■*?* GESCHICHTE DER BIOLOGISCHEN THEORIEN VON Dr. EM. RADL II. TEIL GESCHICHTE DER ENTWICKLUNGSTHEORIEN IN DER BIOLOGIE DES XIX. JAHRHUNDERTS LEIPZIG VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 1909 ju I. TEIL: GESCHICHTE DER BIOLOGISCHEN THEORIEN" SEIT [DEM ENDE DES XVII. JAHRHUNDERTS. 1905. .// 7.—. :; VERLAG VON WILHELM ENGELMANN IN LEIPZIG :: Schriften von Hans Driesch Die Biologie als selbständige Grundwissenschaft Eine kritische Studie 8. Jl 1.20 Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge Ein Beweis vitalistischen Geschehens Mit 3 Figuren im Text. gr. 8. Jl 2.40 (Sonderdruck aus: »Archiv für Entwickelungsmechanik« VIII. Band, 1. Heft) Analytische Theorie der organischen Entwicklung Mit 8 Textfiguren. 8. Jl 3.— Die organischen Regulationen Vorbereitungen zu einer Theorie des Lebens Mit einer Figur im Text. gr. 8. Jl 3.40 Die „Seele" als elementarer Naturfaktor Studien über die Bewegungen der Organismen gr. 8. Jl 1.60 Naturbegriffe und Natururteile Analytische Untersuchungen zur reinen und empirischen Naturwissenschaft gr. 8. Jl 4.— GESCHICHTE DER BIOLOGISCHEN THEORIEN VON Dr. EM. RADL II. TEIL GESCHICHTE DER ENTWICKLUNGSTHEORIEN IN DER BIOLOGIE DES XIX. JAHRHUNDERTS LEIPZIG VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 1909 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten. DEM ANDENKEN RUDOLF BURCKHARDTS GEWIDMET' VI Vorwort. Schrift entwickelten allgemeinen Anschauungen über das Wesen der Biologiegeschichte und über den gegenwärtigen Stand der Biologie waren den meinigen sehr nahe verwandt. Mit Freude entnahm ich seinen Briefen, mit welch idealem Eifer er mich zur weiteren Arbeit anspornte und mir die Überzeugung einzuflößen bestrebt war, daß ich mich auf dem rechten Wege befinde: gewiß die edelste Förde- rung, die uns ein Arbeitsgenosse angedeihen lassen kann. In der genannten Schrift hofft BüRCKHARDT, daß bald die Zeit kommen müsse, wo die Biologie ihre »historische Bewußtheit« wiedererlangen werde. Ob meine Schrift diese Bewußtheit zu fördern imstande ist, sei dahingestellt; die Widmung derselben den Manen des Ver- blichenen soll noch einmal die alte Wahrheit bekräftigen, daß eine Idee, in die Welt gesetzt, den Tod des Einzelnen überdauert und allerorten nach Freunden sucht. Prag, im Mai 1909. Dr. Em. Rädl. INHALT. Seite I. Die Biologie am Ende des 18. Jahrhunderts i II. Lamarck und Cuvier 7 Lamarcks Ansichten 8 Lamarcks Verhältnis zu Cuvier 12 III. Idealistische Morphologie .... 21 Spiraltheorie 24 Die Lehre von der Metamorphose 25 Homologien und Analogien 32 Klassifikation 36 Theorien über das Wesen der Kategorien in der Klassifikation der Tiere 39 Übergang zur genetischen Auffassung der Tierwelt 44 IV. Embryologie vor Darwin 51 Die Abwendung von der Präformation 51 Entstehung der neuen Embryologie 53 K. E. v. Baer 55 V. Zellentheorie 63 Altere Ansichten 63 Das Auftreten Schleidens 65 Th. Schwann 7° Weitere Schicksale der Zellentheorie 73 VI. Physiologie vor Darwin 75 Die deutsche Physiologie 75 Die französische Physiologie 82 VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft ... 84 Naturphilosophie 84 Übergang von der Naturphilosophie zu neuen Richtungen. J. St. Mill 89 Der Umschwung in Deutschland. J. Liebig, H. Lotze, G. Th. Fechner 95 Die Materialisten 99 Die positive Philosophie 101 Das Ansehen der Wissenschaft 104 VIII. Entstehung des Darwinismus 107 Altere Betrachtungen über die Entstehung der Tiere 107 Der Einfluß der Geologie 114 Vestiges 116 Huxleys und Spencers Erinnerungen 117 IX. Ch. Darwin 122 Darwins Leben. Erasmus Darwin 122 3/ßp VIII Inhalt. Seite Der Ausgangspunkt der Darwinschen Theorie 125 Darwins Theorie 129 Einige Eigenheiten der Darwinschen Theorie 135 X. A. R. Wallace i4o XL Aufnahme der Darwinschen Theorie 144 Das Wesen der Wissenschaft 144 Aufnahme der Darwinschen Theorie in England 152 Darwins Aufnahme in Frankreich 157 Darwins Aufnahme in Deutschland 158 Die Bedeutung neuer Beweise für den Darwinismus 182 Darwins Theorie als Quelle der Begeisterung 189 XII. Kritik des Darwinismus durch ältere Richtungen 194 XIII. Evolutionistische Philosophie und Ethik 205 XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten 212 Chemie, Petrographie, Astronomie 213 Entstehung des Farbensehens 214 Sprachwissenschaft -. . 215 Pädagogik 219 Soziologie und Geschichte 221 Die Sozialdemokraten 223 Poetik 225 Kriminalistik 22S XV. Darwinismus und Religion 230 Das Wesen des Streites 230 Die Anschauungen Darwins und der Darwinisten 233 Die Stellungnahme der Kirche 235 Ursprung des Gegensatzes zwischen den Begriffen der Schöpfung und der natürlichen Entstehung 239 XVI. Die Schönheit in der lebendigen Natur , 245 Goethes und Humboldts Ansichten 245 Darwinistische Auffassung der Schönheit 246 Andere Ansichten von der Schönheit in der lebendigen Natur. . . 251 J. Ruskin 255 XVII. Mimikry 257 XVHI. Fortschritt und Verfall 264 XIX. E. H. Haeckel 270 Charakteristik 270 Allgemeine Ansichten Haeckels 274 Haeckels Verhältnis zu Darwin 27S Phylogenie 279 Biogenetisches Grundgesetz 284 Gastraeatheorie 288 Moneren 290 Schluß 293 XX. Spontane Generation 297 XXL Anthropologie 305 Paläontologie 305 Anatomie 30S Darwins Auffassung « . . 313 Missing link 316 Inhalt. IX Seite XXII. Rassentheorien 319 XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie 326 Das Verhältnis der Morphologie zur Geschichte 326 Übergangsformen 329 Organe 333 Der Kampf gegen die Typen 338 Darwinistische Embryologie 342 XXIV. Die geographische Verbreitung der Tiere und Pflanzen 347 Humboldts Klassifikation der Pflanzen nach ihrem Habitus .... 347 Darwins historische und experimentelle Auffassung 350 Wallaces zoologische Regionen und ihre botanischen Analogien . . 352 Rückkehr zum Studium der direkten Abhängigkeit der Fauna und Flora von der Umgebung 354 XXV. Paläontologie 358 Allgemeines 358 Paläontologie und Darwinismus 361 Reaktion gegen Darwin 368 XXVI. Natürliche Zuchtwahl 370 XXVH. Carl von Nägeli 374 XXVIII. Zellentheorie nach Darwin 378 Die Zellentheorie in der Embryologie 382 Neuronentheorie 3^4 Spekulationen über kleinere Lebensteilchen als die Zelle 386 Einwände gegen die Zellentheorie 390 XXIX. Erblichkeit 393 Vererbung erworbener Eigenschaften 400 XXX. Weitere Schicksale der natürlichen Zuchtwahl-Theorie 406 M. Wagner und einige ihm verwandte Theoretiker 406 W. Roux 408 August Weismann 410 XXXI. Psychologie 420 F. J. Gall 420 Spezifische Energien 424 Vergleichende Psychologie 427 E. Wasmann . 432 Verfall der Psychologie 435 XXXII. Die I.amarckisten 439 E. D. Cope 443 G. Th. Eimer 447 S. Butler 449 A. Pauly, E. Hering, R. Semon 453 A. Schopenhauer und E. v. Hartmann 456 Andere Neolamarckisten 459 XXXIII. Das genetische Denken in der Botanik 460 XXXIV. Die Lehre von der Individualität. 466 XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation 472 Das Geschlecht 474 Polymorphie 478 Gruppen kleiner als die Art 480 Variationsstatistik 4^7 X Inhalt. Seite Physiologische Arten 489 Variabilität als Folge der Einwirkungen der Umgebung auf den Organismus 49 l XXXVI. Vermehrung 496 Arten der Vermehrung 49^ Theorien über das Wesen des Geschlechts 49& XXXVII. Kreuzung 5°2 Die Lehre von den Eigenschaften 5°2 Tatsachen der Kreuzung 5°^ Friedmanns Konvergenztheorie 511 XXXVIII. Entwicklungsmechanik 512 Roux' Entwicklungsmechanik 5*7 XXXIX. H. Driesch 522 Das Wesen der Entwicklung 522 Entelechielehre 52^ Drieschs Logik 53 l Allgemeines 534 XL. Verfall des Darwinismus 539 Abwendung der geistigen Strömungen vom Darwinismus und von der Naturwissenschaft 539 Verfall der objektiven Wissenschaft 543 Rationalistische Umbildung des Darwinismus 545 Neue Physiologie 549 Zweckmäßigkeitslehre 554 Krisis 561 XLL Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften 566 Wahrheit und Wirklichkeit 57° Wissenschaft und die Darstellung ihrer Geschichte 575 Die Lehre vom Fortschritt 577 Die Idee und deren Anerkennung 57^ I. Die Biologie am Ende des 18. Jahrhunderts. Ich beginne meine Erzählung mit der Wende des 18. Jahrhunderts, nicht aus dem Grunde, daß die Evolutionstheorien zu dieser Zeit ein- gesetzt hätten, sondern weil man überhaupt nicht umhin kann, irgend einen bestimmten Augenblick des Gedankenstromes zu wählen, dessen Quellen sich in den Uranfängen des menschlichen Denkens verlieren. In Wirklichkeit gab es im 1 8. Jahrhundert, besonders in seiner zweiten Hälfte, schon gewisse genetische Vorstellungen, aber es gab auch schon in gewissem Sinne eine moderne Wissenschaft, nämlich ein Interesse der Gesellschaft an der Naturerkenntnis; es gab Fachmänner wie LAVOISIER, LaplacE, COULOMB, es fanden sich solche auch unter Biologen, wie der Systematiker LlNNE, die Anatomen Daubenton und VlCQ d'Azyr, der Physiologe und Anthropologe BLUMENBACH. Dies gab sich auch in der Öffentlichkeit kund: Voltaire (f 1778) wirkte nicht nur durch seine bösen Witze, sondern auch durch Popularisierung der Wissenschaft, indem er die französische elegante Welt mit Newtons Lehre vertraut machte, welche auch sonst für die Gegner der Kirche im 18. Jahrhundert etwa die Bedeutung Darwins im 19. Jahrhundert hatte; ROUSSEAU (f 1778) schwärmte nicht nur von Naturschönheiten, von malerischen Bergen und wilden Parkanlagen, sondern empfahl auch seinen Leserinnen, die Blumen in der Natur näher zu betrachten und machte die trockene LlNNE"sche Botanik zu einer scientia amabilis für Damen. Damals begründete auch BUFFON seinen Ruhm durch das Riesenwerk seiner populären Naturgeschichte; und die biologischen Abhandlungen Bonnets erschienen in mehreren Auflagen. Die Philosophie hatte schon früher an biologischen Tatsachen ihre Gedanken veranschaulicht und besonders war Leibniz (f 17 16) für die Biologie eingenommen. Leibniz erweckte zu neuem Leben die Lehre Platons von der Hierarchie der Wesen, welche, so viele ihrer auch sind, sich zu einer Reihe ordnen lassen, die mit dem Ein- fachsten beginnt und nach unbedeutenden und unzählig vielen Stufen zu mehr und mehr komplizierten sich steigert, bis sie in dem voll- kommensten — in Gott gipfelt. Ist nicht die lebende Natur mit ihren Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II I 2 I. Die Biologie am Ende des 18. Jahrhunderts. einfachen, zusammengesetzten und höchsten Wesen ein treffender Beleg dieser Lehre? Das Wort »Übergang«, das wir heutzutage so hochschätzen, hatte schon damals eine wichtige philosophische Be- deutung: in der Natur gibt es nichts als Übergang, natura non facit saltus, war Losung für die Denker der LEiBNizschen Richtung; sie behaupteten, daß es keine streng abgegrenzten Reiche gibt; die Mineralien gehen allmählich in Pflanzen über, die Pflanzen in Tiere, fliegende Fische bilden nur einen Übergang von den Fischen zu den Vögeln, und der Orang nur einen Übergang vom Tier zum Menschen, die Engel nur einen Übergang vom Menschen zu Gott. So schrieben z. B. Ch. Bonnet (1745) und R. Roblnet (1761). Einigen genügte es nicht, die Begrenztheit der Reiche zu bestreiten; indem sie folgerichtig das Schlagwort von den Übergängen weiter führten, behaupteten sie, es gäbe in der Natur überhaupt keine Gruppen, die wir Gattungen und Arten nennen, es gäbe nur Einzel- wesen; die Frage, ob es in der Natur Arten gibt, oder ob sie nur von Menschen ersonnene Namen sind, war um die Hälfte des 1 8. Jahr- hunderts eine Schulfrage der Philosophie. Aus Leibniz schöpften die Naturphilosophen auch den Ent- wicklungsbegriff; in seiner Philosophie entwickelt sich alles aus der Involution in die Evolution, und wiederum bietet die lebende Natur für diesen Begriff eine Fülle von Beispielen, indem sie zeigt, wie die Blüte sich aus der Knospe, dt-r Mensch aus dem Kinde, die Henne aus dem Ei entfaltet. Nur ein Schritt, und der Begriff der Ent- wicklung mußte sich über die Geschichte der Schöpfung überhaupt verbreiten — wirklich tat Ch. Bonnet diesen Schritt, indem er (1769) zu schildern unternahm, wie die heutigen Tiere Nachkommen anderer sind, die früher gelebt haben, und wie aus den heutigen einmal neue und vollkommenere Geschöpfe entstehen werden. Dabei hatte aber das Wort Entwicklung damals eine der heutigen gerade entgegengesetzte Bedeutung. Für uns bedeutet die Entwick- lung des Menschen aus dem Affen, daß der Mensch früher etwas anderes war und aus dem Nicht-Menschen Mensch wurde , für LEIBNIZ und das 18. Jahrhundert bedeutet der Satz »alles entwickelt sich«, soviel, daß alles schon von Anfang da war, nur »eingewickelt«. Wir leben nicht — lehrte man — nur von der Geburt an, sondern wir lebten schon ganz im Mutterleibe, im Ei, und wir waren schon ganz mit unserer Mutter im Ei ihrer Mutter, in Eva waren schon alle Menschen, so viele ihrer noch geboren werden, eingeschachtelt, und seit Erschaffung der Welt wachsen sie nur. Bonnet glaubte an die T. Die Biologie am Ende des iS. Jahrhunderts. 3 Umwandlung der Tiere, doch nahm er keineswegs an, daß der Tiger einst in ein anderes Tier sich verwandle, sondern nur, daß er zu einem verfeinerten, intelligenten Tiger fortschreite l). Es entsteht also nichts neues, sondern nur das Vorhandene vervollkommnet sich. Noch lange in das 19. Jahrhundert hinauf erhielt sich der Glaube, daß seit Erschaffung der Welt nichts neues entsteht; es traten jedoch auch Vorstellungen hervor, die dem Worte Entwicklung einen neuen Sinn gaben. Der französische Konsul in Ägypten, DE Maillet. schrieb im Jahre 17 16 ein Werkchen (es erschien anonym erst im Jahre 1748), in dem er naiv schildert, wie alles Leben im Meere ent- stand, wie sogar die Menschen einst im Meere schwammen, und die Vögel Fische waren; aber der Fisch gelangte ans trockene Land, die Schuppen und die Flossen trockneten ein und wurden zu Federn und anstatt des Fisches sprang am Ufer ein Vöglein herum. Im Jahre 1 749 schreckte D. Diderot nicht vor der Lehre zurück, daß vielleicht auch die vollkommensten Tiere aus der Erde herauskristallisierten, und Büffon, Maupertius, Holbach, de LA Mettrie spielten an ähnliche Ideen an. Es waren Gedanken von Philosophen, welche, indem sie jede Gottesidee abwiesen, um jeden Preis zeigen wollten, daß es möglich sei, ohne sie in der Natur auszukommen, Gedanken von Träumern, an die sich die exakte Wissenschaft nicht kehrte; es sollte noch lange dauern, bevor auch sie sich an solche Fragen herauswagte. In der exakten Biologie gaben am Ende des 18. Jahrhunderts zuerst Linke und dann Cuvier den Ton an. Karl VON Linne (1707 — 1778) war von Natur mit der Fähig- keit begabt, alles kurz zu definieren und zu klassifizieren, und da die große Mannigfaltigkeit der Pflanzen und Tiere der Entfaltung einer solchen Begabung zusagt, führte LlNNE in großem Maßstabe die Kl issifikation der Naturobjekte durch, brachte die Begriffe von Art, Gattung, Ordnung, Klasse, Reich zu präziser wissenschaftlicher Geltung: eine Art von Rubriken im Katalog, nur mit dem Unter- schied, daß der Mensch die Rubriken nach Bedarf wählt, wogegen die Arten und Gattungen von der Natur gegeben sein sollen. Jedem Wesen gab er zwei Namen, einen Gattungsnamen (Turdus, Drossel) und einen Artnamen (musicus, Singdrossel). Seine ausgedehnte Tätig- keit übte eine große Wirkung: das Sammeln und Beschreiben der äußeren Merkmale und das Klassifizieren der Naturobjekte wurde zu einer namentlich in England und Deutschland gepflegten gedanken- losen Wissenschaft der Herbarien und Sammlungen, deren Öde nicht x) So schrieben Bonnet (1745) und Robinet (1761). 4 I. Die Biologie am Ende des iS. Jahrhunderts. der letzte Grund für das Aufblühen der deutschen Naturphilosophie war, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die LiNNEsche Richtung in jene Zurückgezogenheit verdrängte, in der sie seitdem vegetiert. In England war es erst Darwin, der LlNNEs Anschau- ungen durch seine neue Auffassung des Lebens ersetzte. In Deutsch- land war es besonders die dogmatische Schulwissenschaft, in England das wissenschaftliche Dilettantentum und der konservative Geist, die die lange Herrschaft der LiNNEschen Theorien unterstützten. In Frankreich gewannen die deskriptiven Bestrebungen LlNNEs nicht jene Bedeutung, wie in Deutschland. LlNNEs Zeitgenosse und Rivale BUFFON (1707—1788) machte da einen großartigen Versuch, die Biologie auf französische Art als ein Thema der schönen Literatur aufzufassen. In elegantem Stil und mit plastischer Kraft bot er seinen Landsleuten in seiner großen »Histoire naturelle« eine wenn nicht tiefe, so doch abgerundete Darstellung der Natur, welche zum Ausgangspunkt der klassischen Periode der französischen Biologie wurde, die um die Wende des Jahrhuuderts ihren Kulminationspunkt erreichte und erst nach der Verbreitung der Lehren Darwins verfiel. Im Gegensatze zum Kultus der getrockneten und durch eine mög- lichst strikte Definition beschriebenen Pflanzen führte BUFFON eine in schöner Sprache vorgeführte Schilderung der Tiere, ihres Körpers, ihrer Lebensweise, ihrer inneren Harmonie ein, welche auch den Laien zum Lesen lockte. Auch seine Nachfolger, Daubenton, namentlich aber VlCQ d'Azyr und Cuvier folgten dieser Methode: das Ganze des tierischen Körpers zu erfassen und die Gedanken in feine Formen zu kleiden. Aber auch LlNNE wirkte auf die Franzosen; Ant. L. de Jussieu (1748 — 1836) sah das Ideal der Botanik, ebenso wie LlNNE, in der Klassifikation der Pflanzen ; darin blieb er aber seiner Heimatswissen- schaft treu, daß er mehr als die oberflächlichen Eigenschaften der getrockneten Pflanzen ihren als ein Ganzes begriffenen Körper be- tonte, und wesentliche Eigenschaften von unwesentlichen zu unter- scheiden versuchte; indem er das System auf die Bedeutung der anatomischen Eigenschaften gründete, baute er im Gegensatze zu LlNNEs künstlicher die sogenannte natürliche Klassifikation. Jussieu übte einen bedeutenden Einfluß einerseits auf die Botaniker, unter welchen besonders P. Decandolle seine Anschauungen weiter aus- führte, andererseits auch auf die Zoologen. Cuvier führte in einer eleganteren Art und mit großem äußeren Erfolg dasjenige in der Zoologie durch, was Jussieu in der Botanik erstrebte. I. Die Biologie am Ende des 18. Jahrhunderts. r GEORGE CüVIER (1769 — 1832), jeder Zoll ein Klassiker, begriff als erster unter den Modernen klar, daß der Organismus ein kom- pliziertes Ganzes sei, in dem Organe und Funktionen sich harmonisch vereinigen; wie in einem Dreieck die gegenseitige Abhängigkeit der Längen und Winkel aus einigen Größen die anderen unbekannten zu berechnen gestattet, so sollen bei den Lebewesen Organe und Funktionen derart zusammenhängen, daß wir auf Grund der Kennt- nis der einen die anderen erraten können. Der lebende Körper sei nach einem Plane gebaut, lehrt CuviER, und es ist Aufgabe der Wissenschaft, der Morphologie1], diese Pläne zu untersuchen. So wie man verschiedene Baupläne auf einige Stile zurückführen kann, so lassen sich unter den Tieren vier Grundpläne2) unterscheiden, und zwar der Typus der Wirbeltiere, der Weichtiere, der Gliedertiere und der Strahltiere. Auf diese Art fand CuviER die Vermittlung zwischen der plastischen Auffassung der Tiere durch Buffon und zwischen der Systematik Linnes. CuviER war auch der Gründer der Paläontologie (auch darin ent- wickelte er BUFFONs Gedanken weiter). Daß die ausgestorbenen Tiere in der Erde begraben liegen, wußte man schon früher, aber CuviER suchte als erster mit großem Nachdruck zu beweisen, daß diese ausgestorbenen Tiere von einer anderen Art waren als die leben- den, und auf diesem Gedanken baute er eine besondere Theorie der Geschichte der Organismen. Das Leben auf der Erde soll einst einen Anfang genommen haben, denn in den untersten Schichten der Erdrinde, im Granit, im Gneis und in den ältesten Schiefern gibt es keine Versteinerungen. Zuerst zeigten sich Korallen, Weich- tiere und Krustentiere; dann kam die Zeit der ersten Pflanzen, dann der Fische und Reptilien, und schließlich der Säugetiere und Vögel. Die eine Periode soll von der anderen durch ungeheuere Umwäl- zungen der Erdrinde getrennt gewesen sein, deren Spuren wir noch heute in den gekrümmten und schiefen Schichten finden. Die Kräfte, welche diese Katastrophen bewirkten, waren unermeßlich und ihre Quellen sind uns nicht bekannt. Als die Erde zur Ruhe kam, kam neues Leben hinein, durchwegs neue Tiere, die dann später wieder vollends vernichtet wurden; erst nach der letzten Umwälzung vor etwa 5 — 6000 Jahren erschien auf der Erde der Mensch. Cuviers Katastrophenlehre fand viele Anhänger in allen Ländern J) Der Name Morphologie stammt von Goethe. 2) Blainville nannte sie später >Typen<; bei Cuvier heißen sie »embranche- ments«. 6 I. Die Biologie am Ende des 18. Jahrhunderts. und es gab in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht viele, die mit ihm nicht übereinstimmten. Andere französische Biologen waren weniger von Linne" abhängig als CuviER, indem sie an das Studium des tierischen Körpers mehr vom medizinisch-anatomischen als vom zoologisch-systematischen Stand- punkt herantraten. Bereits Buffons Mitarbeiter Daubenton anato- mierte den Tierkörper nur seiner Struktur wegen, ohne Rücksicht auf klassifikatorische Ziele; der jüngere Arzt Felix Vicq d'Azyr (1748 — 1794) führte die vergleichende Anatomie mit einem noch größeren Erfolg ein und ebenso unabhängig von der Systematik waren die vergleichend anatomischen Untersuchungen des Zeitgenossen und Rivalen Cuvters, Et. Geoffroy St.-Hilaire (1777 bis 1844). An deutschen Universitäten war die Biologie zwar eine viel gepflegte Wissenschaft, jedoch sehr von LlNNE' abhängig. Die Universitätsprofessoren vertraten zu jener Zeit mehrere Fächer (Zoo- logie, Anatomie, Physiologie und noch andere Gebiete) auf einmal; dies hatte zwar seine üblen Seiten, trug aber dazu bei, daß sich in Deutschland die Anatomie und Physiologie nicht so sehr vonein- ander getrennt haben wie in Frankreich, wo CuviER, Geoffroy, JüSSIEU fast nur Anatomen waren. Deshalb blühte da am Ende des 18. Jahrhunderts mehr als in Frankreich der Vitalismus und die Embryologie, welche beide näher der physiologischen als der ana- tomischen Wissenschaft stehen. Joh. Friedr. Blumenbach (1752 bis 1840), JOH. Chr. Reil (1759 — 1813) und namentlich K. F. KlEL- MEYER (1765 — 1844) waren die bedeutendsten Vertreter dieser Rich- tung. Im großen und ganzen war aber die deutsche Biologie jener Zeit voll von trockener Pedanterie; W. GOETHE war es, der ihr frischere Luft zuführte. Von einem lebendigen Interesse für die Natur durchdrungen, fühlte er sich von der Scholastik der LlNNEschen Wissenschaft abgestoßen und neigte mehr zu Buffon. Von ihm lernte er das Tier und die Pflanze als ein Ganzes aufzufassen; er blieb jedoch der deutschen Auffassung insofern treu, als er in seine An- schauungen mehr Physiologie hineinlegte und die organische Form nur für den Ausdruck vitaler Kräfte hielt. Plastische Anschauung wird als der Vorzug des Dichters Goethe gerühmt; ihr blieb er auch als Forscher treu und trug dadurch viel zum neuen Verständnis sowie Mißverständnis der Natur bei. Seine naturwissenschaftlichen Anschauungen, deren Anfänge in das Jahr 1786 fallen, fanden sehr langsam öffentliche Anerkennung; erst seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelten sie ihren vollen Einfluß. II. Lamarck und Cuvier. 7 Endlich wirkten auf die Biologen des 18. Jahrhunderts auch fran- zösische, durch die englischen Theorien LocKEs beeinflußte Philo- sophen, besonders Condillac (17 15 — 1780). Seine Anschauungen hat Lamarck mit Buffons Theorien über das Wesen der Arten verknüpft und einen Angriff auf die französische Wissenschaft getan; einen Angriff, mit welchem unsere Erzählung beginnen soll 1). IL Lamarck und Cuvier. Der glückliche Darwin war ein Sonntagskind ; ich weiß nicht, an welchem Wochentage Lamarck geboren wurde, doch war es gewiß ein Unglückstag; sein Lebelang lastete auf ihm der Fluch, daß ihm kein Unternehmen gelingen solle. Sein wenig bemittelter Vater drängte ihn zum geistlichen Stande; als er im Jahre 1760 starb, zog der Sohn die Kutte aus, setzte sich auf ein schlechtes Pferd und ritt mit einem Diener zum Dorfe hinaus, um der Armee nach Westfalen zu folgen, wo man den schwächlichen Gesellen ungern sah; seine tollkühne Tapferkeit erwarb ihm sofort den Offiziersrang, aber ein Unfall machte für immer seiner Soldatenkarriere ein Ende; es war aber keine Verwundung in der Schlacht, sondern eine innere Ver- letzung, die er unglücklicherweise am Halse erlitt, als ihn ein Kamerad im Scherze beim Kopfe in die Höhe hob. Er mußte mit einer kleinen Pension Abschied nehmen, arbeitete bei einem Bankier, stu- dierte Medizin und Musik, sammelte und bestimmte Pflanzen, und schrieb darüber Werke, die an sich gut, aber ohne wissenschaftliche Ansprüche sind. Im Jahre 178g fiel ihm ein kleines Amt zu (er wurde Kustos der königlichen Herbarien), aber bald nahm man ihm auch dieses, ob- zwar er sich öffentlich dagegen verteidigte. Erst im Jahre 1793, als er schon 49 Jahre alt war, wurde er, von Fach Botaniker, zum Pro- fessor einer neu errichteten Lehrkanzel (beim Museum d'histoire naturelle; für die Zoologie der Wirbellosen ernannt, die niemand sonst haben wollte. Da er in diesem für ihn ganz neuen Fache sehr fleißig war, gab er bald gründliche beschreibende Werke heraus, insbesondere über die ausgestorbenen Weichtiere, und man lobte schon bei seinen Lebzeiten den Scharfsinn, mit dem er neue Arten und Gattungen unterschied. Er selbst jedoch suchte den Ruhm auf einem andern z) Ausführlicher wurde die ältere Zeit im I. Bande dieser Geschichte geschildert. 8 II. Lamarck und Cuvier. Felde: so wie es Grübler gibt, die verschlossen nachdenken und nachsinnen, und schließlich mit einer neuen Lösung des Perpetuum mobile kommen, oder eine neue Erklärung für die Bewegung der Erde um die Sonne finden, und wenn sie dann irgendwo hören, daß NEWTON diese Bewegung durch die Gravitation erklärt, sich dann dreist auf ihn werfen und ihm ihre Einfälle entgegenstellen, ohne sich vorzustellen, welcher Art die Einwendungen sein könnten, die jemand gegen sie ins Feld führen könnte — so grübelte auch Lamarck. Seine Spekulationen, sowohl die biologischen als auch die anderen, hingen mit seiner exakten Tätigkeit nicht zusammen; er sann über eine besondere Physik und Chemie nach, und da damals eben der Chemiker Lavoisier im Vordergrunde stand, griff ihn Lamarck in seinen Broschüren an, wurde aber von dessen Schule keiner Antwort gewürdigt; desgleichen gab er Büchlein heraus, in denen er für das ganze Jahr das Wetter voraussagte und dem Schicksale aller Wetter- propheten verfiel. Endlich gründete er auch eine neue Biologie, in der er dasjenige bestritt, was er in seinen exakten Forschungen selbst betrieb; er bewies, daß es in der Natur keine Arten, Gattungen und überhaupt natürliche Gruppen gibt, und so wie er in der Chemie gegen Lavoisier loszog, so in der Biologie gegen Cuvier, der seiner gleichfalls nicht achtete. Auch sonst erging es Lamarck nicht gut; vier Frauen starben ihm nacheinander und er hatte für sieben Kinder zu sorgen, von denen vier erwuchsen; durch eine unglückliche Spekulation kam er um das wenige, das er besaß, und erblindete schließlich. Doch gönnte ihm das Schicksal ein langes Leben, es ließ ihn 85 Jahre vegetieren. Sein Grab ist unbekannt. Lamarcks Ansichten. Lamarcks physikalische, chemische, geologische und meteoro- logische Theorien waren Ephemeren, welche ohne jeden Widerhall vergingen; es scheint übrigens, daß solche Betrachtungen damals in Frankreich üblich waren; man erinnere sich, daß Marat, der sich in der stürmischsten Periode der Revolution berüchtigt machte, nicht lange vor Lamarck (1779 — 1788) sehr ähnliche Betrachtungen über das Feuer, die Elektrizität, das Licht veröffentlichte und eine neue Physiologie begründete, in welcher, wie bei LAMARCK, die Fluida eine große Rolle spielten; er griff auch, wie LAMARCK, die Akademiker an; ob ein innerer Zusammenhang zwischen der wissenschaftlichen II. Lamarck und Cuvier. g Tätigkeit LAMARCKs (dessen erste theoretische Schrift aus dem Jahre 1794 stammt) und MARATs besteht, müßte erst untersucht werden1). Lamarcks biologischen Anschauungen war ein besseres Schick- sal beschieden. Lamarck begann spät sich mit Biologie zu befassen, und da er in den damaligen Strömungen nicht Bescheid wußte, ließ er die morphologischen Probleme unbeachtet und knüpfte an die Philosophie CoNDlLLACs, an die populären Erörterungen BUFFONs, DE Maillets, Robinets, an die Annahme einer graduellen Reihe der Wesen an. Woher kommt diese Gradation, fragt er2). Er wußte nicht, daß auch CUVIER und GEOFFROY diese Frage mit ihrer ganzen Wissenschaft beantworteten, sie käme nämlich daher, daß der Plan des Tierkörpers sich hier einfacher, dort komplizierter darbiete, und daß, so wie man alle Bauten zu einer fließenden Reihe von der kleinsten Hütte bis zum großartigsten Dome ordnen könnte, sich gleicherweise auch die Tiere klassifizieren ließen: ohne dies zu beachten, antwortete LAMARCK nach Art der volkstümlichen Philosophen seiner Zeit: die Natur schuf eine Gradation der Wesen, indem sie vom einfacheren zum komplizierteren fortschritt. Die allgemeine Gravitation bewirkt, so lehrt er, daß alle Dinge zueinander streben ; aber Fluida, die in der Sonne entstehen3), wirken durch ihre Expansion der Gravitation entgegen4); zufällig entsteht eine gallertartige Masse; sie wird von den Fluiden durchdrungen, welche ihre Poren erweitern, es entsteht eine feine schäumige Masse, in der schon die Flüssigkeiten strömen können — das ist der erste Organismus5), dessen Belebtheit in der durch die Fluida verursachten Spannung besteht. So entstanden im Anfang zweierlei Wesen: die ersten Pflanzen und die ersten Tiere und aus ihnen entwickelten sich die übrigen Organismen; die Fluida erweiterten ihren Körper und so erwuchs ein größeres, rundes Tier, z. B. der Meerigel6); so »bewirkt die Natur mittelst Wärme, Licht, Elektrizität und Feuchtigkeit T) Was ich über Marax weiß, ist in Taines Origines de la France conternpo- raine. La Revolution III. Le gouvernement revolutionnaire. 1S85, S. 159 enthalten. 2) Phil. zool. S. 2. 3) Nach damaligen Ansichten war das Licht, die Wärme, die Elektrizität, der Magnetismus eine feine Flüssigkeit Fluiduni . 4) Hist. nat. I, S. 141. s) Phil. zool. II, S. 69. Hist. nat. I, S. 145. 6) Phil. zool. II, S. 205. IO IL Lamarck und Cuvier. die spontane oder direkte Generation am Anfange beider Reiche lebender Wesen, wo man die einfachsten von ihnen findet« x). Durch dieselben Kräfte vervollkommnete sich das Leben, bis ein sehr belebtes Fluidum entstand, das aus dem Blute ausgeschieden wurde und das Nervensystem schuf, d. h. die Bahnen, durch welche das feine Fluidum am leichtesten und schnellsten strömt. Geschieht es oft in derselben Richtung, glättet es sich dort eine Bahn und so entsteht die Gewohnheit. Wenn sich alle Wesen in derselben Umgebung entwickelten, würde sich daraus schließlich eine einreihige Stufenleiter von Wesen ergeben, vom einfachsten zum kompliziertesten, denn der Fortschritt bestände nur im gleichmäßigen Drucke der Fluida; aber Organismen leben im Wasser, auf dem Lande und in der Luft, und dies mußte Abweichungen von der direkten Evolution zur Folge haben — so treten z. B. die Insekten aus der Reihe der Wirbellosen, denn nur sie haben unter den Wirbellosen die Flugfähigkeit erlangt. Wo es Nerven gibt, aber nur dort, sind auch Anfänge eines geistigen Lebens vorhanden, und auch die Möglichkeit, daß das Tier zwischen diesem und jenem wähle; die Fähigkeit zu wählen wird hier zum Prinzip des Fortschritts3): die Schnecke fühlt das Bedürfnis, die Gegenstände zu betasten3), und dieses Gefühl treibt die Fluida und die Kräfte in jene Stellen am Kopf, mit denen sie tasten kann; diese Stellen wachsen schneller, die neue Eigenschaft wird auf die Nachkommen übertragen und durch sie vervollkommnet, und siehe, die Fühlhörner der Schnecke sind da! Denn »jede Eigenschaft, die sich das Tier im Leben aneignete, die es ver- vollkommnete oder änderte, erhält sich auch bei der Vermehrung und überträgt sich auf die Nachkommen jener Individuen, bei denen solche Veränderungen geschahen«4). Hier stellte Lamarck zwei Prinzipien auf, derentwegen er heute so gepriesen wird, i. e., daß das Organ durch Übung erstarkt und daß diese Veränderung erblich ist. So also entwickelte sich langsam und während einer langen Zeit die Tierwelt auf der Erde; ihr Stammbaum wäre dann der folgende: aus unbelebtem Stoffe entstanden die »apathischen « Tiere, d. h. ohne J) Phil. zool. I, s. 75. 2) Nicht ein tatenerzeugender Wille, nicht das Wollen, sondern die Wahl! 3) Dieses Beispiel versteht wieder den Willen als ein Wollen, nicht als eine Wahl — die Inkonsequenz ist der Hauptfehler der Philosophie Lamarcks. 4) Hist. nat. I, S. 152. IL Lamarck und Cuvier. I i Nervensystem und ohne Gefühle, nämlich Infusorien und Würmer : die ersteren entwickelten sich zu Polypen und diese zu Manteltieren, Stachelhäutern und Medusen1); dann entstanden die Nerven und mit ihnen die »sensiblen« oder Gefühlstiere: aus den Manteltieren die Muscheltiere und aus ihnen die übrigen Weichtiere; aus den nicht segmentierten Würmern die Ringelwürmer, Insekten, Spinnen und Krustentiere: die Heteropoden (eine Gruppe der Weichtiere) gebaren die höchsten, »intelligenten« Tiere in folgender Reihe: Fische, Rep- tilien (mit den Amphibien), Vögel, Säugetiere, Mensch — auch er ist ein Werk der Natur. Wahr ist der Satz, daß die Natur keine Sprünge macht, daß jede Tierform durch allmähliche Übergänge mit einer anderen verbunden ist; richtig ist die Lehre Bonnets und BüFFONs, daß es in der Natur keine streng geschiedenen Arten und Gattungen gibt, nur die Men- schen ersannen solche Gruppen2). Lamarck faßt seine Entwicklungsgesetze folgenderweise zu- sammen 3) : i. »das Leben strebt in einemfort darnach, aus eigener Kraft den Umfang des belebten Körpers und seiner Teile zu erweitern, bis an die Grenzen, die das Leben selbst bestimmt. 2. Ein neues Organ entsteht im Tierkörper aus einem neu eingetre- tenen Bedürfnis, welches das Tier beständig empfindet, und aus einer neuen Bewegung, welche dieses Bedürfnis erhält und erregt. 3. Die Entwicklung der Organe und ihre Kraft hängen stets von ihrer Übung ab ; alles, was der Tierkörper erwarb, was er während seines ganzen Lebens einleitete oder änderte, erhält sich bei der Vermehrung und überträgt sich auf die Nachkommenschaft der veränderten Eltern.« — Diese Theorie entwickelte Lamarck in weitschweifigen Schriften seit dem Jahre 1800. Hier wies ein Naturforscher zum ersten Male offen den Sinn der lebenden Natur darin nach, daß die heutigen Tiere (und Pflanzen) Nachkommen anderer Tiere und Pflanzen seien; dieser Gedanke begründete Lamarcks Ruhm bei der Nachwelt ; noch heute nennen sich viele nach ihm Lamarckianer und erklären ihren Vorläufer für das größte Genie unter den Naturforschern. 1) Lama;« k behauptete, daß die angeführten Tiere keine Nerven haben 2) Phil. zool. I, S. 40. 3) Hist. nat. I. S. 151 sq. 12 II. Lamarck und Cuvier. Lamarcks Verhältnis zu Cuvier. Bei den Zeitgenossen erging es Lamarck viel schlimmer. Den Ton gab damals in der Biologie Cuvier an. Cuvier wurde als unbekannter aus einer armen Emigrantenfamilie stammender Mann (wie man ihm später vorwarf, über Geoffroys und Lamarcks Ver- wendung) nach Paris berufen und übertraf bald alle an Bedeutung, wurde Baron und Mann von großem administrativen Einfluß, eine Weltautorität auf dem Felde der Zoologie und Geologie, besaß sehr feinen Sinn für theoretische Fragen — und mit dem Ruhme mehrten sich die Gegner. Cuvier war ein Glücksmensch; die stürmischen Jahre der Re- volution konnte er aus ruhiger Zurückgezogenheit als Hauslehrer am Lande verfolgen, wo ihn zufällig 1793 der Chirurg Tessier entdeckte und 1795 nach Paris sandte, als bereits die Revolution in ruhigere Bahnen einlenkte. Dort schloß er Freundschaft mit Geoffroy; während aber dieser einen weichen und zu unbestimmtem Philo- sophieren neigenden Charakter besaß, war CUVIER klar, bestimmt und gründlich, wie in der Wissenschaft so in der Lebensführung. Es ist nicht schwer, sich diese beiden Naturen zu vergegenwärtigen; GEOFFROY war ein Mann, den man liebt, dessen ideale Natur man kennt, dessen Schwächen man jederzeit zu entschuldigen bereit ist; man weiß aber, daß ein solcher Mann keine bedeutenden Erfolge im Leben erreichen wird; Männer vom Schlage Cuviers dagegen verbreiten Kälte um sich; sie sind allzu korrekt, unzugänglich, ihre Erfolge gehören nur ihnen selbst an, während den anderen nichts erübrigt, als sie zu bewundern. Cuvier schritt von einem Erfolg zum andern, in mehrfacher Hin- sicht, wie es nicht unbemerkt blieb, Napoleon ähnlich, mit dem er gleichen Alters war und in demselben Jahre zufällig entdeckt wurde ; 1799, als sich Napoleon zum Konsul aufschwang, wurde Cuvier Sekretär der Akademie und erlangte so das höchste wissenschaftliche Amt in Frankreich. 1802 wurde Napoleon lebenslänglicher Konsul und Cuvier lebenslänglicher Sekretär. Beide befreundeten sich und Cuvier wurde nun von Napoleon zum Generalinspektor des fran- zösischen Schulwesens, später zum Chef der Kommission für die Neugestaltung der Universitäten ernannt. Es kam Waterloo, Napoleon fiel, der politische Umsturz trat ein — Cuvier blieb aber, was er vorher war, ja unter den Bourbonen, während der überall um sich greifenden Reaktion, gelangte er noch II. Lamarck und Cuvier. 13 zu neuen Ehren. Das Jahr 1S30 brachte die Julirevolution; in den Tagen der größten politischen Aufregung debattierte Cuvier in der Akademie mit Geoffrov über anatomische Probleme — und trug wieder den Sieg davon. Die Revolution vertrieb die Bourbonen und unter Ludwig Phi- lipp kam wieder eine liberale Richtung zur Herrschaft — Cuvier aber blieb, wurde zum Pair ernannt und sollte eben Minister des Innern werden, als er nach einer kurzen Krankheit 1832 starb. Cuvier fehlte es offenbar an politischem Charakter1); sicher ist. daß er von den Männern des Fortschritts gehaßt wurde; kein Wunder, daß die Journale diejenigen Fachmänner unterstützten, welche Cuvier bekämpften. Als 1830 die Polemik zwischen Geoffroy und Cuvier entstand, stellte sich die Öffentlichkeit auf die Seite seines Gegners, die günstige Gelegenheit ausnützend, einen der Repräsentanten der jesuitischen Reaktion anzugreifen — man wies mit Bitterkeit daraut hin, daß Karl X. Cuvier sogar für das Amt eines Zensors für ge- eignet hielt (Cuvier nahm das Amt nicht an). Es war keineswegs Geoffroy allein, der aus wissenschaftlichen Gründen Cuvier angriff; Lamarck bekämpfte ihn seit langem, bald mehr bald weniger offen, meistens aber ohne Cuviers Namen an- zuführen; auch Cuviers ehemaliger Schüler Blainville und der Anthropologe A. DESMOULINS 2) griffen ihn scharf an. Keiner von diesen Fachmännern führt in seiner Polemik andere als wissenschaft- liche und persönliche Gründe an ; es ist aber nicht ausgeschlossen, daß Lamarck und Geoffroy, welche Zeugen der großen Revolution waren, im Grunde auch politische Antipathien gegen Cuvier hegten. Die Zahl der Feinde Cuviers wuchs: seine Rede über Lamarck aus dem Jahre 1832 wurde erst 1835 in den Mitteilungen der Aka- 1 Ich habe irgendwo (in Humboldts Briefen?) gelesen, daß Cuvier in seinen Vorlesungen abstoßend war. indem er gehässig seine Gegner vor der Hörerschaft angriff. Dies stimmt wenig mit dem eleganten Ton seiner Kritiken und überhaupt mit dem was gedruckt von ihm vorliegt, überein. Man gewinnt den Eindruck, daß Cuvier nicht in gewöhnlichem, grobem Sinne des Wortes charakterlos war, ja, vielleicht hatte er mehr Charakter, als die Öffentlichkeit zuläßt; Baf.rs Ansicht aber (in Cuviers Biographie', daß der Forscher beliebiger Regierung dienen könne, nur wenn sie seine Wissenschaft unterstützt, ist wohl kaum als richtig anzunehmen ; sie kann vielleicht für einen Beamten passen, nicht aber für einen politisch tätigen Gelehrten. 2 Man wird selten so unanständige Angriffe gedruckt finden, als es die von A. Desmoulins gegen Cuvier und gegen Geoffroy) sind. Ich habe aber auch aus denselben nicht herauslesen können, daß Cuvier gegen diesen Mann inkorrekt ge- handelt hätte. H IL Lamarck und Cuvier. demie und zwar, wie man sagt, gekürzt abgedruckt, trotzdem CüVIER Sekretär der Akademie war; in demselben Jahre gelang es Cuvier nicht, LamäRCKs Lehrstuhl seinem Schützling zu verschaffen, und er fiel seinem entschiedenen Gegner, Blainville, zu. Diejenigen, die früher von Cuvier nicht genug unterstützt oder in seinen Jahres- berichten nicht genug gelobt wurden, zeigten nun ihre Macht. Doch uns handelt es sich darum, wie Lamarcks Lehre aufge- nommen wurde. Wie erwähnt, griff Lamarck Cuvier wiederholt an, dieser aber antwortete nicht; er referierte über seine Fach- arbeiten, lobte sie auch, seine Spekulationen aber berührte er kaum; unter Bekannten lachte er vielleicht Lamarcks Phantasien aus. Auch sonst fand Lamarcks Theorie wenig Anklang. GEOFFROY schrieb zwar auch über die Umwandlung der Tiere, stellte sich aber das Problem anders vor als Lamarck. Seit 1825 behauptete er von den heutigen Krokodilen, daß sie Nachkommen anderer ausgestor- bener Arten seien, und später, besonders im Jahre 1835, äußerte er, daß überhaupt die heutige Schöpfung durch Umwandlung aus einer früheren entstand; er dachte aber, daß diese Umwandlung etwa derart vor sich ging, wie wenn die Kaulquappe in den Frosch übergeht, daß also eine Form sich sprungweise in eine andere verwandelt1), und er trachtete seine Meinung durch einen Beweis zu stützen. Cuvier verwarf diese Theorie nicht schlankweg (sie stand seinem morphologischen Standpunkte viel näher als diejenige Lamarcks), forderte aber Beweise und solche gab es nicht. Er war durchaus kein geschworener Anhänger der Ansicht, daß alle Arten heute so sind, wie sie Gott seinerzeit geschaffen2); ja H. de Blainville, Cuviers bester Schüler, warf diesem, als er sich mit ihm entzweite, vor, daß seine Katastrophentheorie antikatholisch sei, da sie lehre, daß die Tiere nach und nach auf der Welt erschienen; er selbst, x) Recherches sur l'organisation des Gavials. Mem. Mus. hist. nat. 12. 1825. Etudes progressives dun naturaliste, Paris 1835; Sur l'influence du monde anibiant pour modifier les formes des animaux. Mem. Ac. sc. 12. 1833. 2) Folgender Beleg zeugt dafür, daß auch Cuviers Lehre zu einer Art Phylo- genie führte. Der bekannte Physiker Ampere, Cuviers Zeitgenosse, schreibt an einen Freund: >Siehst du, wie die Paläotberien und Anoplotherien heute durch Menschen ersetzt wurden? Ich wenigstens hoffe, daß nach einer neuen Katastrophe auch die Menschen durch vollkommenere, noblere, mehr der Wahrheit ergebene Geschöpfe werden ersetzt werden. Die Hälfte meines Lebens gäbe ich für die Gewißheit, daß diese Umwandlung einmal vorkomme. Nun, willst du es glauben? Es gibt Leute dumm genug, um mich zu fragen, was ich davon haben würde. Habe ich nicht hundert Gründe zu zürnen?< (Nach Julleville, Histoire de la langue et lit. franc. vm, s. 653.) II. Lamarck und Cuvier. 15 gleichzeitig Schüler LAMARCKs, suchte zu beweisen, daß alle Tiere auf einmal geschaffen wurden, aber stufenweise aussterben, und von seinem katholischen Standpunkte aus behauptete er, daß man der- einst auch einen versteinerten Menschen finden werde1). Cuvier war jedoch weder für noch gegen die Kirche, war überhaupt kein Parteimann2). BLAlNVILLEs Angriff gegen Cuvier ist aus dem Grunde interessant, weil man später aus Cuvier einen Verteidiger der orthodoxen Lehre machte und die Kirche ihn fast für ihren Mann erklärte und vergaß, daß CUVIER Protestant und unter Karl X. Direktor der nichtkatholischen Kulte war und den Protestantismus gegen Jesuiten erfolgreich verteidigte. Die Situation war also die folgende: weder GEOFFROY noch Blain- VILLE, noch sonst jemand verteidigte gegen Cuvier die Wissen- schaftlichkeit der Ausführungen LamarcKs, sondern sie ließen nur allgemein durchblicken, daß Lamarck tiefsinniger sei als CUVIER, sie nannten Lamarck den französischen LiNNE — interessant genug, daß man auch da nicht seiner Theorien gedachte und ihm seiner Systematik wegen schmeichelte. CUVIER fühlte diese Ungerechtig- keit und bei Gelegenheit rächte er sich; er sagte bestimmt und klar sein Urteil über Lamarck leider in der Lobrede, die er nach Lamarcks Ableben zu seinen Ehren in der Akademie hielt (1832). Die nicht lan^e Rede CüV.ERs kennzeichnet LAMARCK besser als alles, was je über ihn später geschrieben wurde. Er streifte seinen Lebenslauf, sprach über seinen Dilettantismus, verwies auf seine wichtigen syste- matischen Schriften; erwähnte, daß er auch allgemeine Abhandlungen schrieb und hierin »märchenhafte Luftschlösser baute«, daß er gegen Lavoisier behauptete, daß chemische Moleküle in andere übergehen können, daß es unter den Mineralien keine Arten gebe, daß Granit und alle Gesteine aus Organismen entstanden seien und daß LAVOI- SIER ihm nicht geantwortet habe. Cuvier habe dasselbe mit seinen biologischen Spekulationen getan: »Niemand hielt seine Theorie für so gefährlich, daß sie einer Wider- z) Blainvii.le war bekannter Fachmann in der Morphologie und Paläontologie; Aufsehen erregte er durch seine Vorlesungen »Histoire des sciences de l'organi- sation . . . Paris 1845, 3 Bde., welche der Priester F. Maupied herausgab, und in welchen der Beweis geführt wird, daß die Geschichte der Biologie die Wahrheit der katholischen Lehre beweist. 2) Cuvier soll aber wie sich Gf.offroys Sohn beschwert) gegen Geoffroy die Priester durch die Behauptung aufgereizt haben, »seine Lehre von der Einheit des Planes widerspreche der Freiheit und Macht des Schöpfers< (vgl. IsiD. Geoffroy, Essai de zool. g6n. etc. Paris 1841, S. 75). 1 6 D. Lamarck und Cuvier. legung benötigt hätte und man ließ sie auf sich beruhen, gleich seiner chemischen Theorie und aus denselben Gründen« x). Es war wirklich manches in der Schrift Lamarcks, das man nicht ernst nehmen konnte : so die Worte, die er immer und immer wieder- holt, er, Lamarck, baue seine Ansichten auf Beobachtungen, die anderen (i. e. Cuvier) seien nur von Phantasien befangen; aber einer von den allgemein anerkannten Fehlern Lamarcks ist gerade der Mangel an Beobachtung, die willkürliche Wahl der Beispiele; dagegen wird Cuvier zur Last gelegt, daß er sich allzuviel an die Wirklichkeit hielt. Auch seine Fluidentheorie, seine Ansichten, daß die ausge- storbenen Tiere vom Menschen vertilgt wurden, daß die Schlangen ihre Füße verloren hätten, als sie sich in Löchern verkrochen u. ä. bedurften vollends keiner Widerlegung. Lamarck hatte überhaupt keinen Sinn für die architektonische Harmonie des lebenden Körpers, für die man gerade damals eingenommen war. Cuvier macht ihm daraus einen Vorwurf: wer sich vergegenwärtigt, wie minutiös eine einzige Vogelfeder durchgearbeitet ist, wird Lamarcks Phantasien über die Entstehung der Schlangen und der Molluskenfühlhörner zurückweisen. Cuviers Rede war eine Übereilung, wie sich bald zeigen sollte. Hätte er geschwiegen, hätte die Kontroverse vielleicht einen anderen Weg eingeschlagen; aber seine Gegner beuteten seine Rede aus: sie erregte Ärgernis2), wurde erst nach drei Jahren abgedruckt und einige Stellen weggelassen; und nun wurde Cuvier in den Augen der Welt erst recht zum Schmälerer Lamarcks und blieb es bis heute. Alle die darüber schrieben, nehmen für Lamarck Partei : DE Blainville, Is. Geoffroy, Haeckel, Huxley, Marsh, Packard3). Nur C. E. v. Baer ist einer anderen Ansicht4). Cuvier wird allgemein zur x) Eloge de M. de Lamarck. Mem. Ac. Sc. 13, 1835. 2) Vgl. Blainvilles Histoire, S. 323. 3) Ihre Ansichten sind in folgenden Schriften enthalten: Is. Geoffroy, Conside"r. historiques sur la Zoologie. Revue des deux mondes 1837, S. 105 sq. — E. Haeckel, Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck, Jena 1882. — T. H. Huxley, Life and Lettres II, S. 42. — O. Marsh, History a. Methods of Palaeont. Discovery 1879, S. 23. — A. S. Packard, Lamarck, S. 65. 4) C. E. v. Baer, Lebensgeschichte Cuviers. Herausgeg. v. L. Stieda, Braun- schweig 1897. — In dieser von einem jüngeren Zeitgenossen Cuviers, von einem Fachmann, der den politischen Reibungen Frankreichs fern stand, erzählten Schrift werden verschiedene interessante Einzelheiten angeführt, von welchen ich einiges im Texte benutzt habe. Es wird dort unter anderem auch behauptet, daß Cuvier keines- wegs Kielmeyers Schüler war, wie vielfach in Deutschland behauptet wird (S. 46) ; Cuviers Bedeutung für die Paläontologie wird gut dargestellt und mehreres wird II. Lamarck und Cuvier. 1 -j Last gelegt, daß LAMARCKs Ansichten nicht durchdrangen und daß erst Darwin kommen mußte, um nach 60 Jahren die Entwicklungs- theorie wieder zu entdecken. Blainville scheint es vorwiegend gewesen zu sein, der das wissenschaftliche Urteil der Jetztwclt über CüVIER und Lamarck bestimmt hat. Blainville haßte seinen Lehrer Cuvier und es ist nicht nötig, zwischen den Zeilen zu lesen, um aus seiner Osteo- graphie zu erraten, wie er jede Kleinigkeit aussuchte, um an Cu- VIER etwas ausstellen zu können; gewiß tat er dasselbe auch in seinen Vorlesungen, als er nach Lamarcks Tode dessen Stelle trotz Cuvier bekam. Nach Cuviers Tode nahm Blainville auch dessen Vorlesungen über vergleichende Anatomie auf und verknüpfte in ihnen die Anschauungen Lamarcks und Cuviers. Blainville war ein streitsüchtiger Mensch — un caractere difficile — scharfsinnig, aber in den Theorien wenig originell1). Bei den Zeitgenossen hatte die Gegnerschaft zwischen Cuvier und Lamarck offenbar eine viel geringere Bedeutung, als ihr später zugeschrieben wurde; in Deutschland scheint man z. B. von derselben nichts gewußt zu haben, während der Kampf zwischen Geoffrov und Cuvier allgemeines Aufsehen erregte. Später wurde irrtüm- licherweise dieser Kampf mit Lamarcks Bestrebungen vermengt. Es ist nicht zu zweifeln, daß es zum großen Teil demokratische Prinzipien waren, welche Lamarck in den Augen der Nachwelt er- höht haben; noch heute spielen Argumente vom »unglücklichen« LAMARCK, der »erblindet«, »arm«, »nicht anerkannt« war, vom »Baron« Cuvier, der seinen Gegner »unterdrückte«, usw. usw. in der Wissenschaft eine Rolle. Lamarcks Ansichten standen auch bei anderen Fachmännern jener Zeit nicht in Gunst; unter ihnen faßte Geoffroy die Entwicklung anders auf als Lamarck; sein Sohn IsiDORE Geoffroy ging zwar mit Lamarck, aber die Frage selbst streifte er bloß2), desgleichen auch über die damaligen Persönlichkeiten mitgeteilt. Übrigens wäre es der Mühe wert, die damaligen naturwissenschaftlichen Verhältnisse in Paris ausführlicher zu studieren. Vielleicht ließen sich einige Analogien mit der politischen Tätigkeit Goethes finden. l) Über Blainville vgl. die in vorhergehender Anm. angeführte Schrift Baers und die Biographie Blainvilles in dessen Ost6ographie. Aus der letzteren Schrift wird man leicht herauslesen können, daß der Biograph, trotzdem er für Blainyilli Partei nehmen möchte, nichts gegen Cuvier anzuführen hat und wo er Blainvilles Angriffe erklären will, in Verlegenheit kommt. 2 Essai de zool. gen. Paris 1841, S. 45. — Über das Verhältnis der Lehren der beiden Geoffroys sowie Bory St. Vincents zu Lamarck vgl. A. de Quatrefages, Ch. Darwin et ses precurseurs francais, Paris 1S70. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. 2 l8 II. Lamarck und Cuvier. der Physiologe H. DuTROCHET1); etwas mehr ging der Zoologe Bory de St. Vincent (ein Schüler Lamarcks) auf die Frage ein2), und er stimmte Lamarck bei; de Blainville hob zwar Lamarck gegen Cuvier auf den Schild, aber seine Theorie verwarf er; von de Blain- ville übernahm wahrscheinlich Aug. COMTE seine Ausführungen, der selbst seinen Vorlesungen beiwohnte 3). In dem Abschnitte über die Klassifikation schreibt er »von dem denkwürdigen Streite zwischen Cuvier und Lamarck« 4), und man sieht, daß er sich gerne zu La- marck schlagen möchte, aber nicht den Mut findet. Er erörtert die Frage des längeren, um schließlich Lamarck zu verwerfen; es hätten ihn fast alle Fachmänner verworfen und man könne vieles gegen ihn anführen. In den anderen Ländern übte Lamarck eine ähnliche Wirkung aus. In Okens »Isis« referiert jemand5) (wahrscheinlich Oken selbst) über seine Theorie, führt sie ohne sonstige Bemerkungen an, und wirft ihm nur > große Schwatzhaftigkeit« vor. Der Naturphilosoph J. SiTX6) verwirft geradeaus die Ansicht, daß die Art, die Gattung usw. nicht von Natur gegeben wären, Lamarck nennt er aber nicht; überhaupt berücksichtigten die Naturphilosophen die Frage der ge- schichtlichen Entwicklung nicht. Aber selbst die Materialisten er- eiferten sich vorerst noch nicht ihretwegen: C. Vogt7) bekämpft Lamarck, die anderen beachten ihn nicht. In England befaßte sich J) Mem. pour servir ä l'histoire anat. et physiol. Paris 1837 v. II, S. 172. Der Artikel schließt mit der Betrachtung »que la constance de la forme que l'on observe chez les etres organises tient ä des causes qui ne sont point immuables, bien que leur action ne varie point dans le plus grand nombre de circonstances«. Ändern sich >les causes conservatrices«, folgt auch eine Formveränderung'des Organismus nach. 2) Artikel >Creation« in Dictionnaire classique des sciences naturelles. 3) Cours de philosophie positive III, 1836. — Comte schreibt, Lamarck habe eine bessere Vorstellung von der wahren organischen Hierarchie als Cuvier, denn der aufsteigende Fortschritt des tierischen Organismus, der uns heute nur einen bequemen Gedanken bedeutet, um die Erklärung abkürzen und das Denken verein- fachen zu können, würde dann zu einem wirklichen, natürlichen Gesetz werden. Die Hauptsache ist allerdings, fährt Comte fort, ob die Arten feste Grenzen haben oder nicht; Lamarck soll in der Anpassung und der Vererbung dafür zwar gute aber unexakte Grundsätze angeführt haben. 4) Ibid. 3. Ed. S. 388. — Hier kommt, scheint es, zum erstenmale die Verwechs- lung der Diskussion zwischen Cuvier und Geoffroy und des Gegensatzes zwischen Cuvier und Lamarck vor. 5) Isis I, 1817, S. 1419. 6) Geschichte u. Beurteilung aller Systeme in d. Zoologie. Nürenberg 181 1. S. 7. 7) Zoologische Briefe, Frankfurt a. M. 185 1, I, S. 20. II. Lamarck und Cuvier. jq Lyell1) des näheren mit Lamarck in seiner Geologie, ohne ihn gelten zu lassen; auch WHEWELL2) bestritt seine Ansichten und in seiner Geschichte der induktiven Wissenschaften kennt er Lamarck nur als Systematiker3). Am ausführlichsten bekämpfte ihn der Ame- rikaner L. AGASSIZ4), jedoch bereits in einer Zeit, wo Darwin auf- treten sollte und die Stimmung schon umgeschlagen hatte. LAMARCKs Theorien wurden wahrscheinlich viel gelesen, wie man gewöhnlich allgemeinen Erörterungen ein lebhaftes Interesse entgegen- bringt; Baer5) schreibt 1833, daß es unter den älteren Naturforschern wenige gab, die seine » Philosophie zoologique« nicht gelesen hätten, aber den Entwicklungsgedanken hielt man für nicht exakt genug; die Geister waren zu sehr von der Morphologie eingenommen und erst als diese sich auslebte, fand man Geschmack an genetischen Fragen, erst als die Fragen nach den Beziehungen der Dinge im Räume ihren Reiz verloren, machte sich das Interesse nach ihrer Ent- stehung und Umgestaltung in der Zeit geltend. Dem Geschichtsschreiber bietet sich Lamarck als eine seltene Erscheinung dar: seine Theorie enthielt sehr gute Gedanken, den Gedanken des genetischen Zusammenhanges der Formen, den Ge- danken einer Unterscheidung zwischen Organisation und Anpassung, den Gedanken einer Beeinflussung des Organismus durch den Willen. Die selbständigsten Denker wie NäGELI, Cope, Eimer stießen später auf ähnliche Ansichten; auch das ist schließlich von einiger Bedeu- tung, daß viele sich heute nach ihm Lamarckianer nennen, wenn- gleich ihre Lehre sonst alle Merkmale des abflauenden Darwinismus trägt. Warum drang Lamarck damals nicht durch? Es werden zwei Hauptgründe angeführt: die Zeitstimmung und der Einfluß Cuviers. Die zweite Behauptung ist jedenfalls unrichtig; es ist nicht möglich, daß der Einfluß einer Persönlichkeit eine ganze geistige Bewegung ersticken könnte, namentlich der Einfluß einer Persönlichkeit, welche so viele Feinde wie Cuvier hatte. Warum erdrückte CuviER nicht seinen Gegner Gf.offroy? Aber auch die Zeitstimmung halte ich für keine ausreichende Erklärung von LAMARCKs Mißerfolg, denn J) Geology 1830. I 1. Aufl.). 2) Indications of the Creator, 2. Aufl. 1846 (nach Romanes, Darwin und nach Darwin I.). 3) History of the Inductive Sciences, Lond. 1837. 4 Essay on Classification, London 1859. 5) Reden und Aufsätze, Braunschweig 1886. I, S. 38. 2o II- Lamarck und Cuvier. seine Theorie war ebenso eine Fortsetzung der Philosophie Leib- NlZENs, der Abhandlungen Bonnets und Buffons, wie die Ansich- ten CuviERs, nur daß sie die fließende Abstufung der Wesen anders auffaßte. Es ist heutzutage gang und gäbe, der »Zeit« sowohl die Leistung als auch das Unvermögen des einzelnen anzurechnen; doch dürfte es natürlicher sein, den Mißerfolg der Lehre aus dem Urheber selbst zu erklären. LAMARCKs Leben bietet sicherlich viel tragisches, wie es so oft große Männer verfolgt. Seine Lebensnot, die Verkennung durch die offizielle Wissenschaft, durch Lavoisier und Cuvier, seine Verein- samung und der Tod in Vergessenheit — das alles im Zusammen- hange mit seinem idealen Streben spricht ernst zum Herzen. Es war nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Male, daß mensch- liche Beschränktheit die Idee niederrang, nur wären hier Rekrimina- tionen von keinem Nutzen. Das ungünstige Milieu entschuldigt LAMARCK nicht, daß er seiner Theorie zu wenig ergeben war, daß er für seinen eigenen Gedanken nicht stark genug erglühte. Der Wahrheit wohnt eine ungeheuere Gewalt inne. Das Leben der Menschen, die eine neue, große Erkenntnis brachten, ist etwas so ungewöhnliches, daß man sie zu jeder Zeit für etwas ganz außer- ordentliches, göttliches und prophetisches hielt. Bei allen großen Pfadfindern sieht man, wie sie sich zuerst dem alten Glauben an- schließen und ihr Leben ihm anzupassen trachten; wie hier und da ein neues Licht aus ihren Worten aufleuchtet, wie sich plötzlich ein neuer Gedanke entzündet und sie ihre Umgebung verlassen, um in der Einsamkeit ihre Ansichten der neuen Erleuchtung gemäß um- zuformen, wie sie endlich als ganz neue Menschen auftreten und mit der Glut ihres neuen Glaubens jede Seele in Brand stecken, die in ihre Nähe kommt; ihr ganzes Leben ist für sie fortan nichts anderes, als ein Siegeszug nach dem Wahrheitsbeweis ihrer Lehre. Da ge- schieht es, daß die Welt sie zurückweist, sie in Not und Verachtung darben laßt. Aber im Bewußtsein ihrer Wahrheit arbeiten sie an ihr weiter und rufen kommende Jahrhunderte zu Zeugen ihrer besseren Erkenntnis an. Was gilt ihnen Menschentücke, Entbehrung, Tod, ihnen, die sich schon bei Lebzeiten zur ewigen Wahrheit empor- gehoben wissen? Vielleicht entgegnet man, daß es nicht angehe, dieses stolze Maß auf Lamarck anzuwenden; jedoch das wenige muß von ihm ver- langt werden — das alles ist — , daß er an sich selbst glaube, daß er fühle, sein Gedanke sei etwas Schönes und Niedagewesenes, und III. Idealistische Morphologie. 2 I daß er diesen Glauben durch Taten bekräftige. Dies zu tun hat aber Lamarck unterlassen. Er theoretisierte seit 1794; um das Jahr 1800 erfaßte er den Entwicklungsgedanken und im folgenden Jahre schrieb er zum ersten Male darüber; von dieser Zeit an gab er sehr viele biologische Schriften heraus — das letzte theoretische Werk im Jahre 1820. Zwanzig Jahre lebte in ihm der Evolutionsgedanke, und während dieser langen zwanzig Jahre tat er nichts für ihn, als daß er sich in den Einleitungen zu seinen systematischen Büchern und in selbständigen Broschüren darüber ausließ; man kann bei ihm von keiner Vertiefung der Ansichten sprechen; in seinen älteren Schriften wird man keine Spuren, keine Andeutungen an die Theorie finden; es gibt bei ihm keine Schwankungen, kein Forschen, kein Streben nach Belegen. Während der zwanzig Jahre hat er an seinen Ansichten nichts gebessert, nichts vervollkommnet, keinen Versuch, sie zu beweisen, gemacht; auch bei älteren Autoren suchte er nicht nach Bestätigung seines Gedankens, noch warb er ihm Freunde bei den Zeitgenossen, verknüpfte sie nicht organisch mit dem Denken seiner Zeit — nein, Lamarck glaubte nicht an seine Theorie. Nicht das ist seltsam, daß die Idee der Evolution damals nicht anerkannt wurde, sondern das ist sonderbar, daß sie, obzwar sie wie ein Kind ohne Mutterliebe erwuchs, dennoch Pflegeeltern fand; Be- weis genug, daß die Evolutionsidee viel Wahres enthielt und daß sie demjenigen, der sich ihr einmal mit ganzer Seele ergibt, eine Fülle von Freuden bereitet1). III. Idealistische Morphologie. Der Anschauungen vom Wesen des Lebens sind viele ; jede trachtet das Leben in seiner ganzen Breite zu erfassen, aber man möge es bei diesem oder jenem Ende ergreifen, stets zeigen sich hundert andere, die entschlüpfen. Da gibt es einen komplizierten Körper voll von Organen, die wieder aus kleineren Organen zusammen- gesetzt sind usw., und das Ende ist nicht abzusehen; da gibt es körperliche Funktionen, Atmung, Ernährung, Bewegung, von denen jede wieder aus Funktionen vielleicht ins Unendliche zusammengesetzt ist; es gibt seelische Erscheinungen, die ebenfalls unabsehbar breit und tief sind, es gibt Veränderungen von Körper und Funktionen; ') Lamarcks Schriften sind im I. Bande dieser Geschichte angeführt. 22 in. Idealistische Morphologie. überhaupt hat die Entwicklung und das sämtliche Leben eine Ur- sache und einen Zweck, und wir kennen weder Anfang noch Ende. Das Ideal der Wissenschaft wäre es, das Leben in ein Wort zu fassen, so daß es alles enthielte: daß es alles ausspräche vom Körper, von den Funktionen, von der Seele, von der Entwicklung, von allem, was am Leben Besonderes ist. Wie man aus der Definiton des Kreises alle seine Eigenschaften ableiten kann, so müßten wir durch die Definition des Lebens seine ganze Fülle erfassen. Der Anfang des ig. Jahrhunderts lebte in der Vorstellung, daß wir das Leben am tiefsten fassen, wenn wir den Körperbau studieren ; namentlich CuviER, Geoffroy und Decandolle nährten mit ihren Theorien diese Philosophie und auf ihrem Boden entstand die Rich- tung der sog. idealistischen Morphologie. Die Benennung » idealistisch <; wurde ihr erst später beigelegt zum Unterschied von der evolutio- nistischen Anatomie Haeckels. Es war eine Art Kristallographie lebender Körper; sowie man in dieser die morphischen Eigenschaften des Kristalls auf ein Schema, auf gedachte Achsen und auf Symmetrie- ebenen zurückführt, so stellte sich jene Morphologie die Aufgabe, ein Schema für jede Art, Gattung usw. zu finden, und da man ein Schema durch Vergleichung (Messung) findet, folgte jene Wissenschaft der vergleichenden Methode, sie war »vergleichende Anatomie«. Das Wort »Plan« schwebte auf allen Lippen: CuviER glaubte in der Tierwelt vier Pläne, Geoffroy einen einzigen gefunden zu haben, Goethe suchte einen einheitlichen Plan der Pflanzen, eine ideale Ur- pflanze, Decandolle gründete auf die »Symmetrie «-Lehre sein Pfianzensystem , Owen in England konstruierte ein schematisches Säugetier (Archetype, wie er es nannte), Agassiz schreibt von einem Plane Gottes, der sich im Bau der Tiere verkörpert und ganz be- sonders waren es die deutschen Naturphilosophen, die sich in Er- örterungen verloren über die Gedanken, welche zu ihnen aus der körperlichen Organisation der Tiere und der Pflanzen sprachen. Da- mals entstand die Lehre von dem einheitlichen Bau der Mundorgane der Insekten (J. C. Savigny 1816), die Wirbeltheorie des Schädels, daß nämlich die Wirbel und der Schädel denselben Grundplan haben (Goethe 1790, Oken 1806, Dumeril 1824, Spix 1825 u. a.), Lehren, die wenigstens im Prinzip noch heute Geltung haben. Die Vergleichung von Kristallen mit Organismen war damals sehr im Schwünge. Pyrame Decandolle, der feinste Kopf unter den botanischen Morphologen, bewies, daß der Botaniker geradeso nach der Symmetrie des Pflanzenkörpers forschen müsse, wie der Kristallo- III. Idealistische Morphologie. 23 graph nach der Symmetrie der Kristalle ') : der Zoologe L. RüTl- MEYER, gleichfalls Schweizer, machte ähnliche Betrachtungen: »Die Geschichte der Tierformen«, meint er, »zeigt eine Art genetischer Verwandtschaft insofern, als sie in der Reihenfolge ihrer Vollkommenheit ins Leben treten; freilich keine direkte Blutsverwandtschaft durch Ab- stammung, wie falsch verstandene Resultate der Entwicklungsgeschichte einst glauben ließen. Allein eine Verwandtschaft der Formen ähnlich derjenigen, durch welche nach dem schon gebrauchten Bilde verschiedene Kristallreihen eines und desselben Kristallsystems unter sich verbunden sind, eine morphologische Verwandtschaft, die sich auf verschiedene An- wendung gleichwertiger Elemente stützt2).« Andere wieder, wie der deutsche Zoologe und Paläontologe H. G. BRONN forschten nach geometrischen Regeln im Baue des Organismus. Bronn beginnt3) mit dem Weltall, dessen Welten von der Kugelform beherrscht sein sollen, gibt weiter die Symmetrie- gesetze der kristallisierten Körper an, geht zu den Pflanzen über, die man angeblich auf die Eiform (Ooid) zurückführen kann, denn sie haben zwei Pole, eine Wurzel und einen Wipfel und sie breiten ihre Äste senkrecht zur Hauptachse nach allen Seiten aus. Bei den Tieren soll die Differenzierung der Formen weiter vorgeschritten sein, die niedersten haben keine feste Form (Amorphozoa) ; die höheren sind strahlenförmig, die höchsten »hemisphenoid« (d. h. rechts und links gleich, aber vorne und hinten, oben und unten ungleich). In Frank- reich lehrte H. DüTROCHET4), daß die einfachsten Pflanzen (Zellen) eine kugelige Form hätten, die höheren mit Wurzel und Wipfel seien bipolar, mit einem entweder kreisförmigen (Monokotyledonae) oder strahlenförmigen (Dicotyledonae) Durchschnitt. Bei den niederen Formen der Tiere herrsche ebenfalls der Kreis, bei den höheren Polarität. Am weitesten aber scheint der bekannte deutsche Botaniker Nees v. Esenbeck diese geometrische Auffassung der organischen Natur getrieben zu haben; seine »Allgemeine Formenlehre der Natur« (1852) ist ganz der Zurückführung der organischen, ins- besondere pflanzlichen Gestalten auf geometrische Grundschemata gewidmet; mit dem Punkt fängt dieses Werk an, um zur Linie, zur J) P. Decandolle, Principes ölcmentaires de botanique, Paris 1804. 2) L. Rütimeyer, Über Form und Geschichte des Wirbeltierskelettes, 1856 (Klei- nere Schriften I, S. 58). 3) H. G. Bronn, Morphologische Studien über die Gestaltungsgesetze der Natur- körper überhaupt und der organischen insbesondere. Leipzig und Heidelberg 1S5S. 4) Comptes rendus Ac. sc. Paris 18 19. 24 III. Idealistische Morphologie. Fläche, zu Raumgebilden fortzuschreiten, welche in der wunderlichsten Weise unter den Pflanzen ausgesucht werden. Spiraltheorie. Die erwähnten Erörterungen waren zu allgemein; manchmal aber gelang die geometrische Analyse mehr ins Einzelne. So hatte man schon seit langem die Beobachtung gemacht, daß die Blätter vieler Pflanzen am Stengel in der Spirale wachsen; diese zu analysieren war eine dankbare Aufgabe für die idealistische Morphologie. Der Naturphilosoph des 18. Jahrhunderts, Ch. Bonnet war der erste, der diese Spirale beschrieb; Goethe wurde ebenfalls von dieser Beob- achtung gefesselt und lenkte auf sie eine allgemeinere Aufmerksamkeit. In dem Aufsatze1) »Über die Spiraltendenz der Vegetation« suchte er nachzuweisen, daß die ganze Pflanze in ihrem Wachstum teils die vertikale , teils die spiralige Tendenz verfolgt. Die vertikale Tendenz äußert sich durch das aufrechtstrebende schnelle Wachstum, die Spiralität sieht man ebenso in kleinen Pflanzenteilchen in den Spiral- gefäßen, wie im Bau des ganzen Körpers in der Spiralstellung der Blätter, manchmal auch in der Anordnung der Blütenteile, ein anderesmal in der Umschlingung der Stengel um feste Stützen. Die Botaniker Karl B. Schimper (1803 — 1867) und A. Braun faßten den Gedanken konkreter auf; sie wollten nachweisen, daß alle Pflanzen in der Spirale wachsen, und deshalb seien auch die Blätter, die nur die Folge eines verstärkerten lokalen Wachstums sind, spi- ralig angeordnet. Die Blätterspirale am Stengel läßt sich folgender- weise analysieren. Wenn wir alle Blätter am Pflanzenstengel mit einer Linie verbinden, indem wir von dem untersten Blatte zum nächsthöheren fortschreiten, werden wir auf dem Stengel eine Spirale ziehen, und wenn wir längs ihr von einem Blatt zum anderen gehen, gelangen wir nach 1, 2, 3, 5 Windungen bis zu einem Blatte, das vertikal über dem Blatt steht, von dem wir ausgegangen sind; in diesen Windungen finden wir im ersten Falle 2, im zweiten 3, im dritten 5, im vierten 8 Blätter. Nehmen wir als Zähler die Zahl der Windungen von einem Blatte zum nächsthöheren und als Nenner die Zahl der Blätter in diesen Windungen, erhalten wir für die Stellung der Blätter bei den Pflanzen die Brüche f, f, f, f, T3, ~ usw. x) W. Goethe, Über die Spiraltendenz der Vegetation. Sämtliche Werke (Cotta) Bd. 27, S. 141. III. Idealistische Morphologie. 2 ■} Diese Brüche lassen sich nicht nur durch Messung der Blattstellung feststellen, sondern sie hängen auch so zusammen, daß die Summe der Zähler zweier aufeinander folgenden Brüche den Zähler, die Summe der Nenner den Nenner des folgenden Bruches gibt ; oder, mathematisch ausgedrückt: jene Brüche sind Näherungswerte eines unend- lichen Kettenbruches I + 1 I + ••• Nachdem sie gefunden, daß die Blattstellung am Stengel sich mathematisch ausdrücken läßt, gaben SCHIMPER und Bräun einen klassischen Beleg für die Planmäßigkeit im Pflanzenbau, welcher auf die Geister einen mächtigen Einfluß übte , ja der Ästhetiker Zei- SING führte aus, daß jene mathematische Formel nur ein Spezial- fall des Gesetzes vom goldenen Schnitte (eines in der Geschichte der Ästhetik sehr wichtigen Begriffes) bildet und daß folglich der Pflanzenkörper wie alle Kunstformen nach ästhetischen Gesetzen ge- baut ist. Aber die Spiraltheorie ließ sich nicht folgerichtig durch- führen; nur auf Umwegen konnte man sie auf sogenannte gegen- ständige und quirlige Blätter anwenden ; Alex. Braun und die Brüder L. u. A. Bravais verteidigten diese Theorie gegen Einwendungen, die sich aus jenen Schwierigkeiten ergaben. Aber die Spiraltheorie verlor dennoch in den 60 Jahren an Ansehen; man setzte ihr ent- gegen, daß sie bloß die Form der fertigen Pflanze erfaßt, ohne ihre Embryonalentwicklung zu berücksichtigen und besonders, daß sie die Pflanzenform nur beschreibt, und nicht ihre mechanische Ursache angibt. Im Jahre 1868 versuchte W. Hofmeister sie von Grund aus durch eine mechanische Erklärung zu ersetzen und später (1878) führte S. Schwendener diese Erklärung in ihren Konsequenzen durch1). Aber die Schilderung dieser Wendung geht schon über die morphologische Periode hinaus. Die Lehre von der Metamorphose. Das Wort »Metamorphose« bedeutet »Umwandlung der Form«. Es ist bekannt, wie OviDiUS mit diesem Namen verschiedene Ver- l) Eine ausführliche Erklärung der Spiraltheorie siehe in J. Sachs, Geschichte der Botanik S. 175); Goebel, Organographie I, S. 61 und in botanischen Lehrbüchern. Geschichte der Theorie bei S. Günther, Das mathematische Grundgesetz im Bau des Pflanzenkörpers. Kosmos 4. 187S — 1879, S. 270 sq. 2 6 HI- Idealistische Morphologie. Wandlungen der Menschen und Götter in Tiere, Pflanzen und Steine benannte, von welchen die griechische und römische Mythologie erzählt. Das Wort hatte jedoch bereits früher einen tieferen, einen philosophischen Sinn; ARISTOTELES unterschied nämlich mehrere Arten der Entwicklung, und die eine von ihnen nannte er Meta- morphose. Von da überging das Wort in die neue Embryologie. Als man jedoch anfing, sich von neuem derselben zu bedienen, waren die aristotelischen Unterscheidungen verschiedener Entwick- lungsarten vergessen und man war in dem Glauben befangen, daß nichts Neues in der Welt entstehen kann , daß alles bereits von Anfang da ist. In diesem Sinne wurde das Wort Metamorphose insbesondere von J. SWAMMERDAM (1637 — 1680) aufgefaßt, welcher behauptete, daß der Schmetterling (wie auch alle anderen Insekten) durch Metamorphose sich entwickelt, d. h., daß schon im Ei, in der Raupe, in der Puppe der fertige Schmetterling eingeschlossen liegt, und daß seine Entwicklung nur ein Wachstum des Individuums vom Ei an bedeutet, nicht aber eine Entstehung von neuen und neuen Organen. Linne wandte diese Lehre auch auf die Pflanzen an; die Blume entstehe aus der Pflanze, wie der Schmetterling aus seiner Puppe : der Kelch sei umgewandelte Rinde, die Krone umgewandelter Bast, die Staubfäden und der Pistill seien durch Umwandlung der Pflanzen- eingeweide entstanden. Es wäre also, nach LlNNEs Ansicht, auch die Blume kein neues, spezifisches Organ der Pflanze, sondern wieder- holte nur ihre vorhandenen Bestandteile. Goethe gefiel der Gedanke der Metamorphose; die Art jedoch, wie sie LlNNE auffaßte, hielt er nicht für richtig. Die leicht bemerkbare Ähnlichkeit unter den Blattgebilden: dem Laub-, Kelch-, Kronenblatt, dem Staubfaden und dem Pistill fiel ihm auf; durch seine Metamor- phosenlehre (1790) sollte diese Ähnlichkeit erklärt werden. GOETHE führte den Beweis1], die Kotyledonen seien die ersten auf der keimenden Pflanze vorkommenden Blätter, nur deshalb roher als die späteren , weil sie eine noch ungenügend verdaute Nahrung enthalten; dann wachsen die eigentlichen Blätter, welche nach dem- selben Grundplan als die Kotyledonen gebaut sind; da sie jedoch durch feinere Nahrung genährt werden, wachsen sie mehr in die Breite und nehmen überhaupt eine feiner ausgearbeitete Form an; auch die Kelch- und die Kronenblätter, die Staubfäden, Nektarien, x) Die Metamorphose der Pflanzen. Cottas Ausg. Bd. 27, S. 12 sq. III. Idealistische Morphologie. 2"} die Narbe mit dem Griffel und die Frucht entstehen aus demselben Grundorgan; sie sind feiner und feiner, da sie eine mehr und mehr verarbeitete Nahrung bekommen. Die Entwicklung der Pflanze Schritt für Schritt verfolgend, findet Goethe, daß die Pflanze durch Umbildung eines und desselben Organs alle ihre Formmannigfaltigkeit entfaltet. Die Kräfte, durch welche die Um- wandlungen der Pflanzenorgane hervorgerufen werden, sind einmal die Pflanzensäfte, dann das Licht und die Luft, ferner das Gesetz der periodischen Ausdehnung und Zusammenziehung , welches man in dem Übergang von schmalen Kotyledonen zu breiten Laubblättern, wieder zu schmalen Kelchblättern und erweiterten Kronenblättern, auf welche dünne Staubfäden und ein dünner Griffel folgen, während die Frucht wieder ausgedehnter ist, erblicken soll. Goethes Theorie fand kühle Aufnahme bei den Zeitgenossen; der Verleger zögerte, sie zu drucken und die Fachleute hatten keine Lust, in derselben eine neue Entdeckung zu begrüßen. Die Fach- leute wissen eben nur exakte Wissenschaft zu schätzen und zu jener Zeit galt die Herbarienbotanik als solche. Allmählich wuchs jedoch die Anzahl der Anhänger (es wäre der Mühe wert, zu untersuchen, ob es wissenschaftliche oder vielmehr psychologische Motive waren, welche die Verbreitung der Theorie förderten); in den dreißiger, vierziger Jahren des ig. Jahrhunderts wurde Goethes Metamorphose zum tiefsten naturphilosophischen Begriff; wie der heutige Natur- forscher die Natur im Zeichen der Entwicklung erschließt, so galt damals das Wort Metamorphose für den Stein der Weisen, durch den man alle Probleme der Welt löste. Über Goethes Wissenschaft ist viel geschrieben worden, sie wurde gelobt, gedadelt, kritisiert und im ganzen ist sie den Weg aller Philosophien gegangen: wurde zuerst mißachtet, dann allgemein an- genommen, jedoch verschiedenartig aufgefaßt, endlich verworfen und vergessen. Ohne Zweifel war es Goethe damit ebenso Ernst wie mit der Poesie; zwar hatte er sich keine methodische Schulung er- worben; er besaß dagegen Liebe zur Wissenschaft und angeborenen Scharfsinn; diese führten ihn zu einer originellen Auffassung der Natur als eines lebenden Ganzen, das durch die Entwicklung seine Lebensaufgabe vollführt. Während andere Botaniker an der Pflanze nur die einzelnen Teile betrachteten, legte Goethe Nachdruck dar- auf, daß die Pflanzenteile nur greifbare Versinnlichungen , vorüber- gehende Offenbarungen des einzig wahren, immer beweglichen Lebensstromes sind, welcher nicht durch die Sinne erfaßt , sondern 2$ III. Idealistische Morphologie. nur durch den Verstand begriffen werden kann. Aus diesem Grunde fand Goethe auch keinen Gefallen an der damals noch tradierten Auf- fassung Leibnizens, nach welcher das Wesen des Lebens in der körperlichen Struktur liegt, welche von Anfang da ist und unver- änderlich bleibt, und suchte dagegen das Wesen des Lebens in der lebendigen Bewegung; die Form galt ihm nur als eine in die Erfahrung projizierte Darstellung des Lebens. Es war dies eine schöne Auffassung, ein Aufgeben der mecha- nischen Betrachtungsweise und eine Wiederbelebung des Glaubens an die Lebenskraft. Goethe schrieb selbst später, daß der Vita- list C. F. Wolff (aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrunderts) ihm durch seine epigenetische Theorie der Entwicklung nahe stand und dieser Wolff, zur Zeit als Goethe über die Metamorphose nach- dachte, ein beinahe unbekannter Mann, führte wieder seine Gedanken über das Leben gerade auf den großen Vitalisten G. E. STAHL zurück. Doch wirkte die Theorie Goethes auf die oben erwähnten Denker keineswegs durch ihren eigentlichen dynamischen Kern; wie es auch sonst zu geschehen pflegt: ein jeder verstand einen anderen Teil der- selben, nur ihre vitalistische Grundlage machte sich schwach geltend; durch den Einfluß der französischen Morphologen erblühte damals auch in Deutschland die Morphologie, und so wurde auch von der Meta- morphosenlehre nur ihr morphologischer Teil angenommen, d. h. der Gedanke, daß die Pflanzenorgane nach einem und demselben Plane, dem Plane des Blattes, gebaut sind. Ihre dynamische Grundlage jedoch, nach welcher die Pflanze durch die Entwicklung ihre Lebens- aufgabe löst, wurde entweder übersehen, oder für unwissenschaftlich erklärt, oder sie diente endlich nur zu einer Verzierung der morpho- logischen Theorie durch eine dynamisch klingende Terminologie: praktisch verlor das Wort Metamorphose den ihm von Goethe ge- gebenen Sinn von »Verwandlung« und gewann die engere Bedeu- tung von »Ähnlichkeit«. Goethe war übrigens selbst keineswegs einer solchen Auffassung abgeneigt, denn er schrieb selbst von einer »Tendenz« und »Wir- kung« an Stellen, wo solche Worte keinen dynamischen Sinn haben, sondern nur metaphorisch verstanden werden müssen ; praktisch stu- dierte ferner Goethe überhaupt nicht die Verwandlungen der Pflanzen, die Tendenzen und Kräfte, sondern er verglich die Pflanzenteile und die Elemente des tierischen Körpers, wodurch er wohl nur morphologische Ähnlichkeiten ermitteln konnte. III. Idealistische Morphologie. 29 Die Lehre von der Metamorphose faßte Goethe sehr allgemein auf; er wollte auf derselben nicht nur die ganze Botanik und Zoo- logie aufbauen, sondern die gesamte Naturphilosophie; die Verse >Und es ist das ewig Eine das sich vielfach offenbart«, bilden den Grundton nicht nur für seine Lehre von der Metamor- phose der Pflanzen, sondern auch für die Wissenschaft von den Ähn- lichkeiten unter Tieren und unter Farben. GOETHE sprach nämlich auch von einer Metamorphose der Tiere, worunter er einmal die Verwandlung der Larve in vollkommenes Insekt, dann aber auch die Ähnlichkeiten unter einzelnen Segmenten des Tierkörpers verstand. Auch die Farben ließ Goethe durch Umwandlung aus Licht und Dunkelheit entstehen. Der Begriff der Metamorphose, also tief und breit aufgefaßt, wurde zur Grundlage der biologischen Philosophie in der ersten Hälfte des ig. Jahrhunderts; überall, wo man sonst von Ähnlich- keiten spricht, schrieb man damals von Metamorphosen, und indem eoen damals die vergleichende Anatomie, welche nach Ähnlichkeiten forscht, ihren Höhepunkt erreichte, gab es reichlich Gelegenheit zu Erörterungen über Metamorphosen. Nicht nur in der Morphologie herrschte dieser Begriff, sondern auch in der Psychologie und Philo- sophie. JOH. MÜLLER, der bekannte Physiologe und Verehrer Goethes, schreibt beispielsweise von menschlichen Phantasiegebil- den1): »Die Phantasie bringt, nach denselben Gesetzen wie die Natur wir- kend, das gleiche in andern geselligen Verhältnissen ausbildend, die lebendige Metamorphose der Organismen zur sinnlichen Anschauung. Der spekulative Geist erkennt das Bilden und Verwandeln der Formen; die Phantasie, durch die Idee bestimmt, ist nach denselben Gesetzen wie die Natur tätig, ihr Lebensgesetz ist das der Metamorphose selbst.« SCHOPENHAUER entwickelte wieder aus dem Gedanken der In- sektenmetamorphose seinen Begriff des metaphysischen Willens auf eine Art, welche sich nicht weit von der Auffassung GOETHES ent- fernt. Er schreibt von der Insektenentwicklung3): »Die metaphysische Kraft, welche der Erscheinung eines solchen Tierchens zum Grunde liegt, ist so gering, daß sie die verschiedenen Funktionen des tierischen Lebens nicht gleichzeitig vollziehen kann, daher J) Nach H. Böhmer, Geschichte der Entwicklung der wissenschaftlichen Welt- anschauung in Deutschland. Gotha 1872. S. 100. 2) A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. II. (Reclam), S. 190. •30 III. Idealistische Morphologie. muß sie dieselben verteilen, um sukzessiv zu leisten, was bei den höher stehenden Tieren gleichzeitig vor sich geht . . .« Auch exakte Morphologen dachten viel über die Metamorphose nach; so beschäftigten sich die Botaniker P. Decandolle, Nees V. ESENBECK und Al. Braun viel mit derselben. Besonders Al. Braun (1805 — 1877) erweiterte sie zur Auffassung des gesamten Pflanzenlebens. Er entwickelt die Theorie wie folgt1): Die Grund- erscheinung der lebenden Natur ist die Verjüngung, denn so ist der Lebenslauf, daß nach der Jugend die Reife und das Alter folgt und nach diesem eine neue Jugend ; es verjüngt sich das ganze Indi- viduum, wenn es einen neuen Nachkommen zeugt, es verjüngt sich die Pflanze, wenn sie neue Äste, Blätter treibt, wenn sie neues Gewebe bildet; allein auch innerhalb eines und desselben Wesens wechseln die Jugend und das Alter mannigfaltig: das Kind hat bereits alte, absterbende Zähne, welche durch neue verjüngt werden, und um- gekehrt entstehen im entwickelten Zustande junge Zähne (Weisheits- zähne). Auf diese Art entsteht überall in der Natur die Jugend aus dem Alter; die Entwicklung der lebenden Natur geschieht also durch Verjüngung. Sie besteht entweder in der Wiederholung (wenn z. B. auf einem Ast immer dieselbe Art von Laubblättern neu ge- bildet wird), oder sie wird zu einem Fortschritt, wenn nach den Blättern einer Art andersartige folgen, nach den Laubblättern der Kelch, dann die Krone usw. Es besteht folglich die Metamorphose des Blattes einerseits in der Wiederholung desselben Grundplans der neue Organe bildenden Pflanze, anderseits in der Durcharbeitung, Vertiefung dieses Grundplans. Die Pflanze wächst nämlich sozu- sagen in drei Wellen, von welchen die ersten zwei wieder gewellt sind. Die erste Welle beginnt mit engen Niederblättern (Schuppen), erreicht ihren Höhepunkt in den grünen, breiten Laubblättern, um dann wieder zu engen Hochblättern zu sinken. Es fängt dann die zweite Welle an, von engeren Kelchblättern zu breiteren Kronen- blättern steigend, von diesen zu dünnen Staubfäden sinkend; die Fruchtblätter bilden die dritte Welle. Man kann Metamorphosen und Verjüngung nach Braun überall in der lebendigen Natur antreffen. Wie die Zelle durch Teilung in zwei Tochterzellen sich verjüngt, oder der Ast, indem er einen neuen Seitensproß bildet, das Blatt, indem es immer von neuem entsteht, so verjüngt sich auch die ganze Pflanze, indem sie Samen bildet, *) A. Braun, Betrachtungen über die Erscheinung der Verjüngung in der Natur. Leipzig 1851. III. Idealistische Morphologie. 31 ehe sie zugrunde geht, und aus den Samen neue Generationen. Und wie sich die Blätter auf zweifache Art verjüngen, durch Wiederholung der alten Formen und durch Fortschreiten zu vollkommeneren, so kann man auch in der Geschichte der lebenden Natur zwei Vorgänge vermuten: erstens die Wiederholung, wenn das Individuum seines- gleichen hervorbringt; beobachtet man die jetzige Natur, so wähnt man, daß alle Entwicklung nur in einer solchen Wiederholung be- steht, denn die Tiere und Pflanzen erzeugen nur Nachkommen, die ihnen ähnlich sind. Doch wie auf einem Baume hunderte und tau- sende von ähnlichen Laubblättern entstehen, so daß man nicht glau- ben würde, daß hier ein Fortschritt möglich wäre und dennoch ein- mal Blumenblätter erscheinen, so wird es auch mit der gesamten lebenden Natur geschehen. Die Geologie beweist dies, denn wir treffen in den Erdschichten die ersten Anfänge der Arten, Gattungen, ja sogar der Ordnungen und Familien1), und wir sehen, wie sie sich aus unmerklichen und undifferenzierten Anfängen in vollkommene Typen entwickeln, in ihrer Zahl und der Strukturmannigfaltigkeit wachsen, um einmal später wieder ganz oder fast ganz aus der Natur zu verschwinden. Das ist die Verjüngung der Natur in ihrem größten Maßstabe. Auch einen geistigen Inhalt soll die Metamorphose, mit der Ver- jüngung verknüpft, besitzen: sie ist gleichwie eine Erinnerung der Natur an ihre Vergangenheit, und der Fortschritt in der Verjüngung besteht in einer verfeinerten Erinnerung. Alle Entwicklung, so wie sie die Entwicklung von Gesetzen darstellt, ist auch eine Entwick- lung des Geistes; der Geist wurde nicht der Natur als ein Anderes eingepflanzt, sondern er ist ihr wesentlicher Bestandteil ; wir bemerken ihn bereits in ihren niedrigsten Stufen, immer deutlicher jedoch in den höheren: in seiner Vollkommenheit, als menschlicher Geist, ist er zwar das jüngste Kind der Natur, allein undifferenziert ist er ihre früheste Eigenschaft. In solcher Weise dachte man über die Entwicklung acht Jahre vor dem Hauptwerke Darwins; als dieses erschien, wurde auf einmal allen Erörterungen über den Fortschritt des Geistes in der Natur, über die Verwirklichung bestimmter Pläne in ihr ein Ende gemacht, und aus dem Begriff der Metamorphose blieb nur ein Rudiment 2). *) A. Braun, Betrachtungen über die Erscheinung der Verjüngung in der Natur. Leipzig 1851. S. 9. 2) Über die Metamorphosenlehre vergleiche insbes. Au. Hansen, Goethes Meta- morphose der Pflanzen. Gießen 1907. In dieser Schrift stellt Hans ■\2 III- Idealistische Morphologie. Homologien und Analogien. Die Botaniker erfanden für die Ähnlichkeiten der Pfianzenorgane den Namen Metamorphose, die Zoologen nannten sie Homologien und Analogien. Der Vorgänger CuviERs, der französische Anatom F. VlCQ d'Azyr (1748 — 1794) machte bereits auf die Ähnlichkeiten, einmal unter den Organen verschiedener Tiere (z. B. zwischen der menschlichen Hand und dem Pferdefuß) und dann unter verschie- denen Teilen eines und desselben Tieres (z. B. zwischen der mensch- lichen Hand und dem menschlichen Fuß) aufmerksam. G. CuviER erweiterte diesen Gedanken durch eine neue Lehre: der Bau ein- zelner Organe hängt von der Lebensweise des Tieres ab, der Bau anderer jedoch von der inneren Organisation; so hängen die scharfen Zähne und Klauen und das leichte Skelett eines Raubtieres offenbar mit seiner Lebensweise zusammen, während die Zweihufigkeit der Wiederkäuer nicht aus der Art, wie sie die Nahrung aufnehmen, er- klärt werden kann — es müssen irgendwelche innere Verhältnisse im Bau des Tieres die Anzahl seiner Zehen bestimmen. CuviER blieb bei dem Hinweis auf diesen Unterschied, ohne ihn weiter zu analysieren. Theorie in ein neues Licht; er beweist mit großer Gründlichkeit, daß Goethes An- sichten mit den modernsten übereinstimmen. In mehrerer Hinsicht hat er gewiß recht und ich habe demgemäß meine Erklärung der Theorie Goethes im Texte gegenüber dem I. Teil meiner Schrift modifiziert; aber Hansen zeigt nur auf die lichten Seiten der GoETHEschen Theorie und ist der Bedeutung anderer Forscher, insbesondere Linnes, gegenüber ungerecht; drittens beweist er allzuviel; daß unsere Theorien denjenigen Goethes nahestehen, ist wahr, aber die Identität der beiden be- weisen zu wollen, ist ein Verstoß gegen die historische Methode. Hansen übersieht insbesondere, daß Goethe ein Vitalist und ein Morphologe war. Ganz besonders unbillig ist jedoch Hansen gegen den tschechischen Botaniker Celakoysky, der seinerzeit über die GoETHEsche Metamorphosenlehre schrieb und dem er Lüge und bewußte Verdrehung der Worte Goethes vorwirft. Vielleicht werde ich Gelegenheit finden, mich mit der Schrift Hansens in einem selbständigen Artikel zu beschäftigen; was Cei.akovsky anbelangt, so zweifle ich nicht, daß er von den reinsten Motiven zu seinen Studien geführt wurde, und daß sie von seinem philosophischen Stand- punkte — den ich für sehr beachtenswert halte — leicht begreiflich ist. Cela- kovsky hält nämlich wie so viele andere (und wie ich es früher auch getan) den dynamischen Teil der GoETHEschen Metamorphosenlehre nur für eine »Naturphilo- sophie« und betrachtet bloß die morphologisch ermittelbare Ähnlichkeit der Blattorgane als eine positive Tatsache; dann erscheint die Verwandtschaft zwischen der Theorie Goethes und Linnes viel näher als es Hansen zulassen will, der auf das Dynamische bei Goethe das Hauptgewicht legt. Ich habe jedoch im Text darauf hingewiesen, daß es nicht zulässig wäre, nur das Dynamische bei Goethe hervorzuheben, ja, daß tatsächlich praktisch bei Goethe das Morphologische Übergewicht hatte. III. Idealistische Morphologie. -i-t Auch LAMARCK bemerkte diesen Unterschied, ging jedoch weiter; er behauptete, daß die geschichtliche Entwicklung zweierlei Ursachen gehabt habe: innere und äußere, welch letztere in einer Anpassung des Organismus an äußere Umstände bestehen; so sei der Bau des Fischkörpers eine Folge der inneren Organisation, der Bau des Wal- fischkörpers eine Folge der Wirkungen der Umgebung '). Blainville, Schüler Cuviers und LAMARCKs, behauptet etwas Ähnliches, wenn er verlangt, daß man die Tiere nach morphologischen Eigen- schaften klassifiziere, wodurch man zu allmählich fortschreitenden Reihen der Tierwelt gelangen würde, welche jedoch durch »Ano- malien« (wenn nämlich ein Tier für eine ganz besondere Lebens- weise bestimmt ist) unterbrochen wären; so tritt die Fledermaus aus der Reihe der Säugetiere heraus, so (wenn auch nicht so auffallend) der Maulwurf, das Faultier, die Robbe, die fliegenden Fische2). Der englische Naturphilosoph W. S. MC Leay 3) unterschied ebenfalls diese zwei Arten von Ähnlichkeit und gab ihnen bereits besondere Namen: die Ähnlichkeit aus inneren Ursachen nennt er Verwandt- schaft (affinity), die aus äußeren Analogie (analogy); doch ver- knüpft er diese Unterscheidung mit eigenartigen Phantasien. So läßt sich Schritt für Schritt die Entwicklung des Gedankens verfolgen, den endlich der englische Anatom RlCH. Owen (1804 bis 1892) klar ausgesprochen hat. In den Anschauungen franzö- sischer Morphologen erzogen, richtete Owen alle seine Bestrebungen auf das Ziel, durch Analyse des tierischen Körpers dessen Plan, oder Archetype, wie er ihn nannte, zu konstruieren. Durch Vergleichung der Tierstrukturen, sowie der Strukturen einzelner Teile derselben gelangte er zur Aufzählung folgender Ähnlichkeiten4): 1. Es gibt Organe, wie die Flügel der Schmetterlinge, der Fleder- mäuse, der Vögel, welche alle dem Fluge dienend ihrem Bau nach sehr verschieden sind; solche nur durch ihre Funktion ähnliche Organe sollen analog heißen5). Analog sind auch die Kiefer der Wirbeltiere und der Insekten, die Füße der Säugetiere und der Arthropoden, die Flossen der Fische und der Walfische, die Augen des Menschen und der Insekten usw. *) Lamakck. Hist. nat. I, S. 287. 2) H. Blainville, Osteographie. Paris 1839. 3) Mc Leay, Horae entomologicae or Essays on Anuulose Animals. London 1819 — 1821. 4) R. Owen, Lectures on Invertebrate Animals. London 1843. Glossary. 5) Geoffroy verstand unter »Analogie« jede Art der Ähnlichkeit, also auch die Homologie. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. 1 ■ia III. Idealistische Morphologie. 2. Organe von ähnlichem inneren Bau (sei nun ihre Funktion ähnlich oder unähnlich) sollen homolog heißen. Homolog sind z. B. der Fuß des Menschen, des Pferdes, des Vogels; die Kiefer und Füße des Krebses usw. Eine gründlichere Analyse der Analogien geht den Physiologen an; da jedoch die Zeit, als Owen wirkte, physiologischen Unter- suchungen nicht günstig war, blieb Owen bei der allgemeinen Be- stimmung des Begriffes der Analogie, und da die spätere Zeit über- haupt den Sinn für solche begriffliche Analysen verlor, ist bis auf den heutigen Tag der Begriff der Analogie nicht gründlicher analy- siert worden, obwohl es gewiß der Mühe wert wäre, die tierischen Analogien zu klassifizieren und nach dieser Seite hin unsere Kennt- nisse vom Leben zu vertiefen. Owen untersuchte jedoch näher den Begriff der Homologie und unterschied innerhalb desselben: spezielle Homologie, welche in einer Ähnlichkeit der Teile verschiedener Tiere besteht (der Fuß des Pferdes und des Vogels); ferner allgemeine Homologie, welche die Beziehung eines Teiles zu einem allgemeinen Typus bedeutet (so ist z. B. die menschliche Hand die vordere Extremität der Säugetiere). Endlich unterschied er Homotypien: Teile, welche denselben Plan auf demselben Individuum wiederholen (z. B. die Segmente der Ringelwürmer, die vordere und hintere Extremität der Wirbeltiere). Owens Klassifikation der strukturellen Ähnlichkeiten wurde auch von den Darwinisten angenommen; E. Haeckel und C. GEGENBAUR. nahmen sie nur mit kleinen Änderungen in ihre genetische Mor- phologie auf, obwohl sie den Grundunterschied zwischen den Homo- logien und Analogien zu verwischen versuchten. E. HAECKEL1) teilt die Homotypien noch in Homodynamien (Homologien der Seg- mente längs der Körperachse) und Homonomien (Homologien der Teile, welche senkrecht zur Körperachse liegen, wie Schenkel, Schien- bein usw.). C. Gegenbaur gab den Begriffen Owens andere Namen; seine Klassifikation der Homologien, welche noch heute oft ange- wendet wird, ist die folgende 2) : i. Die allgemeinen Homologien Owens werden eingeteilt in: Homotypien (Homologien der rechten und linken Körper- seite) ; Homodynamien I , . , . TT . J . ) wie bei Haeckel . Homonomien ) J) E. Haeckel, Generelle Morphologie I, 1866, S. 316 sqq. -) C. Gegenbaur, Vergl. Anatomie der Wirbeltiere I, 1898. (II. Idealistische Morphologie. 35 2. Die speziellen Homologien Owens sind: vollkommene, wie die Homologien unter den Knochen der vorderen Extremität bei höheren Wirbeltieren; unvollkommene, wie die Homologie des Herzens der Wir- beltiere, wo neben homologen Teilen andere vorkommen, welche zwar auch ähnlich sind, jedoch nicht aus inneren, strukturellen Gründen, sondern infolge ihrer analogen Funktion. Anders als OWEN dachte über die Ähnlichkeiten der Tiere der amerikanische Zoologe und Paläontologe Louis AGASSIZ1). Er zieht die ausgestorbenen Tiere heran; alle, von den ältesten Zeiten bis auf den heutigen Tag, bewahren einen und denselben Grundplan; zuerst aber erscheinen weniger vollkommene Formen, welche gleich- sam eine Vorahnung, eine Andeutung von dem, was die Zukunft verklärt bringen wird, darstellen; so sind die fleischfressenden Saurier aus der mesozoischen Periode nur eine Prophezeiung des Kommen- den, welches die Raubtiere zur Welt bringen wird; die fliegenden Saurier sind nur ein Versprechen der nachherigen Vögel. Ein an- deres Mal wieder entwickelt sich im Körper eines Tieres im Über- maß ein Teil, welcher anderswo nur weniger betont vorkommt, wie z. B. der lange Hals der Giraffe. AGASSIZ unterschied folgende Ähnlichkeiten: 1. Embryonale Typen deuten einen Gedanken an, welcher sich in der Zukunft vollkommener entwickeln wird; die ausgestorbenen mehrzehigen Pferde sind ein Beispiel. 2. Hypembryonale Typen sind solche, bei welchen sich im Übermaß Eigenschaften entwickeln, welche anderswo nur angedeutet vorkommen; die Haut des Fledermausflügels gehört hierher, welche nur eine monströs entwickelte Haut darstellt, die in rudimentärem Zustande auch zwischen den Fingern der übrigen Säuger vorkommt. Die embryonalen und hypembryonalen Typen Agassiz' entsprechen den Homologien Owens. 3. Prophetische Typen sind Owens Analogien: Ichthyosaurier prophezeien z. B. unsere Delphine, fleischfressende Saurier unsere Raubtiere usf. Diese Philosophie Agassiz' blieb ohne Wirkung auf die Nach- welt; es würde wohl der Mühe wert gewesen sein, zu untersuchen, welche Tiere und worin sie prophetisch, embryonal, hypembryonal sind, allein AGASSIZ selbst führte seine Gedanken nur im allgemeinen ') L. Agassiz, Essay on Classification. Philadelphia 1859. Nebst den ange- führten unterscheidet Agassiz noch progressive und synthetische Typen. 3* •35 III. Idealistische Morphologie. aus, unter Anführung nur einiger Beispiele; auch erschienen seine Ansichten zu einer Zeit, als die Morphologie bereits ihren Zenith überschritten hatte; einige Monate nach seinem Essay erschien das Werk Darwins, welches wohl ganz andere Anschauungen brachte als diejenige war, daß die ausgestorbenen Tiere eine Vorahnung der heutigen seien. Es ist leider auch für die absehbare Zukunft keine Hoffnung, daß jemand den Spuren Agassiz' folgen sollte. Klassifikation. Seit dem Altertum, seit Plato und Aristoteles, erhält sich die Annahme, daß man die Natur als eine ununterbrochene Reihe von aufsteigenden Wesenheiten aufzufassen habe; von Leibniz wurde sie erneuert und wieder belebt, und später wurde sie zur Grundlage der Klassifikationen der organischen Natur erkoren. Da nun die von uns eben geschilderte Zeit überzeugt war, daß das Wesen des Or- ganismus in seiner Form liege, war sie bemüht, in der Natur jene Reihe von vollkommeneren und vollkommeneren Formen aufzu- finden. Seitdem erhält sich auch die Überzeugung, daß die Klassifi- kation den Höhepunkt der Erkenntnis bildet, da sie am bündigsten und logischesten die Natur begreift. Linne, der zuerst ein großes System der Natur darbot, faßte es zwar nicht besonders tief auf; mehr, als um ein philosophisches Begreifen der Natur, handelte es sich ihm um eine praktische Zusammenstellung der Pflanzen nach ihren Merkmalen, zum Zwecke leichterer Wiedererkennung, sozusagen um einen Bädeker im Reiche der Pflanzen. Nichtsdestoweniger war es ein konsequent und in großem Maßstabe durchgeführter Versuch. Die Franzosen vertieften ihn, indem sie die Beschreibung der Pflanze nach ihren äußeren Merkmalen durch Charakterisierung derselben nach wesentlichen Eigenschaften ersetzten und so das natürliche System begründeten; es waren insbesondere Ant. L. de JussiEü (1748 — 1836) und A. P. Decandolle (1778 — 1841), während in England eine ähnliche Richtung durch Rob. Brown (1773 — 1858), in Deutschland durch St. S. Endlicher (1805 — 1849) vertreten wurde. Im großen und ganzen ging die Entwicklung der Pflanzensyste- matik regelmäßig vor sich; nur in einer Hinsicht machte das 19. Jahr- hundert einen sehr wesentlichen Fortschritt, indem es die Kenntnis der Kryptogamen vertiefte. Das jetzige Pflanzensystem kennt fol- gende große Gruppen1): J) Nach E. Warming, Handbuch der System. Botanik. Berlin 1890. III. Idealistische Morphologie. -in I. Thallophyta: III. Pteridophyta: A. Algae (Algen) Farnpflanzen. B. Fungi (Pilze). IV. Gymnospermae (Nackt- II. Bryophyta (Moose). sämige), (Die wahren und die Leber- Cycadeae, Nadelhölzer, Gnc- moose.) taceae. V. Angiospermae (Gedecktsamige) : A. Monocotyledones, B. Dicotyledones. Nicht so harmonisch entwickelten sich die Anschauungen über das System der Tiere. Auch dieses System wurde zuerst im großen von LlNNE begründet, und wie seine botanischen Ansichten, wirkte auch sein zoologisches System insbesondere in Deutschland, während es in Frankreich durch CüVTER vertieft wurde. CuviER unterschied vier Tierreihen (embranchements), welche untereinander durch keinen Übergang verbunden sind; in jeder einzelnen Reihe lassen sich jedoch die Tiere in eine Hierarchie zusammenstellen, welche mit den ein- fachsten Formen anfängt und mit den zusammengesetztesten schließt. CuviER führte folgendes System ein1): I. Vertebrata (Wirbeltiere): Säugetiere, Vögel, Kriechtiere (zu welchen er auch Amphibien zählte), Fische. II. Mollusca (Weichtiere): Cephalopoda, Pteropoda, Gasteropoda, Acephala (inklus. Tuni- cata), Brachiopoda, Cirrhipedia (Cirrhipedia sind später als Krustentiere erkannt worden). III. Articulata: Annelides (Ringelwürmer), Crustacea, Arachnoidea, Insecta (inklus. Myriapoda). IV. Radiata (Strahltiere): Echinodermata, parasitische Würmer (Nematoda, Parenchy- matosa), Acalephae, Polypi (inklus. Bryozoa), Infusoria (inklus. Rotatoria). Seit dieser Zeit wurde das System Cuyiers und namentlich seine Lehre von den Typen zum Ausgangspunkt für alle späteren Systeme, es sei nun, daß sich ihre Begründer an CüVTER anschlössen oder ihn bekämpften. Viele Versuche erschienen, welche CuviER ver- z) G. Cuviek, Regne animal. 1829, 2i»e £d. ■3 8 HI- Idealistische Morphologie. besserten und vervollständigten, und die Folge war, daß die Anzahl der Typen mehr und mehr anwuchs. H. DE Blainville teilte die Radiaten in zwei Typen: Radiata und »Amorpha« '). Die Deutschen C. Th. v. SlEBOLD und H. Stannius2) führten als neue Typen die Gruppen der Protozoen und Würmer ein, so daß ihr System folgende Typen zählte: Protozoa, Zoophyta (= Coelenterata, Bryozoa, Echino- dermata), Vermes (inklus. Ringelwürmer), Mollusca, Arthropoda, Verte- brata. Rud. Leuckart3) teilte dann die Zoophyten in zwei Typen, Coelenterata und Echinodermata, welche bis heute anerkannt werden; sein System ist bereits nicht weit von dem modernen entfernt. Als man neue und neue Typen annahm, verwarf man zwar nicht gänzlich die Überzeugung von ihrer Bedeutung als isolierter, ohne Übergänge dastehender Tiergruppen, aber eben deshalb, daß die Anschauungen über deren Anzahl auseinandergingen und schwankten, nahm die ursprüngliche Bestimmtheit des Typusbegriffes ab, und es verschwand der absolute Unterschied, welchen CuviER zwischen den Typen und den niederen Gruppen aufstellte. Trotzdem blieb der Gedanke von der Abgeschlossenheit der einzelnen Typen aufrecht, um so mehr, als ihn C. E. v. Baer durch seine entwicklungs- geschichtlichen Untersuchungen unterstützte; vier Jahre vor der Er- scheinung der DARWiNschen Schrift verteidigte noch H. Milne-Ed- WARDS die vier ursprünglich von CuviER aufgestellten Typen. Diese Richtung hielt die Systematik seit LlNNE bis auf die letzten Jahre ein; alle bisher erwähnten Forscher suchten nach einem natür- lichen System der tierischen Formen, indem sie wissentlich un- wissentlich die Lebenserscheinungen nur für eine Folge der Körper- struktur hielten. Es erschienen jedoch auch Versuche anderer als anatomischer Systeme. In Frankreich führte Lamarck eine Klassi- fikation der Tiere nach ihren psychischen Eigenschaften ein; da ihm jedoch diese ungenügend bekannt waren, hatte sein bereits angeführter Versuch keinen Erfolg. In Deutschland wieder versuchte Oken das System auf Physiologie zu gründen; er unterschied folgende Tier- gruppen : I. Stufe. Intestinale Tiere (Eingeweidetiere), deren Leben durch ihr Vegetationssystem beherrscht wird ; nach diesem System teilen sie sich wieder ein in: *) H. Blainville, Ost^ographie. Paris 1839. 2) Siebold und Stannius, Lehrbuch der vergl. Anatomie. Berlin 1845. 2 Bde- 3) R. Leuckart, Über Morphologie und Verwandtschaftsverhältnisse der wirbel- losen Tiere. Braunschweig 1848. III. Idealistische Morphologie. iq i. Digestive Tiere (= Radiata CuviERs), welche teils Mundtiere Infusoria), teils Eingeweidetiere (Polypi), teils Milchtiere (Medusen) sind. 2. Blutgefäßtiere (Zirkulative T. = Mollusca) , welche nach der Struktur ihres Herzens in Biauriculata, Uniauriculata und Bicardiata unterschieden werden. 3. Atmungstiere (Respirative T. = Arthropoda) sind erstens Haut- tiere (Würmer), zweitens Kiementiere (Krustentiere), drittens Tracheen- tiere (Insekten). IL Stufe. Fleisch- oder Kopftiere = Wirbeltiere. 1. Eigentliche Fleischtiere (mit unvollkommenen Sinnesorganen): Knochentiere (Fische), Muskeltiere (Reptilien) und Nerventiere (Vögel). 2. Sinnestiere = Säugetiere. Wenn irgend jemand seit dem Verfall der Naturphilosophie auf dieses OKEXsche System zu sprechen kam, begann seine Erwähnung kaum anders als mit risum teneatis; und doch, ein wie tiefer Ge- danke liegt ihm zugrunde ! Noch heute gibt es viele , und es sind die modernsten, welche behaupten, daß Funktion wesentlicher sei als Struktur; wenn dem so ist, hatte OKEN nicht recht, die Tiere nach ihren Funktionen zu ordnen ? Ist die Gruppe der Tracheentiere nicht natürlich? Ein unbebautes Gebiet hat da Oken berührt, jedoch kein Verständnis gefunden ; ein unbekanntes Gebiet, voll von schönen Tat- sachen — doch wird es noch lange dauern, bevor es jemand wagt, in diesem unbekannten Lande nach neuen Entdeckungen zu suchen. Theorien über das Wesen der Kategorien in der Klassifikation der Tiere. Die Frage, von woher die Arten, Gattungen usw. kamen, schuf erst das 19. Jahrhundert; im 18. herrschte kein Streit darüber, ob die Arten entstanden oder erschaffen wurden, sondern, ob es Arten gibt oder nicht gibt — ein altes scholastisches Problem, welches durch die Biologen des 1 8. Jahrhunderts erneuert wurde. Wir wollen zusehen, wie man damals die Frage formulierte. Nach Maupertuis, dem bekannten »docteur Akakia«, wurden die Organismen als eine ununterbrochene Reihe von Formen geschaffen, viele Übergangs- formen starben aber aus (ont ete detruites); deshalb sei die Hierarchie der Wesen unserer Erkenntnis entrückt worden1). Robinet, ein französischer, von Leibniz abhängiger Philosoph, polemisiert gegen diese Ansicht Maupertuis1 und schreibt2) im Jahre 1761: J) Maupertuis, Oeuvres I, S. 72 — 74. 2) Robinet, Oeuvres IV, S. 1, 2. 40 LEI. Idealistische Morphologie. »Die klarsten Köpfe weisen nach, daß alle Wesen von demselben Range sind, und daß es keine wesentlichen Unterschiede unter ihnen gibt, daß es niemals mehr als ein Prototyp für alle Wesen gab, dessen bewunderungswürdig zahlreiche und auf alle möglichen Arten differen- zierte Variationen sie darstellen.« Es waren also beide, Maupertuis wie ROBINET, der Überzeugung, daß die Organismen eine ununterbrochene Hierarchie bilden; nur darin waren sie uneins, ob diese Hierarchie in ihrer Lückenlosigkeit durch den Menschen zu erkennen ist oder nicht. Lamarck huldigte einer ähnlichen Ansicht; nur darin war er einer anderen Meinung, daß er die Organismen in mehrere aus einem Punkt sich verzweigende Reihen zusammenstellte. Andere sachlichere Forscher dagegen, an ihrer Spitze Linne, wußten aus ihrer Praxis, daß es Arten und Gattungen gibt und daß die Arten scharf umgrenzt zu sein pflegen; sie glaubten auch an die Kontinuität in der Natur, stellten sich aber anstatt einer linearen Stetigkeit eine flächenhafte vor und behaupteten, daß man von einem Individuum, von einer Art, von einer Gattung Übergänge nicht nur nach vorne und hinten (zu einer höheren und einer niederen Form) antreffe, sondern nach allen Seiten, zu vielen anderen Formen ; daß man sich also die Indi- viduen und Arten als Städte, Kreise, Länder auf einer Karte vor- stellen könne, welche nach vielen Richtungen zusammenhängen. So lehrten auch Pallas, Decandolle u. a. Das Artproblem kann noch anders aufgefaßt werden. Es gibt ohne Zweifel in der Natur Arten, sonst wäre keine Anleitung möglich, die Arten zu bestimmen, es wäre nicht möglich, von den Arten zu sprechen; das Problem beginnt erst, wenn es zu sagen gilt, was sie bedeuten. Ist vielleicht die organische Substanz in ihrem Wesen bereits so beschaffen, daß sie besondere Individual-, Varietät-, Art-, Gattungs- usw. Eigenschaften haben muß, etwa so, wie ein jeder Gegenstand Eigenschaften des Punktes, der Linie, der Fläche und des Raumes hat? Dies würde bedeuten, daß ein jeder Organismus besondere Individual-, Art-, Gattungseigenschaften besitzen müsse und diese Gruppen würden etwas Absolutes sein; es müßte in der ge- samten lebendigen Natur ein und derselbe Maßstab für die Art vor- handen sein, ein anderer, wieder aber durchgängig derselbe für die Gattung usw. Oder: die lebendige Substanz hat die Beschaffenheit von Indivi- duen, welche einander mehr oder weniger ähnlich sind; die ähn- lichsten stellen wir zu einer Art zusammen, wobei jedoch der Ahn- III. Idealistische Morphologie. a\ lichkeitsgrad bei verschiedenen Arten verschieden sein kann ; wäh- rend eine Art (der Hund z. B.) einander sehr unnähnliche Formen enthält, schließt eine andere (z. B. der Hase) Individuen ein, welche einander fast gleich sind. In diesem Falle kann keine allgemeine Definition der Art gegeben werden; man muß jedoch auch hier wieder zwei Möglichkeiten unterscheiden. Entweder liegen die die Art charakterisierenden Merkmale im Wesen der Art selbst, wie wenn wir Ellipse, Hyperbel und Parabel unterscheiden, welche wir durch ihre Konstruktionsregel bestimmen; oder die die Art bestimmenden Merkmale sind durch die Außenwelt gegeben, wie z. B. die Umrisse der Inseln, welche durch Meeresbrandung, durch Flußmündung usw. formiert werden. In diesem Falle hat es wohl keinen Sinn, Regeln zu suchen, nach welchen die Art gebildet ist, sondern man wird nur deren Ursachen erforschen. Man merke wohl, daß im ersten Falle zwei Arten, die Ellipse und der Kreis z. B. durch Übergänge ver- knüpft werden und doch wesentlich verschieden sein können; die Stetigkeit der Übergänge ist also kein Beweis gegen das Vorhanden- sein der Arten. In der schematischen Form, wie wir die Frage nach dem Wesen der Art jetzt erklärt haben, erschien sie niemals in der Geschichte der Biologie: allein, diesen Sinn hat der Streit um den Begriff der Art gehabt. LlNNE unterschied Varietäten, Arten, Gattungen, Ordnungen und faßte das Verhältnis dieser Gruppen so auf: außerhalb des Systems stehen die Varietäten, welche nur künstlich oder zufällig entstehen, und welche, auf sich selbst angewiesen, zur ursprünglichen Form zurückkehren. Die einfachste, systematische Einheit soll die Art sein, z. B. der Birnbaum, der Apfelbaum; die Arten derselben Gattung haben einige Eigenschaften gemeinsam (der Birn- und der Apfelbaum, zu derselben Gattung gehörend, besitzen beide in jedem der Fruchtfächer 2 Samen) und diese gemeinsamen Eigenschaften bilden die Merkmale der Gattung; die übrigen Eigenschaften, wie die Farbe der Kronenblätter, der Staubfäden, der Habitus des Baumes usw. können zwar auch Gattungsmerkmale sein, aber sind verschiedent- lich unter anderen Gattungen verteilt; die in eine und dieselbe Ord- nung gehörigen Gattungen haben wieder gemeinsame (Ordnungs-) Merkmale, während ihre übrigen Merkmale in anderen Ordnungen vorkommen ; die allen Ordnungen gemeinsamen Eigenschaften charakte- risieren die Pflanze im allgemeinen. Die eben erklärte Ansicht von dem Verhältnis der Eigenschaften A2 III. Idealistische Morphologie. zu den systematischen Gruppen drückte Linne" in einer eigentüm- lichen Form aus. Gott soll , so schreibt er , dem Idealtypus der Pflanze, welcher die Pistillnatur hat, verschiedene Staubfädeneigen- schaften verliehen haben und auf diese Art so viele, in der Anzahl ihrer Staubfäden verschiedene Individuen geschaffen haben, als es Ordnungen gibt (es ist bekannt, daß Linne die Pflanzenordnungen nach der Anzahl der Staubfäden unterschied). Die Eigenschaften jener Individuen hat Gott untereinander gemischt und soviele Indi- viduen gebildet, als es Gattungen gibt. Die Gattungseigenschaften sollen sich in der Natur durch Kreuzung der Gattungsindividuen ver- mengt haben und so sind die Arten entstanden. Der Zufall hat die Arten gemischt, woraus die Varietäten entsprungen sind1). Der Sinn dieser Hypothese, welche später von den Darwinisten oft angeführt und in genetischem Sinne gedeutet wurde, ist, daß die Art-, Gattungs- und Ordnungsgruppen absolut sind und daß es besondere Art-, Gattungs- und Ordnungsmerkmale gibt. Heute dünkt diese Auffassung der organischen Formen den meisten Forschern unmöglich; und doch wurde sie wieder und wieder von den Philo- sophen aufgegriffen und in der letzten Zeit kehren wieder einige zu der- selben zurück; nicht lange vor dem Auftreten Darwins hat sich derselben sehr warm Louis AGASSIZ2) angenommen, derselbe, von welchem bereits oben gesprochen wurde, Das System und seine Kategorien, behauptete er, sind nicht nur eine Erfindung des Men- schen, sie liegen in der Natur, der sie Gott eingehaucht hatte. Ein jedes Tier hat gewisse Art-, andere Gattungs-Merkmale usw., so daß, wenn man von den Krustentieren z. B. kein anderes Tier als den Krebs kennen würde , man doch an demselben die Artmerkmale von den Gattungs-, Familien- und Ordnungsmerkmalen unterscheiden könnte 3). Die Theorie der allmählichen Umwandlungen der Tiere durch Einwirkungen der Umgebung bestreitet AGASSIZ ; viele Seiten seiner Schrift hindurch bekämpft er Lamarck, der dieses lehrt und führt gegen ihm insbesondere folgende Gründe ins Feld : Die verschiedensten Tiere leben unter denselben Bedingungen der Umgebung; wie mannigfaltig ist z. B. das Leben in einem Wassertropfen ! Doch auch umgekehrt treffen wir unter den ver- schiedensten Umständen dieselben Tiertypen an: der Mensch, der Wolf leben von den Polargegenden bis zu den heißesten Zonen der x) C. Linne, Genera plantarum. 4. Ausg. 1764. 2) L. Agassiz, Essay on Classif. 1859. 3) Ibid. S. 7. III. Idealistische Morphologie. a -i Erde und dies wäre nicht möglich, wenn die Umgebung auf die Tiere von Einfluß sein würde. Wenn auch die Tiere noch so ver- schieden sind und verschieden leben, bewahren sie eine Einheit des Planes: vom Pol bis zum Äquator sind alle Vögel wesentlich ähnlich gebaut, und die Homologien lassen sich bis in solche Einzelheiten, wie die zwischen der Vogclfeder und der Fischschuppe verfolgen. Folglich glaubt AgaSSIZ, daß alle vier Typen CüVIERs vom ersten Aufkommen des Lebens auf Erden an da waren; seit jener Zeit kamen zwar neue Formen auf, jedoch nicht absolut neue, sondern die späteren drückten nur klarer und klarer denjenigen Plan aus, der von allem Anfang da war. Der Mensch bildet den Höhepunkt und Schlußstein der Entwicklung; höher wird die Natur nicht vordringen, die Zukunft wird nur einen Fortschritt des menschlichen Verstandes sehen1). In einer Hinsicht stand AGASSIZ hoch über seiner Zeit, welche nur für die Morphologie Sinn hatte: er begriff, daß die anatomische Anschauung vom Lebewesen derart einseitig ist, daß das auf die Mor- phologie begründete System nicht das natürlichste ist, daß man auch auf die Embryologie, Paläontologie, Physiologie, die geographische Verbreitung Rücksicht nehmen müsse — ein beachtenswerter Ge- danke, der niemals zuvor mit einer solchen Klarheit ausgesprochen wurde, und der sich leider in der darwinistischen Flut unbeachtet verlor. AGASSIZ machte darauf aufmerksam, daß verwandte Arten nicht nur in der Form ihres Körpers ähnlich sehen, sondern sich auch ähnlich bewegen, ähnliche Gewohnheiten, ja ähnliche Stimmen haben 2) ; doch verteidigte er diesen Grundsatz allzu konsequent gegen die Lehre von den Artenverwandlungen; während durch diese be- hauptet wurde, daß die anatomischen Merkmale der Tiere veränder- lich und von der Umgebung abhängig sind, sollen sie alle nach AgaSSIZ von Anfang an konstant sein, ein jedes Tier habe von seiner Entstehung an nicht nur dieselben körperlichen, sondern auch dieselben physiologischen Eigenschaften, und eine jede Art wäre vom Anfang an in soviel Individuen und in soviel Gebieten verbreitet, in wie vielen sie heute lebt. Später wies Darwin gerne auf diese Einseitigeit hin und zog aus ihrer Unwahrscheinlichkeit einen Beweis für die Richtigkeit seiner Theorie; wer könnte auch mit Agassiz an- nehmen, Gott habe auf einmal soviele Individuen von jedem Tier, T) L. Agassiz, Essay on Classif. 1859, S. 25. Man vergleiche auch was oben von seinen prophetischen Typen gesagt wurde. 2) Ibid. S. 59. 44 HI- Idealistische Morphologie. wie viele es heute gibt, geschaffen, wer wird vergessen, daß ihre Anzahl Schwankungen unterliegt? Und doch, es war viel Wahres in seiner Ansicht; denn auch die Anzahl der Individuen einer Art und ihre geographische Verbreitung sind Artmerkmale und niemand hat bisher bewiesen, daß sie nur zufällig seien; man könnte z. B. auch von dem Verhältnis der An- zahl der Männchen und Weibchen einer jeden Art glauben, es hänge nur von der Umgebung ab, und doch ist es nicht wahr, doch ist dieses Verhältnis für jede Art charakteristisch ! Übergang zur genetischen Auffassung der Tierwelt. Die Worte Gradation, Übergang, Entwicklung, Fortschritt schwebten am Anfange des 19. Jahrhunderts auf aller Lippen; das Wort Fort- schritt aber hatte damals noch nicht den historischen Sinn, den es heute hat. Auch wenn man von einer Geschichte der Welt sprach, davon, wie andere und wieder andere Tiere unsere Erde während ihrer Entwicklung bewohnten, hatten die vordarwinschen Biologen vorzugsweise den Plan Gottes im Sinn, nach welchem die Ent- wicklung geschah, und alle Tiere, alles Geschehen, welches kommen sollte, vvaren bereits in diesem Plan enthalten; auch die Gradation, welche sich in der Zeit entwickeln sollte, war bereits durch ihn gegeben. Schritt für Schritt ging man von dieser metaphysischen Ansicht zur naturalistischen über, indem man der Natur zuschrieb, was früher Gott zugeschrieben wurde ; aber die genetische Auf- fassung drang auch dann nur allmählich durch. Auch wenn man Worte anwendete, wie, daß »die Natur keine Sprünge macht«, dachte man dabei wesentlich daran, daß es in der Natur keine Sprünge gibt; es war jedoch leicht, den Worten ihren eigenen Sinn zu geben und sie so zu verstehen, daß die Natur die Bildnerin der Übergänge ist, und auf diese Weise von der Beobachtung des Seins zu der des Geschehens zu schreiten. Gleich in den Anfängen der idealistischen Morphologie geschahen solche Versuche, ja, anfangs war die dynamische Richtung stärker denn später. Der Unterschied zwischen der morphologischen und der dynamischen Auffassung der Natur besteht darin, daß die erstere die Form für etwas absolutes, schlechthin Gegebenes hält, während die andere die Form aus den Kräften ableitet. Die Anhänger der dynamischen Richtung weisen z. B. darauf hin, daß man den Kreis, die Ellipse und andere Kurven (welches sehr einfache Formen sind) III. Idealistische Morphologie. ac als Bahnen von Körpern begreifen kann, welche durch verschiedene Kräfte getrieben werden; andere Denker werden jedoch dieser Er- klärung der Kurven den Umstand gegenüberstellen , die Vorstellung einer Kurve sei Sache der Anschauung, und daß man alle Eigen- schaften der Kurven analysieren kann, ohne etwas von den Kräften zu wissen, welche sie verursacht haben. Mag nun die eine oder die andere Partei recht haben, am Anfange des ig. Jahrhunderts glaubte man, wenigstens in der wissenschaftlichen Praxis, daß die Form ein Ding der Anschauung ist, d. h. etwas schlechthin Gegebenes, welches nicht auf Kräfte als einfachere Elemente zurückgeführt werden kann: eben deshalb blühte die vergleichende Methode, welche nur eine Form durch eine andere mißt. Diese formalistische Auffassung führte man aber nicht konsequent durch. Wie bereits angeführt, herrschte, besonders in Deutschland, das Bestreben, auch die Physiologie, die Lehre von Kräften in einen innigeren Zusammenhang mit der Morphologie zu bringen; da aber jene Physiologie wesentlich nur in allgemeinen Betrachtungen be- stand, kam jene Verknüpfung dadurch zustande, daß man den Gegensatz zwischen der morphologischen und der dynamischen An- sicht durch Worte verschleierte, indem man sich zur Beschreibung der Formen einer dynamischen Terminologie bediente. Diese eigentümliche Richtung wurde von KlELMEYER und insbesondere von GOETHE in Deutschland, von Lamarck in Frankreich angebahnt. Goethe war praktisch Morphologe; seine konkreten Theorien, die Lehre von der Wirbelnatur des Schädels, die Entdeckung des mensch- lichen Zwischenkiefers, die Lehre von der Urpflanze und zum großen Teil auch die Lehre von der Metamorphose sind morphologische Spekulationen über die Formen und über das Verhältnis der Formen zueinander; doch sehnte sich Goethe nach einem höheren Ideal, er wollte die Kräfte kennen, welche den Organismus bilden; darum schrieb er über die vertikale und spirale Tendenz, welche in der wachsenden Pflanze tätig sein sollen, darüber, daß feine Säfte be- wirken, daß anstatt eines Laubblattes ein Kronenblatt wächst, da- rüber, daß ein Organ auf ein anderes wirkt usw. Dieser Widerspruch zwischen Goethes Theorie und Praxis ist von historischer Wichtigkeit : wer über das Verhältnis des Genie zu seinem Milieu nachdenkt, findet da ein klassisches Beispiel, wie ein origineller Geist, der mit einem neuen Gedanken kommt, durch das Milieu unbewußt in eine andere Richtung getrieben wird, als welche durch seinen Gedanken angegeben wurde; GOETHE glaubte an 46 III. Idealistische Morphologie. Kräfte, suchte jedoch dieselben nicht in der Aktivität der Tiere und Pflanzen, begründete nicht, wie es konsequent gewesen wäre, eine Physiologie oder Biologie der Organismen, sondern knüpfte nur durch zuviel sagende Worte seinen dynamischen Glauben an die morphologische Richtung seiner Zeit; er begründete die Morpho- logie — bekanntlich stammt dieses Wort von ihm1). Als zweiten unbewußten Vermittler zwischen der dynamischen und morphologischen Richtung nannte ich Kielmeyer. Dieser neigte noch mehr der dynamischen Erklärung zu als Goethe; er wollte alle Ähnlichkeit und Verschiedenheit der Organismen durch mannig- fache vitale Kräfte, durch Sensibilität, Irritabilität, Reproduktionskraft, Sekretions- und propulsive Kraft erklären 2). Doch blieb er bei der allgemeinsten Formulierung seiner Ansichten stehen und so war sein Einfluß schließlich derselbe wie derjenige Goethes: viel Allgemein- heiten, viel Tiefe, viel Worte über Tendenzen und vitale Kräfte, dies alles aber nur um durch dynamisch lautende Worte morphologische Tatsachen auszudrücken. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schrieb man viel über Kräfte, durch welche Formen hervorgebracht werden. Der mehrfach schon erwähnte Morphologe H. DE Blainville behauptete z. B., daß, gerade wie das Sonnensystem durch Gravitation beherrscht wird, die Sensibilität die Stellung des Tieres im Tierreich bestimme3); in einer ähnlichen Art stellte der deutsche Paläontologe H. G. Bronn all- gemeine »Kräfte« über die Formen auf und klassifizierte die Natur wie folgt4): Kräfte Attraktion Affinität Vitalität Sensibilität Natur- reiche organisch j anorganisch j Weltkörper Mineralien Pflanzen Tiere Durch die ganze Periode der idealistischen Morphologie ziehen sich diese Anläufe zu einer dynamischen Auffassung der Natur; die x) Mit dieser Erklärung der GOETHEschen Ansichten weiche ich wie von meinen früheren Ansichten (im I. Band) so auch von Hansen ab. 2) Über Kielmeyer schrieb ich im ersten Teile dieser Geschichte. S. 260 sq. 3) Vgl. P. de Nicard, Vie de Blainville in Blainvilles Osteographie comparee. T. V, S. 72 u. 145. 4) H. G. Bronn, Morphologische Studien über die Gestaltungsgesetze usw. Leipzig und Heidelberg 1858. III. Idealistische Morphologie. An Worte von einer Tendenz, Entwicklung, vom Streben nach Verwirk- lichung-, von den Kräften, vom Fortschritte in der Natur, waren den Naturphilosophen nichts weniger als fremd; doch galt es damals die unwandelbaren Gesetze der Entwicklung, den ruhigen Pol in der Er- scheinungen Flucht aufzusuchen, während später eben diese Flucht das Ziel der Forschung wurde. Die Erörterungen zweier Natur- forscher seien noch angeführt, welche die ältere dynamische Ansicht am besten durchgeführt haben und die bereits auch zeigten, wie ihre Richtung zu einer historischen Auffassung der Erscheinungen führen wird. Der eine von ihnen war H. G. Bronn. In seinem noch vor Darwin erschienenen Buche ist ein Absatz enthalten, bezeichnend für die Zeit, als man bereits viel vom Fortschritte schrieb, als aber noch die Köpfe voll des alten Glaubens waren, daß nichts neues in der Welt entstehen könne. »Dem Progressionssystem liegt die Tatsache zugrunde«, schreibt Bronn1), »daß kein Organ bei Pflanzen oder Tieren sogleich schon in einiger Vollkommenheit auftritt, sondern jedes derselben sich vor unseren Augen gleichsam aus nichts entwickelt, als unscheinbarstes Rudiment, als verschwommene Andeutung beginnt und sich erst allmählich durch gewisse gesetzliche Veränderungen, die für alle die nämlichen sind, zu seiner Vollendung emporringt, wie wir sie in den obersten Kreisen beider Reiche wahrnehmen.« Unter diesen Gesetzen führt Bronn an: die Funktionen und Or- gane werden auf höheren Stufen differenziert; auf höheren Stufen vermindert sich die Anzahl gleicher Organe; die Organe konzentrieren sich auf bestimmte Körperteile, werden zentralisiert und womöglich in das Innere des Körpers eingeschlossen; der Körper nimmt an Umfang zu. So nimmt Bronn zwar die Entwicklung vorweg (er hat dabei auch die phylogenetische Entwicklung im Sinn , wenn er aber von Entwicklungsgesetzen spricht, welche für das Tierreich im allgemeinen gelten sollen, steht er auf dem älteren rationalisti- schen Standpunkte. Deutlicher noch als Bronn sprach der französische Anatom und Physiolog H. Milne-Edwards2). Er untersuchte die Einheit der *) H.G.Bronn, Morphol. Studien über die Gestaltungsgesetze usw. Leipzig und Heidelberg 1858, S. 109. 2) H. Milne-Edwards, Das Verfahren der Natur bei Gestaltung des Tierreichs. Stuttgart 1853. Dieser deutsche Text (übersetzt von G. H. Bronn) lag mir zur Hand. Die Schrift erschien ursprünglich unter dem Titel Introduction ä la Zoologie g£n£rale. I. Partie. Paris 185 1. 48 HI. Idealistische Morphologie. biologischen Erscheinungen, ihre Ursachen und Gesetze und ging von der Annahme aus, »daß die Natur [bei der Bildung der Organismen] ebenso verfuhr, wie wir selbst verfahren würden, uns nach unserem Verstände richtend, wenn wir eine ähnliche Wirkung vollführen sollten«, und gelangte so zu Regeln, in denen die rationalistische Auffassung der Natur ihren Höhepunkt erreicht. Im folgenden der Inhalt seiner Erörterungen: i . Unzählbar sind die Formen der Tiere, der großen, der kleinen, der kleinsten, der lebenden und ausgestorbenen; doch wird diese Mannigfaltigkeit der Formen durch ein anderes Naturgesetz, durch die Sparsamkeit in den Mitteln in Schranken gehalten. Siehe z. B., wie bei den Käfern, so verschieden sie in ihrer Form sind, alle diese Mannigfaltigkeit durch einige leichte Veränderungen der Körperbeschaffenheit hervorgebracht wurde, so daß wir leicht in allen Käferarten ihre Käfernatur erraten. Hieraus stammt die Ein- heit der Natur, und wenn es scheint, daß einige Formen ihr nicht folgen, so kommt es daher, daß wir erstens noch nicht alle ausge- storbenen Formen kennen, zweitens, »daß die Natur vielleicht noch nicht ihr Werk abgeschlossen hat und erst in den künftigen Schöpfungen die ganze Fülle einiger organischer Strukturen erschöpfen wird«. Dabei führt die Natur, indem sie bald dieses, bald jenes Prinzip vervollkommnet, ihre Geschöpfe zu immer höherer Ausbildung. 2. Die Vervollkommnung entspringt mehreren Ursachen. Sie hängen von der Menge der belebten Substanz ab, denn im großen und ganzen sind die größeren Tiere vollkommener; doch ge- schieht das Wachstum der Masse sparsam: es wiederholen sich die- selben Teile — daher folgt die Segmentierung des Körpers und alle Homologien. Auch histologisch offenbart sich diese Sparsamkeit: der Muskel ist aus einander ähnlichen Fibrillen zusammengesetzt. 3. Der Grad der Vollkommenheit besteht ferner in der Arbeits- teilung: die Amöbe, ein Protoplasmaklümpchen, führt alle Funk- tionen mit ihrem ganzen Körper aus; der Mensch jedoch, ein viel vollkommeneres Wesen, hat andere Organe für die Verdauung, an- dere für die Bewegung usw. Aber auch einzelne Organe werden differenziert: die Amöbe vermehrt sich durch Teilung des ganzen Körpers, während die höheren Organismen Geschlechtsorgane haben, welche wieder, je höher, desto feiner durchgeführt sind. 4. Die Arbeitsteilung führt die Natur gleichfalls sparsam durch. So III. Idealistische Morphologie. 40 vervollkommnet sie die Atmung auf folgende Weisen: die einfachsten Wesen atmen durch ihre ganze Körperoberfläche: dann bildet jedoch die Natur kein besonderes Organ, sondern läßt die höheren Tiere durch einen Teil des Verdauungsrohres atmen (bei den Manteltieren, dem Amphioxus), arbeitet dann diesen Teil durch (bei den Fischen) und bildet schließlich aus ihm ein neues Organ (Lunge), welches je- doch noch immer mit dem Verdauungsrohr zusammenhängt. 5. Um die Tiere äußeren Bedingungen anzupassen, bildet sie ihren Plan um und schafft so Analogien unter den Tieren. 6. Die Leistungsfähigkeit der Organe steigert die Natur durch Verbindung derselben: die Körpersegmente fließen im Kopfe und in der Brust zusammen und bilden so einheitliche Organe ; oder durch Abschaffung der Organe, indem sie z. B. den Schwanz der Krabben verkümmern läßt; oder durch Wiederholung eines und desselben Organs, z.B. der Strahlen in der Fischflosse ; immer jedoch erhält die Natur das Gleichgewicht unter allen Körperteilen. 7. Unter den Organen erhält die Natur eine innere Relation: wenn sie ein Organ verändert, modifiziert sie auch die übrigen: dieser Art ist z. B. die Beziehung zwischen den Hufen und dem Gebiß der Wiederkäuer. 8. Cuvier, der über diese Korrelation nachdachte, irrte sich je- doch in der Annahme, daß der Organismus durch ein Hauptorgan (caractere dominateur), durch das Nervensystem, beherrscht wird, dem die übrigen Organe untergeordnet sein sollen ; es gibt kein solches Organ, sondern das Tier ist von einer Lebenskraft beherrscht, welche die Beziehungen der Organe gegeneinander ordnet. Ganz klar hat da Milne-Edwards die alte Ansicht überwunden, der die Natur als passive Erscheinung galt, welche aus übersinnlicher Welt kommend vor das menschliche Aug-e gestellt wurde: bei ihm handelt die Natur, sie baut die Organismenwelt: doch handelt sie nach Verstandesprinzipien, die ihr ebenso eigen sind, wie dem Menschen. Und als ob er bereits ahnen würde, welche Philosophie nach der seinigen kommen wird, schließt er seine Erörterungen mit den Worten : »Sollen wir die Betrachtungen über die Bildung des Tierreichs fort- setzen, ist es nötig, zuerst die Entstehung dieser Geschöpfe zu unter- suchen und sich zu bemühen, feste Vorstellungen vom Einfluß der Ver- erbung und der Konstanz oder Veränderlichkeit der Arten zu gewinnen1).« *) H. Milnk-Edwards, Das Verfahren der Natur bei Gestaltung des Tierreichs. Stuttgart 1853. S. 122. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. a co HI- Idealistische Morphologie. Und doch, als nach sieben Jahren Darwin auftrat, der die Ent- stehung der Geschöpfe untersuchte, und sich bemühte, feste Vor- stellungen über den Einfluß der Vererbung und der Konstanz oder Veränderlichkeit der Arten zu gewinnen, war Milne-Edwards unter den Männern, welche seine Lehre schroff zurückwiesen. Wie ist bei ihm dieser Mangel an Verständnis zu erklären? War er vielleicht schon zu alt und fehlte ihm die nötige Spannkraft des Denkens, um denjenigen zu begreifen, der seine Probleme löste, oder hatte er wenig Erfahrungen, oder fühlte er sich vielleicht durch Darwins »Gottlosigkeit« von seiner Theorie abgestoßen? So erklärten sich wenigstens die Darwinisten ähnliche Erscheinungen. Wir werden diesen Fall später noch einmal in Erwägung ziehen ; jetzt wollen wir bei der Tatsache bleiben, daß Milne-Edwards Darwin nicht als den Auflöser seiner Probleme anerkannte. Er entging auch der Strafe der Nachwelt nicht: denn er genoß nicht die Ehre, unter den »Vorläufern Darwins« genannt zu werden; wie er selbst, so fiel auch die ganze idealistische Morphologie der Vergessenheit anheim. Die Begriffe Differenzierung, Arbeitsteilung, Fortschritt, Homo- logie, Analogie, Morphologie, Architektonik, Metamorphose, natür- liches System, begründet auf die Morphologie usw., sind später Eigentum des Darwinismus geworden ; niemand dachte daran, daß sie Denkmäler einer anderen Weltanschauung sind. Es geschah, was immer geschieht, wenn eine Philosophie durch eine andere verdrängt wird: wie das siegreiche Christentum die heidnischen Kirchen für den neuen Kultus umgebildet hat, wie es sich die alten Triumph- säulen aneignete, indem es auf dieselben seine Heiligen aufstellte, und so aus den Überbleibseln der überwundenen Zeit eine Zierde seiner Lehre schuf, so tat es auch der Darwinismus. Heute erkennt nur der Historiker, wie die Säulen und Kirchen noch deutliche Spuren der Ideen tragen, aus welchen sie erwachsen sind, und der Zwecke, für welche sie bestimmt waren. Ihre heutige Bedeutung und ihre Verzierungen schwinden vor seinem geistigen Auge; je mehr er ihre wahre Bedeutung erkennt, desto größer wird sein Verständnis für die vergangene Zeit; seine Freude an dem Fortschritt nimmt ab, bis von ihr nur die resignierte Erkenntnis übrig bleibt, daß es nicht an- ders möglich ist: daß an sich ganz richtige Gedanken »in der Völker- wanderung der Theorien« untergehen müssen. IV. Embryologie vor Darwin cj IV. Embryologie vor Darwin. Die Abwendung von der Präformation. Ein Unterschied zwischen Organismus und Kristall besteht darin, daß der Kristall in allen seinen Teilen homogen, der Organismus an jedem Punkte seines Körpers heterogen ist: die Morphologie unter- sucht, wie wir sahen, eben die Gesetzmäßigkeit in dieser Raumes- mannigfaltigkeit des organischen Körpers. Allein auch durch die Ausbreitung in der Zeit unterscheidet sich der lebende Körper vom Kristall und von den leblosen Körpern überhaupt; wohl verändert sich auch ein Salzkristall in der Zeit, auch er ist einmal entstanden und wuchs dann, bis er seine jetzige Größe erreichte; doch ist die Analogie zwischen seinem Großwerden und der Entwicklung des Or- ganismus nur oberflächlich. Man betrachte die Entwicklung des Hühnchens: sie beginnt mit dem Ei, welches zwar einen zusammen- gesetzten Bau hat, allein wie in seiner groben, so in seiner feinen und unsichtbaren Struktur ganz unähnlich ist dem erwachsenen Geschöpf, so daß, wüßte man nicht aus der Erfahrung, was sich aus ihm ent- wickeln wird, man es durch keine noch so feine Messung und Analyse des Eies selbst erraten würde ; nachdem das Ei befruchtet worden war, nimmt es neue und neue Formen an, wächst sich zum Küchlein aus, das Küchlein zur Henne, worauf die Formveränderungen im großen und ganzen aufhören; die Henne lebt einige Zeit und stirbt. Damit vergleiche man den Kristall: er entsteht aus einer Lösung und ist gleich von Anfang an fertig; er kann zwar wachsen, muß jedoch nicht; weder war er jung, noch ist er erwachsen, niemals wird er alt sein — für ihn hat die Zeit keinen Sinn. Die Entwicklung des Organismus zeigt vorerst zwei Reihen von Erscheinungen: einmal die Formenreihe — Ei, Embryo, Hühnchen, Henne — , wo die eine Form aus der andern entsteht, und ferner eine ansteigende Mannigfaltigkeit; es ist zwar auch das Ei keineswegs homogen, doch ist der Embryo mannigfacher, und noch komplizierter ist der entwickelte Organismus. Es läuft also der Organismus wäh- rend seiner Entwicklung eine Reihe von mehr und mehr zusammen- gesetzten Formen durch, bis er die Reife erreicht, in welcher er einige Zeit beharrt, um dann zu sterben. Die Epoche, mit welcher ich meine Erzählung beginne, wußte bereits genug von der Embryologie, um die Entwicklung so definieren zu können, wie ich es tue; allein die Philosophie LEiBNizens führte C2 IV. Embryologie vor Darwin. zu einem eigentümlichen Mißverstehen der Entwicklungserscheinungen. Sie gab nicht zu, daß überhaupt etwas Neues auf der Welt entstehen könnte und wendete dieses Prinzip aus allzuweit gehender Konsequenz auch auf die Entwicklung des Individuums an, und so sind die in der Einleitung erwähnten Theorien entstanden, nach denen die Ent- wicklung nur im Wachstum der Keime besteht, welche von allem Anfang der Dinge an da waren. So geschah es, daß der Physiologe A. Haller berechnete, daß in Eva 200000 Millionen Menschen ein- geschachtelt waren, und andere Forscher wichen nur darin von ihm ab, daß sie sich die Keime nicht in Eva, sondern in Adams Sper- matozoen dachten. »So hätte Adam alle Menschen schon in seinen Lenden getragen, und also auch zum Exempel das Samentierchen, woraus Abraham ge- worden. Und in diesem Samentierchen lagen schon alle Juden als Samen- tierchen. Als nun Abraham den Isaak zeugte, so ging Isaak aus dem Leibe seines Vaters heraus und nahm mit sich zugleich, in sich einge- schlossen, das ganze Geschlecht seiner Nachkommen1).« Es waren keineswegs nur obskure Schriftsteller, sondern auch be- kannte Biologen, wie A. Haller, G. Cuvier, E. GEOFFROY u. v. a., welche an die Präformation glaubten. Man sage nicht, daß es eine lächerliche Lehre war und daß man sich kaum vorstellen könne, wie man solche Naivetäten für wahr halten konnte. Auch unsere heutige Wissenschaft ist voll von solchen Naivetäten, denn der menschliche Geist ist ungemein konsequent; wenn er einmal einen falschen Grundsatz für wahr erklärt, verdreht er um seinetwillen auch die schlichteste Erfah- rung ; eben die Erfahrungsleute pflegen da am verblendetsten zu sein. Um die Hälfte des 18. Jahrhunderts setzte sich für eine andere Auffassung der Entwicklung der deutsche Biologe C. F. Wolff ein (1733 — 1794). Unter dem Einfluß der vitalistischen Lehren seines Landsmannes E. STAHL (desselben, der die bekannte phlogistische Theorie begründete), erklärte er die Entwicklung des Organismus als Folge von Kräften, deren Spannung Formveränderungen verur- sachen soll; er suchte zu beweisen, daß erfahrungsgemäß der eine Teil des Organismus nach dem andern entsteht; das Studium der Veränderungen während der Entwicklung und derer Ursachen machte er zur Hauptaufgabe der Embrylogie. So ist nach ihm der Körper des Küchleins keineswegs von allem Anfang da, sondern er erscheint in dem sich entwickelnden Ei zuerst als eine ebene *) Meiers Metaphysik. 3. Teil, § 785; nach A. Lange, Geschichte d. Material. II, Reclam, S. 378. IV. Embryologie vor Darwin. 53 Platte (Keimblatt), welche sich später krümmt; ihre Ränder wachsen zusammen, worauf die äußere (konvexe) Seite zur Körperoberfläche, die innere zum Darme sich umwandelt. WOLFF fand mit seinen >epigenetischen< Anschauungen keinen Anklang. Gewiß schmerzte ihn sein Mißerfolg und er bemühte sich denselben zu überwinden. Er schrieb die Abhandlung ursprünglich in einem sehr gedrängten Stil, indem er derselben eine streng logische Form zu geben bemüht war; allein eben zu jener Zeit waren ellen- lange, wortreiche Betrachtungen beliebt, mit welchen z. B. BONNET die Leser hinhielt. Der arme WOLFF glaubte wahrscheinlich, daß er seiner Theorie die gebührende Geltung verschaffen werde, wenn er sie ähnlich herausputzt und so gab er die Schrift gewissermaßen in vermehrter Auflage noch einmal heraus. Doch gelang das Experi- ment nicht; erst nachdem Goethe und KlELMEYER den Boden für genetische Spekulationen vorbereitet hatten, wurde WOLFF anerkannt; da war er aber bereits tot. Entstehung der neuen Embryologie. GOETHE war die Präformationslehre zuwider, er charakterisiert sie treffend1), daß sie auf einer übersinnlichen Erfahrung« begründet sei, d. h. daß sie den sichtbaren entwickelten Körper als solchen in den Keim projiziert; er selbst stellte sich dagegen vor, daß der Körper im Keime nur als Idee, als Möglichkeit enthalten ist, welche erst durch die Entwicklung zur Wirklichkeit wird. Er wies auch auf WOLFF als seinen Vorgänger hin, wurde aber nicht durch ihn auf seine Theorie geführt, denn er lernte seine Abhandlung erst 181 7 kennen; im Gegenteil ist es wahrscheinlich, daß Goethes Theorie der Metamorphose aus dem Jahre 1790 die Geister für das Ver- ständnis Wolits vorbereitete und die neue Herausgabe seines Werkes beschleunigte. Fast zu derselben Zeit (1793) erklärte ein anderer Deutscher, L. F. KlELMEYER, ein mystisch veranlagter Biologe, der zu den Bahn- brechern der Naturphilosophie gehört, wie der Organismus — der Mensch — in das Leben stufenweise eintritt, wie er zuerst nur ein vegetatives Leben führt, dann die Reizbarkeit und nachher Empfind- lichkeit erlangt, welch letztere sich je weiter desto mehr herausbildet, indem neue und wieder neue Sinnesorgane zum Vorschein kommen, x) Goethe, Entdeckung eines trefflichen Vorarbeiters, 1817. Sämtl. Werke 185 1. Bd. 27, S. 80. za IV. Embryologie vor Darwin. bis das Wesen im reifen Zustande sein Ziel erreicht. Kielmeyer ging nicht über solche Allgemeinheiten hinaus ; die dynamische Auf- fassung aber, welche seiner Theorie zugrunde liegt, wurde von seinen Hörern, die ihn sehr hochschätzten, eifrig aufgenommen. Auch L. Oken, der bekannte Naturphilosoph, trug zur Wieder- belebung der embryologischen Forschungen viel bei; im Jahre 1806 gab er Beobachtungen über die Entwicklung des Darmkanals der Säuger und Vögel heraus1), und übte damit großen Einfluß; Baek, welcher jene Periode durchlebte, behauptet sogar, daß man von Okens Schrift die Wiederbelebung der Säugetierentwicklungsgeschichte zu datieren habe2). Erst 18 12 gab J. F. Meckel Wolffs Arbeit deutsch heraus (sie war ursprünglich lateinisch verfaßt); 181 7 erschien dann das erste Werk, welches bewußt den Prinzipien WoLFFs folgte. Ign. Döllinger (1770 — 1841), der Vater des bekannten Theologen, Professor der Anatomie und Physiologie in Würzburg, interessierte sich auch für die Embryologie, obwohl nach naturphilosophischer Art. Er forderte seine Hörer auf, die Entwicklung des Hühnchens zu studieren und es gelang ihm für die Arbeit K. E. v. Baer (welcher damals 23 Jahre alt war), d'Alton (einen guten Zeichner) und Chr. J. Pander zu gewinnen. Zufällig waren alle drei Begründer der Embryologie, Wolff, Pander, Baer, russifizierte Deutsche. Baer verließ übrigens bald Würzburg und die Arbeit wurde von Pander durchgeführt, welcher über dieselbe 181 7 einen Bericht herausgab3), in welchem er die ersten Stadien des sich entwickelnden Hühnchens beschrieb. Er folgte den Anschauungen Wolffs; die Epigenesis nahm er bereits als Tatsache hin und vertiefte die Lehre vom Keimblatt. Er be- merkte, wie sich bereits vor einer 1 2 stündigen Erwärmung der runde blattförmige Hühnchenkeim, der über dem Eidotter schwimmt, in zwei Schichten teilt, die obere, »seröse«, und die untere, »muköse«, und wie sich aus diesen zwei »Blättern« durch eine Reihe von Um- wandlungen das Hühnchen bildet; hier entstehen durch eine Wuche- rung der Keimteile die Anfänge des Blutes als ein drittes, mittleres 1) Oken und Kieser, Beiträge zur vergleichenden Zoologie, Anatomie und Phy- siologie. Bamberg und Würzburg 1806 — 1807. 2) C. E. Baer, Über Entwicklungsgeschichte der Tiere. Beobachtung und Reflexion. Königsberg I, 1808 (II, 1837), Vorwort S. XVII. 3) Pander, Historia metamorphoseos, quam Ovum incubatum prioribus quinque diebus subit. Wirceburgi 181 7. In demselben Jahre erschien das Werk auch (aus- führlicher) deutsch. IV. Embryologie vor Darwin. r- Keimblatt, dort die Anfänge des Nervensystems: durch eine einfache Biegung der Keimblätter entstehen die Umrisse des Körpers und der Eingeweide; auf dem Rücken entsteht eine nach innen gekehrte Falte als Anlage des Rückenmarks, eine andere Falte bildet die Rumpf- und die Bauchhöhle; durch das Wachstum und die Krümmung der Blätter bildet sich der Embryo zu entwickelter Form aus. Seit Panders Abhandlung steht die Keimblätterlehre im Vorder- grund der Forschung; auch der Name Keimblatt erhielt sich, wenn auch niemand mehr an eine Analogie zwischen ihm und einem Laubblatt denkt: eine Analogie, von welcher Wolff wie Pander, dieser unter dem Einflüsse der GOETHKschen Metamorphosenlehre, überzeugt waren. Die Lehre Panders wirkte nachhaltig; selbst Oken erkannte1) die Bedeutsamkeit der Erklärung, daß die Organe durch Krümmung der Keimblätter entstehen, an, obwohl er über deren Richtigkeit Zweifel äußerte; übrigens wurde sie bald durch Baer bestätigt und vertieft. K. E. v. Baer. Karl Ernst V. Baer war ein Mann, dem die Wissenschaft Leben und das Leben Wissenschaft bedeutete, ein Mann, der zum Beweise dienen kann, daß nicht nur der Dichter, sondern auch der Forscher geboren wird. Ein innerer Trieb führte ihn der Forschung zu und Baer suchte sein ganzes Leben lang nach der Quelle, in der er sein Streben nach der Erkenntnis stillen könnte; und er betrat stets neue und neue Gebiete in dem Glauben, daß dort das Glück seiner harrt. Botanik, Medizin, Zoologie, Embryologie, Geographie, Anthropologie waren nacheinander seine Lieblingsstudien und schließ- lich fand er, daß er seinen Beruf verfehlt, daß ihn die Natur zum Geschichtsforscher bestimmt natte2). Auch sonst war er ein etwas unruhiger Geist; mehrere Male hat er seine Heimat gewechselt und einige Schriften unvollendet hinterlassen. Originell war er in allen den genannten Disziplinen, am bekanntesten ist jedoch sein Name in der Embryologie, welche er durch die Schrift von der »Entwicklungsgeschichte der Tiere« (1S28) auf ihren Höhepunkt brachte. x) Isis 1817, S. 1529 — 1540. 2) L. Stieda, K. E. v. Baer, eine biographische Skizze, Braunschweig 1886, S. 14. Vgl. auch die große Autobiographie Baers, deren Titel im folg. Kapitel, S. 66 Anm. c6 IV. Embryologie vor Darwin. Er bearbeitete dort gründlich die Lehre von den Keimblättern; er lehrte, daß aus dem undifferenzierten Wirbeltierkeime zwei Keim- blätter entstehen; aus dem oberen, den er animal nannte, die Or- gane des animalen Lebens (d. h. die Organe der Empfindung, der Bewegung und die Epidermis), aus dem unteren, dem vegetativen, die vegetativen (Organe der Ernährung, der Zirkulation, Sekretion, Reproduktion). Beide Keimblätter verdoppeln sich; der animale teilt sich in die Hautschicht, aus welcher die Epidermis und das Nerven- system entsteht, und in die Muskelschicht, welche sich zu Muskeln und Knochen umbildet; das vegetative Keimblatt teilt sich in die Gefäß- und die Schleimschicht; die erstere bildet später das Mesenterium und beide zusammen die Wände des Verdauungsrohrs. Alle Schichten bilden sich zu Organen um, indem sie wachsen und sich zu Röhren krümmen; so entsteht ein Haut-, ein Muskel-, ein Nervenrohr usw., und aus diesen rohrförmigen »Grundorganen« formen sich dann die definitiven Organe. Aus dem Nervensystem bilden sich Sinnesorgane, aus dem Verdauungsrohr die Speicheldrüsen, die Leber, das Pankreas, die Lunge; aus der Gefäßschicht das Herz, die Nebenniere, die Schilddrüse, der Thymus, die Milz, Wolffs Körper, die Niere und die Geschlechtsdrüsen. Die Entwicklung geht also stufenweise vor sich: aus undifferenziertem Keim entstehen Keimblätter, aus diesen röhrenförmige Grundorgane und von ihnen sondern sich definitive Organe ab. Noch auf eine andere Weise vertiefte Baer die Entwicklungs- geschichte; er entdeckte viel Neues, wie das Ei der Säugetiere, die Chorda dorsalis, das Amnion, die serösen Häute, und veranlaßte das Studium der Entwicklung niederer Tiere; dank seinen Bemühungen wurde die Embryologie in den vierziger, fünfziger Jahren zur »modernen« Wissenschaft. Zu Cuviers Zeit hatte man noch wenig Verständnis für die Embryologie; Cuvier kannte vielleicht nicht einmal Baers Arbeiten; von jungen, insbesondere deutschen Gelehrten wurden sie dagegen eifrig studiert : Heinr. Rathke (1793 — 1860) beschrieb unter dem Einfluß derselben die Entwicklung der Krustentiere, Insekten, Mollusken, Fische, Schildkröten, Schlangen, Krokodile; WiLH. Bischoff (1807 — 1882) untersuchte in den 50er Jahren die Entwicklung des Kaninchens, Meerschweinchens und des Rehs; Alb. Kölliker, M. J. Schleiden, Th. Schwann, T. H. Huxley gingen ebenfalls von den Theorien Baers aus; doch gehört diese Materie bereits in ein späteres Kapitel. Als Theoretiker bekämpfte Baer die wiederbelebte Lehre von IV. Embryologie vor Darwin. cn der Präformation. Obwohl nämlich die neue Embryologie aus der Opposition gegen evolutionistische (evolutio und praeformatio be- deutete damals ein und dasselbe) Ansichten des 18. Jahrhunderts entstanden war, obwohl ihre Begründer, Goethe und Kielmeyer Epigenetiker waren, gelangte doch die Präformation unter einem neuen Namen zu, neuer Blüte. Kein Wunder: der Gedanke, daß die Form, ein so geschlossenes Ganze, aus etwas anderem entstehen kann, ist so sonderbar, daß zu jeder Zeit die besten Köpfe über den- selben nachsannen. Wie kann der menschliche Körper, welcher so viele Organe enthält, alle so notwendig und so harmonisch zusammen- arbeitend, welcher bis in die kleinsten Elemente durchgebildet ist, durch eine Umwandlung aus einem Gebilde entstehen, in dem diese Elemente noch nicht vorhanden sind? Die Anatomen, welche aus eigener Erfahrung die Kompliziertheit des Körpers kennen, pflegen gerne auf diese Frage mit der Behauptung zu antworten, daß der Körper überhaupt nicht entsteht, daß er bereits im Keime mit seinen Eigenschaften enthalten ist. Diese Präformationstheorien waren aber jetzt überwunden, waren nicht modern; wo also die Lösung zu rinden? Sie wurde durch eine Modifikation der Theorie KlELMEYERs ge- funden. Kielmeyer verglich nämlich die Gradation der Tiere mit ihrer embryonalen und phylogenetischen Entwicklung. Die Orga- nismen lassen sich in eine aufsteigende Reihe zusammenstellen: die Vegetation nimmt durch ihr einfaches Leben die niedrigste Stufe ein, höher stehen die reizbaren Tiere (d. h. solche, welche be- weglich aber nicht empfindlich sind), noch höher die sensitiven; je feiner die Empfindlichkeit, d. h. , je mehr Sinnesorgane, desto fort- geschrittener soll das Tier sein. Auch die embryonale Entwicklung des Menschen soll diese Stufen durchlaufen: das menschlische Em- bryo vegetiert zuerst, ist dann auch reizbar, und entfaltet schließlich ein Sinnesorgan nach dem anderen »fast in derselben Reihenfolge, wie in der Reihe der Organismen.1)* Ja auch das Entstehen der Organismen in der Geschichte der Erde soll den Stufen der heutigen Gradation der Lebewesen gefolgt sein. Der deutsche Anatom Jon. Fr. Meckel (i 781 — 1833) deutete diese offenbar epigenetischen Anschauungen KiEL.MEYERs so, daß die Säugetiere und der Mensch während ihrer Entwicklung aus dem *) KlELMEYER, Rede über das Verhältnis der organischen Kräfte untereinander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Gesetze und Folgen dieser Ver- hältnisse. Stuttgart und Tübingen (1793) 1814. 58 IV- Embryologie vor Darwin. Keime zuerst die Stufe des einfachsten Tieres durchlaufen, für welches man damals die Polypen hielt (Zoophyta, Pflanzentiere, welche durch ihre festsitzende Lebensweise den Pflanzen nahezustehen scheinen) ; sie steigen dann zu höheren und höheren Formen auf, in- dem sie nacheinander die Form des Wurmes, des Krustentieres, der Spinne, der Schnecke, des Muscheltieres, des Kephalopoden , der Fische, der Amphibien durchlaufen; daß sie also während ihrer Ent- wicklung die ganze Hierarchie der Tierwelt erschöpfen. Während Kielmeyer von der Entwicklung und Ähnlichkeit der (vitalen) Kräfte redete, schrieb Meckel mit einer scheinbar leichten Abänderung dieser Lehre (er setzte anstatt des vegetativen Lebens die Pflanze, statt der Reizbarkeit den Wurm usw.), von der Entwick- lung und Ähnlichkeit der Formen — und siehe, der überwundenen Präformation wurde da wieder zum Siege verholfen. Es war die Zeitstimmung, welche den epigenetischen Gedanken Kielmeyers unterdrückt hatte, indem sie ihn in eine ihm fremde Richtung trieb. Meckel war nämlich Anatom, die organische Form interessierte ihn an erster Stelle ; die Kräfte Kielmeyers hielt er für nebensäch- lich. MeCKELs Auffassung paßte nun zu gut in die damals herrschende Richtung, welche insbesondere durch Geoffroy vertreten wurde. Dieser französische Morphologe suchte zu beweisen, daß alle Tiere wesentlich nur ein und dasselbe Tier sind, bei welchem bald dieses bald jenes Organ verkümmert oder entwickelt ist, und folgerte diesen Gedanken insbesondere aus dem Studium des Knochengerüstes ; er zeigte, daß, je jünger die Tiere, desto größer die Ähnlichkeiten unter denselben sind; an den Monstrositäten fand er, daß sie, sonst den normalen Formen analog gebaut, vorzeitig in ihrer Entwicklung ge- hemmte Formen darstellen. Seine Schüler hielten infolgedessen die Frage für natürlich, ob ein Fisch, der doch in so mancher Eigen- schaft den höheren Wirbeltieren ähnlich sieht, nicht auch eine Mon- strosität sei, d. h. ein höheres in seiner Entwicklung gehemmtes Wirbeltier. Etienne R. A. Serres, ein Schüler Geoffroys, drückt diese Ansicht bestimmt aus: die Entwicklung des Menschen besteht in einem Durchlaufen der Formen niederer Tiere, und das Tierreich ist eine Hierarchie von höheren und höheren Embryonen, welche auf einer bestimmten Entwicklungsstufe gehemmt werden und ein jedes Tier läuft während seiner Entwicklung durch alle niedrigeren Formen hindurch. Auch Meckel huldigte einer solchen Auffassung. Dies ist das Los des menschlichen Denkens : MECKEL entdeckte den vergessenen Wolff und durch die Übersetzung und Herausgabe IV. Embryologie vor Darwin. 5 g seiner Schrift gab er Anlaß zu einem Aufblühen der Embryologie auf epigenetischcr Grundlage: derselbe MECKEL jedoch stellte unter Einfluß der epigenetischen Lehren KlELMEYERs eine Hypothese auf, welche eben das bestritt, was seine gerühmten Lehrer behauptet hatten; denn zu behaupten, daß alle Tiere gehemmte Embryonen des Menschen sind, bedeutete nichts anderes, als daß es keine andere Form gibt, als die des Menschen. Die Präformisten lehrten, daß es keine Umwandlungen der Form während der embryonalen Entwick- lung gibt, sondern nur Wachstum; jetzt lehrt MECKEL und Serres, daß es keine Mannigfaltigkeit der Formen in dem Tierreich gibt, sondern, daß die Tiere nur verschiedene Entwicklungszustände des Menschen darstellen. Dabei glaubten jedoch MECKEL und SERRES (dieser behauptete es ausdrücklich), daß ihre Lehre epigenetisch sei, beide führten auch Tatsachen zum Beweis ihrer Lehre an: MECKEL machte insbesondere Beobachtungen an den Monstrositäten und zeigte, wie die monströsen Embryonen des Menschen oft den Tieren sehr ähnlich sind. Serres begründete seine Lehre durch das Studium der Knochenentwicklung. Okens Behauptungen, daß die lebendige Natur einen in seine Elemente auseinandergelegten Men- schen darstellt, die damals noch blühenden Lehren, daß die Tiere nur unvollkommene Versuche der Natur den Menschen zu erschaffen bedeuten, paßten sehr gut in die Präformationslehre. Die frühere Lehre, nach welcher der Mensch bereits im Ei voll- ständig eingeschlossen ist, war sehr naiv; jetzt wurde sie jedoch durch eine neue auf den ersten Blick unmögliche Naivität verdrängt: durch den Gedanken, daß der Mensch nacheinander Wurm, Fisch, Amphibium ist. Wie war es möglich, einen so sonderbaren Einfall ernst zu nehmen? Diese Frage taucht oft auf, wenn man der Ge- schichte des menschlichen Denkens folgt ; man erwartet tiefe, schöne, hinreißende Gedanken, mit zurückgehaltenem Atem ist man bereit, auszurufen — Ach! So ist es also! Statt der Gedanken aber findet man Absonderlichkeiten, unendliche Ströme von leeren Worten und Schul-Pedanterien. Sollte denn die Wissenschaft keinen anderen In- halt haben? Überlegt man weiter, so findet man, daß in jenem eitlen Be- mühen doch etwas liegen muß, sonst würden ihm die Menschen ge- wiß nicht ihr ganzes Leben und Streben widmen; sie hätten keine Freude daran, andere würden ihnen nicht glauben. Allmählich findet man den roten Faden im labyrinthischen Stückwerk des wissenschaft- lichen Denkens; man kommt zur Erkenntnis, daß die Theorien, falsche 5o FV. Embryologie vor Darwin. Produkte des menschlichen Denkens, nur Worte sind, ebenso un- genügend wie alle Worte, durch welche der Mensch die eigentliche unendliche Wahrheit auszudrücken strebt, die sich ihm auf dem Grund seiner Seele offenbart; man sieht ein, daß die Mängel der Theorien Mängel des Wortschatzes sind, daß der Mensch in Ermangelung neuer Worte, ungeschickt durch alte Ausdrücke den neuen Gedanken zu ergreifen sucht; man begreift, daß man nicht Worte verwerfen darf, sondern darnach forschen muß, was Neues durch dieselben ge- sagt wird. KlELMEYFR, Meckel, Geoffroy, Serres entdeckten wirklich eine neue Tatsache, nämlich die, daß die Tiere einander nicht nur ihrem entwickelten Körper, sondern auch ihrer Entwicklung nach ähnlich sind, und daß sie einander desto ähnlicher sehen, je jünger sie sind. Es war das in der Tat eine bedeutende Entdeckung, wie, daß der Mensch und die Tiere sich überhaupt entwickeln, so, daß der Embryo des Menschen eigentümliche Kiementaschen an seinem Hinterkopfe besitzt, den Fischkiemen ähnlich, daß er anfangs kein Knochengerüst hat, was er mit den Mollusken gemeinsam hat. Diese neue Erkenntnis, durch alte Worte von einer sich in allen Tieren wiederholenden Form ausgedrückt, gab gewiß einen falschen Ton: doch es wird sich schon jemand finden, der die Disharmonie erkennt und der für die neue Tatsache auch ein neues Wort schafft! Baer stimmte in mehrerer Hinsicht mit diesen Embryologen über- ein ; auch er bemerkte , wie verschiedene Tiere einander durch ihre Entwicklung ähnlich sehen und daß die Embryonen je jünger, desto schwieriger zu unterscheiden sind. Als man jedoch die Lehren zu wörtlich nahm, daß die Tiere nur Hemmungsbildungen des sich ent- wickelnden Menschen sind, stimmte Baer nicht ein. Wie CuviER gegen Geoffroy den Nachweis führte, daß zwischen der Ähnlichkeit und der Identität der Organe zu unterscheiden ist, so bekämpfte Baer in seiner Entwicklungsgeschichte der Tiere und auch an anderen Orten1) die Ansichten Meckels und Serres'; er zeigte, daß auch sie Ähnlichkeit und Identität verwechseln. Er machte darauf auf- merksam, daß die wesentlichen Eigenschaften einer Tiergruppe nie- mals bei entwickelten Formen einer anderen vorkommen: was den Fisch zum Fisch macht, die Atmung durch Kiemen, die zwischen den Strahlen ausgespannten Flossen, die Lokomotion kommt in J) Baer, Beiträge zur Kenntnis der niederen Tiere. Nova Acta Ac. Nat. Curios. 13, P. 2, 1827. IV. Embryologie vor Darwin. 6l keinem embryonalen Stadium der Säuger oder Vögel vor. Die Vögel könnten mit gleichem Recht wie der Mensch behaupten, daß sie den Höhepunkt der Entwicklung bilden und daß der sich ent- wickelnde Vogel das menschliche Stadium durchläuft, denn es fehlen dem Menschen der Schnabel, die Flügel, das Gefieder usw., und folg- lich wäre der Mensch im Vergleich zum Vogel nicht so vorgeschritten wie dieser, und wäre also, jenen Theorien gemäß, eine Hemmungsbil- dung des Vogels. Der Lehre vom Parallelismus zwischen der Gradation der Tiere und ihrer Embryonalentwicklung stellte Baer eine Theorie, welche man Formationstheorie nennen könnte, entgegen; es war dies eine Ansicht, welche auf eine neue Art die WüLFFsche epigenetische Theorie mit den morphologischen Anschauungen Cuviers ver- knüpfte. WOLFF lehrte, daß das Wesen der Entwicklung eine be- sondere Kraft, vis essentialis, ausmacht; diese wurde von Baer in den Hintergrund gestellt und Wulffs Gedanke hervorgehoben, daß die Entwicklung unter Formumwandlungen vor sich geht. Alle Tiere entwickeln sich nach Baek so, daß zuerst die Grundzüge ihres Typus entstehen, welche sich später mehr und mehr differenzieren; das Embryo besitzt nacheinander zuerst nur die Eigenschaften des Typus, dann die der Klasse, Ordnung, Familie, Gattung, Art, bis endlich die individuellen Eigenschaften zum Vorschein kommen; das Embryo ist z. B. zuerst Wirbeltier, dann Vogel, Landvogel, Hühner- vogel, Hühnchen, Henne von bestimmter Abart und Farbe. Es ist also »die Entwicklungsgeschichte des Individuums die Geschichte der wachsen- den Individualität in jeglicher Beziehung« (1828) und wenn die frühen Entwicklungsstadien verschiedener Formen ein- ander ähnlich sehen, so kommt dies daher, daß sie noch nicht diffe- renziert genug sind, ohne aber deshalb identisch zu sein. Durch diese Lehre bekämpfte also Baer ausdrücklich die Theorien Meckels und Serres'; später jedoch entnahmen Alfr. GLA.RD1) und E. Haeckel2) aus seiner Behauptung, daß die ersten Entwicklungs- stadien der Tiere einander ähnlich sehen, daß Baer den Ursprung der Tiere aus einer Urform im Sinne hatte; ja BatesON3) nennt sogar die Theorie Meckels und Serres' »Baers Prinzip«: gewiß ein großes Mißverständnis. l) A. Giard. Revue scientif., ser. 2, Ann. 4, 1874. z) E. Haeckel, Anthropogenie. Leipzig, 5. Aufl. 1903, S. 46. 3) Bateson, Materials for the study of Variation. London 1894, S. 8. 02 IV. Embryologie vor Darwin. Mit CuviER glaubte Baer, daß es vier grundverschiedene Typen der Tiere gibt, und unterstützte diese Theorie auch durch die Ent- wicklungsgeschichte. Er unterschied an dem Bau des Tieres erstens den Typus, d. h. die Stellung der Organe zueinander und zweitens den Differenzierungsgrad dieses Typus; so ist z. B. der Tinten- fisch, als Weichtier, von niederem Typus als das Neunauge (Fisch), das Neunauge aber ist ein wenig differenzierter Fisch, da es weder Knochen, noch paarige Flossen, noch Kiemendeckel usw. besitzt, während der Tintenfisch ein sehr vollkommenes, hoch differenziertes Weichtier ist. Als Entwicklungstypen werden von Baer angeführt : i. Der peripherische Typus (=Radiata): die Entwicklung geht von einem Mittelpunkt aus strahlenförmig vor sich. 2. Der massive Typus (= Mollusca): die Entwicklung bildet Teile, welche in einem kegelförmigen oder anders gebauten Gebilde ein- gewickelt sind. 3. Der longitudinale Typus (= Articulata): der Embryo besitzt zwei Pole und ist bilateral symmetrisch. 4. Der doppelt symmetrische Typus (= Vertebrata) : der Embryo ist bilateral symmetrisch und die Organe entstehen zu beiden Seiten des Körpers. Baer steht an der Grenze zweier Perioden der Wissenschaft: durch seine entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen bahnt er den Weg für die Anschauung, daß die Entwicklung im Entstehen von noch nicht Dagewesenem besteht; durch sein embryologisch be- gründetes System weist er auf künftige Versuche einer Begründung des Systems auf genetischer Grundlage hin. Sein zweites Antlitz ist nach rückwärts gewendet: er unterstützt von neuem die Typen Cuviers; dadurch, daß er die die Entwicklung treibenden Kräfte mißachtet, gibt er auch den Präformisten teilweise recht; durch seine Lehre, daß die Entwicklung in der Individualisation von etwas Allgemeinem besteht, kehrt er bis zu Aristoteles zurück. Es ist schon erwähnt worden, wie mächtig sein Einfluß war; Kölliker in Deutschland und HlJXLEY in England galten nur des- halb für moderne Forscher, weil sie an Baer anknüpften, Spencer übernahm von ihm seine Theorie vom Übergang aus dem Zustande der Homogeneität in den der Heterogeneität; lange noch fühlte man innerhalb des Darwinismus seinen Einfluß; in der letzten Zeit lebt die Embryologie wieder dadurch auf, daß sie Baer besser begreift als die letzten Jahrzehnte. V. Zellentheorie. 63 V. Zellentlieorie. Ältere Ansichten. Im Jahre 1675 entdeckte ein Schüler des holländischen Biologen LEEUWENHOEK durch das Mikroskop, welches eben zu jener Zeit den neugierigen Augen die Pforten einer bisher unsichtbaren Welt öffnete, im Samen des Menschen winzig kleine bewegliche Körper- chen, vermeintliche Tierchen, die Spermatozoen der heutigen Wissen- schaft. Die Entdeckung regte bedeutend die Phantasie der Biologen auf, und LEIBNIZ, den die Philosophie zu Betrachtungen über unend- lich kleine Größen geführt hatte, ließ sich durch jene Entdeckung zu der Vorstellung hinreißen, daß es solche winzige Tierchen überall gibt, und daß sie in jedem Stäubchen in solcher Unmasse wimmeln, wie Fische im Teiche. Einige von ihnen wachsen und werden zu großen Tieren, andere bleiben lange, sehr lange in ihrem unsicht- baren Zustande verzaubert. BüFFON stellte sich die Sache etwas anders vor: die mikrosko- pischen Wesen stellen lebendige Moleküle vor, aus welchen durch Kristallisation, also durch gesetzmäßige Anhäufung das sichtbare Tier entsteht; am Anfange des 19. Jahrhunderts spann Oken diese Theorie weiter aus und lehrte, daß alles Leben im Meere aus dem Urschleim entstand, der zuerst die Form von Urbläschen annahm : das waren die Infusorien; die lebendige Substanz besteht aus lauter Infusorien und die Pflanzen und Tiere sind nur umgewandelte In- fusorien x). Diese philosophische Idee, welche eng an die LElBNizsche Mo- nadenlehre anknüpft und behauptet, daß, wie eine jede Substanz aus Elementen besteht, auch die lebendige Substanz aus lebendigen Ele- menten zusammengesetzt sei, war eine der Quellen, aus welchen die Zellentheorie emporkam. Die andere Quelle war die Erfahrung, die Beobachtung nämlich, daß im tierischen und namentlich im pflanz- lichen Körper kleine Lücken, sog. Zellen, unter dem Mikroskop er- scheinen. Auch diese Zellen waren bereits dem 18. Jahrhundert bekannt, erst WOLFF aber, der uns schon bekannte Begründer der epigenetischen Theorie der Entwicklung, drang tiefer in das Ver- ständnis dieser Zellen ein. Er sah, daß der Pflanzenkörper einer schäumigen Flüssigkeit ähnlich sieht, daß die Lücken im Schaume x) L. Oken, Lehrbuch der Naturphilosophie 1809— 1S11, 3. Aufl.. Zürich 1843. S. 154. ()A V. Zellentheorie. von einem besonderen Saft gefüllt sind, und bemerkte auch, daß der tierische Keim aus kleinen »Kügelchen« zusammengesetzt ist. Die Entdeckung war neu; statt sie aber einfach als gültig hinzu- nehmen, statt zu erkennen, daß ein unbekanntes Element der lebendigen Substanz sich seinen Augen offenbart, glaubte Wolff, die Zellen aus bekannten Theorien deduzieren zu können; er lehrte, daß die Schaumstruktur durch Expansion der Säfte in der porösen Grundsubstanz entstehe, etwa so, wie die Bläschen im aufgehenden Teig durch die Expansion der sich dort bildenden Gase hervorge- bracht werden. Es ist etwas sonderbares um die Forschung und wiederholt sich stets von neuem: all unser wissenschaftliches Streben geht dahin, etwas Neues zu entdecken; wenn aber ein glücklicher Zufall einmal eine neue Erscheinung vor unsere Augen stellt, das erste, was wir tun, ist, die Augen zu schließen, auf daß uns die Be- obachtung neuer Dinge nicht im Grübeln über unsere Hirngespinnste störe. Neue Fortschritte stellten sich ein, als man am Anfange des ig. Jahrhunderts das Mikroskop mehr und mehr bei den Unter- suchungen benutzte. Noch gegen das Ende des 18. Jahrhunderts verschmähte es Cuvier; X. BiCHAT, der Begründer der Lehre von den tierischen Geweben, verwarf es, da es verzerrte Bilder der Ob- jekte zeige — es ist wohl wahr, daß die damaligen Mikroskope un- genügend waren. Doch bereits im Jahre 1807 kannte man achro- matische Objektive und 180 — 400 fache Vergrößerungen wurden angewendet; im Jahre 1837 vergrößerte bereits MEYEN die Pfianzen- teile 500 mal, und seit den vierziger Jahren wurde das Mikroskop all- gemein benutzt. Dadurch wurde die Aufmerksamkeit der Anatomen auf feine organische Strukturen gelenkt und die Resultate blieben nicht lange aus. Am Anfange des 19. Jahrhunderts glaubte man allgemein, die lebendige Substanz sei ein eigenartiger Schleim, der hier und da im Körper zu verschiedenartigen Strukturen erstarrt; aber nur den flüs- sigen Schleim selbst hielt man für den Träger des Lebens. Auch WOLFF war seinerzeit dieser Ansicht und nahm an, die homogene lebendige Grundsubstanz im Pfianzenkörper sei zu Gebilden erstarrt, welche den Bienenzellen ähnlich sehen; daher der damals oft vor- kommende Name »Zellgewebe« (tissu cellulaire), welcher also etwas ganz anderes ausdrückt, als was man heute mit diesem Namen be- zeichnet. Französische Botaniker, RASPAIL, DUTROCHET und Ch. F. MlRBEL, führten diese Lehre in den dreißiger Jahren weiter aus und V. Zellentheorie. 65 die »Pflanzenzellen«, d. h. kleine Fächer mit festen Wänden gewan- nen für die Histologen mehr und mehr an Interesse; die Annahme eines lebendigen Schleimes trat in den Hintergrund, das feste, durch das Mikroskop sichtbare Gerüst wurde hervorgehoben. Das Auftreten Schleidens. Es ist nicht abzusehen, welchen Weg die Entwicklung der Zellen- theorie weiter genommen hätte, wenn nicht Schleiden aufgetreten wäre; die damalige Zeit scheint die Entdeckung vorbereitet zu haben, daß alle Pflanzenteile aus wesentlich gleichen Elementen, den Zellen, bestehen; daß Pflanzengefäße, Siebröhren und andere Elemente des Pflanzenkörpers nur als Metamorphose eines und desselben Elementes zu betrachten sind, welches als ein polyedrisches Körperchen den Baustein des Parenchyms, als ein einfaches Kügelchen den Körper der einzelligen Alge bildet. Schleiden gab nicht nur der Zellentheorie eine andere Richtung, sondern er führte überhaupt in die Biologie eine neue Methode ein, durch welche er die Geister für die Aufnahme der DARWixschen Philosophie vorbereitete. Alle bisher angeführten Biologen waren Rationalisten, die an Pläne, Ideen, Vernunft in der Natur glaubten; jetzt aber sollte der Glaube an eine objektive Vernunft sein Ende finden. MATHIAS SCHLEIDEN (1804 — 1881) studierte die Rechte und wurde Advokat in Hamburg, wo er aber wenig Glück hatte. Die Kugel sollte allem ein Ende machen, verwundete jedoch bloß den Helden schwer und er genas. Er verließ die Advokatur, studierte Medizin und Pflanzenkunde; wurde Professor der Botanik an der Universität in Jena, verließ jedoch diese Stadt, wurde Professor der Botanik und Anthropologie in Dorpat, verließ aber auch diese Stelle und lebte als Privatgelehrter. SCHLEIDEN war ein sehr aggressiver und unruhiger Geist; ins- besondere griff er oft die Naturphilosophen und die Anhänger älterer Systeme an. Seine Schriften wurden eifrig gelesen; sein Lehrbuch der Botanik, ein streng wissenschaftliches Werk, erschien in vier Auflagen, seine populäre Schrift »Die Pflanze und ihr Leben« (1847) erlebte sechs Auflagen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Bei der Lektüre seines großen Werkes »Die Botanik als induktive Wissenschaft« (1. Aufl. 1842) begreift man, wodurch er so wirkte. Das Buch ist sehr unähnlich den üblichen deutschen trockenen Lehr- Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. c 66 V. Zellentheorie. büchcrn; es wurde von einem Manne geschrieben, der alle Thesen nicht nur mit dem Gehirn, sondern auch mit dem Herzen löste und daher sehr lebhaft, unter lauter Polemik (welche manchmal das er- laubte Maß überschreitet) schreibt; im Buche ist alles gesagt, was SCHLEIDEN am Herzen lag: man findet dort seine Anschauungen über die Philosophie, über das Verhältnis der Wissenschaften gegen- einander, über die Art, wie Lehrbücher zu schreiben sind, über Bo- taniker, die gelogen haben, über allzu großen Kultus der fran- zösischen Wissenschaft; darüber, daß es unpassend sei, in einem wissenschaftlichen Werke zu berichten, was der Autor auf seinen Ausflügen gegessen hatte, über die übermäßige Anwendung lateini- scher Terminologie, in späteren Auflagen auch über das Jahr 1848 usw. x). Ein solches Buch war damals in Deutschland ungewöhnlich; wohl ist auch Oken in den zwanziger Jahren gegen das Spießbürgertum der deutschen Wissenschaft losgezogen, seine romantische Philosophie jedoch war selbst noch voll von diesem Kleinstädtertum, und später verfiel die deutsche Naturwissenschaft schon gänzlich in eine behäbige Schulmeisterei an kleinen Universitäten, wo ein Professor gleichzeitig Zoologe, Botaniker, Mineraloge, Geologe, ja noch mehr war. Auch vorzügliche Gelehrte, wie Burdach, Baer, Rudolphi waren Spieß- bürger durch und durch2). Es ist kein Wunder, daß SCHLEIDEN viel Gelegenheit zu Angriffen hatte und daß diese Angriffe gerne gelesen wurden. Doch hatte Schleiden ein positives Ziel vor Augen; das Ziel, aus der Pflanzenkunde eine wahre, exakte Wissenschaft zu bilden; darum legte er Nachdruck auf den Titel seiner Schrift »Die Botanik als induktive Wissenschaft«. In der Darstellung seiner positiven J) Auch Schleidens populäre Schrift >Die Pflanze und ihr Leben«, Leipzig (1864 ist das Datum der 6. Auflage, die ich vor mir habe), ist in diesem aufrichtigen Ton geschrieben ; ihr Vorwort gehört zu den besten, die ich in der neueren wissen- schaftlichen Literatur gelesen habe. 2) Es genügt z. B. die Autobiographie des C. E. v. Baer aufzuschlagen; das Buch hat 674 Seiten in 40 (und bereits dies zeigt, wie groß er seinen Ruhm ein- schätzte); man wird erstaunt sein, wie spießbürgerlich Baer z. B. die Politik, die Revolution beurteilte, wie kindisch er den Kommunismus auffaßte (er glaubte, daß ein Satz, ein Hinweis darauf, daß die Australier kommunistisch leben, genügend sei, um diese soziologische Theorie in den Augen seiner Leser zu vernichten; doch auch dies ist bezeichnend, daß er sich darüber beschweren muß, die russische Zensur habe den Satz gestrichen, weil es überhaupt verboten war in Rußland über Kommu- nismus zu schreiben). Vgl. Nachrichten über Leben und Schriften des H. Geheim- rates K. E. v. Baer, mitgeteilt von ihm selbst. St. Petersburg 1865. V. Zellentheorie. 67 Ansichten bekundete er gleichfalls eine frische Lebhaftigkeit; rasch verfolgte er seinen Gedanken, ohne auf Einzelheiten aufzupassen, übersah deshalb manchmal einen Fehler, einen Trugschluß, und ist folglich oft unklar, stets aber entschieden in seiner Behauptung. Man muß auf KANT zurückgehen, behauptete er, und zwar auf dem von Fries angedeuteten Wege (FRIES wurde von SCHLEIDEN überhaupt sehr geschätzt), und es muß vorzüglich die englische sen- sualistische Philosophie und Baco studiert werden, von den Bota- nikern insbesondere der Engländer Rob. Brown. Das Nachdenken über das Wesen der Dinge ist zu verwerfen; mechanische Erklärung der Natur aus Kombinationen von Grundkräften, durch welche die Formen hervorgebracht werden, ist anzustreben. Wie der Kristallo- graph aus der Anziehung und Abstoßung der Moleküle die anorga- nischen Strukturen zu erklären versucht, so soll der Morphologe aus denselben Kräften die organischen Formen verständlich machen; es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen Kristallen und Orga- nismen1). Die Erfahrung sei die Losung des Botanikers, nicht das Verstehen; das Ziel der Wissenschaft sei eine in die Einzelheiten gehende Beschreibung des Geschehens2): »Die ganze Reihe aller Übergänge muß durch die Sinne ergriffen werden und es darf keine unbemerkte Lücke in der Entwicklung bleiben«, so behauptet er und drückt dadurch einen jener Grundsätze aus, die für die moderne Wissenschaft am bezeichnendsten sind. Das Ideal einer induktiven Wissenschaft führte ihn direkt auf die genetische Philosophie. Wie man bei der Induktion vom einzelnen zum allgemeinen, vom einfachen zum zusammengesetzten fortschreitet, so sollen wir die Lebensvorgänge nur durch Verfolgung ihrer Ent- wicklung richtig auffassen, welche ebenfalls vom einfachen zum zu- sammengesetzten sich erhebt. Der Bau der Pflanzen diente ihm als Beispiel: das entwickelte Pfianzengewebe besteht aus verschiedenen Gebilden: Zellen, Gefäßen, Siebröhren, Milchröhren; erst indem man ihrer Entwicklung folgt, erkennt man ihren Zusammenhang, d. h. die Entwicklung aller aus ähnlichen Anfängen. Deshalb empfiehlt SCHLEIDEN immer wieder die genetische (embryologische) Betrachtung; deshalb verwirft er die idealistische Morphologie, die Lehre von der Einheit des Planes, von der Metamorphose, von den 1 M. Schleiden, Die Botanik als induktive Wissenschaft 1S42 . 3. Aufl. 1849, I, S. 72. 2) Ibid. S. 146. 5* 58 V. Zellentheorie. Homologien. Eine ganz neue Definition der Morphologie stellt er auf: »es ist dies eine vollständige Kenntnis aller Entwicklungsreihen in der Pflanzenwelt« J). Wer hört nicht aus diesem im Jahre 1842 geschriebenen Satze die Phylogenien Haeckels vom Jahre 1866 heraus? Und der ganze Haeckel liegt im folgenden Postulat Schleidens2): »Jede Hypothese, jede Induktion in der Botanik ist unbedingt zu verwerfen, welche nicht durch die Entwicklungsgeschichte orientiert ist.« Das Buch, in welchem Schleiden diese Grundsätze der induk- tiven Botanik entwickelte, erschien im Jahre 1842, zu einer Zeit, als man sich allgemein von der Philosophie abwandte und der Ruf nach exakter Wissenschaft sich erhob. Neue Botaniker, H. V. Mohl, C. V. NäGELI, W. Hofmeister, unzufrieden mit der früheren Philo- sophie, fingen an, ihre Ansichten in der Botanik zur Geltung zu bringen und ihre Abneigung gegen Spekulation und Vorliebe für das Mikroskop zur Schau zu tragen. Es fand also Schleidens Kampf gegen die Naturphilosophie und sein Empfehlen der Induktion fruchtbaren Boden; nicht so erfolgreich waren seine konkreten bota- nischen Theorien. Schleiden war ein Mann, wie man ihnen oft begegnet: stark in der Negation und seiner Sache gewiß nur so- lange er Angreifer war; sobald er jedoch aus Eigenem positive An- schauungen schöpfen sollte, sobald es zu sagen galt, was er selbst, ohne Rücksicht auf andere, über konkrete Fragen dachte, wurde er schwankend und die Antwort blieb aus. Leute dieser Art leben allzusehr in anderen, statt in sich selbst; sie belästigen jedermann mit der Losung von der »Wahrheit«, verstehen jedoch darunter nicht ein plastisches, lebendiges, wirkliches Faktum, das an sich schon ein Genuß ist, sondern sie fassen die Wahrheit so auf wie ein Richter, der zwischen streitenden Parteien entscheidet, welche um eine Sache hadern, die ihn weiter nichts angeht. Schleiden zog gegen den Vitalismus zu Felde, nahm ihn jedoch auf Umwegen wieder auf3); er führte eine Polemik mit den Materia- listen4), trotzdem er ihnen mehr als nahestand; er bekämpfte viele x) M. Schleiden, Die Botanik als induktive Wissenschaft (1842), 3. Aufl. 1849, I, S. 72. 2) Ibid. S. 146. 3) Er sagt zwar von der Lebenskraft, sie sei »ein Prinzip der faulen Vernunft« (S. 58), aber bald darauf nimmt er den »Bildungstrieb« mit einigen sehr vagen Ein- schränkungen an (S. 62). 4) Über den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaft. Leipzig 1863. V. Zellentheorie. 69 neue Anschauungen, trotzdem sie seiner Lehre entsprachen1). Daher kam es, daß sich SCHLEIDEN nicht lange auf der durch einen kühnen Angriff eroberten Höhe halten konnte ; als die Polemik dem Schlüsse zuneigte, hatte er nichts mehr zu sagen und sank rasch zum Popu- larisator herab, stritt mit Priestern und Materialisten, popularisierte später die DARWixsche Theorie, ohne sich vielleicht dessen bewußt zu werden, daß die Zuhörerschaft, vor welcher er jetzt den Kampf führte, bedeutend unter derjenigen stand, für welche er seine Botanik verfaßt hatte. Seine »Studien« (1857) tragen schon alle Zeichen eines Verfalls2). Ihr Titel »Studien« verspricht zuviel, der zweite Titel »Populäre Vorträge« zuwenig; denn SCHLEIDEN war nicht von derjenigen Art Popularisatoren, welche fremde Gedanken breit- treten; er mußte bei jeder Gelegenheit seine eigene Überzeugung in den Vordergrund stellen; anstatt aber bei einem scharf umschriebenen Gebiet zu bleiben, griff er bald ein naturwissenschaftliches, bald ein historisches, bald ein philosophisches Thema auf, ohne zu einer ab- gerundeten Darstellung, ohne zu innerer Befriedigung zu gelangen. Aus seinem in den Studien enthaltenen Artikel »Swedenborg und der Aberglaube« wird man dieses Schwanken, diese eigentliche Natur Schleidexs leicht herauslesen können3). Die auf die erörterte Art eingetührte genetische Betrachtung der Erscheinungen wendete SCHLEIDEN bereits vor der Herausgabe seiner Botanik auf die Erklärung der Genese der Pflanzenzellen an4). ROB. Brown, der bekannte englische Botaniker, entdeckte (1833) in ver- schiedenartigen Pfianzenzellen ein Körnchen (unseren Kern) ; SCHLEI- DEN griff diese Entdeckung auf und bemühte sich nachzuweisen, daß die Zellen aus diesem Kern entstehen; daß aus dem lebendigen Schleim zuerst der Kern ausgeschieden wird und um ihn sich kleine Zellen wie Bläschen bilden, welche solange wachsen, bis sich ihre Wände berühren; und daß auf diese Weise, also durch eine Art Kristallisation innerhalb des lebendigen Schleimes, das Zellgewebe entsteht. Die Zelle soll ein Elementarorgan der Pflanze sein, dessen Wände, wenn sie vollständig entwickelt ist, aus der Zellulose, und dessen Inhalt aus einer halbflüssigen stickstoffhaltigen Substanz be- x) So bekämpfte er die epigenetische Theorie der Entwicklung. 2) Studien. Populäre Vorträge. Leipzig, 2. Aufl., 1857. 3) Dem Artikel liegt ein interessanter und für den induktiven Naturforscher Schleiden charakteristischer Gedanke zugrunde, der Aberglaube sei für gute Menschen unvermeidlich »und nur ein völlig herz- und gemütloser Mensch könnte bei ernster Selbstprüfung sich ganz von Aberglauben freisprechen« (S. 200). 4) M. Schleiden, Beiträge zur Phytogenesis Müll. Arch. 1838. 'jO V. Zellentheorie. steht; sie soll das einzige wesentliche Element sein, aus dem alle Pflanzen zusammengesetzt sind und ohne welche es keine Pflanze geben kann. Daher müssen alle Erklärungen der Pflanze auf die Lehre von der Zelle zurückgeführt werden1): »Jede Hypothese, jede Induktion ist unbedingt zu verwerfen, welche nicht darauf abzielt, die an der Pflanze vorgehenden Prozesse als Resultat der an den einzelnen Zellen vor sich gehenden Veränderungen zu er- klären.« In ihrer allgemeinen Fassung scheint Schleidens Zellenlehre neueren Anschauungen zu entsprechen; doch unterscheidet sie sich von denselben wesentlich durch die Überzeugung, daß die Zellwände der Hauptbestandteil der Zelle seien, ihr Inhalt aber weniger bedeut- sam, während man heute diese Zellenteile gerade umgekehrt ein- schätzt. Gemäß der Theorie Schleidens fragte man damals, ob die Zellwände homogen oder porös sind, in welcher Beziehung die Zellen zu den Gefäßen stehen usf. Große Verwirrung entstand aus dem Umstände, daß man keinen Unterschied zwischen dem Kern, den Fetttröpfchen und den Stärkekörnern machte, die man alle für em- bryonale Zellen hielt; auch über das Wesen der einzelligen Pflanzen war sich Schleiden nicht klar. Die Bestimmtheit, mit welcher Schleiden seine Ansichten über die Entstehung der Zellen vortrug, überzeugte viele Histologen und brachte das Zellenproblem in den Mittelpunkt der Forschung; des- halb fand man bald seinen Irrtum heraus, wonach neue Zellen in den alten, aus der in ihnen eingeschlossenen embryonalen Substanz kristallisieren sollen. 1839 beschrieb H. v. Mohl die Entstehung der Sporen durch Vierteilung einer Mutterzelle und 1841 richtete F. UNGER direkt gegen Schleiden seine Entdeckung, daß am Vege- tationspunkt der Pflanze neue Zellen durch Teilung der alten ent- stehen; diese Beobachtungen wurden dann durch NäGELI und H. v. Mohl weiter verfolgt. Th. Schwann. Der gute Kern der SCHLEiDENschen Theorie ging aber nicht verloren; noch ehe seine Hypothese von der Entstehung der Zellen zum Falle gebracht wurde, wurde seine Lehre von der Entwicklung der Gewebe aus Zellen von Theodor SCHWANN (1840 — 1882) auch auf die Tiere angewendet. Es fehlte früher keineswegs an Versuchen, x) Die Botanik als induktive Wissenschaft, S. 147. V. Zellentheorie. 7 1 den Tierkörper in lebendige Elemente zu analysieren; der Theorien Leibnizens und BUFFONs ist Erwähnung getan; am Ausgang des 18. Jahrhunderts behauptete Erasmus Darwin (Alb. Haller war bereits früher einer ähnlichen Ansicht) und andere, daß der Tier- körper aus Elcmentarfibrillen zusammengesetzt ist und H. MlLNE- Edwards lehrte, daß die lebendigen Elemente des Tierkörpers äußerst kleine Kügelchen seien. Mehrere Forscher wurden bereits der tierischen Zellen gewahr, ja einige verglichen sie schon mit den Pflanzenzellen; es waren dies in Frankreich DüTROCHET, Turpix, Dumortier; auch Purkinje beobachtete insbesondere in tierischen Drüsen Zellen und analogisierte diese »tierischen Körnchen« mit den Pflanzenzellen '), »wo jede Zelle ihr eigenes Leben besitzt, sich aus dem allgemeinen Safte ihren spezifischen Inhalt vorbereitet und die Absetzung besonderer Materien in besonderen Saftbehältern vermittelt«. Doch waren diese Ansichten durch mancherlei Vorbehalt restrin- giert und man war im großen und ganzen überzeugt, daß die Pflanzen ihre Gewebe aus Zellen bauen, die Tiere jedoch während ihrer Entwicklung zwar zuerst auch Zellen bilden, daß aber später ihr Körper durch aus dem Blute sezernierte Substanzen anwächst. Schwann bediente sich für seine Theorie der genetischen, von Schleiden empfohlenen Anschauung, welches ein guter Gedanke war, denn am entwickelten tierischen Organismus sind die Zellen nur an einzelnen Geweben als solche zu sehen, so an der Epidermis, den Drüsen, den Nervenzentren usw. Schwann erfuhr SchleiüENs Anschauungen gesprächsweise von demselben und versuchte den Be- weis zu führen, daß die Teile des Tierkörpers ganz ebenso wie die des Pflanzenkörpers aus Zellen entstehen2). Er bewies, daß die Chorda der Kaulquappe, die Keimblätter des Hühnchens, das embryo- nale Gewebe des Schweines usw. aus Zellen zusammengesetzt sind, welche den pflanzlichen ähnlich sehen, und deutete an, daß auch die Muskeln und das Bindegewebe aus Zellen entstanden sind. Da nun alle Körperteile aus embryonalem Gewebe sich bilden, entstehen alle aus den Zellen3), J) J. Purkinje im Bericht über die Versamml. deutscher Naturforscher und Ärzte. Prag (1837) 1838, S. 174. Vgl. übrigens auch zahlreiche Vorläufer, welche in dem Werke Schwanns angeführt sind. 2) Th. Schwann, Mikroskopische Untersuchungen über die Übereinstimmung in der Struktur der Tiere und Pflanzen, Berlin 1839. 3) Ibid. S. 196. 72 V. Zellentheorie. »so daß man den Grundsatz aufstellen kann, daß es ein gemeinsames Entvvicklungsprinzip für die verschiedensten Elementarteile der Organismen gibt, und daß die Zellenbildung dieses Entwicklungsprinzip ist«. Dieser Satz ist so zu verstehen, daß der Keim zuerst aus formlosem Schleim besteht, in welchem Zellen, d. i. mit Saft ausgefüllte Höh- lungen sich bilden, welche sich mit erstarrtem Schleim umgeben, und daß diese Zellen sich auf verschiedene Art zu Elementen der defini- tiven Gewebe umwandeln. Der Gedanke, daß auch der erwachsene Organismus aus Zellen besteht, wurde von Schwann nicht, wenigstens nicht mit voller Klarheit, verteidigt. So brachte Schwanns Zellentheorie zweifaches dar: erstens die Erkenntnis, daß der zusammengesetzte Organismus sich aus Zellen entwickelt, zweitens eine neue Philosophie, welche induktiv, genetisch und mechanisch war. Schwann war sich der weitreichenden philo- sophischen Bedeutung seines Werkes bewußt; er schreibt im Vorwort1): »die vorliegende Abhandlung hat zur Aufgabe, den innigsten Zusammen- nang beider Reiche der organischen Natur aus der Gleichheit der Ent- wicklungsgesetze der Elementarteile der Tiere und Pflanzen nachzuweisen«. Auch über das Mechanische seiner Theorie war er sich klar. Schleiden behauptete (und Schwann bestritt diese Behauptung nicht), daß der Organismus ein gesetzmäßiges Aggregat von Einzelwesen niederer Ordnung sei; gegen die vitalistische Ansicht von der Ein- heit des Lebens im organischen Körper, gegen eine einheitliche Lebenskraft führte Schleiden aus, daß das Leben ein Resultat aus dem Zusammenarbeiten vieler Zellen sei. Schwann schreibt ebenfalls in diesem Sinne2) : »Einem Organismus liegt keine nach einer bestimmten Idee wirkende Kraft zugrunde, sondern er entsteht nach blinden Gesetzen der Not- T) Th. Schwann, Mikroskopische Untersuchungen über die Übereinstimmung in der Struktur der Tiere und Pflanzen, Berlin 1839, Vorwort. 2) Ibid. S. 226. Schwann war nichtsdestoweniger ein frommer Mann; aus Furcht, man könnte aus seiner Schrift eine antikirchliche Tendenz herauslesen, erbat er sich von seinem Erzbischof das Imprimatur (welches ihm erteilt wurde). Später verblaßte seine Bedeutung. Wie Purkinje begann auch er seine wissenschaftliche Laufbahn in Deutschland und erreichte dort seinen Ruf, um dann in sein Vaterland (Belgien) zurückzukehren; während jedoch Purkinje sich in seinem Alter als eif- riger Patriot, als Begründer einer nationalen Wissenschaft betätigte, machte Schwann später nur einmal von sich wieder reden: katholische Priester beriefen sich auf seine Autorität zum Beweis für ein gewisses in Belgien vorgekommenes Wunder und ver- ursachten dadurch dem zwar orthodoxen aber doch kritischen Schwann Unannehm- lichkeiten. Vgl. über Schwann und seine Zeit: J. Henle, Theodor Schwann, Bonn 1886. V. Zellentheorie. - ■> wendigkeit durch Kräfte, die ebenso durch die Existenz der Materie ge- setzt sind, wie die Kräfte in der anorganischen Natur. Da die Elementar- stoffe in der organischen Natur von denen der anorganischen nicht ver- schieden sind, so kann der Grund der organischen Erscheinungen nur in einer anderen Kombination der Stoffe liegen . . .« Weitere Schicksale der Zellentheorie. Schwann wurde sich nicht klar darüber, woher die Zellen kommen und worin eigentlich eine Zelle besteht. Er nahm mit Schleiden an, daß neue Zellen entweder in den alten um ihre Kerne herum entstehen, oder daß sie aus der homogenen, lebendigen Grundsubstanz kristalli- sieren. Es wurde bereits erwähnt, wie dieser Irrtum in der Botanik verbessert wurde; es folgten bald neue Fortschritte. PURKINJE kannte bereits vor SCHWANN aus eigener Erfahrung die tierischen Zellen, welche er j'cdoch nicht so, sondern > Körnchen« nannte; er nahm an, daß der Tierkörper aus drei Grundgebilden besteht: aus einer homogenen flüssigen Grundsubstanz (unser Protoplasma, welche er »Enchyma« nannte), aus Körnchen und aus Fibrillen. Er ahnte bereits, daß seine Körnchen nichts anderes als die (Pflanzen-) Zellen sind; indem er aber von tierischen Zellen ausging, suchte er das Wesen der Zelle weniger in einem Bläschen mit eingeschlossenem flüssigen Inhalte, als vielmehr in einem Klümpchen der flüssigen Grundsubstanz (daher der Name »Körnchen«). Nebstdem unterschied er noch die undifferenzierte embryonale Grundsubstanz (welche übrigens auch Schleiden kannte) und diese nannte er »Protoplasma« (1839); der Botaniker HUGO VON M.OHL wandte später (1846) diesen Namen auf den flüssigen Inhalt der Zelle an, und 1863 wies der Zoo- loge Max Schultze nach, daß das Pflanzenprotoplasma und der schleimige Inhalt der tierischen Zelle (der von den Franzosen sarcode genannt wurde) wesentlich gleich sind. Auf diesem Wege kehrte man wieder zu den Ansichten zurück, welche vor Schwann herrschten, daß das Wesen des Organismus nicht die erstarrten Zellen ausmachen, sondern der halbflüssige Schleim, das Protoplasma, welches Klümpchen mit je einem Kern bildet; für diese Klümpchen behielt Max Schultze den Namen Zelle. Diese Umwandlung des Zellenbegriffs ging nicht so glatt vor sich, wie eben geschildert wurde; in den 50er Jahren war vielmehr die Zellentheorie ein vielumstrittenes Gebiet; namentlich war man sich nicht über die Entstehung der Zellen aus dem Ei klar. Daß das Hühnerei einen Kern enthält, hat Purkinje 1825 entdeckt und 74 V. Zellentheorie. bereits 1837 wußte man, daß er in allen Eiern enthalten ist, obwohl man damals noch nicht wußte, daß dieses Keimbläschen (wie man es nannte) mit dem Kern der Gewebezellen identisch ist. Auch durch Schwann wurde die Sache keineswegs entschieden; er behauptete wohl, daß das Ei eine Zelle ist, doch hielt er die Fett- tröpfchen in demselben für ebensoviel Kerne und für neuentstehende Zellen, aus welchen sich später das embryonale Gewebe bildet. Jetzt aber wurde von Bischoff bei den Säugetieren (1842) und von KöLLiKER bei den Kephalopoden (1844) beobachtet, daß die Ent- wicklung durch Teilung des Eies in zwei Hälften beginnt, von welchen sich jede wieder in zwei Hälften furcht usw. Diese Be- obachtung gab Anlaß zu neuer Verwirrung; KÖLLIKER erkannte die durch die Teilung des Eies entstandenen Zellen nicht als solche, sondern als neue Grundgebilde (Umhüllungskörper) an, von welchen die Zellen umhüllt sein sollen; er unterschied ferner noch andere »Elementarorganismen«, und zwar höhere: vielkernige Muskel- zellen, Nervenzellen, Spermatozoen, einzellige Tiere und Pflanzen; und niedere, worunter er kernlose Zellen und die Schuppen an den Schmetterlingsflügeln zählte, welche weder Kern noch Protoplasma enthalten sollen. In bezug auf einzellige Wesen herrschte ebenfalls viel Unklarheit: AGASSIZ nahm noch 1875 an1), daß sie nur embryo- nale Übergangsstadien höherer Formen sind. Überhaupt waren alle Erörterungen der Zellentheorie damals voll von Unklarheiten2). R. VlRCHOW, über den später ausführlicher berichtet werden soll, mußte sich ebenfalls erst Schritt für Schritt aus diesen Verworren- heiten herausarbeiten; doch stellte er seit 1855 die Behauptung auf, daß alle Zellen wieder nur aus Zellen entstehen3), und führte dadurch, was Schleiden angefangen hatte, zum Abschluß; dieser verlangte zwar, daß man die Pflanze in die Summe ihrer Zellen auflöse, mit seiner Annahme jedoch, daß die Zellen aus der primitiven homogenen Grundsubstanz entstehen, stak er noch in den alten Anschauungen von der Einheit des Lebens. VlRCHOW behauptete dagegen, daß alle Entwicklung mit Hilfe der Zellen vor sich gehe, und zwar so, daß das Ei, die erste Zelle, sich in zwei Zellen teilt, diese wieder in zwei usw. bis der vielzellige erwachsene Organismus entsteht. Alle Gewebeteile, wie Muskeln, Nerven, Gefäße, Blut, Lymphe x) L. Agassiz, Der Schöpfungsplan, Leipzig 1875. 2) Dies wird ausführlicher erklärt in Henles Th. Schwann. 3) Th. Virchow, Die Zellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre, Berlin 1858. VI. Physiologie vor Darwin. yr bestehen aus Zellen, welche als kleine Zentren, als freie Bürger in einer bürgerlichen Republik zu betrachten sind, wo jedes einzelne Individuum durch seine Tätigkeit zum Leben des Ganzen bei- steuert und >nirgends, soweit unsere anatomische Erfahrung reicht, gibt es ein Zen- trum, von welchem die Lebenstätigkeit auf eine erkennbare Art beherrscht würde« r). Auch das Nervensystem des menschlichen Körpers ist kein ein- heitliches Zentrum, denn es ist aus einer großen Anzahl Zellen zu- sammengesetzt; auch die Entstehung verschiedener pathologischer Gebilde geht nicht anders vor als durch Teilung der Zellen, welche bereits früher im gesunden Körper vorhanden waren2). Man sieht, wie in diesen Anschauungen VlRCHOWs die mechanische Überzeugung so sehr in den Vordergrund tritt, daß sie die genetische Auffassung der Zelle, von welcher Schleiden und Schwann be- herrscht waren, an die zweite Stelle zurückdrängt: nicht auf das Entstehen, sondern auf das Zusammengesetztsein wird von Virchow Nachdruck gelegt. VlRCHOWs Lehre wurde mit kleinen Veränderungen angenommen und seitdem wuchs der Kultus der Zelle, wichtige und unwichtige Eigenschaften wurden an derselben entdeckt, bis in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Zellentheorie ihren Höhepunkt erreichte. VI. Physiologie vor Darwin. Die deutsche Physiologie. Wie immer, so strebten die Naturforscher auch um die Wende des 18. Jahrhunderts die Biologie auf etwas Absolutes zu stützen, woraus man ihre Begriffe als logische Konsequenzen ableiten könnte. Newtons glückliche Entdeckung einer Kraft, welche die gesamte leblose Materie beherrscht, wurde zum Ansporn, nach einer ähnlichen Kraft zu suchen, welche den Lebenslauf in derselben Weise bestimmten Gesetzen wie die Gravitation den Lauf des Planeten unterordnen würde. Doch es wurde zu stark die philosophische Seite der Frage betont und die Geister gingen förmlich auf im Nachdenken über die Lebens- kraft als dem Wesen des Lebens, als einer Bildnerin der Formen und J) R. Virchow, Die Zellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin 1S58, S. 32S sq. 2) Ibid. S. 356. 2 7 6 VI. Physiologie vor Darwin. Leiterin der Bewegungen, als einem Prinzip des psychischen und intel- lektuellen Lebens ; im Nachdenken über die Kraft, welche als Psyche, Anima, Archaeus, Lebensprinzip, nisus formativus, wieder und wieder die Phantasie des Forschers beschäftigte und noch immer beschäftigt. Es wurde der alte Glaube an ein doppeltes Leben, ein vegetatives und ein animales erneuert, und durch die Lehre des 18. Jahrhunderts vervollständigt, daß sich das Leben in seinen höheren Stufen durch zwei Grundeigenschaften offenbart, durch die Irritabilität, wenn der lebendige Körper auf einen Reiz durch Bewegung reagiert, und durch die Sensibilität bei Tieren und Organen, bei welchen die Reizung Empfindungen hervorruft. Diese beiden Eigenschaften nannte man »Kräfte« und setzte sie der Gravitation und der chemischen Affinität gleich. Man suchte die Lebenskraft noch auf eine andere Art zu analysieren. So führte Joh. Chr. Reil (1759 — 1 81 3) folgende Kräfte an: die physikalische, aller Materie gemeinsame Kraft, ferner die Lebenskraft, dann die vegetabilische, die animale und schließlich die intellektuelle Kraft. X. Bichat, der bekannte französische Histo- loge (1771 — 1802) unterschied so viele Lebenskräfte, als es Gewebe- arten im Körper gibt. Die Lebenskraft bildete nach diesen Gelehrten das Wesen von allem, was Leben zum Leben macht. »Die organisierende Kraft«, schreibt Joh. Müller1), »die nach ewigem Gesetz die zürn Bestehen des Ganzen nötigen Glieder erzeugt und belebt, residiert wohl nicht in einem Organ ; sie äußert sich in der Ernährung noch bei der hirnlosen Mißgeburt bis zur Geburt ; sie verändert das schon vorhandene Nervensystem wie alle übrigen Organe bei der sich verwan- delnden Insektenlarve. . . . Die bewußtlos wirkende zweckmäßige Tätigkeit wirkt auch in den Erscheinungen des Instinktes. . . . Die organische Kraft, die Endursache des organischen Wesens, ist eine die Materie zweck- mäßig verändernde Schöpfungskraft. . . .« So MÜLLER; weniger vorsichtig vergleicht J. Liebig die Lebens- kraft mit der Wärme und dem Licht : wie diese Kräfte Veränderungen an leblosen Materien hervorbringen, so »ist die Lebenskraft die bedingende Ursache der Form und der Eigen- schaften der in den Organismen erzeugten Verbindungen; sie bestimmt die Anzahl der Atome, die sich vereinigen und die Art und Weise ihrer Lagerung; wir können einen Alaunkristall aus seinen Elementen . . . zu- sammensetzen, weil wir bis zu einer gewissen Grenze frei über ihre che- mische Verwandtschaft, sowie über die Wärme und damit über die Ord- J) Joh. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen Koblenz 1837, I, S. 25. VI. Physiologie vor Darwin. nn nung verfügen können; allein ein Zuckerteilchen können wir aus seinen Elementen nicht zusammensetzen, weil zu ihrem Zusammentreten in der dem Zuckeratom eigentümlichen Form die Lebenskraft mitwirkte, die unserem Willen nicht in gleicher Weise wie Wärme, Licht, Schwerkraft usw. zu Gebote steht . . .«*). Das Grübeln über der Lebenskraft kannte, insbesondere in Deutsch- land, keine Grenzen, praktisch geschah aber wenig-, um diese rätsel- hafte Kraft durch irgend ein Experiment zu fassen. Wer an die Lebenskraft glaubt, von dem erwarten wir, daß er dieselbe an wirk- lichen Kraftäußerungen untersuchen wird, also an tierischer Bewegung, an der Ernährung, an den Erscheinungen des Instinktes, überhaupt an physiologischen Erscheinungen; die wirkliche Physiologie wurde aber zu jener Zeit, insbesondere in Deutschland, wenig gepflegt; auch große Physiologen wie Bichat, Blumenbach, Müller, Pur- kinje waren ihrer positiven Tätigkeit nach viel mehr Anatomen als Physiologen — man lese nur die oben angeführte MüLLERsche Definition der Lebenskraft, welche fast nur auf Substanzveränderungen, keineswegs auf Kraftäußerungen abzielt. Die deutschen Physiologen jener Zeit leiteten ihre physiologischen Theorien meistenteils aus der Anatomie ab, in der Überzeugung, daß die Kenntnis des Körper- baues zum Begreifen seiner Tätigkeit hinreiche; und so war ihre Physiologie gewissermaßen nur eine Philosophie über anatomische Tatsachen. Deshalb war aber jene Richtung nichts weniger als arm an origi- nellen Beobachtungen; ja sie zählt unter ihre Anhänger die besten Namen; nebst den obengenannten: G. R. Treyiranus, G. G. Valentin, Rld. Wagner; im Geiste derselben Richtung ist die große Ver- gleichende Physiologie von Milne-Edwards2), das Physiologische Wörterbuch3) von R. Wagner (1842 — 1853), die Vergleichende Ana- tomie und Physiologie Bergmanns und LEUCKARTs4) u. a. verfaßt. Als Grundsatz galt diesen Physiologen eine auf philosophisches Begreifen abzielende Beobachtung; das Experiment hielten sie für eine zu grobe, unnatürliche Berührung der Natur. »Die wahre Physiologie«, sagt bezeichnend Jon. Müller, ein klassi- 1 J. Liebig, Chemische Briefe. Heidelberg 1844, S. 146. 2) H. Milne-Edwards , Lecons sur la pbysiologie et d'anatomie comparee. Paris 1837— 1880. 3) H. Wagners Handwörterbuch der Physiologie. Braunschweig 1842 — 1S53. 4) Bergmann und Leuckakt. Anatomisch-physiologische Übersicht des Tierreichs. Leipzig 1852. 78 VL Physiologie vor Darwin. scher Vertreter dieser Gedankenrichtung x), »denkt das Leben in die rich- tige Erfahrung«. Und an einer anderen Stelle verwirft er das Experimentieren 2) : »Der Umgang mit der lebenden Natur geschieht durch Beobachtung und Versuch. Die Beobachtung schlicht, unverdrossen, fleißig, aufrichtig, ohne vorgefaßte Meinung; — der Versuch künstlich, ungeduldig, emsig, abspringend, leidenschaftlich, unzuverlässig. « Diese Anschauung paßte so schön zu ihrer Naturphilosophie! Sie liebten die Natur, sie wollten in ihr mit ihrem Gemüt aufgehen, die Augen schließen und den durch die Beobachtung in ihrem Geiste hervorgerufenen Phantasien folgen. Dann freilich gilt die Behauptung Müllers3): »Lasset einen solchen Geist erfahren, was Ihr immer wollt, er erfährt mehr als in den Dingen selbst scheinbar sinnlich Erkennbares ist, und wie seine Erfahrungen und Betrachtungen aus der Idee hervorgehen, so gehen sie auch in Ideen zurück. . . . Die Erfahrung wird zum Zeugungs- ferment des Geistes . . .« Deshalb bestehen die konkreten Errungenschaften dieser Schule in anatomischen und psychologischen Tatsachen, soferne sie ohne Experimente beobachtet werden können, während die Physiologie in dieselben nur »hineingedacht« wird, wie sich MÜLLER unvorsichtig genug ausgedrückt hat. Obwohl Joh. E. Purkinje ein ganz anders veranlagter Geist war als MÜLLER, lief seine Auffassung der Physiologie auf dasselbe hin- aus. Es lohnt sich der Versuch, beide miteinander zu vergleichen. Während der Deutsche Müller mehr auf Allgemeines, auf Ab- straktion, auf Grundsätze ausging, lag PURKINJES Vorzug in origi- neller Auffassung der Einzelheiten, die er systemlos wählte. Aus Forschern vom Schlage Müllers werden Führer und Lehrer von anerkannter Autorität, welche in der Geschichte eine markante Stellung einnehmen; Männer wie PURKINJE werden niemals eine Herrschaft über das wissenschaftliche Denken gewinnen; sie sind allzusehr Individualisten, haben wenig Sinn für relative Bedeutung der Tatsachen und betrachten jeden Gedanken, den sie eben ver- folgen, für absolut; PURKINJE z. B. war imstande, mit gleichem Enthusiasmus einen Vortrag über Zündhölzchen, wie über natur- T) Joh. Müller, Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung (1824); erschien im Werke: Zur vergl. Physiologie des Gesichts- sinnes. Leipzig 1826, S. 7. . 2) Ibid. S. 20. 3) Ibid. S. 34- VI. Physiologie vor Darwin. yn wissenschaftliche Erziehung der Jugend, über die Eisenbahn, wie über den allgemeinen Geist in der Natur zu halten. Leonardos, des größten Individualisten dieser Art, Schicksal ereilt solche Geister; sie leben allzusehr sich selbst, sie arbeiten zur eigenen Freude, und die Menschheit, die sie in die Kette des öffentlichen Lebens nicht einreihen kann, möchte sie gerne aus ihrem Gedächtnis tilgen; allein jedesmal, wenn es irgend jemandem gelingt, einen neuen Ge- danken originell zu fassen, kehrt die Erinnerung an jene Geister, bei denen der Gedanke bereits eingekehrt war, wieder und wieder zurück. Solche Männer gehören nicht der Geschichte an, sie schweben viel- mehr über jeder Zeit; sie sind heute ebenso bewunderungswürdig, »wie am ersten Tag«. Wir vergleichen PURKINJE mit MÜLLER: MÜLLER war Philosoph, vorzüglicher Lehrer, schrieb ein großes Lehrbuch der Physiologie, hinterließ aber keine bedeutendere Entdeckung; PURKINJE gab kein größeres Werk heraus, geschweige denn ein Lehrbuch, keine Theorie trägt seinen Namen, kein Schüler wurde von ihm erzogen, keine Richtung angebahnt; dafür aber stellte er eine Reihe von originellen Beobachtungen in den verschiedensten Gebieten der Biologie an. Beide, Purkinje wie MÜLLER, standen an der Wiege der neu erwachenden Physiologie; beide sprachen sich über das Wesen dieser Wissenschaft aus; vergleicht man ihre Aussprüche, liest man aus ihnen leicht den eben erwähnten Unterschied ihrer Geistesart heraus; doch wird man auch herauslesen, wie beide in der Physiologie eine nicht experimentelle Wissenschaft sahen, sozusagen nur eine höhere Anatomie. MÜLLERS Anschauungen sind angeführt worden. Pur- kinje behandelt in einer Rede1) den Begriff und die Methoden der all- gemeinen Physiologie. Er zählt die Forschungsgebiete, die der Physiologe beachten muß auf, und vergißt dabei keine damals be- kannte biologische Richtung. Experimente führt er jedoch nur an- hangsweise bei der Physik an ; er gibt die physiologischen Methoden an und zwar die folgenden: die anatomische und mikrotomische (welche organische Strukturen und ihre Entwicklung studiert) ; die chemische, physikalische, psychologische und logische — von einer experimentellen Physiologie weiß er nichts zu sagen; er zählt Labo- ratorien eines vollständigen physiologischen Instituts auf und nennt ein anatomisches, ein mikroskopisches, ein chemisches, eine mecha- x) Joh. E. Purkinje, Über den Begriff der Physiologie, ihre Beziehung zu den übrigen Naturwissenschaften usw. Rede, gehalten bei der Eröffnung des physiologi- schen Instituts zu Prag. 185 1. So VI. Physiologie vor Darwin. nische Werkstätte und eine Menagerie mit Glashaus: das physikalische Laboratorium wird ausdrücklich als nicht nötig bezeichnet, nur ein physikalisches Kabinett wird verlangt. Als Sprecher dieser anatomisch-physiologischen Richtung galt, wie bereits erwähnt, nicht Purkinje, sondern Müller. Johannes Müller (1801 — 1858), Professor in Bonn und in Berlin1], war ein naturphilosophisch gestimmter Gelehrter, auf den GOETHE als Dichter sowohl als auch Naturforscher Einfluß ausgeübt hatte. Den Deutschen bleibt er bis auf den Tag das Vorbild eines Physiologen ; tatsächlich stellt sein Lebenslauf ein klassisches Beispiel eines deutschen Ge- lehrten dar. In seinen jüngeren Jahren von innigster Liebe zur Natur durchdrungen, suchte er derselben den allerweitesten, den allertiefsten Ausdruck durch naturphilosophische Betrachtungen, durch psychologische, physiologische und anatomische Untersuchungen zu geben — sein Werk über phantastische Gesichtserscheinungen und über vergleichende Physiologie des Gesichtssinnes, klassische Ar- beiten voll aufschäumender Jugendkraft, gehören dieser Periode an. Seine Lehre von den »spezifischen Sinnesenergien«, nach welcher Licht, Schall, Geschmack, Geruch, Tastgefühl nur in der Seele und in ihren Organen, dem Auge, dem Ohr, der Zunge, der Nasenschleim- haut, der Haut liegen, während es außerhalb der Seele nur mecha- nische Bewegung gibt, entstand ebenfalls zu jener Zeit. Dann wurde er Professor, später sogar Professor in Berlin und Redakteur einer angesehenen physiologischen Zeitschrift. Nicht mehr die Kraft der Gedanken, als vielmehr sein umfassendes Wissen wurde von nun an in Anspruch genommen. Seine Naturphilosophie verbarg sich in die geheimsten Falten seiner Seele und was von ihr für die Öffent- lichkeit übrig blieb, war nur eine beschauliche Stimmung, die seinem großen Handbuch der Physiologie zugrunde liegt. Seine Schüler unterlagen in der Theorie leicht neuen Richtungen und führten seine Wissenschaft in ganz andere Bahnen, als wohin er selbst strebte; sonst waren sie jedoch die besten Köpfe der deutschen Naturwissen- schaft: Haeckel, Helmholtz, Kölliker, Schwann, du Bois Rey- mond, Brücke, Claparede, Henle, Lieberkühn d. j., Remak, Max Schultze, Virchow. Wie kam es nun, daß die meisten Schüler Müllers, unter ihnen besonders Haeckel, Helmholtz, du Bois, Virchow, so leicht den Idealismus ihres Meisters vergaßen und der mechanischen Auffassung J) Über Müller vgl. R. Virchow, Joh. Müller, Berlin 1858. VI. Physiologie vor Darwin. gi des Lebens sich zuwandten? Es scheint, daß der Grund nur darin lag, daß Müllers Idealismus eben nur eine Stimmung, eine An- schauung, eine Betrachtung war, nicht aber eine notwendige Konse- quenz der von ihm dargebotenen konkreten Lehren. Seine Schüler wollten den Meister durch die Einführung der Experimente in die Physiologie vervollständigen; da sie jedoch keine physiologischen Experimente gelernt hatten, nahmen sie die Methode aus der modernen und ihnen zugänglichen Physik über, während sie von MÜLLER seine anatomische Auffassung des Lebens liehen und so die Physik mit der Anatomie zu einer Art Physiologie verknüpften. Es waren insbesondere Emil du BoiS Reymond (1818 — 1896) und Hermann v. Helmiioltz (1821 — 1894), welche physikalische Methoden in das Studium des Lebens einführten und aus der Physio- logie anstatt der Lehre vom Leben eine Lehre von feinen elektrischen, optischen, akustischen und anderen Apparaten machten. Exaktheit war ihr Vorzug, Beschränktheit der Probleme eine notwendige Folge ; mathematisch exakte Theorien war das von ihnen angestrebte, und trockene Formeln das erreichte Ziel. Bald war diese Richtung erstarrt und heute wird sie wegen ihrer Exaktheit bewundert, ohne daß man mit ihren Errungenschaften etwas anzufangen wüßte. Jene Forscher sahen vom Leben nichts als den galvanischen Strom, der durch den Nerv fliegen soll (welchen sie mit einem Telegraphendraht zu vergleichen liebten), die Zuckung eines aus dem Körper heraus- geschnittenen Muskels, die Brechung der Lichtstrahlen im Auge; sie anlaysierten die durch das Prisma zerlegten Farben, sie lösten den Schall in seine Töne auf und nannten eine solche Wissenschaft Physiologie, weil sie in den galvanischen Strom anstatt eines Drahtes den Nerv einschalteten, weil sie den Lichtstrahl mit dem Auge statt mit einer photographischen Platte fingen und weil sie für die Ton- analysen nebst den Stimmgabeln und Resonatoren auch das Ohr be- nutzten; Apparate übrigens, welche im Vergleich mit den physika- lischen ziemlich unvollkommen sind, wie sie hinzuzufügen nicht ver- gaßen. Beide, DU BoiS wie HELMHOLTZ waren auch Philosophen; jener war ein gesprächiger Verteidiger des Materialismus, dieser, feineren Gemütes, erbte von Müller die Vorliebe für die Sinnesorgane und suchte mit ihrer Untersuchung zu einer Philosophie durchzudringen, von welcher er behauptete, daß sie kantisch sei. Und tatsächlich war sie Kant nicht ganz fremd : HELMHOLTZ kämpfte zwar viel gegen die Naturphilosophen, Nachkommen Kants, die nach seiner Ansicht Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. 6 82 VI. Physiologie vor Darwin. ihren Meister falsch verstanden, und zur Überwindung der Natur- philosophie empfahl er die induktive Methode; in einer Hinsicht ist er aber trotz aller Betonung Mills Naturphilosoph geblieben: viel hat er über Physiologie geschrieben, doch äußerst wenige Versuche und Beobachtungen an Tieren gemacht, und dies aus denselben Gründen wie die Naturphilosophen: diese suchten durch die Analyse der Vernunft tätigkeit zur Erkenntnis der Naturgesetze zu gelangen, und Helmholtz durch die Analyse der Sinnestätigkeit. Auch HELMHOLTZ unterschätzte die aus direktem Studium der Tiere ge- wonnene Erfahrung in der Überzeugung, daß er die gesamte Er- fahrung in die Hände bekomme, wenn er derselben bei den mensch- lichen Sinnesorganen aufpasse, durch welche sie in den Verstand ein- tritt. Aus jener Zeit stammt die Überschätzung des philosophischen Inhaltes des Studiums der Sinnesorgane. Doch auch die Sinnesphysiologie zerrann ihm unter den Händen: von der Physik und Anatomie schritt er gleich zur Psychologie vor, nicht aber zu jener, die die psychischen Vorgänge sucht, sondern zu einer solchen, welche sie in physikalische Vorgänge hineindenkt; dieses Hineindenken nannte er aber »Erklärung«. Helmholtz stellte sich vor, daß das Auge ein physikalischer Apparat sei, und wähnte alles darüber Wissenswerte zu entdecken, wenn er nach physikalischen Regeln das auf das Auge wirkende Licht analysierte; er bekam so Elemente wie Farbe, Intensität, Punkt (Fläche, Raum), und glaubte, daß einem jeden derselben ein Empfindungselement entsprechen müsse, und daß hinter den Empfindungen der Verstand stehe, der dieselben zusammenfasse. »Der Hauptsatz der empiristischen Ansicht ist: die Sinnesempfindungen sind für unser Bewußtsein Zeichen, deren Bedeutung verstehen zulernen unserem Verstände überlassen ist1).« Und so geschah es, daß seine Physiologische Optik, ein Buch von mehr als iooo Seiten, nur das menschliche Auge behandelt, ohne zu beachten, daß das Licht auch für Tiere und Pflanzen da ist — für diese hat jedoch jene empiristische Erklärung gar keinen Sinn. Die französische Physiologie. Eine ganz andere Richtung hat die Physiologie in Frankreich eingeschlagen. Auch dort kamen wiederholt Versuche vor, die Physiologie an Physik und Chemie anzuknüpfen; trotzdem aber wußten x) H. Helmholtz, Physiol. Optik. Hamburg und Leipzig 1896, 2. Aufl., S. 947. VI. Physiologie vor Darwin. g? die Physiologen immer ihre Selbständigkeit den Physikern gegenüber zu wahren. Die experimentelle Richtung wurde durch Lavoisier angeregt, der zu beweisen suchte, daß sich der Organismus durch Atmung wie glühende Kohle verzehrt und daß sich die im Tier entstehende Wärme denselben Gesetzen unterordnen lasse, welche nicht lange vor jener Zeit sein Freund Laplace für die Physik fest- gestellt hat. Noch mehr wurde für die experimentelle Methode von Laplaces Schüler FRC. Magexdie (1783— 1855) geleistet. Wie später DU Bois und Helmholtz, kämpfte auch Magexdie gegen die Lebenskraftlehre, auch er strebte nach einer Zurückführung aller Lebenserscheinungen auf die Physik und Chemie ') ; während aber die Deutschen diese Aufgabe durch das Konstruieren feinster Apparate zu lösen suchten, kam Magexdie in den Ruf eines gefühllosen Ex- perimentators, der mit seinem Messer rücksichtslos lebende Tiere öffnete, die Kraft der Herzschläge maß, den Weg, auf dem die Nah- rung in den Körper kommt, verfolgte, von der Physiologie zur Pathologie überging, überhaupt stets das Leben unter seinen Händen hatte. Sein Schüler Claude Bernard (1813 — 1878) nahm der Methode seines Meisters ihre Härte, und war nicht sehr vom Vita- lismus entfernt. Durch Versuche, welche beweisen sollten, daß die Leber des Menschen ebenso Zucker bildet wie die süßen Früchte der Bäume, daß man mit dem Äther nicht nur den Menschen, sondern auch die Hefe einschläfern könne, faßte er das Leben in seiner weitesten Ausdehnung auf. Seine im wahren Sinne des Wortes »all- gemeine« Physiologie fand leider keine angemessene Aufnahme, ob- wohl es ihr weder an neuen Versuchen, noch an einer eigenartigen Philosophie, noch an der französischen Eleganz des Stils fehlte. Als man neuestens die allgemeine Physiologie zu neuem Leben erweckte, hätte man fast auf Claude Berxard vergessen2). Auch LAMARCK spekulierte über Physiologie, ja er war in ge- wissem Sinne mehr Physiologe als Morphologc , insofern er über die Funktionen der Tiere und über ihren Einfluß auf die Form des Tierkörpers nachdachte. Seine Physiologie bestand jedoch nur im Nachdenken, nicht im Beobachten und Experimentieren, und so näherte sie sich der von JOH. MÜLLER vertretenen, wenn auch die x) Zuerst in: Quelques idees ge"n£rales sur les phenomenes particuliers aux corps vivants. Bull. sei. med. 1809, T. 2. — Ausführlicher in seinen Lecons sur les phe- nomenes physiques de la vie. Paris 1839. 2) Das wichtigste Werk des Cl. Bernard ist: Lecons sur les phenomenes de la vie communs aux animaux et aux vegetaux. Paris 1878. 6* 84 VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. LAMAKCKsche viel seichter war. Seine physiologischen Ausführungen blieben nicht wirkungslos. Insbesondere nahm sie in seine Philo- sophie, in seine Lehre von der Wechselbeziehung zwischen dem Milieu und dem Organismus COMTE auf; auch die im dritten Kapitel erwähnten Betrachtungen von H. Milne-Edwards scheinen nebst von Cuvier auch von Lamarck ausgegangen zu sein. Als der Darwinismus aufkam, wurden die eben aufgezählten physiologischen Richtungen von ungleichem Schicksal ereilt. Auch Darwins Methode ging darauf aus, die Tierformen durch Nachdenken über ihre Lebensweise zu erklären, deshalb wurde Darwin von der Schule Müllers freundlich aufgenommen: wie von DU Bois, so von Helmholtz wurde Darwins Leistung anerkannt (Haeckel und Schleiden nicht zu erwähnen) ; Cl. Bernard jedoch, in der experi- mentellen Richtung erzogen, stellte sich dem Darwinismus schroff ent- gegen1). Darwins Erfolg gab der deutschen Richtung und Lamarck recht; erst die letzten Jahre kehren wieder zu den Ideen der experi- mentellen Physiologie zurück. VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. Naturphilosophie. Die heutigen Anschauungen über die deutsche Naturphilosophie sind sehr unhistorisch. Es ist zu einer, von den Naturforschern allge- mein angenommenen Wahrheit geworden , daß am Anfang des 19. Jahrhunderts eine gewisse Verrücktheit die Geister befiel; wenn sich jemand heute der philosophischen Deduktionen aus jener Zeit erinnert, z. B. des OKENschen Grundsatzes, daß das Wesen der Mathematik Null ist, das Wesen der Welt »Nichts«, und seines Ver- suches aus diesem »Nichts« all die Mannigfaltigkeit der Welt zu entwickeln, wendet er sich mit Abscheu von einer solchen Verirrung ab. Wir vergessen leicht, daß diese scheinbar sinnlose Lehre noch unlängst eine großartige Wahrheit war; daß GOETHE, FlCHTE, Schelling, Hegel, Oken Denker von unstillbarer Sehnsucht nach Erkenntnis waren; daß OKEN und SCHELLING — GOETHE nicht zu J) Introduction ä l'etude de la medecine experimentale. Paris 1855, S. 162, wo Anschauungen entwickelt sind, welche sehr ähnlich sind denjenigen Drieschs. Das Verhältnis der experimentellen Physiologie zur anatomischen Richtung wird von Bernard in den Legons sur les phenomenes de la vie, S. 5, charakterisiert. VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. 85 nennen — von bekannten Fachleuten, wie z. B. GEOFFROY, Decan- DOLLE, Baer, PURKINJE, Miller hochgeschätzt wurden; wir ver- gessen, daß wir voraussichtlich in ähnlichen Sinnlosigkeiten wie jene Philosophen befangen sind, und daß sich die Zukunft wundern wird, wie wir an dieselben glauben konnten. Die Naturphilosophie war eine Überzeugung von der Macht des Ver- standes über die Natur. Obwohl die englischen Philosophen diese Überzeugung sehr erschüttert hatten, wurde sie auf dem Kontinente keineswegs fallen gelassen; am Ende des 18. Jahrhunderts war man noch voll des Glaubens, daß die Erfahrung nicht zu einer reinen tiefen Erkenntnis führe, daß sie vielmehr für die unschuldige Vernunft ebenso verhängnisvoll sei, wie für die jungfräuliche Sittlichkeit. Es war noch nicht lange her, daß Lessing dachte, durch Erfahrung könnte die wahre Erkenntnis geschwächt werden. »Ist diese Hypothese«, sagt er vom Glauben an die Seelenwanderung1), »darum so lächerlich, weil sie die älteste ist? weil der menschliche Ver- stand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel?« In der Tat machte Kant am Ende des Jahrhunderts den Ver- such, die Vernunft von den Fesseln der Erfahrung zu befreien : er erfand die Vorstellung einer = reinen«, d. h. einer von jedweder Er- fahrung unbefleckten Vernunft und glaubte in derselben eine Kraft entdeckt zu haben, die dei Natur ihre Gesetze vorschreibt. In Deutschland rief seine Entdeckung großen Jubel hervor und eine Reihe scharfsinniger Köpfe schickte sich an, seiner Losung zu folgen, d. h., in ihrer eigenen Vernunft die Naturgesetze zu entdecken. So ent- stand die Naturphilosophie, jener große Glaube an die Vernunft, der Glaube, daß wir alles in der Natur erkennen werden, wenn wir von rich- tigen Grundsätzen ausgehend, zu folgerichtigen Schlüssen gelangen, der Glaube, daß die Naturgesetzlichkeit sich mit der Vernunftgesetzlich- keit deckt. Das naturphilosophische Ideal wurde von SCHELLING, durch die Worte ausgedrückt: »Eine vollkommene Theorie der Natur wäre die, welche die Natur in Vernunft verwandeln würde«2). Die Naturphilosophie entstand aber nicht nur aus der Über- schätzung der Vernunft; an ihrer Wiege standen der den Glauben an die unabwendbaren Fügungen des Geschehens mit poetischer Weich- heit verknüpfende Herder, der Dichter und Naturforscher GOETHE, Lessing am Ende seiner »Erziehung des Menschengeschlechtes«. Schelling, System des transz. Idealismus. 86 VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. der Dichter und Historiker Schiller; ihre poetische Stimmung schwebt über der ganzen Naturphilosophie : poetische Auffassung der Natur, Vorliebe für Metaphern, Streben nach einem genialen Be- greifen der Erscheinungen sind ihre Merkmale. Wie viel dichtende Naturforscher gibt es heute? Damals aber schrieben die Dichter Goethe und Chamisso naturwissenschaftliche Abhandlungen und der Embryologe Baer verfaßte Gedichte; noch Fechner war nebst Physiker auch lyrischer Dichter: PURKINJE übersetzte SCHILLERS Gedichte ins Tschechische; in England redete man damals viel von »Darwinismus«, worunter man jedoch eine Art beschreibende Poesie verstand, welche Erasmus Darwin, Arzt und origineller Biologe, dort einführte. In Frankreich wurde AMPERE, eine romantische Natur, nicht nur Begründer der Elektrodynamik, sondern glaubte auch an den tierischen Magnetismus und schrieb Gedichte ; Cl. Ber- nard, der Physiologe, führte sich in die literarische Welt nicht als solcher, sondern als dramatischer Dichter ein. Eine sonderbare schwärmerische Begeisterung zog am Anfange des 19. Jahrhunderts durch die Wissenschaft, eine Sehnsucht sich in die Geheimnisse der Natur zu versenken, welche weit über die trockene Wissenschaft hinausgehen. Schiller sprach aus dem Herzen der Naturphilosophen, als er Al. Humboldt in folgender Weise ver- urteilte1): »Es ist der nackte schneidende Verstand, der die Natur, die immer unfaßlich und in allen ihren Punkten ehrwürdig und unergründlich ist, schamlos ausgemessen haben will und mit einer Frechheit, die ich nicht begreife, seine Formeln, die oft nur leere Worte und immer nur enge Be- griffe sind, zu ihrem Maßstabe macht. . .« und doch war es auch Humboldts Ideal2), »nicht in dem Haufen der Einzelheiten stecken zu bleiben, sondern der großen Bestimmung des Menschen eingedenk den Geist der Natur zu ergreifen, der durch die Hülle der Erscheinungen verschleiert ist«. Kaum jemand achtete auf die Grenze zwischen der Mystik, der Dichtung und der exakten Wissenschaft; Purkinje schrieb nebst wissenschaftlichen auch mystische Abhandlungen; J. Kerner (1786 — 1862) verfaßte wissenschaftliche Werke über die Medizin, daneben aber auch mystische Gedichte und wurde endlich zum Haupte der Anhänger des tierischen Magnetismus. F. A. MESMER (1734 — 1815) erweckte den Glauben an den Einfluß der Planeten auf ') Nach Bruhns, Al. v. Humboldt, I, S. 122. 2) Humboldts Kosmos, Einleitung. VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. 87 die Schicksale der Menschen zu neuem Leben und doch wurde ihm auch von Fachleuten die Anerkennung nicht versagt; und Mesmeris- mus, Magnetismus, Homöopathie waren nur ein unumwundener Aus- druck derselben Gemütsart, die LAVATER durch die bekannten Worte charakterisierte : »Gar manches gibts in der Natur, wo dem Philosophen nichts anderes übrig bleibt, als den Finger an den Mund zu legen und zu schweigen.« In der Naturphilosophie muß man ferner eine Manifestation des aufwachenden deutschen Nationalbewußtseins suchen. Während des 18. Jahrhunderts gehört die geistige Führerschaft Frankreich an; noch im 19. Jahrhundert war Al. Hl'MBOLDT, einer der Führer der deutschen Wissenschaft zu jener Zeit, mehr Franzose als Deutscher und schrieb meistens französisch; auch Goethe war keineswegs dem Einflüsse der Franzosen fremd geblieben; erst Kant stellte die deutsche Wissenschaft auf ihre eigenen Füße. Fichte, der erste, der der KANTschen Lehre eine offen naturphilosophische Richtung gab, richtete durch seine Philosophie das deutsche Volk auf, als ihm während der Napoleonischen Kriege der Verfall drohte; OKEN, der Hauptrepräsentant der biologischen Naturphilosophie, war radikaler Politiker; er verfaßte politische Broschüren1), unterstützte durch seine Zeitschrift »Isis« (seit 181 7) radikal nationale Strömungen; wegen seines Kampfes für die deutsche Einheit und für Preßfreiheit wurde er seiner Professur entsetzt. Er suchte eine rein deutsche Termino- logie in die Wissenschaft einzuführen, germanisierte die wissenschaft- lichen Namen (die durch ihn eingeführten Namen »Kerfe«, »Lurche«, »Quallen« u. a. haben sich erhalten) und gründete (1821) die Gesell- schaft der deutschen Naturforscher und Ärzte. Der Patriotismus der Naturphilosophen war stark radikal gefärbt; sie haßten das Spießbürgertum wie in Politik, so in Wissenschaft und Philosophie; sie haßten den öden Materialismus, das Kirchen- tum, das Kastenwesen; es ist bezeichnend, wie OKEN in seiner Zeit- schrift die Wissenschaft zu demokratisieren versuchte : alle Wissen- schaften wollte er in seine Zeitschrift aufnehmen, nur nicht dieTheologie und die Jurisprudenz. Ein jeder, der selbst etwas geschrieben hat, durfte andere in seinem Blatte kritisieren. Jede Beleidigung durch die Presse sollte wieder nur durch die Presse ausgetragen werden: wer beim Gerichte seine Zuflucht sucht, sei kein Gelehrter2). Auch die Morphologie wirkte stark auf die naturphilosophische z) L. Oken, Neue r>e\vaffnung. neues Frankreich und neues Deutschland. Jena 1S14. 2) Im Vorwort zur Zeitschrift Isis, I, 1S17. 88 VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. Bewegung; war sie doch eine vergleichende Wissenschaft und die Naturphilosophie schwelgte eben in originellen Vergleichen und Ana- logien. Man nennt die Naturphilosophie auch Philosophie der Iden- tität, weil sie in allen Erscheinungen eine Offenbarung desselben Urwesens sah — dasselbe lehrten die Morphologen von den Struk- turen der Organismen. So lag die Bedeutung der GOETHEschen Lehre von der Metamorphose, seiner Entdeckung des Zwischenkiefers beim Menschen, seiner Schädeltheorie in der Beweisführung, daß sich dieselben Organe unter verschiedenen Metamorphosen wiederholen; gleichen philosophischen Hinweis enthielt Geoffroys Lehre, daß alle Schädelknochen der Fische auch im Säugetierschädel vorkommen, daß auch die Insekten Wirbeltiere sind ; in eben diesem Sinne schrieb Schelling, daß jeder Erscheinung drei Potenzen zugrunde liegen, die Schwerkraft, das Licht und die Organizität. Es war nur eine morphologische Einseitigkeit, wenn Oken den Menschen für einen im Nabel zusammengewachsenen Zwilling erklärte, der ein Gehirn im Schädel, das andere in den Geschlechtsorganen besitze; daß das Auge ein ganzer Mensch sei u. ä. Alle namhaften Biologen zu Anfang des 19. Jahrhunderts waren Naturphilosophen; der Anatome und Embryologe L. Oken, der Geo- loge H. Steffens, die Physiologen Rud. Wagner, Joh. Müller, K. Burdach, J. Purkinje, die Morphologen J. B. Spix, K. G. Carus, der Anthropologe J. F. Blumenbach, die Botaniker Nees v. Esen- BECK, A. v. Braun, der Embryologe K. E. v. Baer usw. Natur- philosophie ist ein Sprößling Deutschlands; doch hatte sie in allen Ländern Freunde gefunden; in Frankreich waren Geoffroy St. Hilaire und Blainville Okens Anhänger, in England der Anatom R. Owen, in Dänemark Oersted u. a. In den dreißiger Jahren fing man aber bereits an, die Überspannt- heiten, die allzu kühnen Metaphern der Naturphilosophie abgeschmackt zu finden. Als Al. V. HUMBOLDT seine ästhetisch-naturwissenschaft- lichen Vorlesungen i. J. 1827 in Berlin eröffnete, wurden sie noch als eine Tagessensation aufgenommen; als aber die Vorlesungen im Druck erschienen (Kosmos 1845 — 1858) , verstand man ihn nicht mehr und warf ihm bereits Mangel an Exaktheit vor. Die Zeiten hatten sich geändert; die älteren romantischen Schriftsteller waren entweder tot (Fichte f 1814), oder verstummten, wie Schelling und Oken, oder fanden sich in den Geist der Zeit: Hegels Philosophie wurde zur amtlichen Philosophie des Absolutismus und beleidigte die jungen, durch die Julirevolution aufgeregten Köpfe. Auch Hegel VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. 8o starb übrigens im Jahre 183 1 und im Jahre darauf Goethe. Noch viel später erschienen naturphilosophische Betrachtungen, man fand jedoch kein Interesse mehr an denselben; die Welt war ernst ge- worden. Die Dichter starben aus, die Wissenschaft sollte geboren werden. Es lebe die Wissenschaft, so lange sie jung ist! Uns je- doch lasset überzeugt sein, daß die Naturphilosophie nicht gestorben ist, denn es stirbt nicht, was einem wesentlichen Bedürfnis des Menschen entspricht. Man hielt sie wohl lange für tot ; allein man sehnt sich wieder nach derselben, ja man kann bereits Worte ver- nehmen wie1): »ein wirklicher Fortschritt der Philosophie kann nur hier und nirgends sonst anknüpfen«. Gewiß hat die Naturphilosophie eine Zukunft vor sich. Übergang von der Naturphilosophie zu neuen Richtungen. J. St. Mill. Die französischen Philosophen aus der Zeit vor der Revolution gingen zu den Engländern in die Schule, namentlich zu LOCKE und Newton; auch die deutsche Naturphilosophie, insofern sie durch Kant angeregt wurde, entstand durch den Versuch der deutschen Spekulation, die Philosophie des Schotten Hume zu überwinden; auch jetzt sollte die neuentstehende Wissenschaft ihre Begriffe in England bei J. S. Mill suchen. Die romantische Schwärmerei ergriff zwar auch die Engländer, die doch dieser Bewegung ihren Byron geschenkt hatten, und Goethe und Fichte bestimmten wiederum die geistige Entwicklung Carlyles; wissenschaftlich blieb jedoch England zu jener Zeit sehr ruhig. ERASMUS Darwin, der damals wirkte, war zwar in seinen Schriften etwas absonderlich, romantisch war er jedoch nicht; der Zoologe RlCH. Owen war wohl Idealist, aber kein Romantiker. Im J. 1837 erschien W. Whewells bekannte »Geschichte der induktiven Wissenschaften«2); das Werk ist in mehrfacher Hinsicht beachtenswert: wie durch den Versuch selbst, die Geschichte der exakten Wissenschaften zu bearbeiten, so durch die Zeit, in der es erschien: eben zu jener Zeit gab in Frankreich Comte seine »Posi- sive Philosophie« heraus, welche ebenfalls in einer Analyse der naturwissenschaftlichen Methoden besteht. Die Biologie und besonders J) H. Driescii, Kritisches und Polemisches. Biol. Zentralbl. 22, 1902, S. 187. 2) W. WHEWELL, History of the inductive sciences from the eärliest to the pre- sent times. 3 Vols, London 1837. gO VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. die Zoologie sind der schwächste Teil des WHEWELLschen Buches; was aber für die weitere Geschichte wichtig ist: Whewell, ein An- hänger Kants, kennt auch die Ansichten Goethes, Cuvters, Geof- FROYs und berichtet objektiv über die Morphologie. Seine Ansichten wurden zuerst von dem Astronomen Herschel, später vom Philo- sophen John Stuart Mill bekämpft1). Der Streit wurde oft be- sprochen, doch nur so, als ob es sich um die Apriorität der geome- trischen Sätze gehandelt hätte, welche Whewell, seinem Meister Kant hierin folgend, verteidigte, und Mill verwarf. Aber auch die biologischen Anschauungen beider waren Gegenstand jener Polemik und der Unterschied der Auffassung WHEWELLs und MlLLs ist be- merkenswert. Whewell verteidigt die damals auf dem Kontinente herrschende Anschauung, welche auch von Goethe, Cuvier, Decan- DOLLE usw. geteilt wurde, daß natürliche Gruppen (der Pflanzen und Tiere) in der Tat durch die Natur gegeben sind, oder, daß den Typen etwas Objektives zugrunde liegt. Er führt unter anderem folgendes Beispiel an. In den Definitionen der Pflanzenfamilien kommen Ausdrücke vor, welche sich nicht auf alle Angehörigen der Familie beziehen, wie z. B., wenn gesagt wird, daß die Rosaceen Nebenblätter zu haben und Endosperm nicht zu haben pflegen. Diese Ungenauigkeit, welche Ausnahmen zuläßt, ist jedoch nach Whewell kein Beweis dafür, daß es überhaupt keine natürliche Gruppe Rosaceen gäbe, sondern sie ist nur eine Folge der Unvollkommenheit der Methode, der es noch nicht ge- lungen ist, das Wesen der Rosaceen scharf zu bestimmen. »Und wenn es auch Spezies gäbe, deren Platz zweifelhaft ist, und welche zwei Gattungstypen gleich angehörig scheinen, so sieht man doch leicht, daß dies die Realität der generischen Gruppen nicht zerstören würde, sowenig wie die' zerstreuten Bäume einer zwischenliegenden Ebene uns verhindern, von den unterschiedenen Wäldern zweier getrennten Hügel zu sprechen«2). Mlll aber urteilte in seiner induktiven Logik anders; bereits seine Formulierung der Frage zeigt, wohin er zielt; er fragt nämlich3): »Sind natürliche Gruppen durch den Typus oder durch Definition gegeben?« Der Unterschied zwischen Darwin und den älteren Anschauungen *) J. St. Mill, A System of logic, ratiotinative and inductive. London 1843. Die im folgenden zitierten Stellen sind nach der deutschen Übersetzung Schiels (Braun- schweig 1849) angeführt. 2) Ibid. S. 529. 3) Ibid. S. 526. VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. qt ist durch diese Frage — 1 6 Jahre vor Darwin — auf die Spitze ge- trieben. Darwin wird den Beweis führen, daß natürliche Gruppen durch Definition gegeben sind , daß sie künstliche Produkte des menschlichen Geistes darstellen, während die älteren Schulen mit W HEWELL den Gedanken verteidigen werden, daß der Typus, die Gattung, die Art usw. durch die Natur selbst gegeben sind. Durch MlLL wird der Weg für Darwin vorbereitet; denn es wird von Mill nachzu- weisen gesucht1): »Wir setzen die Spezies Ranunculus acris nicht aus allen Blumen zu- sammen, welche einen hinreichenden Grad von Genauigkeit mit einer Muster-Butterblume haben, sondern aus denjenigen, welche gewisse Cha- raktere besitzen, die als Merkmale gewählt wurden, durch welche wir die Möglichkeit einer Verwandtschaft erkennen, und die Aufzählung dieser Charaktere ist die Definition der Spezies.« Diese Worte MlLLs wie auch seine anderen einschlägigen Er- örterungen, lauten so entschieden, daß man ganz klar die Stimme LlNNEs aus ihnen heraushört; denn was machte dieser Art-Beschreiber anderes, als daß er gewisse Pflanzencharaktere als Merkmale wählte und durch deren Aufzählung die Definition der Spezies Ranunculus acris gab? Und noch an einen anderen Botaniker wird man bei MlLLs Worten erinnert: an den Begründer der Metamorphosenlehre; wie verwundert würde er MlLLs Erörterungen anhören; man rufe sich seine Worte ins Gedächtnis, als er in Italien über die Urpfianze, d. h. über den allgemeinen Typus der Pflanze nachsann. Ganz be- stimmt gibt es einen solchen Typus : »woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären ? « Und Goethe suchte dieses Muster und während des Suchens ent- deckte er die Metamorphose, d. h. die Lehre von der Wiederholung desselben Typus in den Pflanzenorganen; auch Geoffroy, CüVlER, Decandolle, Owen, überhaupt alle Morphologen suchten die Typen, es sei nun, daß es Art-, Gattungs- oder allgemeinere Typen waren; sie suchten dieselben, d. h. sie waren überzeugt, daß sie in der Natur zu finden sind. In der Tat steht MlLL durch seine ganze Erklärung der Klassi- fikation auf dem Standpunkte Linxis, den er nur in der Hinsicht zu verbessern glaubte, daß er ein natürliches System annahm; für morphologische Fragen jedoch, die damals im Mittelpunkt der bio- x) J. St. MlLL, A System of logic, ratiotinative and induetive. London 1S43. Deutsche Übersetzung Sciiiels, S. 523. g2 VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. logischen Forschung standen, für die Probleme der Metamorphosen, Homologien, Analogien hatte er kein Verständnis. Wie kam es, daß Mill in seiner Logik die vergleichende Ana- tomie übersah ? Von dieser Wissenschaft ist bei ihm höchstens hier und da eine Anmerkung zu finden, obwohl doch Cuvier auch be- stimmte logische Prinzipien für dieselbe aufgestellt hat. Der Grund lag vielleicht darin, daß England in den dreißiger Jahren in der Biologie zurückgeblieben war; die Morphologie war eine fran- zösische und deutsche Wissenschaft; in England wurde sie nur von Owen gefördert, sonst aber blühte dort insbesondere die Systematik. Denn auch WHEWELL stellt unter den biologischen Gebieten Zoo- logie und Botanik als »Klassifikatorische Wissenschaften« an die erste Stelle und behandelt sie viel ausführlicher als die vergleichende Anatomie, wenn er auch derselben weit mehr Interesse entgegenbringt als Mill. Mill dagegen, dessen Schrift voll Polemik gegen Whe- WELL ist, ließ auch das wenige aus der vergleichenden Anatomie, das WHEWELL bringt, fort. Die Tatsache, daß England damals noch wesentlich auf dem Standpunkte LlNNEs stand , erklärt auch für die Folgezeit vieles. Mill gewann einen großen Einfluß auch auf dem Kontinente und half dort die Morphologie zu verdrängen und die klassifikatorische Richtung neu zu beleben ; auch Darwin widmete den wesentlichsten Teil seines Grundwerkes dem LiNNE-isch aufgefaßten Artproblem und nur einige Seiten am Schlüsse seines Buches handeln von der Mor- phologie und Embryologie. Übrigens bietet MlLLs induktive Logik eine ganz andere Auf- fassung der Wissenschaft, als welche damals auf dem Festlande, be- sonders in Deutschland, herrschend war. Mill versteht unter In- duktion »die Operation, durch welche man allgemeine Urteile (Sätze) entdeckt und beweist« T). Wie in dieser Definition, so in der ganzen Durchführung des Werkes sieht man, wie MlLL das Ideal eines praktischen Beobachters vorschwebte, der mit nichts anderem rechnet als mit dem, was er einem anderen beweisen kann, und der sich selbst klar über jeden Schritt, den er unternimmt, bleiben will; Beweise und Gewißheit des Schlusses sind für ihn Hauptsache. Kein Wun- der, daß ein solches Werk großen Einfluß auf die Naturforscher x) J. St. Mill, A System of logic, ratiotinative and inductive. London 1843. Deutsche Übersetzung Schiels, S. 5. VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. 02 ausübte. Die Naturphilosophen hatten wohl eine ganz andere Logik. OKEN schreibt an einer Stelle, seine Methode bestehe darin, die Resultate zu ergreifen, »welche im Kopfe hervorspringen, man weiß selbst nicht, wie« — dies war seine Logik. Seine Entdeckung der Wirbeltheorie des Schädels beschreibt er wie folgt : er fand im Walde einen Rehschädel *) : »Aufgehoben, umgekehrt, angesehen, und es war geschehen. Es ist eine Wirbelsäule, fuhr es mir wie ein Blitz durch Mark und Bein, und seit dieser Zeit ist der Schädel eine Wirbelsäule!« In ähnlicher Weise beschrieb Goethe seine Entdeckung derselben Theorie. Den Naturphilosophen war bekannt , daß neue Gedanken nicht nach unserem Belieben entstehen, daß sie wie alles Neue aus unbekannten Tiefen kommen; deshalb lauerten sie nur den Gedanken auf, bis sie kommen; deshalb dachten die Philosophen jener Zeiten, Kant, Schelling, Schopenhauer so viel über die Genialität nach; sie wußten wohl, daß jeder neue Gedanke eine geniale Tat ist. Doch sie gaben sich auch mit den Beweisen wenig Mühe; sie verließen sich auf dunkle Kräfte der menschlichen Seele , welche sich durch etwas anderes als durch Beweise überzeugen läßt ; aus der Geschichte ließe sich eine Menge Belege für ihre Auffassung anführen, daß die klarste Beweisführung manchmal nichts erreichte und daß ein falsches Beweisen großen Einfluß ausübte: die Wunder sind ein falscher Be- weis und doch bestätigten sie richtige Lehren ; Tausende von klaren Beweisen wurden zugunsten der Selektionstheorie angeführt und doch war sie unrichtig. Die Naturphilosophen wußten , daß Klarheit und Wahrheit nicht immer dasselbe ist. Denn jede Wahrheit entsteht zuerst als ein unklarer Gedanke; immer geht die Wahrheit dem Be- weis voran; wie könnte man sonst durch unrichtige Beweise die Wahrheit begründen? Wie wäre es dann möglich, daß der Einzelne etwas anderes glaubte, als seine Umgebung? Doch lasse ich mich da in eine Polemik mit MlLL ein, anstatt objektiv zu referieren. Das Unterschätzen der Logik und der Methode überhaupt durch die Naturphilosophen führte auf Abwege : ist die Methode nicht alles, ein wesentlicher Teil der Wissenschaft bleibt sie gewiß, und deshalb wurde Mill begreiflicherweise als Remedur gegen die Naturphilosophie empfohlen. Daß Mill das psychologische Problem, wie man auf neue Gedanken kommt, mit einer ziemlich flachen Anleitung, wie sie zu entdecken sind, ver- wechselt, hat man damals übersehen. J) Al. Ecker, Lorenz Oken, Eine biographische Skizze. Stuttgart 1S80, S. 13. qa VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. Es sei noch an einem Beispiel die Eigentümlichkeit der Mill- schen Logik hervorgehoben. Mill handelt an einer Stelle vom Unterschied zwischen der Induktion und einer niedrigeren logischen Operation, die er »Kolligation« nennt; es soll dies eine Verknüpfung mehrerer Tatsachen zu einem Ganzen bedeuten; es war nach Mill Kolligation, als KEPPLER die einzelnen Beobachtungen vom Lauf des Planeten Mars zur Erkenntnis verknüpfte, daß Mars eine ellip- tische Bahn um die Sonne beschreibt1); Induktion war aber erst die Lehre NEWTONS, daß jener Lauf durch die Wirkung einer momentanen und einer zentripetalen Kraft auf den Planeten hervor- gebracht wurde. In dieser Ansicht MiLLs tritt seine große Ehrfurcht vor der Kau- salität zutage. Alle seine wichtigen logischen Operationen streben nach der Erkenntnis der Ursachen2). »Von allen auf Naturerscheinungen sich beziehenden Wahrheiten sind diejenigen, welche sich auf die Ordnung; in deren Folgereihe be- ziehen, für uns die wertvollsten. Auf die Kenntnis derselben ist jede Antizipation der künftigen Dinge, und eine jede Macht, auf diese Dinge einen Einfluß zu unserem Vorteil zu üben, gegründet.« War doch MlLL ein Sohn des englischen Volkes, das auch den vorzüglich über die Ursächlichkeit nachdenkenden HUME hervor- gebracht hat, ein Sohn des praktischen Volkes, das die Gegenwart beherrschen und eine günstige Zukunft vorbereiten will. Aber jenes Beispiel des Gravitationsgesetzes ist von MlLL nicht passend gewählt worden, denn Newton konnte gar nicht die Ursachen des Umlaufes eines Planeten um die Sonne entdecken; man kann die Ursachen nicht erraten, sondern nur erfahren, und man hätte dabei gewesen sein müssen, als unsere Erde sich eben zu drehen begann, um sagen zu können, ob es die zentripetale und momentane Kraft war, die die Drehung zur Folge hatte; heute, da sie sich bereits dreht, ist es schwer zu mutmaßen, wie es eigent- lich geschah , indem doch nach elementaren logischen Regeln un- endlich viele verschiedene Ursachen dieselbe Folge haben können; in der Tat war Newtons Entdeckung nur eine Kolligation. NEWTON verknüpfte nur die Beobachtung des Fallens der Gegenstände auf unserer Erde mit der Bewegung der Planeten, als er nachwies, daß beide derselben Regel folgen; NEWTON lehnte gerade dasjenige zu J) Mill, S. 20. •5 Ibid. S. 45. VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. g^ tun ab, was ihm MlLL als Verdienst zuschreiben will, nämlich die Ursache der Gravitation aufzusuchen. Die großen Entdeckungen waren bisher immer nur die gering geschätzte Kolligation MlLLs: weder KOPERNIKUS, noch Archimedi . weder Keppler, noch Rob. Mayer entdeckten irgendwelche Ur- sachen, sondern sie verknüpften die Tatsachen zu neuen Begriffen. Erst moderne Fragen, wie die Wettervorhersagung, die hygienischen Vorsichtsmaßregeln, der Glaube an einen Fortschritt der Menschheit sind Induktionen. Wir haben MlLL viel Raum gewidmet; doch ist seine Logik auch die Logik des Darwinismus und sein Werk eine von den wichtigen Ursachen der günstigen Aufnahme der neuen biologischen Wissen- schaft. In der Tat herrscht bis auf den heutigen Tag die feste Über- zeugung, daß die Kolligation, d. h. eine neue Auffassung der Dinge nichts bedeutet, sondern daß man Ursachen aufsuchen muß. Als Darwins Buch erschienen war, hieß MlLL seine Logik gut, und mit Recht, denn Mills Ansicht vom Wesen der Kausalität deckte sich mit der DARWiNschen Erklärung der Arten1). »In Beziehung auf das allgemeine Kausalgesetz scheint es, daß es eine Zeit gegeben haben muß, in der die universelle Herrschaft dieses Gesetzes und der ganzen Natur nicht mit derselben zuverlässigen Weise behauptet werden konnte, als gegenwärtig. Es gab eine Zeit, wo viele Naturerscheinungen als ganz kapriziös und unregelmäßig und nicht durch Gesetze regiert oder beständig als Folgen von Ursachen erscheinen mußten. In jenem lrühen Stadium des menschlichen Wissens. . . . Die Wahrheit ist, daß . . . die Überzeugung, daß Naturerscheinungen unveränderliche Gesetze haben und anderen, vorhergehenden Naturerscheinungen regel- mäßig folgen, nur allmählich entstand.« In ganz derselben Art, wie hier die Entstehung der Kausalität erklärt wird, wird Darwin die Entstehung der Tiere, des Menschen, der Moralität darlegen. Der Umschwung in Deutschland. J. Liebig, H. Lotze, G. Th. Fechner. MlLL hat nachhaltig gewirkt; aber, noch bevor sein Buch verfaßt und in Deutschland eingeführt wurde, begann in Deutschland und Frank- reich eine Strömung, die MlLLs Spekulation über die Ursächlichkeit sehr nahe stand. Wie Baer die idealistische Anschauung durch ent- wicklungsgeschichtliche Theorien vertiefte und SCHLEIDEN gegen die *) Mill, S. 334 und 336. g6 VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. Naturphilosophie loszog und Induktion sowie genetische Theorien in die Botanik einführte, wurde schon oben erzählt. Nach Schleiden ließen sich bald andere vernehmen, und vom Spott über die natur- philosophischen Trugschlüsse ging man allmählich zum Glauben an exakte Wissenschaft über; Mills Lehre wurde erst später in diesen Kämpfen als Argument gegen die Naturphilosophen verwendet. Von den nichtmaterialistischen Fachleuten bekämpfte die Natur- philosophie namentlich der Chemiker JUSTUS LlEBlG (1803 — 1873); er war einer der ersten, der die deutsche Wissenschaft aus den Schul- bänken und dicken Büchern auf den volkswirtschaftlichen Kampfplatz herausführte. Seine Argumente gegen die Naturphilosophen waren zwar nicht feinster Art, jedoch desto wirksamer1). »Einen Menschen, der im Zustande der Tollheit einen anderen um- bringt, sperrt der Staat ein und macht ihn unfähig zu schaden, und ihnen [den Naturphilosophen] erlaubt man heutzutage noch, unsere Ärzte zu bilden und diesen ihren eigenen Zustand der Tollheit mitzuteilen, der ihnen mit Gewissensruhe und nach Prinzipien erlaubt, Tausende zu töten ! « Liebig haßte die Philosophie dermaßen, daß er auch Bacon, den Vater der induktiven Wissenschaften, angriff, weil ihm derselbe wenig exakt zu sein schien; dabei aber verteidigte er noch immer den Idealismus und die Lebenskraftlehre gegen neue materialistische Strö- mungen, insbesondere gegen Moleschott; er nahm noch mit den älteren Schulen an, daß2) »uns die Naturforschung die Geschichte der Allmacht, der Vollkommen- heit, der unergründlichen Weisheit eines unendlich höheren Wesens in seinen Werken und Taten erkennen lernt«. Philosophisch bekämpfte den Glauben an die Lebenskraft Herm. LOTZE (18 17 — 1881); medizinische Bildung öffnete seinen Sinn für exakte Wissenschaft; nach einer moderneren Philosophie sich sehnend, empfahl er mit einigem Vorbehalt die maschinelle Ansicht: »der Or- ganismus«, meinte er, »ist nur eine bestimmte, dem Naturzweck ent- sprechende Richtung und eine Summe von rein mechanischen Vor- gängen«. Er verwarf naturphilosophische Begriffsspielerei mit dem Bildungstrieb, der Sensibilität, Polarität usf. Er sprach zwar keines- wegs diesen Begriffen jedwede Bedeutung ab, allein im Einklang mit dem wachsenden Interesse für die exakte Wissenschaft führte er den x) J. Liebig, Über das Studium der Naturwissenschaften, 1840. Reden usw. Heidelberg 1874, S. 23. 2) J. Liebig, Chemische Briefe, Heidelberg 1844, S. 27. Vir. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. g-j Beweis, daß es wertvoller sei, statt die Natur durch abstrakte Be- griffe aufzufassen, dieselbe in ihrer Tätigkeit zu verfolgen und wirk- liche Ursachen der Lebensvorgänge zu ermitteln; er stand den Materialisten so nahe, daß er diese Ursachen nur in Massen und Be- wegungen suchte1). Es scheint jedoch nicht, daß LOTZE einen bedeutenden Einfluß auf die Biologen ausgeübt hätte; denn bei diesen schlug bald die Abneigung gegen die Naturphilosophie in einen Widerwillen gegen jede Philosophie überhaupt um, und Lotze war trotz aller Hervor- hebung der Naturwissenschaft allzuviel Philosoph geblieben ; erst in der letzten Zeit wird er von deutschen Biologen wieder eifriger ge- lesen (für Nichtdeutsche wird er wahrscheinlich immer zu abstrakt und unverdaulich bleiben); in der Zeit, die wir jetzt schildern, war gewiß MiLL viel konkreter und zugänglicher als LOTZE. Mill wurde jetzt von Liebig und Helmholtz empfohlen. Liebig behauptete, Mills Werk sei ihm so förderlich gewesen, daß er selbst kaum andere Verdienste habe, als daß er seine Grundsätze auf einige besondere Fälle angewendet hatte2). HELMHOLTZ liebte es auch, sich auf Mill zu berufen; da er jedoch in mathematischer und physi- kalischer Logik erzogen wurde, die überhaupt keine Ursachen der Vorgänge, sondern nur Wechselbeziehungen zwischen Erscheinungen berücksichtigt, befreite er sich niemals ganz von der älteren ratio- nalistischen Methode, und man stößt bei ihm auf Widersprüche zwischen der alten Achtung vor der Vernunft und dem neuen Glau- ben an die Erfahrung. Er verwarf die Naturphilosophie, begründete die sog. empiristische Theorie von der Entstehung der Ge- sichtsvorstellungen, ja er folgte Mill soweit, daß er auch von der dreidimensionalen Raumanschauung beweisen wollte, sie werde durch Erfahrung gewonnen; überhaupt bleibt seine physiologische Optik meistenteils der englischen Philosophie treu; aber bereits sein Gesetz von der Erhaltung der Kraft ist keine Induktion, sondern nur Kol- ligation im Sinne MiLLs, da es keine Ursache für die Entstehung (der Kraft) angibt, sondern nur die Wechselbeziehung zwischen den Kräften, die als von Ewigkeit vorhanden angenommen werden, ana- lysiert; in späteren Jahren widmete sich Helmholtz der mathema- tischen Physik und verließ die induktive Richtung fast ganz3). 1 Vgl. insbes. das Kapitel >Von der Mechanik der Gestaltbildung« in Lotzes Allgem. Physiologie 1852). 2) Nach der Einleitung zur deutschen Übersetzung der Logik Mills. 3) Vergleiche seine dem Mill nachgemachte Erklärung der Schlüsse in seiner Radi, Geschichte der biol. Theorien. II. 7 qg VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. Menschlich am nächsten wird uns der Kampf zwischen alter und neuer Wissenschaft bei GlJST. Theod. Fechner (1801 — 1887) ge- bracht. Seine Jugend fällt noch in die Epoche der naturphilosophi- schen Schwärmereien — Fechner war damals für Okens kühne Konstruktionen eingenommen, erkannte aber bald das Unbefriedigende dieser Theorien und widmete sich bereits 1824 der nach allgemeiner Überzeugung objektivsten Wissenschaft, der Physik. Aber sein Herz zog ihn zur alten Liebe hin; er sagte sich öffentlich von der Natur- philosophie los und machte sich über sie in Pseudonymen Broschüren lustig — , allein wie oft geschieht es, daß wir, über andere spottend, den Spott in Wirklichkeit gegen uns selbst richten, um heimliche Sym- pathien des eigenen Herzens zu ersticken! Er gab ein Heft über »Ver- gleichende Anatomie der Engel« J) heraus, in dem er scherzweise die Eigenschaften der Engel zu erraten suchte; sie sollen vollkommener Gestalt, also kugelförmig sein, sie leben im feinsten Milieu, also im Licht, sie schweben um die Sonne — die Engel, das sind belebte Planeten. Es sollte ein Scherz sein, doch wie innig wahr sprach sich darin seine Überzeugung aus! Welche Mühe gab er sich später, zu beweisen, daß die Erde und die Planeten lebendige Wesen seien2), daß das ganze Weltall beseelt sei, daß auch die Pflanzen eine Seele hätten, solcherweise zu der Lehre zurückkehrend, welche in seiner Jugendzeit blühte, der menschliche Verstand sei nur ein Teil der Weltvernunft! Endlich gelang es Fechner, eine Methode zu finden, um beides zu verknüpfen; sowohl dasjenige, wonach sich seine Seele, als auch, wonach sich sein Verstand sehnte; er ließ etwas von der alten Lehre nach, daß der Verstand die Materie beherrsche, nahm einiges von der neuen an, nach welcher das Psychische durch die Materie bestimmt werde, und versöhnte beide Annahmen in seiner Theorie, daß das Objektive und das Subjektive zwei Seiten desselben Geschehens darstellen, daß jeder Bewußtseinszustand auch als Atom- bewegunsr aufgefaßt werden kann, und daß die Gesetze der materiellen Welt zu denen der psychischen in festen Beziehungen stehen. Von dieser Annahme ausgehend, suchte Fechner nach einem objektiven Maß für psychische Vorgänge und entdeckte es in der Regel, daß Physiol. Optik (IL Aufl. 1896), S. 581 mit der ihr nachfolgenden rationalistischen Auf- fassung der Ursache ibid. S. 592. Daß Helmholtz in der Auffassung des Kausali- tätsverhältnisses nicht konsequent war, bemerkt auch P. Volkmann in seinen Er- kenntnistheoretischen Grundzügen der Naturwissenschaft. Leipzig 1896, S. 158. T) G. Th. Fechner, Vergleichende Anatomie der Engel. Über Fechner vgl. K. Lasswitz, G. Th. Fechner, Stuttgart 1896. 2) Zendavesta, oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits. Leipzig 1851. VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. gn das Verhältnis zwischen dem eben merklichen Zuwachse der Emp- findung und der Reizintensität konstant sei; indem er nun von den Empfindungen annahm, daß sie sich ebenso summieren lassen, wie mathematische Größen, leitete er daraus das Gesetz ab, daß die Empfindung dem Logarithmus der Reizung proportional sei. Da nun das Studium der Reizungen der Physik zugerechnet werden kann, freute er sich, einen Weg gefunden zu haben, auf dem man durch physikalische, also ganz exakte Messung in die Geheimnisse der Seele eindringen kann. Seine psychophysische Theorie, wie er sie nannte, gewann einen erroßen Einfluß, und noch heute steht die wissenschaftliche Psychologie bei seiner Ansicht, daß es die Physik ist, welche die richtigen Schlüssel zur menschlichen Seele besitzt. *t> Die Materialisten. Der Materialismus des ig. Jahrhunderts entstand auf deutschem Boden als Gegensatz gegen die Naturphilosophie. Die Wendung ge- schah gleichzeitig in Philosophie und Wissenschaft. In der Philo- sophie bezeichnen Hegels Schüler Ludw. FEUERBACH (1804 — 1872) und D.w. Fr. Strausz (1808 — 1874) die Abkehr vom Idealismus; in der Biologie wurden alle bedeutenden Schüler Joh. Müllers Stützen, wenn nicht der materialistischen, so doch einer mechanisti- schen Lebensauffassung. Feuerbachs Schüler, der Physiologe Jak. MOLESCHOTT, popularisierte in Deutschland die Überzeugung, daß der Organismus nur eine Maschine sei, welche nach durchsichtigen chemischen und mechanischen Gesetzen arbeite, und noch unumwun- dener verbreitete denselben Glauben Louis BÜCHNER, dessen be- kannte Schrift (Kraft und Stoff, 1. Aufl. 1855) in den sechziger und siebenziger Jahren denjenigen zur Bibel wurde, die an die Materie glaubten. Eine radikale Stimmung, die ihren politischen Ausdruck im Jahre 1848 fand, ertönte aus diesen materialistischen Büchern1). Mag ihr positiver Inhalt welcher immer sein, ihr Kampf gegen das Kirchen- tum, ihre offene Sprache, ihr Mut, die Wissenschaft aus dem ab- strakten Leben in den Kampf der Tagesmeinungen hineinzuziehen, war eine gesunde Tat. In einer Hinsicht unterschied sich diese Be- wegung wesentlich von dem französischen Materialismus des 18. Jahr- J) Über die stürmischen Tage des Jahres 1848 an der Berliner Universität erzählt R. Virchow in seiner Rede über Jon. Müller, Berlin 1S58, S. 48. 7* IOO "VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. hundcrts; während man zu jener Zeit mit Hilfe des Verstandes und der Astronomie gegen Wunderglauben, gegen die kirchliche Lehre von der Seele, gegen den Glauben an eine göttliche Vor- sehung loszog — Voltaire und Newton galten damals als die schwerwiegendsten Kampfmittel — , wandte man jetzt sein Augen- merk den Lehren vom Leben zu; jetzt waren alle großen Materia- listen Biologen: Karl Vogt war Zoologe, Büchner Arzt, Mole- schott Physiologe; Darwin und Haeckel nahmen die Stelle Newtons und Voltaires ein. Als Losungswort galt den Materialisten, daß der Mensch nur ein irdisches Wesen sei, eine »Frucht der Erde«, wie die Tiere, und man suchte nicht allzuweit nach den Bildern für diesen Gedanken: »der Mensch ist, was er ißt«, »ohne Phosphor kein Gedanke«, »Gedanken werden aus dem Gehirn wie Urin aus der Niere sezerniert« , und wenn es überhaupt einen Herrscher über der Erde geben soll, so ist es nur die Sonne; sie hat uns erschaffen, schafft uns Nahrung und Bewegung; »Wir sind Kinder der Sonne«, wird von BÜCHNER ge- predigt1), der Sonne, deren Allmacht die allgemeine Gravitation ist, deren Weisheit die Erhaltung der Energie, deren Ewigkeit die Materie. Welch Wunder, daß die Leser der Überzeugung waren, daß diese Sätze konkretere Wahrheiten enthalten, als die Sätze der Natur- philosophie, die Geschlechtsorgane seien Gehirn, die Seele sei Licht, die Welt entstehe durch Selbstbegattung Gottes? Büchner, Vogt und Moleschott bedeuten nur das Extrem einer Strömung, die in milderer Form in den sechziger und sieben- ziger Jahren gerade so allgemeinen Widerhall fand, wie kurz zuvor die Naturphilosophie. Es ist wahr, die meisten vermieden den Namen Materialismus, selbst BÜCHNER nannte seine Philosophie nur »Realis- mus« — was bedeuten aber Namen! Der Glaube, das Leben sei etwas eigenartiges, etwas über der leblosen Natur stehendes, wurde als eine angeblich theologische Lehre mit Bann belegt, und das Schlagwort von einer chemisch-physikalischen und mechanischen Grundlage der Lebensvorgänge wurde der billigste Ausdruck wissen- schaftlicher Überzeugung. Nicht möglich, alle aufzuzählen, die sol- chen Gedanken huldigten. Man wird sagen, daß die besseren Geister den Materialismus verwarfen und E. DU BOIS REYMOND als Beispiel anführen, der durch seine Rede von den »Grenzen der naturwissen- schaftlichen Erkenntnis« (1872) doch Anstoß bei den Anhängern der Kraft und des Stoffes erregte, als er die Unzulänglichkeit des Ma- *) Fragmente aus den Naturwissenschaften, S. 564- VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. ioi terialismus für die Erklärung mancher Erscheinungen, namentlich der psychischen, erklärte; allein, sagte nicht derselbe DU BoiS, daß >die analytische Mechanik bis zum Problem der persönlichen Freiheit reicht«1)? Meinte er nicht im Laufe derselben Rede, durch welche er sich von den Materialisten lossagte, daß, die Natur zu erkennen, so viel bedeutet, als die Veränderungen in der Natur auf Atombewegungen zurückzuführen2)? Helmholtz, FECHNER, Lotze, Preyer, Nageli, Haeckel, Virchow, A. Lange, Darwin, Huxley3), Spencer, G. Jaeger, Schleiden, Schwann, sie alle waren entweder bewußte Mechanisten, oder boten wenigstens nichts, was dem Mechanismus gegenübergestellt werden könnte. Ihre Ansichten wurden in ent- wicklungsgeschichtliche Theorien übertragen, und erst als der Dar- winismus zu zerfallen begann, fing man auch an, von der Überzeu- gung zu lassen, daß das Leben das Spiel einer zusammengesetzten Maschine sei. Die positive Philosophie. Wir begannen die Schilderung der Abkehr von der Philosophie zur Wissenschaft mit MlLL, dem die neue Bewegung ihre logische Grund- lage verdankt; doch früher noch als MlLL ist für exakte Wissenschaft der französische Philosoph AUGUSTE COMTE (1798 — 1857) eingetreten. Auch Comte behandelte die Metaphysik von oben herab, und hielt sie für einen überwundenen Zustand des menschlichen Denkens; auch er gab der »Wissenschaft«, d. h. der Naturerkenntnis, die Rolle eines Schiedsrichters in allen geistigen Problemen, den materiellen, intellek- tuellen, sowie den moralischen. Das Grundmerkmal seiner positiven Philosophie ist der Glaube, daß alle Erscheinungen natürlichen und unwandelbaren Gesetzen unterliegen, deren Entdeckung und Zurück- führung auf die kleinste Anzahl das Ziel jeder Wissenschaft sein soll. Auch über die Biologie hat Comte viel nachgedacht4) ; nach einer langen Analyse der in dieser Wissenschaft geübten Methode gibt er als Aufgabe der positiven Biologie an, Gesetze zu bestimmen, welche eine feste Beziehung zwischen dem Organ und dem Milieu aus- x) E. DU Bois , Im Vorwort zu seinen »Untersuchungen über die tierische Elek- trizität«, Berlin 1848. 2) Derselbe, Über die Grenzen des Naturerkennens (1872), Leipzig 1S82. 3) T. H. Huxley, vgl. insbesondere seine Studie : On the physical basis of life Methods and results 1894, S. 130 sqq. 4) A. Comte, Cours de Philosophie positive, 3. ed., T. III, Philosophie biologique, Paris 1869 (geschrieben 1836. 102 VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. drücken, indem sie die Funktion eines jeden Organs beleuchten1); oder mit anderen Worten, »ist ein Organ oder seine Veränderung gegeben, soll seine Funktion ge- sucht werden und umgekehrt«2). Zu diesem Zwecke muß nicht nur Anatomie und Physiologie studiert, sondern namentlich auch der Einfluß der Umgebung auf den Organismus verfolgt werden, es müssen direkte Beobachtungen und Versuche vorangehen (pathologische Erscheinungen und Monstro- sitäten sind sozusagen von der Natur selbst ausgeführte Experimente) ; ferner muß die vergleichende Methode angewendet werden. Die- selbe ist besonders für das Studium der biologischen Erscheinungen geeignet und besteht darin, daß sie die behandelten Erscheinungen für wesentlich untereinander analog hält und ihre Unterschiede als nebensächlich betrachtet. So führt z. B. Comte aus: bei der Ver- gleichung des Menschen mit anderen Geschöpfen betrachten wir die Tiere als stufenweise Vereinfachungen des menschlichen Typus, dessen wesentliche Merkmale aber bei allen, auch den einfachsten Tieren vorhanden sind. Es sind einmal die Organe desselben Tieres zu vergleichen, ferner die Organe verschiedener Entwicklungsstadien, die Organe verschiedener Tiere. Auch der Klassifikation der Tiere wird von Comte ihr Wert nicht abgesprochen. Man kann aus diesem Inhalte seiner biologischen Philosophie er- sehen, daß Comte mit dem damaligen Stande der französischen Biologie gut vertraut war; ja durch seine Forderung nach dem Stu- dium der Beziehungen zwischen dem Organismus und seiner Um- gebung, zwischen dem Organe und seiner Funktion, mutet Comte moderner an, als die Fachleute seiner Zeit. Wohl hat Huxley Comte später scharf verurteilt; seine Biologie atme nicht wissen- schaftlichen Geist und die Errungenschaften der Wissenschaft seien ihm nicht genügend geläufig3). Huxley wies auf HüME zurück, der durch die Forderung der exakten Wissenschaftlichkeit Comte um viele Jahre vorangeeilt wäre und empfahl seinen Landsmann MlLL, der exakter als Comte sei. Dieses Urteil ist wohl ungerecht; schon die Tatsache, daß MlLL von Comte, seinem Vorgänger und Anreger, mit großer Ehrfurcht redet4), zeugt von etwas anderem; und wenn J) A. Comte, Cours de Philosophie positive, 3. ed. T. IE, Philosophie biologique Paris 1869 (geschrieben 1836), S. 210. 2) Ibid. S. 211. 3) T. H. Huxley, On the physical basis of life. Methods and results, 1894, S. 156. 4) Mill, Logik, S. 72 sq., S. 251. VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. 103 HüME dem COMTE , so ist doch auch COMTE dem MlLL voran- geeilt. In einem Punkte steht CüMTE MlLL nach; wohl war er sein Meister, auf die internationale exakte Wissenschaft übte er jedoch einen viel geringeren Einfluß aus als MlLL, weil er zu wenig die Kausalität, d. h. den notwendigen Zusammenhang in der Aufein- anderfolge der Erscheinungen betonte und den Nachdruck auf die Wechselbeziehungen derselben legte ; weil aber die Zeit mit Vorliebe nach dem ursächlichen Zusammenhang forschte, kam Comte nicht zur Geltung, als die Morphologie überwunden wurde. Indirekt aber, als Soziologe1) und durch seine Ehrfurcht vor der Wissenschaft, wirkte COMTE auch außerhalb Frankreichs vielfach anregend. Der Geist seiner Philosophie wurde aber zur starken Triebfeder für die Franzosen, und zwar nicht nur in den Geisteswissenschaften, sondern auch in der exakten Forschung : der Physiologe CLAUDE Bernard und der Chemiker Berthelot stehen ihm nahe. Insbe- sondere Berthelot, der Freund Renans, plädierte viel für die »wis- senschaftliche« Lebensauffassung und gegen den Glauben an Natur- geheimnisse2). Von ihm stammen die Worte des großen Glaubens an die Wissenschaft, Worte, die später, als sich der Verfall dieser Philosophie einstellte, so sehr bei jüngeren Köpfen Anstoß erregt haben : »so wird gewiß der allgemeine Triumph der Wissenschaft den Menschen die sicherste Quelle für das größtmögliche Glück und die größtmögliche Moralität werden«. Der geringe Einfluß COMTEs auf die internationale Wissenschaft ist vielleicht eine der Ursachen, warum sich die französische Biologie aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht auf dem Niveau der deutschen und englischen Wissenschaft erhalten hat; COMTE ist allzu Franzose geblieben, treu den Anschauungen der CuviER-Periode, während die Zeit eine radikal neue Philosophie verlangte; sie nahm MlLL und Darwin an, deren nach Ursachen spähende Philosophie der CoMTEschen fremd war: darum rang der Darwinismus solange ohne Erfolg nach festem Boden im positivistischen Frankreich, und als er ihn dort eroberte, fand er keine einheimischen Probleme, die mit Hilfe derselben zu lösen gewesen wären. *) Da Comte in seiner Philosophie die Ansichten Cüviers und Lamarcks ver- knüpfte, so würde die Frage der Untersuchung wert sein, wie Cuvier die soziologi- schen Theorien beeinflußt hat. 2) Berthelot, La science et la morale. Revue de Paris 1895. Nach Brunetiere, La science et la r^ligion, Paris 1895, S. 19. IOA "^^ Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. Das Ansehen der Wissenschaft. Seit Beginn der Neuzeit nimmt fortwährend die Überzeugung zu, daß die Wissenschaft das einzige Gewisse im Blendwerk dieser Welt sei, daß nur in ihr unser Heil liege. Den Forschern der älteren Zeiten, einem Galilei, einem Malpighi, Vesalius, Steno, Stahl, Paracelsus, war die Wissenschaft noch eine individuelle Philosophie, und läßt sich deshalb nicht von den Schicksalen und von dem per- sönlichen Charakter jedes Einzelnen gesondert darstellen. Sich selbst rühmte Paracelsus und nicht die Wissenschaft, als er prahlte, daß in seiner Kappe mehr Weisheit enthalten sei als in den Köpfen aller Professoren; seinem eigensten persönlichen Interesse diente SwAMMERDAM, als er nach vieljähriger aufreibender Arbeit über seinem Mikroskop, nach einem langen Ringen mit der Not, seinem Lebensideale, der Wissenschaft (die er übrigens immer nur privatim pflegte), entsagte, um sich dem höheren Ziele, einem gottgeweihten Leben zu widmen; seine wissenschaftlichen Werke erschienen erst 57 Jahre nach seinem Tode. Der Arzt Stahl stellte der kartesia- nischen Ansicht vom Mechanismus des Lebens seine vitalistische Philosophie entgegen, nicht um den Fortschritt der Wissenschaft zu fördern, sondern weil die Theorie Decartes' nicht mit seiner strengen protestantischen Lebensauffassung übereinstimmte. Noch im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschte, obwohl in einer gedämpften Form, diese individualistische Auffassung der Wissenschaft, eine Auffassung, nach welcher das Ver- hältnis des Gelehrten zur Wissenschaft kein anderes ist, als das des Dichters zur Kunst : in der individuellen Genialität des Gelehrten be- stand die Wissenschaft, in poetischen Individualitäten die Poesie. Schöner Stil und Eleganz der Gedanken, nach welchen die fran- zösischen Naturforscher strebten, waren einerseits noch ein Ausdruck jener Überzeugung; sie waren aber andererseits auch ein Ausfluß des Bestrebens, die Wissenschaft in der Gesellschaft zur Geltung zu bringen; Buffon, Vicq d'Azyr, Cuvier, Flourens, Cl. Bernard waren alle Schriftsteller von feingeschliffenem Stile. In Deutschland suchten die Naturforscher durch Naturphilosophie auf die Öffentlich- keit zu wirken, ihr schwieriger Stil jedoch und das Streben nach Originalität weist wieder auf die alte Überzeugung von einer unzu- gänglichen Abgeschlossenheit des Gelehrten hin. Mit dem Verfall der Naturphilosophie und durch den Einfluß COMTEs und Mills kam das Ideal der unpersönlichen Wissenschaft VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. 105 auf. Es wuchs der Respekt vor der Allgemeinheit, die Überhebung des Individuums nahm ab; auch die Wissenschaft unterlag dieser Strömung. Das Wort Gelehrter, das einen dem täglichen Treiben entfremdeten und nur seinen wissenschaftlichen Fragen, für welche die Umgebung kein Interesse hat, lebenden Mann bedeutete, bekam nun einen spöttischen Beigeschmack; der Forscher, ein Mann, der die für die Menschheit notwendige Wissenschaft vermehrt, wurde zum Helden des Tages. Die Ansicht, daß der Einzelne seine Individualität der Gemein- schaft opfern soll, verbreitete sich über ganz Europa und über die gesamte intelligente Welt. In Rußland kam sie als literarischer Kampf der Nihilisten gegen die Überhebung der schönen Literatur zum Vorschein, den TURGENIEFF in seinen »Vätern und Söhnen« so schön geschildert hat, später noch mußte TURGENIEFF, dieser feine und in sich geschlossene Beobachter, vor TOLSTOI, dem Apostel der Menge, zurücktreten. In Deutschland schritt man von der Naturphilosophie, die stolz darauf war, daß sie niemand versteht, zum popularisierenden Materialismus, vom aristokratischen HUMBOLDT zum demokratischen Haeckel. In Frankreich gab man wie immer den neuen Richtungen den radikalsten Ausdruck: »Die Dichter und Künstler werden für die Menschheit die Rolle der Chorsänger in der Kirche oder der Tambours im Heer übernehmen. Was wir von ihnen verlangen sind nicht ihre individuellen Eindrücke, sondern unsere1).« Durch Englands Einfluß kam das Popularisieren der Wissenschaft in Schwung. In England war die Wissenschaft weder auf die Ka- theder beschränkt, wie in Deutschland, noch bildete sie einen Teil der schönen Literatur, wie in Frankreich, bewahrte vielmehr am meisten ihr altertümliches Gepräge, indem durch dieselbe das indivi- duelle Bedürfnis des Forschers gestillt wurde. Darwin war Privat- mann, ebenso Wallace und Spencer; weder Mill noch Romanes, noch Galton waren Professoren, was ihren wissenschaftlichen Ar- beiten eine eigentümliche praktische Lebensfrische verlieh. Als nun in Deutschland die Reaktion gegen die Naturphilosophie anhub, wies man auf die englische Tüchtigkeit hin : Liebig empfahl Mill ; Helm- HOLTZ und dem Chemiker Hoffmann wurde sogar unpatriotische Anglomanie vorgeworfen. Die jüngeren Professoren suchten sich praktisch dadurch zu betätigen, daß sie ihre pädagogische Tätigkeit außerhalb der Schule fortsetzten, indem sie durch populäre Vorträge J) Ich führe diese Worte Proudhons nach Juleville, Histoire de la langue et de la littSr. francaise, Vni, 1899, S. 10 an. IOÖ VII. Übergang von der Naturphilosophie zur modernen Wissenschaft. und Schriften auf das Volk einzuwirken strebten; nicht nur die Ma- terialisten, wie Büchner und Moleschott, sondern auch Liebig, Helmholtz, E. DU BOIS, Schleiden gingen nun unter das Volk. Die Darwinisten nützten dann bedeutend diese Stimmung aus, und ihre Bekämpfer beklagten sich vielfach darüber, daß die neue Lehre hauptsächlich durch Popularisation verbreitet wird. Die Ehrfurcht vor der Wissenschaft kannte keine Schranken. Noch kurz zuvor wollten die Naturphilosophen, unter Einfluß des Dichters GOETHE, fast die Wissenschaft in Poesie auflösen; jetzt stellten sich umgekehrt die Dichter in den Dienst der Wissenschaft. H. Taine (1828 — 1893) maß jetzt mit naturwissenschaftlichem Stabe wie die Geschichte der Menschheit, so die Begeisterung der Poeten. Die Geschichte bannte er in biologische Schemata (Korrelation der Organe, Einheit des Planes, Rassen und Arten, natürliche Zuchtwahl), wollte ihr »Anatomie« und »Physiologie« geben, und dies alles nur, um sie exakter zu machen. Claude Bernard, der Physiologe, wurde zur größten Autorität für die Künstler, die Poetik wimmelte von Aus- drücken, wie Experiment, Entwicklung, Vererbung, Wissenschaftlich- keit, Degeneration, Atavismus usw. Die Individualität des Künstlers sollte aufhören: auch der Roman soll nur eine unparteiische Schilde- rung der Tatsachen, der guten wie der schlechten, bieten — es gibt überhaupt keinen wissenschaftlichen, also auch keinen ästhetischen Unterschied zwischen gut und schlecht, sittlich und unsittlich. Diese Strömung erfloß in Frankreich aus eigenen Quellen, fand aber später in Darwins Theorie einen mächtigen Zufluß: dieselbe war für die Romanschreiber nur ein Faktum, das ihre Theorien über das Wesen der Kunst bestätigte. Unter Comtes, Taines und Dar- wins Einfluß stellte Zola seine Lehre vom Experimentairoman auf, »der nichts anderes sein soll, als eine Konsequenz der wissenschaftlichen Entwicklung des Jahrhunderts; er ist eine Fortsetzung und Vervollstän- digung der Physiologie ... er ist die Literatur unserer wissenschaftlichen Epoche, wie die klassische und romantische Literatur einer scholastischen und theologischen Periode entsprachen«1). Keine Zeit war der Aufnahme der DARWlNschen Theorie gün- stiger als die sechziger Jahre. Es herrschte da große Hochachtung vor der Wissenschaft, insbesondere vor derjenigen, die aus England kam; es herrschte allgemeiner Abscheu vor dem Idealismus, man sympathisierte allgemein mit dem Materialismus ; alle erwarteten großes von der Biologie. Nun, man sollte nicht enttäuscht werden. J) E. Zola, Le roman experimental, Paris 1880. Nach Juleville, S. 202 sq. VIII. Entstehung des Darwinismus. 107 VIII. Entstellung des Darwinismus. Altere Betrachtungen über die Entstehung der Tiere. In seiner Autobiographie schreibt Ch. Darwin, man habe den Erfolg- seiner Theorie dadurch erklären wollen, daß die Geister auf dieselbe vorbereitet waren, welches aber nicht wahr sei. Er erzählt, daß er während der Abfassung" seines Werkes im Gespräch mit Naturforschern einige Male die Rede auf den Entwicklungsgedanken gebracht, jedoch keinen einzigen gefunden habe, der Zweifel über die Stetigkeit der Arten geäußert hätte1). Daß er keinen einzigen fand, ist wohl anzunehmen; doch ist es fraglich, ob diese Methode, durch Nachfragen bei Freunden die Gedankenströmungen der Zeit eruieren zu wollen, entsprechend und erschöpfend ist. Die Frage nach dem Ursprünge der Dinge ist so alt, wie der Mensch selbst; richtig sagte Haeckel, daß Moses einer der ersten Vorläufer Darwins war; bereits das vedische Gedicht, vielleicht schon zur Zeit der Mammuts verfaßt, fragt: »Was war der Wald, was war der Baum, aus dem sie Erde und Himmel fest gezimmert« 2), und die Mythen von dem Ei, aus dem die Erde entstand, von der Entstehung der Erde aus Wasser, aus Feuer, vom Ursprung der ersten Menschen, geben die erste Antwort auf Darwins Frage nach der Entstehung der Dinge. Auch die heiligen Väter philosophierten bei den ersten Sätzen der Bibel viel über den Ursprung der Welt; wäh- rend Klemens, Origenes und der heilige ATHANASIUS zu beweisen suchten, daß alle Organismen auf einmal durch ein und dasselbe Schöpfungswort geschaffen worden sind, lehrte die Schule von Kappa- dozien, mit dem hl. Basilius an der Spitze, daß Gott ursprünglich nur die Elemente der Dinge geschaffen, welche dann durch Ent- wicklung ihren Zweck erreichten. Bestimmter noch drückten sich der hl. Gregor von Nyssa und der hl. Augustinus, die auch als Darwins Vorläufer gelten, über die Entwicklung aus. Auch die Phantasien der ersten Christen über das vergangene oder zukünftige Paradies, über das tausendjährige Reich, über das Ende der Welt, sind als Aus- flüsse des Glaubens zu betrachten, daß es einmal anders war, und wieder anders sein wird, als es jetzt ist. J) Leben und Briefe von Ch. Darwin, Stuttgart 1887, I, S. 78. 2) M. Müller, Natürliche Religion, Leipzig 1891, S. 178, 230. jq8 VIII. Entstehung des Darwinismus. Doch diese Gedanken waren mehr Philosophie, frommer Glaube, Sehnsucht oder Furcht, als ein aus konkreten Tatsachen entwickeltes Wissen; erst in der neueren Zeit, besonders seit dem 18. Jahrhundert, kam es klarer zum Bewußtsein, daß der Mensch und die gesamte Natur eine Geschichte haben. Rousseau ebnete dieser Anschauung den Weg durch seine Lehre von einem ursprünglich glücklichen Zu- stande der Menschheit und von der verderblichen Wirkung der Zivilisation; in England philosophierte Lord Monboddo, eine originelle Erscheinung des 18. Jahrhunderts, über den Ursprung der Sprache und über die Entwicklung des Menschen aus Affen1); Herder schrieb bereits vom Fortschritt der Völker und wollte die Geschichte in Naturgeschichte umgestalten ;''Kant und nicht lange nach ihm Laplace spekulierten über die Geschichte des Weltalls und wiesen nach, daß sich unser Sonnensystem nach mechanischen Gesetzen aus einem Nebelfieck entwickelte ; CuviER wurde an der Jahrhundertwende durch seine Geschichte der Erdrinde und ihrer lebendigen Bewohner be- rühmt. Die deutsche Naturphilosophie war voll des Entwickelungsge- dankens ; Goethe schrieb so viel von Entwicklung, daß ihn Haeckel für einen Vorläufer Darwins erklären konnte; obwohl FICHTE am wenigsten historisch angelegt war, so stellt auch sein Gedanke, das Sein sei die Folge einer Tätigkeit, das Ich, indem es seinen Gegen- satz setzt, bilde sich die Natur (das Nicht-ich) aus, eine gewisse meta- physische Embryologie der Natur dar; aus Schellings Betrachtungen über die Natur kann man das Echo der alten Lehre von der natura naturans heraushören, also wieder eine dynamische Ansicht; Hegel stellte sogar den Entwicklungsgedanken in den Mittelpunkt seiner Philosophie: die Welt betrachtet er als eine Entwicklung der Ver- nunft von vorbewußter logischer Idee zur unbewußten Natur, zum Selbstbewußtsein des Menschen, zu sozialen Einrichtungen, zur Kunst, Religion und Wissenschaft. Der große Einfluß Hegels auf das histo- rische Denken in Deutschland, Frankreich, Rußland und auch sonst ist allbekannt. Doch war diese genetische Anschauungsweise aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch viel von der modernen verschieden. Darwins Ansicht war, oder wollte wenigstens historisch sein; sein Grundgedanke war, daß die Weltgeschichte voll von Ereignissen sei, daß eine jede Umwandlung eines Organismus in einen anderen *) Über Monboddo vergleiche E. Krause, L. M. und sein Buch über den Ur- sprung der Sprache, Kosmos 5, 1879, S. 439 sq. VIII. Entstehung des Darwinismus. Im, eine für die Welt neue Tatsache darstelle, und daß solcher Tatsachen unendlich viel vorgekommen sind; die Naturphilosophen aber, Goethe, Fichte, Schelling, Oken, Hegel, Al. Braun, v.Baer u. a. achteten auf die Ereignisse, durch welche die Entwicklung hindurchging, nur um aus denselben ein Entwicklungsgesetz, eine Idee zu abstrahieren. Ungeachtet dessen war aber der Entwicklungsgedanke bereits vor Darwin da; daß der Übergang von der älteren idealistischen zur neueren realistischen Auffassung keine Schwierigkeiten bot, zeigten die Schüler Hegels D. Strausz und Feuerbach, bei denen die idealistische Lehre ihres Meisters in Materialismus umschlug. Auch der vordarwinschen Biologie blieb der Entwicklungs- gedanke keineswegs fremd. LAMARCK drang seinerzeit zwar nicht durch, doch wurden seine Schriften gelesen, und zwar, wie es scheint, mit steigendem Interesse. Das Schicksal seiner Theorie in Frankreich ist uns bereits bekannt; in England schrieb über ihn Lyell in seiner Geologie (1830) und obwohl er von seiner Theorie nur als von einer »phantastischen Novelle« sprach, konnte er doch seine Sympathie der vermeintlichen Konsequenz, mit welcher Lamarck geschickt eine im voraus verlorene Sache verteidigte1), nicht versagen, und hat so gewiß manchen Leser auf Lamarck aufmerksam gemacht. Auf die Deutschen beziehen sich die Worte C. E. V. Baers, daß es unter den älteren wohl wenige geben wird, die nicht Lamarcks Philosophie zoologique gelesen hätten2). Die Morphologen waren, als sie die Geschöpfe in aufsteigende Reihen, von den einfachsten zu den vollkommensten Wesen zusammen- stellten, vom Glauben an eine Schöpfungskraft der Natur durch- drungen; sie sprachen von einem Fortschritt und einer Vervollkomm- nung der Formen, und obwohl sie diesen Gedanken nur abstrakt auffaßten, so fehlte es doch auch nicht an solchen, die unter »Fort- schritt« eine in der Zeit aufeinanderfolgende Vervollkommnung ver- standen, ja einige ließen sich bereits in — wohl primitive — Zu- sammenstellungen von Stammbäumen der Tiere ein; ein gewisser Jak. Kaup gab z. B. folgende Entwicklungsstufen an3): Delphin — Seehund — Faultier — Elefant; oder: Schildkröte — Pferd — Nashorn; oder: Eidechse — Birkhahn — Hirsch. Wie aktuell die Frage war, kann man daraus ersehen, daß die philos. Fakultät der T) Life of Ch. Lyell, London I, S. 168. eden und Aufsätze von C. E. v. Bai k I, S. 38. 3) J. Kaup, Skizzierte Entwicklungsgeschichte und natürl. System der europäischen Tierwelt, 1829 (nach E. v. Baer). I 10 VIII. Entstehung des Darwinismus. Münchner Universität im Jahre 1834 einen Preis auf die Lösung der Frage über die Veränderlichkeit der Arten und ihre Ursachen aus- setzte x). Der Verfall der Morphologie bedeutete einen neuen Schritt zur genetischen Anschauung. Man wurde sich mehr und mehr dessen bewußt, daß der Organismus keineswegs ein erstarrter Kristall ist, sondern daß er sich verändert, bewegt, daß er Lebensbeziehungen zu seiner Umgebung hat; die Morphologie wurde durch Embryologie vertieft und ersetzt, welche insofern das Leben inniger aufzufassen weiß, als sie die Entstehung, Entwicklung und das Absterben des Körpers zu schildern bestrebt ist: der Embryologe Baer wurde modern. Einen Beleg für die Wandlung in den Anschauungen kann man in der neuen Auffassung der Wirbeltheorie des Schädels finden. Goethe verfiel als erster auf den Gedanken (1790), daß der Schädel nach demselben Plane wie das Rückgrat gebaut ist, und am An- fang des 19. Jahrhunderts haben mehrere die Theorie von neuem entwickelt und auf verschiedene Art ausgedrückt; einige nahmen an, daß der ganze Schädel nur ein Wirbel sei, Goethe wollte drei, später sechs Wirbel im Schädel unterscheiden, Oken trieb den Ge- danken ins Extrem, indem er der Anschauung, daß das ganze Rück- grat samt dem Schädel aus lauter Wirbeln zusammengesetzt sei, die Fassung gab 2) : »der ganze Mensch ist nur ein Wirbelbein«! GEOFFROY ging noch weiter und behauptete, auch der Insekten- körper sei aus Wirbeln zusammengesetzt, nur sollen da die Wirbeln nach außen, das Fleisch nach innen gekehrt sein; andere, wie C. G. CARUS huldigten noch phantastischeren Gedanken. Dies alles waren nur Variationen auf das Thema, daß sich die Idee eines Wirbels in den mannigfachsten Körperteilen wiederholt. Allerdings stellten sich diese Morphologen keineswegs vor, daß ein ganz be- stimmter Wirbel in allen Rückgrat- und Schädelteilen wiederkehrt, sondern sie nahmen es nur vom allgemeinen Wirbelplan an, oder mit Goethe zu sprechen: identische Teile wurden nach einem be- stimmten Schema durch eine Schöpfungs- (= vitale) Kraft mannigfach umgebildet 3). J) Der Preis wurde A. F. Spring zuerkannt für die Abhandlung: >Über die natur- historischen Begriffe Gattung, Art und Abart und über die Ursachen der Abartungen in den organischen Reichen«, Leipzig 1838. 2) L. Oken, Bedeutung der Schädelknochen, S. 5. 3) Goethe, Werke (Cotta) 27, S. 249. VIII. Entstehung des Darwinismus. III Es kam T. H. Huxley, ein jüngerer, in entvvicklungsgeschichtlichen Ideen BAERs erzogener Anatom, und polemisierte gegen die Wirbel- theorie des Schädels, die in England von Rich. Owen vertreten wurde; er bekämpfte sie aus embryologischen Gründen, indem er behauptete, daß wohl am Anfange der Entwicklung der Schädel wie die Anlage des späteren Rückgrats segmentiert ist, daß sich aber von diesem ähn- lichen Anfang aus der Schädel und das Rückgrat auf verschiedenen Wegen entwickeln1). Huxleys Ansicht war keineswegs eine Widerlegung der GoETiiEschen Lehre, höchstens eine passendere Fassung des- selben Gedankens; sie zeigt jedoch klar, wie sich die Zeiten geändert hatten, wie anstatt des Glaubens an einen Plan jetzt der an die Ent- wicklung getreten war. Es war dies zwar vorläufig nur die em- bryonale Entwicklung, doch fehlte es nicht viel und das Wort be- kam einen weiteren Sinn, den Sinn einer historischen Entwicklung. Neben der Embryologie wuchs aber auch das Ansehen der Palä- ontologie, der eigentlichen Wissenschaft von der Geschichte der Schöpfung. Cuvier zählte noch die Paläontologie zur Geologie, Blainville stellte sie bereits in die Nähe der Zoologie, indem er, vielleicht unter LAMARCKs Einfluß, die ausgestorbenen Tiere in einer Reihe mit den lebendigen anführte. Das paläontologische Wissen vermehrte sich rasch und um die Hälfte des Jahrhunderts erschienen in Deutschland bereits populäre Schriften mit dem bezeichnenden Titel »Geschichte der Schöpfung«, welche den Boden für die historische Auffassung der Organismenwelt vorbereiteten. In den fünfziger Jahren war die Paläontologie so blühend, daß C. Vogt (1851) drei wichtige Richtungen in der damaligen Zoologie unterschied: 1. Paläontologie, 2. Morphologie der heutigen Tiere, 3. Embryologie; der Paläontologie wies er die erste Stelle an2). Es gab aber auch viele bedeutende Biologen, welche nicht nur den Gedanken einer historischen Entwicklung der Natur streiften, sondern be- reits erkannten, daß entwicklungsgeschichtliche Fragen das tiefste Pro- blem der Biologie darstellen. Statt vieler anderen sei ein einziges, aber beredtes Beispiel angeführt. C. E. v. Baer, der uns bereits bekannte Em- bryologe, hielt im Jahre 1S33 eine Vorlesung über das Thema: »Das allgemeine Gesetz der Natur in aller Entwicklung«3). Die Frage der *) T. H. HUXLEY, On the Theory of the vertebrate Skull. Ann. and Mag. of Nat. Hist. III, 1859. 2) C. Vogt, Zoologische Briefe. Naturgeschichte der lebenden und untergegan- genen Tiere, 2 Bände, Frankfurt a. M. 1851, S. 19. 3) C. E. v. Baer, Das allgemeine Gesetz der Natur in aller Entwicklung. Reden J> S. 35 — 74. In einem anderen Artikel (»Papuas und Alfuren«, Mem. Ac. St. Pe'ters- 112 VIII. Entstehung des Darwinismus. Schöpfung, dies besagt der Inhalt jener Rede, ist ein Grundproblem der Biologie; bis die gelöst sein wird, werden auch alle übrigen ge- löst sein. Die Beobachtung der Vorgänge in der jetzigen Natur lehrt uns, daß der Einzelne vergeht, die Art jedoch als Ausdruck eines bestimmten Gedankens, bestehen bleibt. Eine auf weiteren Grund- lagen jedoch, insbesondere auf der Paläontologie gegründete Be- trachtung der Natur führt uns zur Überzeugung, daß auch die Art nicht ewig ist, daß sie einmal auf die Welt gekommen ist und be- reits wieder verging oder einmal vergehen wird; wie sie ins Leben gerufen wurde, wissen wir nicht; entweder entstand eine jede Art durch Urzeugung oder durch Umwandlung aus einer anderen; der erstere Fall mag vielleicht (auch bei vollkommeneren Formen) öfters vorgekommen sein. Wenn aber auch die Art erlischt, was bleibt dann dauernd bestehen? Liegt vielleicht das Wesen von allem in der Geschichte der Arten? Und welchen Sinn hat sie? In Anbe- tracht des in der Geschichte der Natur bestehenden Fortschreitens von weniger Vollkommenem zu Vollkommenerem werden wir zu ant- worten haben: »die Geschichte der Natur ist nur die Geschichte fortschreitender Siege des Geistes über den Stoff. Das ist der Grundgedanke der Schöpfung« x). Ist in diesen Worten nicht eine großartige Philosophie der Ge- schichte der organischen Natur enthalten, eine Philosophie, die Fragen stellt, welche auch heute einem denkenden Menschen ungelöste Pro- bleme der Entwicklungsgeschichte bieten? In Baers Art dachten viele: H. G. Bronn, der bekannte Morpho- loge und Paläontologe, der Botaniker Alex. Braun, der Entomologe H. Burmeister, der französische Physiologe H. Milne-Ewards, der deutsche Physiologe Joh. Müller, der Biologe G. H. TREVIRANUS2) u.a.m. Nicht bei allen lautete die Antwort auf die Fragen nach der Ent- bourg 8, 1859) führt Baer aus, daß alle Menschen aus einem einzigen Menschenpaar entstanden sind und behauptet im Zusammenhange damit, daß auch unter den Tieren verschiedene Arten aus einer Stammform entstanden sein können (Über Darwins Lehre, Reden II, S. 247). *) C. E. v. Baer, Das allgemeine Gesetz der Natur in aller Entwicklung. Reden I, S. 72. 2) H. G. Bronn, Untersuchungen über die Entwicklungsgesetze der organischen Welt während der Bildungszeit unserer Erdoberfläche, Stuttgart 1858. — Über Alex. Brauns und Milne-Edwards Ansichten vgl. Kap. III. — H. Burmeister, Geschichte der Schöpfung, 5. Aufl., Leipzig 1854, S. 167, 324, 562. — Joh. Müller, Handbuch der Physiologie, 1837, I, 1 : S. 25 — 26, LI, 3 : S. 768 — 778. — G. R. Treviranus, Bio- logie oder Philosophie der lebenden Natur, 6 Bände, 1802, I, S. 446 sq. VIII. Entstehung des Darwinismus. 1x3 Wicklung ganz gleich; aber ihre positiven Antworten sind da neben- sächlich; das Wichtigste ist, daß fast alle großen Biologen aus den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit Interesse ent- wicklungsgeschichtliche Fragen verfolgten. Max Müller erinnert sich, daß in den vierziger Jahren in Deutschland auch Diskussionen über die Entstehung des Menschen, insbesondere durch den Einfluß Herders im Gange waren, ja er führt — die Ironie des Schick- sals! — aus dem Jahre 1840 ein, sogar in einer theologischen Zeit- schrift erschienenes Traktat an, in welchem bewiesen wurde, daß der Mensch aus einem Affen entstanden ist1). Später, als der Darwinismus zur Herrschaft kam, suchten und ent- deckten viele Naturforscher eine große Reihe von »Darwins Vor- läufern«. Durch den großen Erfolg der neuen Lehre geblendet, sahen sie in derselben eine absolute, von der Zeit unabhängige und durch einen genialen Kopf entdeckte Wahrheit, und hielten es für die einzige Aufgabe des Geschichtsschreibers, in der Geschichte an- dere Genies von niedrigerer Ordnung aufzusuchen, welche früher schon auf die Wahrheit gestoßen waren, die ganz zu entschleiern Darwin geglückt war. Sie analysierten auch nicht genügend das Wesen des Darwinismus, und indem sie sich allzu sehr auf verschiedene Kleinig- keiten beriefen, erklärten sie für Darwins Vorläufer Männer, die kaum mit einem Gedanken seine Theorie streiften. Von EMPEDOKLES und Aristoteles bis auf Goethe war niemand sicher, daß in ihm das spähende Auge eines Historikers nicht einen verkappten Darwinisten entdeckte. Und doch rang noch im 18. Jahrhundert, geschweige denn früher, der Gedanke, daß etwas Neues in der Welt entstehen kann, vergeblich nach Geltung! Man führt als Darwins Vorläufer z. B. Empedokles an, der lehrte, daß die jetzigen Organismen durch Verbindung von Teilen (Köpfen, Händen, Füßen usw.) entstanden, welche sich zufällig und in mannigfacher Mischung verbanden und erst nach Überwindung verschiedener unregelmäßiger Gestalten zu den jetzigen Formen zusammentraten. Man vergißt dabei, daß EMPEDOKLES, ein Pythagoräer, an die ewige Unwandelbarkeit alles Bestehenden glaubte, man übersieht, daß seine Theorie ebensowenig darwinistisch ist, wie die moderne chemische Lehre, nach welcher die Mannigfaltigkeit der Materie in der Verschiedenheit der Verbin- :) Max Müller, Natürliche Religion, Leipzig 1S91, S. 255. Die Abhandlung führt den Titel : Evam ante Adamum creatam fuisse sive de quodam communi apud Mosen et Hesiodum errorem circa creationem generis humani. Illgens Zeitschr. für hist. Theologie 1840, 10. S. 61 sq. R ä dl , Geschichte der biol. Theorien. II. g 114. VIII. Entstehung des Darwinismus. düngen derselben ewigen, unwandelbaren Atome bestehen soll. Wenn Empeüokles ein Darwinist war, so war es mit demselben Rechte auch der erste unbekannte Mann aus dem römischen Volke, der der Giraffe, der dem Leopard die Namen Camelo-leopardus, Leopardus gab, Namen, welche auf die Überzeugung hinweisen, daß diese Tiere durch Kreuzung von Kameel, Löwe und Panther, von Löwe und Panther hervorgebracht wurden; so war es mit demselben Rechte das ganze Mittelalter mit seiner Lehre, daß der Mensch mit dem Tiere halbtierische, halbmenschliche Wesen erzeugen kann. Der Einfluß der Geologie. Das Denken der Geologen am Anfange des 19. Jahrhunderts war von Cuviers Annahme beherrscht, daß das Antlitz der Erde mehrere Male nacheinander durch plötzliche Umwälzungen verändert wurde. CuviER verknüpfte (18 15) diese Ansicht mit der Lehre von den aus- gestorbenen Tieren und behauptete, daß durch die Erdumwälzungen die organische Welt (wenigstens in den bekannten Gegenden) jedes- mal ganz oder fast ganz ausgerottet wurde, worauf dann neue Ge- schöpfe in die verödeten Gegenden kamen; woher, sagte Cuvier nicht. Über die Ursachen und die Anzahl der Katastrophen herrschte keine Einigkeit; in Deutschland wurde damals darüber gestritten, ob alles Gebirge aus Wasser entstanden ist, wie die »Neptunisten« lehrten, oder durch Feuer und durch vulkanische Tätigkeit, wie die »Pluto- nisten« behaupteten; auch die Ansichten über die Anzahl der Kata- strophen gingen auseinander: der französische Geologe Elie de Beaumont (1798 — 1879) nahm anfangs sieben, dann 12, 15, 60, ja möglicherweise 100 Katastrophen an1). Die morphologische Denk- weise ließ auch in der Geologie ihre Spuren zurück; wie die Morpho- logen den organischen Körper mit einem Kristall verglichen und seine Symmetrie aufsuchten, so lehrte Elie de Beaumont, daß die während des Erkältens der Erdkruste durch Zusammenschrumpfen derselben entstandenen Gebirgsmassen auf der Erde so verteilt sind, daß sie an den Kanten eines regelmäßigen der Erde umschriebenen Rhombendodekaeders liegen. In England war Geologie eine von altersher gepflegte Wissenschaft und wurde praktischer angefaßt als auf dem Kontinente. Im Jahre 1830 — 1832 gab Ch. Lyell (Jurist und Journalist) seine »Principles of Geology« heraus, in welchen er J) Elie de Beaumont, Notice sur le Systeme des montagnes, Paris 1852. VIII. Entstehung: des Darwinismus. "5 den Gedanken an plötzliche, ungeheure Kräfte, die auf einmal die Erdoberfläche verändert hätten, verwarf, und den Beweis führte, daß fast alle geologischen Erscheinungen aus lange andauernden kleinen Veränderungen, wie sie auch heute und fortwährend geschehen, zu erklären sind, Veränderungen, welche durch Regen, durch das unter der Erde, in Bächen, Flüssen und im Meere die feste Erdkruste unter- wühlende Wasser, durch Vulkane und durch allmähliches Sinken und Heben der Erdoberfläche hervorgebracht werden. Lyells Theorien übten auf die Geologen einen so großen Einfluß, daß sie bis heute für richtig gelten ; man unterscheidet zwar praktisch — wie früher — Perioden, man spricht von Urgebirge, Paläozoikum. Mesozoikum, Tertiär, Quartär, und jede dieser Perioden wird wieder in Unterabteilungen geteilt, man weiß praktisch, daß sich die archäische, die paläozoische und andere Perioden durch bestimmte Merkmale charakterisieren lassen, ja man spricht praktisch sogar von unbe- kannten Ursachen, die den Übergang von einer Periode in die andere hervorgebracht haben, man verwirft dabei keineswegs auch außer- irdische Ursachen, theoretisch aber läßt man etwa wie in der Ge- schichte der Menschheit, nur einen ununterbrochenen Strom der Erd- geschichte gelten, mit dem einzigen Unterschiede, daß man von dieser zu sagen pflegt, sie sei die Lehrerin der Völker, wobei also die Ver- gangenheit zur Beurteilung der Gegenwart dient, während man von der Erdgeschichte erwartet, daß sie aus den jetzigen Erscheinungen dasjenige konstruiert, was vor Millionen Jahren vor sich ging. Lyell wirkte nachhaltig auf Darwin; auf seiner wissenschaft- lichen Reise um die Welt widmete sich dieser der nach Lyells Theorie gedeuteten Geologie, und nach seiner Rückkehr veröffent- lichte er eine Reihe von Tatsachen zum Beweise dieser Theorie; kein Wunder, daß er später, dem Ursprünge der Organismen nachfor- schend, sich der allmählichen Veränderungen, die uns täglich all- gegenwärtig sind, der ungeheueren Perioden, die unsere Erde nach Lyell bereits durchlebt hat, erinnerte und bei ihm lernte, wie sich durch Annahme einer Häufung kleiner Veränderungen große Unter- schiede verschleiern lassen. Lyell selbst war, was den Ursprung der Organismen betrifft, wesentlich derselben Ansicht wie Cuvier; er meinte, daß klimatische Veränderungen die Tiere und Pflanzen ihre Heimat zu wechseln nötigten, daß also das Vorhandensein verschie- dener Organismenformen in aufeinanderfolgenden Erdschichten durch Einwanderung (unbekannt woher) sich erklären läßt. In der ersten Auflage seiner Geologie machte jedoch Lyell seine 8* IXÖ VIII. Entstehung des Darwinismus. Leser auf Lamarcks Theorie aufmerksam und aus seinen Briefen er- sieht man, daß er über die Umwandlung der Formen seit 1827 nach- dachte und geneigt war, eine solche anzunehmen x). Vestiges. Im Jahre 1844 wurde die Aufmerksamkeit des literarischen Eng- land auf eine Broschüre gelenkt, in der unter dem Titel »Vestiges of the natural History of Creation « von einem anonymen Autor Hypo- thesen über die Entwicklung der Welt und der Tiere aufgestellt wurden. Als Verfasser des Schriftchens wurde Rob. Chambers (1802 — 1 87 1) bezeichnet, ein Popularisator, Geschichtsschreiber und Reisender, der einige Kenntnisse in der Geologie besaß; andere schrieben die Broschüre seiner Frau zu; im Jahre 1884 erschien die Schrift in zwölfter Auflage unter R. Chambers' Namen2). Die gött- liche Vorsehung soll die Entwicklung der Organismenwelt eingeleitet haben. Das Leben wurde durch einen »chemisch-elektrischen Vor- gang« hervorgebracht; durch diesen entstanden zuerst die Keimzellen, aus welchen sprungweise neue und neue Formen erzeugt wurden, welche zu vollkommeneren Stufen sich entwickelten : noch heute sehen wir etwas dem Analoges in den Verwandlungen der Medusen, Band- würmer und Insekten. Auch Tatsachen zum Beweise der Artum- wandlungen werden angeführt: nach einem Gewährsmann verwandelten sich irgendwo irgendwann Pilze in Algen, Weizen und Hafer in Roggen; man sah einmal den Schnabel eines Raben wie beim Kreuz- schnabel verbogen; das Hausschwein kann wieder verwildern. Es werden lebende wie ausgestorbene Übergangsformen, wie die Reptilien, zitiert, welche einen Übergang zwischen den Fischen, Schlangen und Krokodilen bilden; die Neunaugen stellen eine Übergangsstufe zwischen Würmern, Echinodermen, Kephalopoden und Fischen dar; auf den Menschen weisen der Frosch, der Delphin, das Faultier, die Fledermaus, der Affe hin; wahrscheinlich entstand er aus einem großen Frosch, der später ausstarb. Auch erinnert der Autor an den vermeintlichen Parallelismus der embryonalen, systematischen und paläontologischen Entwicklung, an die Bedeutung der verkümmerten Organe und an die anatomische Verwandtschaft der Tiere. Diese Theorie schlug ein; das Werk erlebte in drei Jahren sechs *) Life, Lettres and Journals of Sir Ch. Lyell, London 1881. Vgl. insbesond. den Brief an Mantell (1827} und an J. Herschel (1836). 2) Vgl. darüber den Artikel Rob. Chambers in Encycl. Britannica. VIII. Entstehung des Darwinismus. I j y Auflagen und im Jahre 1853 erschien bereits die zehnte; C. VOGT übertrug es ins Deutsche und auch diese Übersetzung erlebte zwei Auflagen. Bei den Fachleuten erregten wohl die Naivitäten der Theorie Anstoß1), trotzdem lasen sie dieselbe eifrig; es steht fest, daß Wallace (und sein Genosse Bates) durch sie zum Nach- denken über die Entstehung der Arten (1848) geführt wurde; es scheint, daß die Schrift auch auf Darwin nicht ohne Einfluß ge- blieben ist, denn in demselben Jahre, als sie erschien, brachte er zum ersten Male seine Ansichten über die Entstehung der Arten zu Papier und teilte sie seinen Freunden mit2). Huxleys und Spencers Erinnerungen. Es erübrigt noch der Erinnerungen der Zeitgenossen auf die geistigen Strömungen jener Zeit, welche Darwins Auftreten unmittel- bar voranging, zu gedenken. Wir besitzen zwei klassische Zeugen für jene Zeit, T. H. Huxley und H. Spencer; beide liefern Nach- richten, die bemerkenswert sind. »Ich denke, ich muß die »Vestiges« gelesen haben«, erzählt Huxley3), ehe ich England im Jahre 1846 verließ; wenn ich es aber gelesen habe, so hat doch das Buch einen sehr geringen Eindruck auf mich gemacht, und in eine ernstliche Berührung mit der Speziesfrage bin ich nicht eher als nach 1850 gebracht worden. In jener Zeit war ich schon lange mit der Kosmogonie des Pentateuchs fertig, welche meinem kindischen Geiste als göttliche Wahrheit eingeprägt worden war, mit der ganzen Autorität von Eltern und Lehrern, und von welcher mich loszumachen mir manchen Kampf gekostet hat. Mein Verstand war aber inbetreft" irgend einer sich darbietenden Lehre nicht vorweg eingenommen, wenn sie nur bekannte, sich auf rein philosophische und wissenschaftliche Über- legungen zu gründen. Mir schien es damals (wie es mir auch jetzt noch scheint), daß Schöpfung in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes voll- J) >Jeder schwache Punkt dieses Werkes wurde mit schonungsloser Strenge bloß- gestellt durch Kritiker, welche über die Popularität gereizt waren, die demselben zuteil geworden . . . «. bemerkt Ol. Lyell von Vestiges in seinen Principles of Geolog)-, ed. X, V. IL S. 274. Unter diese Kritiker gehörte auch Huxley und der Geologe Sedgwick. 2) Fr. Darwin berichtet in der Biographie seines Vaters ^Leben und Briefe Ol. Darwins I, S. 309): >Das Exemplar [, Vestiges'] meines Vaters bietet Zeichen dar, daß es sorgfältig gelesen worden ist, eine lange Liste angestrichener Stellen ist am Ende mit einer Nadel eingefügt. . . .« Ebendort wird auch bemerkt, daß die Autorschaft des Werkes mitunter Darwin selbst zugeschrieben wurde. 3) Life of Huxley I, S. 167 sq. Zitiert nach der deutschen Übersetzung von Carus, welche in Darwins Leben II, steht. j j g VIII. Entstehung des Darwinismus. kommen begreiflich ist. Ich finde darin keine Schwierigkeit, mir vorzu- stellen, daß in irgend einer früheren Zeit dieses Weltall noch nicht be- standen hat; und daß es in sechs Tagen oder augenblicklich wenn man das vorzieht, in Existenz trat infolge des Willens eines vorher existieren- den Wesens. Ich habe damals nicht, und tue es auch jetzt nicht, den geringsten Apriori Einwand gegen die Schilderung der Erschaffung der Tiere und Pflanzen im »Verlorenen Paradiese« erhoben, in welcher Mil- ton die natürliche Bedeutung der Genesis verkörpert. . . . Infolgedessen, daß ich völlig unparteiisch war, hatte ich den Evolutionisten von 1851 — 1858 genau die nämliche Antwort zu geben. In den Reihen der Biologen jener Zeit habe ich niemand gefunden als Dr. Grant, vom University College, welcher auch nur ein Wort für Ent- wicklung zu sagen hätte — und seine Verteidigung war nicht darauf berechnet, seine Sache zu fördern. Außerhalb dieser Reihen war die einzige mir bekannte Person, deren Kenntnisse und Fähigkeiten Achtung abnötigten, und welche gleichzeitig ein ausgemachter Evolutionist war, Mr. Herbert Spencer, dessen Bekanntschaft ich im Jahre 1852, glaube ich, machte, und mit welchem mich dann Bande der Freundschaft ver- knüpften, welche keinerlei Lockerung erfahren haben, wie ich so glück- lich bin mir vergegenwärtigen zu können. Zahlreich und dauernd waren die Kämpfe, welche wir über dies Thema gefochten haben. Aber selbst meines Freundes seltene dialektische Geschicklichkeit und die ihm zu Gebote stehende Fülle an passenden Erläuterungen konnten mich nicht aus meiner agnostischen Stellung aufscheuchen. ... In jener Zeit hatte ich noch niemals von Treviranus' »Biologie« auch nur gehört, ich hatte aber Lamarck aufmerksam studiert und hatte die »Vestiges« mit nötiger Sorgfalt gelesen; aber keines der beiden Werke bot mir irgend einen guten Grund dar meine negative und kritische Stellung aufzugeben. Was die »Vestiges« betrifft, so muß ich bekennen, daß mich das Buch durch ungeheuere Unwissenheit und den gänzlich unwissenschaftlichen geistigen Zustand, den der Verfasser offenbart,, ein- fach irritierte. Wenn es irgend einen Einfluß überhaupt auf mich gehabt hat, so stimmte es mich gegen Entwicklung; und die einzige kritische Anzeige, wegen welcher ich jemals, wegen der unnötigen Wut, Gewissens- skrupel gehabt habe, ist eine, welche ich unter jenem Einflüsse über die Vestiges geschrieben habe. Was die »Philosophie zoologique« betrifft, so ist es kein Vorwurf für Lamarck, wenn man sagt, daß die Erörterung der Speziesfrage in jenem Werke, was etwa auch im Jahre 1 803 dafür zu sagen gewesen sein mag, erbärmlich tief unter dem Niveau der Kenntnisse von einem halben Jahr- hundert später stand. . . Ich glaube nicht, daß irgend ein unparteiischer Richter, welcher die »Philosophie zoologique« jetzt liest und welcher dann Lyells schneidige und wirkungsvolle Kritik (schon so früh publi- ziert, 1830) in die Hand nimmt, geneigt sein wird, Lamarck eine viel höhere Stelle in der Begründung der biologischen Entwicklung zugestehen VIII. Entstehung des Darwinismus. 1 1 9 als Bacon sich selbst in bezug auf physikalische Wissenschaften im allge- meinen beilegt, — buccinator tantum. . . . Ich habe vor kurzer Zeit, von neuem wieder die erste Auflage der »Principles of Geology« gelesen; und wenn ich bedenke, daß dieses merkwürdige Buch nahezu dreißig Jahre in jedermanns Händen gewesen war und daß es jedem Leser von gewöhnlicher Intelligenz ein großes Prinzip und eine große Tatsache zu Gemüte führt, — das Prinzip, daß die Vergangenheit durch die Gegenwart erklärt werden muß, wenn nicht gute Gründe für das Gegenteil nachgewiesen werden können, und die Tatsache, daß soweit unsere Kenntnis von der vergangenen Geschichte unserer Erde reicht, keine solchen Gründe nachgewiesen werden können, — so kann ich nun glauben, daß Lyell für andere, wie für mich selbst, derjenige war, welcher hauptsächlich dahin gewirkt hat, Darwin den Weg zu ebnen. Denn ein konsequenter Uniformitarianismus verlangt Ent- wicklung ebenso sehr in der organischen wie in der unorganischen Welt. Die Entstehung einer neuen Spezies durch andere als die gewöhnlichen Kräfte würde eine viel größere »Katastrophe« sein als irgend eine von denjenigen, welche Lyell so erfolgreich aus der nüchternen geologischen Spekulation verbannt hat. . . . Wie ich bereits gesagt habe, so denke ich, daß die meisten von denjenigen meiner Zeitgenossen, welche ernsthaft über den Gegenstand nachdachten, sich annähernd in demselben geistigen Zustande wie ich befunden haben, — sehr geneigt, alle beiden, den Mosaisten und den Evolutionisten zuzurufen: »Die Pest über euere beiden Häuser!« und bereit, sich von einer endlosen und anscheinend fruchtlosen Diskussion abzuwenden und sich der Arbeit auf den fruchtbaren Gefilden der zu ermittelnden Tatsachen hinzugeben. . .« Dieser Bericht HUXLEYS ist sehr hoch zu stellen; man liest aus seiner Erzählung heraus, ein wie lebendiges Interesse an der Frage damals herrschte, wie auch Vestiges das ihrige dazu bei- trugen, man hört auch das aufrichtige Bekenntnis Huxleys, daß es die Schöpfung nicht war, die ihm wissenschaftlich unannehmbar schien, und daß er das Pentateuch und die Evolutionisten gleich hoch einschätzte. Wie wurde er später über Owen und KöLLlKER aufgebracht, als sie sich dasselbe Darwin gegenüber erlaubten! Weniger objektiv, aber wegen ihrer Subjektivität desto beredter sind Spencers Erinnerungen. Er erzählt in seiner Autobiographie, wie er von seinem Vater angeleitet wurde, überall nach natürlichen Ursachen zu fragen, so daß in ihm der Glaube an Wunder und an Übernatürliches unterdrückt und in seinem Geiste bereits evolutio- nistische Ansichten gezeitigt wurden, denn x), *) Herb. Spencer, Autobiography, London 1904, II, S. 5 sq. 120 VIII. Entstehung des Darwinismus. >wer immer sich vom theologischen Glauben an Übernatürliches losgesagt hat und sich gänzlich für den wissenschaftlichen Naturalismus entscheidet, der erkennt bereits schweigend an, daß sich alles heute vorhandene ent- wickelt hat«. Dies aber war Spencer (so erzählt er) anfangs noch nicht klar, erst nachdem er, zwanzig Jahre alt, Lyell gelesen hatte, ging ihm das Licht auf. Im Jahre 1852 veröffentlichte er zum ersten Male ein evolutionistisches Kredo und zu jener Zeit begann er auch den Gedanken zu verfolgen, daß der Übergang vom Homogenen zum Heterogenen Fortschritt bedeute, worauf er durch die Ansicht Baers gelenkt wurde, daß die Embryonalentwicklung in dem Übergang vom homogenen Keim in den heterogenen Organismus besteht — übrigens soll er bereits früher die von Owen angeführten Tatsachen gekannt haben, daß die systematisch höheren Tiere mehr differenziert sind. Im Jahre 1854 verwendete er diese Gedanken für seine Betrachtungen über Entwicklung der Wissenschaft und über Psychologie. — So kam die Fülle der Zeit: es herrschte Unzufriedenheit mit dem Stande der Dinge und es traten Propheten auf, welche Darwin die Pfade ebneten. Die Naturphilosophie wurde verhöhnt, man fühlte die Eitelkeit der Morphologie, auch der idealistische Kern der Embryologie Baers hörte auf modern zu sein, und der Propheten gab es eine Menge: in England Mill mit seiner induktiven Logik, Lyell mit seiner Geologie, Spencer mit seiner synthetischen Philosophie; in Frankreich der Positivismus, in Deutschland der Materialismus und Schleidens genetische Methode — sie alle haben später in Darwin ihren Meister anerkannt. Wenn also die Erfüllung der Zeiten da war, welche Bedeutung ist dem Auftreten Darwins beizumessen? Fand die Zeit in Darwin wirklich nach dem Worte des Dichters nur ihren Trommelschläger, der dem unsichtbaren aber trotzdem vorhandenen einheitlichen mili- tärischen Geiste nur nach außen den vernehmbaren Ausdruck gibt? Oder, wie derselbe Gedanke von den Naturforschern formuliert wird, lag seine Bedeutung nur darin, daß er bestätigte und verarbeitete, was seine Zeit unbestimmt fühlte? Gewiß ist diese Ansicht unrichtig; doch wie findet man den richtigen Ausdruck für das Verhältnis des selbständig denkenden Einzelnen zu den Gedankenströmungen der Gesellschaft ? Gewiß sind wissenschaftliche Werke ebenso Offenbarungen einer Individualität wie die Kunstwerke; nicht weniger gewiß ist, daß man heute in der Wissenschaft wenig Neigung zeigt, dies anzuerkennen; VIII. Entstehung des Darwinismus. 121 heute hat die Wissenschaft als soziale Erscheinung eine so große Macht gewonnen, daß das Interesse des Einzelnen in derselben gänz- lich schwindet. Doch ist es sicherlich nur eine vorübergehende Stimmung, welche bald einer besseren Platz machen wird; die Wissen- schaft wird aufhören als babylonischer Turm zu gelten; die Forscher werden nicht mehr für dessen Mauer gehalten werden, man wird nicht mehr den Triumpf der Wissenschaft in prunkhaften Gebäuden, in Instrumenten aus Metall und Glas, in Akademien und gelehrten Gesellschaften erblicken; es wird nicht mehr dem allgemeinen Stimm- recht der Fachleute erlaubt sein, dem Einzelnen zu diktieren, was er darf und nicht darf, und man wird einsehen lernen, daß wie nur Dante eine göttliche Komödie schreiben, wie nur KOLUMBUS in seiner Seele die Kraft, die Reise um die Welt zu unternehmen, finden konnte, so war nur LlNNE fähig, sein System der Natur zu verfassen, nur Haeckel seine Natürliche Schöpfungsgeschichte, nur Darwin seine Entstehung der Arten; es wird die Zeit kommen, wo man die Bedeutung dieser Taten nicht nach ihren Beziehungen zu der Menschheit, sondern nach dem, was über denselben erhaben bleibt, nach ihrer Individualität schätzen wird. Es ist wahr, daß Darwins Buch der Stimmung der Zeit ent- sprach; aber es ist noch mehr wahr, daß Darwin die Frage über den Ursprung der Arten nicht als eine ihm durch die Menschheit diktierte löste, sondern daß er ohne zu wissen, daß eine solche Frage in der Luft schwebt, die Antwort auf seine eigenen Fragen suchte, auf welche er durch eigenes Nachdenken verfiel. Die Idee, die heutigen Arten seien aus anderen, nicht mehr vorhandenen, entstanden, stieg in ihm in Südamerika auf, als er dort die ausgestorbenen Tiere mit den jetzigen verglich und den Zusammenhang unter den Faunen verschiedener Gebiete studierte ; er verknüpfte dann seinen Gedanken von der Entstehung der Arten mit Lyells Ansichten von allmäh- lichen Veränderungen der Erdoberfläche und dann begann er das Material aus fremden Schriften zu sammeln1). Hierin, glaube ich, liegt Darwins Verhältnis zum Denken seiner Zeit: er stellte selbst das Problem aus eigener Macht auf, indem er es jedoch mit den Gedankenströmungen seiner Zeit verknüpfte, beantwortete er es im Geiste seiner Zeit. In solcher Weise pflegt sich eine Individualität den in der Gesellschaft herrschenden Strömungen anzupassen. Doch, wir greifen der Erzählung vor2]. J) Leben nnd Briefe von Ch. Darwin I, S. 74. y^ -) Verschiedene Vorläufer Darwins werden insbesondere von nachfolgen d©fwv" 122 IX. Ch. Darwin. IX. Ch. Darwin. Darwins Leben. Erasmus Darwin. Charles Robert Darwin, 1809 in Shrewsbury geboren, war bereits als Knabe eifriger Naturaliensammler; weder die Schule, noch das spätere Studium der Medizin, noch der Priesterstand gefielen ihm, sondern aus angeborener und schon in seinen Kinderjahren zutage tretender Neigung widmete er sich dem Studium der Natur. Er stammte aus einer vermögenden Familie, in der sich wissenschaft- liche Tradition seit dem 18. Jahrhundert erhielt. Sein Großvater, Erasmus Darwin (1731 — 1802) wurde besonders berühmt; er war nicht nur origineller Arzt, sondern auch Dichter, Naturforscher und Philosoph. Als Arzt war er Anhänger des ihm persönlich bekannten ROUSSEAU, pflegte eifrig natürliche Heilmethoden und suchte durch Beeinflussung des Gemüts die Heilung des Patienten zu fördern ; auch gegen die Trunksucht wandte sich sein Streben ; er soll große praktische Resultate erzielt haben. Als Dichter suchte er botanische Probleme in Versen zu behandeln und wurde in England Begründer einer eigenartigen beschreibenden, wissenschaftlichen Poesie. Als Natur- forscher machte er originelle Beobachtungen über subjektive Gesichts- erscheinungen und über den Schwindel und war in diesen originellen Versuchen ein Vorläufer Purkinjes. Er verfaßte ein großes Werk über die Tiere und ein anderes über die Pflanzen, in dem er aul eine originelle, an einigen Stellen groteske Art die Erfahrungsphilo- sophie LoCKEs und Humes zu Erörterungen über das Wesen des Lebens benutzte. Unter anderem schrieb er auch vom Ursprünge der Organismen: Gott soll anfangs einen einzigen tierischen Keim erschaffen haben, aus dem der Organismus hervorwuchs und aus diesem sind alle Tiere und Pflanzen entstanden. Er erklärt die Zu- Autoren angeführt: Ch. Darwin im ersten Kapitel der Entstehung der Arten. — E. Haeckel in seiner Natürl. Schöpfungsgeschichte und in: Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck, Jena 1882. — A. de Quatrefages, Ch. Dar- win et ses precurseurs frangais, Paris 1870. — H. Osborn, From the Greeks to Dar- win, New York 1896. — C. Fenizia, Storia della evoluzione, Milano 1901. — E. Perrier, La philosophie zoologique avant Darwin, 2. ed., Paris 1886. — H. Potonie, Aufzählung von Gelehrten, die in der Zeit von Lamarck bis Darwin sich im Sinne der Deszendenztheorie geäußert haben, Österr. bot. Zeitg. 1881, Nr. 10. — D. Wetter- hahn, Beiträge zur Geschichte der Entwicklungslehre, Kosmos 16, 1885, S. 401 sq. — E. Zeller, Über die griechischen Vorgänger Darwins, Berlin 1878. — Dacque, Der Deszendenzgedanke und seine Geschichte, München 1903. IX. Ch. Darwin. 123 stände aus gewohnheitsmäßiger Erfahrung, er deutet den Gedanken der Mimikry und der geschlechtlichen Zuchtwahl an1). Ch. Darwin suchte auffallend wenig seine Theorie an die seines Großvaters anzuknüpfen; aus großer Antipathie gegen abstraktes Philosophieren hielt er sie für allzu phantastisch 2) und unterschätzte sie aus ähnlichen Gründen wie die Lehre Lamarcks; es fehlte ihm auch der Sinn für den geschichtlichen Zusammenhang des wissen- schaftlichen Denkens. Als die Theorie Darwins siegte, wurde ERASMUS Darwin durch sie gänzlich in den Schatten gestellt und es blieb ihm kaum eine andere Bedeutung als die eines wenig beachteten Vorläufers derselben. Nichtsdestoweniger war ERASMUS Darwin viel origineller, gedankenreicher, besaß auch eine weitere literarische Übersicht als sein Enkel, der wieder den Großvater durch Ausdauer und Gründlichkeit des Denkens überholt hat. Etwas von einem Sonderling lag in der ganzen Familienanlage Darwins: schon die vielseitige Tätigkeit des ERASMUS zeugt dafür; einer seiner Söhne erschoß sich im Anfalle von Melancholie; Charles' Vater war auch ein Original, jedoch kein Gelehrter; Charles selbst litt sein ganzes Leben hindurch an einer nicht genügend erklärten Herzkrankheit. In London verkehrte Darwin (in seinen jüngeren Jahren, denn später privatisierte er auf dem Lande), insbesondere nach der Rück- kehr von seiner Weltreise, mit den besten Köpfen des damaligen England. Er war mit dem Geologen Lyell, mit Whewell, dem bekannten Philosophen und Verfasser der Geschichte der induktiven x) Die wichtigsten Schriften von E. Darwin sind: The Botanic Garden (Gedicht, dessen zweiter Teil den Titel The Loves of Plants trägt) 1788. — Zoonomia or the Laws of Organic Life, London 1794 — 96. — Phytologia or the Philosophy of Agri- culture and Gardening, London 1800. — Über E. Darwin handeln: E. Krause, E. Darwin und seine Stellung in der Geschichte der Deszendenztheorie, Leipzig 1880, wo auch die ältere Literatur angeführt ist. — S. Buttler suchte (in Evolution old and new, London 1879) zu beweisen, daß die Entwicklungstheorie des Groß- vaters besser ist als die des Enkels, doch hatte er keinen Erfolg mit seinem Ver- suche. In der letzten Zeit wies Rud. Burckhardt wieder auf den Einfluß Eras.mus Darwins auf das Denken des Charles (R. Burckhardt, Geschichte der Zoologie. Leipzig 1908). 2) Darwin wendete nichts gegen folgende Worte in E. Krauses Biographie seines Großvaters ein: »Erasmls Darwins System war eine in sich bedeutungsvolle Vorstufe des Erkenntnisweges, den uns sein Enkel eröffnet hat, aber es in unsern Tagen neu beleben zu wollen — wie es ja in allem Ernste versucht worden ist — , das zeugt von einer Denkschwäche und einem geistigen Anachronismus, um den man niemanden beneiden kann«. Ausführlicheres über diese Worte und den Anlaß zu den- selben siehe in E. Krausk, Ch. Darwin und sein Verhältnis zu Deutschland, Leipzig 1885, S. 185. I24 IX. Ch. Darwin. Wissenschaften, mit dem damals berühmten Botaniker Rob. BROWN, mit BUCKLE, MACAULAY, Carlyle befreundet; er debattierte mit ihnen über ihre Ansichten und in seiner Autobiographie finden sich Urteile über sie, in welchen Darwin als gut erzogener Engländer erscheint, der von einem jeden etwas Verbindliches zu sagen weiß, der aber für den Charakter der Menschen, für tiefere Ideen, die sie bewegen, wenig Verständnis aufweist. Wenn es wahr ist, daß jeder- manns Urteil über Andere ihn selbst am besten charakterisiert, so werden wir es bezeichnend finden, daß Buckle Darwin durch die Masse seines Wissens und durch die methodische Art, wie er Belege für seine Theorien aus den verschiedensten Schriften sammelte, im- ponierte; Carlyle war ihm aber nicht genehm und Darwin hat für ihn nur einen schlecht verhüllten Spott übrig; beredt ist seine Bemerkung über Carlyle (der bekanntlich ein Philosoph von plasti- scher Phantasie war): »Niemals bin ich einem Manne begegnet, der so wenig dazu angetan war, exakt wissenschaftliche Untersuchungen anzustellen1).« Darwin erzählt, daß ihn während seiner Studienreise niemand mehr als Herschel und Humboldt beeinflußte ; er exzerpierte Stellen aus Humboldts Schriften und freute sich, daß auch er, wie dieser, eine Reise unternehmen werde; in der Tat unternahm er sie im Jahre 183 1 auf dem Schiffe »Beagle«, das von der englischen Regierung zur Untersuchung der Küste von Südamerika ausgerüstet wurde. Während der Reise beschäftigte ihn vorwiegend die Geologie; Lyells Schrift war eben erschienen und Darwin suchte in Südamerika nach Belegen für die neue Theorie von allmählichen Veränderungen der Erdoberfläche. Auch Humboldts Spuren folgte er und interessierte sich viel für die geographische Verbreitung der Tiere und Pflanzen. Von der Reise zurückgekehrt blieb er Privatmann und widmete sich ganz der Wissenschaft. Er starb im Jahre 1882. Darwin wurde in der Pariser Akademie Dilettantismus vorge- worfen; in der Tat gehörte er keiner Schule an; er war weder Botaniker noch Zoologe noch Geologe noch Physiologe, er war Anhänger keiner damals maßgebenden Richtung, weder war er Morphologe noch Embryologe, sondern überging unvermittelt von einer Frage zu einer anderen über: von der Erklärung, wie Korallen- riffe entstehen, zur Frage nach dem Ursprünge der Arten, zum Stu- dium der Pflanzenbewegungen und der Mimik des menschlichen x) Leben von Ch. Darwin I, S. 70. IX. (Jh. Darwin. I 25 Gesichtes. Die Theorien, die er begründete, haben ein ausnehmend englisches Gepräge: sie bauen eher auf die Erfahrung als auf das Raisonnement, sind weniger tief aber originell, haben wenig Gedanken und sind einförmig; groß ist aber die Mannigfaltigkeit der Erschei- nungen, durch welche die Theorie gestützt wird. Der Ausgangspunkt der Darwinschen Theorie. Als Pendant zu dem Materialismus der Franzosen verbreitete sich gegen das Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts in England die Lehre Jer. BENTHAMS, daß angenehme und unange- nehme Empfindungen den Ansporn der Moralität bilden, daß das Sittliche wesentlich das Nützliche ist, daß der Mensch das Verbrechen nur aus Furcht vor Entdeckung und deren unangenehmen Folgen meidet. Der Einzelne soll zwar nicht seinen Neigungen völlig freie Zügel lassen, doch ist er verpflichtet, sie nur insofern zu beschränken, als sie gegen die Interessen der Gesellschaft verstoßen: »das größt- mögliche Glück der größtmöglichen Anzahl Menschen« ist das Prinzip dieser egoistischen Moral, deren Eigentümlichkeit darin besteht, daß sie das Wesen der Sittlichkeit nicht in angeborenen Eigenschaften der Menschenseele sucht, sondern dieselbe aus dem Zusammenleben, aus einer Kollision der Interessen vieler Einzelindividuen entstehen läßt. Benthams Schrift, die diese Gedanken entwickelte, erschien im Jahre 1789; nicht lange zuvor (1776) gab Adam Smith das bekannte Werk >Über den Reichtum der Völker« heraus, in welchem die Grundsätze des nationalökonomischen Lebens untersucht werden. Der Mensch ist nach Smith ein egoistisches Wesen ; er bemüht sich seine individuellen Ziele zu verwirklichen; die Gesellschaft wird dann den größtmöglichen Reichtum gewinnen, wenn die Einzelnen nicht in ihrem ökonomischen Streben beschränkt werden, wenn ein jeder freie Hand, >am billigsten zu kaufen, am teuersten zu verkaufen«, haben wird. Diese Ansichten über das Wesen der Sittlichkeit und der Volks- wirtschaft — ihre Analogie ist offenbar — fielen in England auf günstigen Boden und wurden zur Grundlage der sogenannten »klassi- schen Nationalökonomie«. England bildete sich eben damals aus dem ökonomischen zu einem Industriestaate um, und die Großindustrie fand in Smiths Lehre gute Argumente gegen verschiedene Schutz- gesetze, Privilegien und Zölle. Diese wurden nach und nach be- seitigt und das Ideal des Staates als einer bloßen Sicherheitseinrich- tung zum Schutze der Freiheit und des Vermögens der Bürger, durch I 2 6 IX- Ch. Darwin. den jedoch die Freiheit des Einzelnen keineswegs positiv beschränkt wird, kam mehr und mehr zur Geltung1). Die Methode der Philosophen dieser nationalökonomischen Periode war psychologisch -logisch. Die Schriftsteller pflegten ihre Betrach- tungen mit einer psychologischen Analyse zu beginnen: sie beob- achteten eine Erscheinung, z. B. den Verkauf und untersuchten ihre psychologischen Bedingungen, von denen sie eine oder zwei als Hauptbedingungen aufstellten, Z.B.Angebot — Nachfrage; diesen gaben sie nun die Bedeutung des treibenden Prinzips des Ver- kaufs. Dann wurde durch Deduktion untersucht, was in einer Ge- sellschaft geschehen würde, welche nur das Prinzip »billig kaufen, teuer verkaufen« befolgte. Man gelangte auf diese Art zu Folge- rungen, die man für Tatsachen ausgab, welche sich notwendig aus Naturgesetzen ergeben 2). Auch der bekannte Nationalökonom Th. Rob. Malthus befolgte diese Art Logik in seiner Schrift über das Prinzip der Popula- tion, die zuerst im Jahre 1798 und dann noch oftmals erschien. Seine Grundsätze sind bekannt: die Tatsache, daß die menschliche Ge- sellschaft nach dem Glück strebt, diente ihm zum Ausgangs- punkt; es folgte die Frage, warum die Sehnsucht nach dem Fort- schritte der Menschheit so wenig Erfolg hat ? Wenn wir das Leben der Gesellschaft näher betrachten ■ — so analysiert Malthus — bemerken wir, daß die Menschen einen angeborenen Drang haben, sich stark zu vermehren; auf daß sie jedoch sich am Leben erhalten, ist Nahrung nötig. Die Vermehrung und die Nahrung sind also die treibende Kraft des menschlichen Fortschrittes. Betrachten wir nun, wie aus der Kollision dieser beiden Faktoren der wirkliche Zu- stand deduziert werden kann: der Mensch vermehrt sich sehr rasch, nach geometrischem Verhältnis, während die Nahrung nur nach arith- metrischem wächst; deshalb entstehen notwendig Nahrungsmangel, Hunger, Krankheiten, allzu schwere Arbeit, mangelhafte Ernährung der Kinder, überfüllte Wohnungen, Kriege, Laster aller Art usf. Es wird nun die praktische Konsequenz gezogen : damit die Menschheit glücklich werde, soll der Einzelne seinen Drang nach Vermehrung beschränken: das Glück der Menschheit wird so zum Regulativ für allzustarke Expansion des Einzelnen. Malthus' Erörterungen gaben x) Ich benutzte für diese Zeilen die klare Auseinandersetzung aus P. Hensel, Th. Carlyle, Stuttgart 1901, S. 25 sq. 2) Auf diese Methode macht E. Seignobos aufmerksam in: La methode histo- rique etc., Paris 1901, S. 132. IX. Ch. Darwin. 127 zu vielen Diskussionen Anlaß und übten auch auf die Regelung- der englischen Armenwesengesetze Einfluß aus (1834). In den dreißiger Jahren erreichte diese liberalistische Bewegung ihren Höhepunkt — zwei Jahre nach der französischen Julirevolution war eine liberalistische Reform des englischen Parlamentes durchge- führt. Auch weiter folgte man dieser Gedankenrichtung; T. BüCKLEs »Geschichte der englischen Zivilisation« (1857 — 1861) war deren Fort- setzung und Durcharbeitung. BUCKLE führte in derselben den Be- weis, daß die Geschichte Wissenschaft, Naturwissenschaft sein soll, welche die Gesetze des menschlichen Geistes, die Gesetze der Natur und ihre Wechselwirkung, den Einfluß des Klima, der Nahrung des Bodens usw. zu untersuchen hat. Solche Gedanken beherrschten England, als Darwin auftrat. Er war zwar weder Politiker von Beruf1), noch Nationalökonom; Bentham und Smith hat er vielleicht nicht einmal gelesen; er erwähnt auch keineswegs etwas von einem Einfluß MiLLs auf seine Ansichten, dafür aber las er MALTHUS — im Jahre 1838, wie er erzählt, als er bereits über ein Jahr über die Entstehung der Arten nachgedacht hatte. MALTHUS' Einfluß auf seine Gedanken2) zeigte sich bereits in der zweiten Auflage seiner Reise um die Welt (1845). Es ist bekannt, daß er von ihm den Gedanken einer allzu raschen Vermeh- rung der Organismen übernahm, aus welcher er dann den Kampf ums Dasein folgerte; weniger wird beachtet, daß der Einfluß der nationalökonomischen Theoretiker auf ihn viel größer war, daß durch dieselben seine ganze Auffassung der lebendigen Natur sowie auch seine wissenschaftliche Methode beherrscht wurde 3). ') Sein »Interesse an der Politik war beträchtlich«, schreibt über ihn sein Sohn in Darwins Leben I, S. 107. 2) Über den Unterschied zwischen der ersten und zweiten Auflage vgl. A. Kirch- hof in seiner Einleitung zur Übersetzung der Reise Darwins um die Welt (Hendelsche Ausgabe, S. XIV). 3) Der Umfang des Werkes »Ober die Entstehung der Arten« und das Interesse an dem Inhalt desselben war vielleicht die Ursache, daß man die Ähnlichkeit zwischen der Logik Darwins und der Nationalökonomen nicht bemerkte; um den hohen Grad derselben beurteilen zu können, lese man Darwins Artikel »Auszug aus einem noch nicht veröffentlichten Werke über den Artbegriff«, der 1858 gleichzeitig mit Wallaces Abhandlung in Linnean Society erschien, und der in der unzweideutigsten Weise nach der Schablone der nationalökonomischen Logik geschrieben ist, ja der fast nichts anderes als die Anwendung dieser Logik auf die Natur enthält; auch wird MALTHUS1 Theorie in dieser Abhandlung mehr als in späteren Schriften von Darwin betont. (Die Abhandlung erschien deutsch unter dem Titel Ch. Darwin und A. R. Wallace, Ihre ersten Publikationen usw. von A. B. Meyer, Erlangen 1S70.) J28 IX. Ch. Darwin. Alle Autoren vor DARWIN, Lamarck keineswegs ausgenommen, sahen in der Natur einzelne Tiere und einzelne Pflanzen; was diese zu höherer Einheit verknüpfte, waren Gesetze der Ähnlichkeit ihres Körpers und ihrer Funktionen. Sie sprachen zwar oft von der Natur; aber dieses Wort bedeutete ihnen ein geistiges (oder auch mecha- nisches) Prinzip, das nach allgemeinen Gesetzen die einzelnen Er- scheinungen hervorbringt. Das Individuum in der Natur, ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, auch eine kleinere oder größere Anzahl von Individuen bedeuten dieser Auffassung nichts mehr, als den Ausdruck eines ewigen Gesetzes; die Vernichtung von einem, von zehn, von hundert Tieren, die Vernichtung der ganzen Welt bedeutet für diese Ansicht nichts mehr, als daß die sichtbaren Offenbarungen der un- zerstörbaren Gesetze verschwunden sind, der Gesetze, welche vom Leben und Tod unabhängig sind. Für DARWIN aber, den Sohn des praktischen England, bestand die Natur in ihren Teilen: der Tod jedes einzelnen Individuums be- deutete ihm eine Veränderung der Natur, der Tod von zehn, von hundert Tieren eine zehnmal, hundertmal größere Veränderung. Im Sinne der nationalökonomischen Theorien hielt er die ganze lebendige Natur für eine Gesellschaft, für einen Staat, der aus nach eigenen Trieben handelnden Tieren und Pflanzen besteht. Wie der Staat für eine Einheit ausgegeben wurde, die aus Individuen besteht, deren egoistische Interessen nur durch den Egoismus Anderer be- schränkt werden, so faßte Darwin die organische Natur als ein Ganzes auf, welches aus Individuen zusammengesetzt ist, die ihre individuellen Interessen verfolgen. Es war dies eine neue und großartige Vorstellung eines Natur- haushalts, in dem Tiere und Pflanzen als Glieder einer Gesellschaft, als Bürger der Natur, den Bürgern eines Staates analog zu gelten haben. Der Liberalismus sprach dem Staate die Befugnis ab, Ge- setze zu geben, welche das Recht des Einzelnen berühren würden; auch Darwin bekämpfte immer den Glauben, die Natur werde von irgend einem höheren Gesetze beherrscht, das die Beziehungen der Tiere gegeneinander reguliert: nur die Tiere und Pflanzen selbst sollen sich durch ihre egoistische Lebensweise Gesetze geben. Es wäre kaum begreiflich, wie Darwin so sehr die soziologischen Theoretiker beeinflussen konnte, wenn man nicht wüßte, daß seine Lehre selbst eine Soziologie der Natur darstellt, daß Darwin auf die Natur das zu seiner Zeit herrschende Ideal des englischen Staates übertrug. IX. Ch. Darwin. I 3g Auch seine Logik übernahm Darwin von Malthus: er stellte auf Grund der Beobachtung des Einzelnen eine bestimmte Tatsache auf (rasche Zunahme der Individuen); er überlegte, welche Folgen diese Tatsache in der Natur, wenn allein geltend, haben würde (er kam zum Schluß, daß jene Vermehrung zum Kampf ums Dasein führen muß) und diese auf solche Art konstruierten Folgen nannte er Naturgesetz. Laissez faire, laissez passer; la nature va d'elle meme — war das berühmte Losungswort jener Zeiten; seinen praktischen Teil riefen die Politiker den Führern des Staates zu, um jedes aktive Eingreifen derselben in die Rechte der Bürger zu verhindern; laisser faire laissez passer war die Negation des alten Grundsatzes, daß die Macht der Könige von Gott stamme; Darwin, der Theoretiker, nahm den zweiten Teil des Satzes auf und schrieb sein Buch über das Thema, daß es keine göttlichen Gesetze in der Natur gebe: la nature va d'elle meme! Darwins Theorie. Darwins Theorie geht von der Annahme aus, daß die »Art« eine künstlich bestimmte Gruppe der Geschöpfe ist, und daß die heutigen Formen durch Auslese entstanden sind. 1. Als Darwin über das Artproblem nachdachte, waren be- reits viele Meinungen über dasselbe vorhanden, es existierten schon die älteren Ansichten BüFFONs und LlNNEs, die Definitionen CuviERs, Lamarcks und der Morphologen, z. B. Decandolles x) ; aber Darwin achtete auf solche »philosophische« Streitigkeiten nicht; er sammelte vielmehr aus entomologischen, floristischen, gärtnerischen und die Viehzucht behandelnden Schriften Belege, wie dieser oder jener Autor nicht Bescheid wußte, ob ein bestimmtes Tier oder eine Pflanze eine Art oder eine Varietät sei, und wie darin nicht Übereinstimmung herrsche: er machte auf die Methode aufmerksam, wie von allen Fach- leuten neue Arten aufgestellt werden: »In der Praxis, wenn der Naturforscher zwei Formen durch Über- gänge verbinden kann, hält er die eine für eine Varietät der anderen, in- dem er der gewöhnlicheren, manchmal auch der früher beschriebenen den Wert einer Art, der anderen den einer Varietät gibt«2); ') Vgl. z. B. eine große Anzahl von alten Definitionen der Art bei A. de Quatre- fages, Ch. Darwin etc., Paris 1870, S. 220 — 222. 2) Origin of Species, S. 34 [im folgenden wird immer nach der engl. Ausgabe aus dem Jahre 1895 zitiert). Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. Q 1 20 IX. Ch. Darwin. und da es den Praktikern oft Schwierigkeiten verursacht, wie Arten und Varietäten zu unterscheiden seien, gibt es keinen wesentlichen Unterschied unter denselben: die Varietät ist eine kleine Art. Allein es gibt verschiedene Varietäten; einige sehr ausgesprochene, andere, deren unterscheidende Merkmale kaum sichtbar sind, und da die Praxis keinen Unterschied unter denselben kennt, so gibt es auch keine Grenzen zwischen den Artmerkmalen und den individuellen Variationen. »Ich betrachte den Namen »Art« als von Menschen, der Bequemlich- keit wegen für Gruppen von Individuen bestimmt, die einander sehr ähnlich sind, und ich glaube, daß er sich nicht wesentlich von dem Namen der Varietät unterscheidet , den wir weniger charakteristischen und mehr schwankenden Formen geben. Der Name Varietät wird wieder, zum Unterschiede von nur individuellen Variationen, auch nur, von Menschen postuliert, der Bequemlichkeit wegen benutzt1).« LEIBNIzens Grundsatz »natura non facit saltus« ist auf diese Art von Darwin erneuert worden. Wir sahen bereits, daß diese Lehre ein Gemeinplatz in den biologischen Theorien des 18. und der ersten Hälfte des ig. Jahrhunderts war, und daß man sie damals auf mehrere verschiedene Arten auffaßte. Wieder ging Darwin nicht darauf ein, diese Auffassungsarten zu untersuchen, das Wahre vom Falschen an denselben zu sondern und sie durch die Aufstellung seines Begriffes der Übergänge aufzuheben, sondern er hielt die früheren Meinungen sozusagen für bloße Vorahnungen seiner richtigen Lehre ; weder er selbst noch seine Anhänger bemerkten, daß dieselben Worte »natura non facit saltus« von Leibniz und von Darwin aus- gesprochen, einen himmelweit verschiedenen Gedanken ausdrücken: für Leibniz und für das 18. Jahrhundert gilt es nämlich, daß es eine unendliche Reihe von Wesen gibt, welche sich voneinander durch feinste Nuancen der ihnen zugrunde liegenden Idee, welche sich also wesentlich unterscheiden; Darwin und seine Nachfolger wollen da- gegen durch jene Behauptung eben diese Überzeugung LEIBNIzens bestreiten; sie versichern, daß unter einzelnen Erscheinungen nur unwesentliche Unterschiede bestehen; sie lehren, daß alle Erschei- nungen in der Natur so ineinander übergehen, wie ein Weiler in ein Dorf, einen Marktflecken, ein Städtchen, eine Stadt: weniger Gebäude — Dorf, mehr Gebäude — Marktflecken ; es kommt darauf an, welches Maß diejenigen, welche über den Namen zu entscheiden haben, als Unterscheidungsmerkmal wählen. Und heben wir hervor: nicht nur J) Origin of Species, S. 39. IX. Ch. Darwin. 131 zwischen den Arten, Varietäten und Individuen erkennt Darw in bloß solche quantitative Unterschiede an, sondern unter allen Dingen: unter dem Menschen und Affen, unter der Sittlichkeit und Unsittlichkeit, unter Tertiär und Diluvium — überall. Er freut sich über jeden Fall, der einen neuen Beleg für die Lehre von den Übergängen in der Natur liefert: denn es genügt ihm der Beweis, daß es in der Natur Übergänge gibt, und er hält die Frage nicht für unter- suchungswert, wieso es kam, daß Linne ebenfalls an die Stetigkeit der Übergänge in der Natur glaubte und trotzdem zur Annahme fester Arten gelangte. 2. Ferner berichtet DARWIN, wie die Übergänge zwischen den Arten entstehen. Er zeigt auf Grund von vielen Beispielen, daß sich die Nachkommen derselben Eltern wie untereinander, so auch von den Eltern etwas unterscheiden und er legt wieder mehr auf die Anzahl der Belege als auf deren Analyse Nachdruck. Trotzdem führt er aber folgende Ursachen an, warum die Individuen derselben Art einander unähnlich zu sein pflegen: den direkten Einfluß der Außenwelt; z. B. eine größere Nahrungsmenge hat ein stärkeres Wachstum zur Folge. Den indirekten Einfluß auf die Ge- schlechtsorgane, welche überhaupt sehr empfindlich gegen alle Einwirkungen sein sollen; deshalb wird die Reproduktionskraft der domestizierten und akklimatisierten Tiere geschwächt; kleinere Ein- wirkungen bewirken wenigstens Störungen in den Eigenschaften der Nachkommen. Die Veränderung der Gewohnheiten: so ver- lernte die Hausente das Fliegen, so bekamen die Hunde hängende Ohren durch Nichtgebrauch derselben. In anderen Fällen hängt die Veränderung einer Eigenschaft mit der Veränderung einer anderen zusammen, wie wenn langbeinige Tiere auch einen langen Kopf zu haben pflegen. Organe, welche sich am Tiere wieder- holen, rudimentäre Organe und die, welche wenig fortge- schritten sind, variieren am meisten. Am meisten variieren die . individuellen, weniger die Art-, noch weniger die Gattungsmerkmale. An einer anderen Stelle wird wiederum die Regel aufgestellt, daß die geographisch weit verbreiteten und die gemeinen Arten am stärksten veränderlich sind, ferner Arten von großen Gattungen (d. h. hat eine Gattung viele Arten, haben diese Arten viele Varietäten). Diese Hypo- thesen, Ursachen und Regeln nennt Darwin bald so, bald gibt er ihnen den Namen »Gesetze«. 3. Die Erscheinung, daß die Nachkommen den Eltern ähnlich sind, nennt Darwin Erblichkeit und beweist, daß die Kinder von 9* *32 IX. Ch. Darwin. ihren Eltern nicht nur allgemein menschliche Eigenschaften erben, sondern auch individuelle. »Es scheint« so schreibt er1), »daß die Vererbung von jedwedem Merk- mal Regel ist, Nichtvererbung Ausnahme«. Er glaubt z. B., daß die englischen Arbeiter auf ihre Kinder breite Hände übertragen, daß das kräftigere Kauen bei den Wilden die Kaumuskeln gestärkt hat, daß durch den Gang die harte Haut auf der Fußsohle hervorgebracht wurde usw. Und nachdem er das Material über vererbte Eigenschaften gesammelt, ordnet er es wieder in folgende »Gesetze«: Die Eltern erlangen eine Eigenschaft in einem gewissen Alter; bei den Nachkommen erscheint die Eigen- schaft in demselben oder fast demselben Alter: die Hühnchen verschiedener Hühnervarietäten sind einander ähnlich, erst erwachsene Hühner unterscheiden sich. Es vererbt sich die Periodizität der Eigenschaften: der Farben Wechsel solcher Tiere z. B., welche anders im Winter und anders im Sommer gefärbt sind. Der Vater überträgt seine Eigenschaften auf die Sohne, die Mutter auf die Töchter; so übertragen die Hirsche ihr Geweih nur auf männliche Nachkommen; doch können Eigenschaften auch auf beide Geschlechter übertragen werden: deshalb haben auch die Männchen Spuren von Milchdrüsen, welche ursprünglich nur den Weibchen angehörten. 4. Der Mensch soll neue Varietäten wie folgt erzielen : wenn eine neue Abweichung vom Typus erscheint (z. B. ein größerer Kropf bei der Taube), so behält man das Tier für weitere Zucht; die Nach- kommen desselben vererben jene Abweichung, sie erscheint bei einigen verstärkt, diese werden wieder zur weiteren Zucht erwählt und so wird durch künstliche Zuchtwahl eine neue Varietät der Tauben, die Kropftauben, auferzogen. Der Mensch, seine Bedürfnisse, sein Geschmack, entscheidet darüber, welche Varietäten gebildet werden; die individuellen Variationen der Organismen sind nur passives, nur von der Natur (vom Zufall) geliefertes Material, aus welchem der Mensch seine Wahl trifft. Die Hunderassen, Tauben-, Rosen-, Nelken- und alle anderen künstlichen Varietäten wird man keineswegs in ihrem Wesen durch vergleichendes Studium dieser Formen selbst begreifen, sondern man muß den Geschmack der Förster, der Taubenzüchter, der Gärtner usw. studieren, der sich in jenen Formen geoffenbart hat — so würde Darwins Auffassung vom Anhänger einer anderen Schule als der DARWlNschen formuliert werden. r) Origin of Species, S. 10. IX. Ch. Darwin. I 33 5. Kampf ums Dasein. Wenn die Hündin Junge wirft, pflegen deren mehr zu sein, als die Mutter billig ernähren kann; darum er- tränkt der Herr der Hündin die unerwünschten; durch den Tod ihrer Brüder werden die zurückgebliebenen fett. Auch in der Natur ge- schieht Ähnliches, lehrt Darwin; nur führt dort das Leben der Tiere and Pflanzen selbst dahin, daß nicht alle Nachkommen überleben. Denn die Organismen vermehren sich allzu rasch : eine Pflanze, die jährlich nur zwei Samen gibt, würde sich in 20 Jahren auf eine Million Individuen vermehren, wenn alle Samen unter günstigen Be- dingungen Wurzel schlügen. Der Elefant vermehrt sich am lang- samsten unter den Tieren und trotzdem würde ein Elefantenpärchen in 750 Jahren zu 19 Millionen Individuen anwachsen, wenn alle Jungen alt würden und Nachkommen hätten. Übrigens lehrt uns die Er- fahrung, bemerkt DARWIN, daß sich in zwei günstigen aufeinander- folgenden Perioden Feldmäuse, Raupen u. ä. stark vermehren. In der Regel aber pflegt sich die Anzahl der Individuen einer Art nur wenig zu ändern, denn große Massen derselben vergehen, bevor sie erwachsen. Es werden Eier und Samen vernichtet, die Jungen sterben und auch die Erwachsenen verenden vorzeitig: hier durch die Ungunst des Wetters, dort durch Hunger, durch Raubtiere, Parasiten, Epidemien. Die Erscheinung, daß in der Natur so viel Leben vor- zeitig vernichtet wird und nur ein kleines Prozent überlebt, nennt Darwin »Kampf ums Dasein«. Dieser Kampf ums Dasein ist je- doch kein Ausdruck eines organischen Lebensdranges ; abzuweisen ist die Annahme, die Grundeigenschaft des Lebens wäre ein Streben, ein Kampf; man glaube auch nicht, daß vielleicht die Tiere bewußt un- bewußt um ihr Leben »kämpfen«; sondern die natürlichen Umstände bringen es einmal so mit, daß die einen Tiere vorzeitig sterben, die anderen überleben; und diese äußeren natürlichen Umstände, das ist der Kampf ums Dasein. 6. Die Folge dieses Kampfes ist die natürliche Auslese. Nehmen wir den Fall an, führt Darwin aus, daß in einer Gegend, wo Wölfe ihre Beute durch Kraft, Gewandtheit, Geschwindigkeit er- jagen, sich ein schnellfüßiges Tier vermehrt. Die Wölfe unterscheiden sich untereinander durch individuelle Eigenschaften, also auch durch das Maß ihrer Geschwindigkeit; dann aber werden die schneller laufenden leichter ihre Lebensbedürfnisse stillen können, und sich rascher vermehren, so daß eine neue schnellfüßige Abart der Wrölfe entsteht, die die übrigen verdrängen wird. Es ist schwer, allgemeine Regeln der Zuchtwahl anzugeben, denn es gibt kein Gesetz, nach I ?A IX. Ch. Darwin. welchem die individuellen Abweichungen erscheinen, und groß ist die Mannigfaltigkeit der Lebensbedingungen, die die Erhaltung der einen, die Vernichtung einer anderen Abweichung zur Folge haben. Im großen und ganzen kann man sagen, daß eine neue Abweichung eher entstehen und sich erhalten wird bei Formen, welche sehr ver- änderlich, gemein, reich an Individuen sind; ferner, je länger eine Art dauert, je mannigfacher die von ihr bewohnten Gegenden sind; die Ursachen liegen zutage. Die individuellen Abweichungen bilden, wie wir bereits gesagt haben, die erste Stufe zu den Varietäten, diese die erste Stufe zur Bildung neuer Arten usf. ; folglich werden, wenn die natürliche Auslese lange dauert, verschiedene Lebensbedingungen neue Varietäten hervorbringen, nach längerer Zeit neue Arten, Gat- tungen usf. bis nach Millionen Jahren aus einer oder einigen wenigen (vier oder fünf) ursprünglichen Urformen die heutige Mannigfaltigkeit der organischen Natur entsteht. »So entstehen direkt aus dem Kampfe in der Natur, aus Hunger und Tod, die großartigsten Dinge, die wir begreifen können, d. i. die Bildung der höheren Tiere. Sie ist erhaben, diese Auffassung des Lebens mit seinen einigen Kräften, die ursprünglich der Schöpfer einigen wenigen Formen oder nur einer einzigen eingehaucht hatte; die Auffassung, daß, während dieser Planet nach festen Gesetzen der Gravitation umlief, sich auf demselben aus so einfachen Anfängen eine unendliche Menge von schönsten und wundervollsten Formen entwickelte und fortwährend noch entwickelt1).« Wie hier so auch an anderen Stellen spielt Darwin darauf an, daß sein Gedanke der NEWTONschen Entdeckung der allgemeinen Gravitation nicht ferne steht: wie dieser alle Himmelskörper unter ein Gesetz, das Gesetz der Schwere, gestellt hat, so entdeckte Darwin für alle Lebensformen eine Regel, die Entwicklung; ja Darwin wagt noch viel mehr als Newton : dieser entdeckte eine Eigenschaft, welche der Sonne, den Planeten und aller irdischen Masse gemein- sam ist; Darwin dagegen erklärt durch den Kampf ums Dasein alle (oder fast alle) Eigenschaften, durch welche sich die Organismen von- einander unterscheiden. Ein großer Unterschied — er wird viel Mißverständnis bei Darwins Schülern hervorrufen! Wir haben die Hauptsätze der Darwin sehen Theorie mit Weg- lassung der minder wichtigen Prinzipien, für welche sich Raum in den nachfolgenden Kapiteln finden wird, erörtert. Nur noch einige Konsequenzen seien hinzugefügt, die Darwin aus seiner Theorie Origin of Species, S. 403. IX. Ch. Darwin. 135 ziehen wollte. Bis auf einige allgemeine Eigenschaften der Lebens- substanz, die von Darwin nicht näher bestimmt werden, hat sich nach ihm alles zufällig entwickelt; keine Erscheinung hat durch sich selbst ihre Bedeutung, und sie wäre nicht vorhanden, wenn nicht die besonderen Umstände wären, die sie hervorgebracht haben. Alle Konzeptionen ferner, die von früheren Naturforschern aufgestellt wurden, stellen nach Darwin nur Eigenschaften dar, die sich all- mählich entwickelt haben: es gibt wohl eine Einheit des Planes im Bau der Tiere, sie bedeutet jetzt aber Einheit der Herkunft; die Homologien sind von den Vorfahren vererbte Eigenschaften; die Analogien sind Anpassungen an ähnliche Lebensbedingungen; das System der Organismen ist nun Genealogie, an deren Anfang die einfachsten, an deren Ende die kompliziertesten Tiere stehen, welche als Nachkommen der einfachsten zu betrachten sind. Einige Eigenheiten der Darwinschen Theorie. Das Ziel der neuen Theorie war, den Naturvorgang beim Ent- stehen der Arten zu beschreiben (beschreiben nicht begreifen!); mit dem Verstände sich so der Natur anzuschmiegen, daß unsere Erzählung zur Wiedergabe desjenigen wird, was in der Natur ge- schieht. Darwin verlangt das gerade Gegenteil von dem, was seine Vorgänger forderten: anstatt die Mannigfaltigkeit der Natur in allgemeine Begriffe zu fassen, stellte er das Ziel auf, den Verstand in die Einzel- heiten der Dinge aufzulösen. Früher hielt man die Vernunft (Ideen, Nooumenai für die eigentliche, ewige Wahrheit, die Erscheinungen Phenomena) für ein flüchtiges Abbild der Wirklichkeit; Darwin verfährt gerade umgekehrt: auf die Vernunft und die Begriffe achtet er überhaupt nicht, der Verlauf des Geschehens ist ihm Alles. Alles, was nach einem Begriff, nach einer Abstraktion, nach einer Logik aussieht, wird ferngehalten: Darwin hat keinen Sinn für die Theo- rien seiner Vorgänger und Zeitgenossen; man wird bei ihm keinen Versuch finden, die Lehre LAMARCKs, E. Darwins, die Theorien L. Agassiz', KöLLIKERs u. a. zu zerlegen oder überhaupt zu be- greifen; er schreibt ruhig1], daß er CoPEs Anschauungen (die sich auf LAMARCK stützen) nicht versteht; man wird bei ihm überhaupt keine Diskussion fremder Ansichten finden. Er griff die nach seiner Meinung falsche Auffassung der Art an, doch versuchte er mit keinem ') Leben und Briefe III, S. 237. «36 IX. Ch. Darwi Worte eine kritische Analyse jenes Artbegriffes zu geben, der zu seiner Zeit herrschend war. Ja, er definierte nicht einmal die Be- griffe, die er selbst einführte und es ist ein charakteristisches Merk- mal derselben, daß sie sich nicht einmal definieren lassen. Darin liegt eben die Beweisführung Darwins, daß es keine objektiven Be- griffe, keine der Natur gegebenen Regeln gibt. Man versuche nur einmal seine Ansicht über diese oder jene Allgemeinheiten zu finden. So z. B. gehören zu einem bestimmten Körper bestimmte Fähig- keiten, und es besteht ein alter Streit darüber, ob die Fähigkeiten (die Seele) auf den Körper wirken (ihn z. B. verändern) können, oder ob umgekehrt die Seele eine Folge der Körperstruktur ist. Welche ist die Meinung Darwins über dieses Verhältnis; was war nach ihm Ursache und was Wirkung? »Es ist schwer zu entscheiden und ohne Bedeutung" für uns«, ant- wortet er1), »ob sich die Gewohnheiten früher verändern und der Körper- bau erst darnach; oder ob kleine Veränderungen der Struktur eine Ände- rung der Gewohnheiten herbeigeführt haben; denn meistens geschah wahr- scheinlich beides zugleich.« Hat diese Antwort nicht alle die Merkmale, durch welche die Delphischen Weissagungen berühmt geworden sind? Dem natür- lichen System der Tiere, so führt Darwin aus, gibt erst der Stamm- baum seinen wahren Sinn; er fügt nun gewissenhaft hinzu, daß sich wohl auch die Mineralien und die Elemente in eine natürliche Reihe ordnen lassen — aber, dann hält er inne. Man fragt, warum der Stammbaum gerade für die Organismen, um ihre Stufenreihe zu erklären notwendig ist, und warum nicht für die Minerale? »Die Ursache, warum [die Minerale] natürliche Gruppen bilden, ist bisher nicht bekannt2).« Durch diese Methode erschwerte Darwin die Kritik seiner Lehre sehr. Er erklärte die Entstehung der Arten durch Zuchtwahl, durch plötzliche Änderungen, durch korrelative Umwandlungen, aber er zog für keine von diesen Erklärungen bestimmte Grenzen. Als ihm NÄGELI bewies, daß es eine Menge von Lebensformen gibt, die durch natürliche Zuchtwahl nicht erklärt werden können, erkannte Darwin bescheiden an, daß er nun einsehe, wie er die Geltung jenes Prinzips überschätzt hatte; wie er jedoch früher zu sagen unterließ, bis wohin die Macht der Zuchtwahl reicht, so sagte er auch jetzt nicht, in welchen Fällen er auf dieselbe verzichte; so war sein bescheidener x) Origin of Species, S. 131. 2) Ibid. S. 342. IX. Ch. Darwin. 137 Verzicht kaum von anderem als akademischem Werte und blieb auch ohne Einfluß auf die fernere Entwicklung der Theorie1). Darwins Abneigung gegen Definitionen stammt daher, daß sein Denken gänzlich in der Betonung der Mannigfaltigkeit der Natur aufgeht. Sobald es zu einer Definition kommen soll, überhäuft er den Leser mit einer , Unmasse von Belegen, daß die Verschieden- artigkeit der Natur jeder Definition spotte. Es sei unmöglich, die Art zu definieren, denn es gibt der Abweichungen und Übergänge die Menge: auch der Kampf ums Dasein kann nicht definiert werden, denn unter diesem Namen seien sehr verschiedene Erscheinungen zu verstehen: der Kampf des Raubtiers mit seiner Beute, das Vegetieren einer Pflanze an den Grenzen einer Wüste, die allzu große Zahl der Samen in einer Pflanzenfrucht, das Parasitieren der Mistel am Baume . . . »in diesen Bedeutungen etwa, von welchen eine in die andere über- geht, wende ich der Bequemlichkeit wegen, den Namen Kampf ums Dasein an«2); auch den Namen »Art« benutzt er — vergessen wir nicht — nur der Bequemlichkeit wegen. Will man von Darwin etwas Bestimmteres über die natürliche Zuchtwahl erfahren? er wird beweisen, daß die Beziehungen unter den Tieren und unter den Pflanzen zu verwickelt sind, so daß wir uns nicht einmal vorstellen können, wie es einzu- richten wäre, wenn wir irgend ein Geschöpf in seinem Lebenskampfe fördern wollten. »Wirf eine Handvoll Federn in die Luft und ein jedes Federchen wird nach bestimmten Gesetzen zur Erde fallen; doch wie einfach ist das Problem, wohin ein jedes fallen wird, gegen die Frage, in welcher Art die unzähligen Pflanzen und Tiere aufeinander wirken . . .«3). Er liebt es, auf die heterogensten Zusammenhänge in den Lebens- bedingungen der Organismen hinzuweisen, ja seine ganze Theorie ist auf der Grundlage der Annahme der Heterogeneität von Ursache und Wirkung aufgebaut : das Rebhuhn hat nach ihm deshalb graue Farbe — weil der Habicht gute Augen hat; die Rose riecht deshalb an- genehm — weil die Biene einen feinen Geruch hat; die Menge des Kleesamens ist von der Menge — der Katzen abhängig (denn die Katzen verfolgen die Feldmäuse, welche die Nester der Hummeln vernichten; die Hummeln, welche die Kleeblüten besuchen, sind für deren Befruchtung notwendig) usw. J) Abstammung des Menschen I, S. 132. -) Origin of Species, S. 46. 3) Ibid. S. 54. 138 IX. Ch. Darwin. Weil die Beziehungen der Erscheinungen so äußerst kompliziert sind, bleibt Darwin nichts anderes übrig, als Beobachtung auf Be- obachtung zu häufen, und so sind seine Schriften mit Zitaten voll- gepfropft; Darwin selbst hat sein Leben lang die Natur beobachtet, um auch persönlich die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen erschöpfen zu helfen. Dem Sammeln von Belegen widmet er eine übermäßige Aufmerksamkeit. Seine Schrift von der Entstehung der Arten sollte ursprünglich den Titel tragen: »Auszug aus einer Abhandlung über die Entstehung der Arten und Varietäten durch natürliche Zuchtwahl . . .«, und nur auf Zurede des Verlegers ließ er das Wort »Auszug« weg, als ob eine Schrift von 400 Seiten nicht schon an sich genügte, die Theorie zu begründen. Und in diesem Sinne faßten die Freunde die Schrift auf; man kann überall die Versicherung lesen, daß das Buch als eine vorläufige Mitteilung zu beurteilen sei, und daß erst das große Werk »Über das Variieren der Tiere und Pflanzen«, das eine Zusammenstellung des von Darwin gesammelten Materials bringt, ihre Begründung enthalte. Das Buch »Über die Abstammung des Menschen« ist, namentlich in seinem zweiten Teil, wegen der Un- masse von Zitaten geradezu unlesbar. So brachte Darwin die Erfahrungstheorie, die sich durch das englische Denken seit Bacon, Locke, Hume, Mill, Spencer hin- zieht, auf ihren Höhepunkt. Mit MlLL traf er noch in einem, eben- falls englischen Gedanken zusammen. Mill führte die zu seiner Zeit geltende Lehre aus, daß das Wesen der Sittlichkeit durch die Nütz- lichkeit begründet sei, daß sittliches Handeln soviel bedeutet als der Menschheit nützliches Handeln; darum soll der Tod für das Vater- land moralischen Wert haben, weil er dem Vaterland, der Gesell- schaft nützlich ist. DARWIN erklärte nun auf grund desselben Nütz- lichkeitsprinzips die Entstehung der Arten. Alles, was er von den Organismen kennt, soll ihnen jetzt oder früher einmal nützlich ge- wesen sein und die Nützlichkeit soll die Ursache aller Lebenserschei- nungen sein. Nur einige Eigenschaften entstanden ohne bemerkbaren Nutzen für den Organismus, etwa auf die Art, wie wenn der Maschinist eine schwarze Maschine aus Eisen konstruiert, wo die schwarze Farbe nur deshalb auf die Maschine kam, weil eben das Eisen schwarz ist. »Solche Fälle ausgenommen, können wir aber schließen, daß die Struktur eines jeden Organismus ihrem Träger entweder direkt oder in- direkt jetzt nützlich ist oder früher war1).« J) Origin of Species. S. 152. IX. Ch. Darwin. 139 Darwin trachtete unermüdlich darnach, die Nützlichkeit der ver- schiedensten Teile zu ergründen — welches keine leichte Arbeit ist; haben wir doch eben gehört, wie verwickelt die Beziehungen der Organismen zu ihrer Umgebung sind, so daß sich kaum in einem einzigen Falle angeben läßt, welche Eigenschaft ein Tier fördern könnte. Nichtsdestoweniger tritt Darwin tapfer an die Aufgabe heran, zu erraten, wie wohl es der Giraffe tat, als sich ihr Hals etwas verlängerte, wie wohl dem Walfisch, als er die ersten Spuren der Pianen bekam, wie dem Plattfisch, als er seitlich schwimmen lernte usw. Die Nützlichkeitslehre, der Utilitarismus ist wie für MiLL so auch für Darwin der leitende Gedanke: was dem Organismus nütz- lich ist, wird sich erhalten; was weder nützlich noch schädlich, wird sich vielleicht erhalten, vielleicht nicht; das Schädliche wird gewiß untergehen. Früher blieb der Philosoph bei den Begriffen des Lebens, der Zweckmäßigkeit, der Einheit des Planes, der Seele, des Bildungs- triebes, der Schönheit in der Natur sinnend stehen — alle diese Be- griffe ersetzte nun Darwin durch den Begriff der natürlichen Zucht- wahl. Auch in anderen Wissenschaften wird die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf ein und dasselbe Grundprinzip zurückgeführt, so das Licht, die Wärme, die Elektrizität auf Wellenbewegung, die Eigenschaften der Stoffe auf Eigenschaften der Moleküle und Atome, die Planetenbewegung auf Gravitation usf. ; diese Prinzipien bilden aber durchgängig das Wesen der Erscheinungen; es kann nicht gesagt werden, daß es zuerst eine Wellenbewegung gab und ihr das Licht folgte; oder daß aus der Gravitation die Planetenbewegung entstanden ist, oder daß es einmal kein Salz gab, welches erst durch Einwirkung des Na auf Cl hervorgebracht wurde. So aber wird das Abhängigkeitsverhältnis in der DARWiNschen Biologie formuliert: hier kann nicht behauptet werden, daß die Zuchtwahl (oder die Zweck- mäßigkeit) das Wesen des Auges bildet, sondern sie ist seine histo- risch vorangehende Ursache: das Auge war zuerst nicht so wie es heute ist, doch zufällig entstand ein besseres, welches nützlicher war und deshalb erhalten blieb. Jede Frage wird von den Darwinisten durch Genesis beantwortet; nicht nur auf die Frage, warum das Känguru in Australien und nicht in Europa lebt, sondern auch auf Fragen, warum der Mensch zwei Augen besitzt und nicht drei, warum die Lerche singt, warum der Himmel blau ist, warum der Hund mit dem Schwänze wedelt, hört man stets die stereotype Antwort: es waren Zeiten, wo es anders war, doch kam einmal ein Tag, wo die Lerche zu singen j,0 X. A. K. Wallace. anfing- und der Gesang gefiel dem Weibchen, es war ihm treu, Kinder mit derselben Fähigkeit kamen zur Welt usf. Es gab Zeiten, wo die Hunde noch nicht mit dem Schwänze wedelten, aber einmal kam ein spitzfindiger Hund dahinter, daß das Entleeren des Mastdarms leichter wird, wenn er mit dem Schwänze wedelt; die mit angenehmen Ge- fühlen verbundene Entdeckung wurde zur Gewohnheit, wurde von Nachkommen geerbt — siehe da, warum der Hund mit dem Schwänze wedelt, wenn ihm etwas angenehm ist1). Ihr fragt, warum der Himmel blau ist? Er war ursprünglich keineswegs blau, sondern stahlgrau, allmählich lernten aber die Menschen blaue Farbe zu unterscheiden — Vererbung usf. Darin liegt das Wesentliche der DARWlNschen Theorie 2). X. A. R. Wallace. Diejenigen, welche behaupten, daß neue Gedanken eine Folge des Gesamtdenkens einer bestimmten Zeit sind, haben keinen schöneren Beweis für ihre These, als die Tatsache, daß zwei durch ihre Geistes- anlage und Erziehung ganz verschiedene Forscher, Darwin und Wallace, dieselbe Theorie entdeckten; nicht nur lehrten beide die Umwandlung der Formen, sondern beide entdeckten um dieselbe Zeit die Theorie der natürlichen Zuchtwahl, und beide wurden durch den- selben Autor, durch Malthus, auf jene Lehre geführt. Alfred Rüssel' Wallace (* 1823) schlug sich ganz auf englisch durchs Leben; eine Zeit war er Lehrer, dann Ingenieur bei einer Eisenbahn und schließlich Reisender und Naturforscher. Es gibt bei uns kaum Fachmänner dieser Art. welche jedoch in England nicht x) Diese Hypothese ist von E. Darwin ausgesprochen worden. 2) Das Werk »Die Entstehung der Arten< ist das wichtigste Werk Darwins. Seine anderen Schriften und Theorien werden später erwähnt werden. Darwin ver- faßte insbesondere: eine Beschreibung seiner Reise um die Welt (1839), ein Werk über die Entstehung der Korallenriffe (1842), eine Monographie über die Cirripedien (1851 — 1854), die Schrift über die Entstehung der Arten (1859); über die Befruch- tung der Orchideen (1862); über die Bewegungen der Schlingpflanzen (1875); über das Variieren der domestizierten Tiere und kultivierten Pflanzen (1868); über den Ursprung des Menschen und über die geschlechtliche Zuchtwahl (1871); über den Ausdruck der Gemütsbewegungen beim Menschen und bei den Tieren (1872); über fleischfressende Pflanzen (1875); über die Folgen der Kreuzung und der Selbst- befruchtung bei Pflanzen (1876); über verschiedene Blütenformen bei denselben Pflanzenarten (1877); über das Bewegungsvermögen der Pflanzen (1880); über die Bildung der Ackererde durch die Würmer (1881). \. A. K. Wallace. 141 selten sind: urwüchsig, weder amtlich noch philosophisch abhängig, ohne jede Schule, aber trotzdem Fachmänner und Philosophen. Die amtliche Bedeutung der Wissenschaft auf dem Kontinente stellt Leute solchen Schlages hinter die Linie; ihr Mangel an schulmäßiger Dis- ziplin kommt uns sonderlingsartig vor und ihre ganz selbständigen Anschauungen entfernen sie von der uns geläufigen Mittelmäßigkeit. Wallace glaubte noch an die Phrenologie, die er seit langem pflegte; er war von Jugend auf eifriger Spiritist, glaubte auch an die Wunder von Lourdes und ließ sich durch sozialistische Lehren stark beein- flussen. Wenn wir noch hinzufügen, daß er behauptete, der Staat solle die Wissenschaften nicht unterstützen, weil sich nur wenige für dieselben interessieren: wie es unzulässig wäre, die Teppichmuster- fabriken von staatswegen zu unterstützen, so möge man auch die ebenfalls nur dem Privatinteresse dienenden wissenschaftlichen For- schungen der Sorge des Einzelnen überlassen; wohl aber soll das Popularisieren der Wissenschaft öffentlich gefördert werden1) — so haben wir das Bild eines Gelehrten, wie man einen solchen selten auf dem Festlande treffen würde. WALLACE wurde auf die Frage nach dem Ursprünge der Arten durch das Lesen der »Vestiges« hingeleitet. Bald nach dem Er- scheinen dieser populären Schrift versuchte er den Kern der Frage zu lösen; er reiste im Jahre 1847 m^ einem Genossen, H. W. Bates, nach Südamerika, um gemeinsam mit ihm im Flußgebiet des Ama- zonenstromes »Tatsachen für die Lösung der Frage nach dem Ursprünge der Arten zu sammeln«. Bates blieb damals in Amerika und unterstützte später Darwin durch die Theorie der Mimikry; Wallace wollte mit dem gesam- melten Material zurückkehren, das Schiff jedoch, welches ihn mit den Sammlungen nach Europa trug, verbrannte und WALLACE rettete nur das nackte Leben. Nach zwei Jahren, die er in England ver- brachte, nahm er wieder die Reise, diesmal in das Malayische Archipel, auf, und sandte im Jahre 1855 von Borneo die erste Mitteilung über die Entstehung der Arten nach England; im Jahre 1858 sandte er eine zweite Studie, in welcher er, wie Darwin, durch das Lesen des- selben Maltiius angeregt, als Ursache der Entwicklung gleichfalls J) Ich führe dies nach P. LOTSY, Vorlesungen über Deszendenztheorien, Jena 1908, II, S. 611 sq. — Es mag nicht unbemerkt bleiben, daß jene Worte Wai.lace einigermaßen fatal werden sollten; 1S80 wurde ihm (auf Darwins Veranlassung) eine Jahrespension von staatswegen bewilligt (vgl. Life of Hrxi.icv IT, S. 15). I42 X. A. R. Wallace. die »natürliche Zuchtwahl« angibt, obwohl er den Namen nicht an- wendet. Wie ist die auffallende Koinzidenz zwischen der Theorie Darwins und WALLACEs zu erklären"? Nichts unbegreifliches liegt ihr zugrunde. Wallace arbeitete seit langem an der Frage von der Entstehung der jetzigen Tiere; in der Abhandlung aus dem Jahre 1855 gibt er zum ersten Male die Gründe an, warum die Tierwelt der aufeinanderfolgenden geologischen Perioden untereinander blutverwandt ist. Damals kannte er noch nicht die Ursachen, welche die Umwandlungen der Arten zur Folge haben; er scheint sich überhaupt damals noch nicht die Frage nach ihrem Wesen vorgelegt zu haben, sondern die einzige These, die er zu beweisen suchte, war, daß »eine jede Art sowohl dem Räume als auch der Zeit nach zugleich mit einer vorherexistierenden nahe verwandten Art in die Erscheinung ge- treten ist« J), und diese These begründet er durch geographische Verbreitung, durch geologische Aufeinanderfolge und durch die Tatsache eines natürlichen Systems. Nachdem er sich nun der Thatsache der Art- umwandlungen bewußt wurde, begann er ihren Ursachen nachzugehen. Malthus, dessen Werk allgemein bekannt war. kam ihm in die Hände; es lag an der Hand, Malthus' Theorie über den Fortschritt des Menschengeschlechts auf den Fortschritt in der Natur anzuwenden. Wenn er aber einmal Malthus' Methode übernahm, so mußte er auf den Begriff des Kampfes ums Dasein und der Naturauslese kommen, da diese Begriffe eben nur bewußt gezogene Konsequenzen der Malthus- schen Theorie, keine unabhängigen, aus der dem Bewußtsein ent- zogenen Untiefe der Seele auftauchenden Entdeckungen enthalten. In der konkreten Ausführung unterscheidet sich WALLACEs Theorie bedeutend von der DARWlNschen. Darwin war abstrakter angelegt als Wallace; er betonte mehr den Kampf ums Dasein, die Varia- bilität, die Erblichkeit, die Zuchtwahl, im allgemeinen die begriff- liche Seite der Theorie; Wallace gründete dagegen seine Aus- führungen insbesondere auf die Analyse der Tatsachen der geogra- phischen und geologischen Verbreitung der Organismen ; er verglich die Faunen verschiedener Gebiete, suchte nach dem Zusammenhange der in aufeinanderfolgenden Perioden der Erdgeschichte vorkom- menden tierischen Typen; studierte die Farben und Gewohnheiten *) A. R. Wallace, Über das Gesetz, welches das Entstehen neuer Arten regu- liert hat (1855^ in A. B. Meyer, Ch. Darwin und A. R. Wallace, Erlangen 1870, S. 37. X. A. R. Wallacc. 143 der Tiere mehr um ihrer selbst willen, als zum Beweis der Ent- wicklungstheorie. Von Darwin wich er auch in mehreren Einzel- heiten ab; er glaubte mit einem die Entwicklung treibenden Faktor, mit der natürlichen Zuchtwahl auskommen zu können, verwarf die Annahme einer Vererbung der erworbenen Charaktere, und unter- scheidet sich schließlich auch darin von Darwin, daß er die Haustier- rassen nicht für analog den wilden Varietäten, sondern für unnatür- liche Monstrositäten hielt. Die Abhandlung, in welcher diese Gedanken über die Entstehung der Arten entwickelt wurden, sandte Wallace an Darwin, mit der Bitte, sie zur Veröffentlichung zu empfehlen. Sie kam Darwin in die Hände, als er eben sein eigenes Werk vorbereitete, und ver- ursachte ihm begreiflicherweise eine peinliche Verlegenheit, denn er sah sich nun um die Frucht der eigenen langen Arbeit gebracht. Die Angelegenheit wurde in der Art beigelegt, daß WALLACEs Ab- handlung gleichzeitig mit einigen Auszügen aus älteren Manuskripten und Briefen Darwins veröffentlicht wurde, in welchen er ebenfalls die Entstehung der Arten besprach. Wallace polemisierte später gegen Darwins Lehre von der geschlechtlichen Zuchtwahl; die Schönheit der Tierformen und Tier- farben leitete er ebenfalls aus dem Kampf ums Dasein ab1). Er sprach auch Zweifel aus über Theorien, die die Entstehung des Men- schen erklären sollten, indem er auf die Mangelhaftigkeit der vor- historischen Nachrichten hinwies; er hob hervor, daß es einen tertiären Menschen geben sollte, der jedoch nicht bekannt ist; daß die An- nahme, als ob alle Vorfahren der heutigen Völker sich auf niedrigerer Stufe befänden, unrichtig ist, denn viele Inselbewohner, die mittel- amerikanischen Indianer und die Ägypter standen in vorhistorischen Zeiten auf höherer Kulturstufe als sie heute stehen2). Die Entstehung des Menschen stellte er sich vielmehr so vor, daß der Mensch psychisch nicht den Tieren verwandt sei, sondern daß ihm die Seele von einer übersinnlichen Welt eingehaucht wurde; nur eine solche Seele kann nach ihm Ursache der mathematischen Talente, der musikalischen Genies, der entschlossenen Märtyrer, der treuen Freundschaft usw. sein. Auch viele körperliche Eigenschaften, wie z. B. der Bau der Kehle, des Fußes, der Hand, der gerade Gang, der nackte Körper können keineswegs durch natürliche Zuchtwahl begründet werden. ' Tropical nature and other Essays, London 1878. 2) Ibid., deutsche Ausgabe (Braunschweig 1879', S. 295 sq. IAA XL Aufnahme der Darwinschen Theorie. Gott soll dreimal in die Geschichte des Lebens mit seiner schöpferi- schen Hand eingegriffen haben; einmal, als er die lebendige Substanz schuf, das andere Mal, als er ihr auf einer höheren Stufe das Bewußt- sein einhauchte, und zum dritten Male, als er dem Menschen die Seele verlieh. Mit den Spiritisten ist Wallace überzeugt, daß der Raum voll verschiedener Geister ist, welche vielleicht in einen Affen eindrangen und so seine Umwandlung zum Menschen bewirkten1). Während Darwin der Frage nach der Entstehung der Arten und der natürlichen Zuchtwahl sein ganzes Leben widmete und mit ihrer Untersuchung sich alle seine Schriften seit 1859 beschäftigen, zer- splitterte WALLACE sein Streben; dieser Umstand und einige seiner eigenartigen Theorien hatten zur Folge, daß er bei weitem nicht eine dem Einfluß Ch. Darwins analoge Bedeutung für die Entwicklung des genetischen Theoretisierens erreichte2). XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. Das Wesen der Wissenschaft. Ein Zufall brachte mich auf eine einsame Haltestelle, wo ich auf den Zug wartete; ich ließ mich in ein Gespräch mit dem Stations- vorstand, einem älteren, einfachen Mann von gutmütigem Äußeren ein; es zeigte sich, daß dieser Bahnbedienstete Mineralien sammelte. Er führte mich in eine Kammer und zeigte mir dort beim Lichte einer Kerze Amethyste und verschiedene Kristalldrusen, die er sich auf diese und jene Art verschafft hatte — eine kleine, aber hübsche Sammlung. Auch Bücher hatte er: ein altes Lehrbuch der Mineralogie und lithographierte Vorlesungen von der Universität; ich weiß nicht mehr, wie er dazu kam. Der Zug war da, ich bestieg denselben und seitdem sah ich jenen Mann nicht wieder; ich kenne nicht seinen Namen und weiß nicht einmal, ob er noch lebt. Ich denke aber oft an ihn und an seine schlichte Erzählungsweise, während ich diese Ge- *) Der Darwinismus, Braunschweig (engl. Ausgabe 1889) 1891, S. 714 sq. 2) Die wichtigsten Abhandlungen Wallaces sind: On the Law which has regu- lated the Introduction of new Species. Ann. and Mag. of Nat. Hist. 1855. — On the Tendency of Varieties to depart infinitely from the Original Type, Proc. Linn. Soc. 1858. — The Geographical Distribution of Animals, 2 Vols, London 1876. — The Malay Archipelago, London 1894. — Natural Selection and Tropical Nature (London 1878), New Ed. 1895. — Island Life, London, 2. Ed. 1895. — Darwinism, London 1S87. — My Life, 2 Vols, Lond. 1905. — Nebstdem eine große Reihe von in ver- schiedenen Zeitschriften erschienenen Abhandlungen. XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. M5 schichte der Wissenschaft schreibe, die Entdeckungen und den Ruhm der Gelehrten schildere; was bedeutet für die Wissenschaft jener Mann, von dessen Liebe zu den Mineralien niemand weiß, was be- deutet die Wissenschaft für ihn ? Es gibt Tausende von solchen Männern wie er, aber sie bleiben unbekannt; die einen verschaffen sich Sammlungen von Naturobjekten, welche sie mit großer Sorgfalt ordnen und pflegen; andere kennen jedes Vogelnest in weiter Umgebung und an den Wänden ihrer Wohnung hängen Käfige mit Sängern; andere wird man unter den Taubenzüchtern finden; sie kennen jede einzelne ihrer Tauben und erkennen sie nicht nur auf dem Dache, nicht nur im Fluge, sondern, wie sie sich rühmen, sogar nach dem Schatten, den die fliegende Taube wirft; es genügt ihnen nicht, ihr buntes und geräuschvolles Federvieh am Tage mit gehobenem Haupte zu verfolgen, sondern es gibt auch solche, welche in der Nacht am Boden neben dem Tauben- schlag schlafen, um auch in der Nacht das Girren der Tauben zu hören. Andere wieder lesen mit Begeisterung die Berichte über neue Entdeckungen und betrachten die Schriftsteller mit der größten Ehr- furcht; andere besitzen ein ungeheueres Gedächtnis und bemühen sich, alles Neue und Auffallende in ihrem Fache in sich aufzunehmen — weder die einen noch die anderen schreiben jedoch; sie »wirken« nicht. Es fehlt ihnen die Kraft zum öffentlichen Auftreten, oder es kommt ihnen wie Unbescheidenheit vor; als ob ihr zartes Verhältnis zu dem geliebten Gegenstande grob verletzt würde, wenn sie es der Öffentlichkeit preisgäben. Für dasjenige, was heute unter Wissenschaft verstanden wird, haben diese stillen Freunde der Natur keine Bedeutung; denn die Wissen- schaft ist heute eine gesellschaftliche Einrichtung, welche allgemeine Wahrheiten zu suchen vorgibt; der Einzelne hat für dieselbe nur inso- fern einen Wert, als er eine den allgemeinen Fortschritt treibende Kraft darstellt, insofern er die Menschheit durch neue Wahrheiten fördert. Ein NEWTON hat für die Wissenschaft Bedeutung, und da noch nicht der ganze NEWTON, nicht derjenige Newton, der über die Offenbarung des hl. Johannes nachdachte, nicht derjenige, der sich über seine Mißerfolge grämte1): >Der gesunde für die Menschheit arbeitende Newton gehört der Ge- schichte an — der kranke, der phantastische Newton kann höchstens Gegenstand eines Romans sein, in welchem man dem Schicksal des l) P. Barth. Die Philosophie der Geschichte als Soziologie, Leipzig I. 1897. S. 221 — 222. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. IO Izi5 XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. Einzelnen mit Sympathie folgt; wenn ein wissenschaftlicher Geschichts- schreiber gelegentlich auch diesen zweiten Newton (wie es Brewster tat) geschildert hat, überschritt er seine Aufgabe, wich er in das Gebiet des historischen Romanes ab. Dieser Roman mag noch so anziehend sein, er ist aber nicht ganz Geschichte, sondern geht dort, wo er die allgemein wichtige Wirkung des Helden verläßt, in das Gebiet der in- dividuellen Psychologie«. J. G. Fichte, der sonst sehr unabhängige Philosophieprofessor, hegte von den Pflegern der Wissenschaft fast dieselbe, ja noch eine be- scheidenere Ansicht1): »Die Gelehrten sind die Depositäre, gleichsam das Archiv der Kultur des Zeitalters«, welche die Wissenschaft aufspeichern, fortbilden und auf nachfolgende Generationen übertragen; sie sind die »Priester der Wahrheit«. Diesem Ideal entspricht die moderne Wissenschaft. Ihr Name »modern« bezieht sich nur auf einige ihrer äußeren Eigenschaften; wesentlich ist sie aber dieselbe geblieben, wie sie ehemals in Alexandrien. zur Zeit der heiligen Väter, während der Renaissance, im iS. Jahr- hundert war: die Hochschulen waren bereits den Griechen und Römern bekannt, es lehrten an denselben zu jeder Zeit berühmte und nicht berühmte Professoren, es wurden neue Dinge entdeckt und Bücher verfaßt, die Gelehrten zankten untereinander und lobten sich gegenseitig, ganz wie heute; einmal hob die politische Situation die Bedeutung der Hochschulen, ein anderes Mal drückte sie dieselben herab, und immer hatte diese Wissenschaft ein bestimmtes Ideal: heute arbeitet sie an dem Fortschritt der Menschheit, früher hieß die Losung »alles zu Ehren Gottes«, und noch früher galt es, den Jüngling vollkommen in Rede, Handlungs- und Gemütsart zu machen. Die moderne Wissenschaft ist »objektiv« und »exakt«; es wird weiter geschildert werden, wie sie auf diese (übrigens bereits in der Scholastik bekannten) Prinzipien kam, durch welche die Unterdrückung der Persönlichkeit des Forschers und die Hervorhebung der toten Tatsache verlangt wird; deshalb verbreitete sich allgemein die Über- zeugung, daß die Genies, d. h. die Individualitäten in der Wissen- schaft ausgestorben sind, indem sie der Fortschritt der Wissenschaft unmöglich macht. »Es wird wohl einmal die Zeit kommen2), wo man bei allen Ent- J) K. Fischer, Fichtes Leben usw., Heidelberg 1900, S. 499. 2) F. Dahl, Die Ziele der vergleichenden Ethnologie. Verh. d. 5. intern. Kongr. Zool., Berlin 1901, S. 296. XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. 147 deckungen historisch ganz von der Person des Entdeckers absieht und nur die Zeit der Entdeckung für wichtig hiilt. Jede Entdeckung bereitet sich allmählich vor: sie hegt schließlich in der Luft, wie man zu sagen pflegt. Macht der eine sie nicht, so wird sie sicher bald darauf ein anderer machen,' und es ist meist im höchsten Grade dem Zufall anheim gegeben, wer es ist, der der Wissenschaft diesen kleinen Dienst leistet. Für die Wissenschaft selbst ist das auch völlig gleichgültig.« Ein anderer Autor behauptet mit stoischer Ruhe, daß eine wissen- schaftliche Abhandlung höchstens vier Jahre nach Erscheinen Wert hat, worauf sie jede Bedeutung verliert. Aber es gibt noch eine andere Wissenschaft. Habe nun, ach Philosophie, Juristerei und Medizin Und leider auch Theologie Durchaus studiert, mit heißem Bemühen! Da steh' ich nun. ich armer Tor Und bin so klug als wie zuvor; Heiße Magister, heiße Doktor gar Und ziehe schon an die zehen Jahr Herauf, herab und quer und krumm Meine Schüler an der Nase herum — Und sehe, daß wir nichts wissen können! Das will mir schier das Herz verbrennen. Diese Stimmung Fausts spricht schon aus van Helmonts Buch »Aufgang der Medizin« (Ortus medicinae). Noch in der Wissenschaft von heute hören wir von VAN HELMONT und von anderen Reformatoren: von Galilei, von Vesal, Paracelsus, Pascal, Newton; man erzählt uns, wie diese klaren Köpfe hoch über ihrer Zeit standen, wie Vesal die Anatomie. PARACELSUS die Chemie und die Medizin auf neue Grundlagen stellten und wie die damaligen Fachmänner beschränkt waren — haben sie doch jene hohe Wissenschaft nicht verstanden. Übrigens werden wir in wissenschaftlichen Büchern nicht einmal dieses erfahren; man erzählt dort nur, daß NEWTON die Schwere, VAN HELMONT die Gase. Galilei die Mechanik entdeckte — Tatsachen, auf welchen, wie man sagt, die heutige Wissenschaft weiter baut; daß es also ungemein scharfsinnige Männer waren, welche keine andere Sorge hatten, als den Fortschritt der Wissenschaft zu fördern. Und doch waren sie auch Menschen, haben sie auch ihren Faust durchlebt. . . . Einem jeden, der über Newton nachdachte, fiel gewiß ein, daß man ihn zu sehr rühmt; was gehen uns seine mathematischen Formeln und seine zufällig entdeckte Gravitation an, denkt man. Man liest 10* 14g XL Aufnahme der Darwinschen Theorie. aber seine Biographie (wir sollten eine bessere haben, als es die parteiische von Brewster ist) und erfährt, daß Newton seit seiner Jugendzeit nichts anderes trieb, als sich mit wissenschaftlichen Fragen zu beschäftigen; daß ihm das Denken höher stand als das Leben. Er entdeckte Dinge, welche noch heute bewundert werden: welche Freude mußte er selbst erleben, als er sie fand! Er soll so gezittert haben, daß ihm die Kraft fehlte, der Entdeckung weiter zu folgen. Als er sie veröffentlichte, griff man ihn an, behauptete, daß er Un- recht habe und NEWTON war davon so sehr ergriffen, daß er die Entscheidung faßte, sich von der wissenschaftlichen Arbeit, welche ihm doch alles war, loszusagen. Man liest und man sieht ein, daß dieser Newton ein anderer ist, als jene nebelhafte Vorstellung von einem Förderer des allgemeinen Fortschritts, wie sie uns von der heutigen Wissenschaft gegeben wird, welche sie wieder vom 1 8. Jahr- hundert erbte. Heute liest man über Vesal, daß er die anatomische Wissen- schaft reformierte, daß er ein genialer Professor war und eine Schrift herausgab, durch welche er GALENUS widerlegte. Heutzutage er- scheint jeden Tag ein Werk, welches jemandem oder etwas »wider- legt« — aber die Vesals, die erscheinen nicht mehr! Aus einem Jüngling, der in seiner Mansarde vom Galgen gestohlene Leichen se- zierte und dadurch im Hause einen solchen Geruch verbreitete, daß sich die Nachbarn empörten, wurde ein Mann, der der ganzen ge- lehrten Welt den Handschuh hinwarf; der berühmte Tizian zeichnete die Bilder für sein Buch. Er siegte, gab dann plötzlich die Wissen- schaft auf und zog ein prächtiges Gewand als Leibarzt des spanischen Königs an. Jedoch die Sehnsucht nach der Forschung kehrte wahr- scheinlich wieder; er ließ sich etwas seinen Jugendstreichen ähnliches zu schulden kommen und zur Strafe pilgerte er nach dem heiligen Lande und auf der Rückreise ging er auf einer dalmatinischen Insel elend vor Hunger zugrunde. Ein Gelehrtenleben! Kehren wir aber zu van Helmont zurück. Dieser holländische Arzt (1578 — 1644) erzählt uns sein Leben in der Einleitung zu seinem oben erwähnten Werke; man erwarte aber nicht Schilderungen, wie er auf seine Entdeckungen kam, wie sie von den Zeitgenossen an- erkannt wurden, zu welchem Ruhme er gelangte, in welcher Hinsicht er die Wissenschaft förderte; sondern gerade umgekehrt: seine Er- zählung gipfelt in dem Gedanken, daß alle Wissenschaft ein eitles Bemühen sei. Helmont erzählt, wie er auf den Hochschulen Rechts- wissenschaft, Botanik, Astronomie, Medizin studierte — sich aber XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. 149 dann so klug als wie zuvor fühlte ; darum hat er sich der Magie ergeben, verließ die Hochschulen und ging in die Welt, bei den Alchy- misten, Feldscherern, Hufschmieden, Badern in die Lehre; nach der Rückkehr ging er an den Aufbau einer neuen, auf neuer Erkenntnis gegründeten Medizin. Wenn jemand heute über Helmont schreibt, fügt er gewiß hinzu: Er wurde wohl durch die damalige Wissenschaft, welche auf GALENs Lehren fußte, enttäuscht; er gründete eine neue Lehre, deren richtige Prinzipien die heutige Wissenschaft in sich aufgenommen hat; unserer Wissenschaft gelten also seine Angriffe nicht. Liest man aber Helmont, so findet man, daß er HiPPOKRATES und GäLENUS als bedeutende Männer schätzt, mit den schärfsten Worten aber diejenigen zurückweist, welche »das Richtige aus ihren Lehren übernommen hatten«: ». . . Denn so würmicht sind alle Zeiten, daß der Tugend und der Wahrheit, sobald dieselben vor den Tag kommen, gleich sofort gewisse Neider an der Seite stehen ; daher auch alle menschliche Dinge stets dem Untergang unterworfen gewesen; denn was man in den unvollkommenen, wiewohl aufrichtigen Zeiten aus bloßer Liebe unternahm, das fiel bald hernach auf Gewinn und daraus entstehende Gemächlichkeit, Pracht und Ehrfurcht hinauszuschlagen. Und kam also hernachmals anstatt der Liebe ein bloßer Schein derselben auf die Bahn. Und es wuchs aus der Gewinnsucht die Eitelkeit dermaßen, daß die Erbarmung darüber gar zeitlich ausgelöschet ward. . . .« Diese Worte sollten nur gegen die Wissenschaft des 16. Jahr- hunderts gerichtet sein? HELMONT fiel es gar nicht ein, ein neues wissenschaftliches System zu begründen; im Gegenteil wollte er jede Wissenschaft, jedes System unmöglich machen. Er schreibt: »Ich bin zwar versichert genug, daß mir die meisten werden ent- gegen schreien, wenn ich werde behaupten wollen, das rechte Wesen der Arzneikunst sei eine lautere Gabe und bloßes Geschenk Gottes, und sei hierbei von einem scharfen und subtilen Verstände sehr wenig zu hoffen. Denn der Herr hat den Arzt erschauen, und machen ihn nicht die Schulen. < Es wäre also ein Irrtum, von der heutigen Wissenschaft zu be- haupten, sie sei eine Fortsetzung der Bestrebungen van HELMONTs und eine Aufhebung der mittelalterlichen Wissenschaft, sondern um- gekehrt: Die heutige Wissenschaft ist eine Fortsetzung der alten und VAN Helm<>NT stellte sich in Gegensatz zu jeder, der alten wie der neuen Wissenschaft, welche auf dem Gelehrtsein basiert, sei nun dieses eine Bücher- oder eine experimentelle Weisheit. Der Streit jcq XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. der Schulen, der Systeme, der Theorien kümmerte ihn nicht; er selbst ersann Probleme, er fragte sich selbst, er polemisierte mit sich selbst (wie wir gleich sehen werden), er selbst hatte Freude an seinen Entdeckungen; wohl führt er Namen anderer an, lobt und tadelt und sucht Vorläufer, aber dies alles nur, um seine Gedanken, um sich selbst klarer, sachlicher und wahrheitstreuer darzubieten. Seine Gegnerin, die Scholastik, bildete sich ein, daß sie zu beweisen, d. h. die allgemeine Vernunft zu überreden wisse; dieser Wissenschaft, welche an die Anerkennung anderer appellierte, stellte HELMONT sich selbst entgegen, als denjenigen, dem Gott selbst die Macht, das Wahre zu erkennen, verliehen habe. Ganz ebenso beruft sich Faust nicht auf Experimente, sondern auf die übernatürliche Macht, die ihm die Geheimnisse der Welt erschloß : Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles, Du führst die Reihe der Lebendigen Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen. Eine ungeheure Kraft des Individuums, die wir uns heute kaum vorstellen können, welche aber in der Zeit der Renaissance so häufig war, sprudelt uns aus den Wrorten VAN HELMONTs entgegen; was sind ihm Schulen, was die ganze zeitgenössische Welt, was die Tra- dition der Jahrhunderte ? Er wagt es, die Wissenschaft von ein- undzwanzig Jahrhunderten umzustürzen; so schreibt er, und die Kraft dazu schenken ihm nicht die Experimente, nicht die Botanik, sondern sein Gott. Man könnte es prahlerisch finden; was für eine Wissenschaft würde da zustande kommen, wenn ein jeder ohne jed- wede öffentliche Kontrolle lehren würde, was er selbst wollte? Mit einer schönen Allegorie antwortet VAN Helmont auf diesen Einwand, mit einer Allegorie, auf welche Goethes Vers: Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust anklingt. Im Schlafe erschien ihm seine eigene nach den höchsten Idealen strebende Seele und sein Verstand warf ihr niedrigen Ehrgeiz vor. Lange stritten beide vor dem zerknirschten Helmont, bis die Lösung durch folgenden Traum kam: »Ich sähe vor mir einen überaus schönen Baum, der sich gleichsam über die ganze Erde ausbreitete; über dessen Größe und Breite ich mich inniglich entsetze. Der war nun voll unzehlicher, wohlriechender, lieblich gefärbter und glänzender Blumen, deren jede ein Knöpflein unten an sich hatte zum Zeichen, daß die Frucht schon herauskäme. Von diesen, deren viel Millionen waren, brach ich mir eine ab; so verschwand als- XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. 151 bald aller Geruch, Farbe, und alle Annehmlichkeit, so sonst an der Blume war. Denselben Augenblick ward mir der Verstand dieses Ge- sichtes gegeben. Nämlich alle Gaben Gottes wären gleichsam wie die Blumen und viel herrlicher als Salomon auf seinem Throne sein können; die wären zwar von großer Hoffnung, wenn sie an dem Baume bleiben: aber wenn ein Mensch einige solche Gabe ihm selbst zueignet, oder sie von ihrem Ursprünge abzubrechen unternimmt, so verschwinde ihm nicht nur die Blume wieder, sondern der so sie abgerissen, bleibe auch in der Schuld wegen der Frucht, die sie eben hervorbringen wollen und sei gehalten davor zu stehen. . . .« Der Sinn ist klar: das Streben nach Wahrheit ist gewissen Men- schen eine Lebensnotwendigkeit, wie es die Blüte im Leben der Pflanze ist; die Weisheit und die neuen Entdeckungen sind ebenso- wenig ein Verdienst des Forschers, wie die Blüte ein Verdienst der Pflanze ; die Wahrheit hört auf Wahrheit zu sein, wo sie nicht or- ganisch mit dem Leben verbunden ist. Kehren wir nun zu jenen anfangs erwähnten geheimen Liebhabern der Natur; für die heutige Wissenschaft sind sie ohne Bedeutung, allein für die HELMONTsche? Als HELMONT durch die offizielle Wissenschaft enttäuscht unter die Feldscherer, Landstreicher und Alchymisten ging, fand er dort wahrscheinlich wenig neues Wissen, gewiß aber viel Liebe zur Natur, von welcher er so schönes zu er- zählen weiß; sicherlich fand er unter ihnen solche verschollene Lieb- haber der Natur, welche auch heute nicht ausgestorben sind; gewiß bezieht sich auch auf solche Menschen sein Traum von dem die ganze Erde umschlingenden Baum, gewiß bilden auch sie wohl- riechende Blüten jenes Baumes. . . . Während unserer Betrachungen über das Wesen der Wissenschaft wurden wir ins 16. Jahrhundert verschlagen. Sicherlich wird ein jeder, der auf die Frage, was die Wissenschaft eigentlich darstellt, eine Antwort sucht, und der sich mit den modernen Phantasien über einen angeblich praktischen Wert derselben nicht begnügen kann, sich mit neugierigem Blicke dem Zeitalter der Renaissance zuwenden, welches so starke Individualitäten auch auf dem Gebiete der Forschung* hervorbrachte. Die moderne Lehre, daß der Forscher an dem Fortschritt der Menschheit arbeitet, mag zwar als für die moderne soziologische Auffassung der Wissenschaft charakteristisch gelten, er- schöpfend ist sie gewiß nicht. Zugegeben, daß es einen Fortschritt gibt, was bedeutet für dessen langsame Bewegung die Arbeit eines Einzelnen? Die besten Kräfte, das tiefste Streben sucht ein Forscher in seiner Arbeit auszulösen, und diese ungeheuere innere Spannung 152 XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. sollte nur an dem problematischen Nutzen gemessen werden, den die Menschheit aus seiner Arbeit zieht? Das großartige Streben Helmonts hätte nur den Zweck gehabt, ein Experiment über die Ernährung der Pflanze zu machen und Kohlensäure zu entdecken? Kein Forscher, der es aufrichtig mit seiner Wissenschaft meint, wird diese Konsequenz der heutigen Anschauungen bejahen dürfen. Jedenfalls war das Zeitalter der Renaissance nicht dieser An- sicht; damals galt es die allgemeine Wissenschaft zu vernichten, um die individuelle zur Geltung zu bringen, also gerade das Gegen- teil des heutigen Ideals. Nun, die moderne Wissenschaft bildet für den Geschichtschreiber auch eine mögliche Art der Wissenschaft; sehen wir zu, welche Regeln in derselben zum Vorschein kommen. Wir Modernen be- gnügen uns nicht mit Aristoteles' Spruch, das Süßeste sei die Er- kenntnis; wir verlangen mehr, wir streben darnach, daß auch andere anerkennen, unsere Entdeckung bringe wirklich eine neue und wahre Erkenntnis. Je nach dem Temperament, nach der Erziehung, nach den Volkseigentümlichkeiten stellt sich ein jeder verschiedenartig zu dieser politischen Seite der Wissenschaft; wir wollen diese Stellung- nahme in England, in Frankreich und in Deutschland des näheren verfolgen. Aufnahme der Darwinschen Theorie in England. Durch die Beschreibung seiner wissenschaftlichen Reise auf dem Schiffe Beagle wurde Darwin in der englischen gelehrten Welt als Naturforscher, insbesondere als Geologe bekannt; seine Freunde wußten überdies, daß er seit 1837 sich mit einer neuen Erklärung der natür- lichen Schöpfungsgeschichte trage. Nun wurde die Öffentlichkeit durch die Vestiges für Erörterungen über die Entstehung der Arten vorbereitet; das Interesse wuchs, als Wallace im Jahre 1858 eine Abhandlung ähnlichen Inhaltes veröffentlichte und Darwin nötigte, gleichzeitig einen kurzen Bericht über seine diesbezüglichen Arbeiten ebenfalls der Öffentlichkeit zu übergeben. Darwin deutete zwar bereits in der zweiten Auflage seiner Reise ■um die Welt (1845) an, daß er an dem Artproblem arbeite, doch blieb die charakteristische Änderung seiner Ansichten in dieser Hinsicht vorläufig noch unbemerkt, eine Änderung, die teils durch eigenes Nachdenken, teils durch das Lesen des Malthus verursacht worden war. Jetzt sollte es aber anders werden: Darwins Freunde HUXLEY, XL Aufnahme der Darwinschen Theorie. 153 HOOKER und LYELL suchten für die Schrift die Öffentlichkeit vor dem Erscheinen einzunehmen und so war es möglich, daß Darwins Buch, als es im November 1859 auf dem Büchermarkte erschien, noch an demselben Tage vergriffen war; nach einem Monat wurde eine zweite Auflage, nach einem Jahr eine dritte und später noch viele andere veranstaltet. Das böse Schicksal, das so oft neue Ge- danken zu verfolgen pflegt, blieb also der DARWixschen Theorie er- spart; wohl bedeutet aber das Interesse noch keineswegs soviel wie Übereinstimmung. In der Tat gab es viele, die nicht einstimmen wollten und fast alle Gegner waren nicht so sehr durch den Gedanken der Blutverwandtschatt der Tiere beleidigt, als durch die materialistische Richtung des Werkes, durch die Lehre von der natürlichen Zucht- wahl und durch die Konsequenz vom Ursprung des Menschen. Ent- rüstet waren selbstverständlich die Theologen, aber auch die Natur- forscher. Englische Zeitungen und Wochenblätter Times, Saturday Review, Atheneum, Edinburgh Review, London Review usw. brachten neben Streitartikeln über »home rule« und über die indischen Zu- stände kritische Berichte über Darwins Werk; es wurden Kongresse veranstaltet, auf welchen Schriftsteller, Staatsmänner und Bischöfe ihre Überlegenheit im Debattieren über die Entstehung des Menschen zur Geltung brachten ; Reisende sandten aus fernen Ländern Berichte, welche Bestätigungen und Widerlegungen DARWTNs brachten — man diskutierte das Problem solange, bis eine neue Frage das Interesse der Öffentlichkeit auf sich zog. Darwin selbst agitierte und polemi- sierte in den Zeitschriften nicht, aber trotzdem interessierte er sich sehr für die Verbreitung seiner Lehre und der Eifer seiner Freunde entlockte ihm z. B. folgende Aufforderung an Hüxley1): ». . . Wenn sie an von Baer schreiben, sagen Sie um Himmels willen, daß wir ein Beifallsnicken als für unsere Stellung zu unserer Frage von größtem Werte betrachten würden, und wenn er irgend etwas schreibt, bitten Sie ihn uns ein Exemplar zu schicken, denn ich würde es über- setzen lassen und versuchen es im ,Athenaeum' oder in Sillimanns Jour- nal zu veröffentlichen, um Agassiz einen kleinen Stoß zu geben. . .« In seinen Briefen stößt man immer wieder auf Ausdrücke wie: dieser oder jener geht »in allem«, »teilweise«, »mit einigem Vorbehalt« mit — wie man es bei Wahlagitationen hört. Als echter Engländer hatte er Verständnis für die Forderungen der Öffentlichkeit und er- schwerte seinen Freunden nicht die Verteidigung seiner Lehre: der Schöpfer wird in seinem Werke zweimal als tätig vorgestellt; auch ') Darwins Leben II, S. 321. IZA XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. eine kirchliche Autorität wird von ihm zitiert, welche Darwins An- schauungen annehmbar findet; die Anwendung der Theorie auf den Menschen wird auf eine gesellschaftlich ganz korrekte Art erwähnt1): »Obgleich in der ,Entstehung der Arten' nirgends die Abkunft irgend einer besonderen Spezies erörtert wird, hielt ich es doch für das Beste, damit kein anständiger Mensch mich deshalb angreifea könne, daß ich meine Ansichten verheimlicht hätte, diesem Werke die Bemerkung hin- zuzufügen, ,es werde auch auf den Ursprung des Menschen und auf seine Geschichte Licht geworfen werden'. Es würde nutzlos und für den Erfolg des Buches schädlich gewesen sein, hätte ich mit meiner Über- zeugung betreffs des Ursprungs des Menschen paradieren wollen ohne irgend welche Beweise beizubringen.« Nichtsdestoweniger stieß die Schrift auf großen Widerspruch ; die »high church party« fühlte sich beleidigt; der Oxforder Bischof schrieb eine scharfe Polemik gegen Darwin und auch Rich. Owen und Herzog VON Argyll sollen sich der kirchlichen Partei gegen Darwin angeschlossen haben; der katholische Zoologe Mivart pole- misierte viel gegen die Theorie der natürlichen Zuchtwahl; allein Ch. Lyell, der in freundschaftlichen Beziehungen zum hohen Klerus stand, bereitete dort für Darwin eine günstigere Stimmung vor. Der Anhänger der alten idealistischen Schule, der Anatom RlCH. Owen (1809 — 1892) verwarf die DARWiNsche Theorie und bezeichnete die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl 2) als alte Scholastik, was wohl ein wenig passender Vergleich war. Jedoch war Owen nicht besonders zu fürchten; er schrieb nicht klar genug und der Zenith seines Ruhmes war seit langem bereits überschritten. Ein viel gefährlicherer Gegner erstand im Herzog von Argyll (George Campbell duke of Argyll, 1823 — 1900), einem hervorragenden Staatsmann, Generaldirektor des Postvvesens, später Sekretär für Indien, einem vorzüglichen Stilisten und Redner, der neben Staats- und kirchlichen Geschäften auch Geologie und Ornithologie pflegte. Als Anhänger der älteren, rationalistischen Richtung suchte er durch seine geologischen Beobachtungen aus Schottland die Richtigkeit der Katastrophentheorie zu beweisen. An der DARWINschen Theorie setzte er, sich auf die Studien über den Bau der Vögel stützend, den Materialismus und eine ungenügende Logik aus; er stellte ihr gegen- über die Überzeugung von der planmäßigen Anordnung der Natur auf; dem Grundsatze vom vernünftigen Plan müsse sich auch die J) Darwins Leben II, S. 83. 2) In Edinb. Review 1860. XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. 155 Geschichte der Organismen unterordnen lassen. Er zeigte in der Analyse des Darwinschen Werkes von der Befruchtung der Orchideen, daß Darwin trotz aller Polemik gegen die Teleologie nichts als Zwecke in der Natur sucht, daß er in jeder Einzelnheit der Struktur eine zweckmäßige Einrichtung sieht und durch dieselbe die Struktur zu erklären strebt. ARGYLL nimmt diese Anschauungsweise Darwins an; auch er will glauben, daß jedem Organismus erstens ein Plan zugrunde liege (den auch Darwin in seiner Lehre von homologen Teilen annimmt), welcher nach verstandesmäßigen Gesetzen bestimmten Zwecken angepaßt sei. Dasselbe Gesetz walte in der Natur und in den Handlungen des Menschen; weder die Natur noch der Mensch werde von einem willkürlichen Willen, sondern von einem solchen regiert, der Verstandesprinzipien anerkennt1). Nebst Owen und von Argyll trat gegen Darwin noch eine Reihe anderer Schriftsteller auf; für Darwin erklärten sich dagegen: Mill, Buckle, Lyell, Hooke u. a. Von Darwins Vorkämpfern bewährte sich am besten sein Freund Prof. Thomas H. Huxley (1825— 1895), Philosoph, vorzüglicher Stilist, gewandter Debatteur und bekannter Biologe, ein Mann von seltener geistiger Unabhängigkeit und großer Erfahrung. Er begann seine wissenschaftliche Laufbahn mit anatomischen und histologischen Arbeiten, trat später zur Paläontologie über, um schließlich bei der Philosophie anzulangen; von den Deutschen hat ihn C. E. V. Baer, von den Engländern CäRLYLE beeinflußt. Wie es oft bei kritischen Geistern vorkommt, war auch Huxley eine vorwiegend negative Natur; keine bedeutendere biologische Theorie trägt seinen Namen, bemerkenswert sind jedoch seine Streitschriften; in der Anatomie ver- warf er die Wirbeltheorie des Schädels und ersetzte sie durch eine modernere, embryologische Auffassung; in der Paläontologie be- kämpfte er die überspannten Gedanken von einer großen Anzahl aus- gestorbener Typen; in der Philosophie lehnte er COMTE ab, und stellte sich jedem Gottesglauben kritisch gegenüber; er verwarf die Lehre von der Gleichheit aller Menschen und teilte nicht den all- gemeinen Enthusiasmus für die Emanzipation der Frauen. Huxley übertraf gewiß Darwin und Spencer an kritischem J) Gegen den Darwinismus zielen seine Schriften: The reign of law, London 1867, 5. ed. 1870 und Primeval Man, London iS6j. Ich habe von ihm nur einen Artikel in Edinb. Review, Vol. 236, 1S62, S. 391 sq.. gelesen, wo die Grundsätze dei >Herrschaft des Gesetzes« erklärt sind. 156 XL Aufnahme der Darwinschen Theorie. Scharfsinn; er besaß die guten Eigenschaften beider und überdies noch große geistige Gewandtheit, Belesenheit und einen klaren und ge- fälligen Stil; und trotzdem blieb nach ihm viel weniger Eigenes übrig als nach jenen beiden, wahrscheinlich eben infolge seiner allzu- sehr auf das Polemische ausgehenden Natur. Er kämpfte für Darwin, aber seinen Hauptgrundsatz, die allmählichen Übergänge, ließ er nicht gelten; er unterstützte Spencer, doch glaubte er weder an die natürliche Gleichheit der Menschen, noch wollte er aus dem Kampf ums Dasein in der Natur, wie Spencer, die Sittlichkeit ableiten; er war einer der schärfsten Vorkämpfer des Darwinismus, allein der Name Darwinist paßt kaum auf ihn, weil er niemals an die phylo- genetischen Schablonen glaubte ; er war überhaupt kein Dogmatiker, noch weniger hatte er Sinn für konkrete Formulierung, für plastische Darstellung irgend eines, seines Gedankens. Er war der gerade Gegensatz von einem Entdecker neuer Tatsachen, ein echtes Kind seiner Zeit, welches die Wahrheit mehr als einen originellen Gedanken liebte. Der Name Agnostiker, den er sich für seinen negativen Standpunkt in Sachen der Religion vorschlug, paßt sehr gut für seine ganze wissenschaftliche Tätigkeit. HUXLEY stellte seine ganze Erfahrung und Beredsamkeit in den Dienst Darwins; er schrieb günstige Referate über sein Werk, kämpfte für ihn in Zeitschriften und Versammlungen, trug seine Lehre dem großen Publikum vor und schlug geschickt die Angriffe der Theologen ab. Als z. B. eine ablehnende Kritik der DARWlNschen Theorie von dem Oxforder Bischof Wilberforce erschien und HüXLEY erfuhr, daß ihr sachlicher Inhalt von OWEN herrührt, veröffentlichte er eine Polemik, durch welche er die groben Verstöße des Bischofs dem öffentlichen Spotte preisgab und so dessen Hintermann traf; auf der Oxforder Versammlung der Naturforscher zeigte er wieder seine Überlegenheit in der Debatte, indem er seinen Gegner, den Bischof, durch eine schlagfertige Entgegnung zum Schweigen brachte. Es war wohl nur ein Sieg des treffenden Wortes, aber die 700 An- wesenden, welche der Debatte folgten und HüXLEYs Überlegenheit sahen, bedeuteten für den Erfolg der Theorie viel mehr als eine noch so große innere Wahrheit. Auch mit Owen stieß Huxley zusammen und siegte auf dieselbe Art: Owen drückte sich wenig erschöpfend über den Unterschied zwischen dem Menschen- und Affengehirn aus ; HUXLEY griff seinen Ausspruch an und bewies dessen Unrichtigkeit. Vergebens verteidigte sich dann Owen damit, daß Huxley seinen Worten einen anderen Sinn unterlegt habe, der Erfolg vor der Öffent- XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. 157 Hchkeit fiel HUXLEY zu; das öffentliche Interesse für den Streit war so groß, daß man darauf sogar ein Lied verfaßte T). Sonst aber traf Darwins Theorie in England auf keine besonderen Schwierigkeiten ; das Denken war dort seit langem an die induktive und nationalökonomische Methode Darwins gewöhnt und es er- übrigte nur, daß die Personen, welche sich um ähnliche Probleme interessierten, zu der Theorie eine bestimmte Stellung einnehmen. Nachdem dies geschehen, galt die Angelegenheit als fair ausgetragen. Darwins Aufnahme in Frankreich. In Frankreich wurde Darwin sehr kalt aufgenommen; die Pariser Wissenschaft zehrte noch von CuviERS Tradition oder neigte mehr zu COMTEs positiver Philosophie, welche auf die Exaktheit der Methode, auf die Klarheit der Schlüsse und besonders auf die Experimente Nachdruck legte. Claude Bernard und Pasteur gaben in der Biologie den Ton an ; beide erklärten sich gegen Darwin. Von CUVIERS Anhängern verwarfen P. FLOURENS, DE QüATREFAGES, MlLNE- Edwards, A. Brogntart, E. de Beaumont, J. Barrande, d'Archiac die neue Theorie. Auch später konnte Darwins Lehre keinen festen Fuß in Frankreich fassen; seine Schriften wurden zwar ins Französische übersetzt, der Zoologe Ch. Martins und der Philosoph J. SoURY schlugen sich für die Entwicklungslehre (der letztere besonders für die deutsche Auffassung derselben), auch exakte Forscher, wie z. B. A. Giard, E. Perrier, E. J. Marey, P. Bert, von den Populari- satoren L. A. Dumont, E. Ferriere, D. C. Rossi, M. Duval u. a. schlössen sich dem Darwinismus an, ihre Erörterungen überschritten aber keineswegs die Grenzen einer ruhigen, wissenschaftlichen Be- jahung. l) Das Lied ist in IIuxleys Life I, S. 191 angeführt. Auf daß der Leser den strittigen Punkt zwischen Owen und Huxley selbst beurteilen kann, seien die Worte beider angeführt. — Owen schrieb: >Their (Hemispheres of man) posterior develop- ment is so marked that anatomists have assigned to that part the Charakter of a third lobe; it is peculiar to the genus Homo and equally peculiar is the .posterior hörn of the lateral ventricle' and the hippocampus minor which caracterise the hind lobe of each hemisphere . . .« (Journ. Linn. Soc. Vol. 2, S. 19). Diese Worte wird man so verstehen müssen, daß die große Entwicklung (marked development) der erwähnten Teile für den Menschen charakteristisch ist. Htxi 1 y führte aber in seiner Polemik aus, Owen lehre mit Unrecht, die erwähnten Teile seien für den Menschen charakte- ristisch, d. h. daß sie sonst nicht vorkommen« . . . the third lobe is neither peculiar to, nor characteristic of Man . . .< etc. Nat. Hist. Rev. 1861. S. 67). Vgl. Owens Verteidigung in Edinb. Rev.. V. 240. 1863, S. 55S sq. jeg XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. Spricht man von Frankreich, so darf man nicht die offizielle Stellung der Pariser Akademie zu Darwin mit Schweigen übergehen ; bei dem ersten Versuch, ihn zum auswärtigen Mitglied zu wählen, fielen ihm nur fünf Stimmen zu; bei einem späteren Versuch wurde er als Botaniker gewählt; von 40 Zoologen stimmten diesmal nur 26 für ihn1). Darwins Aufnahme in Deutschland. Der Darwinismus wurde in England geboren, seine Heimat fand er aber in Deutschland. Obwohl dort Darwin, Huxley, Wallace, F. Galton, H. Spencer lebten und lehrten, geht doch die Mehrzahl der Jünger nach Deutschland, zu Haeckel, zu Weismann und zu anderen, um über den Darwinismus belehrt zu werden. Dies geschah, weil der Darwinismus in England niemals als ein wissenschaftliches System dargeboten wurde; erst die Deutschen bildeten Darwins individuelle Philosophie zu einer »Lehre« um, indem sie derselben eine dogmatische, logisch geordnete Form verliehen. Wer deutsche Wissenschaft sagt, meint die Universitäten : Blumen- bach, Kant, Liebig, Virchow, Haeckel und unzählige andere waren und sind Hochschulprofessoren. Es ist einmal nicht anders: wenn ein junger Mann erscheint, der inneren Trieb nach Erkenntnis oder Ausdauer bei wissenschaftlicher Arbeit zeigt, so sieht in ihm die ganze Welt einen angehenden Professor; würde er sich diesem Beruf nicht widmen, hielte man seine Wissenschaft für minderwertigen Dilettantismus. Warum sollte er übrigens diesen Beruf nicht wählen, da die Professur ein ehrenvolles und für die Pflege der Wissenschaft bestimmtes Amt bildet? Unter diesen Umständen wird fast ein jeder sich der Wissenschaft hingebender Mann Mitglied einer Universität, welches alle diejenigen guten Folgen zeigt, die eine Organisation mit sich bringt, das aber auch seine Schattenseiten hat. Von den letzteren seien zwei hervorgehoben: eine autonome, vom Staate, von den Universitäten, von den eben an den Universitäten für offiziell geltenden Richtungen unabhängige Wissenschaft wird auf diese Art fast zur Unmöglichkeit; denn es werden ihr alle besseren Talente von amtswegen entzogen und nur die minderwertigen gelassen; man ist infolgedessen nicht T) E. Krause, Ch. Darwin und sein Verhältnis zu Deutschland, Leipzig 1885, S. 226. XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. 150 ohne Grund geneigt, die autonome Wissenschaft gering zu schätzen und das Wort »populäre Literatur«, mit welchem man ihre Produkte bezeichnet, gilt für Schriften, die keine wissenschaftlichen Ansprüche erheben. Gewiß gibt es Bücher und Abhandlungen, die nur oder fast nur didaktischen Zwecken dienen; allein die Werke eines L. BÜCHNER, eines F. V. Hellwald, eines Haeckel usf. bedeuten offenbar weit mehr, indem sie die persönliche Überzeugung ihrer Verfasser zum Ausdruck bringen. Man schließt solche Werke aus der eigentlichen Wissenschaft noch aus einem anderen Grunde, welcher ebenfalls mit der Orga- nisation der Wissenschaft zusammenhängt, aus. Es ist leicht ein- zusehen, daß die amtliche Pflege der Wissenschaft den größten Nachdruck auf die Korrektheit in der Ausführung der Einzelheiten, auf die strenge Unterscheidung des Richtigen und des Unrichtigen legen wird: das Kritische ist ihr Ideal. Es ist nur natürlich, daß diese Wissenschaft mit Geringschätzung auf jene herabblicken wird, welche nicht das Richtige, sondern das Wahre betont. Dieses natürliche Verhältnis wird aber alsbald zur Unnatürlichkeit, wenn die öffentliche Stellung der amtlichen Wissenschaft ihren kritischen (also wesentlich negativen) Bestrebungen den Wert der Wissenschaft an sich, dem eigentlichen wissenschaftlichen Leben dagegen nur die Bedeutung von Abfällen aus ihrer Werkstatt vindiziert. Aus dem öffentlichen Charakter dieser Wissenschaft, welche zur modernen Wissenschaft überhaupt wurde, folgt ferner, daß dann die Wissenschaft vom Einzelnen unabhängig wird; die Universitätsämter, wie z. B. Professur der vergleichenden Anatomie, der Philosophie, der Geschichte der Medizin bleiben bestehen, auch wenn die solche Amter bekleidende Person sie verläßt. Es ist nötig, diesen öffent- lichen, objektiven Charakter der deutschen Wissenschaft im Auge zu behalten, wenn man die eigentümliche Tatsache begreifen will, daß dort die Wissenschaft in feste, objektiv vorausbestimmte Cadres (Anatomie, Histologie, Zoologie usw.) gebannt ist, daß dort die Natur- forscher gegen Philosophen kämpfen und behaupten können, die Naturforschung bedeute mehr als die Philosophie; daß man dort die Wissenschaft der Tatsachen von der der Theorien, die Forschung von der Lehre scharf unterscheidet — Gegensätze, welche offenbar nicht so sehr in der Natur oder im Geiste des Menschen, als in den ob- waltenden sozialen Einrichtungen ihren Grund haben. In England fand es der Staatsmann OF Argyll ganz natürlich, daß er nebst Schriften über die Verwaltung in Indien und über den Streit der j6o XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. englischen Kirchen auch gegen Lyells Theorie Beobachtungen ver- öffentlichte, gegen Spencers Philosophie polemisierte und Darwins Auffassung der Schönheit der Vögel durch seine Erfahrungen zu widerlegen suchte; auch Darwin und Lyell fanden sein Verhalten ganz natürlich und antworteten ihm wie einem ebenbürtigen Forscher. Etwas derartiges ist in Deutschland fast undenkbar; dort würde man über einen Minister den Kopf schütteln, wenn er mit Kolliker oder mit Gegenbaur polemisierte, und man fände es bedenklich, wenn derselbe Forscher zugleich über Geologie, Ornithologie und Philo- sophie schriebe. Diese Verhältnisse, das Objektive der deutschen Wissenschaft, muß man sich vor Augen halten, wenn man die Schick- sale des Darwinismus in Deutschland verfolgt. Schon anfangs 1860 erschienen einige Referate über Darwins Theorie1) und noch in demselben Jahre wurde das Werk von dem uns bekannten Prof. H. G. Bronn ins Deutsche übersetzt. Bronn nahm einen sehr bezeichnenden Standpunkt zu der Theorie des eng- lischen Forschers ein. Er glaubte nicht an die Theorie — trotzdem übersetzte er das Buch ; er hielt es für seine Pflicht, sein Volk mit einer so interessanten Schrift bekannt zu machen. Darwin deutete aus besonderen, uns bereits bekannten Gründen, in seiner Schrift an, daß seine Theorie auch auf den Menschen angewendet werden muß — Bronn ließ den charakteristischen Satz aus (ohne Gründe dafür anzuführen). Damit aber der Leser schließlich doch nicht meine, daß Bronn durch die Übersetzung seinen Glauben an diese Lehre bezeugen wolle (der Lehrer muß doch einen absolut objektiven Standpunkt zu der Theorie bewahren), fügte er seiner Übersetzung ein Nachwort bei, in welchem er seine kritischen Bedenken gegen die Theorie entwickelte. Ihr Schluß ist äußerst charakteristisch. Er könne Darwins Theorie nicht annehmen, schreibt er, denn es lassen sich verschiedene Gründe gegen sie anführen2), » obwohl uns eingewendet werden kann, auch die gewöhnliche Schöpfungs- theorie lasse Einrede und zwar noch gewichtigere aber freilich von ganz anderer Beschaffenheit zu. Denn unnatürlich an sich, braucht die Theorie der Schöpfung nicht mit natürlichen Erklärungen zu antworten. Sie kennt nur Wunder! Daher scheint es uns wenigstens konsequenter auf dem alten naturwissenschaftlich haltlosen Standpunkte zu verharren«. J) Im »Ausland« 1860. Über die erste Aufnahme des Darwinismus in Deutschland gibt einige Nachrichten G. Seidlitz in Kosmos I, S. 546— 558. 2) Entstehung der Arten, übers, von Bronn, S. 518. XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. !5t denn es werden sich Forscher finden, setzt BRONN hinzu, die sich auf die Seite Darwins schlagen werden und aus dem Streite der Meinungen wird schon die Wahrheit herauskommen (eine Wahrheit. hätte er noch beifügen sollen, welche wir dann lehren werden). Das war der Standpunkt der objektiven Wissenschaft der neuen Theorie gegenüber. Es wollte aber scheinen, daß diese Aufnahme Darwins eine Korrektur erfahren werde. Man schob höflich diese Übersetzung beiseite und es wurde eine neue, vollständige von V. CARUS herausgegeben, welcher keine Bedenken angefügt waren. Allein Bronns eigentümlicher Standpunkt war keineswegs ein ver- einzelter Zufall; er kam noch einmal zur Geltung und sollte diesesmal ein viel nachhaltigeres Echo finden. Der Kampf der exakten Wissenschaft gegen die Philosophie in den vierziger Jahren war ein Kampf der demokratischen gegen aristo- kratische Prinzipien. Philosophie, die Königin der Wissenschaften, war in der Tat aristokratisch: Kant wollte durch die Kraft seines Verstandes Gesetze für die Wissenschaft und für die Ethik aufstellen; HEGEL kannte keinen anderen Herrscher über der intellektuellen Welt als die Vernunft des Philosophen; die Hervorhebung der intellek- tuellen, die Unterschätzung der praktischen Seite des Lebens und die Gegenüberstellung von genialen und alltäglichen Menschen war aristo- kratisch; auch schlechte Eigenschaften hatte die Philosophie mit jener Lebensanschauung gemein: sie schloß sich gerne an die Kirche und die weltliche Macht an. Die exakte Wissenschaft brachte dagegen andere Grundsätze mit: sie bespöttelte die praktische Nutzlosigkeit der Philosophie und be- hauptete von sich selbst, für das Leben nützlich zu sein; sie haßte die weltliche wie die kirchliche Macht und führte auch sonst demo- kratische Prinzipien im Munde ; sie hob die Unterscheidung der genialen und der gewöhnlichen Menschen auf, alle Forscher waren vor ihren Augen ebenbürtige Bürger, ein jeder konnte seine Stimme bei der Entscheidung jeder Frage abgeben und man entschied durch Stimmenmehrheit (d. h. durch Bejahung oder Verneinung der Hypo- thesen). Die politische Demokratie argwöhnt noch immer im Ein- zelnen das Streben, sich über andere zu erheben und sie zu unter- drücken, und die Masse verbindet sich gegen den Einzelnen: sobald er Neigung zeigt, seine Kraft zu entwickeln, wird er von seiner Um- gebung niedergerungen. Die Methode der exakten Wissenschaft gründet sich auf eine analoge Betrachtung: sie stellt den Menschen so dar, als ob er eine unüberwindliche Neigung besäße, zu philoso- Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. I( l52 ^1. Aufnahme der Darwinschen Theorie. phieren und Behauptungen aufzustellen, welche, wenn sie nicht geradezu erlogen, so doch gewiß irrtümlich sind ; der ganze Mechanismus des wissenschaftlichen Betriebs ist darauf eingerichtet, diese böse Neigung der Menschen zu bekämpfen : sobald man sie irgendwo bemerkt, muß sie durch Beobachten und Experimentieren geprüft und unterdrückt werden, auf daß aus dem Kampfe gegen die Lüge die Wahrheit hervorgehe. Le nombre fait la sagesse — wie in der Politik, so in der Wissenschaft. Demokratische Anschauungen führten in die deutsche Wissen- schaft unter anderen Vogt, Moleschott, Virchow und BÜCHNER ein. Sie verlangten von der Wissenschaft, sie solle sich an das Volk anlehnen und praktische Ziele verfolgen; im Gegensatz zu den Philo- sophen schrieben sie in einem leicht verständlichen Stil und für das Volk; deshalb sprachen sie abfällig über Philosophie, Seele, Regierung und andere »unpraktische« Dinge. Moleschotts Forderung, man solle die Kirchhöfe als gut gedüngte Felder benutzen, diene zur Veranschau- lichung der Tendenzen dieser Demokraten1). An Jak. MOLESCHOTT wird sein beredter und aufrichtiger Stil gerühmt; K. VOGT führte in die deutsche populäre Wissenschaft den Ton ein, den die Franzosen »causerie« und die Deutschen »Plauderei« nennen (vor einem rauhen Ausdruck schrak er nicht zurück); VlRCHOW sprach seine Reden und schrieb seine Abhandlungen in einem familiären Tone (den man ebenfalls als Plauderei bezeichnete). Alle standen in Opposition gegen die Obrigkeit. BÜCHNER wurde wegen angeblicher Unmoralität seines Buches »Kraft und Stoff« verfolgt, VOGT mußte vor der politischen Reaktion nach der Schweiz heimlich flüchten; Moleschott erhielt vom akademischen Senat der Heidelberger Universität einen Verweis wegen der oben erwähnten Forderung, legte die Dozentur nieder und siedelte nach Italien über; VlRCHOW wurde der Professur in Berlin enthoben (die Strafe wurde aber widerrufen). In diesem Zustande der Gärung befand sich die deutsche Wissen- x) Die (von der Universitätsbehörde als frivol und unsittlich beanstandete) Stelle in Moi. eschotts Kreislauf des Lebens lautet: »Wenn wir unsere Toten verbrennen könnten, dann würden wir die Luft bereichern mit Kohlensäure und Ammoniak, und die Asche, welche die Werkzeuge zu neuen Getreidepflanzen, zu Tieren und Menschen enthält, würde unsere Haiden in fruchtbare Fluren verwandeln. Es kann nicht fehlen, wenn wir es auch nicht erleben sollten, das Bedürfnis des Menschen, welches der oberste Rechtsgrund und die heiligste Quelle der Sitte ist, wird einmal unsere Kirchhöfe mit gleichen Augen betrachten, wie wir das Pfund, das ein ängstlicher Bauer vergräbt, statt vom sauer erworbenen Kapitale Zinsen zu ernten. Nur die Un- wissenheit ist Barbarei.« XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. IÖ3 schaft, als Darwin auftrat. Die älteren Fachleute, Anhänger der Philosophie, verwarfen mit großer Entrüstung die neue Lehre, in der sie einen Angriff auf ihre aristokratischen Prinzipien sahen. Einige wurden sogar grob; so HERM. BURMEISTER x), der sich durch die Affentheorie abgestoßen fühlte, der Zoologe Chr. GlEBEL, der sich vernehmen ließ, daß die Lehre2) »ein Chaos von Unbewiesenheiten und unbewiesenen Dummdreistigkeiten ist«. Chr. G. Ehrenberg, der, nachdem er einzelne Gedanken Dar- wins verworfen, die ganze Theorie für eine »sympathische Krankheit« und höchstens für einen »Unterhaltung schaffenden Roman« erklärte3). Schimper, der uns bereits bekannte Botaniker verurteilte sie als4) »die kurzsichtigste, dümmste und brutalste Theorie, die nur möglich und viel elender, als die Theorien von krystallisierten Atomen [d. i. Materialismus], mit welcher sich ein moderner Hanswurst und gedungener Betrüger interessant zu machen versucht« [Büchner ?j. Der Ethnologe A. Bastian schrieb, daß sie einen Ausdruck5) »der geistigen Faulheit darstellt, die eigenwillig die Augen schließt vor der ungeheueren Menge Fragen, die zu beantworten wären«. Der Geologe Ose. Fraas meinte, daß die Hypothese von der Entstehung des Menschen aus einem Orang »höchstens in das Reich der Basilisken und Einhörner gehört«6). Milder im Ausdruck, aber dem Inhalte nach gleich entschieden wurde die Theorie von anderen Forschern abgelehnt: dem Physio- logen R. Wagner, dem Geologen Goeppert, dem Embryologen C. E. v. Baer und A. KöLLiKER, dem Zoologen F. LEYDIG, dem Botaniker Alex. Braun usf. Die Anhänger der demokratischen Wissenschaft hießen dagegen die englische auf Mills Prinzipien gegründete Theorie willkommen. SCHLEIDEN7) (der noch einer älteren Schule angehört; war unter J) H. Burmeistf.r, Geschichte der Schöpfung, 7. Aufl. 1867, S. 617 sqq. 2 Chr. Giebel, Der Mensch, sein Körperbau, seine Lebenstätigkeit und seine Entwicklung, Leipzig 1869. J. Hanstein, Chr. Eiirenberg, Bonn 1S77, S. 123. Nach J. Sachs, Geschichte der Botanik, München 1866, S. 182. 5 Nach O. ZÖCKXERS Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft II, S. 659, wo auch die betreffende Literatur angeführt wird. HAECKEL nennt irgendwo BASTIAN »wirklichen geheimen Oberkonfusionsrat< ; ich ver- suchte Bastians Schrift >Das Beständige in den Menschenrassen, Berlin iS6S< zu lesen, und ich begriff HAECKELs Witz. /.öckler II. S. 659. ' M. J. SCHLEIDEN, Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig 1863. 1 1 * j5i XL Aufnahme der Darwinschen Theorie. den ersten, die sich für Darwin erklärten, obwohl er keine neuen Gründe für seine Zustimmung- anführte; auch C. Vogt ließ sich überzeugen1). Früher hatte er die Lehre von den Formumwandlungen verworfen und Lamarck bekämpft, war mit Baer den embryo- logischen Phantasien Meckels und Serres', in welchen er nur einen Widerhall der gehaßten Naturphilosophie erblickte, entgegengetreten, hatte Nachdruck darauf gelegt, daß die Formen in ihrem fertigen Zustande ohne jeden göttlichen Eingriff entstanden sind: jetzt aber schlägt er sich zu Darwin, obwohl er sich nicht vollständig von Cuviers Ansichten über die Erdumwälzungen befreien kann. Mit ihm verschärft LOUIS BÜCHNER seine Lehre von Kraft und Stoff durch die Behauptung, der Mensch sei nur ein besserer Affe2); ihre Meinung teilt auch D. F. Strausz. Auch R. ViRCHOW nahm die Zuchtwahllehre freundlich auf in der Hoffnung 3), »daß sie auch für das tägliche praktische Leben nützlich sein wird. Für die philosophische, ja, sagen wir, für unsere ethische Anschauung ist sie von einer Bedeutung, welche nicht hoch genug geschätzt werden kann, indem sie uns sozusagen organoplastisch darstellt, wie der Fortschritt in der Zeit möglich ist«. Auch die gemäßigten Anhänger der neuen demokratischen Wissen- schaft sprachen Darwin keineswegs ihre Anerkennung ab. E. DU Bois Reymond hieß die Theorie mit Jubel willkommen, gab Darwin den stolzen Namen eines Kopernikus der organischen Welt und machte darauf aufmerksam, daß man angeborene Ideen, über welche seinerzeit Leibniz und Locke stritten, darvvinistisch durch Vererbung wird erklären können4). Helmholtz ließ sich überzeugen, daß es Darwin gelungen ist, die Zweckmäßigkeit der Organismen zu erklären5). Alb. Lange glaubt in seiner Ge- schichte des Materialismus ganz an Darwin und verteidigt ihn gegen die Kritik der Philosophen. Sogar G. Th. Fechner, der sich wohl nicht ganz von dem alten Glauben an die Philosophie frei machen konnte, machte den Versuch in der neuen Lehre eine Ver- söhnung zwischen der Theorie der Atombewegungen und der Lehre *} C Vogt. Vorlesungen über den Menschen usw., 2 Bde., Gießen 1864. 2. Bd., S. 252 sq. 2) L. Büchner, Sechs Vorlesungen über die DARWiNsche Theorie, Leipzig 1868. 3) R. Virchow, Über den vermeintlichen Materialismus der heutigen Natur- wissenschaft. Ber. üb. d. Vers, deutsch. Naturf. Stettin 1863, S. 35. 4) E. du Bois Reymond, Darwin und Kopernikus, Reden II, 1887 und Leib- Nizsche Gedanken in der neueren Naturwissenschaft, Berlin 1870. 5) H. Helmholtz, Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft, 1869. XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. 1 65 von einer Weltordnung' zu finden, und konstruierte eine Hypothese der Tendenz zur Stabilität, nach welcher sich das ganze Weltall von einer ursprünglichen Gesetzlosigkeit zu ruhigeren und geordneteren Zuständen entwickelt1). Unsere wissenschaftlichen Demokraten, K. VOGT, VlRCHOW, DU BoiS, V. HKLMHOLTZ waren gewiß überzeugt, daß sie durch die freund- liche Aufnahme der neuen Theorie ihre Schuld getan; sie nahmen an, daß man nun die Theorie an den Universitäten vortragen, über dieselbe gelehrte und populäre Abhandlungen verfassen, sie beweisen und bestreiten wird, wie es das gewöhnliche Schicksal der Schul- theorien ist. Indessen nahm aber die Theorie unter HAECKELs Händen eine bedenkliche Richtung an. HAECKELs Lehre soll später ausführlicher behandelt werden, hier werden wir von seiner Tätigkeit nur soviel erwähnen, als zum Verständnis des Zusammenhanges nötig. Haeckel war früher VlRCHOWs Schüler (und Assistent) und gedachte später oft2), wie begeistert er seinen materialistischen (moni- stischen, sagt Haeckel) Vorlesungen gefolgt war — auch Büchner fand in jenen Vorlesungen den Ansporn zu »Kraft und Stoff« ; indem nun Haeckel die ViRCHOWsche Lehre mit der Theorie Darwins verknüpfte, nahm er sie in allem Ernste auf: er behauptete nun, es sei wahr, daß es nur Atome und deren Bewegung gebe, es sei wahr, daß der Mensch aus dem Affen entstanden sei, und weil es wahr sei, müsse jeder Mensch mit gesundem Verstände daran glauben und dieser Wahrheit gemäß sei das ganze Leben der Menschheit einzurichten. Diese Erkenntnis begann er öffentlich zu lehren3): »Der höchste Triumph des menschlichen Geistes, die wahre Erkennt- nis der allgemeinsten Naturgesetze, darf nicht das Privateigentum einer privilegierten Gelehrtenkaste bleiben, sondern muß Gemeingut der ganzen Menschheit werden.« HAECKELs Aufforderung blieb nicht ohne Widerhall. Die Be- geisterung für die Theorie erweckte eine Reihe von Philosophen, welche, von der Wahrheit und Wichtigkeit der neuen Lehre über- zeugt, dieselbe durch Vorträge, Zeitschriften und Bücher verbreiteten. G. Jaeger, G. Seidlitz, A. Dodel, L. Dumont, L. Büchner, O. Schmidt, E. Krause, F. v. Hellwald, T. W. Preyer, F. Rolle u. a. wurden zu Herolden des Darwinismus. Unter den Zeitschriften 1) G. T. Fechner, Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen, Leipzig 1873. 2) Bericht über die Feier des 60. Geburtstages von E. Haeckel. Jena 1894, S. 15. ) E. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, Berlin 1S74. 5. Aufl.. S. 4. j56 XI- Aufnahme der Darwinschen Theorie. wurde »Das Ausland« (welches geographische Artikel veröffentlichte) seit 1 87 1 , als F. V. Hellwald die Redaktion desselben übernahm, zum Kampforgan der Darwinisten; daneben gründete 1877 E. Krause den »Kosmos«, welcher ausschließlich für Darwin streiten sollte. Die Verkünder der neuen Theorie waren sehr rührig, und wie aus den angeführten Namen zu sehen ist, gehörten zu denselben teils außer- halb der Universitäten stehende Männer (besonders: CARNERI, Du- mont, v. Hellwald, Büchner, Krause, C. du Prel, F. Müller, R. MÜLLER, F. Rolle u. a.), teils radikale Universitätsprofessoren: P. Haeckel (Jena), O. Schmidt (Straßburg), W. Preyer (Jena) usw. x) Die wissenschaftliche Tätigkeit dieser Männer war zwar von un- gleichem Werte ; man würde ihr aber unrecht tun, wollte man sie den heutigen populären Vorlesungen und Schriften gleichstellen, welche nur einen Verfall darstellen : Ernst und innere Wahrhaftigkeit, sowie das Bewußtsein, daß es etwas großartiges gilt, wird man aus jenen Schriften herauslesen, besonders wenn man in Betracht zieht, daß es keineswegs Denker erster Ordnung waren. Einige (G. Seidlitz, O. Schmidt, B. Carneri) bemühten sich aufrichtig von ihrem Standpunkte aus die alten Lehren zu begreifen und zu überwinden; andere wie Preyer, du Prel, G. Jaeger ge- langten auf dem neuen Wege zu wirklich neuen Begriffen; und wieder andere, wie die Brüder MÜLLER betätigten sich fleißig im Sammeln neuer, für die Theorie verwendbarer Tatsachen2). Auch die antidarwinistische Literatur vermehrte sich rasch; Flugblätter, Gedichte, Witze, Romane, Karikaturen, Predigten, »offene *) Die wichtigsten pupulären Schriften über den Darwinismus aus älterer Zeit: L. Büchner, Sechs Vorlesungen über die DARWiNsche Theorie, Leipzig 1868. — C C. R. Hartmann, Darwinismus und Tierproduktion, München 1876. — I. Dub, Kurze Darstellung der Lehre Darwins, Stuttgart 1878. — C. Sterne (= E. Krause), Werden und Vergehen, Berlin 1876, 8. Aufl. 1907. — E. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, Berlin 1868. — G. Jaeger, Die DARWiNsche Theorie über die Entstehung der Arten, 2 Vorträge, Wien 1862. — F. Rolle, Darwins Lehre von der Entstehung der Arten, Frankfurt 1S63. — M. J. Schleiden, Das Alter des Menschen- geschlechtes, die Entstehung der Arten usw., Leipzig 1863. — O. Schmidt, Deszen- denztheorie und Darwinismus, Internat. Bibliothek II, Leipzig 1873. — E. Ferrii'RF, Le Darwinisme, Paris 1872. — G. Canestrini, La teoria di Darwin, Milano 1S80. — M. Duval, Le Darwinisme, Paris 1886. — Jules Soury, Philosophie naturelle, Paris 1882. 2) Ich las aus dieser älteren populären Literatur: Seidlitz (zahlreiche literarische Angaben), F. Rolle (gutes populäres Werk), Büchner (scheint am schwächsten zu sein und enthält nur Paraphrasen der gemeinen Prinzipien des Darwinismus), Dodel (nicht bedeutend). XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. 167 Briefe«, wissenschaftliche und unwissenschaftliche, sowie populäre Bücher überschwemmten den Kampfplatz1]. Die Entwicklung des Darwinismus ließ sich aber dadurch keineswegs aufhalten. Die wissenschaftliche Stimmung der Zeit, der wachsende Materialismus und der Radikalismus der neuen Theorie übertönten alle Ein- wendungen und die jungen Köpfe sahen nichts, als die frische Wahr- heit der neuen Lehre und den reaktionären Geist ihrer Bekämpfer. Mit Verachtung hörten sie die Stimmen ihrer konservativen Lehrer, in deren Vorträgen sie immer dasselbe vernahmen: alle predigten von einem Geist in der Natur, von Gedanken, die im Tierkörper dargestellt sind, von Geheimnissen der Schöpfung — und die allzu häufige Wiederholung solcher Worte befestigte in den jungen Hörern und Lesern die Überzeugung, daß diese Philosophie nichts als leeren Wortkram enthalte, daß nie mehr etwas Neues aus derselben ent- stehen werde; — man rechne dazu noch verschiedene Schwächen der alten Herren, welche von den jungen so leicht bemerkt werden, Philistertum, Eigendünkel, übertriebene Vorstellungen von der eigenen Bedeutung für die Wissenschaft, — ganz wie es heute ist, wie es immer war und sein wird. Im Streite um die Wahrheit neuer Gedanken ist das Alter der Jugend gegenüber im Nachteil: das Alter ist Wirklichkeit, die Jugend Möglichkeit; die Jugend wirkt durch ihre Hoffnungen gewinnend, das Alter kühlt die meisten Erwartungen ab; stets bleibt das Wort des Kaisers Claudius bei Tacitus in Geltung: »omnia. patres conscripti, quae nunc vetustissima creduntur, nova fuere«. ') Ausführliche Znsammenstellung dieser Literatur findet sich bei Zöcki.er und bei Krause a. a. O. — Von den Parodien ist die gelungenste: M. Reymond, Das neue Laienbrevier des Haeckelismus, 2. Aufl., Bern 1S77; wo die ganze Anthropogenie Haeckei.s parodiert wird; auch Karikaturen (wie sie auch sonst, z. B. in den »Fliegenden Blättern« erschienen', sind dort abgedruckt. Als Beispiel dieser Parodie sei der Gesang über die Gastraea 'ibid. S. 139) angeführt: Ich bin der Darm der Entwicklungswurst, Der Zipfel des Metazoismus; Bei mir beginnt der Hunger und Durst Als Grundform des Egoismus. Ein Sack und ein Darm und ein weiter Schlund, Das sind meine sämtlichen Gaben, Vom Munde zum Magen, vom Magen zum Mund, Geht all mein Soll und mein Haben. Was braucht es ein Hirn, was braucht es ein Herz? Der Darm ist die Plauptsach im Leben! Die Narren nur sorgen allerwärts Für idealistisches Streben usw. j5S XL Aufnahme der Darwinschen Theorie. Hier einige Beispiele, wie die Darwinisten auf ihre Lehrer herab- sahen: Ernst Haeckel schrieb 1873 an Zöllner1): »Zufällig kenne ich ihre Leipziger Biologen seit langer Zeit persön- lich, und kann mir demnach denken, mit welchem stolzen Bedauern diese »exakte Forscher« auf ihre spekulativen Verirrungen herabsehen werden: der »gelehrte« Leuckart, dessen Kenntnisse ebensoreich als sein Verständnis der Zoologie oberflächlich ist, der trockene, geistlose Schenk, der das Verdienst hat, mich von der Botanik abgeschreckt zu haben; und der handwerksemsige (?) His, dessen Eifer schon als Student mit seiner Beschränktheit gleichen Schritt hielt! . . . « Nicht anders war es in England. Dort schreibt HüXLEY seinem Freunde HOOKER 2) über Owen, der damals, nach den Worten Huxleys selbst, der größte Anatom Englands war: »Wie ganz unpassend ist der Name, den man ihm gibt, der Name eines britischen Cuvier. Er steht zu dem französischen in gleichem Ver- hältnis, wie das englische Brandy zu Cognac«. Ein anderes Mal schreibt er von demselben Owen an den deutschen Biologen LEUCKART3): ». . . Einzelne zoologische Gebiete wurden in diesem Lande [in Eng- land] mit großem Erfolg gepflegt, wie es Ihnen gewiß bekannt ist, aber seit zehn Jahren scheint es mir, daß ich kein halbes Dutzend Lands- leute habe, die ein Tröpfchen Verständnis für jene Wissenschaft hätten, welche Sie und ich »wissenschaftliche Zoologie« nennen. Diejenigen, welche überhaupt von der Sache nachgedacht haben, halten Owens osteo- logische Extravaganzen für morphologische Spekulationen non plus ultra. . . « Wenn die Darwinisten solcherart die ältere Generation beurteilten, welch' Wunder, daß sie sich ganz berechtigt fühlten, die alten An- sichten zu bekämpfen und ihr neues, modernes Licht zur Geltung zu bringen? Die alten Demokraten verfolgten mit Unwillen die Tatsache, daß vor ihren Augen eine neue, von den Universitäten unabhängige, auto- nome Wissenschaft entstand, welche zwar auch demokratisch, keines- wegs aber liberal war. Jene waren nämlich meistens Liberale, d. h. sie wollten keine Überzeugung kennen; wie die Kirche, wie der Staat, war ihnen auch die Wissenschaft ein von der Person unabhängiges Ding, ein Objekt; deshalb paßte das Universitätswesen, wo der Ge- r) Der Brief erschien als Beilage zu: J. C. F. Zöllner, Über die Natur der Kometen, Leipzig 1883. 2) Huxleys Life I, S. 161. 3) Ibid. S. 163. XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. l6ü lehrte ein anonymer Beamter der an sich bestehenden Wissenschaft ist, vorzüglich zu ihrer Lebensanschauung'1). Die Pflicht des Beamten war, die ihm zugewiesene Wissenschaft zu pflegen, zu mehren und der Menschheit zu überliefern ; er selbst sollte aber mit seinen persönlichen Meinungen in die Wissenschaft ebensowenig eingreifen, wie der Richter, wenn er sein Amt ausübt. Die demokratische Furcht, daß der Einzelne durch Entwicklung seiner Individualität das gleiche Recht aller beeinträchtigen könnte, lag dieser Auffassung zugrunde. Die Darwinisten bedrohten dieses Gleich- gewicht: es blieb nichts anderes übrig, als sie mit aller Kraft den Grundsätzen des Liberalismus zu unterordnen. Versuchen wir zuerst, die Yox populi anzuhören, so finden wir, daß alle liberalistischen Zeitungen den Darwinismus bekämpften: wie die Frankfurter, so die Augsburger Allgemeine und die (Berliner) Nationalzeitung gaben den Darwinisten viel Anlaß, sich über ihre Haltung der neuen Lehre gegenüber zu beschweren 2j. Es sollten aber auch die Universitäten ihr Veto hören lassen. Im Jahre 1872 hielt DU BoiS REYMOND die bekannte Rede >Über die Grenzen des Naturerkennens«. Du BoiS war ein Materialist von grobem Korn; gleichviel führte er in jener Rede aus, daß man diese Philosophie nicht in ihre Konsequenzen verfolgen dürfe, sondern die psychischen Erscheinungen ausschalten müsse. Die Materialisten be- rührte diese Rede sehr unangenehm und sie wiesen öffentlich auf ihre Unaufrichtigkeit hin; nichtsdestoweniger war sie von nach- haltigem Einfluß, denn du BoiS war Professor einer großen Uni- versität (Berlin) und gewandter Redner. Im Jahre 1876 benutzte DU BoiS eine andere Gelegenheit3;, um sich direkt gegen Haeckei. zu äußern: seine Stammbäume sollen, bemerkte er treffend, bei dem exakten Forscher keinen größeren Wert haben, als die Stamm- bäume der Helden Homers in den Augen der historischen Kritik. Der exakte Forscher wurde da zum ersten Male klar und kampf- lustig in Gegensatz zu einem Mann gestellt, der fest an seine Lehre 1 Die Darwinisten hielten sich auch für konsequente Demokraten : eines Gegen- satzes zwischen ihrer und der ViRCHOWschen Auffassung der Wissenschaft waren sie sich kaum bewußt. Über das Demokratische im Darwinismus vgl. L. DüMONT, Der Fortschritt im Lichte der Lehren Schopenhauers und Darwins S. 13 und C. Di Pi Philosophische Betrachtungen über die Xebularhypothese, Kosmos 4, 1S78/79, S. 251 sq. 2) Vgl. HaecKEXs Freie Wissenschaft. Dr Bois Reymond, Darwin versus Galiani. 170 XL Aufnahme der Darwinschen Theorie. glaubt und solchen Glauben auch von anderen verlangt. Du Büis sprach sich übrigens noch deutlicher aus. Im Jahre 1882 hielt er als Rektor der Berliner Universität eine Rede1), in welcher er wieder indirekt) HAECKEL angriff. HAECKEL erklärte nämlich GOETHE für einen Vorläufer Darwins: er hatte zwar den Dichter unrichtig- ver- standen, DU Bois aber warf ihm nicht dieses, sondern Folgendes vor: Er zieht es vor2) »nicht viel zu fragen, ob Goethe für sich und die Welt nicht besser getan hätte, wie auf Clairauts Rat Voltaire, naturwissenschaftliche Studien lieber denen zu überlassen, die nicht zugleich große Dichter seien«; er vermag aber nicht »seine persönliche Überzeugung zu verhehlen, daß auch ohne Goethes Beteiligung die Wissenschaft heute so weit wäre, wie sie ist. . .« Auch »den Satz von der Stammverwandtschaft der Lebe- wesen zu ersinnen, mit verschlossenen Augen über die Klüfte fortzusteigen, vor denen Cuvier, der ihre volle Tiefe ermaß, zögernd stillstand« . . . war . . . »keine so große Kunst«; es galt vielmehr diesen Satz zu beweisen. Kurz es wäre nach du Bois' Ansicht besser, den »Naturfor- scher in Goethe endlich ruhen zu lassen, anstatt ihn immer wieder der urteilslosen Menge übertrieben anzupreisen und die Gegenrede mehr kritisch gestimmter herauszufordern«. Auch diese Worte DU Bois' fanden großen Wiederhall in jener Blütezeit der exakten Wissenschaft. Du Bois sprach übrigens nicht nur für seine Person, er war Freund von Helmholtz und dieser hegte über die GoETHEsche Wissenschaft ganz ähnliche Ansichten, verlieh ihnen aber eine mildere Fassung. Auch C. Vogt fand (1875) kein Gefallen an der Kühnheit der Darwinisten3); in richtiger Erkenntnis des Charakters der neuen Strömung rief er aus, es könnten schon einmal die Stammbäume und die Worte vom Kampf ums Dasein und von der natürlichen Zuchtwahl aufhören; man sollte zur Begründung und zum Sammeln der Tatsachen schreiten; die Dar wiNsche Theorie sei zu einerneuen *) Du Bois Reymond, Goethe und kein Ende, Berlin 1882. — Gegen diese Rede polemisierte der Darwinist S. Kalischer in der Schrift: Goethe als Natur- forscher und Herr du Bois Reymond als sein Kritiker. Eine Antikritik, Berlin 18S3. — Die Darwinisten warfen du Bois französische Redegewandtheit und mangelndes Verständnis für den deutschen Geist vor. So schreibt nicht nur Kalischer, sondern auch Haeckel (Freie Wissenschaft, S. 100 der engl. Ausgabe). Es ist dies deshalb interessant, da man aus diesem Beispiele den moderneren mehr national gefärbten Charakter der deutschen Darwinisten den älteren Liberalen g-eeenüber bemerken kann. 2) Nach Kalischer. 3) C. Vogt, Des Darwinisten Zweifel, Frankf. Zeitung 1875 (nach Zöckler) und Revue scientif. 1875. — Auch Moleschott sprach sich (in einer in Rom gehalte- nen Rede) über den Darwinismus aus; der Inhalt der Rede ist mir unbekannt geblieben. XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. iji Religion geworden, auf die der Darwinist ebenso schwöre, wie ehe- mals die Gläubigen auf die Bibel und den Koran. Endlich erhob sich auch der alte Liberale R. VlR( HOW, um den Knoten, der die alte und die neue Wissenschaft noch verknüpfte, auf seine Art zu zerhauen. Vi \ war ein berühmter Mann, der eine neue Richtung in der praktischen Medizin eingeleitet hatte, er schlug die alte von ROKITANSKY begründete Schule der sogenannten »Humoralpathologie« aus dem Felde, nach welcher die Krankheiten ihren Grund in den erkrankten Säften des Körpers haben, und führte sie auf pathologisch veränderte Zellen zurück; die pathologische Anatomie wurde von VlRCllOW zur Grundlage der gesamten Medizin erklärt. In dieser Zeit war die ViRCHOWsche Richtung eben auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung angelangt, obwohl ihr bereits in der durch Pasteur begründeten Bakteriologie ein gefähr- licher Gegner entstanden war, welcher später durch die Serum- therapie die sich wieder gewissermaßen als eine Rückkehr zu Roki- lNSKY darstellt1, bedeutend unterstützt wurde. Auch sonst war Virchow eine weltbekannte Autorität, berühmt als Anthropologe und Reichstagsabgeordneter für Berlin). Als Politiker und als Gelehrter war VlRCHOW ein typischer Liberaler, ein Mann, der dem bekannten Grundsatze Voltaires, es genüge, wenn nur mein Schneider an Gott glaubt, nicht abgeneigt war. Betrachten wir z. B. seine bekannte Schrift »Gesammelte Ab- handlungen zur wissenschaftlichen Medizin« Frankfurt a. M. 1856), jene Schrift, welche bei ihrem Erscheinen Haeckel durch »die weiten Ausblicke^, durch ihre »philosophisch naturwissenschaftlichen Ideen«, »durch kritische wie durch streng monistische Auffassung« be- geisterte, und welche auch BÜCHNER zu seinem Materialismus an- spornte. Die Schrift behandelt zwar fachwissenschaftliche Probleme, aber die ersten Kapitel tragen schwungvolle Titel : über das Wesen des Menschen, über die Philosophie, über die Wissenschaft, über das Leben usw. und behandeln diese Probleme auf eine ganz eigen- tümliche Art. Der Sinn ist »jedenfalls der schroffste Materialismus, der sich denken läßt, . . . aber er versteckt sich für Virchow hinter der Verworrenheit der Begriffe, die er mit den Worten Substanz, Kraft, Materie, Kausalität, Trägheit usw. verbindet, lauter Worte, die . . . auch in der Naturwissenschaft an ganz bestimmte Begriffe geknüpft sind, von denen man sie nicht losreißen darf, ohne vollständige Konfusion in die ganze naturwissenschaftliche Sprache zu bringen«. ty2 XL Aufnahme der Darwinschen Theorie. So hat M. Schleiden1) die Schreibweise ViRCHOWs charakterisiert; der heutige Leser würde das Urteil nicht nur unterschreiben müssen, sondern sich vor allem auch wundern, warum eigentlich Virchow so sehr philosophiert, da ihm doch, nach dem Tone der Sprache zu urteilen, an der »Philosophie« so ganz und gar nichts gelegen ist? Der Leser würde aber noch die eigenartige Haltung ViRCHOWs zu konkreten Fragen auffallend finden. Man sprach z. B. zu jener Zeit viel von dem Streite zwischen K. Vogt, einem ausgesprochenen Materialisten und dem allzu orthodoxen R. Wagner über das Wesen der menschlichen Seele. Vogts Anschauung ist bekannt; ebenso ist und war auch Wagners Anschauung, daß die Seele ein unmaterielles Prinzip sei, nichts weniger als unbekannt; nicht zu- treffend verglich er aber die Seele mit dem Lichtäther. Virchow nimmt in jenem Werke folgenden Standpunkt zu dem Streite: Wagner habe sich eines nicht präzisen Ausdrucks bedient2); »gibt es eine besondere Seelensubstanz oder einen Seelenäther, so muß er auch wirksam sein, und dann wird es auch möglich werden, seine Wirkungen auf physikalische Maße zurückzuführen. Dies darzutun sollte die nächste Aufgabe derjenigen sein , welche sich iür die allge- meine Einführung der Seelensubstanz in die Anschauungen der Gebildeten interessieren«. Wessen Aufgabe, fragt man: Vogts? Man könnte so aus ViRCHOWs Worten schließen; Virchow schreibt aber die Ansicht von der Seelensubstanz Wagner zu; also Wagners? Niemand wird WAGNER so grob materialistische Anschauungen zumuten. Also stellt vielleicht VlRCHOW jene Aufgabe für sich selbst auf? Auch dies trifft nicht zu, denn nirgends hat er sich bestimmt in diesem Sinne ausgesprochen. Dieselbe Haltung, die Bronn dem Darwinismus gegenüber einnahm, nimmt da VlRCHOW gegen den Materialismus ein. VlRCHOW trat nun direkt gegen Haeckel auf. Es geschah dies auf der Jahresversammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte in München im Jahre 1877; die Versammlung wurde als die 50. seit der Begründung der Gesellschaft durch Oken gefeiert. Wie schon früher, wurde auch diesmal über den Darwinismus ver- J) M. I. Schleiden, Über den Materialismus der neueren deutschen Naturwissen- schaft, Leipzig 1863, S. 49. Schleidens Worte beziehen sich zwar auf eine andere Schrift Virchows, besitzen aber auch in unserem Falle ihre vollständige Geltung. Schleiden führt dort im Einzelnen aus, worauf sich sein oben angeführter Vorwurf gegen Virchow bezieht. 2) R. Virchow, Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medizin, Frank- furt a. M. 1856, S. 17. XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. Ij3 handelt; HAECKEL meldete das Thema »Die heutige Entwicklungs- lehre im Verhältnisse zur Gesamtwissenschaft'- an, auch VlRCHOW sollte reden, doch behielt er sich das Thema vor. Als erster sprach der Münchener Physiologe V. PETTENKOFER x) ; er sprach über Okhn und über den Fortschritt der Wissenschaft im allgemeinen, ohne, wie es scheint, den Darwinismus zu berühren. Bereits der zweite Vortrag jedoch, den W. WALDEYER (Berlin über K. E. V. Baer hielt, hatte eine Pointe; Wai.di.vkr hob hervor, daß jener berühmte Embryologe kein Darwinist war, sondern nur eine Veränderung der Formen mit gewissen Beschränkungen annahm. Dann sprach HAECKEL; der Inhalt seiner ganz darwinistischen Rede soll gleich folgen. Es geschah ferner (wahrscheinlich nur zufällig!, daß in einer Sektion gegen Virchows medizinische Theorien polemisiert wurde. Auch DU BoiS REYMOND wurde angegriffen : der Münchener Botaniker C. NäGELI hielt eine Rede gegen die von DU BoiS ge- zogenen »Grenzen der menschlichen Erkenntnis«; die Rede2) war zwar in einem etwas barocken Tone gehalten, jedenfalls aber sehr offen und sehr materialistisch (nicht aber so kühn wie diejenige HaecKELs); auch Nägeli rühmte Darwins Theorie als einen neuen genialen Gedanken. Gewiß war es NäGELI mit seiner Rede (da er für einen anderen einsprang, hielt er sie ganz unvorbereitet) sehr ernst, denn in der Einleitung zu deren gedruckter Ausgabe versucht er seine ganze philosophische Entwicklung zu schildern; sie sollte offenbar ein Be- kenntnis des Naturforschers darstellen. Am kühnsten sprach aber HAECKEL3). Seit dem epochalen Auf- treten Darwins ist die Biologie eine neue, eine historisch-philosophische Wissenschaft, welche die Stammesentwicklung der Organismen, den Menschen nicht ausgenommen, zu bestimmen sucht. Durch seine Lehre wurde zum erstenmal wissenschaftlich die alte Frage nach dem Ursprung des Menschen aufgeworfen, nicht nur nach seinem körper- lichen, wie einige es halten möchten, sondern ohne jeden Vorbehalt: nach dem körperlichen wie dem geistigen Ursprünge. 1) Die allgemeinen Angaben im Folgenden schöpfte ich aus Augsb. Allg. Ztg. 20. Sept. 1877 u. sq. 2) C. Nägeli, Die Schranken der naturwiss. Erkenntnis. Die Rede ist in Nägelis Mechanisch-physiologischer Theorie der Abstammungslehre, München und Leipzig 1884, S. 553 sq. samt der oben erwähnten philosophischen Einleitung abgedruckt. Nägeli reagierte in der Rede direkt auf Haeckei.s Ausführungen und suchte sie etwas einzuschränken. 3) E. Haeckel, Die heutige Entwicklungslehre im Verhältnis zur Gesamtwissen- schaft, Stuttgart, 3. Aufl. 1877. jy i XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. Indem er auf die Grundsätze seines geehrten Meisters VlRCHOW hinwies, behauptete HaeCKEL, es sei eine unumstößliche physiologische Tatsache, daß unsere Beseeltheit vom Bau des Nervensystems ab- hängig sei, und weil das Nervensystem aus Zellen zusammengesetzt ist, so sei die Zelle die Grundlage des psychischen Lebens: die Zell- seele sei die unumgängliche Konsequenz der wissenschaftlichen An- schauungen. Indem er weiter den Ansichten ViRCHOWs folgte, führte er aus, daß die Zellen wieder aus Atomen und Molekülen zusammen- gesetzt sind, daß folglich auch diese beseelt sein müssen. In der Anziehung und der Abstoßung der Atome besteht ihre Liebe und ihr Haß, in der Bewegung ihre Empfindungen: hier ist der Punkt, wo die Aufgabe des Psychologen beginnt. Wenn aber dies alles unumstößlichste Wahrheit ist, so genügt es nicht, sie zu konstatieren, sondern man muß die Konsequenzen ziehen: führen wir die Lehre in die Schulen ein, als das Grundprinzip, nach welchem aller Unterricht neu zu ordnen ist. und versöhnen wir so durch die historisch-philosophische Biologie, die zwischen der exakten, physikalischen Wissenschaft und den klassischen Lehrfächern be- stehenden Gegensätze! Auch die Sittlichkeitslehre und die Religion muß reformiert werden: die Entwicklungslehre wird der Sittlichkeit das natürliche Gesetz der Moralität zur Grundlage geben, welches in der Form von blinden Trieben bereits die Tiere beherrscht, und älter ist, als alle Moralsysteme. Fort mit der Offenbarung ! Die natürliche Erkenntnis der Entwicklungsgesetze sei an deren Stelle gesetzt. Verschieden waren jedenfalls die Gedanken, mit welchen die Teil- nehmer an der Versammlung diesem Vortrage folgten. Einige sahen gewiß mit Freude den aufrichtigen Enthusiasmus, mit welchem Haeckel die neue Wissenschaft predigte; viele hörten vielleicht mit Bedenken seinen Erörterungen über die Seele der Atome zu, obwohl sie kaum etwas gegen diese Konsequenz der damaligen Wissenschaft anführen konnten; gar manchem erlaubte wieder die begreifliche Ab- neigung gegen den Fanatismus der Anhänger Haeckels seine von dem Treiben der Massen unabhängige Aufrichtigkeit nicht zu schätzen1'); was die Einführung des Darwinismus in die Schulen betrifft, gingen gewiß die Meinungen der Hörer auseinander. Die Radikalen waren sicherlich dafür; die Vorsichtigeren mochten sich sagen: Warum nicht? Wenn der Lehrer den nötigen Takt besitzt (und das muß doch von *) Auch Huxley fand es nötig, sich von dem Fanatismus der Darwinisten los- zusagen, vgl. seine Rede: On the Coming of Age of The Origin of Species '1880'. Coli. Ess. II. XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. 175 ihm unter allen Umständen verlangt werden) und wenn er bedenkt, daß es neben dem Darwinismus noch andere Überzeugungen gibt, welche in der Schule ebenfalls zur Geltung kommen werden, so gibt es keine Einwendungen gegen die Einführung des Darwinismus in die Schule. Noch andere mögen jene Einführung vom politischen Standpunkte beurteilt haben: sie erinnerten sich, daß in Preußen eben ein Schul- gesetz verhandelt wurde, welches auf große Schwierigkeiten (in An- betracht der Macht der katholischen Partei) stieß; sie sahen ein, daß der Versuch, den Darwinismus in die Schulen einzuführen, für das Zentrum einen casus belli darstellen würde, daß also die Sache keines- wesrs so leicht war, wie Haeckel sich vorstellte. Möglicherweise sahen einige in Haeckels Rede einen Angriff nicht nur gegen die Kirche, sondern auch gegen bestimmte Vertreter der Wissenschaft ; hat er doch in der Einleitung zu seiner Rede behauptet, die Biologie sei keine exakte Wissenschaft, sondern eine historisch- philosophische; waren diese Worte nicht gegen die exakten Forscher, nsbesondere gegen die Berliner Gesellschaft gerichtet? Haeckels Stellune in der deutschen Wissenschaft würde diese Annahme be- kräftigen. Er war Professor an der kleinen Universität Jena und öffentlich drückte er seine Verachtung für die großen und mit Kom- fort ausgestatteten Universitäten aus. Bekannt waren seine, mehrere Male wiederholten Worte. >daß die wissenschaftlichen Leistungen der Institute im umgekehrten Verhältnisse zu ihrer Größe, und der innere Wert der daraus hervor- gehenden Arbeiten in umgekehrtem Verhältnisse zu ihrer glänzenden äußern Ausstattung steht« J , Worte, welche ein Hohn auf die Ideale der Berliner, der Leipziger u. a. Universitäten waren. Man wußte, daß HAECKEL die exakten Forscher »beschränkte Handarbeiter«2) nennt, man wußte auch, daß diese exakten Forscher Haeckel nicht für ebenbürtig hielten; er sei ein unzuverlässiger Autor, dessen Wahrheitsliebe man nicht ohne Grund bezweifeln könne, obwohl sie »die einzige Eigenschaft, welche keinem Naturforscher fehlen darf« , darstelle. Die Worte W. His', Professors der Embryologie in Leipzig, legen das Verhältnis der exakten Forscher zu HAE< KEL klar zutage3): 1 E. HAECKEL, Ziele und Wege der heutigen Entwicklungslehre, Jena 1S75. S. 84. Freie Wissenschaft, S. 19. E. Haeckel, Ziele und Wege, S. 4. W. His. Unsere Kürperform und das physiologische Problem ihrer Entstehung, Leipzig 1874. S. 171. l~6 XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. »Mögen andere in Herrn Haeckel den tätigen und rücksichtslosen Parteiführer verehren, nach meinem Urteil hat er durch die Art seiner Kampfführung selbst auf das Recht verzichtet, im Kreise ernsthafter Forscher als ebenbürtiger mitzuzählen.« Dies mag vielen in den Sinn gekommen sein, als sie Haeckel anhörten. Auf ihn selbst übten solche abfällige Urteile geringe Wir- kung. Die exakten Forscher konnten ihn noch so eifrig aus ihrer Gesellschaft ausscheiden — er wollte ja selbst nicht ihr zugezählt werden; hatte er doch seine Hörer, seine Anhänger, und seine Theorie verbreitete sich trotz aller Proteste. ViRCHOWs Rede brachte eine Wendung. Es sei nicht zum ersten Male, so leitete er seine Plauderei ein ' , daß er in den Versammlungen der Naturforscher darauf hinweisen könne, daß in den Nachbarländern sich hochdramatische Ereignisse vollziehen. (Bezieht sich offenbar auf den damals in Frankreich wütenden Kampf zwischen den Royalisten und den Republikanern.) Mit wahrem Bangen sehe er den Ereignissen entgegen, welche sich im Laufe der nächsten Jahre bei unseren Nachbarn vollziehen werden. Mit Freude begrüße er jedoch die in Deutschland eingetretenen Fortschritte. Dankbar hat man sich des Märtyrers und Blutzeugen im Kampf um die Wahrheit, Okens zu erinnern, der der deutschen Wissenschaft die Freiheit eroberte. Die Tatsache der Versammlung und der in ihr gehaltenen Reden beweise, daß man jetzt im Genüsse der vollen Freiheit sei. »Diesen Besitz müssen wir erhalten und uns hüten, zu weit zu gehen. Mäßigung, Verzicht auf persönliche Liebhabereien wird nötig sein, um die günstige Stimmung zu bewahren.« In anregendster, von Geist und Humor belebter Form (wie der Berichterstatter erzählt) zog er die Grenze zwischen Spekulation und Wissenschaft; mit beißender Ironie kritisierte er die HAECKELsche Theorie von der Plastidulseele, von beseelten Zellen und vom Ur- sprung des Menschen aus dem Affen; solange es keine Beweise für solche Lehren gibt, müsse man im Gegenteil den Schullehrer bitten, so etwas nicht zu lehren. Nur für das, was wir als gesicherte wissen- schaftliche Wahrheit betrachten, was durch den Versuch als das höchste Beweismittel zu unumstößlicher Gewißheit gebracht ist, darf man die Freiheit der Lehre fordern. Probleme dagegen sollen nur Gegenstand der Forschung, nicht der Lehre sein. Ja, wenn die Des- *) R. Virchow, Über die Freiheit der Wissenschaft und ihre Stellung im modernen Staat, Berlin 1877. XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. 177 zendenzlehre so sicher wäre, daß wir sie beschwören könnten, nur dann dürfte, dann müßte sie gelehrt und zur Grundlage unserer gan- zen Vorstellung von der Welt, der Gesellschaft, dem Staate gemacht werden. Und dies, trotzdem sie eine ungemein bedenkliche Seite habe, nämlich eine sozialistische Tendenz. (Man vergesse nicht, daß die Rede 1877 gehalten wurde, als die Sozialisten allgemein gefürchtet und als staatsgefährliche Partei mit den schärfsten Mitteln verfolgt wurden; auch von den Liberalen wurden sie gehaßt.) »Nun stellen sie sich einmal vor«, fuhr Virchovv fort, »wie sich die Deszendenztheorie schon heute im Kopf eines Sozialisten darstellt. Ja meine Herrn, das mag manchem lächerlich erscheinen, aber es ist sehr ernst, und ich will hoffen, daß die Deszendenztheorie für uns nicht alle die Schrecken bringen möge, die ähnliche Theorien im Nachbarland angerichtet haben. Immerhin hat auch diese Theorie, wenn sie konse- quent durchgeführt wird, eine ungemein bedenkliche Seite, und daß der Sozialismus mit ihr Fühlung gewonnen hat, wird ihnen hoffentlich nicht entgangen sein. . .« Nachdem er noch einmal Vorsicht, Beschränkung, keine Über- schätzung der wissenschaftlichen Macht empfohlen, schloß VlRCHOW die Rede mit einem Hinweis auf Baco. Und die Wirkung der Rede? »Schon während des Vortrags waren vielfach Zeichen der Zustimmung laut geworden, der Beendigung derselben folgten lang andauernde Bei- fallsbezeugungen T). « Zwei Fragen fallen dem entfernten Beobachter ein : Aus welchem Grunde griff ViRCHOW^überhaupt in die darwinistische Diskussion ein? Stand der Darwinismus wirklich der sozialistischen Bewegung so nahe? Man wußte allgemein, daß der deutsche Darwinismus, wenn nicht eine neue Religion, so doch ein neuer Glaube ist; die Anhänger der Kirche und der Wissenschaft kämpften da für etwas, was ihrem Herzen am teuersten war. Wo zwei verschiedene Überzeugungen aneinander stoßen, wird oft der Streit zu heftig; die Sucht, den Sieg davonzu- tragen, das Temperament, die Liebe, der Haß lassen es da zu über- triebenen, oft groben Äußerungen kommen. Eine am Streite nicht beteiligte Person begreift solche Übertreibungen leicht; es gelte ge- wiß als ein Verstoß gegen die gute Sitte, wenn sich jemand, der zu keiner der streitenden Parteien Sympathien hegt, in den Streit als Schiedsrichter einmischen wollte. Dieser Grundsatz gilt jedoch in der exakten Wissenschaft nicht: da gilt nur die Wahr- J) Augsb. Allgem. Zeitung 1877, Beilage Nr. 266. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. 12 j^8 XL Aufnahme der Darwinschen Theorie. heit und nur die Beweise (wird es denn nicht so behauptet?); da kann jedermann und wann immer es ihm einfällt uns mit seiner Wahrheit belästigen (und so den Gregers Werle in Ibsens Wildente spielen), da kann man jeden und zu jeder Zeit nach den Beweisen seiner Wahrheit befragen, wie es VlRCHOW tat. Virchow war weder für Haeckel noch für die Kirche ; war er ein konsequenter Liberaler, so durfte er für keine Überzeugung Sympathien haben; als Fachmann aber, der nur die reine Wahrheit sucht, hatte er das Recht, von Haeckel Beweise zu verlangen. Die Welt gewöhnt sich aber nicht leicht an dieses Vorrecht der Wissenschaft, und es ist nicht ein jeder so höflich, wie die Gesell- schaft in der »Wildente« gegenüber den »idealen Forderungen« Werks; niemand vielleicht wollte glauben, daß nur die reine, ob- jektive Wahrheitsliebe VlRCHOW zu seiner Rede bewogen hatte; beide streitenden Parteien, die Darwinisten und die Kirche, waren fest überzeugt, daß VlRCHOW durch jene Rede seine frühere Über- zeugung widerrufen hat: die klerikalen Zeitungen lobten ihn des- halb1), und die Darwinisten sahen in ihm einen Feind der Entwicklungs- theorie2). Was die zweite Frage anbelangt, so behaupteten später alle Dar- winisten, Haeckel, Huxley, Darwin, O. Schmidt u. a., daß der dem Darwinismus zugrunde liegende Gedanke nicht auf sozialdemokratische Theorien führe. Wir werden später dieses Verhältnis erörtern; Vir- *) Haeckel und Hellwald, führen insbes. Germania, Neue Evangelische Kirchen- zeitung und Vaterland an. Vgl. auch Huxleys Vorwort zur engl. Ausgabe der Ver- teidigungsrede Haeckels, wo mit Nachdruck darauf hingewiesen wird, daß Virchow in der Rede objektive Neutralität zu bewahren unterlassen hat, und — wissentlich oder unwissentlich — die Klerikalen höher als die Darwinisten stellte. Haeckel beschuldigte Virchow direkt (Freie Wissenschaft, S. 19), daß er durch die Rede seine frühere bessere Überzeugung widerrief. 2) Damit der Leser selbst beurteilen kann, inwiefern diese Vorwürfe der Dar- winisten berechtigt waren, sei hier ein Passus aus Virchows Rede angeführt, die er 1863 (vor 16 Jahren) in der Versammlung derselben Gesellschaft zu Stettin hielt. Damals eröffnete eben Haeckel durch eine Rede seinen Kampf für Darwin. Virchow sprach nun mit direkter Beziehung auf Haeckels Ausführungen u. a. folgendes: >Wenn man uns sagt, daß wir heute dieselbe Schöpfungstheorie haben sollten, welche die alten Juden natürlich finden mußten, wenn durchaus diese mechanische Vorstellung herrschen soll, daß der Mensch ursprünglich geschaffen ist wie ein Topf, in dem erst der lebendige Odem eingeblasen wurde durch die Nase, wie es in der Schrift heißt, so glaube ich, daß sich wenige vielleicht klar machen, daß diese früher natürliche Vorstellung unseren Vorstellungen auf das tiefste widerstreitet, und daß es eine Befreiung des Einzelnen ist, wenn ihm gestattet wird, sich ein anderes Bild der Schöpfung zu machen. . . . Darum meine ich ... es muß sich Kirche und Staat daran gewöhnen, daß mit den Fortschritten der Naturwissenschaften gewisse Ände- XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. \jq CIIOW meinte es aber gewiß nicht so; er sah im Darwinismus die Überzeugung, und dieselbe gefürchtete Macht bemerkte er bei den Sozialisten; von dieser Macht der Überzeugung glaubte er, sie könne zur Revolution führen; er sah ferner, daß die Sozialisten tatsächlich an den Darwinismus anknüpften; sie standen augenscheinlich zu ihm in demselben Verhältnis, in welchem der Darwinismus zu den Libe- ralen stand. Daß VlRCHOW die ganze Frage vom libcralistischen Stand- punkte behandelte, davon zeugt seine naive Behauptung, daß man den Darwinismus lehren müsse, wenn man seine Richtigkeit be- schwören könne. Als ob die Darwinisten, als ob HAECKEL an ihrer Lehre zweifeln würden! Bei Himmel und Hölle würden sie ge- schworen haben, ebenso wie ihre kirchlichen Gegner das Gegenteil mit ihrem Eide bekräftigt hätten. HAECKEL antwortete auf VlRCHOWs Rede durch die Schrift > Freie Wissenschaft und freie Lehre«1), die schönste Streitschrift, wie W. May nicht ohne Grund bemerkt, welche der ganze Kampf um den Darwinismus gezeitigt hat. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, wie Haeckels Antwort lautete. Er wußte, daß die Entwicklungstheorie wahr ist, »daß sie niemals wird bewiesen werden, wenn diejenigen Beweise nicht genügen, die wir von ihnen heute haben«, deshalb mußte er sie lehren, denn, »Wer die Wahrheit kennet und saget sie nicht, Der ist fürwahr ein erbärmlicher Wicht«2). rungen in unseren allgemeinen Vorstellungen und Voraussetzungen . . . eintreten, und daß diesen Änderungen kein Damm entgegengestellt werden kann, daß vielmehr ein vorsichtiges Staatswesen, eine einsichtige Kirche immer nur dahin gehen kann, die fortschreitenden, die sich entwickelnden Vorstellungen in sich aufzunehmen und in sich fruchtbar zu machen. . . .< (Über den vermeintlichen Materialismus der heutigen Naturwissenschaft. Ber. über die Vers, der deutschen Naturforscher und Arzte. Stettin 1863, S. 40 — 41). Nichtsdestoweniger wird der aufmerksame Leser aus jener Rede bereits alle Momente herauslesen können, welche für VlRCHOWs Polemik gegen Haeckei. charakteristisch sind, nämlich das Lob der exakten, von jeder Philosophie freien Wissenschaft und Empfehlung der Vorsicht in der öffentlichen Behandlung der wissenschaftlichen Lehren. Ja jene Stettiner Rede ist im Prinzip nur ein Pendant zu der Münchener; in jener bekämpft nämlich Virchow Schleidens Grundsatz, ohne Philosophie sei die Wissenschaft unmöglich, in dieser stellt er sich der im Grunde der ScHLEiDENschen ganz analogen Tendenz Haeckels entgegen. s) E. Haeckel, Freie Wissenschaft und freie Lehre. Eine Entgegnung auf R. Virchows Münchener Rede über die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staate, Stuttgart 1878 Einzige Auflage!). Mir liegt nur die engl. Übersetzung vor. 2) Freie Wissensch. S. IX. In Berlin soll man dagegen singen : >Wer die Wahrheit kennet und sagt sie frei, Der kommt in Berlin auf die Stadt-Vogtei.« 12* I y0 XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. Kr führt ferner seine Beweise für die Theorie ins Feld, er weist durch Zitate aus ViRCHOW nach, daß er nichts anderes, als die Kon- sequenz aus dessen materialistischen Anschauungen gezogen und ge- lehrt hat. Es gebe überhaupt keine objektive Wissenschaft, es gebe keine scharfen Grenzen zwischen der Spekulation und den Tatsachen, es gebe keinen Lehrer, der nicht die Sache mit seiner subjektiven Ansicht von derselben vermischt. ViRCHOW selbst habe es fortwährend ge- tan, als Haeckel sein Schüler war; durch seine Rede habe Virchow nur den Klerikalen gedient. Auch über die Beziehungen seiner Wissenschaft zur Politik sprach sich Haeckel offen aus: gewiß habe jede neue Philosophie bestimmte praktische Ziele, gewiß müsse sie auch die politischen Anschauungen beeinflussen. Allein, der Dar- winismus sei eher eine aristokratische als eine demokratische Lehre, indem er auf dem Grundsatze einer Ungleichheit unter den Men- schen seine Theorien aufbaut. Und dann müsse beachtet werden, daß es oft nur sehr zufällige Anknüpfungspunkte zu sein pflegen, welche die Theorie und die Praxis verbinden, wie es das Verhältnis zwischen der wirklichen Lehre Christi und dem Christentume beweise. Seine Verteidigung schloß Haeckel mit dem Hinweis auf den inneren Zusammenhang zwischen dem Angriffe ViRCHOWs und der früher erwähnten Rede DU Bois': die Berliner Wissenschaft greife da die- jenige der kleinen Universitäten an, welche aber furchtlos ihren Idealen weiter folgen werden. Haeckels Verteidigung war nicht imstande, die Niederlage des jungen Darwinismus in Deutschland aufzuhalten; ViRCHOW erreichte sein Ziel. Einige Monate nach seiner Rede wurden zwei Attentate auf den deutschen Kaiser verübt (das eine von einem Arbeiter, das andere von einem Doktor der Philosophie), und politisch gegen die Sozialisten, denen sie zur Last gelegt wurden, ausgenutzt: klerikale Journale versäumten nicht, für die Attentate direkt die Darwinisten verantwortlich zu machen1). Die Regierung verlangte von dem Reichstag die Vollmacht zur Unterdrückung der sozialdemokratischen Partei, welche sie, nachdem der Reichstag einmal aufgelöst werden mußte, auch erhielt. Diese Maßnahmen trafen gewiß indirekt auch den Darwinismus. Im Jahre 1878 erklärte der preußische Unterrichts- minister im Landtage, während der Debatte über das neue Unter- richtsgesetz, »man werde doch nicht von ihm denken, daß er jemals notorische Dar- *) Freie Wissensch. S. XXIX. XL Aufnahme der Darwinschen Theorie. l8l winisten in naturwissenschaftlichen Fächern der mittleren Unterrichtsan- stalten anstellen werde«. Virchow hatte nicht nur nichts einzuwenden, sondern stimmte auch dem Antrag auf Maßregelung HERM. Müllers, des bekannten Botanikers, der Realschullehrer und notorischer Darwinist war und die Theorie in die Schule einzuführen versuchte, zu. Zwar handelte es sich da nur um die Mittelschule, aber die Hochschule war schließ- lich demselben Minister untergeordnet1). Unter diesen Umständen war ein Aufblühen des Darwinismus schwer behindert. HAECKEL blieb zwar ungebeugt, Beweis seiner echten Überzeugung; einzelne Forscher versuchten die Theorie gegen die Anklage, sie führe zum Sozialismus, zu verteidigen, allein gegen das Grundsätzliche der VlRCHOWschen Rede, gegen seine Unter- scheidung von »Lehre« und »Forschung«, wehrte sich außer HAECKEL niemand. Auch versuchte keiner der doch so zahlreichen Freunde, Schüler und Anhänger HAECKELs, seinen Meister gegen das Beißende und Geringschätzende in der Rede VlRCHOWs zu decken2); es ist überhaupt auffallend, wie wenig der prinzipielle Streit zwischen Virchow und Haeckel von anderen aufgenommen wurde. An der darwinistischen Zeitschrift »Kosmos« kann man die Folgen jener Dis- kussion beobachten. Die Zeitschrift führte zwar das kampfeslustige Motto »impavidi progrediamur!«, aber 1878, ein Jahr nach der VlRCHOWschen Rede, hielt sie es für nötig, im Namen der ganzen Redaktion »ein Wort zum Frieden« zu veröffentlichen3), in welchem zwar der Darwinismus verteidigt, aber die Anhänger desselben er- mahnt werden, »das religiöse Gefühl in seiner Einfachheit und Reinheit zu schonen, denn die Masse des Volkes blickt auf sie und merkt von ihrer Rede nicht das Positive, sondern am meisten die oft sehr bedingten Verneinungen und Ableugnungen«. ') H. Müller wehrte sich durch die Broschüre: Die Hypothese in der Schule und der naturgeschichtliche Unterricht in der Realschule zu Lippstadt. Ein Wort 7.ur Abwehr und Rechtfertigung, Bonn 1879. Über einen anderen Fall einer Diszi- plinaruntersuchung wegen Darwinismus vgl. Kosmos 4, 1878 — 1879, S. 357. 2) Nur in Kosmos II (1877 — 1878) versuchte F. v. Hellwald [doch nicht energisch genug) Haeckel zu verteidigen. Für die englische Ausgabe der Verteidigung Haeckels schrieb Huxley das Vorwort und bekämpfte dort Virchows Anschauungen. Darwin sprach seine Übereinstimmung mit dem Standpunkte HAECKELs in einem an diesen gerichteten Briefe aus. Casparis Schrift »Virchow und HAECKEL vor dem Forum der methodologischen Forschung, Augsburg 1878« (für Hai ki i habe ich nicht gelesen. 3) Das versöhnende Element in der darwinistischen Weltanschauung. Ein Wort um Frieden von der Redaktion, Kosmos 4, 1878 — 1879, S. 359. lg2 XL Aufnahme der Darwinschen Theorie. 1881 verschwand das Motto vom Titelblatt und aus der philo- sophischen wurde nun eine halb populäre halb wissenschaftliche Zeit- schrift; im nächsten Jahre ging sie ein. Das zweite Organ der Dar- winisten, »das Ausland«, änderte 1881 seine Richtung, indem sich Haeckels Freund F. v. Hellwald genötigt sah, die Redaktion des- selben niederzulegen. Der Darwinismus veränderte sich rasch in der Richtung, in der ihn Berlin wünschte; die außerhalb der Universitäten stehenden Anhänger desselben verwendeten alle ihre Kräfte auf po- puläre Schriften und hatten nichts neues mehr zu sagen; an den Universitäten galt aber der Darwinismus als unbewiesene Hypothese, für deren Beweis Tatsachen zu sammeln eine erlaubte und würdige Aufgabe der Wissenschaft war. Kann man sich über dieses Ende wundern? Der Beifall, den VlRCHOWs Rede erntete, war, wenn man alle Umstände berücksichtigt, schließlich viel natürlicher als Haeckels naives Verlangen nach Freiheit der Wissenschaft. Recht hatte VlR- CHOW, daß die Wissenschaft frei ist; aber freie Menschen sind selten; wenn sie aber an sich nicht frei sind, wird sie keine Regie- rung, wird sie keine noch so glänzende Verteidigung Haeckels frei machen ! So bildete sich der Unterschied zwischen der objektiven Wissen- schaft, als der Wissenschaft der Tatsachen, und der subjektiven, als der der Theorien heraus, ein Unterschied, den man als einen großen Fortschritt des exakten ig. Jahrhunderts preist, der aber nur einen Rückschritt zu jenen längst vergangenen Zeiten bedeutet, wo man auch zu bestimmten amtlichen Zwecken eine zweifache Wahrheit unterschied: eine allgemein anerkannte, ganz sichere, die theologische nämlich, und die andere, die subjektive. Nur hätte man sich damals an die subjektive halten sollen. . . . Die Bedeutung neuer Beweise für den Darwinismus. Mit der Verbreitung des Glaubens an die Entwicklung der Tierwelt kamen auch neue Tatsachen ans Licht, welche die Lehre bestätigen sollten. Wir haben im letzten Kapitel allgemeinere Betrachtungen über das Wesen der modernen Wissenschaft angestellt; wenden wir uns jetzt den Anschauungen zu, welche man heute über den Wert der Tatsachen hegt, bevor wir daran gehen, sie aufzuzählen. Es ist bereits ungemein viel Schönes zu Ehren der Tatsachen, der neuen Entdeckungen vorgebracht worden, und ohne Zweifel mit vollem Recht, denn durch jede neue Erkenntnis wird der Mensch zu einem XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. 183 neuen Wesen, das die Erkenntnis in sein Innerstes, als eine neue Eigenschaft seiner Seele aufnimmt. Man mag sich noch so sehr ent- rüsten, sträuben, zu vergessen suchen, die Augen schließen; diese Entrüstung, dieses Nichtwissenwollcn von der neuen Tatsache beweist nur, daß sie da ist. Was nutzte den Gegnern Galileis, daß sie ihre Augen vor seinem Fernrohr, welches die Monde Jupiters zeigte, schlössen? Vergeblich verwarfen die Pariser Gelehrten die Beobach- tung, daß die Meteore von außerhalb der Erde kommen — der Bann fiel auf ihre Köpfe zurück; es half nichts, daß die französischen Geologen über die Entdeckung spotteten, in der Erde seien Überreste eines vorhistorischen Menschen zu finden, der sich der Steinwerkzeuge bediente: heute lernen es die Kinder in der Schule. Die Entdecker waren sich dieser Macht der Tatsachen bewußt und die Überzeugung von der Unzerstörbarkeit eines neuen Gedankens flößte ihnen größten Mut ein. Welche Freude strahlt aus den alle- gorischen Worten Kepplers heraus, mit welchen er seine Entdeckung der Gesetze der Planetenbewegungen, durch welche die ägyptische Lehre vernichtet wurde, schließt! ». . . ich will schwärmen in heiliger Glut, ich will die Menschenkinder höhnen mit dem einfachen Geständnis, daß ich die goldnen Gefäße der Ägypter entwende, um meinem Gott ein Gezelt daraus zu bauen, weit entfernt von Ägyptens Grenzen. Verzeiht ihr, so freut michs, zürnet ihr, so trag ichs; hier werfe ich die Würfel und schreibe ein Buch, zu lesen der Mitwelt oder der Nachwelt, gleichviel; es wird seiner Leser ein Jahrhundert harren, wenn Gott selbst sechs Jahrtausende lang den erwartet hat, der sein Werk beschauet« *). So begeistert ist Keppler durch seine Entdeckung, daß er, ein andächtiger Mann, sich mit Gott selbst vergleicht. Man erzählt von Gelehrten, welche vor Freude in ihrem Arbeitsraum wie Narren herum- tanzten, wenn sie einen neuen Gedanken entdeckten. Ist diese Auf- regung, dieser sopyxa-Schrei, der tausendmal nach ARCHIMEDES wieder- holt wurde, nicht der Ausbruch eines rein menschlichen Verhältnisses zur Natur? ist diese Freude nicht die wahrste, die schönste, die tiefste Reaktion des Menschen bei der Berührung einer neuen Er- kenntnis? Aufrichtige Gemütsbewegung, Freude, Enttäuschung, Stolz, Kühn- heit, Furcht sind die wahren Triebfedern der wissenschaftlichen Tätig- keit und der eigentliche Lohn für die Mühe; der praktische Wert der Entdeckung ist weder der wahre Beweggrund der Forschung, *) Nach Zöllner, Über die Natur der Kometen, Leipzig 18S3, S. 305. 184 XL Aufnahme der Darwinschen Theorie. noch ihre notwendige Folge. Denn nicht selten ist sich der Forscher anfangs der Tragweite seiner Entdeckung nicht einmal bewußt: als KOLUMBUS einen neuen Weltteil entdeckte und eine große Umwälzung in der Geschichte der Menschheit herbeiführte, glaubte er nur einen neuen Weg nach Indien gefunden zu haben; Leeuwenhoek hatte bei der Entdeckung der Spcrmatozoen keine Ahnung, welche Be- deutung diese Körperchen bei seinen Nachfolgern erlangen werden; als Cuvier seine Katastrophenlehre begründete, ahnte er gewiß nicht, daß er dadurch den Boden für Theorien vorbereitete, sehr ähnlich denjenigen, die er bei LAMARCK bekämpfte — es scheint, als wäre das Aufkommen einer neuen Tatsache immer zugleich ein Beleg, daß die neue Erkenntnis vom Willen des Menschen unabhängig ist, daß sie erscheint, wenn es ihr selbst beliebt und daß sie den Men- schen dorthin leitet, wohin sie hinstrebt. Aber der praktischen Natur der Menschen genügt dieses passive Verhältnis zur Wirklichkeit nicht; sie will nicht nur Neues erkennen, sondern es auch entdecken, sie will nicht nur neue Tatsachen reden lassen, sondern sie auch deuten und ihnen die Richtung vorschreiben, in welcher sie unseren Geist führen sollen. Dieser praktische Geist, der uns wohl von der Natur selbst verliehen wurde, ist gewiß nicht zu tadeln; es läßt sich aber nicht leugnen, daß viele der größten Forscher unpraktisch waren, und daß das praktische eines Gedankens, d. h. seine Brauchbarkeit für bestimmte Lebenszwecke (seien es nun Zwecke des täglichen Lebens, denen die Arbeit des Forschers nützen mag, oder hochtrabende Hypothesen, Theorien und Systeme, welchen der Gelehrte seine Entdeckungen als Beweise zum Opfer bringen soll) seit je die Reinheit desselben beeinträchtigte. Neue Religionen waren die tiefsten Offenbarungen des menschlichen Strebens nach Wahrheit, die Wunder haften ihnen als Makel an und doch waren sie gewisser- maßen nur primitive experimentelle Beweise ihrer Wahrheit, bewußte Eingriffe eines praktischen Denkers in das Naturgetriebe, das er zu beherrschen vorgab; doch bestand stets eine Trennung zwischen der Wahrheit und ihrem Beweis: nur wirklich originelle Menschen waren Verkünder neuer Wahrheiten, indessen Wunder von manchem Be- trüger verrichtet wurden. Als die Menschheit mehr fortgeschritten war, erschienen Alchy- misten, oft sehr wahrheitsliebende und nicht gewöhnliche Männer, von hohen philosophischen Idealen und großer Sehnsucht nach Er- kenntnis der Natur beseelt; sie erniedrigten aber ihre Wissenschaft dadurch, daß sie gewerbsmäßig ihre hohen Wahrheiten zu gemeinen XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. 185 Zwecken, zur Produktion von Gold, wunderbaren Arzneien und an- deren praktischen Dingen hergaben; eben diese Richtung auf das Praktische — ob nun die Wissenschaft als Melkkuh diente, oder als sozusagen höhere Praxis experimentelle Beweise für die Wahrheit ihrer Lehren bot — belastet die Alchymisten in den Augen der Gegen- wart; alle alchymistischen Wahrheiten, die des PARACELSUS, des v.\\ Helmont waren ideal, aber ihre ganze Praxis klebte am Nied- rigen. Ist die Astrologie nicht eine Demütigung für Kepw.er, die Mvstik nicht seine Zierde? Die gemeinsten Marktschreier verstanden es, die Richtigkeit der alchymistischen und astrologischen Lehren experimentell zu beweisen und je weniger Gedanken sie besaßen, desto mehr Beweise führten sie an, — aber die Wahrheit konnten sie nicht beweisen, weil sie sie nicht kannten, weil nur aufrichtige, offenherzige, geniale Männer recht haben, und deshalb es auch an- deren zeigen können. Noch nie herrschte soviel trügerische Sehnsucht, den Tatsachen Gewalt anzutun und sie in verschiedene Beweise hineinzuzwingen, wie in der modernen Wissenschaft. Urwüchsige Geister wehrten sich gegen diesen Mißbrauch ihrer Gedanken: NEWTON gab seine große Entdeckung für eine Tatsache aus und nicht für eine Theorie oder für die Ursache einer anderen Tatsache: die Neuheit und Wahrheit des Gedankens war seine Freude und sein Stolz, nicht die Verwend- barkeit derselben für menschliche Theorien. Nur Menschen, welche die Freude an reiner Erkenntnis niemals gefühlt haben, könnten behaupten, daß die Tatsachen nur zum Be- weise der Theorien dienen; ein Vermächtnis der Alchymie und des Wunderglaubens, das der Mensch vielleicht niemals los wird, steckt in dieser praktischen Ansicht. Wenn die Bedeutung der Tatsachen nur in ihrem praktischen Werte, nur darin bestünde, daß sie die Hypothesen bestätigen, indem sie als »Beweise « dienen, dann gäbe es kein nichtigeres Ding auf der Welt, als neue Tatsachen; sie hätten keinen höheren Wert als die alten Wunder, indem sie ihnen analog richtige Lehren mit gleicher Bestimmtheit wie unrichtige bewiesen. Die Geschichte der Wissenschaft bietet solche Beweise in Fülle. Im 17. und 18. Jahrhundert lehrte man, daß das menschliche Spermatozoon ein kleines Männlein sei; und es fanden sich Forscher, welche bestätigten, daß sie in der Tat durch das Mikroskop im Sper- matozoon Teile des menschlichen Körpers gesehen hätten. Ihnen gegenüber behaupteten andere, daß das Tier nicht im Spermatozoon, sondern im Ei eingeschlossen liege; der berühmte Biologe SPALLAN- jgö XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. ZANI bestätigte diese Theorie durch das Studium der Kaulquappen- entwicklung. Auch herrschte damals der Glaube an das Phlogiston, das man durch Hitze aus den Substanzen austreiben wollte; und wirk- lich entdeckte man die Tatsache, das viele Substanzen im Feuer leichter werden. Man glaubte an vorsintflutliche Menschen; A. Scheuchzer entdeckte als Beweis eine Versteinerung, die er »homo diluvii testis< benannte; CuviER wollte aber an diluviale Menschen nicht glauben: er erntete viel Ruhm durch den Beweis, daß SCHEUCHZERs Fund nur ein fossiler Salamander war — und trotzdem hat der diluviale Mensch gelebt. Und so wäre es möglich, der Geschichte der Wissen- schaft Schritt für Schritt zu folgen und zu zeigen, daß sie eine Ge- schichte von Beweisen ist, die keine waren. Es ist die objektive Wissenschaft, welche diese Auffassung der Tat- sachen herbeiführte, welche den Unterschied zwischen Tatsache, Hypothese, Theorie, Beweis usf. aufstellte. Tatsache soll die reine, durch keine Subjektivität getrübte Erkenntnis darstellen; Hypothese eine Möglichkeit, welche noch des Beweises harrt, Theorie eine Zu- sammenstellung von Tatsachen zu einer einheitlichen Auffassung; an die Tatsachen muß man glauben, an die Hypothesen und Theorien darf man jedoch nicht glauben; die Tatsachen sollen ganz neutral sein und in jede Hypothese, in jede Theorie, in jede Philosophie hinein passen, die Hypothesen und Theorien dagegen nur in ihrer tatsächlichen Begründung der Wahrheit entsprechen. Diese Unterscheidungen sind aber Wortspielereien, welche von der Scholastik nur darin abweichen, daß sie um einige Jahrhunderte jünger sind. Kein aufrichtiger Forscher glaubt in seiner Praxis weder an die objektive Wissenschaft, noch an die Unterschiede von Tatsachen und Theorien, sondern bedient sich dieser Worte nur aus Höflichkeit, um seine Überzeugungen in anständige Form zu gießen; für ihn selbst gilt als die wahrste Wirklichkeit, als Tatsache, was andere als Hypo- these bezeichnen würden; »objektive Tatsachen« erkennt er nicht an, sondern nur subjektive, indem jede Tatsache im Lichte seiner neuen Entdeckung neue Farben, neue Formen zeigt; zeigt sie sie nicht, so ist sie für ihn wertlos, existiert überhaupt nicht. Darwin war bei- spielsweise ein äußerst objektiver Forscher, allein seine Objektivität bestand bloß darin, daß er in höflichster Form die Einwendungen seiner Gegner besprach, ohne sich durch dieselben im geringsten im Glauben an seine Lehre beirren zu lassen. Die Entwicklung der Organismenwelt, welche alle als Theorie bezeichnen, hielt er in seinem Inneren ohne Zweifel für die wahrste Tatsache von der Welt, und XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. i§- die -objektive« Tatsache, daß es Arten gibt, betrachtete er als falsch. Jeder Forscher folgt dieser Methode, muß ihr folgen: es wäre eine Frivolität, wenn jemand eine Hypothese aufstellte, von deren Wahr- heit er nicht gleichzeitig fest überzeugt wäre ; es ist eben nur Höf- lichkeit, wenn er diese seine Überzeugung dem Leser als bloße Mög- lichkeit darbietet. Es gibt also keine objektiven Tatsachen; jede Tatsache ist sub- jektiv und ist als solche nicht frei von Hypothese, von Theorie, von Philosophie; jede Tatsache, welche nicht als sinnloses Wort auf dem Papier steht, sondern welche aus dem Geiste des Menschen als sein lebendiges Produkt gesetzt wird, stellt einen ganzen Mikrokosmos dar, welcher eine neue Auffassung nicht nur einer einzelnen Erscheinung, sondern der ganzen W7elt enthält. Eine Entdeckung, welche nicht die Umwälzung der gesamten Weltanschauung als Möglichkeit einschließt, ist gar keine Entdeckung. Infolgedessen ist der Grundsatz der modernen Wissenschaft, die Tatsachen selbst sprechen zu lassen, an sich sehr richtig, nur muß man ihm gerade den entgegengesetzten Sinn geben, als ihm gemeinhin unterlegt wird. Die toten, jeder Subjektivität baren Tat- sachen sind stumm und können nicht sprechen, nur die im Geiste des Menschen lebenden haben eine Sprache, und je subjektiver sie sind, desto leichter sind sie zu verstehen, desto natürlicher ist ihre Wirkung auf uns, die wir auch lebende Subjekte sind. Die toten Tatsachen können aufeinander nicht reagieren, können nichts be- weisen, nichts widerlegen, können sich zu keiner Wahrheit zusammen- scharen : darum hat die objektive Wissenschaft zur Logik, zur Beweis- führung greifen müssen, um Bewegungsmittel, Hebel und Maschinen zu haben, durch welche die totgeschlagenen Tatsachen hin und her geschoben werden könnten. Einerseits Tatsachen, anderseits Hypo- thesen und Theorien: der eine schiebt die Tatsache hierher, der an- dere dorthin, und das nennt sich Beweisführung, bei der die Tatsachen selbst sprechen. Doch uns, die wir die Entwicklung des Darwinismus verfolgen, bleibt nichts anderes übrig, als zu konstatieren, daß für das Auf- blühen dieser Lehre die toten Tatsachen, zu gewissen Beweisen zu- sammengestellt, von großem Einfluß waren. Zwei Jahre nach dem Erscheinen des Werkes über die Entstehung der Arten wurde im lithographischen Kalkstein von Solenhofen die erste versteinerte Vogelfeder aus mesozoischer Zeit gefunden; ein Jahr darauf wurden ebendort Überreste eines eigenartigen Vogels jSS XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. entdeckt, welcher in den Flügeln freie Finger, im Schnabel Zähne und einen eidechsenartigen aber befiederten Schwanz hatte ; man gab diesem ältesten Vogel den Namen Archäopteryx. Den Darwinisten diente die Entdeckung als schlagender Beweis ihrer Theorie, und das Tier wurde für einen Übergang zwischen Vogel und Reptil erklärt. Im Jahre 1875 entdeckte der amerikanische Geologe 0. Marsh aus der Kreideformation stammende Vögel mit bezahnten Schnäbeln, welche nun als neuer Beweis für den Ursprung der Vögel aus be- zahnten Wirbeltieren galten. 1879 stellte derselbe Marsh die aus- gestorbenen Pferdearten in eine aufsteigende Reihe zusammen, welche man seitdem ebenfalls als glänzenden Beweis der DARWiNschen Theorie betrachtete. Die Beweise für den Darwinismus sollten noch zahlreicher werden: seit den vierziger Jahren mehrten sich Funde von diluvialen Menschen; im Jahre 1863 ließ sich auch Lyell überzeugen und in demselben Jahre erregte die Entdeckung vorhistorischer Pfahlbauten in den Schweizer Seen allgemeines Aufsehen; diese Beweise eines großen Alters der Menschheit galten dann auch als Beweis für den Darwinis- mus; 1857 wurde der Schädel von Neandertal gefunden, über den später so viel zwischen Anhängern und Gegnern der Affentheorie gestritten werden sollte. 1868 erschien Darwins großes Werk über das Variieren der Tiere und Pflanzen unter Domestikation, welches zur Bekräftigung seiner Lehre eine unübersehbare Masse von Tat- sachen brachte; 1S62 erschien Haeckels Monographie der Radio- larien, mit welcher dieser kühne Apostel des Darwinismus seine Ent- deckungen von vielen und vielen Beweisen für Darwin einleitete; 1868 beschrieb HüXLEY die angeblich einfachste Lebensform, den Bathybius und gab so einen neuen Beleg für die allmählichen Über- gänge in der Natur; 1859 wurde in der bis dahin für leblos gehaltenen Urgneisformation ein vermeintlicher, sehr einfacher fossiler Organismus, das sog. Eozoon entdeckt; und in den folgenden Jahrzehnten be- wiesen Hunderte, ja Tausende von Forschern die Richtigkeit der neuen Lehre. Es wird in den folgenden Kapiteln des Näheren ausgeführt werden welcher Art diese Beweise waren; aber die Zeit hat alle jene histo- rischen, philosophischen, logischen, anatomischen, histologischen, chemischen, geographischen und sonstigen Beweise weggefegt, und wehe dem Gedanken, wehe der Beobachtung, die nichts mehr waren als ein Beweis für oder gegen Darwin! Sie werden vergehen, sie sind schon in das Massengrab der Geschichte gesunken und niemand wird XL Aufnahme der Darwinschen Theorie. i ) zu ihnen zurückkehren, als der neugierige Geschichtschreiber, dem sie als Zeichen der Zeit dienen werden. Darwins Theorie als Quelle der Begeisterung. In solchem Milieu entstand die darwinistische Bewegung: es herrschte Unzufriedenheit mit der Überschätzung des Verstandes ; ent- wicklungsgeschichtliche Lehren erschienen auf dem Plan; es kam die englische induktive Philosophie: Schleiden und Schwann sprachen ihr Wort; die Materialisten erklärten die Wissenschaft für ihr Gebiet und die Positivisten verkündeten die Lehre, daß die Menschheit nur im Namen der Wissenschaft erlöst werden könne. Endlich kam Darwin, ein ehrlicher und unermüdlicher Denker: zu ihm schlugen sich eifrige Anhänger und die Bewegung schwoll immer stärker an. Darwins Theorie wurde in der Wissenschaft als Revolution emp- funden, als Vernichtung alles dessen, was früher da war, und als Anfang einer ganz neuen, erst von nun an wahren Wissenschaft. Darwin sagte es selbst vorher, daß seine Lehre eine Revolution hervorbringen wird, und alles bemühte sich, seine Voraussage zu verwirklichen. Es wäre nicht ohne Humor und auch historisch interessant zu vergleichen, wie jede Periode die vorausgehende von oben herab betrachtet, und von ihr fast dasselbe behauptet, was einmal von ihr gesagt werden soll. Wie oft hörte man von den Eiferern für Darwins Lehre, daß erst durch ihn in die Biologie philo- sophischer Inhalt kam! Vor Darwin gab es nur Linnk, Cuvier und andere armselige Beschreiber — doch man überzeuge sich selbst. >In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts galt«, so erzählt R. Hertwig in der Einleitung zu seinem Lehrbuch der Zoologie1), >wenn auch nicht ausschließlich, so doch überwiegend, in wissenschaftlichen Kreisen die Auffassung, welche sich jetzt noch unter Laien als die herrschende er- halten hat, daß die Zoologie die Aufgabe habe, die einzelnen Tiere mit Xamen zu belegen , nach wenigen leicht erkennbaren Merkmalen zu charakterisieren und in einer die schnelle Bestimmung ermöglichenden, übersichtlichen Weise anzuordnen. . . Diese Auffassungsweise ist im Laufe der vier letzten Dezennien mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt worden. . .« Diese Worte, im Jahre 1891 geschrieben, gehören keineswegs zu den absprechendsten Urteilen über die erste Hälfte des 19. Jahr- hunderts. Es gibt viel entschiedenere: W. Bateson schreibt in der 1 R. Hertwig. Lehrbuch der Zoologie. Jena 1892. S. 1. IQO XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. Einleitung zu seiner, sonst gedankenreichen Schrift über das Variieren der Tiere1): »Vor der Veröffentlichung des Werkes ,Über die Entstehung der Ar- ten' bestand die Arbeit der Naturforscher wesentlich in einem unlogischen Sammeln von Tatsachen. Die Mehrzahl hielt dieses Sammeln ganz im Ernst für den Zweck der Forschung. Einige Männer hegten wohl Hofi- nung, daß das Anhäufen des Wissens einmal vielleicht zu etwas Höherem führen wird, aber diese Hoffnung war für die Mehrzahl unbestimmt und vage. Mit der Erklärung der Lehre von der Entwicklung änderte sich plötzlich der ganze Studiengang. Die Begeisterung der Naturforscher führte überall zu neuen Richtungen. . .« Mitleiderregend bot sich die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts den Augen der zweiten Hälfte dar! Wie beurteilten nun die Forscher der ersten Hälfte des ig. Jahrhunderts ihr Verhältnis zu der ihnen vorangehenden Zeit? R. Leuckart, ein idealistischer Morphologe, schreibt im Jahre 1848, elf Jahre vor Darwins Werk2): > Zahlreich und mannigfach sind die Versuche einer solchen Dar- stellung [der Tiersystematik] gewesen. Abhängig von der jedesmaligen Anschauungsweise, von der Menge des vorliegenden Materials und der Kenntnis desselben, ist der Wert dieser einzelnen Versuche natürlich sehr verschieden. Überdies ist in den älteren zoologischen Systemen jene eigentlich wissenschaftliche Aufgabe, wenn auch nicht geradezu verkannt, doch meistens einem gewissen praktischen Interesse untergeordnet. Wie eine Art Wörterbuch, liefern dieselben wenig mehr, als ein Mittel zur Erkennung der verschiedenen Tiere. Der Name Cuvier bezeichnet eine neue glänzende Epoche in der Geschichte unserer Wissenschaft. Mit dem sicheren Blick des Genies erkannte dieser berühmte Forscher die hohe Bedeutung einer allgemei- neren, ich möchte fast sagen, einer künstlerischen Auffassung der orga- nischen Bildungen. Was er durch das System erstrebte, war . . . viel- mehr eine Einsicht in den Zusammenhang der verschiedenen tierischen Formen, war das gegenseitige Verständnis der vereinzelten Mannig- faltigkeit. . .« Und wie faßte ihrerseits die vorcuviersche Periode ihr Verhältnis zu ihren Vorgängern? Vicq d'Azyr lobt im Jahre 1788 den Vor- gänger Cuviers, Buffon: »Buffon war also der erste3) ... der die Naturgeschichte mit Philo- sophie verknüpfte ... er ragte insbesondere durch seine Kunst hervor, die Gedanken zu verallgemeinern und einzelne Beobachtungen zu einer J) W. Bateson, Materials for the Study of Variation, London 1894, S. 7. 2) R. Leuckart, Über die Morphologie und die Verwandtschaftsverhältnisse der wirbellosen Tiere, Braunschweig 1848, S. 2. 3) Vicq dAzyr, Eloge sur Buffon, Oeuvres I, S. 19. XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. IQI höheren Einheit zu verknüpfen. . . Oft, indem er bis dahin isolierte und sterile Tatsachen verbindet, erhebt er sich zu Konsequenzen, die am wenigsten zu erwarten wären1).« Und ginge man bis auf MALPIGHI, auf Vesal, auf Galen, auf ARISTOTELES zurück, jedesmal würde man auf eine Selbstanpreisung stoßen, daß es vor ihnen unverstandene Tatsachen gegeben hat, in die erst sie Licht brachten — und alle diese Lobreden würden zu recht bestehen, denn so oft auch der Mensch einen Gedanken entdeckt, jedesmal hält er sich für neugeboren, jedesmal sieht er in der Ver- gangenheit ein totes Chaos, jedesmal vergißt er, daß er doch auch früher schon Gedanken haben mußte und denkt nicht daran, daß einmal eine Zeit kommen wird, wo seine jetzige Begeisterung erkaltet, um einer neuen zu weichen; und er wird sich wieder wundern, wie er nur so gedankenlos dahinleben konnte. So geht es im Leben, so geht es in der Wissenschaft. Wie früher die Naturphilosophie, so war nun auch der Darwinis- mus eine allgemeine Bewegung, eine Stimmung- ? eine öffentliche Meinung; er entstand nicht aus der Durcharbeitung, Verbesserung und Vertiefung früherer Anschauungen, sondern erhob sich auf ihren Trümmern. Es scheint dies auch das allgemeine Schicksal mensch- licher Ideale zu sein: Katastrophen gelten vielleicht nicht in der Geologie, gewiß aber haben sie in der Geschichte des menschlichen Denkens ihre Bedeutung; von den Griechen zu den Römern, von diesen zum Christentum, zur Befreiung der Völker — überall geht der Weg des Fortschritts über Leichen der Vorgänger und wenn nicht über wirkliche, so doch über erschlagene Gedanken: das alte Ideal fällt mit seinen guten wie schlechten Merkmalen, um einem neuen Platz zu machen. Der Fortschritt ist Revolution und jede Re- volution ist ungerecht. Erst wenn die alten Ideale längst verwest sind, kommt jemand, um für sie Gerechtigkeit, für ihre guten Seiten Anerkennung zu reklamieren — zu spät. Der Darwinismus wollte im allgemeinen wie im einzelnen, bewußt unbewußt, revolutionär, d. h. gerade dem entgegengesetzt sein, was die rationalistische Naturphilosophie war. Früher vertraute man über- mäßig dem Verstände und hegte die Hoffnung, im Verstände die Natur entdecken zu können; jetzt herrscht Verehrung der Natur und der Verstand wird als durch die Natur bedingt dargestellt. Sonst verneigte sich die Wissenschaft vor der Poesie, deren Geist und Aus- •' VlCQ I)"Azyr. Eloge sur BüFFON, Oeuvres I, S. II. ig 2 XL Aufnahme der Darwinschen Theorie. drucksweise sie annahm ; jetzt sollte umgekehrt die Poesie zur Wissen- schaft werden — Zola, der Dichter, erklärt sich für einen Forscher. Früher bauten Kant, Schelling, Schopenhauer der Genialität Altäre, jetzt macht LüMBROSO geniale Menschen zu Nachbarn der Narren; dort ist es die Wissenschaft, die sich in Metaphern keine Beschränkung auferlegt, hier droht der Kritiker M. Nordau dem Dichter, ihn für seine Originalität vom wissenschaftlichen Stand- punkte für unzurechnungsfähig zu erklären. Bloße Negation anstatt einer Analyse: oder bedeutet vielleicht der schwerfällige Darwin eine Vertiefung des weichen Ästhetizismus des Al. Humboldt, ist Haeckel vielleicht ein nüchtern gewordener Oken, LOMBROSO eine Fortsetzung SchellinGs, Zola eine Steigerung Goethes? Und die Resultate? Diese unterscheiden sich nicht besonders von- einander. Dort behauptet Oken, daß die Welt durch eine »Selbst- begattung der Gottheit« entstand, hier Haeckel, daß Gott ein »gas- förmiges Wirbeltier« ist; dort lehrt C. G. Carus, die Seele sei ein Aroma des Körpers, hier bietet euch G. Jaeger als Konsequenz des Darwinismus wollene Wäsche, auf daß euch die Seele aus dem Körper nicht ausdunste. Dort beurteilt Gall nach der Schädelform die Tiefe der Mutterliebe, hier erkennt LOMBROSO nach der Schädelform die Diebe und Mörder; dort Polarität, hier Variabilität, dort magnetische und elektrische Kräfte, hier mechanische und elektrische Kräfte; man glaubt zwar nicht mehr, daß eine Frau eine Eidechse gebären könnte; aber mit vollem Ernst werden Fälle diskutiert, wo sie ein Kind mit dem Kopfe eines Affen, mit den Zähnen eines Huftieres, mit dem Finger und mit den Schuppen einer Eidechse gebiert. Daß GlOR- DANO Bruno, Keppler, Helmont, ParacelsUS vom bösen Geist be- sessen und Zauberer waren, wird nicht mehr behauptet, aber nur deshalb, weil man heute statt »besessen« und »Zauberer« Narr sagt; als mehr oder weniger irrsinnig werden aber von der modernen Wissenschaft in Lombrosos Schriften u. a. erklärt: Newton, Ampere, Gay-Lussac, Diderot, Goethe. Wo ist da ein Unterschied gegen früher? Übrigens war die Bewegung keineswegs so einheitlich, wie es scheinen könnte. Übereinstimmung bestand nur darin, daß man von jetzt an alles historisch erklären will und daß fortan nur Fragen nach den Ursachen, d. h. nach dem Vorhergehenden der Dinge als wissen- schaftlich gelten; sonst aber waren die Erklärungen sehr verschieden, ja oft einander entgegengesetzt. Darwin selbst stimmte freundlich einer jeden Erklärung bei, wenn sie nur keinen Glauben an den Verstand enthielt; er selbst führte als Ursachen der Formen an: natürliche, XI. Aufnahme der Darwinschen Theorie. igj künstliche und geschlechtliche Zuchtwahl, korrelatives Wachstum, Einfluß der Umgebung, Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe, Kreuzung der Varietäten, Einwanderung in neue Gebiete u. a. ; von anderen wurden noch andere Ursachen entdeckt, und man achtete nur wenig darauf, wie heterogene Elemente in denselben enthalten waren. NäGELI glaubte, daß durch die Kreuzung die Variabilität auf- gehoben, WEISMANN, daß sie durch dieselbe gefördert wird; nach Darwin stellen die rudimentären Organe ein Überbleibsel aus deren besserer Vergangenheit dar, nach Wallace soll denselben eine bessere Zukunft erst beschieden sein ; den einen entstand der Mensch aus dem Orang, den anderen aus dem Gibbon und wieder anderen aus den Halbaffen. Ein jeder Gedanke war willkommen, wenn er nur evolutionistisch und mechanistisch war; ein jeder wurde verworfen, der diese Zeichen nicht trug; »erklären!« war das Losungswort aller, und wehe dem, der es nicht zu erraten wagte, welcher Mechanismus dieses oder jenes Ding hervorgebracht hat — sich von Mechanismen lossagen zu wollen, hieß soviel, als an der hohen Kraft der Wissen- schaft zu verzweifeln. »Denn was ist die Naturwissenschaft anders, als ein Versuch, den Mechanismus nachzuweisen, der das Geschehen auf der Welt hervor- bringt? Wo der Mechanismus aufhört, dort ist keine Naturwissenschaft möglich1). . .« ') A. Weismann, Über die letzten Ursachen der Transmutationen, Leipzig 1S76. Die ältere Literatur über den Darwinismus im allgemeinen ist in folgenden Schriften angeführt: G. Seidlitz, Die Darwinsche Theorie, 2. Aufl., Leipzig 1875. Enthält Erklärung der Theorie, Diskussion, Geschichte und eine große Literatur über die- selbe. — Ders., Zur DARWix-Literatur, Kosmos I, S. 546 sq., IV, S. 233 sq. (Nachträge zum genannten Werke). — J. W. Spengel, Die Fortschritte des Darwinismus, 3 Teile 1874 — 1879. — O. Zöckler, Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft, 2 Bde., Gütersloh 1877. Zöckler ist Theologe, seine Schrift ist aber objektiv gehalten ; sie enthält zahlreiche Einzelheiten besonders aus der nicht- wissenschaftlichen durch den Darwinismus hervorgerufenen Literatur. — Alb. Wigand, Der Darwinismus, Braunschweig 1874 — 1876. Enthält eine ausführliche Kritik der neuen Lehre vom wissenschaftlichen und philosophischen Standpunkte. — Gute Nachrichten darüber, wie der Darwinismus in Deutschland aufgenommen wurde, bietet Ernst Krause in der Broschüre: Cn. Darwin und sein Verhältnis zu Deutschland, Leipzig 1S85. — Für die Beurteilung englischer Verhältnisse dienen am besten Darwins und Huxleys Biographien, die auch ihre Korrespondenz enthalten und von ihren Söhnen herausgegeben wurden: Frc. Darwin, Life and Lettres of Ol. Darwin, 3 Vols., London 1878; ich benutzte die deutsche Übersetzung von Carls [Stuttgart 1887). Leonard Huxley, Life and Lettres of Th. H. Huxley, 2 Vols., London 1900. In die Schriften sind auch Autobiographien Darwins und Huxleys aufgenommen worden. — Über den Darwinismus in Frankreich handelt Alfr. Giards Buch: Con- Rädl , Geschichte der biol. Theorien. II. I ^ IQ i XII. Kritik des Darwinismus durch ältere Richtungen. XII. Kritik des Darwinismus durch ältere Richtungen. Obwohl die Frage nach dem genetischen Zusammenhange der lebendigen Welt auf jedermanns Lippen schwebte, wurde Darwins Antwort nicht erwartet; zwar galt die Naturphilosophie bereits für überwunden, aber alle Köpfe waren noch voll des Glaubens an einen vernünftigen Plan in der Natur, an eine Gottheit; die Naturforscher sahen wohl die wachsende materialistische Bewegung, doch kehrten sie sich mit Entrüstung von ihr ab, und fühlten sich philosophisch und meistens auch wissenschaftlich erhaben über das skrupellose Dilettantentum der Büchner und Genossen. Alle waren in Erwartung eines neuen Wortes über die Entwicklung; und siehe, es wird von Darwin aus- gesprochen, aber in einer im Gehege ihrer Wissenschaft unerhörten Art: er bietet weder morphologische Analysen, noch physiologische Experimente, noch tiefsinnige Betrachtungen über das Wesen der Dinge, sondern nur Unmassen von Zitaten aus Schriften über Vieh- zucht und Gartenbau, aus Erzählungen von Reisenden in fremden Ländern; er selbst stellt sich unter die gehaßten Materialisten und nimmt den alten Schulen ihr teuerstes, ihren Glauben an die Be- greiflichkeit der Natur. Was Wunder, daß sie soviel Unhöflichkeit auf die Köpfe der Anhänger der neuen Lehre häuften, und sie »wissenschaftliche Impotenz«, »degeneriertes Denken«, »senilen Maras- mus« nannten? Aber die Bewegung wuchs trotz aller Proteste, und die Alten be- gannen die Aussichtslosigkeit jedes weiteren Kampfes einzusehen und sich zurückzuziehen; nur einige kühnere Denker versuchten mehr oder weniger schüchtern darauf hinzuweisen, daß sie bereits früher ähnliche Gedanken wie DARWIN ausgesprochen hatten, das Materia- listische in Darwins Theorie selbstverständlich ausgenommen. Es seien einige dieser Kritiken angeführt. Louis Agassiz (1807 — 1873), Naturforscher und Reisender, von Herkunft ein Schweizer, war seit jeher amerikanisch gestimmt; als er noch in Europa lebte, unternahm er es, ein Werk über ausge- storbene Fische in ungewöhnlich großem Maßstabe herauszugeben: troverses transformistes, Paris 1904, in welchem ältere Polemiken des Autors ent- halten sind, der für die Aufnahme des Darwinismus in Frankreich gekämpft hat. Gegen Darwin ist die lesenswerte Schrift von Quatrefages gerichtet: Ch. Darwin et ses precurseurs francais, Paris 1870. — Zahlreiche kleinere Mitteilungen sind in Krauses Kosmos zu finden. XII. Kritik des Darwinismus durch ältere Richtungen. ige in Amerika fand er finanzielles Entgegenkommen für sein Streben nach einer großartig organisierten wissenschaftlichen Tätigkeit, be- reiste Amerika, gründete Museen und gab große Werke heraus. Er wollte eine umfassende Naturgeschichte der Vereinigten Staaten her- ausgeben und als Einleitung zu derselben sollte eine »Studie über die Klassifikation«1) dienen, in welcher seine philosophischen An- sichten dargelegt wurden. Man erwartete etwas großartiges, denn AGASSIZ war nicht nur Fachmann in der Paläontologie und Anatomie, sondern auch anerkannter Embryologe und Geograph; auch hatte er sich durch das Studium der Tiefseetiere einen Namen gemacht. Aber das Werk brachte Enttäuschung; vielleicht wirkte der Vergleich mit Darwins Schrift so ungünstig: bei Darwin Tatsachen und neue Ansichten über die Natur, bei AGASSIZ nur allgemeine Betrachtungen, Nachklänge alter Philosopheme, an abgenutzten Beispielen veran- schaulicht2). Wahrscheinlich trugen auch Erzählungen über AGASSIZ' Privatleben, über seine finanziellen Schwierigkeiten, über die Vorwürfe seiner Mitarbeiter, deren Verdienste er sich aneignete, zu der kalten Aufnahme der Schrift bei3): man pflegt zwar solche Argumente in wissenschaftlichen Diskussionen nicht anzuführen, sie lassen aber hin und wieder den Gegner die Feder schärfer zuspitzen. Agassiz vermißte bei Darwin die ihm selbst eigene Überzeugung von einem Weltzweck, den die Entwicklung der Organismen offen- baren soll; dieser Zweck liege in der Erhaltung der Idee, die in den Typen der Tierwelt zum Vorschein kommt. z) L. Agassiz, Essay on Classification 1S58; erst die französische Ausgabe aus dem Jahre 1869 enthält die Einwände gegen Darwin. Auch in späteren Schriften sprach sich Agassiz gegen Darwin aus. 2) Über seine Ansichten vgl. Kap. III dieser Schrift. Über die schwache Wir- kung seiner Schrift erzählen E. Rütimeyer, Ges. Schriften, Basel 1898, II, S. 360 sq. (wo eine Biographie des Agassiz steht und O. Zöcki.er. Geschichte der Beziehungen zw. Theologie und Naturwissenschaft. II, S. 650. 3) Näheres darüber wird erzählt von C. Vogt 'Aus meinem Leben, Stuttgart 1896, S. 196; schade, daß Vogts Autobiographie durch seinen Tod gerade an der Stelle unterbrochen -wurde, wo sie interessant zu werden anfängt!) von O. Fraas (Ed. Desor, Kosmos 11. 1882. S. 4' und E. Haeckel ^iele und Wege der heutigen Entwicklungsgeschichte, Jena 1875, S. 84 . Fraas und Haeckel beschuldigen Agassiz, daß er seine bessere L'berzeugung an eine amerikanische Partei verkaufte. Es scheint jedoch der Wahrheit mehr zu entsprechen, daß der organisatorische und unter- nehmungslustige Trieb Agassiz drängte, sich das notige Geld zu verschaffen, wie es eben ging. Einen falschen Ton. eine Hypokrisie fand ich bei Agassiz nicht. Agassiz' Sohn, Alex. Agassiz gab eine Biographie seines Vaters heraus {ich habe sie nicht gelesen . jq5 XII. Kritik des Darwinismus durch ältere Richtungen. Darwin polemisierte in späteren Auflagen seines Werkes ernst gegen AGASSIZ' Ansichten; sie dienten ihm sozusagen als der Wider- part der seinigen, und wie es in diesem Falle vorzukommen pflegt, betrachtete er jeden begründeten Einwand gegen seinen Widersacher bereits als Beweis für seine eigene Anschauung. Wie es aber seine Methode überhaupt war, griff er keineswegs den Sinn der Ausführungen des AGASSIZ an — der darin bestand, daß zum Wesen einer Art nicht nur anatomische, sondern auch physiologische, geographische u. a. Merkmale gehören, und daß die Art in allen diesen Merkmalen konstant ist, — sondern bekämpfte seine Lehre von einem gött- lichen Plan, von zwanzig Schöpfungen, von selbständiger Er- schaffung jeder Art in mehreren Individuen und mehreren Gebieten auf einmal, und wies nach, daß Worte wie »Gott« oder »Schöpfung« nichts erklären. Von anderen Forschern griff namentlich HäECKEL die Anschauungen AGASSIZ' an, betrachtete sie aber, noch mehr als Darwin, nur als unwissenschaftliche Theologie, welche einer ernsten Widerlegung durch einen Naturforscher nicht einmal würdig sei1). Richard OWEN kritisierte die DARWlNsche Theorie in seinem Werke über die Anatomie der Wirbeltiere; gegen die Annahme der Entstehung der heutigen Tierformen aus ausgestorbenen hatte er nichts einzuwenden, aber mit dem Kultus des Zufalls, der in der Theorie der natürlichen Zuchtwahl getrieben wurde, konnte er sich nicht einverstanden erklären. Er glaubte »an eine angeborene Tendenz zu Abweichungen vom elterlichen Typus, welche in angemessen langen Perioden wirkt«2), fand aber mit dieser Ansicht keinen Anklang. Denn zur Zeit, als Darwin auftrat, war sein Ruf bereits verblaßt und seine persönlichen Eigenschaften (Streitsucht) erwarben ihm soviele Feinde, daß an einen günstigen Ausg-ang der Polemik nicht zu denken war. Owen und MiVART gehören zu den wenigen, die von Darwin mit Geringschätzung behandelt werden. GEORGE Mivart, ein katholisch gewordener englischer Protestant, trat gegen Darwin in vielen Schriften auf3). Er hielt die Theorie der natürlichen Zuchtwahl für eine grobe und falsche Auffassung, welcher nur ihre scheinbare Einfachheit und ihre gegen die Kirche J) E. Haeckf.l, Ziele und Wege der heutigen Entwicklungsgeschichte, Jena 1875. S. 83. 2) Rich. Owen, Anatomy and Physiology of Vertebrates III, S. 807. 3) St. G. Mivart, Man and Ape, London 1873. Lessons on nature, London 1876. The Genesis of Species, London 1870. XII. Kritik des Darwinismus durch ältere Richtungen. j ny gerichtete Spitze zum Siege verholfen hätte. MlVART selbst glaubte daeeeen an eine innere geistige Entwicklun^skraft und nannte seine Theorie im Gegensatze zu derjenigen Darwins »Psychogenesis«. Der Naturforscher muß nach ihm an eine »Erste Große Kraft« glauben, welche zwar den Sinnen verborgen ist, aber dem Geiste sich enthüllt und fortwährend in der Natur wirkt. >Diese Wirkung ist eine sekundäre oder abgeleitete Schöpfung ,per temporum moras', die vom heiligen Augustin von der momentanen ur- sprünglichen Schöpfung unterschieden wurde, welche ,potentialiter atque causaliter' am Anfange geschah. Weit entfernt also, daß durch die An- nahme der , Entwicklung' der Glaube an eine Schöpfung in Abrede ge- stellt würde, wird er vielmehr durch dieselbe bestätigt1).« In England wurden MiVARTs Einwände gegen Darwin vielfach beachtet, auf dem Festlande sind sie wirkungslos geblieben. H. G. Bronn fügte am Schlüsse seiner Übersetzung des Darwin- schen Werkes eine Kritik an, in welcher er die Zuchtwahllehre von seinem morphologischen Standpunkte aus verwarf. Wenn wir uns erinnern, wie er seinerzeit über geometrische Pläne der lebendigen Körper nachsann, werden wir es begreiflich finden, daß er in Darwin umsonst nach Beweisen suchte, daß die Entwicklung, daß einzelne Stadien derselben notwendig seien. Der Kampf ums Dasein kann nach Bronn keineswegs erklären, warum eine Pflanze eben lanzett- förmige, eine andere wieder ovale Blätter bekam und nicht umge- kehrt, warum eine Art vier, eine andere fünf Staubfäden haben muß, warum einem Organismus dieses, einem anderen das gerade entgegen- gesetzte frommt. Zu den älteren Schulen stieß auch der Histologe und Embryologe Alb. Kölliker2). Er hielt Darwin vor, daß er die Tiere so schil- dert, als ob nur das Angepaßtsein für den Kampf ums Leben den Maßstab ihrer Struktur abgäbe, und als ob folglich die einen mehr, die anderen weniger für den Kampf ums Dasein taugten; dies sei unrichtig. > Jeder Organismus ist auch hinreichend vollkommen für den Zweck, dem er dient, und ist ein Grund für seine Vervollkommnung wenigstens nicht in ihm zu suchen«3!. >Die Annahme, daß ein Organismus nur eines bestimmten Zweckes wegen da sei und nicht allein die Verkörpe- J) Ich las von Mivarts Schriften nur: The Cat, London 1SS1. wo er ebenfalls seine Theorie erklärt; die oben angeführte Stelle steht auf S. 527. 2) A. Kölliker, Cber die DARWiNsche Schopfungstheorie, Zeitschrift für wiss. Zoologie 14, 1864. 3 Ibid. S. 6. igg XII. Kritik des Darwinismus durch ältere Richtungen. rung eines allgemeinen Gedankens oder Gesetzes darstelle, setzt eine ein- seitige Auffassung des ganzen Seienden voraus. Allerdings hat jedes Organ, erfüllt jeder Organismus seinen Zweck, allein darauf beruht der Grund seiner Existenz nicht1).« Kölliker zweifelt nicht, daß die Formen genetisch verwandt sind, die Entwicklung geschah aber nach ihm sprungweise: entweder so, daß die Organismen auf einmal Eier legten, aus welchen eine neue Art vielleicht unter Einfluß irgendwelcher äußeren Einflüsse entstand; oder es ging die Umwandlung nach der Analogie der Insektenent- wicklung vor sich, wo aus dem Ei Larve, und aus dieser das ge- schlechtsreife, der Larve unähnliche Individuum wird ; oder endlich dem Falle der Bienenentwicklung ähnlich, wo eine und dieselbe Königin Arbeiterinnen, Drohnen und neue Königinnen erzeugt. Auch C. E. V. Baer ergriff* in der Diskussion das Wort2). Bereits in seinen Jugendjahren sprach er sich gegen Lamarck aus, dessen Theorie er mit bewunderungswürdig richtiger Vorahnung für identisch mit der MECKELschen Auffassung des Tierreiches als einer Reihe von Hemmungsbildungen des Menschen erklärte und zugleich mit dieser bekämpfte3). Seitdem vergingen viele Jahre und die Philosophie, wie das wissenschaftliche Material nahmen seit den 50 Jahren, als er das Haupt der Biologen war, ganz andere Formen an; zum Beweise, daß er auch mit den neuen Kampfmitteln die alte Wahrheit werde ver- teidigen können, führte er in einer Schrift, in der in das gesprächige Alter seine Spuren hinterließ, gewissenhaft neue Entdeckungen an, welche für seine alten Theorien zeugen sollten. Er verwirft darin die Selektions- lehre und glaubt nicht an den blinden Mechanismus der Natur4), dem er seine alte Lehre von der Zweckmäßigkeit alles Geschehens gegenüber- stellt. Ohne Grund führe man die Ähnlichkeit unter den Tieren als Folge ihrer gemeinsamen Abstammung an; sie weise vielmehr auf die Ähnlichkeit der die Tiere bildenden Kräfte hin; es sei unkonse- quent von der neuen Lehre, die Natürlichkeit der Artbegriffe zu be- kämpfen und doch Arten zu beschreiben; grundlos sei auch die Einreihung des Menschen unter die Affen. Baer glaubt auch an Entwicklung, doch ist er überzeugt, daß in den ersten Epochen des Lebens auf unserer Erde die Bildungskraft :) A. Kölliker, Über die DARWiNsche Schöpfungstheorie, Zeitschrift für wiss. Zoologie 14, 1864, S. 7. -) C. E. v. Baer, Über Darwins Lehre. Reden und kleinere Aufsätze. Braun- schweig, 2. Aufl. 1886 (1873— 1876), S. 235—480. 3) Ders., Über Entwicklungsgeschichte der Tiere I, 1828, S. 200. 4) Ders., Über Darwins Lehre, S. 425. XII. Kritik des Darwinismus durch ältere Richtungen. iqq mächtiger als jetzt war, daß sie seitdem abnahm und heute vielleicht schon erschöpft ist1). Er nimmt auch von höheren Formen an, daß sie durch Urzeugung entstehen konnten und besonders glaubt er an eine sprungweise Entstehung einer Art aus einer anderen, welche Küllikek, Baumgärtner, Keyserling lehrten2). Baers Kritik der DARWlNschen Lehre blieb wirkungslos. Die Darwinisten erklärten sein »Unverständnis« der neuen Theorie durch Altersschwäche3) und es ist überraschend, wie wenig seine Schrift später auch von Darwins Gegnern beachtet wurde. Noch weniger Aufmerksamkeit erregte die Verteidigung der BAERschen Anschauungen durch seinen Freund, den Dorpater Philosophen G. TeichmÜLLER4). Eine ganz eigenartige Stellung unter den Bekämpfern der Ent- wicklungslehre nimmt F. JMlCHELIS ein. Ursprünglich katholischer Geistlicher, fand er an der Erklärung der päpstlichen Unfehlbarkeit Anstoß und wurde mit DÖLLINGER Begründer der altkatholischen Religion; nebst theologischen Streitschriften verfaßte er eine Reihe naturphilosophischer Abhandlungen, in welchen der Darwinismus prinzipiell verworfen und eine platonische Auffassung der Natur empfohlen wird5). MlCHELls' Schriften machen auf den Leser einen eigentümlichen Eindruck : die wissenschaftlichen Einzelheiten scheinen ihm unbekannt geblieben zu sein, und stilistisch sind die Werke äußerst mangelhaft, so daß man oft über die eigentliche Meinung des Autors im Unklaren bleibt — übrigens fand kaum jemand die Ausdauer, die Werke ganz durchzulesen; trotzdem kann man sich nicht des Gedankens erwehren, daß es MiCHELlS sehr ernst um die Darlegung seiner Philosophie und um den Kampf gegen HAECKEL war. Michelis verwirft den Grundgedanken der neueren Naturphilo- sophie, daß alle zusammengesetzten Dinge aus einfachen erklärt werden müssen; gerade umgekehrt müsse man von der Kenntnis des J) C. E. v. Baer, Über Darwins Lehre, S. 435. *) Ibid. S. 437- 3) >ll ne saisit pas bien les notions fondamentales de la theorie phylogenique< schreibt A. GlARD (Controverses transformistes) ; Haeckel drückt sich bestimmter aus: »Dieser begabte und tiefe Denker ... ist in seinen späteren Jahren ganz unfähig geworden, jene wichtigsten Probleme seiner Jugendarbeiten, welche die neuen Wege der Forschung eröffnet hatten, auch nur zu verstehen.» Freie Wissenschaft und freie Lehre (engl. Ausgabe S. 2l). 4) G. Teichmüller, Darwinismus und Philosophie, Dorpat 1877. 5) F. MlCHELls, Häckelogonie. Ein akademischer Protest gegen HAECKELs An- thropogenie, Bonn 1S75. — Der Gedanke in der Gestaltung des Tierreiches. Bonn 1S72. — Das Gesamtergebnis der Naturforschung denkend erfaßt, Freiburg i. B. 1SS5. Die zwei letzteren Schriften habe ich durchgeblättert. 200 ^fltt* Kr'l'k des Darwinismus durch rotere Richtungen. Menschen ausgehen, um die übrige Natur zu begreifen. In dieser sieht er nur die Darstellung (nicht einmal Entwicklung) einer Idee, welche sich überall, im Sonnensystem, im Mineral-, im Pflanzen- und Tierreich, sowie im Menschen offenbart. Nicht Stammbäume, son- dern ideale Typen sollen gesucht werden: als solchen Typus, als solche Zentralform betrachtet Michelis für die Pflanzen die Moose, für die Tiere die Mollusken. Der Unterschied zwischen beiden sei durch die Grundrichtung ihres Körpers gegeben, indem die Pflanzen einerseits nach dem Mittelpunkte der Erde, andererseits nach dem Mittelpunkte des Sonnensystems streben (und so diesem näher stehen), während die Achse der Tiere horizontal liegt. Im Menschen wieder- holt sich die Urform der Pflanze am vollendeten Tierleib. Michelis spricht oft vom Kampf ums Dasein, faßt ihn aber ideal auf: in der Blüte kämpft z. B die Urform der Pflanze (eine Knospe, deren Be- stimmung das Längenwachstum ist) mit dem Geschlechtswesen, welches eine Umkehrung der Pflanzenurform darstellt, ums Dasein. Mit solchen Theorien, einer verspäteten Blüte der bereits der Vergessenheit anheimgefallenen Naturphilosophie, war MlCHELIS den Darwinisten unschädlich; sie konnten ihn nicht verstehen und gaben sich damit auch keine Mühe. So kam es, daß MlCHELIS in der Wissenschaft nicht einmal angeführt wird. In Frankreich wurde Darwin geistreich (nebst Flourens und d'Archiac) j) von A. DE Quatrefages kritisiert. Dieser verweist beson- ders darauf2), wie Darwin bei seinen Beweisen allzusehr mit Möglich- keiten, statt mit der Notwendigkeit seiner Konsequenzen operiert, und wie man oft mit derselben Wahrscheinlichkeit auf gerade entgegen- gesetzte Mösrlichkeiten schließen könnte; er weist ferner auf Darwins Überschätzung der Unvollkommenheiten der paläontologischen Nach- richten; unser Wissen von den ausgestorbenen Tieren genüge zum Verständnis, daß in der Geschichte des Lebens auf unserer Erde nicht jenes Chaos herrschte, den Darwins Theorie postulieren muß; er verwirft ferner Darwins Operationen mit Zufälligkeiten, seine Auf- assung der Art usf. Quatrefages' Kritik hat bis auf den Tag ihren Wert behalten, doch scheint sie der Aufmerksamkeit der neueren Darwinisten entgangen zu sein. Die bisher angeführten Kritiken sind nur gegen einige Seiten der *) P. Flourens, Examen du livre de M. Darwin sur TOrigine des Especes, Paris 1864. A. d'Archiac, Cours de Paleontologie, Paris 1864, II, S. 65 sq. 2) A. de Quatrefages, Cii. Darwin et ses precurseurs frangais, Paris 1870. — Desselben Verfassers >Les £mules de Darwin« (Paris 1894) blieb mir unzugänglich. XII. Kritik des Darwinismus durch ältere Richtungen. 201 DARWiNschen Theorie gerichtet; die ganze danvinistische Bewegung zu fassen und aufzuhalten hat der deutsche Botaniker Alb. WlGAND in einem dreibändigen Werke1; voll Gründe, Analysen, Einwände und Ratschläge unternommen. Seine Schrift bleibt noch immer das um- fassendste Werk über das darwinistische Denken, und obwohl es vor mehr als 30 Jahren verfaßt wurde, enthält es fast alles, was man gegen Darwin einwenden kann. WlGAND führt aus, daß der Dar- winismus keineswegs nur eine Theorie, sondern eine Stimmung ist. welche sich des Denkens bemächtigte, eine erneuerte Naturphilosophie, in welcher nur die Namen Polarität, Totalität, Subjekt, Objekt, durch die Namen Kampf ums Dasein, Vererbung, Auslese usw. ersetzt wurden; der Darwinismus habe zur Wissenschaft so weit, wie ein Märchen zur Geschichte; er besitze weder ein Programm, noch eine Methode, noch eine Logik. WlGAND behauptet, daß die Formen- entstehung überhaupt unfaßbar ist, denn man kann unter keinen Umständen aus einem allgemeinen Prinzip Unterschiede zwischen den Erscheinungen begreifen. Niemand wird aus der Gravitation oder aus irgend einem anderen Gesetze die Unterschiede zwischen einzelnen Planeten, M:neralien. Elementen, zwischen Licht, Wärme und Elektrizität und ebenso nicht die Unterschiede zwischen den Tieren begreifen. Die Unterschiede können nur erfahren, keines- wegs erraten werden. WlGAND weist ferner nach, wie Darwin durch eine Häufung von Tatsachen die Schwierigkeiten seiner Theo- rien verhüllt; er entdeckt die Mängel in Darwins Auffassung der Art, der Erblichkeit, der Zweckmäßigkeit usw. usw. — insgesamt richtige und heute anerkannte Einwände. Doch WiGANDs Kritik hat auch ihre Fehler; sie wendet sich fast ausschließlich gegen Darwins Logik; für eine Diskussion über Methode und Philosophie war aber bei den Darwinisten wenig Verständnis zu finden; WlGAND war ferner stark in der Kritik der Fehler seines Gegners, aber ohne alle Kraft, wo es die eigene Meinung zu formulieren galt; er bekämpft Darwins Auffassung der Zweckmäßigkeit, aber, um sie zu retten, ruft er Gott, d. h. ein unmaterielles, einfaches, außerhalb der Natur stehendes Wesen zu Hilfe, welches die Zwecke setzen soll. Gegen Darwins Trans- mutation« (welche an Umwandlungen der Formen glaubt) stellt er seine »Deszendenz« auf: anfangs soll es »Urzellen« gegeben haben2), J) A. Wigand, Der Darwinismus und die Naturforschung NEWTONS und Ccviiks. Braunschweig 1S74 — 75. 2) Diese Theorie entwickelt er in der Abhandlung: Die Genealogie der Urzellen als Lösung des Deszendenzproblems, Braunschweig 1872. 2Q2 Xu. Kritik des Darwinismus durch ältere Richtungen. welche das Wesen des Tieres und der Pflanze auf einmal enthielten; aus ihnen sind Pflanzen- und Tierzellen entstanden, die Pflanzenzellen schieden sich wieder in Zellen der Thallophyta und der Cormophyta, diese wieder zeitigten Zellen von engerer Ordnung, bis endlich Urzellen der engsten Gruppen, der Arten entstanden sind; aus diesen wuchsen erst die Pflanzen hervor. Wigand selbst scheint später kein großes Gewicht auf diese seine Theorie gelegt zu haben1). Es gab außerdem viele, welche ähnliche Einwände gegen Darwin erhoben; so besonders der Zoologe Frz. Leydig, der die Zufallslehre Darwins verwarf und das Aufsuchen der Entwicklungsgesetze ver- langte2), ferner der uns schon bekannte Botaniker Alex. Braun3), der Zoologe H. Baumgärtner4), der Physiologe Rud. Wagner5), der Philosoph J. Huber6) u. a. Wenn man heute die älteren gegen Darwin gerichteten Kritiken und die Antworten seiner Verteidiger durchblättert, so findet man leicht, daß da zwei Welten von verschiedener Sprechweise streiten, die einander nicht verstehen. Darwin wollte die Entwicklung be- schreiben, die Alten behaupteten, er habe sie nicht begriffen; er forschte nach Ursachen, sie nach Gründen, ihm war die Ent- wicklung eine Weltchronik, voll der kleinsten Ereignisse, sie be- haupteten, daß er in der Weltentwicklung keinen großartigen Sinn gefunden hat; bei ihm bedeutete das Wort »Gesetz« die Wahr- scheinlichkeit, mit welcher man aus bekannten Ereignissen auf eine bestimmte Folge schließen kann, ihnen dagegen bedeutete es die ewige und unveränderliche Regel, die der Mannigfaltigkeit in der Natur Sinn gibt. Daraus die Mißverständnisse nicht nur bei den Alten, sondern J) Eine der WlGANDschen Ansicht von der Entstehung der Organismenwelt ähnliche Theorie sprach Joh. v. Hanstein aus (Das Protoplasma als Träger der pflanzlichen und tierischen Lebensverrichtungen, Heidelberg 1880). Hanstein stellt sich vor, daß eine jede Gattung, ja eine jede Art sich aus einer besonderen Urform entwickelte (S. 307). Neuerdings vertritt eine ähnliche Theorie wieder J. Reinke in seiner Philosophie der Botanik. 2) F. Leydig, Vom Bau des tierischen Körpers, 1864, S. 7. 3) Alex. Braun, Über die Bedeutung der Entwicklung in der Naturgeschichte, Berlin 1872. — Vgl. auch H. Potonie, A. Brauns Stellung zur Deszendenztheorie, Kosmos 5, 1879, S. 366 sq. 4) H. Baumgärtner, Natur und Gott, 1870. 5) R. Wagner, Vorstudien zur Morphologie des menschlichen Gehirns. II. Abt. Göttingen 1862. 6) J. Huber, Die Lehre Darwins, München 187 1. — Über andere Bekämpfer Darwins vgl. G. Seidlitz, Die Darwinsche Theorie, Leipzig 1875. XII. Kritik des Darwinismus durch ältere Richtungen. 203 auch bei den Jungen: die Darwinisten waren sehr überrascht, daß Männer wie Baer, KöLLlKER, BRAUN, denen doch der Entwicklungs- gedanke nicht fern lag, auf einmal so scharf die neue Lehre ver- urteilten und ihren Widerspruch nicht begreifend verdächtigten sie dieselben, daß sie vor den Konsequenzen, den Menschen und die Religion betreffend, zurückschrecken, und daß sie jetzt ihre frühere, bessere Überzeugung verleugnen. Nicht einmal Lyell entging diesem Verdacht, als er in seinem Werke »Über das geologische Alter der Menschen« zwar den Beweis führte, daß die Erde vielleicht bereits vor der Eiszeit vom Menschen bewohnt war, und auch den Gedanken nicht von sich wies, daß der Mensch aus dem Affen entstand, aber noch immer von der Theorie die materialistische Grundlage ab- streifen wollte, die ihr durch Darwin gegeben wurde. Es ist üb- rigens einleuchtend, daß der Mut der Jungen, aus ihrer Lehre Kon- sequenzen zu ziehen und auf ihnen öffentlich zu bestehen, daß die Losung: entweder — oder! manchem von den Alten unangenehm war, und daß sie nach verschiedenen Ausflüchten in der Form der Kritik suchten. Von den Verteidigern der neuen Lehre führte seine Sache am besten jedenfalls Darwin selbst, der sich ehrlich in den späteren Auflagen seiner Schrift bemühte, die sachlichen Einwände der Agassiz, BRONN, Mivart, NäGELI u. anderer zu überwinden, obwohl er deren wesentlichen Inhalt oft übersah und als Antwort oft nur die Worte wiederholte, daß »man dieses noch nicht weiß«. Dem KöLLlKER antwortete HUXLEY in einer zwar geistreichen, aber nicht das Richtige treffenden Art. KöLLlKER werfe der Theorie eine Überschätzung der Zweckmäßigkeit in der Natur vor, während doch Darwin be- kanntermaßen eben den Begriff der Zweckmäßigkeit aus der Natur- wissenschaft beseitigt hat! Ein zu einfacher Kniff, den Leser nicht merken zu lassen, daß das Wort Zweckmäßigkeit im ersten Satze einen anderen Sinn hat, als im zweiten! HUXLEY stand schließlich Köllikers Ansichten nicht so fremd gegenüber, wie man aus seinen Worten schließen könnte; er war wohl ein treuer Freund Darwins, nahm aber keineswegs alle seine Ansichten wahllos an, und insbesondere stimmte er in seine Schätzung der natürlichen Zuchtwahl nicht ein, neigte vielmehr zu der Hypothese, daß neue Arten aus früheren sprungweise entstehen. Ja er führte ein sehr undarwinistisches Beispiel aus der Chemie an, wo sich eben- falls eine Verbindung in eine andere hinüberleiten läßt, welche durch keine Übergänge mit der ersteren verbunden ist: »es will mir scheinen«, schreibt er, »daß ähnliche Gesetze bestimmter 20A XII. Kritik des Darwinismus durch ältere Richtungen. Kombinationen die Mannigfaltigkeit der organischen Formen beherrschen, und daß die Natur, als sie von einer Art zu einer andern überging, fecit saltum« XJ. Diese Worte sind zwar einige Monate vor dem Erscheinen des DARWlNschen Werkes geschrieben worden, als aber dieses erschien, bemerkte HUXLEY trotz allen Lobes, daß sich Darwin ohne Grund seine Beweisführung durch die Annahme, es gebe in der Natur keine Sprünge, erschwert habe. Schlimmer als KöLLlKER, der HuxLEYs Freund war, sind andere angekommen. Von den Franzosen, welche wenig Verständnis für die natürliche Zuchtwahl zeigten, schrieb man durchgehends, daß bei ihnen die Wissenschaft im Verfall ist; tatsächlich blieb ihre wissenschaftliche Produktion weit hinter derjenigen der Deutschen. Daß die Gegner zweiten Ranges schlecht davonkamen, ist nicht zu verwundern; es wurde jedoch auch das schöne Werk WlGANDs totgeschwiegen. Man beachte nur, wie man über dasselbe schrieb: Dodel-Port scheint es nicht der Antwort wert zu sein; C. VOGT macht Witze über die Dicke des Buches, E. Krause schreibt, daß es nicht einmal von WlGANDs Freunden gelesen werde, G. Seidlitz meint in seiner Über- sicht der darwinistischen Literatur, es sei das wertvollste unter allen gegnerischen Schriften, denn es koste vier Taler. Dies sollte eine Widerlegung des Werkes sein, und so blieb als einziger Versuch einer Kritik der WiGANDschen Schrift ein Artikel GüST. Jägers2), voll Misverständnis, übrig. ZöCKLERs Werk über die Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft3) enthält eine sehr objektive und ausführliche Beurteilung des Darwinismus vom theologischen Stand- punkt aus — in der darwinistischen Literatur erfährt man kaum, daß es eine solche Schrift gibt! Kein Wunder, denn noch in den neunziger Jahren behauptete man, Kölliker habe seiner Autorität durch seine Kritik des Darwinismus sehr geschadet. So groß war die Macht der öffentlichen Meinung. Übrigens war Darwin seines Sieges nicht so sicher, wie es scheinen könnte. Nach außen war wohl alles, als ob er auf der *) Life of Huxley I, S. 173. 2) Gust. Jäger, In Sachen Darwins, insbesond. kontra Wigand, Stuttgart 1874. 3) O. Zöckler, Geschichte der Beziehungen zu Theologie und Naturwissenschaft, 2 Bde., Gütersloh 1877. — Der erste Teil, der die vordarwinischen Spekulationen be- spricht, wurde von den Darwinisten günstig, der zweite, der unter anderem den Dar- winismus erörtert, sehr abfällig beurteilt. Vgl. Kosmos 4, 1878. S. 76 und 6, 1879. S. 77 sq. XIII. Evolutionistische Philosophie und Ethik. 205 ganzen Linie gesiegt hätte; alle Feinde waren totgeschwiegen oder gingen in sein Lager über; ohne alle Folgen ist jedoch die Kritik nicht geblieben. Auffallend wenigstens lauten inmitten des allgemeinen Siegesrausches die Worte, die Darwin 1871 schrieb, als er von den Einwänden gegen seine Theorie sprach1): >Mag ich mich auch geirrt haben . . ., indem ich die Tragweite der natürlichen Zuchtwahl überschätzte . . . trotzdem glaube ich wenigstens dadurch etwas Gutes gestiftet zu haben, daß ich das Dogma von einzel- nen Schöpfungen umgestoßen habe.« Nur dieses? XIII. Evolutionistische Philosophie und Ethik. Der Verfall der absoluten Philosophie kam keineswegs plötzlich; man kann ihn vielmehr Schritt für Schritt von HEGEL zu Feuerbach und Strausz, zu Schleiden, Lotze, Fechner und A. Lange ver- folgen, um endlich in der exakten Wissenschaft den niedrigsten Punkt zu erreichen. Wohl sprachen auch exakte Forscher wie V. Helmholtz, E. DU BOIS Reymond, VlRCHOW u. m. a. über philosophische Pro- bleme ; bei Helmholtz blieb aber die Philosophie ein (wenn auch ernst gemeintes, so doch nur lose angefügtes) Anhängsel seiner Theo- rien, während sie den zwei anderen nicht viel mehr als ein Gegen- stand der Schönrednerei galt. Der Trieb zum Philosophieren und auch die öffentlichen philosophischen Institutionen blieben zwar er- halten, konnten aber nicht umhin, sich dem wissenschaftlichen Geiste der Zeit anzupassen. Dies geschah, indem sich die Philosophie ihres alten Privilegiums, dem gesamten Denken Gesetze vorzuschreiben, begab; dafür wurde ihr die Ehrenrolle zuteil, zu untersuchen, was allen Wissenschaften gemeinsam ist, was die Wissenschaften als Un- erforschliches nicht antasten wollen; nebstdem behandelte sie die »Geschichte der Philosophie«, die Ethik, und stellte sich die Aufgabe, den unsicheren »Glauben« mit dem sicheren »Wissen« zu versöhnen, über das Wesen der Religion ins Reine zu kommen usf. Es ist das eigentümlichste Merkmal dieser Philosophie, daß sie im Gegensatze zu ihrer stolzen Vorläuferin (die seit dem Altertum herrschend war) gerade das unsicherste Wissen zum Gegenstande nahm und nichts als ihr unantastbares Eigentum erklären konnte. Ch. Darwin. Abstammung des Menschen I, S. 133. 2q6 XIII. Evolutionistische Philosophie und Ethik. vielmehr ohnmächtig der Kritik der exakten Wissenschaften preis- gegeben war. Die praktische Folge war, daß der Philosoph eigent- lich nicht als Fachmann gelten konnte; indem er die allgemeinsten Resultate aller Wissenschaften verarbeiten sollte, fühlte er sich in keiner heimisch; die exakten Forscher betrachteten ihn infolgedessen als minderwertig, als einen Mann, der eigentlich keine Legitimation besitzt, sich in ihre Arbeit zu mischen. So wurden Philosophie und Wissenschaft einander ganz entfremdet. Dieser Verfall der Philosophie hatte jedoch auch sein gutes; das Philosophieren individualisierte sich. Die Naturforscher fühlten sich frei von den Fesseln der Philosophie und stark genug, über das sie interessierende Objekt sich auf eigene Faust allgemeine Vorstellungen zu bilden; sie wurden selbst zu Philosophen. Spricht man vom Philosophieren der Naturforscher, so denkt man gewöhnlich daran, daß z. B. Helmholtz über Kant, Huxley über Hume schrieben; aber in solchen Fällen tritt der Fachmann als solcher in eine nur indirekte Fühlung mit der Philosophie; größerer Nachdruck wäre auf Erscheinungen zu legen (welche von den »Philosophen« gerade gering geschätzt werden), wo der Forscher sozusagen unbewußt sich auf das philosophische Gebiet wagt, indem er als notwendige Folgerungen seiner Entdeckungen allgemeine Lehren aufstellt. Zu dieser Art Philosophie gehörten z. B. Darwins ethische, Huxleys soziologische, Haeckels religiöse Anschauungen, E. Machs, Darwins, Cuviers wissenschaft- liche Methodologie usw. Daß solcherweise eine neue Philosophie aufkam, natürlicher als die alte Systemmeierei, scheint man sich bis auf den Tag nicht klar genug zum Bewußtsein gebracht zu haben; wenigstens zeugen die modernen Erscheinungen des Neukantianismus, der verschiedenen Idealismen und -ismen überhaupt, die abgeschmackt- pädagogische Entrüstung über Haeckels Philosophie, nicht dafür. Man vergißt, daß ein Darwin, ein Haeckel keineswegs auf zwei Lehr- stühlen, einem fachmännischen und einem philosophischen sitzen, son- dern daß ihre Wissenschaft von ihrer Philosophie nicht zu trennen ist; man vergißt, daß die modernste Reaktion gegen die Naturwissenschaft keineswegs eine Rückkehr zu der alten abstrakten Metaphysik be- deutet, sondern den Einzug einer individualisierten Philosophie: E. Mach, H. Driesch, W. Ostwald legen Zeugenschaft dafür ab. Ein typischer Vertreter jener philosophischen Richtung, die nicht aus eigener Kraft, sondern auf dem Gerüste exakter Wissenschaft Systeme baute, war Herbert Spencer (1820 — 1904). Zuerst In- genieur, dann Redakteur, endlich Privatgelehrter, konstruierte Spencer XIII. Evolutionistische Philosophie und Ethik. 207 mit englischer Geduld auf biologischer Grundlage eine neue evolutio- nistische Weltauffassung. Noch vor Darwin begann er seine Arbeit, zuerst in zerstreuten Abhandlungen, dann in einer Schrift, welche alles Wissen vom Leben umfassen sollte. Sein Werk geriet sehr trocken, ist aber verständlich geschrieben und entwickelt keine tiefen, aber auf englisch gediegene Gedanken. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der SPENCERschen Philo- sophie soll hier nicht geboten werden; wir wollen nur einige be- sondere Merkmale derselben berühren. An Gott glaubt SPENCER etwa wie Darwin, der es für müßig hält, über Gott nachzudenken, da sich nichts Exaktes darüber aussagen lasse ; es sei auch keines- wegs nötig, denn man kann seiner Pflicht auch ohne jeden Glauben an Gott genügen. Doch will sich Darwin keineswegs auf einen an- greifenden Atheisten ausspielen; eine solche Rolle lief seinen gesell- schaftlichen Anschauungen stracks zuwider1]. Fast in derselben Weise äußerte sich auch Spencer. Er verwirft die Religion nicht; eine jede soll etwas Wahres enthalten; doch ist es schwer zu sagen wieviel, denn der eigentliche Kern der Religion ist unerkennbar. Praktisch aber huldigt Spencer der Ansicht, die Religion sei eine Art be- schränkter Wissenschaft, gut für Leute auf niedrigerer geistiger Stufe; er selbst, der ein besseres Wissen beherrscht, achtet kaum auf jenes »Unknowable«. DARWIN sieht den Höhepunkt der Philosophie in dem Begriffe der natürlichen Zuchtwahl; H. Spencer erfand eine noch allgemeinere Ursache der Dinge, die unzerstörbare Materie in ungehemmter Be- wegung; die Bewegung der Materie soll geradeaus auf die Entwicklung führen, und dies ist >ein Übergang von zusammenhangloser Gleichartigkeit zu zusammen- hängender Ungleichartigkeit , der aus Zerstreuung und Verbindung der Materie erfolgt«2). Als Beispiel sei die Entwicklung des Sonnensystems angeführt, welches ursprünglich nur ein Chaos war, d. i. ein Gemenge von hin und her fliegenden Körperchen (zusammenhangslose Gleich- artigkeit); im Laufe der Jahrtausende ging dieses Chaos in das Sonnensystem über, in ein Ganzes, welches aus Sonne, Planeten, Monden besteht, und jeder von diesen Körpern wiederum in ein J) Darwins Stellung zur Religion ist in Leben und Briefe von Ch. Darwin I, S. 281 — 294 erklärt. ] F. H. Collins. An Epitome of the Synthetic Philosophy, 2. Ed., London 1890, S. 45. (Aus Spencer selbst las ich nur seine Principles of Biologv. 2o8 XIII. Evolutionistische Philosophie und Ethik. aus mannigfachen Teilen zusammengesetztes Ganzes (zusammen- hängende Ungleichartigkeit). In analoger Weise entwickelten sich auch die Organismen, entwickelt sich jedes Individuum, ent- wickelt sich auch die menschliche Gesellschaft. Das Leben besteht nur in einer besonderen Verbindung der Materie und der Bewegung, die lebendige Substanz verdankt ihr Leben sehr beweglichen und komplizierten Verbindungen, das Wesen des Lebens liegt in »fortwährender Anpassung der inneren Beziehungen an die äußeren«1), und der Anpassungsgrad dient als Maßstab des Fortschrittes; die Amöbe, das vielzellige wirbellose Geschöpf, der Amphioxus, der Affe, der Mensch, eine Koppel Wilde, die zivilisierte Gesellschaft sind nach Spencer Stufen, durch welche die Anpassung des Lebens an die Umgebung hindurchgegangen ist. Die wesentlichsten Lebens- vorgänge sind Wachstum, Differenziation während der Entwicklung, elementare Lebensfunktionen, Anpassung, Sonderung des Lebens in Individuen, Vermehrung, Erblichkeit und Variabilität. Die Phylogenie bildet für Spencer nur einen besonderen Fall der Weltentwicklung — an sie zu glauben ist notwendig, denn die zweite Alternative, eine Schöpfung durch Gott, sei wissenschaftlich unzu- lässig; daß eine Entwicklung der lebendigen Welt wirklich vor sich einer, wird von SPENCER mit ähnlichen Gründen wie von Darwin gestützt: sie ergebe sich aus dem natürlichen System, aus der Ähn- lichkeit unter den Tieren, aus der Embryologie, aus der geographi- schen und geologischen Verbreitung. Spencer nimmt ferner an, daß diese Entwicklung durch äußere Einflüsse (Klima, lebendige Um- gebung) und durch innere (Labilität des homogenen Zustandes) ge- fördert wird. Er gibt in allgemeinen Zügen einen Stammbaum der Pflanzen und Tiere nach ihrem Bau und ihren Funktionen an. Man schlage in SPENCERS Prinzipien der Biologie nach, man lese seine monotonen Fragen und Antworten — und wundere sich nicht, daß er für ein Universalgenie ausgerufen wurde. Hier Proben von Fragen, die er zu beantworten weiß2): Warum wächst der Orga- nismus in der Jugend und warum hört er im entwickelten Zustande auf zu wachsen? (121) — Ist das Leben Folge der Organisation oder umgekehrt? (153) — Wie kommt es, daß einige Tiere bei der >) F. H. Collins, An Epitome of the Synthetic Philosophy, 2. Ed., London 1890, S. 75- 2) Die eingeklammerten Nummern bezeichnen die Seiten in Spencers Principles of Biology. XIII. Evolutionistische Philosophie und Ethik. 20Q Vermehrung ähnliche, andere (z. B. die Medusen) unähnliche Nach- kommen erzeugen? (224) — Warum sind überhaupt die Nachkommen ihren Eltern ähnlich? (233) — Welche Abhängigkeit herrscht zwischen der Notwendigkeit der Zirkulationsorgane und ihrer Entstehung? (II. 262) — Durch welche physikalischen Vorgänge bewirkten der Druck und die Reibung Hautverhärtung? (II. 295) Auf welche Weise kamen die Tiere zur Leber? (316) — Wie entsteht ein Nerv? (IL 346) Alle diese Fragen und hundert andere findet man bei SPENCER be- antwortet. In dieser Eigentümlichkeit liegt ein wichtiger Zug seiner Philosophie, für das durch Spencer beeinflußte Denken überaus be- zeichnend. Spencer und seine Anhänger wissen für jede Erscheinung eine Erklärung, welche mit den Worten anhebt oder immer beginnen kann: »Das Ding, nach dem Ihr fragt, ist nichts als eine Folge von diesen oder jenen mechanischen, chemischen, physikalischen Faktoren«. Und nun wird eine Erklärung geboten, die der Autor als einen im gegebenen Falle möglichen Vorgang ersinnt; ersinnt, nicht aus Ex- perimenten oder Beobachtungen abstrahiert. Wohl betrieb Spencer auch konkrete Studien auf dem Felde der Biologie, ihre Bedeutung und ihr Umfang steht aber in keinem Verhältnis zur Menge und zur Beschaffenheit der von ihm gegebenen Erklärungen. Alle oben aus SPENCER angeführten Fragen sind so schwierig, daß man nur mit der größten Anspannung der Geisteskräfte, mit der innigsten Ver- tiefung in das Wesen des Lebensproblems an sie herantreten sollte. Es gelte z. B. das Problem der Entstehung der Nerven zu erklären: was würde da alles zu beobachten, zu experimentieren, nachzudenken, in der Literatur nachzuschlagen sein — das Problem ist so tief, daß kaum ein Naturforscher es heute wagen dürfte, sich auf dessen Lösung einzulassen. Man stelle sich vor, wie mannigfaltig heute die von Spencer aufgeworfene Frage über das Verhältnis von Leben und Struktur angefaßt wird, jedenfalls ein großes philosophisches Frage- zeichen; SPENCER, der Erfahrungsphilosoph, löst solche Fragen auf einigen Seiten, ja in einigen Zeilen. Es war keineswegs Spencer allein, der diese Methode befolgte, welche jeden, der in einem Werke nach Philosophemen sucht, sozu- sagen zur Verzweiflung bringen könnte : die gesamte darwinistische Biologie und die wissenschaftliche Psychologie huldigten jener Logik, welche alles im voraus schon weiß, keine Geheimnisse kennt, über nichts in der Welt erstaunt ist; die Maxime »nil admirari« wurde mit schier unmöglicher Folgerichtigkeit in jenem System durch- geführt. Rddl, Geschichte der biol. Theorien. II. 14 2io XIII. Evolutionistische Philosophie und Ethik. Nicht wenige waren der Überzeugung, daß diese Methode seit jeher zum Wesen der Wissenschaft selbst gehört, und als die Reaktion gegen den Kultus der Wissenschaft einzureißen begann, beklagte man sich füglich über die wissenschaftliche Trockenheit, durch welche unser Streben nach Wahrheit nicht gestillt wird. Man übersah, daß die evolutionistische Methode, welche für alles im Vorhinein schon eine Erklärung besitzt, nicht jeder Wissenschaft eigen ist; wenn je- mand an Geheimnisse und an die unendliche, unerforschliche Tiefe der Natur glaubte, so waren es eben große Forscher. Als Newton in der Natur ein unendliches Meer sah, an dessen Ufer er nur zer- streute Kieselsteine sammelte, sprach er im Geiste einer ganz anderen Wissenschaft, als der SPENCERschen ; die Tatsache, daß große For- scher, wie Keppler, Newton, Swammerdam, Pascal, van Helmont, Mystiker waren oder geworden sind, d. h. daß sie die Kraft, die Natur mit dem Gedanken zu bewältigen verloren, und sich ihren Eingebungen schlicht ergaben, legt gleichfalls von einer anderen Wissenschaft Zeugnis ab, als jener, die keine Geheimnisse zu kennen vorgibt. Wie für Darwin, so gilt auch für Spencer der Grundsatz, daß absolut nur Eines gilt: daß nichts absolut gilt, alles »nur Folge« ist: die Art ist Folge der natürlichen Zuchtwahl, die sich aus dem Kampf ums Dasein ergibt, und dieser ist nur ein Effekt der allgemeinen Lebenseigenschaften, welche wiederum das Resultat physikalischer und chemischer Eigenschaften der Materie sind; diese rühren ihrerseits von der Bewegung der Atome her, aber auch diese Bewegung hat keine absolute Geltung, sondern geht nur aus subjektiven Empfin- dungen hervor, welche wiederum »nur eine Folge« (wessen?) sind. Spencers Wahrheiten und Unwahrheiten könnte man wie folgt zusammenfassen: Glaube an Gott; wir wissen zwar weder wie er be- schaffen ist, noch wozu er da ist; wahrscheinlich hat er überhaupt nichts in der Welt zu tun, und der Glaube an ihn ist nur eine Folge eines durch Vererbung befestigten Erstaunens vor ungewohnten Er- scheinungen; nichtsdestoweniger sollst du glauben! Die Entwicklung ging in Millionen von Jahren im unendlich großen Räume vor sich, und jeder vorangehende Zustand war Ursache des nachfolgenden: aber weder die Zeit noch der unendliche Raum, noch die ursäch- liche Verknüpfung" der Vorgänge sind von absoluter Geltung, sondern nur dem Menschen durch Vererbung gewisser zufälliger Gewohnheiten eingeprägt; nichtsdestoweniger sollst du an die Millionen Jahre, an den unendlichen Raum, an notwendige Ursachen glauben! Sei sitt- lich; deine Liebe zum Nächsten ist zwar im rohen Kampf ums Leben XIH. Evolutionistische Philosophie und Ethik. 211 entstanden und das Gesetz Zahn um Zahn« enthält hundertmal mehr Wahrheit, als das Gebot, du sollst deine linke Wange demjenigen hinhalten, der dich auf die rechte schlägt, aber trotzdem sollst du Christus folgen und in der Hoffnung leben, daß der Kampf ums Da- sein, der Hingang schwacher und starke Vermehrung sittlicher Menschen endlich unsere Erde in das ersehnte Paradies umwandeln werden1]. Von den Denkern, die mit DARWIN und SPENCER über die Ent- wicklung der Welt, der Religion und der Sittlichkeit nachdachten, wandten sich die einen dem Studium der Vergangenheit zu und kon- struierten aus beweglichen Atomen die Mannigfaltigkeit der heutigen Welt; so insbesondere C. F. Zöllner, Gust. Th. Fechner, W. Preyer, E. HAECKEL, Ed. V. Hartmann; andere sannen mehr über den Men- schen nach, und malten den Fortschritt der Sittlichkeit aus, den die Zukunft bringen wird; es waren dies unter anderen I. FlSKE, Alfr. Barrat, W. Williams, Leslie Steffen, T. H. Huxley, S. Alexander, A. R. Wallace, K. CLIFFORD, Romanes, B. Kidd unter den Eng- ländern; W. H. Rolph, W. Wundt, P. Barth, B. Carneri, B.Vetter, L. BÜCHNER unter den Deutschen; der Däne H. HöFFDiNG; die Russen J. Metschnikov, NoviKOV; die Franzosen A. Fouillee, Guyau, Th. Ribot u. a.2). Die Ansicht dieser Philosophen über die Art des Fortschreitens der Menschheit war nicht gleichartig, die meisten nahmen aber den Grundsatz vom Kampf ums Dasein auf und bemühten sich, zu einem Übergang von rücksichtslosen Naturgesetzen, die der Regel »Aug' ums Auge, Zahn um Zahn« folgen, zu höheren Sittlichkeitsgesetzen, welche die Liebe zum Nächsten gebieten, sich emporzudenken. Huxley war der erste, der die Unmöglichkeit eines derartigen Über- ganges begriffen hat und die Pointe seiner Auseinandersetzung gegen Si'ENCER richtend behauptete er3), daß die sittliche Weltordnung der natürlichen entgegenstrebt, daß die Sittlichkeit und die Pflicht im *) Spencers Hauptwerk ist A System of Philosophy 1860 — 1897) enthaltend: First Principles, The Principles of Biology (2 vols.), The P. of Psychology, The P. of Sociology, The P. of Morality. — Andere Werke: Education, intellectual, moral and physical. — Social Statics. 2) Über diese Philosophen vgl. Alex. Tille, Von Darwin bis Nietzsche, Leipzig 1893 (Darstellung der wichtigsten Systeme der evolutionistischen Ethik). W. Williams, A Review of the System of Ethics founded on the Theory of Evo- lution, London 1893. Ausführlicher als das erstere Werk. 3) T. H. HUXLEY, Evolution and Ethics (1894,, Coli. Ess. IX. 14* 212 XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. Kampfe gegen die tierischen Instinkte bestehen und die Ethik auf keinen Fall eine angewandte Naturgeschichte sein kann. So entdeckte Huxley den Grundfehler der evolutionistischen Lehre: einerseits hieß es, daß die Ethik in der neuen Naturlehre be- gründet sei, andererseits sollte sie aber dieselben ethischen Prinzipien bewahren, welche den Inhalt des Christentums bilden. In dieser Hin- sicht stimmte übrigens die evolutionistische Ethik mit der evolutio- nistischen Biologie überein: als letztes Ziel galt ihr, schon früher be- kannte Begriffe entwicklungsgeschichtlich zu erklären, weniger neue Begriffe einzuführen. XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen GedankengeMeten. Die philosophischen Richtungen im Anfange des ig. Jahrhunderts waren trotz aller Verschiedenheit konservativ; in Einzelheiten nahmen zwar Oken, Fichte, Hegel, Goethe nicht die Überzeugung ihrer Zeit an, aber ihr ganzes Denken, auch wenn es am radikalsten vor- ging, strebte nur nach dem Begreifen des Seienden. Ihren Höhe- punkt erreichte vielleicht diese Anschauung bei Hegel in dem be- rühmten Satze, das Vernünftige sei das Wirkliche und das Wirkliche das Vernünftige, wodurch eine bedingungslose Resignation des Ein- zelnen auf Beeinflussung des Weltgeschehens verkündigt wurde; denn wenn alles Wirkliche vernünftig ist, welchen Sinn sollte ein Kampf um Veredelung der Welt haben ? Deshalb wurde Hegel zur Feste der Konservativen, darum wurde er und sein Losungswort von den jüngeren so gehaßt. Mit der radikalen Reaktion gegen Hegel riß plötzlich eine durch- gängige Unzufriedenheit mit allem Bestehenden ein, die alle Ver- nünftigkeit und Wahrheit in die ersehnte Zukunft verlegte. Alles Wirkliche sei unvernünftig, lautete nun der ständige Refrain der neuen Stürmer, und an der exakten Wissenschaft liege es, die Welt zu er- neuern, zu verbessern. Unter exakter Wissenschaft verstand man aber in Frankreich die positive Philosophie, in Deutschland den Materialismus und Darwin. Infolgedessen fingen die verschiedensten Wissenschaften und Gedankenströmungen ihre bisherigen rationalisti- schen Systeme durch den Darwinismus zu ersetzen. Lawinenartig verbreitete sich die Überzeugung, daß keine Wissenschaft, die Physik^ die Chemie und die DARWTNsche Theorie ausgenommen, an sich XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. 213 feststehende Grundwahrheiten enthalte, sondern daß alle Wissen- schaften auf Grund jener einzig exakten Wahrheiten erst aufzubauen seien. Kants Grundsatz, daß an jeder Wissenschaft nur soviel Exaktes ist, als sich mathematisch ausdrücken läßt, wurde nun insofern ab- geändert, als man statt Mathematik Physik, Chemie und Naturge- schichte setzte. Kampf ums Dasein, Zuchtwahl, Erblichkeit, Atavismus, Degeneration, Atome nahm man außerhalb der Biologie für bare Münze und führte sie in die verschiedensten Wissenschaften ein. Darwin trug selbst dazu bei, als er durch natürliche Zuchtwahl so verschiedenartige Dinge zu erklären versuchte, als da sind: Ent- stehung der Vögel, Ursprung der Religionen, Bieneninstinkt, Blüten- farben usw. Wenn sich durch diese Theorie so heterogene Er- scheinungen erklären ließen, warum sollte sie nicht auch die Entstehung der chemischen Verbindungen oder der europäischen Staaten zu deuten imstande sein? Solcher Versuche erschien eine Menge. Es ist nicht möglich, alle jene Fälle aufzuzählen, wo eine Verpflanzung des Dar- winismus in verschiedene Wissenschaften versucht wurde; nur die wichtigsten seien angeführt. Chemie, Petrographie, Astronomie. In die Chemie versuchte man die DARWiNsche Theorie mehrere Male einzuführen. Zuerst sprach Joh. C. F. Zöllner, der bekannte Physiker und Spiritist, die Ansicht aus1;, daß »die beiden Elektrizitäten, die positive und die negative, die fundamen- talsten Elemente der Materie seien, aus denen sich alle anderen chemi- schen Elemente unter dem Einflüsse gegenseitiger Wechselwirkung mit der Zeit in ähnlicher Weise durch Anpassung an gegebene mecha- nische Bedingungen gebildet haben, wie die verschiedenen Spezies der Pflanzen und Tiere durch Anpassung an kompliziertere Existenzbedingungen vermittels der natürlichen Züchtung«. Derselbe Gedanke wurde später noch einige Male vorgebracht. L. PfLAUNDER3) (Innsbruck) fand bei der Entstehung gewisser chemi- scher Verbindungen durch Dissoziation eine Analogie zwischen den reziproken Reaktionen und der natürlichen Zuchtwahl. C. NäGELI, der bekannte Münchner Botaniker, lehrt 3), daß die chemischen Ele- J) J. C. ZÖLLNER, Über die Natur der Kometen, Leipzig 1872, 3. Aufl. 1883. S. 134. Die Sperrung gehört Zöllner an. 2) L. Pflaunder, Beiträge zur chemischen Statik, Pogg. Ann. 1867 und Der Kampf ums Dasein unter den Molekülen usw., ibid. 1874. 3) C. Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, Leipzig und München 1884, S. 771 und sqq. 2i4 XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. mente je einer MENDELEjEVschen Gruppe in derselben Weltallregion und in demselben Zeitpunkte der Weltenbildung entstanden sind; daß die schwereren Elemente früher als die leichteren zum Vorschein kamen; daß zuerst die Gruppe gebildet wurde, zu welcher Pt, Jr, Os, gehören und erst zuletzt der Wasserstoff. Andere Hypothesen über die Entwicklung der Elemente und über den Kampf der Moleküle ums Leben wurden von W. Preyer, Vikt. Mayer, W. Crookes, G. Wendt1) u. a. veröffentlicht. Auch die Bildung der Gebirgsschichten sollte der Darwinismus er- klären. Der Geologe J. Walther verfaßte ein großes Buch darüber, daß einige Mineralien den Einflüssen der Umgebung stärker als andere widerstehen; diese haben überlebt und bilden heute die ältesten Ge- birgsmassen; andere gingen leichter unter der Einwirkung des Regens, der Säuren, der mechanischen Kräfte unter, und konnten dazu nur wenig oder nichts beitragen2). Von V. Meunier und dem Freiherrn DU Prel3) wurde der Kampf ums Dasein unter die Himmelskörper getragen, wo er in der Zeit gewütet haben soll, als sich aus der Urmaterie die Keime der Sonnensysteme durch Verdichtung bildeten; zum Leben un- fähige Sterne stießen auf andere und gingen zugrunde, bis am Ende nur die zweckmäßig sich bewegenden zurückblieben. Entstehung des Farbensehens. Über die Psychologie soll in einem selbständigen Kapitel gehandelt werden; hier sei nur der Versuch erwähnt, Farbenempfindungen evolutionistisch zu erklären. H. Magnus führte den Gedanken aus, der Mensch sei ursprünglich farbenblind gewesen, und habe erst später die rote Farbe, noch später die gelbe, lichtgrüne, endlich die blaue und violette sehen gelernt; es werden nach MAGNUS vielleicht einmal Zeiten kommen, daß man auch das Ultraviolette mit dem Auge wird unterscheiden können. Bereits vor MAGNUS wurde von W. E. Gladstone und Laz. Geiger behauptet, daß die Alten (Homer z.B.), die blaue Farbe von der schwarzen und die grüne von der grauen J) W. Preyer, Die organischen Elemente und ihre Stellung im System, Wies- baden 1891. — V. Meyer, Chemische Probleme der Gegenwart, Heidelberg 1890. — W. Crookes, Die Genesis der Elemente usw., Berlin 1891. 2) J. Walther, Auslese in der Erdgeschichte, Jena 1895. 3) V. Meunier, Le ciel geologique, prodrome de ge"ologie comparee, Paris 1871. — C. du Prel, Kampf ums Dasein am Himmel; die DARViNsche Theorie nachge- wiesen in der Mechanik der Sternenwelt, Berlin 1874, 2. Aufl. 1876. XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. 215 noch nicht zu unterscheiden verstanden; auch die Bibel, ARISTO'1 1 LES und andere Schriftsteller des Altertums wurden zur Begründung dieser Lehre herangezogen. Lange hat sich jedoch diese Meinung nicht halten können1); auch von Darwinisten (E. Krause) wurde sie be- stritten. Sprachwissenschaft. Eine größere Bedeutung als für die genannten Disziplinen gewann die Theorie Darwins für die Sprachkunde. Die Methode der vergleichenden Philologie war bereits früher der in der Biologie ge- übten ähnlich. Wie der Morphologe durch Vergleichung der or- ganischen Strukturen das ihnen gemeinsame ermittelt und als Typus aufstellt, so suchte der Sprachforscher durch Vergleichung der Worte verschiedener Sprachstämme ihnen gemeinsame Wurzeln zu ent- decken. Als gerade die morphologischen Spekulationen am meisten blühten, trat auch der Begründer der vergleichenden Sprachforschung, Frz. Büpp (i 791 — 1867) auf, der auf die Ermittelung gemeinsamer Elemente der Worte (z. B. der Worte asmi, eJjai, sum, im, jesmi) seine Wissenschaft begründete. Damals entstand der Streit über die Art der Sprachenentwicklung, welcher den Diskussionen der Biologen über Präformation und Epigenesis ähnlich war: die einen, darunter Bon selbst, behaupteten, daß die Worte der heutigen Sprachen aus den Wurzeln durch eine Umbildung derselben nach Gesetzen, welche in ihnen selbst liegen, entstanden seien; andere hielten mit FRIEDR, SCHLEGEL fest, daß die Worte durch Verschmelzung (Agglutination), also durch eine Art Epigenese sich gebildet haben. Durch den Ein- fluß dieser Forscher, durch den Einfluß Herders, W. Humboldts, HEGELS wurden Betrachtungen über die historische Entwicklung der Sprache ein bevorzugtes Objekt der Philosophen; als dann Darwin mit seiner Lehre auftrat, paßten viele Philosophen ihre Anschauungen seiner Theorie an. Ins darwinistische Fahrwasser wurde die Sprachwissenschaft durch Aug. Schleicher (1 821— 1868) geleitet. Durch Haeckel auf die Schrift von der > Entstehung der Arten« aufmerksam gemacht, gab SCHLEICHER eine Broschüre in Form eines offenen Briefes an HäECKT! heraus, in welcher er ausführte, Darwins Gedanke sei den Sprach- forschern keineswegs neu, da sie schon lange die Entwicklung der 1 II. Magnus, Die geschichtliche Entwicklung des Farbensinne*. Leipzig 1877. 2 i 6 XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. Sprachen studierten. Wohl aber müßte man von den Naturforschern lernen, daß für die Wissenschaft nur exakte und objektive Tatsachen und durch sie begründete Folgerungen Wert haben1). Denn die Sprachforschung ist schließlich selbst nichts anderes als eine Art Naturgeschichte. »Ich wenigstens weiß sehr wohl, was ich dem Studium von Werken, wie Schleidens wissenschaftliche Botanik, C. Vogts physiologische Briefe usf. für die Erfassung des Wesens und des Lebens der Sprache zu dan- ken habe. Habe ich doch aus diesen Büchern zuerst erfahren, was Ent- wicklungsgeschichte ist. Bei den Naturforschern kann man einsehen lernen, daß für die Wissenschaft nur die durch sichere, streng objektive Beobachtung festgestellte Tatsache und der auf diese gebaute richtige Schluß Geltung hat. . . .« ». . . Die Sprachen sind Naturorganismen, die ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstanden, nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und wiederum altern und absterben; auch ihnen ist jene Reihe von Erscheinungen eigen, die man unter dem Namen , Leben' zu verstehen pflegt. Die Glotik, die Wissenschaft von der Sprache, ist demnach eine Naturwissenschaft. . . .« Aus diesem Grunde kann auf dieselbe Darwins Theorie und HAECKELs Monismus angewendet werden2). Nur die Terminologie sei etwas zu ändern: was die Naturforscher eine Gattung nennen, heißt bei den Sprachforschern ein Sprachstamm, eine Sprachsippe; und wie die Biologen, streiten auch die Philologen um die Grenzen dieser Sprachstämme. Die Arten einer Gattung werden von den Philologen Sprachen eines Stammes genannt, Subspezies sind Dialekte, Varietäten Idiome; und wie die biologischen Individuen, so ist auch die Sprache eines jeden Menschen von der jedes anderen in gering- fügigen Merkmalen verschieden. Man kann die Sprachen in ähnliche Stammbäume zusammenstellen, wie die Tiere — SCHLEICHER liefert am Schlüsse seiner Untersuchung den Stammbaum der indogermani- schen Sprachen. Die Sprachen entwickelten sich, wie ihre gemein- samen Wurzeln nachweisen, aus einer Ursprache ; diese Wurzeln sind gewissermaßen die Urzellen der Sprache, welche noch keine Organe für die Funktionen haben (Organe sind in der Sprache das Substan- tivum, das Verbum usf.) und bei welchen die grammatischen Funk- tionen ebensowenig differenziert sind, als die Atmung und Verdauung bei den einzelligen Wesen. Die Mannigfaltigkeit der Lebensbedingungen war es, welche die Verschiedenheit der Sprachen zur Folge hatte J) Aug. Schleicher , Die DARwiNsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Offenes Sendschreiben an Herrn Dr. E. Haeckel, Weimar 1863, S. 6. ») Ibid. S. 8. XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. 217 und sie im Laufe der Zeiten sich vermehren ließ, bis die heutigen Sprachen entstanden, welche jedoch trotz der tiefen Unterschiede, die zwischen einzelnen klaffen, ihren gemeinsamen Ursprung nicht ver- leugnen können. SCHLEICHERS Erörterungen sagten den Naturforschern zu. Haeckel führt sie noch immer in seinen Schriften an; auch Lyell in seinem Werke über das geologische Alter des Menschen und Darwin in der Studie über die Abstammung des Menschen nahmen Schleichers Theorie freundlich auf. Viele Sprachforscher und über den Ursprung der Sprache nachdenkende Philosophen stimmten den Ideen von der Entwicklung der Sprache nach Darwins Prinzipien bei. Auch Hypothesen über den Ursprung der Sprachfähigkeit im all- gemeinen standen in Blüte. Darwin selbst ließ sich auf solches Theoretisieren ein; er setzte auseinander1), wie die Sprache durch Nachahmung natürlicher Laute, tierischer Stimmen, und aus instink- tivem Geschrei des Menschen selbst entstand. Er wies darauf hin, daß bereits die Affen (Hylobates agilis) in gewissem Sinne singen können und glaubte, daß auch der Mensch einmal auf einer solchen geistigen Stufe stand und nur musikalische Kadenzen zur Belustigung seiner Geliebten sang, sonst aber sprachlos — homo primigenius alalus — war; erst allmählich sollen sich aus jenem Gesang artikulierte Töne, Worte entwickelt haben, durch welche der Mensch verschiedenartige zusammengesetzte Gemütsbewegungen ausdrückte. Ein ausführlicher Versuch einer Darstellung der Entwicklung der menschlichen Sprache aus tierischen Lauten wurde von G. JÄGER unternommen2 ,. Die Tierlaute entwickeln sich von zufälligen, wie es z. B. das Brummen einer Fliege darstellt, zu gewollten Lauten (z. B. das Zirpen einer Heuschrecke) ; dieser gewollte Ton, ein Empfindungs- laut, bildet den ersten Schritt in der Entstehung der Sprache. Eine höhere Stufe wird durch den Ruflaut, mit dem das Weibchen vom Männchen angelockt wird, eine noch höhere durch die Gesangnach- ahmung, wie sie vielen Vögeln eigen ist, erstiegen. Das gesellschaft- liche Leben ruft bei den Tieren neue Laute hervor, und bildet einen weiteren Fortschritt. Es war also die Sprache ursprünglich ein Laut- ausdruck subjektiver Zustände: auf dieser Stufe steht sie bisher bei J) Ch. Darwin. Abstammung des Menschen I, S. 47. 2) Gust. Jäger, Über den Ursprung der menschlichen Sprache, Ausland 1867 und 1869. Seine zoologische Theorie wurde auch vom Sprachgelehrten L. Stkin- thal günstig beurteilt in: Der Ursprung der Sprache usw., Berlin 1888, 4. Aufl., S. 217 sq. 2 i 8 XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. den Heuschrecken, Zikaden usf. Sie schwang sich zu Ruflauten em- por, welche bereits die Grenze des Subjektiven überschreiten und sich an den Genossen wenden; JÄGER bringt diese Laute in Beziehung zu der Fähigkeit der Tiere, auf bemerkte Erscheinungen hinzuweisen (eine Gans, die den Habicht betrachtet, »weist auf denselben hin«); eine noch höhere Stufe soll das > Lautbild« darstellen, als der primitive Mensch seine Wahrnehmungen nicht nur durch Gesten, sondern be- reits durch Laute wiedergab. So sollen die Wurzeln der Worte ent- standen sein, z. B. die Wurzel ac (scharf), durch welche ursprünglich der Schmerz ausgedrückt wurde. Ein anderes Mal erklärte G. Jäger, warum unter den Säugetieren die Tonentwicklung und das Laut- geben so ziemlich selten vorkommen. Die Lunge soll durch die Art des Ausatmens die erste unentbehrliche Unterlage bieten, um in be- stimmt nuanzierter Weise Sing- und Sprachtöne hervorzurufen. Die dazu erforderliche feine Ausbildung der Brustkastenbewegung gelingt aber nicht bei Tieren mit vierbeiniger Gangart, weil hier die Brust- kastenbewegung völlig von der Bewegung der Vordergliedmaßen ab- hängig ist1). Auch von anderen Philosophen wurden in den achtziger Jahren ähnliche Anschauungen verteidigt2). Sowohl SCHLEICHERS Gedanken als auch die Phantasien Darwins und Jägers wurden seit langem von den Philologen fallen gelassen; verworfen ist die Meinung, daß die aus den Sprachen abstrahierten Wurzelbegriffe einmal als wirkliche Worte gelebt hätten ; den Stamm- bäumen Schleichers wird nur ein historischer Wert zugeschrieben, und niemand nimmt mehr die Ableitung der Sprachen aus unartiku- ierten Interjektionen ernst; auch die Grundthese, die Sprachkunde sei angewandte Naturgeschichte, ist bereits in den achtziger Jahren überwunden worden. Und siehe da! Die Reaktion gegen die Gleich; setzung der Sprache mit einem Naturgegenstande wird durch den Grund gestützt, daß die Sprache ein Produkt des menschlichen Geistes sei, während der Tierkörper als das zuletztgegebene Objekt des Naturforschers betrachtet werden müßte; allein auch die neue bio- logische Reaktion gegen Darwin führt gegen ihn ins Feld, daß als Grundsubstanz des Lebens nicht der Körper, sondern die Lebens- J) G. Jäger, Nachtrag zu der Theorie über den Ursprung der Sprache, Ausland 1870, S. 364 sq. 2) Vgl. darüber die erwähnte Schrift Steinthals, M. Müllers Natürl. Religion, Leipzig 1890, S. 201 sq. und Friedrich von Hellwald, Kulturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart, Stuttgart 1884. I, S. 47 sq. XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. 2 IQ kraft, also ein geistiges Prinzip, dessen Produkt der Körper ist, zu gelten habe1). Sind es vielleicht Keime einer Gedankenähnlichkeit, welche ein- mal von einem kühnen Geiste für Analogien ähnlicher Art wird aus- genutzt werden können, wie diejenigen Schleichers waren? Pädagogik. Die neue Philosophie wirkte auf die Ansichten über Erziehung in zweifacher Art; einmal im allgemeinen dadurch, daß sie die Not- wendigkeit der Einführung einer wissenschaftlichen Auffassung der Natur in die Schulen betonte, dann durch spezielle Theorien. Das Losungswort von der Umgestaltung der alten Weltanschauung durch die Macht der Naturwissenschaft wurde auch in die. Schulen ver- pflanzt, und SPENCER, Huxley, A. Bain und eine große Reihe anderer Forscher sprachen es als Forderung der neuen Zeit aus, daß man sich in den Schulen von der überwundenen klassischen Bildung los- sage und an ihre Stelle das Studium der Chemie, der Physik, der Naturgeschichte zur Grundlage der allgemeinen Bildung mache. In allen Ländern, am meisten vielleicht in Frankreich, hat sich die Praxis der neuen Theorie mehr oder weniger angepaßt; doch hat es den Anschein, als ob diese Richtung heute schon wieder für über- wunden gehalten würde, obwohl sie immer noch viele Verteidiger findet. Auch die Lehre, daß der Mensch nur Bestandteil der Gesellschaft, der Rasse ist, und daß von der Gesundheit des Einzelnen die Ge- sundheit der gesamten Rasse abhängt, machte sich in der Pädagogik- geltend: damit das Volk, die Rasse, die Nachkommenschaft gesund sei, müssen die Kinder gesund erhalten werden. Doch auch die eigentliche Evolutionsphilosophie in der Form von Haeckels biogenetischem Grundgesetze wirkte auf die Erziehung— lehre ein. SPENCER, Preyer und andere lehrten, daß der Mensch nicht nur durch seine Embryonalentwicklung, nicht nur durch seine Kindheit, sondern auch durch seine geistige Entwicklung die Lebens- formen wiederholt, durch welche seine Vorfahren hindurchgegangen sind. Aus diesem Grundsatze leiteten einige die Bedeutung des klassischen Studiums ab: da nämlich das klassische Zeitalter eine Entwicklungstufe des menschlichen Geistes darstellt, soll dessen l) Vgl. B. Delbrück, Einleitung in das Sprachstudium. Ein Beitrag zur Ge- schichte und Methodik der vergleichenden Sprachforschung, Leipzig 18S0. 2 20 XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. Studium auch einen notwendigen Bestandteil der Jugenderziehung bilden1). Aus Haeckels Gesetz leitete der Physiologe W. Preyer seine Psychologie des Kindes ab: das Studium der psychischen Erscheinungen des Kindes soll uns die Vergangenheit des mensch- lichen Denkens erraten lassen. Nebst Preyer wurde diese neue Wissenschaft von Darwin selbst, von G. J. Romanes und insbesondere von dem amerikanischen Psychologen J. M. Baldwin2) gepflegt. Die Lehre von der Erblichkeit und von der Zuchtwahl übte gleichfalls auf die pädagogischen Betrachtungen ihre Wirkung aus. »Sind die vererbten Vorzüge und Fehler einer Rasse gegeben, inwie- fern läßt sich durch Erziehung die bisherige Erblichkeit in eine neue ver- wandeln?«. So faßte J. M. Guyau die Aufgabe der neuen Philosophie der Päda- gogik auf, und er verlangt, daß sich die Erziehung auf physiologische und ethische Gesetze der Rassenpfiege stütze. A. Foüillee stimmt mit ihm überein und wiederholt, »die Erziehung habe zur Aufgabe, neue erbliche Eigenschaften zu schaffen, welche der Rasse körperlich sowie auch psychisch förderlich wären. Die wahre Erziehung ist die, welche anstatt das Gehirn durch Erschöpfung seiner Kräfte abzustumpfen, es fruchtbarer macht, indem es die Ent- wicklung mannigfacher Fähigkeiten in verschiedener Umgebung fördert« 3). Auch die natürliche Zuchtwahl wird von FouiLLEE zu Hilfe genommen, obwohl in modifizierter Bedeutung, indem sie nicht nur eine Folge des Kampfes ums Dasein, sondern auch eines Kampfes um den Fortschritt des körperlichen, intellektuellen und sittlichen Lebens dar- stellen soll. Auch in die pädagogische Praxis drang die genetische Auffassung ein. Da sich alles entwickelt — so schloß man mit H. Spencer — so wird der Hörer seinen Lehrer dann am besten verstehen, wenn ihm dieser den Gegenstand genetisch erklärt. So z. B. wurde in der Naturgeschichte die ältere Methode für unrichtig erklärt, wo man mit dem Menschen anfing und mit mikroskopischen Organismen endigte (damals sagte man, daß der Lehrer vom Bekannten zum Unbekannten *) Daß jeder einzelne Mensch in seiner geistigen Entwicklung die Kulturentwick- lung der gesamten Menschheit wiederholt, wurde bereits von Herbart und von seinem Schüler Ziller behauptet. 2) J. M. Baldwin, Mental Development in the Child and the Race, New York 1895, 2. ed. 1900. — G. J. Romanes, Mental Evolution in Animals, London 1883. — W. Preyer, Die Seele des Kindes, 5. Aufl., Leipzig 1900. — Ch. Darwin, The Expression of Emotions in Man and Animals, London 1872. 3) Education et Heredite. XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. 22 1 fortschreiten soll); nun sollte man die Erklärung mit der Amöbe, mit der Zelle beginnen, aus der sich das gesamte Leben entwickelt hat. Ein Vortrag über das Gehirn fing z. B. mit der Amöbe an, ging dann zu einer Ganglienzelle über, dann zum Fisch-, Frosch-, Kaninchen-, Affengehirn, um erst dann beim Menschenhirn anzu- langen. 'ö' Soziologie und Geschichte. Einen bedeutenden Einfluß übte der Darwinismus auf die Lehren vom Wesen der menschlichen Gesellschaft und der Geschichte. Seit langem suchte man den Berichten über Geschehnisse des Menschen- lebens einen tieferen Sinn zu geben, indem man sie als Fügungen der göttlichen Gerechtigkeit, des unvermeidlichen Schicksals, als periodische Wiederholungen oder als eine spiralige Entwicklung dar- stellte. Im 19. Jahrhundert wurden geschichtsphilosophische Speku- lationen eifrig gepflegt : in und außerhalb Deutschlands wirkten in diesem Sinne Herder und Hegel, in Frankreich CONDORCET, COMTE und Taine, in England BuCKLE u. a. Als nun die naturwissenschaft- liche Periode eingeleitet wurde, strebte man auch die Geschichts- schreibung dadurch auf die Höhe der Exaktheit zu bringen, daß man in dieselbe naturwissenschaftliche Grundsätze einzuführen strebte. Durch den Einfluß der klassischen Nationalökonomie und der CoMTEschen Philosophie entstand eine neue Lehre, die Soziologie, welche, über das Wesen der Gesellschaft nachsinnend, sich in nächste Beziehungen zur Geschichtsschreibung setzte. Die ältere Geschichtsschreibung, der das naturwissenschaftliche Ideal noch nicht bekannt war, suchte die Philosophie dadurch in ihre Wissenschaft einzuführen, daß sie aus ihrem Gegenstande selbst all- gemeine Sätze zu entwickeln suchte; so z. B., daß eine moralische Ordnung in der Welt herrsche, oder daß die Geschichte der Mensch- heit Geschichte der Taten großer Helden bedeute, daß irgendeine Konfession durch die Geschichte als wahr beglaubigt werde usf. Unter der Herrschaft der Naturwissenschaften sollte nun die Ge- schichtsschreibung eine andere Richtung einschlagen. T. H. BuCKLE verlangt in einem Werke, das gleichzeitig mit Darwins Entstehung der Arten erschien, die Geschichtsschreibung solle ihren Gegenstand analysieren, allgemeine Formeln abstrahieren, und nach notwendigen Gesetzen nach dem Beispiele eines KEPPLER, eines NEWTON forschen. Da der Mensch in fortwährenden Wechselbeziehungen zu der Natur 222 XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. steht, müssen diese Beziehungen analysiert werden; der Historiker muß den Einfluß der Nahrung, des Klima, der Bodenbeschaffenheit, der Umgebung im allgemeinen ergründen. Indem nun BUCKLE nach seinen Prinzipien die Geschichte der englischen Zivilisation ana- lysiert, kommt er zu dem Schlüsse, daß sie in einer fortwährenden Überwindung der Natur durch den Menschen, und daraus erfolgender Steigerung intellektueller Bildung bestehe. BüCKLEs Schrift hat den Einzug cler Naturwissenschaft in die Ge- schichtsschreibung sehr gefördert. Nicht weniger einflußreich waren Comtes methodologische Untersuchungen, in denen er eine Hierarchie der Wissenschaften aufstellte; die Soziologie stand da über der Bio- logie, und biologische Methoden wurden als für die Soziologie not- wendig empfohlen. Taine bemühte sich, den Fußtapfen Comtes folgend, biologischen Begriffen in der Geschichte Geltung zu ver- schaffen. Während bei den bisher genannten Forschern die Geschichte mit der Biologie nur allgemein verknüpft wurde, versuchte eine Reihe von Forschern den eigentlichen Darwinismus in die Geschichts- schreibung und in die Soziologie einzuführen. Wie seinerzeit Oken überzeugt war, daß es philosophisch ist, zu sagen, daß das Auge ein ganzer Mensch sei, daß es sich durch Licht ernähre, daß die Augen- muskeln Hände seien usw., so glaubte man jetzt, daß es natur- wissenschaftlich ist, zu behaupten, der Mensch sei eine Zelle der Gesellschaft, die Straße ein Gefäß usf. H. Spencer war Führer dieser Richtung; er schilderte die Ge- sellschaft als einen Organismus; wie dieser nach den mechanistischen Theorien ein Zellenaggregat darstellt, so soll die Gesellschaft in einem Menschen- oder Familien-Aggregat bestehen; auch hat die Gesell- schaft, ebenso wie der Organismus eine bestimmte Struktur. Dem Ektoderm soll bei wilden Völkern der Kriegerstand, dem Entoderm die Frauen und Sklaven entsprechen, welche den Haushalt besorgen. Wie aus dem Ektoderm das Nervensystem entsteht, so aus den Krie- gern die Herrscher; und wie sich zwischen die beiden Keimblätter das Mesoderm einschiebt, aus dem sich die Gefäße bilden, so ent- steht in der Gesellschaft zwischen dem kriegerischen und produktiven Stande die dem Handel obliegende Kaste. Eine friedselige Regierung ist dem sympathischen Nervensystem ähnlich, eine kriegerische da- gegen dem Rückenmark und Gehirn. Der Kampf ums Dasein und die Auslese herrschen in der Natur wie in der Gesellschaft, und der Fortschritt der Gesellschaft besteht in einer stets besseren An- XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. J23 passung des Einzelnen an die durch die Gesellschaft gegebenen Be- dingungen1). Außer Spencer ist Friedr. V. Hellwald zu nennen, der in seiner »Kulturgeschichte« den Spuren des orthodoxen Darwinismus folgend, sie mit einer Erörterung über die Entstehung der Erde und über Affenmenschen beginnt, und dem Grundsatze eines Kampfes ums Dasein in der Menschengeschichte Geltung zu verschaffen sucht; ferner der russische Soziologe Novikov, und der Deutsche P. v. Lilienfeld, welche ihre Lehren auf Haeckels Theorien stützten, A. Schäffle, dem für seine soziologischen Betrachtungen Espinas' Theorie von den tierischen Gesellschaften zum Ausgangspunkt diente, A. FouiLLEE, der den Kampf ums Dasein psychologisch vertiefen will, R. Worms u. a.2). Die Sozialdemokraten. Die (deutschen) Sozialdemokraten nahmen die DARWiNsche Theorie deshalb günstig auf, weil sie durch ihre materialistische und antikirch- liche Tendenz ihrer Weltanschauung nahe stand. Sowohl Marx, als auch ENGELS, welche die Geschichtsphilosophie Hegels materialistisch umzudeuten versuchten, waren, wie fast alle Philosophen ihrer Zeit, voll Ehrfurcht vor der exakten Wissenschaft und nahmen die eene- tische Philosophie Darwins als wissenschaftliche Tatsache auf; später wurden darwinistische populäre Abhandlungen von Sozialdemokraten herausgegeben und viel gelesen. Erst als ViRCHOW auf die Verwandt- schaft zwischen der sozialdemokratischen und der danvinistischen Lehre hinwies, wurde von den Darwinisten der Versuch gemacht, logische Gegensätze zwischen den beiden Weltanschauungen hervor- zuheben. Osk. Schmidt, ein Anhänger Haeckels, versuchte es3), in einer auf der Versammlung der Naturforscher in Kassel (1878) ge- haltenen Rede. Der Sozialismus und der Kommunismus, erklärte er. welche die Gleichheit aller Menschen anstreben, bestehen in der J) Vgl. über Spencer und über andere evolutionistische Philosophen der Ge- schichte: P. Barth, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie I, Leipzig 1897. Eine Analyse dieser heute bereits überwundenen Anschauungen findet sich bei P. Barth (vgl. vorige Anm.l und in : Ch. Seignobos, La methode historique applique'e aux sciences morales, Paris 1901. — G. Richard, L'idee d'evolution dans la nature et Thistoire, Paris 1903. — F. EüLENBüRG, Gesellschaft und Natur, Tübingen 1905. 3 O. Schmidt, Darwinismus und Sozialdemokratie, Kassel 1878. — Die übrige Literatur ist angeführt bei T. G. Masakyk. Die phil. und soziol. Grundl. des Mar- xismus 1899. 2 24 XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. Natur höchstens auf den untersten Lebensstufen, bei den kolonie- bildenden Tieren ; je höher aber das Leben fortschreitet, desto mehr wird jene undifferenzierte Gleichheit überwunden und desto mehr wird dem Egoismus des Einzelnen zum Siege verholfen. Marx und Engels faßten, fuhr Schmidt fort, die Entwicklungsgeschichte ganz anders auf als Darwin; sie glaubten mit ihrem Lehrer Hegel an einen Inhalt, an eine Idee der Entwicklung, während Darwin nur nach den Ursachen und Folgen des Geschehens fragt. Die sozialistische Lehre von der Gleichheit aller Menschen widerspricht ferner der Tat- sache der Naturauslese, indem durch diese gerade eine natürliche Ungleichheit zwischen den Organismen zum Prinzip des Fortschritts gemacht wird. Schmidts Ausführungen waren wohl richtig, und unzweifelhaft sprachen auch Darwin, HUXLEY, Haeckel und andere ihre innerste Überzeugung aus, als sie ihre Anschauungen als denen der Sozialisten zuwiderlaufend bezeichneten; nichtsdestoweniger wird man die freund- liche Aufnahme des Darwinismus durch die Sozialdemokraten kaum als zufällig betrachten können. Neuerdings wird allgemein behauptet, der Darwinismus sei seinem Wesen nach eine aristokratische Weltanschauung, indem nach ihm der Stärkere im Kampf ums Da- sein siegt, und seinem Überleben Hekatomben von Schwachen ge- opfert werden. Demgegenüber kann aber mehreres eingewendet werden; erstens werden die Worte »Aristokrat«, »Demokrat« allzu dogmatisch, nicht als Bezeichnungen von tatsächlich Vorhandenem, sondern von logischen Konstruktionen angewendet: es bedarf keiner großen Menschenkenntnis, um unter den Demokraten echt aristokra- tische Naturen und umgekehrt zu entdecken; auch gibt es mehrere Arten von Demokratie und Aristokratie. Zweitens kann man zwar die Selektionslehre in gewissem Sinne als den Kernpunkt der Darwin- schen Theorie betrachten, aber mit Unrecht wird diese Lehre für nur aristokratisch erklärt, da ihr eben das wesentlichste Merkmal des Aristokratismus, das Individuum erlange seine Vorzüge aus eigener Macht, fehlt; der Kampf ums Dasein ist eben bei Darwin nur ein Name für blind mechanisch vor sich gehende Prozesse. Drittens ent- hält der Darwinismus eine ganz unaristokratische Theorie, nämlich die von der Einwirkung der Umgebung auf den Organismus. Stellen wir uns nur einen stolzen mittelalterlichen Ritter vor: er müßte sich durch den Gedanken, seine Gemütsart, seine Kraft sei eine bloße Folge der Ernährung, des Klima, er stamme vom Affen ab u. ä. ge- wiß beleidigt fühlen. Viertens — und das ist besonders wichtig — XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. 225 die Begründer des Darwinismus, Darwin, SPENCER, HAECKEL waren in ihren allgemeinen Anschauungen viel mehr Demokraten als Aristo- kraten1); man erinnere sich nur der Abneigung Darwins gegen die Vivisektion, seiner mechanistischen Weltanschauung, seiner Vergleichung des Menschen mit dem Affen, seiner aufrichtigsten Verwerfung der Sklaverei, seiner Hoffnung auf einen Fortschritt der Menschheit usw. Daß die führenden Darwinisten nichts von einem Zusammenhange ihrer Theorie mit der sozialdemokratischen Lehre hören wollten, ist leicht erklärlich: sie sahen in den Sozialdemokraten eine staatsgefähr- liche Umsturzpartei, und in dieser politischen Hinsicht standen sie ihnen wirklich gänzlich fremd gegenüber. Die Sozialdemokraten fühlten das Demokratische der neuen Lehre heraus; sie stimmten mit den Darwinisten in ihrem Kampfe gegen die Kirche, gegen die Ideologie und für eine Auffassung des Menschen als bloß materiellen Wesens überein ; die Tatsache, daß ihre Anführer von dem Idealisten Hegel ausgegangen waren, konnte für sie einen desto geringeren Wert haben, als auch die Materialisten STRAUSZ und Feuerbach Hegels Schüler waren. Heute haben sich die Verhältnisse beträchtlich geändert. Durch NIETZSCHE wurde in den Darwinismus ein stark individualistisches Moment hineingetragen, und anderseits lebt auch unter den sozial- demokratischen Theoretikern kein so starker Glaube mehr an Dar- winismus und Materialismus überhaupt. Heute kann wohl der Dar- winismus, insofern er durch die Rassentheoretiker gepredigt wird, als aristokratische Lehre aufgefaßt werden. Poetik. In Deutschland erschien in den siebziger Jahren eine Menge Ge- dichte, Erzählungen und Romane über darwinistische Themata: über den Kampf ums Dasein, über eine bessere Zukunft der Menschheit, über das Leben des diluvialen Menschen u. ä. Insbesondere wurde aber der französische naturalistische Roman durch Darwin beeinflußt. Wie durch ihn aus der Biologie jeder Idealismus ausgeschieden wurde, so wollte auch ZOLA aus seinen Romanen alle Herrschaft des Willens, der Vernunft, des Ideals, alle Herrschaft der Seele ausmerzen, und ') Einer mehr individualistischen Anschauungsweise waren dagegen gleich von Anfang an Huxley und F. v. Hellwald zugeneigt. Vgl. HüXLEY, On the natural inequality of men (1890) Method and Results, S. 290 sq. HELL WALD in seiner Kultur- geschichte. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. 15 2 2Ö XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. sie durch die Macht des Blutes und der Instinkte ersetzen. Haeckels Stammbäume zogen auch in der Belletristik ein, als Zola seinen Zyklus der Rougon-Macquarts-Romane T) durch eine Genealogie der Helden beschloß, denen (Le docteur Pascal) Nervosität, Alkohol und ge- schlechtliche Ausschweifungen unzerstörbare, durch Vererbung sich fortpflanzende Merkmale eingeprägt hatten, welche die Familie zu einem unabwendbaren Verfall führen mußten. Zolas Ideal eines Roman- schreibers war dasselbe, wie das DARWlNsche eines Naturforschers: dieser wollte die Natur nicht begreifen, da man dadurch in die Wissen- schaft ein subjektives Moment einführen würde; seine Theorie sollte ganz unpersönlich sein, sollte ein Abbild des Naturgeschehens bieten; ganz ähnlich verbannt auch Zola die Phantasie und verlangt vom Künstler nichts mehr, als in richtige Ordnung gebrachte Tatsachen: des Schriftstellers Hand soll an seinem Werke nicht zu bemerken sein; er darf die Tatsachen nicht nach seinem Willen ordnen, sondern muß sie gewähren lassen, wie sie sich selbst nach ihrem natürlichen Verhältnis ordnen. Das Abflauen des ZOLAschen Naturalismus war noch keineswegs mit einer Abnahme des Interesses für die Entwicklungsphilosophie gleichbedeutend ; F. Brunetiere führte in Frankreich einen erbitterten Kampf gegen den Naturalismus und schwenkte so weit nach rechts ab, daß er bis in das päpstliche Lager geriet; nichtsdestoweniger glaubte er fest an die Entwicklungsphilosophie und ging in seinen kritischen Studien von der Annahme aus, daß literarische Strömungen Arten sind, den biologischen analog, welche entstehen, notwendige Organe entwickeln, einen Höhepunkt erlangen, worauf sie verfallen und sich in andere Arten umwandeln2). Gewiß wirkte der Darwinismus auch bei anderen Völkern mächtig auf das literarische Leben ein; gewiß fiel diese Wirkung bei jedem Volke je nach seiner Gemütsart und nach seinen besonderen inneren Verhältnissen anders aus; während der Darwinismus in England als Weltanschauung von scharf herauskristallisierten Individualitäten auftrat, bekam er in Deutschland den Charakter einer Lehre, eines wissenschaftlichen Systems; in Frankreich trat er wieder als Gegen- stand der schönen Literatur auf. In Amerika trat für den Dar- J) E. Zola, Les Rougon-Macquart 1871 — 1893. 2) Über den Einfluß des Darwinismus auf die französische Literatur vgl. Petit de Julleville, Histoire de la langue et de la litterature frangaise VIII, Paris 1899. S. 383, 416 u. a. a. Orten. XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. 227 winismus Darwins Freund, der Biologe Asa Gray1; ein; irgendwelche charakteristischen Erscheinungen (den Kampf gegen die Autorität AGASSlz' ausgenommen) scheint dort aber diese Richtung nicht her- vorgebracht zu haben. In Italien wurde der Darwinismus eifrig, einerseits als Gegenstand der fachwissenschaftlichen Studien, anderer- seits von den Popularisatoren gepflegt; italienische Schriftsteller führen auch einige »Vorläufer« Darwins unter ihren Volksgenossen an a). Von anderen Völkern kann ich nur einiges wenige über die Slaven referieren. Bei den Russen wirkte der Darwinismus als Teilströmung der positivistischen und materialistischen Richtung, welche sich in den fünfziger Jahren über Rußland ergoß. Vor jener Zeit stand die russi- sche Intelligenz unter dem Einflüsse Hegels; nun zog man gegen dessen Ideologie stürmisch los und wollte sie durch Popularisierung der Naturwissenschaft überwinden. Die Worte Pisarevs, eines der bedeutendsten Sprecher dieser Richtung, seien als für jene Zeit charakteristisch angeführt 3). »Das gemeine Volk (profanum vulgus) vom Tempel der Wissenschaft zu vertreiben, liegt nicht im Geiste unserer Epoche. . . . Der Aristokra- tismus der Kunst ist eine verwerfliche Erscheinung. . . . Das Monopol der Wissenschaft und der Bildung stellt schließlich eines der ganz schäd- lichen Monopole dar. Was will das für eine Lehre sein, welche ihrem eigentlichen Wesen nach der Masse unzugänglich ist?« An einer anderen Stelle behauptete Pisarev, daß die abstrakten Wissenschaften wie Philosophie und Psychologie leere Scholastik seien, und daß die naturwissenschaftlichen Lehren so greifbar dargeboten werden müssen, daß sie auch zehnjährige Kinder und ungebildete Bauern verstehen können4). Solche Lehren ernteten in Rußland großen Beifall, und wurden durch Übersetzungen der materialistischen Schriften von K. Vogt, L. BÜCHNER (Büchners Kraft und Stoff war in Rußland lange verboten), A. Lange u. a. unterstützt. Auch die Werke Darwins, Huxleys, Spencers, Haeckels, Wallaces, Ro- ma ms' u. a., die gleichfalls ins Russische übertragen wurden, för- derten bedeutend diese Bewegung; die Übersetzung der HAECKELschen 1) A. Gray, Darwiniana, London 1861. 2) Über den Darwinismus in Italien berichtet Gl. Canestrini, La teoria di Darwin, Milano 1880. 3) Zitiert nach D. H. Ovsjanniko-Kulikovskij , Istoria russkoj intelligencii. Moskva 1907 (Geschichte der russischen Intelligenz, Moskau 1907^, Vol. II, S. 374. 4) Ovsj.-Kn.., S. 375. 15* 228 XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. Schrift wurde konfisziert1). Man sehnte sich übrigens mehr nach exakter Wissenschaft überhaupt, als nach der ausschließlich materialistischen : neben Vogt wurde auch Liebig, neben Haeckel auch V. Baer ge- priesen. Einige von den Kindern jener Zeit gelangten auch außer- halb Rußlands zu hohem Ansehen; so die beiden Kovalevsky (der Paläontologe und der Embryologe), ClENKOVSKY, Metschnikov u.v.a.2). Bei den Polen stützte der Darwinismus ebenfalls die literarische Partei der »Positivisten« unter der Führung von Al. SwiETOCHOWSKl u.a., welche den Konservativismus mit der Losung der wissenschaftlichen Wahrheit und des Fortschritts bekämpften. Darwins, Spencers, Haeckels, Huxleys, O. Schmidts, Büchners Werke wurden ins Polnische übersetzt, eine verhältnismäßig große populäre Literatur über Darwinismus (besonders von B. Raichmann, J. Aug. Wrzes- NIOWSKI, J. NUSBAUM, B. Dybowski 3) u. a. trat ins Leben. Bei den Tschechen hat die materialistische und darwinistische Bewegung aus Gründen, die hier nicht zu untersuchen sind, nur wenig Spuren hinterlassen; erst in den neunziger Jahren begann man sich eifriger mit diesen Systemen zu befassen; vor dieser Zeit traten der Botaniker Celakovsky und der Philosoph Durdik für Darwin ein. Den Darwinismus popularisierten K. Bulowa, E. Babäk, Al. Mräzek4). Kriminalistik. Während andere juristische Schulen jeden einzelnen Menschen für verantwortlich für seine guten und bösen Taten erklären, trat Cesare LOMBROSO, Professor in Turin, in den siebziger Jahren mit Beweisen auf, daß es Verbrecher gäbe, denen ihre gesetzwidrige Handlungs- weise und Gemütsart angeboren ist, und daß solche geborene Ver- J) Herr Prof. V. J. Vernadskij von der Moskauer Universität war so gütig, mir diese Angaben mitzuteilen. 2) Von russischen populären Schriften über den Darwinismus sei angeführt Timi- rejev, Darwin i jeho ucenie, 4 izd., Moskva 1898 (Darwin und seine Lehre, 4. Aufl., Moskau 1898). 3) Ich verdanke diese Angaben Herrn Prof. J. Nusbaum von der Lemberger Universität. Von populären Schriften sei angeführt: J. Nusbaum, Zasady ogölne nauki o vyvoju zvierzat, Warszawa 1888. (Grundsätze der allgemeinen Lehre von der Entwicklung der Tiere, Warschau 1888.) 4) L. J. Celakovsky, Rozpravy o Darwinove theorii, V Praze 1895. (Sammlung von Essays aus dem Jahre 1869 — 1894.) — J. Durdik, Darwin und Kant, Ein Ver- such über das Verhältnis des Darwinismus zur Philosophie, Prag (1875) 1906 (Posthum, deutsch). XIV. Einfluß des Darwinismus auf anderen Gedankengebieten. 220 brecher eine besondere Abart der Menschen darstellen, welche viele, sowohl körperliche als auch psychische Merkmale mit unzivilisierten und mit tierischen Vorfahren des Menschen teilen', welche folglich atavistische Eigenschaften besitzen; die alte Behauptung des Para- CELSUS, der Dumme sei ein »mißlungenes Geschöpf«, wurde solcher- weise in modernere Worte gefaßt. Sein Anhänger Ferri unterschied verbrecherische Verrückte, geborene Verbrecher, Verbrecher aus er- worbener Gewohnheit, Gelegenheitsverbrecher und Verbrecher aus Leidenschaft; LOMBROSO nahm diese Klassifikation an und behauptete vom geborenen Verbrecher (delinquente nato), daß er unter vielen anderen folgende > Degenerationszeichen« habe: pathologische (be- sonders hydrozephalische und rhachitische) Schädeldeformationen ; ver- änderliche Anzahl der Organe, wie der Brustwarzen, der Finger, der Zähne, und Unregelmäßigkeiten im Bau der Gehirnwindungen. Ver- brechermerkmale vom Affentypus sind insbesondere: zu kleines Ge- hirn, große Augenbrauenwülste, Stirnfortsatz des Processus jugalis, große Augenhöhlen, vorspringende Zähne, übermäßig entwickelter Gesichtsschädel; auch die Form der Ohrenmuschel, sowie viele andere Eigenschaften sollen den Verbrecher dem Affen nähern1]. Auch physiologisch und psychologisch soll der geborene Verbrecher unter dem Durchschnittsmenschen stehen; er soll für den Schmerz weniger empfindlich sein und Neigung zum Tätowieren besitzen; er pflegt Linkhand zu sein, ist in der Klafterweite der horizontal aus- gebreiteten Arme breiter als höher, ist mehr behaart, sein Geschlecht ist weniger ausgesprochen, sein Herz weniger reizbar, und die Ver- wundung ist bei ihm weniger schmerzhaft. Geistig nimmt er die Stufe der wilden Völker ein; daher das verbrecherische Prostitutions- wesen2), die Grausamkeit, die Menschenfresserei, die Blutrache, die Arbeitsscheu, die Sorglosigkeit, die Launenhaftigkeit, die Eitelkeit usf. LOMBROSO gibt an, daß 40^ von allen in Strafhäusern eingesperrten Verbrechern zu der von ihm entdeckten Menschenvarietät gehören. Eine bedeutende Anzahl von Ärzten und Rechtsgelehrten nahm LOMBROSOs Theorie auf; unter denselben werden besonders ange- führt: von den Deutschen M. Benedikt, H. Kurella, von den Italienern Garofalo, Ferri, der Franzose Ch. Fere u. a. Ernste Forscher halten von der durch Lombroso gegebenen anatomischen *) Eine vollständige Aufzählung derselben findet sich in H. Kurella, Natur- geschichte des Verbrechers, Stuttgart 1893, S. II sq. 2) Ibid. S. 256. 2?o XV. Darwinismus und Religion. Beschreibung des Verbrechers nicht viel; aber darin stimmen mit ihm auch gewiegte Rechtsgelehrte überein, daß es Verbrecher gibt, welchen das verbrecherische Handeln als psychische Eigenschaft angebo- ren ist1). XV. Darwinismus und Religion. Das Wesen des Streites. Als der erste Mensch nach einem Worte suchte, um die durch Betrachtung der Natur in ihm erweckten Gefühle auszudrücken, wurden der unendliche Gott, die greifbare Natur und die Schönheit noch nicht auseinandergehalten; ein und derselbe Mensch, im Grunde ein jeder Mensch war damals zugleich Priester für seine Gefühle, Forscher für seine Vernunft und Dichter für sein Herz; wenn er > Sonne« rief, gab er damit nicht nur der feurigen Scheibe am Himmel einen Namen, son- dern drückte dadurch auch seine andächtigen Empfindungen aus, welche in ihm die Entfernung und Großartigkeit des lebenspendenden Ge- stirns hervorrief; und dasselbe Wort galt auch als freudiger Zuruf der Vertreibung der Nacht und dem Anfang des Tages. Seit der Zeit sehnen wir uns stets nach einer Rückkehr zu jenem ursprüglichen Naturzustande und verlangen, daß all unser Tun zugleich Erkenntnis, Gebet und Gesang sei, damit wieder durch ein jedes Wort der ganze Mensch sich betätige. Und in der Tat, so oft ein großer Mensch auftrat, so oft unter den Menschen eine große Bewegung entstand, immer übten sie eine Wirkung sowohl auf die Wissenschaft, als auch auf die Religion und die Poesie aus. Die Religion Christi sollte sich nicht nur in der Liebe zum Vater, sondern auch im Be- wundern der Blumen des Feldes und in der Fürsorge für die Schick- sale eines Sperlings äußern. Der Katholizismus bot der Welt nicht nur eine Sittlichkeitslehre, sondern auch eine Wissenschaft und eine Poesie; er brachte der Menschheit nicht nur seine Klöster, sondern auch Denker, wie den hl. Augustin, Thomas von Aquino, Albertus Magnus, und hatte auch seinen Dante. Die Darwinisten wollten ebenfalls den Menschen von Grund aus erneuern, und schrieben ihm deswegen nicht nur eine neue Wissenschaft, sondern auch eine neue Ethik vor, und drangen auch in die Poesie ein. Ihr Streben, das ge- samte geistige Leben der Menschheit zu beherrschen, war natürlich; Kurella führt auch die Literatur über diesen Gegenstand an. XV. Darwinismus und Religion. 23 I es blieb nichts anderes übrig, als den Kampf mit anderen, auf das- selbe Ziel gerichteten Weltanschauungen aufzunehmen. Der Kampf mit der Kirche mußte aber nicht nur auf dem Gebiete der allgemeinen Grundsätze ausgefochten werden, sondern auch inner- halb der Grenzen der Naturwissenschaft selbst. Denn auch die heutige Kirche besitzt sowohl bestimmte Religionsgrundsätze, als auch eine ganz bestimmte Naturgeschichte. Diese ihre Naturgeschichte ist ein Gemisch von Anschauungen, zusammengesetzt aus der jüdischen Naturgeschichte und den Lehren der hl. Kirchenväter, der Aus- leger des Galenus und Aristoteles. Auch diese Anschauungen sind einmal wahr gewesen; gewiß waren die Worte der Genesis, mittels welcher ein Moses zum ersten Male den Genossen seine Be- trachtungen über die Welt mitteilte, eine ebenso unerschütterliche und schöne Wahrheit', wie es unsere unanfechtbarsten Wahrheiten sind; die Lehren des hl. AUGUSTIN und die scholastischen Wahrheiten bildeten zur Zeit ihrer Entstehung eine ebenso felsenfeste Überzeugung, wie heute die Lehre vom Ursprung der Menschen aus den Tieren. Diese Wahrheit, diese persönliche Überzeugung ihrer Begründer wird jedoch von der Kirche keineswegs verteidigt: die lebendige Wahr- heit nämlich, welche sich nicht auf das Papier übertragen läßt, welche nirgends außer im Inneren des Menschen zu finden ist; sondern die Kirche verteidigt bloß die Worte, durch welche jene Denker ihre Beziehungen zur Natur ausdrückten, Worte, die längst tot sind, die ihr Leben eingebüßt hatten noch ehe sie ganz ausgesprochen wurden. »Sobald man spricht, beginnt man schon zu irren«, sagt der Dichter; die Kirche aber machte diese Wortversteinerungen zur Grundlage ihrer Wissenschaft. Die moderne Naturlehre entwickelte sich größtenteils aus dieser kirchlichen Naturgeschichte: die alten »Biologien« waren Aufzählungen von Tieren aus der Arche Noahs, aus dem Buche der Offenbarung des hl. Johannes ; mit solchen Dingen hub die Wissenschaft an, und strebte dann fortwährend darnach, sie zu überwinden, denn für den Menschen der Renaissance, wo man zur Natur in ein gesünderes Ver- hältnis trat, wurden die phantastischen Tiere und unnatürlichen An- schauungen der früheren Zeiten zum leeren Wort. Seit langem liegt bereits die Naturwissenschaft der Kirche überwunden da, obwohl sich die Kirche bis auf den Tag von ihrer vorsintflutlichen Naturgeschichte nicht lossagt1) und nicht lossagen kann, denn die Heilige Schrift macht x) »Qui in locis authenticis Librorum sacrorum quidpiam falsi contineri posse existimant, ii profecto aut catholicam divinae inspirationis notionem pervertunt. aut 272 XV. Darwinismus und Religion keinen Unterschied zwischen Theologie und Naturphilosophie; beides hält sie für gleich wahr. Und gesetzt, die Kirche würde die konkreten Unrichtigkeiten ihrer Lehren für falsch erklären; was soll der heutige Naturforscher mit ihren Lehren von den Engeln, von den Heiligen anfangen? überhaupt mit allem, was den Inhalt der kirchlichen Dog- matik ausmacht? Weder in seinen Tatsachen, noch in seinen Theorien, noch in seiner Naturphilosophie findet er etwas, woran solche Begriffe anknüpfen. Die Theologen erkennen es selbst an, aber sie geben nicht zu, daß dies ein großer Fehler der heutigen Theologie wäre. Sie weisen zwar darauf hin, daß dieser oder jener in seinem Kopfe so- wohl theologische Lehren, als auch exakte Wissenschaft versöhnte. Gewiß ist dies wahr; gewiß gilt es nur zu oft, daß »friedlich neben einander wohnen die Gedanken«, aber sie sollen eben nicht nur nebeneinander wohnen, sondern sich auch durchdringen, ein not- wendiges Ganze bilden; die Theologie muß bei einem orthodoxen Forscher in seinen Theorien und Entdeckungen bemerkbar sein: der andächtige Keppler glaubte, daß die Planeten von Engeln be- wegt sind; als Äthan. Kircher auf die Hypothese kam, daß auf anderen Planeten wahrscheinlich auch Wasser vorhanden ist, stellte er sich gleich die Frage, ob eine Taufe mit dem Wasser von der Venus auch giltig wäre; Napier, der Entdecker der Logarithmen, besprach mit dem gleichen Ernst diese verwickelten Eigenschaften der Zahlen, wie die Annahme, daß die Wanderheuschrecken mohammedanischer Religion sind — es war eine von Theologie durchdrängte Wissenschaft, ehr- bare Wissenschaft, ehrbare Theologie, von ehrbaren Forschern ge- pflegt; eine solche Einheit müssen die heutigen Theologen von ihren Anhängern verlangen. Wohl ist es eine andere Frage, ob eine solche Verschmelzung von Theologie und Naturwissenschaft heute möglich ist. Es war weder Darwin noch Lamarck, der den Kampf gegen die Kirche vom biologischen Standpunkte aus eröffnete ; eine wohl vor- sichtige Polemik gegen die Kirche findet sich schon bei DE Maillet und ausführlicher bei Robinet. Der letztere widmete den IL Band seiner Naturphilosophie1) ganz den Untersuchungen über die Kosmogonien verschiedener Völker und dem Beweise, daß man Moses nicht wörtlich zu nehmen habe; er schließt aus dem griechischen Texte der Heiligen Schrift (I; oux ovtojv sttoi7]OSV auta ö öed;), es sei nicht nötig zu glauben, Deum ipsum faciunt erroris auctorem.< Enzyklika »Providentissimus Deus« des Leo XIII. aus dem Jahre 1893. ') R. Robinet, De la nature, 2 Vols., Amsterdam 1 761 — 1763. XV. Darwinismus und Religion. 2X~{ daß Gott die Welt aus nichts erschaffen hat; er findet sein Ge- fallen an Hypothesen vom periodischen Auf- und Untergang der Welt, wobei er seine Meinungen durch Sätze aus dem hl. AUGUSTIN und aus Origenes stützt. CuviER bewies, daß man die ausgestorbene Tierwelt in mehrere Perioden einteilen muß, und begründete seine Katastrophenlehre; seine Theorie läßt sich nicht mit der orthodoxen Lehre vereinbaren, denn Genesis i, 2 lautet, daß die Erde wüst und leer war, nicht, daß sie es wurde; das wäre jedoch noch die geringste Schwierig- keit; in der ganzen biblischen Schilderung der Schöpfung ist nur von einer einmaligen Erschaffung die Rede; das Gebirge soll am dritten (nicht am ersten) Tage entstanden sein; nichts hört man davon, daß es irgendwelches Wasser auf der Erde, irgendwelche Gestirne, Kon- tinente, Pflanzen früher als die jetzigen gegeben hätte usw. x). Nichts- destoweniger stand die Kirche gegen CuviER nicht auf, weil er aus seiner Theorie keine Konsequenzen gegen sie zog. Die Anschauungen Darwins und der Darwinisten. In Fragen der Religion war Darwin ein Sohn seiner Zeit, ein Liberaler. Er verneint zwar Gott nicht, doch bleibt Gott bei ihm nur leeres Wort, ist für ihn weder Schöpfer noch Weltbeherrscher, weder Ursache der Sittlichkeit noch ihr Ziel, noch Herr der Seelen; nimmt keinen Platz ein weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Das einzige, was er getan, ist, daß er das erste Leben schuf, und dann alles sich von selbst entwickeln ließ. Darwin glaubte nicht an eine Weltordnung, glaubte nicht, daß der Mensch in der Natur eine ganz besondere Stellung einnimmt; er deutete zuerst indirekt und dann in einer bestimmt formulierten Lehre an, daß der Mensch nur ein vollkommenerer Affe sei; er suchte schon bei dem Hund nach Anfängen einer Religion und alle Fragen nach dem Wesen, dem wahren Inhalt der Religion hielt er für abgetan, für unwissenschaft- lich. Er fand es nicht nötig, Tatsachen der Religion zu studieren, noch über fachmännische Anschauungen auf diesem großen Gebiete des menschlichen Lebens nachzudenken; ganz im Geiste seines Zeit- alters und nach Laienart glaubte er zu wissen, was Religion ist, und daß zwei, drei gelesene Bücher genügen, um über Religion J) O. Zockler, Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Natur- wissenschaft, Gütersloh, 2 Bände, 1879. II, S. 536. Zöckler (ein Theologe) weist da ausdrücklich auf das Unorthodoxe der CrviERschen Lehre hin. 2 -ia XV. Darwinismus und Religion. schreiben zu können. Sein Mangel an Kenntnissen über die Tat- sachen der Religion erregte Anstoß bei den Fachleuten; Max Müller z. B. schreibt von ihm geradezu mit Despekt1); aber auch ältere Rationalisten, wie z. B. v. Argyll, E. V. Baer fühlten sich durch die Stellung beleidigt, welche Darwin (und besonders Haeckel) zu den Gefühlen, welche jene trotz ihres Liberalismus für heilig hielten, einnahmen. Sehr willkommen kamen aber Darwins Anschauungen den deut- schen Materialisten in ihrem Kampfe gegen die Kirche. »Gegen den Ultramontanismus und den Jesuitismus (sowohl den katho- lischen als den lutherischen) gibt es kein sichereres Mittel und keine siegreichere Landwehr als die Naturwissenschaften«, schrieb G. Seidlitz 2), wobei er selbstverständlich unter der Natur- wissenschaft den Darwinismus verstand. Und D. F. Strausz, ent- zückt über die neue Theorie, teilte in seiner für jene Zeit so charak- teristischen Buche »Der alte und der neue Glaube« ausführlich den Inhalt der DARWlNschen Theorie mit und fügte seiner Auseinander- setzung folgende Worte hinzu3): »Sie [die Theorie Darwins] ist noch unvollständig. . . . Aber wie dem auch sei, es liegt etwas in ihr, das wahrheits- und freiheitsdurstige Geister unwiderstehlich an sich zieht. . . . Wir Philosophen und kritischen Theologen haben gut reden gehabt, wenn wir das Wunder in Abgang dekretierten; unser Machtspruch verhallte ohne Wirkung, weil wir es nicht entbehrlich zu machen, keine Naturkraft nachzuweisen wußten, die es an den Stellen, wo es bisher am meisten für unerläßlich galt, ersetzen konnte. Darwin hat diese Naturkraft, dieses Naturverfahren nachgewiesen, er hat die Tür geöffnet, durch welche eine glücklichere Nachwelt das Wunder auf Nimmerwiederkehr hinauswerfen wird. Jeder der weiß, was am Wunder hängt, wird ihn dafür als einen der größten Wohltäter des menschlichen Geschlechts preisen.« Diese Worte sagen deutlich, was alles sich die Materialisten von der neuen Lehre versprachen. Die antikirchliche, ja gegen alle Religion überhaupt gerichtete Tendenz der neuen Theorie war eine ihrer kräftigsten Triebfedern, und die Darwinisten waren in bezug auf das Kredo der Fachleute sehr empfindlich. Wer gegen Darwin war, wurde eo ipso als Reaktionär und Papist verschrien : Baer, Wigand, Owen, und von den älteren Cuvier wurde das Zeichen der Rück- ständigkeit aufgedrückt; die Kirche nahm sie alle mit Vergnügen J) M. Müller, Natürliche Religion, Leipzig 1890, S. 65. 2) G. Seidlitz, Die DARWiNsche Theorie, Leipzig 1875, Vorwort. 3) D. F. Strausz, Der alte und der neue Glaube, 8. Aufl., Bonn 1875, S. 180. XV. Darwinismus und Religion. 235 unter ihren schattenspendenden Hut auf, ohne Rücksicht ob sie dort- hin gehörten oder nicht, und verteidigte sie schwerfällig und unbe- holfen gegen die intoleranten Darwinisten. o o Die Stellungnahme der Kirche. Die Theologie war in der Auffassung der DARWiNschen Theorie uneinig; der Fall Galilei mahnte wohl zur Vorsicht, aber das Materialistische der neuen Lehre konnte man unmöglich hinnehmen. Bald nach dem Erscheinen des Werkes über die Entstehung der Arten, schrieb der englische Bischof WlLBERFORCE eine Kritik des Werkes1); über Darwin schrieb er als über einen oberflächlichen Mann, der da einen ganz morschen Bau von Hypothesen und Spekulationen auf- führt; er führte gegen ihn ins Feld, es sei unwahrscheinlich, daß der Mensch aus einer Kartoffel entstanden sein sollte, und ließ auch sonst mancherlei Unsinn drucken, wie z. B. von Blutkörperchen, »welche durch Ausdunstung des Blutes entstehen«. Andere Theologen nah- men jedoch die neue Theorie wesentlich anders auf. Darwin beruft sich2) auf einen ungenannten »berühmten Schriftsteller und Geist- lichen«, der ihm schrieb, »daß er allmählich zu der Ansicht kam, beide Vorstellungen von Gott seien gleich erhaben, sowohl die, welche annimmt, daß Gott einige wenige Urformen, einer selbständigen Entwicklung in andere notwendige Orga- nismen fähig, geschaffen hatte, als auch diejenige, welche glaubt, daß zum Ausfüllen der Lücken, die seine Gesetze verursacht hatten, stets eine neue Schöpfung notwendig war«3). Zwischen diesen beiden Anschauungen über die DARWlNsche Theorie, zwischen jener des Bischofs und dieser eines liberalen Geist- lichen, schwankten auch später die Theologen. Auf großen Wider- spruch der orthodoxen Kreise stieß Hunley, als er mit der Lehre vom Ursprung des Menschen aus dem Affen öffentlich auftrat. Auf der Versammlung der Naturforscher zu Oxford kam es zwischen HUXLEY und dem oben genannten Bischof zu einem Streit über die ') In Quart. Review 1860. Vgl. darüber Leben von Cn. Darwin II, S. 177. 2) Zöckler glaubt (II, S. 697 , daß es Rev. Baden-Powell (f 1861), Prof. der Mathematik in Oxford und ein sehr liberaler Mann war; dieser verteidigte den Grund- satz, man solle der Wissenschaft nicht wehren, daß sie ihre Probleme unabhängig von der kirchlichen Auffassung löse; als ein solches Problem betrachtete er auch die Frage nach dem Alter des Menschengeschlechts und nach der Entstehung der Arten. 3) Ch. Darwin, Or. of Sp., S. 396. 2^5 ^V- Darwinismus und Religion. Frage, und im Jahre 1864 wurde eine Agitation gegen die neue Lehre entfesselt; 210 Naturforscher, darunter auch Dav. Brewster, Balfour u. a. erklärten gegen Darwin und Hüxley, >daß es keinen Widerspruch zwischen der göttlichen Offenbarung im Buche der Natur und in der Schrift geben kann und daß es bedauerns- wert ist, wenn die Naturwissenschaft von Einzelnen zur Leugnung der Heil. Schrift mißbraucht wird«. Doch wurde von einigen sonst orthodoxen Naturforschern die Unter- schrift dieser Erklärung verweigert und so sah man von ihrer offi- ziellen Publikation ab1). Besonders unter den deutschen Protestanten fanden sich bald viele, welche den Darwinismus mehr oder weniger annahmen. Ein Bericht über dieselben findet sich bei O. ZÖCKLER, der selbst über die Theorie sehr freisinnig urteilt. In neuerer Zeit wird der Darwinismus auch von katholischen Theologen nicht schlechthin verworfen2). Größten- teils wissen aber die Theologen keinen Rat; sie haben etwas von moderner Wissenschaft gehört, möchten auch wissenschaftlich scheinen; so greifen sie im apologetischen Eifer einzelne Gedanken auf und sind lauter Zitat und eitel Wissenschaft: mit CuviER schlagen sie Darwin, mit Darwin Huxley, mit diesem wieder Haeckel, und hört man ihrer Polemik unbefangen zu, so kommt man zur Über- zeugung, daß sie gewissermaßen die von ihnen bekämpften Männer mehr achten, als die Forscher selbst3). Auch biologische Fachmänner versuchten es, die Entwicklungs- theorie mit der Bibel zu versöhnen. Gleich nach dem Erscheinen der DARWlNschen Theorie trat gegen dieselbe von diesem Standpunkte in England St. GEORGE MlVART auf; mit nicht geringer Geschicklich- keit fand er verschiedene Mängel der Zuchtwahltheorie heraus und stellte sie Darwin vor Augen; er selbst verwarf jedoch die Ent- wicklungstheorie keineswegs, ja er war nicht einmal gegen die Affen- theorie, nur wollte er eingeräumt haben, daß bei der Entstehung des Menschen Gott behilflich war; weder Lyell noch Wallace waren solchem Wunsche abgeneigt und so erntete Mivart viel Beifall4). *) ZÖCKLER II, S. 357. 2) Die Namen einiger derselben sind angeführt in: Duilhe St. Projet, Apologie de la foi chretienne 1885 und bei Wasmann (s. u.). 3) Im »Kirchenlexikon« (1886) wird der Darwinismus nur nach fachwissenschaft- lichen Quellen beurteilt und als seine Widerlegung wird auch nur eine fachwissen- schaftliche Abhandlung (Wigands Schrift) angeführt. 4) Mivarts Schriften wurden in Kapitel XII angeführt. XV. Darwinismus und Religion. 2X7 In letzter Zeit riefen die Auseinandersetzungen des Jesuiten Erich WASMANN eine gewisse Sensation hervor '), welcher zuerst in kleineren Abhandlungen, später in einem Buch die Kirche mit Darwin und DARWIN mit der Kirche zu versöhnen unternahm. Wirklich ist seine Polemik gegen zwei Fronten gerichtet: gegen die Kirche und gegen die moderne Wissenschaft; und wirklich ging WASMANN gegen die Kirche weiter vor, als gegen die Wissenschaft; nicht nur läßt er gelten und verteidigt die Deszendenz im allgemeinen, sondern gibt die Möglichkeit derselben auch für den Menschen zu. Er will sich mit dem Eingreifen Gottes nur in zwei Fällen begnügen: für den Anfang des Lebens und für den Anfang des (beseelten) Menschen; alles Übrige soll ohne direktes Eingreifen Gottes geschehen. Für jene zwei Vorgänge war aber Gott notwendig, weil die Lebenseigen- schaften von Grund aus von denjenigen des unbelebten Stoffes verschieden sind; Gott mußte etwas zu der leblosen Materie hinzu- fügen, auf daß Leben in ihr entstünde, und in ähnlicher Weise soll die menschliche Seele ein Plus sein, das dem an sich tierischen Kör- per nur Gott verleihen konnte. Eine selbständigere Auffassung des Darwinismus findet man bei Wasmaxx nicht; gegen die darwinistische Philosophie führt er nur an, dieselbe sei »einfach ein im Namen der Wissenschaft getriebener Unfug . . . ein philo- sophischer Unfug . . . ein theologischer Unfug . . . ein sozialer Unfug. . . . Der Haeckelismus ist dabei die Stütze des Anarchismus und der Sozial- demokratie, wie uns Bebel einst im deutschen Reichstage bestätigt hat« usw.'). Um einen Übergang von der orthodoxen zur darwinistischen Auffassung zu finden, bedient er sich der folgenden Ausflucht3). Die Kirche hielt bis jetzt mit LlXNE fest, daß es soviel Arten gibt, als deren Gott geschaffen hat; um wie der Kirche, so DARWIN gerecht zu werden, *) E. WASMANN, Die moderne Biologie und die Entwicklungstheorie, Freiburg in Br. 1904, 2. Aufl. 2) Wasmann, Die moderne Biologie, S. 174, 175. Die oben zitierte Verurteilung wird im Buche ohne jede einigermaßen eingehendere Begründung angeführt, und so könnte man in Versuchung kommen, sie cum grano salis zu nehmen. Unlängst brachten die Zeitungen die Nachricht (deren Richtigkeit ich nicht prüfte), WASMANNs Auftreten sei von seinen Vorgesetzten nicht gutgeheißen worden. 3) Wasmann behauptet, daß bereits vor ihm O. Pesch diese Unterscheidung zu demselben Zwecke eingeführt hat. Als LAMARCK behauptete, daß die Arten nicht aussterben, sondern sich in andere verwandeln, hatte er etwas Ähnliches im Sinne gehabt; aber als eine Folge davon verwarf Lamarck die Schöpfung überhaupt. 2^8 XV. Darwinismus und Religion. erfand W ASM ANN einen Unterschied zwischen der »natürlichen« und »systematischen« Art. Die systematische Art ist diejenige, die man sonst als Art bezeichnet — Equus caballus, das Pferd; eine natür- liche Art dagegen soll alle genetisch verwandten Formen umfassen; wenn also wirklich das Pferd, der Esel, die Zebra, das Hipparion usf. von einem Urpferd abstammen, bilden sie alle zusammen eine einzige »natürliche Art«. Wasmann verwirft nicht einmal die natürliche Zuchtwahl, sondern will sie noch durch einen ganz entgegengesetzten Gedanken vervoll- ständigen, den einer »freundschaftlichen Zuchtwahl« (Amikalselektion); er findet sie bei den Ameisen, welche bekanntlich verschiedene In- sekten in ihren Nestern pflegen; sie sollen denjenigen Insekten den Vorzug geben, welche mehr Fett ausscheiden, und behandeln die Larven dieser »Ameisenfreunde« wie ihre eigene Brut1). WASMANNs Schriften werden, dank der Persönlichkeit ihres Ver- fassers, immer noch mit Interesse gelesen; viel bemerkt wurde unlängst seine öffentliche Disputation mit L. PLATE, einem treuen Anhänger Darwins, der noch nach Art der älteren" Richtungen die Religion von oben herab und abfällig — vom Standpunkte der Wissenschaft — beurteilt ; sonst aber scheint der Kampf zwischen der exakten Wissenschaft und der Kirche zu Ende zu sein; jedermann weiß bereits, daß das, was in der Bibel steht, keine exakte Wissenschaft ist, und deren Verteidigern handelte es sich schließlich auch nicht um mehr, als um einen solchen Beweis. Die Stimmung, wie der Kirche so der Wissenschaft, im Streite um die Bibel wird am besten durch die Worte des H. Vogelsang, eines scharfsinnigen Geologen, ausgedrückt, der in der Geschichte seiner Wissenschaft bemerkt2): »Hätte Moses seine geologische Weisheit für sich behalten, das Auf- blühen des Christentums würde nichts verloren haben, die Entwicklung der Naturwissenschaft würde jedoch viel, sehr viel gewonnen haben.« Doch die Zeit hat sich bereits geändert; die liberalistische Auf- fassung der Exaktheit der Bibel ist bereits abgetan; man fragt nicht mehr, ob es wahr ist, daß so und so viele Tiere in der Arche Noahs leben konnten; die naturwissenschaftliche Auffassung der Bibel ist durch eine philosophisch-historische abgelöst worden. T) Wasmann, ibid. S. 230. Diesen Gedanken vertrat früher der russische Fürst Kropotkin. 2) H. Vogelsang, Philosophie der Geologie, Bonn 1867, S. 57. XV. Darwinismus und Religion. 239 Ursprung des Gegensatzes zwischen den Begriffen der Schöpfung und der natürlichen Entstehung. Fast in jeder darwinistischen Schrift stößt man auf den Schluß : weil die Erschaffung unannehmbar ist, bleibt nichts anderes übrig, als an eine natürliche Entstehung zu glauben. Psychologisch ist die Entstehung dieses Satzes, der ganze Jahrzehnte beherrschte, über den noch heute viele Köpfe nicht hinaus können, sehr interessant. Es ist sonderbar, wie oft wir im täglichen Leben, in der Beurteilung anderer, in der Politik, in der Wissenschaft, an eine Behauptung nur deswegen glauben, weil wir an eine andere nicht glauben — ja, wenn der Un- glaube, die Negation einer These nicht da wäre, wer weiß, was wir eigentlich glauben würden, ob wir überhaupt noch etwas glauben könnten! Man spottete über HEGEL, weil er auf die Theorie der Ne- gation (Thesis, Antithesis, Synthesis) die Lehre vom Fortschritt in der Geschichte gründete ; und doch wird der größte Teil der Ge- schichte des menschlichen Denkens dadurch bestimmt, daß, was einer behauptet, ein anderer bestreitet und aus diesem Grunde etwas an- deres verteidigt, und daß ein dritter beide gegensätzliche Lehren zu einer höheren Einheit verbindet; die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens im 19. Jahrhundert gibt einen geradezu klassischen Beleg für Hegel: zuerst Naturphilosophie, d. h. eine Hervorhebung der Vernunft, dann Wissenschaftlichkeit, d. h. Negation der Vernunft und Verehrung der Natur; heute Versuche einer Synthese beider Richtungen; zuerst Idealismus, dann Glaube an Kraft und Stoff, heute eine »Rückkehr zum Idealismus«; zuerst Morphologie, eine abstrakte Formenlehre, dann Phylogenie, d. h. eine Geschichte der Tierformen, welche gegen jede Abstraktion war, heute Morphogenie, welche die Geschichte mit dem älteren Rationalismus verknüpft. Überall bestimmt der Unglaube zum großen Teil den Inhalt und die Intensität unseres positiven Glaubens; ja die Negation kann so stark unseren Glauben beein- flussen, daß wir imstande sind ganz Entgegengesetztes zu glauben, nur weil wir an etwas anderes nicht glauben. Voltaire war z. B. überzeugt, daß die Geologie die orthodoxe Lehre von der Sintflut unterstützt und da er an die Kirche nicht glaubte, verwarf er auch die Geologie und stützte sich auf Newtons Lehre1) von der Unwandel- barkeit der Naturgesetze (natura est sibi ipsi consona); im 19. Jahr- hundert dagegen bildete derselbe Unglaube aus der Geologie ein J) R. Gichard, L"idee Devolution etc., Paris 1903, S. 35. 2AO ^-^ ■ Darwinismus und Religion. Argument gegen die Theologie, und die Bibel wurde gerade durch einen entgegengesetzten Grundsatz bekämpft als zur Zeit Voltaires; den Grundsatz, daß sich die Natur fortwährend verändert. Für den Darwinismus wirkte sein Argument von der Undenkbar- keit der Schöpfung äußerst fördernd ; die meisten fanden gerade darin den Triumph der neuen Lehre, daß durch sie die Annahme einer Schöpfung unnötig wurde, und so kam es, daß auch diejenigen, welche mancherlei an der Theorie nicht zutreffend fanden, ihr wissenschaft- liches Gewissen mit dem Gedanken vertrösteten, daß ein ungenügender wissenschaftlicher Versuch, den Glauben an eine Schöpfung zu über- winden, immerhin besser sei, als dieser Glaube selbst, — so stark waren die Gemüter gegen jedwede > Schöpfung« eingenommen. Der psychologische Grund des Dilemma »aut Moses, aut Darwin« (so wurde es formuliert), war der konservative Geist in England zur Zeit, als Darwin auftrat. Die große Emanzipation von der Herrschaft der Kirche ist ein Werk des Kontinentes, Frankreichs und Deutschlands ; es ist wohl war, daß die religiöse Skepsis in England aufkam und von dort nach Frankreich verpflanzt wurde, doch ging man auf dem Festlande viel radikaler und gründlicher zu Werke, als in England. Die französische Literatur vor der Revolution, dann die Revolution selbst, in Deutschland Kant und die Naturphilosophie waren eine große Negation aller Theologie; Goethe war ein Heide; das Leben Jesu von Strausz und von Renan (jenes erschien 1835 — 36, dieses vier Jahre nach dem Werke Darwins) stellt eine viel radikalere Be- kämpfung der Kirche dar, als Darwin. Das Werk von der Ent- stehung der Arten stimmte höchstens mit einem Dogma, mit der Lehre von der Weltschöpfung nicht überein, während die Biographen Jesu den ganzen metaphysischen Bau der Theologen zu zerstören trachteten. Die Befreiung von der theologischen Bevormundung hatte auch zur Folge, das Baer, Bronn, Treviranus und andere über die Um- wandlungen der Organismen schon vor Darwin schrieben, ohne daß es ihnen in den Sinn gekommen wäre, daß sie die Kirche angreifen; man hört auch von LAMARCK nicht, daß er durch seine Ansichten irgendwie die Theologen gereizt hätte; Kants Theorie des Himmels, welche ihrem Wesen nach ebenso antikirchlich war, wie die Lehre Darwins, erschien bereits 1755 und weder diese Theorie, noch die LAPLACEsche Lehre aus dem Jahre 1796 stießen auf einen merklichen Widerstand der Öffentlichkeit. Aber die englischen Verhältnisse waren ganz anders beschaffen. XV. Darwinismus und Religion. 24 1 Dort war der Druck der theologischen Anschauungen so stark, daß man schon die Vestiges für einen Angriff auf die Kirche hielt, ob- wohl deren Autor ausdrücklich seinen Glauben an einen Schöpfer be- kannte. Aus HüXLEYs und Spencers Erzählung, die in einem früheren Kapitel angeführt wurde, kann man herauslesen, welch eine Achtung die Bibel diesen Männern einflößte; Spencer diente die Entwicklungs- theorie zur Überwindung seines Glaubens an die Schöpfung: HlJXLEY war wohl mehr fortgeschritten: er versichert uns, daß es nicht der Unglaube an den Pentateuch war, was ihn auf den Darwinismus hinsreleitet hatte; HUXLEY aber stand sehr unter deutschem Einfluß und nichtsdestoweniger hat auch er den Kopf voll von Moses. Wenden wir aber unsere Aufmerksamkeit Darwin selbst zu. DARWIN fühlte sich verpflichtet, sich auf die Autorität eines unbe- kannten Theologen zu berufen, um die antikirchliche Tendenz seiner Schrift zu mildern1); schon dies war ein auf dem Festlande außer- gewöhnliches Vorgehen. Wichtiger ist aber, daß er als Gegensatz seiner Theorie nichts anderes sieht, als die kirchliche Gotteslehre: als Gegensatz seiner Auffassung der Art betrachtet er die Lehre von der Schöpfung jeder einzelnen Art für sich; den Gegensatz zu seiner Theorie der organischen Zweckmäßigkeit findet er in der Lehre der Theologen, daß die Tiere und Pflanzen des Menschen wegen da sind, als den Widerpart seiner Theorie von der Entstehung der Schönheit betrachtet er die Überzeugung, daß die Schönheit von Gott dem Menschen zum Vergnügen der Welt eingehaucht wurde; bei seinen Widersachern , bei AGASSIZ, Owen, MlVART, findet er nichts anderes, als eine die Bibel verteidigende Theologie. Man achte z. B., wie naiv er in den Anschauungen des Herzogs von Argyll, der Darwins Zweckmäßigkeitslehre mit Argumenten bekämpfte, welche einem schlichten Rationalismus entlehnt waren, Theologie sucht: >Je weiter, je mehr erkenne ich«, sagte der Herzog von Argyll, »daß man nur die Mannigfaltigkeit an und für sich für den Zweck und das Ziel der Natur halten muß.« >Ich möchte wünschen«, entgegnete Darwin »daß uns da der Herzog erklärt hätte, was er eigentlich unter Natur ver- steht. Will er dadurch etwa sagen, daß der Weltschöpfer die Mannigfaltig- keit der Erscheinungen sich oder dem Menschen zur Freude erschaffen hat? Es will mir scheinen, daß der ersteren Annahme ebenso der gehörige Respekt, wie der andern die Wahrscheinlichkeit fehlt. . . .« Wer würde es glauben, wenn er sich davon nicht mit eigenen J) Darwin, Or. of Sp., S. 396. Radi, Geschichte der biol. Theorien. II. 16 2i_2 XV. Darwinismus und Religion. Augen überzeugen könnte, daß solche theologische und mittelalter- liche Argumente in Deutschland mit Jubel aufgenommen werden, daß STRAUSZ seine Beute dem siegreichen Darwin zu Füßen legen und sich selbst an seinen Triumphwagen spannen wird? Nur der große Einfluß der naturwissenschaftlichen Stimmung jener Zeit erklärt STRAUSZ' (und Renans) Mißtrauen in ihre eigene Kraft. Daß aber die Deutschen damals in ihrem Verhältnis zur Religion wirklich fortgeschrittener waren, als die Engländer, ist anschaulich aus Schopenhauers Verurteilung der »Vestiges«, welche einer Verurteilung der englischen Naturwissenschaft gleichkommt, zu ersehen1). »Bei ihm [dem Verfasser der ,Vestiges'] als Engländer fällt jede die bloße Physik überschreitende, also metaphysische Annahme, sogleich mit dem hebräischen Theismus zusammen, welchen eben vermeiden wollend er dann das Gebiet der Physik ungebührlich ausdehnt. So ein Engländer in seiner Verwahrlosung und völligen Roheit hinsichtlich aller spekulativen Philosophie oder Metaphysik, ist eben gar keiner geistigen Auffassung der Natur fähig, er kennt daher kein Mittleres zwischen einer Auffassung ihres Wirkens, als nach strenger, womöglich mechanischer Gesetzmäßigkeit vor sich gehend, oder aber als das vorher wohlüberlegte Kunstfabrikat des Hebräergottes, den er seinen maker nennt. Die Pfaffen, die Pfaffen in England haben es zu verantworten, diese verschmitztesten aller Obskuranten.« Dieses Urteil fällte Schopenhauer im Jahre 1851; gewiß hätte er an ihm neun Jahre später, nach Durchlesen des DARWiNschen Werkes, nichts geändert. Nicht nur die kontinentale Philosophie und Theologie, auch die Biologie emanzipierte sich von dem Drucke der Kirche mehr, als in England. Viele ältere Naturforscher stießen im Kampfe gegen den Darwinismus zu den Theologen, aber nur weil sie konservativer Überzeugung waren und den Materialismus der neuen Theorie von sich wiesen: gewiß war es gut, daß ihre konservativen Tendenzen sich an der Kraft der neuen Lehre brachen; aber die Darwinisten, von der Losung aut Moses aut Darwin allzusehr befangen, hatten keineswegs recht mit der Behauptung, daß ihre Widersacher an die Bibel glauben. Die Biologen des Festlandes waren Rationalisten; es ist leicht zu beweisen, daß sie bereits den Einfluß der Bibel überwunden hatten. H. Burmeister nimmt zwar in seiner populären Geologie Cuviers Katastrophenlehre an, aber er verwirft ausdrücklich jeden Gedanken an ein Eingreifen Gottes in das Naturgeschehen2); er glaubt zwar A. Schopenhauer, Parerga II, S. 169 (Reclam). H. Burmeister, Geschichte der Schöpfung, 5. Aufl., Leipzig 1854, S. 324. XV. Darwinismus und Religion. 243 nicht an die Artverwandlungen, trotzdem nimmt er aber eine natür- liche Entstehung des Menschen an und verwirft keineswegs die Hypothese, daß der Mensch durch Urzeugung entstand1). Der Zoologe C. G. Giebel, der später durch seinen hartnäckigen Widerspruch gegen den Darwinismus bekannt wurde, urteilt in einer populären Schrift2) ähnlich wie Burmeister; er verwahrt sich gegen die Schul- meistere! der Kirche und untersucht ernsthaft die Frage, ob der Mensch aus einem oder aus mehreren Urvätern entstanden ist. L. Agassiz, der doch für ein Bollwerk der Orthodoxen gehalten wurde, verteidigte sogar eifrig die Annahme mehrerer Urväter der Menschheit. K. E. V. Baer war ebenfalls in Sachen des Glaubens Rationalist3); er schätzte jede Religion, aber Fragen wie, ob Gott eine Person sei, und ob er ein Bewußtsein habe, verwies er ins Irren- haus; er glaubte wohl an die Bibel, allein »bis auf Stellen, welche gegen die Vernunft sind« ; er verwarf das dogmatische Christentum, »weil der Wunderglaube unwissenschaftlich ist« — dies alles sind gewiß Grundsätze, die jeder Rationalist jener Zeit unterschreiben konnte. Als Darwin auftrat, war jedoch der Rationalismus bereits im Verfall und seine Formeln so unschädlich, daß sich hinter dieselben jeder Feigling verkriechen konnte. Es ist wahr, daß der Materialismus und der Darwinismus zur Zeit ihrer Blüte, in den sechziger und sieb- ziger Jahren, wirklich fortschrittliche Lehren darstellten und daß ihre Anhänger ernster zu nehmen waren, als die Idealisten. Es genügt, C. Vogts polemisches Schrift chen »Köhlerglaube und Wissenschaft« (2. Ausg. 1855), welches wesentlich nur vom Verhältnis der Religion x) H. Burmeister, Geschichte der Schöpfung, 5. Aufl., Leipzig 1854, S. 562. 2) Die Naturgeschichte des Tierreichs, Leipzig 1859, I. Band (geschrieben 1858!. Im Kapitel über die > Entstehung der Tiere« (S. 22) schreibt Giebel, daß sie ent- weder durch Urzeugung auf die Welt kamen, oder daß sie der Schöpfer oder eine andere Kraft erschaffen hat: die Wissenschaft habe keine Mittel dies zu entscheiden. S. 43 verwirft er die Lehre, der Mensch sei aus einem einzigen Menschenpaar ent- standen, denn »die Heil. Schrift ist ein religiöses Buch, kein Lehrbuch der Natur- wissenschaft und wenn sich die Priester die Freiheit nehmen, nicht das Auge zu verwerfen, das sie ärgert, und nicht die andere Wange zu reichen, wenn eine ge- schlagen, so sollen sie uns auch erlauben, nicht an die Buchstaben der Schrift zu glauben«. 3) Vgl. darüber die Erzählung in Kosmos II, S. 71 — 76, die nach den Nachrichten des Sekretärs von Baer verfaßt wurde. In seiner Polemik gegen die Darwinisten verteidigt Baer keineswegs irgend eine kirchliche Lehre, sondern nur die Religiosität; er wendet nichts gegen die Vernichtung einer religiösen Form ein, hofft aber, daß sie durch eine andere ersetzt werden wird. (Über Darwins Lehre. Reden II, S. 241.) 16* 244 ^^' Darwinismus und Religion. zur Wissenschaft handelt, aufzuschlagen, um beurteilen zu können, wie aus Vogts Ansichten ein viel freierer Geist weht, als aus der leisetreterischen Polemik seines Widersachers, des Physiologen Rud. Wagner, der die kirchliche Lehre durchgehends annimmt1). Es war übrigens den deutschen Darwinisten bekannt, daß Darwins Ansichten nicht dem fortgeschrittenen Standpunkte des Kontinents entsprechen. Aug. Schleicher schreibt z. B. in dem offenen Briefe, durch den er den Darwinismus in die Sprachwissenschaft einführte 2) : »Darwins Werk scheint mir durch die Geistesrichtung unserer Tage bedingt zu sein, abgesehen von jener Stelle, wo der Verfasser der be- kannten Beschränktheit seiner Landsleute in Glaubenssachen das wenig folgerichtige Zugeständnis macht, daß sich mit seiner Ansicht dennoch der Begriff der Schöpfung vereinigen lasse. Diese Stelle lassen wir natürlich im Folgenden völlig außer betracht. . . .« Solche Worte kann man auch bei anderen deutschen Darwinisten (bei Büchner z. B.) lesen. Die Deutschen, welche sich Darwins als eines Kampfmittels gegen die Kirche bedienten, mußten auf seine Inkonsequenzen hinweisen, seine materialistische Philosophie unter- streichen und radikale Schlüsse über die Herkunft und über das Wesen des Menschen aus seiner Lehre ziehen. Da Darwins Gegensatz zur Theologie nicht auf der Höhe des kontinentalen Wissens stand, blieb der Kampf der Darwinisten gegen die Kirche sehr oberflächlich; neue Gründe für den Unglauben, die empirische Weltanschauung ausgenommen, boten die Darwinisten nicht dar, und verursachten den tieferen Bekämpfern der Orthodoxie nicht wenige Schwierigkeiten: sie gaben der Kirche den Vorteil, daß sie zur offiziellen Verteidigerin der sittlichen Ideale und der philo- sophischen Werte vorrücken konnte3). *) Man glaubt eignen Augen nicht, wenn man liest, daß der berühmte Physio- loge R. WAGNER die Einfachheit der Seele und die öffentliche Sittlichkeit gegen Vogts wissenschaftliche Theorien durch Argumente verteidigt, unter welchen die Polizei, die Anspielungen auf Vogts politische Richtung, ja sogar darauf, daß Vogt irgendwo irgendeinmal durchgeprügelt wurde, eine Rolle spielen! 2) A. Schleicher, Die DARWiNsche Theorie und die Sprachwissenschaft, S. 7. 3) Das beste Werk aus der Literatur über das Verhältnis der Naturwissenschaft zum Kirchenglauben ist das von O. Zöckler (einem Protestanten); das katholische Schriftchen von Duiilhe St. Projet ist schwach. Beide Schriften sind im Texte zitiert worden. Ebenfalls schwach und leer ist die bekannte liberalistische Abhand- lung Drapers über die Geschichte der Konflikte zwischen der Religion und Wissen- schaft. Den Inhalt der Schrift A. Whites (A History of the warfare of science with theology in christendom, London 1900) kenne ich nicht. Die Katholiken geben eine >der Vermittlung zw. Naturforschung und Glauben« dienende Zeitschrift »Natur und Offenbarung« (Münster i. W.) heraus. XVI. Die Schönheit in der lebendigen Natur. 243 XVI. Die Schönheit in der lebendigen Natur. Goethes und Humboldts Ansichten. Daß Tiere und Pflanzen schön sind, wer würde das bezweifeln? Die Schmetterlinge, die Kolibris, die Orchideen, die Rosen sind Schön- heit an sich; ein griechischer Gelehrter bewunderte die Schönheit des Pfauenschwanzes so, daß er den ganzen Vogel für nur der Schön- heit wegen erschaffen hielt; von schönen Blumen glaubte man dies immer. Die Schönheit der Organismen besteht einerseits in der Schönheit der Form, wie z. B. bei den Flügelzeichnungen der Schmetterlinge, bei der Wohlgestalt des Menschen; andererseits in der Schönheit der Farben und des Glanzes, wie bei der Rose, dem samtschwarzen Maulwurf; andererseits in der Schönheit der Bewegungen, wie bei dem Lauf des Pferdes, dem Sprunge des Hirsches, den feinen Bogen, die eine Bachstelze in der Luft beschreibt; oder in der Schönheit der Töne vom Zirpen einer Heuschrecke bis hinauf zum Gesang der Nachtigall und des Menschen. Es wird vielleicht notwendig sein, noch andere Schönheitsarten zu unterscheiden: die Schönheit die sich im Spiele der Tiere offenbart, diejenige der tierischen Bauten, und wohl auch psychische Schönheiten. Zur Zeit, als noch die biologischen Anschauungen Goethes herr- schend waren, fand sich noch Verständnis genug für die Schönheit der Pflanzen und Tiere, jedoch wenig Bestreben, sie wissenschaftlich aufzufassen. GOETHE selbst macht keinen praktischen Unterschied zwischen wissenschaftlicher und ästhetischer Auffassung der Natur (obwohl er ihn theoretisch aufrecht halten wollte): die Einheit des Planes in der Natur war ihm nicht nur Ziel der Vernunfterkenntnis, sondern auch der ästhetischen Naturanschauung. Als er mit LAVATER bekannt wurde, der eine ästhetische Schilderung der Form des mensch- lichen Gesichts anstrebte, unterstützte er ihn in seinen Studien und beteiligte sich an seinem großen Werke über die Physiognomik mit Wort und Bild1): er, der Dichter, veröffentlichte in LAVATERs ästhe- tischem Werke Zeichnungen der Tierschädel. Während seiner italienischen Reise warf sich Goethe auf das ästhetische Studium des Menschenkörpers; er beobachtete griechische Skulpturwerke, J) Über Lavaters Verhältnis zu Gokthe vgl. R. VlRCHOW: Goethe als Natur- forscher, Berlin 1S61, S. 89 sqq. 246 XVI. Die Schönheit in der lebendigen Natur. modellierte — wurde aber weder Maler noch Bildhauer; aus seinen Betrachtungen über die Form und Gesetzmäßigkeit des Schädels er- wuchs nach der Rückkehr aus Italien seine wissenschaftliche Wirbeltheorie des Schädels. Alex. Humboldt verknüpfte ebenfalls Gedanken über die Schön- heit der Natur mit deren wissenschaftlicher Auffassung. Doch fehlte ihm Goethes plastische Phantasie; er verlor sich in nebelhaften Be- trachtungen über die Schönheit einer Landschaft, und gelangte so zu einem Standpunkte, der dem modernen viel näher steht als derjenige Goethes. Die Naturschönheit, wie er sie besonders in seinen > An- sichten der Natur« schildert, hielt er keineswegs, wie es bei seinem tieferen und konkreteren Landsmann der Fall war, für ein Element der Natur^ für eine Tatsache, sondern nur für ein subjektives Gefühl des Großartigen, das in uns durch die Natur hervorgerufen wird; dieses erhabene Gefühl wollte er in Worte fassen und deshalb haftet etwas Leeres, Unbestimmtes, wenig Lebendiges und nur unbestimmt Konturiertes seinem Werke an : er ästhetisierte über die Natur, wie er es von sich selbst (mit etwas anderen Worten)1) sagt. Wenn die modernen populären Schriftsteller die Natur in gewählten Bildern darzustellen suchen, stehen sie auf diesem HuMBOLDTschen Stand- punkte. Darwinistische Auffassung der Schönheit. Wie von allen Dingen überhaupt, waren die Evolutionsphilosophen auch von der Schönheit überzeugt, daß sie nur eine Folge von an- deren Erscheinungen darstelle; sie suchten nicht die Schönheit in der Natur, sondern dachten nur nach, wie die (angeblich allgemein bekannte) Naturschönheit aus der Vergangenheit der Dinge zu er- klären wäre. H. Spencer betrachtet z. B. eine Tafel voll schmack- hafter Speisen, die mit grünem Salat garniert sind; er bemerkt einen Teller mit Obst und in der Mitte eine Vase mit Blumen; der erste Gedanke, den bei ihm dieser Anblick auslöst — man wähnt vielleicht, eine Frage, wieviel Naturschönheit durch denselben dargeboten wird ? Keineswegs; etwas ganz anderes fiel ihm ein: der Urmensch, der noch auf den Bäumen lebte, und sich mit Obst nährte; die gedeckte Tafel > erklärt« er als eine bloße Reminiszenz an jenes Wildmenschenleben. T) Al. Humboldt, Ansichten der Natur, 3. Aufl., Stuttgart und Tübingen 1849, S. VIII. Humboldt sagt an der betreffenden Stelle: »Die ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände«, ibid. S. VIII. XVI. Die Schönheit in der lebendigen Natur. 247 Gkant Allen, gleichfalls Evolutionist, der diesen Gedanken anführt, findet nicht nur nichts Bizarres an demselben, sondern führt ihn noch weiter aus1). Man erinnere sich, daß Spencer sich alle Blumen für seinen Sarg verbat. Auch Darwin betrachtete die Schönheit von einem ganz anderen Standpunkte als z. B. GOETHE. Dieser wußte, daß die Schönheit in der Natur vorhanden ist und er beschrieb sie in seinen Versen; Darwin fand dagegen in der Natur nur Nützlichkeit und leitete den größten Teil der lebendigen Schönheit von dieser ab. Beiden fiel das eine Blüte besuchende Bienchen auf; in beiden stieg dabei der Gedanke an die Schönheit der Erscheinung auf, doch wie verschieden wurde er ausgedrückt! >Ein Blurnenglöckchen Da kam ein Bienchen Vom Boden hervor Und naschte fein: War früh gesprosset Die müssen wohl beide Im lieblichen Flor; Für einander sein!« Auch Darwin blieb sinnend über dem Blurnenglöckchen stehen: »Was den Glauben anbelangt, daß die Organismen zum Vergnügen der Menschen geschaffen worden sind, ... so muß zuerst bemerkt wer- den, daß der Schönheitssinn offenbar von der Disposition des Geistes abhängig ist, ohne Rücksicht auf irgendeine objektive Eigenschaft des be- wunderten Gegenstandes, und daß die Idee dessen, was schön ist, weder angeboren noch unveränderlich ist. . . . Die Blumen werden unter die schönsten Naturprodukte gezählt, aber sie wurden nur deshalb auffallend gebildet, damit sie sich von den grünen Blättern abheben, und infolge- dessen sind sie zugleich schön geworden, so daß sie das Insekt leicht bemerkt. Ich kam zu dieser Einsicht, als ich die unwandelbare Regel fand, daß eine Blüte, die durch den Wind befruchtet wird, niemals eine auffallend gefärbte Krone besitzt«2). In der Natur gibt es keine Schönheit, behauptete Darwin; was uns schön anmutet, ist eine Folge der Einwirkung der Umgebung, oder eine Folge von unbekannten inneren Ursachen, »aber sonst ist oder war der Bau eines jeden Organismus diesem direkt oder indirekt nützlich« (bis auf die sekundären Geschlechtscharaktere)3). Darwin glaubt aber trotzdem, daß die Tiere einen Schönheitssinn besitzen; er weiß jedoch nicht anzugeben, wie sie ihn erlangt haben: *) Allen Grant, The Colour Sense. Deutsche Ausgabe, Leipzig 1880, S. 230. 2) Ch. Darwin, Orig. of Sp., S. 150, 151. 3] Ibid. 2a8 XVI. Die Schönheit in der lebendigen Natur. »die Gewohnheit scheint hier etwas mitgewirkt zu haben; gewiß aber gibt es dafür auch irgend eine innere Ursache in der Nervenstruktur einer jeden Art« *). Aus dieser Theorie mußte gefolgert werden: an irgendwelche ästhetische Regeln in der Natur ist nicht zu glauben ; die Meinung, daß es möglich wäre, durch das Studium der Körperstruktur, der Zeich- nungen, der Farben, der Bewegungen und überhaupt der tierischen und pflanzlichen Lebenserscheinungen etwas Neues von der Schönheit erfahren zu können, ist abzuweisen; wir kennen bereits alle Natur- schönheit und nur ihre Ursachen sollen wir angeben. Und Darwin sucht diese Ursachen, seiner Methode folgend, in verschiedenen Dingen: Die blaue Farbe des Himmels, der siebenfarbige Regenbogen, die roten Felsen, das farbige Spiel des Laubes im Herbste, die Farbe und der Glanz der Edelsteine, die Farben der niedrigsten Tiere sind Folgen von physikalischen Naturgesetzen; die Opalinen (eine Gruppe der Infusorien) spielen in Regenbogenfarben, weil sich das Licht an ihren Flimmerhaaren bricht. Die Ursachen der schönen Farben und Zeichnungen bei manchen einfacheren Formen, wie bei den Korallen, Aktinien, Medusen, Seesternen, Echiniden sind verschiedenartig: hier sind die Farben dem Tiere auf diese oder jene Art nützlich, dort sollen sie das direkte Resultat der feinen chemischen und physikali- schen Struktur sein und sind dann dem Tiere weder nützlich noch schädlich; etwa so, wie das Blut weder eines Nutzens wegen noch um Mädchenwangen zu verschönern rot ist, sondern nur infolge seiner chemischen Zusammensetzung2). Wieder anders soll die Schönheit der Blüten entstanden sein. Die meisten Blüten bedienen sich der Insekten zu ihrer Befruchtung; das Insekt fliegt von einer Blüte zur andern und überträgt dabei den Pollen von den Staubfäden auf die Griffel; bunte Blüten sind für das Insektenauge auffallender und werden mehr besucht: der Pollen hat größere Chance auf die Griffel übertragen zu werden, es werden eher Samen entstehen ; darum haben sich die bunteren Blüten erhalten, nicht ihrer Schönheit, sondern ihrer Tüchtigkeit im Kampf ums Dasein wegen. Das weiteste Gebiet der Schönheit wurde jedoch durch geschlecht- liche Zuchtwahl ins Leben gerufen. Schon die Weibchen von Tieren, die ziemlich niedrig im System stehen, sollen einen gewissen Schönheitssinn besitzen und ein Männchen vorziehen, das ihrem Ge- J) Ch. Darwin, Die Abstammung des Menschen, 1871, I, S. 289. ») Ibid. XVI. Die Schönheit in der lebendigen Natur. 249 schmack besser zusagt. Die Nachkommenschaft einer solchen Ver- bindung wird die Vorzüge ihres Vaters erben, ihre tüchtigsten Männ- chen werden wieder am leichtesten Gelegenheit zur Fortpflanzung finden, und so erhöht sich Schritt für Schritt deren Schönheit. Da- her die bunten Schmetterlinge, die prachtvollen Pfauen, der Gesang der Nachtigall, die Schönheit des Menschen. Darum pflegen Männ- chen hübscher zu sein als Weibchen; sie übertragen ihre Eigen- schaften, folglich auch ihre Schönheit vorzüglich nur auf das gleiche Geschlecht, weniger auf die Weibchen; weil aber auch auf diese etwas von der Schönheit der Väter übertragen wird, steigt schließlich die Schönheit der ganzen Art. Um diese Theorie zu begründen, stellte Darwin in seinem Werke »Über die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zucht- wahl« eine sehr große Reihe von Beispielen auf, wo sich das Männ- chen durch seine Form, Farbe, Zeichnung von dem Weibchen unter- scheidet, und alle diese Fälle erklärte er mittels seiner Methode: die prachtvollen Pfauenfedern, verschiedene Hörner der Käfer, die Farbe der Haut, den Bart und die Behaarung bei den Menschen. Darwins Theorie war eine psychologische Erklärung der tierischen Schön- heit: der Geschmack der Weibchen war Ursache der Männchen- Schönheit; Ursache, nicht deren Grund: sonst wäre der Versuch zu- lässig, aus der Schönheit der Männchen auf den Geschmack der zu ihnen gehörigen Weibchen zu schließen ; ein solcher Versuch wäre aber ganz undarwinistisch, da er gewisse allgemeine Regeln der Schön- heit und des Geschmacks voraussetzte und gelten ließe; Darwin hielt jedoch an dem Grundsatze »de gustibus non est disputandum« fest. Etwas anderen Sinn verlieh der Theorie der geschlechtlichen Zuchtwahl Grant Allen. In seiner Schrift »Über den Farbensinn«, welche etwa eine vergleichende Ästhetik sein soll, macht er auf die auffallende Erscheinung aufmerksam, daß Tiere, welche auf schöne Blüten und Früchte angewiesen sind, regelmäßig selbst schön gefärbt zu sein pflegen, während die auf fleischige Kost angewiesenen und die unter der Erde usw. lebenden düstere Farben tragen. Die ameri- kanischen Kolibris und die südafrikanischen Nectariniidae gehören zu den schönsten Vögeln überhaupt, und beide Gruppen suchen ihre Nahrung in den Blüten. Von den Insekten können die Blumenkäfer und Tagschmetterlinge als analoges Beispiel angeführt werden. Die Raubvögel, die Mistkäfer und die Nachttiere im allgemeinen sind da- gegen unscheinbar. Allen folgert daraus, daß die Tiere ihren Geschmack durch die Betrachtung ihrer Umgebung bilden, und 2 co XVI. Die Schönheit in der lebendigen Natur. ihren Genossen, bzw. ihre Genossin, diesem Geschmack gemäß wählen '). Viele Muschel- und Schneckenschalen sind nicht nur durch feine Formen, mannigfaltige Zipfel, Bögen und Einschnitte verziert, sondern auch fein gezeichnet und gefärbt; für diese Erscheinungen sieht Grant Allen keine andere Erklärung, als den Zufall2). Darwins Blumentheorie fand einen fleißigen Verteidiger in Herm. Müller, Realschullehrer in Lippstadt, welcher durch zahlreiche Be- obachtungen3) die Harmonie zwischen dem Bau der Blüten und der Lebensweise der Insekten zu erklären suchte. Sehr viele Eigen- schaften der Blumen sollen den Zweck haben, die Insekten anzulocken, welche, von Blüte zu Blüte tändelnd, den Pollen von den Staubfäden auf die Narben übertragen und auf diese Art die Befruchtung er- möglichen. Die Insekten spähen mit ihren Augen und Geruchsorganen nach den Blüten aus, und diese ziehen ihrerseits verschiedentlich die Aufmerksamkeit auf sich; die grellen Farben ihrer Blumenkronen, Kelche, Staubfäden, Blütenachsen, Hochblätter, die Häufung unschein- barer Blüten zu einem von der Umgebung abstechenden Blütenstand, die Vergrößerung der Randblüten bei den Kompositen dienen als »Schauapparate«, welche das Auge der Insekten anlocken, während die Gerüche auf das feine Geruchsorgan wirken. Durch diese An- passung lassen sich ferner verschiedene Einrichtungen im Inneren der Blüten erklären, welche die Insekten nötigen, auf eine ganz bestimmte Art in die Blume einzudringen, um desto sicherer die Übertragung des Pollens zu vollführen; Einrichtungen, wie sie jedem Naturfreund bei der Salbei (Salvia), bei den Orchideen, bei den Kesselfallenblumen (Aristolochia) wohlbekannt sind. Nach der Anpassung an bestimmte Insekten unterscheidet Müller Tagfalter-, Nachtfalter-, Wespen-, Bienen-, Gallwespen-, Fliegenblumen usw. Dianthus soll z. B. nur von Schmetterlingen, Epipactis latifolia nur von Wespen, Silene nutans (welche nur nachts duftet), nur von Nachtfaltern besucht werden. Nebst Darwin und Müller faßten noch viele andere Natur- forscher die Schönheit der Blumen als eine bloß zweckmäßige Auf- fälligkeit auf. Es wurden aber auch Einwände laut. Gaston Bonnier bekämpfte — von dem Grundsatze seines Lehrers Claude Bernards ') G. Allen, Der Farbensinn, Leipzig 1880. 2) Ibid. S. 192. 3) Ch. Darwin, On the various contrivances by which Orchids are fertilized by Insects, London 1862. — Herm. Müller, Die Wechselbeziehungen zwischen den Blumen und den ihre Kreuzung vermittelnden Insekten, Encyclopädie d. Naturw. I, Breslau 1S79. XVI. Die Schönheit in der lebendigen Natur. 251 ausgehend, das Gesetz der physiologischen Finalität liege ausschließ- lich im lebenden Wesen und nicht außer ihm, und jeder lebende Organismus sei sich selbst Zweck und habe seine inneren Gesetze — die altruistische Auffassung der Blüten durch Darwin und MÜLLER: die Farbe und Größe der Blüten soll nicht in einem bestimmten Ver- hältnis mit der Anzahl der Insektenbesuche stehen (Reseda wird viel, Lilie wenig besucht), und es gäbe schöne und schön duftende Blumen, welche den Insekten nichts zu bieten haben; überhaupt werde die Anpassung der Blüten an die Insekten überschätzt. Wie MÜLLER, so führte auch Bonxier viele Beobachtungen zugunsten seiner Theorie an, aber seine Negation der DARWlXschen Theorie blieb erfolglos1). Andere Ansichten von der Schönheit in der lebendigen Natur. Nicht alle Anhänger Darwins stimmten mit ihm in seiner Er- klärung der organischen Schönheit überein. Tatsächlich waren die schwachen Seiten der DARWiNschen Argumentation nirgends so einleuchtend, wie in der Theorie der geschlechtlichen Zuchtwahl. Darwin hätte Beweise sammeln müssen, daß unschöne Männchen von den Weibchen verschmäht werden, schwächere und weniger hübsche Männchen sich langsamer vermehren; aber dies gelang ihm nicht. Er bewies überhaupt nicht, daß sich die Weibchen bestimmte Männchen wählen, geschweige denn, daß eine solche Wahl die An- zahl und Beschaffenheit der Nachkommenschaft beeinflußt. Wohl konnte er viele Beispiele anführen, daß Männchen, Hirsche, Kampf- schnepfen (Machetes), Kolibris vor den Weibchen miteinander ringen; gesetzt aber, daß das schwächere Männchen vertrieben wird (die Beobachtung spricht nicht immer dafür), so sucht und findet es ein anderes Weibchen, und es bleibt zweifelhaft, ob diese Kämpfe überhaupt einen Einfluß auf die Beschaffenheit der Nachkommen- schaft üben. WALLACE verwarf aus diesen Gründen die Theorie der geschlecht- lichen Zuchtwahl2); er schreibt die intensiveren Farben der Männchen ihrer größeren Lebensenergie zu; es soll eine allgemeine Erscheinung sein, daß magere und kranke Tiere düstere, gesunde Tiere dagegen lebhaftere Farben haben. Auch die natürliche Zuchtwahl soll mit- ') G. Bonnier, Les nectaires, e"tude critique, anatomique et pbysiologique. Ann. Sei. nat. 6. se"rie, 8., 1879. 2) A. Wai.lace, Tropical Nature (Die Tropenwelt, Braunschweig 1879), S. 163 sq. 2~2 XVI. Die Schönheit in der lebendigen Natur. gewirkt haben ; stärkere Männchen erobern leichter ein Weibchen und sie sind auch die schöneren. Wallace erwog auch die Schönheit der Pflanzenfrüchte; schwarze Holunderbeeren, blaue Schlehen und Heidelbeeren, weißliche Mistel- beeren usw. sollen durch ihre Farbe die Vögel anlocken; die Vögel verdauen nur die weichen Teile der Frucht und streuen die Samen umher. Andere Früchte, wie z. B. die Nuß, sind grün und verstecken sich so vor den Augen der Vögel; einige, wie Kastanien, sind noch dazu mit Dornen geschützt1). Unter Darwins Einflüsse gingen die Betrachtungen über die Schönheit der Organismen meistens nicht über die Erörterung jener Ursachen hinaus, welche die Unterschiede zwischen Männchen und Weibchen hervorgerufen haben. Diese Unterschiede bestehen einmal in der Zusammensetzung der Geschlechtsdrüsen und der eigentlichen Geschlechtsorgane, und dann in der Färbung, Zeichnung, Größe des Körpers und in verschiedenartigen Instinkten; die ersteren Eigen- schaften werden primäre, die übrigen sekundäre Geschlechts- charaktere genannt. Nun beschäftigen sich die darwinistischen Be- trachtungen über die Schönheit der Tiere vorwiegend nur mit diesen sekundären Geschlechtsmerkmalen; einige Biologen leiten sie aus der Einwirkung der Geschlechtsdrüsen ab, und glauben, daß die männlichen Geschlechtsdrüsen auf irgend eine noch nicht aufgeklärte Weise die Ent- stehung der Farben, Zeichnungen, Hörner und anderer Verzierungen der Männchen fördern, während sie gleichzeitig die Entstehung der weiblichen Merkmale hemmen; die weiblichen Drüsen sollen eine um- gekehrte Wirkung üben. Man wies darauf hin, daß kastrierte Tiere einige Merkmale des anderen Geschlechts erhalten: die hohe Stimme der Eunuchen, der Bart alter Frauen werden als Beispiele angeführt. Doch sprechen die Versuche nicht ganz für eine solche Auffassung2). Andere Forscher lehrten, daß die Männchen eine in der phylo- genetischen Entwicklung mehr fortgeschrittene Form darstellen, als die Weibchen (männliche Präponderanz wurde diese vermeint- liche Erscheinung von G. JÄGER und Th. Eimer genannt). Andere J) Es pflegen jedoch auch giftige Früchte grell gefärbt zu sein, auf welche diese Theorie nicht paßt. Grant Allen erdachte für dieselben eine andere Erklärung: der Vogel frißt sie, wird vergiftet, stirbt, und der Samen keimt aus seinem faulenden Körper, der ihm als Mist dient. 2) J. Th. Oudemans, Falter aus kastrierten Raupen usw., Zool. Jahrb. 12, Syste- matik 1899. — Eine analoge Ansicht sprach (nebst vielen anderen älteren Autoren' W. v. Reichenau aus (Die Nester und Eier der Vögel in ihren natürlichen Be- ziehungen betrachtet, Leipzig 1880). XVT. Die Schönheit in der lebendigen Natur. 253 kehren diesen Gedanken um; an die alte aristotelische Ansicht an- spielend, nach welcher das Weib die Materie, der Mann die schöpfe- rische Kraft verkörpern soll, behaupten sie, daß das Weibchen ein degeneriertes Männchen sei; es sei anfangs ebenso schön gewesen wie er, weil es aber viel Energie auf die Bildung der Eier und auf die Pflege der Jungen verbrauchte, ging es allmählich zurück1). Wieder andere erklärten sogar, daß schöne und auffallende Männchen ein von der Natur den Feinden der betreffenden Art dargebrachtes Opfer seien, damit die weniger auffälligen Weibchen desto eher erhalten bleiben und die Vermehrung der Art unterstützt werde2). Solcherweise spekulierte man über die Schönheit der Tiere und Pflanzen: man findet leicht heraus, daß sowohl Darwin, als auch die angeführten Bekämpfer der geschlechtlichen Zuchtwahl unter Schönheit etwa dasjenige verstanden, was ein schlichter Mann vom Lande: bunte Farben, schreiende Verzierungen, Hörner, Geweihe, lange Federn, Schöpfe u. ä., überhaupt ungewöhnliche, in die Augen fallende Erscheinungen. Auf solche sind ihre Theorien berechnet, weniger jedoch auf wirkliche Schönheit, die sich in feinen (wenn auch nicht auffallenden) Zeichnungen und Schattierungen, in eleganten Linien, in der Harmonie und Abtönung der Farben, der Bewegungen, des Gesanges usf. offenbart. Die Bekämpfer der DARWlNschen Philosophie erkannten ihre Schwäche, alle Schönheit auf Nützlichkeit zurückführen zu wollen. Der Herzog v. Argyll führte einen ausführlichen Beweis3), daß nicht die Nützlichkeit, sondern bestimmte ästhetische Gesetze viele Er- scheinungen im organischen Naturreiche begründen. Die Schönheit des Gefieders der Kolibris, der Pfauen und Argusse diente ihm zur Begründung dieser Behauptung. >Nur die Schönheit und Formenmannigfaltigkeit an sich geben den Grundsatz und die Regel an, nach der die Schöpfungskraft, wie es scheint, an diesen bewunderungswürdigen und schönen Vögeln sich betätigte. . . . Ein Topasschopf ist im Kampf ums Dasein nicht nützlicher als ein saphirblauer. « Stellenweise sprechen sich auch andere Forscher für einen objek- tiven Wert der organischen Schönheit aus. Der Wiener Entomologe x) v. KENNEL, Studien über sexuellen Dimorphismus, Variation und verwandte Erscheinungen, Sehr. nat. Ges. Dorpat 1896 (ich zitiere nach L. Plate). 2) G. Jäger, In Sachen Darwins, Stuttgart 1874. 3) Duke of Argyll, The Reign of Law ich habe das Buch nicht gelesen, die angeführte Stelle entnahm ich Darwins Abst. des Menschen . 2 ei XVI. Die Schönheit in der lebendigen Natur. C. BRUNNER V. Wattenwyl untersuchte sie an den Zeichnungen und Farben der Käfer1) und behauptete, daß die Anordnung der Striche, Kreise und anderer Zeichnungen an ihrem Körper besonderen ästhe- tischen, nicht nur morphologischen Gesetzen folge. Wenn nur die letzteren entscheidend wären, dann müßte der Schild der Käfer anders als ihre Flügeldecken gezeichnet sein, weil diese Teile morphologisch ungleichwertig sind; es gibt aber Käfer, deren Rücken mit Kreisen gezeichnet ist, und von diesen liegt eine Hälfte auf dem Schild und die andere auf der Flügeldecke: nur ein ästhetisches Gesetz bestimmte diese ihre Lage. BRUNNER führt noch andere Belege an und be- hauptet, daß dem Organismus eine innere Vervollkommnungstendenz zusrrunde liesrt, und die Schönheit ein Ausdruck derselben ist. BRUNNERs Ansichten fanden jedoch keinen Anklang, ebensowenig die Schrift des Botanikers Ern. Hallier2) »Ästhetik der Natur«, welche wohl sehr weitschweifig ist, aber auch konkrete Beobachtungen bringt: daß die Gerüche der Pflanzen gewöhnlich angenehm, die der Tiere unangenehm sind; daß das Laub blaublühender Pflanzen nie- mals sattgrün, sondern entweder bläulich oder gelblich zu sein pflegt, daß man aus der Verbreitung der Farben in der Natur bestimmte ästhetische Gesetzmäßigkeiten abstrahieren könnte usw. Man achtet auch wenig darauf, daß die Blütenfarben nicht gesetzlos ineinander übergehen, sondern daß die Farben verwandter Formen sich in feste Reihen ordnen lassen; A. de Candolle unterschied deren zwei: xanthische Reihe (Weiß, Gelb, Orange, Rot) und cyanische Reihe (Weiß, Lichtblau, Blau, Violett). Es wäre der Mühe wert, diese Klassi- fikation bestimmter zu analysieren. Auch die Ästhetiker protestieren nicht gegen Naturforscher, welche an keine objektive Schönheit in der Natur glauben wollen, sondern begnügen sich selbst mit einigen Allgemeinheiten über das Schöne in der Natur und gehen gleich zu einem ihrer Produkte, zum Menschen über, und befassen sich mit jener Schönheit, die der Mensch, der Natur folgend, hervorbrachte. — Wenn wir uns aus der DARWiNschen Theorie der Schönheit ein Urteil über Darwins wahres Verhältnis zur Natur bilden wollten, so wären wir geneigt zu glauben, daß er für Naturschönheiten keinen Sinn hatte. x) Brunner v. Wattenwyl, Über die Hypertelie in der Natur, Verh. d. k. k. zool.-bot. Ges. Wien 23, 1873, S. 133 — 138 und besonders auch: die Farbenpracht der Insekten, Leipzig 1897. 2) E. Hallier, Ästhetik der Natur, Stuttgart 1890. XVI. Die Schönheit in der lebendigen Natur. 255 daß sie ihm auch praktisch einen bereits überwundenen, unwissen- schaftlichen Standpunkt bedeuteten. Es wäre aber ein Fehlschluß: wie trocken, flach, öde die Ästhetik Darwins auch ist, sein Interesse an der Naturschönheit war delikat und human: »Ich hörte ihn gern die Schönheit einer Blume bewundern; es war eine Art von Dankbarkeit gegen die Blume selbst und eine persönliche Liebe zu ihrer zarten Form und Farbe. Mir ist, als erinnerte ich mich, wie er eine Blume, an der er sich entzückte, sanft berührte; es war dieselbe einfache Bewunderung, wie sie ein Kind hegen mochte« ; so schildert ihn sein Sohn1); er erzählt von ihm, wie er noch als Greis nach Vogelnestern spähte, wie man sich über ihn wegen seiner Entzückung, wegen des Schwalls überschwenglicher Worte bei schlichter Beschreibung lustig machte: er beschrieb die Larve eines Cirripeden2), »mit sechs Paar schön gebauter Schwimmfiiße, einem Paar herrlich zu- sammengesetzter Augen und äußerst komplizierten Fühlern«. Wir sind gewöhnt, die Theorie höher zu veranschlagen als die Praxis, doch pflegt, wie hier im Falle Darwins, auch das Umgekehrte am Orte zu sein; man kann dies übrigens nur mit Genugtuung konstatieren. J. Ruskin. Als unter dem Eindrucke der DARWiNschen Theorien die Gelehrten das Verständnis für eine naive Freude an Naturschönheiten einbüßten, fand sich in England ein warmes Herz, das dieselben vor der eisigen Wissenschaft in Schutz nahm. Groß ist gewiß die Macht der Wissen- schaft, rief John Ruskin aus, doch ist der Verstand, sind die chemi- schen Analysen, die ökonomischen Budgets noch nicht alles; der Mensch sehnt sich noch nach anderen Idealen, er sucht und findet in der Natur mehr als euere Formeln; warum würde er sonst die fein geformte Schale des Schlangenköpfchens (Cypraea), welche einigen Völkern als Geld dient, höher schätzen denn volle Säcke Getreide, welche doch hohen Nahrungswert haben? Wenn ihr die weißen Wolken am Himmel, die reinen Linien der blauen hohen Berge, die düsteren Formen der Felsen, die bunten Blüten und die Schönheit der Tiere betrachtet, habet ihr nicht eine lebhafte Empfindung des Schönen, die unabhängig ist von Räsonnement und von physio- logischen Trieben? Darwin hat viel und gut beobachtet, das wird von Ruskin anerkannt; aber eben die Schönheit der Formen war ihm entgangen: x) Leben und Briefe von Cn. DARWIN I, S. 104. 2) Ibid. S. 142. 2c6 XVI. Die Schönheit in der lebendigen Natur. »diejenigen, welche die Schönheit durch Nützlichkeit erklären, sind in ihrem eigentümlichen Hochmut nur den Würmern im Holz zu vergleichen, welche sich in die Tafel eines von einem großen Künstler gemalten Bildes verbohrt haben. Sie kosten das Holz mit der Zunge des Kenners, wenn sie aber zur Farbe gelangen, schmeckt sie ihnen nicht, und sie er- klären, daß auch diese Kombination, die sie nicht einmal gesucht und gewünscht haben, nur eine Folge der Wirkung molekularer Kräfte sei« z) . . . Die Natur ist nicht nur nach vernünftigen, sondern auch nach ästhetischen Gesetzen gezimmert. Wie erklärt uns der Naturforscher aus seinen Theorien, warum die Vögel, welche große Kraft entwickeln, wie die Raubvögel, düstere Farben tragen, während diejenigen, welche die Freude unserer Augen bilden, glänzend gefärbt sind? Es gibt keinen regenbogenfarbigen Adler, noch eine purpurne oder goldene Möve; viele Papageien aber, Fasane, Kolibris sind so schön, als wären sie nur zum Vergnügen des Menschen geschaffen. Keine Mechanik wird die Schönheiten der Farben noch der Linien erklären, sie lassen sich nicht ohne eine die Schönheit schaffende Seele erklären. Viel Begeisterung, Proteste, Nachahmung und Kritik erregte die Predigt dieses modernen Propheten der Schönheit; nur die Natur- forscher selbst waren von der Richtigkeit ihrer Theorien so fest über- zeugt, daß sie es nicht nötig fanden, sich mit RüSKiN auseinander- zusetzen. Ist es wahr, daß es in der Natur überhaupt, in der orga- nischen insbesondere feste ästhetische Gesetze gibt? Sind wirklich einige Formen der Schönheit, andere der Kraft wegen erschaffen worden? Weder Darwin, noch Huxley, noch Wallace, noch Spencer dachten über diese von RüSKiN aufgeworfenen Probleme nach. Vielleicht wird derjenige erst kommen, der es mit seinem wissenschaftlichen Gewissen vereinbar finden wird, ernstlich zu fragen, ob die zickzackförmigen Umrisse der Berge, ob die weichen Wolken am Himmel, die leuchtenden Farben der Edelsteine, die gelben Blätter und bunten Blüten der Pflanzen, die Farben, Zeichnungen und Be- wegungen der Tiere, ob alle diese Erscheinungen einem und dem- selben ästhetischen Gesetze unterworfen sind, oder ob zwischen der lebendigen und leblosen Schönheit irgend ein Unterschied zu ent- decken ist; der in sich Kraft genug fühlen wird, eine neue Wissen- schaft, eine objektive Ästhetik zu entdecken2)! :) Ich zitiere nach Rob. de LA Sizeranne, Ruskin et la religion de la beaute. Paris 1897, S. 204. 2) Die Schönheit in den Formen niederer Tiere versuchte E. Haeckel durch Bilder in seinem Werke: Die Kunstformen der Natur, Leipzig 1899, zu veranschau- lichen. Vor kurzem ist eine Schrift von Karl Möbius mit dem Titel >Ästhetik der XVII. Mimikry. 2^7 XVII. Mimikry. Die Ähnlichkeiten unter den Organismen sind verschiedenartig. Sind einander die Tiere und die Pflanzen in dem Bauplan ihres Körpers ähnlich, so nennt man sie verwandt, und die ähnlichen Teile homo- log; funktionelle Ähnlichkeiten heißen, wie bereits erwähnt, Analogien. Bei den Pflanzen spricht man außerdem von habitueller Ähnlich- keit und Unähnlichkeit: die Linde und der Kastanienbaum, die Fichte und die Lärche haben einen ähnlichen, die pyramidale und die buschige Pappel einen unähnlichen Habitus. Man pflegt zwar bei den Tieren von habitueller Ähnlichkeit nicht zu sprechen, aber man könnte leicht auch unter den Tieren Beispiele für dieselbe finden. So sind z. B. der bekannte Schmetterling Schwalbenschwanz (in der äußeren Körper- form, in seiner charakteristischen Flugart) den Kolibris, die Spitzmaus der Maus, der Strauß der Giraffe habituell ähnlich. Läßt man die habituellen Ähnlichkeiten, als wahrscheinlich nur von zufälliger Natur, außer Betracht, so kann man behaupten, daß die Homologien tief im Wesen des Organismus begründet sind, wäh- rend die Analogien mehr akzidenteller Natur und sozusagen auf die Homologien aufgetragen sind. Nichtsdestoweniger greifen auch die Analogien noch tief genug in die Organisation des Tieres ein; so sind z. B. die Flossen des Walfisches (welche den Fischflossen analog sind) sozusagen nur eine äußerliche Modifizierung der Extremitäten, deren innere Struktur durch das Wesen des Walfischs als Säugetier selbst gegeben ist. Es gibt nun noch eine Reihe von Ähnlichkeiten, welche an das Wesen des Organismus noch loser gebunden sind, als die Analogien. Sie betreffen weder den Bauplan noch die funktionelle Bedeutung der Organe, sondern nur solche ziemlich unbedeutende Eigenschaften, wie es die äußere Körperform, die Zeichnung, die Farbe des Körpers und gewisse Gewohnheiten sind. Tiere (oder Pflanzen), welche sich ihren morphologischen Merk- malen nach voneinander mehr oder weniger entfernen, pflegen für das Auge, für das Ohr, für den Geruch einander auffallend ähnlich zu sehen, ohne daß man von Zufall zu sprechen berechtigt wäre. Man nennt Tierwelt< (Jena 1908) erschienen; sie ist nur populär geschrieben und ohne selbstän- dige Auffassung des Problems. Über die Schönheit im Pflanzenreiche schrieb M. Möbius, Über nutzlose Eigenschaften der Pflanzen und das Prinzip der Schönheit, Ber. d. deutsch, bot. Ges., Berlin 1906, S. 5 — 12. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. 17 25g XVII. Mimikry. solche Ähnlichkeiten Nachahmungen oder Mimikry. An einer Analyse dieser Erscheinungen fehlt es leider noch; die Forscher haben noch nicht versucht, sie zu klassifizieren, miteinander und mit anderen Ähn- lichkeiten zu vergleichen, Gesetze, welche sie beherrschen, zu be- stimmen ; und so werden wir nur eine ganz empiristische Klassifikation derselben anführen, bloß um die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen der Mimikry darzutun. i. Es können einander zwei Arten einer und derselben Ordnung in der Zeichnung ihres Körpers nachahmen; so sind z. B. die Schmetterlingsarten der Gruppe Leptalidae denen der Gruppe Heli- conidae in Farbe, Zeichnung und Körperform ähnlich. Nach F. Werner1) sind einander die im System weit voneinander stehenden Baumschlangen Python amethystinus und Dipsadomorphus irregularis zum Verwechseln ähnlich. 2. Es sind einander Tiere aus sehr entfernten Gruppen ähnlich; so z. B. Schmetterlinge (Sesia crabroniformis) und Wespen (Vespa crabro) ; einige Spinnen und Fliegen. Die Fliegenart Volucella bom- bylans besitzt zwei Varietäten und ihre Larven parasitieren bei den Hummeln; die Varietät, deren Larve bei der Hummel Bombus mus- corum lebt, ist dieser Hummel ähnlich, während die andere dem Bom- bus lapidarius ähnlich ist, in dessen Zellen sie gezogen wird. Der Wespe Mygnimia aviculus ähnelt ein Käfer Coloborhombus fasciati- pennis usf. 3. Die Tiere können Pflanzen ähnlich sein: die bekannte Gespenst- heuschrecke (Bazillus) ist einem dürren Aste ähnlich, der Schmetter- ling Kallima ahmt durch die untere Flügelseite ein dürres Blatt nach, einige Heuschrecken sehen wie grüne Blätter aus, einige Spinnen wie Orchideenblüten, einige Käfer wie Moos usf. 4. Die Tiere ahmen durch ihre Zeichnung ihrer Umgebung nach; so hat der Jaguar und der Leopard am gelben Felle schwarze augen- ähnliche Ringe, wodurch sie nach J. LUBBOCK die Licht- und Schatten- flecke nachahmen sollen, welche unter den Baumkronen von durch- dringenden Sonnenstrahlen gebildet werden. Der gestreifte Tiger wieder soll durch seine Zeichnung den bandförmigen, in den Dschungeln im Schilfrohr entstehenden Schattenstreifen entsprechen. Insbesondere kommt diese Nachahmung bei Insekten vor: die Larven einiger Li- bellen bedecken ihren Körper mit Schlamm, um dem Boden des x) E. Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung, Biol. Zentralbl. 28, 190S, S. 567 sq. XVII. Mimikry. 259 Teiches, wo sie auf ihre Beute lauern, ähnlich zu sehen ; einige Nacht- schmetterlinge, welche sich in Flechten verbergen, tragen wieder eine diesen Flechten ähnliche, d. h. grünliche, weiß gefleckte Farbe usw. 5. Oft ahmen die Tiere nur mit ihrer Farbe ihre Umgebung nach: so die Lerche, welche grau wie die Erdscholle ist; so die grasgrüne Heuschrecke. Die Polartiere sind meistens schneeweiß und behalten diese Färbung entweder ihr ganzes Leben hindurch oder wechseln dieselbe unter dem Einfluß der Jahreszeiten; andere Tiere können wieder mehr oder weniger willkürlich ihre Färbung verändern und sich jedesmal der Farbe der Umgebung anpassen; so pflegen die Puppen einiger Weißlinge verschieden gefärbt zu sein, je nach der Farbe der Umgebung, in der sie aufgehängt sind; analoges wurde auch bei einigen Eidechsen beobachtet, welche unmittelbar nach jedes- maliger Häutung ihre Färbung der Umgebung anpassen; nachdem ihre Haut erhärtet ist, wird die Färbung fixiert; der Laubfrosch und auch andere Frösche können je nach der Intensität des sie umgebenden Grüns ihrer Farbe eine abgetönte Sättigung verleihen; Chamäleon und viele Meerestiere (Kopffüßler, Krustentiere) nehmen je nach ihrer Um- gebung einen verschiedenartigen Farbenton an. Auch die Farblosig- keit mancher Süßwasser- und Meerestiere, welche sie im Wasser fast unsichtbar macht, kann hier angeführt werden. Und nicht nur lebendige Tiere, auch Vogeleier ahmen bis zu einem Grade die Farbe ihrer Umgebung nach: die in versteckten Höhlen gelegten Eier (z. B. die des Spechtes) sind weiß, während diejenigen, welche in offene Nester gelegt werden, gefleckt, grünlich oder bräun- lich zu sein pflegen; die Kampfschnepfen (Machetes) legen ihre Eier in Sandgrübchen, welche dann auch eine sandähnliche Farbe haben. 6. Die Tiere haben Instinkte, um ihre Ähnlichkeit mit der Um- gebung erhöhen zu können: das Rebhuhn duckt sich zur Erde, die grüne Heuschrecke zirpt immer in grünem Laub; die Haifische legen braune viereckige Eier, deren Ecken in lange Bänder auslaufen; diese Eier ähneln sehr den Meeresalgen, an welche sie der Haifisch auf- hängt1). Von einigen Forschern wird als Mimikry auch das bekannte Sichtotstellen mancher Tiere, besonders Insekten betrachtet. Mit den Erscheinungen der Mimikry ist wahrscheinlich die Tatsache verwandt, daß die blumenbesuchenden Tiere den Blumen in der Farbenpracht J) Ausführlicheres darüber, daß die Tiere zum Verstecke wirklich Stellen auf- suchen, welche ihrer Körperfarbe und Zeichnung ähnlich sehen, bei F. Doflein, Über Schutzanpassung durch Ähnlichkeit. Biol. Zentralbl. 2S, 1908, S. 243 sq. 17* 2(jo XVII. Mimikry. ihrer Kleidung ähnlich sind: die Schmetterlinge, die in Blumen lebenden Käfer, die Kolibris gehören unter die schönsten Geschöpfe. 7. Die bisher angeführten Ähnlichkeiten beziehen sich nur auf solche Eigenschaften, welche mit dem Auge entdeckt werden können; es gibt aber auch ähnliche Gerüche im organischen Reich: einige Pflanzen ahmen den Leichengeruch nach und locken so die Fliegen an; mehrere Käfer duften nach Rosen oder nach Moschus. 8. Es gibt ferner Ähnlichkeiten im Reiche der organischen Laut- äußerungen: die Ammer, insbesondere einige Steppenarten, zirpt wie die Heuschrecke, und auch einige Eidechsen geben ähnliche Laute von sich. Viele Vögel ahmen den Gesang anderer nach. 9. Auch unter den Pflanzen gibt es Nachahmung: die Alge Cau- lerpa ahmt Wurzeln, Stengel und Laub der höheren Pflanzen, die Zweige einiger Pflanzen ahmen Blätter nach; der Blütenstand der Kompositen (der Sonnenblume) ist einer einfachen Blüte ähnlich. Eine in südafrikanischen Steppen wachsende Pflanze (Mesembryanthemum) ähnelt mit ihren dicht an die Erde gedrückten Blättern Steinen1), die Blüten der Orchidee Ophrys sehen Fliegen, Bienen, Spinnen ähnlich. 10. Wie häufig und in welchen Arten die Mimikry in einzelnen Gruppen des Systems der Tiere und Pflanzen vorkommt, ist bisher nicht untersucht worden; kein Fall von Mimikry ist von den niedrigsten Typen, den Protozoen und Cölenteraten bekannt; die meisten kommen bei den beweglichsten Typen, den Arthropoden und Wirbeltieren vor. Wir haben kurz die Ähnlichkeiten aufgezählt, die man im all- gemeinsten Sinne für Mimikry halten könnte (die Ähnlichkeiten, welche bloß die Färbung betreffen, werden oft mit einem besonderen Namen als sympathische Färbung bezeichnet). Beeilen wir uns zu be- merken, daß die Darwinisten keineswegs alle angeführten Fälle für Mimikry halten, sondern, von ihrer Nützlichkeitsphilosophie ausgehend, als Mimikry nur diejenige Ähnlichkeit bezeichnen, welche dem Tiere im Kampf ums Dasein förderlich sein kann. Diese Ansicht hat sich folgendermaßen entwickelt: Bereits Darwins Großvater2) erwähnte die Tatsache, daß einige Tiere sich mittels ihrer Farbe vor dem Auge ihrer Feinde verstecken können; auch später ist über die Erscheinung geschrieben worden, bis sie 1862 Bates gründlicher untersuchte; derselbe Bates, der mit Wallace die wissenschaftliche Reise nach Südamerika unternahm. Er *) R. Marloth, Mimikry bei Pflanzen. Trans, of South Afr. phil. Soc. XV, 1904 (nach einem Referat). 2) Er. Darwin, Zoonomia 1794, I, S. 509. XVII. Mimikry. 26 1 bemerkte1), daß mehrere Schmetterlinge verschiedener Typen einander auffallend in ihrem Äußeren ähnlich sind, und schloß, daß diese Er- scheinung sich nur aus der Darwinschen Theorie begreifen lasse: der eine der Schmetterlinge ist von widerlichem Geschmack, der andere wird von den Vögeln gefressen; da er aber jenem ähnelt, verfolgen ihn die Vögel nicht, indem sie ihn für den ungenießbaren halten. Die Ähnlichkeit ist also dem zweiten (dem nachahmenden) Schmetter- ling nützlich und ist nach BATES wie folgt entstanden : ursprünglich waren einander beide Schmetterlinge (zufällig) nur im allgemeinen ähnlich; die Vögel unterschieden sie leicht und verfolgten nun den eßbaren; unter dessen Nachkommen waren einige, die dem ungenieß- baren ähnlicher waren ; diese litten weniger von den Vögeln und ver- mehrten sich stärker; unter ihren Nachkommen blieben wieder die dem ungenießbaren Schmetterling ähnlichsten am Leben, und so ist all- mählich die jetzige Ähnlichkeit unter jenen Schmetterlingen entstanden. Bates gab dieser Ähnlichkeit den Namen »Mimikry«. Darwin nahm wie die Beobachtung so die Erklärung Bates' zustimmend auf und die Mimikry wurde von nun an einer der Pfeiler der Entwicklungstheorie; die Abbildungen dieser gewiß auffallenden Erscheinung wurden seitdem (nebst Abbildungen der Taubenrassen, der Finger ausgestorbener Pferde und des Archäopteryx) zu einem unumgänglichen Requisit aller, von der Entstehung der Arten han- delnden Schriften. Andere Erklärungen der Mimikry fanden keine Beachtung; so die Hypothese M. Wagners, daß der Erhaltungstrieb die Tiere dazu drängt, einen ihrer Form und Farbe ähnlichen Woh- nungsort zu wählen2); so die Hypothese Copes und Brunners (die an einer anderen Stelle dieser Schrift erwähnt wird), daß die Eigen- schaften der Tiere, den chemischen Elementen analog, nicht ihrer An- zahl nach unendlich sind; wie z. B. der Sauerstoff in den verschie- densten chemischen Verbindungen vorkommen kann, so kann auch eine Zeichnung, eine Form, eine Farbe bei sonst verschiedenen Tieren vor- kommen. Von ihrem Standpunkte aus unterscheiden die Darwinisten eine dem Schutze und eine dem Angriffe dienende Ähnlichkeit; bei der ersteren versteckt sich das Tier vor dem Feinde, bei der zweiten verbirgt es sich, um von der Beute nicht bemerkt zu werden. WALLACE 1) Bates, Contributions on the Insect Fauna of the Amazon Valley. Trans. Linn. Soc. 23, S. 495. 2) M. WAGNER, Über die Entstellung der Arten durch Absonderung. II. Die Mimikry. Kosmos 7, 1880, S. 89 sq. 2 62 XVI1- Mimikry. unterscheidet überdies noch zweierlei Farben und Zeichnungen: Trutz- farben, welche einen Gegensatz zu Mimikry bilden; es sollen dies die bunten Farben der ungenießbaren Raupen sein, welche den Vogel im Vorhinein auf die Ungenießbarkeit der Raupe aufmerksam machen1) ; Erkennungszeichen (recognition marks), nach welchen sich die zueinander gehörenden Tiere erkennen sollen; als Beispiel führt Wal- LACE, vielleicht zu originell, an, daß das weiße nach oben gekehrte Kaninchenschwänzchen als optisches Signal für die Jungen dient; wenn sich die Mutter im Zwielicht vor einer Gefahr in den Bau flüchtet, gibt der sich hin und her bewegende Schwanz den Jungen die Lage des Versteckes an. Heute wird der Mimikry nicht mehr die große Bedeutung wie zu Darwins Zeiten zugeschrieben. Namentlich war es der deutsche Zoologe Th. Eimer2) und der holländische Jurist M. C. Piepers3)» welche Skepsis über die Mimikry verbreiteten. Beide wiesen darauf hin, daß die Schmetterlinge (an diese wurde meistens bei der Dis- kussion über Mimikry gedacht) nicht so sehr durch die Vögel ver- folgt werden, wie es die Theorie verlangt. Piepers sah nur viermal während seines 28 jährigen Aufenthaltes auf den Sunda-Inseln, daß ein Vogel einen Tagschmetterling verfolgte; auch andere Forscher sind dieser Ansicht. Wohl gibt es andere Beobachter, welche in dieser Hinsicht andere Erfahrungen gesammelt haben, aber es ist leicht be- greiflich, daß, wenn nicht einmal die Tatsache einer häufigen Verfol- gung der Schmetterlinge durch Vögel ganz gesichert ist, die Folge- rungen über die Mimikry, welche aus derselben gezogen werden, desto zweifelhafter sein müssen. In anderen Fällen, wie z. B. bei den oben erwähnten zwei einander nachahmenden Schlangenarten, kann von einer Schutzmimikry aus dem Grunde nicht gesprochen werden, weil jene Schlangen beide in gleichem Maße den Angriffen der Feinde preisgegeben sind. PIEPERS zweifelt ferner daran, ob die von der Theorie für ungenießbar erklärten Schmetterlinge wirklich für die Vögel ungenießbar sind; was aber noch wichtiger ist, er führt viele Ähnlichkeiten unter Schmetterlingen an, welche sehr verschiedene T) G. Jäger behauptete (Kosmos I, S. 486 sq.), daß die gelbe Farbe in der Regel Trutzfarbe sei (beispielsweise bei den Wespen); doch begründete er seine Ansicht nur ungenügend. 2) Th. Eimer, Orthogenesis der Schmetterlinge, Leipzig 1889. 3) M. C. Piepers, Mimikry, Selektion, Darwinismus, Leiden 1903. — Ders., Noch einmal Mimikry, Selektion, Darwinismus, Biolog. Studien, Leiden 1907. — Die dar- winistische Auffassung der Mimikry wird in jedem Werke über den Darwinismus an- geführt. XVII. Mimikry. 263 Gebiete bewohnen; so sollen einige Kameruner Schmetterlinge den europäischen, einige aus Natal denen aus Sibirien sehr ähnlich sehen usw. Eimer behauptet, daß die Ähnlichkeit unter den Schmetterlingen zufällig entstanden sei: sie sind einander verwandt, deshalb entwickel- ten sich ihre Zeichnungen nach ähnlichen inneren Gesetzen und darum sind sie einander ähnlich. Ihrer Umgebung (dürren und grünen Blättern usf.) ähneln die Tiere, weil sie die Fähigkeit besitzen, ihre Umgebung in natürlichen Farben durch ihre Haut wiederzugeben, zu photographieren. Pipers, der nicht nur Eimers Anhänger, sondern dazu noch Vitalist ist, glaubt, daß Mimikry durch eine suggestive Wirkung der Umgebung auf das Tier entsteht. Durch den Einfluß dieser und anderer Skeptiker entstand in der letzten Zeit eine Krisis in den Betrachtungen über Mimikry; wie man früher die Ähnlichkeiten unter den Tieren unterstrich, so herrscht jetzt das Bestreben, sie zu unterschätzen. Und doch gibt es ihrer eine so große Menge, und sie sind so mannigfaltig, so in die Augen springend, daß man kaum glauben würde, daß es auch Stimmen gibt, welche behaupten, Mimikry bestehe nur auf zufälliger Ähnlich- keit. Um Mimikry zu beobachten, muß man nicht nach Afrika reisen, muß man nicht den Schmetterling Kailima und den Bazillus gesehen haben ; es genügt, im Sommer in der freien Natur in unseren Gegenden das Treiben der Tiere zu beobachten, und man wird ins- besondere an den Insekten Fälle von Mimikry in Hülle und Fülle selbst sehen können. Der moderne schwankende Standpunkt der Mimikry gegenüber ist aber historisch interessant. Die Tatsache der Homologien und Analogien bezweifelt niemand, da diese Begriffe aus der vordarwin- schen Periode der Wissenschaft herrühren, wo sie definiert und durch Analyse von Tatsachen begründet wurden; sie behalten ihre Geltung, auch wenn der Darwinismus aufgegeben sein wird. Die Lehre von der Mimikry wurde dagegen in die Biologie erst durch den Darwinismus eingeführt; aber Darwin und seine Schüler waren einer Untersuchung, worin die Mimikry bestehe, einer begrifflichen Analyse der Mimikryerscheinungen ganz abgeneigt; sie griffen viel- mehr nur einzelne, anekdotenartig sich bietende Fälle der Nach- ahmung auf und legten das größte Gewicht auf deren Erklärung. Noch heute üben die nachdarwinschen Philosophen diese Methode: die Erklärung der Mimikry interessiert sie viel mehr, als die Tat- sache der Nachahmung und ihre verschiedenen Formen selbst. 264 XVIII. Fortschritt und Verfall. XVIII. Fortschritt und Verfall. Wir haben uns den Glauben an einen Weltfortschritt , an eine schlechte Vergangenheit, eine bessere Gegenwart und eine noch bessere Zukunft so zu eigen gemacht, daß wir uns schwer die Zeit vorstellen können, wo man von diesem Glauben nichts wußte. Und doch schrieb noch ROUSSEAU von einem Verfall der Menschheit, und an der Schwelle des 18. Jahrhunderts (1708) forscht noch Fontenelle im Ernst nach Beweisen gegen den Glauben, daß die klassischen Völker höher standen als wir. Erst das Ende des 18. und das ig. Jahrhundert brachten die feste Überzeugung von einem stetigen Fortschritt: Herder wirkte durch seine Lehre von einer besseren Zukunft der Menschheit, Hegel übte einen noch größeren Einfluß aus mittels seiner Anschauung, daß alles Geschehen in einem Fort- schritt von unbewußtem Verstand zum Geiste, der sich selbst be- greift, besteht, und durch die Überzeugung, daß die historische Ent- wicklung den tiefsten Gegenstand der Philosophie bildet. In Frankreich verbreitete Comte den Glauben an einen Fortschritt des menschlichen Geistes von der Theologie über die Metaphysik zur Wissenschaft; in England analysiert zwei Jahre vor dem Erscheinen des DARWlNschen Buches T. H. Buckle den Fortschritt der Zivilisation; in der Biologie wurde es seit CuviER und Lamarck üblich, darzustellen, wie die Natur früher von niederen Formen belebt war, von denselben zu höheren und höheren fortschritt, bis sie die Stufe des Menschen erreichte; besonders L. Agassiz schrieb viel über dieses Fortschreiten im Ver- laufe der Schöpfungsgeschichte. C. E. v. Baer verwies bei seinen embryologischen Untersuchungen auf den, in diesem Geschehen sich offenbarenden Fortschritt, der darin besteht, daß durch Entwicklung die Differenzierung erhöht wird; in einer anderen Form beschäftigte sich Milne-Edwards mit diesem Begriffe, dessen Realisierung er in der wachsenden Arbeitsteilung im Bau und in den Funktionen der aufsteigenden Wesenhierarchie fand. Als Darwin auftrat, stand die Lehre vom Fortschritt des Menschen- geschlechts und der Natur überhaupt in voller Blüte: die englische Philosophie des Mill, die politischen Ideale der Demokratie, die Ge- schichte der Menschheit, die Lehre vom aufsteigenden System der Tiere und Pflanzen, die Paläontologie usw., alles plädierte für den Fortschritt. Die DARWixsche Lehre barg eine verhüllte Reaktion gegen diesen Glauben in sich; sie verwarf zwar nicht die Tatsache XVIU. Fortschritt und Verfall. 265 des Fortschritts schlechtweg, sondern betonte nur, daß der Fort- schritt nicht notwendig ist, daß auch Stagnation und sogar Rückschritt sich einstellt. Durch das Wort Entwicklung, dem man oft die Be- deutung einer fortschreitenden Entwicklung zuschreibt, wollte Darwin bloß Veränderung verstanden wissen, und führte als Argument gegen die notwendig fortschreitende Entwicklung die Parasiten an. welche vollkommener waren, als sie noch frei lebten, und erst durch ihre parasitische Lebensweise verfielen und sich vereinfachten. Er zeigte ferner, daß der Fortschritt eines oder einiger Organe des Tieres mit dem Rückschritt anderer verknüpft zu werden pflegt, so daß die Tiere und der Mensch nebst hochentwickelten Organen auch ver- kümmerte besitzen1). Der empirische Charakter der DARWixschen Theorie brachte es mit sich, daß ihr Verhältnis zur Fortschrittslehre weder ihren An- hängern, noch ihren Gegnern klar genug wurde. Wie andere Begriffe, übernahm Darwin auch denjenigen des Fortschritts in der Natur von seinen Vorgängern, hielt ihn aber für einen bloßen Namen für sonst sehr heterogene Erscheinungen; er wies entschieden die An- nahme eines notwendigen, dem Naturgeschehen inhärenten Fort- schrittes ab und erklärte sein mögliches Vorkommen für eine Folge anderer Erscheinungen. Aus diesem Grunde bekämpften die Dar- winisten alle damals häufig auftretenden Theorien, welche die Ent- wicklung mit dem Fortschritt identifizierten; andererseits beriefen sie sich den Gegnern der Entwicklungstheorien gegenüber auf die Tat- sache, daß die Paläontologie und die Embryologie einen Fortschritt in der Natur unumstößlich beweisen. Aber auch Darwins Gegner führten beide Gründe an: sowohl, daß es in der Natur einen Fort- schritt (und folglich eine planmäßige Entwicklung) gäbe, als auch, daß die Paläontologie nicht für einen Fortschritt im DARWixschen Sinne zeuge. So konnte es vorkommen, daß zwei einander be- fehdende Forscher dasselbe Argument für sich ins Treffen führen konnten: HUXLEY behauptete z.B. 1862, daß Darwins Gegner all- zusehr den während der Entwicklung der Erde stattgefundenen Fort- schritt betonen, daß derselbe jedoch weniger bedeutend war2); ein Jahr darauf deduzierte O. Volger aus denselben Gründen (daß in der paläontologischen Entwicklung keineswegs nur Fortschritt herrschte J) Vgl. z. B. L. Büchner. Der Fortschritt in Natur und Geschichte im Lichte der ÜARWiNschen Theorie, Stuttgart 1S84. 2) T. H. Hrxi.EY, Geological Contemporaneity and persistent Types of Life (1862;, Coli. Ess. 8. 2 66 XVIII. Fortschritt und Verfall. und daß bereits die ältesten versteinerungführenden Schichten ziem- lich fortgeschrittene Formen enthalten) die Unrichtigkeit der Theorie Darwins1). Das Thema der rudimentären Organe griff insbesondere Haeckel auf; er vergaß, daß vor Darwin P. Decandolle auf der Theorie derselben Organe einen großen Teil seiner (idealistischen) Morphologie aufgebaut hat, und pries nun die Entdeckung der rudimentären (d. h. unzweckmäßigen, nach seiner Auffassung) Organe durch Darwin, wodurch der Glaube an eine durchgängige Zweckmäßigkeit der leben- digen Natur angeblich vernichtet wurde ; deshalb nannte Haeckel die Lehre von solchen Organen (und Funktionen) »Dysteleologie« (Un- zweckmäßigkeitslehre). Bei den rudimentären Organen werden unter anderem folgende unterschieden: i. Zwecklose, wie z. B. der Wurmfortsatz des Blinddarms und zweckmäßige, wie z. B. die Flügel des Pinguins, welche zwar nicht zum Fluge, aber doch zum Schwimmen taugen. 2. Verkümmerte (rudimentäre im engeren Sinne), welche während der embryonalen Entwicklung hinter anderen Organen zurückgeblieben sind ; so das Scheitelauge des Menschen, welches tief im Gehirn ver- borgen liegt; wenn es während der Entwicklung nicht zurückbliebe, müßte es ein drittes Auge am Kopfscheitel bilden. 3 . Atrophierte Organe, welche zwar genug fortgeschritten waren, aber dann infolge ungenügender Ernährung wieder zurückgingen: die Larven einiger parasitischen Krebse (Rhizocephala) sind genügend differenziert, verwandeln sich aber später in eine formlose Masse, welche in anderen Krebsen parasitisch lebt. 4. Verschwundene, welche bei dem Embryo oder der Larve vorhanden sind, später aber gänzlich unterdrückt werden, wie die Schneidezähne im Oberkiefer der Wiederkäuer und die Zähne beim Walfisch; beide werden beim Embryo angelegt, später aber ver- schwindet die Anlage. Auch von ganzen Tieren und Pflanzen pflegt man zu sagen, sie wären von einer höheren zu einer niedrigeren Stufe herabgesunken; man spricht dann von degenerierten Formen. Aber nur von den Parasiten behauptet man mit Bestimmtheit, daß sie Formen darstellen, welche sich an einfachere Lebensbedingungen angepaßt haben; sonst J) Otto Volger, Über die DARWixsche Hypothese vom erdwissenschaftlichen Standpunkte aus. Bericht über die Versamml. d. deutschen Naturforscher und Ärzte. Stettin 186^. XVIII. Fortschritt und Verfall. 267 sind es nur vereinzelte Forscher, welche eine Degeneration der Tiere im größeren Maßstabe annehmen; so z. B. Ant. Dohkn, der beweisen wollte1;, die niederen Fische seien durch Degeneration der höheren entstanden, die Manteltiere durch Degeneration der niederen Fische; auch Coelenterata seien degenerierte Formen, und durch ihren Ver- fall sollen die einzelligen Tiere entstanden sein. Das Wort »Degeneration« hat übrigens nicht bei allen Autoren dieselbe Bedeutung. Im 18. Jahrhundert verstanden die französischen Biologen (Buffon) darunter einfach eine Formveränderung; um die Hälfte des 19. Jahrhunderts bezeichnete der französische Psychiater B. A. MOREL durch das Wort »degenerescence« »eine pathologische Abweichung vom ursprünglichen Typus. Diese Ab- weichung mag ursprünglich noch so einfach sein, sie enthält doch solche übertragbare Elemente, daß, wer mit deren Keimen heimgesucht wird, mehr und mehr die Fähigkeit verliert, seine Aufgaben in der Menschheit zu erfüllen, und der Geistesfortschritt ist nicht nur in ihm, sondern auch in seiner Nachkommenschaft bedroht«2). Dadurch soll gewissermaßen eine neue Varietät des menschlichen Typus entstehen, welche aber schnell wieder zugrunde geht. Die Degeneration soll auch nach körperlichen Merkmalen zu erkennen sein; wie: nach der Asymmetrie der beiden Gesichtshälften, nach den Fehlern der Ohrmuscheln, nach dem Schielen, der Hasenscharte und nach anderen sogenannten »Stigmata«. Später schrieben besonders C. Lombroso und der französische Arzt Ch. Fere über diese Art Degeneration. Im Darwinismus dagegen bedeutet sie eher eine Vereinfachung, als einen Verfall ; Darwin lehrt nicht, daß einige Arten besser, andere weniger gut dem Leben angepaßt wären; nach seiner Auffassung paßt eine jede Art eben gut in ihre besonderen Lebensumstände; nur ist die eine mehr, die andere weniger differenziert; der Bandwurm, der weder einen Kopf noch irgendwelche Sinnesapparate, noch ein Verdauungsrohr besitzt, ist nach Darwin an seine besonderen Lebens- bedingungen ebensogut angepaßt, wie ein kompliziert gebauter, frei- lebender Wurm. Wohl ist es eine andere Frage, ob Darwin recht hat mit seinem Philosophem, nach welchem alle in der Natur vorkommenden Arten J) A. Dohrn, Der Ursprung der Wirbeltiere und das Prinzip des Funktions- wechsels, Leipzig 1875. 2) B. A. Morel, Traite des De"g£n6rescences physiques, intellectuelles et morales de l'espece humaine etc., Paris 1857. Ich führe nach M. Nordau (Die Entartung, Berlin 1S93, I, S. 31] an. 268 XVUI. Fortschritt und Verfall. »natürlich« sind; ob also vielleicht einige derselben dennoch de- generiert, oder, um das Problem deutlicher auszudrücken, pathologisch oder abnormal sind. Die Annahme pathologischer Arten war wohl dem Darwinismus ganz entgegen; nicht nur, weil nach der Kampf- ums-Daseintheorie solche Arten keinen Platz in der nur das Ge- sunde erhaltenden Natur finden konnten, sondern noch mehr, weil nach der DARWlNschen Philosophie das Wort »abnormal« keine ob- jektive Geltung hat — alles ist nach derselben normal. Ob und inwiefern es nun in der Tat abnormale Arten gibt, wurde bisher von niemandem ausführlicher untersucht; daß sie aber sind, wurde mehr- mals behauptet. R. VlRCHOW lehrte1), daß es sowohl pathologische Rassen (Bulldogge, Mops) als auch pathologische Arten und Gattungen gebe: als Beispiel führte er auch die parasitischen Krustentiere an. Auch J. v. Kennel nimmt die Möglichkeit von Abnormitäten in der Natur an und weist auf den Hirscheber von Celebes (Babyrussa alfurus) hin, dessen obere Eckzähne sehr verlängert und nach oben und hinten gekrümmt sind und die Oberlippe durchbohren ; auf den Narwal mit seinem langen, schraubenförmig gewundenen Stoßzahn; auf den Anarhichas frontalis, einen Vogel aus Neuseeland, dessen Schnabel- spitze um 30 ° nach rechts gekrümmt ist usf.2). Ausführlicher ist bisher jedoch die Frage der pathologischen Arten nicht untersucht worden, obwohl sie es sehr verdiente : es ist möglich, daß die großen mesozoischen Reptilien, daß die eigenartigen Auswüchse auf dem Kopfe verschiedener Insekten , daß jene Arten , die gegenüber dem Durchschnitt zu klein oder zu groß vorkommen, pathologisch sind. Es müßte jedoch erst eine andere Philosophie kommen, um dieses Problem für wissenschaftlich gelten zu lassen. Viel mehr, als über die Degeneration selbst, dachte man unter den Biologen und Nichtbiologen über die Ursachen der Degeneration nach; besonders Weismann erweckte Interesse für dieses Problem, indem er zu beweisen suchte, daß der Kampf ums Dasein die einzige den Fortschritt treibende Kraft sei ; wo er aufhört, wird der Organis- mus, oder irgendeine Eigenschaft desselben schwächer und geht unter. Als Ursachen der Degeneration führt man verschiedenes an: namentlich die Paarung zwischen eng verwandten Organismen wurde *) R. Virchow, Deszendenz und Pathologie. Archiv f. pathol. Anatomie, 103, 1886, S. 11 sq. 2) J. VON Kennel, Über eine stummelschwänzige Hauskatze usw. Zool. Jahrb. (Syst.) 15, 1901. XVIII. Fortschritt und Verfall. 269 als Grund angegeben: einerseits von Chr. Konr. Sprengel1), der be- wies, daß auch die Zwitterpflanzen sich gekreuzt befruchten ; anderer- seits von älteren Psychiatern (EsQUlROL, Spurzheim), nach welchen Heiraten unter nahen Verwandten zum Verfall der Nachkommenschaft führen. Die verschiedensten Krankheiten wurden für eine Folge von solchen Heiraten erklärt, namentlich Unfruchtbarkeit, allerlei Mon- strositäten, Hasenscharte, Albinismus, Skrophulose, Apoplexie, Epi- lepsie, Idiotie, Kropf, Paralysis, Blindheit, Taubstummheit. Darwin machte die Biologen auf diese Hypothese aufmerksam; zwar ging er nicht so weit wie EsQUlROL, doch behauptete er, daß es für die Nachkommenschaft von Nutzen ist, wenn Individuen gepaart werden, welche von einander etwas abweichen. Es scheint aber, daß die Inzucht nicht zu so verhängnisvollen Resultaten führt, wie eben an- gedeutet wurde ; es werden Tatsachen geltend gemacht zum Beweise, daß Heiraten unter nahen Verwandten nicht schädlich wirken , ausge- nommen, daß sie einen der Familie gemeinsamen Fehler desto ge- wisser und in höherem Grade auf die Nachkommen übertragen2). Es wurde auch vorgebracht, daß die im Verfall begriffenen Organe in derselben Reihenfolge degenerieren, in der sie sich entwickelten; daß also die Degeneration sozusagen nach umgekehrtem biogene- tischen Gesetze vor sich geht. Unter den Zoologen verteidigte diesen Gedanken A. LAMEERE, unter den Psychologen Th. RlBOT3) ; doch konnte ihm weder dieser noch jener zu einem bemerkbaren Erfolge verhelfen. Außerhalb der Biologie wurde die Lehre von der Degeneration für sehr exakt gehalten: die Psychologen, die Rassentheoretiker, die Rechtsgelehrten, die Romanschriftsteller beriefen sich gerne auf sie. E. ZOLA führte sie in die Romane, H. Ibsen ins Drama und M. Nor- DAU in die literarische Kritik ein; der letztere erklärte alle jene Dichter für entartet, die nach dem Verfall des YYissenschaftskultus neue Bahnen suchten; besonders glaubte er in dem Mystizismus ein untrügliches Degenerationsmerkmal erblicken zu müssen4). *) Ch. K. Sprengel, Das neu entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und Be- fruchtung der Blumen. Berlin 1793. 2) Die einander entgegengesetzten Anschauungen über diese Frage sind zu- sammengestellt in: L. Woi.tmann, Politische Anthropologie, Eisenach und Leipzig 1903, S. 105 sqq. 3) Vgl. darüber Demoor, Massart, Vandervelde, L'£volution regressive en bio- logie et en sociologie, Paris 1897, S. 165. 4) M. NoRDAU, Entartung, Berlin, 2 Bde., 1893. — Die biologische Literatur über Degeneration wird angeführt in: E. MEHNERT, Kainogenese, eine gesetzmäßige Ab- änderung der Embryonalentfaltung, Schwalbes Morph. Arb., 7, 1889. 2-jo XIX- E- H- Haeckel. XIX. E. H. Haeckel. Charakteristik. Ernst Heinrich Haeckel (weil. Professor an der Universität Jena) wurde 1834 zu Potsdam geboren. Humboldts und SCHLElDENs Schriften waren in der Jugendzeit seine beliebteste Lektüre; bei den besten Lehrern seiner Zeit studierte er Medizin; in Berlin hörte er ALEX. Brauns Vorlesungen über Botanik, in welchen in einer naturphilosophisch angehauchten Art die idealistische Morphologie mit der Embryologie und Zellentheorie verknüpft wurde, und die nicht weniger philosophischen Vorlesungen Joh. Müllers über Phy- siologie. In Würzburg fand er eine modernere Schule vor: dort be- gründeten Leydig und Kölliker, denen die Naturphilosophie nur mehr als Jugenderinnerung bekannt war, die moderne Embryologie und Histologie ; ebenda hörte er auch VlRCHOWs Vorlesungen über die Zelle, durch welche der Zellentheorie nicht nur eine neue Tatsachen- grundlage, sondern auch ein unverhüllt materialistischer Sinn verliehen wurde. Als junger Arzt reiste Haeckel nach Italien, sich seines schlummern- den Talentes noch unbewußt; es fehlte nicht viel, und er wäre dort Landschaftsmaler geworden. Erst in Sizilien erinnerte er sich der Ermunterung seines Meisters Joh. MÜLLER und ließ sich auf das Studium der Radiolarien ein, über welche er 1862 ein größeres Werk herausgab. Bereits in diesem Werke erwähnt er mit Anerkennung die neue Theorie Darwins; einen offenen Kampf für dieselbe er- öffnete er im folgenden Jahre auf der Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte in Stettin mit der Rede: »Über die Ent- wicklungstheorie DARWINS«, und seit jener Zeit widmete er dieser Lehre sein ganzes Streben. Völlig von ihr ergriffen schrieb er (von seinem Freunde Gegenbaur unterstützt) ein großes zweibändiges Werk über allgemeine Morphologie1), welches auf einen Schlag für Darwins Theorie die deutsche Biologie, Morphologie und Embryologie erobern sollte. Der Angriff gelang aber nicht ; die deutschen Gelehrten sahen in der Schrift nichts als eine verspätete Blüte der längst über- wundenen Naturphilosophie und schenkten ihr kaum Beachtung. Ent- täuscht durch diesen Mißerfolg bei der gelehrten Welt, entschloß sich x) Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der orga- nischen Formenwissenschaft, mechanisch begründet durch die von Ch. Darwin refor- mierte Deszendenztheorie, Berlin 1866 (ein Auszug daraus erschien wieder 1906). XIX. E. H. Haeckel. 7» Haeckel, unter das Volk zu gehen1): auf den Rat seiner Freunde veröffentlichte er einen populären Auszug aus der Schrift unter dem Titel »Natürliche Schöpfungsgeschichte;, der einen großen Erfolg erzielte und unter allen Schriften wohl am meisten die Verbreitung des Darwinismus förderte2); das Buch erschien deutsch in zehn Auf- lagen und wurde in elf Sprachen übersetzt. Seitdem war er ein be- rühmter Mann. Haeckel ist ein Deutscher und ein Preuße; geradlinig, voll Energie, schroff und hart mit dem Feinde; die Wissenschaft ist ihm ein Kampf, jedes Wort ein Angriff. Weder dem ruhigen Gelehrten Darwin, noch dem kritischen und eleganten HüXLEY ist er ähnlich: nur in Deutschland werden solche Männer geboren. Luthers, BlS- marcks, Nietzsches Blut fließt in seinen Adern; sucht man nach einer ähnlichen Natur, so findet sich keine, die ihm näher stünde als FICHTE, der große Streiter für die Freiheit der deutschen Universitäts- wissenschaft, ein Mann von zwar nicht weitem wissenschaftlichen Horizont, aber von hinreißender Überzeugungskraft, der von sich sagte3): »Ich habe nur eine Leidenschaft, ein Bedürfnis, ein volles Gefühl meiner selbst: das, außer mir zu wirken!« Nicht nur seine individuelle Gemütsstimmung, sondern die aller großen Propheten, auch die Haeckels, drückte Fichte durch die Worte aus 4) : »Sie sagen, der Philosoph solle denken, daß er als Individuum irren könne, daß er als solcher von andern lernen könne und müsse. Wissen sie, lieber Reinhold, welche Stimmung sie da beschreiben: die eines Menschen, der in seinem ganzen Leben noch nie von etwas über- zeugt war!« Diese FiCHTEsche Überzeugung ist auch Haeckel eigen: auch Haeckel ließ sich niemals durch Belehrung, durch Zweifel in seinem Glauben wankend machen. Die Überzeugung, ein fester Glaube an die DARWiXsche Theorie, bildet das Wesen der Tätigkeit, der Erfolge so gut wie der Mißerfolge HaeCKELs. So fest war diese Überzeugung, daß ihn nichts von der kühnen Verkündigung seiner Wahrheiten abhielt ; umsonst ließen die Gelehrten J) Haeckel selbst berichtet darüber, wie sein Werk anfangs nicht anerkannt wurde, und wie er erst durch seine popularisierende Tätigkeit durchdrang, in seinen : Ziele und Wege usw. Jenaische Zeitschr. f. Naturwiss., 10. 1S75, S. 9. 2) Natürliche Schöpfungsgeschichte, Berlin 1S6S. K. Fischer, Lichtes Leben. Werke und Lehre. Heidelberg 1900. S. 128. 4) Ibid. S. 129. 272 XIX. E. H. Haeckel. anfangs seine Phantasien unbeachtet; umsonst besänftigte der ruhige Darwin in Briefen seinen Übereifer; umsonst ermahnte ihn im Ver- trauen und öffentlich Huxley, umsonst seine deutschen Freunde; er achtete nicht der Witze Du Bois Reymonds, nicht der Entrüstung, mit der ihn W. His, A. Goette, Rütimeyer, A. Wigand, K. Semper, C. Claus, F. LOOFS u. a. verurteilten, nicht der Hiebe, die sie ihm versetzten; Haeckel ist heute derselbe kühne Verteidiger des Ent- wicklungsglaubens, der er am Anfang seiner Laufbahn war. Er ist ein sehr fruchtbarer Schriftsteller und liebt nach deutscher Art dicke Bücher; doch mag er über welche Frage immer geschrieben haben, sein ceterum censeo blieb immer die Entwicklungstheorie. Himmel und Hölle setzte er in Bewegung für die Freiheit der Wissen- schaft; das heißt — für die Freiheit, die Entwicklungstheorie zu predigen. Er studierte das System der Seeschwämme; das Resultat war ein kurioses Spiel mit Namen, die beweisen sollten, daß es unter den Schwämmen keine Arten gebe, daß sie folglich als glänzender Beweis der Entwicklungstheorie dienen. Schreibt er über Goethe, so will er beweisen, daß dieser ein Entwicklungsphilosoph, ein Vor- läufer Darwins war. Er verwirft die positive Religion, denn er hat ein höheres Ideal, die Entwicklungstheorie. Um BiSMARCK, als dieser Jena besuchte, zu ehren, schlägt er vor, ihm den Titel eines »Ehren- doktors der Phylogenie« zu verleihen. Die Entwicklung ist die einzige Wärme, das einzige Licht, welches seine Schriften ausstrahlen; man nehme ihre Entwicklungsgedanken hinweg, und es wird nichts zurückbleiben als ein Bodensatz lärmen- der Worte, trockener Beschreibungen und schwarzer sowie farbiger Bilder, welche leer und leblos sind, wie alle Theorien Haeckels. Tiefe der Auffassung, Feinheiten, Witz, Mißtrauen gegen die eigenen Wahrheiten, Stil, psychische Entwicklung, überhaupt was man Origi- nalität nennt — würde man umsonst suchen; wer ein Buch von Haeckel gelesen hat, hat alle gelesen. Trotzdem war er ein viel- seitiger Forscher: die meisten seiner positiven Arbeiten handeln zwar von einer überaus schematisch erfaßten Systematik der Tiere, mit seinen Theorien beherrschte er aber die ganze Morphologie und Embryologie, teilweise auch die Paläontologie und die darwinistische Anthropologie ; er war der erste, der eine Geschichte der Entwicklungstheorie schrieb *), er gab ein großes Werk über die Schönheit der Tierformen x) In seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte und in: Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck, Jena 1882. XIX. E. H. Haeckel. 273 heraus1), war einer der ersten, die das Studium des Plankton er- öffneten, schrieb über Religion und Philosophie; vor allem aber polemisierte er. Im Angriffe auf seine Gegner kennt Haeckel keine Schranken. Er mag nun die kirchlichen Dogmata bekämpfen, gegen die Gegner der Entwicklungstheorie und seiner embryologischen Spekulationen eifern, Darwin und seine sogenannten Vorläufer, GOETHE, Lamarck, preisen — nirgends findet man eine Andeutung, daß er durch langes Nachdenken, durch einen inneren Kampf zu seinen Ansichten ge- kommen wäre, nirgends einen Versuch, den Freund oder Feind zu verstehen : man sieht nur, wie er die Keule gegen den Feind schwingt und den Freund maßlos überschätzt. DARWIN vergleicht er mit KOPERNIKUS; an einer anderen Stelle schreibt er, LAMARCK sei der Kopernikus der Biologie, Darwin ihr NEWTON2); er behauptet, daß sein »monistischer« Glaube von jedem ehrlichen Mann an- genommen werden müsse, der gesunden Menschenverstand besitzt und etwas versteht3); mit einer Naivität, die nur dem Glauben seiner Zu- hörer gleichkommt, behauptet er, daß erst mit dem Darwinismus die Biologie als Wissenschaft beginnt, daß ihr früher keine Philosophie innewohnte, daß erst der Darwinismus das »exakte Denken« bringen und »den fast allgemeinen Mangel an wirklich vergleichender und nachdenkender Naturbeobachtung« beseitigen wird4). Wie Fichte, wie alle, die das Gemüt der Zuhörer bestürzen und, hinreißen und jeden möglichen Zweifel gleich im Keime ersticken wollen, wiederholt Haeckel fortwährend einen und denselben Ge- danken; ihn in immer kräftigere Worte einhüllend, spricht er in Superlativen und behauptet die unerschütterliche Gewißheit seiner Lehren und die absolute Dummheit aller Andersdenkenden. Die Deszendenztheorie hält HAECKEL für bewiesene Sache, ebenso die Abstammung des Menschen vom Affen; die rudimentären Organe sind ihm ein eiserner Beweis der evolutionistischen Wahrheiten; die Selektionstheorie ist die genialste Entdeckung des modernen Geistes. Der bekannte Ethnograph A. Bastian stimmt nicht mit HAECKEL überein; HAECKEL fertigt ihn wie folgt ab5): 3) Die Kunstformen der Natur, Leipzig 1900 — 1904. Vgl. auch seine »Natur- wunder der Tropenwelt«, Gera 1905. -) Natürliche Schöpfungsgeschichte (5. Aufl.), S. XXIII. 3) Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft, Bonn 1892, S. 27. 4) Generelle Morphologie, Einleitung. 5) Natürliche Schöpfungsgeschichte, Einleitung. S. XXIX. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. lg 274 XIX. E. H. Haeckel. »Interessant und lehrreich ist der Umstand, daß besonders diejenigen Menschen über die Entdeckung der natürlichen Entwicklung des Menschen- geschlechts aus echten Affen am meisten empört sind und in den hef- tigsten Zorn geraten, welche offenbar hinsichtlich ihrer intellektuellen Ausbildung und zerebralen Differenzierung sich bisher noch am wenigsten von unseren gemeinsamen tertiären Stammeltern entfernt haben.« Kein Wunder, daß Haeckel die Schriften Bastians »grenzenlos konfus« und seine Polemik ein »seichtes Geschwätz« nennt. Gleich grobkörnig sind alle Angriffe Haeckels: keine Analyse, keine Er- örterung, keine Beweisführung, sondern nur Schroffheiten; seinem Gegner W. His soll »das Verständnis für philosophische Verstandes- operationen fehlen« ; A. GOETTEs Ansichten sind »grenzenloser Unsinn«, die Theorien L. Agassiz' »Charlatanerei«, diejenigen WlGANDs »un- glaublicher Unsinn« usw.1). Das Streben, dem Leser die bestimmteste Überzeugung von der Wahrheit seiner Ansichten einzuflößen, ist die Ursache, warum Haeckel eine große Vorliebe für Fremdwörter hegt, als ob ein jedes neue Wort auch einen neuen Gedanken bieten würde; er sagt »gene- relle« Morphologie statt »allgemeine«, er gibt seiner Schrift den Titel »Perigenesis der Plastidule« ; damit man aber diese Worte versteht, muß er den Untertitel: »oder die Wellenbewegung der Lebens- teilchen« hinzufügen. Einige von den Fremdwörtern, die er einführte, wurden angenommen, so die Namen Ontogenie, Phylogenie; andere schlagen sich nur in seinen populären Schriften herum, wie Dysteleo- logie (Lehre von den rudimentären Organen), Physiophylie (Lehre von der Entwicklung der Funktionen), Metamerologie (Lehre von den Segmenten), Archigonie (Urzeugung), Zelleus (Protoplasma), Plasson (Protoplasma mit Kern), Cytode (kernlose Zelle) usf. Allgemeine Ansichten Haeckels. Während der Niederschrift seiner Generellen Morphologie war Haeckel noch in idealistischen Anschauungen befangen, wie es aus seinem Postulat der Exaktheit der Biologie hervorleuchtet; er suchte damals »die stereometrische Grundform [des Organismus], deren Erkenntnis für x) Ziele und Wege der heutigen Entwicklungsgeschichte, Jena 1875, S. 90. — Haeckels Polemiken befinden sich besonders in verschiedenen Auflagen der Natürl. Schöpfungsgeschichte, der Antropogenie, in den >Ziele und Wege«, im »Monismus« u. a. a,. O. XIX. E. H. Haeckcl. 275 den organischen Morphologen dieselbe Wichtigkeit wie für den anorga- nischen Kristallographen besitzt«1]. Darum bestimmte er die Achsen und die Pole des Tierkörpers, wie H. G. Bronn, indem er achsenlose (Volvox), vielachsige (irregu- läre und reguläre), einachsige (gleichpolige und ungleichpolige) Wesen unterschied ; er schrieb damals von hemiedrischen Tierformen und war überzeugt, daß man alle Formen als Folgen mechanischer Ur- sachen begreifen könne2). Heute freilich ließ er bereits seit langem die Betrachtungen über absolute Morphologie fallen, heute ist er auf W. His und A. Goette, die die Embryonalentwicklung der Formen mechanisch erklären wollen, schlecht zu sprechen. Es soll eine zu rohe und grob mechanische Auffassung der Aufgabe sein, welche der Entwicklungstheorie zuwiderlaufe; denn ein jedes Organ ist ein zusammengesetztes historisches Produkt, welches zu seiner jetzigen Form nach unzählbaren Jahrtausenden gelangte, wobei unzählige Vererbungs- und Anpassungsfälle mitgeholfen haben3). Es kommt jedoch vor, daß sich HAECKEL vergißt und selbst mechanische Er- klärungen ausdenkt ; und der Mechanismus, den er dann auftischt, ist gröber, als die menschlichen Werkzeuge der ältesten Steinzeit; so wenn er behauptet, daß das Leben des befruchteten Eies die Resul- tierende der väterlichen und mütterlichen Bewegung sei, und daß diese Resultierende der Regel des Kräfteparalellogramms gehorcht4); oder wenn er die Erblichkeit aus der Wellenbewegung der Atome erklärt5). Doch dies sind nur Inkonsequenzen; sonst bleibt Haeckel dem für den Darwinismus so charakteristischen Grundsatz treu, daß der Organismus das Resultat einer äußerst langen Geschichte sei. Wie es aussichtslos wäre, einen inneren Grund dafür zu suchen, warum in Frankreich die Franzosen wohnen und in Deutschland die Deutschen und warum nicht umgekehrt, weil eben nur die Geschichte die Ant- wort geben kann, so, meint Haeckel, ist irgendwo in der Vergangen- heit die Ursache zu suchen, warum ein Tier so ist, wie es ist. Mehr- mals erklärte Haeckee, daß die Phylogenie, die Lehre von der Verwandtschaft der Tiere, keine exakte Wissenschaft sei, sondern eine historische6). Die historische Entwicklung bildet für ihn das J) Gen. Morph. S. 400. 2) Gen. Morph. S. 364. 3) Ziele und Wege, S. 27. 4j Anthropogenie, 5. Aufl., S. 146. S) Perigenesis der Plastidule, 1876, S. 62. 6J Systemat. Phylogenie, I, S. 14. Anthropogenie. I. S. XXII. 18* 2-6 XIX. E. H. Haeckel. höchste Ziel der menschlichen Erkenntnis, den Grundsatz aller Natur- philosophie, die Antwort auf alle Fragen: »Entwicklung heißt von jetzt an das Zauberwort, durch das wir alle uns umgebenden Rätsel lösen, oder wenigstens auf den Weg ihrer Lösung gelangen können«!1) »Jedes Sein wird nur durch sein Werden erkannt« !2) Daher muß die Morphologie, die bisher eine Lehre von der Archi- tektonik des tierischen Körpers war, zur Morphogenie, zu einer Lehre von der Entstehung einer Form aus einer anderen werden; die Physiologie muß zur Physiogenie, zur Lehre von der Entwicklung der Funktionen werden, und muß diese Entwicklung einerseits in der Ontoge- nie, andererseits in der Phylogenie der Funktionen verfolgen; sie muß also die Entwicklung der Sprache, des aufrechten Ganges des Menschen, der Kultur untersuchen, denn dies alles sind nach Haeckel physiolo- gische und physiogenische Probleme. Das Studium des Menschen muß zur Anthropogenie umgewandelt werden, d. h. zur Lehre von seiner embryonalen Entwicklung und Entstehung aus tierischen Ahnen. Über die Entwicklung setzt Haeckel folgende allgemeine Gesetze fest: Das erste und höchste Naturgesetz betrifft die Kausalität3): »Nach diesem ersten und höchsten aller Naturgesetze ist alles, was in der Natur existiert, entsteht und vergeht, das notwendige Resultat aus einer Anzahl vorhergehender Faktoren und dieses Resultat ist selbst wieder ein Faktor, der zur Hervorbringung anderer Resultate mit abso- luter Notwendigkeit mitwirkt«. Fort mit der Zweckmäßigkeitslehre, fort mit der Lebenskraft, fort mit dem Glauben an eine sittliche Weltordnung, an die Freiheit des Menschen; alles steht nur in mechanischem, kausalem Zusammenhange: das Weltall ist nur eine zusammengesetzte Maschinerie, in der die zitternden Atome Räder sind, die sich hier zu einer glühenden Sonne, dort zu einem kleinen Käferchen ansammeln; dort die Planeten durch das Weltall treiben und hier bewirken, daß der Mensch als denken- des und freies Wesen handelt. Es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen lebenden und leblosen Dingen, weil alle in der lebendigen Substanz enthaltenen Elemente auch in der toten vorkommen, und weil man organische Substanzen auch künstlich herstellen kann ; auch im Körperbau liegt kein wesentlicher Unterschied, denn die leblosen Kristalle haben J) Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. XVIII. 2) Gener. Morph., I, S. 23. 3) Ibid. I, S. 98. XIX. E. H. Haeckel. 277 ebenso eine bestimmte Form wie die Lebensformen, und die ein- fachsten Organismen besitzen keine, wie die Flüssigkeiten. Die or- ganische wie die anorganische Welt wird nur von zwei Kräften be- herrscht: von der Attraktion und der Repulsion der Atome. Die Molekularbewegungen sind Ursache von allem, auch Ursache der Seele1); »Unter Seele oder Seelentätigkeit verstehen wir allgemein eine Summe von verschiedenen hoch differenzierten Funktionen des Zentralnervensystems, unter denen der Wille und die Empfindung die wichtigsten sind. Der Wille, welcher der willkürlichen Bewegung zugrunde liegt, und die Emp- findung sind Vorstellungen, welche nur in dem hoch entwickelten Zentral- nervensystem der höheren Tiere ausschließlich zustande kommen und als komplizierte Molekularbewegungen in den Ganglienzellen zu betrachten sind. . . . Empfindung und Wille sind Vorstellungen, welche während der Leitung einer Nervenauslösung entstehen, und die unmittelbare Lei- tung der Reflexbewegungen unterbrechen, gewissermaßen in diese einge- schaltet werden. . . .« Welch Wunder, daß HAECKEL eine solche »Seele« bereits bei den Einzelligen findet, daß nach ihm auch die Pflanzen beseelt sind, da sie (wie HAECKEL sagt) dieselben physiologischen Funktionen wie die Tiere aufweisen?2) Ja ein jedes Atom hat eine Seele, »denn es hat eine gewisse Menge Kraft«. Sympathie und Antipathie, Lust und Unlust, Anziehung und Abstoßung sind psychische Eigenschaften, welche allen Atomen eigen sind3). Von der Entwicklung der Organismen erzählt Haeckel folgendes: Die Schöpfung durch Gott ist undenkbar und widerstreitet aller Er- fahrung; es bleibt also nichts anderes übrig, als an eine spontane Entstehung der einfachsten Lebensformen zu glauben, aus denen alle höheren Formen durch Differenzierung vermöge der natürlichen Zucht- wahl sich entwickelt haben. Zuerst kristallisierten aus der leblosen Substanz die ersten Organismen, kernlose Zellen, »Moneren«, und ein jeder Typus der jetzigen Tiere hatte eine andere Monere zu seinem Urahnen; aus der einen sind Wirbeltiere, aus einer anderen Coelenterata, aus einer weiteren Diatomaceae entstanden: ein Mole- kül Kohlenstoff, Schwefel, Phosphor mehr oder weniger war die einzige Mannigfaltigkeit des ersten Lebens auf der Erde4). Dann ergrünte die Erde von Pflanzen und ihnen erst folgten die Tiere. '. Ccn. Morph.. S. 232. 2) Syst. Phylogenie, I, S. 75 (Phylogenie der Zellseele' und S. 2S5 (Phylogenie der Pflanzenseele). 3) Die Perigenesis der Plastidule, S. 38. 4 Gen. Morph., S. 183. 2-jS XIX- E. H. Haeckel. Haeckels Verhältnis zu Darwin. Die DARWlNsche Leistung wurde durch Haeckel in wesentlich neue Bahnen geleitet. Darwins Beweisführung mutete die damalige kontinentale Wissenschaft, besonders die deutsche, fremdartig an. Auf dem Kontinente blühte Morphologie, Embryologie, Paläontologie, Systematik, Zellenlehre; Darwin dagegen verlegte den Schwerpunkt in die Lehren von der Zuchtwahl, vom Kampf ums Dasein, von der Erblichkeit, Variabilität, geographischen Verbreitung; er stützte seine Behauptungen durch Tatsachen, die er der Tierzucht und der gärt- nerischen Praxis entnahm, indem er die Rassen der Haustauben, Kanin- chen und Hunde analysierte, Versuche über die Widerstandskraft der Samen gegen süßes sowie gegen das Meerwasser anstellte und Belege aus Reisewerken und ähnlichen weniger exakten Büchern sammelte. Die biologischen, auf dem Festlande gepflegten Gebiete berührte Darwin kaum: in seiner mehr als 400 Seiten umfassenden »Ent- stehung der Arten« sind der Morphologie 41/.,, der Embryologie 10 Seiten am Schlüsse des Buches gewidmet, und die Zellentheorie wird kaum gestreift. Haeckel nahm nun Darwins Auseinandersetzungen für einen unumstößlichen Beweis der Theorie, nannte das Werk über die Ent- stehung der Arten die Bibel des 19. Jahrhunderts, in der sozusagen alles geleistet wurde, dessen es bedurfte, um die Entstehung der jetzigen Organismen aus anderen zu beweisen. Deshalb plagte er sich nicht weiter mit Betrachtungen über Variabilität der Tiere, Kreuzung, Rassen, geographische Verbreitung, Erblichkeit usw., sondern gab sich mit zwei Worten zufrieden, mit »Anpassung« und »Ver- erbung« ; durch das erste Wort drückte er die Variabilität samt allen ihren Ursachen und Folgen aus, also alle die Erscheinungen, die oben aufgezählt wurden, mit Ausnahme der Vererbung, welche er als den zweiten wichtigsten Begriff aufstellt; unter Anpassung ist die Ent- stehung neuer Formen, unter Vererbung ihre Fixierung zu verstehen. So faßte Haeckel mit zwei Worten den ganzen Inhalt des Darwin- schen Werkes bis auf das vorletzte Kapitel zusammen, welches über »die Verwandtschaft der Organismen, über die Morphologie, die Em- bryologie und über die rudimentären Organe« handelt. Dieses Kapitel machte Haeckel zum Ausgangspunkt seines konkreten Studiums und gab auf diese Art fast der gesamten biologischen Forschung am Ende des vorigen Jahrhunderts die Richtung: nicht über Fragen nach- zudenken, die Darwin bewegt hatten und die oben beispielsweise XIX. E. II. Haeckel. 279 angeführt wurden, sondern die alte Systematik, Morphologie und Embryologie auf die evolutionistische Philosophie zurückzuführen. So gelangte HAECKEL zu seinen konkreten Theorien: zu der Phylogenie, zu den Moneren, zu dem berühmten biogenetischen Grundgesetz, zu der Gastraeatheorie. Phylogenie. Wie bereits erwähnt, herrschte seitdem 18. Jahrhundert die Über- zeugung, daß das Wesen des Organismus in seiner Form und Struktur besteht; Linne, Cuvier, Jussieu, Decandolle, Geoffroy, Goethe, die idealistischen Morphologen überhaupt waren in der Annahme be- fangen, daß man das Tier und die Pflanze am tiefsten begreife, wenn man das Problem ihrer Form ergründe. Man versuchte wohl, das Leben auch anders aufzufassen: LAMARCK ging in seinen Theorien von der Überzeugung aus, daß das Wesen des Lebens nicht die körperliche Organisation bedeute, sondern die Lebensweise, das Streben, die Bedürfnisse, die Berührungen mit der Umgebung, die psychische Tätigkeit usw. OKEN wollte das Tierreich nach physio- logischen Merkmalen klassifizieren; aber weder sein noch LAMARCKs Versuch fand allgemeine Aufnahme. Darwin griff diesen Gedanken von neuem auf: er behauptete wieder (in seiner Art), daß das Wesen des Tieres nicht seine Form sei, sondern seine Lebensweise; daß alle Eigenschaften der Tiere und Pflanzen eine direkte Folge ihrer Beziehungen zu der Umgebung seien. Darum war es nur natürlich, daß Darwin die Morphologie wenig achtete und auf die Lebensbedingungen das Hauptgewicht legte; er bot eine andere, seiner Meinung nach höhere, gewiß aber eine neue Ansicht von der Natur, und berichtete in seinen Schriften, was er alles von seinem neuen Standpunkte entdeckt hatte. Die alten Eindrücke, welche einst durch die Worte Wirbeltier, Säugetier, Art, Einheit des Planes hervorgerufen worden waren, verschwanden vor seinem Auge; und statt ihrer eröffneten sich ihm neue Bilder: die nach Nahrung begierig suchenden Individuen, der unter ihnen wütende Kampf ums Leben, die Kreuzung der Organismen; Darwin unter- nahm es, mit Hilfe dieser neuen Farben die Natur auszumalen. Haeckel erreichte nicht den von Darwin erklommenen Stand- punkt; er sah nicht die von Darwin gemalte Natur, sondern be- geisterte sich nur an Darwins Bildern, an ihren neuen Farben; diese Farben allein zogen ihn an, und so blieb er bei der alten Wissenschaft. 28o XIX. E. H. Haeckel. bei der Morphologie, und schickte sich an, in dieselbe eine neue, eine »entwicklungsgeschichtliche« Nomenklatur einzuführen. Die »Phylo- genie« und die darwinistische Morphologie, wie sie durch Haeckei. und C. GEGENBAUR begründet wurden, bestehen aus denselben Be- griffen, wie die idealistische Morphologie, nur führen sie eine andere Sprache. HAECKELs Worten würde man es zwar nicht entnehmen — desto mehr aber seinen Taten. Zuerst also die Worte: »Alle morphologischen Eigenschaften der Organismen, sowohl ihre anatomischen als ihre Entwicklungserscheinungen und von den anato- mischen Eigenschaften sowohl die tektologischen als auch die promorpho- logischen Verhältnisse sind die notwendigen Folgen mechanisch wirkender Ursachen«1). Dies soll heißen: man studiere die mechanischen Ursachen der Formen, man male sie vor unseren Augen aus und als Bild wird der Organismus hervorleuchten. Dies zu tun hat aber Haekcel gänzlich unterlassen: niemals hat er einen Versuch gemacht, den Mechanismus auch nur annähernd anzudeuten, der, ich sage nicht den Menschen, son- dern nur eine Amöbe, nur eine »Monere« hervorbringen muß: mit dem Mikroskop, mit dem Skalpell, mit der Philosophie, die Haeckels for- schender Hand von seinen Lehrern, den idealistischen Morphologen, übergeben wurden, lassen sich keine mechanischen Ursachen entdecken! Doch dessen ungeachtet: bereits in der Fassung der obigen Aufgabe ist der Einfluß der idealistischen Morphologie zu sehen; Haeckel erwähnt zwar, daß man auch die Physiologie und Psychologie genetisch wird erklären müssen, in Wirklichkeit erklärt er aber nur die Morphologie und die Embryologie — weil eben diese Wissenschaften damals in voller Blüte standen. Und in seiner neuen, darwinistischen Morphologie sind zwei Tiere, zwei Pflanzen, nicht etwa darum blutsverwandt, weil die mechanischen Ursachen, durch die jene Formen entstanden sind, dieselben sind, nicht darum, weil die Be- dingungen der Umgebung ähnlich sind, sondern nur deshalb, weil ihre Struktur, sei es nun die entwickelte oder die embryonale, ähn- lich ist. Diese Ähnlichkeit wird nun keineswegs durch eine neue Methode erkannt, sondern durch die Methode Cuviers, Goethes, Geoffroys: durch Vergleichung. »Durch die denkende Vergleichung der individuellen und paläonto- logischen Entwicklung, sowie durch die vergleichende Anatomie der Organismen, durch die vergleichende Betrachtung ihrer entwickelten T) Gen. Morph., S. 364. XIX. E. H. Haeckel. 281 Formverhältnisse, gelangen wir zur Erkenntnis ihrer stufenweise verschie- denen Formverwandtschaft. Dadurch gewinnen wir aber zugleich einen Einblick in ihre wahre Blutsverwandtschaft, welche nach der Des- zendenztheorie der eigentliche Grund der Formverwandtschaft ist« T). So leitet Haeckel seine Vorlesungen über die Phvlogenie ein. Die- selbe Methode befolgten aber die idealistischen Morphologen, mit dem einzigen Unterschied, daß sie nicht von » Blutsverwandtschaft «. sondern nur von Verwandtschaft sprachen, und daß sie das Resultat ihrer Unter- suchung nicht > Stammbaum«, sondern »natürliches System« nannten. Die idealistische Morphologie führte die Begriffe der Homologie, Analogie, Arbeitsteilung, Formverwandtschaft, Differenziation, natür- liches System usw. ein; alle diese Begriffe werden von HAECKEL übernommen und zwar in derselben Bedeutung, die sie früher be- saßen. Haeckel behauptet zwar, daß die Verwandtschaft früher nur soviel wie Ähnlichkeit bedeutete, während sie jetzt bei ihm nach Darwins Beispiel den Sinn einer Blutsverwandtschaft haben soll; früher galten diejenigen Organe für homolog, welche einander ihrer inneren Struktur nach entsprachen, während die analogen ihrer Funktion nach ähnlich waren: jetzt dagegen seien homolog die von gemeinsamen Ahnen vererbten, analog die durch Anpassung er- worbenen; — doch wie erkennt man die Blutsverwandtschaft, die vererbten, die erworbenen Organe? Nicht anders, als man früher die Ähnlichkeit, Homologie, Analogie erkannte: nur und nur durch Vergleichung. Die mit genetischer Terminologie ausgerüstete Morphologie2) nennt Haeckel Phylogenie, d. h. Lehre von der historischen Entwicklung der Pflanzen- und Tierstämme (Stamm = csuäov). Er bekennt selbst aufrichtig, daß seine Phylogenie nichts anderes ist, als die alte Systematik: es gibt nur ein natürliches System, sagt er, und das ist der Stammbaum der Organismen, der uns die Blutsverwandtschaft der organischen Formen enthüllt; er fügt aber gleich hinzu, daß die Systematik keine besondere Wissenschaft sei, sondern nur ein >kon- zentrierter Extrakt« aus der Morphologie :'\ Haeckels Phylogenie folgt also praktisch folgenden Grundsätzen: Das Wesen des Organis- mus liegt in seiner Form ; durch Vergleichung der (sowohl entwickelten *) Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 364. Die Worte sind von Haeckei. unterstrichen. 2) Oder eigentlich Morphologie und Embryologie; die letztere soll weiter unten behandelt werden. 3) Gen. Morph., S. 37. 282 XIX- E- H- Haeckel. als auch embryonalen) Formen findet man, daß sie in einigen Eigen- schaften einander ähnlich sind; man verknüpfe diese Eigenschaften zu einem abstrakten Ganzen, zu einem Schema, und suche nun das Tier, welches die Eigenschaften jenes Schemas in ihrer elementarsten Form besitzt: dieses Tier ist der Urvater der Tiere, die man zur Vergleichung herangezogen hat, oder es steht wenigstens diesem Ur- vater sehr nahe. Z. B. findet man (angeblich) durch Vergleichung aller Tiere eine einzige Ähnlichkeit unter ihnen, d. i. ihre Zu- sammensetzung aus einer oder mehreren Zellen; die Amöbe und die Infusorien sind Tiere, welche aus einer einzigen Zelle bestehen; die Amöbe, welche keine spezifischen Organe hat, die aber den Infusorien eigen sind, steht dem Schema des allgemeinen Tieres, dem einer einfachen Zelle, am nächsten; folglich sah der Urvater der Tiere wie eine Amöbe aus. Auf diese Art setzte Haeckel seine viel besprochenen Stamm- bäume zusammen, Schemata einem Baum ähnlich, dessen Stamm am Boden die ältesten Vorfahren bedeuten soll, dessen Aste jüngere und jüngere Nachkommen vorstellen, bis an den Enden der Äste die Namen der angeblich jüngsten Tiere geschrieben stehen. Mit seinen Stammbäumen wollte Haeckel CüvieRs Typenlehre umstoßen; wirklich bot der Darwinismus eine andere Lehre, als die war, daß die Tiere nach vier Plänen gebaut sind; jetzt sollte man nicht mehr an einen Plan des tierischen Körpers glauben, sondern das Tier war von nun an eine historische Anhäufung von Einzel- heiten. Aber auch das Verwerfen der Typen blieb nur ein theoreti- sches Postulat; in der Praxis glaubten die Darwinisten an Typen wie Cuvier, wenn sie auch eine andere Anzahl derselben angaben. Haeckel bekennt dies aufrichtig selbst1). »Unsere Stämme oder Phylen fallen also wesentlich dem Begriffe nach zusammen mit jenen wenigen , großen Klassen' oder , Hauptklassen' . . . von denen er [Darwin] sowohl im Tierreich als im Pflanzenreich nur sehr wenige, in jedem Reiche etwa vier bis fünf annimmt. Im Tierreich würden diese Stämme im Wesentlichen mit jenen vier bis sieben Haupt- abteilungen zusammenfallen, welche die Zoologen seit Baer und Cuvier als , Hauptformen, Generalpläne, Zweige oder Kreise' des Tierreichs unter- scheiden«. Anfangs lehrte Haeckel (offenbar unter Darwins Einfluß), daß aus einer Monere die Wirbeltiere, aus einer anderen die Weichtiere usw. entstanden sind, d. h. daß verschiedene Tierstämme von ver- r) Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 370. XIX. E. H. Haeckel. 283 schiedencn Moneren stammen. Was ist aber diese Hypothese eines »polyphyletischen « Ursprungs der Tiere anderes, als daß man in einer anderen Form die Typen anerkennt, die da eine selbständige Entwicklung bis auf die Urzellen haben sollen? Später verwarf Haeckel, der Konsequenz wegen, die Annahme der polyphyletischen Entwicklung, und behauptet, daß die Entwicklung der Tierwelt mono- phyle tisch geschah, d. h. daß alle Tiere von einer und derselben Urzelle stammen1). Die Zusammenstellung der Stammbäume war ein Lieblingsthema HAECKELs; seine Bücher, »Natürliche Schöpfungsgeschichte«, »Anthro- pogenie«, »Systematische Phylogenie«, strotzen von ihnen, und auch in anderen Schriften HAECKELs finden sich diese Tafeln, in welchen Tier- und Pflanzengruppen entweder mittels verzweigter Linien ver- bunden sind, oder die Namen dieser Gruppen an den Zweigen eines buschigen Baumes hängen, durch den angedeutet werden soll, welche Richtungen die Entwicklung der Organismen einge- schlagen hat. Fast alle Biologen folgten dieser Methode, und es wurde in den siebziger, achtziger Jahren zum Gemeingut, die systematischen und anatomischen Untersuchungen mit einem Stammbaum zu beschließen, sei es nun, daß man ihn wirklich zeichnete oder nur durch Worte beschrieb. Von Einigen wurden die Stammbäume gleich anfangs verurteilt; Du Bois REYMOND sagte bereits 1876, daß sie etwa einen solchen Wert haben, wie die Stammbäume der Helden Homers in den Augen der historischen Kritik2); auch Huxley, dem sie anfangs gefielen, verwarf sie später. Heute werden die Stammbäume fast allgemein von den Biologen stillschweigend aufgegeben und Haeckel wird mit Spott überhäuft, als ob er der einzige gewesen wäre . . . Es wird Haeckel vorgeworfen, daß er einen Stammbaum des Menschen aufstellte ; dabei wird verschwiegen, daß ihn Darwin eben- falls zusammengestellt hat3); daß W. WUNDT einen Stammbaum der Sinnesfunktionen, C. Gegenbaur einen Stammbaum der Wirbeltier- extremitäten, Romanes einen Stammbaum der menschlichen Seele, H. SPENCER einen Stammbaum der sozialen Einrichtungen, A. SCHLEI- Einmal verteidigte HAECKEL eine zwischen der monophyletischen und der polyphyletischen vermittelnde Ansicht, nach welcher die einfacheren Formen poly- phyletischen, die vollkommeneren monophyletischen Ursprungs wären. Vgl. seinen Artikel Einstämmiger und vielstämmiger Ursprung. Kosmos 4, 187S — 79, S. 360 sq. E. du Bois Reymond, Darwin versus Gai.iani, 1876. ;: Am Schlüsse des I. Teiles seines Werkes über die Abstammung d. Menschen. 284 XIX. E. H. Haeckel. CHER einen Stammbaum der menschlichen Sprache veröffentlichten; — unnötig fortzufahren, Hunderte könnten zitiert werden. Man schlage ein beliebiges Lehrbuch der Anatomie, der Zoologie, der Systematik aus den achtziger Jahren nach; macht es nur einigermaßen Ansprüche auf Wissenschaftlichkeit, Haeckels Ideal, die Stammbäume werden dort für das letzte Ziel der Forschung erklärt. Biogenetisches Grundgesetz. Durch Baers Auftreten wurde aus der Biologie der dreißiger, vier- ziger Jahre die Lehre beseitigt, daß der Organismus im Verlaufe seiner Entwicklung vom Ei an die niederen Tierformen wiederholt. Baers Ansicht, die sich auf die Aristotelische Philosophie stützte, die Ent- wicklung sei eine fortschreitende Differenziation, ein Fortschritt vom Allgemeinen zum Speziellen, behielt recht. Dieser Gedanke ist untrennbar von einer idealistischen Auffassung des Lebens, denn er behauptet, daß z. B. im menschlichen Ei bereits der ganze Mensch als Möglichkeit, als Idee enthalten ist; daß durch die Entwicklung diese Idee immer bestimmtere Formen annimmt, bis sie endlich im entwickelten Individuum ihren definitiven Aus- druck findet. Als sich nun die Forscher zur mechanistischen und materialistischen Lebensauffassung bekannten, mußte das Verständnis für Baer schwinden; und da geschah etwas ganz Eigentümliches: niemand polemisierte gegen Baers Auffassung der Entwicklung, er wurde im Gegenteil immer noch gerühmt — aber als Entdecker der Theorie Meckels und Serres', eben jener Theorie, die er bekämpft hatte. Es war wohl eine gewisse Ähnlichkeit zwischen jenen beiden Theorien vorhanden: Baer lehrte, daß die Embryonen verschiedener Tiere einander ähnlich sind, indem sie denselben Entwicklungsplan befolgen; Meckel behauptete, daß der Embryo jedes höheren Tieres während seiner Entwicklung durch die (entwickelten) Formen der niederen Tiere hindurchgeht; der Unterschied zwischen beiden Theo- rien lag darin, daß Baer die Embryonen untereinander, Meckel Embryonen mit entwickelten Formen verglich. Vielleicht war Darwin selbst der erste, der die BAERsche Auf- fassung mit der MECKELschen verwechselt hat. Er führt nämlich in seiner Entstehung der Arten1) den BAERschen Satz, daß die Em- bryonen der Säugetiere, der Vögel und der Eidechsen und andere J) S. 364. XIX. E. H. Haeckel. 285 einander sehr ähnlich sehen, zum Beweise seiner Hypothese an, daß das Tier während seiner Entwicklung jene Formenreihe wiedergibt, durch welche es während seiner phylogenetischen Entwicklung hindurch- gegangen war. Diese Ansicht scheint zwar von der MECKELschen abzuweichen, indem diese an die systematisch niederen, jene an die phylogenetisch älteren Formen denkt; aber der Unterschied ist nur scheinbar, denn die Worte : systematisch niederes und phylo- genetisch älteres Tier sind da eben nur zwei Namen für einen und denselben Begriff. Darwin konnte bald den Erfolg seines Gedankens verzeichnen. J. LuBBOCK, ein literarisch gebildeter Handelsmann und Darwins Nachbar, unterzog sich der Aufgabe, von den Insekten zu beweisen, daß sie in ihrer Embryonalentwicklung die Stufen ihrer Phylogenie wiederholen. Er erkannte jedoch bald, daß sich dieser Gedanke an dem Beispiele der Schmetterlinge (welche er auf diese Art erklären wollte), keineswegs ausführen lasse, denn es spricht alles gegen die Annahme, daß die Raupe früher einmal ein erwachsener Organismus gewesen sein sollte. Mit größerem Erfolg, für einige Zeit wenigstens, wurde der Gedanke auf die Krustentiere angewendet. Wie die Schmetterlinge, so entwickelt sich auch die Mehrzahl der Krusten- tiere so, daß aus den Eiern Larven entstehen, welche ihre Form oft mehrere Male nacheinander verändern, bevor sie sich in das entwickelte Tier umwandeln. Der deutsche Arzt und Lehrer in Desterro in Brasilien, Fritz MÜLLER, studierte solche Krustazeenlarven und ins- besondere eine, die »Nauplius« heißt; er behauptete, daß diese Form unter den Entwicklungsstadien einiger Krustazeen fehlt, und daß bei einigen eine andere Larve , sog. Zoea, vorkommt. In seiner Schrift »Für Darwin« (1864) erklärte er, daß der Nauplius, die Zoea und andere Krustazeenlarven eigentlich sehr alte phylogenetische Stufen der Krustazeen seien, aus welchen man noch heute ersehen kann, wie ehemals die Vorfahren der heutigen Krustentiere aussahen; daß also das heutige Krustentier während seiner Embryonalentwicklung seine Phylogenese in abgekürzter Form wiederholt. Bei denjenigen Krustazeen, bei welchen die Naupliusstufe fehlt, soll die Entwicklung so abgekürzt worden sein, daß der Nauplius gänzlich unterdrückt wurde. Darwin sagte die originelle Art zu, mit welcher F. MÜLLER seine Theorie angewendet hatte, und er ließ seine Schrift ins Englische übersetzen. Noch viel mehr sah aber HAECKEL in der MüLLERschen Methode und bildete sie zu seinem biogenetischen Grundgesetze um. 286 XIX. E. H. Haeckcl. Bevor wir aber darüber berichten, sei das Schicksal der Nauplius- theorie weiter verfolgt. Sie hielt sich nicht lange, und der Nauplius hat für die Beurteilung der Krustazeenphylogenese heute keinen größeren Wert, als die Raupe für die Phylogenese der Schmetter- linge. Man wendete gegen die Naupliustheorie unter anderem Fol- gendes ein: Wäre der Nauplius tatsächlich eine alte Form, aus der die heutigen Krustazeen entstanden wären, so müßten die morpho- logisch einfachsten Krustazeen dem Nauplius am ähnlichsten sein, denn die morphologisch einfachsten Formen sind, der Theorie ge- mäß, auch die ältesten. Aber die einfachsten Krebse stimmen unter einander in vielen noch einfacheren Merkmalen überein, als es die des Nauplius sind (sie haben einen mehr segmentierten Körper usf.); es muß also der Nauplius nach dieser Theorie eine spätere Form sein, als die heutigen einfachsten Krebse. Noch bevor die Nauplius- theorie fallen gelassen wurde, versuchte A. DoHRN sie durch die Zoea- theorie zu vervollständigen, inde'm er annahm, daß der Nauplius der Urvater aller Krustazeen sei, während die Zoea die Stammform der höheren Krebse darstelle; aber auch die Zoeatheorie wurde bald als unrichtig erkannt. Haeckel erweiterte nun die Naupliustheorie zu einem allgemeinen Gesetze: ein jedes Tier soll während seiner Ontogenie (= Entwicklung vom Ei an bis zur definitiven Form) dieselben Stufen wiederholen, auf welchen es sich aus der Urzelle entwickelt hatte; die Embryonen und die Larven sollen wesentlich vererbte Reste aus einer Zeit dar- stellen, wo die Tiere noch nicht so weit fortgeschritten waren wie heute; nur auf das Wesentliche bezieht sich der Satz, denn wie die Embryonalentwicklung zeitlich, im Vergleich zur phylogeneti- schen, stark abgekürzt ist, indem sie binnen einiger Monate, ja einiger Tage die Formenreihe wiederholt, die sich Millionen von Jahren entwickelten, — so sind auch die ontogenetischen Formen stark vereinfacht; viele phylogenetische Zustände werden da weggelassen, andere mehr oder weniger verändert. So beginnt z. B. der Mensch seine Entwicklung mit dem Ei, welches eine Zelle darstellt; folglich (schließt HAECKEL) hat die phylogenetische Entwicklung des Menschen auch mit einer Zelle begonnen; oder, da das menschliche Embryo an den Seiten des hinteren Kopfteils Anlagen von Gebilden zeigt, welche den Fischkiemen ähnlich sind, lebte der Mensch gewiß einmal als ein Tier, das durch Kiemen atmete; dagegen kann man keines- wegs aus der Tatsache, daß der Embryo des Menschen mit dem Uterus durch die sog. Plazenta zusammenhängt, schließen, daß der XIX. E. II. Haeckel. 287 Mensch einmal auch als erwachsener Organismus eine Plazenta trug, sondern dieses Organ stellt nur eine Anpassung an das Leben des Em- bryo im Uterus dar. HAECKEL nennt die embryonalen Organe, welche eine phylogenetische Bedeutung haben, palingenetisch (ehemals entstanden) und diejenigen, welche als Anpassungen an das embryonale Leben betrachtet werden, zenogenetisch (neu entstandene Organe). Man verfolge die embryonale Entwicklung und sondere die palin- genetischen Eigenschaften von den zenogenetischen : jene sagen uns, durch welche Formen die historische Entwicklung hindurchgegangen ist, diese, wie sich Schritt für Schritt das Tier und das Embryo änderten; denn, sagt Haeckel, »die Ontogenie ist eine verkürzte und unvollständige Rekapitulation der Phylogenie«. Wenn es wahr ist, dann muß es wohl möglich sein, aus der Ontogenie die Geschichte jeder Form zu erraten; und es handelt sich nur darum , wie man die palingenetischen Merkmale von den zeno- genetischen unterscheidet. Haeckel gibt dafür folgende Regeln an: 1. Je früher ein Organ während der Embryonalentwicklung er- scheint, desto größer ist sein Alter. 2. Man vergleiche verschiedene Embryonen (und Larven unter- einander und mit erwachsenen Formen: je mannigfacher die Tiere sind, die in ihrer Jugend dasselbe Merkmal besitzen, desto wahr- scheinlicher ist die Annahme, daß dieses Merkmal eine Eigenschaft des diesen Tieren gemeinsamen Ahnen war. Solcher Art ist die Methode, welche HAECKEL erlaubt, die ältere Embryologie mit genetischer Terminologie auszurüsten. Es ist aus seinem biogenetischen Grundgesetze leicht einzusehen, daß nichts anderes entstehen konnte; denn, wie unterscheidet Haeckel die palingenetischen Merkmale von den zenogenetischen? Nicht anders als durch Vergleichung, als durch Methode, welche auch Baeu angewendet hat; nur sagte dieser statt palingenetisch homolog, statt zenogenetisch analog. Wäre es auch anders möglich? Wäre es möglich, aus der Embryologie, d. h. aus dem heutigen Geschehen, die Vergangenheit zu deuten? Wenn so etwas überhaupt möglich wäre, dann müßte z. B. auch der Versuch zulässig sein, aus dem Studium der modernen Philologie den Inhalt der verlorenen Hand- schriften des Altertums zu erraten. Wozu sollten Archive dienen, wenn man die Geschichte aus dem Studium der Jetztzeit konstruieren könnte? Durch die ungestüme Art, in welcher HAECKEL die Ge- wißheit seiner Theorie behauptete, irregeführt, bemerkte man die hand- 2Ü8 XIX. E. H. Haeckel. greifliche Unmöglickeit der HAECKELschen Schlußweise nicht und machte sich daran, durch Tatsachen die Richtigkeit bzw. Unrichtig- keit des biogenetischen Gesetzes zu beweisen, ihn auf andere Gebiete anzuwenden und durch ihn den Darwinismus zu stützen1]. Gastraeatheorie. Im Jahre 1849, zehn Jahre vor dem Erscheinen der »Entstehung der Arten«, gab HUXLEY eine Studie über die Medusen heraus, in der er darauf hinwies, daß der Medusenkörper aus zwei Schichten (Blättern) besteht, ebenso wie der Wirbeltierembryo in der ersten Zeit seiner Entwicklung; beiderlei Blätterpaare sollen zu einander »in derselben physiologischen Beziehung« stehen, denn bei den Medusen bildet das äußere Blatt die Epidermis und die Muskulatur, das innere das Verdauungsrohr und die Geschlechtsorgane, und ähnliche Organe ent- stehen, nach Baers Lehre, aus beiden Keimblättern der Wirbeltiere. Als Huxleys Schrift erschien, waren auch schon andere Formen mit zweischichtigem Körperbau bekannt: sog. »Planulen«, Meereslarven, einem doppelschichtigen Bläschen ähnlich, aus welchem sich die Coelenterata, Echinodermata, Würmer und Weichtiere entwickeln. Diese Entdeckungen bildeten den Ausgangspunkt der HAECKELschen Gastraeatheorie; Haeckel verallgemeinerte den Gedanken der zwei- schichtigen Embryonen und behauptete, daß alle vielzelligen Tiere während ihrer Embryonalentwicklung das Stadium des zweischichtigen Bläschens durchlaufen, welches man sich etwa in der Form eines Gummiballs vorzustellen habe, dessen eine Seite eingedrückt würde. Er folgerte daraus, daß diese Form von einem, allen vielzelligen Tieren gemeinsamen Ahnen abstammt, und nannte die hypothetische Urform »Gastraea«2) und den zweischichtigen Embryo »Gastrula«. Alle vielzelligen Tiere stammen also von der Gastraea ab. Ihre Nachkommen entwickelten sich weiter in zwei Richtungen; die einen fingen mit »Protascus« an, der die Wurzel der Coelenterata darstellt, die anderen mit »Prothelmis«, aus dem sich die Würmer und die übrigen Tiere entwickelten. Protascus soll frei im Wasser ge- schwommen haben, und deshalb behielt er und seine Nachkommen, *) Eine historische Übersicht und Kritik des biogen. Gesetzes vgl. in T. H. Morgan, Evolution and Adaptation, New York 1903, S. 60 sq. und C. H. Hurst, Biological Theories III. The Recapitulation Theory Nat. Sc. 2, 1893. 2) Die Gastraeatheorie, die phylogenetische Klassifikation des Tierreichs usw. Jena. Zeitschr. 8, 1874. XIX. E. H. Haeckel. 289 die Coelenterata, die strahlenförmig-symmetrische Gastrulaform; Pro- thelmis dagegen kroch am Meeresboden, und darum sind aus ihm bilateralsymmetrische Tiere entstanden. Gemäß der weiteren Ent- wicklung dieser zwei Formen, des Protascus und des Prothelmis, kann man mit Haeckel die folgende phylogenetische Reihe aufstellen. 1. Protozoa, einzellige Tiere, welche außerhalb der Gastraea- theorie stehen. 2. Metazoa (vielzellige): a) Coelenteria, deren Körper aus zwei Schichten besteht; es sind dies erstens niedere Formen, welche nur zwei Blätter haben (Gastraeadae, einfache Schwämme, Hydroidpolypen und einfache Me- dusen) und zweitens höhere Formen, die zwischen beiden Blättern sog. Mesodermzellen enthalten, welche aber keine zusammenhängende Schichten bilden (Korallen, höhere Medusen, Rippenquallen, Platt- würmer). b) Coelomaria, welche zwischen dem äußeren und dem inneren Blatte noch zwei Säckchen, von zwei mittleren Schichten gebildet und Coelomsäcke genannt, besitzen; zu ihnen gehören die übrigen Formen. Noch in demselben Jahre, als Haeckel seine Gastraeatheorie ver- öffentlichte, wurde sie scharf vom Wiener Zoologen C. Claus an- gegriffen r) ; es ist zwar richtig (weist dieser nach) , daß fast alle Tierformen während ihrer Entwicklung durch die Gastrulaform hin- durchgehen, aber unmöglich kann diese für eine vom gemeinsamen Ahnen vererbte Form gehalten werden, denn sie entsteht nicht bei allen Tieren auf dieselbe Weise2); zweitens lassen sich Protascus und Prothelmis keineswegs paläontologisch begründen, denn die ältesten bekannten Korallen sind nicht radiär (wie es nach Haeckels Theorie sein sollte), sondern bilateral symmetrisch. Besonders der erste Ein- wand wurde seitdem oft gegen Haeckel ins Feld geführt, trotzdem aber blühte die Theorie weiter und beherrschte alles Denken der Embryologen. Man fertigte die Einwände mit der Bemerkung ab, x) C. Claus, Die Typenlehre und E. Haeckels sog. Gastraeatheorie, Wien 1874. Fast zu derselben Zeit wurde die Gastraeatheorie auch von C. Semper, Al. Agassiz, iL. Mktschnikov verworfen; gegen die theoretische Grundlage derselben, gegen das biogenetische Grundgesetz waren die Kritiken W. His' und Al. Goettes gerichtet. Auch sie vermochten aber nicht die Annahme der Gastraeatheorie zu verhindern. 2) Die doppelte Wand der Gastrula entsteht nämlich entweder durch Invagination des kugelförmigen, einschichtigen Bläschens, oder durch Delamination, bei der sich die einfache Bläschenwand durch Spaltung verdoppelt, oder durch sog. Umwachsung. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. jg 2go XIX- E- H- Haeckel. daß die Abweichungen von der typischen Gastrula durch Anpassung an neue Lebensbedingungen entstanden seien. Wie zu sehen, entspricht die allgemeine Überzeugung, der Sinn der wissenschaftlichen Tätigkeit bestehe in der Anhäufung von Tatsachen, durch welche eine Theorie begründet, verbessert oder als unrichtig erkannt wird, wenig der Wirklichkeit. Es ist nicht wahr, daß zur Zeit, als die Gastraeatheorie aufgeworfen und mit Jubel aufgenommen wurde, die gegen sie sprechenden Tatsachen noch nicht bekannt waren, daß in dem Maße, als sie sich allmählich häuften, die Wahr- scheinlichkeit der Theorie abnahm, bis sie an einem Tage, als man die letzte ihr widerstrebende Tatsache entdeckte, aus der Wissenschaft ausgeschieden wurde; denn gleich, als die Theorie erschien, wurde wesentlich alles gegen sie vorgebracht, was zum Beweise ihrer Un- richtigkeit nötig war; trotzdem verbreitete sie sich; es gibt heute viele, die sie für unannehmbar halten: trotzdem hat sie noch ihre Bekenner; sie verfällt heute nicht, weil ihr Tatsachen entgegenwirken, sondern weil ein Interesse an den Regenerationserscheinungen er- wacht ist, welches die Geister sozusagen anders gestimmt hat. Die Regenerationserscheinungen lassen sich wohl kaum mit der Gastraeatheorie versöhnen; einige Forscher versuchten zwar nach- zuweisen, daß, wenn ein Organismus die verlorenen Glieder regeneriert, er dies in derselben Weise tut, wie wenn er sich aus dem Ei ent- wickelt; oft aber geht die Regeneration einen anderen Weg, als die Embryonalentwicklung, und erreicht doch dasselbe Ziel. Wenn es aber möglich ist, künstlich den Organismus zu einer Verletzung, Nichtbeachtung des ontogenetischen Grundgesetzes zu bringen, kann dasselbe unmöglich so fest dem Körper eingewurzelt sein, wie es Haeckel angenommen hat1). Moneren. Als im Jahre 1861 und in den folgenden Jahren der deutsche Zoologe Max Schultze in die unendlichen Streitigkeiten über die Bedeutung der Zellentheorie seine Definition der Zelle als eines Klümpchens Protoplasma mit Kern dazwischenwarf, konnte es schei- nen, daß nun die Forscher es sich zur Aufgabe machen werden, ') Eine Kritik der Gastraeatheorie findet sich bei T. H. Morgan, Regeneration New York 1901, S. 207 sq. Eine populäre und Haeckel günstige Erklärung des biog. Gesetzes schrieb H. Schmidt, Haeckels biog. Grundgesetz und seine Gegner, Odenkirchen 1902. XIX. E. II. Haeckel. 291 zu ergründen, warum der Körper aus Zellen zusammengesetzt sein muß, warum jede Zelle einen Kern enthalten muß, warum sich die Zelle nicht anders als durch Teilung vermehren kann usf. Die Entwicklungstheorien aber gaben den Zellenstudien eine andere Richtung: der Anhänger Darwins hält nämlich, wie wir wissen, die Fragen nach dem Wesen der Dinge (wie die eben gestellten sind, und wie sie z. B. in der Physik untersucht werden) für Metaphysik, und betrachtet es als die einzige Aufgabe seiner Wissenschaft , die Tatsachen in Entwicklungsreihen zusammenzustellen und die etwa vorhandenen Lücken durch erdachte Tatsachen zu interpolieren. HAECKEL wendete seine Entwicklungstheorie auch auf die Zellen an. Die Zellen mit Protoplasma und Kern hielt er für bereits zu weit fortgeschrittene organische Gebilde und versuchte ihnen einfachere Strukturen vorzustellen. Er unterschied also nebst den Zellen »Zyto- den«, welche aus »Plasson« bestehen, d.h. aus einer Substanz, in der das Protoplasma und der Kern noch nicht differenziert sind, und »Syncytia«, vielkernige [Protoplasmamassen. Die Wesen, deren Körper aus Zytoden besteht, nannte Haeckel Moneren (aovr(prjc = einfach) und behauptete1), daß sie sehr häufig sind und den ersten Schritt der leblosen Materie ins Leben darstellen, indem sie aus leb- losen Substanzen herauskristallisierten. Er teilt sie in grüne »Phyto- moneren« (Algen aus der Gruppe der Cyanophyceae und die grünen Chlorophyllkörnchen der Pflanzen, welche einmal selbständig gelebt haben sollen) und in tierische Moneren, »Zoomoneren« (Bakterien und kernlose Zellen, wie z. B. Protamoeba) ein. Die Moneren und die einfachsten Protozoen bilden nach Haeckel ein Übergangsreich zwischen Pflanzen und Tieren (Protista). Es hatte den Anschein, als sollte sich die Lehre von den Moneren auf eine eigentümliche Art bestätigen. Als man das Kabel über den Atlantischen Ozean legte, stieß man auf dem Meeresboden auf einen gallertartigen Schlamm, der nach HuXLEYs Untersuchung aus kleinen Partikelchen einer durchsichtigen Gallerte und kleinen Kalkkügelchen bestand; Huxley hielt die Gallerte für das Protoplasma eines Orga- nismus , dem er den Namen Bathybius (= in den Tiefen lebend) Haeckelii gab und den er unter die Moneren versetzte. Auf der wissen- schaftlichen Reise des Schiffes Challenger (1879) stellte es sich aber heraus, daß der vermeintliche Bathybius eine anorganische Gallerte ist. Huxley beeilte sich, seiner Entdeckung zu entsagen. Haeckel ver- *) Monographie der Moneren, 186S. Studien über Moneren und andere Protisten. Leipzig 1870. 19* 292 XIX. E. H. Haeckel. teidigte sie noch einige Zeit, indem er auf einen ähnlichen Fund in der Nähe von Grönland hinwies1). Heute bildet der Bathybius nur eine Episode in der Geschichte des Darwinismus. Ahnliches Schicksal ereilte einen anderen hypothetischen Urvater der Tiere, das sog. »Eozoon«. Die ältesten Gneise von Kanada enthalten nämlich einen Marmor, in dem stellenweise Körnchen, Fasern, Bänder aus Serpentin und anderen Silikaten eingestreut sind. Die Serpentinlamellen pflegen gewellt zu sein, als ob sie Zellen bildeten, und die Lücken des Marmors sind in ihrer Umgebung ebenfalls mit Serpentin durchsetzt. Einige Forscher glaubten in diesen Gebilden Reste eines sehr einfachen Organismus, des ersten Organis- mus überhaupt erblicken zu müssen (der Name Eozoon bedeutet soviel wie »zur Zeit der Morgenröte der Erde lebend«), dessen Schale der Marmor, dessen Körperabguß der Serpentin darstellen soll. Andere, besonders MöBlUS, behaupteten aber, daß das Eozon anor- ganischen Ursprungs sei, und heute scheint niemand mehr an seine organische Natur zu glauben2). Auch sonst nahm der Glaube an die Moneren ab. HAECKEL stellte die Theorie zu einer Zeit auf, als man dem Zellenkern keine größere Bedeutung zuschrieb, als daß es ein dichteres und feineres Protoplasma darstellt; als aber in den achtziger und neun- ziger Jahren die Histologen die feinen Strukturen im Kern und dessen eigenartige Lebenserscheinungen hervorzuheben, und das Protoplasma mehr und mehr als eine undifferenzierte Hülle des Zellen- kernes aufzufassen begannen, sanken die Moneren zu einem Ana- chronismus herab, der nur aus Beharrlichkeit in den Lehrbüchern weiter mitgeschleppt wurde. Auch der Begriff des Übergangsreiches, der Protisten, konnte sich auf die Dauer nicht halten und folgte dem Schicksale der älteren Hypothesen dieser Art: im 18. Jahrhundert glaubte man allgemein, daß es Wesen gibt, welche halb Pflanzen, halb Tiere sind, und man nannte sie Zoophyte (Pflanzentiere); den Gedanken, daß solche Wesen ein besonderes Übergangsreich bilden, verteidigte Lamarcks Schüler Bory DE St. Vincent, der dieses Reich regne psychodiaire nannte. x) Über den Bathybius vgl. Life of Huxley, I, S. 295 und Coli. Essays of Huxley, 5, S. 154. 2) Möbius, Der Bau des Eozoon canadense nach eigenen Untersuchungen ver- glichen mit dem Bau der Foraminifera. Palaeontographica 187S. Eozoon findet sich keineswegs nur in dem Gneis von Kanada; man fand es auch in Schweden, Irland, in den Pyrenäen, in den Alpen, im Böhmerwald u. a. a. O. Die Geschichte des Streites um das Eozoon vgl. im Kosmos 6, 1878 — 80, S. 174 sq. XIX. E. H. Haeckel. Schluß. 293 Haeckel stellte noch viele andere Theorien auf: über Urzeugung, über Entstehung der Sprachen und des Menschen usw.; sie wer- den in anderen Kapiteln erörtert werden ; jetzt nur noch einige Worte über seinen > Monismus«, durch den Haeckel die kirchliche Lehre bekämpft, obwohl er gegen sie nichts anderes vorzulegen vermag, als was seiner Zeit D. Strausz vorgebracht hat, den er mit Vorliebe zitiert1). Es soll keinen Dualismus von Gott und Welt, Seele und Körper, lebender und lebloser Materie geben, es gibt nur die aus beseelten Atomen zusammenesetzte Materie; es gibt keine individuelle Unsterblichkeit, nur die Materie und die Kraft bleiben bestehen ; es gibt keinen Gott , sondern nur eine Mechanik der Atome; es gibt keine Seele, es gibt nur physiologische Nervenvor- gänge — durch solche und ähnliche abgenutzte Schlagwörter stürmt Haeckel gegen die Kirche an und erweckt Enthusiasmus bei seinen Lesern. Der Gott der Christen soll nur eine Personifikation der menschlichen Eigenschaften, ein »gasförmiges Wirbeltier«2; sein; be- sonders aber haßt Haeckel das Papsttum, »diese für die menschliche Vernunft beschämendste Tatsache des neunzehnten Jahrhunderts«, und ist voll freudiger Hoffnung, daß die Entwicklungstheorie und ihre Konsequenz, der Monismus, den alten Aberglauben durch Wissen- schaft ersetzen wird. Denn der Monismus lehrt, daß die Welt all- mählich aus einem Urstoff entstand (Kant und Laplace), daß sich die heutigen Atome aus einem Uratom entwickelt haben, daß das Leben mechanisch aus dem Nichtleben entstand, daß bereits die Atome, geschweige denn die Tiere, beseelt sind; daß der Mensch nur das vollkommenste Tier ist, welches nur deshalb so sehr die übrigen Tiere überragt, weil sich glücklicherweise im Menschen mehrere hervorragende Eigenschaften vereinigen, welche sonst nur getrennt vorkommen (d. i. der Kehlkopf, das Gehirn, die Extremitäten, der aufrechte Gang)3); daß schon die Tiere, die Pferde, die Ele- fanten Spuren von Urteilskraft, Religion, Sittlichkeit zeigen. Rück- sichtslosigkeit gegen die Kirche hat wohl am stärksten Haeckels J) Vgl. Der Monismus, S. 23. In der Schrift >Die Welträtsel« stützte Haeckel seine Ansichten auf einen gewissen Saladin. Der Kirchenhistoriker Loofs zeigte, wie obskur diese Autorität war, deckte auch viele Irrtümer derselben auf, wodurch Haeckels Angriffe begreiflicherweise sehr abgeschwächt wurden. Vgl. F. Loofs, Anti-HAECKEL, 1906. 2) Der Monismus, S. 33. 3 Gen. Morph., S. 430. Der Monismus, S. 3S. 294 XIX. E. H. Haeckel. Popularität gefördert, und ist auch Ursache der Angriffe, die gegen Haeckel gerichtet wurden. Seine Polemik gegen die Kirche ist übrigens unmodern und gehört ihrem Wesen nach der Zeit an, in der BÜCHNER und Strausz en vogue waren. Deshalb sind an- derseits auch die Angriffe auf Haeckel, welche aus religiösen Rück- sichten geschehen, veraltet; wer sich um religiöse Fragen interessiert, wird gewiß, sowohl für seinen positiven als auch für seinen negativen Standpunkt, originellere Denker finden, als Haeckel. Haeckel schrieb auch die erste Geschichte des Darwinismus und wie alle seine Versuche fand auch dieser viele Nachahmer. Ein Autor, der die große Bedeutung des Aristoteles bewerten wollte, bemerkte, daß demselben nur Vorläufer vorangehen und nur Nach- ahmer folgen. Mit ebensolcher Hochachtung blickte HAECKEL zu seinem Lehrer Darwin auf und verursachte dadurch, daß die biolo- gische Geschichtschreibung sich als einziges Ziel das Aufsuchen von Darwins Vorläufern steckte. Haeckels Einfluß auf die Zeitgenossen war ungeheuer. Weder Darwin noch Hüxley hätten dem Darwinismus jene Weltmacht ver- schafft, die er tatsächlich erlangte ; denn Darwin fehlte es an Kampf- lust, Huxley an dogmatischem Geist, der für die Wirkung auf die Massen nötig ist ; beide Eigenschaften besaß aber Haeckel in hohem Grade. Es war wohl nötig, zuerst die Macht der Fachleute zu brechen, welche, einer konservativen Genossenschaft ähnlich, sich für die beati possidentes aller Wahrheit halten und für fremde Wahrheiten keinen Sinn haben : erst als er mit Hilfe seiner populären Tätigkeit das Volk für sich gewann, wurde er (unter vielen Protesten zwar) als Anführer der Bioiocren anerkannt. Auf die fachwissenschaftlichen Kreise wirkte er einmal durch die Entschiedenheit, mit welcher er auftrat, noch mehr aber dadurch, daß er von den Fachleuten nicht verlangte, sie sollten grundsätzlich ihre Anschauungen ändern : ein Morphologe blieb auch unter seiner Herrschaft Morphologe, ein Embryologe blieb Em- bryologe, der Systematiker konnte weiter sein System ausspinnen: keine dieser Wissenschaften wurde von der neuen Philosophie ver- worfen, der Wert keiner von ihnen wurde verschoben; die einzige Forderung Haeckels lautete, den Vornamen »Entwicklungs-« anzu- nehmen. Der radikale Standpunkt in betreff der Religion wurde all- gemein durch verschiedentliche Kompromisse erledigt. Fast vierzig Jahre war Haeckel das Haupt der biologischen Wissenschaft, ihr anerkannter oder nicht anerkannter Führer, immer zum Kampfe für seine Überzeugung bereit, die er zur Überzeugung XIX. E. H. Haeckel. 295 seiner Zeit gemacht hat. Es ist kaum möglich alle aufzuzählen, die sich in den Zeiten seines Ruhmes vor seinen Triumphwagen spannten. Es glaubten an ihn Philosophen: Alb. Lange1), Gust. Tu. Rech- ner2), Ed. V. Hartmann3), es glaubten Soziologen, Ethiker und Sprachforscher, es glaubten besonders die Biologen: seit den sieb- ziger Jahren kennt die Morphologie keine anderen Fragen, als die ihr Haeckel gestellt hat, und die Embryologie stand ganz im Ranne seines biogenetischen Grundgesetzes. Ch. Darwin, T. H. Huxley, C. Gegenbaur, Ray Lankaster, F. M. Balfour, R. Wiedersheim, A. FoREL usw. usw. waren seine treuen Anhänger. Noch heute geben HAECKELs Schüler den Ton in der deutschen Wissenschaft an: O. Hertyvig, Professor in Berlin4), W. Roux, der Begründer der Entwicklungsmechanik, der selbst bekennt, daß seine Theorien aus den HAECKELschen entwickelt sind (man merkt es ihnen an, daß sie eine exaktere Bearbeitung derselben bieten)5). Max Verwokn, der Jenaer Physiologe, erzielte noch vor wenigen Jahren einen großen Erfolg mit einer Anwendung HAECKELscher Ansichten auf die Phy- siologie. Heute aber, nach vierzig Jahren, dürfte der Einfluß Haeckels bedeutend schwächer sein; er wird sogar verspottet, wird aus dem Bereiche der Wissenschaft gewiesen; und was noch mehr gilt, heute wird schon diesen Angriffen Gehör und Glauben geschenkt. Wie oft wird nun Haeckel getadelt, und Darwins Vorsicht ihm gegen- über hervorgehoben; wer gedenkt dabei des Umstandes, daß Dar- win ohne Vorbehalt Haeckels Anschauungen unterschrieb, ja noch mehr tat, als er von Haeckels Hauptwerke, der Natürlichen Schöp- fungsgeschichte sagte: »Wäre dieses Buch erschienen, bevor ich mein Werk schrieb [Über die Abstammung des Menschen], hätte ich es vielleicht niemals zu Ende geführt. Fast alle Konsequenzen, zu denen ich gekommen bin, hat dieser Schriftsteller, wie ich sehe, bestätigt, dessen Kenntnisse in mehrerer Hin- sicht reicher sind als die meinigen«6). Wer erinnert sich noch, wenn man die Nüchternheit Darwins J) A. Lange, Geschichte des Materialismus (Reclam), II, S. 299 u. a. a. O. ") G. Fechnkk. Einige Ideen zur Schöpfungsgeschichte usw., Leipzig 1873, Vor- wort. 3) Ed. v. Hartmann, Das Unbewußte vom Standpunkte der Physiologie und Des- zendenztheorie, 2. Aufl., Berlin 1877, S. 23. 4) O. Hertwig, Allgemeine Biologie, Jena 1906, S. 592 sq. u. a. a. O 5) W. Roux, Der Kampf der Teile im Organismus, Leipzig 1881. 6) Ch. Darwin, Orig. of Man, Vorwort. 296 XIX. E. H. Haeckel. Haeckel gegenüber rühmt, wie Darwin die Menstruation erklärte, sie rühre nämlich aus der Zeit her, als die Vorfahren des Menschen, die noch im Meere lebten, der Meeresbrandung preisgegeben waren, die von Ebbe und Flut, also von dem Monde abhängig ist? Und veröffentlichte Darwin nicht ebenfalls einen Stammbaum des Men- schen wie Haeckel? Man verurteilt Haeckel, daß er über Re- ligion und Philosophie schreibe, ohne sie fachmännisch studiert zu haben — was verstand Darwin von der Schulphilosophie? Es ist aber lehrreich, die Vorwürfe, die gegen Haeckel ins Feld geführt werden, zu untersuchen und durch sie seine Stellung in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts zu beleuchten. Es war dies eine Zeit, welche nur wissenschaftliche Exaktheit, nur verbürgte, objek- tive, unpersönliche Wahrheiten zu schätzen wußte. Nun aber hatte diese exakte Zeit einen Mann zum Anführer, dem gleich am Anfange seiner wissenschaftlichen Laufbahn bewiesen wurde, daß er wissent- lich seine Leser täuschte, daß er Bilder von Objekten zeichnete, die er nicht sah, und Bilder von anderen Objekten, unrichtig wiedergegeben hat, um sie als Stütze für seine Anschauungen benutzen zu können1). Jene objektive Zeit folgte einem Manne, dem man niemals vorzu- werfen aufgehört hat, daß er seine subjektiven Anschauungen dem Leser als wissenschaftliche Tatsachen hinstelle ; jene Zeit hat an diese Anschauungen geglaubt. Man ist heute vielfach entrüstet, daß sich Haeckel erlaubte, einem Affenembryo den menschlichen Kopf auf- zusetzen und ihn der Welt als Menschenembryo vorzulegen; sollten aber die Theorien Haeckels nicht auf eben dieselbe Art, durch Zustutzen und Schematisieren wirklicher Gedanken, entstanden sein? Zu einer solchen Vergewaltigung der Tatsachen muß es kommen, wo das Ziel, andere zu überzeugen, dasjenige, in seinem Inneren die Wahrheit selbst zu erringen, überwuchert2). *) Diese Beschuldigungen wurden zuerst von Rütimeyer, dann von W. His er- hoben, neuerdings von A. Brasz (Das Affenproblem, Leipzig 1908), auf grund neuer Belege wiederholt. 2) Die polemische Literatur gegen Haeckel ist sehr groß. Vgl. u. a. A. Bastian, Schöpfung oder Entstehung, Jena 1S75. — C. Claus, Die Typenlehre und E. Haeckels sog. Gastraeatheorie, Wien 1874. — C. Semper, Der Haeckelismus in der Zoologie, Hamburg 1876. — Ders., Offener Brief an Herrn Prof. E. Haeckel in Jena, Ham- burg 1877. — O. Hamann, Entwicklungslehre und Darwinismus, Jena 1892. — Ders., Prof. E. Haeckel in Jena und seine Kampfesweise, Göttingen 1893. — V. Hensen, Die Planktonexpedition und Haeckels Darwinismus, Kiel 1891. — F. Loofs, Anti- Haeckel, Halle 1900. Biographien Haeckels: W. Breitenbach, Ernst Haeckel, Ein Bild seines Lebens und seiner Arbeit, Odenkirchen 1904 (gut). — A. Dodel, E. Haeckel als XX. Spontane Generation. 297 XX. Spontane Generation. Der Philosoph des Mittelalters liebte es, der Unendlichkeit Gottes die menschliche Nichtigkeit entgegenzustellen. »Fleisch sind wir und Wind, der dahinfährt und nimmer wiederkehrt«, sagt der hl. AUGUSTIN. Desgleichen führt uns die Wissenschaft der Neuzeit vor Augen, daß wir nur ein Staubkörnchen, ein Augenblick, ein Nichts im uferlosen Weltall sind. Doch liegt jene mittelalterliche Weltanschauung fernab von der unsrigen: damals war der Mensch ein Nichts im Angesichte der Idee, des überweltlichen Gottes, wogegen er in der Welt der Dinge, die er um sich sah, noch immer die Krone der Schöpfung darstellte, den Herrn der Erde, der Pflanzen und der Tiere, die alle nur seinetwegen da waren; für unsere nach konkreter Erfassung der Dinge strebende Zeit verlor dagegen die abstrakte Vorstellung einer Unendlichkeit Gottes den überwältigenden Eindruck, und wir ereifern uns bei der Aufzählung der Millionen von Jahren, nach denen wir das Alter der Erde einschätzen, der Billionen Meilen, mit denen wir das All messen: wir sehen die Unendlichkeit der Welt und in dieser fühlen wir unsere Nichtigkeit. Die ganze Wissenschaft der Neuzeit mündet in den Beweis unserer Schwäche im Weltall: KOPERNIKUS beraubte unsere Erde der Weltherrschaft und machte sie zum bloßen Anhängsel der weit größeren Sonne; und in der Folgezeit sank sie noch tiefer herab zum bloßen Staubkörnchen unter den Gestirnen, von dem man jenseits des Sonnensystems kaum Notiz nimmt; die Geologie findet, daß der Mensch nur eine flüchtige Episode im äonen- langen Leben der Erde darstellt: mit jeder neuen Entdeckung weitet sich die Grenze des entdeckbaren Alls und verringert sich die Be- deutung dessen, was wir Mensch und Leben nennen. Es gibt un- übersehbare Massen von Dingen und Erscheinungen, die ganz außer- halb jeder Lebensentfaltung liegen: nur die dünne Erdrinde ist belebt und ihr ungeheueres Innere bleibt für uns und für das Leben schlecht- hin unzugänglich. Nur kühne Phantasie wagt es zu träumen, daß einige von den Planeten belebt sind; und bestimmt gibt es kein Leben in der Glut des Sonnenkörpers und der Fixsterne. Äußerst Erzieher, Gera (ohne Jahresangabe, populär). — W. May, Goethe, Humboldt, Dar- win, Haeckf.l, Berlin 1904 (Parallelen; gut. — \Y. BöLSCHE, E. Haeckel, Berlin 1894. — Sonstige Literatur ist im Bericht über die Feier des 60. Geburtstages von E. Haeckel, Jena 1894, angegeben; eine kurze Autobiographie und Verzeichnis der Schriften Haeckels ebendaselbst. 2qS XX. Spontane Generation. eng sind dem Leben physikalische und chemische Grenzen gezogen und der geringste Zufall kann es vernichten. Betrachtungen über die Nichtigkeit des Lebens in der Natur legen den Gedanken nahe, daß es nur eine zufällige Erscheinung ist, ein Haufen vom Winde zusammengewehten Laubes; daß es eventuell an Orten entsteht, wo es früher keines gab. Der Glaube an die so- genannte spontane Generation, an die Entstehung von Lebewesen aus unbelebtem Stoffe ist so alt, wie das Nachsinnen über die Natur: die Mythologien über Entstehung der Menschen aus Gestein, der Götter aus Meeresschaum, die aristotelische Lehre, daß Frösche aus dem Schlamme geboren werden, bestätigen es; die mittelalterlichen Retortenmänner wollten sogar den Menschen aus Mixturen in der Phiole schaffen; auch die Lehre von Versteinerungen (sie seien un- gelungene Versuche der Natur, Leben hervorzubringen) entsprang dem Glauben an spontane Generation. Solche Gedanken waren nur der Ausdruck der Überzeugung, daß das Leben alles durchdringe, auch den Schlamm, das Gestein, die Flüssigkeit in der Retorte; und daß man nur besondere Mittel anzuwenden habe, damit es erwache. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts glaubten sehr viele an die spon- tane Generation in diesem vitalistischen Sinne. JOH. MÜLLER erwähnt in seiner Physiologie viele Autoren seiner Zeit1), die an die spontane Generation glaubten, und führt auch verschiedene Beweisgründe an; ja er ist selbst seiner Sache nicht ganz sicher, wenn er die spontane Generation verwirft: besonders hat er Bedenken in betreff des Vor- ganges, wie der erste lebendige Stoff auf Erden anders als durch spontane Generation entstanden sein sollte. In der Literatur jener Zeit ist besonders oft von der sogenannten PRiESTLEYschen Materie die Rede, womit mikroskopische Algen, die sich im Wasser als grüne Wandüberzüge vorfinden, gemeint sind; von dieser Materie glaubten einige, daß sie »aus Wasser« entstehe, und daß sich aus ihr höhere Algen und Tiere entwickeln. So »sah« ein Schriftsteller noch im Jahre 182 1, wie aus den Algen Muschelkrebse und Wasserflöhe (Cypris und Daphnia), und aus deren toten Körpern wieder Algen, und aus diesen wieder Tiere entstehen2). Auch Purkinje glaubte an die spontane Generation und wähnte sie bei den Pilzen 3) und anderswo gefunden zu haben. ') Joh. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Koblenz 1837, I, S. 18. 2) Wiegmann, Über Entstehung von Entomostraken und Podurellen aus der PRiESTLEYschen grünen Materie usw. Verh. Leop. Car. Ak., 182 1, II. 3) J. Purkinje, Ber. d. Schles. Ges. f. vaterl. Kultur, 1831. S. 92. XX. Spontane Generation. 2QQ Nicht alle Forscher glaubten damals an die Entstehung des Lebens aus unbelebter Materie, aber auch die Zweifler stützten sich nur auf Allgemeinheiten: EHRENBERG stand an der Spitze der Ungläubigen; mit einem schlechten Mikroskop beobachtete er das Leben in einem Tropfen Wasser1) und fand, daß die Rädertiere (Rotatoria, eine Gruppe von mikroskopisch kleinen Würmern) Eingeweide haben; da er sie nicht von Infusorien unterschied, und bei diesen auch eine innere Organisation (nämlich den Kern und die Vakuolen) undeutlich sah, behauptete er, daß auch die Infusorien einen Magen, Geschlechts- organe u. a. haben, und schloß daraus, selbst die niedrigsten Wesen seien so kompliziert gebaut, daß sie sich unmöglich aus unbelebtem Stoffe herauskristallisiert haben können. Zu jener Zeit war der Vor- gang der Fortpflanzung bei vielen niederen Wesen noch unbekannt, wodurch der Glaube an eine spontane Generation unterstützt wurde; dagegen sah Ehrenberg, wie sich die Infusorien durch Teilung fort- pflanzen und das bestärkte ihn in seinem Mißtrauen. Die Frage wurde auch später vielfach ergebnislos erörtert, bis bestimmte Behauptungen des französischen Fachmanns POUCHET die französische Akademie bewogen, für das Jahr 1862 einen Preis für eine neue experimentelle Lösung auszuschreiben; POUCHET behauptete nämlich in zahlreichen Schriften2), daß in trübem Wasser Eier ver- schiedener Lebewesen von selbst entstehen und sich dort wie im Mutterleibe entwickeln, wenn auf die faulenden Stoffe Luft, Wärme und Elektrizität einwirken. Den Preis erhielt PASTEUR; er unter- suchte zuerst die Luft, indem er einige Kubikmeter durch eine enge Röhre trieb, welche mit einem baumwollenen Pfropfe versehen war, um alle in der Luft schwebenden Körperchen aufzufangen. Unter ihnen fand er mit dem Mikroskop viele niedere Lebewesen und ihre Sporen. Dann ließ er eine mit Hefe versetzte Zuckerlösung gründ- lich kochen und sie in einer Luft kalt werden, die er früher stark erhitzt hatte. Dann lötete er das die Lösung enthaltende Gefäß zu, und in der Flüssigkeit zeigte sich auch dann kein Leben, als er von neuem frische (zuerst jedoch erhitzte, Luft zuführte. Hatte aber zu der Lösung gewöhnliche, früher nicht erhitzte Luft Zutritt, so zeigten sich darin lebende Wesen. So löste Pasteur die Frage, wenigstens in der Form, in welcher J) Chr. G. Ehrenberg, Die Infusionstierchen als vollkommene Organismen. Berlin 1838. 2) Pouchet, He"t£rogenie ou traite de la generation spontannee, bas£e sur de nouvelles experiences, Paris 1859. ?00 XX. Spontane Generation. sie POUCHET aufgestellt hatte ; aber der Streit zog sich in der Aka- demie weiter in die Länge; PouCHETs Anhänger verpflanzten ihn in die Zeitungen, welche für POUCHET Partei ergriffen. Das Inter- esse erlahmte schon, als es von neuem durch den englischen Arzt Ch. Bastian1) belebt wurde, welcher an der Hand von PouCHETs Methode zu ähnlichen Schlüssen wie dieser gelangte. Von seinen Beobachtungen leitete er eine Theorie der ansteckenden Krankheiten ab: die Bakterien dringen nicht von außen in den Körper ein, son- dern entwickeln sich im Innern. Seine Anschauungen bekämpfte der bekannte englische Arzt Jos. Lister, der Erfinder antiseptischer Mittel in der Chirurgie. Bastian aber führte seine Sache weiter und gab noch im Jahre 1903 ein großes Werk heraus2), worin er seine Theorien verteidigt, doch blieb er meines Wissens unbeachtet. Seitdem erscheinen von Zeit zu Zeit immer wieder Berichte, daß es diesem oder jenem Experimentator gelungen sei, Bakterien oder andere einfachste Lebewesen aus toter Materie hervorzubringen; doch werden sie immer mit allgemeinem Mißtrauen betrachtet, und mit Recht, denn ihr Hauptfehler ist, daß sie keiner selbständigen Idee über das Wesen des Lebens, sondern nur einer inhaltsleeren Folgerung ent- springen, das Leben müsse einmal auf irgendeine Art aus dem Tode entstanden sein 3). Deshalb schnitt man in den letzten Jahrzehnten die Frage der Urzeugung von einer anderen Seite an. Von der Überzeugung, daß das Leben nur in einer besonderen Bewegung der Materie bestehe, geleitet, versuchte man, an der unbelebten Materie wenigstens einige Lebenseigenschaften nachzuahmen. Der Physiker G. Quincke führte aus4), daß die Amöbe sich im Wasser dadurch bewegt, daß sie an einigen Körperstellen die molekulare Spannung zwischen der Ober- fläche ihres Körpers und dem Wasser verändert; diese Verände- rungen bewirken dann eine Bewegung in der Richtung der geringeren Spannung. Worauf es dabei ankommt, wird uns einleuchten, wenn wir uns der Strömungen erinnern, welche im Wasser entstehen, wenn wir Alkohol hineingießen ; ähnliche, allerdings sehr kleine Strömungen, r) Ch. Bastian, Beginnings of Life, London 1872 u. a. Schriften. 2) Derselbe, Studies in Heterogenesis, London 1903. 3) Über neuere Ansichten, die künstliche Erzeugung der lebenden Substanz be- treffend, vgl. W. Roux in Umschau 1906, Nr. 8 und L. Rhumbler, Aus dem Lücken - gebiet zwischen organismischer und anorganismischer Materie. Ergebn. Anat. und Entwicklungsgeschichte, 15 (1905), Wiesbaden 1906, S. 1 sq. Dort ist auch die Lite- ratur angeführt. 4) G. Quincke, Über Protoplasmabewegung, Biol. Zentralbl. 1888. XX. Spontane Generation. 301 sollen auch zwischen der Amöbe und dem Wasser entstehen. QUINCKE ahmte unter Anwendung verschiedener Flüssigkeiten die amöboide Bewegung nach; ein allgemeineres Interesse für diese Versuche er- regte O. BüTSCHLi mit der Lehre1), die lebendige Materie bestehe wesentlich aus zwei Substanzen, welche, sich miteinander mischend, eine > Schaumstruktur« bilden, die BÜTSCHLI einerseits im Protoplasma verschiedenartiger Zellen nachzuweisen suchte, und aus welcher er auch die elementaren Lebenserscheinungen der Zellen erklären wollte, und die er andererseits künstlich durch Zubereitung feinster Schäume nachzuahmen unternahm. Aus einer mit Benzin (oder Xylol) durch- geschüttelten Seifenlösung bereitete er eine Masse, welche dem Proto- plasma einiger Zellen sehr ähnlich sein sollte. Andere vervollkomm- neten diese Anweisung auf Erzeugung des künstlichen Protoplasma, und so wird beispielsweise folgende Vorschrift empfohlen: Man mische sehr feines Zuckerpulver oder Küchensalz tüchtig mit recht altem Olivenöl; ein Tropfen dieser Mischung ähnelt sehr dem Protoplasma; ja er bewegt sich beinahe wie die Amöbe. In den letzten Jahren nahm aber das Interesse an solchen Untersuchungen, welche nur zu sehr an die alehymistischen Vorschriften zur Umwandlung von Blei in Silber und von Kupfer in Gold erinnern, sichtlich ab. Es werden vielmehr Versuche gemacht, Analogien zwischen einzelnen Lebens- vorgängen und den Erscheinungen an toten Objekten zu entdecken. So bemühte sich insbesondere L. Rhumbler, die in der Zelle wäh- rend ihrer Teilung vorkommenden Gebilde durch mechanische Modelle nachzuahmen; so weist der Kristallograph O. Lehmann, der eine besondere Gruppe »fließender'- Kristalle aufstellte, auf eine Analogie zwischen den elementaren Lebens- (Bewegungs-j erscheinungen und den Bewegungen dieser Kristalle hin; andere Forscher trachteten wieder zwischen der Regeneration der Organismen und der Fähig- keit der Kristalle, in einer übersättigten Lösung aus Bruchstücken sich zu Ganzformen zu vervollständigen, eine tiefere Analogie zu finden. Neuerdings wurde auch das Radium, das überhaupt bei vielen Experimentatoren den Stein der Weisen der früheren Jahr- hunderte ersetzt, wie zu so vielen anderen Versuchen, so auch zur spontanen Hervorbringung des Lebens zu Hilfe gerufen 2). J) O. Bütschli. Untersuchungen über mikroskopische Schäume und das Proto- plasma, Leipzig 1892. 2) Vgl. insbes. A. RAUBER, Die Regeneration der Kristalle, 1S95 — 1901. — Przibram. Eormregulationen verletzter Kristalle, Zeitschr. f. Kristallogr., 39, 1904. *02 XX. Spontane Generation. Manche Biologen führen nur allgemeine Gründe für die Behaup- tung an, daß es zwischen Leben und Nichtleben keinen wesentlichen Unterschied gebe. Als charakteristische Eigenschaften des Lebens werden sonst angeführt x) : i. Organisation, welche in einer spezifischen Form und Struktur besteht; zur letzteren gehört besonders die Zusammensetzung aus Zellen. 2. Zielstrebigkeit, welche darin ihren Ausdruck findet, daß das Geschehen am Organismus als Teil eines in sich geschlossenen Ganzen erscheint, dem es untergeordnet wird. Korrelation der or- ganischen Strukturen und Eigenschaften überhaupt kann als Folge derselben betrachtet werden. 3. Leben kann wieder nur aus Leben entstehen. 4. Eigenschaften des Lebens sind: Stoffwechsel, Atmung, Assi- milation und Dissimilation, Reizbarkeit, Empfindlichkeit, chemischer Aufbau aus organischen Kohlenstoffverbindungen und besonders aus Eiweißkörpern; organische Verbindungen überhaupt und Eiweiß- körper insbesondere entstehen in der Natur nur in Lebewesen. 5. Das Lebewesen ist entweder Pflanze oder Tier; nur auf den \mtersten Stufen ist der Unterschied unkenntlich; sonst bestehen die Unterschiede zwischen ihnen im folgenden: Das Tier ist konzentrierter, mit nach innen gerichteten Organen, die Pflanze ausgebreiteter, die Organe nach außen gewendet (Lunge — Blätter). Nur die Tiere essen mit dem Munde, die Pflanzen nähren sich endosmotisch. Die Tiere sind komplizierter gebaut als die Pflanzen; weder sind die Pflanzengewebe so differenziert, wie bei den Tieren, noch hat die Pflanze so viele und solche Organe wie das Tier. Die Tiere haben kein Chlorophyll; die Pflanze vegetiert vor allem (sie wächst und vermehrt sich), das Tier hat auch animalische Organe und Funktionen (Muskeln, Nerven, Bewegung, Sinne). Diejenigen aber, die jeden wesentlichen Unterschied zwischen Leben und Nichtleben bestreiten, führen dagegen folgendes an: Es *) Die für das Leben charakteristischen Merkmale werden von verschiedenen Autoren verschieden angegeben. Man vgl. z. B. W. Roux, Programm u. Forschungs- methoden der Entwicklungsmechanik, Leipzig 1897. — O. Liebmann, Gedanken und Tatsachen, I, Straßburg 1893, S. 239. — M. Verworn, Allgemeine Physiologie, Jena 1894. — Cl. Bernard, Lecons sur les phenomenes de la vie, Paris 1878, S. 21 sq. — H. Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, 1905. XX. Spontane Generation. 303 gibt vorerst keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Pflanze und dem Tiere, denn es gibt auch kein anatomisches und physio- logisches Merkmal, das entweder nur den Pflanzen oder nur den Tieren zukäme; es gibt Tiere ohne merkliche Organe (Amoeba); andere resorbieren die Nahrung mit der Körperoberfläche, wie die Pflanzen (Bandwürmer ); es gibt nichtgrüne Pflanzen (Pilze); auch Pflanzen bewegen sich, ja sie haben vielleicht sogar etwas wie Nerven und Sinnesorgane. Doch besteht auch zwischen Leben und Nicht- leben überhaupt kein wesentlicher Unterschied, denn (so heißt es): eine Organisation haben auch die Kristalle, denen die Schalen einiger Radiolarien durch ihre Regelmäßigkeit nahe stehen, und die Amöbe ähnelt vermöge ihrer Vielgestaltigkeit einem Tropfen Wasser ; sie hat keine Organisation, wie auch das Wasser keine hat. Lebende Wesen wachsen, indem sie die Nahrung nach innen aufnehmen (durch Intus- suszeption), wogegen Kristalle neue Schichten auflegen; aber auch die Flüssigkeiten wachsen durch Intussuszeption. Auch soll die Reiz- barkeit und Empfindlichkeit nicht ausschließlich Eigenschaft des Lebens sein, denn wie sich im Körper durch einen Nadelstich die Energie auslöst, die mit ihm zuckt, so entsteht auch im Nitroglyzerin durch Erschütterung die Explosion. Organische Stoffe kann der Mensch auch außerhalb des tierischen Körpers bereiten, und Ele- mente, die sich im lebenden Körper vorfinden, kommen auch in unbelebter Materie vor. Der Stoffwechsel, bei welchem die Nahrungs- stoffe zersetzt und in andere Stoffe umgewandelt werden, während der gesamte Organismus unverändert bleibt, ist wohl sehr charakte- ristisch für das Leben, doch zeigen die leblosen Enzyme etwas dem Stoffwechsel ähnliches auch außerhalb der lebenden Substanz x). Durch solche allgemeine Betrachtungen über die Analogien zwi- schen dem Leben und Nicht-Leben werden jedoch nur wenige zu- frieden gestellt, denn man erkennt leicht, daß da ein gewandtes Wort das Wesen des Problems verschleiert. Es ist doch einem jeden klar, daß zwischen der »Organisation« eines Kristalls und eines Tieres, daß zwischen der Homogenität des Wassers und der Amöbe, zwi- schen der Reizbarkeit des Nitroglyzerins und der lebenden Substanz eben der Unterschied besteht, den die angeführten Betrachtungen verdecken wollen, daß die eine Substanz lebt, die andere nicht. Darum ließen einige das Problem über die Entstehung des Lebens r] Einzelheiten über die Analogien zwischen der lebendigen und der leblosen Substanz vgl. bei M. VERWORN, Allg. Physiologie, Jena 1901. S. 123 sq. 7Q4 XX. Spontane Generation. überhaupt fallen, und kehrten die Frage um: das Leben soll früher gewesen sein und die leblose Materie sei aus der lebendigen ent- standen. W. Preyer kamen die Hypothesen der alten Philosophen in den Sinn, daß der Grund des Lebens Feuer sei1): atmet es denn nicht dieselbe Luft wie der Organismus und erstickt es nicht, wenn die Luft keinen Zutritt hat? Es rafft gierig nach Nahrung und ver- zehrt alles, was seine Zungen ergreifen, bis auf die unverdauten, un- verbrannten Reste. Als unser Planet noch sein eigenes Licht aus- strahlte, lebte er als ein ungeheuerer Organismus, dessen Atem die leuchtenden Dünste, dessen Blut das geschmolzene Gold, dessen Nahrung die Meteore waren. Die heutige harte Erdkruste ist nur- mehr ein Leichnam, und die jetzigen Organismen sind bloße Trüm- mer jenes großen, feurigen Lebens. — Noch freier ließ seine Phan- tasie BAUMGÄRTNER walten, nach dem die Weltkörper einmal wirk- liche lebendige Zellen waren; übrigens lehrte bereits Plato, daß die Sterne göttliche Tiere (E&a frsTa) sind und Gl. BRUNO huldigte einer ähnlichen Ansicht; auch Keppler schildert die Erde als ein großes Tier, dessen walfischartiges Atmen Ebbe und Flut verursacht, welches abends schlafen geht und des Morgens aufwacht 2). Einige lehrten wieder, daß das Leben zu uns aus anderen Welten durch Meteore verpflanzt werde ; daß es der Ahasver des Weltalls ist und ohne Ziel von einem Planeten zu einem anderen irrt, um dort eine kurze Zeit zu verweilen, sich zu entwickeln, und, wenn der Planet erstarrt, wieder zu verschwinden und auf einem anderen ein neues Wirken zu beginnen. Ja es fanden sich Gelehrte, welche be- reits in den Meteoriten bekannte Tiertypen, Schwämme, Korallen, Crinoiden u. ä., als Versteinerungen entdeckten3). J) W. Preyer, Naturwissenschaftliche Tatsachen und Probleme, 1880, S. 59. Vgl. auch seine Abhandlung in Kosmos II, 1877 — 78, S. 204 — 217. 2) Der Gedanke wurde unlängst in einer wenig veränderten aber viel trockeneren Form von Schroen und M. Benedikt, teilweise auch von H. Simroth erneuert, welche die Silikatgesteine als strukturell dem Protoplasma ähnlich erklären. Vgl. über dieselben Rhumblers oben erwähntes Referat. 3) O. Hahn, Die Urzelle, Tübingen 1897. — Ders., Die Meteoriten und ihre Organismen, Tübingen, S. 1881. — D. Weinlanp, Über die in den Meteoriten ent- deckten Tierreste, Esslingen 1882. — Ober die Urzeugung im allgemeinen vgl. O. Taschenberg, Die Lehre von der Urzeugung sonst und jetzt, Halle 1882. — M. Verworn, Allgemeine Physiologie, Jena 1901. XXI. Anthropologie. 205 XXI. Anthropologie. An der Schwelle des 19. Jahrhunderts glaubten nurmehr wenige Fach- leute, daß der Mensch direkt aus Gottes Händen, aus Ton geknetet, kam; rasch verbreitete sich die Überzeugung, daß es mehrere Adams gegeben hat. Die philosophischen und politischen Diskussionen über die Gleichheit oder Ungleichheit der Menschen wirkten auch auf die Wissenschaft; der Haß der Amerikaner gegen die Neger, der zu dem Kriege des Nordens gegen den Süden geführt hatte, teilte auch die Anthropologen in zwei Lager: das eine für, das andere gegen die Gleichwertigkeit der weißen und der schwarzen Rasse; besonders in Amerika blühten Lehren von der Art, daß der Neger von dem Kaukasier ebensoweit entfernt ist, wie von dem Schimpansen, und daß er aus einem besonderen Adam entstand; so schrieb Agassiz, und andere zählten 150, ja noch mehr Adams, so viele, als es ver- schiedene Völker gibt1). Diese »polygenistischen« Ansichten standen dem Darwinismus fern, wie eben eine Philosophie einer anderen ; AGASSIZ mochte eine ganze Hierarchie von mehr und mehr vollkommenen Adams, von einem Adam der heutigen Schimpanse bis zu dem der weißen Rasse annehmen; er glaubte trotz alledem an einen prinzipiellen Unterschied bei jedem dieser mutmaßlichen Ahnen : ein jeder war der Ausdruck eines anderen göttlichen Gedankens — der Vorfahre der Schimpansen verwirklichte noch einen ganz tierischen Plan, der weiße Adam die Idee eines intelligenten Wesens. Für Darwin sind jedoch beide, der Schimpanse wie der Mensch, Tiere, nur ist der Mensch fort- geschrittener, besitzt ein größeres Gehirn und verfügt über größere Erfahrung. Darwin glaubte ferner an keinen Adam, an keinen An- fang, sondern nur an eine Millionen Jahre dauernde Geschichte, welche auch heute noch nicht an ihrem Ende angelangt ist und zu einer höheren, aber unbekannten Zukunft fortschreitet. Der Weg für seine Anschauungen wurde in mehreren Richtungen angebahnt. Paläontologie. Cuvier nahm an, daß der Mensch in jene Gegenden, die er seit Anfang der historischen Periode bewohnt, erst in der letzten ihrer • Ausführlicher berichtet über diese Frage A. de Quatrekages , Unite de l'espece humaine in der Revue de deux mondes 1861, und auch selbstständig. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. 20 ■jq6 XXI. Anthropologie. Epochen kam, und führte mit großer Belesenheit aus, daß er nicht älter ist, als in der Bibel angegeben wird. »Es gibt keinen fossilen Menschen«, war sein Grundsatz, den er gegen die Nachrichten, daß hier und da Versteinerungen von Menschen ausgegraben wurden, geschickt zu verteidigen wußte. Solche Nachrichten mehrten sich aber nach seinem Tode innerhalb wie außerhalb Frankreichs; die Franzosen weisen besonders auf ihren Landsmann BOUCHER DE Per- thez hin, der seit 1839 unermüdlich nach den Spuren der vor- historischen Menschen forschte und nach langer Verkennung einen durchschlagenden Erfolg bei den Fachmännern erzielte. Auch in Schweden waren solche Untersuchungen im Schwange: 1863 faßte Ch. Lyell die zerstreuten Nachrichten über den vorhistorischen Menschen in seinem Werke über das geologische Alter des Menschen1) zusammen und widerlegte so zum zweiten Male CUVIER. In England erfreute sich Lyells Schrift keiner besonderen Hoch- schätzung; man erklärte sie allgemein für eine bloße Kompilation2), aber nichtsdestoweniger trug sein Name dazu bei, daß durch das Werk das Studium der jüngsten Erdschichten namentlich in Deutschland bedeutend angeregt wurde. LYELL verwarf die Ansicht, daß es einmal eine Sintflut, d. h. eine allgemeine durch Wasser herbeigeführte Katastrophe auf unserer Erde gegeben hätte ; er wies darauf hin, daß sich die Sagen von einer Sintflut bei sehr weit voneinander wohnen- den Völkern, bei den Chinesen, den südamerikanischen Indianern, bei den Ägyptern u. a. finden, daß sie überhaupt überall dort anzutreffen sind, wo es große Flüsse und Meere gibt, deren lokale Über- schwemmungen den Einwohnern die Grundlage zu solchen Er- zählungen boten. Das »Diluvium« (dessen geologischer Begriff hier zum ersten Male präzisiert wurde) entstand also durch die nagende Tätigkeit des Wassers, der Winde und der Gletscher, welche viele Jahrtausende hindurch gewirkt hat. Lyell wußte bereits, daß Europa während des Diluviums ein sehr kaltes Klima hatte; spätere Geologen fanden, daß in unseren Gegen- den solche kalte Perioden mehrere Male hintereinander, dreimal, ja vielleicht sechsmal während des Diluviums geherrscht haben. In vor- diluvialer Zeit, während des sog. Tertiärs, war das Klima von Europa so mild, daß in Frankreich subtropische Tiere und Pflanzen leben konnten; noch auf den Spitzbergen, wo heute die armseligsten Ge- *) Ch. Lyell, Geological Evidences of the Antiquity of Man, London 1S63. 2) Darwins Leben, III, S. 7. — Edinb. Review, Vol. 241, 1S63, S. 295. XXI. Anthropologie. 307 wachse ihr Leben kümmerlich fristen, wuchsen damals üppige Palmen. Darauf folgten kalte Jahrhunderte, wo die Gletscher bis in das bayri- sche und franzosische Tiefland hinabstiegen, wo fast ganz England, ganz Norddeutschland von der Rheinmündung bis zu den nördlichen Grenzen von Böhmen und weiter ostwärts, auch Rußland, mit Eis be- deckt waren. Wieder kamen aber wärmere Zeiten, die Gletscher traten auf hohe Berge zurück, um später noch einmal ins Tal zu- rückzukehren. Als zum ersten Male im Diluvium die Eiszeit von Norden nach Süden zog, zogen auch die an warmes Klima gewöhnten Tiere und Pflanzen nach Süden oder wurden durch neue vom Norden kommende Tiere vertilgt; das Renntier, das Mammut und das Rhinozeros, alle dicht behaart, lebten auf den kalten Ebenen am Fuße der Gletscher mit den Bären, Hyänen, Löwen und Hirschen anderer Arten, als die jetzigen sind, zusammen. Aus dieser Zeit erhielten sich die ersten deutlichen Spuren des Menschen, und zwar grobe Steinwerkzeuge und Zeichnungen an Knochen, welche jene aus- gestorbenen Tiere darstellen; hier und da fand man auch, obwohl sehr selten, einzelne menschliche Knochen. Diese Tatsachen waren im allgemeinen bereits Lyell bekannt; später entdeckten besonders französische Gelehrte viele Höhlen und Täler in ihrem Vaterlande , wo primitive Werkzeuge des diluvialen Menschen vorkamen, und es war ihnen möglich, nach verschiedenen Merkmalen, namentlich nach der Vollkommenheit der Steinwerkzeuge, mehrere Perioden in der Entwicklung des vorhistorischen Menschen zu unterscheiden. Die wichtigsten Perioden sind: das paläolithische, das neolithische Zeitalter, das Zeitalter der Bronze und des Eisens. Einige französische und belgische Anthropologen versichern, daß sie noch einfachere Steinwerkzeuge als die paläolithischen fanden, welche einem tertiären Menschen angehören sollen, der in Frankreich vor dem Diluvium, noch während der oben erwähnten warmen Periode lebte; andere sehen jedoch in diesen Steinen, den sog. »Eolithen«, natürlich entstandene und zufällig an bestimmten Orten angehäufte Gebilde und glauben nicht an tertiäre Menschen. Es ist also sicher, daß der Mensch im Diluvium, und zwar mit Tieren, die seit langem bereits ausgestorben sind, lebte; aber schon um die Frage, ob er in Europa gleich von Beginn dieser Periode an lebte oder erst später hier erschien, wird gestritten1). Der *) Die wissenschaftliche Literatur über den diluvialen Menschen ist voll von Unklarheiten und es empfiehlt sich, auch gegen sog. verbürgte Angaben vorsichtig zu sein. Nüchtern ist die populäre Schrift von J. RANKE Der Mensch. Leipzig 1S97 : 20* ■j08 XXL Anthropologie. diluviale Mensch lebte am Fuße der Gletscher mit Mammut, Nashorn und anderen längst ausgestorbenen Tieren, bekleidete sich höchst wahrscheinlich mit Fell und jagte nach dem Wild, das er vielleicht gegen den Rand der Abgründe trieb, in welche es hinunterfiel und von ihm erbeutet wurde; er tötete seine Beute auch mit Steinwerk- zeugen. Er lebte in Höhlen, aber bereits auch in Zelten und kannte schon das Feuer. Auch künstlerischen Sinn besaß er: er malte mit farbiger Erde Bilder der Tiere an die Wände seiner Wohnungen und stach die Konturen der Mammute, der Hirsche, ja auch der Menschen in Knochen und in Geweihstücke, die ihm auch als Werkzeuge dienten. Von woher jener Mensch nach Europa kam, was aus ihm später geworden ist, ob er ausgerottet wurde, oder ob seine Nachkommen als älteste Völker der späteren, der neolithischen und der Bronzezeit, weiter lebten, darüber weiß man nichts. Man weiß auch nicht, welcher Farbe jene Menschen waren; ihr Gehirn, oder wenigstens die Größe ihrer Schädelkapsel bleibt nicht hinter der des modernen Europäers zurück (mit einigen Ausnahmen, die später besprochen werden sollen). Anatomie. Bis auf ganz vereinzelte Ausnahmen führt uns das Studium des vorhistorischen Menschen nicht über die Grenzen der Menschheit zurück : die ältesten bekannten Menschen waren bereits, wie ihrer Er- scheinung so ihrem Leben nach, vom menschlichen Typus und von den Tieren ebenso entfernt, wie die heutigen Menschenrassen. Der Respekt vor der vergleichenden Anatomie hatte zur Folge, daß die Entwicklungsphilosophen auf die historischen Tatsachen weniger Nach- druck legten, als auf anatomische Studien. Sie suchten zu beweisen, daß sich der Mensch durch seinen Körperbau nicht wesentlich von den Tieren unterscheidet; und weil man das Psychische nur für eine Folge der Nervenstruktur ansah, hielt man die geistigen Unterschiede für nebensächlich. Erst seit der Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Ähnlichkeit zwischen dem Menschen und den Tieren zu einem besonders hervor- weniger kritisch ist das Werk von H. KlaäTSCH, Entstehung und Entwicklung des Menschengeschlechtes (in Kraemers Weltall und Menschheit). Unkritisch ist F. von Hellwald, Der vorgeschichtliche Mensch, 2. Aufl., Leipzig 1880. Die Tatsachen über den diluvialen Menschen sind gesammelt in: M. Hoernes, Der diluviale Mensch in Europa, Wien 1903. XXI. Anthropologie. ?OQ gehobenen Beweismaterial für die Evolutionisten, und rief Ärgernis bei ihren Gegnern hervor. Vor jener Zeit hielt man diese Ähnlich- keit für etwas Selbstverständliches. Bereits ENNIUS rief aus: »simia quam similis, turpissima bestia, nobis!« GALENUS studierte die ana- tomischen Eigenschaften des Menschen an den Affen. So groß war die Überzeugung von der Ähnlichkeit des Menschen und des Affen, daß Vesals reformatorische Tat eben in der Beweisführung- bestand, daß Galenus irrte, als er den Affenkörper dem menschlichen gleichsetzte. Sehr belehrend ist es, die Abbildungen von Affen aus dem 18. Jahrhundert zu betrachten, aus einer Zeit also, wo es bereits eine vergleichend anatomische Wissenschaft gab, und wo man die Affen schon gut kannte; die Affen sehen auf den Abbildungen ganz wie behaarte Menschen aus, mit intelligentem Gesicht, mit Stock oder sogar mit einer Blume in der Hand, bloß auf den hinteren Extremi- täten stehend; noch in Buffons Werk sind solche Zeichnungen zu finden, und es ist nichts davon bekannt, daß sie die religiösen Ge- fühle beleidigt hätten. Man nahm allgemein die innigste Verwandt- schaft des Menschen mit den Affen als verbürgte Tatsache auf. Buffon z. B. beschreibt die (Menschen-) Affen in folgender Weise1]: »Ich nenne Affe (singe) ein Tier ohne Schwanz, mit flachem Gesicht, dessen Zähne, Hände, Finger und Nägel den menschlichen ähnlich sind und das wie der Mensch auf zwei Füßen geht; diese Definition . . . schließt alle Tiere aus, welche Schwanz, schnauzartiges Gesicht, krumme oder zugespitzte Krallen haben und welche lieber auf allen vieren als auf zwei gehen. . . .« Damals konnte noch Linne, ohne Anstoß zu erregen, den Menschen in dieselbe Ordnung mit den Affen stellen; damals schrieb Lord Monboddo über den Ursprung des Menschen vom Affen: damals hoffte noch DE LA Mettrie, daß es einmal gelingen werde, den Affen Sprachfähigkeit und Artigkeit im Benehmen beizubringen! Kant schloß mit einer ähnlichen Hoffnung seine Anthropologie. Auch die Morphologen aus dem Anfange des ig. Jahrhunderts befaßten sich in ihrer Art mit der anatomischen Ähnlichkeit der Menschen und der Tiere. Jon. Fr. MECKEL beschrieb ausführlich die Monstrositäten der Menschen und erklärte ihre Ähnlichkeit mit den Tieren (ihre »Theromorphie«), um die er sich sehr interessierte, durch seine uns bereits bekannte Hypothese, daß der Mensch während J) Buffon, Histoire naturelle, T. 7, S. 1. Man vergleiche auch die Abbildungen der Affen in Kiaatschs oben angeführtem Werke. ^ I o XXI. Anthropologie. seiner Embryonalentwicklung; die aufsteigende Reihe der Tiere hin- durchläuft; wird nun ein Organ vorzeitig in seiner Entwicklung ge- hemmt, so bleibt es auf der Stufe irgendeines Tieres stehen; so soll es menschliche Mißgeburten geben, die ein Insekten-, oder ein Reptilien- oder ein Fischherz haben1). Auch J. F. Blumenbach schrieb über die Theromorphie; er beschrieb ein menschliches Embryo, »von dem alle überzeugt waren, daß es einem Frosch ähnlich ist«, er erklärte solche Erscheinungen durch Störungen des Bildungs- triebes2). Geoffroy erweiterte seine Lehre von der Einheit des Planes auch auf den Menschen und analysierte ebenfalls eine Reihe von menschlichen Mißgeburten, um die Identität der Teile des mensch- lichen und tierischen Körpers zu beweisen3). Damals wurde niemand durch solche Lehren überrascht, weil eben nicht einzelne Knochen entscheidend waren: mochte der Mensch auch alle Elemente des tierischen Körpers und keine anderen haben — ihre Harmonie, die Idee, die sie zur Einheit verband, war entscheidend. Darum wies man auf den aufrechten Gang des Menschen, auf den Bau des Fußes und der Hand, auf seine Intelligenz, Moralität, auf das Ideale im Menschenleben hin. Es sei noch eine Stelle aus Buffon angeführt zum Beweise, wie man damals, als man sich von dem Idealismus loszusagen begann, aber an den Materialismus noch nicht glaubte, den Unterschied zwischen dem Menschen und dem Affen nur ideal auffaßte. Buffon erörtert auf mehreren Seiten seines Werkes die Bedeutung der Ähnlichkeit zwischen den Affen und den Menschen ; er weist darauf hin, daß diese Ähnlichkeit fast zur Identität wird, wenn man zum Vergleich einen Hottentotten oder einen noch einfacheren Menschen statt des zivilisierten heranzieht41. »Man wird in der Geschichte des Orang sehen, daß, würde man nur die Figur in Betracht ziehen, man dieses Tier ebenso für den ersten der Affen, wie für den letzten der Menschen halten könnte, weil ihm mit Ausnahme der Seele nichts von alledem fehlt, was wir besitzen, und weil er sich seinem Körper nach weniger vom Menschen unterscheidet, als von anderen Tieren, denen man denselben Namen ,Affe' gegeben hat.« »Ich bekenne: wenn man nur nach der Form urteilen sollte, könnte die Affenart für eine Varietät des Menschen gehalten werden: z) J. F. Meckel, Handbuch der pathol. Anatomie I, Leipzig 1862, S. 10 u. 412. 2) Vgl. R. Virchow, Deszendenz und Pathologie. Arch. für pathol. Anatomie. 103, 1886. 3) St.-H. Et. Geoffroy, Philosophie anatomique IL Des monstruosites humaines, Paris 1822. 4) Buffon a. a. 0., S. 33 u. 35 (Kleine Ausgabe aus 1787). XXI. Anthropologie. -j j j der Schöpfer wollte für den menschlichen Körper kein absolut von dem der Tiere verschiedenes Modell wählen; er faßte seine Form wie die aDer Tiere unter einen und denselben allgemeinen Plan; aber gleichzeitig mit dieser materiellen, der äffischen ähnlichen Form hauchte er diesem tieri- schen Körper seinen göttlichen Geist ein. . . .« Aus diesen Sätzen kann man leicht die kartesianische Ansicht heraushören, nach welcher die Seele als ein Anhängsel, als etwas mechanisch vom Körper Abzusonderndes dargestellt wird; trotzdem spielt da die Seele eine große Rolle. Als aber die materialistischen Konsequenzen aus dieser Auffassung gezogen wurden , verlor der Glaube an die Seele jeden Rückhalt. Man lehrte nun, die Einheit, die Idee sei ein leeres Wort, die Einzelheiten seien alles; und da bekam die Lehre von der Verwandtschaft des Menschen und der Tiere einen neuen Sinn: derjenige, der beweist, daß der Mensch mit den Tieren körperlich identisch ist, nimmt auch an, daß er nur ein Tier ist. Den älteren Autoren galt z. B. der Unterschied zwischen der Funktion des Daumens und der der großen Zehe als ein Wink, daß im tiefsten Wesen des Menschen die Hand eine andere Be- stimmung hat, als der Fuß; die neueren dagegen hielten jenen Unterschied für eine zufällige Folge der Anpassung an verschiedene Funktionen. Darum wurde von den deutschen Materialisten (besonders von Vogt) ') mit großem Nachdruck die Behauptung aufrecht erhalten, daß sich der Mensch seinem Körper nach von dem Affen nicht wesent- lich unterscheidet; dasselbe Ziel verfolgte auch die Beweisführung Huxleys. In England behauptete nämlich früher R. Owen2), ohne an materialistische Konsequenzen zu denken, daß der Mensch ana- tomisch den Affen nahe steht. Im idealistischen Glauben an den Wert des Verstandes besaß er eine genügende Bürgschaft für den Vorrang des Menschen den Tieren gegenüber: jetzt aber, nachdem die neue Philosophie aus der Seele ein Produkt des Gehirnes gemacht hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als nach körperlichen Merk- malen des Menschen zu suchen, durch welche er sich von den Affen unterscheiden würde; er legte infolgedessen Nachdruck darauf, daß der Mensch unter anderem einen Gehirnteil Tes hippocampi minor) : C. Vogt, Vorlesungen über den Menschen, Gießen 1S63. R. Owen. On the Characters, Principles of Divisions and primary groups of the Class Mammalia. Proc. Linn. See. 2, 1857. Im ganzen erweiterten vor Darwin folgende Schriftsteller die entwicklungsgeschichtliche Ansicht auf den Menschen: A. R. Wallach 1S70, T. H. Hlxi.ev 1863), Ch. Lyell i86.i\ L.Büchner 1S68), F. Rolle (1865', G. Canestrini [1867), F. Barrago 1869. 7 j 2 XXI. Anthropologie. viel bedeutender entwickelt besitzt, der bei den Affen in dieser Form nicht vorhanden ist, und bildete aus diesem und aus einigen anderen Gründen aus dem Menschen ein Organismenreich »Archencephala<\ HUXLEY war bereits von früher her gegen Owen aus irgend einer Ursache verstimmt; jetzt ergriff er die günstige Gelegenheit und gab seiner Gegnerschaft öffentlichen Ausdruck; er führte aus, daß es keine wesentlichen Unterschiede zwischen dem Menschen und den Affen gebe; insbesondere soll auch der Affe jenen, ihm von Owen bestrittenen Gehirnteil besitzen und überhaupt sollen »die anatomischen Merkmale, durch welche sich der Mensch vom Gorilla oder vom Schimpansen unterscheidet, nicht so groß sein, wie die, durch welche sich der Gorilla von den niederen Affen unterscheidet« r). Huxleys Erörterungen riefen einen Sturm der Übereinstimmung und des Widerspruchs hervor; so hatten sich die Zeiten geändert: vor hundert Jahren lehrten auch schon einige Forscher, daß sich der Mensch von den Tieren durch ein Organ unterscheidet; anstatt des Pes hippocampi führte man damals den Zwischenkieferknochen an; im Jahre 1786 trat GOETHE mit der Behauptung auf, daß auch der Mensch diesen Knochen besitzt, und weder ihm noch irgend jeman- dem kam es in den Sinn, daß durch diese Behauptung die Stellung des Menschen in der Natur erschüttert wird; das einzige, worüber sich Goethe beschwerte, war, daß die Anatomen seiner Entdeckung nicht die gebührende Aufmerksamkeit widmeten. Jetzt bekämpfte Owen, Goethes Anhänger, die Prinzipien des- selben Goethe, und die Gegner der idealistischen Morphologie ver- teidigten ihr Prinzip in der Überzeugung, daß sie eine neue Lehre begründen. Man denkt an Goethes Seufzer, der ihm während des Streites über den Zwischenkiefer entschlüpfte: »Einem Gelehrten von Profession traue ich zu, daß er seine fünf Sinne ableugnet. Es ist ihnen selten um den lebendigen Begriff der Sache zu tun, sondern um das, was man davon gesagt hat2).« x) T. H. Huxley, Evidences of the Mans Place in Nature, London 1863. Huxleys Argumentation war keineswegs durchgängig neu ; seine Gegner stellten ihm vor, daß bereits Lamarcks Anhänger J. T. Virey auf Grund der LAMARCKschen Prinzipien die Blutverwandtschaft zwischen den Affen und dem Menschen lehrte und auch schon die (von Huxley in einer etwas anderen Form ausgesprochene) Meinung verteidigte, daß Homer psychologisch vom Hottentotten ebenso weit entfernt sei, wie dieser vom Orang. (Virey, Histoire naturelle du genre humain, 3 Vols., Paris 1824.) -) R. Virchow, Goethe als Naturforscher, Berlin 1861, S. 78. XXI. Anthropologie. ?l? Darwins Auffassung. Darwin deutete in seinem Werke über die Entstehung der Arten an, daß seine Theorie auch auf den Menschen angewendet werden muß1), und führte diese Anwendung im Jahre 1 87 1 in einer großen Ab- handlung »Über die Abstammung des Menschen und über die ge- schlechtliche Zuchtwahl2)« durch. Mehrere Gründe bewogen Darwin zu diesem Schritte, namentlich aber der, daß sich seine Kampf- genossen, LYELL und Wallace, gegen die Erweiterung seiner Theorie auf den Menschen ausgesprochen hatten3). Seine zweibändige Schrift wurde wieder als Sensation aufgenom- men, obwohl ihr innerer Wert weit hinter dem der »Entstehung der Arten« zurückbleibt, auch wenn man außer Betracht läßt, daß in diesem Werke Darwins eigene Erfahrung (durch fremde Arbeiten bereichert) geboten wird, während in der Abstammung des Menschen Darwin über Anthropologie, Soziologie, Medizin, Philologie theoretisieren mußte, ohne Fachmann auf diesen Gebieten zu sein; kein Wunder, daß seine Belege nicht alle zutreffend sind und nicht immer auf der Höhe der Wissenschaft stehen und daß seine Konsequenzen nicht ge- nügend gesichert ausfallen. Darwin lehrt, daß der Mensch aus einem niederen Geschöpf durch allmähliche Übergänge sich entwickelt hat, denn er ist den Tieren körperlich wie psychisch verwandt und hat viele rudimentäre Organe, welche an die Tiere erinnern. Auch die Menschen sind wie die Tiere in allen ihren Merkmalen veränder- lich, auch ihre Eigenschaften sind erblich, auch sie kämpfen ums Leben. Den besten Teil von Darwins Erörterungen bilden noch seine psychologischen Ausführungen, wo er am meisten nach eigener Be- obachtung schrieb. Er glaubt, daß der Mensch auch seiner psychi- schen Seite nach ein vollkommeneres Tier sei; wohl steht er hoch über den Tieren, aber auch zwischen einzelnen Tieren z. B. zwischen dem Hund und dem einfachsten Fisch gibt es sehr große psy- chische Unterschiede. Der Mensch besitzt dieselben Sinnesorgane wie die Tiere, muß also auch dieselben elementaren Empfindungen haben; er hat auch die Instinkte mit den Tieren gemeinsam, so den Selbst- x) Ch. Darwin, Or. of spec, S. 402. 2) Ch. Darwin, The Descent of Man and Selection in Relation to Sex. 2 Vols., London 1871 ; 2. Überarb. Autlage, 1S74 ich zitiere nach der deutschen Übers.). 3) Leben und Briefe Darwins III, S. 7 sq. -.ji XXI. Anthropologie. erhaltungstrieb, den Trieb der geschlechtlichen Liebe, der Mutter- liebe, den Trieb des Kindes an der Brust zu saugen usf. Umgekehrt empfinden auch die Tiere Freude, Schmerz, Glück, Elend; die Jungen der Hunde, Katzen, Schafe finden Freude am Spiele wie die Kinder; die Tiere sind zornig, ehrgeizig, der Hund hat auch ein gewisses Schamgefühl und etwas Bescheidenheit1]; die Affen schämen sich, wenn sie von Menschen ausgelacht werden2). Lust zur Nach- ahmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Einbildungskraft, Verstand, Gelehrigkeit, Anwendung von Werkzeugen, Sprache, dies alles kommt in gewissem Grade auch bei den Hunden vor. Der Hund Dar- wins, der den vom Winde bewegten Sonnenschirm anbellte, zeigte Spuren von Religion3), und seinen Herren soll der Hund wie Gott betrachten4); auch von Gewissensbissen wird er angeblich verfolgt5). Wie wäre denn diese Psychologie nicht kühn zu nennen? Sie bildet aber den ersten Versuch, zu beobachten, worin der Mensch und das Tier einander ähnlich sind, einen Versuch, der keine Skru- peln und keine Hintergedanken kennt, sondern nur den eigenen Augen glaubt. So schwer sind selbständige Beobachtungen dieser Art auszuführen, daß alle Forscher bis auf den Tag bei den durch Darwin ermittelten Tatsachen stehen bleiben: sowohl diejenigen, welche an sie glauben, als auch die, welche ihre Bedeutung bestreiten. Dürftig fielen dagegen Darwins Theorien über den Ursprung des Menschen aus. Darwin stellt einen Stammbaum des Menschen auf, der mit den Manteltieren und dem Amphioxus beginnt, über die Reptilien, Beuteltiere und Affen fortschreitet6), und sich von den HAECKELschen Stammbäumen nur durch eine vorsichtigere Aus- drucksweise unterscheidet; er schildert, wie der Kampf ums Dasein und die geschlechtliche Zuchtwahl den Menschen zu seiner heutigen Stellung geführt haben; besonders der geschlechtlichen Zuchtwahl schreibt er jetzt viel zu : die Entstehung der Sprache, des Gesanges, der Haarlosigkeit, die Differenzierung des Menschen in verschiedene Rassen usw. Mit den ethischen und sozialen Erscheinungen weiß Darwin keinen Rat ; er sieht ein, daß nach seiner Theorie die Pflege der Schwachen zu einem Verfall der Rasse führen muß, doch fürchtet *) Ch. Darwin, Abstammung des Menschen I, S. 35. ») Ibid. 3) Ibid. S. 56. 4) Ibid. S. 58. 5) Ibid. S. 66. 6) Ibid. S. 180. XXI. Anthropologie. ? l - er sich gegen die Nächstenliebe auszusagen ; er glaubt, daß die Hin- richtungen der Verbrecher den Fortschritt der Menschheit gefördert haben1), aber er verzeichnet gewissenhaft auch Galtons Bemerkung, daß trotz aller Verfolgungen durch die Kirche die Wissenschaft am Anfange der neuen Zeit erblühte. Nach Darwin sind viele Abhandlungen erschienen, welche die anatomische Ähnlichkeit des Menschen mit den Affen analysierten, ohne aber wesentlich neue Tatsachen vorzubringen. Deshalb seien hier nur kurz die wichtigsten Eigentümlichkeiten des menschlichen Körpers und der Standpunkt, den zu ihnen die Anatomen einneh- men, angeführt. Die für den Menschen charakteristischen Merk- male sind: großes Gehirn und die damit zusammenhängende Form des Kopfes, das Kinn, fleischige Lippen, die aus dem Gesicht her- vortretende Nase, die ausladende weibliche Brust, die Fußsohle, der nackte Körper, die aufrechte Körperhaltung, eine durchgearbeitete Hand, eine geschlossene Reihe der Zähne (die Affen haben Lücken zwischen den Zähnen) u. m. a. Die Anatomen behaupten aber, daß einige dieser Eigenschaften von geringerer Bedeutung sind (z. B. die fleischigen Lippen), daß andere auch bei Tieren vorkommen (z. B. kommt die vorspringende Nase bei einigen Affen vor), daß wieder andere durch die eigentümliche Lebensweise des Menschen entstan- den sind (die Fußsohle, der aufrechte Gang, das große Gehirn); sie weisen ferner auf verkümmerte Organe beim Menschen hin, welche bei den Tieren mehr entwickelt sind (rudimentäre Hautmuskulatur, Mus- keln der Ohrmuschel, verkümmerte Steißwirbel usf. ; sie führen die »Atavismen« an, welche bei einzelnen Individuen vorkommen: wenn sich z. B. Menschen mit mehr als 32 Zähnen, oder mit einem rudimentären Schwanz, einem stark behaarten Körper usw. finden. In den letzten Jahren sucht man auch zu beweisen, daß das Blut des Menschen dem Blute der höchsten Affen chemisch verwandter ist, als dem Blut der niedrigeren Äffend, und daß das menschliche Embryo im Uterus ebenso befestigt ist wie bei den Menschenaffen (nämlich durch eine einzige Plazenta, während bei anderen Affen der alten Welt zwei Placentae vorkommen). In neuester Zeit scheint dieses Kapitel der Wissenschaft für nicht J) Ch. Darwin. Abstammung des Menschen I. S. 150. 2) Rudimentäre, an Tiere erinnernde Merkmale des Menschen werden aufgezählt von R. Wiedersheim, Der Bau des Menschen als Zeugnis für seine Vergangenheit, Leipzig 1887. Über die Blutverwandtschaft des Menschen und der Affen handelt Grünbaum in The Lancet, 1902. ■2j5 XXI. Anthropologie. mehr modern genug zu gelten; man bat sich schon an die Hinweise auf eine körperliche Ähnlichkeit zwischen dem Menschen und den Affen gewöhnt, und ihre Beweiskraft büßte viel von der ursprüng- lichen Frische ein. Missing link. Es war ein ersehntes Postulat der Evolutionisten, die hypothe- tischen Übergangsstufen zwischen dem Menschen und dem Affen zu entdecken. Man suchte sie einmal unter den wilden Völkern, ein anderesmal unter den paläontologischen Überresten des Menschen. Die »wilden« Völker wurden früher, als man sie noch nicht besser kannte, von den Reisenden in sehr rohen Farben geschildert. Im 18. Jahrhundert glaubte man noch allgemein an »wilde Menschen« ; noch LlNNE führt nebst der Art Homo sapiens eine andere Men- schenart, Homo ferus an, die nach seiner Definition »vierfüßig, stumm und behaart« sein soll. Obwohl solche Ansichten längst überwunden sind, kann man immer noch in sensationslüsternen Be- richten von Völkern lesen, welche keine Religion haben, einen Schwanz und lange Ohren aufweisen; doch nimmt man heute solche Nach- richten mit wachsendem Mißtrauen auf. Immerhin bleibt soviel fest, daß einige Menschenrassen wie ana- tomisch, so psychologisch auf einer niedrigen Stufe stehen, besonders die Australier werden als Beispiel herangezogen. Deshalb hält die Mehrzahl der Entwicklungsphilosophen, die über den Ursprung des Menschen nachdenken, diese unzivilisierten Völker für Vorläufer des »intelligenten Menschen« oder wenigstens für diesen Vorläufern nahe stehend. HAECKELs Stammbaum der Menschenrassen sei als Beispiel angeführt1). Amerikaner Eskimos Finnen Magyaren u. a. Semiten Indogermanen I I Basken Kaukasier Japanesen Altajer Uralier Mittelmeerländer Koreaner Uraltajer 1 Malayen Dravidas Nubier Indochinesen 1 Mongolen Euplocamen Promalayen i Australier Hottentotten Neger Papuas Kaffern Schlichthaarige Wollhaarige Urmenschen 1 Menschenaffen !) Ich wiederhole hier in vereinfachter Form den Stammbaum aus Haeckei.s Natürl. Schöpfungsgeschichte, 5. Aufl., S. 605. XXI. Anthropologie. 3 1 7 Jedoch wie alle Stammbäume, findet auch dieser seine Gegner, und von anderen Forschern wird der historische Zusammenhang der Völker anders ausgedrückt. Einige (ScHOETENSACK, MACNAMARA) verleeen die Wiege der Menschheit nach Australien oder auf die nahen Indomalayischen Inseln, Klaatsch sucht sie in Europa, J. Kolmann behauptet, daß die ersten Menschen Zwerge waren, aus denen zuerst eine zwerghafte schwarze und eine ebensolche gelbe Rasse entstanden sein soll, welche erst später ihre heutige Größe erlangt haben. Auch die Verwandtschaft mit den Affen wird keines- wegs allgemein angenommen : Klaatsch z. B. sucht zu beweisen, daß der Mensch aus einem Beuteltier entstand, welches später zu einem Halbaffen wurde und dieser soll sich in den Urmenschen ver- wandelt haben, während die heutigen Affen degenerierte Typen, miß- lungene Abweichungen von der direkten Entwicklungslinie des Men- schen darstellen sollen1). Mit größerem Interesse, als die vergleichende Anatomie der le- benden Rassen, wurde das Studium einiger primitiven Überreste des vorhistorischen Menschen verfolgt. ViRCHOW bestand hartnäckig auf der Behauptung, daß bereits die ältesten Menschen, von welchen Knochen aufgefunden worden sind, normale Menschen waren, und daß sie insbesondere gesellig lebten. Er fand nämlich an den Menschenknochen Spuren von geheilten Verwundungen und Folgen von Krankheiten; die Heilung lasse sich nicht anders als durch Pflege durch andere Menschen erklären. Andere Forscher sind aber einer anderen Ansicht. Im Jahre 1856 wurde in einer Höhle unweit von Düsseldorf der sog. Neandertalschädel mit einer sehr nie- drigen Stirn und stark hervortretenden Augenbrauenbogen entdeckt. Viele hielten und halten ihn noch jetzt für den Schädel einer nie- drigen, heute nicht mehr lebenden Menschenrasse ; ViRCHOW glaubte dagegen in ihm den Schädel eines an Rheumatismus kranken Greises sehen zu müssen, und er ließ sich auch durch andere ähnliche Funde (es war dies besonders ein Schädel aus Spy in Belgien und eine niedrig organisierte Kinnlade aus der Schipkahöhle in Mähren) nicht von seiner Überzeugung abbringen. In den Jahren 1901 — 2 fand der Agramer Professor Gorjanovic KRAMBERGER in Krapina in Kroatien wieder Bruchstücke von etwa 10 Schädeln, welche dieselben niedrigen, ja noch niedrigeren Eigenschaften besitzen sollen, wie der J) Herm. Klaatsch, Entstehung und Entwicklung des Menschengeschlechtes in H. Krämers Weltall und Menschheit, 2. Bd. •^jg XXI. Anthropologie. Neandertalschädel ; und so scheint es; daß ViRCHOWs Gegner doch recht behalten werden. Im Jahre 1891 fand der niederländische Arzt EUG. Dubois auf Java einen Zahn, ein Schädelbruchstück und einen Schenkelknochen, der einem im Tertiär lebenden Wesen ge- hören sollte, das Dubois1) und andere für ein Übergangsglied zwischen den Menschen und den Affen erklärten (daher seine Name Pithecanthropus erectus). ViRCHOW hielt den Schädel für einem Affen, das Schenkelbein dagegen einem syphilitisch erkrankten Menschen angehörig; neuerdings wurde das tertiäre Alter des Pithecanthropus als unrichtig erkannt: er soll im Quaternär ge- lebt und Feuer und Küchengeräte (die an der Fundstätte ausgegraben wurden) bereits gekannt haben2). In den letzten Monaten wurden in Frankreich ebenfalls Überreste von einem Menschen gefunden, die an den Neandertallypus erinnern und ein Bindeglied zwischen dem Pithecanthropus und dem eigentlichen Menschen der heutigen Rassen bilden sollen3) ; doch mußte dieser Mensch kulturell ziemlich fortge- schritten sein, da er in einem künstlichen Grabe liegend gefunden wurde. Es ist leider schwer, aus den zwar bestimmt lautenden, aber schroff einander gegenüberstehenden Ansichten der modernen An- thropologen die Wahrheit zu erkennen. Einerseits gibt es solche, die in dem neandertaler Menschen und im Pithecanthropus ganz bestimmt das fehlende Glied, das missing link zwischen dem Menschen und dem Affen sehen ; dagegen gibt es wieder andere, nicht weniger fach- wissenschaftlich geschulte Männer, welche von einigen der von der gegnerischen Seite besonders geschätzten Knochen behaupten, daß sie nicht einmal gesichertes diluviales Alter haben. So bleibt nach dem Durchlesen der anthropologischen Werke nur die einzige Ge- wißheit, daß man von tierischen Vorfahren des Menschen nichts weiß. Nichtsdestoweniger gehört die Anthropologie unter diejenigen J) Eug. Dubois, Pithecanthropus erectus. Eine menschenähnliche Übergangsform aus Java, Batavia 1894. Den Namen Pithecanthropus schuf Haeckel ; Dubois glaubt von der von ihm entdeckten Form, daß sie eine besondere Familie, die zwischen dem Affen und dem Menschen liegt, bildet. Anatomische Analyse der von Dubois entdeckten Knochen gab G. Schwalbe. Voltz und Selenka behaupten, daß Pithe- canthropus bereits ein ziemlich fortgeschrittener und in Gemeinschaft lebender Mensch war. 2) Vgl. darüber Voltz, Das geologische Alter der Pithecanthropusschichten bei Trinil, Ost-Java. Neues Jahrb. f. Miner., Geol., Paläont, Festband 1907. 3) Boule, L'homme fossile de la Chapelle aux Saints. C. R. Acad. Sei. 147, 1908, S. 1349 — 1352- XXII. Rassentheorien. 319 Gebiete der Biologie, welche sich am wenigsten von Darwins Prin- zipien entfernt haben : Hypothesen der Art, daß der Mensch von einem Halbaffen statt von einem Affen abstamme, oder die bloße Negation der DARWixschen Anschauungen scheinen den einzigen philosophischen Inhalt der modernen Anthropologie zu bilden. XXII. Rassentheorien. Die heutigen Völker, besonders die zivilisierten, sind Gesellschaften, welche durch Staats-, Sprachen-, Territorial-, Religions-, Sitten-, Geschichtsgemeinschaft zu einer Einheit verbunden werden. Welchem dieser geistigen Verbände eine größere Bedeutung zuzuschreiben ist, darüber sind die Politiker und die Philosophen nicht einig. Die An- schauung, daß der Mensch ein höheres Tier sei, daß sein Körper das wichtigste ist und seine Seele nur eine Folge des Körpers, hatte zur Folge, daß man seit der Hälfte des 19. Jahrhunders ein be- sonderes Gewicht auf die anthropologische und biologische Seite des Völkerproblems legt. Der Mensch bildet eine einzige aus mehreren Rassen zusammen- gesetzte Art, deren Anzahl und Unterscheidungsmerkmale nicht von allen Forschern gleich angegeben werden. J. F. BLUMENBACH (1752 bis 1840), der Begründer der Anthropologie, unterschied fünf Menschenrassen: Kaukasier, Mongolen, Äthiopier, Ameri- kaner und Malayen. Die neueren Anthropologen führen eine größere Anzahl an1); der französische Forscher P. TOPINARD klassi- fiziert sie folgendermaßen: 1. Weiße Rasse; schmalnasig, Haare wellig, ovaler Durchschnitt; ist entweder a) langköpfig und dann entweder blond, groß (Angloskandi- navier) oder von rotem Haar, großer Statur (Finnen) oder von braunem Haar, kleinerer Statur (Mittelländer); b) mittelköpfig (mesokephal) von braunem Haar, kleinerer Statur (Semiten, Ägypter); c) kurzköpfig (brachykephal) ; entweder von braunem Haar, klein (Lappen und Ligurer), oder Haare kastanienbraun, mittelgroß (Keltoslaven). 1 Eine Übersicht dieser Klassifikationen siehe in J. RANKE, Der Mensch, Leipzig 320 XXII. Rassentheorien. 2. Gelbe Rasse, mittelbreitnasig; Haare grob, gerade, ihr Quer- schnitt rund, Kopfhaare lang, der übrige Körper wenig behaart. Sind: a) langköpfig, von gelber Haut, klein (Eskimo) und von röt- licher Haut, groß (Tehuelchen); b) mittelköpfig, Haut rötlich, groß (Polynesier); c) kurzköpfig, Haut rötlich, groß (amerik. Rothäute); d) kurzköpfig; Haut entweder gelblich, Statur mittelgroß (Gua- rani) oder Haut olivenfarbig, Statur klein (Peruaner). 3. Schwarze Rasse, mittelbreitnasig; Haare entweder gerade von ovalem Querschnitt, langköpfig, Haut schwarz, groß (Australier), oder Haare wollig, am Querschnitt elliptisch; sind: a) langköpfig; gelblicher Farbe, sehr klein (Buschmänner); von schwarzer Farbe, groß (Melanesier und afrikanische Neger); b) mittelköpfig, von schwarzer Farbe, mittelgroß (Tasmanier); c) kurzköpfig, schwarz, klein (Negritos). Bei den europäischen Völkern treten einige der oben angeführten körperlichen Rassencharaktere oft in einer bunten Mischung auf, welches man durch Kreuzung unter verschiedenen Rassen erklären will. Auf Anlaß R. Virchows wurde der Versuch ausgeführt, diese Ver- mischung der Rassen statistisch an den Schulkindern Deutschlands, Österreichs, Belgiens und der Schweiz zu analysieren; man registrierte die Farbe der Augen, der Haare und der Haut und fand, daß in Deutschland 31,80 °/0 Blonde, 14,05 °/0 Brünette, in Österreich 19,79 °/0 Blonde und 23,17 0/o Brünette waren, während der Rest einem gemisch- ten Typus angehörte. Aus der Tatsache, daß in Norddeutschland der blonde, in Süddeutschland der brünette Typus häufiger auftritt, folgerte ViRCHOW, daß sich der lichte Germanentypus mit südlicheren, dunkleren Nachbartypen, mit Vallonen, Rhäten, Ladinen, Italienern, Slovenen, Walachen und Böhmen vermischt hatte. Auch die Vergleichung der Schädel führte ViRCHOW zu diesem Schlüsse; die Kelten wären dunkle Kurzköpfe, die Deutschen und Slaven lichte Langköpfe, und die Vermischung beider Typen stelle die Ursache dar, warum von Norden nach Süden (bis zu den Alpen) die Langköpfe seltener, die Kurzköpfe häufiger werden. Solche Gedanken, welche durch die Studien anderer Anthropologen unterstützt wurden, bildeten die Grundlage, auf welcher die Rassen- theoretiker ihre Hypothesen aufstellten. Dem allgemeinen Streben folgend, nach welchem der alte Glaube an die Macht geistiger Prin- zipien verworfen und der Körper als das wichtigste hingestellt XXII. Rassentheorien. ^2 1 wurde, versuchten sie sich auch in der Politik, Soziologie und Ge- schichte von der alten Überzeugung zu emanzipieren, daß es Ideen seien, welche die Menschen aneinanderfesseln, und bemühen sich, in den körperlichen Eigenschaften das, sie zu höheren Einheiten ver- bindende Element zu sehen. Während man sonst das Bindeglied einer menschlichen Gemeinschaft in deren Geschichte, in der Religion, in politischen Anschauungen, in geographischen Verhältnissen usf. suchte, betonen jene Theoretiker den Begriff der Rasse. L. Wolt- MANN, ein Anhänger dieser Richtung, führt beispielsweise Haeckels Grundsatz, die Geschichte der Menschheit sei nur ein Teil der Ent- wicklung der organischen Welt, aus; er verwirft die bisherige Ge- schichtsschreibung, welche nur die Entwicklung der politischen Gedanken und Institutionen studiert hatte1), und sucht eine solche ein- zuführen, welche die Entwicklung der Menschenrassen verfolgen würde. Die Kriege sowie die geistigen Strömungen müssen nach ihm aus physiologischen Eigentümlichkeiten und aus der Ungleichheit der Menschenrassen, welche die Staaten bewohnen, erklärt werden. Die Menschenrassen folgen aber denselben allgemeinen Naturgesetzen der Variabilität und der Vererbung, der Anpassung und der Zuchtwahl, der Blutmischung und Kreuzung, des Fortschritts und Verfalls, wie andere organische Wesen. Durch dieses Postulat ist das Ideal der Rassentheoretiker prägnant ausgedrückt. Man kann bei denselben zwei Strömungen unterscheiden; die einen glauben an eine große Beständigkeit der menschlichen Eigenschaften und denken insbesondere über die Folgen der Kreu- zung unter den Rassen nach; dem Entwicklungsgedanken und der Zuchtwahllehre widmen sie ihre Aufmerksamkeit erst an zweiter Stelle; die anderen glauben wieder an eine große Veränderlichkeit der Merkmale des Menschen und, schon durch diesen Gedanken Darwin näherstehend, stellen sie auch sonst die Konsequenzen des Kampfes ums Dasein unter den Menschen in den Vordererund. Zu den ersteren gehört u. a. O. Ammon2), der das Körpermaß der Rekruten aus verschiedenen Ländern Deutschlands verglich und zu dem Resultate kam, daß die Bewohner jener Gegenden durch Kreuzung zweier Typen, eines größeren und eines kleineren, entstanden sind; M. Zograff3) führte sogar aus, daß die russischen Soldaten durch Vermischung von drei, ihrer Größe nach verschiedenen Typen ent- J) L. Woltmann, Politische Anthropologie, Eisenach und Leipzig 1903, Einltg. 2) O. Ammon, Die natürliche Auslese beim Menschen, Jena 1903. 3) Nach Ammon, S. 20. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. 21 122 XXII. Rassentheorien. standen sind. Einige verfolgen die Konsequenzen der Vermischung der Menschenrassen sehr weit; so G. DE Lapouge, der die Stadt- bewohner mit Straßenhunden vergleicht, die einer vielfachen Kreu- zung reiner Rassen ihr Dasein verdanken1). »Der Straßenhund ist bis jetzt die schönste Folge der Kreuzung. Demselben Ideal strebt auch die Menschheit zu. Wir sehen bereits in den Städten nur Menschen mit hellen Augen und gleichzeitig mit dunklem Haar und umgekehrt, wir finden ein längliches Antlitz an rundem Schädel, Gesichtszüge, welche eigentlich zu einem anderen Gesicht passen, eine zu kurze Nase, einen zu breiten Mund, ein zu großes Kinn. Die Arme sind zu kurz im Vergleich mit den Beinen und diese zu lang im Ver- hältnis zum Bauch, der Bart ist von anderer Farbe als das Haar; kurz- köpfige tragen arische Schädel, kleine Schädel der Mittelmeerländer sitzen auf dem Halse der Arier, der breiter ist als der Kopf, und auf einem unge- heueren Körper. Oft ist nicht einmal ein und dasselbe Organ gleichmäßig. Die Nase pflegt an einer Seite lang, an der anderen kurz zu sein, seine Nasenscheidewand schräg, jedes Auge von einer anderen Farbe und die Augenhöhlen der Größe des Augapfels nicht entsprechend, beide Schädel- hälften unsymmetrisch und ebenso beide Körperseiten. Auch die inneren Organe harmonieren nicht untereinander; auch sie unterscheiden sich bei verschiedenen Rassen, besonders bei den Kurzköpfigen und den Ariern.« Die Anhänger der Rassentheorien sind so sehr überzeugt, daß die geistigen Eigenschaften von den körperlichen abhängig sind, daß z. B. der bereits angeführte O. Ammon nicht vor der Konsequenz zurückschreckt, daß der Glaube an die päpstliche Unfehlbarkeit ein Merkmal der Kurzköpfigkeit, der Altkatholizismus dagegen ein Zeichen der Langköpfigkeit sei. Die Kurzköpfigen werden von diesen Philo- sophen allgemein für geistig niedriger, die Langköpfe für geistig höher stehend erklärt. Der oben erwähnte Lapouge bemerkt z. B. in dieser Hinsicht2) : »Fast alle großen Männer gehörten der langköpfigen Rasse der Blon- dine, auch wenn sie Angehörige eines ganz anderen Volkes zu sein scheinen und ich würde mich keineswegs wundern, wenn das Licht, das einige andere Rassen verbreitet haben, demjenigen Umstände zuzuschreiben wäre, daß zu ihrer trägen Masse etwas vom blonden, langköpfigen Ele- ment hinzugemischt wurde, das jedoch durch die Undurchdringlichkeit der Zeiten verschleiert wird. Die blonde langköpfige Rasse schenkte vielleicht die herrschende Kaste Ägypten, Chaldäa, Assyrien. Die Sache ist fast gewiß für Persien und Indien und vielleicht auch möglich r) G. de Lapouge, L'he'redite dans la science politique. Revue d'anthropolog. 1S8S (zitiert nach Ammon, S. 46). 2) Derselbe, S. 17. XXII. Rassentheorien. %2X im alten China. Ihre Bedeutung ist beinahe sicher in der griechisch- römischen Zivilisation und heute ist die Bedeutung der Völker fast ganz der Menge der langköpfigen Blondine proportional, welche zu ihren leitenden Klassen gehören. Zu dieser Rasse gehörten die gallischen und französischen Elemente, welche Frankreich und seinen Glanz begründeten; es sind dieselben Leute, welche in Deutschland den Massen Leben und Bewegung verleihen. « Diese Richtung- der anthropologischen Theoretiker wird vorzugs- weise in Deutschland gepflegt; weil die Mehrzahl derselben ihre Theorien zur Verherrlichung des Deutschtums benutzen, hat man ihre Anhänger auch > Germanentheoretiker« genannt; es gehören zu den- selben O. Ammon, H. Driesmans, L. Woltmann, A. VVirth, H. S. Chamberlain, G. Lapouge und viele Antisemiten. Den wahren Kern aus ihrer Philosophie auszuschälen fällt schwer; die modernen Versuche über die Kreuzung der Organismen zeigen in der Tat, daß sich auch sehr geringfügige Eigenschaften bei den Nachkommen hart- näckig erhalten. Manches an ihren Ansichten klingt recht phantastisch; sie lehren z. B., daß die Arier im Kampf ums Dasein seit vorhistorischer Zeit körperlich , dem Gehirne nach , fortgeschritten waren ; das Schädel- index der Urgermanen soll durchschnittlich um sechs Grad kleiner sein, als das der modernen1). Die natürliche Zuchtwahl soll heute wieder die dunkle kurzköpfige Bewohnerschaft von der hellen langköpfigen absondern : die geschickteren Langköpfe sollen in die Städte ein- wandern und dort die Kurzköpfe überholen, welche wieder besser zum Leben auf dem Lande taugen2). Aus den angeführten Zitaten ist zu ersehen, daß der Begriff der Rasse bei diesen Theoretikern etwas unklar einhergeht und oft mit der populären Unterscheidung der Menschen in Blonde, Brünette und Juden zusammenfällt. Aus älterer Zeit stammt die Frage, ob die Kreuzung zweier Rassen einen Verfall oder einen Fortschritt zur Folge hat? Beide Ansichten haben ihre Anhänger. Einige, wie A. DE QüATREFAGES, behaupten, daß die Mischlinge wenigstens ebenso intelligent sind wie die reinen Rassen, und weisen auf den Scharfsinn der brasilianischen Kreolen hin; andere wieder, wie z. B. B. L. AGASSIZ, führen eben die angebliche niedere Intelligenz dieser Kreolen als Beweis für die Schädlichkeit der Rassenmischungen an. Agassi/, sah in der Rassen- mischung eine Ursache der politischen Wirrsale in Mittelamerika. 1 Ammon, S. 66. 2) Derselbe, S. 83. 21' 7.2A. XXII. Rassentheorien. Eine andere Gruppe der Rassentbeoretiker glaubt mit Darwin an eine eroße Veränderlichkeit der Merkmale des Menschen; sie erwartet vorzugsweise von der natürlichen Zuchtwahl, die auch unter den Menschen herrschen soll, den geistigen und körperlichen Fort- schritt. Darwin selbst stand solchen Ansichten nahe, als er über den Ursprung der heutigen sozialen Verhältnisse und über die Zukunft der Menschheit nachdachte. Er suchte bei den Tieren nach dem Ursprung der menschlichen Gesellschaftlichkeit ; er zeigte, wie bereits die in Gesellschaften lebenden Tiere Spuren von Altruismus zeigen, wie in den ursprünglichen Menschenhorden der weisere Mann in größerer Achtung stand und die ganze Koppel beherrschte; wie solche Horden, die unter ihren Angehörigen mehr Weise besaßen, bessere Aussichten im Lebenskampf hatten, wie das Lob der Genossen den Menschen zu neuen Taten aneiferte, und wie dessen psychische Fähig- keiten sich dadurch vermehrten. Noch die Kulturvölker sollen von der Zuchtwahl beherrscht werden: Darwin fürchtet, daß die Pflege der Schwachen zu einem Verfall der Menschheit führen könnte, er hofft aber, daß diese Gefahr durch die verminderte Heiratsfähigkeit der Kranken abgeschwächt wird; er verlangt jedoch, daß man dieser Re- gulierung durch ein Gesetz nachhelfe. Er denkt darüber nach, wie der Reichtum den Menschen zu Ausschweifungen und folglich zur Dege- neration führt und so seinen schlechten Wirkungen selbst entgegen- arbeitet; wie die Zivilisation, indem sie die Ernährung des Menschen verbessert, der Menschheit nützlich ist; die Vorzüge der Zivilisation mit deren schlimmen Folgen abwägend, kommt er zu dem Schlüsse, daß wir zwar langsam, aber sicher im Fortschreiten begriffen sind1). Francis Galton, ein Verwandter Darwins, dachte mit mehr Bestimmtheit als dieser über die Verbesserung des Menschen- geschlechtes nach; von der Erblichkeit der erworbenen Eigenschaften war er so sehr überzeugt, daß er zu beweisen wagte, daß die Übung des Körpers und Geistes, die Unterdrückung schlechter Neigungen, die Verhinderung der Heiraten unter geistig Kranken, der Kampf gegen die Übervölkerung durch späte Heiraten usf. durch eine Reihe von Generationen ausgeübt, einen körperlichen wie geistigen Fortschritt der Menschheit wird herbeiführen müssen2). *) Ch. Darwin, Entstehung des Menschen I, S. 137 sq. 2) F. Galton, Inquiries into Human Faculty and its Development, London 1883. Galton ist der Entdecker des jetzt vielfach angewendeten Systems der Finger- abdrücke zu Identifizierungszwecken. — Ähnliche Ziele wie Galtons Schrift verfolgt auch die Abhandlung Alph. Decandolles, Histoire des sciences et des savants depuis deux siecles, Geneve-Bäle 1885. XXII. Rassentheorien. 325 Es erscheinen noch immer Betrachtungen, welche von diesem Geiste getragen sind ; der deutsche Soziologe W. SCHALLMAYER stellt sich die Gesellschaft aus ungleich begabten Individuen zusammen- gesetzt vor, welche um ihr Leben kämpfen. Er glaubt, daß die natür- liche Zuchtwahl die einzige Triebfeder des Fortschrittes sei ; wir sollen sie unterstützen, um eine körperlich wie geistig gesunde Menschheit zu erzielen. SCHALLMAYER zählt die Hindernisse und die Triebkräfte der Zuchtwahl auf; unter anderem verlangt er, daß das Mitleid mit Schwachen beschränkt werde, denn die Hygiene, welche die Kranken rettet, und das Strafrecht, welches den Verbrechern Kinder zu zeugen erlaubt, schwächen die Gesellschaft. Deshalb soll man das Bewußtsein der Verantwortlichkeit für die kommenden Generationen fördern, nicht die Todesstrafe abschaffen und die gewohnheitsmäßigen Ver- brecher, dem Rate Schopenhauers gemäß, kastrieren1). Nietzsches Philosophie, seine Unterscheidung einer Herren- und einer Sklaven- moral, seine Auffassung der Entstehung der Gesellschaft durch einen Willen zur Macht, seine Betonung der körperlichen Stärke trugen ohne Zweifel das Meiste zur Förderung dieser Art Spekulationen bei. Zu den biologischen Theoretiken, welche über die Gesundheit der menschlichen Gesellschaft nachdenken, gehört der Physiologe G. BUNGE und seine Anhänger, welche behaupten, daß das Still- vermögen der Frauen im Abnehmen begriffen ist; aus älterer Zeit gehört hierher F. Galtons Gedanke, daß die heutige niedrige Kultur der Spanier daher kommt, daß die Inquisition Spanien jährlich um tausend freie Denker durch Hinrichtungen und Vergiftungen brachte. Andere Anhänger dieser Richtung sind A. PlÖTZ , J. B. Haycraft, O. Seeck, A. Reibmayer, T. Ribot u. a. Auch die Emanzipations- und die Antialkoholbewegung ist teilweise eine Folge dieser phan- tastischen Bestrebungen nach Veredelung der Menschheit2). Rassen- theoretische Fragen gelten ohne Zweifel für äußerst modern; man x) W. Schallmayer. Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker, Jena 1903. 2) Eine gute Kritik dieser ganzen halb philosophischen, halb wissenschaftlichen, oft sehr leeren Bewegung gibt Fr. Hertz. Moderne Rassentheorien, Kritische Essays. Wien 1904. Besonders aber die Ärzte, die Hygieniker bekämpfen die Anschauungen der darwinistischen Rassentheoretiker; sie lassen weder die Ausführungen Bunges über das Abnehmen des Stillvermügens, noch die aus der Sterblichkeit der Kinder für die Zuchtwahl gezogenen Konsequenzen, noch die Angriffe jener Theoretiker auf die Hygiene gelten. Vgl. insbes. M. GRUBER, Führt die Hygiene zur Entartung der Rasse? Münch. Med. Wochenschr. 1903. — W. Kruse, Entartung. Zeitschrift für Soziahvissensch. 1903, u. a. — Als Sprechorgan der Rassentheoretiker dient: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie. Ilerausg. v. A. Plötz u. a. seit 1904. ■^2 0 XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. hege über deren positive Grundlage welche Meinung immer, jeden- falls stellen sie die praktischste Nutzanwendung des Darwinismus dar : scheinen auch eine Zukunft zu haben. XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. Das Verhältnis der Morphologie zur Geschichte. Es gibt Dinge ohne Geschichte, wenigstens soweit unsere Er- fahrung reicht, wie z. B. Kristalle: ein Steinsalzkristall war gewiß immer derselbe, wann und wo immer er entstand; aufgelöst ver- schwand er von der Welt, ohne jedwede Spur zu hinterlassen, welche in einem später entstandenen irgendwie bemerkbar wäre, und die silurischen Steinsalzkristalle scheinen dieselben gewesen zu sein, wie die heute entstehenden. Die vordarwinschen Biologen, welche über Analogien zwischen Kristallen und organischen Strukturen viel nachsannen, waren viel- fach ebenfalls der Meinung, daß die Organismenformen etwas Abso- lutes, Zeitloses darstellen, indem sie Ideen verkörpern, welche seit dem Anfange der Welt, ja welche seit aller Ewigkeit unwandelbar bestehen. Als CuviER die Paläontologie begründete, als fortschritt- liche Vorstellungen aus der Philosophie und Politik auch in das Ge- biet der Biologie hineinzuspielen begannen, wurde jene Vorstellung von organischen Formen als Ideen in die Zeit gespannt; man sprach von nun an von einer Geschichte der Schöpfung, von einer Ver- vollkommnung der Ideen, von einem Fortschritte der Organisation. Auf diese Art wurde ein jeder Organismus aus der absoluten Starr- heit in den Fluß der Dinge mitgerissen und in bestimmte ge- schichtliche Beziehungen zu der Reihe der vorangehenden und der nachfolgenden Organisationen gestellt; Beziehungen, welche aber immerhin ideal blieben, indem sie nur ein geschichtliches Verhält- nis der Gedanken, der Pläne, keineswegs eine Kontinuierlichkeit der Dinge darstellten. DARWIN lehrte demgegenüber, daß die organischen Formen als historische Gebilde aufzufassen sind, welchen keine Ideen zugrunde liegen, sondern welche aus einer großen Reihe von Ereignissen zusammengesetzt sind. Ein großartiger Gedanke war durch diese Lehre ausgedrückt: daß man durch keine noch so tiefe Analyse eines Tieres und durch keine noch so umfassende Vergleichung des- selben mit anderen Formen sein Wesen begreifen kann, weil in ihm XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. 327 Spuren der Vergangenheit stecken, welche nur das historische Stu- dium zu ermitteln imstande ist. Eine Konsequenz dieser DARWiNschen Entdeckung — gewiß war dies eine große Entdeckung — sollte eine Geschichte der orga- nischen Welt sein : man sollte in der Vergangenheit, d. h. in den ausgestorbenen Formen und in verflossenen Zuständen der Welt die Elemente der jetzigen Schöpfung suchen; man sollte die Frage lösen, wann die Wirbeltiere zuerst erschienen sind, welche Wege ihre Ent- wicklung wandelte, welche Formen ihnen vorangegangen waren ; man sollte untersuchen, welche Elemente ein jedes Tier, jede Art, Gat- tung, Familie usf. aus der Vergangenheit übernommen hat, und welche sie von selbst aus hinzugefügt hat; man sollte die Geschichte der organischen Welt so schreiben, wie man die Geschichte der Mensch- heit schreibt. Dies geschah aber nicht. Eine neue Welt wurde zwar den neu- gierigen Forschern durch DARWIN eröffnet, aber wie seinerzeit KOLUMBUS, nachdem er Amerika entdeckt, in dem Wahne begriffen war, nun einen neuen WTeg nach den bereits seit langem bekannten Ländern gefunden zu haben, so jubelten jetzt Darwins Anhänger, daß es gelungen sei, auf einem neuen Wege längst bekannte Tat- sachen zu entdecken. Deshalb gründeten sie keine neue Wissen- schaft, keine historische Morphologie, sondern sie übernahmen die alte, indem sie ihre Begriffe durch Entwicklung, Anpassung, Ver- erbung, Kampf ums Dasein usw. »erklärten«, wie sie ihre Methode nannten. Ja, in einer gewissen Hinsicht wurde die darwinistische Morphologie gerade zu einem Gegensatze der Geschichte. Dem Geschichtschreiber ist nämlich das Datum die Grundeigenschaft eines Ereignisses; zuerst stellt er die Begebenheit in die historische Reihe des Geschehens ein und schreitet von dieser Grundtatsache zur Be- urteilung ihres Verhältnisses zu anderen Begebenheiten; kennt er die zeitliche Stellung der Begebenheit nicht, so bleiben alle seine Er- örterungen über dieselbe unklar. Für die darwinistische Morphologie dagegen ist gerade umgekehrt das Datum der biologischen Begeben- heiten (z. B. die Zeit, wann der Mensch auf der Erde erschien) Sache der Theorie, und die Beziehungen der Begebenheit zu anderen Er- eignissen (z. B. die Ähnlichkeit zwischen dem Menschen und den Affen) die Tatsache, von der bei der Untersuchung ausgegangen wird. Der Geschichtschreiber darf z. B. nichts an der Tatsache ändern, daß Husz früher gewirkt hat als Luther, er mag welcher- Ansicht immer über die Vorzüge des einen oder des anderen sein. •?2 8 XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. über den Fortschritt oder Verfall, er mag welcher Geschichtsphilo- sophie immer huldigen, Husz bleibt immer älter als Luther. In der Biologie ist es aber anders: dort hängt es von unserer Philosophie ab, ob wir den Amphioxus für älter oder für jünger halten als einen anderen Fisch (z. B. das Neunauge) ; wer an den Fortschritt in diesem Falle glaubt, der nennt das Neunauge jünger, wer an den Verfall, für den ist es älter als der Amphioxus. Oder ein anderes, noch markanteres Beispiel: Amphioxus ist ein jetziger Fisch; Ichthyosaurus ein Reptil, das vor ungeheuer langer Zeit ausgestorben ist; und doch nennt der Darwinist Amphioxus eine ältere, Ichthyosaurus eine jüngere Form. Die Unbestimmtheit, welche Form man als älter, welche als jünger ansprechen soll, ist unter den Entwicklungsphilosophen schier grenzenlos: für keine einzige Form, den Menschen keineswegs aus- genommen, steht die Stellung in der Geschichte der Organismenwelt fest. Während z. B. die meisten die Fische für primitive Wirbeltiere und Vorfahren der Landtiere halten, erklären sie A. DOHRN und neuerdings Koken für degeneriert und von den Landtieren abstam- mend. Nicht alle sind überzeugt, daß die Affen Vorfahren des Menschen sind; einige fassen das Verhältnis gerade umgekehrt auf usw. Die darwinistische Morphologie (und die Embryologie) sind also nur dem Namen nach historische Wissenschaften; ihre Methode be- steht nicht in dem Studium der Vergangenheit der Formen, sondern sie suchen Homologien und Analogien durch Vergleichung, wie es vor Darwin üblich war. Haeckels Einfluß wirkte auf diese Ver- wechselung der Geschichte mit Vergleichung besonders entscheidend ; seine phylogenetischen Theorien, seine Stammbäume, sein biogene- tisches Grundgesetz, sein Kampf gegen die Typen bildet den Grund- ton aller morphologischen Spekulationen der siebziger und achtziger Jahre. Wohl wurde zu jener Zeit Haeckel vielfach bekämpft, und diejenigen, die damals in den Universitätslaboratorien über ihren Ent- deckungen, Bestätigungen und Widerlegungen brüteten, beriefen sich lieber auf weniger prononzierte Namen , als HAECKEL war : auf C. Gegenbaur, auf Ray Lankester, auf F. Balfour, auf O. Hert- wig und andere bewährte Fachmänner, welche Haeckels Ideen übernommen und für den Schulgebrauch angepaßt haben, — ohne sie jedoch in ihrem Wesen irgendwie anzutasten. XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. 32g Übergangsformen. Die Philosophen des 18. und der früheren Jahrhunderte dachten viel über die Übergangsformen nach; von Leibniz stammt die Vor- hersagung, es werde einmal ein Organismus gefunden werden, der die Eigenschaften der Pflanze und des Tieres in sich vereinigen wird ; und als der Süßwasserpolyp, nach den heutigen Anschauungen ein unzweifelhaftes Tier, entdeckt wurde, erklärte ihn LEiBNizens An- hänger BONNET für jenes von seinem Lehrer postulierte »missing link« zwischen Tier und Pflanze. Doch war man damals weit davon entfernt, in den Übergängen den Beweis einer historischen Ent- wicklung der Organismen zu suchen ; erst LAMARCK und konsequenter noch Darwin führten diese Anschauung in die Wissenschaft ein und lehrten, daß die Tatsache, es gäbe in der Natur keine Arten, keine Gattungen, keine Familien, zur Folgerung führen muß, daß die ge- schichtliche Entwicklung in kaum merklichen Schritten vor sich ge- gangen war. Die genetischen Morphologen stellten sich nun die Aufgabe, Übergangsformen zwischen Gattungen und zwischen höheren Gruppen aufzusuchen, und jede Entdeckung einer neuen Übergangs- form diente von nun an als Beweis, daß die Natur in diesem Falle keinen Sprung getan hatte. Lamarck wies auf das Schnabeltier (Ornithorhynchus), das eben die Phantasie seiner Zeitgenossen reizte, als auf einen Übergang zwischen Säugetieren und Vögeln hin; das Tier (von der Größe eines Kaninchens und der Form einer Fischotter) besitzt wie die Vögel einen zahnlosen Schnabel, eine Kloake, zwei Paar Schlüsselbeine und legt Eier, ist aber nichtsdestoweniger ein vierfüßiges, behaartes Säuge- tier, dessen Jungen die Milch ihrer Mutter saugen. Lamarcks An- sicht war aber nicht zutreffend ; als wesentliches Merkmal einer Übergangsform gilt nämlich, daß sie durch ihre Eigenschaften zwei Tiertypen so verbindet, daß man nicht bestimmen kann, zu welchem Typus sie gehört. Dies ist aber beim Schnabeltier nicht der Fall, da es seinem Grundplan nach ein unverkennbares Säuge- tier darstellt, zu dessen Merkmalen nur einige Vogel- resp. Reptilien- eigenschaften hinzutreten. Die genetischen Morphologen und die Paläontologen entdeckten seitdem eine große Reihe von Übergangsformen, welche aber leider alle das Schicksal traf, daß sie, einige Zeit mehr oder weniger an- erkannt, später einer bestimmten Organismengruppe zugezählt wurden. 2-iO XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. Es seien zuerst die Übergänge zwischen den Wirbeltieren und Wirbel- losen kurz besprochen, und dann die übrigen dem Namen nach an- geführt. Der Streit um die Entstehung der Wirbeltiere begann gleich in der Zeit des ersten Aufblühens des Darwinismus; es handelte sich damals um die Gruppe der sogenannten Manteltiere. Die in diese Gruppe gehörenden Aszidien besitzen einen mit einem häutigen Mantel umschlossenen Körper, von dem die Gruppe ihren Namen bekam. An der Vorderseite ihres einfach gebauten Körpers liegt der Mund und hinter diesem ein Kiemenkorb; es folgt ein einmal um- gebogenes Verdauungsrohr, welches sich in eine Kloake öffnet, die neben dem Munde nach außen mündet. Zwischen dem Munde und dem After liegt das zentrale Nervensystem, hinter dem Kiemenkorbe liegt das Herz. CuviER und Baer stellten diese schlüpfrigen Tiere unter die Weichtiere, und Baer verteidigte diese Ansicht noch gegen den Russen A. KOVALEWSKY, der ihre Verwandtschaft mit den Wirbeltieren beweisen wollte. Baer dachte sich den Körper der Manteltiere so gestellt, daß ihr Mund und die Öffnung der Kloake nach hinten und das Nervenzentrum nach unten kamen; dann ent- sprechen die Öffnungen des Manteltieres denjenigen Öffnungen, durch welche das Wasser unter den Mantel der Muscheltiere ein- und wieder herausströmt; auch der gesamte übrige Körper der beiden Tierformen weist dann einige Analogien auf. KOVALEWSKY verglich dagegen die Manteltiere mit den Wirbel- tieren und zwar mit dem einfachsten derselben, mit Amphioxus, einem etwa 5 cm langen Fisch, ohne Knochen, ohne Extremitäten und mit einer äußerst einfachen inneren Struktur; Pallas, der ihn im Jahre 1774 entdeckte, hielt ihn für eine nackte Schnecke und erst 1834 wurde seine Fischnatur erkannt. KOVALEWSKY fand viele Analogien zwi- schen der Ontogenie des Amphioxus und der Manteltiere: bei beiden wird das Nervensystem am Rücken aus dem Ektoderm angelegt; die Larve der Manteltiere (welche wie eine Kaulquappe aussieht, voll- kommener als das entwickelte Tier ist und frei schwimmt, während das entwickelte Tier festgesetzt ist), besitzt im Schwanz unter dem Nervensystem ein der sogenannten Chorda dorsalis des Amphioxus ähnliches Organ, von welchem man bereits früher wußte, daß es den einfachsten Fall des Rückgrats darstellt. Andere Forscher bestätigten diese Ähnlichkeit zwischen den ersten Entwicklungsstadien des Am- phioxus und der Manteltiere, und sie fanden noch andere Analogien, von welchen besonders folgende hervorgehoben werden: beide Tier- XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. 331 gruppen besitzen ein in der Jugend nach außen durch eine Öffnung, den sogenannten Neuroporus, mündendes Nervenrohr ; darunter liegt bei beiden die Chorda dorsalis; bei beiden ist der vordere Teil des Verdauungsrohres zu einem Kiemensack umgewandelt: beide Formen besitzen einen Schwanz (ohne Verdauungsrohr), in welchem die Seg- mentierung des Nervensystems und der Muskulatur angedeutet ist. Trotz dieser Ähnlichkeit sind nicht alle Forscher überzeugt, daß es die Aszidien sind, welche den Übergang zwischen den Wirbel- tieren und Wirbellosen bilden; C. Semper behauptete, besonders auf Grund der Analogie von Exkretionsorganen zwischen den Würmern und den Wirbeltieren, daß die letzteren sich aus den Ringelwürmern entwickelt haben1); A. A. W. HUBRECHT suchte wieder die Ahnen der Wirbeltiere unter den Nemertinen 2), einer Gruppe ungeringelter Würmer; W. Patten leitet sie seinerseits von einem Krustentiere, namens Limulus ab 3), andere von Balanoglossus, welcher den Echi- nodermen verwandt ist 4). Namentlich die Paläontologen rühmten sich, viele Übergänge ent- deckt zu haben; unter anderen den Vogel Archaeopteryx, der einen Übergang zwischen Vögeln und Reptilien bilden sollte, ferner die Dinosauria, eine Reptiliengruppe, welche angeblich ebenfalls an der Grenze zwischen Reptilien und Vögeln steht; lebende und ausge- storbene Lurchfische tDipnoi), welche die Fische und Amphibien verbinden sollen usf. A. FLEISCHMANN beleuchtete vor kurzem kri- tisch die Lehre von den Übergangsformen und wies an mehreren Beispielen nach, wie der ursprüngliche Enthusiasmus über dieselben im Abnehmen begriffen ist; dieses Mißlingen führte ihn dazu, die Phylogenie überhaupt zu verwerfen3); er kehrt zu Leibniz zurück und behauptet, daß die Frage nach dem Ursprünge der Tiere nicht in das Arbeitsprogramm der exakten Wissenschaft gehöre6). Deutlicher konnte das Aufsuchen der Übergänge gewiß nicht ver- urteilt werden. J) C. Semper, Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Tiere, Würzburg 1875. 2) Relation of the Nemertea to the Vertebrata. Q. J. Mi. Sei. 77, 18S7. i) On the Origin of the Vertebrates V. Int. Kongr., Berlin 1901. W. Bateson. The Ancestry of Chordata. Quart. J. Mi. Sei. 26, 1886. 5) A. Fleischmann, Die Deszendenztheorie, Leipzig 1901. — Ders., Lehrbuch der Zoologie, 1898, S. 363. 6) Ibid. S. 389. — Fleischmanns Schrift wurde von L. Plate (Biol. Zentralbl. 1901. S. 133 sq. kritisiert; Plate ist leider so sehr in der darwinistischen Dogmatik befangen, daß er Fleischmann nicht ganz verstanden hat. ■j^2 XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. FLElSCHMANNs Skepsis dürfte wohl zu negativ sein; wenn aber die Resultate der Phylogenie der Wirbeltiere so schwankend sind, daß man es wagen kann, sie insgesamt zu leugnen, so muß man sagen, daß die Phylogenie der Wirbellosen noch viel labiler ist. Von den Wirbeltieren weiß man wenigstens, daß die Fische früher da waren als die Reptilien, diese früher als die Vögel und Säugetiere; von den Wirbellosen kennt aber die auf die Morphologie sich stützende Phylogenie meistens nicht einmal soviel. Gleich die Grenze zwischen den Wirbeltieren und Wirbellosen wurde auf zweierlei ent- gegengesetzte Art verstanden, wie bereits oben erwähnt. Dieser Fall bildet aber keine kuriose Ausnahme, sondern der Streit darüber, welche Form man als Anfang und welche als Ende der Entwicklung irgend eines Typus anzunehmen sei, war insbesondere bei niederen Formen allgemein üblich. Deshalb wurde auch die Meinung aus- gesprochen, daß die Wirbellosen zu phylogenetischen Spekulationen überhaupt nicht taugen, und daß sich die Phylogenie vorwiegend auf die Wirbeltiere beschränken soll. Es seien nun die wichtigsten Übergangsformen dem Namen nach angeführt, welche in darwinistischen Spekulationen eine bedeutendere Rolle gespielt haben: Catallacta (Übergang zwischen Proto- und Meta- zoen), Coeloplana Metschnikowii und Ctenoplana Kovalewskii (Cteno- phora-Plattwürmer), Trochosphaera aequatorialis (Rotatoria-Annelida), Hexarthra polyphera (Rotatoria-Arthropoda), Dinophilus (Rotatoria- Annelida), Balanoglossus (Echinodermata-Wirbeltiere), Limulus (Tri- lobita-Arachnoidea), Peripatus (Insekten - Würmer) , Scolopendrella (Insecta-Myriopoda), Proneomenia (Mollusken -Würmer), Phoronis (Würmer-Brachiopoden), Tunicata (Wirbellose-Wirbeltiere), Amphioxus (Tunicata- Fische), Ganoiden (Haifische -Knochenfische), Dipneusten (Fische -Amphibien), Dinosauria (Reptilien -Vögel) , Archaeopteryx (Vögel-Reptilien), verschiedene ausgestorbene Huftiere, Gibbon, Pi- thecanthropus (Affe-Mensch) u. a.1). In der Botanik stehen die Dinge keineswegs besser. Man kennt keine paläontologischen Übergänge zwischen den Algen und Moosen, zwischen Moosen und Farnen, zwischen den Nackt- und Gedeckt- sämigen usf., so daß man vielfach vom Aufsuchen solcher Übergänge gänzlich absah und an eine sprungweise Veränderung der Pflanzen- typen glaubt. x) Ausführlichere Diskussionen über diese und andere »Übergangsformen« finden sich in jedem größeren Lehrbuch der Zoologie, wo auch die betreffende Literatur angeführt ist- XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. 733 Organe. Wie der Chemiker die Materie in ihre Elemente auflöst, wie der Geometer das Dreieck in Seiten, Winkel und Fläche analysiert, wie der Psychologe in der Seele des Menschen verschiedene Fähigkeiten unterscheidet, so sucht auch der Anatome durch Vergleichung der Formen ihre organischen Elemente, die Bausteine des Tier- und des Pflanzenkörpers zu ermitteln. GOETHE fand im Blatte, in dem Wirbel- bein, Schleiden in der Zelle, OWEN in den homologen Teilen die Elemente des organischen Körpers. Die Analyse des organischen Körpers kann aber auf mehrere Arten geschehen, von welchen besonders zwei von den Anatomen bevorzugt werden: die nach der funktionellen und die nach der morphologischen Bedeutung der Teile. Die vordere Extremität des Pferdes, des Walfisches, des Vogels sind einander strukturell ähnlich, hrer Funktion nach aber unähnlich, indem die erstere dem Laufe, die zweite dem Schwimmen, die dritte dem Fluge dient. Funktio- nell ist die Walfischfiosse der Fischflosse ähnlich, obwohl sie ihrer Struktur nach verschieden sind ; und eine noch größere funktionelle Ähnlichkeit, verbunden mit morphologischer Unähnlichkeit, findet man z. B. zwischen dem Vogel- und dem Schmetterlingsflügel. Wir wissen bereits, daß die Morphologen die ihrem Plane nach ähnlichen Teile homolog, die der Funktion nach ähnlichen analog nannten, und daß Haeckel und mit ihm die übrigen Entwicklungs- philosophen diese Klassifikation übernahmen. Für Haeckel und Gegenbaur sind diejenigen ähnlichen Organe homolog, welche die Tiere von einem gemeinsamen Ahnen erbten: nehmen wir an, daß das Ursäugetier vierfüßig war, dann sind die Füße aller Säugetiere homologe Gebilde; die übrigen ähnlichen Organe, bei welchen man die gemeinsame Abstammung nicht annehmen kann, gelten als ana- log1), d. h. sie sind aus verschiedenen Anlagen entstanden, wurden aber infolge äußerer Umstände einander ähnlich. Unter den Ana- logien und Homologien unterscheiden die Darwinisten folgende spe- zielle Fälle: 1. Analoge Variationen; nach Darwin sind dies ähnliche Eigenschaften verwandter Formen, die aber nicht von einem gemein- J) Gegenbaur führt auch sog. homomorphe Organe an den Namen führte M. FÜRBRINGER ein) und ihre Definition scheint auf die »Homoplasie« Ray LankilSTERs zu erinnern; er führt aber den Begriff nicht weiter aus. ■2 7/1 XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. samen Ahnen vererbt, sondern selbständig wegen einer ähnlichen inneren Disposition erlangt wurden. Als Beispiel werden von Dar- win federfüßige Tauben angeführt1); verschiedene Taubenrassen be- sitzen befiederte Füße, ohne jedoch diese Eigenschaft von ihrem wilden Urvater, von der Felstaube, geerbt zu haben (denn diese hat kahle Füße), sondern eine ähnliche innere Organisation war der Grund, warum manche Rassen von der Stammform in derselben Weise abgewichen sind. Von den Paläontologen wird häufiger ein anderer Name für denselben Begriff angewendet: Formenreihen, welche einander strukturell ähnlich sind, ohne jedoch diese Eigen- schaft von gemeinsamen Vorfahren geerbt zu haben, heißen »Par- allelismen«, oder, dem Vorschlage Ray LANKESTERs zufolge, »Homoplasien«, auf welche letztere besonders der amerikanische Paläontologe Henry F. OSBORN in neuester Zeit Nachdruck legte2). 2. Konvergent heißen nach Darwin solche ähnliche Eigen- schaften weit voneinander im Systeme stehender Tiere, welche durch den Einfluß einer ähnlichen Umgebung entstanden. Als Beispiel werden die zusammengesetzten Augen der Krustazeen und Insekten zitiert, welche zwar ähnlich gebaut sind, aber nicht homolog heißen dürfen, da angeblich ihr gemeinsamer Ahne noch keine zusammen- gesetzten Augen besaß. Der Unterschied zwischen Konvergenz, Ho- mologie und Parallelismus ist praktisch leider oft kaum zu erraten. Neuerdings wird vielfach der Begriff der Konvergenz unabhängig vom Darwinismus definiert und es werden unter denselben alle ähn- lichen Strukturen, welche bei weit voneinander stehenden Formen vorkommen, eingereiht. Man rechnet hierher z. B. die Schlangen- form, welche bei einem permischen Stegocephalen (Dolichosoma), beim Aal sowie anderen Fischen, bei den Schleichenlurchen (Coe- cilia), bei der Blindschleiche, den Pythonomorpha aus der Kreide- formation und bei den Schlangen vorkommt. Auch verschiedene Zahnformen, Schalenstrukturen, Körperbedeckungen in der Form von Panzern, Hörnern usw. kommen als derartige konver- gente Eigenschaften vor. 3. Analogien (im Sinne der alten Morphologie) sollen funktio- nelle Ähnlichkeiten darstellen. Über solche Ähnlichkeiten hat man am wenigsten nachgedacht, und man glaubt bis auf den Tag allge- x) Ch. Darwin, Or. of spec, S. 118. 2) Henry F. Osborn, Homoplasy as a Law of latent or potential Homology. Amer. Natur 36, 1902. In dieser Abhandlung ist eine Analyse der jetzigen Ansichten b^r d ie Homologie sowie die entsprechende Literatur zu finden. XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. 33 c mein, daß z. B. Analogien zwischen dem Flug der Fledermäuse, der Vögel und der Schmetterlinge keine tiefere Bedeutung besitzen. Wahr- scheinlich stellen aber die Begriffe »Fliegen«, »Schwimmen«, »Laufen<-. durch welche jene Analogien ausgedrückt werden (indem man von einer Ähnlichkeit der Flug-, der Schwimmorgane usw. spricht), nur eine oberflächliche Beschreibung jener Ähnlichkeiten dar, und eine tiefere Analyse des Vogel f luge s, des Laufens eines Pferdes, des Schwim- mens eines Walfisches wird unter diesen drei verschiedenen Funk- tionen vielleicht eine innigere Analogie finden können, als zwischen dem Flug eines Vogels und eines Schmetterlings, zwischen dem Schwimmen eines Walfisches und eines Fisches. Es ist wahrschein- lich, daß man dann ebenfalls von funktionellen Homologien wird schreiben können, wie man heute von strukturellen schreibt, und daß man zwischen beiden irgend eine innere Beziehung ent- decken wird. Es könnte auffallend erscheinen, daß die Darwinisten so wenisf auf die physiologischen Betrachtungen über die Bedeutung der Organe Nachdruck legten; wenn man sich ihres Grundsatzes erinnert, daß der Plan nichts, die Beziehungen zu dem Milieu alles bedeuten, würde man eher das Umgekehrte erwarten. Einerseits war jedoch der Ein- fluß der alten Morphologie noch zu stark, andererseits, wie schon bemerkt, wurde die Physiologie von den Darwinisten nicht als eine selbständige Wissenschaft anerkannt, sondern man wähnte die Funk- tionen aus dem Bau jedes Organs erraten zu können. Nur vereinzelte Versuche eines wahrhaft physiologischen Begreifens der Tierwelt sind zu verzeichnen. Axt. Dohrn, der Begründer der Zoologischen Station in Neapel, stellte eine Hypothese auf1), die er Prinzip des Funktionswechsels nannte; ein jedes Organ habe mehrere Funktionen, eine Haupt- und einige Nebenfunktionen: so dient z. B. die Extremität zum Gehen, als ihrer Hauptfunktion, aber auch zum Springen, Schwimmen, Greifen usf. Es soll nun vor- kommen, daß die Hauptfunktion verfällt und eine der Nebenfunktionen an ihre Stelle tritt und zur Hauptfunktion wird, worauf auch eine strukturelle Umwandlung des Organs folgt. Dohrx entwickelte jedoch seinen Gedanken nicht weiter: weder untersuchte er, ob wirklich das Gehen die Hauptfunktion der Extremität ausmacht, noch in welcher Beziehung zu derselben die Nebenfunktionen stehen, und deshalb ging sein Gedanke ohne Widerhall vorüber. J) A. Dohrn, Der Ursprung der Wirbeltiere und das Prinzip des Funktions- wechsels, Leipzig 1S75. •2 ? 6 XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. Einen größeren und nachhaltigeren Erfolg, der bis in die modern- sten sog. organographischen Theorien hineinreicht, hatte ein wesent- lich ähnlicher , vom Botaniker Jul. Sachs entwickelter Gedanke. Sachs behauptete, daß die Pflanzen latente Eigenschaften haben, welche sich erst unter besonderen Lebensbedingungen offenbaren: so sollen die Wurzeln der gewöhnlichen Pflanzen in einem geringeren Maße dieselben Eigenschaften besitzen, wie die Wurzeln der epi- phy tischen Pflanzen, d. h. solcher, welche (wie unsere Flechte und viele tropische Orchideen) an den Bäumen wachsen, ohne jedoch von ihnen parasitisch zu leben; sie leben wesentlich nur davon, was ihnen die Luft bietet. SACHS gelang es auch, die Kartoffeln, die Wicke, die Erbse, den Mais zu einem epiphytischen Leben zu bringen und so zu beweisen, daß man die Pflanze durch Veränderung der Lebens- bedingungen zur Umgestaltung ihres Typus bringen kann1). Sachs ist überzeugt, daß sich durch solche Entwicklung latenter Eigenschaften eine Reihe von Ähnlichkeiten unter den Pflanzen er- klären läßt, indem in diesen Fällen verschiedene Pflanzen auf den- selben äußeren Reiz in derselben Weise reagierten, und nennt diese Ähnlichkeiten »habituellen Parallelismus«, als welcher z. B. folgende Ähnlichkeiten zu betrachten seien : die Ähnlichkeit unter den Blättern höherer Pflanzen und den Blattgebilden der Moose und Algen; unter den fleischigen Kakteen und Euphorbiazeen; zwischen Rosa berberidifolia und dem Berberisstrauch, zwischen Geranium triste und den Umbelliferen (in den letzten zwei Fällen ist die Ähnlichkeit so groß, das man sie Mimikry nennen kann) usw.2). Sachs studierte auch die Homologien der Pflanzen; die analogen Variationen oder Homoplasien nannte er »phylogenetische Parallelen«. Nebst anderen Botanikern analysierte besonders E. Strasburger3) die Ähnlichkeit unter den Pflanzen und unterschied architypische und phylotypische Homologien. Die ersteren sollen durch Vererbung von gemeinsamen Ahnen entstandene Ähnlichkeiten be- zeichnen; so z. B. sollen Kladodien (d. h. Zweige, welche einem Blatt ähnlich sind), Dorne und gewisse Ranken architypisch homolog sein, indem alle aus einer Urform, aus dem Sproß entstanden. Phylo- typische Homologien sollen innere Ähnlichkeiten darstellen, welche sich (wie die Homoplasien) nach denselben inneren Gesetzen bei z) J. Sachs, Physiol. Notizen IV. Über latente Reizbarkeiten (1893). 2) J. Sachs, Physiol. Notizen, S. 174. 3) E. Strasburger , Ein Beitrag zur Kenntnis von Ceratophyllum. Jahrb. wiss. Botanik 37, 1902. XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. 337 verschiedenen Formen entwickelten; hierher soll die Analogie im Bau des Vegetationspunktes aller vielzelligen Pflanzen gehören. STRASBURGER schreibt endlich noch von einer »pantypischen Homologie«, worunter die Ähnlichkeiten zu verstehen sind, welche unter allen Organismen bestehen, so z. B. die Zellteilung, welche bei allen Tieren und Pflanzen nach denselben Gesetzen vor sich geht. Man strebte auch nach weiterer Analyse des organischen Körpers; da man jedoch einer begrifflichen Analyse entfremdet war, blieb man bei einer grob empirischen Unterscheidung von Geweben und Organen, wie sie sich dem Auge in der elementaren Anatomie bieten; C. GEGENBAUR unterscheidet z. B. zweierlei Organe im Körper: 1. Elementare (= HAECKELs Piastiden), d. h. Zellen und Ge- webe, welch letztere wieder in vegetative (Epithelien und Binde- gewebe) und in animale (Muskel- und Nervengewebe) eingeteilt werden. 2. Organe höherer Ordnungen sind aus den elementaren zusammengesetzt z. B. die Drüsen) , die wieder zu Organsystemen zusammentreten, welche aus gleichartigen, und zu Organapparaten, welche aus ungleichartigen Organen bestehen. GEGENBAURs auf den empirischen Gegensatz von »einfach« und »zusammengesetzt« gegründete Klassifikation erinnert an die aristo- telische Einteilung der Gewebe in weiche und harte, und achtet weder auf die anatomische noch auf die physiologische Verwandtschaft der Körperteile; nichtsdestoweniger herrscht sie noch unbestritten in den Diskussionen der Schulmorphologie. Statt der begrifflichen Analyse der Körperteile dachten die gene- tischen Morphologen vielmehr gerne über deren Ursprung nach und folgten dabei derselben Methode, wie bei den Erörterungen über die Abstammung der Tiergruppen. Sie verglichen die Organe unter- einander, forschten nach ihren Homologien und stellten die homo- logen Organe nach ihrer Differenzierung in Reihen zusammen, welche mit der einfachsten Form begannen, in zusammengesetztere übergingen und in den am meisten zusammengesetzten gipfelten. So z. B. analysier- ten sie bei dem Studium des Gehirns die Gehirne der verschiedensten Wirbeltiere und stellten dann eine Reihe auf, welche mit dem Amphi- oxusgehirn anfing, worauf das Gehirn der Neunaugen folgte usw. und das Menschenhirn den Abschluß bildete. Die so zusammengestellten Reihen nannte man phylogenetische Entwicklung des Organs und gab ihnen historische Bedeutung: das einfachste Organ hielt man für das Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. 22 ■j-2 8 XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. »älteste« oder für das »ursprüngliche«; statt zusammengesetzt sagte man »fortgeschritten« oder »entwickelter«. Einige stellten unter der Führer- schaft von C. Gegenbaur solche Reihen vorwiegend nur aus er- wachsenen Organen zusammen; andere nahmen auch embryonale und larvale Formen in diese Reihen auf und gelangten auf solche Art zu einer anderen »Geschichte« des Organs, als die ersteren. Nicht nur ganze Organe, sondern auch ihre einzelnen Teile, Gewebe und Zellen wurden zu solchen phylogenetischen Reihen zusammengeordnet; HAECKEL z. B. stellte eine Phylogenie der Gewebe auf, andere schrie- ben über die historische Entwicklung der Hautpigmente, der Sinnes- zellen, einzelner Muskeln usw. Der Kampf gegen die Typen. Eine Konsequenz der DARWlNschen Lehre war die Annahme, daß, wie es in der Natur keine Arten, keine Gattungen, keine Familien gibt, auch die Typen keineswegs durch die Natur gegeben sind. Darwins Anhänger vermehrten mit Vorliebe die Anzahl der höchsten Gruppen des Tierreichs, um zu beweisen, daß nichts daran gelegen ist, ob wir deren vier oder zehn annehmen. In der Tat scheint heute an eine Geschlossenheit der ursprünglichen vier Typen Cuviers niemand mehr zu glauben; aber auch die entgegengesetzte Ansicht, daß es keine Typen gibt, erhielt sich höchstens nur in dieser theoretischen Behauptung, während man praktisch bald wieder zu der Typenlehre zurückkehrte. Man spricht nämlich allgemein von einem poly- phyletischen Ursprünge der Organismenwelt, wodurch angenommen wird, daß es mehrere Pflanzen- und Tierstämme gibt, welche sich untereinander grundsätzlich, d. h. durch ihre ganze Geschichte unter- scheiden. Über die Anzahl dieser Stämme herrscht keine Überein- stimmung; Darwin nahm ursprünglich für die Tiere und Pflanzen je vier bis fünf solche Stämme an, ohne aber einen Grund dafür anzugeben, warum er eben diese Anzahl angibt; später glaubte er jedoch, daß auch diese acht oder zehn Urformen aus einem einzigen Urorganismus entstanden sind. Auch Haeckel ging von einer polyphyletischen Auffassung zu der monophyletischen über, und be- hauptete, daß es zwischen beiden keinen wesentlichen Unterschied gebe; mit dieser Behauptung hatte er insofern recht, als auch die späteren Morphologen keine enscheidenden Gründe anführen konnten, warum man sich für die eine oder die andere Ansicht entschließen sollte. Trotzdem wurde von den jüngeren Morphologen viel häufiger XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. 339 die polyphyletische Entstehung der Tierwelt als die einstämmige, die monophyletische, angenommen. Daß die Lehre von einer polyphyletischen Abstammung der Pflanzen und der Tiere eine Erneuerung der CuviERschen Typenlehre ist, zeigt anschaulich J. Sachs. Er wußte wahrscheinlich nicht, daß der Begriff und der Name »archetype« von Owen für die Be- zeichnung des Planes einer bestimmten Tiergruppe eingeführt wurde ; wahrscheinlich las er irgendwo dieses Wort und es fiel ihm ein, als er über die phylogenetischen Gruppen nachdachte; und so kam er auf die Definition, daß der »Architypus« (so heißt es bei ihm) eine phylogenetische Reihe der Pflanzen1) von gemeinsamer Abstammung bedeutet, und daß in jedem Architypus ein für ihn charakteristi- sches Formgesetz herrscht — auch Owen vermochte seine Typen nicht anders zu charakterisieren. SACHS unterscheidet folgende Architypen, d. h. von ihrem Ursprünge an verschiedene Entwick- lungsreihen der Pflanzen2): 1. Cyanophyceae (Schizomycetae und Schizophyta) = blaugrüne Algen ; 2. Phaeophyceae (braune Algen); 3. Rhodophyceae (rote Algen); 4. Conjugatae (und Bacillariaceae ; Grünalgen z. T.); 5. Siphoneae (andere grüne Algen); 6. Archegoniatae, welche die größte Anzahl der Pflanzen, von den Algen (z. B. Coleochaete) angefangen bis zu den Phanerogamen umfassen. — Wie die Lehre vom polyphyletischen Ursprung der Tiere nur eine historische Auffassung der CuviERschen Typen darstellt, so ent- fernte sich auch die moderne Klassifikation keineswegs allzuweit von CuviERs System. Man vergleiche nur mit den Typen Cuviers (Wir- beltiere, Weichtiere, Gliedertiere, Würmer, Strahltiere) die modernen höchsten Gruppen des Tierreichs und man wird zwar den Namen Typus nicht lesen, man wird die Anzahl der höchsten Abteilungen vermehrt finden, man wird eine bedeutsame Neuerung in der Ein- führung der Protozoen erkennen, sonst aber leicht das moderne System in den Rahmen der CuviERschen einstellen können. Ich führe vier Beispiele moderner Systeme an, deren Autoren, FLEISCH- MANN ausgenommen, den durch Haeckel verteidigten Standpunkt *) J. Sachs, Physiol. Notizen, Marburg 1S98 (1896. ») Ibid. S. 181. zz* 34° XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. annehmen; man vergleiche, wie z. B. KORSCHELT und Heider, trotz- dem sie das Tierreich in so viele kleine Gruppen spalteten, dennoch CuviER nur dadurch überwanden, daß sie mehr Abteilungen schufen als er, unter denen aber die CuviERschen Strahltiere (No. 2 — 4, 14, 15), Weichtiere (25 — 29), Gliedertiere (ic — 13, 16 — 24) und Wirbel- tiere leicht zu erkennen sind1). Vergleichende Tabelle der höchsten Abteilungen des Tierreichs nach KORSCHELT und R. Hertwig A. Lang A. Fleischmann Heider (Zoologie 1892) (vgl. Anat. 1894) (Zoologie 1898) (vgl. Entwicklungs- geschichte 1890) A. Protozoa A. Protozoa A. Protozoa 1. A. Protozoa B. Metazoa B. Metazoa B. Metazoa Spongiae 2. Porifera Coelenterata Coelenterata Coelenterata 3. Cnidaria Plathelminthes Piatodes 4. Ctenophora 5. Plathelminthes 6. Orthonectida et Nemertina Dicyemida 7. Nemertini Rotatoria 8. Nemathelminthes 9. Acanthocephali 10. Rotatoria Vermes (hierher ge- Vermes Annelides 11. Annelides hört a. d. letzt. Koll. auch Nr. 31,33,34) Sipunculida 12. Sipunculida 13. Chaetognatha 14. Enteropneusta 15. Echinodermata Arthropoda 16. Crustacea 17. Palaeostraca 18. Arachnoidea 19. Pentastomida 20. Pantopoda 21. Tardigrada 22. Onychophora 23. Myriapoda 24. Insecta 25. Amphineura x) Über die darwinistische Systematik vgl. A. Giard, Les faux principes biolo- giques et leur consequence en taxonomie (1876). Controverses transformistes, Paris 1904, S. 63 sq. XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. 341 Korschei.t und R. Hertwig A. Lang A. Fleischmann Heider (Zoologie 1892 vgl. Anat. 1894' Zoologie 1898 (vgl. Entwicklungs- geschichte 1890 26. Lamellibranchiata 27. Solenoconcha 28. Gasteropoda 29. Cephalopoda 30. Phoronidea Bryozoa 31. Bryozoa ecto- Brachiopoda procta 32. Brachiopoda Echinodermata 33. Endoprocta Mollusca d.i. Nr. 2 5 bis 29 d. letzt. Koll. Mollusca Tunicata 34. Tunicata Echinodermata Echinodermata Tunicata Mollusca Arthropoda Vertebrata Vertebrata Arthropoda Vertebrata 35. Cephalochorda (36. Vertebrata Die ganze Morphologie, nicht nur ihre darwinistische Richtung, be- findet sich heute im Verfall. Bereits zur Zeit des Auftretens Darwins wurde sie durch die genetische x\nsicht stark erschüttert; H.VECKEL erhob sie zu neuer Blüte, als er sie zum Aufsuchen von Stammbäu- men umwandelte; alle Morphologen traten in seine Dienste; heute büßt ihre Wissenschaft dafür, indem sie das Odium der Unexakt- heit tragen muß, das den Darwinismus überhaupt verfolgt; die Phy- siologie wird modern und droht die Morphologie auf einige Zeit ganz zu unterdrücken1). *) Systematisch wurde die darwinistische Morphologie bearbeitet durch C. Gegen- baur, Vergleichende Anatomie der Wirbeltiere, Leipzig 1898; R. Wiedersheim, Ein- führung in die vergl. Anatomie der Wirbeltiere, Jena 1907; A. Lang, Vergl. Anatomie der wirbellosen Tiere, Jena 1900 (unvollst.). Antidarwinistisch ist: A. Fleischmann. Die Stammesgeschichte der Tierwelt, Wiesbaden 1S9S. — Gegen die neuerdings übliche Hintansetzung der Morphologie und Hervorhebung der angeblich exakteren Physiologie (Entwicklungsmechanik) sprach sich mit guten Gründen nur Rud. Burck- hardt aus (Zur Geschichte der biologischen Systematik, Basel 1903, S. 399). Viel- leicht ist auch etwas Wahres an Burckhardts Meinung, dab die weniger bild- samen und paläontologisch gut erforschten Wirbeltiere sich mehr für phylogene- tische, die dem Experimente zugänglicheren Wirbellosen mehr für entwicklungs- •?42 XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. Darwinistische Embryologie. Die darwinistische Embryologie stand gänzlich unter dem Ein- flüsse des biogenetischen Grundgesetzes: die Aufgabe des Embryo- logen lag in der Ermittelung der Geschichte jedes Wesens aus dessen Ontogenie, und da dieses direkt nicht möglich ist, wurde diese Geschichte indirekt nach Haeckels Grundsatze, daß die Em- bryonalentwicklung eine verkürzte und modifizierte Wiederholung der phylogenetischen Entwicklung sei, konstruiert. Der scharfsinnige englische Embryologe FRANCIS Balfour, be- stimmte auf Grund dieser Anschauung die Aufgabe der Embryologie wie folgt1). i. In dem phylogenetischen Teile sucht die Embryologie zuerst die Vorfahren aller vielzelligen Wesen durch Vergleichung ihrer ein- zelnen embryonalen Stadien zu ermitteln; so zieht sie aus der Tatsache, daß die Entwicklung mit dem Ei anfängt, die Konsequenz, daß alle vielzelligen Wesen aus der Amöbe entstanden sind. Ferner sucht sie in den Larven der heutigen Tiere Formen, welche an deren Ahnen erinnern; so folgert sie aus der Ähnlichkeit der Larve der Mollus- ken, der Würmer und der Echinodermen, welche Ray Lankaster »Trochosphaera« nannte, daß die Trochosphaera einmal als erwach- senes Tier lebte, aus dem sich jene Tiergruppen später entwickelt haben. Drittens vergleicht die Embryologie diese Larven mit aus- gestorbenen und lebenden Tieren, und wenn sie z. B. findet, daß die Trochosphaera einigen Rotatorien ähnlich ist, schließt sie daraus, daß auch die Rotatorien sich aus ihr entwickelt haben. Die phylogenetische Embryologie forscht auch nach embryonalen Organen, welche während der weiteren Entwicklung verkümmern, wie es z. B. die Kiemenspalten der Säugetierembryonen tun; sie denkt nach, ob solche Organe von den Vorfahren vererbt oder ob sie durch Anpassung an neue Lebensbedingungen entstanden sind. Wenn sie nun findet, daß diese embryonalen Organe sonst auch bei erwach- senen Formen vorkommen, wo sie eine bestimmte Funktion ver- sehen, so folgert sie, daß jene embryonalen Organe durch den Zu- stand dieser entwickelten hindurchgehen. mechanische Untersuchungen eignen (ibid. S. 400). — Über den Versuch H. Friedmanns, die idealistische Morphologie unter dem Namen »rationelle Organisationslehre< zu er- neuern, wird später berichtet werden. J) F. M. Balfour, Treatise on comparative Embryology, 2 Vols., London 1880 bis 1881. XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. 343 2. Die zweite Abteilung der Embryologie beschäftigt sich mit der Lehre von der Entstehung der Organe aus dem Ei; sie analy- siert den Ursprung und die Homologien der Keimblätter, den Ur- sprung der Grundgewebe und ihre Beziehung zu den Keimblättern, die Entstehung und Entwicklung der Organe. Dieses Programm wurde von den Embryologen befolgt; es wur- den einerseits Stammbäume der Tiere durch Vergleichung der Em- bryonen aufgestellt, andererseits die Frage gelöst, aus welchen Zellen des gefurchten Eies jedes Gewebe und jedes Organ entsteht. Sehr vielen Organen, Larven und Embryonen wurde damals die Bedeutung zugeschrieben, daß sie phylogenetische Durchgangsstadien in der Entwicklung der Tierwelt darstellen: Nachdruck wurde auf die im Kapitel über Haeckel erwähnte Gastrula gelegt; ferner auf die Larven der Meeresplanarien, auf die Larve der Nemertini (einer Gruppe der Würmer), welche Pilidium heißt, auf den Rotator Trochosphaera und die Larve der Borstenwürmer namens Tro- chophora; alle diese Organismen und viele andere wurden für Vorfahren einer mehr oder weniger großen Reihe von Formen aus- gegeben1). Unter den Organen wurde großer Nachdruck auf die Segmentaldrüsen der Würmer (aus welchen sich angeblich gewisse Drüsen der Arthropoden und der Wirbeltiere entwickelten), auf die gespaltenen Füße einiger Krebse, auf die geringe Anzahl der Segmente bei den Larven einiger Tausendfüßer (welche Larven für Vorfahren der Insekten galten), auf die Kiemenspalten hinter dem Kopfe der höheren Wirbeltiere usw. gelegt. In der zweiten von BALFOUR angegebenen Abteilung der Em- bryologie wurden die Spekulationen auf die Lehre von den Keim- blättern gegründet. Wir wissen bereits, daß die Gastrula und die hypothetische Gastraea zwei Keimblätter, das Ektoderm und das Entoderm, besitzen; diese Keimblätter wurden bei allen Formen, wo sie vorkommen, für homolog, d. h. für von einem gemeinsamen Vor- fahren vererbt erklärt, und diejenigen Gewebe und Organe wurden als verwandt betrachtet, welche sich aus demselben Keimblatt ent- wickeln. So z. B. wurden das Nervensystem und die Epidermis, welche beide aus dem Ektoderm entstehen, als mit einander ver- ') Kurze Zeit wurde Balfours Theorie viel diskutiert, daß sich aus Medusen die Larven der Echinodermen und der Brachiopoden, ferner Pilidium, Trochosphaera, Tornania, Actinotrocha entwickelt haben; N. Kleinenberg schloß sich dieser Ansicht an (Die Entstehung des Annelids aus der Larve von Lopadorhynchus. Zeitschr. für wiss. Zool. 44, 1886), doch wurde sie von niemandem sonst angenommen. 344 XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. wandter betrachtet, als mit den Knochen und Muskeln, welche aus dem Mesoderm angelegt werden; das vorderste und hinterste Ende des Verdauungssystems wurde grundsätzlich von seinem mittleren Teile abgesondert, da dieses aus dem Entoderm, jenes aus dem Ektoderm entsteht. Die Spinnen und die Insekten sind verwandte Tiere und ihre Exkretionsorgane (sog. MALPiGHische Drüsen) sehen sehr ähn- lich aus; da aber nach einigen diese Drüsen bei den Spinnen aus dem Entoderm, bei den Insekten aus dem Ektoderm entstehen, dürfen sie nicht als verwandt betrachtet werden, trotz ihrer morphologischen wie physiologischen Ähnlichkeit. Die Keimblätterlehre wurde von den Brüdern Oskar und Richard Hertwig durch die sog. Cölomtheorie1) vervollständigt. Wäh- rend die einfachsten vielzelligen Tiere nur aus zwei Keimblättern, dem Ektoderm und dem Entoderm entstehen, schiebt sich bei den höheren während der Embryonalentwicklung zwischen die beiden noch eine dritte Zellengruppe, das sog. Mesoderm hinein. Bei den höheren Formen entsteht das Mesoderm in der Form zweier Aus- stülpungen des Entoderms , welche Cölomsäcke heißen und die Grundlage für die Leibeshöhle, für das sog. Cölom bilden. Ein solches Mesoderm nennen die HertwiGs »Mesoblast« ; in anderen Fällen entstehen keine Cölomsäcke durch Ausstülpung, sondern es treten aus dem Entoderm (oder aus dem Ektoderm) ohne bestimmte Regeln Zellen in die Lücke zwischen beiden Keimblättern heraus und bilden dort das sogenannte »Mesenchym«; in wieder an- deren Fällen entstehen beide, sowohl das Mesoderm als auch das Mesenchym. Je nachdem das Embryo nur Mesenchym oder auch Cölom bildet, klassifizieren die Brüder Hertwig das gesamte Tier- reich (die Einzelligen selbstverständlich ausgenommen). Ihrer Klassi- fikation fügen sie die Hypothese hinzu, daß das Cölom ursprüng- lich ein sezernierendes Organ war und erst später die Fähigkeit er- langte, Geschlechtszellen zu bilden. Es wurde nun viel darüber ge- stritten, welche Tiere ein Cölom besitzen und welche nicht, ob die Entstehung der sekundären Leibeshöhle durch Ausstülpung oder die- jenige durch Auswanderung der Zellen aus dem Entoderm ursprüng- licher sei, welche Funktion älter sei, ob die Sekretion oder die Geschlechtszellenbildung usf. *) O. und R. Hertwig, Die Cölomtheorie, Versuch einer Erklärung d. mittleren Keimblattes, Jena 1881. Eine Übersicht der Diskussion über diese Theorie findet sich in H. E. Ziegler, Über den derzeitigen Stand der Cölomfrage. Bericht über die Vers. d. deutsch. Naturf. und Ärzte 1898. XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. 345 Der Physiologe G. BUNGE wendet Haeckels biogenetisches Grund- gesetz auch auf Tatsachen der chemischen Zusammensetzung der Tiere an, indem er unser Bedürfnis nach einem Kochsalzzusatz zur Nahrung durch die Deszendenztheorie erklären will1;. Er weist darauf hin, daß sich der Kochsalzgehalt der Organismen nach dem der Umgebung richtet. Von den Pflanzen sind bloß Meerespflanzen, die Meeresufer- und Salzsteppenpflanzen natronreich. Ausnahmen bilden z. B. Chenopodium und Atriplexarten, welche aber als Schuttpflanzen nur in kochsalzreichem Boden gedeihen und ihre nächsten Verwandten unter den Bewohnern der Salzsteppen haben. Unter den wirbellosen Tieren sind ebenfalls nur die Meeresbewohner und ihre nächsten Verwandten auf dem Festlande kochsalzreich, während die typischen Repräsentanten der Festlandsbewohner, die Insekten, sehr arm am Kochsalz sind. Die Wirbeltiere des Festlandes sind dagegen auffallend kochsalzreich — nach Bunge ein Erbstück aus Zeiten, wo sie noch im Meere lebten. Wäre diese Auffassung richtig, fährt BUNGE fort, so müßten wir erwarten, daß die Wirbeltiere in ihrer individuellen Entwicklung um so kochsalzreicher sind, je jünger sie sind. Dieses soll auch tatsächlich der Fall sein : das Säugetierembryo ist kochsalz- reicher als das neugeborene Tier und dieses wird nach der Geburt immer ärmer an Chlor und Kali in dem Maße als die Entwicklung fortschreitet. In den achtziger Jahren kulminierten solche embryologisch-phylo- genetischen Spekulationen2), dann verfielen sie aber rasch, nachdem verschiedene abnormale Entwicklungserscheinungen an Bedeu- tung zugenommen hatten. HAECKEL und die älteren Embryologen kannten zwar viele »Ausnahmen« von normaler Ontogenie, indem sie dieselben jedoch »Anpassungen an besondere Lebensbedingungen« benannten, glaubten sie alles dunkle an ihnen erklärt zu haben. Sie stellten diese Ausnahmen unter die Fälle der sog. »atypischen Ent- wicklung«, worunter sie besonders unterschieden: J) G. Bunge, Physiol. und pathol. Chemie, 4. Aufl. 1S98. 2) Man kann diesen Umschlag in den Anschauungen der Embryologen anschau- lich an dem großen Lehrbuch der vergleichenden Entwicklungsgeschichte der wirbel- losen Tiere von E. Korschelt und K. Heider, Jena, dargestellt sehen ; der erste, der spezielle Teil aus d. J. 1890 steht noch gänzlich unter dem Einflüsse Haeckels : der zweite, der »allgemeine Teil« aus d. J. 1902 bringt keine darwinistischen Dis- kussionen mehr, sondern referiert über Befruchtungserscheinungen (deren Analyse ein Übergangsstadium vom Darwinismus zu neueren Richtungen bildet) und über experi- mentelle Embryologie. 145 XXIII. Darwinistische Morphologie und Embryologie. i. Die Regeneration, z. B. die Heilung der Wunden, die Fähig- keit der Tiere verlorene Körperteile zu ersetzen. 2. Die Teilung, durch welche sich (nebst der geschlechtlichen Vermehrung) z. B. einige Würmer vermehren, indem sich ihr Körper an einer Stelle einschnürt und in zwei Teile zerfällt, deren jeder zu einem neuen, ganzen Tier sich vervollständigt. 3. Die Knospung, wobei ein Tier (z. B. der Süßwasserpolyp) eine Knospe bildet, welche sich zu einem neuen Individuum entwickelt. Mit Darwins und Haeckels Grundsätzen, nach welchen die Form des Organismus eine Kumulation von millionenjährigen Verän- derungen darstellt, ließen sich diese Erscheinungen schwer verein- baren; die Tatsache, daß ein Organismus ein verlorenes Glied ohne weiteres durch ein neues ersetzen kann, bedeutet, in ihren Konse- quenzen dargestellt, für den Darwinismus einen Schlag, wie ein sol- cher einen Antiquitätenliebhaber trifft, wenn man seine vermeintlichen Antiquitäten künstlich herstellt. Neuerdings werden auch die Tatsachen der normalen Entwick- lungsgeschichte gegen Haeckels Grundgesetz gerichtet. Ernst Mehnert versuchte es durch sein Prinzip der »Kainogenese« zu er- setzen, nach welchem sich homologe Organe während der Ontogenie bei jeder Form mit einer ihr spezifischen Schnelligkeit entfalten. Das Herz, welches von den Darwinisten als eine jüngere Differenzierung der großen Blutgefäße aufgefaßt wird, sollte nach Haeckel immer später als diese Gefäße angelegt werden, und doch gibt es zahlreiche Wirbeltiere, bei denen es früher entsteht. Phylogenetisch werden die Milchdrüsen der Säugetiere von den Hautdrüsen, als eine jüngere Differenzierung derselben abgeleitet, ontogenetisch erscheinen sie dagegen viel früher als die Hautdrüsen. Im allgemeinen soll sich nach Mehnert die Geschwindigkeit der Ontogenese eines Organs nicht nach dessen Phylogenie, sondern nach dem Grade seiner Dif- ferenzierung richten; so entfaltet sich z. B. das Schenkelbein des Menschen, welches die größte Längenprogession entwickelt hat, auch am raschesten ; die Phalange I. des Daumens, welche unter den von Mehnert verglichenen Objekten das kleinste Stück war, entfaltet sich am langsamsten1). In der Pfianzenembryologie erreichten Haeckels Anschauungen niemals diejenige Bedeutung, welche ihnen in der Zoologie zuge- z) E. Mehnert, Biomechanik, erschlossen aus dem Prinzip der Organogenese, 1898. XXIV. Die geographische Verbreitung der Tiere und Pflanzen. 347 schrieben wurde, indem jene Wissenschaft von Anfang an durch J. Sachs in selbständigere Bahnen geleitet wurde. Sachs, der mehr der direkten Beobachtung als den philosophischen Abstraktionen glaubte, faßte die Entwicklung als eine stufenweise Entstehung neuer Organe auf. Er teilte sie in vier Phasen ein: die Entstehung des Organs am Vegetationspunkte, wobei noch nicht die Form, son- dern nur die Zahl und die Lage der Organe bestimmt wird; ferner das embryonale Stadium, wo die morphologisch wichtigen Teile angelegt werden; drittens die Streckung, bei welcher die embryonale Anlage vergrößert wird und die definitive Form annimmt; und schließlich die Reifung, während welcher der innere Bau der Gewebe durchgebildet wird1). Auch Sachs stimmte jedoch insofern mit HAECKELs biogenetischem Grundgesetz überein, als er behauptete, ein Organ habe eine desto größere phylogenetische Bedeutung, je früher es am Vegetationspunkt angelegt wird2). Andere Botaniker, besonders E. STRASBURGER folgten Haeckel noch viel weiter3). XXIV. Die geographische Verbreitung der Tiere und Pfianzen. Humboldts Klassifikation der Pflanzen nach ihrem Habitus. Wie die Menschenrassen, die Völker eine bestimmte Heimat haben, so auch die Arten der Tiere und Pflanzen: in anderen Ländern lebt der Elefant, in anderen der Gorilla; die Bergkiefer gedeiht in anderen Zonen als die Zeder. Buffon, der durch seine populäre Naturgeschichte so viele andere biologische Fragen angeregt hatte, gab auch den ersten Anstoß zu der Untersuchung, warum die Elefanten nur in den heißen Gegen- den der alten Welt leben, warum ein anderer Tapir in Indien, ein anderer in Südamerika lebt, warum sich die Verbreitung der Tiere über die Erde nicht nach dem Klima allein richtet. Nach Buffon war es der deutsche (russifizierte) Reisende P. S. Pallas (der die Mammute und Nashorne unter dem sibirischen Eis entdeckte), der ') J. Sachs, Physiologische Notizen, Marburg 189S, S. 68. 2) Ibid. S. 72. 3) Ausführlicher wurde Haeckels Gesetz in der Botanik angewendet durch J. Massart, La recapitulation et l'innovation en embryologie v£getale. Bull. Soc. roy. Belg. 33, 1894. ■248 XXIV. Die geographische Verbreitung der Tiere und Pflanzen. viel Neues über die Verbreitung der Tiere auf unserer Erde vor- zubringen wußte. Das größte Interesse jedoch widmete diesem Stu- dium der deutsche Polyhistor Alex. V. Humboldt (1769 — 1859), eine charakteristische Erscheinung aus der GoETHE-SCHiLLER-Zeit, als die Naturphilosophie herrschend war, als alles in schwärmerischen Ge- fühlen schwelgte, und die trockene Wissenschaft als etwas Fremd- artiges anmutete. Humboldt war nun ein trockener Forscher , und es scheint, daß dieser Gegensatz den Zeitgenossen imponierte; auch sein Reichtum, seine öffentliche Stellung und seine großen Reisen trugen gewiß viel zu seinem Ruhme bei, so daß vielen das ganze Zeitalter als eine HUMBOLDT-Epoche erschien. Trotzdem Humboldt seinem Wesen nach ein steriler Geist war, — er besaß weder philosophi- sches Talent noch die Fähigkeit, Einzelheiten plastisch und lebendig zu fassen — wollte er doch sowohl für einen Philosophen als auch für einen Fachmann gelten. Diesem Streben entsprang eine ästhe- tisierende Stimmung, die er in seine physiologischen, geologischen und geographischen Studien hineinlegte. Durch die geographischen Arbeiten wurde er am meisten berühmt ; er reiste sehr gerne und be- suchte wissenschaftlicher Zwecke wegen Asien, Afrika, besonders aber das äquatoriale Amerika; die letztere Reise beschrieb er in einem großen, französisch geschriebenen Werke. In den »Ansichten der Natur« J) bearbeitete er populär die Resultate seiner Reisen; er schilderte die Eindrücke, welche die großen Gebirge, der Amazonenstrom, der Urwald , die Wüste hervorrufen. Da sich die Vegetation besonders zur Charakteristik einer Gegend eignet, stellte Humboldt in jener Schrift eine »Pflanzenphysiognomik« auf, indem er die Pflanzen nach Eindrücken, welche sie im Menschen hervorrufen, in 19 Gruppen klassifizierte2). Er unterschied Palmen als höchste und edelste aller Pflanzengestalten; Bananen mit niedrigem, saftreichem Stamm, an deren Spitze sich Blätter erheben; Malvazeen und Bombazeen, kolossalisch dicke Stämme mit zartwolligen, großen, herzförmigen oder eingeschnittenen Blättern; Mimosen, Heidekräuter, Kaktusse, Orchideen, Kasuarinen (Bäume aus der Südsee und aus Ost- indien, mit schachtelhalmähnlichen Zweigen); Nadelhölzer, Pothos- ge wachse, Waldbäume, bei welchen saftige, krautartige Stengel große, dickaderige Blätter erheben; Lianen, Aloegewächse, Grasform, Farne, Liliengewächse, Weidenform, Myrten-, Melastomen-, Lorbeerform. !) Alex. v. Humboldt, Ansichten der Natur, 3. Aufl., Stuttgart und Tübingen 1849. 2) Ibid., 2. Bd. : Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. XXIV. Die geographische Verbreitung der Tiere und Pflanzen. 34g HUMBOLDT hielt den Versuch, den Charakter aller dieser Pflanzen- gruppen zu schildern , für mehr eines Landschaftsmalers als eines Forschers würdig, doch würde es auch für den letzteren interessante Aufgabe sein, der angeführten Klassifikation Humboldts auf den Grund zu grehen; sein Gedanke erhielt sich tatsächlich bis auf den Tag, obwohl ihm weniger Beachtung geschenkt wird. Gänzlich vergessen scheint aber ein anderer Versuch Humboldts zu sein : die Ursachen der geographischen Verbreitung der Pflanzen (und der Tiere) zu ermitteln. HUMBOLDT sprach sich (zehn Jahre vor Darwin), ausdrücklich gegen 'diejenigen (aus), welche gern von allmählichen Umänderungen der Arten träumen und die benachbarten Inseln eigentümlichen Papageien als um- gewandelte Spezies betrachten . . . [welche] die wunderbare Gleichheit obiger Verhältniszahlen [der verschiedene Gegenden bewohnenden Arten] einer Migration derselben Arten zuschreiben, welche durch klimatische, jahrtausendelang dauernde Einwirkungen sich verändert haben und sich so scheinbar ersetzen«1). Denn warum ist dann unser gemeines Heidekraut (Calluna), warum sind unsere Eichen nicht östlich über das Uralgebirge hinaus vorgedrungen? Warum gibt es keine Rosenart auf der südlichen, fast keine Calceolarie auf der nördlichen Hemisphäre? HUMBOLDT weiß eine andere Erklärung für die Verbreitung der Formen über die Erde; er glaubt, daß die Anzahl der Arten jeder Ordnung einem bestimmten, für die Dauer einer geologischen Periode unwandelbaren Zahlengesetz folgt. Bestimmt man z. B. (wie es Humboldt tat , daß die Kompositen 1 8 aller Phanerogamen der gemäßigten Zone bilden, daß die Anzahl der Gräser 7I2, die der Leguminosen 7i8 usw- ausmacht, so kann man an einem Punkte der Erde (Deutschland) die Anzahl der Arten einer dieser Pfianzenordnungen bestimmen, und daraus annähernd die Anzahl aller dort wachsenden Phanerogamen, sowie die aller anderen Ordnungen berechnen. So fehlen z. B. in Frank- reich nach Humboldt viele Arten der Gräser, der Umbelliferen und Kruziferen, der Komposeen, Leguminosen und Labiaten, welche in Deutschland zu den gemeinsten gehören, und doch sollen die Ver- hältniszahlen der ebengenannten sechs großen Familien in beiden Gebieten fast identisch sein; folglich müssen die fehlenden deutschen Arten in Frankreich durch andere Typen derselben Familien ergänzt werden2). J) Alex, von Humboldt, Ansichten der Natur. 2. Bd. : Ideen zu einer Physio- gnomik der Gewächse, S. 229. - Ibid. ??0 XXIV. Die geographische Verbreitung der Tiere und Pflanzen. Inwiefern dieser Gedanke Humboldts zu Recht besteht, ist schwer zu sagen; immerhin ist es beachtenswert, daß er von den Opponenten gegen die Herrschaft der DARWiNschen Prinzipien mehrmals ins Feld g-eführt wurde, obwohl ihm niemand mehr eine so abstrakte Form zu geben wagte. L. Agassiz, der über die geographische Verbreitung der Tiere viel nachgedacht hat, hegte über sie ähnliche Gedanken wie Hum- boldt. Auch er war überzeugt, daß die Anzahl der Individuen, Arten, Gattungen und die Grenzen der von ihnen bewohnten Gebiete einem besonderen Gesetze unterliegen, oder, in seiner Sprache zu reden, daß sie eine Gottesidee ausdrücken; er glaubte, daß die Indi- viduenzahl der fleischfressenden Tiere zu der ihrer Beute in einem bestimmten Verhältnis steht, und daß die Gemeinheit einiger und die Seltenheit anderer Formen zu ihrem Wesen gehört, also keines- wegs zufällig ist. Darwins historische und experimentelle Auffassung. Darwins Theorie wirkte auf das Studium der biologischen Geo- graphie sehr anregend; war es doch eine geographische Tatsache, welche ihn auf die Betrachtungen über die Entstehung verschiedener Arten aus einem gemeinsamen Ahnen geführt hatte; die Beobachtung nämlich, daß die Tiere verschiedener südamerikanischer Inseln unter- einander zwar ähnlich, aber doch nicht ganz gleich sind; Darwin leitete diese Ähnlichkeit von dem Umstände her, daß sich die Tiere aus einem gemeinsamen Ahnen in ungleicher Umgebung in un- gleichen Richtungen entwickelt haben. Bei seinen Betrachtungen knüpfte er aber nicht an Humboldt an; er beachtete weder Humboldts Pfianzentypen noch dessen Zahlengesetz; er war auch dem Gedanken, die Organismen hätten sich in direkter Abhängigkeit von dem von ihnen bewohnten Boden entwickelt, abgeneigt; unter geographischer Verbreitung der Tiere und Pflanzen verstand er nicht ihren direkten Zusammenhang mit der Umgebung (einen solchen z. B. , daß die Steppenpflanzen einen bestimmten Charakter, die Wasserpflanzen einen anderen usw. besitzen); als Hauptargument galt ihm im Gegenteil, daß der direkte Zusammen- hang der Pflanzen und Tiere mit den physikalischen Bedingungen der Umgebung nicht ausreicht, die Mannigfaltigkeit der Formen in verschiedenen Gebieten zu erklären, sondern daß es Beziehungen der XXIV. Die geographische Verbreitung der Tiere und Pflanzen. 351 Organismen zu der Umgebuno; gibt, welche sich nur historisch erklären lassen. Die Beuteltiere z. B. (deren bekanntestes Beispiel das Känguruh ist), leben heute nur in Australien und an den benachbarten Inseln und in Südamerika. Weder die klimatischen, noch andere jetzige Ursachen erklären uns, warum diese Tiere nur in jenen Gegenden leben. Erst die Geschichte zeigt uns, nach Darwin, den richtigen Zusammen- hang: gewiß hing einmal Südamerika mit Australien durch eine heute verschwundene Landzunge zusammen, zugleich aber bestand keine Verbindung; zwischen Süd- und Nordamerika; darum leben bis auf den Tag in Australien und Südamerika ähnliche Tiere, und solche, welche in Nordamerika nicht vorkommen. Gingko ist ein eigentüm- licher, auch in unseren Anlagen oft kultivierter Baum, der heute nur entfernte Verwandte in den Nadelhölzern besitzt; die Tatsache, daß dieser Baum nur in China und Japan wild wächst, wird erst dann genügend beleuchtet, wenn wir sie historisch erklären: ehemals war die Familie solcher Bäume sehr artenreich und über die ganze Welt verbreitet; Gingko ist der letzte Abkömmling derselben, der vielleicht im Aussterben begriffen ist. Durch solche Betrachtungen geleitet, gab Darwin die geographische Verbreitung der Tiere, als nur historisch erklärlich, für einen Beweis seiner Theorie aus. In con- creto widmete er dieser historischen Auffassung der biologischen Geographie weniger seine Aufmerksamkeit; er führte sie nur als Beleg dagegen an, daß die heutige Verbreitung der Tiere und Pflanzen über die Erde eine Folge irgend eines vorherbestimmten Planes wäre ; weil fast keiner seiner Gegner den durch ihn bekämpften Gedanken zu halten geneigt war, wurde Darwins Beweis ange- nommen. In größerem Maße widmete sich jedoch Darwin, stets nach Nebenursachen des heutigen Zustandes der Dinge forschend, der Beobachtung der Mittel, welche den Tieren und Pflanzen ihre Wan- derungen aus einem Gebiete in ein anderes erleichtern; er zeigte, daß die Keimkraft der Samen sehr lange erhalten bleibt, auch wenn sie im Wasser liegen; daß die Sumpfvögel an ihren Füßen mit dem Sumpfe auch Eier und Samen aus einem Sumpf in einen anderen übertragen; daß auch der Wind, die Meeresströmungen und auch die Gletscher Organismen über große Entfernungen tragen können und Ursache werden, daß ähnliche Tiere in weit von- einander liegenden Gegenden anzutreffen sind. Klima, große Meeres- flächen und ausgedehnte Wüsten sollen aber den Wanderungen der ^2 XXIV. Die geographische Verbreitung der Tiere und Pflanzen. Organismen hinderlich sein und pflegen auch Grenzen für die Heimat bestimmter Tier- und Pflanzengruppen abzugeben. Indem er auf diese Weise die Tatsachen analysiert, erklärt DAR- WIN die heutige geographische Verbreitung der Tiere ebenso, wie man die Verteilung der Völker über die Erdoberfläche erklärt: eine jede Tierart entstand an einem Ort aus einem einzigen Elternpaar; sie verbreitete sich entweder von dort nach allen Seiten und hielt sich an ihr Vaterland als das Zentrum der Verbreitung, oder wanderte in andere Orte aus; die heutige Verbreitung konsolidierte sich nach langen Zeiträumen unter mannigfacher Durchflechtung des Entstehens, des Verbreitens, des Wanderns einzelner Tier- und Pflanzenarten; inzwischen sonderten sich von der Art neue Abarten und wurden allmählich zu neuen selbständigen Arten. Deshalb soll die heutige Verbreitung der Tiere und Pflanzen so verworren sein; deshalb treffen wir verwandte Formen in denselben oder in nahe aneinanderstoßenden Gebieten, deshalb sind alle Grenzen zwischen zwei Gebieten zugleich auch Grenzen von einander wenig verwandten Formen; deshalb bilden hohe Gebirge, alte und tiefe Meere, alte Wüsten die Grenzen zwischen einzelnen Faunen und Floren. Es gilt also als Grundsatz der DARWlNschen geographischen An- schauung, daß jede Art nur einmal und nur an einem ein- zigen Ort entstanden ist, und infolgedessen nur eine Urheimat hat, von welcher aus sie sich weiter verbreitete. Weiterhin glaubt DARWIN, daß verwandte Formen regelmäßig unweit von einander entstanden sind und deshalb auch in benachbarten Ländern wohnen, wenn sie sich nicht infolge der Wanderungen weiter verirrten. Wallaces zoologische Regionen und ihre botanischen Analogien. In einer anderen Weise als Darwin benutzte Wallace die Tier- geographie als Stütze der Entwicklungstheorie. Er achtete weniger auf die kleinen heute sichtbaren Ursachen, durch welche die Orga- nismen aus einem Land in ein anderes übertragen werden, sondern konstruierte ein Gesamtbild der heutigen Grenzen tierischer Typen, und suchte in der geologischen Vergangenheit ihre Ursachen. Im Anschlüsse an die Einteilung der Erde in Regionen nach der Ver- breitung der Säugetiere, die 1857 L. Sclater gegeben hatte, teilte Wallace die Erde in sechs Regionen ein , deren jede durch die charakteristischen Säugetiere bestimmt wird: XXIV. Die geographische Verbreitung der Tiere und Pflanzen. 353 Paläarktische Region, d. h. Europa, nördliches Asien bis zum mittleren Himalaya, Nordafrika bis zur Sahara; ne arktische Region: Nordamerika bis zu den Prärien nördlich von Mexiko; indische oder orientalische Region: Asien südlich vom Himalaya, Sunda-Inseln, mit Ausnahme von Celebes und Lombok ; äthiopische Region mit Afrika südlich von Sahara, Südarabien, Madagaskar und die Maskarenen; neotropische Region von der Nordgrenze Mexikos bis zum Kap Hörn; australische Region mit Australien und den angrenzenden Inseln südöstlich von Celebes und Lombok (inklusive) samt Neu- seeland und Polynesien. Der französische Geograph TROUESSART fügte diesen Regionen noch zwei andere hinzu: die arktische, welche die nördlichen Ge- genden mit einer Durchschnittstemperatur unter o° umfaßt, und eine analoge südliche, die antarktische Region. Wallace verglich die in verschiedenen Gegenden lebenden Formen nach ihrer anatomischen Verwandtschaft untereinander, und konstruierte unter Herbeiziehung der paläontologischen Tatsachen die Richtungen, in welchen sich die Tierwelt aus einer Gegend in eine andere verbreitete; dabei nahm er mit Darwin an, daß eine jede Art nur einmal und an einem einzigen Orte entstanden ist. Er fand z. B. eine starke Analogie zwischen der europäischen, nord- asiatischen und nordamerikanischen Tierwelt; wie ließe sich sonst die Tatsache, daß in Europa derselbe Biber lebt wie in Amerika, daß hier und dort ein ähnlicher Bär, ein ähnliches Rind (Bison europaeus und americanus) wohnt, daß in beiden Gebieten eine ähnliche Pflanzen- welt gedeiht, anders als durch die Annahme erklären, daß ehemals, in geologisch nicht sehr von der Gegenwart entfernten Epochen die Alte Welt mit der Neuen durch ein Festland verbunden war, über welches jene Tiere und Pflanzen hinübergelangten? Aus analogen Gründen nimmt WALLACE an, daß einmal Afrika mit Madagaskar und mit Ceylon einerseits und mit Südamerika andererseits zusammenhing usf. Es wäre interessant, diese kühnen Konstruktionen ausführlicher zu verfolgen, doch würde uns diese Untersuchung weit abseits von unserer Aufgabe führen ; wir wollen uns mit der Erwähnung begnügen, daß Wallaces Methode sehr viele Nachahmer fand und besonders die zoologische Geographie beherrschte. Aber auch für die Botaniker galt der Grundsatz als modern, daß die heutige Verbreitung der Pflanzen nur durch ihre Verglcichung mit den Zuständen in früheren geologischen Perioden zu verstehen ist. Wie für die Zoologen die Regionen Wallaces, so wurden für die Pflanzengeographen die von Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. ,, -> oe^. XXIV. Die geographische Verbreitung der Tiere und Pflanzen. O. Drude1) aufgestellten Florenreiche maßgebend. Drude unter- schied : A. Ozeanisches Florenreich, welches die Meeresküsten, wo Meer- algen und sog. Seegras wachsen, umfaßt. B. Die Florenreiche des Festlandes. a) Boreale Florenreiche: i. Nordisches Florenreich: Mittel- und Nordeuropa, Nordasien, nördlichstes Amerika, wo sich Tundren, Wälder, Wiesen, Felder usw. erstrecken; 2. mittleres Nordamerika: 3. Ostasien; 4. Innerasien: 5. Mittelmeerländer und Orient. b) Australe Florenreiche: 6. antarktisches Gebiet; 7. Neuseeland; 8. andinisches; 9. australisches; 10. südafrikanisches Florenreich. c) Tropische Florenreiche: 11. tropisches Amerika; 12. indisches Florenreich; 13. ostafrikanische Inseln; 14. tropisches Afrika. Rückkehr zum Studium der direkten Abhängigkeit der Fauna und Flora von der Umgebung. Langsam aber merklich wird in der letzten Zeit Darwins und Wallaces geographische Methode zur Seite geschoben. Ihr wich- tigster Grundsatz, daß zum Verstehen der heutigen Verbreitung der Tiere und Pflanzen die paläontologische Grundlage nötig ist, wurde zwar beibehalten: einerseits verliert er aber an allgemeinem Interesse, während mit erneuerter Aufmerksamkeit die vordarwinsche Richtung, welche nach direkten Beziehungen zwischen den Organismen und dem Milieu forschte, verfolgt wird; andererseits werden Einwände gegen die für Darwin am meisten charakteristische Annahme er- hoben, daß eine jede Art nur einmal und an einem einzigen Orte entstand2). Es wird auch behauptet, Darwin habe die Bedeutung der Wanderungen der Organismen überschätzt; dieselben bestünden nicht so sehr in definitivem Verlassen der Heimatstätten, als viel- mehr in einem Hin- und Herfiuten unter dem Einflüsse klimatischen Zwanges, als dessen Gesamtwirkung keine beträchtliche regionale *) O. Drude, Die Florenreiche der Erde, Gotha 1889. 2) So urteilen die Botaniker v. Bunge, J. Briquet, Huxley und Müller. Vgl. über dieselben J. Wiesner, Biologie der Pflanzen, Wien 1889, S. 196 und J. P. Lotsy, Vorlesungen über Deszendenztheorien, Jena 1908, II, S. 486 sq. — Es wird beispiels- weise angeführt, daß dieselbe Grasart Festuca circinnata in Spanien und in Argen- tinien vorkommt, ohne daß an eine Verschleppung zu denken wäre. Es wird ferner auf nahe Verwandtschaften unter mehreren Hochgebirgspflanzen der Alpen, des Kaukasus, Skandinaviens hingewiesen, für welche die DARWiNsche Erklärung durch Wanderungen während der Eiszeitperioden nicht wahrscheinlich sein soll. XXIV. Die geographische Verbreitung der Tiere und Pflanzen. tcc Verschiebung der Fauna erscheint. In diesem Sinne werden neuer- dings von einzelnen Forschern auch die Vogelzüge aufgefaßt: nicht nur unsere Vögel sollen nach Süden wandern, sondern in allen Re- gionen vom Norden bis zum Äquator gebe es eine Verschiebung in den Aufenthaltsorten der Vögel, welche überall wie eine Welle im Herbst in der einen, im Frühling in der entgegengesetzten Richtung strömen1). Der D.VRWTXschen Theorie stracks zuwiderlaufende Anschauungen über das Wesen der geographischen Verbreitung der Tiere und Pflanzen entwickelt O. Friedmann. Er greift auf die von den Dar- winisten viel bespöttelte Ansicht des L. Agassiz zurück, daß die Heimat einer jeden Art eine wesentliche Eigenschaft derselben bildet und nicht aus Wanderungen, Verschleppungen und ähnlichen äußeren Umständen erklärt werden kann2). Indem er für die spontane Entstehung jeder Art für sich eintritt, betont er die Tatsache, daß die Arten mit dem Milieu, in dem sie entstanden, innig zusammen- hängen. Die trennenden Meere können nach ihm keinen zureichenden Erklärungsgrund für die Verschiedenheit der Faunen liefern: seitdem Südamerika mit Nordamerika vereinigt ist, also etwa seit der Pliozän- zeit, hat es vom Norden her eine Reihe von altweltlichen Säuge- tieren erhalten, von welchen aber viele wieder erloschen sind, so daß Südamerika an größeren Säugetieren trotzdem auffallend arm bleibt; die Herstellung einer Verbindung zwischen beiden Kontinenten änderte also nichts wesentliches an dem Bestände der Fauna. Neuseeland besitzt keine Säugetiere, und dies wird durch einstige Trennung von Australien erklärt, welche in Zeiten reichen soll, wo es in Australien keine Beuteltiere gab; daß es in Neuseeland Fleder- mäuse gibt, wäre nach dieser Theorie allenfalls zu begreifen, da sie fliegen können; wie kommt es nun aber, fragt Friedmann, daß diese Fledermäuse sonst nirgendwo in der Welt zu finden sind? Solche und viele andere Tatsachen führen Friedmann zur Über- zeugung, daß es noch unbekannte psychische Zusammenhänge zwischen dem Milieu und dem Organismus gebe. Friedmanns An- schauungen führen jedenfalls auf eine ganz eigenartige Auffassung der geographischen Verbreitung der Tiere; doch scheint der Autor mit den- selben isoliert dazustehen. Die Botaniker haben sich dagegen niemals so entschieden der Methode Humboldts entfremdet wie die Zoolosren; O 7 J) Gewährsmänner für diese Theorie sind bei H. Friedmann, Die Konvergenz der Organismen, Berlin 1904, S. 156 sq. angeführt. 2) Friedmann 1. c. S. 162 sq. 23* -jc6 XXIV. Die geographische Verbreitung der Tiere und Pflanzen. die Pflanzenwelt selbst verhinderte sie daran durch ihre mehr einfache und offenkundige Abhängigkeit von der Umgebung. A. Schimpers Physiologische Pflanzengeographie1) deutet bereits durch ihren Titel die neue Richtung klar an ; es ist nicht ohne Bedeutung, daß der Autor zu den Neolamarckisten gezählt werden will. Unter den Zoologen sind Beobachtungen über direkte (physiologische) Ab- hängigkeit der Tiere von ihrer Umgebung weniger beliebt, obwohl nicht zu zweifeln ist, daß sich auch die Tierwelt in Formationen, welche direkt von ihrer Umgebung abhängig sein würden, einteilen ließe. Die Entomologen studieren seit jeher die direkte Abhängig- keit der Insekten von der Umgebung, und unterscheiden Insekten, welche im Schlamme, unter der Erde usw. leben, ferner Tag- und Nachtinsekten, springende, laufende, kriechende Insektengruppen usw.; ihre Beobachtungen wurden aber bisher nicht zu einer tieferen Einsicht in das organische Leben verwertet. Die Tatsache, daß sich derselbe Lebenstypus oft bei heterogenen Tieren wiederholt, legt an die Hand, daß, wie die Mannigfaltigkeit der Tierformen in bestimmte Grenzen eingeschlossen ist, auch die Lebensweise wahrscheinlich gleich be- stimmte, bisher noch nicht erkannte und nicht überschreitbare Regeln befolgt: die Lebensweise des Maulwurfs wiederholt sich bei der Maul- wurfsgrille (Gryllotalpa), die der Termiten bei den Ameisen, der Lauf des Känguruh bei der Springmaus (Dipus) usw. — Nur das Studium der Meeresfauna, der Süßwasser- und der Höhlentiere2) gewann in der letzten Zeit an Bedeutung, zum Beweis, daß auch für die Zoologie eine Abkehr von der darwinistischen Auffassung der Verbreitung der Tiere bevorsteht. Es werden nicht mehr einzelne Tierarten in ihren verwandtschaftlichen Beziehungen zu anderen Arten desselben oder eines anderen Gebietes untersucht, sondern gemeinsame Lebens- eigenschaften einer ganzen, dasselbe Gebiet bewohnenden Organismen- gruppe. Besonders das Leben in großen Meerestiefen ist zum be- liebten Gegenstand des modernen Studiums geworden. Tiere leben in allen Meerestiefen, auch auf dem tiefsten Grunde (welcher über 9600 m tief sein kann) und bewohnen diese Welt unter eigentüm- lichen Bedingungen: sie kennen weder die Sonne, noch die Sterne, noch den blauen Himmel, noch die grünen Pflanzen; kein Geräusch, ') A. Schimper, Pflanzengeographie auf physiologischer Grundlage, Jena 1898. 2) Über die Tiefseetiere vgl. das populäre Werk von C. Chun, Aus den Tiefen des Weltmeeres. Eine zusammenfassende Schrift über die Höhlenfauna ist: O. Ha- mann, Europäische Höhlenfauna, Jena 1896, — Über die Süßwassertiere: O. Zacha- rias, Das Süßwasserplankton, Leipzig 1907. XXIV. Die geographische Verbreitung der Tiere und Pflanzen. 357 kein Ton dringt zu ihrem Ohr, keine Welle regt sich, es wechseln weder Tag und Nacht, noch die Jahreszeiten, und es herrscht eine gleichmäßige Temperatur (etwas über o° C) und ein gleichmäßiger Druck von über 100 Atmosphären. In jener unendlichen, stillen Dunkelheit leben Fische, Weichtiere, Krebse, Echinodermen — und keine Pflanzen; nur tote Diatomeen und die Leichen der Tiere sinken von der Oberfläche allmählich auf den Grund und liefern die einzige Nahrungsquelle für einen Teil der Tiefseebewohner, während der andere vom Fleisch der ersteren lebt. Einige jener Tiere sind sehr alte Formen, welche in geringeren Tiefen schon seit langem ausge- storben sind; so namentlich Armlilien (Pentacrinus), Seeigel (Cal- veria, welche auch fossil bekannt ist), Armfüßer (Terebratula, 4000 m tief an Felsen festgewachsen, lebte bereits in der Jurazeit). Einige von diesen Tieren, besonders die Krebse, sind blind; die meisten besitzen aber große und eigentümliche Augen, welche oft wie Fern- seher aus dem Kopfe heraustreten; und sehr viele tragen an ihrem Körper eigentümliche Leuchtorgane, welche ein grünliches Licht ver- breiten; einige sind auch farblos, aber die Tiefseefische pflegen dunkelgrau oder schwarz zu sein, und einige Tiefseekrebse sind kar- minrot. Die einen kriechen auf dem Meeresboden, oder sind dort festgewachsen: einzellige Tiere (Foraminifera), schöne Kieselschwämme und Polypen von schönen Farben, Echinodermen und Krebse; die anderen schweben im Wasser und von ihnen berühren einige niemals festen Boden. Wunderbar sind die Tiefseetiere; aber noch wunderbarer die Tat- sache : so unendlich verschieden die Lebensbedingungen dort unten von denjenigen an der Oberfläche sind, gibt es doch keine einzige Tier- ordnung, welche uns nur aus den Meerestiefen bekannt wäre: inner- halb so fester Grenzen bewegen sich die Organismenformen, daß auch so ganz verschiedenartige Lebensbedingungen nicht imstande waren, an der Form der Tiere mehr als Nebensächliches zu ändern. Sowohl Darwins als auch Lamarcks Theorie steht dieser Erschei- nung ohnmächtig gegenüber1). J) Über die geographische Verbreitung der Tiere E. L. Trouessart, La g£o- graphie zoologique, Paris 1890. — Über das Verhältnis der Paläontologie zur Pflanzen- geographie Ch. Flahault, Les progres de la geographie botanique depuis 1884, son etat actuel, ses problemes, Progressus rei botanicae, Jena 1907. — Über das Ver- hältnis des Darwinismus zur Geographie der Pflanzen: J. P. LoTSY, Vorlesungen über die Deszendenztheorie, Jena 1908. ocg XXV. Paläontologie. XXV. Paläontologie. Allgemeines. Die Geschichte des Weltalls ist die Geschichte des Lebens, denn von einer Geschichte der Sterne, über deren Vergangenheit es keine Dokumente gibt, kann höchstens indirekt die Rede sein, und auch die Geschichte der Erde wird größtenteils indirekt aus der Geschichte des Lebens auf derselben erschlossen; andere Naturwissenschaften dagegen, wie die Physik, die Chemie, kennen keine Geschichte ihres Objektes ; so bildet die Biologie einen Übergang zu den den Menschen behandelnden Wissenschaften, welche mehr oder weniger Historie enthalten. Wie die Geschichte der Menschheit aus unbekannten Anfängen hervorgehend in die vorhistorische Zeit, über die noch direkte Nach- richten fehlen, eintritt, und dann eine lange Entwicklung darstellt, die von den Geschichtsschreibern in Altertum, Mittelalter und Neuzeit eingeteilt wird, so verliert sich auch die Geschichte der Organismen vorerst in unbekannten Anfängen, geht dann in Epochen über, aus denen nur indirekte Spuren organischen Lebens geblieben sind, worauf die Perioden beginnen, aus denen sich Fossilien, gewissermaßen schrift- liche Urkunden über das vergangene Leben, erhalten haben. Auch die Geschichte des organischen Lebens wird in alte (paläozoische), mittlere (mesozoische) und neue (kenozoische) Zeit eingeteilt; dieser fügt man als letzte Periode noch die Zeit des Menschen (anthropo- zoische Zeit) hinzu. Diese Perioden werden wieder in kleinere Zeit- räume zergliedert, welche mit besonderen Namen bezeichnet werden; man unterscheidet insbesondere: Urgebirge (ohne deutliche Spuren des Lebens); Paläozoikum (Altertum des Lebens, welches in Prä- kambrium, Kambrium, Silur, Devon, Karbon, Perm zerfällt); Meso- zoikum (Mittelalter des organischen Lebens mit den Abteilungen Trias, Jura, Kreideformation); Kenozoikum (Neuzeit, welche auch Tertiär genannt wird); schließlich Anthropozoikum, welches in Diluvium und Alluvium eingeteilt wird. Wie lange jede dieser Perioden gedauert hat, wie alt unsere Erde überhaupt ist, bleibt unbekannt. Im 18. Jahrhundert waren noch die meisten Geologen durch die biblische Lehre beeinflußt, nach der die Erde vor 6coo Jahren entstanden sein soll ; doch schon damals schätzte Buffon das Alter der Erde viel höher, auf mehr als 65 000 Jahre. XXV. Paläontologie. jeg ohne aber diese lange Zeit mit bestimmten Vorgängen ausfüllen zu können. Erst der englische Geologe Hutton widerlegte die biblische Angabe; er ging davon aus, die Veränderungen der Erdkruste durch Ursachen zu erklären, die uns noch heute gegenwärtig sind, und die ungeheueren Erdumwälzungen als Häufung kleiner Veränderungen aufzufassen; so kam er notwendig zur Annahme ungeheuer langer Zeiträume, während welcher die großen Gebirge, die Verschiebungen der Meeresküsten und die Tausende von Metern hohen Anschwem- mungen sich gebildet haben sollen. Von HUTTON übernahm diese Ansicht Ch. LYELL (ohne dem Verdienste seines Vorgängers gerecht zu werden, wie ihm später, vielleicht nicht mit Unrecht, vorgeworfen wurde) und lehrte, daß unsere Erde bereits Millionen Jahre dauert, und daß während dieser Zeit solche kleinen Veränderungen fortwährend tätig waren. DARWIN und seine Anhänger nahmen die Ansicht von einem großen Alter unserer Erde auf und sprachen nicht nur von Millionen, sondern von hundert und tausend Millionen Jahren, welche unsere Erde durchgelebt haben soll. Nicht unpassend wird die Vor- stellung eines ungeheueren Alters des organischen Lebens auf der Erde mit der Entdeckung der großen räumlichen Entfernungen ver- glichen, in denen die Sternenwelt schwebt : erst dadurch gewann die Geschichte des Lebens auf der Erde, wenn auch nicht einen Inhalt, so doch ein Netz, in welches sie ausgespannt werden konnte1). Leider gibt es keine auch nur annähernd gesicherten Angaben über die Dauer weder des organischen Lebens auf der Erde im ganzen, noch der einzelnen Perioden; darin stimmt aber die Paläontologie mit der Geschichte der Menschheit überein, daß die älteste Periode die längste war, und die späteren desto kürzer je jünger. Wie der Geschichtsschreiber die Vergangenheit aus den erhaltenen Dokumenten studiert, so konstruiert auch der Paläontologe die Geschichte des organischen Lebens aus den in der Erde erhaltenen Dokumenten: aus einigen Gesteinsarten, von denen er auf grund gewisser Schlüsse annimmt, daß sie organischen Ursprungs seien, aus Abdrücken, Ver- steinerungen und Knochen der einst lebenden Organismen setzt er ausgestorbene Tierformen wieder zusammen, und aus den Lagerungs- verhältnissen der Erdschichten und der Beschaffenheit ihrer Fos- silien schließt er auf das Milieu, in dem damals die Tiere und x) Über die Bedeutung des Zeitbegriffes für die Geologie vgl. F. Ratzel, Die Zeitforderung in den Entwicklungswissenschaften. Ann. d. Naturphil. I, 1902, S. 346. 75o XXV. Paläontologie. Pflanzen lebten. So erkennt er, daß in verschiedenen aufeinander folgenden Epochen verschiedene Tiere und Pflanzen unsere Erde be- wohnt haben. Wie wir bereits in der ältesten Zeit der Menschheits- geschichte verschiedenen und auf ungleicher Höhe der Ausbildung stehenden Völkern begegnen, so war auch die älteste bekannte Tier- welt schon aus verschiedenen und ziemlich fortgeschrittenen Formen zusammengesetzt; aus Krustazeen, Brachiopoden, Mollusken u. a. Wie unter den Menschen die niederen Völker gleichzeitig mit den höheren gelebt haben und noch leben, und der Fortschritt nicht die ganze Menschheit auf einmal nach vorwärts treibt, sondern bald dieses bald jenes Volk erfaßt; wie einige Völker seit undenklicher Zeit auf derselben Kulturstufe beharren, andere weniger, andere mehr fort- geschritten sind; wie einige nach einigem Fortschritt stehen blieben, oder wieder zurückgingen, und nach einem mehr oder weniger großem Aufschwünge gänzlich aus der Weltgeschichte verschwanden — so geschah es auch in der organischen Natur: einige Formen (Algen und Brachiopoden) bestehen seit Beginn des Lebens auf unserer Erde, ohne sich wesentlich verändert zu haben; andere Organismen erlebten eine Periode des Fortschrittes, worauf sie wieder verfielen, um entweder gänzlich von der Erdoberfläche zu verschwinden (Tri- lobiten), oder in kleinen Resten noch weiter zu vegetieren (Bären- lappen). Andere Wesen wieder fingen mit einigen Formen an und entwickelten sich zu einem ungeheueren Formenreichtum, wurden aber später seltener, ohne jedoch gänzlich zu verschwinden: die Reptilien leben jetzt als ein schwaches Andenken an die mesozoische Zeit, wo sie die Welt beherrschten. Es ist schwer, aus dem kaleidoskopischen Wechsel der Formen in der Erdgeschichte ein allgemeines Enwicklungsgesetz herauszu- lesen. Auf eine Erscheinung hat jedoch bereits Huxley hingewiesen: Millionen Jahre dauert das Leben auf der Erde und auf Millionen läßt sich vielleicht die Anzahl der verschiedenen Lebensformen be- werten, die auf unserer Erde bisher erschienen sind; diese ungeheuere Mannigfaltigkeit ist aber in enge Grenzen eingeschlossen: wer unter den ausgestorbenen Typen absolut andere Formen, als es die heutigen sind, suchte, würde enttäuscht sein; keine einzige größere Abteilung der Pflanzen und der Tiere kommt nur versteinert vor, sondern allen läßt sich ihre Analogie, ihre Verwandtschaft mit den heute lebenden Formen leicht ablesen; demgegenüber gibt es aber Typen, welche seit unvordenklicher Zeit auf der Erde leben, ohne sich merklich verändert zu haben. XXV. Paläontologie. 361 Die Geschichte der Wirbeltiere spricht noch am ehesten für eine Entfaltung- im Sinne des Fortschrittes des Lebens auf der Erde. Aus den ältesten Versteinerungen führenden Schichten sind noch keine Wirbeltiere bekannt; bald jedoch erschienen Fische, die niedrigste Gruppe der Wirbeltiere, welche seitdem bis auf den Tag leben; ob sie aber während ihres Venveilens auf der Erde fortgeschritten sind, ist schwer zu sagen, denn die einfachsten Fische, der Amphioxus und die Neunaugen sind fossil nicht bekannt, während die sog. Lurch- fische (Dipnoi), welche von einigen Anatomen für die höchste Form der Fische gehalten werden, bereits im Devon, d. h. in der Mitte des Altertums des organischen Lebens gelebt haben. Die nächst höhere Gruppe, die Amphibien, erscheinen später als die Fische, nämlich im Karbon, welches nach der Devonzeit herrschte. In der nachfolgenden Zeit, im Perm, kommen die ersten Reptilien vor, im Jura (der bereits dem Mittelalter des organischen Lebens ange- hört) erscheint der erste Vogel; die Säugetiere aber, welche die höchste Gruppe der Wirbeltiere bilden, sind älter als die Vögel, in- dem sie zuerst in der Periode vorkommen, welche dem Jura voran- ging, im sog. Trias. Auch die Geschichte der Pflanzenwelt bedeutet im großen und ganzen einen Fortschritt, indem die ältesten Formen Algen waren, worauf höhere Kryptogamen (z. B. Farne), dann die Cycadeen und die Nadelhölzer, am spätesten die höheren Phanerogamen kamen — eine Reihe, welche sich mit der systematischen Stellung der einzelnen Gruppen deckt. Es gibt aber auch zahlreiche Ausnahmen: die niedrig organisierten Flechten scheinen in den karbonischen Wäldern noch gefehlt zu haben und sind erst aus dem Tertiär bekannt; die Moose kommen zum erstenmal in der Mitte der Sekundärzeit und in größerer Menge ebenfalls erst im Tertiär vor. Jedenfalls bildet also der Fortschritt der Organismenwelt ein be- deutend kompliziertes Problem. Paläontologie und Darwinismus. Mit welchen Gedanken tritt der Paläontologe an die Geschichte des organischen Lebens heran? Die Paläontologie als Wissenschaft wurde von CuviER begründet; er stellte die Lehre auf, daß die ausgestorbenen Tiere anderen Arten als den jetzigen, und auch meh- reren Perioden angehören; auch die Hypothese des allgemeinen Fortschritts der Organismenwelt stammt von ihm. CuviER war aber o^2 XXV. Paläontologie. sichtlich noch zu sehr in der Sintflutlehre befangen ; die Zeit, während welcher alle Katastrophen geschehen sein sollten, hielt er für sehr kurz und glaubte, daß der Mensch bereits vor denselben in einem un- bekannten, später vielleicht vom Meere überfluteten Erdwinkel gelebt habe; und er ließ ihn, sowie auch die Organismen, welche nacheinander unsere Gegenden bewohnten, von dorten einwandern. Es scheint, daß er das Ungenügende der »Schöpfungs« lehre den paläontologi- schen Tatsachen gegenüber fühlte und in der Hypothese der Ein- wanderungen eine Lösung fand, die ihn selbst nicht ganz befriedigt haben mag1). Seine Nachfolger nahmen CuviERs Lehren auf, ohne sie unmittelbar durchgelebt zu haben, und fühlten deshalb nicht mehr das Nichtssagende des Wortes »Schöpfung«; ja viele von ihnen (d'Orbigny, Agassiz) fanden nichts Unmögliches in der Annahme, daß nach jeder Katastrophe die Organismenwelt plötzlich und en bloc neu erschaffen wurde. Der deutsche Paläontologe H. G. Bronn bekämpfte bereits vor Darwin mit bedeutendem Erfolg diese Lehre und wies auf das Übergehen einzelner Arten von einer Formation in die nachfolgende und auf das stetige Aussterben und Neuentstehen neuer Formen hin. Wie aber die Schöpfung jeder einzelnen Form oder der gesamten lebendigen Welt geschah, darnach wagte man selten zu fragen; wußte man doch so viel von der Unergründlichkeit der Natur, Unendlichkeit ihrer Mittel, von der Ohnmacht der mensch- lichen Vernunft zu sagen! Es trat Darwin auf: auf Lyells Theorie allmählicher Verände- rungen der Erdkruste gestützt, lehrte er, daß das Leben auf der Erde seit seinem Anfange bis auf den Tag ununterbrochen strömt, und daß sich Aufblühen, Verfall, Fortschritt, Entstehen und Vergehen der Formen ohne irgendein großartiges Gesetz nur mit Hilfe der Natur- züchtung erklären lasse. Die Paläontologen waren durch die Theorie schier beleidigt, und auf keinem Gebiete wurde sie so kühl aufgenommen, als auf dem der Paläontologie: hatten sie doch die Entstehung neuer Formen für das größte, dem Philosophen unzugänglichste Geheimnis erklärt, und da kam einer mit der Behauptung, die englischen Viehzüchter wären längst dahinter gekommen, wie man neue Formen zu bilden hat: die Art, wie man in England Schafe züchtet, sei eben die, welcher die l) Ich gewann diesen Eindruck aus der eingehenden Kritik der CuviERschen Ausichten von A. d'Archiac, Cours de Palaeontologie stratigraphique, Paris 1864, I, S. 415 sq. XXV. Paläontologie. 363 Natur bei der Hervorbringung der Tierformen gefolgt war1). ELIE de Beaumont, J. Barrande, O. Pictet, O. Fraas, O. Heer, Bronn, Cii. J. Giebel, W. Waagen, T. Fuchs, A. d'Archiac, R. Owen, E. FORBES verwarfen die Theorie. Sie sprachen sich nicht insgesamt gegen die Möglichkeit der Umwandlung einer Form in eine andere aus, verwarfen aber die Mittel, die nach Darwin die Entstehung neuer Arten verursachen sollten. O. Heer war beispiels- weise nicht gegen die Theorie einer »Umprägung« der Formen, d. h. einer plötzlichen Veränderung der Idee, welche dem Organismus zu- grunde liegt; nur das Mechanistische der Zuchtwahllehre beleidigte seine religiösen Gefühle2). Die wichtigsten Gründe, die die Paläontologen gegen Darwin ins Feld führten, sind: 1. Die Umwandlungen der Organismen in der Geschichte der Erde erfolgten nicht durch eine kontinuierlich gleichmäßig fortschrei- tende Veränderung, sondern durch eine periodisch eintretende Um- formung der Organismen. Es wechseln längere Zeiträume relativer Ruhe mit kürzeren Epochen der Umwandlung. 2. An einem bestimmten Zeitpunkte angelangt, verschwindet mit einemmal die Mehrzahl der vorhandenen Typen und an ihre Stelle tritt ebenso rasch eine aus neuen, nicht direkt mit den früheren ver- wandten Formen zusammengesetzte Fauna. Es tritt eine Substitution der einen Formen durch andere, nicht eine Umgestaltung ein. 3. Die ausgestorbenen Formen füllen größtenteils die Lücken im System der jetzigen Organismen nicht aus, wie die Theorie verlangt: sie sind keine »Übergangsformen«; verfolgt man die Tierwelt bis in ihre Anfänge, verengt sich das System der jedesmal vorhandenen Tiere nicht zu einem irgendwo im Urgebirge liegenden einzigen Punkt, sondern die ausgestorbenen Formen sind meistens nur neue Formen, welche das System etwa so ergänzen, wie das System der europäi- schen Tiere durch die amerikanische Tierwelt vervollständigt wird. 4. Seit dem Diluvium sind alle Arten konstant, und keine neuen wurden seitdem gebildet. 5. Darwin unterschätzt die Vollständigkeit der paläontologischen Überreste. Hätte er recht mit seiner Lehre, daß nur der Zufall hie und da eine Form aus dem ununterbrochen fortlaufenden Strome J) Dieses Gefühl der Beleidigung kann man deutlich aus dArchiacs Kritik der DARWiNschen Theorie '}. c. Vol. II herauslesen. 2) Osw. Heer, Die Urwelt der Schweiz. Zürich 1864, Schlußkapitel. 2 6a XXV. Paläontologie. des paläontologischen Formenreichtums erhalten hat, wäre es un- möglich, paläontologische Arten und Gattungen zu unterscheiden, unmöglich, daß sich eine und dieselbe Form in hunderten und tausenden von Exemplaren in den fossilienführenden Schichten findet1). Solche Einwände wurden von den Darwinisten auf verschiedene Art und nicht ohne Glück abgefertigt, so daß der Darwinismus bald auch der Paläontologie Herr wurde. Wie Darwin überhaupt überzeugt ist, daß die Geschichte keine Entwicklung der Ideen, sondern nur eine Folge der Körper darstellt, so faßt er auch die Paläontologie als eine Wissenschaft von der Aufeinanderfolge der Körper einzelner Tier- und Pflanzenarten auf. Die Darwinisten schildern die Geschichte des organischen Lebens in der Art, wie wenn ein Historiker aus der Geschichte der Menschheit etwa die griechische Kultur, die römische Republik, die Völkerwande- rung streichen wollte, diese Erscheinungen nur für leere Ideologie hielte und eine Geschichte der Menschen schriebe, wobei es namentlich darauf ankäme, von wem ein jeder geboren wurde, wie lange er lebte und welche Kinder er hinterließ. So fassen die Darwinisten die Paläontologie auf: indem sie z. B. sehen, daß im Mesozoikum Reptilien geherrscht haben und daß in der darauf folgenden Periode, im Tertiär, an ihre Stelle Säugetiere traten, suchen sie keineswegs nach Begriffen, mittels welcher die eine und die andere Herrschaft unserem Verständnisse näher gerückt würde, noch nach solchen Be- griffen, welche den Übergang aus dem Mesozoikum in das Tertiär erklären würden, sondern nehmen eine jede Reptilien- und eine jede Säugetierart für sich und untersuchen, aus welcher anderen Art jedes einzelne Tier durch Umwandlung entstanden ist: die Stammbäume der Tiere und Pflanzen bilden für sie das Ziel der Forschung. Diese Stammbäume stellen sie nach anatomischen Merkmalen zusammen, indem sie die anatomisch ähnlichsten Tiere für blutsverwandt halten und in Reihen ordnen. Daher ist es begreiflich, daß die Paläontologen, mit Darwin angefangen, einen so großen Nachdruck auf die Unvoll- kommenheit der erhaltenen Urkunden legen. »Wenn uns alle früheren Faunen und Floren bekannt wären, würde die Entwicklung der organischen Welt klar vor uns liegen. Leider schwächt die Unvollkommenheit der paläontologischen Urkunden wesent- J) Ich stellte diese Einwände aus den Erörterungen Th. Fuchs' (Verh. d. k. k. geol. Reichsanst, Wien 1879, S. 355 sq.), E. Kokens (Die Vorwelt und ihre Ent- wicklungsgeschichte, Leipzig 1893) u. a. zusammen. XXV. Paläontologie. 365 lieh die Bedeutung der Paläontologie für die Erklärung der Stammes- entwicklungc *). In verschiedenen Variationen kann man diese Worte fast bei allen Paläontologen lesen: bei Darwin, G. Steinmann, K. A. Zittel, M. Neumayr u. a. a. O. Die Historiker sind nicht dieser Meinung; zwar beklagen sie sich auch über die Mangelhaftigkeit der Urkunden, doch sind sie weit davon entfernt, auf dieselbe einen übermäßigen Nachdruck zu legen; für sie sind eben die Urkunden Dokumente, durch deren sorgfältige Prüfung sie die Geschichte, d. h. unser Verständnis der Vergangenheit, fördern; für den Paläontologen gibt es aber keine Diskussion seiner Urkunden, der Begriff des »Dokumentes« ist ihm fremd; seine Urkunden bilden als solche Teile der Geschichte ; der Paläontologe kennt eben keinen Unterschied zwischen Geschichte und Geschichtswissenschaft. Die paläontologischen Stammbäume mehrerer Formen, des Pferdes, der Ammoniten und gewisser Schnecken wurden besonders berühmt und durften in keinem, dem Darwinismus gewidmeten Werke fehlen. Neuerdings wurden sie durch A. Fleischmann einer scharfen Kritik unterzogen2), welche bis auf den Tag unerschüttert bleibt; es ist nicht schwer einzusehen: wenn wir überhaupt nicht wissen, wie sich eine Form in eine andere umgestaltet, ob wirklich nach Darwins Regel durch allmähliche Umwandlungen, oder nach Copes (später zu erwähnenden) Hypothese durch Veränderung bald der Art-, bald der Gattungs-, bald der Familienmerkmale: welche Exaktheit kann ein Stammbaum beanspruchen, der auf die Ähnlichkeit einiger Knochen gegründet ist? Man wird sich schließlich fragen müssen, ob es sich lohnt, die Richtigkeit der Stammbäume überhaupt zu prüfen, und ob sich die Paläontologie keine höheren Ziele stecken kann, als dar- über nachzugrübeln, aus welchem Tier jeder Organismus geboren wurde ? Der Darwinismus wurde als Revolution der Biologie gepriesen, und sollte die Wissenschaft ganz neu gestalten und philosophisch durchleuchten: man würde aber irren, hielte man die nachrevolutio- näre Wissenschaft für grundverschieden von der früheren — die Systematik, Morphologie, Embryologie, Paläontologie, also diejenigen Gebiete, die das erste Ziel der Revolution bildeten, sind dieselben trockenen Klassifikationen und Lehrbuchwissenschaften geblieben, 1 G. Steinmann und L. Döderlein, Elemente der Paläontologie, 1890, Ein- leitung. 2) A. Fleischmann, Die Deszendenztheorie usw., Leipzig 1901, S. 62 sq. ^56 XXV. Paläontologie. die sie früher waren. Namentlich die Paläontologie ist davon nicht freizusprechen; sie soll die Geschichte des organischen Lebens dar- stellen; Geschichte, die eine so schöne Wissenschaft ist, daß alle Welt sie lieb gewonnen hat: vitae magistra, eine Wissenschaft, die die zahlreichsten Mittel besitzt, die Phantasie und den Tatendurst der Menschen zu entflammen! Auch der Paläontologie stehen solche Mittel zur Verfügung: Millionen von Jahren ziehen vorbei; Erdum- wälzungen treten ein, Spuren eigenartiger Floren und Faunen zeigen sich: wessen Phantasie wird da ruhig bleiben? Man nehme aber ein paläontologisches Buch in die Hand: man wird wenig mehr finden, als (in der Einleitung oder im Schlußkapitel) Lob oder Kritik der DARWlNschen natürlichen Zuchtwahl und sonst nur hohle Systematik mit seelentötenden Stammbäumen sonderbarer Tiernamen, welche hier einen Zahn, dort einen Fußknochen, dort wieder einen Kiefer irgend eines sonst ganz unbekannten und unvorstellbaren Tieres bezeichnen! Warum kamen jene Tiere zur Welt? Wie sahen sie aus? Welches Leben haben sie geführt? Weshalb sind sie wieder verschwunden? Was hat es zu bedeuten, daß die Herrschaft der baumartigen Krypto- gamen durch die der Phanerogamen abgelöst wurde? Auf solche Fragen gibt die Paläontologie keine Antwort. Anstatt die erste von allen biologischen Wissenschaften zu sein, ist sie die letzte, kalt und unbeweglich wie das Gestein, das sie in den Museen aufspeichert1). Vor kurzem scheint dies G. Steinmann2) erkannt zu haben; er beschwert sich, daß die Paläontologie keine eigene Methode habe und verlangt, daß sich die Paläontologen von den Systematikern emanzipieren und ihre Wissenschaft nach historischer Methode x) Den Versuch , einer lebendigeren Auffassung der Paläontologie machte M. Neumayr in seiner Erdgeschichte, 2 Bde., Leipzig 1893 und E. Koken, Die Vor- welt und ihre Entwicklungsgeschichte, Leipzig 1893; der Versuch fiel aber nicht ganz befriedigend aus. In Frankreich strebte A. Gaudry der Paläontologie durch einen gefälligen Stil einen weiteren Leserkreis zu gewinnen ; leider fehlen seinen Schriften wieder scharf pointierte Ideen (vgl. seine Schriften : Les ancetres des nos animaux dans les temps geologiques, Paris 1888; Les enchainements du monde animal dans les temps geologiques, 3 Vols., Paris 1878 — 1883. Lesenswert und sehr klar geschrieben ist das Werk Ch. Deperets, Les transformations du monde animal, Paris 1907, welches über' die jetzigen, die Paläontologie beherrschenden Ideen ein klares Bild verschafft, wenn es auch dem Darwinismus bedeutende Konzessionen macht. Vielleicht überschätzt auch der Autor die Bedeutung Zittels (als Theore- tiker) derjenigen Gaudrys gegenüber; die neueren Migrationstheorien auf Cüvier zurückzuführen, wie es D. will, wird ebenfalls kaum möglich sein. 2) G. Steinmann, Die geologischen Grundlagen der Abstammungslehre, Leipzig 1908. XXV. Paläontologie. 367 bearbeiteten. Der Paläontologe möge sich nicht nach der anatomi- schen Verwandtschaft der Formen richten, wenn er den geschicht- lichen Zusammenhang der Tiere ins Auge faßt; er darf nicht aus der Ähnlichkeit der Säugetiere untereinander schließen, daß sie aus einem Ursäugetier abstammen, sondern er wird als Paläontologe, als Geschichtsschreiber aus der Tatsache, daß im Tertiär die Säugetiere die Stelle der mesozoischen Reptilien eingenommen haben, den Schluß ziehen, daß die Säuger Nachkommen der Reptilien, ja, daß bestimmte Säugetiergruppen Nachkommen bestimmter Reptilien- gruppen sind: daß die Ichthyosaurier durch Delphine, die Plesio- saurier durch Pottwale (Physeter), die Thalattosaurier durch Walfische ersetzt wurden; er wird die herrschende Lehre, daß die Trilobite am Ende des Paläozoikum ausgestorben sind, verwerfen und anstatt dessen überzeugt sein, daß sie in die Isopoden (z. B. in unsere Mauerassel) Dekapoden und Cirripedien, in die Spinnen, Insekten und Fische übergingen. STEINMANNs Ansichten stellen ein Zeichen der Zeit dar; über die konkrete Fassung seiner Gedanken können wir uns kein Urteil erlauben; vielleicht hat der Autor Copes und Brunners Ideen wenig Rechnung getragen, nach welchen ein Tier sich in seinen Gattungs-, Familien-, Ordnungscharakteren verändern kann, ohne gleichzeitige Veränderung der Artmerkmale; diese Ideen scheinen einen viel allgemeineren und vielleicht plausibleren Ausdruck desselben Ge- dankens zu bieten, den Steinmann verteidigt, daß nämlich im Laufe der Zeiten »am wenigsten rasch Größe und Gesamthabitus eines Wesens geändert wird« x). Der wichtigste Einwand gegen Steinmann bleibt aber der, daß er bloß die darwinistischen Möglichkeiten durch andere ablöst: muß der Paläontologe glauben, daß die tertiären Säugetiere umgewandelte Nachkommen der mesozoischen Reptilien seien, um von ihrer Nach- einanderfolge zu sprechen? Muß der Geschichtsschreiber wissen, welchen Untertanen der französischen Könige Marat, Danton und andere Sprecher der Revolution entstammen, um über die Revolution berichten zu können ? ') G. STEINMANN, Die geologischen Grundlagen der Abstammungslehre. Leipzig 1908, S. 273. — Steinmann bemerkt über Cope (S. 18}. daß dieser, »trotzdem er die einleuchtenden Gedanken Lamarcks wieder zur Geltang brachte . . . den Schlüssel des Entwicklungsrätsels nicht finden konnte«. t 58 XXV. Paläontologie. Reaktion gegen Darwin. Innerhalb der Paläontologie gelangte der Darwinismus niemals zu besonderer Blüte. Zwar zahlten ihm die Paläontologen auch den schul- digen Tribut; die Kritik durch die älteren Systeme schien wirkungslos geblieben zu sein; bedeutende Paläontologen, wie Karl von Zittel in Deutschland, Alb. Gaudry in Frankreich, Melch. Neumayr in Österreich, Oth. Marsh in Amerika, T. H. Huxley in England, A. Kovalevsky in Rußland u. a. schlössen sich Darwin an; paläon- tologische Tatsachen wurden als schlagende Beweise seiner Theorie verwertet. Nichtsdestoweniger blieb eine Reihe von Paläontologen dem Darwinismus gänzlich fremd (z. B. VON ETTINGSHAUSEN) und andere entwickelten Anschauungen, welche von allem Anfang an sehr ketzerisch lauteten (Ed. Cope). Über die Lehre dieser Forscher werden wir in einem anderen Zusammenhange berichten; hier wollen wir in aller Kürze einige Momente hervorheben, welche auf die neuesten Wandlungen im Gebiete der paläontologischen Theorien hinweisen. Sie offenbaren sich erstens in einer ablehnenden Kritik der darwinistischen Grundsätze, welche Kritik meistens auf die älteren, oben angeführten Gründe, diesmal mit größerem Erfolg, zurück- greift1). Es werden aber auch neue Begriffe in die Paläontologie eingeführt, welche sie vom Joche der Anatomie befreien sollen. Der Wiener Paläontologe Waagen führte 1S67 die Unterschei- dung von Variationen und Mutationen ein; die ersteren sollen die Unterschiede zusammenfassen, die man unter den Zugehörigen einer, in einer und derselben geologischen Periode vorkommenden Art, also z. B. unter den Individuen einer jetzt lebenden Art findet; die Mutationen bedeuten dagegen allmähliche, angeblich nur in einer Richtung fortschreitende Veränderungen einer Form im Verlaufe mehrerer geologischen Perioden. Ein anderer Wiener Paläontologe, M. NEUMAYR, begründete diese Unterscheidung durch ausführliche Studien an ausgestorbenen Weichtieren. Da Neumayr sonst Darwi- nist war, glaubte man, daß die Unterscheidung von Variationen und Mutationen nicht aus dem Rahmen des Darwinismus falle ; die weitere Verfolgung derselben sollte aber auf einen neuen Begriff der Art führen. Man verfolgte die Mutationen bei den verschiedensten Tier- J) Nebst den oben angeführten Schriften Steinmanns und Fleischmanns vgl. auch: E. Koken, Paläontologie und Deszendenzlehre, Jena 1902; O. Jaeckel, Über verschiedene Wege phylogenetischer Entwicklung, Jena 1902. XXV. Paläontologie. 369 formen und stellte so Formenreihen auf, welche sich von den Stammbäumen dadurch unterscheiden, daß sie keine hypothetischen Glieder enthalten, daß sie Ähnlichkeiten des Gesamtkörpers (und nicht einzelner Organe) berücksichtigen und daß sie sich selten ver- zweigen, sondern meistens parallel gehen. Als Beispiel solcher Formenreihen sei die paläontologische Entwicklung der Proboscidea angeführt1). Dinotherium Mastodon Elephas Periode Backenzähne m. konischen Backenzähne mit queren Backenzähne m. parallel. Backenzähne mit rauten- Höckern Leisten Lamellen förm. Lam. Jetztzeit — — — E. indicus E. africanus Quaternär — — M. americanus E. antiquus E. priscus Ob. Pliozän — M. arvernensis M. Borsoni Unt. Pliozän — M. arvernensis M. Borsoni Ob. Miozän D. giganteum et gigantissim. M. longirostris M. turicensis Mittl. Miozän D. laevius M. angustidens M. turicensis Unt. Miozän D. Cuvieri M. angustidens mut.pygmaeus M. turicensis Oligozän Paläomasto- don Beadnelli Die Gattung Mastodon zerfällt nach dieser Tafel in zwei Formen- reihen, deren einzelne nebeneinanderliegende Glieder (z. B.M. arvernensis — Borsoni, M. longirostris — turicensis) sich zu einander wie Arten derselben Gattung verhalten, deren aufeinanderfolgende Glieder M. longirostris — arvernensis) Mutationen einer Formenreihe darstellen. Die Formenreihe tritt da als eine neue Kategorie der Systematik auf, welche nur historisch definiert werden kann. Während nämlich die Gattung ^genus) eine ideale, folglich zeitlose Ab- straktion von mehreren einander ähnlichen Arten darstellt, ist die Formenreihe (phylum nennt sie CiL Deperet) an eine bestimmte Epoche der Erdgeschichte gebunden und hat eine eindeutig bestimmte Richtung, in welcher ihre Glieder aneinandergereiht werden müssen. Manche Formenreihen entwickeln sich nach bestimmten inneren Ge- setzen, sie zeigen eine fortschreitende Differenzierung der Körper- elemente, eine Volumzunahme des Körpers und oft eine erkennbare *) Cii. Deperet, Les transformations du monde animal, Paris 1907, S. 1S5. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. 24 370 XXVI. Natürliche Zuchtwahl. Jugend, Mannes- und Alterszeit: ihr Aussterben stellt sich dann als durch innere Organisation bedingt dar. Insgesamt aber zeugen sie für eine viel langsamere und in viel engere Grenzen geschlossene Umwandlung der Formen, als der Darwinismus anzunehmen geneigt war. Der Begriff der Formenreihen wird manchmal auch auf größere Gruppen ausgedehnt ; so werden z. B. die Ammonoidenformen Gonia- tiidae, Ceratitidae und Ammonitidae, welche früher als Familien galten (deren jede also als aus einer Urform entstanden aufgefaßt wurde), jetzt als bloße Entwicklungsstufen des ganzen Ammonoidenstammes er- klärt, die von einer großen Zahl von Formenreihen durchlaufen wer- den, als verschiedene Querschnitte durch den Entwicklungsstrom, der aus vielen parallelen Linien besteht1). Trotzdem aber die Formenreihen einen neuen Begriff bedeuten und die alten Stammbäume beseitigen, stellen sie doch nur eine kon- krete Fassung des DARWlNschen Ideals, die systematischen Begriffe in historische Reihen umzuwandeln, dar; die den Formenreihen zu- grunde liegende Hypothese, daß jede Mutation aus der ihr voran- gehenden durch allmähliche Umwandlung entstand, weist deutlich auf die Quelle, der diese Lehre entsprungen ist. XXVI. Natürliche Zuchtwahl. Als die heilige Jungfrau in den Himmel aufgenommen wurde, war der hl. Thomas, bekanntlich der erste Anhänger der Erfahrungs- philosophie, nicht zugegen und wollte deshalb nicht daran glauben; da warf ihm Maria, so erzählt die Legende, ihren Gürtel vom Himmel herab — und der heilige Thomas, mit einer so greifbaren Erfahrung in der Hand, bekannte sich von nun an für bekehrt, Wen würde auch ein solcher Beweis nicht überzeugen? Viele Naturforscher (Huxley, C. Vogt, Lyell, Rütimeyer u. a.) haben vor Darwins Auftreten die Lehre von der Blutverwandtschaft der Tiere verworfen ; als aber Darwin mit seiner Zuchtwahllehre unseren Skeptikern den Gürtel zuwarf, ließen sie sich eines Besseren belehren. Wie denn auch nicht? Der Gedanke war äußerst einfach: in der lebendigen Natur herrscht ein wilder Wettstreit; man sieht jeden Tag, wie das eine Tier zur Beute eines anderen wird, wie eine große Menge Einzelleben infolge ungünstiger Umgebung zugrunde geht. Ein schwacher Vorteil genügt, um ein Tier am Leben zu erhalten *) Ausführlicher vgl. bei G. Steinmann, 1. c. S. 95. XXVI. Natürliche Zuchtwahl. 371 und dafür hundert andere dem Tode preiszugeben; dieses glücklichere Individuum überlebt, überträgt jenen Vorzug auf die Nachkommen und sie werden ebenfalls am Leben bleiben, desto eher, wenn ihnen irgend ein neuer Vorzug vor anderen Tieren zufällig von der Natur verliehen wird. Niemals schildert Darwin die Natur so lebendig, wie wenn er auf den Kampf ums Dasein zu sprechen kommt. »Wir sehen, wie das Antlitz der Erde vor Freude strahlt, wir sehen oft einen Überfluß an Nahrung; sehen aber nicht oder vergessen, daß die Vögel, die nicht arbeiten und über unserem Kopfe singen, größten- teils von Insekten oder von Samen leben und folglich immerwährend Leben vernichten; oder wir vergessen, wie oft diese Sänger, ihre Eier, ihre Jungen den Raubvögeln und den Raubtieren erliegen; wir haben nicht überall im Sinn, daß, wenn auch für den Augenblick Überfluß an Nahrung herrscht, es nicht zu allen Jahreszeiten so sein muß«1). Unwillkürlich denkt man, während man diese Worte liest, an Rokokobilder: Täubchen girren und küssen sich zärtlich, ein Reh betrachtet mit seinem unschuldigen Auge ein verliebtes Pärchen, Blumen wachsen in künstlich zugeschnittenen Beeten, um die Augen feiner Damen zu entzücken; — die Revolution zerstörte jene Welt, und Darwin, der wissenschaftliche Revolutionär, wollte sie auch in der Wissenschaft vernichten. Er folgte dabei der Logik der National- ökonomen seiner Zeit: er konstatierte das Faktum, daß es in der Natur einen Kampf gibt : er gab ihm (an der Seite anderer Faktoren) die Bedeutung einer die Entwicklung treibenden Kraft; und er sann nach, wie diese Kraft (nebst der Variabilität, Erblichkeit, Korrela- tion usw.) die Entwicklung hervorbringt. Stellen wir uns die Natur, welche ums Dasein kämpft, vor: die Folge des (mit der Variabilität verbundenen) Kampfes wird das Überleben des Passendsten sein. Das Wort »Folge« hat da eine doppelte Bedeutung: es bezeichnet einmal die objektive Erscheinung, welche nach einer andern folgt (nach dem Kampfe ums Dasein folgt zeitlich das Überleben des Passendsten), es bedeutet aber auch die logische Folgerung (wenn wir über den Kampf ums Dasein nachdenken, müssen wir auf das Überleben des Passendsten schließen). Innerhalb des ganzen Dar- winismus wiederholt sich diese logische Eigentümlichkeit, daß die Be- griffe sowohl logische Abstraktionen, als auch Namen für ein Geschehen oder für eine Erscheinung bedeuten. Die Bedeutung der Worte »Zoo- logie« und »Tierreich«, die Wissenschaft und ihr Objekt zu verwechseln ist nicht möglich; im Darwinismus aber bedeuten die Worte »Phylo- ') Ch. Darwin, Origin of species, S. 46. 24* •in 2 XXVI. Natürliche Zuchtwahl. genie«, »Ontogenie«, eine Wissenschaft und zugleich auch ihr Objekt; ebenfalls bedeuten die Worte »natürliche Zuchtwahl« sowohl einen Begriff als auch ein Geschehen. Man erklärt die Erscheinungen entweder aus deren Ursachen oder aus Gründen: das letztere tut man, indem man angibt, warum ein Ding so und nicht anders sein muß; so z. B., wenn man erklärt, warum die Summe der Winkel in einem Dreieck 1 80 ° betragen muß ; aus Ursachen erklären wir, wenn wir angeben, was die Erscheinung hervorgebracht hat — so z. B. ist die Ursache eines Tons die zitternde Saite. (Es gibt auch eine teleologische und moralische Erklärung, doch die kommen hier nicht in Betracht.) Die natürliche Zuchtwahl sollte auf einmal sowohl objektive Ursache (und Folge) als auch subjektiver Grund sein. Sie sollte es sein; tatsächlich ist sie nur der subjektive Grund; denn man kann sie nicht in der Natur beobachten. Darwin brachte keinen einzigen »Beleg für die Zuchtwahl« vor, und wo er von derselben redet, beginnt er mit Worten ä la »nehmen wir an, daß . . .« Diese Eigenartigkeit der Zuchtwahllehre, durch welche sie sich von allen, in anderen Wissenschaften aufgestellten Theorien unterscheidet, wurde gleich anfangs von Darwins Gegnern hervorgehoben; OF Argyll nannte sie z. B. eine »personifizierte Ab- straktion«; da sie aber keine eigentliche Abstraktion aus einzelnen Erscheinungen ist, wäre es noch passender, sie »personifizierte Fol- gerung« zu nennen. Die Darwinisten konnten niemals die Schwierig- keiten los werden, die ihnen dieser Begriff verursachte ; fortwährend versicherten sie, daß die Naturauslese nichts bewirke, und dabei ge- rieten sie immer wieder auf die Behauptung, daß sie die Ursache der Formen sei. Es wird von den Darwinisten anerkannt, daß man die Zuchtwahl nicht studieren kann. Das traurigste ist, schreibt A. WEISMANN, daß es uns kaum in einem einzigen Falle möglich ist, zu sagen, ob irgendwelche Abweichung in der Natur vorteilhaft sei oder nicht, und es ist nicht viel Hoffnung vorhanden, daß sich die Verhältnisse in dieser Hinsicht bessern werden. Und vor kurzem äußerte sich L. Plate gleich offenherzig und fast mit denselben Worten wie Weismann1): »Es ist fast ausnahmslos unmöglich in einem speziellen Falle das Maß des Selektionswertes anzugeben und vielfach sogar unmöglich fest- zustellen, ob ein anscheinend nützliches Organ selektionswertig ist oder z) L. Plate, Selektlonsprinzip und Probleme der Artbildung. Ein Handbuch des Darwinismus, Leipzig 1908, S. 122. XXVI. Natürliche Zuchtwahl. 373 nicht. Der hieraus sich ergebende Schluß ist, daß die Richtigkeit der Selektionslehre nicht aus der Betrachtung spezieller Falle sich ergibt . . . sondern daß sie eine logische Folgerung aus allgemeinen Erfahrungs- tatsachen der Variabilität, des Geburtenüberschusses und des Kampfes ums Dasein darstellt.« Eine andere Eigentümlichkeit der Zuchtwahllehre ist der Gedanke, daß der Fortschritt für sie ein bloßes Passivum bedeutet. Seit je verstand man unter »Leben« eine Tätigkeit, eine Entwicklung zur Macht, eine Wirkung auf die Umgebung; von dem Fortschritte in der Welt glaubte man und ist man noch immer überzeugt, daß er durch ein Streben, durch einen Kampf für Ideale, durch eigene Kraft vor sich geht. Diese Auffassung wird von Darwin indirekt bekämpft; das Leben vermag nach ihm nichts, sondern ist nur ein Spielzeug in den Händen der verschiedensten äußeren Faktoren; es gibt bei Darwin keinen Fortschritt, sondern nur einen Fortschub (»du glaubst zu schieben und du wirst geschoben«), denn wenn ein Organismus irgend einen Vorzug vor anderen hat, so verschafft er ihm die gehörige Geltung und Vertiefung keineswegs durch eigenes Bemühen: mit seinem Tode werden alle seine Ideale hinfällig; nur derjenige hat Hoffnung auf Sieg, der viel Kinder erzeugt — das ist der Sinn der Zuchtwahltheorie. Das Abstrakte an der Theorie der natürlichen Zuchtwahl ist Ur- sache, warum es über eine historische Entwicklung dieses Ge- dankens nichts zu berichten gibt; heute verstehen wir unter natür- licher Zuchtwahl ganz dasselbe, was Darwin darunter verstand. Es ist dies um so auffallender, als der Zuchtwahlbegriff von Anfang an im Mittelpunkte der Diskussion steht : ob Darwinist oder Gegner, ein jeder glaubt der Zuchtwahllehre den größten Teil seiner Erörterung einräumen zu müssen, ohne etwas anderes als logische Spitzfindig- keiten bieten zu können1). Auch die Ansichten über den Kampf ums Dasein sind seit Darwin nicht fortgeschritten; die Schriftsteller begnügen sich meistens mit der Feststellung, daß es einen Kampf in der Natur wirklich gibt; höchstens geben sie logische Analysen desselben, bloße Durchführung der Definition, nicht Beobach- tungen2). Es genügt keineswegs, zu wissen, daß der Spulwurm 60 und der Bandwurm 1000 Millionen, Termitenweibchen an einem Tage J) Ausführliche Besprechung der Zuchtwahllehre vom darwinistischen Stand- punkte und die zugehörige Literatur ist bei L. Plate 1. c. zu finden. " Solche logische Klassifikationen führt ebenfalls Plate an. 374 XXVn. Carl von Nägeli. 80000 Eier legen, solange man nicht weiß, wieviel von denselben zugrunde gehen, noch bevor sie den Kampf ums Leben eröffnen. Es ist daran nicht zu zweifeln, daß sich die Lebensbedingungen der Tiere noch heute vor unseren Augen verändern: in Schottland wird jetzt die Singdrossel durch die Misteldrossel verdrängt; in Austra- lien nehmen allmählich unsere Bienen die Stelle der einheimischen stachellosen Bienen ein; in unseren Gegenden erscheint immer häufiger der Girlitz (Serinus hortulanus), ein kleiner Sänger, der sich früher bei uns nicht blicken ließ usw. — doch welcher Art der Kampf ist, der die einen Formen zum Siege, die andern zum Verfall führt, dar- über ist fast nichts bekannt. Die Lehre von der Naturzüchtung, und die Aufnahme, der sie sich im 19. Jahrhundert erfreute, gibt einen anschaulichen Beleg für die anthropomorphe Auffassung jenes Zeitalters. Darwin durfte ohne jeden Versuch einer Beweisführung zu behaupten wagen, daß die Natur in ihrem innersten Getriebe derselben Methode folgt, wie der Mensch, wenn er neue Rassen hervorbringt. Die älteren Kritiker ausgenommen, verlangte niemand von ihm eine Begründung dieser Annahme, ja es scheinen sich auch die modernsten nicht bewußt zu sein, wie unwahrscheinlich sie klingt und wie sehr sie nach kritischer Prüfung ruft1). XXVII. Carl von Nägeli. Darwins Theorie fand C. v. NÄGELI, den berühmten Münchener Botaniker (181 7 — 1891), bereits als wissenschaftlich gereiften Mann; hatte er sich doch eifrig an der Begründung der durch SCHLEIDEN eingeführten Zellentheorie und überhaupt an der mikroskopischen Anatomie beteiligt und sich auch als Vorkämpfer der neuen materia- listischen Weltanschauung einen Namen gemacht. Ja er kannte auch den Rausch der Naturphilosophie noch aus eigener Erfahrung; denn Begeisterung für Okens ideales Streben2) war es, die ihn zum Ent- schlüsse brachte, das Studium der Medizin für dasjenige der Botanik J) Aus zahlreichen Kritiken der Selektionslehre ist von den neueren die beste: A. Pauly, Der Darwinismus und Lamarekismus, München 1905. 2) C. Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, Mün- chen 1884, S. 556. — Die Diskussion der DARWiNschen Theorie begann Nägeli mit dem Artikel Entstehung und Begriff der naturhistorischen Art, München 1865, und Über den Einfluß der äußeren Verhältnisse auf die Varietätenbildung im Pflanzenreich. Sitzungsber. Akad. Wiss., München 1865. XXVII. Carl von Nägeli. 3^5 einzutauschen; auch Hegels Vorlesungen erlaubten ihm noch, sich eine Vorstellung von dessen Gedankenflug zu bilden; ja Nägeli fand es sogar für nötig, sich gegen SCHLElDENs Vorwurf, er sei Hegelianer, zu wehren. Wir wollen ihm glauben, daß er es nicht war; gewiß war er aber damals ein großer Idealist, wenn er folgenden Anschauun- gen huldigen konnte1): »Die göttliche, alle Materie durchdringende Vernunft hat die realen Erscheinungen geschaffen; ihr Abbild, die menschliche Vernunft, vermag bloß die formalen Begriffe der Mathematik hervorzubringen. In beiden Gebieten des Schaffens müssen analoge Gesetze walten, das Verhältnis, in dem die Begriffe der natürlichen Dinge zueinander stehen, muß dem Verhältnis zwischen den formalen Begriffen entsprechen. Gleichwie die letzteren von der Mathematik auseinander abgeleitet werden, so müssen die Begriffe der materiellen Existenzen von den Naturwissenschaften aus- einander sich entwickeln lassen. Da aber die mathematischen Begriffe z. T. absolut voneinander verschieden sind (z. B. die Linien oder Flächen verschiedener Ordnungen), so folgt eine gleiche absolute Verschiedenheit auch für viele natürlichen Erscheinungen, und für die Organismen eine sprungweise Aufeinanderfolge.« Die materialistische Zeitstimmung entfremdete NÄGELI dieser An- schauungsweise noch vor Darwins Auftreten; als er kam, war Nägeli vorbereitet, ihn aufzunehmen. Aber keine noch so große Begeiste- rung für die neue Lehre konnte in ihm die Eindrücke der Jugend verwischen: car l'abime est immense, et la tache est au fond! Er wollte fortan nur von Atomen, von blindem Mechanismus und von exaktem Wissen reden; 1884 gab er ein großes Werk über die Entwicklung der Organismenwelt heraus, mit dem kühnen Titel »Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre«, mit ausführlichen Betrachtungen über die Phylogenie der Pflanzen, ver- bunden mit einer Verteidigung des wissenschaftlichen Materialismus, mit Hypothesen über die Entstehung der Atome, über Molekular- kräfte und über andere für jene Zeit bezeichnende Probleme. Aber das Ende seiner langen materialistischen Erörterungen bleibt, daß Darwin die Organisation zu niedrig einschätzt und daß der Natur- züchtung als tieferes Prinzip eine Vervollkommnungskraft zugrunde gelegt werden muß. Mit den älteren Morphologen unterscheidet er an den Pflanzen Plan und Anpassung. Der Plan ist es, was die Rose zu einer Rosazee, die Mistel zu einer Loranthazee, die Tulpe zu einer monokotyledonen Pflanze macht; unter Anpassung sollen die Farbe der Rosenblüte, die eigenartigen Wurzeln der Mistel ver- x) C. Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, S. 557. 376 XXVII. Carl von Nägeli. standen werden; Eigenschaften, welche der Pflanze durch äußere Umstände eingeprägt werden. Wie das Sonnensystem durch das Weltall von einer Unendlichkeit in eine andere infolge eigener Kraft fliegt, welche niemals abnimmt, so soll auch dem Leben, einmal aus toter Substanz herauskristalli- siert, ein Beharrungsvermögen, ein > Vervollkommnungsprinzip« inne- wohnen, durch welches es fortwährend zu höheren und höheren For- men emporgetrieben wird. Immer noch sollen einfache Zellen durch physikalisch-chemische Kräfte aus toter Materie hervorgerufen werden, und ihre Eigenschaften, Wachstum, Vermehrung, Erblichkeit, Ver- änderlichkeit sind Folgen der mechanischen Beschaffenheit ihrer Sub- stanz; diese Eigenschaften sind es, welche das Leben in höhere Formen treiben. Der Mensch ist der Nachkomme der ältesten Zellen, die Affen stammen von etwas jüngeren ab, und die heutigen Infu- sorien sind erst unlängst entstanden. Die heutigen Affen sind keines- wegs Nachkommen der tertiären, sondern haben sich aus niederen Formen entwickelt und ihr Nachkomme wird einmal der Mensch sein, der also nicht den heutigen Menschen zu seinem Urvater haben wird; dieser wird sich ebenfalls zu einer höheren Form aufschwingen. So ist die Tier- und Pflanzenwelt einem Garten voll Sträucher ähnlich, welche immer wieder neue Äste treiben, deren letzte Spitzen die heutigen organischen Formen darstellen; sie wachsen durch ihre eigene innere Kraft — und die Naturzüchtung? Wäre nicht der Kampf ums Dasein und seine Folgen, so würde eine Unmasse von Formen entstehen, welche einander stören müßten; aber wie der Gärtner die Aste an den Sträuchern abstutzt und das Entstehen von formlosem Buschwerk hindert, so werden im Kampf ums Dasein Formen vernichtet, welche in einer der allgemeinen Entwicklung zu- widerlaufenden Richtung wachsen würden. Das Vitalistische an Nägelis Theorie ist leicht zu entdecken; da er jedoch zur Zeit der höchsten Blüte des Glaubens an Atome und Maschinen wirkte, führt er des langen und breiten den Beweis, daß auch sein organisches Beharrungsvermögen, welches den Fortschritt bewirkt, nur eine mechanische Folge einer bestimmten Gruppierung der Atome und Moleküle ist, welche in Organismen nur um einen Grad vollkommener sein soll als in den Kristallen; er konstruiert unsichtbare Lebenseinheiten, »Mizellen«, und ist so sehr von deren Vorhandensein überzeugt, daß er deren Größe etwa auf ein Trilliontel Kubikzentimeter berechnet, im Lindensamen an 4000 Billionen ver- schiedener Mizellen annimmt und deren kettenartige Anordnung in XXVII. Carl von Xägeli. 37- der lebendigen Substanz durch Abbildungen veranschaulicht. Das aus den Mizellen aufgebaute Protoplasma soll zweierlei Art sein: das eine, das Idioplasma, enthält wie in nuce alle Eigenschaften und »gleichsam das mikroskopische Abbild des makroskopischen Individuums« T); das andere, das Stereoplasma soll dagegen nur einige und an ver- schiedenen Körperstellen verschiedene Eigenschaften des Individuums enthalten. Es würde uns zu weit führen, wollten wir NÄGELIs Dar- stellung folgen, wie die Mizellen zu Fibrillen, diese zu Netzen, diese zu Protoplasma zusammentreten, wie aus ihnen Erblichkeit und die Entstehung neuer Formen abgeleitet werden kann; wir wollen nur die »Gesetze« anführen, in welche NäGELI das Vervollkommnungs- prinzip zerlegte: i. Gesetz der phylogenetischen Vereinigung, wenn die früher isoliert lebenden Zellen durch Vermehrung vielzellige Formen bilden. 2. Gesetz der Komplikation, Differenzierung und Reduktion: die Zellen sind anfangs gleichartig, differenzieren sich später und bilden Gewebe; gleichzeitig vereinfacht sich die Em- bryonalentwicklung, indem einzelne phylogenetische Stufen über- sprungen wrerden. 3. Gesetz der Anpassung an äußere Lebens- bedingungen. NÄGELis Versuch, der Naturzüchtung nur die Rolle eines sekun- dären Regulators der Entwicklung zuzuteilen, und ein Vervollkomm- nungsprinzip in die biologischen Theorien einzuführen, wurde von den Zeitgenossen ungünstig aufgenommen. DARWIN und seine An- hänger übersahen NÄGELis mechanistische Auseinandersetzungen und warfen seinem organischen Beharrungsvermögen Mystizismus vor: andererseits fanden Forscher, welche, wie z. B. A. WlGAND") für das, der alten Morphologie von Nägeli Entnommene Verständnis besaßen, wieder an seinem Materialismus Anstoß. Auch vermochte Nägeli die Idee des Beharrungsvermögens in keinen rechten Einklang mit der von ihm anerkannten und auch gegen DARWIN behaupteten Tat- sache der Konstanz der Artmerkmale zu bringen. Nichtsdestoweniger übten NÄGELis Theorien großen Einfluß auf das Denken der Biologen aus: die Idee, daß man die Zuchtwahl durch ein tieferes Entwicklungsprinzip wird ersetzen müssen, war gar manchem selbständigen Denker aus dem Herzen gesprochen ; die Phantasien vom doppelten Protoplasma dienten WEISMANN zum Aus- 1 Mech.-phys. Theorie, S. 26. ; A. Wigand, Der Darwinismus usw., Braunschweig 1874 — 76, Hl. Bd., S. 10 sq. 3/8 XXVIII. Zellentheorie nach Darwin. gangspunkt seiner Spekulationen über Vererbung und über Keim- plasma; das Vervollkommungsprinzip wurde durch E. Askenasy ver- teidigt1). Namentlich verdankt aber Jul. Sachs, dessen Wirken einen Übergang von der darwinistischen zur nachdarwinschen Epoche bildet, vieles NÄGELI. Wie dieser glaubt er an den Mechanismus des Welt- geschehens und hält das Phylogenetisieren für den Höhepunkt der Wissenschaft, durch welches die idealistische, oder, wie er sagt, die »scholastische« Morphologie2) überwunden wurde; wie NÄGELI unter- scheidet er Organisationscharaktere, welche durch einen »Gestaltungs- trieb«3), und Anpassungsmerkmale, welche durch Reaktion auf äußere Reize hervorgerufen werden4). Auch DE Vries' moderne Erörterungen über elementare Arten und über den Unterschied zwischen erblichen Variationen und nichterblichen Fluktuationen fanden in NÄGELI ihren Anreger5). NÄGELI stellt die erste historisch bedeutende Reaktion eines, auf den Verstand sich verlassenden Denkers gegen den Empirismus dar; er betonte es ausdrücklich, daß seine deutschem Boden ent- sprossene rationelle Theorie im Gegensatz zu dem englischen Sammeln von Tatsachen stehe. Die Hervorhebung dieses Gegen- satzes wirkte damals befremdlich; und doch war sie nur eine An- deutung dessen, was kommende Jahre mehr entwickelt bringen sollten. XXVIII. Zellentheorie nach Darwin. Mehrmals hatten wir schon Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß die neue Naturwissenschaft, anstatt wie früher, nach einem Begreifen der Natur zu trachten, eine geistige Wiedergabe des Naturge- schehens anstrebte; wie sie statt der Naturbegriffe gleichsam eine Photographie der Natur suchte. Wir sehen überall, wie diesem Streben gemäß aus der biologischen Wissenschaft die früheren allgemeinen Begriffe verbannt und durch allgemeine Dinge ersetzt wurden. Wo der alte Naturforscher vom idealen Wirbeltiertypus redete, J) E. Askenasy, Beiträge zur Kritik der Darwinschen Lehre, Leipzig 1872. 2) Jul. Sachs, Geschichte der Botanik, München 1875. 3) Ders., Physiologische Notizen, Marburg (1896) 1898, S. 184. 4) Für NÄGELI sprach sich Sachs bereits in seinem Lehrbuch der Botanik im Jahre 1868 aus. 5) In der Schrift >Die Hierazien Mitteleuropas 1885« versuchte Nägeli diese polymorphe Pflanzengattung auf die elementarsten konstanten Formen zurückzuführen. Auch die Lehre von der Gärung wurde durch Nägeli gefördert. XXVIII. Zellentheorie nach Darwin. 379 da spricht der neue von einem wirklichen, irgendwo und irgendein- mal vorhandenen Vorfahren der Wirbeltiere; früher dachte man über Metamorphosen und über Einheit des Planes nach, jetzt wird von Umwandlungen gesprochen, die in bestimmter Zeit ge- schahen und von einem gemeinsamen Ursprung ausgingen: die frühere ideelle Ähnlichkeit hat man jetzt durch materielle Bluts- verwandtschaft ersetzt. Der Unterschied zwischen der älteren und neueren Zeit läßt sich bis in solche Einzelheiten, wie die Abbildungen in den Monographien verfolgen: früher gab man den schematischen Abbildungen, welche die subjektive Auffassung des Gegenstandes durch den Autor wiedergaben, Vorzug; heute verlangt man dagegen eine äußerst treue, ganz objektive Reproduktion des Präparates: Oken1) verwarf die objektiv wahren Zeichnungen (weil man aus ihnen nicht entnimmt, was der Autor mit denselben gemeint hat): heute sind umgekehrt gerade die Photographien der Präparate beliebt. Auch in der wissenschaftlichen Terminologie ist dieser Unterschied zu finden; die älteren Anatomen führten nur ganz ausnahmsweise neue Namen ein; die Worte Homologie, Archetypus und andere waren so passend gewählt, daß sie bis auf den Tag gelten: das wissenschaftliche Wörterbuch wurde durch dieselben wirklich bereichert. Dafür suchte man damals bekannten Worten einen neuen tieferen Sinn zu geben. Goethe vertiefte durch seine Metamorphosenlehre den Begriff des Blattes und führte in der ganzen Theorie keinen neuen Namen ein: durch die Wirbeltheorie des Schädels wurde der Begriff des Wirbelbeins vertieft, die spezifische Sinnesenergie war eine tiefere Auffassung der Sinnestätigkeit usw. Heutzutage herrscht dagegen ein instinktiver Widerwille gegen eine tiefere Auffassung der Erscheinungen: die Einzelnheiten werden hervorgehoben und die Isoliertheit auch der unbedeutendsten Erscheinung wird dadurch er- zielt, daß man jeder einen neuen Namen gibt, wobei im Gegensatze zu früher gerade darauf geachtet wird, daß der neu eingeführte Name nichts von der Erscheinung andeute, und eine bloße Bezeichnung sei. Die Zellentheorie wurde namentlich in diesem Sinne bearbeitet. Bereits Schleidex und Schwann bekämpften durch ihre Entdeckung, daß sich der Körper aus Zellen bildet, die Ansicht von der ideellen Einheit des Organismus, und zersetzten das Totalleben in das Leben einzelner Zellen; VlRCHOW verfolgte jene Methode weiter in seiner Lehre von der Zellenrepublik und in seiner Behauptung, die Krank- >; Isis 1817, s. 1533. 3ßo XXVIII. Zellentheorie nach Darwin. heit beherrsche nicht wie eine einheitliche Macht den Organismus, sondern sei in einzelnen Zellengruppen lokalisiert. Die Zelle wurde für die Stoff- und Kraftbiologie, was das Atom für die Chemie war; alle allgemeinen Begriffe wurden beseitigt und durch die Zelle an- geblich »erklärt«: die Erblichkeit, die Variabilität, das Leben, das Geschlechtswesen, die Beseeltheit und andere noch so unmaterielle und dunkle Erscheinungen wurden auf Zellen und ihre Teile zurück- geführt. Noch heute gibt es viele Biologen, welche aus den Zellen alle Lebensprobleme herauslesen wollen, und so war es möglich, daß z. B. O. Hertwig die neue Auflage seines Werkes, das früher den Titel »Zelle und Gewebe« trug, unter dem neuen Titel »Allgemeine Biologie« noch in der allerletzten Zeit herausgeben konnte. Dem herrschenden wissenschaftlichen Streben gemäß suchte man seit der Entdeckung der Zellen nicht ihr Wesen und ihr Verhältnis zum Organismus auf originelle Art zu erfassen, sondern man nahm die Zellentheorie als Dogma auf, an dem nichts geändert, sondern nur die Einzelnheiten durchgearbeitet werden dürfen. Umsonst sehen wir uns in der Zeit seit 1S40 bis zum Ende des Jahrhunderts nach einem Denker um, der sich die Aufgabe gestellt hätte, die Zellen- theorie durch eine neue Idee zu überwinden: die geistigen Anführer unter den Histologen jener Zeit, R. ViRCHOW, A. V. Kölliker, E. Strasburger versuchten nichts anderes, als das von Schleiden und Schwann nur Angedeutete, Verfehlte, nur kurz Besprochene auszuführen und zu korrigieren und sahen vor sich kein anderes Ziel, als »die Elemente zu erfassen, aus denen das, was wir jetzt noch [an den Zellen] für einfach halten, zusammengesetzt ist«, wie A. Kölliker die Zukunft der Zellentheorie in seiner Gewebe- lehre vorherzusagen versuchte. Infolgedessen ging die Forschung in mikroskopischen und farbetechnischen Analysen des Protoplasmas und des Kernes auf. Wir wollen die allerallgemeinsten Zelleneigenschaften aufzählen, und einen kurzen Bericht über die daran sich anschließenden Theorien erstatten. Die Form und die Gestalt der Zellen ist sehr mannigfaltig: es gibt Zellen mehrere Kubikzentimeter groß (das Ei der Vögel), und es gibt andere, die so klein sind, daß man sie kaum durch das Mikroskop sehen kann (einige Bakterien) ; sie sind kugelig, fadenförmig, flach, verzweigt und noch von anderen Formen. Von H. DRIESCH wurde auf die interessante Tatsache hingewiesen, daß Zellengröße und Zellenform XXVIII. Xellentheorie nach Darwin. 38 1 für die Elemente eines gegebenen Organs konstant sind , und von anderen Autoren wurde die Beobachtung veröffentlicht, daß die Zellen- größe für jede bestimmte Art in jedem Gewebe nur um ein bestimmtes Mittelmaß schwankt. Die Zellen haben manchmal verschiedene Or- gane: Flimmerhaare und Geißeln, durch welche sie sich bewegen, farbige »Augenflecke«, durch welche sie sehen, Mund für die Er- greifung der Nahrung, feine Muskelfibrillen u. a. ; diejenigen, welche Bestandteile der Gewebe bilden, besitzen dagegen nur wenige Organe. Die Pflanzenzellen pflegen aus folgenden Elementen zusammen- gesetzt zu sein: aus einer eine feste Hülle um die Zelle bildenden Zellmembran, welche der Stärke chemisch verwandt ist, und aus einer farblosen, halbflüssigen Substanz, die den inneren Wänden an- liegt und im Inneren ein mit dem Wandbeschlag durch Bänder ver- bundenes Klümpchen bildet und Protoplasma heißt; drittens aus kleinen Höhlen, den sog. Vakuolen innerhalb des Protoplasma, welche Wasser mit aufgelösten anorganischen Substanzen enthält. Das Protoplasma besteht aus farbloser, homogener Grundsubstanz, in welcher sich äußerst kleine Körperchen, Mikrosomen, vorfinden. Im Protoplasma der Pflanzen pflegen auch noch größere Körperchen, nach ihrer Funktion Stärkebildner genannt, und grüne Körper- chen, welche der Pflanze ihre Farbe verleihen und Chlorophyll- körner heißen, enthalten zu sein. Das Pflanzenprotoplasma scheint, solange es lebt, in fortwährender Bewegung begriffen zu sein. Immer enthält es einen Kern, gewöhnlich von ovaler Form, welches wieder aus sehr mannigfachen Bestandteilen, besonders aber aus zweierlei Substanzen besteht: die eine läßt sich an toten Zellen durch künst- liche Mittel leicht färben und wird deshalb Chromatin genannt, während die andere weniger färbbar ist und Achromatin heißt. Die lebendige Zelle ernährt sich selbst, indem sie die Stoffe und die Kräfte aufnimmt und für das Leben nötige Substanzen bildet; sie verändert durch Wachstum oder im freien Zustande auch durch Bewegung ihre Form; sie ist reizbar und vermehrt sich. Die Er- scheinungen der Zellvermehrung werden von der modernen Biologie besonders beachtet. Seit ViRCHOW wird allgemein anerkannt, daß neue Zellen nur durch Teilung der früher dagewesenen entstehen können. Zuerst häuft sich im Kern die färbbare Substanz zu sog. Chromatinkörnchen an, welche sich zu Fäserchcn gruppieren, die sich bald zu einem Knäuel zusammenballen. Dann erscheint an zwei Polen des Kernes je ein Körnchen, das sogenannte Zentrosoma, und diese zwei Körnchen geben die Mittelpunkte an, um welche aus -$2 XXVIII. Zellentheorie nach Darwin. dem alten Kerne zwei neue entstehen. Die Fäserchen des Knäuels treten nämlich in der Form einiger hufeisenförmig gebogenen Schlingen (Chromosomen) auseinander, welche zuerst in der Mitte zwischen beiden Zentrosomen stehen. Zu dieser Zeit lassen sich die Chro- mosomen zählen, und es wird behauptet, daß eine jede Tier- und Pflanzenart deren eine bestimmte Anzahl besitzt1); mindestens gibt es deren zwei, doch kommen auch 168 und mehr vor; in welchem Zu- sammenhange aber die Chromosomenzahl mit anderen Merkmalen jeder Art steht, ist nicht bekannt. Daraufhin spaltet sich ein jedes Chromosom seiner Länge nach in zwei gleiche Teile; einer derselben wandert dann zu einem, der andere zum anderen Zentrosom, wo alle Fäserchen wieder einen Knäuel bilden und dann zu Chromatinkörnern zerfallen, um endlich einen neuen Kern zu bilden. Inzwischen teilt sich auch das Proto- plasma und so entstehen aus der alten »Mutter «-Zelle zwei neue »Tochter «-Zellen: weiterhin führt entweder jede ein selbständiges Leben (bei den Einzelligen) oder beide bleiben beisammen, nehmen verschiedene Gestalten und Funktionen an und bilden Gewebe. Über die Vorgänge in den Zellen wurden in den letzten Jahren so viele Versuche, Beobachtungen und Hypothesen veröffentlicht, und die Zellentheorie wurde in eine so ungeheuere Menge fremder Worte, äußerst spezieller Probleme und Problemchen eingehüllt, daß einem bei der Lektüre der histologischen Werke schwindlig wird. Als ob in der Zelle alle Geheimnisse des Lebens steckten und das Mikro- skop imstande wäre, die unbekannten Triebfedern des organischen Lebens zu entdecken! In der letzten Zeit kommt übrigens diese Richtung bereits aus der Mode und nach einigen Jahrzehnten wird ein Geschichtsschreiber gewiß an dem Verständnis der heutigen Ter- minologie der feinen Zellstrukturen eine harte Nuß finden ; dazu noch eine verfaulte, da ihn kaum ein anderes als ein historisches Interesse einem solchen Studium zuführen wird. Doch wir wollen zusehen, welchen Einfluß die Zellentheorie auf einzelne biologische Gebiete ausübte. Die Zellentheorie in der Embryologie. Die Tatsache, daß der Organismus aus einer Zelle entsteht und daß seine Entwicklung mit Zellvermehrung verbunden ist, trug sehr viel zur Begeisterung für die Zellentheorie bei; man schrieb allem, J) Es werden aber zahlreiche Ausnahmen von dieser Regel angeführt. XXVIII. Zellentheorie nach Darwin. ■jg^ was mit der Zellteilung zusammenhing, eine besondere Bedeutung für die Embryologie zu. Man legte vor allem auf die Art der Eifurchung Gewicht und nach den dabei vorkommenden und, wie sich später zeigte, nebensächlichen Unterschieden klassifizierte man das Tierreich. Man unterscheidet nämlich: totale Furchung, wenn sich das ganze Ei in zwei, vier usw. Zellen teilt, welche wieder entweder äqual (wenn die ersten Tochterzellen etwa gleich groß sind) oder inäqual (wenn es nicht der Fall ist) sein kann. Bei der partiellen Furchung dagegen teilt sich das Ei in zwei Zellen, von denen die eine viel Dotter und wenig Protoplasma, die andere dagegen viel Protoplasma enthält; nur diese zweite (kleinere) Zelle teilt sich weiter; in diesem Falle spricht man wieder von einer diskoidalen Furchung (wenn sich nur eine kleine Platte an dem sog. »animalen« Ende des Eies teilt) oder einer superfizialen Furchung (bei welcher sich nur die Oberfläche des Eies furcht, während im Inneren das ungefurchte Dotter bleibt). Nach diesen Arten der Eifurchung klassifizierte A. KöLLIKER die Tiere in solche mit totaler Furchung (Wirbeltiere, Arthropoden, Gastropoden, Muscheltiere, Kopffüßler) und mit partieller Furchung (Radiaten, Medusen, Polypen, Würmer). Auch VAN BENEDEN (der ältere 1874) und GüST. JÄGER (1870) entwickelten eine analoge Ein- teilung des Tierreichs. Nachhaltiger war der Einfluß der Zellentheorie auf die Betrach- tungen über das Wesen der Embryonalentwicklung. Aus der Tat- sache, daß die Zellen des entwickelten Organismus durch fortgesetzte Teilung und Differenzierung entstehen, folgerte man, daß es beson- ders verdienstlich sein müsse, die Geschichte jeder Zelle während der Embryonalentwicklung zu verfolgen. Man fand, daß bestimmte Körperelemente, z. B. die Epidermis, die Geschlechtszellen, die innerste Zellenschicht der Verdauungsröhre durch fortgesetzte Teilung ganz bestimmter Embryonalzellen entstehen und man unternahm es, sol- chen Ursprung für alle Körperelemente möglichst weit zurückzuver- folgen. Manchmal gelang das Bemühen: BOVERI verfolgte die Ent- stehung der Geschlechtszellen des Pferdespulwurms bis auf das Vier- zellenstadium: aus einer Zelle dieses Stadiums sollen die Geschlechts- zellen durch fortgesetzte Teilung entstehen; bei dem Krustentier Cyclops entwickeln sich die Geschlechtszellen erst aus einer Zelle des 32-Zellenstadiums. Man fand ferner, daß bei inäqualer Teilung aus den kleineren Zellen das Ektoderm, aus den größeren das Entoderm sich bildet. In anderen Fällen gelang diese Untersuchung nicht so 384 XXVIII. Zellentheorie nach Darwin. befriedigend: die im entwickelten Zustande so einheitliche Musku- latur entstand in einigen Fällen aus den ektodermalen, in anderen aus den entodermalen, in den meisten aus den mesodermalen Zellen ; die eigentlichen Nervenzellen entstehen aus ektodermalen, die zwischen ihnen zerstreut liegenden sog. Gliazellen aus mesodermalen Zellen; in diesen Fällen schien also die Geschichte auffallend wenig Bedeu- tung zu haben, da im ersteren Falle dasselbe Gewebe aus Zellen, welche für grundsätzlich verschieden galten, entstehen konnte, im zweiten Falle wieder Organe, welche im entwickelten Zustande ein einheitliches Ganze bilden, in zweierlei Zellen ihren Ursprung hatten. Obwohl nun solche Erscheinungen die Bedeutung jener Auffassung der Entwicklungsgeschichte als Geschichte einzelner Zellen sehr herabminderten, zu vernichten vermochten sie sie nicht: man sah zwar die ungeheuere Kompliziertheit der Aufgabe, die in mannig- fachster Weise sich kreuzenden Schicksale, Teilungen und Bewegun- gen der Millionen von Zellen zu entwirren, aber man sagte sich von derselben nicht los, da man das normale Schicksal jeder Zelle für eine, durch unveränderliche, Millionen von Jahren dauernde Verer- bung fixierte Tatsache hielt. Als aber das Studium der Regenera- tionserscheinungen Tatsachen zum Vorschein brachte, wo sich (z. B. bei einigen Würmern) die Mesodermzellen aus ektodermalen rege- nerierten, wo sich also das Schicksal der Zellen bei der Regeneration ganz anders als bei der normalen Entwicklung gestaltete, wurde der alten Überschätzung der Zellentheorie in der Entwicklungsgeschichte der Todesstoß versetzt. Neuronentheorie. Am Anfange des 19. Jahrhunderts war noch die vitalistische Lehre herrschend, daß irgendwo im Körper das Lebensprinzip wohne, das die gesamte Tätigkeit des Körpers reguliert. X. BiCHAT polemisierte damals gegen diese Hypothese: es gebe viele Lebensprinzipe im Körper, lehrte er, so viele, als es Gewebearten gibt. Die Konse- quenzen der Zellentheorie führten zur Annahme, daß der Körper aus ebensoviel Lebensmittelpunkten als Zellen zusammengesetzt ist. VlRCHOW sprach diesen Satz deutlich aus und wendete ihn auch auf die Lehre vom Nervensystem an, indem er ausführte, daß es keine den ganzen Körper beherrschende Seele gebe, sondern daß jede Nervenzelle ein besonderes Zentrum bilde. Es schien nun, daß das Ende des Jahrhunderts diese Lehre XXVIII. Xellentheorie nach Darwin. 3*5 gründlicher bestätigen sollte, als ViRCHOW selbst erwarten mochte. Die älteren Hypothesen vom feineren Bau des Nervensystems ent- sprachen nämlich nicht der Auffassung' VlRCHOWs; nach denselben — besonders Jos. V. GERLACH wurde als ihr Verteidiger angeführt — ist das Nervensystem aus Zellen und deren fadenförmigen Ausläu- fern zusammengesetzt, welch letztere sich mannigfach verzweigen und sich untereinander zu einem über den ganzen Körper, besonders aber über die Nervenzentren ausgespannten Netze verbinden. In den 9oiger Jahren begann aber der spanische Histologe R. Y Cajal zu lehren, daß es in Wirklichkeit keine GERLACHschen Netze gibt, sondern daß die Nervenzellen abgeschlossene Ausläufer besitzen, welche nur durch Kontakt mit denen der anderen Nervenzellen in Verbindung stehen, ohne jedoch mit ihnen zusammenzufließen. Die meisten Histologen, unter anderen auch Kölliker, nahmen diese neue Theorie an; von Waldeyer wurde einer Nervenzelle samt ihren Ausläufern der Name »Neuron« gegeben; daher auch der Name Neuronentheorie. Nach dieser Theorie gibt es im Nervensystem so viele (auch räumlich ab- gesonderte) selbständige Zentren als Nervenzellen, von welchen jede ihr selbständiges Leben führt; die Reizung springt an der Berüh- rungsstelle der Ausläufer von einer Zelle auf die andere über und wird auf diese Weise weiter geleitet. Die Nervenzellen unterscheiden sich nach dieser Theorie voneinander durch nichts anderes als durch ihre Größe, ihre Anzahl, die RichtuDg ihrer Ausläufer und durch ähnliche greifbare Merkmale. Besonders wurde darauf Nachdruck gelegt, daß an den Nervenzellen keine Eigentümlichkeiten zu finden seien, welche man für entsprechend den qualitativen Unterschieden der psychischen Erscheinungen halten könnte1). Das Nervensystem sollte nur ein Zellenaggregat vorstellen, die Seele des Organismus nur eine Summe der Seelen aller Nervenzellen, welche physiologisch von verschiedener Funktion sind: in den einen sollen Vorstellungen der roten, in anderen der gelben Farbe, in wieder anderen die im Gedächtnis behaltenen Worte usw. auf irgend eine Art eingeschlossen sein. Die vorzüglichsten Histologen folgten dieser Theorie, die Physiologen (Helmholtz) bemühten sich, derselben ihre Ansichten anzupassen; auch die Psychologen (Wundt) hatten nichts gegen sie einzuwenden, ja sie erklärte ihnen mancherlei. Aber sie war nicht richtig; der ungarische Histologe S. Apäthy und der deutsche Phy- x) W. Bechterew, Die Leitungsbahnen im Gehirn und Rückenmarke, Leipzig 1899, S. 624. — Ahnlich schrieb auch A. Kölliker in seinem Handbuch der Ge- webelehre, II, 1896. S. 810 und 812. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. 2C 3 86 XXVIII. Zellentheorie nach Darwin. siologe A. Bethe verhalfen der älteren Theorie Gerlachs, das Nervensystem bilde ein Netz, von Neuem zur Geltung. Die Unrich- tigkeit der Neuronentheorie wurde nun ebenso rasch vielseitig be- stätigt, wie früher ihre Richtigkeit, und sie selbst blieb nur eine für das Denken des 19. Jahrhunderts charakteristische Episode1). Spekulationen über kleinere Lebensteilchen als die Zelle. Jedes Ding kann man sich in »Elemente« analysiert denken und zwar auf zwei wesentlich verschiedene Arten: entweder sind die Ele- mente von dem Ganzen qualitativ oder nur quantitativ verschieden. Man kann z. B. den Staat in Menschen, diese in Organe, diese in Gewebe, in Zellen, chemische Verbindungen, Moleküle, Atome ana- lysieren; oder man unterscheidet am Menschen Materie und Seele, an dieser Empfindungen usw. Von einer wesentlich anderen, nur quantitativen Art ist jedoch die Analyse in Zeit- und Raumelemente : als einen im Räume ausgebreiteten Körper, welcher eine Zeitlang lebt, kann man sich den Organismus in Elemente geteilt denken, welche eine bestimmte Zeit, eine Stunde, eine Minute, eine Sekunde, oder in solche, die einen bestimmten Raum, einen ccm oder einen ii//£ füllen. Man mag nun von der inneren Struktur des Menschen- körpers noch so wenig wissen, soviel läßt sich dennoch a priori be- haupten, daß es keine letzten Raum- und Zeitelemente gibt, in die sich der Körper einteilen ließe — die Philosophen haben bekannt- lich viel über dieses Problem geschrieben. Aber die Analyse des Menschen in qualitative Elemente, in Körper und Geist, in Organe, in Gewebe, ist von einer anderen Art: wüßte man nicht aus Erfah- rung, daß der Mensch nebst einem materiellen Leben auch denkt und fühlt, überhaupt eine Seele offenbart, jene Einteilung könnte niemals erraten werden. Ebenfalls mußte zuerst entdeckt werden, daß der Körper aus mehreren Gewebearten besteht; und wer die Zellen des menschlichen Körpers nicht gesehen hat, weiß nicht, daß er aus Zellen zusammengesetzt ist. In analoger Weise kann man erraten, daß die Luft aus kleinen Partikelchen, d. h. aus kleinen Raumelementen zusammengesetzt ist — man mußte aber ent- decken, daß sie aus Sauerstoff und Stickstoff besteht. Die unüberwindliche Neigung, Erfahrungsanalysen durch bloß logische zu ersetzen, befiel auch die Zellentheoretiker: bald nach der *) Ausführlichere Erklärung der Neuronentheorie bei Kölliker, Handbuch der Gewebelehre II, 1896, wo auch die betreffende Literatur angeführt ist. XXVIII. Zellentheorie nach Darwin. 387 Entdeckung, daß der Körper nicht aus unsichtbaren Kügelchen, Körnchen, Fibrillen, zusammengesetzt ist, wie es Leibniz, Buffox, HäLLER, Milne-EdwardS, Oken lehrten, sondern aus eigenartigen Gebilden, Zellen genannt, verfiel man wieder in die alte Methode; nur verlegte man jetzt die Raumelemente nicht mehr in den Körper im allgemeinen, sondern in einzelne Zellen. Das herrschende ma- terialistische Denken, das sich jede Erscheinung nur in der Form von einem Stückchen Materie vorstellen konnte, und die übertriebene Ehrfurcht vor dem Mikroskop unterstützten diese Richtung. DARWIN eröffnete solches Theoretisieren; zur Veranschaulichung, daß sich die Erblichkeit »erklären« läßt, nahm er im Körper kleine unsichtbare Körperchen an, die vermeintlichen Träger der erblichen Eigenschaften; sie sollen im Körper frei strömen, sich in den Ge- schlechtszellen ansammeln und so auf die Nachkommen übertragen werden. Bei der Eifurchung teilen sich auch die Körperchen, wan- dern in neu entstehende Zellen hinein und, an bestimmten Stellen des neu entstehenden Organismus angelangt, rufen sie dort die in ihnen verborgenen Eigenschaften hervor. Darwins Theorie, welche sich durch nichts von analogen Hypo- thesen des 18. Jahrhunderts unterscheidet, läßt sich daraus erklären, daß die Zellentheorie und die Histologie ihrem Urheber nur aus Büchern bekannt war; es ist leicht begreiflich, daß sie von seinen Zeitgenossen sehr ungünstig aufgenommen wurde; weder HüXLEY, noch WEISMANN, ja nicht einmal HAECKEL nahmen sie auf. Man verwarf aber nicht den Grundgedanken, die Analyse des Körpers in unsichtbare Raumelemente, sondern nur die primitive Art, wie sich Darwin das Wandern dieser Elemente im Körper vorstellte; der Grundgedanke dagegen fiel auf günstigen Boden, und der Glaube, daß die Zelle bestimmte Eigenschaften, in der Form von kleinen Par- tikelchen enthält, wurde bald zu einem wesentlichen Teil der Ent- wicklungstheorien. Bei Darwin heißen jene Körperchen »Gemmulae«, bei L. ELSBERG und bei E. HAECKEL »Plastidule«, bei H. SPENCER »Physiologische Einheiten«, bei de Vries »Pangene«, bei F. Galton »Stirps« und WEISMANN kennt, wie wir sehen werden, eine ganze Hierarchie derselben1). J) Ch. Darwin, The Variations of Animals and Plants etc.. Lond. 1868. — L. Els- berg, Regeneration or the Preservation of organic raolecules. Proc. Ass. f. Adv. of Sei. Hartford Meet. 1874. — E. HAECKEL, Perigenesis der Plastidule, Berlin 1876. — H. Spencer, Princip. of Biol. I, S. 180 sq. — H. de Vries, Intrazelluläre Pangenesis, Jena 1889. — F. Galton, A Theory of Heredity. Cont. Rev. 27, 1876. — A. Weis- mann, Die Kontinuität des Keimplasmas usw., Jena 1885. 25* 388 XXVIII. Zellentheorie nach Darwin. Andere Schriftsteller dachten bei ihren Spekulationen nicht so sehr an die Erblichkeit, sondern verfolgten überhaupt nur das Ziel, den Organismus in elementare Körperchen, kleiner als die Zelle, einzu- teilen; so E. BRÜCKE, nach dem die Zelle aus »ElementarkÖrper- chen« besteht, C. NÄGELI, der die Zellen aus »Mizellen« baute, Jul. Wiesner, welcher die Körperchen »Plasome« nannte, Osk. HERTWIG, der meint, daß sie glaubwürdiger scheinen werden, wenn er sie »Bioblasten« nennt, wie sie bereits früher R. Altmann be- zeichnete1). Wieder anderen Naturforschern erschien es besser, anstatt der Körperchen verschiedene physikalische Strukturen oder Vorgänge in die Zellen hineinzudenken; so verglich J. B. Berthold das Proto- plasma mit einem Gemisch mehrerer Flüssigkeiten, M. Verworn leitete die Eigenschaften des Lebens aus der flüssigen Konstitution des Protoplasmas; andere Forscher dagegen, wie O. Hertwig, ver- warfen diese Ansicht und lehrten, der lebendige Teil des Proto- plasma befinde sich in einem festen Aggregatzustand; W. HAACKE behauptete, daß das Protoplasma aus kleinen Kristallenen zusammen- gesetzt sei; O. BÜTSCHLI fand viele Anhänger für seine Lehre, daß das Protoplasma eine Schaumstruktur hat, während W. FLEMMING wieder ausführte, daß es aus feinen Fäserchen besteht - — und es gibt noch viele andere Hypothesen dieser Art2). Jedes Körnchen, das man in der Zelle fand, wurde für würdig gehalten, als Grundlage des Lebens zu gelten. Eine Bedeutung, von welcher sich die Nachwelt kaum eine Vor- stellung wird machen können, wurde den früher erwähnten Chro- matinkörnchen und den aus ihnen zusammengesetzten Chromosomen zugeschrieben. Wie sie zu ihrer Rolle kamen, ist heute noch schwer zu beurteilen; es wirkte die Beobachtung, daß diese Elemente in allen sich teilenden Zellen vorkommen, daß sie bei der Zellteilung z) E. Brücke, Die Elementarorganismen. Sitzungsber. Wien. Akad. 44, 1861. — C. Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, München und Leipzig 1884, S. 21 — 74. — J. Wiesner, Die Elementarstruktur und das Wachstum der lebenden Substanz, Wien 1892. — O. Hertwig, Allgem. Biologie, Jena 1906. — R. Altmann, Die Elementarorganismen, Leipzig 1890. 2) J. B. Berthold, Studien über Protoplasmamechanik, Leipzig 1877. — Errera, Eine fundamentale Gleichgewichtsbedingung organ. Zellen. Ber. d. deutsch, bot. Ges. 4, 1886. — M. Verworn, Allgem. Physiologie, 2. Aufl., Jena 1901. — W. Haacke, Die Träger der Vererbung. Biol. Zentralbl. 13, 1893. — °- Bütschli, Über mikro- skopische Schäume und das Protoplasma, Leipzig 1892. — W. Flemming, Zellsub- stanz, Zell- und Kernteilung, Leipzig 1882. XXVIII. Zellentheorie nach Darwin. 389 eigenartige Bewegungen ausführen, daß die Befruchtung mit der Verbindung der väterlichen und mütterlichen Chromosomen einher- geht; bedeutend wirkte auch der Wunsch, eine »Vererbungssubstanz« zu besitzen, und die Überzeugung, daß man sie unter dem Mikroskop finden müsse; man erinnere sich schließlich auch der Art, wie in den Laboratorien Entdeckungen gemacht werden: man fand unter dem Mikroskop in den Zellen eine eigenartige Substanz und in den Büchern las man über Vererbung — wie viele Theorien sind nicht auf diese Art entstanden! Diese und noch andere Ursachen führten dazu, daß man das Chromatin für die Vererbungssubstanz ausgab, durch welche die Eigenschaften der Eltern auf die Kinder übertragen werden1). Man nannte die Chromosomen »Eigenschaftsträger« und stritt darüber, ob in jedem Chromosom (des Eies) alle Eigenschaften des Organismus eingeschlossen liegen, oder ob jedes eine andere Gruppe derselben, also eines z. B. das Ektoderm, ein anderes das Nerven- system, ein anderes wieder die Zähne enthält (E. B. Wilson, Boveri); oder ob ein jedes zwar einen ganzen Organismus enthält, das eine aber vom Vater, das andere von dem Großvater, das dritte vom Urgroßvater usw. stammt (C. Rabl) 2). In den letzten Jahren beginnt man das Phantastische jener Theo- rien, welche der Überzeugung entsprangen, daß man dem Wesen der Dinge desto näher steht, mit je stärkerer Vergrößerung man sie betrachtet, einzusehen: die moderne experimentelle Morphologie, die Mutationstheorien, die Bastardierungslehren und andere Untersuchun- gen, von welchen später berichtet werden soll, vermindern sichtlich die Bedeutung des Mikroskopierens. x) E. Strasburger, Zellbildung und Zellteilung. 1. Aufl., Jena 1875. — °- Hert- WIG, Beiträge zur Kenntnis der Bildung, Befruchtung und Teilung des tierischen Eies. I. Morph. Jahrb. 1, 1875. — A. Köi.i.iker, Handbuch der Gewebelehre, 1889. — A. Weismann, Die Bedeutung der sexuellen Fortpflanzung für die Selektionslehre, Jena 1886. 2) Aus zusammenfassenden Werken über diese Frage vgl. u. a. : O. Hertwig, All- gemeine Biologie, Jena 1906. — Val. Haecker, Praxis und Theorie der Befruch- tungslehre, Jena 1899. — Y. Delage, La structure du protoplasma etc., 2. ed., Paris 1904. — Edm. Wilson, The Cell in Development and Inheritance, New York 1900. — R. FlCK, Vererbungsfragen, Reduktions- und Chromosomenhypothesen, Bastard- regeln. Ergebnisse der Anatomie und Entwicklungsgeschichte, Wiesbaden 1907. Aus dem Referat des R. Fick wird man ersehen können, daß die übertriebene Betonung der Kernstrukturen neuerdings auch unter den Histologen abnimmt. ■2qo XXVIII. Zellentheorie nach Darwin. Einwände gegen die Zellentheorie. Die Zellentheorie erwuchs zu einer Macht, welcher besonders die Histologie und die Embryologie als gehorsame Dienerinnen folgten; zu zeigen, aus welchen Embryonalzellen dieses oder jenes Gewebe entsteht, war das Hochziel jener Wissenschaften. Einige fühlten die Einseitigkeit dieser Anschauung: der Flügel eines Vogels, einer Fledermaus, eines Schmetterlings sind wohl alle aus Zellen entstanden: sollte aber die Tatsache, daß und wie sie sich aus Zellen entwickeln, der einzige Weg zu ihrem Verständnis sein? Sind wirklich die Gewebe- zellen unabhängige Bürger einer Republik, die keinen anderen als ihren individuellen Gesetzen folgen? Aus solchen Fragen entwickelten sich die Einwendungen gegen die Überschätzung der Zellentheorie. JllL. Sachs1), ein scharfsinniger Botaniker, versuchte die Zelle anders zu analysieren als diejenigen, welche in dieselbe verschiedene unsichtbare Strukturen hineindachten. Die Tatsache, daß eine Zelle auch mehr als einen Kern haben kann (die Leberzellen pflegen zwei Kerne, die Knochenmarkzellen und die einiger pathologischen Ge- bilde, einiger Pilze, einzelner niederen Algen, einiger Radiolarien und Infusorien über ioo Kerne einzuschließen), führte ihn zur Aufstellung einer einfacheren Einheit als die Zelle, der sog. »Energide«, d. h. »einer lebendigen Einheit, auf der das organische Leben beruht«, welche je aus einem Kern und dem ihn umgebenden Protoplasma be- steht. Wieviel Kerne, so viele Energiden sollen in einer Zelle ent- halten sein. Obwohl sich an Sachs auch A. Kölliker anschloß (der aber statt Energide den Namen »Protoblast« einführte)2), obwohl auch sonst der Gedanke nicht unsympathisch aufgenommen wurde, be- hauptete^ sich nicht; die vielkernigen Zellen wurden für Ausnahmen oder für besondere Fälle der Vielzelligkeit erklärt. Unbeachtet blieb auch C. Heitzmanns Versuch3), die Auffassung des Körpers als einer Zellenrepublik durch die Idee zu überwinden, daß jeder Körper, der menschliche wie der einer Amöbe, ein einheitliches plasmatisches Ganze bildet, in welchem die Lebenssubstanz wie ein Netz, dessen Knoten die »Zellen« darstellen, ausgespannt ist; auch ein Physiologe von größerem Ansehen, E. PflüGER, fand kein Gehör für seine *) J. Sachs, Physiol. Übungen, Flora 1892. 2) A. Kölliker, Die Energiden von Sachs im Lichte der Gewebelehre der Tiere. Wiirzb. Verh. N. F. 31, 1897. Die Botaniker nennen den Zellinhalt nach J. v. Hansteins Beispiel vielfach »Protoplast«. 3) C. Heitzmann, Mikroskopische Morphologie des Tierkörpers, Wien 1883, S. 136. XXVIII. Zellentheorie nach Darwin. ?qj ähnlich lautende Hypothese, nach welcher das Nervensystem als ein einziges, über den ganzen Körper ausgebreitetes Riesenmolekül auf- zufassen wäre. Tatsächlich überwunden wurde die Herrschaft der Zellentheorie in der Botanik. Bereits bei W. HOFMEISTER, dem Zeitgenossen Darwins, kam die Tendenz zu Tage, mehr die Einheit des Pflanzenkörpers, als die Elemente derselben zu betonen; zu klarem Ausdruck gelangte aber diese Idee bei JUL. Sachs1), als er das Wachstum der Pflanze analysierte. Er faßte das Wachstum und die es begleitenden Form- veränderunsren der Pflanze als das Primäre auf und suchte die Zell- teilungen in gesetzmäßige Abhängigkeit vom Wachstum zu stellen: die Zellteilungen sollen z. T. parallel (periklin), z. T. senkrecht (anti- klin) zur Oberfläche des wachsenden Organs erfolgen, so daß in kugeligen Anlagen die Antiklinen (Flächen durch antikline Zellteilungs- richtung bestimmt) meist genau radial, die Periklinen in zur Ober- fläche parallelen Kugelflächen liegen; in Vegetationspunkten, welche die Gestalt eines Rotationsparaboloids besitzen, haben sowohl die Anti- klinen als auch die Periklinen die Richtung von konfokalen Parabo- loiden. In dieser Weise ließe sich aus der Form des Organs auf die Anordnung seiner Zellen schließen. Der Botaniker S. Schwendener ging zwar von anderen Grund- sätzen aus als Sachs, aber auch er suchte die Zellteilungen und Zellanordnungen nur als Folgen von mechanischen Wirkungen dar- zustellen, welche durch das Wachstum des Gesamtkörpers gegeben sein sollen; auch andere Botaniker, wie DE Bary und K. GOEBEL haben sich längst dieser Anschauungsweise angeschlossen. Unter den Zoologen rangen aber solche Anschauungen in den 80 er Jahren, wo sie bereits in der Botanik anerkannt wurden, vergeb- lich nach Beachtung. 1883 veröffentlichte A. Rauber, ein auch sonst unabhängig denkender Anatom, eine Studie über die Zelle2), in welcher er, sich auf eigene Untersuchungen über die Furchung der Eier einiger Wirbeltierformen verlassend, die Anschauungsweise der Botaniker, auf die er sich ausschließlich berief, einzuführen ver- suchte. Er kritisierte die herrschende Zellentheorie und wies den seit SCHLEIDEN sich hinziehenden irrtümlichen Grundsatz ab, aus der Be- schaffenheit einzelner Zellen den Organismus begreifen zu wollen, da doch das Ganze die Teile bestimmen soll und nicht umgekehrt; es sei auch bei den Tieren möglich, aus der Form des Ganzen auf 1) Vorlesungen über Pflanzenphysiologie, 1882. 2) A. Racber. Neue Grundlegungen zur Kenntnis der Zelle. Morph. Jahrb. 8, 1883. 392 XXVIII. Zellentheorie nach Darwin. die Elemente zu schließen (so aus der Form eines Knochens auf die Lagerung der Knochenbälkchen) ; der tierische Körper sei kein Aggregat, sondern ein einheitlicher Protoplasmakörper, der sich wäh- rend der Entwicklung nach bestimmten Richtungen im Wachstum ausdehnt, zerklüftet und sich in gesetzmäßiger Weise chemisch und histologisch gliedert1). Raubers originelle Arbeit blieb unbeachtet; bald aber sollten sich ähnliche Stimmen mehren. Als die Entwicklungsmechanik, d. h. die experimentelle Analyse der Entstehung der tierischen Form begründet und so die Aufmerksamkeit der Forscher wieder auf die Form ge- leitet wurde, verblaßte der Glanz der Lehre vom Körper als bloßem Zellenaggregat: wie Roux2), der Begründer dieser Richtung, so sprach sich auch Driesch3) gegen die Überschätzung der Zellen- theorie aus. Die Gründe gegen dieselbe sammelte C. O. Whitmann4): er wies darauf hin, daß wir durch die Betonung der Individualität der Gewebezellen die Einheit im Bau des Organismus verschleiern, daß das auf die Unterschiede in der Eifurchung gegründete System unnatürlich ist, daß ein und dasselbe Organ (z. B. die Exkretions- organe) bald ein-, bald vielzellig sein kann, wobei also die Zusammen- setzung aus Zellen keine wesentliche Rolle spielt. Als 1894 der Jenenser Physiologe M. Verworn seine Allgemeine Physiologie herausgab, in welcher er einen verspäteten Versuch, Schleidens, VlRCHOWs und Haeckels Auffassung der Zellentheorie in die Physiologie einzuführen, machte, wurde er von den Physiologen kühl, von einem derselben, F. Schenk, ablehnend aufgenommen: es sei verfehlt, die Funktion der Körper als eine Summe der Funktionen der ihn zusammensetzenden Zellen zu betrachten5). Nichtsdestoweniger werden noch heute die Zellen, das Protoplasma, der Kern, die Chromosomen und andere Zellbestandteile vielfach für Hauptprobleme der Biologie gehalten6). J) A. Rauber, Neue Grundlegungen zur Kenntnis der Zelle. Morph. Jahrb. 8, 1883, S. 334. 2) W. Roux, Die Entwicklungsmechanik als eine anat. Wissenschaft d. Zukunft, Wien 1890. 3) H. Driesch, Entwicklungsmechanische Studien. X. Mitteilungen aus der Stat. Neapel, II, 1893. 4) C. O. Whitmann, The Inadaequancy of the Cell Theory of Development. Journ. Morph. VIII. 5) F. Schenk, Physiologische Charakteristik der Zelle, Würzburg 1899. 6) Die wichtigste Literatur über die Zelle: E. B. Wilson, The Cell in Development and Inheritance, 2. ed., London 1900. — Y. Delage, L'heredite et les grands problemes de la biologie generale, 2. ed., Paris 1904. — O. Hertwig, Allgem. Biologie, Jena 1906. XXIX. Erblichkeit. 393 XXIX. Erblichkeit. Die Erblichkeit steht seit jeher in dem schlechten Rufe eines bösen Schicksals, das den Menschen unabwendbar verfolgt. Die Erbsünde der christlichen Philosophie, die Strafen, mit welchen der jüdische Gott sein Volk bis ins dritte und vierte Geschlecht verfolgte, das Fatum, das die Heroen des AISCHYLOS ins Verderben stürzte (Spaoavri rca&etv), die Lehre des hl. AUGUSTINUS von der Prädestina- tion des Menschen für ein glückliches oder ewig unglückliches Leben — das sind die ersten Theorien von der Erblichkeit, insgesamt des Sinnes, daß der Einzelne, wenn er auch vernünftig und frei ist, trotz- dem im Banne höherer Kräfte steht, deren Ursprung einer Vergangen- heit angehört, wo er noch nicht da war. Der Glaube an die Seelen- wanderung, die Kastensysteme, die erblichen Privilegien waren ein anderer Ausdruck derselben Überzeugung. Diese Lehren, wahrscheinlich so alt wie der Mensch selbst, nahmen an, der Mensch sei bis zu einem Grade von der Außenwelt ab- hängig; Gott, das Schicksal, die Gesellschaft beschränkten seinen Willen, während er selbst als Individuum über seine Vernunft und seinen Willen frei verfügte. Die französische Revolution zerbrach die äußeren Fesseln der menschlichen Freiheit, zerstörte den Glauben an erbliche Privilegien, an Kasten, an eine unbeschränkte Macht des Herrschers; befangen im Wahne, daß durch Abwerfen dieser Fesseln der Mensch ganz frei wurde, begann man von der Gleichheit aller Menschen zu sprechen. Die Losung liberte, egalite, fraternite ertönte dann noch lange aus den Theorien des 19. Jahrhunderts, zuerst aus den liberalistischen, dann aus den sozialistischen. Auch DARWIN widerstrebte noch keineswegs einer solchen Anschauung, obwohl seine Theorie bereits die Keime einer neuen Auffassung enthielt. Seine Theorie von der individuellen Verschiedenheit zwischen Menschen. Tieren und Pflanzen, und seine Lehre von der Erblichkeit stellte bereits eine, anfangs noch unbewußte Verneinung der Lehre von der Gleich- heit aller Menschen dar, ersetzte aber den alten Glauben an eine äußere Ungleichheit durch den Glauben an eine innere, ange- borene Ungleichheit. Obwohl Darwins Erblichkeitslehre großes Aufsehen erregte, konnte er sich doch nicht rühmen, der erste gewesen zu sein, der sie zur allgemeinen Diskussion brachte. Der deutsche Anatom J. F. Meckel sammelte in seiner Anatomie des Menschen (18 12) viele 3g4 XXIX. Erblichkeit. Belege für die Erblichkeit der Monstrositäten in einzelnen Familien1). Mehr noch als in der Anatomie, achtete man (vor Darwin) auf die Erblichkeit in der Medizin. Der französische Arzt Prosp. Lucas gab im Jahre 1847 eine zweibändige Schrift heraus, in der er ein großes, teilweise phantastisches Material über die Vererbung der psychischen Eigenschaften sammelte ; seine Schrift wurde auch von der Laien- welt viel gelesen2). Zehn Jahre darauf schrieb der französische Psychiater B. A. MOREL ausführlich über die Erblichkeit der geistigen Störungen3); aus der Beobachtung, daß dieselbe oder eine ähnliche Krankheit einer Familie durch mehrere Generationen anhaftet, leitete er die Lehre von der Dekadenz ganzer Familien ab und übte dadurch bedeutenden Einfluß auf spätere Ideen über den Verfall der Mensch- heit infolge von Krankheiten. Auch T. BUCKLE beschäftigte sich in seiner Geschichte der Zivilisation in England mit der Erblichkeit der psychischen Eigenschaften, der Talente, Fehler und Vorzüge, und verwarf die ganze Lehre aus einem sehr richtigen Grunde, der jedoch später unbeachtet blieb : daß nämlich die Erblichkeitslehre erst dann eine wissenschaftliche Bedeutung beanspruchen kann, bis man die Angaben über die vererbten Eigenschaften durch Untersuchungen über die nichterblichen vervollständigt haben wird. DARWIN faßte die Erblichkeit anders auf als MOREL: während dieser in ihr eine Kraft sah, die die Familie zu tragischem Verfall drängt, bedeutete sie für Darwin das konservative Element, welches die historische Kontinuität des Lebens ermöglicht. Durch die Einführung der Erblichkeitslehre in die Geschichte der Tiere und Pflanzen gelang es Darwin, den Spekulationen über die Geschichte des Lebens auf der Erde eine materielle Grundlage zu geben, während seine Vorgänger, Agassiz, Bronn, Baer (welche jede Art oder Gattung oder wenigstens jede Ordnung aus der Erde, wie eiserne Männer aus den Drachenzähnen, erwachsen ließen), den historischen Zusammenhang als Kontinuität der Ideen auffaßten. Einen Unterschied zwischen den erblichen Eigenschaften machte Darwin nicht: er glaubte an die Erblichkeit der körperlichen wie der psychischen Eigenschaften, der physiologischen wie der ana- *) J. F. Meckel, Handb. der pathol. Anatomie, Leipzig 18 12. 2) P. Lucas, Traite philosophique et physiologique de l'here'dite naturelle dans les etats de sante" et de maladie du syst, nerveux, Paris 1847. Lucas zweifelt nicht an der Vererbung erworbener Charaktere. 3) B. A. Morel, Traite de De*generescences physiques, intellectuelles et morales de l'espece humaine etc., Paris 1857. XXIX. Erblichkeit. 3g5 tomischen, der groben wie der feinen; an die Erblichkeit der Ver- letzungen, der erworbenen Gewohnheiten, der Krankheiten, der an- geborenen Abweichungen; er zitierte dafür aus den mannigfachsten Quellen anekdotisch gesammelte Belege, wie z. B. daß in einer Familie die Farbe einer Haarlocke erblich wurde, daß ein dicht behaarter Mann eine Tochter mit behaarten Gehörgängen zeugte und ihr Sohn bereits nach einem Jahre einen Bart bekam usw. '). Er stellte auch einige Gesetze der Erblichkeit auf, besonders die folgenden: i. Direkte Erblichkeit ist die Übertragung der Eigenschaften von den Eltern auf die Kinder. 2. Präponderanz eines der Eltern entsteht, wenn der Nach- komme von demselben mehr Eigenschaften als von dem anderen erbt. Einige Schriftsteller behaupteten nämlich, daß im allgemeinen das Weibchen mehr dem Vater, das Männchen mehr der Mutter ähnlich sieht, andere wollten wieder das Gegenteil beweisen. Darwin war überzeugt, daß sich die Eigenschaften des Vaters meistens auf die Männchen, die der Mutter meistens auf das Weibchen übertragen, und erklärte daraus die Entstehung der sekundären Geschlechts- charaktere. 3. Einfluß der Zeit. Die geerbte Eigenschaft erscheint bei dem Nachkommen in derselben Lebensperiode, in welcher sie bei den Eltern zum Vorschein gekommen war; so bekommen die Männchen der Vögel ihr buntes Gefieder erst im erwachsenen Zustande, weil die ersten so gefärbten Männchen (nach Darwin) ebenfalls erwachsen die Färbung (durch geschlechtliche Zuchtwahl) erlangten. 4. Latenz. Während der Zeit, wo sich die Eigenschaft, obwohl vorhanden, nicht offenbart, heißt sie latent; so sind der Geschlechts- trieb während der Kinderjahre, der Gesang bei dem jungen Vogel, die Eigenschaften des Frosches in der Kaulquappe latent enthalten. 5. Manchmal bleiben die Eigenschaften das ganze Leben hindurch latent; so z. B. hat die Bienenkönigin latente Eigenschaften der Droh- nen, da diese aus unbefruchteten Königinnen geboren werden. Wenn das Kind in irgend einer bei den Eltern nicht vorhandenen Eigen- J) Überhaupt wird man Darwins Werk >Cber das Variieren<, wo die Erblichkeit ausführlich besprochen wird, heute sehr veraltet finden; alle schwachen Seiten seiner Philosophie treten da deutlich vor die Augen (während sie in dem Werke über die Entstehung der Arten durch die abstrakte Fassung der Probleme verschleiert sind*. Man vergleiche, wie Darwin im >Variierenc gegen Pocchet (I, S. 2) und gegen Buckle II, S. 3) polemisiert und ihre Einwände mißversteht. Die Tendenz des AlECKELschen Werkes, Handb. der pathol. Anatomie, entging Darwin vollständig. 396 XXIX. Erblichkeit. schaft dem Onkel, dem Großvater, der Großmutter ähnlich ist, so war diese Eigenschaft bei den Eltern latent. 6. Diese Eigenschaften, welche bei dem Nachkommen erscheinen, seinen nächsten Verwandten aber fehlen, heißen atavistisch (ata- vus = Urgroßvater). Im allgemeineren Sinn heißen solche Merkmale atavistisch, welche zufällig bei den Individuen einer Rasse oder einer Art erscheinen und an Eigenschaften ihrer mutmaßlichen Vor- fahren erinnern. Die Haustaube z. B. stammt wahrscheinlich von der Felstaube ab, welche grau mit zwei dunklen Bändern an den Flügeln ist; manchmal erscheint diese Farbe auch bei den Haustauben, deren Eltern anders gefärbt sind; man nennt dann ihre Farbe und Zeich- nung atavistisch. Weil unser Pferd vom wilden, grauen Pferde mit einem dunklen Rückenstreifen abstammen soll, nennt man die dunklen Streifen, welche bei den Füllen hie und da erscheinen, ebenfalls ata- vistisch1). Es wird behauptet, daß die Kreuzung verschiedener Rassen bei den Nachkommen das Aufkommen atavistischer Merkmale be- sonders fördert. Der Atavismus wurde viel erörtert und mit Vorliebe auf den Menschen angewendet; fast jede Monstrosität wurde als ein, von wilden Menschen, von Affen, ja von noch entfernteren Vorfahren stammender Erbteil gedeutet; so die zuweilen vorkommende ab- normale Körperbehaarung, differenzierter Zwischenkieferknochen (Rück- schlag nach dem Affentypus) , oder sechsfingerige Extremitäten, welche sogar einen Rückschlag zu gewissen permischen Meeresrep- tilien bedeuten sollte2). Es wurden aber auch Einwendungen laut: VlRCHOW verwarf zwar nicht die Möglichkeit von Atavismen3), aber, auf vordarwinsche Morphologen sich stützend, wollte er die durch zufallige Monstrositäten verursachte Ähnlichkeit des Menschen mit den Tieren (Theromorphie) außer auf Atavismus auch auf Entwick- lungsstörungen zurückführen; zu den letzteren rechnete er z. B. das Stehenbleiben des menschlichen Herzens auf einer niederen Embryo- nalstufe, welches eine Ähnlichkeit mit dem Bau des Reptilienherzens zur Folge hat, ohne deswegen atavistisch zu sein4). *) Eine ausführlichere Analyse der Vererbungsgesetze vom älteren Standpunkte gibt Th. Ribot, L'her^dite, Paris 1873. 2) In dem Abschnitte über Lombrosos Theorie sind diese Eigenschaften ausführ- licher angegeben. 3) R. Virchow, Deszendenz und Pathologie. Arch. für pathol. Anat., 103, 1886 und Über Menschen- und Affenschädel, Berlin 1869 — 70. 4) Gegen die Theorien des Atavismus polemisiert Kohlbrugge, Der Atavismus, Utrecht 1897. XXIX. Erblichkeit. 397 Zur Blütezeit der Darwinschen Theorie hielt man es für die wich- tigste Aufgabe der Erblichkeitslehre, zu beweisen, daß es wirklich Fälle gibt, wo die Eigenschaften von den Eltern auf die Nachkommen übertrafen werden, als ob die Erblichkeit erst durch Dakwin ent- deckt und als ob solche Beweise nötig wären. Darwin sammelte eine große Menge Belege in seinem Werke über das Variieren der Tiere1); ein anderes Material bot in einem wenig kritischen Werke der französische Psychologe Th. Ribot2). Der schweizer Gelehrte Ai PH. DECANDOLLE behauptete auf Grund einer Analyse der Herkunft der auswärtigen Mitglieder der französischen Akademie, daß die geistigen Anlagen erblich sind 3) ; in England stellte wieder Frc. Galton ein großes statistisches Material über die Erblichkeit zusammen und be- hauptete die Erblichkeit der Körpergröße, der Hautfarbe, der Augen- farbe, der Muskelkraft, der Intelligenz, der Willenskraft, der Sittlich- keit und namentlich der Genialität4). Während die Variabilität, welche in das Leben neue Möglichkeiten einführt, ihrem Wesen nach ein fortschrittliches Element darstellt, hat die Erblichkeit die Bedeutung von Beharrlichkeit, von Konser- vatismus; indem sie aber die erworbenen Vorzüge fixiert, wird auch sie von Wert für den Fortschritt. Die biologischen Darwinisten, Darwin, Haeckel, Galton faßten sie in diesem fortschrittlichen Sinne auf; Galton gab ausführliche statistische Studien heraus, um den Fortschritt der Menschheit infolge der Vererbung geistiger Vor- züge zu beweisen; auch Darwin begründete durch die Erblichkeit geistiger, intellektueller und sittlicher Eigenschaften seine Lehre von dem bereits zurückgelegten und dem noch erhofften Fortschritte der Menschheit. Die nichtbiologischen Philosophen schilderten dagegen die Erblichkeit mehr als ein böses Schicksal, das, schlechte Eigen- schaften vom Vater auf den Sohn übertragend, früher oder später die Familie dem Untergang zuführen muß. Besonders bei den geistigen Krankheiten, bei den Folgen der Geschlechtskrankheiten und der Trunksucht wurde die Erblichkeit mit sehr düsteren Farben ausge- malt. Der oben angeführte B. A. Morel leitete diese Richtung ein. x) Ch. Darwin, The Variations of Animals and Plants under Domestication, London 1868. 2) Th. Ribot, L'h6redit6, Paris 1873 und spätere Auflagen. 3) L. P. Alphonse Decandolle, Histoire de la science et des savants depuis deux siecles, Geneve 1873. 4) F. Galton, Hereditary Genius, its Laws and Consequences, London 1869. — English men of Science, their Nature and Nurture, London 1874. Natural Inheritance. London 1889. 39S XXIX. Erblichkeit. Er zog aus seinen Beobachtungen den Schluß, daß die geistige Krank- heit wie ein tragisches Fatum die Familie verfolgt, vom Vater auf den Sohn übertragen wird, aus kleinen Anfängen zu einer Macht an- wächst, welche in der Form einer »organischen Belastung« die Fa- milie in erbliche Dekadenz herunterzieht. MOREL bestimmte auch die Stufen, in welchen die Familie herabsinkt: die geistige Störung beginnt mit einem nervösen Temperament, mit einer moralischen Schwäche, mit Exzentrizitäten; bei den Kindern wird sie zur Neigung zur Apoplexie, zu einer schweren Neurose, zur Trunksucht. In der dritten Generation steigern sich die geistigen Störungen, es entsteht Neigung zum Selbstmord, psychische Impotenz; in der vierten Gene- ration erscheinen angeborene Idiotie, Monstrositäten, unvollkommene Entwicklung. Morels Schüler entwickelten seine Lehre weiter und behaupteten, daß unter ioo geistig Kranken 90 die Krankheit von ihren Vorfahren geerbt haben; wohl werde aber nicht dieselbe Krank- heit auf den Nachkommen übertragen: Crocq führt z. B. folgende Krankheiten als zu psychischen Störungen bei der Nachkommenschaft disponierend an: Rachitis, Knochenerweichung, Gallen- und Harn- steine, Rheumatismus, Gicht, Fettsucht, Diabetes, Asthma, Migräne, Hämophilie, Varicen, Aneurysmen, Tuberkulose, bösartige Geschwülste, Herz-, nervöse und psychische Krankheiten. Diese düstere Auffassung der Erblichkeit wurde durch E. Zola in die schöne Literatur geleitet; auch H. Ibsen machte die erbliche De- generation zum bevorzugten Thema seiner Dramen. Auch die Rassen- hygieniker führten uns gerne die traurigen Folgen der Erblichkeit vor Augen; sie wiesen auf die Trunksucht, auf die Folgen der Ge- schlechtsausschweifungen, auf die Krankheiten überhaupt, auf die Überbürdung der Jugend in den Schulen und auf amtliche Uber- bürdung im Leben hin, und indem sie die so hervorgerufene und vererbbare Schwächung der Menschen betonten, folgerten sie, daß das Menschengeschlecht schwächer wird. Der Glaube an diese böse Macht der erblichen Belastung scheint bereits überwunden zu sein. Statistische Angaben über den Zusam- menhang der Krankheiten zwischen Eltern, Kindern und anderen Verwandten gingen weit auseinander; den 90°/0 vererbter Fälle bei dem einen Schriftsteller steht eine andere Statistik gegenüber, die die Erblichkeit nur in 4°/0 der Fälle konstatieren konnte. Dieser Unterschied ergibt sich daraus, daß einige Beobachter fast in jeder Krankheit der Eltern eine Disposition sahen, aus der sich bei den Kindern psychische Erkrankung entwickeln kann, während andere XXIX. Erblichkeit. 399 nur dann von der Erblichkeit sprechen wollten, wenn Eltern und Kinder an einer und derselben Krankheit litten. Jene statistischen Angaben zeigten aber noch einen anderen Fehler. Sie wurden in Irrenhäusern zusammengestellt; man untersuchte, ob die Verwandten der Kranken geistig krank waren oder nicht; das erstere galt als Beweis für, das letztere gegen die Erblichkeit. Setzen wir statt Krankheit Armut : würde man die Entstehung derselben so unter- suchen, daß man an einer großen Anzahl Armen statistisch die Fälle konstatierte, wo sie vererbt und wo sie erworben wurde, ergebe sich gewiß ein sehr düsteres Bild des Lebens; aber ein unnatürliches Bild, da es die zahlreichen Fälle außer acht ließe, wo die Armut überwunden wird. In derselben Weise berücksichtigen die Irrenhaus- statistiken nicht die Fälle, wo psychisch kranke Menschen gesunde Kinder haben, da diese in keine Berührung mit der Anstalt kommen; infolgedessen ist aber jede nur die Kranken berücksichtigende Sta- tistik für die Beurteilung der wirklichen Macht der Erblichkeit wertlos. Mehrere Statistiker haben diesen Fehler hervorgehoben und ge- langten von ihrem mehr kritischen Standpunkte zu viel weniger be- trübenden Resultaten. Otto DlEM1) leitet z. B. aus seinen Unter- suchungen folgende Ansicht über die erbliche Belastung durch Geisteskrankheiten ab: i . Wenn wir nur die Gesamtbelastung (durch Krankheiten, welche eine erblich belastende Wirkung haben sollen) in Betracht ziehen, so ist die erbliche Belastung der geistig Gesunden nur wenig schwächer, als die der geistig Kranken, d. h. die Unterschiede in der Gesund- heit ihrer Vorfahren (ihrer »Aszendenz«) sind nicht bedeutend. 2. Aber die Kranken sind in der Aszendenz viermal stärker mit psychischen Krankheiten (unter ihren Vorfahren hat es viermal mehr psychisch kranke Individuen gegeben, als unter den Vorfahren der geistig gesunden), etwas mehr mit Trunksucht und Charakterabnor- mitäten belastet, als die Gesunden; beide sind es fast in gleichem Grade mit Nervenkrankheiten und Hang zum Selbstmord; die psy- chisch Kranken sind (zwei-) viermal weniger durch Apoplexie und dreimal weniger durch senile Demenz belastet als die Gesunden. 3. Noch andere Resultate ergeben sich, wenn wir die Unter- schiede zwischen der Belastung durch Eltern und durch andere Ver- wandten in Rechnung ziehen. Durch ihre Eltern sind die Kranken J) O. Diem, Die psychoneurotische erbliche Belastung der Geistesgesunden und Geisteskranken. Arch. Rass. Biol., 2, 1905. Dort auch andere Literatur. jjoo XXIX. Erblichkeit. (vier-) achtmal stärker als die Gesunden belastet mit psychischen und Nervenkrankheiten; zweimal mehr mit Trunksucht, mit Charakter- abnormitäten und Neigung zum Selbstmord. Nach DlEM ist die erbliche Belastung mit Geisteskrankheiten bei Gesunden stärker, als man annimmt; auch bei den Kranken kann die Störung wieder ausgeglichen werden, nicht nur infolge einer Kreu- zung mit gesundem Blut, sondern auch durch angemessene Lebens- führung. Vererbung erworbener Eigenschaften. Man teilt die organischen Eigenschaften in erworbene und ange- borene. Angeboren sind Charaktere, welche dem Organismus von Natur aus verliehen sind, z. B. die Sprachfähigkeit; erworben sind dagegen diejenigen, die während seines Lebens von außen hin- zukommen, so z. B. eine bestimmte erlernte Sprache. Die ange- borenen Eigenschaften werden erst von den neuesten Theoretikern analysiert; früher nahm man sie einfach hin oder klassifizierte sie nach bloß zufälligen Merkmalen; man unterscheidet unter ihnen nach dem Vorgange Y. Delages1): anatomische (z. B. ein Mutter- mal), physiologische (Lebensdauer), psychologische (Charakter), pathologische (Geistesstörungen), teratologische (überzählige Finger) und latente Merkmale. Den älteren Theoretikern, Darwin nicht ausgenommen, war der Unterschied zwischen den angeborenen und erworbenen Merkmalen wohl bekannt, aber sie betonten ihn nicht; war doch der Gedanke, daß sich der Organismus aus Eigenschaften zusammensetzt, über- überhaupt neu, und man mußte sich erst daran gewöhnen, bevor man unter den Eigenschaften unterscheiden lernte. Von historischem Standpunkte ist es von Wert, sich zu vergegenwärtigen, daß in Darwins Entstehung der Arten dieser Unterschied gar keine Rolle spielt; die Stelle des Begriffs erworbener Eigenschaften nimmt hier der (wohl durch Lamarck beeinflußte) Begriff der Folge von Ge- brauch und Nichtgebrauch der Organe ein, der sich mit demjenigen der erworbenen Eigenschaften nicht deckt2). Georg Seidlitz und ») Y. Delage, La structure du protoplasma etc., Paris, 2. ed., 1903. 2) Im »Variieren« handelt Darwin ausführlich über die Erblichkeit der Ver- stümmelungen (II, 26) und führt Belege für und gegen eine solche an; daß er sich des Gegensatzes zwischen erworbenen und angeborenen Eigenschaften nicht bewußt ist, leuchtet klar aus seiner Erörterung auf S. 28, 29 (Variieren, 1873 [2. Aufl.], II). XXIX. Erblichkeit. 401 C. Nägeli scheinen die ersten gewesen zu sein, welche einen wesent- lichen Unterschied zwischen beiden Eigenschaftsgruppen feststellten. NÄGELI1) wies auf seine Untersuchungen über die alpinen Varie- täten von Pflanzen hin (1865), welche, ins Tal versetzt, gleich in der ersten Generation ihre durch klimatische Einflüsse der Hochalpen- region erworbenen Eigenschaften verlieren: in diesem Falle waren also die erworbenen Eigenschaften nicht erblich. In demselben Jahre bezweifelte2) G. Seidlitz (ein junger Darwinist aus Dorpat) aus allgremeinen Gründen die Erblichkeit der erworbenen Merkmale, bekämpfte HäECKELs Versuch, die Umwandlungen der Formen auf dieselbe zu gründen, und ließ hindurchblicken (obwohl er es nicht offen aussprach), daß man die Entwicklung auch nur mit Hilfe der angeborenen Merkmale, welche unzweifelhaft erblich sind, erklären könnte ; Seidlitz sprach es auch (wie es scheint, als erster) aus, daß an die Vererbung erworbener Merkmale zu glauben soviel als die LAMARCKsche Lehre zu erneuern bedeute, und machte auch Weis- mann, der sich zu jener Zeit seines Gegensatzes zu dieser Lehre nicht bewußt war, einen nicht ganz unbegründeten Vorwurf des Larmarckismus 3). Weismann knüpfte in seinen Spekulationen an NÄGELls Theorien an, welche, von der idealistischen Morphologie noch stark beeinflußt, die innere Organisation betonten, im Gegensatze zu Darwin, der auf den Zufall und die Geschichte Nachdruck legte; NÄGELI war aber andererseits ein Anhänger des damals modernen Materialismus, und infolgedessen faßte er jene Organisation möglichst materiell auf, als bestimmte Gruppierung der unsichtbaren Lebensteilchen im Proto- plasma. Der jüngere Weismann übernahm von Nägeli die letzt- genannte Vorstellung und mit ihr auch, als verblaßte Erinnerung an den ursprünglichen Organisationsbegriff, die Idee, daß erworbene Eigenschaften, als etwas der Organisation bloß von außen her An- gehängtes, nicht erblich sein können; und er begann diese These in einer Reihe von Broschüren zu verteidigen. Seine Anschauungen wurden vielfach bekämpft; besonders H. SPENCER4) und G. R.OMANES 1 C. NÄGELI, Entstehung und Begriff der naturhistorischen Art. München 1S65. G. V. Seidlitz, Über die Vererbung der Lebensformen, Eigenschaften und Fähigkeiten organischer Wesen auf ihre Nachkommen. St. Petersburg 1S65. 3) Im Kosmos, bei Gelegenheit eines Referates über Weismanns »Studien zur Deszendenztheorie« ( 1 S 7 6 . 4) H. Spencer, The Inadaequacy of Natural Selection. Contcmp. Rev. 1893 und andere Artikel. Rddl, Geschichte der biol. Theoren. II. 26 aq2 XXIX. Erblichkeit. traten für die Erblichheit der erworbenen Charaktere ein; Romanes tat es aus treuer Anhängerschaft an Darwin, Spencer, weil die Nichterblichkeit derselben seinem ganzen philosophischen System, seiner Lehre vom Fortschritte der Menschheit, der durch die Erb- lichkeit der erworbenen sittlichen und intellektuellen Anschauungen gefördert werden soll, den Grund entzogen hätte. Für Weismann erklärte sich dagegen Wallace, aber aus einem anderen Grunde: er hielt die Naturzüchtung für das fast ausschließliche, die Entwick- lung treibende Moment und brauchte deswegen mit der ohnedies zweifelhaften Erblichkeit der erworbenen Merkmale nicht zu rechnen. Auch Tatsachen wurden in der Diskussion von beiden Parteien zu Hilfe genommen: man berichtete über Katzen mit verstümmeltem Schwänze, welche einmal irgendwo ebenso verkrüppelte Junge ge- baren; man führte die Juden ins Feld, welche trotz stets wieder- holter und bereits Jahrtausende dauernder Beschneidung noch immer diese Verletzung auf ihre Nachkommen nicht übertragen ; die andere Seite wies wieder auf Brocas Messungen hin, nach welchen das Gehirn des Europäers seit dem 12. Jahrhundert sein Volumen von 140g ccm auf 1442 ccm (infolge angestrengter Denkarbeit) gebracht hat, usw.1]. Eine große Rolle in diesem Streite spielten die Versuche des fran- zösischen Physiologen BROWN- Sequard 2j, der bei den Meerschwein- chen durch Verletzung des Zentralnervensystems einen Empfind- lichkeitsverlust in den Zehen eines Fußes, und in anderen Fällen die Trübung der durchsichtigen Substanzen im Auge herbeiführte; die Meerschweinchen benagten sich die unempfindlichen Zehen und diese so entstandene Verstümmelung, sowie die Augentrübungen wurden regelmäßig auf die Nachkommenschaft vererbt. Später wurde aber die Exaktheit dieser Versuche angezweifelt; G. Romanes machte auf die von BROWN-SEQUARD übersehene Möglichkeit aufmerksam, daß die kranken Eltern den gesund geborenen Jungen vielleicht erst später die Zehen abnagten; andere Autoren (Charrin) gelangten nach Wiederholung jener Versuche zum Schluß, daß die Krankheit nicht durch das Ei, sondern durch den Uterus übertragen wurde und also nicht für erblich gelten kann. Heute wird fast allgemein anerkannt, daß eine vereinzelte Verletzung überhaupt nicht, und eine wiederholte kaum erblich ist. J) Vgl. aus der letzten Zeit die noch in diesem Tone gehaltene Schrift: J. Metschnikov, La viellesse, Paris 1907. 2j Faits nouveaux etablissant l'extreme frequence d'etats morbides produits acci- dentellement chez les ascendants. C. R. Ac. sei. Paris, 94, 18S2. XXIX. Erblichkeit. 403 Es wurde auch die Erblichkeit vieler Krankheiten, so der Tuber- kulose und der Syphilis erwogen; einige der sog. erblichen Krank- heiten gehören jedoch den angeborenen Störungen an, wie z. B. die Geisteskrankheiten; bei anderen muß eine angeborene und erb- liche Disposition von der erworbenen, nichterblichen Krankheit selbst unterschieden werden ; so ist bei der Tuberkulose die Körper- schwäche angeboren und wird auf die Nachkommen übertragen, während die eigentliche Krankheit durch Ansteckung von außen ent- steht; [höchstens können krankheiterregende Bakterien in das Ei oder das Spermatozoon gelangen oder durch den Uterus auf das Kind übertragen werden, welches aber keine eigentliche Vererbung ist; übrigens sollen auch solche Fälle selten sein1). Während der Dekadenz des Darwinismus gelangte der Glaube an die Erblichkeit erworbener Eigenschaften zu neuer Blüte und sollte die- sesmal doch einige Früchte zeitigen, welche aber zu der Größe des Glaubens ihrer Verteidiger in keinem Verhältnisse stehen. Während NÄGELI, wie erwähnt, die durch den Einfluß des Klimas verursachten Modifikationen für nicht erblich erklärte, behauptete der norwegische Botaniker F. C. SchÜBELER, die Erblichkeit in diesem Falle beweisen zu können2;; im Gebirge, wo der Sommer bald vergeht, muß das Getreide schneller reifen, soll es nicht von der Kälte überrascht wer- den; das vom Tal ins Gebirge oder von Süden nach Norden ver- pflanzte Getreide gewöhnt sich nach SchÜBELER bald an den kür- zeren Sommer, wird schneller reif und vererbt diese erworbene Eigenschaft auch auf Nachkommen, bei welchen sie sich einige Generationen hindurch erhält, auch wenn man sie zurück ins Tal oder nach Süden überträgt. Nebstdem soll das Getreide im Norden größere und der Ungunst des Wetters besser trotzende Samen be- kommen; der Duft der Pflanzen soll sich steigern, der Zuckerinhalt dagegen schwächer werden. Einige der so erworbenen Vorzüge sind solcher Art, daß sich der Export bereits den Gedanken zu nutze machen wollte, da es gewiß nicht ohne Bedeutung wäre, könnte man bei uns mehr ausdauernde Samen säen; aber die Resul- tate entsprachen nicht der Theorie. SchCbelers Landsmann N. *) Ausführliche Angaben bei F. Martius, Krankheitsanlage und Vererbung. Leipzig und Wien 1905. E. ZlEGLER, Können erworbene pathologische Eigenschaften vererbt werden und wie entstehen erbliche Krankheiten und Mißbildungen? Beiträge zur pathol. Anat. und Physiol. I, 18S6. 2) F. C. Schübeler, Die Kulturpflanzen Norwegens, Christiania 1S62. 26* 404 XXIX. Erblichkeit. Wille1) wies auf das Verfehlte seiner Versuche hin: die Ernte eines Feldes enthält ungleich reife Samen: die aus rascher reifenden Samen entstandenen Ähren werden reifer als die aus langsamer reifenden sein; säet man die ganze Ernte in einer nördlichen Gegend, wo der Sommer kürzer ist, so werden die ersteren Samen, denen das raschere Reifen angeboren ist, reif werden, während die anderen überhaupt nicht zur Reife gelangen; darum gibt die Ernte aus einer solchen Gegend, namentlich wenn sie mehremals wiederholt wird, Samen, welche in einer kürzeren Frist reifen. SchÜbelers Ver- suche beweisen also, wenn sie überhaupt richtig sind, keineswegs die Vererbung erworbener Eigenschaften. Versuche einer anderen Art wurden an Schmetterlingen ausge- führt. M. STANDFUSZ2) rief durch Temperaturänderung der Um- gebung, in welcher die Puppen einiger Tagfalter (Vanessa) gezogen wurden, eine Veränderung in der Zeichnung der aus ihnen entstan- denen Schmetterlinge hervor; einmal wiederholte sich diese neu- erworbene Zeichnung auch bei einem Nachkommen eines solchen Schmetterlinges, obwohl dessen Raupe und Puppe in normaler Tempe- ratur erzogen worden waren. Andere Autoren waren glücklicher: Chr. SCHRÖDER 3) fand, daß sich die auf die erwähnte Art hervorgerufenen Veränderungen in der Zeichnung der Schmetterlinge bis in das dritte Glied vererben und dasselbe behauptet E. Fischer4). Arn. Pictet5) führte wieder erbliche Veränderungen in der Zeichnung der Raupen und der Schmetterlinge durch besonders modifizierte Ernährung der ersteren herbei. Auch Versuche über die tierische Immunität sprechen für eine Erblichkeit dieser erworbenen Eigenschaft. Nach TlZZONI und CATTANEO6) vererben die gegen den Tetanus immunisierten J) N. Wille, Über die ScHÜBELERschen Anschauungen usw. Biol. Zentralbl. 25, 1905. Über die Vererbung erworbener Eigenschaften bei dem Mohn handelt H. Hoffmann, Vererbung erworbener Eigenschaften. Bot. Ztg. 1897. 2) M. Standfusz, Zur Frage der Gestaltung und Vererbung auf Grund 28jähriger Experimente, Vortrag, Zürich 1905. 3) Ch. Schröder, Die Zeichnangsvariabilität von Abraxas grossularia L. Zeitschr. Entom., 8, 1903. 4) E. Fischer, L'influence des changements de nourriture sur les chenilles et sur la formation du sex de leurs papillons. C R. Soc. de Phys. etc., Geneve, 19, 1902. Vgl. auch den zusammenfassenden Bericht: M. v. Linden, Die Ergebnisse der experim. Lepidopterologie. Biol. Zentralbl.. 24, 1904. 5) Arn. Pictet, Experimentelle Untersuchungen über die Vererbung erworbener Eigenschaften. Allg. Zeitschr. Entom., 6, 1901 und 7, 1902. 6) Tizzoni et Cattaneo, Über die erbliche Überlieferung der Immunität gegen Tetanus. Deutsche med. Wochenschr., 18, 1892. XXIX. Erblichkeit. 405 Mäuse und die eeeen die Hundswut immunisierten Kaninchen diese Eigenschaft auf ihre Nachkommen. BEHRING behauptet dasselbe von der Immunität gegen Diphtheritis, Ehrlich von der gegen die Gifte Rizinin und Abrin *). Besonders aus dem Gebiete der Algen und Pilze werden viele Beispiele der Vererbung erworbener Eigenschaften angeführt. K. Goebel2) berichtet z. B., daß Micrococcus prodigiosus, eine an orga- nischen Substanzen rote Flecke bildende Bakterie, diese Fähigkeit verliert, wenn sie an einer künstlichen Nährsubstanz kultiviert wird; und die erworbene Unfähigkeit, den Farbstoff zu bilden, dauert noch über einige Generationen, welche wieder auf der Kartoffel ge- zogen werden, fort. Diese Versuche, mögen sie nun hier und da vor einer späteren Kritik einiges an ihrem Werte verlieren, scheinen doch dafür zu sprechen, daß > erworbene« Eigenschaften erblich sein können; für die Entwicklungstheorie sind sie jedoch nicht von entscheidender Bedeutung, da sich die neuentstandene Eigenschaft nicht lange er- hält, sondern bereits in zweiter, dritter Generation schwächer auftritt und sich bald vollständig verliert: die Erblichkeit ist in diesen Fällen nur ein Nachklingen der Reizung des organischen Körpers, keines- wegs aber eine Veränderung seiner Natur3). Jedenfalls wurde bisher kein einziger Fall bekannt gemacht, wo eine erworbene Eigenschaft zur konstitutionellen, angeborenen geworden wäre — und dies müßte doch bewiesen werden. Wie einfach und klar Darwin die Erblichkeit erschien, so dunkel wurde dieses Problem durch weitere und tiefere Analyse. Alles Beobachten, Experimentieren, Nachdenken vermochte nichts an der Tatsache zu ändern, daß der Organismus ein autonomes Individuum ist, das sich selbst die Gesetze seiner Existenz gibt, und trotz aller Nachstellungen der Umgebung sich doch wieder nur gemäß seinen inneren Kräften entwickelt, deren Quelle gänzlich unbekannt bleibt. Der schwerwiegendste Vorwurf aber, der den Spekulationen über die Vererbung erworbener Eigenschaften gemacht werden kann, ist, daß x) Ehrlich, Experimentelle Untersuchungen über Immunität. Deutsche med. Wochenschr., 17, 1891. 2) K. Goebel, Nach Lotsy, Vorlesungen über Deszendenztheorie, I, S. 175, wo auch andere Beispiele angeführt sind. 3j Die für und gegen die Vererbung erworbener Eigenschaften zeugenden Tat- sachen werden kritisch diskutiert von Y. Delage (vgl. obenl, C. Detto, Die Theorien der direkten Anpassung usw., Jena 1904; R. Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organ. Geschehens, Leipzig, .:. Auil. 1907. 406 XXX. Weitere Schicksale der natürlichen Zuchtwahl-Theorie. sie keiner wirklichen Beobachtung, keiner Idee entspringen, sondern nur Schlußfolgerungen darstellen; aus diesem Grunde haben sie keine bloß oberflächliche Ähnlichkeit mit den Spekulationen über spontane Erzeugung der Organismen. XXX. Weitere Schicksale der natürlichen Zuchtwahl- Theorie. (Wagner, Roux, Weismann, Neodarwinisten.) ] M. Wagner und einige ihm verwandte Theoretiker. Die Idee der natürlichen Zuchtwahl bildet den Grund, den Mittel- punkt und die Krone der DARWlNschen Lehre; wird sie scheitern, so muß der ganze Darwinismus zugrunde gehen. Die Begeisterung war anfangs zu groß und der Glaube ganz außerordentlich stark, so daß trotz Kritik und Spott die Theorie neue und neue Anhänger gewann. Die Mehrzahl der Entwicklungsphilosophen, welche sich kein eigenes Urteil bildete, hielt sich an Darwins Worte, daß nebst der Selektion noch andere Faktoren die Umwandlung der Formen gefördert haben, durch welche man jeden Einwand zurückweisen konnte und sich schließlich zu nichts verpflichtete, da man doch das Wirkungsgebiet der einzelnen Faktoren nicht angab. Einige Naturforscher fühlten jedoch das Ungenügende der DARWlN- schen Theorie und bemühten sich, dieselbe durch neue Prinzipien zu verbessern, und die Selektion mehr in den Hintergrund zu stellen. Ein Einwand gegen die Zuchtwahllehre bestand im folgenden: ge- setzt, daß eine neue vorteilhafte Variation einer Eigenschaft an einem Tier erscheint, so werden seine Nachkommen die neue Eigenschaft doch nicht mehr in dem ursprünglichen ausgesprochenen Grade be- sitzen, da sich das Tier mit einer Form kreuzen muß, welche nicht im Besitze der neuen Eigenschaft ist. Man suchte nach verschiedenen Ausflüchten vor diesem fatalen Einwand ; man forschte nach einem Mittel, durch welches die neue Varietät von den nicht variierenden Formen abgesondert und die Kreuzung infolgedessen gehindert wäre. Der deutsche Ethnograph und Reisende Moritz Wagner1) er- ') M. Wagner, Über die DARWlNsche Theorie in bezug auf die geographische Verbreitung der Organismen. Sitzungsber. Manch. Ak. 1868. — Die Entstehung der Arten durch räumliche Sonderung, Basel 1889. Die DARWlNsche Theorie und das Migrationsgesetz der Organismen, Leipzig 1868. XXX. Weitere Schicksale der natürlichen Zuchtwahl-Theorie. 407 setzte die Selektion durch den Gedanken, daß die Entstehung der Arten bei höheren Tieren durch die Auswanderung der Formen in neue Gebiete unterstützt werde; wenn sich eine neue Varietät in eine von deren Genossen nicht bewohnte Gegend verirrt, wo sie sich unter neuen Lebensbedingungen, ohne sich mit der Stammform zu mischen und ohne mit derselben ums Dasein kämpfen zu müssen, entwickelt, bildet sie eine neue Lokalvarietät, eine Stufe zur weiteren ebenso vor sich gehenden Entwicklung. WAGNER wandte diese Migrationstheorie nur auf höhere Tiere an; von den niederen nahm er an, daß sie sich durch direkte Einwirkung der Umgebung verändern. Die Theorie, welche sonst ebenso mit Zufälligkeiten rechnete wie die DARWixsche Selektionslehre, zog für einige Zeit die Aufmerksamkeit der Fachleute auf sich, konnte sich aber nicht be- haupten. Unter ihre Anhänger wird der amerikanische Pastor JOHN T. Gulick, ferner A. E. ORTMANN und P. Matschie ') gezählt. Später neigte WAGNER übrigens mehr und mehr einer physiolo- gischen Auffassung der Entwicklung zu, in einer der Rouxschen unten angeführten) verwandten Art2). Andere versuchten dem oben erwähnten Einwand anders zu be- gegnen. G. J. Romaxes3) nahm z. B. an, daß die neuen Ab- weichungen untereinander fruchtbarer sind als mit der mütterlichen Form, wodurch die Kreuzung gehindert wird; dieser Gedanke einer »physiologischen Auswahl« widersprach jedoch allzusehr der Er- fahrung, um durchzudringen. Wiederum anders sollte die Selektion gegen den erwähnten Ein- wand von dem Franzosen J. Delboeuf4) gedeckt werden. Nehmen wir an, rechnete er, daß unter 1000 Individuen der Art A nur ein Individuum mit neuer, vorteilhafter Abweichung erscheint; nennen wir diese abweichende Form B. Die Abweichung wurde durch irgend eine sonst unbekannte Ursache hervorgebracht; wenn dieselbe Ursache auch auf die nachfolgenden Generationen wirkt, so werden alle Nachkommen der B-Form als Ebenbilder der Eltern ebenfalls B x) J. T. Gulick, Evolution, ratial and habitudinal. Washington 1905. — A. E. Ort- mann, Grundzüge der marinen Tiergeographie, Jena 1S96. — P. Matschie. Die afri- kanischen Wildpferde usw. Zool. Garten 1S94. 2) Vgl. insbes. seine Abhandlung: Zweckmäßigkeit und Fortschritt der orga- nischen Gebilde. Kosmos 14, S. 355 sq. 3) G. J. Romanes, Darwin a. after Darwin. Chicago 1S92— 3. 4) J. Delboelf, Les mathematiques et le transformisme. — Durch Mathematik den Darwinismus zu widerlegen versuchte Paul KRAMER in der Schrift: Theorie und Erfahrung. Beiträge zur Beurteilung des Darwinismus von P. K.. Halle 1S77. AO 8 XXX. Weitere Schicksale der natürlichen Zuchtwahl-Theorie. sein, während die Nachkommen der A-Form teils A teils B sein werden. Wiederholt sich nun dieser Vorgang durch einige Gene- rationen, berechnete Delboeuf, so werden bald die Individuen der B-Form (also der neuen) viel zahlreicher sein als die der alten A- Form. Die Folgerung wäre recht ansprechend, wenn nur wirklich alle Nachkommen der B-Form wieder B wären und nicht in die alte A-Form zurückschlagen würden! W. Roux. Im Jahre 1881 wurde die Aufmerksamkeit der Forscher durch eine darwinistische Broschüre erregt1), welche vom Kampf ums Dasein innerhalb des tierischen Körpers handelte. Darwin be- zeichnete sie als die zur Zeit bedeutendste Abhandlung über die Entwicklung, und auch Haeckel und Weismann nahmen sie günstig auf. Von ihrem jungen Verfasser, WlLH. Roux, wußte man, daß er bereits auf eine originelle Weise die Art der Blutgefäßverzweigung im Körper aus dem mechanischen Druck des darin strömenden Blutes auf die Gefäßwände zu erklären versucht hatte, wobei er durch die streng mechanische Erklärung jener zweckmäßigen Ver- zweigung deutlich auf seine bei Haeckel erworbene Ausbildung hinwies. In der erwähnten Broschüre behauptete Roux, daß die natürliche Zuchtwahl, eine Folge des Kampfes zwischen Tier- und Pflanzen- individuen, zwar zur Erklärung der Entstehung der äußeren Zweck- mäßigkeiten, wie z. B. der Entstehung eines bestimmt gebauten Fußes, der groben Struktur des Auges usw. hinreiche, aber außerstande sei, die feinsten Einzelnheiten des zweckmäßigen Baues der Organe zu erklären. Das Schenkelbein ist z. B. nicht nur durch seine Ge- samtform dem Gange und dem Tragen des Körpers angepaßt, sondern es sind auch die feinen Bälkchen , aus denen es zusammengesetzt ist, so angeordnet, wie es nur ein scharfsinniger Ingenieur haben möchte, der die Aufgabe lösen sollte, mit möglichst wenig Material eine Säule zu konstruieren, die das Körpergewicht trüge. Für die Erklärung solcher feinen Zweckmäßigkeiten, deren der Körper voll ist, reicht der übliche Begriff des Kampfes ums Dasein nicht aus, denn ein günstig gelegenes Bälkchen im Schenkelbein gibt dem Tier J) W. Roux, Über die Leistungsfähigkeit der Prinzipien der Deszendenzlehre zur Erklärung der Zweckmäßigkeiten des tierischen Organismus, Breslau 1880. Der Kampf der Teile im Organismus, Leipzig 1881. XXX. Weitere Schicksale der natürlichen Zuchtwahl-Theorie. 40Q noch keinen Vorteil in seinem Kampfe, da der Bälkchen Hundert- tausende sind, und erst die richtige Lage der Mehrzahl derselben dem Knochen die nötige Festigkeit verleiht. Solche Vervollkommnung soll durch einen innerlichen Kampf ums Leben unter einzelnen Körperelementen zustande gebracht werden. Stellen wir uns vor, die Knochensubstanz sei homogen und überall gleichmäßig ernährt; wenn nun das Körpergewicht auf derselben lastet, und sie wird von den Muskeln in bestimmter Richtung ge- spannt, so werden die Teile der Knochensubstanz in einer Richtung mehr als in einer anderen in Anspruch genommen ; indem sie mehr gereizt werden, erstarken sie und nehmen den benachbarten Teilen Platz und Nahrung weg; infolgedessen bleiben sie am Leben, während die Nachbarteile, welche eine weniger vorteilhafte Lage einnehmen, weniger gespannt, weniger ernährt werden und deshalb verkümmern. So bekommt der ganze Knochen allmählich seine feinste zweckmäßige Struktur, und so ergeht es auch anderen Organen. Man kann auf diese Weise die inneren Zweckmäßigkeiten leicht mechanisch er- klären; es ist nur anzunehmen, daß der mehr arbeitende Körperteil auch erstarkt und zwar in derjenigen Richtung, in welcher er in Anspruch genommen wird: daß also in dem Muskel die Fibrillen vermehrt, die Sehnen verlängert werden usf. Doch wem würde diese Erscheinung nicht geläufig sein, welche in der Erstarkung der Or- gane durch Übung besteht? Roux will dieses Erstarken und feinere Differenzieren durch Übung funktionelle Anpassung nennen. Solcherweise brach Roux jenen Einwänden die Spitze ab, welche der Zuchtwahllehre die Fähigkeit, feinere Zweckmäßigkeiten zu er- klären, absprachen. Die Darwinisten nahmen mit Freude dieses neue Verteidigungsmittel auf, das aus der Werkstätte des recht- gläubigen Darwinismus kam; Roux verhehlte keineswegs, daß sein Gedanke eine Vertiefung der Ideen HAECKELs und PREYERs bedeute. Zwar könnte man gegen Roux' Theorie einwenden, daß der innere Kampf unter den Elementen der Gewebe nicht mit dem Kampf unter den Individuen analogisiert werden dürfe; allein, Darwin selbst (geschweige denn seine Anhänger) hat den Begriff vom Kampf ums Dasein in sehr verschiedenem Sinne angewendet. Andere1) be- haupteten wieder, es gäbe keinen grundsätzlichen LTnterschied zwisch'en innerer und äußerer Zweckmäßigkeit, wie er von der Roi'Xschen Theorie postuliert wird; daß z. B. eine Raubvogelklaue zum Er- 1 G. Wolff, Beiträge zur Kritik der ÜARv.iNschen Lehre, Leipzig 1S9S, S. 64. 4io XXX. Weitere Schicksale der natürlichen Zuchtwahl-Theorie. greifen der Beute fein eingerichtet ist, ohne daß es möglich wäre, ihre Struktur durch innere Selektion zu erklären — aber solche Ein- wände tauchten bereits zu einer Zeit auf, als der Glaube an die Selektion schon im Schwinden begriffen war und ROUX die Auf- merksamkeit der Forscher auf ganz andere Vorgänge lenkte. August Weismann. Ein bekanntes Gesellschaftsspiel besteht darin, daß einem Mitglied der Gesellschaft ein Thema aufgegeben wird , über welches er an- genehm und geistreich eine Rede halten muß. In ein solches Milieu wähnt man sich beim Lesen der Schriften des berühmten Freiburger Zoologen versetzt. Man hört einem geistvollen Causeur zu, und amüsiert sich an dem leichten Spiel der Gedanken, welche wie kleine, in Sonnenstrahlen glitzernde Wellen leicht gekräuselt sich heben und wieder senken ; man folgt mit Interesse einer Entwicklung des Pro- blems, ob bei der Furchung einer Zelle eine der Tochterzellen als Tochter, die andere als Mutter anzusprechen ist, oder ob beide Töchter zu nennen sind; oder ob es einen Tod ohne Leiche geben kann; — man hört mit Genugtuung, wie auch wissenschaftliche Auto- ritäten zu Worte kommen: da gibt er Darwin recht, dort wieder NÄGELI, Haeckel, Wagner, Roux; auch Namen von Philosophen, SCHOPENHAUER und LEIBNIZ fliegen an uns vorüber; und auch Tatsachen, mitunter sogar neue Tatsachen, werden ins Treffen ge- führt; und dieses ganze Wellenspiel wird als feine und streng- logische Entwicklung des vorgelegten Themas dargeboten. Dann klatscht die beglückte Gesellschaft der unterhaltenden Standrede Beifall, und ein Nachbar kommt an die Reihe, um die Anwesenden mit anderen Ideen zu ergötzen. Glücklicher Causeur! Glückliche Gesellschaft! WTas gehen sie Menschen an, welche in trüber Einsamkeit alle Kräfte anspannen müssen, um ihrem Geiste eine lebendige Idee abzuringen, welche den Leser nötigen, einen ebenso harten Kampf mit ihrem Werk zu be- stehen; was gehen sie Menschen an, welche ihr feuriger Glaube an eine neue Wahrheit in den schmutzigen Kampf des wirklichen Lebens treibt, um der Idee die ganze Welt zu unterjochen? Das Thema, das die Gesellschaft für Weismann bestimmte, lautete: »das Keimplasma«. Eine wirklich schwierige Aufgabe, aus diesem leeren Worte, das überdies nicht dem eigenen Geiste ent- stammt, eine Rede zu entwickeln, die die Welt befriedigen soll. XXX. Weitere Schicksale der natürlichen Zuchtwahl-Theorie. 411 WEISMANN wagte die Rede: anfangs noch unsicher und mit etwas buntem Gemisch von Ideen: innere Konstitution, Reaktionen auf die Umgebung, Erblichkeit erworbener Charaktere, Naturzüchtung, Varia- bilität usf.; dazu mit sichtlichem Bemühen, sich vom Gedankenbanne der Wagner und NÄGELI zu emanzipieren; dann aber gelingt es ihm, das Wort am richtigen Ende zu fassen, und der Strom der Ideen über das Keimplasma ergießt sich ins uferlose; schließlich scheint er sich in seine Ideen zu heftig hineingeredet zu haben, und sich nicht mehr von ihnen losreißen zu können; die Gesellschaft beginnt zu murren — die Sache ernst zu nehmen war ja nicht abgemacht. Gegen das Ende der sechziger Jahre war die DARWINsche Lehre allgemein verbreitet und auch die Kritik derselben ließ sich vielfach vernehmen; es erschienen bereits Systeme, welche, von ihrer Grund- idee ausgehend, das Problem auf anderen Wegen zu lösen strebten. In Deutschland wirkten in dieser Richtung besonders der Botaniker XÄGELI und der Geograph M. Wagner. An ihre Anschauungen — also nicht direkt an DARWIN — knüpfte WEISMANN seine erste Ab- handlung an, mit welcher er sich 186S in die Reihen der Darwi- nisten stellte; er suchte in derselben WAGNERS Migrationstheorie, der er nicht alle Berechtigung absprach, mit Darwins Selektionslehre zu versöhnen1). Im Jahre 1876 veröffentlichte er eine Abhandlung, in welcher er einerseits der Vervollkommnungstendenz NÄGELIs3), anderer- seits dem HAECKELschen Mechanismus recht gab; er stellte die Alternative auf, die Entwicklung sei verursacht entweder »durch eine phyletische Kraft oder durch Reaktion des Organismus auf äußere Einflüsse«3), und da er mehr der zweiten Möglichkeit zuneigte, war er damals nicht ganz von der Auffassung entfernt, welche seine späteren Gegner, die Xeolamarckisten vertraten. Die Alternative faßte das Problem übrigens nicht tief genug, denn NÄGELI nahm einerseits die Reaktion der Organismen auf äußere Einflüsse, andererseits eine ; phyletische Kraft«, d. h. eine organische Grundlage an, welche jene Reaktionen bestimmt. WEISMANN verwarf auch die Notwendigkeit einer solchen Grundlage nicht schlechthin, und brachte dadurch eine gewisse Labilität in seine Erörterungen hinein; er fühlte aber, daß in der *) A. WEISMANNj Über die Berechtigung der ÜARWiNschen Theorie, Leipzig 186S und Über den Einfluß der Isolierung auf die Artbildung, Leipzig 1872. 2) Studien zur Deszendenztheorie. 2 Teile. Leipzig 1S75 — 76. ibid. II. Teil. S. 76. 4 1 2 XXX. Weitere Schicksale der natürlichen Zuchtwahl-Theorie. phyletischen Kraft Spuren eines Vitalismus enthalten sind, welche er um jeden Preis umgehen wollte. Wie der Begriff der phyletischen Kraft Weismanns Denken ne- gativ bestimmte1), so gaben Nägelis Anschauungen über die zwie- fache Natur der lebendigen Substanz den positiven Anstoß zu seiner Philosophie. Was aber bei NÄGELI eine Hypothese, eine Folgerung aus seiner materialistischen Überzeugung war, das stellte nun Weis- mann als Tatsache und als Ausgangspunkt seiner weiteren Deduktionen auf. Er wies auf das Protoplasma als den eigentlichen Träger des Lebens hin; solange das besteht, dauert auch das Leben2). Be- trachten wir nun den Körper einer Amöbe, welche, aus einer einzigen Zelle bestehend, sich durch Teilung vermehrt; sie stirbt niemals natürlichen Todes, denn es ist kein Leichnam da, indem die Amöbe in ihre Tochterzellen ganz übergeht; folglich sind die einzelligen Wesen unsterblich. Anders ist es — leider — bei den Vielzelligen, zu welchen auch der Mensch gehört. Nur ihre Geschlechtszellen überdauern den Tod des Individuums und ihr Protoplasma geht kontinuierlich, durch fortgesetzte Teilung, bis wieder in die Ge- schlechtszellen des Nachkommen über und von dorten wieder in dessen Nachkommen — das Protoplasma der Geschlechtszellen vergeht folglich niemals: der Körper bildet nur eine sterbliche Hülle um die unsterblichen Geschlechtszellen; der Körper eines Einzelwesens ist ein Blatt, mittels dessen der Baum des Lebens ergrünt und durch welchen er sein Leben erhält, der aber im Herbste vergilbt und tot zur Erde fällt; das Protoplasma der Geschlechtszellen ist der Stamm, der viele Blättergenerationen überlebt und zu einer Einheit verbindet3). Der Tod stellt also — nach Weismann — keineswegs eine wesent- liche Eigenschaft des Lebens dar; er ist nur eine »Anpassung«, welche anfangs nicht da war, sondern sich erst allmählich entwickelte, und seine Zweckmäßigkeit ist darauf begründet, daß das ewige Leben der höheren Wesen ein »zweckloser Luxus« wäre. Denn es wollen auch andere Tiere als die eben vorhandenen leben; darum sollen die höheren Organismen gewöhnlich nur solange am Leben bleiben, J) Über sein Verhältnis zu Nägeli drückte sich Weismann am deutlichsten in dem Vortrage: Die Bedeutung der sexuellen Fortpflanzung für die Selektionstheorie, Jena 1886. 2) Über die Dauer des Lebens, Salzburg 1881. 3) Vor Weismann sprachen ähnliche Ansichten über die Unsterblichkeit aus G. Jäger (Lehrb. d. allgem. Zoologie, Leipzig 1878) und M. Nuszbaum (Die Differenzierung des Geschlechts im Tierreich. Arch. f. m. Anat., 18, 1880). XXX. Weitere Schicksale der natürlichen Zuchtwahl-Theorie. 413 bis sie das Leben ihrer Xachkommenschaft sichern: die Insekten, deren Sorge um die Jungen mit dem Eierlegen endigt, pflegen nach der Vollziehung desselben zu sterben, wogegen dem Menschen ein höheres Alter gegönnt ist, damit er seine Kinder erziehe, welche eine längere Zeit hindurch keines selbständigen Lebens fähig sind. Man hörte mit Spannung, fast hätte ich gesagt mit Zustimmung, den Erörterungen WEISMANNs, welche doch so logisch bündig klangen, zu, und man kümmerte sich wenig darum, wieviel an lebendigem Inhalt diese Unsterblichkeitslehre einbüßen mußte, um logisch bündig, um interessant zu werden. Wendete man etwas ein, so mußte es wieder nur ein interessanter Gedanke sein: bei der Kon- jugation der Infusorien werde ein Teilchen ihrer Substanz ausgeschie- den, das den vermißten Leichnam darstelle1). Weder die Anhänger noch die Bekämpfer der neuen Unsterblichkeitslehre bemerkten aber, daß der Darwinismus , der bei Darwin als eine auf breitester Er- fahrung ruhende Weltanschauung begründet wurde, der in Haeckels Händen ein Kampfmittel gegen den sozialen Rückschritt war, bei WEISMANN den Frack anzieht, alles Elementare, alles Stürmische, alles allzu Menschliche abstreift und zu einer salonmäßigen Lehre wird; daß diejenige Naturzüchtung, welche Darwin aus der künstlichen Zuchtwahl und dem harten Kampf ums Dasein in der Natur folgerte, und durch welche er die Mannigfaltigkeit der organischen Welt zu bewältigen strebte, eine andere war als die WEISMANNsche, welche eine seichte Phantasie mit der Idee kitzelte, der natürliche Tod sei ein Zufall, und der Mensch sei eigentlich unsterblich! Niemand be- merkte, daß der Zenith der DARWiNschen Theorie nunmehr über- schritten war, und daß der zweite, allem Vergänglichen beschiedene Teil des Lebens eingeleitet wurde! WEISMANN war also bei dem unsterblichen Geschlechtszellenproto- plasma angelangt; jetzt galt es, diese Idee weiter auszuspinnen. Die Aufmerksamkeit hatte sich inzwischen dem Zellenkerne zugewandt, der nun für viel wichtiger, als das ihn umgebende Protoplasma ge- halten wurde; WEISMANN entwickelte den von NäGELI aufgestellten Unterschied zwischen dem Idio- und Stereoplasma in folgender Weise weiter: der Körper ist aus Eigenschaften zusammengesetzt; die roten Blutkörperchen sind z. B. eine Eigenschaft, die Augenfarbe eine andere, ein Fleck auf dem Schmetterlingsflügel, ein Muttermal am Körper des Menschen sind ebenfalls solche Eigenschaften. Wie der x) R. Hertwig. Über die Konjugation der Infusorien. Abh. Akad. München 17. 1889. 414 XXX. Weitere Schicksale der natürlichen Zuchtwahl-Theorie. den Kindern als Spielzeug dienende Baukasten aus einzelnen Steinen, so ist der Körper aus Eigenschaften zusammengesetzt ; geht ein Stein verloren — wird der Bau zur Unmöglichkeit: eine Eigenschaft ver- loren — und auch der Aufbau des lebendigen Körpers wäre unmög- lich. Aber der Körper ist noch zusammengesetzter als der Baukasten: erstens sind die einzelnen Eigenschaften keineswegs nur tote Steine, sondern sie sollen imstande sein, sich durch Teilung zu vermehren, wodurch jede Eigenschaft sich vervielfachen kann; zweitens liegen in verschiedenen Körperstellen Reserveeigenschaften; so sind z. B. im Tritonbein die Eigenschaften dieses Beines entwickelt, nebstdem stecken im Körper aber noch eingewickelte Eigenschaften des Beines, welche erst dann zur Entwicklung kommen, wenn der Triton das Bein verliert. Drittens: Im Eikern ruhen alle Eigenschaften des künftigen Körpers eingeschlossen, und wenn sich die Eizelle in zwei, vier usw. Zellen furcht, treten die Eigenschaften auseinander nach rechts und nach links, nach oben und nach unten, nach vorne und nach hinten : nach der Stelle des künftigen Kopfes wandern die Kopfeigenschaften, nach der Stelle, wo der Fuß entstehen soll, die des Fußes, und so entsteht der entwickelte Körper; nicht alle Eigenschaften werden aber dabei zerlegt, sondern viele Gruppen derselben (die Teilungsfähigkeit der Eigenschaften ermöglicht die Entstehung einer unbegrenzten An- zahl solcher Gruppen) wandern einerseits in die neu angelegten Ge- schlechtszellen, andererseits an Stellen, aus welchen durch Sprossung ein neuer Körper entstehen kann. Die Eigenschaften muß man sich als wirkliche, äußerst kleine Körnchen, im Eikern eingeschlossen und aus noch kleineren Körnchen zusammengesetzt, denken. Es ist kaum möglich, die äußerste Kompliziertheit dieses Baues aus Eigenschaften — Körnchen kurz zu schildern. Keine Armee ist so zahlreich und so regelmäßig eingeleitet, wie WEISMANNS hypothetische Körperchen; Millionen derselben schlafen im Ei nach festen Regeln in Kolonnen, Kompagnien, Zenturien und höhere und höhere Gruppen geordnet; und wenn die Entwicklung beginnt, treten sie im richtigen Augenblick auseinander bis in die Zellen der erwachsenen Gewebe nur einzelne kommen, um dort zu kämpfen und zu sterben; Millionen von Reservekörperchen warten aber darauf, sie zu ersetzen, und in- zwischen entstehen in den Geschlechtsorganen neue Armeen, welche mit den Eiern aus dem Körper heraustreten, um einen neuen ebenso beschaffenen Körper zu gründen. So kam Weismann auf die Ansicht, daß im Eikern (und Sperma- kern) alle Eigenschaften des entwickelten Organismus nebeneinander XXX. Weitere Schicksale der natürlichen Zuchtwahl-Theorie. 415 liegen, und er nannte das diese Eigenschaften enthaltende Kern- plasma »Keimplasma«; während der Furchung soll es in andere Kerne übertreten und schließlich überall dort vorhanden sein , von woher sich ein ganzes Individuum entwickeln kann, also in den Ge- schlechtszellen, im Kambium der Pflanzen und in Teilen, welche der Regeneration fähig sind. Die übrigen Zellen enthalten Kerne, deren Protoplasma nur einen Bruchteil der Eigenschaften enthalten soll; dieses Protoplasma nennt Weismann »Somatoplasma«. Seine Anschauungen über das Keimplasma entwickelte Weismann allmählich in mehreren Schriften; er krönte sie 1892 mit einer größeren Studie über die Erblichkeit1) und wirkte durch dieselben faszinierend auf die Biologen. Man sah wohl ein, daß die von ihm erdichteten Körperchen, die er Biophoren, Determinanten, Iden, Idanten nannte, bloße Hirngespinnste sind; da man sich aber in einer Gesellschaft befand, wo sie für Wissenschaft erklärt wurden, konnte man nicht umhin, sie so ernst zu nehmen, wie es eben ging. Das Problem, ob das ganze Tier im Ei enthalten ist, oder ob es erst während der Entwick- lung gebildet wird, ein Problem, welches schon die heiligen Väter beunruhigte, und dessen Bearbeitung den Embryologen im Anfange des Jahrhunderts soviel Mühe kostete und Ehre einbrachte, wurde solcherart im Sinne der Präformisten beantwortet; denn, wenn bereits im Ei alle Eigenschaften des entwickelten Wesens als kleine Körper- chen eingeschlossen sind, was ist dies anderes, als jene Anschauung, welche noch immer den Anlaß gibt, über die Naturphilosophen des 18. Jahrhunderts zu spotten? Weismann (und seine Zeit) war sich aber nur schwach seiner Rückkehr zu jenen Vorstellungen bewußt: er wähnt sich bereits dadurch über Bonnet erhaben, daß er nicht mehr annimmt, im Ei sei ein ganzes Männlein enthalten, sondern sich bereits zu dem Glauben an Körperchen emporgeschwungen hat. Welch ein Fortschritt! Als ob BONNET etwas anderes gelehrt hätte: er behauptete ebenfalls nur, daß im Ei alle Eigenschaften des er- wachsenen Individuums enthalten sein müssen — er hatte auch die modernen Körperchen im Sinne und erklärte durch sie die Regene- ration, ganz so, wie es WEISMANN tut. Von WEISMANNs Theorien wurden seine Ansichten über die Erb- lichkeit am öftesten diskutiert. Anfangs nahm er die Erblichkeit in 't>v der undifferenzierten Bedeutung, in welcher sie Darwin auffaßte. lfc> 5 1875 schrieb er z. B. noch in folgender Weise 2j: x) Das Keimplasma. Eine Studie über Vererbung, Jena 1892. Über den Saisondimorphismus der Schmetterlinge, Leipzig 1875, S. 76. 4 I 6 XXX. Weitere Schicksale der natürlichen Zuchtwahl-Theorie. »Wenn nun aber diese [durch Wirkung der Temperatur] neuerworbene, und wir wollen annehmen, durch lange Generationsreihen hindurch be- festigte physische Konstitution der Art wiederum einem Klimawechsel unterworfen wird. . . .« Als er jedoch später die Theorie von der Unsterblichkeit des Ge- schlechtszellenplasmas aufstellte, um welches der übrige Körper eine mit den Geschlechtszellen nur mechanisch zusammenhängende Hülle bilden soll, folgerte er, daß die während des individuellen Lebens erworbenen Eigenschaften, welche nur in einer Veränderung des Körpers bestehen können, mit demselben untergehen müssen. Da das in den Kernen der Geschlechtszellen eingeschlossene Keimplasma durch die Veränderungen am Körper (durch Verletzungen, durch Übung, durch Gewohnheiten) nicht beeinflußt werden kann, können nur solche Veränderungen , welche im Keimplasma selbst ge- schehen, erblich sein1). Es gelang ihm der Nachweis, daß eine Ver- letzung nicht erblich ist; er glaubte auch nicht an die Erblichkeit der durch Übung entstandenen (sog. funktionellen) Veränderungen. In der Polemik, welche er zur Frage der Erblichkeit führte, gab er jedoch zu, daß die Folgen der Einwirkungen der Umgebung auf den Körper , wenn sie gleichzeitig auch das Keimplasma treffen , erblich sind: die durch direkte Einwirkung der Umgebung hervorge- brachten Veränderungen können erblich werden. Der Streit schwebte übrigens von allem Anfang an in der Luft, da die Bekämpfung der Erblichkeit erworbener Eigenschaften bei Weismann zum größten Teile nicht die Folge einer neuen Einsicht in das Naturgeschehen, sondern nur die Konsequenz einer wieder nur als Konsequenz aus anderen Hypothesen konstruierten Theorie vom Unterschiede des Körperplasmas vom Keimplasma war2). In dem Streite um die Vererbung der erworbenen Eigenschaften3) zerfielen die beteiligten Biologen in zwei Lager: die an solche Erb- lichkeit glaubten, wurden Neolamarckisten genannt, während Weis- manns Anhänger Neo da rwi nisten hießen. Der eine oder der *) A. Weismann, Über das Problem der Vererbung, Jena 1883. 2j Weismann formuliert den Ausgangspunkt seiner Betrachtungen in folgender Weise: »Ich habe es hier nicht mit der ganzen Vererbungsfrage zu tun, sondern immer nur mit der einen, aber fundamentalen Frage: wie kommt eine einzelne Zelle des Körpers dazu, die sämtlichen Vererbungstendenzen des gesamten Organismus in sich zu vereinigen?« Aufsätze über Vererbung, Jena 1892, S. 200. 3) Gegen Weismann trat besonders Spencer auf in dem Artikel: The inadaequacy of the natural selection, London 1893. — Weismann antwortete Spencer durch die Schrift: Die Allmacht der Naturzüchtung, Jena 1893. XXX. Weitere Schicksale der natürlichen Zuchtwahl-Theorie. 417 andere Standpunkt führte nämlich auf eine andere Auffassung der Organismenentwicklung: die Neolamarckisten legen den Nachdruck auf die Folgen der Einwirkungen der Umgebung auf den Orga- nismus, der Zuchtwahl schreiben sie dagegen eine geringere, wenn überhaupt eine Bedeutung zu; die Neodarwinisten müssen aber die Zuchtwahl besonders betonen. Kein anderer Faktor bildet (nach Weismann) neue Arten, als nur die Naturzüchtung ; der auf die Annahme der Erblichkeit erworbener Merkmale aufgebaute Teil der DARWiNschen Theorie muß verworfen, und die Entstehung neuer Arten nur mit Hilfe der angeborenen Variationen erklärt werden; die nützlichen unter denselben werden im Kampf ums Dasein erhalten, die übrigen gehen zugrunde. In- folgedessen haben alle Eigenschaften der Organismen keinen anderen Sinn, als daß sie für das Leben nützlich sind1): »Das Auge des Frosches ist ein sehr unvollkommenes Sehorgan gegen- über dem Auge des Falken oder des Menschen, aber es genügt, um die krabbelnde Fliege oder den sich krümmenden Wurm zu sehen oder es sichert die ausreichende Ernährung der Art. Aber auch das Auge des Falken ist kein absolut vollkommenes Sehwerkzeug im rein optischen Sinn, es reicht aber gerade aus, um den Vogel seine Beute aus hoher Luft herab mit Sicherheit entdecken zu lassen, und das genügt zur Exi- stenz der Art und schließt deshalb eine jede weitere Steigerung der Augengüte auf dem Wege der Naturzüchtung aus.« Indem WEISMANN auf diese Art die Selektion zum alleinigen und »allmächtigen« Prinzip der Entwicklung erhob, löste er dieselbe von dem Boden der Wirklichkeit los; Darwin, der Erfahrungsmensch, glaubte die Naturzüchtung als einen Naturfaktor beobachtet zu haben, darum faßte er sie als durch andere Faktoren begrenzt auf; er befand sich im Irrtum, denn sein Utilitarismus und seine Selek- tionslehre waren nur logische Prinzipien , mit welchen er die Natur maß: Weismann aber statuierte diesen Irrtum als Wahrheit; er gibt die Naturzüchtung bewußterweise nicht mehr für eine Tatsache aus, sondern für ein logisches Prinzip, mittels dessen alles an den Organismen erklärt werden kann und muß. Weiter konnte die Zu- fallslehre nicht getrieben werden, und es blieb nichts anderes übrig, als nach Kompromissen mit der Wirklichkeit zu suchen. Durch Roux' bereits erwähnte Idee angeregt, veröffentlichte Weismann 1895 eine Hypothese2), die er ein Jahr später zur Lehre vom Kampf ums J) A. Weismann, Aufsätze über Vererbung und verwandte biologische Fragen. Jena 1892, S. 585. 2) Neue Gedanken zur Vererbungsfrage, Jena 1S95. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. 27 ai 8 XXX. Weitere Schicksale der natürlichen Zuchtwahl-Theorie. Dasein innerhalb des Keimes, »Germinalselektion« genannt, weiter ent- wickelte. Er verlieh da den hypothetischen Körperchen neue Fähig- keiten: ihre Größe und Kraft soll der Größe der entwickelten Eigen- schaft proportional und von der Ernährung abhängig sein; die von Natur stärkeren Körperchen werden mehr Nahrung an sich reißen, erstarken und die schwächeren Nachbarn unterdrücken, woraus sich das Wachstum der einen, das Verkümmern der anderen ergibt. Nehmen wir z. B. an, ein Tier gewöhnte sich an das Leben in der Dunkelheit: dann werden seine Augen überflüssig, ja schädlich sein, indem sie leicht verletzt werden können. Von seinen Nachkommen haben einige von Natur ein schwächeres Gesicht; solche Tiere sind für den Kampf ums Dasein ebenso tauglich wie die scharfsichtigen, da sie überhaupt nicht zu sehen brauchen; es wird eine Kreuzung unter den scharf- und schwachsichtigen entstehen und schon diese Kreuzung führt zu einem Verfall des Organs bei den Nachkommen. Weismann nannte diese Kreuzung »Panmixie« und erklärte ursprüng- lich durch dieselbe die Entstehung der rudimentären Organe. Als aber einige seiner Gegner die Wirkungskraft der Panmixie bezweifel- ten, ließ WEISMANN einige ihrer Gründe gelten, insbesondere, daß der Kampf unter den Individuen nicht zur Erklärung eines voll- ständigen Verschwindens der Organe (welches vorkommen soll) aus- reicht. Nun aber soll die Erklärung mit Hilfe der Germinalselektion möglich sein. Im angeführten Falle sollen nämlich die Körperchen, welche die Eigenschaften schwachsichtiger Augen enthalten, ebenfalls schwächer sein, als die Körperchen für andere Eigenschaften jenes Tieres, und unterliegen infolgedessen im Kampf um die Nahrung, der unter den Körperchen geführt wird, bis sie vollständig unterdrückt werden und das gänzliche Verschwinden der Augen des im Dunkeln lebenden Tieres zur Folge haben. Dieser Kampf ums Dasein innerhalb des Keimes soll auch die Entstehung passender Variationen und ihre Steigerung, ferner die Entstehung von ganzen Gruppen von Organen, von Monstrositäten, Sprungvariationen, spezifischen Talenten usw. x) unterstützen. Er läßt es begreifen, daß äußere Lebensbedingungen, wie z. B. die Temperatur und die Ernährung, Veränderungen nicht nur am Körper, sondern auch im Keimplasma (also solche, die erblich sind) verursachen können. Denn die Wirkungen der Umgebung sollen sich auch auf die Körperchen im Keimplasma erstrecken, sollen die einen kräftigen, die anderen schwächen; es kann z. B. geschehen, daß ein Körperchen x) Vorträge über Deszendenztheorie, Jena 1902, II, 25. und 26. Vorlesung. XXX. Weitere Schicksale der natürlichen Zuchtwahl-Theorie. 41 q aus irgend einem Grunde stärker wird; es beginnt seine Nachbarn zu unterdrücken, woraus eine Verstärkung des Organes erfolgt, das durch das Körperchen repräsentiert wird. Nun aber gestattet dieses stärkere Organ, dem Tier einen glücklicheren Kampf ums Dasein zu führen, was wieder eine kräftigere Ernährung des das Organ reprä- sentierenden Körperchens und eine noch stärkere Entwicklung des Organes in nachfolgender Generation zur Folge haben kann usw. Auf diese Weise kann man sich nach WEISMANN erklären, daß die Variationen nicht blind hin- und herschwanken, sondern eine be- stimmte und für das Tier vorteilhafte Richtung einhalten. — Wie rasch Weismanns Theorien aufgeblüht waren, so rasch welkten sie wieder dahin; heute wird es schon wenig Forscher geben, die noch an den Unterschied zwischen Keim- und Somatoplasma, an die Un- sterblichkeit der Einzelligen, an die Allmacht der Naturzüchtung, oder gar an die Determinanten, Iden und Idanten glauben, obwohl dieses tote Material immer noch in Lehrbüchern mitgeschleppt wird. Nichtsdestoweniger war Weismanns Einfluß groß ; auch außerhalb der Biologie wurde er hochgeschätzt. Er war es, der die Erblich- keitslehre vertiefte, der den Darwinismus mit histologischen Studien über den Zellenkern verknüpfte, die zu seiner Zeit für modern galten; er gewöhnte die Forscher an den Gedanken, daß der Organismus in seine Eigenschaften analysiert werden muß; durch seine Losung von der Allmacht der Naturzüchtung regte er einen Teil der Neo- lamarckisten an: diejenigen endlich, welche an dem Werte des Darwi- nismus überhaupt zu zweifeln begannen, gingen von einer gegen seine Schriften gerichteten Skepsis aus. Doch auch die große Verflachung des biologischen Denkens, welch ein der Zurückführung aller Probleme auf zellulare Erscheinungen liegt, ist seinem Einflüsse zuzuschreiben. HAECKEL und WEISMANN sind sehr verschiedene Naturen; beide waren jedoch Darwins Apostel; jener übernahm von Darwin das materialistisch-demokratische Element, dieser das sophistische; jener wurde zum Anführer der Anatomen und Embryologen, dieser gab den Ton unter den Histologen an; Haeckel brachte den Embryo- logen Baer zum Schweigen und griff auf MECKEL zurück, Weis- MANN schloß die Augen vor Baer dem Epigenetiker, und kehrte zu dem eintönigen, schalen Bonnet zurück1). J) Über Weismann handeln insbes.: G. J. RoMANES, Darwin and after Darwin, 3 Vols., Chicago 1892 — 93. Deutsche Übersetzung Bd. I, II von R. Vetter, Bd. III von B. Nüldeke, 1892 — 97. T. H. Morgan, Evolution and Adaptation, New York I9°3- — (vgl- übrigens auch das Kapitel über Erblichkeit! 27* A20 XXXI. Psychologie. XXXI. Psychologie. F. J. Gall. Am Ende des 18. und am Anfang des ig. Jahrhunderts war Descartes noch immer das Haupt der Psychologen; Leibniz ent- zog ihm zwar ein beträchtliches Gebiet, versuchte aber nicht, sich vom kartesianischen Grundgedanken, die Seele sei ein unteil- bares Element, zu befreien. Auch Locke folgte in dieser Hinsicht Descartes: er setzte zwar die Seele aus Erfahrungselementen zu- sammen (und fand darin viele Nachahmer), aber nur nach Art der alten Chemiker, welche das Wasser in Feuchtigkeit, Gewicht, Farb- losigkeit und solcherart »Elemente« zerlegten; das eigentliche Problem der Zusammensetzung der Seele hat LOCKE nicht berührt. Ein kühner Versuch, die kartesianische Psychologie zu überwin- den, wurde gegen das Ende des 18. Jahrhunderts von dem deutschen Arzte Frz. Jos. Gall (1758 — 1828) unternommen; von medizinisch- praktischen Betrachtungen ausgehend versuchte er, zuerst in Wien, die bisherige Auffassung der Seele umzugestalten, wurde aber ge- nötigt, wegen Gottlosigkeit und angeblich materialistischer Tendenz seiner Theorien Wien zu verlassen. Er bereiste deutsche und fran- zösische Städte, und trug nicht ohne äußeren Erfolg in klaren und schlichten Worten seine Anschauungen vor; später nahm er dau- ernden Aufenthalt in Paris. Wenn man die Menschen und die Tiere untereinander vergleicht (so lehrte er), findet man, daß sie sich durch ihre Anlagen unterscheiden; ein Mensch hat musikalisches Talent, ein anderer hat ein gutes Gedächtnis; der Hund hat eine ganz an- dere Begabung als der Biber. Die Anlagen sind den Menschen und den Tieren angeboren, wie ein jeder an seinen Neigungen und per- sönlichen Schwächen sehen kann; unmöglich kann sich der Mensch durch Erfahrung neue Anlagen aneignen; möglich, daß in der Zu- kunft einmal neue Talente erscheinen werden, aber dann wird eben eine neue Menschheit entstehen J). Wie erkennt man, aus wieviel Anlagen die Seele des Menschen zusammengesetzt ist? Unrichtiger- weise beruft man sich auf apriorische Behauptungen, es genüge, an die Vernunft zu glauben; denn die Vernunft stellt ebenso wie die Empfindungen, das Gedächtnis, die Urteilskraft2) nur eine Eigenschaft J) Galls Vorlesungen über die Verrichtungen des Gehirns. Herausgegeben von H. G. C. v. Selpert, Berlin 1805. ») Ibid. S. 55. XXXI. Psychologie. 421 verschiedener Anlagen dar1); fälschlich leitet man auch die Kinder- liebe, die Freundschaft und andere Anlagen von ethischen Grund- sätzen des menschlichen Verstandes ab, denn auch Tiere besitzen diese Anlagen, ohne ethischen Räsonnements fähig zu sein. An psychischen Erscheinungen müssen verschiedene Grund- anlagen (forces fondamcntales) und allgemeine Attribute (attri- buts gencraux) unterschieden werden; jede einzelne Anlage besitzt alle Attribute, d. h. den Verstand, den Willen, die Aufmerksamkeit, das Gedächtnis, die Urteilskraft usf. Wie man aber neben allgemeinen Eigenschaften der Dinge: der Räumlichkeit, Undurchdringlichkeit, Gra- vitation usf. noch spezielle unterscheidet, durch welche die einzelnen Dinge unterschieden werden — so die Pflanzenarten voneinander und von den Steinen, und diese wieder untereinander usw. — so muß man auch in der Seelentätigkeit besondere Anlagen unterscheiden. Denn es handelt sich niemals um ein Gedächtnis, um einen Willen im allgemeinen, sondern um das Gedächtnis für bestimmte Tatsachen, um den Trieb nach einem bestimmten Ziele; darum gibt es soviele Grundanlagen, als verschiedene Triebe, wie bei den Tieren so beim Menschen; denn auch der Mensch handelt, wenn er seine Kinder liebt, wenn er sich gegen den Feind wehrt, wenn er stolz, grausam, listig ist, aus angeborenen Instinkten, wie die Tiere. Von einer solchen Betrachtung ausgehend, unternahm es Gall, jene Grundanlagen (Grundtriebe) des Menschen zu suchen, und er zählte deren 27 auf: Geschlechtstrieb, Kinderliebe, Freundschaft, Selbst- erhaltungstrieb, List, Vernünftigkeit, Gewinnsucht, Geiz, Stolz usf. Diese Grundlagen der Psychologie Galls waren schlicht und voll Wahrheit, denn eine jede auf gesunder Anschauung gegrün- dete Wissenschaft muß von der Tatsache der Mannigfaltigkeit in der Natur ausgehen; auch die Psychologie muß mit der Analyse des Seelenlebens auf Elemente beginnen; ob der Geschlechtstrieb, die Kinderliebe und überhaupt die von Gall angeführten Triebe die wahren und letzten Elemente sind, ist zwar eine spezielle Frage, aber man wird auch in dieser Hinsicht Gall eine gesunde Beobachtungs- gabe keineswegs absprechen können. Gall versuchte aber auf dieser gesunden Psychologie eine prak- tische Wissenschaft, die Phrenologie aufzubauen. Das Gehirn soll die materielle Grundlage der Seele und seine Teile Organe der Triebe z) Galls Vorlesungen über die Verrichtungen des Gehirns. Herausgegeben von H. G. C. v. Selpert, Berlin 1805, S. 21. ^.2 2 XXXI. Psychologie. sein; diese Organe sollen auf der Gehirnoberfläche liegen; jeder Mensch hat ein Organ besonders entwickelt, und an der entsprechen- den Stelle ist der Schädel mehr gewölbt; durch Betastung (zu wel- cher eine besondere nicht einem jedem gegebene Geschicklichkeit gehört) findet man die Wölbung, und indem man sie mit der bei ihrem Träger vorhandenen hervorragenden Anlage vergleicht, erkennt man, welche Anlage jeder Wölbung entspricht. Auch für diesen Gedanken führte Gall Belege an; nebst prak- tischen Versuchen (er bemühte sich die natürlichen Anlagen von Menschen zu erraten, die ihm zum ersten Male vorgestellt wurden), untersuchte er auch den Bau des Gehirns, verfolgte den Verlauf der Nerven, und traf auch da manchmal das Richtige. Er sprach bereits von geborenen Verbrechern, von der Neigung genialer Menschen zum Wahnsinn, von der krankhaften Neigung zum Selbstmord, von einem plötzlichen Verlust des Gedächtnisses für Namen, und von anderen medizinisch beachtungswerten Erscheinungen. Allein, wie es so oft vorkommt, sah er die Vorzüge seiner Theorie weder in deren Grundidee (der Notwendigkeit, die Seele in einzelne Triebe zu analysieren), noch in jenen Beobachtungen, sondern in der Betastung des Schädels. Galls Charlatanerie (er nahm bei seinen Vorträgen Eintrittsgeld) und allzu populäre Konsequenzen seiner Psychologie erregten be- greiflicherweise mehr Aufmerksamkeit, als seine Psychologie: Gall und Phrenologie wurden zu Namen, die immer in einem Atem ge- sprochen werden. Zwar wurde Gall auch von vielen Fachleuten seiner Zeit, von Cuvier, Comte, Oken, Reil, Froriep, Hufeland, besonders aber von Geoffroy St. Hilaire ernst genommen, trotz- dem ihnen seine Praxis nicht unbekannt war *) ; man sah wohl ein, daß er eine Idee und für die Welt offene Augen hatte, aber das Primitive seines Auftretens und seine allzu populären naturwissen- J) Treffend wird Gall nach seinen guten wie schlechten Eigenschaften in einem Briefe Okens an Schelling charakterisiert. Vgl. A. Ecker, L. Oken, Stuttgart 1880. S. 186. — Geoffroy schreibt über Gall unter anderem: »(Er ist) der Autor einer philosophischen Schrift, welche in einer an physiologische Entdeckungen sonst so reichen Zeit sehr beachtenswert ist. Und diesen unseres Interesses so würdigen Schriftsteller wollte man dem öffentlichen Spotte preisgeben ! Leider waren es sehr geistreiche Männer, die diese verwerfliche Aufgabe übernahmen. Es waren eben- falls sehr geistreiche Männer, wenn man nach ihrer öffentlichen Stellung schließen darf, die Sokrates der Gotteslästerung beschuldigten . . .«) (Phil, anat., Paris 1822, LT, S. 17). Geoffroy wendet sich mit diesen Worten wahrscheinlich gegen Cuvier und Flourens (der ein Schüler und Anhänger Cuviers war). XXXI. Psychologie. 423 schaftlichen Kenntnisse, welche sich im Rahmen der Heger- und Vogelstellererfahrungen bewegten, hinderten ihn bedeutend am nach- haltigen Erfolg. Gall wurde wissenschaftlich von P. FLOURENS bekämpft1). Nach FLOURENS ist er ein wirklicher Reformator der Lehre vom Gehirn ; er war in der neueren Zeit der erste, der auf die Notwendigkeit, das Gehirn anatomisch zu untersuchen, hingewiesen hat; er behauptete als erster, daß alle Gemütsbewegungen und alle Geisteskrankheiten im Gehirn ihren Sitz haben, und er deutete die Beziehungen zwischen dem Gehirnbau und der Seelentätigkeit an. Er war »ein tiefer Beobachter und öffnete uns mit seiner genialen Hand das Studium der Gehirnanatomie und Physiologie«. Aber er ließ sich große Fehler zu Schulden kommen. Die ana- tomischen Grundlagen seiner Theorie waren armselig; er hatte keine Vorstellung vom Unterschiede zwischen dem großen und dem kleinen Gehirn, zwischen dem verlängerten Rückenmark und anderen Ge- hirnteilen, sondern alles galt ihm als »Gehirn« überhaupt; seine physiologischen Kenntnisse waren ganz unzureichend ; am absurdesten war aber nach FLOURENS seine Psychologie. Man kann nicht mit Gall annehmen, führt FLOURENS aus, daß die Seele, das Bewußtsein, die Persönlichkeit aus Teilen zusammen- gesetzt sind. Diese materialistische Lehre widerspricht der Philo- sophie Descartes' — dieser habe recht mit seiner Behauptung, daß die Seele einfach, unteilbar und frei ist. Namentlich Galls Verneinung der persönlichen Freiheit ist abzuweisen, die Lehre näm- lich, daß die Willensfreiheit nur in der Fähigkeit bestehe, sich durch Motive bestimmen zu lassen; die Freiheit ist vielmehr die Fähigkeit, sich gegen die Motive zu entscheiden. FLOURENS stützte seine Kritik durch Versuche, welche seinen Ruhm begründet haben: er entnahm den Tieren Gehirnteile, beob- achtete dann ihre Reaktionen und fand, daß nur die großen Hemi- sphären Sitz des Bewußtseins sind, während das Kleinhirn die koor- dinierten Bewegungen beherrscht; daß die Vierhügel dem Gesichtsinn, das verlängerte Rückenmark der Atmung dienen. In allen Teilen des Großhirns soll das Bewußtsein einheitlich sein, denn FLOURENS mochte den Tauben vordere oder hintere, obere oder seitliche Ge- hirnteile herausnehmen, die Bewußtseinseinheit wurde dadurch nicht T) P. FLOURENS, Examen de la Phrenologie, Paris 1S45. — De la phr£nologie et des etudes vraies sur le cerveau. Paris 1865. 424 XXXI. Psychologie. gestört. Diese Versuche widerlegten die Theorie Galls, und bis auf den Tag hat es niemand gewagt, seine Lehre von der Seele zu rehabilitieren. Seine Hypothese von den Gehirnorganen wurde in der modernen Psychologie erneuert, auch seine Phrenologie fand einen modernen Verteidiger in P. MöBlUS — nur seine Psychologie fiel dem Vergessen anheim x). Neuerdings gelangte ein Denker, wohl von ganz anderen Beob- achtungen geleitet, zu einer ähnlichen Auffassung der Psychologie, wie der kuriose schwäbische Feldscherer: bei Nietzsche stößt man auf ähnliche Ideen: »Der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelenhypo- these steht offen; und Begriffe wie , sterbliche Seele', und , Seele als Subjektsvielheit' und , Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte' wollen fürderhin in der Wissenschaft Bürgerrecht haben . . . « 2j. Immer wieder kehrt Nietzsche zu dieser mit seinen individuellen Anlagen so tief zusammenhängenden Idee zurück, und spricht vom Kampfe der Triebe untereinander, von der Herrschaft eines und der Knechtschaft anderer Triebe, oder von unserem Leib als »Gesell- schaftsbau vieler Seelen«3); auch sein Postulat, die Aufgabe des Ethikers bestehe nicht in der Begründung, sondern in der Be- schreibung der (noch unbekannten) Moral4), stellt nur eine, auf die Ethik übertragene Lehre Galls dar, daß man die psychischen Eigen- schaften nicht aus dem Begriffe der Seele erschließen, sondern durch vergleichendes Studium der Menschen bzw. der Tiere ermitteln muß. Es will aber scheinen, daß auch Nietzsche ein ähnliches Schick- sal ereilen wird, wie Gall; man hört viel von seinen Anhängern (vergeblich waren alle Worte, durch die er so deutlich jede Anhän- gerschaft zurückwies), man hört bereits viel von seiner so populär, so phrenologisch anmutenden Lehre von der »blonden Bestie«. . . Spezifische Energien. Wie Gall die für unteilbar erklärte Seele in Anlagen analysierte, so versuchte JOH. MÜLLER die Sinnestätigkeit auf ihre Elemente zurückzuführen. Dies geschah zu einer Zeit, als Beobachtungen sub- J) Über Gall vgl. P. J. Möbius, Über die Anlage zur Mathematik, Leipzig 1900. wo auch eine Kritik seiner Lehre und die einschlägige Literatur zu finden ist. Möeius verteidigt Galls Phrenologie, seine Psychologie berührt er kaum. 2) F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Leipzig 1902, S. 23. 3) Ibid. S. 30. 4) Ibid. S. 113. XXXI. Psychologie. 42^ jektiver Gesichtserscheinungen im Schwünge waren: Goethe betei- ligte sich an denselben, PURKINJE veröffentlichte höchst originelle Beobachtungen, und Jon. MÜLLER selbst begann seine wissenschaft- liche Laufbahn mit solchen Untersuchungen. Gegen den Materialis- mus eingenommen, lehrte er nun in seiner Theorie von den spezifischen Sinnesenergien, »daß die Energien des Lichten, des Dunklen, des Farbigen nicht den äußeren Dingen, den Ursachen der Erregung, sondern der Sehsinn- substanz selbst immanent sind . . .«*), d. h. daß uns nur die psychologische Analyse der subjek- tiven Beobachtungen über die physiologischen Eigenschaften des Lichtes (des Druckes, der chemischen Einwirkungen der Töne usf.) aufklären kann, nicht aber eine objektiv physikalische Analyse. Das Dunkle, das Helle, das Farbige, das Räumliche sind für MÜLLER nur Eigenschaften (oder Potenzen, Energien) der Seele, welche durch das Licht nur erweckt werden. MÜLLER knüpft bezeichnenderweise seine Lehre an den im Ti- mäus entwickelten Gedanken Platos über das Sehen2) an; wirklich sollten seine Sinnesenergien Potenzen der Seele, Begriffe darstellen, welche als unwandelbare Ideen über der objektiven Welt schweben; MÜLLER konnte sich auch des Fehlers der platonischen Ideenlehre nicht erwehren, daß seine Sinnesenergien dem objektiven Geschehen gegenüber ebenso fremd wie die Ideen dastanden; nach seiner Auf- fassung kann der Mensch auch ohne mit seiner Umgebung in gesetz- mäßige Beziehungen zu treten, den ganzen Reichtum des durch die Sinnesenergien Gebotenen in seiner Seele auslösen und Licht, Dunkel- heit, Raum, Töne empfinden. Es wäre möglich, die Theorie der Sinnesenergien in derselben Weise zu vertiefen, wie es Aristoteles mit PLATOs Ideen getan hat; allein Müller lenkte sie in andere Bahnen; seine wesentlich anato- mische Auffassung des Lebens, von der wir früher erzählten, war Ursache, daß er später in seinem Handbuch der Physiologie die Sinnesenergien für von den Nerven des Organismus abhängig er- klärte und überhaupt die ganze Theorie wesentlich verflacht darbot. An diese Fassung der Theorie knüpften die späteren Vertreter und Bekämpfer derselben an. H. V. Helmholtz deutete die Idee seines J) J. Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes, Leipzig 1S26. S. 45- 2j Ibid. S. VIII sq. 426 XXXI. Psychologie. Meisters bereits offenkundig in dem Sinne, daß die Sinnesenergien von der Organisation des Körpers abhängig sind. Er sagt z. B. *): »Das Auge kann alles, was es wahrnimmt, nur in der Form von Licht und Farbenempfindungen wahrnehmen. Daß es alles nur in dieser Weise sieht, beruht in seiner ihm von Anfang an gegebenen Struktur und ist ganz unabhängig von den Objekten die es sieht.« An die Stelle der »in der tierischen Wesenheit gelegenen Ener- gie«, der »Dynamis«, wie MÜLLER das Wesen der Sinnesenergie ausdrückte, trat nun die »Struktur«, welche in der ursprünglichen Fassung der Theorie weder dem Begriffe noch dem Wortlaute nach enthalten war. Es erübrigte nun nichts anderes, als diese Lehre von den spezi- fischen Sinnesenergien zu verwerfen, welcher Aufgabe sich die Ent- wicklungsphilosophen unterzogen. Diese hatten für die Lehre in ihrem System keinen Platz; erstens glauben sie nicht an die Seele als einen Naturfaktor und es hat deshalb für sie keinen Sinn, ihre Sinnestätigkeit in Elemente zu analysieren ; zweitens verwerfen sie jeden Glauben an etwas Spezifisches (d. h. Qualitatives). Darum ver- wirft W. Wundt, in mehrfacher Hinsicht ein Fortsetzer Helm- HOLTZens, ausdrücklich die psychologische Fassung der Lehre von den spezifischen Sinnesenergien; das Hören und Sehen sei unmög- lich früher dagewesen als die Licht- und Gehörempfindung. Anfangs gab es weder Gesicht noch Gehör noch Tastsinn; es war nur ein Hautsinnesorgan, aus welchem sich alle späteren Sinnesapparate durch »Anpassung der Sinneselemente an die Reize«2) entwickel- ten. Das ursprüngliche Hautsinnesorgan war alles auf einmal: es war Tast-, Seh-, Gehör-, Geruchs-, Geschmacksorgan zugleich, ob- wohl es jede dieser Funktionen nur unvollständig versehen konnte; an bestimmten Körperstellen verfeinerte sich später die Tastempfind- lichkeit, an anderen wieder die Geruchsempfindlichkeit usw., bis all- mählich die jetzigen Sinnesorgane entstanden. Wundt entwirft folgenden Stammbaum der Sinnesorgane: Hautsinnesorgan tonisches photochemisches chemisches tonisches S. O. Gehörorgan Sehorgan Geruchsorgan Geschmacksorgan *) H. Helmholtz, Physiologische Optik, Hamburg und Leipzig 1896, IL Aufl., S. 590. 2) W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, 5. Aufl. 1901, I, S. 445- XXXI. Psychologie. 427 Aus dem Angeführten und mehr noch aus der speziellen Aus- führung bei WUNDT sieht man, daß in dieser Theorie nicht mehr von der MÜLLER als Ausgangspunkt dienenden Tatsache die Rede ist, die Seele habe mehrere Sinnesfähigkeiten (Energien), und das Gebiet des Sichtbaren verhalte sich zu dem des Hörbaren subjektiv- ganz anders als die Optik zur Akustik; sondern es wird da nur die anatomische Hypothese erklärt, daß sich die heutigen Sinnesorgane aus einem nicht näher bestimmbaren Ursinnesorgan entwickelten, eine Hypothese, welche schon früher E. HAECKEL ausführlich zu be- gründen unternommen hat1); auch Haeckel vertrat die Ansicht, daß sich die spezifischen Sinnesenergien durch Anpassung an die Außen- welt entwickelt haben2). Vergleichende Psychologie. Wir wollen jetzt von einem dritten Versuch, die Seele in Elemente zu analysieren, berichten, dem ein ähnliches Schicksal beschie- den war. Descartes schrieb nur dem Menschen eine Seele zu; die Tiere verglich er mit den zu seiner Zeit sehr beliebten künstlichen Auto- maten. Im 18. Jahrhundert wurde diese Theorie vielfach bekämpft und die Behauptung vertreten, daß auch die Tiere beseelt seien. So lehrte CONDILLAC in der Mitte des 18. Jahrhunderts, daß die Tiere eine der menschlichen ganz ähnliche, nur etwas — s. v. v. — kleinere Seele haben3); auch sie sollen fühlen, vergleichen, Vorstellungen, Gedächtnis und Sprache haben. CONDILLAC untersucht auch (hundert Jahre vor Darwin) die Entstehung der psychischen Eigenschaften x) E. Haeckel, Ursprung und Entwicklung der Sinneswerkzeuge. Kosmos 4. 1878, S. 20 sqq. 2) Ibid. S. 25. — Über die spezifische Sinnesenergie wurde vielfach gestritten; neuerdings wird sie von H. Driesch bekämpft (in Die Seele, Leipzig 1903, S. 41 sq. und The science and philosophy of the Organism, II, London 190S, S. 84 sq. . Driesch behauptet, die Lehre entstamme einer falsch verstandenen Lehre Kants : scheint mir jedoch, daß er sich dabei durch Helmholtz verleiten läßt; ich fand wenigstens nicht, daß Müller bewußt seine Lehre auf Ka.nt bezogen hätte, im Gegenteil beruft er sich auf (Plato und) Aristoteles (Handbuch der Physiologie des Menschen, 1S37, II, i, S. 257); die Worte »in der tierischen Wesenheit liegende Energie< sprechen von etwas ganz anderem als einer »Struktur*. Richtig ist aber, daß Müller später selbst (im Handbuch) zu der Betonung der »Struktur« mehr hin- neigte. Müller wurde zu seiner Theorie höchstwahrscheinlich durch Goethes Farben- lehre angeregt. Über spezifische Sinnesenergie vgl. W. Nagels Handbuch d. Physiol. III, I, Braunschweig 1904. 3) Abbe de Condillac, Traite des animaux. Amsterdam 1755. 4:8 XXXI. Psychologie. der Tiere und nimmt an, daß ein jedes tierische Individuum anfangs denselben Verstand wie der Mensch besitzt, aber aus Mangel an Er- fahrungen gegen ihn zurückbleibt. >Die Gegenstände rufen in ihm [dem Tiere] Eindrücke hervor, es fühlt angenehme und unangenehme Empfindungen: daher stammen die ersten Bewegungen ab, welche anfangs noch unsicher und ohne bewußte Teilnahme des Tieres, das dieselben noch nicht zu beherrschen weiß, vor sich gehen. . . . Anfangs bewegt sich der Körper mühsam, tastend, schwankend . . . ein anderesmal rufen dieselben Bedürfnisse dieselben Be- wegungen hervor, welche nun sowohl ihrer körperlichen als auch geistigen Seite nach mit weniger Unsicherheit und Langsamkeit als früher geschehen. Schließlich kehren dieselben Bedürfnisse immer wieder, die Bewegungen wiederholen sich so oft, daß es kein unbestimmtes Herumtappen mehr gibt und keine Unsicherheit die Seele behindert: die Gewohnheit, sich zu bewegen und zu urteilen, hat sich eingelebt. So rufen die Bedürf- nisse einerseits die Folge der Vorstellungen, andererseits die Folge der ihnen entsprechenden Bewegungen hervor« z). Weiter erklärt Condillac, daß die Tiere nur deshalb auf einer niedrigeren geistigen Stufe stehen als der Mensch, weil ihr Körper weniger vollkommen und ihre Sinnesorgane minder entwickelt sind, und sie infolgedessen auch geringere Erfahrungen haben. CONDlLLACs Auffassung, welche offenbar durch LoCKEs Erfahrungs- philosophie beeinflußt wurde, stieß auf den Widerspruch des Hamburger Professors und berühmten Verfassers der freisinnigen » Wolffenbüttler Fragmente«, Herm. S. Reimarus, des Freundes von G. E. Lessing. Reimarus bekämpfte zwar die dogmatische Religion, aber der da- mals in Frankreich überhand nehmende Materialismus widerstrebte ihm noch mehr, und deshalb richtete er (1760) seine Beobachtungen über die Triebe der Tiere gegen den letzteren, und besonders gegen CONDILLAC. In langen Erörterungen, in welchen die griechischen Philosophen vielleicht mehr Raum einnehmen als die neueren Natur- forscher, führt er aus, daß die Triebe der Tiere, als bestimmte Neigungen zu einer Handlungsweise, keine durch Erfahrung und Ver- stand erworbene Geschicklichkeiten darstellen2), »sondern daß sie angeborene Fertigkeiten sind, welche aus den determi- nierten Naturkräften der Tiere entstehen«. Der Mensch aber, ein Träger höherer Ideale, überragt die Tiere durch seinen Verstand und freien Willen, obwohl auch er von ver- J) Abbe de Condillac, Traite des animaux, Amsterdam 1755, S. 79. 2) H. S. Reimarus, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Tiere, Ham- burg (1760), 3. Aufl. 1773, S. IV. XXXI. Psychologie. a2Q schiedenen Instinkten beherrscht wird. Nachdem er solcherweise die Instinkte als durch die Natur gegebene Tatsachen (und nicht als Folgen der Erfahrung) definiert, teilt Reimarus die tierischen Triebe in 10 Klassen ein und untersucht dann eine nach der anderen; er zeigt die Zweckmäßigkeit der einzelnen Triebe und schließt daraus auf die Weisheit des Schöpfers; der Gedanke, daß der Trieb eine elementare Erscheinung ist, und daß sich die Tierseele in einzelne Triebe analysieren läßt, führt den Autor sicher durch alle gefährlichen Klippen seiner Forschung. Die theologische Absicht des Reimarus hatte zur Folge, daß seine Schrift später von den Naturforschern wenig beachtet wurde, nament- lich als der Materialismus und die DESCARTESsche Philosophie zur Herrschaft gelangten. In der deutschen Naturphilosophie kam aber eine ähnliche Auffassung der Natur zur Geltung. FlCHTE ging von den Erscheinungen des Instinktes aus, um sich zu seiner Auffassung des Subjektes als einer Tätigkeit emporzuschwingen1); SCHELLING galten die Erscheinungen des tierischen Instinktes überhaupt als tiefste Tatsachen und als der wahre Prüfstein jeder echten Philosophie2); die menschliche Kunst betrachtete er als großartige Offenbarung eines Triebes3); Schopenhauer, ein Epigone der Naturphilosophen, begründete auf den Erscheinungen des Instinkts sein philosophisches Grundprinzip, den metaphysischen Willen; Ed. v. HARTMANN entlieh der Lehre vom Instinkte den Grundgedanken seiner Philosophie, das »Unbewußte*:4). Aber die Naturphilosophie, welche die RElMARUSsche Lehre in sich aufnahm, erfaßte sie so nebelhaft, so allgemein, daß sie dieselbe jeden konkreten Inhaltes entledigte. Von den Naturforschern dieser Richtung hat über die Seele der Tiere am selbständigsten der viel- seitige Arzt C. G. Carus5) geschrieben. In phantasievoller, poe- tischer Schreibart, welche alle konkreten Beobachtungen in mystisches Dunkel hüllte, äußerte er sich über die Seele des Kindes, der Tiere, über den Fortschritt der Beseeltheit im Tierreiche, über die Entwicklung *) K. Fischer, Fichtes Leben, Werke und Lehre, Heidelberg 1900, S. 378 sqq. 2) Nach E. v. Hartmann, Philos. d. Unbew., III. Aufl. 1S71, S. 102. ) SCHELLING, Über die Kunsttriebe der Tiere in: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, 1799. 4) Altere Literatur über die Seele der Tiere findet sich bei M. Perty, Über das Seelenleben der Tiere, Leipzig und Heidelberg 1865. 5) C. G. Carus, Psychologie oder Geschichte der Seele in der Reihenfolge der Tierwelt, Wien 1866. a 20 XXXI. Psychologie. der Menschenseele und über die Analogien zwischen diesen beiden Reichen. So läßt er sich über die Schnecken vernehmen1): >und es ist denn auch in Wahrheit etwas Mystisches in den eignen langsamen Bewegungen der Landschnecken. Dabei entwickelt sich gern in ihrem Kalkgehäuse der tiefsinnige Typus der Spirallinie . . . kurz, wir haben ein Leben vor uns, das mehr als viele andere den Begriff eines Geheimnisvollen erweckt und auch darin noch eine große Merkwürdigkeit darbietet, daß eigentümliche spiralige Rotationen des zarten Embryo inner- halb der Eiflüssigkeit offenbar den ersten physiologischen Grund enthalten für das in bleibender Spirale sich konsolidierende Gehäuse«. Die Frage, welche Insekten psychisch am höchsten stehen, be- antwortet er wie folgt2): »Der Kultus des alten Ägypten und die außerordentliche Konsequenz in der fast mathematischen Gliederung ihres Körpers stellt allerdings die Käfer sehr hoch. . . .« Als dann die exakte Wissenschaft Triumphe feierte, wurde Carus allerdings mit Schweigen übergangen. Dies war das Ende des von Reimarus unternommenen Versuches, den Instinkt der Tiere zu ana- lysieren; man ging von neuem auf Condillac zurück. Unter seinen Anhängern finden wir nebst vielen anderen auch Lamarck. Es ist nicht einmal nötig auf das Wort »Bedürfnis« (besoin) hinzuweisen — das bei Condillac (man vergleiche die oben zitierte Stelle) zum ersten Male diejenige Bedeutung erhält, deren Entdeckung später Lamarcks Ruhm begründen wird ; schon der Gedankengang des angeführten Satzes ist derselbe wie bei Lamarck. Dieser ging nur insofern über Condillac hinaus, als er die im individuellen Leben gesammelten Erfahrungen eines Tieres nicht mit demselben untergehen und nicht jedes Individuum sein geistiges Leben von Grund aus neu aufbauen ließ, sondern vielmehr annahm, daß das von einem Tier gesammelte Erfahrungsmaterial mittels Vererbung auf die Nachkommenschaft übergehe. Darwin kannte zwar Condillacs Werk nicht, hatte jedoch von der Tierseele dieselbe populäre Vorstellung wie dieser ; liest man seine tierpsychologischen Erörterungen, so denkt man an die Gespräche der Insektensammler, an ihre unschuldige Entzückung über die Weis- heit der Tierchen, von welchen sie in gezierten Redewendungen sprechen, und aus welchen sie bei aller Entzückung ihre kleine Seele unbarmherzig durch Alkohol heraustreiben. Auch Darwin *) C. G. Carus, Psychologie oder Geschichte der Seele in der Reihenfolge der Tierwelt, Wien 1866, S. 50. ») Ibid. S. 61. XXXI. Psychologie. 43 1 glaubte, daß alle Tiere eine ebenso beschaffene, nur etwas ver- schleierte Seele besitzen wie der Mensch, und legte diese Anschauung seiner Theorie von der geschlechtlichen Zuchtwahl zugrunde, in der mit einem ganz nach Menschenart aufgefaßtem Geschmack der Tiere operiert wird ; niederen Tieren will DARWIN deshalb keinen Geschmack einräumen, weil sie »zu unvollkommene Sinnesorgane und zu niedrige psychische Kräfte haben, um Schönheit und andere Lockmittel schätzen und Eifersucht empfinden zu können. Bei den höheren Tieren hängt jedoch die ge- schlechtliche Zuchtwahl von dem Willen, von der Sehnsucht und der Wahl des anderen Geschlechtes ab«. Die gesperrt gedruckten Worte zeigen, wie Darwin die Tiere ganz nach Menschenart fühlen, denken und handeln ließ. Vom Instinkte lehrte Darwin, derselbe sei eine vererbte Gewohnheit und wendete auf ihn dieselbe Theorie an, wie auf die körperlichen Eigenschaften. Dort schrieb er, daß er nicht die Entstehung des Lebens erklären wolle, sondern nur die Art, wie Unterschiede bei den Tieren durch natürliche Zuchtwahl entstehen; hier behauptet er, nicht die Entstehung des psychischen Lebens überhaupt, sondern nur die Unterschiede unter den Instinkten erklären zu wollen; und er ist überzeugt, daß diese Unterschiede durch dieselbe natürliche Zuchtwahl zustande kommen. Wie es individuelle körperliche Unterschiede unter den Tieren gibt, so auch psychische, und auch diese sind erblich; wenn sich eine in- dividuelle psychische Eigenschaft im Kampf ums Dasein bewährt, wird sie von der Nachkommenschaft betätigt und gesteigert ; so ent- steht eine neue Fähigkeit nach ganz mechanischen Prinzipien. Daneben sollen übrigens auch weniger mechanische Faktoren von Einfluß sein: die Tiere sollen durch ihren kleinen Verstand verschiedenes erfassen, und wenn sie die Vorteile der neuen Erkenntnis einsehen, eignen sie sich dieselbe an, und die so entstandene Gewohnheit kann gleichfalls auf die Nachkommenschaft übertragen und zu einem Instinkte werden. Nach dieser Schablone erklärte Darwin die Triebe der Tiere, welche entweder ihm selbst oder seinen Gegnern besonders auffallend schienen: die sozialen Triebe der Ameisen, die Triebe der Haustiere. des Kuckucks, der Bienen usf. Seine Methode wurde auch von anderen Entwicklungstheoretikern befolgt, so u. a. von dem viel- seitigen schweizer Gelehrten A. Forel, einem Fachmann auf dem Gebiete der Ameisenforschung; von v. BUTTEL-REEPEN, der besonders das Leben der Bienen und der Hummeln studierte; von W. WUNDT, der im allgemeinen über die Tierseele und speziell über das Gehör der 432 XXXI. Psychologie. Tauben schrieb; von G. Romanes in seinem Werke über die Intelli- genz im Tierreiche; von J. LUBBOCK, der das Leben verschiedener Insekten beobachtete; von dem Physiologen W. A. Nagel; von A. R. Wallace ; sie alle sahen in den Tieren nur minder gescheite, weniger erfahrene Menschen1). Brehms großes populäres Werk ist die beste Anwendung dieser Philosophie: Anekdoten und Erzählungen biederer Weidmänner und Reisenden in fremden Ländern, Wahrheit und Irrtum, Geistreiches und Triviales in buntem Durcheinander. E. Wasmann. Nur ein Forscher bekämpfte diese anthropomorphistische Psycho- logie unermüdlich: der Entomologe Erich Wasmann S. J. In theologischer Dogmatik und scholastischer Philosophie bewandert, versuchte er die Philosophie Thomas' von Aquino nicht ohne Glück auf die vergleichende Psychologie anzuwenden. Während die Ent- wicklungsphilosophen den Instinkt der Tiere nur für eine niedere z) A. Forel, Experiences et remarques critiques sur les sensations des Insectes, Come 1900. Über das Fliegen der Insekten ins Licht schreibt Forel in folgender Weise: »La nuit, lorsqu'ils volent vers une lampe, ils sont evidemment trompes, et leur petite cervelle ne peut arriver ä comprendre cette nouveaute, cette lumiere con- centre"e sur un point. De lä les essais infructueux toujours renouveles qui lancent ces innocents toujours de nouveau sur la flamme . . .« (Ibid. S. 21). — von Buttel- Reepen, Sind die Bienen Reflexmaschinen? Biol. Zentralbl. 20, 1900. Die phylo- genetische Entstehung des Bienenstaates usw. Biol. Zentralbl. 23, 1903. — W. Wundt, Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele, Hamburg u. Leipzig 1897. Wundt verwirft zwar in diesem Werke das unkritische Anthropomorphisieren (S. 385 sq.), es genügt aber das erste Kapitel seiner Grundzüge der physiol. Psychologie (5. Aufl., Leipzig 1902, S. 19 sq.) zu lesen, um einzusehen, daß er ganz in der anthropomorphi- stischen Psychologie der Tiere befangen ist. Er sagt z. B. auf S. 21 : »Daß nun in diesem Sinne vom Menschen bis herab zu den Protozoen das Bewußtsein ein allgemeines Besitztum lebender Wesen ist, kann nicht zweifelhaft sein. ... So kehrt die morpho- logisch als eine membranlose Zelle zu deutende Amöbe gelegentlich zu den Amylum- körnern, die ihr irgendwo begegnet sind, nach kurzer Zeit wieder zurück, um sie von neuem als Nahrungsmasse in ihren weichen Protoplasmaleib aufzunehmen. . . .« — G. Romanes, Mental Evolution in Animals, London 1883. — J. Lubbock, On the senses, instincts and intelligence of animals, London 1819. — G. H. Schneider, Der tierische Wille, Leipzig 1880. (Ein weitschweifiges Werk, enthält aber einen Versuch um die Klassifikation der psychischen Erscheinungen der Tiere). — K. Groosz, Die Spiele der Tiere, Jena 1896. (Enthält zwar keine neuen Beobachtungen, klassifiziert aber gut die Spiele der Tiere unter Anführung zahlreicher Beispiele.) — M. Verworn, Psychophysiologische Protistenstudien, Jena 1889. — W. A. Nagel, Der Lichtsinn augenloser Tiere, Jena 1896. — A. R. Wallace, Darwinism, London 1889. — Andere Literatur bei Forel, Wundt und Wasmann. XXXI. Psychologie. 433 Stufe her Vernunft, für einen durch Vererbung fixierten Verstand hielten , erklärt ihn WASMANN , in bewußter Übereinstimmung mit REIMARUS, für wesentlich von der Intelligenz verschieden. Er unterscheidet an den Handlungen der Organismen erstens zweck- mäßige Reflextätigkeiten, welche auf bloßen Nervenmechanismen ohne Empfindungen beruhen sollen, wie z. B. die regelmäßigen Pump- bewegungen des Herzmuskels, die peristaltischen Bewegungen der Eingeweide bei der Verdauung, das Niesen usf. An zweiter Stelle nennt er instinktive Prozesse, bei welchen die Empfindung ur- sächlich eingreift, um zweckmäßigere Tätigkeiten herbeizuführen. In- stinkthandlungen sind1) »solche Tätigkeiten, die den Trieben des sinnlichen Begehrungsvermögens entspringen; sie sind ferner von sinnlicher Wahrnehmung und Empfindung in ihrer Ausübung geleitet; durch diese beiden Eigenschaften unterscheiden sie sich von den bloßen Reflexbewegungen«. Als drittes führt Wasmann in t ellig e nte Handlungen an, für welche das Bewußtsein des Zweckes das Hauptkriterium bildet und das Unterscheidungsmerkmal vom bloßen Instinkt darstellt. Weiterhin lehrt er, daß die Intelligenz ausschließlich in der Fähigkeit, die Beziehungen der Begriffe zueinander zu erkennen und daraus Schlüsse zu ziehen, besteht. Diese begrifflichen Unterscheidungen beleuchtet WASMANN durch eingehende Kritik der modernen Anschauungen über die Tierseele, und behauptet, daß Intelligenz nur dem Menschen inne wohne, während die Tiere, die höchsten nicht ausgenommen, nur von In- stinkten beherrscht werden und keine Fähigkeit allgemeine Begriffe zu bilden, kein formelles Abstraktionsvermögen, keine Einsicht in das Ziel ihrer Handlungen besitzen. Es gelingt ihm zu zeigen, wie aktuell die scholastischen Begriffe noch werden können, und daß sie bisher zwar verschollen, aber unüberwunden ihr Dasein gefristet haben. Von den Fachmännern wird aber WASMANNs Auffassung schlechthin verworfen. Ursache ist da nicht nur die mangelhafte philosophische Schulung der modernen Tierpsychologen und die Über- zeugung, daß sich die Scholastik mit moderner Wissenschaft nicht mehr vereinbaren lasse, sondern auch die Erkenntnis, daß WASMANN zu seiner Philosophie nicht durch freigewolltes Sichvertiefen in die Erscheinungen des tierischen Lebens gelangt war, nicht durch das Bedürfnis, selbständige Beobachtungen auf selbständige Art auszu- J) E. WASMANN, Instinkt und Intelligenz im Tierreich, 2. Anfl., Freiburg i. Br. 1899, S. 6. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. It. 2S a-ia XXXI. Psychologie. drücken; man fühlte, daß er die Scholastik als fertiges System an- nahm und ex post ihre Richtigkeit durch Tatsachen zu begründen suchte. In diese Meinung wird man einstimmen, wenn man Wasmanns Unselbständigkeit bemerkt, wo er die ausgetretenen Pfade der Scho- lastik verläßt. Wasmann stimmt nämlich mit den modernen Natur- forschern unkritisch überein, daß wir die Psyche der Tiere (und folg- lich auch des Menschen) nur indirekt, per analogiam mit unserem subjektiven Leben erfassen können1); diese Annahme ist aber dem modernen Subjektivismus entsprungen und der aristotelischen Philo- sophie fremd; für Aristoteles und die Scholastiker war das psy- chische Leben anderer Menschen ebenso gewiß, wie ihr individuelles. Infolgedessen ist auch Wasmanns Unterscheidung zwischen Reflexen und Instinkten je nach dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der Empfindung unbestimmt geraten, und seine Gegner sind gegen ihn in vollem Rechte, wenn sie behaupten, daß das Subjektive kein wissenschaftliches Unterscheidungsmerkmal darstellen kann2). Auch die unüberbrückbare Kluft, welche Wasmann zwischen Intelligenz und Instinkt anzunehmen scheint, dürfte in anbetracht der Tatsache, daß sich die Intelligenz aus dem Instinkt entwickelt, und nicht als ein anderes ihm hingefügt wird, kaum stichhaltig sein. Die Lehre der Darwinisten, daß auch die Tiere eine rudimentäre Intelligenz besitzen, wird wohl einen wahren Kern enthalten, wenn sich auch derselbe nicht auf die primitive Art, in der es die Darwinisten versucht haben, her- ausschälen läßt. Auf wirklichen Beobachtungen scheinen Wasmanns Erörterungen über die verschiedenen Formen des Lernens zu beruhen, in denen er ebenfalls ein Kriterium zwischen den Tieren und dem Menschen findet. Wasmann unterscheidet3): I. Selbständiges Lernen: i. durch instinktive Einübung ange- borener Reflexmechanismen; 2. durch sinnliche Erfahrung; 3. durch sinnliche Erfahrung und intelligentes Schließen von früheren auf neue Verhältnisse ; IL Lernen durch fremden Einfluß : 4. durch Anregung des Nach- ahmungstriebes; 5. durch Dressur; 6. durch intelligente Belehrung. Nur beim Menschen finden sich sämtliche sechs Formen des Lernens vereint. Bei den Tieren dagegen finden sich je nach dem x) E. Wasmann, Instinkt und Intelligenz im Tierreich, 2. Aufl., Freiburg i. Br., 1899, S. 5, 8, 52 u. a. a. O. 2) Vgl. dazu Wasmanns Polemik gegen Bethes »Reflextheorie« in »Die psychi- schen Fähigkeiten der Ameisen«, Stuttgart 1899, S. 4 sq. 3) Ibid. S. 105 sq. XXXI. Psychologie. 435 Grade ihrer psychischen Begabung entweder bloß die erste, oder die erste und die vierte, oder die erste, zweite, vierte und fünfte bei- sammen. Unter den Biologen scheint WASMANN keine Anhänger gefunden zu haben; neuerdings vertritt ähnliche Ideen H. Driesch; nur faßte sie dieser Forscher viel tiefer und origineller auf. Verfall der Psychologie. Die moderne, besonders die sogenannte wissenschaftliche Psychologie war der von Fechner begründeten Annahme eines Parallelismus des Psychischen und des Physischen unterworfen. Das Wesen dieser Lehre bestand darin, daß man sich die Welt in zwei Teile gesondert vorstellte : der eine umfaßte das Subjektive, das dem Ich zugängliche Bewußtsein, der andere das Objektive, die von allen wahrnehmbare Welt. Die Seele wurde, wenn man sich über- haupt von ihr zu reden erlaubte, mit dem Bewußtsein identifiziert, während alles andere zur Nicht-Seele, zur objektiven Welt gehörte. Nebst an FECHNER knüpfte jene, vorzüglich durch W. Wundt ver- tretene Lehre an H. V. HELMHOLTZ und folglich indirekt an Joh. MÜLLER an; sie bestand als solche in einer Anwendung der karte- sianisch aufgefaßten Psychologie1) auf anatomische Tatsachen (Ner- ven, Ganglien, Gehirnzentren), und im Konstruieren feiner Apparate. Die Seele wurde für eine Eigenschaft wenn nicht aller, so doch der belebten Materie und als Folge von bestimmten nervösen Strukturen erklärt; man bildete sich ein, daß das Skalpell, das Mikroskop und eine feine Färbetechnik der Gehirnschnitte imstande sei, alles Seelische zu enträtseln. Einen paradoxen Ausdruck verlieh dieser materialistischen Psy- chologie der darwinistische Zoologe älterer Richtung Gustav JAGER. Das Studium der tierischen Gerüche führte ihn zu dem Schlüsse2), daß ein jedes Individuum einen ihm eigentümlichen Geruch verbreite, daß eine Familie, eine Rasse, Art, Gattung usf. ebenfalls gewisse sie T) Von physiologischer Seite versuchte die Beziehungen der Psychologie zur Histo- logie der Nerven der Wiener Physiologe S. Exner systematisch darzustellen (Entwurf zu einer phys. Erklärung der psychischen Erscheinungen, I. Teil, Leipzig u. Wien 1894). 2) G. Jäger, Die Entdeckung der Seele. Zugleich Lehrbuch der allgemeinen Zoologie, III. Teil, 2. Aufl. 1880. Eine Konsequenz dieser Entdeckung waren die bekannten Hemden Jägers zur Verhinderung einer allzu großen Ausdunstung der Seelenstoffe. 28* 436 XXXI. Psychologie. charakterisierende Riechstoffe ausdünsten , so daß man Gattunsrs-, Familien-, Ordnungs-, Klassengerüche unterscheiden könne, welche die gegenseitigen Beziehungen der Tiere bestimmen; die Raubtiere verfolgen die ihnen angenehm riechende Beute, diese flieht vor dem ihr unangenehmen Geruch der Raubtiere; auch die geschlechtliche Liebe, das Gefühl der Familien- und Rassengemeinschaft soll auf der Verbreitung und Wahrnehmung gewisser Riechstoffe beruhen. Die Befruchtung soll ebenfalls erst durch einen aus dem Sperma und aus dem Ei austretenden Geruch, einer aura seminalis und ovularis zu- stande kommen. Auf Grund solcher Tatsachen und Hypothesen stellte nun JÄGER eine eigenartige Theorie der Seele auf: jene Ge- rüche sollen Folgen gewisser feiner, aus dem Körper ausdünstender Stoffe sein, welche eben die Seele darstellen; es soll besondere Seelen-, Angst-, Lust-, Unluststoffe usw. geben. Die Darwinisten nahmen die Schrift beifällig auf; E. Krause glaubte z. B. J), daß »mit dem jÄGERschen Werke eine neue Epoche der Seelen forschung be- ginne, nämlich die Entdeckung der Chemie der Seele«, einer Wissenschaft, welche direkt an HELMHOLTZens und Fechners Physik der Seele anknüpfen soll. Aber die paradoxe Fassung, welche JÄGER seiner Idee gab, hinderte sie daran, Schule zu machen, obwohl sie ohne Zweifel eine »Chemie der Seele« ebenso hätte begründen können, wie die HELMHOLTZschen Versuche zu einer »Physik der Seele« geführt haben. Jäger erntete viel Spott; nichtsdestoweniger schwang sich seine Idee noch einige Male empor, ohne sich aber in der Wissenschaft einbürgern zu können; der italienische Schriftsteller P. MANTEGAZZA bediente sich derselben in seiner berüchtigten »Phy- siologie der Liebe«, der Physiologe A. Bethe kam auf den Gedanken zurück2), um mit Hilfe desselben das Maschinelle im Leben der Ameisen und Bienen zu beleuchten und die angeblich unwissenschaftliche Psy- chologie der niederen Tiere abzuweisen. Mit mehr Glück griff den Gedanken J. Loeb auf, um eine neue »vergleichende Physiologie« au chemischer Grundlage aufzubauen3). Die neueren, namentlich durch Loeb angeregten Untersuchungen über die sogenannten »Tropismen« J) In seinem Referat in Kosmos 4, 1878, S. 323. 2) A. Bethe, Dürfen wir Ameisen und Bienen psychische Qualitäten zuschreiben ? Pflügers Archiv, 70, 1898, S. 15 sqq. — In dieser Abhandlung werden zwar wesent- lich nur Reaktionen der Ameisen und der Bienen besprochen, es wird aber auch auf Analogien aus menschlichem Leben hingewiesen. 3) Vgl. insbes. Loebs Schrift »Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserschei- nungen«, Leipzig 1906. XXXI. Psychologie. 437 sind größtenteils eine Wiederbelebung der jÄGERschen Theorien und teilen mit denselben nicht nur das sachlich Interessante, sondern auch das theoretisch Seichte mit. Von neueren Theoretikern scheint nur J. Loeb sich dessen bewußt zu sein, daß er auf JÄGER zurückgreift1). Wie bemerkt, verstand diese Psychologie unter Seele nichts anderes als Bewußtsein. Dieses ist aber bloß subjektiv: wie hätte man vom Bewußtsein anderer Menschen, von der Seele der Tiere sprechen können? Man behauptete, daß uns der Analogieschluß zu einer solchen Annahme drängt: zwar können wir die Seele anderer Wesen nicht aus direkter Erfahrung erkennen, aber der analoge Bau des Gehirns aller Menschen und der höheren Tiere, und die Analogie ihrer Handlungen mit den unsrigen führen uns zu der Annahme, daß auch ihre Reaktionen vom Bewußtsein begleitet sind. Da sich nun diese Psychologie solcherweise selbst für unexakt und nur auf einer Hypothese aufgebaut erklärt hatte, war es nur natürlich, daß man sie für ein minderwertiges Gebiet hielt. Wie niedrig man sie einschätzte , zeigte sich klar in dem Vorschlag2) dreier jüngerer Physiologen, die Psychologie (der Tiere) aus der exakten Wissen- schaft dadurch gänzlich zu beseitigen, daß man statt der üblichen » subjektiven« Terminologie eine »objektive« einführt (z. B. statt hören, sehen — phonorezipieren — photorezipieren sagt). Der Einfall, durch eine bloße Namensänderung (welche noch dazu jeder theoretischen Durcharbeitung entbehrte) eine Wissenschaft aus der Welt zu schaffen, kann wohl als bizarr bezeichnet werden; trotzdem wurde der Vor- schlag vielseitig ernst genommen. Es entstand eine Polemik, in welcher sich die Verteidiger der neuen Terminologie3) als bloß konsequentere Anhänger derselben Anschauungen über das Verhält- nis von Leib und Seele erwiesen, wie die Verteidiger des Parallelis- mus; sie hielten nur — und zwar mit Recht — den Analogieschluß für unexakt. Indem sie nun die Psychologie verwarfen, verlangten x) Auf Jäger als seinen Vorläufer weist Loeb hin in : Einige Bemerkungen über den Begriff, die Geschichte und die Literatur der allgemeinen Physiologie. Pflügers Archiv, 69, 1897. 2 Tu. Beer, A. Bethe, S. v. Uexküll, Vorschläge zu einer objektivierenden Nomenklatur in der Physiologie des Nervensystems. Zentralbl. f. Physiol., 13, 1899 S. 137 sq. — Vgl. dazu die ablehnende Kritik W. A. Nagels in Zool. Zentralbl., 6, 1S99, S. 608 sq. ; zustimmend äußerte sich H. E. Ziegler, Theoretisches zur Tier- psychologie und vergleichenden Neurophysiologie. Biol. Zentralbl., 20, 1900, S. 1 sq. Wasmann, Forel, Buttel-Reeii.n. WUNDT und die meisten darwinistischen Psycho- logen sprachen sich gegen den Vorschlag aus. 3) S. v. ÜEXKÜLL, Über die Stellung der vergleichenden Physiologie zur Hypo- these der Tierseele. Biol. Zentralbl., 20, 1900. 438 XXXI. Psychologie. sie vom Physiologen, er solle künftighin nur die Physiologie der Nerven studieren und die sichtbaren Reaktionen der Tiere unter- suchen. Neu war wohl diese Folgerung keineswegs : Descartes hatte vor vielen Jahren eben dasselbe behauptet ; auch Kant sprach bekannt- lich der Psychologie die Fähigkeit ab, sich irgend wann zur Höhe einer exakten Wissenschaft emporzuschwingen; A. Comte schloß ebenfalls die Psychologie aus der Hierarchie der exakten Wissen- schaften aus. Ohne Zweifel ist jede Psychologie, auch die des Menschen, un- möglich, wenn die tierische unmöglich ist; denn auch auf das »Sub- jektive« bei anderen Menschen kann der Einzelne nur per analogiam schließen, während sie ihm objektiv mit demselben Rechte als Maschinen erscheinen, wie die Tiere. Es kommt aber alles darauf an, ob wirklich die Organismen Maschinen sind, ob es einen solchen Gegensatz zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven gibt, wie die Schulen lehren; und ob man unter Psychologie eine Wissenschaft des Subjektiven verstehen muß, oder ob sie nicht vielmehr ebenso objektiv (bzw. subjektiv) ist, wie alle anderen Wissenschaften. Sollten denn die Romanschreiber und die Historiker, welche in ihren Schriften die psychischen Zustände ihrer Helden schildern, nur in Analogieschlüssen die Berechtigung zu ihrem Vorgehen finden? Wohl kennt die mo- derne Wissenschaft nicht diese praktische Psychologie; sie kennt nicht die psychologischen Tatsachen, welche die Romanschreiber, die Psychiater, die Historiker, die Soziologen, die Politiker, die Volks- redner entdecken und zu beherrschen wissen; sie ist überzeugt, daß die exakte, wahre, einzig gewisse Psychologie nicht anders als unter dem Mikroskop, auf dem Seziertisch, wenn nicht gar in den Ab- bildungen von Zellen gefunden werden kann; die praktische, die wirkliche, lebendige Psychologie hält sie für ein Hirngespinnst1). Ob die Tiere eine Seele haben! Man sehe sich die Schwalben an : sie fliegen über den Dächern , voll Lebensfreude zwitschern sie und sammeln emsig Nahrung für ihre Jungen; ein Habicht stößt unter sie ; plötzliche Stille tritt ein und man hört nur ein sausendes Flügel- z) Anläufe zu einer praktischen Psychologie sind in den Untersuchungen des P. J. Möbius zu finden. Vgl. seine Schriften: Über das Pathologische bei Goethe, Leipzig 1898. — Über die Anlage zur Mathematik, Leipzig 1900 u. a. Schriften, welche aber, sofern ich beurteilen kann, vielleicht infolge mangelnder Durcharbeitung nicht genug tief gefaßt sind. — Viel interessantes psychologisches Material ist in psychiatri- schen Schriften enthalten; dasselbe harrt aber noch einer theoretischen Analyse vom psychologischen Standpunkte. — Feine psychologische Beobachtungen findet man bei Nietzsche. XXXII. Die Lamarckisten. aiq schlagen; einige scharfe Wendungen, und schon schwingt sich die Schwalbe auf, und enttäuscht zieht der Habicht von dannen. Da heben sich alle Schwalben in die Höhe und ahmen unter freudigem Gejauchze den Habicht nach, indem sich die eine pfeilschnell von oben auf eine andere stürzt. Man erschrickt, ist voll Spannung, dann voll Freude: unsere Gemütsbewegung sollte von einer Seele, die der Schwalben nur von Nerven zeugen? Man betrachte die Katze, wie sie erwacht, sich langsam erhebt, den Rücken krümmt, ihre Tatzen vor sich hinstreckt und mit weit geöffnetem Munde gähnt, die Zunge krümmend und die Krallen weisend: unwillkührlich gähnt man mit: unser Gähnen soll Ausdruck einer Stimmung, das der Katze dagegen nur Folge der Nerven sein? XXXII. Die Lamarckisten. Zwischen LAMARCK und Darwin ist eine Gleichstellung kaum statthaft, obwohl zugegeben werden muß, daß eine allgemeine Ab- stimmung heute vielleicht gerade umgekehrt entscheiden würde. Man vergleiche aber die imposante weltgeschichtliche Bewegung, welche Darwin hervorgerufen hat, die Bedeutung seiner Gegner und Anhänger, eines Nägeli, eines HAECKEL, eines HüXLEY mit dem kurzatmigen Epigonentum, das man heute Neolamarckismus nennt; man bedenke, daß diese neue Bewegung ohne Darwin, ohne das Ausleben des Darwinismus nicht vorhanden wäre; und man wird lernen, den Ver- gleich zwischen LAMARCK und Darwin richtig zu bewerten. Darwins Buch erlangte deshalb eine so große Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft, weil sein Autor in dasselbe sein Bestes hineingelegt hat ; jedes Wort atmet Ernst, sein Denken ist ein Stück des allgemein menschlichen Denkens, das voll Zweifel auf dem Wege nach der Wahrheit umhertappt, aber mit der ganzen Kraft seines Wesens glaubt; Lamarck hat dagegen nichts als Einfälle geboten. Und doch hat LAMARCK gewirkt. Es ist bereits an einer anderen Stelle berichtet worden, wie sich Lamarcks Theorie des Interesses der vordarwinischen Naturforscher erfreute. Das Werk »Über die Entstehung der Arten« konnte dieses Interesse nur fördern; Darwin selbst, der aus Lamarcks Lehre einen nur oberflächlich verschleierten Vitalismus herauslas, war sich bewußt, mit seiner Erklärung auf einem ganz anderen Standpunkte zu stehen als sein Vorläufer, und sagte sich 440 XXXII. Die Lamarckisten. schon 1844 in scharfen Worten von ihm los1); aber dem »lamarck- schen Faktor«, nämlich der Vererbung erworbener Eigenschaften, schrieb er selbst Bedeutung zu. Andere wollten keinen so grund- sätzlichen Unterschied zwischen Darwin und Lamarck anerkennen, und Darwin mußte sich mehrmals gegen Lyell und Huxlev verteidigen und versichern, daß er und Lamarck himmelweit ver- schieden seien. Der Trieb nach historischer Gerechtigkeit und das Streben, mit dem Darwinismus an etwas älteres anzuknüpfen, führte ebenfalls viele Forscher, unter ihnen Haeckel und HüXLEY, auf LAMARCK zurück. Die Franzosen unterstrichen seine Bedeutung aus begreif- licher Anhänglichkeit an ihren Landsmann, und es ist nicht zu ver- wundern, daß sich Lamarck ihrer besonderen Gunst erfreut2). Seit den 80 er Jahren wurde der Name Lamarcks häufiger und häufiger genannt; Roux' Theorie der funktionellen Anpassung, Weis- manns Verneinung der Erblichkeit erworbener Eigenschaften, und die allmählich sich einstellende Ernüchterung von dem Enthusiasmus für Darwin trugen dazu bei. Auffallend ist es, daß man sich dabei nicht seines Großvaters, des ERASMUS Darwin erinnerte, der doch von der Entwicklung der Organismenwelt in einer ähnlichen Weise wie LAMARCK, und dazu noch früher und origineller geschrieben, und überdies auch direkten Einfluß auf Darwin ausgeübt hatte. Wie soll man sich erklären, daß heute Lamarck, nicht aber E. Darwin recht behält? Dadurch etwa, daß man bei Erasmus DARWIN nicht die Schlagwörter findet, die den jetzigen Strömungen entgegenkommen würden? Oder ist sein Name daran schuld, der seine Anhänger nicht von den Schülern seines Enkels unterscheiden würde ? Lamarcks Lehre war unklar; ihre Worte behaupten ein blindes, mechanisches Geschehen in der Natur, ihr Gedankensystem dagegen ist vitalistisch ; diese Unklarheit ging auch auf seine Nachfolger über, x) Seine Worte lauten: »Der Himmel bewahre mich vor LAMARCKschem Unsinn einer ,Neigung zum Fortschritt', der , Anpassungen infolge des langsam wirkenden Willens der Tiere' usf. Aber die Schlußfolgerungen, auf welche ich geführt worden bin, sind von den seinigen nicht sehr verschieden, obschon die Abänderungsmittel es gänzlich sind.« Leben und Briefe II, S. 23. 2) Vgl. besonders die Artikel Alfr. Giards, welche gesammelt unter dem Titel Controverses transformistes, Paris 1904, erschienen sind. Ferner: E. Perrier, La Philosophie zoologique avant Darwin, Paris i386. Auffallend ist, daß man bei dem allgemeinen Zurückgehen auf Lamarck auf dessen tieferen Genossen Geoffroy St. Hilaire vergißt. XXXII. Die Lamarckisten. *a.i umsomehr, als bei ihnen kein Bemühen zu finden ist, L.AMARCK so zu begreifen, wie er wirklich war. Und so kommt es, daß von denen, die heute von LAMARCK sprechen, niemand sich beklagt, daß seine Werke in einem unklaren, schwer verständlichen Stil geschrieben sind, dabei jedoch die einen seine Philosophie für mechanistisch, die an- deren für vitalistisch ausgeben, und die meisten überzeugt sind, daß sie LAMARCK richtig verstanden haben, wenn sie diesen oder jenen seiner Gedanken für einen verzeihlichen Irrtum erklären. So z. B. sieht C. Detto in LAMARCK einen Vitalisten und ver- wirft ihn aus diesem Grunde1); M. KaSSOWITZ hält sich dagegen an Lamarck den Mechanisten und bekämpft durch ihn den Neovitalis- mus2); Aug. Pauly erklärt wieder3) Lamarck seines angeblichen Vitalismus wegen für ein Genie. Während Pauly die mechanistischen Theorien LAMARCKs als Inkonsequenz entschuldigt, beweist J. P. LOTSY4), daß Lamarck ein Mechanist, selbstverständlich ein vor- züglicher Mechanist war ; seine vitalistischen Theorien seien ein Miß- griff, den man ihm nachsehen müsse. Nach Pauly betont Lamarck die Aktivität des Lebens, nach Lotsy gerade umgekehrt die Passivität. Etwas ganz neues hat T. H. MORGAN aus LAMARCK herausgelesen; er soll nämlich nicht behauptet haben, daß das Streben, ein Organ zu benutzen, die Entstehung dieses Organs zur Folge gehabt hätte, sondern daß »das Streben, ein Organ zu benutzen, um dadurch einem Bedürfnis ge- nug zu tun, dazu geführt hat, daß es sich durch Übung vervollkommnete und daß sich diese Vervollkommnung vererbte«5). K. Goebel findet, daß LAMARCK psychische Entwicklungsfaktoren an- nimmt, was abzuweisen sei6). G. Steinmann will Lamarck in die Paläontologie einführen; er entdeckte bei Lamarck einen »historischen Blick, eine historische Methode, die es ihm ermöglichten, seiner Zeit um ein volles Jahrhundert vorauszueilen und Gesetzmäßig- keiten zu erkennen, die auch heute nur auf historischer Grundlage ver- standen werden können«7). ') C. Detto, Die Theorien der direkten Anpassung, Jena 1904. 2) M. KASSOWITZ, Yitalismiis und Teleologie. Biol. Zentralbl. 25. 1905, S. 776. 3) A. Pauly, Darwinismus und Lamarekismus, München 1905. 4) J. P. Lotsy, Vorlesungen über Deszendenztheorien I, Jena 1906. 5) T. H. Morgan, Evolution and Adaptation, New York 1903, S. 223. 6) K. Goebel, Die kleistogamen Blüten und die Anpassungstheorien. Biol. Zen- ralblatt. 24, 1904. Noch deutlicher in: Über Studium und Auffassung der An- passungserscheinungen bei Pflanzen, München 1898. 7) G. STEINMANN, Die geologischen Grundlagen der Abstammungslehre, Leipzig 190S, S. 277. 442 XXXII. Die Lamarckisten. Dabei verwirft Steinmann den Vitalismus, und obwohl er es nicht ausdrücklich sagt, ist Lamarck in seinen Augen Mechanist. A. Weismann hat Lamarck nur soviel entnommen, daß er wesent- lich an die Vererbung erworbener Eigenschaften glaubt und also irrt1). Um diesem »Begreifen« Lamarcks die Krone aufzusetzen, sei noch Schopenhauers Ansicht über denselben angeführt2). Während alle bisher genannten Forscher bei sonst abweichender Wertschätzung Lamarcks darin übereinstimmen, daß seine Bedeutung im genetischen Gedanken, in der Behauptung eines historischen Zusammenhanges der Organismenwelt liege, macht SCHOPENHAUER, nachdem er Lamarck als »Zoologen erster Ordnung« gelobt, darauf aufmerksam, wie richtig Lamarck aus dem Willen des Tieres seine Organisation ableitet; mit der Annahme eines geschichtlichen Zusammenhanges der Organismenwelt soll er jedoch einen großen Fehler begangen haben. Nach SCHOPENHAUER hat Kant ein für allemal solche Irrtümer aus Deutschland vertrieben, ebenso wie die grobe, absurde französische Atomistik und die populären physikotheologischen Betrachtungen der Engländer. Es gibt heute viele, die unter Lamarcks Anhänger gezählt werden wollen; aus den angeführten Beispielen (die sich beliebig vermehren ließen) ist aber zu ersehen, daß bisher niemand darauf verfallen ist, Lamarck aus ihm selbst heraus zu begreifen und erst dann seine Ideen eventuell weiter zu entwickeln; ein jeder spinnt nur seine eigenen Gedanken aus und will sie durch Lamarcks Autorität stützen; nicht die Überzeugung von der Wahrheit der Ideen Lamarcks, son- dern die Abwendung von Darwin hat den größten Teil des heutigen Neolamarckismus hervorgerufen3). Es mag in dieser Rückkehr zu Lamarck den Triumph der guten, so lange unterdrückten Wahrheit und die historische Gerechtigkeit sehen wer da will; es scheint übrigens, J) A. Weismann, Vorträge über Deszendenztheorie, 2. Aufl., Jena 1904. -) A. Schopenhauer, Über den Willen in der Natur (1854), Reclam, S. 242 sq. 3) Der Name Neolamarckismus wurde von A. Packard eingeführt; vgl. seine Schrift Lamarck the Founder of Evolution, S. 396 Anm. Daß der Neolamarckismus einen Verfall des Deszendenzgedankens überhaupt bedeutet, erkannte G. Wolff in der Schrift: Die Begründung der Abstammungslehre, München 1907. Es ist aber kaum begreiflich, wie dieser scharfsinnige Kritiker, nachdem er die anatomischen, embryologischen u. a. Tatsachen für die Begründung der Phylogenie unzureichend er- klärt, auf einmal in den sog. rudimentären Organen einen Beweis derselben sehen konnte (ibid. S. 24). XXXII. Die Lamarckisten. 443 daß diese Gerechtigkeit der Geschichte auch sonst nur in solchen Erscheinungen besteht, wie der Neolamarckismus eine ist. Darwins Lehre ist ein Glaube an blinden Zufall, an Mechanis- mus und Materialismus als Weltprinzipien; in Haeckels Auffassung besteht sie ferner in der Überzeugung, daß die anatomische Körper- struktur die Grundlage der biologischen Erklärungen bilden muß. Wer nun diese Auffassung zu einseitig fand, der stellte aus natür- lichen Gründen mit mehr oder weniger Folgerichtigkeit dem Glauben an die Zufälligkeit den Glauben an einen Willen, dem Mechanismus und der Materie die Seele und den Verstand, der Körperstruktur die Funktion entgegen; je weniger er aber diese seine Ansicht durch eigene Autorität zu stützen wagte, desto mehr suchte er nach Helfern, welche seine Hypothesen »bestätigen« sollten; da er nun bei LAMARCK die gesuchte, rationalistisch klingende Erklärung fand, hielt er sich nicht länger bei der Frage auf, mit welcher inneren Wahrhaftigkeit derselbe seine Lehre entwickelt, sondern gab selbst LAMARCK recht und pries dessen Genialität, wodurch er wiederum den Wert seiner eigenen Gedanken zu heben gedachte. E. D. Cope. Der amerikanische Wirbeltierpaläontologe Eduard Dr. Cope (1840 — 1897) erklärte sich in zerstreuten, erst später zu einem größeren Werke gesammelten Abhandlungen1) für denjenigen Ent- wicklungsbegriff, den Lamarck vertreten hat; seine Schriften er- regten aber in Europa kaum Aufmerksamkeit, weil die Forscher dazumal noch sehr von den orthodoxen Lehren eingenommen waren : er entwickelte ferner seine Ansichten ohne Rücksicht auf andere, eben für modern geltende Lehren und suchte nicht nach einer Ge- legenheit, sich mit anderen Forschern auseinanderzusetzen; erst in der letzten Zeit lernt man seine Anschauungen schätzen. Cope hält sich sehr genau an die LAMARCKsche Lehre; er glaubt, daß sich die niederen Pflanzen durch leblose Kräfte entwickeln, daß sich die reizbaren Pflanzen (wie z. B. Mimosa) und die niederen Tiere durch Gewöhnung an die oft wiederkehrende Reizung verändern, und daß auf höheren Lebensstufen ein zuerst unbewußtes, dann bewußtes Streben wirkend ist, das die Organe zu neuen Leistungen nötigt. Auch die Naturauslese soll die Entwicklung fördern; sie genügt aber nicht, da sie bloß imstande ist zu erklären, wie sich gutes erhält, 1) A. Cope, The Origin of the Fittest, New York 1SS7. aaa XXXII. Die Lamarckisten. weniger dagegen, von woher es kommt1). Lamarcks Inkonsequenz aber, die Seele aus leblosen Kräften entstehen zu lassen und ihr erst auf höheren Lebensstufen die Rolle eines Entwicklungsförderers zuzu- schreiben, verwirft Cope und stellt die Lebenskraft als das Wesen aller Entwicklungsfaktoren auf; sie sei die Ursache, warum die physi- kalischen und psychischen Kräfte einmal auf diesen, das andere Mal auf jenen Körperteil wirken: »Die Entwicklung ist eine Leistung (outgrowth) der Seele und im Denken (mind) liegt die Quelle der Naturformen«2); die Denkkraft »ver- schafft dem Tiere stets vollkommenere Organe, damit es Nahrung ge- winne, dem Klima nicht unterliege, den Feinden entkomme und eine Nachkommenschaft zeuge« 3). Cope gibt auch die Gesetze dieser Lebenskraft an, welche, ebenso wie ihr Name (growth-force = Wachstumskraft), an NÄGELls Begriff des Vervollkommnungsprinzips erinnern: das Gesetz der Zellteilung, der linearen und räumlichen Zellvermehrung, das Gesetz der Segmen- tation usw. Die Wachstumskraft soll nicht in allen Organen gleich- zeitig gewirkt haben ; einige beeilten sich (acceleration), andere blieben zurück (retardation) ; so sollen sich bei der Entstehung des Menschen der Rumpf und die vorderen Extremitäten verspätet haben, der Kopf dagegen vorangeeilt sein; die Eckzähne des Menschen blieben, ver- glichen mit anderen Zähnen in der Entwicklung zurück. Eigentümlich war Copes Ansicht über die Umwandlungen der Organismen. Nach Darwin ist zwischen der Art und der Gattung (Hausmaus — Maus) nur ein quantitativer Unterschied, d. h. ein solcher, daß die Individuen einer Art mehr gemeinsame Eigenschaften als die Arten derselben Gattung haben. Cope dagegen lehrte, den Anschauungen L. Agassiz' sich anschließend , daß ein jeder Orga- nismus besondere Art-, besondere Gattungs-, besondere Klassenmerk- male usw. besitze; infolgedessen kann sich dieselbe Art bei mehreren Gattungen wiederholen; die Entwicklung soll nicht nur in der Veränderung der Artmerkmale (unter gleichzeitiger Konstanz derjeniger der Gattung), sondern auch umgekehrt in der Veränderung der Gattungs- und Konstanz der Artmerkmale vor sich gegangen sein. Folglich ist es wahrscheinlich, »daß dieselbe Art in der Geschichte durch eine ganze Reihe von Gat- *) A. Cope, The Origin of the Fittest, New York 1887, S. 397. 2) Ibid. S. 230. 3) Ibid. S. 232. XXXII. Die Lamarckisten. 445 tungen hindurchgegangen ist und vielleicht in mehreren geologischen Perioden hintereinander lebte«1). Schreivögel und Singvögel, Dipteren und Hymenopteren sollen einen Beleg bieten: die Entwicklung geschah in der Art, daß einmal viele Gattungen der Schreivögel zugleich ihre Ordnungscharaktere verändert haben und zu Singvögeln geworden sind, unter gleichzeitiger Beibehaltung ihrer ursprünglichen Artmerkmale2). Auf ähnliche Art soll die Umwandlung der Dipteren in Hymenopteren geschehen sein. Cope nennt solche Organismenreihen, wie Schrei- und Singvögel, Dipteren und Hymenopteren, Säugetiere mit und ohne Plazenta, homologe Reihen, und die Arten derselben, welche einander entsprechen, heterologe Arten. Die klassifikatorischen Anschauungen Copes, welche unter anderem originell dem Einwand begegnen, daß die Paläontologie keine Über- gänge unter einzelnen Organismengruppen kennt, wurden bisher von zoologischer Seite nicht gründlicher analysiert3). Seine Theorien erinnern an die chemische Lehre von dem Bau der Substanzen aus Elementen , wo ebenfalls ein und dasselbe Element in die verschie- densten Verbindungen eintreten kann; Cope macht selbst auf diese Analogie aufmerksam4). Neuerdings kommen, unter dem Einfluß der de VRlESschen Lehre, viele Forscher auf diesen Gedanken. In. einer ähnlichen Art wie Cope schrieben über die paläonto- logische Entwicklung: H. S. Osborn, A. Hyatt, W. B. Scott, Waagen, M. Neumayr, G. Steinmaxx5i; von den Zoologen wird unter Cor;;s Anhänger A. S. Packard6) gezählt, von den Botanikern P. Geddes7). *) A. Cope, The Origin of the Fittest, New York 1887, S. 42. 2) Ibid. S. 95, 107. 3j Copes Ansichten stoßen noch heute auf viel Unverständnis; T. IL Morgan, ein Naturforscher von modernerer Denkart, schreibt z.B. über dieselben: >YYenn so etwas geschieht, dann sind unsere Klassifikationen nur ein Scherz, mit welchen uns die Natur zum besten hält.« (Evolution and Adaptation, S. 90.) 4) Cope, The Origin of the Fittest, S. 95. 5) H. S. Osborn, Trans. Amer. Phil. Soc. XVI, 1890. — A. Hyatt, Transfor- mations of Planorbis at Steinheim with Remarks on the Effects of Gravity upon the Forms of Shells and Animals. Proc. A. A. S. 29, 1880. — W. B. Scott, Amer. Journ. Morphol., 1891. — W. YY. Waagen, Die Formenreihe des Ammonites sub- radiatus. Beneckes geognostisch-paläontol. Beitr., 1869. — M. NEUMAYR, Die Stämme des Tierreiches I, Wien 1S89. — G. Steinmann, Die geologischen Grundlagen der Abstammungslehre, Leipzig 1908. 6) A. S. Packard, Lamarck the Founder of Evolution, London 1901. 7) P. Geddes and J. A. Thomson, The Evolution of Sex. London 1889. aa() XXXII. Die Lamarckisten. In einer loseren Beziehung zu Copes Theorie steht diejenige der Wiener Paläontologen C. v. Ettingshausen und F. Krasan1). Aus dem Studium ausgestorbener Eichen- und Buchenformen schöpfen sie die Erkenntnis, daß die phylogenetische Entwicklung der Arten nicht im Auftreten neuer, früher nicht dagewesener Formen bestehe, als vielmehr darin, daß alle spezifischen Eigenschaften (»Form- elemente« oder »Motive« nennen sie diese Autoren) aller heutigen Eichen- und Buchenarten bereits bei der Stammform derselben un- differenziert und mannigfach kombiniert vorkamen; so entwickelte jene Stammform an einem Individuum mehrere Blattformen, welche heute als Merkmal verschiedener Arten gelten. »Unbeschränkt scheint damals die Fähigkeit des einzelnen Baumes im Hervorbringen neuer Blattypen gewesen zu sein ; Erblichkeit bestand soviel wie gar nicht, und in den entferntesten Gegenden vermochte ein Baum dasselbe Formelement zu erzeugen, ohne daß es die Folge engerer Stamm- verwandtschaft sein müßte2).« Die geschichtliche Entwicklung der Eichengattung bestand nun darin, daß die ursprünglichen Möglichkeiten zu Wirklichkeiten wurden und so aus einer stark variierenden Art eine Reihe von Arten entstan- den ist, denen es jedoch an der anfänglichen Frische und Anpassungs- fähigkeit fehlt. Die »Formelemente«, d. h. die morphologischen Eigenschaften der Arten betrachten jene Autoren als unveränderlich, und nur aus der Verschiedenheit ihrer Kombinationen erklären sie die Mannigfaltigkeit der Arten, welche sie mit den Formen einer Kristallreihe (ob hexädrisch oder oktädrisch) vergleichen. Mit der Überzeugung, daß die Formelemente etwas unveränderliches und an sich Seiendes darstellen, stehen die Autoren Cope nahe; auch darin stimmen sie mit ihm überein, daß sie in der morphologischen Ähn- lichkeit keinen Beweis der Blutsverwandtschaft erblicken; wie Cope glauben sie, daß einzelne Merkmale einer Pflanze fortschreiten, andere dagegen stehen bleiben können ; daß z. B. der Übergang von Krypto- gamen zu Phanerogamen (von Lepidodendron zu Araucaria) auf die Art geschehen ist, daß sich der ursprüngliche Habitus der Urpflanze erhielt, während sich die Art der Fortpflanzung total änderte3). *) C. v. Ettingshausen und F. Krasan, Untersuchungen über Ontogenie und Phylogenie der Pflanzen auf paläontologischer Grundlage. Denkschr. Akad. Wien. Math, naturw. Kl. 57, 1890. — Beiträge zur Erforschung der atavistischen Formen an lebenden Pflanzen und ihren Beziehungen zu den Arten ihrer Gattung. Ibid. 55, 1888. 2) Ettingshausen, Untersuchungen über Ontogenie usw., S. 243. 3) Ebenda S. 259. XXXII. Die Lamarckisten. 447 Auch der Wiener Entomologe C. Brunner v. WATTENWYL er- klärte die Entwicklung der Formen mittels psychologischer Prinzipien1). Wie dem Menschen ein Streben nach Vervollkommnung innewohnt, durch welches er den Utilitarismus des täglichen Lebens überwindet, so soll auch die Natur von einem Streben nach immer höheren Zielen, einmal in der Formung, dann aber auch in der Verschönerung des Körpers geleitet werden. Dieses Streben wird von BRUNNER Hypertelie (Überzweckmäßigkeit) genannt. Er lehrt mit Cope2), daß eine Gattung der Tiere sich sprungweise in eine andere um- wandeln könne, ohne ihre Artmerkmale zu verändern. Die Art ist nach BRUNNER eine hypertelische Potenzierung der Gattung, wie er sich etwas altmodisch ausdrückt3). G. Th. Eimer. Der Tübinger Zoologe Gustav Theod. Eimer machte sich in den 90er Jahren durch seine Polemik gegen WEISMANN bemerkbar. Entwicklungstheoretische Betrachtungen hatte er bereits 1874 anzu- stellen begonnen; er studierte die auf den Felsen der Mittelmeer- länder lebende Mauereidechse (Lacerta muralis), die in Zeichnung und Färbung sehr veränderlich ist. Seine ersten Studien blieben unberücksichtigt: es war die Zeit der im HAECKELschen Sinne auf- gefaßten Stammbaum- Anatomie und der Hochschätzung mikro- skopischer Untersuchungen; Studien über die Färbung der Tiere galten für nicht exakt genug. 1888 gab Eimer ein weitschweifiges Werk über die Entstehung der Arten heraus4), dem als zweiter Teil eine Studie über die Zeichnungen der Schmetterlinge folgte. Später erweiterte er seine Theorie auch auf andere Tiere. In der Studie über die Eidechse 5) führt er aus, daß zwar alle Eidechsen die Ten- denz haben, während ihrer Phylogenese eine und dieselbe Reihe von Farben und Zeichnungen durchzugehen, daß aber verschiedene In- dividuen auf verschiedenen Stufen dieser Reihe stehen bleiben; daß z. B. die Mauereidechsen ursprünglich längsgestreift und schwarz ») C. v. Brunner, Über die Hypertelie in der Natur. Verh. d. zool. bot. Ges. Wien, 23, 1873. 2) Verh. der zool.-botan. Gesellsch. 11, 1861, S. 222. 3) »Die Spezies entsteht dadurch, daß der Organismus seiner ideellen Ausbil- dung nachstrebend, durch Hypertelie die Formen potenzierte Über die Hypertelie in der Natur. S. 138. 4) G. Th. Eimer, Die Entstehung der Arten, I. Teil, Jena 1888. 5 Derselbe, Untersuchungen über das Variieren der Mauereidechse, Berlin 1SS1. 448 XXXII. Die Lamarckisten. waren und sich (aus inneren Gründen) so entwickelten, daß die späteren Eidechsen statt der Streifen Flecke und eine hellere Farbe bekamen und die höchstentwickelten nun quergestreift und grell gefärbt sind. Man kann noch immer Beispiele für alle Stufen dieser Entwick- lung finden: an kahlen Felsen haben sich schwarze Eidechsen erhalten, welche, einem Schatten ähnlich, dem spähenden Auge der Feinde verborgen bleiben; im Gebüsch dagegen entwickelten sich grellere Farben, indem dort die Eidechsen, welche in der Entwicklung bis zu denselben fortgeschritten waren, verschont blieben. So wirkt die Naturauslese nur negativ, indem sie die nichtpassenden Formen be- seitigt. Die Farben- und Zeichnungsveränderungen erscheinen nach Eimer zuerst am Hinterkörper, um sich dann nach vorne zu verbreiten; auch sollen sie zuerst bei den (kräftigen) Männchen, später erst bei den Weibchen sichtbar werden1). In dem Werke über die Schmetter- linge2) wird derselbe Gedankengang entwickelt. Die ursprüngliche Zeichnung der Tagfalter soll in 11 Längsstreifen auf dem licht- gefärbten Flügel bestehen (unser Segelfalter, Papilio podalirius, der 10 schwarze Streifen auf dem gelb gefärbten Flügel trägt, soll nur wenig von der ursprünglichen Form entfernt sein). Aus dieser Ur- form entstanden Falter mit je später desto kürzeren Streifen, bis diese in Flecke (wie sie z. B. bei unserem Schwalbenschwanz, Pa- pilio machaon, vorkommen) zusammenschrumpften; dann verbreiterten sich die Flecke in der Querrichtung und es entstand eine dem Pa- pilio Xuthus analoge Form ; schließlich verbreiterten sich die Streifen über den ganzen Flügel in ein einfarbiges Schwarz. Die Naturzüchtung weist Eimer ebenso wie NÄGELI nur eine sekundäre Rolle zu; der Hauptfaktor der Entwicklung bestehe im Wachstum der Organismen über die Grenze der Individualität hinaus; dieses phyletische Wachstum, durch Klima, Nahrung u. a. gefördert, führe die Organismen aus konstitutionellen Ursachen auf neue For- men hin und sei folglich die unmittelbare Ursache der Variabilität, welche deshalb in einer Richtung (nicht in vielen, wie DARWIN an- nahm) vor sich geht; deshalb nennt Eimer seine Theorie »Ortho- genesis« (geradlinige Entwicklung). Eimer war zur Theorie der Orthogenesis zweifellos durch selbstän- diges Nachdenken gelangt, hatte aber nicht genug Energie, die Idee konsequent und unabhängig weiter zu entwickeln; vergeblich und ohne triftigen Grund stellte er dieselbe in Gegensatz zur Lehre NäGELIs, ') G. Th. Eimer, Die Entstehung der Arten, I. Teil, Jena 1S8S, S. 31. -) Derselbe, Orthogenesis der Schmetterlinge, Leipzig 1897. XXXII. Die Lamarckistcn. 449 welche der seinigen zweifellos sehr verwandt war; durch WEISMANNS Lehre von der Nichterblichkeit erworbener Charaktere verleitet, poin- tierte er seinen Gegensatz zu WEISMANN durch Bekämpfung dieser, für seine Grundidee nebensächlichen, ja mit ihr übereinstimmenden Lehre. Es ist ferner überraschend , daß Eimer , trotzdem er sich wiederholt auf LAMARCK und Cope beruft und ihre Anschauungen billigt, eben das Orthogenetische in ihren Theorien übersehen konnte, und nur auf den Gebrauch der Teile und auf die Erblichkeit er- worbener Charaktere als LAMARCKsche Prinzipien hinwies. Mangel an Folgerichtigkeit, Verschwommenheit und Weitschweifigkeit bilden leider die charakteristischen Merkmale der ElMERschen Schriften. Zu seinen Schülern gehören M. C. Piepers, M. von Linden, J. T. CUNNINGHAM , Ch. O. Whitmann x) u. a. Vor Eimer betonte Alfr. Taylor den Umstand, daß die Zeichnungen der Tiere und Pflanzen durch Linien bestimmt werden, welche der inneren Körper- struktur folgen2). Samuel Butler. In den 70er Jahren war die Öffentlichkeit dermaßen für Darw IN eingenommen, daß man die Anschauungen Lamarcks zwar nicht verwarf, aber für einen bloßen Versuch, für ein Anhängsel der Lehre Darwins hielt. Der erste, der den Darwinismus und den Lamarckis- mus als zwei mögliche Lösungen hinstellte, war wahrscheinlich G. Seidlitz (in einem Referat über Weismanns Anschauungen)3). In demselben Jahre trat der englische Schriftsteller Sam. Butler auf, um Lamarck als den wahren Philosophen der Entwicklung zu preisen. Sein Name wird selten in der darwinistischen Literatur erwähnt, ver- mutlich weil BUTLER, ein vielleicht etwas exzentrischer Charakter, Darwin persönlich angegriffen und ihn (gewiß mit Unrecht) irgend eines Mißgriffes beschuldigt hat. Die Darwinisten haben, wie es scheint, aus Ehrfurcht für ihren Meister Butlers Namen aus ihren Diskussionen verbannt. !) M. C. Piepers, Die Farbenevolution bei den Pieriden, Leiden 189S. — M. v. Linden, Die Flügelzeichnung der Insekten. Biol. Zentralbl. 21, 1901. — J. T. I s- NINGHAM, The Species, The Sex and the Individual. Nat. Sei. 13. 189S. — C. O. Whitmann, The Problem of the Origin of Species. Congr. of Arts and Sciences. St. Louis 1904. 2) Nach Grant Allen. Der Farbensinn. 3) Kosmos 4, 1878. S. 235. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. 29 45© XXXII. Die Lamarckisten. In der Schrift »Über Leben und Gewöhnung«, die voll origineller psychologischer Beobachtungen ist J), führt Butler aus, daß sich die phylogenetische Entwicklung als Gewöhnung an neue Handlungen erfassen lasse. Er führt zahlreiche Beispiele air, wie unser Handeln durch häufige Wiederholung automatisch wird; je besser man sich eine Kunst angeeignet hat, desto weniger ist man sich der Art, in der man sie ausübt, bewußt; dies Bewußtsein stört sogar den glatten Verlauf der Handlung: will man, ein bekanntes Stück auf dem Klavier spielend, den Fingersatz plötzlich bewußt beherrschen, wird man gewiß stocken. Ähnlich geht es nach Butler im Leben vor: wir sind an unsere Existenz so sehr gewöhnt, daß uns nicht einmal einfällt, über dieselbe nachzudenken; versucht man aber, sich derselben bewußt zu werden, beginnt man sogleich an derselben zu zweifeln, und muß erst den Satz »cogito ergo sum« entdecken, um sich derselben zu vergewissern. Man kann annehmen, daß auch viele andere Handlungen, die heute unbewußt geschehen, einmal zu einem gewollten Zwecke be- wußt ausgeführt wurden und erst infolge einer lange andauernden Übung mechanisch und unbewußt geworden sind. So haben wir z. B. die Atmung vorzüglich eingeübt; der Neugeborene macht nur einige Minuten lang unvollkommene Atmungsversuche, einem Men- schen ähnlich, der sich eines Verfahrens zu erinnern trachtet, das er früher einmal geübt hatte. Das Schlucken, Verdauen, Hören, Sehen führen wir deshalb so sicher und unbewußt aus. weil Tausende von Generationen vor uns diese Funktionen ausgeführt haben. Am meisten bewußt und unserer Kontrolle zugänglich sind spezifisch menschliche Eigenschaften: die Sprache, der aufrechte Gang, die Kunst, die Wissenschaft, zu denen erst der Mensch sich erhoben hat und welche jeder Einzelne erst einüben muß. Weniger bewußt und kontrollier- bar ist das Essen, das Trinken, das Schlucken, Atmen, Sehen, Hören, welche Funktionen bereits von den Ahnen der Menschen erworben worden sind. Am wenigsten bewußt und beherrschbar ist z. B. der von uralten Vorfahren der Wirbeltiere eingeübte Blutumlauf. Auch die embroynalen Vorgänge, z. B. das Entstehen des Hühn- chens im Ei kann man für eine Wiederholung gut eingeübter, ur- sprünglich bewußter Versuche um die Bildung von Fleisch, Knochen, Schnabel usw. erklären. Auch die Protozoen handeln gemäß be- T) Sam. Butler, Life and Habit, London 1878. Über seine Angriffe gegen Darwin vgl. E. Krause, Ch. Darwin und sein Verhältnis zu Deutschland, Leipzig 1S85, S. 185. XXXII. Die Lamarckisten. 451 wußten Zwecken, wenn sie sich Gehäuse bauen, Pseudopodien an Stellen ausstrecken, wo es eben nötig ist, Nahrung aufsuchen usf.: ihre Erfahrungen übertragen sie auf die Nachkommenschaft und so kann man sich vorstellen, daß in dieser Nachkommenschaft die Per- sönlichkeit des Urprotozoon ihre Existenz fortsetzt und sie um neue Erfahrungen bereichert; weil nun die heutige Organismenwelt von den Urprotozoen durch ununterbrochene Fortpflanzung abstammt, kann angenommen werden, daß in allen lebenden Organismen noch die Persönlichkeit des Urprotozoon fortlebt; und nicht nur sie, son- dern auch die aller späteren direkten Vorfahren, welche stets neue Erfahrungen gesammelt und so den Fortschritt der Organismenwelt verwirklicht haben. Alle Organismen, von den Einzelligen bis zum Menschen, bilden also eine im Grunde gemeinsame, später aber in viele Gedächniszentren auseinandergetrennte Persönlichkeit, welche je- doch das Bewußtsein ihrer inneren Verwandtschaft verloren hat. Das Leben eines jeden Individuums stellt also eine Wiederholung alles dessen dar, was dieses Individuum bereits billionenmal getan hat; eine Wiederholung von Handlungen, zu denen es ehemals durch eigenes Nachdenken und durch die Wirkung der Umstände geführt wurde. An diese Handlungen gewöhnte sich der Organismus so sehr, daß er sie mit größter Sicherheit und unbewußt ausführt. Wenn aber der Organismus in neue, ungewohnte Umstände gerät, wo er sich auf sein Gedächtnis nicht mehr verlassen kann, muß er mit be- wußtem Nachdenken handeln, woraus entweder Anpassung an neue Umstände oder Vernichtung erfolgt. Die Bedeutung der letzteren kann durch folgendes Beispiel veranschaulicht werden: ein Korn gerät in den Magen einer Henne, also in ganz ungewohnte Verhält- nisse; zuerst denkt es, es sei gesäet worden, und macht Vorberei- tungen zur Keimung; bald aber bemerkt es die unbekannte Umge- bung, wird verwirrt und durch den Magen zerrieben. So hatte die Henne das Korn in Verhältnisse gebracht, wo ihre Gewohnheiten über die des Kornes siegen mußten; das Korn wird verdaut, d. h. es kommt um seine Individualität und nimmt die der Henne an; es vergißt seine eigene Vergangenheit und wird in die Vergangenheit der Henne versetzt. Wenn also zwei Organismen in einen Kampf ums Leben geraten, so handelt es sich immer darum, daß der eine von dem anderen in Umstände gezwungen wird, auf welche seine Ahnen noch nicht eingerichtet waren. Es würde uns zu weit führen, wollten wir noch weiter Beispiele anführen, wie geistreich BUTLER die Analogien entwickelt: zwischen 29* 4 = 2 XXXII. Die Lamarckisten. der Erinnerung und der Ähnlichkeit unter Kindern und ihren Vor- fahren, zwischen den Gedächtnisfehlern und den Entwicklungsstörun- gen, zwischen einer plötzlichen Erinnerung an eine längst vergessene Erfahrung und den Atavismen, zwischen den Folgen der Kreuzung und der Unentschlossenheit eines Menschen, der zwei mögliche Lö- sungen einer Aufgabe vor sich sieht usf. Alle Vererbungserschei- nungen hält Butler für Erscheinungen des Gedächtnisses; aber auch die Variabilität erklärt er psychologisch: wie der Mensch nach dem Fortschritt strebt, Maschinen erfindet und vervollkommnet und dabei von anscheinend geringfügigen Beobachtungen ausgeht, von denen man anfangs noch nicht sagen kann, zu welchen Folgen sie einmal führen werden, so streben alle Organismen nach der Stillung ihrer Bedürfnisse. Durch Übung vervollkommnen sie ihre Organe, oder erlangen durch zufällige Einflüsse neue Teile, an welchen sie dann weiter arbeiten und so ihren Fortschritt bewirken. Die Naturzüch- tung hat nur eine negative Bedeutung, indem sie die unzulänglichen Versuche eines Fortschritts ausscheidet. BUTLER wußte, daß er mit seiner Anschauung Lamarck (und Erasmus Darwin) näher stand, als Ch. Darwin; er widmete eine be- sondere Schrift1) dem Beweise, daß Darwins Großvater, Lamarck und Buffon die Phylogenie besser aufgefaßt haben als Darwin. Seine psychologische Theorie wurde in England von Wallace und in Deutschland von Herm. Müller2) gebilligt; seine Angriffe auf Darwin, sowie die psychologische Grundlage seiner Theorie, die in die da- maligen Strömungen wenig hineinpaßte, hatten aber zur Folge, daß seine Ansichten totgeschwiegen wurden3). J) Evolution, Old on New or the Theories of Buffon, Dr. Erasmus Darwin and Lamarck as compared with that of Mrs. Ch. Darwin by Samuel Butler, Author of >Erewhon<, »The Fair Heaven«, »Life and Habit« etc. (Opus 4), London 1879. — Ders., Unconscious Memory (Opus 5), London 1880. 2) Kosmos 5, 1879, S. 23 sq. 3) Der Münchener Philosoph J. Frohschammer führt in seinem Werke »Die Phan- tasie als Grundprinzip des Weltprozesses, München 1877« eine Theorie aus, welche einigermaßen der BuTLERschen verwandt sein könnte; allein der Autor ist allzusehr in metaphysischen Allgemeinheiten, welchen (wenigstens in den Kapiteln über die Ent- wicklung, die ich allein gelesen habe) klare Kontouren fehlen, befangen. Er behauptet über die Vererbung : »Die Vererbung ist möglich durch die bildende reproduzierende schaffende Potenz der Phantasie, und das (reale) Erwerben vergleicht sich am meisten der Gedächtnistätigkeit, dem Einprägen, Aufbewahren und Reproduzieren. Das Er- rungene geht vor allem in die bildende Kraft ein und partizipiert dann an der pro- duktiven Potenz in Verbindung mit dem materiellen Substrate« (S. 333). XXXII. Die Lamarckisten. 453 A. Pauly, E. Hering, R. Semon. Vor kurzem trat Aug. PAULY (München) mit einer Lehre auf1), welche die Anschauungen Butlers, und selbst seine Beispiele mit den Maschinen wiederholt, ohne etwas neues hinzuzufügen; in der Schärfe der psychologischen Beobachtung erreicht Pauly seinen Vorläufer nicht. Ein kurzer Abriß der Theorie PaüLYs dürfte genügen, um ihre Analogie mit der BUTLERschen zu erweisen. Der Organismus ent- deckt im Suchen nach Verwirklichung seiner individuellen Zwecke etwas neues, arbeitet in seinen Nachkommen auf grund dieser (vererbten) Entdeckung weiter und erreicht je nach der Tauglichkeit oder Un- tauglichkeit seiner neu entdeckten Lebensgewohnheiten und Organ- anpassungen eine mehr oder weniger große Vollkommenheit. Der- jenige Seeschwamm, der zum ersten Male zum Stützen seines Körpers die Bildung von Kieselnadeln entdeckte, kam dabei auf einen Ge- danken, der sich technisch viel weniger ausnützen ließ, als die Chorda dorsalis, welche von den Manteltieren zuerst entdeckt und späterhin von den Wirbeltieren so mannigfach verwendet und vervollkommnet wurde. Das erste Tier, das die Chorda entdeckte, hatte keine Ahnung davon, was alles sich aus diesem einfachen Organ werde machen lassen; die Nachkommen jenes Tieres vervollkommneten es aber schrittweise, bis sie die feine Differenzierung des menschlichen Skeletts erreichten. Ganz ähnlich hatte der erste Mensch, der den Bernstein an seinem Kleid rieb, nicht geahnt, welche Folgen sein einfacher Versuch einmal haben werde. Ein Zweck hat sich zufällig an einen anderen gereiht, und so ist der heutige Bau der lebendigen Welt entstanden. Pauly gibt seine Hypothese für Lamarekismus aus — LAMARCKs Lehre ist es aber keineswegs; ja mit seiner Lehre vom blinden Tasten des nach vorne strebenden Organismus steht Pauly Darwin näher, dem er auch darin folgt, daß er eine ganz utilitarische Auf- fassung der Organismenwelt verteidigt: Merkmale, welche keinen Zweck haben, sollten sich nach Pauly nicht entwickeln; woher stammt dann die Einheit des Planes, die Schönheit, die Moralität, die Religion und andere offenbar »nutzlose« Dinge? 1 A. Pauly, Darwinismus und Lamarekismus. Entwurf einer psychophysischen Teleologie, München 1905. In der Schrift sind auch die Autoren angeführt, deren Ansichten Pauly für den seinieen verwandt hält. 454 XXXII. Die Lamarckisten. Wie PAULY auch sonst vieles von der Lehre seines Meisters außeracht ließ, so scheint er auch übersehen zu haben, daß LAMARCK bis zu einem gewissen Grade an den einheitlichen Organisationsplan der Organismenwelt glaubte, und erst innerhalb desselben die Zweck- mäßigkeit eine Rolle spielen ließ x). Paulys Schrift ist der Flut der modernen Abhandlungen entstiegen, welche nur durch Dialektik, durch ein gewandtes Wort die biologi- schen Probleme lösen wollen; sie unterscheidet sich zwar von den heute zum täglichen Brot gehörenden »Einleitungen in die Biologie«. »Vitalismen und Mechanismen«, »Kausalproblemen und Teleologien« und wie sonst die schwungvollen Titel lauten, durch frischen Stil und eine originelle Kritik des Darwinismus, gehört aber sonst in die- jenige Kategorie von Werken, welche einen Gedanken auf vielen Seiten ausspinnen, und die Tatsachen nicht zu einer größeren Ver- tiefung des Problems verwenden, sondern, da sie sich im Vorhinein über alles klar sind, nur als Belege anführen, und so den Leser trotz aller stilistischen Vorzüge bald ermüden. — Der Physiologe Ewald Hering hat noch vor Butler auf die Analogie zwischen der Entwicklung des Körpers und der Seele hin- gewiesen2); während aber für Butler jene Ähnlichkeit eine Ent- deckung, eine neue Tatsache war, faßte sie Hering als bloße Konse- quenz der Lehre Fechners auf, daß das psychische und das materielle Leben nur zwei Seiten eines und desselben Geschehens darstellen. Es besteht ein großer Unterschied zwischen zwei scheinbar ähnlichen Ge- danken, von welchen der eine als Erkenntnis, der andere als Fol- gerung auftritt: die Erkenntnis ist lebendig, unabhängig, entspringt direkt aus der Anschauungskraft der Seele und man fühlt instinktiv, daß an ihr etwas Wahres sein müsse; die Konsequenz ist dagegen ein blasser Reflex der Wirklichkeit, ohne eigene Wurzeln, nur logisch an eine andere Lehre gebunden und zeugt mehr von Geschicklichkeit als von Ursprünglichkeit. Hering schließt wie folgt: die Reizung ruft im Organismus vorerst die Reaktion hervor, läßt aber auch in seinem molekularen Gefüge eine dauernde Veränderung, eine Spur zurück, so daß, wenn sich dieselbe Reizung ein anderesmal wiederholt, die Reaktion etwas anders J) Über Pauly vgl. G. Wolff, Die Begründung der Abstammungslehre, München 1907, wo auch der Vitalismus Paulys verworfen wird. 2) E. Hering, Über das Gedächtnis als Funktion der organischen Materie, Almanach Akad. Wien, 20, 1870 (s. auch Ostwalds Klassiker Nr. 148). XXXII. Die Lamarckisten. 455 als das erstemal verläuft. Da der Organismus seit Beginn seines Bestehens fortwährend den Einwirkungen der Reize ausgesetzt ist, welche stets neue Spuren in dessen innerer Struktur hinterlassen, kann man ihn als Summe aller materiellen, seit dem Anfange seines Lebens sich häufenden Veränderungen betrachten ; nach den psycho- physischen Grundsätzen besteht nun die objektive Seite des subjek- tiv im Bewußtsein sich abspielenden Gedächtnisses in nichts anderem, als eben in solchen fixierten Veränderungen der Lebenssubstanz in- folge wiederholter Reizungen; folglich kann man das Gedächtnis für die Grundeigenschaft des Organismus und seine körperlichen wie geistigen Veränderungen für Folgen des Gedächtnisses erklären. Über Herings Theorie wurde in den siebziger Jahren viel ge- schrieben; trotzdem faßte sie keinen festen Boden, da sie wesentlich nichts anderes als eine Verwechslung der Worte »Gedächtnis« und »Erwerben neuer Eigenschaften« bot und die eigentlichen Probleme wie des psychischen so des materiellen Lebens unberücksichtigt ließ. Sie sieht im Leben nur passive Reproduktion des Erlernten, des Er- worbenen; sie lehrt, daß die Phantasie nur in der Summe von Er- innerungsbildern, der Organismus nur in der Summe der erworbenen Merkmale besteht; sie übersieht das eben für den Organismus und für die Seele Charakteristische: daß der Organismus nach einer be- stimmten Idee gebaut ist und daß die Phantasiebilder bestimmte Formen haben: diese Idee, diese Formen werden aber durch den Organismus selbst hervorgebracht und erfolgen nicht durch Sum- mierung der Reize. Herings Theorie kann leicht zu einer Hypothese der Entwicklung der Organismen erweitert werden; dieser Schritt wurde neuerdings auch getan : RlCH. Semon r) versuchte den verfallenden Darwinismus dadurch zu retten, daß er ihn nach Herings Beispiel psychologisch umdeutete und für die psychologischen Begriffe des Gedächtnisses, der Erfahrung, der Erinnerung, der Assoziation usw. materielle Ana- logien aufsuchte, für die er dann, der heute leider so üblichen Rich- tung folgend, neue Namen vorschlug. So soll das Wort »Mneme« die Summe alles vom Organismus und von seinen Ahnen Erworbenen, das Wort »Engramm« eine einzelne materielle Veränderung infolge eines Reizes bedeuten. Diese Worte erschweren bedeutend das Lesen des Werkes, da man genötigt ist, sie erst in die gewöhnliche psv- *) Rich. Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig, 2. Aufl. 1906. 4 SO XXXII. Die Lamarckisten. chologische Sprache zu übersetzen, um sich von ihrem Inhalt eine anschauliche Vorstellung zu machen. Semons Werk wurde vielfach (auch von orthodoxen Darwinisten) mit Interesse aufgenommen x) ; man kann sich daraus ein Urteil über die kritische Lage des Darwinismus bilden2). Von älteren Biologen behauptete Wilh. V. Reichenau in seiner Studie über die sekundären Geschlechtscharaktere, daß sich die Ent- wicklung der organischen Formen nur psychologisch , nur als Folge des Willens und einer daraus resultierenden Wahl von seiten des Tieres begreifen lasse, und wies auf Lamarck (und auf W. ROUX) hin, welche in dieser Richtung die Lösung des Entwicklungsproblems gesucht haben3). A. Schopenhauer und E. v. Hartmann. A. Schopenhauer befaßte sich viel mit biologischen Problemen; exakte Angaben, Phantasien und Wunderlichkeiten wechseln in bunter Reihenfolge in seinem Werke ab, dessen Grundidee des metaphy- sischen Willens eng mit den Erscheinungen des instinktiven Lebens und folglich mit der Biologie zusammenhängt. Es lohnt sich noch heute (und besonders heute) der Mühe, seine Erörterungen über die Erscheinungen des Willens im Tierreiche4), über Naturphilosophie und Naturwissenschaft, über den Geschlechtstrieb usf. zu lesen: der Neolamarckismus, sofern er nicht nur eine gedankenlose Reaktion gegen Darwin darstellt, besitzt in SCHOPENHAUER seinen eigensten Philosophen. x) So von A. Forel im Arch. Rass. Biol. 1906 und teilweise von L. Plate in seinem Selektionsprinzip, 1908, S. 334. 2) Daß Semons Theorie keiner lebendigen Anschauung einer Wirklichkeit ent- sprang, ist u. a. daraus zu sehen, daß er ihr die abgenutzte Hypothese der Ver- erbung erworbener Eigenschaften zur Grundlage legte ; man vergleiche übrigens die Kritik des Werkes bei H. Driesch, The Science and Philosophy of the Organism, London 1908, I, S. 216 sq. 3) W. v. Reichenau, Über den Ursprung der sekundären männlichen Geschlechts- charaktere, insbes. bei den Blatthornkäfern. Kosmos 10, 1881, S. 172 sq. — Aus psychologischen Gründen nimmt auch R. H. France Lamarcks Lehre an; vgl. seine Schriften: Der heutige Stand der DARWiNschen Fragen, 2. Aufl., Leipzig 1907. Grundriß einer Pflanzenpsychologie als einer neuen Disziplin induktiv forschender Naturwissenschaft. Zeitschr. für den Ausbau der Entwicklungslehre I. 4) Die aktuellste Bedeutung hat vielleicht Schopenhauers Artikel »Über den Willen in der Natur«, wo unter anderem über das Verhältnis zwischen Organ und seiner Funktion, über die vergleichende Anatomie u. a. diskutiert wird. XXXII. Die Lamarckisten. 157 Über Darwin hat sich SCHOPENHAUER nur in einem Briefe (ab- lehnend) ausgesprochen1), auch das Mechanistische an LAMARCKs Theorie verurteilte er in scharfen Worten 2) ; mit überraschendem Ver- ständnis für den Kern des Problems verwarf er die Phylogenie über- haupt und stellte ihr gegenüber GEOFFROYs Ideal auf, die Lehre von der Einheit des Planes3). SCHOPENHAUERS Schüler, Ed. V. HARTMANN, strebte nach einer noch innigeren Verknüpfung der Philosophie mit der Wissenschaft, ohne aber Inkonsequenzen, deren man auch bei seinem Lehrer in Fülle antrifft, vermieden zu haben. Hartman x führt den »meta- physischen« Begriff des »Unbewußten« als SCHOPENHAUERS Willen plus Vorstellung und als Grund des Geschehens ein; er geht dabei von bewußten Handlungen des Menschen aus und beweist, daß es auch außerhalb des Bewußtseins fallende und doch nicht wesens- fremde Vorgänge gibt, welche mit dem uns im Bewußtsein als Vor- stellung Bekannten das gemein haben, daß sie wie jene einen idealen Inhalt besitzen; er weist hin auf die Embryonalentwicklung, auf die Heilung der Wunden, auf die Erscheinungen des Instinktes, auf die Reflexwirkungen, welche insgesamt den bewußten Handlungen des Menschen analog, wenn auch unbewußt sind. Andererseits stimmt aber Hartmann mit den Verehrern der Materie überein, daß die Atome den wahren Kern des Geschehens darstellen; diejenigen, die an die Seele glauben, versichert er wieder, daß das Psychische keines- wegs eine Folge der Materie, sondern ebenso ursprünglich wie diese sei4). Er lobt das Bestreben der Naturforscher, die Lebenskraft und den Bildungstrieb aus der exakten Wissenschaft zu verbannen, denn »die Wissenschaft soll nur der Erforschung der mechanischen Ursäch- lichkeit nachgehen« ; aber die aus der Wissenschaft vertriebene Lebens- kraft nimmt er in die Metaphysik auf, wo er sie zum Willen macht, der alle blinden Bewegungen beherrscht5). J) Schopenhauer las einen ausführlichen Auszug aus Darwin in der Times; »darnach ist es keineswegs«, schreibt er, »meiner Theorie verwandt, sondern platter Empirismus, der in dieser Sache nicht ausreicht : ist eine Variation der Theorie de : v Marcks«. Schopenhauers Briefe, Reclam, S. 384. A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (Reclam;, S. 201. Ibid. S. 203, Ed. Hartmann behauptet irrtümlich, daß sich SCHOPENHAUER aus- drücklich für Lamarck erklärt hätte; Schopenhauer lobt nur die lanuirckistische Lehre, daß der Wille der Grund der Organisation sei; seine genetische Philosophie verwirft er dagegen; vgl. Über den Willen in der Natur [Reclam), S. 243. 4 E. v. HARTMANN, Das Unbewußte vom Standpunkte der Physiologie und Des- zendenztheorie, 2. Aufl., Berlin 1S77. S. III. 5) Ibid. S. 482. 458 XXXII. Die Lamarckisten. Den Standpunkt einer solchen Versöhnung zwischen Philosophie und Wissenschaft vertrat Hartmann auch der DARWiNschen Lehre gegenüber; ihr Grundgedanke zog ihn an, auch war er in der bio- logischen Literatur genügend belesen und besaß Verständnis für die Einwendungen KöLLIKERs, WlGANDs, NÄGELls, ElMERs : mit Hilfe der in denselben enthaltenen Elemente baute er eine scharfsinnige Kritik der DARWiNschen Lehre auf: das blind-mechanische im Darwinismus verwirft er; »der Kampf ums Dasein und mit ihm die ganze natürliche Zuchtwahl ist nur ein Handlanger der Idee, der die niederen Dienste bei der Ver- wirklichung jener, nämlich das Behauen und Anpassen der vom Bau- meister nach ihrem Platz im großen Bauwerk bemessenen und typisch vorherbestimmten Steine, verrichten muß, . . . « ') er tritt für ein inneres Entwicklungsgesetz, ein Korrelationsgesetz des Organismus ein, dessen äußere Faktoren die Selektion, die geschlecht- liche Zuchtwahl usf. darstellen; die Teleologie bilde die Grundlage, auf welcher erst der Mechanismus möglich ist2). Hartmanns biologische Erörterungen wurden von den Natur- forschern abfällig kritisiert; wie hätte auch seine Metaphysik vom Dar- winismus angenommen werden können, der es sich doch zum Verdienste anrechnete, alle Metaphysik aus der Welt geschafft zu haben? Die Zweideutigkeit seiner Philosophie bemängelte ebenso der Darwinist Ose. Schmidt3), wie der Idealist A. WiGAND4). Unzufrieden mit dem Inhalt dieser Kritiken, gab Hartmann selbst eine Kritik seiner Anschauungen anonym heraus, und die Darwinisten (HAECKEL, Seid- litz, Schmidt, DU Prel) spendeten dem anonymen Werke Beifall. Es ist begreiflich, daß dieses Experiment, als es als solches bekannt wurde, Hartmann bei den Darwinisten wenig Wohlwollen einbrachte. Erst in der neuesten Zeit, wo sich wieder Verständnis für die Theorie der Lebenskraft kundgibt, wird seine Philosophie von einigen Forschern (von H. Driesch z. B.) empfohlen. Wer eine philosophische und zu- gleich populäre Schilderung der biologischen Probleme in vitalistischem Geiste sucht, dem werden Hartmanns Schriften manchen Genuß be- reiten, besonders wenn er nicht vergißt, daß sie zu einer Zeit ver- faßt wurden, als der Glaube an Kraft und Stoff Triumphe feierte. J) E. v. Hartmann, Ergänzungsband zur i. — 9. Auflage der Philosophie des Unbewußten, Leipzig 1889, S. 403. 2) Ibid. S. 451 sq. 3) O. Schmidt, Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Philosophie des Un- bewußten, Leipzig 1877. 4) A. WiGAND, Der Darwinismus usw., Braunschweig 1875 — 76. XXXII. Die Lamarckisten. 4c g Andere Neolamarckisten. Unter dem Namen Neolamarckismus werden sehr verschiedenartige Theorien mitverstanden; vielfach werden hierher auch solche Forscher gezählt, die nur ganz gelegentlich, in der Einleitung zu einem Werke, oder in einer Rede, für LAMARCK im allgemeinen oder für eine seiner Ideen eingetreten sind, deren wissenschaftliches Streben sich aber sonst in einer ganz anderen Richtung bewegt. Sofern es möglich war, wurde ihrer bei anderen Gelegenheiten Erwähnung getan; hier sei nur der Vollständigkeit wegen angeführt, daß mehrere Biologen deshalb als Lamarckisten gelten, weil sie die Funktion für ursprüng- licher als das Organ erklären; so der französische Physiologe E. MAREY1), der Begründer der Entwicklungsmechanik W. Roux u. v. a. Andere werden deshalb für Lamarcks Anhänger ausgegeben, weil sie sich für eine innere und direkte Anpassungsfähigkeit der Organismen an die Bedingungen der Umgebung ausgesprochen haben. Hierher gehören z. B. die Botaniker E. Warming, R. V. Wettsteix, Jul. Sachs, W. Pfeffer, G. Henslow, der Zoologe VV. Haacke, der Embryologe ROULE, die Anatomen W. Roux, C. Rabl, C. Sem- PER, die Paläontologen E. Koken, O. Jaeckel u. a.2). Wieder andere Forscher werden unter die Lamarckisten gerechnet, weil sie sich für die Vererbung der erworbenen Eigenschaften er- klärten: E. Strasburger, E. Haeckel, H. Spexcek, Brown- Se- quard, A. Giard, E. Perrier, A. Packard, C. Semper, M. Kasso- witz, G. Romaxes u. a.3). T) E. J. Marey, Le transformisme et la physiologie experimentale. Revue sei.. 2. ser., 4. 2) E. Warming, Lehrbuch der ökologischen Pflanzengeographie, Berlin 1896. — R. v. Wettstein, Der Neolamarckismus und seine Beziehungen zum Darwinismus. Vortr. 74. Vers, deutsch. Xaturf. u. Arzte (Karlsbad;, Jena 190S. — Derselbe, Über direkte Anpassung. Sitzungsber. Wien. Akad. 1902. — Jul. Sachs, Physiologische Notizen, Marburg 1898. — W. Pfeffer, Die Umwandlung der Arten, ein Vorgang funktioneller Selbstgestaltung. Verh. naturw. Verein, Hamburg 1894. — G. HENSLOW, The Origin of Floral Structures by Insect and other Agencies, London 1895. — Roule, Embryologie generale III, S. 302 sq. — E. Koken, Paläontologie und Des- zendenzlehre, Jena 1902. — O. Jaeckel, Über verschiedene Wege phylogenetischer Entwicklung. Verh. 5. Intern. Kongr. Zool., Berlin 1901. — W. HAACKE, Gestaltung und Vererbung, Leipzig 1893. — W. ROUX, Der Kampf der Teile im Organismus, Leipzig 1881. — C. Raul. Über die züchtende Wirkung funktioneller Reize, Leipzig 1904. — C. SEMPER, Die natürlichen Existenzbedingungen der Tiere, 2 Teile. Leipzig 1880. 3) E. Strasburger, Ein Beitrag zur Kenntnis von Ceratophyllum submersum und phylogenetische Erörterungen. Jahrb. f. wiss. Botanik, 37, 1902. — E. Haeck: l. i5o XXXIII. Das genetische Denken in der Botanik. XXXIII. Das genetische Denken in der Botanik. Schon Wiiewell weist in seiner Geschichte der induktiven Wissen- schaften darauf hin, daß sich die Botanik jederzeit ruhiger, gerad- liniger entwickelt hat, als die Zoologie, infolge größerer Einfachheit der Pflanzeneigenschaften; sie eilte auch mit ihren Theorien der Zoologie voran: die Zoologen dagegen, welche in den mannigfaltiger geformten Tieren einen mehr verschiedenartigen Gegenstand ihres Nachdenkens hatten, verliehen den Theorien einen tieferen und plastisch mehr durchgearbeiteten Sinn. So wurde zwar die biologische Systematik von LlNNE auf Grund des Pflanzenstudiums begründet, aber der Zoologe CüVIER vertiefte sie durch Anatomie. Die Morphologie wurde durch Goethes Pfianzenmetamorphose zu einer theoretischen Wissenschaft erhoben, aber erst durch die von Zoologen eingeführten Begriffe der Homologie und Analogie erhielt sie einen plastischeren Inhalt. Der Botaniker Schleiden hat die genetische Philosophie in Deutschland eingeleitet: der Zoologe Haeckel gab ihr Tiefe und Breite. Dieselbe Erscheinung wiederholt sich jetzt in dem Verfall der genetischen Spekulationen : der Botaniker J. Sachs war der erste, der die experimentelle Richtung in Deutschland förderte, aber erst die Zoologen W. Roux und H. Driesch erhoben diese Methode zu einer philosophischen Wissenschaft. DARWINS Auftreten wirkte auf die Botaniker nicht anders als auf die Zoologen: auch in der Botanik wurden Studien über die Zelle, Theorien über unsichtbare Körperchen im Protoplasma, mechanische Erklärungen der Zellteilung, Vererbungshypothesen u. ä. gang und gäbe. Wigand, Nägeli, J. Sachs, Celakovsky, Strasburger bezeichnen die Hauptströmungen, in welchen sich das Denken der Botaniker nach Darwin bewegte. Ganz rechts stand Alb. Wigand, der treu den alten vordarwinischen Anschauungen, den Darwinismus a limine Anthropogenie, 4. Aufl., Leipzig 1901. — H. Spencer, Principles of Biology, 2. ed. London 1898 (Appendix;. — Bkown-Sehuard, Heredite d'une affection due ä une cause accidentelle. Faits et arguments contre les explications et les critiques de Weismann. Arch. Physiol. 24, 1892. — E. Perrier, La philosophie zoologique avant Darwin, 2. ed., Paris 1886; vgl. auch sein Vorwort zu der französischen Obersetzung von Romanes Instinct and Intelligence of Animab. — A. Packard, Lamarck etc., London 1901. — M. Kassowitz, Allgemeine Biologie, 3 Vols., Wien 1899. — G. Romanes, Darwin and after Darwin, 2 Vols., Chicago 1892—93. — Andere Literatur über die Neolaraarckisten wird bei Packard, Pauly, Detto und anderen bereits angeführten Autoren zitiert. XXXIII. Das genetische Denken in der Botanik. 46 I verwarf. L. CELAK« >VSKY blieb zwar noch Morphologe, und eman- zipierte sich nicht gänzlich von den Anschauungen der BkAUXschen Richtung, aber die Phylogenie nahm er an; Ed. STRASBURGER1} er- gab sich ganz der neuen Theorie und trug, ähnlich wie in der Zoologie WEISMANN, zum Aufblühen der Spekulationen über die Zelle bei: Nägeli war wohl für Darwin, neigte aber mehr zu einer physio- logischen Auffassung der Entwicklung, und J. SACHS unterstützte konsequent diese Richtung. L. Celakovsky erwies sich besonders in seiner Hervorhebung der Monstrositäten, die zufällig an Asten, an Blättern und besonders an Blütenteilen vorkommen, als Schüler der idealistischen Morphologie: in den Monstrositäten sah er Offenbarungen von sonst latenten Homo- logien, und befolgte bei ihrer Analyse dieselbe Methode, der sich Geoffrüv, Meckel und andere Morphologen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedient haben; nur leitete er aus den Homo- logien Beweise für phylogenetische Verwandtschaften der Pflanzen ab. Die Entwicklung der Pflanzenwelt stellte er sich wie folgt vor2): Aus den Uralgen, die wahrscheinlich durch Urzeugung entstanden sind, entwickelten sich verschiedene Ordnungen der heutigen Algen, aber auch die Urmoose, welche wieder einmal die Stammform für die heutigen Moose, ferner für die Urkryptogamen abgaben: die letzteren differenzierten sich in die heutigen Farne, Schachtelhalme und Bärenlappen; aus den Farnen sollen die Rhizokarpeen, aus den Bärenlappen die Selaginellen und aus einigen heterosporen Vorfahren der letzteren die Nacktsamigen abstammen, von welchen sich einige zu höheren Phanerogamen entwickelten. Diesen Stammbaum der Pflanzenwelt baute CELAKOVSKY, wie die Zoologen, vorwiegend auf den morphologischen Eigenschaften auf. und der Paläontologie schrieb er bloß eine sekundäre Bedeutung zu. Besonderen Nachdruck legte er dagegen auf die embryologischen Eigenschaften, wie es auch bei den Zoologen der Fall war; besonders das Abwechseln einer geschlechtlichen und einer ungeschlechtlichen Generation, welches eine stufenartige Vervollkommnung von Algen zu Moosen, Farnen, Zykadeen und Phanerogamen zeigt, galt ihm für 1 E. Strasburoer, Über die Bedeutung phylogenetischer Methoden für die Er- forschung lebender Wesen. Jenaische Zeitschr. 8, 1S74. Über Stka-wrgers mor- phologische Anschauungen ist bereits berichtet worden. 2) Celakovsky entwickelte seine darwinistischen Anschauungen in /erstreuten Abhandlungen, die er 1894 in einem tschechisch geschriebenen Werke gesammelt herausgab. 462 XXXIII. Das genetische Denken in der Botanik. höchst bedeutsam für die Phylogenie. Auch einzelne Organe stellte er in phylogenetische Reihen zusammen: er dachte über die Ent- stehung der Blätter, Sprosse und Trichome (welche den Idealisten als morphologische Grundorgane galten), indem er diese Gebilde von den undifferenzierten Anfängen bei den Algen und einfachsten Moosen bis zu den höchsten Phanerogamen verfolgte. Solche phylogenetische Spekulationen wurden zwar auch von anderen Botanikern, von Ed. Strasburger und Jul. Sachs gepflegt1), und finden noch heute ihre Verehrer (z. B. den Paläontologen D. H. Scott), ohne sich aber im allgemeinen zu jener Bedeutung zu er- heben, die ihnen von den Zoologen zugeschrieben wurde. Die Ab- neigung gegen den orthodoxen Darwinismus zeigte sich bald in der Vorliebe der Botaniker für die Annahme eines polyphyletischen Ur- sprunges der Pflanzen, bald durch eine größere Betonung der Physio- logie. Jene tiefe Kluft, die zwischen der Morphologie und der Physiologie der Tiere im 19. Jahrhundert gähnte, erweiterte sich in der Botanik niemals so bedeutend, da die Pflanze durch ihre Form bei weitem nicht so auffallend wie das Tier charakterisiert ist, sondern mehr ihre Funktionen in Betracht kommen: das Blatt einer diko- tyledonen Pflanze ist dem einer monokotyledonen sowie dem einer kryptogamen ähnlich ; selbst die Moose und die Algen haben manch- mal Gebilde, welche den Blättern sehr ähnlich sehen — weil sie einer ähnlichen Funktion (der Assimilation und der Atmung) dienen; bei den Tieren wird dagegen die Funktion von der Form überwunden, wie es an den Unterschieden der Bewegungsorgane der Säugetiere, der Fische, der Mollusken, der Echinodermen, der Medusen, der Infusorien zu sehen ist, wo überall die Form in die Augen fällt und von einer Gruppe zur anderen sich auffallend ändert, während die Funktion analog bleibt. Dieser Unterschied bestimmte die Entwicklung der neuen Botanik. Während in der Zoologie der Darwinismus zu einer phylogenetisie- renden Morphologie, zu einer Lehre von Körperteilen wurde, in welche man bestimmte Funktionen hineindachte, betonte man in der Botanik von Anfang an die konkreten physiologischen Ursachen der Formen. Jul. Sachs leitete diese Richtung ein: obwohl Anhänger der Entwicklungstheorie, bekämpfte er scharf die alte, die »scholastische« Morphologie; mit Schleiden und NÄGELI vertrat er die Überzeugung, *) Stammbäume der niedersten Pflanzen stellt neuerdings noch J. P. Lotsy auf (Vorträge über botanische Stammesgeschichte, Jena 1907). XXXIII. Das genetische Denken in der Botanik. 45^ daß die kausalen Zusammenhänge das Hauptziel der wissenschaftlichen Forschung darstellen ; in konsequenter Verfolgung dieser Idee fragte er aber weniger nach der Geschichte, als vielmehr nach den aktuellen Ursachen der Formen, welche er einerseits in der inneren Organi- sation, andererseits in der experimentell ermittelbaren Wirkung der Außenwelt auf die Pflanze zu finden glaubte. Die auf letztere Art entstandenen Strukturen nannte er im aligemeinen Mechanomor- phosen; so z.B. sollen die verschiedenartigen Blattgebilde (der Algen, der Moose und der höheren Pflanzen) durch die Wirkung des Lichtes entstandene Mechanomorphosen darstellen; unter den Mechano- morphosen unterschied er wieder Photomorphosen,Barymorphosen usw. Auch andere Botaniker folgten dieser Richtung und bemühten sich, durch Versuche zu ermitteln, wie sich die Formen unter den variablen Einflüsse der Außenwelt verändern; so S. SCHWENDENER, der die mathematische Auffassung der spiraligen Blattstellung durch eine mechanistische Lehre ersetzte, nach welcher die Blätterspirale durch den gegenseitigen Druck der am Sproßende wachsenden Anlagen verursacht wird ') ; so HERM. VöCHTING, der in zahlreichen Versuchen die Pflanze künstlich zur Bildung der Wurzeln, der Blätter, der Schuppen usw. an im voraus bestimmten Stellen zwang2) und durch die Resultate seiner Untersuchungen zur Bekämpfung der Präforma- tionslehren und der Keimplasmatheorien geführt wurde; so der Physiologe W. PFEFFER, der die Pflanzenphysiologie unabhängig vom Darwinismus auf die Lehre vom Kraft- und Stoffwechsel zurückführte3). In neuerster Zeit wird die experimentelle Richtung von G. Klebs und K. Goebel fortgesetzt. Insbesondere wurde Karl Goebel zum Vertreter der Richtung, o 7 welche sich von der Morphologie abwendet, indem er auch die von Sachs beibehaltenen Ideen von einer inneren Organisation (an welcher erst die Anpassungserscheinungen zur Darstellung kommen) verwarf. Während Sachs die Organisation als etwas durch sich selbst Be- stehendes, von physiologischen Wirkungen Unabhängiges ansah4) und als Beispiel derselben z. B. die Heterosporie, die Samenbildung betrachtete, will GOEBEL für die Pflanze nur den physiologischen 1 S. SCHWENDENER, Mechanische Theorie der Blattstellung. Leipzig 1S7S. 2) H. VöCHTING, Über Organbildung im Pflanzenreich, 1S78. 3) W. PFEFFER, Pflanzenphysiologie. Leipzig 1897. 4) J. Sachs. Physiologische Notizen VIT. Mechanomorphosen und Phylogenie 1S04 . S. 99. Sachs schreibt zwar an dieser Stelle nicht direkt über die Organisation, son- dern über die Entstehung der Ähnlichkeiten, worunter er aber nur die Formen- analogien versteht, welche auf dasselbe wie Organisation hinausgehen. 1 64 XXXIII. Das genetische Denken in der Botanik. Maßstab anerkennen und nennt die auf dieser Hervorhebung der Physiologie aufgebaute Botanik (nicht ganz zutreffend) Organogra- phie1). Als die idealistische Richtung herrschend war, hielt man die Morphologie für einen Gegensatz zur Physiologie; die letztere sollte die Funktionen, die erstere die von den Funktionen unabhängigen Formen zum Gegenstande ihres Studiums haben. Aber diese grund- sätzliche Unterscheidung erklärt Goebel, sich auf Darwin und Spencer berufend, für unrichtig. Überall bedingt die Struktur zu einem bedeutenden Grade die Funktion, und überall bewirken die Funktionen fortwährend Formveränderungen. Die Pflanze ist aus Organen, d. h. aus Werkzeugen für bestimmte Funktionen zusammen- gesetzt, und diese Organe im Zusammenhange mit ihren Funktionen müssen studiert werden. Die Darwinisten haben zwar dieses PostulatT die Morphologie durch die Physiologie zu absorbieren, angedeutet, keineswegs jedoch durchgeführt; in ihrer Praxis blieben sie in der alten Morphologie stecken. Indem sie nach der Stammesgeschichte der Pflanzenwelt forschten, waren sie in dem Wahne befangen, daß die Pflanzenformen an sich Bedeutung haben, und verglichen und in Stammbäume geordnet werden müssen. Diese Stammbäume ge- währen aber keine Einsicht in die Ursachen, warum die Ent- wicklung in der Weise geschah, wie es behauptet wird; sie sind viel- mehr nur Reihen von abstrakten Formen, wie sie bereits von den älteren Morphologen zusammengestellt wurden, nur daß man ihnen jetzt die Hypothese einer historischen Entwicklung zugrunde legt. »Die Bedeutung phylogenetischer Fragestellung soll nicht geleugnet werden, aber die Resultate, welche sie gezeitigt hat, glichen doch viel- fach mehr den Produkten dichterisch schaffender Phantasie als denen exakter, d. h. mit sicheren Beweisen arbeitender Forschung«2). Goebel zweifelt auch nicht, »daß die Konstruktionen der alten Morphologie doch vielfach festeren Boden unter den Füßen hatten, als die modernen Spe- kulationen über primitive Formen«3). Deshalb will Goebel seine neue Wissenschaft, die Organographie eingeführt haben. Die Entwicklung bleibt auch für Goebel der Leit- stern; der historischen Entwicklung gegenüber betont er aber das sichtbare Entstehen und Umbilden der Organe: das Experiment bildet die neue Methode, und die Erforschung der unmittelbaren x) K. Goebel, Organographie der Pflanzen, Jena 1898. — Derselbe, Die Grund- probleme der heutigen Pflanzenmorphologie. Biol. Zentralbl. 25, 1905. z) Die Grundprobleme, S. 82. 3) Ibid. S. 73. XXXIII. Das genetische Denken in der Botanik. Ursachen der Formen ist das Ziel. GOEBEL veranschaulicht seinen Gedanken an der Metamorphose eines Blattes: GOETHE und seine Zeit stellten sich vor, daß es ein gewisses Ideal des Blattes, also ein bloß gedachtes Schema desselben gebe, und daß die verschiedenen Blattgebilde (die Staubfäden, die Kronenblätter, die Laubblätter, die Schuppen usf.) eine konkrete Offenbarung jenes Ideales seien. Die Phylogenetiker änderten diese Auffassung nur insofern, als sie die genannten Formen in eine Reihe zusammenstellten, der sie historische Bedeutung zuschrieben: aus dem Laubblatte habe sich das Kronenblatt und später der Staubfaden entwickelt. Die Metamorphose muß aber nach GOEBEL anders aufgefaßt werden. Der Idee des Blattes kommt für sich keine Existenz zu ; es gibt nur wirkliche Blattgebilde, welche einander nicht deshalb ähnlich sehen, weil sie etwa Manifestationen eines allgemeinen Planes sind, und auch nicht aus dem Grunde, daß die einen durch historische Umwandlung der anderen entstanden wären — sondern deshalb, weil heute die einen aus den anderen ent- stehen. Eine Schuppe, welche statt des grünen Ahornblattes entsteht, ist deshalb ein Blattgebilde, weil sie an der Schwelle ihrer Embryonal- entwicklung ebenfalls ein Blatt gewesen war; die Veränderung ihrer Funktion hatte aber zur Folge, daß einige Teile des embryonalen Blattes unterdrückt, andere entwickelt wurden; so entstand eine in ihren Grund- zügen ähnliche, in ihrer speziellen Ausführung verschiedene Form. Es ist die Mannigfaltigkeit der Funktionen, welche bewirkt, daß sich dieselbe embryonale Anlage in verschiedene Organe entwickelt. Auf diese Weise ersetzt GOEBEL die formale Auffassung der Organismen durch eine genetische. Der Morphologie spricht er jede wesentliche Selbständigkeit ab: Morphologisch ist das«, schreibt er1), »was sich physiologisch noch nicht verstehen läßt.« Gui BELs Ansichten sind aus mehreren Gründen beachtenswert. Sie bilden das Extrem der physiologischen Auffassung der Organis- menwelt, die sich heute überall bemerkbar macht; sie bilden auch den Abschluß des durch Darwin eingeleiteten Gedankenganges, daß die Lebensweise die Ursache der Formen sei; sie stehen auf einem Stand- punkte, der demjenigen der Morphologie ganz entgegengesetzt ist, welche in der Form das Absolute suchte, während GOEBEL die Funktion für das Wichtigste erklärt: sie stehen der aristotelischen Philosophie nahe, wie die Morphologie dem Piatonismus verwandt *) Die Grundprobleme, S. S2. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. 30 466 XXXIV. Die Lehre von der Individualität. war. Endlich sind auch seine Worte »physiologisch verstehen« inter- essant; es sind dies Worte, durch welche die Darwinisten alles aus ihrer Wissenschaft vertrieben hatten, das sich nicht erklären, sondern nur beschreiben läßt; während aber die Darwinisten alles durch die Phylogenie und die Mechanik der Atome »erklärten«, erklärt Goebel alles durch die Physiologie. XXXIV. Die Lehre von der Individualität. Eines der tiefsten Probleme der Wissenschaft von den Organis- men ist das Individualitätsproblem ; nicht ohne Grund stellte es Leib- NIZ, als er sich in einen (wohl nicht genug gründlichen) Gegensatz zu der mechanistischen Philosophie des Descartes setzte und ihm gegenüber wieder die Aktivität des Lebens betonte, in der Form der unteilbaren und unwandelbaren Monade in den Mittelpunkt seiner neuen Weltanschauung. Der Begriff des Individuums wurde von altersher mit dem des Organismus in nächste Beziehung gesetzt. Zwar gibt es Individua auch in der anorganischen Natur: nennt man so Dinge, welche nicht geteilt werden können, ohne in ihrem Wesen zerstört zu werden, so sind auch ein Stein, ein Molekül, eine Maschine Individuen, denn geteilt verändern sie ihre ursprüngliche Wesenheit, indem der Stein seine Form, das Molekül seine chemische Zusammensetzung, die Maschine ihre Zweckmäßigkeit verliert. Die Individualität der Organismen steht jedenfalls höher; sie offenbart sich in deren Entwicklung, in der Organisation des Körpers, in der Nahrungsaufnahme, in dem Kampfe gegen die Einwirkungen der Außenwelt, in psychischen Erscheinungen, überhaupt in dem beweg- lichen Leben. Ihr charakteristisches Merkmal ist es ferner, daß sie sich vermehren, d. h. periodisch wiederholen kann, und schließlich, daß sie aus einer Hierarchie von übereinander und nebeneinander gestellten niederen Individualitätsstufen besteht. Das Individuelle eines Regenwurms z. B. erscheint erstens darin, daß er eine räumlich und zeitlich abgeschlossene Einheit bildet; er hat ferner eine Form und Struktur, indem er innerlich aus hetero- genen, aber nach einem einheitlichen Plane zusammengestellten Teilen besteht; auch in der Zeit ist er gesetzmäßig entwickelt, indem er sich in einem bestimmten Rhythmus aus dem Ei entwickelt, eine Reihe von Formzuständen durchläuft und schließlich abstirbt; die Indivi- dualität des Regenwurms wiederholt sich periodisch, indem er Eier XXXIV. Die Lehre von der Individualität. 467 legt, aus welchen neue Individuen entstehen; der Regenwurm ist ferner aus niederen Individualitätsstufen, wie den Körpersegmenten, den Organen, den Zellen usw. zusammengesetzt; seine Individualität zeigt sich ferner darin, daß er bis zu einem gewissen Grade Gefahren auszuweichen weiß, und daß er verlorene Körperteile regenerieren, seine Bewegungen zu bestimmten Zwecken koordinieren kann usw. Die Morphologen der ersten Hälfte des ig. Jahrhunderts haben sich vielfach mit dem Problem der organischen Individualität be- schäftigt. ALEX. Braun schloß mit dessen Analyse seine Lehre von der Pflanzenmetamorphose ab1): als einfachstes Pflanzenindividuum faßte er die Zelle auf, welche, sich durch Teilung verjüngend, ent- weder auf derselben Individualitätsstufe bleibt oder zu höheren Stufen sich erhebt, indem sie (bei den Phanerogamen) den Sproß, d. h. einen Teil des Astes mit dem zugehörigen Blatte bildet; die Pflanze als höchste Individualitätsstufe ist folglich aus soviel Individuen zu- sammengesetzt, als sie Blätter angelegt hat. Manchmal wechseln bei einer Pflanze mehrere Individualitätsgrade in einem Zyklus ab; so keimt bei der Bohne aus dem Samen ein Individuum mit saftigen Blättern (Kotyledonen), aus welchem eine Reihe von grünen Laub- blattindividuen (der Stengel) erwächst; aus den Blattachsen kommt eine dritte Reihe von Individuen, der Blütenstand mit den Stützblättern hervor, worauf sich die letzten und höchsten Individuen, die Blüten entwickeln. Der Gedanke einer Hierarchie der Pflanzenindividualitäten gestattete Braun, auch bei Tieren nach Analogien zu suchen; er fand sie in dem von J. J. Steenstrup2) entdeckten Generationswechsel der Medusen, wo aus freischwimmenden Larven als erste Individualitäts- stufe ein festsitzender, einer Korallenkolonie ähnlicher Stock entsteht, an welchem als zweite Stufe geschlechtsreife, freischwimmende Me- dusen knospen. Rud. LEUCKART3) betonte wieder die Analogie zwischen der Pflanzenmetamorphose und dem Körperbau der Siphono- phoren, deren gallertiger Körper aus mehreren Individuen niederen Ranges zusammengesetzt ist, welche, innerlich nach demselben Plan ge- baut, nach außen recht verschieden aussehen, indem eines der Nahrungs- *) Al. Braun, Betrachtungen über die Erscheinung der Verjüngung in der Natur usw., 1849—50. ! J. J. S. STEENSTRUP, Über den Generationswechsel usw., Kopenhagen 1S4:: (übersetzt aus dem Schwedischen . R. Lluckakt, Über den Polymorphismus der Individuen und die Erscheinung der Arbeitsteilung in der Natur, Gießen 185 1. 3°* .^68 XXXIV. Die Lehre von der Individualität. aufnähme, das andere der Reproduktion, das dritte der Lokomotion usw. angepaßt ist. Noch einen anderen Begriff leitete man aus der Lehre von der Individualität ab: das Wesen des Individuums besteht darin, daß seine Eigenschaften einen spezifischen Charakter haben, daß sie kein Aggregat sind, sondern so zueinander passen, daß man von der einen auf jede andere schließen kann. Man betrachte z. B. die Katze: alles an ihr zeugt davon, daß sie ein Nachtraubtier ist, welches im Sprunge seine Beute erhascht: ihre Augen, ihre vor- streckbaren Klauen, ihr leichter Schritt, ihre Triebe, welche sie bereits als Kätzchen offenbart; ihr Gehirn muß der Leitung der für sie charak- teristischen Bewegungen, ihr Gebiß dem Ergreifen der Beute, ihr Verdauungssystem der Fleischverdauung angepaßt sein; alles an ihr muß harmonisch zusammenarbeiten. Wir wissen, oder wir ahnen wenigstens, was der Harmonie des Katzenorganismus einen Sinn gibt 7 wir mutmaßen auch, daß es der leichte Flug ist, was den Körper und das Leben der Schwalbe charakterisiert; daß es das Leben im weiten, kalten Meere ist, was die Walfischform erklärt: in anderen Fällen läßt sich das Wesen dieses oder jenes Tieres nicht einmal in dieser allgemeinen Fassung andeuten. Wir sehen aber trotzdem, daß jeder Organismus ein individuelles Gepräge hat; die Giraffe scheint durch ihren ganzen Körper, durch ihren Kopf, ihre Zunge, ihren Hals, ihre Füße, ihren schrägen Rücken die Länge anzudeuten; das segmentierte Insekt besitzt nicht nur einen gegliederten Körper, son- dern auch gegliederte Füße, Fühler, ja sogar gegliederte Augen. Vor DARWIN waren Betrachtungen dieser Art selbstverständlich, und Cuvier, Geoffroy, Goethe, Jussieu, Decandolle sannen in dieser Richtung über die Tierformen nach. Namentlich waren solche Betrachtungen in bezug auf den Menschen üblich ; man nannte ihn ein Vernunftwesen, ein ethisches, religiöses, soziales Wesen und man wies nach, wie seine Vernunft auch seinem Körper einen besonderen Charakter verleiht, indem nicht nur das Gehirn ihr dient, sondern auch die Hand, der Fuß, das Auge, der aufrechte Gang mit der höheren Bestimmung des Menschen zusammenhängen. CuviER gab dieser Vorstellung der Individualität eine konkrete Fassung. Die Tatsache, daß zu einem bestimmten Kopf ein ganz bestimmter Rumpf gehört und zu diesem ganz bestimmte Gliedmaßen usf., nannte er Korrelation der Formen und erfolgte dieser Auf- fassung, als er aus einzelnen Knochen ausgestorbener Tiere auf die Beschaffenheit ihres ganzen Körpers schloß. Ähnliche Gedanken be- schäftigten auch Goethe und Geoffroy. XXXIV. Die Lehre von der Individualität. 460 Im Darwinismus fand die Individualitätsichre keinen Anhalt, denn es gehörte zum Grundprinzip der DARWINschen Theorie, daß alle Naturobjekte sich voneinander nur quantitativ unterscheiden, und daß der Organismus nur eine Summe seiner Eigenschaften bildet, während das Wesen des Individuums gerade umgekehrt im Qualita- tiven und in der Einheitlichkeit, welche die Teile zu einem Ganzen verbindet, besteht. Durch HAECKELs Einfluß, der hierin noch den Spuren der älteren Morphologie folgte, hielt sich, wenn nicht der Begriff der Individua- lität, so doch der Name auch fernerhin in der Biologie. Wie die Morphologen, so berücksichtigte auch Haeckel keine andere Indi- vidualität als diejenige, die sich im Bau des Körpers offenbart. Wohl stellte er einen Unterschied zwischen morphologischen und physiologischen Individuen auf; die ersteren definierte er als eine1) -einzelne organische Raumgröße, welche als vollkommen abgeschlossene Formeinheit unteilbar ist und welche in diesem ihren Wesen nur als eine in einem bestimmten Zeitmomente unveränderliche erkannt werden kann«. »Das physiologische Individuum (Bion) ist eine einzelne organische Raum- größe, welche als zentralisierte Lebenseinheit der Selbsterhaltung fähig und zugleich teilbar ist und welche wegen der mit diesen Funktionen verbundenen Bewegungen nur als eine in verschiedenen Zeitmomenten veränderliche erkannt werden kann.« Nach diesen Begriffsbestimmungen könnte man schließen, daß er das physiologische Individuum höher als das morphologische stellt; aber schon die Tatsache, daß er auch das Wesen des physiologischen Individuums in der Form sucht, weist auf das Übergewicht seiner strukturellen Anschauung hin; Haeckel hat auch tatsächlich das physiologische Individuum nicht weiter analysiert, und machte nur die morphologischen Eigenschaften zur Grundlage seiner Lehre von der Individualität. Er stellte folgende Individualitätsstufen auf: Zelle, Or- gan, Antimere (ein Seitenorgan des bilateral symmetrischen Körpers, wie z. B. die rechte Hand, das linke Auge), Metamere, oder ein Seg- ment des längs seiner Achse gegliederten Körpers; Person, Cormus2). Aber nur die Zelle vermochte einigermaßen das Recht zu behaupten, als wahre Lebensindividualität zu gelten, obgleich auch ihr Ruhm im Glänze der Atome, Eiweißmoleküle und verschiedener hypothetischer Lebensteilchen, der letzten vermeintlichen Lebenseinheiten, verblaßte. x) E. Haeckel, Generelle Morphologie, S. 265, 266. ) Ibid. S. 264. Eine andere Einteilung der tierischen Individualitäten führte E. Haeckel in seiner Abhandlung »Über die Individualität des Tierkörper;-<. Jenaische Zeitschr. 12, 1S78 ein. 470 XXXIV. Die Lehre von der Individualität. Die übrigen Individualitätsstufen werden zwar in Lehrbüchern ange- führt, üben jedoch keinen Einfluß auf das biologische Denken aus. Nach Haeckels Beispiel unterscheidet man heute folgende Indivi- dualitätsstufen , unter denen jedoch keine scharfen Grenzen gezogen werden1). i. Zelle. 2. Vielzellige Wesen, welche man in Zellenkolonien, Syn- cytia und Metazoen teilt; die ersteren sind Zellgruppen, in denen eine jede Zelle auch für sich leben und eine neue Kolonie hervor- bringen kann (z, B. Volvox); die Syncytia sind aus zusammengeflossenen Zellen gebildet, wo die Grenzen zwischen einzelnen Zellen verwischt sind; die Metazoen sind vielzellige Wesen von bestimmter innerer Struktur und Differenzierung der Zellen. 3. Personen bilden entweder eine freiere Verbindung von gleichartigen Individuen (Korallen), oder eine engere Vereinigung von strukturell verschiedenartigen Individuen (Siphonophora). Einige Philosophen unterscheiden noch die Gesellschaften, welche aus Individuen verschiedener Herkunft, die nur psychisch zu- sammenhängen, bestehen2). TÖNNIES unterscheidet hierin Gemein- schaften, wenn die Individuen von denselben Eltern abstammen, und Gesellschaften, wo es nicht der Fall ist3). Als besondere Fälle der Verbindung mehrerer Lebenseinheiten zu einem Ganzen kann man ferner anführen: die Symbiose, deren Beispiel die Flechten liefern, Pflanzenindividuen , welche aus zweierlei Orga- nismen zusammengesetzt sind, die nur durch ihre Lebensweise zu- sammenhängen: aus Pilzen und Algen, von welchen die einen wie die anderen auch für sich allein leben können. Es gehören hierher ferner verschiedene Arten von Parasitismus, wo auch zweierlei Individuen zu einem Ganzen verbunden werden, und eine Reihe an- derer Erscheinungen, wo zwei körperlich ganz selbständige und auch durch ihren Ursprung verschiedene Individualitäten nur durch ihre Lebensweise aufeinander angewiesen sind. J) O. Hertwig, Allgemeine Biologie, Jena 1896, S. 373 sqq. 2) J. Demoor, J. Massart, J. Vandervelde, L'evolution regressive en biologie et en sociologie, Paris 1897. 3) K. Möbius nennt »Lebensgemeinde« (Biocönose) die in einem und demselben Milieu (z. B. im Teiche) lebenden Tiere, wobei nicht nur ihre Arten, sondern auch die Verhältniszahlen der Individuen entscheidend sind. Vgl. darüber Friedr. Dahl, Die Ziele der vergleichenden Ethnologie. Verh. d. V. Inter. Kongr. Zool. Berlin 1901, S. 296 sq., wo auch die Literatur zu finden ist. XXXIV. Die Lehre von der Individualität. 471 Unter den Entwicklungsmorphologen erfreute sich die Lehre von der Körpersegmentation, wie sie z. B. beim Regenwurm vorkommt, einiger Aufmerksamkeit; man unterschied unscgmentierte Tiere, wie den Spulwurm oder die Muschel , bei denen sich kein wesent- liches Organ längs der Körperachse wiederholt; die segmentierten Tiere teilte man wieder in mehrere Gruppen ein: 1. Bei einigen, sonst einheitlichen, wiederholen sich nur einzelne Organe, wie bei dem Wurm Gordius und bei Chiton (Gasteropode). Bei dem letzteren ist die Gliederung durch die Segmentation seiner Schale angedeutet, bei Gordius durch ein segmentiertes Nervensystem. Man gab dieser Gliederung den Namen Pseudometamerie. 2. Der Körper des Bandwurms ist aus ganz gleichartigen und eines selbständigen Lebens fähigen Segmenten zusammengesetzt, bis auf das erste, das Kopf heißt und spezifisch gebaut ist; trotzdem bildet erst die Vielheit dieser Segmente einen vollständigen Band- wurm. Diese Gliederungsart heißt Strobilation von der Strobila, dem Larvenzustand einiger Medusen, wo die einem Kelch ähnliche Larve sich senkrecht zu ihrer vertikalen Achse in Glieder teilt, welche durch Sprossung entstehen, sich von der Larve ablösen und zu frei- schwimmenden geschlechtsreifen Medusen werden. Auch bei dem Bandwurm entstehen neue Segmente durch Sprossung aus dem Kopf- glied. 3. Die eigentliche Gliederung (Segmentation, Metamerie) findet sich z. B. bei den Gliederwürmern, wo der Körper in Segmente geteilt ist, von denen ein jedes eine ziemlich vollständige Einheit bildet; zum Unterschied von dem Bandwurm bildet hier der Körper ein abgeschlossenes Ganze von einer bestimmten Anzahl Segmente. 4. Eine noch höhere Stufe bildet die differenzierte (heteronome) Segmentation, welche bei den Insekten vorkommt, wo der Kopf, die Brust und der Hinterteil aus wesentlich ähnlichen Segmenten zu- sammengesetzt sind, aber die Kopfsegmente anders als die Rumpf- segmente und diese wieder anders als die Bauchglieder aussehen. 5. Ihre höchste Stufe erreicht die Gliederung bei den Wirbel- tieren , deren Körper im Grunde zwar gegliedert ist (wie am Rück- grat zu sehen , äußerlich jedoch ein so einheitliches Ganzes bildet, daß die Segmentation kaum bemerkbar wird. Über die Bedeutung der Segmentation des Körpers haben die Schüler Gkoffrovs nachzudenken besronnen; im Darwinismus wurde sie genetisch gedeutet: man untersuchte, welche Gliederungsart ein- facher, welche zusammengesetzter ist, und stellte demnach einen 472 XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. Stammbaum der Segmentation auf: einige hielten die Strobila, andere die Pseudometamerie der niederen Würmer für den historischen An- fang der Körpergliederung. Als die darwinistische Morphologie ver- fiel, verflüchtigte sich auch die Teilnahme an diesem interessanten morphologischen Problem. Mit dem Niedergang des Darwinismus stellte sich wieder ein leb- hafteres Verständnis für das Problem der organischen Individualitat ein. Indem man das Zweckmäßige am Organismus betont, wird man unwillkürlich auf die Idee der Einheitlichkeit des Lebewesens, welche zu einem Zwecke harmonisch zusammenarbeitet, geleitet; indem man sich in das Studium der Regenerationserscheinungen vertieft, findet man, daß sich* hinter der fertigen Struktur des Organismus noch etwas Aktives verbirgt, das die zerstörte Struktur neuzubilden vermag; in- dem man über den Einfluß der Seele auf die Gestaltung und die Lebensweise des Organismus wieder philosophiert, lernt man das Einheitliche in demselben als etwas über dem Räume und der Zeit Stehendes erkennen. In den Theorien des H. DriesCH, von welchen später berichtet werden soll, erreichen diese neuen Ideen über die Individualität den Höhepunkt1). XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. Darwins Angriff auf die Konstanz der Arten scheiterte; nur seine unbedingten Anhänger (HAECKEL, SCHLEIDEN, O. SCHMIDT, W. CARPENTER) nahmen die Folgerung, daß es keine Arten über- haupt gibt, an, und nur Haeckel und Carpenter versuchten diesen Gedanken auch praktisch durchzuführen, ohne aber einen dauernden Erfolg zu erzielen2). Sonst glauben zwar die Darwinisten theoretisch an eine innere Berechtigung der Arten nicht, entdecken aber prak- tisch neue Arten wie früher; so hat auch seinerzeit BUFFON gegen LlNNE ausgeführt, daß es keine natürlichen Arten und Gattungen und keine höheren Gruppen gebe, und dennoch von den Vögeln in einer anderen Abteilung seines Werkes, als von den Säugetieren, vom *) Die philosophische Analyse des Individualitätsproblems findet sich bei H. Driesch, The Science and Philosophy of the Organism, London 1907 — 08, 2 Vols. 2) E. Haeckel, Die Kalkschwämme, Berlin 1872. — W. B. Carpenter, W. P. Parker, R. Jones, Introduction to the Study of the Foraminifera, London 1862. — Vgl. auch den Vortrag H. M. Bernards auf dem 5. intern. Zool. Kongr. Berlin 1901. S. 891 sq. und die Diskussion dazu. XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. 473 Pferde in einem anderen Artikel, als vom Esel usw. geschrieben. Die Darwinisten beriefen sich auf die Astronomie; obwohl vielleicht kein einziger Stern am Himmel stille steht, spricht der Astronom trotz- dem von Fixsternen, weil ihre Bewegung fast unmerklich ist: auch die Variabilität einer Art soll gewöhnlich so gering sein, daß man sie praktisch übersehen dürfe. Über die höheren Sippen, über Gattungen, Familien, Ordnungen dachte man weniger nach, weil man die alte Auffassung, nach wel- cher ein jeder Organismus bestimmte Art-, bestimmte Gattungs- usw. Merkmale hatte, für absolut undenkbar erklärte; wenn jemand, wie Cope, einen solchen Gedanken aussprach, wurde er nicht beachtet; man widmete seine Aufmerksamkeit nur Betrachtungen über die Art. Gewiß gibt es Arten in der Natur: ein jeder, der einmal die Hausmaus, den Apfel, den Menschen gesehen hat, wird sie wieder erkennen. Worin liegt aber das Wesen einer Art? LiNNE, der die Art entdeckt hat (er hatte wohl seine Vorläufer), nahm an, daß sie in der Summe der äußeren Merkmale, wie z. B. in der Größe, der Farbe, der Form der Teile, der Anzahl der Zähne, der Staubfäden usf. bestehe. Seine Nachfolger verloren sich in dergleichen trockenen Aufzählungen der für bestimmte Organismen charakteristischen Merkmale. Cuvier erfaßte die Art tiefer: ihm bildete sie die Ein- heit der anatomischen Eigenschaften; wie das Dreieck nicht nur eine Zusammensetzung von Längen und Winkeln, sondern eine bestimmte Einheit derselben darstellt, so sind nach CüVIER auch die Organe, die die Sippen der Tiere charakterisieren, keineswegs nur disjeeta membra, sondern verbinden sich zu einer harmonischen Einheit. Als Anatom achtete CüVIER bei seinen Untersuchungen nur auf die ana- tomischen Eigenschaften, obwohl er im allgemeinen keineswegs be- stritt, daß zu der Charakteristik einer Art auch physiologische Merk- male heranzuziehen wären. DARWIN und seine Schüler bekämpften CuviERs Auffassung der Art; sie bevorzugten jedoch ebenfalls die Anatomie und kehrten auch sonst zu Linne zurück, indem sie gleich ihm in der Art nur die Summe ihrer Eigenschaften erblickten. Doch ist die Art weder durch bloße Aufzählung der Eigen- schaften charakterisiert, noch genügt es, nur die anatomischen Merkmale in Betracht zu ziehen ; die Lebensweise z. B. pflegt nicht nur bei einer Art, sondern auch bei höheren Gruppen konstant zu sein: die Namen Raubtiere, Raubvögel, Hyänen, Nachtigall, Eulen rufen nicht nur die Vorstellung körperlich so und so beschaffener Tiere hervor, sondern erinnern auch daran, daß die Raubtiere sich / v 474 XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. vom Fleische anderer Tiere nähren (und wieder jagen die Katzen ihre Beute anders, als die hundeartigen Tiere, und wieder anders die Hyänen); die Eulen sind Nachtvögel, die Nachtigall zeichnet sich durch ihren schönen Gesang aus; die Ameisen sind nicht nur durch Adern in ihren Flügeln und durch Höcker an ihren Segmenten, sondern auch durch ihr gesellschaftliches Leben charakterisiert. Ja selbst ein so unfaßbarer Umstand, wie die Verhältniszahl der Ge- schlechter, bildet für jede Art eine konstante und folglich charak- teristische Eigenschaft. Und zweitens: es ist nicht die Reihe dieser Merkmale, sondern ihre Einheit, welche erst jede Art bestimmt. Es ist also die Art Löwe eine ideale, trotzdem aber wirklich vorhan- dene Einheit, ebenso wie ein Viereck, oder die Gravitation nur Ab- straktionen, und doch ganz real sind: eine Einheit von anatomischen, physiologischen, embryologischen, psychologischen u. a. Merkmalen. Damit ist aber die Eigenartigkeit des Artbegriffes nicht erschöpft. Es ist eine, nur für die Organismenwelt charakteristische Eigentüm- lichkeit desselben, daß ein Individuum nicht eine volle Realisation der Art zu sein pflegt, sondern daß sich erst mehrere ungleichartige Individuen zu einer Art ergänzen. Erst ein Männchen und ein Weib- chen, erst die Raupe mit dem Schmetterling, erst mehrere Rassen usf. zusammen bilden eine Art. Diese Fälle sollen im folgenden aus- führlicher besprochen werden. Das Geschlecht. Vergebens suchten die Philosophen nach anderen Erscheinungen, sei es der toten, sei es der lebendigen Natur, die dem Verhältnis des Männchens zum Weibchen analog wären, welche beide sowohl ihrem Körper, als auch ihren Funktionen und ihrer Seele nach ein in sich geschlossenes Ganze zu bilden scheinen, und doch erst zu- sammen eine Einheit darstellen. Man unterscheidet folgende Stufen der geschlechtlichen Differenzierung: a) Geschlechtslose Wesen, zu welchen die Mehrzahl der Pilze, alle Bakterien und einige Algen gehören. b) Wesen, welche nur physiologisch geschlechtlich sind, wo zwei scheinbar gleiche Individuen sich zum Zeugungsakt vereinigen. Doch schon in diesem Falle pflegt (bei einigen Algen) der Unterschied zwischen der q1 und der Q Zelle auch dem Auge bemerkbar zu sein. Die geschlechtlich sich vermehrenden Wesen sind bei weitem die zahlreichsten; sie sind entweder Zwitter, wenn beide Geschlechter in einem Individuum vereinigt sind, oder getrennten Geschlechtes. XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. 4.75 c) Die Zwitter pflegen so beschaffen su sein, daß ein Individuum sich selbst befruchten kann und auch befruchtet. Besonders die kleistogamen Blüten mancher Pflanzen (unscheinbare Blüten, die sich nicht öffnen und z. B. bei dem Veilchen neben den gewöhnlichen Blüten vorkommen) befruchten sich selbst. d) Dagegen gibt es Zwitter, wo jedes Einzelwesen für sich ein doppeltgeschlechtliches Ganze bildet und doch zwei Individuen sich zur Befruchtung vereinigen, wie es z. B. bei der Mehrzahl der pha- nerogamen Pflanzen der Fall ist, bei denen der Pollen einer Blüte auf das Pistill einer anderen übertragen wird. Bei zwittrigen Tieren scheint die gekreuzte Befruchtung die Regel zu sein und erst, wenn sie unmöglich wird, tritt die Selbstbefruchtung ein. e) Es gibt ferner Zwitter, wo zwar ein jedes Individuum zweierlei Geschlechtsorgane hat, die aber so differenziert sind, daß die männlichen Geschlechtsorgane eines Individuums an die weiblichen eines anderen und umgekehrt angepaßt sind. So gibt es z. B. bei dem Himmels- schlüssel (Primula) zweierlei Blüten; in den einen stehen die Staub- fäden höher als das Pistill, in anderen umgekehrt; eine erfolgreiche Befruchtung findet statt, wenn der Pollen von den niederen Staub- fäden auf das niedere Pistill und von den höheren auf das höhere übertragen wird. Auch sonst werden die Zwitter zu einer gekreuzten Befruchtung genötigt; so wenn die einen Geschlechtsprodukte (tf oder Q ) früher als die anderen reif werden : so reifen bei der Linde in jeder Blüte die Staubfäden früher als das Pistill, bei der Aristolochia umgekehrt; auch bei einigen zwittrigen Mollusken und Manteltieren kommt Analoges vor. f) Darwin entdeckte, daß einige zwittrige Cirripedien (kleine, festsitzende Krebse) noch besondere kleine und parasitisch an den Zwittern lebende Männchen haben; bei den Myzostomiden (Gruppe von eigenartigen Würmern) verhält es sich ebenso; es gibt auch mehrere Pflanzenarten, welche neben zwittrigen Blüten noch beson- dere, entweder nur Staubfäden (Gallium cruciatum) oder nur Pistille (Melde) einschließende Blüten entwickeln. g) Endlich gibt es Organismen getrennten Geschlechtes, bei wel- chen das Männchen und das Weibchen zwei selbständige Individuen sind. Sie ergänzen jedoch einander nicht nur durch die Struktur und die Funktion der Geschlechtsorgane, sondern auch durch ihr Temperament: das Männchen ist immer aktiv, aggressiv, beweglich und sucht das Weibchen auf, welches weniger beweglich und passiv ist. Dieser Grundunterschied entwickelt sich manchmal weiter, so 476 XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. daß sich q? und Q noch durch sog. sekundäre Geschlechts- charaktere, d. h. durch andere als direkt dem Geschlechtsakt dienende Eigenschaften unterscheiden. Zu denselben gehören der Bart, die reichere Körperbehaarung, die größere Kraft des Mannes; die Männ- chen pflegen vollkommenere Sinnes- und Lokomotionsorgane zu be- sitzen und bunteres Gefieder, Geweih und andere Verzierungen zu tragen, können besser singen, haben eigentümliche Duftorgane — die Schönheit der Tiere besteht oft in besonderer Entfaltung dieser sekundären Geschlechtscharaktere1). Auch die Blüten der diözischen und monözischen Pflanzen unterscheiden sich oft voneinander durch andere Eigenschaften als nur durch ihre Geschlechtsorgane; ja bei der Orchideengattung Catasetum sind die, einem offenen Schlangen- rachen ähnlichen Blüten so verschiedenartig, daß man sie für drei verschiedene Gattungen gehalten hat: Catasetum wurden die männ- lichen, Monachanthus die weiblichen, Myanthus die zwittrigen Blüten genannt. Mit der Erscheinung, daß das Geschlecht als zwei, durch ihr äußeres und durch ihre Lebensweise oft sehr voneinander ab- weichende Individuen auftritt, ist die Mannigfaltigkeit der sexuellen Differenzierung keineswegs erschöpft. h) Bei den gesellschaftlich lebenden Insekten, bei den Bienen, den Ameisen, den Termiten sind nur einzelne Individuen geschlechtlich entwickelt; andere, wie z. B. die Arbeiterinnen unter den Bienen, haben verkümmerte Geschlechtsorgane und sind auch äußerlich anders gebaut, als die vollkommenen Individuen. Dabei pflegen (wie es bei den Bienen der Fall ist) drei, in anderen Fällen aber noch mehr Individuentypen vorzukommen; A. Forel unterscheidet2) bei einigen Ameisen zehn verschiedenartige Individuen, welche erst zusammen eine Art bilden. i) Bei anderen Insekten kommt das eine Geschlecht in einer, das andere wieder in zwei verschiedenen Formen vor; so hat der Schmet- terling Papilio merope ein Männchen, aber mehrere verschiedene Weibchen; es gibt Wespen (einige Chalcididae), welche ein Weib- chen, aber zwei verschiedene Männchen aufweisen. j) Endlich sei auf die bereits erwähnte Eigentümlichkeit des Ge- schlechtsverhältnisses hingewiesen, daß für jede bestimmte Art und 1 Die Übersicht der sekundären Geschlechtscharaktere findet sich bei L. Plate. Bedeutung des Selektionsprinzips, 2. Aufl., Leipzig 1904. 2) A. Forel, Über Polymorphismus und Variation bei den Ameisen. Zool. Jahrb. Suppl. 7, 1904. XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. jede bestimmte Rasse das numerische Verhältnis zwischen Männchen und Weibchen konstant ist. Im Bereiche der phylogenetischen Spekulationen sind nicht viele Erörterungen über das Wesen des Geschlechtes zu finden; Darwin befaßte sich ausführlich nur mit den »sekundären Geschlechtscharak- teren«, und deshalb wurde von den Darwinisten nur deren Ursprung in Erwägung- gezogen. Im Zusammenhange mit den Erörterungen über das Wesen des Geschlechtes pflegt auch die Frage aufgeworfen zu werden, ob das männliche oder das weibliche Geschlecht mehr fortgeschritten ist. Bekanntlich behauptete ARISTOTELES, daß das Weib einen niederen Typus darstelle als der Mann. Auch Darwin hält das weibliche Geschlecht meistens für weniger entwickelt, als das männliche, und ihm folgen darin auch viele andere1). Nach v. KENNEL stellt das weibliche Geschlecht sogar einen degenerierten Typus dar. indem das Ovarium, welches viel Nahrung verbraucht, das Wachstum an- derer Organe behindert2). Nur vereinzelte Forscher sprachen sich auch für das Weibchen als höheren Typus aus; so Tu. H. MONT- GOMERYj welcher diesen Gedanken folgendermaßen stützt: i. Die Männchen pflegen in ihrer Gesamtorganisation öfters de- generiert zu sein, als die Weibchen: so die verkümmerten Männchen der Rotatorien, des Wurmes Bonellia, der Cirripedien; wogegen bei den Weibchen nur einzelne Organe zu verkümmern pflegen (wie z. B. die Flügel mancher Insektenweibchen). 2. Die Zwitter sind gewöhnlich protandrisch , d.h. das Sperma reift früher, also auf einem niederen Entwicklungsstadium, als die Eier. 3. Die Weibchen der meisten Wirbellosen leben länger, als die Männchen, sind größer, besitzen kompliziertere Geschlechtsorgane und ihnen liegt die Pflege um die Nachkommenschaft ob; das muß als eine höhere Stufe der Entwicklung betrachtet werden, ungeachtet der Tatsache, daß die Männchen vollkommenere Sinnes-, Bewegungs- und Kopulationsorgane besitzen. Die Männchen der Wirbeltiere haben regelmäßig einen einfachen Urogenitalgang, während bei den Weibchen zwei gesonderte Gänge vorhanden sind. Die sekundären Geschlechtscharaktere sollen keine 5) Ch. DARWIN, Abstammung des .Menschen (1SS3 , S. 2 1 z v. KENNEL, Der sexuelle Dimorphismus bei Schmetterlingen und die Ursache desselben. Sehr, naturw. Ges., Dorpat 1896. 478 XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. große Bedeutung haben, da sie nach den phylogenetischen Theorien neue Erwerbungen darstellen. Während sich also einige Naturforscher für den Vorrang der Männchen und nur wenige Stimmen für den der Weibchen erklärten, suchten die Eiferer für weibliche Emanzipation auch in der Biologie nach Gründen für ihre Annahme, daß das Weib auf derselben geistigen Stufe stehe, wie der Mann. In einer Zeit, wo das Intellektuelle am Menschen betont wird, scheint die letztgenannte Ansicht die zahl- reichsten öffentlich auftretenden Fürsprecher gefunden zu haben1). Polymorphie. Der Mensch ist zuerst Ei, dann Embryo, Kind, Jüngling, Mann, Greis, und der Name Mensch bezieht sich nicht auf einen von diesen Zuständen, sondern auf die Einheit von allen. Diese in der Zeit ent- wickelte Mannigfaltigkeit der Formen ist wieder für die Organismen charakteristisch: zwar kann z. B. auch das Wasser bald kalt, bald warm sein, kann als Wassertropfen, als Schnee, Eis, Dampf in Er- scheinung treten, hat aber keine notwendige Entwicklungsfolge; es kann, muß sich aber nicht verändern, und kann dies in zwei Rich- tungen, während es einem Tier nicht möglich ist, in der Entwicklung stehen zu bleiben oder gar umzukehren. Es ist also der Organismus in eine in der Zeit aufeinander- folgende Reihe von Formen entwickelt, die eine aus der anderen ent- stehen. Einzelne Entwicklungsstadien pflegen so abgerundet zu sein, daß sie ein Ganzes für sich bilden und infolgedessen wird das Leben zu einer Kette von mehr oder weniger deutlich abgerundeten Phasen. Auch bei den Menschen findet sich diese Erscheinung angedeutet: der Embryo führt im Uterus der Mutter ein Leben, welches durch die Geburt scharf vom Leben des Kindes getrennt ist. Im allge- meinen unterscheidet man folgende Fälle von Umwandlungen während der Entwicklung : a) Entwicklung ohne Metamorphose; so entsteht bei der Eidechse in dem Ei der Embryo, der als kleine Eidechse, welche sonst der erwachsenen ähnlich ist, die Eihüllen verläßt. b) Entwicklung mit Metamorphose, wie z. B. bei den Fröschen. Der Embryo wird zur Kaulquappe, die einige Zeit im Wasser lebt, *) Über die geschlechtliche Differenzierung der Tiere handelt J. T. Cunningham, Sexual dimorphism in the animal kingdom, London 1900. XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. 47g und sich dann in den sowohl der Form als auch der Lebensweise nach unähnlichen Frosch verwandelt. c) Beim Generationswechsel (Metagenesis) wechseln zwei Lebensperioden ab, wobei die eine aus der anderen nicht durch Um- wandlung entsteht, sondern aus ihr geboren wird. Der Generations- wechsel kommt bei den Moosen und den höheren Kryptogamen vor: der geschlechtslose Farn lebt und vermehrt sich auf seine Art als ein Ganzes; in gewissen Perioden oder unter gewissen äußeren Bedingungen bildet er Sporen, aus welchen ein geschlechtliches und anders aussehendes Pflänzchen wächst, welches wieder nach der Be- frachtung Eier bildet, aus denen das ungeschlechtliche Pflänzchen keimt. Dieser Erscheinung ähnelt einigermaßen die Vermehrung der Infusorien. E. Maltas beobachtete, daß sich die Infusorien ungeschlechtlich (durch Teilung) eine Reihe von Generationen hin- durch vermehren, worauf wieder eine geschlechtliche Kopulation zwischen zwei Individuen zur Auffrischung des Lebens nötig ist. Bei niederen Pflanzen wechselt die geschlechtliche und ungeschlechtliche Vermehrung nach verschiedenen Regeln. d) Heterogonie nennt man den Generationswechsel, wo alle Generationen geschlechtlich sind. Der parasitische Wurm in der Froschlunge (Rhabdonema) gebiert nach der Befruchtung Larven, welche jedoch vollkommene Geschlechtsorgane besitzen; aus denselben wird wieder die ursprüngliche Form geboren. Generationswechsel und Heterogonie kommen namentlich bei parasitischen Würmern vor. e) Es wechselt ferner eine geschlechtliche Generation mit einer parthenogenetischen ab (unter der letzteren versteht man die Ent- stehung von Embryonen aus unbefruchteten Eiern). Im Sommer trifft man nur Weibchen der Blattläuse an, welche sich partheno- genetisch vermehren; erst im Herbst entstehen auch Männchen, welche nun die Weibchen befruchten, die dann Eier legen, aus welchen im Frühling eine neue Generation von Weibchen für das nächste Jahr entsteht. In diesem Falle sind die parthenogenetischen Generationen häufiger als die geschlechtlichen; manchmal ist die ge- schlechtliche Generation sehr selten, ja kann auch vollständig latent (unterdrückt) werden: einige Blattläuse, einige Wespenarten aus der Gruppe der Cynipidae, einige Rotatorien, Cladoceren und Ostracoden vermehren sich nur parthenogenetisch1). Unter den Pflanzen unter- 1 X. Ciiolodkoysky, Über den Lebenszyklus der Chermesarten und die dami: verbundenen allgemeinen Fragen. Biol. Zentralbl. 20, 1900. 480 XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. drücken einige Farnarten die geschlechtliche Generation und vermehren sich nur durch Sporen, welche auf den Blättern wachsen. Gruppen kleiner als die Art. Daß die zu einer Art gehörenden Individuen, einzelne Menschen, einzelne Apfelbäume nicht identisch sind, darüber hat vor LlNNE schon Leibniz philosophiert : er führte aus, daß nicht zwei Dinge auf der Welt identisch sind, weil man sie dann voneinander nicht unterscheiden könnte; seine Anhänger trennten sich in Hinsicht auf diesen Satz in zwei Lager: die mehr praktischen wußten aus Erfahrung, daß es natürliche Organismengruppen gibt (Tournefort entdeckte die Gattungen, LlNNE die Arten); sie gaben dem LElBNizschen Satz den Sinn, daß jede Art und Gattung in mehrere andere übergeht. Andere, unter ihnen Lamarck, folgten der abstrakteren Idee Bonnets, daß sich alle organischen Individuen in eine Reihe zusammenstellen lassen, in der jedes Individuum einen Übergang zwischen nur zwei ihm benachbarten Wesen bildet. Unter der Herrschaft der Morphologie siegte die erstere Auffassung. Der schweizer Morphologe Pyrame Decandolle, der an der Schwelle des ig. Jahrhunderts über die Arten nachdachte, ging von der schon LlNNE bekannten Tatsache aus, daß die Erkenntnis einer Art oft durch zufällige, durch den Einfluß der Außenwelt hervorge- brachte Abweichungen vom Typus gestört wird. Um diese Störungen aus der Definition der Art auszuschalten, verlangte er Versuche zur Bestimmung jeder Art; die Beschreibung eines oder einiger Individuen genüge nicht, da man nicht wissen könne, welche von ihren Eigenschaften konstant, welche zufällig sind ; sondern es müsse jede Pflanze in mehreren Generationen hintereinander unter verschiedenen Lebensbedingungen beobachtet werden; in die Defi- nition der Art dürfen dann nur die unter diesen Bedingungen un- veränderlichen Merkmale aufgenommen werden. DECANDOLLEs An- schauung bildete einen großen Fortschritt gegenüber der bloß beschreibenden Artbestimmung ; allein das Denken über die Art wurde bald auf andere Bahnen hingeleitet. In England blühte im 19. Jahrhundert noch immer das Systema- tisieren ; an dasselbe knüpfte Darwin an : in die kontinentale Morpho- logie nicht eingeweiht, zog er aus dem Streite der auf dem platten Standpunkte der Herbarienwissenschaft stehenden Forscher den Schluß, daß individuelle und zufällige Variationen beginnende Arten, also XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. i 3 1 lineare Übergänge von einer Form zu einer anderen darstellen, und brachte so die Richtung Boxnets, Buffons und Lamarcks zu neuem Ansehen. Bei der Analyse der Variabilität der Formen unterschied Darwin individuelle Abweichungen und stärkere Variationen, die er »Single variations« nannte; so wenn ein Pferd mit drei Fingern an jedem Fuße geboren wird. Welcher Art Abweichungen größere Be- deutung für die Entstehung der Arten zuzuschreiben wäre, bestimmte Darwin anfangs nicht; als man aber später behauptete, daß starke Abweichungen selten vorkommen und folglich bei der notwendig ein- tretenden Kreuzung mit anderen Formen verschwinden müssen, er- kannte Darwin an, daß sie für die Entstehung einer neuen Art von geringerem Werte sind, als individuelle Abweichungen1). Die Entwicklungstheoretiker wiederholten Darwins Gründe und Folge- rungen; als sich aber die Wellen der Begeisterung zu legen be- gannen, schritt man zur Überprüfung und Vertiefung seiner Be- obachtungen, womit Hand in Hand eine Abnahme des Interesses an seinen Theorien ging. Nun gelangten auch Beobachtungen zur Geltung, welche die Variationen der Organismen anders als Darwin auffaßten, die Beobachtungen NÄGELls, A. Kerners, Hofi manns2), nach welchen zwischen erblichen, aus inneren Ursachen entstehenden Variationen und nichterblichen, durch den Einfluß der Umgebung hervorgerufenen Abweichungen ein wesentlicher Unterschied besteht. Auch WEISMANNs Dialektik führte auf diese Unterscheidung hin. Inzwischen kam auch Decandolle wieder zu Ehren. In Frank- reich zeitigte der Positivismus, die Prinzipien CuviERs und Lamarcks verknüpfend und durch die analytischen Fähigkeiten des französischen Nationalgeistes unterstützt, eine experimentelle Lösung des Art- problems. Um die Zeit, als sich Darwin mit der Idee trug, die künstlichen Rassen mit natürlichen Varietäten zu identifizieren und als beginnende Arten zu erklären, wurde auch in Frankreich die Frage nach dem Verhältnis der Rassen zu den Arten erörtert: QUATREFAGES behandelte sie vom anthropologischen, G< >DR< >x vom zoologischen, Naudix und JORDAN vom botanischen Standpunkte. Alle nahmen die natürliche Existenz der Arten an ; alle suchten nach Besonders war es die Kritik von Hoffmann und F1.1 eming Jenkin, die auf Darwin wirkte; vgl. Leben und Briefe von Ch. Darwin III, S. 333 und 104. 2) C. NÄGELI, Botanische Mitteilungen II. Sitzungsber. Münch. Ak. 1S65. — A. KERNER, Pflanzenleben, Leipzig und Wien 1891. — H. Hoffmann. Kulturversuche. Botan. Ztg. 1876. Rädl. Geschichte der biol. Theorien. II. }I 482 XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. einer exakten Methode, um diese Existenz scharf auszudrücken. Der Botaniker A. Jordan sammelte aus ganz Europa Formen einer ge- meinen, auf Brachackern wachsenden Pflanzenart (Draba verna) und zog ihre Varietäten mehrere Generationen hindurch nach den DECANDOLLEschen Regeln; er fand, daß diese eine Art über 200 konstante unveränderliche Varietäten zählt, welche er für der größeren Art Draba verna unterordnete kleinere Arten erklärte1). Neben diesen konstanten Formen unterschied er künstliche Rassen, z. B. Obst- bäume, welche in natürlichem Zustande in einigen wenigen Gene- rationen auf die ursprüngliche wilde Form zurückschlagen2). Ähnliche Anschauungen verfocht Godron. In seiner Schrift »Über die Arten und Rassen der Organismen«, welche in demselben Jahr wie Darwins Hauptwerk erschien, behauptete er den geraden Gegensatz von Darwins Thesen: die natürlichen wildlebenden Arten seien konstant und scharf voneinander abgegrenzt; ihre Variationen seien zufällig und erhalten sich nicht. Im Gegensatze zu den in der Natur lebenden Arten stehen die Rassen der Haustiere, welche, unter künstlichen Lebensbedingungen erzogen, verschiedene Modifikationen erlitten haben, welche erblich sein können. Einen anscheinend ganz entgegengesetzten Standpunkt vertrat Naudin : es gebe keinen wesent- lichen Unterschied zwischen der Art, der Rasse, der Varietät; die Versuche führten ihn darauf, unter der Art »eine Gruppe ähnlicher Individuen zu verstehen, welche sich in einem, mehr oder weniger deutlichen Grade von anderen Gruppen abheben und welche in aufeinanderfolgenden Generationsreihen dieselbe Physiognomie und Organisation behalten«3). Der Gegensatz zwischen Naudin und GODRON betrifft offenbar nur die Worte Rasse und Varietät; denn obwohl Naudin mit LAMARCK die Entwicklung der Formen annehmen will, ist er praktisch so sehr von der Konstanz der Artmerkmale überzeugt, daß er durch Kreuzung verschiedener Formen eine Kombination (nicht aber ein Zusammenfließen) derselben hervorrufen will. Die französische experimentelle Richtung wurde aber durch den Darwinismus unterdrückt; Darwin und seine Anhänger erblickten in ihr nur ein Bestreben, Cuviers Definition der Art, nach der ver- z) A. Jordan, Remarques sur le fait de l'existence en societe ä l'etat sauvage des especes vegetales affines etc., Lyon 1873. 2) Jordan, De l'origine des arbres fruitiers 1853. 3) Ch. Naudin, Nouvelles recherches sur l'hybridite dans les vegetaux 1865, S. 162. Ich zitiere nach E. Perrier, La philosophie zoologique avant Darwin, 2. ed., Paris 1886, S. 280. Nach Perrier berichte ich auch über Godron. XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. 483 schicdene Arten gekreuzt keine fruchtbare Nachkommenschaft erzeugen, aufrecht zu halten. Allmählich sollte man aber auf diese Erörterungen zurückgreifen. Wieder und wieder kam unter den Entwicklungstheoretikern der Gedanke auf, daß neue Arten durch sprungweise Veränderung der früheren entstehen. Wie sich diese Hypothese aus dem Darwinismus entwickelte, schildert W. BATESON in der Einleitung zu seiner großen, dem Studium sprunghafter Veränderungen gewidmeten Werke1). Er erzählt da von der Begeisterung, mit welcher Darwin aufgenommen wurde; wie die Fragen nach der Erblichkeit, nach embryologischen und anatomischen Beweisen, nach den Anpassungserscheinungen zum täglichen Brot der Biologen wurden, wie gehaltlos aber jene Begeisterung war: Darwins Werk über das Variieren der domesti- zierten Tiere und Pflanzen war die einzige Quelle, aus der man das Material zu langen Betrachtungen schöpfte, deren kurzer Sinn sich so oft durch die Worte ausdrücken ließ, »wenn es in der Natur so vor sich ging, wie wir es uns vorstellen, so ging es so vor« Um die Wissenschaft aus diesem unerfreulichen Zustande zu be- freien, schrieb Bateson sein Werk. Er knüpfte seinen Gedanken- gang — ohne sich dessen bewußt zu sein — an den Zeitpunkt, wo Darwin die Entwicklung der Anschauungen über das Wesen der Art unterbrochen hat: er verwarf den darwinistischen Hauptgrundsatz, daß es unter den Arten allmähliche Übergänge gebe, und lehrte von neuem, daß die Mannigfaltigkeit der Formen unterbrochen ist; die Umgebung, in welcher keine entsprechende Mannigfaltigkeit zu finden ist, kann nicht die Ursache der Artunterschiede abgeben; neue Arten entstanden durch plötzliches Erscheinen neuer Eigenschaften, welches viel öfters vorkommt, als man annimmt. Batesons Werk ist dem Sammeln und Klassifizieren solcher, plötzlich und auf un- bekannte Art entstehender Eigenschaften, der »diskontinuierlichen Variationen , wie sie der Autor nennt, gewidmet. Bateson wollte nicht die Grundsätze des Darwinismus bekämpfen; er wußte nicht, daß er sich mit seiner Lehre auf einen, dem Wesen des Darwinismus ganz zuwiderlaufenden Standpunkt stellte und zum alten Glauben, die Arten seien mehr als praktische Zusammenstellungen von ähnlichen Formen, zurückkehrte. Auch die späteren Forscher, welche ein ähnliches Ziel verfolgten, J) BATESON, Materials for the study of Variation, London 1S94. *) Ibid. S. VI. 1* j 484 XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. erkannten es nicht. Was Bateson 1894 in der Zoologie, das führte der Russe S. KORSCHINSKY in der Botanik durch1); auf Grund der gärtnerischen Praxis wies er (1899 und 1901) nach, wie oft neue Formen plötzlich entstehen und dann konstant bleiben. So entstanden aus der gewöhnlichen Akazie (Robinia pseudoacacia) ohne ersichtliche Ursachen plötzlich folgende neue Formen: im Jahre 1833 eine Form ohne Dornen, 1855 eine andere mit einfachen Blättern, 1862 eine neue mit rosigen Blüten, 1862 eine frühzeitig und reich blühende Form. Die vollblütige Petunie entstand 1853; Cyclamen persicum wird bereits seit 1731 gepflanzt, aber erst um 1850 erschien eine vollblütige Form desselben. Aus diesen und vielen anderen Fällen schloß KORSCHINSKY, daß die Arten nicht auf die durch Darwin angegebene Art, sondern sprungweise entstehen, und er nannte diese Entstehungsart Heterogenesis; sonst glaubte er an ein inneres Vervollkommnungsprinzip, wie NÄGELE Am ausführlichsten hat das Problem der sprungweisen Entstehung neuer Formen der Amsterdamer Botaniker HUGO DE Vries2) behandelt. Während Bateson und KORSCHINSKY ihre Angaben nur der Literatur entnahmen, schritt DE Vries zu einer experimentellen Lösung des Problems. Mit der Grundidee knüpft er bewußt an die französische Richtung an, an Jordan einerseits, andererseits an Nägeli, und zieht eine feste Grenze zwischen künstlich erzogenen Rassen, welche fluktuierende Abweichungen vom Typus durch Züchtung kumu- lieren und zwischen natürlichen Arten, welche aus Mutationen3) entstehen. Fluktuierende Abweichungen sind z. B. der Grad des Zuckergehaltes der Rübe, die Saftigkeit der Mohrrübenwurzel, welche durch bestimmte Kultur gesteigert und auch auf die Nachkommen- schaft übertragen wird, trotzdem aber verschwindet, sobald die Pflanze verwildert. Anders bei den Mutationen, feinen Abweichungen von der Stammform, welche plötzlich (d. h. sofort in ihrer vollen Ent- wicklung) und ohne ersichtliche Ursachen erscheinen und sich bei der Nachkommenschaft konstant erhalten. De Vries verfolgte ihre Entstehune seit 1886 bei der aus Amerika stammenden Pflanzenart *) S. Korschinsky, Heterogenesis und Evolution. Naturw. Wochenschr. 14, 1899. Flora 89, 1901 (Ergänzungsband). 2) H. DE Vries, Die Mutationstheorie. Versuche und Beobachtungen über die Entstehung der Arten im Pflanzenreich. I. Bd. Die Entstehung der Arten durch Mutation, Leipzig 1901. 3) Er wußte nicht, daß das Wort Mutation einen ganz anderen Begriff in der Paläontologie bezeichnete. XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. 485 Oenothera lamarckiana und gewann aus der Stammform eine Reihe von solchen Mutanten; die auf diese Art entstandene Oenothera gigas hat z. B. breitere Laub- und Kronenblätter; ihre Laubblätter sind stärker gewellt, ihre Früchte sind kürzer und schließen weniger, aber größere Samen ein, als es bei der Stammform der Fall ist. Die Mutanten sollen »elementare Arten« und die ersten Stufen zur Bildung neuer Arten darstellen: durch den Kampf ums Dasein werden die untauglichen vernichtet, die überlebenden bringen neue Mutanten hervor, und so entsteht die Mannigfaltigkeit der Organismenwelt. De Vries' Lehre wurde auch von vielen Darwinisten beifällig aufgenommen ; aber auch Einwände wurden gegen seine Konsequenzen laut. Man weist auf DE Vries Beobachtung hin, daß dieselben Mutanten wiederholt und zwar nicht nur aus der Stammform, sondern auch aus anderen Mutanten entstehen , und folglich vielleicht nur Mani- festationen latenter Möglichkeiten, nicht Fortschreiten zu neuen Formen bedeuten1). Andere erkennen, vielleicht mit weniger Berechtigung, den LTnterschied zwischen Mutation und Fluktuation nicht an2). Es gibt auch philosophische Einwände: H. Driesch3) und Ch. O. WHITMANN4) meinen mit Recht, daß die Annahme zufälliger und richtungslos erscheinender Mutationen mit der Tatsache der gesetz- mäßigen Ordnung der Organismenwelt unvereinbar ist. Wieder andere suchen zwischen DE Vries und Darwin zu vermitteln: so C. Keller, nach welchem die Haustierrassen einerseits durch Aus- lese der Fluktuationen (das Simmentaler Rind), andererseits plötzlich (Dachselhund^ entstanden sind5). Jedenfalls bildet der eigentlich darwinistische Begriffsapparat, den Gedanken der Entwicklung nicht ausgenommen, nur eine äußere Hülle der Theorien des DE Vries; ihre innere Bedeutung ist von derselben unabhängig. 1 P. Lotsy, Vorlesungen über Deszendenztheorien I, S. 233. ) L. Plate, Bedeutung des Selektionsprinzips, II. Aufl., Leipzig 1904. 3) H. Driesch, Kritisches und Polemisches. Biol. Zentralbl. 22, 1902, S. 183. 4) Ch. O. Whitmann, The Problem of the Origin of Species. Congr. of Arts and Sei. Univ. Expos., St. Louis 1904, V. ) C. Keller, Die Mutationstheorie von de Vries im Lichte der Haustier- geschichte. Arch. f. Rassen- und Gesellschaftsbiologie 2. 1905. Auch H. Kraf.mer (Die Kontroverse über Rassenkonstanz und Individualpotenz, Reinzucht und Kreuzung im Lichte der biologischen Forschungen usw., Bern 1905) schreibt den Mutationen einen nur geringen Einfluß auf die Entstehung neuer Haustierrassen zu und glaubt. dab die Auslese der besten Rassen nebst Kreuzung mit Individuen anderer Rassen von starker Vererbungskraft >Individualpotenz«) die die Entstehung neuer Zuchtrassen fördernden Faktoren darstellen. Es bleibe nicht unerwähnt, daß die Lehre von sprungweiser Entstehung neuer ^86 XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. Die durch die Betonung der elementaren Arten eingeleitete Ana- lyse der Art wurde noch weiter fortgesetzt. Die Individuen derselben elementaren Art und derselben Mutante unterscheiden sich vonein- ander; paaren sich zwei solche Individuen, wird der Nachkomme einerseits väterliche, andererseits mütterliche Eigenschaften tragen, und da die Eltern nicht identisch sind, werden sich ihre Eigenschaften in ihren Nachkommen verschiedenartig kombinieren. Einige Pflanzen- und Tierarten vermehren sich dagegen durch Selbstbefruchtung und bei solchen bleiben die individuellen Merkmale innerhalb einer und derselben Generationsreihe konstant. W. Johannsen gelang es von einer Bohnenvarietät (Phaseolus vulgaris-princesse), bei welcher sich jede Blüte durch eigenen Pollen befruchtet, zwei solche Generations- reihen abzuscheiden1). Er sonderte die auf einem Gartenbeet ge- ernteten Samen nach ihrer Größe in drei Gruppen und baute jede Gruppe für sich an; die Samen der zweiten Generation sonderte er auf dieselbe Weise und nach einigen Generationen gewann er aus kleinen Samen Pflanzen, welche wieder nur kleine, aus großen, welche nur große Samen trugen. Das ursprüngliche Bohnenbeet enthielt also noch ein Gemisch von Formen ; nennen wir die Gesamt- heit der auf dem Beet ursprünglich wachsenden Individuen mit Johannsen eine Population, so war sie noch wenigstens aus zwei durch den Versuch ermittelten Formen, den sog. reinen Linien JOHANNSENs, zusammengesetzt. Bei der Bohne, deren Blüten sich selbst befruchten, gingen die Linien parallel nebeneinander; gewiß sind sie auch sonst vorhanden, infolge notwendiger Kreuzung zweier Individuen werden sie aber verwischt. Die Idee der reinen Linien schließt in einer eigenartigen Weise Darwins Lehre von der Art ab. Während Decandolle, der Mor- phologe, zu einer Art einander ähnliche Formen rechnete, ohne auf deren Ursprung Gewicht zu legen, betonte Darwin den Ur- sprung aus gemeinsamen Eltern als den wesentlichsten Maßstab, und die Ähnlichkeit unter den Formen faßte er nur als Folge des gemeinsamen Ursprunges auf. Decandolle sah in der Art eine, Formen ebenso und mit größerem Rechte an Geoffroys Theorien angeknüpft wer- den kann, als der Neolamarckismus an Lamarck. Man vgl. zu diesem Zwecke Geoffroys Artikel »Geologie et palaeontographie« in dessen Etudes progressives d'un naturaliste pendant les annees 1834 et 1835 etc-> Paris 1835, wo Geoffroy auch »Vorläufer« für seine Ansicht (Bacons Nova Atlantis, eine Aussage Pascals, den Physiker Roedig und den Schriftsteller P. Leroux) anführt. J) W. Johannsen, Über Erblichkeit in Populationen und in reinen Linien, Jena 1903. XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. ^g^ von einer momentan beleuchteten Gruppe von Pflanzen abstrahierte Form, Darwin dagegen einen verzweigten Baum, in dessen Stamm alle Abweichungen zusammenfließen; JOHANNSEN verbindet die for- male Anschauung mit der genetischen: er sieht in der Art einen Strom aber parallel nebeneinander laufender Formen. Variationsstatistik. Die Unterschiede unter einzelnen elementaren Arten sind so fein, daß sie oft durch zufällige, durch die Einwirkung der Umgebung hervorgerufene Fluktuationen verschleiert werden. Um in einer großen Menge variierender Individuen den Mittelpunkt zu finden, um den die einzelnen Variationen gruppiert sind, bedient man sich der, von Quetelet und insbesondere von F. Galton in die Biologie einge- führten Variationsstatistik. Es ist dies eine wesentlich mathematische Wissenschaft, über die des näheren nicht referiert werden soll; nur an einigen Beispielen sei ihr Ziel veranschaulicht. Die auf einem Beet geernteten Bohnen sind aus inneren und auch aus zufälligen äußeren Ursachen verschieden groß ; sondern wir sie nach ihrer Länge in eine Reihe von Häufchen und schütteln die ein- zelnen Häufchen in eine Reihe nebeneinander stehender Glasröhrchen von gleichem Volumen, und zwar so, daß in das erste Röhrchen die größten Bohnen und in jedes weitere die nächst kleineren kommen, so werden die so entstandenen Bohnensäulchen mit ihrem oberen Ende eine Kurve, die sog. GAUSZsche Fehlerkurve oder Normalkurve beschreiben: d. h. die mittelgroßen Bohnen werden am zahlreichsten, die größten und kleinsten die spärlichsten sein, und die Höhe ein- zelner Säulchen wird sich vom mittleren, dem größten Maximum), nach beiden Seiten symmetrisch herabstrecken. Dieses Resultat be- rechtigt uns zum Schlüsse, daß die Bohnen ihrer inneren Anlage nach eine gewisse Größe zu erreichen streben; infolge äußerer Um- stände gerät aber ein Same größer, ein anderer kleiner; weil die Kurve nach rechts und nach links ähnlich ist, so waren die Faktoren, welche die übernormale Größe förderten, im Ganzen ebenso stark, wie die, welche das normale Wachstum behinderten. Es gibt kompliziertere Fälle. Statt der Größe der Bohnen könnte man auch die Anzahl der Achsen in der Dolde einer Pflanze be- stimmen, welche auch variabel ist. Wir würden aus einer großen Menge Pflanzen diejenigen zusammenstellen, bei welchen nur 5, bei welchen 6, 7 usw. Achsen vorkommen, und es würde sich heraus- 488 XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. stellen, daß es wieder ein gewisses Optimum der Achsenanzahl ist, welches bei den meisten Individuen vorkommt; aber das schließliche Resultat würde sich vielleicht doch anders als früher gestalten. F. LUDWIG zählte z. B. die Achsen erster Ordnung in der Dolde von Torilis anthriscus und fand: 5 6 7 8 q 10 n 12 13141516 Achsen bei 4 27 45 135 108 117 72 17 9 3 3 1 Individuen. In diesem Falle liegt das Maximum der Achsen nicht in der Mitte, sondern es sind zwei Maxima (zu 8 und zu 10 Achsen) vorhanden. Die Ursache dieser Erscheinung war, daß an dem Orte von woher die Pflanze genommen wurde zwei Formen derselben wuchsen, welche sich voneinander durch die Durchschnittszahl ihrer Achsen unter- schieden; in der Tat fand Ludwig an anderen Stellen die Formen voneinander gesondert und als er dort statistisch die Anzahl ihrer Achsen untersuchte, fand er an einer Stelle: Zahl der Achsen 5 Zahl der sie tragenden Individuen 1 und an einer anderen: Zahl der Achsen 567 Zahl der Individuen — 1 5 Dieses Beispiel veranschaulicht uns auch die Bedeutung der Varia- tionsstatistik: durch keine noch so feine Analyse aller Merkmale eines oder einiger weniger Individuen bekommt man volle Einsicht in das Wesen einer Form; erst eine statistische Vergleichung einer großen Anzahl derselben zeigt uns die sonst vielleicht verborgenen Grenzen derselben. Man hatte seit langem gegen Darwin eingewendet, daß die Varia- bilität der Formen nicht unbegrenzt ist, wie er annahm, sondern um einen Mittelpunkt schwankt. Die Variationsstatistik brachte eine Be- stätigung dieser Hypothese. Es ist wohl möglich, durch künstliche Zuchtwahl jenen Mittelpunkt um einiges zu verschieben, aber nur bis zu einer gewissen Grenze; hört die Zuchtwahl auf, so kehrt der ur- sprüngliche Mittelpunkt wieder zurück1). Es sei hier endlich das von den Darwinisten oft aufgeworfene (bisher aber nur im allgemeinen erörterte) Problem erwähnt, ob die 6 7 8 9 10 11 12 13 1 1 18 45 28 20 5 4 1 8 9 10 1 1 12 13 8 13 25 12 5 2 x) Über die Variationsstatistik vgl. C. B. Davenport, Statistical Methods with special reference to biological Variation, London 1904. — G. Duncker, Die Methode der Variationsstatistik. Arch. f. Entw.-Mech. 1899. XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. 489 Variabilität der niederen und der höheren Wesen denselben Umfang hat? Zahlreiche Forscher nehmen an, daß niedere Wesen und die Formen aus den ersten belebten Erdschichten mehr variierten, als die höheren und jüngeren, und begründen den Gedanken durch die größere Kompliziertheit der vollkommeneren Organismen, welche der Veränderlichkeit enge Grenzen zieht. Das war die Überzeugung von G. Seidlitz, Daniel Rosa u. v. a. r). Physiologische Arten. Bis in die neueste Zeit herrscht die Überzeugung, daß die Arten nur anatomische Einheiten sind und ihre physiologischen und bio- logischen Eigenschaften nur eine Folge ihrer Struktur darstellen. Und doch waren sowohl Lamarck als auch der Vitalismus und die Dar- wiNsche Theorie in ihrem Wesen einer solchen Auffassung entgegen: Lamarck, der erklärte, daß das Streben des Tieres neue Organe bildet; der Vitalismus, welcher die Funktion höher als das Organ stellte; und Darwin mit seinem Grundsatze, daß es die Lebensbedin- gungen sind, welche (indirekt) die organischen Formen verursachen. Stets wurde da behauptet, daß die Form nicht das schlechthin Letzte ist, daß das Leben höher steht; der alte Glaube an das anatomische Wesen der Organismen war aber so mächtig, daß weder die Darwi- nisten, noch die Neodarwinisten, noch die Lamarckisten, noch die Forscher, welche an bekannte und unbekannte Entwicklungskräfte glaubten, für die Arten einen anderen Maßstab als deren körperliche Merkmale suchten. Und doch sind die Organismen auch physiologisch spezifiziert. Wenn man von der Blutsverwandtschaft der Tiere spricht, so be- deutet das nicht nur eine genealogische Verwandtschaft. Der Physiologe Leon. Landois2) machte darüber seinerzeit interessante Versuche, welche neuerdings unter anderen Bedingungen von H. Friedental, G. Nutall u. a. ausgeführt wurden zum Beweis, daß der Mensch den Menschenaffen mehr als anderen Tieren chemisch verwandt ist3); diese Versuche wurden für neue Beweise der Dar- J) G. Seidlitz, Beiträge der Deszendenztheorie, Leipzig 1876, S. 93. — D. Rosa, La riduzione progressiva della variabilita, Torino 1899. z) L. Landois, Die Transfusion des Blutes, Leipzig 1S75. 3) Über diese Versuche vgl. Uhlenhut, Ein neuer biologischer Beweis für die Blutsverwandtschaft zwischen Menschen und Affengeschlecht. Archiv Rassen-Biol. I, 1904. 4Q0 XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. WiNschen Theorie ausgegeben. Auch das Äugeln und Pfropfen der Pflanzen (und der Tiere, wo es ebenfalls mit Erfolg ausgeführt wurde) geschieht auf Grund einer physiologischen Verwandtschaft und ist ebenfalls in der Regel nur beieinander verwandten Formen ausführ- bar. Aus diesen Versuchen folgt, daß man nicht nur normale, son- dern auch physiologische Verwandtschaften und Verwandtschaftsgrade unter den Organismen wird aufstellen können; doch müßte dieses Problem erst speziell zu diesem Zwecke ausführlich untersucht werden, um zu konstatieren, inwiefern die anatomischen und die physiologi- schen Verwandtschaften einander entsprechen. Die Idee der physiologischen Verwandtschaften führt uns zum Begriff der physiologischen Arten. Der bekannte Getreiderost (Puccinia graminis) entwickelt sich unter eigenartigem Generationswechsel, indem er zuerst auf den Berberitzen- blättern parasitisch lebt und Sporen (sog. Aecidiosporen) bildet, welche auf ein Gras übertragen zu rostigen Flecken anwachsen und Sommer- sporen (Uredosporen) hervorbringen, die den Rost auf andere Gräser übertragen; im Herbst werden endlich überwinternde Winter- sporen (Teleutosporen) angesetzt. J. ERICKSSON1) bewies nun, daß in der anatomisch einheitlichen Getreiderostart wenigstens sechs ver- schiedene Arten enthalten sind, welche sich aber nicht durch sicht- bare Strukturen, sondern nur physiologisch unterscheiden lassen, in- dem z. B. die Uredosporen des Hafers wieder nur dieses Gras (und noch einige andere Grasarten) überfällt, nicht aber das Korn, während der auf dem Korn wuchernde Rost wieder nur auf dem Korn keimen kann. ERICKSSON nannte die so bestimmten Arten »biologische Arten«. Andere nennen sie »physiologische Arten«, »species sorores«, »formae speciales«, »Gewohnheitsrassen«2). Von parasitischen Tieren ist ähnliches bekannt. Der Wurm Ty- lenchus scandens, der in mehreren hintereinander folgenden Genera- tionen in Gräsern lebte, verlor die Fähigkeit, in Zwiebelpflanzen zu leben3). Die Blattlaus Chermes strobilobius soll anatomisch fast identisch mit Chermes lapponicus var. praecox sein und unterscheidet sich von derselben nur durch ihre Lebensweise4). J) J. Ericksson, Über Spezialisierung des Parasitismus bei den Getreiderostpilzen- Ber. deutsch, botan. Ges. 12, 1884. 2) Vgl. darüber K. H. Kleebahn, Die wirtswechselnden Rostpilze, Berlin 1904. 3) Ritzema-Bos, Zoologie für Landwirte, Berlin 1896, S. 190. 4) N. Cholodkovsky, Über den Lebenszyklus der Chermesarten usw. Biolog. Zentralbl. 20, 1900. XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. ^\ Gewiß bilden diese Beobachtungen nur einen schüchternen Ver- such, die Tatsache zu begründen, daß die Arten, Gattungen usf. nicht nur durch anatomische, sondern auch durch physiologische, biologische, psychologische Merkmale charakterisiert werden können und müssen; eine Tatsache, auf die seinerzeit L. AGASSIZ hingewiesen hat, und die seinen Gegfnern so unannehmbar schien. Hier sei nur ein Detail her- vorgehoben. Die biologische Art des Wurmes Tylenchus scandens wurde auf der Tatsache begründet, daß dieser Wurm sich den Genuß der Zwiebel abgewöhnt hat; niemand hat diese Begründung einer besonderen Art (oder Rasse) dem Autor übel genommen; mit wel- chem Hohn wurden aber seinerzeit die Forscher überschüttet, welche in der Sittlichkeit, Religiosität, Intelligenz des Menschen einen Grund für die Aufstellung einer besonderen Klasse für den Menschen er- blicken wollten! Variabilität als Folge der Einwirkungen der Umgebung auf den Organismus. Die Frage der Abhängigkeit des Organismus von seiner Um- gebung ist kein ausschließlich modernes Problem; seit LOCKE und Leibniz steht sie im Mittelpunkte des philosophischen Denkens: Hume, Kant gingen beim Ausbau ihrer Systeme von derselben aus; nur philosophierte man damals nicht über »Organismen« im allge- meinen, sondern über einen speziellen Organismus, über die Seele des Menschen. Leibniz vertrat die Lehre, daß die Umgebung von gar keiner Wirkung auf die Seele ist, daß sich diese vielmehr nur aus ihren inneren, ihr von Anfang an angeborenen Anlagen ent- wickelt, nichts von außen aufnimmt, nichts nach außen abgibt; die Umgebung habe keine Macht über den Organismus, welcher sich die- selbe vorstellen, sie sozusagen in sich widerspiegeln kann, ohne da- durch im mindesten verändert zu werden. LOCKE nahm dem gegen- über an, die Umgebung sei imstande in der Seele Erfahrungen zu bilden und ihr Wesen auf diese Art zu verändern. HüME legte noch größeren Nachdruck auf die Abhängigkeit des Menschen von der Außenwelt; den modernen Theoretikern ähnlich, welche den Orga- nismus nur für eine Summe von Einwirkungen der Umgebung er- klären, hielt er die Seele des Menschen auch nur für ein Bündel Erfahrungen. Kant versuchte den Widerstreit zwischen Leibniz und HüME zu überbrücken: er erkannte zwar die Bedeutung der Er- 492 XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. fahrung an, schrieb aber der Seele die Kraft zu, die Art zu bestim- men, in welcher die Umgebung auf den Geist wirken soll. Die moderne Biologie steht noch immer ratlos vor dem Problem, wie das Verhältnis zwischen dem aktiven und als von der Welt un- abhängig sich fühlenden Individuum einerseits, und den Einwirkungen der Umgebung auf dasselbe andererseits aufzufassen sei. Zwar steht es fest, daß der Organismus von seiner Umgebung bis zu einem gewissen Grade abhängig ist; allein die zu beantwortende Frage lautet: treffen irgendwelche Einwirkungen das Wesen des Organis- mus, oder sind alle durch die Umgebung hervorgerufenen Verände- rungen nur zufällige, nur oberflächliche Modifikationen einer an sich unveränderlichen Individualität? Die Mehrzahl der heutigen Biologen scheint der Überzeugung zu sein, daß die Umgebung tatsächlich das innerste Wesen der Tiere und Pflanzen umzugestalten imstande sei; leider ist diese Überzeugung keine reine, keine unabhängige Erkennt- nis, sondern entspringt der Tendenz, die Entstehung der Arten durch Vererbung erworbener Charaktere zu erklären; würde dieser Zweck nicht in die Anschauungen der Forscher störend eingreifen, wer weiß, ob sie so bestimmt an dieser Lehre festhielten? Für Darwin und seine Anhänger hatte das Problem noch keine Schwierigkeiten, da sie kein »Wesen« des Organismus gelten ließen; die Pflanze, das Tier, der Mensch waren für sie eine bloße Anhäufung von zufällig erworbenen Modifikationen, eine Anhäufung, welche das ganze Leben hindurch zunimmt und welche, das individuelle Leben überdauernd, in der Nachkommenschaft fortgesetzt wird. Die Über- zeugung, daß sich der Organismus der Umgebung gegenüber rein passiv verhält, beherrschte Darwins Spekulationen über die Verän- derlichkeit der Wesen; darum machte er zwischen einer Verstümme- lung, wo sich der Organismus der Veränderung seines Körpers gegenüber rein passiv verhält, und einer angeborenen Variation keinen wesentlichen Unterschied. Durch WElSMANNs Analyse wurde dieser Unterschied hervor- gehoben; die angeborenen Variationen werden der inneren Kraft des Organismus zugeschrieben und die erworbenen auf den Einfluß der Umgebung zurückgeführt. Der ursprüngliche Grundsatz Darwins, keine wesentlichen Unterschiede zwischen zwei Arten von Vorgängen anzuerkennen, blieb nichtdestoweniger aufrechterhalten: man gibt keineswegs zu, daß die angeborenen Variationen etwas Absolutes, auf die Ursachen nicht Zurückführbares darstellen, sondern faßt auch diese Variationen als durch den Einfluß der Umgebung hervorge- XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. ig^ bracht auf; nur soll hier dieser Einfluß tiefer in das Wesen des Or- ganismus eingreifen und der Zusammenhang zwischen demselben und der resultierenden Veränderung des Organismus verwickelter sein. Aus der mechanistischen Auffassungsweise der Biologen des 19. Jahr- hunderts folgt noch, daß sie keine anderen als nur quantitative Variationen der Organismenstruktur anerkannten. Sie unterschieden zwar Variationen, welche die Form betreffen (Veränderlichkeit der Größe, der Farbe, der Zeichnung, der Körperproportionen, der Anzahl der Glieder usf.), ferner Variationen der Funktionen (wenn sich z. B. das Tier einer neuen Nahrung anpaßt) oder auch psychische Veränderun- gen (z. B. Dressur), aber alle diese Modifikationen des Organismus führten sie zurück auf Verschiebungen irgendwelcher Massen im Ei, im Verdauungsrohr, im Gehirn; Verschiebungen, welche, an sich noch so klein, bei dem erwachsenen Organismus große Veränderun- gen herbeiführen. Diese Anschauungen befinden sich heute augenscheinlich im Ver- fall; vergebens bemüht man sich, den Grundgedanken Darwins, die Passivität des Organismus den Einflüssen der Umgebung gegenüber und die durchgängig quantitative Natur der Variationen mit den Tat- sachen in Einklang zu bringen, umsonst sucht man durch verschie- dene Spitzfindigkeiten die Tatsache der Aktivität des Organismus zu umgehen. Heute fällt kaum jemandem ein, eine Verstümmelung oder eine Gewichtzunahme infolge kräftigerer Ernährung in eine Reihe mit Veränderungen, wie es z. B. der Saisondimorphismus ist, zu stellen, obwohl man in beiden Fällen von Folgen der Wirkung der Außenwelt auf den Organismus spricht. Die passiven Veränderungen kommen also in den Theorien außer Betracht. Die aktiven Reaktionen des Organismus auf die Einflüsse der Umgebung werden in verschiedener Weise klassifiziert. Man kann sie rein empirisch in morphologische, physiologische und psychologische einteilen; unter die morphologischen sind wieder sehr verschiedene Fälle zu rechnen; statt ihrer weiteren Einteilung seien einige Beispiele angeführt. Unter Standortvarietäten werden (von NäGELI u. a.) solche kleinen Modifikationen der Pflanzenform verstanden, welche durch klimatische, Beleuchtungs-, Feuchtigkeits- und andere analoge Unterschiede hervorgebracht werden. So er- scheint der gemeine Knöterich (Polygonum amphibium) in drei Va- rietäten, einer Land-, einer Wasser- und einer Dünenform, welche sich voneinander durch die Beschaffenheit ihrer Stengel, durch die Form ihrer Blätter und durch die Art der Behaarung unterscheiden. 494 XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. Diese Unterschiede sind als Reaktion eines und desselben Pflanzen- wesens auf verschiedene Arten der Umgebung aufzufassen; denn man kann durch respektive Veränderung des Feuchtigkeitsgrades die Wasserform in die Landform oder in die Dünenform überführen. Die Zoologen führten für diese Variationen den Namen Lokal- formen ein; fast jede Art, welche ausgedehntere Gebiete bewohnt, weist mehrere Lokalformeii auf. So kennt man vom gemeinen Stieg- litz (Carduelis carduelis) folgende Formen : Gebirgsstieglitze sind immer schöner und größer als Garten- und Waldstieglitze (welche sich wieder voneinander ein wenig unterscheiden sollen) ; die südlichen Vögel sind intensiver gefärbt und von hellerem Weiß auf der Unterseite, als die nördlichen (Brehm führt sie als besondere Art an), die öst- lichen, namentlich diejenigen aus dem Wolgagebiete sind besonders groß und werden als besondere Subspezies angeführt1); nebstdem kennt man noch eine Reihe von solchen Abweichungen, insgesamt dadurch gekennzeichnet, daß sie allmählich ineinander über- gehen. Nur an Stellen, wo einzelne, von der Art bewohnte Gebiete voneinander durch unüberschreitbare Grenzen getrennt sind, fehlen auch Übergänge unter den Lokalformen. Einen solchen Fall be- schrieb John T. Gulick an der Schneckengattung Achatinella, welche auf den Sandwich-Inseln in vielen Arten verbreitet ist; diese gehen an einzelnen Orten allmählich ineinander über; an anderen, wo die Übergangsgebiete durch Berge u. ä. voneinander gesondert sind, sind die Arten scharf begrenzt2). Als physiologische Variationen sind Anpassungen an eine be- stimmte Ernährung, Atmung, Temperatur, an eine bestimmte Be- wegungsweise (Laufen, Springen, Leben an bestimmten Ortlichkeiten usf.) aufzufassen. Von den psychologischen Reaktionen des Or- ganismus auf die Außenwelt seien die Erscheinungen der Dressur angeführt. Andere Forscher teilen die hierhergehörigen Tatsachen nach der Art der Reizmittel in Reaktionen auf das Licht, die Schwere, die Temperatur, die trockene Luft, die chemischen Agenzien, das Klima usw. ein3). x) Ich entnehme dieses Beispiel Naumanns Naturgeschichte der Vögel Mittel- europas III, S. 293. 2) P. T. Gulick, Evolution, racial and habitudinal, Washington 1905. 3) Eine große Reihe experimentell hervorgebrachter Formveränderungen gibt G. Klebs an in seinem Werke: Willkürliche Entwicklungsänderungen bei den Pflanzen, Jena 1903. XXXV. Die Art und die niederen Einheiten in der Klassifikation. 4 g 5 Einen besonderen Fall der Reaktion der Organismen auf die Außen- welt bildet der sogenannte Saisondimorphismus. Diesen Namen gab Wallace einer bei den Schmetterlingen beobachteten Erschei- nung, welche in einem Jahre in zwei Generationen, im Frühling und gegen Ende des Sommers, aufleben: die Frühlingsform unterscheidet sich durch Flügelzeichnung derart von der Sommerform, daß jede von ihnen, bevor man ihre Zusammengehörigkeit erkannte, als eine besondere Art beschrieben wurde, wie ihre Doppelnamen noch jetzt andeuten: Venessa levana-prorsa , Antocharis belia-ausonia, Lycaena polysperchon-amyntas u. a. Der Saisondimorphismus war bereits im Anfange des ig. Jahrhunderts bekannt; 1879 wurde von G. DORFMEI- STER experimentell bewiesen, daß es der Unterschied in der Frühlings- und der Sommertemperatur ist, der die Unterschiede in der Zeich- nung der Schmetterlinge hervorruft, denn durch eine künstliche Abkühlung der Puppen gelang es, aus denselben die Frühlings- an- statt der Sommerform zu ziehen. Aber auch das Zentrifugieren der Puppen, oder die Veränderung der von ihnen geatmeten Atmosphäre, die Beleuchtung durch gelbes Licht rief ähnliche Veränderungen hervor, wie die Änderung der Temperatur. Neuerdings werden viele analoge Fälle angeführt; so z. B. daß aus den Puppen der Weibchen des Zitronenfalters (Gonopteryx rhamni L.) in der Wärme dunkle, in Farbe den Männchen ähnliche Weibchen sich entwickeln ;sonst sind die Weibchen dieses Schmetterlings viel heller, als die Männ- chen); bei dem Alpenfalter (Doritis Apollo) gelang der Versuch auch umgekehrt, indem man den Männchen durch Kälteeinwirkung die Farbe der Weibchen verlieh1). Der Saisondimorphismus kommt auch bei den Protozoen, Rota- torien, Cladoceren vor; nach R. v. Wettstein auch bei den zweimal in einem Jahr blühenden Pflanzen; so bei Alectorolophus, Gentiana, Euphrasia" . Bei allen Untersuchungen über den Einfluß der Umgebung auf den Organismus tritt hier mehr dort weniger das Unvermögen zutage, auf diese Art das eigentliche Wesen des Organismus zu erfassen: *) M. Standfusz, Gesamtbild der bis zu Ende 189S an Lepidopteren vorge- nommenen Temperatur- und Hybridationsexperimente. Insektenbürse 16, 1S99. 2) Über die Rotatorien vgl. R. Lauterborn, Der Formenkreis von Anurea cochlearis. Verh. nat. Ver. Heidelberg, N. F. 6, 1900; 7, 1903. — Über die Clado- zeren: W. Ostwald, Experimentelle Untersuchungen über den Saisondimorphismus bei den Daphnien. Arch. Entw.-Mech. iS, 1904. — Über die Pflanzen: R. v. Wett- stein, Der Saisondimorphismus als Ausgangspunkt für die Bildung neuer Arten im Pflanzenreiche. Ber. deutsch, bot. Ges. 1900. 4g6 XXXVI. Vermehrung. man beginnt einzusehen, daß alle unter dem Einfluß der Außenwelt erfolgenden Veränderungen des Organismus kein Überspringen in ein neues Wesen bedeuten, sondern daß dieses Wesen als etwas Unzu- gängliches, Unbeeinflußbares dahinter steckt, und in den Form- und anderen Reaktionen nur Beispiele liefert, wie es sich unter mannig- fachen Zuständen verhält. Von dieser Einsicht stammt die Lehre einiger Biologen, daß die Veränderungen des Organismus unter dem Einfluß der Außenwelt den Charakter direkter Anpassungen haben. Man weist z. B. auf die Erscheinungen der Immunität hin: der Organismus kann bis zu einem bestimmten Grade der Wirkung gewisser Gifte durch Hervorbringung von Gegengiften entgegenarbeiten ; er hat auch die Fähigkeit, sich bestimmten Licht- und Temperaturver- hältnissen durch charakteristische Regulationen seiner Lebenstätigkeit anzupassen. Die modernsten Untersuchungen knüpfen eben an dieses Problem an; kein Wunder, daß die Anschauungen darüber sich noch wenig geklärt haben1). XXXVI. Vermehrung. Arten der Vermehrung. In der Reihe der Eigenschaften, welche das Leben unüberbrück- bar von dem Anorganischen sondert, nimmt die Vermehrung eine der hervorragendsten Stellen ein. Die Phylogenie rechnet mit dieser Tatsache, indem sie lehrt, daß, soweit die Erfahrung reicht, kein Organismus aus allgemeinen Naturkräften entstanden ist, sondern durch einen anderen erzeugt wurde. Seit Aristoteles erhält sich zwar bis auf den Tag hartnäckig die Überzeugung, daß diese Annahme unrichtig ist, und daß es doch gewisse Bedingungen gibt, unter welchen der Organismus von selbst entsteht: eine Überzeugung, welche beweist, daß wir uns immer noch nicht recht in den Gedanken Darwins hineingelebt haben, das Leben sei vor einigen hundert Millionen Jahren unbekannt wie entstanden, und die ganze, der Zahl und Formenmannigfaltigkeit nach unübersehbare, Millionen Jahre hin- durch aufeinanderfolgende Reihe der Organismen sei eine ununter- brochene Fortsetzung jenes einzigen Anfanges, einen ungeheueren Lebensbaum darstellend, der durch eine einzige kleine Wurzel dort 1 Dieses Problem wird ausführlich von H. Driesch behandelt in: Die orga- nischen Regulationen, Leipzig 1901. XXXVI. Vermehrung. 407 irgendwo am Anfange in der Erde steckt — wenn er derselben über- haupt entsprossen ist. Seit dem Momente seines ersten Aufflackerns auf der Erde erhält sich das Leben nach dem Gesetze omne vivum e vivo. Und wieder ist die Art, wie das Leben aus dem Leben entsteht, eine Erscheinung ohne Analogie in der unbelebten Natur, ein Problem, das auf den niedersten Lebensstufen ebenso unklar ist, wie beim Menschen. Mann — Weib — Kinder: das Leben von Millionen Wesen ging nur in der Lösung dieses Problems auf. Das Leben erneuert sich auf zweifache Art: erstens geschlecht- lich, wenn zur Hervorbringung der Nachkommen zwei Individuen erforderlich sind, zweitens ungeschlechtli ch, wenn ein Individuum allein andere erzeugt. Die ungeschlechtliche Vermehrung besteht darin , daß sich vom mütterlichen Organismus ein größerer oder kleinerer Körperteil absondert , der sich durch Wachstum und Differenzierung zu einem neuen (neben dem alten, das gleichfalls das Verlorene ersetzt, bestehenden) Individuum entwickelt. Teilt sich der Organismus in zwei annähernd gleichgroße Hälften, spricht man von Teilung; die Knospung findet dagegen statt, wenn sich der neu entstehende Organismus als ein verhältnismäßig kleiner Bruchteil vom Körper des alten absondert ; wenn er endlich aus einer einzigen Zelle entsteht, die gewöhnlich in eigens dazu bestimmten Organen auf dem Körper des Mutterorganismus gebildet wird, spricht man von einer Vermehrung durch Sporen. Zur geschlechtlichen Vermehrung treten immer zwei, wenn nicht anatomisch selbständige Individuen, so doch physiologisch (geschlecht- lich) verschiedene Organe zusammen: das männliche, welches Spermatozoen bildet, und das weibliche, in dem die Eier entstehen. Ausnahmsweise kann eines der Geschlechter (das männliche) unter- drückt werden; man redet dann von Parthenogenesis, wenn un- befruchtete Weibchen entwicklungsfähige Eier legen. Bei höheren Tieren, besonders bei den Säugetieren, kommt die Parthenogenesis nicht vor, obwohl manchmal auch das Ei der Vögel und Säugetiere ohne vorherige Befruchtung sich wenigstens zu furchen beginnt. Zu derselben Zeit, als Darwin über seine Theorie nachsann, wurde von Wilh. F. B. Hofmeister die Entdeckung gemacht, daß auch die für geschlechtslos gehaltenen Kryptogamen sich geschlecht- lich vermehren, daß bei ihnen aber die geschlechtliche und unge- schlechtliche Fortpflanzung auf eine eigentümliche Art abwechselt. Rä dl, Geschichte der biol. Theorien. II. ->2 4Q 8 XXXVI. Vermehrung. Die grünen Moose legen Eier und Spermatozoen an; aus dem be- fruchteten Ei entwickelt sich aber nicht eine neue Pflanze, sondern eine Kapsel auf einem braunen Stiel, in welcher wieder ungeschlecht- liche Sporen entstehen, welche zu Boden fallen und eventuell zu neuen Pflanzen keimen. Das Moospflänzchen durchläuft also zwei Lebensperioden; in der ersten lebt es als grüne Pflanze, welche Ge- schlechtsorgane bildet, in der zweiten als braune Kapsel mit unge- schlechtlichen Sporen. Auch die Farne, Schachtelhalme und Bärenlappenpflanzen gehen durch diese zwei Lebensperioden hindurch; nur ist bei ihnen das geschlechtliche Einzelwesen klein und unmerklich, dagegen das unge- schlechtliche groß und (z. B. bei den Farnen) die eigentliche Farn- pflanze mit sporentragenden Blättern darstellend. Bei den Blüten- pflanzen ist die erste, die geschlechtliche Lebensperiode ebenfalls, aber nur spurweise vorhanden. Während sich die Algen bald ge- schlechtlich, bald ungeschlechtlich vermehren, weisen die höheren Pflanzen, von den Moosen aufwärts, einen geordneten Wechsel der zwei Vermehrungsarten auf; je höher die Pflanze, desto mehr ent- wickelt sich ihre ungeschlechtliche, desto mehr verkümmert ihre geschlechtliche Lebensperiode. Die Bedeutung dieses Wechsels ist dunkel; übrigens forschten weder Hofmeister noch seine Zeit nach derselben, sondern erblickten in der Tatsache nur einen neuen Beleg für die Entwicklungstheorie. Neuerdings versuchte der Leydener Botaniker P. Lotsy die Idee der zwei Generationen auch auf Tiere zu erweitern; im Geiste der modernen Forschung faßte er sie aber nur als Zellenproblem auf1) und erklärte die reifen Geschlechtszellen (welche nur die Hälfte der Chromosomen von anderen Gewebezellen enthalten), für die erste, und die übrigen körperlichen Zellen für die zweite Generation, ohne aber dadurch das Verständnis der ganzen Erscheinung irgendwie ge- fördert zu haben. Theorien über das Wesen des Geschlechts. Die Philosophie des Geschlechts , welche zu allen Zeiten den Gegenstand des tiefsten Nachdenkens bildete, kulminiert heute in der Lehre von den Chromosomen. Aristoteles verlegte in den Unter- schied der beiden Geschlechter den Kern seiner Philosophie, seiner J) P. Lotsy, Die x-Generation und die 2 x-Generation. Biol. Zentralbl. 25, 1905. XXXVI. Vermehruog. jnn Lehre vom Stoffe und der Form : im Weibe komme das passive Stoffprinzip, im Manne das aktive, schöpferische, formative Prinzip zur Darstellung-. Noch Harvey ließ sich von dieser Anschauung beeinflussen, als er den weiblichen Uterus mit dem Gehirn verglich: wie dieses die Fähigkeit besitzt, den Gegenständen ähnliche Vor- stellungen zu bilden, so bildet auch der Uterus, dessen Ideen die Eier sind, dieselben dem befruchtenden Manne nach. In den Speku- lationen der Evolutionisten des 18. Jahrhunderts verfiel der Begriff der Geschlechtlichkeit: die Entdeckung der Eier und Spermatozoen hatte zur Folge, daß man allen Sinn für das Wesen des Problems verlor und durch Nachdenken über diese Gebilde alle diesbezüglichen Fragen beantworten zu können wähnte. Die Lehre, daß der ganze Mensch bereits im Ei oder im Spermatozoon eingeschlossen liegt, be- deutete doch nichts anderes, als daß ein Geschlecht, sei es das männ- liche oder das weibliche, eine überflüssige, zwecklose Bildung der Natur darstellt. Die deutschen Naturphilosophen verweilten dagegen voll Bewun- derung vor der Erscheinung der Geschlechtlichkeit : ihr tiefster Begriff, der der Polarität, floß ihnen oft mit der Idee der geschlechtlichen Gegen- sätze zusammen; noch SCHOPENHAUER widmete den Betrachtungen über die Metaphysik der Geschlechtsliebe ein besonderes Kapitel1); von Dichtern, von dem Weltmann Goethe geführt, wußten sie die schicksalschwangere Gewalt der Geschlechtsunterschiede im Leben zu schätzen. Seit Darwin messen aber die Biologen diesem Problem keine sonderliche Bedeutung zu. Zwar hat Darwin auf den Unter- schied der Geschlechter seine Theorie der geschlechtlichen Zucht- wahl, von welcher er fast alle Schönheit der lebendigen Natur ableitete, aufgebaut; allein er wollte in jenem Unterschied nur eine sekundäre Anpassung an die äußeren Lebensbedingungen erblicken. Seitdem sank die Bedeutung dieser Erscheinung noch mehr: man strebte zwar die, bei der Behandlung dieser Frage sich leicht ein- stellende Prüderie dadurch zu überwinden, daß man sich auch in populären Werken über die Vorgänge bei der Kopulation ausließ ; am Ende verfiel man aber in eine Pedanterie, welche bis auf ganz konkrete Hypothesen derjenigen der Evolutionisten des 18. Jahrhunderts ähnlich sieht. Blind für die Vorgänge des wirklichen Lebens und durch mikroskopische Beobachtungen voreingenommen, erblicken die J) A. Schopenhauer, Metaphysik der Geschlechtsliebe, 44. Kap. der Welt als Wille und Vorstellung, 2. Bd. 32* cqq XXXVI. Vermehrung. Biologen in dem Problem der Geschlechtlichkeit, in dem sich einige Philosophen alle Probleme der Welt konzentriert dachten, meistens nur ein chemisches und zellulares Problem. Aus der Tatsache, daß das Spermatozoon und das Ei Zellen darstellen, schließt man, es be- stehe unter ihnen kein wesentlicher Unterschied; und weil man statt der erwachsenen Individuen, statt der ganzen Fülle ihres Lebens und Strebens die Geschlechtszellen setzen zu dürfen glaubt, aus welchen sie entstanden sind, folgert man, es gebe auch keinen wesentlichen Unterschied zwischen Mann und Weib; die Unterschiede, welche die- selben tatsächlich aufweisen, seien nur spezielle Anpassungen zum Zwecke einer leichten Vereinigung des Spermatozoons mit dem Ei. »In allen das Geschlecht betreffenden Einrichtungen wird ein und dasselbe Thema variiert: einmal Vorkehrungen zu treffen, durch welche das Zusammentreffen der Geschlechtszellen ermöglicht wird und zweitens für Einrichtungen, durch welche das Ei ernährt und geborgen wird. Das eine nennen wir männliche, das andere weibliche Organisation, männ- liche und weibliche Sexualcharaktere. Alle diese Verhältnisse sind sekun- därer Art und haben mit dem eigentlichen Wesen des Befruchtungs- vorganges, welche eine Vereinigung zweier Zellen und somit ein reines Zellenphänomen ist, nichts zu tun. Hierin stimmen wir mit Weismann, Rich. Hertwig, Strasburger und Maupas überein, welche gleiche An- sichten ausgesprochen haben«1). Dem Forscher erübrigt nur die Frage, welche Bedeutung dem Befruchtungsvorgang selbst zuzuschreiben ist. Wie die einfachsten Formen, die Bakterien, zeigen, gab es ursprünglich keine Geschlechts- unterschiede; dieselben entwickelten sich allmählich und nahmen durch Kopulation von zwei sonst gleichen Zellen ihren Anfang; zur Er- leichterung der Kopulation übernahm dann die eine Zelle die Rolle, ruhig zu bleiben und Nahrung zu sammeln; die andere wurde be- weglicher, deshalb kleiner und suchte die erstere auf: so ist die Differenzierung zwischen dem Ei und dem Spermatozoon entstanden. Als sich später vielzellige Wesen entwickelten, nahmen nur einige Zellen die Rolle der Reproduktion auf, und zum Zweck einer er- leichterten Kopulation differenzierten sich die beiden Geschlechter in verschiedener Richtung. In dieser Weise schildern die Entstehung der Geschlechtsunter- schiede Ed. Strasburger, Maupas und Weismann. Dieser schreibt überdies der Tatsache der Geschlechter die Aufgabe zu2), die Varia- bilität der Wesen zu unterstützen: der Nachkomme erbe einige Eigen- J) O. Hertwig, Allgemeine Biologie, Jena 1902. 2) A. Weismann, Aufsätze über Vererbung, Jena 1892, S. 142. XXXVI. Vermehrung. cqi schaften von dem Vater, andere von der Mutter und stelle also eine neue Kombination von Eigenschaften dar. In einer ebenso durch- sichtigen Art wird auch von anderen das geschlechtliche Leben betreffenden Erscheinungen erklärt, daß sie nichts dem Forscher unbegreifliches bieten: fragt man nach der Grundlage der geschlecht- lichen Liebe? G. JAEGER sprach die Hypothese aus, sie bestehe in der Ähnlichkeit der Ausdünstungen von Mann und Weib und in einer durch dieselben bedingten chemischen Attraktion; W. Pfeffer ist es sogar gelungen, für einige Pflanzen diese Hypothese zu bestätigen; auch bei P. MANTEGAZZA waren sehr ähnliche Erklärungen zu lesen; andere, wie Nagelt, dachten mehr an eine elektrische Anziehung. Weshalb streben aber zwei Zellen nach Vereinigung, wozu die Elektrizität und die Chemie? Der Grund soll nichts besonderes sein: nach einigen Forschern entwickelte sich die Konjugation der Zellen aus einer Art Kannibalismus: eine Zelle verschlang ihre Genossin, wurde stärker, übertrug die Fähigkeit, ihre Artgenossen zu fressen, auf ihre Nachkommenschaft und so entstand die Kopulation1). J. LoEB, ein modernerer Denker, schreibt der Befruchtung die Bedeutung zu, daß das Spermatozoon gewisse chemische Substanzen in das Ei mit- bringt, welche dessen Furchung beschleunigen, die aber auch ohne Zuhilfenahme des Spermatozoons, nur durch Einwirkung bestimmter Chemikalien hervorgerufen werden kann. Ein wenig Chlorkali oder Küchensalz ersetzt, wenn nicht geradeswegs den Mann, so doch das Männchen der Echiniden, der Würmer, der Seesterne u. a. Tiere2). Th. Boveri3) vergleicht seinerseits das Ei mit einer nicht auf- gezogenen Uhr; die Befruchtung soll keinen anderen Sinn haben, als die Feder im Ei aufzuziehen, wodurch die Furchung ermöglicht wird. Die Hauptsache soll das Zentrosoma sein, welches mit dem Spermato- zoon in das Ei eintritt, und welches die Furchung einleitet. Auch für H. Spencer birgt der Zweck der Befruchtung kein Geheimnis: das Leben stellt eine stetige Wellenbewegung dar; der Anfang des Lebens ist wie eine wogende Wasserfläche, welche stiller und stiller wird, wie die Entwicklung fortschreitet; im Ei herrscht bereits eine so große Ruhe, daß ein neuer Impuls von außen kommen muß: das be- fruchtende Spermatozoon ist wie ein in den Teich geworfener Stein; x) Rolph, Biologische Probleme, Leipzig 1882 (zitiert nach WEISMANN, Aufsätze über Vererbung, S. 348, wo noch andere ähnliche Ansichten angeführt sind). J. Loeb, Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen, Leipzig 1906. 3) Th. Boveri, Das Problem der Befruchtung, Jena 1902. 502 XXXVII. Kreuzung. das Leben wird von neuem in Bewegung gesetzt und so entsteht die Kraft zu einer neuen Entwicklung1). Wenn man das Weben und Streben im Weltall betrachtet, so scheint der Gegensatz von Mann und Weib den größten Anteil an allem Geschehen zu beanspruchen: das Schönste und das Schmutzigste im praktischen Leben, in der Philosophie, in der Dichtkunst wurde im Banne dieses Gegensatzes zustande gebracht; für die Dichter bildet das Geschlechtsleben die schier unumgängliche Quelle ihrer Schöpfungen; jede Religion enthält in ihren metaphysischen Wurzeln die Frage über das Verhältnis des Mannes zum Weibe auf irgend eine Art gelöst: und nun tritt einer an die Forscher, die doch um alles auf der Welt wissen, mit der Frage heran: Ihr Weisen, hoch und tief gelahrt, Die ihrs ersinnt und wißt, Wie, wo und wann sich alles paart? Warum sich liebt und küßt? Ihr hohen Weisen sagt mirs an! Aber die hohen Weisen wissen nur über Zentrosomen und Chromo- somen zu berichten; mehr hatte ihnen ihre exakte Wissenschaft nicht kund getan. Tant pis pour eile! XXXVII. Kreuzung. Die Lehre von den Eigenschaften. Die idealistische Morphologie blieb in der Analyse des Tier- und Pflanzenkörpers bei dem Begriffe des Organes stehen und zerlegte auch diesen Begriff nach der morphologischen Seite hin nicht genügend, indem sie im Organ ein Werkzeug für physiologische Lebenszwecke sah. Es kamen zwar auch Versuche einer mehr abstrakten Analyse zum Vorschein: die Begriffe der Homologien und Analogien, der Körpersegmente, die Wirbeltheorie des Schädels, die Metamorphosen- lehre, die Zerlegung der Pflanze in Wurzel, Stengel, Blatt und Trichome, überhaupt die Unterscheidung morphologischer und physio- logischer Lebenserscheinungen sollte die Anschauung überwinden, der Organismus sei nur ein Werkzeug für gewisse Lebenszwecke: *) Systematisch wird das Geschlechtsproblem behandelt in: P. Geddes und J. Thomson, The evolution of the Sex, London 1889. — L. Dantec, La sexualite, Paris 1899. — Geschichte des Problems bei W. His, Die Theorien der geschlecht- lichen Zeugung. Archiv f. Anthropologie 4, 1870 und 5, 1872 (unvollständig). XXXVII. Kreuzung. 503 allein bewußt und entschieden emanzipierte sich kein Morphologe von der Herrschaft der Physiologie; übertriebene Betonung der All- gemeinheiten unterdrückte übrigens jeden Versuch einer ins Einzelne gehenden Analyse der organischen Form. Der Darwinismus in ÜAECKELs Fassung übernahm den ganzen Inhalt der idealistischen Morphologie, verlieh ihm aber eine noch einseitigere physiologische Färbung: praktische Lebensbedürfnisse bestimmen nach DARWIN die körperliche Organisation. Die Ent- deckung der Zelle, eines Elementes, das sich weder aus allgemeinen anatomischen noch aus physiologischen Tatsachen deduzieren läßt, bedeutete den ersten Angriff auf die Organmorphologie; nebstdem halfen auch die Keimblätterlehre und die Theorien von der Erblichkeit und Variabilität die Bedeutung der Organe in den Hintergrund zu drängen. Die Betrachtungen über Erblichkeit und Variabilität führten auf einen neuen Begriff, den der Eigenschaft. Den ersten Vorstoß in dieser Richtung bildete Darwins Pangenesistheorie. Als er sie veröffentlichte, war es noch niemandem klar, daß er durch dieselbe die Organmorphologie angriff, die eben erst sein Freund HAECKEL, mit entwicklungsgeschichtlicher Terminologie ausgerüstet und verjüngt, in die Welt gesandt hatte. Man hieß Haeckels Versuch willkommen und fand die unsichtbaren Körperchen Darwins, die im Blute suspen- diert durch den ganzen Körper strömen, um sich in den Geschlechts- zellen niederzusetzen, äußerst bedenklich. Trotzdem war aber Darwins Theorie von nachhaltiger Wirkung, zum Beweis, daß sie einen gesunden Kern enthielt; vorzügliche Denker, wie NÄGELI, Galton, WEISMANN nahmen sich der unsichtbaren Körperchen an, und suchten nach einer Erklärung, wie mit Hilfe derselben die Eigenschaften von den Eltern auf die Nachkommen übertragen werden. Worin bestehen diese Eigenschaften? DARWIN legte sich diese Frage nicht vor und hielt für eine organische Eigenschaft z. B. die Länge der Füße, die Anzahl der Zähne, die Lage eines Blut- gefäßes, einzelne Muskeln, den Grad der Vernünftigkeit, den Mut, die Hautfarbe, die Sprachfähigkeit. In der materialistischen An- schauungsweise seiner Zeit befangen, konnte er nicht umhin, sich jede dieser Eigenschaften als ein Körperchen oder als eine Anordnung von Körperchen vorzustellen. Es blieb unbemerkt, daß Darwins Auflösung des Organismus in Eigenschaften eine andere Auffassung des Lebens bot, als die- jenige, welche von Organen, Geweben und Zellen handelte ; HAECKEL zq' XXXVH. Kreuzung. ging über die Analyse Darwins hinweg, als wäre sie nicht vorhanden ; WEISMANN, ein modernerer Forscher, nahm sie auf und unterschied zwei Arten von Eigenschaften, angeborene und erworbene. Obwohl aber im Streit um die Erblichkeit der Eigenschaften viel Drucker- schwärze verbraucht wurde, versuchte doch niemand die Frage zu lösen, was man unter einer Eigenschaft zu verstehen habe; zwar wagte WEISMANN sogar den Versuch, anzugeben, wieviel (erbliche) Eigenschaften ein Organismus (Daphnia) besitzt, aber er glaubte immer noch, daß sich ihre Anzahl a priori erraten lasse. Inzwischen bemühten sich andere Forscher, den Begriff der Eigen- schaft genauer zu bestimmen: Cope lehrte, daß dieselbe Eigenschaft bei verschiedenen Arten und Gattungen vorkommen kann; man sprach auch von einer Mischung der Eigenschaften durch Kreuzung — aber immer noch galt es in der Theorie, daß nur Organe und deren Teile die einzigen greifbaren Elemente darstellen, in welche sich der Or- ganismus analvsieren läßt. Erst die neuesten Theoretiker schütteln diese Lehre ab und suchen den Begriff der Eigenschaft klarer zu erfassen. Wir wollen bei der historisch interessanten Erscheinung, wie eine Anschauung in eine andere umschlägt, stehen bleiben. Nach Forschern, welche heute über das rudimentäre Wissen der Vergangenheit, über die Fortschritte der heutigen Wissenschaft und über die Aufgaben der Zukunft nachdenken, besteht das Wesen des Fortschrittes im Vermehren der Erfahrung, in einer stets gründlicheren Ausfüllung der Lücken in unseren Kenntnissen. Nichts ist aber unhistorischer als diese Ansicht: weder Darwin noch Weismann ahnten, daß sie mit ihrer Zerlegung des Organismus in Eigenschaften eine neue wissen- schaftliche Richtung einschlagen; sie hielten ihre Anschauungen für so definitiv, daß sie nur in Einzelnheiten verbessert und vervollständigt wer- den könnten; und doch sollten sich ihre Anschauungen zu einer neuen Philosophie entwickeln. Die niedrigere Stufe des Wissens ist eben nicht durch Lückenhaftigkeit der Kenntnisse charakterisiert, sondern durch dasjenige, was Sokrates mit den Worten andeutete, daß man sich dessen nicht bewußt sei, was man nicht wisse. Auf jeder Stufe des Wissens hält der Mensch seine Erkenntnisse für definitiv, für abschließend, und glaubt, daß man späterhin nur die Lücken in seinem Wissen ausfüllen werde, wozu sein Leben nicht hingereicht hat. Wollte man sich jedoch auf Grund der heutigen Anschauungen über den Fortschritt der Wissenschaft eine Vorstellung davon bilden, wie eine wissenschaftliche Abhandlung vor einem, zwei, drei Jahrhunderten XXXVII. Kreuzung. 505 aussah, so käme man zu der Annahme, daß die damaligen Autoren vor lauter Lücken in ihrem Wissen keines geschlossenen Urteils über Naturerscheinungen fähig waren. Welch ein Irrtum! Man nehme CüVIEKs vergleichende Anatomie aus dem Anfange des 19. Jahr- hunderts in die Hand, man nehme BONNETs Phantasien aus der Hälfte des 18., SWAMMERDAMs um hundert Jahre ältere Beobach- tungen über die Insekten, man lese noch ältere Abhandlungen des FABRICIUS aus dem Anfange des 17. Jahrhunderts, und es wird sich zeigen, daß die Schriften aller dieser Autoren wenigstens in einer Hinsicht den modernen ganz ähnlich sind : sie sind sich dessen gar nicht bewußt, daß sie erst in den Anfängen der Wissenschaft ver- faßt wurden und deshalb noch in ihren Schlüssen vorsichtig sein müssen, und daß nach ihnen noch andere Zeitalter mit anderen Problemen und anderen Lösungen kommen werden ; FABRICIUS z. B. beginnt seine Arbeit (ebenso wie es heute üblich ist) mit einer histo- rischen Einleitung, worin er Autoren anführt, welche vor ihm über das Gehör, über Entwicklungsgeschichte und über andere Probleme ge- schrieben haben; er erörtert ihre Ansichten und gibt dann seine eigene Lösung, welche ebenso im Tone der letzten Instanz vorgebracht wird, wie die heutigen Lösungen. Die moderne Hypothese von der Möglichkeit eines zielbewußten Arbeitens an dem Fortschritte der Wissenschaft ist eben unrichtig, und durch die Tatsache widerlegt, daß der Mensch die Art seines Zusammenhanges mit der Zukunft nicht kennt, da er nur wie reifes Obst am Baume des Lebens hängt und mit ihm durch unbekannte Kräfte verbunden ist. — Die Analyse des Organismus in seine Eigenschaften ist noch nicht zu einer einheitlichen, zielbewußten Lehre mit festem Programm ge- worden; nichtsdestoweniger treten die Umrisse eines solchen bereits klar zutage. Sie wird in den Spekulationen über die Erblichkeit sichtbar, in den Untersuchungen über die Kreuzung der Organismen, in den Theorien über sprungweise Entstehung neuer Formen, in de Vries' Mutationstheorie und in FRIEDMANNS Konvergenztheorie. De Vries scheint sich ihr am meisten genähert zu haben: auch er hatte sich seinerzeit bemüht, die Zellentheorie mit der Lehre von erblichen Merkmalen zu versöhnen1), auch er glaubte an hypothetische Körperchen, welche die Eigenschaften eingeschachtelt enthalten sollen: aber schon in seinen ersten Arbeiten legte er mehr Nach- druck auf die Eigenschaften, als auf die Körperchen. Er führte aus, Jj De Vries, Intrazellulare Pangenesis, Jena 1889. 5o6 XXXVII. Kreuzung. daß dieselbe Eigenschaft, z. B. das Chlorophyll, bei einer Pflanze vorkomme, bei einer anderen, ihr verwandten, fehle: daß sie also nicht notwendig mit anderen Eigenschaften zusammenhängen müsse, daß dieselbe Blattform, dasselbe Alkaloid die Eigenschaft verschiedener Pflanzenarten bilden könne, und daß folglich eine jede Art aus vielen Eigenschaften zusammengesetzt sei, welche sich bei verschiedenen Arten in verschiedenen Kombinationen wiederholen; und daß die Aufgabe des Biologen in der Aufsuchung dieser Eigenschaften be- stehe T) : »Es zeigt sich dann, daß der Charakter jeder einzelnen Art aus zahl- reichen erblichen Eigenschaften zusammengesetzt ist, von denen weitaus die meisten bei unzähligen anderen Arten wiederkehren. . . . Jede Art erscheint uns bei dieser Beobachtungsweise als ein äußerst kompliziertes Bild, die ganze Organismenwelt aber als das Ergebnis unzähliger ver- schiedener Kombinationen und Permutationen von relativ wenigen Faktoren. « Die Mutationstheorie DE Vries' (ungeachtet ihrer sonstigen Be- deutung für die Phylogenie) führt auch praktisch auf die Analyse der Pflanze in ihre Eigenschaften hin, indem sie den Forscher dazu an- leitet, das Neue an einer Mutation durch Vergleichung zu ermitteln und es als etwas an sich, als einen Baustein, der hinzugekommen ist, zu betrachten. Tatsachen der Kreuzung. Mehr noch, als durch die Mutationstheorie, wird die Lehre von den Eigenschaften durch die Analyse der Bastardierungserscheinungen gefördert. Wie schon erwähnt, scheint unter den Lebewesen allge- mein die Neigung obzuwalten, daß zur Hervorbringung eines neuen Organismus zwei Individuen zusammentreten, und daß selbst in dem Falle, daß ein Organismus beiderlei Geschlechtsorgane besitzt, zwei Zwitter sich verbinden, trotzdem Selbstbefruchtung möglich ist und nötigenfalls eintreten kann. Die Erscheinung wurde das erstemal bei den Pflanzen vom deutschen Botaniker Chr. Konr. Sprengel2) bemerkt, der lehrte, daß die Natur die direkte Befruchtung des Pistills mit dem Pollen derselben Blüte auf verschiedene Art behindere und die Befruchtung mit dem aus anderen Blüten stammenden Pollen unterstütze. Darwin nahm sich dieser Hypothese, welche J) De Vries, Intrazellulare Pangenesis, Jena 1889, S. 7. 2) K. Sprengel, Das entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und Befruchtung der Blumen, Berlin 1793. Eine interessante Biographie Sprengels (der Lehrer an der städtischen Schule in Spandau war) findet sich in Kosmos 6, 1879, S. 125 sq. XXXVII. Kreuzung. 5°7 in seine Betrachtungen über die Beziehungen zwischen Blüten und Insekten hineinpaßte, an, und behauptete auf Grund mannigfacher Versuche, daß sich »kein organisches Wesen ausschließlich durch Selbstbefruchtung am Leben erhält, sondern daß nach einer gewissen, wohl auch langen Periode die Kreuzung zwischen zwei Individuen eintreten muß« l). Es scheint, daß es die große Ähnlichkeit (nahe Verwandtschaft) der Geschlechter ist, welche die erfolgreiche Befruchtung verhindert und daß es gewisser Unterschiede bedarf, um eine Ergänzung des Männchens und des Weibchens zu ermöglichen. Übersteigt aber die Unähnlichkeit ein gewisses Optimum, wird die Befruchtung wieder erschwert oder unmöglich gemacht. Aber auch sehr unähnliche Tiere und Pflanzen können manchmal erfolgreich gekreuzt werden; als Regel gilt, daß zwei Varietäten untereinander gekreuzt Nach- kommen erzeugen, zwei Arten dagegen miteinander unfruchtbar bleiben; auch da gibt es aber zahlreiche Ausnahmen. DARWIN befaßte sich viel mit den Erscheinungen der Kreuzung; er hielt den Organismus für eine Summe seiner Eigenschaften etwa in der Art, wie jede Zahl eine Summe von anderen Zahlen darstellt, welche sich in der Summe gänzlich verlieren ; bei der Kreuzung zweier Formen stellte er sich vor, daß sich auch ihre Eigenschaften auf diese mathematische Art verbinden, d. h. so, daß im Bastard nicht mehr die Eigenschaften der Eltern, sondern eine aus ihnen resul- tierende vorkommt. Nebstdem konzentrierte er seine Beweisführung auf die Lehre, daß die Kreuzungen unter Arten sich von denjenigen unter Varietäten und unter Individuen nur dem Grade nach unter- scheiden, und daß die Sterilität der Bastarde aus sekundären Ursachen erklärt werden müsse. Methodisch wurde Darwins Anschauung von seinem Verwandten FRANCIS Galton durchgeführt. Galton nimmt an, daß alle Eigen- schaften nur quantitative Abweichungen vom Mittelmaß darstellen und sich bei der Kreuzung bei den Nachkommen nach den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung kombinieren. Durch Berechnungen, die wir übergehen wollen, kommt er zum Schlüsse, daß der Nach- komme von seinen Eltern je x/4 seiner Eigenschaften, \'l6 von dem Großvater, x/64 von dem Urgroßvater usw. erbe. Dieselben Regeln sollen auch bei der Kreuzung weniger verwandter Formen herrschen: findet einmal Kreuzung statt, so vermischt sich im J) Ch. Darwin, Origin of Species, S. 71. 5o8 XXXVII. Kreuzung. Nachkommen das Blut der beiden Eltern so, daß man aus dem Nachkommen nie mehr die ursprünglich reine Elternform ziehen kann1). Man suchte in der Natur nach Bastarden, welche auf diese Art entstanden wären und sich als neue Formen weiter fortpflanzten, und fand deren unter den Pflanzen eine Menge vor (Verbascum, Salix, Hieracium, Rosa u. a.)2). Inzwischen wurde, von der offiziellen Literatur unbemerkt, eine andere Auffassung der Kreuzungserscheinungen vorbereitet. Das Studium derselben war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr rege: in England stritten um die Deutung der Experimente A. KNIGHT und W. Herbert, in Holland bot C. F. Gärtner eine Reihe von neuen Versuchen und Deutungen, in Frankreich studierte die Bastar- dierungserscheinungen Naudin 3). Die Absicht der Versuche war verschiedenartig; man suchte zu ermitteln, ob die Kreuzungen unter verschiedenen Varietäten anderen Gesetzen folgen als die unter den Arten; ob man durch Kreuzung neue Arten hervorbringen kann; ob der Bastard mehr dem Vater oder der Mutter ähnelt u. ä. Es herrschte eine starke Neigung, die Bastarde als unnatürliche Produkte zu betrachten, welche ihre von beiden Eltern übernommenen Eigen- schaften nicht weiter vererben, sondern in ihrer Nachkommenschaft auf einen der Eltern zurückschlagen. DARWIN verwarf diese Meinung und gab der ganzen Erforschung der Bastarde die oben erwähnte Richtung. Es gab aber einzelne Forscher, die ihm nicht Folge leisteten : ohne auf den Umschlag der öffentlichen Meinung zu achten, verfolgten Ch. Naudin in Frankreich und G. J. Mendel in Mähren die alte Anschauung weiter: Naudin4) glaubte in den Bastarden unnatürliche Verbindungen erblicken zu müssen, wo die Eigenschaften der Eltern nicht zusammenfließen, sondern nebeneinander liegen bleiben und bei der weiteren Züchtung wieder auseinanderfallen. Der Brünner Gymnasialprofessor und später Augustinerprälat knüpfte auch an die ältere Anschauungsweise an, 1 F. Galton, Natural Inheritance, London 1889. 2, Daß durch Kreuzung der Formen neue Arten entstehen können, lehrten be- sonders R. Focke, Die Pflanzenmischlinge, Berlin 1881 ; A. Kerner, Pflanzenleben, Leipzig und Wien 1891. 3) Ausführlicher über diese Autoren bei Focke 1. c. 4) Ch. Naudin, Nouvelles recherches sur Thybridite dans les vegetaux. Nouv. arch. d'hist. nat, Paris I, 1965. — Über Naudins Verhältnis zu Mendel vgl. P. Lotsy, Vorlesungen über Deszendenztheorien, Jena 1908, IL S. 575. XXXVII. Kreuzung. =OG faßte sie aber tiefer auf1). Er stellte sich vor, daß der Organismus aus einer Reihe von Eigenschaften zusammengesetzt ist, etwa derart, wie die Substanzen aus Atomen bestehen; daß bei der Kreuzung verwandter Formen die Eigenschaften der Eltern sich nicht durch- dringen, sondern nur aneinanderlegen, aber nur eine Eigenschaft ent- wickelt, die andere latent wird. In die Geschlechtsprodukte (Eier, Pollenkörner) der Nachkommen tritt von jedem Eigenschaftspaar nur eine ein; die Merkmale der Großeltern kombinieren sich in ihnen in einer neuen Art: in jedes Ei, in jeden Pollenkorn tritt eine Gruppe der väterlichen, eine der mütterlichen Eigenschaften ein; die Anzahl der möglichen Kombinationen soll der Wahrscheinlichkeitsrechnung folgen. Pflanzt sich der Bastard durch Selbstbefruchtung fort, so vereinigt sich je ein Pollenkorn mit einem Ei: enthalten sie zufällig dieselbe Kombination von Eigenschaften, so entsprießt ein Nachkomme ;ein Mischling), welcher einige Eigenschaften vom Großvater, andere von der Großmutter, jede Eigenschaft aber nur einmal besitzt und eine konstante Form darstellt. Sind aber die Eigenschaften im Ei und in dem es befruchtenden Pollen verschieden, so entsteht eine Form (Hybride), in der wieder doppelte Eigenschaften vorkommen, welche erst durch weitere Selbstbefruchtung gespaltet werden können. Durch mathematische Berechnung läßt sich dann ermitteln, wie viele Misch- linge in jeder Generation durch fortgesetzte Selbstbefruchtung der Bastarden hervorkommen. Ist // die Anzahl der Eigenschaften, durch welche sich die zur Kreuzung erwählten Eltern unterscheiden, dann ist 3" die Anzahl aller möglichen voneinander verschiedenen Arten der Nachkommen und 2" die Anzahl der Mischlinge mit konstanter Nachkommenschaft. Aus der Kreuzung von zwei Erbsenvarietäten, welche sich in drei Eigenschaften voneinander unterscheiden, bekommt man in zweiter Generation 33= 27 verschiedene Formen, von welchen 2 3 = 8 konstant bleiben. Naudixs wie Mendels Theorie blieb ohne Nachhall, obwohl namentlich die letztere auf exakten Versuchen begründet war; sie fielen gerade in die Blütezeit des Darwinismus, der kein Verständnis für eine Analyse der Pflanzen in Eigenschaften besaß. MENDEL machte zwar auch NÄGELI auf seine Versuche aufmerksam, doch selbst dieser wußte ihnen nichts zu entnehmen, was ihm zugesagt hätte. Der Gründe gibt es mehr: Mendels Versuche waren ohne Mikroskop J) J. Mendel, Versuche über die Pflanzenhybriden. Verh. d. narurf. Vereines in Brunn 4, 1865. 5IO XXXVII. Kreuzung. und an kultivierten Pflanzen ausgeführt worden, welches ihnen den Stempel von Minderwertigkeit aufdrückte; hatte er seine Befunde in einer wenig bekannten Zeitschrift veröffentlicht; auch daß er Augustiner- prälat war, ist nicht ohne Bedeutung ; wie hätte ein solcher zur Stütze der herrschenden darwinistischen Lehre beitragen können? Erst in den letzten Jahren, lange nach seinem Tode, wurde er entdeckt1). Mendel entwickelte seine Lehren nur an Versuchen mit Pflanzen; noch heute blüht seine Methode vorzugsweise in der Botanik, obwohl seine Regeln auch von den Zoologen angewandt werden2). Es werden aber auch Zweifel laut an der unbedingten Geltung der MENDELschen Auffassung, nach welcher die organischen Eigenschaften Elemente darstellen, welche sich miteinander beliebig kombinieren und von- einander trennen lassen, und nur den Wahrscheinlichkeitsregeln über Kombinationen folgen ; man kehrt vielfach zur älteren von Frc. Galton herrührenden Theorie zurück3). Einzelne Histologen (insb. Val. Hacker) wollen ein Analogon der MENDELschen Ansicht, daß die elterlichen Eigenschaften in den Kindern nur einander anliegen und erst in den Enkeln engere Ver- bindungen eingehen, direkt unter dem Mikroskop beobachtet haben: der männliche und der weibliche Kern sollen keineswegs gleich nach der Befruchtung, nach der Kopulation zu einem Kern zusammen- fließen, sondern nebeneinander liegen bleiben und ihre Selbständig- keit auch in der Furchung des Eies behalten; auch die geschlecht- lichen Produkte, der Kinder sollen noch die väterlichen und die mütterlichen Kernbestandteile unvermischt enthalten; erst unmittelbar vor der Befruchtung sollen sich die letzteren vereinigen. Da nun nach den Theorien der Histologen der Kern als der Träger der Eigen- schaften betrachtet wird, wird jener Theorie auch die paradoxe x) Ober Mendel vgl. C. Correns, Die Ergebnisse der neuen Bastardforschung für die Vererbungslehre. Ber. deutsch, bot. Ges. 19, 1901. — Derselbe, Briefe an C. Nägeli 1866 — 1873. Abh. Sachs. Ges. Wiss., Leipzig 1905. — Mendels Arbeiten erschienen von neuem in Ostwalds Klassikern d. exakt. Wiss. 2) A. Lang, Über die MENDELschen Gesetze, Art- und Varietätenbildung usw., Luzern 1906. — W. E. Castle, Heredity of Coat Characters in Guinea Pigs and Rabbits, Washington 1905. — W. Bateson, The Progress of Genetics since the Re- discovery of Mendels Papers. Progressus rei bot., Jena I, 1907 (u. a. Schriften). 3) Eine Vergleichung der Theorien Galtons und Mendels gibt E. Tschermak: Die MENDELsche Lehre und die GALTONsche Theorie von Ahnenerbe. Archiv Rass. Biol. II, 1905, S. 663 sq. — A. D. Darbishire, On the Difference betw. Physiol. a. Statist. Laws of Heredity. Manchest. Lit. Soc. 1906. (Mit vielen Literatur- angaben.) XXXVII. Kreuzung. cu Fassung gegeben, die Nachkommen seien nicht Nachkommen der Eltern, sondern der Großeltern1). Friedmanns Konvergenztheorie. Der Niedergang der Morphologie von heute wurde bereits er- wähnt; es wurde auch geschildert, wie dieser Verfall mit Baer be- ginnt, mit Darwin und HAECKEL fortschreitet und bei gleich- zeitigem Aufblühen der Physiologie den niedrigsten Punkt erreicht. H. FRIEDMANN entwickelt nun Gedanken, mit welchen er unbewußter- weise an die idealistische Morphologie anknüpft2), aber den Organis- mus nicht mehr in »Organe«, sondern in Elemente analysiert, welche als Bausteine, als »Elemente« im Sinne der Chemiker aufgefaßt werden könnten. Die Ansicht, die Ähnlichkeiten unter den Organismen könnten durch Abstammung von gemeinsamen Eltern erklärt werden, sei unrichtig: vielmehr haben die Analogien unter lebenden Wesen einen dreifachen Grund. Insofern sie Homologien darstellen, be- stehen sie in primären Übereinstimmungen von Struktur- elementen, deren sich die schaffende Natur bedient, wo immer sie ähnliche Zwecke erreichen will. Die Homologien sreben das »ideelle Grundgesetz der organischen Formen« an; sie sind so aufzufassen, wie die Ähnlichkeiten unter Kristallen. Die Analogien bilden für FRIEDMANN ähnliche Reaktionen verschiedener Organismen auf die- selben Wirkungen der Außenwelt; so wenn verschiedene Pflanzen, in alpine Regionen übertragen, dort rötliche Farbe annehmen. Von den Erscheinungen der sog. direkten Konvergenz behauptet FRIEDMANN, daß sie durch einen noch unaufgeklärten psychischen Einfluß des Milieu auf den Organismus hervorgebracht werden. Als Beispiel der direkten Konvergenz führt FRIEDMANN u. a. an: die Ähn- lichkeit lange miteinander lebender Gatten, die Tatsache, daß sich die Anglo-Amerikaner dem Typus der lokalen Rassen auffallend ge- nähert haben, die Übereinstimmung der geographischen Verbreitung *) Val. Haecjcer, Über die Autonomie der väterlichen und mütterlichen Kern- substanz vom Ei bis zu den Fortpflanzungszellen. Anat. Anz. 20, 1902. — Auch botanische Tatsachen (gewisse Eigenschaften der Rostpilze werden als Beleg für diese Theorie angeführt. Über ihre Anhänger und Bekämpfer vgl. R. Fick, Ver- erbungsfragen usw. Ergebnisse der Anatomie und Entwicklungsgeschichte. Wiesbaden 1907, S. 72 sq. 2) H. Friedmann. Die Konvergenz der Organismen. Eine empirisch begründete Theorie als Ersatz für die Abstammungslehre. Berlin 1904. U2 XXXVIII. Entwicklungsmechanik. der Menschenrassen mit der der Säugetiere, die für gewisse Gegenden spezifischen Formen (Australien!) und Mimikry. Friedmanns beachtenswerten Erörterungen wurde wenig Aufmerk- samkeit zuteil. Der Grund scheint nicht nur in der modernen Ab- wendung von der Morphologie zu liegen, sondern auch in Friedmann selbst, der seine Anschauungen mehr angedeutet als entwickelt, mehr gestreift als durchgearbeitet hat. XXXVIII. Entwicklungsmechanik. In den Anfangskapiteln dieser Geschichte wurde berichtet, wie an der Schwelle des ig. Jahrhunderts die idealistische Morphologie blühte. Ihre Methode war Vergleichung, ihr Gegenstand erwachsene Formen der Tiere und Pflanzen, ihr Ziel die Erkenntnis des Wesens dieser Formen. Einzelne Forscher bemühten sich, die Grenzen dieser Wissenschaft zu durchbrechen: sie behielten die Methode, erweiter- ten aber das Material, indem sie auch abnormale Gebilde in Betracht zogen. Namentlich die Anführer der morphologischen Richtung Geoffroy St. Hilaire, J. F. v. Meckel und P. Decandolle haben dieses Bestreben gefördert; Geoffroy suchte durch das Studium der menschlichen Monstrositäten seinen Grundsatz von der Einheit des organischen Planes zu bekräftigen; J. F. Meckel sammelte mit deut- schem Fleiß alle Tatsachen über pathologische Gebilde beim Men- schen, und bot ein Werk, welches für jene Periode der Wissenschaft dieselbe Bedeutung hatte, wie später Darwins inhaltlich analoge Monographie über das Variieren der Tiere und Pflanzen; P. Decan- dolle zog aus dem Studium der vegetabilischen Monstrositäten klare Schlüsse über den normalen Bau der Gewächse1). Die Morphologie verfiel, Schleiden und Baer traten in den Vordergrund: man begann von mechanischer und ursächlicher Er- klärung der Formen zu sprechen. Aus dieser Zeit stammt ein Werk, in dem sich die neue Stimmung deutlich spiegelt; es wurde unter dem Titel »Anatomisch -physiologische Übersicht des Tierreichs« sieben Jahre vor dem Hauptwerke Darwins von zwei deutschen J) Geoffroy St. Hilaire, Philosophie anatomique. Des monstruosites humaines, Paris 1822 (für Geoffroys Anschauungen sehr charakteristisch). — J. F. Meckel, Handbuch der pathol. Anatomie, 3 Bde., Leipzig 1812 — 1818. Meckel behandelt da die pathologische Anatomie weniger zu medizinischen, als zu vergleichend anatomi- schen Zwecken; sie soll eine Vervollständigung der normalen Anatomie darstellen. — P. Decandolle, Theorie elementaire de la botanique, Paris 181 3. XXXVIII. Entwicklungsmechanik, u: Zoologen C. Bergmann und L. LEUCKART herausgegeben. Während man bisher allzu einseitig die Morphologie betonte, wollten die Autoren auch die Physiologie über die Strukturen mitsprechen lassen. Folgende Worte kennzeichnen ihr Programm1): »Wird es aber gelungen sein, aus dem uns noch unauflöslichen Knäuel von bewirkenden Ursachen, welche der Formentwicklung der Tiere zugrunde liegen, irgend ein Fädchen hervorzuziehen, dann wird auch die Morphologie zu einem Teile, zu einem neuen Teile der Physio- logie werden. Ebenso wie man gegenwärtig strebt, die Kombination von Wirkungen zu ermitteln, auf welcher eine bestimmte Kristallform oder die Bildung und Umbildung der Zelle beruht, so wird man sich auch Wege zu eröffnen suchen, um die bewirkenden Ursachen der Anordnung der Organe zu ermitteln: man wird eine Physiologie der Plastik dereinst anstreben.« Wie zu sehen, wagten die Autoren nicht ihr Programm zu ver- wirklichen: zufrieden mit dem Ziel, Bau und Funktion der Organe im Zusammenhange darzustellen, überlassen sie der Zukunft die Auf- gabe, die Organe aus Ursachen zu erklären. Der Versuch Bergmanns und Leuckarts verschwand in der Flut des Darwinismus; die Morphologie wurde nicht durch Physio- logie, sondern durch Ontogenie ergänzt, und unter Gegenbaurs und Haeckels Führung zu einer Lehre von Stammbäumen umge- wandelt. Als nächste Aufgabe galt es dann, die embryonale Ent- wicklung einer Form zu beschreiben ; und weil sie mit der Furchung des Eies in zwei, vier Zellen usf. einhergeht, welche schließlich Ge- webe und Organe bilden, suchte man anzugeben, aus welcher Zelle jeder Körperteil entsteht. Die vergleichende Methode wurde zwar verlassen, aber diese Wissenschaft trotzdem vergleichend genannt, nur um ihren Gegensatz einerseits zur Anatomie und Embryologie des Menschen, andererseits zur Systematik anzudeuten; man strebte aber nicht mehr darnach, durch Vergleichung zu allgemeinen Be- griffen zu gelangen, sondern suchte nach Ursachen der Formver- änderungen; und die Herrschaft des biogenetischen Grundgesetzes erlaubte es nicht, diese Ursachen anderswo als in den vorangehenden Formzuständen zu suchen: wie die historische Tatsache, daß man sich in den Katakomben der Kerzen bediente, die Ursache ist, warum noch heute auf den Altaren Kerzen brennen, so galt als Ursache der Kiementaschen bei den Säugetierembryonen der Umstand, daß *) C. Bergmann und R. Leuckart, Anatomisch-physiologische Übersicht des Tierreichs. Vgl. Anatomie und Physiologie. Stuttgart 1852. S. 36. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. IL 13 ci4 XXXVIII. Entwicklungsmechanik. sie einmal Fische waren; die Ursache der Erscheinung, daß die Tiere ihre Entwicklung mit dem Ei beginnen, wurde in der Hypo- these erblickt, daß alle Vielzelligen sich aus Amöben entwickeln. Haeckel hatte kein Bedenken, solche Ursachen »mechanisch« zu nennen, um so weniger als er den Widerpart seiner Lehre nur in der Theologie sah. Seiner Auffassung folgte die gesamte offizielle Embryologie, welche in den achtziger Jahren mit dem größten Eifer gepflegt wurde. Haeckels Schüler halten noch heute an seiner Lehre fest. Einer derselben, O. Hertwig ruft aus: »Ist nicht kausal die Erkenntnis, daß die Eier und Samenfäden ein- fache Elementarorganismen oder Zellen sind . . . ? «■ Er sucht zwar die Ursache der einzelnen ontogenetischen Stadien weniger in Millionen Jahre alten Formen als vielmehr in solchen, welche nur einige Stunden oder Minuten der jetzigen Form voran- gingen, aber im Prinzip ist er derselben Überzeugung wie Haeckel: das Ei soll die Ursache der Furchungsstadien, diese die Ursache des Embryo, dieser die der erwachsenen Form sein, ebenso wie der heutige Tag die Ursache des morgigen ist; durch minutiöse Be- schreibung der aufeinanderfolgenden Entwicklungsstadien will er zu einer geradezu astronomischen, d. h. sehr exakten ursächlichen Er- kenntnis gelangen1). Allgemein konnte aber Haeckels Deutung der Ursache nicht befriedigen. Sie haftet zu krampfhaft an den Einzelheiten der Er- fahrung und nimmt dem , nach Erkenntnis des Gesetzmäßigen , des in der Flucht der Veränderungen Beharrenden sich sehnenden Ver- stände alle Rechte hinweg; es mutet wie Hohn auf jeden Versuch, die Ontogenie zu verstehen, an, wenn gesagt wird: »jeder dieser einfachen ontogenetischen Faltungsprozesse ist ein höchst verwickeltes historisches Resultat, das durch tausende von phylogeneti- schen Veränderungen, von Vererbungs- und Anpassungsprozessen ursächlich bedingt ist, welche die Vorfahren des betreffenden Organismus während Millionen von Jahren durchlaufen haben«2) — !) O. Hertwig, Zeit- und Streitfragen der Biologie, 2, Jena 1897, S. 37- In der Heranziehung der Astronomen als Beispiel liegt offenbar ein Irrtum; diese beschreiben nicht den Lauf der Planeten Schritt für Schritt, sondern bestimmen ein Gesetz, nach dem sich der Planet bewegt; aber der Irrtum ist für einen Darwinisten charakte- ristisch; in seiner Philosophie wird wirklich post hoc und propter hoc nicht unter- schieden. 2 E. Haeckel, Ziele und Wege der heutigen Entwicklungsgeschichte, Jena 1S75, S. 24. XXXVIII. Entwicklungsmechanik. 5 1 5 denn dies bedeutet, daß der heutige Organismus einen Haufen von Zufälligkeiten darstellt, in dem der Verstand nichts zu suchen hat. Der Verstand ließ sich aber auf längere Zeit nicht abweisen: es meldeten sich nur zu bald Versuche, die Entwicklung nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu begreifen. Der Leipziger Em- bryologe W. His, ein Gegner HAECKELs, versuchte die Embryologie o-emäß dem oben von Bergmann und Leuckart aufgestellten o Postulate zu begründen; HAECKELs phylogenetische Methode erklärte er für ein unnötiges Umgehen einer direkten Erklärung: man müsse zu begreifen suchen, warum jeder nachfolgende Embryonalzustand die notwendige Folge des vorangehenden bildet1). HlS glaubte die mechanische Ursache der Entwicklungserschei- nungen im Wachstum erblicken zu müssen. Der Keim der Säuge- tiere sieht anfangs einer elastischen Platte ähnlich; da er ungleich- mäßig wächst, krümmt er sich wie ein befeuchtetes, quellendes Stück Papier. Die ersten Falten geben die Grenze der Körperteile an, welche sich weiter durch stets neue Falten herausbilden. Wenn wir das Gesetz gefunden haben werden, nach welchem sich das Wachs- tum der Keimteile richtet, werden wir mit Hilfe dieser mechanischen Faltungstheorie die ganze Entwicklung begreifen, und es wird nicht nötig sein, die verschiedenen embryonalen Zustände historisch zu erklären. His bemühte sich seine Faltungstheorie auch experimentell zu begründen; aber seine Versuche waren nur grobe Analogien: er analysierte die mechanische Biegung der Holzplatten, und machte auf die Krümmungen der Gesteinschichten aufmerksam — Erscheinungen, welche so weit hergeholt sind , daß es nur natürlich ist, daß die Faltungstheorie wenig Anklang fand, obwohl sich mehrere Forscher, unter ihnen auch A. v. KÖLLIKER, für die These, die Entwicklung müsse aus direkten Ursachen erklärt werden, ausgesprochen hatten. Zu derselben Zeit wie His und gleichfalls durch HAECKELs Lehre angeregt, sprach sich der Zoologe Alex. GOETTE für eine direkte Erklärung der embryonalen Entwicklung aus2); im Gegensatze zu His vertrat er eine wenigstens der Tendenz nach vitalistische Lehre: das formale Prinzip (das Formgesetz; beherrsche die Entwicklung; *) W. Ilis, Unsere Körperform und das physiologische Problem ihrer Entstehung. Leipzig 1874. — Derselbe, Über mechanische Grundvorgänge tierischer Formbildung. Arch. Anat. (Phys.) 1894. — Derselbe, Untersuchungen über die erste Anlage des Wirbeltierleibes, 1898. 2) A. Goette, Die Entwicklungsgeschichte der Unke. Leipzig 1S75. 33* c 1 5 XXXVIII. Entwicklungsmechanik. die dunkle Fassung aber, die er seinen Gedanken gab, war Ursache, daß er noch weniger als HlS allgemeine Anerkennung fand. Noch einen Versuch, Haeckels Theorien durch exaktere Methoden zu ersetzen, machte 1880 der Anatom A. Rauber1): es geschah in einer Schrift über »Formbildung und Formstörung«, in welcher er, an die Lehren seines Meisters, des Embryologen Th. Bischoff an- knüpfend, Monstrositäten analysierte, welche oft unter gesunden Fisch- embryonen vorkommen. Bischoff war noch idealistischer Morpho- loge und stand unter direktem Einfluß der Anschauungen Geoffroys und Meckels; Rauber setzt seine Theorien fort, aber als Anhänger der neuen, der maschinellen Lebensauffassung beruft er sich bei der philosophischen Begründung seiner Lehren auf Herm. Lotze, einen nach seiner Ansicht von den Deutschen unterschätzten, für den Em- bryologen aber bedeutungsvollen Philosophen. Denn es waren eben ontogenetische Erscheinungen, welche diesem Bekämpfer der Lebens- kraft als Beweis für die Notwendigkeit einer streng mechanischen Anschauung gedient haben, da die Entwicklung in einem ungleich- förmigen Wachstum besteht, welches eine Menge sekundärer Lagen- veränderungen zur Folge haben, »die teils als Verschiebungen, Ausbuchtungen, Einstülpungen oder Deh- nungen nur erscheinen, teils wirklich auf diesem Wege durch mecha- nischen Zug und Druck hervorgebracht werden«2]; Lotze hat auch bereits, wie später HlS, die Faltenbildungen des Embryo mit analogen Gebilden in den Erdschichten verglichen. Durch Lotze müßten also Haeckels Anschauungen vervollständigt werden ; man suche »die Kenntnis der Kräfte oder des Systems von Kräften, welche den Keim befähigen, alle die genannten Formen zu verwirklichen, aus der Anfangsform die Durchgangsform hervorgehen zu lassen und schließlich in die Endform auszulaufen«3). Eine neue Wissenschaft, eine »Zellenmechanik« müsse begründet und die Transmutationslehre durch eine Auflösung der Ontogenie in Mechanik vervollständigt werden, als deren Elemente Rauber Ver- mehrung der Zellen, ihr WTachstum, ihre Wanderung und Differen- zierung4) angab. In einer späteren Abhandlung modifizierte Rauber x) A. Rauber, Formblldung und Formstörung in der Entwicklung von Wirbel- tieren, Leipzig 1880. 2) H. Lotze, Von der Mechanik der Gestaltbildung in Allg. Physiologie, S. 292. 3) Rauber, 1. c. S. 43. 4) Ibid. S. 61. XXXVIII. Entwicklungsmechanik. 517 diesen Gedanken insofern, als er nicht mehr die Zelle, sondern die Form des erwachsenen Individuums als den die Entwicklung leitenden Faktor betrachtete1). Die Schriften der HlS, Rauber und GOETTE bedeuteten weniger eine konkrete neue Entdeckung-, oder war dieselbe durch das, was sie mehr charakterisierte, in den Hintergrund gedrängt worden: sie enthielten vielmehr das Programm einer neuen Wissenschaft. Aber wer sollte es durchführen, wenn nicht die Autoren selbst? Die übrige wissenschaftliche Welt besaß auch ihr Programm, das ihr Haeckel aufgenötigt hatte ; dieses Programm mußte erst in den Augen der Forscher entwertet werden, ehe man daran denken konnte, in die Laboratorien der Hochschulen ein neues einzuführen; dies vermochten aber jene Forscher nicht; es gelang erst W. Roux. Roux' Entwicklungsinechanik. Es wurde schon erwähnt, wie im Anfange der 80er Jahre WlLH. ROUX (jetzt Professor in Halle) die Selektionslehre durch die Theorie eines inneren Kampfes ums Dasein zu vertiefen strebte; derselbe ROUX versuchte bald darauf Haeckels embryologische Anschauun- gen in ihre Konsequenzen zu verfolgen. Bereits seine erste Arbeit2) aus dem Jahre 1879, welche die Ursachen der Verzweigung der Gefäße untersucht, deutet die Richtung an, welcher der Autor folgen wird; die experimentellen Arbeiten über die Entwicklung der Kaul- quappe aus einem verwundeten Ei, welche 1885 begannen, präzi- sieren jene Richtung bestimmter; und die Begründung (1894) einer Zeitschrift für die Aufgaben der neuen Wissenschaft, des »Archivs für Entwicklungsmechanik« mit einer theoretischen Begründung der- selben eingeleitet), führt bereits den Beweis, daß die neue Wissenschaft eine Menge Anhänger aufweisen kann. Roux ist Haeckels Schüler: es sind dieselben Probleme und dieselbe Gedankenrichtung, die man bei dem kühnen Propagator des Monismus findet: die Entwicklung und zwar die Entwicklung der Körpermaschine bildet den wichtigsten Gegenstand, die Erkenntnis der Ursachen der Entwicklung das Ziel; der Glaube an einen Welt- ') A. Räuber. Neue Grundlegungen zur Kenntnis der Zelle. Morph. Jahrb. 8, 18S3. Über den Inhalt dieser Schrift wurde im Kapitel über Zellentheorien nach 1 >\R\viN referier:. 2) W. Roux, Über die Verzweigung der Blutgefäße des Menschen. Jenaische Zeitschr. 12. 1878: 13. 1S79. 5 lS XXXVIII. Entwicklungsmechanik. mechanismus ist ihm ebenso wie Haeckel eigen. Was aber bei dem Meister nur Prinzip, nur Postulat war, welches zwar eine sehr entschiedene Sprache führte, aber das Tatsachenmaterial sich nicht zu unterordnen vermochte, das wurde nun bei dem Schüler zur kon- kreten Ausführung; Haeckels Lehre war dem Inhalte nach ideali- stische Morphologie, der Tendenz nach mechanische Erklärung durch Ursachen; ihr Inhalt war Systematik, ihre Tendenz Verfolgung der Entwicklung; praktisch ging sie von der Form aus, theoretisch be- tonte sie die Funktion als das Primäre. Roux hatte sich nicht mehr an der idealistischen Morphologie gebildet; ihn hinderte nichts, der HAECKELschen Philosophie einen ihr angemessenen Inhalt zu geben, und die Folge war eine konkrete Fassung der durch Haeckel gepredigten Ideale; statt der unfaßlichen phylogenetischen Ent- wicklung analysiert Roux die ontogenetische und stellt die Ge- schichte der Formen an die zweite Stelle; er forscht nach Ursachen der Formen, vervollkommnet aber die Methode Haeckels insofern, als er dieselben nicht durch Vergleichung, sondern durch das Experi- ment ermittelt; wie sein Lehrer glaubt er an den Mechanismus, nicht aber an den spekulativen, der über Atomschwingungen, über die Er- klärung der Seele aus den Nerven u. ä. nachsinnt; sondern er sucht ihn konkret zu fassen, wie er sich als Druck, Zug, Biegung während der Embryonalentwicklung offenbart. Dieses Verwirklichen der Ideale Haeckels führt aber Roux dazu, unbewußt die Grenzen des klassischen Darwinismus zu über- schreiten. Roux glaubt nicht mehr, daß die Aufgabe des Forschers in der geistigen Wiederholung desjenigen liegt, was in der Natur wirklich geschieht; ihm genügt nicht mehr das Ideal der Wissen- schaft als einer Photographie der Natur, sondern allen seinen Arbeiten liegt das Streben zugrunde, die Natur zu begreifen, zu erkennen, wie sie in ihrer großartigen Werkstätte arbeitet; deshalb betrachtet er geringschätzig die angeblich nur »beschreibende« Embryologie der vergangenen Jahrzehnte, welche keine »Ursachen des Geschehens« kennt (diese Entwicklungsgeschichte bekämpfte, nebenbei gesagt, aus demselben Grunde ihre idealistische Vorläuferin) ; er verwirft sie, weil die beschreibende Methode keine Gewißheit ihrer Behaup- tungen bietet, welche nur durch Experimente zu erlangen sei. Die Vernunft, die durch die Darwinisten so energisch unterdrückt wurde, fordert nun durch Roux ihre verlorenen Rechte zurück ; keines- wegs aber die alte Vernunft der Idealisten, welche logische Gründe für die Naturerscheinungen suchte, welche nach den in der Natur XXXVIII. Entwicklungsniechanik. 51g sich offenbarenden Begriffen forschte; sondern eine durch M11.1. und Darwin belehrte Vernunft, welche objektive Ursachen des Ge- schehens, Erscheinungen, welche dem Geschehen vorangehen und selbst wieder durch frühere Erscheinungen verursacht sind, zu er- mitteln strebt. Der Unterschied der Anschauungen Roux' von denen der ortho- doxen Darwinisten wird uns klarer werden, wenn wir ihnen die Ein- wendungen gegenüberstellen, welche O. HERTWIG, ein weniger selb- ständiger Schüler HAECKELs ins Feld führt: HERTWIG begreift nicht, wie ROUX in seinem Streben nach ursächlichem Begreifen der Orga- nismen etwas wesentlich Neues erblicken will, da doch der Terminus des ursächlichen Begreifens des Geschehens bereits seit langem zum Eigentum der Wissenschaft geworden ist; denn1) >die Entwicklungslehre, wie sie bisher ausgebildet ist, lehrt uns keines- wegs nackte, zusammenhangslose Tatsachen, sie lehrt uns vielmehr Reihen von Tatsachen, die in einem absolut notwendigen, ursächlichen Ver- hältnis zueinander stehen«. Gewiß stehen sie, werden wir auf diese, für einen Darwinisten älteren Schlages bezeichnende Behauptung erwidern; was nützt uns aber, daß sie ursächlich verbunden sind, wenn wir es nicht be- greifen? Roux sah richtig, daß die genetischen Anschauungen, welchen als Ursache der jetzigen die ihr vorangehende Form gilt, zu einer vollständigen Beschreibung sowohl der äußeren Entwicklung, als auch aller inneren Substanzbewegungen, zu einer vollständigen Kinematik der Entwicklung2) führen werden; dieses Ideal befriedigt ihn aber nicht, er will vielmehr wissen, warum, durch welche Kräfte getrieben jedes Partikelchen im Keime seine bestimmte Bahn beschreibt; »welche Kräfte im befruchtenden Ei vorhanden sind und in welcher Anordnung sie sich befinden, daß sie es vermögen, die Entwicklung des Individuums einzuleiten; wir wissen nicht, welche Kraftkombinationen im weiteren Verlaufe die Entwicklung bewirken, kurz, wir wissen nicht, warum aus dem einfach geformten Ei ein hochkomplizierter, typisch gebauter Orga- nismus hervorgeht, und warum der auf diese Weise ausgebildete Orga- 1 O. Hertwig, Zeit- und Streitfragen der Biologie, 2, Jena 1897, S. 35. — Ebenda (S. 36 stellt HERTWIG eine für den Darwinisten gleichfalls sehr bezeichnende Behauptung auf: »Für die Worte Grund und Folge [i. e. Folgerung] kann man ebenso gut auch die Worte Ursache und Wirkung setzen, c Wer den Unterschied zwischen Grund und Ursache nicht anerkennt, der wird begreiflicherweise bei Roux keine neue Wissenschaft finden können. W. Roux, Programm und Forschungsmethoden der Entwicklungsmechanik, Leipzig 1S97. S. 5. C20 XXXVIII. Entwicklungsmechanik. nismus trotz stetigen Wechsels des Stoffes lange Zeit sich relativ unver- ändert zu erhalten vermag«1). Zum Zwecke der Lösung solcher Probleme begründet er seine neue Wissenschaft, welche die Ursachen der organischen Gestaltungen ermitteln wird; auf den Errungenschaften der beschreibenden Embryo- logie weiter bauend, wird sie nach Kräften forschen, welche die Ent- stehung der Organisation aus dem Ei bewirken, und wird als expe- rimentelle Wissenschaft ebenso über der beschreibenden Embryologie Stehen, wie jede auf Experimenten gegründete Forschung die auf bloßer Beschreibung bauenden überragt; sie wird eine kausale Morphologie darstellen und der Physiologie verwandt sein; während aber diese die Ursachen der Vorgänge im entwickelten Körper er- mittelt, wird die Entwicklungsmechanik nach den Ursachen der Körperentstehung forschen. Das Bestreben, die Embryonalentwicklung ursächlich und experi- mentell zu erklären, führt Roux noch zu weiteren Gegensätzen zum orthodoxen Darwinismus. Theoretisch bleibt Roux zwar Mechanist; er kann aber nicht umhin, der Form des Organismus eine größere Bedeutung zuzuschreiben, als es bisher geschah: bereits sein Be- streben, die Gestaltungen zu analysieren, weist auf die Bedeutung hin, welche er den formalen Veränderungen zuschreibt; die Tatsachen der Regeneration und der künstlich gestörten Entwicklung lehrten ihn noch mehr, die Form als etwas Bedeutungsvolles zu betrachten; Physik und Chemie, welche wenig mit dem Formproblem zu tun haben, verlieren infolgedessen bei ROUX viel an ihrem Werte. Ferner führte die Betonung des »Wie« bei den Entwicklungsvorgängen die neue Wissenschaft bald dazu, die normale Entwicklung, deren Er- klärung anfangs als das letzte Ziel aufgefaßt wurde, beiseite zu schieben, und alle Formveränderungen, normale wie künstlich hervor- gerufene, als gleichwertig zu betrachten: die Änderung der Form an sich wurde zum Gegenstande der Entwicklungsmechanik. Als eines der wichtigsten Probleme der Entwicklungsmechanik stellt ROUX die Frage auf, ob sich einzelne Teile des Eies aus innerer Kraft zu den aus ihnen entstehenden Organen (durch Selbstdiffe- renzierung) entwickeln, oder ob die erwachsenen Gebilde das Pro- dukt von Wechselwirkungen mit ihrer Umgebung darstellen, und folglich durch abhängige Differenzierung entstanden sind? Eine andere, ebenso wichtige Aufgabe des Experimentators wird in der J) W. Roux, Programm und Forschungsmethoden der Entwicklungsmechanik, Leipzig 1897, S. 15. XXXVIII. Entwicklungsmechanik. ej21 Bestimmung des Ortes und der Zeit liegen, wo und wann jeder formbildende Faktor bei dem Embryo eingreift. Solche Probleme suchte Roux am Froschei zu lösen. Frühere Embryologen konnten beobachten, daß zwischen der Lagerung der Substanzen im Ei und der Lage der später sich anlegenden Organe feste Beziehungen be- stehen. WEISMANN lehrte dies in seiner Keimplasmatheorie und auch W. His nahm an, daß im Ei der zukünftige Embryo in ge- wisser Art präformiert ist; Roux bemühte sich nun, die Lehre durch Versuche zu stützen. Er beobachtete, daß die erste Furche, durch welche das Ei in zwei Zellen geteilt wird, meistens mit der Richtung der späteren Medianebene des Körpers zusammenfällt; er tötete eine der beiden ersten Furchungszellen, und aus der überlebenden ent- wickelte sich ein halber, rechter oder linker Embryo. Dadurch glaubte Roux experimentell bewiesen zu haben, daß während der Furchung in jede Tochterzelle eine andere Körperhälfte aus dem Ei eintritt und stützte dadurch seine Mosaiktheorie des Eies, nach welcher die Organe im Ei als nebeneinander liegende Anlagen prä- formiert sind1). Die Versuche erwiesen sich später als unvollkommen, und auch die Mosaiktheorie behauptete sich nicht; aber sie regten andere For- scher zu analogen Experimenten an, und die neue Wissenschaft ge- wann rasch Anhänger. Vieles trug dazu bei ; Roux war ein eifriger Propagator, schützte die neue Wissenschaft gegen Angriffe, begrün- dete ein Archiv für die einschlägigen Abhandlungen, und war be- strebt, auch alle praktischen Hindernisse den Pflegern der neuen Richtung aus dem Wege zu räumen: hätte er dieselbe in das Gebiet der Physiologie verlegt, oder Entwicklungsphysiologie genannt, wie es einige wünschten, so würde er seinen Anhängern, welche sich vor- wiegend aus den Anatomen rekrutierten, die Lehrstühle für Anatomie an den Universitäten entzogen haben; deshalb benannte er seine Wissenschaft Entwicklungsmechanik, und ließ sie für einen modernen, exakten Zweig der Anatomie gelten2). Nichtsdestoweniger faßte die Entwicklungsmechanik in Deutschland keinen besonders festen Fuß: der Einfluß des Darwinismus war und ist noch sehr fühlbar; dafür fand aber Roux in Amerika zahl- reiche und rührige Anhänger. Unter den Deutschen sind die be- kanntesten: H. Driescii, D. Bakfurth, C. Herbst, O. Maas, W. Roux, Über die künstliche Hervorbringung halber Embryonen usw. Vir- chows Archiv 114. 18S8. \V. Roux. Programm usw.. S. 173. 522 XXXIX. H. Driesch. H. Spemann, G. TORNIER, G. Wolff; unter den Amerikanern: C. M. Child, E. G. Conklin, J. Loeb, T. H. Morgan, E. B. Wilson. Auffallend ist die geringe Teilnahme der Franzosen; ihnen, den Lands- leuten Comtes, sollten viele Gedanken Roux' bekannt vorkommen: von französischen Entvvicklungsmechanikern werden häufiger angeführt L. Chabry, Y. Delage. Schwach ist ebenfalls der Anteil der Eng- länder. Die Entwicklungsmechanik studiert vorwiegend die Erscheinungen der Regeneration, der Einwirkung physikalischer und chemischer Agenzien auf die Form des Organismus (Wirkungen des Lichts, der Wärme, der Schwerkraft, des Sauerstoffs, des destillierten Wassers, verschiedener Gifte u. a.). Auch die Befruchtungserscheinungen wer- den vielfach zu ihr gerechnet. Durch Drieschs Einfluß wird die Entwicklungsmechanik in der letzten Zeit in neue Bahnen geleitet. Durch die Entwicklungsmechanik wurde der Schwerpunkt der durch Darwin und Haeckel eingeleiteten Forschung bedeutend ver- setzt: die Phylogenie wurde an die zweite Stelle geschoben, wenn nicht überhaupt verworfen; aber der genetische Gedanke blieb vorherrschend; nur wurde er konkreter, als Wissenschaft von sicht- baren Formumwandlungen, erfaßt1). XXXIX. H. Driesch. Das Wesen der Entwicklung. Was Roux unbewußt und gegen seine Absicht tat, führte Hans Driesch bewußt und konsequent aus: er sagte sich grundsätzlich von Darwin los. Seinen Facharbeiten nach ist er Roux' Schüler, Entwicklungsmechaniker; anfangs folgte er auch der Methode und den Begriffskonstruktionen seines Lehrers; später wurde er selbstän- diger und heute steht er in scharfem Gegensatze zu seinem früheren Lehrer. Experimentelle entwicklungsmechanische Untersuchungen J) Literatur über Entwicklungsmechanik: W. Roux, Gesammelte Abhandlungen über Entwicklungsmechanik, Leipzig 1895. — Derselbe, Die Entwicklungsmechanik, ein neuer Zweig der biologischen Wissenschaft, Leipzig 1905. — O. Maas, Einfüh- rung in die experimentelle Entwicklungsgeschichte, Wiesbaden 1903. — E. Korschelt und K. Heider, Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte. Allgemeiner Teil, Jena 1902. — W. Haacke, Grundriß der Entwicklungsmechanik, Leipzig 1897. — H. Driesch, Die Physiologie der tierischen Form, Wiesbaden 1906 (Separatabdruck aus den Er- gebnissen der Physiologie VJ. — Derselbe, Der Vitalismus als Geschichte und ab Lehre, Leipzig 1905. XXXIX. H. Driesch. 523 bestimmten seine Probleme; auch er interessiert sich vor allem um die Entwicklung, auch für ihn bildet genetische Erklärung, Forschung nach Ursachen und Folgen den Höhepunkt des philosophischen Nach- denkens; je weiter je mehr zerriß er aber die Bande, die ihn an die mechanischen Theorien des 19. Jahrhunderts fesselten; er begann da- mit, daß er die mechanischen Betrachtungen in ihre Konsequenzen verfolgte, ihre Unhaltbarkeit durchschaute und zum Vitalismus über- ging: als ihm dieser nicht genügte, stellte er eine eigene vitalistische Theorie auf, für welche er gegen alle streitet: gegen Mechanisten wie gegen Vitalisten aller Art. In vielen Eigenschaften weicht Driesch von anderen heutigen Biologen ab; aus seinen schwer verständlichen Schriften fühlt man das Bemühen heraus, sich in Gegensatz zu der üblichen gesprächigen Oberflächlichkeit zu bringen, das abstrakteste Wesen der Dinge mit Worten zu erfassen und die sicherste Wahrheit in Worte zu bannen : um sie philosophisch zu begründen, befragt er nicht nur seine experi- mentellen Resultate, sondern auch Kant, SCHOPENHAUER, HARTMANN, HEGEL, ARISTOTELES und andere ; er sieht die logische Oberflächlich- keit der Darwinisten ein und sehnt sich noch vielmehr als Roux nach der Gewißheit; darum glaubt er nicht einmal sich selbst, sondern berichtigt und überwindet durch jede neue Schrift die früheren, bis er zu Betrachtungen gelangt ähnlich denjenigen, zu welchen der erste große Zweifler der neuen Zeit, DESCARTES gelangt ist: zur Frage, was die Tatsache »ich bin« bedeutet. Die Sehnsucht nach bestimmtestem Wissen bildet ein charakteristisches Merkmal der Philosophie des Driesch; eine Sehnsucht, welche bereits einmal einen Deutschen dazu geführt hat, die englische Erfahrungsphilosophie zu überwinden. DRIESCH bedeutet das Ende des Darwinismus; man beachtete ihn nicht, verstand ihn nicht, bekämpfte ihn, suchte nach Kompro- missen — aber der Darwinismus war nicht mehr zu retten; es ist schwer, tote Gedanken, welche sich nur durch ein historisches Be- harrungsvermögen halten, gegen einen Lebenden zu verteidigen, der eine neue Überzeugung bringt. Dem Darwinismus wirft DRIESCH dasselbe vor, was Roux und Goebel, aber in schärferen Worten: derselbe biete keine rationelle Einsicht in das Geschehen1). »Es kann uns durchaus gleichgültig sein — angenommen die Theorie sei richtig — daß nun gerade die und die Formen auf unserer Erde *) Die Biologie als selbständige Grundwissenschaft, Leipzig 1893. S. 27. 524 XXXIX. H. Driesch. realisiert sind und so und so aufeinander folgten; durchaus gleichgültig im Sinne der theoretischen allgemeinen Naturforschung, welcher der sich an bestimmte Orte und Zeiten knüpfende Begriff der Geschichte fremd ist. « Übrigens befaßt er sich nur ganz vorübergehend mit der für die Darwinisten allervvichtigsten Frage nach der Abstammung der Arten und nach der Entwicklung der organischen Welt; er fragt nicht mehr darnach, ob die Naturzüchtung allmächtig oder nur teilweise tätig ist, sondern: ob das Leben wirklich nur quantite negligeable, nur eine spezielle Kombination der chemischen und physikalischen Erscheinungen ist, oder ob es einer besonderen Gesetzmäßigkeit untergeordnet ist; und kaum haben die Verteidiger jener Ansicht ihre Gründe gegen die wesentliche Selbständigkeit der biologischen Wissenschaften zusammengetragen, faßt er dies Problem noch tiefer auf: als einen Gegensatz zwischen dem Glauben an vitale tatkräftige Macht und der Maschinentheorie des Lebens; den Gegensatz zwischen Roux und Haeckel erweitert er zu einem Gegensatz zwischen der ersten und zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und, noch weiter fortschreitend, zu einem Gegensatze zwischen der gesamten modernen Wissenschaft und Aristoteles. Wir kennen bereits die embryologische Richtung, welche darzu- legen trachtete, wie aus dem Ei durch Zellteilung alle Gewebe des Körpers entstehen, und die voraussetzte, daß während der Eifurchung auch die im Ei enthaltenen Eigenschaften des künftigen Wesens in beide Tochterzellen auseinandertreten und auch bei weiteren Teilungen an verschiedenen Zellen in bestimmter Art verteilt werden. Nament- lich W. His, E. Ray-Lankaster , W. Roux und Aug. Weismann pflegten (unter verschiedenen Modifikationen) diese Theorie, deren Wesen auf die Annahme hinausgeht, daß im Ei bereits der ganze Organismus enthalten ist. Die Tatsachen der Regeneration, welche eine mit dem Wesen des Organismus innig zusammenhängende Erscheinung darstellen, widersprechen aber dieser Annahme; noch unwahrscheinlicher wird sie im Lichte der Beobachtungen DRlESCHs, daß sich aus einer iso- lierten Blastomere (beim Seeigel und auch sonst) eine ganze Larve entwickelt; die Versuche Roux', durch Vernichtung einer Blastomere der Froschkeime eine Halblarve hervorzubringen, waren eben ungenau. Auch wenn man durch Druck die Zellen (und Kerne) der Seeigel- Furchungsstadien in durchaus anormale gegenseitige Lagebeziehungen bringt, verhindert man noch nicht notwendig die Bildung einer neuen Larve. Später wies DRIESCH nach (und eine Reihe von Forschern XXXIX. H. Driesch. 525 bestätigten die Beobachtung), daß sich ganze Larven auch aus Bruch- stücken des Eies, wenn dieselben groß genug sind und den Kern ent- halten, entwickeln können. Man kann aus dem Zwei-, Vier-, Acht- zellenstadium des Echinidenkeimes eine oder mehrere Zellen isolieren, und aus jeder einzelnen Zelle, aus jeder Gruppe derselben entsteht eine ganze Larve; aus zwei Eiern, welche zu einem verschmolzen sind, entsteht wieder nur eine normale Larve1). Diese Beobachtungen führten Driesch auf eine neue Auffassung der Entwicklung. Zuerst versuchte er die Theorie der Anlagcnpräfor- mation im Ei durch eine Auslösungstheorie (Theorie der epigenetischen Evolution nannte er sie) zu ersetzen2): das Ei besitze eine ziemlich einfache chemische Struktur; durch Einwirkungen der Außenwelt würden chemische Veränderungen im Ei ausgelöst, welche wieder andere Veränderungen auslösen, und so fort ; auf diese Art bestünde die Entwicklung in lauter Auslösungsprozessen chemischer Natur, welche einerseits durch die chemisch-physikalische Struktur des Eies, andererseits durch die Einflüsse der Außenwelt bedingt wären. Von anorganischen Prozessen unterscheiden sich diese Vorgänge wesentlich durch die teleologische Grundlage, auf welcher sie sich abspielen : die Vorgänge der Ontogenese geschehen so3), »als seien sie von einer Intelligenz nach Qualität und Ordnung bestimmt«; die Struktur bildet das für den Organismus Charakteristische und ursächlich Unauflösbare; dieselbe kann nur teleologisch beurteilt werden. Später verließ Driesch diesen Standpunkt, den er jetzt als den statisch teleologischen bezeichnet, und ging zu einer dynamischen Teleologie über4). Wie er selbst erzählt, war es der Begriff der Antwortsreaktion, der den Ausgangspunkt seines Denkens über die dynamische Teleologie bildete und der in folgendem besteht: die Antwort (auf eine gehörte Frage z. B.) ist eine Reaktion, welche durch das blind Maschinelle nicht genügend charakterisiert wird, da 1 Anfangs behauptete Driesch, daß »jeder beliebige Eiteil, sowie das Eiganze in beliebiger Verlagerung eine ganze Larve liefern« kann, daß » die Struktur des Eies nicht aus mannigfach-verschiedenen Elementen in irgendwie typisch-spezifischer Lagerung aufgebaut sein könne« Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge, Leipzig 1899, S. 14 ; später restringierte er, durch die Kritik anderer bewogen, diese Behauptung, und gab zu, daß auch eine Struktur, ein räumlich-mannigfaltiges, die Entwicklung bedingt. Analytische Theorie der organischen Entwicklung, Leipzig 1894, S. 29. 3) Anal. Theorie. S. 131. + Zuerst in: Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge, Leipzig 1899. 526 XXXIX. H. Driesch. sie nicht nur Folgeerscheinung ist, sondern mit ihrer Ursache (der Fragestellung) ideell verknüpft ist. Auch die organischen Vorgänge sind Antvvortsreaktionen: schneidet man dem Triton einen Fuß weg, so beantwortet er die Reaktion dadurch, daß er ihn regeneriert, von neuem bildet; die Größe und Form des Regenerats richtet sich nach der Größe und Form des abgeschnittenen Teiles; man kann von die- ser Art Reaktion ebenso behaupten, daß man sie versteht, wie man die Antwort auf eine Frage versteht: das ganze normale Tier ist der Sinn der Reaktionen des Triton, den wir aus der Regeneration herauslesen. Von diesem Standpunkte aus versuchte nun Driesch alles bio- logische Geschehen aufzufassen. Er sammelte und sichtete das für die Antwortsreaktionen, oder Regulationen, wie er sie später nannte1), verwendbare Material, er erweiterte seine Theorie von em- bryologischen auf physiologische und psychologische Vorgänge, und unterstützte sie durch neue Experimente. Es seien einige Beispiele zur konkreteren Veranschaulichung des Begriffes der organischen Regu- lation angeführt. Die erworbene Immunität besteht darin, daß der Organismus sich an gewisse Gifte allmählich gewöhnt; wird ihm das Gift in stets größeren Dosen zugeführt, so lernt er durch Produktion gewisser Gegengifte dasselbe unschädlich zu machen. Diese Erzeugung der Gegengifte (welche der Organismus im normalen Zustande nicht produziert) ist eine Regulation, damit das Leben erhalten bleibe. Der in die Erde gepflanzte Weidenzweig bildet Adventivwurzeln und re- guliert sein Wachstum und seine Form so, daß eine normale Pflanze entsteht. C. Herbst konstatierte bei den Krebsen mit gestielten Augen, daß sie ihr Auge regenerieren, wenn ihnen nur dieses ge- nommen, daß sie dagegen eine Antenne bilden, wenn zugleich das im Augenstiel eingeschlossene Augenganglion mit entfernt wird. Hier beantwortete der Krebs die Verwendung auf zwei verschiedene, immer- hin aber als Regulationen aufzufassende Arten. Solche Betrachtungen führten Driesch zu einer dynamischen Umdeutung der WEiSMANNschen Lehre. Nach dieser sind die Eigen- schaften des Organismus im Ei als Körperchen präformiert: ungeachtet aber der Unmöglichkeit, sich z. B. die Lungenatmung oder die Vier- füßigkeit als Körperchen vorzustellen, besitzt diese Theorie kein Verständnis für das Geschehen, für das Sichentwickeln der Eigen- schaften. Auch Driesch versetzt die Eigenschaften des Organismus x) Die organischen Regulationen, Leipzig 1901. XXXIX. H. Driesch. 527 in den Körper, aber als Möglichkeiten, mit einem Drange nach Verwirklichung ausgestattet. Das Ei und jede embryonale Zelle hat eine »prospektive Potenz«, d. h. eine Fähigkeit, bestimmte Eigenschaften zu entwickeln; die prospektive Potenz des Eies ist also der entwickelte Organismus; auch ein genug großes und den Kern einschließendes Bruchstück des Echinideneies, eine der zwei oder vier, acht Blastomeren des Echinidenkeimes hat dieselbe pro- spektive Potenz. Das Ektoderm und Entoderm des Echinus haben verschiedene prospektive Potenzen, da sie isoliert nur ihresgleichen bilden können; dagegen sind die Blastulazellen des Echinus von gleicher Potenz. Die Vertiefung in das Wesen der prospektiven Potenz und der organischen Regulation führte DRIESCH auf die Lehre von der über dem anorganischen Geschehen stehender Eigengesetzlichkeit des Lebens. Seit dem Verfall der Naturphilosophie lehrte man, es gäbe keinen wesentlichen Unterschied zwischen Leben und Nichtleben: das Leben sei nur ein sehr komplizierter chemisch physikalischer Prozeß, die Bewegung einer Maschine, wobei unter Maschine im all- gemeinsten Sinne eine im Räume ausgebreitete Mannigfaltigkeit zu verstehen ist. DRIESCH verwirft die Maschinentheorie des Lebens und stellt ihr gegenüber einen »dynamischen Vitalismus«, oder die Lehre von der »Autonomie des Lebensgeschehens« auf. Ihre Notwendigkeit und die Unrichtigkeit der Maschinentheorie bringt er in der Form von vier Beweisen zum Ausdruck. Gäbe es nur fixierte Entwicklung — so lautet der erste Beweis — so wäre es zwar zulässig, sich das Ei als eine höchst komplizierte Maschine vorzustellen, welche durch das Getriebe ihrer einzelnen Teile den fertigen Organismus schaffen könnte. Aber die Tatsache, daß aus einer Zelle des Zwei-, des Vier-, des Achtzellenstadiums eine ganze Larve, daß also aus Ver- schiedenem Gleiches, und umgekehrt aus Gleichem Verschiedenes werden kann .da z. B. eine Zelle des Vierzellenstadiums sich zu verschiedenen Organen entwickelt, je nach dem, ob diesem Stadium eine, zwei oder drei Zellen weggenommen wurden) — diese Tatsache widerspricht dem Wesen der Maschine als räumlicher Mannigfaltigkeit. Folglich ist bei der organischen Entwicklung ein nichtphysikalischer und nichtchemischer, ein vitaler Faktor tätig. Den zweiten Beweis führt DRIESCH aus der Genese von Gebilden, deren Beispiel die Echinidcnblastula darstellt. Dieselbe ist durch fortgesetzte Teilung des Eies entstanden und jede ihrer Zellen (bzw. 528 XXXIX. H. Driesch. Zellengruppen) kann dasselbe wie das Ei leisten; es ist aber keine Maschine denkbar, die sich fortgesetzt teilen könnte, und deren jeder Teil der ursprünglichen Maschine gleichwertig wäre: das Wesen des Eies besteht folglich in keiner räumlich differenzierten, keiner exten- siven Mannigfaltigkeit. Der dritte Beweis wird aus der Analyse der Handlung geführt : bei den Handlungen (der Menschen wie der Tiere) werden Erfahrungen (welche Driesch historische Reaktionsbasis nennt) nach einer Idee kombiniert, welches ebenfalls einen ganz unmaschinellen Vorgang impliziert; zwar könnte man sich eine Maschine denken, welche Erfahrungen sammelt (Phonograph), es fehlt ihr aber die Fähigkeit dieselben so zu kombinieren, wie der Mensch die erlernten Worte zusammenstellt, um verschiedene Ideen auszudrücken. Der vierte Beweis nichtmaschinellen Geschehens soll aus den Ergebnissen der Gehirnphysiologie einleuchten: wird ein Gehirnteil exstirpiert, so wird nach einiger Zeit die ihm obliegende Funktion durch einen anderen Gehirnteil, der sie bisher nicht vertreten hat, übernommen: es sind also keine festen maschinell-tektonischen Beziehungen in den Zentren, welche die Grundlage der Bewegungseffekte bilden1). Entelechielehre. Der Betriff der Entelechie stammt von Aristoteles und sollte nach demselben eine Versöhnung der platonischen Ideenlehre mit den Tat- sachen der Wirklichkeit darstellen. Zwei Welten sind nach Plato zu unterscheiden: eine Welt dessen, was wahrhaftig ist und durch die Ver- nunft erkannt werden kann, die andere dessen, was sich fortwährend verändert und durch die Sinne erfaßt wird. Der Schnee, das Tier, die Rose, als Begriffe, als das den einzelnen und vergänglichen Naturobjekten Zugrundeliegende stellen Ideen dar, welche in unserer Vernunft präformiert sind und deren wir uns, die umgebende Welt betrachtend, erinnern. Aristoteles nahm die Ideenlehre an, nicht aber die Zweiweltentheorie : auch er lehrt, daß z. B. eine bestimmte Pflanze, die ich jetzt vor mir habe, nur eine vorübergehende Er- scheinung ist, aber keine Darstellung einer außerweltlichen Idee, sondern einen vorübergehenden Zustand in der Verwirklichung der Pflanze bildet. Die Analogie mit dem Baumeister trifft am meisten zu: er baut das Haus nach einem Plan, der in dem Hause verwirk- J) Am elementarsten ist Drieschs Vitalismus dargestellt in: Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, Leipzig 1905. XXXIX. H. Driesch. c2Q licht wird. Es ist nun die charakteristische Eigenschaft dieses (in der Seele konzipierten) Planes, daß er nicht aus Teilen zusammengesetzt ist, daß er keinen Raum einnimmt, daß er durch die Sinne nicht bemerkt werden kann, daß er eben eine Idee ist, welche den Bau beherrscht. Um aber die aristotelische Auffassung der Entelechie richtig zu erfassen, dürfen wir uns die Idee nicht als vom Bau ge- sondert vorstellen, was an lebenden Objekten am natürlichsten möglich ist: wenn aus dem Samen die Pflanze entsteht, so wird auch ein hochkomplizierter Bau verwirklicht; auch hier ist es die Idee der Pflanze, welche den Bau ausführt, die Zufuhr der Baumaterialien und Kräfte reguliert, Beschädigungen repariert, Hindernisse abschafft. Dieses Etwas, das das Leben jedes einzelnen Organismus verwirklicht, nennen Aristoteles und mit ihm Driesch Entelechie. Die Entelechie ist keine Maschinerie, ist nichts Räumliches, denn sie ist nicht im Samen; man kann nicht behaupten, daß ein Teil derselben hier und ein anderer dort wäre; sondern sie ist, ebenso wie der im Geiste erfaßte Plan, überall auf einmal. Wird der Pflanze ein Ast abgebrochen, bleibt die Entelechie ganz, da sie den Ast von neuem hervorbringen kann ; wird ihr ein Ast derselben Art eingepfropft, ist die Entelechie nicht vermehrt worden, denn sie wächst als einheit- liches Ganzes weiter; werden vier Äste der Pflanze in die Erde ere- steckt, so entstehen nicht vier neue Entelechien, sondern es geschieht nur viermal dasselbe. Die Entelechie ist also ein Agens von bestimmten Fähigkeiten: ihre Macht offenbart sich in der Entwicklung, in den Regulationen, in der Ausübung physiologischer und psychischer Funktionen; ihre Fähigkeiten in der Art, wie diese Leistungen vollbracht werden. Sie ist den physikalischen und chemischen Konstanten vergleichbar: wie die Konstanten des Eisens die Art bezeichnen, wie sich dieses nach allgemeinen Gesetzen in der Wärme ausdehnt, wie es die Elektrizität leitet, welche Masse es hat usf., so charakterisiert auch die Ente- lechie die Art, wie ein bestimmter Organismus tätig ist. Auch die anorganischen Konstanten sind keine räumlichen Größen: es wäre sinnlos, von der Farbe, Masse, spezifischer Wärme usf. zu unter- suchen, wie sie in einem Stück Eisen verteilt sind, da sie alle jedes Element des Eisens voll bestimmen; sie stellen ebenso keine exten- sive, sondern eine intensive Mannigfaltigkeit dar, wie die Ente- lechie. Der Unterschied zwischen der Auffassung der Entelechie durch Aristoteles und durch Driesch liegt erstens in der Art, wie beide Rddl, Geschichte der bio!. Theorien. II. - , 530 XXXIX. H. Driesch. zu dem Begriffe gelangt sind: Aristoteles ging von der platonischen Metaphysik aus und suchte nach einem Weg zur Wirklichkeit, Driesch ging umgekehrt von der (biologischen) Wirklichkeit aus, die er streng logisch zu fassen strebte ; aus diesem Grunde hat der Entelechiebegriff bei Aristoteles einen viel größeren Umfang und schließt z. B. auch das künstlerische Schaffen ein, während ihn Driesch nur auf das biologische Geschehen beschränkt. Zweitens räumt Driesch auch der quantitativen Auffassung der Natur ihr Recht ein, während sich Aristoteles mit den Qualitäten (als welche die Entelechien aufzufassen sind) begnügte. Driesch läßt auch die Frage unent- schieden, ob die Entelechie als das schaffende Agens dem toten und passiven Stoff als etwas absolut Heterogenes gegenübergestellt werden soll (wie ARISTOTELES dachte, als er Form und Stoff auseinanderhielt). Diese Unterschiede betreffen aber nur Nebensachen1); prinzipiell stimmt er mit Aristoteles insbesondere darin überein, daß er (gegenüber der Auffassung der idealistischen Morphologen) nur die Einzelwesen für real, das Allgemeine an denselben, also die Art-, Gattungs- und noch höhere Eigenschaften nur eben für Eigenschaften (nicht etwa für realisierte Ideen) hält. Auf der Entelechielehre baut Driesch, sich hierin ebenfalls an Aristoteles eng anschließend, auch die Psychologie auf2]. Die Bewußtseinpsychologie wird von ihm schlechtweg verworfen, da man von subjektivem Bewußtsein nichts Objektives aussagen könne: der handelnde Organismus soll den einzigen Gegenstand der Psycho- logie darstellen. Den Handlungen (des Menschen, der Tiere) liegt das- selbe Charakteristische zugrunde, wie den Entwicklungserscheinungen: sie sind auf ein Ziel gerichtet, lassen sich bloß mechanisch nicht be- greifen, sondern werden von einer Idee geleitet. Nehmen wir den Fall eines Hundes, der nach Hause läuft: seine koordinierten Be- wegungen sind durch das Ziel, das Heim zu erreichen, bestimmt; er geht Hindernissen aus dem Wege, sucht einen kürzeren Weg, benutzt frühere Erfahrungen, und die Art, wie er sie verwendet, ist durch den speziellen, jetzt zu erreichenden Zweck bestimmt; sein Lauf wird durch etwas dirigiert, das ganz analog der die Entwicklung leitenden Ente- J) Zwar sagt Driesch (The Science and Philosophy of the Organism, London 1908, 1, S. 144), daß er die Bezeichnung »Entelechie< nur aus Ehrfurcht vor Aristoteles gewählt habe, daß er sie aber mit neuem Inhalt erfüllen wolle; nirgends aber hat er auf einen wesentlichen Unterschied zwischen seiner und der aristotelischen Auf- fassung der Entelechielehre hingewiesen. 2) Die Seele als elementarer Naturfaktor, Leipzig 1903. XXXIX. II. Driesch. 53 1 lechie ist; DRIESCH nennt dieses Wirkliche, obwohl nicht Greifbare, sondern nur durch die Vernunft Erschlossene >Psychoid«. Das Psychoid tritt bereits bei dem Neugeborenen als ein gewisses, mit Kenntnissen ausgestattetes Streben auf, welches sich in den ersten Regungen desselben offenbart; dieses angeborene Streben und Wissen, das jeder Erfahrung vorangeht, nennt Driesch Primärwollen und Primärwissen; später sammelt der Organismus Erfahrungen, nach welchen er seine Handlungen einrichtet; diese Erfahrungen bestimmen sein sekundäres Wissen und Wollen. Drieschs Logik. Es wurden Klagen über den dunklen Stil der Schriften Drieschs laut; warum findet man sie so schwer lesbar, warum gehen so wenige Forscher auf eine prinzipielle Auseinandersetzung mit seinen An- schauungen ein? Die Ursache liegt nicht im Satzbau, sondern in der eigenartigen Denkweise Drieschs. Richtig wurde von jemandem (Coleridge?) bemerkt, daß jeder Mensch entweder Platoniker oder Aristoteliker ist: Platoniker, wenn er in Anschauungen, in plastischen Bildern, wenn er gegenständlich denkt; Aristoteliker, wenn er in Be- weisen seine Überzeugung entwickelt; der Unterschied wird nur teil- weise durch den Gegensatz der Worte abstrakt — konkret erschöpft: die Platonischen Ideen sind sehr »abstrakte« Begriffe, trotzdem aber ungemein viel faßlicher und der Wirklichkeit näher, als die Aristo- telischen viel konkreteren Begriffe der Dynamis und Energeia. Unter modernen Schriftstellern gehören Kant, Lotze, Darwin, Weis- mann, Roux unter solche phantasielose »Beweismänner«, während Goethe und Schopenhauer als ihr Gegensatz angeführt werden können. Die anschaulichen Denker sind viel leichter zu lesen: ihre Idee liegt nicht erst am Ende der Beweisführung, sondern überall und in jedem Worte ganz, und der Zweck der ausführlichen Aus- einandersetzung ist nur, die Idee zu gliedern und ihr Form und bestimmte Umrisse zu verleihen. Demgegenüber folgt der in Be- weisen denkende Forscher weniger einer Idee, als vielmehr einer Wahrheit, welche er vom Irrtum zu unterscheiden strebt. Darum operiert er mit lauter Logik, darum strebt er der Erkenntnis zu, daß es so und nicht anders sein müsse; deshalb kommt er uns so abstrakt vor: unsere Phantasie findet keinen Anhaltspunkt in seinen Beweisen, und die Berufung auf unseren Verstand macht uns unsicher, da wir uns unwillkürlich vor versteckten Fehlschlüssen fürchten. 34* 532 XXXIX. H. Driesch. Driesch ist ein Beweisführer par excellence: bezeichnenderweise begann er sein Theoretisieren mit der Untersuchung, inwiefern die Biologie in Mathematik1), also in eine der Logik am nächsten stehende Wissenschaft aufgelöst werden könnte ; in seiner zweiten theoretischen Untersuchung behauptete er, daß ohne Erkenntnislehre eine fruchtbare Naturwissenschaft unmöglich sei, und befaßte sich mit der logischen Frage nach dem Verhältnis der Kausalität zur Teleologie; er bekämpfte dort die jetzige Klassifikation in der Biologie, weil2) ihr der »Charakter der notwendigen Einsicht« fehle (wie ihn z. B. das geometrische System der regulären Körper hat); er glaubte seinerzeit an die Maschinentheorie des Lebens; eine konsequente Durchführung derselben enthüllte ihm ihre Unrichtigkeit, und er wurde dynamischer Vitalist; ist er aber nun am Endpunkt seiner Philosophie angelangt, fragt er sich selbst und antwortet: »daß nie, weder jetzt noch später, so gefragt werden darf, ja gefragt werden kann, daß eine neue ,Bahn' hier unmöglich ist, das ist aus- gesprochen in der Erkenntnis von der Denknotwendigkeit (,Apriorität') des Begriffes der notwendigen Verknüpfung«3); er tritt für den Vitalismus ein, rühmt sich aber nicht dessen, daß er denselben auf eine neue Art erfaßt, sondern daß er ihn bewiesen, denknotwendig bewiesen habe. Dieses Beweisen, logische Analysieren, Streben nach Exaktheit der Schlüsse, dieser »Denk- rausch«, der seinerzeit Lotze vorgeworfen wurde, macht auch aus Driesch einen schwer zugänglichen Autor. Driesch ging in seinen Spekulationen von Roux und Weismann aus, welche ebenfalls das Beweisen für überaus wichtig hielten; während sich aber bei Weismann die Logik in geistvollen Deduk- tionen aus Hypothesen bewegt, welche nur an der Oberfläche der Wirklichkeit haften und mehr für den Leser als für den Autor selbst bestimmt sind; während sie bei Roux die Form einer schwerfälligen Fachwissenschaftlichkeit annahm, hat Driesch mit der bisherigen Tradition gebrochen: er sucht seine Sätze sich selbst zu beweisen und läßt sich nicht nur von biologischen Tatsachen, sondern auch von Philosophen belehren. Unter den Philosophen steht Driesch am nächsten Kant, dessen Fortsetzer er genannt werden kann. Wie jener, strebt auch Driesch l) Die mathematisch-mechanische Betrachtung morphologischer Probleme der Biologie, Jena 1891. -) Die Biologie, S. 35. 3) Kritisches und Polemisches. Biol. Zentralbl. 22, 1902, S. 159. XXXIX. H. Driesch. 533 eine reine Naturwissenschaft an, deren Sätze allgemein gültig, über jeden Zweifel erhaben sein würden; auch DRIESCH glaubt dies durch Analyse der höchsten logischen Prinzipien, der sog. Kate- gorien erreichen zu können; seine Schrift über »Naturbegriffe und Natururteile« zielt darauf ab, Theoreme aufzustellen, welche als in- haltlose Schemata das allgemeinst Gesetzliche der Naturwissenschaften ausdrücken würden. Er will aber noch über Kant hinaus; diesem wurde vorgeworfen, daß er seine Kategorientafel (Quantität, Qua- lität, Relation, Modalität mit ihren Unterabteilungen) von älteren Autoren übernommen hätte, ohne deren Notwendigkeit begründet zu haben; man hat ferner Kants unkonsequenten Standpunkt zum Sub- jektivismus bemängelt; diese Mängel will Driesch korrigieren: die Kategorien seien nicht nur an ein Subjekt, an ein Ich als seine Eigenschaften gebunden, sondern stehen noch über demselben: das Ich ist bereits ein Resultat unseres kategorialen Denkens; die Kate- gorien sind Resultate der allgemeinsten Erfahrung1); sie sind zwar keine Induktionen aus der Erfahrung, wie die englischen Autoren lehrten, sie sollen aber auch keine der Erfahrung vorausgehenden Grundsätze darstellen, sondern werden erst durch Erfahrung er- weckt; man erinnert sich ihrer sozusagen bei Gelegenheit der Er- fahrung2); folglich erscheint Kants Nachdenken über Anwendung der Kategorien außerhalb der Erfahrung und sein Begriff des »Dinges an sich« illusorisch. Kants Kategorienlehre diente den Naturphilosophen zum Aus- gangspunkt ihrer Spekulationen; während aber FICHTE und SCHELLING das formale, das analytische Verfahren ihres Meisters verwarfen (FICHTE hielt die Logik für keine echte Wissenschaft, da das Denken, welches sie zum Gegenstande hat, nur ein zufälliges Weiterbestimmen des faktisch vorausgesetzten Wissens sei), arbeitet Driesch gerade diese Seite der KANTschen Philosophie durch. Nebst Kant wird von Driesch besonders Hegel, Schopenhauer und E. v. Hartmann hervorgehoben ; Hegel wegen seiner Betonung des abstrakt Logischen, Schopenhauer und Hartmann wegen ihrer Annahme des Willens als Grundes des Geschehens. Fichte und Schelling spielen dagegen bei DRIESCH keine Rolle : sie haben eben die analytische Methode nicht gepflegt. Entgegen der üblichen Methode der Biologen, die Chemie und Physik als gegebenes Tatsächliches J) Naturbegriffe und Natururteile, Leipzig 1904, S. 34. The Science etc. II. S. 301. The Science I, S. 7. 534 XXXIX. H. Driesch. zu betrachten, an das der Biologe schlechtweg glauben muß, befaßt sich Driesch viel mit der Logik dieser Disziplinen, kritisiert sie, vergleicht sie mit der Logik der Biologie, um auf diese Art zu einer schärferen Fassung der Probleme zu gelangen1). Sonst wird der Unterschied zwischen Naturgeschichte und Physik darin erblickt, daß die letztere allgemeine Begriffe (z. B. Gesetz der Lichtbrechung, Coulombsches Gesetz, Galileis Fallgesetz) aufstellt, während die Natur- geschichte konkrete Objekte (Pferd, Rose) beschreibt; Driesch er- kennt diese Unterscheidung nicht an: auch die Biologie müsse all- gemeine, rationelle Begriffe aufstellen. Die Begriffe Zelle, Chromosom, Wirbeltier sind keine rationellen Begriffe, sondern Kollektivbegriffe, den physikalischen Begriffen der Wärme, der Kälte analog, welche durch einfache Abstraktion aus einzelnen Tatsachen gewonnen wurden. Die rationellen, einzig wissenschaftlichen Begriffe müssen dagegen Kunstbegriffe sein, wie es die physikalischen Begriffe der Geschwindig- keit, der Beschleunigung, des Brechungsexponenten sind, welche der Physiker zum Zwecke der Erfassung des Geschehens ersonnen hat. In der Methode sind also die Physik und die Biologie einander gleich: aber ihr Objekt ist grundverschieden, indem sich die letztere mit dem Leben befaßt, welches anderen Gesetzen folgt, als das Nichtleben2). Allgemeines. Der schroffe Gegensatz zwischen Driesch und der beschreibenden Naturgeschichte besteht darin, daß diese die Tatsachen in ihrer plastischen Abrundung vorführt und jede Tatsache für absolut und ihre Beziehung zu unserem Verstände als zufällig betrachtet, Driesch dagegen die Notwendigkeit des Geschehens und die Logik betont Auch die beschreibende Wissenschaft muß sich der Logik bedienen; ist doch unsere Sprache, sind doch die Worte, die Urteile und Schlüsse eitel Logik; aber der Naturhistoriker bedient sich derselben nur als eines Mittels zum Zwecke der Darstellung, die er als das höchste Ziel betrachtet, während Driesch die Methode für den alleinigen Zweck der Wissenschaft hält. Im Bestreben, nur logisch Durchsichtiges als Wissenschaft vorzuführen, gelangt er bis zu den 1) Das Verhältnis der Biologie zu anderen Wissenschaften erörtert Driesch am ausführlichsten in den »Naturbegriffe und Natururteile«, Leipzig 1904. 2) Von der Allgemeingültigkeit wissenschaftlicher Aussagen. Biol. Zentralbl. 20, 1900, S. 19. XXXIX. H. Driesch. 535 apriorischen, d. h. uns schlechthin gegebenen Begriffen. Der Natur- historiker wird die Entdeckung und Beschreibung solcher Begriffe interessant finden, nur wird er sich dessen erinnern, daß uns jede Erscheinung ebenso wie das Apriori, schlechthin gegeben ist: der blaue Himmel, die zirpende Heuschrecke ist ebenso eine Tatsache schlechthin, wie die Kausalität. Driesch wird dagegen einwenden, daß die Kausalität allgemein gültig, das Zirpen der Heuschrecke dagegen konkret, zufällig ist. Dies wird zwar allgemein aner- kannt, obwohl man praktisch auch anderen Ansichten huldigt. Was die bedingungslose Gültigkeit des Apriori anbelangt, so hat man schon oft daran gezweifelt: Kant selbst, der doch die unbedingte Geltung des Apriori behauptete, setzte ihm Grenzen, indem er eine intelligible Welt statuierte, wo es nicht gilt; sein »Ding an sich< ist der Ausfluß des Bestrebens, etwas noch Höheres als das Apriori zu finden. Andere Denker haben von der Möglichkeit von Wesen ge- sprochen, für die eine andere Logik als die unsrige bestimmend wäre. Dadurch gab man kund, daß man auch in der Kausalität ebenfalls nur etwas Konkretes, unter bestimmten Bedingungen Vor- kommendes verstehen solle. Nun kann man solche Versuche für verfehlt erklären: die Frage bleibt, warum man solchen Fehlschluß gemacht hat? Warum hat KANT vergeblich für dieses Problem ge- stritten, warum stritt für dasselbe die nachkantische Philosophie? Hier hilft kein Machtspruch, keine erzwungene Konsequenz: ein Fehler muß irgendwo tief im System stecken. Wo der Grundfehler liegt, werden wir nicht untersuchen; jeden- falls wird etwas Falsches an Kants (von DRIESCH durchweg an- genommenen) Hypothese sein, daß die Kategorien etwas Anderes und die Tatsachen auch etwas Anderes, nach den Kategorien Zu- geschnittenes darstellen: es hat wenigstens Schriftsteller gegeben, welche (praktisch) anderer Meinung waren: wenn Plato auch das Gute, das Schöne, die Maßbestimmungen wie z. B. »groß«, »klein« als Ideen, d. h. als etwas Wirkliches betrachtete, so ging er von einer Annahme aus, nach welcher man auch die Kausalität für Wirklich- keit, nicht für bloße Relation halten müßte. Doch wir wollen bei konkreteren Dingen bleiben. Die Abstrakt- heit der Wissenschaft, wie sie uns DRIESCH vorführt, so phantasielos, so ohne jede Plastik, ohne jede Freude am Originellen, am Detail, kann unmöglich die Wissenschaft überhaupt sein: wenn die Biologie nur in bewußter Anwendung der Erkenntnistheorie auf die Er- scheinungen des Lebens besteht, was bedeuten dann die Museen, 536 XXXIX. H. Driesch. welchen Wert hat die Freude am Sammeln der Pflanzen und Insekten, die Entdeckung einer neuen Tatsache, welchen Wert hat die Neu- gierde, die den Menschen zum Forschen antreibt? Dieses Moment hat gegen DRIESCH mit etwas anderen Worten O. BÜTSCHLi hervor- gehoben1): »Ganz abgesehen davon, daß wir die Natur nicht nur deshalb stu- dieren, um das gesetzliche Geschehen in ihr kennen zu lernen, sondern auch, um überhaupt zu wissen, worin wir denn leben und von was wir umgeben sind, ... so läßt sich doch auch fragen, was interessieren uns denn eigentlich jene gesetzlichen Geschehensweisen, welche meist als an sich wenig interessante mathematische Gleichungen erscheinen?« Auch gegen die Entelechielehre ließe sich Einiges einwenden; so insbesondere, daß sie die Welt allzu atomistisch auffaßt. Allgemeine Abstraktionen wie Wirbeltier, Form, Denken betrachtet Driesch nur als Eigenschaften der Entelechie, denen an sich keine Realität zukommt. Durch diese Annahme wird Driesch zu einer eigentüm- lichen Auffassung der Geschichte geführt. Die Geschichte, sagt er, ist immer Geschichte von Körpern2); auch die Geschichte der Wissen- schaft und der Kunst ist nur Geschichte von Menschen, von Forschern, von Künstlern. Sie behandelt entweder die Entwicklung eines Körpers, *) O. Bütschli, Mechanismus und Vitalismus, Leipzig 1901, S. 53. Driesch reagierte auf diesen Einwand nicht. — Ich will mir da eine persönliche Bemerkung erlauben. Mich zog Drieschs Streben von allem Anfang an, nicht nur weil ich das Originelle desselben einsah, sondern auch, weil ich mich niemals recht in dasselbe hineindenken konnte, obwohl ich gar nichts triftiges gegen seinen Vitalismus oder gegen seine Betonung der Methode einzuwenden hatte. Ich stelle mir aber alle Probleme anders als Driesch vor: in meiner Schrift »Untersuchungen über den Phototropismus der Tiere, Leipzig 1903«, habe ich z. B. ebenfalls auf eine vitalistische Theorie angespielt, welche aber einer ganz anderen Logik folgt, als die des Driesch. In dieser Hinsicht war mir Drieschs Streben nicht ganz neu: bereits als Student vernahm ich von meinem Professor der Philosophie T. G. Masaryk Zweifel an der DARWiNschen Theorie, welcher er ebenfalls Mangel an rationeller Einsicht vor- warf; ich fand bei ihm auch eine Fürsprache für den Vitalismus und namentlich die Betonung einer rationellen Methode, welche Betonung den Grundton seiner Phi- losophie bildet. Man wird Masaryks Grundsätze aus seiner »Konkreten Logik« (einer Methodologie der Wissenschaften, 1885, auch deutsch), herauslesen können; nur ziehe man beim Lesen des Werkes in Betracht, daß es zu einer Zeit verfaßt wurde, wo der Kultus der Wissenschaften hoch stand und wo sich der Philosoph nicht erlauben durfte, eigene Ansichten den Fachleuten aufzunötigen; deshalb drückt sich Masaryk, der noch überdies für das Fachmännertum sehr eingenommen ist, zu- rückhaltend aus. Diese meine Schrift folgt mit Ausnahme des abstrakt Logischen, wie ich glaube, der Methode Masaryks, die er »Realismus« (d. h. Hinnehmen der Tatsachen, wie sie sind) nennt. 2) The Science II, S. 299. XXXIX. H. Driesch. 537 oder die Geschichte einer körperlichen Eigenschaft, welche an einer Reihe von Körpern vorkommt, die durcheinander sukzessive erzeugt werden; oder endlich betrifft sie (wie die Geschichte der Wissen- schaft) Körper, die in indirekter Beziehung zueinander stehen, aber doch jeder aus einem anderen erzeugt wurden. Die Geschichte kann entweder eine Entwicklung sein Geschichte eines Individuums) oder sie ist eine Kumulation, wo sukzessive Ereignisse an die vorangehenden angeschlossen werden, wie im Falle der Geschichte der Wissenschaft. Des weiteren führt Driesch aus, daß die Ge- schichte als Kumulation keine exakte, mit Eigengesetzlichkeit ar- beitende Wissenschaft ist. Wohl hat man eine Philosophie der Ge- schichte konstruieren wollen, die Geschichte als Entwicklung des Rechtes, der Kultur, der Religion aufgefaßt, aber diese Versuche seien sämtlich als unexakt abzuweisen. Die Geschichte sei nicht im- stande, allgemeingültige Aussagen zu ermitteln, und deshalb sei sie keine exakte Wissenschaft. Was ist sie aber dann? Wohin sollen wir die Werke eines TACITUS, eines Taine, wohin sollen wir DrieSCHs historische Studie >Der Vitalismus als Geschichte und Lehre« rechnen, wenn nicht zur Wissenschaft? Darauf ist bei DRIESCH keine Antwort zu finden. Es ist auch unmöglich zu glauben, daß die Wissenschaft, die Kunst nichts an sich wären, daß die Welt nur aus Körpern bestünde: die Geschichte beweist selbst, daß diese Hypothese unrichtig ist. Sie zeigt, daß zu jeder Zeit gewisse Ideen herrschten, welche, mächtiger als jedes einzelne Individuum, ganze Massen, ganze Völker sich dienst- bar machten: man kann die Anfänge, den Fortschritt, den Höhepunkt, den Verfall dieser Ideen verfolgen, und von den »Körpern« braucht man dabei recht wenig zu wissen. Das Christentum, das Klosterwesen, die Reformation, die Revolution, der Staat, die Wissenschaft, der Dar- winismus bedeuten doch etwas Reales; sie sind mehr als ein Aggregat, es steckt eine Idee darin1). Die Weltgeschichte (DRIESCH hat nur diese im Sinn) braucht keine Idee darzustellen, in ihr gab und gibt es aber Ideen. Der Geschichtsschreiber hat dieselbe Aufgabe, wie jeder andere Forscher: die Aufgabe, die Ideen, das Beständige in der Er- scheinungen Flucht, zu entdecken, nach ihren Eigenschaften zu be- schreiben; dabei bleibt die Frage, ob sich die Idee »entwickelt«, J) Driesch behauptet vom Staate, derselbe sei nur ein Aggregat (The Science. II, S. 345) ; die modernen Staatstheoretiker verwerfen aber, scheint mir, diese aus dem 18. Jahrhundert stammende Theorie. 538 XXXIX. H. Driesch. ein sekundäres Problem; daß sie ist, und wie sie ist, ist die Haupt- frage. In der Auffassung der Geschichte als Kumulation von Produkten einzelner Individuen zeigt sich, wie Driesch trotz seiner Polemik gegen das darwinistische Denken von demselben befangen ist. Die älteren Historiker glaubten in der Geschichte nach Ideen suchen zu müssen; BUCKLE war es, der solche Geschichtsphilosophie verworfen hat, und den Fortschritt der Kultur nur für eine Anhäufung der Pro- dukte einzelner Männer erklärte. Seitdem überwiegt diese atomistische Auffassung besonders in den Schilderungen der Wissenschafts- geschichte: sie sei nichts anderes als Kumulation von Entdeckungen. Auch im Bereich des Darwinismus gilt diese Philosophie: es war eben Darwin, der die Natur als ein schaffendes Wesen aus der Wissen- schaft verwiesen und nur die Individuen für wirklich erklärt hat; der gegen die Begriffe der Art, der Gattung, gegen die Pläne polemisierte und jedem Begriffe die Realität absprach; der in der Geschichte der Organismenwelt nach Ideen zu suchen verbot; der das Erklären der Tatsachen für die Wissenschaft hielt — in allen diesen wesentlichen Punkten stimmt Driesch mit Darwin überein. Driesch verwirft die bloße Beschreibung, die induktive Systematik, da sie nur Tat- sachen darstellt, die nicht durch die Vernunft aufgelöst sind; die Stammbäume bespottet er; sie seien »Ahnengallerien«, deren Zu- sammenhang man nicht begreife. Welchen Sinn hatte aber der stürmische Kampf Haeckels? Dieser behauptete eben dasselbe wie Driesch: man müsse von der bloßen Beschreibung, von unver- standenen Systemen abstehen und zu einer höheren Wissenschaft emporstreben: man müsse verstehen lernen, man müsse erklären; und Haeckel erklärte die von CuviER gegründeten Ahnengallerien — zwar nicht durch Entelechie — wohl aber durch Phylogenie. Was die Phylogenie selbst betrifft, verwirft sie Driesch nicht; im Gegenteil, die Deszendenz der organischen Formen gilt ihm als höchst wahrscheinlich; nur über das »wie« wünscht er exakte Be- lehrung1). Ja er ist noch mehr Evolutionsphilosoph: nachdem er bewiesen, daß man mit Unrecht von einer in der Weltgeschichte sich offenbarenden Idee spricht, kehrt er noch einmal zu dem Problem zurück, und deutet an, daß sie vielleicht doch eine Idee offenbart2): zwar kann er, wie er versichert, eine Universalharmonie, einen Welt- J) Kritisches und Polemisches. Biol. Zentralbl. 22, S. 82. 2) In den letzten Kapiteln von The Science II. XL. Verfall des Darwinismus. 539 zweck nicht beweisen, — er glaubt aber an denselben; vom Glauben zum Beweis ist aber ein kurzer Weg: will Driesch diesen Weg nicht gehen, es werden sich schon welche finden, die ihn entdecken; auch Kant hat das Absolute für unerkennbar erklärt, und doch haben seine Schüler, die Naturphilosophen, dasselbe zur Grundlage ihrer Philosophie gemacht. Es wiederholt sich bei DRIESCH, was bei jedem selbständigen Denker vorkommt: er glaubt, den Darwinismus überwunden zu haben und ist ihm unterlegen. Der Beobachter kann daraus die Erkenntnis schöpfen, daß der Darwinismus doch nicht so leicht zu widerlegen, so leicht an seiner Wurzel zu fassen ist, wie es scheinen möchte. Wer weiß, welche Tiefen spätere Generationen in dem Darwinismus ent- decken werden, welche uns, die wir demselben zu nahe stehen und denen nur die ersten kritischen Anläufe zu einem abschließendem Urteil zu Gebote stehen, verschleiert sind? XL. Verfall des Darwinismus. Abwendung der geistigen Strömungen vom Darwinismus und von der Naturwissenschaft. In den siebziger und achtziger Jahren war der Darwinismus Allein- herrscher auf dem Gebiete des biologischen Denkens und anerkannter Führer der Spekulation in anderen Wissenschaften. Die Frage nach den Ursachen der Erscheinungen galt als das alleinige Ziel der For- schung, als ob keine andere Wissenschaft möglich wäre, als die, welche nach dem Ursprung und Schicksal der Dinge fragt; Lichtenbergs »wahres Ursachentier« paßte niemals besser auf den Menschen, als zu jener Zeit. Die letzten großen Schriften gegen Darwin, welche allgemeinere Aufmerksamkeit erregten, erschienen gegen Ende der siebziger Jahre; zwar polemisierte man gegen ihn auch später: die alten Idealisten veröffentlichten noch hier und da ihre Proteste (wie z. B. MlCHELIS) x), auf die aber niemand achtete; hier und dort ließ sich auch ein Ruf nach einem Kompromiß zwischen der neuen Lehre und dem Glauben an einen allmächtigen Gott vernehmen, wie z. B. in der Rede des Genucser Professors Fred. Delpino, in welcher ') F. MlCHELIS, Das Gesamtergebnis der Xaturforschung denkend erfaßt, Frei- burg i. Br. 1885. — Konkreter lautete der Protest E. F. V. HOMEYERS in seiner Schrift: Die Wanderungen der Vögel usw., Berlin 1881. ciO XL. Verfall des Darwinismus. dieser Botaniker zwar Darwins Prinzipien, samt der natürlichen Zucht- wahl, annahm, aber trotzdem auf die unüberbrückbare Kluft zwischen Leben und Nichtleben, auf die Empfindungen, auf den Verstand, auf den Willen, auf die das gesamte Leben von der Amöbe bis zum Menschen hinauf beherrschende Gottheit hinwies x), — aber die Dar- winisten nahmen solche Verstöße gegen den wissenschaftlichen Geist mit Achselzucken auf. Die Naturgeschichte galt als die gesichertste und die fortschritt- lichste Wissenschaft, denn sie bewies, wonach sich alle Geister sehnten: die Allmacht der Kraft und des Stoffes, den Tod des Idealismus ; sie ertrug stolz das odium theologicum der Kirche, welche ohnmächtig zusah, wie ihre Feste vor der Macht des Beweises, der Mensch sei nur ein besserer Affe, einstürzt. Allgemein glaubte man, daß Darwin dasjenige gelungen war, was die große Revolution vergeblich angestrebt hat: alle Fesseln, die uns an die ethische, religiöse und wissenschaftliche Vergangenheit ketten, zu sprengen, und eine neue, naturwissenschaft- liche Lebensauffassung aufzubauen. Psychologen, Rechtsgelehrte, Sprachforscher, Soziologen, Philosophen, alle erkannten bescheiden an, daß sie in ihrer Wissenschaft keine verläßliche Bürgschaft der Exaktheit besitzen, und sie blickten zu den Biologen als den einzigen Besitzern des unanfechtbaren Wissens empor; Darwin, Weismann und Haeckel waren Autoritäten, welche alle Probleme zu lösen und alle Zweifel zu bannen vermochten. Die Herrschaft des Darwinismus über das zeitgenössische Denken dauerte aber nicht lange; nach den achtziger Jahren verlor er ein Gebiet nach dem anderen, bis ihm schließlich nur die Biologie übrig blieb. In der Poesie erreichte Zola den Höhepunkt seines Ruhmes in den achtziger Jahren; bereits 1889 verwarf jedoch P. BOURGET im Vorwort zu seinem »Schüler« (Le disciple) den Naturalismus der Instinkte, verwarf den übertriebenen Kultus der Wissenschaft und verwies darauf, daß auch die exakte Wissenschaft voll von Geheim- nissen steckt. Auch F. Brunetieres Angriffe gegen Zola ernteten Beifall; großes Aufsehen erregte seine Polemik gegen das wissen- schaftliche Ideal, das von Condorcet, Comte, Renan, Berthelot gepredigt worden war; Brunetieres Worte2) vom »Bankrott dei J) Fed. Delpino, II materialismo nella scienza, Genova 1880. 2) F. Brünettere, La science et la religion, Paris 1895, S. 13. — Berthelot antwortete zwar auf den Angriff Brunetieres, ohne aber seine Gründe entkräftigt zu haben. XL. Verfall des Darwinismus. 54.1 Wissenschaft« (1895) gingen von Mund zu Mund, und fanden weder in Frankreich noch sonst einen Gegner, der ihre Wirkung abgeschwächt hatte. Dahin ist die Zeit, wo C. DU Prel die Lyrik für »paläonto- logische Weltanschauung« '), für Atavismus erklären durfte, der durch den Fortschritt der Wissenschaft ausgerottet wird: Dekadenten, Mystiker, Nietzscheaner und verschiedene Modernitäten überwucherten die Trümmer der wissenschaftlichen Weltanschauung2). Auch die wissenschaftliche Philosophie, welche unverbürgte Konsequenzen aus wissenschaftlichen Hypothesen zog, ist im Ab- sterben begriffen. Spexcers Name wird immer seltener in philoso- phischen Werken genannt, HAECKELs Monismus sank von der Höhe einer allmächtigen Philosophie zur Losung einer unbedeutenden Partei herab, Taixe wird als nicht genug wissenschaftlich bekämpft ; KANT, Hegel, SchopexhaüER, Naturphilosophie kommen wieder zu Ehren. Das Interesse für die Religion erwacht. Die naturwissenschaft- lichen Beweise gegen die Exaktheit der Bibel sind veraltet, Geschichte, Archäologie und Philologie kommen wieder bei der Kritik der Bibel zum Wort, und was noch mehr bedeutet: man spricht wieder ernst von der Notwendigkeit der Religion; nicht nur Philosophen sondern auch Naturforscher (J. Reixke) führen wieder Gott in ihre Er- örterungen ein; vorüber sind die Zeiten, als Comte die Theologie für eine kindische Wissenschaft erklären konnte; nicht nur Protestanten (Harxack, Sabatier), sondern auch Katholiken (LOISY, Schell u. a.) erwecken ihre Wissenschaft zu neuem Leben; die Kämpfe der Modernisten um einen Fortschritt in der Kirche bilden das Zeichen der Zeit. Auch die Ethik betrachtet seit langem jene Zeit als überwunden, als sie zu dem dogmatischen SPENCER in die Schule ging, als die Sittlichkeit nur als eine gesellschaftliche Frage galt, und als man die ethischen Gesetze aus Nützlichkeitsprinzipien ableitete; F. NIETZSCHE nahm die Stelle Spexcers ein. Wohl schöpft Nietzsche auch vieles aus den Entwicklungstheorien; seine »blonde Bestie-, sein »Über- mensch«, sein Hervorheben der körperlichen Kraft, sein Glaube an eine bessere Zukunft, weisen auf DARWIN zurück; erschüttert ist aber der Respekt vor der Wissenschaft, erschüttert die soziologische Moral (also sprach ZARATHUSTRA: »Siehe, ich bin meiner Weisheit überdrüs- sig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat: ich bedarf J) C. du Prel, Die Lyrik als paläontologische Weltanschauung. Kosmos, 5, S. 39. 2) M. Nordau, Entartung I, S. 90 sq., wo diese literarischen Strömungen vom »wissenschaftlichen« Standpunkte besprochen werden. ca2 -^L. Verfall des Darwinismus. der Hände, die sich ausstrecken«); der Glaube an den Einzelnen wird zum Ausgangspunkt seiner sittlichen Grundsätze. Spencer, der praktische Ingenieur, der Verehrer der Wissenschaft, der Vorkämpfer einer Durchschnittsmoral, der an den Fortschritt der Gesellschaft glaubte, der solide und trockene Philosoph trat vor F. Nietzsche, dem klassi- schen Philologen, dem Dichter zurück, der den Haß gegen die Durch- schnittsmoral mit eigenem Gehirn bezahlte. Auch gegen die naturwissenschaftliche Auffassung der Geschichte erhebt sich Reaktion. Einzelne Denker wollen zwar auch jetzt noch der Naturwissenschaft die Aufgabe zuweisen, empirische Gesetze des Geschehens in der Art zu bestimmen, wie sie Darwin aufgefaßt hat ; aber den Versuch BuCKLEs und Taines, solchen Gesetzen auch die Ge- schichtsschreibung zu unterordnen, lassen sie nicht mehr gelten, und stellen einen Grundunterschied zwischen der Methode der Naturwissen- schaft und der Geisteswissenschaften fest. So soll nach W. DiLTHEY1) der Historiker beschreiben, nicht erklären; er soll typische Erscheinun- gen, ihre individuellen Merkmale schildern, die Wirklichkeit darstellen, nicht abstrakte Gesetze ableiten, wie es die Naturwissenschaft anstrebt. Ähnlichen Ideen folgt der Philosoph W. Windelband2), der die Geschichtschreibung unter die idiographischen (beschreibenden), die Naturwissenschaft unter die nomothetischen (Gesetze bestimmenden) Wissenschaften rechnet; auch nach H. RiCKERT3) unterscheiden sich Geschichte und Naturwissenschaft toto coelo, indem die erstere auf das Individuelle, die letztere auf das Allgemeine abzielt. Auch Fach- historiker (Lorenz, Lamprecht, Seignobos) und Soziologen (J. Jel- linek) 4) haben schon die naturwissenschaftliche Auffassung der Ge- schichte aufgegeben. Unter den Sozialdemokraten erlebte die materialistisch -natur- wissenschaftliche Philosophie eine Krisis ; T. G. Masaryks 5J Werk, das die philosophischen Grundlagen der Sozialdemokratie untersucht, steht selbst auf einem moderneren Standpunkte und führt auch eine Menge Belege dafür an, wie sich die Sozialdemokraten von dem J) W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Leipzig 1883. 2) W. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, Straßburg 1894. 3) H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Tübingen und Leipzig 1902. — Gegen ihn polemisiert F. Eulenburg, Gesellschaft und Natur, Rede, Tübingen 1905, der auch andere einschlägige Literatur anführt. 4) G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Heidelberg 1905. 5) T. G. Masaryk, Die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxismus, 1899. XL. Verfall des Darwinismus. 543 wissenschaftlichen Materialismus emanzipieren, auf dem Marx und Exgels ihre Lehre aufgebaut hatten. Die Sprachwissenschaft hat sich seit langem von der Herrschaft des Darwinismus befreit. Schleichers Broschüre, welche die Lehre DARWINS in die Sprachkunde einführte, erschien 1 863 ; bereits 1871 kritisierte sie der amerikanische Philologe VV. D. Whitney1) abfällig und führte aus, daß sich die Sprache nicht als ein selb- ständiger, vom Willen des Menschen unabhängiger Organismus ent- wickelt, sondern daß sie eine Funktion des menschlichen Lebens, ein Element der Kultur sei und sich durch die Macht des menschlichen Willens verändert. Diese Kritik drang durch; schon 1880, als der biologische Darwinismus noch voll Leben zu sein schien, erklärte B. Delbrück2) Schleichers Standpunkt für wissenschaftlich über- wunden. Von der Chemie, der Astronomie, der Petrographie müssen wir nicht einmal sprechen ; die darwinistischen Anläufe sind auf diesen Gebieten nur mißlungener Versuch geblieben. Verfall der objektiven Wissenschaft. Die moderne Biologie bemerkte kaum, wie sich die Weltanschauung rasch ändert und glaubte noch immer die Führerschaft auf dem Gebiete geistigen Lebens in den Händen zu haben. Sie wurde darin durch ihre Umgebung unterstützt. Die Skeptiker, welche in anderen Wissen- schaften gegen die Einführung des orthodoxen Darwinismus in ihr Gebiet protestierten, griffen keineswegs die exakte Wissenschaft und die Biologie überhaupt an, sondern wiesen nur darauf hin, daß unter den Biologen selbst keine Übereinstimmung über die entwicklungs- geschichtlichen Prinzipien herrsche; der Name WEISMANNS erscheint in dieser Zeit besonders oft als Beweis, daß die Biologie nicht mehr auf DARWINS und Haeckels Prinzipien steht. Dadurch getäuscht, bemerkten die Biologen nicht, daß dieser Name, daß die fortgesetzte Ehrfurcht, mit der man von der Exaktheit der Biologie sprach, nur- mehr eine Höflichkeit und ein Vorwand waren, um die Selbständigkeit der eigenen Wissenschaft der Biologie gegenüber betonen zu können. Die Biologie war ferner stolz darauf, daß sie durch ihre praktische Seite stets feste Beziehungen zum Leben unterhielt: durch ihre Be- J) W. D. WHITNEY, Strictures on the Views of A. Schleicher resp. the Nature of Language etc. Trans. Araer. phil. Assoc. 1S71. 2) B. Delbrück, Einleitung in das Sprachstudium, Leipzig 1880. 544 XL. Verfall des Darwinismus. Ziehungen zur Medizin (Physiologie, Bakteriologie), durch die Förderung der Viehzucht und der Gärtnerkunst, der Kenntnis der nützlichen und schädlichen Organismen, durch die Kultur neuer Varietäten. Es ist leider schwierig, sich ein klares Bild über den praktischen Wert der Biologie als Wissenschaft zu bilden; da man von demselben so viel spricht, wäre man geneigt, an denselben zu glauben; sucht man aber nach Abhandlungen, wo dieser Wert in concreto dargelegt wäre, findet man nur allgemeine Erörterungen. Und doch sollte man eine solche Arbeit unternehmen, denn ohne einen solchen Nachweis wird man kaum umhin können, den Darwinismus, die Theorien Haeckels und Weismanns, die Lehre von der Zelle, die Anthro- pologie, die Paläontologie, die Systematik, die Lehre von der Mimikry, und fast alles andere, was für den Darwinismus bezeichnend ist, von den philosophischen und ethischen Konsequenzen des Dar- winismus gar nicht zu sprechen, für reine Ideologie zu halten. Für die Medizin ist die Biologie nur insofern von Wert, als sie ihre theoretischen Gebiete unterstützt; wie aber diese mit der ärzt- lichen Praxis zusammenhängen, ist ebenfalls kein leicht zu lösendes Problem. Es ist überhaupt sehr schwierig, sich ohne eingehende Analyse ein Urteil von dem Werte der Theorie für die Praxis zu bilden. Einerseits finden sich unter den Förderern der praktischen Interessen der Menschheit Männer vor, welche zu der Wissenschaft nur oberflächliche Beziehungen gepflegt haben; andererseits muß man sich den angeblich praktischen Entdeckungen gegenüber kritisch ver- halten und untersuchen, welche Entdeckungen sich wirklich als solche bewährt haben; drittens hat die Geschichte der Luftschiffahrt, der Automobil-, der Textilindustrie, der Viehzucht, der Gärtnerkunst ge- zeigt, daß die »Wissenschaft« nur von sehr indirektem Einflüsse auf die technischen Errungenschaften sein kann1). Außerhalb der Wissenschaft konnte man nicht umhin, dieses Verhältnis zu bemerken, und deshalb wurde die Schulwissenschaft von dem aufstrebenden Individualismus als trocken und ohne Ver- ständnis für das wirkliche Leben hingestellt. Die Biologen sind z) Das Verhältnis der Wissenschaft zur Praxis würde sich anders darstellen, würde man die Wissenschaft als individuelles Verhältnis des Menschen zur Natur auffassen ; dann würden Darwin, Haeckei., Kant, Cuvier innerhalb der Grenzen ihrer wissen- schaftlichen Tätigkeit ebenso »Praktiker< sein als ein Fabrikant, ein Viehzüchter, ein Arzt, ein Geschäftsmann ; dann würde das Verhältnis zwischen Lehre und Praxis, zwischen Schule und Leben höchstens zum pädagogischen Problem werden, und für die Wissenschaft belanglos sein. XL. Verfall des Darwinismus. 545 aber noch immer in dem Wahne befangen, daß ihre Lehren modern, praktisch, lebensfrisch seien und höher als die Geisteswissenschaften, als Geschichte, als Philologie ständen; sie wollen nichts von dem großen Interesse wissen, mit welchem man sich heute wieder diesen Gebieten zuwendet. Sie schließen die Augen vor den Erfolgen, welche der Kultus Nietzsches macht; sie glauben, daß sich Nietzsches Stellung der Wissenschaft, den »Gelehrten« gegenüber1) (»die Gelehrten und die Genies haben sich immer befehdet«) durch den Hinweis auf dessen trauriges Ende entkräften lasse ; sie sehen nicht den ungewöhnlichen Erfolg des »Rembrandt als Erzieher«, der binnen einigen Jahren über vierzig Auflagen erlebte2), sie glauben die Angriffe, welche der anonyme Verfasser dieser Schrift gegen die Gelehrten richtet, ignorieren zu können; sie glauben H. S. Chamber- lains3) Haß gegen die moderne Wissenschaft, von dem sein Werk über Kant durchtränkt ist, durch Mißerfolge in seiner wissenschaft- lichen Karriere erklärt4) und entkräftet zu haben. Rationalistische Umbildung des Darwinismus. Die Engländer haben den Darwinismus begründet, die Deutschen aufgebaut; die Deutschen sollten ihn auch niederreißen. Die Macht, welche den Darwinismus zugrunde gerichtet hat, war der Glaube an die Vernunft. Die Theorie Darwins, welche jeden Glauben an die Gesetzmäßigkeit der organischen Welt vernichtete, und alles Ge- schehen für eine Häufung von Zufällen hielt, konnte zwar für kurze Zeit die Welt blenden; aber bald regte sich das Bestreben, sie durch den Glauben an eine gesetzmäßige Entwicklung zu überwinden; und diese Strömung wuchs immer stärker an. Im Jahre 1873, als der Darwinismus kulminierte, gab G. Tu. FECHNER ein Schriftchen heraus, das die erste Reaktion der rationa- listisch veranlagten Geister gegen den Empirismus bedeutete. FECHNER nahm nach einigem Schwanken Darwins bzw. HAECKELs Lehre an, versuchte sie aber durch die x) Vgl. seinen Artikel »Wir Gelehrten« in »Jenseits von Gut und Böse«, Leipzig 1902, S. 143 sq. (insbes. S. 151 . 2) Rembrandt als Erzieher, Leipzig, 41. Aufl. 1S92. 3) H. S. Chamberi.ain. Im. Kant, München 1905. 4) Vgl. die Art, wie Chamherlain von A. Hansen in seiner Schrift: Goethes Metamorphose der Pflanzen, Gießen 1907. behandelt wird. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. -i- 546 XL. Verfall des Darwinismus. > Aufstellung eines allgemeinen Prinzipes, welches alle organischen Ent- wicklungsgesetze unter sich begreift« T), zu vertiefen, und schlug als solches »das Prinzip der Tendenz zur Sta- bilität« vor, das einerseits den nach Einheit des Planes strebenden Anschauungen, andererseits dem DARWlNschen Postulate gerecht sein sollte und die Kausalität wie die Teleologie als in einem und dem- selben Geschehen vereint betrachtete. Nach dem Prinzip der Ten- denz zur Stabilität gleicht jede aus Atomen zusammengesetzte Materie, welche ursprünglich in chaotischer Bewegung begriffen war, im Laufe der Zeit ihre Bewegungen aus, und bildet sich zu einem mehr und mehr geordneten Ganzen um, so daß die ursprüngliche Labilität und Variabilität einem mehr stationären Zustande sich nähert. Unter diesem Gesichtspunkte sei auch die Entwicklung der Erde zu be- trachten: die ursprünglich feurige Erdkugel differenzierte sich allmäh- lich zu verschiedenartigem Gestein und brachte die Organismen her- vor, welche noch viel von der ursprünglichen Labilität an sich haben, indem sie stark variieren; ihre Veränderlichkeit nimmt aber allmäh- lich ab; deshalb entstehen jetzt neue Arten seltener als früher. Der Tod jedes Einzelnen und der Tod aller Organismen bildet einen neuen Schritt zu der Stabilität, welche als allgemeine Erstarrung und allgemeines Gleichgewicht den Höhepunkt erreichen wird. Auf diese Art versuchte Fechner Darwins Lehre vom Zufall zu überwinden: kein Zufall, sondern ein mathematisches Gesetz beherrscht nach ihm alles Geschehen; die einzelnen Entwicklungsstufen sind durch die primäre Anordnung der Materie und durch die Kräfteverteilung an derselben bestimmt; die darwinistischen Faktoren, der Kampf ums Dasein, die Vererbung usf. erscheinen nur als Folgen der Tendenz zur Stabilität. Fechners Lehre wurde vielfach erörtert, ohne daß sie aber auf die Weiterentwicklung des Darwinismus von Einfluß gewesen wäre. Im Jahre 1884 erschien NäGELIs »Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre«, ein Werk, dessen stolzer Titel seine Tendenz hinreichend andeutet. NÄGELI kritisiert darin die DARWiNsche Theorie und begründet seine Lehre von der phyletischen Kraft. Nachdem er seine Einwendungen gegen Darwin vorgebracht, fährt er fort2): J) G. T. Fechner, Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen, Leipzig 1873, S. IV. 2) C. NÄGELI, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, Mün- chen 1884, S. 333. XL. Verfall des Darwinismus. 547 »Daß Darwin darauf kein Gewicht legte, ist mir begreiflich, da er als reiner Empiriker nur Tatsachen anführt und dieselben seiner aus der Tierzüchtung abgeleiteten allgemeinen Theorie anzupassen sucht, ohne sie mit den strengen theoretischen Folgerungen aus derselben zu vergleichen. Weniger begreiflich ist es mir von deutschen Darwi- nisten, welche sich gerne auf mechanische Notwendigkeit berufen . . .« Diese den Rationalismus betonenden Worte waren das erste Zeichen für die Stellung, welche der deutsche Darwinismus dem eng- lischen gegenüber immer entschiedener einnahm. Zwar warfen die Deutschen selbst der Theorie NÄGELls Mystik vor, ließen sich aber trotzdem von ihr beeinflussen. WEISMANN knüpfte an sie seine Ideen der angeborenen Eigenschaften und gelangte bis zur Erklärung der Allmacht der Naturzüchtung, der Allmacht eines nicht aus der Erfahrung gewonnenen, sondern erschlossenen, also rationalisti- schen Prinzips. SACHS begründete in Anlehnung an NÄGELI seine experimentelle Physiologie, welche, wie unten gezeigt werden wird, ebenfalls einen Schritt zum Rationalismus bedeutete; DR1ESCH, der den Rationalismus konsequent und bewußt durchführt, erklärt NÄGELI (nebst WlGAND und Wolff) für denjenigen, der den Darwinismus widerlegt hat. Bei wachsender Skepsis über den Wert der Naturzüchtung wurden auch Zweifel über konkrete darvvinistische Theorien laut: über das biogenetische Grundgesetz, über die Moneren, über die Richtigkeit der Stammbäume. WEISMANN trat auf mit seinen interessanten Theorien über die Unsterblichkeit des Keimplasmas und der Infu- sorien, über die Erblichkeit des musikalischen Talentes, über die Determinanten; mit Theorien, welche viel gelesen und gelobt wurden, an die aber kaum jemand glaubte. Weismanns Erörterungen sind nicht mehr die reißende Flut, wie es die Schriften HAECKELs waren, der alle Zweifel erdrückte und alles Denken mit Gewalt sich unter- warf; unter HAECKEL war der Darwinismus ein Glaube, eine Religion, nach der jeder Mensch all sein Walten einzurichten verpflichtet war; dies hat unter WEISMANN aufgehört; die Lehre zog sich in die Schulen zurück, und es entstand ein gelehrter Darwinismus, der nicht mehr Begeisterung und Entrüstung, sondern nur höfliche aka- demische Disputationen hervorrief: der Zusammenhang mit dem wirk- lichen Leben ging verloren. Auch innerhalb der Biologie selbst ver- fiel die Theorie; früher riß sie die ganze Biologie mit sich hinweg, jetzt wurde sie zu einem Bächlein, das nur mit Zellenproblemchen spielte. Während Haec'KEL noch bedingungslos an DARWIN festhielt, 03 548 XL. Verfall des Darwinismus. kritisierte ihn Weismann, verwarf einige seiner Anschauungen und erklärte die Allmacht der Naturzüchtung. Andere Darwinisten ver- teidigten Darwins Lehre gegen den von Freiburg aus gepredigten Fortschritt; der Darwinismus spaltete sich in drei Äste: in die Neo- lamarckisten, die Neodarwinisten und die treuen Anhänger Darwins; bald zweigten sich neue Richtungen ab : die Entwicklungsmechaniker, die Rassentheoretiker, die vergleichenden Physiologen; und diese Richtungen betrachteten sich alle als Verbesserer des Darwinismus. Der klassische Boden, auf dem der Darwinismus entstanden war, die vergleichende Anatomie und Embryologie wurde allmählich verlassen und als unexakt verworfen. Der Neolamarckismus, sofern er tiefer begründet war, be- deutete eine Rückkehr nicht nur zu Lamarck, sondern auch zu dem Rationalismus, zu SCHOPENHAUER, zu den Naturphilosophen. Die wachsende Betonung der Experimente ist ebenfalls eine Auffrischung des Rationalismus; denn der Versuch ist angewandte Logik, ist Bewälti- gung der Natur durch die Vernunft: während sich der Forscher bei schlichter Beobachtung der Natur den Eindrücken der Umgebung hin- gibt, geht er beim Experiment von der eigenmächtig bestimmten Frage- stellung aus — Joh. Müller hat diesen Unterschied richtig heraus- gefühlt, als er dem Experimentieren Unnatürlichkeit vorwarf. Der Darwinismus war dem auf Experimente sich stützenden Konstruieren der Natur abhold und wollte die Natur, wie sie ist, erkennen. Zwar experimentierte auch Darwin (obwohl seine Versuche sehr elementar zu sein pflegten); aber die klassischen Darwinisten, Haeckel, Huxley, Wallace, Galton, Weismann, waren keine Experimentatoren; nur hier und da wurde ein schüchternes Experiment angestellt (vonRoMANES, Preyer, Pflüger), aber kaum beachtet; erst als der Darwinis- mus den Höhepunkt überschritten hat, nahm man das Experimen- tieren energischer in Angriff. Diese Wendung trat in den So er Jahren ein. 1880 gab C. Semper, Professor in Würzburg, der sonst der üblichen Anschauungsweise der damaligen Biologen huldigte, eine Schrift1) mit ausgesprochener Tendenz gegen anatomische Richtung Haeckels heraus; man müsse, behauptete er, von bloßer Struktur- lehre zur Physiologie und zum Experimentieren schreiten und durch das Studium der Lebensweise der Tiere den Darwinismus tiefer er- fassen. Die Idee war beachtenswert und bedeutete offenbar einen ernsten Versuch einer Weiterentwicklung der DARWlNschen Lehre; l) C. Semfer, Die natürlichen Existenzbedingungen der Tiere, Leipzig 1SS0. XL. Verfall des Darwinismus. 549 doch blieb das Postulat der Versuche bei Semper nur eine Losung; praktisch bietet sein Werk nur Erörterungen über die im Freien ge- wonnenen Beobachtungen des Einflusses von Wasser, Nahrung, Licht, Luft und lebendigem Milieu auf die Tierwelt des Stillen Ozeans; immerhin aber wurde die Schrift mit bedeutendem Anteil aufgenommen. Bald darauf trat W. Roux auf und betonte schon an der Schwelle seiner wissenschaftlichen Laufbahn, daß man in den Funktionen der Tiere den Grund ihrer Strukturen suchen müsse; er begründete die experimentelle Morphologie. In der Botanik unterstützte inzwischen JüL. Sachs die physiologische Auffassung des Pflanzenlebens, und beide, ROUX und Sachs fanden viele Nachahmer; heute gilt das Experimentieren allgemein für modern und die beobachtende Richtung für veraltet. Ohne Zweifel stellt diese moderne dem Rationalismus zugeneigte Richtung eine Weiterentwicklung dar: die darwinistische Losung nach kausaler Erklärung der Phänomene gelangt jetzt zur praktischen Ausübung. Neue Physiologie. Mit der wachsenden Hochschätzung der Experimente hängt auch das Entstehen einer neuen Physiologie zusammen. Während der Herrschaft des Darwinismus galt die Physiologie Joh. MÜLLERS als das höchste Ideal der Forschung; eine kontemplative Physiologie, welche die Form des Organismus für das Bedeutendste hielt, in die sie die Funktionen hineindachte. Bei MÜLLERS Nachfolgern beschränkte diese Richtung ihre Probleme wesentlich auf die physikalische Analyse der Sinnesorgane (v. Helmholtz, W. Wundt), um schließlich in reiner Physik und Psychologie (E. Mach) aufzugehen. Während diese sinnesphysiologische Richtung durch ihre philosophischen Bestrebungen das allgemeine Interesse fesselte, wurde die Physiologie selbst zu einer wenig angesehenen Wissenschaft, welche nur an medizinischen Fakul- täten ihrer praktischen Zwecke wegen gepflegt wurde. Der Aufschwung des Darwinismus unterstützte diesen Verfall: während sich alles Inter- esse der Physiologen dem Studium des Menschen zuwandte, und sich der Tiere (Frösche, Hunde, Tauben, Kaninchen usw.) nur zu Experi- menten bediente, die sich an Menschen nicht ausführen ließen, konnte sich der Darwinismus rühmen, daß er in richtigem philosophischem Streben nach allgemeiner Erkenntnis der Natur den Menschen nur als eine den anderen Organismen wesentlich gleichwertige Spezies betrachte und das Leben in der ganzen Fülle seiner Manifestationen, 55o XL. Verfall des Darwinismus. von der Amöbe bis zum Menschen hinauf, untersuche. Sonst aber war der Darwinismus jener Physiologie insofern verwandt, als auch er die Funktionen nicht für absolut, sondern nur für eine durch Nachdenken ermittelbare Folge der Strukturen hielt. Die Darwinisten waren Systematiker, Anatomen, Embryologen, Histologen; sie hielten die Entdeckung neuer Körperelemente für wesentlich; gelang ihnen eine solche Entdeckung, so philosophierten sie (eventuell) über deren physiologische Bedeutung. Die französische Physiologie ließ sich zwar ebenfalls von dieser allgemeinen Strömung beeinflussen, blieb aber nichtsdestoweniger der heimatlichen experimentellen Tradition, namentlich unter der Führung Cl. Bernards, Paul Berts und F. Mareys, treu, trotzdem einige Forscher (Bert und Marey) Darwin nicht schlechthin verwarfen. Auf französischem Boden entstand auch der, in neuerer Zeit eine bedeutende Rolle spielende Begriff der allgemeinen Biologie. Der Name Bio- logie wurde fast gleichzeitig (1802) von Lamarck und von TREVIRANUS für eine, die allgemeinen Lebenserscheinungen behandelnde Wissen- schaft eingeführt; während aber der Versuch des Treviranus ohne Wiederhall geblieben war, ergriff A. Comte (1838) den durch Lamarck eingeführten Terminus und benannte mit demselben eine Wissenschaft, welche die Beziehungen zwischen dem Organismus und dessen Milieu untersucht; seitdem wird der Name allgemein angewendet. Doch konnte die Biologie unter der Herrschaft des klassischen Darwinis- mus, der wesentlich auf morphologische und embryologische Speku- lationen abzielte, zu keiner angemessenen Bedeutung gelangen; viel- fach wurde der Name promiscue für Ethologie (oder Ökologie, Lehre von den Lebensgewohnheiten der Tiere) und für Biologie im Sinne COMTEs gebraucht. Erst die modernen Strömungen verhalfen der Biologie zur allgemeinen Geltung, obwohl sich der Begriff der Biologie auch heute noch nicht ganz geklärt hat: während die einen darunter ein in Allgemeinheiten sich bewegendes Spekulieren über das Leben verstehen, bezeichnen andere mit dem Namen eine all- gemeine Physiologie, andere sogar allgemeine Zellenlehre. Immer- hin gewinnt diese Bezeichnung heute einen bedeutend mehr physio- logischen Inhalt, als in den 80 er Jahren. Es wurde bereits ein Ver- such gemacht, die moderne »allgemeine Biologie« direkt an Comte anzulehnen1). *) M. E. Gley, Les sciences biologiques et la biologie generale. Revue scientif. 1909, S. I sq. XL. Verfall des Darwinismus. 55* Während die allgemeine Biologie einen Versuch darstellt, die Zoologie und Anatomie physiologisch zu vertiefen, werden neuer- dings auch Anstrengungen gemacht, die Physiologie selbst aus ihrem Verfall zu neuem Leben zu wecken. 1894 erregte Max Verw'ORNs »Allgemeine Physiologie« das Interesse der Biologen. Die Schrift ist in mehrerer Hinsicht interessant. Sie stellt die erste ■ — und wahr- scheinlich auch die letzte — darwinistische Physiologie dar (VERWORN ist ein Schüler HäECKELs), d. h. sie enthält Spekulationen über mancherlei anatomische und histologische Probleme, wie über die Bedeutung der Zelle, über die Frage, ob die lebendige Substanz von fester oder flüssiger Beschaffenheit ist, über die Rolle des Kernes, über Phylogenie, über Entstehung des Lebens, über die mutmaß- lichen Vorgänge bei der Reizung einer Zelle usf. Das vortrefflich ge- schriebene Werk zielt weniger nach neuen Gedanken1), es wurde ihm auch vorgeworfen, daß es auch innerhalb der Grenzen, die sich der Autor selbst gesteckt hat, keineswegs auf der Höhe der Wissenschaft jener Zeit stehe; es wurde aber trotzdem von den Zoologen mit viel Beifall aufgenommen (die Physiologen blieben zurückhaltender)2) und erlebte rasch mehrere Auflagen: Beweis genug, daß das Bedürfnis nach einer darwinistischen Physiologie allgemein war. Es brachte dadurch frische Luft in die Physiologie, daß es dieselbe ohne kom- plizierte Instrumente pflegte. Man kennt die physiologischen Institute an größeren medizinischen Fakultäten: lauter elektrische Drähte, Rheostate, Multiplikator, Kymographen, Respirometer, Musikinstru- mente, feingeschliffene Linsen, Resonatoren — ohne Zweifel ist diese Physiologie die kostspieligste Wissenschaft der Welt; aber auch ihre theoretische Seite ist schwer zugänglich: lauter Mathematik, theo- retische Physik und Chemie, daß einem alle Lust vergeht, sich hinein- zuarbeiten, geschweige denn etwas noch Feineres aus Eigenem hin- zuzufügen. Diesen Bann einer langen Tradition, welche das Über- lieferte nur vervollkommnen, nicht von Grund aus umarbeiten will, durchbrach VERWORNs Physiologie, welche die Aufmerksamkeit der Physiologen auf einzellige Wesen lenkte, für deren Studium sich ') M. Verworn, Allgemeine Physiologie, Jena 1894. Dem Autor wurde mit Recht vorgeworfen, daß er sich in keine tiefere Auseinandersetzung über die früheren, vielfach viel gründlicheren Versuche (von W. Roux, A. Rauber), die Zelle zur Grundlage der Biologie zu machen, einließ; auch die Bedeutung Schleidens, Schwanns, Virchows für die einschlägigen Theorien wird in Verworns Werke nicht angemessen gewürdigt. 2) Eine lesenswerte Kritik des Werkes vom physiologischen Standpunkte ver- öffentlichte F. Schenk (Physiologische Charakteristik der Zelle, Würzburg 1899). 552 XL. Verfall des Darwinismus. die komplizierten Apparate und Methoden der Physiologen als nutz- los erwiesen haben; das Mikroskop mit einigen wenigen einfachen Instrumenten genügte. Sonst hatte aber Verworns Werk mehrere Schattenseiten, von welchen die schlimmste war, daß sich der Autor in der Lösung aller konkreten Fragen als ultrakonservativ erwies. Infolgedessen verblaßte der Ruhm seiner »Allgemeinen Physiologie« rasch, ohne daß sie auf die weitere Entwicklung der neuen Physiologie größeren Einfluß gewonnen hätte. Der Erfolg, eine neue Physiologie begründet und die alte über- wunden zu haben, blieb J. Loeb (jetzt in San Francisco) vorbehalten. LOEB ist ein Schüler des Straßburger Physiologen Goltz, der sich durch seine Experimente über die Funktionen des Zentralnerven- systems berühmt gemacht hat. GOLTZ knüpfte mit denselben an die französische experimentelle Richtung (an Flourens) an und stand in bewußtem Gegensatze zu der (deutschen) anatomischen Richtung, die durch H. MUNK, S. Exner u. a. vertreten wurde. Aus dem positiven Inhalt der GoLTZschen Arbeiten sei hervorgehoben, daß nach ihm die Struktur der einzelnen Teile des Gehirns nicht das schlechthin unbedingt Nötige für die normale Funktion derselben ist, sondern daß die letztere auch an einem verletzten und unvoll- ständigen Gehirn von statten geht; die Funktion steht eben höher als das Organ. J. Loeb übertrug Goltz' experimentelle Methode, welche er durch SACHSens pfianzenphysiologische Anschauungen ergänzte1), auf niedere Tiere, auf Insekten, Würmer, Echinodermen; in seinen originellen Versuchen setzte er sich über die Tatsache der struk- turellen Differenzierung und der systematischen Stellung der Tiere hinweg, und betrachtete sie einfach als chemische Substanzen. Diese der darwinistischen Anschauungsweise stracks zuwiderlaufende Methode trieb er zu ganz unmöglichen Konsequenzen: während beispielsweise die älteren Biologen das Sehen der Tiere durch feinste Analyse der Tieraugenstruktur zu erklären suchten, hält Loeb bei der Betrachtung der tierischen Lichtreaktionen die Augen der Tiere für eine quantite negligeable; nur gewisse chemische Substanzen im Körper und das Licht sollen entscheidend sein2). J) Loebs Schrift »Der Heliotropismus der Tiere und seine Übereinstimmung mit dem Heliotropismus der Pflanzen, Würzburg 1890« folgt, nach Loebs eigenen Worten (S. 5) der Darstellung der Orientierungsbewegungen bei den Pflanzen, welche J. Sachs in seinen Vorlesungen über die Pflanzenphysiologie gibt. 2J Die in voriger Anm. erwähnte Schrift Loebs behandelt auf 118 Seiten die XL. Verfall des Darwinismus. 553 Nachdem er nach Amerika übersiedelt, begründete dort Loeb durch seine rege Tätigkeit eine im großen und ganzen seinen Spuren folgende > vergleichende Physiologie«, welche von dem Grundsatze ausgeht, das Anatomische vollständig unberücksichtigt zu lassen und die Organismen als ziemlich einfache chemische Substanzen zu be- trachten, als »chemische Maschinen, welche wesentlich aus kolloidalem Material be- stehen« J), — eine Definition, welche jedem Glauben an etwas Tieferes im Organis- mus hohnspricht. Manche der LüEBschen Anschauungen sind so über jede tiefere Theorie erhaben, daß man in Versuchung kommen könnte, sie nicht ganz ernst zu nehmen; so wenn er vom Gedächtnis behauptet, daß es »zum Teil von der Beschaffenheit der fettartigen Bestandteile des Nerven- systems abhängt« 2), oder wenn er es für möglich hält 3), »daß weitere Untersuchungen in dieser Richtung [über künstliche Be- fruchtung] eine Entscheidung darüber bringen, ob und inwieweit der Tod des erwachsenen Tieres durch die Lebenserscheinungen selbst be- stimmt ist« [d. h., daß der Tod ein zu überwindender Zufall ist]. Sonst aber sind LOEBs Versuche originell und vielseitig4); es wird die Aufgabe der nachfolgenden Generation sein, seiner Methode Zügel Lichtreaktionen der Tiere. Es wird da alles Mögliche berücksichtigt, vom »Auge« ist aber im Werke nur dreimal die Rede; zweimal (S. 68 und 69) wird behauptet, daß die Augen für den Phototropismus irrelevant sind, das dritte Mal wird eine spezielle Frage, das menschliche Auge betreffend, untersucht. Die »Struktur« der Tiere hat in der Abhandlung nur die Bedeutung, daß das Tier bilateral symmetrisch ist, eine Vorder-, Hinter-, Ober- und Unterseite besitzt und aus Protoplasma zusammengesetzt ist. Wer anschaulich sehen will, welch ein diametraler Unterschied zwischen dieser modernen und der älteren Physiologie besteht, der vergleiche Loebs erwähntes Werk mit der hübschen Studie eines Physiologen älterer Schule, S. Exners Physiologie der fazettierten Augen, Leipzig und Wien 1 89 1 , welche nur die Struktur beachtet und über keinen einzigen Versuch am lebenden Tiere berichtet. J) J. Loeb, Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen, Leipzig 1906, S. 1. *) Ibid. S. 19. 3) Ibid. S. 7 und 312. Auch Loebs Theorie der Instinkte ist so unmöglich schematisch. 4) Die wichtigsten Schriften Loebs: Der Heliotropismus der Tiere und seine Übereinstimmung mit dem Heliotropismus der Pflanzen, Würzburg 1890. — Einleitung in die vergleichende Gehirnphysiologie und vergleichende Psychologie, Leipzig 1S99. — Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen, Leipzig 1906. — In Europa wird Loeb offenbar wegen seiner ultramodernen Anschauungsweise vielfach unter- er* XL. Verfall des Darwinismus. anzulegen und sich in Erinnerung- zu bringen, daß die organischen Strukturen in Rechnung gezogen werden müssen. Vergleichende Physiologie gehört in Amerika, nebst der Ent- wicklungsmechanik, zu den eifrigst gepflegten Gebieten der Biologie; als die Pfleger dieser beiden Wissenschaften seien angeführt: Ch. B. Davenport, E. G. Conklin, T. H. Morgan, E. B. Wilson, R. Pearl, W. Bateson, H. S. Jennings, R. M. Yerkes u. v. a. Zu dem Darwinismus steht diese Richtung nur in lockeren Be- ziehungen; meistens kümmern sich diese Autoren wenig um denselben; sie loben ihn zwar, machen aber von ihm keinen praktischen Gebrauch; eifrig wird aber das experimentelle Studium der Variabilität und der Erblichkeit betrieben1). Zweckmäßigkeitslehre. Es wiederholt sich von neuem, was am Anfange der darwinistischen Bewegung geschah: damals erhoben die Darwinisten Protest gegen die idealistische Morphologie, um schließlich dieselbe unter einem anderen Namen wieder aufzunehmen; heute tritt man der unrichtigen Auffassung der Zweckmäßigkeiten in der organischen Natur durch Darwin entgegen, schließt sich aber seiner Teleologie an. Nach den Schilderungen der Darwinisten möchte es scheinen, daß man vor Darwin voll der teleologischen Spekulation war; daß man allgemein der Überzeugung huldigte, die Organismen seien sowohl ihren Körperteilen als auch ihren Funktionen nach deshalb so har- monisch zusammengesetzt, weil sie so von Gott erschaffen wurden, um dem Menschen dienlich zu sein; erst Darwin habe die Biologie von den teleologischen und theologischen Fesseln befreit und auf die Höhe einer ursächlichen Wissenschaft gebracht. Diese Auffassung der vordarwinschen Biologie ist zwar begreiflich — man verfällt leicht bei der Entdeckung einer neuen Idee in den Wahn, andere Menschen, die dieser Entdeckung nicht teilhaftig waren, hätten den geraden Gegensatz derselben geglaubt — richtig ist sie aber keineswegs. In der vordarwinschen Biologie zählten Betrachtungen über die Zweck- schätzt. Sein Verhältnis zur europäischen Physiologie präzisierte Loeb in: Einige Bemerkungen über den Begriff, die Geschichte und die Literatur der allgemeinen Physiologie. Pflügers Archiv 69, 1897. x) Bezeichnend für diese Richtung sind die Schriften: Davenport, Exper. Mor- phology, New York 1897 — 1899. Morgan, Exper. Zoology, New York 1907. Herbst, Formative Reize der tierischen Ontogenese, Leipzig 1901. Nemec, Studien über Regeneration, Leipzig 1905. XL. Verfall des Darwinismus. ccr mäßigkeit der Organismen wenig Verehrer; man müßte denn in das 18. Jahrhundert zurückkehren, in die Zeiten, wo in Deutschland populäre Abhandlungen über die Weisheit Gottes, die sich im Bau und in den Leistungen der Tiere und Pflanzen, und insbesondere in deren Nützlichkeit für menschliche Zwecke offenbart x), im Schwange waren. Aber die Morphologen aus der ersten Hälfte des 19. Jahr- hunderts berührten nur vorübergehend die Zweckmäßigkeitserschei- nungen, indem sie, dem Platonischen Idealismus nicht abhold, die Formen der Organismen für absolut, für eine sinnliche Offenbarung der metaphysischen Idee zu halten geneigt waren. Goethe sprach sich einmal klar aus gegen die teleologisierenden Erklärungen der orga- nischen Strukturen, die zu seiner Zeit noch hier und da üblich waren: »Solche Nützlichkeitslehrer sagen wohl: der Ochse habe Hörner, um sich damit zu wehren. Nun frage ich aber: Warum hat das Schaf keine? und wenn es welche hat, warum sind sie ihm um die Ohren gewickelt, so daß sie ihm zu nichts dienen? Etwas anderes aber ist es, wenn ich sage: der Ochse wehrt sich mit seinen Hörnern weil er sie hat«2). Alle Morphologen hätten diesen Satz unterschreiben können; alle waren überzeugt, daß das Tragen der Hörner als morphologische Eigenschaft das schlechthin Gegebene sei, das nicht durch Physiologie oder Biologie erklärt, überhaupt auf irgendwelche Zwecke zurück- geführt werden könne; der Satz war eben gegen jene Philosophie gerichtet, welche später Darwin, der wahre »Nützlichkeitslehrer«, einführte ; durch eine eigenartige Fügung des Schicksals wurde aber jenem Satz von Haeckel der Sinn untergelegt, GOETHE habe in richtiger Vorahnung der DARWiNschen Theorie einer »kausalen« Er- klärung der Organismen das Wort gesprochen. Darwin waren die morphologischen Strömungen, die das biologische Denken zu seiner Zeit beherrschten, unbekannt; als Anhänger des englischen Utilitarismus machte er sich zur Aufgabe, die anatomischen und auch sonstigen Merkmale der Organismen aus ihren Zwecken zu erklären. Er wies von den Orchideenblüten nach, wie sie zweck- J) Über diese Teleologien, welche bereits in der zweiten Hälfte des iS. Jahr- hunderts für überwunden galten, vgl. Carus, Geschichte der Zoologie und Zöckler, Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft. Reimarus' Schrift über die Triebe der Tiere aus dem Jahre 1762 ist zwar noch von dieser theologisierenden Teleologie beeinflußt, steht aber bereits auf einem höheren Stand- punkte. Die Darwinisten berücksichtigten nicht, daß nach dieser Periode diejenige der Morphologie kam, und schrieben teleologische Anschauungen der vordarwinischen Biologie überhaupt zu. 2) Goethes Werke, Cotta 27, S. 191. 556 XL. Verfall des Darwinismus. mäßig auf die Befruchtung eingerichtet sind; von den Pflanzensamen, wie wunderbar sie ausgerüstet sind, um einen zum Keimen günstigen Ort zu finden; von den Farben und Zeichnungen der Tiere, wie nützlich sie im Kampf ums Dasein sein können; er mußte überall nach Zwecken fragen, denn seine Philosophie lief auf die Beweis- führung hinaus, der Bau der Organismen sei eine Folge indirekter Anpassungen an die Lebensbedingungen1). Darwin konnte sich dessen nicht bewußt sein, daß er mit seiner Theorie in eine längst überwundene Zweckmäßigkeitsphilosophie ver- fiel; er stand im Banne der in England weit verbreiteten und unter den Entomologen noch heute üblichen Auffassung, der Zweck jedes Körperteiles sei das weitaus bewunderungswürdigste an demselben ; und so war er und seine Freunde, die sich von seiner Philosophie ein- nehmen ließen, höchst überrascht, als ihm die Anhänger älterer Systeme teleologische Allüren vorwarfen. In der Tat sprachen sich of Argyll, Mivart, Kölliker, Bronn, Nägeli in dem Sinne aus, Darwins Theorie sei auf teleologischer Auffassung der Natur auf- gebaut. Die Darwinisten beklagten sich über dieses »Mißverstehen« ihrer Lehre, da sie sich des Gegensatzes zwischen ihrem Utilitarismus und der idealistischen Morphologie nicht bewußt waren und nur die Naturzüchtung im Auge hatten, welche angeblich alle Zweckmäßig- keiten auf blinde Ursachen zurückführte. Die Darwinisten waren eben praktisch Teleologen, theoretisch bekämpften sie aber die Teleologie und warfen sie ihren Gegnern vor. Die darwinistische Zweckmäßigkeitslehre war eine wesentlich biologische (ethologische), d. h. Darwin und seine Anhänger be- obachteten die für die Lebensweise nützlichen Einrichtungen, wie z. B. die schlanken Füße, welche dem Laufe, die lange Zunge (der Giraffe), welche dem Abreißen des Laubes von hohen Bäumen, die graue Farbe, welche dem Verstecken vor dem Auge des Feindes dienen soll u. ä. Die physiologischen Zweckmäßigkeiten, wie z. B. die gegenseitige Anpassung der einzelnen Teile des Auges, die Erscheinungen der Regeneration, die mannigfachen Regulationen, stellten sie in den Hintergrund, und wo es notwendig war sich mit ihnen zu befassen, erklärten sie dieselben für komplizierte Fälle von ethologischen Anpassungen. Als nun die Begeisterung für die natürliche Zuchtwahl abzunehmen J) Eine Klassifikation der Anpassungen der Tiere findet sich bei G. Seidlitz, Die DARWiNsche Theorie, Leipzig 1875, S. 195 und bei T. H. Morgan, Evolution and Adaptation, New York 1903, wo auch die Anpassungstheorien diskutiert werden. XL. Verfall des Darwinismus. 557 begann, betonte man mehr und mehr, daß sich die organischen An- passungen nach mechanischen Prinzipien nicht erklären lassen, und bekämpfte mit dieser Erkenntnis die ganze darwinistische Auffassung der Natur. Man übersah, daß dieser Einwand nur gegen Darwins Erklärung des Zweckmäßigen stichhaltig ist, keineswegs aber gegen die von Darwin selbst mit größtem Nachdrucke betonte Tat- sache, daß es überhaupt in der organischen Natur soviel Zweck- mäßiges gibt; eine Tatsache, mit welcher Darwin die ältere Mor- phologie schlug, indem er die Formen der Organismen aus der starren Beharrlichkeit, mit welcher sie, nach der Philosophie der Morphologen, den Ideen PLATOs hierin ähnlich, in metaphysischen Sphären schwebten, ins wirkliche Leben herunterriß und ihre zweck- mäßigen Beziehungen zum Milieu untersuchte. Darwin war aber insofern noch in der älteren Betrachtungsweise befangen, als er vor- wiegend die starren Beziehungen der Körperteile und der Funktionen zu der Außenwelt beachtete und die Beweglichkeit, die Plastizität in dieselben nur als etwas Fremdes, ihnen von außen her Erteiltes hineindachte. Er betrachtete z. B. das Auge als ein starres Werk- zeug, das einem bestimmten Lebenszwecke des Organismus dient; er erklärte nun diese Zweckmäßigkeit durch die Hypothese, das Auge sei aus einem indifferenten Organ durch eine Reihe von stets besser an das Sehen angepaßten Strukturen entstanden. Die Vertiefung und konkretere Fassung dieser Lehre bestand darin, daß man die Zwecke direkter zu ergreifen suchte, indem man sie in das Leben selbst als dessen Eigenschaften versetzte, und anstatt starrer Anpassungen lieber die zweckmäßigen Reaktionen der Organismen auf bestimmte Reize untersuchte. Deshalb übernahm in der nach- darwinschen Biologie die Physiologie die führende Rolle in den Betrachtungen über Teleologie. Der Umschwung geschah ganz allmählich. Der Physiologe E. Pflüger war vielleicht der erste, der die organischen Zweckmäßig- keiten vom physiologischen Standpunkte aus analysierte. Er stellte ein -teleologisches Kausalgesetz« auf, nach welchem »die Ursache jeden Bedürfnisses eines lebendigen Wesens zugleich die Ursache der Befriedigung des Bedürfnisses ist«1); so bildet die Nahrung die Ursache des Bedürfnisses eines Tieres; sie dient aber zugleich zur Befriedigung derselben. Im allgemeinen soll x) E. Pflüger, Die teleologische Mechanik der lebendigen Natur. Arch. f. ges. Pbys. 15. 1S77, S. 76. 558 XL. Verfall des Darwinismus. durch den Satz ausgedrückt werden, daß der Organismus auf die Reize der Umgebung zweckmäßig reagiert; so soll der Schwindel eine zweckmäßige Reaktion sein, die uns vor dem Herantreten an einen Abgrund warnt ; der Abscheu vor einem Leichnam rettet uns vor Ansteckung usw. PflÜGER führt solche Erscheinungen auf einen instinktiven, dem unbewußten Leben tief eingewurzelten Mechanismus zurück. Einen Kompromiß zwischen der mechanistischen und einer physiologisch-teleologischen Auffassung bedeutete E. Hartmanns »Philosophie des Unbewußten« (i. Aufl. 1869), welche der herrschenden anatomischen Anschauungsweise gegenüber die physiologischen und pathologischen Regulationen und die instinktiven Handlungen der Organismen betonte und für die Teleologie als ein der Kausalität gleichwertiges Prinzip plädierte. Pflüger und Hartmann blieben ohne Einfluß auf das darwinistische Denken. Nach den achtziger Jahren wurden häufiger Stimmen laut, daß das Zweckmäßige des Lebens eine Erscheinung sui generis darstellt, welche nicht auf eine Häufung der Zufälligkeiten zurückgeführt werden kann. So urteilte der amerikanische Arzt Edm. Montgomery, der seit 1881 in philosophisch-biologischen Studien1) die Idee entwickelt, daß der Organismus seinem Wesen nach von der anorganischen Substanz verschieden ist, indem er kein Aggregat (auch kein Zellen-, Gewebe-, Organaggregat), sondern ein einheitliches Ganze darstellt, das sich der Umgebung gegenüber aktiv und handelnd verhält; er soll nach Montgomery in einer chemischen Substanz bestehen, die, durch die Wirkung der Außenwelt zerstört wird, sich selbsttätig renoviert, und sich durch Entwicklung Organe baut, um die funktionellen Be- ziehungen zur Umgebung mannigfach gestalten zu können. Als Gegensatz zu Haeckels Theorien entwickelte ViRCHOWs Schüler und Nachfolger in Würzburg, der Pathologe G. E. RINDFLEISCH 1888 Anschauungen2), welche »Zurückhaltung gegenüber dem Unerforsch- lichen« empfahlen und mit Nachdruck die Spezifizität des Lebens be- tonten; der Name Neovitalismus findet sich bei Rindfleisch zum J) Edm. Montgomery, The Substantiality of Life Mind 1881. To be a life, what is it? The Monist 1895. The Vitality and Organisation of Protoplasm Austin, Texas 1904 (enthält eine ausführlichere Begründung der Anschauungen des Verfassers ). 2) G. E. Rindfleisch, Ärztliche Philosophie. Rede, Würzburg 1888. — Ders., Der Neovitalismus. Verh. d. Vers, deutsch. Naturf., Lübeck 1895. In der erstgenannten Rede versucht Rindfleisch seine Anschauungen als Fortsetzung derjenigen Vir- chows vorzuführen, den er als Vitalisten darzustellen sucht. Gegen diesen sonder- baren Gedanken hat sich mit Recht O. Bütschli in seinem Mechanismus und Vita- lismus (Leipzig 1901, S. 94) ausgesprochen. XL. Verfall des Darwinismus. 55g ersten Male. Der Physiologe G. BUNGE1) erklärte sich 1889 gegen die mechanistischen Theorien des Lebens, und betonte die vitale Aktivität. RINDFLEISCH und BUNGE gelang es bereits, die Aufmerk- samkeit der Öffentlichkeit auf ihre Anschauungen zu lenken, welche aber vorläufig nur interessant befunden wurden; seit den neunziger Jahren nahm aber die Anzahl der Teleologen rasch zu. 1890 trat G. WOLFF2) mit seiner Polemik gegen die Selektionstheorie auf und führte aus, daß das Zweckmäßige an den Organismen nicht erklärt, sondern als Tatsache schlechtweg hingenommen werden müsse; 1891 erklärte sich für den Vitalismus A. Kerner v. Marilaun3) in seinem vortrefflich ausgestatteten Werke »Pfianzenleben« ; 1899 ver- öffentlichte P. N. COSSMANN4) schon eine methodologische Studie über das Verhältnis zwischen Kausalität und Teleologie, in welcher die letztere für die unumgängliche Beurteilungsmaxime der biolo- gischen Erscheinungen erklärt wird. Seit 1899 trat der Botaniker Joh. Reinke5) für die Teleologie in die Schranken und erweckte durch seine Studien ein bedeutendes Interesse. Die darwinistische Zurückführung des Zweckmäßigen in den Organismen auf ursprüng- lich Unzweckmäßiges erklärt er für gescheitert. Die finalen Beziehungen der Organismen zu ihrer Umgebung nimmt er als Tatsache hin; um den Unterschied des Teleologischen vom blind Ursächlichen theore- tisch zu erfassen, unterscheidet er in den Organismen zwei Arten von Kräften: energetische, welche mit den aus der Physik und Chemie bekannten identisch sind, und nichtenergetische, unter welchen er > Systemkräfte«, »Dominanten« und »Seelenkräfte« unterscheidet. Die Systemkräfte hängen von der Struktur des Organismus ab; sowie die Struktur eines Uhrwerkes seinen Gang bestimmt, bedingt auch die spezifische Gehirnstruktur das Denken. Unter Dominanten ver- steht REINKE »selbstbildende Kräfte des Organismus-, d. h. Kräfte, *) G. Bunge, Lehrbuch der physiol. und pathol. Chemie, 2. Aufl. 1889. 2) G. Wolff, Beiträge zur Kritik der DARWiNschen Lehre. Biolog. Zentralbl. 10, 1890. 3) A. Kerner, Pflanzenleben, Leipzig und Wien, 2 Bde., 1891. 4) P. N. Cossmann, Elemente der empirischen Teleologie, Stuttgart 1899. — Über andere Vitalisten aus jener Zeit berichtet O. Bütschli in seiner unten erwähnten Schrift und H. Driesch in: Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, Leipzig 1905. Weniger gründlich ist K. BSAEUNTG, Mechanismus und Vitalismus in der Bio- logie des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1907. 5J Jon. Reinke, Die Welt als Tat, Berlin 1899. — Einleitung in die theoretische Biologie, Berlin 1901. — Philosophie der Botanik, Leipzig 1905. Reinkes Schriften haben den Vorzug leichter Verständlichkeit. cÖO XL. Verfall des Darwinismus. welche das Lebewesen aus dem Ei erbaut haben; sie sollen nur in der organischen Welt walten, das eigentlich Harmonische derselben darstellen, die Entstehung der spezifischen Strukturen, des Auges, des Ohres, des Gehirnes aus der plastischen Masse des Embryo bedingen, die Summe der physikalischen und chemischen im Körper enthaltenen Energien zu einer höheren, sie beherrschenden Einheit verbinden und einen Übergang zu den höchsten, nur den Menschen und höheren Tieren eigenen psychischen Kräften bilden. Die Anhänger des Darwinismus konnten nicht anders, als diesem neuen Aufschwünge der Teleologie machtlos zusehen; alle Proteste blieben erfolglos. O. BüTSCHLi stellte sich der neuen Strömung in einer Rede entgegen1), welche am gründlichsten die neueren darwinistischen Anschauungen zusammenfaßte und gegen die Teleologen verteidigte. Er spricht nicht mehr für eine mechanische Erklärung des Lebens aus den Atombewegungen, sondern stellt der Lebenskrafttheorie die gesamte Physik und Chemie gegenüber, auf Grund welcher das Leben ursächlich erklärt, d. h. auf anorganisches Geschehen zurückgeführt werden muß. Er verteidigt die Zufälligkeit, diesen Grundstein des Darwinismus: es sei unmöglich die Zufälle (unvorhergesehenen Fälle) nicht zu sehen, denn die Natur ist voll von denselben ; die Erdoberfläche, die Verteilung des Festlandes und der Meere, der Gebirge und der Flüsse, die Wolkenformen sind zufällig; auch im Menschenleben, in der Geschichte, in der Entwicklung der Wissenschaft spielt der Zufall eine große Rolle. Auch die Erfindung von zweckmäßigen Maschinen wurde durch Zufall gefördert. Zwar enthält das Leben viel Zweckmäßiges, aber nicht alles an ihm ist voll- kommen, denn das Leben wird stets wieder vernichtet; auch ganze Arten und Gattungen gingen schon zugrunde und waren folglich nicht ge- nügend an das Leben angepaßt. Aus diesen Gründen will BüTSCHLi Darwins Theorie nicht verwerfen, vielmehr hält er sie trotz aller modernen Teleologien noch immer für die wahrscheinlichste Annahme. BüTSCHLis Rede vermochte aber den Aufschwung der philoso- phischen Teleologien und des Vitalismus nicht aufzuhalten, ja ihre Wirkung war viel schwächer, als man nach ihrem Inhalte schließen könnte — ein Zeichen der Zeit. Driesch tritt auf, der bereits die Teleologien von Reinke, von Wolff u. a. für veraltet erklärt und eine dynamische Teleologie anbahnt, um in ihrem Namen den Dar- winismus für immer zu verabschieden. x) O. Bütschli, Mechanismus und Vitalismus, Leipzig 1901. XL. Verfall des Darwinismus, c5j Krisis. Mit den Ideen verhält es sich wie mit den Menschen. Aus unbe- kannten Regionen kommen sie auf diese Welt, wachsen und gedeihen, leben einige Zeit in der menschlichen Hoffnung, ewig leben zu müssen, und gehen dann dahin in jenes Land, von dess' Bezirk kein Wandrer wiederkehrt. Dieses Schicksal traf die aristotelische Wissen- schaft, die ruhmsüchtige Wissenschaft des 18. Jahrhunderts, die Ideen Cuviers, die Naturphilosophie; dieses Schicksal ereilt nun auch den Darwinismus. Es gibt viele, die sich gegen dieses Schicksal sträuben: halten sie doch die DARWlNsche Theorie immer noch für richtig und weisen stolz darauf hin, daß bisher niemand eine bessere Erklärung der Geschichte der Tierwelt geboten hat als Darwin! Ohne Zweifel: aber der Darwinismus tritt nicht vor einer besseren Erkenntnis zurück, er vergeht. Kein überzeugter Darwinist, weder Darwin, noch HüXLEY, noch Spencer, hat je die Unrichtigkeit des Systems einbe- kannt. Aber sie wurden alt, sie verließen diese Welt, wurden durch neue Forscher ersetzt, die nicht mehr das Lebendige des ursprüng- lichen Darwinismus miterlebt haben; diese verstehen nicht mehr dessen wahren Sinn, da sie anderes lieben, anderes hassen, andere Erfah- rungen gesammelt haben, als die Begründer der Lehre; sie leben nicht mehr jm Darwinismus, sondern betrachten ihn als etwas Fremdartiges. Die Wissenschaft lebt in einem neuen Milieu: es gibt keine redegewal- tigen Naturphilosophen mehr, die Exaktheit der Wissenschaft muß nicht mehr betont werden, man lebt nicht mehr im revolutionären Zeit- alter, die Worte liberte, egalite, fraternite, haben ihren Reiz verloren. Die berühmten Namen verschwinden vom Schauplatz ; Darwin starb und in sein ruhiges Haus, zu welchem die Philosophen der ganzen Welt ehrfurchtsvoll pilgerten, ist ein Mädchenpensionat eingezogen; HüXLEY folgte seinem Freund, und seine von Witz sprühenden Essays werden immer weniger gelesen; SPENCER ist tot, und seine Philosophie wird von einer Flut neuer Systeme verdrängt. Neue Namen treten auf, und eine Umwertung der Werte tritt ein: heute dürfte niemand mehr wagen, GOETHE so von oben herab zu behandeln, wie es der Triumph der exakten Wissenschaft DU Bois Revmond gestattete; im Gegen- teil gewinnt Goethe als Biologe und Physiker an Achtung und DU BOIS wird bespottet; man hebt Rob. Mayer hervor und geht mit beredtem Schweigen an dem Ideal der exakten Wissenschaft, an Rädl, Geschichte der biol. Theorien. II. ig c52 XL. Verfall des Darwinismus. V. Helmholtz vorüber; von der Naturphilosophie wurde der Bann genommen und er droht nun dem Darwinismus. Die Biologie hat ihre Lehren gewechselt. Ihre heutigen Sprecher ROUX, DRIESCH, Loeb haben keine vergleichend anatomischen, keine beschreibend embryologischen, keine geographischen Abhandlungen verfaßt, die für den klassischen Darwinismus so bezeichnend waren. Die heutigen Jünger der Wissenschaft berauschen sich nicht an un- mittelbarem Genuß der DARWlNschen epochalen Schrift; sie kennen nur den gelehrten, aller Lebensfrische entbehrenden Schuldarwinismus O 7 und betrachten Darwin und Spencer nicht durch eigene Augen, sondern (zurückschreitend) durch diejenigen von Driesch, Roux, Weismann, Sachs, NäGELI, Haeckel und Huxley. Dahin ist Dar- winismus, der frühere Schrecken der Rückständigkeit — fuit Ilium! Seit den neunziger Jahren, wo die erste moderne und radikale Kritik des Darwinismus von G. Wolff erschien, ist die antidarwinistische Bewegung in stetigem Wachsen begriffen. Man wurde sich anfangs noch nicht klar darüber, glaubte noch immer, daß es sich nur um unter- geordnete Probleme handle, beging die sonderbarsten Inkonsequenzen ; man ahnte das Herannahen einer neuen Philosophie, suchte sie zu er- fassen, rang aber noch vergeblich mit den alten Gedankenrichtungen. Der Physiker Ernst Mach1) belebte die vordarwinsche Auffassung der Ursache als (logischen) Grundes des Geschehens. Ohne Zweifel zielte diese Tat gegen den Darwinismus, der eben die Erforschung der Gründe durch die der Ursachen ersetzt hat; Mach war sich dessen aber so wenig bewußt, daß er sich für einen ganz landläufig aufge- faßten Darwinismus ereiferte. Der Chemiker W. Ostwald sprach sich gegen den Materialismus aus2) und war kühn genug, für die Wieder- belebung der Naturphilosophie einzutreten3) ; seine Naturphilosophie spielte aber nur auf einer Saite — der Energetik — und erlaubte ihm, den Darwinismus sogar in die Chemie einzuführen. Yves Delage fühlte4), daß die Biologie vor einer Krisis steht; er empfand Schmerz über die teilnahmslose Ruhe, mit welcher Frankreich der x) E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 3. Aufl., Leipzig 1897. — Die Analyse der Empfindungen, 3. Aufl., Jena 1902. Durch seine Auffassung der Ursache als Grund des Geschehens rief Mach unter den Biologen große Verwirrung hervor. 2) W. Ostwald, Die Überwindung des naturwissenschaftlichen Materialismus, Leipzig 1895. 3) Derselbe, Vorlesungen über Naturphilosophie, Leipzig 1902. — Grundriß der Naturphilosophie, Leipzig 1908. 4) Y. Delage, La structure du protoplasma et les theories sur l'heredite et les grandes problemes sur la biologie generale, Paris 1895, 2. ed. 1903. XL. Verfall des Darwinismus. 557 allgemeinen Gärung der Geister zusah, und versuchte seine Landsleute aufzurütteln; in der Überzeugung, daß man in Frankreich zu wenig theoretisiert, schrieb er alle Theorien zusammen, welche eben in der Biologie für aktuell galten, und bot sie in einem großen Werk den Franzosen dar. Allein, die erhoffte Wirkung blieb aus, da DELAGE den Sinn der Krisis nicht erriet und ganz in darwinistischen Speku- lationen stecken blieb. Neue Richtungen werden in der Biologie modern und verdrängen gegenwärtig die Systematik, die Anatomie, die Embryologie, die Zellenlehre: die Reihe kommt nun an die Physiologie und an die experimentelle Morphologie, die ihre Probleme, ihre Methoden, ihre Lösungen in den Vordergrund stellen und die Geister an eine neue Logik und an neues Tatsachenmaterial gewöhnen; zwar bekämpfen sie den Darwinismus nicht direkt, entfremden ihn aber dem Interesse junger Adepten der Wissenschaft als unmodern und unexakt. Viele wittern bereits Morgenluft und greifen auch in populären Schriften die natürliche Zuchtwahl, den Materialismus, den Darwinismus, Haeckel, WEISMANN an, und preisen die Teleologie und den Vitalismus. Der Darwinismus erklärte die Bezeichnung »beschreibende Naturwissen- schaften« für unmodern; heute gelten bereits die Grundlagen des Darwinismus, die wissenschaftliche Zoologie und Botanik, die in den siebziger Jahren die Welt beherrschten, als veraltet; »allgemeine Biologie« wird heute studiert. Welche Losung wird die Menschheit nach neuen 50 Jahren begeistern, wie wird man einen noch all- gemeineren Namen finden? Auch innerhalb der Biologie selbst kann man Spuren des Verfalls der exakten Wissenschaft, wie sie in den siebziger Jahren aufgefaßt wurde, wahrnehmen. Wie auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit, tut auch in der Wissenschaft ein fester Glaube not, welcher den Menschen, unbeirrt durch die Zufälle des Tages, zur Gewißheit hin- leitet; vor kurzem war eine solche Disziplin noch wirklich vorhanden ; zwar meldeten sich auch Zweifler, zwar herrschte auch keine Einig- keit über die Zuchtwahllehre, über den Wert einzelner Tatsachen und Theorien; alle Dissonanz wurde aber durch die Macht der Über- zeugung ausgeglichen, daß die D.VRWiNsche Theorie und die nur auf Tatsachen begründete Naturwissenschaft, als Ganzes betrachtet, großartig und für alle Ewigkeit gesichert dastehen. Diese Stimmung ist aber verschwunden. Die Methode der exakten Wissenschaft, nur nach neuen Tatsachen zu haschen, führte zur Manier der sensatio- nellen Entdeckungen, welche heute als großartige Errungenschaft 36* 564 XL. Verfall des Darwinismus. durch die Welt fliegen, und morgen der Vergessenheit anheimfallen. Wir haben deren eine Reihe erlebt: Pithecantropus, die chemische Theorie der Instinkte und der künstlichen Befruchtung, die Lehre, daß die Ameisen bloße Maschinen sind, der Beweis der chemischen Blutsverwandtschaft der Affen mit dem Menschen, die Zellularphysio- logie, Neuronentheorie, Mutationen, Chromosomen, Zentrosomen, Unsterblichkeitslehre, Radium usw. usw.; die Art, in welcher diese Tatsachen, Hypothesen und Lehren als Sensation aufgenommen und ohne Sang und Klang gleich wieder begraben wurden, mußte schließlich die Wissenschaft, welche solcher Art die Vernunft hin- und herzerrte, unter steter Unsicherheit, woran man eigentlich ist, in Verruf bringen. Endlich wurde der Darwinismus schlechtweg verworfen. 1893 wagte H. Driesch in einer Abhandlung die Bemerkung: »Etwa gar auch noch auf die Prätensionen der widerlegten sogenannten DARWiNschen Theorie einzugehen, wäre eine Beleidigung des Lesers«1). Noch beachtete man Driesch nicht; er entwickelte aber seine Anschauungen weiter; man war genötigt, von ihm zu sprechen und tat es mit Entrüstung; von dieser schritt man zur Polemik; man er- kannte diesen oder jenen Einwand an, man nahm für Driesch Partei, und er wurde zum Pilot einer neuen Richtung. Nebst Driesch und Wolff sind noch O. Friedmann, E. Albrecht, J. Reinke u. a. zu nennen. Auch im Lager der älteren Richtungen erstand ein Zweifler in A. Fleischmann, der den Darwinismus auf Grund der anatomischen, embryologischen und paläontologischen Tatsachen bekämpft und den Zusammenbruch aller deszendenz- theoretischen Beweisstücke feststellt 2). Die Darwinisten leben noch: noch immer gibt es viele, die für diese Gedankenrichtung begeistert sind oder dieselbe wenigstens ver- teidigen; sie glauben an die Theorie oder behaupten, an sie zu glauben, und sicherlich stimmen sie einigen ihrer Prinzipien bei; ganz ent- schieden würden sie nicht zugeben, daß der Darwinismus bereits von irgend jemand widerlegt worden sei. Weismann findet noch immer *) H. Driesch, Die Biologie, Leipzig 1893, S. 31. 2) Die genannten Theoretiker erkennen aber meistens die Deszendenz an; letztere wird schlechthin verworfen von : Friedmann, Die Konvergenz der Organismen, Berlin 1904. A. Fleischmann, Die Deszendenztheorie, Leipzig 1901. M. Steiner, Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen, Berlin 1908. Populär wird die Krisis des Darwinismus geschildert in E. Dennert, Vom Sterbelager des Darwinismus, Sjuttgart 1903, neue Folge 1906. XL. Verfall des Darwinismus. 565 Leser für seine Theorien; L. Plate, ein Epigone HAECKELs, gibt noch heute dialektische und apologetische Analysen des Darwinismus heraus, der Botaniker P. LOTSY spricht sich fast bedingungslos für Darwin aus. C. Detto veröffentlicht eine gründliche Verteidigung des Mechanismus in der organischen Natur; der Physiker L. Zei INDER1) konstruiert noch nach den klassischen Theorien HAECKELs, FECHNERs und NÄGELIs Hypothesen über Entstehung der Moneren, der Zellen, ja der ganzen Welt. ILJ. METSCHNIKOV hofft noch immer, daß die darwinistische Wissenschaft alle Disharmonien allmählich aus der Welt schaffen wird2). Zahlreich sind auch die Versuche einer Vermittelung zwischen Darwi- nismus und den modernen Richtungen; populäre Werke über den Dar- winismus erscheinen noch immer; auch gibt es viele sonst moderne Forscher, welche am Darwinismus festhalten3). Nichtsdestoweniger sieht ein jeder, der sehen will, daß dasjenige, was von der großartigen Bewegung geblieben ist, nur disjecta membra sind: eine Erinnerung an gewesenen Ruhm und oft nur ein ausgestopfter Darwinismus, gut für pädagogische Zwecke, aber ohne Herz und Nerven. So kann man die Stimmung der Gegenwart mit DRIESCH wie folgt kenn- zeichnen 4) : »Für Einsichtige ist der Darwinismus lange tot, was zuletzt noch für ihn vorgebracht ward, ist nicht viel mehr als eine Leichenrede, ausge- führt nach dem Grundsatze ,de mortuis nihil nisi bene' und mit dem inneren Eingeständnis der Unzulänglichkeit des Verteidigten.« Der Darwinismus als zwingende Doktrin, die ihre Weltanschauung gebieterisch der Menschheit auferlegen wollte, ist tot; aber er wird fortbestehen als ein kyklopischer Ideenbau, aufgeführt von tiefen Denkern, die Großes gewollt: die Nachkommenschaft wird ihn den bedeutendsten Gedankensystemen der Vergangenheit anreihen, an dem die Forscher auch fürderhin ihre Denkkraft stählen werden. 1 L. Zehnder, Die Entstehung des Lebens aus mechanischen Grundlagen. Freiburg i. B. 1899. 2) I. Metschnikov, Studien über die Natur des Menschen, Leipzig 1904. — Von populäre Schriften über und für den Darwinismus aus der letzten Zeiten vgl.: R. Hesse, Abstammungslehre und Darwinismus, Leipzig 190S. 3) Auch deszendenztheoretische Zeitschriften wurden neuerdings gegründet: Zeit- schrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre. Herausgeg. von Correns, H aecker, Steinmann, Wettstein, Berlin I, 1908 mehr fachwissenschaftlich}. Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie. Herausgeg. von A. Pi.OETZ u. a., Berlin, 6. Jahrg. 1909 mehr spekulativ; viele Referate . 4) H. Driesch, Kritisches und Polemisches. Biol. Zentralbl. 22, 1902, S. 1S2. c56 XLI. Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften. XLI. Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften. Der wissenschaftliche Betrieb von heute ist auf der Idee auf- gebaut, daß man an dem allgemeinen Fortschritte arbeite, wenn man die von der Vergangenheit übernommenen Kenntnisse vermehrt, verbessert und auf die Nachkommenschaft vererbt: man glaubt durch die wissenschaftliche Arbeit die Geschichte zu mehren. Als die eigentliche Geschichte (Geschichte und Geschichtsschreibung wird da identifiziert) wird das in den Hörsälen Vorgetragene, in den Mono- graphien Veröffentlichte und in den Museen und Bibliotheken Auf- bewahrte betrachtet. Zufolge dieser Auffassung, nach der die exakte Wissenschaft die ganze Vergangenheit in sich aufgenommen hätte, haben Studien über die Geschichte eines wissenschaftlichen Problems kein eigenes Ziel: sie gelten als minderwertig. Dieser Verfall der wissenschaftlichen Geschichtschreibung trat erst mit dem Aufschwünge der naturwissenschaftlichen Weltanschauung ein. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als die Phantasien über den Fortschritt der Menschheit in die Wissenschaft, in die Philosophie und die Politik einzudringen begannen, erfreute sich auch die wissenschaftliche Geschichtschreibung allgemeiner Beliebtheit. In Frankreich verfaßten Cuvier (1830—32), H. de Blainville (1845), IS. Geoffroy St. Hilaire (1854) eine Geschichte der Zoologie, M. ADANSON (1864) eine Geschichte der Botanik und A. d'Archiac (1864) eine gründliche Geschichte der Paläontologie1). In Deutsch- land wurde O. Schmidt durch Nachdenken über das Wesen der ver- gleichenden Anatomie zum Studium der Geschichte dieser Wissen- schaft geführt (1855); J. B. Spix nahm, durch Schelling und Cuvier begeistert, eine Geschichte der zoologischen Systematik in Angriff (181 1); K. Sprengel (1817 — 18) und E. Meyer (1854) verfaßten eine Geschichte der Botanik; auch V. Carus' Geschichte der Zoo- logie (1872) gehört noch dieser Periode an2). Auch Nicht-Biologen, J) G. Cuvier, Histoire des sciences naturelles, Paris 1830—32 u. 1S41 — 45. — Is. Geoffroy St. Hilaire, Hist. naturelle generale, Paris 1854. — H. de Blainville, Hist. des sciences d'organisation, Paris 1847. — M. Adanson, Hist. de la Botanique, Paris 1864. — A. d'Archiac, Cours de Palaeontologie stratigraphique, I. Vol., Paris 1864. — Die beiden letzteren Werke fallen zwar in die zweite Hälfte des 19. Jahr- hunderts, können aber ihrem Inhalte nach der vordarwinschen Zeit beigezählt werden. 2) O. Schmidt, Die Entwicklung der vergleichenden Anatomie, Jena 1855. — J. B. Spix, Geschichte und Beurteilung aller Systeme in der Zoologie nach ihrer XLI. Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften. 567 wie A. COMTE und T. BUCKLE befaßten sich damals mit der Ge- schichte der Wissenschaften. Von allen historischen Schriften über die biologischen Wissen- schaften erntete den größten Beifall W. Whewells bekannte Ge- schichte der induktiven Wissenschaften. Wenn sie auch inhaltlich manches zu wünschen übrig Läßt, wenn sie auch die biologischen Gebiete sehr ungleichmäßig berücksichtigt, so besitzt sie doch den Vorzug, daß sie philosophisch am selbständigsten vorgeht. Von der Annahme eines Fortschritts der Menschheit ausgehend, stellt sie sich die Aufgabe, zu beweisen, daß in der Geschichte der Wissen- schaften eine Entwicklung^ höheren und höheren Zielen konstatiert werden kann, ». . . und so besteht«, schreibt Whewell, »die Wissenschaft nicht, wie es anfangs schien, aus einer Reihe von Umwälzungen, deren eine die andere zerstört und aufhebt, sondern vielmehr aus einer stetigen Folge von Entwicklungen, deren eine die andere in sich aufnimmt, um sie auf dem neuen W7ege noch weiter auszubilden und so der gesuchten Wahrheit immer näher zu führen«1). Die Beweisführung bestand darin, daß er des näheren darlegte, wie die eine Wissenschaft (die Botanik) direkt und ungestört auf ihr Ziel lossteuert, während andere biologische Disziplinen unter manchen Verirrungen und auf Abwegen fortschreiten. Whewells Glaube an den Fortschritt der Wissenschaft blieb für andere Historiker ebenfalls maßgebend; bald hielt man es aber nicht für nötig, das Fortschreiten der Wissenschaft zu beweisen, sondern nahm es als gesicherte Tat- sache hin. Dieser Schritt mußte aber der Geschichtschreibung ver- hängnisvoll werden; denn, gibt es einen stetigen Fortschritt der Wissenschaft, so ist die ganze Vergangenheit in dem jeweiligen letzten Zustande der Wissenschaft einbegriffen; der Geschicht- schreiber kann höchstens die Irrtümer der Vorläufer besprechen — eine wegen ihres nur negativen Inhalts wenig interessante Aufgabe. Einio-e Historiker suchten nach anderen Gründen für die Berechti- gung ihrer Wissenschaft ; klar hat sie G. Cuvier in der Einleitung zu seiner Geschichte zusammengefaßt0; die wissenschaftliche Geschicht- Entwicklungsfolge von Aristoteles bis auf die gegenwärtige Zeit, Nürnberg 181 1. — K. Sprengel, Geschichte der Botanik, Altenburg und Leipzig 1S17— iS. — E. Meyer, Geschichte der Botanik, 4 Bde., Königsberg 1S54 — 57. 1 W. Whewell, History of the inductive Sciences. Deutsch von J. J. Littrow, Stuttgart 1840. I, S. 22. 2) G. Cuvier, Histoire des sei. nat. ed. par Mlle. M. he Saint Agy, Paris 1840, I, S. 1. r- = 68 XLI. Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften. Schreibung sei unentbehrlich, lehrte er, i. weil die wissenschaftlichen Anschauungen auf Tatsachen beruhen, welche zusammenzufassen die Aufgabe des Historikers ist; 2. die Geschichtschreibung macht eine Wiederholung der bereits durchgeführten Untersuchungen unmöglich; 3. sie unterstützt die Entstehung neuer Ideen, vermehrt dadurch das Wissen und lehrt die richtige Methode der Wissenschaft. Diese pädagogische Aufgabe der Geschichtschreibung wurde nicht erfüllt, wie man aus der Tatsache ersieht, daß kein historisches Werk auf die jeweilig herrschenden Anschauungen der Forscher von namhaftem Einfluß gewesen ist. Die Theorie einer objektiven, vom Indi- viduum unabhängigen Wissenschaft führte vielmehr zur Überzeugung, daß die Wissenschaft als ein großartiger Bau von den Forschern nur vermehrt, unter Umständen auch beschädigt werden kann, und die Geschichtschreiber erblickten ihre Aufgabe in der Ermittelung des Anteils, den ein jeder Forscher an dem Aufbau nahm: da sich der eine mehr, der andere weniger um denselben verdient gemacht hat, erzählen die modernen Geschichtschreiber von den »Verdiensten« der Forscher. Man schlage ein beliebiges modernes Werk auf, in dem über die Entwicklung eines wissenschaftlichen Problems ge- schrieben wird, und man wird finden, daß die Hervorhebung der Verdienste die einzige Aufgabe solcher Studien ausmacht. Wer darf aber die Verdienste anderer beurteilen? Jedenfalls nur ein Entdecker, der von seinem individuell erreichten Standpunkte über seine Vor- arbeiter ein Urteil fällt (immerhin behält das Wort -Verdienst« einen geringschätzenden Beigeschmack); ein Historiker dagegen, der über Entdeckungen bloß berichten will, hat kein Recht, von Verdiensten zu sprechen — man läßt es ihn dadurch fühlen, daß den historischen Studien die Originalität, die eigentliche Wissenschaftlichkeit abge- sprochen wird; sie gelten unter Fachmännern für »populäre Werke«. Während der Blütezeit der exakten Wissenschaft waren aber auch solche Werke selten1); nur Zusammenstellungen von Darwins Vor- äufern und historische Einleitungen zu Monographien erschienen als *) Geschichte der Biologie wird behandelt in: Jul. Sachs, Geschichte der Bota- nik vom 16. Jahrhundert bis 1860, München 1875. — Mich. Foster, Lectures on the History of Physiology during the 16, 17 and 18 centuries, Cambridge 1901. — F. C. Müller, Geschichte der organischen Wissenschaften im 19. Jahrh. , Berlin 1902 (populär). — E. Krause, Gesch. der biolog. Wissenschaften im 19. Jahrhundert, Berlin 1901. — H. Haeser, Lehrbuch der Geschichte der Medizin, 3 Bde., Jena 1881. — Th. Puschmann, M. Neuburger, J. Pagel, Handbuch der Geschichte der Medizin, Jena 1903. — F. Dannemann, Grundriß einer Geschichte der Naturwissen- schaften, II. Bd., Leipzig 1898. — R. Burckhardt, Geschichte der Zoologie, Leipzig XLI. Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften. 569 Studien über die Geschichte der Biologie1). Die letzteren stellen eine besondere Art der Geschichtschreibung dar, welche nur un- eigentlich Geschichte heißt: der Forscher, der sich mit einer Idee träet, sucht sich mit anderen denkenden Naturforschern auseinander- zusetzen; von den lebenden geht er zu den verstorbenen über, sichtet die Gedanken, die den seinigen verwandt oder entgegengesetzt sind, betont das Richtige und unterstreicht das Irrtümliche an ihnen, und kommt auf diese Art zu größerer Klarheit über seine eigenen Ideen; indem er die besprochenen Forscher chronologisch ordnet, bringt er zugleich eine »Geschichte^ zustande. Solche Studien, als deren Bei- spiel J. Sachs' »Geschichte der Botanik« oder H. Drieschs »Der Vitalismus als Geschichte und Lehre« gelten können, bilden wertvolle Vorarbeiten für die Geschichtschreibung, denn ein Forscher, der sich ein selbständiges Urteil über ein Problem gebildet hat, besitzt ein feines Verständnis für andere Lösungen desselben und beleuchtet sie von seinem Standpunkte aus; eine wirkliche Geschichtschreibung stellen aber solche Werke deshalb nicht dar, weil sie nur das Richtige und Falsche der Ideen schildern, während der Historiker in ihnen Begeben- heiten, plastische Wirklichkeiten sehen muß2). In den letzten Jahren werden historische Studien von den Bio- logen eifriger gepflegt: am Abschlüsse einer großartigen Epoche der Wissenschaft angelangt, blickt man mit Neugierde zurück, um sich Rechenschaft darüber abzulegen, was man eigentlich erlebt hat. Bis jetzt sind aber diese historischen Arbeiten zu schüchtern geraten; sie ver- suchen nicht, die allzu erprobten Methoden der bisherigen biologischen 1907. — Der biologischen Geschichtschreibung dienen die Zeitschriften: Zoolo- gische Annalen, herausgeg. von Max Braun (Würzburg) und Archiv für die Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, herausgeg. von K. v. Buchka, C. Schäfer, H. Stadler, K. Sudhoff (Leipzig, seit 1909). Mitteil. z. Geschichte d. Medizin u. d. Naturwiss., herausgeg. von S. Günther und K. Sudhoff (Hamburg VIII, 1909 . 1 Die Werke über antike Biologie lasse ich außer Betracht. - Nebst den oben angeführten Schriften seien noch genannt: W. His, Die Theorien der geschlechtlichen Zeugung. Arch. f. Anthropol. 4. 1870. — Ad. Hansen, Goethes Metamorphose der Pflanzen, Gießen 1907. — A. Lange, Geschichte des Materialismus 'Reclarn. — Der Aufschwung der Naturwissenschaften im 19. Jahr- hundert drängte auch die Fachhistoriker, deren Einfluß auf die geizigen Strömungen zu studieren; in Karl Lamprechts »Deutscher Geschichte« sind einige Seiten (III. Abt.. Neueste Zeit, Berlin 190S, S. 142 — 157 und S. 294—324 auch der Ent- wicklung der Biologie gewidmet. Der Biologe, der bei Lamprecht eine selbständige Auffassung der Geschichte der Wissenschaft sucht, wird aber enttäuscht sein: es wird da inhaltlich wie methodisch) kaum mehr geboten, als in jeder besseren Einleitung zu einem Lehrbuch der Zoologie. c-r0 XLI. Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften. Geschichtschreibung zu überwinden: man erfährt aus ihnen nichts, was nicht, fast könnte man sagen, was nicht besser in der positiven Wissenschaft selbst gelehrt würde. R. BüRCKHARDTs Essay1) »Bio- logie und Biologiegeschichte« macht eine ehrenvolle Ausnahme; der Autor betont mit Nachdruck die begriffliche Selbständigkeit der Biologiegeschichte der Biologie gegenüber; er verlangt für die erstere eine eigene Methode und wünscht, daß die Biologiegeschichte anderen historischen Disziplinen als philosophisch gleichwertig angereiht werde. In den vorangehenden Kapiteln wurde der Versuch gemacht, die Geschichte der Biologie von einem neuen Standpunkte zu behandeln; dabei bot sich oft Gelegenheit, allgemeinere Grundsätze, welche für die Geschichtschreibung von Bedeutung sein könnten, einzustreuen; es sei nun auf Grund des Ermittelten der eigentliche Gegenstand der Geschichtschreibung erörtert. Allerorten lesen wir, daß die Wissenschaft in der Erforschung der Wahrheit bestehe; die Historiker, welche die Entwicklung der Wissenschaft nach philosophischen Prinzipien darzustellen suchten, gingen ebenfalls von dieser Definition aus und bemühten sich dem- gemäß, die Geschichte der Wissenschaft als ein stetiges Fortschreiten zur Wahrheit und als eine fortwährende Überwindung des Irrtums aufzufassen. Gegen diese Hypothese vom Wesen der Wissenschaft, welche aus dem Kultus des Intellekts im 18. Jahrhundert erwuchs, läßt sich aber mehreres einwenden. An erster Stelle sei ein metho- discher Einwand angeführt: wenn der Geschichtschreiber im vor- hinein weiß, worin das Wesen der Biologiegeschichte und der Bio- logie liegt, warum studiert er dieselbe? Wir erforschen nur solche Erscheinungen, welche wir noch nicht gut verstehen und nur insofern wir sie nicht verstehen : vermag man durch das Studium der Biologie- geschichte die Auffassung derselben nicht durch eine bessere zu er- setzen, so ist die Arbeit nicht der Mühe wert. Wenn der Historiker mit einer festen Vorstellung vom Wesen der Biologiegeschichte an deren Bearbeitung herantritt, so antwortet er früher, als er gefragt wurde, und läuft Gefahr, falsch zu antworten. Es gibt aber auch sachliche Bedenken gegen die Auffassung der Wissenschaft als eines Strebens nach der Wahrheit. Ohne Zweifel gibt es ein ideales Streben nach Wahrheit — es kommt wahrschein- lich häufiger vor, als man anzunehmen geneigt ist; das Wort »Wahr- x) R. Burckhardt, Biologie und Humanismus. Drei Reden, Jena 1907, S. 37 sq. Ders., Zur Geschichte und Kritik der biologiehistorischen Literatur. Zool. Annalen I. XLI. Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften. 571 heit« ist aber nicht eindeutig. Wahrheit als Gegensatz zum Irrtum (oder zur Lüge) wird oft als das Wesen der Wissenschaft hingestellt; doch scheint es, daß diese bloß logische, allen Inhaltes bare Wahr- heit (Klarheit, Richtigkeit), als Triebkraft der Forschung nicht so häufig vorkommt; die Geschichte belehrt uns, daß die Wahrheit als Negation des Irrtums von schwacher Wirkung auf die Gemüter zu sein pflegt: gegen Darwins Ideen wurde gleich anfangs fast alles vorgebracht, was sich überhaupt gegen dieselben einwenden läßt; gegen HAECKEL wurden gleich an der Schwelle seiner literarischen Tätigkeit schwerwiegende Argumente ins Treffen geführt — die Kritik blieb aber erfolglos; umgekehrt wirkten die Begründer des Darwinis- mus nicht als Verbesserer des Früheren, als Träger besserer Wahr- heiten, sondern als Kämpfer für neue Ideen, für neue Wirklich- keiten. Am lehrreichsten ist in dieser Hinsicht die Einwirkung Kants auf die Naturphilosophie; seine Leistung war eine potenzierte Kritik, eine Logik an sich, und doch rief er bei seinen Nachfolgern keines- wegs schärfere Kritik (d. h. Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum) hervor, sondern wirkte vorzüglich als Entdecker des A priori1). Dasselbe gilt auch von dem Streben einzelner Forscher: zwar geben sie in den Einleitungen zu ihren Studien an, daß sie aus Inter- esse an einer Wahrheit die Arbeit unternommen hätten ; daß sie mit denselben die Lehre von der Individualität der Chromosomen, von der Bedeutung des Mesenchyms, von der Funktion der Hörorgane richtigstellen wollen: jedermann weiß aber, daß solche theoretische Fragen selten den wirklichen Ansporn zur Untersuchung bilden; viel- mehr pflegt es ein gelungenes Präparat, eine zufällige Beobachtung, ein zufällig erlangtes Material zu sein, woraus die Studie entsteht, während die aktuellen Probleme erst sekundär hinzutreten, um der Untersuchung eine Richtung zu geben, oft nur, um ihr die Teilnahme der Öffentlich- keit zu sichern. Es ist eine Wirklichkeit, eine frische Tatsache, welche den Forscher anzieht; dies ist auch dann der Fall, wenn er eine neue Theorie aufstellt, denn er interessiert sich für dieselbe wieder vor- erst als für einen Gedanken, der etwas wirkliches darstellt, weniger als für eine bessere Erklärung des Vorhandenen. Denn auch die Theorien wachsen als grüne Aste auf dem goldenen Baum des Lebens, und J) Man wird hoffentlich aus dem Angeführten nicht herauslesen wollen, daß jede Kritik nichtig und zwecklos wäre; ohne Zweifel ist es ein Zeichen der Bildung, sich durch Kritik, sich durch Wahrheit beeinflussen zu lassen; diese Tat- sache kann uns aber nicht hindern, auf die tatsächlichen Verhältnisse hinzuweisen, welche anderen als idealen Gesetzen folgen. c~2 XLI. Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften. werden erst dann dürr und grau, wenn sie die Bedeutung frischer Wirklichkeit einbüßen und zu bloßen logischen Wahrheiten werden. Wenn aber auch der aktive Forscher berechtigt sein kann, auf die Wahrheit als auf das Ziel seines Strebens hinzuweisen, der Histo- riker, der das Geschehen selbst und nicht dessen Ziel erforscht, darf in jenem Grundsatze, die Wissenschaft bestehe in der Erforschung der Wahrheit, nichts mehr sehen, als ein Programm, etwa wie ein politischer Geschichtschreiber in den politischen Grundsätzen einzelner Parteien nur ein Programm sieht, das mit ihrer praktischen Betätigung nicht identifiziert werden darf. Der Geschichtschreiber der Wissen- schaft muß die wirklichen Antriebe zur Erforschung der Natur zu er- mitteln suchen: ihn geht es z. B. an, ob es ein Kampf um den Lebens- unterhalt, oder die Sucht, den Gegner zu schlagen, oder ein Zufall war, der zu einer wissenschaftlichen Arbeit geführt hat. Er wird leicht bemerken, daß sich in der Wissenschaft gewisse Unterschiede ergeben, wenn er von einem Lande in ein anderes übergeht: trotz aller an- geblichen Internationalität bleibt die deutsche Wissenschaft von der französischen, von der englischen, von der amerikanischen verschie- den, und diese Verschiedenheit konkret darzustellen ist die Aufgabe des Historikers. Man fürchte nicht, daß die Diskussion der wirklichen Triebkräfte der Forschung die Überzeugung von der Idealität des wissenschaftlichen Strebens erschüttern könnte: was könnte diese Diskussion am Ende anderes ans Licht fördern, als daß die Wissen- schaft dasjenige ist, was sie ist! Höchstens könnte man entdecken, daß der ideale Ernst nicht in den wichtigtuenden Mienen des Forschers liege, sondern daß er viel tiefer, viel natürlicher begründet ist. Nun versteht man unter Wahrheit oft auch dasjenige, was wir sonst als Wirklichkeit oder Tatsache bezeichnen, d. h. dasjenige, woran man unmittelbar, ganz naiv glaubt und das nicht nur wahr, sondern auch vorhanden ist und bestimmte Formen hat. Derblaue Himmel, die Lehre Darwins, die Arbeitsteilung im Tierreich stellen solche Wirklichkeiten dar. Wie jede Wissenschaft, so hat auch die Geschichte der Biologie das Studium bestimmter Wirklichkeiten1) zu *) H. Driesch unterscheidet vier Stufen von Wirklichkeit (Naturbegriffe und Natururteile, Leipzig 1904, S. 4 sq.) ; als erste Stufe das unmittelbar Empfundene, als zweite die Dinge, als dritte (die wissenschaftliche Stufe) Gedankensymbole, geschaffen durch kategoriale Nötigung auf Grund qualitativer Data, ausgestattet nach bewußter Willkür, als vierte Stufe qualitativ bestimmte Einheiten (»Atome«). Drieschs Aus- einandersetzung der Wirklichkeitsstufen ist bedeutungsvoll, teilt aber mit seinem logi- schen (KANTschen) Standpunkte den Fehler, daß in ihr die logische Konstruktion eines Begriffes mit der natürlichen identifiziert wird. Es müßte erst erfahrungsmäßig XLI. Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften. 573 ihrem Gegenstande. Nicht die logischen Wahrheiten soll sie erfor- schen, sondern wirkliche Ideen, von welchen sich die Men- schen im Bereiche der Biologie leiten lassen, welche den For- scher nötigen, bestimmte Probleme aufzustellen, die Tatsachen in bestimmter Beleuchtung zu sehen, an gewisse Lehren zu glauben und an andere nicht zu glauben; welche ihn auch zu schiefen Auffassungen des Geschehens verführen; welche dasjenige darstellen, was man im Sinne hat, wenn man von jemand behauptet, er habe »eine Idee . Die Idee ist etwas Ursprüngliches, nichts bloß Erlerntes, oder nach bewußter Methode Erschlossenes : sie liegt der bewußten wissen- schaftlichen Tätigkeit zugrunde, ist also wirklicher als diese. Wer es nicht zugeben will, der ist schwer zu überzeugen, ebenso wie man niemanden, der die blaue Farbe des Himmels ableugnet, von deren Vorhandensein überzeugen kann; es erübrigt nur der Weg, dieselben an Beispielen zu veranschaulichen. Die Entwicklungslehren Darwins, Wallaces, Er. Darwins waren Ideen, d. h. keine bloß erschlossenen oder erlernten Hypothesen, auch keine »Meinungen«, sondern unmittelbare Überzeugungen, die eines Tages ihren Entdeckern plötzlich durch den Sinn fuhren ; wenn aber ein Student die Grundsätze der DARWlNschen Lehre vorträgt, wenn ein Schriftsteller behauptet, er glaube an Darwin, so ist es noch keine Idee. Darwins Glaube an die Erblichkeit erworbener Eigenschaften war eine Idee, da er diese Erblichkeit als etwas Selbstverständliches hinnahm; die Behauptung mancher Forscher, daß sie an diese Erblich- keit deshalb glauben, weil sonst die Entwicklung der Organismenwelt unerklärbar wäre, ist keine Idee, sondern nur die Konsequenz einer Idee (oft nur die Konsequenz einer angelernten Hypothese). Weismaxns Bekämpfung dieser Erblichkeit war ein Gemisch von Idee und Konse- quenz: die Unterscheidung von Keim- und Somatoplasma war Folge- rung aus seiner Auffassung der Embryonalentwicklung; die Unter- scheidung von erworbenen und angeborenen Eigenschaften war eine Idee. Durch das letztangeführte Beispiel verleitet, wird der Leser dem psychologisch und durch Analyse einer wirklichen Bildung von Begriffen) bewiesen werden, daß ein Ding (als zweite Stufe des Wirklichen) aus den Elementen der ersten Stufe, des unmittelbar Gegebenen konstruiert wird. Driesch legt zwar Nachdruck darauf, daß die von ihm angeführte Hierarchie der Wirklichkeiten nur für den reflek- tierenden (nicht aber für den naiven) Verstand Bedeutung hat. Da aber in der Verwechslung des naiven mit dem reflektierenden Verstände der Grundfehler des KAM'scben Systems liegt, sollte man bei Driesch eine eingehendere Auseinander- setzung eben dieses anerkannten Fehlers erwarten. cja XLI. Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften. Schlüsse zuneigen, daß die Idee das Richtige, die Folgerung (Meinung, Hypothese) das Unrichtige bedeute. Dies wäre aber ein Fehlschluß; der Historiker kann nicht über die Richtigkeit aller Lehren, über die er berichtet, seine Meinung haben; er darf auch nicht sein subjek- tives Urteil über wissenschaftliche Probleme zum Maßstab ihrer Be- deutung erheben; er unterscheidet auch nicht die Idee von einer Meinung danach, daß die erstere notwendig richtiger sein müßte. Er studiert den Forscher, die Art, wie derselbe seine Anschauungen begründet, wie er an dieselben glaubt. Nehmen wir z. B. den oben angeführten Fall eines Forschers, der an die Erblichkeit er- worbener Charaktere als Konsequenz der Entwicklungstheorie glauben würde; nun wäre die Unrichtigkeit der letzteren nachgewiesen: läßt er von dem Glauben an jene Erblichkeit ab, so war es keine Idee gewesen; glaubt er aber noch dann an dieselbe, so entsprang sein Glaube dennoch einer Idee, und es war seinerseits nur ein Irrtum, daß er denselben als bloße Konsequenz darbot. Die Idee darf also nicht mit bewußten Lehren identifiziert werden; ihre Wurzeln liegen vielmehr im Unbewußten, und sie spielt nur in das Bewußte hinein; nicht das ist Idee des Forschers, was er als solche darlegt, sondern dasjenige, was ihn zu seinen Behauptungen geführt hat; seine Entdeckung, seine Hypothese, seine Lehre stellt nur die greifbare Form dar, die die Idee angenommen hat. Die Frage, inwiefern jede Idee wahr ist, wollen wir, als für unser Problem weniger bedeutend und als allzu schwierig, beiseite lassen; jedenfalls leben alle Menschen in der Überzeugung, daß, wenn man an irgend eine These fest glaubt, sie nicht absolut irrtümlich sein könne; höchstens bietet sie einen verfehlten Ausdruck der Wahrheit. Doch solche Probleme gehören schon in das Gebiet der Metaphysik. Vielleicht wird es manchen Leser befremdlich anmuten, daß hier eine so selbstverständliche Sache : das wissenschaftliche Leben werde von Ideen als originalen Produkten des menschlichen Geistes be- herrscht, so ausführlich betont wird. Die heutige Theorie des wissen- schaftlichen Lebens erkennt aber diese Ideen nicht an; bei Unter- suchunsren über die Entwicklung einer Lehre unterscheidet man anstatt der Ideen »hingeworfene Gedanken«, Hypothesen, bewiesene Tat- sachen. Diese Klassifikation betrifft aber bloß die Methode und gibt an, welchen Fleiß und welche Beachtung ein Forscher einem Pro- blem gewidmet hat, läßt aber das punctum saliens ganz außer Acht, daß, um einen Gedanken »hinwerfen«, als Möglichkeit vorführen, be- weisen zu können, man ihn zuerst haben muß. Zwar hören wir XLI. Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften. 575 oft, daß dieser oder jener Vorläufer einen Einfall ausgesprochen, den ein späterer Forscher bewiesen hat; nur dem letzteren gebühre in diesem Falle das Verdienst der neuen Wahrheit. Es widerspricht aber aller Erfahrung, daß jemand nur so aufs Geratewohl etwas ausspricht, was sich dann als Wahrheit herausstellt; und wenn es geschehen würde, so erlaubt ein solcher Entdecker an die so entdeckte Wahr- heit nicht; sie hat für ihn keinen größeren Wert, als ein lateinisches Wort im Munde eines Menschen, der nicht lateinisch versteht. Glaubt er aber an die Wahrheit, so stellt sie eine Idee dar, und der Histo- riker muß untersuchen, wie er sich diese Idee vorstellt. Etwas anderes, als hingeworfene und bewiesene Wahrheiten zu unter- scheiden, ist es, von unentwickelten und entwickelten Ideen zu sprechen; so stellen die Transmutationslehre Goethes, der Vita- lismus LAMARCKs unentwickelte, die DARWlNsche Theorie eine ent- wickelte Idee dar; man kann die ersteren Ideen weiter entwickeln, ohne ihrer Originalität Abbruch zu tun1). Wissenschaft und die Darstellung ihrer Geschichte. Zwischen der Wissenschaft und der Darstellung ihrer Geschichte besteht derselbe Unterschied, wie zwischen der Natur und der Natur- wissenschaft: die erstere bildet die Grundlage, die letztere gibt unsere Vorstellung über das Wesen dieser Grundlage wieder. In der modernen Wissenschaft wird dieser Unterschied nicht anerkannt: die Materia- listen wie die Idealisten halten die Natur für identisch mit unseren Vorstellungen von derselben; nur erklären die ersteren die Natur, die letzteren die Vorstellungen für real. Lassen wir die philosophische Seite des Problems außer Betracht; praktisch gibt es einen Unterschied zwischen dem Objekt und dem Wissen von demselben. Man kann wohl die Tiere, Pflanzen, Zellen für bloße Vorstellungen erklären: ein jeder weiß, daß sich diese Vorstellungen auf etwas beziehen, das J) Schopenhauer wollte die Geschichte nicht als Wissenschaft anerkennen : während nämlich die letztere allgemeine Begriffe begründet, soll die Geschichte nur die Schilderung der Einzelheiten zum Gegenstande haben: die Wissenschaften reden »von dem, was immer ist; die Geschichte hingegen von dem. was nur einmal und dann nicht mehr ist< Die Welt als Wille und Vorstellung, II. Bd. ^Reclam], S. 516). Dieser Behauptung, der sich auch Driesch anschließt, kann aber gegen- übergestellt werden, daß die Geschichte der Wissenschaft) von Einzelerscheinungen als Offenbarungen ewiger Wahrheit spricht; indem sie die Ideen des Menschen über die lebendige Natur studiert, steht sie zu diesen in demselben Verhältnis, wie der Biologe zu den Organismen. 576 XLI. Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften. realer ist als unsere Meinungen, Hypothesen, Behauptungen. Der Behauptung, daß die Pflanze aus Zellen bestehe, liegt eine Wirklich- keit zugrunde, welche durch diese Behauptung bei weitem nicht er- schöpft ist; der Künstler wird dieselbe Pflanze anders, der Che- miker wieder anders definieren; auch die Wissenschaft definiert dieselbe Pflanze zu verschiedenen Epochen der Wissenschaft ver- schieden. Unsere Vorstellungen sind folglich nur Schatten, nur Reflexe der Wirklichkeit; auch wenn sie wahr sind, dringen sie nur mehr oder weniger tief in das Wesen der Wirklichkeit ein. Auch der aristotelische Begriff der Entelechie reicht nicht aus, um das Wesen der Dinge zu erschöpfen, denn auch er drückt von denselben nur dasjenige aus, was wir von ihnen wissen, und ist also notwendig unvollständig. Von dem Verhältnis zwischen Geschichte und Geschichtschreibung gilt dasselbe, obwohl es die Forscher nicht einräumen. Sie glauben, daß von jedem Gelehrten nur das weiterlebt, was von der eben herr- schenden Wissenschaft als wahr anerkannt wird. Deshalb bemühen sie sich z. B. vom Darwinismus zu beweisen, daß er noch jetzt an- erkannt werde, deshalb klingen ihnen die Worte von dessen Nieder- gangf so ominös in den Ohren. Deshalb berücksichtigen sie die früheren Forscher, nur insofern dieselben neue Wahrheiten entdecken. Diese Auffassung hat wohl ihre Tiefe, die Nietzsche auf seine Art ausgedrückt hat T) : »Jeder große Mensch hat eine rückwirkende Kraft: alle Geschichte wird um seinetwillen wieder auf die Wege gestellt, und tausend Geheim- nisse der Vergangenheit kriechen aus ihren Schlupfwinkeln — hinein in seine Sonne. Es ist gar nicht abzusehen, was alles einmal noch Ge- schichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer noch wesent- lich unentdeckt! Es bedarf noch so vieler rückwirkender Kräfte!« Ist dem aber so, dann deckt sich die Vergangenheit nicht mit unserer Vorstellung, nicht mit der Vorstellung unserer Nachkommen, nicht mit der Vorstellung irgend eines Menschen oder Zeitalters über diese Vergangenheit, sondern ist unabhängig von derselben. Das- jenige, was heute über Darwin, über Cuvier, über Newton gelehrt wird, stellt also kein Leben jener Forscher über ihr Grab hinaus dar, sondern nur unsere Vorstellungen, zu welchen wir auf Grund von Dokumenten gelangen, welche von den Forschern hinterlassen wurden; wären dieselben zufälligerweise nicht zurückgeblieben, so wäre nicht ihre Unsterblichkeit, sondern nur unsere Vorstellung von J) F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Leipzig 1906, S. 99. XLI. Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften. 577 derselben geschmälert werden. So bildet die Geschichtschreibung und die Wissenschaft nur die Angelegenheit des Forschers selbst und nicht die des erforschten Gegenstandes. Oder sollte am Ende unser Wissen um einen Gegenstand doch diesen in irgend einer noch unbekannten Art beeinflussen? ö' Die Lehre vom Fortschritt. Die Historiker der Wissenschaft huldigen auch dem Glauben an einen Fortschritt der Menschheit und der Wissenschaft; sie sollten es aber nicht tun, denn sie haben die Pflicht, zu untersuchen, ob es wirklich einen Fortschritt gibt und worin er eigentlich besteht; sie müssen im vorhinein für möglich halten, daß diese Meinung unrichtig ist, und erst aus ihrer Darstellung sollte sich die Richtigkeit der- selben ergeben. Wenn es aber auch als festgestellt angenommen wird, daß die Wissenschaft fortschreitet, so ist die Frage zulässig, ob die ganze Fortschrittslehre tief genug ist, um das Wesen der Wissen- schaftsgeschichte zu erschöpfen. Die Frage liegt auf der Hand : wie kommt ein Aristoteles dazu, nicht der ganzen Fülle der Erkenntnis teilhaftig sein zu können, welches Recht haben wir, das Wesen der Dinge tiefer als er zu erfassen ? Genügt die zeitliche Entfernung, um dieses vermeintliche Vorrecht unserer Zeit zu begründen? Wie kommen wir dazu, daß unser geistiges Leben dürftiger sein sollte, als das unserer Nachkommen? Stellt nicht das, was man gemeinhin als Fortschritt der Wissenschaft nennt — die Vermehrung der Kennt- nisse, die praktischen Erfolge, die mannigfachen Hypothesen — , nur eine oberflächliche Erscheinung unseres Lebens dar? Diese Fragen beantworte man, bevor man die Lehre vom Fortschritt zu predigen anhebt. Aus der Hypothese vom Fortschritte der Wissenschaft zog man den Schluß, daß der Zweck der wissenschaftlichen Arbeit nicht in ihr selbst, sondern in der Zukunft gesucht werden müsse; man lehrte, daß wir für die Zukunft arbeiten, daß wir Tatsachen entdecken, Hypothesen aufstellen, Untersuchungen einleiten, welche erst unsere Nachkommen verwenden, bestätigen, zu Ende führen werden. Dieses schöne Gefühl der Solidarität mit der Zukunft ist auf der Prämisse aufgebaut, daß die Geschichte der Wissenschaft bloß logischen Ge- setzen folge, daß die nachfolgende Generation alle Ideen, alle Pro- bleme der vorangehenden übernehme und sie weiterbilde; daß ein Problem, welches ein Forscher aufstellt, zum Problem aller Forscher Radi, Geschichte der biol. Theorien. II. 37 c~8 XLI. Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften. werden müsse, und daß man ohne dessen Lösung nicht fortschreiten könne. Eine solche Solidarität findet aber nicht einmal unter den Forschern einer und derselben Epoche statt; die Probleme behalten ihren Wert nur in bezug auf gewisse Ideen, auf bestimmte Richtungen und Forscher, mit deren Verschwinden sie aber an Aktualität einbüßen. Die Lehren der Naturphilosophen, die so zahlreichen Erklärungen Darwins, die Tausende von Hypothesen aus den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts — wer quält sich heute damit, sie zu beantworten, zu beweisen, zu widerlegen? Die Probleme, die Mutmaßungen sind zwar formal als Aufgaben für die Zukunft, für andere Forscher bestimmt; tatsächlich zeigen sie nur, wie die den Forscher interessierende Idee nach Verwirk- lichung ringt. Wenn beispielsweise Haeckel das Hypothetische seiner Stammbäume durch die Unvollständigkeit unserer Kenntnisse entschuldigte und von der Zukunft die Ausfüllung der Lücken er- wartete, so bedeutete dies in der Wirklichkeit nur die Abrundung seiner Lehre : die Zukunft, die an dieselbe zu glauben aufgehört hat, wirft aber mit der Lehre auch die Pflicht, die Lücken in den Stamm- bäumen auszufüllen, über den Bord. Zwar ist es wahrscheinlich, daß die Ideen eine gewisse Ent- wicklungskraft haben und über das Streben des Einzelnen hinaus sich weiter fortpflanzen (wie es die Entwicklung des Darwinismus zeigte), aber diese Entwicklung geschieht in den unbewußten Sphären der Geistestätigkeit; sie kann historisch konstatiert, kaum aber bewußt dirigiert werden. Infolgedessen entbehrt die Theorie der bewußten Mit- arbeit an dem Fortschritte der Wissenschaft jeder Grundlage. Tat- sächlich besitzt auch die Vorstellung dieses Wissenschaftsfortschritts nur geringe Triebkraft für die Forschung: es steht nur in Büchern,, daß die Gelehrten um der besseren Zukunft willen arbeiten; praktisch folgen sie dem richtigen Instinkte, daß ihre Arbeit als ein geschlos- senes Ganze, nicht als Vorarbeit betrachtet werden müsse. Jede Ent- deckung, jede historische Erscheinung ist absolut und einzig in ihrer Art; sie hat ihren Wert durch sich selbst und nicht durch ihre Verwendbarkeit für die Zwecke der Zukunft. Die Idee und deren Anerkennung. Alle Welt stimmt darin überein, daß eine Wahrheit zu entdecken etwas anderes ist, als ihr zum Durchbruch zu verhelfen. Trotzdem aber niemand daran zweifelt, daß die offiziell anerkannte Wissen- XLI. Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften. 57g schaft viele Lehren anerkennt, welche keine Wahrheiten darstellen, und daß es umgekehrt Entdeckungen gibt, welche aufzunehmen die Gesellschaft sich sträubt, sieht man (auch unter den Historikern) nur das allgemein Anerkannte als wahre Wissenschaft an. Leichten Herzens schreitet man über die Fälle hinweg, wo ein Forscher im Kampfe gegen die Gesellschaft zu leiden hatte: man fühlt sich zwar durch dieselben befugt, auf die öffentlichen Zustände oder auf bestimmte Personen zu schelten, man sucht dem Unterdrückten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, man denkt über Mittel nach, um künftighin solche Fälle unmöglich zu machen — nur eines tut man nicht: zu konstatieren, daß es jederzeit neben anerkannten Wahrheiten auch nicht anerkannte gibt und daß der Historiker beide beachten muß. Es gehört wahrscheinlich zum Wesen jeder Entdeckung, daß sie nach Anerkennung strebt; sie drängt ihren Träger sie mitzuteilen, für dieselbe zu kämpfen und nicht selten auch zu leiden. Woher der düstre Unmut unsrer Zeit? Der Groll, die Eile die Zerrissenheit? Das Sterben in der Dämmerung ist schuld An dieser freudenarmen Ungeduld. Herb ist's, das langersehnte Licht nicht schauen, Zu Grabe gehn in seinen Morgengrauen! In diesen leidenschaftlich bewegten Worten hat NlK. Lenau, romantischen Angedenkens, die unstillbare Sehnsucht seiner Zeit nach Wahrheit ausgedrückt; wer würde zweifeln, daß noch heute dieser düstere Unmut, diese Zerrissenheit die Gemüter der Forscher aufwühlt? Tausende von Ideen ringen nach Anerkennung; die meisten gehen jedoch in den Seelen der zerstreut hinhorchenden Welt zugrunde. Vor dieser Tatsache darf der Historiker nicht die Augen schließen : er muß die Wahrheit nicht nur auf dem Throne der öffentlichen Anerkennung, sondern überall dort suchen, wo Menschen denken, er vergesse nicht, daß noch heute, daß auch in der Wissenschaft die unsäglich schönen, vor 2000 Jahren gesprochenen Worte vom Königreich, das nicht von dieser Welt ist, Geltung haben. Durch ein Spiel von Zufällen wird eine Idee bald gefördert, bald unterdrückt; der Historiker lasse sich dadurch nicht bestechen, denn, Ideen zu erkennen ist sein Ziel, und nicht den Ruhm dieser Welt zu schildern. Und wenn eine Entdeckung auch im Streite der Meinungen spurlos unterging: sie hört nicht auf, den Gegenstand der Geschichtschreibung zu bilden, denn sie bleibt wahr und geht als solche in die Wahrheit, 37* cgo XLI. Das Wesen der Geschichte der Wissenschaften. die in dem Historiker lebt, über; er selbst muß die Wahrheit in sich tragen und nicht warten, bis sie ihm von außen, von der Gesellschaft aufgedrängt wird. Denn nur zu oft findet er Gelegenheit, an Feuchterslebens Worte zu denken: »Ist doch, rufen sie vermessen, Es erscheint nun; niemand sieht es, Nichts im Werke, nichts getan!« Niemand hört es im Geschrei. Und das Große reift indessen Mit bescheidner Trauer zieht es Still heran. Still vorbei. Je eifriger der Historiker bemüht sein wird, dieser »bescheidenen Trauer« im Gewühl der Meinungen gewahr zu werden, desto mehr wird er Forscher, Philosoph, desto mehr wird er Mensch sein. NAMENREGISTER. Adanson 566. Agassiz, A. 195, 289. Agassiz, L., gegen Lamarck 19, 42; Morphologie 22; Analogien 35; System 42; Zellentheorie 74; gegen Darwin 194 — 196; Haeckel über A. 274; Poly- genist. Theor. 305 ; Rassenkreuzung 323 ; geogr. Verbreitung 350 u. 355; u. Cope 444; 241, 243, 494. Aischylos 393. Albertus Magnus, christlicher Natur- forscher 230. Albrecht 564. Alexander zu. Allen, G., Schönheit der Natur 247 u. 249—250, 449. Altmann, Elementarorganismen 388. Ammon, Rassentheoretiker 321 — 323. Ampere, Romantiker 14. Anonymus, Verf. des Rembrandt als Erzieher 545. Apäthy, über Nervensystem 385. Archiac 157; über Cuvier 362; gegen Darwin 363; Gesch. d. Paläontol. 566. Archimedes 183. Argyll> gegen Darwin 154; Rationalist 241; Ästhetik 253; Zuchtwahllehre 372; gegen Teleologie 556; 159, 234. Aristoteles, Metamorphosenlehre 26; Hierarchie d. Wesen 36; u. Baer 62; Darwins Vorläufer 113; u. J. Müller 427; über Geschlecht 477 u. 498 — 99; Entelechielehre 215, 528 — 31; 231, 294, 425, 496, 522, 524, 576. Askenasy, für Nägeli 378. Athanasius, Entstehung d. Organismen 107. Augustinus, Entwicklung 107; christ- licher Denker 230; üb. Vergänglichkeit 297; Prädestination 393. Babak, über Darwin 228. Baco u. Schieiden 67; Darwins Vorläufer 486. Baden-Powell, für Darwin 235. Baer, über Cuvier 13 u. 16; über Blain- ville 17; über Lamarck 19, 109, 198; Typen 38; Embryologie 54 — 62; Spieß- bürger 66; Naturphil. 85, 88; Dichter 86; Phylogenie III, 240,394; u. Spencer 120; u. Darwin 153, 163, 198 — 199; u. Huxley 155; Rationalist 243; Fortschritt 264; biogenet. Grundgesetz 284; Aszi- dien 330; u. Weismann 419; Entwick- lungsgesetz 109; Darwinisten über 203; in Rußland 228; Religion 234; u. Nie- dergang der Morphologie 511, 512. Bain, Pädagogik 219. Baldwin, Psychologie 220. Balfour, F., f. Haeckel 295; Embryo- logie 342—343; 328- Balfour, H., gegen Huxley 236. Barfuth, Entwicklungsmechaniker 521. Barrago 311. Barrande, gegen Darwin 157 u. 363. Barrat, Entwicklungsphilosoph 21 1. Barth, Wesen der Geschichte 145, 211, 223. Basilius, üb. Entwicklung 107. Bastian, A., gegen Darwin 163; Haeckel üb. B. 273 — 74, 296. Bastian, Ch., Urzeugung 300. Bates, Vestiges 117; Wallace 141; Mi- mikry 260. Bates on, üb. Baer 61; für Darwin 1S9; Urspr. Wirbelt. 331; diskontinuierl. Va- riabilität 483, 510, 554. Baumgärtner, sprungweise Entwicklung J99J gegen Darwin 202; Weltkörper- Zellen 304. 582 Namenregister. Beaumont, gegen Darwin 157 u. 363; üb. Katastrophen 1 14. Bechterew 385. Beer 437- Behring, Immunität 405. Beneden, Wesen der Furchung 383. Benedikt, für Lombroso 229; üb. Ur- zeugung 304. Bentham, Wesen der Moralität 125. Bergmann, Anatomie 77; Entwicklungs- mechanik 5I3- Bernard, Cl., Physiologie 83 ; u. Darwin 84, 157; u. Comte 103; Stil 104; Zola 106; u. Bonnier 250; 302, 550. Bernard, H. 472. Bert, für Darwin 157; experim. Physio- logie 550. Berthelot, üb. den Triumph d. Wissen- schaft 103; u. Brunetiere 540. Berthold, üb. Protoplasma 388. Bethe, Neuronentheorie 386; Psychol. 436 u. 437; 434. Bichat, Lebenskraft 76; Gewebe 384; geg. Mikroskop 64; Physiologie 77. Bischof, u. Rauber 516; Entwicklung 56, 74- Blainville, gegen Cuvier 5, 13, 14, 17; Analogien 33; System 38; Vitalismus 46 ; Naturphil. 88 ; Paläont. 1 1 1 ; Ge- schichte der Biologie 5, 566. Blumenbach, Naturphil. 88; Stellung des Menschen 310; Rassen 319; Vita- lismus 1, 6; Physiologie 77. Böhmer 29. Bölsche 297. Bonnet, Übergänge 2, 329; u. Lamarck II, 20; Spiraltheorie 24; u. Weismann 415; u. Darwin 481; Popularisator 1; üb. Art 480; und der Fortschritt der Wissenschaft 505. Bonnier, Blumentheorie 250. Bopp, Sprachforscher 215. Bory St. Vincent, für Lamarck 18; Protista 292; 17. Boucher de Perthez, Anthropologie 306. Boule 318. Bourget, gegen d. Kultus d. Wissenschaft 540. Boveri, Zellentheorie 3S9; Befruchtung 501. Braeunig 559. Braß 296. Braun, A., Spiraltheorie 24; Metamorph. Lehre 30 — 31; Naturphil. 88; Entwick- lung 109, 112; gegen Darwin 163, 202, 203; u. Haeckel 270; Individuum 467; u. Celakovsky 461. Braun, M. 569. Bravais, Spiraltheorie 25. Brehm, Psychologie 432, 494. Breitenbach 296. Brewster, gegen Darwin 236. Briquet 354. Broca, über Fortschritt des Menschen 402. Brogniart, gegen Darwin 157. Bronn, Morphologie 23; Vitalismus 46; Phylogenie 47, 112; u. Darwin 160; 197, 240, 363, 394, 556; u. Haeckel 275; Katastrophenlehre 362. Brown, System 36; u. Schieiden 67; Zellkern 69; u. Darwin 124. Brown-Sequard, Erblichkeit erworb. Eigenschaften 402; Lamarekist 459, 460. Brunetiere, Entwicklung 103, 226; üb. Bankrott d. Wissenschaft 540. Brunner v. Wattenwyl, Ästhetik 254; Mimikry 261 ; Phylogenie 447; u. Stein- mann 367. Bruno, üb. Weltseele 304. Brücke, Elementarorganismen 388; Mül- lers Schüler 80. Buchka 569. Buckle, u. Darwin 124, 155, 395; Ge- schichte 221 — 22; Fortschritt 264; Erb- lichkeit 394 ; Geschichtsphilosophie 127, 538; Wissenschaftsgeschichte 567; Ver- fall 542. Buffon, Popularisator 1; Wesen seiner Biologie 4; u. Lamarck 20; Zellen- theorie 63, 387; Stil 104; Degeneration 267; Mensch-Affe 309 — 10; Geographie 347; Alter der Erde 358; Art 472; u. Darwin 481. Bulova, üb. Darwin 228. Bunge, Stillvermögen 325; biogen. Ge- setz 345; Vitalismus 558. Bunge (Botaniker) 354. Namenregister. 583 Burckhardt, üb. E. Darwin 123; Ge- schichte der Biologie 570; für Morpho- logie 341, 56S- Burdach, Naturphilosophie 8S; Spieß- bürger 66. Burmeister, Entwicklung 112; u. Darwin 163 ; u. Kirche 242. Butler, u. E. Darwin 123; Psychologie 449—52; u. Pauly 453; u. Hering 454. Buttel-Reepen, Psychologie 431 — 32. Büchner, Materialist 99; Popularisator 100, 106; Demokrat 162; u. Darwin 164, 166; u. Virchow 165; u. Kirche 244; Fortschritt 265; Dilettant 194; Ethik 211; in Rußland 227; u. Haeckel 294, 311. Bütschli, Plasmastruktur 301 u. 388; gegen Driesch 536; üb. Virchow 558; gegen Vitalismus 559, 560. Byron, Romantiker 89. Cajal, Neurone 3S5. Canestrini 166, 227, 311. Carlyle, Romantiker 89; u. Darwin 124; u. Huxley 15$. Carneri, für Darwin 166; Ethik 211. Carpenter, üb. Art 472. Carus, C. G., Naturphilos. 88; Wirbel- theorie 110; Seele = Aroma 192; Psy- chologie 429. Carus, V. 161; Zoologiegeschichte 566; 193, 555- Caspari 1S1. Castle 510. Cattaneo 404. Celakovsky, Phylogenie 228, 460 — 62; üb. Goethe 32. Chabry 522. Chamberlain 323; gegen Gelehrte 545. Chambers, Verf. des Vestiges 116. Chamisso, Forscher 86. Charrin, Erblichkeit 402. Child 522. C h o 1 o d k o w s k y , üb. Generationswechsel 479; üb. biol. Arten 490. Chun 356. Cienkowsky 228. Claus, Gastraeatheorie 289; 272, 296. Clifford. Ethik 211. Coleridge 531. Co Hins 207. Comte, u. Lamarck 18, 84; u. Whewell 89; Positivismus ioi — 103; u. Zola 106 ; u. Huxley 155; üb. Geschichte 221; u. Taine222; Fortschritt 264; u. Gall422; Psychologie 438; Entwicklungsmechanik 522; Religion 541; Biologie 550; Ge- schichte der Biologie 567; u. Brunetiere 540. Condillac, Psychologie 427; u. Lamarck 7, 9, 430. Condorcet, für die Wissenschaft 221; Brunetiere gegen — 540. Conklin 522, 554. Cope, u. Darwin 135, 368; Mimikry 261; Phylogenie 443 — 46; u. Eimer 449; u. Lamarck 19; u. Steinmann 365, 367; üb. Artbegriff 473. Correns 510, 565. Cossmann, Teleologie 559. Coulomb 1. Crocq, Erblichkeit 397. Crookes, Entw. der Elemente 214. Cunningham, für Eimer 449, 478. Cuvier, u. Buffon 4; Biologie 5 — 6; u. Lamarck 7 — 21; Morphologie 22, 279; Homologie 32; System 37; u. Milne- Edwards 49, 84; für Präformation 52; Embryologie 56; u. Geoffroy 60; und Baer 62; gegen das Mikroskop 64; u. Mill 91; u. Comte 103, 481; Stil 104; Entwicklungslehre 108; Paläontologie 111; Umwälzungen 114; u. Darwin 129; Leuckart üb. — 190; Kirche 233; Fort- schritt 264; u. Haeckel 282; Entstehung d. Menschen 305; Aszidien32o; Typen- lehre 338; Sintflutlehre 361 — 62; und Gall 422; Art 468 u. 473; Ahnengale- rien 538; Geschichte d. Biologie 566. 567; u. Philosophie 206; u. d. Darwi- nisten 234, 236; u. Migrationstheorie 366; 460, 505: Praktiker 566; 576. Dacque 122. Dahl, üb. objektive Wissenschaft 146, 470. D' Alton, Embryologie 54. Dannemann 568. 584 Namenregister. Dante 121, 230. Dantec 502. . Darbyshire 510. D'Archiac, u. Darwin 157, 200, 362 — 63. Darwin, Ch. 17, 42; u. Milne-Edwards 31, 50; u. Physiologie 84; Mill 91, 92, 95; u. Newton 100; Mechanik 101; Historismus 108; u. Comte 103; Lyells Einfluß 115; Vestiges 117; Originalität 120; Privatmann 105; u. Zola 106; üb. d. Ursprung seiner Lehre 107; Leben u. Werke 122 — 40; Aufnahme in Eng- land 152 — 57; Sozialdemokraten 178, 224; u. Virchow 181; Beweise 188; u. Agassiz, Owen u. Mivart 36, 196; Verteidigung 203; Einfluß der Kritiker 205) 571» Philosoph 206; Religion 207, 233, 241 ; Einfluß außerhalb d. Biologie 213; Schleicher 217; Sprachenentwick- lung 217; Psychologie des Kindes 220; Demokrat 225; Ästhetik 247 — 55; u. Ruskin 256; Mimikry 261; Auffassung des Fortschritts 265, 373; Degenerations- lehre 269; u. Haeckel 272, 273; und die kontinentale Wissenschaft 278; bio- logische Auffassung d. Organ. 279; Stammbäume 283; biog. Gesetz 284; u. Haeckel 295, 547; Entstehung des Menschen 313 — 14; Rassentheorie 324; Morphologie 326 — 27, 511; analoge Variationen 333; Konvergenz 334; Typenlehre 338; geogr. Verbr. 350 — 52; Reaktion gegen D. 354 — 57; Alter der Erde 359; Paläontologie 362 — 68; Zuchtwahl 370 — 74; Pangenesis 387; gegen Gleichheit der Menschen 393; Erblichkeit 394 — 97, 400, 405; über Roux 408; u. Weismann 410, 413, 417, 419, 5435 Psychologie d. Tiere 430— 31 ; u. Lamarck 7, 439, 440; Artbegriff 4, 444, 472, 473> 480—83, 489; u. Butler 449) 4525 u- Pauly 4535 »■ Schopen- hauer 457; Botanik 460; Organogra- phie 464, 465; Cirripedien 475; üb. Ge- schlecht 477, 499; Variabilität 48 1, 488; u. Bateson 4S3 ; u. de Vries 485 ; und Johannsen 486; üb. den Einfluß der Umgebung 492 ; Lehre von den Eigen- schaften 503 — 04; Bastardierung 506 bis 508; u. Entwicklungsmechanik 519, 522; Beweisführer 531; u. Driesch 538, 539; siegreich 540; u. Nietzsche 541; u. die Geschichtsschreibung 542; und Nägeli 547; Experimente 548; Zweck- mäßigkeitslehre 554 — 557; wird ver- gessen 561, 562; u. Meckel 512; Un- sterblichkeit 576. Darwin, E., Zellentheorie 71; Poesie 86; kein Romantiker 89; Charakteristik 122 — 23; Genetiker 140; Mimikry 260; vergessen 440; u. Butler 452. Darwin, F. 193. Dauben ton 1; Methode 4; Anatomie 6. Davenport 488, 554. de Bary, Zellentheorie 391. Decandolle, A., Erblichkeit 397; über Farben 254, 324. Decandolle, P., u. Jussieu 4; Morpho- logie 22, 279, 512; Metamorphosen- lehre 30; System 36; Naturphil. 85; rudimentäre Org. 266; Art 129, 468, 480, 486; Rückkehr auf — 481. De läge, Erblichkeit 400; Krisis d. Bio- logie 562; 389, 392, 405, 522. de la Mettrie, Affenproblem 309. Delboeuf, üb. Selektion 407. Delbrück, üb. Schleicher 219, 543. Delpino, gegen Danvin 539 — 40. de Maill et, Entwickl. 3; Kirche 232; 9. Demoor 269, 470. Deperet, üb. Paläontologie 366; üb. Mu- tationen 369. Descartes, u. Stahl 104; Psychologie 420, 423, 427; Mechanist 466; gegen Psychol. der Tiere 438; u. Driesch 523. Desmoulins, u. Cuvier 13. Detto, üb. Lamarck 441; üb. Mecha- nismus 565; 405, 460. Diderot, Urzeugung 3. Diem, Erblichkeit 399. Dilthey, Wesen der Geschichtswissen- schaft 542. Dodel, für Haeckel 165; u. Wigand 204; 296. Doflein 259. Dohrn, üb. Verfall 267; Funktionswechsel 335- Dorfmeister, Saisondimorphismus 495. Döderlein 365. Döllinger, Entwicklung 54. Namenregister. 5&5 Drap er 244. Driesch, üb. Naturphilosophie 89; Zellen- größe 380; Zellentheorie 392; Sinnes- energien 427; Psychologie 43 5; für Hart- mann 458; über de Vries 485 ; Lehre 522 bis 539; u. Nägeli 547; gegen Darwin 564, 565; Wirklichkeitsstufen 572; über Geschichte 575; u. Roux 521, 522,559; modern 560; 302, 460, 496, 562, 569. Driesmans, Rassentheorethiker 323. Drude, Florenreiche 354. Dubois, E., Pithecanthropus 318. Du Bois Reymond, Physiologie 81, 83; Danvin 84, 164; Materialismus 100; Popularis. 106; gegen Haeckel 169, 272, 283; gegen Goethe 170, 561; Nägeli 173; Haeckel 1S0; bespottet 561; Müllers Schüler 80. Duilhe St. Projet 236, 244. Dumeril, Schädeltheorie 22. Dumont, für Danvin 157, 165, 169. Dumortier, Zellentheorie 71. Duncker 488. du Prel, Darwinismus 166, 214; üb. die Lyrik 169, 541; üb. Hartmann 458. Durdfk, für Darwin 228. Dutrochet, für Lamarck 18; Morpho- logie 23; Zellentheorie 64, 71. Duval, für Danvin 157, 166. Dybowski, für Danvin 228. Ecker 93, 422. Ehrenberg, gegen Danvin 163; Urzeu- gung 299. Ehrlich, Erblichkeit 405. Eimer, üb. Präponderanz d. Männchen 252; Mimikry 262; Phylogenie 447 — 49; u. Lamarck 19; u. Hartmann 458. Eisberg, Plastidule 387. Empedokles, Darwins Vorläufer 113. Endlicher, System 36. Engels, für Danvin 223, 543. Ennius, Affenproblem 309. Ericksson, biolog. Arten 490. Errera 388. Espinas, für Danvin 223. Esquirol, Erblichkeit 269. Ettingshausen, v., Phylogenie 446; gegen Darwin 368. Eulenburg 223, 542. Exner, Psychologie 435 ; Physiologie 552, 553- Fabricius, Wissenschaft des — 505. Fechner, lyrischer Dichter 86; Natur- philosoph 98; Mechanist 101 ; für Dar- win 164; für Haeckel 295; Psycholog. 435; Hering 454; Reaktion gegen Dar- winismus 545 — 46; Entwicklungsphilo- soph 211. Fenizia 122. Fer6, für Lombroso 229; Degeneration 267. Ferri, für Lombroso 229. Fernere, für Darwin 157, 166. Feuchtersieben 580. Feuerbach 99, 109, 205, 225. Fichte, Patriot 87; Entwicklungslehre 108; üb. Gelehrte 146; Haeckel 271 ; u. Driesch 533; Psychologie 429; 84, 89, 212, 273. Fick 389, 511. Fischer, E. 404. Fischer, K. 146, 271, 429. Fiske 211. Flahault 357. Fleischmann, gegen Stammbäume 331, 365; gegen Darwin 564; 340, 341. Flemming 388. Flourens, Stil 104; gegen Darwin 157; gegen Gall 423; 200, 422. Focke 508. Fontenelle 264. Fo rbes 363. Forel, für Haeckel 295; Psychol. 431, 432; für Semon 456; Polymorphismus 476. Foster 568. Fouille'e, Pädagogik 220; 211, 223. Fraas, gegen Darwin 163, 363; über Agassiz 195. France 456. Friedental 419. Fried mann, Geographie 355 > Konver- genztheorie 505, 511; gegen Danvin 564; 342- Fries 67. Frohschammer 452. 586 Namenregister. Froriep 422. Fuchs, gegen Darwin 363, 364. Fürbringer 333. Galen 148, 231, 309. Galilei 104, 147, 235. Gall, Psychologie 420 — 24; 192. Galton, Rassentheor. 324, 325; Stirps 387; Erblichkeit 397; Variations-Stati- stik 487; Bastardierung 507 — 08; kein Experimentator 548; 105, 158, 313, 503, 510. Garofalo 229. Gaudry, für Darwin 368; 366. Gärtner 508. Geddes 442, 502. Gegenbaur, Homologien 34, 333; und Haeckel 270, 295; Stammbäume 283; Organe 337, 338; 280, 328, 341, 513. Geiger, Farbensehen 214. Geoffroy, E., Freund Cuviers 12; Ver- hältnis zu Lamarck 14; Anatomie 6 Morphologie 22; Präformation 52, 58 Naturphilosophie 85; Wirbeltheorie 110 Stellung d. Menschen 310; über Gall 422; Schopenhauer 457; Artbegriff 468 ; Mutationen 486; 17, 19, 60, 88, 279, 440, 512, 516. Geoffroy, Is., über Lamarck 16, 17; Geschichte der Biologie 566; 15. Gerlach, v., Nervennetze 385. Giard, üb. Baer 61, 199; für Darwin 157; Lamarekist 459; 193, 340, 440. Giebel, gegen Darwin 163, 363; gegen Kirche 243. Gladstone, Farbensehen 214. Gley 550. Godron, Bastardierung 481, 482. Goebel, gegen Zellentheorie 391; Erb- lichkeit 405; üb. Lamarck 441; Orga- nographie 463—466; 25, 523. Goeppert, gegen Darwin 163. Goethe, u. Biologie 6; Morphologie 22; Spiraltheorie 24; Metamorphosenlehre 26 — 29; dynamische Lehre 45; J.Müller 80, 425 ; Naturphilosophie 84, 85 ; Mill 91; Logik 93; Entwicklungslehre 108; Wirbeltheorie iio; Helmont 150; Ästhe- tik 245 — 47; Haeckel 272; duBoisi7o; Zwischenkiefer 312; Terminologie 379; Goebel 465; Artbegriff 468; anschau- licher Denker 531; gegen Teleologi- sieren555; von neuem geehrt 561 ; 575. Goette, gegen Haeckel 272; Haeckel 274; üb. Formgesetz 515; 275, 289, 517. Goltz 552. Grant 118. Gray, für Darwin 227. Gregor v. Nyssa, Evolutionist 107. Grooß, Psychol. 432. Gruber 325. Grünbaum 315. Gulick, für Wagner 407; Lokalformen 494- Günther 25. Guy au, Pädagogik 220; 211. Haacke, Protoplasma 388; Lamarckist 459, 522. Haeckel, üb. Lamarck 16; Homologien 34, 333; üb. Baer 61; u. Schieiden 6S; u. Virchow 165 — 81; Solzialdemokratie 178; Übertreibung 192; üb. Agassiz 195; üb. Baer 199; u. Schleicher 215, 217; Erziehung 219, 224; Demokrat 225; Rudim. Org. 266; Lehre u. Wirken 270 — 96; Menschenrassen 316; Mor- phologie 328, 503; Typenlehre 338; Pangenesistheorie 387; Erblichkeit 397; u. Roux 40S, 517 — 19; u. Weismann 411, 413, 419,547; Sinnesenergie 427 ; Lamarckist 459 ; Lehre vom Individuum 469; Artbegriff 472; Lehre v. Wesen d. Ursache 514; u. Entwicklungsmechanik 522; u. Driesch 538; Autorität 540; überwunden 541; kein Experimentator 548; u. Verworn 551 ; üb. Goethe 555; bekämpft 563; 22, 80, 100, 101, 105, 107,108, 121, 122, 158, 188,206,211, 227, 234, 256, 337, 341, 342, 345, 346, 439, 440, 458, 460, 511, 513, 524, 543, 562, 571, 578. Haecker,Bastardierung 5 11 5389,5 10,565. Haeser 568. Hahn 304. Haller, Evolution 52; Zellentheorie 71, 387- Namenregister. 587 Hallier, Ästhetik 254. Ilamann, 296; Höhlenfauna 356. Hansen, Metamorphosenlehre 31, 32; gegen Chamberlain 545; 46, 569. Han stein, Protoplast 390; 163, 202. Harnack 541. Hartmann, C. C. R. 166. Hartmann, E.V., für Haeckel 295; Psy- chologie 429; Darwinismus 457 — 58; u. Driesch 533; Teleologie 558; 522. Harvey, üb. Geschlechtswesen 499. Haycraft, Rassentheoretiker 325. Heer, Umprägung der Formen 363. Hegel, Entwicklungslehre 108; konser- vativ 212; u. Darwin 224; über Fort- schritt 264; u. Nägeli 375; u. Driesch 533; 84, 88, 99, 161, 205, 212, 221, 225, 227, 239, 522, 541. Heider 340, 345, 522. Heitzmann, gegen Zellentheorie 390. Hellwald, für Haeckel 181; Sprachent- wicklung 218; Geschichte 223; Indivi- dualist 225; 159, 165, 178, 182, 308. Helmholtz, Physiologie 81; Darwin 84; Mill 97; Mechanist 101; Anglomanie 105; Popularisation 106; für Danvin 164; gegen Goethe 170; Sinnesenergien 425, 427; Psychologie 435; bekämpft 562; 80, 83, 205, 206, 385, 549. Helmont, Auffassung der Wissenschaft 147—51, 210. Henle, üb. Schwann 72, 74, 80. Hensel 126. Hensen 296. Henslow, üb. Anpassung 459. Herbart, biogen. Gesetz 220. Herbert 508. Herbst 521; Regeneration der Augen- stiele 526, 554. Herder, Naturphil. 85; Entwicklung 108; Sprachkunde 215; Fortschrittslehre 264; 221. Hering, üb. Gedächtnis 454 — 55. Herschel, u. Whewell 90; u. Darwin 124. Hertwig, O., für Haeckel 295; Cölom- theorie 344; Wesen d. allgem. Biologie 380; Bioblasten 388; Protoplasma 388; Wesen d. Geschlechts 500; Wesen d. Ur- sache 514; u. R0UX519; 328, 392.470. Hertwig, R., für Danvin 189; Cölom- theorie 344; 340, 500. Hertz 325. Ilis, gegen Haeckel 175, 272; Embryo- logie 515; Haeckel üb. His 274, 296; Mosaiktheorie 521 ; 275, 289, 502. 517, 524, 569- Hoernes 308. Höffding 211. Ho ff mann, A. W. Anglomanie 105. Hoffmann, H. 404. Hofmeister, Spiraltheorie 25; gegen Philosophie 68 ; gegen Zellentheorie 391 ; Geschlecht der Kryptogamen 497. Homeyer 539. Hooker 153, 155, 168. Huber, gegen Darwin 202. Hubrecht, Entsteh, d. Wirbeltiere 331. Hufeland 422. Humboldt, A., Naturphil. 86; Kosmos 88; Aristokrat 105; u. Darwin 124; Ästhetik 246; Einfluß auf Haeckel 270; Geographie 348— 3 50, 355; S7, 88. Humboldt, W. 215. Hume, Einfluß der Umgebung auf die Organismen 491; 89, 94, 102, 122, 206. Hurst 288. Hut ton, gegen Bibel 359. Huxley, L. 193. Huxley, T. H., üb. Lamarck 16; u. Baer 56; gegen Comte 102; Wirbeltheorie 11 1; Entstehung d. Darwinismus 117 bis 120; für Darwin 153, 203; u. Carlyle 155; üb. Owen 168; u. Haeckel 174. 271, 272, 283, 295; Sozialdemokr. 17S. 224; gegen Virchow 178, 181; gegen Kölliker 203; Pädagogik 219; Indivi- dualist 225; Fortschrittslehre 265; Keim- blätter 288; Bathybius 291; Stellung d. Menschen 311 — 12; Persistenz d. Lebens- typen 360; Zuchtwahllehre 370; Pan- genesistheorie 387; kein Experimentator 548; vergessen 561; 62, 101, iSS, 206, 211, 227, 235, 256, 36S, 439, 440, 562. Huxley (Botaniker) 354. Hyatt 445. Ibsen, Erblichkeit 397; 269. 588 Namenregister. Jaeckel, Lamarekist 459; 36S. Jaeger, G., Seelenstoffe 192, 435 — 36; üb. Wigand 204; Sprachenentwicklung 217 — 18; Präponderanz d. Männchen 252; Eifurchung 383 ; Keimplasma 414; geschl. Liebe 501; 101, 165, 262. Jellinek 542. Jenkin 481. Jennings 554. Johannsen, reine Linien 486. Jones 472. Jordan, Artbegriff 481 — 82, 484. Jussieu, Biologie 4; Systematik 36; Art- begriff 468; 279. Kalischer, gegen du Bois 170. Kant, u. Schieiden 67; u. Helmholtz 81; Naturphilos. 85; Whewell 90; üb. Ent- wicklung 1 08 ; für Genialität 192; Mensch- Affe 309; Sinnesenergien 427; Psycho- logie 438 ; Einwirkung der Umgebung auf die Organe 491; Beweisführer 531; u. Driesch 532 — 33; üb. Kausalität 535; Wirkung 571; 522, 539, 541, 543,545- Kassowitz 441, 459, 460. Kaup 109. Keller, Haustierrassen 485. Kennel, v., pathol. Arten 268; üb. Ge- schlechter 477; 253. Keppler, Mill üb. K. 94, 95; Begeiste- rung 183; Mystiker 210; religiös 232; Erde = Organismus 304. Kerner, A. v., Artbegriff 481, 508; Vita- list 559. Kern er, J., Mystiker 86. Keyserling, Entwicklung 199. Kidd 211. Kielmeyer 6; kein Lehrer Cuviers 16; dynamische Lehre 45, 46; Entwicklung 53, 57- Kieser 54- Kircher 232. Kirchhoff 127. Klaatsch, Entstehung des Menschen 3o8, 317. Klebs, experim. Botanik 463, 494. Kleebahn, physiol. Arten 490. Kleinenberg, Bedeutung der Larven- formen 343. Klemens 107. Knight 508. Kohlbrugge 396. Koken, gegen Darwin 364; Lamarekist 459; 366, 368. Kölliker, Baers Anhänger 56, 62; Zellentheorie 74, 80, 380; u. Huxley 119; gegen Darwin 197 — 98; u. Haeckel 270; Eifurchung 383; Neuronentheorie 385; Vererbungssubstanz 389 ; Protoplast 390; für His 515; 80, 199, 203, 204, 387, 458, 556- Kolumbus 121. Kopernikus 95, 273, 297. Korscheit 340, 345, 522. Korschinsky, Heterogenesis 484. Kovalevsky, für Darwin 368; 330, 328. Kraemer, Haustierrassen 485. Kramberger 317. Kramer 407. Krasan, Entwicklung 446. Krause, Darwinist 165, 166; Farbensehen 215; für G. Jäger 436; 108, 123, 158, 193, 204, 450. Kropotkin, freundschaftliche Zuchtwahl 238. Kruse 325. Kur e IIa, für Lombroso 229. Lamarck, Leben und Wirken 7 — 21 ; Analogien 33; psychol. System 38; dy- namische Lehre 45; Physiologie 83; Wirkung 109; u. Lyell 116; u. Huxley 118; üb. Natur 128; Fortschritt 264; Übergangsformen 329; Condillac 430; Lamarckisten 439 — 459; Cope u. L. 443 : u. Eimer 449; u. Butler 452; u. Pauly 453; u. Reichenau 456; u. Schopen- hauer 457; Artbegriff 480, 481, 489; u. Naudin 482; Biologie 550; 40, III, 123, 129, 237, 240, 273, 279, 312, 367, 400, 547, 575- Lameere, Degeneration 269. Lamprecht 542; Geschichte d. Wissen- schaft 569. Landois, Blutsverwandtschaft 489. Lang, System 340; 341, 510. Lange, Mechanist 101; für Darwin 164, 205; für Haeckel 295; 52, 227, 569. Namenregister. 5" I. aplace i; Physiologie 83; Entwicklung 108. Lapouge, Rassentheorie 322, 323. Lasswitz 98. Lauterborn 495. Lavater 87, 245. Lavoisier, u. Lamarck 8; Physiologie 83; I, 15, 20. Leay, Mc. Analogien 33. Leeuwe nhoek 63. Lehmann, Urzeugung 301. Leibniz, Einfluß auf die Biologen des 18. Jahrh. 1 — 3; u. Lamarck 20; und Goethe 28; Zellentheorie 63, 387; Über- gangsformen 329; Psychologie 420; In- dividuum 466 ; Einwirkung d. Umgebung auf den Organismus 491 ; 331, 410, 4S0. Lenau 579. Leonardo 79. Leroux, Vorläufer Darwins 486. Lessing 85, 427. Leuckart, System 38, 168; für Cuvier 190; üb. Individuum 467; Entwicklungs- mechanik 513. Leydig, gegen Darwin 163, 202; und Haeckel 270. Lichtenberg 539. Lieberkühn 80. Liebig, Lebenskraft 76; geg.Naturphilos. 95 — 96; Popularisator 106; 105, 15S, 228. Liebmann 302. Lilienfeld 223. Linden v., für Eimer 449; 404. Finne, u. Lamarck 15; Systematik 3 — 4; Metamorphosenlehre 26; Artbegriff 41 bis 42: Mill 91; Stellung d. Menschen 309, 316; 1, 32, 129, 237, 279, 460, 480. List er, Urzeugung 300. Locke 7,89, 122,428; Psychologie 420 ; Einwirkung d. Umgebung 491. Loeb, Psychologie 436; Wesen des Ge- schlechts 501 ; Lehre 552—554; Darwi- nismus 562; 417, 522. Loisy 541. Lombroso, gegen Genialität 192; Kri- minalistik 228; Degeneration 267. Loofs 272. 293, 296. Lorenz 542. Lotsy, Pflanzengeogr. 357; über Lamarck 441; Generationswechsel 498; für Dar- win 565 ; 141, 354, 405, 485, 508. Lotze, Mechanist 96, 97; und Entwick- lungsmechanik 516; Beweisführer 53 x! Denkrausch 532; IOI, 205. Lubbock, Mimikry 258; biog. Gesetz 285; Psychol. 432. Lucas, Erblichkeit 394. Ludwig, Variationsstatistik 4S8. Lyell, üb. Lamarck 19, 109, 118; Geo- logie 114; Huxley üb. L. 119; Darwins Freund 123, 124; für Darwin 153; u. Schleicher 217; für Mivart 236; Dilu- vium 306 — 07; u. Hutton 359; für die Zuchtwahl 370; 120, 160, 188, 203, 311. 3*3, 44°- Maas 521, 522. M a c a u 1 a y 1 24. Mach, Physiologie 549; üb. die Ursache 562; 206. Macnamara 317. Magendie, Physiologie 83. Magnus, Farbensehen 214. Malpighi 104. Malthus, Lehre 126—27; u. Wallace 140, 152. Mantegazza, Psychologie 436; Wesen d. Liebe 501. Marat 8. Marey, für Darwin 157; Lamarekist 459; experim. Physiologie 550. Mario th, Mimikry 260. Marsh, üb. Lamarck 16; für Darwin 188, 368. Martins, für Darwin 157. Martius 403. Marx, u. Darwin 223; überwunden 543. Masaryk, Realismus 536; üb. Sozial- demokratie 223, 542. Massart 269, 347, 470. Matschie 407. Maupas, Infusorien 479, 500. Maupertius 39. Maupied 15. May, üb. Haeckel 179; 297. Mayer, R., Wesen d. Ursache 95, 561. Mayer. V. 214. 59° Namenregister. Meckel, Entwicklung 57 — 60; Stellung des Menschen 309; Erblichkeit 394; pathol. Anatomie 54, 284, 395, 512, 516. Mehnert, Entwicklung 269, 346. Meier, Präformation 52. Mendel, Kreuzung 508 — 10. Mesmer 87. Metschnikow, Vererbung erworbener Eigenschaften 402; Optimismus 565; 211, 228, 289. Meunier, Entwicklung der Sternenwelt 214. Meyen 64. Meyer, E., Geschichte der Botanik 566. Meyer 127, 142. Michelis, gegen Darwin 199 — 200, 539. Mill, u. Helmholtz 82; Logik 89 — 95; u. Darwin 95, 138, 155; in Deutschland 97; 101, 102, 105, 120, 127, 519. Milne-Edwards, Typenlehre 38; gene- tische Anschauungen 47 — 50; Zellen- theorie 71, 387; u. Lamarck 84; Ent- wicklung 112; gegen Darwin 157; Fort- schritt 264; 77. Mirbel 64. Mivart, gegen Darwin 154, 196 — 97, 236, 241, 556. Mohl, Zelle 70, 73; 68. Moleschott 96; Popularisator 106; De- mokrat 162; üb. Darwin 170. Monboddo, Entwicklung 108; Mensch- Affe 309. Montgomery, E., Vitalismus 558. Montgomery, Th. H., Geschlechts- unterschiede 477. Morel, Degeneration 267; Erblichkeit 394, 397, 398. Morgan, üb. Lamarck 441; 288, 290, 419, 522, 554, 556- Möbius, . . ., Eozoon 292. Möbius, K., Ästhetik 256; Lebensge- meinde 470. Möbius, M., Ästhetik 257. Möbius, P. J., üb. Gall 424; Psycho- logie 438. Mräzek 228. Munk 552. Müller, F. C. 568. Müller, Fritz, biogenet. Gesetz285; 166. Müller, H., für Darwin 166; diszipliniert 181; Ästhetik 250; Entsteh, d. Pflanzen- arten 354; für Butler 452. Müller, Joh. , Metamorphosenlehre 29; Physiologie 76 — So, 549; Naturphilos. 85, SS; 99; Entwicklung 112; u. Haeckel 270; Urzeugung 298; Spezif. Energien 424 — 26; Psychologie 436; Experimente 548. Müller, Max, 107, 113; Sprachenent- wicklung 218; üb. Darwin 234. Nagel, Psychologie 432, 437. Nägeli, Zelle 70; u. Darwin 136; gegen du Bois 173; Chemie 213, 556; Lehre 374 — 78; Mizellen 388; Nichterbl. er- worbener Eigensch. 401 ; u. Weismann 411 — 13; u. Eimer 448; u. Vries 484; Standortvarietäten 493; Geschlechts- wesen 501; üb. Körperchen 503; und Mendel 509; für den Rationalismus 546; 19, 68, 101, 193, 410, 439, 458, 460, 462, 481, 562. Napier religiös 232. Napoleon, u. Cuvier 12. Naudin 481, 482; Bastardierung 50S. Naumann 494. Nees v. Esenbeck, Metamorphosen- lehre 30; Morphologie 23; Naturphilo- sophie 88. Nemec 554. Neumayr 366; Unvollständigkeit d. pa- läont. Überlief. 365; für Darwin 368; Mutationen 368; Cope 449. Neuburger 568. Newton, Analogie mit Darwin 1 ; u. Mill 94; u. Darwin 134; geschichtliche Be- deutung 145, 147; Mystiker 210; 273, 576. Nicard 46. Nietzsche 225; Psychologie 424, 438; modern 541; gegen exakte Wissenschaft 545; üb. Geschichte 576. Nord au, gegen Originalität 192; Dege- neration 267, 269; 541. Novikov 211, 223. Nusbaum, J. 228. Nußbaum, M. 412. Nutall 489. Namenregister. 591 Oerstedt, Naturphil. 88. Oken, üb. Lamarck 18; Schädeltheorie 22; physiol. System 38, 39; Entwick- lungstheorie 54, 55, 109; Zellentheorie 63, 387; Philosophie 84; Politik 87; Logik 93; u. Fechner 98; Wirbeltheo- rie 110; Übertreibung 192; u. Nägeli 374; üb. objektive Abbildungen 379; üb. Gall422; 66, 88, 176, 212, 221,279. Origenes 107. Ortmann 407. Osborn, Homoplasie 334; 122, 445. Ostwald, W., Philosophie 206; u. Dar- winismus 562. Ostwald, W. (jun.), Saisondimorphismus 495- Oudemans 252. Ovidius 25. Ovsjanniko-Kulik ovskij 227. Owen, Morphologie 22; Homologie 33 bis 35; Naturphil. 88; kein Romantiker 89; Wirbeltheorie II 1; u. Huxley 119; u. Spencer 120; gegen Darwin 154, I9Ö, 363; u. Huxley 156; Stellung des Menschen 311 ; 168, 234, 241, 333, 339. Packard, Lamarekist 459; 442, 445, 460. Pagel 568. Pallas, Amphioxus 330; Geographie 347. Pander, Entwicklung 54, 55. Paracelsus 104, 147, 229. Parker 472. Pascal 147, 210, 486. Pasteur, Urzeugung 299; 157, 171. Patten, Ursprung der Wirbeltiere 331. Pauly, üb. Lamarck 441; Lehre 453 bis 454; 374, 460. Pearl 554. Perrier, für Darwin 157; für Lamarck 440; Lamarekist 459; 460, 482. Perty 429. Pesch 237. Petit de Julleville 14, 105, 106, 226. Pettenkofer 173. Pfeffer, Lamarekist 459; Physiologie 463, 501. Pflaunder 213. l'fltiger, gegen Zellentheorie 390; Telco- log'^ 557: 548. Pictet, A., Erblichkeit bei d. Schmetter- lingen 404. Pictet, O., gegen Darwin 363. Piepers, Mimikry 262; für Eimer 449. Pisarev, für die Popularisierung der Wissenschaft 227. Plate, gegen Wasmann 238, 331; Zucht- wahl 372; für Semon 456; 331, 373, 485, 565- Plato, Hierarchie d. Wesen 1, 36; Sehen 425; Idealismus 528; u. Kant 304, 535; und die Morphologen 556. Plötz 325, 565. Potonie 122. Pouchet, Urzeugung 299, 395. Preyer, Mechanist 101 ; Psychologie des Kindes 219; Urzeugung 304; und Roux 409; 165, 211, 214, 548. Proudhon, über die Zukunft der Poesie 105. Przibram 301. Purkinje 77, 122; Zellentheorie 71, 73; Physiologie 78 — 79; Naturphilosophie 85, 88; Dichter 86; Mystiker 86; Ur- zeugung 298. Puschmann 568. Quatrefages, gegen Darwin 157, 200; Rassentheorien 323; 17, 122, 129, 194, 305. 4S1. Quetelet 487. Quincke, Protoplasma 300. Rabl, Zellentheorie 3S9; Lamarekist 459- Raichmann 228. Ranke, J. 307, 319. Raspail 64. Rathke 56. Ratzel, Zeitbegriff in der Geologie 359. Rauber, Urzeugung 301; gegen Zellen- theorie 391 ; Vorläufer d. Entwicklungs- mechanik 516 — 17; 551. Ray Lankester, Homoplasie 334; Tro- chosphaera 342; 295. 328, 333, 524. Reibmayer 325. Reichenau, Lamarekist 456; 252. Reil 6; Lebenskraft 76; für Gall 422. 592 Namenregister. Reimarus, Psychologie 428—29; Teleo- logie 555. Reinke 202; Religion 541; Lehre 559 bis 60; gegen Darwin 564. Remak 80. Renan 103, 240, 242, 540. Reymond, Parodie auf Haeckel 167. Rhumbler, Urzeugung 300, 301, 304. Ribot 21 1; Degeneration 269; Ver- erbungsgesetze 396; 325, 397. Richard 223, 239. Rickert, üb. Geschichtswissenschaft 542. Rindfleisch, Vitalismus 558. Ritzema-Bos 490. R ob inet 9; Ubergangsformen 2; Art- begrifT 39; gegen die Kirche 232. Roedig 486. Rokitansky, Humoralpathologie 171. Rolle 165, 311. Rolph 211; Wesen der Befruchtung 501. Romanes, Psychologie des Kindes 220; Stammbäume 283; Erblichkeit erwor- bener Eigenschaften 401, 402; physiol. Zuchtwahl 407; Psychologie 432; La- marckist459; 105, 211, 227, 419, 460, 548. Rosa, Variabilität 489. Rossi 157. Roule 459. Rousseau, Popularisator 1; Wesen der Geschichte 108; über Verfall 264. Roux, für Haeckel 295; Urzeugung 300; gegen Zellentheorie 392; Darwinismus 408 — 10, 562; u. Weismann 417; und Reichenau 456; für Lamarck459; Ent- wicklungsmechanik 517 — 22; Driesch 532; für Physiologie 548; 302, 410, 440, 460, 522, 523, 524, 551. Rudolphi 66. Ruskin, Ästhetik 255. Rütimeyer, Morphologie 23; üb. Agas- si2 I95i gegen Haeckel 272, 296; für die Zuchtwahl 370. Sabatier 54r- Sachs, latente Eigenschaften 336; Typen- lehre 339; Embryologie 347; u. Nägeli 378; gegen Zellentheorie 390; Analyse des Wachstums 391; Lamarekist 459; Phylogenie 461 — 63; Physiologie 549; u. Loeb 552; 25, 163, 460, 562, 568, 569- Saladin 293. Savigny 22. Schäfer 569. Schaffte 223. Schallmeyer, Rassentheorie 325. Schell 541. Sehe Hing, Naturphil. 85; Entwicklung 108; für Genialität 192; Psychologie 429; u. Driesch 533; u. Spix 566; 84, 88, 93, 422. Schenk, gegen Zellentheorie 392; gegen Verworn 551. Schiel 90. Schiller, Naturphil. 86. Schimper, A., Lamarekist 356. Schimper, K. B., Spiraltheorie 24; geg. Darwin 163. Schlegel 215. Schleicher, Sprachkunde und Darwi- nismus 215 — 17; gegen Kirche 244; Stammbäume 284 ; Verfall d. Lehre Sch.s 543- Schieiden, u. Baer 56; Leben u. Wirken 65 — 70; Naturphilosophie 95; Popula- risator 106; für Darwin 163; gegen Virchow 172; Virchow gegen Seh. 179; u. Schleicher 216; Einfluß auf Haeckel 270; u. Nägeli 374; gegen Einheit d. Organismus 379; Artbegriff 472; 101, 120, 166, 205, 333, 460, 512, 551. Schmidt, H. 290. Schmidt, O., 165; Sozialdemokraten 178, 223; u. Hartmann 458; Artbegriff 472; Geschichte der Anatomie 566. Schneider, Psychologie 432. Schoetensack 317. Schopenhauer, u. Metamorphosenlehre 29; für Genialität 192; über Vestiges 242; Psychologie 429; über Lamarck 442; über Darwin 456, 457; üb. Wesen d. Geschlechts 499; anschaulicher Den- ker 531; u. Driesch 533; Rückkehr auf Seh. 548; über Geschichte 575; 522, 541. Schroeder 404. Schroen 304. Schultze, M., Zellentheorie 73, 80, 290. Namenregister. 593 Schübeier, über das Getreide Nor- wegens 403. Schwalbe 318. Schwann, u. Baer 56; Zellentheorie 70 bis 73! gegen Einheit des Organismus 379; 80, 551. Schwendener, Spiraltheorie 25; gegen Zellentheorie 391 ; ursächliche Forschung 463- Sclater 352. Scott 445, 460. Sedgwick, Vestiges 117. Seek 325. Seidlitz, gegen Kirche 234; Erblichkeit 400, 401; üb. Lamarck 449; Variabi- lität 489 ; 160, 165, 193, 202, 204,458, 556. Seignobos 126, 223, 542. Selenka 318. Selpert 420. Semon 405; Lehre 455 — 56. Semper, gegen Haeckel 272, 289; Ent- stehung der Wirbeltiere 331; Lamarekist 459; für physiol. Auffassung der Tier- welt 548 — 49. Serres, Präformation 58 — 59; 284. Siebold, System der Tiere 38. Simroth 304. Sizeranne, de la 256. Smith 125. Sokrates 5°5- Soury, für Darwin 157, 166. Spemann 522. Spencer, u. Baer 62; Mechanist 101; Entstehung des Darwinismus 119 — 20; u. Huxley 155, 156; Philosophie 206 bis 210; Pädagogik 219; üb. Geschichte 223; Demokrat 225; Ästhetik 246; Stammbäume 283; Lebensteilchen 387; Erblichkeit erworb. Eigenschaften 401, 416; Lamarekist 459; u. Goebel 464; üb. Befruchtung 501 ; überwunden 541; u. Nietzsche 542; vergessen 561 ; 105, 117, 158, 160, 227, 241, 256,460, 562. Spengel 193. Spix, üb. Artbegriff 18; Schädeltheorie 22; Naturphilosophie 88; Geschichte d. Systematik 566. Sprengel, üb. Befruchtung d. Pflanzen 506; Geschichte der Botanik 566; 269. Rädl, Geschichte der biol. Theorien. l\. Spring 110. Spurzheim 269. Stadler 569. Stahl 28, 52, 104. Standfuß 404, 495. Steenstrup, üb. Individualität 467. Steffen 211. Steffens 88. Stein mann, über Unvollständigkeit pa- läontologischer Überlief. 365 ; Kritik d. Darwinismus 366 — 67, 370; über La- marck 441; u. Cope 445, 565. Steinthal 217. Steno 104. Sterne 166. Stieda 16, 55. Strasburger, Homologie 336; Embryo- logie 347; Vererbungssubstanz 389; La- marekist 459; Phylogenie46o — 62, 500. Strauß, für Darwin 164; Darwinismus u. Religion 234; u. Haeckel 293; 99, 109, 205, 225, 240, 242, 294. Sudhoff 569. S wammer dam, Evolution 26; Mystiker 210; 104, 505. Swie tochowski 228. Tacitus 537. Taine, 9, 106, 221, 537, 541, 542. Taschenberg 304. Taylor 449. Teichmüller 199. Tessier 12. Thomas v. Aquino 230, 432. Thomson 445, 502. Tille 211. Timirejev 228. Tizzoni, Erblichkeit 404. Tolstoj 105. Topinard 319. Tornier 522. Tournefort 480. Tönnies 470. Treviranus, Physiologie 77; Entwick- lung 112; Biologie 550; 118, 240. Trouessart, Geographie 353, 357. Tschermak 510. Turgenieff 105. Turpin, Zellentheorie 71. 3S Namenregister. 594 Uexküll, gegen Psychologie 437- Uhlenhut 4§9- Unger 70. Valentin 77. Vendervelde 269, 470. Yernardskij 228. Verworn, für Haeckel 295; Urzeugung 302, 303, 304; Protoplasma 388; Psy- chologie 432; Physiologie 551 — 552; 392. Vesal 104, H7, HS, 3°9- Vetter 211. Vicq d'Azyr 1, 45 Anatomie 6; Homo- logie 32; Stil 104; üb. Buffon 190. Virchow, Zellentheorie 74, 75! Demo- krat 162; für Darwin 164; u. Haeckel 165—182; für Haeckel 178; pathol. Rassen 268; Haeckels Lehrer 270; Ab- stammung des Menschen 317— 18; geg. Einheit des Organismus 379 ; Atavismen 396; kein Vitalist 558; 74, 75, 8o> 99, 101, 158, 205, 223, 245, 310, 312, 320, 380, 381, 3*5, 55*- Virey 312. Vogelsang 238. Vogt, gegen Lamarck 18; Materialist 100; Paläontologie in; über Vestiges 117; Demokrat 162; für Darwin 164; gegen Darwinismus 170; über Agassiz ^95; Schleicher 216; gegen Wagner 243; Mensch- Affe 311; für die Zucht- wahl 370; 172, 204, 227. Volger 265« Volkmann 98. Voltaire, Popularisator 1; 100, 239. Voltz 318. Vöchting 463. Vries, Pangene 387; Cope 445; Muta- tionen 484, 485*, Leüre von den Eigen- schaften 505, 506. Waagen, gegen Darwin 363; Mutationen 368; Cope 445. Wagner, M., Mimikry 261; Migrations- theorie 406—07 ; und Weismann 410, 411. Wagner, R., Physiologie 77; Naturphil. 88; geg. Darwin 163, 202; Seele 172; Kirche 244. Waldeyer, gegen Haeckel 173; Neu- ronentheorie 385. Wallace, Vestiges 117; Leben u. Lehre I4o — 44; für Mivart 236; Ästhetik 251; Mimikry 260 — 62; Geographie 352—53; Reaktion gegen W. 354; Nichterblich- keit erworb. Eigenschaften 402; Psycho- logie 432; für Butler 452; Saisondimor- phismus 495 ; kein Experimentator 548 ; 127,152, 158, 193, 211, 227,256,260, 3", 3X3- Walt her, Darwinismus in der Geologie 214. Warming, System der Pflanzen 36; La- marckist 459. Was mann, über Darwins Lehre 236—38; Psychologie 432—35. Weinland 304. Weis mann, Mechanist 193; üb. Dege- ration 268; Zuchtwahllehre 372; und Nägeli377, 547 5 Pangenesistheorie 387; Vererbungssubstanz 389; Nichterblich- keit erworb. Eigenschaften 401 — 02, 492; u. Roux 408; Lehre 410—19; über Lamarck 442 ; u. Eimer 447, 449 ! Wesen des Geschlechts 500; Lehre von den Eigenschaften 503—04; Mosaiktheorie 521; Beweisführer 531; 158, 460, 481, 524, 540, 562> 564! u- Driesch 532; von Nichtbiologen betont 543 ; gelehrter Darwinismus 547; kein Experimentator 548; bekämpft 563. Wendt 214. Werner 258. Wetterhahn 122. Wettstein, Lamarekist 459; Saison- dimorphismus 495; 565. Whewell, gegen Lamarck 19; Artbegriff g9_9I; über Botanik 460; Wissen- schaftsgeschichte 567; 123. White 244. Whitman, Zellentheorie 392; für Eimer 449; über Mutationen 485. Whitney 543. Wiedersheim,fürHaeckel295;3i5,34I- Wiegmann 298. Wiesner 354; Plasome 388. Namenregister. 595 Wigand, gegen Darwin 201 — 02; tot- geschwiegen 204; gegen Ilaeckel 272; gegen Nägeli 377; 193, 234, 458, 460, 547- Wilberforce 235; über Darwin 156. Wille 404. Williams 211. Wilson, Zelle 389; 392, 522, 554. Windel band, über Geschichtswissen- schaft 542. Wirth 323. Wolff, C. F., u. Goethe 28; Epigenesis 52; Zellentheorie 61, 63 — 64; 58. Wolff, G., gegen Roux 409; über Neo- lamarckismus 442; über Pauly 454; Teleologie 559; geg. Darwin 564; 522, 547. 560, 562. Wo lt mann 269; Rassentheorie 321. Worms 223. Wresniowski 228. Wundt, Stammbäume 2S3; Zellentheorie 385; Sinnesenergien 426; Psychologie 431—32; 211, 435, 437, 549. Yerkes 554- Zacharias 356. Zehnder, Entwicklungstheorie 565. Z c i s i n g 24. Zeller 122. Ziegler, E. 403. Ziegler, H. 344, 437- Ziller 220. Zittel, Unvollständigkeit der paläonto- logischen Überlieferung 365; für Dar- win 366, 368. Zograff 321. Zola 106; Forscher 192; Darwinismus 225 — 26; über Degeneration 269, 397: Verfall 540. Zöckler 163, 167, 193, 195, 204, 233, 235, 236, 244, 555. Zöllner, Darwinismus in der Chemie 213; 167, 183, 211. 38* SACHREGISTER. Abbildungen, moderne und ältere 379. Abstammungslehre vgl. Entwicklung. Abweichungen vom Typus 481. Achromatin 381. Ästhetik vgl. Schönheit. Agnostiker, Huxley 156. Akademie von Paris, gegen Darwin 158. Alchymisten 149, 184 — 85. Amphioxus 330. Analoge Variationen, Darwin 333. Analogie der Formen 32 — 36, 334 — 36; Darwin 135; der Funktionen 335, 356; Friedmann 511. Analogieschluß in der vergl. Psycho- logie 434, 437- Analyse, quantitative und qualitative 386 bis 387. Analytische Methode 533. Anatomie, vergleichende, vgl. Morpho- logie; pathologische 171; d. Menschen 315; unmodern 563. Anerkennung, nicht entscheidend 579. Angeborene Eigenschaften 400, 401. Anlagen, Wesen der 421. Anpassung, -scharaktere33, 197;= Ana- logie 135; Haeckel 278; Nägeli 375; Sachs 378; funktionelle A. 409; direkte A. 459, 496- Anschauliches Denken 531. • Anthropogenie 276. Anthropologie 305 — 319. Antialkoholiker 325. Antidarwinis tische Bewegung 562. Antimere 469. Antwortsreaktion 525 — 26. A priori als Tatsache 535. Arbeitsteilung 48. Archaeop teryx 188, 331. Archencephala 312. Archetype, Owen 33; Sachs 339. Aristokratismus in der Wissenschaft 161; gegen Darwin 163, 224. Art, Begriff der 2, 39—44, 472—96; Cuvier 473; Whewell u. Mill über A. 90; Darwin über A. 129 — 135; in der Sprachwissenschaft 216; in der Poetik 226; pathologische A. 268; polytope Entstehung der Arten 354; Wesen d. A. n. Cope 444; elementare A. 482, 485 ; physiologische A. 489; n. Driesch 530. Astronomie und Darwinismus 214, 543- Aszidien, Ubergangsformen 330. Atavismus, Verbrecher 229; Wesen d. A. 396. Attribute 421. Auslese vgl. Zuchtwahl. Auslösungstheorie 525. Außenwelt, Einfluß der 131. Bastardierungslehre 506 — 512. Bathybius 291. Bedürfnisse, Wirkung der 10; u. deren Befriedigung 557. Befruchtung, Wesen der 500 — 02. Begeisterung für Darwin 189. Begriffe, von der modernen Biologie bekämpft 378. Beobachtung und Experiment 548. Beweis, von Mill überschätzt 92 — 94; Bedeutung der B. für den Darwinismus 182 — 189; Beweisführung als Darstel- lungsmethode 531. Bewußtsein u. Psychologie 435, 530. Bibel, Einfluß auf Huxley 117; auf Spencer 120. Bioblasten 388. Biocoenose 470. Sachregister. 597 Biogenetisches Grundgesetz in der Pädagogik 219; umgekehrtes 269; Haeckcl 2S4 — S8; in der Chemie 345; in der Botanik 347. Biologie am Ende des 18. Jahrhunderts 1 — 7; franzosische B. unter Button 4; deutsche B. im iS. Jahrh. 6; B. bei Comte 101—03; B. und Kirche 235 bis 244; = Zellentheorie 380; allgem. B. 550, 563- Biologische Arten 490. Biophoren 415. Blastomeren, isolierte 524 — 25. Blonde Bestie 424, 541. Blonder Typus 320 — 23. Blumentheorie 250 — 51. Blutsverwandtschaft, Haeckel 280; chemisch bedingt 489. Botanik unter Linne 3—4; und Darwi- nismus 460 — 66. Brünetter Typus 320 — 23. Chemie und Darwinismus 213, 543, 562; chemische Grundlage des Lebens 553. Chromatin 381; Ch. als Vererbungs- substanz 389. Chromosomen 381; Bedeutung d. Ch. 389- Coelenteria 289. Coelomaria 289. Co elomtheorie 344. Cormus 469. Darwinismus, = beschreibende Poesie 86; Entstehung des D. 107—22; Nieder- lage des D. in Deutschland 180; D. im preußischen Landtag 180; D. in der Schule 181; D. unbewiesene Hypothese 182; D. öffentliche Meinung 191; Kritik des D. durch ältere Richtungen 194 bis 205; Einfluß des D. auf anderen Ge- bieten 212 — 30; D. und Religion 230 bis 244; D. bei Haeckel 27S; bei Weis- mann 413; v. Driesch verworfen 525; Einfluß des D. auf Driesch 538—39; Triumph des D. 539 — 40; Verfall des D. 539; rationalistische Umbildung des D. 545 — 49; gelehrter Darwinismus 547; D. u. Physiologie 549 — 551; tot 565. Degeneration 266 — 69, 398. Demokratie und Lamarck 17; demokr. Wissenschaft 161—62. Deszendenzlehre vgl. Entwicklung; und Wigand 201. Determinanten 415. Deutschland, Aufnahme Darwins in D. 158— 1S1. 1 ) if ferenzierung 62; abhängige D. 52°- Diluvium 306 — 308. Disposition, Erblichkeit der 403. Dominanten 559. Dy stele ologie 266. Eigenschaften, Lehre von den 502 bis 506. Eigenschaftsträger 387. Einheiten, physiologische 387. Elementare Organismen 63; nach E. Darwin u. a. 71; nach Kölliker 84. Elementarkörperchen 388. Elemente, Entstehung der 214. Emanzipation 325. Embryologie vor Darwin 51 — 62; dar- winistische E. 342 — 47, 513; Zellen- theorie und E. 382 — 84; unmodern 563. Embryonale Typen 35. Empiristische Theorie der Sinnestätig- keit 82, 97. Energetik 562. Energetische Kräfte 559. Energiden 390. Energien, spezifische 424 — 27. England, Aufnahme Darwins in E. 152; rückständig in der Biologie vor Darwin 92; Theologie zur Zeit Darwins in E. 240. Entartung 269. Entdeckungen, sensationelle 563 — 64. Entelechielehre 528 — 31; atomistisch 536. Entwicklung der Organismenwelt, Begriff der 2. 107 — 21 ; n. Lamarck 9 bis 11; n. Geoffroy 14; u. Cuvier 14, 26; u. Braun 30; u. Darwin 129 — 40; u. Wallace 140 — 44; u. Spencer 208; Unterschied zwischen E. und Eortschritt 265; u. Haeckel 272; u. Xägeli 377; u. Weismann 417; u. Cope 443 — 45; 598 Sachregister. u. Wolff 52 — 60; und u. Eimer 447—49; u- Butler 449—52; u. Pauly 453; u. Semon 455; u. Cela- kovsky 461; u. Fechner 546; E. und Geschichte 537. Entwicklung, embryonale 51—62, 342 — 45; durch Zellen 72; atypische 345; E. der Pflanzen 346 — 47; Wesen der E. 383; mit und ohne Metamor- phose 478—80; Roux 517; Wesen der E. nach Driesch 522. Entwicklungsmechanik, gegen die Zellentheorie 392; Wesen der E. 512 bis 522. Eozo on 292. Epigenesis 28; Baer 57, 61. Erblichkeit, n. Lamarck 10; n. Dar- win 131 — 32; Gesetze der E. 132,395; E. erworb. Eigenschaften 143, 401 — 06, 459; n. Haeckel 27S; Wesen der E. 393 — 4°6; E. der Krankheiten 399, 403 ; n. Weismann 416; Studium d. E. 554. Erfahrungstheorie, n. Darwin 138. Erkennungszeichen (recognition marks) 262. Erklärung, Arten der 372. Erworbene Eigenschaften 400 — 06, 416. Ethik, n. Bentham 125; n. Haeckel 174; evolutionistische 205 — 12; n. Darwin 315; n. Nietzsche 424; Verfall d. evo- lutionistischen E. 541. Ethologie 550. Evolution vgl. Präformation und Ent- wicklung; epigenetische E. 525. Experimentelle Forschung, Goebel 464; Roux 518; modern 548 — 49. Extensive Mannigfaltigkeit 529. Faltungstheorie, n. His 515. Farbenempfindungen 214. Färbung, sympathische 260. Florenreiche 354. Flui da, b. Marat 8; bei Lamarck 9. Fluktuationen 484. Folge, Begriff der Folge bei Darwin 371. Folgerung, Unterschied der F. von einer Idee 454, 573. Formationstheorie 61. Formelement 446. Formenreihen in der Paläontologie 369. Formgesetz, n. Goette 515. Forschung und Lehre 176. Fortpflanzung vgl. Vermehrung. Fortschritt, n. Braun 30; n. Spencer 120; Lehre vom F. 264 — 69; in der Paläontologie 360 — 61 ; = Fortschub373 ! n. Nägeli 376; u. Erblichkeit 397—98; Wesen des F. 504 — 05 ; in d. Wissen- schaft 566, 567, 577—78. Französische Biologie im 18. Jahrh. 87; im 19. Jahrh. 103; Stil 104; Auf- nahme Darwins 157; Delage über F. 563- _ Funktion u. Struktur bei Goethe 44; in d. klassischen Physiologie 1 77 ^ bei Lamarck u. Haeckel 279; im Lamarekismus 443 ; Goebel 465; Semper und Roux 549; Goltz 552. Funktionswechsel 335. Furchung, Arten der 383. Gastraeatheorie 288 — 90. Gastrula 288. G edächtnis, analog mit Übung 450 — 56. Geist in der Natur 31. Gemeinschaft, als Individualitätsstufe 470. Gemmulae 387. Generationswechsel der Tiere 467; als Polymorphie 479; bei den Pflanzen 498. Genetische Auffassung der Morphologie 44 — 50; n. Schieiden 67; bei den Dar- winisten 108 — 22; n. Darwin 139 — 40. Geographie der Tiere und Pflanzen 347—57- Geologie, Einfluß der G. auf das gene- tische Denken 114 — 16. Germanen theorie 323. Germinalselektion 418. Gerüche der Tiere 435, 436. Geschehen 526. Geschichte und Darwinismus 221 — 23; n. Haeckel 275; n. Woltmann 321; u. Morphologie 326—28; als Folge der Körper 364, 536; u. Paläontologie 365; n. Driesch 536 — 37; Reaktion gegen d. naturwissenschaftl. Auffassung der G. 542. Sachregister. 599 Geschichte der Wissenschaft, und Barth 146; im Darwinismus 294; Wesen der 504, 505, 566 — 80. Geschichtschreibung und Geschichte 575- Geschlecht, Wesen des 474 — 78, 49S bis 502. Geschlechtscharaktere, sekundäre 252, 456, 476. Gesellschaft, als Individualitätsstufe 470. Gesetz, in der Nationalökonomie 126; n. Darwin 129, 131, 202; n. Haeckel 2S6; in Natur- u. Geschichtswissenschaft 542. Gestaltungslehre 520. Gewebe 337. Gewohnheiten, Einfluß der 131. Gewohnheitsrassen 490. Habituelle Ähnlichkeit 257. Handlung, n. Driesch 530. Haustierrassen 4S5. Heterogenesis 484. llcterogonie 479. Heterologe Reihen 445. Hierarchie der Wesen 1, 40. Ilöhlenfauna 356. Homodynamie 34. Homologie 32—35, 333—38; n. Darwin 135; architypische und phylotypische 336; pantypische H. 337; homologe Reihen 445; n. Friedmann 511. Homomorphie 333. Homonomie 34. Homoplasie 334. Homotypie 34. Humoralpatho logie 171. Hybride 509. Hype mbry onale Typen 35. Hy pert elie 447. Hypothese, Bedeutung der 186. Idanten und Iden 415. Idee und Wahrheit 531; in d. Geschichte 537, 573; hingeworfene I. 574; ent- wickelte I. 575. Idiographische Wissenschaften 542. Idioplasma 377. Immunität, Erblichkeit der 404 — 05; Wesen der I. 526. Individualität; n. Baer 61; Lehre von der I. 466 — 72. Individualpotenz 485. Induktion, n. Mill 92; n. Schieiden 66. Induktive Wissenschaft 67. Instinkt, n. Gall 420 — 424; u. Reimarus 428; n. Darwin 431; n. Wasmann 433 ; chemische Theorie des I. 564. Intelligenz, n. Wasmann 433. Intensive Mannigfaltigkeit 529. Internatio nalität der Wissenschaft 572. Inzucht 269. Irritabilität 76. Kainogenese 346. Kampf ums Dasein, n. Darwin 133, 137, 371; n. Wallace 142; n. Michelis 200; unter den Himmelskörpern 214; unter den Menschen 314; keine Ver- tiefung des Begriffes 373 ; unter den Körperteilen 409; n. Hartmann 458. Katastrophenlehre 5; antikirchlich 14, 233; Verfall der K. 114 — 15; Be- gründung der K. 362. Kategorien in der Klassifikation 39 bis 44; logische n. Kant u. Driesch 533; u. Tatsachen 535. Katholiken u. Darwinismus 237; mo- derne 541. Kausalität, n. Mill 94; Entstehung der K. 95; n. Comte 103; n. Haeckel 276; n. Fechner 546; kausale Erklärungen 549- Keimblätterlehre, n. Fander 54; n. Baer 56; n. Huxley 288; im Darwinis- mus 343—44. Keimplasma 415. 5 - ' • Kirche, u. Cuvier 14, 15; u. Virchow 178; u. Haeckel 175; u. Wissenschaft 230—244. Klassifikation 3, 4; ältere 36 — 39; anatomische K. unvollständig 43; bei Mill 91; = Genealogie 135; u. Pbylo- genie 281; im Darwinismus 340; nach d. Eifurchung 383; unmodern 563. 6oo Sachregister. Kleistogame Blüten 475. Knospung 346, 497. Körpermaschine 517. Kolligation 94. Kolonie 470. Konsequenz vgl. Folgerung. Konstanten, Wesen der 529. Korrelation 49; Hartmann 458, 468. Kreuzung der Menschenrassen 322, 323; Lehre von der K. 506 — II. Kriminalistik 228. Kristalle und Organismen 22, 301. Kritik, Ohnmacht der 191, 290, 571. Lamarekismus n. Seidlitz 401, 439 bis 459- Lamarckscher Faktor 440. Latente Merkmale n. Sachs 336; Wesen der 1. M. 395. Leben, Wesen des 21 — 22, 46, 51, 75 bis 77, 83; n. Spencer 208; n. Haeckel 276, 277; Urzeugung 298 — 304; Eigen- schaften des L. 302; L. als Wellen- bewegung 501. Lebensgemeinde 470. Lebenskraft 45 — 47, 76 — 78; Haeckel 276, 516; Weismann 412; Hartmann 457; Nägeli 376. Lehre, als Gegensatz zur Forschung 176, 181. Lernen bei Tieren 434. Liberalismus 127; gegen Haeckel 168 bis 182; Virchow 171. Linie, reine 486. Logik, n. Mill 92; bei den Naturphilo- sophen 93; bei den Nationalökonomen 126 — 29; bei Darwin 129, 131; in der exakten Wissenschaft 187; bei Driesch 531—34- Lokalformen 494. Mann und Weib, nach Aristoteles u. a. 477, 493-502. Maschine, Leben alsBewegung einer527# Materialismus 99 — 101 ; Schieiden u. M. 68 ; Darwin u. M. 1 54 ; du Bois u. M. 1 69 ; Virchow u. M. 171; Ostwald gegen M. 562. Mathematik und Darwinismus 407. Mechanik der Entwicklung 516. Mechanismus, bei Schwann 72; bei Virchow 75; bei den Schülern Müllers 80; n. Lotze 97; n. Weismann 193; n. Haeckel 275, 280; bei Lamarck 441 ; n. Roux 518; n. Bütschli 560. Mechanomorphosen 463. Meeresfauna 356 — 57. Mensch, fossil 15; Entstehung des M. 113, 305 — 19; n. Wallace 143; Palä- ontologie des M. 305 — 08; Anatomie des M. 308 — 12; Menschenrassen 320; Seele des M. 434. Mesenchym 344. Mesoderm 344. Metagenesis 479. Metamere 469. Met amerie 471. Metamorphosenlehre, 25 — 31, 88; u. Organographie 465. Metaphysik 458. Metazoa 470. Migrationstheorie 407. Mikroskopie, Aufblühen der 68; Ver- fall der M. 389. Mikrosomen 381. Mimikry 257 — 63; n. Sachs 336; n. Friedmann 511. Mischlinge 507. Missing link 316 — 19. Mizellen 376, 388. Mneme 455. Moneren 277, 290 — 92. Monismus 293, 541. Monstrositäten d. Menschen 309 bis 310, 315, 396; in der Botanik 401; in der Morphologie 512; Rauber 516. Morphogenie 276. Morphologie, idealistische 21 — 5°> n- Cuvier 5; n. Geoffroy 6; u. Naturphil. 87; n. Mill 91; n. Haeckel 275, 276; historische M. 327; Verfall der M. 341; botanische M. 463 ; Verhältnis der M. zur Physiologie 465, 513; u. Individua- litätslehre 467 — 72; kausale M. 520; idealistische M. u. Teleologie 555; ex- perim. M. modern 563. Mo rp hosen vgl. Mechanomorphosen. Motiv in der Paläontologie 446. Sachregister. 60 1 Mutationen, paläontol. 368; Botanik 484; M. und Eigenschaften 506. Nationalökonomie, u. Darwin 125 bis 129. Natur, bei M.-Edwards 49; bei Darwin 128. Naturhaushalt 128. Naturphilosophie 84 — 99; bei Helm- holtz 82; u. Psychologie 429; über das Wesen des Geschlechts 499; Ostwald für N. 562. Naturwissenschaft, reine 533; einzig exakt 540 ; N. und Geisteswissenschaften 542; beschreibende 563. Natürliche Gruppen, Bedeutung der 90. Naupliustheorie 285. Neandertalschädel 317. Negation, Wirkung der N. in der Ge- schichte 239. Neodarwinisten 416. Neolamarckisten 416, 439 — 59; Name 442 ; rationalistisch 548. Neovitalismus 558 — 60. Neuronentheorie 384 — 86. Nomothetische Wissenschaften 542. Nützlichkeitslehre, n. Darwin 138, 247; n. Weismann 417; n. Goethe 555. Ökologie 550. Organe, Wesen der 333 — 38; Entstehung der O. 343 ; als Individuen 469 ; als Werkzeug 502 — 03. Organisation u. Anpassung: Lamarck 33; Nägeli 375; Sachs 78; als Wesen des Lebens 302; n. Weismann 401. Organographie 464. Orthogenesis 448. Pädagogik und Darwinismus 219. Paläontologie, bei Cuvier 5; Auf- schwung der 1 1 1 ; P. und Darwinismus 35S— 70; P. u. Geschichte 358, 365, 366; n. Cope 443 — 45; n. Ettingshausen 446; paläontologische Überlieferung un- vollständig 364. Palingenetisch 287. Pangene 387. P anmixie 418. Parallelismus der embryonalen und pa- läontologischen Entwicklung 1 16; mor- phologische Parallelismen 334; habi- tueller P. 336; phylogenetischer P. 336. Parasitismus 470. Parthenogenesis 479, 497. Person (als Individualitätsstufe) 469. Petrographie und Darwinismus 214. 543- Pflanzensystem 37. Pflanzentiere 329. Philosophie und Biologie I, 7; Kampf zwischen P. u. Wissenschaft 161; nach Virchow 172; evolutionistische 205 — 12, 541- Phrenologie n. Gall 422. Phyletische Kraft 411. Phylogenie, durch Cuvier angeregt 14; n. Agassiz 35; n. Milne-Edwards 50; n. Spencer 208; n. Haeckel 279 — 84; n. Goebel 464; u. Entwicklungsmecha- nik 514—16, 517—19, 522- Physiognomik d. Pflanzen 348. Physiologie, vor Darwin 75 — 84; deutsche Ph. 75; französische Ph. 82; n. Lamarck 83, 84; Ph. und Darwinismus 335» 549—5°) n- Goebel 463; u. Mor- phologie 513; n. Semper 548 — 49; neue Ph. 549 — 54; moderne 563. Physiologisches System d. Tiere 38, 39; physiologische Pflanzengeographie 356; physiol. Individuum 469. Pilidium 343. Pithecanthropus 318, 564. Plan des Organismenkörpers, n. Cuvier 5; n. den Morphologen 22; n. Darwin 135; n. v. Argyll 155; n. Nägeli 375; n. Schopenhauer 457; n. Aristoteles 529. Planula 288. Plasome 388. Plastidule 387. Plastik, Physiologie der 513. Poetik u. Naturphilosophie S6; u. Dar- winismus 225 — 28, 540 — 41. Polarität u. Geschlechtlichkeit 499. Politik, Darwin 127; in d. Wissenschaft 152; n. Haeckel 1S0. Poly genist ische Theorien 305. 602 Sachregister. Polymorphie 478. Polyphyletischer Ursprung d. Orga- nismen 283, 338— 39; n. Nägeli 376. Popularisation der Wissenschaft im 18. Jahrh. 1; im 19. Jahrh. 105; P. u. exakte Wissensch. 159; in Rußland 227. Population 486. Positivismus 101 — 03, 228. Potenz, prospektive 527. Präformationslehren 2, 52, 571 n- Meckel 59; n. Weismann 415; über die Geschlechter 499. Präponderanz, männliche 252. Praktischer Wert d. Wissenschaft 543 bis 544. Primärwissen und -wollen 531. Prophetische Typen 35. Protascus 288. Protestanten und Darwinismus 23 6 ; moderne 54 *• Prothelmis 288. Protista 291, 292. Protoblast 390. Protoplasma 73; -struktur 38S. Protoplast 390. Pro tozoa 289. Pseudometamerie 471. Psych ogenesis 197- Psychoid 531. Psychologie 420 — 39; P. des Kindes 220; Darwin über P. 313 — 15; verglei- chende P. 427 ; wissenschaftliche P. 435 ; Wesen der P. n. Driesch 530. Psychologisches System d. Tiere 10, 38. Psychophysik n. Fechner 99, 454. Rasse, Wesen der 319 — 26. Rationalismus in der Naturphil. 85; R. gegen Theologie 243; u. Darwinis- mus 545—49. Reaktionsbasis, historische 528. Realismus 536. Reflexe 433. Regeneration 290; d. Kristalle 301, 346. Regionen, geographische der Tiere 353; R. d. Pflanzen 354. Regulation, organische 526. Religion, n. Spencer 207; n. Darwin 207, 233; R. u. Darwinismus 230 — 44; n. Haeckel 293; Wiederbeleben der R. 541. Renaissance in d. Wissenschaft 152. Rudimentäre Organe, n. Haeckel 266; n. Weismann 418. Saisondimorphismus 495. Schaumstruktur des Protoplasmas 301. Schnabeltier als Übergangsform 329. Scholastik und Psychologie 433, 434. Schönheit der Natur 245 — 56; n. Wal- lace 143. Schöpfung, n. Darwin u. Agassiz 196; Gegensatz v. Seh. u. natürl. Entstehung 239 — 44; n. Haeckel 277; n. Cuvier 362. Seele, Einfluß d. S. auf den Körper n. Darwin 136; Wesen der S. n. Virchow 172; n. Haeckel 174, 176, 277; S. des Menschen u. d. Tiere 310 — u; psych. Einflüsse der Umgebung auf den Orga- nismus 355; S. als Prinzip d. Entwick- lung 477, 449— 52, 453—54, 456 — 5S- Seelenkräfte 559. Seelenstoffe 436. Segmentation 471. Selbstbefruchtung 475. Selbstdifferenzierung 520. Selektion vgl. Zuchtwahl. Sensibilität 76. Single variations 481. Sinnesenergien, spezifische 80,424 — 27. Sinnesphysiologie 82. Sintflut 306. Solidarität unter Gelehrten 577—78. Somatoplasma 415. Sozialdemokratie für Darwin 177 — 78, 180; Verfall der naturwissensch. Me- thode 542; 223 — 25. Soziologie u. Darwin 128; u. Darwi- nismus 221. Sparsamkeit d. Natur 48. Spermatozoen, Entdeckung der 63. Spiraltheorie d. Pflanzen 24, 25, 463. Spontane Generation vgl. Urzeugung. Sporen 497. Sprache, Ursprung der 217 — 19; kein Organismus 543. Sprachkunde u. Darwinismus 215 — 19, 543- Sachregister. 603 Sprungweise Entwicklung, n. Külliker 198; n. Baer 199; n. Iluxley 203. Stammbaum der Organismen n. Lamarck 11; bei den Naturphilosophen 109; S. der Mineralien 136; n. Haeckel 282; d. Menschen 314; d. Menschenrassen 316; in d. Paläontologie 364; d. Sinnes- funktionen 426 ; d. Pflanzen 461 ; Goebel über S. 464. Stammesentwicklung vgl. Phylogenie. Standortvarietäten 493. Stereoplasma 377. Still vermögen, Abnahme des 325. Stirps 387. Strobilation 471. Struktur, Wesen der, ideal. Morphologie 22, 45, 51, 58; in der älteren Physio- logie 79; bei Darwin u. Haeckel 279; Mensch 310, 326 — 27; Driesch 525 bis 528; u. Zeichnungen der Tiere 499; Variationen der S. 493. Symbiose 470. Syncytium 291, 470. System vgl. Klassifikation. Systemkräfte 559. Tatsache, Bedeutung der 183 — S9; u. Wahrheit 571. Teilung 346, 497. Teleologie vgl. Zweckmäßigkeitslehre. Tendenz zur Stabilität 546. Terminologie, moderne 379. Theologie u. Darwinismus 204, 235 bis 244; u. Wissenschaft 232. Theorie, Bedeutung der 1S6; als Wirk- lichkeit 571. Therm om orphie 309. Tiefseetier e 357. Tier und Pflanze 302. Tod, Wesen des T. 412. Transmutationslehre vgl. Entwick- lung; n. Wigand 201. Trochosphaera 343. Tropismen 436. Trutzfarben 262. Typenlehre n. Cuvier 37 — 3S; n. Baer 62; 11. Haeckel 2S2; Kampf gegen die 33S— 41- Übergangsformen, Begriff der 2; keine Sprünge in d. Xatur 11; n. Mau- pertius u. Robinet 40; n. Darwin 130, 329 — 32; in der Paläontologie 363; zwei Auffassungen der 480. Übermensch 541. Übung, Einfluß der 10. Umgebung, direkter Einfluß der U. auf d. Org. 356, 491—96. Umprägung der Formen 363. Unbewußte, das, aus dem Bewußten entstanden 450 — 52; n. Hartmann 457 bis 458. Universitätswissenschaft 158. Unsterblichkeitslehre Weismanns 412; in der Geschichte 576. Ursache, Begriff der, nach Lotze 97; n. Helmholtz 97; Erforschung der kon- kreten U. 460, 464; n. Bergmann und Leuckart 513; U. der Formen im Dar- winismus 513, 514; mechanische U. 514; n. Roux 518 — 20; n. Mach 562. Urzeugung, nach Diderot 3; n. Lamarck 9, 297 — 304; Arten durch U. entstanden 355; n. Xägeli 376; analog der Erb- lichkeit erworb. Eigenschaften 406. Utilitarismus vgl. Xutzlichkeitslehre. Vakuolen 3S1. Variationen, Quellen der 131; in der Paläontologie 36S; u. Fluktuationen n. Xägeli 378; Arten der V. 4S1 — 87; sprunghafte 483; abnehmende 489; durch Kreuzung gefördert 500; Studium der V. 554. Variationsstatistik 487 — S9. Varietät, n. Darwin 129; in d. Sprach- wissenschaft 216. Verbrecher, geborener 229. Verdienste der Forscher 568. Vererbung vgl. Erblichkeit. Verjüngung 30. Vermehrung 496 — 502. V e r v o 1 1 k o 111 m n u 11 g s p r i n z i p , u. Xägeli 376; n. Weismann 411. V e s t i g e s 116. Vitalismus im iS. Jahrh. 6; bei den Morphologen 45— 47; n. Schieiden 68; n. Joh. Müller u. Liebig 75 — 78; n. Nägeli 604 Sachregister. 376; n. Lamarck 441; n. Cope 444; n. Hartmann 457; dynamischer V. 527; n. Driesch 522—31, 532. Vorläufer Darwins 113, 568. Vorstellung u. Wirklichkeit 576. Wachstum der Pflanzen, Analyse des W. 391 ; W. als Ursache d. Formen 515. Wahrheit, Macht der 20; n. Schieiden 68; n. Helmont 150; nur originellen Geistern eigen 185; als Überzeugung 159; logische 156; u.Idee 531, 570—75. Weib, degeneriert 477. Weltgeschichte 537. Wille, n. Lamarck 442; n. Schopenhauer 456. Wirbeltheorie des Schädels 22,1 10 — 1 1. Wirbeltiere, Entstehung der 330. Wirklichkeit und Wahrheit 571. Wissenschaft u. Theologie 242; Ziel der W. 378; Ansehen der W. 104 — 06; moderne W. 1 ; induktive n. Schieiden 66; objektive 159, 178, 180; Wesen d. W. 144 — 52, 566; Universitätswissensch. 159; Verhältnis d. objekt. W. zu Darwin 161; demokratische u. aristokratische W. 161; Haeckel geg. die exakte W. 175; Berliner W. 180; objektive u. subjektive W. 182; praktischer Wert d. W. 183 bis 185; u. Ethik 541 ; Verfall d. objekt. W. 543; als Erforschung d. Wahrheit 570. Wunder 93. Zeichnungen d. Tiere, n. Eimer 447 bis 449. Zelle, Eigenschaften der 381; als Indi- viduum 469; Zellenkolonie 470. Zellentheorie, vor Darwin 63 — 75; Protoplasmatheorie 290; Z. nach Darwin 378 — 92; Einwände gegen die Z. 390 bis 392; unmodern 563. Zellkern, entdeckt 69; Bedeutung des Z. 73, 381—82. Zellmechanik 516. Zellmembran 381. Zellularpathologie 74. Zellularphysiologie 392. Zenogene tisch 287. Zentrosoma 381. Zielstrebigkeit 302. Zoeatheorie 286. Zoophyta 292. Zuchtwahl, freundschaftliche (Ami- kalselektion) 238. Zuchtwahl, geschlechtliche, n.Wal- lace 143; 248 — 49; unter d. Menschen Zuchtwahl, künstliche 132, 374. Zuchtwahl, natürliche, n. Darwin 133 bis 134; Kritik d. n. Z. 136; n. Wallace 142; n. Owen 154, 196; n. Virchow 164; in der Pädagogik 220; n. Z. unter den Menschen 323 — 25; Wesen d. n. Z. 370 bis 74; v. sekundärer Wirkung 376; Schicksale d. Theorie d. n. Z. 406 — 19; Allmacht der n. Z. 417, 547; n. Cope 444; n. Eimer 448; n. Hartmann 45 S. Zuchtwahl, physiologische 407. Zufall 515; -slehre gescheitert 545; n, Bütschli 560. Zweck mäßigkeitslehre n. Darwin 155 ; n. Roux 409; dynamische 525; Wesen der Z. 554—60. Zwischenkieferknochen 312. Zwitter 475. Zytode 29t. Berichtigungen. S. 155, Z. 16 lies statt »Hookec — Hooker; S. 182, Z. 3, statt >im nächsten Jahre ging sie ein< — im nächsten Jahre trat Krause von der Redaktion derselben zurück 'r 1S86 ging sie ein; S. 238, letzte Zeile, statt »philosophisch« — philologisch. Druck von Breitkopf & Härtel in Leipzig. :: VERLAG VON WILHELM ENGELMANN IN LEIPZIG Untersuchungen über den Phototropismus der Tiere von Dr. Em. Radi gr. 8. 1903. Jl 4.— Vorträge und Aufsätze über Entwickelungsmeehanik der Organismen herausgegeben von -"D^O Wilhelm Roux Heft l: Die Entwickelungsmeehanik, ein neuer Zweig der bio- logischen Wissenschaft. Eine Ergänzung zu den Lehr- büchern der Entwickelungsgeschichte und Physiologie der Tiere. Nach einem Vortrag, gehalten in der ersten allge- meinen Sitzung der Versammlung deutscher Naturforscher Jnd Arzte zu Breslau am 19. September 1904 von "Wilhelm Koux. Mit 2 Tafeln und 1 Textfigur, gr. 8. ,//5.— Heft 2: Über den chemischen Charakter des Befruchtungs- YOrganges und seine Bedeutung für die Theorie der Lebens- erscheinungen von Jacques Loeb. gr. 8. ,// — .80 Heft 3: Anwendung elementarer Mathematik auf biologische Probleme. Nach Vorlesungen, gehalten an der "Wiener Universität im Sommersemester 1907 von Hans Przibram. Mit 6 Figuren im Text. gr. 8. ,// 2.40 Heft 4: Über umkehrbare Entwickelungsprozesse und ihre Bedeutung für eine Theorie der Vererbung von Eugen Schultz, gr. 8. .41 1.40 Heft 5: Über die zeitlichen Eigenschaften der Entwicklungs- VOrgänge von "Wolfgang Ostwald. Mit 43 Figuren im Text und auf 11 Tafeln, gr. 8. Jl 2.80 Heft 6: Über chemische Beeinflussung der Organismen durch einander. Vortrag, gehalten am 9. Dezember 1908 in der Naturforschenden Gesellschaft zu Halle a. S. von Ernst Küster, gr. 8. 1. — Heft 7: Der Restitutionsreiz. Rede zur Eröffnung der Sektion für experimentelle Zoologie des 7. internal ionalen Zoologen- kongresses zu Boston von Hans Driesch. gr. 8. Jl 1. — I VERLAG VON WILHELM ENGELMANN IN LEIPZIG ; Selectionsprinzip und Probleme der Artbildung Ein Handbuch des Darwinismus von Dr. Ludwig Plate Professor der Zoologie an der Landw. Hochschule und an der Universität Berlin ===== Dritte, sehr vermehrte Auflage ===== Mit 60 Figuren im Text. gr. 8. Geh. Ji 12.—, in Leinen geb. Ji 13.— Die neue Auflage dieses , Handbuches des Darwinismus' besitzt fast den doppelten Um- fang der zweiten und dürfte in dieser erheblich bereicherten Ablassung recht viele Freunde finden. Und /.war nicht nur welche in den Kreisen der Fachgelehrten (Zoologen und B sondern auch ebenso zahlreiche unter den Gebildeten aller Stände, welche ein nicht blos ober- flächliches Interesse an den biologischen Fragen und Problemen nehmen. Man kann d;< ä wegen seiner objektiven Darstellung unbedingt wertvolle Buch als dnen Wegweiser durch das Labyrinth der darwinistischen Theorien und deren Diskussion in der Literatur ansehen, zumol letztere bereits kaum noch übersehbar ist Ohne sich nun mit allen Argumentationen des Verfassers solidarisch erklären zu können, stehen wir doch nicht an, die neue Auflage seines Buches als einen der besten Kommentare zu bezeichnen, die in neuerer Zeit zur Lehre des großen englischen Forschers ge- schrieben worden sind. Erklärte Darwinisten sowohl wie auch strikte Gegner der Selektionstheorie werden Plate's Schrift mit gleich großem Nutzen lesen.« (Prof. Dr. 0. Zacharias, Plön.) Antliropogenie oder Entwickelungsgescliichte des Menschen Keimes- und Stanimesgeschichte Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge von Ernst Haeckel Fünfte, umgearbeitete und v errnehrte Auflage ===== Mit 30 Tafeln, 512 Textfiguren und 60 genetischen Tabellen Zwei Bände, gr. 8. Geh. Ji 25. — ; in Leinen geb. Jt 28.— Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens von Richard £emon = Zweite, verbesserte Auflage = gr. 8. Geh. Ji 9. — , in Leinen geb. JI 10—. Als erste Fortsetzung der Muenie erschien soeben : Die mnemisclien Empfindungen von Richard Semon gr. 8. Geh. Jt 9. — ; in Leinen geb. JI 10. — . Druck von Breitkopf & Härtel in Leipzig.