der Materie gegenüber der Form und lugen sie der naturalistischen Auffassung eines selbständigen, > Welt aus sich entfaltenden Stoffes näher ; das Kontinuitäts- oblem wird erwogen und die Erhaltung der Bestandteile in r Verbindung diskutiert; antike Erinnerungen an korpus- lare Gestaltung der Materie sind vorhanden ; die Chemie hat re eigenen substanziellen Elemente ; die Medizin benutzt zum ol korpuskulare Erklärungen. Aber alles dies bleibt undeut- jh und zerrissen; die Vorstellungen vermögen sich nicht zu erdichten zu einem Denkmittel, welches einen neuen Natur- tgriff schafft. Denn dazu ist das Bedürfnis noch nicht vor- lüden. Noch ist die Natur, wie sie das Bewufstsein des ittelalters objektivierte, nicht erschüttert und aufgelöst durch 6 unwiderstehliche Macht neuer Erfahrungen. Noch lenken 6 Engel Gottes die Bewegung der Himmelssphären und be- immen dadurch nach dem Ratschlüsse der ewigen Weisheit 18 Werden und Vergehen der Stoffe zum Heile des Menschen, \s Mikrokosmus im Mittelpunkte der Welt. Noch herrschen ^esen psychischer Art, zweckbestimmende Formen, über die eränderungen des Seienden. Und für die Existenz dieser ormen hat Thomas, der gröfste Kirchenlehrer, die Formel ge- inden: AI« Uni versahen sind sie vor den Einzeldingen, in neUi und nach ihnen. Vor ihnen sind sie, weil Gott vor m Dingen sie intelligiert hat; in den Dingen sind sie, weil B nicht ohne diese bestehen und ihre Realität nur an den inceldingen gegeben ist; nach den Dingen sind sie, weil sie 18 Wesenhafte sind, welches vom menschlichen Verstände

256 OocAM.

ans den Einzeldingen dnrch Abstraktion abgesondert werden kann.

So ist die göttlicbe Ordnung der Welt zugleich mit ihrer Erkennbarkeit gesichert. Dieser Metaphysik gab es niohtB Besseres entgegenzustellen. Aber die Kritik blieb ihr nicht fem ; und während diese nur die Art der Begründung zu he- zweifeln meinte, rüttelte sie zugleich unwissentlich an den Grundsäulen des Systems. Der Nominalismus erhebt wieder sein Haupt, diesmal mit besserem Erfolge, in Wilhelm yoh OcGAM (t 1347). Das Allgemeine soll gar nicht mehr in den Dingen, sondern nur im denkenden Geiste existiereui aber auch hier nicht substanziell {subjective heiGst der scholastische Terminus), sondern nur als Vorstellung (pbjective). Beeil sind nur die Einzeldinge, und die Ursache jedes Dinges ist zugleich die Ursache seiner Einzelexistenz. Die Kategorien bezeichnen nicht eine Einteilung der Dinge, sondern nur der Worte, welche nach Übereinkommen die Objekte repräsentieren. Die Einzel- dinge werden durch Anschauung erkannt, wobei freilich die sinnliche Anschauung allein nur Zeichen für die Dinge gibt; die innere Anschauung erkennt die Zustände der Seele. So leitet OooAMs Kampf gegen die Hypostasierung aller Begriffe und sein Grundsatz, dafs es unnötig sei, vieles anzunehmen, wo Eines ausreicht, darauf hin, dais die Betrachtung der Dinge selbst statt der künstlich eingeführten Formen und ver- borgenen Qualitäten eine neue Art der Naturerkenntnis ermög- lichen dürfte. Je mehr die Bealität der Natur auf den Einzel- dingen beruht und durch die Beobachtung derselben zu erfassen ist, umsomehr mufs die Wechselwirkung derselben in Betracht kommen und das Denkmittel der mechanischen Kausalität in Erscheinung treten.^

Unter dem Einflüsse der Betonung der Erfahrung durch OccAM* findet sich in der Mitte des 14. Jahrhunderts sogar der schüchterne Versuch, an Stelle der Kommentierung des Ari- stoteles und AvERROEs die Beobachtung der Dinge selbst zu setzen und die Naturerklärung auf atomistische Grundsätze zu basieren. Im Jahre 1348 nämlich wurde Nioolaus db Ultri-

^ Vgl. über den Nominalismus auch obeo S. 58, 59.

Vgl. PBJl5T^ Gesch, d. Log. etc. Bd. 3. p. 418 A. 1038 und Bd. 4, S. 2.

Nicolaus de Aütrictria. 257

CUBIA^ von der Pariser Universität genötigt, sechzig vom Apostolisclien Stuhle verurteilte Errorcs de rebtis PhiJosophicis et Tkeohgicis öffentlich zu widerrufen. Die betreffenden Schriften wurden verbrannt. Er hatte gelehrt, dafs die Unsicherheit in der Erkenntnis der Natur in kurzer Zeit gehoben werden könne, wenn man den Verstand auf die Dinge statt auf Ari- 8T0TBLES und den Kommentator (Averroes) anwendete. Den Dingen schreibt er nicht ein Entstehen und Vergehen, sondern einen ewigen Bestand zu, in dem Sinne, dafs es in der Natur nichts anderes gebe als die räumliche Bewegung der Trennung und Ansammlung. Wenn die Atome zusammentreten und dadurch die Natur eines Dinges bestimmen, so nennt man dies Entstehen, wenn sie wieder auseinandergehen, dagegen ATer gehen; und wenn in Bezug auf ein Ding die Bewegung derartig ist, dafs der Zutritt der Atome zwar nichts für die Sewegnng desselben, aber etwas für einen natürlichen Vor- gang an demselben ausmacht, dann heifst dieser Vorgang Veränderung. Das Licht beruht auf der örtlichen Bewegung gewisser Körper von solcher Beschaffenheit, dafs sie der Sonne oder andern leuchtenden Körpern folgen; es pflanzt sich nicht instantan fort, sondern in der Zeit, wie der Schall. Alle Teile des Universums, sowie das ganze, sind ewig und unzerstörbar (Art. 39). Beim Auseinandertreten der Atome, welche den menschlichen Körper bilden, bleiben gewisse Spiritus^ genannt Litellekt und Sinn, zurück in derjenigen guten oder schlechten Disposition, in welcher sie sich befanden; dadurch wird der Oute belohnt, der Böse bestraft, weil unendlich oft, wenn immer der Zusammentritt seiner Atome sich wiederholt, er dieselbe gute oder schlechte Disposition vorfindet.^

^ BüLAEUs, Hist Univ. Paris. Tom. IV. p. S08 ff. Nach Pra.ntl a. a. 0. (Bd. 4. S. 2 n. 3, A. 4) heifst dieser Nicola.us Alticuria oder (richtiger) AuTBiOüRiA und stehen seine revozierten Sätze gedruckt aulser bei Bulaeüs (nach welobem ich citiere) in den meisten Ausgaben des Petrus Lombardüs (als Anhang cum 4. Buche) und bei Du Plessis d'Argsktr£, CoU. judic, de 1100. error, VoL I p. 856 ff.

* BuLABDB, a. a. 0. p. 310 N. 36. Item quod res absolute permanentes, et de quibna dicitur oommuniter, quod generantur et comimpuntur, funt aetemae, nre nnt inbstantiae sive sint accidentia. (Revoco tanquam falsam, haereticum «t erronenm.) 37. Item quod in rebus natnralibus non est nisi motus localis

Lalkwits. 17

258 Nicolaus de Autricübia.

Diese Atomistik des Nicolaus de Autbicuria steht freüidi vorläufig noch vereinzelt und war von keinem naohweisbarem Einflüsse. Der Verteidiger sah sich geiswnngen, seine Sätse abzuschwören. Aber diese Verurteilung weist doch hin auf die beginnende Richtung der Geister, nach einer neuen Art der Naturbetrachtung zu suchen. Man darf vermuten, daüsi ähn- liche Ansichten nicht gerade in diesem uns bekannt gewor- denen Falle allein vorhanden gewesen sind. Dergleichen ketzerische Meinungen sind in selbständigeren Köpfen gewÜB häufiger aufgetaucht, wenn sie auch nicht öffentlich ausge- sprochen wurden. Manches mag vom Lehrer auf den Schüler übergegangen sein, ohne dafs man gewagt hätte, es aufini- schreiben, oder wenn es aufgeschrieben wurde, so wurde es bald wieder vernichtet. Noch war die Zeit nicht gekommen,

disgregationis et congregaiionis : ita quod ad talem motum seqoitur congregatio Atomalium, colliguntor ad inWcexn, et sortiuntar naturam anins snppoaiti, dioitar generatio, qüando segregantur, dicitnr cormptio. Et quazido per motam localem atomalia cum aliquo supposito, quae sunt talia quod nee adventii» eonun videtor facere ad motum suppositi, vel ad id quod didtur operatio naturalis ejus, tunc dicitur alteratio. (Istum artic. assero haereticum et reputo falsum.) Quando per motum localem atomalia cum aliquo aupposito, quae lunt talia quod nee adventus eorum videtur facere ad motum supponti, vel ad id quod dicitur operatio naturalis ejus, tunc dicitur alteratio. 38. Item quod lumen nihil est aliud, quam quaedam corpora quae nata sint sequi motum aolis vel alterius corporis luminosi, ita quod fit per motum localem tälium corporum advenientimn ad praesentiam corporis luminosi. Et si(c) (?) dicatur quod non fit per motum localem» quia in instanti fit: Respondetur quod imo fit in tempore, siout sonuB(;) licet non percipiamus, quia fit subito. (Ist. art. reputo falsum.) 41. Quod duae albedines aut quaecunque duo individua ejusdem speciei conveniunt ad sensum et intellectum, ut eaedem res sunt omnino eadem, nee debet eis negari aliqnia gradus indemnitatis quantumcunque sint in diversis sitibus et suppositis. (R. f. et err.) 42. Item quod praemiatio bonorum et punitio malonim per hoc fit quod quando corpora atomalia segregantur, remanent quidam spiritus qui dicuntur unus intellectus et alius sensus; Et isti spiritus siout in bono se habebant in optima dispositione, sie se habebunt imfinities tecundum quod illa judicia infinities congregabantur. Et sie in hoc bonus praemiabitur, malus autem punietur, quia infinities, quando iterabitur congregatio suomm Atomalium habebit semper suam malam dispositionem : vel post aliter poni quod illi duo spiritus bonorum, quando dicuntur corrumpi supposita eorum, fiunt alteri sup- posito constituto ex atomis perfectioribus. Et quod tale suppositum sit minoris perfectionis. Id circa intelligibilia magis quam prius remeant ad nos. (Ist. a. atsero fals. et. err."^

Nicolaus de Autricüria. 259

in welcher die Atomistik sicli hätte hervorwagen dürfen, und Ajustotbles zn mächtig, als dafs die Naturphilosophie sich hätte auf gedeihlichere Grundsätze stellen können. Die Herr- schaft der Thomisten und Scotisten verdrängte die Versuche einzelner, wie sie ein Jahrhundert vorher Roger Bacos Werke Tmterdrückt und ihren Verfasser in langjähriger Haft hatte schmachten lassen. Erst mufsten neue Formen der Kultur sich gestalten, in lebendigem Erlebnis mufsten innere und äufsere Erfahrung die europäische Menschheit über den be- schränkten Kreis ihres bisherigen Interesses herausheben, ehe auch das theoretische Verständnis der Welt der Macht des Lebens nachzukommen sich gedrängt fühlte. Dann erst ward es offenbar, dafs neue Denkmittel das System der substan- ziellen Formen zu ersetzen hatten und das Problem des Körpers eine andre Auflösung erheischte.

!?•

Zweites Buch.

Die Ernenernng der Korpasknlartheorie.

Erster Abschnitt.

Das Prinzip der inneren Entwickelung.

1. Der Nenplatonismus.

Vergeblich blieben die Versuche, die aristotelische Physik tierlich in widerspruchslosen Zusammenhang zu bringen ; noch )niger konnte es glücken, die Übereinstimmung derselben t den Thatsachen der fortschreitenden Naturbeobachtung raustellen. Es bedurfte einer neuen Grundlegung der Natur- [enntnis. Eine solche war nur möglich im Gegensatze zu ISTOTELES und der Scholastik, sie mufste auf andere Quellen "ückgreifen und die vernachlässigten Keime zu entwickeln {hen, an welchen es im mittelalterlichen Denken nicht fehlte. er die Zwingburg des physikalischen Lehrgebäudes, wie es her bestand, muXste gebrochen werden, um den unterdrückten dangen Luft und Licht zu verschaffen.

In welcher Weise man in der Zeit, die den Namen der naissance führt, begann, von allen Seiten her durch ein liischeres Zurückgehen auf die Alten und demnächst mit ner, gestärkter Kraft an der überlieferten scholastischen hre zu rütteln, kann hier nicht genauer dargelegt werden, i 8Q. aufmerksamer wird sich die Geschichte der Korpus- lartheorie derjenigen Seite zuwenden müssen, auf welcher I Erneuerung der Physik gegen die Scholastik anstürmte d sohlielslich durch die Schöpfung einer exakten Natur- »enschaft der entscheidende Schlag geführt wurde.

264 NeuplatoDismus : Entwickelung. Weltseele.

Zunächst zeigte sieh seit der Mitte des 15. Jahrhunderts eine Veränderung in der Naturbetrachtung, die an sich zwar im Gegensatz stand zu den Prinzipien, auf welche sich später der wirkliche Fortschritt einer wissenschaftlichen Physik grün- dete, aber doch eins der wichtigsten Mittel zum Umstürze der aristotelischen Auffassung wurde. Diese Veränderung war die Folge des griechischen Einflusses auf die Entwickelung der Philosophie im Abendlande, der Einföhnmg griechisclier Werke imd der Einwanderung gelehrter Griechen; es ist die Erneuerung des Piatonismus oder vielmehr des Neuplato- mus, welche in den peripatetischen Gedankenkreis umge- staltend eindringt. Für eine neue Auffassung der Natur liefert dieselbe zwei vielversprechende Gesichtspunkte, den Begriff einer Entwickelung der Vielheit und Mannig- faltigkeit der Sinnenwelt aus der Einheit und Einfachheit der Idee, und damit im Ziisammenhange den Begriff der Weltseele, der allgemeinen innerlichen Belebtheit des Uni- versums. Es ist hier der Ort, kurz die Gedanken zusammen- zustellen, welche das Altertum in dieser Hinsicht denen darbot, die auf das Studium der platonischen Schulen zurück- gingen, um die Grundlagen einer neuen Naturerklärung zu finden. Wir werden alsdann sehen, wie die Naturphilosophie dieselben verarbeitete und welchen Einflufs jene Begriffe auf die Ge- schichte der allgemeinen Physik gewannen. Was von jenen Lehren rein platonisch ist, was den einzelnen Vertretern des Neuplatonismus oder der Verschmelzung mit andern Systemen zukommt, das braucht hier nicht im einzelnen untersucht zu werden, wo niu* die Gesamtwirkung dieser philosophischen Kiohtung in Betracht tallt.*

Der Neuplatonismus hatte sich allerdings mit der Physik am wenigsten beschäftigt imd die physikalischen Erklärungen direkt verwerten. Aber gerade für die metaphysische Grundfrage nach dem Prinzip des Zusammenhangs der Dinge schien er eine Antwort zu haben. Es handelte sich dabei einerseits um die Entstehung der Dinge und andrerseits um ihre Wechselwirkung. Wie ein einziges,

* Tbt^r das Folgende vgl. auf»or den lietreffenden Abschnitten bei Zbujeb, 111 B. insbos. Akth. Kichtbr. i>iV Theologie uhJ Physik de>t Piotin, Halle 1867. Für Flotin Wnutze ich die Ausgabe von H. F. Miller. Berol. 1878.

Xenplatonismus. Flotik. 265

einfaches Urwesen, wie das absolute Sein Eins bleiben und dooh in der Vielheit der Erscheinung auftreten kann, das wird durch das schöne Bild vom Lichte erörtert, welches, von einer einzigen Quelle ausgehend, in der Einheit seines Wesens ver- harrt und doch in zahllosen Spiegelbildern ein Vielfaches wird.^ Je öfter die Strahlen gebrochen und reflektiert werden, um so mehr verblafst ihr Schimmer. Von dem reinen Lichte der ibsolut^n Kealität des Ur-Einen bis zu dem mangelhaften Sein ier Körperwelt und dem Nicht-Sein der Materie ist eine ununter- brochene Stufenfolge von Abschattungen. Aber was in der äinnenwelt räumlich imd zeitlich auseinanderliegt in Vielheit, Mannigfaltigkeit imd Veränderung, das ist in der inteUigiblen Welt, im Beiche der Ideen, in vollkommener Wirklichkeit Eins, Dhne Gegensatz von Einheit und Vielheit, von Ruhe und Be- «regnng, in zeit- und raumlosem Ineinander, in absoluter Har- monie und Vollkommenheit. Iin Unendlichen verschwinden die Gegensätze des Endlichen. Ist nun damit auch der Zu- sammenhang aller Dinge in der Einheit der inteUigiblen Welt gesichert, so fehlt es doch an einem Prinzip, welches von der Suhe und ünveränderlichkeit der Ideen zur Bewegung und zum Wechsel der Schattenwelt der Sinne hinüberleite und zwischen Geist und Natur vermittle.

Bei Platon war die Materie im Sinne des äntiQov die extensive und intensive Grofse; Plotin geht zwar von dieser Bestimmung aus, aber unter Anschlufs an die von Aristoteles überlieferte Form der platonischen Lehre und unter Verschmel- zung mit dem im Timäus vorausgesetzten Substrat der Körper- welt macht er die Materie zum direkten Gegensatz der Idee. Sie wird zum Nicht-Sein, zum Schatten und Mangel des Seins, das jeder Realität entbehrt, nicht blofs zur unbestimmten Sub- stanz, sondern zur reinen Bestimmungslosigkeit imd Privation, «u einem Begriff, von dem man nur eine dunkle und unbe- ^immte Vorstellung haben kann, weil das Denken bei dem Gi-estaltlosen nicht lange zu verweilen vermag.* Ja, Plotin erklärt die Materie weiterhin und unter neupythagoreischem E^influfs geradezu für das Böse, das absolut Schlechte und

* Plotik, Enn. I, 1. 1. c. 8.

Vgl. Plotw, Ennead. II, 4, 10.

266 Stoiker. Plotin: Weltseele.

Häfsliehe. im Gegensatz zu dem absolut Realen, welches das Schöne und Gute ist. Die Körperlichkeit erscheint als ein Mangel an Realität, und das Fehlen des Seins macht die Dinge in ent- sprechendem Verhältnis körperlicher.

Damit nun jene reine Ideenwelt Wirkungen in der Materie hervorzurufen vermag, bedarf es einer Vermittelung zwischen dem Geiste und der Körperwelt, eines Agens, welches zugleich ungeteilt und geistiger Natur ist, aber sich doch mit der Be- dingung der Teilbarkeit, der Materie, berührt und dadurch die Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt erzeugt. Schon Platos hatte, wie wir sahen, als ein solches dj'namisches Prinzip die Welt Seele eingeführt. Eine besondere Ausbildung hatten die Stoiker diesem Gedanken gegeben. Bei ihnen ist die Welt- seele, wie alles, durchaus körperlich, aber der feinste Stoff, das Pwniwfl, welches alle Dinge durchdringt und als gestaltende und erzeugende Kraft in jedem Einzelnen in verschiedener Reinheit und Stärke vorhanden ist. Unter Aufnahme der Lehre des Anaximenes von der Verdichtung und Verdünnung machen sie die Weltseele zu dem Mittel, das durch seine Ver- dichtung und Verdünnung die Elemente erzeugt und den Dingen die Spannung (rorog,) gibt, die innere Intensität ihres Wesens, die ihre Belebung und Beseelung ausmacht.^

Nicht unberührt von diesem Einflufs, bildet der Neu- platonismus. insbesondere Plotix. die Theorie der Weltseele aus. so dafs es dann nur ein Schritt ist, die Weltseele ab den beseelten Raum selbst zu denken. Wie aus dem XJrwesen der Xus, so geht wieder aus dem Nus ein drittes, die Seele hervor. Die einzelnen Seelen sind alle in der unendlichen, umfassenden Weltseele vorhanden, welche zum körperlichen Universum der Welt in demselben bestimmten Verhältnisse steht, wie die Einzelseele zum Einzelkörper. Nicht die Seele tritt in den Körper ein, sondern der Körper in die Seele: diese ist «lo Ganzes, ohne Quantität, ohne Masse: und indem der Körper in sie eintritt, nimmt er an der Welt des Lebens teil, so daß alle die verschiedenen Körper beseelt und die Seele selbst doch eine ungeteilte ist. Die Weltseele erzeugt die Zeit. j»Di® Zeit ist das Leben der Seele, betrachtet in der Bewegung'

^ Vvrl I.. Stkis. 5.1.1. I S. ^S. Si^ > auch ol^n S. ^Ä).

Ploteh: Weltseele. , 267

rch welche sie von einem Akt zum andren übergeht." Durch «e Bewegung bewirkt die Weltseele die Entstehung der Ige. Sie ist die Ursache, aus welcher die sinnliche Welt hervor- iitf die schöpferische ICraft der Natur und das weltordnende inzip. Durch die Weltseele werden die Formen in die Materie geführt und die Qualität und Quantität der Körper weit erzeugt. 8 Vermittelnde bei dieser Erzeugung des Sinnlichen ist der 'og. Jeder spezifischen Differenz entspricht ein Logos. Das n wird in der Seele zum Leben, die Idee zum Begriff (loyog), d durch die Mitteilung des koyog an die Materie entsteht sinnliche Erscheinung. Die gesamte Erscheinimgswelt ist ler belebt, und durch die Weltseele ist eine Sjrmpathie und dohselwirkung zwischen allen Dingen und allen Teilen der üt ermöglicht.

Wir werden im folgenden sehen, wie dieser Gedanke jes weltordnenden, lebendigen Prinzips von der Naturphilo- )Iiie ergriffen und benutzt worden ist. Wenn man aber rsnoht, diese Vorstellung von der Weltseele physikalisch zu rwerten, so liegt es in der Natur der Sache, dafs man nach ter Yeranschaulichung ihres Begriffes strebt; und die Folge 7on ist, dals die Weltseele verstofflicht wird und ihr Begriff hr demjenigen der Stoiker von der Weltseele als einem alles rchdringenden, äufserst feinen feuerartigen Äther sich nähert. Bse Umgestaltung, zugleich eine Erinnerung an Heraklit, liegt L so näher, als dadurch eine Vereinigung mit der aristotelischen bre von der Lebenswärme möglich erschien und die Unsicher- t der aristotelischen Bestimmung über das Verhältnis dieser benswärme zum Äther einer Verschmelzimg dieser Vorstel- ^n günstig war. Die Begriffe Kaum, Äther und Weltseele Isen auf diese Weise zusammen und werden um so weniger lohieden, je mehr sich das Denken in poetischen Bildern rtatt in strengkritischen Untersuchungen der Physik gefällt.

Die Beziehungen der Weltseele zum Baume waren schon ofem vorbereitet, als man die parallele Stellung, welche ÄTOH dem Mathematischen neben der Weltseele anwies, näm- 1 die Vermittelung zwischen den sinnlichen Dingen und den »en, dadurch zu verdeutlichen suchte, dafs man dem von der Bitseele erfüllten Baume geradezu diese EoUe zuschrieb. Ja ist sogar bei Proklus dieser Vorstellung ganz bestimmt vor-

268 Weltseele ,-— tfpitiius mundi Wcltather.

gearbeitet, indem der Raum als ein körperliches und beseeltes Wesen betrachtet wird, das aus dem feinsten Lichte bestellt und vermöge der Durchdringbarkeit des Lichtes zur Aufnahme der Materie fähig ist. Hierin ist die stoische Lehre von der Durchdringung der körperlichen Eigenschaften, der aristotelisclie Äther als qninta rssenfia und die platonische Weltseele zu einem Ganzen verschmolzen. Zugleich ist das Mittel geschaffen, im Anschlufs an die stoischen koyot aneQitaxixol die Gestaltung der Materie in averroistischem Sinne aus den Keimformen zu er- klären, als deren belebende Ursache nunmehr die Weltseele auftritt. Dieser körperlich ausgedehnte und durch Beseelung wirkende Äther ist der immittelbare Vorgänger des Spiritus mtoidi bei den Alchymisten und Naturphilosophen vom Ende des 15. Jahrhunderts an. Es wird sich bei Agrippa von Nettbs- HKIM die direkte Einwirkung zeigen. Endlich hat durch die Alchymisten jener Äther eine nochmalige Umwandlung erlitten und zu der Aufstellung der drei Grundsubstanzen des Para- lELSus geführt. Dieser Spiritus bleibt nunmehr in den ver- scliiedensten Gestalten das allgemeine Agens der Natur, wo- durch diese selbständiges Leben erhält. Bei Bruno wird er zum VavHum Demokrits; er ist sehr beliebt bei Francis Bacon und versteckt sich bei Descartes, Gassexdi und Boyle hinter den materiellen Efflu^-ien, tritt aber in der reinen hylozoistischen Fonn wieder bei Henry More hervor, von welchem er zu kei- nem geringeren als Newton sich flüchtet, imi im mathematischen Gewände der femwirkenden Kräfte die moderne Physik zu beherrschen. Die Lebenskraft dieses Weltäthers, der im Grunde vom Urfeuer Heraklits abstimmt, beruht darauf, dafs er der Ausdruck ist für das vergeblich gesuchte Prinzip, welches die Veränderung überhaupt begreifbar macht.

Was nun bei den Neuplatonikern die Theorie des Körpers im sj)eziellon anbetritft. so ist diese, soweit sie überhaupt aus- gebildet ist, der Atomistik durchaus feindlich. Plotin wendet sirli an verschiedenen Stellen heftig gegen die Atomistik.' Er stellt derselben entgegen, dafs jeder Körper nach allen Seiten hin teilbar sei, dal's sie die Kontinuität und Flüssigkeit der Körper nicht erklären könne, dafs sie die geistigen und see-

' Man vjj!. l«os. Knn. II. l. 4. o. 7 und III. 1. 1. c. 3.

Plotiv gegen die AtomUtik. 269

lischen Vorgänge unmöglich mache und eine Weltbildung aus Atomen überhaupt nicht denkbar sei ; auch würde, wenn es nur den Stofs der Atome als Prinzip des Weltprozesses gäbe, keine Ordnung der Welt, demnach auch keine bestimmte Bewegung vorhanden sein imd jede Vor aus Verkündigung aufhören.

In direkter Beziehung ist also die Erneuerung des Plato- nismus der Atomistik nicht günstig, sie scheint vielmehr durch Beförderung der poetisch-phantastischen Weltauffassung der nit der Atomistik zusammenhängenden Lehre vom Natur- neclianismus gerade entgegengesetzt. Dennoch ist aus dem >latoni8ch gefärbten Qedankenkreise eine wesentliche Förderung ler Probleme der neuen Physik hervorgegangen durch eine ^igentümUche Wendung des Begriffs der Entwickelung aus der ^jinheit und durch die mit dem Platmiismus verbundene Be- tonung der Mathematik. Dadurch wurde der Starrheit der sub- itanzialen Form zu Gunsten eines Prinzips der Veränderung entgegengearbeitet.

2. Das Denkmittel der Variabilität.

Es ist der Begriff der Veränderung, weichereiner neuen Bearbeitung bedarf. Das äufserliche Hinzutreten der Formen zu der Materie hatte schon durch IbnBoschd mehr den Charakter einer inneren Entwickelung erlangt; doch fehlte es an einem Mittel, diese Veränderlichkeit des Seienden begrifflich zu er- fassen, der blofs empirischen Thatsache des Flusses der sinn- lichen Erscheinung die rationale Legitimation zu verleihen. Dais die Veränderung durch das Denkmittel der Substanzialität nicht erkannt werden könne, war bereits durch die Eleaten nachgewiesen, es zeigte sich ebenso in allen Systemen, welche in der Substanzialisirung der Allgemeinbegriffe gipfelten. Abistotelbs hatte sich durch die Begriffe von Materie und Form, Potenzialität und Aktualität darüber hinweggesetzt, da- mit jedoch den Weg zu kausalmechanischen Erklärungen ver- sperrt. Die Zustände der Dinge wechseln. Das ist ein sinn- liches Erlebnis, welches unser Bewufstsein unmittelbar erfüllt. Damit es sich zur Naturgesetzlichkeit erhebe, muis die Ver- indemng begrifflich fixiert werden können.^ Wird aber

» VgL 1. Buch, II, 3. S. 44 f., 50 f u. m, 1. S. 80 f.

270 Veränderlichkeit als Realität.

durch das Denkmittel der Substanzialität ein Ding mit seinen Eigenschafben gesetzt, so verhindert die Identität desselben mit sich selbst das Denken der Veränderung. Das Ding bleibt entweder unverändert, oder es ist nicht mehr das Ding. Sokratk ist entweder lebendig oder tot. Der Übergang selbst ist nicht zu erfassen. Das Denken sieht sich gezwungen, unendlich viele Zwischenzustände zu setzen. Die Kontinuität des Ge- schehens löst sich unter dem Denkmittel der Substanzialität in eine unvollziehbare Unendlichkeit einzelner Akte auf. Du Seiende kann nicht veränderlich gedacht werden. Die zeno- nischen Beweise haben dies speziell am Kontinuum des Banmes, der Zeit und der Bewegung erläutert. Aristoteles konnte den Widerspruch verhüllen, aber nicht lösen. So lange es kein Denkmittel gab, das Kontinuum in seinem Zusammenhange selbst, das Gegebene als ein Werdendes zu denken, so lange blieb der Fluls der Erscheinungen zwar ein unmittelbares Erlebnis, das man in der Erfahrxmg aufweisen und nicht be- zweifeln konnte, aber es blieb unzugänglich der wißsen- schaftlichenBeherrschung, der begrifflichen Fixienmg. Das Denkmittel der Substanzialität reichte dazu nicht aas, das der Kausalität entbehrte der Fundierung. Die Eausalit&t konnte nicht nachweisen, ein wirkliches Band der Dinge zu sein, wenn man nicht zuvor begreifen konnte, daßj in den Dingen ein Prinzip der Veränderung liege, welches in den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt seine Wurzel habe. Deshalb muTste erkannt werden, dafs das Wesen der Veränderlichkeit selbst das eigentlich Beale in den Dingen sei, dafs dasjenige rationale Element, wodurch der Wandel der Erscheinung (lenkbar wird, auch zugleich die Realität dieser Dinge, das Beharrende im Wandel setzt. Die Eealit&t der Dinge ist nicht garantiert durch die Substanzialität, sie is«* auch nicht garantiert durch die kausale Beziehung; denn beides sind Relationen, welche zwischen schon Gegebenem vermitteln. Es mufs im Wesen des Denkens selbst etwas liegen, das den Dingen Realität verleiht, indem es dieselben vorstellt als das Gesetz iTirer Entwickelung in sich tragend. ^^^

Vgl. CoHKN rrinc, S. 28 f., 34 u. a. ; Kants Theorie S. 422 ff.

Der Grundsatz der Bealität. 271

Bealität kann nur gesetzt werden durch ein eigenes Denkmittel, and dies darf nicht der Begriff des starren Seins sein; sondern 3s mafs die Eigenschaft, die Qualität des Dinges enthalten, in lieh Ausgangspunkt einer gesetzlichen Entwickelung zu werden. Bier ist der Punkt, an welchem die Thatsache der sinnlichen Srfahrung, die als Veränderung der Empfindung gegeben ist, lorcli einen Begriff zur objektiven Bealität gelangen und in las Gebiet der Wissenschaft eintreten kann. Es handelt sich m diejenige Einheitsbeziehung des Bewufstseins, welche das innlich Gegebene in solcher Weise verknüpft, dafs es nicht, rie in der Substanz, zwar Identität mit sich selbst durch seine ^rädikate erhält, aber vom Zusammenhange mit allen andern gelöst ist, sondern dafs es als eine Zeiterfüllung begriffen irird, die zwar als ein einheitliches Element im Kontinuum oarkiert, aber nicht von ihm getrennt ist, als eine Position, lie in sich selbständig ein Gesetz des Werdens, der Fortsetzung mthält, wodurch die weitere gesetzmäfsige Erfüllung der Zeit verbürgt wird. Das eben ist der Sinn des Realen, die Ein- Drdnung des intensiven Moments in die Reihe gesetzmäfsigen BewuTstseinsinhalts, die begriffliche Fixierung des sinnlichen Qudle als des Veränderungsfähigen. Die Realität mufs als Yeränderungsfähigkeit gedacht werden, um Kausalität und Substanzialität zu verbinden.

Identität und Wirkungsfähigkeit, jene beiden Grundeigen- schaften des Bewufstseins, welche die Einheitsbeziehungen der Substanzialität und Kausalität liefern, stehen in Verbindung durch eine dritte Grundeigenschaft des Bewufstseins, die Kon- tinuität. Diese Kontinuität erzeugt einen eigenen Grund- satz der Erfahrung, welcher besagt: In allen Erschei- nungen besteht das Reale derselben in ihrer Tendenz zur Fortsetzung in der Zeit. Dieser Grund- 3atJB vermittelt zwischen Kants Grundsatz der intensiven Ghröfse* und den auf die Kategorien der Relation gegründeten Analogien der Erfahrung, Das Wesen der intensiven Gröfse, ihre ^«alität, wird zwar an der Empfindung erkannt, aber kann nicht ^nf der Empfindung beruhen, sondern die Möglichkeit der Em- pfindung beruht auf dem Grundsatze, dafs die Tendenz zur Ver-

(Anticipationen der Wahrnehmung.) Kr. il r. V. Kkhrb. S. 1Ö2. Erdm.S.161.

272 ^^^ Deiikmittel der Variabilität.

änderung Realität ist. Die Empfinduiig, als das sinnliche Zeichen der Realität, ist nur als veränderlicher Zustand ge« geben. In der Kontinuität des Bewulstseins hebt sich der einzelne Moment als eine Realität dadurch hervor, dafs der Begriff seines Inhalts gesetzliche Verbindung nach vor- und rückwärts enthält; die Kausalität bestimmt die Relation zwi- schen diesen Momenten, die Kontinuität aber ist die Voraus- setzung dazu, indem sie die Veränderlichkeit des in der Snb- stanzialität als identisch mit sich selbst Gegebenem garantiert und ihm dadurch Realität verleiht. Aus dem Flusse der Er- scheinung, die als solche noch nicht objektive Realität besitzt, mufs etwas herausgehoben werden können, das gedanken- mäfsige Anknüpfung gestattet; sonst bleibt das Kontinuum des Bewufstseins das unbestimmte Erlebnis, ohne Wissenschaft» d. i. Ordnung des Denkens, zu begründen. Die Kategorie d^^ Realität ist also das Denkmitt^l, welches in der Kontinuit^^ des Bewufstseins und in der Einheitsbeziehung zu Tage trit j^ durch welche die Dinge als die Tendenz der Veränderung en haltend gedacht werden. Man könnte daher diese Funktii des Bewufstseins oder diese Bedingung der Erfahrung als di Denkmittel der Realität oder der Kontinuität bezeichnen, aber der Ausdruck Realität sehr verschiedenartig gebrauc wird, und Kontinuität besser zur Bezeichnung jener Grun^^ eigenschaft des Bewufstseins, die der Identität coordiniert isf^^ reserviert bleibt, so wollen wir das Denkmittel, durch welche^ der Begriff der Veränderung möglich wird, als das Den mittel der Variabilität bezeichnen. Wir verstehen als unt^r dem Denkmittel der Variabilität jene Einheitsbe Ziehung des Bewufstseins, welche die Bedingung dafür ist, dafs der sinnliche Bewufstseinsinhalt eir.^ gesetzmäfsig verknüpfbares. dieMöglichkeit einerFort-^ Setzung in sich schliefsendes Sein enthält, ein Ver^*' fahren der Realisation durch Erzeugung der Gröfs^^ nicht insofern sie Extension ist, sondern insofern sl ^ die Regel ihrer Tendenz zur Extension enthält.* Diesel

^ Vgl. m. Ahh. Zum IVohlem der Kon timwtäL Philoi. Monatdiefte XXIV, S. 16 ff. nnd Gah!fK< Thtone d, Matene, V. f. w. PUL XIL S. 402 £1 Dia ST»teinmti9che Ableitung dieses Denkmitteli und die erfoiderliclie A1ueiIUUlde^ tetxung mit Kirr kann hier nicht gegeben werden. Wir fShm den Begriff

Yariabüität und Kausalität. 273

enkmitiel aUein gestattet, emen Zustand als Bedingung eines idrexL im Moment des Überganges zu erfassen und somit die Ansalitftt aus der sinnlichen Erfahrung in einen wissenschaft- shen Begriff überzufuhren. Erst die mechanische Natur- isseiLBohaft hat die Variabilität als Begriff geschaffen, indem e die Bewegung mathematisch zu fixieren gestattete. Vorher ar die Kausalität angewiesen, sich auf die Anschauung zu srofen, und deshalb stellt auch die antike Atomistik nur eine Instliche Vermittelung zwischen dem starren eleatischen Sein w Begriffs und der nicht zu leugnenden anschaulichen Ver- xdemng vor, ohne doch die Antinomie der Veränderung be- rifflich bewältigen zu können. Aber ehe wir zu der Ent- 3okimg des Denkmittels der Variabilität gelangen, finden wir ne vorbereitende Stufe dazu in dem G-edanken eines inneren ntwiokelungsprinzips der Dinge. Diese bietet der Neu- latonismus.

Er hat dem Denkmittel der Variabilität allerdings im meta- bysischen Interesse und zunächst nach einer unhaltbaren Achtung hin vorgearbeitet, indem er ein immaterielles, ewiges rinzip annahm, dessen Wesen Aktualität der Bewegung, d.h. ein rinzip der Veränderung selbst ist. Dieses Prinzip ist die dlbstbewegung des Denkens; indem das Denken als Weltseele ch entfaltet und die Materie ergreift, verleiht es den Dingen . ihrer Veränderlichkeit Teil an der Realität. Die Entfaltung 38 Denkens zur^. Welt im neuplatonischen Sinne enthält aller- ngs noch nichts von jener Bestimmung der Einzeldinge, )ren die Naturwissenschaft bedarf und welche allein durch .6 Kausalität zu geben ist. Aber sie enthält den Gedanken ar inneren Tendenz zur Veränderung, welcher die oranssetzimg dafür ist, kausales Geschehen als möglich zu be- reifen. Noch bleibt es völlig unsicher, wie im einzelnen der rfis^irung die Veränderung sich bestimmen lasse, wie die Rich- ing der Entwickelung zum Vorteil der Naturerkenntnis zu 3nken sei. Es genügt zunächst, dafs nur überhaupt jeder Bgebene Zustand als eine reale Bedingung folgender Zustände

» Denkmitteil der Variabilität ein, um in der Folge an der historischen batsaohe der Entstehung der Naturwissenschaft, als der Wissenschaft von der npfindong, seine Wirkung nachzuweisen.

lAftwlta. 13

274 Übergangszeit. Cüsakus«

aiifgefafst wird. Die Umwandlung dieses G-edankens in sol- chem Sinne, dafs derselbe zum Träger der Kausalität wird imd damit die Bedingung zur wissenschaftlichen Erkennbarkeit des Naturgeschehens darbietet, ist die Arbeit der Übergangs- zeit, welche von der unbestimmten, phantastisch-poetischen Yorstellungsweise einer nach immanentem G-esetze aicli ent- faltenden Welt zu der mathematisch darstellbaren Elausalge- setzlichkeit der räumlichen Veränderung der Körper fort- schreitet. Die Art und Weise und die Ursache der Weltge- staltung wird in der mechanischen Physik gerade der Gegen- satz zum Neuplatonismus, aber sie kann nur dort zum Ziele gelangen, wo das Denkmittel der Variabilität erhalten bleibt. Es ist die unentbehrliche Bedingung, das kausale Weltgeschehen begreiflich zu machen. Sein Fehlen hatte die antike Atomistik an der Entwickelung verhindert. Seine Aufnahme unter das Rüstzeug des Geistes hat die moderne Naturwissenschaft er- möglicht.

3. Nicolas von Ckies.

Der erste, welcher an den Grundgedanken der Atomistik wieder erinnert xmd durch die Begründung desselben aus er- kenntnistheoretischem Gesichtspunkte für die Folge bedeutungs- voll anregend wirkt, ist Nicolaus Cosanus, geboren 1401 zu Cues an der Mosel, später Kardinal und Bischof von Brizen, gestorben zu Todi 1464.*

Gott ist die absolute, unendliche Einheit, die Welt dagegen stellt sich dar als der endliche Gott, als die Entfaltung der unendlichen Einheit in Vielheit; hier herrscht Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit des konkreten Einzelnen« Die unend- liche Einheit Gottes, in welcher alle Gegensätze verschwinden, kann erscheinen nur in der Vielheit der Welt, welche das* jenige expliziert enthält, was die Einheit Gottes in der Kom- plikation umfafst. Daher ist auch die Welt, obwohl sie nicht die absolute Unendlichkeit Gottes besitzen kann, doch priva-

^ Seine allgemeine Bedeutung für die Blmeaernng der Philosophie ist wiederholt gewürdigt und ins Licht gestellt worden. S. EccKur, Unteraudkmiij^ zur Gf.<chichte der äiteren deutschen Phiiosophie. 11. Fhilotophitdie Monatt* hefte Bd. XH* S. 449 ff. Leipz. 1878 und y.Beiträge'', Fax.okbvbbb9» Nieo- lauü Cnsanus, Vgl. auch Ritter, Gesch, d. Phil. Bd. S. S. 141 ff.

CusANüs: EntfaltuDg. Erkennen und Messen. 275

tiv onendlicli, d. h. weder endlich noch unendlich in Wirklich- keity aber potenziell wenigstens ohne Grenze. Als die Entfal- tungen des göttlichen Geistes stehen alle Dinge in der Welt in einem engen Zusammenhange, und die ganze Welt ist ge- wissermafsen ein lebender Körper, dessen Seele Gott selbst ist. Diese Dinge der Welt aber, obwohl in Gott verbunden, sind in der wirklichen Welt selbständige und spezifisch von einander verschiedene Individuen. Das eben ist der Charakter der Ent- faltung, dafs aus dem einen Urbild die ßeihe der mannig- faltigen Einzeldinge entsteht. Unter diesen Einzeldingen kann 68 niemals zwei völlig einander gleiche Dinge geben, denn diese wären nicht voneinander zu unterscheiden. Aber in jedem Dinge ist, durch den allgemeinen Zusammenhang in Gott, das Ganze der Welt, wenn auch in besonderer Weise, gewisser- mafsen enthalten.

Um die Dinge der Welt zu erkennen, mufs sich der In- tellekt dem zu Erkennenden assimilieren; denn das Erkennen ist nichts andres als eine Verähnlichung des Erkennenden und des Objekts der Erkenntnis, nämlich ein geistiges Messen.^ Damit sind wir zu dem Grundgedanken des Cusanus gelangt, welcher die unmittelbare Anregung zur Neugestaltung ato- znistischer Ansichten gegeben hat.

Erkennen ist Messen. Alles Forschen besteht in einem Zurückführen des Unbekannten auf Bekanntes und geschieht durch abmessende Vergleichung. Dazu aber bedarf es eines Maises. Ohne ein Mafs kann weder das Verhältnis zweier Oröfsen zu einander, noch ihre Übereinstimmung festgestellt werden, wie die Mathematik lehrt, und das Mafs für die Ver- hältnisse der Gröfsen ist zunächst die Zahl. Aber diese zahlen- mäisige Beziehung hat nicht nur Geltung für Quantitäten, sondern sie besitzt eine viel weiter gehende Bedeutung und gilt für alles, was irgendwie als Substanz oder Accidens in Vergleichung gezogen werden kann. Pythagoras hat dies gewufst.^

^ D. Nicolai de Cusa etc. Opera, Basileae 1555. Dialogus de poasesij p. 268. Niii enim intellec^^uB se intelligibili assimilet, non intelligit: onm intelligere •it asrimilare, et Intel ligibilia se ipso, sen intellectualiter mensarare. Vgl. femer Idiot 1. m p. 163.

* De docta ignorantia^ c. 1. p. 1. Comparativa igitur est omnis inqnisitio, jnedio proportionis utens . . . Proportio vero cum convenientiam in aliqno uno

18*

276 CusAVus: Einheit und MeIb.

Die Zahl ist die Bedingung fiir die Vielheit der Dinge; mit Aufhebung der Zahl würde Unterscheidung und Ordnung, Proportionalität und Harmonie der Dinge aufhören. Es ist daher notwendig, dafs die Zahl nicht ins Unendliche steigen oder fallen könne, was ihrer Aufhebung gleichkäme, sondern dafs man bei derselben zu einer kleinsten gelange, nämlich zu einer unüberschreitbaren unteren G-renze, welche die Einheit ist.^ Dieses Minimum, welches als Einheit dient, ist nicht selbst eine Zahl, sondern das Prinzip aller Zahlen.

Das Bedürfnis, ein einheitliches Mafs für die Vielheit der Dinge zu finden, fuhrt Cusa zunächst zu der Überzeugung von der Unzulänglichkeit alles menschlichen Messens und Erkennens, zu dem Suchen nach der allumfassenden Einheit in Gk)tt, von welcher alles Erkennen ausgehen müsse, und damit zu seiner Beschränkung des menschlichen Wissens, der docta ignarantia. Insoweit hier die Untersuchung des Unendlichen in Betracht kommt, wird sich noch Gelegenheit ergeben, über diese Frage zu sprechen. Weniger bekannt als die theosophisohen Be- trachtungen des Cusaners, welche von hier ausgehen, aber um so wichtiger für die Entwickelung der Korpuskulartheorie ist sein Versuch, dieses einheitliche Mafs für die Dinge in der Welt der Gröfsen und der physischen Wirklichkeit aufsu- finden. Wie CusA überhaupt durch seine Überzeugung von der Beschränktheit des Wissens nicht zimi Zweifel an dem Erfolge der Versuche, die Körperwelt zu erforschen, sich ge- drängt fühlt, sondern wie er gerade in der wirklichen Welt selbst ein hoffnungsvolles Feld der Bethätigung des Geistes erblickt und durch die Wertschätzung derselben sich weit über die Scholastik emporhebt, so versucht er auch praktisch seiner Theorie des Messens physikalische Bedeutung zu geben.

Aufserhalb des Geistes existiert in Wirklichkeit nur die Solidität der Körper ; * um in die Welt der Körper Ordnung

simul et alteritmtem dicat, abiqae numero intelligi neqait Numerus ergo omnia proportionabilia inclndit. Non est igitor numeros, qoi proportionem ellioit, in quantitate tantum; sed in omnibos» qoae quovismodo substantialiter aut acciiiontaliter convenire possunt ac differre.

^ De doct. i^N. c. 5. p. 4. Necessarium est in nnmexo ad miTiininm deveuiri, quo minus esse nequit, uti est onitas.

* D< mtHU. Idiotae lib. III. o. 9. p. 162.

GusAKT7s: Das Atom. 277

ka bringen, erzeugt der Geist den Punkt als Grenze der Linie, die Linie als Grenze der Fläche, die Fläche als Grenze des Körpers und schafft dadurch die Möglichkeit, alles zu messen. Der Punkt selbst, als Grenze der Linie, ist unteilbar. Aus unteilbaren, gröfsenlosen Punkten kann nun freilich keine GröJGse entstehen, aber obwohl in Wahrheit in der Linie sich nichts findet als der Punkt, so entsteht doch in ihr eine Aus- dehnung infolge der Variabilität der Materie. Seine Annahme von der Unmöglichkeit absolut gleicher Dinge setzt Nicolaus in den Stand, von dem unausgedehnten Punkte zur ausgedehnten Linie zu kommen. Wie aus mehreren Einheiten obwohl es (begrifflich) doch nur eine Einheit gibt sich wegen der Verschiedenheit der Gegenstände die Zahl zusammen- setzt, so auch die Raumgröfse aus Punkten wegen der Ver- schiedenheit des materiellen Substrats. Die Linie ist daher die Evolution des Punktes. Mit dem Pimkte fallt alle Oröfse, wie alle Vielheit mit der Zahl. Evolution aber heifst Entfaltung, explicatio; sie ist das Sein ein und desselben Punktes in mehreren Atomen. So wie in den verschiedenen weifsen Dingen dieselbe Weifse ist. so ist in den verschiedenen Atomen der Punkt ein und derselbe.^ Hierdurch wird aus dem Begriff des mathematischen Punktes der Übergang zu der Menge der wirklichen physikalischen Atome gewonnen. Dies wird weiter folgendermafsen erläutert. Gemäfs der Betrachtung durch den Geist wird das Kontinuum in immer wieder teübare Teile zer- legt und die Vielheit wächst ins Unendliche, aber beim wirk- lichen Teilen gelangt man zu einem aktuell Unteilbaren, welches Cusanüs Atom nennt. Er versteht darunter eine end- liche Gröfse (Quantität), welche ihrer IQeinheit wegen adu nicht mehr teilbar ist.^ So hat auch die Vielheit zwar für die Betrachtung des Geistes kein Ende, aktuell aber ist sie begrenzt, wenn auch die Zahl, welche die Vielheit der Dinge angibt, uns unbekannt bleibt. Ebenso, wie die Linie als Expli- kation des Punktes, die Zahl als Explikation der Einheit, so

^ A. A. 0. Dasselbe De Judo globi 1. I. p. 211.

* A. A. 0. Secundum mentis considerationem continuum dividitur in semper divinbile et mnltitado crescit in infinitum, sed actn dividendo ad partem actu indiYiiibilein devenitor, quam atomum appello. Est enim atomns quantitas, ob sui parvitetem actn indivisibilis. VgL De ludo globi 1. I. p. 211.

278 CusAKüs: Elemente.

ist auch die Zeit als Explikation des Momentes, die Bewegung als Explikation der Buhe, d. h. als reihenweise Ordnung der Ruhezustände zu fassen.'

Das von der Scholastik vergeblich behandelte Problem, den Begriff des unteilbaren Punktes, diesen als starre GröJ&e gedacht, mit dem Begriff des Kontinuums in widerspmchslobe Verbindung zu bringen, wird hier zum ersten Male von neuer Seite angegriffen und damit zugleich der atomistischen Auf- fassung der Körperwelt ein neuer Weg gebahnt.

Die Elemente der Physik sind nicht rein, sondern selbst zu- sammengesetzt, elementiert. Die absolut reinen Elemente können nicht in Wirklichkeit für sich bestehen, das Elementierte ist nicht in die reinen Elemente auflösbar. Denn das wirklich Einfache gehört nur dem Intellekt an, nicht der Wirklichkeit ; die Auflösung kann nicht bis zu dem Einfachen hinreichen, das Einfache entbehrt der Fähigkeit adu für sich zu bestehen. In der sinnlichen Welt gibt es keine Punkte, sondern nur Körper. Zur Bestimmung eines Körpers aber sind vier Punkte notwendig. Daraus wird geschlossen, dafs die Zahl der Elemente für die Körperwelt 4 beträgt.*

Sein einheitliches Mafs, das Mittel der Ordnung, sucht der Geist zunächst in der physischen Welt. Hier ist zur Ver- gleichung der verschiedenen Körper das beste Mittel ihr spezi- fisches Gewicht. Wenn man die Unterschiede der spezifischen Ge- wichte bestimmte, so würde man mit gröfserer Sicherheit der Ver- mutung in die Geheimnisse der Natur eindringen können, als bisher.'

» A. a. 0. p. 163.

* De conjecturia 1. II. c. 4. p. 97. ünitatem oigotque regionis, in oon- tinua alteritate ejusdem absorptam, nt non in se simplidter sabnatere queat, propter puritatem actus aut unitatis ejus, elementum appello. Non eat igitor elementatum in aimplicia elementa resolubile, cum resolutio ad aimplex per- tingere nequeat^ careatque ipsum simplex elementum virtute acta sabsiBtendL Sensibilis hie mundus nihil superficie simplicius attingit^ rationalis veio simplicena. lineam superficiei anteponit, intellectualis autem indivisibile pnnctiuc lineao praefert. (So sind Buchstaben, Worte, Sätze die Elemente, die Bade das Elementierte.) Cum prima superficies tribus indigeat ponctia, qnae in ■«» tarnen subsistere nequit, suffidantque quatuor puncta, quatuor snperficiebiia ad primum corporis soliditatemnecessariis: coigicitar, quatuor elementa ad perfecti compositionem necessaria.

' Über die spezifischen Gewichte handelt Idiotae liber IV. De jfotfdSr experimenti^ Daselbst p. 172: Ego per pondemm differentiam arbitror ad rerum secreta verins peningi et multa sciri poate veriaimiliori ooigeotium.

CusANus: Vorschläge zu Experimenten. 279

Daher fiillt Cusanus sein Buch mit einer ßeihe von Vor- schlägen zu Experimenten, die mit Hilfe der Wage angestellt werden sollen. Am bemerkenswertesten scheinen die Hinweise, welche zu einer exakteren Erforschung organischer Vorgänge durch Wägungen gemacht werden. So solle man die spezifischen Gewichte des Blutes u. dergl. von alten und jungen, kranken und gesunden Personen vergleichen, um dadurch Unterschei- dungsmittel zu gewinnen; man solle Pflanzensamen und Erd- reich wägen und später die ausgewachsene Pflanze und das Erdreich, um zu erkennen, wieviel die Pflanze von demselben als Nahrung aufgenommen habe ( ein Experiment, das van Hblmont zweihundert Jahre später ausführte ); Cusanus ver- mutet richtig, dafs der Gewichtsverlust der Erde ein geringer sein werde, weil die Pflanzen ihre Nahrung hauptsächlich vom Wasser erhalten. Auch Vorschläge zur Bestimmung des Ge- wichtes der Luft werden gemacht. Femer wird für viele Fälle, in denen es sich um Zeitmessungen handelt, empfohlen, die Zeit zu bestimmen durch genaue Wägung des während der- selben aus einer Wasseruhi* ausgeflossenen Wassers, so auch für die Fallzeit eines Steines von einem Turme u. dgl. Alle die zahlreichen Vorschläge des Buches leiden an dem gemein- samen Übelstande, dais sie in dem guten Glauben gemacht sind, sie könnten mit Genauigkeit ausgeführt werden, weil dem Cusaner die grofse Menge der Fehlerquellen unbekannt war, welche seine projektierten Versuche einschlössen und die das praktische Resultat illusorisch machen mufsten. Auch wenn die Versuche nicht blofs wohlgemeinte Vorsclüäge geblieben, sondern ausgeführt worden wären, so hätten die instrumentalen Mittel jener Zeit doch niemals ausgereicht, eine nur einiger- mafsen genügende Präzision zu geben. Dagegen sind sie immer- hin bemerkenswert als die ersten Anfänge, eine selbständige, auf Beobachtung beruhende Naturforschung durch methodische Vorschläge für ihre Untersuchungen in Anregung zu bringen, und vor allem darum, weü sich in ihnen allen der Grundcha- rakter der Cusanischen Philosophie ausspricht, nämlich das Bestreben, ein exaktes Mafs für die Vorgänge in der Natur zu gewinnen. Wie abenteuerlich auch Cusanus in seinen Pro- jekten mitunter verfährt, so zeigt er doch einen scharfen Blick daf&r, wie man die quantitativen Verhältnisse in den Dingen

280 Cüsanüb: Empirie. Weltnuammenliaiig.

auffinden könne, und gibt wertvolle Winke über die Bezieliangen, welche auf diese Weise zwischen anscheinend heterogenen Vor- gängen entdeckt werden könnten. Es darf die Bedeutung nicht unterschätzt werden, welche in der richtigen Einsicht liegt, dafs der Mensch in der Wage ein Mittel besitzt znr Feststellung von gesetzlichen Thatsachen in der Natur, die der einfachen Beobachtung durch Auge, Ohr und Tastgefiihl entgehen.^

Es ist diese Einsicht ein Ausflufs jener freieren Anschau- ung des Cusaners, die sich auch in seiner unbefangenen Be- urteilung der verschiedenen Religionen ausspricht, und beson- ders in seinem Bruche mit der aristotelischen Tradition zu Tage tritt. Wie er sein eigenes Denken auf keinerlei Autorität stützen will, so empfiehlt er gegenüber dem scholastischen Bücherkram das Zurückgehen auf eigene Forschung und das Lesen in dem grofsen Buche der Natur, das Gott selbst ge- schrieben und uns aufgeschlagen hat.^ So macht er sich auch in Physik und Kosmologie verhältnismäfsig frei von Aristoteles.

Es wurde schon bemerkt, dafs Cusanus zwischen allen Dingen der Welt einen lückenlosen Zusammenhang erkennt, dafs das Ganze im einzelnen, das Einzelne im ganzen, alles in allem ist. In dieser durch Gott belebten Welt findet sich alles in steter Wechselwirkung, der Untergang einzelner Teile ist nur ein scheinbarer, nur ein Wechsel der Art des Seins, und der Tod ist nichts andres als Auflösung zur Mitteilung und Ver- vielfaltiguDg neuen Lebens.' Somit verschwindet der wesent- liche Unterschied zwischen Himmel und Erde, das ganze Welt- all ist ohne Grenzen im Kaume und selbst in steter Bewegung. Es gibt nichts Unbewegtes in der Welt, denn die grenzenlose Welt hat keinen Mittelpunkt, und nur dieser könnte unbewegt sein.* Daher ist auch die Erde nicht ohne Bewegung, sie ruht nicht im Zentrum der Welt und ist nicht schlechter als andre Sterne; sie ist selbst ein Stern, der Bewegung unterworfen,

^ Es wäre interessant, wenn sich jemand der Mühe unterziehen wollte in untersuchen, inwieweit zwischen Cüsjoius und den Arabern, inabesondere Alkhazikis Wage der Whisheit in dieser Frage ein Zusammenhang besteht

* De idiota 1. I. p. 137 u. anderweitig.

» Vgl. EucKEN, Beiträge S. 29.

^ Über die Erhaltung der Bewegung des absolut Bunden und die Mitteilnng der Bewegung bei Cuba vgl. Wohlwill, Beharrungsges., S. 11 ff.

CcsAKua: Erdbewegung. Mathematik. 281

obwohl wir dieselbe nicht merken, weil uns die Vergleichung mit einem festen Punkte fehlt.^ Die Bewegung der Erde dachte sich CkiSANüS, um die Schiefe der Ekliptik und die Präzession der Äquinoktien zu erklären, in einer doppelten Axendrehung bestehend, d. h. in einer Rotation um ihre Axe von Pol zu Pol, und diese Welt-Axe selbst drehbar um eine zweite, deren Pole Lm Äquator liegen; während er zugleich, um die tägliche Be- wegung der Sterne zu erhalten, dem Himmelsgewölbe eine Drehung in entgegengesetzter Sichtung von der doppelten Qesohwindigkeit gab.' Auch mit dieser Vorstellung war einer der wichtigsten Sätze der aristotelischen Physik durchbrochen. In jeder Hinsicht ist Cusanus der Vorkämpfer aller der Ideen, welche die Erneuerung der Wissenschaften zur Vollendung gebracht haben.

Es bleibt nur noch übrig, eine Thätigkeit des Cusanus zu besprechen, welche nicht nur für die Gestaltung seiner Philoso- phie, sondern für die Entwickelung der Korpuskulartheorie insbe- sondere von grolser Bedeutung ist, nämlich seine Beschäftigung mit der Mathematik; und zwar sind es die Untersuchung des Unendlichen und die Versuche, Grenzübergänge zu bewerk- stelligen, welche hier Erwähnung verdienen.

Die Mathematik stand zu Cusanus' Zeit noch ziemlich auf dem Standpunkte, wie sie von den Arabern überliefert war. Was dieselben in der Arithmetik geleistet hatten, war durch Lbonabdo Fibonacci aus Pisa in seinem Liber Ahaci 1202 (ver- bessert 1228) dem Abendlande in strenger und systematischer Form bekannt gemacht worden. Ein Fortschritt wurde im 14, Jahrhundert durch Nicole Oresmb (Oresmius) (f 1382) ge- machty welcher in seinem Algorisfnus proportiontim^ die Lehre von der Eechnung mit Bruchpotenzen in fast modemer Be- Seichnungsart und zum Teil mit dem Gebrauch von Buchstaben ab allgemeine Zahlen vortrug. Noch wichtiger aber ist für

^ De docta ign, lib. II. c. 11 u. 12. p. 38 f.

* Wie sich Güsantts die Bewegung der Erde gedacht hat, geht aus hand- Notizen hervor, die Clemens veröffentlicht hat in „Giordano Bnmo und Nieolaus von Cusa,"* Bonn 1847, S. 97- 100. Vgl. hierüber Apelt, Sef. d. Sternkunde, S. 23 f., sowie S. Guntheb, Studien, S. 25 ff.

' Heransg. v. M. CüBTze, Berlin 1868. Vgl. M. Cübtzb, Zeitsckr. f. Math. n. JPkjfs. Xm. S. 66 ff.

282 Obesmiüs : De latüudinünu forwuman.

unsren Zweck ein andres Werk des Orbsmiüs, der Tradatus de latitudinihiis formarum,^ in welchem die Darstellnng einer veränderlichen Gröfse (forma) in graphischer Weise nach dem Prinzip des Koordinaten gelehrt wird. Die graphische Darstel- lung enthält den Begriff der Funktion, die Ordinate (latitudo) wird als eine Funktion der Abscisse (longitudo) gefaJjst, und es fallt dadurch ein neues Licht auf den dunkeln Begriff der Veränderlichkeit des Stetigen. Nicht nur der Begriff der variablen G-röfse ist ausgebildet, sondern selbst derjenige der Tendenz zur Veränderung und der Zusammenhang dieses Grades der Veränderlichkeit mit der Eigenschaft der „Funk- tion^. Die Veränderung gewinnt nicht blofs Anschaulichkeit, sondern sogar die Möglichkeit einer Darstellbarkeit durch Gröfsenbeziehungen. Hierdurch mulste der Gedanke eines Grenzüberganges eine entschiedene Förderung erhalten, indem jede Vermehrung der Bestimmungspunkte einer £urye die ge- brochene Linie der stetig gekrümmten annäherte, so daHs selbst eine unendlich kleine Veränderung durch eine kleine endliche Veränderung zu messen nicht unmöglich scheinen durfte. Dais diese Methode am Ende des 14. Jahrhunderts den Mathema- tikern eine wohlbekannte war, beweist, dafs sie um diese Zeit auf Universitäten gelehrt wurde.' Es erklärt uns dies, dais CüSANUS in seinen mathematischen Betrachtungen den Grenz- übergang von endlichen zu unendlich kleinen Bogen und umge- kehrt ohne Scheu, wenn auch allerdings ohne Ejritik, anwendet. Seine mathematischen Kenntnisse galten seiner Zeit als sehr bedeutend,^ und er selbst legt grofsen Wert auf mathematische Untersuchungen; denn er hält sie für das einzige Mittel, dem Geheimnis des Unendlichen sich vergleichungsweise zu nähern,

* CuBTZE, a. a. 0. XIII. S. 67, bes. S. 92-97.

' Hankel, S. 351.

' Das wegwerfende Urteil Hankels über CusAiJirüs als Mathematiker (GescK d. Math. S. 352) ist in Rücksicht auf die ganze Denkart des Cusaners und den Stand der Mathematik seiner Zeit zu hart. Es mag hier bemerkt werden, dais Nikolaus' Lehrer in der Mathematik der berühmte Astronom Paolo del Pozzo Toscanblli, genannt Fävlüb Phtsicüs war (1397 1482), welcher seinen Schüler überlebte und dessen Name besonden bekannt ist durch den Einflufs, welchen er durch seine Annahme von der weiten Erstreckung Asiens nach Osten auf das Wagnis des Colüxbos übte. ^S. Apblt, a. a. 0. S. 9 ff.)

CosAKüs: Zluainmeiifiillen d. Oegfensätze im Unendlichen. 283

wenn uns dieses selbst allerdings auch unerreichbar bleibt, weil 68 2nim Endlichen in keinem mefsbaren Verhältnisse steht. Aber nicht nur in entfernter Ähnlichkeit, sondern in über- raschender Nähe zeigt uns der Spiegel der Mathematik das Bild der Unendlichkeit.^ Das mathematisch Unendliche ver- anschaulicht uns am besten das metaphysisch Unendliche.^

Seine Methode, welche er zur Untersuchung des Unend- lichen empfiehlt, besteht in folgendem. Zuerst solle man end- liche mathematische Figuren betrachten und die gegenseitige Abhängigkeit ihrer Eigenschaften erforschen ; alsdann solle man diese Beziehungen auf die unendlich grofs werdenden Figuren übertragen. Hiervon könne man dann Anwendung machen auf das Einfache und Absolute, bei welchem von jeder Figur ab- gesehen wird.^ Anwendungen hiervon werden in verschiedenster Weise versucht.^ So wird gezeigt, dafs die Krümmung des Ejreises um so geringer wird, je gröfser der Halbmesser ist; daraus folgt, dafs für einen unendlich grofsen Radius der Kreis in die Gerade übergeht. Wenn man in einem Dreieck die Endpunkte der Grundlinie immer weiter hinausrückt, so dafs der Winkel an der Spitze sich einem gestreckten nähert, so fallen dies ins Unendliche fortgesetzt die drei Seiten des Dreiecks in eine unendliche Gerade zusammen. Diese selbst kann wieder als ein Kreis angesehen werden, u. s. w. Ein Punkt, der mit unendlicher Geschwindigkeit in einem Ejreise umläuft, ist in jedem Moment an jeder Stelle desselben und daher in Buhe, Alle diese Betrachtungen kommen auf die Vorstellung hinaus, daüs im Unendlichen alle Widersprüche zusammenfallen und Entgegengesetztes zugleich ist. Cusanüs will daran zeigen, dais wir das Unendliche nicht denken können, ohne die Unter- sohiede des Endlichen aufzuheben, dafs aber in der Unendlich- keit Gottes alles das, was unterschieden und gegensätzlich in der endlichen Welt vorhanden ist, einheitlich und widerspruch- loB zusammengefaltet liegen kann. Das Willkürliche besteht nur darin, dals er den richtig gebildeten BegriflF des Unendlichen,

^ Complementum theologicum c. 1. p. 1107.

* Zahlreiche Belegstellen bei Falckenbebo, a. a. 0. S. 144. ' De docta ign. c. 12. p. 9.

* A. a- 0. c. 13 fif. p. 9 flf.

284 CusANüs: Yergebliobe Greninbergfinge.

nämlicli die Möglichkeit der grenzenlosen Znnalime, vertauscht mit dem durch den blofsen Progrefs nicht zu erreichenden Be- griffe der vollendeten Unendlichkeit oder des Absoluten, in welchem der Weg seiner Erreichung nicht mehr mitgedacht ist. Nur die beiden ersten Regeln Cusas (s. o.) zur Untersuchung des Unendlichen sind zulässig, und der Begriff des unendlichen bleibt verständlich, so lange dasselbe als werdend gefafst wird; unbrauchbar aber wird er, wenn man das Unendliche als ab- solute Gröfse ansehen will, weil mit dem Gesetz des Werdens der Begriff der Gröfse im Unendlichen seine Geltung verliert. Das Gesetz des Wachstums selbst in einen Begriff zu bannen, will CüSANUS nicht gelingen. Von bleibendem Werte ist bei diesen Spekulationen des Cusaners nur seine Empfehlung des Studiums der Grenzübergänge überhaupt, wenn er auch selbst noch nicht imstande war, einen richtigen Grenzübergang zu vollziehen. Der Gegensatz zwischen der Kühnheit der Idee und der Unzulänglichkeit ihrer Ausführung tritt noch mehr hervor, wo es sich nicht um Übergänge vom Endlichen zum Unendlichgrofsen, sondern vom Unendlichkleinen zum Endlichen handelt. Hier schwebt ihm der so ungemein fruchtbare Grund- gedanke der Infinitesimalrechnung vor, aber er weüs nicht aus- findig zu machen, wie derselbe ins Leben zu setzen ist. Auch in der Mathematik will er die Erkenntnis durch Untersuchung des Zusammenfallens der Gegensätze erreichen. Die Gegensätze sind die krumme und gerade Linie, der Bogen und seine Sehne. Bei einem unendlichkleinen Stück der Kurve fallen Bogen und Sehne zusammen; obgleich es einen unendlichkleinen Bogen actti nicht geben kann, sieht der Intellekt doch ein, dails dies so sein müsse. ^ Wenn es nun gelänge, zwei Gerade anzugeben, deren Verhältnis gleich ist dem Verhältnisse des Bogens zu seiner Sehne, so würde man, meint Cusanus, daraus die Länge des Bogens ermitteln können. Er versucht dieses Verfahren für den Kreis durchzuführen, indem er passende Linien dem Bogen und der Sehne hinzufügt und gelangt dadurch zu einer vermeintlichen Rektifikation des Kreises. Schliefslich empfiehlt er dasselbe Verfahren auch für andre KurVen als den einzigen Weg, zu dem mathematischen Wissen zu gelangen, was dem

De mathematica perfectione. p. 1121.

CcsAXüS: Mathemaiische Fehler. Verdienste. 285

Menschen erreichbar ist.^ Cusas Gedanke ist ganz berechtigt, aber 68 ist ihm nicht gelungen, dasjenige Verhältnis zwischen den nnendlichkleinen Veränderlichen aufzufinden, welches beim G^renzübergange einen endlichen, angebbaren Wert behält und geeignet ist, zu einer Integration und zur Erforschung von Eigenschafben der Kuryen. So blieben seine Versuche zur Bektifikation des Kreises das, was sie bleiben muTsten ver- gebliche Arbeit. Begiomontanus hat sich die Mühe gemacht, dieselben zu widerlegen und die Fehler des Cüsanus nachzu- weisen, in einem Buche, das er „Paulo Florentino^, d. h- ToscANELLi, dem Lehrer des Nigolaus, widmete.^ Wie in der Monadologie war es auch in der Untersuchung des Differenzials erst LsiBNiz, welcher, die G-edanken des Cusaners aufiiehmend| ihnen Leben, Gestalt und Anwendbarkeit zu geben wufste. Aber dafs die Ahnung solch neuer, bahnbrechender Ideen bei Nioolaus bereits in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, mitten unter der Herrschaft der scholastischen Tradition, auf- tauchte, das will immerhin als ein hohes Verdienst für den geistvollen Elardinal angemerkt sein ; seine Werke blieben eine reiche Quelle der Anregung für spätere Zeiten.

Noch ragt die Gestalt des Cusaners vereinzelt über die Menge der Zeitgenossen hervor; noch bedurfte es schwerer und vielfältiger Arbeit, ehe eine gleiche Freiheit des Denkens sich allgemeiner verbreitete, und noch waren harte Kämpfe zu bestehen, ehe diese den Sieg zu erringen vermochte. Aber sein Wirken bereitet denselben vor. Es bietet die erste frucht- bare Verwendung des neuplatonischen Begriffs einer lebendigen Bewegung des Geistes, um das Geschehen der Natur zu erfassen als den Ausdruck dieses Vorganges im Denken. Alle Realität wurzelt in der Einheit, welche das Denken in den Dingen aelbst setzt.

Dieser Gedanke, dafs die Welt als erkennbare Gesetzlich- keit entsteht, weil das Denken sein eigenes Gesetz in der Fülle des sinnlichen Lihalts enthüllt, wäre nichts Geringeres als eine Antizipation des transcendentalen Kritizismus, wenn er bei

» A. ». 0. p. 1149.

' De quadratura drculi secundum I^icolaum Cusensem. Vgl. KjLstver, L S. 574 f: nnd 414 f.

2H6 Cdsanüs: ErkenDtnistheoretitchet.

CusANUS rein durchgeführt wäre. Dies ist natürlich nicht zn erwarten. Allerdings empfängt die Vernunft allen ihren Inhalt aus der Sinnlichkeit, welche den Geist zu seiner Thätigkeit weckt,^ aber dieser sinnliche Inhalt und das Denken sind doch nicht gleichberechtigte Faktoren innerhalb des Bewufstseins selbst. Es sind nicht die eigenen Daten des Bewufstseins, die sich in der Ordnung der Erkenntnis als wissenschaftliche Er- fahrung darstellen und daher die Möglichkeit sicherer Erkenntnis gewährleisten. Der Gegensatz urbildlicher Begriffe und einer äufseren allgemeinen Materie ist noch nicht versöhnt in dem transcendentalen Gedanken, dafs die Möglichkeit der Erfahrung nur in der Synthesis von Bewufstseinsdaten gewährleistet ist. Die Entfaltung der Begriffe zur Wirklichkeit geschieht mit Hufe eines äufseren Objekts, der Materie, welche die Vielheit der Dinge verursacht, und dadurch wird es wieder ungewifs, ob ein adäquates Erkennen möglich sei.^ Aber der Wechsel zwischen verschiedenen erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten' bei CusANUS und sein unsicheres Tasten nach festem Grunde kann sein Verdienst nicht schmälern, deutlich erkannt zu haben, wo die Ausfüllung der Lücke zu suchen ist, welche bisher den . Fortschritt der Erkenntnis hemmte. Seine Versuche sind darauf3 gerichtet, auf erkenntnistheoretischem oder auf mathematischem^ Wege den Begriff des allgemeinen Zusammenhangs der Ding^; zu erfassen, indem er denselben sich vorzustellen bemüht aLLC begründet in der Fähigkeit der Dinge, ineinander überzugeheic^ Hieraus erhellt, dafs er selbst das Bedürfnis fühlte, eine Yow^ stellungsweise zu fixieren, die wir als das Denkmittel der Ys ^ riabilität bezeichneten.

Die Veränderlichkeit der Materie wird aktuell im In der Einheit, welche das Denken als das Mittel des Erk< nens setzt, liegt nicht mehr blofs die starre Substanzialit: welche nicht begreifen läfst, wie der Übergang von Zust&i^a zu Znstand stattfindet, sondern es liegt darin das Prinzip, durch die Einheit zur Vielheit, die verschiedenen Zustände

» Vgl. EucKEN, Bcitniye S. 22.

- De doct. ign. p. 2. Praecisio vero combinationem in rebni corporali'bifi et adaptio congrua noti ad ignotum humanam rationem BOpergreditur. ' Vgl. hierüber Falcki^nderg, a. a. 0. S. 99 ff.

CuiAKUS: Das Indivisible als Tendenz zur Ausdehnung. 287

einander sich entwickeln. Und gerade in dieser Entwickelimgs- fiLhigkeit ist die Bealität der Dinge begrüudet. Überall wird der einheitliche Moment als Übergang aufgefaTst, als Erzeuger des von ihm abhängigen Verlaufs der Erscheinung. Das In- divisible ist nicht mehr dieForm des Kontinuums.

r

sondern es erzeugt das Kontinuum, indem es die Mög- lichkeit der Fortsetzung bedeutet, sich zur Gröfse entwickelt.

Diese Vorstellungsart geht aus der mathematischen Denk- weise hervor, in welcher der Begriff der Funktion sich bereits herausgebildet hat, und wird vermöge des neuplatonischen Ezplikstionsbegriffs auf die Weltentwickelung selbst übertragen. £& ist für die cusanische Weltauffassung wesenthch, dafs alles in der Welt im engsten Zusammenhange steht und eine un- unterbrochene Kontinuität aller Stufen des Seins statthat. Am Silde des unendlichen soll das verdeutlicht werden. Der Ge- danke des Zusammenfallens der Gegensätze im unendlichen ist nichts andres als das noch nicht zu genügend klarem Ansdrack gebrachte Denkmittel der Variabilität. Jede Figur wird als veränderlich vorgestellt, als fähig, neue Figuren aus sich zu erzeugen. Die gegebene Figur aber ist stets eine bestimmte. Nicolaus ringt danach, die möglichen Veränderungen der Figur in einen Begriff zusammenzufassen, und diesen einigenden Begriff glaubt er im Unendlichen zu besitzen. Nicht btoXs im Unendlichgrofsen, sondern auch im Unendlichkleinen sollen die Figuren ineinander übergehen. Bogen und Sehne fallen im anendlichkleinen Stücke zusammen: daher sucht er auch im Bogenelement das Gesetz der Kurve. Immer sieht er in der Tendenz zur Erstreckung das eigentliche Wesen der Ausdehnung. So gelangt er bis dicht an die Grenze, wo der Schlüssel der wissenschaftlichen Mechanik liegt. Bewegung ist ihm. der Übergang von Euhe zu Euhe, und die Ruhe nichts andres, als die CompUcatio der Bewegung; das einzelne Zeitmoment enthält die Entfaltung der ganzen Zeitreibe.

Das sind die Gedanken, welchen jener Begriff der Varia- bilität entstammt, durch den das Geschehen in der Körperwelt Beine eigene Gesetzlichkeit gewinnt. Noch herrscht das theo- logische Interesse vor. Die ganze Herrlichkeit der sich ent- faltenden Welt dient nur zum Spiegel Gottes. Aber wie das denken sich intensiver auf die Natur selbst richtet, steigt zugleich

\

288 Elementare und verborgene Eigenschaften.

das Interesse, die Welt um ihrer selbstwillen zu erkennen. Ist erst das Mittel geschaflfen, die Dinge überhaupt als ver- änderlich und in funktionalem Zusammenhange zu denken, so wird es auch möglich, sich des kausalen Zusammenhangs der- selben in quantitativer Hinsicht zu bemächtigen und Natur- wissenschaft zu begründen.

4. Die Beseelung und die Eigenschaften der Dinge.

Allgemeine begriffliche Beziehungen zwischen den Er- scheinungen lassen sich spekulativ konstruieren, ihr Wert aber wird an der Erfahrung erprobt. Der kausale Zusammenhang der Dinge ist nur zu erkennen an dem Studium der Einzel- vorgänge, an der Wirkung der empirischen Körper aufeinander. Ein Fortschritt aus den scholastischen Wortstreitigkeiten zu wissenschaftlicher Physik muTste zur Voraussetzung haben, dafs den Vorgängen in der Körperwelt selbständige Gesetz- mäfsigkeit zukäme. Aristoteles hatte Entstehen und Vergehen abhängig gemacht von den Bewegungen der Sphären; es galt nun nach einem andren Wirkungsgesetze der Naturkräfte zu suchen. Wenn man sich auch noch nicht entschliefsen konnte, die wesentliche Trennung zwischen der coelestischen und sublunaren Welt fallen zu lassen, so muTste man doch nach einem Mittel trachten, welches die thatsächlichen Wirkungen in der Natur an und für sich verständlich werden liefs.

Man unterschied bekanntlich zweierlei Eigenschaften der Naturkörper, die elementarischen und die verborgenen. Die elementarischen Eigenschaften (qualitates elementales) liegen begründet in der Natur der Elemente, sie sind abhängig von der Masse (Menge) derselben, und es ist begreiflich, dafs sie um so kräftiger wirksam sind, je gröfser die Menge des wirken- den Elementes ist. Dahin gehören als primäre Eigenschaften die Wärme und KÄlte, die Feuchtigkeit und Trockenheit, als sekundäre die übrigen sinnlichen Eigenschaften, wie Dichtig- keit, Härte, Weichheit, Farbe, Geschmack u. s. w. Aufserdem aber gab es zahllose andre Wirkungen der Körperwelt, die man teils beobachtet hatte, teils beobachtet zu haben glaubte, vor allen Dingen die Wirkungen der Heilmittel auf die Körper und die spezifischen Thätigkeiten der tierischen Organe, wie

QuaUtates occiütae. 289

z. B. die Yerdauiing durcli den Magen, dann aber alle übrigen teils empiriscli begründeten, teils abergläubisch angenommenen Erscheinungen, die mit den elementarischen Eigenschaften sich nicht vereinigen liefsen. Nicht nur, dafs geriebener Bernstein Strohhälmchen, und dafs der Magnet das Eisen anzieht, son- dern auch, dafs die Gegenwart des Diamanten die Wirkung des Magnets aufhebt, dafs der Seeigel ein SchiflF in seinem Laufe anhält, dafs die Verbrennung der Leber eines Chamäleons Segen und Donnerwetter herbeizieht, alle diese Erdichtungen des grassesten Wunderglaubens fafste man zusammen unter dem Namen der qualitai^ occultae. Unter diesen Sammelbegrijff konnten nun aUe neuen Entdeckungen, welche man über die gegenseitigen Einwirkungen der Dinge machte, aufgenommen werden; die Schöpfung einer neuen verborgenen Eigenschaft war mit einem Federstrich gethan, und die oberflächliche Kenntnis mochte sich damit beruhigen. Wer etwas feierlicher zu Werke gehen wollte, der konnte die verborgenen QuaHtäten auf urbildliche Ideen oder auf siderische Intelligenzen, oder auf spezi^sche Formen zurückführen. Alle diese Annahmen kamen i^chliefslich darauf hinaus, dafs G-ott selbst durch eine mehr oder weniger vermittelte weltregierende Thätigkeit die den Dingen angedichtete Wirkimg nach seinem WiUen hervor- rufe. Diese verborgenen Eigenschaften werden dadurch aus dem allgemeinen Naturzusammenhange, aus welchem sie nicht erklärlich scheinen, herausgelöst, und indem sie der Willkür des Schöpfers ausdrücklich unterstellt werden, eröffnet sich dem zügellosesten Aberglauben Thür und Thor. Denn der Wille Gottes ist unerforschlich. Wie Gott den Dingen ihre beson- deren Eigenschaften verleiht, so mochte er sie auch gelegentlich ihrer Wirkungsfahigkeit entbinden können. Von einer wissen- schaftlichen Naturerklärung konnte unter solchen Umständen nicht die Hede sein.

Das nächste Erfordernis für einen Fortschritt der Natur- wissenschaften bestand demnach darin, dafs die verborgenen Qualitäten in die allgemeine Gesetzmäfsigkeit der Welt einge- reiht wurden.

Erklärt sollte werden die komplizierte und mannigfaltige Wirkung der Dinge aufeinander; die Annahme der direkten oder vermittelten Einwirkung Gottes im einzelnen aber

Lafiwitz. 19

290 ^^ Belebung der Dinge.

sollte ausgeschlossen bleiben, obwohl selbstverständlich ohne Zweifel an der Allmacht des Schöpfers. Dann gab es nur zwei Wege ; entweder die G-ottheit rückte vollständig über die Welt hinaus und in der Welt waltete nur die Mechanik des Naturgeschehens ; oder der treibende G-eist schlüpfte ganz und gar in die Dinge selbst, das Gesetz dieses Geistes wurde Ge- setz der Natur, die Dinge selbst enthielten den waltenden Geist, die Weltseele, die Natur wurde belebt. Das Leben des Geistes schien zunächst leichter zu erfassen als das Bewegungs- gesetz der Körper. Das letztere kannte man gar nicht, das Walten der Seelenthätigkeit glaubte man wenigstens auQ innerer Erfahrung zu kennen. Der Gung der Naturphilosophie wandte sich der Annahme einer allgemeinen Belebung der Natur zu. Das Belebtsein der Materie schien mit einem Schlage alle Zweifel zu lösen. Man sah im menschlichen Willen und im menschlichen Denken Tag für Tag die kom- pliziertesten und überraschendsten Wirkungen vor sich gehen; ein analoges Treiben, eine allgemeine Organisation fOr die Eör- perwelt angenommen, konnte vielleicht die Komplikationen der physischen Thatsachen begreiflich machen. Daher griff die Naturphilosophie nach dem Gedanken, welchen ihr der Neu- platonismus in der allgemeinen Belebimg der Dinge durch die Weltseele darbot.

Als der erste, bei welchem das oben geschilderte Bestreben, die verborgenen Eigenschaften der Dinge durch eine allgemeine Belebtheit derselben zu erklären, deutlich hervortritt, dürfte Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486 1535) zu nennen sein. Trotz seiner mystischen Bdchtung von freiem, vorurteilslosem Geiste, trotz seiner Berühmtheit als Zauber- künstler ein Zweifler und Gegner der Astrologie, erblickte Agrippa in der Welt gleich Nicolaus von Gusa einen innerea Zusammenhang, ein Enthaltensein von allem in allem, tmd suchte nach dem inneren Gnmde dieser allgemeinen Wechsel- wirkung.

Die Elemente sind bei ihm noch unverändert die vier be- kannten, Feuer, Wasser, Luft und Erde; aber berührt von pythagoreischen, platonischen und kabbalistischen Gedanken schreibt er denselben Eigenschaften zu, welche in bestimmten zahlenmäfsigen Verhältnissen stehen. Unter Berufung auf

AosiPPA y. Nettesheim: Elemente. 291

Platok erteilt er dem Feuer: acnüas, raritas, motus; der Erde: ihseurikis^ densitas, quies; der Luft: obsciiriiaSj raritas, motus; dem Wasser: ohscuritas, densüas, motus. Diese Eigenschaften kommen den Elementen in verschiedenen Graden zu, und zwar BOy dals

das Feuer doppelt so dünn, 3 mal so beweglicli, 4 mal so scharf ist als die Luft, die Luft scharf, dünn, beweglich d. Wasser,

dai Wasser scharf, dünn, beweglich ^ die Erde.

Das Feuer verhält sich zur Luft, wie die Luft zum "Wasser, wie das Wasser zur Erde.^

Dieser Anfang, in die aristotelische Qualitätslehre quanti- tative Beziehungen hineinzubringen, bleibt jedoch ohne weitere Folgen. Es wird dafür versichert, dafs die Beziehungen zwi- schen den Elementen Wurzel und Grundlage aller Körper und Naturen, aller merkwürdigen Eigenschaften und Kräfte seien, deren Kenntnis zu staunenswerten Leistungen in der natür- lichen Magie in den Stand setze. ^ Die Zusammensetzung der Elemente und ihre gegenseitigen Verbindungen finden nicht statt nach Art einer Zusammenhäufung, sondern durch Ver- änderung und innere Vereinigung. Von den sinnlich wahr- nehmbaren Elementen ist keines reiu, in ihren Zusammen- setzungen ist stets ein Element das herrschende; so überwiegt in den Steinen die Erde, in den Metallen das Wasser, in den Pflanzen die Luft, in den Tieren das Feuer, nämlich die Lebens- wärme. Der Einflufs der Elemente erstreckt sich auf die ge- •samte Welt, auch mit den Sternen und Geistern stehen sie in bestimmtem Zusammenhange.» Die Eigenschaften der Dinge, welche von den Elementen abhängen, sind teils erkennbar aus der Menge des herrschenden Elementes und stehen im Ver- hältnis zur Gröfse des Körpers, teils aber sind sie in keiner Weise aus der Natur der Elemente ersichtlich und nur durch ^e Erfahrung zu ergründen; das sind die qualitates occuJta^, von welchen Agrippa eine grofse Anzahl aufführt.* Es entsteht nun die wichtige Frage, woher diese verborgenen Eigenschaften

^ Hbnrioi Cobnelii Aorippae ab Netteshetm Opera omnia.Lugdani 1600. 'Tom. L De occulta phüosophia. Lib. I. c. 3. p. 4. Vgl. 1. Buch S. 63.

« A. a. 0. p. 5. » A. a. 0. c. 8. p. 14 f. * A. a. 0. c. 13. p. 20.

19*

292 AoRippA V. Nettesubim: Spirüiu mundi.

stammen und wie es möglich ist, die Wirkungen der Elemente in Verbindung zu setzen. Der Körper und die Materie sind an und für sich einer Wirkung und Bewegung nicht fähig. Aus eigener Macht imd durch sich selbst beweglich ist nur die Seele.^ Die Wechselwirkung der Dinge ist daher nur erklärlich durch ein Beseeltsein derselben.

Der göttliche Geist, welcher die Bewegung erteilt, und der unbewegliche, träge Körper bedürfen einer Vermittelung, eines Mediums, welches gleichsam nicht Körper, sondern schon Seele, und anderseits gleichsam nicht Seele, aber schon Körper ist.^ Dieses Mittel ist der Weltgeist oder die Weltseele, der Spiritus mundi, d. i. die Quintessenz, das fünfte Element, welches den andern vier übergeordnet ist. Durch die ganze Welt ist dieser Spiritus ausgegossen, in aUen Teilen derselben bewirkt er Belebung der Körperwelt, wie unsre Seele den Körper be- lebt; er verursacht alle Wechselwirkung der Dinge und macht die geheimen Eigenschaften derselben erklärlich. Er besitzt Ausdehnung und läfst sich aus den Körpern ausziehen ; Agrippa habe ihn selbst aus Gold ausgezogen, aber nicht mehr Gold dadurch machen können, als das Gewicht des Goldes betrug, aus welchem die Quintessenz extrahiert wurde; denn als aus- gedehnte Gröfse kann dieselbe nicht über ihr eigenes Mafs hinaus wirksam sein.'

Die ganze Welt ist also belebt. Der Spiriiiis mundi, welcher selbst aus dem göttlichen Geiste stammt, ist in der Körperwelt der Träger und Schöpfer aller Veränderung, die zusammen- haltende und entfaltende Kraft, welche auch das organische Wachstum und alle Erzeugung bedingt. Entstehen und Ver- gehen sind nicht mit Aristoteles auf den Einflufs der Sterne zurückzuführen; denn lebendige Substanzen können nicht durch äufsere Einwirkung entstehen, sie bedürfen eines belebten Samens, einer Entwickelung von innen heraus. Es wäre auch absurd, wenn die unbedeutendsten Teilchen der Welt, ganz kleine, kaum sichtbare Tierchen, belebt sein sollten, und die

* A. a. 0. c. 14. p. 23. A. a, 0. c. 14. p. 23.

' A. a. 0. c. 14. De spirita maDdi, qois sit et quod sit vinculum occul- tarum virtutam. p. 28. Spiritas mandi. quam dicimus essentiain qulotam. . . . cum sit ille spiritus forma extensa et non intensa, non potest ultra soam mensuram imperfeotum corpus in perfectum permutare.

AoBiPPA y. Nbttssheim: Magie. 293

ganze, grolise Welt sollte der Seele entbehren.^ Somit hat Agrippa in den aus der Weltseele stammenden stoisch-plato- nischen Keunformen ein Mittel gefunden, den allgemeinen Weltzusammenhang zu erklären. Denn jene in allen Teilen des Universums thätigen Lebensgeister sind selbst ein AusfluTs des göttlichen Weltgeistes, durch welchen alles in Zusammen- hang steht. Die Dinge selbst sind vermöge der sie belebenden Geister einander feindselig oder befreundet, ziehen sich an oder stofsen sich ab. Auf diese Weise erklären sich die über- raschenden Wirkungen der Körper aufeinander, und Agrippa benutzt diese Erklärung als theoretische Grundlage seiner natürlichen Magie. Nur eine natürliche Magie erkennt er an; d. h. wem es gelingt, die komplizierten Einwirkungen der Elemente und ihrer Verbindungen aufeinander durch Erfahrung festzustellen, der kann dieselben benützen, um merkwürdige, magische Wirkungen hervorzubringen. Wenn Agrippa auch im zweiten Buche seiner OccuUa phäosqphia eine himmliscb.e oder mathematische, d. h. auf pythagoreisch - kabbalistische Zahlenspekulation begründete, und im dritten Buch die soge- nannte religiöse Magie vorträgt, so schwebt ihm in all diesen Berichten über den gröbsten Aberglauben doch immer der Gedanke vor, dafs er es dabei nicht mit einer Durchbrechung des Zusammenhanges der Natur, sondern mit einer Bewältigung ihrer Geheimnisse und einer Wirkung durch die Kenntnis der Gesetze der Geisterwelt zu thun habe.

Die Erneuerung platonischer Ansichten, wie sie von Gborgiüs Gbmistüs Plbthon (t 1452), von Bbssarion (f 1492) und Marsiliüs FiciNüS (t 1499) angebahnt und von Jon. Pico von Mirandola (t 1494) und JoH. Ebüchlin (f 1522) in neuplatonisch-kabbalis- tischer Bichtung fortgeführt wurde, zeigt sich bei Agrippa zu der Lehre von der Allbelebtheit der Welt systematisiert. Das fünfte Element des Aristoteli^s, der Äther, ist mit Hilfe der alchy- mistischen Quinta essen tia verwandelt in den Spiritus mundi. Die Vorstellung, dafs das physische Geschehen durch einen in den Elementen thätigen Lebensgeist bewirkt wird, tritt der aristo- telischen Physik als ein nicht zu unterschätzender Feind gegen- über und hilft die Macht derselben brechen. Dadurch wird

* A. B. ü. Lib. IL c. 66. p. 235.

294 (^mndsabstanzeii der Chemiker.

auch der mechanischen NaturaofTassong und der Atomistik Bahn geschafft; denn obwohl die vitalistische Spiritualtheorie letzteren Bichtungen ebenfalls entgegengesetzt ist, so kam es doch zunächst darauf an zu erkennen, dafs die scholastische Physik nicht die einzig mögliche sei. Den substanziellen Formen gegenüber galt es, der irdischen Welt ihre Unabhängigkeit zu erobern, und hierzu war die Annahme eines selbständigen Lebens in derselben der erste Schritt. Es wurden dadurch die Vorstellungen über die Elemente ins Schwanken gebracht, die Weltseele erhält einen chemischen Charakter und es bildet sich eine eigene Physik der „Spagiriker", d. i. der Chemiker heraus.

5. Die chemischen Ornndsubstanzen.

Die Alchymisten gingen, wie wir früher sahen, nicht auf die vier Elemente zurück, sondern bedienten sich, obwohl sie jene als die ursprünglichen Stoffe anerkannten, zur Erklärung ihrer Operationen nur zweier Prinzipien, des Mercurius und des Sulfur, Offenbar waren sie auf diese Annahme durch die Beobachtung geführt worden, dafs sie bei ihren Analysen nicht auf die Elemente, sondern auf Substanzen stielsen, welche sich unter die Begriffe eines flüchtigen und eines mehr kon- sistenten Prinzips, Mercuritis und Sulfur^ einreihen hefsen. Bei Gebbr findet sich daneben Ärsenicum als ein drittes Prinzip. In der weiteren Entwickelung der Chemie treten die vier Ele- mente immer mehr in den Hintergrund, aber auch die Bedeu- tung von Merkur und Sulfur ist nicht als eine völlig klare und feststehende zu erkennen. Im allgemeinen bleibt jedoch, gestützt durch Autoritäten wie Eaymund Lull (1235 1315) und Arnold Villanovanus (1235 1312), die Ansicht in Gel- tung, nach welcher Sulfur und Merkur zwar substanziell aus den Elementen bestehen, aber die allein der Analyse zugäng- lichen Grundformen aller Körper sind, die man daher in der Chemie lediglich in Betracht zu ziehen habe.

Der Begriff des Säl als Bezeichnung für dew Feuerbestän- dige in den Körpern verdankt seine allgemeine Gültigkeit als chemisches Grundprinzip sicherlich Paracelsus ; inwieweit jener bereits vor ihm in der alchymistischen Tradition gebräuchlich war, läfst sich schwer entscheiden, da über die Echtheit und

Basiliui Valbstdius und Paracblsüs. 295

SSgenseitige Unabhängigkeit der älteren alchymistischen Schrif- -ten nichts Zuverlässiges bekannt ist. So soll bei Isaae dem IHOLLÄHDEB (vermutlich um 1500) von den salzigen und erdigen Sestandteilen der Metalle die Bede sein.^ In den Schriften, als deren Verfasser Basilius Valkntinus genannt wird, werden Mareurius^ Sidfur und Sal als die Grundbestandteile der Körper betrachtet; aber es unterliegt wohl keinem Zweifel, dafs diese Schiifien nach Pabacelsus, wahrscheinlich erst in den Anfang des 17. Jahrhunderts zu setzen sind, da ältere Handschriften öch nicht mit Sicherheit nachweisen lassen. Die dem Mönch Basilius Yalsntd^üs zugeschriebenen Werke dürften demnach dem 'Herausgeber derselben, der sie im Beginn des 17. Jahr- hunderts drucken lieis, Jon. Thölde, einem Thüringer, ange- hören und nicht, wie man früher allgemein annahm, in das 15. Jahrhundert zu setzen sein.^

Inhaltlich stimmen die Schriften des Basilius Yalentinus mit den paracelsischen Lehren so vollständig überein, dafs an einem Zusammenhange nicht zu zweifeln ist, und man könnte höchstens, wenn man an die Fälschung nicht glauben will, eine gemeinsame ältere Quelle vermuten, die jedoch nicht nach- weisbar ist. In Ellarheit und Ordnimg des Vortrags ist Basilius ^ dem Pabacblsus entschieden überlegen; auch empfiehlt er das Lesen der Schriften der Alten,* wovon Paracblsus weniger hUt. Seine Schriften machen den Eindruck, dafs die von

^ Kopp, Entwickelung d. Chem. S. 20. Doch erscheint dies Kopp selbst nicht genügend beglaubigt, s. Beitr. 3. St S. 109.

' Zur Basilinsfrage vgl. Gmelin, Gesch. d. Chem.^ 1 S. 136 ff., Uoefeb, Bist de la Ckim. I p. 479. Kopp, Gesch. d. Chem. I, S. 74 f., ganz besonders aber Kopp, Beiir, 3. St. S. 110—129. Von älteren Zeugnissen ist dasjenige SmnRTs erwähnenswert in De chymicorum c. Aristotelicis et Gdlenicis con- •auu (1. Ed. 1619) in Opera Lugd. 1676 T. I p. 224. Indessen hat Kopp (Beiir. 8, 117) gezeigt, dafs sich gegenwärtig kein Beweis mehr dafür erbringen Elft^ die Schriften des Bas. seien vor Paracelsus entstanden; und neuerdings (Alehemie S. 31) erklärt Kopp die Basiliusschriften entschieden für eine um IGOO begangene Fälschung.

* loh bediene mich der Gesamtausgabe: Fr. Bastiji Valextini Benedik- tiner-OrdenS) Chemische Schriften alle, soviel derer vorhanden etc. flam- borg leSi..

* De Macrocosmo od. Von der grofsen Heimlichkeit der Welt und ihrer Artmey. I p. 136.

296 Basilius: Die drei anfahenden Dinge.

Paracelsüs mit dem Ungestüm des Iteformators imd mit Ver- achtung aller Lehren der Schule verkündeten alchymistisohen Ansichten von einem Manne dargestellt und verarbeitet wurden, welcher der traditionellen scholastischen Bildung nicht fremd ist und daher auch mit der aristotelischen Elementenlehre zu vermitteln sucht. Das Verdienst der bahnbrechenden Arbeit wird also allein dem Paracelsüs zuzuschreiben sein. Somit verlieren die Schriften des Basilius sehr an Bedeutung, da man ihn nicht mehr als Vorläufer des Paracelsüs betrachten darf. Wir wollen trotzdem zum Vergleich mit Pabacblsus die Substanzenlehre des Basilius zunächst kurz skizzieren.

Nach Basilius ist die grofse wie die kleine Welt aus einer prima materia, welche von Gott aus dem Nichts geschaffen ist, formiert.^ Allen Dingen, Menschen, Tieren, Kräutern und Metallen hat der Schöpfer ihren Samen mitgegeben zur Fort- pflanzung und Vermehrung. Die Entstehung der Metalle ge- schieht durch einen feinen Bauch (Schwaden), welcher von den Gestirnen herstammt und genährt wird.^ Seine Verbindung mit den Elementen bewirkt in diesen eine greifbare Form, indem aus der ersten Materie, worunter das Wasser asu ver- stehen ist, durch Austrocknung des Feuers und der Luft Erde wird.^ Aus dieser Zusammen Wirkung entstehen die drei ersten Dinge, wie sie von Hermes und allen Alchymisten genannt worden sind, nämlich eine „innerliche Seele^ ein „unbegreiff- lieber Geist" und „eine leibliche sichtbare Anschauung''.^ Unter der „innerlichen Seele" hat man zu verstehen ein immaterielles Agens (wir würden es Geist nennen) ; der „unbegreiffliohe Geist" bedeutet ein materielles, aber unsichtbares (intangibles) Wesen, einen sehr dünnen gasförmigen Stoff; die „leibliche, sichtbare Anschauung" ist die Bezeichnung für die sichtbaren und an- schaulichen Körper. „Wann nun diese drey bei einander wohnen, gehen sie mit der Zeit per Vulcanum in ein greiffliches Wesen, als in ein Quecksilber, in ein Schwefel und in ein Saltz''

* Vom großen Stein der uhr alten Weisen etc. S. 11.

' A. a. 0. S. 11. Triumphwagen des Antmonii S. 348. S. 440.

' Triumphwagen des Änt S. 441. De microcosmo S. 114. Doch iit la bemerken, dafs diese Darstellung an verschiedenen Stellen der angeblidhen Schriften des Basilius schwankt.

* Vom grofsen Stein etc. S. 12.

BASiLros: Mercurius, Sulfur, Sal. 297

über. Dies sind ^die drei anfahenden Dinge ^, aus welchen die gesamte Welt zusammengesetzt ist. Sie können durch che- mische Scheidung aus allen Körpern hergestellt imd wieder zu K.ÖTpem vereinigt werden.^ Nur durch die chemische Analyse wird es offenbar, was die drei Prinzipien, „davon viel Ge- Schwatzes vorläufft", sind, nämlich MercuntiSj Sulfur und Sal.^ Dies sind nicht etwa die gewöhnlichen Körper Quecksilber, Schwefel und Salz, sondern Repräsentanten für gewisse Ver- haltungsweisen der Körper.

Der Mercurius ist feuriger Natur, er ist der Samen, das Belebende in allen Dingen, „sein Wesen ist seelisch, seine Materie geistlich, seine Form irdisch^. ^ Im Menschen ist er der Spiritus vitaliSy der Lebensgeist, welcher alle Bewegung hervorruft und alle Glieder durchwandert.* Der Sulfur ist gröberer Natur als der Mercurius ; ^ es gibt einen brennbaren und einen nnverbrennlicheu Sulfur,^ er ist Ursache der Metall- färbnng, seine Eigenschaften finden sich bei Basilius nicht klargestellt. Sal endlich ist das Prinzip des Körperlichen, Festen, es bewirkt die Starrheit der Körper und ist der un- verbrennliche Best bei der Verbrennung.'

Auiser der Betonung dieser drei Prinzipien unter Vernach- lässigung der ursprünglichen Elemente findet sich bei Basilius ebenso wie bei Paracelsüs der Hinweis auf die Erfahrung durch chemische Operationen als zuverlässigste Lehrmei^terin : ^Sehen geht vor Hören,"® sowie die Verspottung der Ärzte, welche der chymischen Kunst nicht kundig sind. Wie Para- CBLSUS empfiehlt er die Anwendung chemischer Heilmittel, Äurum potdbüe und Antimonium gelten beiden als üniversal- medikamente.® Auch die Auffassung über die Natur der Gifte, welche durch Paracelsüs auf die Medizin von Einflufs geworden ist, findet sich ebenso bei Basilius. Bei beiden gilt die ganze

^ De macrocosmo od, von der grofsen Heimlichkeit etc. S. 143.

A. a. 0. S. 144.

Von den naturl u. übematürl Dingen, S. 236. Werke 2. Band, S. 19.

De microcosmo S. 117, 118.

» A. a. 0. S. 118, 127. A. a. 0. S. 246.

' Triumphwagen d. Ant. S. 351. Vom großen Stein etc. S. 37

Von den nai. ti. übernat Dingen, c. 3. S. 234 u. sonst öfter.

A. a, 0. S. 305, 306, 328, 329, 352, 342—345. " A. a. 0. S. 356.

298 Pa&acslbub.

Welt als belebt/ alle Körper nnd Elemente sind mit Geistern angefüllt. Von innen herans entwickeln sich die Natnrwesen, in sich tragen sie ihre Besamung. Alle Neubildung wird ein- geleitet durch die Fäulung; Zersetzung ist die notwendige Bedingung zur Ent Wickelung.*

Gegenüber den Schriften des Basilius zeigt sich Paraoblsüs durchaus als der genialere und originellere Denker. Aber in der Geschichte der Körperlehre könnte es scheinen, als ent- halte die Substanzlehre des BasiLiüS erst die Vorstufe zu der- jenigen des Paracelsus. Paracelsus gibt nämlich nicht nur eine viel bestimmtere Darlegung über die Art und Weise, in welcher die Grundsubstanzen die einzelnen Eigenschaften der Körper bedingen, sondern vor allem leitet er die chemischen Grundsubstanzen nicht mehr aus den aristotelischen Elementen ab, während dies bei Basilius noch der Fall ist. Dies ist der entscheidende Fortschritt. Man darf jedoch daraus nicht schliefsen, dafs Paracelsus historisch der spätere sei. Vielmehr mufs man in Basilius eine Abschwächimg der paracelsischen Beformation erblicken; die elementarische Zusammensetzung der Grundsubstanzen erschien wahrscheinlich dem unter dem Einflüsse gelehrterer Bildung stehenden Herausgeber als eine Verbesserung der Ansichten des Paracelsus zu Gimsten der Versöhnung mit Aristoteles.

6. Paracelsus.

Der Arzt Philippus Theophrastus von Hohenheim, Aurbolus von sich selbst, Bombastus nach seinem Gxolsvater genannt, latinisiert Paracelsus (1473 1541), tritt mit Energie der Auto- rität des Galenus und der Araber in der Medizin entgegen. Nicht aus ihren Schriften, sondern aus der Natur, die nur durch eigene Erfahrung erforscht werden kann, soll der Arzt lernen; nur die Natur ist ohne Falsch. Auch Aristoteles gilt ihm nichts ; er ist nur der Schwamm, der am Baum der Philo- sophie gewachsen ist, und vieles Gute, das Platon, den er

^ A. a. 0. S. 311.

« A. a. 0. S. 57. T. 11, c. 5, S. 31 findet sich der Ausdruck Atom als Bezeichnung ganz feiner Teilchen.

Paricelsus: Welt nnd Forscliung. 299

lioclistellt, gelehrt hatte, verdeckte nnd verdarb. „Und so ihr schon Abistotelss selbst werendt und der Porphyriüs und Albxrtüs, dorzn Avicenna, Galenus selbst, noch ist kein Gnmd da, das Ihr einen Einigen Krancken darauff möchten vertrösten. Dann wer will sich ein Lügnerey und Speculierung vertrösten? Niemandts." ^ Fort mit der Autorität, zurück zur Natur, aas dem Bücherkram hinaus ins Freie, das ist die Lo- sung des Paracelsüs, die er mit scharfen Worten verkündet, der er mit energischem Thun nachlebt.

Die Welt ist von Gott geschaffen aus dem Nichts, zunächst als der ungeordnete, eigenschaftslose Limbus; aus diesem ist sowohl die groJGse als die kleine Welt, Universum wie Mensch, herausgebildet.^ Und weil sie beide aus demselben Limbus entstanden, so sind auch die Gesetze für beide Welten, Makro- kosmus und Mikrokosmus dieselben. Daraus folgt einerseits, dafs die Natur des Menschen nur aus der Erforschung der groüsen Welt erkannt werden kann,^ andrerseits aber, dafs in der grofsen Welt alles in ähnlicher Weise verläuft, wie im Leben des einzelnen Menschen. Alles ist organisiert, und es gibt keine Entstehung von aufsen her, sondern nur eine Ent- wickelung von innen, nach Analogie des Samens, welchen die ganze Welt und jedes Einzelwesen in sich trägt.* Auf diese Weise gewinnt die Welt bei Paracelsüs die Selbständig- keit, welche sie besitzen mufs, wenn ihre Gesetze unsrer Erforschung zugänglich sein sollen. Diese Erforschung ist das Edelste, was der Mensch auf Erden leisten und geniefsen kann; bei der Scholastik freilich ist sie nicht zu finden.^

^ Ich benutze die Gesamtausgabe der Werke des Paracelsüs von Hüser, Basel 1&89. Die angezogene Stelle in Paragrani alterius Tractatus, II p. 115. Vgl auch p. 105 und p. 22, 32. Die letzteren gehören zu der minder be- glaubigten Fassung des Werkes. Über die Zuverlässigkeit der HüSERscheu Ausgabe vgl. Haeser, Gesch. d. Med. 2. Bd., S. 80 flf. ; Eucken, Untersuchungen t. GesdUchte der älteren deutschen Fhäosophie III. ; Philosoph, Monatshefte XVI. S. 321 ff. Leipz. 1880 u. Mook, Th. ParaceUus. München 1876, p. 21. Ich citiere, wo ich keine besondere Bemerkung mache, nur solcbe Schriften, welche aus eigenhändigen Büchern des Paracelsüs stammen.

' Vom Podagra, 1. Buch. IV p. 253.

* Paramirumy B. 1. c. 1. I p. 72.

* De meteoris o. III. VIII p. 188, 198. u. sonst oft. Vgl. hierüber bes. EciCKBK a. a. 0.

* De generatione hominis. 1 p. 330.

300 Pa&acelsüs: Elemente und Ghmndstoffe.

Die Elemente sind von den Alten nicht riclitig aofgefaGst worden. Allerdings gibt es vier Elemente, aber sie sind nur „Mütter ihrer Frucht"/ d. h. sie bewirken Neubildungen, und daher müssen sie selbst zersetzbar sein.' Denn Zersetzung ist die Bedingung jedes Entstehens, und erst durch die Schei- dung (Fäulung) gewinnen die Dinge ihr Einzeldasein.' Die Grundbestandteile aller Dinge aber sind die drei: Mercurius, Sulfur und Sal, Das beweist die chemische Analyse, welche stets nur auf diese drei Grundbestandteile oder Pinzipien führt. Was brennt, ist Sidfur, nichts anderes brennt, als Sulfur. Was raucht und sich sublimiert, das ist MercuriuSj was als unverbrennliche Asche zurückbleibt, das ist SW.* Diese drei Grundsubstanzen (tres primae substantiae) können zwar nicht selbständig dargestellt werden, aber sie sind bei der Verbrennung und durch das Feuer zu erkennen. Sie können nicht ohne einander sein, denn der Sulphur bedingt Wachstum und Gedeihen, der Mercurius die Flüssigkeit, das Sal die Form und Festigkeit der Körper.^ Salz herrscht über das, „was zur Fäulung geht", Sulfur über das, was zu viel wird aus den beiden andern, oder zerbricht, Merkur nimmt hinweg, „das in die Consumption geht." Merkur ist ein Liquor, Sulfur ein Oel, Salz ein Alcali.^ Die verschiedenen Stoffe haben ihre besonderen Mercurii, Sulfura und Sales. Von ihrer normalen Mischung im Körper hängt das Bestehen der Gesundheit ab.

Die drei Grundsubstanzen selbst bilden die Elemente und alle Dinge."^ Von den Elementen kann man drei irdische und ein himmliches unterscheiden; die irdischen sind Erde, Wasser und Luft, das himmlische aber ist nicht das Feuer, son- dern der Himmel selbst. Es gibt kein Eletnentum ignis, sondern nur ein Elementum coeli. Das Feuer gibt dem Menschen

* Paramirum 1. I c. 3. I p. 87. Met VIII. p. 178.

' Faramirum 1. IV. I p. 192. Dies Buch ist weniger beglaubigt, aber die Auffassung ist jedenfalls echt.

' LahyHnthua Medicorum c. 10. II p. 232, 233.

* Paramirum 1. I. I p. 74.

* A. a. 0. und 1. ü. c. 5. I p. 129.

^ Von den ersten dreyen Esftentiis III. p. 15. (Ex aliomm mss.)

^ I, p. 75, 114. u. a. Meteor, VIII p. 186 u. 187, wo die Namen Ignis

Sal, Balsamus gebraucht werden. Ignis = Sulfur = Feuer, BcUsam = Xi-

quor = Mercurius.

Paracslsüs: Die Ärchei, 301

nichts Elexnentisches, keine Frucht, sondern es tötet und scheidet nur; es ist daher nicht zu den Elementen zurechnen.^ Die Entstehung der einzelnen Elemente kann übergangen werden.' Die Wirksamkeit der Elemente beruht auf dem in ihnen befind- lichen Ärchetis oder Lebensgeiste. In jedem Elemente steckt ein Fabricator, ein Arbeiter, der für uns durch den Befehl Gottes sorgt Tag und Nacht. Diese Archei sind die schaffenden PrinjEipien oder wirkenden Kräfte (virtutes) in den Dingen, sie sind keine persönlichen Geister, sondern Natur- kräfte, wirken unbewufst und bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der stofflichen Elemente.^ So schwebt Paracelsus der Gedanke vor, daXs in den Elementen Stoff und Kraft vereinigt liegt; der Stoff ist belebt, und das Leben ist selbst nichts andres, als Bethätigung, Ursache einer Einwirkung auf andres, also das, was wir Kraft nennen. Alles Vorhandene besitzt auch Wirkungsf&higkeit ; beide Begriffe, Sein und Wirken, sind nicht zu trennen. Das Leben des Wassers ist seine Flüssigkeit, das des Feuers seine Flüchtigkeit,* die wesentliche Eigenschaft jedes Dinges dasjenige, was sein Leben ausmacht. Leben ist Wirken und Wirken ist Sein; eins ist nur erklärlich durch das andre. So werden ihm Leben und chemischer Prozefs ein und dasselbe. Li diesem Gedanken liegt die Bedeutung des Pakacelsus für die neue Auffassung des Weltgeschehens. Die Ansicht der Alchjrmisten von der Zusammensetzung der Dinge erweitert er zu einer philosophischen AVeltansicht. Der Gedanke der Varia- bilität, welcher Cüsanus vorschwebte, hat bei dem Empiriker neues Leben gewonnen. Das gröfste Beispiel einer Veränder- lichkeit, welche ihr Entwickelungsgesetz in sich selbst trägt, ist der Organismus, dessen ganzes Werden im Keime vorge- bildet liegt. Diese Entwickelung aber besteht nicht mehr allein in der Entfaltung des Begriffes im Denken, sie liegt im sinnlichen Naturgeschehen vor Augen. Körper sind es, welche dnroh Abscheidung und Aufnahme von Stoffen entstehen.

* Meteor, c. 1. Vm p. 182, 183.

' Man Ygl. darüber Rixneb u. Sibeb, G. 1. S. 82 84, wo jedoch auch die nnucheren Schriften benutzt sind. Meteor, c. 4. VIII p. 206.

* Dies ist besonders ausgeführt in der allerdings weniger beglaubigten De natura rerum, c. IV. T. VI. p. 277 ff.

302 Pabacelsüs: Die Entwickelung.

Hier ist der Übergang zur Physik durch die Chemie gegeben. Das Gesetz der Veränderlichkeit läfst das Studiiim an der Er- fahrung zu, und dadurch führt es auf die kausale Ergründung dieser Veränderlichkeit. Ursache und Wirkung werden nun- mehr in den Dingen selbst aufgesucht, denn in der chemischen Analyse und der organischen Synthese ist eine Handhabe ge- geben, an welcher die Erkenntnis in das geheimnisvolle Walten der Naturkräfte eindringen kann. Das Vertrauen ist neu ge- kräftigt, es werde die Enthüllung der Natur gelingen. Schei- dung und Zusammensetzung umfafst den ganzen Weltlauf, von der Schöpfung bis zum jüngsten Gericht. Dieser Weltlauf trägt das Gesetz seines Werdens in sich selbst und mufs daher dem Verständnis als der Lebensprozefs eines Organismus sich er- öShen. Aus aller Bizarrerie und Phantastik der paracelsischen Schriften leuchtet dieser eine Gedanke hervor, dafs die Welt sich erklären lassen müsse, weil ihr lebendiges Geschehen in Zersetzung und neuer Zusammensetzung verläuft. Dadurch hat Paracelsus seinen eingreifenden Einflufs auf Medizin und Phi- losophie geübt und zugleich der Chemie einen neuen Aufschwung gegeben. Es kommt dazu, dafs er mit der Schärfe und Schlag- fertigkeit des Beformators auftritt, der aus der Einfachheit des Volksgeistes heraus neues Leben in das verdorrte Schrift- tum der Wissenschaft bringt, und dafs er mit aller Energie auf die empirische Methode hinweist.

So wie Paracelsus die alchymistisch-neuplatonische Welt- seelenlehre zu einem Grundprinzipe naturwissenschaftlicher Welterklärung macht, so erweitert er in der speziellen Theorie der Materie die Lehre von den drei Grundsubstanzen zu einer neuen Elementenlehre.

Auch die Annahme der drei Grundsubstcmzen, welche Para- celsus mit der Trinität des Schöpfers in Beziehung setzt, weist auf neuplatonischen Einflufs zurück, wenngleich ihr Ursprung in den meist aus platonisch-pythagoreischer Schule stammenden hermetischen Schriften liegt. Die Alchymisten berufen sich auf Hermes Trismegistüs.

Nach dieser mj^steriösen Autorität bestehen die Metalle aus zwei Extremen, Corpus und Anitna, welche zu ihrer Ver- bindung der Vermittelung durch einen Spiritus bedürfen. Jene Anima habe nun Basilius mit dem Namen Sulfur belegt und

Zia Geschichte der chemischen Grundsubstanzen. 30B

den Körper mit Sal, den Spiritus als Mercarius bezeichnet. So 1>6richtet van Helmont.^ Die Yennatung Helmonts mag sich 1)ezielien auf eine Stelle bei Basilius:^ ^Man befindet auch, daJB in der ersten Schöpfung, so aus nichts vollenbracht, drey Dinge entstanden: Als ein seelisches, geistliches und siohtigliches Wesen, die stellten für ein merkurialisch Wasser, einen sulphurischen Schwefeldampf, und ein irdisches Salz; diese drey gaben ein vollständig und perfect greiff- liches und förmirliches Corpus aller Dinge. In welchen inson- derheit alle vier Elementa vollkommen befunden werden." Da- gegen wird von dem Verfasser der Schrift De natura rerumy welche unter dem Namen des Paracelsus ^ geht, nicht Mercurius, sondern Sulfur als die vermittelnde Seele bezeichnet, indem er sagt: „Darumb aber, dafs Hermes gesaget, dafs die Seel allein das mittel sey, zu vereinigen den Geist mit dem Leib : hatt ers nicht unrecht vor ihm gehabt, dieweil der Sulphur die- selbe Seel ist, und gleich als ein Fewer alle Dinge zeitiget imd auskochet: so mag er auch den Geist mit dem Leib binden etc." Diese Spielereien mit der Analogie „Geist Seele Leib" und „Sulfur Mercurius Sal", wie sie auch gewen- det werden mögen, weisen doch immer darauf hin, dafs der Mercurius der Alchymisten eng mit der Vorstellung einer in der Form des gasartigen Zustandes gedachten Weltseele zu- sammenhängt. Das neuplatonische Prinzip der Yermittelung zwischen Geist und Körper hat hier seinen chemischen Aus- druck gefunden. Der eigentliche Ursprung der drei Grund- substanzen dürfte schwer genauer zu ermitteln sein. Die Be- merkung des Basilius (s. S. 297, A. 2), dafs von den drei Substanzen „viel Geschwätzes vorläuft", beweist, dafs in der alohymistischen Schule diese Auffassung schon gäng und gebe war. Jedenfalls aber hat Paracelsüs das Verdienst, Folgerungen aus jener Lehre gezogen zu haben, indem er den Nachdruck auf die Theorie von drei Grundsubstanzen legte.

In seiner Schule wird zum ersten Male das Dogma von der Einfachheit der vier aristote-

* Oriua med,, Amstel. 1652. p. 324.

» Werke, Hamb. 1694. T. I. p. 221. Von den naiül w. übernatürl Dingen, Ihn vgl. auch Vom großen Stein der uhralten Weisen S. 12.

Opera, VI. p. 266.

tk

304 Pabacslsus: Die chemischen OrondfubstanzeiL

lischen Elemente verworfen. Auch die Elemente sollen auf noch einfachere Bestandteile zurückgeführt werden, und zwar nicht auf Qualitäten, sondern auf Substanzen, Mercurius, Sulfur und Sal. Es sind dies allerdings keine gewöhnlichen Körper, sondern gewissermafsen Idealzustände des Quecksilbers, Schwefels und Salzes, Bepräsentanten der hauptsächlichen Verhaltungsweisen der Körper, nämlich der Fähigkeit sich zu verflüchtigen, zu verbrennen und feuerbeständig zu sein. Man kann also in der Einführung dieser Idealsubstanzen den ersten Versuch sehen, dasjenige Verhalten der Körper zu rubrizieren, was wir unter dem Namen der Aggregatzustände begreifen. Gas, Flüssigkeit und fester Körper sind uns ebenfalls Bezeich- nungen für Körper, wenn wir dieselben unter einem bestimmten Gesichtspunkte ordnen, nämlich in Bezug auf das Verhalten ihrer Teile zu einander. "Wir unterscheiden verschiedene Gase, Flüssigkeiten u. s. w., wie Paracelsus verschiedene Merkurs, Sulfure etc. Der Einteilungsgrund ist allerdings bei Para- CELSUS ein anderer und nicht konsequent durchgeführt. Mer- curius bezieht sich auf die Eigenschaft des gasförmig-flüssigen Zustandes, Sal auf die des festen. Sulfur dagegen läist sich in diese Gliederung nicht einreihen. Der Prozels der Verbrennung war noch nicht geklärt und erscheint als ein der Flüssigkeit und Festigkeit gleichartiges, analoges Verhalten. Aber man wird sich die beste Vorstellung von diesen drei Substanzen machen können und die Unterscheidung in ver- schiedenartige Mercurii etc. verstehen, wenn man an unsre Allgemeinbegriffe von Gas etc. denkt. Auch wir sprechen ja von einem idealen Gas- oder Flüssigkeitszustande, der in Wirk- lichkeit nicht existiert. Vielleicht kommt man dem Sinne der Grundsubstanzen noch näher, wenn man sie als Itepräsen- tauten der Fähigkeit der Körper auffafst, in bestimmte Aggregatzustände überzugehen. Freilich ist zu bemerken, dais diese Analogie nur eine Seite der paracelsischen Vorstellung verdeutlichen soll. In andrer Beziehung sind seine Grundsub- stanzen wieder durchaus von unseren Aggregatzuständen ver- schieden, sie sind eben nicht nur Zustände, sondern Substanzen. Denn während wir von jedem Stoffe annehmen, dais er alle drei Aggregatformen gewinnen kann, sind bei Paracelsus die Grundsubstanzen generisch verschieden und nicht ineinander

Pabaoblsüb: Die ohemisohen OnindBabstaiuseii. 305

überftkhrbar. Sie trennen sich bei der Verbrennung von einander, wftbrend sie im ungestörten Körper vereinigt sind; in welcher Weise, das wird nicht weiter untersucht; was sie vereint, das ist das Leben. Obige Vergleiche sollten nur erläuternd wirken. Die Unterscheidung zwischen chemischem Körper und Aggregat- form ist natürlich bei Pabagelsüs noch nicht vollzogen; seine Ghnmdsubstanzen haben von beiden etwas an sich. Das Suchen nach diesen Begriffen machte eben den Fortschritt der Zeit aus. So wftre es vergebliche Mühe, volle Klarheit- in diese Be- ziehungen zu bringen, die bei ihrem Urheber selbst an Unklar- heit litten. Man würde nur moderne Anschauungsweisen in die Theorie des Paracblsus einfuhren, welche ihm notwendig fem liegen mufsten.

Was aber in des Paragelsus Elementenlehre bedeutungs- voll und von nachhaltiger Wirkung war, das ist das Bestreben, an Stelle der Eigenschaften „Wärme, Kälte, Feuchtigkeit, Trockenheit« andre Begriffe als Grundformen der Materie zu. setasen, welche sich weniger auf die sinnliche Empfindung als auf das chemisch-physikalische Verhalten beziehen. Es muTs sagegeben werden, dafs dieser Versuch viel roher und unphilo- sophischer ausgefallen ist, als die scharfsinnige Unterscheidung der Ghriechen; aber er beruhte auf einem wohlgemeinten Ex- periment, der chemischen Analyse, und wirkte nach einer Sichtung hin, nach welcher der weitere Fortschritt in der Physik geschehen mufste. Denn dieser Fortschritt- xnnfste gerichtet sein nach einer quantitativen TJntersuohung der materiellen Bestandteile, und zu dieser waren die substanziellen Produkte der Analyse immer- hin geeigneter, als die unfafsbaren Qualitäten der Elemente. Es war damit ein wichtiger Schritt zur Bildung des Begriffs des chemischen Elementes als der unzerlegbaren Sub- stanz gethan. Auch nach dieser Seite hin, in der Entwicklung der allgemeinen Physik, mufs Paracelsus als ein Beformator genannt werden.

Während der Buf des Pabacelsds sich durch alle Lande verbreitet xmd ihm eine zahlreiche Schule nachwächst, aus welcher der Däne Peter Severinus durch seine Thätigkeit für die Verbreitung der Lehre des Meisters am bedeutendsten her- vorragt, während die von Paracelsus ausgestreuten Keime in

Laftwite. 20

306 Italianitohe Natorphüosophen. Fa40A«T0B0.

allen Teilen der "Wissenschaften G&hrungsprozesse erwecken und seine mystischen Naturlehren selbst auf Theosophen wie Valentin Wbiöbl (1533—1694) und Jakob BOhmb (1575— 1624) ihren EinfluTs üben, erstehen in Italien eine Anzahl von Naturphilosophen, die in systematischer Form dieselben Prin- zipien der Physik vertreten wie Paragelsus. unter Betonung des Wertes der Erfahrung als Erkenntnismittels lehren sie die allgemeine Belebtheit der Natur und bekämpfen die Einteilxmg und Wirksamkeit der aristotelischen Elemente, indem sie sich in mehr oder weniger bestimmter Weise an einzelne Natur- philosophen des Altertums anlehnen.

Zweiter Abschnitt.

Angriffe auf die aristotelische Elementenlehre.

1. Fracastoro.

Als ein Zeitgenosse des P abagelsüs wirkte zu Verona Gibolamo Fracastoro (1483 1553), bedeutend als Physiker, Arzt und Astronom, dessen EinfluTs auf die Erneuerung der Wissen- schaften nicht zu unterschätzen ist. Er bekämpfte die Epicykel- theorie und deutete bereits auf den Satz von der Zusammen- setzung der Kräfte hin. Namentlich aber lehrte er eine all- gemeine Anziehung der Körper und eine Sympathie und Antipathie zwischen den Dingen, wodurch insbesondere die organischen Bildungen zustande kommen sollten. Bei der Untersuchung, wie in der Bildung der Körper die gegenseitige Einwirkung des Gleichartigen und die Vereinigung des Ver- wandten sich ermögliche, schreitet er sogar nahe bis zu einem ausgesprochenen Atomismus fort. Fracastoro bemerkt, dais viele Körper Einwirkungen auf einander äuüsern^ welche als eine gegenseitige Anziehung betrachtet werden könnoBi sich aber nur auf nahe Distcmzen bemerkbar machen, wie z. B. die Anziehimg des Magnets auf das Eisen, um diese WirknngeiL

FftACAfTOEO: Die Aiitrömiigwi^ 307

I aiUirai, greift er auf die Lehre des Emfedoklbs inrück, ifii wofn den Körpern unmerklich kleine Teilchen sich loslösen id in die Offiinngen andrer Körper einströmen. Da Fracattobo ir eine Wirkong durch Berührung kennt, so nimmt er zur rUirnng der Dist^mzwirkong körperliche Anströmnngen an. ieaelben seien jedoch in andrer Weise zu fassen, als die tome des Dbmoerit, Epieub und Lücrez. Die Art nnd Weise sr Lehren dieser Atomiker sei roh nnd unpassend genug nreeen; sie zu widerlegen verzichtet Fracastobo unter Be- jtang auf At«zxaxdkr Aphbodisiexsis und Galsküs. Aber oihl sei es richtig, dais unmerkliche Körperchen von den ingem. ausströmen: diese werden Ton einem zum andern firper hin- und hergetrieben, so dafs durch dieselben aus m Teilen, obwohl diese von verschiedener Form sind, doch swimifli ins Tuen ein Granzes und Einziges entsteht.^ Es ist das ^genseitige Einströmen der Teilchen und die lebhafte Bewe- mg derselben im Granzen, was die Einheit desselben ans- ieht und die Sympathie und Antipathie der Körper erklart. Es sind denmach wirklich korpuskulartheoretische Vor- ^Pi*»*g^", welche F&acastoro zur Erklärung der Wirkungen der Körperwelt dienen. Spielen auch noch psychische riefte die Bolle der Bewegungsursache, so wird doch der wnlirf^lM^ Vorgang selbst mechanisch zu deuten versucht. Seine beoirie der Distanzwirkung hat anregend auf D. Sexxert »wirkt. Wie in der Lehre des Empbdokles die Atomistik seits in ausgeprägtem Keime lag, so regen sich auch jetzt 1 Anschluls an die erneuerte griechische Philosophie vor aer eigentlichen Wiedererweckung der Atomistik verwandte id vorbereitende Gedanken.

^ Fkacastobius. Opera omnia. Venet. 1555. 4. p. 82. De ftympaüüa et fipathin cap. 5: Qonm nalla actio fieri potest nisi per contacToin, similia ton hsec non sese tangant, nee per naturam moventnr onam ad aliud, eit, n applicari in^cem debent, demitti aliquid ab uno ad aliad, qaod teagal, et ejus applicationia principium nt: hoc autem aut corpus aat forma aliqua simplex matehalis vel spiritoalia . . . Verommodo Mptif Athomonun effloxionibus nos modam aliom tradere posse videmur, 0 sttractio limilinm fiat . . . Sapponto igitar, quod a rebus efSuant insen- ffia oorpora, dicimus, ab uno ad aliud reciproce transmitti ea corpuscula, |«ilmi totms quoddam nt atque unum, verom difforme in partibus. Cap. perwiift VkiCABTOBO die F.Tiateni einet Yacnnma.

20*

•J

308 Casdaho. Vergleich mit Pa&agblsus.

Bei den Männern, welche zunächst für den Fortschritt der Körperlehre in Betracht kommen, geht allerdings die Ent- Wickelung vorläufig nach einer der Atomistik entgegengesetzten Seite, vereint sich aber mit ihr in der Bekämpfung des Aristoteles.

2. Oardano.

Geronimo Cardano (1501 1576) zeigt in seiner Lehre eine auTserordentliche Übereinstinmiung mit Paragelsus, obwohl er in Bildung, Charakter und allgemeiner Lebenscknsicht ihm direkt gegenübersteht. Beide sind Arzte; aber Paracblsus ist Chemiker und analysiert die Körperwelt, er will nichts gelten lassen als die unmittelbare Empirie, er schöpft seine Kraft direkt aus dem Volke, mit dem er verkehrt, er schreibt in seiner Muttersprache und will von den Gelehrten nichts wissen. Cardano ist Mathematiker und zur Deduktion geneigt, er schätzt auch das Wissen der Alten und die Kenntnisse, welche man aus Bibliotheken gewinnt, er will die Wissenschaften vom Volke abschliefsen und nicht lateinisch geschriebene wissen- schaftliche Werke verboten wissen, weil sie nur Unruhe stiften- Paracelsus steht auf sehr vorurteilslosem Glaubensstandpunkte und berührt sich fast mit Luther; Cardano bleibt streng im Bahmen der katholischen Kirche, der er unbedingte Autorität zuerkennt. Trotz dieses Gegensatzes zu Paracelsus wird er auf ähnliche physikalische Grundanschauungen gefuhrt, die nur bei ihm mehr mit der Überlieferung vermittelt er- scheinen.

Cardano nimmt an, dafs die von Gott geschaffene Ur- materie {prima materia oder vXri) actu existiere ; den Formen gegen- über ist sie allerdings nur potentia, aber unter den Formen muTs es etwas geben, das beim Entstehen und Vergehen unver- ändert bleibt. Diese Urmaterie behält diejenige Form, welche sie zuletzt gehabt hat, so lange bei, bis eine neue an sie herantritt. Sie erfüllt das concavum orhis vollständig, so dafs ein Vacuum nicht existiert. Die Urmaterie kann zwar inner- halb bestimmter Grenzen verschiedeiie Gröfse und sogar unendlich viele Grade der räumlichen Ausdehnung proteus- artig annehmen, diese Grenzen selbst aber sind fest um*

Cabdano: Qualitäten. Nur drei Elemente. 309

flohrieben, und nur- innerhalb derselben ist die Quantität variabel.^

Was nun die Qualitäten der Dinge anbetrifiR), so kann man in der ganzen Natur nur zwei Haupteigenschafben unter- scheiden, nämlich irdische und himmlische. Die irdische Qua- lität ist die Feuchtigkeit, die himmlische ist die Wärme. Von der himmlischen Wärme stammt alle übrige Wärme her. Enseugungsf&hig wird die himmlische Wärme erst durch die Verbindung mit der Materie. Indem sie sich vom Himmel her durch die ganze Welt ausbreitet, wird sie in der Verbindung mit einem Trockenen zur Wärme des Feuers, in der Verbin- dung mit einem Feuchten aber zur Lebenswärme. In letzterer Form wirkt sie als Weltseele, anima mündig und verursacht alles Entstehen und Vergehen. In diesem Sinne muTs man die ganze Welt als belebt auflfassen.'

Ein Element ist dasjenige, was keiner Nahrung bedarf, nicht selbst vergeht, nicht unstet umherschweift, sondern einen bestimmten Platz behauptet, seiner Natur gemäfs eine grofse Masse besitzt xmd zur Erzeugung geeignet ist.' Daraus folgt, dalB es nur drei Elemente gibt, nämlich Erde, Wasser und Luft. Diese drei sind sublunarischer Natur und besitzen alle drei die Eigenschafb der Feuchtigkeit. Die Wärme kommt keinem Elemente an sich zu, sondern stammt überall, wie gesagt, von der himmlischen Wärme. Trockenheit und S[ftlte sind überhaupt keine selbständigen Eigenschaften, son- dern lediglich die Privation der Feuchtigkeit und der Wärme. Da£s es nur drei Elemente gibt, beweist auch der chemische ProzeTs der Sublimation; denn bei demselben ergeben sich stets nur drei Substanzen, nämlich Wasser, Öl und Erde, welche als Bodensatz zurückbleibt. Von diesen repräsentieren Wasser und Erde die betreffenden Elemente, während das Ol die Stelle der Luft vertritt.* Das Feuer dagegen gehört nicht zu den Elementen, es ist überhaupt keine Substanz, sondern

^ Hnsoima Cardani medici MediolanenBis De subtüitate Libri XXL Lagdum 1551. 8. Lib. I p. 5-7.

* YgL BixiTEB und Sibeb. 2. H. S. 25 f.

* De subtü. 1. 3. p. 44.

* A. a. 0. 1. 3. p. 40. Sublimationes etiam tres subatantias tantura docent, aqnam pro aqua, oleom vice aeris, et terram, quae in imo lubeidet.

310 Cabiuvo: ZoBammengatetite Körper.

nur ein Accidens. Das Feuer wird' dnrcli die Wärmey die Wärme aber durch die Bewegung erzeugt.^ In der Bewe« gung besteht das Wesen der Wärme. Dies zeigt aach der Prozefs der Erzeugung, welcher cunäohst der Fäubus bedarf. Hierbei werden die Elemente der Körper duroh das Hinzutreten der Wärme in Bewegung gesetzt und miteinander gemischt, wodurch die Veränderung eintritt.

Auch beim Entstehen der zusammengesetzten Körper zeigt sich mit Notwendigkeit, dais alles belebt ist; denn nur eine Lebenskraft (anima) kann die erforderliche Verfeinerung, Ver- einigung und Verwandlung bewirken.' In den zusammenge- setzten Körpern sind die Elemente adu enthalten, jedoch so, dafs die Verbindung die Form eines Elementes zeigt, während sie von den übrigen blofs die Kräfte enthält.' Nur dreierlei Bestandteile sind in allen Körpern, nämlich Erde, Wasser und die himmlische Wärme, welche sie vereinigt.^ Die Metalle bestehen nicht, wie viele glauben, aus zwei Substanzen Sidfur und Argentum mvum; denn aus zwei schon actu existierenden Substanzen kann keine dritte entstehen.^ Die irdischen zu- sammengesetzten Körper zerfallen in vier Gtittungen, Erden, Säfte, Steine und Metalle, welche sieh wieder untereinander verbinden. Mischung ungleichartiger Stoffe mit Veränderung der Form heilst generatio, ohne Veränderung der Form nfactg (bei Flüssigen), oder mistio im engem Sinne (bei Festen)* Mischung gleichartiger Dinge ist concervatio.^

Die dargelegten Ghrundzüge der allgemeinen Physik Cab- DANOs stimmen, wie man sieht, vielfach mit Paraoelsüs über- ein, aber sie bleiben hinter dem letzteren zurück. Pabaoilsits ging weiter, durch keine Bücksicht der Schule gebunden und durch alchymistische Überzeugungen geleitet, Cabdano war noch zu sehr im Einflufs seiner gelehrten Bildung befangen, als daib er die Fesseln der aristotelischen Philosophie rück- sichtslos hätte abwerfen können. Ehr nimmt allerdings eine allgemeine Weltbelebung an, er stöfst das Feuer aus der Zahl der Elemente und rüttelt an den von Aristotbles aufgestellten

^ A. a. 0. 1. 2. p. 64. « A. a. 0. 1. V. p. 211. " A. ». 0. L IL p. 84. V. p 210. * A. a. 0. l. H. p. 77. * A. a. 0. 1. VI. p. 267. « A. a. 0. 1. y. p. 206. Vgl. Bizvbb und Sibbk a. a. 0. S. 67 iL

Cabdavo: Sein BinflaTs. Theorie der Flamme« 311

Qualitäten. Aber den. Begriff des Elementes behält er im ganzen bei, die Begriffe der Materie und Form beeinflussen den Gang seiner Vorstellungen, und die Weltseele, die himm- lische Wärme, wirkt nicht als formgebend und bestimmend, sondern nur als die Einwirkimg der geformten Materien ver- mittelnd. Da aber Cardano lateinisch schrieb, als Mann von groiser Gelehrsamkeit auftrat und sich in Aufsehen erregende wissenschafbliche Streitigkeiten sein Gegner war der be- rfihmte Julius Gäsab Scaliobb (1484—1658) verwickelt sah, so wurde sein Einflufs auf die gelehrte Welt, der Paba- GiLSüS £U roh und abstoisend erschien, ein sehr bedeutender. Sein Buf als Arzt und namentlich auch als Mathematiker war grois, und selbst in der praktischen Physik hat er einiges ge- leistet durch Anstellen von Messungen über die Dichtigkeit der Körper xmd Angabe verschiedener Maschinen. Einen Fort- schritt, der hier erwähnt zu werden verdient, bildet seine Theorie der Flamme. Da das Feuer bei ihm durch Bewegung entsteht, so ist die Flamme in fortwährender Bewegung, und zwar ist sie nichts anderes, als entzündete Lufb. Die Flamme bedarf zu ihrer Erhaltung der Nahnmg und der Luft. Sie bleibt nicht dieselbe, sondern sie ist in unablässiger Erneuerung begriffen, einer Flamme folgt sofort eine andere nach, indem jede die nächst gelegene Luft verbrennt und eine neue Flamme nach sich zieht. Das Produkt der Verbrennung ist ein doppel- ter Bauch, ein sehr feiner, nicht qualmender und die Augen nicht brennender, welcher sehr leicht in Luft übergeht und nur wärmt und trocknet, und ein dichterer, der nicht so leicht in Lufb übergeht. Der erstere ist ein notwendiges Produkt jeder Verbrennung, denn die Flamme wird beim Verbrennen in diesen feinen Bauch verwandelt; der letztere entsteht namentlich bei schlechten Kohlen und feuchtem Holze. ^ Man bemerkt, dafs hier einige' Erscheinungen der Verbrennung richtig beobachtet sind: der notwendige Verbrauch von Lufl und die Entstehung eines luftf5rmigen Verbrennungsproduktes. Im übrigen stellt Caudano sehr zahlreiche Erklärungsver- suche physikalischer Erscheinimgen auf, ohne gerade glücklich darin zu sein. Verdienstvoller ist sein Bestreben, eine allge-

^ De mJbUL 1. II p. 4A, 45.

312 Cabdako.. Telesio.

meine und systematische Einteilung aller Natorersclieinnngen zn geben, worauf jedooh hier nicht eingegangen werden kann. Die Wirksamkeit Cardanos für die Emenerung der Korpus- kulartheorie liegt in der Bedeutung, welche er der Bewegung selbst als einem Mittel der Veränderung beilegt, und in seiner Kritik der aristotelischen Elementenlehre, indem er das Feuer aus der Zahl der Elemente ausschliefst. Freilich steht er noch unter der Herrschaft der substanziellen Formen. Die Frage nach den Teilen der Materie läist er unerörtert und betont nur die selbstthätige Wirksamkeit derselben. Dies thun zwar Telesio und Patrizzi in noch höherem Mafse, diese sind aber als Philosophen bereits so selbständig, dais sie nicht mehr blofs gegen Aristoteles wirken, sondern auch der Atomistik entgegengesetzte Vorstellungen von der Materie direkt ver- teidigen, begründen und in Schwung bringen. Ihre phan- tastische Naturanschauung liegt soweit von der stufenweise fortschreitenden Entwickelung der allgemeinen Physik ab, daüs sie hier im wesentlichen nur als Zeichen der schon ge- schilderten Zeitbestrebungen und als Vorläufer anderer, na- mentlich GioRDANO Brunos, in Betracht zu ziehen sind.

3. Telesio und Patriui

Bernardinus Tblbsius (1508 1588)^ schliefet seine "Welt- anschauung an die des Parmenides an. Wie Paragblsus und Cardano unterscheidet auch er einen Gegensatz zwischen irdischen und himmlischen Eigenschaften, aber derselbe ver- körpert sich bei ihm in den örtlichen unterschied zwischen Erde und Sonne. Die Erde ist kalt, die Sonne warm, und so nimmt er zwei unkörperliche Prinzipien als die weltbe- wegenden Kräfte an, Wärme und Kälte, die eine von der Sonne, die andre von der Erde aus wirkend. Ihr gegenseitiger Kampf bewirkt den Weltprozefs. Das Kampf feld, auf welchem sie sich bethätigen, ist der Stoff (moles), die passive Materie. Dieselbe erfüllt den gesamten Baum, so dais ein Körper den andren berührt imd bloüs an der Oberfläche der Körper

^ RixKBR und SiBEB, H. 3. Carbierb, BefarmaUansgeit, ü. S. 84 E Ritter IX S. 561 ff. Harms Eihl. S. 255 f. Windelbaito I S. 69 E

TsLESip: Erhaltung der Materie. 331

eine Einwirkung stattfinden kann. Ein leerer Baum ist nur durch Zwang, z. B. duroh Verdichten von Dünsten in einem geschlossenen G-efä£se mittels Abkühlung, herzustellen. Die Wftrme dehnt die Körper aus, die Kälte zieht sie zusammen; durch Verdichtung und Verdünnung erklären sich alle Er- Bcheinmigen. Damit aber eine gegenseitige Einwirkung und ein Erhalten des Gleichgewichtes in der Körperwelt möglich werde, ist es notwendig, daüs auch diese beseelt sei. Sollen die Körper durch gegenseitige Berührung einander beeinflussen, so müssen sie Empfindung besitzen ; in der That beobachtet man, dafs gewisse Körper sich anziehen, andere sich verabscheuen. So ist die ganze Welt voll Empfindung und keine Materie ohne Kraft.

Während diese Vorstellungen mehr dichterisch-phantastischer Natur als der Entwicklung exakter Naturwissenschaft günstig sind, beruht die Bedeutung des Telesio in der Betonung eines Gedankens, der für die Naturwissenschaft unentbehrlich ist. Er schreibt der Materie einen Trieb zu, sich selbst zu er- halten; sie setzt ihrer Überwindung durch die entgegen- gesetzten Elräfte einen Widerstand entgegen. Bei aller Ver- dichtung und Verdünnung bleibt doch stets die Masse der Materie unverändert; kein Stoff kann in den andren eindringen, keiner vernichtet werden. Wärme und Kälte sind so an den Stoff gebunden, dafs die Gröfse der Welt weder ver- mehrt noch vermindert werden kann.

Dieser Satz ist eine notwendige Vorbedingung aller Natur- forschung, welche auf eine Untersuchung der quantitativen Beziehung ausgeht. Es ist daher ein besonderes Verdienst des Tblesio, dais er auf die Erhaltung der Materie und der an sie gebundenen Krafb als eines konstant Gegebenen aufmerksam macht, wenn es auch an einer festen Begriffsbestimmung des Maüses derselben naturgemäfs fehlt. Er erklärt diese Erhaltung mit Hilfe der verschiedenen Orte, von welchen aus Wärme und Kälte wirken; die erstere von der Peripherie, die letztere vom Zentrum aus. Nur an den Grenzen ihrer Berührung entwickelt sich der Weltprozefs in Werden und Vergehen, und es kann nicht geschehen, dafs beide Kräfte sich völlig ausgleichen und die Welt somit vernichtet würde. Die Welt ist von Gott so erschafiPen und eingerichtet, dafs sie sich selbst dauernd erhält

314 Telesio. Patbizzi.

nnd eines ferneren göttlichen Eingriffs nicht bedarf. Das ist die wichtige Lehre, durch welche Telesio der Welt ihr Be- stehen und der Naturwissenschaft ihre Möglichkeit garantiert Die Entstehung der Natur mag von der Philosophie nnteisnoht werden, die Physik soll nur den gegenwärtigen Bestand der Dinge ergründen. Dabei berücksichtigt Telesio nicht blois die Qualitäten der Dinge, sondern wesentlich ihre quantitativen Verhältnisse und unterscheidet sechs verschiedene Ghrade des Übergangs von der Dichtheit zur Dünnheit, durch welche die Naturerscheinungen erklärt werden sollen. Aber freilich mufste er hier bei allgemeinen Vermutungen stehen bleiben ; eu mais- gebenden Erklänmgen konnte er nicht fortschreiten.

Noch stärker als bei Telesio herrscht die dichterische Phantasie vor bei Pranciscus Pateitius (1529 1597).^ Auch für ihn gilt die ganze Welt als belebt. Denn G-eist und Körper hält er für so absolute Gegensätze, dais eine gegenseitige Einwirkung derselben unmöglich wäre, wenn nicht swisohen ihnen vermittelnde Grade vorhanden wären. Auf Grund dieser platonisierenden Ansicht nimmt er als Vermittler zwischen G^ist und Körper die Seele und das Licht an. Beide sind gewissermafsen unkörperlich und doch körperlich. Das erste Licht Gk>ttes ist unkörperlich, aber schon das Licht der Sonne und der Sterne ist zugleich geistig und körperlich. Licht und Wärme sind die Agentien, welche die Beschaffenheit und Wirkongsart der Körper bedingen. Aber die Körper bedürfen eu ihrem Bestehen noch zweier andrer Grundeigenschaften, nämlich Ausdehnung und Undurchdringlichkeit. Ausdehnung nach drei Dimensionen gibt ihnen der Saum, die Unduroh- dringlichkeit, d. h. den Widerstand (resistentia, antitypia) gibt ihnen das ßaumerfüllende, nämlich eine durch die ganze ITn* endlichkeit des Baumes ausgegossene, seit Beginn der Schöpfung existierende Flüssigkeit (fluor, humor primigenius). Eki sind also nicht die vier Elemente des Aristoteles, welche die Grundbestandteile der Welt bilden, sondern die vier Prinzipien: Eaum, Flüssigkeit, Licht und Wärme. Die Welt selbst ist zugleich endlich und unendlich, d. h. endlich in dem Sinne, dafs das Endliche im Unendlichen enthalten ist. Baum, Flüssig-

^ RiXNEB and Sebbb. H. 4. Bitter IX S. 576 £ Habhb, EkU. S. 819.

. Patruzi. Gilbert. S15

kaity Licht und Wärme sind unendlich, sie bilden die unend- liche, empyreische Welt; aber innerhalb derselben bildet der ätherische Himmel mit seinen verschiedenen Sphären eine innere Begrenzung der Unendlichkeit und umschliefst in seiner Wölbuzig die endliche Welt. Der Himmel ist der erste aller Körper und zugleich die erste der unkörperlichen Flammen, nach innen endlich, nach auTsen unendlich, wo sich der Äther erstreckt als ein ungeheurer Teil jener unendlichen ursprüng- lichen Flüssigkeit, von oben herab begabt mit Wärme imd geziert mit den zahllosen Flammen der Sterne.

In dieser Weise sagt sich Patbizzi zwar los von den über- lieferten kosmischen und physikalischen Vorstellungen, bricht mit Aristoteles und fördert dadurch eine Fortentwickelung der Wissenschaft; er selbst aber bringt keine thatsächliche Erkenntnis zu Tage. Für eine Erneuerung des Körperbegriffs mag immerhin seine Lehre von der Baumerfüllung durch eine undurchdringliche Flüssigkeit Bedeutung haben, insofern da- durch die Materie AktuaUtät und selbständige Existenz erhält. In bezeichnender Weise wird seine Philosophie durch das ur- teil EIeplers charakterisiert: „Wenn ich an Neuerungen Ge- fallen fände, so hätte ich wohl etwas den EünfäUen des Fraca- 8T0RIU8 oder Patritius ähnliches ersinnen können . . . aber noch finde ich so viel zu thun, die wahren Lehren anderer zu ver- stehen, oder auch das, was noch nicht allseitig sicher feststeht, zu verbessern, dals mir niemals Mufse bleibt, um mit neuen, den wahren entgegengesetzten Theorien zu spielen, die ich aus mir selbst zu erfinden hätte.^ >.

Gilbert.

Gegenüber den italienischen Phantasten steht als der erste wirkliche Physiker und zuverlässige methodische Experimentator, welchen die Geschichte der Physik vor Kepler und Galilei kennt, der Engländer William Gilbert, geboren zu Colchester 1540, seit 1573 als Arzt, später als Leibarzt der Königin Eusa-

^ Opera ed. Fxucb, VI p. 306, 307. Vgl. auch I p. 247. U p. 826. m p. 172.

316 W. Gilbert: Elemente.

BETH in London, wo er 1603 starb. Gilbert ist bekannt ak Begründer der Lehre vom Magnetismus nnd von der Elektrizität, welch letzterer er den Namen (vis electrica) gab.' Seine mn- fassende Experimentalnntersuchung über den Magneten mnis als epochemachend bezeichnet werden. Er wies nach, dafis die Erde ein Magnet mit zwei Polen sei und erklärte daraus die Liklination der Magnetnadel, deren Veränderlichkeit anf der Erdoberfläche er voraussagte. Bestätigt wurde diese An- gabe erst 5 Jahre nach Gilberts Tode durch Hudsons Beob- achtung in hoher Breite.^

Gilberts Stellung zu der Lehre von den Elementen und ihren Kräften verdient näher betrachtet zu werden.' Auch bei diesen Untersuchungen hält er sich frei von aller phantastischen Spekulation und begründet seine Behauptungen durch eine reiche Zahl von Beobachtungen, namentlich auf geographischem Gebiete. Er wendet sich gegen Aristoteles und Galsnus, so- wie gegen die Autorität überhaupt und bekämpft die vier tra- ditionellen Elemente. Hier erhebt er gegen Aristoteles den Vorwurf, dafs seine Ableitung der Elemente eine willkürliche sei. Denn da jener die Elemente durch Zusammenstellung von je zwei Eigenschaften deduziert, so gäbe dies vier Elemente nur in dem Falle, dafs beide Eigenschaften gleichmäfsig in dem betreffenden Elemente vertreten wären; indem aber Ari- stoteles stets eine der Eigenschaften dominieren lasse, föhre er eine Willkürlichkeit ein. "Wenn er das Feuer mit Betonung der erstgenannten Qualität warm und trocken, dieLufb feucht und warm, die Erde trocken und kalt, das Wasser kalt imd feucht nenne, so habe er damit die Eigenschaften willkürlich zusammengestellt; in derselben Weise könne man vier Ele- mente bestimmen, als. trocken imd warm, d. h. mit über-

^ De magneie magneticisque corparibus et de magno magnete ieUure Physiologia nova^ Londini 1600. Ich citiere nach der von Loohmakh besorgten Ausgabe (in 4<0 Sedini 1628.

* Vgl. PoGGBHDOBFF, Gesch, cL JPkys. S. 280. Bosembebgsb II S. 87 f. Hellbb, I S. 394 ff.

> Das Werk, welches hier namentlich in Betracht kommt, ist erst nach GiLBSBTS Tode durch Boswbll veröffentlicht worden: Guilielu Gilbbbti, De mundo nostro aublunari Philosophia nova. Opus postkimwm^ Ed. GüOi. Bos- wbll. Amstelodami 1651.

W. Gilbert: Elemente. Umwandlang. 317

ier Trockenheit, warm und feucht, kalt und trocken, feucht und kalt.^

Auch Gilbert rechnet das Feuer nicht mehr zu den Ele- menten und bedient sich dabei eines ganz ähnlichen Arguments wie Cardano; es bedürfe nämlich der Nahrung und beharre nicht an und fär sich selbständig in der Natur; es sei daher kein Element, sondern nur der höchste Grad der Wärme.' Auch bemerke man durchaus nicht, wie die Alchymisten fiSplsch- licher Weise wollen, bei der Zersetzung der Körper Feuer oder eine feurige Materie.' Der Luft spricht Gilbert die Eigen- schaft der Wärme ab, wie die Kälte auf hohen Bergen be- weise.^ Auch kann reine Luft nicht in Wasser verwandelt werden, sondern nur der warme und dickere Dunst (Vapor), der sich durch die Wirkung der Winde in Wolken zusammen- balle. Doch hat Gilbert hier noch nicht die Umwandlung von (atmosphärischer) Luft in Weiser vollständig aufgegeben, sondern erst einen bemerkenswerten Anfang zur richtigeren Auffassung der Aggregatzustände gemacht; er läfst nämlich den Vapor doch in Luft übergehen. Wasser kann allerdings in Lufl und Luft in Wasser verwandelt werden, aber niemals direkt, sondern stets nur durch Yermittelung des Yapors. Auch geschieht die Kondensation nicht infolge der Kälte, son- dern infolge der Feuchtigkeit.^ Die letztere, allerdings ein- seitige Bemerkung hört sich an, als läge ihr die richtige Be- obachtung zu Grunde, dafs aus trockener Luft durch Abkühlung kein Niederschlag erfolgen kann, sondern dafs die Gegenwart von Wasserdampf dazu notwendig ist. Jedoch kennt Gilbert die Unterscheidung von Luft und Wasserdampf als zweier verschiedenen Gase noch nicht, sondern die Feuchtigkeit ist ihm eine Eigenschaft der Luft überhaupt, nicht eine Folge der Beimengung von Wasserdampf. Der Vapor dagegen ist Wasserdunst, Nebel, und bildet das Bindeglied zwischen Wasser und feuchter Luft. Die Luft gilt Gilbert als eine durch die Wärme zu luftformigem Zustande verfeinerte Flüssigkeit

1 A. a. 0. p. 10. A. a. 0. p. 19.

' A. a. 0. p. 22. Adde, qaod in dissolutione mistorum (quicqoid delirent Alohymistae) nee ignis neo ignea materia speotatur. * A. a, 0. p. 24. » A. a. 0. p. 27.

318 Gilbert: Nor ein Element (Erde). Atmo^hSre.

(humor per calorem in spiritum attenaatus) und existiert nicht in Wahrheit und ursprünglich in der Natur, wie die Erde, sondern ist nur ein Ausflufs der Erde, humor in ampUarem naturam extensua et fusa 8t4bsianiia.^ Es gibt überhaupt nur ein Element, und das ist die Erde; sie allein liefert das stoffliche Substrat zu allem, und aus ihr gehen alle Flüssigkeiten hervor. Darum heilst es auch; ^Gott schuf im Anfang Himmel imd Erde", und nicht: „Die vier Elemente".*

Der Ansicht, dafs die Körper aus Atomen beständen, stimmt Gilbert nicht zu ; vielmehr sind Wasser und Luft sowie alle Körper kontintderlich und in allen ihren Teilen zusammen- hängend.' Auch entstehen die Körper nicht durch Mischung der Elemente, sondern entwickeln sich alle aus der Erde.^ Jedoch ist der gesamte Baum zwischen Erde und Mond nicht voll von Elementen, sondern nur einige Ausströmungen steigen bis zur Höhe von wenigen Meilen empor. An diese richtige Anschauung von der Atmosphäre knüpft Gilbert Berechnungen über die Mengenverhältnisse der Elemente an.

Gilbert nimmt also zwar keinen leeren Baum zwischen den einzelnen Teilchen der Materie, wohl aber einen solchen jenseits der Atmosphäre an. Der Baum über der Luft, welche die Erde umgibt, bis zum Monde, ist leer, und auch zwischen den Himmelskörpern, welche als kugelförmig zu denken sind, be- findet sich leerer Baum.^ Die Himmelskörper bewegen sich im Yacuum oder ruhen dort, wie die Fixsterne.^ Es w&re

* A. a. 0. p. 29.

' A. a. 0. p. 39. Elementum nos nullum agnoscimas praeter tellurem. sola tellus materiam omnem et hylaeum dat, in ctjgns peripheria succi ab ejus gremio coaoervantur, et aquae succis imbatae) nt maria. Ab ilUs sabti* liores excitantur, ex quibus fontes et flumina.

« A. a. 0. c. 16. p. 43.

^ A. a. 0. p. 46. Dies ist auch in De Magnete schon ausgesprochen, wo sowohl Wasser wie Luft als Emanationen aus der Erde bezeichnet werden, ygL 1. I c. 17 p. 42 u. 1. II c. 2. p. 53.

* A. a. 0. p. 65, 68.

" A. a. 0. p. 48. Gilbert unterscheidet (p. 51) um die Erde henun vier Begionen. Die erste nennt er Actus internus, hier herrscht die innere, der Erde zukommende Wärme. Darüber erstreckt sich der Actus fondens et excitans effluvia ab astrorum lumine; über diesem der actus diminutna, delin- quens, fusa effluvia, tenuia, frigida. Alles wird um&üst von dem Vacanm separatum, das ist nullum corpus, nullus actus, nulla renitentia, priTatio.

Qilbbbt: Yacnum. Wärme. Schwere. 319

sonst auch nicht zu erklären, dafs die Sonnenstrahlen auf Erde und Mond dringen und die Himmelskörper sich frei bewegen können.^ Durch den leeren Baum gelangen die Lichtstrahlen ohne Zeit zu gebrauchen, dagegen geht die Fortpflanzung des Lichtes durch die Lufb und durchsichtige Körper in der Zeit ▼or sich.' Wäre der Baum zwischen Erde und Mond ganz Ton Elementen erfüllt, so müTste man auf denselben den Schattenkegel der Erde projiziert sehen. Auch die Kometen erfordern tOx ihre Bewegung ein Vacuum.' Durch die An- nahme des Vacuums erledigt sich zugleich die Kontroverse über die Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt, da das Yacuum weder als endlich noch als unendlich angesehen werden kann.^

Die Wärme ist keine Eigenschaft, sondern ein Actus, und zwar der Actus der verfeinerten Flüssigkeit, etwa als ein sehr feiner aber körperlicher Äther vorzustellen. Die Kälte ist nichts als das Fehlen der Wärme; kalte Körper wirken abkühlend nur dadurch, dafs sie die Wärme dem menschlichen Körper ent- ziehen. Auch das Yacuum ist wegen des Fehlens der Wärme kalt zu denken.'^

Aufser dieser Polemik gegen die aristotelische Physik, in welcher sich überall das fortgeschrittene Wissen des exakten Beobachters dokumentiert, zeichnet sich Gilbert noch besonders durch seine Auffassung von der Ursache der Schwere aus. Von der Erde stammt ja alles Lrdische ; daher behalten die Kör- per auch eine Neigung zu diesem ihrem Ursprünge hin; was von der Erde ausgegangen, strebt wieder zur Erde. Nicht nach einem bestimmten Orte oder einer bestimmten Lage in der Welt gravitieren die Körper, sondern die Teile der Welt- kugeln streben nach ihren eigenen Massen und werden von ihnen angezogen; und das gilt nicht nur von der Erde, sondern auch von den übrigen in der Welt existierenden Himmelskörpern. Es ist dies der Zug des Körpers zum Körper, der Teile zum Ganzen, der Bruchstücke zu ihrer eigenen Kugel, nicht zu dem räumlichen Orte dieser Kugel. Und die Bewe- gimg ist um so stärker imd heftiger, je enger und dichter die

* A. a. 0. p. 72. » A. a. 0. p. 53. ' A. a. 0. p. 65, 66. * A. a. 0. p. 72. » A. a. 0. p. 79, 83, 86, 88, 90 f., 92, 95. .

320 Gilbert: EinwirkuDg daroh Etflayien«

Verbindung des Stoffes war, je mehr die kleinsten Teilchen miteinander vereint waren. ^ Dafs die leichteren Körper in die Höhe steigen, ist nicht ein spontanes Streben derselben, son- nur der Auftrieb von Seiten der dichteren, sie umgebenden Kör- per, wie im Wasser, so auch in der Luft.*

Hier sehen wir also zuerst bei Gilbert eine deutliche Ahnung von der allgemeinen Gravitation der Körper. Zwar ist dieselbe noch so beschränkt, dafs sie nur Geltung haben soll für die Teile ein imd desselben Weltkörpers, aber sie ist doch schon als eine Eigenschaft der Teile der Materie selbst gefafst. Es handelt sich indessen immer nur um eine Neigung der abgetrennten Teile nach ihrem Ursprünge. Im übrigen erkennt Gilbert keine andre Einwirkung der Körper aufein- ander an, als die durch Berührung, und führt daher die Wir- kungen auf Effluvien zurück. Auch die Anziehung, welche es nur bei magnetischen und elektrischen Körpern gibt, be- ruht auf besonderen feinen, flüssigen Effluvien; Humor ist das vereinigende Band edler Dinge.^ Nirgends aber gibt es auf „Ähnlichkeit^ oder „Verwandtschaft^ beruhende Anlockungen. „Die Eigentümlichkeiten und Freundschaften der Substanzen sind viel zu allgemeine, um als wahre Ursachen bezeichnet zu werden; Worte, die zwar tönen, aber sachlich im besondren nichts aufzeigen.^^ Gilbert, der sich übrigens auch der An- sicht des COPPEBNIKUS von der Bewegung der Erde angeschlossen hat, steht bereits an der Spitze einer neuen Entwickalung der

^ A. a. 0. p. 47. Est igitur gravitas corponun inclinatio ad suom principiuxn, a tellure quae egressa sunt ad tellarem. Levitas yero incitatio a suo principio, vel humoris solventis ratione, yel circumfusi corporis attolentis. A. a. 0. p. 59. Est igitur corporum ad commune prinoipium, seu ad suüm globum, inclinatio ad unitatem, non incitatio ad locum aliquem aut mnndi positionem ; globorum partes ad moles proprias inclinant et ab illis alliciantar, non tantum telluris, sed aliorum etiam in mundo ezistentiam. Est ista corporis ad corpus propensio» partium ad totum, fragmentomm ad globum proprium» non ad globorum loca.*) Et feruntur fortius et yehementias, in quibus materia concreta angustior et arctior et per minima coadunata ait Vgl. De magnete, 1. VI c. 5. p. 222.

*) Eine ähalf che Äufternng bereits bei Coppbrnikus (8. 5. Buch, 0. Absehn.), Dt rtmit. orb. coel. 1. I, c. 9. p. 7.

' A. a. 0. p. 60. S. auch vor. Anm. ' De magneUy 1. II c. 2. p. 59. ^ De magnetef 1. II c. 2. p. 52,

W. Gilbert. ForUchritt der Elementenlehre. 321

Physik. Wenige Jahre nach seinem Tode wurde der Beweis geliefert für die lUchtigkeit der coppernikanischen Hypothese, von welcher die Mehrzahl der vorgeschrittenen Geister bereits überzeugt war.

In dem Streit über die Natur der Elemente steht Gilbert neben nicht wenigen andern Physikern in der Beihe derer, welche darin übereinkommen, dafs sie, wie schon Pabacelsus that, alle das Feuer aus der Zahl der Elemente ausschlössen. Der zu Grrunde liegende Gedanke ist dabei, dais Elemente Körper sind, welchen selbständige Erhaltung zukommt, während das Feuer der Nahrung bedarf. Die stoffliche Bedeutung des Feuers wird zwar damit nicht aufgehoben, aber seine Existenz wird doch von dem Yorsichgehen eines Prozesses abhängig gemacht. Die Auffassung' der Wärme als Bewegung tritt immer deutlicher hervor. Bei Gilbert aber zeigt sich ein neuer Fortschritt, durch welchen die aristotelische Physik ihren erschütterndsten Schlag erleiden sollte. Die Vermutungen über die Zahl der Elemente, die Annahme neuer Elemente, der Ausschlufs bisher dafär gehaltener, die Abänderung der Eigenschaften das alles rüttelte nur an dem festen Bau des Systems. Aber die Ghmndsäulen mufsten brechen, wenn der Unterschied zwischen der elementarischen und ätherischen, zwischen der sublunaren und himmlischen Welt überhaupt aufgehoben wurde. Auf diesen Unterschied stützte Aristoteles die Deduktion der Elemente und der Kräfte, welche auf sie wirkten. Auch hatten die italienischen Naturphilosophen diesen Unterschied noch bei- behalten; die Wärme des Himmels stand der kalten Erde ent- weder feindlich oder doch fremd gegenüber, und wenngleich jene die Schranken der festen Elristallsphären zu entfernen sachten, so richteten sie dafür andre auf, und die Erde blieb in ihrer zentralen Stellung, der Himmel als das Höhere, Über- geordnete, Lebenspendende von ihr getrennt. Bei Gilbert tritt hier ein Wechsel ein. Nach ihm ist jenseits der Atmosphäre der kalte, leere Weltraum, in welchem sich die Himmelskörper als selbständige Kugeln bewegen. Das war ein grofser und wichtiger Schritt ; eine Folge der Theorie des Coppernicus. Noch fehlte für diese der zwingende Beweis. Dieser letzte Stofs gegen Aristoteles kam von seiten der Astronomie.

LaftwlU. 21

322 ^ie Epicykeltheorie.

6. Der Fortschritt der Astronomie.

An dieser Stelle, wo zum erstenmale das coppemikanische System seine Wirkung auch in speziellen physikalisclien Fragen geltend macht, ist es angezeigt, einen Blick auf den Stand der Astronomie zu werfen. Die Entwickelung der hierher gehörigen Lehren muls als aus der Geschichte der Astronomie bekannt vorausgesetzt werden; wir haben nur daran zu erinnern.

Die Erklärung der Planetenbewegungen durch konzentrische Sphären, wie sie von Eüdoxus und Aristoteles* gegeben worden war, erforderte für jeden Planeten mehrere Sphären, um die Yer- mittelung der Bewegung von dem primum mobile der äulkersten Sphäre her begreiflich zu machen, und führte daher zur Annahme einer sehr grofsen Zahl von Sphären. Trotzdem vermochte diese Theorie schon den Fortschritten der Astronomie im Altertum nicht mehr zu genügen, und die alexandrinischen Gelehrten beschränkten sich deshalb darauf, die Theorie der Epicyklen rein geometrisch auszubilden, ohne auf die physi- sche Ursache der Planetenbewegung Bücksicht zu nehmen. Infolgedessen stand das mathematische System des Ptolebüos dem physischen des Aristoteles unvermittelt gegenüber, und es ergab sich ein ganz analoges Verhältnis wie in der heutigen Astronomie, in welcher zwar die mathematische Formel Nbwtoks die Wirkungen der Gravitation mit Sicherheit berechnen läXst, die Ursache der Gravitation aber ein vorläufig noch ungelöstes Rätsel bleibt. Den Gegensatz zwischen Physik und Astro- nomie, aristotelischem und ptolemäischem Systeme auszugleichen, unternahm der deutsche Astronom Georg Peurbach oder Pur- bach (1423—1461), indem er jedem Planeten eine Sphäre von solcher Dicke gab, dafs der exzentrische Kreis nebst dem Epi- cykel zwischen ihrer äufseren und inneren Oberfläche Batun hatte.* Peurbach und sein noch berühmterer Schüler Johann Müller von Königsberg in Franken, genannt Eegiomontanus (1436 1476), waren hochverdiente Förderer der Astronomie, indem sie den Almagest genauer kennen lehrten und von

^ Vgl. R. Wolf, Gesch, d. Astr. S. 38 f. ' Apelt, Befonn, d. Stemk. S. 33.

COPPEBKIKUS. EXPLBR. GaLILEL 32S

Fehlem reinigten, sowie für neue trigonometrisclie und astro- nomische Tafebi Sorge trugen.

Je weiter die Astronomie in Beobachtung und Bechnung fortschritt, um so deutlicher zeigte sich die Unzulänglichkeit der ptolemäischen Epicykeltheorie. Diese Überzeugung ver- anlafste Nicolaüs Coppbrniküs (1473—1543) seine weltum- wälzende Theorie aufzustellen, nach welcher die Sonne ruht, die Erde aber samt den Planeten sich um dieselbe bewegt.^ Der Mond bewegt sich um die Erde, die Erde selbst dreht sich um ihre Axe, und diese Axe bleibt in ihrer Lage sich selbst parallel, was Coppernieus durch eine besondere konische Drehung derselben erklären zu müssen glaubte.

Die notwendige Folge der allmählichen Verbreitung dieser Lehre* war der Sturz des aristotelischen Systems. Um aber diesen Umsturz zu einem irreparablen zu machen, muTsten erst unumstöfsliche Gründe für die lUchtigkeit des Systems beige- bracht werden. Diese weltbefreiende That leisteten Kepler und Galilei. Durch ihre Entdeckungen wurde sowohl das ptolemäische Weltsystem als auch dasjenige des durch seine genauen Beobachtungen so hoch verdienten dänischen Astro- nomen Tycho Brahe (1646 1601), welches einige Zeit hindurch dem coppemikanischen bedenkliche Konkurrenz machte, de- finitiv gestürzt.

Johann Kepler (1571 1630) entdeckte die wahren Bahnen der Planeten. Die beiden ersten Gesetze, dafs die Bahnen der Planeten Ellipsen seien, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht, und dafs die von den Leitstrahlen beschriebenen Sek- toren sich wie die zugehörigen Zeiten verhalten,' fand er 1609, das dritte, wonach sich die Quadrate der ümlaufszeiten zweier Planeten wie die Kuben der groüsen Axen verhalten,* 1618.

Galileo Galilei (1664 1642) richtete das von ihm ver- besserte Femrohr auf den Himmel, dessen Veränderlichkeit er bereits durch seine Untersuchung über den im Schlangenträger

^ Nicolai Copsrnici Torinensis de recoluiionibu8 orbium coeUatiumy Ubri VI, Norimbergae apad Joh. Pbtbsiux, Anno MDXLIII. Vgl. Pbowe, Coppemicua.

' Man vgl. darüber u. a. Apelt, a. a. 0. Wolf, Gesch. d, Ästr. S. 221 ff.

' Astronomia nora, Pragae 1609. Die Werke Keplers nach der Gesamt- ausgabe von Frisch, Frankfurt 1858 71.

* Harmonices Mundi libri F. Opera Tom. 5.

21*

324 Galilei und das coppemikanisohe System.

1604 neu erschienenen Stern nachgewiesen hatte. Jetzt zeigte er alles das sichtbar am Himmel, was die Theorie des Coppsr- NiKUS verlangte,^ die Lichtphasen der Venus, die Ähnlichkeit des Mondes mit der Erde, die Monde des Jupiter eine un- leugbare Analogie zu unsrem terrestrischen Systeme , end- lich viele neue Sterne und selbst die Botation der Sonne. Das waren unwiderlegliche Beweise, so sehr auch die Anhänger des Aristoteles gegen ihre Anerkennung sich sträubten.' In seinem Dialogo . . . sopra i due Massimi Sistemi dd Mando Tole- niaico e Copemicano (1632) liefs er die gesamte Wucht der Gründe, wenn auch in verschleierter Form, gegen das ptole- mäische und für das coppemikanisohe System wirken. Es ist bekannt, wie sich die Kirche einmischte und Galilei zum Widerrufe zwang. Die Feindschaft der Kirche hinderte freilich die öffentUche, nicht die heimliche Anerkennung des copper- nikanischen Systems in den ihrem Einflüsse unterworfenen Ländern. Die Wirkung der coppemikanischen Lehre war zu verzögern, nicht mehr aufzuheben ; sie trat, auf imwiderlegUche Gründe gestützt, mit aller Macht in die Entwickelung der Wissenschaften ein. Aus der scheinbaren ünbeweglichkeit der Fixsterne folgte ihre unmefsbar grosse Entfernung ; das Kristall- gewölbe des Himmels öflEhete sich zur Unendlichkeit, die Erde wurde ein Planet unter Planeten, die Sonne ein Stern unter Sternen, wie es Bruno geahnt. Die Menschen verloren ihre Stellung im Mittelpunkte der Welt, die Sphärengeister ihre Macht über den Mikrokosmos. Die gesamte Physik des Ari- stoteles, welche sich auf den Unterschied der sublunaren und coelestischen Welt, die Buhe der Erde und die Beeinflussung des Lebens durch die Bewegung der Sphären stützte, war durch die veränderten BoUen der Erde und des Himmels bedroht ; der ganze künstliche Bau der Scholastik fiel rettungslos in Trümmer.

6. Neuerungen in der Lehre von den Elementen.

Von den einzelnen physikalischen Lehren des Aristoteles war es die Ableitung der \'ier Elemente aus den ihnen zu-

^ Nuncius SidereiiSj Venet. 1610.

' Vgl. hierüber besonders Karl y. Gebler, Galileo Galilei und die römi- sche Kurie, Stuttgart 1876. S. 32 ff.

Neuerangen in d. Elementenlehre. Vebro. 325

kommenden Bewegungen, welche am engsten mit der Buhe der Erde im Zentrum zusammenhing. Es ist daher natürlich, dalSs die Diskussion über die astronomische Frage die bereits erschütterte Elementenlehre in neue Gärung versetzte. Dazu kam das Bestreben, auch die Ansichten andrer Philosophen des Altertums neben Aristoteles gelten zu lassen, wobei solche Theorien den Vorzug der Beachtung hatten, welche sich am nächsten mit der aristotelischen Physik berührten. Hier gab Galen Anregung, den Begriff des Elementes zu verändern, in- dem derselbe (vgl. 8. 233) ein Element „den kleinsten Teil" eines Körpers nannte und somit nicht bloüs in qualitativer, sondern auch in quantitativer Beziehimg das Element als Grenze der Zerlegung auffafste. Zugleich betonte er die Ansicht der Stoiker, dafs die Luft nicht warm, sondern kalt sei. Diese An- sichten treten von nun ab bei den Physikern merklich hervor. Es blieb auch nicht ohne Einflufs, dafs JusTüS Lipsiüs (1547 1606, erste Ausgabe seiner Werke 1585) und andre Gelehrte für die Ver- breitung und Beachtung der stoischen Lehren lebhaft thätig waren. Mit dem Ende des 16. und Beginn des 17. Jahrhunderts macht sich eine freiere Auffassung von der Natur der Ele- mente geltend, insofern selbst diejenigen, welche im allgemeinen noch an der aristotelischen Physik hängen, doch in dieser Frage zuerst abzuweichen wagen. Es bildet sich eine Art von Eklekticismus aus, bei welchem die Physiker sich vorbehalten, nicht imbedingt auf die Worte des Meisters zu schwören, son- dern auch selbst zu prüfen und aus verschiedenen Systemen das herauszugreifen, was ihnen annehmbar erscheint. Ins- besondere wird das Feuer nicht mehr als Element gerechnet.^ So erklärt der Schweizer Sebastian Verro, welcher ebenfalls nur drei Elemente, Erde, Wasser, Luft, die sich ineinander ver- wandeln, annimmt, das Feuer für kein Element und spricht der Luft die Eigenschaft der Wärme ab ; sie sei k a 1 1 und feucht. -

^ S. o. S. 321. Die Entwiokelung der Umformungen in der Elementenlehre habe ich, jedoch ohne Berücksichtigung von Gorlaeüs, bereits 1882 gegeben. {Die Lehre v. d. El während des Übergangs v. d, schol Fhys, zur Korpus- hularthearie, Gymn.-Progr. Gotha), worauf die Darstellung bei Heller (Gesch. d. Phy«. n S. 854 ff.) beruht.

' Sebast. Verronis, Friburgensis Helvetii Physicorum libri decem. Basil. 1581. 8. L 8. c. 4. p. 97. 1. 4. c. 10. p. 114.

826 Elementeolehre : Bodin.

Eine andre Auffassung über die Lufb findet sioli bei dem als Verteidiger der Toleranz bekannten Jban Bodin (1530 1596 oder 1597), welcher noch weiterhin als Vertreter atomistischer Ansichten zu nennen sein wird. Bodin lehrt, dafs die Luft nicht warm und feucht, sondern im G-egenteil trocken nnd sehr kalt, das kälteste der Elemente sei, indem er sich dabei ausdrücklich auf Galsn und die Stoiker beruft. Die Vierzahl der Elemente behält er bei; aber da jedem Elemente eine Eigenschaft im höchsten Grade zukäme, der Erde die Trockenheit, dem Feuer die Hitze, dem Wasser die Feuchtig- keit, so bleibe nur übrig, dafs die Luft das kälteste Element sei.^ Dies wird auch durch Erfahrungsgründe zu stützen ver- sucht. Von diesen vier Eigenschaften haben zwei, nämlich Wärme und Feuchtigkeit, die Eigentümlichkeit, dafs sie den- jenigen Elementen, welchen sie im höchsten Grade zukommen, zugleich wesentUch sind; Feuer und Wasser würden auf- hören zu existieren, wenn sie ihre Wärme und Feuchtigkeit verlören. Der Luft dagegen schadet der Verlust der Kälte nichts, und die Erde wird sogar durch Verlust der Trocken- heit fruchtbarer. Von der Wärme unterscheidet sich die Feuchtigkeit noch besonders dadurch, dafs sie nicht blois wie diese eine Eigenschaft der Körper ist, sondern eine körper- liche Substanz, welche das Gewicht der Körper vermehrt und ihre räumliche Ausdehnung vergröfsert ; sie ist nichts Ab- straktes, sondern etwas Konkretes.'

Durch diese Unterscheidung fuhrt Bodin einen andren Begriff imter dem Namen humidum ein, als die aristotelische Definition von v/q6p besagt. Nach Abistotbles ' heilst „flüssig^ dasjenige, was durch eine ihm selbst eigene Grenze nicht ab- gegrenzt werden kann, während es durch andres leicht be- grenzbar ist. Der Gegensatz dazu ist das Trockene; letzteres aber hat allerdings noch einen zweiten Gegensatz, das Nasse (dicQop), das Aristoteles als dasjenige definiert, „was eine fremde Flüssigkeit an seiner Oberfläche hat.^^ Diese zweite Eigenschaft, oder vielmehr die Fähigkeit, sie hervorzubringen.

^ JoAK. BoDiNüs, üniversae naturae iheatruim, HanoTiae 1606. Die Vor- rede ist vom 25. Febr. 1596 datiert. Lib. 2. p. 155--157.

' A. a. 0. p. 182. « De gen. II, 2. p. 329b. * A. a. 0. p. SdOa.

Bodik: Homidität u. Fluidität. Bösuv. 327

d. h, die Eigenschaft des Wassers, Körper nafs zu inaclien, an ihnen zu haften, poröse Stoffe zn durchdringen und zu durch- feuchten, diese Eigenschaft der Kohäsion und Adhäsion, welche wir unter dem Namen der Tropfbarkeit zusammenfassen, begreift hier Bodin unter dem Namen humiditas und gewinnt dadurch einen Begriff, der allerdings der Luft nicht zukommt. Die Luft steht vielmehr durch ihre Leichtigkeit und Dünnheit dem Feuer am nächsten,^ sie besitzt nichts von jener „nafs- machenden^ Eigenschaft, und daher nennt Bodin sie trocken. So wenig klar auch Bodin bei der Diskussion dieser Eigen- schafben verfährt, so mufs doch diese Trennung der Begriffe Feuchtigkeit (Tropfbarkeit) und Flüssigkeit (Fluidität, Plasti- cität) als bemerkenswert hervorgehoben werden. Es werden dadurch zwei Eigenschaften des Wassers getrennt, nämUch seine Kapillarität von welcher ja die Benässung abhängt und seine Fluidität, die Folge der leichten Verschiebbarkeit seiner Teile. Mit dieser Klärung physikalischer Eigenschaften der Kdrper, welche von nun ab in der Physik weiterwirkt (vgl. Kepler und Gorlaeus), ist ein wichtiger Schritt gethan. Denn erst jetzt wird es möglich, den Begriff der nicht-tropf- baren Flüssigkeit, des Gases, das nur die Eigenschaft der Fluidität besitzt, zu bilden. Man sieht, wie von allen Seiten die Physiker darnach ringen, den für die Fortentwicke- hmg der Physik unentbehrlichen Begriff des Gases zu ge- winnen, ohne ihn doch klar erfassen zu können.

Feuer als viertes Element und Wärme und Feuchtigkeit als Eigenschaften der Luft verwarf auch Helisaeus BOslin (1544 1616), „Pfalzgräfischer und Hanauischer Leibarzt", wie aus der Antwort Keplers auf BOslins Buch j^Discurs von heutiger Zeit Beschaffenheit"" hervorgeht.*

Während Bodin durch seine Erörterung des Begriffs „Flüssigkeit" produktiv in die Elementenfrage eingreift, ver- hält sich Kepler nur rezeptiv, aber doch bleibt es von grofsem Interesse zu sehen, wie ein Mann von der Bedeutung Keplers den Theorien seiner Zeit gegenüberstand.*

^ BoDiv ft. a. 0. p. 155.

* Keplers Antwort etc. Prag 1609 Opera ed. Frisch T. I. p. 541, 542.

* Von Kepler wird noch gehaDdelt S. 354 sowie im Anfang des 4. Bncbs ond besonders 5. Buch, 6. Abschn.

328 Kepler über die Elemente.

Kepler spicht sich über die Lehre von den Elementen zurückhaltend aus, weil sie in ein ihm fremderes Gebiet, die Chemie fallt ;^ im ganzen folgt er in diesen Fragen dem Car- DANO, zeigt sich aber auch von der alchymistischen Theorie ein wenig beeinflufst. Alle materiellen Dinge hält er an und für sich für actu et poientia kalt, tot und schwer, und zwar sind diese Eigenschaften der Menge der Materie proportioniert,

^ Antwort Jo. Keppleri auf D. Hdisaei BöaUni etc. Prag 1609. Op. ed. Frisch I p. 501 ff. Ich setze die Stelle, auf welche das Folgende sich bezieht hierher (Op. I p. 541): „Ich halt dasjenige Fewer für das vierte Element, das mich brennet, es sey anff dem Hert, im Ofen, oder vnder der Erden: dann es ist ein Simplex corpus, differens ab aere, aqua et Terra. Kann aber danunb nit sagen, das es ein sollich Element sey, darraus andere Corpora, als Thier und Ereutt^r, quatenus corpora, gemacht seind. Dann die Werm in denselben ist nit jrer Körper aigen, sondern von jrer Seel, die da erhelt das Leben im Leib. Es ist zwar auch das Leben selber im Hertzen wie ein Few^r zu rechnen, wie ich in meiner Optica angezeigt: gehört aber nit zu der Substanz des Hertzens, sondern verzehret dieselbige endlich, sowol als das gemeine Föwer alle Corpora zu Aschen macht. Vnd ob ich mich wol noch nie resolvirt, alweil ich kein Chymicus bin, so wil mich doch geduncken, das Fewer sei materialiter nichts anders, dann der Schwebel, sulphur in motu oonstitutam: sulphur aber ist ein Werck, opus, der Seelen im Leib, wie das Blut. Were also das Fewer formaliter ein acoidens. Hingegen so bedenck ich, das dafs Fewer ein Himmlisches accidens des Liechtes an sich neme, gedencke derowegen. Ob es materiahter der Sonnen verwandt, vnd derowegen eine jeue Seel im Leib etwas Himmlisches aushecke, wie die Sonn in der grolsen Welt ist.*'

.... „Für meine Person halt ich alle vnd jede materialische Sachen, so fem sie von keiner Seel informiert oder ausgeheckt sind, actu et potentia kalt, tod vnd schwer, daraus folgt, das wo der Materien mehr (als nemblich in der Erden, darnach im Wasser), das an und für sich selbst alda auch der Kelte mehr, vnd also die lufft nit für sich selbst kelter sey dan die Erd, sondern propter motum, durch wellichen sie auch stäroker wird dann ein Baum, da sie doch sonst weichet."

D. Höslin: „Die Feuchte ist im Wasser und nit in der Lufft, wie Kepplerus will."

Keppler: „Abermal red ich ex sententia Aristotelis, wie es mein fürhaben [nämlich bei den astrologischen Bemerkungen in der Schrift „De nova Stella in pede Serpentarii,*' auf welche sich Eöslins Entgegnung bezieht] mitbringt. Sonsten weifs ich das Bodiküs wol distinguirt inter fluiditatem (das ist Aristoteli definitio suae humiditatis, vnd bleibt der lufft) und inter humiditatem (die da bestehet iu einer zächheit des Fliefsenden, das es anhange und die porös be* schliefse oder eindringe, und innen anhange, vnd das bleibt dem Wasser); beides wird definirt per moUitiem: bleibt also der Erden negatio utriusque, nemlich die härte oder trückne non fluida nee viscida."

Elementenlehre: Kepler. Flüdd. 329

80 dafs die Erde kälter ist als die Luft ; letztere wirkt nur ab- kühlender durch ihre Bewegung. Wärme, Thätigkeit, Be- wegung und Leben bekommen alle Dinge erst durch die Seele, den Spiritus, welcher sie durchdringt.^ Aufser dem allgemeinen ätherischen Spiritus hat noch die Erde ihren eigenen Lebens- geisty welcher die innere geologische Thätigkeit, Wärme, Me- tallerzeugung, Quellenbereitung a. s. w. veranlafst und bewirkt. Die Wärme in den Körpern ist daher keine elementarische, sondern eine Wirkung der Seele, welche auf die körperlichen -Substanzen, wie die des Herzens, allmählich verzehrend ein- wirkt. Das materielle Feuer ist in Bewegung begriffener Sulfur, Sulfur ist aber selbst ein Werk der Seele, wie das Blut; und darum ist das materielle Feuer, das da im Ofen brennt, obwohl es wie die drei übrigen Elemente ein ein- facher Körper ist, doch von ihnen verschieden, insofern es nicht zur Zusammensetzung der Körper dient, sondern eher fär ein himmlisches Accidens gehalten werden könnte, das der Sonne verwandt ist. Jedenfalls wäre es grundfalsch, eine Feuersphäre anzunehmen; zwischen Himmel und Erde gibt es kein Feuer; „dann ich Cardano vor vilen Jahren hierinnen beygefaDen".

Während sich Kepler hier über die Natur des Feuers noch einigermalsen unsicher ausspricht, schliefst er dasselbe in einer späteren Schrift gegen Flüdd mit voller Entschiedenheit aus der Zahl der Elemente aus, weil aus demselben nichts ent- steht, sondern weil es nur verzehrt. Diese Neuerung rühre nicht von ihm (Kepler) her, sondern schon Cardanüs und viele andre haben die Vierzahl der Elemente geleugnet.*

Von dem eben erwähnten Engländer Eobert Flüdd (De Pluctibüs) (1574 1637), welchen aufser Kepler auch Gassendi und Mersenne energisch zurechtgewiesen haben, ist hier nur 2u erwähnen, dals er zur paracelsischen Schule gehört und in höchst phantastischer Weise spekuliert hat. Das bedeutende Aufsehen, welches seine Werke gemacht haben, verdanken sie wohl zum gröfsten Teile ihrem Reichtum an absonderlichen

* Op, I, p. 542.

* Jo. Kepleri Math, pro suo Opere Harmonices Mundi Apologia Francof. 1622, Op. ed. Frisch Tom. V. p. 455.

330 Elementenlebre: N. Cabpentariüb. Bakahzavo.

Ulustrationen. In seiner Historia Macrocosmi^ gibt er eine phantastische Beschreibung der Weltschöpfong und des Weltauf baus, in dem Integrum Morborum mysterium^ laust er, veranlafst durch die Beobachtung eines Thermoskops, alle Veränderungen in der Welt aus Verdichtung und Verdünnung erfolgen. Er ist ein Gegner der Bewegung der Erde und polemisiert gegen Coppernikus und dessen Anhänger.^

Die Ausfuhrungen seines Landsmanns Nathanabl Cabpen- TARius (t 1628) sind zwar durchaus aristotelesfeindlich, gehen aber über die damals gebräuchlichen paradoxen Übungen dialek- tischen Charakters kaum hinaus.^ Der nominalistische Grund- satz, dafs die Wesenheiten (Entia) nicht ohne Notwendig- keit zu vervielfachen sind, gilt ihm als der sicherste von allen; ^ er nimmt daher nur zwei Gattungen von solchen an, Substanz und Qualität.^ Schwierigkeiten, welche er im Begriff der Ver- änderung findet, führen ihn auf die Behauptung, dafs alles aus nichts entstehe.^ Das Feuer erklärt er für feucht (humi- dus), weil sich nicht nachweisen lasse, dafs es trocken sei;* es sei von sulphurischem, nicht von merkurialischem Humor \^ der Unterschied zwischen humidus und fluidus tritt nicht hervor. Von Wichtigkeit sind jedoch zwei seiner Lehren. Carpentabiüb erklärt erstens alle Elemente für schwer,*® und zweitens lehrt er die Existenz eines Vacuums, weil es Verdichtung gibt. Cmtdensatio ist das Zusammendrängen der materiellen Teile eines Körpers auf einen engeren Ort.**

Ln Anschlufs an Telesio und Patrizzi wird Bedemptus Baranzano aus Serravalle bei Vercelli in Piemont (1590— 1622) als Erneuerer der Physik gerühmt.**

^ ütriusque Cosmi nißjoris seil, et minaris, Metaphysica, physica atque technica Historia, T. I, De macrocosmi Historia. Oppenheimii 1617. Fol.

' Francof. 1631. Vgl. besondera cap. 5, p. 17 f.

' De macrocosm, 1. V, c. 15. T. I, p. 153. De Copemici et Güberti errore diumae terrae revolutionem asservantium.

* Philosophia libera^ triplici exercitoHonum Decade proposita, in qaa adv. huj. temporis Philotopbos dogmata qaaedam nova ditcutiantur. Ed. seconda, una Decade auotior et emeDdatior. OxoDiae 1622. Die erste Auflage enohien nach Angabe des Praefatio ein Jahr vorher (1621).

* Dec. I. Exerc. 1. p. 2. I, 1. p. 34. M, 4. p. 76 I, 7. p. 89 f. - I, 7. p. 117. - "" I, 3. p. 48. - " n, 7 p. 189.

^* Seine Schriften waren mir nicht zugänglich. Die wichtigeren sind: üranoscopia, seu de codo, Genev. 1617. 4^ - Novae Opiniones Fhysieae.

Elementenlebre. Übergänge. 331

Dafs alle Körper schwer sind, auch das Feuer, und dafs Erde nicht das schwerste Element sein könne, hatte unter Berücksichtigung des relativen (hydrostatischen) und absoluten Gewichts schon frühzeitig Galilei in seinen ersten Manu- skripten gegen Abistoteles behauptet und verteidigt.^

Die genannten naturphilosophischen Beformatoren, denen sich noch andre Namen, insbesondere aus der Zahl der Arzte, beif&gen lielsen, vereinigen sich alle in dem Bestreben» über das Wesen der Materie, des Substrates der Veränderungen in der Natur, Haltbareres zu bieten als die Lehren des Aristo. TKLSS. Ein weiterer Fortschritt, der zur Korpuskulartheorie hinüberleitet, tritt aber erst auf, wenn auch das von diesen Physikern noch festgehaltene Dogma von der wechselseitigen Umwandlung der Elemente ineinander aufgegeben wird. Noch immer schweben die substanziellen Formen als zweckbestimmende Wesen über der Materie, wenn sie auch in dem Begriffe der sich selbst entwickelnden Lebensthätigkeit ihr näher gerückt sind. Der greifbare Halt, an welchem die Stoffe selbst als Gegenstände der Erforschung zu fassen sind, ist noch nicht aufgedeckt; die Eigenschaften verschwimmen ineinander; die Veränderlichkeit der Dinge ist noch nicht in ein Verhältnis zum Baume und zur Quantität gebracht. Daher können die Denkmittel der Variabilität und Substanzialität noch nicht von der mechanischen Kausalität ergänzt werden.

Lngd. 1619. Campus phüoifophicus. Lugd. 1620. Vgl Niceron III p. 43— -51. Daaelbst p. 45 ff. ein Brief Bacons an Baranzano vom Juni 1622. Bayle, Diet Ariicle Baranzan, 1 p. 440. Bbücker V p. 615. Poogendorff, Hand- w&rt. I, 97.

^ Alcuni scrüH inediti dt GaUUoGalilei tratti dai manoscritti della biblioteca woKumaU di Fireme pubblicati ed ülustraH da Antonio Favaro. Roma 1884. Vgl. p. 29. p. 55 ff. p. 96 ff.

332 Unverwandelbarkeit der Elemente.

Dritter Abschnitt.

Die Unverwandelbarkeit der Elemente.

1. Oorlaeus und d'Espagnet.

Die Untersuchungen über die Natur der Elemente treten in ein neues Stadium, sobald sie von dem Streite über die Zahl und Eigenschaften und ihre gegenseitige Einwirkung zu der Erkenntnis fortschreiten, dafs die Elemente nicht inein- ander verwandelbar sind. Diese Auffassung, welche durch die alchymistischen Grundsubstanzen vorbereitet war, ist ein wichtiger Schritt zur Korpuskulartheorie und damit zur Fundamentierung der modernen Naturwissenschaft. Denn durch sie wird der verschwommene Begriff formbestimmender Eigenschaften ersetzt durch den klareren der unveränder- lichen Substanz, und die Materie gewinnt ihre volle Selbst- ständigkeit. Die Eigenschaften der Körper werden als aus- gedehnte Quantitäten im Baum fixiert; sie werden repräsentiert durch in ihrem Volumen sich konstant erhaltende Stoffe, und ihre Veränderungen müssen alsdann erklärt werden durch räumliche Zusammensetzung der Grundsubstanzen oder Elemente. Diese Zusammensetzung ist aber schlieislich nicht anders denkbar, denn als Zusammenordnung der kleinsten Teüe. Zwar wird der Versuch gemacht, eine Durchdringung der Substanzen anzunehmen, aber für den Physiker mufs der- selbe schliefslich in die korpuskulare Konstitution der Materie umschlagen. Dieser Gedankengang charakteri- siert die Entwicklung der theoretischen Physik im Be- ginn des 17. Jahrhunderts ; die einzelnen Stufen der Einsieht finden sich neben- und nacheinander bei einer Beihe von Schriftstellern, deren gegenseitiges Verhältnis bei dem Mangel historischer Vorarbeiten über diese Epoche sich noch nicht klar übersehen läfst Sie bilden den Übergang zu der bestimmt ausgesprochenen Erneuerung der Atomistik, bei deren Schil- derung wir ihre Namen zum Teil wiederfinden werden.

Vermutung in Bezug auf Helmont.. Van Ooorle. 333

Sollte VAN Helmont seine Lehren über die Unverwandel- barkeit der Elemente und die molekulare Konstitution bereits in der ersten Auflage seines Hauptwerkes ^ vorgetragen haben, ftr welche das Jahr 1615 angegeben wird, so würde er als derjenige zu nennen sein, welcher diese wichtige Bewegung in der Elementenlehre eingeleitet hat. Da wir dies nicht fest- zustellen vermochten und der Orfas niedicinae erst 1648 erschien, müssen wir Helmonts Ansichten am Schlufs dieser Entwicke- lungsperiode besprechen.

Wir beginnen daher mit David Goklaeus (van Goorle) aus Utrecht, dessen Hauptwerk erst nach dem Tode des Verfassers im Jahre 1620 erschien.* Da er jedoch als ein entschiedener Vertreter der Atomistik später zu behandeln ist, so erwähnen wir hier nur kurz seine Ansichten über die Elemente. Feuer und Luft schliefst er aus der Zahl der Elemente aus. Denn zum Wesen eines Elementes gehört es, dafs es als wirklicher

* Dagcraad ofte nieuwe opkomst der Getveeskonsi, in verborgen grund-regulai der Nature. Leiden 1615. 4^ Nach Romhelaere (p. 49) ist die Existenz dieser Ausgabe zweifelhaft, in Holland ist sie, wie mir H. Prof. Bisrens de Haan gütigst mitteilte, nicht zu finden. Die Ausgabe Leiden 1660 trägt die Spuren ipSterer Abfassung, kann also nichts entscheiden.

' Davidis Oorlaei Ultrajectini Exercitationes Philosophicae quibus uni- versa fere discuiitur Philosophia Theoretica. Et plurinui ac praecipua Peripa- teüeorum dogmata evertuntur. Post mortem auctoris editae cum gemino indice. Lugd.-BaUvorum 1620. 8^ 352 pp. £;jd. Idea Physicae. Ultrajecti 1651. 12"". 77 pp. Über das Leben des Gorlaeus ist Näheres nicht bekannt. Der Güte des H. Prof. Bierbns de Haan in Leiden verdanke ich die Mitteilung, dafs Datid Gorlaeus Ultrajectinus unterm 23. April 1611 als Theologe, 20 Jahr alt, in das Album studiosorum Academiae Lugd.-Baiav, eingetragen, also 1592 geboren ist. In den beiden erwähnten posthumen Büchern findet sich nur eine Stelle, welche über die Abfassung^eit Auskunft gibt; Idea phys. p. 47 wird gesagt, dafs die Milchstrafse aus kleinen Sternen bestehe „Id quod se beneficio perspidlli nuper invcnti observasse testatur Mathematicus quidam Patayinus.*' Da Galileis Nuncius sidereus 1610 erschien und Gorlaeus 1620, als die Exercitationes herauskamen, bereits nicht mehr lebte, so mufs die Idea physiceSj welche zum Teil einen kurzen Abrifs der in den Exercitationes begründeten Lehren darstellt, im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts ver- hüt sein. Gorlaeus selbst führt sonst keinen Schriftsteller an, mit Ausnahme von Scaliger, Exerc, ph. p. 323, Idea phys. p. 18. Eine Monographie über Gorlaeus und dieses wichtige Jahrzehnt wäre sehr erwünscht. Vgl. Sorel, a. a. 0. S. 479. Morhof, Polyhistor. II p. 245. Bayle, Dict art. Gorlaeus (1740, II p. 577). Reiman, Hist, lit d. Teutsch. III p. 435 f.

334 Unverwandelbarkeit der Elemente: Vah Gooblb.

Bestandteil in die Verbindungen eingeht; dies thun aber nur Erde und Wasser. Sie sind die Substanzen, in welche sich alle Dinge auflösen, und daher die beiden einzigen Eüemente.^ Das Feuer läfst sich nicht mit Wasser mischen, auch gibt es keine Wesen, die sich vom Feuer nähren, also gehört es nicht zu den Bestandteilen derselben.^ Die Wärme in den Mischungen kommt von auTsen, von der Blraft der Sonne.* Das Feuer ist nur ein Accidens und wird durch die Kraft der Wärme erzeugt.* Die Luft kann weder mit Erde noch mit Wasser eine Ver- bindung eingehen, obwohl sie in allen Mischungen enthalten ist. Aber sie ist nicht mit den übrigen Elementen verbunden, wozu eine Alteration der sekundären Qualitäten derselben zu einem gemeinsamen Ausgleich gehört.^ Die Luft dagegen füllt nur die ßäume zwischen den Atomen der Erde und des Wassers aus. Auch nähren wir uns nicht von der Luft, sondern wir atmen sie nur ein, um durch ihre Kälte die Blutwärme zu mäfsigen.« Sie ist nicht leicht, sondern sie besitzt ebenfalls Gewicht, das wir nur nicht bemerken, weü wir daran gewöhnt sind.'' Sie steigt nicht nach oben, sondern geht nach Bedürf- nis nach allen Seiten.^ Auch ist sie nicht feucht, wohl aber sehr flüssig. Gorlaeus betont denselben Unterschied zwischen humidum (feucht) und fluidum (flüssig),^ wie BoDiN, erklärt da- her auch das Feuer für sehr flüssig. Feuchtigkeit (humor) und Trockenheit kommen dem Wasser und der Erde ihren Wesen- heiten nach zu, und sind aus diesem Grunde in allen Mischungen. ^^ Der Himmel ist nicht quinta essentia, Feuer, Wasser oder irgend etwas aus ihnen Zusammengesetztes, sondern die Luft selbst und hat dieselben Eigenschaften wie diese." Das Wasser ist nicht in Luft verwandelbar, sondern was aus dem Wasser auf- steigt, sind die Dünste (vapores) ; sie entstehen aus dem Wasser durch Dazwischentreten der Luft und können durch die Kälte wieder in Wasser zurückgeführt werden, indem die Luft aus- getrieben wird. Kein Element ist in ein andres ver- wandelbar. ^^ „Es zeugt von einer grofsen Unkenntnis in

^ Exerc. p. 314. * Exerc. p. 318. « Id, phya. p. 38. * Ex. p. 326. Id. phys. p. 39. * £ir. p. 329. « ^. p. 330. ' JSr. p. 154. p. 332. » Id. phys. p. 40. Ex, p. 332, 333. " Ex. p. 316. " Ex. p. 293. " Ex. p. 127, 255, 256. Id. phys. p. 41. 44.

UnyerwaDdelbarkeit der Elemente. Basso. D'Ebpagnet. 335

physikalischen Dingen, wenn man die Dünste mit der Luft verwechselt.^^ Es scheint, dafs GtORLabus der erste ist, welcher die Verwandlung von Wasser in Luft leugnete.

Nächst GK)RLAEüS wäre Basso zu nennen, dessen Buch 1621 erschien; doch werden wir über ihn erst in dem Abschnitt über die Erneuerung der Atomistik in Frankreich ausführlich han- deliL Dagegen verdient in der Elementenlehre ein andrer Forscher Erwähnung, der vielleicht auch von GU)blabüs beeinflufst ist, nämlich d'Espagnet.

Jean d'Espagnet war Präsident im Parlament von Bordeaux und ist bekannt als Alchymist, bedeutender aber als Erneuerer der Physik. Zur Erklärung der "Weltentstehung nahm er zwei itrsprfinglich geschaffene Prinzipien an,* das eine licht und der Natur des Geistigen nahestehend, das andere durchaus körper- lich und dunkel; jenes ist das Prinzip der Bewegung, des Lichtes und der Wärme, dieses der Trägheit, der Dunkelheit und Kälte; jenes ist aktiv und männlich, dieses passiv imd weiblich. Durch den Kampf zwischen beiden erzeugte sich unsre Welt. Hierbei ist der Einflufs von Telesio unverkenn- bar. Innerhalb der geschaffenen Welt erkennt nun d'Espagnet drei Elemente an, Erde, Wasser und Luft,^ von denen aber nur zwei, nämlich Erde und Wasser in die zusammenge- setzten Körper als Grundbestandteile eingehen, während die Luft gewissermafsen von der Gattung der geistigen Dinge ist.* Das Wasser steht der materia prima am nächsten» es ist gleich- sam ihr Bild (c. 60) und zugleich die Grundlage aller Feuchtig- keit (c. 72). Schon bei mäfsiger Wärme gibt es Dämpfe von sich (c. 64), welche nicht mit der Luft zu verwechseln sind (c. 77). Man mufs vielmehr zwischen flüssigen (liquida)

> Ex. p. 301.

' Enchiridian physicae, mit dem Anagramm des Verf. „Spes mea est in agno.*' Die Ausgabe, welche mir vorliegt, ist Genevae 1653. Die erste Aus- gabe erschien jedoch schon 1628 in Paris, 8, bei Nicolas Büon. Lbnolet Ddvbbbsiot, auf welchen sich wahrscheinlich Gmelin (I S. 507) bezieht, gibt bereits eine Ausgabe Paris 1608 an, was jedoch nach Delaulnaye (in der Biogr. univ. Paris 1815, T. 13 p. 318) auf einem Irrtum beruht. Kopp, Aidtemie II S. 345 führt ebenfalls 1608 an, ohne jedoch diese Zahl zu be- grfinden.

* A. a. 0. c. 50, 51. '^ A. a. 0. c. 56, 69.

r336 Unverwandelbarkeit der Elemente: D'EsPAaKST.

und feuchten (hninida) Körpern unterscheiden; die erstere Eigenschaft kommt der Luft, die zweite dagegen dem Wasser zu (c. 75), vom welchem sich ein grofser Teil oben in der Luft aufhält (c. 72). Die Luft ist also nicht feucht, sondern nur flüssig. Die B.egion in der Nähe des Mondes ist nicht feurig, sondern luftartig (c. 80), Luft und Himmel sind ein und dasselbe, die gesamte Luft ist der Himmel (c. 77). Die Elemente sind nicht, wie Aristoteles lehrt, einander entgegen- gesetzt, sondern seitdem die ersten welterzeugenden Gegen- sätze von Licht und Finsternis sich bekämpft haben, sind die Eigenschaften in ihrem Gegensatze gemildert und ausgesöhnt und wirken aufeinander durch die Liebe, welche der Genius der Natur ist (c. 94, 96, 102). Die Wirksamkeit der Natur vergleicht d'Espagnet auch mit der Töpferkunst, die vier ele- mentarischen Grundeigenschaften sind die Töpferscheiben, durch deren Umdrehung die Dinge bearbeitet werden (o. 109); es ist dies eine Vorstellung, welche besonders in seinem alchymistischen Werke wiederkehrt.^ Wie d'Espagnet den Himmel ebenfalls aus einem Elemente, wenn auch spiritueller Natur, nämlich der Luft bestehen lälst, so nimmt er auch keinen Anstand zu er- klären, dafs die Erde ebenso konstant und unveränderlich ist, wie der Himmel (c. 126).

Keins der Elemente läfst sich in das andre verwandeln. Insbesondere sind Wasser und Luft (diese ist coelestisch) durchaus voneinander verschieden, und nie geht das eine in das andre über (c. 127). Durch Verdünnung wird das Wasser zu Dampf, steigt in die Höhe und wird vielmehr in die Luft erhoben als in sie verwandelt, der entstandene Dampf aber wird verdichtet und fällt wieder, zu Wasser aufgelöst, herab (c. 128). Die Natur selbst wird belebt durch einen von den höheren Naturen in die niederen herabströmenden Lebensgeist (Spiritus vivificus), welcher das lebenerregende Ferment (fer- mentum) ist (c. 149).

Wir begegnen femer bei d'Espagnet dem Versuche, die Grundsubstanzen der Chemiker der Elementenlehre streng ein-

^ Ärcanum Hermeticae Philosophiae Opus, Mir liegt die lat. Ausgabe Genev. 1653, 8, und eine deutsche Übersetzung, Leipzig 1685, 8, vor. Die erste Ausgabe erschien Paris 1638.

D'EsPAONET: Elemente. UDiversum. 337

zareihen. Er nimmt an, dals Sal aus verdiehteter Luftj und Wasser, Sulfur aus Erde und Luft, Mercurius aus Erde und Wasser bestehe; es sind dies die drei allein möglichen Kom- binationen der Elemente zu je zweien, und daher gibt es nur jene drei Grundsubstanzen, welche bei allen Analysen wieder erscheinen (c. 151). Da die Elemente bei d'Espagnet nicht mehr die aristotelischen, sondern unveränderliche Substanzen . sind, so ist die Zusammensetzung der chemischen Grundsub- stanzen aus denselben nicht als ein Rückschritt zu betrachten ; sie bezeichnet vielmehr eine Wendung zur Vorstellungsweise der molekularen Zusammensetzung, so dafs die Elemente sich zu Verbindungen zusammenschUefsen, welche ihrerseits die empirischen Grundstoffe repräsentieren. Bei einer so vorge- sohrittenen physikalischen Theorie, wie sie d'Espagnet gibt, wundert es uns nicht mehr, dafs er sich auch zu Gunsten der Atome ausspricht und die atomistische Theorie für durchaus nicht verwerflich erklärt (c. 153). Vielmehr lautet seine De- finition des Elementes ganz im Sinne der Molekulartheorie, indem er unter Element den einfachsten Teil der ersten Materie versteht, welche sich von andern durch eigenartige Qualität unterscheidet und in der materiellen Zusammensetzung der Körper einen substanziellen Bestandteil ausmacht.^ Es ist dies bereits die korpuskulare Auffassung der Materie, wie wir sie in dieser Zeit bei den Physikern zur Geltung kommen sehen« Auch in Bezug auf seine astronomischen Ansichten ist d'Espagnbt frei in seinem Urteil. Der Himmel ist nach ihm nicht in Sphären geteilt (c. 237) und nicht von dem primum nu>bile umgeben (c. 238), sondern es gibt vielleicht mehrere Welten im Universum, welche durch das mächtigste Band der liebe und Notwendigkeit untereinander, gleichsam wie durch eine gewisse magnetische Eigenschaft verbunden sind (c. 241). Die Erde ist eine Kugel unter den Gestirnen ebensogut wie der Mond, und inmitten des Saales des Allerhöchsten steht die Sonne als die ewige Leuchte der Welt (c. 243). In dieser Hinsicht geht d'Espagnet über Gorlaeus hinaus, der an der Buhe der Erde im Weltzentrum festhielt.

* C. 55. p. 37. Elementum naturae dici potest simplicissima materiae primae portio, per propriara dififerentiam et quantitates distincta, partem eitentialem in materiali mixtorum compositione constituens.

LaAwitz. 2'^

338 D'EsPAGNBT : Atome.

Aus dem Mitgeteilten geht hervor, dafs wir es bei d'Es- PAGNET mit einem selbständigen Denker zu thun haben, der bisher noch nicht zur Genüge beachtet wurde. Das Urteil über ihn kann nicht dadurch herabgedrückt werden, daDs er als Alchymist sich oft sinnlosem Mysticismus überliefs, denn diese Schwäche teilt er mit den meisten seiner Zeitgenossen, und wir finden sie bei dem als Chemiker gepriesenen van Hel- MONT nicht weniger als bei dem als vorurteilslosen Philosophen gerühmten Baco von Vbrülam. Für die Q-eschichte der Physik überhaupt ist zunächst von gröfster Wichtigkeit, dafs d'Espagnbt neben Gorlaeus und Basso einer der ersten ist, welcher mit voller Klarheit und Entschiedenheit die Verwand- lung von Luft und Wasser ineinander leugnet. Es ist damit der wichtigste Schritt zur Erkennung des Begriffs des Gases gethan, welchen d'Espagnet aufserdem dadurch beson- ders vorbereitet, dafs er mit noch gröfserer Klarheit als Bodin zwischen flüssig und feucht unterscheidet. In dieser Thatsache sowohl als in den übrigen Ansichten d'Espagnets zeigt es sich deutlich, dafs seine Lehre eine Vermittelung zwischen Gorlaeus und VAN Helmont darstellt. Nicht nur die Trennung des humiden und liquiden Zustandes der Körper, die Lehre von dem generischen Unterschiede zwischen Luft und den Dämpfen des Wassers, die Auffassung des Himmels als Luftelement, des Wassers als Bild der Grundmaterie der Welt, die Betonung eines allgemein belebenden Fermentes, sondern auch die Nei- gung zur molekularen Auffassung der Materie findet sich bereits bei d'Espagnet.

Über die Atome äufsert er sich in einem kurzen Kapitel (c. 153) und bemerkt in Bezug auf die Meinung des Demokrit, nach welcher alle Körper aus Atomen werden, man dürfte sie als eine der Natur nicht fremdartige bezeichnen; vielmehr wiesen Vernunft und Erfahrung darauf hin, durch die Annahme von sehr kleinen und unteilbaren Korpuskeln ohne dunkle Redensarten die Mischung der Elemente und die Konstitution der natürlichen Körper zu erklären. Die Erfahrung zeige uns bei der künstlichen Lösung und Zusammensetzung der Ver- bindungen, welche durch Destillation geschehen, dafs eine perfekte Mischung zweier oder mehrerer Körper nur in feinster Dampfform stattfindet. Aber bei weitem feiner und gewisser-

Fünf Grundsubstanzen. 339

mafsen geistig (spirituales) vollzieht die Natur ihre Verbin- dungen, und so habe Demoerit diese vermutlich verstanden; denn die Q-robheit (crassities) der Körper sei der Verbindung hinderlich.^

Man darf vermuten, dals für d'Espagnet entweder Gorlaeus' Schriften oder private Einflüsse von Seiten Helmonts* die Quelle sind.

In sachlicher Hinsicht ist bei Helmont im Vergleich zu d'Espagnet die KoUe der chemischen Grundsubstanzen und der alten Elemente vertauscht, aber der Gedanke einer Zusammen- ordnung von gewissen GrundstoflFen zu untrennbaren Substanzen ist derselbe.

2. Einführung von fünf Onmdsnbstanzen.

Die Annahme von Gorlaeus, d'Espagnet und Helmont, dafs von den drei Elementen nur zwei, nämlich "Wasser und Erde, als Bestandteile in die chemischen Verbindimgen eintreten, be- zeichnet eine Erweiterung der Zahl der chemischen Grund- substanzen von drei auf fünf. Dieselbe vollzieht sich im An- fang des 17. Jahrhunderts, wird aber erst in der zweiten Hälfte desselben allgemeingiltig.^ Die Chemiker hatten bei ihren Zer- legungen aufser Merkur, Sulfur und Sal auch noch unlösbare Bestbestände erhalten, welche sie als Phlegma und als Caput mariuum (oder Faeces) bezeichneten. Indem sie dieselben als eine Art passiver Prinzipien im Gegensatz zu den drei aktiven des Paracelsus betrachteten, lag es nahe, sie mit den Elementen Wasser und Erde zu identifizieren. Die Annahme von fünf Crrundsubstanzen treffen wir zuerst bei Basso (1621), die Gleich- setzung von Aqua mit dem Fhlegma und von Terra mit dem Caput mortuum bei Etienne de Claves (1624). Über beide

' Ench. phys. rest. p. 110.

Über die Veröfifentlichung der Schriften Hblmoktb s. RoaiUELAEBE, p. 49.

' Kopp {Beitr. S. 183) führt als den ersten, bei welchem man dieser Er- weiterung begegne, Tuomas Willis an (Tractatus de fermentatione sive de motu corporum naturalium inorganico, 1659), „ohne dafs indes diese Erweiterung der Lehre von den chemischen Grundstoffen von Willis als etwas ihm Eigen tumliches vorgebracht werde/' Im Obigen weisen wir den Ursprung derselben am fast vierzig Jahre früher nach.

22»

340 ^2 Claves: Fünf GrundsabBtanzen.

werden wir ihrer atomistischen Ansichten wegen später aus- führlicher zu berichten haben ;^ es sei daher hier nur bemerkt, dafs letzterer in seiner für die Geschichte der Atomistik so verhängnisvoll gewordenen Disputation, sowie später in litte- rariflchen Publikationen* auTser Wasser und Erde, welche er allein als Elemente anerkennt, auch noch Scd, Sulfur (oder Oleum) und Mercurius (s. spiritus acidusf als Bestandteile der zu- sammengesetzten Körper annahm,* so dafs er im ganzen fünf Grundsubstanzen erhält, welche actu et formdlüer in den Körpern vorhanden und nicht ineinander verwandelbar seien. Das Feuer betrachtet er ebenfalls als kein Element, aber als sehr feucht, d. h. flüssig. Die Luft hält er für vom Wasser nicht wesentlich unterschieden, die Kälte komme als Eigenschaft nur der Luft zu. Die Feuersphäre, welche Aristoteles über der Luft annahm, leugnet er, das Feuer sei blofs ein Accidens des Oleum.

3. Oampanella.

An seinen berühmten Landsmann Tblesio schliefst sich der Italiener ToMMASO Campanella (1568 1639) an, noch mehr phantastisch als jener und vielleicht ein besserer Dichter als Philosoph.* Aristoteles gegenüber strebt er nach selbständiger

^ Vgl. den 8. Abschnitt über die Emeaerung der Korpuskulartheorie in Frankreich.

* Des principes de Naiure, Paris 1635. 8. (Gmelin I, p. 509) und Nou- reües lumieres phüosophiques. Vgl. Sorel, S. 499 ff.

' In meiner Abh. Die Lehre v. d. Elementen etc. steht an dieser Stelle aus Versehen „Sulfur und Oleum (od. Mercur)" statt „Sulfur (od. Oleum) und Mercur."

^ Hierin schliefst er sich an Basso an, indem er nur für phlegma und Caput mortuum: Wasser und Erde setzte. Vgl. Morinus, Astrologia GaüicOy Hagae Comitis 1661, p. 71.

* Die mir vorliegenden Ausgaben aus der grofsen Zahl seiner Werke sind: Prodromus Phildsophiae insiaurandae, i, e. Dtssertationis De NcUura Rerum Compendium Secundum vera prindpia, ex scripHs Thomae Campanellae praemissum. Cum praefat. ad philosophos Germaniae, Francof. 1617. De sensu rerum et Magia lihri quatuor. Tob. Adami recens. Francof. 1620. Realis philosophiae epilogisticae partes quatuoTj h. e. De reium natura etc. Francof. 1623. Universalis philosophiae^ seu Metaphysicarum rerum juxta propria dogmata, partes tres. Paris 1638. Fol. Vgl. Eixner u. Subeb, 6. Heft. CARRtfeRE, II p. 243 ff,, Windelband, Gesch. d. n. Ph. I S. 76 ff.

Campanblla: Zwei unverwandelbare Elemente. 341

Forschung, verliert sich aber in poetischer Auffassung des "Weltgetriebes. Wie Telesio kennt er nur zwei Prinzipien, Wärme und Kälte, welche sich durch Liebe und Abneigung bewegen. Ihiien gegenüber verhält sich die Materie blofs lei- dend. Sie ist ungestaltet, aber der Zusammenziehung und Aus- dehnimg, Trennung und Vereinigung fähig. Für die Einbildungs- kraft ist sie ins Unendliche, für die Sinne bis zu den kleinsten Atomen, die als Sonnenstäubchen sichtbar werden, teilbar.^ Das Licht ist unkörperUch, es durchdringt die durchsichtigen Körper nicht blofs mechanisch, durch die Poren, sondern geistig (dy- namisch), durch eine unkörperliche Kraft. Wäre es körperUch, so müfste es in einem Saale, den man erhellt hat, verbleiben, auch nachdem man den weiteren Zutritt des Lichtes abge- schlossen. Wie das Licht und die Wärme sind auch Finster- nis und Kälte etwas Positives. Die Materie ist träge, unsicht- bar, schwarz und schwer. Wärme und Kälte sind ihr als Ur- kräfte angeboren, aus ihrem Konflikte entstanden alle Körper. Materie ist dasjenige, woraus ursprüngUch (primitus) etwas wird, Element aber dasjenige, woraus primittis et proprie etwas zusammengesetzt und worein es aufgelöst wird, wie die 'Rede aus Buchstaben besteht und in dieselben zerfallt. Die Ver- bindung der Elemente ist Zusammensetzung; ein Element selbst ist zwar etwas Verursachtes, nicht aber wieder etwas Zusammengesetztes.* Die Zahl der Elemente beträgt nicht vier, sondern zwei; Feuer und Erde, entsprechend den Prinzipien der Wärme und Kälte, sind die einzigen Elemente. Diese bleiben immer unverändert und verwandeln sich nicht ineinander. Leere Räume, welche es nur durch Gewalt geben kann, und Poren will Campanella nicht anerkennen.' Der Raum hat die Fähigkeit und das Streben,* die Körper an sich zu ziehen, er freut sich ihrer gegenseitigen Berührung. Die Verdünnung er- folgt allerdings durch Auseinandertreten der Teile, aber nicht durch ein Auseinanderrücken von Atomen und Zwischenfügung von leeren Räumen, sondern durch stetige Ausdehnung nach

* De rer. nat ps. I c. 1. art. 3. p. 6.

* Metaphys, 1. II c. 5 art. 6. p. 190 f., art. 8. p. 197 f. ' De sensu rerum I c. 9. p. 35.

^ De sen^u rer. I c. 12. p. 40. ,,Don quidem instrumentis, sed adpetitivo

sensu."

342 Campanella: Unklarheiten.

allen Seiten (extensio absque discontinuatione), bei welcher nur eine scheinbare Teilung (divisio absque discontinuatione) statt- finde. Die Verdichtung ist dann wieder (wie bei den Stoikern) eine innere Spannung (intensio seu tensio interna). Hierbei beruft sich Campanella direkt auf Seneca.^ Er gibt zu, dais jener Vorgang aUerdings schwer zu begreifen ist, inwiefern in einer verdünnten Materie kein leerer Zwischenraum enthalten sein solle. Aber zur Annahme von leeren Zwischenräumen kann er sich, obwohl er die mangelnde Anschaulichkeit seiner Theorie einsieht, doch nicht entschliefsen ; er tröstet sich da- mit, dafs die Kunst die Natur nie ganz und vollkommen nach- ahmen kann ; und wenn wir daher durch Verdickung und Ver- dünnung der Teile nie Luft in Wasser und umgekehrt verwandeln können, so vermögen es doch thatsächlich Wärme und Kälte. Campanella begnügt sich hier mit der Annahme einer quälüas occuUa. Über solche Schwierigkeiten hilft er sich indessen durch die allgemeine Belebung der Welt hin- weg. Alles kommt nämlich zustande durch die Triebe, welche in den Dingen selbst liegen. Die Elemente wie alle Körper haben Empfindung und wirken aufeinander durch Liebe und Abscheu ; daraus erklären sich die Eigenschaften schwer und leicht und was sonst irgend dem Physiker bedenklich ist. Wie Telesio legt auch Campanella in die Materie den Trieb der Selbster- haltung, zu dessen Erklärung eben die Beseeltheit herhalten muTs. Er zeigt aber gegen Telesio einen bedeutenden Biückschritt, insofern er die von Telesio glücklich festgehaltene Abgrenzung der Physik wieder aufgibt imd gerade das Fehlen metaphysischer Begründung und Spekulation seinem Lehrer als Mangel an- rechnet ; für den Zeitgenossen Galileis keine gute Empfehlung. Dafs Campanella für die Unveränderlichkeit seiner beiden Ele- mente eintritt, bleibt schliefslich für die Geschichte der Physik sein bestes Verdienst. Übrigens fallt seine Wirksamkeit zum Teil bereits in die Zeit, in welcher von anderer Seite her die Erneuerung der Korpuskulartheorie schon gesichert war.

Den BeschluTs in der hier betrachteten Beihe von Männern, welche die Elementenlehre allmählich umformen, bis durch die systematische Begründung der Korpuskularphysik die Theo-

* Metaphys. L 11 c. 5. art. 9. p. 213, 214.

Van Helhont: Urflüssigkeit und ürfennent. 343

rien der Materie in eine neue Epoche treten, bilden die Meister der chemischen Schale, unter ihnen als bedeutenster Joh. Bapt. VA» Helmont (1577—1644).

4. Van Helmont.

Van Helmont verwirft die Physik des Aristoteles, sowie die Arzneikunst des Galenus und die Grundsubstanzen des Paraoelsüs. Er will sich, nachdem er vergeblich nach Erkenntnis in Büchern gesucht, aUein auf die Natur verlassen. Was die chemische Ana- lyse ihn lehrt, das glaubt er in der heiligen Schrift bestätigt zu finden ; und während er sich in der experimentierenden Phy- sik und Chemie grofse Verdienste erwirbt, verUert sich seine Philosophie in Mysticismus. Der Grundzug von Helmonts Lehre ist der Satz, dafs die TVerke der Natur niemals durch äussere Ursachen, welche höchstens anregend (als causa excitans) wirken, sondern allein durch innere Ursachen zustande kommen, dafs also die ganze Welt von einem inneren Leben getragen, von einem inneren Verstände geleitet werde. Dieser inneren Ursachen sind zwei, der Stoff oder die äufsere Materie und das innere Lebensprinzip. ^ Der äufsere Stoff ist eine Flüssig- keit, fluor generatimiSy sie ist die Substanz aller Dinge; das ge- staltende Prinzip ist das samenerzeugende Urferment, eine ur- sprünglich vom Schöpfer in die Natur gelegte Kraft. Als jene Flüssigkeit kann man das Wasser ansehen, denn dieses ist das ursprünglichste Element, in welches die übrigen Körper über- geführt werden können. Jenes innere Lebensprinzip aber darf nicht verwechselt werden mit dem Samen, welcher mit den Dingen, in denen er liegt, vergeht; sondern es ist die unver- tilgbare Zeugungskraft der Elemente, das Urferment. Aus diesem selbst erst entwickelt sich der Lebenshauch, die aura seminaiis, welche allen Dingen, sie mögen noch so hart und dicht sein, innewohnt und in ihrer Verbindung mit der inneren Bildungskraft (imago seminalis) den ArcMiis, den Bildner und Werkmeister aller Natur erzeugnisse, vorstellt.* Demnach sind

* Ich eitlere nach: Ortus medicinae id est Iniiia physicae inaudita etc. Amsterodami 1652. 4. (Erste Ed. 1648.) Causae et initia natur(Uium p. 27, 28. ' Archeus faber § 4. p. 33.

344 ^-^^ Helmont: Zwei unverwandelbare Elemente.

die beiden Anfange alles Körperlichen: das Wasserelement als initium ex quo, und das Ferment des Samens als das initium per quod.^

Wenn bei der Auseinandersetzung über die allgemeinen Prinzipien Hblmont das Wasser als das Element anführt, aus welchem alles entstanden ist, und dasselbe an Stelle der ersten Materie^ setzt, so geschieht dies doch nur, um für die physische Unfafsbarkeit der reinen Potenzialität der aristotelischen Ma- terie eine körperliche Substanz zu haben; wenn auch vom elementum aquae als dem UrstoflFe im metaphysischem Sinne ge- sprochen wird, so ist damit nur der unbestimmte flaor genera- tivus als das stoffliche, ungestaltete und daher flüssig gedachte Prinzip der Weltbildung gemeint, es ist aber damit nicht ge- sagt, dafs das Wasser das einzige Element im physikaHschen SiLe sei. Es ist nicht richtig, Ifs er nur ein llement, näm- Uch das Wasser, als ursprüngUches angenommen; sondern er betont wiederholt und ausdrücklich, dafs es zwei ursprüng- liche und absolut nicht ineinander verwandelbare Elemente, das Wasser und die Luft, gebe. Gerade in dieser Unterscheidung gipfelt das physikaUsch-chemische Verdienst Helmonts; es ist aber allerdings eine E^larstellung zwischen den beiden Auffassungen, nach welchen einmal vom Wasser allein als Urelement, dann von Wasser und Luft als beiden Urelementen gesprochen wird, bei Hblmont selbst nicht leicht zu ermitteln. Man mufs, um diese doppelte Form des Ausdruckes zu verstehen, berücksichtigen, dafs Hblmont Codum und Äer als identisch auffafst, wodurch er auch erklären will, dafs bei der Schöpfung nicht besonders von Erschaffung der Luft die Bede sei. Die Aufgabe, welche der Luft zugeteilt wird, ist die Trennung der Wasser voneinander, in solche, welche unten bleiben und solche, welche sich in die Höhe er- heben.^ Dies leistet die Luft durch ihre beiden Eigenschaften,

k

^ Causae et initia § 23. p. 29. Duo igitur nee plura sunt corporum et causarum corporalium prima initia. Elementum aquae nimirum sive initium ex quo; et ferm^htumy sive initium seminale per guod. Est autem fermentum ens creatum formale (weder Substanz noch Accidens, sond. keins von beiden).

' Causae etc. § 33. p. 31.

' Gas aquae % 4. p. 60. Coelum sive aer est constitutus separater aquarum, duratnrus quamdiu ipsemet mundus. Cujus ergo dnas obtinnit insignes po-

Yak Helmont: Wasser und Luft. Vapor. Gas. 345

£alte und Trockenheit. Sie wandelt dadurch das Wasser in neue Formen um, in Vapor und in Gas- Diese Umwandlung ist jedoch nicht etwa aufzufassen als eine Veränderung der Substanz oder des "Wesens des Wassers, sondern sie ist nur eine lokale Teilung und Umlagerung (extraversio) der Teile.* Dunst und Gas bleiben der Essenz nach immer noch Wasser.

Die Entstehung von Dampf und Gas aus Wasser, also die Umwandlung des Aggregatzustands unter Beibehaltung der Substanz ist nach Helmont in folgender Weise zu denken. Das Wasser besteht aus dem flüssigen Merciirius und Sa?, welche absolut einfach sind; beide halten umschlossen den ebenfalls einfachen, gleichartigen und nicht abzusondernden Sulphur} Durch Erwärmung wird das Sal, welches die Wärme nicht duldet, zum Aufsteigen gezwungen und führt dabei den Mer- curius, in welchem es gelöst ist, und den Sulfur, welcher davon untrennbar ist, mit sich. Dieses durch Erwärmung aufsteigende Wasser ist der Dunst (Vapor). Gelangt der Dunst in die höheren Regionen, so wird durch die Kälte der Mercurius zum Erstarren gebracht, er kann sein Sal nicht mehr in Lösung erhalten, und damit ist die Verwandlung des Dunstes in ein Gas geschehen. Mercurius und Sal vor der Kälte zu schützen, strebt nun der wärmere Schwefel durch Umhüllung derselben ; da er aber selbst jedem der beiden Bestandteile an Menge gleich ist, so müssen diese beiden sich teilen und ausdehnen nach Maüsgabe des Schwefels. Dadurch entsteht eine Teilung in die möglichst kleinen Teile und eine entsprechende Ver- dünnung. Je feiner die Verteilung, um so höher steigt das Gas und wird immer durchsichtiger. Helmont erklärt daraus die Bläue des Himmels.^

Dunst und Gas unterscheiden sich also durch verschiedene

testates: Excelsum nempe frigus eique proportionatam siccitatcm. Vgl. § 13: propriam est quippe aeri semper aquas ab aquis separarc.

* A. a. 0. § 10.

' A. a. 0. § 3. Considero corpus Aquae continere dement alem sibi atque genialem Mercurium, liquidum atque simplicissimum; salem denique insipidum aeqne simplicem. Qnae ambo intra se amplectuntur uniforme bomogeneum timplex et inseparabile sulfur.

A. a. 0. § 16 p. 61.

346 ^'^^ Hblmoht: Qas. Blas. Wasser u. Luft als Elemente.

Anordnung der Grundsubstanzen in ihren kleinsten Teilen; beim Vapor ist wie beim Wasser der Sulphur von dem im Mercurius gelösten Sal eingehüllt, und jener verwandelt sich daher bei blofser Abkühlung wieder in Wasser. Beim Gase dagegen ist Mercurius und Sal erstarrt und vom Sulphur ein- gehüllt. Das Gas wird daher nicht von selbst wieder zu Wasser und steigt nicht von selbst wieder herab, sondern es bedarf dazu eines äufseren Antriebes; diesen gibt das Blas, das ist eine von den Sternen herwehende Bewegung, welche das Gas wieder herabdrückt, wodurch sich der entgegenge- setzte Prozefs, wie bei der Umwandlung von Wasser in Gtis, vollzieht.^ Niemals aber wird das Gas in Luft verwandelt.*

Das Feuer schHefst Helmont ohne weiteres von den Ele- menten aus, aber auch die Erde erscheint ihm als kein ur- sprüngliches Element, auch sie kann, wie die Scheidekunst lehrt, wenngleich schwierig, in Wasser übergeführt werden. Sie ist daher, obwohl mit Wasser und Luft zugleich erschafien, doch kein ursprüngliches Element, sondern als rein einfache und himmlische Elemente bleiben nur Luft imd Wasser übrig,* die in keiner Weise ineinander oder in ein drittes verwandelt werden können.^ Sie sind unzerstörbar, es ist von ihnen nicht gesagt, wie von Himmel und Erde, dafs sie vergehen werden. Wasser kann wohl in Dunst (Vapor), dieser durch ümlagerung der Bestandteile in Wassergas übergehen, aber immer bleibt es doch Wasser und verschieden von der Luft. Niemals er- folgt im Wasser die Trennung der drei ersten Bestandteile Sal, Sulfur, Mercurius, sondern dieselben bleiben stets zusammen, auch wenn das Wasser in Dampfform aufsteigt; der Dampf ist nur das in gröfster Verdünnung aufgelöste Wasser, welches selbst noch in den Atomen der Wolken Wasser bleibt. Wasser und Luft sind schon dadurch absolut verschieden, dafs

* A. a. 0. § 20, n. p. 62.

« A. a. 0. § 44. p. 64.

' Elementa p. 42, 43. Bes. § 8.

^ Terra^ § 12. p. 45. Hinc demonstrabo mox nunquam unicam guttam aquae in aerem versam, aut vicissim aerem in aquam mutatum. Dieser Beweis wird an vielen Stellen geliefert, besoaders in den Tractaten: Aqua, p. 47, J.er, p. 49, 51. Frogymnasma meteori p. 54 ff., Paradox. II in Suppl. de Spadanis fontibuSy p. 548, u. A.

Van Helmomt: Die chemischen Substanzen. 347

ersteres keine Poren besitzt und sich daher nicht zusammen- drücken läfst, letzteres dagegen ohne Poren nicht bestehen kann. Es ist deshalb auch unmöglich, wie die Experimente be- weisen, dafs Luft zu Wasser zusammengedrückt werde; viel- mehr dehnt sie sich nach der Zusammendrückung mit der Kraft der Schiefspulvers wieder aus und treibt eine Kugel durch ein Brett, während sich im Innern des Gefäfses keine Spur von Feuchtigkeit zeigt.

Wenn auch der Übergang des Wassers in seine verschie- denen Erscheinungsformen bei Helmont dadurch erklärt wird, daJGs er in ihm Mercurius, Sal und Sulfur als Bestandteile be- trachtet, so darf dies doch keineswegs so verstanden werden, daHs dieselben das Element Wasser als Grundsubstanzen zu- sammensetzen. Vielmehr sind sie, wie gesagt, untrennbar und existieren nur an dem Wasser, nicht für sich. Sie sind keine aUgemeinö Prinzipien, welche vor der Zusammensetzung der Körper bestanden, auch fliefsen sie nicht zur Bildung der Ver- bindung zusammen, noch treten sie jemals in der Natur als Endergebnis der natürlichen Auflösung der Körper auf; sie können vielmehr nur künstlich und keineswegs aus allen, son- dern blofs aus gewissen Körpern unter Umständen hergestellt werden und bilden sich zum Teil erst bei der Zersetzung. Letzteres behauptet Helmont besonders von dem fixen Alkali, welches beim Verbrennen der Pflanzen sich bildet.^ Hier liegt der Fall vor, dafs eine für den Fortschritt der Theorie förderliche Annahme sich beim Fortschritt der chemischen Praxis als that- sächlich falsch erwies, da das Alkali wirklich in der Pflanze präexistiert. Nach Helmont sind die sogenannten Grundsubstanzen das Letzte, nicht das Erste in der Gestaltung der Körper. Sie stammen aus dem Wasser und können wieder in Wasser um- gewandelt werden. Allerdings bleibt es schwierig, hierbei zu verstehen, wie ihr Verhältnis zum Wasser zu denken ist. Bei der inneren Gestaltungskraft, welche Helmont in den Dingen selbst annimmt, konnten seine Elemente nichts absolut Ein- faches sein. Er war gezwungen, sich in dem Wasser selbst eine Anlage zu denken, wodurch seine verschiedenen Erschei-

* Vgl. Kopp, Beitr. 3. St. S. 159 u. die dort aus Helmont, Ortus ange föhrten Stellen.

348 Vak Helmont: Vacuum. Magnale.

nungsformen sich erzeugen, und diese Möglichkeit innerer Ver- änderung versinnbildlicht er durch die Annahme seines idealen Merkur, Sal und Sulfur. Dafs dieselben durchaus räumlich und körperlich gedacht sind, ist ein interessantes Zeichen für die in seinem Geiste sich begegnenden und noch nicht geklärten Interessen zweier Weltanschauungen. Als empirischer Chemiker sucht er nach der Zurückführung der Prozesse auf die Bewe- gung körperlicher Substanzen, die er doch noch nicht ohne Hilfe unbestimmter, mystischer Einwirkungen durchzuführen vermag.

Die Zusammendrückbarkeit der Luft ist nur erklärlich da- durch, dafs die Luft neben ihrer eigenen Ausdehnung noch einen freien oder leeren Raum in sich enthält, wie sich auch durch Experimente beweisen läfst. Diese Porositäten sind je- doch nicht ein blofses Nichts, ein figmentiim oder ein locus nudus, sondern sie besitzen selbst ein Sein, ein geschaffenes Wesen, irgend etwas Reales. Es ist dies ein Mittelding zwischen der Materie und dem unkörperlichen Geiste, weder das eine noch das andre, sondern es gehört zu den Dingen, die weder Sub- stanz noch Accidens sind. Es ist das Magnale, das nichts Ahn- liches unter allem Geschaffenen besitzt. Es ist nicht das Licht, sondern eine gewisse der Luft zugeordnete (assistens) Form, die in ihren Poren ihren Sitz hat, und zugleich das Mittel, durch welches sich das von den Sternen ausgehende Blas ohne Bün- demis und instantan ausbreitet.^ In diese leeren Räume (vacui- tates) saugt die Luft auch die Dämpfe ein und hält sie fest.*

Vergleicht man die vorgetragenen theoretischen Ansichten VAN Helmonts mit den Lehren von d'Espagnkt, so zeigt sich, dafs beide darin übereinstimmen, die Verwandlung des Wassers in Luft geleugnet und den Wesensunterschied zwischen gas- förmigem Wasser und Luft erkannt zu haben. Auch bei d'Es-

^ Vacuum naturae. § 21. p. 70. Magualenon estlux, sed forma quaedam assistons aeri, ejusque velut socia, ipsique certo connubio velut conjugalis . . in poris assidens. Per hanc videlicet Blas astrorum immediate ac sine impe- dimento quaqua versus et iustantaneo motu extenditur: 22.) non autem per millenas millium specierum generationes, unico velut momento peractas, quoties lux vel influentiae coelestes inferiora feriunt. (Magnale = peroledi = pori aeris = vacuum dLsseminatum).

* Aer § 10. p. 51.

Yak Helmo»t: Chemische Kenntnisse. Gase. 349

PAGNBT wird das Wasser in der Atmosphäre von dem Wasser auf der Erdoberfläche unterschieden und angedeutet, dafs die Luft die Holle des trennenden Agens zwischen diesen beiden Wassermassen spielt; ebenso ist der Himmel mit dem Luftele- ment identisch gesetzt.

Ein wesentlicher Fortschritt ist jedoch bei Helmont vor- handen. Seine theoretischen Ansichten sind nämlich getragen von ausgezeichneten chemischen Kenntnissen. Er ist dadurch in die Lage gesetzt, die Erhaltung bestimmter chemischer Sub- stanzen im Wechsel der Verbindungen empirisch nachzuweisen. Namentlich zeigt er, dafs die Metalle in den Lösungen, insbe- sondere das Silber in der Salpetersäure, substanziell erhalten bleiben, obwohl die Flüssigkeit von den Eigenschaften des Metalls nichts erkennen lasse. ^ In einzelnen Fällen weist er nach, dafs das Gewicht der Substanzen nach dem Ausscheiden aus der Verbindung sich nicht geändert habe und wirkt da- durch für den Gebrauch der Wage als des unentbehrlichen Hilfsmittels einer wissenschaftlichen Chemie.* So trägt er, ob- wohl seine Theorie sich vom Begriff der Form noch nicht ganz frei machen kann, doch durch seine experimentelle Thätigkeit wesentHch bei zur quantitativen Betrachtung der Natur.

Er scheint der erste zu sein, welcher verschiedene Gase gekannt und sie einerseits von der Luft, anderseits von den Dämpfen unterschieden hat; insbesondere ist er der Entdecker der Kohlensäure. Jedenfalls kommt ihm das Verdienst zu, den Namen für einen Begriff in die Wissenschaft eingeführt zu haben, welcher für die weitere Entwickelung unentbehrlich ist. Von den vielen Kunstausdrücken, welche Helmont ge- brauchte, hat sich das Wort Gas (von dem holländischen Galisty Geist) als Bezeichnung für den dritten Aggregatzustand erhalten. Allerdings hat dieser Begriff erst später die jetzige allgemeine Bedeutung gewonnen; Helmont ist es noch nicht gelungen, ihm völlige Klarheit zu verleihen. Es fehlte ihm der Begriff des chemischen Stoffes, ohne welchen von der physikalischen Aggregatform nicht abstrahiert werden kann. Daher erkennt er nicht, dafs die Luft der eigentKche Eeprä-

* S. Kopp, Beiir. 3. St. S. 154. '' A. a. 0. S. 154, 155.

350 ^^^ Helmont: Korpuskulartheorie.

sentant des Gaszustandes ist und fafst das, was er G-as nennt, als eine besondere Erscheinungsform des Wassers. Aber man mufs freilich anerkennen, dafs er zur Feststellung des Begriffs des chemischen Körpers einen wesentlichen Fortschritt gemacht hat, indem er die Verwandlung des Wassers in den gasigen Zustand verfolgte. Sich ganz in seine Vorstellungsart zu ver- setzen, dürfte sehr schwer, wenn nicht unmögHch sein, da man überall das Eingen nach Begriffen bemerkt, ohne dafs dieselben schon feste Gestalt gewonnen haben; vielleicht hätte er noch manches klarer gestaltet, hätte ihn nicht der Tod bei der Ite- daktion seiner Werke überrascht. Schon die grofse Zahl von neuen Namen und verschiedenen Ausdrücken für seine Ge- danken beweist dieses innere Bingen.

Für die Entwickelung der Korpuskulartheorie ist von be- sonderer Wichtigkeit erstens die strenge Trennung zwischen Wasser und Luft, und zweitens die eigentümliche Vorstellung von der Umwandlung des Wassers in den Gaszustand, welche nahe an die Molekulartheorie streift. Helmont nimmt bei seiner Untersuchung über die Konstitution des Wassers nicht nur auf das quantitative Verhältnis der drei idealen Grund- substanzen, sondern auch auf ihre räumliche Anordnung Rücksicht. Der Übergang vom Dampf zum Gaszustande be- steht in einem Nachaufs enkehren des Sulphurs. Das aber setzt .doch stillschweigend das Vorhandensein von ge- trennten Korpuskeln voraus, deren Entstehung auch unter dem Namen der weiteren Teilung erwähnt wird. Die Grundsub- stanzen sind hier oflfenbar bereits als kleinste Teile der Körper gedacht, eine Vorstellung, die durch die galenische Definition des Elementes dem allgemeinen wissenschaftlichen Bewufstsein vertraut war. Die Verwandtschaft dieser Vorstellung mit der Korpuskulartheorie war bei d^Espagnet schon augenfällig, in Helmonts Durchführung tritt sie noch mehr hervor. Wasser und Gas sind dasselbe, nur in anderer Anordnung der Bestand- teile in den einzelnen Partikeln wer denkt dabei nicht an die Metamerie der chemischen Atomistik? Es ist daher nicht überraschend, dafs Helmont den Ausdruck Atome an vielen Stellen ohne Bedenken gebraucht. Damit sind jedoch nicht Atome im strengen Sinne, sondern nur sehr kleine Partikeln gemeint. So heifst es von den Dünsten, Gerüchen und Zeu-

Van Helmont: Atome. Alchymisten. 351

gongsstoffen, welche in die Höhe steigen, dafs sie bei immer feinerer Verteilung durch die Kälte wieder zur ursprünglichen Reinheit des elementalen Wassers reduziert werden, und bei dieser äufsersten Teilung der Subtilitäten und Atome die Keime und Fermente, die sie mit emporheben, untergehen. ^ Auch von den Teilen der Atome wird gesprochen.^ In wärmerer Luft sinken die Atome des Gases wieder herab und wachsen dadurch an, sowie die minutidae atonii des Goldes im geschmolzenen Silber herabsinken.^ Helmont steht auch der Zeit nach bereits im Übergänge zur Korpuskulartheorie.*

6. Hermetische Physik.

Die grofse Menge der Alchymisten, welche auf die para- celsischen Qrundsubstanzen zurückgehen, darf hier ungenannt bleiben. Zum gröfsten Teile bewegen sie sich in dem ärgsten alchymistischen Mysticismus, obwohl einzelne, wie der Franzose Hbnri de Rochaz,* welcher, von dem gelehrten Töpfer Palissy ^ und dem Alchymisten Nüysement angeregt, das Wasser als den Ursprung aller Dinge ansah und Luft und Feuer aus der Zahl der Elemente ausschlofs, auch in der Physik mit selbst- ständigeren Gedanken hervortreten. Die als Chemiker ver- dienten Aqricola und Libaviüs kommen als Theoretiker nicht in Betracht.

Die alchymistische Theorie hat indessen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts so bedeutenden EinfluTs gewonnen, dals sie neben der aristotelischen Physik sich Beachtung zu verschaffen weifs und von den Erneuerern der Korpuskular- philosophie als gleichberechtigte Gegnerin bekämpft wird, wie wir dies an allen Vertretern der letzteren bemerken können, ganz besonders bei Sennert und Boyle, die ihr eigene pole- mische Schriften gewidmet haben. Neben der peripatetischen, der christlischen und der mosaischen (rabbinischen oder kabba-

* Progymnasma meteori § 7. p. 55

» A. a. 0. § 24. p. 58. Vacuum naturae § 27. p. 71. ' Gas aque p. 62, u. au and. Stellen.

* Über Helmonts vermutliche Priorität vgl. S. 333.

* SoBBL, S. 513. MoRHOF, Folyhist II p. 248.

* Über Palissy vgl. Sorel S. 470.

352 Hermetische Physik.

listischen) Physik, welche letztere beiden ihre Prinzipien aus der heiligen Schrift herleiten, die christliche allein aus dem mosaischen Schöpfungsgesetze, die mosaische auch aus der kabbalistischen und speziell jüdischen Litteratur, unterscheidet man als eine vierte Physik die chemische, auch hermetische oder spagirische.^ Johann Heinrich Alstbd (1588 1638), Professor zu Herbom, der selbst einem freieren, eklektischen Aristotelismus huldigte, stellte in einem besonderen Buche die Lehren dieser vier Gattungen der Physik zusammen.* Als Vertreter dieser her- metischen Physik sind zu nennen die deutschen Ärzte Oswald Cboll» (1 580 [?] 1609) und Heinrich Noll.* Hierhin gehört auch die Physik des berühmten Johann Amos Comenius (1592 1671),^ in welcher paracelsische Ansichten mit dem Mysticis- mus Böhmes und aristotelischen Lehren verschmolzen sind.

Alle diese Bestrebungen spekulierender Naturphilosophie haben wir hier nur zu erwähnen als Zeichen für die Lockerung, welche das Dogma der aristotelischen Physik erfahrt. Inso- fern erleichtern sie dem gemeinsamen Gegner den Kampf, welchen nunmehr mit immer gewaltigeren Waffen die mecha- nisch-korpuskulare Auffassung der Natur gegen die substanzi- ellen Formen wie gegen Hylozoismus und Mysticismus auf- nimmt.

6. Vorbereitung zur mechanischen Naturanffassung.

Wir können in der Naturphilosophie, welche in der Materie selbst den Sitz der gestaltenden Lebenskraft findet, so dafs sich aus derselben die Mannigfaltigkeit des Weltinhaltes selbständig entwickelt, die vom Einflufs des Neuplatonismus erzwungene Überwindung des Peripatetismus durch seine eigene Konsequenz

» Vgl. REIMA5, Hist Ut. Ill S. 472 ff.

' JoH. Henrici Alstedi, Systema Physicae HamKmicae, Herbornae Nassov. 1612.

^ Basilica Chemica, Francof. 1622. (Das Werk erlebte nach Pogobndorff, Handivörlcrb. von 1609—1658 18 Auflagen.)

* Physices compendium navunif Francof. 1616. Naiurae sanctuarium, quod est physica hermetica XII. lihris iractata. Francof. 1613.

* Physicae ad lumen divinum reformaiae Synopsis. Amstel. 1663. Erste Ausgabe 1633. Vgl. über dieselbe Zöckleb, I S. 605, 606.

Gesetzlichkeit der Entwickelung. 353

erkennen, und zwar schlol's sich dieselbe an jene Modifikation an, welche Averroes der Lehre des Aristoteles gegeben hatte. Die Frage, wie die Form zur Materie, die Individuation aus der unterschiedslosen Allgemeinheit kommt, hatte Averroes dahin entschieden, dafs die Form aus der Materie educiert wird, in welcher sie bereits keimartig beschlossen liegt. Diese Anschauung finden wir nun mit Hilfe der platonischen Lehre von der Weltseele zu einer vollständigen Theorie der Ent- wickelung nach Analogie des organischen Lebens ausgestaltet. Von NicoLAüs CüSANUs durch Paracblsus imd die italienischen Naturphüosophen bis zu dem Chemiker Helmont zieht sich dieses Bestreben, der Materie durch das Hinein verlegen des formgestaltenden Prinzips und die Explikation dieser keim- artigen Anlage durch einen beseelten und beseelenden Archäus Selbständigkeit zu verleihen, um Baum zu gewinnen für die gesetzmäfsige Erforschung der Natur. So wird das Bingen nach Naturerkenntnis und nach allgemeinen Prinzipien der Physik zugleich bestimmend für die Entwickelung einer be- sonderen Bichtung der Philosophie.

Mit der Wiedererweckung des naturwissenschaftlichen Interesses im 16. Jahrhundert war der Anstofs gegeben, die Probleme der Körperwelt in neue Erwägung zu ziehen. Man hatte erkannt, dafs das System der substanziellen Formen die Bedürfoisse der erweiterten Empirie nicht zu decken ver- mochte. Der Wechsel der Formen bot nicht mehr als das blofse Kommen und Gehen der Eigenschaften; das Literesse der Naturerkenntnis aber verlangte eine durch den Versuch zu kontrollierende Feststellung dieser Aufeinanderfolge des Ge- schehens im einzelnen, einen notwendigen kausalen Zusammen- hang der Erscheinungen. Dieser bedurfte einer neuen Fundierung.

Das Prinzip der Allbeseelung und der Entwickelung aus der keimartigen Einheit nach Analogie des organischen Lebens konnte nach einer Bichtung hin befriedigen; der Wechsel der Erscheinungen war garantiert durch eine innere Not- wendigkeit; alles Gegebene enthält die zukünftigen Zustände zugleich in sich, und die Tendenz sich zu entfalten ist das eigentlich Beale im Weltlauf selbst. Damit wird es zwar denkbar, dafs eine Wechselwirkung aller Dinge besteht. Aber diese Wechselwirkung selbst zu erkennen, zu den Ursachen zu

LaAwitz. 23

354 Quantitäten. Mathematiker. Kxpleb.

gelangen, welche die Einzelgestaltung in jedem Falle hervor- rufen, dazu fehlt noch der Weg. Es fehlt das Mittel, kausale Gesetze im einzelnen aufzufinden; imd obwohl die Idee der induktiven und empirischen Methode den Vertretern des Be- seelungsprinzipes vorschwebte und sie die Erfahrung als Er- kenntnismittel betonten, so konnten sie doch zu einem Erfolge nicht gelangen, weil auf die Erscheinungen des Lebens Mathe- matik und quantitative Yergleichung nicht ange- wendet werden konnte. Sie blieben daher stets auf mehr oder minder wahrscheinliche Vermutungen beschränkt und mufsten die Gesetze der Natur schiefslich durch eine eigene Intuition oder göttliche Eingebung zu gewinnen suchen; d. h. sie mufsten sich in Mysticismus verlieren.

Erkenntnis der Natur kann nur errungen werden durch Erforschung der Quantitäten. Dies war eine Überzeugung, welche die wissenschaftlichen Reformatoren des 16. Jahrhun- derts erfüllte, eine Erbschaft des wieder auflebenden reineren platonischen Geistes. Was in dieser Hinsicht der Cusaner und vor allem der divinatorische Genius Leonardo da Vincis schon ausgesprochen, schien sich der VerwirkUchung nähern zu können, als das genauere Vertrcmtwerden mit den Schriften der alten Mathematiker, namentlich des Archimbdes, und eigene neue Entdeckungen der Mathematik einen überraschenden Aufschwung verliehen. Wir nennen nur die Namen Franciscus Maürolykus (1494 1577), Scipione dal Ferro, Lüdovico Ferrari (t 1565), NiccoLA Tartaglia (f 1559), Cardano, Michael Stifel, John Napier (f 1617), Thomas Harriot (1560—1621), Henry Briggs (f 1630), sowie Simon Stevin und G-uido Ubaldo del Monte. Diese Reihe beschliefst durch seine glänzenden Ent- deckungen Kepler, der zugleich dem methodischen Werte der Mathematik als Erkenntnismittel den klarsten Ausdruck ver- lieh. Er spricht es wiederholt aus, dafs Beobachtung und Er- fahrung nur dort zu Erfolgen fähren können, wo die quantita- tiven Verhältnisse eine Rolle spielen; denn nichts erkennt der Mensch richtiger als die Gröfse selbst.^ Mit vollem Bewufst- sein hebt er den Phantasmen eines Fludd gegenüber den

* Epistola de Harmonia. Op. V. p. 28. Mundus participat quantitate, et mens hominis (res supramundana in mundo) nihil rectius intelligit, quam ipsas quantitatee, quibus percipiendis factus videri potest.

Notwendigkeit des Mafses. Mechanismus. 355

mathematischen Grundzug seiner Untersuchungen hervor, durch welche allein Licht in die Finsternis gebracht werden könne. ^ Vergebens jedoch sei es, dort nach Gesetzen zu suchen, wo man ee nur mit Qualitäten zu thun habe, weil daselbst jeder Mafsstab fehlt und die Messung unmöglich wird.*

Wo aber sind diese Quantitäten zu finden? Wo bieten die Qualitäten der sinnlichen Empfindung die Möglichkeit, sie auf Gröfsenbestimmungen zurückzufuhren, wo und wie kann der mathematische Mafsstab angelegt werden? Nicht an den Erscheinungen des organischen Lebens, welche dazu viel zu kompUziert sind ; nicht an den Wahrnehmungen des eigenen Bewufstseins und Willens, für welche wir überhaupt als solche kein Mafs besitzen. Es konnte nur geschehen an möglichst einfachen Erscheinungen, an den Vorgängen in der Materie, welche unabhängig sind von der Willkür des Bewufstseins und welche in voller Begelmäfsigkeit ablaufen. Gerade vom Leben der Welt mufste man absehen, man mufste die Natur vom Einflüsse des Willens emanzipieren und sie als ein mechanisches Uhrwerk betrachten, das, einmal aufgezogen, seinen notwendigen Gang geht. Die beseelte Materie unterlag allerdings auch dieser Naturnotwendigkeit; hatte doch gerade Averrobs die- selbe hervorgehoben, hatten doch die späteren Naturphilosophen gerade um ihretwillen die Materie als beseelt betrachtet. Aber diese Naturnotwendigkeit war nicht zu erkennen. Zur methodischen Erforschung der Welt wurde der Mecha- nismus derselben eine unentbehrliche Voraussetzung, die mechanische Weltauffassung das allein fördernde Mittel.

Auch diese Emanzipation von einem bestimmenden Willen war wenigstens in Eücksicht auf das theologische Interesse schon vorbereitet in Averroes, nur durfte der Nachdruck nicht auf die Entwickelung der Formen aus der Materie gelegt wer- den, sondern er mufste fallen auf die absolute Transcendenz Gottes, welcher die Welt ein für allemal so geordnet hatte, dals sie im gesetzmäfsigen Gange arbeitete. Nicht die Welt

* Qp. V. p. 332. Videas etiam, ipsum plurimum delectari rerum aeuig- maÜbnt tenebrosis, cum ego res ipsas obscuritate involutas in lucem intellectus proferre nitar. Dlud qnidem familiäre est chymicis, hermeticis, Paracelsistis, hoo proprium habent mathematici.

» Op. V. p. 347.

23*

356 Taubellus.

selbst gestaltete sich, sondern ihr Uhrwerk rollte ab ; nicht im einzelnen wirkte der Geist des Schöpfers, sondern er hatte ein für allemal alles gewirkt; nicht die Materie ist die Trägerin des Weltgeschehens, sondern das aufserweltliche, von Gott ge- gebene, unveränderliche und unwandelbare Gesetz.

Diese Ausgestaltung des Monotheismus, welche innerhalb des Dogmatismus der Naturforschung freie Bahn zu schaffen imstande war, vertrat der deutsche Philosoph Nicolaus Tau- RELLüS (1547 1606). Er widerspricht der Unterscheidung zwischen einer doppelten Wahrheit, einer theologischen und philosophischen ; ^ durch die Erforschung der Natur kann die Wahrheit des Gotteswortes nicht berührt werden. Gott steht über der Welt. Es wäre kein Unterschied zwischen Gott und Natur, wenn er alles im einzehien selbst wirkte, sondern die Natur ist eben die Ursache der Teilwirkungen, Gott die des Ganzen. Gott hat alles aus nichts geschaffen, er bedarf nicht der Materie. Zwei Prinzipien nur gibt es, wodurch die Sub- stanzen entstehen : Gott und die Natur.* Die Materie existiert überhaupt nicht, sondern nur die Formen, sie können zusammen- gesetzt werden.* Die ersten Formen und ersten Subjekte sind die vier Elemente;* nicht ihre Eigenschaften, sondern die Sub- stanzen selbst sind entgegengesetzt, und diese entgegengesetz- ten Substanzen selbst erleiden gegenseitige Einwirkungen.^

Die Bewegung ist nicht die Ursache, sondern die Folge dieser Einwirkungen.* Die Substanzen und ihre Prinzipien können nur a posteriori aus ihren Accidentien erkannt werden, aus ihren Wirkungen und Eigenschaften. Das ist die Sache des Physikers, welcher nicht mehr annehmen darf, als was durch die Erfahrung bestätigt wird."^

So ist Taürellus, welcher die Belebtheit der Welt leugnet, die Aufserweltlichkeit Gottes statuiert und die Naturnotwendig-

^ Phiiosophiae Triumphus, h. e. metaphysica phHosophandi methodus, Basil. 1573. Epist. dedicat.

* A. a. 0. p. 181. Materiam divinis operibus detrahimus ejusque loco negationem substituimus, ut unum deam ceu pn'mam, solamque causam demonstrent omnia. Thesis 130. Duo videmus esse principia, quibus 8ubstantia& fiunt, deum et naturam: Haec positis omnibus causis suos producit effectos.

> A. a. 0. p. 117. * A. a. 0. 170. * A. a. 0. p. 163, 165.

A. a. 0. p 139. ^ A. a. 0. p. 99, 109.

Taubbllub. 357

keit des "Weltgeschehens verkündet, dem Physiker aber die Untersuchung desselben überweist, recht eigentlich der Philo- soph der neuen Weltauffassung, für welche die erste Bedingung des Bestehens die Trennung zwischen Theologie und Natur- wissenschaft war. Indem Taürellüs dieselbe verteidigte, be- sais er eine Ahnung von dem Gesetze der Entwickelung, welche die Wissenschaften einzuschlagen im BegriflPe waren.

In der Physik selbst wendet sich Taurellus in lebhafter Polemik gegen die Aristoteliker, besonders gegen Caesalpinüs (1519—1603) und Fr. Piccolomini (1520—1604) und vertritt eine von der Autorität unabhängigere Forschung, ohne jedoch selbst zu Ergebnissen zu gelangen, deren Erwähnung hier notwendig wäre.^

Selbst von allen Seiten angefeindet und schliefslich wenig beachtet, hat Taurellus zwar die Befreiung der Naturwissen- schaft als angemessen und mit dem metaphysischen Interesse vereinbar erkannt; wie dieselbe indessen auszuführen sei, war ein Bätsei, dessen Lösung der Naturforschung selbst vorbehalten blieb. Bevor das Verständnis für diese Lösung, wie sie der Genius eines Kepler und Galilei in Angriff genommen, durch- zudringen vermochte, bevor man zur Erkenntnis der mecha- nischen Ursachen fortschreiten konnte, bedurfte es mannig- facher Versuche, das Denken an eine Auffassung des Natur- geschehens zu gewöhnen, bei welcher nicht der zielbewufste, lenkende Geist eines in den Dingen steckenden Werkmeisters eine Bolle spielte. Im speziellen handelte es sich darum, die

^ Nicolai Taurelli Ovguvokoyiu h, e. physicarum et metaph. discus^ianum de coelo lib. II. Adv. Franc. Piccolomineum aliosque Peripaieticoa. Ambergae 1603. Als Beispiel für die Richtung, in welcher von seinen Schülern über physikalische Fragen disputiert wurde, teile ich folgende zwei Thesen aus dem Jahre 1585 mit, welche sich auf die Atomistik beziehen; Inoolstetter. De mutationibus rerum naturcUium iheses physicae, quas sexto Id. Martii, Praeside NicoLAO Taurello, Physices et Med. prof., Ioankes Inoolstetter Noribergensis exercitü gratia disputando tueri conabitur. Altorf 1585. Th. XIII. Generationis autem atque corruptionis modus congregatione et secretione atomorum partiumve minimarum nequaquam definiendus est. Licet enim atomos admiserimus: earum tarnen copulatio rerum speciem non mutat. Th. XXV. Contactus primum quidem corporibus, dein etiam qualitatibus competit: quae cum inter se varie commisceantur, aliquam obtinent contactus rationem. Contactus enim quidam est mixtio: cum sc. rerum diversarum exiguae partes (ne dicam minimas) se inyicem contingnnt.

358 Quantität und Körperlichkeit der Substanzen.

Eigenschaften der Körper aus körperlichen Veränderungen zu erklären, sie nicht mehr in psychischen, übergeordneten Formen, sondern in räumlichen Verhältnissen der Körper selbst zu finden.

Es wurde bereits im Beginn dieses Abschnitts auf die Be- deutung hingewiesen, welche in dieser Hinsicht die Annahme unveränderlicher Grundstoffe als Substanzialisierung der Aus- dehnung besitzt. Die Körperwelt hat Baumgröfse ; schliefst man dieselbe von den Elementen aus, durch welche die Veränderun- gen der Körperwelt erklärt werden sollen, so ist es nicht mög- Uch, wieder zu den im Baume ausgedehnten Körpern zu ge- langen. Das Denkmittel der Substanzialität blieb unfruchtbar, so lange das Substanzielle des Körpers von der Baumgröfse getrennt war. Wird aber die räumliche Ausdehnung des Kör- pers selbst als dasjenige betrachtet, worin das substanzielle Wesen des Körpers besteht, so ist dies zwar, wie sich zeigen wird, noch keine ausreichende Lösung des Problems, aber es ist eine wichtige Stufe im Fortschritt des physikalischen Er- kennens. Die Quantität wird damit an das Denkmittel der Substanzialität gebunden. Wir haben es jetzt mit Körpern im Baume zu thun, die sich messen imd wägen lassen; und da diese Gröfsenausdehnung für sie wesentlich ist, so kann die Veränderung der Körperwelt im letzten Grunde nur auf räum- liche Bewegung, auf Verschiebimg der Körperteile zurückge- führt werden. Deswegen finden wir an dieser Stelle die Er- neuerung der Korpuskulartheorie.

Eine konsequente Durchführimg der Korpuskulartheorie erfördert freilich, dafs nicht blofs die quantitative Konstanz des Körperlichen im Eaume erkannt, sondöm auch die Veränderung im Baume, die Bewegung, als eine G r ö f s e , welche erforsch- baren Gesetzen unterworfen ist, dem Bewufstsein falsbar werde. Daher kann die Korpuskulartheorie erst mit der Ausbildung einer wissenschaftlichen Mechanik zu höherer Vollen- dung gelangen. Die ersten Versuche, denen wir begegnen, sind noch weit entfernt, sich ausreichender mechanischer Be- griffe bedienen zu können. Sie stellen vielmehr Übergangs- formen vor, in denen das Denken sich versucht, um die mecha- nische Vorstellungsweise der Atomistik für die Erklärung der Natur zu Hilfe zu ziehen, ohne sich darüber klar zu sein, in-

Metaphysische Vorbereitung zur Atomistik. Bruno. 359

wieweit dadurch mit der Tradition gebrochen werden müsse. Erst in diesen Versuchen selbst stärkt sich das wissenschaft- liche Bewufstsein und erfüllt sich allmählich mit neuen Be- griffen, welche es gestatten, der Macht der aristotelischen Phy- sik sich dauernd zu entziehen.

Vierter Abschnitt.

öiordano Bruno.

1. Allgemeines.

Bevor das physikalische Interesse in der Aufstellung von Korpuskulartheorien sich geltend macht, finden wir eine Reite für das Körperproblem wichtiger Begriffe vom metaphysischen G-esichtspimkte aus behandelt. Von dieser Seite her gelingt es, in den Begriff des Atoms Gedanken hineinzutragen, welche demselben eigenes Leben verleihen. Der Entwickelungsgedanke aus der Einheit verdichtet sich in der einfachen Substanz, das Atom wird zur Monade.

Dieser Versuch, das Wesen des Körpers zu entdecken, ist zwar für die empirische Physik wenig fruchtbar, aber zur be- grifflichen und erkenntniskritischen Durcharbeitung des Kör- perproblems bringt er ganz wesentliche Momente herbei. Er verdient daher genaue Betrachtung. Sogleich im Anfange der Geschichte der neuen Physik begegnen wir dem Auftreten einer Monadologie als dem Resultate der Verschmelzung ato- mistischer Gedanken mit der Theorie der lebendigen Weltent- wickelung bei GiORDANo Bruno aus Nola (1548 1600).^

^ Die italienischen Schriften citiere ich nach Waoneb (Leipzig 1830) und fage für De la causa etc. die Seitenzahl der Übersetzung von Lassox (Berlin 1872) hinzu. Die lateinischen nach den Originalen, von welchen ich die auf der Gothaer herzgl. Bibliothek vorhandenen in m. Abhandl. Criord. Bruno u, d. AUmiaUk, Viertelj. f, w. Ph. (1884) Vm p. 20 aufgeführt habe. Vgl. femer Babtholmess, Jordano Bruno, Paris 1846, 2 Ts. Cabbiebe, BeformaUonszeit,

360 ^- Bruno: Persönliches.

Ein dichterisches Genie und ein spekulativer Geist, der mit Feuereifer die Ideen des neuen Zeitalters in sich aufnimmt, mit schöpferischer Phantasie sie verbindet und erweitert, mit rastloser Energie sich ihrer Verbreitung widmet, beansprucht GiORDANO Bruno mit Recht einen Ehrenplatz in der Geschichte der Kultur. Nach einem bewegten Wanderleben, zu welchem ihn sein lebhaftes Naturell verurteilte, weil er weder die Fesseln geregelter Thätigkeit dauernd ertrug, noch bei seiner fanatischen Gemütsart die rücksichtsvolle Schonung anders Denkender über sich vermochte, treibt ihn sein Geschick zurück nach Italien, dem er als junger Dominikanermönch entflohen war, und Hefert ihn durch Verrat in die Hände der Inquisition. Die Glut des Scheiterhaufens, welche am 17. Februar 1600 auf dem Campo di Fiora vor den Augen einer gleichgiltigen Menge den ver- dammten Ketzerfürsten vertilgte, hat der Nachwelt mit dem rüstigen Leben des Zweiundfünfzigjährigen vielleicht noch manch köstliche Geistesfrucht geraubt, seinem Buhme konnte sie nicht Abbruch thun. Vielmehr wirft ihr düsterer Schein den Schatten des überzeugungstreuen Denkers gröfser und breiter in die kommenden Jahrhunderte, als das regelrechte Licht ruhiger Forschung es gethan haben würde, und die Märtyrerkrone ersetzt wirkungsvoll den etwa noch erhofften litterarischen Lorbeer.

In dem historischen Zusammenhange mit Pabagelsüs und CusANUs, insbesondere aus der Philosophie des letztem heraus, begreift sich die Lehre Brunos in ihren Grundzügen und die Entstehung seiner Atomistik.

Die Einheit von Materie und Form, das Zusammenfallen von Möglichkeit und Wirklichkeit ist der Grundgedanke von Brunos Metaphysik. Das Vermögen zu wirken, hervorzubringen und zu schaff^en ist nicht denkbar ohne ein Vermögen bewirkt, hervorgebracht und geschafifen zu werden; aber ebensowenig

n. S. 46 ff. Clemens, Griordano Bruno u. Nicolaus v. Cusa^'^ Bonn 1847, Bruitnhofer, G. Brunos Weltanschauung und Verhängnis, Lpz. 1882. Dazu die gröfseren Geschieh tswerk'e der Philosophie, auch Rixner n. Siber a. a. 0. 5. Heft. Über Le opere itaUane di O, Bruno ristampate da Paolo de Laoarde 8. Gott gd, Anzeigen 1889, n. 4. p. 113 ff. Das Werk von Fbl. Tocco: Le opere latine di G. Bruno esposte e confrontate con le itaUane^ Firenze 1889, konnte leider nicht mehr berücksichtigt werden.

G. BRcn7o: Einheit der absoluten Substanz. 361

ist eine Möglichkeit an sich denkbar, welche nicht zugleich Wirklichkeit ist ; denn wäre das Seinkönnende vor seiner Wirk- lichkeit, so wäre es ja, bevor es wirklich wäre. Das passive nnd das aktive Vermögen bedingen sich somit gegenseitig und können nicht ohne einander sein.^ Aber dieses Zusammensein von Potenz und Actus gilt nur von dem höchsten und allge- meinsten Prinzip, dem Absoluten, nicht von den andern Din- gen, welche nicht zugleich alles das sind, was sie sein können, sondern immer nur einiges von dem überhaupt Möglichen. Das Absolute jedoch ist zugleich wirklich alles das, was es sein kann; es umfafst in seiner unendlichen Einheit alles zu- gleich, alle Gegensätze sind in ihm geeint. Diese absoluteste Wirklichkeit, welche identisch ist mit dem absolutesten Ver- mögen, — das von dem Verstände nur auf dem Wege der Negation begriffen werden kann, weil derselbe ja nicht an die Unendlichkeit des Allseins hinanreicht,* diese absolute Ein- heit ist Gott selbst. In ihm ist Freiheit und Notwendigkeit, Wille und That ein und dasselbe. Gottes Denken ist das Werden der Dinge. Er ist durch sich selbst, er ist die allge- meine Substanz, er ist in allem und so ist alles in ihm; was in der Natur auseinander ist, das ist in ihm alles zugleich; er ist Ursache, Prinzip und Eines.

Da nun Gott die allumfassende Substanz ist, so ist auch alles der Substanz nach Eines; das Geistige und das Körper- liche mufs auf ein Wesen und eine Wurzel zurückgeführt werden.

Dadurch erhält die Materie eine ganz andre Bedeutung als bei Aristoteles; sie ist nicht das passive Substrat der Welt, sondern da sie alles Mögliche auf einmal ist, so begreift sie, absolut genommen, alle Formen und Dimensionen in sich. Als bestimmte und endliche Materie freilich wird sie nur von einigen Formen begriffen und existiert unter einigen derselben, so z. B. unter der Form der räumlichen Ausdehnung. Aber diese Formen, in denen die endliche Materie erscheint, nimmt sie nicht äufserHch von einem andren an, sondern sie bringt sie aus sich selbst hervor, wie aus ihrem Schofse heraufge-

* De la causa etc. Dial. 3. Wagker I p. 260, 261. Lasson S. 88, 89.

A. a. 0. Wagner I, 264. Lasson 93 f.

262 G. Bruno: Geschichtliche Anknüpfung.

sendet. Es ist eine innerliche, lebendige Entwickelung, eine Thätigkeit der Weltseele, welche das Entstehen nnd Vergehen im Universum als einen ewigen Kreislauf herauffiihrt und vollendet, und somit ist das All eine einzige, in allen Teilen beseelte Einheit, in welcher Wirken und Sein, Kraft und Ma- terie eins und untrennbar sind, in ewiger Bewegung, in orga- nischer aber notwendiger Entwickelung, in harmonischer Ord- nung. Die Materie aber ist die Gebär erin und Mutter der natürlichen Dinge, ja der Substanz nach die ganze Natur und selbst ein Göttliches zu nennen.^

In dieser seiner Lehre von der Materie, welche in ihrem absoluten Sein alle Gegensätze vereint enthält und sie in leben- digem Wirken in ihrer Verschiedenheit entfaltet, hat Bruno eine grofse Menge von Anregungen früherer Phüosophen zu bedeutungsvollem Ganzen zu vereinigen gewufst.

Die Einheit einer Körperliches wie Geistiges zugleich um- fassenden Materie hatte Ibn Gabirol gelehrt und auch schon die Entfaltung der allumfassenden Einheit zur Vielheit darge- stellt (s. 1. Buch S. 166) ; David von Dinant hatte die Materie als etwas Göttliches betrachtet, insofern er Gott, den vovg und die erste Materie als die abstraktesten Begriffe und daher als zu- sammenfallende ansah ; Ibn Roschd vertrat die Educierung der Formen aus der Materie ; das Zusammenfallen aller Gegensätze in der unendlichen Einheit Gottes und die Entfaltung der- selben aus jener Einheit zur Vielheit durch die Materie war der Grundgedanke des Nicolaus von Cusa; Pabacblsüs endlich hatte in seiner Lehre von der allgemeinen Belebtheit der Na- tur besonders die Entwickelung von innen heraus und die Un- trennbarkeit von Sein und Wirken betont. Die Ansichten aller dieser Männer, welche selbst wieder vom Neuplatonismus beeinflufst waren, kannte^ Bruno, und es geschah mit klarem Bewufstsein seines Anschlusses an dieselben, dafs er ihre Lehren

» A. a. 0. 4. Dial. Waqnbr I, 272—277. Lasson 108—114.

* Er beruft sich auf dieselben an verschiedenen Stellen. Man sehe über Ibn Gabirol (Avicebron): De la causa etc. Waoner I, 251, 257, 269. Dayd) VON Dinant: A. a. 0. I, 279. Avbrroes: A. a. 0. I. 274. Nicolaus von Cusa: Wagner I, 154 („il divino Cusano"). I, 288. II, 54, 214. Oratio vakdictoria bei Heumann Acta phü. II, 406. Paracelsds: Waqn. I, 249, 251, 252 u. Gprörer p. 627, 569. Plotinus: Wagner I, 238, 270 u. noch oft.

G. Bruno: Entwickelung der Einheit. 363

von der Materie zu einem fruchtbaren Systeme zusammenfafste. Von dem so gewonnenen Begriffe der Materie aus, als des Einen, Unendlichen, alles in sich Enthaltenden, Göttlichen, schreitet Bruno weiter in der Verschmelzung der Systeme vor und zieht durch Aufstellung seiner Monadenlehre die Atomistik in den Kieis seiner Weltauffassung. Die Brücke hierzu bietet ihm die Explikationslehre und die Erkenntnistheorie des Cusa- ners. Es läfst sich Schritt für Schritt verfolgen, wie die Mo- nadologie, sowie die mathematisch-physikalische Atomistik Brunos aus der Lehre des Cusanus hervorgeht.

2. Einheit und Minimum.

Qanz wie bei Ctjsanüs wird bei Bruno die Auflösung aller Gegensätze in der Einheit des Unendlichen und die Zusammen- faltung der Verschiedenheiten in dieser Einheit gelehrt und durch mathematische Gleichnisse erläutert.^ Wie Kreis und gerade Linie, Peripherie und Centrum im Unendlichen zusam- menfaUen (ersteres bei unendlich grofsem, letzteres bei unend- lich kleinem Kreise), so sind Gröfstes und Kleinstes im Absoluten ungetrennt ; wie der Punkt sich zur Linie, die Linie sich zur Fläche, diese zum Körper durch Bewegung entfalten kann, so sind sie im Absoluten, wo Möglichkeit und Wirklich- keit identisch sind, auch nicht zu unterscheiden; wie in allen ähnlichen Figuren, gleichviel ob ihr Flächeninhalt ganz gering oder aufser ordentlich grofs ist, die Winkel doch immer von derselben unveränderlichen Grölse bleiben, so zieht sich durch aUe Dinge das Sein des Unendlich-Einen, so ist in allen Dingen die unendliche Substanz ganz, obwohl in verschiedener Weise. Warum aber verändern sich die Dinge? Warum wird die ge- ordnete Materie in immer andre Formen gezwängt? Die Antwort ist, dafs keine Veränderung ein andres Sein, son- dern nur eine andre Art zu sein anstrebt. Und das ist der Unterschied zwischen den Einzeldingen und dem Universum, dafs dieses alles zugleich, jene aber, als an ein endliches Sub- strat gebunden, nicht Entgegengesetztes zugleich sein können. In der unendlichen Substanz findet sich die Vielheit, die Zahl;

* De la causa etc. Wagner p. 288 f. Lasson S. 132 f.

364 ^- Bruno: Erkennen durch die Einheit.

aber sie macht das Wesen nicht zu mehr als Einem, sondern nur zu einem vielartigen und vielgestaltigen Wesen. Die Vielheit und Mannigfaltigkeit der Dinge ist daher nur ein Accidens, eine Komplexion der einheitlichen Substanz; die Unterschiede der Körper in Form, Beschaffenheit, Gestalt, Farbe u. s. w. sind nichts andres als eine verschiedene und wechselnde Erscheinung der einen und unveränderlichen Sub- stanz.^ Die Accidentien bewirken die Vielheit der absoluten Einheit. Es ist also die unendliche Einheit, welche sich zur Vielheit der Welt entwickelt, welche sich selbst zu unendlich vielen Einheiten entfaltet, wie ein einziger Funke, wenn ihm zureichender Stoff gewährt ist, zur unaufhaltsam lodernden Flamme anwächst.*

Dieselbe Stufenleiter, auf welcher die Natur zur Hervor- bringung der Dinge herabsteigt, führt die Vernunft zur Er- kenntnis derselben empor, ^ die Natur entwickelt sich aus der Einheit zur Vielheit, die Vernunft sucht die Einheit auf, um die Vielheit der Dinge zu begreifen.* Dieses Begreifen ist nur möglich durch ein Zurückführen des zu Begreifenden auf die zu Grunde liegende Einheit. Die Mathematik, die Logik würden um so vollkommener sein, je mehr ihre Sätze auf wenige oder auf einen einzigen zusammengezogen wären.^ Das Aufsuchen der Einheit ist also eine notwendige Bedingung des Erkennens. Darum mufs es in allen Dingen ein letztes und kleinstes, eine unteilbare Einheit, ein Minimum geben, von welchem aus alle Gröfse und jedes Ding entsteht, ohne welches es auch kein Mafs und kein Erkennen gäbe.^

* A. a. 0. Waoner p. 282 f. Lasson S. 122 f.

* De min. II, 1. p. 54.

* De la causa etc. Waoner p. 285. Lasson S. 128.

* A. a. 0. Wagner 285. Prima dunque voglio, che notiate, essere una e medesima scala, per la quäle la natura discende a la prodazion de le cose, e rinteletto ascende a la cognizion di quelle, e che l'uno e laltra da runitä procede a Tunitä, passando per la moltitudine di mez^i.

'' A. a. 0. Wagneb 287. Lasson 130, 131. Daselbst auch: Giammai cre- demo esser gionti al primo ecte et universal substanza, sin che non siamo arrivati a quell'uno individuo, in cui tutto si comprende: tra tanto non piü credemo comprendere di sustanza e d'essenza, che sappiamo oomprendere d'indiyisibilitä.

^ Die Belege dafür weiter unten.

G. Bruno: Minimum als Punkt, Atom, Monade. 365

Dieses MininiTiTn, als die Grundlage alles endlichen Seins, macht nun Bruno in eingehendster Weise zum Gegenstand seiner Betrachtung. Der Begriff des Minimums ist zunächst bei Bruno ganz allgemein gefafst und nicht von vornherein auf den Eaum oder das Körperhöhe bezogen. Das Minimum im weitesten Sinne ist nicht blofs das räumlich oder physisch Eleinste und Unteilbare, sondern das absolut Einfache und unterschiedslose. Das räumliche Minimmn, der Punkt, und das physische Minimum, das Atom, erscheinen nur als be- sondre Fälle des Einfachen überhaupt, des metaphysischen Minimums.^ Für dieses allgemeine Minimum gebraucht Bruno neben dem Worte Minimum auch den Ausdruck nionas, welcher ursprüngüch der Einheit als Grundlage der Zahlen angehört, in übertragenem Sinne aber auf das unterschiedslose Eins als Grundform alles Seins angewendet wird. Die Monade liegt allen Dingen zu Grunde, sie ist die Substanz aller Dinge.^ Wie die Einheit das Element bildet, auf welchem die Zahlen sich aufbauen, wie der Punkt die Grundlage alles Räumlichen ist, so muls es auch in allem Sein eine zu Grunde liegende einfache Substanz geben, welche eben ihrer Einfacheit wegen alles umfafst und trägt. Ohne ein solches Minimum gibt es

* De nUn. I c. 2. Schol. p. 10: Ad corpora ergo respicieoti oninium sub- stantia miDimum corpus est scu atomus, ad lineam vero atque planum mini- mmn, quod est punctus.

' De minimo I, c. 2. p. 9. Minimum substantia rerum est etc. Ich gebe die Verse des 2. Kapitels hier nicht wieder, da sie zum grofsen Teil bei Bartholhess, II p. 208, und in freier metrischer Übersetzung bei Carbiere U S. 136 angeführt sind, und beschränke mich auf einige Sätze aus dem Scholion dieses Kapitels, woselbst es heifst (p. 10): Minimum est substantia rerum quatenus videlicet aliud a quantitatis genere significatur, corporearuni vero magnitudinum, prout est quantitatis principium. Est inquam materia seu elementum, efficiens, finis et totum, punctum in maguitudine unius et duarum dimensionum, Atomus privative in corporibus quae sunt primae partes, Atomum negative in iisce quae sunt tota in toto atque singulis, ut in voce, anima et higusmodi genus. Monas rationaliter in numeris, essentialiter in omnibus. Inde maximum nihil est aliud quam minimum. Tolle undique minimum, ubique nihil erit. Aufer undique monadem, uusquam erit numerus, nihil erit nume- rabile, nuUus numerator. Hinc optimus maximus substantiarum substantia et entitas, qua entia sunt, monadis nomine celebratur. Numerus est accidens monadis, et monas est essentia numeri ; sie compositio accidit atomo et atomus est essentia compositi.

366 ^- Bruno: Notwendigkeit und Wesen des Minimums.

überhaupt nichts, ohne £inheit nichts Zählbares und nichts Zählendes. Jede Gattung des Seins muTs in sich ein be- stimmtes Minimum besitzen, ohne welches keine graduelle Ab- stufung und keine Anlegung eines Mafses möglich wäre.^ Auf ihm beruht die Ordnung der Natur, aus ihm setzt die Natur alles zusammen und löst durch dasselbe die Dinge wieder in ihre kleinsten Teile auf. Dem Verfahren der Natur folgt die Kunst; wie die Naturvorgänge in einem Zusammensetzen xmd Auflösen aus dem Minimum und in das Minimum bestehen, so erfordert auch die Betrachtung und das Denken des Menschen ein solches Element der Zusammensetzung und Auflösung.' Das Minimum ist also das Prinzip, ohne welches ein Sein überhaupt nicht wäre. Es enthält und entsendet gewisser- mafsen den Weltgeist, welcher ohne Beschränkung durch die Masse alles durchdringt und allen Dingen sein Zeichen auf- drückt ; durch diese weltgestaltende und weltordnende Wirkung ist das Minimum Wesen und Materie der Dinge.*

In seiner Eigenschaft als Grundlage alles Seins wird das Minimum aber Eines mit dem Maximum, das Kleinste wird zum Gröfsten, denn es schliefst alles Endliche in sich, dessen Element es ist. Daher ist das Minimum erhaben über jedes endliche Sein und umfafst jedes besondre Sein; es ist un- veränderlich, einfach, ohne inneren Gegensatz, immer sich selbst gleich, durch keine Kraft erzeugt, durch keine zerstörbar, unwandelbar und ewig.* Das Minimum ist nicht nur Element der Zusammensetzung und Gestaltung, sondern auch selbst das Zusammensetzende, Gestaltende, Vermehrende;* es ist zu gleicher Zeit Endziel und bewirkende Ursache.* Keim und Leben jedes Dinges ist in ihm enthalten. Aus ihm heraus entwickeln sich die Kräfte und Massen der Natur. Insofern ist es das Mächtigste von allem, weil es Gröfse, Beweggrund und Wirkungsfahigkeit von allem umschliefst. Und daher

* De minimo, 1. 17 c. 2. (mit der Überschrift: Bx minimo crescit et in minimum omnis magnitudo extenuatur), Schol. p. 102. '

^ De min. I c. 2. v. 16—24 f. » A. a. 0. V. 7—10.

* A. a. 0. V. 35—37.

* De min. I. c. 4. Schol. p. 16. « S. Anm. 2, S. 365.

G. Bruno: Gegensätze im Minimum vereint. 367

wird das Sein, wodurcli alles ist, die Substanz der Substanzen, nämlich Gott, durch den Namen der Einheit gefeiert^ und die Monade der Monaden genannt.^ Weil durch die Monade alles Eins ist, so ist es auch überhaupt erst durch die Monade; denn was nicht Eins ist, das existiert überhaupt nicht.

In dem Minimum, dem Einfachen, der Monade sind alle Gegensätze geeinigt, gleich und ungleich, viel und wenig, endlich und unendlich, klein und grofs und alles, was da- zwischen ist. Von der Monade gilt nun die Verschmelzung und das Zusammensein der Gegensätze in demselben Mafse, wie von dem Universum; Bruno stellt für diese Vereinigung gegensätzlicher Beziehungen bei demselben Gegenstande fol- gende Beispiele zusammen:

1. Gott ist zugleich überaU und nirgends, aUes umschliefsend und in allem eingeschlossen, Anfang und Ende, A und i2, Innerstes und AuTserstes zugleich.

2. Im Universum sind die Dimensionen nach Länge, Breite und Tiefe nicht zu unterscheiden und jeder Punkt ist Mittel- punkt.

3. In der partikulären Kugel unsrer Welt (im Universum bestehen nämlich unendlich viele Welten) gibt es vom Mittel- punkte aus keinen Unterschied der Dimensionen.

4. Bei der täglichen Umwälzung der Erde sind in Bezug auf die Gesamtoberfläche der Erde alle Tageszeiten zugleich vorhanden.

5. Eine konkave Oberfläche oder Linie ist zugleich (nach der andren Seite hin) konvex. Konkavität und Konvexität bedingen sich gegenseitig.

6. Der kleinste und der gröfseste Winkel (Null- Winkel und gestreckter Winkel) fallen mit der geraden Linie zu- sammen.

7. Der kleinste Bogen und die kleinste Sehne fallen ebenso zusammen, wie der gröfste Kreis mit der geraden Linie, der kleinste Kreis mit dem Pimkte.

8. Die schnellste Bewegung und die langsamste, d. h. die Buhe, sind identisch. Denn wenn sich ein Punkt sehr

* 8. Anm. 2, S. 365.

' Dt min. I, c. 4. Schol. p. 17, Daselbst das Folgende.

368 G' Bruno: Mathematisches Minimum.

rasch auf einem Kreise bewegt, so ist er zugleich in allen durchlaufenen Punkten und ruht daher in jedem.

Daraus erkennt man, dass die Linie nichts andres ist als ein bewegter Punkt, die Fläche eine bewegte Linie, der Körper eine bewegte Fläche. Demzufolge ist ein beweglicher Punkt die Substanz aller Dinge und das Ganze ist ein beharrender Punkt. Dasselbe gilt vom Atom und ganz besonders von der Monade, wie denn das Minimum oder die Monade alles zugleich ist. Wenn daher die Betrachtung den Spuren der Natur folgen will, so mufs sie vom Minimum beginnen, bei der Betrachtung des Minimums stehen bleiben, mit demselben die Betrachtung schliefsen.^ Es zeigt sich somit, dafs der Begründung der Naturwissenschaft, der Mathematik und der Metaphysik eine Untersuchung über das Minimum vorausgehen müsse.«

3. Mathematische Atomistik.

Nachdem Bruno die allgemeine Bedeutung des Begriffs „Minimum" oder „Monade" festgestellt hat, wendet er sich zu dem räumUchen und physischen Minimum, zu Punkt und Atom. Li Physik wie Mathematik liegt der Grund aller Lrtümer nach Bruno in der fälschlichen Ansicht von der Teilbarkeit des Kon- tinuums ins Unendliche. Er wagt sich daher daran, jede kon- tinuierliche Gröfse als durchaus atomistisch konstituiert aufzu- fassen und darzustellen.^ Das Auffallendste in dieser Ato- mistik ist das vollständige Verschmelzen der Begriffe des mathematischen und physischen Körpers; was vom physischen Substrat gilt, soll auch von der mathematischen Figur gelten. Der Begriff des Minimums löst jedes Kontinuum in unteilbare Elemente auf. Das Minimum ist dasjenige, was keine Teile

^ De min. I 4. p. 18.

* De min. I 5. Schol. p. 20.

' De min. I c. 6. Schol. p. 23: Principium et fuudamentum erronim omnium tum in pbysica tum in mathesi, est resolutio continui in infinitum. Nobia vero probatur tum naturae tum artis Terae resolutionem quae extra uaturam non incedit a magnitudiue finita et numero descendere in ato- mum, tum vero naturae, tum couceptui adjiciendo, modum ullüm a rebus non esse constitutum, nisi ad certarum specierum particularium naturam rcspicienti.

6. Bruno: Relativität des Minimums. 369

mehr hat, weil es selbst der erste Teil, d. h. der An- fang der Zusammensetzung, die Grundbedingung der Existenz ist. Natur und Kunst werden dalier bei der Auflösung nur bis dorthin vordringen können, wo die Zusammensetzung anfing, d. h. wo keine Teile mehr vorhanden sind. Nicht weil es ein Letztes der Teilung, sondern weil es ein Erstes, Unver- änderliches und ein Mafs der Dinge geben muss, existiert das Atom. Bis wohin die Teilung fortschreiten kann, und wo sie stehen bleiben muTs, das läfst sich allerdings nicht angeben, aber dafs sie an einer bestimmten Stelle aufhören mufs, dafs sie irgendwo auf das unteilbare stöfst, ist unzweifelhaft. Die Unbestimmtheit über die Grenze der Teilbarkeit hat den Irr- tum veranlafst, dafs sie ins ünendUche gehe; sie geht jedoch nur ins Unbestimmte, weshalb auch umsichtigere Mathematiker nicht von einer Teilung in infinUum sondern in indefinitum sprechen. In der Vorstellung ist allerdings ein Progrefs ins UnendUche möglich, aber demselben kann weder in der Natur noch in der praktischen Anwendung etwas entsprechen. In der Natur mufs es jedenfalls reale Anfange geben, aus welchen die Gxöfse zusammenwächst; in der Praxis freilich wird es willkürlich und von den Umständen abhängig sein, bei welcher Grenze der Teilung man stehen bleibt; was das eine Mal als erster Teil genommen wurde, kann ein ander Mal als letzter behandelt werden, jedenfalls aber wird ohne einen ersten Teil überhaupt nichts zustande kommen.* Obgleich diese ersten Teile bei räumlichen Dingen unter der Grenze des Sinnlichen Hegen, so kann doch das sinnHch nnwahmelimbare Minimmn nichtsdestoweniger Objekt der Betrachtung sein. Die Ge- wifsheit seiner Existenz entnehmen die Sinne nämlich der Be- sohaflfenheit der sinnhchen Gegenstände und übertragen sie durch das Denken auf die Minima.*

Dafe das Minimum oder reale naturae weit unter den Gren- zen der Sinnlichkeit liegt, wird durch ein aus Lukrbz^ ent- nommenes Beispiel erläutert, das wir, jedenfalls aus derselben

De min. I, 7. Schol. p. 28.

De min. I, 14. Schol. p. 52.

De nat rer, 1. IV. v. 116—121. Vgl. die entsprechenden Stellen bei LuBiN, Senkert, Basso, Maonekus und den folgenden.

LafewitB. 24

370 ^- Bbuno: Minimum und Terminus.

Quelle, nunmelir bei allen £menerem der Atomistik wiederkehren sehen. Es wird nämlich gesagt: Es gibt so kleine Tiere, dals man schon den dritten Teil derselben nicht mehr mit den Augen wahrnehmen kann; da diese wieder gegliederte Organe, Gehirn, Augen etc. besitzen und diese wieder aus Elementar- teilchen bestehen, so ist es klar, wie weit letztere unter den Grenzen der Sinnlichkeit liegen müssen.^

Der Haupteinwand der Aristoteliker gegen das Bestehen des Kontinuums aus Atomen geht nun dahin, dafs unteilbare Körper, also Körper, welche keine Teile haben, auch keine Grösse bilden, durch Zusammenfugen nicht wachsen können.' Ein Minimum zum andren hinzugefugt, könne dasselbe nicht gröfser machen. Denn wenn sich zwei Minima berührten, so mü&ten sie sich (da sie keine Teüe haben) in ihrer ganzen Masse berühren, d. h. sie müfsten zusammenfallen. Ein Punkt zum Punkte hinzugefugt fallt mit ihm zusammen.

Dieser Einwand sagt Bruno ist falsch. Er beruht auf dem Mangel der Unterscheidung zwischen Minimum und Terminus; er löst sich ohne Widerspruch, sobald man sich diesen unterschied zwischen dem Minimum, als dem ersten Teil des Baumes, und der Grenze (Terminus), welche kein Teil ist, klar macht. Das Minimum hat keine Teile, ist aber selbst Teil, und zwar der erste Teil aller Zusammensetzung. Die Grenze (Terminus) hat ebenfalls keine Teile, ist aber selbst kein Teil, sondern trennt nur zwei Teile oder zwei Ganze. Ein körperliches Minimum berührt also ein andres nicht seiner ganzen Masse nach, sondern nur an der Grenze, und die Grenze darf nicht Teil des Begrenzten genannt werden. Der Terminus entsteht erst durch die Berührung, und das Minimum ist nicht etwa aus Terminis zusammengesetzt. MinimiiTn und Terminus sind generisch verschieden. Der Körper ist nicht von Körpern, sondern von Flächen, die Fläche nicht von Flächen, sondern von Linien begrenzt; bei einem körperlichen MiniTmiTn ist also die Grenze nicht ein Teil desselben, sondern ein flächenhafbes Minimum und somit von andrer Gattung.* Man hat nämlich verschiedene Gattungen von Minimen zu unterscheiden.

* De min, I, c. 9. v. 10 ff. p. 38. Vgl. 1. Buch S. 104. » De min. I, 7. Schol. p. 29 f.

G. Bruno. Teil und Grenze im Kontinuum. 371

Das körperliche Minimum ist das Atom oder der prim- ordiale Körper; das Minimum in der Fläche ist der Punkt. Diese Minima berühren zugleich mehrere benachbarte Minima ebenfalls in Punkten, welche aber nicht Minima, sondern Ter- mini sind.^ Man hat also wohl zu unterscheiden zwischen dem Punkt als Minimum der Fläche (welches als unendlich kleiner Kreis ohne weitere Teile zu denken ist und seine benachbarten Minima berührt) und dem Punkte als Terminus, der nicht als Teil der von ihm begrenzten aufgefafst werden darf.* Die Ghrenzpunkte, welche weder Teile sind noch Teile haben, können natürUch auch nicht geteüt, wohl aber vervielfältigt werden. Die Vervielfältigung geschieht durch Vermehrung der sich be- rührenden Minima. Diese Trennung zwischen Punkt als Grenze und Punkt als Minimum des Körpers oder der Fläche zeigt, dals die Körper, Atome und Minima sich gar nicht selbst be- rühren, sondern nur mit ihren Terminis, so dafs sie also bei der Berührung keineswegs zusammenfliefsen, sondern getrennt bleiben. Daher bewirkt die Hinzufügung eines Minimums aUerdings eine Vermehrung des Ganzen.

Mit Hilfe der Begriffstrennung zwischen punktueller Baum- gröfse und Grenzpunkt versucht Bruno eine Mathematik auf

* De min. I, 10.

De min. 1. IV. c. 7. p. 145.

Quid Minimum et Terminus. Est Minimum cujus pars nulla est, prima quod est pars. Terminus est finis cui nee pars, quod neque pars est.

Quid punctum, quod est minimum. Cujus non pars est primam partem inquio Punctum In piano; minimi speciem si intelligis ipsum.

Quid punctum quod est terminus. Posto, aut simpliciter, quod nee pars, cui neque pars est, Quanto omniiinis Punctus tibi terminus esto.

De min. I, 14. Schol. p. 49. Terminus est principium dimensi ut unde, seu de quo; Minimum vero ut ex quo. De min. I, 7. Schol. p. 30. Itaque definias minimum quod ita est pars, ut ejus nulla sit pars, vel simplioiter, vel secnndum genus. Definias Terminum, cujus ita non est aliqua pars, ut neque Bit ipee aliqua pars, sed est, quo extremum ab extremo attingitur, vel quo pars partem vel totum attinget totum: itaque juxta magnitudinis species est diversus: alius enim est lineae ad iineam, superficiei ad superficiem, corporis ad corpus.

24*

372 6- Bruno: Arten der Minima.

atomistischer Grundlage zu errichten. Während bis hierhin seine Bestimmungen durchaus sachgemäfs und notwendig sind, beginnt nun eine nicht zu leugnende Verwirrung in der Fest- Stellung der Gesichtspunkte und der gezogenen Folgerungen.

Der Begriff des Minimums ist allerdings ein relativer, in- sofern er von den Voraussetzungen über die betrachteten Ge- genstände und von den Zielen und Absichten der Untersuchung abhängt.^ Er ist relativ sowohl in Bezug auf die Gröfse als auf die Gestalt, welche man dem Minimum geben will; wie das Atom gegenüber dem sichtbaren Körper, so kann auch die ungeheuere Kugel der Erde als ein Minimum angesehen werden gegenüber den Weiten, in welchen die Fixstern© sie umgeben.* Für den Grammatiker ist der Buchstabe das ein- fachste Element, das keine weitere Teilung zuläfst, noch ihrer bedarf; für den Geometer ist der Buchstabe ein Linienzug, also noch weiter teilbar und etwas Zusammengesetztes.' In der praktischen Geometrie wird es oft förderUch sein, eine Figur aus solchen Minimen bestehen zu lassen, welche der ganzen ähnUch sind; beim Kreise ist dies nur mögHch, wenn man zu- gleich noch eine zweite Art Minima, nämlich krummlinige Dreiecke als Zwischenräume zwischen den minimalen Kreisen annimmt.-^ In einem aUgemeinen Sinne wird man überhaupt so viele verschiedene Gattungen von Minimen annehmen können, als es verschiedene Gattungen von Dingen gibt,* und man wird auf die speziell zu betrachtende Art Rücksicht nehmen müssen.

Betrachtet man aber das räumliche MiniTmiTn absolut, so kann ihm nur eine Gestalt zukommnn, und zwar die runde. Das Minimum in der Ebene mufs der Kreis, in dem Ilaume die Kugel sein. Denn erstens lehren Sinne und Vorstellung, dafs eine sinnlich wahrgenommene oder vorstellbare Figur mit Ecken und Hervorragungen nach Fortnahme derselben als kleiner wahrgenommen werden wird; zweitens zeigt die Natur

* De min, I, 10. Schol. p. 41.

* De min. I, 8. Schol. p. 37.

^ Summa terminorum meiaphysicorum J. Bbüni per Eaph. Eglinüm. Mar- purgi Cattorum 1609. p. 9.

* De min. I, 12. Schol. p. 47.

* De min, I, 11. Schol. p. 44.

G. Bruno: BildaDg der Figuren aus Minimen. 373

selbst, dafs sie Steine und harte Körper durch Abschleifen ab- rundet ; drittens haben bei dem Kreise und der Kugel die Ab- stände der Teile vom Zentrum ihren kleinstmöglichen Wert erreicht.^

Nachdem so die runde Gestalt der Minima festgestellt ist, ergeben sich daraus bemerkenswerte Folgerungen in Bezug auf die Zusammensetzung der räumlichen Figuren. Das kleinst- mögliche Dreieck erfordert drei Minima zu seiner Darstellung, das Quadrat deren vier, der Kreis, wenn derselbe mehr als ein MiniTnuTn enthalten soll, sieben, so dafs das Minimum im Zen- trum zugleich von 6 Minimen in 6 Punkten berührt wird. (S. Fig. 6.) Daraus aber ergibt sich, dafs weder eine geradlinige

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Figur noch ein Kreis durch Hinzufügung von einem Minimum wachsen kann, sondern dafs dazu immer eine bestimmte An- zahl notwendig ist ; beim Dreieck sind der Seihe nach 3, 4, 5 etc. neue Minima auf einmal erforderlich, beim Quadrat 5, 7, 9 etc., beim Kreise 12, 18, 24 u. s. w. Eine solche Reihe von Mini- men, durch welche der Inhalt einer Figur (ohne Grestaltänderung) vergröfsert wird, nennt Britno einen &nomo.^ Bruno glaubt nun, dafs wegen der Ungleichheit der zu addierenden önomone auch die Summen stets ungleich sein müfsten und sich daher niemals zwei Figuren ergeben könnten, welche eine gleiche Anzahl Minimen enthielten. Daraus folgert er, dafs sich überhaupt keine Figur in eine andre, nicht einmal eine gerad- linige in eine andre geradlinige, wieviel weniger in einen Kreis verwandeln lasse. Allerdings könne man ja Stücke aus Wachs oder Blei in die verschiedensten Gestalten bringen, das sei aber ein rohes und im wissenschaftliches Verfahren, lediglich für den Sinnenschein berechnet, wobei die Gröfsenveränderung

* De min, I, 12. v. 10 ff. p. 45, 46. Schol. p. 47.

* Über den Ausdruck Chnomon bei Aristoteles, Euklid, Heron s. Cantor, Qt8(h, d. Math. I, S. 136, 137.

374 ^* Bruno: Keine Verwandelbarkeit der Figuren.

der Zwischenräume und Poren nicht bemerkt wird. Auch sei es ja bekannt, dafs die Mathematiker jede geradlinige Figur in ein Dreieck, dieses in ein Parallelogramm, von da in ein Eechteck und endlich in ein Quadrat verwandelten, und er selbst habe in seinem Buche De principiis mensurae et figurae (es ist dies das 4. Buch De minimo) dergleichen Konstruktionen gelehrt, aber dies alles sei nur als mathematisch und sehr be- quem für die sinnliche Anschauung (ad sensum) zuzugeben, entspreche indes keineswegs den wirklichen Verhältnissen in der Natur und der verstandesmäfsigen Einsicht. Die Bequemlich- keit für die Sinne beruht darauf, dafs die kleinen Un- gleichheiten, welche bei diesen Umformungen auftreten, nicht berücksichtigt werden, da sie allerdings nur für das Denken, nicht aber für die sinnliche Anschauung vorhanden sind.^ Für das Denken und in der Wirklichkeit der Natur existiert also keinerlei Verwandlung der Figuren; dieselbe kann vielmehr stets nur eine äuTserliche, niemals eine von innen heraus be- wirkte sein; und dies gilt natürlich auch für die Quadratur des Zirkels.«

Der spezielle Grund, auf welchen Bruno diesen Schlufs stützt, dafs nämlich Figuren mit gleicher Anzahl Minimen wegen des ungleichmäfsigen Zuwachses nicht möglich wären, ist übrigens nicht richtig, denn thatsächlich kann in den Reihen der verschiedenen Polygonalzahlen sich dieselbe Zahl wieder- holen ; so ist z. B. 36 sowohl die achte Dreieckszahl als die sechste Quadratzahl, d. h. 36 Kreise kann man sowohl zu einem Dreieck als zu einem Quadrate zusammenlegen; in die Seite des Dreiecks kämen dann 8, in die Seite des Quadrats 6 Kreise zu liegen. Ebenso k8«m man 91 Kreise, welche ein Dreieck bilden, in dessen Seite 13 derselben liegen, so zusammenlegen, dafs jene sechseckige Figur, als welche Bruno den Kreis auf- fafst, entsteht, wenn man den Radius gleich 6 ninmit. Der Schlufs, welchen Bruno zieht, dafs sich streng genommen und absolut eine Figur niemals in eine andre verwandeln lielse, be- ruht also auf einem mathematischen Irrtum ; das hat aber nicht viel zu sagen, da Bruno noch viel weiterreichende Gründe für seine Behauptung bei der Hand hat.

* De mm. II, 8. Schol. p. 81—83.

De min. ÜI, 12. Schol. p. 128.

G. Bbuno: Ungenauigkeit der math. Figuren. 375

Es kann nämlich nicht nur eine Eigur einer andren nie gleichgemacht werden, sondern sogar ein und dieselbe Figur kann nicht zweimal auf dieselbe Weise konstruiert, kann nicht in gleicher Weise wiederholt werden. Denn erstens gibt es überhaupt in der Natur nirgends zwei gleiche Dinge oder gleiche Teile ; wenn auch die Gröfse des MiniimiTn« immer die- selbe ist, so müssen doch zur Ordnung der einzelnen Arten und Individuen soviel verschiedene Minima angenommen werden, ab es Arten gibt, die hervorzubringen sind. Eine Spezies ist dann der Anfang der andren, sowie von der Spezies des Em- bryo zur Spezies des Tieres oder des Menschen es einen Fort- schritt ohne Auflösung gibt.^ Die Verschiedenheit der Teile selbst verhindert also schon eine völlige Gleichheit der Körper oder Figuren. Zweitens aber gibt es in der Natur keine Buhe und kein Verharren. Alles ist in einer fortwährenden Bewe- gung, Veränderung, Zersetzung und Neubildung begriffen. Wie die Wellen eines Stromes, wie die Flammen des Lichtes bleibt nichts dasselbe, was es im Momente vorher war, sondern alles fliefst in ewigem Wechsel. Alle Teile der Dinge ändern sich fortwährend durch das unablässige Ein- und Ausströmen un- zähliger Atome.^

Daraus folgt nicht allein, dafs es nicht zwei gleiche Figuren in der Natur geben kann, sondern dals es überhaupt keine genaue mathematische Figur gibt. Ein endlicher Kreis existiert nicht in der Natur, und der sinnlich wahrge- nommene Elreis ist in Wirklichkeit kein Elreis.^ Begelmäfsig- keit ist wie die absolute Gleichheit niemals und nirgends vor- handen. So ist es auch in der That nicht mögUch, eine Linie genau in zwei gleiche Teile zu teilen, und wenn man die Tei- lung wiederholt vollzieht, so wird man doch immer wieder auf ein andres Atom treffen.

Dafs man zwischen den einzelnen Teilen der Figuren ge- rade Linien ziehen könne, ist ebenfalls ein Schein und nur für die sinnliche Wahrnehmung giltig. In Wirklichkeit sind solche Linien dort allein vorhanden, wo eine unmittelbare Be-

* De nun, 11, 5. Schol. p. 71.

* Be min. I, 4. 11, 4. p. 61. Schol. p

* Be mm. 11, 4. p. 61. I, 2. p. 56.

376 ^- Britno: Atomistische Mathematik.

rührung der kreis- oder kugelförmigen Atome stattfindet; eine solche Reihe von Minimen heifst ein filum. Aus dieser Auf- fassung der Geraden widerlegen sich diejenigen Einwände, welche man von selten der Mathematik gegen die Zusammen- setzung des Raumes aus starren Punkten hat machen wollen. Man hat eben den Punkt als Minimum vom Punkte als Ter- minus nicht unterschieden. Man müfste aber berücksichtigen, dals z. B. im Quadrat zwar die Atome in den Seiten und den ParaUelen dazu, nicht aber in den Diagonalen sich berühren, dals also diese weiter voneinander abstehen. Daher ist die Diagonale keineswegs gleich der Seite, wie die Gegner der Atomistik wollen.^ Auch gibt es vom Mittelpunkte des Kreises aus nach der Peripherie durchaus nicht unendlich viele Radien, sondern in Wahrheit nicht mehr als 6 gerade Linien, da nur 6 Kreise von einem (gleich grofsen) Ejreise berührt werden. In dem einfachsten Falle, dafs nur 6 Minima um das Minimum in der Mitte gelegt sind, enthält der Radius 2 Minima; fügt man noch einen Gnomon hinzu, so besteht der Radius aus 3 Minimen u. s. w.*

Wenn zwei gerade Linien sich unter einem schiefen Winkel schneiden, so wäre es irrtümlich, zu glauben, dafs sie sich in einem Punkte schneiden, sondern sie berühren sich secundum longum} Eine Berührung von Bjreisen untereinander und mit Geraden braucht überhaupt nicht immer in einem Punkte statt- zufinden; insbesondere wird ein sehr grofser Bereis mit einer Geraden sich nicht punctualiter^ sondern linealüer berühren.* Es folgt ferner aus der runden Gestalt der Minima, dals ein Win- kel im allgemeinen nicht in mehr als zwei gleiche Teile (ab- solut genommen) geteilt werden kann, weil sich von dem Mini- mum in seinem Scheitel im allgemeinen zwischen den Schen- keln nicht mehr als eine (reelle) Gerade ziehen lassen wird es lassen sich nämlich, wie schon gesagt, von einem Punkte aus in der Ebene überhaupt nur 6 gerade Linien ziehen.^ Durch die atomistische Fassung des Raumes glaubt Bruno end-

^ De'min. II, 13. p. 89, 90.

* De min, III, 2. Schol. p. 103. Vgl. Fig. 5. S. 373. ' De min. 11, 13. Schol. p. 91.

* De min, II. 15. p. 95, 96.

* De min. III, 3. p. 104 f.

G. Beuso: Atome und Vacnum. 377

lieh mller Schwierigkeiten des Begriffes der Irrationalität sich enthoben zn haben. Einen Unterschied zwischen nationalem mid Irrationalem gibt es nicht mehr. Dadurch wird auch die Trigonometrie mit ihren Sinustafeln überflüssig, ja es eröffnet sich durch den Vergleich der kleinsten Sehne mit dem klein- sten Bogen sogar ein Weg zur Ausmessung der Peripherie des Kreises: allerdings nur durch äufsere Annahmen, da ja, wie ans den Prinzipien folgt, von einer inneren Gleichheit niemals Rede sein kann.^

4. Physikalische Atomistik.

Jene absonderliche Mathematik entsteht bei Bruxo, weil seine Minima immer zugleich Atome des physischen Kontinuums sind. Denn die Existenz des Minimums haftet am BAume wie am Körper, weil sie am Denken selbst haftet. Die mathematischen Minima sind physische Einzelkörper, non vanae maihemaiicorum spedes.^ Darum treten sie als physikalische Atome in Gegensatz zum leeren Baume und bilden die feste Körperwelt. Das Starre, Trockne, die Erde, das sind die Atome, dieselben Atome, welche die mathematischen Figuren bilden. Und was wird nun aus den Bäumen zwischen den runden Atomen? Hier befindet sich das Yacuum oder der Äther, welcher zugleich den alles durchdringenden Weltgeist und die alles umfassende Flüssigkeit repräsentiert. Ein Vacuum, das an sich keine realen Dimensionen besäfse, gibt es nicht, sondern nur einen leeren Baum, insofern er die reale körper- liche Ausdehnung ist, geeignet, bald den einen, bald den andren Körper anzunehmen. Baum ohne Körper ist niemals in Wirk- lichkeit, sondern nur in der Abstraktion des Gedankens mög- lich. Wenn nichts anderes zur Erfüllung des Baumes vorhanden ist, so ist dies Sache des Äthers: er ist der physische Baum.^

» De mm. m, 6. p. 110. c. 7. p. 111. c. 12. p. 128.

' Acrotismwt p. 87.

' AcroÜsmus seu rationfs curticulornm physicorum etc. art 33. p. 53. Tacanm spacium ut pote in quo acta nihil sit, nos non ponimos, sed spaciom oerte, in quo modo unum, modo aliud corpus necessario contineatur, quodque primo ab aere repleri natum est. Est enim nobis ens infinitum, et nihil est» in quo aliqoid non sit. Hinc nobis definitur vacuum. spacium vel terminus, in

378 G. Bruno: Der verbindende Äther.

Atome als das absolut Volle und Vacuum als das absolut Leere, als Prinzipien, wie Demokrit sie annahm, genügen Bruno nicht. Er kann sich die Atome nicht denken, ohne eine gewisse Ma- terie, welche dieselben zusammenleimt und umfafst,^ wie das Wasser die Teilchen der Erde, die sich ohne dieses im Unendlichen zer- streuen würden.* Diese Materie ist der Äther, für welche er sowohl den Namen aetlier als aer gebraucht. Aber bei dem Namen aer hat man zwei Bedeutungen zu unterscheiden. Die Luft im gewöhn- lichen Sinne, welche die Erde umgibt und welche wir athmen, ist kein reines Element, sondern enthält auch Beimischungen von Wasser und Erde, feuchte und trockene Substanzen, wenn- gleich in geringem Mafse.^ Äther dagegen ist dasselbe wie Himmel, Leeres, absoluter Raum, der in allen Körpern vor- handen ist und in seiner Unendlichkeit alle Körper umfafst. Er ist ohne jede Eigenschaft und Wirkungsfähigkeit, unver- änderlich und unvergänglich. Alle Veränderungen, wie die Bewegung der Gestirne, die Thätigkeit des Leuchtens und der Wärme, gehen nicht an ihm, sondern nur an den von ihm umfafsten Stoffen vor; denn ohne eine zu Grunde liegende

quo sunt corpora, minime vero, in quo nihil est. Cum vero vacuum locum dicimus sine corpore, ipsum non re sed ratione a corporibus sejungimus. (p. 62) Dicitur plenum, quatenus habet molem, cujus est suoceptivum: vacuum, ut sine illa intelligitur, locus ut continet. Art. 37. p. 71: vacuum licet physice vere realiterque sit separatum, tarnen a corporibus non est, sed ratione dictitante concipitur. Concipitur autem per analogiam corporum eodem in spacio succedentium. Intelligitur ergo vacuum a corporibus separatum, vel quatenus naturam refert a corporibus distinctam, vel quatenus ipsis ad eorum distinctionem interjicitur. Ferner De immenso et innunier. I, 9. Schol. p. 177 f. De Vinfinito univ. Wagner II, p. 32, 33.

^ De min, I, 2. Seh. p. 10. Nach Erwähnung von Demoksit und Leukipp: „Nobis vero vacuum simpliciter cum atomis non sufiQcit; certam quippe oportet esse materiam qua conglutinentur ; sed forte et isti vacuum pro aere accipiebant, quod non credimus." De min. I, 11. Seh. p. 44. Minima, quatenus sunt uni- bilia, segregabilia etiam sunt, non se penetrant, non miscentur, sed se attingunt tantum, unde nihil est solidum corpus praeter ea, et ideo omnia praeter ea dissolvuntur, quorum non minus possibile est divortium quam consortium .... hujusmodi spatiis tum minimarum sphaerarum et circulorum, tum et globosorum mundorum corpora et regiones ab inteijecto aethere continentur; et tale est vacuum, quod Democritus et alii inteliexerunt extra mundos etc.

« De immenso VI, 12. p. 538. De Vinf. Waon. II, p. 65.

' De imm. IV, 14. p. 418.

G. Bruno: Vacuum = Äther = Weltgeist. 379

fenclite oder erdartige Materie kann kein Actus einer solchen Potenz, wie Licht und Wärme, stattfinden. Baum kann der Äther genannt werden, weil er durchlaufen wird.^ Wegen der Feinheit und Exaft seiner Substanz nennt man ihn aber auch Weltgeist (spiritus universi), welcher durch seine feuchte, warme und leuchtende Natur alles innerlich nährt und belebt.* Daher kann Bruno selbst in dem Wirbel der Atome Demokrits eine durch das All waltende schöpferische Seele erkennen.*

Der Begriff des leeren Raumes und des ihn erfüllenden Äthers, welcher zugleich der räimilich ausgedehnte, aber doch nicht greifbar gedachte Weltgeist ist, verschmelzen bei Bruno in eins. Die Vorstellung von einer spirituellen Materie, d. h. eines subtilen Stoffes, der nicht eigentlich Körper ist (denn er ist nicht greifbar) und doch auch nicht blofs Geist (denn er ist räumlich ausgedehnt), diese Vorstellung eines zwischen Körperlichem und G-eistigem vermittelnden Agens einer Weltseele, war ja bei allen Philosophen jener Zeit verbreitet.** Bei Bruno wird dieser Spiritus mit dem xevov des Demokrit identifiziert. Die leeren Bäume zwischen den Atomen sind nicht mehr als das Nichts anzusehen, im Gegensatz zum Sein ; denn in diesem Falle wären sie schwerlich gegen den Angriff des Aristoteles zu retten, dafs das Nichts auch kein Eäumliches sein und daher die Körper nicht trennen könne, sondern sie werden zu einem realen Baume, der nun auch sinnlich vorstellbar und daher fähig wird, die Atome der Körper zugleich zu trennen und zu verbinden. Der Äther Brunos erfüllt den ganzen Raum zwischen den Weltkörpern sowohl als zwischen den kugelförmigen Atomen ; er ist der körperlich gedachte Eaum, in welchem die Bewegung der Körper ohne Hindernis vor sich geht, ja durch welchen sie sogar vielleicht bewirkt wird; denn er ist zugleich der Weltgeist, der Träger aUer Kraft, welche die Körper durch- dringt und von innen heraus wirkt. Hierin liegt deutlich der fundamentale Unterschied zwischen Bruno und der modernen Physik, bei welcher der Äther die Rolle des mechanischen Ver-

* I)e imm. a. a. 0. Schol. p. 421. De monade p. 69.

* Be imm. V, 1. p. 460.

» Be imm. V, 3. v. 36—38. p. 467.

* Vgl. S. 267 f., 292 u. a.

380 Gr. Bruno: Die starren Atome der Körper.

mittlers spielt, während Bruno alle mechanisclie Wirkung in der Natur verwirft und nur die dynamische der Weltseele anerkennt.

Im Q-egensatz zum spirituellen Äther steht die greifbare Körperwelt, und auf die letzten Teile des Substrates derselben be- zieht sich der Ausdruck Ätomi in prägnantem Sinne. Die Atome sind das allein Volle, Feste, Starre, nicht weiter Teilbare. Aus diesen Atomen bestehen alle Körper, aus ihnen werden sie zu- sammengesetzt — d. h. insofern es sich um die sinnlich wahr- nehmbaren Körper handelt.^ Die physischen Atome selbst enthalten nicht mehr die spezifischen Eigenschaften der Körper; denn sie sind eben die ersten, eigenschaftlosen Anfänge, aus welchen alle Körper zusammengefügt werden, sie sind recht eigentlich die Materie alles dessen, was körperlichen Bestand hat. Knochen, Stein und Fleisch, in ihre Atome aufgelöst, zeigen keinen Unterschied mehr; erst die Zusammensetzung aus den Atomen macht sie zu den spezifisch verschiedenen Dingen, die sie sind.* Die Atome haben nicht die Formen der Körper, deren Teile sie bilden. Da die Atome unveränderlich und undurchdringlich sind, so kann natürlich auch nicht eine Mischung der Atome im scholastischen Sinne, d. h. eine ge- genseitige Verbindung ihrer Eigenschaften oder Teile, sondern nur eine Untereinandermischung, eine Kongregation und Dis- gregation der ganzen Atome stattfinden. Wenn Körper sich so nach Mafsgabe ihrer kleinsten Teile mischen, scheinen sie dabei in einen neuen Zustand überzugehen; neu ist aber der

^ De min. II, 4. Seh. p. 66. Hinc nihil esse siropliciter rectum, simpli- citerque in compositione circulare, praeter atomos nihil simpliciter plennm, nihil simpliciter vacuum praeter spacium intra coeuntium triam in piano et quatuor in solido atomorum concursum intermedians. Nihil consequenter simpliciter continuum et unum, praeter atomum, spacium uniyersum, et substantiam simpliciter inter corpora et ea, quorum esse circa corpora contem- plandum.

* Äcrotismus art. 42. p. 86. Est naturae dividenti terminus indivisibile quoddam, quod videlicet in plura alia non dividitur, cum in ipsum facta fuerit divisio. p. 87. Ex minimis illis corporibus omne corpus componitur, corpus inquam sensibile, quod in minima illa cum fuerit resolutum, nullam certe retinere potest compositi speciem, illa enim prima sunt, ex quibus omnia conflantur corpora et quae propriissima fiunt omnium corporaliter substantium materia.

Beurteilung der Atomistik Brunos. 381

entstandene Körper nur für die sinnliche Anschauung.^ Die Verschiedenheit der einzehien, völlig getrennten Atome der Bestandteile hindert jedoch keineswegs, dafs der ganze Körper ein Kontinuum ist. Im Schlamme sind Erde und Wasser für sich betrachtet auch nicht Kontinua, denn ihre einzelnen Teil- chen trennen sich gegenseitig; nichtsdestoweniger ist in dem schlammigen Körper als Ganzem die Kontinuität nicht unter- brochen.*

Mit dieser atomistischen Auffassung der Körperwelt hat Bbüno den Bann des scholastischen Mischungs- und Formbe- griffs überwunden. Die Sorge um die einheitliche Form des Kompositums ist gefallen. Das Kontinuum besteht nur für die Sinnlichkeit; der Verstand sieht im zusammengesetzten Körper die unzählbare Menge der Atome; aber gerade darin beruht die Einheitlichkeit des Körpers, denn das MinimTjTn ist ja in allen Atomen als umfassende Substanz ein und dasselbe.

6. Kritik der Atomistik Brunos.

Bruno hat durch den erkenntnistheoiretischen Ausgangs- punkt seiner Monadologie sich das bleibende Verdienst erworben, den Atombegriff klar und widerspruchslos festgestellt zu haben. So lange das Atom nur als letztes der Teilung gilt, bleibt es immer fraglich, ob man auf ein solches kommen müsse; erst die Einsicht, dafs es ein Erfordernis der Erkenntnis ist, ein Erstes der Zusammensetzung zu haben, macht den Atombegriff zu einem notwendigen. Und dies lehrt Bruno; es muis ein ursprüngliches Ganzes geben, mit welchem die Be- trachtung anfangt; dies ist das Atom. Er erkennt weiter die Relativität des Atombegriffs. Die Gröfse der ursprüng- lichen Ganzen als Elemente der Zusammensetzung ist willkür- lich und richtet sich nach den Umständen. Nur soweit braucht die Teilung fortgesetzt zu werden, bis die Elemente für den

^ De min, II, 9. p. 85. Inalterabilibus (ergo) impenetrabilibusque exiatentibus atomis, non est quod vere proprieque miscibile possimus intelligere, ast cor- pomm quaedam dum secundum subtiliores partes coarcevantur, in tertiam videntor quandam speciem transire. Sed veritas lata extra sensum non excnrrit. (S. auch Anm. 1 S. 378.)

* De VinfinitOy Wagneb II p. 42.

382 ^' Brunos Atomistik. Berechtigung und Irrtum.

erforderlichen Aufbau gewonnen sind. In der Astronomie können die Himmelskörper als Atome gelten. Es kommt überall auf die Ordnung der Gröfsen an, mit denen man es zu thun hat, und die Entscheidung über die Grenzen des Minimums liegt im Gegenstand der Untersuchung. Immer aber kann eine solche Grenze gesetzt werden, die alsdann wegen der Überein- stimmung von Denken und Sein auch absolute Geltung ge- winnt. Im Minimum setzt das Denken im Interesse der nicht mehr zureichenden sinnlichen Anschauung ein Wirklichkeits- element, wodurch das Zerfliefsen des Seienden ins unbestimmt UnendUche gehindert wird. Dieses letzte Minimum ist in der Körperwelt das Atom, welches kugelförmig zu denken ist. Es ist selbst ein Körper, bei dem man indes von allen zu- fiälligen Eigenschaften abstrahiert und nur auf die notwendigen reflektiert.

Dies sind für das physikalische Atom unentbehrliche Bestimmungen von dauernder Geltung. Was aber soll die atomistische Mathematik? Zwischen den Körperatomen soll es ja noch einen unterschiedslosen Äther geben. Danach wäre der Baum nicht atomistisch zu fassen und jene Zerlegung der mathematischen Figuren bezöge sich nur auf die starre körper- liehe Materie. In der That bildet der Äther und das Flüssige überhaupt einen Gegensatz gegen das Starre und Trockene, den festen Körper, und der Ausdruck „Atome" gilt ganz spe- ziell für das Trockene.^

Wenn aber ein kontinuierlicher Äther, so zu sagen ein stetig- flüssiger Baum existiert, warum mul's dann die Mathematik auf atomistische Grundlage zurückgeführt werden? In dem freien Äther müfste ja doch eine wirkliche gerade Linie, ein mathe-

^ ÄcroHsmtis, De mundo. [Mundus sensibilis] ex nibilo a prima mente productus intelligitur aut produci. (9.) Ejus materialia principia sunt Terra seu Atomi seu Arida, Abissus seu Styx seu Oceanus, Spiritus seu aer seu coelum seu firmamentum. (10.) E^'us prima accidentia (si tamen accidentia dici posaunt) sunt Tenebrae et lux, ex quibus subinde est ignis et caligo in genere, quae nobis sunt secundaria elementa. Femer Acrot. art. LXV. p. 113.: Inter haec astra) ingenerabile incorruptibileque est aer immensus, utpote corpus spirituale omnia stabiliens atque firm ans, qui aut est prima substantia aut oerte ex Omnibus iili proximus, qui primum est efficiens, ex atomis atque spiritu solidiora spissioraque corpora (qualia sunt astra astrorumque membra) compaginans.

Das Minimum als Erzengungsmittel der GestaltuDg. 383

matisch genauer Kreis existieren können. Hier müfsten die reinen mathematischen Formen ihren Platz haben, und der Untersuchung über die Bildung mathematischer Figuren aus Kugeln und Kreisen bedürfte es nicht.

Aber diese Abstraktion vom Körperlichen ist bei Bruno nicht möglich wegen der AUgemeingiltigkeit des Monadenbe- griflfs. In dem Augenblicke, in welchem man sich im leeren Saume eine Figur vorstellt, mufs dieselbe auch als aus Minimen bestehend vorgestellt werden; die blofse Vorstellung macht sie schon zur physischen Figur. Und dächte man sie sich gar gezeichnet, so müfste sie ja gesehen werden, Licht aber erfor- dert feste Materie, der Baum oder Äther liefert nur den Ort für die leuchtende Materie. Es gibt eben keine mathematischen, sondern nur physische Figuren.^ Darum kann Bruno von den raumlichen Minimen noch äthererfüllte Zwischenräume unter- scheiden und diesen Äther nicht mehr atomistisch fassen. Der Äther soll lediglich die Möglichkeit zur Existenz der Körper dar- stellen. Der Baum als Gegenstand der Mathematik besteht aus Atomen; denn Gestaltung gibt es nur durch die Minima. Der Baum als leerer Baum wird nicht atomistisch gedacht, denn hierbei wird ja gerade von jeder Gestaltung abgesehen.

Es liegt in dieser Lehre eine tiefe Wahrheit und ein grobes Mifsverständnis noch ungesichtet zusammen. Die Wahr- heit besteht in der Belativität und erkenntniskritischen Be- deutung des Atombegriffs. In der That ist das Atom nicht ein transcendentes Ding an sich, sondern ein zu den Bedin- gungen der Erkenntnis gehörender Begriff, der dort hervor- tritt, wo wir unser Erkennen auf die empirische Körperwelt richten. Der Mifsgriff Brunos besteht aber darin, dafs er die Schlüsse, welche für die Materie unumgänglich notwendig sind, auf den (allerdings erfüllten, jedoch als Gegenstand der Mathematik behandelten) Baum anwendet, wo sie nicht nur entbehrlich, sondern absolut haltlos sind. Der AtombegrifT gewinnt seine Berechtigung erst dort, wo Mathematik und Physik sich trennen, wo der Unterschied zwischen Baum und Körper bemerklich wird.

^ Acrot art. 11. p. 29.

384 Notwendigkeit des Atombegrififs in der Physik.

Die Geometrie abstrahiert von der sinidiclieii Erfüllung des Raumes, insofern sich diese nicht blofs auf Gröfse und Ge- stalt der Figuren, sondern auf ihre Undurchdringlichkeit imd dynamische Wirkung bezieht, welche psychologisch als Tast- gefühl und Muskelempfindung gegeben ist. Die Physik dagegen hat gerade diese Thatsache der sinnlichen RaumerfüUung auf mathematische Begriflfe zu bringen. In dieser Bemühung mufs sie den Atombegriff erzeugen. Es handelt sich nämlich darum, die den Haum erfüllenden sinnlichen Komplexe als Qxöfsen darzustellen. Dies geschieht durch Einführung des Energie- begriffs, welcher jene sinnlichen Wirkungen und ihre Abän- derungen zu messen und gesetzlich zu bestimmen lehrt. Von diesem Begriff kann hier noch nicht gehandelt werden. Aber es wird sich zeigen, dafs er zwar für einen Teil der mathema- tischen Physik, nicht aber zur erkenntniskritischen Fundierung der Physik überhaupt ausreicht. Es bedarf der Begriff des physischen Körpers, bevor kausale Beziehungen zwischen den Körpern und ihren Teilen fafsbar werden, einer doppelten Fest- setzung, sowohl über die Möglichkeit der Veränderungen im Räume, als auch über die Möglichkeit, für diese Veränderungen ein Subjekt zu haben, von welchem sie ausgesagt werden können. Indem nämlich alle Veränderungen als räumliche Bewegungen dargestellt werden müssen, ergibt sich die Not- wendigkeit, diese Bewegungen an ein Substrat zu knüpfen. Man pflegt die bewegten und dadurch mit der intensiven Gröfse der Wirkungsfähigkeit ausgestatteten Baumteile als Materie zu bezeichnen. Damit aber der Begriff der räumlichen Bewegung anwendbar ist, müssen die bewegten Teile auch extensive Gröfse besitzen, d. h. es mufs ein Mittel geben, welches be- stimmte Teile des Baumes zu einer geschlossenen Einheit ver- bindet, so dafs jedem geometrischen Teil dieser Einheit das- selbe Prädikat der Bewegung, dieselbe intensive Gröfse der Geschwindigkeit zuerteilt werden kann. Es wird sonst unmög- lich, einen bewegten Teil des Raumes vom andren abzugrenzen und in der Bewegung selbst als mit sich identischen abzu- sondern. Dieses Mittel, welches die intensive Gröfse der Be- wegung mit der extensiven des Raumes zu einer konstanten Einheit verbindet, ist das Denkmittel der Substanzialität, durch welches ein Teil des Raumes als physische (d. h. mit

Atombegriff. Physik und Mathematik. 3g5

intensiver GröJDse begabte) Einheit, als Atom, begrifilich ge- sichert wird. Die sinnliche Realität und Wechselwirkung der Körper muTs an den Substanzbegriff geknüpft werden, sonst verflüchtigt sich die Natur und die Materie, und es wird un- möglich, zu einer Objektivierung der subjektiven sinnlichen Empfindungen zu gelangen. Das kann sich erst im weiteren Verlaufe unsrer Untersuchung verständlicher und begründeter herausstellen. Der Atombegriff erweist sich als notwendig, um die Objektivität der sinnlichen Erfahrung als dynamische Wechselwirkung von Substanzen zu sichern.*

In der Geometrie aber verhält sich die Sache anders. Hier handelt es sich nicht um die Objektivierung der sinnlichen Thatsachen, welche wir als Andrangsempfindung kennen. Die physischen Körper sind uns in der Erfahrung als im Räume trennbar, daher als diskontinuierliche Gröfsen gegeben, und sie müssen deshalb, weil wir sonst zu ihrer Individualisierung nicht gelangen können, auch als diskontipuierliche Substanzen zur wissenschaftlichen Objektivität erhoben werden. In der Geo- metrie dagegen liegt zu einer Substanzialisierung des Raumes und zu einer diskontinuierlichen Individualisierung desselben nicht der geringste Grund vor, sobald das Denkmittel der Variabilität gelehrt hat, die Antinomie des Kontinuums zu überwinden. Denn hier verlangt die kausale Wechselwirkung keine Berücksichtigung. Die gesetzliche Veränderung der geometrischen Figuren im Räume beruht allein auf dem Denk- mittel der Variabilität. Wenn hier durch dasselbe eine Eigen- schaft festgestellt wird, z. B. die Steigung einer Kurve in einem bestimmten Punkte als gegeben durch dy : (te, so bedarf es nicht des Denkmittels der Substanzialität, um diese Eigenschaft an einen endlichen Teil der Kurve zu fesseln imd diesen aus dem Zusammenhange herauszuheben, sondern es ist gerade der Fortschritt des modernen über das antike mathematische Denken, dafs das Gesetz der Veränderung in jedem Punkte des Kontinuums mitgedacht wird. Will man eine solche Eigen- schaft, wie die der Steigung, der Krümmung oder auch der phoronomischen Geschwindigkeit oder Beschleunigung eine

* Vgl. auch m. Abh. yjZur Bechtfertiguny der kinet. Ätomüttik, Vierte\j. f. w. Ph. 1885. IX. S. 137 ff.

Laftwitx. 25

386 Intensive Gröfse in Physik und Mathematik.

mtensive Gröfse nennen, weil sie auf dem Grundsatze der Bealität (Variabilität) beruht, so ist dagegen nichts einzuwenden. Man mufs nur klar darüber sein, dafs diese in der Mathematik * oder Phoronomie durch ein Differenzial dy (= f {x) dx) oder ds (= f {t) dt) definierte intensive Gröfse eine ganz andere ist, als die in der Physik oder Dynamik als Geschwindigkeit oder Beschleunigung definierte intensive Gröfse, welche ein Mafs für die sinnliche Empfindung enthält. Im ersten Falle handelt es sich um die Veränderung von geometrischen, im letzteren um solche von dynamischen Gröfsen; erstere ist durch die Funktionalbeziehung allein realisiert, letztere bedarf zur Reali- sierung auch noch der Kausalität und eben darum auch der Substanzialität. Daher gibt es Atome nur in der Physik, nicht in der Mathematik, welche auf kausale Abhängigkeit und Wechselwirkung von Substanzen nicht Rücksicht zu nehmen hat. In der Kontinuität des Raumes liegt für die begriffliche Konstitution der mathematischen Gesetze nicht nur kein Be- dürfnis zur Atomistik vor, sondern diese ist geradezu unmöglich^ weil die Berechtigung der Atomistik nur aus der Notwendig- keit fliefst, mit welcher die gesamten Denkmittel zur Objek- tivierung der Sinnlichkeit und zur Erzeugung der Naturwissen- schaft zusammenwirken, während in der Mathematik Quantität und Variabilität allein in Betracht kommen. Mathematik stellt ja denjenigen Teil der Wirklichkeit vor, welcher nach Ab- trennung der substanziellen und kausalen Beziehungen (EIant würde sagen: der dynamischen Kategorien) übrig bleibt; hier kann also die Trennung, welche der Atombegriff* zwischen mathematischem und physischem Körper bezeichnet, nicht noch einmal vollzogen werden.

Indessen mochte Bruno bei seiner mathematischen Ato- mistik etwas Ahnliches vorschweben, wie es die Diff*erenzial- rechnung leistet, die Aufsuchung eines Prinzips, welches die Gesetzlichkeit der Gestaltung für die kontinuierliche Gröfse im Unendlichkleinen enthält. Doch kann diese Fixierung der Tendenz zur Veränderung nicht durch eine Substanzialisierung des Kontinuums gelingen, sondern nur durch das Denkmittel der Variabilität; und nicht der Raum mufste starr, sondern auch die Zahl flüssig gemacht werden. Indem Bruno seine für die physikalische Atomistik wertvollen Bestimmungen auf den

^.

Brunos Irrtum in d. atom. Fassung des Raumes. 387

Saum überhaupt übertrug, kam er zu seiner unhaltbaren Ma- thematik, die an Absonderlichkeit mit der Atomistik der Mntakallimun rivalisiert, mit welcher sie ja auch die Leugnung genauer mathematischer Figuren gemein hat.

Bruno stand trotz seines Angriffes auf die aristotelische Körperlehre unter dem Einflüsse der traditionellen üntrenn- barkeit von Baum und Körper, welche die Folge der Ver- werfung des leeren Baumes war. Nun beruhte aber hierauf die G-ewalt des aristotelischen Angriffs gegen die Atomistik; dieser stützte sich gerade auf die Lehre, dafs das, was von der Materie gälte, auch vom Baume gelten müsse, dafs die ato- mistische Fassung der Körperwelt die atomistische Fassung des räumlichen Kontiauums nach sich zöge. Wer die Atomistik verteidigen woUte, mufste also zunächst diesen Einwand ver- nichten. Der zum Ziele führende Weg lag in der kritischen Untersuchung der Bedeutung des Baum- und Körperbegriffs, wie wir ihn heute nach BIant zu wandeln vermögen. Bruno, obwohl seine Monadologie der Entdeckung der fehlenden Denk- mittel sich näherte, blieb zur Bettung der Atomistik doch nur der Weg übrig, dafs er die atomistische Konstitution des räumlichen Kontinuums begreiflich zu machen suchte. Die Folge sind seine unmöglichen mathematischen Figuren. So zeigt sich denn eine eigentümliche ümkehrung der Bollen zwischen mathematischer Evidenz und Sinnenschein. Die geo- metrischen Konstruktionen, die mathematische Gleichheit der Figuren, ihre Verwandlung und Teilung, sonst das unantast- bare Q-ut absolut sicherer Erkenntnis, Bruno leugnet ihre Qiltigkeit. Alles, was je der Skepticismus gegen die Mathe- matik vorgebracht hat, gibt er zu; zwei gleiche Figuren, zwei gleiche Hälften sind illusorisch. Mathematische Gewifsheit ist nur Sinnenschein ; das Denken aber, welches über die Sinnhch- keit hinausreicht, erkennt in den Dingen die Diskontinuität der Atome und die Unvollkommenheit der Figuren.

Sehen wir nun von dem Irrtume Brunos ab, dafs er seinen Begriff vom Minimum auch auf den Baum übertragen zu müssen glaubte, so können wir mit Beiseitelassung seiner mathema- tischen Kuriositäten die voUe Bedeutung seiner atomistischen Ausführungen für die Physik würdigen. Hier zerstörte er das Vorurteil, dals die Vorstellung des unendHchen Fortgangs in

26*

388 Brunos Minimum als Volumenelement.

der Betrachtung der physischen Körperwelt beibehalten werden müsse, und zeigte dagegen, dafs man durch den Abbruch der Reihe beim Atom keinen Fehler begehe, der irgend einen empirischen Einflufs habe. Vielmehr bleibe dieser gänzlich unterhalb des sinnlich Wahrnehmbaren, während unser Er- kennen ein MiniTmiTTi als Anfangsglied der Beihe erfordert. Es zeugt dies von der klaren Einsicht, welche Bruno über die Relativität aller Gröfsenordnungen und die Q-renzen und Auf- gaben unsrer Beobachtung besafs. Für die korpuskulare Theorie der Materie war es notwendig zu begreifen, dafs der Sinnenschein kein Hindernis sein dürfe, diskontinuierliche Minima anzunehmen, wenn das methodische Denken aus allge- meineren Prinzipien dies erfordere.

Den Begriff des räumlichen Minimums in seinem Zusam- menhang mit den andern Minimen hat Bruno dabei so festge- stellt, dafs die Einwände des Aristoteles, betreffend das Zu- sammenfallen der Unteilbaren, nicht mehr stichhaltig bleiben. Bruno denkt sich seine Minima als sehr kleine Kugeln oder Kreise und unterscheidet daher an ihnen noch Fläche, Linie oder Punkt als Grenze (Terminus), d. h. als mathematische Abstraktion. Hier ist allerdings ein Übelstand, dafs er seine Minima auch Punkte nennt. Punkte dürften nur als mathe- matische Abstraktion, als Grenzen, nicht aber als ^Minima" aufgefafst werden. Wenn nun Bruno vom Punkt als „Grenze" den Punkt als „Minimum" unterscheidet, so hat man sich, um seine Auffassung richtig zu verstehen, daran zu erinnern, dafs der Ausdruck Punkt in diesem Falle nichts als ein unpassend gewählter Name ist imd eine beliebig klein gedachte Kugel bezeichnet. Das Minimum ist nur berechtigt, wenn es als ins Kleinste zusammengezogener Körper (oder Fläche) gedacht wird, dabei aber alle Eigenschaften des Körpers (oder der Fläche), also auch die Gestaltung und Begrenzung beibehält. Dafs es keine Teile mehr besitzt, ist dahin zu verstehen, dafs es keine Teile derselben Art mehr besitzt, folglich als Körper keine körper- lichen Teile. Dasjenige gilt als Minimum, was seinem Begriffe nach nicht mehr teilbar ist, d. h. dessen Teile einem andern Begriffe angehören würden. Man ist also nicht gehindert, an einem unteilbaren Körper noch Flächen und Punkte zu unterscheiden. Indem somit das Minimum durch Abstraktion von der Gröfse

Fortschritt über Cusanus. Minimum als Realität. ggg

der ausgedelmteii räumliclien Figur nur die starre Konstanz derselben, nicht aber seine Dimensionen, seine Gestalt, sein bestimmtes Volumen verloren hat, kann dasselbe nunmehr selbst wieder als Element der Zusammensetzung dienen. Brunos räumliches Minimum ist nicht der mathematische Punkt, sondern das mathematische Volumenelement; Bruno hat mit seinem Minimum nichts geringeres geleistet, als den fruchtbaren und positiven Begriff des Unendlichkleinen zu erfassen.

Wir bemerken den Fortschritt, welchen Bruno über Cüsanus hinaus in der Entdeckung des Denkmittels der Variabilität gemacht hat, ganz im Geiste seines Meisters. Cusanus hatte das Erkennen als ein Messen erklärt; das Messen bedarf des Mafses. Dieses Mafs suchte Bruno, er suchte es in jedem Ge- biete des Seins und nannte es Minimum. Im Minimum findet er die Realität der Dinge gewährleistet. Aber hier zeigt sich eine Hemmung seines genialen Denkens durch die geschicht- liche Gewalt des Substanzialitätsbegriffs. Das Minimum selbst ist für Bruno wieder die Substanz der Dinge, die Realität also noch immer an die Substanz geknüpft. Freilich ist es keine starre Substanz, sondern nur dadurch ist es Bedingung der Wirklichkeit, dafs es das Werden der Dinge einschliefst. Es enthält die Tendenz der gesetzlichen Veränderung der Dinge. Was Cusanus fühlte, aber noch nicht begrifflich zu fassen vermochte, was bei ihm als der unbestimmte Begriff des die Gegensätze einenden Unendlichen auftritt, das bannt Bruno in den schöpferischen Typus der Monade^ des Mini- mums.

Er hat damit aus dem Kontinuum das erzeugende Element ausgesondert und den Gnmdgedanken formuliert, welcher not- wendig war, um der Erscheinungswelt Selbständigkeit in einem ihr immanenten Begriffe zu verleihen. Trotzdem ist seine ganze Philosophie nur vorbereitend, weil er Substanzialität und Variabilität noch nicht zu trennen vermochte. Alle die Begriffe aber, welche die Naturwissenschaft zur Aufstellung einer Atomistik braucht, hat er durchdacht. Die Körper ge- winnen das Kontinuum ihrer Räumlichkeit durch die Erzeugung aus dem Minimum; ihre Festigkeit und Solidität ist durch das physikalische Atom gegeben. Selbst der verbindende Welt- äther fehlt nicht, und in der brunonischen Substanz kann man

390 Schranken der Metaphysik Brunos.

das einheitliche Zusammen von Materie und Kraft erblicken. Hier aber endet auch sein Verdienst um die Physik.

Zu einer Naturwissenschaft konnte sein Gedankengang nicht führen; dazu mufste er auf ein anderes Ziel gewendet werden. Sein Ausgangspunkt ist erkenntnistheoretisch und sucht Bedingungen für die Aktualität der Körperwelt. So lange er diese Untersuchungen führt, fördert er fruchtbare BegriiBFe zu Tage. Aber die empirische Wissenschaft der Em- pfindung, die Physik, welche ihm fehlte, konnte seine Speku- lation nicht schafi*en; der Punkt, an welchem Mathematik die Körperwelt zu ergreifen vermag, war ihm noch verborgen. Daher nimmt sein Denken sogleich die metaphysische Wen- dung. Sein Minirnnm hat er mit Hilfe des Denkmittels der Variabilität entdeckt, aber statt dieses Begriffes sich zu be- dienen, um die Wechselwirkung dadurch zu fixieren und denk- bar zu machen, fafst er dasselbe als Substanz und bleibt damit auf dem beschränkten Standpunkte der Metaphysik seines Jahrhunderts.

Zwar erkennt Bruno einen allgemeinen Zusammenhang aller Dinge und ihre unablässige aktuelle Veränderung, aber diese Veränderung gewinnt bei ihm nicht Selbständigkeit durch das Denkmittel der Variabilität als mechanische Kausalität, nicht in der körperlichen Wirkung sucht er die Ursachen des Geschehens, sondern er verlegt sie in die Substanz selbst. Bewegung entsteht nicht aus Bewegung, sondern aus der Ent- faltung der lebendigen Substanz. Fast scheint es, als berühre er sich mit der Naturwissenschaft unsrer Tage, mit welcher er ja auch in seinen kosmologischen Anschauungen überein- stimmt; aber es scheint nur so. Der Unterschied ist ein fun- damentaler. Die Naturwissensqhaft braucht den Mechanismus, Bruno kennt nur eine innerlich belebte, durch und durch be- seelte Welt. Allerdings sind seine physikalischen Atome an- geblich unveränderlich und undurchdringlich, aber sie sind doch zugleich Monaden, welche auf einander einwirken und sich zusammenfügen zu einem lebendigen Ganzen. Sowohl das Universum als jede einzelne Welt für sich sind Lebewesen, welche unsre Ehrfurcht erfordern,^ und ebenso ist jedes öin-

» De imm, V, 12. p. 495. De Vinf. Wagner II p. 49.

Brunos Naturbegriff. 391

zelne Atom der Beseelung fällig. Alles ist durchdrungen von der Weltseele.^ Im Menschen ist die Weltseele die herrschende und gestaltende Monade, welche den unzerstörbaren Mittel- punkt bildet, von dem aus die ebenfalls unzerstörbaren Atome des Körpers geordnet, angezogen und ausgeschieden, belebt und bewegt werden. Es ändert sich nur Gebrauch, Ordnung und Stelle der Teile, doch ruhig und unverändert im Wechsel beharrt das unteilbare Wesen der Dinge.* Wenn auch somit alles Naturgeschehen bei Bruno als ein notwendiges gilt, und wenn auch die Ordnung der Natur mit der Ordnung des er- kennenden Geistes identifiziert wird, so liefert dieser allgemeine Naturbegriff doch keinerlei Anhalt für die Erforschung der Natur. Denn die Natur bei Bruno handelt wie ein Künstler, sie ist selbst eine lebendige Kunst und gewissermafsen eine geistige Seelenkraft.' Wie soll unter diesen Umständen ein einfaches mechanisches Gesetz aufgefunden werden, wo Brunos Bestreben überall darauf geht, Naturgeschehen, wissenschaft- liche Forschung und künstlerisches Verfahren zu identifizieren? Das Weltgesetz in der AUeinheit von Natur und Gott zeigt sich als Leben und tritt damit wohl unserem Gefühl näher, entzieht sich aber der Erkenntnis durch Zahl und Mafs. Rühmt Bruno die Mathematik als Erkenntnismittel, so geschieht dies in einem ganz andren Sinne, als in welchem die fortschreitende Naturforschung sich der Mathematik thatsächlich als Erkennt- nismittel bedient.

6. Keine Anwendung der Atomistik auf Physik.

Bei dem Gewicht, welches Bruno auf die Entwickelung der Natur von innen heraus legt, findet sich bei ihm eine eigentliche Anwendung seiner Atomistik zur Erklärung spe- zieller physischer Erscheinungen und somit ein positiver Fort- schritt in der Naturerkenntnis nicht. Seine phantastische Naturanschauung sucht Befriedigung des Gemüts in meta- physischer Dichtung und begnügt sich vielfach mit dem Bilde

' De imm. V, 12. De Vinfin. W. II. p. 49. De la causa, W. I, p. 241. Lasson, S. 59.

' Dt min. I, 3, p. 11 f. ' AcroL De natura, 10.

392 G. Bruno: Keine physikalische Erklärung.

statt mit der Sache ; für eine rein physikalische Erklärung der Vorgänge in der Körperwelt hat er kein Interesse, ja er stellt sich ihr geradezu feindlich gegenüber und verkennt vollständig den Weg, auf welchem die Naturforschung vorwärts gehen muiste. Das gröfste Verdienst des Paracblsus, seine Scheidung der Kör- per in die drei Grundsubstanzen, will Bruno nicht loben ; daü jener dagegen über die chemischen Prinzipien hinaus bis zu dem formalen Prinzip, der gestaltenden Weltseele, fortge- schritten sei, rechnet er ihm hoch an.^ In seinen Thesen gegen Aristoteles übergeht er absichtlich das dritte Buch De codo und die Bücher De generatione et corruptione, welche denselben Stoff behandeln,' weil die Frage nach dem Verharren der Be- standteile in den Mischungen fiir ihn kein Interesse besitzt. Die Erklärung aus der mechanischen Zusammenfugung und Scheidung gilt ihm nicht als eine ausreichende und philo- sophische, sie mag höchstens praktischen Zwecken genügen. Die „Form" hat ihren Begriff, den sie bei Aristoteles besafsi verloren ; Form und Materie sind durch die lebendige Substanz ersetzt. Somit erklärt sich auch der Mangel einer systema- tischen Lehre über die Elemente. Die Ansichten, welche Bruito über die Natur der Elemente und die physikalische Konstitution der sinnlichen Welt äufsert, sind teils ohne bestimmte Ent- scheidung gehalten, teils untereinander und mit den allgemeinen atomistischen Grundvorstellungen schwer zu vereinigen.

Bruno nimmt keinen Anstofs daran, von Feuer, Luft, Wasser und Erde in hergebrachter Weise als von den vier Elementen zu sprechen.' Aber der Sinn des Wortes Element ist ein andrer geworden. Vor allen Dingen protestiert Bruno dagegen, dafs man sich jene vier Körper als durch ihre Schwere in vier getrennte Sphären von Natur geordnet denke. Nach Bruno gibt es ja nicht eine einzige Welt mit einem bestimmten Oben und Unten, sondern ein unendliches Universum, in wel- chem sich der Zahl nach unendlich viele Welten befinden. Die Schwere der Körper kann daher nur in Bezug auf das Centarum

^ De la causa etc. W. p. 251. 252. Lassok S. 75. " Acrot Art. 7.3, p. 122.

' Df imm. \, 1. v. 3:?. p. 453. OmniM comprendo ex unda, terrm, aere et igne.

G. Bruno: Elemente. 393

der einzelnen, dem Körper zugehörenden "Welt in Betracht kommen; sie ist der Antrieb der Körper nach dem ihnen zu- gehörenden Orte.^ In proprio loco sind die Körper nicht schwer, die Lnft und das "Wasser üben auf der Oberfläche der Erde und im Meere keinen Druck aus.* Es gibt aber und dies ist der Fortschritt über Aristoteles keinen absolut schweren oder absolut leichten Körper, sondern schwer und leicht sind durchaus relative Begriffe.' Ein und derselbe Körper kann in einer Hinsicht oder einer Lage als leicht? in andrer als schwer betrachtet werden und sich verschieden verhalten. Es gibt daher auch keine natürliche Bewegung der Elemente in gerader Linie (wie es ja in Wirklichkeit überhaupt weder gerade Linie noch Kreis gibt), sondern natürlich ist nur der fortwährende Wechsel alles Vorhandenen, das Hin- und Wiederströmen der Teile, vom Mittelpunkte nach dem "Umfange und zurück, welches sowohl in jedem einzelnen Orga- nismus, als in der Erde und den übrigen Welten, die sich nicht anders wie Lebewesen verhalten, stattfindet.* Ebensowenig kann deshalb von einer bestimmten Reihenfolge der Elemente in Bezug auf die Schwere die Rede sein, und es kommt auf die umstände an, welches Element man als ins Linerste der Erd- kugel dringend betrachten will. Soll der Mittelpunkt dem- jenigen Elemente eingeräumt werden, welches mit dem gröfsten Andränge und der lebhaftesten Geschwindigkeit sich bewegt, so käme der erste Platz der Luft zu, der zweite dem Wasser, der dritte der Erde. Wenn dagegen die Stelle im Mittelpunkte dem schwersten und dichtesten Elemente zugeordnet werden soU, so kommt zuerst das Wasser, dann die Luft und zudritt das Trockene. Nehmen wir jedoch die Erde mit dem Wasser verbunden, so gebührt die erste Stelle der Erde, die zweite dem Wasser, die dritte der Luft.^ Ein Körper ist um so schwerer, je dichter er ist. Alle Dichtigkeit hat ihren Grund in der Konkretion der Teile oder Atome, alle Konkretion aber kann nur geschehen durch ein Zusammenleimen (agglutinatio),

» Äcrot a. 80, p. 127. - » De imm. IV, 15. p. 425. - » Acrot. a. 76, 77, p. 125, 126. * Acrot. a. 78, p. 122 f.

» Man vgl. dar. De Vinfin, W. n, p. 65. Acrot, art. 75, p. 124. De xmm. p. 525. p. 459-461. De monade, p. 72. Auch Wernekkb, G. Brunos Polemik geg. d. arist Kosmologie. Dresden 1871. p. 27 ff.

394 G. Brüko: Elemente. Das Wasser.

ohne welches die Atome wie Aschenstäubchen sich zerstreuoi würden, und dieses Zusammenleimen geschieht durch das Wasser.' Daher kann man in dieser Hinsicht das Wasser als das dichteste Element betrachten; erst die Vermischung der Erde mit dem Wasser macht erstere untersinken; ganz trockene Erde schwimmt auf dem Wasser, und die Metalle, welche die schwersten Körper bilden, sind ja durchaus flüssiger Natur.

Überhaupt ist zu bemerken, dafs die Elemente in keinerlei Rangordnung stehen und dafs die Abstufungen, wie sie von Platon und Aristoteles gemacht wurden, nur Spielereien sind. Ein Element ist ebenso viel wert, ebenso wichtig als das andre, eines kann ebenso wenig ohne das andre bestehen, wie in der Silbe das B ohne Ä^ oder das Ä ohne JB.*

Thatsache ist, dafs alle Elemente gleich berechtigt sind und immer und überall alle zusammen vorkommen, obwohl das eine oder das andre hier oder dort vorherrschen mag.» So ist in den sichtbaren Welten das Wasser das vorherrschende kör- perliche Element,* insbesondre . die Erde besteht zum gröfsten Teile aus Wasser. Erden und Monde sind solche Weltkörper, in welchen das Wasser vorherrscht, während in den Sonnen das Feuer überwiegt. Jedoch sind auch diese nicht ohne Wasser; denn was das Feuer anbetriiBFt, so gibt es keine reine Sphäre des Feuers, nicht der Äther ist das Brennende und Leuchtende, sondern dazu bedarf es stets einer wasserartigen Grundsubstanz; nur an dem Wasser ist das Feuer möglich und gerade das Feuchte glänzt und leuchtet.

Statt der vier Grundstoffe : Feuer, Wasser Luft und Erde, welche Bnüno auf allen Weltkörpem in gleicher Weise finden wiU, nennt er aber als eigentliche materiale Prinzipien der sinnUch wahrnehmbaren Welt nur drei, nämlich das Trockne, das Wasser und den Äther.* Das Trockne oder die Erde sind die Atome, und zwar werden die physikalischen Atome durchaus nicht anders denn als trockne Stäubchen vor- gestellt, welche, wie schon gesagt, einer agglutinierenden

» Äcrot. p. 125. De imm. V, 12. p. 495. Vgl. Anm. 2 S. 378. De imm. p. 459. 2>e monade p. 72. * De imm. p. 460, 461. Äcrot. de mundo. 9, S. Anm. 1. S. 382.

G. Bruno: Äther. 395

Materie bedürfen, nämlich des dicht und schwer machenden Wassers.^ Neben diesen beiden Prinzipien steht nun der Äther, gleichbedeutend mit dem Himmel, dem Firmament und dem allgemeinen Lebensgeiste (Spiritus). Dieser ist, wie schon bemerkt, ein spiritueller Körper und entweder selbst die erste Substanz oder doch von allen andern demjenigen am nächsten stehend, was aus den Atomen und dem Spiritus die festeren Körper zusammenfügt.' Hier ist es also zweifelhaft gelassen, ob der Äther als die einzige Grundsubstanz zu betrachten ist, oder ob ihm die Atome an die Seite zu stellen sind, so dafs die einzige Substanz des Universums nämlich dieses selbst oder Gott ihnen beiden untergeordnet ist. Das Verhältnis, m welchem das Wasser, die alles umfassende Flüssigkeit, zum Äther steht, ist gar nicht näher bestimmt, es scheint, dafs Bruno diese allgemeine Flüssigkeit nur als eine gröbere Form, eine Verdichtung des Äthers aufgefafst habe. Insofern für Bruno die Substanz des Alls eine einzige ist, steht er ja der Unterscheidung in die einzelnen Elemente gleichgiltig gegen- über und er überläfst in dieser Beziehung die Feststellung mehr der Geschmacksrichtung des Einzelnen. So nennt er an andrer Stelle statt des Trockenen, des Wassers und Äthers als praecipua dementa: Aqua^ Lux et Atr, so dafs also die Atome hier fortgelassen sind und noch das Licht als neues Prinzip hinzutritt.' Andrerseits werden aber Licht und Dunkel als die ersten Accidentien der Sinnenwelt bezeichnet, allerdings mit dem Zusätze: „wenn sie Accidentien genannt werden können.'* Aus ihnen stammen dann ignis et caligo in genere, welche für sekundäre Elemente gelten sollen. Bei diesen schwankenden Bestimmungen sich länger aufzuhalten, scheint nicht notwendig. Für die Erwartungen, welche man für eine atomistische Physik hegt, ist es ein schwerer Schlag, neben den Atomen nun noch eine allgemeine Flüssigkeit zu finden, in welcher das eigent- liche Gewicht der Welt liegt, denn das einfache Atom soll ja das leichteste von allem sein. Einen spirituellen Äther, der nur das Vacuum anschaulich machen soll, läfst man sich eher gefallen; aber eine dichte Flüssigkeit hebt den Nutzen wieder

» De imnu VI, 7 v. 29 f. p. 523; 8, p. 526. VI, 12, p. 538 u. a. 8. Anm. 5. S. 394. =* De mon. Epiet. dedicat. p. 5a.

396 G. Bruno: Kosmologie.

auf, der zur Erklärung von Bewegungen in der Materie von der atomistischen Konstitution der letzteren zu entnehmen ist Hier tritt es aufs Deutlichste zu Tage, dafs es Bbüno um eine physikalische Atomistik gar nicht zu thun war, dafs z. B. die Schwierigkeit, Bewegungen in einer Flüssigkeit ohne Annahme von atomistischer Konstitution sich vorzustellen, für ihn noch gar nicht existierte. Dafs er die festen Körper als ans Atomen bestehend betrachtete, entsprang bei ihm nicht aus einem physikalischen Bedürfiiis zur Erklärung der Erscheinungen, sondern es war nur ein Ausflufs seiner metaphysischen Monadenlehre, der wir freilich eine Beihe grundlegender Begriffe verdanken.

7. Weltanschauung und Ausblick.

Bedeutungsvoller als die Körperlehre Bbünos ist seine Kosmologie, eine würdige Schöpfung seines genialen Geistes. Er verbindet die Lehre des Coppernikus mit der Theorie von der Unendlichkeit der "Welten bei den alten Atomikem. Ahnungsvoll nimmt er hier die Ergebnisse der späteren Astro- nomie vorweg und diviniert die Entdeckungen Galileis. So bereitet er die moderne Naturauffassimg vor, welche den Grundpfeiler der aristotelischen Physik, die Lehre von der Abgeschlossenheit der Welt und der Differenz zwischen cö- lestischem und terrestrischem Sein, zu stürzen berufen war. Wenn auch Bruno sich nicht wie Galilei auf empirische Be- weise stützen konnte, sondern seine grofsartige Weltanschauung nur auf spekulativer Basis errichtete, so hat er dafür mit be- geisterten Worten, aus der Tiefe des Gemüts und mit dem ganzen Feuer seiner phantasievollen Dichtematur die ihm zur Religion gewordene Überzeugung von der Unendlichkeit des göttlichen Universums verkündet. Das Universum ist unend- lich und umfafst zahllose endliche Welten, von denen unser Sonnensystem eine ist. Wie um unsere Sonne sich die Planeten, upter ihnen die Erde bewegen, so werden auch all die Fix- sterne, welche uns nur der grolsen Entfernung wegen als Punkte erscheinen, aber selbstleuchtende Sonnen sind, von Planeten umkreist. Und diese Planeten sind vermutlich ebenso von vernünftigen Wesen bewohnt, wie unsre Erde. Ihre Be-

G. Bruho: Unendliclikeit der Welten. 397

wohner bilden eine unendliche Abstufung von Lebewesen nach jedem Grade der Vollkommenheit. Es ist nicht daran zu denken, dafs der Mensch die höchste Stufe dieser Wesen repräsentiere, aber er ist darum nicht ein ohnmächtiges und verschwindendes Glied im All, sondern ein lebendiger Teil des lebendigen Ganzen. Auch die Sonne ist nur ein Stern unter Sternen und mit diesen bewegt; im unendlichen Universum gibt es keinen Mittelpunkt und keine Ruhe. Gegenüber der unendlichen Zahl der Welten und den grofsen Entfernungen, durch welche sie getrennt sind, ist unsre Erde nur ein Atom, aber sie ißt selbst nicht schlechter als die andern Himmels- körper. Zwischen Erde und Himmel besteht kein absoluter Unterschied; wie für uns die Planeten Sterne sind, so ist unsre Erde ein Stern für die Bewohner andrer Planeten jedes Gestirn hat seinen eigenen Himmel. In allen Welten, auf allen Himmelskörpern befinden sich dieselben Stoffe, wie auf der Erde, einen besondern himmlischen Stoff gibt es nicht. Unsre Welt ist nicht abgeschlossen von kristallenen Sphären schon die Annäherung der Kometen, welche ebenfalls Planeten sind, die uns nur selten nahe genug kommen, um wahrgenommen zu werden, beweist dies frei dehnt sich der Äther nach allen Richtungen hin aus und umfafst und trägt in gleicher Weise alle Himmelskörper in ihren geordneten Bahnen, wie er die Atome der sichtbaren Körper zusammenhält und trennt- Dieses ganze Universum ist belebt, durchdrungen von dem alles beseelenden Weltgeiste , durch dessen Thätigkeit die Ordnung und Harmonie des AUs sich erhält. Nichts kann ver- loren gehen in der fortwährenden Bewegung des Weltalls; Leben und Tod bilden nur Teile eines Kreislaufs die Auf- lösung des eiaen ist die Entstehung eines andern. Die unend- liche, alles umfassende Substanz enthält zwar alle Formen in sich, aber in der endlichen Entwickelung der Welten können sie nur nacheinander hervortreten; so kommt in der fort- währenden Veränderung nach und nach jeder Teil zum Mit- genusse des Lebens und des Glückes. In ewiger Gesetzmäfsig- keit und in allseitiger Wechselwirkung flutet der lebendige Strom der Dinge. Das Gröfste spiegelt sich im Kleinsten, alles Einzelne strebt zum Ganzen, und das Ganze gestaltet sich selbst als sein eigener Werkmeister in untrennbarer Ver-

398 ^' Bruno: Harmonie. Enthusiasmus.

bindong von Materie und innerlicli wirkender Ejrafl. In der Trennung im Einzelnen freilich ist Licht und Schatten, Ejmipf und Leid, in Hinsicht aber auf das Ganze ist nur Harmonie und Schönheit, da hat auch das Kleinste und Nichtigste seinen Wert und seine ewige Bedeutung. Darum besteht die Vollen- dung des Menschen in der Erkenntnis dieser Harmonie des Unendlichen. Seine Seele ist ja im letzten Grunde Eins mit der Seele des Weltganzen, mit Gott, nur ist sie von ihm ge- trennt durch die Hülle der Sinnlichkeit, welche sie als Einzel- wesen von den übrigen Einzelwesen scheidet. Aber der be- geisterte Aufschwung nach oben, das Streben, alles in Einem und Eins in allem zu schauen, trägt den Menschen aus der Schwere der Sinnlichkeit in die freie Höhe, wo er im Abso- luten das Schöne, Gute und Wahre anschaut. Wem dies ge- lingt, der ist der furioso eroico, der heroische Enthusiast, welcher die Höhe der Menschheit und des Glücks erklommen hat, von wo er auf die neidische Anfeindung der Menschen ruhig und vornehm hinabsieht.

Brunos enthusiastische Weltanschauung wirkt bestechend; um so mehr mufs man sich davor hüten, seiner überwundenen Metaphysik einen Einflufs auf das moderne Denken zu ge- statten, so grofs auch immer seine historische Bedeutung bleibt. Es wäre aussichtslos, Brunos Naturphilosophie cJs eine Erkenntnis von wissenschaftlicher Geltung anzupreisen oder gar als eine Vertiefung exakter Forschung hinzustellen, da sie nur den Wert einer dichterischen Weltanschauung von genialer Konzeption besitzt. Bruno steht der Naturwissenschaft nicht anders gegenüber wie Goethe; beide wollen den Pulsschlag des eigenen Lebens in dem unendlich-göttlichen NaturwcJten wiederfinden. Daher bleibt ihre Naturanschauung eine dauernde Quelle der Erhebung des Gemüts in künstlerischem Genüsse, das Denken aber, welches Analysis ist, mufs zum Zwecke der Erkenntnis unser unbestimmtes Einheitsgefühl von der Natur zergliedern, das Leben vertreiben und den Mechanismus der Atome aufsuchen. Die Philosophie hat diese Antinomie er- kenntnistheoretisch zu begreifen und dadurch die Versöhnung zwischen den Forderungen des Gefühls und des Verstandes herzustellen, nicht aber durch eine unklare Gefuhlsschwärmereii indem sie den naturwissenschaftlichen Mechanismus für Meta-

G. Bruno: Verdienste. Nachwirkung. 399

physik und die metaphysisclie Dichtung für "Wissenschaft hält, rückschreitend zu verwischen. Der Fortschritt besteht in der Differenzierung der Begriffe, nicht in der Verschmelzung von Verstandes- und Gefühlselementen, wie sie bei Bruno vorliegt; selbst seine Kosmologie wäre nichts anderes geblieben, als eine geistvolle Phantasie, wenn nicht Kepler, Galilei und Newton die Weltkörperseelen in prosaische Zahlenbeziehungen aufgelöst hätten.

Wohl aber hat sich Bruno um jenen Fortschritt durch seine Diskussion der theoretischen Grundbegriffe verdient ge- macht, wenn er auch ihre erkenntniskritische Trennung weder vollziehen, noch ihre naturwissenschaftliche Ä^nwendung lehren konnte. Daher steht er mit Recht neben Cusanus an der Spitze der neueren Philosophie durch seinen überraschenden Beichtum an Ideen, so dafs von allen später hervorgetretenen Gedankenkreisen Spuren bei ihm gefunden werden können, wo sie in seinem lebhaften Geiste gewissermafsen in jener Keim- form liegen, wie er sich die Dinge der Wirklichkeit in der Einheit der göttlichen Substanz angelegt dachte.

Es ist daher nicht schwer, in seiner Monadenlehre Spuren derjenigen Formen aufzusuchen, welche späterhin in der Ent- wickelung der Atomistik auseinandertraten. Seine physika- lischen Atome, als trockene Stäubchen, d. h. als starre Körper- chen gedacht, können als Vorbilder der physikalischen Korpus- kulartheorie angesehen werden. Andrerseits ist sein Minimum dasjenige, was keine Teile gleicher Art mehr enthält, und be- deutet, physisch genommen, dasselbe, wie die Molekeln der neueren Chemie. Insofern die Monaden auf einander wirken können (was bei Bruno bekanntlich im Gegensatz zu Leibniz der Fall ist) und innere Kräfte besitzen, weisen sie auf die dynamische Atomistik hin. In Wahrheit repräsentieren sie allerdings nur die hylozoistische Atomistik, die seit Bruno niemals ganz ausgestorben ist. Der Zusammenhang aller Einzel- wesen in der Einheit der göttlichen Substanz kann auf Spinoza, die Vielheit der sich selbst entfaltenden Substanzen auf Leibniz gedeutet werden. Man kann aber auch noch weiter bemerken, dafs die beiden fundamentalen Gedanken, welche das Zusammen der Atome zu begründen suchen, bei Bruno in noch ungesich- teter Form zu finden sind ; dafs sie bei ihm noch nicht ge-

400 Bruno : Spinoza, Llibniz, OccasioDalismus, Kriticismus.

trennt sind, ist eben seine charakteristische Eigentümlichkeit, die man zerstören würde, wenn man ihm die Gedanken "unter- legen wollte, welche die spätere Entwicklung erst geschaffen hat. Vom Standpunkte einer transcendenten Metaphysik aus ist alles Geschehen bedingt durch die Monaden selbst, sie sind das Absolute, die Dinge an sich, in denen sich der Welt- prozefs entwickelt; in dieser Richtung stammt Leibniz' Mona- dologie von Bruno ab. Hier entsteht die schwierige Frage, wie die "Wechselwirkung der Atome zu denken ist, wenn die- selben die absoluten Substanzen, die aus allen Beziehungen gelösten Dinge sein sollen. Denn sobald man sie als wirkungs- fähig aus sich selbst betrachtet, so hebt man den Zusammen- hang mit den andern Monaden auf; setzt man aber diesen voraus, so verliert das Atom seine Selbständigkeit als Substanz, seine Existenz erfordert schon die Existenz der übrigen Atome. Innerhalb des Dogmatismus bleiben daher nur die beiden berühmten Lösungsversuche des Occasionalismus und der prä- stabilitierten Harmonie übrig. Entweder verursacht Gott durch ein perpetuelles Wunder bei jeder Gelegenheit die Regel- mäfsigkeit des körperlichen und geistigen Geschehens, oder er hat in einem einmaligen Wunder die sich selbst entwickelnden Substanzen zur Übereinstimmimg angepafst.

Man kann nun den einzig möglichen Ausweg aus diesem Dilemma, den Übergang auf den Standpunkt des Kriticismus, ebenfalls bei Bruno angedeutet finden. Dieser besteht darin, dafs die Bedingung zur Möglichkeit der Erfahrungswelt ge- sehen wird in der Bedingung der Möglichkeit wissenschaft- licher Erkenntnis, in der gesetzlichen Synthesis der räumlich- zeitlichen Sinnesempfindungen durch die Einheit des Bewufst- seins. Die Arten dieser Synthesis sind alsdann diejenigen Be- ziehungsformen des Inhalts des Bewufstseins auf seine Einheit, welche wir Denkmittel genannt haben, sie sind ausgesprochen in den Grundsätzen der Quantität, der Variabilität, der Sub- stanz und Kausalität, unter welchen alle sinnlich gegebene Qualität stehen mufs. damit sie in Bezug auf sich selbst als identisch (Substanz) und als real (Variabilität), in Bezug auf anderes als vergleichbar (Quantität) und als wirkungsfahig (Kausalität) bestimmbar sei. Alsdann ist die Wechselwirkung der Substanzen gewährleistet in dem Apriori, welches die Be-

Bruno and Kant. Fortentwickelung der Atomistik. 401

dingung der Erfahrung ist. Bei Bruno ist es ausgesproclien dafs die Natur von der Einheit zur Vielheit auf derselben Stufenleit^ herabsteigt, welche der Verstand in der Erkenntnis von der Vielheit zur Einheit wieder hinaufzusteigen hat. Dies bedeutet, dafs die Einheit des substanziellen Minimums und die Entwickelungsfahigkeit desselben in der Natur angetroffen wird, weil sie Bedingungen sind, unter denen die Erzeugung der Natur durch das Denken steht. Selbstverständlich soll damit kein kantischer Gedanke in Brunos Metaphysik hinein- gezwängt, sondern nur angedeutet werden, dafs die Keime der späteren Probleme in seinem Denken bereits erkennbar, aber noch nicht getrennt sind. Die Monade, Bepräsent ant der ein- fachen Einheit, trägt bei ihm sowohl einen transcendenten als einen transcendentalen Charakter, sie ist ebensowohl Produkt der Entwickelung des Absoluten in der Natur, als Produkt des menschlichen Erkennens, Ding an sich und Phänomenen zugleich. Die Scheidung vollziehen die folgenden Jahrhunderte.

Fünfter Abschnitt.

Übergänge.

1. Metaphjrsische und phjrsikalische Atomistik.

Bruno war der erste, welcher die öffentliche Vertretung der Atomistik aufnahm. Von jetzt ab beginnt von den ver- schiedensten Seiten her die Erneuerung korpuskulartheoretischer Lehren sich zu regen. Die Motive, welche zur Betonung des atomistischen Gedankens führen, sind jedoch verschiedener Natur imd lassen sich in zwei Hauptgruppen sondern, welche zugleich die von der Fortentwickelung der Atomistik einge- schlagenen Richtungen deutlich bezeichnen. Man hat von nun an eine metaphysische und eine physikahsche Atomistik zu

unterscheiden.

Die metaphysische Atomistik verdient ihrenNamen nicht nur wegen ihres Interesses, das, wie schon in der Ein-

26

Lafnrtts.

402 Metaphysische und physikalische Atomistik.

leitong angedeutet, auf Erzeugung einer einheitlichen Welt- anschauung zielt, sondern auch wegen ihres Verfahrens. Sie geht nicht von der empirischen Thatsache diskontinuierlicher Körper aus, sondern von der theoretischen Voraussetzung, dafs das Kontinuum aus diskreten Unteilbaren bestehe. Sie stützt sich auf den Begriff des Einfachen; indem sie diesen zu gründe legt, betrachtet sie alle kontinuierlichen Gröfsen in atomisti- schem Sinne und bezieht sich daher auch auf mathematische Spekulationen. Die Atome gelten ihr als punktuelle Gröfsen, in der späteren Entwickelung als Kraftpunkte oder Monaden, und alle Monadologien haben hier ihren Ursprung. Das physikalische Interesse ist dabei ein durchaus untergeordnetes, und die Anwendung der Atome zur Erklärung der Erscheinungen in der Physik betrachtet sie nicht als ihre Aufgabe. Sie hat also vorläufig mit der Physik nicht direkt zu thun. Aus der antiken Atomistik hat sie sich durch das Eindringen neu- platonischer Gedanken entwickelt, wie dies in der Lehre Bbünos vor Augen liegt.

Die physikalische Atomistik dagegen ist, wie eben- falls in der Einleitung bereits gesagt, aus durchaus praktischen Bestrebungen der Physiker zur bequemeren Erklärung der Naturerscheinungen hervorgegangen. Für sie ist die Ableitung der Atome aus philosophischen Begriffen Nebensache. Ob die Atome wirklich das letzte und äufserste Element der Körper- welt und das absolut Einfache sind, ist eine Frage, auf deren Beantwortung sie verzichtet. Es genügt ihr anzunehmen, dals es sehr kleine Körperteile gibt, deren weitere Teilbarkeit für ihre physikalischen Zwecke nicht in Betracht kommt. Aus diesen konstruiert sie die physischen Phänomene, ohne um den letzten Grund der Berechtigung zur Annahme jener Teilchen zu sorgen. Ihr Verfahren ist daher ebenfalls physikalisch; sie sucht für die beobachteten Erscheinungen zunächst eine Ver- anschaulichung, im weiteren Fortsehritte ein Mittel der mathematischen Darstellung. Den strengen Mechanismus und die Ewigkeit der Atome weist sie daher aus kirchlichen Bück- sichten vorsichtig zurück und ergänzt die Lehren der alten Atomistik nach Bedarf durch Annahme eines intramolekularen Äthers oder Weltgeistes und die Voraussetzimg eines allmächtigen Schöpfers. Diese Umgestaltung der antiken atomistischen

Korpuskulartheorie. Lubin. 403

Metaphysik zu einer nur praktisch verwendbaren physikalischen Hypothese hat ihre Vermittelung in der bereits im Altertum eingetretenen Verschmelzung der Theorien der Materie (S. 1. Buch S. 211 ff.). Die Tradition der Mediziner spielt hier eine Bolle, und ein Mediziner, Daniel Sbnnert, ist es auch, welcher diese physikalische Atomistik zuerst mit Nachdruck vertritt. An Stelle der Atome wird jetzt, dem von Heraelibes eingeführten Namen oyxoi entsprechend, die richtigere Bezeichnung Corpuscula gebräuchlich, und wir nennen daher diese Lehre die Korpus- kulartheorie.

Natürlich aber sind die beiden soeben angedeuteten Haupt- motive nicht immer nach den Personen der einzehien Denker trennbar; auch die Erneuerer der physikalischen Atomistik fühlen das Bedürfnis, sich mit den systematischen Lehren der Schule auseinanderzusetzen; und wenngleich ihr Interesse ein wesentlich physikalisches ist, so stehen sie doch unter den Ein- flüssen bestimmter philosophischer Eichtungen. Namentlich macht sich der Nominalismus zu Gunsten atomistischer Ansichten geltend.

Wir erwähnen zimächst in Lübin einen Vertreter der metaphysischen Atomistik.

2. Eilhard Labin.

Der Philologe Eilhard Lubin (geb. 1565, gest. zu Hostock 1631) gelangt in einem Werke über die Natur des Bösen zu einer atomistischen Auffassung des Kontinuums.^ Er nimmt zwei Prinzipien an: Gott und Nichts; das Nichts ist gleichbe- deutend mit dem Bösen. Nunmehr beabsichtigt er den Beweis zu führen, dafs die Welt nicht seit Ewigkeit bestehe, sondern in der Zeit durch Gott aus dem Nichts erschaffen sei. Um dies zu ermöglichen, sucht er die Zusammensetzung des Kontinuums aus Unteilbarem zu erhärten. Denn wenn die kontinuierlichen Gröfsen, wie Zeit, Bewegung, Körper und Raum, bis ins Un-

* EiLHARDi LuBiNi, PhospkoruSy de prima causa et natura malt, in quo muUorum gravissimae et duhitationes toUuntur ei errores deteguntur. Iterata editio, anctior et perfcctior. Bostockii 1601. Die erste Ausgabe erschien 1596. Leibxiz erwähnt Lubin neben andern (Basso, Bonartes) als Ver- treter einer diskontinuierlichen Auffassung der mathematischen Figuren in der Sypothesis physica, Math. Schriften ed. Geuharüt VI p. 78.

26*

404 LuBiN: Nichts Unendliches.

endliche teilbar wären, so gäbe es kein Letztes der Teilong, keinen ersten Moment der Bewegung oder der Zeit, und es müfste daher in Ermangelung eines solchen Anfangs die Welt seit Ewigkeit existiert haben. ^ Aus diesem Grunde, also im Interesse der christlichen Lehre, stellt sich Lubik die Aufgabe zu beweisen, dafs keine Zahl, keine Zeit, keine Bewegung und kein Körper durch Vermehrung ins Unendliche wachsen oder durch Verminderung ins unendliche abnehmen, resp. geteilt werden könne.' Den Beweis stützt er auf den Satz, daXs die Zahl, d. h. die diskrete Gröfse, zu jeder der genannten konti- nuierlichen Gröisen ein vollkommenes Analogen bilde und mit ihnen in Proportion stehe. Denn die kontinuierliche Orölse kann gemessen werden, sie setzt also eine zahlenmälsige Dar* Stellung voraus; eine Messung ist ja nur mit Hilfe der Zahl möglich. Ebensowenig, wie es eine unendliche Zahl gibt, kann es daher ein unendliches Kontinuum geben ; bei dem Versuche^ die unendliche Gröfse sich vorzustellen, ermüdet der Geist und sieht sich gezwungen stehen zu bleiben. Li der endlichen Welt kann eben nichts Unendliches konzipiert werden; alle Kreatur ist endlich, der Schöpfer allein unendlich.'

LüBiN hebt hier in bemerkenswerter Weise den Widerspruch hervor zwischen dem Drange, die Progression bis ins Unend- liche fortzusetzen, und der Forderung, dieselbe an bestimmter Grenze abzubrechen. Erstere schreibt er der Phantasie oder Lnagination zu, letztere dem Verstände (ratio). Den Einwand, dafs das Kontinuum doch wenigstens der Möglichkeit nach ins Unendliche teilbar sei, weist er damit zurück, dais die Mög- lichkeit der unendlichen Teilung nur in der Fähigkeit unsrer Vorstellung von einer solchen läge, aber durch diese Möglich- keit, in der Phantasie mit der Teilung immer weiter zu gehen,

^ A. a. 0. Äpologia p. 4b:... continuorum, hoc est corporis, temporis et motns, in iDfinitum snbdivisio mihi ab omni illo tempore, qno primum a prae* ceptoribos mihi expositom est, dubiom et de falsitate snspectom. Quo fnnda* mento admisso nihil horum ant ex nihilo constaret aut ex nihilo creatom esset, sed necessario esset ab aeterno, cum ita nnllom primum, nullum oltimam motus aut temporis instans dari possit, utpote quae sint ex hoc dogmate in infinitum suddivisibilia. Atque hoc adeo Fundament um necessario ipsi diruendum esse, qui temporis motus et mundi principium demonstrare satagat.

« A. a, 0. c Xm. p. 147 f.

' A. a, 0. p. 150.

Lubin: Grenze der Teilbarkeit. 405

werde keineswegs ein wirkliches Trennen, ein Erschaffen un- endlich vieler Teile in der Körperwelt bewirkt.^

Die Überzeugung von der Unmöglichkeit des Unendlichen liegt allen Ausführungen Lubins zu Grunde. Da eine fortge- setzte Teilung der Körper zu keinem Ende führen würde, mufs der physische Körper aus unteilbaren Atomen bestehen; aber selbst die gesamte Welt, alles was die ungeheure "Wölbung des Himmels umfafst, wird nur eine endliche Zahl solcher Atome enthalten können. Wie grofs diese Zahl ist, das frei- lich weifs nur Gott; für den Menschen ist die Zahl derselben unbestimmt, jedenfalls aber nicht unendlich. Zahlen über diese hinaus zu denken ist unnütze Phantasterei.*

Vom Gesichtspunkte der begrenzten Teilbarkeit aus ist es ein Irrtum zu glauben, dafs die Hälfte noch ebenso geteilt werden könne als das Ganze; vielmehr nimmt die Zahl der noch möglichen Teile mit jeder neuen Teilung ab, und der einfache Körper, das Atom, hat keine Teile mehr.' Das physische Atom ist ein Punkt, der Punkt aber verhält sich zur Linie, zur Fläche, zum Räume ebenso wie die Einheit zur Zahl, zur Quadrat- und Kubikzahl; und ebenso verhält sich der Zeitmoment zur Zeit.

Nicht unwichtig ist der Versuch Lubins, die aristotelischen und scholastischen Einwände gegen die Atomistik in systema- tischer Reihenfolge zu widerlegen. Er widmet diesem Bestre- ben zwei Kapitel ; im 14. Kapitel will er die aus physischen, im 15. die aus geometrischen Gründen hervorgegangenen Ein- würfe gegen die begrenzte Teübarkeit des Kontinuums zurück- weisen.

Der Haupteinwand des Aristoteles gegen die (punktuelle) Atomistik besteht in der Behauptung, dafs Teilloses kein Kon-

* A. a. 0. c. XIV. p. 169. Per naturam nihil in nihilum revertitur, sed omnia ad sua principia et aliquid ex aliquo revertuntur. Hinc nimirum in continua illa proportionali subdivisione semper nobis minutissimas particulas tanqaam atomos restare fingimus, illasque vana imaginatione ulterius cogitando dividimus et subdividimus. Apertissime vero hie alucinatur phantasia, et ipsi raüoni prorsus adversatnr . . . . Si quae enim potentia hie, illa oritur ex potenüa illa imaginationis in continuum et infinitnm aliquam rem continuam dividens.

* A. a. 0. c. Xin. p. 154. -- » A. a. 0. p. 159.

406 Lubin: Verbindung der Atome.

tinuum ausmachen könne (s. S. 104). Hierin findet Lubin eine petitio principiij indem Abistotbles von den teülosen Punkten annimmt, dafs sie sich in derselben Weise zusammensetzen, wie ausgedehnte Körper (welche Teile haben, mit denen sie sich vereinen können), während doch gerade die Zusammen- setzung erklärt werden soll. In der That ist es nicht gerecht- fertigt, wenn man überhaupt punktuelle Atome imaginiert, also von allen sinnlichen Qualitäten und der Ausdehnung selbst ab- strahiert, dieselben wie ausgedehnte sinnHche Körper zu be- handeln, den Begriff der Berührung, welcher nur aus der Sinn- lichkeit entnommen ist, auf jene zu übertragen, und da er nun notwendig unanwendbar wird, daraus auf die ünzulässigkeit jener Abstraktionen zu schliefsen. Die Forderung stetiger Be- rührung setzt die Existenz von Teilen voraus; sie wird daher aufgegeben werden müssen, wo nur teUlose Individuen existieren.^ Es erhebt sich nun allerdings die Frage, wie man sich das Zu- sammen der Funkte zu denken habe, so dafs ein Kontinuum entsteht. Lubin ist geneigt, diese Frage als über unsren Ver- stand hinausgehend zurückzuweisen; jedenfalls mufs ein solches Zusammen der Funkte existieren, und Gottes Weisheit wird für dasselbe 'gesorgt haben ; wenn er uns dieses "Wunder ver- bergen will, so brauchen wir uns deshalb nicht für weniger gelehrt zu halten. Dann aber unternimmt Lubin doch einen Ver- such, jene Verbindung der Atome durch eine Hypothese einiger- mafsen begreiflich zu machen. Funkte werden untereinander nicht per partes (denn Teile haben sie nicht), sondern per totum zusammengesetzt, so dafs sie ganz Eins sind. Zwei so vereinte Funkte, meint Lubin, machen ein corpusctdum aus; jedenfalls unterscheiden sie sich von einem einfachen Funkte, denn der zusammengesetzte kann bereits in zwei Teile zerlegt werden. Für die sinnliche Anschauung wird allerdings zwischen dem einfachen und dem zusammengesetzten Funkte kein Unterschied sein, das Denken aber kann diesen Unterschied wahrnehmen. In gleicher Weise kann man sich, wie ein Korpuskel zweiter Ordnung, auch ein solches dritter und vierter Ordnung denken, in welchem drei oder vier Funkte zusammengefallen sind, wäh- rend der einfache Funkt als das Korpuskel erster Ordnung

* A. a. 0. c. XIV. p. 171.

Lubin: Korpuskeln verschiedener Ordnung. Bewegung. 407

(corpnsculum primum) betrachtet werden mufs. Denn wenn der Punkt auch kein Körper ist, so muTs er doch etwas von der Natur des Körpers an sich haben, sowie die Einheit, ob- wohl sie keine Zahl ist, doch die Natur der Zahl besitzt. Die Korpuskeln zweiter und höherer Ordnung mögen nun, da sie ja, wenn auch nicht sinnliche, so doch denkbare Teile besitzen, sich zu Körpern zusammenordnen, so dafs ein Kontinuum zu- stande kommt, welches schliefslich aus Atomen besteht. Es ist indes zu bemerken, dafs ein Korpuskel wohl tausend und mehr Atome enthalten kann, bevor es für die Sinne und die Schärfe des Auges wahrnehmbar wird; denn es gibt kleine Tierchen, wie den Acorus^^ welche kaum von dem schärfsten Auge wahrgenommen werden und doch, da sie Bewegung und Leben zeigen, gegliederte Organe und Teile der Organe be- sitzen müssen, die ihrerseits wieder aus vielen Atomen bestehen.

Zur Widerlegung der von Aristotblbs aus der Natur der Bewegung gegen die Atomistik erhobenen Einwände (s. S. 105) betont LuBiN, dafs eine derartige Analogie zwischen den sinn- lichen Gröfsen, Baum und Zeit, und der von der Weltseele oder von Gott stammenden Bewegung, wie sie Aristoteles be- hauptet habe, nicht zulässig sei. Es kann nämlich in einem Zeitmomente nicht nur ein einzelner Raumpunkt vom bewegten Körper zurückgelegt werden, sondern eine sehr grofse und ver- schiedene Anzahl von solchen, ja viele Millionen von Baum- punkten vermag die Bewegung in einem einzigen Zeitpunkte zu durchlaufen. Damit erledigen sich die aristotelischen Ein- würfe; auch dafs bei einer Diskontinuität des Baumes der be- wegte Körper gleichzeitig in Ruhe sei, darf man nicht ent- gegnen, da ja der Funkt keine Teile besitzt, also auch kein Teil vorhanden sei, in welchem der Körper zu Ruhe komme.

Von gröfserem Interesse ist die im 15. Kapitel gegebene Zusammenstellung der Widerlegung solcher Einwände, welche die Anhänger der Kontinuitätstheorie aus mathematischen Gründen erheben wollten. Wenn die Mathematiker sagen, dafs

^ Nach seiner Beschreibung meint Lubin hier die Krätzmilbe des Men- schen (Sarcoptes scabiei), deren Grölse etwa 0,3 Millim. beträgt. Aristoteles nennt als kleinstes ihm bekanntes Tierchen ein im Holz und Wachs vorkom- mendes dxaqC (Hist animal 5, 32, p. 557 b, 8), von welchem hier der Name entlehnt ist. Vgl. die Stelle aus Lücrbz bei Bruno, S. 369 Anm. 3.

408 LiTBix: Die sog. mathematischen Einwände.

eine Linie nicht aus zwei Punkten bestehen könne, weil der Begriff der geraden Linie die Existenz einer Mitte voraussetzt, so sei dies kein Einwand gegen die Atomistik, welche ja an- erkennt, dafs viele Tausende von Atomen dazu gehören, um eine sinnlich vorstellbare Linie zu erzeugen. Allerdings besteht die Linie nicht aus unendlich vielen Punkten was nicht möglich ist , sondern aus einer endlichen Anzahl. Wenn man aber daraus folgern wolle, dafs damit der mathematisch ge- sicherte Begriff der Irrationalität aufgehoben werde, weil als- dann alle Linien rationale Verhältnisse haben müTsten, so sei dies falsch. Die Lrationalität bleibt vielmehr für unser mensch- liches Denken bestehen, da wir ja die thatsächliche Anzahl der Punkte nicht kennen ; zwei Gröfsen sind inkommensurabel, das heifst nur, wir sind nicht imstande ihr Verhältnis anzu- geben, nicht aber, dafs ein solches Verhältnis nicht bestände. Wir nennen ein Verhältnis irrational, das anzugeben unser Wissen nicht ausreicht.

Dafs aus Punkten ein Quantum nicht entstehen könne, wird durch die direkte Behauptung widerlegt, dafs der Pimkt allerdings ein Quantum sei, und zwar das Prinzip der Quanti- tät.^ Er erzeugt, wie schon früher gesagt, ebenso die Qxöfse, wie die Einheit die Zahl erzeugt. Damit fallt die Behauptung, dafs eine Linie von vier Punkten nicht gröfser sei als eine solche von drei u. dgl. Auch dafs eine Linie, die aus einer ungeraden Anzahl von Punkten besteht, nicht in zwei gleiche Teile geteilt werden könne, ist imrichtig. Es kann die Hal- bierung ebensogut geschehen, wie man einen Scheffel Getreide unter allen Umständen in zwei gleiche Teile teüen kann, da ein paar Kömer resp. Punkte mehr oder weniger für die Erkenn- barkeit der Gleichheit durchaus nichts ausmachen. So gut wie die Linie kann nun natürlich auch die Fläche und der Körper aus Punkten bestehen.

Eine zweite Gruppe von Einwänden bilden diejenigen, welche von den Arabern bevorzugt, durch R. Baco und DuNS

^ A. a. 0. p. 189. Bespondeo vero et audacter adfirmo punctum quantum esse, et in genere quantitatum omnium minimum, et habere initium, rationem, naturam, conditionem et proprietatem quanti, et primam esse minimamque quantitatem et principium esse quantitatis, prorsus ut unitas est numeri.

LüBiN: Perspektivisch liegende Figuren. 409

ScoTUS zur Geltung gekommen sind und aus der Diskonti- nuität der Linien die Gleichheit perspektivisch liegender Ge- bilde als notwendige Folgerung ableiten wollen (s. S. 195 f.). Wäh- rend Bruno diesen Einwand dadurch zu lösen suchte, dafs er die Möglichkeit leugnete, vom Strahlpunkte nach allen Rich- tungen hin gerade Linien zu ziehen, hilft sich Lübin damit, dafs er sich die Strahlen vom Strahlpunkte aus nach und nach auseinanderweichend denkt, so dafs, wenn man von der gröfse- ren Figur zur kleineren übergeht, in dieser soviel Strahlen in eine einzige Linie zusammenlaufen, als dem Verhältnis der Umfönge (d. h. der in ihnen enthaltenen Zahl der Punkte) entspricht. Wenn z. B. behauptet wird, dafs die Diagonale eines Recht- ecks der Seite gleich sein müsse, da sie beide gleich viel Punkte enthielten, so sagt Lübin dagegen, dafs die von Punkten der Diagonale nach der Seite gezogenen Geraden (d. h. die Perpendikel auf dieser) in den Punkten der Seite zusammen- fielen ; wenn z. B. die Diagonale achtmal so grofs als die Seite ist, so fallen je acht solche Perpendikel (aus acht benachbarten Punkten der Diagonale) in ihren Fufspunkten auf der Seite za einem einzigen zusammen. Diese gewaltsame Vorstellung, welche den geometrischen Grundbegriffen widerspricht, wird eben nur möglich, wenn man sich mit Lübin in jene übersinnliche Matiiematik rettet, wo der sinnlich einzelne Punkt eine Miehr- zahl intelligibler Punkte enthalten soll.

Ein weiterer Einwand der Mathematiker besteht darin, dafs sie sagen: wenn die Teile Punkte der Linie sind, so sind sie nicht Grenzen derselben; die Linie, die aus Punkten besteht, hat also keine Grenzen, ist demnach unendlich. Diese Wort- spalterei weist Lübin zurück durch die Gleichsetzung der Be- griffe Teil und Grenze; der Punkt kann ebensowohl Teil als Grenze sein ; der äufserste Punkt ist Teil und Grenze zugleich. Der Einwurf endlich, dafs über einer aus zwei Punkten beste- henden Geraden sich kein gleichschenkliges Dreieck errichten lasse, erledigt sich nach dem früheren von selbst.

Dies sind die Gedanken, welche Lübin den aristotelisch- scholastischen Gründen gegen die Atomistik entgegenstellt. Man mufs es ihm als ein Verdienst anrechnen, dafs er eine solche systematische Widerlegung jener Gründe gegeben hat, welche doch mit ihrem autoritativen Gewicht und ihrer schul-

410 LuBiNs Verdienste. Mutakallimun.

mäfsigen Beliandlung für sehr viele von vornherein ein Ab- schreckungsmittel bei der Verfolgung atomistischer Neigungen waren. Es muTste gezeigt werden, dafsdie atomistische Auffassung des Kontinuums nicht nur vereinbar ist mit andern Lehren der Schule und vor allem mit dem theologischen Bedürfius^ sondern dafs sie unter Umständen von letzterem sogar gefor- dert werden könne. Je mehr das Vorurteil verbreitet war, dafs Anhänger der Atomistik eigentlich auch Atheisten wären (von Epikur hatte man ja die möglich schlechteste Meinung, und von Bruno war sie nicht viel besser), um so wichtiger wurde es, die atomistische Auffassung des Kontinuums oder der Ma* terie als mit der christlichen AVeltauffassung vereinbar darzu- stellen. In diesem Sinne darf man die Arbeit Lubins nicht unterschätzen. Hat er auch seine Gründe zum Teil mit nicht besseren Waifen verteidigt, wie die der Scholastik waren, so zeigt er dafiir an einzelnen Stellen eine freie und klare Auffassung. Insbesondere, dafs man den Atomen, wenn sie punktuell gefafst werden, nicht wieder sinnliche Eigenschaften in Bezug auf ihre Zusammensetzung zuschreiben darf, ist eine Bemerkung, die hervorgehoben zu werden verdient. Der sich daraus erhebenden Frage, wie nun die Zusammensetzung zu denken sei, steht Lubin allerdings ratlos gegenüber. Aber die Frage ist jetzt gestellt und die traditionelle Meinung, dafs die Atome untereinander in Berührung sein müTsten, erschüttert. Die Lösung der Frage nach dem Zusammen der getrennten Punkte fuhrt dann auf das dynamische Gebiet: denn nur durch Aunahuie von Kräften wird das Aufsereinander der Punkte begreillmr worden. Lubixs atomistische Fassung des Konti- uuums aus theologischen Gründen, zum Beweise der Welt- sohöpfung, erinnert- sehr an die Atomistik der Mutakallimun» die ja obouialls aus dem Bedürfnis hervorgegangen war,- die Alhuaoht des Schöpfers sicher zu steilen. Die Mutakallimun sind aber konsei^uenter darin« dafs sie zwar dem einzelnen Atom au sich keine Gröfse zuschreiben, dasselbe dagegen beim Zu- sammoufallou mit einem andren Gröfse gewinnen lassen. Ln Grunde schwebt wohl auch Lvbix dieser Gedanke vor, wenn er erst die Punkte zweiter Orvluimg sich der Aneinanderlagenmg fähig aenkt. Ob ih'n die Atovai^^Tik der Mutakallimun bekannt war, vcrmögx>n wir nicht tVstzust ollen: wahrscheinlich ist es nicht»

LuBiN. BoDiN: Materie. 411

Er liätte hier eine bessere Beantwortung jener eben erwähnten Frage gefunden, wie aus den Punkten die Raumgröfse zustande kommt. Aber dadurch, dafs er den Begriff des Vacuums ab- solut verwarf,^ hatte er sich den Weg verschlossen, die Aus- dehnung von der Position der Atome zu unterscheiden. Auch in der Erklärung der Bewegung weicht Lübin prinzipiell von den Mutakallimun ab.

Wenngleich die metaphysische Atomistik Lubins nicht ge- rade von bedeutendem Einflüsse gewesen sein mag, wenigstens nicht für die Physik, und der Phosphorus^ in welchem er sie niedergelegt hat, sein Licht nicht sehr weit getragen haben dürfte, so werden wir doch in der zweiten Hälfte des Jahr- hunderts jene punktuelle Atomistik mehrfach wieder auftauchen sehen, welche bekannthch in Leibniz' Monadenlehre ihre meta- physische Vollendung erhielt.

3. Jean Bodin.

In dieselbe Zeit, wie Lubixs Ausführungen, gehören auch die Äufserungen Jean Bodins, den wir bereits in der Ent- wickelung der Elementenlehre nannten, als ein Zeichen, wie die Naturphilosophie sich wieder atomistischen Gedanken zu- neigt. Von klaren Festsetzungen über Atome findet sich bei Bodin allerdings nichts, aber seine Bemerkungen sind eben für dieses unbestimmte Ringen nach Grundbestimmungen über die Materie charakteristisch. So versucht er den Begriff der un- veränderKchen Substanz, die der Reihe nach verschiedene Formen annimmt, gegenüber den substanziellen Formen, welche die Materie erst wirklich machen, in den Vordergrund zu steUen. Er meint, dafs mit gröfserer WahrscheinKchkeit eine Materie ohne Form als eine den Dingen der Natur zu- kommende Form ohne Materie bestehen könne, da diese Formen zugleich mit ihrem Gegenstande vergehen, während die Materie bestehen bleibt, indem sie immer neue Formen annimmt.^ Den natürlichen Körper definiert er als das, was aus Materie und ihren Zuständen besteht, indem er die For-

* Fhosphorus c. XI. p. 106.

üniversae naturae theatrtim. Hanoviae. 1605. p. 73.

412 Bodin: Asche. Atome.

men als Zustände der Materie betrachtet.^ Denkt man sich die natürlichen Körper von allen Zuständen befreit, alle natür- lichen Verschiedenheiten weggenommen, wie dies durch die Verbrennung geschehen kann, so bleibt doch noch die Asche übrig. Diese also ist die prima matcria^ wenn eine solche existiert. Die Materie der Asche aber ist nichts anderes, als die angehäufte Menge der Atome. Ob das Atom, als untrenn- bares Ding, ein Körper ist oder nicht, das ist nicht leicht zu entscheiden.* Ein blofser Zustand kann es nicht sein, denn ein solcher kann nicht per sc ohne Substanz subsistieren ; ein Punkt kann es nicht sein, sonst würde es ohne Linie in der Luft umherschweifen, was absurd ist. Es kann also nur ein Körper sein, und zwar, wie es scheint und der Name besagt, ein unteilbarer Körper.^ Allerdings ist jeder Körper ins Un- endliche teilbar, aber doch nur potenziell. Der Ausweg, dafs die unendliche Teilbarkeit allein vom mathematischen, nicht vom physischen Körper, nur von der Gröfse, nicht von der Materie gelte, verwirft Bodin ; denn da jeder physische Körper Baum einnimmt, so ist er auch als räumliche Gröfse ins Un- endliche teilbar, und diese Eigenschaft kann durch das Hinzu- treten der physikaHschen Eigenschaften nicht aufgehoben werden. Er hilft sich damit, dafs er unter Bekämpfung der Ansicht des Scotüs, nach welcher das potenziell Teilbare auch in irgend einer Zeit einmal wirklich geteilt sein könne, die Behauptung aufstellt, jeder Körper kann zwar ins Unend- liche geteilt werden, sei jedoch niemals acfn geteilt gewesen und werde es niemals sein. Eine solche actuelle Teilung näm- lich würde erfordern, dafs die Kraft der Sinne ins Unendliche wachse, was nicht möglich sei.* Thatsächlich begründet also Bodin die Unteilbarkeit des Atoms aus der Unfähigkeit der

* A. a. 0. p. 13. p. 74. S. folg. Anm.

* A. a. 0. p. 72. Si qua est materia pi ima, quae in natura ullum habeat hypostasin, profecto cinis est, et ea corpora, quie quod insectilia sunt, atomi vocantur. p. 74. Corpus naturale initio defir^ebamus quod materia et forma, vel materia et accidentibus constat : cinib :ui-,'.^. materia et accidentibas constat, non item forma: materia autem cineris aliud nibil est, quam atomorum coacta multitudo: atomus vero cum sit insectile quiddam. corpus sit necne, affirmari non facile potest.

* A. a. 0. p. 7G. * A. a. 0. p. 80.

BoDiN: Atome. Raum- u. Zeitelemente. Kein Vacaum. Mischong. 413

Sinne, über eine gewisse Grenze der Kleinheit hinaus Wahr- nehmungen zu machen. Doch ist die ganze Darstellung ein wenig problematisch gehalten. Bodin billigt die Ansicht, dafs das Atom der kleinste Körper sei, so wie die äuTserste Welt- sphäre der gröfste Körper ist. So ist auch die Einheit, obwohl die kleinste Zahl, doch noch Gröfse. Daraus folge nicht, dafs die Linie aus Funkten, die Zeit aus Momenten bestehe; denn das Atom kann ebensogut für sich allein existieren, wie die Einheit, während der Funkt als !Raum-, der Moment als Zeit- element für sich allein nicht bestehen können. Der Schlufs, welcher vom Zusammen der Einheiten und Atome gilt, ist also nicht auf das Zusammen der Funkte und Zeitelemente zu über- tragen.^ Ein Yacuum erkennt Bodin nicht an.' Den Atomen kommt nach ihm eine unbestimmte Bewegung (motus vagus) zu, während die leichten und schweren Körper sich geradlinig, die erste und zweite Sphäre sich kreisförmig bewegen.' Aus seiner Auffassung der Materie ergibt sich, dafs die Elemente bei der Verbindung die Substanz zwar beibehalten, die Formen aber verlieren. Es entsteht bei der Mischung aus den Ele- menten eben etwas Drittes.

Während sich diese atomistische Regung bei Bodin auf den Begriff der von ihm angenommenen allgemeinen Materie der Naturkörper gründet, die er sich als einen formlosen Aschenstaub vorstellt, beginnt die Feriode der Korpuskular- theorie im eigentlichen Sinne, sobald das besondere physika- lische Interesse die Forscher veranlafst, den Atomen solche Eigenschaften beizulegen, wie sie zur Erklärung der Körper- welt erforderlich erscheinen.

4. Francis Bacon.

A. Die Formen und die Aufgabe der Metaphysik.

Auf der Grenze zwischen jener spekulativen Naturphilo- sophie, welche durch Aufsuchung neuer Einheiten die Verän- derung der Dinge zu begreifen strebte, und zwischen der empirischen Naturwissenschaft, die in der korpuskularen Ge-

* A. a. 0. p. 83. * A. a. 0. p. 147. p. 226. ^ A. a. 0. p. 109.

4L4 Francis Bacon. Ubergangsstellung.

staltung und Bewegung der Materie eine theoretische Stütze für die Wechselwirkung der Erscheinungen suchte, finden wir Francis Bacon, Baron of Verulam (1561 1626). Wie Bacon, zum Teil selbst noch in der Scholastik befangen, doch den Übergang vom antiken zum modernen Denken, wenngleich einseitig, zum Ausdruck bringt, so vermittelt er auch zwischen den im Sinne der platonischen Ideen substanzialisierten Be- griffen, als den Bedingungen, welche die qualitative Beschaffen- heit eines Naturdinges bestimmen, und dem mechanischen Prozefs, dessen gesetzlicher Ablauf innerhalb der Materie sich als konkrete sinnliche Erscheinung darstellt. Er sucht nach dem Begriff, welcher die Bedingung des Naturgeschehens und des Naturerkennens zugleich enthält, und indem er ihn sowohl als „Form" wie als „Gesetz" bezeichnet, zeigt sich in seinem Denken das Ringen nach jenem Übergange, welcher sich zu seiner Zeit in der Schöpfung der Naturwissenschaft zu voll- ziehen begann. Gerade dieses Streben, die oben genannten Begriffe zu sondern und zu klarer Fassung zu bringen, und die noch damit verbundene mangelhafte Einsicht in das, was erst die Folgezeit gestalten konnte, macht es schwer, Bacons Aufserungen über die „Formen" sowie seine schwankende Stellung zur Atomistik zu voller Befriedigung aufzuhellen. Nur indem man das baconische Denken in dieser Zwitterstellung erkennt, gelingt es, sein Verhältnis zur Korpuskulartheorie zu verstehen.

Die empirische Bearbeitung des Naturgeschehens, wie sie unabhängig von Bacon im Beginn des 17. Jahrhunderts an- wächst, vermehrte mit der Entdeckung neuer Thatsachen die Zahl der bereits untereinander unvermittelt bestehenden Gebiete der Physik. Durch diese Spezialisierung wurde der Zusammen- hang mit der allgemeinen Physik und der Metaph3''sik immer verworrener und eine neue methodische Ordnung dieser Dis- ziplinen wünschenswert ; es galt ihre Aufgaben unter den ver- änderten Verhältnissen abzugrenzen und festzustellen. Gerade auf dem Grenzgebiete zwischen Physik und Philosophie steht die Korpuskulartheorie. Auf der einen Seite ist sie physi- kalische Hypothese, welche den Nachweis ihrer Berechtigung aus der Erfahrung zu erstreben hat ; auf der andren Seite hängt an der erkenntnistheoretischen Behandlung des Körperproblems

Bacok: Einteilung der Naturphilosophie. 415

die Möglichkeit und die Begrenzung der Physik, sowie die Klarlegung des Sinnes, welchen Naturerkenntnis überhaupt be- sitzt. Diese Untersuchung über Methode und Einteilung der Wissenschaften, allerdings in der praktischen [Rücksicht auf die mögliche Erweiterung der Macht des Menschen über die Natur, ist das eigentliche Interesse des baconischen Denkens, und deshalb zeigt sich die Stellung Bacons zur Atomistik als eine ledigUch abwägende, indem er weniger für ihren in- haltlichen Ausbau eintritt, als für die Erörterung ihres metho- dischen Wertes.

Bacon teilt die Naturphilosophie in eine spekulative und eine operative.^ Die letztere, welche in die Mechanik und die natürliche Magie, d. h. die Lehre von der praktischen Be- herrschung der Natur durch Anwendung der erkannten Gesetze derselben zerfallt, kommt hier nicht weiter in Betracht, Die spekulative oder theoretische Naturphilosophie dagegen wird von Bacon nach Mafsgabe der zu berücksichtigenden Ursachen in zwei Unterabteilungen zerlegt, welche er Physik und Me- taphysik nennt. ^ Diese Namen decken sich jedoch nicht mit unsrem Sprachgebrauche und ebensowenig mit dem ari- stotelischen. Beide Disziplinen sollen es lediglich mit der Natur zu thun haben, und zwar so, dafs gerade der Gegenstand der Metaphysik der wichtigste Teil der Natur ist. Die Metaphysik hat sich nämlich mit dem Abstrakten und zwar dem Kon- stanten in den Naturerscheinungen zu beschäftigen, indem sie auch den Geist (mentem) und die Idee bei ihrer Erklärung berücksichtigt. Die Physik dagegen behandelt das, was ganz auf Materie und Bewegung beruht und setzt nur die Existenz,

* De aufftn. scient. 1. 3. c. 3. T. I p. 169. Die Citate beziehen sich auf Opera, Amstelod. 1694. Vgl. dazu Küno Fischer, Fr. Bacon. Könio, Causa- Utät 8. 146 fif. Heussler, Bacon. Letzteres Werk konnte erst berücksichtigt werden, als das Man. schon abgeschlossen vorlag. Ich glaube gerade mit Heussless Auffassung der vermittelnden Stellung Bacons (auch in Bezug auf Platon und Demokrit, S. 119) übereinzustimmen.

De augm. scient 1. 3. c. 4. T. 1. p. 170, 172. Physicam ea tractare, qoae penitus in materia mersa sunt, et mobilia ; metaphysicam abstracta magis, et constantia. Kursus physicam in natura supponere existentiam tantum, et motnm, et naturalem necessitatem : at metaphysicam etiam mentem et ideam. Vgl. Nov. Org. 1. 2. c. 9. T. H p. 143.

416 Bacon: Gesetz und Form.

die Bewegung und die natürliche Notwendigkeit voraus. Der Unterschied zwischen beiden liegt also in der Beschaffenheit der Ursachen, auf welche sie reflektieren ; für die Physik sind es nur die wirkende Ursache und die Materie, für die Metaphysik die Zweckursache und die Form. Erstere betrachtet Baoon als etwas Unbestimmtes, nämlich abhängig von den gegebenen äul'seren Umständen, letztere als das Beständige an den Dingen, welches ihre Wirkungsweise konstitutiv bedingt.^

Nähere Aufklärung gibt das Novum Organum. Unter jenen vier Arten von Ursachen scheidet zunächst der Endzteeck als unfruchtbar aus ; er stiftet in den Wissenschafben mehr Schaden als Nutzen und kommt allein für die menschlichen Handlungen in Betracht. An der Auffindung der „Form" glaubte man verzweifeln zu müssen. Wirkende Ursache und Materie end- lich beziehen sich nur auf die Oberfläche der Erscheinungen und dringen nicht in die wahre Tiefe des Wissens, wenn sie nicht in ihrer Beziehung zur Form erkannt werden. Denn wenn auch in Wahrheit in der Natur nichts existiert aufser den Einzelkörpem mit ihren rein aktuellen Einzelwirkungen, welche aus einem Gesetze fliefsen, so ist doch für die Er- kenntnis jenes Gesetz und seine Erforschung, Aufsuchung und Erklärung das Fundament, auf welchem Wissen wie Wir- ken beruht. Dieses „Gesetz" und seine „Paragraphen" will Bacon mit dem Neunen der „Formen" bezeichnen.^ Die Form wäre nur eine Erdichtung des mensohlichen Geistes, wenn sie nicht das Gesetz des Geschehens selbst bedeutete, wenn sie nicht der Ausdruck wäre für die Bestimmungen des reinen Actus, welche eine einfache Beschaffenheit, wie die Wärme, das Licht, die Schwere konstitutiv bedingen in jedem dafür empfanghchen Stoffe.* Als diese konstitutiven Bedingun- gen sind die Formen ewig und unveränderlich; sie zu ent-

» A. a. 0. p. 173. * J^. 0. n, 2. T. H p. 133.

' N. 0. I, 51. Materia potius considerari debet et ejus schematismi et metaschematismi, atque actus purus, et lex actus, sive motus. Formae enim commenta animi hnmani sunt, nisi libeat leges illas actus formas appellare. N. 0, II, 17. T. U p. 178. Nos enim, quum de formis loquimur, nil aliud intelligimus, quam leges illas et determinationes actus puri, quae naturam ali- quam simplioem ordinant et constituunt .... itaque eadem res est forma calidi aut forma luminis, et lex calidi sive lex luminis.

Bacon: Verborgener Prozels u. Schematismus. Atomistik. 417

decken ist die Aufgabe der Metaphysik, welche daher im Ge- gensatz zur Physik es mit dem Beständigen in den Dingen zu thun hat. Die Physik dagegen studiert das Veränderliche der Erscheinung, welches sich als Wirkendes und als Materie darbietet. Die Erforschung mufs jedoch von diesem empirisch gegebenen Veränderlichen ausgehen und aus ihm durch Ana- lyse zu den konstitutiven Einheiten vorzudringen suchen; erst wenn die letzteren erkannt sind, ist auf die Beherrschung der Natur durch Regulierung ihrer inneren konstituierenden Fak- toren zu rechnen. Der Weg aber von der Mannigfaltigkeit und Wandelbarkeit der sinnlich gegebenen Wirkungen und Stoffe zur Erkenntnis der Formen führt durch die Erforschung des unsichtbaren Gewebes der Dinge, des verborgenen Prozesses (latentis processus) im Werden und des ver- borgenen Schematismus im Stoffe. Diese sind nichts andres als die korpuskulare Gestaltung, von welcher alle sogenannten verborgenen und spezifischen Eigenschaften der Dinge und die Norm ihrer Veränderung abhängt. Aber auch bei dieser Erforschung kommt die wahre und klare Er- leuchtung, welche alle Dunkelheit und Spitzfindigkeit vertreibt, von den ursprünglichen Grundsätzen.^

Aus diesen Grundanschauungen ergibt sich Bacons Ab- grenzung der Physik gegenüber der Metaphysik und die Er- klärung seiner Stellung zur Atomistik, soweit er hierbei selbst zu einer klaren Auffassung durchgedrungen ist.

Bacon erkennt die Vorzüge der Atomistik gegenüber der dialektischen Begriffsspaltung der Scholastik, welche von der Natur ablenkt und zur Aufstellung willkürlicher und erdichteter Einheiten, der Idole, führt. „Es ist besser die Natur zu zer- schneiden, als von ihr Abstracta zu bilden", d. h. die Analyse soU eine physikalische sein, welche die räumhche Ausdehnung des Stoffes, seine Gestaltung imd Bewegung in Betracht nimmt. „Dies that die Schule des Demokrit, die deshalb tiefer als die andern in die Natur eindrang."* Aber die Auflösung in die Atome kann ihm nicht genügen. Allerdings betäube die Be- trachtung der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit den Geist so, dafs er sich ihren Wirkungen mit blofsem Erstaunen gegen-

' N, 0. II, 7—9 T. II. p. 142, 143. « N, 0, I, 51. T. H p. 41. Laftvitz. 27

418 Bacon: Vermittelung zw. Dbmokkit und Platoh.

überstelle und zu ihrer Einfachheit nicht hindurchdringe; da- gegen hemmen und schwächen Betrachtungen der Natur in ihrer Einfachheit allein das Verständnis, wie man an der Schule des Leukipp und Demokrit sehe ; diese verweilten soviel bei dem Einzelnen der Dinge, dafs sie ihren wirkenden Zusammen- hang (fabricam) vernachlässigten. Deshalb müsse man mit diesen Betrachtungsweisen wechseln und eine neben der andern gebrauchen, damit der Verstand zugleich durchdringend und empfanglich werde. ^ Wenn Demokrit und Epikub für die Atome eintreten, so werden sie bis dahin wohl von einigen feineren Köpfen geduldet; sie werden aber nur mit allgemeinem Gelächter empfangen, wenn sie aus dem zufälligen Zusammen- stofs der Atome ohne Hilfe einer Vernunft (mens) das Welt- getriebe zusammenwachsen lassen.«

Was also Bäcon an der Atomistik vermifst, ist die Mög- lichkeit, aus ihren Prinzipien die innere Gesetzmäfsigkeit, den bestimmenden Zusammenhang in der Wechselwirkung der Dinge abzuleiten. Zu diesem Zwecke glaubt er eine immanente Gesetzlichkeit als eine ursprüngliche Anlage in den Dingen voraussetzen zu müssen, nicht als zweckbestimmend im aristo- telischen Sinne, sondern als die Wirkungsart selbst repräsen- tierend. Diese nennt er die Form. Es ist dies ein auf plato- nischem Grunde wurzelnder Versuch, die in der Materie sich entfaltenden Wirkungen durch einen Begriff zu fixieren, welcher das Gesetz ihrer Wirksamkeit ausdrückt. Die vom göttlichen Geiste seinen Geschöpfen eingeprägten wahren Stem- pel (signacula) bestimmen das gesetzmäfsige Geschehen, aber nicht als von der Materie gänzlich abgetrennte, sondern als in ihr selbst begrenzte und in wahren Linien umschriebene,* Gelingt es diese „Formen" zu erkennen, so ist damit der Ein- gang in die innere Werkstatt der Natur selbst gewonnen. Des- halb stellt Bacon die Metaphysik über die Physik als die Wissenschaft, welche die Arbeit der Physik zu vollenden hat.

In dieser Forderung Bäcons liegt die geniale Ahnung einer Wahrheit, aber nicht mehr. Es handelt sich in der That dar- um, die Realität des Naturgeschehens zu konstituieren als

* K 0. I, 57. T. II p. 44. ' De augm. scient HI, 5. T. I p. 200. » N. 0. I, 124. T. n p. 123. De augm. scient 11, 4. T. I p. 193.

Baoon: Gattungen u. math. Gesetze. Formen n. Formeln. 419

seine Gesetzlichkeit, und zwar als eine Gesetzlichkeit, welche die Veränderung der Dinge nicht unter dem Begriff der Sub- stanzialität aufhebt, sondern welcher die Erscheinungen in Einheiten zerlegt, deren Begriffe die gesetzliche Entwickelung in ihrem gegenseitigen Zusammenhange enthalten und durch diesen Zusammenhang selbst definiert sind. Und Bacon kommt soweit, dafs er den Namen „Gesetz" für diese Formen oder „formalen Ursachen" einführt. Aber dieses Gesetz selbst sucht er wieder unter dem Denkmittel der Substanzialität, als einen den einzelnen Eigenschaften übergeordneten Gattungsbe- griff. Es ist wieder nur die Substanzialisierung der Eigen- schaften in einer höheren Eigenschaft, die Ableitung der Eigen- schaften aus einer Wesenheit, „die mehreren innewohnt". Es soU eine Eigenschaft (Natura) angegeben werden, welche sich in die gegebene Eigenschaft umwandeln kann, und die doch die Limitation einer höheren Eigenschaft als ihrer wahren Gattung ist.^ Deshalb kann Bacon über die logische Analyse trotz seiner Inquisition der Erfahrung nicht hinausgelangen; er kennt nur die angegebene Art der gesetzmäfsigen Ver- knüpfung. Das Gesetz aber, welches allein imstande ist, jene einheitlichen Beziehungen in der Natur zu schaffen, die Bacon in seinen „Formen" vergebens zu gewinnen sucht, ist das mathematische. Bacon verkennt nicht die Notwendigkeit, mathematische Bestimmungen in den Naturerscheinungen vor- zunehmen und quantitative Beziehungen aufzusuchen, aber er vermag nicht einzusehen, was Kepler und Galilei wufsten, dafs überhaupt nur soviel Naturerkenntnis möglich ist, als sich Mathematik in der Natur auffindbar zeigt, oder, um es modern auszudrücken, als Natur durch mathematische Gesetze objekti- viert wird. Seine Unterschätzung der Mathematik verschlofs ihm die weitere Fortführung seines Gedankenganges. Die „For- men", welche er suchte, sind nirgends zu finden, als in den „Formeln" der mathematischen Naturwissenschaft, welche die Gesetzmäfsigkeit der Erscheinungen definieren und den inneren Zusammenhang der Dinge, die fdbrica rerum, gewährleisten. Sie sind die Gesetze und die formalen Ursachen, das „Kon- stante" in der Natur, was Bacons Metaphysik suchen sollte.

» N. 0. II, 4. T. I, p. 136.

27'

420 Bacok: Methaphysik and Physik.

und diese Metaphysik, welche der empirischen Physik über- geordnet ist, konnte, wenn sie zur Wissenschaft werden sollte, nichts andres bedeuten als „mathematische Naturwissen- schaft". Bacon konnte zu dieser Erkenntnis nicht gelangen, sweil er nicht sah, dafs alle Gewifsheit in der Naturerkenntni in der Darstellbarkeit der Erscheinungen als mathematische Gröfsen liegt. Messung und Wägung galt ihm nur als Mittel der Eegistrierung, und insofern wohl als eine Vorstufe der Objektivierung; dafs aber die Objektivierung selbst, die Ga- rantie des gesetzlichen Zusammenhangs der Erscheinungen, sich ebenfalls nur in mathematischen Begriffen durch jene Gröfsenrelationen vollziehen kann, die wir Prinzipien der Mecha- nik nennen, das war ihm ein durchaus fremdartiger Gedanke. Hält man dies fest, dafs Bacon in seiner Metaphysik eine Wissenschaft abgrenzen wollte, die für die Feststellung der „formalen Ursachen" dasjenige leisten sollte, was die mathe- matische Physik thatsächlich leistet, so wird auch seine Auf- fassung der Physik deutlich und die bescheidene BroUe, welche er der wirkenden Ursache und der Materie zuschreibt. Weil seine „Formen" ihm nicht unter der Gestalt mathematisch for- mulierter Bewegungsgesetze erscheinen konnten, fielen alle Be- wegungsvorgänge in das Gebiet der veränderlichen Erscheinun- gen der Physik, wo die Bewegung in lauter spezielle Einzel- thatsachen sich auflöst. Die „wirkenden" und die „materialen" Ursachen sind überall durch die besonderen Umstände, unter denen sie auftreten, verändert und bedingt. Sie gelten daher als sekundäre oder fliefsende Ursachen, welche zur Übertragung der Formen dienen.^ Man kann dies nur so verstehen, dafs die in den Formen gegebenen konstanten und gesetzlichen Wirkungsweisen, je nachdem sie in gegenseitige Berührung kommen, in der Materie in mannigfaltigster Gestalt sich äufsem. Das Feuer z. B. mufs durch ein Gesetz als Wirkungsweise be- stimmt sein, aber beim Schlamm ist es Ursache der Erhärtung, beim Wachs Ursache der Erweichung. Diese Veränderlichkeit der Ursache und Wirkung, das Unbestimmte und nach Mafs- gabe des Subjekts Bewegliche derselben, hat die Physik zu untersuchen.* Obwohl Bacon in der Encyklopädie eine „kon-

» N. 0, II, 4. T. II p. 134. De augm, scient III, 4. p. 173.

Bacon: Aufgabe der Physik. 421

krete" und eine „abstrakte" Physik unterscheidet, hat es doch auch die abstrakte Physik nur mit Spezialproblemen zu thun und kann nicht bis zur Erkenntnis der Formen vorschreiten. Sie zerfallt in die Lehre von den Schematismen der Materie und von den Antrieben (appetitibus) und Bewegungen.* Auf dem Standpunkte, auf welchem Bacon die Physik vorfand, be- durfte es allerdings erst einer Orientierung in der scheinbaren Zusammenhangslosigkeit der Einzelvorgänge, und wie er 39 Ghrundeigen Schäften aufzählt, so unterscheidet er auch nicht weniger als 19 verschiedene Bewegungsarten. Je weiter aber die Physik vorschreitet, um so mehr schmilzt die Zahl der hier als verschieden aufgefafsten Ursachen zusammen, indem sie auf gemeinschaftliche Ursachen zurückgeführt werden ; und wenn es gelingt, in ihnen die gemeinsame Grundform der Wirkung zu erkennen, so ist die Arbeit der Physik erledigt und das geleistet, was Bacon von seiner Metaphysik verlangt. Materie, Form und erstes Bewegungsprinzip sollen als so verbunden aufge- funden werden, dafs aus ihnen alle natürliche Wesenheit, Wir- kung und Bewegung sich als Ausilufs ergibt.-

B. Die Korpuskulartheorie.

Die Lösung der Aufgabe der Metaphysik erfordert, wie oben bereits erwähnt, die Entdeckung der Schematismen. Die verborgenen Schematismen sowohl wie die verborgenen Prozesse betrachtet Bacon als das korpuskulare Gefüge der zusammengesetzten Körper, und die Umwandlung derselben nach inneren Gesetzen als Anordnung und Veränderung der räumlichen Verteilung der dichten Materie und der zwischen den Teilen derselben hin- und herströmenden Spiritus. Aber nicht nur die komplizierten konkreten Körper, sowohl die or-

* Unter den Schematismen versteht B. folgende Eigenschaften : densum ranun, grave, leve, calidum, frigidum, tangibile, pneumaticum, volabile, lixum, determinatam, fluidum, humidum, siccum, pingue, crudum, durum, moUe, firagile, tensile, porosum, unitum, spirituosum, jejunum, simpIex, compositum, absolutum, imperfecte mixtum, fibrosum atque venosum, simplicis positurae sive aequum; similare, dissimilare; specificatum, non specificatum; organicum, inor- ganicum; animatum, inanimatum. De augm, scient. LEI, 4. T. I. p. 186.

* Farm., Tel et Dem. phil T. III p. 176. (Amst. 1685.)

422 Bacox: Schematismen und MetaBchematismus.

ganischen wie die unorganischen, sondern auch die einfachen Eigenschaften (naturae), welche in denselben vereinigt sind, werden als Schematismen bezeichnet, und wiewohl Bacon im Grunde die Erscheinungen als eine gesetzliche Zusammenord- nung einer beschränkten Anzahl von ursprünglichen Qualitäten auffafst, schwebt ihm doch auch hierbei eine korpuskulare Gruppierung der materiellen Teile vor. Alle feinere Umge- staltung (MetaSchematismus) in den Teilen der gröberen Gegen- stände, die man gewöhnlich Veränderung nennt, gilt ihm als eine Bewegung, die nur, weil sie im kleinsten vor sich geht, den Sinnen verborgen bleibt.^ Die Erkenntnis kann aber nur durch Überführimg zum Sinnhch- Wahrnehmbaren geschehen; deshalb hat man nach einer Versinnbildlichung der Vorgänge durch die Gruppierung der kleinsten Teile zu streben ; * ja man wird sich dadurch dem Verfahren der Natur selbst nähern, da sich alle Wirksamkeit in der Natur in den kleinsten Teilen vollzieht, oder wenigstens in Teilen, die sich durch ihre Klein- heit den Sinnen entziehen.* Man braucht deswegen nicht auf Atome zu kommen, wobei das Leere und ein nicht flüssiger Stoff vorausgesetzt werden müfsten, was beides unrichtig wäre, sondern nur auf die wahren kleinsten Teile, wie sie der Ver- such ergibt. Und diese Aufgabe ist nicht hoffnungslos.*

Die vornehmste und ursprünglichste Unterscheidung der Schematismen gründet sich auf die gröfsere oder geringere Menge des Stoffes, welcher denselben Raum ausfüllt. Im Vergleich hierzu sind die übrigen Schematismen von untergeordneter Art, welche sich auf die Verschiedenartigkeit der in demselben Körper enthaltenen Teile und ihre Anordnung und Lage beziehen.* Bei der Untersuchung der Körper mufs man daher mit der gröfseren oder geringeren B,aumerfüllung derselben als dem am einfachsten scheinenden Unterschiede beginnen, wenngleich es feierlicher wäre, mit den Phänomenen des Äthers anzuheben.^

' N. 0. I, 50 T. II p. 40. * N. 0. H, 40. T. IL p. 259.

^ lY. 0. II, 6. T. II p. 140.

* X. 0. n, 8. T. II p. 142. Die materia „non fluxa^ bedeutet die starre Materie im Gegensatz zu der von Bacon angenommen ursprünglichen Fluiditat (plica materiae). S. S. 430. '^ N. 0. H, 40. T. II p. 259.

•* Phaenomena unirersi s^ive hi^t natur. ad condendam phüosaphiam. Praefat. T. IH p. 265.

Bacok: Spezifisches Gewicht. Constanz der Materie. 423

Die Thatsache, dafs in dem einen Körper bei gleichem Volu- men mehr Materie enthalten ist als in dem andren, läfst sich durch das Experiment unzweideutig erhärten und rechnungs- mäfsig durch Zahlen ermitteln. Denn die Anhäufung des Stoffes wird durch das Gewicht sinnlich wahrnehmbar; dieses bezieht sich auf die tangiblen Teile des Körpers, da der Spiri- tus und seine Menge auTser Rechnung bleibt, indem er das Ge- wicht eher vermindert als vermehrt.^ Bacon hat Tafeln fiir die spezifischen Gewichte einer Reihe von Körpern gegeben, in welchen sich der gröfste Gewichtsunterschied zwischen Gold und Tannenholz zeigt, deren spezifischen Gewichte im Ver- hältnis von 32 : 1 stehen ; ^ für die nicht porösen Körper gibt er den gröfsten Unterschied der in der Natur vorkommenden Dichtigkeiten nur als das Einundzwanzigfache an.^ Legt man nun den zwiefachen Satz zu Grunde, welcher so wahr ist, wie kein andrer in der Natur: „Aus Nichts wird Nichts" und „Et- was kann nicht zu Nichts werden", und der auch dahin aus- gesprochen werden kann: „Das wahre Quantum der Materie oder ihre Gesamtsumme ist konstant und kann weder ver- mehrt noch vermindert werden", so ergeben sich in Verbindung mit der Thatsache der verschiedenen Dichtigkeiten wichtige Folgerungen.* Die Zusammensetzung aus den Elementen reicht zur Erklärung nicht aus, denn wie soll das soviel dichtere Gold aus ihnen entstehen?^ Wenn jemand behauptet, dafs das Wasser, welches ein bestimmter Baum enthält, sich in Luft verwandeln könne, und umgekehrt, so ist dies geradeso, als wenn er behauptete, etwas könne in nichts verwandelt werden, oder aus nichts entstehen.^ Demnach wird die Frage unab- weisbar, wie man sich die Eigenschaft der Materie zu erklären habe, bald gröfsere, bald geringere Bäume einzunehmen, und ihre Beantwortung führt direkt auf die Atomistik.

Hierbei zeigt sich ein wesentlicher Unterschied in der Auffassung der Materie bei Bacon, je nachdem man seine

^ iV. 0. n, 40. T. II p. 260.

* Historia densi et rari (Opuscula varia posthuma^ Amst. 1653), T. VI p. 34 f. p. 40. Hut. natur. T. HI p. 268. » iV^. 0. a. a. 0.

* N, 0. II, 40. T. II. p. 259. Bist Natur. lU p. 265. - Hist. densi et rari, VI p. 32.

* Hist. dens. a. a. 0. p. 40. * S. Anm. 4.

424 Bacox: Für die Atomistik.

frülieren oder späteren Schriften in Betracht zieht. In den ersteren ist er ein ausgesprochener Anhänger der Atomistik, im Novum Organon dagegen hebt er die Grundlage der Ato- mistik auf und läfst nur ihre relative Verwertung in der Phy- sik als Korpuskulartheorie gelten.

Am ausführlichsten spricht sich Bacon über seine Ansicht von den Grundeigenschaften der Materie in der kleinen Schrift aus, welche den Titel führt: Cogüationes de natura reriun,^ Es folgt hier zunächst eine Darstellung seiner Lehre im Anschlufs an seine eigenen Worte.

Die Ansicht des Demokrit von den Atomen, sagt Ba- con, ist entweder wahr oder doch geeignet, zur Erklärung mit Nutzen angewendet zu werden. Denn es ist nicht leicht, die der Natur eigne Subtilität, wie man sie in den Dingen findet, mit dem Denken zu erfassen oder mit Worten auszu- drücken, wenn man nicht das Atom voraussetzt. Man kann aber den Atombegriff in zweierlei Weisen fassen, welche nicht sehr voneinander verschieden sind; entweder nämlich erklart man das Atom als die äufserste Grenze der Zerlegung der Kör- per, als das kleinste Teilchen derselben ; oder als einen Körper, welcher keinen leeren EÄum enthält.

Was die erste Erklärung betrifft, so kann zweierlei als un- leugbar sicher angesehen werden ; erstens, dafs es in der Natur eine Teilbarkeit und Zerkleinerung gibt, welche an Feinheit alles, was uns unmittelbar sichtbar ist, bei weitem übertrifft; und zweitens, dafs diese Zerteilung doch nicht ins Unendliche fortgehen kann. Denn bei gehöriger Aufmerksamkeit findet man bei den zusammenhängenden Körpern Teilchen von viel gröfserer Feinheit, als bei den durch Zerbrechung zerkleinerten. So sieht man zum Beispiel, dafs ein kleiner Zusatz von Safran ein grofses Gefäfs voll Wasser merklich färbt, was auf eine viel feinere Zerteilung des Safrans durch das Wasser schliefsen läfst, als durch die sorgfältigste Pulverisierung möglich ist.

^ Sie befindet sich unter den Schriften, welche Isaac Grüter unter dem Gesamttitel „Francisci Baconi de Veeülamio Scripta in universcUi phüosophia^ 1653 herausgegeben hat, und ist bereits vor 1605 verfafst. In der uns vor- liegenden Ausgabe Amstelod. 1685, T. III p. 313 ff. Eine ausführliche Dar- stellung s. bei Schaller, Gesch. d. Naturph. 1 S. 65 ff.

Baook: Die Atomistik in den Cogitationes de nnt. rer. 425

Deshalb dies wird noch durch andre Beispiele begründet war es lächerlich, die Sonnenstäubchen als Atome anzusehen; denn diese gleichen einem Körper in Pulverform, während ein Atom, wie Demokrit selbst sagt, niemand jemals gesehen hat, noch sehen kann. In viel wunderbarerer Weise noch zeigt sich diese Zerteilung der Stoffe bei den Gerüchen. Es bilde sich nur niemand ein, dafs die Gerüche, wie es beim Licht und auch bei Wärme und Kälte der Fall ist, ohne Mitteilung der Substanz sich ausbreiten; denn man kann sie, wo sie an festen Körpern, wie an Holz und Metall, haften, durch Reiben und Waschen wieder beseitigen. Andrerseits aber darf man ver- nünftigerweise nicht behaupten, dafs in diesen und ähnlichen Fällen der Prozefs bis ins Unendliche fortgehe, da die Ver- teilung immer innerhalb bestimmter Grenzen und Räume ein- geschlossen bleibt.

Was nun die zweite Fassung des Atombegriffs betrifft, in welcher die Existenz eines Vacuums vorausgesetzt und das Atom aus der Abwesenheit des Vacuums definiert wird, so war die Ansicht des Hero (s. S. 214) eine verständige, wonach er einen augehäuften leeren Raum (vacuum coacervatum) leugnete, einen untermischten (vacuum commixtum) aber annahm. Indem er nämlich berücksichtigte, dafs aUe Körper in einem ununter- brochenen Zusammenhange stehen und kein Raum aufzeigbar sei, welcher nicht von einem Körper erfüllt werde, dafs viel- mehr selbst die schweren Körper sich nach oben bewegen und somit lieber ihre eigene Natur verleugnen, als eine vollständige Abreifsung vom Zusammenhange der Körper dulden, so glaubte er schliefsen zu müssen, dafs die Natur einen leeren Raum von gröfserer Ausdehnung, d. h. angehäuftes Vacuum, nicht zuzu- lassen strebe. Andrerseits zog er in Betrachtung, dafs die Materie ein- und desselben Körpers sich zusammenziehen und verdichten und wieder sich ausdehnen und verdünnen könne, und somit un- gleiche Räume, bald gröfsere, bald kleinere einzunehmen und auszufüllen imstande sei ; infolgedessen vermochte er nicht ein- zusehen, wie diese Veränderungen möglich seien, wenn nicht den Körpern leere Räume beigemischt wären, und zwar weniger oder mehr, je nach der Zusammendrückung oder Ausdehnung des betreffenden Körpers. Denn jene Zusammenziehung kann notwendigerweise nur auf eine von folgenden drei Möglich-

426 Bacon: Die VerdichtaDg u. Verdännung i. d. CogitaUonea. Vacaum.

keiten bewirkt werden: 1. auf die oben erwähnte "Weise, dafs das Vacuum nacli dem Grade der Zusammenziehung ausge- schlossen wird; 2. dadurch, dafs irgend ein andrer, vorher beigemischter Körper herausgedrückt wird; 3. durch eine ge- wisse natürliche Verdichtung und Verdünnung der Körper. Die zweite Erklärungsweise, die Ausdrückung eines beige- mischten Körpers, kann aber keinen Erfolg haben ; denn wenn ein derartiger Vorgang auch bei den Schwämmen und ähn- lichen porösen Körpern nicht zu leugnen ist, so widerspricht derselben doch die durch zahlreiche Versuche erhärtete That- sache, dafs die Luft in hohem Grade komprimierbar ist. Sollte man aber glauben, dafs sich aus der Luft ein feinerer Stoft auspressen lasse, und aus diesem wieder ein solcher, und so fort bis ins Unendliche ? Gerade die Thatsache, dafs die Kör- per um so mehr sich zusammendrücken lassen, je verdünnter sie sind, widerlegt die besprochene Meinung, da vielmehr das Gegen- teil eintreten müfste, wenn die Zusammenziehung durch das Austreten eines feineren Stoffes geschähe. Jene dritte Er- klärung femer, dafs die Körper ohne weitere Änderung sich von selbst ausdehnen und zusammenziehen, ist der weiteren Erörterung nicht wert ; sie steht auf einer Stufe mit den Sätzen des Aristoteles, indem sie sich auf einen ganz leeren und in- haltslosen Grund stützt und nur scheinbar etwas Positives sagt. Daher bleibt nur jene erste Annahme übrig, welche den leeren Raum voraussetzt. (Vgl. dagegen S. 430 Anm. 2).

Jedoch ist die Ansicht des Mechanikers Hero in einer Beziehung der des berühmten Philosophen Demokrit nachzustellen, insofern nämlich Hero, weil er den angehäuften leeren Braum nir- gends auf der Erde fand, denselben schlechtweg leugnen zu dürfen glaubte, während sich ein solcher sehr wohl in den Regionen des Äthers, wo die Ausdehnungen der Körper viel bedeutender sind, finden könnte. Davor aber mag ein für allemal bei diesen und ähn- lichen Untersuchungen gewarnt werden, dafs man sich durch eine so grofse Subtilität der Natur in Verwirrung setzen lasse. Die Einheiten wie die Summen unterliegen derselben Rechnung ; tausend Jahre und tausend Augenblicke machen für das Den- ken keinen Unterschied. Auch möge keiner glauben, dafs dies unnütze Spekulationen seien; vielmehr hat sich gezeigt, dais fast alle Philosophen sowie die Experimentatoren auf derartige

Baconb Cogitationea: Demokrit und Pythauoras. 427

Untersuclmngeii gekommen sind, obwohl sie dieselben nicht glücklich durchgeführt haben.

Die Ansicht von den Atomen oder den Samen der Dinge ist eine doppelte; die eine ist die des Dbmokrit, welcher den Atomen Verschiedenartigkeit und bestimmte Gestalt und in- folge der letzteren eine bestimmte Lage zuspricht; die andre vielleicht die des Pythagoras, nach welcher dieselben alle gleich und ähnlich sind. Daher auch die Beziehung des Pythagoras auf die Zahlen als Weltprinzip; denn wer von der Gleichheit der Atome ausgeht, sieht sich genötigt, alles auf ihre Zahl zurückzuführen; wer ihnen aber noch andre Eigenschaften zu- gesteht, der wendet aufser der Zahl und Art des Zusammen- tretens der Atome auch ihre ursprüngliche Beschaffenheit als Erklärungsprinzip an. Praktisch läfst sich diese spekulative Frage dahin formulieren, ob alles aus allem werden könne. Da Demokrit die Bejahung dieser Frage für vernunftwidrig hielt, so blieb er bei der Verschiedenartigkeit der Atome stehen. Uns (Bacon) scheint jedoch diese Frage nicht gut gestellt zu sein und nicht bedingend für die Entscheidung der ersten Frage, wenn man sie nur auf die unmittelbare Veränderung der Körper bezieht. Erst dann ist die Frage, ob alles aus allem werden könne, eine berechtigte, wenn man die nötigen Um- wege und vielfach vermittelten Änderungen der Körper in Betracht zieht. Dann ist es nicht zweifelhaft, daJfe die senima rerum, unter der Voraussetzung ihrer Gleichartigkeit, die Ver- schiedenheit der Körper bewirken können, wenn sie in gewisse Gruppen und Verknüpfung zusammentreten, bis dieselben Gruppen und Verknüpfungen sich wieder lösen. Die Ver- schiedenartigkeit der zusammengesetzten Körper setzt aber als- dann dem unmittelbaren Übergange derselben ineinander kein geringeres Hindernis in den Weg, als es die Verschiedenartig- keit der einfachen, der Atome, thun würde.

In der That zeigt sich Demokrit zwar sehr scharfsinnig bei der Aufsuchung der Prinzipien der Körper; aber er ist es nicht ebenso bei der Prüfung der Prinzipien der Bewegung ; es war dies der allgemeine Fehler aller Philosophen. Gerade die Untersuchung über die erste Grundbedingung der Atome dürfte von gröfster Wichtigkeit für die Prinzipien der Naturphilosophie sein, insofern hier die oberste Eegel für Actus und Potenz liegt.

428 Bacon; Cogitationes, FabtUa de Cupidine.

Auch die Frage nach der Scheidung und Veränderung (se- paratio et alteratio) der Körper hat hier ihren Ursprung. Es ist ein allgemein verbreiteter und nicht zum wenigsten durch die Alchymisten bestärkter Irrtum, Wirkungen der Scheidung zuzuschreiben, welche andre Ursachen haben. So könnte man z. B. glauben, dafs bei der Verdampfung des Wassers eine ähn- liche Scheidung desselben in einen dichteren und einen dünne- ren Teil stattfinde, wie bei der Verwandlung des Holzes in Flamme und Bauch einerseits, in Asche andrerseits; denn ob- wohl das Wasser ganz und gar zur Verdampfung gebracht werden kann, so könnte ja doch ein Rückstand desselben der Asche vergleichbar am Gefäfse haften. Aber diese Ausflucht ist eine Täuschung; thatsächlich ist es ganz sicher, dafs die gesamte Wassermasse in Luft verwandelt werden kann, wie sich dies auch bei der Destillation des Quecksilbers zeigt, welches ohne Gewichtsverlust wiedergewonnen werden kann. Ähnliches gilt vom Öl und Talg. Hier scheint sich allerdings ein Weg zur Begründung der demokritischen Lehre von der ursprünglichen Verschiedenheit der Atome zu eröffnen, dessen man freilich nur bei Beobachtung der Natur bedarf; in der Spekulation macht sich die Sache viel bequemer, weil die ge- wöhnliche Philosophie sich ihre Materie so ausdenkt, dafs sie keine Schwierigkeit dabei findet, sie jede beliebige Form an nehmen zu lassen.

In der Schrift Farmenidis et Telesii et praecipue Dcmocriti philosophia tractata in fabula de Cupidine^ nimmt Bacon femer Gelegenheit, Dkmokrit in den Augen der Zeitgenossen zu re- habilitieren. Er lobt ihn unter Anführung einiger Verse von LüKREZ, weil er Atome ohne sinnliche Qualitäten angenommen habe. Die Atome sind weder den Funken des Feuers ähnlich, noch den Tropfen des Wassers, noch den Luftbläschen, noch den Kömchen des Staubes, noch den äufserst feinen Teilchen des Spiritus oder Äthers. Auch ist ihre Kraft und Form weder die des Leichten und Schweren, noch des Warmen oder Kalten, Dichten oder Dünnen, Harten oder Weichen; diese Eigen- schaften, wie sie in den gröfseren Körpern gefunden werden, sind vielmehr zus8unmengesetzter Art. Ebensowenig ist die

* T. III p. 170.

Bagons Fab, de Cup. für die Atomistik. 429

natürliche Bewegung des Atoms einer der Bewegungen der gröüseren Körper ähnlich. Dennoch stecken die Atome und ihre Bewegungen als Anfänge in allen Körpern und deren Bewegungen. In den ferneren Ausführungen über die Bewe- gung der Atome sei aber Demokrit sich selbst ungetreu ge- worden, indem er sich genötigt sah, den Atomen eine hetero- gene Bewegung zu erteilen. Er nahm nämlich aus der Zahl der Bewegungen der gröfseren Körper zwei Arten der Bewe- gung willkürlich heraus, das Herabsteigen des Schweren und das Heraufsteigen des Leichten, und teilte sie den Atomen als primitive Bewegungen zu. Die letztere erklärte er durch den Stofs der schwereren Atome auf die leichteren, wodurch diese nach oben getrieben werden.

Freilich habe diese Philosophie Demokrits, weil sie tiefer in das Wesen der Dinge eindrang, nicht grofsen Anklang ge- funden. Dennoch erfreute sich ihr Begründer seiner Zeit der höchsten Bewunderung und ist nach dem allgemeinen Urteü unter allen Philosophen am höchsten als Physiker gehalten worden. Trotz aller Anfeindungen durch Platon und Akisto- TELBS haben sich doch seine Lehren auch noch zur Zeit der Bömer in hohem Ansehen gehalten, wie das Lob des Cicero und das Gedicht des Lükrbz beweisen. Erst als die Wissen- schaft im Sturme der Völkerwanderung ihren allgemeinen Schiffbruch erlitt, da erhielten sich die Tafeln der aristotelischen und platonischen Philosophie, gleichsam von leichterem Stoffe und daher von den Wogen getragen, auf der Oberfläche, wäh- rend die schwerer wiegenden untersanken und uns verloren gingen. Jetzt aber scheint es an der Zeit, die Philosophie des Demokrit der unverdienten Vergessenheit wieder zu entreifsen.

Vergleicht man mit diesen Äufserungen über die Atomistik die oben (S.417f.) aus dem Novum Organum angeführten, so ergibt sich zunächst der entschiedene Widerspruch der letzteren gegen die antike Atomistik. Bacon erklärt sich gegen die Atomistik als meta- physische Grundlage der Welt, indem er an der demokritischen Auffassung der Bewegung Anstofs nimmt und keinen Weg sieht, das Gesetz des Zusammenhangs und der Wechselwirkung der Atome aufzufinden. Aber Korpuskeln, als kleine Teile, auf welche man beim Versuche kommt, will er als Hilfsmittel der physikalischen Erklärung gelten lassen, wenn man nur in

430 Bacon gegen Atome und Vacuum.

den „Formen'* das innere Band aller materiellen Gestaltmig anerkennt. Jedoch gibt er nicht mehr zu, dafs die Materie nicht bis ins Unendliche teilbar sei. Hier zeigt sich ein ganz entschiedener Rückgang zur Fluiditätstheorie, die er in den Cogitationes so entschieden verworfen hat. Über das Vacuum bleibt er noch unentschieden. Zwar erklärt er es einmal für eine falschliche Annahme,^ aber bei seiner Betrachtung der verschiedenen Arten der Bewegungen läfst er es dahingestellt, ob es ein Vacuum, sei es ein gehäuftes oder untermischtes, gebe. Soviel jedoch stehe für ihn fest, dafs der Grund, weshalb das Vacuum von Leükipp und Demokrit eingeführt worden ist, falsch sei ; dieser Grund bestand darin, dafs ohne Vacuum die- selben Körper nicht Räume von verschiedener Gröfse einneh- men könnten. Es gibt nämlich eine Schmiegbarkeit und Bieg- samkeit der Materie, infolge deren sie sich im Räume ohne Zwischenlagerung eines Vacuums innerhalb bestimmter Grenzen zusammenziehen und wieder entfalten kann.«

Wenn man annehmen darf, dafs sich Bacon wirklich eine feste Meinung über die Konstitution der Materie im Nomm Organum gebildet habe, so mufs man vermuten, dafs er ebenso wie Lbibniz und wahrscheinlich durch ähnliche, wenn auch weniger klare Motive beeinflufst, ursprünglich von der Atomistik ausge- gangen, aber, weil ihn dieselbe nicht befriedigte, zu einer inne- ren, dynamischen Fähigkeit der Materie, sich zusammenzuziehen und auszudehnen, übergegangen ist, wie dieselbe von den Stoikern angenommen worden war. Was ihn dabei bewogen

* N. 0. II, 8. T. II. p. 142. Vgl. S. 432 Anm. 2.

' N. 0. n, 48. T. n p. 314. Neque enim pro certo afBrmaverimtiB, utmm detur Vacuum, sive Coacervatum« sive Permistum. At de illo nobi« constat; Kation em illam, propter quam introductum est Vacuum a Leucippo, et Democrito (videlicet quod absque eo non possent eadem corpora complecti et implere majora et minora spatia) falsam esse. Est enim plane Plica Materiae complicantis et replicantis se per spatia inter ccrtos fines absque interpositione Vacui. Dasselbe J><f motu (Amstel. 1662) T. II p. 223. In der Histaria Denn et Bari finden sich (T. VI p. 126) unter der Überschrift Canones mobiles u.a. noch folgende Sätze: 3. Copia et paucitas Materiae constituunt notationes Densi et Rari, recte acceptas. 4. Est Terminus, sive Non Ultra, Densi et Bari, sed non in Ente nobis noto. 5 Non est Vacuum in Natura, nee congregatum, nee intermistum. 6. Inier Terminos Densi et Rari est Plica Materiae, per quam se complicat et replicat absque vacuo. Vgl. dagegen oben S. 426.

Bacon: Übergang zur Fluiditatstheorie. Spiritas. 431

haben mag, die Materie nicht atomistisch, sondern fluid (fluxa) und plikabel aufzufassen, dürfte die Ausbildung seiner Theorie der Spiritus sein, von welchen sogleich die Bede sein wird. Er konnte sich dadurch in den Stand gesetzt glauben, die Vor- teile der Atomistik in Gestalt des korpuskularen Schematismus und Metaschematismus beizubehalten, ohne ein Vacuum an- nehmen zu müssen. Die Frage bleibt freilich offen, wie eine solche Fluidität und Dehnbarkeit der Materie denkbar sein soll. Mau wird aber überhaupt gut thun, dem materialen Teü der baconischen Naturwissenschaft kein zu grofses Gewicht beizu- legen. Nicht nur sind seine thatsächlichen Annahmen häufig unrichtiger, als es dem wissenschaftlichen Zustande seiner Zeit entspricht, sondern vor allem ist ihm auch die inhaltliche Er- kenntnis bei seinen Darlegungen gar nicht die Hauptsache, weil er sie für noch in keiner Weise sicher und abgeschlossen ansieht. Was er anführt und an Naturerklärungen versucht, soll ihm zur Demonstration seiner Methode dienen. Er will daher meist nur mögliche Erklärungen geben und über- läfet es andern, die richtige auszuwählen und die vorgeschla- genen Experimente auszuführen. „Es könnte wohl so sein'' oder „es ist vielleicht so" sind Formeln, die seine physikalischen Angaben nicht selten begleiten. Er wollte gar kein fertiges Natursystem liefern, und daher ist es nicht zu verwundem, dafs wir unvereinbare Widersprüche bei ihm finden.

C. Spiritus und Bewegung.

Das Hauptgewicht seiner Theorie der Materie legt Bacon in die Thätigkeit der Spiritt(S, welche nichts andres sind, als Spezialisierungen des Weltäthers, Effluvien, wie sie als gas- artige Ausströmungen sich bei fast allen Physikern jener Zeit finden. Er unterscheidet von den greifbaren Körpern (tangi- bilia) die Pnetanaiica, welche kein Gewicht besitzen.^ Sie sind dreifacher Natur: incJioata, devinda, ptira. Zu der ersten Erlasse gehören die Ftimi, die wieder in verschiedene Abteilungen zer- legt werden.* Die zweite Klasse, die Pneuniatica devincta, kom-

* N, 0. II, 40. T. II p. 2G0.

* Hist densi et rarl T. VI. p. 48—50.

432 Bacon: Die Spiritus.

meu nicht für sich allein, sondern immer von den greifbaren Körpern eingeschlossen vor und werden gewöhnlich Spiritus genannt. Sie kommen am nächsten der Natur der Ausdünstun- gen, welche vom Weine oder Salze aufsteigen und zerfallen in zwei Klassen, cn(di und vivL Die Spirifus crudi finden sich in allen Körpern, die vivi nur in den belebten. Die dritte Klasse der Pnemnatica endlich, die piira^ enthält nur die Luft und die Flamme.

Kein Körper ist ohne Spiritus^ der an ihn gebunden ist.* Denn die greifbaren Körper enthalten keinen leeren Raum,* sondern entweder Luft oder einen ihnen eigentümlichen Spiri- tus. Dieser Spiritus ist aber nicht irgend eine Fähigkeit (virtus) oder Energie oder Entelechie oder dergleichen Unfug ; sondern durchaus ein dünner, unsichtbarer Körper, der aber einen bestimmten Ort, Ausdehnung und Realität besitzt. Auch ist dieser Körper nicht etwa wieder Luft, obwohl ein dünner, der Luft verwandter Körper, dennoch aber weit von dieser verschieden. Er ist unsichtbar und ungreifbar.^ Jedoch sind die Spiritus selbst bald warm, bald kalt, thätig oder stumpf, wäfsrig oder ölig.

Diese Spiritus sind nun die eigentlichen Werkmeister der materieUen Vorgänge, sie bewirken aUes, was in den Körpern vorgeht, die Ausdörrung und Zerbrechlichkeit derselben, die Verflüssigung, das Verfaulen, die Zeugung. Wenn die Spiritus aus dem Körper entweichen, so wird der Körper dadurch dichter und härter, indem die greifbaren Teile sich zusammen- ziehen, teils aus Scheu vor dem Vacuum, teils durch Ver- einigung des Gleichartigen.^ Solche Körper sind dann aller- dings leichter zerbrechlich, weil sie sich wegen der geringen Menge an Spiritus nicht gut ausdehnen können. Bei der Er- wärmung können sich aber auch die Spiritus ausdehnen, ohne den Körper zu verlassen, und unter diesen umständen bewir- ken sie die Schmelzung der Körper.

Wir folgen Bacon nicht weiter in seinen Betrachtungen über die Wirksamkeit der Spiritus, weil dieselben zu viel des

I

* Hist densi et rari p. 127. Canones mobiles 12.

« Hi^t vitae et mortis T. III. p. 180. -- ' N. 0. II, 40. T. II p. 256.

* Nov. Org. H, 48. T. II. p. 298, 299.

Bacon: Die Bewegungen. 433

Willkürlichen enthalten. Es bleibt nur noch übrig, seiner Untersuchung über die Bewegung zu gedenken. Die Induktion nach äufserlichen Merkmalen, durch welche Bacon sich dem Begriffe der Bewegung, zu nähern sucht, führt ihn auf 19 Arten derselben, die wir jedoch der Kürze wegen hier nicht auf- zählen wollen,^ Ergibt den verschiedensten Verhaltungsweisen und Eigenschaften der Körper die Namen besonderer Bewe- gungen; es finden sich darunter Vorgänge, für die auch wir nur eine technische Bezeichnung haben, ohne die zu Grunde liegende Bewegung näher zu kennen, auiserdem aber eine Beihe willkürlicher Unterscheidungen. Der von Bacon eingeschlagene Weg, durch Aufzählung der sinnlich wahrnehmbaren Verände- rungen dem Begriffe der Bewegung näher zu kommen, muTste fehlschlagen, weil er nur auf dem Denkmittel der Substan- zialität beruht und blofs eine Gruppierung nach Arten anstrebt, die noch dazu auf eine Sonderung nach ebenso äuiserlich und willkürlich als unglücklich gewählten Merkmalen sich gründet. Er erkannte nicht den gemeinsamen Charakter aller Bewegungs- erscheinungen, welcher inEichtung, Geschwindigkeit, Beschleu- nigung und der Gesetzlichkeit ihrer Abänderungen liegt. Und die Ursache hiervon ist wieder das Fehlen der Einsicht, dafs nur die Mathematik eine Bewegungslehre liefern kann, indem sie die Bewegung als GröJDse darstellen lehrt. Nichts zeigt so deutlich die Ohnmacht der Begriffsordnung unter dem Denk- mittel der Substanzialität gegenüber der Fruchtbarkeit des Funktionalbegriffs, als der Vergleich des gut gemeinten, aber verunglückten Versuchs Bacons über die Bewegung mit der „neuen Wissenschaft" des Mathematikers Galilei.* Während Bacon vergebens nach Anhaltspunkten im Gewirr der sinn- lichen Veränderung sucht, schafft Galilei die Fundamente zur

* Nach dem Novum Org. (II, 48) sind ihre Namen folgende : Motus Anti- iypiae Materiae, m. nexus, m. lihertatis, m. hyles, m. continaationis, m. indi- gentiae» m. oongregationis majoris, m. congregationis minoris, m. magneticas, m. fdgae, m. assimilationis sive multiplicationis 8ui sive generationis simplicis, m. ezcitaiionis, m. impressionis, m. configurationis sive sitas, m. pertransitionis rive secundum meatns, m. regius sive politicus, m. rationis spontaneus, m. tre- pidationis, m. decubitus sive exhorrentiae motus. YgL auch De augm. acient, 1. in c. 4. T. I p. 187, 188.

Über Bacon und Galilei, vgL auch Libri, IV p. 159 166.

Lafnrits. 28

434 Bacok: Das J. JB C der Natur.

Objektivierung derselben in den Grundbegriffen der Mechanik. Für Galilei ist das Buch der Natur in mathematischer Sprache geschrieben, Bacon sucht in einem mehrfach wiederkehrenden Bilde nach dem ABC der Natur, nach den einfachen Ele- menten, deren Kombination die Wirklichkeit ergibt, aber er weifs diese nur mit dem Namen der „Formen" zu bezeichnen, ohne angeben zu können, durch welches Verfahren die Eigen- tümlichkeit und Wirkungsweise derselben definiert werden können, so dafs sie als objektive Einheiten kombinierbar werden, wie es die mathematischen Gesetze sind. Gerade das Wesent- liche aller Bewegungslehre, das Mafs der Bewegung, wird bei ihm zum „Anhängsel der Physik.*^ ^ Wenn er daher sagt, so gewifs, wie die Worte aller Sprachen in ihrer unermefslichen Mannigfaltigkeit aus wenigen einfachen Buchstaben zusammen- gesetzt werden, so werden in gleicher Weise sämtliche Wir- kungen und Eigenschaften der Dinge von wenigen ursprüng- lichen Beschaffenheiten (naturis et originibus) einfacher Bewe- gungen gebildet,* so weist gerade das Hinkende dieses Vergleichs auf den Mangel seiner Grundanschauung über die Bewegung hin. Er fafst immer die Bewegung auf als in ver- schiedene Arten oder Gattungen zerfallend, während doch hier eine ganz andre Denkweise als die logische Einteilung imd äuTserliche Kombination notwendig wird. Wenn daher Bacon namentlich in seinen früheren Schriften, auf die Betrachtung der Bewegung bei der Erforschung der Natur den gröfsten Wert legt,^ wenn er betont, dafs es keine absolute ßuhe gibt, sondern nur dem Anscheine nach Hinderung und Gleichgewicht der Bewegung,* so denkt er nichtsdestoweniger dabei anGattun- g e n der Bewegung ; diese sind, „wenn sie richtig aufgefunden und unterschieden werden, die wahren Fesseln," durch welche wir den „Proteus der Natur" zu binden vermögen.^ Demnach zeigt gerade Bacons Bewegungslehre ihn am deutlichsten in seiner Übergangsstellung zwischen den Erkenntnismitteln der alten und den Bedürfnissen der neuen Wissenschaft. Er fühlt es wohl, dafs die Aufgabe der Naturwissenschaft in der Zerglie-

* Be augm, scient III, 4. T. I p. 188.

' Cog. de nat rer. III p. 325.

» A. a. 0. T. m p. 321. * A. a. 0. p. 330. «^ A. a. 0. p. 323.

Bacox: Beschrinknng aaf den Gattangsbegriffl 435

derong der Erscheinniigen liegt, und dafs hier der Schematib-mns und Metaschematismas der Dinge in der Kombination der Atome DsMOERiTs sein glänzendstes Vorbild hat. Die Grrap- piening nnd Wechselwirkung der Atome oder wenigstens der Teile der Materie wünscht er unter Begriffe zu bringen, die ihre Geltung und konstituierende Gewalt in der Natur aus- drCLcken; er möchte das Gesetz entdecken und angeben, das die thatsächliche Entfaltung der Wirkungsweisen in Eins zu- sammenfafst und die Tendenz der ganzen Entwickelung einer Erscheinung unter den yerschiedensten äuiseren umständen definiert. Das heifst nichts andres als: das Motiv, das ihTi vorwärts treibt, das Ziel, das er ahnt, ist die Erfassung der Erscheinungen unter dem Denkmittel der Variabilität. Aber um den Zusammenhang der Erscheinungen zu fixieren, bietet sich ihm nur der Gattungsbegriff. Er möchte die Naturvorgänge als kausale Verbindung korpuskularer Gruppen und Systeme erkennen, das Mittel jedoch, diese Systeme als mechanische Einheiten zu erfassen, ist ihm unzugänglich. Er bezeichnet sie daher wieder als Formen, als Gesetze, welche nur log^ische Einheiten sind, und bleibt somit an das Denkmittel der Sub- stanzialitat gefesselt, ohne zur mechanischen Naturauffassung gelangen zu können.

Für die Geschichte der Korpuskulartheorie erweist sich Baoons Geistesarbeit als ein Moment der Anregung. Wenn er auch keine Thatsachen beibringt, welche den systematischen Ausbau der Korpuskulartheorie direkt fordern, so hat er doch die Scheu vor der Voraussetzung der korpuskularen Gestaltung der Materie vollständig abgelegt und betrachtet die Korpus- kulartheorie als ein in der Physik anwendbares und nützliches Hilfsmittel. Selbst seine schwankenden Bestimmungen im Nofmm Organum^ welche für die direkte Einwirkung auf die zeitgenössische Naturphilosophie wohl allein in Betracht kommen, sind gegenüber der scholastischen Physik als ein wesentlicher Fortschritt zu bezeichnen. Schon seine Gesamtauffassung des Weltgetriebes als ein Zusammen von Materie, Form und Be- wegung, d. h. als ein aktuelles Geschehen, wenn auch nicht ganz im mechanischen Sinne, ist eine Überwindung des Systems der substanziellen Formen. Dafs man das Qualitative in der Natnr, wie es den menschlichen Sinnen erscheint, nicht als da^s

2»«

436 Baoon als riohtungweisend.

Ursprüngliche zu betrachten hat, sondern nach dem allge- meineren Gesetze suchen mufs, welches die Einzelerscheinnng umfafst, und dafs dieses Gesetz im Grunde, wie sich an dem von Bacon ausgeführten Beispiel der Wärmetheorie zeigt, eine Gattung der Bewegung ist, das sind Grundgedanken, welche als richtungweisend bestehen bleiben, wenn auch der Weg zu diesen Gesetzen selbst noch im Dunkel liegt. Seine Einfuhrung der Spiritus mufs man ebenfalls in diesem Sinne auffassen, als hervorgegangen aus der Tendenz, die sichtbaren Veränderungen der Körper auf Bewegungen und körperliche Vermittelungen zurückzuführen, welche nicht mehr den Sinnen, sondern nur noch dem Verstände zugänglich sind. Es ist nicht die mystische, geisterhafte Thätigkeit der Spiritus der Aichymisten, sondern eine mechanisch noch nicht genügend geklärte Vorstellung von den Wirkungen einer feineren, ätherischen Materie, welche Bacon zu dem Aushilfsmittel greifen läfst, das Gewebe der Dinge aus tangiblen Korpuskeln und fluiden Spiritus zu- sammenzusetzen. Die stoische Auffassung der Materie hat hier den Sieg über die demokritische davongetragen. Aber auch für die Entwickelung der Korpuskulartheorie hat Bacon die einzuschlagende Bichtung angedeutet, indem er die Anweisung gibt, zunächst nur diejenigen Teile als die kleinsten in Betracht zu ziehen, wie sie der Versuch ergibt. Das ist die Tendenz der physikalischen Atomistik, welche ihren ersten ent- schiedenen Vertreter in Daniel Sennbrt besitzt.

Sechster Abschnitt.

Die Erneuerung der physikalischen Atomistik in Deutschland durch D. Sennert.

1. Seine Lehre.

Daniel Sennert wurde am 25. Nov. 1572 in Breslau ge- boren, studierte Philosophie und namentlich Medizin seit 1593 in Wittenberg, Leipzig, Jena, Frankfurt a. 0., besuchte Berlin,

Sbitxkbt: Leben. Heüknnde und Chemie. 437

promovierte zn Wittenberg und wurde im folgenden Jahre da- selbst Professor der Medizin. Sein Suf als Arzt und Lehrer wurde bald ein sehr ausgebreiteter, seine Anerkennung eine allgenieine. Er starb den 21. Juli 1637 an der Pest.^

SsNifERTs Verdienste um die Heilkunde bestehen Tor- nehmlich darin, dafs er zuerst das Studium der Chemie als einen Teil des medizinischen Bildungsganges einführte und wesentlich zur Anerkennung der Förderung beitrug, welche die Paracelsisten der praktischen Chemie und der Bereitung der Heilmittel verschafit hatten. In seinen physikalischen Lehren trat er besonders der averroistischen Doktrin von der Educierung der Formen aus der Materie entgegen und kämpfte gegen die Annahme, dafs bei den Mischungen stets neue Formen unter Erhaltung der früheren Grrade hinzutreten, so¥de dais die Natur erst die universalen und durch deren Vermittelung die partiku- lären Formen hervorbringe. Doch bleibt er selbst innerhalb des aristotelischen Begriffskreises vor Form und Materie stehen, nur dalSs er die unmittelbare und anfangliche Erschaffimg aller Formen, mit der Materie zugleich, durch Gott lehrt.' Auch die Annahme von verborgenen Eigenschaften glaubt er ver- treten zn müssen. Die besondere Beschaffenheit der Dinge läist sieb seiner Ansicht nach nicht allein aus den Elementen, welche nur die Materie liefern, erklären, sondern aufser der letzteren ist noch ein mehr göttliches Prinzip, eine Natura quinia^ anzunehmen, durch welche die Dinge das sind, was sie sind.' Mit Entschiedenheit betont er die Wichtigkeit der Er- fahrung fiar die Naturerkenntnis. Die Betrachtung des Allge-

* BucHXEB, Oraiimtes Panegyricae, Orat. Xu. Wittenberg 1669, p. 333 ff. Daselbfli auch Büchstebs Rede an Sexnebts Grabe, p. 432. Vita Dax. Sexxebti in Op. Logd. 1676. Näheres in m. Abhandl. über Sexkebt in d. VierUJj. f. w. Fh. m, S. 408— 434 (1879:, wo S.4I2 Z.IO v. u. sUtt .,lehrte*^ zu lesen ist: -bestritt". Von SKinrEBTS Werken kommen hier besonders in Betracht: Epitome scUntiae naturalis, zaent Wittenberg 1618, dann 1624, 1633, 1650 a. a. De Chymicorum dtm AristoUlids et Galenicis consen^u ac dissensUj zuerst Wittenberg- 1619. HypamnemuiUa physica, zuerst Wittenberg 1636. Gesamtansgaben werden an- g«fflirt Paria 1633. 45, Venet. 1641, 45, 51. Lugduni 1650, 57, 66, 76. IHe Citate nach Opera omnia, Lugd. 1676 in 6 Bd. (Fol.), soweit nicht Abweichungen Ton den ervten Ausgaben Torliegen, welche verglichen wurden.

* Epit lib. I, c. 3. Hypomn. Praef. u. I, c. 3.

* Ue Chym. c. 8. c, 12.

438 Senkert: PrinzipieD. Korpuskulartheorie.

meinen aUein fördert nicht, man müsse bis zu den Einzelheiten hinabsteigen und die Natur selbst eindringlich beobachten. Darauf beruht seine Empfehlung der chemischen Arbeiten far die Arzte. ^ Er will jedoch die Chemie, deren Forschungs- resultate aufserordentlich wichtig seien, von den Spekulationen des Paracelsus und den absurden Folgerungen, welche die Mystiker in phüosophischer und theologischer Hinsicht daraus gezogen haben, reinigen.* Zur theoretischen Erklärung der chemischen Erscheinungen bedient er sich der von ihm aus- gebildeten Korpuskulartheorie, deren Darstellung hier die Aufgabe ist.

In der ersten Ausgabe seines naturwissenschaftlichen Hauptwerks (1618) findet sich noch keine deutliche Vertretung der Korpuskulartheorie; SennBrt macht hier noch nicht den bedeutsamen Unterschied zwischen dem mathematischen Kon- tinuum und dem physischen Minimum. Wohl aber hebt er bereits hervor, dafs die Quantität, d. h. die Ausdehnung nach drei Dimensionen, der Materia prima, ursprünglich und unzer- trennhch angehört, imd erst durch sie alle übrigen Accidentien ihr inhärieren.* Die Undurchdringlichkeit ist nicht eine Folge der Substanz, denn es gibt unkörperliche Substanzen, welche zugleich in demselben Orte sein können, sondern eine Folge der Quantität; nur Körper occupieren den Raum, indem sie sich gegenseitig ausschliefsen.* Femer lehrt er auch hier be- reits, dafs es im Weltall in jeder Art der Naturdinge ein Maximum und einMinimimi gebe; das Gröfste ist der Himmel, den kleinsten Körper kennen wir vermutlich nicht; nach Aristoteles ist das kleinste Tierchen das duaqC} In der Auf- fassung des Kontinuums erklärt er, obwohl die Gegengründe schwerwiegend genug seien, auf Seite des Aristoteles zu stehen.^

* JDe Chym. c. 2. De Chym. Ep. dedic.

' Epitome scientiae naturalis. Witebergae 1618. 1. 1. c. 3. p. 31. c. 5, p. 58

* A. a. 0. p. 60. * A. a. 0. p. 69. S. oben S. 407 Anm. 1.

^ A. a. 0. p. 63. Die atomistisch gefärbten Stellen, welche ich in m. Abb. (s. o.) aus der Epitome in der Gesamtausgabe citiert habe, hat Sbkvxbt erst später eingeschoben, wie Wohlwill an der Ausgabe von 1624 bemerkt hat (Jungius^ S. 17.) Sie finden sich zuerst in der Ausgabe von 1633, welche mit der von 1650 ganz übereinstimmt. (Die Vergleichung dieser Ausgaben hat

Sbnnbbt: Die ersten Ausgaben der Epü(mte, 439

Erst im folgenden Jahre hat sich Sennert in der Schrift De chymicorum cum Galenicis et Feripateticis consensu ac dissensu deutlicher für das Bestehen der Körper aus kleinen Elementar-

Herr cand. G. Landsbbbg in Breslau auf meine Bitte ausgeführt.) Sennert führt in dieser und den späteren Ausgaben (Francof. 1650, p. 82 £, Op. [1676] p. 11 f.), wo er statt des 5. Kapitels des 1. Buches De continuo et infinito zwei Kapitel: V: De quantiiate; VI: De qualitaiibus in genere hat, zunächst auch die Gründe des Abistötblbs für das Kontinuum auf, unterdrückt aber die Erklärung der eigenen Übereinstimmung und hebt lebhaft hervor, dafs man durchaus die Teilung des Kontinuums ins Unendliche im mathema- tischen Sinne von der reellen physischen Teilung unterscheiden müsse. Die erstere existiere unbedingt im Sinne eines successiven Fortschreitens bis ins Unendliche; doch habe Abistotelbs Unrecht, wenn er die für den mathema- tischen Körper geltenden Betrachtungen auf den physischen (naturale) anwende, und begehe damit selbst den Fehler, um dessent willen er Platon getadelt und Demokbit, der ihn vermieden, gelobt habe. Sicher hätten doch Demokrit und andere vor Aristoteles, wenn sie von Unteilbarem sprechen, nicht das mathe- matische Kontinuum, sondern nur den physischen, natürlichen Körper gemeint. Nur um die Frage, ob der natürliche Körper aus unteilbaren Partikeln aktuell bestehe, könne es sich handeln, und diese sei von jenen Philosophen dahin beantwortet worden, dafs die Körper aus unteilbaren Korpuskeln ent- stehen, bestehen und wieder in sie aufgelöst werden, und dafs die Elemente, oder was jene sonst als erstes der Mischung ansahen, in die kleinsten Teilchen, zu welchen die Physik bei der Erzeugung und Zerlegung der Körper gelangen könne, aufgelöst werden; aus dem verschiedenartigen Zusammentreten derselben sollten dann wieder die zusammengesetzten Körper entstehen. Dabei sehe er nicht ein, wieso in dieser Meinung eine Absurdität liegen solle ; vielmehr folgten derselben sowohl Galen, als alle diejenigen Philosophen und Arzte, welche annahmen, dafs die Elemente in den Mischungen unverändert verharren. Da nämlich eine bestimmte Begrenzung und Gestalt zum Begriff des Körpers gehöre, so sei jeder Körper notwendigerweise endlich und an gewisse bestimmte Grenzen der Grölse oder Kleinheit gebunden. In der Gesamtheit der Welt wie in jeder Einzelart der Naturdinge gebe es actu ein Gröfstes und Kleinstes. Doch stammt die beschränkte Gröfse der Elemente nicht aus deren Natur selbst, sondern ist eine Folge der endlich beschränkten Masse der prima materia und der Einwirkungen der äufseren Körper; durch beide wird die Ausdehnung der Elemente bestimmt. Wie die Elemente nicht ins Unendliche vermehrt werden können, so können sie auch nicht ins Unendliche geteilt werden, sondern indem sie sich untereinander mischen, werden sie in afjuxQorara fioQta, wie Galen (De elem. 1. I, c. ult.) sagt, d. h. in sehr kleine Teilchen zerleget, so dafs die Körper von Natur in noch kleinere Teile nicht geteilt werden können; daher wurden diese von den Alten Atome genannt. Ebenso erklärt S. in der Frage nach dem Beharren der Bestandteile in der Mischung (l. 3, c. 2) in den früheren Ausgaben der Meinung des Averroes zu folgen (1618 p- 222), dagegen später ganz entschieden dem Avicenna (1650, p. 263, Op. p. 36).

440 Sennebt: Die Schrift De chytnicorum eto.

teilen ausgesprochen. Er gibt hier ^ eine atomistisch gehaltene Erklärung der Vorgänge bei der Mischung, indem er zugleich seine Auffassung durch Stellen aus Aristoteles und Galen zu stützen sucht; dabei bezieht er sich allerdings nur auf solche Aussprüche, in welchen die Teilung in sehr kleine Teile und die örtliche Bewegung derselben als notwendige Bedingung der Mischung genannt wird, läfst aber die direkten G-egenerklä- rungen gegen die mixtio ad sensum an dieser Stelle aufser Acht. Dagegen ist er sich wohl bewuTst, dafs seine Ansicht sich an die Atomistik Demokrits eng anschliefst, dessen Ableitung der Mischung aus der d$dxQi(f^g und avyxQia^g der Atome er ver- teidigt. Nur die Lehre, dafs die Veränderung in den Natur- körpem durch das zufäUige Zusammentreffen der Atome her- vorgerufen werde, lehnt er mit Entschiedenheit ab.* Das wirkende Agens ist ihm die dirigierende Form; das Mittel, durch welches diese wirkt, ist die Wärme. Zur Begründung seiner Auffassung der Körper als Zusammenhäufung sehr vieler minimaler Elementarteilchen führt Sennert zunächst solche Erscheinungen an, bei denen aus einem kleinen Volumen sich plötzHch durch ein Auseinandertreten der Atome ein viel gröfseres entwickelt. Hierhin gehört die Bildung des Bauches bei brennenden Körpern und von den Operationen der Chemie die Sublimation. Besonders bei dieser hebt Sennert als be- weisend hervor, dafs dabei die kleinen Teilchen der Körper ihre Natur nicht verändern. Eine zweite Gruppe von Erschei- nungen, die atomistisch erklärt werden, bilden die Auflösungen in Flüssigkeiten. Die Inkrustation, welche bei Körpern eintritt, die in ganz klaren und durchsichtigen Mineralquellen liegen, zeigt, dafs die sich ansetzenden Teilchen in äufserst fein ver- teilter Form, so dafs sie dem Auge sich entzogen, in der Flüssigkeit suspendiert gewesen sein müssen. Die Lösung von Metallen in Säuren und von Salzen im Wasser wird ebenfalls durch Zerteilung der Stoffe in Atome erklärt. So ergibt sich die Veränderung der Naturkörper nur als ein Wechsel der äufserlichen Gestaltung, während die Körperteilchen innerlich gleich und unverändert bleiben. Dies wird noch besonders

* De Chym. c. 12. p. 230, 231. In der ersten Ausg. p. 358 £f.

Vgl. auch Epit 1618, 1. U, 1. p. 133. Op. p. 19.

Sbnitebt: Erneuerung der Korpuskulartheorie. 441

durch die zahlreichen Fälle äufserer Verschiedenheit von Körpern erläutert, welche doch stofflich dieselben sind und sich ineinander überführen lassen, wie vorzüglich beim Queck- silber, das als Flüssigkeit, als Pulver etc. erhalten werden kann, zu erkennen sei.

In diesen Ausfuhrungen ist die Korpuskulartheorie so be- wulst ausgesprochen, dafs wir vom Jahre 1619 ab die Er- neuerung der physikalischen Atomistik datieren müssen.^ Hier zuerst wird eingegangen auf die Erklärung chemischer Prozesse aus unveränderlichen Elementarteilchen und hier wird zugleich der Begriff des chemischen Stoffes als des in allen Verbin- dungen und Umwandlungen Beharrenden hervorgehoben.

Das Bestreben Sennerts, die aristotelische Physik und ins- besondere die averroistische Richtung derselben dadurch zu einem Fortschritte zu bringen, dafs er aus den gegnerischen Systemen, dem atomistischen sowohl als dem paracelsischen, das für die praktische Naturerklärung Brauchbare herausnahm und mit dem traditionellen Standpunkte zu vereinigen suchte, dieses Bestreben erweckte ihm heftige Gegner, unter denen Freitag in Groningen und Zeisold in Jena sich durch beson- ders mafslose Angriffe auszeichneten. .Infolgedessen wurde er selbst schwankend, ob er seine in Vorbereitung begriffenen Hypotnnemata physica herausgeben soUte.* Doch entschliefst er sich zu der Veröffentlichung, weil er die Notwendigkeit 4iin- sieht, seine Ansichten, welche von andern falsch berichtet und verdreht worden sind, vor der Welt zu erläutern und zu ver- teidigen.' Er werde fälschlich ein Neuerer und Gründer einer neuen „Sennert-Paracelsischen" Sekte* genannt; denn es gäbe berühmte Professoren, die ihm beistimmten, und die doch mit Paracelsüs durchaus keine Gemeinschaft hätten. Die unbe- dingte Autorität des Aristoteles könne er freilich nicht an- erkennen; denn Wahrheit sei die Übereinstimmung der Be- griffe, nicht mit denen eines andern Menschen, sondern mit den Dingen.

^ Der Widmungbrief ist vom Ende des Jahres 1618 datiert.

Epistolarum Centur. 11. Ep. 87. Brief an Döring vom 31. Dez. 1635. ' Hypatnn, Praef.

* JoH. Freitag, Novae sectae Sennerto-Paracdsicae etc, detectio et soUda refutatio, Amst. 1636.

442 Senkest: Gegner. Die Eypomnemata physica.

Gleichzeitig hatte Sennert, da ihn Freitaö der Ketzerei und Gotteslästerung verdächtigt hatte, von acht theologischen Fakultäten ein Gutachten eingefordert, ob es Ketzerei und Blasphemie sei, zu behaupten, dals die Seelen der Tiere von Gott aus nichts geschaffen seien, und ob aus Gen, I, 24 sich die von Freitag gezogene Folgerung ergebe, dafs die Seelen der Tiere aus der Materie hervorgegangen seien.^ Beide Fragen wurden im Laufe der Jahre 1635 bis 1637 von sämtlichen Fakultäten im Sinne Sennerts entschieden.

So war das allgemeine Interesse auf Sennerts neue Ver- öffentlichimg gerichtet. In derselben legte er die Gedanken dar, welche er bei sorgfaltigerer Erwägung einiger streitiger Kapitel der Physik gefafst hatte. Zwar hätte er, wie er sagt,^ diese Überlegungen vor ungefähr dreifsig Jahren schon be- gonnen und später in seiner Epitome veröffentlicht, aber die Lektüre andrer Autoren, namentlich die derjenigen Ärzte, welche die Physik besonders sorgfältig behandelt haben und darum auch schlechthin Physiker heifsen, femer die Betrachtung der Natur selbst, die Beschäftigung mit chemischen Versuchen und, mit einem Worte, die Berücksichtigung einer reichen Erfahrung haben ihn einsehen lassen, dafs er das, was er zu wissen meinte, noch keineswegs wisse. Dennoch glaube er, dafs das meiste, was er in jener Schrift gegeben habe, mit der Natur übereinstimme, einiges aber auch entweder richtiger oder deut- licher gesagt werden könne.

Von diesen ausdrücklichen Verbesserungen seines ersten physikalischen Werkes zeigt den bedeutungsvollsten Fortschritt die Ausbildung der Atomenlehre, welcher er nunmehr in Hyp(h mnema lH ein besonderes Kapitel widmet.'

^ De origine et natura animarum in brutis sententiae dar. virorum in aliquod Germaniae acaiemicis etc. Op. T. I. p. 285 ff.

Hypomn. Prooem.

' Op. Tom. I. p. 115 ff. Dass „die von Demokrit, Epikür, Lükrbz und später auch andern Philosophen und Aerzten angenommenen Atome keines- wegs zu leugnen seien**, wird auch ausgesprochen in dem 6. Buche Practicae Medicinae, das 1635 herausgegeben wurde. Op, Tom. VI. p. 211. Pract Lib. VI. Ps. n. c. 1. Dann heifst es weiter: Hae atomi et minima corpuscula a corporibus, a quibus fluunt, nonnisi magnitudine differunt et eandem essentiam, qualitates et vires cum iis habent.

Senkert: Die Atome. 443

Es muTs notwendiger Weise gewisse einfache Körper be- sonderer Art geben, aus welchen die zusammengesetzten Körper entstehen und in welche sie sich wieder auflösen. Diese „Ein- fachen" sind natürliche, d. h. physische, nicht mathematische Minima, minima naturae^ atomiy atoma corptiscula^ adfiara ddiaC- geraj Corpora indivisibUia, und so klein, dafs sie mit den Sinnen nicht wahrnehmbar sind. Ihnen gegenüber sind die Sonnen- stäubchen schon zusammengesetzte Körper. Die Minima reprä- sentieren den höchsten Grad der Teilung, über welchen die Natur nicht hinausgehen kann, und sind andrerseits wieder der Anfang aller Naturkörper. ^

Es müssen jedoch Atome verschiedener Art, und zwar in einer doppelten Beziehung, unterschieden werden, erstens näm- lich nach den Elementen und zweitens nach den zusammen- gesetzten Körpern. Gemäfs der Verschiedenheit der Elemente gibt es vier Arten von Elementaratomen: atomi igneae^ aereae, aqueae, terreae.

Die zweite Art der Atome kann man als prima mixta be- zeichnen ; » es sind dies diejenigen, in welche die zusammen- gesetzten Körper bei der Auflösung und Mischung zerteilt werden und durch deren gegenseitige Verbindung wieder neue Körper sich bilden. Bei allen Gärungen, Scheidungen und Kochungen, sowohl bei den natürlichen als bei den künstlichen, findet nichts andres statt, als dafs die Körper bis auf ihre kleinsten Teile gebracht und diese wieder aufs innigste mit- einander verbunden werden.

Alle Atome haben von der Natur ihre bestimmten Gesetze, je nach ihrer Eigenart; so sind zweifelsohne die Feueratome bedeutend feiner als die Erdatome, obwohl diese von uns nicht gesehen werden können. Die Formen, welche die Spezies der Dinge bestimmen, bleiben unverändert auch in ihren kleinsten Teilen, in den Atomen. Wenn Silber und Gold legiert werden, so vereinen sich ihre Atome aufs innigste, aber jedes behält seine bestimmte Form, d. h. Gold bleibt Gold und Silber bleibt

* Op. I p. 116.

A. a. 0. p. 118. Sunt secundo alterios, praeter elementares, generis atomi (quas si quis prima mixta appcllare velit, suo sensu utatur), in (luae, ut similaria, alia corpora composita resolvuntur.

444 Sennebt: Die „Formen^ der Aix>me. Korpuskulare Erklärungen.

Silber, was man daraus erkennt, dafs beim Zusatz von Salpeter- säure das Silber aufgelöst wird, das Gold aber in Pulverform zurückbleibt.^ Die „Form** besitzt nämlich an sich weder Gröfse noch Teilbarkeit; sie ist ihrem Wesen nach gleich voll- kommen im kleinsten Atome wie in der grölsten Masse der- selben. Sie füllt ihre Materie vollkommen aus, d. h. sie richtet sich nach ihrer Ausdehnung; sie ist zwar nicht ditrisi- hiliSj aber multiplicativa, d. h. bei der Teilung des Körpers, an welchen sie gebunden ist, vervielfältigt sie sich mit der Zahl der Teüe.«

Es können nunmehr durch das Zusammenströmen der Atome die scheinbar verschiedensten Körper entstehen.»

Das Feuer kann unter verschiedenen Namen auftreten, z. B. als Flamme und Licht, und doch bleibt es an sich eins. Schon früher* hatte Sbnnbrt betont, dafs die Flamme nicht ent- zündete Luft sei, da sonst bei grofsen Bränden die ganze Lufb sich entflammen müsse ; hier erklärt er die Flamme als die Ver- einigung der Feueratome, welche vor Entstehung der Flamme durch fremde Körper getrennt waren ; deshalb könne auch in einem geschlossenen Gefafse keine Flamme entstehen, wenn aber die Luft Zutritt erhält, so vertreibt sie die hemmenden Teilchen und die Flamme wird erzeugt. Doch auch in der Flamme werden immer noch gewisse fremde Beimischungen vorhanden sein; je weniger derselben sind, um so reiner, um so durchsichtiger die Flamme.

überhaupt entstehen alle Veränderungen der Körper da- durch, dals die Atome eines fremden Körpers sich an der Zu- sammensetzung beteiligen ; so ist die Erwärmung des Wassers die Folge des Zuströmens der Feueratome. Es werden somit alle Wandlungen der Qualitäten zurückgeführt auf eine Orts- veränderung, eine Bewegung der Atome. Denn die Atome der Elemente diffundieren nicht nur und treten in andre Körper ein (so füllen z. B. die Luftatome die Poren der meisten Körper aus), sondern sie büden auch Mischungen untereinander (hier- bei Berufimg auf Lükrez, De tiat. rer, 1. ü).

* A. a. 0. p. 119. Hypomn, I. c. 3. Op, I. p. 107. » A. a, 0. p. 117.

* De Chym. etc. 1. Ed. p. 364.

Sevitsbt : Aggregatzustände. Verdamphing. 445

Aber nicht nur die chemischen Vorgänge, auch die Aggre- gatzostände erklären sich atomistisch. Die Exhalationen und Dämpfe bestehen aus Atomen. Die Wolken sind, ebenso wie der JEtauch, nicht kontinuierliche Körper, sondern setzen sich zusammen aus Tausenden von Myriaden von Atomen, die sich erst bei der Bildung des Eegens und Schnees wieder ver- einigen. Die Kondensation beruht also auf der Wiederver- einigung der auseinander getretenen Atome. Denn wenn das Wasser verdampft, so verwandelt es sich nicht etwa in Luft, sondern es sondert eigene Dämpfe aus, ebenso wie der Weingeist Weingeistdämpfe, das Quecksilber Quecksilberdämpfe aussendet.^

Diese Bemerkung ist für die Entwickelung der Korpus- kulartheorie wichtig und eine der schönsten Anwendungen, welche Sennbbt zur Erklärung physikalischer Erscheinungen macht. Durch diese vorgeschrittene Aufifiassung der Aggregat- zustande, in welcher ihm allerdings Goblaeus schon 1620, Basso 1621 und d'Espagnet 1623 vorangegcuigen waren, widerlegt er einen Einwand des Aristoteles gegen die alte Atomistik, welche den Übergang von Wasser in Luft durch die Ausson- derung der Luftatome erklären mufste, so dafs Aristoteles sagen konnte, dafs diese Umwandlung, wenn die betreffenden Atome ausgeschieden sind, unter Zurücklassung eines Bestes einmal ein Ende haben müsse.^ Sennert sieht in der Ver- dampfung überhaupt keine Umwandlung in Luft, sondern nur in Luftform (in unsrem Sinne), es können also sämtliche Atome des vorhandenen Stoffes sich verflüchtigen. Aus der Betonung des Umstandes, dafs die Elementarteile überall ihre Eigenart bewahren, darf man schliefsen, dafs Sennert eine Umwandlung der Elemente ineinander nunmehr überhaupt verwirft, während er 18 Jahre vorher sich noch für die Verwand elbarkeit der Elemente erklärt hatte, allerdings nicht secundum totum^ sondern

* Hypomn. III, c. 1. 1. Ed. p. 108, Op, p. 118. Neque enim hie quis sibi persuadeat, dam ex aqua, spiritu vini, vaporem, ex pice, sulphure, lignis accensis, fumum adscendere vidit, esse matationem horum corporum in aerem; sed aqua, spiritus vini, ut et alia corpora, in minimas atomos resolvnntur, qnae nbi coeunt, in aquam, spiritum vini, vel aliud corpus rursus abeunt; id quod Chymicorum Alembici et vasa recipientia docent.

« De coelo m, 4. u. 7. (S. S. 115.)

446 Sbnnert: Yerbindongen. Organismen.

secundum partes,^ Es ist dies ein lehrreiches Beispiel fiir die Umwandlung der Ansichten, welche sich in dem zweiten Viertel des siebzehnten Jahrhunderts bei den Physikern vollzog. Die Unveränderlichkeit der Elementarteile, welche von jetzt an von den Physikern immer allgemeiner angenommen wird, ist neben der Mechanik Galileis die Grundlage aller Theorien der Physik und ganz besonders der Chemie geworden. Und da eine Natur- erklärung überhaupt nur durch das Zurückgehen auf konstante und unveränderliche Elemente möglich ist, so darf man gerade in diesem Gedanken den folgenreichsten Einflufs der antiken Atomistik auf die moderne Naturwissenschaft sehen. Das Denkmittel der Substanzialität gewinnt diejenige Anwendungs- weise auf die Fixierung des Bauminhalts, ohne welche das weitere Vordringen zu einer Fixierung des Bewegungscharak- ters für die allgemeine Lösung des Körperproblems erfolglos geblieben wäre. In Bezug auf die Ursache des Zusammen- strömens und der Vereinigung der Atome zu den Körpern führt Sennbrt nur das weiter aus, was er bereits in De chymi- corum consensu etc. gelehrt hatte. Im Gegensatz zu Demoerit hebt er hervor, dafs nicht der Zusammenflufs der Elemente an sich, sondern der Einflufs ihrer Formen die Vereinigung hervorruft. Je nachdem es in der Natur der Formen Hegt, ziehen die Elemente sich an. Die Mischungen hängen von der spezifischen Form der Körper als erster Ursache, in gewisser Hinsicht je- doch auch von der Übereinstimmung der Atome ab. Gott hat die Formen so eingerichtet, dafs sie die Elemente passend in den Verbindungen ordnen.»

Endlich nimmt Sennert an, dafs auch die lebenden Wesen, sowohl Pflanzen als Tiere, aus Atomen bestehen. Bei ersteren beruft er sich auf die Nähr- und Heilkraft der Pflanzen, bei letzteren nimmt er Gelegenheit, die Kleinheit der Atome durch Vergleich mit den kleinsten Tieren, Acari und Sirones^ in der- selben Weise zu veranschaulichen, wie wir dies bei Lübin ge- sehen haben und in dieser Zeit noch wiederholt treffen.* Sennert hält es sogar für möglich, dafs in solchen Atomen der lebenden Körper die Seele selbst bisweilen unversehrt imd

» Epit 1. ni, c. 3. Op. p. 37.

Hypcmn, m, c. 2. Op. I p. 121. » Vgl. darüber S. 369, 407.

Sbknebt: Beseelung. Vermittlung. 447

verborgen sich erhalten kann und ist geneigt, in den Samen solche Atome mit latenter Beseelung zu sehen. Fortuninus L1CETU8 soll auf solche beseelte Atome seine Theorie des gene- ratio spontanea gegründet haben. ^

2. Vermittelnde Stellung.

In der hier dargestellten Korpuskulartheorie Sennerts haben wir den ersten Versuch zu sehen, die Atomistik der Alten für die Physik als eine fruchtbare Hypothese verwend- bar zu machen. Es war nicht Sennerts Absicht, die aristo- telische Naturlehre von Grund aus umzustürzen oder gar durch neue Gedanken zu ersetzen; er strebte nur nach einer allmäh- lichen Fortbildung der Physik; er wollte, was ihm gut schien, beibehalten, aber von allen Neuerungen das aufnehmen, was er als der Wissenschaft förderlich erachtete.

Gerade in dieser vermittelnden Wirksamkeit liegt der Grund, dafs Sbnnert so grofsen Einflufs gewann und dafs seine Lehre in allmählicher Ausbreitung sich schliefslich die Schulen er- oberte und dem Peripatetismus verderblicher wurde als etwa das revolutionär-stürmische Auftreten eines Bruno. Den in aristo- telischen Anschauungen erzogenen und gebildeten Professoren der Physik und Medizin, die zugleich mit fertigem und histo- risch vermitteltem Systeme vor ihre Schüler treten mufsten, den konservativen Vertretern altbegründeter Wissenschaft war es nicht möglich, in raschem Umschwünge mit einem Schlage die Doktrin vieler Jahrhunderte umzuwerfen. Ein durchaus origineller Denker, dem sie nicht Satz für Satz einzeln wider- legen oder bestätigen konnten, dessen neue Idee den Umsturz aller anerkannten Begriffe zu ihrem Verständnis forderte und damit die Spezialdiskussion ausschlofs, ein solcher mufste ihnen unheimlich und feindlich erscheinen. Ihn durften und mufsten sie von vornherein verwerfen, mit solchem war ihnen Verständi- gung nicht möglich. Aber Sbnnert war ein andrer Mann, er machte keinen Anspruch auf Originalität, und nur Fanatiker des Averroismus konnten ihn für einen Neuerer erklären. Sen-

* Hypotnn. V, c. 7. Op. I. p. IGO, 161. Fortüsio Liceti (1577 1^)57).

448 Sbnnebt : Autorität und Wirkungsweise.

NERTs Ansehen war, wie aus den Zeugnissen seiner Zeitgenossen hervorgeht,^ ein auf ser ordentliches. Hochgeachtet wegen der Festigkeit seines Charakters, beliebt wegen der Milde seiner Gesinnung, weitbekannt als Lehrer und Gelehrter und weltbe- rühmt durch seine Geschicklichkeit als Arzt besafs er eine ge- wichtige Autorität. Wenn ein solcher Mann eine unbeachtete oder als verboten angesehene Lehre anerkennend besprach, so durfte der ruhige und vorsichtige Freund behutsam verschrei- tender Wissenschaft die Prüfung nicht abweisen; so trat das Neue mit trefflicher Empfehlung in die akademischen Ejreise, und die Aufmerksamkeit des wissenschaftlichen Publikums sah sich mit gutem Gewissen darauf gelenkt. Und diese Lehre trat nicht so anspruchsvoll auf, dafs sie den Fundamenten der Metaphysik von vornherein verderblich schien. Sie ist ein Versöhnungsversuch zwischen Dbmokrit und der scholastischen Physik, so wie das Wirken Sennerts als Arzt als ein Versöhnungs- versuch zwischen Galen und Paracelsus aufgefafst werden kann. Sennert war eine eklektische Natur. Die aristotelischen Be- griffe von Form und Materie hielt er fest. Er hebt nicht, wie z. B. BoDiN, den Begriff der Substanz hervor, sondern die Form ist ihm das Mafsgebende. Aber allerdings soll innerhalb der Physik die beharrende und bestimmende Form nur den kleinsten Teilchen der Körper zukommen; thatsächlich sind es die For- men der Atome, d. h. die in ihrer Natur enthaltenen wirken- den Kräfte und Eigenschaften, welche die Naturentwickelung bedingen und die selbst nur von Gottes Allweisheit bedingt sind; wobei freilich andrerseits die Wirkung eines geistigen Fluidums oder Spiritus und der verborgene Einflufs unergründ- licher Qualitäten nicht ausgeschlossen bleibt. Diese Zusammen- ordnung des aristotelischen Begriffs von Materie und Form mit der endlichen Teilbarkeit der Materie charakterisiert die Theorie Sennerts als eine lediglich praktischen Zwecken dienende, rein physikalische Atomistik. Nur zur Erklärung gewisser physischer und chemischer Vorgänge bedarf er seiner minima corpuscula mit bestimmten und beharrenden Eigenschaften. Diese Kor- puskeln oder qualitativen Atome unterscheiden sich lediglich

* Judicia virorum aliquot clarissimorum. Vorgedruckt den Op, 1666 und 1676. Vgl. ferner: Pope Blount, Cetxsura p. 921. Näheres in m. Abhandl. S.432.

Sbnnbbt: Eklekücismus. Molekeln. 449

durch ihre Gröfse von den Körpern, von denen sie stammen, und haben sonst alle Eigenschaften mit ihnen gemeinsam.^ Daher können sie natürlich nur sehr wenig erklären, und so finden wir bei Sbnnbrt noch keine konsequente Durchführung der Atomistik durch das gesamte Gebiet der Physik. Auch die Vorstellungen über die Grundeigenschaften der Korpuskeln sind nicht immer so klar, als es wünschenswert wäre, aber sie sind im höchsten Grade anregend, und das ist das wichtigste f&r den Anfang, wo es an der Sicherheit des empirischen Ma- terials fehlt. So ist es z. B. schwer zu sagen, in welchem Ver- hältnis die Elementaratome zu den Korpuskeln des zusammen- gesetzten Körpers stehen. Da Sennert den Namen prinia m^xta fOr zulässig hält und die Elemente als das ursprüngliche doch immer betrachtet, so wird man wohl in seinem Sinne verfahren, wenn man sich diese prima mixta als Molekeln, die aus Elementar- atomen bestehen, vorstellt. Darauf weist die Bemerkung hin, dals diese Körperchen zwar minima genannt werden, es aber absolut genommen nicht sind, sondern nur sui generis minima, d. h. solche, aus welchen die Körper zunächst bestehen und in welche sie aufgelöst werden, ohne in die Elemente selbst zu zerfallen.* Demnach ist hier eine Vorstellung gebildet, welche in mancher Hinsicht dem Begriffe der Molekel in der modernen Chemie entspricht. Die Atome der Elemente ver- einigen sich zu Molekeln, die ihrerseits den physischen Körper bilden. Dafs diese Elemente die vier Grundstoffe der Alten sind, kann der Bedeutung dieser SENNERTschen Einsicht natür- Uch keinen Abbruch thun.

Über die Existenz eines leeren Raumes zwischen den Teilchen spricht sich Sennert nicht aus. Er nahm einen solchen wohl kaum an, vielmehr läfst er nach der Vereinigung der Atome ein Kontinuum entstehen; er denkt sich Atom dicht an Atom gelagert.

Man sieht aber auch, dafs eine blofse Verwechselung der Atome des Demokrit mit den Korpuskeln (wie sie Brücker* ihm vorwirft) bei Sennert keineswegs vorliegt, sondern dafs

^ S. S. 443. Anm. 1.

Hypomn. III, c. 2. Op. I. p. 122

Eist cnt phü. T. IV, p. 503.

Laftwiu. 29

450 Senkbrt: Bedeutung seiner Korpuskulartheorie.

Sennkrt die zusammengesetzten Korpuskeln von den Elementar- atomen wohl unterscheidet. Nur kommt es ihm viel weniger auf die absoluten Atome und deren Bewegung an (weil er ja über- haupt der rein materialistischen und mechanischen Weltan- schauung des Demokrit und Epikur fern steht), sondern auf die relativen Minima der Teilung, auf die Molekeln, die er zur Erklärung der chemischen Vorgänge braucht. Daher bedarf es keiner weiteren Diskussion der Atomistik Sennerts in Bezug auf ihren philoso- phischen Wert; vielmehr Uegt die Bedeutung derselben auf Seiten der Geschichte der theoretischen Physik und Chemie. Hier bereitet sie eine Festigung der Vorstellung über das Wesen des Körpers vor, wodurch der Begriff des letzteren geeignet wird, zur Grundlage einer mechanischen Naturerklärung zu dienen. Darum ist die Korpuskulartheorie Sennerts ein mafsgebender Wende- punkt in der Entwicklung der theoretischen Naturwissenschaft ; ihre Wirkungen erstrecken sich durch ein ganzes Jahrhundert, bis auch sie sich als unzulänglich erwies und Newton es vor- zog, zu einer mystischen Kraft überzugehen und eine mathe- matische Funktion zu hypostasieren.

3. Sennerts Quellen.

Der Gedankengang, welcher Sennert zur Aufstellung seiner Korpuskulartheorie geführt hat, liegt ziemlich klar auf der Hand. Es war das Bedürfnis nach einer anschaulicheren Er- klärung des Vorgangs bei der chemischen Verbindung, welches ihn zwang, die atomistische Hypothese hervorzusuchen. Als Arzt und Schüler des Avicbnna wurde Sennert Anhänger der Lehre vom Beharren der Elemente in der Mischung. Bei Be- sprechung dieser Frage ist schon erwähnt worden, dafs sie not- wendig zur Korpuskulartheorie führt. Dafs bei der Mischung erst eine Teilung in sehr kleine Teile und eine innige Berührung der Partikeln stattfände, war schon von Aristoteles gelehrt und allgemein anerkannt. Auch hier war wieder die unter den Medizinern verbreitete Anschauung einflufsreich, dafs Ele- ment nicht blofs der einfache Stoff, sondern der kleinste Teil des einfachsten Stoffes hiefs. Indem sich nun Sennert nach Autoritäten für das Beharren der Elementarteile um-

Sennebt: Mischongsfrage and Tradition der Mediziner. 451

sieht,^ gerät er auf die Atomisten des Altertums und wird zum Erneuerer ihrer modifizierten Lehre. Ja er wundert sich, dafs man die letztere als etwas Neues ansehen will, da sie doch schon von so vielen Philosophen vor Aristoteles gelehrt wurde, ja selbst schon von dem Phönioier Mochüs vor dem Trojanischen Kriege vorgetragen worden sein soll.

In Sennerts Eigenschaft als Mediziner liegt nun noch ein besonderer Grund, welcher es ihm erleichterte, von der aristo- telischen Autorität in der Gegnerschaft der Atomistik sich frei- zumachen. Denn gerade bei den Medizinern hatte sich die atomistische Tradition durch die Schule der Methodiker leben- diger erhalten. Gegenüber dem Humorismus Hippokrats war der Porismus des Asklepiades von Bithynien stets eine Mah- nung an atomistische Grundvorstellungen geblieben. Und in der Atomistik des Asklepiades (s. S. 213) haben wir ja das genaue Vorbild einer physikalischen Atomistik, wie Sennert sie brauchte und aufstellte. Dafs er diese Atomistik selbst ge- kannt habe, läfst sich nicht behaupten; aber der Standpunkt der Lehre von den oyxoi ist genau der vermittehide zwischen der strengen Atomistik Demokrits und dem praktischen Be- dürfnis der medizinischen Physik, wie derjenige der Korpuskular- theorie Sennerts. Und die historische Vermittelung liegt klar in dem Umstände vor Augen, dafs die Atomistik von der Me- dizin aufgegriffen wurde.«

Selbst Galens Einwürfe gegen die Atomistik waren derart, dafs sie mehr anregend als abschreckend wirken mufsten, wie früher gezeigt worden.' Die Lehren der Methodiker* waren den Ärzten des 16.^ und 17. Jahrhunderts wohl bekannt. Leon- HARD Fuchs in Ingolstadt und Tübingen (f 1565), auch als Botaniker berühmt, trug viel dazu bei, unter Diskreditierung der Araber die Prinzipien der älteren griechischen Arzte wieder

* Er führt in dieser Hinsicht Hippocrates, Philoponus, Avicexna, Albbbtüs Magnus, Aubeolus, Fernelius, Scalioer u. a. m. in bunter Reihe für sich auf. Über den fabelhaften Mochüs s. Zeller (4. A.) I. S. 26.

' Über das Studium des Methodikers Cokliüs Aureuanus vgl. S. 214.

» S. S. 231 fif. * Vgl. S. 214 u. 229.

' Vgl. Gtbiacüs Lüoiüs^ De variia medicorum aectis nunc in repuhl. vigen- tibus- Ingoist. 1583. 4.

29*

452 Sennebt: L. Fuchs. Ferkel. Fbacastoro.

zur Anerkennung zu bringen ; er erwähnt häufig die Methodici und erörtert ihre Grundsätze,^ ja er braucht gelegentlich eine ganze Seite, um ihre Lehre von den Atomen zurückzuweisen^ durch denselben Grund (dafs der Mensch nämlich, wenn er aus Atomen bestände, keinen Schmerz empfinden könnte), welchen schon Galbn dem Hippokratbs verdankt. Er legt also der Atomenlehre doch Bedeutung bei, während sein Zeitge- nosse Fernel' derselben sogar zustimmte zu einer Zeit, wo wir nach atomistischen Eegungen in der Phüosophie noch ver- gebens suchen.

Dieser berühmte französische Arzt (f 1558) ist es denn auch, auf welchen sich Sennebt nächst Avicbnna zumeist bei der Verteidigung der Integrität der Elementarformen in den Verbindungen stützt.^ Hatte doch Fernbl direkt gesagt, Db- MOEjaxs Sekte habe nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Medizin bis heutigen Tages berühmte Nachahmer und Anhänger gefunden. Anhänger der Atome seien die- jenigen Ärzte, welche sich methodici nennen. Demokrit würde uns auslachen, wenn er unsere Ansichten über die Elemente hörte.^

Andre Gewährsmänner für die atomistische Ansicht weiXs Sennert aus neuerer Zeit nur noch zwei anzuführen. Der erste ist GiROLAMo Fracastoro, ebenfalls ein berühmter Arzt (f 1653), dessen atomistische Neigung bereits Erwähnung gefunden hat (s. S. 306 f). Der zweite ist der Jesuit Fran(J0IS Aguillon (1566 1617), welcher sich in seinem Buche über die Optik für die Annahme gewisser Minima der Gröfse erklärt hatte. Er thut dies bei Gelegenheit der Frage nach der Abnahme des

I

^ InsHtutiones medicinae etc. libri V. Basel. (Vorrede datiert v. 1. Juni 1565.) p. 47. Fuchs und Fbrnel waren auch von Bedeutung für Hblhont, vgl.

KOMMELAERB p. 11.

* A. a. 0. lib. 1, sect 2, p. 57.

* Physiol 1. 2. c. 6. üniv, med, ed. Plakt. Lutet. 1667. p. 78.

* Epit p. 36.

^ De abditia rerum causis. Paris 1560. Praef. lib. 2. p. 195. Atomos amplexati sunt, qui se methodicos medicos appellarunt; terram, aqnam, aerem et ignem dogmatici. Utrique sua principia tarn arcte tenent tamque accurate defendunt, nihil ut gigni fierive putent, quod non statim causis illis acoeptum ferant.

Sbnkebt: Aouillon. Titblicaxn. Perbika. 453

Lichtes mit der Entfernung, indem er den Einwurf zu ent- kräfben sucht, dafs bei einer allmählichen Abnahme des Lichtes mit der Entfernung dasselbe niemals verschwinden könne. Es gäbe nämlich einen gewissen kleinsten Grad, unterhalb desselben die Körper ihrem Wesen nach nicht bestehen könnten.^

Das sind diejenigen Quellen, welche Sennert unter den neueren als Empfehlung far die Atomistik zu Gebote standen. Bei seinem eifiigen Bestreben, Autoritäten für jede neue An- sicht anzuführen, hätte es Sennekt sicherlich nicht unterlassen, seinen Gewährsmann zu nennen, wenn ihm noch irgend eine atomistisch angehauchte Stelle in einem Schriftsteller bekannt gewesen wäre. Bezieht* er sich doch sogar auf Titelmann (t 1550 od. 1553), welcher sich gegen die Integrität der For- men in der Mistis erklärt, weil derselbe die Bemerkung macht, dafs uns die Ansichten der Alten über die Atome, wenn wir sie richtig verstünden, vielleicht nicht so unbillig erscheinen würden,* und auf Pererius,* weil dieser den Aristoteles für nicht immer ganz gerecht hält und meint, dafs ein so ge- scheiter und im übrigen von Aristoteles so vielfach berück- sichtigter Mann wie Demokrit doch keinen offenbaren Unsinn vorbringen dürfte.^

Dajfe auf Sennert Giordano Brunos Lehre einen direkten EinfluTs gehabt habe, läfst sich nicht nachweisen. Bruno ver- liefs Wittenberg, wo seine physikalischen Thesen erschienen, im Jahre 1588, und erst fünf Jahre später (1593) war der

* Fraxoisci Aqüilovii. Opticorum libri VI. Antw. 1613. Lib. 5. praepos 8: Corpomm naturaliuxn minima dantur, quae nimirum, si amplius dividantor, formam essentiamque deperdant. Uti namque corpora ad nataralem subsisten- tiam nonnullam exposcont quantitatis molem, cum ipsa nil aliud sit. quam ipeius substantiae corporeae modulus, ita et quantitates, nisi aliqno excellentiae gradn praeditae sint, sponte depereunt. Am Ende des Buches sagt Aqüilokius, dals die Wärme sich, wie die Gerüche, durch die Luft als materielle Aus- strömung fortpflanze.

* Hypamn, p. 115.

* TiTBLMAiTN. Compend. philos. natiir. II. XII. Lugd. 1574. 1. 5. c. 15. p. 134.

* Perbiba, Benedict. 1535 1610. JPhysicorum, s. De principüs rerum tuiturtUium libr, XV. Bomae 1565.

* Peberiüs, Compend, de rer. nat, princip. 1. 4. c. 16. Fhys. 1. 4, c. 4.

464 Sennbrts Quellen.

junge Seknert dahin gekommen. Sennerts Korpuskulartheorie stammt aus der Medizin, nicht aus der Philosophie, und sucht die chemischen Erklärungen, die Bruno verschmähte. Gorlaeus' Exerdtationes philosophicae (1620), das Novum Organum Bacons (1620) und die Atomistik Bassos (1621) sind jünger als die erste Aufstellung der Korpuskulartheorie durch Sennert im Jahre 1619; aber auch vor der Umarbeitung der JEpitofne (1633) und der Herausgabe der Hypomnemata scheint er diese "Werke nicht kennen gelernt zu haben. Es ist also nur die medizinische Tradition, die in der atomistischen Neigung der methodischen Schule ihren wichtigsten Stützpunkt fand, gewesen, welche ihn befähigte, der Atomenlehre unbefangener gegenüberzustehen, als diejenigen, welche dieselbe nur im Spiegel der aristotelischen Physik zu sehen pflegten.

AUerdings muis zugegeben werden, dafs zwischen den schüchternen Anfangen von 1619 und der entschiedenen Ver- tretung der Korpuskulartheorie von 1636 ein auffallender Ab- stand ist, und dafs gerade in diese Jahre die allgemeine Bewegung zu Gunsten der Korpuskulartheorie fallt. Diese Be- strebungen, die zweifellos im Verkehr der Gelehrten noch leb- hafter wirkten als in der Öffentlichkeit erkennbar war,^ dürften auch Sennert in seinen Ansichten ermutigt und bestärkt haben. Immerhin aber gebührt ihm das Verdienst, dem korpuskular- theoretischen Gedanken zuerst einen Ausdruck gegeben zu haben, der von kräftigen Folgen begleitet war. Nicht nur auf Deutschland, auch weit über dessen Grenzen hinaus erstreckten sich die anregenden Wirkungen der SfiNNERTschen Lehren.

* Hierzu vgl. über Jüngiüs, 4. Buch.

GoRLASüS: Nominalismus. 456

Siebenter Abschnitt.

David van Goorle.

In demselben Jahre mit Bacons Novum Organum erschien das posthume Buch Davids van Goorle, in welchem dieser energische Gegner der traditionellen Physik fiir die Atomistik eintritt. 1 Man darf die Bestrebungen von Sennert, Gorlaeus und Basso für die Erneuerung der Korpuskulartheorie als von- einander unabhängig und gleichzeitig betrachten, und die Jahres- zahlen des Erscheinens ihrer Werke können nur zu einem Mittel der äufsem Anordnung dienen.

Die Atomistik des Gorlaeus weist so deutlich, wie kaum bei einem andren Forscher,* auf ihren Ursprung aus dem Nominalismus zurück. Gorlaeus geht davon aus, dafs es keine Uni versahen gibt.' Was existiert, sind nur die Indivi- duen, daher bedarf es gar keines besondem Individuations- prinzips.* Was ein Ding als solches bestimmt, das unterscheidet es auch von den andern als Einzelwesen.* Die Wesenheit (essentia) eines Dinges und seine Existenz sind in der Sache selbst nicht verschieden, sondern werden nur im Denken aus- einandergehalten; die Existenz ist das, wodurch ein Ding achi vom Nichtseienden unterschieden ist; ein reales Ding (Ens reale) aber ist dasjenige, dessen Essenz durch sich selbst exi- stiert.^ Die Attribute können weder realiter noch niodaliter, sondern cdlein durch das Denken (ratione) vom Dinge unter- schieden werden.^

Die peripatetische Lehre von Potenz und Actus ist zu ver- werfen. Der Actus wird nicht aus der Potetttia educiert, er

^ Vgl. über Gorlaeus und seine Schriften oben S. 333. ' Für JüNGiüS hat Wohlwill diesen Einflufs nachgewiesen, vgl. d. Ab- schnitt über JüNGius im 4. Buche.

* Exerc. phil p. 40. p. 77 ff.

* A. a. 0. p. 84 ff. - * A. a. 0. p. 85. « Exerc. phihs. p. 39.

^ A. a. 0. p. 52. GoRLABüs unterscheidet 6 Attribute: Unitas, veritas bonitas, existentia, localitas, durabilitas.

456 GoRLAEUs: Einheit, Zahl, Quantität, Substanz.

fügt keine neue. Realität des Seins hinzu, ^ sondern alle Realität besteht in der Vielheit der an sich existierenden Einzelwesen. Das Sein eines Dinges beruht auf seiner Einheit Unitas ist von Entitas nicht unterschieden und nicht trennbar. Daher ist auch die Zahl von dem Gezählten nicht zu scheiden, denn sie ist nichts andres, als eine und die andre Einheit; die einzelnen Einheiten werden durch die Vernunft als ein Ganzes gesetzt und geben dadurch dieses Ganze als Zahl, als die diskrete Gröfse, welche zugleich mit den einzelnen Einheiten notwendig gesetzt ist. Dasselbe gilt auch von der kontinuierlichen Gröfse. Jede Quantität ist der Ausdruck für die Aggregation von Ein- heiten, und man hat darin nichts andres zu sehen als eben das Gegebensein von Einheiten, welche realen Dingen entsprechen. Daher ist die Quantität nichts andres als die ihr unterworfene Substanz. Das Sein der Substanz ist an die Quantität ge- knüpft und beide werden nur in unserm Denken (ratione) unterschieden.^ Es gibt daher keine andre ReaUtät im Zn- sammen als die der Einzelwesen. Wie dieses Ganze, das wir sehen, nicht ein reales Eins ist, sondern das, was ist, die Atome sind, so gibt es auch keine reale Quantität in jenem Ganzen aufser derjenigen, welche den Atomen zukommt. Denn ein reales Accidens existiert nur an einem realen Subjekt. Und wie die Einheit nicht etwas von dem Einen unterschiedenes ist, so auch nicht die Quantität des Atoms von ihrem Atom. Und wie die Zahl nichts hinzubringt über die Einheiten hinaus, so fügt auch die Quantität des ganzen Aggregats nichts Reales über die Quantität der Atome hinzu. Deshalb wird jener ganze Körper weder vermehrt noch vermindert, aulser wegen der Hinzufügung oder Fortnahme von Atomen, ebenso wie die Zahl nur durch Addition oder Subtraktion von Einheiten gröfser oder kleiner wird.^ Diese wie seine weiteren daraus sich ergebenden Ausführungen stützt Gorlaeus auf den immer wiederholten nominalistischen Grundsatz, dafs die Wesenheiten nicht ohne Not zu vermehren sind.*

' A. a. 0. p. 62. * A. 0. p. 95, 96. ^ Exerc. philos. p. 96, 97.

* „Entia non sunt multiplicanda absque necessitate.'^ Exerc. phil. p. 99, 104, 146, 159, 178, 185, 187, 251, 298 u. a. Idea phys. p. 34 u. a.

GoRLAEüs: Arten der Qualitäten. 457

Indem sich Gorlaeus nunmehr zur Behandlung der Quali- täten wendet, tritt er in das eigentliche Gebiet der Physik ein. Man kann bei ihm im wesentlichen drei Arten von Quali- täten unterschieden finden, erstens gewisse reale Qualitäten oder Species, zweitens Eigenschaften, welche nur den Körpern infolge der Aggregation der Atome zukommen, und drittens solche, welche den Atomen selbst eigentümlich sind.

Mit den ersten weifs sich G^rlabus am wenigsten zurecht- zufinden. Es sind die „sichtbaren Spezies^ Licht und Dunkel- heit, und die unsichtbaren Wärme und Kälte. Ihre Wirkungs- art bleibt ziemlich unbestimmt. Von der Wärme wird, viel- leicht mit einer Beminiscenz an Tblesio, gesagt, dafs sie eine Bewegung nach der Peripherie, die Kälte eine Bewegung nach dem Centrum bewirkt.^ Die gewöhnliche Ursache der Wärme ist die Sonne. Die Wärme ist eine das Gleichartige ansam- melnde, das Ungleichartige zerstreuende Eigenschaft. Auch die Kälte ist eine reale Qualität und nicht blofse Negation der Wärme, die jedoch sowohl Gleichartiges als Ungleichartiges zu- sammenhält.^ Ihre Ursache ist die Bewegung der Luft. Es ist zwar nicht sicher, aber wahrscheinlich, dafs durch die Bewe- gung dichter Körper Wärme, durch die dünner Körper Kälte entsteht.^

Die Eigenschaften zweiter Art, nämlich Härte, Weichheit, Liquidität (liquor). Dürrheit, Biegsamkeit, Zerreibbarkeit, Flui- dität (fluor), Stabilität, Dünnheit, Dichtigkeit, Rauheit, Glätte, Schlüpfrigkeit und Gestalt sind Modi der Dinge, nicht Wesen- heiten, da diese nicht unnötig vervielfacht werden dürfen. Sie sind nicht in den Atomen, sondern nur in den aus den Atomen aggregierten Körpern und kommen ihnen durch jene Aggre- gation zu.*

Die dritte Art der Eigenschaften endlich, Feuchtigkeit, Trockenheit, Feinheit, Dicke, Undurchsichtigkeit und Durch- sichtigkeit besteht an den Atomen selbst. Denn wenn nicht die einzelnen Atome trocken, durchsichtig u. s. w. wären, könnten es auch die Körper nicht sein.^ Es ist kein Einwand gegen die Untrennbarkeit dieser Eigenschaften von den Atomen,

* Exerc, phü. p. 129. « Id. phys. p. 66, 67. ' Exerc. p. 124. * A. a. 0. p. 139, 140. * A. a. 0. p. 143.

458 GoBLAEüs: Schwere. Bewegung.

dafs man das Trockene im Wasser unter umständen niclit mehr sieht; denn es ist nicht deshalb unsichtbar, weil es nicht mehr ist, sondern weil seine kleinsten Teile durch die Kraft des Feuchten voneinander getrennt werden und nun ihrer Kleinheit wegen nicht mehr in die Sinne fallen.^

Zu diesen den Atomen inhärenten Eigenschaften sind auch Schwere und Leichtigkeit zu zählen, jedoch sind sie nicht eigentlich Eigenschaften, sondern die Schwere ist eine den Atomen innewohnende Eiaft, die Leichtigkeit nur die Pri- vation der Schwere. Jedenfalls sind sie nicht aus der Lage der Atome entstanden, vielmehr ist jedes Atom schwer und behält seine Schwere, während der ganze Körper schwerer oder leichter wird. Die Schwere ist eine gewisse, von Gott den Dingen, als sie geschaffen wurden, eingeprägte (impressa) Kraft, durch welche sie abwärts bewegt werden.* Die Erhal- tung der Bewegung geworfener Körper ist nicht auf die Wir- kung des Mittels (der Luft) zurückzufuhren. Alle räumliche Bewegung beruht vielmehr darauf, dafs sie durch eine gewisse Kraft eingeprägt wird, und zwar dem bewegten vom bewe- genden Körper, eine Art Gewicht oder Schwere, welche auf das Ding einen Druck ausübt. Man könne diese Thatsache nicht gut anders beschreiben. Die Beschleunigung der fallen- den Körper wird dadurch erzeugt, dafs die Kraft bei der eigenen Bewegung sich vermehrt und der fallende Körper sich selbst immer neue Kraft eindrückt.' Es ist dies die Auf- fassung der Bewegung als eine innere, sich erhaltende und selbst vermehrende Kraft, als eine intensive Gröfse, wie sie sich schon bei Benedetti (vgl. 3. Buch) findet und implicite den Satz von der Erhaltung der Bewegung umfafst.

Der Baum ist weder die Oberfläche des begrenzenden Körpers, noch der Körper selbst, sondern das reine Nichts und gleichbedeutend mit dem Vacuum,^ Innerhalb der Welt gibt es actti kein Vacuum, wohl aber aufserhalb derselben.* Die Zeit besteht adu aus unteilbaren Momenten, das Jetzt (to vvv) ist

* A. a. 0. p. 145

* A. a. 0. p. 145. « A. a. 0. p. 146—148. Jd. phys. p, 68.

3 Exerc. p. 192—198. Id. phys. p. 26—28.

* Exerc. p. 214. Jd. phys. p. 29. * Id. phys. p. 30.

GoRLAEUS: Raum, Vacaum, Zeit, Atome. 459

adu gegenwärtig.^ Die Zeit ist jedoch ein Kontinuum, die Zerlegung in unteilbare Momente ist nur in dem Sinne aufzu- fassen, wie bei Gorlaeüs jedes Kontinuum aus acta unteilbaren Einheiten besteht. Wirken und Leiden (actio und passio) sind das Werden und Vergehen selbst, das nur im beständigen Flusse besteht und daher thatsächlich niemals ist. ^ Das Werden und Vergehen der Körper beruht nicht auf den Begriffen der Materie und Form, gegen welche sich Gorlaeüs sehr ent- schieden erklärt,' sondern allein auf der Zusammensetzung und Auflösung in die Prinzipien;* diese Prinzipien aber sind die Atome.

Den Atomen widmet Gorlaeüs die dreizehnte seiner philo- sophischen Übungen.* Wenn es Wesenheiten (entia) gibt und die Körper reale Teile haben, so müssen diese Teile unteilbar sein. Sonst würden die Körper nicht reale Wesen durch Ag- gregation sein. Wenn es aber indivisible Teile gibt, so ist auch der Körper in sie zerlegbar. Denn was reaUter unter- schieden wird, kann auch getrennt werden. Die Grenze der Teilung ist nicht die Nichtexistenz, sondern nur die Trennung der Dinge von einander. Dasjenige, wovon Gattung und Art prädiciert werden, mufs auch die vollkommene Wesenheit von Gattung und Art in sich besitzen. Damit also ist erwiesen, dafs es unteilbare Teile gibt und der Körper in sie zerlegt werden kann. Dies folge auch aus der Unmöglichkeit einer unendlichen Zahl. Hierbei zeigen sich die Ansichten van Goorles vom Unendlichen wenig stichhaltig, er nimmt an, dafs ein Un- endlich nicht gröfser sein könne als ein andres. Da die Atome die Körper zusammensetzen, so haben sie auch Quantität und Dicke (s. o.). Allerdings besitzt das Atom zwei durch das Denken unterschiedene Seiten, welche dennoch nicht trennbar und in re dasselbe sind. Deshalb heben wir jedoch im Atom die Natur der Quantität nicht auf, weil die Möglichkeit der realen Teilung nicht dem Begriff der Quantität als solcher, sondern

* A. a. 0. p. 31. « Exerc. p. 189. ^ A. a. 0. p. 250.

* A. a. 0. p. 256.

* Exerc. VIH. De atomis. Sect. I. Dari in corporibus atomos. p. 235 bis 249. Daselbst das Folgende. (Im Text und Index steht bei Gorlaeüs durch einen Druckfehler die Seitenzahl 225 statt 235.)

460 GoRLAEüS: Quantität und Teilbarkeit.

den Teilen zugehört. Sonst müTste auch die Zusammensetzung zum BegriflP der Quantität gehören. Dies ist indes nicht der Fall, weil dem Kompositum nur die Komposition, nicht aber die Quantität per se zukonmit. Denn das Kompositum ist nur Quantum, wenn es die Teile sind, also kommt ihm die Quan- tität allein durch die Teile, den Teilen aber an sich als Teilen zu. Wenn diese ebenfalls geteilt werden können, kommt auch ihnen die Quantität nur durch die Teile zu, die nicht mehr teilbaren Teile aber besitzen an sich Quantität.

GoRLABUS sucht Weiter die Einwände zu widerlegen, dafiai die Atome sich nicht berühren könnten, sowie die bekannten mathematischen Bedenken. Die Atome hindern nicht die Ma- thematik, es können, da die Atome Quantität und Dicke be- sitzen, zwei Linien durch dasselbe Atom, wenngleich nicht durch denselben vorgestellten Teil des Atoms gehen. Der Einwand gegen die Möglichkeit der Bewegung läfst sich ebenfalls wider- legen; in der Vorstellung gibt es auch eine Atomhälfte, nur nicht in der realen Teilung. Wenn also ein Atom sich in einem gegebenen Zeitmoment an drei Atomen vorbeibewegt, so ist es kein Widerspruch, dafs ein halb so schnell bewegtes während dessen blofs an anderthalb Atomen vorbeigeht.

Über die Figcrf der Atome läfst sich nichts Sicheres sagen. Vielleicht sind die Atome rund; es ist vielleicht nicht absurd, so kleine Vacua anzunehmen, dafs kein Atom in ihnen Platz hat; sicher wird dort, wo ein solches Platz hat, sich auch ein Atom befinden. Vielleicht sind die Gestalten der Atome qua- dratisch (es ist kubisch gemeint); dann gäbe es kein Vacuum, weil der Raum vollständig ausgefüllt wird. „Die Frage mag also in der Schwebe bleiben."

In den Körpern besteht nichts Beales aufser den Atomen und aus diesen ist alles zusammengesetzt, aber nicht durch den Zufall, sondern durch die Vorsehung Gottes. Die homogenen Körper bestehen aus gleichartigen, die heterogenen aus un- gleichartigen Atomen. Diese sind entweder in Berührung (contigua) oder in Zusammenhang (continua). Letzteres ist der Fall, wenn man die Grenzen der einzelnen Teile aneinander nicht bemerkt. Alle Continua sind zugleich Contigua.^

Exei'c, pMlos. p. 247.

GoBLAEUS: Verdichtung und Verdünnung. 461

Von dieser Atomistik maclit Gorlabus eine Anwendung 2sur Erklärung der Verdichtung und Verdünnung. Die Körper verdünnen sich, wenn die Atome sich voneinander trennen und Luft zwischen dieselben tritt. Bei der Verdichtung wird die Luft wieder ausgetrieben. Die Luft selbst werde daher irrtünüich als dünn bezeichnet, nur Erde, Wasser und die ge- mischten Körper können verdichtet und verdünnt werden. Auf diese Erklärung legt Gorlaeus besondem Wert, denn er fügt hinzu, dafs er noch keine Erklärung kennen gelernt habe, wie Verdichtung und Verdünnung stattfinden könnten.^

Die Frage nach der Möglichkeit der Ausdehnxmg und Zu- sammenziehung der Körper gehört in der That zu den Fun- damentalproblemen, an welchen die Atomistik ansetzt, und bildet eines der Hauptmotive derselben. Dafs bei Gorlabus der Luft im Gegensatze zu den offenbaren Ergebnissen der Erfah- rung keine Verdünnbarkeit zugeschrieben wird, darauf braucht kein besonderes Gewicht gelegt zu werden, weil die Luft, welche hier die EoUe des raumausfällenden Äthers spielt, nicht mit der empirischen atmosphärischen Luft identifiziert zu werden braucht. Spätere, so namentlich Dbsgartbs, sahen daher die Luft ebenfalls als ein Gemisch aus zwei, ja selbst aus mehreren Stoffen an. Wenn der leere Kaum nicht zugegeben wird, so bedarf die Atomistik unter allen Umständen eines derartigen, die Poren der Körper ausfüllenden fluiden Stoffes. Die Schwie- rigkeit, einen solchen Stoff vorzustellen, welcher entweder kontinuierlich gedacht werden mufs und damit die Atomistik aufhebt, oder, wenn er selbst aus Atomen besteht, die Frage ins UnendHche verschiebt, diese Schwierigkeit, der auch Des- CARTES sich vergebens zu entziehen trachtet, tritt bei Gorlabus noch nicht bewufst hervor. Man mufs jedoch seinen allge- meinen Grundsätzen gemäfs annehmen, dafs er die Luft sich ebenfalls aus Atomen, aber aus kontinuierlichen Atomen, welche den Baum ganz ausfüllen, konstituiert dachte.* Wie alsdann die Bewegung möglich sein soll, hat er nicht näher erwogen. Dagegen war er sich ganz klar darüber, dafs die Frage der Verdichtung notwendig zur Atomistik führt und nur durch

* A. a. 0. p. 249. p. 31. Id, ph. p. 24.

* Id, phys. p. 33.

462 GoRLAEüS: Veränderung.

diese gelöst werden kann, wenn einmal Materie und Form und der Übergang von der Potentia zum Actus geleugnet werden. Denn allein durch diesen Übergang war es möglich, die offen- bare Vermehrung und Verminderung an körperlichem Volumen auf einen Begriff zu bringen. Sobald jener Übergang aufge- hoben wird und die Körper ein bestimmtes aktuelles Volumen er}ialten, ist, falls man nicht Atome und ein dazwischen tre- tendes Vacuum oder Fluidum annimmt, die Veränderung der Dichtigkeit nur als eine Durchdringung der Körper zu ver- stehen. Dafs dies aber ein in sich widersprechender Gedanke ist, welcher den Körperbegriff aufhebt, sieht Gorlabus sehr wohl ein.*

Die Veränderungen der Körper werden nach Gorlaeus' atomistischen Ansichten in der Hauptsache auf Mischung und Entmischung der Atome zurückgeführt, doch hindert seine Annahme von Qualitäten noch eine reine Ausgestaltung der mechanischen Auffassung. Eine Substanz kann allerdings nur durch Gott aus nichts geschaffen werden und die Körper ver- wandeln sich nur scheinbar durch Umlagerung der Atome.* In diesem Sinne kann Gorlaeus, indem er unter Körper die Atome selbst versteht, auch sagen, dafs ein Körper überhaupt nicht in einen andern verwandelt werden könne. Und dies ist auch der Sinn, welchen sein paradoxer Ausspruch hat, dafs alleS) was auch immer wird, aus nichts wird, und was vergeht, in nichts vergehe.* Dies bezieht sich nämlich nur auf die Schö- pfung und Tügung von Substanzen durch Gottes Allmacht, nicht aber auf die Composita innerhalb des geregelten Welt- laufs. Dafs es aber in diesem nur mechanische Änderungen gibt, vermag doch Gorlaeus noch nicht auszusprechen. Die Mischung kann er ganz mit den Worten der Schule definieren als „Bewegung der kleinsten Teüe zur gegenseitigen Beruh- rung, so dafs Vereinigung (wmo, nicht unitas) entsteht."* Denn er nimmt dabei, da seine Atome Qualitäten besitzen, noch einen Ausgleich dieser Qualitäten an.^ Aber er hebt hervor, dafs es dazu keiner besondem „Form der Mischung" bedürfe. Zwischen den Elementen bestehe keine Feindschaft, so dafs

^ Exerc. p. 249. A. a. 0. p. 255. ~ » ^. a. 0. p. 277. * Exer, phüos. p. 248. ^ Id. phys, p. 42.

GoBLASüs: Körper und Seele. 463

ein rector notwendig sei, um sie in Frieden zu halten.^ Die bewegenden Prinzipien bei allen Mischungen sind Wärme und Kälte.* Eine Femwirkung findet nicht statt; alle Vorgänge in der Natur beruhen zwar auf ihrem Endzwecke, aber dieser ist den Dingen nicht bewufst, sondern sie sind von Gott in dieser Absicht so geordnet, dafs er erfüllt wird.*

Die Ansichten des Gorlabus über die Elemente sind oben bereits dargelegt worden. Wir fügen nur noch hinzu, dafs er sowohl die Erde im Centrum wie den aus drei Luftregionen bestehenden Himmel als ruhend ansieht, während die Sterne sich in ihm bewegen.* Von dem SchaU sagt er, dafs er sich durch die Luft als Bewegung derselben fortpflanze, und ver- gleicht diese Fortpflanzung mit derjenigen der Wellenringe auf dem Wasser.^

Gemäfs seinen Grundsätzen schliefst Goblaeus endlich, dafs Körper und Seele zwei Wesen seien, welche im Menschen durch Aggregation vereinigt sind, so dafs diese Vereinigung nur durch Zusammensetzung geschieht und durch Auseinander- lösung aufgehoben wird.® Diese Erklärung spielt eine Bolle in der Geschichte des Cartesianismus. Als nämlich Rkgius in dieser Frage mit seinem Lehrer Descartes in Streit geriet, be- rief er sich auf Gorlaeus, und dies hatte zur Folge, dafs VoÄTius seine Angriffe auf Descartes auch auf die Schriften von Gorlaeüs, sowie auf die von Taürellus und Basso aus- dehnte.'

» A. a. 0. p. 257. « A. a. 0. p. 275. - ' Id. phys. p. 18. * Id. phys, p. 33, 40. * Exerc. p. 179. Id. phys, p. 70. « Exerc. p. 223—230. ' Vgl. Bayle, Dict. n p. 577. Art Gorlaeüs.

464 Petrus Eamüs.

Achter Abschnitt.

Die Erneuerung der Atomistik in Frankreich.

1. Oegner des Aristoteles in Paris.

An der Pariser Universität hielt die theologische Faknltät ihr Scepter in festen Händen und duldete keine Abweichungen von der approbierten Lehre des Aristoteles. Selbst ein so eifriger Gegner des Stagiriten wie Pierre de la Bam^e (1516 bis 1572) hatte mit aller Unruhe, die er erregte, an der Uni- versität wenigstens, eine Änderung nicht geschaffen. Wider- holt mufste er die Akademie und die Stadt selbst verlassen, nach welcher es ihn immer wieder zurückzog, bis der Meuchel- mord, als dessen Anstifter man seinen phüosophischen Gegner Jac. Carpentariüs ansah, seinem Leben ein Ziel setzte. War schon des Bamüs Beform überhaupt mehr pädagogischen und litterarischen als philosophischen Charakters, so wirkte sie auf die Physik in positiver Hinsicht wohl kaum ein. Er selbst er- klärte sich für zu schwach, ein neues Lehrgebäude der Physik, die er übrigens nur als Naturbeschreibung dachte, aufzufahren, und forderte dazu Jacob Schegk auf, der jedoch nichts davon hören wollte.^ Aber der indirekte Einflufs der ramistischen Methode dürfte auch für die Behandlung physikalischer Fragen nicht ohne Bedeutung geblieben sein. Die Angriffe des Bamus speziell auf die aristotelische Physik' bestehen in der Anwen- dung seiner dialektischen Methode auf dieselbe als auf einen geeigneten Gegenstand des Disputierens. Dabei werden die Fehlschlüsse und die logischen Widersprüche des Aristoteles aufgedeckt, und indem sich die Unfehlbarkeit seiner Beweise vom logischen Standpunkte aus als zweifelhaft zeigt, gewinnen die von Aristoteles bekämpften Ansichten an Vertrauen und

* Tennbmann, Gesch d. Phil IX S. 433.

* P. Rahi, Scholarum phy»icarum lihri octOy in totidem arroamaücos libros Aristotelis. Recens emendati per Jo. Piscatoreh ArgeDtinensem. Francof. 1606. Die erste Auflage erschien Paris 1565.

^ Bamus. Pariser Universität. 465

Beachtung. Die Erschüttening der Autorität des Aristotbles macht sich in einer grofsen Reihe von ^Dispiäationes^ und j^Exercitationes^ im Beginn des 17. Jahrhunderts bemerkbar, und in dieser formalen Hinsicht darf man wohl auch in den anti- peripatetischen Übungen eines Gorlaeus und G-assendi noch die Nachwirkung der ramistischen Angriffe auf Aristoteles sehen. Von des Ramus positiven Behauptungen verdient hier angeführt zu werden, dafs er die Gleichsetzung des geome- trischen und physischen Kontinuums durch Aristoteles bekämpft und fordert, dafs es der Physiker nicht mit ins Unendliche teilbaren, sondern nur mit endlichen und endlich-teilbaren Kör- pern zu thim habe ; allerdings bestreitet er auch, dafs die Teil- barkeit ins Unendliche auf die Bewegung übertragen werden müsse, die vielmehr ebenfalls diskontinuierlich sein könne. ^

Zu diesen Angriffen auf die Hauptgegner der Atomistik kamen direkte Anregungen zu Gunsten der Korpuskulartheorie,* wie wir sie namentlich in Bodins Schriften kennen gelernt haben. Im Jahre 1586 verteidigte Hbnneqüin in Paris energisch die Thesen G. Brunos.*

Im Anfange des 17. Jahrhunderts sehen wir an der Uni- versität selbst einen Versuch zur Kritik an der hergebrachten Physik des Aristoteles, wenn auch nur im Sinne eines reineren Aristotelismus ; aber diese Kritik mufste zugleich dem Zweifel zu gute kommen. Im Jahre 1601 wurde in einer neuen Verordnung über die Vorlesungen bestimmt, dafs, nach- dem im ersten Jahre die logischen Schriften des Aristoteles erklärt worden, im zweiten vormittags die Physik, nach- mittags die Metaphysik behandelt werden solle. Dabei solle

^ Schal, phys. 1. VI in c. 2. p. 149, 150. Auch in der Elemenienlehre scheint ramistischer EinfluTs die früher erwähnten Neuerungen (s. 8. 325 ff.) befördert zu haben. So lehrt z. B. der dem Eamismus geneigte Eudolf Gk)C- LENiüB in Marburg (1547 1628), dafs Feuer nichts anderes sei als die feinste Luft, und Luft Feuer in potentia (Phystcae completae Speciäumy 1604, p. 557).

' NicoLAüs Hill (f 1601) schrieb ein Buch De phüosopkia epicurea^ democritica, theophrasticciy propoaita simpUciter, non edocta, Paris 1601, das ich jedoch bisher nirgends erhalten konnte. Eine eingehende Besprechung der Atomistik Dxmokbits enthielt auch das 1612 erschienene Werk des römischen Gelehrten Julius Caesar Lagalla De phcienomenis in orbe lunae, welches auf JuNGiüs einwirkte. Vgl. Wohlwill, Jungiua 8. 15.

' Bruno, AcroUsrnm etc. Dsgl. Bulaeüs, Hist. unw. Far, VI. p. 787.

LaAwits. 30

466 „Übungen" über die Atomistik.

ein besonderer Nachdruck gelegt werden auf die Prüfung der Einwendungen des Aristoteles gegen die alten Physiker, in denen sich eine aufserordentliche Schärfe und Feinheit des Geistes zeige, während alle die überflüssigen und inhaltslosen Fragen (Quaestiuncula), welche von ehemaliger Unbildung her- stammen, beiseite zu lassen seien. ^ Es ist klar, dals die sorg- fältige und eingehende Prüfung der Streitfragen zwischen Aristoteles und seinen Vorgängern die Untersuchimg über die Grundlagen seiner Physik neu beleben muDste. Unter den von Aristoteles bekämpften Gegnern nehmen aber die Atomisten eine hervorragende Stelle ein, und der gehorsame Schüler des Meisters wurde so genötigt, mit den Lehren Demokrits sich genauer zu beschäftigen. Bei vorurteilslosen und scharfsinnigen Köpfen konnte dieses Studium eben so leicht zur Anhänger- schaft an die Gegner des Aristoteles, als zur Stärkung der peripatetischen Philosophie führen, und wer zur tJbung in der Dialektik die Atomistik verteidigte, mochte auch im Ernste für sie in die Schranken treten. Die beliebten Exercitationes und Paradoxa verschleiern oft nur den aristotelesfeindlichen Sinn. In der That müssen wir annehmen, dafs im Beginn des 17. Jahrhimderts in den wissenschaftlichen Kreisen von Paris, namentlich unter den jüngeren, zu Neuerungen geneigten Ele- menten, und ganz besonders unter den philosophisch gebildeten Ärzten, in privaten Disputationen entschieden antiperipatetische Anschauungen unbedenklich diskutiert worden sind, ja wir dürfen glauben, dafs die heimlichen Anhänger der Atomistik nicht selten waren, wenn auch der offizielle Druck der Sor- bonne jedes öffentliche Hervortreten hinderte. Denn wie wäre es sonst möglich gewesen, dafs binnen wenigen Jahren in Frankreich eine so stattliche Anzahl von Verteidigern der Kor- puskulartheorie oder wenigstens von Gegnern der aristotelischen Physik hervortreten konnte, wie wir sie in der Folge zu nennen haben werden ? Der erste von ihnen, Sebastian Basso, bezeugt selbst, wie viele damals „daran gearbeitet haben, die gleichsam vergrabene Wahrheit ans Licht zu bringen, die rie- sigen Felsmassen, welche den Weg zu ihr versperrten, wegzu- räumen oder doch durch die stets wiederholten Schläge der

* Launoiüb, De var. Ariat in acad. Färisiana fortuna. Op. T. IV. p. 220.

Basso: Litterarisches. 467

Disputationen so stark zu erschüttern, dafs es nicht mehr schwer war, durch ihre Entfernung einen bequemen Weg zur Wahrheit zu eröffnen** ; wie viele keinen Hehl daraus machten, dafs ihnen die Fehler der aristotelischen Lehre vor Augen standen.^ Aber erst im Jahre 1621, ein Jahr nach dem Er- scheinen des Novum Organum, begann in dem alten Mittelpunkte scholastischer Wissenschaft die öffentliche Agitation für die korpuskulartheoretische Auffassung der Materie.

2. Sebastian Basso.

Wie zwei Jahre früher in Deutschland ist es auch in Frank- reich ein Mediziner, der oben genannte Dr. Sebastian Basso, welcher zuerst für die Korpuskulartheorie methodisch auftritt, ein Mann von äufserst scharfem Urteil und grofsem Wissen, wie DE Launoy sagt.* Sein Werk erschien jedoch nicht in Paris, sondern wohl aus Gründen der Vorsicht in Genf.* Dasselbe ist heute selten und kaum bekannt, aber sein Einflufs gerade auf die Pariser Kreise mufs ein sehr lebhafter gewesen sein, und die älteren Autoren erwähnen Basso mit Achtung neben heute noch berühmten Namen.* Junoiüs, Etibnne de Claves, Dbscartes, Gassendi, Bbrigard, Magnbnus* dürften direkt von Basso angeregt sein. Von seinen Lebensumständen

* PkUos, natur. Praefat. Laünoiüs, a. a. 0. Op. T. IV. p, 224.

^ Fhüosophia naturalis adv. Äristotelem Ubri XII. In quibus ahstrusa veterum phüosopJUa restauratur et Äristotelis errares solidis rationibus refeüuntur. Gbnevae 1621. 8. Ich citiere nach der Elzevir- Ausgabe Amstelodami 1649. 8. Vgl. Brückbr, IV, p. 467, A. ss.

* Vgl Cahfakella, De libr, proprüs. c. II, art. 5, p. 47. MsBSEicirE, La verite des sciences, 1. I, c. 9 f. Dbscabtes, Oeuvres VI. p. 146. CoNKiNG, Introd, in phil naturalem c. 2 § 7. Heühann, Acta philos. in, p. 939 f. Lbibniz, Math, Sehr, ed. Gkbhabdt VI p. 78. Sobbl, S.484. De Laukoy a. a. 0. (S. Anm. 2.) (Vgl. Heumann, Act, phü, EI S. 719.) Bbiman, Hist litt, m, Fr. 328, S. 462 ff. Daselbst heilst es S. 461: „Diejenigen, die kein An- denken bey der Nachwelt verdienen, die überkommen es, die es verdienen, lasset man im Staube liegen. Und zu dieser (Gattung gehört auch unser obgedachter Sebastianus Basso." Sperling, Exerciiat phys, p. m. 30. MoRHOF, Folyhist T. 2. 1. 2. c. 11, 2. p. 206. p. 364. Maokenus citiert B. häufig neben SbnNert in Democritus reviviscens. Brüoker, a. a. 0. (S. Anm. 3.) Über VofiTius s. Batlb Art. Gorlaeus, vgl. oben S. 463. Junoiüs kannte Basso. S. Wohlwill, Jungius S. 18. ^ Democritus rev., Ticini 1646. p. 125.

30*

468 Basso: Die Atome.

ist nichts bekannt, als dafs er Arzt war und zu Pont a Mousson sich gebildet hat.^

Die Vorrede wendet sich in beredten Worten gegen die Autorität des Aristoteles und die Sucht, jede Meinung zu ver- ketzern, die nicht genau im scholastischen Sinne sei. Es folgen zunächst zwei Bücher über die erste Materie und die Mischung. Hier bekämpft Basso die aristotelische Vorstellung von der Materie und sucht an deren Stelle unveränderliche Atome zu setzen.* Er rühmt dem Aristoteles gegenüber die Lehren des Dbmokrit, sowie die des Platon, Anaxaooras und Empedokles und stellt die Meinungen dieser Philosophen in Bezug auf die Atome in ihren wesentlichen Unterschieden dar. Anaxagoras, Platon und Demokrit hofft er, was ihre Grundlehren über die Materie betrifft, ohne Schwierigkeit versöhnen zu können. Er stellt sich die Aufgabe, auf Grund jener alten Lehren eine Theo- rie der Materie zu schaffen und ihre Richtigkeit zu beweisen, welche geeignet ist, die Ursache aller Veränderungen in der Natur aufzufinden ; durch dieselbe soll eine leichte und offenkundige Lösung der vielen Fragen ermöglicht werden, welche bisher den gröfsten Gelehrten vergebliche Qual verursacht haben. Das Prinzip aber, auf welchem diese Naturlehre beruhen soll, ist die Annahme: Alle Dinge bestehen aus äufserst kleinen und verschiedenartigen Teilchen, welche die Verschiedenheit ihrer Naturen, die sie in getrenntem Zustcuide besitzen, auch bei ihrer Verbindung beibehalten.» Diese Teüchen nennt Basso

^ Basso {Phil, nat 1. I. art. 5. p. 13) sagt, er habe auf der neaen Äcademia Mussipontana (Pont k Mousson) in Lothringen unter Prof. Phil. Pbtbob SiKSONius studiert.

' PfUl nat. p. 23. Materiamque talem nos cum veteribus asserere, quae constet ex partibus diversissimis. Ita ut in parte ossis, vel camis quam minimam rens, sit particularum diversi generis conjunctio, quae in illa compositione propriam naturam retineant.

^ A. a. 0. 1. 1. art. 4, 6. p. 10—12. Sed esto .... veteres circa illa prima rerum principia discrepasse, certum tarnen est, illos in eo convenisse, quod et verissimum esse demonstrabimus, et ad mutationum naturalium causam rationemque inveniendam sufficit. Quod scilicet agnovennt omnes ex minimis, diversissimisque particulis res construi, quae ut ab invicem sejunctae natoras haberent dissimiles, eandem naturae dififerentiam coojunotae retinerent, quo* cunque tandem nomine res illas voces.

Basso: Die Mischung. 469

Atome, bemerkt jedoch ausdrücklich, dafs dieselben von Gott geschaffen sind.^ Über die Gröfse der Atome finden sich wie- der dieselben aus Lukrbz entnommenen Bemerkungen wie bei Bruno, Lubin und Sennert:* Die Sonnenstäubchen sind schon zusammengesetzte Körper, von denen jedes wohl tausend demo- kritische Atome enthalten mag ; die kleinsten überhaupt sicht- baren Tierchen (sirones) sind noch vollständig organisierte Wesen ; wie klein müssen also ihre Organe sein und wie klein erst die Teilchen der körperlichen Spiritus animales, die auch noch in diesen Organen Platz haben müssen.

Derjenige Umstand, welcher Basso vor allem die Existenz unveränderlicher Elementarteilchen zu beweisen scheint, ist die Verbindung der Elemente zum Kompositum und ihre wieder erfolgende Trennung. Ebenso wie bei Sennbrt tritt es hier deutlich hervor, dafs diese Frage nach dem Verhalten der Be- standteile in der Mischung der Hauptanlafs zur Erneuerung der Korpuskulartheorie gewesen ist. In einer eingehenden Auseinandersetzong mit Scaligbr weist Basso nach, dafs eine mistio existiere, in welcher zweifellos jeder Teil (zwar nicht actu mathematice^ weil nicht in vorgeschriebenen Grenzen, aber acta naturcdi) vom andren getrennt unter seiner besonderen Form bestehen bleibe,' während doch das Ganze durchaus den Eindruck einer vollkommenen Mischung mache. Wie nun in diesem von Scaljger selbst zugegebenen Falle ein Kompositum, das im aristotelischen Sinne nur eine mistio ad sensum sei, sich trotzdem von einem einheitlich-homogenen Körper nicht unter- scheiden lasse, so könne dieselbe Gleichartigkeit auch in allen andern Fällen stattfinden. Die Homogenität sei eben wirklich nur eine für die Sinne vorhandene; die Elementarteile bleiben im Kompositum unverändert; der Unterschied bestehe allein darin, dafs die Trennung derselben bei den einen Körpern leichter, bei andern schwerer erfolgt. Doch verwahrt sich Basso gegen das Be- streben gewisser Anhänger der Theorie vom Beharren der Ele-

^ A. a. 0. 1. I art. 6. p. 13. Cum agimus de atoxnis, censemus eas a Deo creatas, quod fdit praemonendum.

Vgl. S. 369, 407, 443.

' A. a. 0. p. 14. Crama namque illud, id est aqua dilutum vinum, non est unom forma, sed continuatione sola.

470 Basso: ünverwandelbarkeit der Elemente.

mente, diese Ansicht aus Aristoteles herauslesen zu wollen, der nun einmal im Irrtum sei.^

Empirische Gründe für diese Ansicht werden aus der chemischen Zerlegung der Körper entnommen, bei welcher Spiritus (oder Mercurius), Oleum (oder Sulphur), Scd, Faeces (caput mortmm) imd Phiegma sich als Teile herausstellen, die in allen Körpern in gleicher Weise enthalten sind, obwohl man sie vorher nicht bemerkt hat.^

In steter Polemik gegen den aristotelischen Mischungs- begriff weist Basso darauf Schritt für Schritt die Unhalt- barkeit der Ansicht von der Verwandlung der Elemente und Elementarteile nach. Wodurch soll sich ein und dasselbe Teilchen zu entgegengesetzten Yerwandlimgen bestimmt sehen, wenn die Teilchen nicht schon an sich verschiedener Natur sind? Warum wird bei der Zersetzung der Körper nur ein bestimmter Teil zu Wasser, der übrige nicht ? Warum bleiben nach Verflüchtigung der wohlriechenden Teile aromatischer Körper andre Teile ohne Geruch zurück? Warum lassen sich durch Wasser gewisse Stoffe auswaschen und extrahieren? Dies alles erklärt sich nur, wenn man annimmt, dafs die letzten Teüchen der Körper unveränderUche und unvertUgbare Unter- schiede voneinander von Natur aus besitzen.' Diese Verschie- denheit ist eine substanzielle. Von den Gründen, mit welchen Basso die Gegner widerlegt, sei einer hervorgehoben, weil derselbe alle jene Versuche trifft, Naturerklärungen auf qualitativer Veränderup.g aufzubauen ohne Berücksichtigung des quantitativen Elements. Der Übergang von Feuer zu Erde, sagt Basso, erfordert eine sehr starke Zusammenziehung. Diese kann keine momentane sein, sondern nur allmählich eintreten. Wo liegt nun der kritische Punkt, an welchem die Verwandlung der Form eintritt? Bei welchem Dichtigkeitsgrade wird das Feuer zur Erde? Kann es noch Feuer sein, während es schon dichter als Wasser ist? Oder soll es schon Erde werden, ehe

^ A. a. 0. p. 23 29. p. 27: Quod scilicet de vini et aquae mistorum partibus compertam est, eas etsi minutissimas, et alias cum aliis continaas, in sua quamque natura persistere, idem de omnibus mistis esse dicendum; dis- crimenque solum esse, quod alia aliis facilius dissolvantur.

* A. a. 0. p. 31. Vgl. oben S. 339.

^ A. a. 0. p. 35 ff.

Basso: Wärme und Kälte. Der Atem. 471

es diese Dichtigkeit erreicht hat? Hier springt der Vorteil von der Annahme unveränderlicher Elementarteile deutlich genug ins Auge.*

Eine von Aristoteles* herstammende, auch von Plutarch ^ behandelte Frage, welche den Gelehrten des Mittelalters Schwie- rigkeiten bereitete, löst Basso im Anschlufs an platonische Vor- stellungen auf seine Weise. So nebensächlich die Frage an sich ist, so kehrt sie doch auch bei den Physikern des 17. Jahr- hunderts immer noch wieder als eines jener Schulprobleme, an welchem sich jede Theorie der Materie gewissermafsen zu be- währen hat.^ Es handelt sich um die Erscheinung, dafs der bei geschlossenen Lippen ausgestofsene Atem kalt, der bei ge- öfihetem Munde entweichende warm sei. Aristoteles erklärte dies daraus, dafs bei geschlossenen Lippen nur wenig Atem entweicht, also für die Beurteilung durch die Hand wesentlich die Menge der äuTsem kalten Luft in Betracht kommt. Basso antwortet : ^ Lm Atem sind die warmen Teilchen von den kalten eingehüllt; wenn der Hauch bei geprellten Lippen entweicht, so sind die warmen Partikeln von den kalten zusammengedrückt und können nicht wirken; bei geöffnetem Munde aber haben sie Spielraum, sich zu entfalten. Die Erklärung Bassos ist von Literesse, weil sie auf dem Gedanken der molekularen Umlagerung beruht. Die Wärmeteilchen sind bereits vorhanden, sie kommen nur nicht als warm zur Wahrnehmung, weil sie von den kalten Teilchen umgeben sind. Es knüpft sich hieran die atomistische Wärmetheorie Bassos.

Basso geht davon aus, dafs die Sinne nicht über die Gegenwart von Warmem oder Kaltem entscheiden, sondern nur über die thätige Wirkung (actio) desselben. Es sind nämlich die warmen Teüe von den kalten eingehüllt, und zwar sind zu diesem Zwecke um so mehr kalte Teilchen notwendig, je gröfser die Anzahl der warmen ist. Je besser die warmen von den kalten Teilen eingehüllt sind, um so beständiger und fester ist

* A. a. 0. p. 52.

' Abist., Problemata XXXIV, 7. p. 964a, 10—18.

' Plutarch, De primo frigido, VH, 4. Paris 1841. p. 1160, 18 f.

* Vgl. die betreffenden Stellen bei Desoabtbs, Oeuvres inedites, I p. 78; Oasssitdi, Opera I p. 351 b ; Hobbbs, De corpore, Op. I p. 380.

' Basso, Fkilos. nat p. 55.

472 Basso: Yerdampfong. Molekeln.

unter sonst gleichen umständen die Mischnng. Daher kommt es, dafs viele Dinge, die für die Sinne und äufserlich sehr kalt sind, innerlich sehr viel Wärme enthalten können. Bei der Verbrennung nehmen somit die Körper nicht, wie Aristotblbs fiälschlich behauptet hat, Wärmeteilchen auf, sondern vielmehr verlieren sie die meisten derselben, indem diese zwischen den kalten Teilchen hervortreten, fortfliegen und wirksam werden.*

Die Verdampfung des Wassers, dessen Dämpfe nicht Luft, sondern wasserartiger Natur und dichter als Luft seien, erklärt Basso in folgender Weise : Die Feuer- teilchen dringen in das Wasser ein, treiben die Wasserteilchen, die vordem zusammenhingen, auseinander, wodurch das jetzt dünner gewordene Wasser durchsichtig wird, imd reifsen die Wasserteilchen mit in die Höhe. Wird der Dampf abgekühlt (oder hält man ihm ein Metall oder Glas entgegen), so werden die Feuerteilchen durch die Kälte herausgetrieben (oder durch die freien Poren des Metalls etc. durchgelassen) und der Dampf wird wieder zu Wasser.*

Hier also ist ebenso wie bei Gorlaeus schon die Unter- scheidung zwischen Wasserdampf und Luft durchgeführt, wie sich dies als eine notwendige Konsequenz aus der ünveränder- lichkeit der Elementarteilchen ergibt.

Li Bezug auf die Natur der Elementarteilchen läfst es Basso ungewiTs, ob die vier Elemente selbst diesen Partikeln entsprechen, oder ob die Atome noch etwas Einfacheres sind, aus welchen die Elemente erst zusammengesetzt seien. Jedenfalls sind die Atome aufserordentlich verschiedener Natur; diejenigen, welche am meisten geeignet sind, Feuer zu bilden, sollen Feuerteilchen genannt werden, und so mit den übrigen.' Diese sinnlich un- wahrnehmbaren Teilchen können sich nim in verschiedenster Weise zu Teilchen zweiter Ordnung, diese wieder zu sehr ver- schiedenartigen Partikeln dritter Ordnung u. s. w. zusammen- setzen. Daraus erklärt sich die auTserordentliche Mannigfal- tigkeit der Naturkörper trotz der Unveränderlichkeit der Ele-

* A. a. 0. 1. II. De tnateria et mixto» p. 69.

* A. a. 0. I. I. p. 66.

3 A. a. 0. 1. II. Intentio IH, art. 4. N. 1. p. 112.

£▲880: Aggregatziistände. 473

mentarsnibstanzen.^ Es können dabei nnbeschadet dieser ün- veränderlichkeit der primären Atome doch die Teilchen zweiter nnd dritter Ordnung leicht wechselseitig in die Natur der andern übergehen, mit gröf serer oder geringerer Änderung je nach dem Grade der Abweichung in ihrer Zusammensetzung.* Wie man sieht, dürfte Basso als der erste unter den Er- neuerem der Physik genannt werden, welcher den Begriff der chemischen Molekel völlig klar erfafst hat. Die Art der Bil- dung dieser Molekeln oder Partikeln höherer Ordnung bedingt weiter die Natur der Körper, deren Eigenschaften von den Eigenschaften ihrer Teile abhängen. Alle zusammengesetzten Körper der unbelebten Natur lassen sich einteilen in vier Gat- tungen: in feste Körper (solida), in flüssige (liquida), in fusile (fusilia), welche zwischen den festen und flüssigen Körpern in der Mitte stehen, und in luftförmige (meteora), wie die Dünste und Dämpfe.* In den festen Körpern ist haupt- sächlich Erde, in den flüssigen Wasser, in den fusilen mehr Erde als Wasser, in den luftförmigen hauptsächlich Feuer ent- halten ; durch das Vorherrschen der betreffenden Elementarteile ist eben das Verhalten der Körper als fest, flüssig u. s. w., ihr Emporsteigen oder Niedersinken bedingt.* So ist das Feuer schwer, sobald es eingeschlossen nicht nach oben fliegen kann, das Wasser leicht, wenn es vom Feuer, das in seinen Schofs

^ A. a. 0. 1. n. Int. I. JDe diveraitate partium compasitarum, ex quarum harmonia totum restdtat p. 70: . . . Non tantum prima elementa in misto seu mavis composito manere, sed diversissimas qnibus mistum constat, partictüas, ex iis primis rerum principiis diversimode constructas; quas secundas, docendi gratia vocare liceat. Ex bis secnndis varie eoeunübus tertiae fiunt non minus quam secandae inter se differentes. Eundem in modum, et ex tertiis quartae, et ex qnartis qointae fieri intelliguntur. Atqoi compositum naturale non primo resolvitur in prima illa elementa, sed in partes quasdam inter se natura dis- crepantes; quarum singulae species rursus in alias multiplices dividuntur; et bae in alias minutiones conciduntur. Saepiusque baeo partium diversarum in minutiores semper diversas subdivisio repetitur.

'' A. a. 0. 1. n. Int. m, art. 4. N. 10.

^ A. a. 0. 1. n. Int. I. art. 2. Si inanima spectes, differentiamque eorum motus contempleris, corpora omnia compodta in quatuor genera commode possunt distribui; ut alia sint liquida et fluida, alia firma et constantia, alia utramque naturam participantia, qualia sunt fusilia omnia; alia denique meteora, quae sublime fenmtur; ut balitus et vapores. Dsgl. Int. III, art. 4. N. 11.

* A. a. 0. art. 4. N. 12, 13.

474 Basso: Gott und Natur. Der Spiritus.

eindringt und es ausdehnt, nach oben geführt wird. Das Ver- löschen des Feuers ist nichts andres als die Zusammendrücknng und Verdichtung der Teile desselben, bewirkt durch Wasser und Luft.^ Bei der gegenseitigen Wirkung der Elemente handelt es sich jedoch niemals um einen Gegensatz innerhalb desselben Elementes oder zwischen der Substanz und einem hinzugekommenen Accidens, sondern um einen Gegensatz ver- schiedener Teile und eine Wechselwirkung von Substanzen.' Die detailliertere Ausführung der Wärmelehre bei Basso kann hier übergangen werden; was für die Grundlage der Theorie wichtig war, ist im vorhergehenden aufgefährt.

Auf diese beiden Bücher über die Materie und die Mischung läfst Basso weiter folgen: 3 Bücher de forma, 1 Buch de natura et anima mundi, 1 Buch de motu, 1 Buch de actione et qmtuor primis qualüaiihus, 2 Bücher de coelo, 1 Buch de visu und 1 Buch meteorölogicorum. Aus diesen Büchern, welche in den Lehren der speziellen Physik mancherlei Irrtümliches enthalten, heben wir nur dasjenige hervor, was für die atomistische Theorie Bassos von Bedeutung ist.

Die peripatetische Lehre von den Formen wird durch Basso von Grund aus verworfen, an ihre SteUe tritt die unmittelbare Schöpfung der verschiedenen und unveränderlichen Elementar- substanzen durch Gott. Die Kraft, welche durch sich und als erste Ursache alles bewegt und lenkt, nennt man Natur. Die Natur selbst aber ist nichts andres als jene vollkommene Ord- nung, welche in der Schöpfung und Erhaltung der Dinge waltet. Daher ist Gott und Natur dasselbe.' Dieser allweise Geist, den wir Gott oder Natur nennen, bedient sich zur not- wendigen Bewegung aller Dinge gleichsam als nächsten imd allgemeinen Mittels einer äufserst feinen, körperlichen Substanz, eines Weltäthers (Spiritus). Wie Basso diesen Begriflf des Spiritus entwickelt, ist sowohl für den innerlichen Zusammen- hang, als das historische Auftreten des metaphysischen und physikalischen Bedürfnisses bezeichnend. Es handelt sich ihm um die Erklärung der Verdichtung und Verdünnung von Kör- pern. Unter Voraussetzung der unveränderlichen Elementar-

* A. a. 0. art. 4. N. 18-20. A. a. 0. art. 4 N. 22-24. ^ A. a. 0. p. 278. Liber de natura et anima mundi.

Basso: Der Äther der Stoiker. 475

teile scheint ihm eine solche ohne Annahme eines Vacuums nicht möglich. Will man kein Vacuum, das die Natur verabscheut, annehmen, so bleibt nur eines übrig: Irgend eine Substanz mufs zwischen die Atome treten, um die Luft-, Feuer-, Wasserteil- chen u. 8. w. voneinander zu trennen. Denn da die gröfsern Partikeln aus kleinen unveränderlichen zusammengesetzt sind, so können die gröfsern sich nicht ausdehnen, wenn nicht die kleinen durch eine Substanz auseinandergerückt werden. Was kann dies nun für eine Substanz sein? Wir finden eine solche in dem Äther der Stoiker, welcher sich durch die ganze Welt ausbreitet; er ist ein körperliches, äufserst feines Medium, ein Spiritus^ Dieser Äther durchdringt jedoch nicht die Stoff- teile der Körper selbst, sondern er befindet sich nur zwischen den Atomen. Er ist einfacher Natur, weder schwer noch leicht, indifferent gegen die Bewegung. Er ist nicht das Feuer; dieses besteht vielmehr aus eigenen materiellen, äufserst feinen und scharfen Korpuskeln (aculeis subtilissimis) und dem Spiritus.* Der Spiritus regt die Elementarteile zur Wirkung an ; in der Verbindung sind sie deshalb nicht aktiv, weil sie vom Äther nicht angeregt sind. Basso ist überzeugt, dafs auch Dbmoerit unter dem Vacuum nichts andres verstanden habe, als diesen Weltäther der Stoiker, und so, sagt Basso, ist uns denn plötzlich ein gewaltiges Licht aufgeblitzt und wir sehen, was jenes Band ist, wodurch diese aus so mannigfaltigen Dingen bestehende Welt dennoch zn einem einzigen Ganzen wird. Es ist eben dieser durch alles ergossene Spiritus, aller

^ A. a. 0. Lib. de Natura. Intentio III. De anima mundi. Art. I. Qnae sit illa substantia quae in rarefactione ignem subit et aerem et reliqua Corpora. p. 300. Ergo vacnnm est necessarium, aut sane aliqua alia substantia intercedit, qna ingrediente fiat ut partes vel aeris vel ignis vel aquae vel cujosve rei aliae ab aliis diducantur. Haec paucis. Dantur particulae qnae non extenduntnr rarefactione: ex bis particulis solis fiunt majores, quas proinde minoribus non dilatatis impossibile est crescere, nisi nova accedat substantia, vel detur vacuum. Habemus igitur illud luculentissime demon- Stratum atque evictum, ni concedamus vacuum inter partes a quo natura abhorret, admittendam esse substantiam aliquam corpoream, tenuissimam quidem, quae in aeris, verbi gratia, rarefactione, in partes aeris sese insinuans alias ab aliis diducat, ut plus loci occupent, tali substantia spatium quod relinquunt, adimplente, quod alioquin vacuum remaneret. Si quae sit illa substantia nosse laboras En tibi Stoici clare manifestarunt.

« A. a. 0. p. 304.

476 Basso: Bewegang.

Dinge bester und edelster Teil, durch welchen das All eins ist.^ Man wird kaum fehlgehen, wenn man annimmt, dafs derselbe Gedankengang, welchen Basso hier klar legt, auch Francis Bacons eigentümliche Stellung zur Atomistik beherrschte.

Mit Hilfe dieses Spiritus als Bindemittels der Atome und mit Hilfe der aus Elementaratomen zusammengesetzten Molekeln vollendet sich nun die atomistische Erklärung der Natur. Der allgemeine Äther, welcher mit den Elementen verbunden ist, teilt ihnen einen doppelten Trieb mit, einerseits das Bestreben nach Verbindung des Ahnlichen, andrerseits den Antrieb, den ihrer Natur zukommenden Baum und Ort zu bewahren und zu erreichen. Dadurch entstehen zwei Arten der Bewegung, die Anziehung des Ähnlichen (dnrch Zuneigung, nicht Gewalt) und die Vertreibung des Fremden. Diese Bewegungen finden so- wohl unter den gro&en Körpern als unter ihren kleinsten Teilchen statt.^ So wird z. B. das Fliefsen des Wassers erklärt durch ein Zusammenziehen und dadurch hervorgerufenes Aus- einanderschneUen der Teilchen in den Molekeln, so dafs die Fortbewegung ähnlich wie bei den Würmern und Schlangen geschieht.' Indem sich Wärme, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit, diese vier primären Qualitäten, lediglich auf diese Ortsbewegung der Teile zurückführen lassen, ist nunmehr ge- zeigt, dafs überhaupt alle Vorgänge auf einer solchen Orts- bewegung beruhen.*

Dies ist die Atomistik Bassos, das erste vollständig aus- gebüdete System der Korpuskularphüosophie insofern, als die Korpuskulartheorie Sennerts von 1619 an Ausführlichkeit und Konsequenz hinter der bassonischen zurückbleibt. Bevor jedoch über den Charakter derselben geurteilt wird, ist noch einiges nachzutragen über das Bestreben Bassos, die sogenannten ma- thematischen Einwände gegen die Atomistik zu widerlegen, ein Bestreben, das wir auch bei Bruno und Lübin wahrge- nommen haben.

Seine Kenntnis dieser Einwände hat Basso aus dem Kom- mentar des ToLETUS zur aristotelischen Physik geschöpft. Da dieselben schon wiederholt zu besprechen waren, beschränken

* A. a. 0. p. 306.

' A. a. 0. De actione et quatuor primis qiuiUtatibiM Über. p. 391.

^ A. a. 0. p. 384. * A. a. 0. p. 387.

Babbo: Die sogeouuiUn mathematMoben EinwäDde. 477

wir tms hier auf das wesentlichste aus Bassos Verteidigung. Er gibt dieselbe bei Erörterung der Frage nach der unendlichen Teilbarkeit des Kontinuums.' Basso betont zwar nicht die ünmögUchkeit der genauen mathematischen Halbierung und Koustroktion, aber er erklärt ihre üi^genauigkeit für gänzlich irrelevant. Die Halbierung der aus einer ungeraden Anzahl Atome bestehenden Linie betreffend ruft Babso aus: „In der That, was wäre das auch fOr eine Ungleichheit von Teilen, welche durch die HiuzufQgnng eines Unteilbaren zustande käme!" Ton einer Ungleichheit kann bei so geringem unter- schiede doch gar keine Itede sein! Vielmehr, wenn der Ma- thematiker seine Teile aach noch so genau gleich gemacht zu haben glaubt, werden sie immerhin um mehrere Taosende von Atomen voneinander differieren. Was will man also mit solchem Beweisgrunde?

Der Einwarf, dafs die Diagonale des Quadrats gleich der Seite sein müsse, wird ganz ähnlich wie bei Brdno durch ein Zurückgehen auf die Gestalt des Punktes als des räumlichen Minimums entkräftet. Wir können zum Begriff des Punktes nur kommen vom Begriff des Körpers ans; man darf sich da- her den Punkt nicht ohne eine gewisse Gestalt vorstellen, und die Punkte nicht als etwas, das bei der Berührung mit andern zusammenflösse und den Charakter des Punktes verlöre. Denken wir uns die Piuikte rund oder viereckig, so ergiebt sich bei ihrer Zusanunenordnung zur Figur, da£s sie entweder eine ge- rade oder schiefe Beihe bilden. Als zusammen- hängend darf man dann nur die gerade ange- ^ *"'"*"' ordneten betrachten, die in schiefer Beihe sind f "¥"'"'"' "* dovotarec et impertinentia, nicht kontinuierlich i ^?^ ? verbunden. So haben die Punkte der Diago- ^ ^ nale gar keinen Zusammenhang untereinander, '■ f ~*~¥~T sondern sind nur durch die rechts und links, ■■■■■■ oben und unten benachbarten verbunden ^'- *■

(s. Fig. 6). Es ist also ein Irrtum, wenn man glanbt, es lasse sich von jedem Punkt nach jedem andren eine Gerade ziehen ; vielmehr ist dies allein bei den sinnlich wahr- nehmbaren Linien möglich ; jene primäre (intelligibele) Linie

0, De motu über. InUntio VII. p. 369 ff.

478 Basso: Atome und Äther.

existiert lediglich zwischen kontinuierlichen Punkten. Nach der Natur der Atome kann es nur parallele und dazu genau senk- rechte gerade Linien geben. ^

Was endlich die von einem Mittelpunkte nach den Peri- pheriepunkten verschiedener konzentrischer Kreise gezogenen Radien anbetrifft, so ist zu bemerken, dafs diese Radien, von aufsen nach der Mitte zu verfolgt, zum Teil ineinanderfallen, ehe sie das Centrum erreichen. (S. Lubin S. 409).

Ob die letzten Teile der Materie kleine Körper, wie bei Dbmokrit, oder Flächen, wie bei Platon sind, wagt Basso nicht mit Sicherheit zu entscheiden; jedenfalls sind sie einerseits unteilbar, andrerseits verschiedener Natur, so dafs Basso sich nicht blofs mit Dbmokrit und Platon, sondern auch mit Empe- DOKLKS in Übereinstimmung glaubt.^

In diesen Bemühungen Bassos, die mathematische Ato- mistik zu verteidigen, liegt dieselbe Unklarheit, wie bei GiOR- DANO Bruno, an dessen Atomistik die bassonische, allerdings nicht in ihrem metaphysischen Ausgangspunkte, aber in ihrem physikalischen Resultate erinnert, nur dafs bei Basso eine un- gleich tiefere Kenntnis physikalischer Fragen und ein viel leb- hafteres Interesse für dieselben die ganze Entwickelung trägt. Dafür fallt bei ihm der Grund zur Übertragung des Atombe- griffs auf den Raum fort, welcher für Bruno in dem erkennt- nistheoretischen Zwang des Monadenbegriffs vorlag. Aber gemeinsam ist beiden, wie auch Bodin, die Vorstellimg, dafs die Atome quasi nur den grofsen Weitenstaub vorstellen, wel- chen die Bewegung des Äthers erst gestaltet, und dais dieser Äther zugleich als Vacuum wie als Weltseele, räumlich um- fassend und motorisch bildend zu denken ist. Wenn nun ein solcher Weltäther existiert, so existiert doch offenbar ein Kon- tinuum, und es bleibt deshalb nebensächlich und überflüssig, die mathematischen Figuren aus diskontinuierHchen Punkten zu konstruieren.

Die Konfundierung von Atomistik und Fluiditätstheorie, welche darin liegt, zwar die Partikeln der greifbaren Körper als unveränderlich, daneben aber einen kontinuierlichen, flüs- sigen Äther unter dem Namen A'er oder Spiritus anzunehmen,

* A. a. 0. p. 372—375. « A. a. 0. p. 383.

Basso: Subjektivität der Qualitäten. Korpuskulare Erklärungen. 479

haben fast alle Erneuerer der Korpuskulartheorie vor Descartes und Galilei gemeinsam; erst bei diesen tritt das Problem der Fluidität klar ins Bewufstsein. Unter ihren Vorgängern aber ist offenbar die Korpuskulartheorie und Physik Bassos die be- deutendste. Es scheint, dafs er der erste ist, welcher die Unterscheidung der Körper nach den Aggregatzuständen auf- stellte, und nächst Gorlabus ist er auch der erste, welcher die Verwandlung von "Wasser in Luft verwirft. Bei ihm zuerst tritt, viel entschiedener als bei Bacon, die mechanische Auf- fassung der Natur hervor, indem er die örtliche Bewegung als die alleinige Ursache der Körperveränderungen systematisch durchführt. Hierin liegt im Prinzip die Einsicht, dafs alle Qualitäten der subjektiven Empfindung angehören und die Er- kenntnis ihrer Veränderung auf ihrer Objektivierung als Be- wegung unveränderlicher Teilchen beruht. Bei Basso sind allerdings warm und kalt noch primäre Eigenschaften, aber auch sie setzen molekulare Bewegungsvorgänge voraus. Vor Galileis Saggiatore (1623) dürfte niemand so klar wie Basso die Forderung ausgesprochen haben, dafs die Qualitäten als Bewegungen zu objektivieren sind. Ihm gebührt auch das Verdienst, die molekulare Konstruktion der Materie eingehend verwertet zu haben. Seine Theorie der Verbindung trägt ganz den Charakter der modernen Chemie und es fehlt seinen Atomen nichts als die quantitative Bestimmung. Die Ursache für die Veränderung der Körpereigenschaften wird überaU darin ge- sucht, dafs die Molekeln, d. h. die Partikeln zweiter und dritter Ordnung, sich in andrer Weise aus den unveränderlichen primären Atomen zusammensetzen.

Diese Ansicht, auf welche wir heute die präzisen Erklä- rungen der chemischen Veränderungen stützen, dient Basso in einem noch viel allgemeineren Sinne zur Erklärung der Natur- vorgänge. Für ihn ist auch die Veränderimg der Wärme und die Verdunstung, überhaupt das physikalische Allgemeinver- halten der Körper ein chemischer Vorgang, d. h. zu erklären aus Veränderungen, welche nicht zwischen den Molekeln, son- dern in der Molekel selbst statt haben. Die Wärmeänderungen geschehen, indem warme von kalten Teilchen umhüllt werden oder aus dieser Hülle hervortreten; diese warmen und kalten Teilchen sind primäre Partikeln, und die Wärmelehre gründet

480 Basso: Theoretischer Fortschritt. Einflufs Bbunos.

sich somit nicht auf eine Bewegung der Molekehi unterein- ander, sondern der primären Partikeln innerhalb der sekun- dären.^ Ebenso ist die Verdunstung und sind die Aggregat- zustände nicht erklärt aus dem Verhalten der Molekeln zu ein- ander, sondern aus der eigentümlichen Konstitution der Mo- lekeln selbst. Es ist dies der interessante und wesentliche Unterschied zwischen diesen Anfangen der Korpuskulartheorie und ihrem ausgebildeten Zustande von heutzutage. Während wir Chemie und Physik dadurch scheiden, dafs es sich in der Chemie um Erklärung von Veränderungen der Körper durch die Bewegung und Gruppierung der Atome in den Molekeln, in der Physik um Erklärung von Veränderungen der Körper durch Bewegung und Gruppierung von Molekeln untereinander handelt, findet sich hier eine solche Trennung noch nicht. Die Prozesse der Wärme, der Verdunstung und Kondensation, Festigkeit und Flüssigkeit u. s. w. werden nach denselben Prin- zipien behandelt, wie Verbrennung und Verkalkung, Auflösung und Verbindung von Körpern.

Diese Theorie trägt also einen kinetischen Charakter, sie erklärt alles durch Bewegung der Atome innerhalb der Molekeln, und als bewegendes Agens dient die Wirksamkeit des intra- molekularen Weltäthers. Dafs sie die Kinetik nicht in voller Konsequenz durchfährt, sondern die strenge Folgerichtigkeit des Gedankengangs der antiken Atomistik noch durch den EklekticLsmus und die Nachwirkung der aristotelischen Formen- und Elementenlehre beeinträchtigt wird, kann nicht hindern anzuerkennen, welch wesentlichen Fortschritt hier die Physik von den substanziellen Formen zu den unveränderlichen Sub- stanzen der Korpuskeln gemacht hat. Die theoretischen Ent- deckungen Bassos und der Zeitpunkt, zu welchem er sie klar imd entschieden ausspricht, machen es erforderlich, ihn als einen der hervorragendsten Reformatoren in der Geschichte der allgemeinen Physik zu nennen.

Dafs Basso von Bruno beeinflufst ist, kann kaum einem Zweifel unterliegen. Zu deutlich spricht dafür die Identifizierung von Natur und Gott und die Einigung des Alls im Weltgeist, welche wir ebenso in Brunos Metaphysik finden. Dazu kommt

^ Vgl. hierzu über Hblmont S. 345, 350.

Bassos Bedeutung. 481

die mathematische Atomistik Bassos, in welcher er wie Bruno daran festhält, dafs die Eigenschaften der Figur dem MiTn'TrmTn in Bezug auf seine Gestalt ebenfalls zukommen. Auch er ab- strahiert nur von der Ghröfse und bewahrt im kleinsten den Charakter der Bestimmung der Ausdehnung. Nur ist an Stelle der Entwickelung der Monade der mechanische Verkehr der Korpuskeln getreten. Das Denkmittel der Variabilität hat seine Übertragung von der Substanz auf die Wechselwir- kung der Substanzen erhalten. Das ist der bedeu- tendste Schritt in der Entwickelung der Korpus- kulartheorie, welcher ohne Hilfe der mathema- tischen Mechanik geschehen konnte. Zwar kommt diese B.ealität der Bewegung, die Aktualität der Materie, nicht den Korpuskeln selbst, sondern dem Weltäther zu; insofern handelt es sich im Systeme Bassos um eine Übergangsform zwischen Bruno und Descartes. Aber eben diese Zwischen- stufe ist vom höchsten Interesse far die Entwickelung des Körperproblems und erweist sich als eine unvermeidliche Etappe in der kontinuierlichen Entwickelung des Denkens. Die Ver- änderung der Dinge tritt unter Erhaltung der Elementarsub- stanzen als eine mechanische Wirkung der Materie auf. Ein solcher Gedanke mufste vorangehen, bevor die völlige Ablösung der mechanischen Naturerklärung von der inneren, nach Ana- logie der Organismen gedachten Entwickelung der Atome er- folgen konnte. So steht Basso zwischen Bruno und Descartes, und dies nicht blofs dem Zusammenhange des Gedankens nach, sondern offenbar als Träger der historischen Tradition. Dafs Bruno bei Basso nicht erwähnt wird, erklärt sich zur Genüge aus der äufseren Rücksicht auf das 1603 ergangene Verbot der Bücher des verbrannten Ketzers. Bruno gehörte wohl, wie Spinoza, zu jenen „kompromittierenden" Philosophen, die man nicht gern nannte.^ Dafs Descartes Bassos Ansichten kannte, ist urkundlich sicher.*

^ Bezugnahmen auf Bbüno dürften im Anfang des 17. Jahrhunderts über- haupt sehr selten sein. Einen Versuch zur Widerlegung der Lehre Bbxtnos, dais Wasser schwerer sei als Erde, Yom scholastischen Standpunkte aus, fand ich in M. Fabiaki Hifpii, Physici in acad. Lips. prof. ord., Problemata physica et logica peripateUca etc. Wittenb. 1604. XXVll. p. 155 ff.

* S. Anm. 4 S. 464. Dbsoartes, Oeuvr. VI p. 146.

LaAwitz. 31

482 BiTAULT, ViLLOX, DE ClAVES.

2. Die Disputation des de Olaves und ihre Folgen.

Die Veröffentlicilungen von Sennert, Gorlabus, Bacon, Basso und d'Espagnet, welche in die Jahre 1619 1623 fallen, zeigen, dafs in dieser Zeit die Korpuskulartheorie bereits weite Verbreitung und zahlreiche Anhänger gefunden hatte. Dennoch durfte sie sich im Zentrum der damaligen Wissenschaft, in Paris, unter der Herrschaft des Aristotelismus noch nicht ans Tageslicht wagen. Der erste Versuch zu einer öflfentlichen Agitation für die Atomistik fand in Paris im Jahre 1624 statt, und derselbe sollte für die Entwickelung der Korpuskulartheorie nicht weniger verhängnisvolle Folgen haben, als der Inquisi- tionsprozefs Galileis für den Fortschritt der freien Forschung überhaupt.

Am 24. und 25. August 1624 beabsichtigten Jban Bitaült, Antoine Villon und Etibnnb de Claves (Stbphanus Clavius oder Clavesius) Thesen gegen Aristoteles und Paracelsüs öffentlich zu diskutieren.^ Bitaült sollte dieselben verteidigen, Villon, genannt le Soldat philosophe, wie es scheint, ein etwas unruhiger Kopf und in allen Sätteln sich gerecht fühlender Autodidakt, war zum Kichter und Leiter bestimmt, de Cla- ves, ein in der Chemie erfahrener Arzt, sollte präsidieren und die erforderlichen Experimente anstellen.

Von diesen Thesen heben wir in Bezug auf die atomistische Lehre folgendes hervor.* Die erste These bezeichnet die An- nahme einer materia prima als trüglich und unbegründet, die zweite behauptet dasselbe von den substanziellen Formen. Li

* Mercure fran^ois, T. X. Paris 1625. p. 504 ff. De Launot, De var. Arist. in acad, Paris. foH. Op. T. IV p. 220 ff. Sorkl, S. 501. KIstneb, Gesch. d. Math. IV S. 459. über die LebensyerbältniBse der drei Genannten konnte ich Näheres nicht ermitteln. Von db Claycs werden zwei Schriften angeführt: Des principes de Nature, Paris 1635, 8**, nnd Nouvdles lumüres philosophiques (?), die jedoch in keiner der mir zugänglichen Bibliotheken vorhanden sind. Jaoqües Gaffarbl, Curiositez itiouyes c. 5, n. 9 p. 100 nennt DE Claves „un des excellents Chimistes de notre temps", nach Batlb, Dict Art. „Chesne*^ 11 p. 156. In der mir vorliegenden lateinischen Übersetzung, Hamburg 1676, fehlt der Name de Claves (p. 99). Auch in Jungius' Briefwechsel wird DE Clave erwähnt.

* De Launoy, a. a. 0. Op. T. IV. p. 225 f.

BiTAüLT etc. för die Atomistik. 483

der vierten wird die von den Peripatetikem aufgestellte Zahl der Elemente bestritten; wenn man nämlich unter „Element" die ursprünglichen Bestandteile (partes integrantes) der sublu- narischen Welt verstehe, so würde diese aus weniger als aus vier Elementen gebildet: bezeichne man aber mit „Element" die Körper, aus denen die Verbindungen zusanunengesetzt und in welche sie aufgelöst werden, so enthielten die Mixta mehr als vier Elemente; beides stimme mit der Erfahrung, der Ver- nunft und der Zerlegung aller Verbindungen durchaus überein. Das Mixtum bestehe nämlich, wie die fünfte These angibt, aus fiinf einfachen Körpern oder Elementen (vgl. S. 339 f.). Terrae aqua, sal, sulfur (s. oleum), mercurius (s. spiritus addus), welche für die wahren und einzig natürlichen Prinzipien zu halten sind, so dafs sie weder wechselweise auseinander noch aus an- dern sich bilden, sondern alle Komposita werden aus ihnen selbst zusammengesetzt. Alle Verschiedenheit der Dinge ent- steht nur aus der quantitativen Mischung dieser fünf Prinzipien (Th. 7), und aus der Verschiedenheit der Mischung entsteht alle Wirkung und körperliche Bewegung, nicht aus jenem Agens und universalem Spiritus (d. h. Feuer), wie von gewisser Seite behauptet wird. Die nächsten Thesen beschäftigen sich weiter mit den Elementen, ihr Inhalt wurde im Wesentlichen schon früher (S. 340) mitgeteilt. Die vierzehnte These aber ist nun diejenige, welche für die Atomistik eintritt. Aus Un- wissenheit, heifst es da, oder vielmehr aus Bosheit sind zwei Sätze der Alten von Aristoteles ungebührlich verspottet wor- den, nämlich erstens, dafs alles in aUem enthalten sei, und zweitens, dafs alles aus Atomen oder Unteilbaren zusammen- gesetzt werde. Beides entspricht dem vernünftigen Begriffe der wahren Philosophie und der Zerlegung der Körper und wird daher mit aller Entschiedenheit und Unerschrockenheit von den Verfassern verteidigt und aufrecht erhalten.^ Diese These wurde von der theologischen Fakultät als falsa, temeraria et in fide erronea bezeichnet.

Die Disputation, welche im Palais der hochseligen Königin

' Launoy a. a. 0. Omnia esse in omnibus et omnia componi ex aiomis seu indivisibilibus. Qnod utnunque, quia raldone verae Philosophiae et corporum anatomiae conforme est, mordicus defendimos, et intrepidi sustinemos.

31*

484 Verbot der Disputation und der Atomistik.

Marguerite stattfinden sollte, kam nicht zustande. Es hatten sich bereits gegen tausend Personen ^ versammelt, als das Ver- bot eintraf. De Claves wurde verhaftet und Villon entzog sich demselben Schicksale durch die Flucht. Am 4. September erliefs das Parlament einen Straf befehl gegen die Veranstalter der Disputation, in welchem es unter andrem heilst: „Der Gerichtshof befiehlt, dafs, nachdem besagter de Claves ver- warnt worden, besagte Thesen in seiner Gegenwart zerrissen werden sollen und durch einen der Gerichtsdiener besagten Gerichtshofs den besagten de Claves, Villon und Bitault in ihren Wohnimgen der Befehl erteilt werde, binnen 24 Stunden diese Stadt Paris zu verlassen, mit dem Verbote, in die Städte und Plätze des diesseitigen Gerichtsbezirks zurückzukehren, auf irgend einer Universität desselben Philosophie zu lehren, und mit dem Verbote für jedermann, wer es auch sei, besagte in den besagten Thesen enthaltenen Be- hauptungen zu disputieren, zu veröffentlichen, zu verkaufen oder zu vertreiben, bei Strafe kör- perlicher Züchtigung, sei es, dafs sie in diesem König- reiche oder anderswo gedruckt seien. Verbotenwirdjeder- mann bei Todesstrafe irgend welche Grundsätze gegen die alten und approbierten Autoren festzuhalten oder zu lehren, oder andre Disputationen anzustellen, als durch die Doktoren besagter theologischer Fakultät gebilligt sind."

Jean Baptiste Morin, der für die angegriffenen Philosophen eintreten und de Claves und seine Freunde bekämpfen wollte, übersetzte die Thesen ins Französische imd veröffentlichte eine ebenso weitläufige als schwache Widerlegung derselben, welche in dem Vorwurfe, der bei den kirchlichen Gegnern der Ato- mistik immer wiederkehrt, gipfelte, dafs mit der Aufhebung der Lehre von den substanziellen Formen das Wunder der Eucharistie unmöglich würde.* Wir werden Morin als Gegner jedes wissenschaftlichen Fortschritts noch öfter zu nennen haben.

Die Aufwendung aller Machtmittel der Sorbonne und ihre

* Morin gibt nur an „über 300", nacb Bjlstnke a. a. 0.

* Eine ausführliche Darstellung dieser angeblichen Widerlegung s. Mercure frangois a. a. 0. p. 506 ff.

Wirkungen des Verbots der Atomistik. 485

übertriebenen Drolimigen* konnten freilicli die Überzeugung der Denker nicht beugen, aber wohl hinderten sie vorläufig die öffentliche Verteidigung und damit auch in gewisser Hinsicht die Ausbreitung und den rascheren Ausbau der antiperipate- tischen Lehrsätze und Systeme. Vermutlich hätte ohne diese offl«.ne Hemmung die &a,».nmg der Korp,»W.,plulo»pIn, um ein Vierteljahrhundert sich beschleunigt und wäre als eine unmittelbare Folge des Buches von Basso aufgetreten, unter dessen Einflüsse die Thesen von de Clavbs sichtlich stehen. So aber sahen die Anhänger der Korpuskulartheorie sich ge- nötigt, ihre Ansichten im stillen und nur im Gespräch mit den nächsten Freunden zu entwickeln. Bbrigard (1578 1663), dessen Neigungen entschieden auf dieser Seite lagen, verliefs 1628 Paris, um einem Bufe nach Pisa zu folgen, wo er aller- dings seine von Aristoteles abweichenden Ansichten noch sorgföltiger verbergen muiste und nur unter der Maske des Dialoges' aussprechen konnte. In demselben Jahre schied Dbsoabtbs, welcher sich 1623 nur vorübergehend, dann wieder 1626 in Paris aufhielt, aus dem Zentrum des wissenschaftlichen Lebens, um seine weitgehenden reformatorischen Pläne lang- sam reifen zu lassen. Auch Gassekdi imterdrückte auf den Bat seiner Freunde den gröfsten Teil seiner Bemerkungen gegen Aristoteles und lieis 1624 nur die beiden ersten Bücher seiner „paradoxen Übungen" erscheinen.'

Schon hier ist Qassendi vermutlich für die Atomistik ein- getreten, wenn uns auch gerade die for unsren Zweck in Be-

^ Es wäre interessant festzustellen, ob noch weitere Strafmandate auf Qrond jenes Verbots ergangen sind. Habsdörffeb, der Fortsetzer von SoHWENTBRS Math.^Jdlosophtschen Erquickstunden (IL Teil zuerst Nürnberg 1651), sagt daselbst (Nürnberg 1677, 11. T. Vorrede 430), es werde im Mercure frangois gelesen, dala zu Paris 1627 Einer des Landes verwiesen worden, weil er öffentlich verfocht, das Feuer sei kein Element. Es soll der gelehrte Gaffabbl gewesen sein. (Jacques Gaffarel 1601 1681.) Ich habe die Stelle im Mercure frangois nicht gefunden. Vielleicht liegt eine Verwechslung mit db Claves vor. Vgl. auch Schneider, Z. Gesch. d. Fhys. im 17. JMt, G.-Pr. Ellwangen, 1884/85 S. 12.

* Circuli Pisaniy Utini 1643. Näheres im folgenden Abschnitt, S. 488 ff.

^ Exercitationes paradoocicae adversus Aristoteleos. In quibus praecipue totius Peripateticae doctrinae fundamenta excutiantur. Opiniones vero aut Novae aut ex vetustioribus obsoletae stabiliuntur. 1. Ed. 1624.

486 Gassendi: Exercitationes paradoxicae.

tracht kommenden auf die Physik sich beziehenden Bücher nur in ganz kurzer Inhaltsangabe erhalten sind.^ Es waren dies das dritte, vierte und fünfte Buch. Im dritten wurde von Gassendi das Vacuum eingeführt „oder vielmehr in die Natur zurückgeführt". Im vierten wird u. a. die aristotelische Ele- mentenlehre bekämpft, sowohl was Zahl, Eigenschaften und Verwandelbarkeit der Elemente, als was die Zusammensetzung der Mixta betrifft; über die letzteren handelt auch das fünfte Buch. Ein Hinweis auf die physikalischen Prinzipien GASSBNr üis zu jener Zeit findet sich in Liber J, Exerc, F, c. 8, wo es heifst, Aristoteles beschuldige in De gen. et corr. J, 1 Empedokles ohne zureichenden Grund, dafs er gesagt habe, die Elemente entstünden nicht wechselweise auseinander, imd dafs er die Komposita in die Elemente aufgelöst wissen wollte. „Aristoteles glaubt nämlich, dafs hieraus der Übergang von Wasser in Erde folge. Aber warum?" In cap. 2, fahrt Gassendi fort, beur- teile er den Demokrit und Leükipp unzureichend, ebenso wie andre Philosophen, welche das Entstehen durch Ansammlung geschehen lassen, wenn er als Grund angibt, dafs das Konti- nuum nicht aus Unteilbaren zusammengesetzt werden könnte; denn während jene von der Unmöglichkeit physikalischer Tei- lung sprächen, streite Aristoteles über die mathematische. Und was in aller Welt soll jene Vierteilung der primären Qua- litäten ? ! Wie unpassend und unzureichend sind die Definitio- nen derselben ! Wie lächerlich, die Vierzahl der Elemente auf die vierfache Kombination der QuaUtäten zu gründen!" In dieser lebhaften und energischen Weise eifert Gassendi weiter, doch beruft er sich für eingehendere Begründung seiner Ein- würfe immer auf spätere Ausführungen, die uns leider nicht erhalten worden sind. Seinen Freunden sind dieselben offenbar bekannt gewesen und sie werden imter der Hand ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Die Veröffentlichung der systematischen Emeuenmg der Atomistik Epikürs durch Gassendi ist allerdings streng genommen erst vom Jahre 1649 zu datieren, obwohl schon lange vorher Gassendis Stellung in allen wissenschaft- lichen Kreisen bekannt und einflufsreich war. Der wichtigste

* Exerc. parad. Lib. I, Hagae com. 1646, Praefatio. Vgl. Gassendis Briefe vom April und Juni 1621, Op. T. VI, 2.

Stockung i. d. Entwickelung der Eorpuskulartheorie. 4g 7

Teil der Entwickelung der Korpuskulartlieorie verbirgt sich im zweiten Viertel des Jahrhunderts in dem privaten Verkehr der Gelehrten untereinander, als dessen Mittelpunkt wohl am besten Mebsenne (1588 1648) bezeichnet werden darf. Der Ursprung der Korpuskulartheorien öassendis und Descartes' aber ist am Ende des ersten Viertels des 17. Jahrhunderts zu suchen. Zwan- zig Jahre vergehen seit der Verweisung der disputationssüch- tigen Atomisten aus Paris, in denen in Frankreich kein Buch erscheint, welches korpuskulartheoretische Ansichten vortrüge, und doch sind es gerade diese zwanzig Jahre, während welcher in dem Gedankenkreise der bahnbrechenden Naturphilosophen die Überzeugung sich festigt, dafs die Physik nur auf korpus- kulare Grundlage mit Erfolg zu stützen sei. Was Basso in seinem 1621 erschienenen Buche als ein erster Vorkämpfer der Atomistik noch unvoUkommen vorträgt, tritt uns dann um die Mitte des Jahrhunderts, zu durchgearbeitetem Systeme gereift und gestützt auf den inzwischen mächtig erfolgten Fortschritt der experimentierenden Physik, mit umwälzender Gewalt ent- gegen. Die äufsere Unterdrückung hat die innere Reife der Korpuskularphilosophie bewirkt.

Neunter Abschnitt.

Die Erneuerung der Korpuskulartheorie in Italien.

1. Berigard.

Ungefähr zu derselben Zeit, in welcher Descartes und Gassendi mit ihren vollständigen und durchgreifenden Theorien der Materie an die ÖflFentlichkeit treten, finden wir in Italien Berigard und Magnenüs, ebenfalls zwei Franzosen von Geburt, als Vertreter einer ausführlichen Korpuskularphysik. Die von ihnen vorgetragenen korpuskulartheoretischen Lehren sind jedoch keineswegs konsequent durchgebildet und tragen einen so eklektischen Charakter, dafs sie höchstens mit den in Deutsch-

488 Bebigabd und MAGNEims.

land und Frankreich ein Vierteljahrhundert früher erscliienenen korpuskulartheoretisclien Schriften zu vergleichen und daher in jene vorbereitende Periode zu rechnen sind. Aus diesem Grunde finden sie an dieser Stelle ihre Darstellung, während Galilbi, dessen wissenschaftliche Wirksamkeit der Zeit nach jenen Korpuskulartheoretikem vorangeht, erst nach ihnen, an der Spitze derer genannt werden soll, die in voller Selbständigkeit die Epoche der modernen Physik eingeleitet haben und die Schöpfer der Naturwissenschaft geworden sind. Die Verspätung der Korpuskulartheorie in Italien erklärt sich wohl zum Teil äufserlich durch den Druck der Inquisition. Übrigens schlie&en sich die Versuche von Beriöard und Magksnus vollständig in den Eahmen jener physikalischen Hypothesen, deren Aufstel- lung und Durchbildung das Problem des Körpers nach der einen Seite hin seiner Lösung entgegenfährte. Der Genius eines Galilbi wirkte nach einer andern Seite hin zu gleichem Ziele.

Claude Gillbbmbt Herr von Berigard ist ein geborener Franzose (1678 zu Moulins, nach andern 1591), der, in Paris lebend und lehrend, dort von dem reformatorisch-wissenschaft- lichen Geiste, welcher die Jahre 1620 24 auszeichnet, durch- drungen wurde, aber infolge seiner Berufung nach Pisa (1628) und zwölf Jahre später^ nach Padua sich genötigt sah, seine von Abistoteles abweichenden Meinungen nur mit der gröfsten Vorsicht zu entwickeln. Er starb 1663 zu Padua.* Sein Haupt- werk ^ ist, sichtlich nach dem Vorbilde Galileis,* in Gesprächs- form geschrieben, wodurch er in weiser Vorsicht den Vorteil zu erreichen suchte, dafs er nicht selbst für die ausgesprochenen antiperipatetischen Lehrmeinungen verantwortlich gemacht wer-

* Circ, Pia. Dedicat. Vgl. Brücker, Hist crit pJtü. IV, p. 467.

^ Vgl. über Bbrigard: Tenkemakn X S. 175 ff.

' Circulus Pisanus Claüdd Berigardi Molinensie De veteri et PeripateUca PJnlosophia. ütini 1643. Es sind vier Werke, welche diesen Titel fuhren, unterschieden durch die Zusätze „in priores libros Phys. Arist.'' „in octavurn 1. Phys. Arist." „in Ar. libros de coelo", ütini 1647 (die Widmung ist jedoch ebenfalls vom 1. Januar 1643 datiert imd das Werk mit den übrigen als gleich- zeitig anzusehen) imd „in lib. de Ortu et interitu", ütini 1643.

^ Gegen den er früher herausgab : Dubitationes in äkdogos Cralikiei pro terrae immöbilitate, ütini 1632.

Bebioard: Circulus Pisanus. 489

den könne; so erweckte er den Schein, für Aristoteles zu sprechen, wo er thatsächlich gegen ihn sprach. Seine eigenen Ansichten sind leicht zu erkennen, denn er legt sie dem Ari- STÄUS (der das „Beste" erwählt hat) in den Mund, während die zweite Person des Dialogs, Charilaos (der „der Menge zu Danke" redet), den Aristoteles verteidigt. Was Aristäus gegen Aristoteles vorführt, sollen nicht neue Meinungen sein, sondern nur eine Erneuerung der altem Naturphilosophie gegenüber der aristotelischen; er will nur zeigen „was die Alten sagen könnten, um sich von den von Aristoteles erhobenen Vorwürfen zu reinigen" und habe zu diesem Zwecke mehr aus Akaximander und Anaxagoras entnommen als aus andern.^

Es soll untersucht werden, ob die Meinung der Alten, welche alles für körperlich erklärten imd den ersten Beweger vom Universum selbst nicht unterschieden, nach Beseitigung etwaiger Irrtümer zur Naturerklärung tauglich sei. Denn wenn auch Aristoteles in der Lehre von der Seele und von Gott ihnen sicherlich überlegen sei, so könne doch mit Hinzunahme der Lehre des Anaxagoras vom Geiste ein mit dem aristote- lischen konkurrierendes System geschaffen werden. Es mögen also die Philosophen zusehen, ob als Prinzipien der Natur- körper dienen können feine Körperchen, von Gott geschaffen, durch deren Zusammenhäufxmg und Trennung allein alles Ent- stehen und Vergehen zustande kommt, wie auch die meisten der heiligen Väter gemeint haben, und ob jener Einklang und Widerstreit von Körpern, ohne der heiligen Lehre zu wider- sprechen, vorzuziehen sei der materia prima des Aristoteles.*

Die unter dem Namen Circulus Pisanus zusammengefafsten Gespräche richten sich gegen die einzelnen physikalischen Schriften des Aristoteles; unter ihnen enthält der Circulus Pisanus in Äristotelis libros de Ortu et interitu hauptsächlich die auf die Korpuskulartheorie bezüglichen Ausführungen. Wie schon gesagt, kommt es infolge der Gesprächsform nirgends zu einer definitiven Entscheidung, aber die Gegnerschaft gegen

* Circ. Pia. Prooemium p. 2.

' A. a. 0. p. 3. . . . an principia rerum naturaliuin possint esse corpus- cula tenuia a Deo creata, quorum sola congregatione et secretione omninm ortus et obitus perficiatur etc.

490 Brrioard: Entstehen und Vergeben.

Aristoteles und die Anhängerscliaft an eine korpuskulare Theorie tritt unverkennbar als Standpunkt Berigards hervor. Seine Meinung läfst sich dahin skizzieren, dafs er die Annahme des Anaxagoras von unendlich vielen qualitativ verschiedenen Substanzen als Grundlage der Körperwelt billigt und sich einer atomistischen Fassung dieser Grundsubstanzen zuneigt.

Die Lehre des Aristoteles von den Formen, welche ver- gänghch sind, ,wird verworfen. Viel weniger absurd ist es nach der Meinung der Alten, Zeit und Bewegung nur für das Denken von den Dingen zu unterscheiden und kein andres Geschehen zuzugeben als durch Ansammlung und Abtrennung von körperlichen Substanzen; alles ist ewig, nichts im eigent- Uchen Sinne entstanden oder vergangen, sondern nur in der örtlichen Lage verändert.^ Alle Veränderungen beruhen ledig- Hch auf räumhcher Bewegung. Beim Entstehen bewegt sich diejenige Substanz entweder im hinzutretenden oder im ent- gegengesetzten Sinne, welche das Wesen des betreffenden Körpers ausmacht;^ Entstehen (generatio) findet statt, wenn durch das Zusammentreten der einfachen Substanzen die Eigen- schaften eines Naturkörpers der Spezies nach bestimmt wer- den; das Gegenteil heifst Vergehen (corruptio); Änderung (alteratio) dagegen findet dann statt, wenn durch die Bewegung der Substanzen die Eigenschaften des Körpers nicht so stark verändert werden, dafs die Spezies eine andre wird.' Die gegen- seitige Einwirkung der Substanzen wird vermittelt durch die Po Jen. Alle Körper enthalten Poren, wenn sie auch bei vielen, wie z. B. beim Golde, nicht sichtbar sind. Li diese Poren (meatus) dringen die feineren Substanzen ein mag man dieselben nun quulitates corporatae oder sonstwie nennen und verweilen daselbst je nach Gunst und Zahl der ihnen zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten, bis sie entweder von andern Eindringlingen vertrieben oder durch eigene Kraft vorwärtsbewegt werden. Jene Poren sind nämlich niemals leer, wie Demokrit meinte, sondern immer angefüllt mit einem feinen Körper.*

* Circ, Pw. in priores libr. Phys. Ärist Circ. VII. De infinito p. 47. ' Circ, Pia. in Ar. lib. de Ortu et interitu. Circ. 11 p. 4. Generatio est motus Bubstantiae essentialia advenientis vel abeuntis. « A. a. 0. p. 6. * A. a. 0. p. 17.

Bbbigabd: Die einfachen Substanzen. Quantität. 491

Die Bewegung der Substanzen liegt in ihnen selbst. Die Substanzen, welche unsre Welt bilden, sind in der verschie- densten Weise zusammengesetzt aus einfachen Substanzen. Von den einfachen Substanzen unterscheidet Berigard noch als Prinzipien der einfachen Substanzen unteilbare Punkte als letzte Elemente der Körperwelt. Einfache Substanzen gibt es unendlich viele. Denn jede Eigenschaft repräsentiert zugleich eine einfache Substanz. Die bekannten hauptsächlichen vier Qualitäten reichen aber nicht zur Erklärung der Welt aus, sondern man mufs bei der unendlichen Mannigfaltigkeit der- selben auch eine unendliche Verschiedenheit der Eigenschaften und daher der Grundstoffe annehmen.^ Ihre Bewegung haben die einfachen Substanzen in sich selbst und durch sich selbst;^ sie sind die Träger des gesamten Weltprozesses, indem sie sich vereinigen und wieder trennen,^ wobei sie in sehr kleine Kor- puskeln sich teilen, die einerseits zu festen Verbindungen zu- sammenwachsen, andrerseits dabei Baum für nicht zusammen- gewachsene, also sich bewegende Körperchen (eben ihre Poren) lassen.^

Jede Substanz besitzt Quantität, die mit ihr untrennbar verbunden ist. Nur die abstrahierende Thätigkeit des Ver- standes unterscheidet diese beiden Begriffe, in Wirklichkeit gibt es keine solche Scheidung. Wenn z. B. zwei Körper mit ihren Begrenzungsflächen, welche doch Quanta sind, anein- andergelegt werden, so gehen diese Flächen dabei nicht ver- loren, sondern bleiben als solche im Innern des neuen Körpers bestehen. Ebenso mufs man aber auch annehmen, dafs bei der Teilung eines Körpers die neu auftretenden Oberflächen nicht neu entstehende und geschafl*ene Quantitäten sind, sondern vor der Teilung im Körper schon vorhanden waren. Darum mufs man sagen, dafs die Teile adu, nicht potentia, im ganzen sind.* Ob nun aber die Teile des einheitlichen, obwohl aus unend- lich vielen einfachen Substanzen zusammengesetzten Univer- sums stetig zusammenhängen oder nur einander berühren

* A. a. 0. Circ. XX. p. 125.

* A. a. 0. Circ. XXV. p. 149. Omnium virtus sunt ipsae subetantiae simplices se ipsis mobiles et moventes.

« A. a. 0. p. 148. * A. a. 0. p. 152. » A. a. 0. Circ. V. p. 44.

492 Berigabd: Unteilbare Punkte.

(continuae oder contigaae), kommt schliefslicli auf die Fassung dieses Namens an; man wird am besten die gleichartigen (ho- mogenen, similares) Substanzen als kontinuierliche, die un- gleichartigen (heterogenen, dissimilares) als kontiguierliche be- zeichnen.^

Das Kontinuum selbst hat man anzusehen als bestehend aus unendlich vielen unteilbaren Punkten.* Ob man diese unteilbaren Punkte selbst als Substanzen bezeichnen darf, macht im Gnmde wenig aus, wenn man nur weifs, dafs sie keinem Entstehen und Vergehen unterworfen sind. Berigard nennt sie daher das Prinzip der Substanzen, die wir Körper nennen.^ Da Berigard somit das Kontinuum aus unteilbaren zusammensetzt, mufs er die Atomistik gegen die sogenannten mathematischen Beweise verteidigen. Er fährt an, dafs die Punkte im Kontinuum keineswegs in bestimmter Weise ge- ordnet seien, also etwa am Centrum dichter ständen, wie an der Oberfläche, u. dgl., sondern dafs der Körper eben aus unendlich vielen Punkten bestände, dafs also an jeder Stelle des Raumes Punkte vorhanden seien und Linien gezogen werden könnten, womit jene Einwände oflFenbar fortfallen.* Was die Bewegung anbetrifiPb, so wird dieselbe durch die un- endliche Zahl der Punkte nicht unmöglich, denn dieselben brauchen nicht alle als einzelne Teilungen durch Be- zeichnung der einzelnen Punkte ausgesondert zu werden, son- dern sie werden nur im Zusammenhange durchlaufen.^

Es läist sich jedoch nicht leugnen, dafs bei dieser Auffassung des Kontinuums erhebliche Bedenken in Erwägung kommen. Diese Schwierigkeiten würden fortfaUen, wenn man die Ansicht Demokrits von physischen, ausgedehnten Atomen und leeren Bäumen zwischen ihnen teilen könnte. Aber zur Annahme eines leeren Baumes kann sich Berigard nicht entschliefsen. Man merkt ihm jedoch dabei sein Bedauern an, und seine Besprechung der Atomistik ist eigentlich eine Verteidigung derselben. Wenn er diese Lehre nicht von Anfang an vertreten habe, sagt Aristäüs, so sei das geschehen, weil er erst eine

* A. a. 0. p. 49. * A. a. 0. Circ. VII p. 63. ' A. a. 0. p. 65.

* A. a. 0. p. 59.

* Circ, Pis. in priores Ubr. Phys. Arist VI, p. 45.

Bebigard: (Gestalt d. Atome. Demokrit und Akaxaoobas. 493

dem Aristoteles näher stehende Ansicht habe vorbringen wollen. „Aber," läfst Berigard den Vertreter seiner Über- zeugung fortfahren, „wenn durch eine Erfahrung das Vacuum in ausreichender Weise nachgewiesen wäre (denn was ich bisher gesehen habe, halte ich noch nicht für wirkungsvoll genug), dann hätte ich die Atome des Demokrit der prima materia des Aristoteles gegenübergestellt. Zwar berücksichtige ich nicht, was Demokrit, Leueipp, Mnesitheüs, Epiourüs, Aselepiades von Bithynien, Hbrabilidbs Ponticüs und Lucretius von denselben gemeint haben, sondern was man von ihnen passend meinen soll, und damit diese andre Hypothese von der vorangehenden weniger abweiche, nehme ich an unendlich viele Arten von einander der ganzen Substanz nach verschiedenen Atomen, und in jeder Spezies wieder unendlich viele Atome."^

Alle Atome sollen Kugelgestalt besitzen, jedoch von ver- schiedener Gröfse sein; die Kugel ist nämlich die vollkommenste aller Figuren und für ewige Körper angemessener als eine eckige Gestalt. Die Yerschiedenartigkeit der Atomgestalten braucht keine so grofse zu sein, wenn man mit Anaxagoras die Arten der Atome als verschiedene ansieht. Da sich diese Atome ihrer Kugelgestalt wegen nur in Punkten berühren, so erfordern sie ein Vacuum zwischen sich. Berigard nimmt also nicht an, dafs die Atome sich frei im Leeren bewegen, sondern sie hängen unmittelbar aneinander.

unter dieser Annahme fallt es Demokrit leichter als Anaxagoras, die Teilung des Kontinuums zu erklären, weil nun schon feste und gänzHch unteübare Korpuskeln vorhanden sind. Allerdings bestehen auch diese Atome aus Punkten, aber aus solchen, die durch keine Gewalt trennbar sind. Dafs Gott diese Punkte actu einzeln zu sehen vermag, ist gerade ein Beweis, dafs sie unteUbar und getrennt adu existieren, sonst sähe er sie nicht alle einzeln.^ Die unendlich vielen Korpuskeln ein imd derselben Natur sind nur ihrer Zahl nach unterschieden und es bedarf keines andren Unterscheidungs- grundes, als zu sagen, dafs eben die eine Partikel nicht die andre ist. Der Zusammenhang der einzelnen aber besteht darin,

^ A. a. 0. Circ. Vm p. 61. « A. a. 0. p. 63.

494 Berigard: Wirken der Atome.

dafs niemals irgend eine von ihnen, lieifse sie Punkt oder Atom, von allen andern getrennt existiert.^

Wirkungsfälligkeit und Wirken sind an die Substanz ge- bunden und nur im abstrakten Denken von ihr scheidbar. Bewegt werden die Atome sowohl von andren als von sich selbst. EäumUche Bewegung ist die einzige Veränderung, welche es gibt.* Dafs ein atomistisch konstituierter Körper, wie Aristoteles und Galen einwerfen, nicht Einwirkungen erleiden könne, ist unrichtig. Er ist in der That Ver- änderungen unterworfen durch Zugang und Abgang von Atomen, sowie durch verschiedene Anordnung derselben.' Auch die Beweisgründe, mit welchen Cicero, Sbneca, Galen und andre zeigen, dafs durch Atome keine Wirkung mögUch sei, keine andere Mistio als durch Anhäufung, keine Funktion der Seele, auch diese Einwände sind zu widerlegen.* Wenn z. B. Seneoa die atomistische Zusammensetzung der Luft bestreitet, weil dieselbe alsdann nicht wirken könne ,^ so sei dem zu entgegnen, dafs der Haufen der Atome, wenngleich leicht zerstreubar und ausweichend, so doch nicht wie Sandkörner ohne jede natürliche Adhäsion sei, sondern Zusammenhang und Verknüpfung besitze ; ein Bindemittel braucht zu diesem Zwecke nicht angenommen zu werden.

Soviel über die theoretischen Ansichten Berigards, insoweit sie zur Korpuskularphüosophie gehören. Einige seiner physi- kaiischen Erklärungen mögen noch nachgetragen werden. Ein Hauptprüfstein seiner Theorie mufs es sein, ob es ihm gelingt, die Verdichtung und Verdünnung der Körper ohne Hilfe eines Vacuums durch blofse örtliche Bewegung abzuleiten. Bei den zusammengesetzten Körpern wird die Verdichtung resp. Verdünnung durch Eintreten oder Austreten feinerer (oder auch gröberer) andrer Substanzen erklärt. Zu den zusammen- gesetzten Körpern ist auch die Luft zu zählen; sie ist kein homogener Körper, sondern gewissermafsen eine Mischung aller möghchen Substanzen (navaneqfiCa) ^ von denen eine immer

* A. a. 0, p. 64. « A. a. 0. p. 65. » A. a. 0. p. 66.

* A. a. 0. Circ, IX p. 67 f.

^ Seneca sagt Natur. Quaest U c. 6, dafs die Luft, wenn sie aus zu- sammenhanglosen Atomen bestände, keine Spannung und keinen Widerstand bieten könne. S. S. "221.

Bebioabd: Verdichtung und Verdünnung. 495

feiner, fast bis ins Unendliche feiner als die andre ist. Diese höchst feinen Partikeln sind jedoch in einem bestimmten Ver- hältnisse zu einander gemischt. Alle pneumatischen Erschei- nungen lassen sich nun erklären, wenn man annimmt, dafs, nach einer Störung dieses natürlichen Mischungsverhältnisses durch äufsere Veranlassung, bei eintretender Gelegenheit sich dasselbe sofort durch Herbeiströmen der geeigneten Partikelchen wiederherstellt. Bbrigard gibt auf diese "Weise eine ganze Reihe von Erklärungen im Gebiete der Pneumatik. Die Elastizität der Luft, infolge deren sie sich nach Aufhebung des Druckes wieder ausdehnt, wird z. B. daraus erklärt, dafs die feineren Teilchen durch den Druck aus dem Gefäfse heraus- geprefst werden nur diese werden von den Poren durch- gelassen — und nun nach Aufhebung des Druckes wieder eintreten^ um das natürliche Mischungsverhältnis aufrecht zu erhalten. Auch die Wirkung des Schiefspulvers, deren Erklärung auf aristotelischem Standpunkte besondere Schwierigkeiten macht, weü sich nicht einsehen läfst, woher der Raum zur Entzündung des Feuers kommen soll, lasse sich leicht verstehen, wenn man annimmt, dafs das Feuer durch den Funken nur veranlafst wird, aus den Poren, in denen es verborgen ist, hervorzubrechen. Bei diesen Erklärungen bedarf man weder der unklaren aristotelischen Begriffe der Verdichtung und Verdünnung, noch des Vacuums der Atomisten.^ Ein Vacuum nämhch giebt es, wie schon gesagt, nicht, aber auch keinen horror vacui, eben weil ein Vacuum unter keinen Umständen entstehen kann. Die Welt ist kontinuierlich mit Substanzen angefüllt, die einfachen Grundsubstanzen aber lassen weder Ausdehnung noch Zusammenziehung zu, also kann Bewegung nur dadurch stattfinden, dafs die Substanzen ihre Ortslage ver- tauschen, d. h. dafs nichts bewegt wird, an dessen Stelle nicht sofort etwas andres träte. Die Experimente der Neueren beweisen vorläufig das Vacuum nicht, da durch die Poren des Glases sehr feine Substanzen, wie z. B. das Licht, eindringen.* Die Verdichtung und Verdünnung der einfachen Sub- stanzen erklären die Alten durch eine geringere oder

^ Circ. Pis. i. l. de ortu et int Circ. V. p. 31 f. ' Circ. Pis. i. pr. libr. phys. Ar. X. p. 60.

496 Bebioabd: Schwere. Licht. Flüssigkeit.

gröfsereBeweglichkeit ihrer Teile, welche duf ch Nachbar- schaft oder auch Beimischung andrer hervorgerufen wird.^ Berigard fuhrt dieselbe an andrer Stelle auf die Verschiedenheit und Mischung der unteilbaren Punkte, welche das Prinzip der einfachen Substanzen sind, zurück.«

Die Schwere wird von Berioabd als eine gegenseitige Einwirkung der Körper erkannt; alles G-e wicht entsteht durch den Ausflufs der Korpuskeln, welcher sowohl von der Erde ausgeht als von den schweren Körpern, welche nach derselben streben.' Schwere (gravitas) selbst ist nur ein Name für eine Ursache, aber keine Erklärung. Die Sichtung der Schwere geht zur Erde, nicht zum Zentrum der Welt; das Streben der Körper ist ein gegenseitiges wie bei Magnet und Eisen; wenn es zwei Erden gäbe, würden beide gegeneinander gravitieren.* In Be- zug auf den Fall der Körper steht Berigard nicht nur auf dem Standpunkte Galileis, sondern nimmt sogar für die Fall- versuche auf der schiefen Ebene die Priorität vor Galilei und ToRRiCELLi für sich in Anspruch.^ Auch in Bezug auf die Er- klärung der Sonnenflecke stimmt er Galilei bei und ebenso greift er die aristotelische Lehre von der Unveränderlichkeit des Himmels an ; den Himmel erklärt er dabei für flüssig, die Sterne sind feste Körper, welche sich in dem flüssigen Himmel bewegen.* Die Vorschläge, welche Berigard zur Messung der Lichtgeschwindigkeit macht,' erinnern ebenfalls an die von Galilei. Das Licht besteht nach Berigard aus Korpuskeln, die um so viel kleiner sind als alle übrigen, je leichter sie alles ohne Anstofs durchdringen können. Flüssig ist ein Körper, wenn seine Urbestandteile {principia^ die unteilbaren Punkte) nicht fest aneinander hängen, so dals die einzelnen Teilchen sich leicht gegenseitig ersetzen können. Alle einfachen Sub-

^ Circ. Pis. De ortu et int V. p. 38. « A. a. 0. Vll. p. 55.

* Circ. Pis. i, prior, libr. phys. IX, p. 61.

* Circ. Pis. in l. de coelo. VI p. 84 ff. VII p. 86 £

^ A. a. p. 97: . . . alia principia, ex quibus a me demonstratum est aliquid simile viginti annis antequam illi de ea re quidquam vulgassent. Diese Reclamation hat aber nichts za sagen, da die Galileischen Entdeckungen nicht nur 20, sondern über 30 Jahre älter sind als ihre 1638 erfolgte Veröffentlichung.

« A. a. 0. p. 55 ff.

^ Circ. Pis. De ortu et int. IX p. 68.

Bebioard: Qualitative Atomistik. 497

stanzen sind flüssig.^ Natürlich sind die Bestandteile substan- zieU in den Verbindungen, und zwar gibt es im aUgemeinen in jedem Körper unzählige Grundsubstanzen, wie dies aus der bereits erörterten Annahme Berigards von unendlich vielen körperlichen Qualitäten folgt.

Man kann Berigards Theorie der Körper als eine quali- tativeAtomistik bezeichnen. Die korpuskulare Auffassung der Materie ist klar erkennbar, aber die einzelnen Teilchen sind nicht eigenschaftslos, so dafs sie zur Erklärung der Kör- pereigenschaften selbst dienen sollen, sondern sie besitzen ihrer- seits schon Qualität. Die komplizierten Eigenschaften der Körper werden aufgelöst in zahllose einfache Grundeigenschaften, und jede solche Grundeigenschaft wird hypostasiert als körperliche Substanz. Die Veränderungen der Körper kommen durch Be- wegung zustande, aber nicht durch Bewegung nur der Gestalt nach unterschiedener Atome, sondern der Qualität nach ver- schiedener Grundsubstanzen. Obgleich also die Materie als konti- nuierlich gedacht isty da ein Vacuum nicht existiert, so unter- scheidet sich diese Ansicht doch gänzlich von der aristotelischen Physik, indem sie die Veränderung der Qualitäten ver- wirft; die Grundsubstanzen haben unveränderliche Qualitäten und nur ihre Zusammensetzung bildet die Eigenschaften der sinnlichen Welt. Diese Lehre hat offenbar einen Vorzug; sie gestattet die Erklärung der sinnlichen Qualitäten, ohne jenes Sprunges zu bedürfen, der von dem blofsen Stofs der Atome zur sinnlichen Eigenschaft der Farbe, des Tones, der Tempe- ratur etc. führt ; die umgebende Welt ist in ihrem Grunde ein Chaos unendlich vieler solcher einzelner Eigenschaften, deren Kombination den Inhalt unsres BewuTstseins ausmacht. Man darf vielleicht annehmen, dafs Berigards System die Ausführung eines Gedankens auf konsequenterer atomistischer Grundlage ist, wie er Francis Bacon ähnlich vorschweben mochte, als dieser die Dinge als einen Schematismus aufzufassen suchte, der im Grunde durch QuaUtäten zusammenhing. Aber jener Vorzug verschwindet, sobald man zu der Einsicht fortschreitet, dafs nur die Zurückführung auf Quantitäten eine objektive Natur- wissenschaft zu begründen vermag. Denn wie wiU man eine

^ A. a. 0. XVm. p. 115 ff.

La(^witi. 32

498 Unbrauchbarkeit der qualitativen AtomiBtik.

Qualität als eine identische wiedererkennen, wie will man ihre Stärke und ihre Zusammensetzung und Wechselwirkung ge- setzlich bestimmen, es sei denn durch die Gesetze der Gröfse, welche die Mathematik entdeckt? Es muTs also nicht blofs das Qualitative als eine intensive Gröfse erkannt, sondern auch das Mittel gefunden werden, die intensive Gröfse, welche das Beale der Empfindung ausmacht, mit der extensiven in Be- ziehung zu setzen. Und die einzige Möglichkeit dazu ist die Erfassung jener Realität als die gesetzmäfsige Tendenz zur extensiven Entwickelung, d. h. ihre Darstellung als Bewegungs- prinzip, als Bedingung des Vollzugs einer mathematisch defi- nierbaren Bewegung. Dies ist der Grund, weshalb eine quaU- tative Atomistik stets unfruchtbar bleiben mufs. Erst das Denkmittel der Variabilität vermag die Qualität als Quantität begrifflich zu bestimmen. Darum ist der Bückgang Beriqards auf die qualitativ verschiedenen Grundsubstanzen des Anaxa- GORAS nur einer jener blind endigenden Nebenwege, welche bei dem Suchen nach der zum Ziele der Naturwissenschaft führen- den Strafse eingeschlagen, aber als aussichtslos erkannt werden müssen.

Im übrigen steht Berigards Lehre durch seine Auffassung des Kontinuums als eines aus substanziellen Punkten zusammen- gesetzten sowohl mit Bruno und Basso, als auch mit Galileis punktueller Atomistik im Zusammenhange. So viel erkennt er richtig, dafs die aktuelle Unendlichkeit der Punkte nichts andres bedeutet als die Möglichkeit, an jeder Stelle des Konti- nuums einen Punkt auszuscheiden, ohne dadurch den Zusammen- hang des Kontinuums aufzuheben. Dies ist einer der notwen- digen Grundgedanken des VariabüitätbegrifFs ; doch darf man denselben bei Berigard nicht mehr als von Galilei unabhängig betrachten.

2. Magnenns.

Drei Jahre nach dem besprochenen Werke Berigards er- scheint ein Buch, welches schon durch seinen Titel Democrüus reviviscens den Anspruch erhebt, die Atomistik zu erneuern.*

* Democritus reviviscens: Sive Vita et Fhüosophia Democriti. Authore JoAMNO Chrtsostomo Maoneno, Bargundo Luxoviense Patritio, Philosopho^

Magkekub: Democritus reviviscena, 499

ist verfafst von Johann Chrysostobiüs Magnbnus, der sioli selbst auf dem Titel der Schrifb als Philosophen, Arzt und Professor der Medizin an der Universität Pavia bezeichnet. Er ist, wie Bebigard, ebenfalls ein geborener Franzose, sein Q-eburtsort ist Luxueil in der Grafschafb Burgund (jetzt Depart. Haute Saöne), seine ersten Studien machte er zu Döle und kam dann nach Italien. Näheres ist von seinem Leben nicht bekannt; es existiert von ihm ein Tractaius de Manna und ein Tractatus de Tahaco} Der „neue Demokrit" ist seine philoso- phische Erstlingsschrift und scheint seine einzige philosophische Schrifb geblieben zu sein.

Wenn die alte Philosophie sich den Altersschmutz abwüsche, meint Magnenüs, überstrahlte sie die neue, und nur die Lehre erscheine wahrhaft würdig, welche vom Munde der älteren Weisheit selbst hervorgehe. Die Atomenlehre Demokrits habe bisher noch niemand erneuert, denn Sennert, der zwar in einem Kapitel über die Atome handle, habe keineswegs die Existenz von Atomen, sondern von physikalischen Minimen dargethan.

In einer längeren Vorrede (Prolegomena) verteidigt er Leben, Charakter und Geistesschärfe des Demokrit und zählt u. a. siebzehn Schriftsteller auf, welche desselben ehrenvoll ge- dacht haben. Alsdann gibt er eine kurze Übersicht der Lehren des Demokrit über die Atome, oder vielmehr dessen, was Mag- nenüs für demokritische Atomistik hält; als Quellen dienen ihm namentlich Aristoteles, Galen, Lukrez und Diogenes Labrtiüs.* Es folgt ein Vorwort an den Leser, welches einige

Medico, et in Umyersitate Ticinensi Begio Medicinae Professore. Tioini 1646. Ich citiere nachEdtYio vlUma, Hagae ComitU, Ex Typographia Adbi^ni Vlacq. 1658. 12. Brucksb {Hist, phü. IV p. 504) gibt noch eine 2. Ausg. Lugd. Bat. 1648 an ; Wbisb in Biogr. univ. noch eine 1688. Gewidmet ist das Buch dem Senat von Mailand am 30. April 1646.

* Vgl. Biogr. umo. T. XXVI. p. 135. Im Demoer. reviv. fuhrt er noch als Schrift von sich ein Theorica miUiaris an (p. 136), welche ich sonst nicht angegeben finde. Über „Irrtümer bei Magkekub" s. Menaou m Diog. Laertium admonitiones. Amstel. 1692. UX s. 37.

' Dem, rev, p. 34—44. Aus Abistoteles fuhrt Maokekus folgende Stellen an: Phys. I, 6; III, 27, 29. Vm, 10. De gen. arumal. 11, 4. De codo IV, 42, 43. De gen. et corr. I, 1. 56, 57. De anima I, 20, 30, 44, 68, 71, 73. De resp. c. 6. De sensu et sensit, c. 4. Da ich Magkbküs' AufißeMsung aus-

32*

500 Magkbküs: Historisches. Prittia materia.

Bemerkungen über den Zustand der zeitgenössisclien Natur- philosopliie enthält. Sebastian Basso wird als Neuerer und Gegner des Aristoteles erwähnt, Paracelsus, Campanella. Flüdd, Groll und die Chemiker werden mit wenig Achtung genannt, dagegen Tycho, Kepler, Galilei, Scheiner gepriesen als die wenigen, welche unbefangen nach Wahrheit streben und den Begründern der Wissenschaften zuzuzählen sind, weil sie auf Grund der Erfahrung philosophieren und den Anteil der Mathematik an der Philosophie klarlegen. Descartes oder Gassendi finden sich nirgends erwähnt. Sich selbst rechnet Magnenüs zu den Erneuerern älterer Ansichten ; wie Coppbrniküs den Aristarch, Marsilius Ficinus den Platon, so wolle er den DbmOerit zu Ehren bringen. Doch geschehe dies zunächst nur im historischen Interesse; vortragen vom Katheder aus werde er stets nur den Aristoteles, welcher fiir den Unter- richt der Jugend am besten sich eigne.

Das Buch selbst ist nach „mathematischer Methode" ge- schrieben, mit Grundsätzen, Postulaten, Definitionen, Lehrsätzen und Beweisen. Wir geben eine Übersicht der magnenischen Lehren im Zusammenhange.

Die aristotelischen Begriffe von den substanziellen Formen und der ursprünglichen Materie werden mit averroistischer Färbung beibehalten; die Form hat die Materie, aus welcher sie educiert wird, zur sie bedingenden Voraussetzung. Es gibt aber keine allgemeine prima materia im aristotelischen Sinne, sondern die prima materia ist nichts andres als die Elemente selbst. Sie ist nicht ein eigenschaftsloses Substrat, sondern enthält bereits folgende Eigenschaften als unabtrennliche. Sie ist das erste Subjekt aller Körper, ist in allen Naturkörpem ein und dieselbe, kann weder entstehen noch vergehen und büdet die Grundbestandteile, in welche aUe Körper durch die letzte Auflösung zerlegt werden. Diese Bestimmungen sind aber dieselben, welche den Elementen zukommen, und daher sind die prima materia und die Elemente identisch.^ Die Elemente lassen sich nicht ineinander verwandeln, sondern sind unver-

föhrlich darzulegen habe, gehe ich hier auf eine Kritik der Berufung auf diese Stellen nicht weiter ein.

» A. a. 0. p. 56—58, 78.

Maonenvs: Elemente. Verschiedene Hypothesen. 5

änderlicli und unzerstörlich. Das Verlöschen des Feuers kein Vergehen desselben, das Wasser wird bei der Verdunstu nicht in Luft verwandelt, sondern nur in äufserst feine Flüss keitsteilchen zerteilt, wie die Erfahrung über die Dampf bildu und die Versuche der Chemie beweisen.^

Unter Element hat man zu verstehen einen einfaci Körper, der zur Bildung von Verbindungen mit andern E menten zusammentritt und rein homogen ist.^ Diese Eleme] sind selbständig (formaliter) in den Verbindungen ; sie genüg zu allen Erklärungen, während die materia prima, die Aris' TELES im Sinne der Ägypter behauptet, sich für die Physil und Arzte als durchaus nutzlos erweist; daher haben ax AviCENNA und die meisten Arzte die Elemente als prima maU angesehen.^ In einer Übersicht über die wichtigsten Le meinungen betreffs der Elemente unter den Neueren fu Magnenus als eine anderweitig aufgestellte Hypothese an, ( Element sei ein einfacher Körper, als materielles Prinzip den Verbindungen und gleichsam aus dreien, nämUch hun. miccus und solida sübstantia, kompakt. Eine andre Ansicht he er von einem ungarischen Edelmann, der sein zufälliger Eei begleiter war, gehört; danach seien die Elemente einfac Körper, gebildet aus zwei Bestandteilen, der Masse und ein ihr festverbundenen Influx. Dieser Influx ist ein ätheriscl Teil, der das Element mit den Planeten und diese mit c Fixsternen in Beziehung setzt. Diese Ansicht erinnert an < HELMONTsche Blas und ist sicherlich auf dieselbe alchymistisc Quelle zurückzufuhren; interessant ist die Uberemstimmn dieser Zusammensetzung des Elements aus Masse und Weltät] mit derjenigen der modernen physikalischen Molekel. Übrige nahm dieser edle Ungar sieben Elemente an, terra^ aqua, ig^ spiritiiSy essentia, reguh, numerus {regüla und numerus ebenfalls Substanzen, die Worte in uneigentlichem Sinne genomme von denen er jedes einem Planeten zueignete. Die Ansi< der Chemiker sei, dafs es zwei Elemente, Erde (als caput m tuum) und Wasser (als pMegma) gebe. Eine vierte Hypoth besage, dafs das Element eine einfache, unveränderliche Si stanz sei, welche auf natürlichem Wege nicht für sich und '^

^ A. a. 0. p. 60, 70, 135. » A. a. 0. p. 53. » A. a. 0. p. 76—7

502 Maonenus: Vermittelungsverauche.

andern getrennt dargestellt werden könne, selir kräftige Qua- lität und einfache ursprüngliche Bewegung besäfse. Solcher Elemente gäbe es fünf, Feuer (oder auch Äther), Wasser, Erde, Influxiis (der den Einflufs der Gestirne vermittelt) und glutinosus tartams.^ Dies scheint sich der Ansicht derjenigen zu nähern, zu deren Richtung Basso und de Claves gehörten. Die hier an- gefahrten Hypothesen sind geeignet zur Illustration der damals in der Elementenlehre herrschenden allgemeinen Anarchie.

Magnenus glaubt nun in der Lage zu sein, durch seine Definition Aristoteles und Dbmokrit vereinigen zu können. Denn ein einfacher, homogener Körper, der zur Bildung von Yerbiudungen mit andern zusammentritt, ist das Atom Demo- KUiTs ebenfalls; man braucht nur noch zu beachten, dafs nach Ari- stoteles Metaph, V, 4* auch das Kleine, Einfache und Unteil- bare Element genannt werde. Nichtsdestoweniger zieht er es vor, auJGserdem eine Definition nach Demokbit zu geben. Da- nach sind die Elemente der Ursprung {seminarium primum) der einfach gestalteten und gleichartigen (d. h. innerhalb derselben Art übereinstimmenden) Atome, infolge deren Veränderung und verschiedenartigen Vereinigung Verbindungen entstehen und in welche schliefslich alles sich auflöst. Seminarium primum heifsen sie, weil es minimale Gestaltungen zweiter Art gibt, welche durch andre Ursachen, wie die substanziellen Formen, den Umschwung des Himmels etc., zur Mischung bestimmt werden.^

Das Element, wie es Magnenüs verstanden wissen will, wird nicht aus Materie und Form zusammengesetzt, denn der Be- griff eines allgemeinsten Körpers, wie es das Element sein soll, schliefst jede Zusammensetzung aus. Dreierlei hat man an erster Stelle zu betrachten: die substanzielle, körperliche Masse eines Elements, die Grundeigenschaft desselben und seine Nei- gung zu Verbindungen ; in zweiter Linie kommen die Elemente als Teile des Universums und im Baume beweglich in Betracht.* Die körperliche Masse bestimmt die räumliche Ausdehnung und Undurchdringlichkeit des Elements; die Grundeigenschaft

» A. a 0. p. 82.

' Nach unserer Bezeichnung metaph. IV, 3, p. 1014 b 5.

' Denk. rev. p. 87. * A, a. 0. p. 91.

Maokeküs: Drei Elemente. Ihre Bewegung. 503

(wie Wärme, Feuchtigkeit u. s. w.) bestimmt seine physikalisclie Wirkung, wobei jedoch zu bemerken ist, dafs ein einzelnes Atom für sich keine sinnlich wahrnehmbare Wirkung ausüben kann; die Neigung zur Mischung ist die eigentümliche Dis- position zur Aufnahme von Formen, welche jedem Element wesentlich ist. Die Beweglichkeit der Elemente ist eine drei- fache; die erste ist nach oben oder unten gerichtet und be- dingt durch die Dichtigkeit, Dünnheit, Breite (Oberfläche), Zu- sammenhang, Schwere oder Leichtigkeit; die zweite bezieht sich auf den gemeinschaftlichen Vorteil und entspringt aus der Neigung zur Verbindung; die dritte geht auf den allge- meinsten Nutzen der gesamten Welt und ist die mafsgebende, sie besteht in der Vermeidung (fuga) der Durchdringlichkeit und des Vacuums; die erstere ist vertikal, die zweite schief, die dritte beliebig gerichtet.^

Die Vierzahl der Elemente sei nicht genügend bewiesen. Aristoteles leitet sie von den Bewegungen her, aber es gibt fünf Bewegungen, daher müJGste als fünftes Element der Himmel oder Äther angenommen werden. Diese Herleitung sei jedoch willkürlich und man konnte auf diese Weise auf alles Mögliche schliefsen, z. B. auf vier Elemente, weil es vier Jahreszeiten gäbe was aber für die Tropen nicht stimmen würde, oder auf 12 Elemente aus den 12 Monaten, oder auf 7 nach den Planeten, wie unser Ungar that.*

Es gibt aber nur drei Elemente, Feuer, Wasser und Erde. Die Lufb ist kein Element, denn sie hat keine ihr eigentümliche Grundeigenscbaft und tritt nicht in das Kom- positimi ein.' Sie ist weder kalt noch warm, weder trocken noch feucht an und für sich; ebensowenig ist sie schwer. Die von andern (unter ihnen Basso) für die Schwere der Luft an- geführten Versuche und Beweise werden zu entkräften ver- sucht. Sie kann aber jede Gxundeigenschaft annehmen, und ihre Funktion besteht somit darin, dafs sie die Übertragung aller Eigenschaften der Elemente untereinander vermittelt.^

Nach diesen Festsetzungen über die Elemente kommt es zur Erklärung über die Atomistik selbst.^ Die Elemente sind

^ A. a. 0. p. 93. « A. a. 0. p. 102. » A. a. 0. p. 110.

* A. a. 0. p. 126, 140, 144.

" A. a. 0. Diap. 11. De oompositione remm «x aiomis. p. 157.

504 Magnekos: Die Atome.

Atome. Das Kontinuuin ist zusammengesetzt aus Atomen oder Korpuskeln von endlicher Anzahl, in gleicher Weise (adaequate) voneinander unterschieden, von bestimmtem Inhalt.^ Diese Atome sind keine mathematischen Funkte, denn diese haben keine Dimensionen, die Atome aber haben solche; trotzdem sind sie physisch unteilbar. Das Kontinuum besteht also nicht aus mathematischen Punkten, weder aus einer endlichen, noch unbestimmten, noch absojut unendlichen Zahl derselben Magnenus sagt, er hätte 42 Meinungen über die Konstitution des Kontinuums referieren können , sondern aus physisch unteilbaren, aber räumlich noch ausgedehnten Partikeln. Dies sind die einfachen Atome, welche definiert werden können als "Wurzel und Anfang der materiellen und physischen Ausdehnung.* Während ein einzelnes Atom schon mathematische Ausdehnung besitzt, macht es, weil es nicht sinnenfallig ist, noch kein physisches Kontinuum, sondern erst den Beginn zu diesem aus. Für die Existenz der Atome führt Magnenus acht Gründe auf, die jedoch zum Teil auf blofsen Spitzfindigkeiten beruhen, so dort, wo er mit scholastisch- dialektischen Begriffen ficht, sich auf das Wesen der Schöpfung beruft, welche nur auf das Bestimmte und daher Unteilbare sich beziehen könne, und wo er blofse Wundergeschichten aus Jacques Gaffarels Curiositez inouyes erzählt. Zu den andren Gründen gehören die Bemerkungen, dafs die Natur das Unend- liche scheue, ferner dafs Minima unter den verschiedensten Namen von fast allen Physikern zugelassen würden und als solche unteilbar sein müfsten, weil es sonst entweder eine Materie ohne Form oder eine Auflösung in das Nichts auf natürlichem Wege geben würde; es müsse eben auch eine kleinste Form existieren. Unendlich viele Teile gebe es nicht, sondern nur soviel quantitative Ausdehnungen als physische Teile. Über die chemischen Experimente, welche zur Annahme von Atomen führen, verweist Magnen auf Sennbrts Hyp<yinneniatu HI, c. 2 (s. S. 444). Es gibt nur drei Arten Atome von Elementen, igneae, aqueae, ierreae, und die Luftatome, welche aber nicht Atome eines Elements sind. Die mixta corpusctila sind nicht Atome, wie Sbnnert wolle. Jene vier Arten Atome sind substanzielle

^ A. a. 0. p. 174. PropoB. XIX. « A. a. 0. p. 188.

Magnenus: Bewegung und Gröfse der Atome. 505

Atome in dem oben beschriebenen Sinne.^ Die Elementar- atome haben besondere Eigenschaften. Die Feueratome sind warm imd unter gewissen Bedingungen auch leuchtend; die Wasseratome feucht und durchsichtig, die Erdatome kalt und in der Eegel undurchsichtig, unter Umständen aber auch durch- sichtig. Die Luftatome sind ohne bestimmte Eigenschaften, vielmehr föhig, jede Eigenschaft anzunehmen; sie erfüUen die Poren und verhindern das Vacuum. Die Atome der organischen Körper oder zusammengesetzten Verbindungen werden besser als natürliche Minima bezeichnet und sind kleine, ungleichartig beschaffene Teilchen, die nur unter Umständen teilbar sind, nämlich so lange ihnen dieselbe Forma bleibt. Partikeln zweiter Art gibt es unbestimmt viele nach Zahl, Gestalt und Gröfse, wie die der Löwen, der Elefanten, der Perle etc. etc.

Die Bewegungen der Atome sind dreifach; auf Grund des Universums vom Centrum zur Peripherie und umgekehrt; auf Grund des Vacuums, zur Vermeidung desselben und als Folge der Undurchdringlichkeit; auf Grund der Verbindung in allen Richtungen (vgl. S. 503). Über die Sympathien unter den Atomen wird allerlei gefabelt. Über die Gröfse der Atome werden verschiedene Vermutungen angestellt. Sinnlich sind sie nicht wahrnehmbar; hierbei wird die vielfach angezogene Be- trachtung über die Insekten (s. S. 369, 407, 443, 469) erörtert und dabei Pliniüs erwähnt. Die Ausdehnung des Weihrauchs wird mit Anführung von Zahlen untersucht, aber schliefslich einge- standen, dafs man über die Gröfse der Atome nur Vermutungen habe und niemand wissen könne, ob die Feueratome gröfser oder kleiner als die Erd- und Wasseratome seien, und der- gleichen.' Die Luftatome haben die Eigenschaft, sich niemals mit andern zu vereinigen. Magnenus glaubt, dafs es keinen Luftwiderstand gibt und neigt sich daher zu der Ansicht, dafs die Luftatome nicht zusammenhängen, sondern sich nur be- rühren.'

Die Vereinigung der Atome wird wieder auf den aristote-

^ Atomus substantialis est Entitas corporea, substantialis, simplex, et purissime homogenea, indivisibilis ex natura sua, per se primo exigitiva quan- titatis, cigus beneficio fit impenetrabilis et ad continaum physicum componen- dum ordinata.

» A. a. 0. p. 204—208. « A. a. 0. p. 208.

506 Maonenus: Gestalt der Atome.

lischen Begriff der Form zurückgeführt. Sie besitzen einen innem Drang nach Vereinigung, eine innere Zielstrebigkeit, welche auf die Verbindung zum Kompositum gerichtet ist. Sie ruhen nur dann, wenn sie untereinander verbunden sind.^ Diese Verwandtschaft der Atome zu einander besteht besonders zwischen Atomen verschiedener Art, jedoch verbinden sich auch Atome einer Art untereinander, Erdatome mit Erdatomen. Nur für die Feueratome erscheint es zweifelhaft, ob diese sich untereinander verbinden, weil sie kugelförmig sind. Gegen ihre Verbindung spricht die Thatsache, dafs wir zwar Wasser, Luft und Erde in dauernden Massen, nicht aber ebenso be- ständiges Feuer besitzen. Jedes Atom hat seine bestimmte Gestalt. Nach einer Betrachtung über die stetige Erfüllung des Baumes durch ebenflächige Körper untersucht Magnenus,* angeblich nach Dbmokrit, die vermeintliche Gestalt der ein- fachen Atome und kommt dabei, gestützt auf sehr willkürliche und phrasenhafte Argumente, zu folgendem ßesultat. Die Feueratome sind ursprünglich sphärisch, können aber per accidens auch irgend eine andre Gestalt annehmen nach MaTsgabe der substanziellen Formen und des natürlichen Vorteils. Die Erd- atome sind ursprünglich kubisch und ändern ihre Gestalt nicht, weil sie die festesten sind. Die Wasseratome können jede Ge- stalt annehmen, werden aber, sich selbst überlassen, sphärisch. Die Luftatome sind indifferent gegen jede Gestalt, per accidens sammeln sie sich in Kugelform.

Auf diese Fähigkeit der Atome, ihre Gestalt ändern zu können, gründet sich die physikalische Theorie des Magnbnüs, die in der That einen eigentümlichen, wenn auch auf unklaren Vorstellungen beruhenden Gedanken enthält. Obwohl die Ge- stalt der Atome wandelbar ist, hält Maönbnus an der Einfach- heit, Undurchdringlichkeit und Unveränderlichkeit des Atoms fest, soweit die letztere sich auf Masse und Quantität bezieht. Er stellt sich nämlich vor, dafs zwar das Volumen eines Atoms eine ursprünglich und unveränderlich gegebene Gröfse sei, dafs jedoch durch Veränderung der Figur eine unübersehbare Man- nigfaltigkeit von Formen ein und desselben Atoms entstehen könne, welche verschieden grofse Räume einnähmen.

^ A. a. 0. p. 210. A. a. 0. Prop. XXVH— XXX p. 230—259.

Maokbvüs: Die Gestaltänderung der Atome. 507

Seine ganze Theorie gründet sich auf die Lehre von den Kör- pern, welche bei gleichem Volumen verschiedene Begrenzungs- fläche haben.* Indem die einzelnen Atome von einer Gestalt in die andre, sei es ans äufsem oder innem Antrieben, über- gehen, z. B. aus der Kugel in Cylinder oder Farallelepipeda, ändert sich an ihnen nichts als die mathematische Begrenzung.^ Durch die Vergröfserung derselben nehmen sie aber einen grölsem Baum ein^ und der ganze Körper kann auf diese Weise, ohne selbst bewegt zu werden, seine Ausdehnung und Gestalt unter Beibehaltung seiner Masse ändern, indem nur innerhalb desselben in den Atomen Bewegungen auftreten. Ein einziges Atom kann sich somit ohne- Verdünnung, Auf- blasung oder Wiederholung auf natürliche Weise bis ins Un- endUche ausdehnen, wenn es von regelmäfsiger Gestalt, wobei ein bestimmtes Volumen den kleinsten Baum einnimmt (soll heüsen: die kleinste Oberfläche besitzt), zu unregelmäfsiger und immer mehr unregelmäfsiger Gestalt übergeht, die einen immer gröfsem Baum einnimmt.'

Magnbnus meint hier mit dem Ausdrucke ^ einen gröfseren Baum einnehmen" (majorem locum occupare) etwas andres als einen gröfseren Bauminhalt haben; er versteht unter locus das örtliche Gebiet, welches durch die Gestalt eines Atoms beherrscht wird, wenn man die linearen Dimensionen desselben

^ A. a. 0. p. 262: Tota haec mea docirina in isoperimetrarum figurarum propositionibus innititor. Statt der „Lehrsätze über die isoperimetrischen Figuren' (welche bei gleicher Oberfläche verschiedenen Inhalt haben) kommt es aber vielmehr aaf die Veränderlichkeit der Oberfläche bei konstantem Volumen an. Maonbnüs benutzt den Satz, dafs bei konstanter Oberfläche die Kugel von allen Körpern das gröfste Volumen hat, und schliefst nun umge- kehrt, dals die Oberflächen bei konstantem Volumen mit der Abweichung von der Kugelgestalt wachsen.

' A. a. 0. Majoribus terminis gaudebit atomns Ä cum erit in conum exporrecta, quam si in cylindrum, cujus basis eadem esbct atque coni. Et sicuti figfura pondus non äuget, ita neque quantitatem, vel molem, sed terminos tantum mathematicos: eadem est manus in volam ezpansa, et contracta in pugnum: sie eadem atomus tetraedrica, et cubica erit, neque mole cum terminis augetur.

' A. a. 0. p. 410, 411. ünica atomus, sine rarefactione, sine inflatione, aut reproductione potest naturaliter occupare majorem, et majorem locum,

in infinitum Cum enim figurae reguläres in isoperimetris sint magis

collectae, minoremque locum occupent, sequitur, quod quo irregularior erit figura, eo majorem occupabit locum.

508 Magnenus: Kritik seiner Atomtheorie.

als mafsgebend ansieht und seine äufsersten Grenzpunkte als Be- stimmungsmittel für die Gröfse betrachtet. Es bleibt dabei natür- lich unbestimmt, was aus den Räumen gemacht werden soll, welche zwischen diesen Grenzpunkten des Atoms, aber aufserhalb der Oberfläche liegen, die das konstante Volumen umschliefst Nimmt man z. B. an, dafs ein Körper aus würfelförmigen, eng aneinander gelagerten Atomen besteht und will man sich die Aus- dehnung desselben nach allen drei Dimensionen erklären, so kann dies unter der Annahme, dafs die Atome ohne Zwischenräume aneinander gelagert bleiben, nach der Hypothese des Magnenüs allein nicht geschehen. Denn wenn z. B. die Würfelatome nach zwei Dimensionen, Länge und Breite, sich ausdehnen, so müssen sie notwendig nach der dritten hin zusammenschrumpfen; daraus folgt aber, dals auch der ganze Körper nur nach Länge und Breite hin sich ausdehnt, nach der Dicke aber sich zusammenzieht. Um das zu vermeiden, müfste man annehmen, dafs ein Teil der Atome nach der Dicke hin sich ausdehnt, dann aber kann eine Gesamtausdehnung des Körpers nur statt- haben, wenn die Seitenflächen der Atome sich voneinander lösen und leere Zwischenräume entstehen ; sonst kann eben bei konstanter Masse kein gröfserer Baum eingenommen werden. Dasselbe ergiebt sich, wenn man sich den Körper dadurch aus- gedehnt denkt, dafs die Gestalt der Atome unregelmäfsig wird, etwa wie eine Menschenmasse weiter auseinander rückt, wenn jeder einzelne Arme und Beine spreizt ; auch dies setzt das Entstehen leerer Räume voraus. Nun giebt aber Magnbnits den leeren Kaum unter keiner Bedingung zu,^ sondern erklärt, dafs selbst Demokrit unter dem leeren Raum nur die Luft verstanden habe. Da er aufserdem den Luftatomen keine bestimmte Gestalt zugesprochen, sondern sie einer jeden für fähig erklärt hat, so sind dieselben sehr geeignet, die Stelle des Vacuums zu ersetzen und als Lückenbüfser im wörtlichen Sinne auf- zutreten, d. h. sie sind stets bereit, wo irgend infolge Gestalt- änderung von Atomen Lücken aufzutreten drohen, dieselben sofort auszufüllen. Demnach wird die Ausdehnung, Verdichtung und Verdünnung der Körper schliefslich nur erklärt durch Aus- und Eintreten andrer Teile, insbesondere der Luftatome,

* A. a. 0. Disp. III. Princ. 5. p. 375: Non datur vacuum in natura.

Magxkküs: Verbindungen der Atome. 509

und die Hypothese von der Veränderlichkeit der Gestalt der Atome bei konstantem Volumen liefert keine selbständige Naturerklärung, sondern nur ein Hilfsmittel, innere Bewegungen in dem Kontinuum der Körper und dadurch notwendig werdende Veränderungen der Bestandteile und Umlagerungen der Atome verständlich zu machen.

In demselben Sinne wird auch die Wirkungsart der Atome bei der Bildung der Welt der sinnlichen Körper vorzugsweise auf das Eindringen der Atome in die Poren der Körper zurück- geführt. Die Verbindungen der Atome untereinander müssen in verschiedene Grrade eingeteilt werden. Der erste Grad der Mischung ist derjenige der Elementaratome; die Minima dieser Verbindung können alsjpn'fHa bezeichnet werden. Diese primären Partikeln sind es, in welche für gewöhnlich die Auflösung der komplizierteren Verbindungen stattfindet, selten in die reinen Elemente selbst.* Der zweite Grad von Korpuskeln entsteht durch Verbindung der primären Minima zu sekundären Minimen. Die tertiären, welche aus diesen entstehen, können schon organische Verbindungen sein, wie sie zum Gefüge der lebenden Körper gehören. In gleicher Weise komplizieren sich die Verbindungen zu immer höheren Graden; je verwickelter diese sind, um so mehr Poren haben sie, während die reinen Elemente gar keine, die primären Minima und unvollkommeneren Mixta nur wenige Poren besitzen.* Denn je vollkommener ein Körper zusammengesetzt ist, um so mehr bedarf er der Einwirkungen mannigfachster Art, welche alle durch die Poren vermöge der feinen, von den Körpern ausgehenden Ausströmungen (effiuvio) hauchartiger Substanzen (spiritus) wirken. Überall werden die Atome hier, wie es bei den Ärzten gebräuchlich ist, als die Bestandteile feiner Ausströmungen und Spiritus, die man sich als gasartige Körper zu denken hat, aufgefafst, und zu welchen der glühende Gasstrom der Flamme und die Verdunstung des Wassers wohl die sinnenfallige Anregung gab. Magnenüs sucht diese Verhältnisse diirch allerlei physikalische und chemische Beispiele zu erläutern und seine Behauptungen zu belegen. So wird das Aufsteigen der Blasen im Wasser und das Sieden durch das Eindringen der Feueratome erklärt, die das Wasser

* A. a. 0. p. 288 f. * A. a. 0. p. 295.

510 Magnekus: Prinzip d. geringsten Kraftaufwandes. Wirkungen.

in "Wallung bringen; je weniger kompakt die Partikeln eines Kompositums sind, um so schneller vermag das Feuer auflösend zu wirken.^ Bei der Ortsbewegung der Partikeln, welche alle Veränderungen in der Körperwelt bedingt, gut das Prinzip, dafs die Natur alles auf dem kürzesten und leichtesten Wege zu erreichen sucht,« also das Prinzip des geringsten Kraftaufwandes.

Ist nun auch diese wechselseitige "Wirkung der Körper aufeinander durch Ausströmungen und Poren die häufigste, so ist sie doch nicht die einzige. Am liebsten allerdings findet die Änderung der Eigenschaften in der Körperwelt durch die lokale Bewegung statt, und zwar das, was die Schule äUeratio nennt, durch die unmerklichen Poren und Gänge; die intensio der Eigenschaften wird bewirkt durch die Ordnung und SteUung der Atome, welche eine höchst mannigfaltige sein kann, die remissio durch die Lösung dieser Ordnung. Es wirken aber die Atome aufeinander auch durch ihre Eigenschaften, indem nicht nur die Gesamtwirkung des ganzen Körpers, sondern die Qualität der Atome selbst sich dabei ändert, und diese Über- tragung oder Hemmung der Eigenschaften ist ebenfalls, wenn auch in zweiter Linie, in Betracht zu ziehen. Durch Über- tragimg (propagatio) ihrer Eigenschaften wirken die Atome im freien Baum, d. h. in der Luft, deren Atome diese Fortpflanzung der Eigenschaften gestatten, weil sie sich selbst indiflferent gegen alle Eigenschaften verhalten. In den Körpern selbst aber, in welchen die Atome verbunden sind, findet keine Übertragung der Eigenschaften, sondern nur eine gegenseitige Hemmung der entgegengesetzten Eigenschaften statt, so dafs z. B. die Wirkung der Feuer- und Wasseratome in der Ver- bindung sich ausgleicht, ohne dafs jedoch die Atome an sich ihre Eigenschaften verlieren.^ Denn Magnenus glaubt bei seinen Ausführungen an der ünveränderUchkeit der Atome festzuhalten.

Dies sind im wesentlichen die Grundzüge der magnenischeu Atomistik. Eine Heihe Anwendungen, welche er von seinen

> A. a. 0. p. 287, 299.

* A. a. 0. Dinp. ni. princ. 4. p. 375 : Mobilia, quae nataraliter moventur, ad locum quem appetunt iUuc tendant, qua fieri potest brevissime, et faoillime, natura enim compendiosa est saaque per lineas brevissimas omnia movet.

» A. a. 0. p. 282, 283.

Beurteilung der Atomistik des Magnenus. 511

Hypothesen zur Erklärung von Naturerscheinungen und "Wider- legungen von Einwänden macht, sowie seine „auf Dbmokrit'* gegründete Theorie der Farben ^ mufs hier übergangen werden ; desgleichen sind seine Anfahrungen und Widerlegungen der sogenannten Beweise der Mathematiker gegen die Atomistik^ nicht besonders zu betrachten, da sie alle auf den Satz heraus- kommen, dafs das mathematische Koxitinuum eben kein phy- sisches sei, und die Linie im physikalischen Sinne nicht ver- wechselt werden dürfe mit der mathematischen, die sich in beliebig und unendlich viele Punkte teilen lasse.

Will man die Ansprüche des Maonenus auf eine Erneuerung der Lehre Demokrits kritisch prüfen, so ist es klar, dafs sie völlig zurückgewiesen werden müssen. Man mag noch die Ersetzung des Vacuums durch die Luft, welche er im Sinne Demokrits vorzunehmen glaubt, als entschuldbaren Irrtum hin- gehen lassen, aber die unter dem Einflufs der in ihnen Hegenden aristoteUsch-averroistischen Formen ihre Gestalt beliebig ver- ändernden Atome sind doch gerade das Gegenteil Von den starren Atomen Demokrits. Zwar sollen auch sie eine konstante Masse besitzen, aber durch jene Annahme der Veränderlichkeit der Figur kommt die ganze Schwierigkeit des Problems, welches durch die alte Atomistik gelöst werden sollte, wieder in die Voraussetzungen hinein. Dieses Problem, wie Veränderung möglich sei, ist Maonenus gar nicht zmn Bewufstsein gekommen, oder vielmehr der Begriff der aus der Materie educierten Keim- formen beherrscht sein Denken so ausschliefslich, dals er den Widerspruch desselben mit einer konsequenten Atomistik nicht bemerkt. Es ist daher sehr ungerechtfertigt, wenn er glaubt, philosophisch strenger als Sennert verfahren zu sein und diesem vorwirft, dafs er nicht Atome, sondern nur physische Minima gelehrt, aufserdem die Minima zweiter Art auch Atome genannt habe. Es ist früher (s. S. 443, 449) nachgewiesen worden, dafs Sennert in der That die physische Unteilbarkeit der Minima behauptet, also wirklich Atome, so gut wie Maonenus,

* A. a. 0. Disp. III. cap. IV. p. 438—457. Dieselbe hat zum Schlufs- resoltat, dafs die Farbe ein inneres vorschiedenartig gebrochenes und verdun- keltes Licht der Körper sei, welches von den Feueratomen ausgestreut und von den andern Atomen gebrochen wird.

» A. a. p. 313—361.

512 Magxknus: Eklektische Theorien.

angenommen hat, und dafs er sehr wohl von den einfachen Atomen die prima mixta unterschied. Man sieht also nicht, inwiefern Magnenus hierin über Sennert oder Basso, von denen er durchaus abhängig ist,^ hinausgegangen wäre, insofern es sich um eine strengere Grundlegung der Atomistik handelt. Es kann sich daher nur fragen, ob er die Korpuskidartheorie als physikalische Hilfshypothese gefördert habe. Hier hat er allerdings die Korpuskularhypothese bedeutend weiter ausgebaut und ihr eine sehr grofse Geschmeidigkeit gegeben, indem er seine dehnsamen Atome einführt und neben der "Wirksamkeit durch die Poren auch noch eine Übertragung der Eigenschaften annimmt. Aber die Einführung der Grundeigenschaften (die freilich bei Sennerts Elementaratomen, sowie bei Basso und Berigard auch statthat) ist, wie schon früher ausgeführt, auf die Dauer kein haltbares und entwickelungsfähiges Mittel der Naturerklärung, und die quallenartigen Atome, welche alle Gestalten annehmen können, lassen den Zustand des Urstoffes voUends rätselhaft erscheinen. Unter diesen Umständen genügt es, den Thatbestand zu registrieren, und es bedarf keiner weiteren Würdigung der fraglichen Verdienste des Magnenus.

3. Die neuen Probleme der Korpuskulartheorie.

Die Erneuerer der Korpuskularphysik, deren Lehren im vorangehenden dargestellt sind, befinden sich in dem guten Glauben, dafs die Ansichten der altem wie der spätem Gegner des Aristoteles sich ohne Widerspruch vereinigen lassen. Die jonische Naturphilosophie, die Atomistik Leukipps und Dbmo- KRiTs, Empedokles, Anaxagoras und die verwandten Lehren bei Stoikern und Epikureern, sie alle müssen herhalten, um eine eklektische Korpuskulartheorie zu erzeugen, wie sie bereits im Altertum zum Teil sich gebildet hatte. Die angestrebte Vermittlimg der Theorien der Materie ist auch von dem ein- seitigen physikalischen Standpunkte jener Erneuerer gar nicht so sinnlos, wie sie vom tiefer gehenden philosophischen Ge- sichtspimkte aus erscheinen mufs. Denn es handelt sich im

* Sennert wird von Magnenus citiert p. (VI), 126, 182, 187, 281, 285, 429; Basso p. 46, 125, 141, 144.

Die Substanzialität des räumlichen Korpuskels. 513

Grunde immer nur um den Gegensatz gegen die aristotelisclie Lehre von der Potenzialität der Materie und den substan2dellen Formen. Das neu entstehende physikalische Interesse verlangt nach einer Fundierung der Materie als unveränderlicher und körperlicher Substanz. In der Annahme solcher körperUchen Substanzen sind Demokbit, Empedokles und Anaxaooras einig, sie kennen kein "Werden und Vergehen, sondern nur ein räum- liches Zusammentreten, Ordnen und Zersetzen, Mischung und Entmischung. Das ist der gemeinsame Grundzug, wodurch Abistoteles gegenüber festgestellt wird, daXs es körperliche Massenteilchen gibt, die sich in kleinere und kleinere Partikeln zerteilen, nicht aber aus der Welt verschwinden können, Kor- puskeln, ausgedehnt, undurchdringlich, in Bewe- gung.

Der Stand des Körperproblems hat sich demnach im Anfang des 17. Jahrhunderts dahin erklärt, dals an Stelle der substanzialen Formen die räumliche Einwirkung ausge- dehnter Substanzen als Erklärungsmittel der beobachteten Ver- änderungen in der sinnlichen Erscheinung angestrebt wird. Das Denkmittel der Substanzialität dient nunmehr dazu, das Subjekt der Veränderungen als etwas Beharrliches im Wechsel der Baumerfällung auszusondern unter Beibehaltung der räumlichen Ausdehnung dieses beharrlichen Substrats. Die Quantität der räumlichen Ausdehnung ist mit der Bedin- gung derjenigen sinnlichen Empfindung, welche als das raum- erfiillende Undurchdringliche auftritt, durch den Begriff der Substanz im Korpuskel untrennbar verbunden und zum Ele- ment der sinnlichen Welt gemacht. Noch aber ist dieser Begriff des Korpuskels ein unbestimmter und vager ; nicht die begriffliche Fixierung, sondern die sinnliche Anschauung hat zunächst das Korpuskel erschaffen, indem nur von der GröXse der Körper abstrahiert wurde. Die Eigenschafben der Aus- dehnung, der Undurchdringlichkeit und der Bewegung sind auf die Korpuskeln so übertragen, wie sie der sinnlichen Erfah- rung an den Körpern der Erscheinungswelt entgegentreten. Auch dies ist als ein Fortschritt, wenngleich nur als eine Durchgangsstufe in der Entwickelung des Körperbegriffs zu betrachten. Denn so lange das Denkmittel der Substanzialität die Thatsachen der sinnlichen Empfindung infolge logischer

Ladiwitz. 33

514 Zurückrerlegung des Eörperproblems in das Korpuskel.

Abstraktion ausgeschlossen hielt, konnte man zu keiner Natur« Wissenschaft, als "Wissenschaft der Empfindung, kommen. Es mufste erst dem wissenschaftKchen Bewufstsein die sinnliche Empfindung als ein realer "Weltfaktor vertraut werden; man mufste sich erst daran gewöhnen, in der "Wirklichkeit des Da- seins den Wert der Sinnlichkeit zu erkennen, ehe es gelingen konnte, in der Erscheinung den rationalen Faktor auszufinden, ohne den sinnlichen zu zerstören. Dieser schwankende Über- gang, in welchem sinnliche Qualitäten und rationale Elemente im Begriff des Korpuskels noch ungeschieden sind, hegt in der Erneuerung der Korpuskulartheorie vor. Die Frage: Was ist der Körper? wird vorläufig dahin beantwortet: Der sinn- lich wahrnehmbare Körper zeigt die Veränderungen seiner Zustände infolge räumlicher Bewegungen seiner Teilchen, die ihrer Kleinheit wegen nicht wahrnehmbar sind ; diese Teilchen Korpuskeln sind Substanzen, welche räumliche Ausdehnung besitzen, gewisse sinnliche Einwirkungen hervorbringen, ihren Raum ausschliefsUch erfüllen und aufeinander zu wirken ver- mögen. Alle diese Eigenschaften und Wirkungen sind durch- aus nach Analogie der an den sichtbaren Körpern stattfin- denden Veränderungen vorgestellt. Wie jene Elementarkorpuskeln im einzelnen beschaffen sind, damit sie die erforderliche em- pirische Wirkimg hervorbringen, das ist streitig und Gegen- stand der physikalischen Phantasie und Hypothese. Danach unterscheiden sich die einzelnen Theorien in atomistische und plerotische, kinetische und dynamische. Vorläufig ist das In- teresse der Korpuskulartheorien allein auf die Erklärung der Er- scheinungen aus anschaulichen Vorgängen zwischen den Kor- puskeln gerichtet und die Frage nach dem Wesen des Körpers nur zurückgeschoben. Das Grundproblem in seiner Tiefe, wie jene Eigenschaften der Raumerfüllung, Undurchdringlich- keit und Wirkung an der ausgedehnten Substanz möglich seien, ist noch gar nicht zum Bewufstsein gekommen.

Für die Vorbereitung dieser Probleme hat die Korpus- kulartheorie bei ihrer Erneuerung dies geleistet, dafs durch die Zurückschiebung des Körperproblems auf die kleinsten Teile der Hypothese freieres Feld geschaffen ist. Wir werden freilich sehen, wie durch den Milsbrauch der letztem die Korpuskular- physik sich selbst diskreditierte.

Notwendigkeit der Korpuskeln. Neue Probleme. 515

Andrerseits aber war es notwendig, vor allem dem Sub- stanzbegriff eine Grundlage zu geben, wodurcb ein ßaum- teilchen als mit sich selbst identisch und als ein im Wechsel der Erscheinung unveränderliches Substrat der Be- wegung herausgelöst und zugleich als eine feste Quantität bestimmt werden konnte. Da die wahrnehmbaren Körper selbst ihrer Gröfse, Gestalt und Qualität nach veränderhch sind, da sie geteilt, aufgelöst und umgewandelt werden können, so war die Anwendung der zur Analyse des Körperbegriffs notwendigen Abstraktion auf die sinnlichen Körper selbst nicht möglich. Der sinnlich wahrnehmbare Körper als Ganzes konnte nicht Substanz sein; die Substanzialität konnte, wenn man nicht auf die substanziellen Formen zurückfallen wollte, nur in den kleinsten Teilen der Körper gesucht werden. Der be- grifflichen Analyse mufste die räumliche Trennung der Körper in Korpuskeln vorausgehen, und erst an diesen vermochte das Problem von neuem anzusetzen. Die Korpuskeln konnten klein genug angenommen werden, um als substanzielles Element zu dienen, welches in der Veränderung der Körper beharrt und nunmehr Subjekt neuer Eigenschaften wird. Nun erst stellt es sich heraus, dafs hier neue Probleme zu Tage treten.

Um an diesem entscheidenden "Wendepunkt der physika- lischen Erkenntnis darzulegen, worauf die Anstrengungen der Forscher gerichtet waren und was sie im nächsten Vierteljahr- hundert mit größerer oder geringerer Klarheit über ihre eigenen Versuche anstrebten, haben wir jene Probleme, welche gleich- sam in der wissenschaftlichen Luft lagen, vorausgreifend zu formulieren. Dieselben lassen sich der Hauptsache nach m zwei Fragen zusammenfassen.

Erstens : Wie ist es möglich, dafs die ausgedehnten, quan- titativen, substanziellen Korpuskeln den !Baum undurchdring- lich und intensiv erfällen und dafs sie in ihrem Zusammen die sinnlichen Qualitäten der Erscheinungswelt zeigen? Oder mit andern Worten: Was unterscheidet den physischen Körper vom geometrischen, den erfüllten !Baum der Empfindung von der räumlichen Ausdehnung? Kann der Substanzbegriff allein hierzu ausreichen? Oder bedarf es noch andrer Denkmittel?

Zweitens : Wie ist es möglich, dafs die substanziellen Kor- puskeln in Wechselwirkung treten und eine gesetzmäfsige Ver-

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516 I^ie neuen Probleme der Korpuskulartheorie.

ändening in der Körperwelt erzeugen? Was ist das verbin- dende oder treibende Agens? Gibt es ein solches? Oder kann das substanzielle Korpuskel selbst als variabel gedacht werden? Wie sind kausale Wirkungen unter den Substanzen möglich? Mit andern Worten: Wodurch ist die Bewegung der Atome gesetzlich bestimmt und gewährleistet?

Es sind die Fragen, wie die Bealität und wie die Kausa- lität mit der Substanzialität der Korpuskeln zu verbinden sind,

i und beide sind nur lösbar mit Hilfe eines neuen Denkmittels,

I ... . ...

der Variabilität, welches den Begriff der kontinuierlichen Ver- änderung selbst zu fassen und dadurch dem Wechsel der Em- pfindung die rationale Unterlage, dem Flusse der Erscheinung den Halt des Gedankens zu geben vermag. Die antike Ato- mistik war an diesen Fragen gescheitert; die erneute Korpus- kularphysik wird sie zu lösen haben.

Vorläufig freilich ist die Bedeutung dieser Probleme von den im Voranstehenden erwähnten Denkern noch nicht erkannt. Nur Bruno hatte sich dem Problem genähert und die Grund- frage nach dem Unterschied zwischen dem geometrischen und physischen Körper wenigstens bearbeitet. Gegenüber seinen Grundbestimmungen bleibt die Korpuskulartheorie vorläufig zurück, weil das physikalische Interesse zunächst so vorwiegt, dafs nur der Gesichtspunkt praktisch-empirischer Verwendung in Betracht kommt. Die ersten Erneuerer der Korpuskular- theorie begnügen sich damit, die Korpuskeki als quaUtativ verschiedene Grundsubstanzen einfach vorauszusetzen; die ein- zelnen Teile des Baumes sind durch sinnliche Qualitäten von- einander verschieden und dadurch als Körper abgegrenzt. Daher bedarf es zur Trennung der Atome keines leeren Baumes; und da das Atom sinnliche Qualitäten hat, so entsteht gar nicht die Frage, was das räumliche Korpuskel vom Leeren unterscheidet, was den Körper zum Körper macht. Zwar wird die zweite Frage, wie die Korpuskeln untereinander zu ver- binden sind, damit sie den sinnlichen Körper ausmachen, der Erörterung unterzogen, aber auch hier zeigen die Beantwor- tungsversuche, dafs die innere Schwierigkeit ' und der Kern- punkt des Problems nicht erfafst ist. So lange man nicht er- kennt, dafs die von qualitativen Korpuskeln freien Bäume auf keinen Fall wieder als Körper behandelt werden dürfen, so