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GESCHICHTE

DER

ÖFFENTLICHEN SITTLICHKEIT

IN

RUSSLAND

KULTUR, ABERGLAUBE, SITTEN UND GEBRÄUCHE

EIGENE ERMITTELUNGEN UND GESAMMEUTE BERICHTE

VON

BERNHARD STERN

(VERFASSER VON „MEDIZIN, ABERGLAUBE UND GESCHLECHTSLEBEN IN DER TÜRKEI"»

ZWEI BANDE MIT 50 TEILS FARBIGEN ILLUSTRATIONEN

I.

KULTUR, ABERGLAUBE, KIRCHE, KLERUS, SEKTEN, LASTER, VERGNÜGUNGEN, LEIDEN

BERLIN W. 30 X'ERLAG VON HERMANN BARSDORF 1907

Digitized by the Internet Archive

in 2010 with funding from

University of Toronto

http://www.arcliive.org/details/geschichtederf01ster

K. Roland Holst, holländische Karikatur auf den modernen russischen Absolutismus.

GESCHICHTE

DER

ÖFFENTLICHEN SITTLICHKEIT

IN

RUSSLAND

m

KULTUR, ABERGLAUBE, KIRCHE, KLERUS, SEKTEN, LASTER, VERGNÜGUNGEN, LEIDEN

EIGENE ERMITTELUNGEN UND GESAMMELTE BERICHTE

VON

BERNHARD STERN

(VERFASSER VON „MEDIZIN, ABERGLAUBE UND GESCHLECHTSLEBEN IN DER TÜRKEI")

MIT 29 TEILS FARBIGEN ILLUSTRATIONEN

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BERLIN W. 30 VERLAG VON HERMANN BARSDORF » 1907

ALLE RECHTE VORBEHALTEN

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Inhalt.

Seite

Erstei Teil: Kultur und Aberglaube i io8

1. Die russische Kultur 3

2. Der Barbier als Erzieher 13

3. Dekorative Bildung 31

4. Aberglaube und Verbrechen 53

5. Geister, Zauberer und Hexen 76

6. Heidentum und Orthodoxie 91

Zweiter Teil: Kirche, Klerus und Sekten 109 256

7. Reügion und Popentum - . no

8. Unsitten im Mönchstum 130

9. Heüigenkult und Mystizismus 153

10. Sektenwesen 168

11. Erotische Sekten und Flagellanten .... 193

12. Selbstverstümmler und Skopzen 228

Dritter Teil: Russische Laster 257—332

13. Ehrbegriff, Duell und Verbrechen .... 259

14. Lügensucht 267

15. Diebstahl 271

16. Korruption 285

17. Trunksucht 294

18. Bettelwesen 3^4

Vierter Teil: Russische Vergnügungen 333 438

19. Jagd und Hazardspiel 335

20. Kirchenfeste und Volksfeste 35°

21. Hofnarren und Maskeraden 366

22. Tanz und Bälle .' 380

23. Musik und Theater 397

24. Rauchen und Tabakbuden 421

25. Bäder 426

Fünfter Teil: Russische Leiden . 439 S02

26. Schicksalsglaube und Selbstmord . 44 ^

27. Feuer, Hunger und Pestilenz 449

28. Medizin und Aberglaube 464

29. Räuberwesen und Revolutionen 497

ERSTER TEIL:

Kultur und Aberglaube

I. Die russische Kultur. 2. Der Barbier als Erzieher. 3. Dekorative Bildung. 4. Aberglaube und Verbrechen. 5. Geis- ter, Zauberer und Hexen. 6. Heidentum und Orthodoxie.

I. Die russische Kultur.

Selbsterkenntnis im Sprichwort Der Weg der Slawen Slawen und Ger- manen — Russische Selbstüberhebung Europäische Urteile über Moskau und die Moskouäter Strenge Abgeschlossenheit des Zarenreiches Aus- landsreisen Hochverrat Des aufgeklärten Alexej Angst vor Europas Kultur Moralisches Porträt des Kreml Kontraste der Klassen Gleichförmig- keit der Menschen Die Stufe der heutigen russischen Kultur Europäische Ansicht Russische Urteile.

,,Wir sind ein Volk, das noch im flnstern wandelt ; nicht wissen wir, was Sünde, und nicht wo die Erlösung zu fin- den ist."

So charakterisieren sich die Russen in einem der ori- ginellsten und tiefsinnigsten ihrer Sprichwörter; so zeichnen sie selbst mit dem breiten Pinsel der eigentümlichen Melan- cholie ihrer Erde ihr ganzes uns so schwer verständliches Wesen, ihr Dahindämmern und fast lautloses Gleiten durch das Leben, die rätselhafte Form ihres Staatswesens, die Un- sicherheit ihrer Regierung, die Schwerfälligkeit ihrer Ent Wickelung und die Resultatlosigkeit aller Revolutionen und Reformen.

Anders als die anderen Völker der europäischen Welt sind die Russen geworden. Kultur und Zivilisation sind ihnen wohl nicht ganz im Äuf5erlichen, aber in ihrem wahren Begriffe fremd geblieben trotz reger Berührung mit der überfeinen Bildung des Westens. Einer der ehrlichsten Erforscher des eigenartigen russischen Wesens sieht, und ich glaube mit Recht, einen Hauptgrund für die russische Zurückgeblieben- heit darin, daß die Russen im Anfange jahrhundertelang keinen Zusammenhang mit der abendländischen Zivilisation hatten und einen Weg zurücklegen mußten, der verschieden war von allen jenen Wegen, die die übrigen Völker Europas

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gingen^): Die germanischen Völker, meint er, haben vor den Slawen zur Gewinnung der Bildung große Vorteile und leich- teren Weg vorausgehabt; sie fanden in der weströmischen Welt, wo sie sich niederließen und mit den Ureinwohnern zu neuen Volksbildungen amalgamierten, überall eine hohe und alte Kultur, deren Sprache, die lateinische, nicht bloß in allen diesen Ländern verbreitet war, sondern auch als Kirchensprache mit dem Christentum in den eigentlichen ger- manischen und skandinavischen Ländern Eingang gewann. Dabei war durch den germanischen Ursprung, die germanische Sprache, die germanischen Sitten ein innerer Zusammenhang unter allen diesen Völkern begründet. Diese Völker fanden einen natürlichen, durch die Kirche begründeten Mittelpunkt in Rom. Einigkeit und Disziplin hatte die orientalische Kirche sich ebenfalls erhalten, aber es war mehr der Staat, das orien- talische Kaisertum, wodurch d.ese Einigkeit aufrecht erhalten wurde, während im Okzident nicht bloß Einigkeit, sondern auch Einheit existierte. Die Kreuzzüge verbreiteten im staat- lichen Leben ' der Völker Europas im Mittelalter das Ritter- tum und Bürgertum. Die Kultur wurde im Okzident nicht das Eigentum eines bevorzugten Volkes, sondern aller Völker. Der slawische Stamm aber, der sich im jetzigen Rußland niederließ, fand kein Kulturvolk vor, dem er sich hätte an- passen, von dem er eine alte Kultur und Bildung hätte über- nehmen können. Was er antraf, waren vielmehr nur spär- liche Reste tschudischer Völker, die in Anlagen und Kultur .noch tief unter ihm standen. Dann erhielten die Russen das Christentmn von der orientalischen Kirche zu einer Zeit, als sich diese Kirche bereits mit der okzidentalischen in eine feind- selige Spannung hineingelebt hatte. Das griechische Kaiser- tum hatte bei aller Fernhaltung vom Westen doch aus poli- tischen Rücksichten den lateinischen Okzident zu sehr nötig, um mit ihm völlig brechen zu können. Rußland aber schloß sich gänzlich vor Europa, ab und nahm selbst dem griechischen Kaisertum gegenüber, obwohl es von dort seine Religion be-

1) August Freiherr von Haxthausen, Studien über die inneren Zustände Rußlands. Erster Band, S. 40.

zogen hatte, eine mehr feindhche als freundliche Stellung ein. Die Religion knüpfte Rußland nicht allzufest an Konstanti- nopel, es war kein inniges Band, nur die Person des jeweiligen Patriarchen hielt die Verbindung aufrecht, und diese war sicherlich lockerer als die der Völker des Westens mit Rom. Denn wichtig ist es zu bemerken, daß Rußland mit der grie- chischen Religion nicht den griechischen, sondern einen sla- wonischen Kultus akzeptierte ; mit der griechischen Religion nicht die griechische Sprache übernahm und also fremd blieb der altgriechischen und byzantinischen Kultur. War auch die altslawische Sprache schön und reich, so hat sie doch nicht die Fähigkeit gezeigt, eine Literatur zu schaffen, konnte also keine Grundlage für eine Kultivierung sein, nicht Rußland instand setzen, mit der Bildung in Europa Schritt zu halten. Ihre Leistungen erschöpfen sich in einigen Heldenliedern in der Zeit vom zehnten bis zum dreizehnten Jahrhundert und in den Annalen des Kijewer Höhlenklostermönches Nestor. Dabei blieb die russische Kultur stehen, und dieses Wenige wurde von den Polowzern und Mongolen, die Rußland in den nächsten Jahrhunderten bedrängten und unterjochten, ver- weht wie Staub in der Steppe.

Und als sich Rußland wieder erhob zu selbständigem Leben, zu einem unabhängigen Staatswesen, knüpfte man nicht an die einstigen Versuche zur Kultivierung an, sondern hielt sich schon für vollkommen, weil man Kraft genug be- wiesen hatte, das Mongolenjoch abzuschütteln. Als unter dem vierten Iwan einige fremde Kaufleute in Archangelsk er- schienen, um von den Russen Getreide, Holz und Kaviar zu erhandeln, glaubte man in Moskau schon : Rußland sei der Stapelplatz und Speicher von Europa, und der ganze Westen müßte ohne russisches Holz vor Kälte umkommen, ohne russi- schen Kaviar verhungern. Das glaubten dieselben Russen, die noch kein anderes Geld kannten als Stücke von Fellen i),

1) Dieses Tauschmittel nannte man Kunen Die einzelnen Sorten be- standen aus größeren oder kleineren, feineren oder gröberen Fellen, aus Ohren von Mardern, Hälsen von Zobeln, Füßen von Füchsen und aus Iltisschweifen. Eine am Ufer der Oka gelegene Vorstadt von Nischny-Nowgorod heißt noch heute Kunawino von den vielen Kunen, die hier als Zoll entrichtet wurden.

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und nicht imstande waren zu zählen, wenn sie nicht die auf einer Schnur aufgezogenen Kugeln, also die primitivste aller Rechenmaschinen, zur Hand hatten. Noch mehr, die Russen hielten sich in ihrer Ignoranz, die dem Größenwahn häufig verwandt ist, sogar für das höchstgebildete Volk der Welt, obwohl sie nach den Geständnissen ihrer eigenen Historiker im ganzen Reiche nur drei Priester hatten, die Griechisch ver- standen; obwohl sie die Astronomie, Anatomie und die meisten anderen Wissenschaften für Künste des Teufels erklärten.

Es kann nicht wundernehmen, daß die Europäer, die damals mit Rußland in Berührung zu kommen Gelegenheit hatten, nicht tiefer in das Reich eindrangen und sich nicht bemühten, ehrlich zu erforschen, wie das Volk wirklich be- schaffen war. Nach den Erlebnissen an der Peripherie des heiligen Rußland meinte man schon das Günstigste gesagt zu haben, wenn man ein Urteil wie dieses fällte^): ,,Le Mos- covite est precisement l'homme de Piaton, animal sans plumes, auquel rien ne manque pour etre homme, si non la proprete et le bon seris."

In einem in meinem Besitze befindlichen außerordentlich selten gewordenen Büchlein 2) heißt es noch im Anfang der Regierung Peters des Großen von den Russen: ,,Das gemeine Volck in Russen ist in W^ahrheit überaus dumm und abgöt- tisch. Diejenigen, welche gegen Norden bey Archangei und Cola wohnen / erkennen keinen andern Gott als den St. Nico- las, den sie vor den Regierer der gantzen Welt halten. Sie ■behaupten, daß er von Italien bis an einen Havcn / der seinen Namen führet / und nahe bey Archangel lieget / auf einem

An der Überfuhr mußten die Kaufleute oft lange warten, bis sie ihre Waren verzollen konnten; es wurden Hütten und Häuser gebaut, und to entstand das Dorf Kunawino. Vgl. Bernhard Stern, An der Wolga. S. 5.

1) Aus dem Berichte Johann Gotthilf \ockerodts bei Herrmann, Zeit- genössische Berichte zur Geschichte Rußlands. S. 2.

2) Reise nach Norden /\vorinnen die Sitten/Lebens-Art und Aoerglauben derer Norwegen/Lappländer/Kiloppen, Borandier, Syberier, Moßcowiter/Samo- jeden, Zemblaner und Ißländer accurat beschrieben werden. (Mit Kupfern.) Zum andernmahl gedruckt und mit den annehmlichsten Nordischen Curiosi- täten vermehret. Leipzig, Bey Gottfried Leschen. 1706. 12O. 511 Seiten. Vgl. S. 214, 215 216.

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Mühlsteine geschwummen kommen / und wann ein Russe einigen Zweiffei in diese Historie stellet / so setzet er sein Leben gantz gewiß in Gefahr . . . Die meisten Russen seyn ungeschickte / tölpische und unerbare Leute ausgenommen etliche / die durch die Handlung / so sie mit denen Frem- den gehabt haben / civil worden sind / und den Polni- schen Hoff durchwandert haben. Die Polen sind nicht so barbarisch als sie : Es giebt derer / die ihnen den Verstand durch das Studieren / und die Wissenschafften / die aus Russen gantz verbannet seynd / zuwege bringen ' und sie haben die Freyheit zu reisen / die denen Russen benommen ist."

Eines der wertvollsten Zeugnisse aus der Zeit am Ende des sechzehnten Jahrhunderts hat der Engländer Fletcherij ge- Hefert: „Die Zaren/' sagte er, ,,die im Handel ein Mittel zur Bereicherung ihres Schatzes sehen und sich wenig um den Wohlstand ihrer Kaufmannschaft bekümmern, begünstigen auch die Volksbildung nicht. Sie lieben nichts Xeues, ver- anlassen keine Ausländer nach Rußland zu kommen, ausge- nommen Solche, die sie zu ihren Diensten brauchen, und er- lauben ihren Unterthanen nicht außer Landes zu gehen aus Furcht vor der Aufklärung, deren die Russen bedeutend fähig sind, da sie viel natürlichen Verstand haben, den man sogar bei den Kindern bemerkt. Nur Gesandte und Landläufer sieht man von den Russen dann und wann in Europa." Der be- rühmte russische Historiker Karamsin, der eingestehen mußte, daß Fletcher viel Wahres über den damaligen Zustand Ruß- lands gesagt, konnte die von mir ausgewählten Bemerkungen des Engländers nicht verwinden und kommentierte -j sie

1) Of the Russe Comraon-Wealth, or inanner of governement by the Russe Emperour; commonly called the Emperour of Moscovia, with the man- ners and fashions of the people of that countrey. At London priuted by T. D. for Thomas Charde, 1591. Die Gesellschaft der Londoner Kaufleute, die mit Rußland Handel trieben und den Zorn des Zaren fürchteten, bat den Minister Cecil, Fletchers Buch zu verbieten.

2) Karamsin, Geschichte des Russischen Reiches. Nach der zweiten Originalausgabe übersetzt. Neunter Band, Leipzig 1827. S. 293. (In der französischen Übersetzung Bd. X. 340.)

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folgendermaßen : ,,Wir reisten noch nicht, da es uns noch an der einem gebildeten Geiste eigentümlichen Wißbegierde mangelte ; den Kauf leuten war es nicht verboten, außer Landes Handel zu treiben, und der eigenmächtige Johann schickte junge Leute nach Europa auf Universitäten. Ausländer nahmen wir in der That nur mit Auswahl und wohl überdacht bei uns auf. Gelehrte wiesen wir nicht ab, sondern luden sie vielmehr zu uns ein." Karamsins Polemik ist eine unglückliche, und das Beispiel, das er für die Einladungen gibt, spricht klarer noch als Fletcher. Wen berief der Zar? Den berühmten Mathematiker Dee; aber nicht seiner mathematischen Gelehr- samkeit wegen, sondern weil sein Ruf als Sterndeuter und Alchemist in Moskau phantastische Hoffnungen erweckte. Dee war übrigens klug genug, die Berufung abzulehnen.

Das Reisen ins Ausland war den Russen faktisch ntreng untersagt. Man w'eiß, daß im Jahre 1073 ^^^ Großfürst Isäs- law von Kijew in Mainz den Kaiser Heinrich den Vierten besuchte; aber das Rußland des sechzehnten Jahrhunderts war fanatischer und abgeschlossener als das des elften, und seit Iwan dem Schrecklichen galt schon der bloße Wunsch ins Ausland zu reisen als Hochverrat. Unter dem ersten Ro- manowschen Zaren Michael Feodorowitsch war der Fürst Chworostinin Gegenstand einer strengen Verfolgung, weil er seinen Freunden gesagt hatte : , Jch möchte einmal eine Reise nach Polen und Rom machen, um jemanden zu finden, mit dem man sprechen könnte." Kurz darauf wagte es der Sohn des meistgehörten Ratgebers des Zaren Alexej, Ordin-Natscho- kin, heimlich die Grenze zu überschreiten, und es war davon die Rede, den Hochverräter im Auslande töten zu lassen. 1) Und Zar Alexej Michajlo witsch galt bereits als aulgeklärt. Er liefi seine Kinder in der Mathematik und Astronomie unter- richten, so daß die Geistlichen weinten und jammerten ob der Sünden des Herrschers 2), der ,, Philosophen bei sich hielt, die

1) K. Waliszewski, Pierre le Grand. L'education, rhomme, l'oeuvTe. P'aprds des documents nouveaux. 5eme edition. Paris 1897. S. 81 (Nach Ssolowjew, Bd. IX 461 und X 93).

2) Bernhard Stern, Zwischen der Ostsee und dem Stillen Ozean. Zu- stände und Strömungen im alten und modernen Rußland. Breslau 1S97. S. 10.

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die Erscheinungen des Himmels und der Erde zu erklären sich erkühnen und die Länge der Sternschweife mit einer Elle messen." Selbst dieser Zar hielt ein Überschreiten der Grenze für todeswürdig. Damit fürchtete er eine Einschränkung seiner Selbstherrlichkeit beginnen zu sehen. Wer über die westliche Grenze ging, stellte sich außerhalb der zarischen Macht, außerhalb des Schreckens, dieses einzigen Prinzips der moskowitischen Regierung; der war ein flüchtiger Sklave, ein Widerspenstiger ; noch mehr : aus der heiligen Rußj ins heid- nische Ausland gehen war eine wahre Sünde ; hieß : sich aus- setzen einer Infektion durch die feindlichen Religionen, von denen die russische Erde verderbendrohend umlauert war; brachte die Gefahr einer unseligen Vermischung mit jenen Ungläubigen, deren bloße Berührung einem Moskowiter damals schon als eine Beschmutzung erschien, i) Ich sage damit nicht übertreibende Meinungen von Rußlandfeinden oder zeitge- nössischen Nichtswissern nach, sondern stelle eine historisch beglaubigte Tatsache aktenmäßig fest.

Der götzengleiche Souverän auf dem moskowitischen Throne betrachtete den Kreml als Mittelpunkt der Erde, sich selbst als den geheiligten Gebieter der Völker Asiens nicht bloß, sondern auch Europas. Als Zar Feodor eine Gesandt- schaft nach Paris schickte, weigerte sich dort der Gesandte Patjomkin, vor dem König die Mütze abzunehmen; verlangte jedoch, daß der französische Souverän sich bei jeder Nen- nung des Zaren vom Throne erhebe und das Haupt ent- blöße, i) Um den Kreml drehte sich das ganze russische Leben. 2 j Und was war des Wunderbaren in diesem dreifach ummauerten Palästegewirr zu finden? Da standen heilige und profane Gebäude regellos durcheinander, Klöster und Kathe-

1) Histoire de Russie et de Pierre-le-Grand. Par M. le gencral Comte de Segur. Paris 1829. S. 219.

'^) Bernhard Stern, Von der Ostsee zum Stillen Ozean. Russisch-fran- zösiche Bündnisse und Händel. S. 74, 77 7S.

3) Man vergleiche für die Kenntnis des häuslichen Lehens der Zaren und der Zarinnen die beiden schönen Werke von Sabelin; llnain. 'SaMunm.. "Maiiim.ift öi.iTf, pycci.-H.vi, uaport b-i. XVI h XVII ct. 8e it^^anir Mnci.-na 1895; und JloMaiiiiii.ii'i rn.in. pycci.itxi, napHur.. 3^ ii;i;u Mncicua 1891.

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dralen erstickten unter der Nachbarschaft der schwerfälhgen Amtsbauten und der unbehaghchen Wohnhäuser der Hofleute. Eine schwere Luft wie in Gefängnissen drückte die Stim- mung danieder; fast immer herrschte tiefe Stille, die nur unterbrochen wurde durch das eintönige Gebimmel der russi- schen Kirchenglocken, die näselnden Gesänge der Priester und Mönche, seltener durch ein schwermütiges Lied aus den fest- verschlossenen Terems, den Harems der moskowitischen Großen, am häufigsten durch das Stöhnen der gefolterten Gefangenen. Wer eins der Tore des Kremls durchschritten hat, ist nicht mehr derselbe Mensch, der er früher gewesen. Er verlernt im Augenblick das Reden, und seine Sprache wandelt sich in ein demütiges Flüstern, sein Gang wird un- sicher und schleppend und die Hand tastet bei hellichtem Tage, als gebe es tausend Gefahren abzuwenden; ängst- lich beobachtet man sich und forschend wird man beobachtet von unzähligen Augen, obwohl man weit und breit oft keinen Menschen sieht. In dem Innern der Paläste und Häuser gab es einen unbeschreiblichen Luxus, eine Überfülle in Teppichen und Juwelen. Aber die Pracht erlosch unter dem Staub und Schmutz, die mit ihr kontrastierten. Diese furchtbaren Kontraste waren nur ein Reflex der Gegensätze auf allen Gebieten des administrativen und politischen, wirtschaft- lichen und sozialen Lebens. Es existierte zwar ein Staats- grundsatz, der hießi): „Der Zar hat's befohlen, die Bo- jaren haben's geraten!" Aber dieses Gesetz war nur eine •Formel, denn der Zar ließ sich niemals raten. Wie das Khma physisch nur überaus starke oder überaus schwache Naturen in Rußland duldet, so kannte auch die Regierung nur einen Herrn und Sklaven, aber keine Ratgeber. Custine^) hat von Rußland gesagt : „C'est la patrie des passions effrenees ou des caracteres debiles, des r6voltes ou des automates, des conspirateurs ou des machines. Ici point d'intermediaire entre le tyran et l'esclave, entre le fou et l'animal ; le juste milieu y est inconnu."

1) J. H. Schnitzler, Geheime Geschichte Rußlands unter den Kaisern Alexander und Nikolaus. Grimma 1847. (Zwei Bände) I 10 11. ~) La Kussie en 1839. II ed. Paris 1843 (4 Bände) II lu^

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In dem Einen aber gleichen sich Hoch und Niedrig, Arm und Reich, Tyrann und Sklave: sie alle bauen auf den Zufall, nicht auf ihre Willenskraft. Sie werden zwar geboren wie andere Menschen, das allein haben sie gemein mit den Kultur- völkern; aber sie leben und sterben, ohne den Zweck ihrer P2xistenz verstanden, ja man kann sagen : ohne ihre Existenz selbst bemerkt zu haben. ,, Weder Gutes noch Böses ist bei ihnen wirklich." Sie können lachen, aber nicht glücklich, und können weinen, aber nicht unglücklich sein. Schon Leroy- Beaulieu i) hat die merkwürdige Gleichförmigkeit hervorge- hoben, die alles Russische auszeichnet. Die Städte haben über- all dieselbe Physiognomie, die Bauern dasselbe Aussehen, die- selben Sitten, dieselbe Lebensweise. In keinem anderen Lande gleichen sich die Menschen mehr, in keinem gibt es so wenig von der prinzipiellen Eigenart, so wenig von den Gegensätzen im Typus und Charakter. Die Nation hat sich in Ruß- land nach dem Vorbilde der Natur gebildet, sie zeigt dieselbe Einheitlichkeit, ja fast dieselbe Monotonie, wie die Ebenen, die sie bewohnt.

Deshalb ist auch die russische Religion seit tausend Jahren ein unfruchtbarer Formalismus, in dem jeder Aberglaube Platz hat, und die russische Geistlichkeit ungebildet heute wie früher. Peter hat das Reich reformiert, aber diese Eleganz ist ohne Geschmack, eine Nachahmung ohne Gefühl, und statt eines zivilisierten Volkes gebar das neue Rußland ein Volk von Parvenüs in allen Klassen. Äuf5erlicher Glanz, dekorative Bil- dung, durch Zufall erworben, durch das Gesetz der Trägheit erhalten. So dauert dort eigentlich das Mittelalter noch fort, trotz Reformen und Revolutionen, trotz Buchdruckerkunst und Elektrizität. Wie die Wasser des Don und des Dnjepr, der Wolga und des Ural träge fließen im breiten Bette, so wälzt sich auch die große russische Masse nur langsam, im Laufe von Jahrhunderten kaum merkbar weiter. ,,Das russische Volk," ruft einer seiner besten Freunde 2) in Europa aus, ,,ist im fünfzehnten Jahrhundert stehen geblieben, um nicht zu sagen

1) Das Reich der Zaren und die Russen. Dtsch. v. Pezold. 2. Aufl. Sondershausen 1887. (3. Bände.) I 81.

^) Lerov-Beauheu, a. a. O. III 9 u».

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im dreizehnten." Das ist die Ansicht eines prätentiösen Fran- zosen ! Jene Russen selbst, die ein klares Urteil haben, denken bescheidener. Ein panslawistischer Patriot, Salkowski, er- klärte : ,,In bezug auf Bildung, Erziehung, kurz alles das, was den Begriff der Zivilisation begründet, steht das russische Volk noch auf der Stufe des zwölften Jahrhunderts !" Die Stufe des zwölften Jahrhunderts was bedeutet dies? Raub ist kein Vergehen, Meineid eine feste Institution, Kindermord eine moralische Notwendigkeit, sexuelle unnatürliche Verbrechen sind verzeihliche Schwächen; Aberglaube ist Religion, Gewalt- tätigkeit heißt Regierung, Grausamkeit gegen Andersgläubige : Gottgefälligkeit und Staatsklugheit. Dann hat der Engländer Lanini) recht, wenn er in seinem harten Buche über Rußland sagt: ,,Es gibt in den russischen zehn Geboten keine Sünde, die nicht gesühnt werden könnie. Es gibt keine soziale Hölle. Wie tief auch ein 'Mann oder enie Frau gefallen sei, sie werden nicht für unerlösbar verloren gehalten."

In der russischen Literatur der Gegenwart spiegelt sich das russische Elend. Der Philosoph und Patriot Wladimir Ssolowjew klagt : „Selbst die Poesie zeigt im zeitgenössischen Rußland eine unerhörte Tendenz zur Verherrlichung roher Gewalt und wollüstiger Grausamkeit." Und Graf Alexe j Tolstoi fügt diesem Schmerzensrufe die Erklärung hinzu : ,, Rußland wird vollkommen ruiniert durch Trunksucht und Scham- losigkeit."

Rußland steht auf der Stufe des zwölften Jahrhunderts vergebens hat seit zwei Jahrhunderten der Barbier als Er- zieher gewirkt, umsonst ward ein Patjomkinscher Bildungs- bau auf dem russischen Steppenboden errichtet.

1) Russische Zustände. Aus dem Englischen von DieUtz. Leipzig 1892 und 1893 (2 Bände), I 41, I 98.

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2. Der Barbier als Erzieher.

Auftreten Peters des Großen Moral und Ehrgefühl der Großen Mora- lisches Porträt Peters Kleiderreform Parallele Anmerkung über Peter III. und Paul Der Kampf gegen den Langbart Bartgesetz des Monomach

Der Bart Gottes, des Vaters wie des Sohnes Der Bart der Russen Anmerkung über den Bart der Karaiten Der Bart als Wärmespender Anmerkung über Haare Frühere Bartfeinde in Moskau Peters Ukas Barbarische Zivilisationsmethode Der Barbier als Erzieher Barttaxe Bartrevolution in Astrachan Peitschenstrafe für Bartfreunde Reaktion und Langbärte Rehgiöse Bedeutung des Bartes Parallele Anmerkung über andere Länder und Völker Die Geistlichkeit und ihre Schmähschriften

Bartschneiden Ketzerei Der Bart des Patriarchen Rückkehr zum Langbart Die Barte der Geistlichen Lomonossows Gedicht über den bepißten Popenbart Peter III. Pugatschews Bartrevolution Alexan- ders I. Kampf gegen den Bart Die Barte Alexanders IL und III.

Die Reformen Peters des Großen erweckten in Europa große Hoffnungen. In einem zeitgenössischen großen Reise- werke, wo die Manieren des damaligen Russenvolkes als noch ganz barbarische geschildert werden, heißt es in einer An- merkung i), daß sich bald alles ändern werde: „Surtout les gens de condition commencent ä prendre un air de politesse qu'ils n'avoient pas sous les Predecesseurs de ce Monarque. II y a bien d'esperer que les Ecoles publiques, et les Aca- demies, qu'il commence ä etablir, acheveront bien-tot de bannir la barbarie et l'ignorance, et changeront entierement la face de ce vaste Empire." Die höchste Gesellschaft war noch zu Zeiten Peters nicht besser als das verkommenste Raubge- sindel. Als Beispiele hierfür werden folgende angeführt: Ein Fürst Feodor Chotewowskij erhält wegen gemeinen Betruges auf öffentlichem Platze in Moskau die Knute; der Edelmann Subow wird wegen Diebstahls bestraft; der Wojwode Iwan Bartenjew entführt Frauen und Mädchen und legt sich einen Harem an; der Fürst Iwan Schedjakow wird wegen Brigan- dage und gemeinen Mordes verurteilt; zwei Richter, die sich

1) Voyages de Corneille Le Bruyn par la Moscovie, en Perse, et aux Indes Orientales. A la Haye 1732 (5 vol.) Bd. III, S. 112 114.

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durch Schnaps und zwanzig Rubel bestechen Heßen, werden öffenthch gepeitscht.

Bei Hoch und Niedrig fehlt jedes moralische Ideal, der Respekt für Ehre und Pflicht. Die freien Männer, sagt Korb in seinem lateinischen Werke über das damalige Rußland, achten ihre Freiheit für nichts und sind jederzeit bereit, sich selbst als Sklaven zu verhandeln. Das Denunziantentum be- herrscht alle Klassen, es ist das einzig blühende Geschäft. Die Heerführer kennen auch nichts Höheres als ihre Bequem- lichkeit. Als Fürst Scheremetjew im Jahre 1705 nach Astra- chan geschickt wird, um dort eine gefährliche ßartrevolte zu unterdrücken, bleibt er plötzlich in Kasan stehen und hat keinen anderen Gedanken als den : nach Moskau zurückzu- kehren, um dort die Osterf eiertage angenehm zuzubringen.^) Ehre, Pflicht, Ambition, Mut lauter neue Dinge, die Peter erst unter seinen Soldaten nich: bloß, sondern auch unter seinen Offizieren einbürgern muß ; denn bisher galt allem zuvor die Lehre des nationalen Sprüchwortes: ,, Fliehen ist gesund." Und wie reformiert Peter? Im Jahre 1703 läßt er unter den Mauern von Noteburg eine ganze Kompagnie \on Flüchtlingen und f^iglingen aufhängen.

Mit Schrecken und in summarischer Weise bekämpft der Zar-Reformator den Fanatismus und die Verstocktheit seiner Russen. Peter ist nicht, wie man versöhnend behauptet hat, ein Mann voller Widersprüche, zusammengesetzt aus Extre- men von Gut und Böse; nein, er ist in allen seinen Handlungen ausnahmslos der nackte Barbar. Er schwärmt angeblich für Leibnitz ; aber als ihm der große Philosoph vorschlägt, in Rußland magnetische Observatorien einzurichten, verliert er die gute Meinung, die er von dem Manne bisher hatte. 2) Der Zar, der sein Volk bilden und kultivieren will, ist nicht fähig, seine eigenen Roheiten zu meistern. Am Hofe Peters befand sich ein Baron von .Bülau, der mit dem Zaren einen Kontrakt gemacht hai>.e, daß er auf eine Distanz von tausend

1) Waliszewski, Pierre le Grand. S. 454 45;.

2) Baer, Peters Verdienste um die Erweiterung der geographischen Kenntnisse. St. Petersburg 1868. S. !;6.

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Schritten ein Schiff anzünden und eine Kugel mit einer Kanone über eine Werst hinausschießen wolle. Der Zar versprach ihm für das Gelingen großmütig achtzigtausend Dukaten ; aber als sich Bülau erlaubte, Peter in dieser Sache anzusprechen i). ,,da spie ihm der Zar statt aller Antwort einfach ins Gesicht und ging von ihm fort". In Holland stieg der Zar in einem Hotel ab. Er fand da einen seiner Bedienten auf einem Bären- fell in einem Winkel liegend. Er jagte ihn mit Fufitritten auf und sagte einfach: ,,Geh, ich will deinen Platz!" Bei einem Feste, das dem Zaren in Berlin gegeben wird, macht man ihn aufmerksam, daß er Handschuhe anziehen müsse ; aber in seinem Gepäck sind keine Handschuhe zu finden. Beim Tanzen greifen der Zar und seine Begleiter den Tänzer- innen an die Mieder ; sie nehmen die Mieder für natürliche Attribute und klagen laut über die steinerne Härte der Brüste deutscher Frauen. Peter will sich für die ihm zuteil gewordene Gastfreundschaft revanchieren und die Hofgesellschaft auch seinerseits unterhalten. Er läfit einen seiner Hofnarren rufen; da aber dessen Produktionen auf die Europäer abstoßend wirken, so gibt der Zar dem Zwerge mit einem Fußtritt den Laufpaß. Des Zaren unverhüllteste Roheit tritt bei Tische zutage. Admiral Golowin, einer der Günstlinge des Zaren, lehnt als Gast am Zarentische einen Salat ab, weil der Essig ihm schädlich; da ergreift Peter selbst zornig die Schüssel und stopft dem Admiral den ganzen Salat gewaltsam in den Hals, bis der Unglückliche Erstickungsanfälle erleidet. 2) Berg- holz erzählt aus dem Jahre 1721^): „Über der Mahlzeit diver- tierte sich der Zar mit der Zarin Küchenmeister, der das Essen anordnete, und die Tische besorgte, nemlich, da er vor dem Zaren eine Schüssel mit Essen niedersetzen wollte, so kriegte er ihn bey dem Kopf, und machte ihm Hörner über dem Kopf, weil er vormals eine Frau gehabt, die sehr liederlich gewesen, welches er sich aber nicht sonderlich anfechten lassen, daher er dann noch bis auf diese Stunde über seinem

1 ) Tagebuch von Friedrich Wilhehn von Bergholz. In Büschings Magazin für die neue Historie und Geographie. Hamburg, 1767. XIX S. 55.

2) WaHszewski, Pierre le Grand. , S. 92, 9«, 13?, 45 ••

3) a. a. O. S. 87.

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Thorwegc ein Hirschgeweihe sitzen hat, welches ihn der Zar hat dahin nageln lassen. So oft ihn der Zar zu sehen bekommt, so macht er ihm mit zwey Fingern Hörner zu, und wenn er ihn zu fassen kriegt, kann er ihn wohl eine Viertelstunde halten, und ihn immer darmit scheeren ; er aber schlägt bisweilen dem Zaren dermaßen auf die Handi), daß er es wohl fühlet, denn eher be- kommt er keinen Frieden. Da aber diesesmal der Iwan Michailo- witsch^) ihn mit zu fassen kriegte, und die Dentschiken^) ihn von hinten hielten, so hatte er eine Zeitlang seine Noth, indessen fassete er den Zaren so stark bey den Fingern, daß ich alle Augenblick meynete, er würde sie ihm abbrechen." Alle diese Züge aus Peters Leben waren seinen Zeitgenossen wohlbekannt^), und es zeigt, wessen man sich von ihm ver- sah, wenn der Minister Polens in Eerhn, Manteuffel, den Zaren also drastisch lobt: „Er hat sich selbst übertroffen. Er hat bei Tische nicht aufgestoßen'^;, nicht gefurzt, sich nicht die Zähne gestochert, wenigstens habe ich nichts gesehen und nichts gehört ;" und um der Königin die Hand reichen zu

1) Der Herausgeber des Bergholzschen Tagebuches, Büsching, bemerkt hierzu: „In Dänemark wurde des Grafens Brand Vertheidigung gegen König Christian VII. in einem ähnüchen Falle, als ein Verbrechen, durch welches er die Hinrichtung verdienet habe, angegeben."

2) Iwan Michailowitsch ist der russische Bacchus. ^) Zarische Hofbediente, besonders Kammerdiener.

*) Die Erzählungen in den Memoiren der Markgräfin von Bayreuth setze ich als so verbreitet voraus, daß ich sie nicht weiter erwähne, wie ich es ja als meine Aufgabe betrachte, bei Erinnerungen an die Vergangenheit alles Bekannte zu vermeiden und nur das Wichtigste und wenig oder gar nicht Bekannte hervorzukehren.

5) ,,Wenn vor diesem ein Russe schluckte oder aufstieß, nahm er seine Mütze elirfurchtsvoU ab, und kreutzete sich dreimal, denn er glaubte, das Schlucken wäre ein sehnsuchtsvoller Wunsch der Seele mit Gott zu reden. Hieraus ist leicht abzunehmen, wie oft durch Unmäßigkeit dergleichen Unter- haltungen mit der Gottheit veranlasset werden mußten. Das gemeine Volk, welches allezeit hartnäckig den einmal gefaßten Vorurteilen nachhänget, hat noch diesen frommen Glauben, wie auch die alte Gewohnheit, die Mütze ab- zunehmen und sich dreimal zu kreutzen." Sammlung merkwürdiger Anek- doten, das Russische Reich, die Gewohnheiten und Gebräuche wie auch die Naturgeschichte betreffend, von einem Reisenden, welcher sich 13 Jahre in diesem Reiche aufgehalten. Aus dem Französischen. Erster Theil. Greifs- wald 1793. (Ein sehr seltenes Buch.) Vgl. S. 33 34.

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können, ,,hat er sich sogar Handschuhe angezogen", allerdings : ,,il s'est gante, d'un gant assez sale." Wie es sonst am Tische Peters zuging, erzählte der Staatsrat und Domherr zu Lüttich, de Launagel), ^gj- yon^ Zaren in Spaa zu einem Diner ein- geladen wurde: „Der Zar saß oben an, in der Nachtmütze und ohne Halsbinde. Zwei Soldaten trugen jeder eine große Schüssel auf. Nun kam ein Kerl, der sechs Bouteillen Wein auf die Tafel nicht stellte, sondern gleich einer Handvoll Würfel hinkollerte. Der Zar nahm eine davon und schenkte jedem Gast ein Glas davon ein. Auf dem Tische sah es schön aus ! P^ast aus allen Näpfen war Brühe auf das Tischtuch verschüttet ; so auch der Wein, weil die Bouteillen nicht ordentlich zu- gepfropft wurden. Als man von der Tafel aufstand, war das Tischtuch über und über mit Fett und Wein getränkt. Nun kam das zweite Essen. Dies zweite Gericht bestand aus zwei Kälberkeulen und vier jungen Hühnern. Se. Majestät nahm das größte davon mit der bloßen Hand aus der Schüssel, rieb es sich prüfend unter die Nase, und nachdem er mir durch einen Wink zu verstehen gegeben, daß er es köstlich finde, war er so gnädig, es mir auf meinen Teller zu werfen. Nach dem Dessert ging der Zar an ein Fenster. Hier fand er ein Paar Lichtscheren, mit denen er, so voll Talg und angerostet sie auch waren, sich die Nägel putzte."

Dieser Zar reformierte nun Rußland nach seiner Art. Er, der keine Handschuhe hatte, als er an einem europäischen Hofe erschien, und mit der Nachtmütze zu Tische ging, er sah die Herrlichkeit der Zivilisation in dem europäischen Kostüm und dem rasierten Kinn. Die französische Tracht, die er für Rußland wählte, sollte nicht bloß von den Vor- nehmen, sondern von aller Welt angenommen werden. Sein Kleider-Ukas ist vom 29. August 1699 datiert 2); in den Straßen von Moskau wurden damals die neuesten franzö-

1) Gottschalck und Hoffmann, Anhaltisches Magazin 1827. Vgl. S. Sugen- heim, Rußlands Einfluß auf und Beziehungen zu Deutschland vom Beginne der Alleinregierung Peters I. bis zum Tode Nikolaus I. (1689 1855) nebst einem einleitenden Rückblicke auf die frühere Zeit. Frankfurt a. M. 1856. (Zwei Bände.) I S. 188—189.

2) Waliszewski, Pierre le Grand. S. 456.

Stern, Geschichte der ölTentl. Sittlichkeit in l<uf3land. 2.

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sischen Modebilder aftichiert. Die Reichen mußten die neuen Kleider sofort anschaffen; die Armen erhielten eine bestimmte Frist zugebilligt. Aber vom Jahre 1705 ab mußte alles bei sonstiger schwerer Strafe die neue Tracht tragen. i) Die ge- waltsame Weise der neuen Reform mußte namentlich in den unteren Klassen eine berechtigte Opposition finden. Die Bo- jaren waren gelehriger und willfähriger; sie hatten schon zur Zeit des falschen Dmitry polnische Tracht angenommen ge- habt, die französische mißfiel ihnen durchaus nicht, und schon im März 1705 bemerkte Withworth unter den Vornehmen keine einzige Person mehr in alter russischer Nationaltracht. Für die Männer des Volkes bedeutete die Kleiderreform jedoch eine ökonomische Kalamität. Das Klima zwang sie zu langen schweren warmen Kleidern, die man trug, bis sie zerfielen ; nun galt es diese bequeme und warme Tracht zu vertauschen gegen kurze und 4;euere Kleider der Fremden. Heftiger noch war der Trotz des Volkes, als Peter seinen schwersten Schlag gegen Altrußland führte, als er seine zarische Riesenschere ergriff, um dem Volke den Bart abzuschneiden.

In den Gesetzen des Großfürsten Wladimir Wßewolodo- witsch Monomach heißt es Kap. VII, § i : „Wer einem Anderen den Bart so daß ein kahler Fleck entsteht ausgerauft, und

1) Bekanntlich reformierten auch Peter III. und Paul I. auf ähnliche Art. Zar Paul verbot, runde Hüte zu tragen. Er gab Befehl allen, die dem Verbote zuwiderhandelten, die runden Hüte vom Kopfe zu schlagen, ^^er sich dies nicht stumm gefallen ließ, wurde von den Polizeisoldaten geprügelt. So erging es einem Engländer, aber der englische Gesandte- machte Skandal, darauf wurde das Prügeln der Träger runder Hüte auf der Straße verboten, man mußte die Übeltäter zur Polizei bringen. Stellte sich hier heraus, daß es Ausländer waren, so ließ man sie wieder frei; ausgenommen waren Fran- zosen, die der Zar dann als Jakobiner erklärte und verurteilte. ^Varen die Verhafteten aber Russen, so steckte man sie unter die Soldaten. Der sardi- nische Gesandte spottete über diese Paulsche Reform und sagte: , .Solche Kleinigkeiten haben in Italien oft Empörungen verursacht." Der Zar ließ ihm seine Pässe zustellen, und er mußte in vierundzwanzig Stunden Peters- - bürg verlassen. Vgl. Memoires secrets sur la Russie et particulierement sur la fin du Regne de Catherine II et le commencement de celui de Paul I^''. Formant un tableau des moeurs. Paris oder Amsterdam 1800 (2 Bände). I 267. (Die deutsche Übersetzung dieses Massonschen Buches, in 4 Bänden, ist seltener als das Original, ^'gl. in der deutschen Ausgabe I 207).

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zwar in Gegenwart einiger Personen, die es bezeugen können, der bezahlt zwölf Griwnen Strafe, i) Kann der Kläger keine Zeugen führen, so soll seiner Aussage kein Glaube geschenkt und dem Beklagten keine Strafe auferlegt werden." Die Strafe wird illustriert, w^enn ich hinzufüge, daß für die Ermordung eines Knechtes oder einer Magd, die ein Handwerk erlernt, in denselben Gesetzen ebenfalls 12 Griwnen Strafe, für die Ermordung eines einfachen Bauers oder einer einfachen Magd nur 5 und 6 Griwnen Strafe festgesetzt wurden !

In der ,, Reise nach Norden" heißt es^): ,^Die russischen Päbste^j schneiden ihre Haare ^) nie, noch putzen sie sich

') Die Gesetze des Großfürsten Wladimir Wßewolodowitsch Monomach sind vollständig übersetzt in einer sehr seltenen Sammlung von Nachrichten über Rußland und die Türkei: „Constantinopel und St. Petersburg. Der Orient und der Norden. Eine Zeitschrift herausgegeben von H. von Reimers und F. Murhard. St. Petersburg und Penig. 1805 1806." (Mein E.xemplar enthält acht Bände.) Vgl. 1806, II. S. 308.

2) a. a. O. S. 121.

3) Per Verfasser versteht darunter „den Pfarr über ein Kirchspiel", also einfach einen Popen.

*) Das Haarschneiden verdient in einer Sittengeschichte Rußlands auch eine kurze Erwähnung. Karamsin (deutsche Übersetzung VII 174, franzö- sische VII 272) erwähnt die Bemerkung von Paulus Jovius: „Die IMänner beschnitten ihre Haare". Der Chronist Nestor spricht mehrmals „von dem alten Gebrauche der Russen, die Fürstensöhne im Alter von vier Jahren zu bescheren" (Tonsur). Vgl. La Chronique de Nestor. Traduite en fran9ais par Louis Paris. Accomp. de notes. Paris 1834. (2 Bände.) Bd. II Anhang S. 191 u. 192. Dieser Gebrauch der Haarebescherung, russisch: Postrigy ge- nannt, scheint nach Karamsin (deutsch III 113, französisch III 162) der Rest eines heidnischen Gebrauches gewesen zu sein. Man bezeichnete dadurch den Eintritt der Kinder in das soziale Leben, in den Rang der Ritter. Durch den Haarschnitt wurde eine geistige Verwandtschaft zwischen zwei Familien her gestellt: die Mutter dessen, dem man die Haare geschnitten, galt fortan als Schwester dessen, der die Operation vorgenommen. (.\uch in anderen slawischen Ländern war diese Tonsur üblich, so in Polen.) Ein Annalist von Susdal er- zählt, daß bei dem Haarschnitt der Kinder Marias, Gattin Wßewolods, große Feierlichkeiten stattfanden: nachdem man die Knaben rasiert hatte, setzte man sie aufs Pferd in Anwesenheit des Bischofs, der Bojaren und der Bürger. Wßewolod gab den alliierten Fürsten bei dieser Gelegenheit eine Mahlzeit und beschenkte alle Gäste. Die russischen Fürsten unterzogen sich ferner der Ton- sur, wenn sie ernstlich erkrankten. Dann entsagten sie feierlich der Weltlich- keit, nahmen das Mönchsgewand, ließen sich das Haupt rasieren und weihten

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den Bart." Und bei Perryi): „Die Moskowiter trugen, nach dem Beispiele der alten Patriarchen, bis zu Peter dem Großen immer lange Barte, die ihnen bis zur Brust herabhingen; sie pflegten sie sehr, gaben acht, kein Härchen zu verlieren; die Schnurrbarthaare waren so lang, daß die Leute nicht trinken konnten, ohne den Bart naßzumachen, so daß sie ilin fort- während abwischen mußten. Die Haare aber trugen sie kurz geschnitten, nur die Geistlichen hatten auch lange Haare." Der Bart war den Russen in mancher Beziehung eine natür- liche Vervollständigung ihrer Kleidung, als Wärmespender im kalten Klima ebenso notwendig wie der lange dicke Rock.^j

sich dem Dienste Gottes. So endeten viele russische Herrscher. Der Klerus ermutigte zu solchen Entschlüssen, die der Geistlichkeit Geld, Geschenke und Gnaden einbrachten. Im Gegensatze zu diesen russischen Sitten stehen einige Gebräuche in Esthland. Hier ralt das Haarabschneiden als eine emp- findliche Strafe; wenn ein Leibeigener einen Diebstahl oder ein anderes Ver- brechen begangen hatte, so ließ sein Herr ihm den Schädel ganz kahl rasieren, und diese Strafe war mit vieler Schande verbunden. (Vgl. das seltene Werk von J. Chr. Petrij Esthland und die Esthen. 3 Bände. Gotha 1802. II S. 9.) In einer älteren Geschichte der baltischen Provinzen heißt es: „Die gewalt- same Entführung der Frauen in Esthland führte zum Gebrauch, den Weibern die Haare abzuscheren. Zum Zeichen, daß sie schon unter eines Mannes Ge- walt gewesen, damit sie nicht entlauffen noch Jemand sie als eine gekranckte, weiter begehren möchte." (Th. Hiärns Ehst-, Lyf- und Lettländische Ge- schichte, herausg. von Napiersky. Monumenta Livoniae antiquae. Bd. I Riga, Dorpat und Leipzig 1835. S. 40.)

1) Etat present de la Grande-Russie. Contenant une Relation de plus remarquable. Description des moeurs. Trad. de l'Anglois. A la Haye 17 17. 'S. 187—188.

2) Auch andere Völker in Rußland haben ihre spezifische Barttracht. So erzählt J. G. Kohl in seinem Buche über Südrußland {II 262) von dem Barte der Karaiten in der Krym: ,,Es läßt sich besonders bemerken, daß Alle ihn auf der Lippe stehen lassen, ihn aber übrigens wegrasieren bis auf einen ganz merkwürdigen, äußerst schmalen, langen Backenbarts-Streifen, der unten vom Kinn über die Kinnladen hinweg und beim Ohre vorbei soweit hinauf geht, als nur Haare wachsen. Auf dieser äußerst dünnen Linie dürfen aber auch die Haare nicht wachsen, wie sie wollen, sondern werden gleich einer Gartenhecke so stark unter der Schere gehalten, daß sie nur einem gemalten Streifen gleichen. Diese streifige, über die Haut hinirrende Bartschattierung findet sich auf der Wange aller Karaiten ganz auf dieselbe Weise und voll- kommen in derselben- Richtung. Nicht so bei den Tataren." Koch meint, der Ursprung dieses sonderbaren, die Karaiten von den Tataren unterscheiden-

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Schon vor Peter dem Großen hatte der Bart in Rußland Anfechtungen zu erleiden. Margeret i) bemerkt mit besonderem Nachdruck, daß der falsche Dmitry bartlos war; dieser Um- stand hat vielleicht nicht wenig zu seiner Entthronung und Ermordung beigetragen, da der Zar schon durch die Ein- führung der polnischen Tracht das russische Nationalgefühl verletzt hatte. Auch aus der Zeit des Zaren Alexej berichtet die russische Geschichte einen interessanten P^all. Der Bojar Scheremetjew, so wird erzählt, weigerte sich seinen Sohn zu segnen, weil der junge Mann mit rasiertem Kinn vor ihm erschien. Dieser scheint damals nicht der einzige Verbrecher der Art gewesen zu sein, denn der Patriarch Joachim bedrohte mit den Blitzen der Exkommunikation alle die Sünder, die sich einfallen ließen, den Bart zu rasieren. Eine solche sum- marische Drohung hatte nur Sinn, wenn die Rasierbewegung schon weite Kreise ergriff. Und das war tatsächlich der Fall. Der alten Kleidung und des Bartes Hauptstützen waren die Geist- lichkeit und Religion. In der orthodoxen Iconographie sind Gott Vater und Sohn lang bebartet und lang gekleidet. Ein Ukas des Zaren Alexej schuf nun ein merkwürdiges Kompro- miß, das dann durch einen Ukas seines Sohnes Feodor be- kräftigt und erneuert wurde : Das Verlangen des Patriarchen nach einem Verbot des Bartrasierens wurde für berechtigt er- klärt und erfüllt; aber gleichzeitig schrieb man dem männ- lichen Personal des Hofes und der Ämter verkürzte Kleider vor. An die göttliche Tracht hatte man sich also gewagt, den göttlichen Bart ließ man unberührt.

Bald aber kam ein mächtigerer als der Patriarch Joachim ; der Sohn des Zaren Alexej, der Antichrist Peter schloß mit

den Bartstreifens müsse einen eigenen Grund haben. Ich vermute nun, daß die Karaiten zu dieser Barttracht als zu einem Unterscheidungszeichen von den Moslems, mit denen sie sonst dieselbe Tracht hatten, gezwungen worden sein mögen. Dieser Bartstreifen ist demnach bei den krymschen Juden eine Erinnerung an Zeiten schmählicher Intoleranz.

1) Estat de l'Empire de Russie et du grand Dvche de Moscovie. Paris 1607. (Diese Originalausgabe ist eine Rarität ersten Ranges. Ich benütze die Ausgabe Paris 182 1, die dritte, die nur in 100 Exemplaren gedruckt und daher auch bereits rar geworden ist.) S. 141.

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der Geistlichkeit keine Kompromisse mehr und schnitt ohne Furcht vor den Bhtzen der Kirche dem russischen Barte den Lebensfaden ab. Der Reformator hieh mit den von ihm durch- gesetzten neuen Sitten und Trachten das Beibehalten des alt- russischen Bartes für unvereinbar. In seiner nächsten Um- gebung, bei seinen Mitarbeitern und Günstlingen fand er sofort volles Verständnis. Bei seiner Rückkehr aus dem Ausland bemerkte er, wie geneigt seine Hofleute und Minister waren, seinen Wünschen entgegenzukommen. Nicht nur Mentschikow und Golowin glänzten mit rasiertem Kinn; sondern alle, die in der ersten Audienz nach Peters Heimkehr zur Bewillkommnung erschienen, einige Alte und die Geistlichen ausgenommen, waren bartlos; ,,Petern gefiel dies ihm gebrachte Opfer so sehr," erzählt Korb^), ,,daß er sie mit außerordentlichen Zeichen des Wohlwollens umarmte und so durch einen Sonnenblick der Gunst die Verwüstungeu des Messers vergütete." Der Zar überlegte sich jetzt nicht mehr lange, in seiner grandiosen Reform fortzufahren. Um sie streng durchzuführen, wurden Beamte angestellt, welche allen ohne Unterschied auf offener Straße die Barte abschneiden mußten. Dies erschien den Russen so fürchterlich, daß viele, die mit zärtlicher Liebe an ihren Barten hingen, den Mitgliedern dieser hohen Kom- mission große Summen für ein freundliches Übersehen boten. 2) Aber die sonst so Bestechlichen waren in diesem Falle un- bestechlich; auch hätte das wenig genützt; entschlüpfte man einer Bartscherkommission, so rannte man bald einer anderen in die bewaffneten Arme. An der Tafel des Zaren gehörte ein Barbier fortan zu den ständigen Bedienern; wagte noqh je- mand hier mit dem Barte zu erscheinen, so war er sicher die Zierde seiner Männlichkeit noch während der i-Lssenszeit zu verlieren. An allen Toren von Moskau waren W\achen auf- gestellt, die den bebarteten Passanten auflauerten; Wider-

1) Bei Halem, Leben Peters des Großen. (3 Bände.) Münster und Leipzig 1803. I 141. Über die Bartreform sind auch bei Brückner, Peter der Große (in der Onckenschen Weltgeschichte) einige interessante Angaben zu finden, so S. 220, 272, 276,. 280, 287, 303 und 525.

2) Le Bruyn a. a. O. III 151.

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spenstige mußten niederknien!) und wurden grausam ge- schoren. Der Zar machte aus dieser Reform aber auch eine Einnahmsquelle. Er gestattete das Barttragen gegen eine Taxe, die von einem Kopeken bis hundert Rubel jährlich betrug; als Zeugnis für die bezahlte Taxe mußten die Bartleute auf der Brust eine Medaille tragen, mit einer Inschrift, welche besagte : der Bart ist eine unnütze Last. Die Armen, die die Taxe nicht bezahlen konnten und den Bart verloren, steckten die abgeschnittenen Haare in ein Säckchen, das sie bis zum Tode an der Brust trugen und das man ihnen mit in den Sarg legte, ,, damit sie anständig vor dem heiligen Nikolaj" erscheinen konnten. 2) Den heftigsten Widerstand fand die Bartreform in den fernen Provinzen. Die Diener des Zaren erlaubten sich hier die ärgsten Gewalttätigkeiten. Der Gou- verneur von Astrachan ließ an den Toren der Kirchen Soldaten aufstellen, die allen aus der Kirche kommenden Bebarteten die Barte ausreißen mußten. 3) In Astrachan entstand infolge- dessen ein furchtbarer Aufruhr, der erst nach Aufbietung von zwanzigtausend Mann und nach hartem Kampfe bewältigt wurde. Auch Peter selbst ging grausam genug vor. Als er 1704 in Moskau plötzlich sein Hofpersonal musterte, entdeckte er, daß ein gewisser Iwan Naumow noch einen Bart trug; der Ungehorsame wurde zur Strafe öffentlich gepeitscht.

Der Zar war dem Barte gegenüber unerbittlich. Er be- trachtete den russischen Bart sozusagen als seinen persönlich- sten Feind. Der Langbart symbolisierte in seinen Augen alle jene Ideen, Traditionen und Vorurteile, die er bekämpfte. In den Klagen, die er gegen seinen dem Tode ausgelieferten Sohn Alexej erhob, machte er für des Unglücklichen Schick- sal die Langbärte'!), diese Stützen der Reaktion, verantwortlich.

1) Sammlung merkwürdiger Anekdoten das Russische Reich betreffend. S, 104.

2) Perry, a. a. O. 187.

') Waliszewski, Pierre le Grand 456.

4) Acta des Inquisitions-Processes/So zu St. Petersburg wider den Czaaro- witz, Herrn Alexium Petrowitz/Im Jahr 171 8. angestellet. Nach dem zu Ham- burg gedruckten Exemplar, Anno 17 18. S. 9. Manifest wegen der Gericht- lichen Inquisition über den Zarewitsch Alexium Petrowitsch. Franckfurt und Leipzig 17 19. S. 8.

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Wahrlich nicht aus ästhetischen und vielleicht nicht ein- nrial aus politischen Gründen konnten sich die gemeinen Russen von ihren Barten nicht leichten Herzens trennen. Ihre Motive waren vielmehr hauptsächlich sittlich-religiöse, i) ,,Fast die

1) Auch in anderen Ländern hat der Bart eine große nationale und poUtische Rolle gespielt; aber religiöse Bedeutung wurde ihm nicht einmal im Orient beigelegt. Bei den alten Hebräern wurde das Bartabschneiden als Strafe angeordnet, bei den Osmanen galt ein abgeschnittener Bart als Zeichen der Schmach, als Beraubung eines Teiles der Männlichkeit, und es wurde oft im Kriege an den Besiegten eine derartige EntmännUchung vollzogen. Eine Empörung infolge gewaltsamen Bartabschneidens gab es einmal im osmanischen Reiche. (Vgl. Bernhard Stern, Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei. Band II 129.) In Olmütz wurden kürzlich zwei nach Salonich zuständige Mohammedaner Osman Ramadan und Demir Aga wegen Betruges zu Kerkerstrafe verurteilt; nach der Hausordnung der dortigen Frohnfeste muß jedem Sträfling, dessen Strafe die Dauer von drei Monaten überschreitet, der Schnurrbart abgeijommen werden. Dieses Schicksal sollte auch die beiden Türken treffen. Als ihnen dies mitgeteilt wurde, fingen sie zu jammern an und erklärten, daß in ihrer Heimat das Abnehmen des Schnurrbartes die größte Schmach bedeute und daß sie sich lieber hängen, als dieser Zierde berauben lassen woUten. Sie klagten femer, daß im Islam der Ehefrau das Recht zustehe, den Mann sofort zu verlassen, wenn er seinen Schnurrbart ab- rasieren lasse (eine Behauptung übrigens, die mir absolut unrichtig erscheint), und diesem Grunde ließ das Gericht Rücksicht angedeihen, die beiden Türken durften den Schnurrbart behalten. (Zeitungsnotiz.) Als Zierde männlicher Schönheit und der Rlännlichkeit im allgemeinen gilt der Bart fast überall. Als man den Diogenes fragte, warum er einen Bart trage, antwortete er: ,, Da- mit ich in Anschauung und Betastung desselben mich erinnere, daß ich ein Mann sei." Professor Hieronymus Rhetus zu Basel erklärte: ,,Der Bart lehret mich, daß ich keine Frau, sondern ein Älann bin, und daß ich mich männ- licher Tugend mit standhafftem Gemüthe befleißigen solle." Im , .Leibdiener der Schönheit" (oder: Neuentdeckte Geheimnisse von der Schönheit der Frauen- zimmer Leipzig und Bremen 1747. Seite 33) wird geklagt, ,,daß mit der jetzigen Zerstümmelung des heben Bartes ein groß Theil unserer männliche a Dignität und Respekt verlohren gehe." Bei den Narrinvesen wird (wie I\iantegazza in ,, Geschlechtsverhältnisse des Menschen" S. 15 nach dem Berichte des Re- verend Taplin erwähnt) der Jüngling, wenn sein Bart sich bis zu einem ge- wissen Grade entwickelt und eine bestimmte Länge erreicht hat, unter feier- lichen Zeremonien zum Manne erklärt. Die alten Germanen hielten das späte Erscheinen des Bartes als ein günstiges Zeichen, als einen Beweis von Kraft, welche die Natur bisher auf Avichtigere Funktionen verwendet hätte. Über das Verhältnis des Bartes zu den Organen der Generation herrschen widerspruchsvolle Ansichten. Alte Schriftsteller sprechen von Kindern, die bärtig waren; in den Märchen von looi Nacht ist häufig die Rede von drei-

Aus dem russischen Volksleben.

(Aus Jukowsky, Sct-nes populaires Russes.)

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ganze Nation/' heißt es in einem zeitgenössischen Berichte, „ist von der vorigen Affection vor ihre Kleidung so vollkom- men zurück gekommen, daß wofern sie auch dermaleinst das Heft wieder in die Hände bekommen, und ihre alte Regierungs- form retablieren sollten, sie dennoch ihre ehemalige Moden ganz gewiß nicht wieder erwählen würden. Der Bart aber hat viel hartnäckige Defensores gefunden, insonderheit unter dem gemeinen Mann, welche sich eingebildet, Gottes Eben- bild werde geschändet, wann ein Mensch dieses Zierrathes beraubet würde, weswegen dann viele von ihnen lieber ihre Köpfe unter das Beil legen, als ihren Bart verlieren w^ollen. Der Synodus hat zwar eine expresse Schrift publiciren lassen, worinne sehr weitläufig deduciret wird, daß der Bart zum Ebenbilde Gottes nicht gehöre. Nichtsdestoweniger finden sich unter den Bürgern noch sehr viele, die diese Gründe bei sich

zehn- und vierzehnjährigen bebarteten Knaben, die auch schon heiraten. Bei einigen Völkern beginnt den Männern der Bart erst zu wachsen, nach- dem sie schon längst mannbar geworden sind. Es gibt viele Beispiele von Männern, die keinen Bart bekommen hatten, und doch fehlte ihnen sonst kein Charakter der MännUchkeit. (Eros oder Wörterbuch über die Physio- logie und über die Natur- und Cultur-Geschichte des Menschen in Hinsicht auf seine Sexualität. 1823. 2 Bände. Neudruck 1849). ,,Die Prediger der Waldenser nannte man Barbets, vermutlich, weil sie ihre Barte lang wachsen lassen" (Compendieuses Kirchen- und Ketzerlexicon, Schneeberg 1734 S. 83). ,,Die Capuciner mußten früher ihre Barte wachsen lassen, 1733 wurde ihnen durch ein Päbstisches Brevet erlaubt, ihre Barte abzuschneiden" (Kirchen- und Ketzerlexicon S. 131). Über die Barte der Kapuziner gibt es ein ebenso berühmtes als seltenes Buch: ,,La Guerre seraphique, ou Histoire des Perils qu'a courus la Barbe des Capucins Par les violentes Attaques des Cordeliers. A la Haye, chez Pierre de Hondt. 1740." Ich besitze auch die nicht weniger seltene deutsche Übersetzung davon: ,, Wunderseltsame Geschichte der Barte und der spitzen Kapuzen der Ehrw. P. P. Kapuziner usw. Mit Kupfern. Köln am Rhein 1780." Über die Rolle des Bartes in verschiedenen Ländern Europas will ich hier nicht weiter sprechen und verweise nur kurz auf folgende Quellen: Hellwald, ,, Ethnographische Rösselsprünge," S. 261 276 (Zur Ver- breitung und Geschichte des Bartes; nichts über Rußland). „Das Buch der Haare und Barte. Humoristische Abhandlungen für Jedermann und jede Frau." Leipzig 1844. Seite 6 9 einige historische und ethnographische Notizen, aber ebenfalls nichts über Rußland. Endlich notiere ich hier noch: Dr. Iwan Bloch, Beiträge zur Ätiologie der Psychopathia sexualis (2 Bde.). Dresden 1902. I 49.

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nicht gelten lassen wollen, und lieber alles erdulden, als ihren Bart dem Scheermesser unterwerfen." i) Die Moskowiter hegten tatsächlich für den Bart einen religiösen Respekt, und die Priester bestärkten sie in dieser seltsamen Anschauung. 2) Man fand auf den Straßen offene und versiegelte Briefe an Peter, in denen das Volk und die Geistlichen den Zaren des Bart- raubes wegen als Tyrannen und Heiden verfluchten. „Ein gemeiner Russe, Talitzkoi, der die Buchdruckerkunst in Mos- kau erlernet, hatte auf dem Lande heimlich eine Druckerei angelegt, und eine Brochure an das Licht gestellet, worinne er beweisen wollen, daß Petrus der Antichrist sey, weil er durch Abschneidung der Barte Gottes Ebenbild schändete, die Menschen nach ihrem Tode aufschneiden und zergliedern ließe, die Gesetze der Kirche unter die Füße träte, und was dergleichen alberne Fratzen mehr sein mochten. Talitzkoi wurde nun bald docouvriret vind zu Belohnung seiner Mühe zu Tode geschmauchet." 3)

Schon Iwan der Schreckliche hatte im Jahre 1532 er- klärt: ,.Von allen ketzerischen Gewohnheiten ist keine ver- dammlicher als die sich den Bart zu rasieren. Diese Sünde könnte nicht durch alles Blut eines Märtyrers hinweggewäscht werden. Seinen Bart rasieren lassen um den Menschen zu gefallen, heißt alle Gesetze übertreten und sich für einen Feind Gottes erklären, der uns nach seinem Ebenbilde geschaffen hat." Peter der Große konnte noch im Anfange seiner Re- gierung trotz aller Macht, die er aufwendete, bei der Geist- lichkeit nicht die Ernennung des Metropoliten von Pskow zum Patriarchen durchsetzen: „Marzell," sagten die Kleriker, ,,kann nicht Patriarch werden aus drei Gründen : weil er barbarische Sprachen spricht^); weil er seinen Kutscher auf seinem Wagen sitzen läßt-"^); und weil sein Bart nicht die notwendige Länge hat."

1) Vockerodt, a. a. O. S. 106.

2) Perry a. a. O. 188. Chantreau, Voyage philosophique politiqiie et litteraire, fait en Russie pendant les annees 1788 et 1789. (2 Bande.) Paiis 1794. I 295.

3) Vockerodt, a. a. O. S. 10.

4) Latein und Französisch.

5) Statt auf einem Vorreitpferde.

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Die Rücksicht, die auf die Geistlichkeit genommen wurde. hatte zum Resultat, daß der Bart teilweise bestehen blieb und viele Russen aus dem Volke ihn neuerdings wachsen ließen. Die große Masse kehrte zu den alten Gebräuchen, Vorurteilen und Trachten zurück, und hatte glücklich wieder die langen Barte. ij Und schon 1747 heißt es in einem Berichte 2): „Hof- leute, Soldaten, Kronbediente und einige wenige Kaufleute ausgenommen, sonst alle andere Bürger, Bauern und Priester, lassen ihren Bart so schnell als möglich wachsen, wodurch sie denn in der Geschwindigkeit die Hälfte ihres Gesichts bedecken.'"

Die Bartreformfrage hat für Rußland niemals zu bestehen aufgehört, der Bart blieb also auch nach Peter dem Großen was er früher gewesen : ein Kultur- und Sittenmesser für Ruß- land, für die Stellung des russischen Volkes in der Zivili- sation, für die Bildung und Schätzung namentlich der russischen Geistlichkeit. Die Zarin Elisabeth gestattete in einem beson- deren Ukase, die Geistlichen zu Leibesstrafen zu verurteilen ; man durfte sie gleich gewöhnlichen Sterbhchen behandeln, knuten, peitschen und an allen Körperteilen verletzen, aber ihr Bart sollte geschont werden 3), denn ihr Bart war heilig. Der große russische Dichter Lomonossow verspottete damals mit großem Mute diese besondere Heiligkeit des Geistlichen- bartes. Die Russen, hieß es in diesem Gedichte, werden im Himmel keine Barte tragen dürfen, weil diese nich. mit ge- tauft werden. Ein einziger aber ist ausgenommen, und das ist der Pope. Der taufte bei der Wasserweihe ein Kind, und da er es aus dem Wasser zog, hob er es so hoch über sich, daß ihm das Kind in den Bart pißte. Glücklicher Bart, ruft der Dichter aus, der du allein getauft und also auch allein würdig bist, im Himmel zu erscheinen und als ein Stern erster

1) Breton, Rußland oder Sitten, Gebräuche und Trachten der sämtlichen Provinzen dieses Kaiserthums. (6 Bändchen.) Pesth 18 16. I 15.

2) Abschnitte aus Peter von Havens Nachrichten von dem Russischen Reich. Kopenhagen 1747. In Büscliings Magazin X 356 357.

^) Waliszewski, La dernidre des Romanov Elisabeth l"^*" 1741 1762. Paris 1902. S. 217. (Nach einem Briefe von Breteuil au Choiseul vom i. Sept. 1 760. )

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Größe zu glänzen ! Lomonossow hat sich durch diese Satire den furchtbarsten Haß des Klerus zugezogen, seine Werke wurden verpönt, und nur der Zarin Elisabeth persönlichste Intervention vermochte es durchzusetzen, daß der Dichter vor den schwersten Strafen der Kirche gerettet wurde.

Peter dem Dritten wurde nachgesagt, daß er die Absicht hatte, den Bart der Geistlichen zu beseitigen, wie Peter der Erste den Bart des Edelmannes und des Bürgers, des Kauf- mannes und des Bauers rasiert hatte. Aber seine kurze Re- gierung ließ wie manche andere Reform auch diese nicht zur Ausführung gelangen, i) Und die Geistlichen behielten

1) In einem zeitgenössischen Buche wird über die Barte der Priester und über den angebüchen Plan Peters III. also philosophiert: „Wie ist es möglich daß der Kayser hat auf den Einfall gerathen können denen rußischen Pfaffen in ihren Barten ein wesentliches Stück ihres äusserlichen Ansehens und ihrer Verdienste zu rauben? Hätte er nicht wissen sollen, aß, zumahl in der rußi- schen Religion, wo man mehr als bey irgend einer anderen, auf das Ausser- liche siehet, so mancher ansehnliche Archimandrit, nur blos seines langen und weissen Bartes halber, ehrwürdig ist und daß ein dergleichen Priester öfters eine sehr schlechte Figur machen würde, wenn man ihm dieser Zierde berauben wollte? Den Priestern die Barte abzuschneiden! Welch eine kühne Unter- nehmung ! Heißt das nicht das Heiligthum der geistlichen Ehre entweihen, und mit verwegener Faust den heiligen Vorhang zerreissen, worunter die Un- wissenheit so vieler ehrwürdiger Männer verborgen ist ! Hatte Peter der Dritte nicht das Beispiel seines Großvaters vor Augen, der soviel er auch durch seine Klugheit, die er mit der unumschränktesten Gewalt zu unterstützen wußte, bey seiner wilden Nation ausrichtete, so konnte er es doch in diesen Stücken nicht einmal so weit bringen, daß alle Layen ihre Barte ablegten, vielweniger würde er die Häupter der Gemeine dazu bewogen haben, 'übrigens" fährt der Verfasser, der wenigstens im nachfolgenden als Humorist genommen werden will ,,hat Peter der Dritte niemals den Einfall gehabt der russischen Geist- lichkeit ihre Barte zu rauben. Die ganze Historie hiervon kommt vielmehr von einem rußischen Priester her, der sich schon seit einigen Jahren in Ham- burg befindet und den Gottesdienst in dem Hause des daselbst 'befindlichen rußischen Residenten verrichtet. Dieser Mann, bey dem die teutsche Luft bereits die Würkung gethan, daß er sich nicht grämen würde, wenn ihn die St. Petersburger Geistlichkeit zu ewigem Aufenthalte in Deutschland ver- dammte, dieser Mann ist bereits so heidnisch geworden, daß er einen Bart für ein sehr entbehrliches Stück des Priesteramtes hält . . . Die Kleidung der jüdischen Rabbiner hat eine große Ähnlichkeit mit der Kleidung der rußischen Priester, und der Bart machte sogleich, daß man diesen rußischen Geistlichen mehrentheils für einen Juden ansähe. Dieses hielt er für einen schrecklichen

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ihre Barte und hatten für sie eine solche Affenhebe, daß die Europäer es geradezu widerwärtig" fanden : „Wenn man mit dem gemeinen Popen spricht, so streicht er sich fast jeden Augenbhck den Bart, der oft bis auf den Nabel reicht, mit einem solchen Wohlbehagen, daß es auf seiner Seite meist eben so viel Stupidität voraussetzt, als es beim Zuschauer unausstehliche Widrigkeit erweckt. Es verursacht gemeiniglich die nämliche Empfindung als wenn man mit einem dickwansti- gen dummen Menschen reden muß, der jeden Augenblick mit innigem Wohlgefühl seinen fetten Schmerbauch streicht." So schrieb in allerdings etwas komischem Zorn der deutsche Professor Bellermann in seinem interessanten, anonym erschie- nenen Buche 1) über das Rußland Katharinas der Zweiten. Die letztgenannte Fürstin hatte übrigens auch, gleich Peter dem Großen, ihrem beliebten Vorbilde, einen schweren Bart- Aufruhr zu bekämpfen. Die Empörung Pugatschews wurde nämlich am kräftigsten gefördert durch die Jaik-Kosaken, die man durch i\bschneiden ihrer Barte zur Rebellion getrieben hatte. Diese Kosaken ließ Katharina unter die Husaren ein- reihen ; die Husaren durften aber keine Barte tragen, und da sich die Kosaken dem Raseur gewaltsam widersetzten, Heß General Traubenberg die neurekrutierten Kosaken auf den Marktplatz schleppen und öffentlich enthärten. Darauf griffen alle Kosaken der Gegend zu den Waffen, ermordeten den General Trauben- berg und scharten sich um die Fahne Pugatschews 2) Pu- gatschew war längst tot, aber der Bartkrieg am Ural dauerte

Schimpf, und er schilderte diese Beleidigung dem Synod in Petersburg so leb- haft daß man ihm die Erlaubniß ertheilte, seinen Bart in eine Schachtel zu legen. Der Geistliche sagte dann, ein Ukas Peters III. habe den GeistUchen befohlen: ihre Barte zu scheren und teutsch gekleidet zu gehen." (Rußischc Anecdoten oder Briefe eines teutschen Officiers an einen Liefländischen Edel- mann, worinnen die vornehmsten Lebens-Umstände des Rußischen Kaysers Peter III. nebst dem unglücklichen Ende dieses Monarchen enthalten sind. Wandsbeck 1765. Seite 59.)

1) Bemerkungen über Rußland in Rücksicht auf Wissenschaft, Kunst, Religion und andere merkwürdige Verhältnisse. (Zwei Teile.) Erfurt 1788. II 159.

2) Catharina die Zweite, Darstellungen aus der Geschichte ihrer Regie- rung. 1797. Seite 107 108.

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noch fort. Im Jahre 1817 begab sich Araktschajew nach Oren- burg, um im Auftrage des Zaren Alexander i) die Bauern nach Pelerschem Rezept zu zivihsieren : durch Uniformen. Am 13. Juni des genannten Jahres schrieb Araktschajew an den Zaren: die Uniformierung gehe von statten, wer sich wider- setze, werde geknutet und erhalte die Batogi; ,,die Haare scheren und den Bart abschneiden will ich noch nicht, das wird später von selbst kommen." Aber es kam nicht von selbst, und am 17. Juni wird dem Zaren von Araktschajew berichtet: ,,Das Scheren und Bartschneiden hat begonnen!" Die Reform ging mit solcher Gewalt vor sich, daß allgemeines Entsetzen herrschte. Die Bauern, meist Altgläubige, petitio- nierten an die Obrigkeit, daß man ihnen ,,die abgeschnittenen Barte wenigstens zur Aufbewahrung zurückgeben sollte, damit sie bei der Auferstehung nicht fehlten." Die Barbiere willig- ten ein und überlieferten die abgeschnittenen Barte den Bauern gegen eine besondere Taxe. Später kam ein obrigkeitlicher Befehl, daß die Barte unentgeltlich ausgefolgt werden sollten; auch gestattete man den Greisen das Beibehalten des Bartes. Einige der Altgläubigen trugen auf Anweisung ihrer Lehrer, um Gottes Zorn wegen des geopferten Bartes von sich ab- zuwenden, eiserne Ketten auf dem bloßen Leibe, also als eine Art Selbstgeißelung. Bei einer Exekution kam dies zutage, und das Kettentragen wurde bei Strafe verboten. ^j

Wenn der Bart für Rußland wirklich das Symbol der barbarischen Vergangenheit ist, wie Peter der Große gemeint, •dann hat der Barbier als Erzieher seine Rollt* schlecht ge- spielt, dann ist Rußland heute wieder da, wo es Peter vor- gefunden hat.

1) Im europäischen Rußland scheinen damals die langen Barte kaum mehr in Mode gewesen zu sein. Ich zitiere das Zeugnis des Arztes Wichel- hausen (Züge zu einem Gemähide von Moskwa 1803): „Kein Edelmann trägt mehr einen Bart. Auch die meisten angesehenen Kaufleute und die Bedienten der Kaufleute haben in diesem Punkte die Gewissenskrupel überwunden" Wichelhausen machte auch die Bemerkung, ,,daß sich der Bart und die Mann- barkeit in Moskwa früher entwickele als in Deutschland."

") Vgl. Theodor Schiemann, Geschichte Rußlands unter Kaiser Niko- laus I. Band I: Kaiser Alexander I. und die Ergebnisse seiner Lebensarbeit. Berlin 1904. Seite 459 und ebenda Anmerkung 2.

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Man zeigte!) einem Raskolnik, der zum Militär eingerückt war, den Kaiser Alexander den Zweiten: ,,Dies ist kein Zar," sagte der Rekrut, „er trägt nur einen Schnurrbart! Er hat eine Uniform, einen Degen wie alle Offiziere; das ist ein General so gut wie jeder andere." Für diese Anbeter der Ver- gangenheit, diese Anhänger des Zeremoniells ist der Zar ein Mann mit langem Barte, in langem weiten Gewände, wie er auf den alten Bildern abkonterfeit ist. Für sie war der wahre Zar Alexander der Dritte, der seinen langen Bart pflegte, bei Tische in der russischen Bluse und mit dem Gürtel erschien, und nicht einmal im Schlafe davon träumte, die Bahn des Fortschritts zu betreten.

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Dekorative Bildung-.

Buchdruckereien Reformen des Zaren' Boriß Die ersten weltlichen Bücher Empfindlichkeit gegen ausländische Urteile Korrumpierung der Mei- nung Europas Akademie und Elementarschule Der Elefant als Krank- heitsgeist — Die Zivilisation am Hofe der Zarinnen Französierung Zu- stände am Hofe Katharinas H. Verhungernde Hofbedienstete Bildung, Luxus und Puder Erziehung Rußlands durch Lakaien und Soldaten Keine Schulen, aber Universitäten Aus den Anfängen der Hochschule Geistliche Aufsicht Aufsicht der Regierung Unsittlichkeit der Profes- soren und Studenten Schule und Familie Letzte Statistik der Elementar- schulen — Intelligenzproletariat.

„Alle Mühe, aller Kostenaufwand wird doch vergeblich sein, in des Russen Kopf kommt keine Wissenschaft," sagte ein alter Bojar dem Zaren Peter ^j; und wahrlich, diese Pro- phezeiung ist bis heute noch nicht Lügen gestraft worden.

Die erste Buchdruckerei in Rußland wurde in Moskau im Jahre 1553^) errichtet, unter der Regierung des Zaren Iwan Wassiljewitsch und zur Zeit des berühmten Metropoliten

1) Leroy-Beaulieu, Das Reich der Zaren. HI 341.

-) Halem, Leben Peters des Großen, I 154.

3) Oldekop, St. Petersburg. Ztschft. I 215, 220. Strahl, Das gelehrte Rußland 145. Vgl. S. Sugenheim, Rußlands Einfluß auf Deutschland. I ^7. Halem I 149 gibt falsch das Jahr 1563 oder 1564 an; der Irrtum mag daher stammen, daß das erste russische Druckwerk 1564 erschien.

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Makarij. Die erste Arbeit dieser Druckerei, eine Geschichte der Apostel, dauerte elf Jahre. Ihr folgten Ausgaben des neuen Testaments. Bei den Einfällen der Tartaren und Polen ging die russische Buchdruckerei zugrunde, und sie wurde selbst von dem frühesten moskowitischen Reformator, dem Zaren Boriß Godunovv, nicht wiederhergestellt. Der letzt- erwähnte Fürst war im Wollen größer als im Können. Wenn Karamsini) sagt: „in der Liebe zur Aufklärung übertraf Boriß alle älteren Herrscher Rußlands," so ist dies ein gar be- scheidenes Lob, da wir wissen, daß vorher kein einziger Sou- verän von Moskwa daran gedacht hatte, der Aufklärung eine Gasse zu bahnen. Boriß hatte als Erster aller Zaren die löb- liche Absicht, allgemeine Schulen und sogar Universitäten zu stiften, um seine Russen in den europäischen Sprachen und Wissenschaften unterrichten zu lassen. Im Jahre 1600 schickte er den Deutschen Johann Kramer nach Deutschland mit dem Auftrage ,,dort Professoren und Doktoren zu suchen und sie nach Rußland zu bringen." Die Nachricht hiervon erweckte in Europa überschwängliche Erwartungen. Der Rechtslehrer Tobias Luntzius oder Loncius schrieb an Boriß : „Euere Zarische Majestät wollen ein wahrer Vater des Vaterlandes werden, und sich dadurch bei aller Welt unsterbhchen Ruhm erwerben. Sie sind vom Himmel erkoren, ein großes für Rußland neues Werk auszuführen, nach dem Beispiele Egyptens, Griechen- lands, Roms und der berühmten europäischen Staaten, die durch edle Künste und Wissenschaften blühen, den Geist auf- zuklären und dadurch das Gemüth des Volkes zugleich mit der Macht des Staates zu erhöhen." Und ein Königsberger Ge- lehrter verglich den Zaren Boriß mit Numa Pompilius.^) Aber die Geistlichkeit in Rußland stellte dem Herrscher \or : daß die heilige Rußj nur durch die Einheit des Glaubens und der Sprache die Segnungen des Friedens genieße; daß Ver- schiedenheit der Sprache der Kirche gefährlich werden müsse durch Förderung von Meinungsverschiedenheiten und Aus- lieferung des Jugendunterrichtes an Katholiken und Protestan-

1) Deutsche Ausgabe X 71 (franz. Übers. XI 113).

2) Bernhard Stern, Von der Ostsee zum Stillen Ozean. S. 9.

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ten. Auch zum Patriarchen Hiob stürmten die Patrioten und klagten: „O Heihger Vater, du siehst das Unheil und siehst ihm ruhig zu! O Heiliger V^ater, warum schweigst du?" Der Zar mußte bald seine kühnen Pläne fallen lassen und sich damit begnügen, achtzehn junge Bojarensöhne nach London, Lübeck und Frankreich zu Sprachenstudien abzusenden und gleichzeitig junge Engländer und Franzosen nach Rußland zur Erlernung der russischen Sprache einzuladen. Von den achtzehn jungen Russen, die ins Ausland gegangen waren, kam nur einer zurück, die anderen zerstreuten sich in Europa. Boriß berief aus England, Holland und Deutschland Ärzte, Künstler, Handwerker und Beamte; fünfunddreißig von den Polen aus ihrer Heimat vertriebene livländische Edelleute nahm er in Moskau gastfreundlich auf und lud sie gleich nach ihrer Ankunft in seinen Palast ein; als sie sich ihrer schlechten Kleidung wegen entschuldigten, sagte der Zar: ,Jch will Men- schen sehen, nicht Kleider!" Das was hier erzählt, ist aber auch alles, was Boriß, der so viel leisten wollte, leisten konnte. Der erste Romanowsche Zar Michael Feodorowitsch er- richtete wieder eine Buchdruckerei, die fleißig geistliche Werke und nur ein einziges weltliches das russische Land- recht — herausgab. Unter der Regentschaft der Sophia, der Schwester Peters des Großen, entstanden einige neue Drucke- reien : in Moskwa, Kijew und Tschernigow, die sich selbst mit europäischen messen konnten; in allen wurden nur geist- liche Bücher hergestellt für Künste und Wissenschaften hatte noch niemand Verständnis und selbst die Jahrbücher Nestors und anderer Chronisten schlummerten friedhch und unberührt in den Klosterbibliotheken fort. Die große Um- wälzung auf dem Gebiete der Buchdruckerei begann erst unter Peter dem Großen, aber auch er richtete sein Augenmerk nicht auf das Allgemeine, sondern bevorzugte das, wofür er persönliche Neigung besaß. Auf seinen Befehl mußte sich der Russe Elias Kopjewitsch nach Holland begeben, dort eine durch- aus vollkommene Buchdruckerei anschaffen und sie dann nach Rußland bringen. i) Die Werke, die jetzt gedruckt wurden,

1) Halem, Leben Peters des Großen. I 149. Stern, Geschichte der (iffentl. Sittlichkeit in Rußland.

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waren folgende: Brinkens Schiffsbaukunst und eines anony- men Holländers Erfahrener Steuermann ; Peter hatte aus ihnen seine Kenntnisse geschöpft, sie wurden nun ins Russische über- setzt; die holländischen Kunstausdrücke behielt man bei und sie blieben bis jetzt größtenteils in der russischen Marine ge- bräuchlich. Andere Bücher über Ingenieur- und Wasserbau- kunst folgten. Historische wurden aus dem Deutschen und Lateinischen übersetzt. Der Mönch Gabriel, dem die Aufgabe zuteil geworden war, Pufendorfs Staatengeschichte zu über- tragen, der also das erste Geschichtswerk in russischer Sprache herausgab, war auch gleichzeitig der erste russische Ge- schichtsfälscher : die für Rußland nicht schmeichelhaften Stellen lief5 er einfach fort. Peter korrigierte die Fälschung, befahl auch die fortgelassenen Stellen zu drucken und erklärte : „Nicht zur Schmach meiner Untertanen, zu ihrer Besserung will ich dies gedruckt wi-ssen. Meine Russen müssen erfahren, wie man im Auslande bisher über sie geurteilt hat, damit sie er- kennen, was sie waren, was sie durch meine Bemühung . ge- worden sind, und wonach sie noch zu streben haben." Peter ordnete die Gründung von Zeitungen und die Ausgrabung und Veröffentlichung der Handschriften an, die in den Klöstern verstaubten und vermoderten. Alles tat er jedoch weniger, um wirkliche Kultur im Lande zu verbreiten, als um dem Aus- lande als Zivilisator zu imponieren.

Das Urteil des Auslandes hatte schon früher die russischen Fürsten gekränkt und beleidigt. In dem Buche des Freiherrn .Augustin Mayerberg 1) lesen wir, wie heftig sich der Zar Alexej beim König von Polen über einige Bücher beschwerte, die in Polen gegen Rußland veröffentlicht worden waren. Ver- gebens erklärten die Polen, daß die Autoren als freie Männer eines freien Staates schreiben konnten, was sie wollren, und daß man hierfür weder den König von Polen noch den pol- nischen Senat verantwortlich machen durfte. Putzkin, der Ge-

1) Voyage en Moscovie d'un Ambassadeur, Envoye par l'Empereur Leo- pold au Czar Alexis Mihalowics, Grand Duc de Moscovie, A Leide, chez Fre- derik Harring i688. Seite 12. (Diese französ. Übersetzung vom Jahre 1688 gehört zu den großen Raritäten. Ein Neudruck erschien 1858 in Paris in zwei Bänden. Vgl. daselbst I S. 11.)

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sandte des Zaren, war durch diese Erklärung nicht befriedigt und verlangte als Genugtuung nicht weniger als die Rück- gabe des von den Polen besetzten Smolensk und 50000 Taler, ging dann allerdings mit seiner Forderung herunter und bat zum Schlüsse bloß, daß man aus den beanstandeten Büchern jene Blätter entfernte, die den Zaren und die Moskowiter be- leidigten. Dies wurde endlich bewilligt, man riß aus den Büchern die betreffenden Blätter aus und übergab sie dem Feuer.

Nicht minder als sein Vater Alexej war Peter der Große in bezug auf das Urteil des Auslandes empfindlich. Im Jahre 1705 schickte er den Baron von Huyssen nach Deutschland mit dem Auftrage i), „die Leipziger Gelehrten zu überreden, zum Vortheil Rußlands in der europäischen Fama, und in den öffentlichen Zeitungen zu schreiben." Derselbe Huyssen hatte schon drei Jahre zuvor in Deutschland, Holland und anderen Ländern 2) vergebliche Versuche gemacht, die Ge- lehrten zu veranlassen, „auch etwas zu Rußlands Ruhme zu schreiben, damit hierdurch dem Publice die schlechten Meinun- gen benommen würden, die es von Rußland hatte." Auch in Leipzig hatte der zarische Korruptionsgesandte augenschein- hch keinen großen Erfolg, denn just in der Europäischen Fama vom Jahre 17052) erschien folgende Auslassung: „Die Moscowitischen Avisen haben gemeiniglich die Eigenschafft an sich, daß man ihnen entweder nicht glauben darff, oder nicht glauben will, weil sie größtentheils aus solchen Orten einlauffen, die extremement partheyisch sind, und dasjenige was sie wünschen, auff eine solche Art erzehlen, als hätten sie Alles durch ein Vergrösserungs-Glaß angesehen, das übrige aber, was ihnen nicht recht in den Kram dienet, entweder aus- lassen oder mit trefflich gekünstelten Expreßionen in Zweiffei ziehen."

1) Unterschiedene Abschnitte aus Peter von Haven neuen verbesserten Nachrichten von dem russischen Reich, welche 1747 zu Kopenhagen gedruckt wurden. In die deutsche Sprache übersetzt. Büschings Magazin für die neue Historie und Geographie. Zehnter Theil (1776). S. 318 319.

2) Sugenheim, Rußlands Einfluß auf Deutschland. I 59.

3) Theil XXIX S. 332.

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Um Europa zu blenden, wollte Peter die Akademie der Wissenschaften gründen, während es noch keine Elementar- schulen gab und von je zehntausend Russen kaum einer lesen und schreiben konnte. Das schadete in Peters Augen nichts, die Akademie mußte gegründet werden, und Katharina die Erste führte den Plan ihres Gemahls aus. Es wurde also wieder auf dem Wege der paradoxen Kontraste fortgeschritten, auf der Bahn zwischen Luxus und Elend. Peter hatte auch eine Rechen- schule gestiftet; sie existierte ein paar Jahre und verschwand dann wegen Mangels an Schülern. Eine Garnisonsschule für die Söhne aristokratischer Offiziere ging ein, weil der Staat für sie keine Mittel zur Verfügung hatte, während Hunderte von Millionen an die Günstlinge verschwendet wurden. Der Senat hatte eine Schule für Zivilbeamte gestiftet, sie stand leer. 1731 wurde für die Kadetten der Armee und 1750 für die der Marine eme Schule eröffnet. In beiden Schulen gab es je 350 Schüler, zusammen 700, aber nicht jährhch, sondern während einer langen Reihe von Jahren.

Die Frauen, die Peter dem Großen während des ganzen achtzehnten Jahrhunderts in der Herrschaft über Rußland folgten, hatten sich um anderes als um die Schule zu kümmern. Die Zarin Anna Iwanowna, die dem Reiche eine Konstitution versprochen hatte, aber ihr Versprechen schon am Tage des Regierungsantrittes zerriß, lebte nur ihrem Günstling Biron- Bühren und ließ die wilden Sitten und abergläubischen Ge- bräuche sorglos fortbestehen. Im Jahre 1737 entsteht in Mos- kau eine Fieberepidemie. Das Volk behauptet, ein Elefant sei die Ursache dieser Epidemie, und unzählbare Leute finden sich, die gesehen haben wollen, wie der Krankheitsdämon in Elefantengestalt Nachts in die Stadt sich eingeschlichen.!) Mit Recht schreibt daher Locatelli in seinen zeitgenössischen Brie- fen: „Stellen Sie sich die Einwohner dieser großen Stadt vor wie eine neue Kolonie. von Lappen, Samojeden und Ost- jaken, die als die stupidesten Völker des ganzen Nordens gelten. Aber glauben Sie nicht, daß dies in jeder Beziehung

1) Waliszewski, L'heritage de Pierre le Grand. R^gne des femmes, gou- vernement des favoris 1725 1741. Paris 1900. Seite 277.

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eine gerechte Parallele wäre ; denn die Moskowiter stehen vielfach unendlich tief unter diesen Völkern." Unter den Seig- neurs bei Hofe sieht man wieder jene Stolniki und Okolnit- schije, die noch aus der Vor-Peterschen Reforrrizeit übrig- geblieben sind; die niemals eingewilligt haben, ihren Bart zu opfern und nach wie vor in alter asiatischer Weise in ihren Dwori leben, in diesen dumpfen einstöckigen Häusern, die ebenerdig eine Küche und eine Speisekammer und im ersten Stocke nichts weiter haben als zwei Zimmer : rechts für den Sommer, links für den Winter. Die weniger bemittelten Kon- servativen begnügen sich gar mit einer Küche und einem ein- zigen Wohnzimmer, das man für den Winter hermetisch vor der Kälte abschließt, monatelang nicht lüftet und nicht reinigt. Die jüngere Generation, die dem Zaren Peter gedient, seine Maskeraden und seine Kriege mitgemacht hat, unterscheidet sich zwar äußerlich von den Alten : die Jungen tragen fran- zösische Kleidung, haben ein rasiertes Kinn, können zum Teile schon lesen und schreiben ; aber ihr Charakter, ihre Manieren und Sitten sind noch immer roh und wild.

In allem zeigt es sich, daß die Reformen Peters ihren Zweck verfehlt und eigentlich nichts als die Erschütterung des Gleichgewichts erreicht haben. Zwischen einer bloß de- korativen europäischen Kultur und Bildung und einer immer neu hervorbrechenden Barbarei schwankt das Rußland des achtzehnten Jahrhunderts hilflos hin und her. Ein Volk, das ein halbes Jahrtausend hindurch in tiefster Verkommenheit zugebracht hatte, ließ sich einfach nicht durch den Barbier und den Schneider brüsk zu einem kultivierten umgestalten, und umsoweniger, als der Despotismus oben, die Knechtschaft unten nicht im mindesten geändert worden, die Gesetze der barbarischen Zeiten noch dieselben geblieben waren. Im elften Jahrhundert bestimmte die Russkaja Prawda, daß ein Schuld- ner, der seine Schulden nicht bezahlen konnte, der Sklave seines Gläubigers, daß ein Mensch, der sich nicht selbst zu ernähren vermochte, der Sklave des erstbesten werden sollte. Das achtzehnte Jahrhundert wagte daran nichts zu ändern, und die Leibeigenschaft, statt in diesem Säkulum der Auf- klärung milder zu werden, wurde durch die unerträglichsten

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Neuordnungen verschärft. Für Bildung und Aufklärung ge- schah auch weiter nichts. Iwan Iwanowitsch Schuwalow, der Günsthng der Zarin Elisabeth, gründete 1755 die Universität Moskau und die mit ihr verbundenen Gymnasien, 1758 das Gymnasium von Kasan, aber an Elementarschulen wurde nicht gedacht, und so blieben die Gymnasien ohne Schüler, die Universität existierte bloß dem Namen nach. Elisabeth glaubte schon alles getan zu haben, da sie nach Rußland das fran- zösische Element gebracht. Nach dem Staatsstreiche, der diese Herrscherin auf den Thron ihres Vaters hob, gab es eine neue Revolution, die der Moden, der Trachten, des Tanzes und des Schauspiels, i) ,, Peter schenkte seinem Reiche die Wissenschaften, seine Tochter brachte den Geschmack,"' sagte ein russischer Dichter der Zeit. D'Eon aber illustriert dieses Lob stark mildernd, wenn er vom Hofe der Zarin sagt : „Nur sieben oder zehn Personen kö^^snen wirklich zivilisiert genannt werden." Im Koschelek, einer zeitgenössischen russischen Zeit- schrift, heißt es: „Ohne das Französische wüßten wir nicht wie man in einen Salon eintreten, wie man grüßen, einen Hut abnehmen, sich parfümieren muß. Wovon unterhielten wir uns früher, wenn wir in eine Damengesellschaft kamen? Von Hühnern und Küchelchen. Frankreich lieferte uns wirkliche Unterhaltungsstoffe." Aber trotz dieser Französierung blieb alles barbarisch. ,,A Petersbourg, ä Moscou, les ripailles ig- nobles, les bouffonneries grossieres de Pierre le Grand etaient encore trop pres, laissaient dans l'atmosphere un relent trop vif de debauche barbare, pour que la persistance de certains traits de moeurs locales n'y trouvät pas un aliment naturel."^) Das Charakteristikum der russischen Gesellschaft, der Aristokratie und des Hofes blieb Jahrzehnte hindurch die fran- zösische Tünche, diese trügerische Kulturschminke, die erst Elisabeth, dann Katharina die Zweite auf die tartarische Bar- baiei strich. Die in Massen aus Frankreich flüchtenden Emi- granten und Abenteueror, die beim Anbruch der großen Re- volution Europa heimsuchten, wandten sich zum großen Teile

1) Waliszewski, La derniere des Romanov. S. 50 51. ■-) Waliszewski, La demidre des Romanov. 58.

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nach Rußland und übernahmen hier willig die Aufgabe, in ihrer Weise die Erziehung der heranwachsenden russischen Generation zu leiten i), eine Aufgabe, welche ihnen Katha- rina ohne weiteres übertrug.

Als Katharina nach Rußland reiste, glaubte sie noch in Berlin, daß das Reich, dem sie ihre Zukunft anvertraute, als ein Kulturstaat betrachtet werden mußte; und als sie an den zarischen Hof kam, blendeten Gold und Brokat, Wohlleben und Luxus ihr unerfahrenes Auge. ,,Aber bald," sagt der russi- sche Historiker Bilbassow^), ,, mußte sie erkennen, daß was sie für Gold gehalten, eine Vergoldung, und daß das Wohl- leben Sittenverderbnis war." Was sich ihr aufschloß, war eine fremdartige barbarische Welt mit unverständlichen Gewohn- heiten, lockeren Sitten, wilden Gefühlen; sie trat in einen Kreis von Menschen, die anders dachten, handelten, lebten, selbst anders aßen als die Menschen in Europa. Und dabei lernte sie natürlich in erster Linie die Verhältnisse am Hofe, das Leben und Treiben der Vornehmsten und Reichsten ken- nen, die wenigstens im Äußerlichen Europa nachzuahmen schienen. Die Unordnung und Unkultur, die in allen Zweigen der Verwaltung herrschten, konnte sie erst nach langen Jahren begreifen. Und wie der äußerlich glänzende Hof, der sich mit dem von Versailles zu vergleichen wagte, in Wahrheit beschaffen war, erfuhr sie, als sie Selbstherrscherin geworden war und in ihrer Umgebung eine Entdeckung machte, die sie zu diesem Brief an ihren Hofmarschall veranlaßte^) : „Ich erfahre, daß meine Dienstboten vor Hunger sterben und drei Tage nichts gegessen haben sollen!" Die Kaiserin mußte einen Hofmarschall daran erinnern, daß auch die Dienstboten bei Hofe Menschen sind und essen wollen, und mußte durch besonderen Befehl anordnen, daß den Verhungernden aus der Hofküche das Essen geschickt wurde!

In einer Liste, der im Jahre 1764 nach Rußland einge- führten Waren ^) finde ich, daß bei einem Import im Werte

1) Schiemann, Alexander der Erste a. a. O. S. 6.

2) Geschichte Katharinas der Zweiten. I 293.

3) Bilbassow, a. a. O. II. Bd., I. Abt., S. 291. *) Enthalten in Büschings Magazin. III 351.

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von vielen Millionen nur 8353 Rubel für gedruckte Bücher aufgezählt sind; an Papier werden 4331 Rieß, an Bleistiften 152460 Stück eingeführt. Handschuhe braucht Rußland nur 3751 Dutzend, Strümpfe 4908 Dutzend und Schnupftücher 1607 Dutzend. Dafür bezieht es Puder im Gewichte von 7187 Pud und an Seidenstoffen für 102 131 Rubel.

Man sollte glauben, daß eine Herrscherin wie Katharina IL, eine deutsche Fürstin, vor allem die Erziehung des \'olkes durch die Schule angestrebt hätte. Man lese nun den Bericht, den Fabricius aus der Zeit gibt, da Katharinas Regierung schon zu Ende geht, also ihre größten Errungenschaften hinter sich hati) : „Unter dem gemeinen Mann, oder unter den anderen Ständen kann nicht die Rede von Wissenschaft seyn, da Ruß- land weder in den Städten nocli auf dem Lande Schulein- richtungen hat. Die wenigen, v/elche wirklich einige Erziehung und einigen Unferricht wünschen, müssen solchen aus den Pensionsanstalten, entweder öffentlich oder Privat, erhalten. Zu den öffentlichen gehören die verschiedenen Kadettenhäüser, das Fräuleinstift und vielleicht noch einige wenige andere. Zu den Privateinrichtungen im Gegentheil gehören theils die Klöster, in welchen die Jugend von Mönchen und Geistlichen erzogen wird, theils einige Anstalten von Franzosen und Deut- schen, die dergleichen Einrichtungen zur Erziehung der Jugend angelegt haben. Alle diese sind nicht für den gemeinen Mann, da sie zu kostbar, auch ist wohl der Unterricht in den eigent- lichen Wissenschaften bei diesen Anstalten nicht der vorzüg- lichste. Er ist dahero auf das elende Mittel in Ansehung des Unterrichts seiner Kinder eingeschränkt, einem verabschiedeten Soldaten einige Rubel zu geben, um sie auszulernen, wie sie es nannten, oder ihnen zur Noth lesen und schreiben zu lehren. Dieß ist auch die Ursache, daß keine christliche Nation so wenig selbst von den ersten Grundsätzen ihrer Religion weis, so selten lesen und schreiben kann als die Rußische."

Katharina die Zweite begründete eine Anzahl Schulen; sie stiftete Internate und akademische Gymnasien, wo die Kinder bis zu vollendeter Ausbildung bleiben mußten ; diese

1) Sugenheim, Rußlands Einfluß auf Deutschland. I 59.

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Anstalten, die nur dem Adel offen standen, entsprachen auch sonst nicht ihrer Aufgabe ; die Bildung, die man hier erhielt, war eine äußerst oberflächliche. Man hat von Katharina gesagt, sie habe die gebildete Frau in Rußland eingeführt; mit welchem Rechte dies behauptet wurde, werden wir jetzt sehen. Einmal faßte sie den Plan, den allgemeinen Unterricht einzuführen; eine vierklassige höhere Probeschule für 400 Kinder blieb aber so unbeachtet, daß man um den Willen der Kaiserin einigermaßen zu befriedigen Schüler in Ketten in die Schule schleppte und sie so an die Bildung fesselte. Im Jahre 1787 gab es 169 Schulen, aber auch nicht viel mehr Schüler, und Katharina entsagte der Sache leichten Herzens. Denn ob die Schulen wirklich ihren Zweck erfüllten, war der Zarin gleich- gültig. In erster Linie sollten sie dazu dienen, die fran- zösischen Philosophen zufriedenzustellen, von denen gelobt zu werden Katharinas höchster Ehrgeiz war. Der Gouverneur von Moskau schrieb der Kaiserin, daß niemand seine Kinder in die Schule schicken wollte, und Katharina antwortete dar- auf i): ,,Mein lieber Fürst, beklagen Sie sich nicht deswegen, daß die Russen nicht den Wunsch haben sich zu bilden. Wenn ich Schulen errichte, so geschieht es nicht für uns, sondern für Europa, wo wir unseren Rang in der öffentlichen Meinung behalten müssen. An jenem Tage, da unsere Bauern anfangen werden nach der Aufklärung zu verlangen, werden weder Sie noch ich auf unseren Plätzen bleiben !" Zynischer und aufrichtiger konnte an höchster Stelle nicht gesagt werden, daß alles, was die Herrscher und Herrscherinnen Rußlands für die Aufklärung tun wollten, nichts weiter sein durfte als eine dekorative Bildung, als eine Blendung der öffentlichen Meinung Europas, die man glauben machen wollte, die Sar- maten zivilisierten sich, während die Barbarei fortdauerte und nur der Aberglaube und die Unsittlichkeit sich konsolidierten. Neben den Obelisken und Triumphbogen zu Ehren eines Orlow, Rumjäntzow, neben den Grabdenkmälern für ihre Lieblings-

1) Custine II 115. Ich weiß nicht, ob dieses Schreiben, trotzdem Custine die Echtheit verbürgte, authentisch genannt werden darf. Aber wenn es erfunden ist, dann ist es gut erfunden und entspricht vollkommen den wahren Ansichten der Zarin über die russische Volksbildung.

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hunde, neben dem Monument für Lanskoy, ihren geliebtesten und schönsten Genossen im Lotterbette, neben diesen unver- gänglichen Zeugen ihrer ruhmvollen Herrschaft wollte Katha- rina auch einige Schulen als Erinnerungen an ihre Epoche hinterlassen. Aber Licht und Schatten mußten streng verteilt werden : Dort der prächtigste Luxus, hier aller Flitter ; dort der Reichtum, hier das Elend; dort die Wahrheit, hier die Lüge; dort die mit Gold und Juwelen geschmückte Wollust der Großen und die Schamlosigkeit des Hofes in Seide und Samt, hier in härenem Gewände die barbarische Verkom- menheit des Volkes. Der kühlste aller Historiker, der Ruß- lands Geschichte mit unanfechtbarer Objektivität durchforscht und geschildert hat, Theodor Schiemann, sagt von dem, was Katharina für die Bildung und Kultivierung Rußlands ge- leistet i): ,,Es hatte zur Folge die steigende Entsittlichung, die am Hofe verkleidet, im Lmern des Reiches in fast un- verhüllter Nacktheit zu Tage trat, eine Erscheinung wie sie durch das Zusammenstoßen der überfeinerten und innerlich faulen französischen Kultur des ancien regime mit der bisher nur wenig übertünchten Barbarei des altrussischen Wesens ihre natürliche Erklärung findet, die aber die entsetzlichsten Zustände zeitigte. Es ist dabei nicht zu übersehen, daß jene Französierung auch den gesamten Kreis der höheren russischen Verwaltungsbeamten sowie die Spitzen der Armee umfaßte und umfassen mußte, solange Hofgunst über die Besetzung dieser Stellungen entschied. Zwischen dem Volke und diesen •zu fremder Umgangssprache, in fremden Sitten und zu einer unrussischen Kultur erzogenen Spitzen der Nation konnte ein Gefühl der Zusammengehörigkeit sich nur soweit behaupten, als es durch das Verhältnis der Herren zu ihren Knechten bedingt wurde. Und ebenso hatte die Regierung keine andere Fühlung mit dem Volke als die, welche ihr durch die Verwaltungs- beamtcn, durch das besondere Volk der Tschinowniki, ver- mittelt wurde." Die Kaiserin persönhch trifft also die Haupt- schuld an der steigenden Entsittlichung der Nation; Katharina kokettierte mit der hyperfeinen Zivilisation des V\'estens, sie

1) Theodor Schieinann, Alexander der Erste. S. 6 7.

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schwärmte ehrlich oder erheuchelt für die Ideale der fran- zösischen Aufklärungsliteratur, sie schrieb selbst Erziehungs- programme; aber für die Bildung des Volkes interessierte sie sich nur zum Scheine, aus Gründen der Eitelkeit; und für die Erleichterung der Knechtschaft, der geistigen wie der materiellen, in deren Ketten die Massen schmachteten, tat sie nichts. Nach wie vor blieb das Volk moralisch dem Aber- glauben und der Sittenlosigkeit, physisch der Willkür der Guts- herren und der Tschinowniki ausgeliefert.

Die Erbschaft, welche Katharina die Aufgeklärte hinter- ließ, lastete erdrückend auf den nachfolgenden Regierungen. i) \'on den Emigranten und den Abenteuerern, die während der Revolution aus Frankreich ausgezogen waren, um Europa zu verseuchen, hatte Katharina die meistverdorbenen Elemente in Rußland aufnehmen lassen, und von diesen hat das Zaren- reich die sogenannte französische Kultur gelernt. 2) Die deutsche Kultur und Literatur jener Zeit vermochten selbst unter Alexander dem Ersten keinen Einfluß in Rußland zu ge- winnen, aber die antiquierten und anderwärts schon über- wundenen geistigen Strömungen der französischen Zivilisation konnten in Rußland in breitem Bette durch das Land fluten. Der Jesuit Abbe Nicole lehrte die Söhne des russischen Adels reden wie die Franzosen, tanzen wie Balletmeister, fechten, deklamieren, Theaterspielen; aber von Arbeit war keine Rede, die Bildung blieb oberflächlich, und die Lebensauffassung, wenn man eine solche in dieser pädagogischen Jesuitenanstalt ge- winnen konnte, hatte mit Rußland nichts gemein. Die Wenigen, die wirklich lernen wollten, gingen ins Ausland, diese erreichten jedoch alles nur für sich und nützten nicht der russischen Kultur. Rußland mußte sich weiter fortfristen mit kläglich

1) Der kurzen Regierung Pauls kann flüchtig auch gedacht werden. Diesem Kaiser war die Bildung so verhaßt, daß er alle Buchdruckereien in seinem Reiche schließen ließ; nur drei durften bestehen bleiben für den Druck der Ukase, der religiösen Schriften und solcher Bücher, die dreimal zensuriert worden waren: von der Regierung, einem Mitgliede der Schulenverwaltung und einem Vertreter der Kirche. Die Folge war, daß die unbedeutendsten Bücher zu Raritäten wurden und die höchsten Preise erzielten, wenn sie heim- üch ausgeboten werden konnten.

2) Schiemann, a. a. O. 394 395. 397 402.

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geleiteten Gymnasien, Kadettenschulen, dem Lyceum zu Zars- koje Sselo und dem Pagenkorps, wo nichts zu erlernen war als eine oberflächlichste formal gesellschaftliche Bildung oder vielmehr Dressur. ,,Und diese staatliche Erziehung, der bei strengster Disziplin jede wahre Zucht fehlte, war doch noch weit besser als die häusliche," welche wie Schiemann auf Grund unzähliger Zeugnisse nachgewiesen hat durchwegs von unwissenden französischen oder deutschen Glücksrittern niedrigsten Ranges erteilt wurde; von Leuten, die man auf der Lehrerbörse im Zagradschen Gasthofe zu ^Moskau oder an der Schmiedebrücke, am Kußnetzkymost, zu Petersburg auffischte. Ein Leibeigener, der das Vertrauen seines Herrn genoß, stellte sich zuweilen an der Tür der Kathedralkirche auf und der erstbeste, der ihm als intelligent erschien, wurde von ihm als Erzieher für die Kinder des Gutsherrn gedungen. So wurden Lakaien, Handwerker, Gärtner, wandernde Klein- händler : Lehrer und Erzieher des russischen Bürgers und Edel- manns. Im Jahre 1822 bot in einem Inserat der Moskauer Zeitung ,.ein Piqueur aus Deutschland" seine Dienste an als ,,Piqueui- oder Gouverneur". Namentlich um die Franzosen dauerte der Wettbewerb der russischen Familienväter fort. Graf Schuwalow hatte für das Pagenkorps sieben Lakaien aus Paris kommen lassen; in Rußland angelangt, fanden es alle Sieben vorteilhafter, statt Lakaien zu bleiben, als Gouverneure in adeligen Häusern Dienste zu nehmen. Fürst Peter Andre- jewitsch Wjäsemskij, Gehilfe des Ministers für Volksaufklärung unter Alexander dem Zweiten, erzählt in seinen Jugenderinner- ungen : ,,Die Wahl der Erzieher, Gouverneure und Lehrer, die man mir gab, war höchst unglücklich. Am Gelde lag es wahrlich nicht. Es waren viele Franzosen, Deutsche und Eng- länder bei mir, aber keiner von ihnen war imstande, mich zur Arbeit zu gewöhnen. An russische Erzieher war jedoch über- haupt nicht zu denken. Die gab es nicht, und ich weiß nicht, ob heute viele zu findea sind ; so mußte man denn auf gut Glück die Fremden einfangen." Senator Ssacharow klagte in ähnlicher Weise: „Die Bildung des Adels besorgten Gouver- neure und Gouvernanten, Leute ohne jede wissenschaftliche Bildung. Mit ihnen drangen in die Familien der Gutsbesitzer

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Sittenlosigkeit, Frechheit, Mißachtung der Eltern, Verachtung des Glaubens der Väter und schmähliche Freigeisterei." Wenn die höchsten Adeligen in den beiden Hauptstädten des Reiches für die Erziehung ihrer Kinder Lakaien als das möglichst Erreichbare warben, so kann man sich ein Bild von dem Material machen, das in den Provinzen für gut genug befunden wurde. Hier kamen schon die Schüler jener Lehrer zu Ehren oder man engagierte ungeschlachte Seminaristen, auf die man das Wort des deutschen Dichters anwenden darf: ,,Was sie gestern gelernt, wollen sie heute schon lehren." Und wie arm- selig war das, was ihr eigenes Wissen ausmachte ; wie selt- sam mögen die Elemente der Bildung gewesen sein, die sie auf ihre Zöglinge übertrugen ! W' ir haben uns bisher mit den höchsten Kreisen befaßt, nur die Vornehmsten in den beiden Residenzen und die reichsten Häuser in den übrigen Städten und auf dem Lande betrachtet. Aber wie erging es erst dem unbemittelten Adel oder den Beamten! Die Lakaien wurden von den Großen abgefangen, den Kleinen blieben also nur die kriegsgefangenen französischen Soldaten, die sich auch leicht in ihre neue feine Rolle fanden, sich in Rußland niederließen und die Jugendbildner der russischen Mittelklasse wurden. Der berühmte Chirurg Pirogow erzählt in seinen Denkwürdigkeiten!) über die Bildung, die ihm zuteil gewor- den: „Von Jugend auf lernte man die europäischen Sprachen nur in den höchsten Schichten der Gesellschaft, und zwar nur für sich, für seinen Kreis, für den Salon und im Interesse der eigenen Karriere, denn die Kenntnis einer fremden Sprache war das Aushängeschild der Bildung." Russische Bücher gab es nicht, man brauchte sie auch nicht. „Als nun die niederen Schichten der Gesellschaft nach Bildung zu streben begannen, gab es für sie nichts zu lesen. Eine wissenschaftliche und klassische Literatur existierte in russischer Sprache nicht, weil diese nicht standesgemäß war. Und so zerfiel denn der die Kuhur tragende Teil der Gesellschaft in zwei voneinander geschiedene Schichten: eine obere, welche über alle Mittel

1) In deutscher Übersetzung von Schiemann in dessen Sammlung rus- sischer Denkwürdigkeiten als dritter Band (Stuttgart 1894) herausgegeben.

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der Bildung verfügte, aber ihrer Geburt, ihrer Stellung, ihren Vorurteilen nach zu einer ernsten wissenschaftlichen Arbeit nicht berufen schien, und zweitens eine untere Schicht, die sich fast ausschließlich aus dem Proletariat rekrutierte."

Die beste Absicht, Volksschulen zu begründen, hatte Alexander der Erste. Er wünschte, daß wenigstens in jedem Kirchspiel eine Schule sein sollte. Aber die Regierung gab dazu kein Geld her, die Gemeinden und Gutsbesitzer wollten die Lasten nicht auf sich nehmen, und die Resultate entsprachen diesem komischen Wettbewerbe im Nichtsleisten: 1806 wurden im Gouvernement NoAvgorod hundert Volksschulen errichtet, nachdem man im Jahre 1804 im Gouvernement Olonez zwan- zig und sogar im Gouvernement Archangelsk neun eröffnet hatte. Man beeilte sich der Welt von dieser wunderbaren Kultivierung Mitteilung zu machen, man erzählte jedoch nie- mals, daß in Nowgorod nach zwei Jahren von den hundert Schulen nur noch eine einzige bestand, und daß es 18 19 weder im Gouvernement Archangelsk noch im Gouvernement Olonez auch nur eine gab. Aber die Blendung Europas war wieder gelungen, und Zar Alexander vervollständigte sein großes Zi- vilisationswerk durch die Schaffung eines Ministeriums der Volksaufklärung, durch Neubelebung der Universitäten von Wilna, Moskau und Dorpat und die Begründung der drei neuen Universitäten von Charjkow, St. Petersburg und Kasanj. Rußland hatte nun zwar keine Schulen, aber Universitäten ! und war ein Kulturstaat ersten Ranges.

Verweilen wir einen flüchtigen Augenblick bei diesen russi- schen Universitäten. Der große russische Gelehrte Pypin sagte 1): „Die Anfänge des wissenschaftlichen Lebens in Ruß- land waren stets von Erscheinungen der Hohlheit und Will- kür begleitet, weil man die abstrakten und sittlichen Forderun- gen der Wissenschaften nicht begriff und nur eine Dekoration der Wissenschaft herzustellen bestrebt war." Das Volk war noch für die Elementarschule nicht reif, da schuf man eine Universität nach der anderen. Die Universitäten mußte man

1) Die geistigen Bewegungen in Rußland in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts. Erster Band. Die russische Gesellschaft unter Alexan- der I. Aus dem Russischen übertragen von Dr. Boris Minzes. Berün 1894.

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bevölkern; also befahl man in Charjkow den Seminaristen, in Kasan] den Gymnasiasten : Studenten zu werden ; und in Petersburg wußte man sich schon gar nicht anders zu helfen als damit, daß man den Leibeigenen, die sonst keine Rechte hatten, das Recht des Universitätsstudiums verlieh.

Die Dorpater Universität wurde vor fast dreihundert Jahren von Gustav Adolf gegründet, „damit das martialische Livländ zu Tugend und Sittsamkeit gebracht werde". Peter der Große, der die ausländische Bildung angeblich nach Rußland ver- pflanzen wollte, vernichtete im Jahre 17 lo die Universität Dor- pat, und erst Alexander Pawlowitsch erweckte sie wieder zum Leben. In ihrem ersten Jahre, 1802, zählte sie nur 47 Hörer, und es dauerte lange, bis sie die Aufgabe erfüllen konnte, die Zar Alexander ihr gestellt hat : ein Quell der mensch- lichen Kenntnisse für das ganze Reich zu sein. Und als sie diesem Zwecke endlich wirklich entsprach, brach das Russi- fizierungsgewitter über sie herein und zerstörte von Grund aus, was Generationen der Besten gebaut hatten. i)

Zwei Jahre nach der Neubegründung der Dorpater Uni- versität entstand die von Kasanj, wo es schon seit 1755 ^^^ Gymnasium gab allerdings ein Gymnasium sozusagen ohne Schüler. Das war das kühnste Blendwerk, das Alexander der Erste der europäischen Welt vorspiegeln ließ. Wie weit mußte die Kultur in Rußland schon vorgeschritten sein, daß man es wagen konnte, auf ehemals tatarischem Boden, im äußersten Osten des europäischen Zartums, fern von den Residenzen einen Tempel der Wissenschaft aufzurichten. Sehen wir näher zu! Der erste Rektor dieser Universität, zugleich ihr Haupt- professor und auch Direktor des Gymnasiums war der ehe- malige Volksschullehrer Ilja Feodorowitsch Jakowkin. Vier Lehrer des Gymnasiums waren ihm als Professorsadjunk- ten für verschiedene Wissenschaften beigegeben. Ein Rechenlehrer war Professor der Mathematik, ein ehe-

1) Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland. Berlin 1893: „Dorpat und Jurjew," Seite 141 157. Interessante Mitteilungen zur Geschichte der Dorpater Universität enthält das Buch von Professor Georg Friedrich Bienemann: Der Dorpater Professor Georg Friedrich Parrot und Kaiser Alexander I. zum Säkulargedächtnis der alma mater Dorpatensis." Reval 1902.

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maliger Feldscher brillierte als Professor der Medizin. Jakowkin bevölkerte die Universität mit Studenten, die keine Prüfungen abzulegen brauchten, sondern sich bloß bei ihrem Rektor als Pensionäre einzumieten hatten, um ihres Studien- erfolges sicher zu sein. Also kamen viele Jünglinge nach Kasanj, um mit leichter Mühe Doktoren aller Wissenschaften zu "werden. Das imponierte der Regierung, und man ver- schrieb nun für die blühende Universität wirkliche Gelehrte, wie den Orientalisten Frehni) und den Astronomen Littrow, denen aber Jakowkin ein saueres Leben bereitete; er konnte die frechen Gebildeten, wie er die Gelehrten nannte, nicht leiden, und als die Deutschen sich weigerten, an dem Gottes- dienste in der russischen Kirche teilzunehmen, ließ er sie wegen Verhöhnung der rechtgläubigen Kirche vor Gericht stellen. 2j Auch an der Petersburger Universität sahen die Rektoren und Kuratoren ihre wichtigste Aufgabe nicht in der Förderung, sondern in der Hemmung des Fortschritts und der Bildung. Sagte doch der Kurator Runitsch einem Pro- fessor der Philosophie, diese Wissenschaft sei eine Satans- lehre: ,,Sie sind ein Heide und lehren heidnische Irrlehren; philosophische Argumente stellen Sie auf, die einen Christen tötlich verletzen. Die lascive Philosophie gilt Ihnen mehr als die jungfräuliche Gottesmutter!" Und der Rektor ließ diesem Satanslehrer als einem ,, Anstifter, Aufwiegler, Verräter, Mord- brenner, Revolutionär und Gotteslästerer" den Prozeß machen. Das war die Bildung Rußlands unter Alexander dem Ersten, und auch dies erschien seinem Bruder und Nachfolger Nikolaj zu viel, der gegen die Universität als gegen seine Todfeindin wütete wie einst Peter der Große gegen den Lang- bart. Und doch fand sich nicht in Rußland, nein, in Deutschland, im glorreichen Jahre 1848 ein Held, der die russische Schule unter Nikolaj dem Ersten als ein förmliches Ideal der Bildung und des Fortschritts und der Freiheit zu

1) Diesem verdankte die Universität die wunderbare Sichtung ihrer einzig dastehenden BibUothek von chinesischen, mongoUschen und tibetanischen Manuskripten.

2) Bernhard Stern, Von der Ostsee zum Stillen Ozean. Breslau 1897. S. 243 246 über die Kasanjer, S. 246 ^^249 über die Petersburger Universität.

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loben wagte 1): „So stark," heißt es in einer in Weimar er- schienenen Verteidigung der russischen Barbarei, ,,ist das Vor- urtheil gegen die wissenschaftlichen Anstalten Rußlands, daß man es am wenigsten erwarten wird, hier eine Parallele öster- reichischen und russischen Unterrichtswesens zu lesen, die zu Gunsten des letzteren ausfällt. In Rußland geht man bei dem Jugendunterrichte allerdings auf Unterwerfung des Geistes aus, aber man tritt seiner Entwickelung nicht so hemmend in den Weg. Der Gebeugte kann sich erheben, und seine Rechte vin- diciren, wenn er sich bevortheilt glaubt, er kann seine phy- sische und moralische Kraft nach Willkür gebrauchen, wenn die Fesseln gelöst sind. Denn die Schule steht nicht unter der Vormundschaft der Geistlichkeit, sondern unter der Aufsicht der Regierung, welche wenn keine andere Wahl bleibt gewiß der pfäffischen Leitung vorzuziehen ist."

Auch dieser A'^orzug existiert längst nicht mehr. Von den zehntausenden Schulen, die Alexander der Zweite begrün- den wollte, sind nur Tausende ins Leben getreten. Die Minister Alexanders des Dritten, Tolstoj und Pobjedonoßzew, haben auch die Tausende dezimiert, und schließhch wurde durch den Ukas vom i6. Mai 1891 fast das gesamte Schulwesen der Geistlichkeit ausgeliefert, alles was noch übriggeblieben war aus der Epoche Alexanders des Zweiten unter die Zucht- rute des Heiligen Synod gesteht, der sich mit der Polizei in die Aufgabe der Entsittlichung der Jugend teilt. Eine neue Institution wurde in die russische Schule eingeführt: das System der Kollegendenunziation. In jedem Gymnasium wurde eine Anzahl Schüler ohne Schulgeld aufgenommen, und diese Knaben im Alter von neun bis achtzehn Jahren haben die Pflicht als Gegenleistung für die Freischule ihre Kameraden auszuspionieren. Die offizielle Aufsicht der Regierung aber macht sich in dieser Weise geltend: der Minister für Volks- aufklärung versendet an die Generalgouverneure und Gou- verneure ein Rundschreiben mit der Anweisung, die Trunk-

1) Kaiser Nicolaus der Erste gegenüber der öffentlichen Meinung von Europa, zur Berichtigung unreifer Urtheile über russische Diplomatie und Regierungspolitik. Audiatur et altera pars! Weimar 1848 (Druck und Ver- lag von Bernhard Friedrich Voigt). Seite 106.

Stern, Gusohiehte der öffentl. Sittlichkeit in Riifjl.ind. 4

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sucht und Unsittlichkeit der Studenten nicht zu bestrafen, da- gegen mit eiserner Strenge freie Äußerungen gegen die Re- gierung zu unterdrücken.!) Dementsprechend werden das Pro- fessorenmaterial und das Korps der Pedelle ausgewählt. Unter Katharina IL und Alexander I. waren, wie wir wissen, Lakaien und Soldaten die Erzieher der russischen Jugend, denn damals brauchte man wenigstens dekorative Bildung; heute aber ver- langt man Entsittlichung, nackte Verkommenheit, und so stellt man als Lehrer vornehmlich liederliche Subjekte und als Uni- versitätsdiener Kellner aus Schandlokalen, Kuppler und Bordell- wirte an. Je schändlicher das Privatleben eines Professors ist, je mehr Maitressen er sich hält, desto angesehener ist er bei der Regierung; und als die besten akademischen Bürger und Bürgerinnen in den Augen des Rektors und Kurators erscheinen jene Studenten und Studentinnen, die schamlos ein freies Leben führen und die ganze Gesellschaft zu Zeugen ihrer öffentlichen Liederlichkeit machen. Nicht die Wissen- schaft soll gepflegt werden, sondern die Lasterhaftigkeit, denn diese und nicht jene gilt in Rußland als Begleiterin der Loyali- tät und Untertanentreue. Der große russische Chirurg Piro- gow sagte einmal : in Rußland sei die Hochschule das emp- findsame Barometer, das den geistigen Zustand der gesamten russischen Gesellschaft anzeige. Wenden wir diesen Satz auf die geschilderten Verhältnisse an, dann erhalten wir ein ent- setzenerregendes Spiegelbild der russischen Gesellschaft, und leider ein getreues.

Es hat in Rußland selbst nicht an mutigen Männern ge- fehlt, welche die Gebrechen der Schule offen dargelegt haben. Da liegt vor mir ein merkwürdiges russisches Buch von Maß- lowskij über die allgemeinbildende Schule. i) Es sind Gedan- ken eines Familienvaters, der uns schildert, wie die Schule es ist, die die Jugend entsittlicht, sie der Familie entfremdet; wie eine förmliche Kluft zwischen der Familie und der Schule entstanden ist. Unterricht und Erziehung in der Schule sind bar der lebendigen Hingabe an die Wissenschaft; und dann

1) Lanin, Russische Zustände. I 22, 35, 38.

^) A. <I>. MucaYoBCKiii, Pvccivaa oömeoöpaaoBaTCTfcHaH inKo.ia. MuGin oma cejieücTBa. C.-IIeTepöyprb, 1900.

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beschuldigt die Schule nicht sich selbst, sondern die Familie der mangelhaften Resultate, die erzielt werden. Die Schule untergräbt die Autorität der Familie, diese reagiert durch den Widerstand gegen die Schule, und das Opfer ist die Jugend. Die Schule hat nur die höheren Schichten der Gesellschaft im Auge und kümmert sich nicht um die Bedürfnisse der Menge. Deshalb kann nur ein beschämend kleiner Teil derjenigen, die in die Mittelschule eintreten, sie bis zum Ende durch- gehen und zum höheren Studium gelangen. Aber auch jene, welche das Ziel erreichen, haben geringen Gewinn davon. Die Kenntnisse sind trocken und oberflächlich, die Bildung unwahr, Geist und Gemüt werden nicht entwickelt, sondern entsittlicht. Das Mißtrauen gegen wahre Bildung ist das Administrations- prinzip, und beim Examen entscheiden nicht die Befähigung und die Kenntnisse, sondern die Protektion und die sogenannte Loyalität der Kandidaten. Die Schule regiert durch Furcht, man will absolut nicht Männer erziehen, die fähig wären zur Selbstbestimmung. Statt der Erzieher gibt es nur Reglements, statt der Wissenschaften: Polizeiverordnungen.

Vor einigen Jahren hat das Ministerium der Volksauf- klärung i) ein Werk über den Stand und die Fortschritte der Elementarschulbildung in Rußland herausgegeben. Sehen wir davon ab, daß ein großer Teil der dort mitgeteilten Daten auch nur auf Blendung und dekorative W^irkung berechnet ist, nehmen wir diese amtlichen Mitteilungen für vollwertig. Danach hat Rußland jetzt 79000 Elementarschulen mit vier Milhonen Schülern. Diese Schulen sind neun verschiedenen Ministerien unterstellt, mehr als die Hälfte aber dem geistlichen Ressort. Auf die Städte entfallen 7797 Schulen, die übrigen auf das Land. Da die Stadtbevölkerung den achten Teil der Ge- samtbevölkerung ausmacht, so sind die Städte ärmer an Schulen als die Dörfer; dafür sind die städtischen Schulen stärker besucht. An den 79000 Elementarschulen sind 150000 Lehr- kräfte, davon 23566 in den Städten, 127094 in den Dörfern, so daß auf eine Stadtschule durchschnittlich drei, auf eine Dorfschule aber kaum zwei Lehrkräfte entfallen. Im ganzen

1) Im Jahre 1903, unter der Redaktion von W. S. Farmakowskij.

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Uralgebiel gibt es keine einzige Lehrerin an einer Elementar- schule; in 63 Gouvernements und Gebieten sind die Lehrerinnen in der Minderheit gegenüber den Lehrern; in den Gouverne- ments Orcl und Ssamara und im Amurgebiet ist die Zahl der männlichen Lehrkräfte dieselbe wie die der weiblichen; in 21 Gouvernements gibt es mehr Lehrerinnen als Lehrer, so nament- lich im Gouvernement Petersburg und im Gouvernement Wjatka. Von den Schulkindern sind drei Viertel Knaben, ein Viertel Mädchen. Eine Elementarschule entfällt auf 243 Qua- dratwerst oder 1676 Bewohner, und bei dieser Verteilung sind ganze Gebiete ohne Schale. Nur in den Gouvernements Est- land und Olonez steht die Anzahl der Schulen in dem normalen Verhältnisse zur Kopfzahl der Bevölkerung, hier entfällt eine Schule auf 650 Bewohner. Im Gouvernement Petersburg muß eine Schule für 1405 Seelen, im Gouvernement Kowno für 4427 und in Zentralasien für 97526 Einwohner genügen. Von den schulpflichtigen Kindern Rußlands besuchen nur 35 Pro- zent die Schulen, 65 Prozent bleiben fern. Für den Unter- halt der 79000 Elementarschulen werden 40 Millionen Rubel jährlich verausgabt, was 32^/^0 Kopeken per Kopf der Ge- samtbevölkerung ausmacht.

Wir kritisieren nicht weiter diese Daten, aber fragen bloß : wozu diese zwecklose Ausgabe von 40 Millionen ? Wozu Geld für die Elementarschulen hinauswerfen, so lange man die Mittel- schulen knechtet und die Hochschulen haßt als die Herde des Radikalismus und der Revolution ? Wozu Ideale hoffen lassen, die das Leben nicht erfüllt ; weshalb mit Wissenschaft und Bildung prunken, die man unterdrücken will ? Alexander der Erste glaubte noch die Universität einen Quell mensch- licher Kenntnisse für das ganze Reich nennen zu müssen. Heute ist sie ein Quell von Schmutz, eine Flut det Unsitt- lichkeit geworden, dank dem System der Reaktion, das von Jahr zu Jahr brutaler wird. Unsinnig ist es jährlich viele Millionen für die Elementarschulen auszuwerfen, und anderer- seits Lehrfreiheit und Lernfreiheit zu vernichten, weil die Schule bei der Regierung im Verdachte des Liberalismus steht und die Studentenschaft trotz Rute und Knute auf dem Märtyrer- wege zur Freiheit sich drängt. Der Staat hat es verstanden,

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aus den Studenten Leute zu machen, denen ihr Leben nichts gilt ; ihm genügt nicht das Elend des Volkes, er schuf auch einen Universitätspauperismus, wie Leroy-Beaulieu die russi- sche Intelligenz nennt, ein Abiturientenproletariat, wie Bis- marck in einer berühmten Reichstagsrede den Nihilismus be- zeichnet hat. Man werde konsequent, schließe die Elementar- schule, vernichte die Mittelschule, öffne niemals mehr die L^ni- versitäten und überlasse das Volk ganz dem Aberglauben und der Unsittlichkeit, die ohnehin bis heute mächtiger geblieben sind als Bildung und Wissenschaft.

4. Aberglaube und Verbrechen.

Gesetze betreffend Aberglauben Sterndeuterei List und Wollust eines Bischofs Abergläubische Anzeichen Träume Schlange Taube Insekten als Herdgeister Unverletzlichkeit der Läuse Vogelflug Böser Blick Kartenaufschlagen Feuer Das Jahr und seine Tage Der Tag des heiligen \Vlaßj Fasten Wochentage Der Freitag als Gauner

Mißgeburten Aberglaube und Verbrechen Erinnerungen an Bauopfer

Das Opfer der Müller Verbrechen und Talisman Die Zehe als Talis- man — Der Zahn als Zaubermittel Leichenteile als Heilmittel Geschlechts- teile als Zaubermittel Der Tod im Aberglauben Angst vor den Toten

Seelenspeisung.

Nach den vorhergehenden drei Kapiteln, in denen wir den Gang der russischen Kultur und ihren gegenwärtigen Zu- stand kennen gelernt haben, wissen wir, daß Rußland noch abgrundtief im Aberglauben untersinkt. Unter den kultivier- testen Völkern unserer Zeit ist der Aberglaube noch nicht ganz ausgerottet. Aber er ist bei ihnen nirgends mehr allgemein und nimmt in den seltensten Fällen gefährliche Formen an. In Rußland jedoch ist der Aberglaube die wahre geistige, moralische und auch physische Geißel des gesamten Volkes; er erscheint hier in einer Gestalt, die furchtbar ist; er be- herrscht alle Schichten der Gesellschaft und ist begleitet von Verbrechen, wie sie sonst nur noch bei den wildesten Völkern, bei Kannibalen, vorzukommen pflegen. Die grausamsten Fol- terungen, brutale Vergcwahigungen, Meineid, Mord und So- domie als Folgeerscheinungen des Aberglaubens sind nicht

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die Au: nahmen, sondern die Regel. In keinem Lande der Erde sind die Gebiete des Aberglaubens und der öffentlichen Sitt- lichkeit in so unauflösbarem Zusammenhange wie in Rußland.

Nicht nur die älteren Gesetzgeber, auch die der neuesten Zeit haben diesen Umständen besonders Rechnung tragen müssen. Ich erwähne hier zunächst die bedeutsamsten Para- graphen aus dem Strafgesetzbuche vom Jahre 1845 und die Artikel der Allgemeinen Gesetzessammlung vom Jahre 1890.

In dem Strafgesetzbuche vom Jahre 1845 besagen die Paragraphen 1 1 59 bis 1 164 : Wer aus Eigennutz, falscher Ruhm- sucht oder irgend eines Vorteils willen Gerüchte von vor- geblichen Wundern verbreitet oder eine durch ihn selbst ver- anstaltete Erscheinung leichtgläubigen Leuten als ein Wunder darstellt, wird für diesen auch in religiöser Beziehung straf- baren Betrug nach Maßgabe seiner Schuld und des dadurch gestifteten Ärgernisses auf sechs Monate bis zu einem Jahre Besserungshaus verurteilt. Im Wiederholungsfalle erfolgt Ver- lust der Rechte, eine Strafe bis zu zwei Jahren und Kirchenbuße. Dieselben Strafen treffen denjenigen, der um irgend eines unrechtlichen Vorteils willen die Leichtgläubigkeit anderer be- nützt und sich für einen Wahrsager oder Zauberer ausgibt und bei Ausübung dieser betrügerischen Kunst Gegenstände mißbraucht, die dem christlichen Kultus geweiht sind. Wer ohne einen dem christlichen Kultus geweihten Gegenstand herabzuwürdigen sich für einen Wahrsager oder Zauberer aus- gibt und angebliche Gesichte sehen läßt, angebliche Zauber- tränke, Zaubermittel, sogenannte Talismane und andere be- zauberte Dinge zubereitet, austeilt und verkauft, erhält beim ersten Male sieben Tage bis drei Monate Arrest, beim zweiten Male 6 Monate bis zu einem Jahre Besserungshaus. Wer auf solche Weise Gegenstände austeilt, die der menschlichen Ge- sundheit schädlich sind, geht auf ein bis zwei Jahre seiner Rechte verloren. Stirbt ein Mensch durch den Gebrauch solcher Gegenstände, so erhält der Schuldige, falls er Christ ist, eine Kirchenbuße auferlegt. Diesen Strafen sind die bei einigen heidnischen Völkerschaften vorkommenden Zauberer und Geisterbeschwörer- nicht unterworfen, wenn sie ihre Künste den Gebräuchen dieser Völkerschaften gremäß und bloß für

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ihre Glaubensgenossen üben. Die angeblich besessenen Weiber, die gegen andere Leute aussagen, als hätten diese ihnen durch Zauberkünste geschadet, werden für solchen bos- haften Betrug auf sechs Monate bis zu einem Jahre ins Bes- serungshaus eingesperrt. Wer sich für eine mit übernatür- lichen Kräften oder besonderer Heiligkeit begabte Person aus- gibt und das so gewonnene Zutrauen der Menge anwendet, um im Volke Unruhen oder Verwirrung zu erregen, es zur Widersetzlichkeit gegen die Regierung anzureizen, verfällt in die Strafe der Verbannung und der Ansiedelung in Sibirien und erhält zwanzig bis dreißig Peitschenhiebe.

Im vierzehnten Bande der Allgemeinen Gesetzessammlung vom Jahre 1890 handeln die Artikel 28 bis 35 vom Aberglauben. Hier wird verboten : Der Gebrauch sich zur W^eihnachtszeit in Götzenkleider zu stecken, auf den Straßen zu tanzen und verführerische Lieder zu singen; in der Osterwoche solche Leute zu baden oder mit W^asser zu bespritzen, die nicht bei der Frühmesse gewesen sind. Andere Artikel befassen sich in ähnlicher Weise wie die Gesetze vom Jahre 1845 mit lügnerischen Weissagungen und Afterprophezeiungen und mit den Personen, die sich für Zauberer und Hexen ausgeben. Am 5. Oktober 1772 fürchtete die Regierung anläßhch der Pestepidemie eine stärkere Verbreitung des alten Gebrauches, in Zeiten der Seuchen die Gräber jener zu öffnen, die man für Krankheitsgeister und Vampyre hält.i) Damals entstand

1) Dieser Aberglaube erhält sich hartnäckig. 1871 kam zum Geistlichen des Fleckens Boguschewitschi im Gouvernement Minsk eine Witwe und bat, man möge das Grab ihres verstorbenen Mannes öffnen, der Leiche den Kopf abschlagen und zu Füßen des Toten legen, damit er nicht mehr aufstehe; er komme noch allnächtlich in seine Hütte zurück, klagte die Witwe. Wird eine Witwe schwanger, so redet sie sich leicht auf den toten Mann als Vampyr aus ! Mangel an Regen schreibt man dem Einflüsse plötzlich, also unbuß- fertig Verstorbener zu; sie sind Vampyre, melken die Wolken und stehlen den Tau. Man muß ihre Leichen in Schluchten, Seen oder Flüsse werfen. Das Wasser vertreibt den Zauber. Als im Jahre 1889 große Dürre herrschte, grub man im Dorfe Ssinokriwez im Kreise Cherson die Leiche eines Greises aus, der im Leben als Vampyr gegolten hatte, viele wollten sogar einen Schwanz auf seinem Rücken gesehen haben. Man begoß also die Leiche und glaubte die Bosheiten des Vampyrs nicht mehr fürchten zu müssen. Aus dem gleichen

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ein Gesetz, das für solche Verbrechen als Strafe Zwangsarbeit und Verschickung zur Ansiedelung in Sibirien vorschrieb ; die neuere Gesetzgebung setzte für solche Fälle die Strafe auf Gefängnis und Korrektionsanstalt herab. Weitere mit dem Aberglauben zusammenhängende Gesetzartikel werde ich später an verschiedenen Stellen erwähnen.

Braucht man es besonders hervorzuheben, daß alle diese Gesetze nur illusorischen Wert haben und nicht geeignet sind, den Aberglauben zu bekämpfen, wenn gleich hier gezeigt werden wird, daß noch heutzutage die Herren Richter selbst in Ruß- land dem Aberglauben huldigen? Am i6. März 1896 hatte das Eauerngericht im Dorfe Ustj-Mulljänka im Permschen Kreise des Kama- und Wolgagebietes über die Klage eines Bauern zu entscheiden, der behauptete, im Dorfe wäre eine Hexe, die seinen Stier bezaubert hätte. Er verlangte, daß man, um die Hexe herauszufmden, alle W^eiber des Dorfes durch ein Kummet kriechen lassen sollte; diejenige, welche nicht hindurch käme, sei die Hexe. Und das löbliche Dorf- gericht entschied wirklich im Sinne des Klägers. Im Dorfe Peressadowka, Gouvernement Cherson, schrieben die Bauern die Regenlosigkeit der Zauberei der alten Weiber zu. Die Gemeindeverwaltung berief drei verdächtige Weiber ins Ge- richtshaus und befahl ihnen, dafür Sorge zu tragen, daß es am 17. Juli regnen solle, i) Dann wurde mit den Frauen die Probe angestellt, man badete sie im Flusse, wodurch nach altem, auch in anderen Ländern in früheren Zeiten angewen- deten Gebrauche herausgefunden werden kann, wer eine Hexe sei; eine solche geht nämlich dank ihrer Verbindung mit dem

Grunde grub man im Jahre 1868 im Dorf Tichij Chutovj im Kreise Tarach- tschan des Kijewschen Gouvernements die Leiche eines Altgläubigen aus, der als Vampyr gegolten. Man schlug der Leiche auf den Kopf und rief dabei: Gib uns Regen. Dann begoß man den Toten durch ein Sieb und beerdigte ihn wieder. Vgl. Aberglaube und Strafrecht von August Löwenstimm, Ge- hilfe des Juriskonsults im Justizministerium zu St. Petersburg. Übersetzung aus dem Russischen, mit Vorwort von Dr. J. Kohler. Berlin 1897. S. loi 103. 1) Geschehen im Jahre 1883. XaphKOBCKiH BtaoMOCTii .V 185. CysmoBT., Kii'BCnaH CTapima 1889, crp. 82. Vgl. Löwenstimm a. a. O. 41 und 83.

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Teufel im Wasser nicht unter. i) Die Wasserprobe nützte nichts und am 17. Juh gab es auch keinen Regen. Man zitierte abermals die drei Weiber, diese aber erklärten jetzt in ihrem Zorn, es werde auch in Zukunft nicht regnen. Tief erschrocken zogen die Gemeindemitglieder andere Saiten auf und verlegten sich aufs Bitten; und die Frauen ließen sich erweichen, führten die Gemeindeältesten und die Dorfpolizei in die Hütte der einen von den Dreien und zeigten ihnen dort in der Ofen- röhre zwei Feilen und ein verkittetes Schloß als die geheim- nisvolle Zauberkraft. Der Bericht erzählt nicht, ob die drei Hexen zum Danke für die aufgelöste Verzauberung zu Ehren- bürgerinnen des Dorfes Peressadowka ernannt wurden. Das Gemeindegericht von Schetin im Poschechonschen Kreise des Gouvernements Jaroslaw verurteilte am 3. Oktober 1884 den Bauer David Charitonow wegen zauberischer Zufügung eines Bruchschadens zu zwanzig Rutenschlägen. 2) Im Dezember 1887 verurteilte die Gemeindeverwaltung von Alexandrowo im Kreise Choper einen Bauer zur Ansiedelung in Sibirien 3), ,,weil er den Satan in die Leute treibt ; sobald er jemandem ein Glas Wasser reicht, beginnt dieser zu schimpfen, seine Kleider zu zerreißen, und der Teufel gibt ihm keine Ruhe."

Wenn die Richter an Hexen und Zauberer glauben, können sie natürlich auch selbst behext und bezaubert werden: Die Dorfrichter im Kreise Tscherkaßk des Dongebietes verurteilten im Mai 1880 eine Saldatenwitwe wegen Kuppelei zur Aus- peitscliung. Als der Übeltäterin auch mit der Verbannung nach Sibirien gedroht wurde, verfiel die erschrockene Frau auf den Gedanken sich durch Hexerei die Neigung der Richter

1) Löwenstimm a. a. O. 81 82 erwähnt diese Wasserprobe mehrmals. Die Wasserprobe dient nicht bloß zur Erkennung der Hexe, sondern auch zur Behebung der Dürre. Im Kaukasus wurden im Jahre 1870 dreizehn alte Weiber aus dem Dorfe Nowo Alexandrowska der herrschenden Dürre wegen ins Wasser geworfen. Es ereignete sich ein solcher Fall auch im Slawjäno- serbschen Kreise.

2) Mitgeteilt von den /Ipnc.umcK. ryu. idvii'M. 1889, M 67. Ccio Ko3t.MO-,T^eMSi}icivOf , co'niHeiiie C. P. ;l,ciiyii(ina. Vgl. Löwenstimm a. a. O.

S. 75.

3) Mitgeteilt vom irupii tuin, 1881, ,M 26. Vgl. Löwenstimm a. a. O. S. 74.

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zu gewinnen. 1) Sie versuchte also folgenden Liebeszauber : sie wusch sich mit Wasser, schüttete dann das Waschwasser in ein Fäßchen und trug dieses in die Gerichtsstube des Ge- meindehauses. Die Richter tranken das verhexte Wasser aus, erfuhren aber am nächsten Tage den Streich, der ihnen ge- spielt worden. Die Hexe hatte offenbar den Zauber unvoll- kommen ausgeübt, denn die Richter waren nicht in Liebe zur Kupplerin entbrannt, sondern vollzogen an ihr eine neuer- liche Auspeitschung. An dieser Bestrafung nahmen außer den Richtern auch die angesehensten Bauern, im ganzen 26 Mann, als Henker teil. Das Kreisgericht von Nowotscherkaßk unter- suchte den Fall und stellte die Gemeinderichter und Bauern von Tscherkaßk wegen ungesetzlicher Auspeitschung einer Frau vor die Geschworenen. Die letzteren aber sprachen die An- geklagten frei; denn obwohl das Gesetz befiehlt, daß Frauen unter keiner Bedingung zu einer Leibesstrafe verurteilt werden dürfen, meinten die braven Geschworenen im Falle einer Hexe von den Wohltaten des Gesetzes absehen zu sollen.

Auch in den allerhöchsten Kreisen ist der Aberglaube eine gewöhnliche Erscheinung, und die bedeutendsten histo- rischen Ereignisse der russischen Geschichte sind mit ihm verknüpft. Als natürlich kann man es hinnehmen, wenn der russische Hof gleich den anderen Höfen früherer Zeiten bei der Geburt der Fürstenkinder die Gestirne zu Rate zog. Aus der russischen Hofgeschichte ist ein Fall ganz besonders bemerkenswert, der mit der Geburt Peters des Großen zu- sammenhängt. Am Hofe des Vaters Peters, des Zaren Alexej Michajlowitsch, lebte der Polozker Gelehrte Jaromonach Si- meon, der seines Zeichens Astrolog war, in hoher Gunst. Es wird erzählt 2), daß dieser weise Mann sogar die Stunde, da Peter im' Leibe seiner Mutter empfangen wurde, genau er- kundete ; daß Simeon schon am Morgen nach diesem freudigen nächtlichen Ereignisse dem Zaren die Nachricht davon brachte und gleichzeitig damals aus der Erscheinung eines hellen Sterns

1) Mitteilung des ;I,oiickoi1 ro.ioci., A? 78 vom Jahre 1880. Wiederholt in FyccKisi BtaoMOCTii l88i, M 171. Vgl. Löwenstimm a. a. O. 77 7Z.

2) Halem, Leben Peters des Großen. I 277.

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neben dem Planeten Mars vorhersagte, das in letzter Nacht entstandene Kind werde ein großer Held und Eroberer werden und nach seinem Vater zur Regierung gelangen. Nach einer andern Version bezog sich die Prophezeiung nicht auf die Empfängnis Peters, sondern sie wurde erst bei der Geburt des Prinzen ausgesprochen. Jedenfalls war die fragliche Pro- phezeiung bei der Geburt Peters allgemein bekannt, und der niederländische Gesandte Niklas Heinsius hielt es für wichtig genug, die Ansichten des Sterndeuters nach Utrecht an Grä- vius mitzuteilen, worauf letzterer folgendermaßen in einem, seither in der Petersburger Akademie der Wissenschaften auf- bewahrten Schreiben antwortete : ,,Ich pflege, wie Sie auch zu thun scheinen, derartigen Sachen wenig Glauben beizu- messen. Möchte nur Peter zu seiner Zeit ein guter Hirte der Völker sein, damit er dereinst die scythische Barbarei, welche besonders die nordischen, in Pelze gehüllten Völker bedeckt, durch heilsame Gesetze überwinde."

Gefährlicher war der Aberglaube, wenn er dazu benützt wurde, gleichzeitig viehischen Gelüsten und staatsumwälzen- den Plänen zu dienen. Um Peters Reformen zu hindern und in einem die jungfräuliche Prinzessin Maria zu Falle zu brin- gen, erdichtete der hochwürdigste Bischof von Rostow eine Offenbarung des heihgen Dmitry.i) Dieser Heilige mußte also dem Bischof von Rostow erscheinen und ihm auf Befehl Gottes versichern: daß Peter der Antichrist und Kirchenfeind nicht mehr als drei Monate zu leben hätte; daß Eudoxia, Peters erste, im Kloster zu Ssusdal eingesperrte Gemahlin, und Maria, Peters Schwester, nach Peters Tode auf den Thron kommen und zugleich mit Alexej, dem Sohne der Eudoxia, regieren würden. Eudoxia und Maria glaubten dieser Offenbarung, und die zur Klosterhaft verurteihe Zarin warf die Nonnentracht ab, heß sich wieder als Majestät titulieren und behandeln, in dem Kloster zu Ssusdal in dem Gebete für das Herrscher- haus den Namen Katharinas streichen und durch ihren eigenen

1) Nachrichten von dem Zarewitsch Alexej Petrowitsch (nach Voltaire, mit Anmerkungen von Büsching). Büschings Magazin für die neue Historie und Geographie III 228 230.

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ersetzen. In freudiger Hoffnung erwarteten Eudoxia und ihre Tochter das Ende der drei Monate. Als aber diese ergebnis- los verstrichen waren, berief Eudoxia den Bischof von Rostow und sagte ihm vorwurfsvoll : „Die Zeit ist um, und der Zar lebt!" Da entgegnete der Bischof: „Die Sünden meines Vaters sind schuld daran; er ist im Fegefeuer und hat mir Nachricht davon gegeben." Worauf Eudoxia rasch tausend Seelenmessen für den in der Hölle Bratenden lesen ließ. Nach einem Monat erklärte der Bischof, daß die Messen Wunder gewirkt : „Die neuesten Nachrichten, die mir aus der Hölle zugekommen sind, besagen, daß der Kopf meines Vaters schon aus dem Fegefeuer sei." Wieder einen Monat später war der Bischofs- vater nur noch bis zum Gürtel im Fegefeuer; und dann endlich stak der Alte nur noch mit den Füßen darin. ,,Sind aber die Füße erst befreit, und dies ist das AUerschwerste, dann wird Zar Peter sofort sterben!" Um das Allerschwerste zu erreichen, mußte aber ein ganz besonderes Opfer gebracht werden, und weder Mutter noch Tochter zögerten, auch dieses Allerletzte für den Erfolg zu tun: Prinzessin Maria opferte also ihre Jungfräulichkeit dem Bischof unter der Bedingung, daß der Vater des Propheten unverzüglich aus dem Fegefeuer entlassen und der Erfüllung der Prophezeiung von Peters Tode kein Hindernis mehr bereitet würde. Und das Vertrauen der beiden Frauen in die Weissagungen des listigen und wollüstigen Bischofs wurde erst erschüttert, als Zar Peter trotz- dem nicht nur am Leben blieb, sondern im Zorn über die Verschwörung seiner Familie aus erster Ehe seinen Sohn Alexej umbrachte und Eudoxia und Maria derartig einsperren ließ, daß sie nie mehr dem Kerker entschlüpfen konnten.

Die Regentin Anna von Braunschweig, die nach dem Tode der Zarin Anna Iwanowna den Thron der Romanows für das Wickelkind Iwan behütete, ahnte, daß die Großfürstin Elisabeth Petrowna ihr die Herrschaft entreißen würde, und zwar aus fol- gendem Umstände!): „Als Sie zur Zeit ihrer Regentschaft bey der Prinzeßin Elisabeth einen Besuch ablegte, fiel sie vor den

1) Gründlich untersuchte und entdeckte Ursachen der Regierungsver- änderungen in dem Hause Romanow. Büschings Magazin IS. 31.

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Füssen derselben durch einen Fehltritt zur Erde. Das machte einen solchen Eindruck auf ihr Gemüth, daß sie zu ihren Hofdamen sagte, ich werde mich noch vor der Prinzeßin Elisa- beth demüthigen müssen."

Kaiser Nikolaj der Erste hatte sich dem Aberglauben, namentlich Prophezeiungen, ganz ausgeliefert. Zu dem Kriege mit den Westmächten trieb ihn eine Wahrsagung von dem unausbleiblichen Ende der Türkei. Von dieser Prophezeiung war schon im Jahre 1848 in einem Buche, auf Grund einer angeblichen alten Sage die Rede^j: ,,im Jahre 1270 der He- gira, das ist 1853 soll die entscheidende Stunde des türkischen Reiches eintreten." Und daß der Untergang der Türkei nicht anders enden konnte, als mit der Eroberung durch Rußland, das hatte auch eine Prophezeiung schon längst verkündet.

Peter der Große verurteilte den Aberglauben^), aber er hatte trotzdem die Gewohnheit, seine Träume genau zu be- achten, sie sorgfältig zu notieren, und aus ihnen Schlüsse zu ziehen. Der russische Historiker Ssemewskij hat in einem seiner Bücher über die Zeit Peters des Großen einen besonderen Abschnitt den Träumen Peters einräumen können 3), und dabei sind hier nur die Träume aus fünf Jahren aufgezählt. In seinem Tagebuch verzeichnet Peter fast täglich, was ihm im Traume erschien : bald berichtet er von einem Schiffe ; bald von einer Schlange, die mit einem Löwen kämpft; oder von der Sonne, welche die Wolken durchbricht. Diese Träume beun- ruhigen auch die fremden Diplomaten. Der englische Gesandte Whitworth findet sie für wichtig genug, um sich mit ihnen in seinen Depeschen speziell zu beschäftigen. So meldet er am 25. März 17 12 seiner Regierung, daß Peter in einem Traume einem Tiger eine siegreiche Schlacht geliefert und daß dies den Zaren in seinen kriegerischen Plänen bestärkt habe*)

1) Nicolaus der Erste gegenüber der öffentlichen Meinung von Europa. Weimar 1848. S. 62.

2) Waliszewski, Pierre le Grand 153.

3) M. II. ('••.Mi'BChiil, O'iipicii if pa3CKa.3i.i ii:n. pvccicott iicropiii XVIII b. Cjiobü II ,T,1i.io! 1700 1725. C'.-Ik'Tcpfiypri. 1884: IIcTpi. BimiikIii in. cru cinixi. BT. 1714 1719 rr. crp. 271 276.

4) Auch beim Zaren Paul haben die Träume eine große Rolle gespielt ;

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Eine besondere Bedeutung im Aberglauben der Russen, wie der nichtrussischen Völker in Rußland, muß dem Tier- orakel und den Orakeltieren zugeschrieben werden i): Wie bei anderen Völkern steht die Schlange 2) in erster Reihe unter allen Tieren, welche hier in Betracht kommen. In Gestalt einer Schlange erscheinen Geister, besonders Krankheitsdämonen. Bekommt ein Pferd die Darmseuche, so hat es den Teufel verschluckt, der sich als Schlange im Gras versteckte. Der Hufschmied besitzt geheime magische Mittel zur Heilung des vom Dämon geplagten Tieres. 3) Tauben werden vom Volke nicht gegessen; sie sind heilig, weil sich der Heilige Geist in dieser Gestalt offenbarte.^) Einer gewissen Heiligkeit, min- destens einer besonderen Schonung erfreuen sich in vielen russischen Häusern jene Insekten, die man dort Prussaki, Preußen nennt, während sie üi Preußen : Russen, anderwärts auch Schwaben heißen. Diese Tierchen gelten als die guten Geister des häuslichen Herdes. Werden diese Herdgeister aber auch dem dickhäutigen Russen lästig, so tötet er sie nicht, sondern setzt sie dem Frost aus, damit die Natur sie um- bringe. Aus ähnlichen Gründen halten die Kalmücken das Läusetöten für abscheulich, und sie gehen mit diesen Sechs- füßlern äußerst zart um; wollen sie sie doch los werden, so legen sie die von den Tieren bewohnten Kleidungsstücke in die kalte Luft.

über einen Traum Pauls in der Nacht seiner Thronbesteigung berichtet Sanglen in seinen Memoiren (in der Sammlung russischer Denkvürdigkeiten, Stutt- gart) S. 31.

1) Über Tieraberglauben im Orient habe ich in meinem Werke „Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei" ein großes Kapitel abge- handelt; dort sind ausführliche Parallelen aus anderen Ländern und von anderen Völkern herangezogen, so daß ich hier auf tieferes Eingehen in den Gegenstand verzichten kann.

2) 3a6kinin>, ;iOMaraHbiü 6t>irt uapeii, erp. 702. Über die Schlange bei den Südslawen vgl. Dr. Friedrich S. Krauß, Sreca. Wien 1886, S. 21 34.

3) Von den Esthen und Letten erzählt Hiärn, Est-, Lyf- und Lettlän- dische Geschichte, S. 37: ,,Das Werthhalten der Schlangen bey diesen Völckern ist noch unverloschen, welche Schlangen bey ihnen offt so zahm sind, daß auch die Kinder mit ihnen aus einem Milch-Geschirre speisen. Man sol selten sehen, daß ein Ehst oder Lette eine Schlange töte."

*) Geheimnisse von Rußland I 316.

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Aus dem Vogelfluge, namentlich dem Fluge der Krähen, schließen die Russen auf Ereignisse der Zukunft. Dem bösen Blick, an den auch in zivilisierten Ländern ge- glaubt wird, schreibt man natürlich in Rußland alles mögliche Übel zu: Erkrankungen einzelner Menschen, Epidemien, Un- fälle. Teufelbeschwörungen und Gebete sind Mittel, die Folgen des bösen Blickes zu bekämpfen. Wöchnerinnen und Neu- geborene haben am meisten von ihm zu befürchten. i) Wenn die Bauern zu bemerken glauben, daß die Farbe ihrer Tiere nicht gleichmäßig leuchtet, so ist der böse Bhck daran schuld, die Tiere sind verhext und müssen sofort verkauft werden, da sie sonst der ganzen Herde Unglück bringen. Den Prophe- zeiungen der Kartenaufschlägerinnen legen Männer wie Frauen aller Gesellschaftsklassen höchsten Wert bei. Zar Nikolaj I. ließ sich in kritischen Situationen immer Karten aufschlagen. Dem Feuer ist im Aberglauben ein hervorragender Platz ein- geräumt. Man darf kein Licht an einem Wachsstock an- zünden, sondern muß zuerst ein Stück Holz am Wachsstock und dann mit dem brennenden Holze das Licht anzünden. ^j

Das Jahr und seine Tage im russischen Aberglauben würde eine spezielle Studie verdienen. Von Neujahr bis Silvester ist kein Festtag, an dem nicht etwas Besonderes zu befürchten oder zu erwarten wäre 3) : Am Weihnachtsabend können junge Mädchen auf folgende Weise erfahren, ob sie bald einen Mann bekommen werden. Sie machen aus Fruchtkörnern einen Kreis und stellen in die Mitte desselben einen Hahn, der seit vier- undzwanzig Stunden gefastet hat. Der Hahn stürzt auf die Körner zu; das Mädchen, das sich an der Stelle befindet, zu welcher der Hahn zuerst läuft, die heiratet sicher im kom-

1) Dupre de St. Maure, L'Hermite en Russie, ou observations sur les moeurs et usages russes au commencement du XIXe sidcle. Paris 1829 (3 Bde.) I 167.

2) Sammlung merkw. Anekdoten das Rußische Reich betr. 1793. I S. 105.

3) Ich erwähne nur einige wenige charakteristische IVIomente und ver- weise im übrigen auf die nachfolgenden interessanten Quellenwerke: Pyi-cKii1 iiapoA'i». Kro oui.i'iaii, o6pji;i,bi, npc^anin, cyeirl.pin 11 uoxnn. Cuöp. M. 3a6u.iii- m,iMT>. MocKBa 1880. (Gr. 8". 607 Seiten.) PvcckIc iiapü;i,Hi>ie aaroBopw, iiOH'I'.piH, cyeBt.pia n npcApa3cy;i,Kii. MfKicua 1901. (Gr. 8". 63 Seiten.)

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menden Jahre. Man kann aber noch mehr erfahren. Man gibt dem Hahn, nachdem er gefressen hat, zu trinken; ver- rät er auffallend großen Durst, so wird der Mann, der dem Mädchen bestimmt ist, ein Trunkenbold sein. Die Donkosaken zünden am Weihnachtsabend mit dem trockenen Dünger, der dort das Heizmaterial bildet, auf ihren Höfen ein großes Feuer an; damit verhüten sie, daf5 die Verstorbenen im Jenseits unter der Kälte leiden.

Dem i6. Januar legen die Bauern im Gouvernement Kostroma eine besondere Bedeutung für das Winterfutter bei.i) Der 19. Januar, der Tag des heiligen Makarij, entscheidet über das zukünftige Wetter; ist dieser Tag klar und sonnig, so gibt es einen frühen Lenz. Die Bauern im Gouvernement Ssaratow sagen : wenn am 20. Januar von früh bis abends Schneegestöber herrscht, so wird die Butterwoche verschneit sein; wenn am 20. Januar bloß der halbe Tag verschneit ist, der andere halbe Tag jedoch klaren Himmel zeigt, so wird der Lenz früh ins Land kommen. 2j Am 24. Januar be- trachten die Bauern sorgfältig die Spitzen des Getreides. Sind diese gerade aufstrebend, so ist man überzeugt, daß die Ernte mager und das Brot teuer sein werde; neigen sich die Spitzen, so gibt es eine fette Ernte. Auch sagt man vom 24. Januar: ,,Wie dieser Tag des Akßinj ist, so wird das Frühjahr sein."-^) Wichtige Tage sind ferner: Der 9. Februar, der 10. Februar und namentlich der 11. Februar, der Tag des heihgen Wlaßj.*) Am II. Februar soll die Winterkälte gebrochen werden. In Tambow fürchten sich die Bauern an diesem Tage zu arbeiten, da sie der heilige W'laßj für die Verletzung seines Namens- tages mit einer Viehseuche bestrafen würde. In Zeiten der Viehseuche ruft man den heiligen Wlaßj mit diesen Worten an: „Heiliger Wlaßj, gib Glück zu fetten Ochsen, dicken Bullen, daß sie zum Tore hinaus gehen und spielen und auf dem

1) CapaTOBCKiit ÄHeBHnio, 1904, .As 12.

2) Auch bei Italienern und Deutschen wird dem 20. Januar eine ähn- liche Bedeutung für das Frühjahrswetter beigelegt, besonders im Neapoüta- nischen (St. Sebastianstag).

3) CapaToiK-idit ÄHcuiiuiri) 1904, .As 19.

4) Blasius.

Russischer Sbitenver- Milchweib. Laternenputzer, käufer.

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Felde springen." Der Glaube an den heiligen Wlaßj ist am stärksten im schwarzerdigen Rußland. Hier findet man sein Bild in allen Hütten und Buden. Wenn man am ersten Tag das Vieh auf die Weide treibt, sowie in Zeiten von Epidemien versäumt man nicht die Herden mit einem Bilde des Heiligen zu segnen, um sie vor allen Gefahren zu schützen. ,,Der Wlaßjtag ist der Kühe Feiertag," sagt ein Sprichwort; und ein anderes lautet : ,, Wlaßj betrügt nicht, er behütet vor jeder Gefahr." Der heilige Wlaßj ist an die Stelle des alten sla- wischen Heidengottes Weloß getreten, und daher haben alle mit diesem Heiligen zusammenhängenden Gebräuche einen stark heidnischen Einschlag.

An einem Fastentage soll man keinen Kohl pflanzen, sagen die Donkosaken; bei ihnen darf man auch am Gründonnerstag- kein Gemüse pflanzen, da sonst schädliche Insekten die Pflan- zen vernichten. In der Butter woche, während des russischen Faschings, spinnen die Kosakenfrauen keine Wolle; sonst er- krankt das Vieh und Käse und Butter werden voller Würmer.

Von den Tagen der Woche sind wenigstens drei von großen Gefahren umlauert : der Montag, der Donnerstag und der Freitag. Am Montag unternimmt man nichts Entschei- dendes, tritt man namentlich keine Reise an. Die Donkosaken heiligen den Montag in ihrer Weise, da sie an diesem Tage niemals die Wäsche wechseln ; sie behaupten, daß sich Wunden auf dem Leibe bilden müßten, wenn sie ihren Aberglauben verletzten. Am Donnerstag salzt man kein Fett, es würde durch Würmer verdorben werden. Am Freitag darf man be- stimmte Arbeiten nicht verrichten, namentlich ist den Frauen das Spinnen verboten. Gauner machten sich diesen Aber- glauben einmal zunutze i): In einem Dorfe des Kreises Ssoßniz im Kijewschen Gouvernement kümmerten sich mehrere Frauen nicht um das Spinnverbot am Freitag. Da erschien in der Abendstunde in Häusern, wo Frauen allein fleißig an der Arbeit sich befanden, in phantastischem Gewände ein Schauer- wesen, klagte, daß es der Freitag sei. daß man ihm keine Ruhe

1) Erzahlt vom lOamiti Kpatt, 19. okt. 1883. \'gl. Löwenstimm a. a. O. S. 161.

Stern, Geschichte der Offciitl. Sitllklikeit in Rußliind. 5

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an seinem Tage gönne, zeigte Blut auf seiner Brust aus den Wunden seiner Schmerzen; und während den armen Frauen vor Schrecken alle Sinne schwanden, plünderte ein Spießgeselle des heiligen Freitag die Zimmer und Vorratskammern.

Große Angst empfindet man vor Mißgeburten. Sie werden als Anzeichen schweren Unheils betrachtet. Unter den Wun- dern, die die russischen Chronisten den Kriegen, Epidemien und Thronumwälzungen vorausgehen lassen, werden immer Mißgeburten erwähnt. i) Als unheilbringende Geschöpfe gelten

1) Karamsin, deutsche Übersetzung II 57 (französ. Übersetzung II 87): Die Chronik vom Jahre 1064 erzählt, daß der Himmel die Drangsale damals durch schreckliche Wunderdinge vorhergesagt habe. Der Fluß Wolchow floß fünf Tage lang aufwärts; ein blutiger Stern (nach Nestor im Jahre 1064; wahr- scheinlich war es der Komet vom Jahre 1066, dessen die Cometographie S. 373 erwähnt) glühte eine 'ganze Woche lündurch im Westen; die Sonne verlor ihren Schein und ging ohne Strahlen wie der Mond auf; die Kij ewschen Fischer fingen in ihren Netzen eine tote, in den Dnjepr geworfene wunderbare Miß- geburt. — Der Chronist Nestor fügte der Aufzählung dieser Wunder eine die damaligen Zustände illustrierende Strafrede hinzu: ,,Der Himmel ist gerecht und straft die Russen wegen ihrer Gottlosigkeit. Wir nennen uns Christen, aber leben wie Heiden. Die Tempel sind leer, aber auf den Erlustigungsplätzen drängt sich das Volk. In den Tempeln ist es still, aber in den Häusern, da fehlt es nicht an Trompetern, Gusli und Possenreißern." Auch im Jahre 1605 galten Epidemie, Hungersnot und Verwirrung als himmlische Strafen für die Ehrlosigkeit der Russen, für ihre Unsittlichkeit, für die Verkommenheit des Adels und die LiederUchkeit der Geisthchkeit. Gottes Zorn zeigte sich in Wundern: Nicht selten, erzählen die Chronisten, sah man zwei und drei Monde, zwei und drei Sonnen zugleich aufgehen. Feuersäul^n brannten Nachts am Firmament, in blitzendem Scheine eine Kriegsschlacht vorstellend und blutigen Schein über die Erde werfend. Von Stürmen und Wirbelwinden stürzten die Türme der Städte und Kirchen ein. Die Fische in den Flüssen und das Wildpret in den Wäldern verschwanden. Die Speisen, die man genoß, verloren allen Geschmack. Heißhungrige Hunde und W'ölfe Uefen herden- weise herum, fraßen Menschen oder einander. Nie gesehene Tiere und Vögel erschienen. Adler schwebten über Moskau. In den Straßen, bei dem Zaren- palaste selbst fing man schwarze Füchse mit den Händen. Ein weiser Greis, den Zar Boriß vor Kurzem aus Deutschland berufen hatte, prophezeite dem Reiche große Gefahr. Die Angst stieg, als im Sommer 1604 am hellen Mittag ein Komet am Himmel erschien. (Nach Bär zeigte sich dieser Komet 1604 am zweiten Sonntag nach Pfingsten am hellen Tage. Andere sagen: er sei am 3. Oktober erschienen. Vgl. Wagners Gescliichte des russischen Reiches, Buch 43, S. 71; und Karamsin, deutsche Ausgabe Band X, Anmerkung 91.)

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dem Volke nicht bloß abscheulich verunstaltete krüppelhafte Wesen, sondern auch Blinde, Stumme, selbst Schwerhörige. Gegen solche Menschen verbindet sich der Aberglaube häufig mit barbarischer Grausamkeit zu den schwersten Verbrechen, und vergebens droht das Strafgesetzbuch i) an: „Wer in dem Falle, daß von irgend einem Weibe ein Säugling von monströsem Aussehen oder sogar von nicht menschlicher Gestalt geboren wird, diese Mißgeburt, statt davon bei der zuständigen Obrig- keit die Anzeige zu machen, des Lebens beraubt, wird für dieses aus Unwissenheit oder Aberglauben verübte Attentat auf das Leben eines Wesens, das von einem Menschen geboren ist und folglich auch eine Seele hat, bestraft." Das Volk sieht die Verunstaltung eines Säuglings als ein Werk des Teufels und als eine Strafe Gottes an.^j Rostow im Gouvernement Jaroslaw war in früheren Zeiten eine Fabrikstadt für Miß- geburten. Was die Natur nicht liefern wollte, machten die Menschen selbst, indem sie zahllosen Kindern Verstümmelun- gen beibrachten, um sie zu Scheusalen zu gestalten. Solche Mißgestalten Rostowscher Arbeit 3) wurden nach dem ganzen Reiche verschickt, namentlich nach Moskau, wo sie den Hexen oder Zauberern als Werkzeuge dienten, um die abergläubi- schen Leute zu narren.*) Die Leute, die das Unglück haben, durch ihre Mißgestalt die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sind heute nicht minder als in der Vergangenheit den schwersten Gefahren ausgesetzt, wenn sie vom Volke zufällig

Das größte Entsetzen erregte aber wieder „eine Menge von Mißgeburten, die von Weibern und Tieren" zur Welt gebracht wurden. Vgl. Karamsin, deutsche Übersetzung X 99 100 (franz. Übers. XI 156).

1) y.iDVKeHie u naKisauiHXi». 1469-

2) Auch die Jakuten glauben, daß Mißgeburten Werke der unreinen Kraft, wirkliche böse Geister oder Teufel sind, und man meint dies sowohl von Menschen als von Tieren.

3) Wie früher Rostow genießt jetzt das Dorf Kljutschitschi im Wassil- ssurschen Kreise Berühmtheit als Fabrikstadt von Zauberern und Wunder- leuten. Die Zauberkunst ist hier erblich. Man findet da alles, was das Herz begehrt: Leute, die wahrsagen, Krämpfe heilen, zaubern, entzaubern, be- sprechen, verderben und vergiften können. Vgl. Kölnische Zeitung 1900, Nr. 1016.

*) .'{aoi.i.iiiirb, Pyccidil uapo^T,, cti). 399. .>i 14: ^Idpu jwsi Ka.iticb.

S*

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mit irgend einem beängstigenden Ereignisse in Verbindung gebracht werden. Im Jahre 1878 herrschte im Kreise Ustj Ssyssolj des Gouvernements Wologda eine Viehseuche, und im Volke entstand das Gerücht, diese Seuche wäre durch stumme Menschen mit Hilfe von geheimnisvollen Gewürzen erzeugt worden. i) Kam da unglückseligerwcise in das Dorf Taratschewskaja ein armer Bettler, ein stummer Greis, mit einem Säckchen über der Schulter. Die Bauern fielen sofort über ihn her und erschlugen ihn mit Stangen anter den Rufen : ,,Der Cholera auch einen Choleratod!"

Im letzterzählten Falle sahen wir, wie der Aberglaube zum brutalsten Verbrechen wird und vor keinem Morde zurück- schreckt. Das Furchtbarste und am schwersten Bedrückende aber ist, daß diese Verbrechen nicht vereinzelt vorkommen, sondern eine gewöhnliche Erscheinung bilden, und es ist nicht übertrieben, wenn man annimmt, daß keine Woche vergeht, da nicht in irgend einem Teile Rußlands ein solches Ver- brechen aus abergläubischen Motiven begangen wird Man kann daher tatsächlich von einer Fortdauer der Menschen- opferung in Rußland sprechen, über die wir aus früheren Zeiten zahlreiche Berichte überliefert erhalten haben und von der auch noch lebendige Traditionen erzählen. Während meines Aufenthaltes in Nischny-Nowgorod hörte ich dort fol- gende Sage^): ,,Als der Erbauer des Nischny-Nowgoroder Schwengelturmes 3) den Grund zu diesem Bauwerke legen wollte, ließ man vor allem eine Grube für das Bauopfer graben. Wer aber sollte das Opfer sein ? Die Arbeiter beschlossen : das erste menschliche Wesen, das sich der Grube nähern würde. Sie warteten und lauerten. Plötzlich kam ein liebliches Mädchen daher, ein blutjunges Kind mit Wangen wie Kirschen und einem Schwanenhals, und blond war ihr Haar 'und blau waren ihre Augen. Auf der Schulter aber ruhte am Schwengel

1) BeccHHX, CtBepHift Btcrunia, 1892, A? 9. \'gl. Löwenstimm a. a. O. S. 53-

2) Diese Sage wird auch kurz erwähnt in: IIxuocrpHpoBaHHUit cayranKT. no Bo.irt, CociaB. C. MouacTupcKifi, Kaaaub 1884, crp. 41. Bernhard Stern, An der Wolga. Berlin 1897. S. 36 37.

^) KopojiuaioBau öaiiiiiH.

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der Wassereimer. Lustig singend wanderte die Kleine zum Brunnen. Da sah sie die aufgeschütteten Erdhaufen, sah sie die Balken und Steine für den Turm, sah sie die Grube. Ei, ei, was geschieht da? dachte sie in ihrem Sinn. Und die böse weibliche Neugier trieb sie zu schauen - aber schon er- griffen sie feste Hände, schon lag sie tief unten. Wohl bat sie und flehte um Rettung und Gnade, aber ihre glockenhelle Stimme erstarb bald im dumpfen Getöse der wuchtigen Erd- schollen, die auf sie niederfielen. Die Arbeiter nannten den Turm den Schwengelturm zur Erinnerung an das Opfer, das den Schwengel trug." Bei den Esthen gab es ebenfalls Menschenopferungen. Bei Thomas Hiärni) lesen wir folgen- des : ,,Von der Ehsten alten Religion findet man weiter nichts beschrieben, als daß sie mancherley abscheuliche Abgötterey geübet und getrieben haben, die Sonne, den Mond, Drachen, Schlangen und andere unreine Tiere, ingleichen Bäume und Hainen angebetet und heilig gehalten haben, denen sie, wie Adamus Bremensis berichtet, Menschen geopfert haben, welche sie von den Kauffleuten oder vielmehr See-Räubern dazu ge- kaufft. Solche Menschen haben kein Mangel oder Gebrechen an dem ganzen Leibe haben müssen. Der Zauberey und den Wahrsagungen sind sie sehr zugethan gewesen." Im Po- Schechonschen Kreise im Gouvernement Jaroslaw hört man noch heute die Erzählung, daß dort die Müller früherer Zeiten, um den Wassergeist bei guter Laune zu erhalten, verspätete Fußwanderer abfingen und im Mühlenteich ersäuften. 2) Ich brauche wohl nicht ausführlicher davon zu reden, daß ähn- liche Gebräuche auch in außerrussischen Ländern zu finden waren, und erinnere bloß an die Einmauerung eines Säug- lings in dem Brückenfundament im bayerischen Göllschtal oder an die rührende Sage vom Thüringer Schlosse Liebenstein. 3)

1) Ehst-, Lyf- und Lettländische Geschichte. S. 37.

2) Löwenstimm a. a. O. S. 16.

3) Vgl. Andree, Ethnographische Parallelen S. 18 23. Lippert. Christentum, Volksglaube und Volksbrauch. Berlin 1882, 457 460. Lieb- recht, Zur Volkskunde. Heilbronn 1879, 284 296. Lippert, Allgemeine Geschichte des Priesterthums. Berlin 1883, II 585, 589. Lippert, Die Reli- gionen der europäischen Kulturvölker, der Litauer, Slaven. Germanen, Griechen

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Für Rußland aber hat das Thema leider noch immer nicht die Aktualität verloren, und Mord zur Gewinnung eines Talis- mans beschäftigt fortdauernd die russischen Gerichte. Wie vieles aber kommt gar nicht zur Kenntnis der breiteren Öffent- lichkeit in diesem ungeheueren, von Unordnung und Sitten- losigkeit zerrissenen Reiche ! Von Verbrechen, die mit Dieb- stahlsaberglauben und dem Aberglauben in Zeiten von Epide- mien zusammenhängen, werde ich in den entsprechenden Kapiteln noch viele zu verzeichnen haben. Hier will ich nur noch der verbrecherischen oder schamlosen Mittel Erwähnung tun, die gebraucht werden, um wirkungsvolle Talismane herbei- zuschaffen i) ;

Im Dorfe Fokin im Wassiljssurschen Kreise des Gouver- nements Nischny-Nowgorod wurde ein Bauer ergriffen, als er einer schlafenden Frau eine Zehe abschnitt. Die Unter- suchung brachte zutage, daß dieser Bauer sich durch diese Zehe Zauberkraft verschaffen wollte, und man erfuhr, daß im ganzen genannten Gouvernement unter den Bauern der Glaube verbreitet ist : derjenige, der ein Zauberer werden will, erreicht sein Ziel, wenn es ihm gelingt, von dem rechten Fuße einer verheirateten Frau eine Zehe abzutrennen, dieser Talis- man verleiht die gewünschte Zauberkraft. Im Dorfe Wys- sokopiz im Rajewschen Kreise des Gouvernements Warschau

und Römer, in ihrem geschichtlichen Ursprünge. Berhn 1881. S. 13 und 57. Über ,,das Bauopfer bei den Südslaven" hat Dr. Friedrich S. Krauß eine überaus interessante Studie in den Mitt. der Anthropol. Gesellschaft in Wien Bd. XVII 1887 veröffentUcht. (Als Separatabdruck Wien 1887 Holder.) Krauß, Volksglaube und religiöser Brauch der Südslawen, Münster i. W. 1890. S. 158.

1) Es gibt natürlich auch unschuldigere und harmlosere Mittel und Methoden, die wir aber füglich übersehen können, weil sie sich kaum von den in anderen Ländern üblichen unterscheiden. Vermerken will ich jedoch den wilden Mohn, der ein Mittel zur- Behexung ist und gleichzeitig ein Gegen- mittel sein kann. Er tut besonders in letzterem Falle seine Schuldigkeit, wenn es sich um Vampyre handelt. Stirbt ein Mensch, 'von dem man glaubt, daß er ein Vampyr war, so legt man ihm unter den Kopf im Sarge ein Bündelchen mit Mohn und streut beim Begräbnisse auf dem Wege vom Sterbehause bis zum Grabe Mohnsamen aus, das verhindert sein Aufstehen aus dem Grabe und seine Rückkelir ins Haus. Schweift ein Verstorbener umher, so streut man Mohn um das Haus, wo er gelebt hat. Vgl. Löwenstimm a. a. O. S. 76.

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fand man einmal i) eine verstümmelte Frauenleiche mit heraus- gerissenem Eingeweide. Drei Bauern wurden als die Leichen- schänder eruiert. Sie gestanden ihre Tat ein und erklärten sie folgendermaßen : Sie brauchten einen Zahn und eine Leber, um verschiedene Zaubereien verüben zu können. Wenn man nämlich eine Menschenleber auf dem Felde vergräbt, so kre- pieren alle Herden, die über dieses Feld gehen; das ist also ein prächtiges Mittel, sich an seinen Feinden zu rächen. Der zu Staub zermalmte Zahn eines toten Menschen ist mit Tabak- pulver vermischt und als Schnupftabak verwendet ein vor- zügliches Vergiftungsmittel. Doch wirkt nur eines toten Mannes Zahn bei dem Attentat gegen einen Mann, während man für die Vergiftung einer Frau den Zahn einer Frau braucht. Stücke von Leichen sind nicht bloß Mittel zur Schädi- gung, sondern auch unfehlbare Heilmittel : Im Dorfe Bobin- skoje des Kreises von Wjätka sah man 2) das frische Grab eines Kindes aufgewühlt. Man untersuchte das Grab, holte den Sarg hervor und fand die Leiche des Kindes furchtbar ver- stümmelt. Der Kirchenwächter bekannte sich als Leichen- schänder und erklärte sein Verbrechen: er zerschnitt den Kör- per, um aus der Leber und anderen Stücken das geronnene Blut zu stehlen, das er dann mit Wein als ein Mittel gegen eine Krankheit genoß. Eine besondere Wirkung wird den Ge- schlechtsteilen der Menschen, namentlich dem männlichen Gliedc zugeschrieben : Im Gouvernement Radom im Flecken Janovv entdeckte man einmal 3) eine abscheuhche Leichenschän- dung. Die Leichen eines Mannes und einer Frau waren aus ihren Gräbern herausgerissen und verstümmelt worden. Der Frauenleiche fehlten Kopf, Hände, Füße und innere Teile, der Mannesleiche aber waren die Hände, die Füße und die Geschlechtsteile abgeschnitten. Vier Hirten hatten das Ver- brechen gemeinsam ausgeführt. Die Leichenteile wurden ge- kocht und die so gewonnene Brühe diente zur Besprengung

1) Im Jahre 1865.

2) Im April 1871.

3) Im Jahre 1862. Die letztangeführten drei Beispiele bei Lövvenstimm O. S. 109 III.

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der Schafe; damit war deren gutes Gedeihen gesichert und die Gefahr einer Ansteckung von ihnen verbannt.

Nur für den Tod ist kein Tahsman zu finden. i) Ihm kann niemand entgehen. Zieht er, heißt es in einem Helden- hede, seine scharfe Sichel hervor und schneidet dem Menschen die Adern durch, so sinkt der tapferste Held in den Staub. Er schenkt nicht eine Stunde, nicht eine Sekunde Frist.^j Trotz ihrer fatalistischen Auffassung fürchten die Russen das Ende; aber sie haben nicht bloß Angst vor dem Tode, son- dern auch vor den Toten. Sie fürchten die Wiederkehr der Verstorbenen und deren Bosheiten. Sie tun daher alles, um die Seelen der Toten zufriedenzustellen. Nach der Beerdi- gung findet eine Totenmahlzeit statt; die Knochen, die hier übrig bleiben, überläßt man jedoch nicht den Hunden, sondern man wirft sie ins Wasser des Flusses, damit die Fische sie benagen und zum Danke des Toten gedenken. Das Brot, das bei den Totenmahlzeiten verzehrt wird, darf nicht geschnitten werden, das tg,te den Toten wehe. Manche glauben auch, daß die Seele des Toten wochenlang nach dem Tode noch in der Wohnung, wo er gestorben ist, verbleibe. 3) Die Trauer tragenden Anverwandten werden gemieden wie Parias, nament- lich auf Hochzeiten und Geburtstagsfestlichkeiten dürfen sie sich nicht sehen lassen. Ein Mensch, der bei einer Leiche oder bei einem Begräbnisse war, muß sich erst förmlich von dem ihm anhaftenden Totengift ausräuchern oder auslüften,

1) Die Donkosaken versuchen aber wenigstens den Tod zu ersclirecken. An den Wänden der Viehställe befestigen sie Schädel von Ochsen, Kühen und Schafen, sobald eine Viehseuche droht. Auf diese Weise glauben sie den Tod abzuschrecken, er müsse sich vor den unheimlichen Schädeln fürchten und weitergehen.

2) Bernhard Stern, Fürst Wladimirs Tafelrunde. Altrussische Helden- sagen. Berlin 1892. S. 70 72: Das Lied vom Tode des Helden Dobrynja.

3) Schon in früheren Ze'*^en von Reisenden erwähnter Glaube. So lesen wir in den Memoires pour servir ä l'Histoire de 1' Empire Russien, sous le Regne de Pierre le Grand. Par un Ministre etranger, 1725. Pag. 156: ,,Le petit peuple de Russie croit bonnement, que l'Ame d'un mort reste encore six se- maines au meme lieu, eile a quitte son Corps: c'est pour cette raison que les Parens ont grand soin d'encenser le lit durant ce temps lä, et de faire dire journellement la !\Iesse dans cet endroit."

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ehe er daran denken darf, bei einem Russen einzutreten. Der Zar besonders wird stets vor einer solchen Berührung als vor etwas Unheiligem und gefährlich Zauberischem behütet. So berichtet man aus der Zeit des Zaren Michael Feodoro- witschi): „Es ist der Gebrauch, daß keiner, der bey einer todten Leiche gewesen, an Ihro Zar Maj. Hand, oder vor dero klare Augen kommen mag, es muß eine längere Zeit dazwischen kommen, damit die vom Todten Verunreinigten auswittern möchten."

Der Glaube, daß die Seelen der Verstorbenen in ihr ehe- maliges Wohnhaus und zu ihrer Familie zu Besuche kommen, ist vornehmlich bei den Weißrussen verbreitet, und hier herrscht, da man annimmt, daß die Seelen bei diesen Besuchen auch der Nahrung bedürfen, der Gebrauch der Seelenspeisung. 2) Selbst die Großeltern und die Urahnen, glauben die Weißrussen, kehren noch immer in das Haus zurück. Namentlich ge- schieht dies am Tage der Totenfeier, am Dmitrow-Sonnabend zu Ende Oktober. Manche Hausfrauen stellen, nachdem sie den Tisch rein gedeckt haben, an diesem Tage volle Schüsseln von allem hin, was sie für das Mahl bereitet, und man er- wartet erst, andächtig um den Tisch herumstehend, bis die Geister sich gesättigt haben, ehe man selbst zugreift. Es soll Auserwählte geben, die mit ihren eigenen Augen gesehen haben, wie die Seelen ihrer verstorbenen Verwandten bei einem solchen Mahle erschienen und sich den Lebenden gleich an den Speisen ergötzten. Diese Auserwählten können ihren Wunsch, die Verstorbenen zu sehen, auch selbst durch ge- wissenhafte Vorbereitungen zur Erfüllung bringen : wenn es Männer sind, die dieses seltenen Seherglückes teilhaftig werden wollen, so müssen sie sich ein ganzes Jahr vorher des Lachens

1 ) Nachricht von Woldemar Christian Güldenlöwe Grafen von Schleßwig- Holstein, Sohn des dänischen Königs Christian des Vierten, von der Christina Munk, Reise nach Rußland, zur Vermählung mit des Zaren Michael Fedoro- witsch Tochter Irene. In Büschings Magazin für die neue Historie und Geo- graphie. X S. 233.

2) Am Ur-Quell, Monatschrift für Volkkunde. Herausgegeben von Fried- rich S. Krauß. VI. Band. 1896. S. 25 27: Seelenspeisung bei den Weiß- russen von Th. Volkow in Paris.

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vollständig enthalten und dürfen während dieser Zeit nur das Allernotwendigste sprechen; von den Frauen wird viel weniger verlangt : sie dürfen bloß am Totenfeiertage von früh an nichts sprechen und erst dann den Mund öffnen, wenn sich die Seelen wieder von der Mahlzeit entfernt haben. Man erzählt, daß es tatsächlich eine Frau gegeben habe, die imstande war, ein solches Gelübde abzulegen, und sie sprach den ganzen Vormittag nicht und sah ihre Großeltern, die längst verstorben waren, wie Lebende zur Tür hereinkommen. In diesem Augen- blick aber schrie sie vor Freude auf, und im Nu verschwanden die Gäste aus dem Jenseits. Ein Mann wollte einmal alle seine Alten erscheinen sehen und sprach ein ganzes Jahr lang nur das Notwendigste und lachte nicht ein einziges Mal. Am Allerseelen-Sonnabend ließ er für die erwarteten Geister Schüs- seln aufstellen, und richtig sah er sie alle durch den Rauchfang herabsteigen, den Vater, den Großvater und Urgroßvater, und am Tische Platz nehmen. Da blickte der Hausherr auf und sah im Rauchfang verspätet auch noch den Onkel anrücken, der aber stecken blieb, weil er eine Egge mit sich schleppte. Die hatte der Onkel bei Lebzeiten gestohlen und zur Strafe dafür, daß er die Sünde nicht dem Beichtvater eingestanden hatte, in die andere Welt mitnehmen müssen. Als der gute Bauer seinen Onkel in so peinlicher Lage im Rauchfang stecken bleiben sah, lachte er auf, und im Nu verschwanden alle Geister.

Der Gebrauch der Seelenspeisung kommt auch bei den Großrussen vor. Bei den Kleinrussen und in der Ukraine feiert man das Andenken an die Toten am Thomas-Sonnabend nach Ostern, wobei man aber den Toten nichts zu essen gibt, sondern nur für den eigenen Magen sorgt.

Über die Seelenspeisung bei den Littauem berithtete der Reisende Johann Arnold Brandt i): „Dannenhero etliche unter ihnen gar heimlich den 4. Jan. St. N. auf aller Seelentag einen langen tisch mit ihren gewöhnlichen besten speisen versehen, in einer verschlossenen stube anzurichten pflegen, sagend in

1) Reisen durch die Marck Brandenburg, Preußen, Churland. Wesei 1702. S. Si. Zitiert nach \'olko\v im Urquell a. a. O.

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ihren sprach : Wir speisen der Voreltern Seelen. Gehen darauf hinauss, lassen die speise die nacht über stehen. Morgens wird die thür wiederumb geöffnet, finden sie nun obgemeldete speisen ohnverzehret, deuten sie es vor ein sonderbahres glück und Segen ihren fruchten, viehs und dergleichen; wo nicht, befürchten sie sich hefftig eines künftigen Unglücks, das ihr vieh, äcker und dergleichen überfallen werde."

Zum Schlüsse erwähne ich den Gebrauch in Estland und Lettland, der also beschrieben wird^): ,,Weil sie zuvor die Unsterblichkeit der Seelen etlicher maßen geglaubct, und dar- nach die Catholischen ihnen die Seel-Messe eingebildet haben, ist dieses noch bey ihnen im Schwange, daß sie auf aller Seelen-Tage, die Seelen der Verstorbenen speisen. Dieses ge- schieht noch bey etlichen sowohl in Ehst- als Lettland dieser gestalt : Sie heitzen eine Stube oder Badstube an, kehren es rein, und setzen Speise und Trank auf, der Wirth des Hauses bleibet alsdann allein darinnen, und hält ihnen die Pergel oder Höltzer, so sie anstat der Lichte gebrauchen, nöthiget die verstorbenen Seelen seiner Eltern und A^or-Eltern, Ver- wandten und Kinder, welche er bey Nahmen nennet, und der- gestalt zu Gaste ladet, zum Essen und Trincken. Wenn er nun nach etlicher Stunden Verlauff meinet, daß sie gnug haben, hauet er mit einem Beil auf der Thür Schwelle die Pergel entzwey, und gebietet den Seelen, dieweil sie nun gegessen und getruncken hätten, möchten sie ihres Weges auf der Straßen und auf dem Wege, nicht aber über den Roggen-Acker gehen, damit sie denselben nicht eintreten und verderben, zumahlen sie sich einbilden, daß die Seelen, wo sie nicht vergnügt davon scheiden, ihnen auf ihren Feldern Schaden zufügen und die beseete Äcker verderben, daß ihnen daraus ein Misswachs ent- stehe: sind auch bey dieser Meinung, daß so fern der Wirth oder Feuer-Halter etwas siehet, daß sich die Seelen einstellen oder erscheinen, so müsse er gewiß desselbigen Jahres sterben; siehet er aber nichts, so hoffet er noch das Jahr zu überleben."

1) Thomae Hiärns Ehst-, Lyf- und Lettländische Geschichte. S. 37.

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5- Geister, Zauberer und Hexen.

Hausgeist, Domowoj Der Geist des Ehebettes und der Potenz Umzugs- gebräuche — Hahn und Katze als Herd- und Hausgeister Geister des Waldes. Feldes und Wassers Polnische Dämonologie Der Teufel in Rußland Zauberer und Hexen Russisches Bild einer Hexe Der Zauberer- und Hexenschwanz Krankheitsanzauberung Lynchjustiz an Hexen und Zauberern Mordliste Beispiele europäischer Hexenprozesse neuester Zeit Zaubererblut als Heilmittel Besessenheit.

,,Des Russen träge Phantasie/' schrieb der Arzt Wichel- hausen i), „wird am meisten noch durch das Übernatürhche und Fabelhafte erschüttert. Leicht glaubt er deswegen an das Daseyn unsichtbarer Mächte, deren Einflüsse ihm uralte Sagen verkünden und die Furcht ihm mit neuen Farben aus- mahlt."

Dieser Glaube an unreine Kräfte, an gute und böse Geister, an Dämonen. Hexen und Zauberer ist allgemein; auch die Geistlichkeit Huldigt ihm offenkundig.

Es gibt kaum einen Russen, der nicht aufrichtig an den Domowoj glauben würde. Der Domowoj ist der Hausgeist, der Familiengeist, der Geist des Ehebettes. 2) Der Domowoj ist bei den ehelichen Funktionen stets anwesend, er leitet die Samentropfen, und nur jene Akte gedeihen, die er mit seiner Protektion beglückt und fördert. In Moskau kam eine Kaufmannsfrau zu einem Arzte und bat um ein Mittel zur ■V^ersöhnung des Domowoj, der sie nicht schvvanger werden ließ, trotzdem sie vor jedem Beischlafe dem Hausgeist ihre Reverenz gemacht und geräuchert hatte. 3) Bei den Vor- nehmen hat der Domowoj die Oberaufsicht über das ganze Haus, über Küche und Keller, bei den Bauern über Stall. Hütte und Herd.

Wenn ein Haus gebaut werden soll, versäumt es der Bau- meister nicht, in den vier Ecken des Fundaments Geldstücke einzumauern als Schutzmittel gegen alle möglichen Unglücks-

1) Gemähide von Moskwa. 1803. S. 303.

-) Bei den Polen heißt der Hausgeist: Gospodartschek.

^) Wichelhauscn, a. a. O. S. 304.

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fälle, die das Haus während des Baues oder in der Zukunft bedrohen könnten. i) Um den Einsturz des Hauses zu ver- hüten, ist es notwendig, Salz unter die Türschwellen zu legen.-) Im Gouvernement Jaroslaw besteht ein uralter Gebrauch, der beim Umzug aus einem alten Hause in ein neues stattfindet^) : Wenn das neue Haus im Baue beendet und im Innern ein- gerichtet ist, so wird ein besonders mutiger Mann aus der Verwandtschaft des Herrn oder aus dem Kreise der Knechte ausgewählt. Dieser hat eine Nacht allein in dem neuen Hause zuzubringen. Widerfährt ihm nichts Schlimmes und wird er auch von keinem bösen Traume gequält, so kann das Haus von dem Besitzer und seinen Leuten ohne Gefahr bezogen werden. Am Tage, an dem das Hausgerät aus dem alten Hause in den neuen Bau gebracht wird, trägt der Hausherr zuerst das Heiligenbild hinein und hängt es in eine Ecke. Dar- auf werden ein Hahn und eine Katze gebracht, die letztere legt man auf den Herd. Nach dem Volksglauben vertreibt der Hahn durch seine Wachsamkeit und sein Krähen die bösen Geister, während die Katze zum Frieden und zum Be- hagen beiträgt. Den Domowoj führt man aus dem alten Hause in das neue Heim auf folgende Weise hinüber: Das älteste weibliche Mitglied der Familie nimmt vom Herde des alten Hauses einige noch glimmende Kohlen, legt sie in einen zu- vor nie in Gebrauch gewesenen irdenen Topf und trägt diesen mit den an den Hausgeist gerichteten Worten: „Bitte, Väter- chen, folgen Sie uns in das neue Haus!" in die neue Wohnung, schüttet dort die Kohlen auf den neuen Herd und zerschlägt darauf den Topf. Nach also gänzlich beendetem Umzug findet die Einweihungsfeier statt, und zwar durch einen christlichen Gottesdienst, der sich somit unmittelbar an die heidnischen Gebräuche anschließt. Stellt sich im Laufe der Zeit heraus, daß im neuen Hause nachträglich noch eine Tür oder ein

1) Geheimnisse von Rußland. I 317.

2) Dupre de St. Maure, Petersbourg, Moscou et les Provinces. Paris 1830. 1 167. Auch die alten Lappen verehrten Geister, die unter der Schwelle des Zeltes ihren Wohnsitz hatten. Roskoff, Religionswesen der Naturvölker. Leipzig 1880, S. 59.

3) Globus, Bd. 86, Heft 3, S. 51.

Fenster ausgebrochen werden muß, so hat dies unter beson- deren Vorsichtsmaßregeln zu geschehen, da eine am unrechten Orte oder zu unrechter Zeit durchbrochene Tür viel Unheil über das Haus bringen könnte. In Dörfern, die in der Nähe von Wäldern liegen, kommt es häufig vor, daß Spechte in den frischen Balken des neuen Hauses nach Insekten suchen; hört man im Hause das Hämmern des Spechtes, so ist man der festen Überzeugung, daß einem Hausbewohner der Tod bevorstehe oder daß ein Hausbewohner in nächster Zeit das Haus werde verlassen müssen.

Außer dem Hausgeiste, der vornehmlich gute Eigenschaf- ten hat, gibt es im russischen Volksglauben zahlreiche böse Geister und Unholde. Diese boshaften Geister und Dämone haßt man, aber man fürchtet sie auch. Sie treiben an verschie- denen Orten ihr Unwesen und führen je nach ihrem Charakter und ihren Wohnplätzen ihre oesonderen Bezeichnungen. In den Wäldern hausen die Waldgeister, die Gestnize^), die den Wanderer auf Irrwege führen; auf den Feldern und Fluren tummeln sich die Russalki^), und in den Gewässern die W^ode- niki oder Wassergeister. Die Eltern schrecken ihre Kinder mit dem Nachtgespenst Buka, das in den Höfen herumschleicht und die kleinen Kinder frißt 3); dieser Dämon hat einen großen Rachen und eine lange spitzige Zunge. In den Ammenmär- chen spielen sowohl Riesen als Zwerge die Rolle der Dämonen ; der Riese Polkan ist eine stehende Figur in diesen Märchen, während die Zwerggeister Püschiki genannt werden. Es gibt •auch ein Riesengeschlecht, das Woloten heißt. Mit diesem Namen benannten mehrere slawische V^ölker die alten Römer,

1) Borowy bei den Polen.

2) Bei den Polen sind die Russalki nicht bloß Nymphen im Gehölz, sondern auch Wassernymphen, die mit Menschen Liebesverhältnisse anknüpfen, um sie dann mit Zärtlichkeiten zu -ersticken oder zu ersäufen.

3) Bei den Polen Baboh. und Kurze pluca geheißen. Auch die polnischen Mamune, Boginki, Dschiwojone sind kinderfeindliche Dämone. !Man nennt sie auch die krasne kobjety, die schönen Frauen. Sie schleichen sich ans Bett der Wöchnerinnen und vertauschen die neugeborenen Kinder mit Miß- geburten. Um sich vor ihnen zu schützen, erwarten manche Frauen die Nieder- kunft nicht in der eigenen, sondern in einer fremden Wohnung.

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die sie sich wegen der großen Taten nicht anders als von un- gewöhnhcher Größe denken konnten.

Etwas anders geartet sind einige Geister des polnischen Volkes. 1) Die Wilen, die die Häuser bewohnen, sind furcht- bar häßlich, hohen Wuchses, bebartet; sie erscheinen und verschwinden ohne Ursache und ohne Anzeichen; wer ihnen begegnet, erkrankt sofort. Die Wjeschtsche^) sind Dämone von menschlicher Abkunft. Kinder, die mit Zähnen auf die Welt kommen, werden nach dem Tode Wjeschtsche, steigen allnächtlich aus dem Grabe, klettern auf die Kirchtürme, läuten die Kiichenglocken und rufen die Namen aller jener, denen sie den Tod wünschen ; wer von diesen Verwünschten seinen Namen rufen hört, muß sterben. Auch die Zwora-Dämonen sind von menschlicher Abkunft ; Kinder, die unregelrecht ge- tauft und nach dem Tode Blutsauger wurden. Ihnen ver- wandt sind die Upjur^) oder Vampyre, die aber weit grau- samer sind, und den Menschen, über den sie herfallen, sofort töten.

Der Teufel ist für die Russen und Polen nicht bloß ein Wesen der Hölle, sondern wandelt auch sichtbar auf Erden. Gauner machten sich diesen Glauben ihren Zwecken dienstbar in ähnlicher Weise wie wir es im vorigen Kapitel bei der Er- wähnung des Freitag gesehen haben. Ich erinnere mich, daß in meiner Vaterstadt Riga ein als Teufel verkleideter Räuber wochenlang die ganze Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzte und überall, wo er spät Abends plötzlich erschien, erhielt was er verlangte. Ein zwölfjähriger Knabe allein hatte den Mut, ein Gewehr seines Vaters zu ergreifen und mit einem glücklichen Schusse den Teufel zu Boden zu strecken; dem jugendlichen Teufelstöter, der nicht bloß einem' Räuber ein verdientes Ende bereitet, sondern auch einem feigen Aberglauben den Todesstoß versetzt hatte, wurde vom Zaren eine Tapferkeitsmedaille verliehen.

1) V. Begiel, La demonologie du peuple polonais. Revue de l'histoire des Religions. Paris 1902. Tome XLV .\} 2, pag. 158 170. Vgl. diese Arbeit auch bezüglich der früher erwähnten polnischen Dämonen-Namen.

2) Polnisch geschrieben: Wieszczy.

3) Polnisch geschrieben: Upiör.

Arn liebsten versteckt sich der Teufel hinter Menschen. die mit ihm ein Bündnis schließen und als Zauberer oder Hexen seine Werke verrichten ; dafür dient er ihren materiellen Wünschen. In Krynice im Gouvernement Lublini) hatte ein Bauer im Jahre 1890 dem Teufel seine Seele verschrieben; zum Danke dafür wohnte der Satan beim Bauer in einem Bienen- korbe, und ohne daß der Mann sich darum zu kümmern brauchte, füllten sich für ihn zahllose Bienenkörbe, so daß er zu großem Reichtum gelangte. In der Stadt Torshok im Gou- vernement Twer hatte ein gewisser Nikifor Dorofejew vom Teufel die Fähigkeit erhalten, Menschen durch seinen bloßen Atem ganz nach seinem Belieben zu behexen oder zu heilen.

Daß die Russen schon in den frühesten Zeiten den Zaube- rern und Hexen unbedingten Glauben schenkten, ist bekannt. Großfürst Oleg hieß wegen seiner übernatürlich großen Siege der Zauberer, und er starb den Tod, den ihm ein Zauberer vorhergesagt hatte. 2) Nicht bloß in den Märchen, sondern auch in den Heldensagen wimmelt es von Hexen und Zaube- rern. In den Bylinen, die vom Fürsten Wladimir und seiner Tafelrunde erzählen 3), spielt eine große Rolle die Zauberin Marinka, eine junge schöne Witwe, welche die üble Gewohn- heit hatte, ihre Anbeter in Ochsen zu verwandeln. Auch dem Helden Dobrynja Nikititsch erging es so, als er ihr Herz stürmen wollte. Sie trat ihm zürnend entgegen, sprach die geheimnisvollen Worte, und der Held verwandelte sich in einen brüllenden Ochsen. Vom Himmel war es bestimmt, daß die schöne Zauberin, die den Menschen verachtete, sich in den Ochsen verlieben mußte. Aber Satan hatte ihr bloß die Kraft gegeben, Zauber zu schaffen, nicht auch Zauber zu lösen. Und verzweifelt flog die Zauberin als Rabe verwandelt auf die grünen Kijewsfluren, um sich auf des geliebten Ochsen Nacken zu setzen. Endlich entsagte sie ihren Satanskünsten, verbrannte alle Kräuter, vernichtete alle Tränke, und im Augen- blick wurde Dobrynja vom Ochsen wieder zum Menschen,

1) Begiel, La demonologie du peuple polonais. a. a. O.

~) Chronique de- Nestor. II 180.

3) Bernhard Stern, Fürst "Wladimirs Tafelrunde. S. 47.

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die Rückkehr zum Gottesglauben brachte der Marinka den gehebteu Helden. In den Heldenliedern erscheint auch schon die Jaga Baba, eine Hexe, die in einem Mörser wohnt und in ihm herumfährt. In Kleinrußland stellt man sich heute eine Hexe fast immer als eine alte Frau vor ; auffallend Lang- lebige sind verdächtig, weil die Kunst der Verlängerung des Lebens ein Hauptgeheimnis der Zauberei ist. Im Gouvernement Wilna glaubt das Volk, daß eine Frau, welche am Vorabend des Iwan Kupiloi) bei einem Nachbarn etwas erbitten will, eine Hexe sein müsse; sicher ist dies der Fall, wenn die Frau Zündhölzchen oder Feuer ausleihen will.-j Das meist verbreitete, russische Bild, das man sich von einer Hexe macht, ist dieses : Eine bejahrte Frau, hoch, mager, knöcherig, mit einem kleinen Buckel, mit zerzausten unter dem Kopftuche hervordrängenden Haaren, roten Augen, zornigem Blicke, breitem Munde, vor- springendem Kinn. Nach kleinrussischer Ansicht hat die Hexe immer einen kleinen Schweif und einen schwarzen Streifen auf dem Rücken. Im Jahre 1875 wollten die Bauern des kau- kasischen Dorfes Poljessje ihre Weiber prüfen, um zu erfahren, welche von ihnen Hexerei treibe. Sie baten den Gutsbesitzer um die Erlaubnis, die Frauen im Flusse zu baden; diejenige, die nicht untersinke, sei eine Hexe. Der Gutsbesitzer stimmte jedoch nicht zu. Da riefen die Bauern eine Hebamme, die alle Weiber untersuchen mußte, ob ihnen nicht ein Schwanz vom Rücken herabhing. 3) Weniger zartfühlend als diese Bauern mit ihren Weibern umgingen, indem sie das Amt der Unter- suchung einer Hebamme anvertrauten, war im Jahre 1900 in einem \"ororte von Kischenew ein V^ater gegenüber seiner Tochter. Die Letztere, ein zweiundzwanzigjähriges Mädchen, hatte das Unglück auffallend häßlich und dazu auch buck- lig zu sein. Von einer Stiefmutter gequält, von den Nachbarn

1) Der russische Johannistag. Bekanntlich versammeln sich auf dem Brockenberg die Hexen in der Nacht auf den Johannistag. Der Zusammen- kunftsort der russischen Hexen ist der Kahlenberg, Lyssaja Gora bei Kijew.

2) Über das Ausleihen des Feuers und seine Bedeutung im Orient habe ich in meinem Buche , .Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei" einiges mitgeteilt.

3) Löwenstimm, .\berglaube und Strafrecht, S. 35 und 82.

Stern, Geschichte der offeiitl. Sittlichkeit in Kufil.intl. Ö

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gemieden und verspottet, zieht sich das Mädchen ängstUch von den Menschen zurück, versteckt sich tagsüber im Garten oder Weinberg und kehrt erst Abends heim, wenn sie den Vater schon zu Hause weiß. Und so schleicht sie häufig erst spät Nachts durch den Ort, wenn alle schon schlafen, und stiehlt sich heimlich in das Vaterhaus. Sie kommt in den Ruf einer Hexe, alle Unglücksfälle werden ihren tückischen Zauberkünsten zugeschrieben. Zwar trägt sie ein Kreuz am Halse und geht fleißig in die Kirche, aber das ist Hexenschlau- heit. Man muß der Sache auf den Grund kommen, und der Vater vor allen will Gewißheit haben. Er beruft eines Tages alle Iiinwohner zu einer Untersuchung, man entkleidet das Mädchen bis auf die Haut, und . jedermann hat durch volle drei Stunden Gelegenheit an der Splitternackten den Hexen- schwanz zu suchen.i) Im Juli 1891 erschien in einem Kijewer Hospital 2) ein Bauer beim Arzte mit der Bitte, durch ein amtliches ärztliches Zeugnis zu bestätigen, daß der Bittsteller , .keinen Schwanz habe wie ihn die Zauberer zu haben pflegen ; denn weil man ihn für einen Zauberer halte, zwinge man ihn oft sich nackt auszuziehen und sich auf einen Zaubererschwanz 3) untersuchen zu lassen."

Die Bosheiten der Zauberer und Hexen äußern sich an den Behexten zumeist durch Krämpfe, epileptische Anfälle, Zuckungen. Als Zar Iwan der Schreckliche einmal erkrankte, gab man die Schuld daran einer Frau namens Maria ; diese Frau lebte tugendhaft und war angesehen bei Reich und Arm in ganz Moskwa. Da entstand plötzlich das Gerücht, Maria hasse den Zaren und trachte ihn durch Zauber aus dem Wege zu räumen. Sie wurde ergriffen und hingerichtet : der Vor- sicht halber tötete man auch ihre fünf Söhne.*) Kur.^ darauf wütete in Moskau eine förmliche Zauberer- und Hexenmord-

1) Kölnische Zeitung if>oo, Nr. 1016. „Die Macht der Finsternis in Rußland." (Notizen aus russischen Zeitungen.)

2) IIt';i,t>.'iH. II 10.1. 1891. Aiich mitgeteilt von Lanin, Russische Zu- stände. I 33.

3) ]\Ian vergleiche die Mitteilungen über geschwänzte Menschen in meinem Buche „iSIcdizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei".

*) Karamsin, deutsche Übersetzung VIII 16 (franz. Übers. IX 21).

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epidemie. Niemand war sicher vor der fürchterlichen An- schuldigung. Die vornehmsten Leute wurden als Zauberer und Hexen abgeschlachtet, so der durch seine Kriegstaten ausgezeichnete Okolnitschy, Daniel Adaschew mit seinem zwölf- jährigen Sohne, drei Mitglieder der Familie Satin, ein Schisch- kin mit Frau und Kindern. Das war vor dreiundeinhalb Jahr- hunderten. Und heute ? Man lese die nachfolgende, äußerst unvollständige, nur aus zufälligen Notizen zusammengestellte Liste über Ereignisse der neuesten Zeit !

Im Jahre 1878 entdeckte die Frau Chodschigan Natyrbow, Gattin des Ältesten in einem kaukasischen Aul des Kreises [ekaterinodar, daß ihr Mann sie nicht mehr liebe. Sie suchte Hilfe bei der berühmten Zauberin Chakalo Chagutschew, und diese gab der Klientin ein Mittelchen, das unter die dem Manne bestimmten Speisen getan werden sollte. Die Frau hatte aber Gewissensbisse und entdeckte ihrem Manne, was sie vorgehabt. Der Älteste war erschrocken und entsetzt, daß in seinem Aul Hexen und Zauberer existierten und beschloß das Satanswerk gründlich auszurotten. Berief also die angesehensten Leute des Aul zu einer Beratung, trug die Angelegenheit vor und beantragte, die Hexe einem strengen Gerichte zu unterwerfen. Man begab sich in die Hütte der Chakalo Chagutschew und forderte von der Hexe die Herausgabe ihres Zauberkrautes. Als sie dem Verlangen nicht nachkommen konnte, zerrte man sie auf den Hof, fesselte sie mit Ketten an einen Pfahl und folterte sie durch ein Feuer, welches neben ihr so angezündet wurde, daß sie Brandwunden erleiden mußte. Das Mittel nützte nichts, man schleppte daher die Unglückliche in einen Keller und sperrte sie hier ein. Im Aul begannen dann massen- hafte Verfolgungen aller jener, die durch irgend eine Tat in den Verdacht geraten waren, Besitzer unreiner Kräfte zu sein. Diese Zauberer und Hexen zwang man zur Feuerprobe, sie mußten durch hoch aufflammende Scheiterhaufen schreiten. Dann sperrte man sie in Keller und nährte sie bloß mit den Lungen von Hunden, da man durch solche Speise die Zauberkraft zu besiegen glaubte. Einem besonders übel Beleumundeten ging man auch desto schärfer an den Leib. Man hängte ihn so auf, daß er den Erdboden nur knapp mit den Fußspitzen

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berührte; dann geißelte man ihn mit Dornen, die im Aber- glauben als zaubertötend gelten; hierauf band man den Ge- folterten los und zwang ihn zwischen zwei Feuern zu tanzen. Die Behörden machten erst nach längerer Zeit diesem Hexen- spuk ein Ende.i) Einer der krassesten Fälle ereignete sich am 4. Februar 1879 im Tichwinschen Kreise im Kaukasus. In dem Dorfe Wratschewka lebte die Frau Katharina Ignatjew, welche ihres hohen Alters und ihrer Kränklichkeit wegen als Hexe betrachtet wurde. Diese Frau benützte den Schrecken, den sie verbreitete, um auf fremde Kosten zu leben, und dies sollte ihr zum Schlüsse übel bekommen. Es ereignete sich, daß zufällig mehrere Frauen nacheinander Nervenkrämpfe er- litten. Sofort wurde allgemein der alten Hexe die Schuld an diesen Erkrankungen gegeben. Die Ältesten des Dorfes zogen mit einer, großen Schür der Bewohner vor die Hütte der Hexe, man vernagelte hier alle Türen und Fenster mit Brettern, legte Holz und Stroh um die ganze Behausung und zündete das Dach an. An dem erhebenden Schauspiele be- teiligten sich 17 der Ältesten als Gerichtsvollstrecker und Henker, während mehr als dreihundert Menschen als Zuschauer assistierten. Unter ihnen befand sich auch der Pope des Ortes. Alle meinten, daß sie ein wahres Gotteswerk ausgeübt; und als sie vor Gericht gestellt wurden, erfolgte die vollständige Freisprechung der meisten, bloß drei wurden, sozusagen aus formalen Gründen, zu einer gelinden Kirchenbuße verurteilt.-» Im selben Jahre 1879 wurde auch in der Nähe der Stadt Nikolajew im Gouvernement Ssamara ein Zauberer erschlagen. Der des Mordes Angeklagte erklärte ganz ruhig: „Ja, ich habe es getan; ich habe ihn ganz gerecht totgeschlagen, denn er war ein Zauberer." Das Gouvernement Pensa zeichnete

1) -Dieser Fall ist auch in der von Hoppe neu bearbeiteten Soldanschen Geschichte der Hexenprozeböe (Stuttgart 1880) in Bd. II 338 339 berichtet worden. Dieses große zweibändige Werk enthält aber über Rußlands furcht- bar verbreitetes Hexenwesen nichts weiter als eben diese Erzählung und einen kurzen höchst mangelhaften Hinweis auf das nachfolgende Ereignis in Wra- tschewka.

2) Die russischen Quellen für dieses Beispiel und für die nächsten Angaben von Hexentötungeu findet man bei Löwenstimm a. a. O. S. 44 ff.

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sich damals durch Hexengerichte ganz besonders aus; im Zeit- räume eines einzigen Jahres gibt es dort fünf Ermordungen von Hexen und Zauberern: 1879 wurde im Kerenschen Kreise ein Zauberer erschlagen. 1880 ereignete sich in einem anderen Kreise des Pensa-Gouvemements folgender Fall: Bei einem Hochzeitsmahle schrie die Mutter des Hauswirts plötlich laut auf; dies konnte nur die Wirkung einer Bezauberung sein, und einer der Gäste, der im Verdachte der Zauberei steht, wird von den anderen ergriffen und zu Tode geprügelt. Kurze Zeit darauf wurden in verschiedenen Kreisen desselben Gou- vernements auch drei Hexen ermordet. 1888 wird im Ssmi- jewschen Kreise des Charkowschen Gouvernements bei einer Hochzeitsfeier die Braut von einem epileptischen Anfall heim- gesucht; der Anblick der Erkrankten verursacht auch bei einer anderen Frau einen Nervenkrampf. Einer der Gäste gilt als der Zauberer, dessen heimliche Verwünschung diese Erkrankun- gen verursacht hat. Man fällt über ihn her und tötet ihn auf der Stelle. Diese Fälle sind zahllos und in Ursache und Wirkung durchaus typisch. 1895 wurden im Dörfchen Wladi- mirsk im. Kubangebiete auf einer Hochzeit zwei Frauen plötz- lich ohnmächtig. Den anwesenden Gast Kusjma Dolschenkow beschuldigt jemand dieser Zauberei, die aufgebrachten Leute fallen über den Hexenmeister her und schlagen ihn tot. Auch im Zentrum des Reiches, im Mittelpunkte der Residenzen, sind solche Vorkommnisse möglich. Am 25. September 1895 findet in Moskau vor der Kapelle des Heiligen Panteleimon eine Feier statt. Unter der Menge stehen eine Frau und ein Knabe, daneben die Bäuerin Natalja Nowikow, welche mit dem Knaben plaudert und ihm einen Apfel schenkt. Die Frau, die den Knaben begleitet, erleidet einen hysterischen Anfall; und auch der Knabe wird just, da er in den Apfel beißen will, von Epilepsie ergriffen. Natürlich war der Apfel behext, die Menge fällt über die Bäuerin her und prügelt sie halbtot. i) Im Jahre 1900 wird im Dorfe Sinizewo im Gouvernement Ssaratow der Bauer Denissow als der Zauberer gehalten, der dem Dorfe alle möglichen Unfälle, den Bewohnern Krankheiten, nament-

1) Löwenstimm a. a. O. 57 ff.

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lieh den Frauen und Kindern Krämpfe anzaubert. An einem Feiertage findet der Polizeiwächter Suwajew den Denissow be- trunken auf der Straße liegend. Er will den Betrunkenen wegschleppen, erkennt den Zauberer, ergreift ein Brett und schlägt dem Verfluchten mit solcher Wucht auf den Kopf, daß ihm daraus der Teufel zugleich mit dem Leben entflieht. Bemerkenswert ist ein auch im Jahre 1900 stattgefundener Vorfall in der Stadt Wolsk, die gleichfalls im gesegneten Gou- vernement Ssaratow liegt. Der neunjährige Sohn eines ge- wissen Schuganow leidet an Krämpfen, denen kein Arzt ab- zuhelfen vermag. Es kann daher die Krankheit nichts anderes sein als eine Verzauberung. Vater Schuganow hält die Familie Bjeloussow für die Urheber der Hexerei, eilt in ihre Wohnung und droht die ganze Zauberbande zusammenzuschießen. Vor Gericht geschleppt erklärt Schuganow in seinem Rechte ge- wesen zu seini), denn ,,die Bjeioussows lassen die Teufel wie Tauben auseinanderschwirren, damit sie die Menschen nach allen Seiten verderben und verzaubern." Im Jahre 1904 gab es am 10. Januar vor dem Petersburger Kreisgerichte eine A'erhandlung wegen Ermordung einer Hexe.^j In einem Vor- orte der Residenz galt die Bäuerin Ilie als Besitzerin unreiner Kräfte. Eines Tages traf die Ille einen Bauer namens Lawone und ersuchte ihn, indem sie ihm einen Rubel gab, ihr Schnaps zu kaufen. Der Bauer vollführte den Befehl der Hexe, brachte ihr die Flasche mit Schnaps, wollte aber den Rest des Rubels nicht herausgeben. Da rief ihm die Ille zornig zu : ,,Du, warte nur! Ich bin eine Hexe! Ich werde dich verhex^-n!" Lawone geriet in Entsetzen, ergriff ein Stück Holz und erschlug die Hexe mit zwei wuchtigen Schlägen, um sich vor ihrem Be- zauberungswerk zu retten. 3)

1) Kölnische Zeitung 1900. Nr. 10 16.

2) Nach Mitteilungen Petersburger Blätter und einer Korrespondenz im CapaTOHOKifi ."iHeBninn. .M 10, 1904.

3) Daß es auch im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts noch Fälle von Hexenglauben gibt, brauche ich wohl nicht zu entdecken. Aber die Vorfälle erreichen hier nicht die furchtbare Tragik wie in Rußland, sondern erhalten fast immer eine mehr kuriose, um nicht zu sagen humoristische Form. Ich erwähne drei Beispiele aus jüngster Zeit: In Sulingen in Preußen ^^-urde vor

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Auch weit harmlosere Anlässe genügen oft, um den im Rufe der Zauberei Stehenden das Leben zu rauben. In der Station Jumachanj-Jurta im kaukasischen Terekgebiete betrank

dem Schöffengericht über folgenden Sachverhalt verhandelt. Der Kätner F. K. in Lindem hatte ein krankes Kind. Eines Tages kommt eine Zigeunerin ins Haus. Sie redet mit der Frau dies und das, sieht das kranke Kind und merkt bald, daß hier ihr Weizen blüht. , .Liebe Frau," sagt die Zigeunerin, ,,Ihr Kind ist behext, und das hat die Person getan, die nun zuerst hier ins Haus komint, etwas zu leihen." Nach einigen Tagen stirbt das Kind. Der Nachbar, Schlächter L., muß, wie das ja Sitte ist, die ,, Leiche ansagen" ini Dürfe und bei den Verwandten. Er hat aber einen schlechten Handstock und schickt deshalb seine Frau in das Sterbehaus, um einen besseren zu leihen. Kaum hat die Frau L. ihren Wunsch ausgesprochen, da geht der Spek- takel los, und es dauert nicht lange, so weiß das ganze Dorf Lindern, wer das verstorbene Kind behext hat. Die Frau L. ist natürUch darüber empört, daß sie für eine Hexe angesehen und als solche nun gefürchtet wird. Sie verklagt die Frau K. wegen Beleidigung. Der Prozeß endete, nachdem der Amtsrichter ein ernstes Wort gesprochen, mit einem Vergleich. Die Frau K. mußte öffent- hch und feierlich vor Gericht erklären, daß die Frau L. keine Hexe sei. In der französischen Stadt Noissy-le-Sec wurde eine Frau als Hexe vor Ge- richt gestellt. Man warf ihr zwar nicht vor, daß sie am Hexensabbath auf einem Besen durch die Lüfte fliege, trotzdem aber bezeichnete man sie als ,,den Schrecken des Landes", als eine Person, welche den ,, bösen Blick" werfe. Auf Grund dieser Anschuldigungen hätte sich das Gericht allerdings mit Frau 'Judin dies ist der Name der ,, Zauberin" nicht befaßt. Man konnte ilir jedoch nachweisen, daß sie in einer Vermögensangelegenheit eine eigentüm- liche Rolle gespielt. In Noissy-le-Sec lebte eine reiche Witwe Blanchet, zu welcher ein Tierarzt nähere Beziehungen unterhielt. Der Einfluß des Mannes genügte jedoch nicht, um Frau Blanchet hinsichtlich ihrer testamentarischen Verfügungen, um die es Henry zu tun war, zu bestimmen. Da führte er die Zauberin bei ihr ein. Diese gewann bald eine derartige :Macht über die etwas schwachsinnige Blanchet, daß letztere bUndlings alles glaubte und tat, was Frau Judin genehm war. Es ist erwiesen, daß Frau Judin von Zeit zu Zeit im Hause der Witwe wahre Hexenszenen aufführte, Geistererscheinungen simuUerte. So brachte sie die abergläubische Frau Blanchet endlich dahin, ihr Testament, in welchem sie ihr ganzes Vermögen ihrer Schwester verschrie- ben, als einen von Dämonen bewohnten Gegenstand ins Feuer zu werfen. Es hielt dann nicht schwer, sie zum Verfassen eines neuen Testamentes zu be- stimmen, durch welches Henry zum Universalerben eingesetzt wurde. Auf die Klage der Familie der Frau Blanchet erklärte nun das Gericht das neue Testament als erschlichen und daher ungiltig. Die ,, Zauberin" kam jedoch ohne Strafe davon. Ein regelrechter Hexenprozeß fand am 12. Januar 1903 vor dem Bezirksgericht in Fadd in Ungarn statt. Die Budapester Zei- tungen vom 15. Januar berichteten hierüber in folgendem: Der wohlhabende

sich die Frau eines Atamans bis zur Bewußtlosigkeit und konnte trotz aller Mittel nicht leicht wieder zur Besinnung gebracht werden. An dieser Hartnäckigkeit der Besoffenheit konnte

Landwirt Andreas Schukkert kränkelte seit zwei Jahren unaufhörlich und an- gebüch hatten ihn bereits sämtliche Pakser Ärzte behandelt, ohne jedoch im- stande zu sein, eine Besserung bei ihm herbeizuführen. Während seiner langen Krankheit hatte sich sowohl bei ihm, als auch bei seiner Frau der Gedanke festgesetzt, daß ihn jemand ,, verwunschen" habe und daß dies niemand anderes sein könne, als sein eigener Schwiegersohn, der Fleischhauermeister Stefan Szalai. In dieser Bedrängnis ließ das Ehepaar den ,, Teufelsbeschwörer" von Fadd holen, der auch bald erschien und, nachdem er verschiedene geheimnis- volle Zeremonien veranstaltet hatte, in einer jeden Zweifel ausschheßenden Weise herausfand, daß Schukkert in der Tat ,, verwunschen" worden sei. Das Erste, was das Ehepaar tat, war nun, daß es Szalai aus dem Hause jagte und die Tochter zwang, ihren Gatten zu verlassen. Außerdem aber reichte das Ehepaar auch eine Klage beim Kgl. Bezirksgerichte ein. Natürhch nahm der Richter diese Anzeige nicht ernst, allein nun reichte auch Stefan Szalai eine Klage wegen \'erleumdung gegen seine Schwiegereltern ein, so daß sich das Gericht mit der kuriosen Affaire beschäftigen mußte und der Unterrichter Karl Kriväcsy einen Rechtsspruch zu fällen genötigt war. Bei der Verhand- lung klagte Schukkert dem Richter fast unter Tränen, was er leiden müsse und daß die Ursache all dieser Leiden niemand anderes als Szalai sei, der ihn durch seine teufhsche Kabala verhext habe, um ihn zu verderben und sich dann durch Erbschaft in den Besitz seines Vermögens zu setzen. ,,Wie können Sie so dummes Zeug sprechen," sagte der Richter zu Schukkert, , .wissen Sie denn nicht, daß es weder Hexen noch Zauber gibt?" Das Ehe- paar Schukkert ließ sich aber dadurch in seinem Hexenglauben nicht er- schüttern, sondern begann mit felsenfester Überzeugung die Details der ge- schehenen ,, Verwünschung" zu schildern. ,,Als ich vor einiger Zeit in meinem Bette lag," erzählte der alte Schukkert, ,,ging plötzhch die Türe von selbst auf und ein großer schwarzer Hund kam herein. Ich sprang aus dem Bette und wollte ihm mit dem Besen einen Streich versetzen, da hatte sich aber der Hund in Luft aufgelöst. Als ich dann in die Küche hinausging, fand ich ihn dort wieder; ich wollte ihn auch von da vertreiben, da begann aber der Hund ein schauerliches Gelächter auszustoßen. Ich hatte mich auch davon nicht überzeugen lassen und begann auch bereits an die Sache zu vergessen, als plötz- lich die an der Wand . hängende Uhr mir in ihrem Tiktak zurief: ,,Du bist verwunschen. Dein Schwiegersohn hat dich verzaubert". Jetzt erst wandte ich mich an den Teufelsbeschwörer, der mir mein Schwiegersohn befand sich damals auf dem Markte sagte, daß er Denjenigen, der mich verhext habe, zitieren werde, wt-d zwar wäre das die erste Person, die ins Zimmer treten werde. Kaum hatte er jedoch erst die Beschwörung begonnen, als mein Schwiegersohn hereintrat mit gesträubtem Haar, als ob ihn der Teufel Viel demselben herbeigeführt hätte." Und nun brachte Stefan Szalai seine

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nur Zauberei schuld sein. Ein Greis, der zufällig dabei war, wurde bloß wegen seines hohen Alters dieser Zauberei be- schuldigt und sofort halbtot geprügelt. Das Volk erwartet von den Zauberern und Hexen nicht bloß übles, sondern verlangt von ihnen auch Wunder und Heilmittel in Krankheiten. Wehe, wenn sie die an ihre Kraft geknüpften Erwartungen nicht rechtfertigen! Im Jahre 1889 wurde im Mohilewschen Gou- vernement ein Hexenmann erschlagen, weil er eine Frau von einer Krankheit nicht zu befreien vermochte. In diesen Fällen feiert auch ein Aberglaube Triumphe, daß ein behexter Mensch gesund wird, wenn man den Zauberer oder die Hexe tötet und mit dem Blute der Getöteten den Körper des Kranken beschmiert. Ein solcher Fall ereignete sich im Jahre 1889 im Rauenburgischen Kreise ij: Die kranke Frau eines Dorf- ältesten beschuldigte ihre alte Tante der Hexerei. Die Hexe wurde zur Kranken geschleppt und am Lager derselben mit einem Zaunpfahl durchbohrt; dann schnitt man der gepfähl- ten Hexe die Finger an und sammelte das Blut sorgfältig in einem Gefäße, um die Kranke damit zu heilen.

Die russischen Historiker erzählen, daß Rußland nament- lich im siebzehnten Jahrhundert von dem Übel der Besessen- heit heimgesucht wurde. In der Stadt Schuja allein gab es damals auf einmal siebzig Besessene. In jedem Orte nah und fern ereigneten sich ununterbrochen Fälle von Besessenheit. Die Klikuschy, wie die Besessenen russisch genannt werden, litten an Konvulsionen und epileptischen Anfällen. Frauen besonders gerieten in Verzweiflung, stürzten zu Boden und jammerten, manchmal ohne besonderen Anlaß, gewöhnlich

Klage vor. Er sagte, daß man auf Schritt und Tritt diese Geschichte über ihn verbreitet habe, daß die Leute ihn beschimpften und verfluchten, so, daß er nicht mehr unter Menschen gehen und auch keine Arbeit bekommen könne. Xach Vernehmung der Zeugen verurteilte der Richter Andreas Schukkert und dessen Frau wegen Ehrenbeleidigung, weil er es durch die Zeugenaussagen für bewiesen fand, daß das Ehepaar Schukkert den angeblichen Hexenspuk mehreren Personen mitgeteilt und dadurch den Kläger der allgemeinen Ver- achtung preisgegeben habe. Der arme Schukkert bezahlte die ihm auferlegte Geldstrafe und betrachtet auch dieses neue Mißgeschick als eine Folge der Teufelskünste seines Schwiegersohnes, des Hexenmeisters. 1) Löwenstimm a. a. O. 58.

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aber, wenn sie in die Nähe eines Heiligtums kamen, Kirchen- gesang und Messe hörten. Es ist nachgewiesen, daß die Ur- sache zu der historisch festgestellten förmlichen Epilepsie- und Krämpfeepidemie von den abergläubischen Weibern selbst durch das Zurückhalten der Menstruation hervorgerufen wurde. Wen nun diese hysterischen Weiber als Urheber der Behexung beschuldigten, der wurde den Folterknechten ausgeliefert. Peter der Große suchte die besessenen Weiber nach seiner Art zu kurieren. Er heß alle, deren man habhaft werden konnte, nach Petersburg bringen und in .Anstalten einsperren, wo sie sich durch harte Arbeiten selbst schnell den Teufel austrieben. i) Seit Peter dem Großen sind nun bis zum Jahre 1839 nicht weniger als sieben Erlässe gegen die Besessenheit erschienen, und doch hat das Übel nichts an seiner Verbreitung noch an seiner Kraft eingebüßt. Außer den aufgezählten einzelnen Fällen gab es noch in neuerer Zeit wahre Monstreprozesse in Angelegenheiten von Besessenen vor allen Gerichten des Reiches; so am 12. April 1861 in Jekaterinoslaw, am 28. Juli 1869 in Jaroslaw, am 31. Juli 1868 und 22. Januar 1870 in Moskau. 2) Wenn Rußland in bezug auf seine Kultur im all- gemeinen nach den eigenen Geständnissen der russischen Intelli- genz noch auf der Stufe des zwölften Jahrhunderts steht, so darf man behaupten, daß es in Hinsicht auf den furchtbaren Aberglauben und die damit zusammenhängenden tierischen Verbrechen noch in seiner heidnischen Urzeit stecken ge- blieben ist.

1) Halem, Leben Peters des Großen, III 136.

2) Löwenstimm a. a. O. 172.

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6. Heidentum und Orthodoxie.

Einfluß der Naturvölker auf zivilisierte Europäer Einfluß der Heiden auf die Russen ^Machtlosigkeit der Ethik in Rußland Grausamkeit in der FamiUe Kraftlosigkeit des Christentums Verwischung der Grenzen zwischen Orthodoxie und Heidentum Regierung und Kirche Aberglaube der nichtrussischen Völker in Rußland Kalmücken Kirgisen Osseten Ainos Kamtschadalen Tscheremissen und Tschuwaschen Letten und Esthen Wotjäken Die tschudischen Zauberer Orthodoxie und Heidentum Heidnische Christenfeste und Unsittlichkeit Spaziergänge der Jugend bei Russen und Wotjäken Popen als Förderer des Heidentums und Aberglaubens Popen bei Tieropferungen Popen bei Menschenopfe- rungen — Popen gegen \'ampjTe Nonnen als Hexen Was ist Religion?

Was ist Sünde?

Die Kulturhistoriker und Anthropologen haben schon oft die Bemerkung gemacht, daß selbst Europäer, die auf der höchsten Stufe der Zivilisation stehen, von ihrer Umgebung abhängen und, sobald sie unter Naturvölkern leben, zu der Stufe der Kultur dieser Naturvölker herabsinken. Dies gilt namentlich dort, wo sich Europäer vereinzelt unter Natur- völkern ansiedeln.!) Aber was bei den Europäern sich nur dann ereignet, wenn sie vereinzelt unter eine Masse fremd- artiger Umgebungen geraten, das geschieht bei den Russen, auch wenn sie in ganzen Gruppen unter Fremdvölkern wohnen ; ja sogar dort, wo die Russen die Herrschenden sind und die Übermacht haben, ordnen sie sich bald und leicht der fremden Kultur unter, die noch tiefer steht als ihre eigene. Der seit tausend Jahren orthodox christliche Russe fühlt und denkt noch so durchaus heidnisch, daß er sich in einem Kreise von Heiden, wo sein abergläubischer Sinn und seine rohe Auf- fassung der Sittlichkeit die leichteste Anpassung an gestattete und offen geduldete Gebräuche finden, wieder glücklich als ganzer Heide vorkommt. Leroy-Bcaulieu^) sagte: „Wenn der rus- sische Ackersbauer unter eine götzendienerische Bevölkerung

1) Dr. Heinrich Schurtz, Urgeschichte der Kultpr. Leipzig und Wien 1900. S. 14.

2) Das Reich der Zaren. Hl 36.

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versetzt wurde, adoptierte er außerordentlich leicht die aber- gläubische Vorstellung seiner neuen Umgebung und bisweilen sogar die heidnischen Riten." Wir haben aber bereits er- fahren und werden es bis zum Schlüsse in diesem ganzen Buche noch sehen, daß nicht nur der russische Ackerbauer, sondern alle Schichten des russischen Volkes ohne Ausnahme demselben Gesetze des Herabsinkens zu noch tieferen Kulturen, zu einer noch laxeren Sittlichkeit unterliegen. Wir kennen die tierische Verkommenheit, die zügellose Barbarei, die nicht bloß in den Provinzen, sondern auch in den Zentren und Residenzen des europäischen Rußland herrschen. Wir werden noch mehr über diese Roheit der Geister, die wahrhafte Impotenz der Ethik in Rußland erfahren müssen. Ein Jahr- tausend seit der Einführung des Christentums hat sich ver- flüchtigt wie der Steppenrauch und nichts ist geblieben als eine dünne Schicht falscher Zivilisation, welche die überall durch- brechende unzerstörbare Wildheit nicht zu decken vermag. Es sind durchaus nicht zufällige vereinzelte Erscheinungen, mit denen wir uns zu befassen haben, sondern Glieder einer erdrückend schweren, einer endlos langen Kette, die in ihrem Zusammenhange um das ganze Reich sich schlingt, das ganze A'olk in ihre Ringe schließt. Wenn wir mitteilen, daß ein Bauer seine Tochter röstet, um sie zu einem Geständnis in einer harmlosen Sache zu zwingen, so ist es nicht der eine zufällig erwähnte Bauer, der unser Entsetzen hervorruft, son- dern wir sehen einen Typus von Hunderten, von Tausenden vor uns ; einen einzigen Fall von endlos vielen der gleichen Art. Wenn wir erzählen, wie Söhne ihre Mütter aus Aber- glauben umbringen, wie Gatten ihre Gattinnen, Töchter ihre Mütter und Mütter ihre Kinder als Hexen und Zauberer dem Martertode ausliefern, so sind dies wieder nicht schauerliche Ausgeburten einer finsteren Zeit, sondern ständige Vorkomm- nisse der Gegenwart, die statistisch festzustellen sind wie Ge- burten und Todesfälle und häufiger stattfinden als in anderen Ländern Verbrechen ; nein, nicht \>rbrechen, sondern bloße Vergehen. Die Lehren und Sittlichkeitsauffassungen des Christentums sind an den Russen vollständig wirkungslos ab- geprallt. Daher kommt es, daß die Russen im europäischen

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Rußland zwar noch im Scheine des offiziellen Christentums wandeln, sklavisch die Vorschriften der Kirche beobachten, aber sofort ihr innerstes Heidentum hervorkehren, sobald sie sich, endlich von den Fesseln der staatlichen Kirchenaufsicht befreit, in den asiatischen Provinzen niederlassen. In Sibirien schließen sich die Altgläubigen ganz offen den Religionsübun- gen der Schamanen an und an den Ufern der Lena besuchen auch die orthodoxen Russen, nicht vereinzelt sondern gemeinde- weise, die buddhistischen Heiligtümer der Burjäten, ihrer Nach- barn, um dort zu beten und zu opfern, als wären sie in russi- schen Tempeln. 1) In der Gegend von Irkutsk, der Haupt- stadt des ostsibirischen Generalgouvernements, der Residenz eines orthodoxen Erzbischofs, findet man in den russischen Isbas burjatische Götzen und in den Hütten der Burjäten die Bildnisse des heiligen Nikolaj. Aber wir brauchen nicht so weit zu reisen. Auch im europäischen Rußland, in den Ge- bieten der Wolga-Gouvernements, unterliegen die Russen trotz der Angst vor Kirchenstrafen und vor Verfolgungen der Re- gierung immerfort dem Einflüsse der polytheistischen Tschu- waschen und Tscheremissen und deren Fetischlehren. Die Neigung zu Aberglauben, Zaubermitteln und grausamen wie schamlosen Verbrechen wird durch die heidnischen Gebräuche viel eher befriedigt und gerechtfertigt, als durch eine euro- päische Zivilisation und eine edle Auffassung christlicher Lehren, für deren Verbreitung in Rußland in tausend Jahren sowohl der Staat als die Kirche bloß Oberflächliches getan haben. Die Regierung hat nie ein aufrichtiges Interesse an der Aufklärung gezeigt ; sie verfolgte im Gegenteile stets das Prinzip der Unterdrückung aller Kultur, der Steigerung aller Dummheit und Unsittlichkeit, aller Laster und schlechten In- stinkte. Es gibt eigentlich nur ein einziges Buch, das zensur- frei erscheinen darf und daher am stärksten verbreitet ist; das ist der Ssonnik, das Traumbuch, aber nicht einmal die Bibel. Denn die selbstherrliche Regierung ließ vorsichtiger- weise neben sich auch keinen gebildeten Klerus aufkommen, und aus eigener Kraft hat sich die Geistlichkeit nie dazu

1) Leroy-Beaulien a. a. O.

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aufraffen wollen, die Religion aus dem Sumpfe der Verkom- menheit, in den sie immer tiefer versunken ist, emporzuheben zu reiner Höhe und auf einen Gipfel, von wo sie Glanz und Erleuchtung zugleich hätte ausströmen können. Es ist wahr- lich schon des Staunens wert, daß Rußland bei alledem wenig- stens dem Namen nach noch christlich geblieben ist, da das Wesen der Religion mit dem Christentum nichts gemein hat als die Reste, die sich aus dem Heidentum in einzelne christ- liche Festgebräuche hinübergerettet haben.

Wenn wir nur einen flüchtigen Überblick über die aber- gläubischen Sitten und Gebräuche der nichtrussischen Völker in Rußland werfen, müssen wir schon erkennen, daß die christ- lichen Russen genau denselben Aberglauben, genau dieselben Gebräuche besitzen wie die Heiden in Rußland; daß in dieser Hinsicht nicht einmal ein Unterschied gemacht werden kann zwischen Russen einerseits und Kalmücken, Kirgisen, Tungusen, Burjäten, Wotjäken, Kamtschadalen. Osseten oder Tschu- waschen andererseits. Es liegt nicht in meinem Plane, das Thema des Aberglaubens in bezug auf alle nichtrussischen Völker Rußlands zu erschöpfen. Ich will, wie es auch bei der Schilderung des Aberglaubens der Russen geschehen ist, und hier natürlich in noch mehr reduziertem Maße, nur einige wenige charakteristische Momente aus dem Aberglauben einiger weniger nichtrussischer Völker zum Vergleiche mit dem Aberglauben der Russen hervorheben.

,,An Aberglauben übertrifft der Kalmück alle bekannte Völker. Jahrhunderte wären nöthig, um die Macht ihres Vor- urtheils zu bezähmen" ; also schrieb ein Livländer, der zwei Jahre unter den Kalmücken gelebt hat, vor hundert Jahren. i) Vergleichen wir nun die von diesem Schriftsteller angeführten abergläubischen Gebräuche und Auffassungen der Kalmücken mit den russischen der Zeitunterschied von hundert Jahren braucht nicht in Betracht gezogen zu werden, da sich bei diesen Völkern in einem Säkulum nichts geändert hat so werden wir finden, daß die Kalmücken zwar ihren Aberglauben

1) Benjamin Bergmanns Nomadische Streifereien unter den Kalmücken in den Jahren 1S02 und ICS03. {\'ier Teile.) Riga 1S04. II. Tl. S. 258 und 261.

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in ein System gebracht haben, aber daß alle diese Gebräuche und Sitten großenteils harmloser Natur sind und nur selten zu solchen wahnsinnigen Kapital- und Sittlichkeitsverbrechen führen wie bei den Russen. Den bedeutendsten Platz im Aber- glauben der Kalmücken nimmt wie bei den Russen die Be- stimmung der glückhchen und unglückhchen Tage ein.i) Eine eigene Klasse der kalmückischen Priester, die ihre besondere Bezeichnung Dsurchaitschi führt, beschäftigt sich mit solcher Bestimmung. Bei feierlichen Gelegenheiten zieht man die Meinung dieser Gelehrten zu Rate. Die Liste der schwarzen und der weißen Tage ist auf Monatstafeln verzeichnet, und der Dsurchaitschi entscheidet mit einem Blicke auf seine zwölf Monatstafeln schnell jede Anfrage. Ohne Befragung des Dsur- chaitschi wird keine Reise angetreten^ keine Hochzeit voll- zogen, keine Leiche bestattet. Den Kalmücken liegt sehr viel daran, ob sie im Hundejahre, im Pferdejahre oder irgend einem anderen Jahre geboren sind. Wer also in einem Hundejahre geboren ist, darf nur in einem Hundejahre heiraten. Den Tod vermag man natürlich nicht nach dem Jahre einzurichten ; aber die Stunde der Beerdigung kann willkürlich festgesetzt werden und sie muß der Stunde der Geburt entsprechen. Von dem nachteiligen Einflüsse der Mißgeburten, des Vogel- fluges und der Tierstimmen auf die Schicksale der Menschen handeln zahlreiche Bücher der kalmückischen Literatur. Die Dsurchaitschi kennen genau diese Werke. Nicht alle Vögel des euiopäischen und russischen Aberglaubens sind Gegen- stand de? kalmückischen, aber dafür sind im letzteren andere Augurvögel vorhanden. Einer der heiligsten Vögel ist der Kranich, dessen Erlegung ein schweres Verbrechen wäre ; denn der Kopf des Kranichs stellt den beschorenen Schädel eines Priesters vor. Verfolgt ist dagegen die weiße Bergeule; man schießt sie, zerhackt sie in Stücke und hängt die einzelnen Teile in den Ställen auf, das bringt den Herden Gedeihen. Wenn man auf einer Reise den weißen Mäusefalken von der Linken zur Rechten fliegen sieht, so bedeutet dies guten Er- folg; fliegt der Vogel von rechts nach links, so ist es am

1) Bergmann a. a. Ü. S. 261 ff.

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klügsten, die Reise aufzugeben. Ein Unglücksvogel ist der Flamingo. Die Taube hat nicht die Bedeutung wie bei den Russen; wenn man sie unter dem Dache eines Hauses er- wischt, tötet man sie durch einen Peitschenhieb. Im allge- gemeinen gilt es als Unglückszeichen, wenn sich Vögel auf das Dach einer Hütte setzen. Die Schlange genießt kein An- sehen, sie ist ein Unglückstier. Es ist Sünde, sich auf die Schwelle einer Tür hinzusetzen. Der Herd ist eine heilige Stätte und das Feuer göttlich; man darf nicht auf den Herd treten, die Füße nicht nahe ans Feuer geben, eine Feuer- flamme nicht schwenken. Wagt man im Herbst und Winter zu pfeifen, so ruft man Stürme und Schnee herbei. i) Im Winter und Herbst darf man keine Legenden von schrecklichen Göttern lesen, sonst entsteht stürmisches W>tter. Wer seine Tabaks- pfeife mit einem Papier anzündet, stirbt in Kurzem. Den Drei- fuß darf man nicht schlagen. Diese kalmückischen aber- gläubischen Meinungen, sagt Benjamin Bergmann bei ihrer Aufzählung 2), sind allgemein verbreitet, Adel, Geistlichkeit hul- digen ihnen noch mehr als das gemeine Volk. Sie sind gött- liche Lehrsätze, deren Nichtachtung ein Verbrechen wäre, der strengsten Ahndung in den künftigen Wanderungen würdig. Bei den Kirgisen ist die Weissagung aus den Büchern eben- falls Sache einer besonderen Klasse von Priestern, die Faltscha heißen. 3) Die Jauruntschi dagegen sind Priester oder Zauberer, die aus dem Schulterblatte eines Schafes prophezeien. Wenn sie das Schulterblatt auf ein Feuer legen, können sie aus den Rissen und Spalten die Entfernung eines abwesenden Menschen

1) In Livland sagt man: Pfeift man am Abend, so ruft man den Teufel zur Nacht herbei.

2) a. a. O. S. 265.

3) Ausführliches in den Reisen von Pallas, von denen ich die seltene französische Ausgabe in fünf Bänden in 4'' nebst einem Atlas besitze: „Voyages de M. P. S. Pallas, en differentes provinces de l'Empire de Russie, et dans l'Asie septentrionale, traduits de l'allemand par M. Gauthier de la Peyronie. Paris 1788." Am häufigsten ist der deutsche Auszug in einem kleinen Oktav- bändclien von 300 Seiten, auf den ich daher hier bezug nehme: ,, Merkwürdig- keiten der Morduanen, Kasaken, Kalmücken, Kirgisen, Baschkiren. Ein Aus- zug aus Pallas Reisen. Frankfurt und Loipzig 1773." t)ber kirgisischen Aber- glauben S. 282.

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bestimmen.!) Die Bakscha-Zauberer brauchen, um Propheten zu werden, die Opferung eines Pferdes, Schafes oder Bockes, und führen dann bei ihren Weissagungen mit Zaubertrommel und Klapperringen einen Zaubertanz auf, werfen die bemalten Knochen der geopferten Tiere gen Westen und verschütten nach derselben Himmelsrichtung auch das Blut der Opfer. Eine vierte Art Zauberer sind die Ramtscha, die Butter oder Fett ins Feuer schütten und aus der Farbe der Flammen wahr- sagen. Die Hexen, Dschaadugar, bezaubern die Gefangenen und Sklaven, um sie an der Flucht zu hindern; die Be- zauberung geschieht auf folgende Weise : man rauft dem zu Bezaubernden ein paar Haare aus, fordert seinen Namen und bringt den Mann dann auf den Feuerplatz; seine Fußstapfen werden von der Hexe angespuckt, seine Zunge aber mit Asche vom Feuerplatze bestreut.

Im Kaukasus hat jedes der dort lebenden Völker seine abergläubischen Spezialitäten. Der Unterschied zwischen Christen, Moslems und Heiden besteht gewöhnlich nur in Äußer- lichkeiten. Bei den Osseten beispielsweise gelten diejenigen, welche Schweinefleisch essen, als Christen; jene aber, welche kein Schweinefleisch essen, sind die Moslems. Sowohl diese sogenannten Moslems als diese sogenannten Christen opfern nach alten heidnischen Gebräuchen in Höhlen und heiligen Hainen, auf uralten Altären und Steinhaufen. Wenn jemand vom Blitze erschlagen wird, so gilt er als heilig und wird an der Stelle, wo er gefallen, unter allgemeinem Jubel be- graben; das Grab wird zu einem Wallfahrtsorte. Man glaubt, daß der heilige Elias, der Herr der Felsgebirge, den durch den Blitz Erschlagenen unmittelbar zu sich genommen habe. Hunde, Katzen und Esel sind bei den Osseten zauberhafte Tiere. Wenn man an jemanden eine Forderung hat oder von jemandem beleidigt worden ist und nicht zu seinem Rechte

1) Wie sich diese Wahrsager durch zweideutige Orakelsprüche schlau aus der Affaire zu ziehen wissen, wird erzählt in „Des Herrn Kapitains Niko- laus Rytschkow Tagebuch über seine Reise in die Kirgiskaisakischc Steppe im Jahre 1771 aus der russischen Ausgabe zu St. Petersburg vom Jahr 1772 übersetzt von Hase." In Büschings Magazin für die neue Historie und Geo- graphie, Bd. VH, 417—474. Vgl. S. 458—459-

Steril, Geschichte der öffentl. Sittlii.hkcit in Rußland. 7

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gelangen oder Genugtuung erhalten kann, so wendet man folgendes Mittel an: man schlachtet auf dem Grabe der Vor- fahren des Schuldners oder Beleidigers eine Katze, einen Hund oder Esel. Dadurch geraten die Seelen der Verstorbenen in Gefahr, zu Katzen, Hunden oder Eseln degradiert zu werden, wenn nicht der Nachkomme schleunigst seine Schuld begleicht oder dem Beleidigten Genugtuung gibt. Es kommt niemals vor, daß dieses Mittel nicht helfen würde. i)

Das Feuer, das im russischen Aberglauben eine große Rolle spielt, hat auch bei vielen Völkern im äußersten Nord- osten eine besondere Bedeutung. Bei den Ainos auf Sachalin 2) ist es verboten, das Feuer des Herdes aus dem Hause zu tragen. Das Herdfeuer muß Winter wie Sommer fortbrennen, denn wenn das Feuer verlöscht, ist es der Hausgeist der stirbt. Wenn man fortgehen oder schlafen muß, dann deckt man das Feuer sorgfältig mit Asche zu, um bei der Rückkehr oder beim Erwachen noch einige glimmende Reste zu finden. Das Herdfeuer darf man nur mit dem Feuerstahl anzünden, während man Zündhölzchen höchstens für das Anbrennen der Tabakspfeifen verwenden soll. Man hüte sich, ein Zündhölz- chen, eine brennende Zigarette oder sonst etwas Brennendes ins Wasser fallen zu lassen; das wäre die schwerste Sünde: Feuer wird dann durch Wasser, der hohe Feuergott durch einen niedrigen Wassergeist besiegt. Bei den Kamtscha- dalen^) ist es Sünde, sich in heißem Wasser zu waschen, heißes Wasser zu trinken oder sich Vulkanen zu nähern.

Besonderes Interesse gebührt den Gebräuchen der Tschere-

1) August Freiherr von Haxthausen, Transkaukasia. Andeutungen über das Familien- und Gemeindeleben und die sozialen Verhältnisse einiger Völker zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meere. Reiseerinnerungen und gesammelte Notizen. Leipzig 1856 (2 Bände) II 17. Man .vgl. ferner über den Aberglauben der kaukasischen Völker die bekannten Werke von Karl Koch, Roderich von Erckert, Schweiger-Lerchenfeld, Gustav Radde, C. Hahn, Baron Thielemann, Bodenstedt und die älteren Arbeiten von Han- way, Chardin, Klaproth, Güldenstädt, Reineggs, Eichwald, Wagner und Neu- mann.

2) P. Labbe, Un bagne russe. L'ile de Sakhaline, Paris 1903. p. 193.

3) Histoire de Kamtschatka, des lies Kurilski et des contrees voisines. Publiee en Langue Russienne, traduite par M. £*♦*. A Lyon 1767. II 169.

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missen, Tschuwasch ^;n und Wotjäken. Die Tscheremisseni) arbeiten während der Kornblüte, etwa drei Wochen lang, gar nicht. Arbeiten in dieser Zeit ist Sünde. Nur das Unkraut darf man ausreuten. Nach den drei Wochen begibt man sich auch bei den christlichen Tscheremissen in den Wald nach den alten Opferplätzen und schlachtet dort Kühe, Schafe und Hausgeflügel den Göttern zu Ehren. Die Opfertiere wer- den auf Kosten der ganzen Gemeinde gekauft, beim Handel darf nicht gedungen werden. Das Fest fällt um die Johannis- zeit. Im Walde bezeichnet auf freier Stelle ein einsamer hoher Baum den Opferplatz. Dort versammeln sich die Männer, die Frauen haben keinen Zutritt. Drei Tage bleibt man vereint; während dieser Zeit darf man nicht rauchen, schnupfen, Brannt- wein oder Bier trinken. Dagegen ist Met zu trinken erlaubt, er muß aber auf dem Opferplatze selbst bereitet worden sein. Sieben Feuer werden in einer Linie angezündet von Nordwest nach Südost und vor jedem Feuer breitet man ein Tuch aus. Sechs Feuer sind Göttern geweiht, das siebente aber gilt der Jumon Awa, der Gottesmutter. Die Zeremonie verläuft wie eine christliche Messe. Und so wie sich Heidentum und Orthodoxie hier mengen, so nehmen an dem Feste nicht bloß heidnische und christliche Tscheremissen, sondern auch rechtgläubige Russen teil. Das Gleiche ist bei den Gottesdiensten der Tschu- waschen zu beobachten.

Von dem Aberglauben der alten Letten und Esthen lesen wir b»"! Hiärn^): ,,Wenn bei den Letten jemand über See verreist und lange ausgeblieben war, gössen sie zerschmoltze- nen Wachs ins Wasser und nahmen ihre Deutung aus dem Gestalt des Wachses, wie es umb den reisenden stünde." „In Ehstland haben sie noch diesen abergläubischen Gebrauch, daß sie alle neue Jahr einen Götzen von Stroh in Gestalt eines Mannes machen, den sie Metziko nennen, und eignen ihm zu die Krafft, daß er ihr Viehe vor den wilden Thieren bewahren und ihre Grentze hütten solle. Diesen begleiten sie alle aus dem Dorff, und setzen ihn an dero Grentzen

1) Haxthausen, Studien über die inneren Zustände Rußlands. I 446.

2) a. a. O.. 30—33. 1Ö9.

7*

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auf den nechsten Baum." „Den neuen Mond grüßen noch die Ehsten mit folgenden Worten : Terre Terre Kun sina wanax mina norex Kun Kulda pelgex Rauta Rohwat terwex pidagex. Den eigentlichen Verstand können sie selbst nicht wissen, son- dern sagen, sie habens von ihren Vor-Eltern also gehöret und gelernet. Meiner Meinung nach könnte mans also verteut- schen: Sey gegrüßet, Mond, daß du alt werdest, und ich jung bleibe. Dem Monde gedeye das Gold zu seiner Schönheit, die Menschen aber mögen so gesund bleiben, wie das Eisen fest und starck ist." Diese altlettischen und estnischen Ge- bräuche sind bei den Russen in getreuer Nachahmung an- zutreffen.

Wir haben nun noch einiges von den Wotjäken zu sagen, deren Aberglaube dem russischen am nächsten steht.

Bei den Wotjäken gibt es eine Unmenge abergläubischer Anzeichen und Anempfehlungen. Wir erwähnen folgendei): Wenn der Bär in des Dorfes Nähe seine Höhle gegraben hat, wird das Jahr wildreich sein. Wenn der Rosse Mähnen sich verwirren, wohnt die viehhütende Gottheit im Stalle. Wenn der Hund heult, geschieht irgend ein Unheil. Wenn die Katze ihre Ohren wäscht, wird schlechtes Wetter. Wenn das Schwein grunzend Stroh zu seiner Schlafstelle trägt, wird kaltes Wetter. Wenn du im Frühjahre das Schwein die gefrorene Erde auf- wühlen siehst; oder wenn du den Schweinigel ausgestreckt liegend siehst, wirst du im selben Jahre sterben. Wenn das Eichhörnchen für den Winter viele Tannenzapfen sammelt, .wird der Winter kalt sein. Wenn du eine Ratte während einer Hochzeit fängst und sie in den Bach wirfst, werden die übrigen Ratten aus deinem Hause auswandern. Ißt du von Mäusen angefressenes Brot, werden deine Zähne nie schmerzen. Die Getreidcart, welche die Mäuse besonders gefressen haben, wird in dem Jahre nicht besonders gedeihen. Wenn im Frühjahr die Vögel zeitig ankommen, wird der kommende Sommer warm

1) Dr. B. Munkacsi, Votjäk nepkölteszeti liagyomänyok. Verfasser hat im Auftrage der ungarischen Akademie der Wissenschaften 1885 eine Studien- reise im Lande der Wotjäken und Wogulen unternommen und als Ergebnis zitiertes Werk in ungarischer Sprache im Verlage der genannten Akademie herausgegeben. Auszüge aus diesem Buche in ,,Am Urquell" IV 88 91.

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sein. Wenn der Hahn mittags kräht, wird Krieg werden. Wenn deine Henne wie ein Hahn kräht; oder wenn deine Henne ein winziges Ei legt; oder wenn die Henne sich nicht bis spät abends zum Schlafen setzt, so ist Unheil im Anzug. Wenn sich eine Krähe aufs Hausdach setzt, wird in diesem Hause bald ein toter Mensch sein. Wenn an deinem Hause eine Mauerschwalbe oder Taube lebt, so wirst du glücklich leben; wenn eine vecä-Schwalbe (hirundo rustica) lebt, so wirst du verarmen. Wenn der Kuckuck auf deinem Drecke sitzend seinen Ruf erschallen läßt und du ihn hörst, wirst du im selben Jahre sterben. W^enn du im Frühling zuerst von allen Vögeln die Wachtel hörst, werden das ganze Jahr hindurch deine Pferde fett sein ; hörst du aber den Wachtelkönig, werden deine Pferde mager, ausgehungert sein. Wenn sich die Schaf- zäcke in deinen Nacken einbeißt, wächst hoch dein Hanf. Schwarze Ameisen im Hause bedeuten Glück, Borkenkäfer da- gegen Unglück. Im. Regen stehend wächst du groß. Beim ersten Donner im Frühling leg dich auf die Erde. Wenn es donnert, halte deinen Hund nicht in der Stube, neben ihm geht Schajtan (Satan) einher. Wenn nach Inmars (des obersten Gottes) Blitzschlag Feuer entsteht, so lösche es mit Bier oder Kwaß oder Milch; mit Wasser kannst du es nicht auslöschen. Das von Inmars Blitz getroffene Holz ist ein Material für gutklingende Harfen. Wenn du nachts ein Irrlicht siehst, sprich: Mein Herr! Dieses Irrlicht ist die Seele einer verstor- benen Hexe, des Menschen Seele zu erhaschen schweift das Irrlicht umher. Im Frühling darf man nicht Eier essen oder viel schlafen, man bekommt davon die Gelbsucht. Wenn die Sonne untergeht, schlafe nicht; dein Kopf wird dir schmerzen. Mittwoch und Freitag beginne nicht zu arbeiten. Bei Neu- mond beginne nicht das Düngen oder welche Arbeit immer. Zu Neumond geborenes Kind wird ein schweres Leben haben. Am 21. März lege man die Schlitten beiseite; an diesem Tage feiern selbst die Tiere; da bellt weder ein Hund, noch baut ein Vogel sein Nest. Wenn du im Traume ins Wasser fällst und untersinkst, wirst du sterben. Wenn du im Traume vom Hausdach herabfällst, wirst du wachsen. Wenn du im Traume ein neues Haus siehst, so stirbst du selbst oder es wird in

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deinem Hause ein Toter sein. Wenn du im Traume einen Pfarrer siehst, wirst du in deinem Hause einen Toten haben. Damit dein geträumter Traum nicht über dich komme, so spucke wenn du deine Notdurft verrichtet hast auf deinen Dreck.

Die Wotjäken ehren außerordenthch ihre Wahrsager, denn diese erhaken ihre Ausbildung direkt von den Göttern und Engeln. Der Priester Wasiljevi) erzählt: Die Götter lehren den Wahrsager über einen Bach gehen und warnen ihn vor dem Absturz; stürzt er, so schlagen ihn die Götter. Sie lassen den Wahrsager über die Wipfel und Birken springen oder in Schlangen schlüpfen, die Feuer atmen. Der Wahrsager legt sich eine Silbermünze auf den Finger und sieht und erkennt aus dieser Münze alles. Wer ein Wahrsager werden wird, erkennt das Volk daran, daß der von den Göttern Bestimmte sich oft vom Hause entfernt, um sich durch die Götter unter- richten zu lassen. Niemand weiß, wohin der Wahrsager geht. Der Auserwählte zeigt sich gewöhnlich närrisch, er schreit und schlägt sich. Im Feuer verbrennt er nicht. Viele Wahrsager machen verblüffende Kunststücke und gewinnen dadurch Ansehen.

Zauberer, Hexen und Geister gibt es bei den Wotjäken ohne Ende. 2) Am Gründonnerstag verwandeln sie sich in Schweine, Hunde, Katzen. Sie holen die Kinder noch vor der Geburt aus dem Mutterleibe und verspeisen sie; statt des Kindes legen sie der Mutter einen Feuersbrand unters Herz. Wer ein Hexenmeister werden will, geht um Mitternacht mit einem großen Brot in die Badstube, während dort kein Feuer ist, setzt sich auf die Pritsche, tritt mit dem Fuße aufs Brot, nimmt sein Kreuz vom Halse, legt es unter den anderen Fuß und spricht: ,,Ich glaube nicht an Gott!" Dann "kommen die Teufel und lehren ihn wie er die Menschen verderben soll. Der Zauberer kehrt auch nach seinem Tode in sein Haus zurück; man erkennt dies daran, daß in seinem Grabe

1) Priester Johann Wasiljev, Übersicht über die heidnischen Gebräuche, Aberglauben und ReUgion der Wotjäken in den Gouvernements AVjatka und Kasan. Helsingfors 1902. S. 14.

-) Wasiljev a. a. O. 21.

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eine Öffnung sich befindet; man stößt dann hier einen Pfahl aus Espenholz hinein, und der Tote kann nicht mehr umher- schweifen.

Von dem sogenannten Schamanentum, dessen Reich sich von Finnland bis zum äußersten Osten erstreckt und das auf die Gebräuche und Sitten der Russen einen mächtigen Ein- fluß ausgeübt hat, werden wir im nächsten Teile, wo von der Religion, dem Klerus und Kultus der Russen die Rede sein wird, zu sprechen Gelegenheit haben.

Alle abergläubischen Gebräuche, die in diesem Abschnitte erwähnt wurden, sind uralt. Die Russen haben sie ohne Aus- nahme übernommen, als sie selbst noch Heiden waren; sie haben, seit sie Christen geworden sind, es niemals verstanden und auch niemals gewollt, der heidnischen Völkersitten Unter- drücker zu werden; sondern vielmehr ihr eigenes Denken und Fühlen dem heidnischen angepaßt und untergeordnet. Der gesamte Aberglaube des Nordens, der von der Ostsee bis zum Stillen Ozean herrscht, stammt aus dem alten Finn- land. Dieses Land, das Land der Tschuden, war schon in den ältesten Zeiten berühmt wegen seiner Wahrsager und Zauberer; man kam aus dem christlichen Rußland zu den Tschuden, um deren Zauberer Orakel zu vernehmen oder be- rief berühmte tschudische Wahrsager nach den russischen Städten. Die tschudischen Zauberer fühlten sich stärker als der Russen Christen-Gott und wagten die höchsten kirchlichen Würdenträger der Russen zu verspotten. Nur einmal hatte ein Russe den Mut, solchen Spott zu strafen, und die Chronisten verzeichnen diesen einen Fall mit besonderer Genugtuung als ein Zeichen höchster christlicher Glaubenskraft. So berichten sie : Ein tschudischer Zauberer insultierte den Bischof von Nowgorod, indem er sagte, er könne größere Wunder tun als der Diener des russischen Gottes; er werde also den Fluß Wolchovv trockenen Fußes durchschreiten. Das Volk drängte sich herzu, um Zeuge zu sein wie der Heide über den Bischof triumphieren wollte, und überhäufte schon den christlichen Flirten mit Hohnreden. Da kam Gljeb Fürst von Nowgorod herbei und näherte sich dem Zauberer mit der Frage: ,, Meister, was denkst du bald zu werden?" „Ich

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werde große Wunder tun," entgegnete der Zauberer. „Du lügst," sagte der Fürst und hieb ihm den Kopf ab. Das Volk sah den unverwundbaren Wundermann fallen, aber der ver- einzelte Streich hat dem Aberglauben der Russen nicht den Garaus machen können. Das tschudische Zauberwesen hat sich neben dem Christentum und stärker als dieses in Ruß- land selbst behauptet. Es ist stärker als das Christentum, stärker wenigstens als das Christentum, das sich Orthodoxie nennt. Denn in seinem Ursprungslande Finnland und in Skan- dinavien, wo der Protestantismus Wurzel gefaßt hat, ist der Aberglaube, wenn nicht verdrängt, so doch nicht mehr die finstere Kraft, welche die Völker widerstandslos macht. Für seinen Heimatsboden ist das Zauberwesen der Tschuden histo- rische Erinnerung geworden, lebt es nur noch fort in einer Zauberliteratur, die ihresgleichen nicht hat, in magischen For- meln und Beschwörungen, die in Epen und Lieder gebannt sind ; und wirkt überzeugend bloß noch in den niedersten Schichten der menschlichen Gesellschaft. Im großen Rußland aber hat die Orthodoxie dem Aberglauben kein Hindernis entgegen- gestellt; war sie vielmehr der Boden, der ihn liebend aufnahm und dankbar festigte; und durch die Unwissenheit und Träg- heit ihres Priestertums hat sie den tschudischen Aberglauben zu einer P.eligion in ihrer Religion gemacht, zu einem Neben- buhler des Christentums und meist auch zu einem Beherrscher der russischen Kirche. In Zeiten der Not und des Jammers, wenn der Hunger, der in tausend Jahren hundertmal das russi- sche Volk bedrückt und erschöpft, oder die Pest und die Cholera ihre Geißel erbarmungslos schwingen, wenden sich die Verzweifelten nicht zum Gotte der Orthodoxie, sondern zu jenen Heiligen, die an die Stellen der alten Heidengötter getreten sind ; man vertraut nicht dem Glauben, sondern dem Aber- glauben, und weniger dem Priester als dem Magier. In Zeiten der Ruhe und des normalen Lebens sorgt man für schwere Tage vor, indem man durch die Zauberer Vorsichtsmaßregeln treffen läßt. Nicht heimlich, sondern öffentlich; nicht Ein- zelne, sondern die Gemeinden holen bei Schamanen und Schwarzkünstlern Rat ein, wie die Menschen vor Krankheiten, die Tiere vor Seuchen zu behüten sind. Läßt der Bauer seinen

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Acker durch den Priester einsegnen, so ruft er auch den Hexenmeister zu nachträgHcher Weihung i), die ihm sicherer scheint als der Segen der Kirche. Das Fest Semik, das am Sonntag nach Christi Himmelfahrt gefeiert wird und die Wieder- kehr der Fruchtbarkeit symbolisiert, ist die reine Kopie des heidnischen Festes der Slawen, und wie vor tausend Jahren schmückt man die Bäume mit Bändern und betet sie an. 2) In den Festliedem besingt man Tur, Did und Lada, die Götter des Vergnügens und der Liebe; die Alten berauschen sich im Branntwein, und die Jugend, durch laszive Tänze erhitzt, spaziert in die Büsche. Das russische Wort für spazieren, guljat, bedeutet in ausgelassenem Sinne auch huren, und beim Feste Semik gewinnt es diese zweite Bedeutung vollkommen, ohne daß die orthodoxe Moral sich verletzt fühlen würde. So machen es auch die heidnischen Wotjäken^): Jünglinge und Mädchen ziehen am Vorabend der Feste von Haus zu Haus und tanzen obszöne Tänze, singen obszöne Lieder und ver- schwinden dann hinter Gebälk oder in Gärten, um der Wollust zu frönen; auch bei ihnen heißt diese freie Sitte der Liebe jumsan, der Spaziergang. Auch bei den Prostituierten ist dieses Wort vom Spazierengehen zur eigentümlich präzisen Charakteri- sierung ihrer Beschäftigung in häufigster Anwendung.^) So sagt die Prostituierte in Petersburg, wenn sie sich auf den Kundenfang vom Hause fortbegibt : „ryjiaio'", ich bummele. Und sie schildert gleichzeitig den Grad ihrer Abhängigkeit von ihren Exploitatoren durch folgende Ausdrücke : ,,rynjiio iia ceöfl" oder „ryjiaio na xosaiiKy", nämlich : ich bummele für mich, um mir selbst Geld zu erwerben; oder ich bummele für Rech- nung der Wirtin, um für die Wirtin Geld zu verdienen.

Die Popen finden in den erwähnten Spaziergängen, nichts Unsittliches und nichts Unchristliches; trinken selbst

1) Leroy-Beaulieu, Das Reich der Zaren. III 38.

2) Chronique de Nestor II Anhang 173.

3) Munkacsi, in ,,Am Urquell" IV 91.

4) Vgl. Die Prostitution. Ein Beitrag zur öffentlichen Se.xualhygiene und zur staatlichen Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten. Eine sozial- medizinische Studie von Dr. C. Ströhmberg, Stadtarzt und Oberarzt des Stadthospitals in Jurjew (Dorpat). Stuttgart 1899. S. 35.

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mit bei den Festen, beteiligen sich selbst an den Vergnügungen, welche die alten Liebesgötter beschützen. Machen sie doch auch die weniger amüsanten Überlieferungen des Heidentums willig mit. Der gottesfürchtige Priester der orthodoxen Kirche hält es mit dem Glauben vereinbar, sich über ein Feld hin- ziehen zu lassen, um dem Bauer die Gewißheit zu verschaffen, daß durch diesen magisch-religiösen Akt Gott sich bewegen lassen werde, die Runkelrüben dicker und größer wachsen zu lassen. Freudig legt der Pope sein Haupt in des Bauern Schoß und läßt sich einige Haare ausrupfen, damit durch deren Verbrennung bei entsprechender Beschwörungsformel das Ge- deihen des Flachses gefördert werde. i) Wenn es gilt dem Wüten der Rinderpest Einhalt zu tun-); so sieht man selbst im Mittelpunkte des Reiches, also in den Gouvernements um Moskau herum, die ländliche Bevölkerung zu den Riren der heidnischen Ahnen zurückkehren : Dann machen sich die Weiber auf, um durch das Umpflügen die Seuche zu bannen. Die Alten gehen halbnackt mit den Heiligenbildern voraus, die Mädchen aber werden, so wie Gott sie erschaffen hat, vor einen Pflug gespannt und ziehen mit ihm dreimal um das Dorf herum eine Furche, einen Schutzgraben, über den die Seuche nicht hinüber kann. Nützt das Werk der Weiber nicht, dann wissen die Männer ein anderes Mittel : Sie machen eine Strohpuppe als Identifizierung der Seuche, binden die Puppe mit einer Katze oder einem Hunde zusammen, ziehen in Prozession zum^ Flusse unter Voranschreiten des Popen, der in seiner festlichen Tracht an der Ersäufung der Seuchenpuppe und der Seuchentiere teilnimmt und die heilige Handlung des Aberglaubens nach kirchlichem Ritus segnet.

Die Kirche der Orthodoxie duldet nicht bloß die Opferung von Stieren und Böcken bei den Burjäten gelegentlich des Festes am Tage des Propheten Elias (am 20. Juli), sondern sie läßt diese Opferung auch in der Umzäunung der Kirche vornehmen, und das gekochte Fleisch der Opfertiere wird zur

1) Lanin, Russische Zustände I 85.

2) Leroy-Beaulieu a. a. O. III 38. Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht. (Aus dem Russischen.) S. 24.

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Hälfte an die Bauern, zur anderen Hälfte aber an die Priester und Kirchendiener verteilt. i)

Von der Opferung eines Tieres bis zur Opferung von Menschen ist in diesem heidnisch-orthodoxen Rußland nur ein einziger Schritt. Und wir sehen tatsächlich die Kirche auch bei Menschenopferungen und Ermordungen von Zaube- rern assistieren. In alten Zeiten wurden in Rußland Hexen mit Vögeln, Katzen und Hunden zusammengebunden und lebend in den Fluß geworfen oder in die Erde verscharrt. Nicht immer wird heutzutage die Krankheitshexe durch eine Strohpuppe ersetzt, wie wir es vorher gesehen haben. Allzu- oft wird noch dieselbe Zeremonie mit lebenden Menschen und Tieren wiederholt; vielleicht daß man eher mit den Tieren Mitleid hat als mit den Menschen; und wenn der Pope mit dem Kreuze erscheint, so geschieht dies nicht, um das Ver- brechen zu verdammen, sondern die Handlung zu heiligen.

Glaubt das Volk, daß ein Vampyr im Dorfe umherschweife, so zieht es mit dem Popen an der Spitze zum Grabe des Vam- pyrs, holt die Leiche hervor und durchstößt sie mit dem Eschenholzpfahle, nachdem der Pope seine Genehmigung und seinen Segen dazu erteilt hat.

Und stehen nicht die Popen und Nonnen selbst den heid- nischen Zauberern und Hexen näher als Priestern einer christ- lichen Kirche ? Vor zweihundert Jahren schrieb ein deutscher Reisender 2): ^,Es werden selten / sonderlich unter vornehmen Leuten Heyrathen vollzogen / wo nicht einige Zauberey mit vorgehet / die man unter anderen denen Nonnen schuld giebet / welche ihr vornehmstes Geschafft darmit treiben." Das ist heute nicht anders, nicht besser jedenfalls. Das Haupt- geschäft der orthodoxen Priester und Nonnen ist der Handel mit Aberglauben, Verbrechen und Unsittlichkeit.

Was ist hier Religion? Baron Herberstein erzählt, daß Großfürst Iwan Danilowitsch deshalb Moskwa zu seiner stän- digen Residenz machte, weil dort die Gebeine des heiligen wundertätigen Alexej ruhten. Als Peter der Große seine Resi-

1) Löwenstimm a. a. O. lo.

2) Reise nach Norden. 1705. S. 130.

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denz an die Newa verlegte, jammerte Rußland, das könne nicht Glück bringen, weil in der neuen Hauptstadt keines Heiligen Grab sich befand. Und Peter der Große, der das Patriarchat abschaffte, die Zauberei bekämpfte, den Bart rasierte, ließ eilig die Gebeine des heiligen Alexander Newsky von Wolodimir nach Petersburg mit feierlichstem Pomp über- führen, um das Gedeihen der neuen Hauptstadt zu sichern. Was ist Sünde ? Nicht ehebrechen, huren, rauben, morden, lügen. Aber Sünde ist es, wenn eine Frau, die ihre Men- struation hat, ein Heiligenbild berührt ; und Sünde ist es, wenn man in der Kirche freiwilhg oder unabsichtlich einem Heiligen- bilde den Rücken zukehrt.

ZWEITER TEIL:

Kirche, Klerus und Sekten

7. Religion und Popentum. 8. Unsitten im Mönchstum. 9. Heiligenkult und Mystizismus. - 10. Sektenwesen. II. Erotische Sekten und Flagellanten. 12. Selbstverstümmler und Skopzen.

7- Religion und Popentum.

Die Gläubigkeit des Russen Russische Bekenntnisse Falsches Christen- tum — Religiosität im Aberglauben Der Zar ist Gott Religion und Auto- kratie — Religion und Geschlechtsleben Fasten und Coitus Coitus und Kirchenbesuch Die Frömmigkeit der Prostituierten : Unsittlichkeit des Taufens Predigen ist verpönt Das Kreuzschlagen Feste und Fasten Unzucht und Unordnungen in der Butterwoche Erfolglosigkeit des Pro- selytismus Bestrafung Abtrünniger Niedrigkeit des Priestertums Prügelung von Priestern Die Hauszucht der Bischöfe Barbarei in den Popenschulen Unwissenheit des niederen Klerus Urteil eines Bischofs über das Popentum Verkauf der Kirchenstellungen Armut, Elend und Sitten- losigkeit im Popentum Die Beichte im Dienste der Polizei Trunksucht der Popen Schacher mit Aberglaube und Religion Der Pope ein un- reines und zuchtloses Geschöpf Schuld der Regierung und des hohen Klerus an der Verkommenheit des Popentums Martyrium der Popen.

Der Franzose Custinei) schrieb einmal diesen Satz nieder: ,,Le peuple russe est de nos jours le plus croyant des peuples chretiens." Es wäre falsch, wollte man dieses Urteil des Westens in europäischem Sinne uneingeschränkt bestätigen. Das russische Volk ist das gläubigste unter allen christlichen Völkern, aber sein Glaube selbst verdient nicht den Namen des Christentums und entspricht nicht den Begriffen, welche die Völker des Westens vom Christentum haben. Russen sind es, die uns am aufrichtigsten über diesen Punkt aufklären. Wyrubow schrieb 2): ,,In Rußland gab es wohl Kirchen, aber es hat dort niemals eine Religion gegeben, es sei denn die primitivste Vielgötterei. Die Kirche hat nach und nach das Heidentum aufgelöst, ohne daß es ihr gelungen wäre, etwas' Anderes an die Stelle zu setzen." Und noch deutlicher ist

1) a. a. O. III 115.

2) Leroy-Beauüeu, Das Reich der Zaren III 26.

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der Ausspruch des berühmten Kritikers Bjehnskij in einem Briefe an den großen Dichter Gogolj : „Betrachten Sie das Volk genau, und Sie werden die Wahrnehmung machen, daß es von Grund aus gottlos ist. Es hat seinen Aberglauben, aber keine Religion." Das russische Volk ist das gläubigste Volk, doch sein Glaube erhebt es nicht über sich selbst zu Reinheit und Vollkommenheit, sondern zieht es hinab zu den Anschau- ungen der primitivsten Naturvölker. Der Russe ist fern davon, die lichte Einheitlichkeit des Weltenschöpfers zu erkennen; er stolpert noch im dunkeln und klammert sich an die ge- heimnisvollen Mächte des Heils und des Unheils, an die Götter der Vergangenheit, die man durch Beschwörungen und Opfer versöhnte und günstig stimmte für die Pläne der Irdischen. So dürfte man eigentlich nicht einfach sagen: der Russe ist tiefreligiös, durchaus gläubig, sondern richtiger : er ist religiös in seinem Aberglauben ; er v äre der gläubigste Christ, wenn seine Religion das Christentum genannt werden könnte. Die despotischen Herrscher Rußlands haben alles aufgeboten, um nicht das Christentum wirklich zur Religion werden zu lassen, denn die Zaren selbst setzten sich im Glauben des Volkes an die Stelle Gottes und wollten sich niemals von diesem Platze verdrängen lassen. In einer älteren muster- gültigen und noch heute nicht anfechtbaren Schilderung der russischen Religion') heißt es: ,,Die Moscowiter halten als einen Glaubens-Articul / der Wille ihres Fürsten oder Czars sey Gottes Wille; so daß sie / wenn sie in etwas zweiffein / als ein Sprichwort sagen : GOtt und unser Czar weiß es. Sie nennen auch den Czar / den Schlüssel-Träger und Kammer- Diener unseres GOttes. In Summa / sie glauben dieser Plerr sey derjenige / so das Wort und den Willen GOttes aus- richte / und müsse man allem / was er in Glaubens-Sachen billiget / und ihm gut düncket / als einer gerechten und billigen Sache folgen." Und anderthalb Jahrhunderte später durfte sich ein Verteidiger des Absolutismus Nikolaj's I. dar- auf berufen2), daß für die Russen des Zaren Wille Gottes

') Religion der Moscowiter / Anno 17 12. S. 38.

*) Kaiser Nikolaus der Erste gegenüber der öffentlichen Meinung von Europa, Weimar 1848. S. 51.

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Wille sei; ,,er mag Gutes oder Böses befehlen, so halten sie es für den ruchlosesten Frevel sich zu widersetzen, da Gottes und des P^ürsten Wille einerlei sei. und sie von Gott stets einen solchen Fürsten erhielten, wie sie ihn verdienten, bald einen milden, bald einen harten. Die Russen glauben ferner, daß alle diejenigen, welche auf Befehl des Czars sterben, sogleich selig werden, wie Märtyrer, die in und für den wahren Glauben gestorben seien." Der Verteidiger des russischen Ab- solutismus schwingt sich auf Grund der Auffassung von der Gottgleichheit der Zaren zu diesen Schlußfolgerungen auf : , .Mögen auch die Völker des Westens diesen kindlichen Glauben belächeln und in ihm nur das brauchbarste Werkzeug des Absolutismus erkennen; doch sollten sie sich zugleich die Frage stellen, ob eine solche Politik nicht zweckmäßiger ist, als das sehr kostspielige Scheinkönigthum der Briten, welches wenn das Volk ein in die Sinne fallendes Bild der Oberherrschaft nicht entbehren zu können meint, durch eine kostbar gekleidete Puppe ebensogut und zugleich weit billiger repräsentiert werden könnte." Die Stellung, die der Zar im Glauben der Russen einnimmt, zeigt ,,wie schlecht diejenigen über Rußland unter- richtet sind, welche hoffen, daß eine politische Umwälzung daselbst aus dem Volke selber hervorgehen könne ! Aus diesem Gesichtspunkte wird man es auch begreiflich finden, warum Nicolaus seinen Unterthanen das Reisen ins Ausland eVschwert, die Communication mit demselben zu verhindern strebt, vor Allem aber der seit Peter dem Grofien unter dem Adel ein- gerissenen Nachäffung des Auslands aus allen Kräften ent- gegenzuwirken trachtet, damit nicht Rußland einst den Tod der Türkei sterbe, deren letzte Lebenskräfte durch Reform- projekte verzehrt werden."

In dieser unfreiwillig freimütigen Darstellung des Selbst- herrschertums spiegelt sich nicht bloß das Wesen der Auto- kratie klar wieder, sondern wir finden darin auch die wahren (iründe, warum in Rußland keine Religion existieren kann: solange der Zar Gott auf Erden sein und bleiben will, darf das Volk nur ein Christentum kennen, das sich in .Äußer- lichkeiten, Dogmen und Formeln erschöpft ; darf es außer an die Allmacht und Herrlichkeit des Zaren an nichts sonst

Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rußl.ind. 8

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glauben und die unter der Schwelle des Bewußtseins schlum- mernden religiösen Bedürfnisse, wenn sie einmal erwachen, nur durch solche Gebräuche befriedigen, die dem Ssamoder- schez, dem Alleinherrschenden Gott-Zaren, niemals gefährlich werden können.

In richtiger Schätzung der Sinnlichkeit als des bedeu- tendsten Charakterzuges des russischen Volkes hat der Klerus als gehorsamer Vollstrecker der zarisch-göttlichen Intentionen die Religiosität der Russen vornehmlich in allen jenen Hand- lungen sich ausleben lassen, die mit dem Geschlechtlichen in Zusammenhang sind. Die Fastenzeit ist die schwerste Prü- fung, welcher der rechtgläubige Russe sich zu unterwerfen hat ; denn man muß während der Fasten nicht bloß der Fleisch- und Milchnahrung und dem Tabakschnupfen entsagen, sondern fühlt die ernste Wirkung der Glaubensregel namentlich in dem Verbote selbst des gesetzlichem Beischlafs. Die Neuvermählten forderte der Priester früher auf, die ersten zwei Nächte ihres Zusammenlebens keusch und in Gebeten zu verbringen; die erste Nacht, um die Dämone, die das Ehebett umlauem, zu vertreiben; die zweite zu Ehren der Patriarchen. Ein frommes russisches Ehepaar gibt sich dem ehelichen Vergnügen nicht hin, ohne vorher gebetet zu haben; auch nach Vollendung des Geschlechtsaktes spricht man ein Gebet, aus Angst vor Behexung. Der russische Gesandte Dmitry erzählte, als er um 1 500 in Rom weilte, dem Paulus Jovius : „daß in Rußland Eheleute nach dem Genüsse gesetzlicher Liebe nicht in das Innere der Kirche treten dürfen, sondern die Messe in der Vorhalle stehend hören; und daß junge unbescheidene Leute, die sie da sehen, die Ursache erraten, und die Weiber durch ihre Spöttereien schamrot machen." Ist schon die gesetzliche, von den Priestern geweihte Liebe solchen religiösen Skrupeln ausgesetzt, so ist es natürlich, daß die Prostituierten für ihr Gewerbe noch schlimmere Anfechtungen des Gewissens be- fürchten; sie umgeben sich daher mit Talismanen und Re- liquien. Kein Bordell ist ohne Heiligenbilder, jedes Mädchen hat in ihrem Zimmer ihren Schutzpatron, an den es sich in- brünstig vor Ausübung einer jeden Tat wendet, auf daß der Akt nicht von bösen Folgen begleitet sei. Während der Zeit,

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da nach dem Gebet zum Heiligen der Wollust geopfert wird, bleibt das Bild des Heiligen zur Wand gedreht oder mit einem Tuche verhängt. Nach Entfernung des Gastes wird das Heiligenbild von dem Tuche befreit und empfängt von dem Mädchen außer Dankesworten auch ein Geschenk in barem Gelde oder eine neue Kerze.

Bei der Taufe von Proselyten müssen sich Männer wie Frauen nackt ausziehen und vor der Versammlung gänzlich in einer Wanne oder in einem Teiche untertauchen lassen. Dieser Gebrauch, der von der Kirche als etwas Unabänder- liches gefordert wird, ist gewiß nicht geeignet, das ohnehin laxe Schamgefühl der Russen und Russinnen zu veredeln. Allein Dogmen, Formeln und Tradition sind die Fundamente der russischen Religion, die keine Ethik und keine Ästhetik kennt, die nur eine mechanische Erfüllung der Gebräuche und nicht Rücksicht auf die Sittlichkeit fordert.

,, Unter zehen wird kaum einer unter den Moscowitern gefunden / der das Vater-Unser beten ;' und fast keiner / der das Symbolum der Apostel hersagen könne. Hierüber sagen sie / ein so heiliges Geheimniß müsse nicht so gemein gemacht / noch so öffentlich hergesaget werden." i) Der russische Gesandte Dmitr>' erklärte in Rom dem Paulus Jo- vius^), ,,daß die Russen in ihren Kirchen keine Predigten dulden, um da Gottes Wort allein, ohne Zusatz menschlicher, mit der Einfachheit des Evangeliums nicht übereinstimmender Spitzfmdigkeiten zu hören." xAlso keine Bildung, keine Predigt, jedoch unermüdliches Kreuzschlagen und unaufhörliches An- beten der Heiligenbilder. Morgens beim Aufstehen und Abends beim Schlafengehen, beim Speisen, beim Beginn einer Arbeit, beim Anblick einer Kirche, eines Klosters, einer Kapelle schlägt man das Kreuz. Aber auch der Dieb, bevor er einen Raub ausführt, und der Mörder, bevor er die Waffe zum todbringen- den Schlage erhebt, auch sie bekreuzigen sich und beten zu ihrem Schutzpatron um Gelingen des Werkes. ,,Vor einigen

1) Religion der Moscowiter S. 53.

2) Karamsin, Deutsche Ausgabe VII 174 (franz. Übersetzung VII 273).

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Jahren geschah es," erzähke einst Peter von HavenM, .,daß als ein rußischer Soldat einer Missethat halber angeklagt ward, dieser im Gericht aussagte : daß er diese That nicht als sündlich angesehen, auch selbige niemahls begangen, ehe er nicht sich mit dem Kreutze bezeichnet, und vor Gott auf die Erde nieder- geworfen hätte." Mord und Diebstahl, durch ein Kreuzschla- gen eingeleitet und geweiht, sind im schlimmsten Falle harm- lose \'ergehen im Vergleiche zu dem Verbrechen, das man be- geht, wenn man in der Fastenzeit seiner Frau beiwohnt, oder Fleisch, Eier und Mehlspeisen genießt. Man halte nur streng die Festtage und Fastenzeiten, und man ist der frömmste und gläubigste aller Christen. Außer den 52 Sonntagen hat man ebensoviele Festtage im Jahre ; die zarisch-göttliche Katharina IL hatte außer den kirchlichen Festtagen dem Kultus ihrer Maje stät 25 Tage einräumen lassen: man mußte mit Gottesdienst und Sabbatruhe nicht bloß alljährlich ihren Geburts-, Namens-, Thronbesteigungs- und Krönungstag feiern, sondern auch den Tag, an dem sie zum ersten Male geimpft worden war. Fest- tage sind jetzt nicht nur die Geburts- und Namenstage des Zarenpaares, sondern auch die des Thronfolgers, die des ver- storbenen Vaters und Großvaters des Zaren, und der Er- innerungstag an die Katastrophe bei Borki. Einen noch größeren Teil des Jahrf^s, von dem schon nach Abrechnung der Festtage für das profane Leben nicht viel übrig bleibt, nehmen die Fasten ein : Das große Fasten, dem katholischen ent- sprechend, dauert 40 Tage. Ein zweites Fasten beginnt acht •Tage nach Pfingsten und endet am Peterpaulstage. Das dritte Fasten vom 1 . August bis zum Tage Maria Himmelfahrt ge- schieht zu Ehren der Mutter Gottes. Das vierte Fasten end- lich beginnt am 12. November und schließt Weihnachten ab. Außerdem fasten besonders Fromme alle Mittwoch und Freitag; den Sonnabend darf man nicht zum Fastentage machen.

Es wäre nach dem bisherigen kaum notwendig zu sagen, dafA die russische Religion keine werbende Kraft besitzt und sich darauf beschränken muß, Proselyten durch Korruption

1) Abschnitte aus Peter von Haven Nachrichten aus Rußland. Bü- schings Magazin X 343.

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zu gewinnen. So lesen wir in einem älteren Buchet): ,,Der Gebrauch, den sie sonst hatten / die Fremden zu Annehmung ihrer Religion zu erkauf fen / ist aufgehoben. Wann einer der Semigen absaget / es sey ein Catholic oder Reformirter / so muß er auch seiner ersten Tauffe renunciren seinen Vätern und seine Mutter verschweren und dreymal über seine Achsel speyen. Etliche alte Einwohner in Rußland haben observiret / daß von 200. so wol Engelländer / als Schott- und Holländer welche die Russische Religion an- genommen / fast nicht ein eintziger eines natürlichen Todes gestorben sey." Die von der Orthodoxie geforderte Ver- fluchung der Eltern hat sicher manchen Proselyten im letzten Augenblicke von dem entscheidenden Schritte zurückgehalten, und dies umsomehr als die bloß auf das Äußerliche zugerich- teten Gebräuche der russischen Kirche keine fühlende Seele zu fesseln vermögen. Erst unter der Zarin Elisabeth Petrowna begann der offizielle Zwang zum Übertritte Fremdgläubiger in die russische Kirche und die schwere Bestrafung von Russen, welche ihren Glauben verließen. Als zur Zeit der Herrschaft dieser Zarin die Fürstin Irene Dolgorukij zum Katholizismus übergetreten war, wurde der Gemahl der Abtrünnigen, ,,vveil er den Glauben seiner Frau nicht genügend bewachte," straf- weise in ein Kloster gesperrt ; die französische Gouvernante der Fürstin. Mademoiselle Beret, die im Verdachte stand, die Gram- matik mit dem Katechismus vertauscht zu haben, mußte viele Jahre als Gefangene des Heiligen Synod schwere Leiden er- dulden.-) Nikolaj I. und Alexander III. verfolgten nicht bloß die Allgläubigen, Sektierer und Abtrünnigen, sondern erneuer- ten die llkase alter Zeiten, in denen befohlen wird, jeden als Rebellen zu behandeln, der sich der Ausbreitung der russischen Religion widersetzen würde. Aber weder Gewalt noch Kor- ruption vermochten viel zu erreichen, und dies ist begreiflich, wenn man bedenkt, daß nicht nur die Religion keine werbende Kraft besitzt, sondern auch das Priestertum, welches diese Religion lehrt und vertritt, weder bei den Fremden noch bei

1) Reise nach Norden S. 122.

2) Waliszcwski, La dernierc des Konianov. y. 47.

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den eigenen Religionsgenossen sich die geringste Achtung zu erwerben verstand. Diese Priester und Mönche der russischen Kirche halten alle anderen Religionen für verächtlich, sie fühlen aber nicht den Beruf in sich, Bekehrer zur Rechtgläubigkeit zu sein, und besitzen nicht die Kraft der Überzeugung, um durch die Macht ihrer rechtgläubigen Religion die Irrenden der übrigen Konfessionen auf den rechten Weg zu bringen. So bleiben, wenn man Proselyten machen will, nur die Mittel der Bestechung oder der Knute. Diese Mittel mögen uns fremdartig und barbarisch erscheinen, in Rußland sind sie die natürlichsten; werden doch dort auch die Popen der eigenen Kirche nicht anders erzogen als durch die Knute. Seit alter Zeit her bestand ein Gesetz, das die körperliche Züchtigung der Popen und Diakone durch ihre Vorgesetzten gestattete. In den Aufzeichnungen Rostislawows, Professors der Peters- burger geistlichen Akademie i), wird eine solche Züchtigungs- szene geschildert : ,,Was bist du für ein Schelm, Intrigant, Taugenichts, rief der Bischof, ich will dich lehren! Bringt die Peitschen 2) her! Sofort erschienen die Kutscher oder andere Diener mit zweischwänzigen Riemen. Entkleide dich und strecke dich hin ! befahl der Bischof. Der zu Bestrafende legte seine Oberkleidung ab und mußte sich auf den Boden strecken. Dann traten zwei Diener des Bischofs mit Peitschen herzu. Vier Geistliche knieten nieder und hielten die Füße und die im Kreuze übereinandergelegten Hände des Delin- quenten, der so lag, daß für die Zweischwänzigen räumlich genügend entblößter Körper vorhanden war und für den Bischof, der auf dem Divan saß, ein freier Ausblick blieb zur Kontrolle, ob die Schläge alle gut trafen. Am häufigsten prügeile man die Küster, dann die Diakone, aber es gab auch für die Pfarrer keine Gnade, besonders wenn sie noch jung waren. Man schlug grausam. So wurde häufig ein Priester, der noch vor kurzem das unblutige Opfer 3) gebracht hatte,

1) A. II. rocTiiCwianoüi,. PvccicaH <iainiiia i88o. Vgl. Schiemann, Alexander I. S. 405 und 407 Anmerkung.

2) Peitsche, Pletj.- '^) Das Abejidmahl.

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selbst bis aufs Blut geschlagen. Mein Großvater, der mehr als einen am Fuße oder an der Hand gehalten hat. pflegte zu sagen : Hu ! man wurde heiß dabei, und ein Zittern ging durch den ganzen Körper." Im Jahre 1802 wurde vom Zaren Alexander dem Ersten das Gesetz, das die Züchtigung der Geistlichen gestattete, aufgehoben. i) Und doch mußte genau hundert Jahre später, am i. April 1902, in einem offi- ziellen Erlaß der Regierung die Angelegenheit ganz neu er- wogen werden. Dieses merkwürdige Dokument, ein Statut für die Kirchengemeindeschulen, besagt in seinen Paragraphen 7 und 1 1 : daß von den Körperstrafen zu befreien seien erstens : die Zöglinge der Lehrerseminare sowohl während ihrer Schul- zeit als auch nach Absolvierung des Kursus ; und zweitens : die Lehrer und Kuratoren der Kirchengemeindeschulen. Diese Lehrer sind fast durchwegs Geistliche und die Zöglinge dieser Lehrerseminare werden Popen. Bemerkenswert ist, daß infolge des Regierungserlasses und auf Veranlassung des Un- terrichtsministeriums der Kurator des Moskauer Lehrbezirkes sich im Oktober 19022) an die Lehranstalten wandte, um deren Ansichten darüber einzuholen : ob auch dem Bauern- stande angehörende Schüler mittlerer und unterer Lehranstal- ten von der Körperstrafe zu befreien seien.

Knute und Pletj als Erzieherinnen der Geistlichkeit haben nicht viel gefruchtet, wohl auch deshalb nicht, weil sie nicht einmal von einem einigermaßen geeigneten Unterricht unter- stützt wurden. Bis vor einem Jahrhundert lehrte man in den geisthchen Seminaren in lateinischer Sprache, seither auch in russischer. Was man aber in diesen Schulen Philosophie, Rhetorik und Theologie nannte, hatte mit keiner dieser Wissen- schaften etwas gemein 3); man verlangte bloß eine unnütze

1) Schiemann a. a. O. S. 407.

2) Lodzer Zeitung Nr. 248 vom 16./29. Oktober 1902.

3) Es fand sich nichtsdestoweniger doch ein Verteidiger dieser Art Bil- dung. In der Jen. Literaturzeitung 1843, S. 11 10, Heß sich Stephan Sabinin also vernehmen: „Die Kinder des Klerus werden, solange sie in den Dorf- und Bezirksschulen sind, auf Kosten ihrer Eltern erzogen, aber in den Semi- naren ohne Ausnahme auf Kosten der Krone mit Wohnung und Unterhalt, <iie Armen auch mit Bekleidung versehen. Nach beendetem Kursus fahren

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furchtbare Anstrengung des Gedächtnisses, und wem dieses versagte, der unterlag den härtesten körperhchen Strafen. i) Und so wurden diese Popenschulen, durchwegs Internate, zu wahren Marterinstituten, denen die Eltern ihre Kinder zu ent- ziehen suchten, trotzdem es in Rußland Tradition ist, daß Popensöhne wieder Popen werden müssen. Viele Seminaristen entflohen, um der geistigen und materiellen Not, die sie in den Internaten zu erdulden hatten, zu entgehen, und wurden wieder Angehörige des simplen Bauernstandes, aus dem ihre Ahnen hervorgegangen waren. Die Regierung ließ solche Flüchtlinge einfangen und gewaltsam in die Schulen zurück- schleppen. Auch war es keine Seltenheit, daß die Polizei einen Popensohn, der von den Eltern versteckt gehalten und noch gar nicht dem Seminar ausgeliefert worden war, als „Rekruten der Seminarbildung", wie man diese jungen Leute nannte, aus seinem Versteck hervorholte und gefesselt in das Internat schleppte, damit er nolens volens Pope wurde ! So bereitete man diese durch Jahrhunderte einzigen Lehrer des russischen Volkes auf ihren Beruf vor; die Resultate ent- sprachen und entsprechen noch heute dem Ursprung. Wohl ist seit einem Säkulum mehrmals versucht worden, die geist- lichen Schulen auf ein höheres Niveau zu bringen, aber die Reformen blieben stets in Anfängen stecken, und der Dorf- geistliche 2 j ist noch immer der Paria Rußlands. Die Urteile aus verschiedenen Jahrhunderten, von Ausländern über die russische Geistlichkeit gefällt, sind immer die gleichen ge- . blieben; noch mehr: auch heute gelten sie, ohne daß irgend eine günstigere Korrektur möglich wäre :

,,Les pretres, seuls instituteurs alors," heißt es bei Segur über die Priester zur Zeit Peters des Großen 3), ,,etaient trop

diejenigen, die keine Stelle gleich erhalten, in theologischen und philologischen Studien fort, die Armen bleiben weiter in den Seminarien. Die russische Geistlichkeit schreitet in der Bildung langsam aber sicher fort."

1) Schiemann a. a. O. S. 407.

2) Man lese die merkwürdigen J\femoiren eines Dorf geistlichen in der Schiemannschen Bibliothek russischer Denkwürdigkeiten, Stuttgart 1894.

3) Histoire de Rjassie et de Pierre-le-Grand par le gencral Comte de Segur. Paris 1829, pp. 215, 310, 312.

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grossiers pour inspirer de la moralite. Les pretres, grecs de religion, ignoraient le grec, le latin. savaient ä peine lire, et croupissaient dans une ivrognerie continuelle : une correc- tion typographique faite aux grossieres editions de leur Bible leur paraissait un horrible sacrilege. Les pretres. superstitieux par etat, fanatiques par ignorance. par interet, par Torgueil de leur puissance sur l'esprit d'un peuple plus Ignorant qu'eux ; ces pretres maudissent d'avance toute Innovation, venant sur- tout des pays regne une secte redoutee. Ce sont eux qui ont brüle la premiere imprimerie qu'Alexis avait essaye d'etablir. Voilä comme ils repoussent toutes les ameliorations comme d'abominables sacrileges^ soit fanatisme, soit instinct d'immu- tabilite, indispensable, en effet. ä l'existence de tout pouvoir tonde sur l'erreur et la superstition." ,,Die Unwissenheit der Clerisei zu Anfang der Regierung Peters," schreibt der Zeitgenosse Vockerodt^), ,,war weit gröber als sie in Europa in den finstersten Seculis des Pabstthums gewesen sein kann. Predigen war bei ihnen ganz und gar nicht Mode. Wer lesen und schreiben konnte, und die Ceremonien der Kirche zu be- obachten wußte, der hatte alle Requisiten, die man nicht nur zu einem Priester, sondern auch zu einem Bischof erforderte. Konnte er sich dabei in Reputation eines strengen Lebens setzen, und war von Natur mit einem weitschichtigen Bart be- gäbet, so passirte er vor einen ausnehmenden Geistlichen." ,,Les Ministres de leurs Eglises," sagt 2) der ebenfalls zeit- genössische Kapitän Perry über die Priester zu Anfang des acht- zehnten Jahrhunderts, ,,ne prechent jamais au Peuple ; ils n'en seroient pas capables : il ti' y a qu'un fort petit nombre des Prin- cipaux, c[ui prechent quelquefois devant le Czar, et dans les Kglises Cathedrales les jours des plus grandes Fetes. Le plus haut point de Doctrine s'eleve le Bas Clerge, et ce qu'on requiert effectivement de ceux qui se presentent aux Eveques, pour etre admis aux Ordres sacrez, est qu'ils sachent chanter et lire distinctement l'Office ; qu'ils ne soient pas en mau- vaise reputation parmi leurs voisins, qu'ils ayent la voix bonne

1) Vockerodt a. a. O. S. 14.

2) Jean Perry, Etat present de la Graiuk'-Ku.s.sic, .\ la Haye 1717, p. 205.

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et claire, et qu'ils puissent prononcer aussi ferme qu'il est possible, douze ou quinze fois sans prendre haieine, Hospidi Pomolio, Seigneur aye pitie de nous. Ils ne se mettent pas non plus en peine d'oü ils tirent leurs Pretres; car j'en ai connu qui avoient ete elevez ä des Metiers Mechaniques."

„Man zehlet in der Residentz-Stadt Moscau 4000 Popen ohne die Mönche," sagt ein ungenannter Autor ij im Jahre 17 12. „Diese Herren Popen haben keine andere Gelehrsamkeit / als daß sie fertig lesen / schreiben und singen können / und es wird auch nichts mehr von ihnen erfordert."

Aus der Zeit der Regierungen der Zarinnen Elisabeth und Katharina erwähne ich endlich nachfolgende Urteile von Zeit- genossen : In einem Briefe des Baron de Breteuil au Choiseul im Jahre 1760 sagt der französische Diplomat 2): ,,Rien n'est plus meprise rii meprisable que le Clerge de Russie."

„Sie können ' sich gar nicht vorstellen," schreibt ein deutscher Offizier um das Jahr 1765, „wie groß die Un- wissenheit der rußischen Geistlichkeit ist. Selbst die noth- wendigsten und ersten Grundsätze der griechischen Religion sind einer unzähligen Menge Pfaffen unbekannt; und man kan fast behaupten^ daß unter tausend gemeiner Popen gröste Gelehrsamkeit nur bloß darinn besteht, daß sie vor den Al- tären f unfzigmal Gospodi pomilui, HErr, erbarme dich unser ! in einem Othem hersagen können. "3) Und ein französischer Offizier urteilt einige Jahre später in demselben Sinne wie der deutsche : „Die allerverächtlichsten und allerverachtetsten ■Wesen in Rußland sind die Priester. Viele von ihnen können nicht lesen; aber noch ärger als ihre Unwissenheit sind ihre Sitten. Es giebt Seminarien zum Unterricht. Aber man braucht sie nicht, um Priester werden zu können. Ein Vater tritt an seinen Sohn seine Pfarre, seine Kirche und seine Heerde ab ; hiezu wird nichts weiter erfordert, als die Einwilligung des Edelmanns, der alsdann die des Bischofs sehr leicht erhält.

1) Religion der Moscowiter S. 42.

2) Waliszewski, La derniere des Romanov, p. 216.

3) Russische Anekdoten oder Briefe eines deutschen Offiziers, Wansbeck im Jahr 1765, S. 68. Geheime Nachrichten über Rußland (von Major Masson, deutsche Ausgabe 1800) II 122. Französ. Orig.-Ausgabe II 91.

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Kann dieser Sohn ein wenig das Slavonische lesen, kann er ferner die Messe lesen und die Vesper singen, so ist er so weit, wie sein Vater; er ist Meister in seinem Handwerk, und darf es nunmehr treiben. Nach seinen Dienstverrichtungen darf er sich besaufen und mit seinen Pfarrkindern sich herumbalgen, wie er will ; wenn diese ihn tüchtig durchgeprügelt haben, so küssen sie ihm nichts desto weniger wieder die Hand und bitten um seinen Segen. An gewissen Tagen im Jahr gehen die Popen in ihrer ganzen Pfarrei herum, und fordern von Hütte zu Hütte Eier, Butter, Flachs, Hühner und dergleichen. Wenn sie zurückkommen, so liegen sie gewöhnlich mitten unter den erbettelten Vorräthen besoffen auf einem Karren. Es ist nichts Seltenes, daß man in den Straßen zu Petersburg und Moskau betrunkenen Priestern und Mönchen begegnet, die taumeln, fluchen, singen, den Vorbeigehenden Grobheiten zurufen, und Frauenspersonen durch unsittliche Berührungen beleidigen."

Die Zahl solcher Urteile über den russischen Klerus ließe sich vervielfachen und man müßte für sie einen eigenen Band bilden, aber alle würden dasselbe erzählen, das gleiche traurige Lied von der Unwissenheit, Roheit und Unsittlichkeit des russi- schen Priestertums. Und dabei sind die ausländischen Urteile noch milde im Vergleiche zu den russischen Selbstbekennt- nissen in Betreff des Klerus vergangener Zeiten nicht bloß, sondern auch desjenigen unserer Tage. Man kann mit Recht behaupten 1), daß in der westlichen Literatur nichts geschrieben worden ist, was dem Anklagematerial an Furchtbarkeit gleich- käme, das von russischer Seite über die Popen des neunzehn- ten und zwanzigsten Jahrhunderts in Rußland veröffentlicht worden ist. Ein russischer Bischof sagte von den Popen^): ,,Sie sind eine von Armut gedrückte, habsüchtige, unwissende und trunksüchtige Menschenklasse." Nächst Unwissenheit und Trunksucht sind Habgier und Korruption zwei Laster, die sie seit den frühesten Zeiten mit sich schleppen. Zar

1) Schiemann a. a. O. S. 406. Man vergleiche die erwähnten Denk- würdigkeiten eines russischen DorfgeistHchen , sowie die Jugenderinnerungen von Rostislawow in „Pvccica« cTapiiHii" 1880.

^) T,anin, Rusissche Zustände I 21.

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Iwan III. sah sich genötigt, den berühmten Erzbischof Gennadij zu entthronen und in das Tschudowklostcr einzusperren, nicht weil diesei Kirchenfürst die Kirchenstellungen nach einem fixen Tarif verkaufte V), sondern deshalb, weil er diese allgemein übliche Korruption in brutalster Weise betrieb. Unter der Regierung der Zarin Elisabeth Petrowna nahmen Habgier und Korruption der Geistlichkeit in allen Rängen der Hierarchie die schrecklichsten Formen an.^) Auf öffentlichen Plätzen verhan- delten die Priester ihre Dienste. Eine der Ursachen zu diesem schamlosen Schacher war allerdings die beispiellose Armut des niederen Klerus. Vom Lande, wo sie sich nicht ernähren konnten, strömten die Popen bandenweise nach den Städten, versammelten sich hier in den Vorhallen der Kirchen und lauerten frommen Klienten auf. Wurde der Skandal zu arg, so ließen die Bischöfe die hungrigen Popen zusammentreiben und auspeitschen. Das Elend der Diener Gottes war aber manchmal so groß, daß die Geprügelten nach empfangener Züchtigung wieder zu ihren Standplätzen zurückeilten, urri bei Gefahr einer ' neuerlichen Auspeitschung von der Gläubigkeit der Kirchenbesucher einen Kopeken für einen Bissen Brot zu erpressen. Die Moralität und das Selbstbewußtsein des Klerus konnten nicht dadurch gehoben werden, daß die Geist- lichkeit von der Regierung zu Polizeizwecken ausgebeutet wurde ; die Beichte blieb kein der Kirche anvertrautes Geheim- nis, sondern mußte vom Priester sofort aufgezeichnet und pünktlich der geheimen Kanzlei ausgeliefert werden.

Die Ehrerbietung, die man trotzdem solchen Geschöpfen einer schamlosen gouvernementalen und ekklesiatischen Or- ganisation notgedrungen entgegenbringen muß. kann nur eine ganz oberflächliche und jeden wahren Begriffs entkleidete sein. Begegnet man dem Popen, so grüßt man ihn, küßt. ihm wohl die Hand. Aber man prügelt den Diener Gottes im Wirtshause auch ohne weiteres weidlich durch, wobei man ihm allerdings vorher die Popenmütze vom Kopfe ninnnt. die man als Zeichen

1) Karamsin, deutsche Ausgabe VI 286 (französische Übersetzung VI 453)-

2) Wahszewski, La derniere des Romanov, p. 213.

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dfs Standes mehr zu respektieren sich verpfhchtet tühh als den Träger; denn^) ,,die gantze Würde ihrer Priesterschafft l^cstehet nur in diesem Skuffia oder Mütze / und wird der- jenige / welcher ihnen solche abschlaget / oder vom Kopffe fallen machet / gar streng gestraffet. Unterdessen / weil der meiste Theil solcher Popen Säuffer und liederliche Ge- sellen sind / so traget man kein Bedencken sie braf abzu- prügeln / wofern man ihnen die Mütze auf eine geschickte Weise vom Kopffe abzunehmen weiß und sie ihnen auf

gleiche Art / nachdem sie die Schläge bekommen haben / wieder aufsetzet. Weil man auch nur die Mütze zu respectiren hat / so werden sie offt in denen Cabbacken oder Bier- Meth- und Brandtwein-Häusern / welche dem Czar gehören / zum Spass und grosser Verwunderung der Frembden mit Schlägen übel tractiret." Wie könnte der Pope auch mehr Achtung verlangen ? Sittigenden Einfluß hat er niemals aus- geübt.2) Er steht in den Augen des Bauern nicht als ein besseres oder höheres Wesen da ; er ist gleich jedem Trunken- bold im Wirtshaus und am Spieltisch zu finden ; erhebt sich durch seine Bildung nicht über seine oft viehische Umgebung, hängt wie der abergläubischeste Dörfler an den alten rohen Unsitten, kennt wie dieser nur blinde Imterwerfung unter die weltliche Macht. Der Bauer oder der gemeine Städter verlangt vom Baljuschka, dem Väterchen, wie man den Popen in ge- dankenloser Liebenswürdigkeit nennt, auch nichts Höheres und Besseres; die Pfarrkinder sind zufrieden, wenn Batjuschka die \orgeschriebenen Zeremonien ableiert und in Ausnahmsfällen für ein paar Hühner oder ein Dutzend Eier einen besonderen Dienst leistet, etwa eine Sonnenfinsternis oder eine Mondfinster- nis beschwört oder durch Hokuspokus mit Totenknochen dem Himmel einen fruchtbringenden Regen in dürrer Zeit abringt. Durch seine Würde vermag der Pope die Bauern nicht zu blenden. Er ist ebenso arm wie seine Herde, zuweilen noch ärmer. Der niedere Klerus, die weiße Geistlichkeit genannt

') l<elin;ion der .Moscowiter .\nno 17 12, S. 42.

-) Das gilt nicht bloß von den Popen in Rußland, sondern in allen sla- wischen Ländern. \gl. Helhvald, Die Welt der Slawen Berlin 1890, S. 347.

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im Gegensatz zu den Mönchen, der schwarzen Geistlichkeit i;, ist verheiratet. Der Pope hat also eine Familie zu ernähren von dem Ertrag eines winzigen Ackers, den er gleich dem erstbesten Muschik selbst bearbeiten muß. Da sieht man den Popen, armselig und barfuß neben seinem wackligen Karren und seinem abgemagerten Klepper einherhumpeln oder auf dem Stückchen Feld, das er bebaut, die Furche mühsam mit dem primitiven Ackergeräte ziehen. Sein Los kann niemals besser werden, denn die höheren Stellungen in der Kirche sind den Ehelosen, den Schwarzen vorbehalten, den Mönchen. Der Pope bleibt ewig Pope, und diese Armut und dieses Elend sind vererblich durch alle Generationen : Popensöhne werden wieder Popen; und kommt es auch vor, daß manche in den Bauernstand zurückkehren, so ist es äußerst selten, daß ein Popensohn etwas Besseres wird, sich der Misere der väterlichen Scholle entreißt und aufwärts klimmt auf fremdem Bildungsboden zu glänzenderem Berufe. In vieler Beziehung ist der Pope noch schlimmer daran als der ärmste Muschik. Hat der Seminarist nach einer Jugend voller Prügel und Ent- behrungen die armselige Bildung des Internats erworben, so muß er sich verheiraten, ehe er Pope werden und diesen kärglichen Lohn seiner jahrelangen Leiden erhalten kann; aber die Wahl seiner Lebensgefährtin ist nicht seinem freien Willen anheimgestellt, sondern der Bischof sucht ihm unter den Popen- töchtern eine Gattin aus. Nach der Heirat erhält der Pope die Weihen. Und die ihm vom Zufall geschenkte Gattin muß er hegen wie seinen Augapfel, denn die Kirche, die nur dem verheirateten Popen ein Amt gibt, entzieht es dem verwitweten und zwingt den Witwer, da ein Priester sich nur einmal ver- ehelichen darf, Laie zu werden oder ins Kloster zu gehen.-)

1) Die Mönche tragen stets ein langes schwarzes Gewand, die Popen da- gegen nie ein schwarzes, sondern ein braunes oder anderes dunkelfarbiges Kleid.

2) Zu Zeiten Alexander? des Ersten erliielt jedoch Sambursk\-, Kapellan der Großfürsten Nikolaj und Konstantin, ausnahmsweise die Erlaubnis nach dem Tode seiner Gattin seine Pfarre zu behalten. Sambursky galt übrigens bei den Geistlichen und strengen Orthodoxen als Ketzer, weil er sich anläß- lich einer Reise nach England den Bart abrasieren ließ und auch nach seiner Rückkehr bartlos blieb.

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Mit der Frau, die ihm sein Bischof ausgesucht hat, hängt der Pope also im Leben wie im Tode zusammen. Wie durch frühzeitiges Sterben kann die Popenfrau auch durch ein un- sittliches Leben ihrem Gatten seine Stellung verderben. Der Pope selbst mag ein Trunkenbold, Wüstling, liederhch, un- sauber sein, so schadet es ihm in seinem Amte wenig ; lastet aber auf der Popin nur der geringste V^erdacht eines un- reinen Lebenswandels, so ist es um seine Stellung geschehen. Nicht der Pope, sondern die Popenfrau hält durch ihre eheliche Treue die Würde des Priestertums aufrecht. So verkommen und sittenlos oft der Pope ist, so selten ist der Fall einer sitten- losen Popenfrau. Glaubt ein Pope Grund zu Besorgnissen un Punkte der Treue seiner Gattin zu haben, so zeigt er bloß auf seinen Bart und gibt durch ein Zeichen gleich einem Scherenschnitt zu verstehen, daß die Verkürzung des Bartes drohe ^) als Symbol der priesterlichen Unwürdigkeit, und die Gattin kehrt sicher nicht mehr ab vom Wege der Tugend. So schleicht des Popen Leben in einem ewigen Zittern um den Verlust selbst dieser trostlos armseligen Existenz hin. Hat der Pope zahlreiche Kinder, so wachsen die Sorgen ins End- lose. Vergebens plagt sich dieser traurige Diener Gottes ab mit seinen Händen in den freien Stunden, die der Kirchendienst und das Wirtshaus ihm lassen, dem Acker der Pfarrei in erschöpfendem Fronen einige Früchte abzugewinnen; der Lohn selbst des härtesten Fleißes reicht nicht aus für die vielen Hungernden in der kleinen Popenstube, und der Priester wird von den nach Brot verlangenden Schreien seiner Kinder getrieben, zu den Mitteln Zuflucht zu nehmen, welche seit jeher üblich waren : Vergehen und Verbrechen zu absolvieren für Brot und Schnaps, den Diebstahl im Namen Gottes für einige Eier, und einen Todschlag für eine Anzahl Hühner oder eine Kuh zu verzeihen. Gerne bringen die Schuldigen solche Opfer, um ihr Gewissen zu erleichtern, und der Pope, der zur Erkenntnis gelangt, wie bequem er leben könnte, wenn er den Aberglauben und die Dummheit ausbeutet, scheut vor keiner Gelegenheit zurück, die ihm Linderung seines Elends

1) Duprc de St. Maure, St. Pctersbourg, Moscou et les Provinces. I 107.

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verheißt. Bald erfindet er dann selbst neue noch nie dage- wesene Gelegenheiten und schließlich hat er für alle möglichen Fälle einen Preistarif aufgestellt, dessen Höhe allerdings Schwankungen unterliegt, je nach der lebhafteren oder schwächeren Nachfrage. Das Priestertum wird zur Ökono- mie, der Glaube zum Schacher, der Aberglaube ein Lebens- mittel.

Nicht als ob er moralische Bedenken hätte, solchem geist- lichen Hirten zu folgen, zeigt der Muschik eine offene Ver- achtung des Popen, dem er zwar die Hand küßt, weil es so (Gebrauch ist. den er aber schlägt, wenn er mit ihm im Wirts- haus trinkt. Die Ursache dieser V^erachtung ist vielmehr darin zu suchen, daß der Muschik im Popen nur dann, wenn er ihn für seine dunklen Triebe als Heilarzt, für seine Betrügerelen als Fürbitter bei Gott und den geheimnisvollen Mächten der abergläubischen Phantasie braucht, ein um ein Geringes höheres Wesen erkennt als er selbst ist. Sind diese Gründe nicht vorhanden, so erscheint der Pope dem Muschik nicht mehr als eine höhere Menschenspezies, nicht einmal als ein dem Bauern gleichgestelltes, sondern als ein noch tiefer stehendes, geradezu als ein unreines Wesen. Man könnte fast sagen, der Muschik sehe in seinem heidnischen Geinüte den Popen wie einen Zauberer an, dem man auch sich vertrauensvoll zuwendet, um seine Wunder zu Vorteilen zu genießen, den man jedoch im übrigen als einem unreinen Geschöpf aus dem Wege geht ; dem man in einem unbestimmbaren Schauer Ehr- erbietung erzeigen, aber hinterdrein ein Kreuz zur Erleichterung nachschlagen muß. Begegnet man im Augenblick, da man eine Reise antritt, allzuerst einem Popen, so ist dies ein übles Vorzeichen, man speit aus, um das drohende Unheil abzu- wenden, und tut am klügsten, die Reise aufzugeben. Man könnte vielleicht sagen, daß auch in anderen Ländern, wo der Klerus gebildeter ist und Achtung genießt, ein Zusammen- treffen mit Geistlichen im Eisenbahnzuge oder auf dem Schiffe dem Aberglauben als gefahrbringend erscheint und daß es sich in Rußland um nichts anderes handeln dürfte, als um ein Echo dieses allgemeinen Aberglaubens ; aber zweifellos hat die Scheu des Muschiks vor dem Popen einen tieferen und durch-

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aus sozialen Grund: dies geht auch daraus hervor, daß eine Bauernfamihe sich mit einer Popenfamilie nicht verschwägert; selbst die leibeigenen Bauern in früheren Zeiten verschmähten eine Ehe mit Popentöchtem oder weigerten sich ihre Töchter Popensöhnen zu geben. Die Popenfamilien, aus dem Bauern- stande hervorgegangen, gelten dem Muschik mithin nicht als etwas besser, sondern als noch schlechter Gewordenes. In den geheimen erotischen und obszönen Erzählungen, Liedern und Sprichwörtern am Schlüsse meines Buches i) werden wir sehen, wie das Volk dem Popen die erbärmlichsten Streiche in die Schuhe schiebt, ihn der größten Dummheiten zeiht und ihm die Ausübung der furchtbarsten Unzucht zuschreibt.

Die Religion und die Regierung, und als Handlangerin der letzteren die obere, die schwarze Geistlichkeit : sie tragen die Schuld, daß der niedere Klerus, das Popentum, einer solchen allgemeinen Verachtung des Volkes preisgegeben ist. Der Muschik sieht seit tausend Jahren, daß der Pope von seinen Vorgesetzten genau so rücksichtslos geknutet und gepeitscht wird, wie der Bauer von dem Gutsherrn. Die Regierung will den Popen nicht anders haben als er ist, überwacht das Popen- tum ängstlich durch Spione, um jede Regung menschlicher Gefühle zu unterdrücken, um jedes Verlangen nach Bildung und Freiheit im Keime zu ersticken, und seit aus dem Popen- stande trotz aller Fesselung gar in Gapon ein Revolutions- führer hervorgegangen, ist dieses System der Knechtung noch maßlos verschärft worden. Man hat in den letzten Jahren der Wirren unter den Popen und Popensöhnen strenge Muste- rung gehalten.

Katharina II. und Nikolaj I. haben, als sie im Popentum einen widerspenstigen Geist wahrnahmen, der die Ketten der Sklaverei zu sprengen drohte, aus den frommen Hirten der Gemeinde Artillerie-Bataillone gebildet und diese den Feinden als Kanonenfutter hingeworfen; Nikolajs des Zweiten fromm- mystisches Gemüt aber duldet nicht den Gedanken, die Künder des göttlichen Friedenswortes zu blutigem Kriegshandwerk zu pressen; und so werden die verdächtigen Popen scharenweise

1) II. Band, 60. Kapitel. .Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rußland.

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bloß nach Sibirien geschleppt, um unter Burjäten und Ost- jaken das Lob des Zaren und die Herrlichkeit des russischen Christentums zu singen. Die Popen waren niemals Erzieher ihres Volkes, nun werden sie unfreiwillige Märtyrer für seine Freiheit.

8. Unsitten im Mönchstum.

Weißer und schwarzer Klerus Kontraste Reichtum der Kirchen und Klöster Konfiskation der Klöstergüter Stellung des hohen Klerus im Rußland vergangener Zeit Die Metropoliten Berühmte und gelehrte Bischöfe und Mönche - Patriarch Nikon Abschaffung des Patriarchats Der Heilige Synod Die Stellung des .Oberprokurators Unordnungen im Synod Einflußlosigkeit auch des Mönchstums und des hohen Klerus auf Bildung und Kultur Die Bildung im kleinrussischen Klerus Bedeutungs- losigkeit des russische'n Mönchstums Urteile über die schwarze Geistlichkeit Die Ehelosigkeit der Klosterleute Unzucht in Klöstern Klagen des Zaren Iwan im Stoglaw Kebsweiber, halbe Priesterfrauen Gemeinsames Baden von Mönchen und Nonnen Sodomie in Klöstern Peters des Großen Kloster- reformen — Ihre Resultatlosigkeit Ein Kloster als Verbannungsort Regeln der Frauenklöster Nichtachtung dieser Regeln Schlechter Ruf der russi- schen Nonnen Nonnenklöster als Bordelle Tingeltangel im Nonnen- kloster — Elisabeth als Frömmlerin und Messalina Orgien der Zarin Eli- sabeth im Troitzkakloster Sadismus an heiliger Stätte Erotische Raserei und FlagellationstoUheit im Mönchstum Die Männertöterin Darja Saltykow Folgen der Demoralisation des Klerus Unzucht und Mord in Nonnen- klöstern des neunzehnten Jahrhunderts Allgemeinheit der sittlichen Ver- kommenheit der Klosterleute Parallele .zwischen der Sittenlosigkeit im russischen Mönchstum und im kalmückischen Priestertum.

Der Pope verhungert; die weiße Geistlichkeit, der ge- samte niedere Klerus, stirbt in Elend und Verkommenheit; die Kirche aber ist unermeßlich reich, und der schwarze Klerus, das Mönchstum, erstickt in seinen Schätzen. Kein größerer Kontrast ist denkbar als der zwischen dem armseligen Popen- tum und dem prunkenden Mönchstum; zwischen dem Priester auf der niedrigsten Stufe und dem Bischof oder Erzbischof; zwischen der Bettelhaftigkeit des Dorfpfarrers und dem Glänze, den eine Fülle von Gold, Silber und Juwelen in den Kirchen ausströmt. Eine betäubende Pracht ist es, welche die schwarze Geistlichkeit und die Kirche bei den geringsten Anlässen ent-

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falten. Der Altar ist eingetaucht in ein Meer von funkeln- dem Edelmetall und blitzenden Edelsteinen ; und der die Messe zelebrierende Bischof, Erzbischof oder Metropolit erscheint in dem Übermaße des Luxus seiner Kirchentracht, mit seinen Ketten und Kreuzen aus Diamanten und Perlen, der Mitra, die unter der Last von Rubinen und Smaragden tief auf die Stirne sinkt, und den unschätzbar kostbaren Kirchengefäßen, die er in Händen hält, der berauschten Menge nicht wie ein demütiger Knecht Gottes, sondern wie der stolze Träger einer orientalischen Herrscherkrone. Die große Masse der Geist- lichen hungert und dürstet, seufzt in Elend und Not ; die Kirche und ihre Spitzen jedoch leuchten umso höher in ihrem fabel- haften Reichtum, der nicht von heute oder gestern datiert, vielmehr fast so alt ist wie die Kirche selbst. Iwan IIL der Fürchterliche 1) war der erste Herrscher, der einen schüchternen Versuch machte, der Geistlichkeit diese toten Güter zu ent- reißen. Aber die Versammlung der Kirchenoberhäupter warnte den Zaren durch folgenden Briefe) : „Seit dem apostelgleichen Kaiser Konstantin bis auf die spätesten Zeiten haben die Bischöfe und die Klöster überall Städte und Dörfer besessen. Nie haben die Kirchenversammlungen der heiligen Väter dies verboten. Sogar bei Deinen Vorfahren und bis auf unsere Zeit hatten die Bischöfe und Klöster Städte und Landgüter^ Flecken und Dörfer, Gerechtigkeitspflege, kirchliche Abgaben und Steuern. Haben nicht der heilige Wladimir und der große Jaroslaw gesagt : wer von meinen Kindern oder Nachkommen es übertritt; wer sich anmaßt das Eigentum der Kirche und die Zehnten der Bischöfe, der sei verflucht für diese und jene Ewigkeit ! ? Sogar die gottlosen Zaren der Horde schonten aus Furcht vor dem Herrn das Eigentum der Klöster und Bischöfe. Also wollen wir es nicht wagen und finden es nicht

1) Rußland hatte zwei Herrscher mit dem Beinamen eines Fürchter- lichen oder Schrecklichen: Iwan Wassiljewitsch III. war der Großvater des IV. gleichen Namens und Beinamens. Dem dritten Iwan wurde dieser Beiname aber mehr wegen seiner Erfolge gegen Rußlands Feinde gegeben (vgl. Petrus Petreji, Mußkowitische Chronika S. 165), während der vierte Iwan seiner grauenhaften Mordgier wegen der Schreckliche genannt wurde.

2) Karamsin (deutsche Ausgabe) VI 285.

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für gut, das kirchliche Eigentum zurückzugeben; denn es ist Gottes und unantastbar." Der Fürst wagte nicht auf seinem Plane zu bestehen. Im Jahre 7159^) wurde aber bei Abfassung eines neuen Gesetzbuches verordnet, daß man seine Güter unter keinem Vorwande an die Klöster oder Geistlichkeit schenken oder verkaufen dürfe; den Geistlichen wurde verboten, Güter durch Kauf oder auf eine andere Weise zu erwerben, bei Androhung, daß ihnen solche Güter gewaltsam wieder ab- genommen werden würden; im Besonderen wurde denen, die ins Kloster gehen wollten, sowohl Männern als Frauen, den Klöstern Güter zu schenken verboten. Peter der Große wagte trotz der schroffen Stellung, die er gegenüber der Geistlich- keit einnahm, auch nicht viel weiter zu gehen als das letzt- erwähnte Gesetz. Erst Katharina II. hatte den Mut den Plan Iwans des Fürchterlichen wieder aufzunehmen, die Ländereien und Dörfer der Kirche mit dem Eigentum des Staates zu ver- schmelzen und den Geistlichen Geldgehälter anzuweisen. Da- mals bestand der Kirchen- und Klösterstaat Rußlands aus 479 Mönchsklöstern, 74 Frauenklöstern und 18 319 Kirchen 2); von letzterer Zahl waren in der Eparchie Moskau 3) 1850, in dem Bischofstum Nowgorod 1657, im Gebiete von Rjäsan 1220, von Kijew 1163, von Belgorod 1089, dagegen in der Eparchie Petersburg nur 106. Die Zahl der Kirchenbediensteten betrug insgesamt 67873. In den Mönchsklöstern gab es 7263, in den Frauenklöstern 5264 Bewohner. Die Erzbischöfe, Bischöfe und Klöster besaßen zu Ende der Regierung Elisabeths ein Eigentum von 818575 Bauern; aber in Katharinas Verord- nung vom Jahre 1764 wird die Zahl der dem Klerus Leib- eigenen schon mit 910866 angegeben. Die Gesamtbevölkerung Rußlands betrug im Jahre 1788 gemäß den Ergebnissen der

1) Nach unserer Zeitrechnung 1649. In Rußland wurden bis zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts die Jähre seit Erschaffung der Welt gezählt. Um 1500 war bestimmt worden, daß das neue Jahr stets am i. September beginne.

2) Büschings Magazin I 43 106.

3) Olearius berichtete, daß es zur Zeit seines Besuches in Rußland in Moskau 1500 Kirchen- und Klöster gab; dies dürfte sich aber auf den ganzen von dem IMoskauer Metropoliten abhängigen Kreis bezogen haben.

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vierten Revision i): 28 Millionen Seelen. Jeder dreißigste Mensch in Rußland war also der Geistlichkeit leibeigen.

Die Zahl der Klöster und Kirchen ist seither nicht ge- ringer geworden. Um 1800 gab es in der Stadt Moskau allein wohlgezählte 943 Kirchen und Klöster, davon 150 inner- halb des Kremls. 2) Haxthausen erzählt 3), daß er bei seinem Besuche der Stadt Arsamaß, um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, in diesem Orte 34 Kirchen und 2 Bethäuser, 2 Manns- und 2 Frauenklöster zählte; Arsamaß hatte damals im ganzen 4390 männliche und 4602 weibliche Einwohner in 78 steinernen und 1399 hölzernen Häusern. In den Klöstern gab es HO Mönche und 650 Nonnen, an den Kirchen waren weitere 700 Geistliche beschäftigt. Auf rund 40 Häuser oder 260 Einwohner kam eine Kirche, der sechste Teil der Be- völkerung gehörte dem geistlichen Stande an.

Die von Katharina II. durchgeführte Konfiskation der Kirchengüter verursachte nicht die geringste Aufregung im Volke, und dies kann als Beweis dafür gelten, daß die Mönche kein Ansehen und keine Liebe genossen. Allerdings hat die Güterkonfiskation den Reichtum des Klerus nur um die Güter vermindert, während die in Metallen, Edelsteinen und Stoffen in den Kirchen und Klöstern aufgehäuften Schätze von der Konfiskation verschont blieben. Demnach ist der schwarze Klerus in Rußland noch immer unermeßlich reich und man behauptet, daß schon das Troitzkakloster Schätze genug be- sitzt, um damit Rußlands sämtliche Staatsschulden bezahlen zu können. Dieses Kloster hatte im fünfzehnten Jahrhundert bereits hunterttausend leibeigene Bauern; Katharina II. nahm dem Kloster die Bauern fort, doch blieb ihm noch bis heute aus seinem Barvermögen ein jährliches Einkommen von min-

1) In Rußland wurden früher als (Grundlage für die Erhebung der Kopf- steuer von Zeit zu Zeit Abschätzungen, sogenannte Revisionen vorgenommen. Solcher Revisionen gab es zehn, die erste fand 1722, die letzte 1858 statt. Die erste wirkliche Volkszählung in westeuropäischem Sinne geschah erst am 28. Januar 1897 russischen Stils. Vgl. Brockhaus' Konversationslexikon. Neue revidierte Jubiläumsausgabe 1903. Band XIV, S. 71.

2) Konstantinopel und St. Petersburg, Der Orient und der Norden, n. Jahrgang (1806), Band III, S. 30.

3) Studien über Rußland I 312.

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destens hunderttausend Rubeln; von dem toten Kapital, das in Gold und Juwelen angelegt ist, nicht zu reden. Schätze an Gold und Juwelen hat auch die geringste Kirche, das kleinste Kloster. In den großen Kathedralen aber findet man Reich- tümer, deren Beschreibung orientalischen Märchen entnommen zu sein scheint. Da gibt es Meßgewänder, die Vermögen ver- schlungen haben, Heiligenbilder, deren Augen aus Riesen- brillanten, deren Zähne aus den reinsten Perlen bestehen, Iko- nostase i) aus purem Golde, Kronleuchter von ungeheuerlichem Gewichte in purem Silber.

Im Strahlenglanze dieses Reichtums sonnen sich nur die Mitglieder des schwarzen Klerus, die Mönche und die aus der Klostergeistlichkeit hervorgegangenen hohen Würdenträger der Kirche. Und doch hat der schwarze Klerus für Rußland nur wenig mehr geleistet, als der weiße. Ein Kultureinfluß ist auch von ihm nicht ausgegangen 2), obwohl er eher die Mittel hatte sich zu bilden und Bildner des Volkes zu sein. Aber die gelehrten und zivilisierten Bischöfe Rußlands im Laufe von zehn Jahrhunderten lassen sich an den zehn Fingern ab- zählen. Bis um die Mitte des vierzehnten Säkulums hatte der Patriarch von Konstantinopel noch Einfluß auf die Wahl der hohen Geistlichkeit Rußlands. Die ersten Metropoliten der Großfürstentümer waren sogar Griechen, ernannt vom griechi- schen Kaiser und geweiht vom Konstantinopeler Patriarchen, ohne Vor- und Mitwissen der russischen Großfürsten. Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken schwand naturgemäß das Ansehen des griechischen Patriarchen in Ruß- land, die russischen Großfürsten wählten selbst ihren Metropo- liten und die russischen Bischöfe weihten ihn. Der Metro- polit war die höchste Instanz, er sprach das Anathem über Städte und Länder wie Großnowgorod, Nischny-Nowgorod und Pskow aus ; er hatte den Vorsitz in dem von ihm gebildeten Synod, er entschied über die Klagen der russischen Fürsten gegen ihre Bischöfe, übte die weltliche Gerichtsbarkeit über die zu den Metropolstühlen gehörenden Besitzungen aus, salbte den Herrscher bei der Thronbesteigung und hatte in

1) Heiligensäulen.

2) Schiemann, Alexander I. a. a. O. 40S, Anmerkung 2.

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der Kirche und bei allen festlichen Gelegenheiten den Ehrensitz neben dem Großfürsten oder Zaren. Bei Staatsangelegenheiten wurde sein Rat eingeholt, und alle Befehle des Herrschers be- gannen mit dem Satze : Nach Einholung des Segens und Rates unseres Vaters des Metropoliten. Der Jesuit Antonius Posse- vinusi) sagt, daß der Zar und die übrigen Fürsten dem Metro- politen bei dessen Einzug in die Residenz stets entgegengingen und ihm die Hand küßten. Als später die zersplitterten russi- schen Fürstentümer zu einem einzigen Reiche vereinigt wurden, trat an die Spitze der Geistlichkeit, als Chef der drei Metro- politen, der Patriarch. In der Mongolenzeit wuchs der Ein- fluß des Klerus an, weil dieser es war, der den Widerstand gegen die Ungläubigen nährte. Ein Mönch trug 1380 zur Befreiung Rußlands von den Tartaren bei. Ein ob seiner Weisheit und Tugend berühmter Kleriker war um dieselbe Zeit Theognoß, Metropolit von Moskau, ein großer Gelehrter der Metropolit von Kijew Gregor Samlawk, der bei seinem Tode im Jahre 14 19 zahlreiche geistliche Werke hinterließ. Der Erzbischof Gennadij von Nowgorod unternahm gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts eine Korrektur der Bibel, und auf seine Aufforderung, ihm alle im Reiche vorhandenen Texte der beiden Testamente einzusenden, lieferte Nowgorod allein 6000 Manuskripte. Ein Zeitgenosse und Mitarbeiter dieses Erzbischofs war Sanin, Prediger in Wolokolamssk ; er schrieb ein Werk unter dem Titel ,,Der Aufklärer", enthaltend fünf- zehn Dissertationen gegen die Sekte der Strigolniki, und eine Geschichte dieser Sektierer. Der Grieche Maxim, vom Zaren Wassilij 1506 nach Rußland berufen, wirkte als Bibliothekar. Der im Jahre 1562 gestorbene Metropolit Makarij hatte als der gelehrteste und arbeitsamste Mensch seiner Zeit gegolten; zwölf Jahre widmete er der Niederschrift einer Geschichte der von der russischen Kirche anerkannten und kanonisierten Heili- gen, die Frucht dieser Arbeit waren zwölf enorme Foliobände, Der Mönch Paiß Jaroslawow raffte sich zu einer historischen Arbeit auf; er schrieb 1526 eine Geschichte der zweiten Ehe

1) Antonii Possevini Societatis Jesv, Moscovia, et, alia Opera de statv hvjvs secvli, aduersus Catholicae Ecclesiae hostes. 1597

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des Zaren Iwan; Erzählungen aus der Geschichte von Kasanj lieferte der Priester Iwan Glassatij ; Annalen betreffend die Invasion der Polen unter Bathory verfaßte der Pskower Mönch Serapion; eine Geschichte der Belagerung des Klosters des heiligen Ssergej hinterließ der Mönch Abraham Palitzyn, eine mythische Geschichte der Scythen der Priester Andreas Lys- low; einen Abriß der Geschichte des Ursprungs der Slawen und der Regierung der Fürsten von Kijew schrieb Innocenz Gisel, Archimandrit zu Kijew. Der Mönch Jonas verfaßte sogar ein Reisewerk. 1588 gründeten die Mönche von Kijew eine Schule, aus der später die geistliche Akademie hervor- ging, die jahrhundertelang die einzige Bildungsstätte Rußlands blieb. Peter Mogila rekonstruierte diese Lehranstalt des Klerus, führte Kurse der Philosophie und Theologie, Sprachunterricht im Lateinischen und Polnischen ein und berief Lehrer aus Deutschland und. Italien. Von dieser Schule gingen die so- genannten ,,Bursaki" aus, die sich über die ganze Umgebung verbreiteten und gegen ein Honorar von Eiern, Schinken oder Getreide als Lehrer wirkten. Aus der Kijewer Akademie stammten die berühmten Simeon Polotzkoj, Theophan Proko- powitsch, Slowinetz, Schaworskij, Lopatinskij. Einige Jahre nach der Gründung der Kijewer geistlichen Schule entstand auch in Moskau, vom Zaren Boriß Godunow angeregt, eine Akademie, die vom Zaren Feodor Alexejewitsch ,,slavv'isch- griechisch-lateinische Akademie'^ benannt wurde; aber sie leistete nichts. Der Patriarch Job hinterließ eine Biographie des Zaren Feodor Iwanowitsch, der Patriarch Hermogen, der 161 2 von den Polen zu Tode gemartert wurde, eine Menge heili- ger Schriften. Stefan Jaworskij, Professor der Kijewer Aka- demie, verfaßte ein großes Werk gegen die Dissidenten : Gabriel Buschinskij, Bischof von Rjäsan, war berühmt als Red- ner, wurde Erzpriester der ersten russischen Flotte, Direktor aller Kirchenschulen und übersetzte Puffendorffs Geschichte der europäischen Staaten ins Russische. i) Der Rostower Me- tropolit Dmitrij schrieb nicht bloß eine Geschichte des Lebens

1) Gerebtzofif, Essai sur l'histoire de la civilisation en Russie, Paris 1858. I 166, 421, 445. II 218, 572.

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der Heiligen, ein Werk über die Raskolniki, sondern auch Mysterien in Versen, die ersten russischen Theaterstücke. i) Der berühmteste Kleriker Rußlands war der Patriarch Nikon. Er führte in vier Partien des Kirchendienstes den Gesang ein, gab dem schwarzen und dem weißen Klerus neue Reglements, schrieb eine Schilderung des Berges Athos und seiner Klöster, sowie mehrere Werke geistlichen Inhalts ; seine große Tat aber ist die Korrektur der Bibel. Sein Ende war ein trauriges, und mit ihm ist die Geschichte des Sektenwesens in Ruß- land verknüpft. 2j Er ist der letzte große Patriarch gewesen und hat es gewagt, den Zaren Alexej zu exkommunizieren. Und Alexejs Sohn Peter der Große schaffte das Patriarchat ab. An die Stelle des Patriarchats trat der Heilige Synod. ,, Nicht der Kirche," sagte Stephan Sabinin^), „sondern nur den Mißbräuchen in ihr trat Peter entgegen ; nicht als ihr Ober- haupt, sondern als ihr Schirmherr." Mitglieder des Heihgen Synod sind die vom Kaiser hierzu ernannten Erzbischöfe und Bischöfe, der Beichtvater des Kaisers, die Chefgeistlichen der Armee und der Flotte, ferner die Metropoliten von Moskau, Kijew und Petersburg-Nowgorod; der letztere ist stets Präsi- dent des Synod. Unabhängig von der Geistlichkeit, nur Ver- trauensmann der Krone, ist der Oberprokurator des Heiligen Synod, von Peter dem Großen ,,des Kaisers Auge"'beigenannt. Der Synod überwacht alle Klöster, Kirchen, jetzt auch die meisten Schulen des Reiches, hat das Recht bei Besetzungen von Kirchenwürden Vorschläge zu machen, entscheidet in theolo- gischen Fragen, hat die Verwaltung der Reliquienschätze, ur- teilt in Eheangelegenheiten, namentlich in Ehescheidungen, zieht die Priester wegen Unsittlichkeit zur Verantwortung, beauf- sichtigt den Bau von Kirchen ; kurz, der Synod ist die höchste Kircheninstanz, aber seine Beschlüsse unterliegen der Zustim- mung des Zaren, und so ist der Oberprokurator der eigent- liche Chef dieser kirchlich-juridischen Organisation. Allerdings hat es einen heftigen Kampf zwischen der Geistlichkeit und

^) Darüber wird noch im Kapitel, das Musik und Theater behandelt, die Rede sein.

2) Vgl. das Kapitel, welches das Sektenwesen schildert.

3) Jen. Literaturzeitung 1843.

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den Vertretern des Kaisers gegeben, bis dieses Resultat er- zielt wurde. Peter der Große hatte die Macht des Patriar- chen vernichtet und den Heiligen Synod an dessen Stelle ge- setzt. Nach Peters Tode riß der Synod die Macht an sich, die einst der Patriarch besessen hatte, und der zarische Ober- prokurator blieb nur eine Schattenfigur. Zur Zeit der Zarin Elisabeth sank die Bedeutung des Oberprokurators auf die tiefste Stufe. Elisabeth ernannte zu ihrem Vertreter beim Synod einen zum Polizisten gewordenen Exsoldaten namens Scha- chowskoj, der keine Ahnung von seiner Aufgabe hatte. Aber Schachowskoj wollte sich unterrichten und im Archiv Be- lehrung finden. Auf seine Frage nach dem Archiv erhielt er zur Antwort : Es gibt keins ! Er bittet, dann wenigstens das Dossier der laufenden Angelegenheiten herbeizuschaffen. Man versteht nicht einmal, was er damit meint. Die Mitglieder des Synod pflegten alles nach Gutdünken zu erledigen, brauch- ten keine Aktenstücke und Protokolle. Die Kirchengüter wur- den seit Peter dem Großen vom Synod verwaltet ; der Ober- prokurator fordert die Unterbreitung des Standes der Ein- nahmen und Ausgaben. Er wartet bis zum Ende seiner Amts- zeit vergebens auf diese ünterbreitung. Schachowskojs Nach- folger versteht seine Stellung besser. Er kümmert sich nicht um solche Dinge und sammelt bloß fleißig die Trinkgelder, mit denen man ihn freigebig überhäuft. Erst Alexander der Erste vermochte die Macht, die der Heilige Synod und seine klerikalen Mitglieder sich angemaßt hatten, zu brechen und dem Oberprokurator die dominierende Stellung zu schaffen i), die er seither einnimmt. Der Synod erhielt eine bureaukrati- sche Organisation, die dann auf die ganze kirchliche Hierar- chie übertragen wurde. Die Stellung des Synods glich jener des Senats in Verwaltung und Justiz. Die Erzbischöfe ent- sprachen den Generalgouverneuren, die Bischöfe den Gou- verneuren, die Konsistorien in den Eparchien den Gouverne- mentsregierungen, die unteren geistlichen Verwaltungen den Kreisgerichten und den Polizeiverwaltungen, die aus der weißen Geistlichkeit hervorgegangenen Probste den Kommissaren für

1) Diese lehrreiche Wandlung erzählt ausführlich Schiemann a. a. O. 409.

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Stadt und Land. Nikolaj der Erste ging noch weiter. Er organisierte Synod und Klerus militärisch und setzte in seinem Flügeladjutanten, einem Kavallerieobersten, den Klerikern einen soldatischen Oberprokurator auf den Nacken ; und Custine durfte spotten, daß die russische Geistlichkeit nur eine Miliz sei, in einer etwas anderen Uniform als sie die weltlichen Truppen des Kaisers tragen. In den ,, Grenzboten" sagte da- mals auch ein anderer Beobachter i) : ,, Obgleich ein Metro- polit den Rang eines Generals en chef, ein Erzbischof den Rang eines Generallieutnants, ein Bischof den Rang eines Generalmajors besitzt oder vielmehr eben deshalb erinnert die Behandlung, die diese Kirchenfürsten vom Kaiser erfahren, an die Kaserne." Der furchtbarste Oberprokurator, dem sich der Heilige Synod je beugen mußte, entstand in unserem Zeitalter: Konstantin Petrowitsch Pobjedonoßzew, der dem Klerus die letzten Reste seiner einstigen Macht entrang und ihn herabdrückte zu einem völlig willenlosen Werkzeuge der Staatsgewalt.

Zu bedauern ist diese Bedeutungslosigkeit des Klerus gegenüber der Regierung deshalb nicht, weil wie die weiße auch die schwarze Geistlichkeit, von den wenigen erwähnten Ausnahmen abgesehen, sich niemals durch Bildung auszeich- nete und niemals ernstlich danach strebte, zur Kultivierung des Volkes ein wenn auch nur bescheidenes Maß beizutragen. Wohl hatten die Schwarzen in Rußland schon von der frühesten Zeit her, mit Ausschluß nicht bloß des Volkes, sondern selbst der Amtsbrüder von der weißen Geistlichkeit, die Bildung monopolisiert und ganz für sich allein in Anspruch genommen, allein sie haben in den seltensten Fällen von diesem kultu- rellen Monopol Gebrauch gemacht. Auch von den wenigen Ausnahmen, die ich emsig hervorgesucht habe, um nach jeder Richtung hin die Parteilosigkeit des Historikers zu dokumen- tieren, muß man beklagenswerterweise konstatieren, daß ihre Bildung stets einseitig und äußerst beschränkt war; auch sie blieben in vollständiger Unkenntnis fast aller Wissenschaften

1) Vgl. Nikolaus der Erste gegenüber der öffentlichen Meinung von Europa S. 48.

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und kannten von den meisten selbst die Namen nicht, lernten fast nie fremde Sprachen, haßten fremde Literaturen und waren unfähig mit fremden Gelehrten in Verkehr zu treten. Dieses Urteil gilt für die Vergangenheit wie für die Gegenwart. Nur in der Klerisei in der Ukraine fanden sich dank der Nachbar- schaft Polens hier und da einige, die wenigstens den Schein der Gelehrsamkeit hatten. Die Polen, die in der Ukraine eine Zeitlang geherrscht hatten, gründeten in verschiedenen Klöstern von Kijew und Tschernigow lateinische Schulen für Theologie und Philosophie i), übrigens auch keine Pflanzstätten höherer und wirklicher Bildung, sondern Akademien letzten Ranges. Dennoch galten schon die kleinrussischen Mönche als Ideale einer gebildeten Geistlichkeit, und die Zarin Elisa- beth^) ließ eine Anzahl von ihnen nach Rußland berufen und zu Bischöfen machen. Die Kleinrussen wurden jedoch von den Großrussen als H-albfremde mit scheelen Augen angesehen und förmlich boykottiert; sich selbst aber zur Bildung zu drängen hatte der großrussische Klerus auch keine Lust, und so blieb bis heute die' Aufgabe, welche der schwarzen Geistlichkeit in Rußland gestellt war, unerfüllt. Das einzige Lob. das dem russischen Mönchstum ehrlich nachgesagt werden kann, ist dieses : daß die Mönche in Rußland nur einen einzigen Orden bilden und insofern dem Staate weniger schaden, als es in anderen Ländern geschieht, wo es viele Ordensregeln gibt und aus der Vielfältigkeit Herrschsucht, Neid und Eitelkeit entstehen. 3) Es gibt kaum drei günstigere Urteile über das russische Mönchstum. So sagt Haxthausen^) : Im Gegensatz zur Weltgeistlichkeit müsse anerkannt werden, daß das Leben der Klostergeistlichkeit im ganzen sittlicher, ihr Geist gebildeter war. Aber Kontemplation und beschauliches Leben, die Grundlagen dieser Richtung eines Mönchswesens, herrsch- ten nur ausnahmsweise bei einzelnen Individuen unter ihnen. ,,Ich habe nirgends behaupten hören, daß in Rußland Mönche und Nonnen in Wohlleben und Üppigkeit versunken

1) Vockerodt a. a. O. 15.

2) Waliszewski, La derniere des Romanov.

3) Bemerkungen über Rußland (von Bellermanu) II 144. *) Studien I 322.

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seien. Ob dies in früheren Zeiten der Fall gewesen ist, weiß ich nicht." Seit Katharina II. die Klostergüter für den vStaat einzog, seien alle Klosterleute auf eine so kärgliche Sub- sistenz gestellt, daß jedes Wohlleben dadurch ausgeschlossen scheine, ja sie könnten kaum existieren, wenn nicht Opfer und Geschenke den Mönchen, Handarbeiten und Bettelei den Nonnen den Unterhalt erleichtern würden; auf allen Straßen finde man bettelnde Nonnen. Man erkennt aus diesem Urteil das offenbare Bestreben, der Sache nicht auf den Grund zu gehen, und wir werden später sehen, wieviele von den mühsamen tmd verklausierten günstigeren Zugeständnissen be- stehen bleiben können. Hier will ich vorerst noch das Zeug- nis des Johann Faber i) anführen, ein Zeugnis aus vergangener Zeit : ,, Mönche und Nonnen, die alle denselben Regeln unter- worfen sind, erfüllen so streng ihre religiösen Pflichten, daß sie Respekt und Bewunderung verdienen. Die Gelübde werden bei ihnen nicht so gering geachtet wie heutzutage bei uns. Wer einmal in ein Kloster eingetreten ist, kann es unter keinem Vorwande mehr verlassen. Das Gelübde wird so hoch ge- schätzt, daß es von den Erzbischöfen und Bischöfen trotz deren weitgehender Befugnisse nicht gelöst werden kann. Na- türlich haben sie auch eine so hohe Idee von der Keusch- heit, daß sie ihren Mönchen und Nonnen die Ehe verbieten." Faber stellt zum Schlüsse den russischen Klerus dem katho- lischen als Muster vor. Die russische Kirchengeschichte selbst weiß aber in ihrer Gesamtheit nicht soviel Ausgezeichnetes vom schwarzen Klerus Rußlands zu sagen, als der Wiener Prälat Faber, der niemals in Rußland war, sondern von zwei durchreisenden Russen, noch dazu Laien, in Tübingen flüch- tige Informationen erhielt und daraus schleunigst ein Büch- lein machte.

In Wahrheit unterschied sich der schwarze Klerus von dem weißen im ganzen nur durch den Reichtum, den er gesammelt, und durch die Ehelosigkeit, die er sich auferlegt hatte. Den Reichtum wandten die Schwarzen verständnisvoll zu ihrem eigenen Besten an; und wie sie es mit der Ehelosigkeit hielten,

1) De Russorum, Moscovitarum et Tartarorum Religione. Spire anno 1582, pag. 170.

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darüber klären unzählige zarische Verordnungen am besten auf. Schon Olearius^) berichtete, daß Rußland überfüllt wäre mit Mönchen und Nonnen und daß die Mönche trotz der strengen Ordensregeln in großer Zügellosigkeit lebten. Die Nonnen unterhielten öffentlich Liebhaber und erzogen ebenso öffentlich ihre Kinder, die gewöhnlich wieder Nonnen und Mönche wurden und in die Fußstapfen der Eltern traten. 2) Diese Angaben werden von zarischen Ukasen bestätigt. In der Kirchenversammlung von 1503 wurde folgende Mahnung des Zaren Iwan III. verlesen 3): „Die Furcht Gottes aus den Augen setzend halten sich viele der Priester und Diakone Kebsv/eiber, die halbe Priesterfrauen genannt werden.*) Fortan erlauben wir ihnen nur, wenn sie ein untadelhaftes Leben führen, auf dem Chore zu singen und vor dem Altare das heilige Abendmahl zu empfangen. Die des Lasters der Wol- lust überwiesen werden, mögen in der Welt leben und welt- liche Kleidung tragen. Noch bestimmen wir, daß Mönche und Nonnen nie zusammen leben, sondern Manns- und Frauen- klöster stets getrennt sein sollen." Aber schon fünfzig Jahre später, am 12. April 1552, mußte Iwan IV. wieder den Un- sitten des Klerus steuern und ein Laiengericht zur Über- wachung der Priestermoralität einsetzen. Die aus hundert Ar- tikeln bestehende V^erordnung^) dieses Zaren ist das furcht- barste Gemälde der Unwissenheit, des Aberglaubens und der Sittenverderbtheit des Klerus und des Volkes in Rußland während des sechzehnten Jahrhunderts. 6) Da heißt es'') : ,, Nicht

1) In seiner moskowätischen Reisebeschreibung.

2) Die jNIöncherey oder geschichtliche Darstellung der Kloster-Welt (von Weber). Stuttgart 1819, I 119.

3) Karamsin, deutsche Ausgabe VI 286 (französische Übersetzung VI 453). *) Dieser Anfang der Mahnung bezieht sich auf den weißen Klerus, auf

verwitwete Popen, die nach dem Gesetze sich nicht wieder verheiraten dürfen, aber eine wilde Ehe eingingen und dem Kanon zum Hohne durch Korruption ihre Stellungen behielten.

5) CTor.iaBi..

ß) Vgl. Aug. Theiner, De l'Eghde ruthenienne et de ses rapports avec le Saint-Siege. Schiemann, Rußland, Livland und Polen (in Onckens Welt- geschichte). — Marmier, Rußland, Finnland und Polen.

'') Im 4. und im 12. Artikel des Stoglaw. Der 12. Artikel entwirft auch eine Schilderung des allgemeinen Aberglaubens, der allgemeinen Unwissenheit

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das Heil seiner Seele sucht man in den Klöstern, sondern Müssiggang, Vergnügungen und niedrigste Wollust. Die Ar- chimandriten empfangen und bewirten auswärtige Gäste in ihren Zellen. Die Mönche halten sich Diener und sind so schamlos, daß sie Frauenzimmer in das Kloster bringen, um in Saus und Braus die Güter des Klosters zu verprassen und der gemeinsten Unzucht zu fröhnen. Es soll daher von nun an in jedem Kloster bloß noch einen einzigen Tisch geben. Es sollen die Mönche ihr junges Gesinde abdanken und keinen Umgang mit Weibern pflegen, sie sollen auch weder Wein noch Meth haben und nicht mehr als Müssiggänger in den Städten und Dörfern herumlaufen. Männer und Weiber gehen miteinander ins Bad, und sogar Mönche erröten nicht, mit Nonnen dahin zu gehen. Endlich und dies ist das Bejammernswerteste, das was über ein Volk den göttlichen Zorn, Krieg, Hunger und Pestilenz bringt man ergibt sich der Sodomie."

Aber nicht nur die Zaren früherer Zeiten, selbst Peter der Große kämpfte vergebens gegen die Unordnung im Klerus. Peter verbot am 31. Dezember 1703, neue Klöster anzulegen und ließ einige alte sperren. i) Er befahl eine genaue Zählung alkr Mönche und Nonnen. Laien, die man bisher in den

und ünsittlichkeit. Der Zar fordert darin die Geistlichkeit auf, „darüber zu wachen, daß gewisse schimpfliche und des Heidentums würdige Mißbräuche ganz verschwinden. Wenn ein gerichtlicher Zweikampf stattfinden soll, geben die Zauberer vor, in den Sternen lesen zu können, auf welcher Seite der Sieg sein werde. Diese ungläubigen Leute haben alberne Aristotelische und astrologische Bücher in den Händen, desgleichen Tierkreise, Almanache und andere Werke, die voll von heidnischer Wissenschaft sind. Am Pfingstfest weinen sie, stoßen ein Geschrei aus, stehen schluchzend, heulend und teufhsche Lieder singend in den Kirchengängen. Donnerstag morgens verbrennen sie Stroh und rufen die Toten i;iit Namen auf; die Priester legen Salz auf den Altar und suchen die Kranken damit zu heilen. Falsche Propheten laufen nackt, ohne Schuhe und mit verwirrten Haaren von Dorf zu Dorf; sie zittern an ihrem ganzen Leibe, wälzen sich auf der Erde und erzählen Erscheinungen vom heiligen Anastasius und anderen. Truppen Besessener, die manchmal bis auf hundert Personen anwachsen, fallen plötzlich in ein Dorf ein, leben auf Kosten der Einwohner, besaufen sich und plündern die Reisenden. Die Bojarensöhne liegen stets in der Schenke, wo sie all ihr Vermögen durchs Spiel verschwenden." 1) Halcm, Leben Peters des Großen III 89.

i44

Klöstern zu verschiedenen Verrichtungen, nicht zum wenigsten aber als Werkzeuge der Unzucht verwendet hatte, mußten entfernt werden. Die Mönche lehnten sich gegen diese Ver- fügungen auf und versuchten in offenen Briefen den Zaren als Gottesfeind zu brandmarken; darauf ließ Peter den Klöstern Papier und Dinte entziehen, und die Mönche hatten keine Mög- lichkeit mehr, auch nur eine Zeile zu schreiben. Weiter be- fahl der Zar, daß in ein Kloster nicht eintreten durften : Männer unter dem dreißigsten Lebensjahre; Militärs; Leibeigene oder nicht Freigelassene ; des Lebens und Schreibens Unkundige : Ehemänner, deren Frauen noch am Leben ; Staatsdiener ; in Schulden Geratene; endlich Solche, die der Justiz entflohen. Die Zugelassenen mußten einen Erlaubnisschein vom Kaiser oder vom heiligen Synod vorweisen und ein Noviziat von drei Jahren absolvieren. Für die Frauenklöster wurden fol- gende Regeln festgesetzt : F alls ein junges Mädchen den Schleier nehmen will, soll es alle Umstände zuvor genau er- wägen; beharrt die nach dem Kloster Verlangende auf ihrem Willen, so stelle man sie im Kloster unter die Aufsicht einer alten Klosterfrau und erteile ihr die Weihen erst nach ihrem sechzigsten, in Ausnahmsfällen nach dem fünfzigsten Lebens- jahre. Bis zu diesem Zeitpunkte soll sie immer das Kloster verlassen und in den Ehestand treten können.

Der Widerspruch in allen Handlungen Peters kommt auch hier wieder zum Vorschein. Während der Zar die Zahl der Klöster im Reiche zu vermindern trachtet, begründet er selbst ein neues Kloster in seiner neuen Residenz an der Newa. Während er die schärfsten Maßregeln trifft, um die russischen Frauen davon abzuhalten, daß sie ihr Leben hinter Kloster- mauern verbringen, verbannt er, um sich den Weg zu einer Vermählung mit seiner Maitresse Katharina freizumachen, seine eigene erste Gattin Jewdokia in ein Kloster zu ewigem Ge- fängnis. Diese Inkonsequenz verhindert deri Kaiser nicht, 1724 seine Verordnung vom Jahre 1703 durch einen neuen Ukas^i zu erläutern, in dem er gegen Mönche und Nonnen also wettert : „Das heutige Leben der Mönche ist nur ein Schein und wirkt

1) Büschings Magazin I 84.

Russischer Schorii- Donischer Schinkenhändler. steinfeger. Kosak.

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nicht wenig Böses, weil der größte Teil von ihnen nur Fau- lenzerei treibt. Jedermann aber weiß, was für Aberglauben und welche Empörungen aus Müssiggang entstanden sind. Da die Mönche fast alle von gemeinem Stande sind, ist es klar, daß sie nichts zu verlassen haben; daß sie keinem Luxus ent- sagen, sich vielmehr durch das Mönchstum ein gutes und bequemes Leben zu erwählen trachten. Denn zu Hause sind sie auf dreifache Weise zinsbar : sie müssen ihre Familie er- nähren, der Krone Steuern und ihren Erbherren Abgaben entrichten. Gehen sie aber ins Kloster, so entfallen diese drei Sorgen : die Mönche finden alles fertig was sie brauchen. Geben sie sich Mühe, die heiligen Schriften zu verstehen oder Andere zu unterrichten? Keineswegs. Wem nützen sie? In Wahrheit weder Gott noch Menschen." Um die Klöster zu nützlicheren Anstalten zu machen, befahl Peter ,, ab- gedankte Soldaten, die nicht arbeiten können und andere wahre Arme in die Klöster zu verteilen. Zu ihrer Bedienung sollen Mönche bestellt werden. Ebenso sollen Nonnen die Armen ihres Geschlechts bedienen."

Für Mönche, die sich einer schlechten Aufführung schuldig gemacht hatten, w-urde später das Kloster Ssolowezk bei Archan- gelsk als Strafaufenthaltsort bestimmt. Hier soll es um 1830 mehrere tausend verbannte Mönche gegeben haben. 1)

Die Regeln für die russischen Frauenklöster besagen : Es soll kein Unterschied des Standes und der Herkunft gelten. Die Novize hat der Oberin ihre Papiere auszuliefern, ihre Herkunft nachzuweisen, einen Erlaubnisschein ihrer Familie und ein Attest ihrer Gemeinde vorzulegen. Im Kloster erhält sie einen Klostemamen, und fortan darf sie keine kostbaren, son- dern nur leinene oder wollene Kleider tragen. Die Probe- zeit dauert einen Monat, ein Jahr oder noch länger, je nach dem Kloster, das man wählt. Ein bindendes Gelübde, das

^) Dupre de St. Maure, Petersbourg, Moscou et les provinces. Paris 1830, I 100. Diese Angabe scheint übertrieben zu sein, da die Zahl sämt- licher russischer Mönche wohl nie mehr als zehntausend betragen hat. Da das Kloster aber auch als Verbannungsort für politische und selbst kriminelle Verbrecher diente, wird sich die genannte Ziffer auf die Gesamtheit der Ver- urteilten beziehen lassen.

Stern, Geschichte der öffentl. Sittliclikeit in Kufiland. lO

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den Rücktritt in die Welt verhindern würde, wird nicht ge- geben und darf nicht verlangt werden. Es soll jedoch noch nie vorgekommen sein, daß eine Jungfrau, die in ein Kloster getreten, wenn sie ein Jahr darin verweilt, nach der Welt zurückverlangt hätte. Dagegen geschieht es oft, daß ver- heiratete Frauen, die ins Kloster eintreten, weil ihre Gatten verschollen sind, in die Welt zurückkehren, wenn ihre Männer wieder auftauchen. ij Trotz der schönen Klosterregeln führen die Nonnen meist ein flottes Leben. Sie verfügen frei über ihr \'ermögen, entbehren wenn sie reich sind keinen Luxus, und die, welche arbeiten, tun dies nicht des klösterlichen Be- rufes, sondern des Erwerbes wegen. Man kennt nur wenige Beispiele von unschuldsvollen, sittlichen, tugendhaften und wahrhaft frommen Nonnen in Rußland. Im allgemeinen gal- ten vielmehr die russischen Nonnenklöster seit jeher und bis heute als Stätten der Zügellosigkeit, des Sittenverfalls, als förm- liche Lasterhöhlen. Augustin Mayerberg 2), der Gesandte des Kaisers Leopold an den Zaren Alexej Michailowitsch, berichtete zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts : ,,Ce que je puis dire particulierement des Religieuses, tant il y en avoit un grand nombre repandu dans toutes les rues. II y a en Moscovie plusieurs Monasteres de Religieuses; dont la moindre partie est Celle des Filles, celle des Veuves est plus grande; mais Celle des Femmes repudiees par leurs maris, est en tres-grand nombre; et dans ces Monasteres leurs sanctes Constitutions sont tres-mal observees. Gar contre l'ordre on y void plusieurs femmes mariees, qui n'y sont pas tant enfermees, par l'amour de l'honnetete, que par la force des grilles. Pour ce qui est des Religieuses vierges; elles n'ont rien qui les retienne. Ce qui fait que le sexe curieux, qui a toute liberte. regoit les visites des hommes, et qu'apres avoir assiste le matin ä l'office, elles se promenent librement dans les villes. Et comme elles n'ont nul Gardien de leur Pudicite qu'elles ap- prchendent, se laissans empörter aux mouvemens deregles de leur cupidite, elles se precipitent dans l'abisme profond de

1) Haxthausen, Studien I 316.

2) Voyage en Moscovie d'un Ambassadeur. A Leide 1688, p. 103 (französ. Neudruck I 99).

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l'infamie, au grand scandale des gens de bien, et au deshon- neur du Voile Sacre qu'elles ont regeu." Die Frauenklöster wurden manchmal offen in Bordelle verwandelt. Pseudo- Dmitry ließ seine Braut, die Polin Marina, ins Kloster bringen, damit sie hier das Kirchengesetz lernte und fastete, ehe sie die Taufe empfing. Den ersten Tag fastete sie auch, aber nur deshalb, weil ihr die russischen Speisen ein Greuel waren; dann schickte ihr der Bräutigam die Köche ihres Vaters, und es ging gar nicht mehr klösterlich zu. Marina empfing im Kloster nicht bloß den Besuch ihres leidenschaftlichen Bräuti- gams, sondern brachte mit ihm allein manche Stunde zu, und waren sie des Liebens überdrüssig, so vertrieben sie sich die Zeit mit Gesang, doch nicht mit geistlichem, und mit Tanz und Musik. Pseudo-Dmitry, ein aus der Kutte gesprungener Mönch, brachte Possenreißer und Musiker ins Kloster, ,, gleich- sam als geschehe dies," klagt der Historikerl), ,,um mit der Heiligkeit des Ortes und der Würde unbefleckter Nonnen Scherz zu treiben; Moskau hörte davon mit Abscheu." Man könnte hier entschuldigend bemerken, daß die Übeltäter ein entlaufener Mönch, der den Zarenthron usurpiert hatte, und eine polnische Abenteurerin waren. Aber solche Vorfälle waren nicht vereinzelt, fanden nicht bloß in jener wirren Epoche statt, sondern sind typisch und wiederholen sich fortwährend. Am häufigsten unter der Herrschaft der stockrussischen Zarin Elisabeth, Tochter Peters des Großen, und die Hauptschuldige ist diesmal die Kaiserin selbst ^j, die sich gern als die frömmste Frau ihrer Zeit aufspielte. Lange Stunden pflegte sie in den Kirchen zuzubringen, in inbrünstigen Gebeten stehend oder kniend, bis sie ohnmächtig zusammenbrach und in Starr- krampf fiel. Als sie auf einer Schiffsfahrt von einem Sturm überrascht wird, sucht sie ihre Zuflucht und Rettung im Gebete, bleibt die ganze Nacht kniend und zu den Heiligen flehend, deren Reliquien sie als unfehlbare Rettungsmittel nicht aus den Händen läßt.-"') Eines Tages findet sie, daß auf einem

1) Karamsin, deutsche Ausgabe X 224, (französische Übers. XI 352).

2) Vgl. Waliszewski : L'hcritage de Pierre le Grand 92; La derniöre des Romanov 45, 212; Le Roman d'une imp6ratrice, Catherine II, 344.

3) Memoires de Catherine IL Londres 1859, p. 180.

10*

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Heiligenbilde die Engelein, die den heiligen Sergej umgeben, zu sehr Amoretten ähneln; ihr keusches Gemüt ist tief be- leidigt, und sie befiehlt dem Oberprokurator des heiligen Synod das Ärgernis zu beseitigen und den Engeln ein heiligeres Aus- sehen anstreichen zu lassen. Die wichtigste Person in Eüsabeths Hofstaate ist ihr Beichtvater Dubjanskij, der auch eine politische Rolle an sich reißt und namentlich die Saporegerkosaken pro- tegiert, weil sie ihm regelmäßig tonnenweise gesalzene Fische senden. Nun die Kehrseite : der Beichtvater Dubjanskij ist auch der Gelegenheitsmacher Elisabeths und namentlich der Ver- traute bei dem Liebesverhältnisse des ehemaligen Kirchen- sängers Rasumowsky mit der Zarin, die entsprechend ihrem frommen Sinne die Klöster zu ihren Absteigquartieren wählt und besonders das Troitzkakloster mit ihren Orgien erfüllt. Dorthin pilgert sie um zu beten, dort gibt sie ihren bevor- zugtesten Liebhabern zärtliches Stelldichein; und fühlt sie ob ihrer Ausschweifung an heiliger Stätte Skrupel, so tut sie gleich an Ort und Stelle durch gütige Vermittelung des gefälligen Beichtvaters Buße. Die Regierungsgeschichte Elisabeths ist eine unaufhörliche Reihenfolge erotischer und pietistischer Skandalosa, und dem von der frommen Zarin und ihrem Beicht- vater gegebenen Beispiel folgt in einem Taumel von Ver- zückung und Zynismus der ganze Klerus. Der Historiker, der es sich zur Aufgabe macht, diese religiösen und erotischen Possen, die in toller Abwechselung einander den Schauplatz überließen, genau zu schildern, erscheint als ein getreuer Ab- schreiber der Werke eines Sade. Wie in den wahnsinnigsten Szenen, die dieses teuflische Genie gemalt hat, sehen wir im Rußland Elisabeths in den Klöstern die furchtbarsten und blutigsten erotischen Dramen sich abspielen. Zu den Füßen der Altäre werden Orgien gefeiert; mit den HeiHgenbildern in den Händen opfert man der raffiniertesten Unzucht. Völ- lerei und Ausschweifung greifen gleich epidemischen Krank- heiten im ganzen russischen Kirchen- und Klosterstaat um sich. Ein Archimandrit vergewaltigi ein Mädchen auf offener Straße. Er wird in der Ausübung seines Verbrechens von Bauern überrascht und insultiert. Der Skandal kommt vor Gericht, und man verurteilt nicht den Priester, der seine Würde geschändet

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hat, sondern die Bauern, weil sie den Archimandrit insultierten ! Die Priester dürfen die wundertätigen Heiligenbilder aus den Kirchen und Klöstern in Privathäuser schleppen, um Sauf- gelage im Zeichen der Heiligen festlich zu gestalten. Der höchsten Geistlichen bemächtigt sich eine erotische Raserei, die sich in den gräßhchsten Flagellationstollheiten austobt. Der Bischof von Wjatka, Warlam, peitscht eigenhändig die An- gestellten seiner Kirche bis aufs Blut, wenn der sinnliche Koller ihn in Aufruhr bringt; der Bischof von Archangelsk, Warso- nofij, benützt den Umstand, daß in seiner Verwaltung ein kleiner Mangel entdeckt wird, um seiner Lust zu Züchtigungen freien Lauf zu lassen ; er beruft den ganzen ihm unterstehenden Klerus vor die Pforte der Kirche und zwingt die Schuldigen mit nackten Füßen eine Stunde lang in tiefem Schnee zu stehen; Warsonofij, ein Todfeind aller Bildung und Kultur, schlägt seine Priester bei jedem Anlaß und läßt sie wegen des geringsten Vergehens an die Kette schmieden. Der Bar- bar ist aber nicht unerbittlich grausam : ein Fäßchen Wein oder Schnaps zähmt seine Wildheit, und die Klugen sichern sich auf solche Art von vornherein vor der Wut des hochwürdig- sten Vaters. 1) In einer solchen Zeit konnte die schauerliche Männertöterin Gräfin Darja Saltykow ihr Wesen treiben, die, was die Legende von einer mythischen Königin erzählt, in Wahrheit am Ende des achtzehnten Jahrhunderts vollführte : die Liebhaber, an denen sie sich gesättigt, ließ sie umbringen; und sie konnte Jahre hindurch ungestraft bleiben, weil der Klerus nicht bloß sie schützte, sondern an ihren Mordtaten und blutigen Orgien teilnahm. Erst mehrere Jahre nach dem Tode der Zarin Elisabeth, unter Katharinas II. Regierung, wagte man dieses blutdürstige Ungeheuer vor Gericht zu schlep- pen und die Schandtaten des vertierten Weibes in breiter Öffentlichkeit zu verhandeln. Der Prozeß dauerte lange Jahre ; man stellte die Zahl der Opfer mit 130 fest. Von wievielcn Verbrechen mag man nach so vielen Jahren aber nichts mehr

1) Diese Schandtaten sind nicht von Ausländern, sondern von Russen erzählt, von Snamierski und Schachowskoj. Man vergleiche die Zeitschrift ..PvcKiiH rrapiiira 1878", S. 185 190.

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erfahren haben. Unter den Opfern der Wollust und Grausam- keit der Saltykow waren beide Geschlechter vertreten, und ne- ben Männern und Frauen figurierten auch zwölfjährige Kinder. Die Toten konnten nicht mehr gegen ihre Mörderin zeugen, aber von Opfern, welche die von diesem Weibe erdachten Martern überstanden hatten, erschienen noch fünfundsiebzig vor Gericht um die Saltykow anzuklagen. Die meisten Opfer hatte sie sich aus ihrem Gesinde und aus ihren Leibeigenen geholt. Und was war die Strafe, die sie jetzt ereilte ? Katharina dachte gar nicht daran, vollständige Justiz zu üben es war doch eine Aristokratin, die die Verbrechen begangen hatte, und nur Leibeigene waren die Opfer. Die Gräfin Saltykow wurde also bloß zu ewigem Gefängnis verurteilt; sie zu züchtigen, wie sie selbst gezüchtigt hatte, dazu konnte sich die Freundin der französischen Philosophen und Enzyklopädisten nicht auf- raffen. Aber die Helfershelier des Ungeheuers waren nicht Mitglieder einer bevorzugten Klasse, und ihnen durfte voller Lohn zuteil werden : die Diener der Gräfin, die selbst unter der Zuchtrute der Tyrannin stehend zitternd ihre Befehle voll- führten und die Opfer zu Tode geißelten; und der Pope, der den Erschlagenen ein kirchliches Begräbnis zukommen ließ und an ihren Gräbern das Märtyrerkreuz aufpflanzte -- diese Übeltäter wurden auf offenem Platze in Moskau geknutet ! Die Folgen solcher Demoralisation, einer so unglaublichen Verwirrung aller sittlichen Begriffe sind noch heute zu spüren. Man hat in Rußland, wo schon früher kein hohes Verständnis für Moral und Recht vorhanden war, sich seither auf ein einigermaßen sittliches Niveau nicht mehr hinaufzufinden ver- mocht. Namentlich die Klöster, und im besonderen die Frauen- klöster i), blieben seit dem Elisabethischen Zeitalter die Heim- stätten wilder Sittenlosigkeit. Alle tiefen Kenner des Ruß- land im neunzehnten Jahrhundert bestätigen, daß bei der Klostergeistlichkeit im verflossenen Säkulum die sinnlichen

1) Ist das nicht bloß für Rußland, sondern im allgemeinen gültig für die Länder der orthodoxen Religion? In den Balkanländern stehen die Frauen- klöster ebenfalls im schlechtesten Rufe, und von rumänischen Frauenklöstern ist es den Reisend-en bekannt, daß man dort eine Gastfreundschaft wie in Bordellen genießen kann.

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Ausschweifungen an der Tagesordnung waren i), daß dort die gräulichste Sittenverwilderung herrscht. Der vielangefeindete, aber als Zeuge in Sittenfragen durchaus nicht unverläßliche Custine^) sagte bei Schilderung der russischen Klostersitten: „Ces faits rappellent un peu notre litterature revolutionnaire de 1793: vous vous croirez aux Visitandines de Feydeau." Ich aber muß hier nochmals wiederholen : kein Ausländer hat so furchtbares Material gegen die russische Geistlichkeit zu- sammentragen können, als in den russischen Selbstanklagen enthalten ist, welche wir sowohl in der russischen Kirchen- geschichte, bei den Chronisten und Historikern von Nestor bis Karamsin und Ssolowjew, als in den russischen Zeit- schriften, namentlich in ,,Russkaja Starina", die sich die Er- forschung der Vergangenheit zur Aufgabe macht, turmhoch aufgehäuft finden. Wir meinen schon das Gräßlichste erfahren zu haben, da wir den Fall der Gräfin Saltykow kennen lern- ten; und dann wird uns Kenntnis davon, daß um ein Jahr- hundert später, zu einer Zeit also, wo Rußland sich nicht nur als europäisch betrachtete, sondern Europa förmlich zu bedrohen und beherrschen begann, in einem russischen Frauen- kloster solches sich ereignen kann: Ein junger Mann wird einen Monat lang von den Nonnen festgehalten und in wilder Gier durch J^iebesdienste zu Tode erschöpft. Er wird zuletzt so schwach, daß er nicht mehr imstande wäre, sich aus dem Kloster fortzubewegen. Siecht er langsam in den Mauern des gottgeweihten Gebäudes dahin, so kann es zu einem Skandal kommen. Da beschließen die frommen Schwestern dem Übel vorzubeugen und vollenden das Werk, das der Tod zu lässig betreibt. Der Ermordete wird dann in Stücke zerschnitten und in einen Brunnen versenkt. Ein Fall, wie ihn die blutigste Phantasie eines hirnverbrannten Kolportageroman- schreibers nicht schauerlicher ersinnen könnte. Und dieser Fall ist der Wirklichkeit des russischen Lebens entnommen,

1) Menschen und Dinge in Rußland, Anschauungen und Studien, Gotha 1856. Der nicht genannte Verfasser ist F. Leizmann, er lebte lange Jahre im Zarenreiche.

2) a. a. O, III 355.

1-52

und nicht einmal ein vereinzelter, sondern wieder nur einer für viele.

Wäre es da seltsam, wenn die heidnischen Völker in Ruß- land nicht gesitteter wären als die herrschende Rasse ? Bei den Kalmücken zum Beispiel ist dem Klerus der Zölibat eben- falls zur Pflicht gemacht; und auch bei diesem barbarischen Volke sucht sich die ehelose Geistlichkeit durch Ausschweifun- gen für die gesetzlich ihr aufgezwungene Enthaltsamkeit schad- los zu halten. Doch wir sehen, daß nur die Mandschi und die Gätzuln, also die niedersten Priester, der Versuchung zu er- liegen pflegen, während die Obergeistlichen im allgemeinen ihrem Stande keine Schande machen, i) Aber selbst für die Sünder gibt es hier eine Entschuldigung. Denn die kalmücki- schen Frauen sollen dem Umgang mit den Geistlichen aus einem gewissen religiösen Grunde geneigt sein, weil sie durch solchen Geschlechtsverkehr einen Anteil an der Heiligkeit des geistlichen Standes zu erlangen glauben. Es wird die Un- sittlichkeit also zu einer Kulthandlung und sie darf nicht mit dem Maße strenger Moral gemessen werden. Bei der russi- schen Geistlichkeit fällt der Mantel der Scheinheiligkeit fort, und die brutalste Sinnlichkeit und Unsittlichkeit stehen in völliger Nacktheit vor unseren Augen. Die Russen haben sich die Rolle der Zivilisatoren Asiens angemaßt, wir aber erkennen, daß dort die Wilden noch immer die besseren Menschen sind.

1) Bergmann, Nomadische Streifereien unter den Kahnücken II 288.

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9- Heiligenkult und Mystizismus.

Russisches Christentum und Schamanismus Geisterglaube und Heiligen- verehrung — Pässe für den Himmel Schaffung und Absetzung von Heiligen durch Ukas Die Heiligen Ilja Nikolaj, der Thronfolger Gottes Die Heiden und der heilige Nikolaj Andreas Georg Alexander Newskij Leben und Wunder des heihgen Ssergej Ikone Wallfahrten und Unzucht Herrscher und Heiligenbilder Bilderdienst und Mystizismus Ursachen des russischen Mystizismus Khma und Natur Mystizismus des Muschik und der Städter Der Mystizismus der Herrscher Iwan der Schreckliche Peter der Große Nikolaj I. und Alexander III. Paul I. und Alexander I. Alexander II. und Nikolaj II. Die mystischen Dichter Tolstoj Dobroljubow Der Einzeilendichter Brjußow.

Leroy-Beaulieu stellt in seinem großen Werke über Ruß- land i) die Fragen: Ist das russische Volk tatsächlich religiös? Ist es in Wahrheit christlich ? Verdient der unklare rohe Glaube des Muschiks überhaupt den Namen Religion? Entstammen seine verworrenen Lebens- und Weltanschauungen dem christ- lichen Bekenntnisse ?

Auf alle diese Fragen haben wir schon in den bisherigen Abschnitten trostlos klare verneinende Antwort erhalten. Je weiter wir fortschreiten in der Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Rußland^ desto dichter die Finsternis, die uns auf allen Seiten umgibt ; desto undurchdringlicher die Schatten, die jedes Gebiet unseres Planes bedecken ; desto hoffnungsloser die Sehnsucht nach einem einzigen Lichtblitz der Aufklärung, nach einem noch so winzigen Ausblick in ein minder trauriges Kapitel. Endlos wie die russische Steppe dehnt sich die Ge- schichte der russischen Leiden und Laster; und die Religion, sonst die erhebende Trösterin im Jammer des Einzelnen wie der Völker, ist in diesem unglückseligen Reiche, bei diesem- sittlich verkommenen Volke zugleich Grundlage und Krönung aller Übel. Das russische Christentum muß nicht bloß als ein primitives, sondern geradezu als ein Glaube bezeichnet werden, der sich von dem alten slawischen Heidenglauben gering unterscheidet; es ist ihm nichts anderes gelungen als den

1) III 26.

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Namen zu wechseln, das Wesen der Gedanken und die Formen des Kultus sind fast unverändert geblieben oder nur durch Zusätze mongolischen Aberglaubens ergänzt worden. Bei den Ainos im äußersten Osten, die von der Kultur noch kaum berührt sind, ist das Schamanentum beinahe schon verschwun- den; man kennt heute vielleicht nur drei oder vier Männer i), welche dort diese uralte Kaste noch im zwanzigsten Jahrhundert vertreten. Bei den Russen aber spielen die Priester alle nichts anderes als Rollen von Schamanen, und die Zeremonien, die sie üben, sind voller Anklänge und Anlehnungen an die scha- manistischen Zauberkunststücke. Der Glaube der Schamanen- völker ist ein Geisterglaube. 2) Er beruht in der Meinung, daß die Seelen der Verstorbenen als Gespenster durch die Lüfte und über die Schneefelder fliegen. Diese Geister hausen in dunklen Tannenwäldern, Felsenklüften und iVbgründen. Die heftigen und verderblichen N'iturerscheinungen, Mißwachs und Seuchen, plötzliche Krankheiten, Epilepsie, Raserei einzelner Individuen werden dem Einflüsse solcher Geister zugeschrieben. Der russische Heiligenglaube ist kaum etwas anderes als der Geisterglaube der Schamanenvölker. Man fürchtet sich vor der Rache der Heiligen, bemüht sich um ihre Gunst, macht das Christentum zu einem Fetischdienst ; versagt der angerufene Heilige, so zürnt man ihm, entreißt, um ihn zu strafen, seinem Bilde die Geschenke und spottet des trügerischen unverläß: liehen Halbgottes mit dem Sprichwort 3) : ,,Er taugt nicht dazu, daß man ihn anbete ; er taugt um Töpfe damit zuzudecken." Der größte Teil des russischen Volkes kennt nicht Gott,

1) Labbe, Un bagne russe, l'ile de Sakhaline, Paris 1903, page 196.

2) Stuhr, Die Religionssysteme der heidnischen Völker des Orients, S. 250. Vgl. Julius Lippert, Allgemeine Geschichte des Priestertums (2 Bände), Berün 1883, I 250. Lippert hat in seinem Werke „Die Religionen der euro- päischen Kulturvölker", S. 91 ^^109, auch eine interessante Darstellung der altslawischen Religion. Kurz und lichtvoll sind die Abhandlungen von Jo- hannes Scherr, Geschichte der ReUgion, Leipzig 1857, I. Buch Seite 17, ^S, 43, 47 und II 255. Über den Schamanismus der Samojeden und Tungusen sehe man die Stellen bei Le Bruyn a. a. O. III 31, 365 u. a. oder bei Pallas a. a. O.; endlich M. 3a6bLiinri., pyccKifi Hapo3:b, MocicBa 1880, 256—259.

') ,,He ro,-;nTi.c« Bory mo.iiiti.ch, ro.iiiTbcn ropiuKii noKpuBaxb". Leroy- Beaulieu III 35, Note der Übersetzer.

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sondern bloß die Heiligen; nicht die Religion, sondern die Reliquien. Heilige und Reliquien sind ohne Zahl, vermehren sich mit jedem neuen Jahre. Zur Schaffung eines neuen Heili- gen bedarf die Geistlichkeit allerdings seit jeher der Bewilli- gung des Herrschers 1) ; aber Fürsten und Großfürsten, Zaren und Kaiser gaben stets ihre Zustimmung, sobald sie nicht nur durch bloße Gerüchte und Erzählungen des Volkes, son- dern ,, durch glaubwürdige Zeugnisse von der Wahrhaftigkeit der Wunder überzeugt" worden waren; dann erteilten sie auch sofort den Befehl, den neuen Heiligen und die von ihm er- fahrenen Wunder allgemein bekannt zu machen, die Glocken zu läuten und Dankgebete zu singen; und die Siechen, die bei den bisherigen Heiligen keine Rettung gefunden, strömten hoffnungsvoll von allen Seiten zu den Gebeinen des neuen Heiligen. So ließ Kaiser Paul durch die Petersburger Zeitung vom 7. Dezember 1798 seinem Volke folgendes mitteilen-): ,,Im Jahre 1796 wurde in der Eparchie von Wologda, in dem Kloster Ssumorin in der Stadt Trotma, ein Sarg entdeckt, in dem sich ein Leichnam in Mönchskleidern befand; dieser Mönch war im Jahre 1568 gestorben und begraben worden, aber sowol seine Leiche wie seine Kleidung sah man völlig unversehrt. An den Buchstaben, die in die Kleider ein- gestickt waren, erkannte man in dem Leichnam den Körper des hochgelobten Feodosius Ssumorin, Stifters und Superiors des Klosters, der schon bei seinen Lebzeiten durch die Wun- der, die er verrichtet, für einen Heiligen gehalten worden war. Der heilige dirigirende Synod stattete über diesen Vorfall Seiner Kaiserlichen Majestät allerunterthänigsten Bericht ab; worauf folgender Ukas erlassen wurde : Wir sind durch einen Spezialbericht des heiligen Synods benachrichtigt worden, daß man in dem Kloster Spaßo-Ssumorin die wunderthätigen Ge- beine des hochgelobten Feodosius Ssumorin entdeckt habe; diese wunderthätigen Gebeine sind dadurch ausgezeichnet, daß

1) Karamsin, deutsche Ausgabe VII 175.

2) Zuerst reproduziert in den ,,Geh. Nachrichten über Rußland" (von Masson), Paris 1800, II 143; wiederholt in den „Geheimnissen von Rußland", 1844, I 311 Anmerkung.

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ein jeder Kranke, der sich ihnen mit vollem Vertrauen nähert, sich der glücklichsten Genesung zu erfreuen hat. Also können Wir die Entdeckung dieser heiligen Gebeine für nichts Anderes halten, denn als sichtbares Zeichen dafür, daß Gott Unsere Regierung mit gnädigen Blicken ansieht. Dafür steigt Unser heißes Gebet der Dankbarkeit zu dem höchsten Gnadenspen- der empor, und Wir tragen Unserem heiligen Synod auf, Unserem ganzen Reiche diese höchst merkwürdige Entdeckung bekannt zu machen, nach den Gebräuchen, die von der heiligen Kirche und den heiligen Vätern dafür vorgeschrieben sind." Der Zar kann aber nicht bloß Heilige ernennen, sondern auch absetzen : Beim Öffnen der Gruft eines Metropoliten von Now- gorod fand man den Leichnam unversehrt. Das Wunder wurde vom heiligen Synod dem Kaiser mitgeteilt, und dieser entschied, daß der vom Himmel so sichtbar begnadet gewesene Prälat auch bei den Irdischen den Heiligenschein verdiene. i) Man packte die Glieder des Heiligen in ein Reliquienkästchen, aber da zerfielen sie plötzlich in Staub. Darob große Bestürzung, und der Kaiser befahl eine strenge Nachforschung betreffs des Lebenswandels des Heiligen. Der neue Bericht stellte fest, daß der Metropolit Zeit seines Lebens ein lasterhafter Mensch gewesen. Der erzürnte Kaiser begnügte sich nicht, den Heiligen feierlich wieder abzusetzen, sondern verordnete die Verbannung des Leichnams nach Sibirien!

Die Heiligen sind den Gläubigen so gütig gesinnt, daß sie ihnen auch Pässe für die andere Welt zurück lassen, die dann hunderttausendfältig kopiert werden und in allen Zeiten Gültigkeit behalten; die Popen und Bischöfe verkaufen solche Pässe um ein Geringes. Ein derartiger Paß, dessen Original vom Metropoliten von Kijew am 30. Juli 1541 geschrieben wurde, und dessen wundertätige Abschriften sich noch heute besonderer Nachfrage erfreuen, hat folgenden W^ortlaut^j: „Ich bekenne und bezeuge, daß der Inhaber dieses Briefes immer

1) Marmier, Rußland, Finnland und Polen. Nacherzählt in „Geheim- nisse von Rußland", I 310.

2) Zuerst übersetzt in ,, British and Foreign Review", July 1839. Vgl. Marmier II 42 Anmerkung.

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als wahrer Christ unter uns gelebt und die orthodoxe Religion bekannt hat; obwohl er manchmal fehlte, erhielt er, nachdem er seine Sünden gebeichtet, die Absolution, die Kommunion und die Vergebung seiner Sünden. Er hat Gott und die Heiligen verehrt, in den von der Kirche angeordneten Stunden und Zeiten gefastet und gebetet und sich sehr gut mit mir, seinem Beichtiger, vertragen, so daß ich keinen Anstand nahm ihn von seinen Sünden loszusprechen und keinen Grund habe mich über ihn zu beschweren. Demzufolge wurde dem In- haber dieses Briefes gegenwärtiges Zeugnis ausgestellt, damit der heilige Petrus, wenn er ihn sieht, ihm die himmlische Thür öffne."

Der jüngste russische Heilige ist Seraphim, ein 1833 ge- storbener Mönch, der im Jahre 1903 vom Zaren Nikolaj II. zum Heiligenrange erhoben wurde. Der heilige Seraphim, Be- gründer des Diwejewklosters im jetzigen Wallfahrtsorte Ssa- row bei Nischny-Nowgorod, hatte durch seine unversehrt gebliebene Leiche sieben Jahrzehnte nach seinem Tode solche Wunder zu wirken begonnen, daß Kaiser Nikolaj 1902 eine Spezialkommission zur Untersuchung der merkwürdigen Vor- fälle einsetzte. Diese Kommission stellte fest, daß der Leich- nam bereits 94 Wundertaten vollführt hatte, die genügend bezeugt werden konnten. Am 7. August 1902, am Geburts- tage des Mönchs Seraphim, beendete die Kommission ihre Forschungen. Auf den Bericht der Kommission antwortete der Kaiser mit dem an den Heiligen Synod gerichteten Wunsch, daß Seraphim heilig gesprochen werden möge. Am 24. Januar 1903 überreichte der Synod dem Kaiser die Entscheidung, daß Seraphim als Mitglied in die Gemeinschaft der Heiligen aufgenommen wurde. Der Kaiser schrieb an den Rand dieser Entscheidung : ,,Mit aufrichtiger Freude und tiefer Bewegung gelesen" ; und im ,, Regierungsanzeiger" erschien folgender Kommentar : „Der Heilige macht die Lahmen gesund und heilt die Blinden. Fünfzehn Krücken wurden am Ufer des Flüß- chens Ssarowka von geheilten Gläubigen unter Dankesgebeten verbrannt. Schwer aber weiß der Heilige die Ungläubigen zu strafen. In Stepurino, einem Dorfe im Kreise Bogorodskij, beschlossen die Bauern am Tage des heiligen Seraphim keine

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Feldarbeit zu tun. Ein Raskolniki) namens Ssitnow erklärte, er werde seine Arbeit dem heiligen Seraphim zu liebe nicht vernachlässigen. Kaum hatte der Frevler dies gesprochen, als er zu schwanken begann und zur Erde stürzte. Als man ihm näher trat, war er schon tot. Selbst die Ungläubigsten, die Ssitnow bloß für betrunken hielten, wurden eines Besseren belehrt; denn schon nach drei Stunden ging die Leiche in Verwesung über. Dieses Ereignis machte auf alle Anwesenden einen erschütternden Eindruck. Kaiser Nikolaj schenkte einen kostbaren Reliquienschrein für die Gebeine des Heiligen, die Zarin Alexandra stickte eigenhändig die Decken dazu und auf kaiserliche Kosten wurde eine Verherrlichungsfeier in der Ssa- row- Wüste veranstaltet. Als im Kriege mit Japan die Dinge für Rußland eine schlimme Wendung nahmen, wallfahrtete die ganze zarische Familie nach Ssarow, um die Hilfe des Heiligen anzurufen. 2)

Die vornehmsten russischen Heiligen sind Nikolaj, Alexan- der Newskij, Andreas, Georg, Ssergej, Ilja, Michael, Wlaßj.^) Sie teilen sich alle in die Erbschaft nach den alten Heiden- göttern. Von Wlaßj als Nachfolger des heidnischen Herden- gottes Woloß habe ich schon in dem Kapitel über Aberglauben gesprochen. Der alte Perun, der Gott des Blitzes und des Donners, lebt fort im heiligen Ilja oder Elias ; wenn es donnert, rollt nach Meinung des Muschik der Wagen des Propheten über die Wolken; Ilja beherrscht Sturm und Hagel, und feiert man ihn nicht genügend, so vernichtet er die Ernte. Im Gegen- . satze zu diesem häufig zürnenden Ilja steht der gütige Nikolaj ; das ist der wahre russische Nationalheilige. Er ist stets dienst- fertig und hilfreich, behütet die Kinder, beschützt die Matrosen, die Pilger, alle Notleidenden. Fast jeder Russe trägt das Büd

1) Sektierer.

2) Bernhard Stern, Die Romanows, 3. Auflage, Berlin 1906, II 28 1.

3) Vgl. die Werke (in russischer Sprache) von Kostomarow, Gemälde des häuslichen Lebens und der Sitten des russischen Volkes im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert; Goltzew, Die Gesetzgebung und die Sitten Ruß- lands im achtzehnten Jahrhundert; Miljukow, Skizzen zur Geschichte der russischen Literatur,. Petersburg 1899. Ferner: Lero3'-Beauheu a. a. O. in 33; Geheimnisse von Rußland I 318; Marmier I 272, II 5.

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Nikolajs bei sich. Der Soldat stellt sich unter den Schutz dieses Heiligen, der Postknecht treibt nicht die Rosse an, ehe er sich nicht dem heiligen Nikolaj empfohlen hat. Ist jemand in seinen Unternehmungen vom Glücke begünstigt, so verdankt er dies dem heiligen Nikolaj. Dann kommen die Nachbarn herbeigelaufen und wollen sich von dem, der so sichtbar in des Heiligen Gunst steht, das wundertätige Bild ausleihen, er aber gibt es ungern her. In den Spielhöllen, Wirtshäusern und Bordellen fehlt niemals ein Bild Nikolajs. An den Toren des Kreml sind die Bilder dieses Schutzpatrons sowie des Erlösers angebracht, und keiner geht vorüber, ohne hier seine tiefste Ehrfurcht zu bezeugen; diese Bilder ver- dienen besonderen Dank: Als im Jahre 1771 Moskau von der Pest verheert wurde, strömte das Volk in Massen zum Kremltore, um des Erlösers und des Heiligen Nikolaj Gnade zu erflehen; der Bischof, der in dem Zusammenströmen großer Mengen in der Zeit der Epidemie eine Gefahr der Ansteckung erblickte, wollte die Bilder entfernen lassen. Das erzürnte Volk erschlug den Bischof auf der Stelle. Die Moskowiter wurden dafür, daß sie die Bilder vor dem gottlosen Bischof beschützt hatten, belohnt; denn bald nach diesem Vorfall er- losch die Pest. Das Bild des Erlösers hatte schon früher Mos- kwa von den Tartaren befreit; als die Barbaren in den Kreml eindringen wollten, sah das Erlöserbild sie so furchtbar drohend an, daß sie sofort die Flucht ergriffen und vor Schrecken nicht einmal zurückzuschauen wagten. Die Franzosen gaben sich im Jahre 18 12 umsonst alle Mühe dieses Bild zu zer- stören. Auch vom Bilde des heiligen Nikolaj, das sich am Kremltore befindet, wird das Wunder berichtet, daß es bei der großen Explosion im Jahre 1812 samt seinem Glase un- versehrt blieb, während das Arsenal in Trümmer sank und die Wälle des Kremls barsten. Nach dem Volksglauben der Russen wird Nikolaj dem lieben Gott, wenn dieser alt ge- worden sein wird, im Regiment folgen. Die Heidenvölker Sibiriens und die Mongolen sehen schon jetzt im heiligen Nikolaj den eigentlichen Russengott und bekehren sich nicht zu Christus, sondern zu Nikolaj, abgekürzt Kolla. Bei den Sibiriern ist Nikolaj der Gott des Ackerbaues und des Bieres,

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Die finnisch-tartarischen und türkischen Stämme Rußlands, die das Christentum angenommen haben, beten nur zu Nikolaj ; die Tschuwaschen an der Wolga, welche von den Popen be- kehrt wurden, beschränken ihr junges Christentum auf Pilger- fahrten zu den Heiligentümern, welche Nikolaj geweiht sind. Aber auch die Heiden, welche fast ganz in ihren alten Ge- bräuchen verharren, wie die Wotjäken und Ostjaken, verehren Nikolaj wie einen mächtigen Schutzgott. Die Mongolenstämme schrieben das Anwachsen Rußlands der Macht des russischen Spezialgottes zu, und da sie beobachteten, daß die Russen am meisten den heiligen Nikolaj verehrten, so hielten sie ihn für den Gott der Russen und führten, um desselben Glückes wie letztere teilhaftig zu werden, den Nikolajkult ein. Ähn- lich haben die Lappen i) Bilder der christlichen Dreieinigkeit unter ihre Zauberzeichen aufgenommen. 2)

Vom heilig-en Andreas erzählt die russische Kirchenge- schichte, daß er sich zur Zeit, als sich die griechische Kirche von der lateinischen trennte, in Rom auf einem Mühlstein einschiffte und statt des Ruders ein Schilfrohr benützte, das im Augenblicke, wo es der Heilige ergriff, zu Stein wurde. Die Kleider und Kirchengewänder schwammen dem Mühlstein nach. Diese merkwürdigen Transportstücke sind als Reliquien in Nov/gorod zu sehen. 3) Der heilige Georg ist neben dem heiligen Wlaßj Beschützer der Herden; sein Fest am 23. April ist das Frühlingsfest der Russen. Alexander Newskij ist der Heros unter den Heiligen ; er hat als ein furchtbarer Tyrann in Nowgorod gewütet und gilt namentlich al'? Schutzherr des Heeres. Eine besondere Erwähnung verdient schließlich der heilige Ssergej, der Stifter des berühmtesten russischen Klosters Troitzka bei Moskau. Er lebte im vierzehnten Jahr-

1) Gunner, Knud Leems Nachrichten von den Lappen, Leipzig 1771, S. 233.

2) Und ganz so, sagt Lippert (Geschichte des Priestertums I 255), hatten die Tahitier gehandelt als sie sich den stärkeren Gott von Bolabola holten.

3) Man verwechselt manchmal die Erzählungen über Andreas und die über Nikolaj und berichtet von letzterem die Falirt auf dem ^Mühlstein. Vgl. erstes Kapitel (,,Die russische Kultur") S. 6 das Zitat aus der ,, Reise nach Norden".

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hundert. Aus einer Rede des Metropoliten Philaret über das Leben des heiligen Ssergej i) erfahren wir, daß dieser Heilige schon im Mutterleibe alle Gebote der Kirche kannte. Während ihrer Schwangerschaft ging seine Mutter in die Kirche; als der Priester das Evangelium las, stieß das Kind im Mutter- leibe einen so lauten Schrei aus, daß es die ganze Gemeinde hörte ; dies wiederholte sich nach der Kommunion. Als Säug- ling weigerte sich Ssergej, an Fasttagen an der Brust seiner Mutter zu trinken. Im schulpflichtigen Alter sandte man den kleinen Heiligen zur Schule, aber er konnte die. weltlichen Wissenschaften nicht verstehen; vergebens züchtigten ihn die Lehrer, er lernte weder lesen noch schreiben. Dann aber gab ihm ein Mönchgreis ein Stück geweihtes Brot, und sofort konnte Ssergej die Psalmen lesen und sich dem Studium der heiligen Schrift widmen. Später zog er sich als Einsiedler in einen Urwald zurück und baute zu Ehren der Troitza, der Dreieinigkeit, eine schlichte Hütte an der Stelle, w^o heute das stolze Kloster steht. Durch seine Wunderwerke machte Ssergej das Kloster früh zu einer Wallfahrtsstätte. Als der Heilige einmal Durst hatte, segnete er ein paar Regentropfen, und daraus entsprang der Bach, der noch jetzt hier fließt. Der Heilige konnte nicht bloß Rasende zähmen, sondern auch Tote erwecken. Und seine Wundertätigkeit dauerte nach seinem vor fünf Jahrhunderten erfolgten Tode fort. Als man 1421 seine Leiche aus dem Sarge nahm, um sie in einem. Reliquienschrein aufzubewahren, war sie völlig unversehrt. Die Feinde, ob Polen ob Tartaren, vermochten das Kloster nie zu erstürmen; Pest und Cholera machten an den Toren dieses Heiligtums Halt. Hinter seinen Mauern suchten viele Herr- scher Schutz oder Ruhe; Peter der Große rettete sein Leben vor den Dolchen der Streljzen durch die Flucht ins Troitzka- kloster.

Die Heiligenverehrung überschreitet in Rußland alles Maß und wird zu einem wahren Polytheismus. Noch heidnischer als die Anbetung der Heiligen selbst ist der Kult, der mit den Heiligenbildern getrieben wird. Der von mir schon früher

1) MofKBa 1822. Vgl. Marmier II 6. Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Ru&hnd.

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erwähnte Wiener Prälat Johann Faber zwar schrieb im ersten Viertel des sechzehnten Jahrhunderts von dem russischen Bilderdienste 1) : ,,Die Heiligenbilder sind bei ihnen nicht so wenig respektiert oder gar verachtet, wie man dies bei uns sieht als Kontrast zu aller Pietät, als Folge der Streitigkeiten unserer Zeit." Dagegen lesen wir in dem Buche über die Religion der Moscowiter von Anno 17 122): ^,Sie rühmen sich / daß sie das Bildniß Maria der Mutter Gottes vom heiligen Apostel Luca gemahlet haben / und sie sagen / die heilige Jungfrau habe befohlen / es solte in der Stadt Moscau auffgehoben und verwahret werden. Basilides sagte : So lang als dieses Bild in unser Residentz-Stadt wird behalten werden / wird die Christenheit nicht verunruhiget werden. Dieses Volck glaubet festiglich / daß alles was man ihnen von diesem Bilde öffentlich gesagt / unstreitig wahr sey / so daß man / wenn einer das geringste darwider sagte / demselben die Zunge ausreissen / und ihn hernach lebendig verbrennen würde. Basilides hat die Ordnung der Bilder gestifftet / und denen Moscowitern die Weise gelehret / sie / nach der Stelle / die sie haben sollen / zu setzen. Er setzet in die erste Stelle das Bildniß unsers HErrn Jesu Christi / in die andere das Bild der Jimgfrau der Mutter GOttes / und her- nach den himmlischen Hauffen und alle Heiligen / welche / nach ihrer Meynung / die Seeligkeit der Menschen zu wege bringen / und ihnen zu Hülffe kommen. In der Stadt Mos- cau sind diese Bilder an einem gewissen Orte / der Heiligen- und Bilder-Marckt genandt / zu vertauschen / denn sie sagen nicht / zu verkauffen. Die Moscowiter sagen / sie haben die Verehrung der Bilder vom heiligen Damasceno gelernet;

1) Außer den schon früher erwähnten Bildern des Erlösers und des hei- ligen Nikolaj sind besonders berühmt: Das Marienbild mit den drei Händen (der Maler hatte nur zwei Hände gemalt, aber über Nacht war auf dem Bilde eine dritte Hand aufgemalt worden, der Maler wischte die dritte Hand fort, sie kam immer wieder, und endlich erschien Maria und sagte: sie wolle mit drei Händen abgebildet sein, welchem Wunsche der Maler Folge leistete) und das kasanjsche Marienbild (einem Frommen in Kasanj erschien Maria im Traume, er erfaßte ihre Züge so lebhaft, daß er sie am andern Tage malte, obwohl er bisher nie gemalt hatte).

2) Seite 55.

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und wollen gar nicht gestehen / daß solche Verehrung eine Abgötterey sey. Man findet hin und wieder in gantz Mos- cau viel solcher Art Heiligen; und weil man sich einbildet / sie haben die Krafft die Kranckheiten zu curiren / so gehet alle Jahr ein grosser Hauffe Volcks Processionsweise nach ihren Klöstern oder Kirchen / welches aber bey solchen an- dächtigen Verrichtungen viele Ueppigkeiten und grosse Un- ordnungen begehet / denn bey dergleichen Gelegenheiten hängen die Moscowiter dem Fressen / Sauffen und Huren sehr nach; sie begehen auch Mordtaten und andere dergleichen Laster." Peter der Große versuchte dem Unfug, der mit Heiligenbildern getrieben wurde, zu steuern und namentlich die Menge der Ikone zu vermindern. Als er in Asow ein Schiff bestieg, bemerkte er, daß alle Kabinen vollgestopft waren mit Heiligenbildern; jeder Mann hatte seinen Schutzpatron in zahlreichen Exemplaren mitgenommen. Der Kaiser erklärte: ,,Ein einziges Heiligenbild genügt für ein Schiff," und ließ alle anderen Bilder wieder ans Land schaffen. i) Peters Tochter Kaiserin Elisabeth gab jedoch dem Bilderdienste neuen An- stoß. Als Peter III. dem Beispiele Peters des Großen nicht bloß folgen, sondern es noch übertreffen wollte und Heiligen- bilder aus den Kirchen entfernen, den Erzbischof von Now- gorod, der sich der kaiserlichen Verordnung widersetzte, ver- bannen ließ, bereitete er sich damit selbst sein jähes tragisches Ende. Katharina die Zweite, die einstige Protestantin, wußte dem russischen Heiligenkult und Bilderdienste besser zu schmei- cheln, sie warf sich vor den Ikonen nieder, nahm Staub von dem geweihten Platze, auf dem die Heiligenbilder sich befanden, und bestrich damit ihre Krondiamanten.

1) Perry a. a. O. 215. In den Bemerkungen über Rußland, Erfurt 1788, II 227 wird erzählt. ,,Im Jahr 1718 hatte ein russischer Geistlicher in Peters- burg ein gewöhnlich Marienbild, das auf einmal Wunder zu tun anfing. Jeder, der dem Bilde sein Anliegen klagte, mußte natürlich etwas opfern. Peter schickte zum Geistlichen und sagte ihm, er möchte doch ein ihm beliebig Wunder in seiner Gegenwart vom Bilde verrichten lassen. Da gestand der arme Teufel den Betrug, daß er es des Gewinnstes halber getan habe. Zur eignen Beloh- nung und zur Warnung anderer wurde er in die Festung gebracht, mit harter Leibesstrafe belegt und seines Dienstes entsetzt."

II*

tu

In innigem Zusammenhange mit dem Heiligenglauben und dem Bilderdienste steht der Mystizismus, der über Rußland liegt wie Rauch und Nebel ; der alle Klassen der Gesellschaft erfaßt ; vom Zarenhofe herniedersteigt in die Niederungen des Volkes, zu den Bürgern und Bauern, zu den Denkern und Dichtern, zu den Kaufleuten und Soldaten. Niemand ist von ihm aus- genommen, keiner kann sich ihm entwinden. Leroy-Beaulieui) bemerkt, daß der Mystizismus in Rußland mehr im Norden als im Süden zu Hause sei und der Isba des Landmannes vor dem Herrenschlosse den Vorzug gebe, weil der Muschik in- timer mit der Natur in Berührung kommt und die Natur des Nordens geheimnisvoller und melancholischer ist als die des Südens. Mit dem einen Teile dieser Bemerkung, soweit sie die räumliche Beschränkung aufstellt, stimme ich fast überein. Der Hang der Russen zum Mystischen ist nicht, wie andere meinten und beweisen wollten, ein einfaches Attri- but der Rasse, des slawischen Blutes, sondern viel eher ent- sprungen aus dem eigentümlichen Klima und Boden des Landes, aus dem scharfen Kontraste der Jahreszeiten, die denselben Mangel an Gleichgewicht aufweisen wie die Menschen dort, und die wie diese nicht fähig sind Maß zu halten. Die endlos langen Winternächte in den Schneewüsten ; die endlos langen Sommertage auf den geheimnisvollen Steppen, über die man tagelang ziehen kann, ohne einem menschlichen Wesen zu begegnen; die Abende im Dezember und Januar, wenn am schwarzen Himmel die Sterne in einem fast blendenden Glänze ■funkeln ; und die Abende im Juni, wenn der Äther einen wunder- bar durchsichtigen, phantastisch weitgedehnten Himmel sehen läßt -- das alles ist wohl geeignet, in der. Seele des Schauen- den und Erschauernden, des einsam ziellos Wandernden mystische Regungen wachzurufen; und es erklärt gewiß das geheimnisreiche Hindämmern des Russenvolkes, das willenlose Verharren in geistiger Untätigkeit und kulturellem Zwielicht. Aber, dieser Mystizismus beschränkt sich nicht bloß auf die Muschiks in den Isbas; man kann auch kaum sagen, daß er bei ihnen häufiger zu finden sei als in den übrigen Klassen

1) a. a. O. III 23.

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des russischen Volkes. Nur den einen Unterschied dürfte man zugestehen : daß er bei dem Muschik unbewußt vorhanden ist, bei dem Städter, im Herrenschlosse, im Zarenpalaste be- wußt vorherrscht ; daß der Muschik sich ihm gedankenlos unter- ordnet, daß ihn die anderen aber, wenn nicht zu bannen, doch zu verleugnen trachten, sich seiner schämen und ihm gern einen anderen Namen geben. Und diesen Mystizismus der Städter, Edelleute, Hofleute und Herrscher, der Intelli- genz und der Geistlichkeit, ihn kann man nicht mehr mit dem fatalistischen Achselzucken abtun, daß er das unabwend- bare Wiegengeschenk des Klimas und der Natur sei. Nein, dieser Mystizismus der Nicht-Muschiks ist die Folge der un- ermeßlichen historischen Leiden und Laster Rußlands. Er ist der schwarze Faden, der uns durch alle Irrgänge des Laby- rinths führt, welches Geschichte Rußlands, und für uns im besonderen die Geschichte seiner öffentlichen Sittlichkeit heif5t. Durch ihn irregeführt erhielten sich die Herrscher Rußlands auf dem blutigen Throne des Absolutismus ; und er ist es, der die Sklaven die Ketten klaglos tragen hieß. Die einen wie die anderen glaubten bis heute, daß es so imd nicht anders sein müsse und sein könne. Mit der Alleinherrschaft steht und fällt der Mystizismus. Darum waren alle russischen Zaren und Kaiser die ersten Mystiker in ihrem Reiche, und darum die Dichter und Denker die größten Nihilisten. Bei den Zaren der alten Zeit äußerte sich der Mystizismus, wie bei Iwan dem Schrecklichen als typischem Beispiel, bald in erotisch-neronischem Wahnsinn, bald in der Feigheit als Fröm- migkeit. Als Iwan der Schreckliche zur Eroberung von Kasanj auszog, wagte er nur Schritt um Schritt vorzudringen, hielt er in jedem Kloster und in jeder Kirche Rast, nicht um den Sieg des Heeres, sondern um den göttlichen Schutz für sein zarisches Haupt zu erflehen. Während er, endlich vor Kasanj angelangt, die Krieger in den Kampf schickte, blieb er angetan mit dem Kriegskleide bei seiner geistlichen Garde zurück und las zitternd Gebete. Als die Heerführer ihn baten, die ver- zagenden Truppen zu befeuern, entgegnete er: ,, Kämpfet nur, meine Helden, ich bete für euch ! Lasset mich nur der Gnade Christi teilhaftig werden, und ihr müßt siegen!" Bei den

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Romanows tauchen alle Herrscher, wie immer sie auch be- gonnen haben mögen, in einem mystischen Dämmer unter. Selbst Peter der Große, der Freigeist und Antichrist, endet als krankhafter Traumdeuter. Nikolaj I. flüchtet sich trotz seines sadistischen Zäsarenwahnsinns, trotzdem er sich als Gott fühlt, in schwierigen Fällen zu Hexen, um ihren Ratschlägen zu horchen und zu folgen; und verfällt zum Schlüsse religiöser Verfolgungswut. Der Mystizismus Alexanders 111., der sich anfänglich in einer Sehnsucht nach der Rückkehr zur Natur äußert und den Zaren den Wunsch aussprechen läßt: ,,Ich möchte der Bauernzar heißen und sein", wird endlich wie bei Nikolaj I. religiöse Verfolgungswut. Der erste Romanow, der fast gänzlich einem religiösen Mystizismus anheimfiel, war Paul. Im Gatschinaer Schlosse zeigte man die Stellen, wo der Kaiser in Gebet versunken und in Tränen aufgelöst zu knien pflegte; das Parkett wa»^ an diesen Stellen abgerieben. i) Pauls Liebschaft mit Katharina Nelidow war eine platonisch- mystische. Ein ähnliches platonisch-mystisch-religiöses Ver- hältnis bestand zwischen Pauls Sohne Alexander I. und Frau von Krüdener. Propheten und Wundermänner gehörten von allem Anfang an zu den Vertrauten des Kaisers Alexander I. Er ließ sich immer die Vorsehung künden und glaubte zeit- weilig göttliche Eingebungen zu empfaiigen. Der Kirchen- prediger Philaret wurde schnell Metropolit von Moskau, weil er durch seine Lehre, das Reich Gottes liege in den Menschen, in der mystischen Seele Alexanders L eine mitklingende Saite berührte. 2) Der Kaiser trat zu dem Skopzengott Peter Feodo- rowitsch in persönliche Beziehungen; die Kriegsjahre und die Errettung Rußlands aus der napoleonischen Not steigerten seine Hinneigung zum Mystizismus ; die russische Bmelgesell- schaft wurde begründet und Geistliche und Laien aJer Kon- fessionen, Mystiker, Freimaurer und Sektierer suchten deren Mitgliedschaft. Frau von Krüdener übte auf den krankhaften Herrscher einen solchcix Einfluß, daß er nach Zwiegesprächen

1) 3aniKwii CaCi^vOBa, PyccKifi Apxiim. 1869, 1877. IIIy.MnropcKii'i, Mapifl Geo;;opoijiia, C.-IIoTopoypn, 1892, I 357.

2) Schiemann, Alexander I. 413.

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mit ihr zerknirscht zu ihren Füßen sank und erst durch ihre Versicherung, daß ihm noch Hoffnung auf himmhsche Be- gnadigung winke, wieder aufgerichtet werden konnte. Diese Zwiegespräche dauerten häufig bis zwei Uhr Nachts. Dann sah man den Kaiser mit verweinten Augen aus dem Zimmer der AposteHn kommen. i) Die Reihe der pietistischen Schwär- mer im Hause Romanow-Holstein-Gottorp setzte sich fort in dem weinerHchen Heihgcnbildanbeter Alexander II. und endet vorläufig in dem weichlichen Nikolaj IL, der gleich Iwan dem Schrecklichen es vorzog, statt an der Spitze der Armee durch persönlichen Mut zu glänzen, durch Heiligenbilder und mystische Opfer den Sieg vom Himmel zu erflehen; der statt auf die brausenden Stimmen der Zeit zu hören, nur dem ge- heimnisvollen Flüstern des wundertätigen Joan von Kronstadt, den Ratschlägen von Zauberern und Wahrsagern lauscht.

Zu Zeiten Alexanders I. ging der Mystizismus vom Zaren und seiner Umgebung aus und ergriff die ganze Gesellschaft. Diesmal unter Nikolaj II. war es umgekehrt. Die Dichter des neueren Rußland, von Gogolj bis Tolstoj, sie waren es, die vor dem trostlosen Elend des russischen Lebens im Mystizismus Zuflucht suchten und mit ihren Poesien und Traktätchen das ganze Volk wie mit einem Nessusgewand umhüllten. Nikolaj IL bekennt sich selbst als Verehrer und Schüler eines Leo Tolstoj, der alle seine großen Dichtungen für nichts schätzt im Ver- gleiche zu seinen religiös-mystischen Predigten, in denen er die Rückkehr zum Urchristentum sucht und zur Überzeugung kommt : Nur dort sei es gut, wo es keine Kultur gebe. An dem heutigen Christentum übt Tolstoj die schärfste Kritik und sagt : der Mensch habe die Aufgabe sein Glück in seinem Inneren zu suchen; das Glück kann nur im einfältigen Gottesglauben und in der Rückkehr zur LZinfachheit des natürlichen L^rzu- standes gefunden werden, i) Ein großer Teil der modernen russischen Dichter ist mystisch-symbolistisch. Berühmt und berüchtigt zugleich wurde die Poetengruppe der sogenannten

1) Rußland was es war und was es ist. Eine bis auf die neueste Zeit fortgesetzte Geschichte Rußlands, Pest 1855, 208.

2) Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland, Berlin 1893, 51.

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Moskauer Symbolisten i), die einen eigenen Verlag ,, Skorpion" für ihre Erzeugnisse gründeten. Der Götze dieser Gruppe ist Alexander Dobroljubow, ein überaus origineller Geist, der in den Mystizismus eine scharfgewürzte geschlechtliche Un- moral mischt. Seine Anschauung, sein Denken und Fühlen faßt sein Biograph Iwan Konewskoj in folgenden Satz zu- sammen: ,,Er hat seine eigene Welt außerhalb der mensch- lichen Gedanken, außerhalb des Körpers und außerhalb des Verstandes. Sein Schaffen ist von den gewöhnlichen Sinnes- wahrnehmungen und von der gewöhnlichen Logik mit ihren Traditionen losgelöst." Noch mystischer als dieser Meister ist sein Schüler Walerij Brjußow, der nur ganz kurze Ge- dichte, am liebsten einzeilige verfaßt wie etwa dieses : ,,0 umhülle deine bleichen Füße !" Dann ein Gedankenstrich, und sonst nichts weiter. Lächelnd darf man aber m Rußland auch an solchen Erscheinungen der Literatur nicht vorüber- gehen, denn gewöhnlich werden sie, weil sie niemand versteht, Stifter von erotischen und religiösen Sekten, deren Bildung eine natürliche Folge des nebelhaften Mystizismus sein muß.

lo. Sektenwesen.

Geringe Kenntnis vom russischen Sektenwesen Gründe dafür Neuer Gesichtspunkt Sektenwesen und Erotik Anzahl der Sektierer Die frühesten Ketzereien Die Lehre des Bischofs Leon Unmoral der hohen Geistlichkeit Die Bogumilen Wie Sekten entstehen Die Strigolniki Ertränkung eines Ketzers Die jüdische Häresie Ihre Gründer und Lehren Des heiligen Joseph Schrift gegen die Ketzerei Die Beschneidung in Ruß- land — Ein Ketzer Metropolit Spaniens Autodafe als Muster für Rußland Bestrafung von Ketzern Scheiterhaufen in Rußland Fortsetzungen der jüdischen Ketzerei Der Jude Baruch und sein Schüler lebendig ver- brannt — Die modernen Subotniki und ihr Apostel Iljin Rothschild der Satansrabbi Verbrennung von Ketzern unter Peter dem Großen Die Mystiker Kuhlmann und Nordermann lebendig verbrannt Tanzende Ketzerinnen geknutet Verbrennung von Ketzerleichen Toleranz-Ukas Alexanders I. Ketzergesetze Nikolajs L Polizei und Gendarmen als Wächter der Kirche Klagen des Synod und der Mission gegen den Staat

^) Vgl. die von A. Wolynskij geschriebene Geschichte der russischen Poesie der Gegenwart (in russischer Sprache).

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Maßregeln Nikolajs II. Religion, Gesellschaft und Moral Entstehung des großen Raßkol Der Mönch Maxim Reformen des Patriarchen Nikon Inkonsequenz der Konzile Folgen davon Peter als Antichrist Peters Sittenlosigkeit, Ursache des großen Raßkol Der Trotz gegen die Kirche wird zum Hasse gegen den Staat.

Eine Geschichte der öffenthchen Sitdichkeit in Rußland wäre nicht denkbar ohne eine Geschichte des russischen Sekten- wesens. Schon Leroy-Beauheui) sagte : der Raßkol 2) mit seinen verschiedenen Sektenbildungen sei vielleicht das charakteristi- scheste Merkmal Rußlands, an dem man den moskowitischen Orient von dem europäischen Okzident zu unterscheiden ver- möge. Trotzdem ist gerade dieses Gebiet eines dernoch/dunkel- sten des russischen Lebens geblieben. An Versuchen es auf- zuhellen hat es nicht gefehlt, aber in diesem Falle begegnet der Forscher oft unübersteiglichen Hindernissen, weil es sich zum größten Teile darum handelt, die furchtbarsten Verbrechen aufzudecken, die in tiefster Verborgenheit verübt werden; Ver- brechen, bei denen nach den Geopferten auch die Henker, mit den blutigen Fanatikern auch die Zeugen verschwinden. Ich habe auf weiten Reisen durch Rußland, namentlich im Zen- trum, in den Ostseeprovinzen, entlang der Wolga, in Kaukasien, an den Küsten des Kaspi und Pontus Euxinus, also fast überall, wo die Hauptsitze der Sektierer zu finden sind, viele per- sönliche Beobachtungen gesammelt 3) und diese unermüdlich ergänzt durch Mitteilungen, die mir aus zahlreichen russischen Quellen zuflössen, sowie durch Notizen aus der gesamten vor- handenen Literatur, sowohl aus den Schriften russischer als aus jenen europäischer Forscher^) ; und so darf ich wohl sagen.

1) a. a. O. III 312.

2) PacKO-TB, eigentlich Riß oder Spalte, bedeutet Sekte, Ketzerei, Schisma. Dieses Hauptwort stammt vom Verbrnn pacKO.iOTt oder pacicaiUBaTh, zerhauen, zerspalten oder trennen.

3) Vgl. Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland, S. 91 ff.

*) Ich zitiere nachstehend die wichtigsten Quellen. Von russischen: Murawjew, Geschichte der russischen Kirche, Karlsruhe 1857; Philaret, Die Kirche Rußlands, Frankfurt a. M. 1872, zwei Bände; Basarew, Die russisch- orthodoxe Kirche, Stuttgart 1873; die nur in russischer Sprache erschienenen Werke von Makarij, Schtschapow, Liwanow, Jusow, Golubinskij ; die Romane von Pawelj IwanowitschMeljnikow (unter dem Pseudonym Andrej Petscherskij).

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daß ich hier zum ersten Male ein möghchst erschöpfendes Bild dieser eigentümlich russischen Zustände und Sitten liefere ; erschöpfend mindestens nach der einen Richtung hin, die für unseren Zweck am wichtigsten ist : in Hinsicht auf die öffent- liche Sittlichkeit. Dieser Hauptzweck veranlaßte mich auch, das Sektenwesen von einem ganz neuen Gesichtspunkte zu betrachten. Ich erkenne weder politische, noch religiöse, son- dern nur Sittlichkeitsmomente an und glaube durch die Auf- zählung der tatsächlichen Umstände, soweit sie unanfechtbar nachgewiesen sind, überzeugend feststellen zu können, daß es sich bei allen diesen Sekten fast durchgehends um sexuelle Probleme handelt. Mackenzie Wallace teilt die russischen Sek- ten in vier Gruppen ein : in solche, welche die heilige Schrift als Basis ihres Glaubens annehmen, aber die darin enthaltenen Lehren durch gelegentliche Inspiration oder innere Erleuchtung ihrer leitenden .Mitglieder auslegen oder vervollständigen ; zweitens in solche, welche die heilige Schrift wenig oder gar nicht beachten und ihre Lehre aus der vermeintlichen Inspi- ration ihrer Propheten entnehmen ; drittens in Sekten, welche an die Wiedermenschwerdung Christi glauben ; und viertens in Sekten, welche Religion mit nervöser Erregung verwechseln und mehr oder weniger erotischer Natur sind. Nach Leroy- Beaulieu und Haxthausen zerfallen die russischen Sekten ein- fach in priesterliche und priesterlose. Andere haben wieder andere Einteilungen.

Alle diese Unterscheidungsmethoden sind verwirrend, und ich finde es am richtigsten, derartige Abgrenzungen gar nicht vorzunehmen. Tatsächlich zieht sich durch fast alle Sekten derselbe Charakter roher Sinnlichkeit. Selbst jene Schismati-

Von Ausländern nenne ich den Engländer Mackenzie Wajlace; den baltischen Pastor Dalton (Die russische Kirche, Leipzig 1891); F. Knie, Die russische schismatische Kirche (Graz 1893); Haxthausen, Studien über die inneren Zustände Rußlands, I 337 ff.; Friedrich Meyer von Waldeck und Folticineano in ihren populären Werke" über Rußland; Nikolaus von Gerbel-Embach, Russische Sektierer, Heilbronn 1883, 52. Heft der Zeitfragen des christlichen Volkslebens; Tsakni, La Russie sectaire, Paris 1888; Brissard. L'Eglise de la Russie, Paris 1866— 1867; und endlich Leroy-Beaulieu a. a. O. III 312—528, wo auch russische Quellen zitiert sind. Einige andere bedeutendere Quellen- scliriften werden an den entsprechenden Stellen noch erwähnt werden.

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ker, die noch den Schein einer ReHgion wahren, ergeben sich infolge ihres Gesetzes der Ehelosigkeit erotischen Ausschweifun- gen, die bei den tiefer stehenden Arten den alleinigen wahren Zweck ihres Daseins ausmachen. Unter mehreren hundert Sek- ten gibt es kaum drei, die einem einigermaßen verständigen und verständlichen System folgen. Unter vielen Millionen, die von der orthodoxen Kirche abgefallen, sind kaum wenige Hunderttausend, die in ihren aparten Zeremonien den Glauben und die Wahrheit suchen. Wir haben es dabei mit einer spezifisch russischen Originalität zu tun. Dies geht aus der Art der Verbreitung der Sekten hervor. Jene Gruppen, die den brutalen erotischen Charakter oder einen Zug ins Sadi- stisch-Wahnsinnige aufweisen, gehören fast ausnahmslos dem Großrussentum an, entstehen und gedeihen zumeist bei dem großrussischen Muschik, in dem Zentrum von Moskau und GroI5-Nowgorod, am weißen Meere, an den Abhängen des Ural, in Sibirien. Die Minderheit der Philosophierenden und religiösen Schismatiker findet man dagegen bei den Bauern, die aus den finnisch-tatarischen Stämmen hervorgegangen sind, bei den Kolonisten in Südrußland, Kaukasien und den Wolga- gebieten, bei den Donkosaken und den Russen, die durch die protestantischen Kolonisten beeinflußt sind.i) Von dieser großen allgemeinen Regel werden sich nur wenige Ausnahmen abtrennen lassen. So hat namentlich die wilde Sekte der Springer, vielleicht auch ihren Ursprung, jedenfalls ihre größte Verbreitung in Finnland und von dort aus im Umkreise von Petersburg gefunden.

Vor zwei Jahrhunderten zählte der Bischof Dmitry von Rostow in einer Schrift über das Schisma in der orthodoxen Kirche mehr als zweihundert verschiedene Sekten auf. Viele

1) Vgl. Leroy-Beaulieu a. a. O. III 362 363. Entsprechend seiner Auffassung von den zwei Zweigen des Schismas, dem priesterlichen und dem priesterlosen, verteilt er beider Gebiete folgendermaßen: Die Priesterlichen wie die Priesterlosen herrschen außer im Zentrum vornehmlich in den ab- normen äußersten Zonen, in den Wäldern des Nordens und in den Steppen des Südens. Die Popowzy oder Priesterlichen nehmen das Zentrum und den Südosten ein, die Bespopowzy oder Priesterlosen aber hauptsächlich den Norden, die Küsten am weißen Meere, das Uralgebiet und Sibirien.

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von diesen sind verschwunden, aber an ihre Stelle traten immer neue, und jetzt ist die Zahl nicht mehr zu übersehen. Ein Bericht des heiligen Synods im Jahre 1835 schätzte die Zahl der Sektierer auf 480000. Im Jahre 1870 wurde sie offiziell mit zwölfmalhunderttausend festgestellt: 997600 im europäischen und 173400 im asiatischen Rußland. 1) Vor zwanzig Jahren sprach Pobjedonoßzew schon von anderthalb Millionen. Diese Ziffern müssen heute mindestens verzehnfacht werden. Ein Raßkoljnik antwortete auf die Frage, wie zahl- reich die Altgläubigen wohl sein mögen, lakonisch : ,,\Vir sind zahlreich, aber wir wissen nicht wie viele wir sind." Der heilige Synod hätte jedoch ein ziemlich sicheres Mittel der Feststellung, wenn er sich nach dem geistlichen Reglement Peters des Großen richten würde;, in diesem Reglement hieß es : das Fernbleiben vom heiligen Abendmahl ist das untrüg- lichste Zeichen eines Raßkoljnik. Nun ergaben schon .die im Jahre 1860 verfaßten Osterbeicht- und Osterkommunions- tabellen ein P>hlen von rund zehn Millionen Seelen. 2)

Das Sektenwesen in Rußland ist fast so alt wie die russische Kirche selbst.-'^) Schon in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts, zur Zeit des Großfürsten Andrej Jurjewitsch mit dem Beinamen Bogoljubowskij, der Gottesfürchtige, erhob sich der wegen seiner Habsucht und Erpressungen verrufene Bischof Leon von Rostow^) zu der ketzerischen Behauptung, es sei

1) Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland, S. 107.

2) Leroy-Beaulieu a. a. O. III 359 nach Schedo-Ferroti, Toleranz und religiöses Schisma in Rußland.

3) ,,En Russie l'esprit sectaire est en quelque sorte contemporain des p>remieres predications orthodoxes, du premier bapteme admini.^^tre ä nos ancetres par les missionaires grecs." Vgl. Le Raskol. Essai historique et critique sur les Sectes religieuses en Russie. Paris, Berlin et Londres 1859, pag. 1—2.

*) Die hohe Geistlichkeit scheint unter dem gottesfürchtigen Großfürsten auch sonst nicht aus Tugendholden bestanden zu haben. Der von Andrej zum Nachfolger Leons erwählte Mönch Theodor verweigerte dem Metropoliten den Gehorsam, maßte sich, ohne die Weihe des Metropoliten erhalten zu haben, das Bischofsamt an, bedrängte wie der Chronist erzählt die Leute in der Stadt und in den Dörfern, marterte um zu erpressen, ließ den Mönchen, Priestern und Äbten das Haar und den Bart scheren, schnitt ihnen auch die Zungen aus.

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Sünde an irgend einem Feiertage, besonders an Weihnachten und am Dreikönigstage, wenn diese Feiertage auf einen ]\Iitt- woch oder Freitag fallen, Fleischspeise zu genießen. Leon fand für seine Lehre eifrige Anhänger im Bischof Anton von Tschernigow und im Metropoliten selbst, i) Aber der grie- chische Kaiser Emanuel nahm den Ketzer, der sich zu ihm geflüchtet hatte, gefangen und wollte ihn ertränken lassen, worauf Leon augenscheinlich besseren Sinnes wurde, denn von seiner Lehre wird nicht mehr gesprochen. Bald sollte es jedoch zu ernsteren Zwischenfällen in der russischen Kirche und zu tatsächlichen Ketzereien kommen, die sich nicht auf einige wenige Geistliche beschränkten, sondern das Volk selbst in größerem Maße ergriffen. Die frühesten Sekten entstan- den nach allgemeiner Ansicht durch die Berührung der Griechen mit den Slawen oder der Albigenser mit den orien- talischen Mönchsorden, wie den bulgarischen Bogumilen.^) Ruß- land war damals wie jetzt ein fruchtbares Feld für Mystik, und die Häresien konnten sich ausbreiten und vervielfältigen, ohne auf bedeutende Hindernisse zu stoßen. Die Regierung kümmerte sich nicht darum, und \-on der Kultur oder den

blendete und kreuzigte, um fremdes Eigentum an sich zu reißen. Der Groß- fürst duldete diesen Hirten, der seine eigene Herde niordete, bis ein Aufruhr entstand, der Bischof-Mordbrenner gefangen und vom Metropoliten als Ketzer gestraft wurde wie er gehandelt hatte : man schnitt ihm die Zunge aus, blendete ihn und hieb ihm die rechte Hand ab.

^) Karamsins Geschichte (Deutsche Ausgabe) III 25.

2) Leroy-Beaulieu III 315. Als Rußland das Christentum annahm, gab es unter den Südslawen, die gleichfalls den griechischen Glauben hatten, schon eine Sekte, die Bogumilen, welche gewissermaßen den bosnischen Staat gründeten und durch die er auch zu Grunde ging. Vgl. Hellwald, Die Welt der Slawen, Berlin 1890, S. 353: ,,Die Entstehung dieser Bogumilen, die ihre Religion die bosnische nannten und dem Propheten Johann von Leyden, den Albigensern, Waldensern und Hussiten sehr nahe standen, fällt zeitlich mit der Einführung des Christentums unter den Südslawen zusammen. Die heidnischen Überlieferungen und apokryphen Bücher, welche die ältere heid- nische Denkweise des Volkes in sich aufnahmen und widerspiegelten, diese sogenannten Lognija knigi oder Lügenbücher, die sich besonders in Bulgarien großer Beliebtheit erfreuten, haben die Anlage zum Bogumilismus hervor- gerufen; sie sind es aber auch nachgewiesenermaßen, auf deren Grundlage die zahlreichen Sekten der russischen Kirche entstanden."

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Sitten jener Zeit war ein Widerstand gegen Irrlehren nicht zu erwarten. Die geringste Ursache, ja bloße Laune eines Einzelnen schuf mit leichter Mühe eine Sekte. Ein unzu- friedener Geistlicher oder ein simpler Mann aus dem Volke brauchte bloß einige unruhige Geister um sich zu versammeln, ihnen die Dogmen der Kirche nach seiner Art zu erklären, seine Zuhörer als seine Schüler zu bezeichnen, und eine Sekte war geschaffen. So wird beispielsweise die Geschichte der Sekte der Martinowzii) erzählt, die im dreizehnten Jahrhundert ent- stand, aber im vierzehnten wieder verschwand; und ähnlich ist der Ursprung der Sekte der Strigolniki.2) Der Gründer dieser Sekte, die berühmt geworden ist, weil sie die erste größere Kirchenspaltung in der russischen orthodoxen Kirche verursachte, war ein Haarscherer 3), namens Karp, dem sich ein Diakon Nikita anschloß. Die Sekte trat namentlich in Pskow und Nowgorod auf und richtete sich gegen die Simonie der Bischöfe; ihre Anhänger verwarfen alle Hierarchie und erklärten die Darreichung der Sakramente für unabhängig von der Priesterweihe. Karp wurde vom Nowgoroder Pöbel in den Wolchowfluß geworfen, seine Lehre aber bestand noch durch das ganze fünfzehnte Jahrhundert fort, bis sie im Beginne des sechzehnten Säkulums durch die Verfolgungen des Metro- politen Photius ausgerottet wurde.

Im letzten Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts entstand die sogenannte jüdische Häresie 4), die ebenfalls zuerst in Now- gorod an den Tag trat. Ihr Gründer war ein Jude aus Kijew, namens Sßcharias, der wahrscheinlich zum Christentum über- getreten war. Die Lehre verwarf das Dogma von der heiligen Dreifaltigkeit, die Verehrung der Heiligen und der Heiligen- bilder und versicherte : das mosaische Gesetz sei das einzig göttliche, die Erzählung von Christus erfunden, der Erlöser

1) Le Raskol, p. 2.

2) Leroy-Beaulieu III 405. Hellwald, Die Welt der Slawen 353. Alexander von Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur, Leipzig, S. 165.

3) Russisch Strigolnik, daher der Name der Sekte.

*) /Kii;i(iB(:KaH epcch. Vgl. Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland, 98. Karamsins Geschichte, Deutsche Ausgabe VI 153. Haxthausen, Studien I 347. .

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noch nicht geboren. Die Geschichte dieser Sekte ist vom heihgen Joseph Ssanin, dem Gründer des Wolokolamschen Klosters, in drastischer Weise geschrieben worden. i) In dieser Schilderung heißt es : daß der genannte Jude, der dem Zaren wohlbekannt war, im Jahre 6979, also 147 1, nach Nowgorod kam; dieser ,, Schwarzkünstler, Astronom, Astrolog, dieses Ge- fäß des Satans" veranlaßte den Popen Denis zum Judentum überzutreten. Denis wieder verführte den Popen Alexej. Her- nach kamen nach Nowgorod noch andere Juden : Joseph Schmoila, Skarey Moses und Chamusch. Denis und Alexej wurden bald die Häupter der Ketzerei. Sie aßen nur bei Juden und unterrichteten auch ihre Familien im mosaischen Gesetze. Sie wollten sich sogar beschneiden lassen 2), aber

1) Eine Übersetzung der Einleitung dieser merkwürdigen mönchischen Arbeit findet man in der Zeitschrift „Konstantinopel und St. Petersburg, Der Orient und der Norden", II. Jahrgang, III. Band (1806) S. 147. Die Skizze führt den Titel: ,, Kampf des Lichts mit der Finsternis, oder des sündigen Mönchs Joseph Erzählung von der in Nowgorod im vorletzten Jahrzehend des 15. Jahrhunderts veranlaßten Ketzerei durch die Sektierer und Abtrünnigen, den Protopop Alexej, Denis, Oßyp und Fedor Kurizin". Nach der Einleitung voll derber Schimpfereien und zorniger ^^erfluchungen folgen im Original 1 5 Abhandlungen zur Widerlegung der ketzerischen Lehrpunkte. Josephs Reden gegen die jüdische Ketzerei sind unter dem Gesamttitel: IIpocB'feTHTe.ib (Der Aufklärer) ein berühmtes Stück altrussischer Literatur. Vgl. S. 135.

2) Die weite Verbreitung, welche die jüdische Ketzerei fand, mag zu der in Europa damals geäußerten Meinung Anlaß gegeben haben, daß in Moskowien der Gebrauch der Beschneidung Religionsgesetz wäre. Der Dominikanermönch Johann Faber nämlich, der im Jahre 1525 für den Erzherzog Ferdinand von Österreich auf Grund von Mitteilungen zweier durch Tübingen reisender russi- schen Diplomaten ein Memoire über die Religion der Moskowiter veröffentlichte, fragte seine Gewährsmänner, ob es wahr wäre, daß die Moskowiter die Be- schneidung anwendeten. Worauf die beiden Moskowiter erwiderten: ,,Wir sind weit davon entfernt. Wir betrachten die Beschneidung als einen Überrest des alten Judentums und wir verabscheuen sie so sehr, daß ein Jude, auch wenn er mehrere tausend Goldstücke hierfür bieten würde, nicht das Recht erhält, sich in unserem Lande aufhalten zu dürfen". Das Fabersche, von mir schon früher (auf Seite 141) erwähnte Buch wurde mehrmals neugedruckt und ist auch in verschiedene Sammlungen von Reisewerken über das alte Moskwa übergegangen. Eine französische Übersetzung erschien 1860 in Paris: La Religion des Moscovites en 1525. Traduit du Latin de Jean Faber. Bibliothßque russe, nouvelle serie (im III. Bande). Vgl. die Stelle betr. die Beschneidung S. i8.

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unterließen dies aus taktischen Gründen. Alexej nannte sich Abraham und seine Frau hieß fortan Sara. Äußerhch beobach- teten die Nowgoroder Ketzer so vorsichtig den Anstand und alle Pflichten frommer Orthodoxer, daß der Großfürst die beiden Häupter der Ketzerei, Alexej und Denis, als ausgezeichnete und verdienstvolle Priester nach Moskau nahm, dem Einen die Stelle eines Protopopen an der Kirche der Himmelfahrt Maria, dem Anderen eine Stelle an der Kirche des heiligen Erzengels Michael verlieh. Von den Verführern wurden des Großfürsten Schwiegertochter Jelena, des Großfürsten Lieb- ling der Djak Fedor Kurizyn und viele andere betört. ,,Wer kann ohne Tränen," klagt der heilige Joseph, ,,das große und schreckbare Unheil, welches diese räudigen Hunde in jener A'olkreichen Stadt angerichtet haben, erzählen ? Da sie öffentlich die Maske nicht abziehen durften, so verbargen sie sich wie Schlangen in Steinklüften. Vor der Welt erschienen sie als heilige, ruhige, gerechte und in den Grenzen der Mäßi- gung sich haltende Lehrer. Insgeheim aber säeten sie den Samen des Unkrauts aus und stürzten viele Seelen ins Ver- derben. Manche ließen sich beschneiden wie Iwaschko Tscher- noy und Ignaz Subow. Der Protopop Alexej und Fedor Kuri- zyn gelangten durch ihre Frechheit so weit, daß sie sich bei dem Monarchen in Ansehen setzten, denn sie gaben sich für große Sterndeuter aus, lehrten viele die lügenhafte Astrologie, Zauberei und schwarze Kunst und erwarben sich dadurch An- hänger, die alle im Dreck der Abtrünnigkeit stecken blieben." Der heilige Joseph berichtet auch, wie die Abtrünnigen vom Himmel gestraft wurden : „Im Jahre 6997 traf den Djak Istoma, den Gefährten des Teufels, den Höllenhund und Schüler des Alexej, die strafende Hand Gottes. Sein unreines Herz, eine Wohnung von sieben arglistigen Teufeln, und seine Eingeweide gerieten in Fäulnis. Bald darauf starb auch das verruchte Gefäß des Teufels, der Hölleii-Eber, der Entweiher des Wein- gartens Christi, der Protopop Alexej, unter den unsäglichsten Schmerzen, vom Schwerte Gottes vertilgt. Seine Seele holte der Teufel. Der Pop Denis endlich verfiel in eine schwere Krankheit, während welcher er einen ganzen Monat lang wie wilde und zahme Tiere, Vögel und L^ngeziefer schrie; so spie

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er seine unreine Seele aus." Doch langsamer als die göttliche Gerechtigkeit war die weltliche. Hing ihr vielleicht der Herr- scher, beeinflußt durch seine Schwiegertochter, im Geheimen selbst an ? Jedenfalls widerstand er lange allen Aufforderungen zur Verfolgung der jüdischen Ketzerei; ja, er machte sogar den Archimandriten Soßima, das neue Haupt der Häresie, zum Erzbischof und später zum Metropoliten. ,,Das Kind Satans sitzt auf dem Throne der heiligen Märtyrer Peter und Alexej, der raubende Wolf trägt das Gewand des friedlichen Hirten, das größte Gefäß des Übels, der größte Brand des Sodomiti- schen Feuers, die hundertköpfige Schlange, die Höllenspeise, der verruchte Soßima ist zur erzbischöflichen Würde gelangt!" also jammert der heilige Joseph und er erzählt : daß Soßima öffentlich behauptete, Christus hätte sich eigenmächtig einen Sohn Gottes genannt; daß er ferner die heilige Mutter Gottes lästerte, das heilige Kreuz an unreine Orte setzte, die Heiligen- bilder, die er Blöcke nannte, verbrannte und folgendes sprach : ,,Was ist das himmlische Reich ? Was das jüngste Gericht ? Was die Auferstehung der Toten ? Alles dies ist Fabelei ! Wer stirbt, der ist tot und hört auf zu sein !" Endlich wagte der Erz- bischof Gennadij von Nowgorod gegen die Ketzer aufzutreten und zu verlangen, daß sie verbrannt werden sollten. Er berief sich dabei auf ,, Erzählungen des deutschen Gesandten, daß auch der spanische König Ferdinand seine Länder durch Auto- dafe von Ketzern reinige." Gennadij und Joseph bestimmten den Herrscher, eine Untersuchung anzubefehlen ; und der Fürst betraute just den Metropoliten Soßima mit der Führung dieser Untersuchung. Soßima konnte nicht verhindern, daß einige der Angeklagten verurteilt wurden, setzte aber eine gelinde Bestrafung durch: Vier der Verurteilten wurden rücklings i) auf Pferde gesetzt, in Kleidern, die von innen nach außen ge- kehrt waren, mit spitzigen birkenen Teufelshelmen, auf denen Troddeln aus Stroh befestigt waren und die Inschrift prangte: „Dies ist das Kriegsheer des Teufels." So führte man sie in der Stadt herum; den ihnen Begegnenden befahl man, sie

1) „Damit sie nach Westen in die ihnen bereitete Hölle sehen sollten' sagt der heilige Joseph.

Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Ruftland. 12

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anzuspeien und dabei auszurufen : „Dies sind die Feinde Gottes und die Lästerer des Christentums." Nachher verbrannte man die Mützen. Trotz dieses warnenden Ereignisses wagte Soßima die Ketzerei weiter zu verbreiten und Schüler um sich zu versammeln. Mönche und Weltliche stritten öffentlich auf den Marktplätzen über die Natur des Erlösers, die Dreieinig- keit, die Heiligen und die Heiligenbilder. Soßima begnügte sich aber nicht damit, sondern verfolgte nun seinerseits die Gegner der Sekte, entsetzte eifervolle Priester ihrer Würden, tat jene, welche die Ketzer schmähten, in den Kirchenbann und ließ viele ins Gefängnis werfen. Zu der Unduldsamkeit traten Habsucht und Plünderungen, und diese Handlungen waren es, die den Sturz des Metropoliten herbeiführten. Der Großfürst wollte nicht offen zugestehen, daß der höchste Geistliche des Reiches als Ketzer entlarvt worden, und er verbannte Soßima unter diesem Vorwande ins Kloster: ,,weil er den Wein liebt und nicht für die Kirche taugt." Nun hatten die Eiferer freies Spiel und verlangten abermals Hinrichtung der Ketzer. ,,Der Großfürst aber hieß den heiligen Joseph schweigen," denn die Todesstrafe sei dem Geiste des Christentums zuwider. Schließlich jedoch mußte Iwan III. nachgeben, um nicht selbst in den Verdacht der Ketzerei zu geraten, und vom Dezember des Jahres 1503 an begannen endlich zur Freude und Er- hebung der Frommen die Autodafe auch in Rußland aufzu- flammen. Den bloß Verdächtigen schnitt man die Zunge aus, die durch die Tortur Überführten aber verbrannte man in Käfigen. Die jüdische Ketzerei galt durch diese Verfolgungen in den Jahren 1503 und 1504 als vernichtet. Aber die Lust zu Sonderbündeleien war nicht erstickt. Noch im sechzehnten Jahrhundert fanden die Lehren des Matwej Baschkin and Fo- dossij Kossoj, welche die Kirchendogmen von Jesus Christus verwarfen, zahlreiche Anhänger. Und um die Mitte des acht- zehnten Jahrhunderts tauchte gar die alte jüdische Ketzerei urplötzlich und machtvoll wieder auf. Im Jahre 1738 wurde nämhch der Kapitän Wosnitzin, den seine Frau beschuldigte, daß er vom Juden Baruch zum Judentum bekehrt worden, samt seinem Verführer lebendig verbrannt. Nikolaj I. erwähnt in seinen Ukasen gegen das Sektentum mehrmals eine judai-

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sierende Ketzerei, und seit einem halben Jahrhundert kennt man die weitverbreitete Sekte der Ssubotniki; man muß an- nehmen, daß diese eine Fortsetzung der alten jüdischen Ketzerei sei. Die Ssubotniki oder Sabbatleute i) nennen sich auch Jeho- visten. Im Oktober 1901 wurden hunderte Mitglieder dieser Sekte von den verschiedensten russischen Gouvernements- gerichten zur Verantwortung gezogen. Nach den Berichten russischer Blätter 2) ergaben die Gerichtsverhandlungen fol- gende Aufklärungen : Die Sekte wurde vor etwa 45 Jahren von einem Artillerieoffizier Iljin gegründet, der unter seinen Untergebenen in naiver Weise europäisch-rationalistische Ideen, gemischt mit heiligen Sprüchen, progagierte. Die dunklen Predigten gefielen dem unwissenden und unterdrückten Volke, so daß sie den Iljin bald mit der Aureole eines Propheten um- gaben. Begeistert von seinen Erfolgen bildete sich der Offizier in maniakalischer Weise ein, in der Tat ein Bote Gottes zu sein. In einer seiner viel verbreiteten Hauptschriften, „Die all- gemein menschliche Wahrheit" betitelt, erklärt er dement- sprechend : ,,So verkündete vor mir der unsterblich ewige Jeho- va siebenhundert Jahre vor seiner Menschwerdung wie folgt : Den, der aus dem Osten kam, werde ich nach Norden rufen, und er wird allen Völkern meinen Namen und die allgemein- menschliche Wahrheit verkünden." Iljin wurde nach dem SsolowezkijKloster am Ural, einem Verbannungsorte für Ver- brecher gegen die Kirche, auf zwanzig Jahre verbannt. Hier lernte er mehrere andere Sektierer kennen, die ihm erzählten, daß nach einem alten Gerüchte von diesem Kloster aus Wunder- taten verrichtet werden würden : es würde eine Hostie er- scheinen, an der sich Theologen aller Religionen, und mit ihnen die Lügner, Schwätzer und Betrüger aller Art verbluten müßten. Iljin erklärte sofort selbst diese Hostie zu sein und predigte mit Fanatismus seinen Genossen in der Verbannung seine neue Religion. Der Behörde erklärte er: „Obwohl man mich mit hundert Augen bewachte, konnte man doch nicht den Strahl der Wahrheit während einer Zeit von sieben Jahren verlöschen ;

1) Vom russischen CyßoTa, Sabbat.

2) Vgl. Allgemeine Zeitung, 6. Okt. 1901.

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denn Gott hat mit meiner Hand über 700 Bücher geschrieben und sie durch seine heihge Kraft über die ganze Erde ver- breitet." Er gab an, manche dieser Schriften auch an Roth- schild geschickt zu haben mit der Bitte, ihm zu helfen, die Juden zu Jehova zurückzuleiten; allein der Satansrabbi Roth- schild wollte davon nichts hören, denn er ist mit Millionen von Goldketten an den Satan gebunden. Die Lehre Iljins er- griff die Volksmassen der Uralgebiete und schuf, wie aus den Prozessen hervorging, in wenigen Jahren eine geschickt organisierte geheime Macht. Der Inhalt der Iljinschen Lehre läßt sich einigermaßen also erklären: Bei der Schöpfung des Sonnensystems gab es nur zwei Wesen: Jehova und Satan. Dementsprechend teilen sich die Menschen in zwei Gruppen : in die der Jehovisten und die der Satanisten. Wenn 120 siebzig- jährige 1) Perioden seit der V^ertreibung Adams und Evas aus dem Paradiese verflossen sein werden, wird Jehova den Satan besiegen, ihn in Fesseln schlagen und eine freie glückliche Welt mit einem einzigen Glauben unter seiner Alleinherrschaft in Jerusalem oder in der Republik Israels auf tausend Jahre gründen. Darauf wird Satan wieder frei werden und viele Religionen verbreiten, aber Jehova wird ihn jetzt völlig ver- nichten, und eine neue Erde ohne Ozeane und Meere schaffen, die viel größer sein wird als die jetzige, und wird sich auf ihr auf 28000 Jahre niederlassen. Von Zeit zu Zeit wird Jehova Reparaturen an der Erde vornehmen und sie immer besser machen, bis sie den Grad der höchsten, von dem menschlichen Verstände kaum faßbaren Vollkommenheit erreicht haben wird. Sobald dies eingetreten, werden die Menschen auf Erden ewig leben. Die Anhänger Iljins halten ihn für den Propheten Elias, der vom Himmel auf die Erde gekommen ist. Als er ins Kloster eingesperrt wurde, beteten sie: ,,Wir erflehen von dir. Allmächtiger, die Erlösung des Elias aus dem Gefängnisse ; zerschmettere den steinfesten- Felsen, in dem die heilige Nachti- gall eingekerkert ist !" Nachdem lljin zwanzig Jahre im Ssolo- wezkijkloster zugebracht hatte, wurde er freigelassen, und seit-

1) In dem Berichte über die Gerichtsverhandlungen steht irrtümUch: 120 siebenjährige Perioden.

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her blieb er in Mitau. Seine Einkerkerung erklärte er als das Werk Satans^ seine Freiwerdung als einen Sieg über Satan, und als er das Gefängnis verließ, begrüßte er seine Anhänger mit diesen Worten : „Ich grüße euch, Brüder, Schwestern und Freunde, in euere Arme eile ich jetzt; mit uns ist der König des Ruhmes, Jesus der Gott. Er zerstörte die Fesseln und ließ mich das Wort der Offenbarung euch verkünden, das Geheimnis der Schlacht erzählen, die listigen Absichten der Feinde verraten." Aus dem Mitgeteilten darf man mit ziem- licher Sicherheit auf einen Zusammenhang mit der alten jüdi- schen Ketzerei schließen, die sich also trotz der Scheiterhaufen durch vier Jahrhunderte erhalten hat.

Die Scheiterhaufen waren während dieser Jahrhunderte eine ständige Erscheinung in dem Kampfe gegen die Sektie- rerei. Aber es war weniger die Geistlichkeit als die Regierung, welche die Verfolgungen und Hinrichtungen veranlaßte. Die Autokratie suchte sich unter dem Vorwande des religiösen Eifers aller ihrer Gegner zu entledigen, durch die Vernichtung der Unzufriedenen, durch die Massenmorde im Namen Christi, der Dreieinigkeit und der Heiligen die unbeschränkte Herr- schaft zu sichern. Nur in einem einzigen Falle noch könnte man behaupten, daß die Religion die Urheberin eines Autodafe war : Es geschah zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts, daß der Mystiker Kuhlmann auf Befehl des Patriarchen Joachim auf dem roten Platze in Moskau verbrannt wurde. Dieser Patriarch war der letzte russische Kirchenfürst, der noch eine Autorität ausübte. In seinem Testament forderte dieser Eiferer den Zaren auf, in der Armee keinem Häretiker ein Kommando an- zuvertrauen und die protestantischen Kirchen in der deutschen Slobada zu Moskau zu zerstören. i) Die Verbrennung des Qui- rinus Kuhlmann fällt schon in die Regierungszeit Peters des Großen, und das Ereignis verfehlte nicht in Europa Aufsehen zu machen. In dem zeitgenössischen Buche über die Religion der Moskowiter 2) wird hierüber berichtet : Kuhlmann aus Schle- sien hatte sich zuerst nach Holland begeben; er verteidigte

1) Waliszewski, Pierre le Grand 62. ") Religion der Moskowiter S. 26.

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in Leyden die Lehre des Schusters Böhme und wurde deshalb ausgewiesen. In England erging es ihm ebenso, worauf ihn sein Schicksal nach Moskau führte, wo er bei dem deutschen Kaufmann Nordermann Aufnahme fand: „Dieser," heißt es in dem erwähnten Berichte weiter, ,, hatte den Kopff allbereit mit denen ungereimtesten Irrthümern angefüllet / und glaubete unter andern / daß JEsus Christus unser Seeligmacher noch ein- mahl als ein großer Prophet auff die Erd kommen / darauff viel Wunder thun/ alle Sünder bekehren /und sie hernach mit sich in sein Himmelreich einführen solte. Je mehr man ihn warnete /' je hartnäckiger bestand er auff seinen närrischen Einbildun- gen / biß er endlich ein kleines Buch / so er in Moscowiti- scher Sprach geschrieben hatte / einem Buchdrucker brachte / er möchte sein Tractätlein drucken. Dieser brachte das Manuscriptum dem Patriarchen / welcher / da ers gelesen / den Nordermann und Kuhlmann beym Kopff nehmen / und ins Gefängniß setzen ließ. Weil sie mit Halsstarrigkeit ihre Irrthümer behaupten wolten / wurden sie in einer Stube / welche die Moscowiter die schwartze Stube nennen / lebendig verbrandt." Peter der Große zog es im allgemeinen vor, die Sektierer durch Verhöhnung zu bekämpfen; er zwang den Altgläubigen, die den Bart nicht opfern wollten, eine Barttaxe, und jenen, die ihre alte Tracht beibehielten, farbige Lappen als Abzeichen ihrer Sektiererei auf; aber unter Um- ständen machte es auch ihm Spaß, einen Ketzer brennen zu sehen : Ein gewisser Toma betrat eines Tages in Moskau eine Kirche, um öffentlich gegen die Verehrung der Heiligen zu predigen. Als man ihn daran hindern wollte, verließ er die Kirche, kehrte aber bald darauf mit einer Hacke zurück und zertrümmerte die Bilder der heiligen Jungfrau und des heiligen Alexej. Peter diktierte dem Bilderfeinde den Scheiterhaufen. Toma vernahm sein Urteil mit Ruhe, streckte selbst seine Hand ins Feuer und ließ sie verkohlen, während sein Mund gegen die Popen und die Mißbräuche in der Kirche donnerte. i) Die Zarin Anna Iwanowna wütete mit Knute und Schwert gegen Ketzer und Proselyten. In Moskau entdeckte man im

1) Chantreau, Voyage en Russie, Paris 1794, pag. 179.

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Jahre 1733 heimliche Versammlungen von Frauen, die einer Sekte angehörten, welche ihren Kultus durch wilde Drehtänze feierte. Wenn die Orgien den höchsten Punkt erreicht hatten, verkündigten die Prophetinnen der Sekte die Ankunft des heiligen Geistes. i) Auch andere seltsame Sekten verbreiteten sich damals im Reiche. Der Minister Ostermann glaubte die Sektiererei einzudämmen, indem er zwar einige strenge Maß- regeln vorschlug, die sich aber im Rahmen der Menschlich- keit bewegten : die Abtrünnigen sollten doppelte Taxen zahlen ; die Kinder der Sektierer wurden zwangsweise getauft; den Proselyten drohten Zwangsarbeiten; und endlich sollte die Auf- sicht der Kirche auch über Sibirien, wohin sich viele Sektierer geflüchtet hatten, ausgedehnt werden. 2) Aber der Heilige Synod verlangte auf Vorschlag des berühmten Erzbischofs Feofan Prokopowitsch vom Senate die Anordnung der Todes- strafe für Ketzer und Proselyten ; er rief in Erinnerung, daß der ekklesiastische Kodex 3) die Ketzer und Glaubensverräter leben- dig zu verbrennen befahl. Der Eifer richtete sich auch gegen Tote. Auf Wunsch desselben Feofan Prokopowitsch veranlaßte der Senat die Ausgrabung der Leichen zweier Ketzer, Lupkin und Ssußlow, die in einem Moskauer Kloster begraben waren, und die Vernichtung der vorgefundenen Überreste dieser Ver- fluchten, über deren Bedeutung für das Sektenwesen in Ruß- land später an einigen Stellen noch die Rede sein wird. Erst Alexander I. wagte Milde gegen die Sektierer zu üben. „Die Vernunf*- und die Erfahrung," erklärte er in einem Ukas, ,, haben längst bewiesen, daß die geistigen Irrtümer eines Volkes durch Wortstreit und angeordnete Ermahnungen nur noch tiefer eingebohrt werden und allein durch Außerachtlassen, gutes Beispiel und Duldsamkeit beseitigt werden können." Alexander-^ Bruder und Nachfolger Nikolaj I. verfolgte wieder die Politik der Grausamkeit. Folgende sind die von Nikolaj gegebenen Gesetze*) gegen die Sektiererei und Ketzerei: Wer die ketzerischen und schismatischen Lehren derer verbreitet,

^) Co-ioBheBT., IIcTopiH Poccift, XX 307.

2) Waliszewski, L'heritage de Pierre le Grand 217.

') Co6upnoe yaoHicuie.

*) Strafgesetzbuch 1845, §§ 206 207.

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die von der rechtgläubigen Kirche abgefallen sind, oder eine neue, der Religion schädliche Sekte stiftet, hat den Verlust aller Standesrechte und Verbannung auf Ansiedelung zu ge- wärtigen. Dieselben Strafen treffen den Sektierer, der sich in fanatischer Verblendung unterfängt, die rechtgläubige Kirche oder deren Geistlichkeit zu schmähen. Statt der Ansiede- lung kann die Strafe in Militärdienst bestehen; die Bestraften können, so lange sie nicht zur rechtgläubigen Kirche zurück- kehren, weder Abschied noch Urlaub erhalten (also Verur- teilung zu ewigem Militärdienst in Reih und Glied!). Wenn ein Anhänger einer für schädlich erklärten Sekte (wie die Duchoborzen, Ikonoborzen, Malakaner, Judaisierenden, Ver- schnittenen) seinen Irrglauben anderen Personen mitteilt : so hat er den Verlust aller Standesrechte und Verbannung zu gewärtigen; an dem Verbannungsort muß er sich, von den anderen Kolonisten und Einwohnern der Gegend abgesondert ansiedeln. Wenn Eltern oder Erzieher es zulassen, daß ihre minderjährigen christlichen Kinder oder Pflegebefohlenen reli- giöse Handlungen nach jüdischem oder ketzerischem Ritual verrichten oder an solchen Handlungen teilnehmen, so werden sie ebenso, als hätten sie einen Volljährigen zum Schisma ver- leitet, bestraft. Die Minderjährigen, welche solche Gebräuche verrichten, werden wenn sie dazu tauglich sind, zum Militär- dienst, falls sie dazu untauglich sind, an die Kronfabriken abgeliefert. Wenn die Verbreitung einer Ketzerei und Sekte von Gewalttätigkeiten und anderen erschwerenden Umständen begleitet war : so trifft den Schuldigen die Strafe von 1 2 bis 15 Jahren Arbeit in den Bergwerken und 70 80 Peitschen- hieben. Der Sektierer, der in fanatischer Verblendung, wenn- gleich ohne Gewalt anzuwenden, einen anderen verschneidet, erhält 4 6 Jahre Arbeit in Fabriken, 40 50 Peitschenhiebe. . Wer sich selbst verschneidet, verliert die Standesrechte und wird auf Ansiedelung verwiesen. Solche Sektierer, deren Ketzerei mit einer wütigen, gegen das eigene oder fremde Leben gerichteten Zerstörungssucht, oder mit unsittlichen scheußlichen Gebräuchen verbunden ist, werden, auch wenn sie keinen Rechtgläubigen verführt haben, verbannt. Wer auf Antrieb eines solchen Fanatismus einen Menschen tötet, wird

DIMITRIVANOWICWI ELKl CARZMOSKIEWSK

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rmwßv (if jii f rjyipDc pjti.i v öjic icrtlTToffiftrftifBO/ Dimitra Iwa. wi(&: pi'ti'iiiK groinili tl)o|^>rf/ JOf p(rUcvru>OM fr\ri4 pu'cj.'to. ili i(\dny tTIcftinrll'ic , icon.-.f uöjTdKci.»T}va;miiliin pocjcie Do ;f fobif tuijacv Cätoiri obiccuwi/ j<aiiii<Do|lirfu/ni>oS(!<po«>Jcpo Sa(t)d tc (idr. Vf OKOPODa JJs na I cj<Se najrtjldrßr pijri4Cicl Cu|'?i liipitniaicgp jaluiaf/ luou mupol- fgo»oö4iral/ Ci<f3gcß0tc5/i5 wvy- ( ni pmifltco obif cuic go fiioiic/ uniffjv paiin Boga ni poinic : (Co iMcoiogofpdfiilo/ botriopieirtti

lllDrnrojlvlu'l^u^ pdii'i IiiSrru-otf iiagloöyii.'iu'lifl.-.fj iiiJjC/ ^oc iA) nie u-itif bylo rrn m<5m(v bili T gtc- imli Ulothcf : aSons ■söravca ij mu niciCisie po irgoirolcy, 5ru^(«.iö jlc no- innv/ luö nin nr|;vDr poräjono / fam 7k ctrut V Jöidil joriii vjlyfi'" "S^- Ci^t.Uinoi^iraoUu-^vu'liv jlrirojir-

pana prjvjiinli' y prjru'itali. ÄCTC noffany jNOfn paiiftifgo/ 1605.

w\f Äß

Der falsche Dmitrij.

^Gleichzeitiges polnisches Fluijblatt in I lol/sclinitt.)

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als Mörder bestraft (12 15 Jahre Zwangsarbeit, 70 80 Peit- schenhiebe). Ein Ketzer oder Sektierer, der zur rechtgläubigen Kirche zurückkehrt und demzufolge aus dem Verbannungsorte entlassen worden ist, wdrd im Rückfalle zu ewiger Verbannung in die entferntesten Gegenden Sibiriens verwiesen. Wer Ein- siedeleien für Schismatiker anlegt, erhält i 2 Jahre Gefäng- nis. Wenn ein Jude aus einem Orte, wo die sogenannte jüdische Ketzerei besteht, ausgewiesen worden ist und dahin eigen- mächtig zurückkehrt, so erhält er 20 bis 40 Rutenstreiche und wird unter das Militär abgegeben, um als Gemeiner ohne Aus- sicht auf Beförderung noch Verabschiedung zu dienen, oder, falls er dazu untauglich ist, zur Ansiedelung jenseits des Kau- kasus verwiesen.

Unter Alexander II. siegte abermals die mildere Auf- fassung; Alexander III. verfuhr wie Nikolaj I., und Nikolaj II. übertrifft in der Strenge gegenüber den Sekten seinen Vater und Urgroßvater, entsprechend dem Worte des nationalisti- schen Fanatikers Akßakow : ,, Polizei und Gendarmen müssen die Wächter russischer Seelenrettung sein." Synod und Geist- lichkeit sind allerdings mit Polizei und Gendarmen nicht zu- frieden, und wir werden gleich sehen aus welchen Gründen: Vor einigen Jahren fand in Kasanj ein orthodoxer Missions- kongreß statt; auf Grund der dort gefaßten Beschlüsse stellte der heilige Synod neue Regeln für die Methode der Bekämpfung des Raßkol und des Sektentums auf. Die Veranlassung zu diesen neuen Regeln sah der heilige Synod darin, daß die Zivilgewalt noch zu milde vorgehe. Die Polizei erhält früher als die Eparchialobrigkeit Kunde von dem Auftauchen der Sekten, und ,, diese Praxis bringt mehr Schaden als Nutzen." Bei der Anstrengung von Prozessen gegen die Sektierer müsse vorsichtiger zu Werke geschritten werden. ,,Es ist nämlich nicht unbekannt," klagte das Organ des heiligen Synod, „daß die vom geistlichen Ressort in den Gerichtsinstanzen an- gestrengten Prozesse gegen Sektierer und Altgläubige von den Untersuchungsrichtern niedergeschlagen und vom Senat kas- siert werden, oder aber aus irgend einem Grunde mit der Freisprechung der Angeklagten endigen. Ein solcher uner- wünschter Ausgang der Sckticrcrprozesse hängt von verschic-

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denen Gründen ab : von der unbestimmten Fassung der Gesetze, von dem Charakter der Verbrechen, die sich schwer eruieren und durch Zeugenaussagen sehen feststellen lassen, von den subjektiven Glaubensanschauungen und Glaubensbeziehungen der Richter." Weshalb sich ,,Missionerskoje Obosrenije", das Organ des Synod, zu einer derartigen Verdächtigung der Rich- ter versteigt, ist verständlich : ,, Solch für die Sektierer und Alt- gläubigen günstiger Ausgang der Prozesse wirkt sehr schlecht, sehr aufreizend auf die Masse der Sektierer, die die Resultate als einen Schutz auslegt, den ihnen die Zivilgewalt, ja das Gesetz selbst gewährt. Statt der erwarteten Unterdrückung der Irr- lehren ergeben sich erhöhte Gärung und Erbitterung gegen die Geistlichkeit. Leider herrscht in dieser Beziehung auch unter der Ortsgeistlichkeit in hohem Maße die Tendenz, vor allem durch polizeiliche und richterliche Maßregeln auf die Sektierer und Altgläubigen zu wirken, was dem Geiste unserer Mission vollkommen widerspricht. Polizeimaßregeln sind nicht unsere Maßregeln, so lautet der klassische Ausspruch des Metro- politen Georgij."

Diese Furcht vor der Polizei hat ihre gute Ursache. Nicht die Geistlichkeit, sondern Gericht und Polizei bestimmen, ob eine Sekte in Rußland gemeingefährlich sei oder nicht. Diese Bestimmung aber hängt ganz vom Rubel ab, der Willkür ist freier Spielraum gewährt, und wo Willkür herrscht, gedeiht auch die Bestechlichkeit, das Gesetz wird zum schlaffen Seile : die Großen können darüber hinwegspringen, die Kleinen unten durchkriechen, und wen Polizei und Gericht entschlüpfen lassen, dem läuft der eifernde Klerus vergebens nach. Man beschränkt die bürgerlichen und religiösen Freiheiten der Sek- tierer, man gibt ihnen keine Ämter in den Gemeinden und im Staate, man entzieht ihnen das Recht, bei Gericht gegen Recht- gläubige auszusagen, man verbietet ihnen das Reisen ins Aus- land, man duldet keine corJiacie oder oömecTBO , keine Ver- einigung oder Gesellschaft, man schließt jede ceht-b oder Ketzer-Einsiedelei. Aber alle diese Maßregeln gelten nur, so lange der Rubel nicht rollt. Das klingende Gold macht Tschi- nownik und Urjadnik taub, sie hören nicht mehr den Ruf nach Härte und Strenge und bekehren sich zum Satze Alexan-

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ders I. : ,, Geziemt es einer Regierung die verirrten Kinder der Kirche durch Heftigkeit und Grausamkeit in den Schoß der Orthodoxie zurückzuzwingen ?"

Vergebens sind hunderte Gesetze gegen das Sektenwesen geschaffen worden. Vergebens hat Nikolaj IL den zahllosen alten Gesetzen neue eigener Erfindung hinzugefügt und be- fohlen: daß die Altgläubigen keinen Gottesdienst abhalten dürfen; daß ihre Missionäre nicht predigen sollen; daß ihre Geistlichen sich nirgends öffentlich in ihrer Tracht sehen lassen ; daß niemand die orthodoxe Kirche einer Kritik zu unterziehen wage. Das Sektenwesen war nicht zerstörbar, so lange die Autokratie unantastbar auf ihrem Götzenthrone saß; es wird jetzt noch weniger als je ausgerottet werden können, da es, ein Geschöpf des Chaos unter den ersten Romanows, heute unerschöpfliche Nahrung im neuen Chaos unter dem vielleicht letzten herrschenden Romanow findet. Geboren von der Ver- wirrung, gesäugt und großgezogen von der wildesten Sitten- losigkeit, die je in einem Reiche geherrscht hat, bleibt es im Feuerregen der platzenden Bomben, in dem stürzenden Bau des russischen Sodom allein aufrecht als das furchtbarste Denk- mal dieser barbarischen Tyrannendynastie, dieses kulturlosen Reiches, dieses sklavischen Volkes, dieser sittenlosen Kirche. Wenn wir von den alten Häresien absehen, so erscheint das ganze russische Sektenwesen seit mehr denn zweihundert Jahren als die Folge der politisch-religiösen Wirren unter den ersten Romanows; anfänglich nur von religiöser und politischer Be- deutung, ist der Raßkol in seiner abschüssigen Entwicklung eine rein soziale und sittliche Erscheinung geworden, ein Spiegelbild aller bösen morahschen Instinkte des Reiches und Volkes.

Die Entstehung des großen Raßkol, der Sekte der Alt- gläubigen, wird im allgemeinen den Meinungsverschiedenheiten bei der Interpretation der Dogmen, der Revision der liturgi- schen Bücher durch den Patriarchen Nikon zugeschrieben. Würde dies der einzige Grimd sein, so hätte der Raßkol schon viel früher sein Haupt erheben müssen. Denn bereits im Jahre 1470 berichten die russischen Chronisten das Entsetzliche: „daß in dem Winter dieses Jahres einige Philosophen anfingen zu

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sa^en: „O Herr, erbarme dich unser!" statt: ;,Herr, erbarme dich unser!" Um dem abscheuhchen Greuel ein Ende zu machen und die richtige Leseart des Ausrufs festzustellen, berief der Zar einen gelehrten Mönch vom Berge Athos, den Griechen Maximi), und übertrug ihm die Aufgabe der Reini- gung des Textes in den Manuskripten. 2) Ein Schreiber, der die korrigierten Texte zu kopieren hatte, notierte in seinen Denk- würdigkeiten: „Als mir von dem Griechen der Befehl erteilt wurde, die falschen Wendungen und Ausdrücke unserer ah- ehrwürdigen Meß- und Gesangbücher zu tilgen, ergriff mich ein heiliger Schauer, eine entsetzliche unerklärliche Furcht!" Diese Furcht war verständlich. Für das rohe russische Volk, das im Scheine des Christentums seine alten heidnischen Götter ehrte, vom Wesen des Christentums nichts erfaßt hatte, war nur das Äußere von wahrem Werte. In den altehrwürdigen Wendungen und Ausdrücken der Meß- und Gesangbücher sah es gleichsam nur die uralten Beschwörungsformeln wieder; und man weiß, daß der Aberglaube Zauberformeln nur dann eine Wirkung zuschreibt, wenn sie selbst im Sinnlosesten einen verborgenen Sinn vermuten lassen, und an den Ausdrücken und Zeichen nicht im geringsten gerüttelt wird. Eine Korrektur in der Reihenfolge der Worte, eine Abweichung in irgend einer der Zeremonien: und der Zauber ist unwirksam. Die Änderungen Maxims verursachten also natürliche Aufregung, aber zu Aufruhr oder Kirchenspaltung kam es damals trotz- dem nicht. Das Volk begnügte sich damit, daß man ihm den kühnen Griechen zum Opfer brachte, den Verbesserer als Verderber der Kirchentexte für Lebenszeit in ein klöster- liches Gefängnis sperrte. Durch ein Jahrhundert wurden mehrere neue schüchterne Versuche unternommen, und die, welche den Reformen gegenüber Widerspenstigkeit bewiesen, wurden mit dem Kirchenbann belegt und mit der Knute be- arbeitet. Es fanden sich daher nur wenige, welche offen ihre Unzufriedenheit zu äußern wagten. Im geheimen gärte in-

1) Kostomarow hat in seinen (nur in russischer Sprache vorhandenen) „Biographieen" dem Mönch Maxim ein schönes Denkmal gesetzt.

2) Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland, 102. Leroy-Beauheu III 31 5 ff. Le Raskol. Hellwald a. a. O.

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dessen ein furchtbarer Aufruhr der Gemüter, und es bedurfte nur des zündenden Anlasses zum Aufflammen des Brandes. Diesen Anlaß gab das energische Auftreten des Patriarchen Nikon 1), der das Reformwerk unter dem Zaren Alexej zu Ende führte. Aber sein Triumph war ein Pyrrhussieg ohne- gleichen. Seine Verbesserungen wurden vom Kirchenkonzil angenommen, er selbst aber gestürzt und eingekerkert. Ein Bild echt russischer Sitte und Moral ! Während die Reform triumphiert, verschmachtet der Reformator hinter Gefängnis- mauern. Mit Nikon ging der hohe Klerus, gegen Nikon standen der niedere Klerus und das Volk, aber auch die Beamten- schaft und der Adel. Denn der Patriarch wollte nicht bloß die Kirche, sondern auch die Verwaltung reinigen von den In-tümern und Fehlern, an Stelle der Raubsucht und der Will- kür die Ehrlichkeit und die Gerechtigkeit setzen. Zwanzig Jahre lang dauerte dieser Kampf zwischen Patriarchat und Bojarentum; jede der beiden Parteien nannte sich die für die Rechtgläubigkeit streitende, und endlich im Jahre 1666 ergab sich das merkwürdige Resultat, das wir schon erwähnt haben : Nikons Reformen wurden gutgeheißen, Nikon selbst aber dem Hasse des Adels und Volkes zum Opfer gebracht. Dieses unsinnige und unmoralische System, welches das Recht bestrafte und die Falschheit belohnte, mußte die Sittlichkeits- begriffe des Volkes vollkommen verwirren. In dem Siege der Nikonschen Reformen sah man den Triumph eines römischen und protestantischen Machwerkes, in der Einkerke- rung Nikons den Triumph des gerechten Gottes über den schon

1) Nicolas de Gerebtzoff, Essai sur l'histoire de la Civilisation en Russie, II. Leroy-Beaulieu a. a. O. III 318. Aus den zahlreichen russischen Arbeiten über Nikon erwähne ich das schöne Werk des Metropoliten Makarij, die Skizze von Alexej Ssuworin in seinem Buche über hervorragende russische Männer, die kulturhistorischen Novellen und einen Roman von D. L. Mordowzew, endlich Schuscherins ältere Schrift, die 1788 in Riga auch in deutscher Übersetzung erschien. Vgl. Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland, 103. Nikon war zweifellos ein genialer Mann, und nicht an ihm, sondern an dem unglück- seligen Charakter des Volkes und an den unveränderlichen eigentümlichen Zuständen dieses Reiches lag es, daß er für Rußland nicht Schöpfer von Freiheit, Fortschritt und Wohlfahrt wurde.

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siegenden Antichrist. i) Als im Volke auf Grund dieser An- schauung die konsequente Folgerung zur Geltung gelangte, daß die Taten des Antichrist nicht befolgt werden dürften; als sich in weiterer Folge eine große Kirchenspaltung ergab da brachte es die merkwürdige Logik der führenden Geister dahin, folgenden Beschluß zu verkündigen: die Nikonsche Reform ist verdammenswert, aber gühig; und verdammt als Feinde der Rechtgläubigkeit sind jene, welche die Gültigkeit der neuen Kirchenordnung nicht anerkennen. Bannstrahl und Verfolgung aber vernichteten nicht das ,, Unkraut Satans", das winkende Martyrium schuf den Raßkol, der dem Volke im Glänze eines Verteidigers der uralten Formen, Traditionen, Sitten und Gebräuche erschien. Peters des Großen barbarische Europäisierungsmethode war neue Nahrung für die Alt- gläubigen. Zu den religiösen Motiven der Unzufriedenheit traten politische, soziale urd sittliche Momente. Peter der Große konnte dem rohen Russen als die wahre Inkarnation des Antichrist gelten, als der Herr der Hölle, als der Voll- strecker satanischer Gesetze. 2) Sein ganzes Wesen und Leben war geeignet, dem einfachen Volke als ein Spiegelbild der Hölle zu erscheinen. Seine und seiner Umgebung Sittenlosig- keit überschritt alles Maß. Man sah wie Peter brutal die Moralgesetze verhöhnte, in den gememsten Ausschweifungen

1) Kabbalistische Klügelei sieht in der Zahl 666 ein teufüches Zeichen, und Nikon, im Jahre i666 gestürzt, wurde auf mühsamem Umwege also zum Antichrist gestempelt.

2) Auch hier ergab die Kabbala durch Herbeizwin^^ng der Zahl 666 das untrügliche Satanszeichen. Jeder Buchstabe hat im Slawonischen, wie auch in verschiedenen anderen Sprachen, Bedeutung als Ziffer. IMit einigen kleinen Änderungen ergibt Peter der Erste 666, die teuflische Zahl. Aus dem verhaßten Titel IIimepaTopi,, den Peter statt des Ilapb-Titels annahm, war 666 herausge- bracht; man brauchte nur das m fortzulassen, so erhielt man -666 (n lo, n 8o, e 5, p loo, a I, T 300. 0 70, p 100); m bedeutet 40, dies hätte einen Strich durch die Rechnung gemacht und wurde deshalb geopfert, mit der Motivirung : der Antichrist habe schlauer V.'eise diesen Buchstaben hineingeschmuggelt, um sich nicht fangen zu lassen. Die Zahl 666 fanden die Sektierer später bei allen sektenfeindUchen Herrschern und Herrscherinnen heraus: Katharina II., Paul I. und Nikolaj I. ergeben nach Sektiererberechnung 666, wogegen diese Zahl bei den sektenfreundlichen Alexander I. und II. in keinem Falle soll herausgebracht werden können.

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öffentlich schwelgte, wie er seine Gattin verstieß und allen Gesetzen zum Trotze bei ihren Lebzeiten eine gemeine Hure zur Kaiserin erhob, wie er selbst dieser Dirne zuliebe seinen leiblichen Sohn Alexej ermordete. Auch war er vom Satan gezeichnet, da er trotz seiner riesenhaften Gesundheit stets krampfhaften Zuckungen erlag, die bei allen Abergläubischen als Zeichen einer heimlichen Verbindung des Leidenden mit dem Teufel gelten. Dieses Gefäß der Sünde, dieser grimmige Werwolf war nicht der weiße Zar, sondern ein Usurpator; war auch nicht ein Zarenkind, sondern ein Wechselbalg, er- zeugt aus einem unreinen verbrecherischen Geschlechtsakte des Antichrist Nikon mit einer Teufelin. Andere wollten wissen, daß der wahre Zarensohn Peter Alexejewitsch bei einer Meer- fahrt verunglückte und daß der Teufel an Stelle des Er- trunkenen einen Juden vom Stamme Dan untergeschoben habe, der dann im Auftrage Satans die Zarin Jewdokia ins Kloster verbannte, den Prinzen Alexej tötete, die deutsche Hure Ka- tharina heiratete und Rußland unter das Joch von Ausländern zwang. Nur der Hülfe des Teufels konnte es ja Peter ver- danken, daß ihn die schwersten Niederlagen nicht zerschmet- terten, daß er bei Poltawa den Türken entrann, daß er zum Schlüsse so unmögliche Siege erfocht. So entwickelte sich der Widerstand gegen die kirchlichen formalen Neuerungen zu einer Opposition auf allen Gebieten des russischen Lebens, und die Altgläubigen klammerten sich nicht bloß an die alten Riten, sondern auch an die alten slawonischen Lettern i), an

1) Sie wurden deshalb die gewissenhaften Hüter der lyrischen und epischen Schätze, die sorgsamen Bewahrer der Romanzen und Heldenlieder. Melj- nikow-Petscherskij fand bei ihnen ein Lied zur Feier des Frühüngsfestes, das deutlichen Anklang an altslawische Poesie verrät, und Rybnikow und Hilfer- ding sammelten den größten Teil der von ihnen herausgegebenen Bylinen oder HeldenUeder bei den Rhapsoden der Raßkoljniki in den Gouvernements Olonez und Tschernigow. Die Berichte dieser Literaturforscher sind auch für die Sittengeschichte von großem Interesse. Bei der Bevölkerung, die dort großenteils aus Altgläubigen besteht, haben sich die alten Trachten, Gebräuche, Sagen, Lieder und Aberglauben ganz unverändert erhalten. Vgl. ntcmi coßpaHHMH n. H. PtiÖHHKOBMjn,, 1861— 1867. OneH^CK-isi 6u.inni.i, 3anncaiiiiuH AaeKcaH;tpo>n, OeoAopoBinojn, riiibcpep^TiiHroM-L .itioM-L 1871 roja. C.-nexepövpn. 1873.

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die alten Trachten, an den langen Barti), an die unveränder- lichen Gebräuche im Privatleben, und in Konsequenz alles dessen verabscheut man alles neue nicht bloß in Religion, sondern in jeder Beziehung bis hinab zu den Speisen und Getränken.2) Indem nicht bloß die Kirche durch ihre Mittel, die Sektierer zur Orthodoxie zurückzuführen trachtete, sondern auch die Regierung mit ihrem Drakonismus gegen die harm- lose Anhänglichkeit der Raßkoljniki an den alten Sitten auf- trat, wurde der trotzige Widerstand gegen die Kirche wie gegen den Staat hervorgerufen, und der Raßkol zu einem Feinde der Kirche wie des Staates gewaltsam erzogen. Die religiösen Fragen und der kleinliche Streit um die Dogmen wurden vermengt mit politischen, sozialen und sittlichen Wider- setzhchkeiten ; dem Antichrist, der jetzt also seit zweihundert Jahren Rußland beherrscht, wird in allen Fällen der Gehorsam verweigert, und der Tod in der Schlacht gegen Satan ist ein ersehntes Martyrium. Die Orthodoxie wurde zur Religion der Herrschenden und der Bedrücker, das Schisma die Zu- flucht der Leibeigenen, der Mühseligen und Beladenen.

1) Der Langbart namentlich ist das äußere Zeichen der Zusammen- gehörigkeit aller Altrussen, das treu bewahrte und ängsthche Sinnbild der guten alten Vorväterzeit. Man vgl. oben mein Kapitel über den Barbier als Er- zieher, sowie Leroy-Beaulieu a. a. O. III 337.

2) Daher sind Tabak, Kaffee und Tee verpönt. Ein Sprichwort der Alt- gläubigen sagt : Wer raucht, verscheucht den heiligen Geist ; wer Kaffee trinkt, wird vom Blitz getroffen; wer Tee trinkt, kann nicht selig werden. Vom Tee heißt es auch symbolisch: Ein Pfeil kam aus China nach Rußland geflogen und durchbohrte das Herz des Volkes.

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II. Erotische Sekten und Flagellanten.

Altgläubige und Gleichgläubige Güterverteilung verlangt Verfolgung der Altgläubigen Kleinliche Ursachen der Ketzerei Die Malakanen oder Milchesser Abarten dieser Sekte Weibergemeinschaft Duchoborzen Ein Gouverneursbericht Anständigkeit Grund zur Verfolgung Abarten der Duchoborzen Eheliche Ungebundenheit Strafe für zuchtlose Frauen

Ermordung schwächlicher Kinder Stundisten Pobjedonoßzews Angst vor Sozialpolitik Katkow gegen die Stundisten Neu-Stundisten und Flagellanten Das Sektenwesen in den baltischen Provinzen Wie die deutschen Orden Livland christianisierten Salonstundismus oder Paschko- ^\ismus Verfolgung rationalistischer, Duldung erotischer Sekten Die Sselesnowzy Der Bauernapostel Ssutajew und Graf Leo Tolstoi Sekte der Anhänger der „Kreutzersonate" Närrische Sekten Spuckersekte Die Verneiner Die Xichtbeter Seufzende Stumme Parallele zwischen russischen und kathoUschen Sekten Roheit und Wildheit der russischen Sekten Peter III. als Sektengott Napoleon als Erlöser Anarchie Neue Heilande Panow Christus Christussucher Selbstgötter Chlysty oder Gottmenschen Religion und Erotik Gott Zebaoth Daniel Filipowitsch

Iwan Timofejewitsch Christus Parodie auf die Auferstehung Christus auf Erden Ein Christus für jede Gemeinde und jede Generation Neue Gottesmütter Die heiüge Jungfrau Uljana Wassiljew Der Sektenwall- fahrtsort Staroje Rolle der russischen Frau im Sektenwesen Die vor- nehme Gesellschaft unter erotischen Sektierern und Flagellanten Tötung der Sünde durch die Sünde Unzucht in Sektenklöstern Die Sekte im Michaelspalast Russische Adamiten Tänzer Springer und Hüpfer Vortrag biblischer Obszönitäten Die Sekte der Lichtauslöscher Die

Skakuny als Kindermörder.

Der Raßkol in Rußland ist, wie wir gesehen haben, aus ganz geringfügigen formalen Streitigkeiten und Textfragen hervorgegangen und schien in seinem Beginne eine leicht zu überbrückende Kirchenspaltung. Und doch gibt es in keiner Religion ein ähnliches Beispiel dafür, daß ein Schisma von so nichtigem Ursprung solche Dauer und im Fortleben solche wachsende Kraft gezeigt hätte. Den großen Stamm des Raßkol bilden die Starowerzy ^j, die mit unausrottbarer Zähigkeit an

^) CTapoBipui.!. wörtlich die Altgläubigen, auch CTapoo6pa.iui>i. die Alt- bräuchigen; vgl. die Skizze von II. VK'ii.iKnm.. Crapooi'pH.iui.t na Bo.irl.. C'.-IIi^t. HtaoMocTii, HUBitp. 1904.

Stern, Geschichte der üflfentl. Sittlichkeit in Rußland.

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dem Formalismus und Buchstabenkultus hängen. Die Alt- gläubigen sind daher von Peter dem Großen als die Fort- pflanzer der reaktionären Traditionen betrachtet worden, und sie sind auch heute unter Nikolaj IL Elemente, die eine Re- form in europäischem Sinne mit aller Gewalt verhindern würden. Sie sind konservativ in ihren Grundprinzipien. Der früh verstorbene älteste Sohn Alexanders IL, Großfürst Ni- kolaj, fragte einmal einen Raßkoljniki) : ,, Warum verwerft ihr unsere Kirche ?" und erhielt darauf zur Antwort : ,,\Veil dies unsere Väter und Vorväter gelehrt haben". Und einem Richter entgegnete ein anderer Altgläubiger : „Das sind die ehrwürdi- gen Gebräuche unserer Väter, die wir befolgen. Man verbanne uns wohin immer und lasse uns nur den alten Glauben!" 2) Da in Rußland aber alles Lebende und Tote ewige Kontraste aufweist, ist auch der Raßkol, sonst so konservativ und reak- tionär, gleichzeitig revolutionär, ja anarchisch. Wie die Ortho- doxie die Religion der Herren, ist der Raßkol der Glaube der Sklaven. Die Entstehung des großen Schisma fällt fast zu- sammen mit der Einführung der Leibeigenschaft. In der Ab- trünnigkeit von der Kirche fanden die Geknechteten einen Trost für ihre Leiden; den Unterdrückern sahen sie wohl ihre Leiber ausgeliefert, ihre Seelen aber blieben frei in einem Glauben, der dem der Herren entgegengesetzt war. Leroy-Beau- lieu^) sieht im Raßkol nicht einzig und allein ein Krankheits- symptom, ein Zeichen geistiger Schwäche, sondern auch einen Beweis, wenn nicht für Verstand, so doch für Gewissenhaftig- keit, Pflichttreue und Charakterstärke des Russen. Dies kann nur im Großen und Ganzen und nur für Jene gelten, die sich aus religiösen und moralischen Motiven von der orthodoxen Kirche getrennt, aber in dem Schöße ihrer Gemeinden auch den Armen und Bedrückten Zufluchtsstätten geboten haben ; reaktionär und konservativ in allen Fragen der Religion, des Staates und der Gesellschaft, nährten diese Altgläubigen doch

1) PacKO.ibHiiin, heißt zwar jeder Sektierer; man bezeichnet aber damit im allgemeinen den Altgläubigen.

2) <l\ B. JiiHaHOBi., PacKo.ii.HnKii II ocTpoilunhii. I 28.

3) a. a. O. 111-356.

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immer die Hoffnung auf ein Rußland, in dem auch der Mu- schik wird frei leben können; drängten sie nach Erfüllung der Forderung, die in einer Verteilung von Grund und Boden unter die Bauern 1) das Prinzip der allgemeinen Gerechtigkeit auf- stellt. Aber wie gering ist die Zahl der Logiker und Ver- standesketzer; wie schwächlich diese große Gruppe der Sta- rowerzy gegenüber den zahllosen kleinen Gruppen, die sich auch religiöse Sektierer nennen und nichts anderes sind als Nihilisten oder Sittensünder.

Zwischen den Altgläubigen und den orthodoxen Russen bestehen tatsächlich nur formale Differenzen in betreff des Kultus; es konnte deshalb geschehen, daß die Regierung einem Teil dieser Schismatiker, unter Einräumung von Konzessionen von beiden Seiten, staatliche und kirchliche Anerkennung ge- währte. Man nennt solche Halbbekehrte Jedinowerzy-) ; sie dürfen ihren Kultus frei ausüben; sie haben zwar ihre eigenen Priester, die jedoch von der orthodoxen Kirche bestätigt wer- den; sie besitzen ihre eigenen Alänner- und Frauenklöster, deren Regeln sich aber von den Klosterregeln der Orthodoxen kaum unterscheiden. Auch die noch im Schisma ver- bliebenen Starowerzy sind bloß theoretische Abtrünnige. Sie folgen zwar meist ihrem Spruche : ,,Wer Gott fürchtet, geht nicht in die Kirche!" aber sonst geben sie keinen Anlaß zu Verdrießlichkeiten, sind angesehene Handwerker, reiche Kauf- leute, fleißige Bauern, die ihre Religion in Übung von Wohl- taten, in Beachtung von Recht, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit, und das Heil auf Erden in der Arbeit sehen. Die russische Regierung hat nun gerade diese ruhigen Frommen zu Opfern ihrer Verfolgungssucht gemacht 3), und so durch einen zweck-

1) Unter Alexander II. richtete der Raßkoljnik Adrian Puschkin, ein Kaufmann aus Perm, Briefe an den Zaren und die Minister, worin er erklärte : Die Zeit sei da, wo das Land, das Eigentum Gottes, unter alle verteilt werden müsse. Er erhielt dafür fünfzehn Jahre Zwangsaufenthalt in dem Kloster für kirchliche Verbrecher zu Ssolowezk am Weißen Meere. Puschkins Schüler, der Arzt Korobow, entfloh beizeiten nach der Schweiz und gab in Genf ein Blatt heraus, das Organ der ,, Kinder Gottes", wie sich die bald darauf ent standene Puschkinsche Gemeinde von Sektierern nannte.

2) y];i.iuioh\,i>vni,, der Gleichgläubige.

3) Die Verfolgten flüchteten aus den Zentren in die Verborgenheit der

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losen Druck einen Fanatismus erzeugt, der dem Ausgangs- punkte des Schismas längst nicht mehr entspricht. Das wm- kende Martyrium verlockte Zahllose, sich durch stets gesteigerte Wahnsinnslehren zu Prophetentum und Erlöserglorie hinauf- zuschwingen.

Anfänglich kannte man neben den Starowerzy nur solche Sekten, die aus dogmatischen Meinungsverschiedenheiten ent- sprungen waren. So gab es einmal einen Streit über die Frage, ob man nach dem dreifachen Gloria zwei- oder dreimal Halle- luja singen müsse. Ein anderes Mal trennten sich viele von der Kirche, weil sie den Namen des Heilands nicht mehr lissus, dreisilbig, sondern Issus, zweisilbig, auszusprechen begannen. Die Fragen, ob man beim Opfergange nach rechts oder links schreiten, ob beim griechischen Kreuz der Hauptstab von zwei oder drei Stäben durchschnitten sein, ob man sich mit zwei, drei oder mehr Fingern bekreuzigen müsse, alle diese Fragen führten zu Kirchenspaltungen.

Nur drei von den vielen Hunderten Sekten sind es, die von religiösem Standpunkte aus eine ernste Betrachtung verdienen würden, weil sie tatsächlich auf Prinzipien begründet sind: das sind die Sekten der Malakanen, Duchoborzen und Stun- disten.i) Bei allen dreien erkennt man den Einfluß euro-

fernen Gouvernements, in die Wälder von Wjatka, Wologda, Kostroma, in die Einöden Sibiriens oder über die Grenze nach Polen, Rumänien, Öster- reich. Zahlreiche Altgläubige siedelten sich namentUch in den Regionen der . Wolga an, deren weite Landschaften mit ihrem Reichtum an Wäldern und Wassern für ganze Völker überflüssigen Raum, boten, v gl. über diese An- siedlungen die eingangs zitierte Skizze: VKii.iKiim,. CTiipoonpHjiubi. "N'iele Sektierer flüchteten auch in die nördÜchen Regionen, nach Olonez und Ar- changelsk; sie sind unter der aUgemeinen Bezeichnung nosiopubi, die am Meere Wohnenden, bekannt. Die ersten Mittelpunkte von Sektierern bildeten vuinu oder Einsiedeleien, eine Art Klöster, die in Wäldern errichtet wurden; rund herum ließen sich immer neue Anhänger nieder. Unter Nikolaj I. wurden die berühmtesten ckiiti.i verstört. Vgl. darüber Leroy-Beauheu a. a. O. III 382. Trotzdem sind noch.'im Norden und Osten besonders, solcher Einsiedeleien zahllose übriggebüeben. Diese cKirru wurden im Laufe der Zeit Zufluchts- stätten von Verbrechern und Höhlen der Wollust und Sittenlosigkeit, da sie den Behörden häufig unbekannt bleiben dank der großen Ausdehnung der Wälder und der Verschwiegenheit der Sektierer.

1) Diesen drei Sekten habe ich schon in meinem Buche ,,Aus dem mo-

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päischer, namentlich protestantischer Anschauungen. Als die älteste von ihnen gilt die der Alalakanen oder Milchesser i), welche so genannt werden, weil sie in der Fastenzeit im Gegen- satze zu den Orthodoxen Milch genießen. Die Malakanen behaupten, daß ihr Schisma schon dem zehnten Jahrhundert angehörte; es scheint jedoch, daß der Ursprung dieser Sekte aus dem sechzehnten Jahrhundert datiert und von aus dem Auslande gekommenen Protestanten hervorgerufen wurde. Die erste offizielle Erwähnung der Malakanen enthält ein Akten- stück aus der Zeit der zweiten Katharina. 2) Haxthausen fand 1847, daß die Milchesser damals wenig zahlreich waren; jetzt übersteigt ihre Menge viele Hunderttausende. Ausgenommen einige wenige Gemeinden, die in Tambow, dem augenschein- lichen Ursprungsorte der Sekte, leben dürfen, sind die meisten nach der Krim, dem Kaukasus und Sibirien verbannt worden, wo sie blühende Kolonien gebildet haben. Mackenzie Wallace meint, daß ihre Lehre der presbyterianischen ähnlich sei; sie beruhe aber nur auf mündlicher Tradition; ihre Theologie sei deshalb noch in einem halbflüssigen Zustande, und so gebe es lokale und individuelle Meinungsverschiedenheiten unter ihnen. 3) Allgemein gilt bei ihnen folgendes : Die Heilige Schrift ist die einzige Richtschnur für Glauben und Wandel des Menschen : sie darf aber nur dem geistigen und nicht dem wörtlichen Sinne nach ausgelegt werden. Auf Erden gibt

dernen Rußland" vor Jahren eine ausführliche Schilderung gewidmet. Auch bei Mackenzie Wallace (über die Malakanen namentlich), bei Haxthausen I 376 417 und bei Leroy-Beaulieu III 466 485 findet man genügend ein- gehende Darstellungen. Der Vollständigkeit halber gehe ich hier über diese drei Sekten nicht einfach hinweg, aber ich kann mich ganz kurz fassen und brauche nur die wichtigsten und neuesten Momente hervorzuheben.

1) Sie selbst nennen sich wahrhaftige Christen, iictiiiihi.ic xpiicTJiiio.

2) Ob die Duchoborzen oder die Malakanen älter seien, ist eine alte, noch unentschiedene Streitfrage. Die Malakanen nennen ihre Sekte die Mutter der Duchoborzensekte. Haxthausen hält ebenfalls die der Malakanen für die ältere (I 379). Die Ideen beider Sekten berühren sich wohl manchmal, aber eine Verbindung ist kaum herzustellen, und zwischen den einen und den anderen herrscht jedenfalls seit langer Zeit große Feindschaft.

3) So sagte auch schon Haxthausen (a. a. O. 380): ,,Sie sind selbst unter- einander nicht völlig einig in ihren Lehren".

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es keine Autorität, die über zweifelhafte Punkte entscheiden könnte, und deshalb darf jeder sie nach seinem eigenen Ur- teile auslegen. Haxthausen erhielt von Malakanen selbst eine ausführliche Darstellung ihrer Auffassungen, woraus hervor- geht, daß in ihre Anschauungen westeuropäische spiritua- listische Ansichten und in ihre Vorschriften selbst ausgeprägte protestantische Redewendungen eingedrungen sind.

Die Malakanen glauben an die Bibel als an das Wort Gottes, an die Einheit Gottes in drei Personen. Bei der Aus- legung der zehn Gebote bekennen sie, dem Zaren und jeder Obrigkeit Gehorsam schuldig zu sein. Für einen Totschlag zählen sie es auch, wenn jemand einen beleidigt, verfolgt und haßt; nach den Worten Johannis : jeder, der seinen Bruder hasset, ist ein Mörder. Trunkenheit, Völlerei, böse Gesell- schaft sind zu meiden; und Unzucht und ,, geistiger Ehebruch ist : wenn jemandem diese Wek und ihre geschwind vorüber- rauschende Lust zu teuer ist". Alle Leidenschaften müssen bezähmt und unterdrückt werden; jede Gewalttätigkeit, List, Betrügerei wird dem Diebstahl gleich geachtet. Nach diesen Glaubensregeln kommen bei Bewertung der Sakramente die spiritualistisch-protestantischen 1 ) Ansichten zur Geltung. Vom Sakrament der Taufe sagen sie, daß sie darunter die geistige Reinigung von der Sünde im Glauben vmd die Tötung des alten Menschen in uns verstehen; sie waschen wohl die Neu- geborenen, aber sie nehmen dies nur als eine leibliche Reini- gung, nicht als eine Taufe an. Priester, Bischof oder Hohe- priester sind bloß in der Person Christi zu suchen; die Mala- kanen kennen daher nur Alte, die aus ihrer Mitte ausgewählt werden, um Gottes Worte vorzulesen und die geistigen An- gelegenheiten zu leiten. 2) Das Sakrament der Ehe endlich wird durch die gegenseitige Einwilligung der Verlobten und durch gemeinsames Gebet der Gemeindemitglieder ersetzt; die

1) Auch Leroy-Beaulieu meint, der Kultus der Malakanen sei indirekt aus der Reformation Luthers und Calvins hervorgegangen, a. a. O. III 468.

2) Leroy-Beaulieu III 467: „Wir sind allesamt Priester", sagen die Molo- kaner; der Älteste hat gar keine Gewalt über die Gemeinde und zeichnet sich während des Gottesdienstes vor den übrigen Mitgliedern nicht einmal durch ein besonderes Gewand aus.

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so geschlossene Ehe ist unauflöshch. Den Begriff der Kirche sieht man in dem Worte Christi : ,,,Wo Zwei oder Drei ver- sammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen" ; und man braucht keine steinernen oder hölzernen Tempel. Eine Kirche, sagen die Malakanen, besteht nicht aus Balken, sondern aus Rippen, des Menschen Brust ist der Tempel Gottes. Natürlich verwerfen sie auch die Heiligenbilder. Bei einer Prozession in Nikolajew, Gouvernement Ssaratow, sprang ein Malakane in die Reihen der Orthodoxen, erfaßte ein Hei- ligenbild, warf es zu Boden und trat es mit den Füßen. Der Fanatiker wurde von den Orthodoxen auf der Stelle getötet. Die Malakanen zählen zwar zu den friedlichen Sektierern, doch fehlt es auch bei ihnen nicht an Verirrungen ins Extrem.e, und es gibt einige Malakanengemeinden, denen man nachsagt, daß sie nicht bloß Asyle für Verbrecher seien, sondern auch selbst die Verfertigung falscher Pässe und Falschmünzerei als von der Religion erlaubte Dinge betreiben. Es gibt sogar Mala- kanengruppen, die längst nicht mehr die Lehren der Mutter- sekte beachten, die die Behörden und die Gesetze verhöhnen, Eid und Militärpflicht verweigern, sich der Steuerzahlung wider- setzen, die Gütergemeinschaft predigen (an der Spitze dieser Gruppe befand sich der berühmte Popow, der von Nikolaj I. an den Jenissej verbannt wurde* und die Weibergemeinschaft i) verlangen fder Prophet dieser Gruppe erstand erst während der Regierung Alexanders IL in Ssamara).

1) Auch katholische und protestantische Sekten haben häufig die Poly- gamie und die Weibergemeinschaft als religiöses Gesetz aufgestellt. Die Poly- gamophili traten in Schriften und Handlungen für die Vielweiberei ein. Der Italiener Ochinus predigte im i6. Jahrhundert in Zürich die Polygamie und mußte deshalb nach Polen flüchten. Die Sekte der David Georgisten, eben- falls im i6. Jahrhundert, hatte die Vielweiberei statuiert. Berühmt wurde die Lehre des Carpocrates von Alexandrien, der im zweiten Jahrhundert lebte; er erklärte: Es gebe nichts Böses in der Natur, das Böse bestehe nur in der Einbildung des Menschen. Der Mensch sei aber in diesem Leben unter der Gewalt böser Engel, die man am besten durch schändliches Leben ver- söhne. Daher solle man lasterhaft leben und namentlich die Weiber gemein- schaftlich besitzen, so vde alle gemeinschaftlich das Licht der Sonne genießen oder gemeinschafthches Recht haben auf die zur Nahrung dienenden Mittel. An die Münsterer und Mormonen brauche ich wohl nicht besonders zu erinnern.

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Den ursprünglichen Malakanen verwandt sind die ur- sprünglichen Duchoborzen^) oder Geisteskämpfer, die man die Quäker Rußlands genannt hat, weil sie an die unmittelbare Einwirkung des heiligen Geistes glauben. 2) Sie besitzen eigen- tümliche Vorstellungen von Seele, Verstand und Herz. Ihre Lehren sind ebenfalls bloß in mündlichen Traditionen erhalten, hn Jahre 1805 Avurde dem Kaiser Alexander eine offizielle Dar- stellung des Duchoborzentums geliefert. In diesem Dokument heißt es. daß die Duchoborzen um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts auftauchten. Sie verwarfen alle Gebräuche und Riten der orthodoxen Kirche, die Taufe und die Kommunion. Ihren Namen erhielten sie im Jahre 1785, wahrscheinhch vom Erzbischof von Jekaterinoßlaw. Bis dahin nannte die Regie- rung sie Ikonoklasty3), wörtlich Heiligenkastrierer, weil sie die Verehrung der Heiligen verneinten, oder auch Ikonoborzy, Bilderstürmer; sie selbst heißen sich Christen und nennen die anderen : Laien. Als ihre Apostel bezeichnen sie drei Knaben aus ältester Zeit : Hanani, Asaria und Misael, die den Martertod erlitten, weil sie sich geweigert hatten, Nebukadnezars Bild an-

1) Von ;tyxt, Geist, und ocipem,. Ringer oder Kämpfer. Jyxoöopeuh kann Geist- oder Lichtbekämpfer (so meinen es die Orthodoxen) ebensogut wie Geistes- oder Lichtkämpfer heißen (und den letzteren Sinn meinen die Sektierer selbst).

2) Unter den wichtigeren Arbeiten über diese Sekte erwähne ich: Die Studie (in russischer Sprache) des Kijewer Professors Nowizkij (1882); von deutschen Berichten: Die Mitteilungen von Petzholdt, Karl Koch, Wagner, Erckert, Thielemann in ihren kaukasischen Reiseschilderungen und eine überaus interessante Skizze von einem ungenannten Offizier im XI. Bande der Bal- tischen Monatsschrift. Haxthausen und Leroj-Beaulieu wurden bereits früher zitiert. Die Verfolgungen, denen die Duchoborzen in jüngster Zeit in Ruß- land ausgesetzt waren und die zu ihrer teilweisen Auswanderung nach Kanada führten, veranlaßten zahlreiche Artikel in russischen Zeitungen 'und nament- hch Verteidigungsschriften des Grafen Leon Tolstoi. Einige der letzteren wurden in fremde Sprachen übersetzt, so von J. W. Bienstock in seinem Buche ,, Tolstoi et les Doukhobors, faits historiques, reunis et traduits du russe", Paris 1902. Unter der Redaktion von Bontsch-Brujewitsch planten die Russen Tschertkow, Birukow und Tregubow die Herausgabe eines die Duchoborzen betreffenden Aktenmaterials in 16 Riesenbänden.

3) IIkohTj, Heiligenbild; luacTB, legen, bauen, hat auch den Sinn von Wallachen, kastrieren.

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zubeten^); und ebenso müssen sie selbst alle leiden für ihre \'erachtung der Ikone.

Wegen der Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren, konnten sich die Duchoborzen anfangs nirgends in kompakten Massen ansiedeln, sie mußten sich durch das ganze Reich zer- streuen. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts fand man sie zumeist in Archangelsk, Asow, Georgjewsk, Stawropol, Kola, Irkutsk und Kamtschatka, also an den äußersten Grenzen im Süden, Norden und Osten. Der früher erwähnte offizielle Bericht sagt, daß man, wenn von der religiösen Frage ab- gesehen werde, das soziale und Familienleben der Duchoborzen als ein musterhaftes bezeichnen müsse. 1792 schrieb der Gou- verneur von Jekaterinoßlaw an den Oberprokurator des Sy- nods, daß ,, diese Häretiker die Trunkenheit und den Müßig- gang hassen und regelmäßig ihre Steuern zahlen". Abeir sie mußten doch verfolgt werden, ,,weil sie nicht in die Kirche gehen, nicht die orthodoxen Fasten einhalten, die Heiligen- bilder nicht ehren, beten ohne das Kreuz zu schlagen und weder an den Vergnügungen noch an den Ausschweifungen der Laien teilnehmen." Solcher Verbrechen wegen wurden .die Sektierer zumeist nach Sibirien verbannt. Der genannte Go.uverneur von Jekaterinoßlaw versicherte : sie verdienten trotz ihrer von ihm selbst hervorgehobenen Tugenden kein Mitleid, „denn ihre Häresie wird nur noch gefährlicher durch ihr anständiges Leben". Der Gouverneur rief also nach dem Scheiterhaufen, Katharina gewährte bloß die Deportation. Ale- xander L bewies den Duchoborzen, wie allen Sektierern, To- leranz und überließ ihnen Land im taurischen Gouvernement; aber die Zeit der Ruhe dauerte nur kurze Zeit. Die heftigsten Verfolgungen hatten diese Sektierer in unseren Tagen zu er- leiden. Im Kaukasus überfielen 1895 Kosaken die Ducho- borzendörfer, töteten die Männer und notzüchtigten die Frauen 2), und seither wanderten viele von diesen Sektierern

1) Es ist dies die Geschichte vom feurigen Ofen, die der Prophet Daniel erwähnt.

2) Über diese Grausamkeiten der Regierungsorgane bei der Verfolgung der IJuchoborzen vergleiche man die Berichte bei Bienstock, beispielsweise auf Seite 49, 61, "jj, 80, 87, 94, loi, 115, 176.

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nach Amerika aus. In Rußland sind allerdings noch Hundert- tausende zurückgeblieben; deren Häupter, wie der berühmte Werigin, wurden jedoch für ewige Zeiten nach Sibirien ver- bannt.

Die Sittenlehren!) der Duchoborzen verdammen die Leidenschaften, verachten die sinnhchen Freuden; selbst die reinen Freuden der Natur, die Blumen der Erde, der Gesang der Vögel lenken den Menschen ab vom Geistigen und fesseln ihn, daß er sich nicht zu erheben vermag. Gesellschaftliche Unterschiede kennen die Duchoborzen nicht, alle Menschen sind gleich, weil alle gefallen und alle der Versuchung unter- worfen sind. Weder Herren noch Knechte gibt es. Als Grund- lage für die Eingehung der Ehe ist bloß die Einwilligung der Verlobten, als Grundlage für die Fortdauer die Liebe, die ihrem Wesen nach göttlicher Natur ist, erforderlich; hört die Liebe auf, muß die Ehe getrennt vverden, weil sonst das göttliche Band zu einer fleischlichen Sünde würde.

Wie bei den Malakanen entstanden auch bei den Ducho- borzen Abzweigungen, bei denen namentlich das Wesen der reinen Sittlichkeit verschwunden ist; und wenn auch nicht, wie bei einigen Malakanengemeinden, die Weibergemeinschaft eingeführt wurde, so kennt man doch auch bei diesen Ducho- borzenabarten kaum mehr den Begriff der Treue im Punkte der Liebe. Solange eine Frau sündigt, ohne öffentliches Ärger- nis zu erregen, bleibt sie straflos ; nur wenn ihre Sittenlosig- keit alles Maß überschreitet, wird der Mann, falls er selbst noch immer schweigen wollte, von seinen Glaubensbrüdern gezwungen, das zuchtlose Weib vor das Gemeindegericht zu

1) Die ausführliche amtUche Darstellung des Duchoborzenglaubens ent- hält das Buch von Bienstock, S. i6 36. Man vergleiche auch dife symboüsche Schilderung in meinem Buche „Aus dem modernen Rußland" S. 127 ff. Die Lehre der Duchoborzen bildet ein ganzes System, dessen genaue Wiedergabe viele Kapitel erfordern würde. Aber als rein theologisch-mystisch-philosophische Frage fällt sie aus dem Rahmen unseres Werkes und muß den Raum frei- lassen für jene mit der Geschichte der Sittlichkeit inniger zusammenhängenden Sekten. Haxthausen gab übrigens schon in seinen Studien über Rußland I 389 ff. Übersetzungen von Bekenntnissen der Duchoborzen selbst, die vielleicht die beste Aufklärung verschaffen.

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schleppen; die Strafe der für schuldig befundenen Frau be- steht darin, daß man sie nackt durch die Straßen schleift und mit Kot bewirft. Andere dieser Duchoborzengruppen sollen den Kindermord als Glaubensartikel betrachten; sie sagen, daß die Seele als Gottes Ebenbild nur in einem gesunden Körper wohnen dürfe ; und deshalb töten sie alle schwäch- lichen und mißgestalteten Kinder. Als Nikolaj I. die Ducho- borzen verfolgte, begründete er es damit, daß diese Sektierer von einem Mordfanatismus beseelt wären; angeblich bestand bei ihnen eine Art Inquisition, die jedes im Verdachte des Unglaubens stehende Gemeindemitglied unbarmherzig ver- urteilte und entweder durch das Schwert richtete oder leben- dig begraben ließ.

Von den drei Sekten, die ursprünglich erhabenen Lehren folgten, sahen wir also schon zwei im Laufe der Jahre, und nicht zum wenigsten durch die Verfolgungen der Regierung, in ihren Ausläufern völlig ausgeartet. Nun werden wir das gleiche Resultat auch bei der letzten dieser drei rationalistischen Sekten finden, bei den Stundisten.^j Deren L'rsprung erscheint als ein rein protestantischer. In einer reformierten Kolonisten- gemeinde bei Odessa wurde von einem Pastor der altwürttem- bergische Gebrauch des religiösen Stundenhaltens gepflegt. Diesen Kolonisten gesellte sich vor etwa vierzig Jahren der orthodoxe Muschik Michael Ratuschny aus Osanowa zu; die protestantisch-deutschen Andachtsübungen gefielen ihm so, daß er nach seiner Rückkehr in die Heimat Genossen um sich sam- melte und mit ihnen die Gemeinschaft der Stundisten-j grün- dete. Als Lehre gab sich die neue Sekte folgendes : Keine Kirche, keine Heiligenbilder, keine Priester, keine Sakramente.

1 ) Kurz mögen hier auch die deutschen Chiliasten in Transkaukasien erwähnt werden, die eine reine Pietistensekte sind und auf das russische Sekten- wesen keinen Einfluß ausgeübt haben. Sie wurden ausführhch von Professor Kolenati in seiner Schrift ,,Die Bereisung Hocharmeniens und EUsabethpols" geschildert; Jloritz Busch hat in seinem Buche „Wunderliche Heilige, Reh- giöse und politische Geheimbünde und Sekten", Leipzig 1879, S. 121 139 einen Auszug aus Kolenati.

2) Das deutsche Wort Stunde wurde ins Russische übernommen : IllTyn,ia. daher lUTViaiicn..

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Branntwein, Tabak, Fluchen und gemeine Reden sind ver- boten. Strenge Arbeit ist Pflicht, aber Ersparen verboten, denn Überfluß führt zu Lastern. Alle Menschen sind gleich, nicht einmal der Zar ist höher zu schätzen als jeder der Men- schen, ein rechter Christ kennt nur Gott als Oberhaupt ; doch fügen sich die Stundisten den Staatsgesetzen, weil das wahre Gottesreich auf Erden noch nicht gekommen ist. Die Ehe beruht bloß auf freiem Übereinkommen und wird vor dem Ältesten der Gemeinde geschlossen, eine Scheidung ist nicht

zulässig.

In einem aus dem Jahre 1898 stammenden Berichte des Oberprokurators des Heiligen Synodi) ^ird das Gespräch eines russischen Missionars mit Stundisten mitgeteilt; letztere sag- ten : „Wir wünschen nicht euch nachzueifern, denn wir lieben nicht eueren Christus; ihr habt mit euerem Christus die Men- schen zu Hunden gemacht, w'r aber w^ollen mit unserem Christus freie Menschen bleiben. Haben wir uns vom Herrendienste frei gemacht, werden war auch den Popendienst los werden." Der Oberprokurator Pobjedonoßzew bemerkte zu diesem Be- richte, man müsse dem Stundismus viel Gewicht beilegen, denn aus den Gesprächen, welche diese Sektierer führten, ginge hervor, daß sie sich für Sozialpolitik interessierten! Schon früher als Pobjedonoßzew hatte der Panslawist und orthodoxe Fanatiker Katkaw^) strenge Maßregeln gegen die Stundisten gefordert, die von ihm als eine gefährliche Sekte geschildert wurden. Die Gefahr, die von den Stundisten drohte, war aber dieselbe, die jener Gouverneur von Jekaterinoßlaw genau hun- dert Jahre zuvor mit den ersten Duchoborzen über Rußland hereinbrechen sah : man mußte befürchten, daß die Stundisten durch ihre Rechtschaffenheit, Mäßigkeit und Arbeitsliebe unter den Russen ein böses Beispiel der Anständigkeit geben und die Orthodoxen aus dem gedankenlosen Dahinleben in der Verkommenheit erwecken würden zu höherem Streben. Das mußte gründlich verhütet werden, und man bedrückte die Stundisten ärger noch als die Malakany und Duchoborzy. Der

1) Vgl. St. Petersburger Herold, Juli 1898.

2) MOCK. B'IaO.MOCTII, 23. VI. 1892.

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Erfolg war schließlich der gleiche wie bei den zwei letzt- genannten Sekten. Die Quälereien, Marterungen und Ver- bannungen trugen zwar nur dazu bei, den Stundismus in ra- pider Weise zu verbreiten, aber gleichzeitig verlor er seinen hohen geistigen Gehalt und zeitigte unter Rute, Knute und Pletj den Neu-Stundismus. der nicht mehr die guten Ortho- doxen zu edlerem Leben erziehen, sondern bloß zu willkom- mener Sittenlosigkeit hinabzerren kann.

Die Neu-Stundisten nähern sich in ihren entsetzlichen Ge- bräuchen den ärgsten der wilden Sekten, sehen nur mehr im Flagellantismus das Ziel des Daseins, und geißeln sich zu Tode, um den Himmel mit den Schandtaten der Menschen zu versöhnen, die erbarmungslos Gottes wahre Anbeter ver- folgen. Ihre Stunden sind nicht mehr feierliche Andachts- übungen wie früher, sondern wilde Orgien, bei denen die Fana- tiker nach furchtbaren Tänzen zusammenbrechen, um im Krämpfe der Verzückung phantastische Gesichte zu haben. Da sie ohnehin vor den Verfolgern nichts mehr retten können, arbeiten die Xeu-Stundisten nicht; sie denken nicht mehr an die entsetzliche Sozialpolitik. und leben nur ihrem fanatischen Eifer, sich zu kasteien und zu züchtigen durch die Auflösung aller verwandtschaftlichen und Verachtung aller ehelichen Bande.

Hatten sich die ersten Stundisten hauptsächlich im Süden verbreitet, so fanden die als Flagellanten auftretenden Neu- Stundisten ihre Anhänger hauptsächlich in den baltischen Pro- vinzen. ..Die Gottesdienste dieser Sektierer," berichtete ein russischer Geistlicher 1901 in einem Briefe i), ,, bringen der Bevölkerung großen Schaden; sie bestehen in einer starken nervösen Erregung, die sich bis zur Ekstase, bis zu Hallu- zinationen steigert. Die Versammlungen dauern häufig die ganze Nacht und finden in dumpfen Hütten statt. Die Teil- nehmer gleichen gestörten Leuten. Besonders die Frauen sind der rehgiösen Ekstase zugänglich. Die Zuschauer werden von der nervösen Erregung angesteckt und unwillkürlich zu Teil-

1) In den UopK^BHUJi lilvau.MofTir. Dieser Brief bezog sich besonders auf \erhältnisse in Estland, denn der Schreiber bezeichnete sich als Priester A. G w aus Reval.

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nehmem an den sektiererischen Gottesdiensten; aus diesen resultieren nervöse Krankheiten, Hysterie, MelanchoUe und so- gar Wahnsinn. Daher mehrt sich in der letzten Zeit die Zahl der Geisteskranken. Die sektiererische Bewegung hat viele Familien zerrüttet und viele Wirtschaften ruiniert. Frauen haben ihre Häuser im Stich gelassen und sind seelisch und physisch verkommen. Männer verkauften ihr Eigentum und verwenden das Geld zum Unterhalte der Wanderprediger. i) An- fangs leistete die weltliche Gewalt dieser Bewegung, welche die lutherischen Pastoren unter ihren Schutz genommen hatten, keinen Widerstand. Die Sektiererei begann sich aber in Stö- rungen der öffentlichen Ordnung zu äußern, und die weltliche Gewalt traf daher einschränkende Maßregeln in bezug auf die nächtlichen Versammlungen und das Vagabundieren der Propheten. Nun sind die Sektierer zum Teil in die vom Ge- setze gestattete "Baptistengerueinde oder in den Bestand der lutherischen Kirchspiele eingetreten und setzen ihre Hand- lungen fort unter dem Schutze der lutherischen Pastoren, die diese Bewegung für ein W^erk des heiligen Geistes erklärten und sie unter ihre Leitung nahmen. Auf diese Weise ver- hindern die Sektierer die Einmischung der Polizei, die nicht das Recht hat, sich in die häuslichen Angelegenheiten der lutherischen Gemeinden zu mengen, und alle schädlichen Folgen der Sektiererei bleiben in ihrer ganzen Kraft bestehen." Die russische Geistlichkeit war mit diesen schädlichen Folgen unzufrieden ; die Polizei und die Regierung aber wollen nichts anderes, denn je zerrütteter und verwilderter das Volk ist, desto besser für die Autokratie. Regierung und Polizei lassen sich also selbst durch die Verdächtigung der luthe- rischen Pastoren 2) als der Störenfriede in der orthodoxen Herde

1) Der russische Ausdruck, der hier gebraucht wird: yiiiTe.iii-npono- Hli,T,HHKn heißt wörtUch Lehrer-Prediger, doch gibt der Ausdruck Wander- prediger dem deutschen Leser den richtigeren Sinn wieder.

2) Diese Verdächtigung war selbstverständlich ungerechtfertigt. Es geht dies schon daraus hervor, daß der wilden Sekte der Neu-Stundisten nicht bloß orthodoxe Russen, sondern nicht minder lutherische Esten und Letten sich anschlössen; diese Völker stehen ja auf nicht viel höherer Kulturstufe als die Russen. Weder Kathohzismus noch Protestantismus haben unter den Unterdrückten in den baltischen Provinzen tiefer Wurzel schlagen können,

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nicht zu einer energischen Verfolgung sittenloser und wahn- sinniger Sekten treiben; solche mögen gedeihen, sagt die rus-

als die griechische Rehgion in Rußland. Den heidnischen Letten und Esten wurde das Christentum durchaus nicht als Religion der Liebe beigebracht. Bei Hiärn a. a. O. 34 36 lesen wir: ,,Es hat Einhorn angemercket: Die Teutschen Ordens-Leute haben sich, was (der Esten und Letten) Religion betrifft, wenig bekümmert, und nicht groß danach gefraget, wie sie vor ihrer Heidnischen Abgötterey und falschem Gottesdienst, zur Erkäntnis des wahren Gottes gerathen und kommen möchten. Das hat man Alles nichts geachtet, sondern die Päbstischen Priester sind im Lande herumbgezogen, und hie und wieder Messe gehalten, im Christlichen Glauben aber sie gar wenig unter- richtet, auch zu unterrichten nicht vermocht, indem sie die Sprache nicht gekunt, dieselbe auch zu lernen keine Büttel oder Gelegenheit gehabt, weil fast Niemand gewesen, der sich der Religion und des Gottesdienstes ange- nommen, oder darumb bekümmert, sondern die Herrschaft nur darnach getrachtet, wie sie die armen Leute zu ihren Diensten gebrauchen, und in allerhand Üppigkeit und Wollust leben möchten. Wie denn solch ein un- christliches, hof fertiges und üppiges Wesen, so im Lande getrieben, auch aus ländischer Nation bekandt, welche mit Verwunderung davon zu sagen ge- wust. Sonderlich wird dasselbe auch in dem Liede, so zu der Zeit gemachet, da die Mußcawische Tyranney und Grausamkeit im Lande grassiret, herzlich be- klaget mit diesen Worten:

Diß Land den Teutschen gegeben ist, Schier für Vierhundert Jahren,

Daß sie dein Nahmen Herr Jesu Christ, Die Heyden solten lahren.

Sie aber haben gesucht vielmehr

Ihr eigen Nutz und Lust und Ehr, Und Deiner wenig geachtet. Sie haben iie armen Heydnischen und Barbarischen Völcker nicht mit Christ- licher Bescheidenheit und Sanfftmuth gelehret und unterrichtet, sondern mit Gewalt, Ungestüm und Tyrannischer Weise, ja mit Wehr und Waffen, zum Glauben zwingen wollen. Anderer zu geschweigen, ist ein Bischoff hier im Lande gewesen, einer von der Linden, derselbe wird gerühmet, daß er großen Fleiß angewandt die Letten von ihrer heydnischen Abgötterey zum rechten Gottesdienst zu bringen, hats aber also mit ihnen gehalten, daß der Stiffts- Vogt und die Lands Knechte sie verhören müssen, ob sie auch beten köntcn, welcher nun etwas gekont, den hat er tractiret und ihn etwas zu essen gegeben; welche aber nichts gelernet, die hat er mit Ruthen jämmerlich streichen lassen". Ein so jämmerlich eingebläutes Christentum konnte natürlich keine herzlichen Anhänger finden, und es blieben tatsächlich sowohl Letten als Esten noch bis heute halbe Heiden, in ihren Gebräuchen herrscht die alte Sittenlosigkeit ihrer heidnischen Feste, der ungenierte Geschlechtsverkehr als Kulthandlung.

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sische Regierungsmoral, der Bekämpfung wert sind bloß Ra- tionalismus und Sozialismus, alle jene Vereinigungen, welche Sittsamkeit und Fortschritt, Freiheit und Gerechtigkeit zu er- reichen streben. Dies traf einigermaßen bei dem sogenannten Salonstundismus zu, der zu Ende der Regierung Alexanders II. in der vornehmen Gesellschaft von Petersburg Verbreitung fand. Der Laienprediger Lord Radstock vom Fürsten Mesch- tscherskij in seinem satirischen Roman ,,Der Lord-Apostel" gegeißelt erschien eines Tages in der russischen Hauptstadt und predigte den Vornehmen Buße und Einkehr; Wassilij Ale- xandrowitsch Paschkow, ein reicher Gutsbesitzer, ward von diesen Reden so begeistert, daß er laut die Sünden seiner Jugend bereute und die Sekte der Salonstundisten begrün- dete, deren Mitglieder aus den vornehmsten Kreisen stamm- ten und die hehrste Menschenliebe lehrten ; die Sekte fiel der Nihilistenfurcht - zum Opfer und wurde schon nach wenigen Monaten ausgerottet.

Ähnlich erging es einigen Sekten, die mit den mystischen Lehren des Dichters Leon Tolstoi in Zusammenhang gebracht werden müssen, so den Sselesnowzy und Ssutajewzy. Die erste- ren, Bauern des Gouvernements Ssmolensk, namentlich aus den Dörfern Tschalsk und Ssemjonowsk, vereinigten sich 1893 zur Zeit der großen Hungersnot als Wohltätigkeitsgesellschaft, da ihr Hauptzweck die Unterstützung der Leidenden mit Brot und Geld war; erst als die Regierung sie verfolgte, sagten sie sich von der Kirche los, verjagten sie ihre Popen und schufen sich eine bessere Religion als jene, die im Wohltun ein kirchen- und regierungsfeindliches Verbrechen sieht. Sie verwerfen das Priestertum, verehren weder die Heiligenbilder noch die Hei- ligen, da sie die Sichtbarkeit in religiösen Dingen nicht zu- geben, suchen den Fortschritt im sozialen und wirtschaftlichen Leben und lehren und lernen horribile dictu lesen und schrei- ben ; die von Tolstoi herausgegebenen Volksschriften unter dem gemeinsamen Titel ,,Der \'ermittler"2) zeigen ihnen den Weg zur Aufklärung; die Vorgeschrittenen lesen aber selbst Buckle, Spencer und Mill in russischer Übersetzung, und die

1) nocpe;uiiii."ij.

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Landwirte unter ihnen haben die primitiven Ackergeräte durch enghsche Pflüge ersetzt.

Der Gründer der Ssutajewszy war ein Bauer, Basil Ssu- tajew, der 1889 im Gouvernement Twer auftrat und die prak- tische Nächstenliebe lehrte, die Ausübung der Gerechtigkeit als die wahre Religion erklärte. Liebe und Gerechtigkeit, diese göttlichen Elemente, müssen vor allen Dingen auch im Leben von Mann und Frau zur Geltung gelangen; nicht die lügnerische Ehe hat Raum für sie, sondern nur die freie ge- schlechtliche Verbindung; und da in dieser die Liebe allein walten soll, sind Zank und Prügeln als schwerste Sünden aus ihr verbannt. Diese Lehren des Ssutajew klingen wie Tol- stoische Sätze, man weiß aber nicht, ob der Muschik den Dichter beeinflußt hat oder ob Ssutajew schon ein Schüler Tolstois ist. Es ist seltsamerweise das Wahrscheinlichere, daß der Bauemapostel Ssutajew der Lehrer, und der größte Poet Rußlands sein Jünger war. Tolstoi hat seine Lehre bekannt- lich in zahlreichen Schriften und Traktätchen selbst nieder- gelegt: die Nächstenliebe ist ihre Grundlage, und sie predigt unermüdlich die Rückkehr zur Natur und zum Urchristentum, das Glück des Menschen kann nur im einfältigen Gottesglauben bestehen. Die Wirkung der Tolstoischen Lehren war eine ge- waltige; nicht bloß seine Volksschriften und religiösen Trak- tate, sondern selbst seine Romane wurden Ursachen zu Sek- tenbildungen i) : nach den Grundsätzen der .,Kreutzersonate"

1) Die Regierung Alexanders III. beabsichtigte infolgedessen zweimal, 1886 und 1892, den Grafen Tolstoi in ein Kloster zu sperren, führte aber den Plan nicht aus, Klöster, namentlich das von Ssolowezk am Weißen Meere, waren in Rußland seit jeher beliebte Verbannungsorte, in denen die Regierung nicht bloß religiöse, sondern auch vornehme politische Unzufriedene, denen sie ans Leben zu gehen nicht den Mut hatte, wenigstens für die Außenwelt auf Lebenszeit abschloß. A. S. Prugawin hat in einem Buche ,,Die russischen Klostergefängnisse" betitelt, das von Professor Reußner in Berlin auch ins Deutsche übersetzt wurde, diese Verbannungsorte ergreifend schön geschildert. Derselbe russische Schriftsteller veröffentlichte 1906 in Petersburg im Verlag des „Possrednik" eine neue Auflage seines Buches, betitelt ,,Die Kloster- gefängnisse im Kampfe gegen das Sektenwesen", worin der geplant gewesenen Einkerkerung Leo Tolstois im Klostergefängnisse von Susdalj ein besonderer Abschnitt gewidmet ist. Hierüber ist unter den literarischen Anzeigen der Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rufilanr). I^

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entstand die Gemeinschaft der Perchowzyi), deren Mitglieder hauptsächlich gebildete und vornehme Leute wurden; die Per- chowzy tragen Bauemkleidung wie Tolstoi, arbeiten wie Bauern auf ihren Gütern, verdingen sich auch als Arbeiter; sie ver- abscheuen die Ehe, denn es ist am besten, meinen sie, wenn diese sündenreiche Menschheit aussterbe. 2)

Vom Tragischen zum Lächerlichen ist im russischen Sektenwesen der Weg so kurz wie nirgends sonst. Da gibt es eine Reihe von Gemeinschaften, die sich von der Kirche losgesagt haben, aber das Popentum und die meisten äußer- hchen Gebräuche behalten und nur in Absonderlichkeiten den Unterschied zwischen ihrem Glauben und dem der Orthodoxen kermtlich zu machen suchen. Zu ihnen gehören die Anhänger des Mönchs Hiob, der 1667 unter den Donkosaken predigte, und die Sektierer von Tschernobol; diese glauben, das Ende der Welt sei nähe, man dürfe deshalb weder Eide ablegen noch Pässe von den Behörden annehmen; sie verehren keine Heiligenbilder, aber statt deren das Kreuz mit dem Gekreu- zigten wie die Katholiken. Im Troitzakloster befindet sich ein Bild des Erlösers, wie er vom Schmerze verklärt zum Himmel emporfährt. Dieses Bild w^urde zum Mittelpunkt des Kultus einer Sekte, die alle anderen Bilder verbannt und 7U ihm v/allfahrtet man als dem einzigen verehrungswürdigen Symbol des Christentums. Im Gouvernement Ssaratow entstand 1866 die Sekte der Zähler 3), so genannt, weil sie andere Feiertagsrech- nung einführten, sie zählen die Feiertage nicht wie die Russen ; sondern so, daß Ostern auf einen Mittwoch und jeder Sonntag auf einen Mittwoch fällt. Im übrigen suchen sie das Seelen- heil durch die Sünde. Bei meinem Aufenthalte in Astrachan

„Neuen Freien Freie" von 30. Dezember 1906 (wohl von N. Gblant) ein aus- führliches interessantes Referat erschienen, auf das ich verweise.

1) nepxoßUi>i = die sich Räuspernden.

2) Ähnlich war die Lehre der katholischen Sekte der Patareni im drei- zehnten Jahrhundert. Diese erklärten auch, sie seien in die Welt gekommen, um die Bedrängten zu trösten und ihnen zu helfen; ebenso vereinten sie damit die Ansicht, daß der Ehestand ein Ehebruch sei, also verworfen werden müsse ; Lucifer habe alle sichtbaren Dinge geschaffen, auch die Ehe sei Teufelswerk.

3) ^iic.iiiTf.ii, = der Zähler.

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hörte ich von einer dort existierenden Spuckersekte, bei deren Andachtsübungen vor jeden Frommen eine Tasse Tee gestellt wird: Der Prophet der Sekte geht von Tasse zu Tasse, spuckt hinein, und der Trank ist geheiligt i); die Frauen der Sek- tierer müssen zu diesen \'ersammlungen weißgekleidet er- scheinen.

Auf noch seltsamere Dinge verfallen jene Sekten, die über- haupt keine Geistlichen dulden. So behaupten die Anhänger der Sekte der Verneiner 2), daß von Peter dem Großen mit dem Patriarchat zugleich alles Heilige von der Erde vertrieben wurde; es sei in den Himmel emporgestiegen. Diese Sektierer verneinen deshalb die Kirche und den Kultus, die Heiligen und Heiligenbilder, die Sakramente und das Priestertum und verkehren nur direkt mit dem Erlöser. Einen Schritt weiter gehen die Nichtbetenden^), indem sie auch das Kreuz ver- werfen. Ihr Apostel Zimin, ein Donkosak, lehrte, daß es vier Weltjahreszeiten gebe : den Weltfrühling oder die vorgottväter- liche Zeit von der Schöpfung bis Moses; den Weltsommer, die Zeit des Vaters Gott, von Moses bis Christus; den Weltherbst, die Epoche des Sohnes Gott, von Christus bis 1666, dem Ein- tritt des Schismas; und den Weltwinter, das Zeitalter des hei- ligen Geistes, von dem Beginn des Schismas bis ans Ende der Welt.*) In dem Zeitalter des heiligen Geistes aber sollen

1) Zu Zeiten des Kaisers Heinrichs V., um 1124, war in Antwerpen ein Apostel Tandemus, auch Tachehnus genannt, erschienen, der viele Tausende Anhänger fand. Das Wasser, worin er sich gebadet oder mit dem er sich ge- waschen hatte, wurde von seinen Verehrern, wie die Chronisten berichten, gierig getrunken. Die Frage bleibe offen, ob die Astrachaner oder die Ant werpener Sekte das Appetitlichere wählte.

2) ')TpnuaTP.ii.m.ii'.

3) HeMO.TOiar.

*) Diese Jahreszeiten- Verteilung ist zweifellos keine russische Erfindung. Schon die Valentinianer im 2. Jahrhundert kannten vier Weltalter, und auch bei ihnen entwickelten sich infolge ihrer Lehren große Greuel und Laster. Sie hielten es nicht für nötig, Gutes zu tun, sondern lebten nach ihrem Wohl- gefallen, mißbrauchten skrupellos nicht bloß des anderen Weib, sondern lebten auch mit ihren leibhchen Schwestern und hielten sich selbst für voll- kommene Menschen, aber jene für einfältig, die nicht taten wie sie. Die Schüler der Valentinianer, die Ptolemaei, fügten zu den vier Weltaltern vier andere hinzu, und lehrten, Gott habe zwei Weiber gehabt, den Verstand und den

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sich Geburt, Ehe und Begräbnis ohne Zeremonien vollziehen. Die Xichtbetenden taufen also nicht, vereinigen sich zu ge- schlechtlichem Leben auf Grund bloßer Übereinstimmung, und übergeben die Toten der Erde nicht auf geweihten Friedhöfen, sondern wo immer es ihnen paßt. Nach Leroy-Beaulieui) leug- nen sie auch die Unsterblichkeit; nach dem Tode, sagen sie, habe alles ein Ende. Ein Zweig der Nichtbetenden sind die Seufzenden 2); sie haben die Weltaltereinteilung wie jene, ihr Apostel, der Schuster Tichanow aus Kaluga, der zuerst 1871 auftrat, gestattet jedoch, das Gebet durch Seufzer zu markieren ; die Seufzer des Herzens, sagte er, sind das wahre Gebet der Christen. 3) Eine andere Sekte verzichtet auch auf das Gebet,

Willen, und mit diesen andere Götter gezeugt. Simon der Zauberer, der Gründer der Simonianersekte, statuierte acht Zeitalter, gab seine Maitresse für den menschgewordenen heiligen G'ist aus und erklärte den Gläubigen: ,,wer sich auf sie verläßt, den mache ich selig, im übrigen aber lebe jeder wie er wolle". Ums Jahr 1204 lehrte Almaricus zu Paris: Wenn Adam nicht gesündigt hätte, gäbe es keine natürliche Fortpflanzung und keinen Unter- schied der Geschlechter. Gottes des Vaters Macht habe nur bis zur Ankunft Christi gewährt; Christi Lehre aber hörte nach Ausgießung des heUigen Geistes auf, daher seien Taufe und Abendmahl nicht mehr nötig. Almaricus leugnete die Auferstehung der Toten, Paradies und Hölle, und sagte: Die Liebe bringe es zuwege, daß Sünde keine Sünde sei. Im 14. Jahrhundert lehrte Duicinus in Italien: Gott der Vater habe von Anfang der Welt bis zur Ankunft Christi regiert, Christus bloß bis zum Jahre 1300, jetzt werde Duicinus das Reich des heiligen Geistes aufrichten. Im Reiche des heihgen Geistes aber ist Un- zucht keine Sünde, und so sammelte sich um Duicinus binnen kurzem ein Heer von 6000 Anhängern, Männern und Frauen. Auf Befehl des Papstes Clemens IV. wurden aber der Apostel und sein Weib in Stücke zerrissen und verbrannt. Auch in England predigte die Fanatikerin Attawey die Variation der uralten gnostischen Lehre : Unter dem Gesetze regiere der Vater und unter dem Evangelio der Sohn. Vater und Sohn aber übergeben das Reich dem heiligen Geist in der besten Zeit, da alle Gottlosigkeit vertrieben und die wahre Heiligkeit und Gerechtigkeit, die vor dem Fall bestanden, her- gestellt werden würden. Von sich selbst sagte die Attawey: sie würde nimmer sterben, sondern zu Jerusalem lauter Jesuskinder zur Welt bringen, sich mit Christo sichtbarlich vereinigen und in Ewigkeit mit ihm regieren.

1) a. a. O. III 427.

2) B:i,T,i,ixaHHM.

3) Ähnlich lehrte im 1-6. Jahrhundert Paulus von Krakau: Gott müsse nicht mit dem Munde; sondern mit dem Herzen angerufen werden. Dieser

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aber nicht auf das Abendmahl ; zu letzterem nimmt sie indessen nur Rosinen, die von reinen Jungfrauen an die Gläubigen ver- teilt werden müssen. i) Die Sekte der Gähnenden kennt einen noch einfacheren Gebrauch des Abendmahls ; sie schreibt ihren Anhängern vor, am Gründonnerstag den Mund offen zu halten solange bis Engel ihnen zu trinken gegeben haben. Kon- sequenterweise gibt es auch ganz schweigende oder stumme 2) Sektierer, die angeblich den Glauben an Gott, Religion und Schöpfung gänzlich leugnen. Positives ist von ihnen, trotz- dem sie zu den ältesten Sekten gehören, nicht bekannt, da sie ihrem Namen entsprechend über ihr Leben und Treiben tiefstes Geheimnis verbreitet haben. Schon im achtzehnten Jahrhundert fand man Mitglieder dieser seltsamen Gesellschaft in Bessarabien, an der unteren Wolga und in Sibirien. Zur Zeit Katharinas II. wollte der sibirische Generalgouverneur Pestel die Schweigenden zum Reden bringen; er ließ sie fol- tern, unter den Fußsohlen kitzeln, tröpfelte ihnen brennendes Siegellack auf den nackten Leib, aber er vermochte diesen stummen Fanatikern nicht einmal einen Schmerzensseufzer zu entreißen. 2) Im Jahre 1855 entdeckte man an der Wolga einen Zweig der Schweigenden. Diese Gruppe sah nicht bloß in der Schweigsamkeit die erste Bedingung zur Seligkeit, son- dern ihre Mitglieder glaubten auch unermüdlich über die Felder und durch die Wälder rennen zu müssen, um das Heil ihrer Seele zu suchen, das sich ihrer Ansicht nach immer auf der Flucht vor ihnen befindet. Ähnlich treibt es die Sekte der Wanderer oder Irrenden, von der später die Rede sein wird. Es ist möglich, daß gleich den Wanderern auch die Stummen in ihren Riten fürchtbare Greueltaten begehen. Wie unter Katha-

Apostel meinte auch, es sei nicht Ehebruch, wenn man bei eines anderen Weib hege.

1) Das ist jedenfalls nicht so schlimm wie bei jener abendländischen Sekte der Catharisten, die unter das Mahl zum Abendmahlsbrote männlichen Samen mischten und auf diese Erfindung so stolz waren, daß sie sich selbst Purificati oder Purgatores nannten.

2) Man nennt sie bald Mo.Tiaiiiiicii. Schweigende, bald B»':ic.inB«'criMe, Sprachlose oder Hi.Mi.ic. Stumme.

3) Haxthausen I 346. Leroy-Beaulieu III 426.

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rina II. wurde unter Alexander II. im Jahre 1873 ^^^r Ver- such gemacht, aus diesen geheimnisvollen Sektierern eine Er- klärung ihres Verhaltens herauszubringen. Die vor die Ge- richte geschleppten Schweigenden gaben aber auf keine Frage eine Antwort und ließen sich kaltblütig zur Deportation nach Sibirien verurteilen.

Und alle diese bisher erwähnten Sekten muß man als harmlose Erscheinungen bezeichnen im Vergleiche zu jenen Schöpfungen, welche religiöser und erotischer Wahnsinn, die beide nirgends so innig Hand in Hand gehen wie hier, in Rußland hervorgerufen haben. Russische und europäische For- scher haben nach Erklärungen für diese entsetzliche Fruchtbar- keit von Roheit, Mordlust, Wollust und Selbstgeißelungsgier vergebens gesucht und sich zumeist mit der Vermutung ab- gefunden, daß sich hier und da bei den russischen Sekten un- verkennbare Spuren von gnostischen Beschauungen nach- weisen lassen könnten, sei es, daß diese unmittelbar vom Orient und bereits im Mittelalter, sei es, daß sie vom Okzident und erst seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts eingedrungen wären. Sicher unterliegt es auch kaum einem Zweifel, daß zwischen einigen russischen und einigen abendländischen oder morgenländischen Ketzereien Parallelen herzustellen wären. Einmal kann man die alten Gnostiker, ein andermal die Quäker zu Vergleichen heranziehen. Bei einigen wenigen Sekten darf man fast von einer Nachahmung sprechen, so daß der russische Klerus in seinen Berichten die Sektierer je nach ihrer Lehre mit den alten Namen katholischer Sektierer bezeichnet. Ich habe mich bemüht, wo sich solche Ähnlichkeiten aufdrängen oder solche Einflüsse tatsächlich nachweisen lassen, dies stets in Anmerkungen zu notieren. i) Im allgemeinen aber erscheint mir, wie ich wiederholt betont habe, das Sektenwesen in Ruß-

1) Mein Leitfaden ist für die älteren nichtrussischen Sekten das merk- würdige, jetzt schon überaus selten gewordene Buch: „Compendieuses Kirchen- und Ketzer-Lexicon, in welchem alle Ketzereyen, Ketzer, Secten, Sectirer, geistliche Orden und viele zur Kirchen-Historie dienende Termini auffs Deut- lichste erkläret, und insonderheit die Urheber und Stiffter jeder Secte ange- zeiget werden. Denen angehenden Studiosis Theologiae zur Erleichterung der Theologiae Polemicae, wie auch Ungelehrten zu einiger Bestärkung in

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land als ein spezifisch russisches Gewächs. Zunächst ist es origineller schon durch die Vermischung mit Heidnischem; dann ist hervorzuheben, daß anderswo kaum jemals Ausbrüche so roh sinnlichen Charakters und solche Massenmorde in ero- tisch-religiösem Wahnsinn stattgefunden haben. Aber das be- sonders Merkwürdige ist, daß sich diese Sekten immer stärker erneuem, daß sich jede von ihnen zerteilt in zahlreiche Äste und Zweige; kaum verschwindet eine von ihnen und schon wachsen Dutzende anderer nach.

Dem Betrug und der Lüge, dem Müßiggang, der auf Kosten der Leichtgläubigkeit fett wird, der Gesetzlosigkeit und der Raubsucht stehen da natürlich alle Tore offen. Neben den Fanatikern ist Raum für die Spitzbuben i), und wo Hei- lande imd Gottesmütter alljährlich massenhaft wie die Pilze aus dem Boden schießen, da kann es auch der falschen Zaren die Menge geben. Über die Persönlichkeiten der Dmitn,^, Peter IIL^), Konstantin haben sich Legenden gebildet, und die Legenden schufen Sekten. Man erklärt den regierenden Herr-

der Erkändtniß der Wahrheit zur Gottseeligkeit herausgegeben von J. G. H. Andere und verbesserte Auflage, Schneeberg, bey Fulden. 1734."

1) Lehrreich ist in dieser Beziehung eine interessante Schrift: 26 110- CKOBCKHxi. .uKe-npopoKOBt. .i>Ke-iopoj,HBi>ixT>, sypt n j,ypaKOBi>, u3;iaHie H. BapKOBa, ^locKBa, 'nTnorpa(|)iH CeMena. 1865, worin eine Reihe moskauer Trugpropheten, Schelme und Narren geschildert ist. Diese zwei Dutzend sind im Laufe ganz kurzer Zeit aufgetaucht!

-) 1770 trat in Orel, Tambow und Tula ein gewisser Kondrati Seiiwanow als Gottmensch und Peter III. auf, als Zar und Christus in einer Person. Katha- rina verschickte ihn nach Sibirien, Paul rief ihn zurück. Aber als der Schwärmer noch immer nicht aus der Rolle fiel und Paul als Sohn titulierte, ließ der Zar ungnädig den Gott und Vater ins Irrenhaus sperren. Alexander I. gab dem Kondrati abermals die Freiheit, doch neuerdings spielte der Konsequente seine Rolle, nun als Großvater, weiter. Jetzt sperrte man ihn in ein Kloster, wo er erst 1832, 112 Jahre alt, starb. Auch in Napoleon sah eine Sekte einen Gottmenschen, den wiedergekehrten Christus, der das Reich Satans ver- nichtete, die Leibeigenschaft aufhob, und viele glauben, Napoleon lebe noch htute als Christus am Baikalsee und werde nochmals nach Rußland kommen, um es zu befreien von der satanischen Bedrückung. Es fehlt nun noch, daß eine Sekte entstehe, die im japanischen Marschall Oyama einen Gott- menschen erkenne.

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scher als Usurpator oder Antichrist, und hat den frömmsten Vorwand zur Verweigerung aller gesetzlichen Pflichten, kann seinen Glauben nicht mehr vereinigen mit dem Gehorsam gegen die Behörden, man bezahlt also keine Steuern, entzieht sich dem Militärdienst, hält Diebstahl, Raub und selbst Mord, vor allem aber die furchtbarste Unzucht, sogar Sodomie, teils für erlaubte, teils für lobenswerte Dinge. Satan Beelzebubo- witsch sitzt auf dem Throne, sagen diese Weisen, und Unter- werfung unter seine Befehle ist Vergehen gegen Gott. Andere wieder meinen, daß Christus leibhaftig und sichtbarlich auf Erden regiere, aber dann braucht man gewiß nicht Menschen zu gehorchen. In dem einen wie dem anderen Falle hält man sich befreit von seinen Bürgerpflichten und trotzt den staat- lichen, gesellschaftlichen und Moralgesetzen. i) Die Emanzi- pation der Leibeigenen hat in diesen Ideen keine merkliche Veränderung hervorgerufen. Man muß vielmehr sagen, daß die Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen gewachsen statt gefallen sei; der befreite Muschik begehrt auch Grund und Boden. Während so einerseits das Verlangen nach einer Verteilung der Güter immer stärker wurde und in den jahre- langen Wirren der letzten Zeit stets neue Nahrung fand, konnte delr Glaube an die Wiederkehr Christi und an die Entstehung einer neuen freien Weltordnung Sekte um Sekte ins Leben rufen.

Der gnostische Gedanke von der Aufrichtung eines tausendjährigen Reiches bleibt für Rußland ein unvergäng- licher 2) und nimmt hier eine originelle materielle Form an;

1) So machte es auch die Sekte der Beghardi in Deutschland zu Ende des 13. Jahrhunderts, die namentüch in Köln auftrat. Sie lehrte; der Mensch könne es in diesem Leben so weit bringen, daß alles, was er tue, keine Sünde mehr sei. Er brauche dann nicht mein: zu fasten und nicht mehr der Obrig- keit zu gehorchen, auch keine Tugenden mehr auszuüben und könne huren nach Herzenslust, denn die Natur inkhniere zu fleischücher Vermischung; dagegen ward das Küssen, ^Is eine nicht von der Natur vorgeseh'^ne Leiden- schaft, als Todsünde verboten. Die russischen Sektierer vereinigen gleich- falls ihre Sozialrevolutionären und agrarsozialistischen Tendenzen mit ge- schlechtlicher Freiheit und Ungebundenheit.

2) Die Chüiasten behaupteten bekanntlich, daß nach der allgemeinen Auferstehung ein sichtbares Reich Christi auf Erden sein und tausend Jahre

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die Russen warten nicht erst auf den jüngsten Tag. sondern lassen sich das tausendjährige Reich von zahllosen Propheten schon jetzt zimmern. Es gibt fast kein Gouvernement im Zarenreiche mehr^ das nicht einen neuen Christus hätte er- scheinen sehen, namentlich die Wolgaländer erweisen sich als überaus fruchtbare Heilanderzeuger; auch das Gouvernement TamboWj diese fömiliche Sektenfabriksstätte, erfreut sich in dieser Beziehung besonderer Bevorzugung. Im Jahre 1868 trat hier ein gewisser Panow als Christus auf und lehrte, daß nur jene rein seien, die ihm folgen; alle anderen aber unrein und der Hölle verfallen. Häufig erfährt man, daß in irgend einem Dorfe auf \'eranlassung irgend eines Propheten die Muschiks sich zusammentun und betend die Nächte durchwachen, um auf das Erscheinen Christi und den Posaunenschall des jüng- sten Gerichts zu hoffen. Läßt aber Christus zu lange auf sich warten, so begibt man sich auf die Suche nach ihm; man meint, er müsse schon auf Erden weilen, halte sich jedoch irgendwo versteckt, und es sei nun die Aufgabe der Gläu- bigen, ihn ausfindig zu machen. Zur Zeit des ersten Nikolaj gab es in Sibirien eine Sekte mit diesem Programm; jeder, der sich ihr anschloß, nannte sich einen Christussucher i) und eilte ruhelos durch Wälder und Täler, durch Wüsten und über die Berge, um den Erlöser aufzustöbern. Am klügsten stellten es die Sektierer an, die im Jahre 1880 sich zu einer Gemeinde vereinigten und erklärten : jeder von ihnen sei ein Selbst- gott ^j, ein Christus; sie verehren nur einer den anderen. Einen ähnlichen Namen führen viele Sekten, die mit dem gemein- samen Namen Chlysty^j vom Volke bezeichnet werden, weil

währen würde. Es gibt aber dreierlei Meinungen: nach einer soll das tausend- jährige Reich noch vor dem jüngsten Tage geschaffen werden, nach der anderen werde es nur ein geistliches, nach der dritten Ansicht aber ein fleischliches Reich sein, worinnen alle Wollüste die Glücklichen umfangen. Die dritte Gattung fand im Abendlande die meisten Anhänger, und sie ist auch in Ruß- land die ersehnteste.

^) lIcKaTP.ii. X]iiicra.

2) CüMuÖOl'J..

3) X.1I.ICTI.I, die Geißler, von x.iccTaTi, oder \.ii.icTaTi,. peitschen. Die wichtigste Flagellantensekte nennt sich auch Gottmenschen, JlKan BoiKiii. oder Gemeinde des Heilands, .xpiicioBiUHHa, daraus machte das Volk x.imcto-

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bei ihnen die Geißelung obligatorisch ist. Doch bestehen zwischen diesen Sekten vielfach große Unterschiede.

Die berühmteste Flagellanten- oder Chlystysekte ist die der Gottmenschen ; sie soll angeblich schon zugleich mit der Orthodoxie aus Bulgarien oder aus dem Orient nach Ruß- land gekommen sein. Andere Ansichten halten sie für ein Produkt des siebzehnten Jahrhunderts und bringen sie mit dem deutschen Schwärmer Kuhlmann in Verbindung, von dem ich schon im vorigen Kapitel erzählt habe. Die Gottmenschen selbst behaupten folgendes in bezug auf ihren Ursprung: zur Zeit Peters des Großen erschien Gott-Vater in einer feurigen Wolke auf dem Gorodinberge im Gouvernement Wladimir, nahm menschliche Gestalt an und nannte sich Prophet Da- niel Filipowitsch. Er brachte zwölf Gebote mit; deren erstes lautet : ,,Ich bin der von den Propheten geweissagte Gott und zum Heile der Menschheit ::um zweiten Male auf die Erde herabgestiegen; es gibt keinen Gott außer mir." Einer der ersten Befehle dieses Gottes war : seine Lehre nie aufzu- schreiben, es sollte alles seiner und seiner Nachfolger Inspi- ration überlassen bleiben ; er warf selbst alle seine Schriften in die Wolga. Bald nach seiner Menschwerdung vermählte, sich Daniel Filipowitsch Gott Zebaoth dies sein voller Titel mit einer hundertjährigen Frau und zeugte mit dieser Sarah des achtzehnten Jahrhunderts einen Sohn, genannt Iwan Ti- mofejewitsch Sußlow, der als Leibeigener der berühmten Adels- familie Nar^^schkin angehörte. Bevor Daniel Filipowitsch wieder in seinen Himmel zurückfuhr, ernannte er Iwan Ti- mofejewitsch zum Heiland und bestimmte, daß beim Tode

mumia. Manchmal bezeichnet sich diese Sekte als Gesellschaft der Brüder und Schwestern, das Volk nennt sie dann im Anklang an Francma^ons: (|iap- .MaiJomu.T. (Die Freimaurerei hat im eigentlichen Rußland wenig Anhänger gefunden, sondern ist bloß zu Zeiten Katharinas IL und Alexanders I. haupt- sächlich in den Ostseegouwrnements verbreitet worden. Nikolaj I. verfolgte die Freimaurer überall, wo er welche vermutete.) Der Klerus bezeichnet in seinen Berichten die Chlysty am häufigsten als russische Quäker. Außer der bisher zitierten Literatur sind speziell für die Gottmenschen nachstehende Werke von Interesse: PeHUKÜi, .Iitan Bo/KÜi n CKOnmii, MocKBa 1872; J,(xip<iT- Bopciciö, .lioaii BoHxirt; A. He^epcKÜt (== ilejbunKOBTj), Bt vopaxi,.

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eines Heilands stets ein neuer bestellt werde, auf daß Christus in Menschengestalt immerdar auf Erden wandele. Iwan Ti- mofejewitsch, der erste Christus der Chlysty, wählte sich zwölf Apostel und predigte an den Ufem der Oka die zwölf Gebote seines Vaters Zebaoth Daniel Filipowitsch. Die das Evan- gelium parodierende Legende erzählt weiter, daß Iwan ge- fangen, gegeißelt, gefoltert und vor der Kremlpforte hinge- richtet wurde. Am Freitag begrub man ihn, aber in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag ist er auferstanden. Man nahm ihn abermals gefangen und kreuzigte ihn zum zweiten Male ; um sein neues Auferstehen unmöglich zu machen, wurde er geschunden. Ein Weib, das des Weges kam. warf ein Leichentuch auf den geschundenen Leib und das Tuch ward zu einer neuen Haut, und so konnte Iwan abermals auferstehen. Er blieb dann lehrend unter seinen Anhängern, bis er in den Himmel emporstieg; vorher hatte auch er einen Nachfolger gezeugt. Denn obwohl die Gottmenschen die Ehe verdammen als etwas Unreines, so ist es doch Pflicht des jeweiligen Christus, sich zu vermählen, damit das Blut des Daniel Filipowitsch nicht versiege und sein Same sich fortpflanze in alle Ewigkeit. Die Erbschaft Daniels kann auch durch Adoption verpflanzt oder auch auf eine weibliche Linie übertragen werden. Es hat so jedes Mitglied der Sekte, ob Mann oder Frau, die Aus- sicht auf die Heilandschaft, und deshalb betrachten sich die Gottmenschen alle zugleich als Heilande in spe und zollen sich gegenseitig Verehnmg, wie die früher erwähnten Selbst- götter. Wenn die Erbschaft Daniels einer Frau zufällt, so wird letztere die Gottgebärerin genannt, Muttergottes, oder auch Göttin. 1) Mit Vorliebe erhebt man hysterische Weiber zu diesem Ehrenposten. Im Flecken Staroje bei Kostroma lebte zu Ende der Regierung des ersten Nikolaj ein Mädchen Uljana Wassiljew2), die von den Gottmenschen als letztes Glied der Familie Daniels betrachtet und als heilige Jungfrau ver- göttlicht wurde. Der Kaiser ließ die Göttin in ein Kloster einsperren, doch übertrugen die Gottmenschen nunmehr ihre

^) BoropoOTna oder Yv>nuui.

2) Leroy-Beaulieu a. a. O. III 435.

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Verehrung auf das Dorf Staroje selbst und wallfahrten seit- her dorthin, ebenso wie nach dem historischen Hause in Mos- kau, in dem einst Daniel selbst gewohnt hat; in Staroje be- findet sich ein Brunnen, aus dem zur Winterszeit nach allen Richtungen das zu Eis gewordene Wasser verfrachtet wird, das den Gottmenschen zur Bereitung des Abendmahlbrotes zu dienen hat.

Die Rolle der russischen Frau im Sektentum ist eine be- merkenswerte. Das Weib, im allgemeinen das Lasttier des Muschik, die Sklavin des Sklaven, die man beim geringsten Anlaß halb tot prügelt, tritt bei den Sekten als frei und gleichberechtigt auf, als gewänne sie mit der von diesen Sekten zumeist proklamierten Geschlechtsfreiheit auch die soziale Un- abhängigkeit. Bei vielen priesterlosen Sekten können Frauen die Siellungen der Ältesten erhalten, und dort, wo Taufe und Beichte noch bestehen, taufen und die Beichte abnehmen. Frauen sind auch Sektenstifterinnen, wie die Prophetin Marfa Possadniza, die zur Zeit des Zaren Alexej im Gouvernement Nowgorod öine Gemeinde von Flagellanten um sich versam- melte, oder Xenia Iwanowna, die um 1880 unter den Don- kosaken eine asketische Sekte gründete, deren Mitglieder sich die Enthaltsamkeit vom Fleischgenusse und von fleischhchen Genüssen gelobten. Ähnliche Prophetinnen gab es eine Menge. 1) Hervorzuheben wäre auch, daß die meisten ero-

1) Auch im katholischen Sekten wesen haben viele Frauen Prophetinnen- rollen inne gehabt. Ich erwähnte schon früher, daß Simon der Zauberer seine Konkubine Selene als den heiligen Geist ausgab. Agape, ,,ein erfahren aber verführerisch Weib" aus Spanien, gründete im 4. Jahrhundert die Liebes- sekte, deren Mitgüeder nur Frauen waren und sich Bet- oder Liebesschwestern nannten. Der Ketzer Apelles, welcher lehrte, daß dem höchsten Gott noch ein feuriger Gott unterworfen sei und daß dieser Untergott es 'war, der dem Moses im Busche erschien und den Israeliten das Gesetz gab, ließ seine Lehre durch die Hure Philomena verbreiten, die er zur Prophetin erklärt hatte. Ein Zweig der IMontanisten nannte sich Pepuziani nach dem Orte Pepuza in Phrygien, wo Montanus mit seinen beiden IMaitressen und Prophetinnen Quintilla und Priscilla sich oft aufgehalten; Pepuza hieß bei den Montanisten das himmlische Jerusalem, weil hier Christus in Frauengestalt den beiden Prophetinnen erschienen war. Nach der Priscilla hieß eine montanistische Sekte die Priscillianer und eine andere nannte sich nach der Ouintilla die

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tischen und Geißlersekten Rußlands im achtzehnten Jahr- hundert entstanden, in jenem Säkulum, wo fast nur Frauen herrschten.

Während sich den rationalistischen und ideahstischen Sek- ten zumeist Bauern und Kaufleute anschlössen, rekrutieren sich die Mitglieder der erotischen Geißlersekten auch aus den höhe- ren Klassen. Historische Dokumente zählen unter den bei Verfol- gungen der Regierungen aufgefangenen Geißlern Namen von Bojaren, Fürsten, hohen Militärs, Staatsmännern und auffallend vielen vornehmen Damen auf : auch die Geisdichkeit der ortho- doxen Kirche verließ in Massen heimlich ihre Klöster, um sich an den religiös-sinnlichen Ausschweifungen der Geißlerbrüder und Geißlerschwestern zu beteiligen. In Moskau war früher das sogenannte Jungfemkonvikt (AiBH^iü ooiiTe.-ii>) berüchtigt als ein Zentrum des Flagellantenwahnsinns. Im Jahre 1744 wohnte die Fürstüi Darja Feodorowna Chowanskaja der Ver- sammlung einer Flagellantensekte in der Nähe von Moskau ani) : Männer und Frauen befanden sich hier in buntem Durch- einander. Plötzlich erhob sich aus ihrer Mitte ein Kaufmann, der unter Zeichen lebhafter Erregung sich um sich selbst zu drehen anfing und dabei schrie: , .Höret mich, der heilige Geist spricht durch meinen Mund ! Betet die Nacht hindurch. Begehet keinen Ehebruch, geht weder zur Taufe, noch zur Hochzeit, trinkt nicht Wein noch Bier!" Dann hielt er still, verlangte Brot und Wasser, segnete es mit dem Zeichen des Kreuzes und verteilte es an die Gemeindemitglieder. Endlich begannen alle nach seinem Beispiel einen Drehtanz, fingen an zu springen, sich mit Stöcken zu schlagen und selbst mit Messern zu stechen. Die Zarin Anna Iwanowna hatte, um dem Unfug zu steuern, die Leichen einiger Flagellantenhei- ligen, an deren Gräbern die exaltierten Pilger entsetzliche Or-

Qumtillianer; die letzteren administrierten das heilige Abendmahl mit Brot und Käse und machten der Prophetin Quintilla zu Ehren ihre Weiber zu Priestern und Bischöfen. Auch der französische Jesuit Labadie," der Stifter der Labadistensekte, führte Huren als Prophetinnen mit sich. Bekannt ist, welche große Rolle eine Bourgignon, Moritzin, Butler und Krüdener im Sekten- wesen und Mystizismus des Abendlandes spielten.

1) Waliszewski, La dernidre des Romanov, 210.

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gien feierten, aus den Särgen reißen und durch den Henker verbrennen lassen. Aber der Fanatismus der Flagellanten wurde dadurch nur noch mehr angefacht; namenthch unter der Geistlichkeit wuchs die Zahl der phantastischen Schwär- mer: in den sieben Jahren von 1745 bis 1752 wurden nicht weniger als 75 Priester, Diakonen, Mönche und Nonnen als Flagellanten verfolgt.

Die Zahl dieser Art Sektierer ist heute ins Unüberseh- bare gewachsen. Die Lehre der Geißler besteht darin, daß man die Sünde durch die Sünde töte, und diesem Prinzipe haben sich immerdar die Menschen willfährig gezeigt. i) Derartige Ausschweifungen wurden besonders jenen Flagellantengruppen nachgesagt, die sich aus den höheren Kreisen ihre Mitglieder zusammengesucht hatten. So w^aren das früher erwähnte Jung- fernkloster in Moskau, ferner das Iwanowskykloster bekannt als Stätten, wo die CTapn-nM und die B^iJI^^M, sowohl die Aken, die Prophetinnen, die Nonnen, als die Weißen, die Novizen, in wunderbarer Weise Religion und Erotik, Mystik und Wollust zu vereinigen wußten; und deshalb wurden diese Geißlerklöster besonders häufig von mystisch-erotischen Schwärmern aufgesucht. Im Jahre 18 17 entdeckte man, daß im kaiserlichen Michaelspalaste zu Petersburg, in der Woh-

1) Die Gnostiker und Manichäer lehrten die Kreuzigung des Fleisches, der bösen Lüste durch die Sünde. Pelagius und sein Schüler Cölestus sagten, daß Adam schon vor dem Falle sterbUch gewesen und daß also nicht die Sünde Ursache seines Todes war. Die Nicolaiten, ferner die Anhänger der Epiphanias, Augustinus, Aeneus Alexandrinus und Eusebius erklärten: fleischUche Lüste und Hurerei seien nicht Sünden. Die Antitacti hielten die Erbsünde für nach- ahmungs- und belohnungswürdig ,,und wälzten sich, indem sie sich auf dieses falsche Prinzipium gründeten, in allen Lastern sonderlich der Hurerey". Die Borboritae, eine gnostische Sekte im zweiten Jalrrhundert, deren An- hänger sich mit Kot beschmierten, um zu zeigen, daß der Mensch ein Greuel für Gott sei, führten das schändlichste Leben. Die Paternianisektierer nannte man wegen ihrer unerhörten Ausschweifungen auch Venustiani. Aetius Atheus lehrte im 4. Jalarhundert, die gröbsten Laster seien entschuldbare Natur- wirkungen; Hurerei und fleischliche Werke, sagte er, sind keine Sünde. Marga- retha Porreta, die anno 1210 verbrannt wurde, hatte ein Buch geschrieben des Inhalts, daß ein Mensch, der sich der Liebe des Schöpfers ganz ergeben hätte, alles tun dürfte, wonach sein Herz gelüstete, ohne fürchten zu müssen, daß Gott dadurch beleidigt werden könnte.

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nung der Hauptmannswitwe Tartarinow, sich regelmäßig hohe Offiziere und Beamte, Leute dienenden Standes, Frauen und Mädchen aus den verschiedensten Gesellschaftskreisen versam- melten und Bußübungen mit Geißelungen abhielten. Unter den Teilnehmern an den Tänzen und Flagellationen befand sich auch der Minister für Kultus und Volksaufklärung, Fürst Galitzyn. Die Gedanken, die hier verbreitet wurden i), ent- sprachen den mystischen Lehren der Madame Guyon und Jung- Stillings, und die vorgetragenen Gesänge waren Nachbildungen Derschawinscher Gedichte. Aber diese Schwärmereien blieben nicht platonisch, sondern arteten in Orgien aus. Die Gesell- schaft wurde aufgehoben und verboten; doch zwanzig Jahre später überrumpelte man in einer Vorstadt von Petersburg dieselbe Sekte mit fast denselben Mitgliedern. Sie bestand auch noch 1849 und hatte damals den populären Namen Ada- miten^j, der die V^orgänge bei den Versammlungen und Gottes- diensten genügend bezeichnet. 1840 hatte man eine ähnliche Gesellschaft auch am Wassertore in Moskau ausgehoben.

1) Leroy-Beaulieu III 443.

2) Der Begründer der Adamitensekte in der katholischen Kirche war Predicus, Schüler des Carpocrates ; er lehrte, daß sich beide Geschlechter öffent- lich vermischen dürfen und forderte Weibergemeinschaft. Seine Anhänger, deren Zahl schon bei der Begründung der Sekte im 2. Jahrhundert eine große war, hießen Prodicianer oder Adamiten, letzteres deshalb, weil zu ihren Ver- sammlungen Männer wie Frauen nackt erschienen. Dadurch sollten alle bösen Lüste ertötet werden. Es geschah natürlich das Gegenteil. Trotz aller Verfolgungen blieb diese Sekte bestehen. Im 12. Jahrhundert entdeckte man sie in Antwerpen, im 16. in Amsterdam, im 14. und 15. in Frankreich. Rabelais erwähnt in seinem Roman ,,Gargantua und Pantagruel" (aus dem Französischen von Gottlob Regis, Privatdruck München 1906, I. 7. Anmerkg. 3) die Tirelupins, eine Sekte, deren Anhänger nackt im Lande umherzogen und alles offen trieben was sonst der Anstand verbirgt. Gregor XL belegte sie mit dem Kirchenbann. Das Wort Tirelupin gewann später die Bedeutung eines Possenreißers und wird von Rabelais auch in solchem Sinne angewendet. Der Kirchenbann vertrieb diese Adamiten nicht aus Frankreich, denn im 15. Jahrhundert erschienen sie wieder zahlreich unter dem Namen Piccardier, nach ihrem Oberhaupt Piccard aus der Piccardie; Piccard gab sich für Gottes Sohn Adam aus, der auf die Erde gesandt worden war, um das Naturgesetz einzuführen. Piccard hielt sich bei Huß in Böhmen auf; hier wurde er wegen Plünderungen und Mordtaten mit seinen Anhängern zum Tode verurteilt.

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Es gibt wohl einige Geißlersekten, die wirklich nur aus frommem Wahnsinn sich kasteien und streng das Gesetz der Keuschheit beobachten. So berichtet man von Männern und Frauen, die sich bei ihren Versammlungen bis zum Gürtel ent- kleiden und, barfuß auf scharfen Kieseln stehend, solange auf ihren Rücken losschlagen, bis sie kraftlos zusammenbrechen. i) Andere Chlysty tragen zur Abtötung des Fleisches alte Panzer- hemden auf dem bloßen Leibe oder Hemden aus Pferdehaaren. Haxthausen sah einen Geißler, der auf der Brust ein kleines metallenes Kreuz und auf dem Rücken ein Bild trug; beide Stücke hingen an einem ledernen Riemen um den Hals und

Die böhmischen Brüder hat man mit Unrecht mit den Piccardiern auf eine Stufe gestellt. Eine berühmte Adamitensekte existierte auch in Wien ; sie hielt ihre Versammlungen in den Katakomben zu St. Stefan. Von russischen Sekten befolgen außer der erwähnten Petersburger Gruppe noch zahlreiche andere neben ihren separaten Verrücktheiten die Lehre des Prodicus.

1) Die Sarabaitae im 4. Jahrhundert, die als Einsiedler in Felsenhöhlen Ägyptens lebten, pflegten ähnlich mit nackten Füßen auf spitzen Steinen stehend und unter Geißelungen ihren Gottesdienst zu verrichten. Heilige, die nackten Fußes durch die Welt wandern, galten immer als wirkliche Fromme. Von einem solchen Heiligen berichtet Hiärn, nach Russow, in seiner mehr- fach zitierten Geschichte , der baltischen Provmzen S. 209: ,,Im Winter Anno 1557 ist ein seltsamer INIensch, namens Jürgen, auß Hoch-Teutschland in Lyfland kommen. Ist gantz nackend, barfus gangen. Es hat dieses alle Leute wunder genommen, daß ein Hoch-Teutscher, der der großen Lyfländischen Kälte ungewohnt, so eine schwere Kälte gantz nackend vertragen könte. Und wie wohl er keine Strümpfe und Schuhe angehabt, sind ihm doch seine Füße so heiß gewesen, daß der Schnee unter seinen Fußsohlen, da er gestanden, .zerschmoltzen ist. Hat kein Geschenk angesehen und keine Speise nehmen wollen. Er hätte sie denn erstlich mit Arbeit verdient. Hat allerhand Knech- tische Arbeit verrichtet, und zwar an einem Tage so viel, als ihm sonsten kein ander in viel Tagen nachthun können Als er gefragt wurde, worumb er in Lyfland gekommen wäre? gab er zur Antwort: Gott hätte ihn gesandt, der Lyfländer Geitz, Hoffart und Müssiggang zu straffen; welche Laster er auch allenthalben gestraffet hat. Ging daneben fleißig zur Kirche, hörete, was gepredigt wurde: und als ihn die Priester umb etwas fragten, schalt er sie vor Heuchler. Etliche hielten ihn vor einen Unsinnigen: Etliche vor einen Phantasten: Etliche aber sprachen: Er wäre ein Wunder-Zeichen Gottes. Alß er von Reval nach Narva reisete, hat er sich verlohren. Daher man sagen wil: Er sey von den Russen umbgebracht worden." In russischen Chroniken und Geschichtsbüchern ist von diesem nackten Heiligen keine Erwähnung gethan.

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wurden gleichzeitig durch zwei kleine Ketten verbunden, die unter den Armen durch die Haut gezogen waren. Die Zahl wirklicher Asketen ist aber auffallend gering, während die der erotischen Flagellanten Hunderttausende beträgt.

Das russische Volk ist entsprechend seinen Gefühlen und seinem ganzen Charakter wie geschaffen für jenen Mystizis- mus, der Religion mit Wollust verknüpft. Das Heidenchristen- tum des Muschik sieht in der vollen geschlechtlichen Frei- heit einen Lohn und Ersatz für tausendjähriges Leiden, und für die Blasierten der oberen Zehntausend, die nicht mehr nach Herzenslust die Sklaven peitschen können, ist die Selbstgeiße- lung Mittel zu neuen Reizungen der Sinne. Aus diesen rohen Gründen gibt es auch bei den Geißlersekten weniger Lehren und mehr Zeremonien. Sie plagen sich nicht ab mit mysti- schen Motivierungen imd präsentieren gleich frank und frei die grausamen und sexuellen Genüsse, die sie zu bieten haben. Mit Tänzen und Gesängen wie in einem gutgeleiteten Tingel- tangel und Bordell beginnen die reizvollen Übungen. Zumeist bestehen die Tänze in Drehungen wie sie die tanzenden Der- wische im Morgenlande ausführen : Die Tänzerinnen und Tänzer bleiben auf den Plätzen, blicken hypnotisiert nach dem Bilde einer weißen Taube, das an die Decke des Versammlimgs- saales gemalt ist, und drehen sich mit ausgebreiteten Armen unermüdlich um sich selbst herum, anfangs langsam, dann immer schneller, zum Schlüsse in rasendem Tempo, so daß die weißen Röcke, die alle bei der Zeremonie anhaben, rad- mäßig mitfliegen. Im Augenblicke der höchsten Ekstase be- ginnt ein Schreien und Rufen ; jener betet zum Gotte Daniel Filipowitsch ; dieser fleht Iwan Timofejewitsch Christus an ; eine Frau bricht verzückt zusammen und stößt Laute hervor, die ihr Gott eingibt. Einer nach dem anderen und eine nach der anderen fallen aus den Reihen, bis Erschöpfung, Ohnmacht und Starrkrampf für eine Weile die ganze Versammlung um- fangen. Aber die Wildheit ist nur für kurze Zeit erloschen und wird wieder aufgestachelt durch Geißelungen mit Ruten oder durch Berührungen nackter Körperteile mit den Flammen der Kerzen. Und von neuem beginnt das erregte Tanzen um einen mit Wasser gefüllten Bottich, dem die Auserwählten

Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rußland. 15

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in ihren Halluzinationen Christus leibhaftig entsteigen sehen. Nach vollendeter Zeremonie bleiben Männer und Frauen bis zum Anbruch des Tages in wirrem Durcheinander liegen. ij Die unter dem allgemeinen Namen Chlysty oder Geißler zusammengefaßten Sekten bestehen eigentlich, wie schon früher angedeutet wurde, aus vielen Gruppen von Sekten, die nur das eine Prinzip der Verknüpfung von Religion und Wollust gemeinsam besitzen; im übrigen aber hat jede Gemeinde, die sich als Kopaßjib, Schiff, bezeichnet, ihre separaten Zere- monien, ihre eigenen Oberhäupter, ihren eigenen Christus und ihre eigene Gottesmutter. Von den Lehren der Flagellanten ist, wie bemerkt, nicht viel zu sagen, denn sie haben offenbar keine, sondern beschränken sich auf die Wirkung ihrer sinn- lichen Zeremonien und finden dafür genug Teilnehmer. Die brutalsten Abarten der Chlysty sind die als Skakuny und Pry- guny2) bekannten Sektierer. Sie unterscheiden sich von den Tanzenden dadurch, daß sie springen oder hüpfen, wenn sie sich in Erregung versetzen wollen; während ferner die Chlysty einzeln tanzen, springen und hüpfen die Skakuny und Fry- guny immer paarweise, je ein Mann mit einem Weibe. Bei ihnen ist alle Mystik, alle idealistische Bemäntelung der Sinn- lichkeit völlig entschwunden, der tierische Schrei nach rohe- ster Geschlechtlichkeit hat das Gebet ersetzt, und die Sehn- sucht nach dem Abendmahl ist verwandelt in heißen Genuß leidenschaftlicher Liebe. Jene, die selbst bei den Chlysty noch wohlwollend nach einer sympathischen Erklärung der Tollheiten , suchen, und nur widerstrebend an die Ausschweifungen glauben wollen, von denen man ihnen berichtet hat, sie müssen bei den Skakuny und Pryguny alle Rechtfertigungsabsicht von vornherein fallen lassen. Nicht einmal von einem theoretischen Asketismus kann die Rede mehr sein, sondern die nackte Un- zucht ist zur Gottheit erhoben, die Sünde an sich Gesetz und

1) Man muß hierbei an die Sekte denken, die in Deutschland um das Jahr 1233 existierte und deren Mitgüeder sich Condormientes, die Beisammen- schlafenden, nannten. Junggesellen und Jungfrauen wurden abends zu- sammen in ein Zimmer eingesperrt und erst in der Morgenfrühe \vieder befreit.

2) CKaKyHt, der Springende, der Springer; nptirym,, der Hüpfer.

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Zweck. Statt der wenigstens anscheinend andächtigen Ge- sänge gibt es nur noch obszöne Lieder, die unverhüllt zu fleisch- licher Vermischung auffordern, oder Vorträge solcher Bibel- stellen, die sich auf die Geschichte Loths und seiner Töchter, auf das Harem Salomos und andere Schlüpfrigkeiten be- ziehen.i) In einer Skakunygemeinde zu Rjäsan forderte die Muttergottes mit folgendem Liede die jungen Mädchen auf, sich an der Liebe des Heilands zu ergötzen : ,, Nahet euch, ihr Bräute, sehet, der Bräutigam kommt, euch liebend zu um- fangen. Lasset euch nicht vom Schlafe übermannen, wachet, ihr Töchter, und lasset euere Lampen brennen!" Ihre Haupt- versammlungen halten diese Sektierer gewöhnlich zu Ostern in der Nacht von zwölf Uhr angefangen. Charakteristisch ist, daß bei allen Schiffen oder Gemeinden der Chlysty, Skakuny oder Pryguny ein Wassergefäß in der Mitte des Saales auf- gestellt wird. Ob dies eine besondere Bedeutung hat, oder nur zur Erfrischung der Tanzenden, Hüpfenden und Springen- den dienen soll, bleibt eine offene Frage. Nach dem Tanzen, Hüpfen und Springen werden bei einigen Gruppen dieser Sek- ten die Lichter verlöscht 2) und es beginnt das Sündigen im

. 1) ,,Sie verachten den Körper, den sie in ihrer manichäischen Denkungs- art oft geradezu als Schöpfung des Teufels betrachten, so sehr, daß sie sich als plumpe Mystiker leicht überreden, die von Gott nach seinem Ebenbilde geschaffene Seele könne überhaupt durch keine noch so unreine Handlung des Körpers befleckt werden.'' Leroy-Beaulieu III 444.

2) Jonas Hanway gibt nach Olearius und Otter in der ,, Beschreibung seiner Reisen von London durch Rußland und Persien", Hamburg und Leipzig 1754, I 283 folgende Schilderung einer ähnlichen mohammedanischen Sekte, welche Moum Seundurain oder Auslöscher der Lichter genannt wurden: ,, Diese sind das Gegenteil von den römischen Matronen, die den geheimen Gottes- dienst der Bona Dea verwalteten, welchen es für die größte Unheiligkeit an- gesehen wurde, Mannspersonen in ihre Gegenwart zuzulassen. Zu den Ge- bräuchen der Moum Seundurain sind beyde Geschlechter nothwendig. Diese versammlen sich, essen und trinken tapfer, löschen unter tiefem Stillschweigen und mit großer Feyerlichkeit ihre Lichter aus, verwechseln ihre Stellen durch einander, und werfen alle Vorzüge vernünftiger Creaturen bey Seite. Ob- gleich die mohammedanische Religion vor allen anderen Religionen in der Welt ihren Bekennern den Venusdienst nachsieht: so ist doch diese Secte mehr als einmal verfolget worden, und wird von den Mohammedanern gar sehr verabscheuet."

IS*

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Gedränge^): jeder Mann sucht eine Frau zu ergreifen, um sich mit ihr zusammenzu wälzen, wie sie sagen. Nach ihrer Mei- nung ist auch die Blutschande keine Sünde. Man findet die Springer und die Hüpfer hauptsächlich in der Umgebung von Petersburg und ist deshalb vielfach der Ansicht, daß ihre Ur- heimat in Finnland sei. Eine positive Berechtigung zu sol- cher Annahme ist von niemandem erwiesen worden. Die Ska- kuny wurden zuerst unter Alexander I. erwähnt, der sie aufs strengste verbot. Aber sie tauchten bald wieder massenhaft auf. Im Jahre 1867 ließ ihnen Alexander II. neuerdings den Prozeß machen, weil man entdeckt hatte, daß sie nicht bloß Unzucht trieben, sondern auch Kinder mordeten. Durch diese Handlungen grenzen die Skakuny an jene furchtbaren Sekten, die im nächsten Kapitel vorgeführt werden.

12. Selbstverstümmler und Skopzen.

Die Religion der Ehelosen Das Weib vom Teufel geschaffen Verwerfung der Zeugung Ausschweifungen gottgefällig Die Sekte Seraphims Hurerei Religionsgesetz Freie Liebe Die Schaloputy oder närrischen Käuze Frau und Mann im Geiste Bauer und Arbeiter in ihrer Stellung- nahme zur Ehe Lehre des Propheten Korilin, daß Sodomie gottgefälhg Los der unehelichen Kinder Kindermord Die Skopzy oder Verschnittenen Origines Die Valerianer Die Gebern Infibulation des Zeugungs- güedes Legenden der Skopzy Des Propheten Sseüwanow wahre Lebens- geschichte — Die Gottesmutter Akulina Iwanowna Die Lehren der Skopzy Kastration Religionsgesetz Versammlungen der Skcj/zy Arten ihres Tanzes Sadistische Orgien Feuertaufe und Beschneidungstaufe Grade der Reinheit Arten der Operation Ersatz des Zeugungsghedes Ver- stümmlungen der Brüste und der Geschlechtsteile der Frauen Die Rekruten der Skopzensekte Die Zahl ihrer Anhänger Vermehrung durch Propa- ganda - Verheiratete Skopzen Prostitution der Skopzenfrauen gestattet Gekaufte Kandidaten der Kastration Kindermord als Kulthandlung Das blutige Abendmahl Neue Märtyrer Opferung der Muttergottesbrust Die Kindermörder Die Feodosianer Waisenhäuser für die Kinder der Feodosianer Die Totschläger Die Würger Die Lebendverstorbenen Die unter dem Boden Lebenden Mördersekten Die Kitzler Selbst- mördersekten Filipon Selbstverbrenner Domitian Schaposchnikow

1) Man hat hierfür den speziellen Ausdruck: iMa.ii.nbiil iplixi..

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Morelschtschiki Juschkow Vater und Sohn Der himmlische Tod

durch das Beil Der selige Hungertod Malewan und seine Anhänger

Die wilde Sekte der Wanderer.

Wir sind auf der tiefsten Stufe des russischen Sektenwesens angelangt ; und stehen an dem unermeßHchen Abgrund menschlicher Barbarei, vor den grausamsten Rätseln, die Wahn- sinn und Unsittlichkeit in innigem Bunde jemals gezeugt haben. Fast möchte man an Methode im Wahnsinn, an Konsequenz in den sexuellen Verbrechen glauben. Denn folgerichtig ent- wickelt sich eines aus dem anderen; an die Verachtung aller moralischen und bürgerlichen Gesetze, an die Beseitigung der Kirchenzeremonien, der Kirchen und des Priestertums reihen sich die Abschaffung der Ehe, die Proklamierung der zügel- losen geschlechtlichen Freiheit; zum Schlüsse gelangt man zur Verneinung des geschlechtlichen Verkehrs überhaupt, zur Verstümmelung der Geschlechtsteile, zur Vernichtung der Zeu- gungsfähigkeit, zu Kindermord, Mord und Selbstmord. Und allen diesen Prinzipien gemeinsam ist das Erotisch-Sadistische. Es gibt Sekten, die jeden Verkehr zwischen Mann und W^eib verdammen, die weder von einer ehelichen, noch von einer außerehelichen Liebe etwas wissen wollen; ihnen ist nicht bloß die Ehe ein Greuel, sondern das Weib an sich ein imreines, vom Teufel geschaffenes Wesen ij, mit dem man keine wie immer geartete Berührung haben soll. Aber auch diese as- ketisch angehauchten Sektierer erliegen der fleischlichen Ver- suchung, sobald sie an sie herantritt, und trösten sich dann

1) Ein alter Gedanke der Gnostiker und Manichäer. Schon die Ketzer- propheten Andronicus und Severus im zweiten Jahrhundert verwarfen den Ehestand unter dem Vorgeben, an einem Weibe sei nur der obere Teil bis zum Nabel von Gott, der untere Teil aber vom Teufel geschaffen worden. Die Paterniani oder Venustiani des fünften Jahrhunderts spannen den Ge- danken weiter und erklärten : Die unteren Teile sowohl der Weiber wie der Männer sind vom Teufel geschaffen; diese Sektierer folgerten daraus, daß Geilheit und Ausschweifung nicht Sünde seien, und lebten so unzüchtig, daß man ihnen den Beinamen gab: Ethioproskoptae, Sittenverhöhner. Am wei- testen ging der spanische Sektengründer Priscillianus, der die ganze Welt als vom Teufel geschaffen ansah, daher den Ehestand verwarf und die Unzucht zum Gesetze erhob. Er wurde wegen furchtbarer sexueller Verbrechen, die er als Gebote seiner Religion erklärte, hingerichtet.

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leicht mit dem Gedanken, daß sie in solchem Falle das kleinere von zwei Übeln gewählt haben: die gröbste Ausschweifung, sagen sie, ist noch immer verzeihlicher als die reinste und beste Ehe; wer eine Ehe eingeht, ist unauflöslich an die Sünde ge- fesselt, wer aber einer vorübergehenden noch so schlimmen Ausschweifung sich ergibt, dem bleibt die Möglichkeit offen, durch Einkehr und Buße die momentane Verirrung wieder gut zu machen. Diese so seltsame Askese, diese strenge Lehre der Verwerfung der Ehe bedeutet also nicht gleichzeitig ein Gebot der Enthaltsamkeit, ein unbeugsames Gesetz emstei Zucht und Sittsamkeit.

Aus dem Schisma entwickelt sich als letzte Wirkung der religiösen Entartung der Kultus rohester Sinnlichkeit ; das Dogma der orthodoxen Kirche wird ersetzt durch ein System von wilden Ausschweifungen, worin kein Platz mehr ist für fromme Zeremonien, sondern Platz nur für die Riten der Ob- szönität. Wenn die Orthodoxen ihre Seligkeit im Nebel des Weihrauchs zu sehen vermeinen, so finden die Sektierer, die wir jetzt kennen lernen werden, ihr Glück im Dunste, den der Wollustfanatismus erzeugt. Der Mystizismus beherrscht die Kirche wie den Raßkol; in der Kirche verwirrt er aber bloß die Seele oder die Phantasie; im Sektenwesen verwirrt er das Herz, erzeugt er die Verderbnis des Fleisches. Mit der- selben Innigkeit, Verzückung, Rauschigkeit, mit welcher der Orthodoxe vor dem Bilde der Muttergottes kniet, betet der Sektierer zu der in Fleisch und Blut vor ihm stehenden hei- hgen Jungfrau, die er sich selbst erkoren hat, und berauscht sich an den Genüssen dieser Welt, indem er sich in seinem systematischen Wahn dadurch die Seligkeit der anderen Welt zu gewinnen glaubt. Man verwirft brutal die Ehei") und hei-

1) Die Gnostiker und Manichäer betrachteten fast durchweg die Ver- werfung des Ehestandes als das Hauptprinzip ihrer Lehren. So dachten die Tatiani oder Encratitae und die sogenannten Abstinenten, spanische und französische Ketzer des dritten Jahrhunderts. Die Aginnenser im siebenten Jahrhundert leugneten, daß der Ehestand jemals von Gott eingesetzt worde n. Die Engelsbrüder, eine Abart der Böhmisten, erklärten: ihrer Engelsnatur sei der Ehestand zuwider. Basilides lehrte zur Zeit des Kaisers Hadrian, daß man der Ehe jede unordentliche Vermischung vorziehen solle. Die Eusta-

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ligt den unreinen Koitus, man predigt die Ehelosigkeit und erhebt die Weibergemeinschaft zum Gemeindegesetz.

Völkern, die sich noch im Stadium der primitiven Kultur befinden, erscheint die Zeugung häufig als eine gewissermaßen religiöse Handlung, als ein von der Natur festgestellter, von dem Himmel geheiligter Akt, der die Fortpflanzung der Men- schen sichert. Aber ein solcher Satz könnte nicht auch auf die russischen Sektierer, von denen wir jetzt sprechen, ange- wendet werden. Denn diese Fanatiker der Wollust verwerfen nicht bloß die Ehe, sondern verabscheuen auch die Zeugung. Sie wollen durch Verbrechen und Kindermord die Fortpflan- zung der Menschheit verhindern. Der Geschlechtsakt ist ihnen nur ungezügelter Genuß, keineswegs Kulthandlung. Im Jahre 1872 wurde in Pskow von dem aus einem Kloster ent- sprungenen angeblichen Mönch Seraphim i) eine Sekte mit folgendem Programm gegründet : Im Sündigen allein ist das wahre Seelenheil zu finden, denn je mehr man sündigt, desto ruhmvoller wird das Verdienst des Erlösers. Hier versucht man nicht einmal mehr die Schamlosigkeit zu verhüllen. Das Sektenwesen solcher Art hat mit der Religion nichts mehr zu schaffen. Das sind keine Schismatiker, die sich von der Kirche aus theologischen Gründen getrennt haben, sondern Nihilisten,

thiani im vierten Jahrhundert wollten in Häusern, wo Eheleute wohnten, nicht beten und sprachen niemals mit Verheirateten.

1) Leroy-BeauHeu III 487 berichtet von Seraphim, daß er sich mit Vorliebe an junge Mädchen heranmachte und ihnen die Haare abschnitt, angeblich um sie zu verkaufen; es dürfte sich aber wahrscheinlich um einen Fall von Fetischismus gehandelt haben. Vermutlich von demselben Sera- phim ist auch bei BapKOBt die Rede (in dem schon erwähnten Buche:

26 M0CK0BCKHX1> JIMtC-UpopOKOfffc USW. USW. MoCKBa 1865, fTp. ISO 154: OieUt

CepafliHM-fc). Hier wird erzählt, daß der Bauer Jermil Ssidorow aus dem Dorfe Wesnowatka im Gouvernement Woronesch 1859 seine Frau und sein Haus im Stich ließ und im Mönchsgewand unter dem Namen Vater Seraphim als Lügenprophet von Ort zu Ort zu wandern begann. Er zeigte alle mög- lichen Zauberkunststücke, konnte sich verwandeln, bezeichnete sich unver- wundbar und fand viel gläubige Gemüter, die ihn als Heiligen ansahen. Nament- lich von den Frauen wurde er stets gastfreundlich aufgenommen. Wegen ver- schiedener Schwindeleien mußte er aus dem Gouvernement Woronesch flüchten ; er scheint die Zeit bis 1872 in einem Kloster zugebracht zu haben. Seine Karriere ist typisch für die der meisten russischen Sektengründer.

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die keine Bande der Moral, keine Gesetze der Gesellschaft an- erkennen. Diese Sektierer haben nicht bloß mit allen Dog- men der Orthodoxie restlos aufgeräumt, nicht bloß die Kirchen, die Priester und die Sakramente abgeschafft, sondern ver- achten alles, was Menschen geschaffen und begründet haben. Sie kennen kein Vaterland und kein Familienheim; sie kennen weder Elternpflichten noch Kindesliebe; was gesetzlich ist, gilt ihnen als Verbrechen ; die Sünde allein als das Erstrebens- werte, als das Glück in dieser, als die Pforte zu der Herrlichkeit der anderen Welt.i)

Alles ist zu Ende; es gibt keine Religion mehr, keine Regierung, keine Obrigkeit, keine Steuern, keine Kirchen, keine Beichte, keine Priester und keine Ehe, keine Familie. Aber wo wäre etwas Russisches, das nicht Kontraste aufwiese? So sehen wir auch bei einigen Sekten der Ehelosen ein plötzliches Zurückweichen vor den letzten Konsequenzen, eine Milderung der Allesverneinung durch einen seltsamen Kompromiß. Man verwirft die Ehe, aber entschließt sich zu einer freien Ge- meinschaft ; Mann und Weib sind namentlich bei den Bauern einander unentbehrlich, nicht bloß aus geschlechtlichen Grün- den, sondern als ergänzende Teile bei der Haus- und Feld- arbeit. Man verzichtet also auf das feste, aber nicht aiif ein loses Band. Man kümmert sich nicht um den kirchlichen Segen, begnügt sich mit dem Segen der Eltern, der Ver- wandten oder einiger Gemeindemitglieder. Die Übereinstim- mung zwischen Mann und Frau ist das Maßgebende, und das .Zusammenleben dauert so lange wie diese Übereinstimmung. Die Ehe ist Menschenwerk, die Liebe aber von göttlicher Natur; und nur die Liebe wird als die Grundlage einer wirk- lichen Vereinigung von Mann und Frau angenommen; hört die Liebe auf, so gilt auch die Vereinigung als von selbst

1) Die Sekte, die anno 1433 in Schwaben auftauchte, verfolgte dieselben Prinzipien: „Es ist erlaubt zu lügen; man braucht keinen Glauben zu hallten, keine Versprechungen einzulösen; man darf morden, auch Unschuldige und selbst seine Eltern töten." Die Mitglieder der schwäbischen Sekte hielten sich für so vollkommen, daß sie erklärten, es könnte ihnen nichts als Sünde ange- rechnet werden. Vor allem aber sahen sie in der Unzucht das höchste Glück, die Hurerei öffnete ihnen die Pforte zum Paradiese.

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rechtlich gelöst. Diesen Gemäßigten unter den Besbratschniki^j ist nur das von der orthodoxen Kirche aufgestellte Dogma von der Unlösbarkeit einer kirchlichen Ehe ein Greuel; sie anerkennen jedoch einen Bund aus freier Liebe. Der Despo- tismus, den Kirche und Staat in Beziehung auf die Ehe aus- üben, wird beseitigt durch die natürliche Folgerung, daß zwei Menschen im Augenblicke, wo sie nicht mehr miteinander harmonieren, nicht nur auseinandergehen können, sondern müssen. Und wie die Vereinigung vor Zeugen geschlossen wurde, so erfolgt auch die Scheidung in Gegenwart der Eltern, Verwandten oder Gemeindemitglieder. Zu diesen Arten der Ehelosen gehören die vom Volke so betitelten Schaloputy^) oder närrischen Käuze, die sich selbst Genossenschaft wahr- haft geistiger Christen oder Bruderschaft des geistigen Lebens nennen. Ihr Gründer war um 1820 der Bauer Awakum Kopy- low, der Vernunft und Gewissen als die Grundlagen der Re- ligion erklärte, die Autorität der Bibel verwarf, Christus zwar als einen genialen Menschen ehrte, aber ihn nicht als gött- liches Wesen anerkannte, und die Wunder, die Jesus getan, als Legenden bezeichnete. Der wahre Christus der Schalo- puty ist niemals gestorben, sondern lebt als Mensch von Fleisch und Blut ; in den Versammlungen werden Christi Photographien gezeigt, er ist ein alter Mann mit grauem Bart und mit Ketten an den Händen. Während er in der Verbannung seine Zeit abwartet, vertreten ihn bei seinen Getreuen die Propheten und Gottesmütter. Vom heiligen Geiste sagen die Schaloputy, daß er in jedem Menschen sei; die Gottestempel sollen nicht aus Balken, sondern in den Herzen der Gläubigen errichtet sein. Man schildert diese Sektierer als bescheiden und fleißig. Es herrscht bei ihnen bis zu einem gewissen Grade Gütergemein- schaft, denn sie bearbeiten gemeinsam die Felder und teilen den gesamten Ertrag unter allen Gemeindemitglicdern auf. Im Prinzip verwerfen sie das eheliche Bündnis und kennen nur den freien Liebesbund. Da sie aber von den Gutsherren häufig zu kirchlichen Ehen gezwungen werden, so haben sie

^) BesßpaMHbift, der Ehelose. 2) in;i.ii, = dumm, albern.

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eine merkwürdige Methode erfunden, um einerseits dem Zwange keinen Widerstand entgegensetzen zu müssen und andererseits ihren Prinzipien Geltung zu verschaffen : Sie führen mit den ihnen kirchlich angetrauten Frauen gemeinsamen Haushalt, leben aber mit ihnen nicht geschlechtlich i), sondern schließen neben der legitimen Ehe mit anderen Frauen einen Bund der Liebe. Im Gegensatze zu der wirklichen Frau, die niemals Gattin wird, heißt die Konkubine die Frau im Geiste, Du- chowniza. Die vernachlässigte Frau geht nicht leer aus, sie wählt sich einen Mann im Geiste, dem sie körperlich näher steht als dem ihr angetrauten Manne. Die merkwürdigen vier- eckigen Ehen dauern zumeist lange und ungetrübt, weil jede Partei völlige Freiheit in allen Handlungen des Geschlechts- lebens behält.

Ähnlicher konzilianter Gemeinschaften unter den ehelosen Sekten gibt es indessen nur w enige. Im allgemeinen entziehen sich die Mitglieder dieser Sektierergruppen, wie sie nur können, den Fesseln selbst einer platonischen Zwangsehe. In den Städten ist dies natürlich noch leichter als auf dem Lande; der Bauer und die Bäuerin im Dorfe sind gegenseitig auf ihre Arbeit und Hilfe angewiesen, der Muschik braucht eine Gehilfin in der Isba und auf dem Felde; der Arbeiter in der Stadt oder in der Fabrik aber ist in dieser Beziehung ein freier Mann, und das Gesetz der Ehelosigkeit, das ihm in erster Linie als ein religiöses gelten soll, wird für ihn auch zu einer Existenznotwendigkeit : hat er keine Frau, keine Familie, so braucht er sich nur um das Stückchen Brot für sich selbst zu sorgen. Da wird der freie Geschlechtsverkehr zu einer Institution der Leichtfertigkeit ohne Gleichen, die freie Liebe führt zu Eintagsverbindungen, ein festes Band gibt es nicht

1) Man findet hierfür eine gewisse Parallele in der Sekte der Abelianer, die in den frühesten Zeiten des Christentums in der afrikanischen Diözese Hippon entstand. Die Abelianer behaupteten, daß Abel zwar im Ehestande gelebt, aber keine Gemeinschaft mit seinem Weibe gehabt habe, weil keine Meldung seiner Kinder geschieht. Deshalb nahmen die Abelianer gleich Abel zwar Weiber, aber sie gebrauchten sie nicht zum Kinderzeugen und verdammten aus Furcht vor der JLrbsünde den ehelichen Beischlaf als teuflisches Werk: um ihre Sekte zu erhalten, adoptierten sie fremde Kinder.

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mehr, alle Moralbegriffe entschwinden oder verwirren sich, heute lebt man mit diesem, morgen mit jenem Weibe, und von solchen Verhältnissen zur Weibergemeinschaft ist der Weg wahrlich nicht weit; und noch einige Schritte tiefer auf der abschüssigen Bahn gelangt man zu der Ansicht, daß Onanie, Päderastie und Sodomie die natürlichsten, dem Himmel wohl- gefälligsten Akte seien. 1) So lehrt der Sektenprophet Kori- lin: „Es ist besser, mehrere Weiber heimlich zu besuchen, als mit einer einzigen Frau öffentlich zu leben; besser als mit dem hübschesten Mädchen zu schlafen ist es, geschlecht- lichen Umgang selbst mit einem Tiere zu haben." Wenn die Welt vom Teufel geschaffen ist; wenn der Antichrist auf Erden herrscht; wenn man jeden Augenblick aufhorcht, um den Posaunenschall des jüngsten Gerichtes zu vernehmen : so ist es widersinnig, nach veralteter menschlicher Auffassung ein Weib zur Gattin zu nehmen oder mit einer einzigen Frau im Konkubinat zu leben, Kinder zu zeugen und die Mensch- heit fortzupflanzen. 2)

Was geschieht aber mit den Kindern, Früchten der freien Liebe? Deren Los ist wahrlich kein fröhliches. Am besten ist es noch, wenn man sie als erwünschten Arbeitemachwuchs ansieht; es gibt Sekten auf dem Lande, bei denen die Väter ihre Töchter zu schamlosen Ausschweifungen ermutigen, ihnen alles erlauben, ausgenommen die Ehe, und wo die illegitimen Kinder dann als Vermehrung des Arbeitspersonals der Familie willkommen geheißen werden. 3) Bei anderen Sekten leben die Männer nur so lange mit ihren Frauen oder Geliebten, als dem Bunde Töchter entsprießen; die Geburt eines Sohnes macht der Vereinigung sofort ein Ende, weil diese Sektierer nicht Rekruten für das Heer Satans zeusren wollen.*) Dies

^) Die gnostisch-manichäische Sekte der Origeniani im vierten Jahr- hundert zog ebenfalls nicht bloß Konkubinat und Hurerei dem Ehestand vor, aondern erklärte auch Kinderzeugen als Sünde und begnügte sich daher zur geschlechtlichen Befriedigung mit der Ausübung der Onanie.

2) Auch die Saturniani im zweiten Jahrhundert meinten, Kinderzeugung sei ein Werk Satans und verwarfen deshalb den Ehestand.

') Leroy-Beaulieu III 417.

*) Helhvald, Die Welt der Slawen, 357.

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alles ist noch harmlos; es gibt jedoch Sekten, bei denen man die Kinder einfach aus der Welt schafft und auf diese Weise die Frage radikal zur Lösung bringt. Am berühmtesten und vielleicht am meisten verbreitet von allen diesen radikalen Sekten ist die der Verschnittenen oder Skopzyi/. welchen zuerst der russische Schriftsteller Meljnikow-Petscherskij nach- wies, daß bei ihnen in bestimmten Fällen, von denen noch die Rede sein wird, der Kindermord zu den religiösen Zere- monien gehört.

Die Entmannung, die im allgemeinen als eine Schand- strafe gilt 2), hat sowohl in der Religion des Abendlandes wie des Morgenlandes Anhänger unter fanatischen Asketen gefunden, die es als das sicherste Mittel gegen die Unkeuschheit betrach- ten, das Glied der Zeugung und der Sünde einfach wegzu- rasieren. Als Origines, der berühmte Kirchenlehrer des dritten Jahrhunderts, sich kastrierte, berief er sich auf die Worte Matthäi XIX, 1 2 : „Denn es sind etliche verschnitten, die sind aus Mutterleibe also geboren; und sind etliche verschnitten, die von Menschen verschnitten sind; und sind etliche ver- schnitten um des Himmelreiches willen. Wer es fassen mag, der fasse es !" Auch andere Stellen des Neuen Testaments und der Bergpredigt sind zur Rechtfertigung der Kastration herangezogen worden; so die folgenden. Matth. XVIII, 8 und 9: „So deine Hand oder dein Fuß dich ärgert, so haue ihn ab, und wirf ihn von dir. Und so dich dein Auge ärgert, reiß es aus, und wirf es von dir." Matth. X, 28 : „Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, und die

1) CKonHTb, verschneiden, kastrieren; cKonei^L, der Verschnittene ; CKOiiHita, die Verschnittene.

2) In Rußland selbst ist dies beispielsweise bei den halbwilien Kirgisen der Fall. In „des Herrn Kapitains Rytschkow Tagebuch," a: a. O. S. 431 heißt es: „Einen Mann untüchtig zu machen oder zu entmannen, wird bey ihnen für einen halben Totschlag gerechnet, und es muß daher dem verstüm- melten die Büssung eines völligen Mords gezahlt werden." Es ereignete sich einmal, daß ein Kirgise das Harem des Chans entweihte und von den Chans- dienern zur Strafe dafür entmannt wurde. Auch in diesem Falle, wo nach orientahscher Auffassung der Entmannte nur den Lohn für seine Übeltat er- halten haben sollte, mußte der Chan selbst die nach dem Rechte bestimmte Buße bezahlen.

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Seele nicht mögen töten." Evang. Lucä XXIII, 29: „Denn siehe, es wird die Zeit kommen, in welcher man sagen wird: Selig sind die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht ge- boren haben, und die Brüste, die nicht gesäugt haben." Ko- losser III, 5 : „So tötet nun euere Glieder, die auf Erden sind, Hurerei, Unreinigkeit, schändliche Brunst, böse Lust." Auch die Sekte der Valerianer, die den Ehestand und das Kinder- zeugen verdammte, lehrte die Kastrierung als das einzig sichere Mittel zur Bewahrung der Keuschheit. Die Valerianer entmannten nicht nur sich selbst, sondern verschnitten auch Jene, die das Unglück hatten, in ihre Gewalt zu fallen. Von den griechischen Mönchen ist bekannt, daß sie die Infibulation zur Bewahrung der Keuschheit anwendeten. i) Je schwerer der Ring am Gliede, desto größer der Stolz des Büßenden. Manche trugen einen Ring von sechs Zoll im Umfang und einem Viertelpfund an Gewicht. 2)

Die russischen Skopzy beziehen sich auf keine Bibelstellen zur Begründung der Kastration ; sie betrachten die ganze Bibel, wie wir sie besitzen, als eine Fälschung. Das wahre Evan- gelium, ,,das Buch der Taube", befand sich nach Ansicht der Skopzy einst in ihren Händen, bis Peter der Dritte, ihr Oberhaupt und Christus, die göttliche Schrift in der Kuppel der Andreaskirche auf Wassilij-Ostrow zu St. Petersburg ein- mauerte. Das Datum der Entstehung der Skopzensekte läßt sich ziemlich genau feststellen. 3) Im Jahre 171 5 wurden im Kreise Uglitsch im Gouvernement Jaroßlaw mehrere Ketzer

1) Die Geber in dem Kloster zu Ateschdjah bei Baku kasteien sich, indem sie schwere Eisenstücke an das Glied hängen, das sie am meisten zur Sünde gereizt hat. Durch derartige jahrelange Marter wird der Büßer in einen Zustand versetzt, der sich von jenem des Eunuchen nur dadurch unterscheidet, daß eine Operation als nicht mehr notwendig vermieden wird. Vgl. Bernhard Stern, Zwischen Kaspi und Pontus 145; Reineggs, Beschreibung des Kaukasus, 1796, I 157; Eichwald, Reise in den Caucasus, 1834, I 178.

2) Man vergleiche über Infibulation die interessante Abhandlung in ,, Zeichen und Werth der verletzten und unverletzten Jungfrauschaft nach physiologischen moralischen und Nationalbegriffen". (Von C. G. Flittner.) Zweite Ausgabe. Berlin 1795, bei Oehmigke dem Jüngern. S. 268 278.

') Die russische Kirchengeschichte kennt zwar schon aus dem elften Jahrhundert zwei berühmte Kastraten unter den hohen Geistlichen, die Metro-

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entdeckt, die die Entmannung an sich vollzogen hatten. Im Jahre 1717 wurden in Moskau ein gewisser Prokop Lupkin und ein paar Dutzend Männer und Frauen verhaftet, die eine Sekte von Eunuchen und verstümmelten Frauen bildeten; 1738 wurde auf Befehl der Zarin Anna Iwanowna die Leiche Lup- kins, dessen Grabstätte zu einem Wallfahrtsorte für diese Sekten geworden war, ausgegraben und verbrannt. i) Trotz- dem — oder richtiger: seit damals erst vermehrte sich die Zahl der Anhänger der Skopzensekte.2) Im Jahre 1771 wurde der Regierung bekannt, daß ein Bauer namens Andrej Iwanow im Gouvernement Orlow dreizehn Bauern zur Kastra- tion überredet hatte. Andrej Iwanow, der eigentlich Kon- dratij Sseliwanow hieß, nannte sich auch Ssemen, Iwan, Foma. Er gab sich gleichzeitig als Zar Peter III. aus; ferner als „Christus, der wahre Gott, geboren von der unbefleckten Jung- frau, die als Kaiserin den Namen Elisabeth Petrowna führt." Diese Kaiserin-Gottesmutter starb nicht, wie die Geschichte erzählt, im Jahre 1760, sondern zog sich unter dem Namen Akulina Iwanowna zuerst zu den Skopzen des Gouvernements Orel, später nach Kursk zurück, wo man sie noch im Jahre 1865 hinter einem, goldenen Gitter anbeten konnte. Peter III.- Christus^) war mittlerweile aufgewachsen; als er von Katha-

politen Iwan und Jefrem von Kijew, die aus Griechenland nach Rußland ge- kommen, waren; aber diese beiden, Prälaten gehörten keiner Sekte an, sondern waren Eunuchen von Geburt.

1) Vgl. S. 183.

2) Vgl. Peükan, Gerichtlich medizinische Untersuchungen über das Skopzentum in Rußland nebst historischen Notizen ; übersetzt von Dr. Nikolaus Iwanoff, Gießen 1876. von Stein, Die Skopzensekte in Rußland in ihrer Entstehung, Organisation und Lehre nach den zuverlässigsten Quellen dar- gestellt, in der Zeitschrift für Ethnologie, Berlin 1875. PcHimiä, Jhojm Boaciit 11 ciconubi. Leroy-Beaulieu a. a. O. III 451 465. Haxthausen, Studien, 1 340. Schiemann, Alexander I., 413. Hier sind auch mehrere russische Quellen erwähnt. Mantegazza, Die Geschlechtsverhältnisse des Menschen, Jena, 3. Auflage, S. 145. Dr. Richard Wrede, Die Körperstrafen bei allen Völkern, Dresden 1898, S. 258 273. Laurent und Nagour, Okkul- tismus und Liebe, Studien zur Geschichte der sexuellen Verirrungen, Berlin, Barsdorf, 1903, S. 79 80. Caufeynon, L'Eunuchisme, Historie generale de la Castration, Paris, yy 81. Busch, Wunderliche Heilige, 140.

3) Vgl. S. 215.

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rina einen Nachfolger erhalten hatte, entmannte er sich und kastrierte auch alle seine Anhänger. i) Seine Gemahlin Katha- rina wollte ihn ermorden lassen, er aber entkam den Nach- stellungen der Meuchelmörder, hielt sich eine Zeitlang ver- borgen und tauchte dann als Muschik Kondratij Sseliwanow auf, verrichtete Wunder und verbreitete die Lehre der Kastra- tion. In Tula wurde er verhaftet, mit Knutenhieben bestraft und hierauf nach Irkutsk verschickt. Paul ließ ihn zurückrufen, wollte sich aber zum Glauben seines Vaters nicht bekehren und sperrte ihn in ein Irrenhaus. Alexander ließ den Groß- vater frei, und Sseliwanow lebte in einem Hause des reichen Skopez Ssladownikow unbehelligt als Christus so lange, bis ihn die zarischen Knechte wieder verfolgten und ins Kloster von Ssusdal schleppten, wo er noch heute lebt in Stille und Verborgenheit; und eines Tages wird er wieder hervortreten, und dann werden sich alle Kaiser und Fürsten der Erde in- brünstig vor ihm neigen. Dieser Legende der Skopzen^j liegen tatsächliche Momente zugrunde: Sseliwanow wurde 1775 in Moskau ergriffen, am 15. September dieses Jahres geknutet und nach Irkutsk verschickt ; er entfloh, wurde 1 797 neuerdings in Moskau verhaftet und auf Befehl des Zaren Paul ins Irren- haus gebracht, da er die Frechheit gehabt hatte, sich dem Kaiser als Peter III. vorzustellen. Im Jahre 1802 wurde Sse- liwanow auf Intervention einiger reichen Skopzen aus dem Irrenhaus entlassen, zuerst in eine der Armenanstalten des Smolnaklosters überführt und dann durch Vermittlung des Staatsrates Alexej Michajlow Jelinsky, der selbst der Sekte an-

1) Nach einer Version wurde Peter schon in Holstein Skopze. Das geheime Erkennungszeichen der Skopzen untereinander ist gewöhnlich ein Porträt Peters III., auf dem der Kaiser dargestellt ist, wie er ein rotes Tuch auf dem rechten Knie hält und mit der rechten Hand das rote Tuch berührt. Bei ihren Zusammenkünften oder wenn sie sich in unauffälliger Weise einander als Sektenbrüder zu erkennen geben wollen, legen die Skopzy auf ihr rechtes Knie ein rotes Tuch und schlagen mit der rechten Hand darauf.

2) Die Legende macht konsequenterweise auch den Fürsten Daschkow. der ein Günstling Peters III. war, während die Fürstin Daschkow zu Katharina hielt, zu einem Skopzen. Der Bauer Iwan Sußlow gab sich als Fürst Daschkow, alias Johannes, Lieblingsjünger des Jesu-Sseliwanow aus. Er wurde erst in Dünaburg, dann in Schlüsselburg eingesperrt und starb 1799.

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gehörte, in dem Hause des Kaufmannes Nenastjew, eines Skopzen, fürstlich installiert. Er lebte nun lange Jahre als angesehener Prophet und Erlöser, und im Jahre 1805 pilgerte sogar der mystisch veranlagte Zar Alexander I. vor dem Auf- bruch ins Hauptquartier zum Skopzengott.i) Drei Tage nachher begab sich Lubjänowski, später Senator, ebenfalls zu Sseli- wanow ; Lubjänowski erzählt in seinen Memoiren : Der Pro- phet richtete sich in seinem Bette auf und segnete den Gast; dann fragte er : „Ist Aleksaschka abgereist ?" Als die Frage bejaht wurde, sagte er bedauernd: ,,Was soll man da machen? Vorgestern habe ich ihn angefleht, nicht zu fahren und keinen Krieg mit dem verfluchten Franzosen anzufangen. Gott be- hüte ihn, ich sehe nichts Gutes kommen. Du wirst es ja sehen." Alexander I. ließ widerstandslos die Ausbreitung der Sseli- wanowschen Sekte zu; ihren Gottesdiensten durften die Be- hörden nichts in den Weg legen. Erst im Jahre 1820 erkannte man das Übel, das man gefördert hatte, und brachte Sseli- wanow ins Kloster zu Ssusdal. Das geschah unter großen Ehrenbezeigungen. Dem Propheten wurde auf kaiserlichen Befehl vom Fürsten Galitzyn^) eine Staatsequipage zur Ver- fügung gestellt. Im Kloster Ssusdal ist Sseliwanow gestorben. nach einigen 1823, nach anderen 1832, doch scheint die letz- tere Jahreszahl die richtigere zu sein. Auch die legendäre Akulina Iwanowna gehört der Wirklichkeit an, doch fehlen über sie genaue Nachrichten. Im Jahre 1844 wurde zu Mor- schansk im Gouvernement Tambow eine himdertjährige Frau von den Skopzen als heilige Jungfrau und Gottesgebärerin ver- ehrt. Man nimmt an, daß sie die i\kulina Iwanowna ge- wesen sein dürfte, die mithin den Propheten um wenigstens ein Jahrzehnt überlebt haben würde.

Die Lehre der Skopzy, die sich selbst weiße lauben, die

1) Schiemann, Alexander I.^ S, 414.

2) Fürst Galitzyn, Jer erste Kultusminister Rußlands, gehörte einer Geißlersekte an, die im Michaelspalais in der Wohnung der Offizierswitwe Tartarinow ihre Orgien feierte; nach einem Berichte des Archimandriten Photij sollen die Anhänger der Tartarinowschen Gruppe großenteils Skopzen gewesen sein; „auch Frauen und Mädchen sollen hier verschnitten werden." fügt der hohe geistliche Referent hinzu. Vgl. S. 223.

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Reinen, die Gerechten, wahre Kinder Gottes nennen, besteht ungefähr in folgendem : Als Gott den Menschen erschuf, ge- schah dies für ein geschlechtsloses Leben. Aber Adam und Eva sündigten. Die Erbsünde, das ist der Geschlechtsakt; sie kann nur gesühnt werden durch Vertilgung der Fortpflan- zungsfähigkeit, also durch Vernichtung der Geschlechtsteile des Mannes und durch Zerstörung der Brüste und der Ge- schlechtsteile der Frau. Aus der ersten Menschensünde wurden immer neue geboren, und die Verderbnis der Welt wuchs ins Chaotische. Da sandte Gott seinen Sohn Jesus auf die Erde herab. Ihn erkennen die Skopzy mithin als Gottes Sohn an, indessen nur als Vorläufer des zweiten und größeren Gottes- sohnes Sseliwanow ; nicht das Martyrium am Kreuze, sondern das Martyrium, das man dem Zeugungsgliede auferlegt, kann die Menschheit von dem Übel der Erbsünde erlösen. Übrigens hat auch Jesus Christus die Skopzenlehre verbreiten wollen, Beweise dafür smd die früher erwähnten Bibelstellen ; seine Ab- sicht wurde nicht verstanden, und infolgedessen mußte Gott seinen zweiten Sohn Sseliwanow auf die Erde senden, um das große Sühnewerk der Kastration zu vollführen. Sseli- wanow ging mit dem besten Beispiel voran, indem er sich der Feuertaufe unterzog, das heißt : der Vernichtung des Zeugungs- gliedes durch ein glühendes Eisen. Doch gestattete der Pro- phet als Konzession an die menschliche Schwachheit die Vor- nahme der Operation mit einem Rasiermesser oder Stemm- eisen. Die Kastration ist das unerläßliche Opfer, das allein von der Hölle retten kann. Im Augenblicke, da das sündige Zeugungsglied des Mannes oder die Saugwarze der Frauen- brust unter dem Messer fällt, öffnet sich den Seligen und Frommen die Pforte des Paradieses. Wir sollen nicht mehr sündigen, wie unsere Eltern gesündigt haben: deshalb ist es Pflicht der Proselyten vor ihrer Aufnahme in den heiligen Skopzenbund das Andenken von Vater und Mutter ebenso zu schmähen, wie den sündigen Staat und die Heiligen der Or- thodoxie. Die russische Kirche ist das Reich des Antichrist, die Popen und Bischöfe die Diener Satans. Die Skopzy kennen keine Sonntagsfeier, sie glauben nicht an die Auferstehung der Leiber Unverschnittener, sie verachten die Sakramente. Wenn

Stern, Geschichte der /iffcntl. Sittlichkeit in Rußland. l6

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sie trotzdem die russischen Kirchen besuchen, so tun sie es unter dem Zwange der Behörden, um sich und die Ihrigen nicht zu verraten, und weil sie meinen, damit etwas Gleich- gültiges zu besorgen, das ihrem Seelenheil nicht schaden kann. Über die Versammlungen der Skopzen ist bisher folgen- des in Erfahrung gebracht worden : Die Mitglieder der Sekte, die zusammen eine Gruppe oder ein Schiff (Kop;i o.ib) bilden wie die Chlysty, erscheinen alle in weißen Hemden. Die Zere- monien beginnen um zehn Uhr abends und dauern die Nacht durch. Da den Skopzen tiefste Verschwiegenheit über ihre Gebräuche und Handlungen auferlegt ist, gibt es keine ge- schriebenen Liturgien oder Vorträge ; die Lieder, die sie singen, pflanzen sich durch mündliche Überlieferung fort, oder ent- stehen in der Inspiration des Augenblickes. Haxthausen, der einer Skopzenversammlung beiwohnte, hat ein Lied aufgezeich- net: „Haltet zusammen, ihr S'';hiffsleute, lasset das Schiff im Sturme nicht untergehen. Der heilige Geist ist bei uns, unser Vater und Christus ist bei uns, seine Mutter Akulina Iwa- nowna ist bei. uns. Er wird kommen, er wird erscheinen; er wird die große Glocke Uspenskij läuten ; er wird alles gläubige Schiffsvolk zusammenrufen; er wird Masten setzen, die nicht fallen, Segel spannen, die nicht reißen und ein Steuerruder bauen, das sicher leitet!" Der Gesang wird von den Männern allein, die auf Stühlen oder Bänken sitzen und die Melodie durch Aufschlagen der flachen Hände auf die Schenkel be- gleiten, begonnen. Die Frauen sind zunächst bloße Zuhöre- rinnen ; nach einer Weile hören die Männer auf und die Frauen stimmen ein Lied an. Die Gesänge enden mit Tanz wie bei den Chlysty; und wie bei den Geißlern heißt auch bei den Skopzen dieser Tanz : Radenije, Glut, Inbrunst, das Arbeiten in Gott. Man kennt vier Arten des Radenije: Das Schiffchen, das Wändchen, das Kreuzchen und Mann für Mann. Wird ein Schiffchen gemacht, so bildet man einen Kreis und springt herum; ein Wändchen entsteht, indem man, ebenfalls im Kreise, Schulter an Schulter preßt; das Kreuz macht man, indem man beim Tanzen und Hüpfen Reihen in Kreuzesform zu entwickeln sucht; das Tanzen Mann für Mann gleicht dem Drehen der Derwische, da man auf dem Flecke bleibt und sich

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um sich selbst dreht. Die Wirkung der Tänze ist bei den Verschnittenen die gleiche wie bei den unverschnittenen Sek- tierern; die Versammlung fällt in Verzückung, gerät in einen Taumel sinnlicher Erregung, die natürlich nur durch heilige Küsse, wie Sseliwanow es befohlen hat, befriedigt werden könnte. Diese Befriedigung ist ungenügend, und so ist die Folge eine sadistische Orgie, die Vornahme von Operationen an den Gliedern männlicher Proselyten und an Frauenbrüsten. Die Verstümmelungen werden seltener an Kindern, ge- wöhnlich an schon Erwachsenen vollzogen. Es gibt verschie- dene Arten der Operation und mehrere Grade der Reinheit, die durch sie erreicht werden können. Durch zahlreiche Pro- zesse vor den russischen Gerichten wurde erwiesen, daß die Feuertaufe oder Beschneidungstaufei) in zwei Klassen zerfällt: in die des kaiserlichen, des großen Siegels, der zweiten Rein- heit : und in die des kleinen Siegels. 2) Die niedrigere IClasse erfordert nur die Entfernung der Hoden, die höhere die Ab- schneidung des Gliedes. Die Operation wird von Spezialisten vorgenommen, die in ihrer Kunst solche Meister sind, daß Katastrophen selten eintreten, trotzdem die Operationsinstru- mente die denkbar primitivsten: ein Rasiermesser, oft auch ein gewöhnliches Messer, eine Blechschere, und eine Serviette genügen dem Operateur. Zum Blutstillen wendet man ein glühendes Eisen an. Bei einigen Gemeinden vollführen alte Weiber die Operation. Es kommt vor, daß Fanatiker mit einem Stück Glas, einem Messer oder einer Axt auch selbst die Operation an sich vornehmen. 3) In einer Statistik über 5444 Skopzen, die man i866 entdeckt hat, wurde konstatiert, daß sich von dieser Zahl 863 darunter 160 Frauen selbst kastriert hatten. Nach einigen Berichten wird das kaiser-

1) In manchen Skopzengemeinden soll es auch eine Wassertaufe geben. Busch, Wunderliche Heiüge, S. 161, schildert eine solche Wassertaufe.

2) Andere Bezeichnungen sind: das erste Siegel, das erste Weißen, die erste Reinheit, das Besteigen des scheckigen Pferdes; und für die höhere Klasse: volle Taufe, zweites Weißen, Besteigen des weißen Pferdes.

') Solches praktizieren auch häufig die Chinesen, die eine glänzende Stellung als Eunuchen erringen wollen. Man lese darüber bei Dr. I. I. Matignon, Superstition, crime et misöre en Chine, 4. ed. Paris et Lyon 1902, p. 250.

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liehe Siegel nicht immer auf einmal, sondern manchmal in zwei Sitzungen gemacht. Im ersten Falle werden Hodensack und Glied zusammengebunden und mit einem einzigen Schnitt oder Hieb abgetrennt ; im anderen Falle wird zuerst der Hoden- sack und später das Glied abgeschnitten. Die Verstümmelten erhalten, teils um den Abfluß des Urins zu erleichtern, teils um die Verwachsung der Wunde zu verhindern, eine kleine Röhre aus Zinn oder Blei als Ersatz des Gliedes. i)

Den Frauen ist angeblich die Verstümmelung nicht Ge- setz, es gibt aber kaum eine unverstümmelte Skopzin. Auch bei den Frauen gibt es zwei Grade der Weihe : die erste und die zweite Reinheit. Man zerstört durch Eisen oder Feuer eine Warze oder beide; man schneidet eine Brust oder beide ganz ab ; oder man verunstaltet die Geschlechtsteile. Die Ope- ration der Geschlechtsteile erfolgt durch Messer oder Schere. Sie ist keineswegs immer so vollkommen, daß dadurch die Wollust oder nur die Zeugungsfähigkeit der Frauen verhindert werden könnte; es gibt unter den Skopzenweibern sogar viele, die sich dem Prostitutionsgewerbe zuwenden.

Das Skopzentum rekrutiert sich nicht bloß aus dem Bauern- stande, sondern hat Mitglieder aus allen Berufskreisen : man findet unter ihnen Edelleute, Offiziere, Beamte, Geistliche, Feldscherer, Bürger, Kaufleute, Gewerbetreibende, Grund- besitzer, Vagabunden, Arrestanten, Soldaten, Kolonisten und selbst Angehörige der Intelligenz. Auffallend groß ist die Zahl bejahrter Leute unter den Skopzen. Es gibt nicht bloß viele Siebzigjährige und Achtzigjährige, sondern auch Männer und Frauen, die ein Alter von iio bis 130 Jahren erreicht haben. Zur Statistik der Verbreitung der Skopzen sind einige interessante Zahlen festgestellt worden. Von 1805 bis 1839 zählte man offiziell 1665 männliche und 357 weibliche Mit- glieder der Sekte; von 1840 bis 1859: 1539 männliche imd

1) Pelikan gab folgende Statistik von 1481 Fällen, die ihm bekannt waren: 588 vollkommene Versclmeidungen, 833 Entfernungen der Hoden, 18 Entfernungen bloß eines Hodens, 16 Entfernungen bloß des Gliedes, 6 Ent- fernungen des Gliedes und eines Hoden, 22 Versclmeidungen besonderer Art. (Vgl. Wrede, 263.)

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825 weibliche; von 1860 bis 1871 : 764 Männer und 283 Frauen. Im Jahre 1843 verzeichnete ein Regierungsbericht 1701 Skopzy und Skopizy. Die offiziellen Berichte bleiben aber hinter der Wahrheit weit zurück. Schon Haxthausen glaubte, daß man die Zahl der Skopzen mit wenigstens zwan- zigtausend annehmen müsse ; und seither hat sich die Menge dieser Sektierer gewaltig vermehrt. Am meisten findet man sie in den Gouvernements Orel und Petersburg, dann in Ko- stroma, Rjäsan, Kaluga, Kursk, Taurien, Perm, Moskau, Ssa- mara, Ssaratow, Bessarabien, Tambow, Tula. In geringerer Anzahl treten sie in etwa zwanzig anderen Gouvernements auf. Die russische Regierung hat die Skopzen vielfach blutig verfolgt, und es gab besonders in den letzten Jahrzehnten vor den Gerichten mehrere Monstreprozesse gegen die Ver- schnittenen, wobei Hunderte Angeklagte erschienen. Infolge der Urteilssprüche wurden viele Tausende dieser Sektierer nach Sibirien verbannt ; andere flüchteten nach Galizien und nament- lich nach Rumänien, wo ihre drei Hauptgemeinden in Bu- karest, Galatz und Jassy mindestens zwanzigtausend Köpfe zählen. Die Verfolgungen haben also nicht im geringsten ge- nützt, und es werden die Skopzen, wenn sie sich in nächster Zeit in gleichem Maße vermehren, bald am Ziele ihres Strebens stehen : denn das tausendjährige Reich, sagen sie, muß an- brechen, wenn die Zahl der Skopzen und Skopizen auf 144000 gebracht sein wird. Wie bei allen russischen Sekten gibt es auch unter den Skopzen verschiedene Abarten. So existiert eine Gruppe, genannt die Perewertyschy, welche die Kastrie- rung schon bei den Kindern durch einen Schnitt und die Drehung des Samenstranges vornehmen. Eine andere Gruppe, die Prokolyschy, zerdrückt den Hodensack mit einem Bande und durchbohrt den Samenstrang mit Nadeln. In den letzten Jahren erst ist im Distrikt von Belew eine neue Skopzenart entstanden, deren Anhänger sich nach ihrem Propheten, einem Unteroffizier namens Tombow, die Tombowisten nennen.

Da die Skopzen infolge der Zerstörung der (Geschlechts- teile ihre Sekte nicht direkt fortpflanzen können, haben sie folgende Mittel zur Vermehrung ihrer Anhänger gefunden : Sie lassen sich gewöhnlich erst dann verschneiden, wenn sie

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mit ihren Frauen Kinder in die Welt gesetzt haben. Man ent- faltet ferner eine Propaganda, die durch den großen Reich- tum der Skopzen mächtig unterstützt wird. Die Skopzen sind gewöhnlich überaus wohlhabende Kaufleute, Juweliere oder Geldwechsler; die meisten verwenden ihre ganzen Reichtümer für die Gewinnung neuer Sektenmitglieder. Wer sich ilinen anschließt, der kann sich dem Messer ihrer Operateure nicht entziehen. Ihre Organisation ist so gefürchtet, daß es nur wenige ' Deserteure und Verräter unter ihnen gegeben hat. Und wer ihnen auch entflieht, wird früher oder später, wo immer im Inlande oder Auslande er sich aufhalten mag, von ihrer Rache ereilt. Auch wer unfreiwillig in die Hände der Fanatiker fällt, oder wer sich aus Neugier ihren A'ersamm- lungen beizuwohnen verleiten läßt, kann seiner Mannheit Lebe- wohl sagen; er wird ergriffen, auf ein Kreuz gebunden, ge- knebelt und gewaltsam zum Eunuchen gemacht. Man kennt viele Hunderte gewaltsamer Verschneidungen. Im Jahre 1866 allein wurden 470 Fälle bekannt. Der Skopze, dem es ge- lungen ist. der Sekte zwölf Mitglieder zuzuführen, erhält die Würde eines Apostels. Manche Skopzen schließen noch im späten Alter Ehen^) und gestatten ihren Frauen loyal den ge- schlechtlichen Verkehr mit fremden Männern ; aber die Kinder, welche solche Frauen dann zur Welt bringen, gehören von vornherein der Sekte. Man besoldet schließlich eine ganze Armee von Agenten, die durch die Lande ziehen, um unter den Armen und Soldaten für Geld Proselyten zu werben und Kinder für die heilige Kastration aufzukaufen

Schon früher ist bemerkt worden, daß die an den Ge- schlechtsteilen der Frauen vorgenommenen Verstümmelungen nicht immer die Zeugungsfähigkeit vernichten; tritt nun der Fall ein, daß eine Skopiza, welche die Rolle der heiligen Jung- frau spielen soll, einen Knaben gebärt, so gilt dieser als ein Sohn Gottes und muß für die Sünden der Menschheit wie Christus den Martertod erleiden. Am achten Tage nach seiner Geburt durchsticht man dem heiligen Kinde die linke Seite und durchbohrt ihm das Herz : das warme Blut dient der Kom-

1) Dies hat auch den Zweck, die Behörden zu täuschen.

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munion. Der Körper wird getrocknet, zu Pulver zerrieben und zu Brötchen verarbeitet, die man am ersten Ostertage den Gläubigen nebst einem Schluck Wasser als Abendmahl dar- reicht. Dieses blutige Abendmahl hat eine gräßliche Ver- breitung gefunden. Die Symbolik des Abendmahls entspricht dem heidnisch gebliebenen Volke nicht vollkommen, es will wirkliches Blut und wirklichen Leib Christi haben, wie dies nur bei Völkern auf der primitivsten Kulturstufe denkbar wäre, bei denen das Blut das heiligste Reinigungsmittel bedeutet, ein lebendes Opfer allein die finsteren Mächte versöhnen kann. Fälle von Abschlachtung neugeborener Kinder sind nicht nur bei den Skopzy und Chlysty, sondern noch bei vielen anderen Sekten zu finden. i) Gewöhnlich wird bei diesen Barbaren die Jungfrau, die man als Bogorodiza oder Gottesmutter erklärt, schon bei ihrer Installation mit diesen Worten begrüßt : „Ge- benedeit seiest du unter den Weibern, du wirst einen Heiland gebären!" Dann entkleidet man sie, legt sie auf einen Altar und treibt einen schändlichen Kultus mit ihrem nackten Leibe ; die Fanatiker drängen sich herzu, um ihn an allen Stellen ab- zuküssen. Man betet, der heilige Geist möge der heiligen Jungfrau ein Christuslein machen, auf daß es den Frommen übers Jahr vergönnt wäre, von diesem heiligen Leibe zu kom- munizieren. Wird die Bogorodiza während der nun folgenden Orgie geschwängert, so wird übers Jahr mit dem Neugeborenen wie erzählt verfahren. Bei anderen Sektengruppen ist die Bo- gorodiza selbst das Opfer. L'nter wilden Tänzen und Ge-

1) Die Gnostiker wurden der gleichen Verbrechen beschuldigt. Sie sollen die in ihren nächtlichen Zusammenkünften gezeugten Kinder gleich nach der Geburt zu Brei zerstampft, den Brei mit wohlriechendem Gewürz vermischt und den Gläubigen zum Abendmahl vorgesetzt haben. Das gleiche wird nach- gesagt den Sekten der Barbeliotae, Borboriani, Coddiani, Naasini, Socratitae, Stratiotici, Zachaei. Die lombardischen Fratricelli des dreizehnten Jahrhunderts, welche die Weibergemeinschaft eingeführt hatten, warfen die aus ihrer Hurerei erzeugten Kinder bei ihren Versammlungen so lange von einer Hand in die andere im Kreise herum, bis die armen Würmer starben. Derjenige, in dessen Hand ein solches Kind gerade verendete, wurde zum Hohepriester erklärt. Das gleiche wie von den Fratricelli wird auch von den Messaliani berichtet. Es waren aber beide Sekten vielleicht nur eine einzige unter verschiedenen Namen.

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sängen schneidet man ihr die linke Brust ab und verteilt Stücke davon an die Gläubigen. i)

Es ist die richtige Entwickelung, daß sich an die Selbst- verstümmelung die Opferung anschließt, daß auf die Kastra- tion der Kindesmord, Frauenmord und Männermord, der Selbst- mord des einzelnen und der Massenselbstmord folgen. Im Jahre 1879 hatte das Gericht in Odessa auf einmal vier Fälle dieser Art zu verhandeln : eine Selbstgeißelung, eine gewalt- same Kastrierung, einen Fall von Selbstverbrennung und einen Fall von Kreuzigung. Eine Sekte heißt geradezu : Kinder- mörder; sie betrachtet es als heiligste Pflicht, die Neugebore- nen in den Himmel zu senden, um ihnen die Leiden des ir- dischen, vom Teufel regierten Reiches zu ersparen. Bei der Sekte der Feodosianer, welche lehren : ,,Der Jüngling soll sich kein Mädchen nahe kommen lassen, der Ehemann seiner Gattin nicht beiwohnen, -die Jungfrau soll keinen Mann erhören, die Ehefrau keine Kinder zeugen," bei diesen Fanatikern werden Eheleute, die Kinder bekommen, aus der Gemeinde ausge- stoßen, falls sie es nicht vorziehen, die Neugeborenen sofort umzubringen oder zur Sühne für ihre Sünden lebendig zu begraben. Die menschliche Seele, sagen die Feodosianer, kommt bei dem Zeugungsakt nicht von Gott, sondern vom Teufel. In neuester Zeit hat eine Gruppe dieser Sektierer in Moskau und Riga Waisenhäuser errichtet, wohin sie ihre Kinder abgeben, die dann erzogen werden, ohne jemals zu erfahren, wer ihr Vater und ihre Mutter sind. Von den Feo- dosianem haben sich noch andere Dissidenten abgezweigt : solche, welche die Ehe wieder eingeführt haben ; andere, welche ein Konkubinat gestatten und die Kinder, die sie zeugen, weder töten noch in die Waisenhäuser verbannen. Die radikalen

1) Nach Haxthausens Bericht ist die heilige Jungfrau meist ein halbes Kind, fünfzehn bis sechzehn Jahre alt. Man setzt sie nackt in eine mit warmem Wasser gefüllte Waune. Die Operation wird von alten Weibern vor- genommen. Um dem Mädchen den Schmerz zu lindern, hält man ihm ein Bildnis des heiligen Geistes vor Augen. Nach vollzogener Operation hebt man das nackte Mädchen auf einen Thron, und alle Anwesenden tanzen her- um und singen: „Tanzen wir, springen wir den Zionsberg hinan." Plötzlich verlöschen die Lichter, und es beginnt im Dunkel eine wilde Orgie.

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Feodosianer wollen von allen diesen Abtrünnigen nichts wissen ; sie verharren starr bei der Ehelosigkeit und beim Kindermord.

Andere Sekten nehmen, um die Früfungszeit auf dieser höllischen Erde zu beenden und beschleunigt ins Paradies zu gelangen, Zuflucht zu dem einfachsten Mittel des Totschlags. „Auf dieser Welt," heißt es in dem Gesang einer solchen Sekte, „ist kein Heil zu finden. Nur die Heuchelei beherrscht diese Welt. Der Tod allein kann uns erretten. Gott hat die Welt verlassen, lasset uns zu ihm zurückkehren." Es gibt zweierlei Arten von Totschlagfanatikem : Mörder und Selbstmörder. Da sind zunächst jene, die im Volksmunde einfach die Totschläger heißen; sie behaupten, das Himmelreich verschließe sich nur jenen, die eines gewaltsamen Todes sterben. Die Würger sind des gleichen Glaubens. Die Lebendverstorbenen betrach- ten das Leben auf Erden als eine Strafe und die Geburt eines Kindes als ein Unglück. Im Jahre 1894 entstand eine neue Sekte, deren Anhänger sich ..Die unter dem Boden Leben- den" nannten. 1) Sie sind vorzüglich organisiert, werden von Ältesten geleitet und haben zahllose unterirdische Schlupf- winkel, in denen sie ihre Versammlungen abhalten und Vaga- bunden und entlaufenen Rekruten Zuflucht gewähren. Haupt- sächlich aber nehmen sie Schwerkranke auf. Diese werden getauft, erhalten einen neuen Vornamen und den Beinamen : Knecht Gottes, werden dann in die Höhlen gesperrt und dem Hungertode preisgegeben. Ebenfalls jüngsten Datums ist die Sekte der Kitzler, bei deren Versammlungen die Männer die Frauen so lange kitzeln, bis diese ohnmächtig werden; man entdeckte die Sekte in Charjkow, als ein junges Mädchen in- folge des Lachkrampfes verschied.

Zu den ältesten Sekten gehören jene, welche den Selbst- mord predigen. 2) Diese Sektierer fand man hauptsächlich

1) lIoAnoJibHHKH. Die abendländische Sekte der Lothardi, die im vier- zehnten Jahrhundert bekannt war, darf wohl als eine dieser russischen Sekte verwandte bezeichnet werden. Die Lothardi erklärten, Gott bekümmere sich nicht darum, was drei Ellen tief unter der Erde geschehe; sie hielten deshalb an unterirdischen Stellen ihre \'ersammlungen und verübten hier die furcht- barsten Schandtaten, Geißelungen, Ausschweifungen, Mord und Selbstmord.

2) Der Ketzer Montanus, der sich um 170 für den von Christus ver-

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unter den Pomorzyi), jenen Raßkoljniki, die sich vor den Ver- folgungen der Behörden an die nördlichen Meeresküsten ge- flüchtet hatten. Zur Zeit der Zarin Elisabeth Petrowna machte sich besonders die Sekte der Filiponen, genannt nach ihrem Stifter Filipon, durch ihre Ausschreitungen berüchtigt. Fili- pon lehrte, es gebe keinen anderen Zaren als den Zaren des Himmels und keine andere Hierarchie als die der Engel. Die Regierung ergriff gegen diese Sektierer zunächst Maßregeln nach Peters Art; man legte ihnen doppelte Steuern auf, und der Staatsschatz stand sich gut dabei, man konnte durch Ver- dächtigung unfreiwillige Sektierer schaffen und die Staats- einnahmen nach Belieben in die Höhe schrauben. Die Ver- folgten und Bedrohten verließen massenhaft ihre Heimstätten und flüchteten in (iie Wälder, in verlassene Gegenden, zumeist an die Ufer des Eismeeres. Aber die zarische Gewalt reichte auch dorthin, man hetzte die Flüchtlinge wie wilde Tiere; so wurde der religiöse Wahnsinn erzeugt, man sah nur im Selbst- mord die Rettung, und fühlte, daß Filipon recht hatte, wenn er predigte:' ,,Das Ende der Welt ist nahe, der Antichrist herrscht auf Erden, betet nicht mehr in den Kirchen, ge- horchet nicht der Zarin. Die uns verfolgen, sind die Vorläufer und Diener des Antichrist, wir aber die Diener Gottes." Und man gehorchte ihm freudig, als er erklärte : ,,Nur die Selbst- entleibung ist der W^eg zur Seligkeit. Nur das Feuer kann die Seelen von den Flecken dieser dem Antichrist verfallenen Welt reinigen." Ein Vater schloß sich, von Filipons Worten begeistert, mit seiner Frau und seinen Kindern in einer Holz- hütte ein, und der Prophet selbst legte Stroh und Reisig rund- um und zündete es an. Bald darauf brach eine wahre Selbst- verbrennungsepidemie aus, in unzähligen Orten triumphierten die Selbstverb renner 2) über ihre Verfolger. Nahten sich die

sprochenen heiligen Geist ausgab, endete durch Selbstmord ; zwei seiner Mai- tressen und Prophetinnen, Priscilla und Maximilla, folgten seinem Beispiel. Die Lehre der Patriciani im vierten Jahrhundert hieß: Nicht Gott, sondern Satan habe die Welt und das menschliche Fleisch geschaffen; es sei daher wohl gestattet, sich selbst umzubringen, um sich von solchem Fleisch zu befreien.

^) lIoMopio, Gegend an der Küste.

2) CaMOHcnraTeab, Selbstverbrenner, nannte man jeden Raßkoljnik. der sich auf diese Weise vor den Schergen der Zarin rettete.

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Soldaten der Zarin irgend einer Zufluchtsstätte der Sektierer, so schlössen sich diese schnell in ihren Häusern ein, die sie zuvor reichlich mit brennbaren Stoffen angefüllt hatten, und legten Feuer an. Vom Weißen Meere bis zum Ural und in die Schneewüsten Sibiriens hinein flammten die riesigen Scheiterhaufen auf. In der Umgebung von Kargopol ver- brannten sich auf einmal 240, an einem anderen Orte 400, in der Umgebung von Nischny-Nowgorod 600, im Distrikt von Olonez gar 3000 Sektierer. Zuletzt vereinigte Filipon selbst einige Dutzend seiner Intimsten, schloß sich mit ihnen in einer Hütte am Ufer eines Flusses ein und fand gleich seinen An- hängern den seligen Feuertod.

Ein Nachfolger Filipons war Domitian, der sich mit seiner ganzen Gemeinde von 1700 Personen verbrannte. Dem Do- mitian folgte Schaposchnikow, der sich mit seinen Anhängern in der Nähe von Tobolsk durch den Feuertod das Paradies erschloß. Selbstverbrenner sind auch die Morelschtschiki, über deren Lehren man nichts weiß, da man von ihnen nur durch ihre Katastrophen hört. Seit hundert Jahren ereignet es sich fast alljährlich, daß bald im Norden, bald in Sibirien oder an der Wolga eine Gruppe dieser Sekte sich in einer unterirdischen Höhle einschließt, alle Zugänge durch Holz, Stroh und Reisig verstopft, das Brennmaterial entzündet und unter wilden Ge- sängen den Flammentod erwartet. Schon die Reisenden Pallas, Gmelin und Georgi haben davon zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts erzählt, und seither gehören derartige Berichte aus jeder neueren Epoche der russischen Sittengeschichte zu den ständigen, im Wesen immer unveränderten, nur mit an- deren Namen und Ziffern versehenen Wiederholungen. Selten sind die Fälle, daß unter den Selbstverbrennern Reue ent- steht. Eines Abends versammelten sich achtzig Selbstmord- kandidaten in einem unterirdischen Räume, um die Seligkeit im Feuertode zu finden. Da wurde eine Frau wankelmütig und entfloh. Sie verständigte die Behörde. Aber als die Morelsch- tschiki die Polizei kommen sahen, setzten sie beschleunigt den Holzstoß in Flammen und riefen : „Der Antichrist kommt, laßt uns sterben, damit wir nicht lebend in die Gewalt des Feindes fallen !"

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Andere Selbstmordsekten halten den Tod durch, den Hunger oder das Beil für seliger als den Feuertod. Im Jahre 1802 lehrte ein gewisser Alexej Juschkin, wie einst Fi- lipon, den Tod durch Selbstverbrennung. Er wurde von der Behörde unschädlich gemacht. Fünfundzwanzig Jahre später erhob sich sein Sohn als Prophet, der das Heil im Selbstmord durch das Beil lehrte. Für einen bestimmten Tag wurde das Blutfest angesetzt. Zuerst brachten die Männer ihre Weiber und Kinder um. Dann begaben sie sich einer nach dem anderen zu dem Propheten Juschkin, legten einer nach dem anderen das Haupt auf einen Block und empfingen jubelnd den Todes- streich.i) Haxthausen erzählte, daß um 1840 auf dem Gute des Edelmannes Gurjew am linken Wolgaufer die Bauern eines Tages einander aus religiösem Wahnsinn abschlachteten. Nur eine junge Frau entfloh und rief Hilfe herbei. Als diese kam, war es zu spät-. 47 Leichen lagen da, bloß zwei Menschen lebten noch. Diese zwei wurden mit der Knute bestraft, aber bei jedem Schlage frohlockten und dankten sie, denn sie hatten jetzt das Martyrium erlangt.

Den Hungertod als gottgefällig lehrte der Prophet Schod- kin unter der Regierung Alexanders II. im Gouvernement Perm. Schodkin predigte, daß der Weltuntergang bevorstehe und der Antichrist auf Erden herrsche. Es gebe nur eine Rettung : sich in einer Höhle in einem Walde zu vergraben und den Hungertod zu erwarten. In Sterbekleidern zogen der Prophet und seine Anhänger mit ihren Familien in eine Höhle, hier schworen sie den Satan ab, bestreuten ihr Haupt mit Erde und verschlossen den Eingang. Plötzlich bemerkte man, daß zwei Weiber entflohen waren. Da beschloß der Prophet aus Furcht vor Verrat das Ende der Frommen gewaltsam zu be- schleunigen, ehe die Schergen des Antichrist das Werk Gottes stören würden. „Die Stunde des Todes ist gekommen," rief er, „seid ihr bereit?" „Wir sind bereit," lautete die Ant- wort. Da ergriff man zunächst die Kinder und erschlug sie. Dann tötete man die Weiber, hierauf begann man die Männer

1) Löwenstimm, Der Fanatismus als Quelle des Verbrechens, Berlin 1899. Hans Rau, Die Verirrungen in der Religion, Leipzig, S. 419.

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abzuschlachten. In diesem AugenbHck kam die Pohzei; sie konnte nur mehr den Propheten selbst und drei junge Männer retten.

Vor einigen Jahren begründete der Bauer Malewan im Städtchen Taraschtschi des Kijewschen Gouvernements eine Sekte. Malewan 1) lehrte: „Das Weltende ist nahe und es wird eine andere Welt entstehen, in der Gleichheit und Brüder- lichkeit, W^ahrheit und Gerechtigkeit, eine Seligkeit ohne Tod und ohne Verwesung herrschen werden. Es wird keine Sünden, keine Gerichte, keine Behörden, keine Arbeit und keine Sorgen mehr geben." In dieser Erwartung des Weltenwechsels halten es die Malewanzy für unnötig, sich jetzt noch weiter zu plagen. Sie verachten jeden festen Besitz, verkaufen, was sie haben und ziehen ruhelos von Ort zu Ort, um das Heil der Zukunft zu suchen. Diese neue Sekte ist zweifellos eine Abart der alten Wanderer 2), deren Prophet zu Ende des achtzehnten Jahr- hunderts der Soldat Jefim war, welcher desertierte und in einer Einsiedelei der Feodosianer Zuflucht fand. Er lehrte gleich vielen seiner Konkurrenten, daß nicht das Reich Gottes, sondern das Reich Satans auf Erden sei. Deshalb soll man der Obrig- keit und dem Zaren allen Gehorsam verweigern. Die Wan- derer befinden sich ewig auf der Flucht vor dem Antichrist und seinen Schergen, leben in Höhlen oder Wäldern, haben weder Haus noch Familie. Heimatlos sein ist ihnen heiligstes Gesetz, darin liegt ihre Seligkeit. Sie vernichten alle ihre Iden- titätsnachweise, wollen nichts von Pässen wissen, denn nur der, von dem man nicht sagen kann, wer und woher er sei, ist ein wahrer Christ. Als im Jahre 1897 in Rußland eine allgemeine Volkszählung stattfand, brachten sich im Kreise Teraspol des Chersonschen Gouvernements mehrere Dutzend Wanderer lieber um, ehe sie sich in die VolkszählungsHsten hätten aufnehmen lassen, auf denen das Siegel des Antichrist prangte. Sie gruben sich Gräber, stiegen ergeben hinab, legten sich nieder und ließen sich bei lebendigem Leibe verschütten.

1) Er wurde kurz darauf von der Regierung ins Irrenhaus von Kasanj gesperrt und befindet sich gegenwärtig noch dort.

2) CxpaHnriicii, Wanderer, Pilger, Fremdlinge. Man nennt sie auch Flüchtlinge oder Läuflinge, ut.ryiii.i.

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Die Wanderer gehören zu den grauenvollsten unter den russischen Sektierern. Sie zeigen wie in einem Kaleidoskop die schlechtesten Charaktereigenschaften des russischen Volkes : den Zug des Nomaden, welcher sich nirgends heimisch fühlt; die Wildheit in den Neigungen zum weiblichen Geschlecht; die Verachtung aller Begriffe von Ehrlichkeit. Sie verwerfen die Ehe, aber führen auf ihren rastlosen W^anderzügen förm- liche Harems mit sich. Sie halten den Diebstahl für gestattet, weil die Welt ohnehin dem Teufel verfallen sei. Sie kennen wohl die Taufe, aber sie gebrauchen nur Wasser, das vom Himmel kommt, also Regenwasser; denn die Flüsse und Bäche hat der Antichrist verunreinigt. Sie haben auch Heiligen- bilder, hängen diese aber nur an Bäumen in abgelegenen Hainen auf. Das 'sind Beweise, wie tief das Heidentum im russischen Volke noch wurzelt, es ist der unveränderte Baum- kultus. Die Organisation der Stranniki oder Wanderer ist eine glänzende. Sie besitzen in allen Städten des Reiches sogenannte Gastfreunde, die um die Behörden zu täuschen als brave Bür- ger leben, ihre Geschäfte betreiben, ihre Steuern pünktlich zahlen und selbst die Kirchen besuchen. Diese Helfershelfer sind unentbehrlich, um den Wanderern im Notfalle einen Zu- fluchtsort und bei ihren Zügen durch die Städte eine Herberge zu sichern, da die Pilger bei Profanen weder wohnen noch essen dürfen. Erkrankt ein Wanderer, so wird er in Sterbe- gewänder gehüllt und auf ein Bett gelegt. Ein anderes Mit- glied der Gemeinde erscheint, mit einem roten Hemde angetan, legt dem Patienten ein Kissen in rotem Überzug auf das Gesicht, setzt sich darauf und bleibt so lange, bis der Kranke erstickt ist. Im Volksmunde nennt man dies den roten Tod. Es sei daran erinnert, daß auch bei den Skopzy ein rotes Tuch eine Rolle als Erkennungszeichen spielt.

Die Sekte der Wanderer rekrutiert sich namentlich in Zeiten der Wirren aus Deserteuren und entlaufenen Sträf- lingen. Unter Nikolaj I., wo der Militärdienst gewöhnlich fünfundzwanzig Jahre dauerte und den bürgerlichen Tod be- deutete, flüchteten sich Tausende zu den Stranniki, die in ihren Schlupfwinkeln in den Wäldern von Jaroßlaw, Perm und namentlich in den nordöstlichen Gouvernements den Deser-

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teuren unauffindbare Verstecke boten. Unter Alexander IL war ein Deserteur namens Nikonow das Oberhaupt der Sekte. Man verhaftete ihn mehrmals, er entfloh immer wieder. Die Revolutionsepoche unter Nikolaj II. hat besonders der Sekte der Stranniki unzählbare Tausende Anhänger zugeführt, ganze Scharen von Räuberbanden haben sich unter dem Deckmantel des religiösen Fanatismus ausgebreitet, hausen in den Wäldern, sammeln sich in unzugänglichen Verstecken und brechen dann über die Dörfer herein, morden, rauben, vergewaltigen Frauen und schänden Kinder. Jede Untat, die man begeht, ist ein heiliges Werk zu größerer Ehre Gottes, denn man bekämpft und schädigt das Reich des Antichrist, die Macht des Teufels. In der beispiellosen Verwirrung, welche die Regierungen Jahr- hunderte hindurch systematisch vorbereitet haben, feiert nun der groteske Wahnsinn der russischen Sektierer seine größten Triumphe. In Strömen fließt das Blut, das dem tierischen Wollüstling prickehiden Reiz verschafft, und aus der rauchen- den Erde steigen immerfort neue phantastische Gebilde her- vor, um das Chaos zu vervollständigen. Was die Sekten in ihrem Irrwahn erstrebten, das hat die zarische Regierung selbst vollbracht : alle Bande der Ordnung sind gelöst, es gibt keine Gesetze, keine Autorität, keine Pflichten und keine Rechte mehr.

DRITTER TEIL:

Russische Laster

13. Ehrbegriff, Duell und Verbrechen.

14. Lügensucht. 15. Diebstahl. 16. Korruption. 17. Trunksucht.

18. Bettelwesen.

13- Ehrbegriff, Duell und \^erbrechen.

Das russische Wort für Ehre Traditionelle Untugenden der Russen All- gemeinheit des Diebstahls Der Großfürst als Millionendieb Korruption in der Armee Duldung von Ehrenbeleidigungen Einschätzung der Bürgerehre Satisfaktion für Beleidigung Vornehmer Leibesstrafen und Geldstrafen für Schläge und Beschimpfungen Die Genugtuung für ^länner und für Frauen Anmerkung über kalmückische Ehrbegriffe und Strafen für Beleidigungen Ehrenkodex Katharinas II. Ein Pauschale für Be- schimpfungen ~ Das Geschäft mit der Ehre Zehn Moralgebote Duell- wesen — Duell auf Peitschen Moderne Standesehre - Puschkins Duell Verbrechen in Rußland Seltsame Statistik Lügenhaftigkeit der Regierung Ursachen der Verbrechen.

Der Ehrbegriff ist dem Russen etwas durchaus Fremdes. Bis zum achtzehnten Jahrhundert hatte die russische Sprache nicht emmal ein Wort für Ehre.^) Seither findet man im Wörterbuch das Wort ^ecxb als Notbehelf. Peter der Große mußte selbst seinen Feldherren den soldatischen Ehrbegriff erst klarmachen. 2) Bei Hoch und Niedrig fehlte jedes Ver- ständnis für die Schändlichkeit der Lüge, des Stehlens, des Rauhens und sogar des Mordens. Noch jetzt kann man be- haupten, daß von zehn Russen wenigstens fünf zwischen Mein und Dein keinen Unterschied machen und den Falscheid als kein Verbrechen ansehen. Wie einst ist auch heute derjenige am meisten geachtet, der am geschicktesten zu betrügen weiß. Die Minister und Ministergehilfen stehlen und betrügen ebenso schamlos und öffentlich wie der letzte Tschinownik ; der Groß- fürst Nikolaj Nikolajewitsch der Ältere ließ im letzten Türken- kriege ungezählte Millionen, die der Verpflegung der Armee

^) ,,Ils ont si peu de connoissance de l'Honneur pris dans son vcritable sens, qu'il n'y a dans leur langue aucun mot qui le puisse exprimer." Capi- taine Jean Perry, Etat present de la Grande-Russie, 171 7. S. 208.

2) Vgl. Seite 14.

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dienen sollten, in seinen Taschen verschwinden; und ebenso machten es im letzten Kriege mit Japan die meisten Feld- herren und Admirale. „Ein ehrlicher Mann," heißt es im Sprichwort, ,,ein dummer Mann". Ein bestrafter Mann gilt nicht als entehrt. General, Priester, Hof mann oder Kaufmann, für sie alle ist das Gefängnis eine Station, an der zu halten sie alltäglich bereit sind. Nach verbüßter Strafe kehrt man auf seinen Posten oder in seine Ehrenstellungen zurück, und in der Schätzung seiner Mitbürger hat man nichts verloren. Früher wurden selbst die höchsten Persönlichkeiten, wenn sie sich die Ungnade des Herrschers zugezogen, mit dem Knut oder der Peitsche gezüchtigt. Diese Züchtigung entehrte sie keineswegs; sie verschmerzten die Tracht Prügel und blieben auch nach der Bestrafung dieselben hohen und angesehenen Herrschaften, die sie vorher gewesen.

Das, was wir Ehrenbeleidigung nennen, läßt den richtigen Moskowiter kalt. Wenn man von jemandem beleidigt wird, steckt man die Beleidigung ein ohne daraus eine Affäre zu machen. Wurde man in früheren Zeiten von jemandem ge- schlagen, so durfte man nicht zurückschlagen, sondern mußte, wenn man auf Genugtuung Anspruch machte, die Sache vor Gericht bringen. Die Reparierung einer Bürgerehre erfolgte gewöhnlich durch eine Geldstrafe, die höchstens zwei Rubel betrug. In einem von mir schon häufig erwähnten Buche, das die Religion der Moskowiter behandelt, aber auch vor- trefflich die Sitten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhun- derts schildert, heißt es : ,,Die Scheit- und Schmach-Worte lassen sie ungestrafft / dergestalt / daß nichts gemeiners ist / als zu sehen / wie sie sich mit dem Maul herum beissen. Das gemeine Volck thut es hierinnen den alten Weibern nach / und kommt also selten zu den Schlägen." i) Den Vornehmen bot die Justiz allerdings eine größere Genugtuung und zwar nach einem bestimmten Tarif in barem Gelde oder in einer körperlichen Züchtigung des Beleidigers; die Wahl hatte der Beleidigte. 2) Die Körperstrafe bestand in Stock-

^) Religion der Moscowiter, 171 2. Seite 86.

2) Capitaine Margeret, Estat de 1' Empire de Rvssie, 1669= 1821, S. 118.

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schlagen!) auf den nackten Rücken und den nackten Hintern. Die Exekution vollzog der Henker in Gegenwart des Richters, des Beleidigten und aller jener, die bei der Beleidigung an- wesend waren. Die Zahl der Schläge bestimmte der Richter; erst wenn dieser: genug 1 rief, hörte der Henker auf. Die Geldstrafe war folgendermaßen festgesetzt : Der Beleidiger mußte dem Beleidigten so viel zahlen, als dieser jährlichen Gehalt vom Zaren hatte. War der Beleidigte verheiratet, so mußte der Beleidiger das Doppelte entrichten. Wenn die Beleidigung eine besonders schwere war, so mußte der Beleidiger sowohl die Batogen- als die Geldstrafe erdulden. In einigen Fällen wurde der Verurteilte sogar durch die Stadt gepeitscht und dann verbannt.

Einen sinnigen Strafkodex für Ehrenbeleidigungen schuf die große Katharina; sie befahl 2): Derjenige, der einen Bürger mündlich oder schriftlich beleidigt, muß die Summe bezahlen, die der Beleidigte alljährlich an die Stadt und den Staats- schatz als Steuern entrichtet. Derjenige, der einen Bürger mit der bloßen Hand, ohne Waffen, schlägt : zahlt als Strafe das Doppelte von dem, was der Beleidigte an jährlichen Steuern leistet. Derjenige, der die Frau emes Bürgers beleidigt, muß ihr das Doppelte von dem zahlen, was ihr Mann jährlich an Steuern abliefert. Wenn die beleidigte Frau auch selbst Steuern entrichtet, muß ihr der Beleidiger das Doppelte von dem geben, was sie und ihr Mann jährlich dem Staate und der Stadt zahlen. Derjenige, der die Tochter eines Bürgers beleidigt, muß viermal soviel zahlen, als die jährlichen Steuern des Vaters und der Mutter betragen. Derjenige, der die er- wachsenen Kinder eines Bürgers beleidigt, muß die Hälfte der jährlichen Steuern, welche die Eltern der Kinder entrichten, als Strafe zahlen. Derjenige, der den erwachsenen Sohn eines Bürgers beleidigt, bezahlt die Summe, die den jährlichen Steuern des Vaters des Beleidigten entspricht. Am schlimm- sten war man also daran, wenn man die Tochter eines Bür- gers beleidigte. Die Kaiserin begnügte sich aber nicht mit

1) Das war die berüchtigte Strafe der Batogen, von öarorb, Stockschla^ ''') Geheimnisse von Rußland, Kegensburg 1844. I 234.

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diesem Tarif, sondern suchte aus den Ehrenbeleidigungen auch einen Profit für ihre Liebhngsanstak, das Findelhaus, heraus- zuschlagen. Sie erließ demnach eine Verordnung, daß ein Bürger, der dem Findelhaus eine Summe von 25 1000 Rubel zuwende, das Recht erhalte, für jede Beleidigung dieselbe Summe, die er dem Findelhaus geschenkt, für jeden Schlag aber das Doppelte dieser Summe von dem Beleidiger zu for- dern. Durch diese Verordnung wurde eine merkwürdige Moral gezüchtet. Man versicherte sich mit irgend einer Summe beim Findelhaus und trachtete dann, soviel als möglich beleidigt zu werden. Je höher die Taxe, die man dem Findelhaus ent- richtete, desto glänzender das Geschäft, das man mit dem Be- leidigtwerden machen konnte. i) Richtiger vermag man den traurigen Zustand der russischen Sitte und Sittlichkeit nicht zu illustrieren als durch diesen Tarif Katharinas, durch diesen seltsamen Ehrenkodex der Kaiserin, die sich anmaßte, die Freundin der aufgeklärtesten Geister des achtzehnten Jahr- hunderts genannt zu werden. Dieselbe Katharina inspirierte die satirische Zeitschrift ,, Buntes Allerlei", in der die Mängel und Laster der Gesellschaft verspottet und der russischen Ver- waltung die folgenden neuen zehn Moralgebote gepredigt wur- den : Du sollst nicht Handsalben nehmen ; du sollst eine An- gelegenheit, die von dir abhängt, nicht verschleppen; du sollst keine Ränke schmieden; du sollst mit den Leuten nicht grob

1) Selbst die halbwilden Kalmücken haben mehr Ehrgefühl als die Russen. Bei ihnen ist für Schläge, je nach dem Range der beleidigten Per- sonen und der Heftigkeit der verübten Gewalttätigkeiten, die Strafe so ge- nau bestimmt, daß man sogar festgesetzt hat, wieviel für einen Zahn, ein Ohr und einen jeden Finger an der linken oder rechten Hand gutgetan werden soll. Eltern oder Schwieger, die ihre Kinder ohne Ursar^he schlagen, sind ebenfalls straffällig. Ferner gibt es Strafen für folgende Beschimpfungen : wenn man einen Mann am Haare oder Barte zerrt, ihm die Quaste von der Mütze reißt, ihm Sand oder Speichel ins Gesicht wirft; oder wenn man eine Frau an den Zöpfen zent, oder nach ihren Brüsten greift; im letzteren Falle sind die Strafen geringer, je älter die Frau ist. Die Ehre ist bei den Kalmücken sogar höher eingeschätzt als das Leben. Die Bestrafungen für Beleidigungen sind empfindlicher als die Strafen für Todschlag ; selbst Eltem- mord zieht weder Lebens- noch Leibesstrafen nach sich. Vgl. :\Ierkwürdig- keiten aus Pallas Reisen, 1773. Seite 205.

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sein; vertröste die Bittsteller nicht auf morgen; mache aus den Akten und Gesetzen keine unberechtigten Auszüge; gib dich nicht mit Ohrenbläserei ab; betrinke dich nicht; du sollst dich jeden Tag kämmen und rein halten; wirf die Feigheit den einen und die Frechheit den anderen gegenüber ab. Ka- tharina erkannte und verspottete also selbst die alten traditio- nellen Untugenden des russischen Volkes. Aber sie tat nichts, um sie zu bekämpfen. Ihr ausgesprochenes Prinzip war : Leben und leben lassen! und eine andere satirische Zeitschrift von damals, ,,Trutenj"i), warf der Kaiserin berechtigterweise mit kühner Offenheit moralischen Indifferentismus vor 2); denn es herrschte tatsächlich unter der Regierung der aufgeklärten Katharina eine grenzenlose Verwirrung aller Sitten und Ehr- begriffe.

Die französierende Kultur jener Zeit hatte noch nicht ein einziges Übel der alten Zeiten, die sich unter der schützenden Decke der trägen Tradition fortgefressen hatten, ausgerottet oder selbst anzutasten gewagt; und trotzdem ließ Katharina in das Volk und die Gesellschaft die Schlagworte der vor- geschrittensten Zivilisation werfen, die natürlich niemand ver- stand. Der Russe wußte noch immer nicht, was Ehre sei oder was er mit der Ehre, die man ihm aufdrängte, anfangen sollte ; und da predigte man ihm eindringlich die Lehre von der höheren Standesehre, sagte man dem Edelmanne, der Bürger könne sich die Beleidigung seiner Ehre mit Geld be- zahlen lassen, der Aristokrat aber müsse Blut fordern, müsse sich duellieren. Die alten Russen kannten den Zweikampf auf dem Schlachtfelde, aber das Duell als Mittel zur Repa- rierung einer beleidigten Ehre war ihnen etwas Unbegreif- liches geblieben. Wollte man einmal an einem Beleidiger schär- fere Rache nehmen, als sie die erwähnten Gesetze gewährten, so räumte man den Gegner durch Verrat oder Meuchelmord einfach aus dem Wege. Die Vornehmsten kannten zwar eine Art Duell als Selbstjustiz, jedoch nicht ein Duell auf

^) Tpynjii,, die Drohne.

2) Geschichte der russischen Literatur von Alexander von Reinhold t. Leipzig (i886). S. 419 420,

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Säbel oder Pistolen, sondern auf Peitschen. ,,Die Knesen und andere große Herren schlagen sich offt zu Pferde mit Peitschen / und zerfetzen sich auff eine grausame Weise / alsdenn kommen sie bey dem Czar, wenn ers erfährt / in Un- gnaden." i) Bei Margeret 2) heißt es: „II faut noter qu'il n'y a nuls duels entre-eux, ils ne portent nulles armes sinon ä la guerre ou en quelque voyage." Nur zwischen Ausländern fanden zuweilen Duelle statt; wurde einer von den Duellanten verwundet, so bestrafte man sowohl den Herausforderer als den Geforderten so, als wenn sie einen Mord begangen hätten, und da gab es keine Entschuldigung. Den Einheimischen aber fiel es gar nicht ein, sich um der Ehre willen solchen Gefahren auszusetzen. Noch aus der Zeit Peters des Großen erzählt der preußische Legationssekretär Johann Gotthilf Vockerodt^): „Überhaupt kommt denen Russen unter allen ausländischen Erfindungen nichts lächerlicher vor, als werm man ihnen vom point d'honneur spricht, und sie dadurch bewegen will, etwas zu tun oder zu lassen. Daher hat auch Petrus I. bei keinem seiner Befehle von seinen Russen willigeren Gehorsam gefunden, als da er die Duelle verboten hat, und noch bis auf den heutigen Tag wird kein russischer Offizier, wenn er von seines gleichen geschimpfet wird, sich in den Sinn kommen lassen, Satisfaction zu fordern, sondern sich stricte nach der Vorschrift des Duellmandats achten, welches verordnet, daß solchenfalls der beleidigte Theil klagen, und dar- auf der Inquirant ihm öffentliche Abbitte und Reparation d'hon- neur tun solle; darf auch nicht besorgen, daß ihm desfalls von einem seiner Landsleute ein Vorwurf geschehe." Erst die kulturelle Epoche Katharinas IL, da man krampfhaft Eu- ropa gleichzukommen sich bemühte, aber nur die Untugenden Europas anzunehmen verstand, brachte das Duellw;esen nach Rußland. Das berühmteste und traurigste Duell in Rußland wurde ein halbes Jahrhundert später jenes vom 27. Januar 1837, in dem Alexander Puschkin, der größte Dichter Ruß-

1) Religion der Moscowiter, 1712. S. 87.

2) a. a. O. S. 118.

3) In Ernst Herrmanns Zeitgenöss. Berichten zur Geschichte Rußlands (Rußland unter Peter dem Großen). Leipzig 1872. S. 112.

Schornsteinfeger im Restaurant.

(Aus Jukowsky, Sceiies populaires Kusses.

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lands, von der Kugel des französischen Barons Dantes-Heeckeren fiel. Die Ursache zu diesem tragischen Duell lag in der Ver- kommenheit der höchsten Gesellschaft, in welcher Ehebruch und Ausschweifung gleichsam zum guten Ton gehörten. So- wohl Puschkin als sein Gegner gehörten zu den berüch- tigtsten Frauenverführern der vornehmen Kreise; oft genug gingen sie Arm in Arm auf Eroberungen aus. Nun mußte es der Dichter erleben, daß man seine eigene Frau im Ver- dacht hatte, seinem Lastergenossen zum Opfer gefallen zu sein. In früheren Zeiten setzte man sich über solchen Ver- dacht leichtmütig hinweg; jetzt war es indessen schon Gesell- schaftsgesetz geworden, die beleidigte Familienehre durch ein Duell zu rehabilitieren. Und wie gewöhnlich wurde der un- glückliche Ehemann selbst die Sühne für die Verletzung der Ehre.

Der blutige Ehrenkodex existiert aber nur für die Ari- stokratie. Der Bürger und gemeine Mann kümmert sich da- gegen auch heute nicht um seine sogenannte Ehre. Ihn kann nichts beleidigen, denn Denunziantentum und Verleumdung sind keine schändlichen Gewerbe; und Diebstahl oder Raub, selbst Mord, ist ein Geschäft wie jedes andere, das einen Ver- dienst gibt, wenn man geschickt ist, und Verdrießlichkeiten einbrmgt, wenn man Pech hat. Kaiser Nikolaj I. selbst sah namentlich den Diebstahl für ein solches Vergehen an, das die Moral nicht berührte; und er bestrafte die Diebe einfach m der Weise, daß er sie unter die Soldaten stecken ließ. Man kann sich eine Vorstellung davon machen, welche Moral in seiner Armee herrschen mußte.

Eine Statistik der Verbrechen in Rußland gehört vorläufig zu den unlösbaren Aufgaben, Die offiziellen Angaben sind vom Anfang bis zum Ende erlogen. Die Regierung gibt bei- spielsweise einmal bekannt, daß im Laufe eines Jahres im ganzen Reiche etwa 2000 Verbrechen gegen das Eigentum und 3000 gegen das Leben vorgekommen sind und daß die nie- drigeren Vergehen die Zahl 7000 erreicht haben. Vergleicht man diese offizielle Regierungsangabe mit den ebenfalls offi- ziellen Mitteilungen der einzelnen Gouvcmcmentsverwaltungen aus demselben Jahre, so erfährt man ungefähr folgendes : in

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den Gefängnissen der Ostseeprovinzen befanden sich 17000 Personen, von denen mindestens die Hälfte zu schweren Kri- minalstrafen verurteilt wurden. Berichte aus einigen anderen Gouvernements ergeben weitere 300000 Verbrechen, die mit Verbannung und Zwangsarbeit bestraft wurden. Von den leich- teren Vergehen nehmen wir nicht Notiz. Und dabei haben wir etwa dreißig Gouvernements, aus denen uns keine Berichte vorliegen, und die zwei größten Verbrecherbezirke Moskau und Petersburg gar nicht berücksichtigt. In einem anderen Jahre erzählt die Übersicht der Regierung, daß sich in sämtlichen Staatsgefängnissen des Reiches etwa 40000 Personen be- fanden ; und dann erfährt man aus den Gouvemementszei- tungen ganz zufällig, daß sich in jenem Jahre in den Gefäng- nissen von Moskau allein 20000, in jenen von Petersburg 33000, in jenen von vierzig anderen Gouvernements rund 300000 Individuen befanden. Für diesen kleinen statistischen Scherz sind nicht einmal die letzten Jahre gewählt worden, wo infolge der allgemeinen Anarchie das Verbrechen schranken- los regiert, sondern zwei der friedlichsten Jahre des neueren Rußland. Die Lüge, die alles Russische verhüllt, verhindert auch einen klaren Einblick in das Kapitel der Verbrechen in Rußland. Es ist daher begreiflich, wenn selbst die schärfsten Kritiker der russischen Zustände im Tone aufrichtiger Wahrheit und voller Überzeugung die Behauptung aufstellen, daß in Rußland grobe und blutige Verbrechen selten vorkommen; daß man im allgemeinen von Mord, Straßenraub und Ein- bruch nicht häufig höre. Dies ist in der Natur jener Publi- zität begründet, welche die russische Regierung gestattet. Die Berichte der Regierung sind Lügen ; die Berichte der Gou- vernements aber, aus denen man sich durch Vergleiche und Addierungen ein einigermaßen richtiges Bild machen könnte, sind nicht jedem leicht zugänglich. In den populären Zei- tungen endlich findet man nur hier und da die krassesten Fälle verzeichnet. Diese schwersten Verbrechen erwecken ein be- sonderes Interesse, weil sie gleichzeitig ein blutiges Streiflicht auf das kulturelle und sittliche Niveau des Volkes werfen. Der träge Russe rafft sich zu einer Mordtat gewöhnlich nur dann auf, wenn ihn der Rausch mutig macht oder der Zorn ver-

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wirrt, wenn ihn der Teufel seines Aberglaubens jagt oder der in ihm schlummernde sadistische Trieb erwacht und seine Wol- lust wild aufpeitscht. Typische Morde aus Aberglauben und Wollust sind in den früheren Kapiteln schon geschildert wor- den; wir werden den Verbrechen aus solchen Motiven noch öfter in den späteren Kapiteln begegnen. Wenn man in Ruß- land von alledem trotz des häufigen Vorkommens nicht viel hört, so liegt dies auch daran, daß man dort überhaupt nicht laut von etwas spricht, das irgendwie in Zusammenhang mit der Staatsverwaltung gebracht werden könnte. Man entschließt sich schwer dazu, was man erfahren hat, weiter zu berichten oder zu veröffentlichen ; man will nicht mit der Polizei zu tun be- kominen, die zur Beruhigung der oberen Behörden wenigstens die unschuldigen Anzeiger ins Gefängnis wirft, wenn es ihr nicht gelingt, der wirklichen Täter habhaft zu werden.

14. Lügensucht.

.Die Lügen der Regierenden Pobjedonoßzews Lehrmethoden Baron Mayerberg über die Lügensucht der Russen Allgemeinheit der Lügen- haftigkeit — Meineid alltäglich Meineid und Aberglaube Das Geschäft mit dem falschen Eid Bureau für falsche Zeugen Tarif für Mein- eide — Religion und Lüge Die Taufe des Dichters Bogrow Die Lüge in der Ehe Die Sittengeschichte Kotoschichins Graf Leon Tolstoj Gogolj Äußerungen Schtschedrins und Nikitenkos Sprichwörter über Lüge und Wahrheit Ausländische Lrteile über die russische Lügensucht.

Alles ist auf Lüge aufgebaut und auf Täuschung berech- net. Der Zar täuscht das Volk, und die Minister und Be- hörden betrügen einander und den Herrscher. Der Kaiser schenkt dem Reiche eine Verfassung und ein Parlament, und denkt nur daran, wie er die Verfassung vernichten und die Volksvertreter verderben könnte. Konstantin Pobjedonoßzevv schrieb ein Buch über russisches Zivilrecht und unterschlug darin alle Rechtsreformen Alexanders II., weil sie seinen An sichten widersprachen; und in seinem Lehrbuch des Zivil- rechtes für Studenten behandelte derselbe Pobjcdonoßzew noch

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die Leibeigenschaft, die vor vierzig Jahren abgeschafft worden ist, wie eine fortbestehende Institution.

,,Die Moskowiter," schrieb vor mehr als zweihundert Jahren der Diplomat Mayerberg i), ,,sind von der Wiege an doppel- züngig: in ihren Worten findet man niemals Aufrichtigkeit. Lügen halten sie durch neue Lügen mit solcher Unverschämt- heit aufrecht, daß man ihnen gegenüber an der eigenen Wahr- haftigkeit zu zweifeln beginnen muß. Überführt man sie der Lüge, so erröten sie nicht, sondern lächeln bloß."

Die Lüge ist das Gewöhnliche; das Überraschende nur, wemi jemand einmal die Wahrheit sagt oder gar die Lüge zu tadeln wagt. Die Zahl solcher Helden ist verschwindend, nie- mand hat Lust, sich mit der Allgemeinheit in Widerspruch zu setzen. Die Lüge herrscht nicht stärker in dieser oder jener Provinz, in dieser oder jener Gesellschaftsklasse, sondern über- all gleich; sie ist nicht exklusiv, sie ist die wahre National- untugend, die nivellierende Erbsünde. Man lügt nicht um eines Vorteils willen, sondern um zu lügen. Man verspricht nur, um das Versprechen nicht zu halten; man sagt: ja, und denkt sofort : nein.

Der Meineid ist kein Verbrechen. „Sie glauben nicht / daß es eine Sünde sey / einen falschen Eyd zum Nachtheil ihres Feindes / und absonderlich eines Römisch-Catholischen / zu thun."2) Das angeborene Laster wird vom Aberglauben unterstützt : muß man vor Gericht einen Eid ablegen, so steckt man ein Haar zwischen die Finger, das macht den Eid un- gültig. Der Meineid ist eine Institution, das Handeln mit fal- schen Zeugnissen und falschen Zeugen ein Geschäft wie jedes andere. In einer chauvinistisch-russischen Zeitschrift 3) wurde berichtet, daß sich in Lodz eine öffentliche Anstalt für falsche Zeugnisse befinde; ein fester Tarif regelt die Ware: jede Angelegenheit hat ihren Preis, das billigste Zeugnis kostet drei, das teuerste fünfzig Rubel. Aber nicht Lodz allein, jede Stadt hat ihre eigene Institution für Meineid. Ist man in

1) Voyage en Moscovie, i688. Seite 124 und 161.

2) Religion der Moscowiter. S. 64.

3) CBlvri,, 5. (\mi]). 1889.

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Verlegenheit, so kann man offen darüber mit seinem Advo- katen reden, und will dieser nichts davon wissen, so verhilft die Polizei selbst zu einem zuverlässigen falschen Zeugen: ,,Für ein wenig Wodka kann man soviel Zeugen haben als man braucht," sagt Fürst Meschtscherskii), „man rufe sie, wohin man wolle, und sie kommen; man sage ihnen, was sie be- schwören sollen, und sie beschwören es."

Ist nicht die Orthodoxie selbst eine große Lüge? Viele Millionen, welche die Kirchen besuchen, sind dem rechten Glauben längst untreu geworden und zurückgekehrt in den Schoß des Heidentums oder Anhänger barbarischer Sekten ge- worden. Alljährlich treten Zehntausende Juden, Katholiken, Protestanten zur Orthodoxie über; unter ihnen ist kein ein- ziger Proselyt aus Überzeugung, jeder von den Bekehrten hat nichts anderes im Sinne als sich mit Hilfe dieser großen reli- giösen Lüge vor Verfolgungen zu retten oder Karriere zu machen. Der Dichter Bogrow trat vom Judentum zur Ortho- doxie über, um das Recht des Aufenthaltes in Petersburg zu erwerben, das ihm Pobjedonoßzew um diesen Preis zugesagt hatte; am Tage nach der Taufe aber wurde Bogrow aus der •Hauptstadt ausgewiesen, weil die Orthodoxie ihm eine fünf- jährige Probezeit vorschrieb, während der er seine aufrichtige Rechtgläubigkeit erweisen sollte.

Der Lüge in der Religion ist die Lüge in der Ehe würdig. Kotoschichin hat die sexuelle Lüge des siebzehnten Jahrhun- derts in seiner eigenartigen Schrift ,,Über Rußland unter der Regierung des Zaren Alexe j Michailowitsch" in naiver ein- facher Weise beschrieben; ein Sohn des alten Rußland, hat er die innere Fäulnis im russischen Leben und Staat der vor- peterschen Epoche, die furchtbare Gewalt der Lüge, die da- mals alle Stände verwüstete und alle Lebenslagen umlauerte, geschildert 2); und zweihundert Jahre später hat der große Leon Tolstoj dasselbe Thema angeschlagen und gezeigt, daß Rußland sich nicht ändert. Und wie haben Gogolj in seinem „Revisor" oder in den „Toten Seelen" und der moderne Sa-

^) Im rpaiK;iaimHi., 15. aiip. 1889.

2) Alexander von Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur, S. 227.

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tiriker Saltykow-Schtschedrin in seinen „Gouvernements-Skiz- zen"i), in seinen „Zeichen der Zeit und Briefen aus der Pro- vinz" die russische Lügensucht gegeißelt; keine Literatur der Welt kennt eine solche Lügengestalt wie den Schtschedrinschen Porfirij Petrowitsch, und kein Schriftsteller der alten oder neuen Zeit, der alten oder neuen Welt hat in bezug auf die eigene Nation das furchtbare Geständnis gemacht wie derselbe Schtschedrin : ,,Seit undenklichen Zeiten," schrieb er, „hat man beobachtet, daß der echte Russe stets zu einer Lüge bereit ist. Es ist historisch erwiesen, daß schon in alten Zeiten die von einem Russen gemachten Angaben niemals ernst ge- nommen wurden." Ähnlich klagte Professor Nikitenko^): „Die Lüge ist der Götze unserer Gesellschaft; die russische Gesell- schaft lügt in jeder Minute ihres Daseins, in Wort und Tat, bewußt und unbewußt."

Und die russischen Sprichwörter endlich sagen : Das Lügen begann mit der Welt und wird erst mit der Welt sterben. Die Wahrheit ist heilig, aber wir sind sündig. Die heilige Wahr- heit ist gut, aber nicht für sterbliche Menschen. Die Wahr- heit taugt nicht für die Praxis, man soll sie in einen gläsernen Heiligenschrein stellen und anbeten. Trauere nicht um die Wahrheit, sondern suche dich gut zu stellen mit der Falsch- heit. Von der Falschheit lebt der Mensch. Die Falschheit ist nicht das Kraut, woran man stirbt. Lügen ist nicht wie Teig kauen, man erstickt nicht daran. Eine schmackhafte Lüge ist besser als eine bittere Wahrheit. Der Roggen schmückt das Feld, die Lüge die Sprache.

Nicht anders als die Russen selbst denken die Ausländer. „In der Handlung," sagte ein Reisender vor zweihundert Jahren 3), ,, machen sich die Moscowiter kein Gewissen grau- same Schwüre zu thun / jemehr sie aber schwören / je weniger glauben ihnen die Teutschen." Der Engländer Perry-) klagte ununterbrochen über die Perfidie der Russen. Als Peter der Große Europa von der Kultivierung Rußlands über-

1)' Deutsch unter dem Titel „Aus dem Volksleben Rußlands".

2) „PyccKasi cTapiraa", 1890.

3) Religion der Moscowiter, anno 17 12. S. 65. *) Etat present de la Grande-Russie, 171 7.

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zeugen wollte, erklärte ,,Die europäische Fama", daß man „den moscowitischen Avisen nicht glauben darff."i) Custine schrieb 2): „Les Russes sont encore persuades de l'efficacite du mensonge." Und der Engländer Lanin endlich fällte das folgende Urteil 3): „Der Wahrheitsliebe sind die Russen hoff- nungslos bar. Sie thun es, man kann das ohne Übertreibung sagen, den alten Kretensern in dieser Beziehung zuvor und beschämen die heutigen Perser."

15. Diebstahl.

Vergleich zwischen Lügensucht vmd Stehlsucht Die Freiheit des Wortes Der Diebstahl im Sprichwort ' Ein Ausspruch Alexanders II. über die Stehl- sucht der Russen Mentschikows Gaunereien und Ansichten Katharinas Günstling Soritsch als Banknotenfälscher - Kanzler Bestuschew als Wechsel- fälscher — Hoch- und höchstgeborene Diebe Der Grundsatz der Polizei Allgemeinheit des Stehlens Vergleich der Russen mit den Spartanern Stehlsucht und Treue des gemeinen Russen Gesetze gegen den Diebstahl Todesstrafen Leibesstrafen Peters ABC der zehn Gebote Die Gebote des Chlystygottes Daniel Filipowitsch Das Märchen vom Recht und Unrecht ' Der Diebstahl bei den Tscherkessen und Osseten Bei den Kalmücken und Kamtschadalen Was die Russen am liebsten stehlen Angst vor Versiegel- tem — Diebstahl und Aberglaube Den Dieben günstige Nächte Diebstahl, Aberglaube und Verbrechen Die Totenhand als Diebstalisman Menschen- fett für Diebslichter Mordtaten zur Gewinnung von Menschenfett Ent- deckung der Diebe durch Hexerei.

Wenn man von den Russen gesagt hat*): sie seien sich beim Lügen keines Unrechts bewußt, denn sie leiden an völ- liger Anästhesie in bezug auf jenes sittliche Gefühl, das andere Völker so empfindlich gegen die Lüge macht so kann man diesen Anspruch nicht auch auf ihren Hang zum Stehlen anwenden. Die Lügensucht ist bei ihnen Naturanlage, die durch Erziehung und das Beispiel der Regierenden verstärkt

1) Vgl. Seite 35.

2) a. a. O. II 320.

^) Russische Zustände I 48. *) Lanin, a. a. O. I 54.

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wurde. Das Wort ist das Einzige, worüber der Russe frei ver- fügen darf; es ist sein persönliches Eigentum, er kann damit den Gebrauch machen, der ihm beliebt ; der Sklave, der für jede seiner Handlungen nicht nach Recht und Gerechtigkeit, sondern nach Laune und Willkür des Herrn verantwortlich ist, hat die Freiheit zu lügen, und für Lüge keine Strafe zu befürch- ten. Das Stehlen aber ist strafbar. Jedermann weiß, daß er durch Diebstahl mit den Behörden in Konflikt geraten kann; diese Naturanlage wird vom Staate nicht geduldet, unzählige Gesetze beweisen es. Dies gilt jedoch nur in der Theorie, in der Praxis herrscht auch in bezug auf das Stehlen die laxe Moral; wo alles lügt, muß alles stehlen.

Ein russisches Sprichwort sagt : ,, Unser Christus selbst würde stehlen, wenn er nicht durchstochene Hände hätte." Und Kaiser Alexander der Erste meinte i): ,,Wenn meine Rus- sen nur wüßten, wo sie sie verstecken sollten, sie würden meine Linienschiffe stehlen 2); könnten sie mir meine Zähne im Schlafe ausziehen ohne mich zu wecken, sie würden es thun." Mentschikow, der vom Bäcker jungen zum Fürstenrange gelangt war, verwendete seine genialen Anlagen vor allem zu seiner eigenen Bereicherung durch schamlosen Diebstahl. Im Jahre 1714 trieb er es so arg, daß Peter der Große den Anklagen gegen ihn Gehör schenken mußte. Mentschikow aber zog sich aus der Schlinge, indem er nachwies, daß der Staat ihm mehr schulde, als er je gestohlen; und er verlangte mit kühlster Unverfrorenheit, daß man ihm nunmehr die Differenz bezahle. Vier Jahre später häuften sich die Anklagen gegen den Günst-

1) J. H. Schnitzler, Geh. Gesch. Rußlands unter Alexander und Nikolaus, Grimma 1847, I 276.

2) Auch dies bringen sie schon fertig. Man braucht nur an- die Diebstähle im türkischen und japanischen Kriege zu denken. Aster, Die Kriegsereignisse zwischen Peterswalde und Pirna im August 1813 (Dresden 1845, Seite 212) er- zählt, daß die Russen nach der Schlacht bei Kulm die durch den Siegesrausch hervorgerufene Verwirrung dazu benützten, um preußische Kanonen zu stehlen und sie dann für erbeutete französische auszugeben; ,,die russischen Kürassiere plünderten die verwundeten österreichischen und preußischen Offiziere mit Gewalt aus, zu Hunderten drängten sie sich zu diesem Zwecke in die Häuser", heißt es in demselben Buche.

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ling abermals so sehr, daß Peter seinem Zorne freien Lauf ließ. Mentschikow stellte seine Diebstähle gar nicht in Abrede, sondern entgegnete dem zürnenden Zaren : , Jawol, ich habe die hunderttausend Rubel gestohlen, von denen Njeganowsky spricht; ich habe noch mehr gestohlen, ich wüßte selbst nicht zu sagen: wieviel. Nach der Schlacht von Poltawa fand ich im schwedischen Lager große Summen; ich legte davon einige zwanzigtausend Thaler bei Seite. Ich nahm aus Ihrer Kasse für mich zu verschiedenen Malen größere oder kleinere Sum- men : in Lübeck fünftausend Dukaten, in Hamburg zehntausend, in Mecklenburg zwölftausend Thaler, in Dantzig zwanzigtau- send. Die Anderen in Ihrer Umgebung nehmen im Kleinen; ich nahm für mich größere Rechte in Anspruch Dank der absoluten Autorität, die Sie mir eingeräumt haben. Wenn ich unrecht that, so hätte man es mir früher sagen sollen." Der Zar mußte schweigen und bekennen, daß er selbst den Diebstahl an seinem Hofe legalisiert, weil er ihn solange geduldet hatte. Aber nicht so leicht kam Mentschikow ein anderes Mal davon, als er einige tausend Rubel unterschlug, die für den Ankauf von Kriegsmaterial bestimmt gewesen waren ; man stellte den Günst- ling vor ein Kriegsgericht und verurteilte ihn zum "Verlust aller Ämter und Würden. Und wenige Tage später war Mentschikow wieder oben auf, die Verurteilung entehrte ihn nicht, er spielte die alte Rolle weiter. Häufig drohte Peter ihm, ihn wegen seiner unverbesserlichen Stehlsucht in das Nichts zurückzuschleudern, aus dem er gekommen, oder ihn köpfen zu lassen; aber mit einem guten Witz entwaffnete der geniale Dieb stets den Zorn des Zaren. Als Mentschikow unter Peter dem Zweiten gestürzt wurde, fand man allein in seinem Petersburger Hause für 200000 Rubel Tafelsilber, für 3 Mil- lionen Edelsteine und Kostbarkeiten, 8 Millionen Dukaten in Gold und 30 Millionen Rubel in Silber; in einem geheimen Versteck entdeckte man siebzig Pud Silber; in Amsterdamer und Londoner Banken hatte er neun Millionen Rubel deponiert; der Wert seiner unbeweglichen Güter und seiner Leibeigenen konnte gar nicht abgeschätzt werden. Wie Mentschikow unter Peter stahl Patjomkin unter Katharina; ein anderer Günstling Katharinas, Soritsch, beschäftigte sich, als er aus dem Liebes-

Stern, Geschiclite der öffentl. Sittlichkeit in Kußland. l8

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dienste bei Hofe entlassen war, in seinem Schlosse Schklow mit der Fabrikation falscher Banknoten. Der Reichskanzler der Zarin Elisabeth, Bestuschew, wurde vom französischen Ge- sandten Marquis de la Chetardie eines ähnlichen Verbrecheris, der Wechselfälschung beschuldigt. Alexander III, machte mit seinen intimsten Freunden, denen er die höchsten Staatsstel- lungen anvertraute : General Krischanowsky und Walujew, ge- nau dieselben Erfahrungen, wie Alexander II. mit dem Grafen Adlerberg, der nach Mentschikowschem Prinzip die Kasse des Zaren stets als seine eigene betrachtete. Alexander II. mußte seinen eigenen Bruder Nikolaj Nikolajewitsch und dessen Sohn Nikolaj Nikolajewitsch, der jetzt als Diktator Rußland regiert, wegen unerhörter Diebstähle aus Rußland verjagen, einen an- deren Großfürsten, Nikolaj Konstantinowitsch, als unverbesser- lichen Kleptomanen ins Irrenhaus sperren. Niemals jedoch ist in Rußland so viel gestohlen worden wie jetzt, seit die politischen ■Wirren und die permanente Hungersnot unzählige Millionen ins Rollen bringen, aber auch eine strengere Kontrolle darüber, in wessen Taschen sie gerollt sind, unmöglich machen.

Wie die Großen so die Kleinen. Die Polizei huldigt dem Satze: Jeder will leben; und wenn es die Diebe nicht gar zu geräuschvoll treiben, so läßt man sie nach Herzenslust arbeiten. Ein Revolutionär ist wichtiger als tausend Diebe. Auch den Bestohlenen fällt es nicht ein, bei der Polizei Hilfe zu verlangen; dies würde Geld, Zeit und wieder Geld kosten, und das Ge- stohlene käme doch nicht zustande. Man muß schon eine ganz bedeutende Persönlichkeit sein, auf daß die Polizei sich in Bewegung setze, aus purem Pflichtgefühl und ohne Spesen- vorschuß. So ist Rußland das wahre Dorado für Diebe. Im Hotel werden einem die Kleider und Stiefel gestohlen; läßt man in einer Poststation seinen eigenen Wagen stehen, so kann man sicher sein, am nächsten Morgen nichts zu finden als das nackte Gestell.

Der Russe setzt seinen Stolz darein, geschickt zu stehlen, i)

1) Es wäre ungerecht nicht daran zu erinnern, daß auch die alten Ag^^pter große Diebe vor dem Herrn waren. „Die Lacedämonier," sagt ferner Jlichael Montaigne (Gedanken und Meinungen über allerley Gegenstände, ins Deutsche übersetzt, Berhn 1794! IV 62 und 112), ,, hatten über nichts mehr Schimpf und

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Bei den Hofbällen stiehlt man wie auf dem Jahrmarkt. Der Minister muß sich vor seinem Gehilfen, der General vor seinem Adjutanten hüten; aber auch umgekehrt. Vom Höchsten bis zum Niedrigsten huldigt jeder diesem Laster. Wird man er- tappt, so hat dies keine Entehrung im Gefolge: ,,Ich habe gefehlt, Herr," sagt man; und die Sache ist abgetan. Diebe sind keine Gauner, keine schlechten Kerle. Sie haben das heiterste Wesen und das freundlichste Gesicht. Namentlich die Leute aus dem Volke sind trotz ihres Hanges zum Stehlen gleichzeitig Modelle einer sogenannten ehrlichen Haut. Man hat einen Diener, der mit größter Gemütsruhe alles stiehlt, was man in der Vergeßlichkeit liegen läßt ; und derselbe Mensch legt sich abends vor die Tür, um mit seinem Leben das Haus des Herrn vor Einbrechern zu schützen. „Es ist die Ehrlichkeit des Hundes, vermischt mit der Stehllust des Raben," sagte einmal ein deutscher Forscher, i)

Gegen die Stehlsucht der Russen haben die Gesetze seit tausend Jahren umsonst gekämpft. Als die Byzantiner mit Oleg von Kijew einen Handelsvertrag abschlössen, mußte vor allem ein Diebstahlsparagraph verfaßt werden. Wenn ein Russe einen Griechen bestiehlt, hieß es darin, oder ein Grieche einen Russen, und der Dieb in flagranti ertappt wird, aber Widerstand leistet, hat der Eigentümer des gestoh- lenen Gegenstandes das Recht den Dieb zu töten und das

Schande zu besorgen, als wenn sie sich über einem Diebstahl ertappen ließen. Das Stehlen war erlaubt, man durfte nur nicht erwischt werden. Lykurgus zog beim Stehlen die Lebhaftigkeit, Behendigkeit, Dreistigkeit und Geschicklichkeit, die erfordert werden, seinem Nächsten etwas zu entwenden, sowie den Nutzen in Erwägung, der dem gemeinen Menschen daraus entwachsen müsse, wenn jedermann sorgfältig auf die Erhaltung dessen bedacht seyn müßte, was sein gehört; und hielt dafür, diese doppelte Vorschrift des Angriffs und der Ver- teidigung würde der militärischen Disziplin zu großem Nutzen gereichen, welcher wichtiger wäre als die Unordnung und die Ungerechtigkeit, die darinn liegt, sich des Eigenthums eines anderen zu bemächtigen." Die Russen haben allerdings solche Gründe wie diejenigen des Lykurgus niemals für sich ange- führt. Bei ihnen ist der Diebstahl einfach Sitte; ,,le vol y a passe dans les moeurs," sagte Custine (a. a. O. IV 31).

^) Aurelio Buddeus, St. Petersburg im kranken Leben. Stuttgart, 1846, II 147.

i8*

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Gestohlene selbst an sich zu nehmen. i) Zar Alexej Michajlo- witsch setzte folgende Strafen fest 2): Wenn ein Dieb zum ersten Male ertappt wurde, so sollte man ihn foltern, um zu erfahren, ob er nicht auch andere Verbrechen begangen. Ge- stand er nichts, so wurde er mit der Knute gestraft, man schnitt ihm das linke Ohr ab und sperrte ihn für zwei Jahre ins Gefängnis, wo er, stets gefesselt, Arbeiten für den Zaren verrichten mußte; nach der Entlassung aus dem Gefängnisse wurde er nach der Ukraine verschickt. Wurde jemand zum zweiten Male des Diebstahls überführt, so folterte und knutete man ihn wie das erste Mal, schnitt ihm auch das rechte Ohr ab und diktierte ihm vier Jahre Gefängnis. Wenn einer zum dritten Male als Dieb ergriffen wurde, so wurde er am Leben gestraft. Kirchendiebe wurden schon bei der ersten Tat zum Tode verurteilt. Diese strengen Strafen wurden von Alexejs Söhnen gemildert. So erzählt der Verfasser der Religion der Moskowiter 3) : ,,Die Diebe werden in Moscau nicht gehencket / sie mögen so viel gestohlen haben / als sie wollen. Wenn es ein kleiner Diebstahl ist / als zum Exempel / zwey Thaler werth / so wird der Verbrecher zu einer Straffe / welche sie Batokki nennen / verdammt. Wenn er nun offtmahls einen solchen kleinen Diebstahl begangen hat / so giebt man ihm die Batokki mit solcher Hefftigkeit / daß er im Bette liegen muß / ohne sich bewegen zu können. Wenn der Diebstahl groß ist / und der Dieb zum ersten Mahl ertappet wird / und nicht erstatten kan / was er gestohlen hat / so straffet man ihn mit der Knut-Peitsche auff eine erschreckliche Weise; der Scharffrichter schneidet ihm das rechte Ohr ab ; man setzet ihn darnach ins Gefängniß / worinnen er zwey Jahre mit Was-

1) Etudes historiques sur la legislation russe ancienne et moderne par Spyridion G. Zezas, Paris 1862, p. 15.

2) Allgemeines Russisches Land- Recht Wie solches Auf Befehl Ihr. Czaar. Majest. Alexei Michailowicz zusammengetragen worden damit allen Ständen des Moscowitischen Reichs vom Höchsten bis zum Niedrigsten gleich- mäßiges Recht und Gerechtigkeit in allen Dingen wiederfahren möge. Aus dem Rußischen ins Teutsche übersetzt nebst einer Vorrede Burcard Gotthelff Struvens. Dantzig 1723, Seite 205 ff.

3) Anno 1712, S. 105.

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ser und Brodt unterhalten / und am Ende desselben wieder losgelassen wird." Die späteren Herrscher haben in ihren Gesetzbüchern endlose Kapitel mit Paragraphen, welche den Diebstahl mit allen möglichen Strafen bedrohen, angefüllt, aber mit den Gesetzen ist man dem Laster nicht beigekommen. Peter der Große versuchte in populärer Weise sein Volk auf- zuklären, indem er in einer besonderen Schrift die zehn Ge- bote erklären ließ.ij Klarer, kürzer und wirksamer als alle diese offiziellen Androhungen ist eines der zwölf Gebote des Chlysty-Gottes Daniel Filipowitsch, die vom Gottessohne und Propheten Iwan Sußlow verkündet wurden; dieses Gebot lautet: ,,Ihr sollt nicht stehlen. Wer nur einen einzigen Kopeken ent- wendet hat, dem wird man beim jüngsten Gericht diesen Ko- peken auf den Kopf legen, und seine Sünde wird ihm erst vergeben werden, wenn dieser Kopek im Feuer zerschmolzen sein wird." Stockschläge, Peitsche, Knut, das alles rührt den Russen nicht, das schreckt ihn nicht, daran ist er gewöhnt; aber das Bild dessen, der am Tage des jüngsten Gerichts mit dem brennenden Kopeken auf dem Scheitel seine Sünde büßen muß, ergreift ihn bis ins Innerste. Leider kennen nicht alle Russen die Gebote des Gottes Daniel Filipowitsch, und so wird weiter gestohlen im heiligen Rußland bis zum jüngsten Gericht.

Der Unterschied zwischen Gut und Böse, Recht und Un- recht ist dem russischen Volke noch nicht klar geworden, obwohl eines der schönsten russischen Märchen sich gerade dieses Thema gewählt hat 2): Zwei Bauern, erzählt dieses Mär- chen, stritten einmal darüber, wer besser durch die Welt komme, jener, der Recht, oder jener, der Unrecht tue. Beide begeben sich auf die Reise, aber wo immer sie fragen, wer

1) Vgl. Erste Unterweisung der Jugend, Enthaltend ein ABC-Büchlein, wie auch eine kurtze Erklärung der zehen Gebote etc. Auf Befehl Petri des Ersten. Bei Struve, Russ. Landrecht, als Anhang. Seite 23 28: über Diebstahl.

2) CKa3Ka 0 iipaB:;'!i h upiiBAt. Das Märchen ist alt, aber vielfach um- gearbeitet; die Idee hat ein christliches Kolorit und im sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert ihre letzte Umgestaltung erhalten, indem die Sitten jener Zeit mit hineingezeichnet wurden. Vgl. Reinholdts Geschichte der russi- schen Literatur S. 41.

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von ihnen die Wahrheit behauptet habe, stets triumphiert der Bauer, der Unrecht tut. „Was willst du mit dem Recht?" heißt es überall, ,,mit dem Recht kommt man nach Sibirien." Während der Schwindler sich bei jedem einschmeichelt und immer satt ist, kommt der ehrliche Bauer fast vor Hunger um. Er muß endlich den Gefährten um einen Bissen Brot bitten, bekommt ihn aber nur um den Preis eines Auges. Sie wan- dern weiter, und stets dasselbe Schicksal : Glück dem Unge- rechten, dem Falschen, dem Diebe, Unglück dem Gerechten, Ehrlichen. Diesem kostet ein zweites Stück Brot das zweite Auge, und er bleibt hilflos am Wege liegen, während der andere heiter weiterzieht. Jetzt endlich wendet sich das Blatt. Ein heißes Gebet des Erblindeten verschafft ihm ein Lebens- wasser, er erhält die Sehkraft wieder, belauscht die Geheim- nisse der bösen Geister, heilt eine Prinzessin und führt sie als Braut heim. -Als der andere erfährt, auf welche Weise sein Gefährte ein solches Glück gemacht, eilt er auch schnell dorthin, wo jener die bösen Geister belauschte, aber er wird von den Teufeln bemerkt und zerrissen. Dieses Märchen ist weitverbreitet, doch niemand kümmert sich um die schöne Moral, jeder hält sich nur an den einen Satz daraus : mit dem Recht kommt man nach Sibirien oder man verhungert, das Unrecht macht satt.

Wie die Russen denken auch einige der nichtrussischen Völker in Rußland. Bei den Tscherkessen beispielsweise gilt das Stehlen nicht als schimpflich, sondern als ein Zeichen von Gewandtheit, so daß eine Braut ihren Bräutigam am härtesten mit dem Vorwurf kränkt, er habe noch keine Kuh gestohlen. i) Es gibt zwar auch gesetzliche Strafen für Diebstahl; schon wer zum ersten Male erwischt wird, soll den siebenfachen Wert des Gestohlenen, überdies neun Stück Rindvieh als Sühne für die beleidigte Ehre des Besitzers zahlen. Aber diese Strafe ist illusorisch, weil sich selten, ein Tscherkesse erwischen läßt. Blutsbande, Gastfreundbchaft und Verbrüderung schützen vor Diebstahl, und man beraubt nur seine Feinde, geht also mit Vorsicht zu Werke. Bei den Osseten in Kaukasien muß ein

1) Neumann, Rußland und die Tscherkessen, S. 102.

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Dieb das Fünffache des Entwendeten bezahlen, wenn er es in heimhcher Hstiger Weise gestohlen hat; das gewaltsam Ge- raubte braucht er aber nur einfach zu ersetzen i); Schwäche wird verachtet, der Gewalt kann man sich erwehren, vor List aber nicht hüten.

Bei den Kalmücken dagegen wurde der Diebstahl überaus streng bestraft. Der Dieb mußte das Gestohlene nicht nur zurückerstatten und eine Bußezahlung leisten; sondern in jedem einzelnen Falle, auch wenn es sich um Kleinigkeiten handelte, wurde dem Verbrecher ein Finger abgehauen, falls er sich nicht mit fünf Stück Vieh loskaufen konnte. Selbst auf die Entwen- dung von Nadeln und Nähgarn waren schwere Strafen gesetzt. Aufseher über hundert Zelter hafteten für die Diebstähle ihrer Untergebenen; wenn sie aus Furcht vor Strafe die Diebstähle ihrer Untergebenen verheimlichten, wurden sie zum Verluste einer Hand verurteilt, ^j Pferdediebe mußten das Gestohlene er- setzen und ihr Vergehen durch Geißelhiebe auf den nackten Rücken büßen; nach vollzogener Strafe wurden sie vom Jar- gatschi, dem Gerichtsdiener, mit einem glühenden Stahl auf der Wange gezeichnet. 3) Auch in Kamtschatka prägte man den Dieben Brandmerkmale auf.^)

Man ersieht aus diesen Beispielen, um wieviel höher die Moral der halbwilden unterjochten Völker Rußlands steht als jene der großrussischen Herren. Der Russe sieht im Diebstahl ein Unrecht nur im Stile des schönen Märchens, aber nicht in der Praxis des Lebens. Wenn sonst das Laster zum Ver- brechen entartet, so ist hier das Verbrechen des Diebstahls nichts als ein Laster, eine Nationaluntugend. Das Stehlen na- mentlich kleiner, scheinbar wertloser Gegenstände ist so all- gemein, daß man sich gar nicht wundert, wenn man in der besten Gesellschaft solche Dinge verschwinden sieht. Wert- volle voluminöse Stücke nimmt nur der Dieb von Profession mit, der nicht bloß stiehlt aus Lust am Stehlen, sondern um

1) J. G. Kohl, Reisen in Südrußland, I 309.

2) Merkwürdigkeiten aus Pallas Reisen, 206.

3) Bergmanns nomadische Streif ereien, II 41.

4) Histoire de Kamtschatka, trad. du russe, A Lyon 1767, II 106.

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des Gewinnes willen. Auf dem Lande raubt man häufig Pferde, die man bei der Einsamkeit der Gegenden schnell unbemerkt und mühelos fortschaffen kann. Im allgemeinen heißt es im Volke: Alles was unverschlossen ist, kann nehmen wer will. Man hütet sich jedoch Versiegeltes zu stehlen, der inhaltreichste Geldbrief bleibt unversehrt; dies geschieht nicht aus Respekt vor dem kaiserlichen Siegel, das die Post den Wertsendungen aufdrückt, sondern aus Aberglauben.

Der Aberglaube hat jedoch nur in diesem einen Falle eine gute Wirkung. Viel häufiger ist er die Ursache zur Förderung des Diebstahls!): Allgemein ist in Rußland der Aberglaube, daß Geld, von den Reliquien geraubt, Segen bringt und die Wirtschaft aufbessert. Ebenso verbreitet ist die Meinung, daß ein Dieb in der Nacht auf Maria Verkündigung irgend etwas stehlen solle; gelingt ein noch so geringfügiger Diebstahl, so hat man das ganzre Jahr Glück im Stehlen; im Gouvernement Pensa sichern sich die Bauern auf diese Weise für ein ganzes Jahr vor Strafe wegen der Holzdiebstähle. Fast jedes Gou- vernement hat' seinen speziellen Diebsaberglauben. Im Wjäsem- schen Kreise im Gouvernement Ssmolensk ist den Dieben nicht bloß die Nacht auf Maria Verkündigung günstig, sondern auch die Nacht des Heihgen Boriß und jene des Heiligen Gljeb; in den letzterwähnten zwei Nächten sollen namentlich die Pferdediebe ihr Glück auf die Probe stellen. Alles Ge- stohlene bringt Gedeihen. Im Kreise Onega des Archangels kischen Gouvernements sagt man: ein Pferd wird schöner und ■gesünder, wenn es mit gestohlenem Hafer gefüttert wird; die Onegaer gehen auch auf den Dorschfang am liebsten mit gestohlenen Angelhaken aus. Ähnliche Gründe veranlassen die Bewohner des Kreises Rostow im Gouvernement Jaroßlaw zum Diebstahl von Blumen.

Auch zu Verbrechen führt der Dicbsaberglaube, zu Lei chenschändung und Mord. Ein Sprichwort sagt : „Die Leute schliefen, als wäre eine Totenhand um sie gefahren.'" Dieses Sprichwort ist aus der düsteren Realistik des Diebstreibens

1) Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, 114 ff., 149 ff. Hier findet man S. 121 ff. auch Parallelen aus Deutschland und anderen Ländern.

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entstanden. Man öffnet die Gräber, um eine Totenhand zu entwenden; wird die Totenhand in ein Fenster des Hauses gelegt, wo man einbricht, so schlafen die Bestohlenen so fest, daß der Dieb ruhig arbeiten kann. Dieser Aberglaube, der hauptsächlich bei Pferdediebstählen zur Geltung kommt, ist besonders im Gouvernement Kijew verbreitet. Im Jahre 1872 wurde im Kreise Kanew des Kijewschen Gouvernements aus solchem Grunde das Grab eines Mädchens geschändet; im Jahre 1900 fand man im Dorfe Paschkowskoje im Kijewschen Kreise auf dem Friedhofe das Grab der Bäuerin Germanowa ganz aufgewühlt und entdeckte, daß der Leiche eine Hand ab- gehackt war.i) Ein Diebstahl, der bald darauf im Dorfe statt- fand, gab der Obrigkeit Anlaß bei einem verdächtigen Bauern eine Untersuchung vorzunehmen; man fand ein Stück von dem Ärmel des Leichenhemdes der Germanowa. Der Bauer bekannte sowohl den Diebstahl als auch die Leichenschändung ; er hatte die Totenhand nötig, um den Diebstahl erfolgreich auszuführen. Er erzählte selbst, wie er das Verbrechen voll- führte : er trank ein Gläschen Schnaps, um Mut und Kraft zur Arbeit zu haben; dann ging er auf den Friedhof, grub das Grab auf, hieb mit dem Beil eine Öffnung in den Sargdeckel, sprach ein Entsühnungsgebet und hackte der Leiche die Hand ab. Zu Hause schnitt er von der Hand das Fleisch ab und warf dieses den Hunden vor, den Knochen aber bewahrte er sorgfältig als Talisman auf. Gleiche Vorfälle ereigneten sich im genannten Jahre auch im Gouvernement Woronesch und im Orte Faleschtuj im Gouvernement Bessarabien.

Nächst einer Totenhand ist den Dieben ein Zauberlicht von großer Wichtigkeit. Man stehle aus den Gräbern die Wachskreuze, die den Leichen in den Sarg mitgegeben wer- den, und mache daraus Kerzen; bei deren Licht kann man gefahrlos stehlen. Noch besser ist ein Licht aus Menschen- fett, der Schein dieses Lichtes versetzt die zu Bestehlenden in tiefsten Schlaf. In der Nacht auf den 27. Februar 1873 raubten auf dem Kirchhofe des Dorfes Scheljesnjäki im Kreise Grodno Soldaten der Leiche eines Kollegen die Eingeweide, um

1) Kölnische Zeitung 1900, Nummer 1016.

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aus dem Fette ein Diebslicht zu fabrizieren. Im Jahre 1884 überraschte man auf dem Friedhofe der Stadt Perejaslawl im Gouvernement Poltawa drei Burschen bei der Zerstückelung einer dicken Männerleiche; sie brauchten Menschenfett für ein Diebslicht.

Hat man nicht den Mut zur Grabschändung, so zögert man nicht, einen Mord zu begehen. Am 19. April 1869 fand man im Wuikowitschwalde des Kreises Wladimir- Wolynsk die gräß- lich verstümmelte Leiche eines Bauemknaben; die Haut am Bauche war rund aufgeschnitten und abgezogen worden. Der Bauer Kyrill Dschuß hatte den Knaben in den Wald gelockt und ermordet, um aus dem Fette des Getöteten ein DiebsHcht zu machen, mit dem man ungestraft stehlen könnte. Am 24. April 1881 verhandelte das Kreisgericht in Pensa einen Mord- prozeß gegen zwei junge Burschen, die im Tschembarschen Kreise einen Mann ermordet hatten, um aus seinem Bauche die Netzhaut mit den Eingeweiden als Material für ein Diebslicht herauszureißen. Am 15. November 1896 hatte das Kreisgericht von Koroto'jak im Gouvernement Woronesch genau den glei- chen Fall zu verhandeln. Zwei Bauern hatten einen zwölf- jährigen Knaben erdrosselt, der Leiche dann den Bauch nach drei Richtungen aufgeschnitten und die Netzhaut mit den Eni- geweiden herausgenommen, um aus ^ dem Fett ein DiebsHcht herzustellen. Der berühmteste Fall dieser Art in den letzten zwei Dezennien ist aber die am 3. Oktober 1887 stattgehabte Er- mordung eines Mädchens im Dorfe Nikitskoje des Kreises Bjel- gorod im Kurskschen Gouvernement. Das Charakteristische an diesem Falle war die Hartnäckigkeit, mit der die Mörder ihr Ziel verfolgten, um unbedingt in den Besitz von Menschenfett für ein Diebslicht zu gelangen. Die Bauern Tolmatschew und zwei Brüder Semljänin wollten zuerst eine Leiche schänden, beschlossen aber, sich das Fett lieber von einem frischen Toten zu verschaffen, und machten sich gemeinsam zur Ermordung eines Menschen auf. Sie lauerten zuerst einem Knaben in einem Walde auf, das Opfer entkam ihnen aber durch einen Zufall. Dann begegneten sie einem ihrer Nachbarn, sie ver- loren jedoch den Mut, weil sie seine riesige Stärke kannten. Hierauf machten sie sich an einen feisten Geistlichen heran

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und führten ihn unter irgend einem Verwände in den Wald; den Popen aber quälte eine beängstigende Vorahnung, und er rief zu seinem Glücke einen Arbeiter herbei, daß er ihn begleite. Endlich gelang den finsteren Gesellen doch ihr Plan. Ein Mädchen kam daher, das ein entlaufenes Pferd suchte. Die drei Männer lockten die Suchende in den Wald, erwürgten sie, schnitten der Leiche das Fleisch ab und schmolzen das Fett aus. Es reichte für ein ganz großes Licht, und die Mörder gingen mit diesem Talisman auf Diebstähle aus. Der Zauber wirkte vortrefflich, ein halbes Jahr lang gelangen alle Unter- nehmungen nicht bloß, sondern der Mord selbst wurde auch nicht entdeckt. Erst bei einem zufälligen Besuche der Polizei im Hause des Semljänin fand man ein Bündel mit gekochtem Fleisch, und da man in dem Tuche das Eigentum der ver- schwundenen Magd erkannte, kam das Verbrechen zutage. Die merkwürdigen Begleitumstände dieser Tat machten den Prozeß zu einem sensationellen, und alle Ethnographen und Juristen Rußlands begannen nach dem LTrsprung des fürchter- hchen Aberglaubens zu forschen. In einer interessanten Ab- handlung in einer Zeitung i) sprach ein ungenannter Autor die Meinung aus, daß der Diebslichtaberglaube ein Überbleibsel des Kannibalismus sei, dessen Spuren man noch in folgendem russischen Volksliede erkenne: „Ich backe ein Gebäck aus den Händen, aus den Füssen; aus dem tollen Kopfe schmiede ich ein Trinkgefäß; aus seinen Augen gieße ich Trinkgläser; aus seinem Blute braue ich berauschendes Bier ; und aus seinem Fette gieße ich Licht."

Wie der Dieb sich durch einen Talisman vor Entdeckung sichert, so ist der Aberglaube auch dem Bestohlenen zur Er- forschung des Diebes durch zauberhafte Mittel behilflich. Wenn in einem Hause ein Diebstahl bemerkt wird, aber der Schuldige nicht entdeckt werden kann, man auch nicht genau weiß, wen man anklagen soll, so beruft man einen Hexenmeister oder eine Wahrsagerin, und diese „beobachten den Leib der Verdächtigen." Sabylin, der diesen Brauch erwähnt, weiß aber selbst nicht, wie diese Beobachtung erfolgte, und bemerkte nur,

^) I'ycciviH j{t,.ioMOCTii 1888, 359.

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daß von diesem Gebrauche das Sprichwort herstamme : Ilaoxo jie*/KHTi, 6pioxo 6ojiHTi>; wer schlecht hegt, dem tut der Leib weh.i) Tereschtschenko kennt noch ein anderes russisches Mit- tel 2): Die Wahrsagerin nimmt einen Psalter, schlägt mit einem Messer auf die Mitte einer Seite und sagt : „Da ist er, und da ist noch ein anderer. Er ist hier und hat sich versteckt!" Wen sie dann nennt, der ist der Dieb. Gesteht er das Ver- brechen nicht ein, so muß er seine Unschuld vor dem Bilde des Heiligen Iwan des Kriegers beeidigen. Wenn ein Haus- diebstahl stattgefunden hat. so ruft die Hausfrau das ganze Gesinde zusammen; und eine Babuschka, die Wahrsagerin, deren Hilfe in Anspruch genommen wird, macht so viele Brot- kügelchen als Leute da sind, stellt ein Gefäß mit Wasser vor sich hin, wirft eine Kugel nach der anderen hinein und sagt stets einen der Namen der Verdächtigen nebst der Beschwö- rung; „Bist du- schuldig, so fällt diese Kugel auf den Grund wie deine Seele in die Hölle." Die Kugeln der Unschuldigen aber, behauptet sie, bleiben oben schwimmen. 3) Vor dieser Methode haben die gemeinen Russen eine furchtbare Angst, und der Schuldige bekennt, so wie die Sache ernst wird, freiwillig den Diebstahl, um nicht seine Seele der Hölle anheimfallen zu lassen.

Auch die nichtrussischen Völker in Rußland versuchen es mit der Zauberei, um die Diebe zu entdecken.

Wenn dem Osseten etwas gestohlen worden ist, so ruft er einen Kurismezok oder Zauberer. Dieser geht, mit einer Katze unter dem Arm, in Begleitung des Bestohlenen zu den Häusern jener, die im Verdachte des Diebstahls stehen, und ruft überall laut aus: „Wenn du es genommen hast und dem Eigentümer nicht wiedergiebst, so möge diese Katze die Seelen deiner Vorfahren peinigen." Man kann überzeugt sein, daß der Schuldige sofort das Gestohlene zurückerstattet, da nichts mehr gefürchtet wird als die angedrohte Strafe. *) Die Kam-

') M. 3a6buniirb, PyccKiil Hapo3>, MocKua i88o, ctj). 406, Ai 29: Otu-

CKilHie BOpOBt.

2) Tepeiuemvo, Bbirh pyccKaro uapojia. Vgl. Löwenstimm a. a. O. 88.

3) Haxthausgn, Studien I 312.

*) Haxthausen, Transkaukasia. II 20.

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tschadaleni) glauben einen Dieb ausfindig zu machen, indem sie unter großen Zeremonien die Sehnen eines wilden Bockes verbrennen ; wie sich die Sehnen im Feuer zusammenziehen, so verliert der heimliche Dieb den Gebrauch seiner Glieder, und wenn man in der Gemeinde also einen Gelähmten ent- deckt, so is't dies der Verbrecher.

i6. Korruption.

Zarisches System alter Zeiten Die Verwaltung Eine Anekdote des Jehan Sauvage aus Dieppe Strafen für Bestechlichkeit Einfache Methode Iwans des Schrecklichen Der Richterstand Die Gerichtsdiener Das Trinkgeld im Osterei Das Heiligenbild als Vermittler Strafgericht Peters I. Hin- richtungen — Cato Nesterow und sein Ende - Die Ansichten des Cato Tatisch- tschew Erlaubte und unerlaubte Korruption Ausspruch des Günstlings Jaguschinskij Die Geschenke für den Zaren Katharina II. gegen das Lichoimstwo oder Geschenkfressen Korruption unter Nikolaj IL Die Zollbeamten Medizinalinspektoren und Rekruten Prügelgesellen in den Schulen Richter und Recht im Sprichwort Das Rechtsmärchen Kaulbars Bortig Das Urteil des Schemjaka Satiren Ssumarokows und Gogoljs Unausrottbarkeit der Korruption.

Wollte ein Zar im alten Rußland einen Bojaren für be- sondere Dienste belohnen oder einem Günsthng große Gnade erweisen, so schenkte er ihm eine Provinzverwaltung mit fol- genden Worten: ,, Ziehe hin, lebe daselbst und dich satt!" Und jeder tat nach den Worten des Zaren. War die Provinz dem Begnadigten zu fern, so hatte er das Recht, das Gouverne- ment einem anderen zu verkaufen, und dieser mußte nun dop- pelt fleißig stehlen und plündern, um den riesigen Kaufpreis hereinzubringen und sich nebenbei selbst sattzuessen.

Ein solches von dem Zaren statuiertes System mußte natur- gemäß die Korruption in der ganzen Verwaltung einbürgern. Plündern und Rauben wurden die Grundgesetze der Admini- stration; es gab gar keine Möglichkeit, auf normale ehrliche Weise das Fortkommen zu finden. Der Gouverneur mußte

1) HistOire de Kamtschatka, II 107.

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stehlen, um sich sattzuessen, die höheren und die niederen Beamten suchten durch Diebstahl und Trinkgelder ihr Leben zu fristen.

Das erste, was der Fremde sieht, der nach Rußland kommt, ist die offene Hand des Zollbeamten; und bei jedem weiteren Schritte muß man, um unangefochten zu bleiben, nach rechts und nach links dem Moloch der Korruption opfern. Das früheste französische Memoire über Rußland, von dem Ma- trosen Jehan Sauvage aus Dieppe verfaßt, erzählt wie der Kommandant des Hafens von Archangelsk die Franzosen nicht landen lassen wollte, ,,weil er noch niemals zuvor Franzosen gesehen hatte." Da half aber ein Mittel: „environ 250 dalles," und die Franzosen wurden sofort willkommen geheißen, i)

Zuweilen rafften sich die Zaren zu einer Bestrafung der korrupten Beamten auf, aber sie griffen nicht das System an, sondern begnügten sich mit der Praktizierung einzelner Bei- spiele. Iwan der Schreckliche erfuhr einmal, daß einer seiner Wojwoden .sich durch eine mit Dukaten gefüllte Gans hatte bestechen lassen. Er verheimlichte seinen Zorn, aber als er bald darauf mit diesem Wojwoden über den Platz ging, wo die Exekutionen stattzuhaben pflegten, ließ er den Beschuldigten plötzlich vom Henker ergreifen und ihm die Arme und Beine abhacken 2); und bei jedem Hiebe fragte der Zar spöttisch: ,,Na, Batuschka, wie schmeckt das Gansfleisch?"

Sporadische Züchtigungen dieser Art konnten das Übel nicht hemmen. Man fand leicht Mittel und Wege, das Gesetz zu umgehen. Am traurigsten und verkommensten blieb der Richterstand. Schon der Gerichtsdiener stellte den Parteien Klagen und Vorladungen nicht zu, wenn er nicht dafür extra bezahlt wurde; Zar Alexej mußte in seinem Gesetzliche einen besonderen Paragraphen den Gerichtsdienern widmen und ihnen androhen, daß sie beim ersten Male der Pflichtverletzung mit den Batogy, beim zweiten Male mit der Knute gestraft

1) Das interessante Manuskript des Jehan Sauvage wurde von Louis Paris entdeckt und der französischen Übersetzung der Nestorschen Chronik angefügt.

2) Reise nach Norden, anno 1706. S. 167.

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werden würden. i) Aber es nützte nichts; und konnte auch nicht helfen, da die Richter selbst nicht nach Recht und Ge- rechtigkeit, sondern nach der Bezahlung von Seiten der splen- dideren Partei urteilten. Das Gesetz zwar bestimmte, daß ein bestechlicher Richter zum Bettler gemacht und verbannt wer- den sollte; vorher aber wurde er mit Ruten durch die Stadt gepeitscht und während der Exekution mußte er am Halse einen Sack tragen, worin das Bestechungsmittel sich befand; ganz gleich ob dieses Gold, Pelzwerk, gesalzene Fische, Schnaps oder etwas anderes gewesen war. Doch wer konnte leichter das Gesetz ausspielen als der Richter? Er nahm also ein Ge- schenk nur an, wenn es ihm mit einem Osterei am Oster- sonntag, wenn in Rußland sich alles küßt und umarmt, in die Hand gedrückt wurde; noch harmloser war es, wenn der Verführer im Hause des Richters erschien, sich wie üblich zuerst zum Heiligen wandte, um zu beten, und dann in from- mer Andacht sein Geschenk vor dem Hausaltare nieder- legte, ^i

Peter der Große kämpfte bis zu seinem Lebensende gegen die Korruption. Er verminderte die Zahl der Gou- vernements, gab den Gouverneuren und Beamten fixe Ge- hälter, forderte aber dafür die Abschaffung der Trink- gelder. Er verfügte : wer in einer Sache, sie sei gerecht oder ungerecht, Geschenke annehme und gebe, es sei vor oder nach der Entscheidung, der erleide dafür die Strafe am Galgen. Der Generalfiskal Nesterow überreichte dem Kaiser ein Memo- randum, worin zahlreiche Malversationen von Senatoren und Würdenträgern aufgedeckt wurden. Es erfolgt ein furchtbares Strafgericht : Zwei meineidigen Senatoren zieht der Henker ein glühendes Eisen über die Zunge; dann werden die also grau- sam Gestraften noch gepeitscht und schließlich nach Sibirien verbannt. Den Vizegouverneur von Petersburg klopft der Hen- ker mit dem Knut öffentlich; einen Admiralitätsherrn und den Intendanten der Gebäude züchtigt man bloß mit dem Kam- merknut, nämlich in einem geschlossenen Räume. Der Günst-

1) Russisches Landrecht des Czaren Alexei, von Struve, S.6i,Nummeri45.

2) Margeret. a2 und 67.

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ling Schafirow, der Vizekanzler des Reiches, wird zur Ent- hauptung verurteilt und erst auf dem Schafott begnadigt. Am Galgen baumeln der Gouverneur von Sibirien, Knjäs Gagarin, und der Kommandant von Bachmut, Knjäs Masolskoj. Zum Finale entpuppt sich der Cato, der Generalfiskal Nesterow selbst, als korrupt: ein Geschenk von zweitausend Rubeln hat den Ankläger verführt und zum Angeklagten degradiert; er wird bei lebendigem Leibe gerädert, i)

Noch ein anderer Cato lebt am Hofe Peters: der Staats- rat Wassili] Nikititsch Tatischtschew. Er hinterheß eine Reihe von Satiren und ein Testament an seinen Sohn, 2) worin er geistreich über das Sportelnehmen spottet und die Korruption der Verwaltung geißek. Auch dieser Cato wird eines Tages wegen Bestechhchkeit vor Gericht gestellt und hält hier dem Zaren folgenden Vortrag : ,,Es gibt zweierlei Arten des Sportel- nehmens, eine 'unstatthafte und eine statthafte. Falls ein Rich- ter bei Führung einer gerechten Sache über die offiziellen Stunden hinaus arbeitet; falls dem Prozeßführenden ein Vor- teil daraus erwächst, wenn der Richter seine ganze Muße der Angelegenheit widmet : dann ist, und zwar nach Erledigung der Sache, eine Belohnung statthaft, wohlverdient und nicht entehrend." Peter entgegnete darauf: „Dich selbst halte ich zwar für gewissenhaft. Aber es gibt auch gewissenlose Richter, und in jedem Falle ist ein Beispiel, das durch die Annahme von Geschenken gegeben wird, zu mißbilligen. Tue stets das aus Antrieb der Pflicht, wozu dich die Belohnung ermuntert." Tatischtschew erreichte so viel, daß er straflos ausging.

Die Folge war, daß die Korruption noch ärger wurde als sie zuvor gewesen. Man sah, daß der Zar Unterschiede zu machen wußte und nur jene dem Henker überlieferte, auf die er schon aus anderen Gründen erzürnt war; daß er nur die kleinen Diebe köpfte, die großen aber, wie Mentschikow und Apraxin, ruhig weiterwirtschaften ließ. Erst im letzten Jahre

1) Handschriftliche Berichte des preußischen Legationssekretärs ^^ocke- rodt, bei Herrmann a. a. O. Seite 31.

2) Gedruckt wurden seine Schriften erst zur Zeit Katharinas H. Vgl. über Tatischtschew: Reinholdt, Geschichte der russ. Litt. 287.

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seines Lebens raffte sich Peter noch einmal zu voller Strenge auf.i) Er setzte eine Untersuchungskommission aus unerbitt- lich grausamen Männern ein, und der neue Generalfiskal Mä- kinin mußte neben dem Schlafzimmer des Zaren amtieren, damit zu jeder Stunde, bei Tag und bei Nacht, ein Urteil gefällt werden konnte. Auf die Frage Mäkinins : ,,Soll ich nur die Zweige abkappen oder die Axt an die Wurzel legen?" entgegnete Peter lakonisch : ,, Alles mit Stumpf und Stiel aus- rotten!" Selbst auf die geringste Bestechlichkeit wurde die Todesstrafe gesetzt. Der Günstling Jaguschinskij erklärte darauf: „Wir alle stehlen, die Einen mehr oder plumper, die Anderen weniger und gewandter. Wollen Ew. Majestät allein im Reiche übrig bleiben?" Und zum Schlüsse mußte Peter aus dem Munde des Generalleutnants Buturlin folgende An- klage vernehmen : ,, Umsonst gibst du Verordnungen gegen Jene, die Geschenke nehmen; umsonst verfolgst du die Über- treter deiner Gesetze mit Strafen; denn du selbst erzwingst Geschenke, und dein eigenes Beispiel ist wirksamer als Ge- setz und Ahndung. Als ich durch Twer reiste, speiste ich bei einer Kaufmannsfrau ; da kam ein Abgeordneter des Magistrats imd forderte hundert Rubel als Beisteuer zu dem Geschenk, das die Stadt dir geben mußte, und als die Frau wegen Mangel an barem Gelde nur um einen kurzen Aufschub bat, da drohte man ihr mit dem Gefängnis, so daß ich schnell das Geld für sie erlegte. So freiwillig sind die Geschenke, die man dir gibt." Da legte Peter entmutigt die Axt aus der Hand, gab den Kampf mit der unausrottbaren Korruption auf und erwar- tete resigniert das Ende seiner Herrschaft.

,,Das Lichoimstwo, das Geschenkfressen 2), die Beste- chungen und Erpressungen sind die Grundübel des Reiches," klagte Katharina die Zweite vierzig Jahre später in ihrem berühmten Ukas vom i8. Juli 1762. „Man findet kaum einen Richter, der bei Ausübung der Gerechtigkeit nicht von dieser Seuche angesteckt wäre. Sucht jemand eine Stellung, so muß er zahlen; will sich jemand vor Verleumdungen schützen, muß

1) Halem. III 122.

2) JIhxoiimctbo, wörtlich: der Wucher.

Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Ruüland. 19

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er dies mit Geld erkaufen; will jemand einen anderen ver- leumden, so unterstützt er seine Ränke durch Bestechungen. Die Richter verwandeln den heiligen Ort, wo sie Recht spre- chen sollen, in einen Marktplatz. Das Amt des Richters ist eine Rente, nicht ein Dienst für Gott, Herrscher und Vater- land. Bloße Verleumdungen verwandeln die Richter gegen Lohn in gerechte Ansehungen. Solche Richter dienen nur ihren Bäuchen, indem sie ihre Habsucht mit Geschenken sät- tigen. Wie in den vornehmsten Gerichten der großen Städte, so plagen in den entferntesten Orten die kleinsten Richter und Beamten das Volk miit Erpressungen und Schikanen unter dem Scheine des Gesetzes."

Dasselbe Lied kann noch heute gesungen werden, und es ist nur verwunderlich, daß eine so kleinliche Affäre Skandal macht, wie die des Minister-Stellvertreters Gurko, der um Geld und Frauengunst einem mittellosen Getreidehändler Millionen- aufträge zuschanzt, im sicheren Bewußtsein, daß der Beauftragte nur die Millionen erhalten, aber nichts liefern werde. Dieser Gurko, der auf einem Ministerposten nicht anders denken kann, als der erstbeste Richter auf dem Stuhle, auf dem er Gerechtig- keit sprechen soll; dieser Gouverneur Baron Fredericks, der die Kasse des Staates als seine eigene betrachtet, wie es alle Gouverneure vor ihm getan haben; dieser Alexandrowskij, der als Leiter des Roten Kreuzes Unsummen verschwinden ließ und zur Strafe dafür mit dem Gouvernement Pensa belehnt wurde, damit er sich endlich ganz satt esse, und der hier in der Zeit der allgemeinen Hungersnot wirklich die schönste Gelegenheit zum Rauben findet, bis ihn endlich im Februar 1907 die rächenden Kugeln der Revolutionäre treffen : sie alle sind ja keine charakteristischen Typen, die zu besonderer Betrach- tung anregen würden, sondern bloß ein Abklatsch uralter Schablonen. Es verdient auch kein besonderes Erstaunen, wenn vor dem Petrikauer Bezirksgericht eines Tages hundert höhere Eisenbahnbeamte erscheinen, um sich wegen systema- tischer Fälschung von Eisenbahnfrachtscheinen zu verant- worten i); oder wenn bei der Verhandlung" vor einem Peters-

1) Lodzer Zeitung, 14/27. März 1906 (Monstre-Prozeß).

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burger Gericht, das über die Bestechungsaffäre des Friedens- richters Patalajew urteih, ein Zeuge dem Richter über den Richter ins Gesicht sagt, daß er vor dem Beginn der Verhand- lung den Versuch gemacht hätte, den Zeugen zu bestechen^]; oder wenn in Pernau^) der VolksschuHnspektor Proschljakow die Stellen an der Schule nach einem fixen Tarife verschachert und schließlich von den unzählbaren Opfern seiner Erpressung vor Gericht geschleppt wird.

Das sind nicht vereinzelte Fälle, nicht Ausnahmen, son- dern sie bilden die Regel; die Immoralität ist allgemein, die Korruption eine selbstverständliche Ergänzung der Ehrlosigkeit, I.ügensucht und Stehlsucht. Wir sehen, wie die Erpresser bestraft werden, indem man sie mit Gouvernements belehnt. Für die Bestechlichkeit sind förmlich Prämien ausgesetzt, die Wege des Lasters von der Regierung selbst mit Gold gepflastert. An der Grenze sind die Zollbeamten durch regelrechte Ge- schäftsverträge mit den Schmugglern verbunden; Gogolj fand für seinen Sittenroman ,,Tote Seelen" keinen passenderen Hel- den, um Rußlands Entsittlichung zu zeichnen, als jenen Tschi- tschikow, der ehemals Chef der Douane und gleichzeitig Hehler einer großartigen Schmugglerbande war. Die Gutsherren muß- ten früher eine gewisse Anzahl ihrer Leibeigenen an die Armee abliefern; es war nun die Haupteinnahmsquelle der Medizinal- inspektoren, daß sie bei der Aushebung der Rekruten den Guts- herren durch ein ärztliches Gutachten nur die kranken und schlechten Leibeigenen als für das Heer tauglich abnahmen, die gesunden aber übersahen. Früher gab es in den Gymnasien eigens angestellte Prügelgesellen, die den schlechten Schülern die Liebe zum Fleiß einbläuen mußten; diese Prügler bezogen von den Eltern der Schüler ein jährliches Pauschalsümmchen, wofür sie vorkommenden Falles die Rutenstreiche bloß mar- kierten. Die Medizinalinspektoren sind um ihr Brot gekommen, seit es keine Leibeigenen mehr gibt ; die Schuldiener aber haben glücklicherweise noch immer ihre Einnahme : sie sind Spione der Polizei und beziehen deshalb von den Schülern Schweige-

1) HOHOO JJpOMH, 24. II. 1906.

2) „Pärwalehi", 20. III. 1906.

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gelder. In einigen Zweigen der Verwaltung hat also wenigstens die Form der Korruption gewechselt.

Äußerlich wie innerlich unverändert blieb die Korruption des Richtertums. Da gelten noch immer die uralten Sprich- wörter des Volkes : Ein Richter ist wie ein Zimmermann : was er will, das haut er heraus. Fürchte nicht das Gericht, fürchte nur den Richter. Was gehen mich die Gesetze an? Ich bin gut Freund mit dem Richter.

Die Verkommenheit des Richterstandes wurde in der Lite- ratur des Volkes und in der Kunstdichtung oft als Thema dankbarer Satiren gewählt. So erzählt das Tiermärchen von Kaulbars Bortig, das in der Nachahmung der offizielen Rechts- sprache und des Kanzleistils des sechzehnten Jahrhunderts an Rabelais erinnert, mit bitterem Humor von der Bestechlich- keit der russischen Richter; „ihr Herren Richter," ruft Kaul- bars am Schlüsse der Geschichte aus, ,,ihr habt nicht nach euerer Überzeugung geurteilt, ihr seid bestochen." Spie den Richtern in die Augen, und hui ! sprang er ins Strauchwerk auf Nimmerwiedersehen. Das klassische und berühmteste russische Märchen, das die Bestechlichkeit des Richters geißelt, ist die Erzählung vom Urteil des Schemjaka: Ein armer Kerl leiht von seinem Bruder ein Pferd ; da passiert ihm das Malheur, daß er dem Tier aus Versehen den Schweif abreißt. Er wird von seinem hartherzigen Bruder zum Gericht geschleppt. Auf dem Wege in die Stadt müssen sie nachts in einer Herberge übernachten. Da fällt der Pechvogel von der Pritsche und erdrückt ein Kind, das in der Wiege liegt ; der A^ater des Kindes geht mit zu Gericht. Als man eine Brücke passiert, beschließt der Pechvogel, sich in den Fluß zu werfen, um alle seine Leiden los zu werden. Aber er fällt nicht ins Wasser, sondern auf ein Boot und tötet einen Greis, der im Boote sitzt. Der Sohn des Greises schließt sich den zwei Klägern an. Als die drei Kläger und der Übeltäter vor dem Richter Schemjaka erscheinen, wickelt der Angeklagte einen Stein in sein Taschen- tuch und winkt dem Richter, das Paket zu betrachten. Schem- jaka hat seine eigenen Gedanken darüber und fällt ein gün- stiges Urteil; damit aber die Absichtlichkeit nicht gemerkt werde, gibt er dem Urteile den Schein salomonischer Gerech

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tigkeit. Er ordnet also an: Der Geklagte ist schuldig. Der Bruder soll ihm daher das Pferd lassen, bis diesem ein neuer Schweif gewachsen ist; der Mann, dessen Kind getötet wurde, soll seine Frau dem Mörder geben, damit er ihr ein neues Kind mache; der Sohn des Greises endlich soll sich von der- selben Brücke in derselben Weise in das Boot stürzen, wie es der Angeklagte getan hat, während sich dieser darin in derselben Lage befinden muß, wie der Greis vor seiner Tötung. Die Kläger halten es für klüger, sich mit dem Angeklagten auszugleichen und geben ihm Geschenke, damit er von der Ausführung der richterlichen Befehle abstehe. So kommt der Pechvogel schnell zu großem Wohlstand. Da erscheint der Richter und fordert die versprochene Handsalbe, seinen Lohn. Er erhält aber zur Antwort: „Der Stein bedeutete nicht eine Handsalbe, sondern: daß ich dich totgeschlagen hätte, wenn dein Urteil für mich ungünstig ausgefallen wäre." Und der betrogene Richter muß seufzen: „Dem Himmel sei gedankt, daß ich das Urteil zu seinen Gunsten gefällt habe."

Einer der frühesten und bedeutendsten Kunstdichter Ruß- lands, Ssumarokow, schrieb zur Zeit der Kaiserin Katharina IL mit dem Pathos ehrlicher sittlicher Entrüstung zahlreiche Sa- tiren gegen die Bestechlichkeit. Seine Erzählung „Von den schlechten Richtern", seine ,, Epistel über eine gewisse anstek- kende Krankheit" und seine „Klage der bedrückten Wahrheit vor Jupiter", zeichnen sich durch eine seltene Kühnheit und Rücksichtslosigkeit aus. In der letztgenannten Satire bittet die Wahrheit Jupiter, er möge das widerliche Nesselgezücht der sportelnehmenden Beamten ausrotten; Jupiter schleudert seine Blitze, die Beamten fallen um, und das Volk jubelt. Aber o wehe ! nur die kleinen Gauner sind getroffen worden, die großen Spitzbuben unversehrt geblieben. Die Wahrheit stellt Jupiter zur Rede, und dieser entschuldigt sich beschämt: „Ich hielt die Unversehrten für die Blüte der Aristokratie und wagte gar nicht daran zu denken ".

Im Jahre 1836 gab Kaiser Nikolaj die Erlaubnis zur Auf- führung eines Lustspiels: „Der Revisor" von Gogolj. Der Zar selbst wohnte der Premiere bei und lachte aus vollem Halse. Er begriff gar nicht, daß dieses Lustspiel just das nikolaitischc

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korrupte Regierungssystem mit ungeheuerer Frechheit und tötendem Witz verspottete; und ahnte nicht, daß es der x\us- gangspunkt aller modernen russischen Revolutionen, der An- fang des Kampfes, nicht der Regierung, sondern des Volkes, gegen den Drachen der Korruption werden soUte. Konsequenter als Iwan der Schreckliche, Peter I. und Katharina IL, führt das Volk diesen Kampf, aber das Resultat ist nach sieben blutigen Jahrzehnten das gleiche wie früher: das Lichoimstwo ist un- besiegt, dauert und ißt sich satt.

17. Trunksucht.

Aberglaube und Trunksucht Trunkenbolde werden \-ampire Satan und die Trunksucht Russische Weinlegenden Der Weinstock als Baum der Erkenntnis Das Märchen vom Elend Das Lied von Iwan dem Kauf- mannssohn — Die Heldensagen von Wassilij dem Saufbold und dem Helden- trinker Ilja von Murom Ausländische Urteile über die russische Trunksucht Benehmen eines russischen Gesandten am Hofe des Schah Abbas -^ Alter der Trunksucht in Rußland Orgien Iwans des Schrecklichen Wie Iwan Klatschweiber zu bestrafen pflegte Iwans Strafen für Trunkenbolde Einführung des zarischen Branntweinmonopols Gelöbnis der Schenkwirte Tottrinken zu Ehren des Zaren Heimhcher Privathandel mit Branntwein Boriß Godunows Maßregeln gegen die Trunksucht Ein Vorfall an der Tafel des Zaren Michael Gesetze des Zaren Alexej zum Schutze des zarischen Monopols Die Namen des Bacchus bei den Russen Peters Lehrer Lefort als Trinkmeister Orgien im Hause Leforts Exzesse Peters des Großen in der Trunkenheit Trunksucht und Grausamkeit Das Saufen am Hofe Peters Saufwut der Popen und Geistlichen Saufzwang an der Zaren- tafel — Scherze Peters des Großen Der Bär als Kellner Teilnahme der Frauen an den Saufgelagen Trunksucht der Zarin Katharina I. und ilu-er Töchter Trinkfreiheit am Thronbesteigungstage Katharinas IL Sta- tistisches — Verbreitung der Trunksucht nach Volksstämmen Das Treiben in den Schenken Saufwut des Volkes und der Intelligenz Förderung der Trunksucht Regierungsprinzip Die Komödie vom Temperenz- Komitee Trunksucht und Hurerei Die Sitte des Impotent-Trinkens in der Hoch- zeitsnacht — Eines jungen Ehemanns Glanzleistung Eines anderen jungen Ehemanns Todestrunk Geschichte des Weines in Rußland Einführung des Champagners Orgien am Hofe der Zarin Anna Odeure als Schnäpse.

Im Januar 1907 starb im Dorfe Jegorowka im Gouverne- ment Tula ein. junger Mensch, ein Trunkenbold. Man begrub ihn, aber in der Nacht hörten Bauern, die an dem frischen

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Grabe vorübergingen, ein dumpfes Geschrei aus der Erde her- vordringen. Statt das Natürliche anzunehmen: daß hier ein Scheintoter begraben worden und der Hilfe bedürfe, er- griffen die Bauern einen Pfahl aus Eichenholz und stießen ihn in das Grab bis durch den Sarg, um den unruhigen Toten anzunageln. Die Polizei, die davon erfuhr, beeilte sich den Sarg auszugraben. Man fand die Leiche in einem entsetzlichen Zustand. Der Scheintote hatte unter der Erde einen furcht- baren Kampf gekämpft, um sich von der erstickenden Last zu befreien; seine Hände waren ihn dabei zerbrochen und seine Haare ergraut. Sein Kampf war vergeblich gewesen, er wurde das Opfer des Vampirglaubens.

Im russischen Volke ist man allgemein der Ansicht, daß ein Trunkenbold nach seinem Tode ein Vampir werde, aus seinem Grabe steige und Unheil, namentlich Regenlosigkeit oder Seuchen verursache. Im Jahre 1860 gruben die Bauern des Dorfes Tschuwaschkij Kalmajur im Kreise Stawropol des Gouvernements Ssamara die Leiche eines Muschik aus, der an Trunkenheit zugrunde gegangen war, und nun als Vampir als L^rheber der herrschenden Dürre galt. Man durchbohrte die Leiche mit einem Eichenpfahl, um den Vampir unschädlich zu machen. 1889 zerrten die Bauern des Dorfes Jelischenki irn Ssaratowschen Kreise die Leiche eines an der Trunksucht gestorbenen Mannes aus, durchbohrten sie und warfen sie in den Fluß.i)

Die A^orstellung von der Verwandlung der Seele eines Trunkenboldes in eine Teufelsseele kennen auch die alten russischen Legenden und Märchen. Eine ,, Geschichte vom Ursprung des Weintranks oder das Märchen vom hochweisen Hopfen" schildert 2), gleich der talmudischen Tradition, den Weinstock als den verhängnisvollen Baum der Erkenntnis im Paradiese. Da die Rebe eine Teufelspflanze ist, verfallen die Trunkenbolde ewigen Qualen ; so lange sie auf Erden wan- deln, sind sie den bösen Streichen Satans willenlos ausgeliefert,

1) Löwenstimm, Aberglaube und Straf recht, loi.

2) Vgl. ,, Altslavische Kreuz- und Rebensagen", Russische Revue XIII; und .\lexander von Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur, 240.

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werden sie von ihm auf Abwege geführt und in Sümpfe ge- lockt; nach dem Tode aber kommen sie in die Hölle und müssen den Teufeln als Lasttiere dienen. In einem geist- lichen Liede von Wassilij und der heiligen Jungfrau wird die Trunksucht als Haupt- und Todsünde verdammt.

Eines der bedeutendsten poetischen Erzeugnisse des sieb- zehnten Jahrhunderts, das ,, Märchen vom Elend, das einen braven Jüngling unter die Mönchskutte gebracht", ist ebenfalls gegen die Trunksucht gerichtet. Hier heißt es zu Beginn der Erzählung: „Im Eden gab Gott sein heilig Gebot: Sie sollten nicht kosten von der Rebenfrucht." Aber das Gebot ward übertreten und alle Trübsal ist Folge davon. Traurig ergeht es daher dem braven Jüngling. Vater und Mutter belehren ihn, wie er ehrsam leben solle, warnen ihn vor Gastmählern, Trinkgelage und Spiel. Aber den unvernünftigen Jüngling ver- drießen diese Lehren, er lebt nach seinem Gefallen. Bald hat er fünfzig Rubel' beisammen und wankt in Gesellschaft eines Verführers von Schenke zu Schenke. „Trinke," sagt ihm der Freund, „trinke dir zur Freude, zur Lust, zur Gesundheit. Und wenn duj Bruder, dich betrinkst, lege dich schlafen da wo du stehst, verlaß dich auf mich." So ergeht es ihm auch, er betrinkt sich bis zur Bewußtlosigkeit; und als er am anderen Morgen erwacht, findet er sich vom Freunde verlassen und beraubt. Er schämt sich nach Hause zurückzukehren und wan- dert in die Welt hinaus. Die harte Lehre hat ihn kuriert, er lebt verständig, kommt vorwärts und gewinnt eine reiche Braut. Da tritt ihm in den Weg das Elend, das von sich sagt: „Mich wird man auch mit Stockschlägen nicht los; mein Nest und mein Erbgut die Schlemmer sind." Das Elend warnt den Jüngling vor der Heirat. Die Frau würde ihn vergiften. Er soll lieber in die Schenke gehen und alles vertrinken: ,, Be- neidenswert ist nur das Leben der Nackten und Barfüßigen, niemand quält sie, niemand tut ihnen ein Leid an." Der Jüng- ling folgt dem Rat, verläßt die Braut, vertrinkt sein Geld und wandert wieder als Bettler und Säufer durch die Welt. Er kommt an einen Fluß und hat kein Geld, den Fährmann zu bezahlen. Vor Verzweiflung will er sich in den Fluß stürzen, da springt das Elend hervor und sagt ihm : unterwirf dicli

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mir gänzlich, so setze ich dich hinüber. Er stimmt ein Lied an, gedenkt der glückhchen Jugend, und endet dann mit der Klage: „Kein Scharlach wird ohne den Meister gemacht, kein Kind getröstet ohne die Mutterlieb, kein Trunkenbold wird jemals reich und in gutem Leumund kein Würfler steht." Die Klage rührt den Fährmann und er setzt den Jüngling über den Fluß. Nun will der Reuige heimkehren ins Elternhaus zu ehrlicher Arbeit, aber er kann sich vom Elend nicht losmachen und flüchtet in ein Kloster, auf den sichersten Weg des Heils : „vor dem heiligen Tor hält das Elend still."

Trauriger noch ist das Schicksal des Trunkenboldes Iwan des Kaufmannssohnesi): Ein verständiger Vater und eine ver- ständige Mutter hatten ein unverständiges Kind, mit Namen Iwan der Kaufmannssohn. Der Vater starb und die Mutter Afimja Alexandrowna schickt ihren Sohn mit Waren übers Meer und spricht warnend zu ihm: „Gehe nicht, o mein geliebtes Kind, in die Schenken des Zaren und trinke nicht den grünen Wein und suche keine Gemeinschaft mit Saufbolden und hänge dich nicht an die feilen Weiber!" Iwan vergißt die mütterhchen Lehren. In die Schenken des Zaren geht er, übermäßig trinkt er den grünen Wein, schließt Freundschaft mit Saufbolden und mit feilen Weibern. Da ist bald sein väterliches Erbteil, da sind bald die Waren der Mutter verschleudert; selbst seine Schiffe muß Iwan schließlich versetzen. Die Mutter erhält die böse Kunde, eilt über das Meer in die fremde Stadt, geht in den Straßen umher und klagt: „Habt ihr nicht mem Kind gesehen?" Aber kein anständiger Mensch weiß von ihrem Sohne. Da geht sie unter den Saufbolden in den Schenken um- her und findet auf einem Ofen den berauschten zerlumpten Iwan. Sie schleppt ihn an den Haaren zu den babylonischen Kaufleuten und bittet: „Kauft mir den da ab um fünfhundert Rubel." Fragen die babylonischen Kaufleute: „Aber sage, ehr- bare Witwe Afimja Alexandrowna, verkaufst du uns da keinen Dieb oder Wegelagerer?" Sagt Afimja: ,, Nicht einen Dieb oder Wegelagerer, sondern meinen eigenen einzigen Sohn Iwan, mein großes Herzeleid, verkaufe ich euch." Spricht Iwan : ,,Ach

1) Vgl. Bernhard Stern, Fürst Wladimirs Tafelrunde.

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ihr lieben babylonischen Kaufleute, bin ich wirklich nur fünf- hundert Rubel wert? Zahlet doch tausend Rubel für mich!" Und weinend fährt er fort: „Und du lebewohl, lebewohl, du meine leibliche Mutter, du ehrwürdige Witwe Afimja Alexan- drowna! Dem Gesetze nach warst du meine leibliche Mutter, deinem Handeln nach aber eme grimmige Schlange!" Nun nimmt die Mutter Abschied: „O ihr rechtgläubigen Leute wundert euch nicht, daß ich mein eigenes liebes Kind verkaufe. Denn kein Erhalter war er der leiblichen Mutter, sondern ein Verschwender, ein liederlicher Trunkenbold!"

Unter den russischen Heldensagen, den Bylinen, gibt es aber auch mehrere Lieder zur Verherrlichung der Trinker, so das Lied von Wassilij dem Saufbold: Der Tartarenchan Batyga belagert die Kijewstadt und fordert den Fürsten Wladi- mir auf, einen Helden zum Zweikampf zu schicken. Tief be- trübt ist der leutsehge Fürst Wladimir, denn kein Held ist in Kijew. Da tritt ein Schenkwirt zum Fürsten : „Unser Heil und unsere Hoffnung, rote Sonne, Fürst Wladimir! In der Kijewstadt treibt sich seit zwölf Jahren ein Degen herum, der all seine Habe versoffen hat. Nichts gibt es, womit er sich nüchtern trinken kann, von dem Sichnüchterntrinken tut der Kopf ihm weh, und von den Wehen des Trunkes ist das Herz ihm beklommen. Aber er ist ein wackerer Held und kann mit Batyga sich messen." Der Fürst geht in den Schen- ken umher und sucht den Saufbold. Endlich findet er den Wassilij Iwanowitsch schwer besoffen auf einem Ofen, ohne Hosen, weil er sie vertrunken hat, und im dünnen Hemde. Ais der Saufbold den Fürsten bemerkt, kriecht er vom Ofen herun- ter, verneigt sich tief und spricht: „Du unsere Sonne, Fürst Wladimir! Du kennst nicht meine große Trübsal. Du hast große Bekümmernis, aber mein Leid und meine Trauer sind noch größer. Vor Schmerz birst mir das Haupt, es zittern mir die Sehnen der Knie, denn ich habe nichts zu trinken, die verfluchten Wi-te pumpen mir keinen Tropfen mehr. Stärke mich, o edler Fürst, mit einer stärkenden Schale, dann werde ich stark und kann mit Batyga mich messen." Der Fürst läßt dem Saufbold ein Faß Meth bringen und ein Faß Bier und ein Faß Wein; ein jedes Faß wiegt anderthalb Pud. Was-

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silij aber hebt alle drei Fässer mit einer Hand auf und trinkt eins nach dem anderen in einem Zuge aus. Darauf spannt er dreimal den Bogen, schießt drei Pfeile ab und tötet Batygas Sohn, Schwiegersohn und Pfaffen. Batyga fordert wutentbrannt den Mörder. Wladimir zittert, aber Wassilij sagt : ,,0 unsere rote Sonne, Wladimir! Nicht kann ich jetzt zu Batyga gehen. Nach dem Trünke schmerzt mein Haupt. Gib mir eine be- lauschende Schale voll grünen Weines, eine zweite voll be- täubenden Bieres, eine dritte voll süßen Methes ; dann kann ich mit Batyga mich messen." Der Fürst wiederholt sein früheres Geschenk. Nun ist Waßjka wieder in Ordnung und jubelt : ,,Dank dir, du Zar Batyga, daß du zu unserer Stadt gezogen kamst." Dann nimmt er ein Roß und reitet zu Batyga, beklagt sich dort, daß der undankbare Wladimir ihn aufknüpfen lassen wollte, und schwört dem Fürsten Rache. Batyga läßt sich überlisten, gibt dem Saufbold zu trinken und vertraut ihm das Heer an, um es heimlich nach Kijew zu führen. In einem Walde aber reißt Wassilij, durch einen kräf- tigen Trunk gestärkt, einen Baum aus der Erde und erschlägt das ganze Heer Batygas. Jubelnd empfangen die Kijewer den Helden und wollen ihn mit Ehren und Schätzen überhäufen. Er. dagegen erbittet dieses : daß jedes Haus in Kijew ihm ein Faß Wein, ein Faß Bier und ein Faß Meth spende; vom Für- sten aber verlangt er einen Geleitsbrief mit Siegel und eigen- händiger Unterschrift für alle zarischen Schenken : daß Was- silij der Saufbold überall auf des Fürsten Rechnung trinken dürfe bis an sein seliges Ende.

Auch der Hauptheld des Kijewschen Sagenkreises, Ilja Muromez, ist ein gewaltiger Trinker. In einem Liede wird er- zählt, wie Ilja in armseligem Pilgergewande in den Straßen von Kijew umherwandert. Den Helden plagt ein furchtbarer Durst, und in der Tasche hat er nicht einen Kopek. Da denkt er: Mache kurzen Prozeß; gehe in einen Zarewkabaki), in eine Kronsschenke ; da müssen sie dir schon einen Heldcntrunk pumpen, hast lange Jahre selbstlos dem Fürsten gedient! Ilja

1) Kabak, Kafiain,, ist die Krons- Schnapsschenke, während Traktir, i|iai.-rinn,. das Wirtshaus überhaupt bezeichnet.

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kommt in die Schenke und schreit : „Heda, Brüderchen Wirt, pumpe mir für zweitausend Rubel grünen Wein !" Der Wirt schaut sich den armsehgen Pilger an und sagt : „Ei, du törichter Trunkenbold, mach daß du fortkommst." Ilja appelhert an das gute Herz der zweimal vierzig Kellner; dieselbe Antwort. Da weckt Ilja die Zechbrüder i), die auf den Bänken und Öfen herumliegen, und schreit : ,,Ach Brüder Trunkenbolde, ich verschmachte schier vor Durst, schenkt mir einen Tropfen grünen Weines." Und die armen Trunkenbolde legen ihr letztes Geld zusammen und kaufen dem Ilja anderthalb Eimer grünen Weines. Zum Dank verspricht ihnen Ilja, sie am nächsten Tage zu bewirten. Am anderen Morgen erscheint Ilja nicht als Pilger, sondern als Held. Mit einem Fußstoße sprengt er das Tor des Zarewkabak, drei riesige Fässer schleppt er heraus und bewirtet die Spender von gestern. Brüderchen Wirt und Brü- der Kellner platzen vor Wut, aber Ilja kümmert sich nicht um sie, legt sich nach der Orgie auf den Ofen und schläft drei Tage und drei Nächte seinen gewaltigen Rausch aus.

Der russische Trinkerruhm erfüllte schon früh die Welt. Die europäischen Reisenden, die aus Rußland zurückkehrten, berichteten in Worten starren Staunens über die moskowitische Trunksucht. Contarini schreibt 2) um 1500, ,, daß sich die Mosko- witer vom Morgen bis zum Mittag auf den Märkten und Plätzen herumtreiben und den Tag in Trinkhäusern beschließen." Mayerberg erzählt ^j: Branntwein beginne und ende die Mahl- zeiten. Der Rausch allein setze der russischen Art des Trin- kens ein Ziel. Man trinke nicht tropfenweise, sondern schütte die Schale^) auf einen Zug in die Kehle aus. Einen Festsaal verlasse der Moskowiter nicht freiwillig, man müsse ihn hinaus- schleppen. Während der Mahlzeit höre man die besten Herr- schaften fortwährend aufstoßen, rülpsen und andere Laute von sich geben; sie seien deswegen nicht ängstlich, und auch

1) roJiLiit Kaoa'iiii, wörtlich: der arme Zecher.

2) Karamsin, deutsche Ausgabe VII 168, französische VII 263.

3) Voyage en Moscovie, 16S8. 61 63, 78, 87, 138, 141, und noch an vielen Stellen.

*) Die alten Russen tranken den Branntwein aus Schalen. Vgl. darüber auch Margeret a. a. O. 100.

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peinliche Gerüche verursachen keinen Verdruß. Vor der Mahl- zeit erscheine die Hausfrau mit einer Schale Branntwein; sie nippe daran, reiche dem vornehmsten Gaste den Ehrentrunk und ziehe sich dann wieder zurück. Le Bruyn berichtet i) aus dem Jahre 1703: An den Festtagen saufen die Russen so wütig, daß man sie in Massen berauscht auf den Straßen liegen sehe, namentlich vor den Schenken. In die Lokale selbst dürfen sie nicht hineingehen; an der Tür der Kabaken befinde sich eine Bank, auf die sie das Geld legen müssen, dann folge man ihnen die bezahlte Quantität aus. In jedem Zarew- kabak seien zwei Bediente : einer nehme das Geld in Empfang, der andere schöpfe mit einem großen Holzlöffel den Schnaps aus einem mächtigen Kessel. Die Frauen drängen sich wie die Männer zum Saufen. Endlich erwähne ich hier die Mitteilungen des dänischen Reisenden Peter von Haven^j : ,,Die vornehmste Neigung des ganzen Volkes bestehet darinn, Essen und Trinken in Überfluß zu genießen und sich vornehmlich allerley Arten vom starken Getränk ohne Ordnung und Maaß zu bedienen. Ungeachtet sie nun öfters Schiffbruch am Ver- stände leiden, so scheinet es doch, als wenn es ihren Körpern keinen grossen Schaden thäte. Es ist soweit entfernt, daß der gemeine Mann sich seiner Trunkenheit schämen sollte, daß er sich vielmehr derselben rühmet, seine Lieder in den Schen- ken herschreyet, und taumelnd auf der Strasse gehet ; zu- weilen begegnet man wohl auch Bauern von beyderley Ge- schlecht, die öffentlich herumgehen, sich einander unter die Arme gefaßt halten, und die in ihrer Trunkenheit singen und schreyen."

Die wenigen Russen, die als Diplomaten ins Ausland ge- schickt wurden, schleppten ihr Laster mit sich. Von Chardin^) erfahren wir, daß die russischen Gesandten, vom Schach Abbas zu einem Feste geladen, sich an der Tafel des persischen Königs derart mit Schiraswein betranken, „daß sie allzu deutliche Beweise von Unfläthigkeit von sich gaben; so daß der König

1) Voyages, III 250.

2) Büschings Magazin X 351.

3) Chardin, Reise in Persien.

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die Tafel aufhob mit dem Bemerken: Die Russen seien wie die Usbeken, welche das schmutzigste tatarische Volk."

Obwohl die früher angeführten Nationallieder die Meinung erwecken, daß das Nationallaster mit der Begründung des Reiches begonnen habe, kann doch behauptet werden, daß die furchtbare Ausartung der Trunksucht in Rußland erst aus dem sechzehnten Jahrhundert datiert. Soweit historisch festgestellt ist, war der weiberliebende schreckliche Iwan der erste Zar, der den Sapoji) am russischen Hofe einbürgerte. Zur Aufpeitschung seiner durch ein Hurenleben erschlafften Sinne braucht der Tyrann die erhitzenden Kräfte des Weines. Im Zarenpalaste gibt es endlose Schmausereien und Trink- gelage, bei denen man einander mit Hymnen auf den Wein, der des Menschen Herz erfreue, zu Ausschweifungen anfeuert, während der alte Gebrauch der Mäßigkeit verhöhnt und das Fasten als Heuchelei erklärt wird. 2) T)er Palast ist bald zu eng für die rauschenden Festversammlungen; man überführt die jungen Prinzen in besondere Häuser, um Platz zu schaffen für die Zecher. Täglich werden neue Vergnügungen ersonnen, bei denen Nüchternheit und Wohlanständigkeit als unschick- hch verpönt sind. Mancher Bojar kann der guten alten Zeit der Mäßigung nicht vergessen, sitzt an der unter der Weinlast seufzenden zarischen Tafel mit trübem. Blicke und stummem Munde; man verlacht oder verachtet ihn, gießt ihm Wein auf das nachdenklich gesenkte Haupt, setzt ihm ein nacktes Dirn- lein auf die vor Angst schlotternden Knie. Mönche erscheinen unter den Zechern, um durch nachsichtige Lehren das schüch- terne Gewissen des Zaren gänzlich zum Schweigen zu bringen und durch ihre Gegenwart und eigene Anteilnahme die Zügel- losigkeit vor dem murrenden Volke zu heiligen. Der Archi- mandrit von Tschudow selbst erweist sich als der ärgste Schlemmer, und Hof und Klerus taumeln Arm in Arm von einer Orgie zur anderen. In einem älteren deutschen Reise- werke^) wird erzählt, auf welche Weise Iwan der Schreckliche seinen Säufer-,,Himeur" zu beweisen pflegte : „Nachdem fremde

1) Sanofi, Saufwut, eigentlich: anhaltendes Trinken.

2) Karamsin, deutsche Ausgabe VIII 15, französische IX 18.

3) Reise nach Norden / anno 1706, S. 168.

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Eng- und Schottländische Weiber sich über ihn lustig gemacht hatten / ließ er sie holen / volltruncken machen / dann selbige gantz nacket ausziehen / und in diesen Zustande eine nach der anderen 5. oder 6. Scheffel Erbsen / die er in sein Zimmer hatte streuen lassen / wieder auflesen i) und schickte sie darauf f wieder fort mit der Warnung / sich über ihn ein andermal nicht zu kützeln."

Dieser Tyrann, der sich und seinen Günstlingen kein be- schränkendes Maß vorschreiben ließ, verfolgte grausam die Trunkenbolde unter dem Volke. Die gemeinen Sterblichen durf- ten bloß an Feiertagen trinken, an Werktagen war es ihnen ver- boten. Nur die ausländischen Krieger, die dem Zaren für Geld dienten, konnten sich nach ihrem Belieben berauschen-); deswegen hieß auch die Vorstadt jenseits des Moskwaflusses, wo sie wohnten : Naleika. Von dem russischen W^orte nairu- BaM, schenk voll ein ! Die russischen Trunkenbolde aber, die dem zarischen Befehle zuwiderhandelten, brachte man beim ersten Male in den Säuferturm, wo sie bei Brot und Wasser eingesperrt blieben, bis sie Besserung bekundeten; beim zwei- ten Male wurde ihnen das Gesetz der Nüchternheit mit Knuten- .hieben eingebläut.

Während der Zar im Widerspruch zu seinem eigenen schamlosen Treiben Mäßigkeitsgesetze gab, schuf er gar einen Widerspruch mit dem Widerspruch, indem er das zarische Schnapsmonopol ins Leben rief, die zarische Kabakwirtschaft begründete, die Trunksucht als Staatsnotwendigkeit statuierte. Xach dem Muster der Chans-Schenken, die er in dem von ihm eroberten Kasan] kennen gelernt hatte, organisierte Iwan die Zarew-Kabaki. Der Branntwein wurde eine Hauptein- nahmsquelle des zarischen Schatzes. Der Zar allein durfte fortan mit Branntwein handeln. Im ganzen Reiche wurden im Namen des Zaren Branntweinbrennereien errichtet. Zu- gleich mit dem Befehle an die Statthalter, die Trunksucht zu bekämpfen, ging der andere Befehl : überall Kronsschenken zu

1) Ich erinnere an den ähnlichen Vorfall, den sich Dorat und Grecourt zu poetischer Bearbeitung erwählt haben, und an die deutsche Bearbeitung der ,, Kirschen" von Heinse.

2) Jovius und Herberstein, Die Moscouitische Chronica. 1576.

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öffnen. Die Vertreter des Zarenschatzes, denen die Verwaltung der Schnapsfilialen anvertraut wurde, mußten beim Kreuze schwören, eine hinreichende Menge auszuschenken; wenn sie nach einer bestimmten Zeit das vorgeschriebene Quantum nicht verkauft hatten, machte man sie für das Defizit ver- antworthch. Wie glänzend sie ihre Aufgabe lösten, beweist ein Gesuch des Schenkwirtes Andrej Obrasow, der zur Unter- stützung seiner Bitte anführte : er hätte das Interesse des Zaren stets so sehr gewahrt, daß sich in seiner Schenke sogar viele Leute zu Tode getrunken. Anfangs waren die Priester Gegner des Branntweins, später fanden sie an ihm ebenso Geschmack wie das Volk. Der Zar bereicherte sich durch das Laster des Volkes, und gleichzeitig triumphierte die zarische Politik, welche die Aufrechterhaltung der Autokratie nie anders zu sichern wußte als durch systematische Verdummung und Entsittlichung der Massen.

Die Trunksucht breitete sich aus gleich der Pest. Zur Zeit des Zaren Fedor Iwanowitsch gab es schon in allen Städten Kronstrinkhäuser. Trotz des zarischen Monopols handelten auch viele Privatleute heimlich mit Schnaps. i) Boriß Godunow ergriff gegen diesen Privathandel strenge Maßregeln; ein ern- ster Freund der Mäßigkeit 2) verurteilte er die Schenkwirtschaft auch im allgemeinen und erklärte : er würde eher einen Dieb oder Räuber als einen Schenkwirt begnadigen; er forderte die Schnapshändler auf, sich ehrlicher Arbeit zu widmen, und versprach ihnen in diesem Falle Ländereien. Dieses Lockmittel half nicht; half umso weniger, als der Zar nicht den Mut hatte, mit der Aufhebung der Kronsschenken den Anfang zu machen.

1) Karamsin, deutsch X 71, französisch XI 112.

2) Als Boriß Godunow livländische Flüchtlinge zu einem Mahle bei sich empfing, wollten die Bojaren die . Gäste betrunken machen. Diese waren auf ihrer Hut, weil sie wußten, daß der Zar ein Freund der Nüchternheit war. Der Zar bemerkte ihre Enthaltsamkeit und fragte: ,, Warum trinkt ihr nicht, wie es bei euch der Gebrauch ist?" Sie antworteten, in Gegenwart des enthaltsamen Zaren wollten sie auch nicht unmäßig sein. Da sagte Boriß: ,,Ich nötige euch als Wirt zum Trinken, macht euch getrost lustig, trinkt in die Runde auf meine Gesundheit." Vgl. Bär, Musco^\^itische Chronik.

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So wurde die Trunksucht bereits unausrottbar, und gras- sierte weiter, nicht bloß im Volke, sondern auch am Hofe. Als Graf Woldemar Christian Güldenlöwe von Schleswig-Hol- stein an der Tafel des Zaren Michael Romanow als Gast er- schien, wagte der Bojar Boriß Iwanowitsch Morosow in trun- kener Laune den Protestanten aufzufordern, er möge zur Ortho- doxie übertreten ; um der peinlichen Szene ein Ende zu machen, befahl der Zar dem Morosow, sich sofort zu entfernen; „dieser aber verweigerte sich aus Trunkenheit dessen," so daß der Thronfolger Alexej den Besoffenen an der Brust packen und höchsteigenhändig an die Luft setzen mußte, i) Auf Alexej hatte dieser Vorfall einen tiefen Eindruck gemacht, und als er bald darauf Zar geworden war imd ein Gesetzbuch zusammen- stellen ließ, befahl er, ein eigenes Kapitel den Bestrafungen der Schenkwirte und Trunkenbolde zu widmen. Das Kapitel kam auch zustande; es enthält. ein Dutzend Straf paragraphen : Da wird Schenkwirten und Trunkenbolden gedroht mit harten Geldbußen, Gefängnishaft bis zu vielen Monaten, Verbannung nach Sibirien, furchtbaren Züchtigungen, Knuten, Batogy und Folterungen. 2) Aber alle diese Beängstigungen sind nur den Schlimmen bestimmt, die privat mit Schnaps handeln oder nichtzarischen Schnaps trinken, wogegen der Vertierung des Volkes durch zarischen Schnaps keine Grenze gesetzt wird; die strengen Maßregeln sollen um Gottes willen nicht etwa dazu dienen, die Trunksucht auszurotten, sondern dafür Sorge tragen, daß man sich bloß am zarischen Schnaps berausche, bloß den zarischen Schatz bereichere.

Alles ist prächtig präpariert, um den Einzug des Bacchus am Hofe Peters des Großen glänzend zu gestalten und dem Gotte des Weines und des Branntweins seine schönsten Triumphe zu bereiten. Peter gibt dem russischen Weingott erst die russischen Namen. Im allgemeinen und in der großen Öffentlichkeit tituliert er ihn feierlich: Chmjelnizkij. Das war der Name jenes Kosakenhetmanns, der einige Jahre zuvor dem

1) Nachricht von Woldemar Christian Güldenlöwe Grafen von Schleswig- Holstein Reise nach Rußland zur Vermählung mit des Czaren Michael Feodoro- witsch Tochter Irene. In Büschings Magazin X 234.

2) Russisches Land-Recht S, 238, Kap. XXV i 11. Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rufjlaml. 20

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Zaren Alexej beigestanden hatte, die Polen zu bekämpfen, und der deshalb bei den Russen Popularität erwarb ; in den Liedern wird er als großer Säufer gefeiert gleich dem altrussischen Helden Ilja von Murom, und die Bilder, die von ihm erhalten sind, zeigen uns auch das Antlitz eines unverkennbar kräftigen Trinkers. 1) Für Peter entscheidend ist die sprachliche Be- deutung dieses Namens ; denn xM-fenB heißt : Hopfen, xm^^jib- HHÖ: berauscht. In intimem Kreise nennt Peter den Gott der Trinker : Iwan Michajlowitsch oder kurzweg Iwaschka ; mit demselben Namen bezeichnet er seine Lieblingsschöpfung, die Flotte.

Peter der Große hat eine vortreffliche Trinkerschule durch- gemacht. Sein Lehrer und Meister, der Genfer Lefort, ist auch der Organisator seiner Vergnügungen, der guten wie der schlechten. Er lehrt ihn nicht bloß Schiffe bauen, Schlachten schlagen, Reiche- regieren, sondern auch trinken und huren. In allen Arten Ausschweifungen ist Lefort ein unverwüstlicher

' Heros. 2) Auf der Reise durch Europa, auf der er den jugendlichen Herrscher begleitet, setzt er durch seine klassische Trinkerkraft selbst die trinkfesten Deutschen und Holländer in Erstaunen. Und wie er gelebt, so stirbt er. Im Jahre 1699 gibt er ein großes Gelage. Es ist Februar und furchtbar kalt. Da schlägt Lefort vor, die Orgie im Freien fortzusetzen. Es bekommt ihm schlecht, er erkrankt auf den Tod. Der Pastor wird ge- rufen, um ihm die letzte Tröstung zu spenden, Lefort aber schickt den geistlichen Herrn lachend fort, verlangt nach Wein,

. Weibern und Musik, und trinkend und singend haucht er sei- nen Atem aus. Das war ein flottes Haus gewesen, das Haus Leforts in der Sloboda^) zu Moskau. Da gab es bei Tag und bei Nacht heitere Gesellschaft. Da war man frei von der russischen Melancholie, wenn der Becher in die Runde ging. Auch durch den Wechsel der Sitten mußten alle berauscht

1) Ein Porträt Chmjelnizkijs findet man in Spamers illustrierter Welt- geschichte 1894, VI, S. 654.

2) Lefort trinkt wie ein Heros, sagte Leibnitz. Vgl. Guerrier, Leibnitz in seinen Beziehungen zu Rußland, S. 1 2 ; und K. WaUszewski, Pierre le Grand, p. 60.

3) C.io6ü;ia, Vorstadt; man verstand damals darunter das Quartier der Ausländer, speziell der Deutschen, in Moskau.

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werden: bisher gewohnt, die Frauen nur hinter den Gittern der Teremsi) oder gehüllt in der Fatas2), die keinen Zug des Gesichts erkennen ließen, zu sehen, tritt man plötzlich in einen Kreis, wo die schönsten Schottländerinnen, Holländerinnen und Deutschen ungezwungen von Mann zu Mann hüpfen, fröhlich lachen, plaudern, küssen, tanzen.

Als Trinker übertraf Peter schnell seinen Meister. Er sauft ununterbrochen. Im Jahre 1707 ist beim Beginne des Krieges mit Karl XII. die Verteidigung Rußlands vernachlässigt, weil der Zar sich ganz dem Saufen hingegeben hat. Vergebens sendet Mentschikow einen Boten um den andern nach Moskau, um den Zaren aufzurütteln : der junge Herrscher will von nichts anderem wissen als von seinen Amüsements mit Wein und Weibern. Man rühmt Peter dem Großen nach, daß er viel ver- tragen konnte ; doch wissen wir auch, daß er häufig genug im Rausche die gräßlichsten Exzesse beging. Friedrich der Große erzählte Voltaire, daß Peter vom preußischen Gesandten Baron von Printzen dabei angetroffen wurde, wie er bei seiner Mahl- zeit im Zorne des Rausches zwanzig Streljzen enthaupten ließ; während die Exekutionen vor seinen Augen vollzogen wur- den, aß der Zar nicht bloß ruhig weiter, sondern machte sich den Spaß, bei jedem Streiche des Henkers, wenn ein Kopf zur Erde rollte, ein Gläschen auf die Gesundheit des Hingerichteten zu leeren; er lud den preußischen Gesandten lachend ein, an seinem Vergnügen teilzunehmen. Auf seiner Reise in Europa trank Peter als wäre er daheim. In Königsberg wollte er in der Trunkenheit Lefort erstechen. In Dresden gesellte er sich zu Lakaien im Hofe eines Hauses und trank mit ihnen. In Berlin hielt er die Hoftafel vier Stunden lang hin, da er fort und fort Gesundheiten ausbringen wollte, um maßlos trinken zu können. „Es vergeht kein Tag, wo er sich nicht volltrinkt," sagt Baron Pöllnitz.3) Die Kurfürstin Sophie von Hannover aber war enttäuscht, nachdem sie so viel von des Zaren Saufe-

^) Tepoin,, wörtlich Dachkammer, Bezeichnung für das Frauengemach, •das bei den alten Russen von der Wohnung der Männer so streng geschieden ■war, wie der Harem der Moslems.

2) <I>aTa, Seidenschleier.

3) Memoires, II 66.

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reien gehört hatte; „er hat vor uns gar nicht gesoffen," schrieb sie in ihren Erinnerungeni) ; ^^aber seine Leute abscheuhch. Sie wußten nichts von sich selbst, so voll waren sie,"

Nach der Rückkehr Peters aus Europa und nach der Be- gründung von Petersburg beginnt am Zarenhofe die Hochflut des Saufens. Die Gelage dauern ununterbrochen an, oft tage- lang, ja wochenlang Tag und Nacht hindurch. Wann inuner man bei Hofe erscheint, stets gibt es dort ein Braschnitschanje. 2) Die Altrussen tadeln die Sauferei als eine nichtrussische Sitte 3); sie behaupten, der Zar habe sie aus der bösen Fremde mit- gebracht, aus den deutschen Schenken und Tingeltangels nach der heihgen Rußj verpflanzt. Dies gerade ist es, was Peter veranlaßt, die skandalöse Sitte noch forcierter einzuführen. Er gründet am Hofe den Rat der Alltrinker*), als Gegenstück zum Kirchenrat, zum größten Ärger des Klerus und der Nation, die in dieser Verhöhnung aJ^en Anstandes eine Tat des wirk- lichen Antichrist sehen.

Es ist ein furchtbarer Spelunkengestank, der einem beim Betreten des Zarenpalastes entgegenschlägt, atembeklemmend und betäubend wie der Dunst aus der niedrigsten Schenke. Die Zeitgenossen erzählen schier unglaubliche Dinge : Wenn man in den zarischen Schloßgarten kam, begegnete man zunächst Grenadieren, die eine große Kufe voll allergemeinsten Korn- branntweins trugen. Wer sie sah, schlich sich fort, als wäre er den Teufel gewahr worden. Aber Spione waren überall aufgestellt, um die Flüchtlinge einzufangen. Dem Diplomaten Bergholz 5) passierte es, daß er einem solchen Spion in die Arme lief; er weigerte sich, den Schnaps anzunehmen, und erklärte, er habe schon getrunken. Da verlangte der Spion,

1) Vgl. Pelz, Peter der Große, 128.

2) BpajKHHHaHbe, Saufgelag.

3) Vgl. Comte Fedor Golovkine, La Cour et le regne de Paul I, Paris 1905, p. 9; Erinnerungen des Enkels des Großkanzlers Golowkin, der am Hofe Peters eine große Rolle spielte.

*) BceiibHHiiüniLä coöopi.. Coöopt bedeutet namentlich die Kirchenver- sammlung. Der Zsx verhöhnte damit gleichzeitig den Klerus. Vgl. CeiieBCKÜi^ O'iepKii, II. C.10BO n 3,'b.TO! crp. 282.

6) Vgl. sein Tagebuch bei Büsching XIX 45.

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Bergholz solle den Mund aufmachen und seinen Atem riechen lassen. Es half weder Bitten noch Flehen, man mußte trinken. Den Grenadieren, welche den Branntwein trugen, folgten Offi- ziere, die die Aufgabe hatten, Gewalt anzuwenden, wenn man sich nicht gutwillig ergeben wollte. An Festtagen gab es Freischnaps für die Truppen; der Zar selbst ging dann die Reihen entlang und überreichte den Soldaten den Trunk in einer Schale, in die das Maß eines großen Bierglases hinein- ging. Vor dem Zarenschlosse konnte man an Feiertagen die Betrunkenen haufenweise herumliegen sehen. Es war ein lieb- liches Durcheinander von Würdenträgem, Volk und Geist- lichen. „Ein Pope stand noch aufrecht," erzählt Bergholz, ,,aber er war so voll, daß er hätte platzen mögen, ein anderer gab Lunge und Leber von sich, andere rülpsten."

Am schärfsten ging es an des Zaren eigener Tafel her. Der Herzog von Holstein, vom Zaren eingeladen, brachte sich vorsichtigerweise seine Weine mit, ,, rotes und weißes Brotwasser," und vertauschte sie heimlich mit den zarischen Getränken. Peter bemerkte dies, nahm dem Herzog das Glas weg und sagte : ,,De Win dogt nit, de Win is mehr schadhch als min Win," und gab ihm ein Glas bitteren Ungarwein. Des Herzogs Begleiter, Geheimer Rat Bassewitz, kam zu spät zur Tafel; Peter sagte ihm: „Straf! Straf!" und zwang ihn. vier mächtige Gläser Wein auf einmal auszutrinken. Der Zar erfuhr, daß die Minister an ihrem Tische enthaltsam waren; er diktierte ihnen sofort riesige Strafgläser Branntwein. Man stelle sich solch ein Bild vor: Alle sind betrunken, und doch verlangen sie immer mehr. Der Großadmiral Apraxin ist so voll, daß er weint wie ein Kind. Fürst Mentschikow stürzt besinnungslos zur Erde; man muß seine Familie holen, damit sie ihn nach Hause schleppe und ins Leben zurückrufe. Der Fürst der Walachei gerät mit dem Oberpolizeimeister in Streit, während nebenan zwei Todfeinde Bruderschaft trinken und einander ewige Treue geloben. Einige, die noch nüchtern sind, stellen sich trunken, um nicht mehr trinken zu müssen, i) Die Türen werden geschlossen, niemand hat die Erlaubnis fortzu-

1) Bergholz bei Büsching XIX 94.

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gehen, bevor der Zar das Zeichen dazu gibt. Bei den Sauf- gelagen durften alle den Zaren duzen. Wer aber in der Ver- traulichkeit auch frech wurde, erhielt zur Strafe eine Riesen- portion gemeinsten Fusels, die den Sünder sofort unter den Tisch beförderte und ihn also von der Teilnahme an den weiteren Vergnügungen ausschloß. Zu den beliebten Gästen gehörten die Geistlichen. Peter machte sich gern den Scherz, die obszönsten Reden durch fromme Sprüche und theologische Abhandlungen würzen zu lassen.

Einmal gab Peter einem deutschen Gesandten zu Ehren ein Gastmahl im Schlosse Peterhof .. Den Gästen wurde mit Tokajer- wein so scharf zugesetzt, daß endlich keiner mehr auf den Füßen stehen konnte; und dennoch mußte jeder noch ein Quartier Branntwein von der Hand der Zarin annehmen, wo- durch alle den Rest bekamen. In diesem Zustand ließ der Zar seine Gäste in den Garten, m den Wald und in verschiedene Zimmer tragen, damit sie ihren Rausch ausschliefen. Um vier Uhr nachmittags schleppte man die kaum Ernüchterten in einen jungen Wald und befahl ihnen, Bäume umzuhauen; der Zar selbst ging mit dem Beispiel voran. Zur Belohnung für die schwere Arbeit gab es beim Abendessen wieder eine solche La- dung, daß man ohne Vernunft zu Bett kam. Sogleich wurden die Erschöpften erbarmungslos aus den Federn gerissen und zu neuen Orgien geschleppt; um acht Uhr morgens rief man sie zum Kaffee, dieser aber bestand in einer Schale Brannt- wein. Hierauf mußte man auf ungesattelten Kleppern einen Berg hinanreiten. Mittlerweile war wieder Mittag geworden; man mußte sich neuerdings volltrinken und endlich bei stuim- bewegter See nach Kronschiott fahren.

Der Zar liebte es zuweilen, während alle seine Gäste stark trinken mußten, selbst gar nichts zu nehmen. Er blieb aber nicht etwa enthaltsam aus plötzlich erwachter Neigung zur Mäßigkeit, sondern aus Berechnung, um seine Leute auszu- spionieren. Was der Nüchterne im Herzen verbirgt, das hat der Betrunkene auf der Zunge, sagt ein russisches Sprich- wort, i)

1) ^TO y iJbHHaro Ha H3i.iKi, to y ipesBaro na ysit. Vgl. CeMeBcidfu OMt'pKü II, C.TOBO II ^:kio, C-Üeiepö. 1884, cxp. 5.

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Ein deutscher Diplomati) behauptete: ,, Peter trinkt viel, aber ich habe ihn nie der Vernunft beraubt gesehen. Ob- wohl er selbst viel vertragen kann, ist er doch ein erklärter Antagonist aller Trunkenbolde." Dieses Urteil kann nur in bezug auf die letzten Lebensjahre des Zaren Geltung haben. Auf Verlangen seiner Ärzte entsagt Peter zeitweilig dem Weine; er trinkt nur Kißlijeschtschi, Säuerhches, Kwaß.-j Diese Zeit der Mäßigkeit verschafft ihm die flüchtige Repu- tation der Nüchternheit. Die Periode seiner Enthaltsamkeit ist aber nur eine ganz kurze; der Zar kehrt in den letzten Mo- naten seines Lebens zu den früheren Ausschweifungen zurück, und der französische Diplomat Campredon muß dasselbe er- zählen, was wir schon von dem Deutschen Bergholz gehört haben. ,,L'on but beaucoup," damit schließt jeder Bericht des Franzosen über ein Fest am Zarenhofe 3); die Kufe mit Schnaps, von Grenadieren getragen, erscheint wieder; man muß sich wie früher auf Befehl berauschen und um dem Zaren zu ge- fallen sich den Tod in den Hals trinken. Der sächsische Ge- sandte sucht am 22. August 1724 um eine Audienz nach; aber er erhält zur Antwort, daß der Zar seit sechs Tagen in- folge der Orgien, die anläßlich der Einweihung einer Kirche stattfanden man vertrank 3000 Flaschen Wein das Bett hüten müsse. 1725 werden die Verhandlungen wegen des Abschlusses der ersten französisch-russischen Allianz geführt ; plötzlich tritt eine Stockung auf russischer Seite ein. Camp- redon ist beunruhigt und urgiert die Entscheidung; nach langem Zögern gesteht endlich Ostermann : Der Zar amüsiert sich ; begleitet von zweihundert Personen wandert er von Haus

1) Vgl. die Zeitschrift „Konstantinopel und St. Petersburg", II. Jahr- gang, II. Band, 1806, S. 36.

2) Kb:ii'1., ein leicht gegorenes Roggenwasser; bekanntlich ein russisches Nationalgetränk wie Mej,'!», Meth, oder lail , Tee. Diese Nationalgetränke haben aber keine Beziehung zur Sittlichkeit, wie der Branntwein. Vom Tee meinen die Russen, er paralysiere die Trunkenheit durch Schnaps; man nimmt ihn vor dem Saufen als Vorbeugungsmittel, oder nachher, um die Dünste des Rausches zu zerteilen. Vgl. J. Ph. Kilburgers Unterricht von dem russi- schen Handel, in Büschings Magazin III 271.

3) Louis XV et Elisabeth de Russie, etude sur les relations de la France et de la Russie, par Albert Vandal. jemc ed. Paris 189O, p. 47.

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zu Haus; es gibt Musik und Gesang, Essen und Trinken; aber für Regierungsarbeit hat der Zar keine Zeit. Die Diplomaten müssen mithalten und beklagen sich deswegen, denn es geht ans Leben. Der englische Gesandte Withworth hat den Mut, die Teilnahme an den Saufgelagen abzulehnen, und seither wird auf die Gesellschaft der ausländischen Regierungsvertreter nicht mehr reflektiert.

Der Zar vergißt auch seine lieben Matrosen nicht. Wenn ein Schiff abgeht, erhält es von Peter tausend Rubel für Weine. Das Beispiel des Zaren müssen die Großen befolgen; Romadanowskij läßt die bei ihm als Gäste Erscheinenden am Eingang des Hauses mit einer Riesenschale Branntwein will- kommen heißen, die ein gezähmter Bär grinsend präsentiert.

Das Sittenbild, das hier gezeichnet ist, übt noch eine be- sondere Wirkung durch das starke Hervortreten des weib- lichen Elementes bei den Trinkgelagen. Es ist schon früher angedeutet worden, daß sich zu den zarischen Kronsschenken die Weiber aus dem Volke nicht weniger drängen als die Männer. Aber die Trunksucht der Frauen findet man auch in den vornehmsten Kreisen der Gesellschaft. Als Woldemar Christian Güldenlöwe Graf von Schleswig-Holstein, der nach Moskau gekommen ist, um vom Zaren Michael die Hand der Prinzessin Irene zu erbitten, auffallend lange zögert, Ernst zu machen, fragt ihn eines Tages ein Würdenträger des Zaren : „Ist Ihro Gräfl. Gnaden vielleicht zu Ohren gekommen, daß die Prinzessin nicht schön wäre? Zudem möchten Ihro Gräfl. Gnaden sich auch nicht die Gedanken macheri, daß die Prin- zessin sich nach moskowitischer Art den anderen Weibern gleich ofte voll und truncken söffe, gar nicht: Sie lebt mäßig und ist ihre Lebenstage nicht mehr denn nur einmal truncken gewesen."!)

Am Hofe Peters des Großen, des Enkels des Zaren Michael, ist man nicht mehr so ängstlich um den guten Ruf der rus- sischen Frau besorgt. Beim Zwangsaufen gelegentlich der Feste im Zarenschlosse werden, wie Bergholz berichtet 2), „nicht ein-

1) Nachricht von des Grafen von Schleswig-Holstein Reise nach Ruß- land, in Büschings -Magazin X 225.

2) Bei Büsching XIX 45.

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mal die allerzartesten Damen dispensiret, weil die Zarin es bis- weilen selbst mit thut." An Galatagen trinken die Frauen in separaten Gemächern, zu denen kein Mann, der Zar aus- genommen, Zutritt hat. Bei intimen Gelagen aber gibt es keine Trennung der Geschlechter; da müssen sich die Frauen mit den Männern an dieselbe Tafel setzen und dürfen im Trinken nicht hinter dem starken Geschlecht zurückbleiben. Die Tochter des Vizekanzlers Schaf irow wagt eine Tscharka^) Branntwein auszuschlagen; der Zar schreit sie an: ,,Du ver- dammte hebräische Kreatur 2), ich werde dich gehorchen lehren!" und versetzte ihr zwei Ohrfeigen. Und sie muß trinken, bis sie umfällt.

Da liegen oft dreißig oder vierzig der vornehmsten Da- men berauscht und erbrechend unter den besoffenen Männern. Ist das hehre Ziel glücklich erreicht, so packt man die Weiber in Wagen und schickt sie ihren Familien zurück. Die Frau, die eine Einladung zu einem zarischen Trinkfeste erhält, darf sie unter keinem Vorwande ablehnen. Die Frau des Mar- schalls Olfusjew läßt sich entschuldigen; sie könne nicht kom- men, weil sie einem freudigen Ereignis entgegensehe. Der Zar schickt nochmals um sie; die Entschuldigung ist ihm nicht genügend. Verzweifelt wendet sich die Frau an die Zarin und bittet sie unter Tränen, vom Trinken wegbleiben zu dürfen; die Zarin geht zum Kaiser, umsonst: Die Unglück- liche muß kommen ; ihr Fembleiben, meint Peter, könnte böses Blut machen, weil sie als eine geborene Ausländerin vor rus- sischen Frauen einen Vorzug für sich in Anspruch nehmen .wolle. Nach der Rückkehr von diesem Feste erleidet Frau Olfusjew eine Fehlgeburt; sie legt das Embryo in Spiritus und schickt das Glas dem Zaren. 3)

Jede Gelegenheit wird benutzt, um Damen zum Trinken einzuladen; namentlich am Geburtstag und Namenstag der Zarin fließt in den Frauengemächern der Branntwein in Strö-

1) Hapa, lapna oder 'japo'iKa, Schale oder Schälchen.

2) Schafirow, ein getaufter Jude, gehörte zu den bedeutendsten Günst- lingen Peters.

3) Bergholz bei Büsching XIX 157.

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men, gewöhnlich ein ganz ordinärer Kornbranntwein. Am S.Dezember 1721 berichtet Campredoni): „Das letzte Fest zum Namenstag der Zarin war großartig nach Landessitte: die Damen tranken viel." Katharina I. selbst ist eine Trinkerm erster Klasse, wie Bassewitz konstatiert; und sie dankt diesem Talent nicht zum wenigsten die Ausdauer in der Gunst des sonst so flatterhaften Gemahls. Einmal sitzt sie an fröhlicher Tafel und beginnt plötzlich zu weinen; ein Töchterchen ist ihr vor einigen Tagen früh verstorben, und die Erinnerung an das geliebte Wesen bedrückt ihr Herz. Die Rührseligkeit der Zarin droht die Stimmung zu verderben. Da reicht Graf Sapieha der Kaiserin ein Glas Wein und ruft ihr einen Trink- spruch zu; top, sagt sie, wischt die Tränen fort und leert das Glas auf einen Zug.

Selbst Zarin geworden, setzt Katharina die Tradition und Sitten Peters fort. Campredon meldet am 14. Oktober 1725: „Die Herrscherin überläßt sich den Vergnügungen bis zur Zerstörung ihrer Gesundheit," und am 22. Dezember desselben Jahres: „Die Zarin ist krank infolge einer Orgie am Andreas- tage." 2) Und das geht so fort die ganzen zwei Jahre ihrer Alleinherrschaft. Der dänische Gesandte Westphal berechnete, daß der zarische Hof während dieser zwei Jahre für Ungar- weine und Danziger Schnäpse eine Million Rubel verausgabte; die gesamten Revenuen des Staates betrugen damals zehn Mil- lionen Rubel jährhch.3) Auch Elisabeth die jüngere Tochter Peters und Katharinas, die später Zarin wurde, soll als Prin- zessin Unsummen für Spirituosen verbraucht hjben. Nach Eini- gen ist sie auch als Zarin eine starke Trinkerin gewesen. Sie hat sich, so behauptet man, durch ihre maßlose Trunksucht die Krankheiten zugezogen, an denen sie schließlich in abscheu- licher Weise zugrunde ging."^) Einige andere Zeitgenossen loben indessen gerade ihre Nüchternheit. So sagte Mardefeld 1742: „Gleich ihrer Mutter Katharina versagt sie sich nichts, den

1) Waliszewski, Pierre le Grand, 462.

2) Waliszewski, L'hewtage de Pierre le Grand, 15.

3) Korsakow, Thronbesteigung der Zarin Anna, 1880. Anhang S.

4) Sugenheim, Rußlands Beziehungen zu Deutschland, I 279.

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Bacchus ausgenommen;" und Marquis de l'Hopital schrieb 1758: „Elle mange peu, eile boit ä son ordinaire de la petita biere et du vin de Hongrie. En tout eile est sobre."

Der Verkommenheit des Hofes entsprachen die Sitten der Gesellschaft und des Volkes. Katharina II. traf das rich- tigste, als sie den Truppen zu saufen gab, um sie für sich zu gewinnen.!) Am Tage ihrer Thronbesteigung standen alle Schenken, Weinkeller und Wirtshäuser den Soldaten offen. Die Soldaten und Soldatenfrauen trugen eimerweise Wein, Branntwein, Bier, Meth und Champagner nach Hause und gössen alles durcheinander in Zuber und Fässer, die sich ge- rade vorfanden. Die Bauern standen den Soldaten nicht nach. Die Trinkgelage waren allgemein und die Straßen bedeckt mit Betrunkenen, die sich nicht mehr begnügten, die Getränke aus den Kronsniederlagen zu holen, sondern auch die Privat- schenken und Herbergen stürmten und plünderten; die Händ- ler wagten nicht Widerstand zu leisten und gaben alle ihre Vorräte freiwillig her. Die Soldaten soffen zur Selbstbelohnung der Dienste, die sie dem Vaterlande durch die Entthronung Peters III. geleistet zu haben glaubten, das Volk trank auf das Wohl der neuen Kaiserin, die so freigebig war. Die Polizei selbst wurde von der Sauferei mitgerissen, kümmerte sich nicht mehr um die Ordnung in der Stadt ; ihre Organe lagen berauscht neben den Popen, Soldaten, Bauern und Weibern in den Straßenrinnen. Der Festtag wurde zu einem Tage beispiellosen Unfugs. Am späten Abend jagten betrunkene Husaren durch Petersburg nach der Ismailowschen Sloboda und riefen das Ismailowsche Regiment, welches am meisten soff, zur Rettung der Zarin auf. „Die verfluchten Preußen," schrien sie, , .wollen un,s unsere Mutter entführen." Die be- trunkenen Ismailowzen verlangten die Kaiserin zu sehen und drohten mit Krawallen, wenn sie sich nicht zeige. Vergebens stellte man ihnen vor, die Kaiserin schlafe längst. „Kapitän Passeck," erzählt Katharina selbst, ,,trat um Mitternacht in mein Schlafzimmer und weckte mich, erzählend, daß das Ismai-

1) B. von Bilbassoff, Geschichte Katharina II. Deutsch von P. v. R. des russischen Originals Band II, erste Abteilung. Berlin 1893. S. 105.

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lowschc Regiment, schwer betrunken, nach mir verlange. Ich mußte aufstehen und zu den Soldaten fahren. Aber als ich mich ihnen gezeigt und gesagt hatte : ,,Nun gut, ich danke euch, jetzt geht schlafen," gingen sie ruhig wie die Lämmer aus- einander."

Katharina II. selbst war keine Saufheldin. Desto trauriger war es um ihre Umgebung bestellt. Patjomkin beging die furchtbarsten Exzesse. Als Orlow von der Zarin seiner Stel- lung als Liebhaber enthoben wurde, rächte er sich dadurch, daß er sich in allen Schenken mit Huren der niedrigsten Sorte herumwälzte und das Vermögen, das er von Katharina erwor- ben hatte, versoff. 1) Friedrichs Gesandter, Solms, schrieb über den Kanzler Bestuschew^) : „Der alte Schwätzer ertränkt den letzten Rest seines Verstandes in starkem Liqueur." Der Dich- ter Lomonossow untergrub seine Schaffenskraft und seine Ge- sundheit durch seine Leidenschaft für geistige Getränke. 3)

Die historische Entwickelung der Trunksucht und ihre systematische Züchtung durch die Regierung lassen es be- greiflich erscheinen, daß sich dieses Laster im russischen Volke so verbreiten konnte. Wenn man der Statistik glauben will, so ist es in Rußland allerdings weniger schlimm als in anderen Ländern. So verbraucht Deutschland jährlich rund drei Mil- liarden Mark für geistige Getränke. Auf den Kopf kommen in Deutschland 125 Liter Bier, 62/3 Liter Wein und 4I/2 Liter Spirituosen. In England kommt auf den Kopf ein Konsum von 142 Liter Bier, 2 Liter Wein und 5 Liter Spirituosen. Frank- reich hat einen geringeren Bierkonsum, braucht dagegen 1 1 1/2 Liter Wein und fast 5 Liter Spirituosen per Kopf. In der Schweiz rechnet man auf den Kopf 67 Liter Wein. 70 Liter Bier und mehr als 6 Liter Spirituosen. Belgien hat einen ge- ringen Weinkonsum, aber einen Bedarf von 219 Liter Bier und 92/3 Liter Spirituosen. In Italien verbraucht man 88 Liter Wein, fast gar kein Bier und nur i Liter Schnaps. In Öster-

1) Waliszewski, Autour d'un tröne 91.

2) Ebenda, 35..

3) Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur, 308.

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reich-Ungarn kommen auf den Kopf 15 Liter Wein, 46 Liter Bier und 1 1 Liter Spirituosen. In Schweden, Norwegen, Däne- mark braucht man wenig Wein und Bier, aber viel Spirituosen, so in Dänemark 16 Liter für jeden Einwohner. Für Rußland hat man nur 4 Liter Bier und bloß 2I/2 Liter Spirituosen per Kopf festgestellt. Niemals hat aber die Statistik so getäuscht wie in diesem Falle. Petersburg allein verkauft jährlich für 300 Millionen Rubel geistiger Getränke. Mehr als 200000 Be- trunkene werden in dieser Stadt in einem Jahre polizeilich ein- gezogen; davon sind ein Fünftel Frauen. Es gibt Tage, an denen mehrere tausend Personen wegen Volltrunkenheit arre- tiert werden müssen. In den Petersburger Krankenhäusern sind jährlich 2500 Alkoholiker untergebracht. Man zählt fer- ner im Reiche jährlich wenigstens zweitausend plötzliche Todesfälle infolge allzu nachdrücklichen Trinkens. Die Ein- nahmen des Staates aus der Branntweinsteuer betragen jähr- lich zweihundert Millionen Rubel, sie decken ein Fünftel des gesamten Budgets. Fast die gleiche Summe verdienen die Zwischenhändler, so daß das russische Volk jährlich eine halbe Milliarde für Schnaps aufbringen muß.

Die früher angeführte Statistik entspricht ziffermäßig mög- licherweise der Wahrheit, aber dann bedarf sie nachfolgender Erklärung : in Rußland wird nicht zu allen Zeiten gleichmäßig getrunken. Der Muschik enthält sich wochenlang des Trin- kens, spart jeden Kopek und wartet einen Feiertag ab, an diesem aber trinkt er bis zur Bewußtlosigkeit. Für Ostern besonders rüstet sich alles schon lange vorher; dann wandert man mit Weib und Kindern zur Schenke und macht sich einen guten Tag. Auch wird nicht in allen Gegenden des Reiches gleich stark getrunken. So heißt es von den Bewohnern der Ukraine!) : „Die Ukraine ist das Land der Fressereien. Die Einwohner lieben Essen, Trinken, Wollust. Sie sind fleißig, studieren, strengen sich sehr an, und werden am Ende gemeinig- lich stumpf im Hirne, oder überlassen sich dem Trünke." Die Kleinrussen trinken beständig, aber mäßig. Als die ärgsten

1) Taurische Reise der Kaiserin von Rußland Katharina II. Aus dem Englischen übersetzt. Koblenz 1799. S. 49.

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Säufer gelten die Weißrussen; sie sind ganz entnervt i); sie trinken am meisten und immerfort, an Feiertagen, gewöhn- lichen Sonntagen, und an Werktagen. Der Großrusse endlich trinkt nicht beständig, nicht täglich. Beginnt er aber, so hört er nicht bald auf, trinkt tagelang, selbst wochenlang fort, bis er das Letzte versoffen hat und buchstäblich nackt aus der Schenke hinausbefördert und auf die Straße geworfen wird. Es ist zwar den Schenkwirten verboten, Pfänder anzunehmen, aber niemand kümmert sich um das Verbot. Und damit ist der größten Verderbnis die Bahn freigegeben. Der Schenkwirt nimmt statt Geld was man ihm bringt : Naturalien, Korn, Talg, Brot, Flachs, Pelz, Kleidungsstücke, selbst die Mützen oder Stiefel; ist die W^are noch so schlecht, ein Glas Schnaps kann sie doch bezahlt machen. Der Preis muß stets im Vor- hinein erlegt werden. Da sieht man, wie ein Besoffener herein- wankt, sein letztes Kleidungsstück auf den Schanktisch wirft und das Maß Schnaps dafür eintauscht.

Der Reisende kann nur mit Schaudern an einem Kabak vorübergehen, wenn er einmal in seinem Leben einen Blick in eine solche Lasterhöhle geworfen hat. In den Dörfern ist der Kabak gewöhnlich das letzte und elendeste Haus, der Wirt der gemeinste Kerl der ganzen Gegend. In den letzten Jahren sind in den Schenken ganz neue sonderbare Typen aufgetaucht. Da erscheinen langhaarige Studenten, die dem besoffenen Volke gegen Bezahlung von einem Kopeken per Zuhörer, die neuesten Nachrichten aus den Zeitungen, Strafgesetze, Ge- schichten und Märchen vorlesen; zuweilen wagt sich auch ein Revolutionär hinein, um die trägen Massen aufzurütteln.

So traurig die Szene sein mag, so sehr dieses Laster maß- loser Trunksucht auch die Ursache zu Verbrechen und Unsitt- lichkeit ist, so muß doch anerkannt werden, daß es. im Kabak selbst niemals zu Schlägereien kommt. Wenn der Russe be- soffen ist, wird er zärtlich, umarmt seinen schlimmsten Tod- feind. Er sucht im Rausche die Glückseligkeit, die ihm das Leben versagt, und findet sie. ,, Unser Volk," sagt Koschelew, „trank stets und trinkt jetzt unter dem Drange, im Branntwein

1) Haxthausen, Studien II 512.

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Vergessen seiner wirklichen Lage zu finden. "i) Der Bauer trinkt, um zu vergessen, daß Frau und Kinder hungern; der Hand- werker und Fabriksarbeiter tragen den kargen Arbeitslohn, der nicht ausreicht für die schmälste Kost einer Woche, am Sonnabend Abend in die Schenke, um wenigstens eine einzige glückliche Nacht zu haben; es ist ihnen dann gleichgültig, daß sie in der kommenden Woche noch mehr hungern müssen. Man schleppt die Kinder, namentlich wenn sie in den Fabriken arbeiten, in die Kabaki mit ; Ha,T,ooHo no;i;Kp'fen.TraTBCJi, man muß sich frühzeitig stärken, sagt man. Beide Geschlechter huldigen dieser Stärkungsmethode. Wie die Bauern und Hand- werker denken auch die Polizisten und Soldaten, die Beamten, die Offiziere, bis zu den Höchsten hinauf. Auf dem Kriegs- marsch bleibt man plötzlich stehen und muß einen unfrei- willigen Halteplatz wählen, weil die Hälfte der Soldaten vor Trunkenheit umfällt. Admiral Roschdestwenskij sieht in seiner Trunkenheit im englischen Kanal harmlose Fischerboote für japanische Torpedoboote an und provoziert einen gefährlichen Zwischenfall; Admiral Nebogatow erwacht bei Tschusima aus seinem Rausch erst, als alles schon vorüber ist. Bei Gericht erscheint ein Polizist, um eine wichtige Zeugenschaft abzu- legen, und sinkt dem Richter taumelnd in die Arme; auf der Bühne stürzt ein berühmter Schauspieler im unrichtigen Moment zur Erde, weil er in dem Zwischenakt statt eines Glases Wasser ein Glas Schnaps geleert hat. ,,Der Muschik kann nicht zu Gott beten, bevor er sich betrunken hat," sagt der Russe Leskow. Aber so will es ja die Regierung haben : Ein Student, der nicht trinkt, ist verdächtig als Nihilist. Eine Dorf- gemeinde, in welcher Nüchternheit herrscht, ist eine auf- rührerische Gesellschaft und muß unter Belagerungszustand gestellt werden. Eine Sekte, welche die Trunkenheit verab- scheut, verdient die Ausrottung mit Feuer und Schwert.

Das russische Volk hat sich dem Regierungsprinzip nur zu willig angepaßt. Das schlimmste bei alledem ist, daß man

1) Dasselbe, wie dieser Russe, schrieb schon der Franzose Custine vor vielen Jahrzehnten: ,,Le plus grand des plaisirs de ce peuple, c'est l'ivresse, autrement dit, l'oubh." Custine III 309.

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den Trinkern seit neuester Zeit, um sie desto schneller zu ruinieren, den allerschlechtesten Stoff verabreicht. Man nimmt keinen Komspiritus als Urstoff, sondern zieht den Branntwein aus Kartoffeln. Und diesen Schnaps verfälschen die Wieder- verkäufer noch mehr durch scharfstoffige und ätzende Mit- tel, wie Schwefelsäure.!)

Alexander III. berief bekanntlich ein Mäßigkeitsparlament, um der Trunksucht entgegenzuarbeiten. Unter Nikolaj II. hat dann Witte im Jahre 1900 ein ständiges Temperenzkomitee begründet. Jede russische Stadt erhielt eine Filiale dieses Komitees. Witte stellte als Grundsatz auf, daß in Rußland Mangel an guter Nahrung und vernünftigen Vergnügungen die Ursachen des Übels seien. In Moskau und Petersburg zunächst schuf man deshalb Volkshäuser, wo die Arbeiter für 25 Kopeken Wohnung und ganze Kost für einen Tag, für 5 Kopeken ein Nachtlogis erhielten. Ein Voikshaus in Moskau war zugleich Restaurant, Arbeiterklub und Bibliothek. Im Petersburger Volkshaus gab es sogar einen Konzertsaal und ein Theater für 2000 Personen. Konzert und Theater sollten gratis sein. Im ersten Jahre spendete Witte vier Millionen Rubel für das gute Werk, und er sagte für die Zukunft mehr zu, aber nur entsprechend den Erträgnissen des Branntweinmonopols ! Eine wahrhaft russische Methode : eine Prämie auf die Steigerung des Schnapskonsums zu gunsten der Mäßigkeitsvereine. Es war übrigens alles nur eine Komödie, von der kaum eine Er- innerung mehr vorhanden ist. Die paar Millionen sind irgendwo kleben geblieben, und das Prinzip der Regierung ist mehr als je zuvor: die Trunksucht allein rettet die Autokratie vor dem Untergang; ein entsittlichtes Volk macht keine Revolution.

Das Volk soll trinken und huren. So unzuverlässig und unsicher sonst die russische Statistik sein mag, in dieser Be- ziehung wird sie lehrreich. Sie zeigt uns, daß in den Monaten, wo die Trunksucht am stärksten grassiert, also in den Monaten Dezember, Januar, Aoril und Mai, in denen die wichtigsten russischen Feiertage vorkommen, die Polizei die meisten Scheine für Prostituierte auszufolgen hat ; in diesen Monaten gibt es auch

1) Buddeus, St. Petersburg im kranken Leben, I 56.

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die meisten venerischen Erkrankungen; und schließlich sind die meisten außerehelichen Geburten ebenfalls auf die Epoche der stärksten Saufwut zurückzuführen.

Seit jeher hat man in Rußland den Geschlechtsakt mit der Saufwut zu verbinden sich bemüht. In den Hochzeitsnächten gab es Orgien ohnegleichen. Es war eine alte löbliche Sitte, den Bräutigam so volltrunken zu machen, daß ihm die Kraft fehlte, in der ersten Nacht seine junge Gattenpflicht zu er- füllen. Peter der Große veranstaltete solche Trinkgelage mit besonderer Vorliebe. Als der Sohn seines Günstlings Schafirow sich vermählte, ließ er dem Bräutigam so heftig zusetzen, daß man ihn schon dem Tode verfallen glaubte. Nachdem man ihn mit Mühe und Not wieder zum Leben zurückgerufen hatte, legte man ihn zur Braut und entfernte sich mit dem freudigen Bewußtsein, „daß die junge Frau für die erste Nacht wohl wenig Gutes von ihm zu erwarten hätte. Am folgenden Mor- gen," erzählt Bergholz in seinem Tagebuch i), „sagten ihm seine Freunde, alle hätten die Braut sehr beklagt, weil sie ebensosehr würde von ihm aufgestanden sein, wie sie sich bei ihm niedergelegt." Der junge Schafirow aber erwiderte : „Ey, ey, ihr Narren, ich habe sie elfmal geküsset und umge- wendet." Man erzählte dies dem Zaren, der es nicht glauben wollte, und er ging, wie unser Gewährsmann berichtet, ,,die junge Frau selbst auszuholen; glaubte es endlich, als diese die Versicherung des jungen Ehemannes bestätigte."

Nicht so gut wie dem jungen Schafirow erging es um dieselbe Zeit dem Herzog von Kurland, der sich mit Peters Nichte, der späteren Zarin Anna Iwanowna vermählte ; er trank in der Hochzeitsnacht so viel, daß man der Braut eine Leiche ins Hochzeitsbett legen mußte. Die Erinnerung an dieses Ereig- nis wirkte so nachhaltig auf die Witwe, die niemals Gattin gewesen, daß sie als Kaiserin an ihrem Hofe keinen Brannt- wein duldete. Bei ihren Festen ließ sie nur französische Weine aufstellen. So wurde jener tragische Vorfall gewissermaßen Anlaß zur Verfeinerung wenigstens des höfischen Trinker- geschmackes.

1) Bei Büsching XIX 66. Stern, ficschichte der öffentl. Sittlichkeit in Ruüland.

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Im alten Rußland war die Auswahl der Weine gering ge- wesen. Aus dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts gibt es eine authentische Liste der in Rußland gebrauchten Wein- sorten. Im Jahre 1 597 schickte nämlich der Zar aus dem Hof- keller ein Geschenk für den neu angekommenen österreichi- schen Gesandten, bestehend in: Romanee, Rheinwein, Muska- teller, weißem Franzwein, Baster, Alikante, Malvasier, Meth, Kirschmeth, Johannisbeerwein, Wacholderwein, Schlehenwein, Himbeerwein, Bojarenwein und Fürstenwein. i) Romanee war Burgunderwein, von deutschen Kaufleuten eingeführt; Baster, deutsch Bastardwein genannt, ein Kanarienwein. Peter der Große bewirtete seine Gäste bloß mit Prostaja wodka, ordi- närem Branntwein, Kornbranntwein 2) und Ungarweinen, na- mentlich Tokajer; französische und Rheinweine liebte er nicht.3) Als die Ärzte ihm die starken Spirituosen verboten, bequemte er sich indessen dazu, in den Kornbranntwein etwas Medoc und Gabors zu mischen.^) Auch an den Tafeln der russischen Großen brachte man früher die Toaste nur mit Ungarwein aus. Erst unter Anna Iwanowna änderte sich dies. Franzö- sische Weine wurden obligat, Burgunder und Champagner kamen in Massen nach Rußland. Den Champagner hat der französische Gesandte Marquis de la Chetardie in eigener Per- son importiert ; er brachte in seiner diplomatischen Bagage nicht weniger als 16800 Flaschen mit. 5)

Es zeigt sich glücklicherweise, daß man auch mit fran- zösischen Weinen Orgien feiern kann. Bei einem Feste, das am Jahrestage der Thronbesteigung Annas im Moskauer Zaren- palaste gegeben wird, geht es zu wie in den guten alten Zeiten der Herrschaft des Branntweins am Hofe Peters : die höchsten Würdenträger, Militärs, Geistlichen und die vornehmsten Damen betrinken sich bis zur Bewußtlosigkeit; „es wäre herr- lich gewesen," berichtet Ssaltykow als Teilnehmer, „wenn nicht ein General sich geweigert hätte mitzutrinken;" dieser bringt

1) Karamsin, deutsch IX 309, französisch X 365.

2) Waliszewski, L'heritage de Pierre le Grand, 273.

3) Bergholz bei Büsching XIX 94.

4) Waliszewski, Pierre le Grand, 209.

5) Waliszewski, Autour d'un tröne, 34.

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eine Störung in das harmonische Bild, der Gk)uverneur ver- sucht vergebens ihn zu überreden durch den Hinweis, daß es PfHcht eines patriotischen Russen sei, auf die Gesundheit der Zarin zu trinken; es bleibt nichts übrig, als den einzigen Nüch- ternen aus der Gesellschaft hinauszuwerfen.

Die russischen Frauen jener Epoche, welche den Brannt- wein zeitweilig wenigstens von den Tafeln der Vornehmen verbannen mußten, gaben ihm ein Asyl in ihren Toiletten. Sie wuschen sich zur Verschönerung des Teints mit einer Lösung von Kampescheholz in Branntwein und tranken heim- lich, was nach der Operation übrig blieb. i) Von den vornehmen Frauen nahmen die Weiber des Volkes den Modus an, Koket- terie und Trunksucht zu vereinigen; und es war nichts Seltenes, daß man auf den Straßen von Mädchen und Frauen um „ein paar Kopeken für Schönheitswasser" angebettelt wurde. Odeure und andere mit Spiritus bereitete duftende Essenzen treten auch heute, besonders im ostasiatischen Rußland, wenn dort die Getränkevorräte zur Neige gehen, an die Stelle von Schnäp- sen. In Ochotsk war im Winter 1902 der Schnaps ausgegangen; da stellten die Wirte in den Restaurants englische Odeure, das Fläschchen zu vier Rubel, auf die Speisekarte. Und so tief und unbezähmbar nistet die Trunksucht im Russen, daß eine der Intelligenz angehörige Person selbst von diesem Surrogat zwei- undzwanzig Flacons austrank, infolgedessen erkrankte und starb. 2)

1) \gl. die Mitteilungen des dänischen Reisenden Peter von Haven, bei Büsching X 281.

2) „JlcuihH. BtcTHHKT.", 1902. Vgl. Lodzer Zeitung vom 29. XI. = 12. XII. 1902, Korrespondenz aus Ochotsk.

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i8. Das Bettelwesen.

Bettler im alten Rußland Maßregeln Peters des Großen gegen Bettler und Almosenspender Wohltätigkeitsakte der Zarin Katharina I. Gläubiger und Schuldner Die Sklaverei der Insolventen Regierungsmethode billiger Ernährung der Gefangenen Charakter der russischen Bettler Ihre Be- scheidenheit — Ihr Sprüchlein Moderne Bettlerorganisation Sammler von frommen Spenden Die Kubraki von Mstislaw Die Lodyry oder Labory Entstehung von Bettlerzünften Die Abbrändler Schuwaliki und Sachodnizi Gusljaki Krüppel Krüppelfabriksorte Rostow und Sudogda Hauptziele der Bettler Bettelwesen und Unsittlichkeit Schamlosigkeit in den Asylen Lasterhöhlen in Charjkow und Riga Sta- tistisches — Freiwillige und unfreiwillige Bettler.

Eine selbstverständliche Folge der Ehrlosigkeit, Lügen- sucht, Stehlsucht, des Sportelnehmens, der Korruption und der Trunksucht ist- das Bettelwesen. Betteln ist keine Schande, sagt man in Rußland. Es ist dabei keine Rede von denen, die aus Not betteln, sondern von jenen Organisierten, die den Müßiggang' zu einer lobenswerten Tugend erheben, auf die Leichtgläubigkeit ihrer Mitmenschen spekulieren und aus der Mildtätigkeit der anderen Kapital für sich schlagen. Als Bett- ler ziehen sie durch die Lande; als Reiche kehren sie heim, um zu verprassen, was sie erobert haben. Das Bettelwesen, das hier geschildert wird, ist nicht aus dem Elend entsprungen, nicht eine Begleiterscheinung der ewigen Hungersnot, welche Rußland seit der Begründung des Reiches fast alljährlich, bald in diesem, bald in jenem Gouvernement heimsucht; son- dern ein Laster, das auf diesem Boden der Lüge und Fäulnis noch besser in den Jahren der Fülle und des Reichtums ge- deiht, als in den mageren Zeiten.

Der Engländer Fletcher berichtete, daß schon im sech- zehnten Jahrhundert die Bettler in Rußland eine wahre Land- plage waren. 1) In Moskau wurde man auf Schritt und Tritt von Landstreichern um Almosen angefleht. Die des Tages bettelten, gingen nachts auf Raub und Diebstahl aus. Zu Zeiten

1) Fletcher, Of the Russe Commoa-Wealth, London 1591. Karam- sin, deutsch IX 315, französisch X 375.

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Peters des Großen wimmelte es in Moskau ebenfalls von sol- chem Gesindel. Der Zar verbot nicht bloß das öffentliche Betteln, sondern bestrafte auch jeden, der einem Bettler auf der Straße ein Almosen verabreichte ; wer nur einen Kopeken gab und von der Polizei dabei ergriffen wurde, mußte fünf Rubel Strafe zahlen. Da dieses Mittel wohl die Wohltätigkeit einschränkte, die Zudringlichkeit der Bettler jedoch nicht im geringsten mäßigte, befahl Peter: alle Bettler, die man auf den Straßen aufgriff, in die Spitäler zu schleppen. Diese Bettlerasyle müssen einen gar üblen Ruf gehabt haben, denn es wird erzählt, daß viele Faulenzer sich schleunigst eine ehr- liche Arbeit suchten aus Furcht, in die Spitäler gesteckt zu werden. 1) Die Strenge Peters des Großen gegen die Bettler wurde gemildert durch das Wohlwollen, welches seine Ge- mahlin Katharina allen Almosenjägem entgegenbrachte. Das Vorzimmer im Appartement der Kaiserin war stets von so vielen Bettlern erfüllt, daß man gewöhnlich Mühe hatte, sich durch sie hindurchzuwinden. 2) In dem Ausgabenbuch der Zarin, das in dem Staatsarchiv aufbewahrt ist, findet man namentlich aus der ersten Zeit ihrer Alleinherrschaft zahlreiche Wohl- tätigkeitsakte verzeichnet : bald gibt sie einen Dukaten einem Mädchen, das plötzlich seine Eltern verlor ; zwei Dukaten einem Muschik, der seine Kopfsteuer nicht bezahlen kann; einen Dukaten einem angeblichen Abbrändler. Diese Humanitäts- anwandlungen erscheinen in einem wesentlich schwächeren Lichte, wenn man in dem Ausgabenbüchlein der Kaiserin gleichzeitig folgende famose Posten entdeckt : zehn Dukaten einem Bauer, der eine Stange heraufkletterte; einmal zehn, einmal fünfzehn, einmal gar zwanzig Dukaten der Fürstin Anastasia Galitzyna, weil sie zwei Glas Bier oder zwei Glas Wein oder eine mächtige Portion Branntwein auf einmal aus- trank.

Wie alle anderen Laster des russischen Volkes hat die Re- gierung auch die Bettelei gern gefördert. Bis zu den Zeiten der Zarin Anna Iwanowna gestattete das Gesetz dem Gläubiger,

1) Le Bruyn, Voyages, III 152.

2) Waliszewski, 1,'heritage de Pierre le Grand, 13.

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seinen zahlungsunfähigen Schuldner als Sklaven zu verkaufen; diese Sklaven sperrte man in ein Depot, aber man kümmerte sich nicht darum, ob sie dort auch zu essen bekamen, so daß viele unter Lebensgefahr entflohen und als Bettler und Land- streicher die Gegend unsicher machten. Die Regierung selbst gab den Sklavenhaltern das seltsamste Beispiel. Um die Kost für die Gefangenen zu ersparen, wurden die letzteren, an Händen und Füßen gefesselt, von ihren Wächtern in den Straßen umhergeführt, damit sie sich ihr Brot erbettelten i) ; wen ihre hohlen Wangen nicht rührten, der wurde durch den Anblick der blutigen Peitschen- und Knutenfurchen auf den Rücken der Unglücklichen, die halb nackt in der bittersten Kälte umherzogen, gewiß zur Mildtätigkeit angespornt; und die Regierung brauchte sich um die Verproviantierung der Gefängnisse nicht mehr zu sorgen.

Das Charakteristische an den russischen Bettlern ist die Bescheidenheit ihrer Ansprüche. Sie sind mit der geringsten Gabe zufrieden, im Falle der Verweigerung nur betrübt, aber nicht grob. 2) Der russische Bettler, er mag noch so hungrig, noch so zudringlich sein, wird selbst dort, wo er durch Schrek- ken wirken könnte, nie zu einer Drohung Zuflucht nehmen; er wagt niemals den Ausruf: ,,Dein Geld oder dein Leben," sondern entsprechend der passiven Natur des Volkes ist sein letztes Wort seit jeher^): ,, Gib mir etwas oder schlag' mich tot!"

Obgleich das Laster der Bettelei ein Jahrhunderte altes und traditionelles ist, so muß man doch feststellen, daß es in früheren Zeiten kein so organisiertes gewaltiges Bettlerheer gegeben hat wie im modernen Rußland. Ganze Dörfer, Städte, Bezirke sind nur von Leuten bewohnt, die das Betteln als Beruf betreiben und zu bestimmten Zeiten aus ihrer Heimat nach den verschiedensten Richtungen ausschwärmen.*) In allen diesen Bettelstammbezirken erbt sich das Bettlerhandwerk von einer Generation auf die andere fort. Ein Handwerk ist es,

1) Waliszewski, L'heritage, 198.

2) J. G. Kohl, Südrußland, II 28, erzählt ein Beispiel davon.

3) Schon Giles Fletcher zitierte dieses Wort. Vgl. Karamsin a. a. O. *) Roskoschny, Das arme Rußland, Leipzig 1889, S. 176 190, hat eine

so ausführliche und interessante Beschreibung hierüber geliefert, daß füglich

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da es große Übung erfordert; aber es ist auch eine Kunst, welche die feinsten Kniffe aufweist; ein Studium, das immer ergänzt werden muß durch die Erfahrungen und Bedürfnisse der Epoche.

Da ist der Ort Mstislaw in Weißrußland, die Heimat der sogenannten Kubraki, die im Frühjahr ausziehen, um Spen- den zur Stärkung der Orthodoxie und zum Baue von russischen Kirchen in den katholischen Provinzen zu sammeln. Ein Ku- brak braucht ein Betriebskapital, ein paar hundert Rubel: für den Paß, ein Pferd, eine Telegai), sowie für eine Anzahlung an die Gehilfen auf ihr künftiges Honorar. Der Kubrak selbst ist bloß der Chef, der die oberste Aufsicht führt, während die Bettelsummen durch die Gehilfen eingebracht werden müssen. Der Kubrak und seine Leute suchen zumeist die beiden Haupt- städte des Reiches heim, Moskau und St. Petersburg. Das Geschäft ist ein glänzendes; der Kubrak kehrt heim in elegan- tem Wagen, hat jetzt statt des einen armseligen Gaules ein feuriges Zweigespann oder gar Dreigespann und einen wohl- gefüllten Geldsack ; einen Teil des Erbettelten liefert er groß- mütig wirklich dem Konsistorium ab, den Hauptanteil aber behält er für sich. Er verlebt einige Monate in Saus und Braus, in der Schenke und im Bordell, und tritt dann einen neuen Raubzug an. War er in den Ferien vorsichtig, so hat er so viel übrig behalten, um die Reise jetzt statt in der un- bequemen Telega im Eisenbahnwaggon zurücklegen zu können.

Wie die Kubraki sind auch die sogenannten Labory oder Lodyry Sammler von frommen Spenden ; pilgern aber die Bettler von Mstislaw nach der Newa und der Moskwa, so plündern die Lodyry, die im Dorfe Motol und im Städtchen Janow im Kreise Kobrinsk des Grodnoschen Gouvernements zu Hause sind, nur die Landbevölkerung. Die Kubraki ziehen im Frühjahr aus, um in den Feiertagswochen ihre Ernte zu halten, und bleiben auch über den Sommer fort; die Lodyry können im Sommer nichts machen, denn da arbeitet der

nur das Hervorheben des Wichtigsten, besonders jener Momente, die mit dem Sittlichen in näherer Beziehung stehen, nötig ist und im übrigen auf Ros koschny selbst verwiesen werden kann.

1) Toaf.ra. der landesübliche, schwerfälüge Wagen.

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Muschik auf dem Felde und hat selber nichts Überflüssiges; erst wenn die Erntezeit vorüber ist, da können die Lodyry ihren Schnitt machen, und sie stürzen sich dann haufenweise auf die Landbevölkerung. Diese Bettler spekulieren auch auf den Aberglauben und treten, wenn es nötig ist, als Hexen- meister und Medizinmänner auf. Was etwa die Wohltätigkeit ihnen vorenthalten sollte, wird ihnen reichlich ersetzt durch den Erfolg ihrer schamanistischen Kunststücke.

Eine ganz andere Art von Bettlern sind die berüchtigten Jammergestalten, welche die Städte Witebsk, Twer und Pskow alljährlich im Frühjahr ausspeien und nach den beiden Haupt- städten werfen. Die Witebsker, Pskower und Twerer ziehen nicht in einzelnen kleinen Gruppen, sondern massenweise, alle mit ihren Familien, nach Moskau und Petersburg; in den Resi- denzen haben sie ihre speziellen Absteigequartiere, Asyle er- bärmlichster Art, Die Herbergen genügen aber vollkommen den Ansprüchen dieser Bettler, die für sich und ihre Familie höchstens einen Rubel monatlich zahlen. Sittlichkeitsmomente kommen nicht in Betracht; man schläft in gemeinsamen Räu- men. Oft liegen Mann und Frau und ein erwachsenes Kind auf einer einzigen Pritsche; und wenn die Lust sie anwandelt, tun sich die Eltern selbst in ihren intimsten Verrichtungen keinen Zwang an.

Das Dorf Kiepen im Kreise Sytschowka im Moskauer Gouvernement ist ein Beispiel für die Art der Entstehung rus- sischer Bettlerzünfte : bis vor hundert Jahren kannte man hier keine Bettler; in der Zeit der napoleonischen Drangsal muß- ten sich die Klepener aus ihrem Dorfe flüchten und in der Umgegend durch Betteleien erhalten; daran fanden sie Ge- fallen, und die Kinder setzten das Metier der Eltern fort, so daß jetzt Kiepen ein Dorf von Bettlern ist. Ähnlich ist die Geschichte des Bettlerdorfes Spaß-Djominski im Gouvernement Kaluga.

Zu den meistberüchtigten Bettlern gehören die Schuwaliki aus dem gleichnamigen Dorfe im Norden des Gouvernements Kaluga; man fürchtet sie als Säufer und Diebe. In Moskau sind sie schon so bekannt, daß sie seit Jahren nur noch nach Süden ausschwärmen. Sie sind immer in größeren Truppen

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anzutreffen, als sogenannte Abbrändler; sie fahren in Wagen, die alle Zeichen des Feuerschadens aufweisen, und schleppen das angeblich gerettete Hausgerät mit sich. Da ihre Fahrten weitgedehnt sind und lange dauern, haben sie unterwegs in größeren Städten, wie Tula, ihre ständigen Herbergen und Hehlereien. Gleichfalls verrufene Abbrändler sind die Sacho- dnizi aus Bogorodok, während die sogenannten Gusljaki aus demselben Orte als nüchterne Altgläubige umherwandern, die nicht betteln, sondern bloß gelungen gefälschte alte Heiligen- bilder unter den Raßkoljniki verteilen und dafür großmütig Geschenke in Naturalien oder Leinwand und, wenn man es ihnen absolut aufdrängen will, in Geld annehmen. Die Waren werden auf dem erstbesten Markte verkauft, und man zieht dann wieder als armer Kerl weiter.

Natürlich fehlt es auch nicht an Krüppeln, echten und falschen. In früheren Zeiten war die Stadt Rostow im Gou- vernement Jaroßlaw als Fabriksstadt für Mißgestalten be- kannt; man verschickte von dort verstümmelte Kinder nach dem ganzen Reiche, namentlich auf dem Fußgängenvege von Moskau nach dem Kloster des heiligen Ssergej begegnete man bei jedem Schritte Blinden und Krüppeln Rostowscher Arbeit. Die Fabrikanten von Rostow hatten ihren fixen Tarif für das Ausstechen von Augen, das Abhacken von Füßen und Händen oder andere widerwärtige Verstümmelungen, durch die man auf die Tränendrüsen der Passanten unfehlbar wirken muß.i) Heute genießt einen ähnlichen Ruf, wie Rostow ihn einst hatte, der Kreis Sudogda. Die Bewohner von Sudogda gehen nur mit Krüppeln auf Bettelei aus. Sie sind zwar Meister in der Ausstaffierung falscher Krüppel, ziehen jedoch wirkliche Miß- gestalten vor, um vor jeder Entlarvung gesichert zu sein. Das Dorf Marinin ist außerordentlich reich an echten Krüp- peln; diese wandern alle nach Sudogda und werden hier an- geworben. Reicht die Zahl der Rekruten für das Bettlerheer von Sudogda nicht aus, so mietet oder kauft man Kinder und verunstaltet sie gewaltsam. Nach Moskau dürfen sich die Bett-

') M. 3a6w.Tii(n,. pyccKÜi iiapo^b. Mocicua 1880, (T]i. 399, Av 14, 11 ii|mMl.- 'i;iHip. Vgl. auch in meinem Kapitel „Aberglaube und Verbrechen", S. 67.

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lermeister von Sudogda mit ihrem Gefolge nicht mehr wagen, denn man erkennt sie dort trotz ihrer gelungenen Entstellungen sofort an ihrer eigentümlichen Aussprache; sie ziehen deshalb nach Süden, nach Norden oder ostwärts nach Nischny Now- gorod. Ihr Zug ist nur in den Feiertagswochen lohnend. Nach den großen Fasten kehrt man immer reichbeladen heim; die Krüppel, besonders die Kinder, aber läßt man. nachdem sie ihre Schuldigkeit getan haben, erbarmungslos auf dem Wege liegen. Der große Erfolg, der den Bettlern von Sudogda blüht, hat zu vieler Nachahmung gereizt und eine maßlose Konkur- renz gezeitigt. Aus dem Kreise Makarjew im Gouvernement Kostroma und aus dem Kreise Ssaransk im Gouvernement Pensa ziehen die sogenannten Kaluni oder Sammler ebenfalls mit Krüppeln auf Bettelei aus; die Ssaransker haben ihre Vorbilder, die Sudogdaer, schon übertroffen und können es als die einzigen unter allen Bettlern wagen, sogar dreimal jährlich auszuziehen.

Neben den großen Städten und besonders beliebten Flek- ken in den verschiedenen Gouvernements sind die Wallfahrts- orte die Hauptziele der Bettler. Das Troitzkakloster und das Höhlenkloster in Kijew sind ständig von Bettlern aus fast allen bisher erwähnten Bettelei-Ursprungsorten umlagert. Andere Scharen gehen bis zum Ural und selbst nach Sibirien; letz- teres aber in seltenen Fällen, denn in diesen Gegenden wim- melt es ohnehin von Bettlern, die wirklich aus Not die Mild- tätigkeit anrufen müssen, wie die zwangsweise Angesiedelten oder flüchtige Verbannte. Die bettelnden Mönchs- und Non- nenscharen sind bei alledem ganz außer acht gelassen worden.

Den verderblichen Einfluß des Bettelwesens auf die Mo- ralität des Volkes brauche ich wohl nicht erst nachzuweisen. Es ist schon gesagt worden, wie die Bettler in ihren temporären Quartieren in schamloser Weise zusammenwohnen. Das Ge- fühl für Anstand und Sitte ist ihnen vollständig verloren gegangen, und es hat niemand daran etwas auszusetzen, daß Geschlechtsakte unter Zeugenschaft von Fremden vor sich gehen. Da ist es denn nicht einer speziellen Verwunderung wert, daß es neben den Heeren von Bettlern auch Heere von Bettlerinnen gibt. Im Kreise Wessjegonsk im Gouvernement Twer verlassen zu bestimmten Zeiten nur die Frauen und

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Mädchen ihre Dörfer und ziehen, beladen mit armsehger Habe und gefolgt von zerlumpten Kindern, in kleineren und größe- ren Gruppen als Abbrändlerirmen, Witwen und Waisen in die Fremde. Bekannt im ganzen Reiche sind auch die soge- nannten Kasanjschen Waisen. Sie betteln und huren sich durch alle Provinzen und bringen dann den reichen Schand- lohn ihren Vätern und Gatten. In Charjkower Vorstädten befinden sich zahlreiche Erdhöhlen, in denen nachts die scham- loseste Prostitution Orgien feiert. Hier sind auf der Durch- reise befindliche Bettlerinnen stets willkommen. Ähnliche Lasterhöhlen gibt es in Riga, in der Moskauer Vorstadt. Wan- dernde Bettlerinnen schlagen in Gruben am sogenannten Apfel- markt ihr Lager auf und ,, gewähren", wie der Ausdruck lautet, jedem Passanten um den Preis von fünf bis zehn Kopeken oder für irgend ein Entgelt in Naturalien und Waren, oder wenn es nicht anders sein kann : für einen Schluck Schnaps, den ein betrunkener Nachtwandler aus seiner Flasche anbietet.

Der Tiefstand der durch das Bettelwesen herabgedrückten russischen Sittlichkeit wird klar, wenn man erfährt, daß sich die Zahl der freiwilligen russischen Bettler und Bettlerinnen auf mindestens eine Million veranschlagen läßt. In den Dör- fern der Kreise Jusur und Ssaransk verlassen von 3500 Ein- wohnern nicht weniger als 3000 Männer als Kaluni zur Bettler- zeit die Heimat, um im Namen Christi die Mildtätigkeit der Mitmenschen zu täuschen. In Akschenaß, einem Dorfe von 120 Höfen, bleiben, wenn der Bettelzug begonnen hat. nur vier Familien als Hüter des Ortes zurück. Im Kirchdorfe Golizyn sind von dreihundert Hofbesitzern zweihundert Wanderbettler. 1) In solchen Orten sind die Ältesten natürlich auch Bettler, und so wird es erklärt, daß diese Landstreicher in dem paß- strengen P..ußland stets reichlich mit den nötigen Dokumenten ausgestattet sind, um in ihrer Freizügigkeit keine Behinderung fürchten zu müssen.

Zu den freiwilligen Bettlern kommen nun noch die Hun- derttausende Unfreiwilliger. Alexander III., der ein Mäßig-

1) Roskoschny a. a. O. Er zählt noch zwölf Dörfer auf, in denen alle Einwohner ohne Ausnahme in der bestimmten Zeit auf Bettelei ausgehen.

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keitsparlament zur Bekämpfung der Trunksucht einberief, er- nannte auch eine ,, Regierungskommission aus Vertretern sämt- hcher Ministerien zur Lösung der Frage von der Versorgung von Bettlern in Dorf- und Stadtgemeinden". Die Kommission mit dem langen Titel erzielte ebensowenig praktische Resul- tate wie jenes Temperenzkomitee, von dem ich im vorigen Kapitel erzählt habe. Man kümmerte sich nämlich nur nebenbei um das Grundübel, um die organisierte Bettelei, und beobach- tete bloß die wirklichen Bettler, die nicht in die Fremde ziehen, um Wohltätigkeitsspenden zu erschwindeln, vielmehr an der Scholle kleben und den Heimatgemeinden zur Last fallen. Man vermag sich einen Begriff von der unbeschreiblichen Entsittlichung und Verarmung des Volkes zu machen, werm der offizielle Bericht damals folgende Ziffern feststellte i) : für die Stadt Moskau 26000 Bettler, für das Gouvernement Mos- kau 15000, Livland 16000, Kurland 15000, Warschau 14000, Nischny-Nowgorod und Wjatka je 10 000; zusammen zählte man 293445, davon lebten etwa 200000 vom Bettel allein, die übrigen erhielten auch ständige Unterstützungen; adlige Bett- ler gab es 3235, Bettler geistlichen Standes 3491, Kaufleute 20, Kleinbürger 43434, Bauern 181 932, Reservisten und ehe- mahge Soldaten 11 345, aus verschiedenen Ständen 35039. Wie müßten diese Ziffern, wenn sie der Wahrheit von heute entsprechen sollten, vervielfacht werden! Welch furcht- bare Quelle des Elends, der Verkommenheit, der ünsittlichkeit wird aus diesem Zahlenmeer unerschöpflich gespeist !

1) Vgl. die vom Fürsten Meschtschersky herausgegebene Zeitschrift .,rpaacjtaHHH^>" cenraöph 1889. Die angeführten Ziffern beziehen sich nur auf zusammen 71 Beobachtungsfelder: 54 Gouvernements, neun Gebiete und acht Städte. Alle Ziffern sind gewiß eher zu niedrig als zu hoch angesetzt. Es er- scheint beispielsweise unmögUch, daß, wie dort angegeben wurde, die Stadt Ssebastopol keinen einzigen Bettler habe; auch die Behörden des Gouver- nements Esthland gaben an, daß in ihrer ganzen Provinz kein einziger Bettler konstatiert ^vurde. Neun Gouvernements und fünf Gebiete erteilten keine Auskunft. Einige andere Gouvernements wurden als zu sehr entlegen in die Beobachtung überhaupt nicht einbezogen.

VIERTER TEIL:

Russische Vergnügungen

19. Jagd und Hazardspiel. 20. Kirchen- feste und Volksfeste. 21. Hofnarren und Maskeraden. 22. Tanz und Bälle. 23. Musik und Theater. 24. Rauchen und Tabakbuden. 25. Bäder.

IQ. Jagd und Hazardspiel.

Die ersten russischen Jäger Hetzjagd mit Hunden Jagden des Groß- fürsten Wassilij Belustigungen Iwans des Schrecklichen Kämpfe mit Bären Zar Alexej, Verfasser von Jagdregeln Peter der Große ein Feind der Jagd Ein zarischer Scherz Peter H. als Jäger Elisabeth Pe- trowna Jagd und Sittenlosigkeit Moderne Jagden Bärenjagd Der Bär im Heidenglauben Südrussische Windhunde Die Jagden des Herrn Skarzinski Wolfsjagden in den Steppen Kosakenmethode Jagd und Kartenspiel Zur Geschichte der Spielkarten in Rußland Kartensteuer Peter der Große gegen das Kartenspiel Kartenpartien Katharinas II. Die Partner der Zarin Der gute Ton am Hofe Katha- rinas — Brillanten als Spielmarken Berüchtigte Spieler Aus den Memoiren des Baron Löwenstern Frauen beim Spiel Verspielte Seelen Petersburger Klubs Ein Vorfall im Petrowskij Jachtklub Frauen in Klubs Privatspielhöllen Spiel und Ehebruch Gefährliche Familien- abende — Die Spielsalons der Balleteusen Turf Läusespiel Merk- würdige Polizeiordnung.

Den Zusammenhang von Jagd und Hazardspiel mit Grau- samkeit und Wollust braucht man nicht erst zu entdecken. Fließendes Blut und gespannte Nerven sind unfehlbare Aphro- disiaka. Die angeborene Roheit und barbarische Sinnlichkeit des Russen mußten an beiden Mitteln Geschmack finden. Schon die ersten russischen Fürsten, wie Wßewolod und Mono- mach, waren leidenschaftliche Jäger, i) Die Hetzjagd mit Hun- den wurde erst im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts vom Großfürsten Wassilij von Moskau eingeführt; früher war der Hund als ein so unreines Tier verabscheut, daß man jeder Berührung mit ihm auswich. Wassilij vermehrte auch die Würden seines Hofes durch die Ernennung eines Jägermei- sters. 2) Parforce- und Falkenjagden waren die Vergnügungen

') M. 3a6biJinHi,, PyccKiii Hapo;n>, <"ri). 567: ,3BijpHafl 11 iitii'ikh oxora Ht Porciii.

2) Karamsin, deutsch VII 145, französisch VII 227.

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der großen wie der kleinen Herren, i) Der Zar lud zu seinen Unterhaltungen auch die fremden Diplomaten ein. Herber- stein erzählt, daß der Herrscher in der Umgebung von Mos- kau ein großes Jagdgebiet hatte, dessen Betreten den Unter- tanen streng verboten war. Wenn der Großfürst den Wunsch zu jagen kundgegeben hatte, so brachte man alle Hasen, deren man habhaft werden konnte, nach diesem Jagdgebiet. In der Regel pflegte Wassilij Iwanowitsch sich nur bis zur Mittagstafel mit Staatsgeschäften zu plagen, gleich nach Tische aber mit großem Gefolge auf die Hetzjagd nach Moschaisk und Woloko- lamßk aufzubrechen. Die eingeladenen fremden Gesandten wurden von einem Bojaren abgeholt und nach dem Jagdplatz geleitet. Sie mußten in einer gewissen Entfernung vom Zaren aus den Satteln springen und sich dem Göttlichen zu Fuße nähern. Der Zar trug stets ein kostbares Jagdgewand; seine hohe Mütze war mit Edelsteinen besetzt, und goldene Federn zeigten den Jägersmann von weitem an. An der Hüfte hingen ein Dolch und zwei Messer, rückwärts unter dem Gürtel eine Schleuder. Ständige Begleiter des russischen Herrschers waren der getaufte Zar von Kasanj, welcher Pfeil und Bogen führte, und zwei jugendliche Fürsten, die mit Axt und Keule hantierten. Der Sohn des Wassilij, Zar Iwan der Schreckliche, liebte vor allem die Jagd auf Vögel. Er hatte dreihundert Falkoniere zu seiner Verfügung; aus Sibirien ließ er die besten Geier- falken kommen, mit denen er auf wilde Enten jagte. 2) Ein besonderes Vergnügen bereitete es seiner grausamen Natur, blutige Bärenkämpfe veranstalten zu lassen, bei denen bloß andere sich den Gefahren aussetzten, während er selbst in sicherer Entfernung Zuschauer blieb. Man sperrte wilde Bären in Käfige und ließ sie an bestimmten Tagen in eine Arena bringen, wo ein Jäger des Zaren mit einem Jagdspieße seinen Gegner erwartete. Gelang es dem Gladiator nicht, mit einem einzigen Stoß den Bären zu Boden zu rennen, so war er verloren. 3) Hatte er aber gesiegt, so belohnte ihn der Zar

1) Gerebtzoff, Essai I 374.

2) Reise nach Norden, 179.

3) Der englische Reisende Fletcher beschrieb einen solchen Bärenkampf als Augenzeuge. -Vgl. Karamsin, deutsch IX 313, französisch X ^/^.

Tierhetze in Moskau im hölzernen Amphitheater vor dem Twerschen Tore.

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oft damit, daß er ihn mit einem zweiten Bären das Stück wiederholen Heß. Das Volk dagegen führte den Bärentöter nach dem Ende des Schauspiels in die Schenke und bewirtete ihn nach Landessitte freigebig mit Branntwein. Von seinem Vater Iwan hatte auch der jugendliche Zar Theodor die grau- same Lust an solchen Schauspielen ererbt.

Unter den Romanows gab es fast gar keine großen Jäger : Zar Alexej Michajlowitsch, Peter IL und Elisabeth Petrowna sind die Ausnahmen. Alexej war ein Freund von Falken- jagden; er schrieb eigenhändig ein Jagdreglement mit dem Motto: ,,Möge die Zeit der Arbeit gewidmet sein; aber eine Stunde bleibe für das Vergnügen." Peter der Große war niemals Jäger, i) Schon im Jahre 1690 war daher das Jagd- schlößchen Sokolniki, der Rendezvousplatz seiner Vorfahren bei ihren Jagden, in Trümmer zerfallen. Als Peter bei seinem Besuche bei der Markgräfin von Brandenburg gefragt wurde, ob er die Jagd liebe, zeigte er seine schwieligen Arbeiterhände und sagte : ,,Ich habe keine Zeit zum Jagen." Einmal gelang es jedoch seiner Umgebung, den Zaren zu einer Hasenjagd zu verlocken. Peter rächte sich dafür. Er machte die Jagd nur unter der Bedingung mit, daß man die Rüdenknechte und die Hundetreiber zurückließ. Der Streich gelang. Die Hunde, von' ihren Führern verlassen, warfen sich zwischen die Beine der Pferde, machten die Tiere wild, und in wenigen Minuten war die Strecke besät mit abgeworfenen Reitern. Eine allge- meine Verwirrung entstand, und man mußte die Jagd auf- geben. Am anderen Tage machte sich Peter den Spaß, nun seinerseits eine Einladung zur Jagd ergehen zu lassen, aber man hütete sich, Folge zu leisten, die meisten der Teilnehmer vom vorigen Tage lagen mit zerbrochenen Gliedern zu Bette.

Peters Günstlinge waren dagegen zumeist eifrige Jagd- liebhaber. Fürst Romadanowskij, den Peter spaßeshalber zum Vizekaiser ernannt hatte, zog auf die Jagd mit dem Luxus

Kostomarow schildert in seinem Roman ,,Kudejar" (deutsch von Kuptsche) im vierten Kapitel, wie Iwan der Schreckliche die Tapferkeit eines Helden durch einen Zweikampf mit Bären auf die Probe stellt.

^) Halem III 119. Waliszewski, Pierre le Grand, 211, 223.

Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rußland. 22

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eines wahren asiatischen Monarchen und einem Gefolge von fünfhundert Personen. Auch Peters Tochter Elisabeth und sein Enkel Peter IL huldigten dem Jagdsport mit großer Lust; Zur Zeit der Herrschaft Peters IL ritten Tante und Neffe stets mitsammen aus. Der jugendliche Zar war in sexueller Be- ziehung überaus früh entwickelt. Als er die Regierung antrat, stand er noch im Knabenalter. Sein ganzes Sinnen und Trach- ten aber galt schon der Befriedigung des Geschlechtstriebes. Ihn lockte in Wahrheit nicht das Wild im Walde, sondern das einsame Rendezvous mit der üppigen sinnlichen rothaarigen Tante. Ihr war der Knabe gleichgültig, sie streifte lieber mit einem robusten Soldaten durch die Gebüsche und überließ den schwärmerischen Neffen seinen Seufzern und seinen Ver- sen. Doch fand der jugendliche Zar gute Freunde, die ihn aufklärten und ihm Hilfe schafften. Sobald Peter durch die Nähe der Tante und die Hi'^ze der Jagd exaltiert heimgekehrt war, führte ihn sein Kamerad Iwan Dolgoruckij im Dunkel der Nacht in ein Bordell, wo der junge Kaiser leicht die Genüsse fand, die ihm sein Roman verweigerte. An diesem Leben fand der zarische Knabe bald solches Gefallen, daß seine ganze Regierungszeit zwischen Jagd und Bordell verfloß; zum Schlüsse hielt er sich fast gänzlich von der Hauptstadt fern und lebte nur im Jagdzelte mit seiner Braut Katharma Dol- goruckij, die ihrem zukünftigen Gatten das nicht zu versagen wagte, was sie auch Femstehenden nicht vorenthielt.

Das Jagdleben übte auf die gesamte Hofgesellschaft einen demoralisierenden Einfluß aus. Da man sich auf lange Zeit von dem heimatlichen Herde entfernt hielt, traf man stets Vorsorge, sich mit allem zu versehen, was das Leben verlangt. Im Gefolge des jungen Zaren zogen Scharen von liederlichen Frauenzimmern mit, und auf die Tage der Jagd folgten nächt- liche Orgien, die kaum ihresgleichen haben. Wenn der Zar einen Jagdzug antrat, mußten ihn die ganze Generalität und die Mitglieder des höchsten Rates begleiten. Den fünfhundert Herrschaftsequipagen folgten unzählige Wagen mit Dienern, Weibern und Proviant, und zum Schlüsse kam eine Armee von Handelsleuten, die an jedem Halteplatz förmliche Basare errichteten, alles nur Erdenkliche feilboten, den liebeshungrigen

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Bojaren Schmuck für ihre Maitressen und im Notfalle auch bares Geld gegen gute Zinsen zur Verfügung stellten.

Man jagt den Wolf, den Fuchs und den Hasen mit eng- lischen Hunden, die wilden Enten mit Falken und abgerichteten Sperbern. Man hetzt zuweilen den Bären, aber dem Beispiel der früheren Zaren folgend hält sich in solchem Falle auch Peter IL abseits von der Gefahr. Ist die Tagesarbeit getan, so schlägt man ein Lager auf, veranstaltet ein Trinkgelage nach altmoskowitischem Geschmack, zur großen Freude der Fa- milie Dolgoruckij, die dem Zaren zuredet, Moskau wieder zur alleinigen Residenz des Reiches zu erheben. Die Orgien dul- den keine Unterbrechung: Des Zaren Schwester Anna Pe- trowna stirbt; Peter befiehlt, die Leiche nach Petersburg zu schaffen, denkt aber nicht daran, sie selbst zu geleiten, sondern läßt unbekümmert den für den Tag schon angesetzten Ball abhalten. Schweden und die Türkei verbünden sich und be- drohen Kleinrußland, die Gesandten von Österreich und Spanien drängen in den Kanzler Ostermann, daß er den Zaren nach Petersburg berufe; Peter indessen verläßt um keinen Preis sein Nomadenzelt im Walde von Gorenki. Ostermann ver- sucht den Zaren durch ein Manöver bei Moskau für das Kriegs- spiel zu interessieren; Peter jedoch ergreift die Flucht und zieht nach Rostow, um dort zu jagen und Orgien zu feiern. Monatelang gibt es gar keine Regierung mehr, der Zar und alle seine Räte weilen fern vom Mittelpunkte der Verwaltung, kümmern sich nicht um die Politik, nicht um das Wohl und Wehe des Reiches, schwelgen und schmausen, jagen imd huren. Eine einzige Jagdperiode dauert einmal achtMonate.i) Der Trubel nimmt erst ein Ende, da der Zar der schönen Katharina Dol- goruckij überdrüssig wird. Nach einem aufregenden Jagdtage gibt es abends ein Pfänderspiel; aber als Peter gewinnt und zum Lohne wieder nichts anderes erhält als die Erlaubnis, die Prinzessin Katharina küssen zu dürfen, da erhebt er sich brüsk, verläßt die Gesellschaft, und mit einem jähen Ruck steht alles still. Der Jubel ist zu Ende, katzenjämmerlich kehrt man heim nach Moskau; hier erkrankt der junge, von Aus-

1) Waliszewski, L'h^ritage de Pierre le Grand, 75, 91.

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Schweifungen erschöpfte Zar an den schwarzen Blattern und stirbt nach wenigen Tagen.

Die Jagd war damals ein Privilegium des Hofes und der vornehmsten Günstlinge gewesen. Gewöhnliche Sterbliche mußten sich speziellen Regeln unterwerfen. Ein Gesetz be- stimmte sogar, wieviel Jagdhunde ein jeder Edelmann seinem Range entsprechend besitzen durfte, i) Gegenwärtig ist die Jagd allen freigestellt. Beliebt ist die Bärenjagd, namentlich in Großrußland. Man muß bei der Bärenjagd, um seines Er- folges sicher zu sein, sorgfältige Maßnahmen treffen. So ist vor allem das Rauchen untersagt. Die Jäger tragen dicke Stoffüberzüge über den Schuhen, um beim Gehen jeden Lärm zu vermeiden. Der Bär wird umringt und aufgehetzt. Er er- schrickt aber nicht, sieht sich kaltblütig um, wie er der Gefahr entrinnen könnte, und wählt eine Stelle, wo nach seiner Be- rechnung zwei der Jäger von einander entfernter stehen als an den übrigen Stellen. Hier versucht er klug durchzubrechen, aber schnell springt ihm ein Jäger, der zum Schutze vor den Tatzen des Bären nur eine Lederhaube und Panzerhandschuhe trägt und als Waffe bloß einen Dolch gebraucht, in den Weg. Der Bär stürzt sich verzweifelt auf den Verfolger, aber der Kampf ist in einem Nu zu Ende ; denn die geübten Bärentöter kennen so genau die Stelle, die sie treffen müssen, daß das Tier beim ersten Stoße zusammenbricht. Der besiegte Feind wird mit einem Eichenzweig geschmückt.

Das russische Wort für Bär bedeutet: Honigkenner. 2) Des Bären Liebe für den Honig benützen die sibirischen Völker, um Meister Petz zu überlisten. Sie füllen eine Kugel mit Honig, bedecken sie mit Eisenstacheln und legen das Lockmittel an den Rand einer Grube. Wenn der Bär zugegriffen hat, gerät er in die Falle. Auf eine besondere Art wird der Bär in der Provinz Jenisseisk überrumpelt. An einem Baume wird ein Brett so hoch befestigt, daß Petz sich auf die Hintertatzen stellen muß, um hinaufzureichen. Auf dem Brette winkt ein Stück prächtigen Fleisches ; verborgen aber sind die tückischen

1) Le Bruyn, Voyages III 113.

2) Me;i,B'Ji;p., auch iie;;Bt;;eu:i., von Me;n>, Honig, und B'fe;i,ei^'b, Kenner.

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Eisenspitzen. Petz sieht nur den fetten Bissen, nicht den listigen Todbringer. Er hebt heiter eine Vordertatze empor, um das Fleisch zu holen, und haut sie auf eine Eisenspitze. Er hebt die andere Vordertatze um sich zu befreien, und hängt nun sicher angenagelt, den Verfolgern preisgegeben. Bei einigen Völkern Asiens ist der Bär ein heiliges Tier; so verehren die Wogulen eine Bärentatze als Hausgott und gebrauchen eine Bärenschnauze als Zaubermittel, i)

Eine südrussische Eigentümlichkeit sind die Windhunde, mit denen dort gejagt wird. Diese Hunde vermögen das Wild nicht aufzuspüren, sondern jagen nur die Tiere, die sich ihren Blicken zeigen. Ihr Geruch ist nicht fein, aber ihr Auge desto schärfer und ihre Schnelligkeit größer. Für die Steppe sind ihre Eigenschaften die besten. Wenn sie das Wild erfaßt haben, beißen sie es zu Tode, und halten bei dem Getöteten Wache. Die Jäger folgen der Meute zu Pferde und müssen genau auf den Weg achten, den die Hunde nehmen; denn diese würden sich zu ihren Herren nicht allein zurückfinden. Ein berühmter südrussischer Steppenjäger war um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts der Gutsbesitzer Skarzinskij ; er veranstaltete all- jährlich von seinem Schlosse Trikrati bei Wosneßensk aus mit seinen Gästen großartige Jagden auf Wölfe, Hasen, Füchse und Trappen; 25 Kamele mußten die Zelte, Küchengerätschaften und Viktualien mitführen; das Gefolge der Jäger bestand aus Hunderten von Dienern. Man wanderte wochenlang von Do- mäne zu Domäne, tötete tagsüber, was von Tieren in den Weg kam, und praßte die Nächte hindurch mit Weibern und beim Kartenspiel ; Champagner floß in Strömen ; eine Kapelle von dreißig Musikern, die dem Zug überallhin folgte, sorgte für die Begleitung bei Tanz und Gesang. 2) In den russischen Step-

1) Vgl. W. Mannhart, Zauberglaube und Geheimwissen, 3. Auflage (Ver- lag H. Barsdorf) S. 19. Der Aberglaube der Jäger ist in Rußland nicht anders als in anderen Ländern. Charakteristisch sind nur die Zaubersprüche und weitläufigen Beschwörungen, durch die man sich einen glücklichen Er- folg sichern und vor Gefahren schützen will. Bei l^ar)!.!.!!!!!!,. T'yccKifi napaii., sind ein Dutzend solcher Beschwörungen und Gebete wörtlich angeführt (Ct]i. 334 341. < )xoTHiiiUvie :iaroBopi.i 11 Mo.iiniiU).

2) J. G. Kohl, Südrußland. I 22 23.

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pcn jagt man hauptsächlich auf Wölfe. Man geht dabei brutal zu Werke. Ein Gebüsch, in dem W^ölfe vermutet werden, um- stellt man mit Netzen, vor diesen lauern die Jäger mit Flinten, während hinter den Jägern Bauern mit Spießen und hölzernen Gabeln stehen. Die Treiber jagen mit wildem Geschrei die Wölfe den Netzen zu; entkommen die Tiere den Flinten der Jäger, so bleiben sie in den Netzen hängen; dann stürzen die Bauern über sie her, heften sie mit den Gabeln über dem Nacken an den Boden fest und machen ihnen mit Spießen ge- mächlich den Garaus. Ein echter Steppenkosak verschmäht diese rohe Herrenmethode der Wolfsjagd; der Kosak braucht weder Flinte noch Gabel, sondern reitet an die Wölfe heran, und wenn sie fliehen, so zieht er dem Wirbelwinde gleich neben ihnen her und haut mit seiner Nagaika einen nach dem ander-^n zu Boden.

Für den russi-schen Landbewohner gibt es kein größeres Vergnügen als die Jagd. Der reiche Gutsbesitzer lädt seine minder begüterten Nachbarn ein, auf seinem Gebiete zu jagen, und sorgt freigebig für die Gäste, ihre Diener, Pferde und Hunde während der ganzen Zeit der Feste. Man läßt aus den Städten Sängerinnen, Tänzerinnen und Spaßmacher kommen und jubelt wochenlang ohne Unterbrechung. Die Jagd be- reitet dem Steppenbewohner und Landedelmann das aufregende Vergnügen, das der russische Städter im Kartenspiel findet.

Das Datum der Einführung des Kartenspiels in Rußland ist unbekannt. Nach einer russischen Handschrift aus dem Jahre 1623I) kann man nur so viel feststellen, daß rrnn damals für die Erlaubnis, ein Spielhaus halten zu dürfen, eine Steuer von 2 Rubel 3 Altyn und 2 Denjgi erlegen mußte. Ein Befehl des Zaren Alexej Michajlowitsch an die Stadt Turinsk, der die Aus- rottung der Spielkarten und des Würfelspiels vorschrieb, nannte als Städte, in denen Spielhäuser existierten : Tobolsk, Wercho- turjka und Ssurguta. Alexej ordnete sogar an, daß die Ein- nahme aus der Steuer der Spielhäuser ein für alle Mal aus dem Budget gestrichen werde. 2) Aber die Maßregeln kamen

*) JtBHHCKott .TfeTonHcen.!,, BT, XVIII TOJit /l,peBHeft PocciücKoü BnB.iioe. *) 11. C.ieHHffb, l],apcTBOBaHie LtapH AjieKcia JVInxaÖJioBina, CaHxnexepßypn., 1831. HacTi. BTopaH, crp. 17: TTcrpeöJienie .lopHOBUx'i. aoMOBT. n KaprL.

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nicht zur Geltung, weil Krieg herrschte und die Abgaben der Spielhäuser an den Staatsschatz so bedeutend waren, daß man sie in solchen Zeiten nicht entbehren konnte.

Peter der Große, ein Mann, dem die Natur großmütig die höchste geschlechtliche Potenz gewährt hatte, entbehrte leicht aller künstlichen Reizungen. Er mußte kein Freund der Jagd sein und konnte auch auf die Erregungen des Hazard- spiels verzichten. „Entweder," pflegte er zu sagend), ,, haben die Spieler keinen Geschmack an nützlicher Unterhaltung, oder es ist Eigennutz, der ihnen die Karten in die Hand drückt; beides ist verächtlich." Ein zarischer Ukas vom 28. Juni 1718 verbot das Kartenspiel bei Knutenstrafe. 2) Ein solides Spiel- chen durfte allerdings gewagt werden; in der Armee und der Marine beispielsweise war es gestattet, einen Rubel an einem Abend zu verlieren 3); nur was darüber ging, wurde als Hazardspiel bestraft. In den Assembleen bei Hofe war ein eigenes Zimmer für Schachspieler reserviert; aber Karten- spieler wurden nicht geduldet, schon der bloße Wunsch nach einem Hazardspiel galt als Verbrechen.

Ganz anders dagegen ging es am Hofe und zur Zeit Katharinas II. zu. Da gab es im Kabinett der Zarin regel- mäßig am Abend eine Kartenpartie. Die Kaiserin war eine eifrige Spielerin. Sie spielte zumeist Whist, Rocambole, Pikett oder Boston. Ihre gewöhnlichen Partner waren Graf Rasu- mowskij, Feldmarschall Graf Tschernischow, Feldmarschall Fürst Galitzyn, Graf Bruce, Graf Stroganow, Fürst Orlow, Fürst Wjäsemskij.*) Auch fremde Diplomaten wurden der Ehre teilhaftig, mit der Kaiserin Karten spielen zu dürfen. Am liebsten spielte Katharina mit Rasumowskij und Tschernischow, weil sie vorsichtig waren und niemals den Versuch machten, die Souveränin aus bloßer Galanterie gewinnen zu lassen. Sie selbst nahm durchaus keine persönlichen Rücksichten. Der Kammerherr Tschertkow, den sie manchmal zum Mitspielen einlud, geriet immer in Zorn, wenn er stark verlor, warf der

1) Halem, Leben Peters des Großen, III 119.

2) Waliszewski, Pierre le Grand, 460.

3) Ebenda 212.

*) Waliszewski, Le Roman d'une imp^ratrice, 503.

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Kaiserin ihr schonungsloses Spiel vor, schleuderte ihr die Kar- ten vor. die Nase. Aber sie zeigte sich nicht beleidigt, ver- teidigte sich so gut sie konnte, und rief zu ihrer Rechtfertigung die Zuschauer an. Einmal forderte sie zwei anwesende fran- zösische Emigranten auf, zwischen Tschertkow und ihr zu ent- scheiden. ,, Schöne Schiedsrichter," schrie Tschertkow wütend, „sie haben ihren eigenen König betrogen." Das war doch zu stark, Tschertkow wurde aus dem kaiserlichen Spielzirkel aus- geschlossen. Katharina hatte genug zu tun, um an ihrem Hofe den guten Ton festzuhalten. Das Kartenspiel trug gewiß nicht dazu bei, diese Aufgabe zu erleichtem, Moral und An- stand zu heben. Graf Stroganow verlor einmal eine große Summe an die Kaiserin. Da geriet er aus der Fassung, ver- gaß, daß er seiner Souveränin gegenüberstand, warf wütend die Karten auf den Tisch und schrie davoneilend : ,,A11 mein Geld wird da noch verschwinden. Ihnen macht es nichts, aber mir!" Ein Mitspieler wollte Stroganow beruhigen, doch Katharina sagte : ,, Lassen sie das. So ist er schon seit fünfzig Jahren. Sie werden nichts daran ändern, noch weniger ich." Gewöhnlich wurde um wenig Geld gespielt, und um. zehn Uhr abends pflegte sich die Kaiserin zurückzuziehen. Aber manch- mal ging es auch lebhafter zu. Zuweilen kam es sogar vor, daß man am grünen Tisch der Kaiserin um Brillanten spielte. Diese kostbaren Spielmarken lagen in kleinen goldenen Käst- chen und wurden mit goldenen Löffelchen ausgeteilt. i) Solche Abendpartien kosteten der Kaiserin Unsummen, denn die Mit- spielenden durften die Spielmarken nach dem Ende des Spieles mitnehmen. Auch beim großen Günstling der Zarin Katha- rina, bei dem Fürsten Patjomkin, spielte man häufig statt um Geld: um Edelsteine. Hier dauerten die Kartenpartien, die sich an die feenhaften Bälle anschlössen, die ganze Nacht hindurch ;

1) Sugenheim, Rußlands Einfluß auf Deutschland II ii. Die Frei- gebigkeit der Zarin wird aber in ein merkwürdiges Licht gestellt, wenn man aus der „Minerva" von Archenholtz, 1798, III 3 6 erfährt, daß im Jahre 1791 bei einem Hofballe in Peterhof auf der Haupttreppe der Ersparnis halber kein Licht brennen durfte; oder daß die 71 Pagen der Herrscherin erst 1792, im dreißigsten Jahre der Regierung Katharinas, neue Livreen erhielten.

Der I. Mai im Falkenwalde bei Moskau.

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während des Spiels durfte nichts gesprochen werden, es herrschte oft stundenlang lautlose Stille, i)

Einer der verrufensten Kartenspieler jener Epoche war der Kanzler Bestuschew. „Er trinkt die Tage und spielt die Nächte hindurch," klagte seine Frau. In einer Woche verlor er zehntausend Rubel, in anderen unglücklichen Nächten Ver- mögen um Vermögen. Um Geld für das Kartenspiel herbeizu- schaffen, bestahl er den Staat, machte er falsche Wechsel, nahm er schließlich Bestechungsgelder von fremden Staaten, besonders englisches Gold. Einst war er den ausländischen Diplomaten als ein arroganter und ewig drohender Staatsmann entgegengetreten und hatte ihnen Respekt einzuflößen ver- standen. Seine Leidenschaft für Spiel, Schnaps und Weiber aber hatte ihn schnell heruntergebracht; um Geld zur Befrie- digung seiner Laster war er schließlich für alles zu haben; seine Geldnot war so furchtbar, daß er oft in verzweifelte Situationen geriet ; um der Zarin nach Moskau folgen zu können, mußte der Kanzler schleunigst den Schmuck und selbst die Kleider seiner Frau versetzen. 2)

Dieses Porträt der Verkommenheit der Großen wieder- holt sich hundertfach. Von Besborodko heißt es : er ist ein zügelloser Spieler 3); von Paniri: er liebt nur die Tafel, die Weiber und das Spiel.*) Interessant sind die Bekenntnisse des Generalmajors Löwenstern ^), der erzählt, wie er als junger Offizier in wenigen Tagen sein immenses Vermögen verspielte. Einmal spielte er mit dem Grafen Bobrinskij, einem natürlichen Sohne Katharinas II. und Orlows, und der Gräfin Bulgarin eine Partie Boston zu kleinen Einsätzen; und gewann doch mehrere tausend Rubel. Am anderen Morgen erschien Bobrinskij bei Löwenstem und verlangte Revanche; Bobrinskij verlor wieder und immer wieder, schließlich 70000 Rubel, und dies bei

1) Potemkin. Ein interessanter Beitrag zur Regierungsgeschichte Katha- rinas der Zweiten. Halle und Leipzig 1804.

2) Waliszewski, La dernidre des Romanov, 115.

3) Waliszewski, Autour d'un trone, 22. *) Laveaux, Memoires.

6) M6moires du general-major russe Baron de Löwenstern 1776 1858, publi6s par M.-H. Weil, Paris 1903. I 156 164.

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niedrigem Spiel. Lövvenstern erkrankte, mußte vierzehn Tage das Bett hüten; das Spiel wurde am Krankenbette fortgesetzt, ununterbrochen wochenlang. Plötzlich drehte sich das Blatt, Bobrinskijs Beharrlichkeit wurde belohnt, er gewann sein Geld zurück und dazu noch 400000 Rubel; dann ließ er sich nicht mehr blicken. Der junge Baron Löwenstern war ruiniert, aber er tröstet sich in seinem Tagebuche damit, daß durch seinen riesigen Verlust sein Ruf rehabilitiert worden sei; „früher; konnte man behaupten," schreibt er, „daß ich das Glück korri- gierte, weil ich fortwährend gewann; jetzt sieht man, daß es Zufall war." Ein anderes Mal erzählt Löwenstern : ,,Ich war bei Alexis Orlow eingeladen. Alle waghalsigen Spieler waren dort versammelt. Nach dem exquisiten Diner begann sofort das Spiel. Ich gewann von Herrn Dickow, einem Spieler von Profession, dreißigtausend Rubel." Am anderen Tag lud Dickow den jungen Löwenstem zum Tee, nahm ihm in einem kleinen Spielchen nicht nur die dreißigtausend Rubel wieder ab, son- dern raubte den Gast vollständig aus.

Kein Kartenspiel ohne Damen. Die vornehmsten Frauen geben sich dazu her, ihren Gatten oder Freunden als Schlep- perinnen zu dienen, um immer neue Opfer ins Netz zu locken. Die früher erwähnte Gräfin Bulgarin gehörte zur höchsten Gesellschaft; sie machte aber ganz ungeniert ein Kompanie- geschäft mit dem Grafen Bobrinskij, und niemand nahm daran Anstoß, nicht einmal die Gattin Bobrinskijs oder der Gatte der Bulgarin. Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt: der Vater machte sich nichts daraus, seine Töchter zu verspielen. Jefim- jew, ein dramatischer Dichter aus der Zeit Katharinas, geißelte diese familienschänderische Spielleidenschaft in seinem Stücke „Der Verbrecher aus Kartenspiel oder die vom Bruder verkaufte Schwester." Der Mensch ist in Rußland nichts als Ware. Wie oft kam es vor, daß Spieler, die all ihr Bargeld und ihre Wert- sachen verloren hatten, nun um Seelen zu spielen begannen; Graf Schuwalow verspielte in einer einzigen Nacht fünfhundert Leibeigene, und er schickte sie am nächsten Tage dem glück- lichen Gewinner zu, wie man einem ein paar hundert Säcke übermittelt. Mancher kommt in prunkender Troika als Gast in einen fürstlichen Hof ffefahren und muß am anderen Mor-

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gen, da er Geld, Schmuck, Wagen, Pferde und Kutscher ver- spielt hat, zu Fuß heimwärts taumeln. Zu den leidenschaftlich- sten Spielern gehören die Geistlichen; ein Pope verlor bei seinem Gutsherrn den letzten Rubel, der Patron war aber großmütig genug, dem Väterchen einen Wagen zur Verfügung zu stellen, damit der geistliche Herr noch rechtzeitig zur Messe ins Dorf zurückkehren konnte.

In den großen Städten wird in allen Klubs rasend gespielt. Im Gegensatze zu den vornehmen Kasinos in Europa ist man in Petersburg und Moskau bei der Aufnahme von IVIitgliedem nicht allzu streng, und so findet man unter diesen oft notorische Professionsspieler und Schwindler. Im Winter 1906 verur- sachte ein Vorfall im Petrowskij Jachtklub einen großen Skan- dal im Petersburger Highlife. An dem Spieltisch des soge- nannten besten Kreises ging es eines Abends hoch her. Gold und Banknoten häuften sich pyramidal. Aber binnen kurzem floß alles in den Hafen des glücklichen Bankhalters. Alle Spieler verloren, nur der Bankier gewann. Plötzlich trat einer der Kibitze an den Spieltisch heran und bat einen der Mit- spieler, sich an dem Einsatz beteiligen zu dürfen. Nun machte der neue Gast von seinem Rechte als Mitspieler Gebrauch und verlangte, daß der Bankhalter ein frisches Kartenspiel erhal- ten sollte. Großes Erstaunen, man forderte eine Erklärung; und sie wurde sofort erteilt. Der Skeptiker nahm dem Bankier die Karten aus der Hand und zeigte, daß alle Neuner an der Längsseite, alle Bilder an der Breitseite mit Fett gezeichnet waren. Der entlarvte Falschspieler wurde sofort entfernt. Und nun kommt das Russische an der Geschichte. Einer der Herren des Klubkomitees führte den Entlarver in eine Ecke. Die Aus- sprache war ebenso kurz als originell: es wurde dem Stören- fried bedeutet, daß durch solche Szenen die Reputation des Klubs geschädigt würde ; er möchte daher die Güte haben, die Räume der Gesellschaft sofort auf Nimmerwiederkehr zu ver- lassen. Am nächsten Tage ging allen vornehmen Klubs von Petersburg ein Rundschreiben des Petrowskij Jachtklub zu, welches die Ausschließung nicht des Schwindlers, sondern des Entlarvers offiziell bekanntgab.

Früher hatten auch die Frauen in allen Klubs Zutritt zum

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grünen Tisch. Die russischen Frauen spielen noch leidenschaft- Hcher als die Männer, und werfen, wenn Geld und Schmuck verloren sind, ihre Ehre leichtmütig als Einsatz hin. So wur- den die Säle der Klubs in Bordelle verwandelt, während sich im Erdgeschosse der Paläste maskierte Versatzämter etablier- ten. Ein angeblicher Goldschmied mietete einen Laden im Klubhause, und der fleißige Mann saß die ganze Nacht hin- durch an seinem Werktischlein. Wenn die Damen oben ihren letzten Rubel verloren hatten, eilten sie zum gefälligen Gold- schmied hinunter, der ihnen um einen Spottpreis ihre Bril- lanten abnahm. Das Ärgernis, das der Ruin der besten Fami- lien durch Spiel und Sittenlosigkeit selbst in der lasciven Pe- tersburger Gesellschaft hervorrief, führte endlich zum Ver- bot der Teilnahme von Frauen an den Hazardspielen in den Klubs.

Wäre das 'Spiel nur aui die Klubs beschränkt, so hätte es als Wertmesser für die russische Sittlichkeit keine Bedeutung. Das Charakteristische des Hazardspiels in Rußland ist jedoch seine allgerneine Verbreitimg. Jedermann spielt, vom Groß- fürsten bis herab zum letzten Muschik, vom General bis zum Soldaten, vom Großkaufmann bis zum ärmsten Schuster und Schneider. In den Familien gibt es keinen Ball, der nicht mit einem Spiele enden würde. Die jungen schönen Frauen fliegen aus den Armen der Tänzer an den Spieltisch, aus einer Er- regung in die andere, und untergraben ihre Gesundheit durch die furchtbarsten Leidenschaften. Am Kartentisch spielen die traurigsten Romane, wird am meisten die Ehe gebrochen. Deshalb verblüht die russische Frau so schnell, deshalb muß die Russin früher als die Frau aller anderen Nationen Zuflucht nehmen zu Perücken, Schminken und Schönheitsmitteln, um die Spuren zu verwischen, welche zahllose durchwachte Nächte an ihr zurückgelassen. Bis zum dämmernden Morgen fiebert man am grünen Tisch, und dann muß man nach einigen wenigen Stunden der Ruhe zum Rendezvous mit dem Manne eilen, an den man das Geld verloren hat, um für den Preis eines Ehebruchs das Verspielte wieder zurückzuerobern.

In den besten und anscheinend solidesten Familien wird hazardiert. Man erhält eine harmlose Einladung zum Tee

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oder Souper, aber kaum ist man angelangt, so setzt man sich schon zu einem Spielchen nieder. Musik und Tanz, Essen und Trinken werden nebensächlich, man tiat nur noch Interesse für Gewinn und Verlust. Da gibt es große vornehme Häuser, die einen unbeschreiblichen Luxus entfalten, wo an jedem Abend der Champagner in Strömen fließt, wo die Frau und die Töchter in den kostbarsten Roben erscheinen. Alles das müßte im Nu verschwinden, wenn nicht die Hausfreunde all- abendlich neue Opfer herbeischleppen würden, die man in graziöser Weise auszuplündern versteht. Ein junger Millionär wird in einem hocharistokratischen Hause eingeführt und rech- net es sich zur Ehre an, mit der Fürstin und den Töchtern ein kleines Spielchen zu spielen; wenn er endlich aufsteht, ist er um hunderttausend Rubel ärmer.

Eine Spezialität sind die Spielsalons der Balletteusen der kaiserlichen Hofoper. Nach Theaterschluß erscheinen hier Großfürsten, hohe Würdenträger, Kaufleute und Professoren, und in bunter Reihe setzt man sich an den Spieltisch. In der vierten oder fünften Morgenstunde schleichen blasse müde unglückliche Menschen heim; diese Spielhöllen sind alle der Polizei gut bekannt, aber sie erfreuen sich solcher Protektion, daß man noch niemals an ein Einschreiten der Behörden auch nur zu denken gewagt hat.

Nur gegen das Spiel am Turf hat man Maßregeln ergrif- fen, wenigstens solche, welche die ärmere Bevölkerung vor dem Spielteufel schützen sollen. Man ordnete nämlich an, daß der geringste Einsatz zehn Rubel sein müsse. Aber es machen eben zehn arme Leute gemeinsame Sache, und so verspielt man trotz der behördlichen Vorsorge seinen kargen Verdienst rubel- weise. An der Spitze des Rennklubs von Zarskoje Sselo steht der Großfürst Dmitrij Konstantinowitsch ; vor zwei Jahren war dieser Großfürst in dieser Eigenschaft der Mittelpunkt eines Skandals : man erfuhr, daß das Publikum von dem hohen Herrn einfach betrogen wurde, daß nur die Pferde ans Ziel kamen, welche der Großfürst ans Ziel kommen lassen wollte. Aber der Skandal ist vorübergegangen, der Großfürst blieb Klub- präsident, und Arm und Reich verspielt nach wie vor hoff- nungslos das Geld auf dem Turfplatz.

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Die Lust am Spiel ist so groß, daß man mit allem und um alles spielt. Berühmt ist das russische Läusespiel. Zwei Rus- sen setzen sich zusammen, zeichnen auf einen Tisch oder eine Bank einen Kreis und legen in den Mittelpunkt des Kreises ländlich sittlich jeder eine Laus. Wessen Tierchen zuerst die Kreislinie erreicht, der hat gewonnen.

Obwohl sich in bezug auf das Spiel kein Mensch um die Polizeiordnung bekümmert, ist es doch Pflicht, der Vollständig- keit halber ihrer zu gedenken. Sie besagt : Alle Klagen und Forderungen in betreff der Spielschulden sind von vornherein nichtig. Die Polizei hat von Fall zu Fall zu entscheiden, welches Spiel erlaubt ist und welches nicht. Im allgemeinen sind nur solche Spiele gestattet, die sich auf erlaubten Zufall und auf Geschicklichkeit, oder auf Stärke und Gewandtheit gründen. Diese Polizeiordnung scheint in Wahrheit gar nicht für die Russen, sondern nur für die Kalmücken gemacht zu sein ; denn im ganzen russischen Reiche gibt es bloß bei den Kalmücken regelmäßige Ringerspiele.

20. Kirchenfeste und Volksfeste.

Heidnische Reminiszenzen Weihnachten und Koljada Erotischer Charakter der Festgebräuche Rothügelfest Chorowody oder Reigen- tänze — Der Georgstag Der Koitus auf dem Ackerfelde Südslawische Parallele Gebrauch der ukrainischen Jugend auf dem Saatacker Ssemik Russalki und Pfingsten Das russische Johannisfest Iwan Kupalo und Jarilo Das Springen durchs Feuer Das Aufeinander^välzen Aberglaube in der Johannisnacht Erotische Johannisfestgebräuche in Estland in Livland Das Beilager der Mooner Altestnische Ge- bräuche — Die russischen Petrowkigebräuche Wirtschaftüche Bedeutung des Peterpaulstages GeschlechtUche Freiheit der Frauen am Petrowkifest Der Teufel und die Schaukel Begleiten des Frühlings in Ssaratow Nächt- liche Spaziergänge zum Quell des Kupalo - Die weibhchen Heiügen Mitt- woch und Freitag Geschlechtliche Freiheit der Frauen am Charfreitag Parallelen aus südslawischen Ländern Heidnisches Frühlingsfest und russische Butterwoche - Die Orgien der Maßljäniza Verloren gegangene Feierlichkeiten: Versuchung des Bischofs; Einzug Christi in Jerusalem Die großen Fasten und das Osterfest im alten Moskau.

Die griechische Kirche vermochte, das wissen wir bereits, den heidnischen Aberglauben aus dein russischen Volkstum nicht

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zu verdrängen. Im Kampfe zwischen Heidentum und Ortho- doxie unterlag schließHch die letztere ; und sie gab den Versuch auf, die vorgefundenen Riten und Sitten nach ihren soge- nannten christlichen Prinzipien umzuwandeln, sondern begnügte sich damit, ihre neuen Gebräuche möglichst den alten anzu- passen, da sie sonst der Gefahr ausgesetzt gewesen wäre, das Feld räumen und das mühsam eroberte Reich im Stich lassen zu müssen. Die orthodoxen Kirchenfeste fallen demnach mit ihrem Datum und teilweise auch mit ihren Gebräuchen mit den alten heidnischen Festen zusammen. Nur hat sich, und auch nicht immer, der Name geändert, das Wesen ist dasselbe ge- blieben. An Stelle der Heidengötter ruft man Gott, Christus und die Heiligen an; aber in Wahrheit verehrt man noch Daschbog, Woloß und Perun; feiert man die Feste Koljada, Russalki und Kupalo, wenn man Weihnachten, Pfingsten oder das Johannisfest begeht. Die Lieder, die das Volk an den christlichen Festen singt, beziehen sich auf die heidnischen Zeremonien und erwähnen die unvertilgbaren Namen der alten Götter. 1) Diese Feste sind reich an merkwürdigen Gebräuchen, Rätseln, Weissagungen und Spielen. Fast jedes Gouvernement hat seine speziellen Zeremonien. In vielen Gegenden nennt man den heiligen Abend Koljada; in anderen Bezirken, be- sonders im südlichen und westlichen Rußland, kennt man zwei Abende dieses Namens : BacnjiteBCKaa KoÄaAa oder den Silvester- abend, und KpemencKaa KOJiaAa oder den Vorabend der Wasser- weihe. Die erste Koljada bezeichnet man auch als die reiche, öoraTaa, die andere als die arme oder strenge, G-feAHaa oder nocTHaa. Das Volk begeht diese Feste mit Liedern, Umzügen, Maskenspielen. In Weiß- und Kleinrußland zieht die ganze Dorfjugend in Verkleidungen von Haus zu Haus und bringt den Bewohnern Ständchen. In der Umgebung von Moskau fährt man mit den Mädchen im Schlitten weit hinaus in die Wälder. 2)

Durch alle Gebräuche geht ein stark erotischer Zug. In

1) Vgl. die Lieder mythischen Ursprungs, die sich auf die alten slawisch- russischen Feste beziehen, bei Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur, Seite 19.

*j 3a(ii.Limn., PyccKÜt Hapo,xb, Cbhtku: ct]». 3 34.

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der Thomaswoche nach Ostern feiert das Volk das soge- nannte Rothügelfest, KpacHaa ropKa; dann beginnen dieChoro- wodyi), diese charakteristischen Gesangstänze der Slawen, die unstreitig heidnisch mythischen Ursprungs und ein Symbol der Sonnenbewegung sind. Auf den mythischen Ursprung der Lieder, welche diese Tänze begleiten, deutet der im Refrain vorkommende Name der Gottheit Did-Lado, Urvater-Licht, hin : wahrscheinlich war darunter der Lichtgott Daschbog verstan- den. 2) Bei den Tänzen kommt es zu Obszönitäteji und ge- schlechtlichen Ausschweifungen. Es ist aber daran zu erinnern, daß nicht nur bei allen slawischen, sondern auch bei vielen anderen Völkern ähnliche Sitten und Bräuche herrschen. Wäh- rend indessen bei den Südslawen und den anderen Völkern hauptsächlich die Perioden Frühjahr und Herbst, die Zeit des Erwachens der Natur und die Zeit des Schwelgens im Über- flusse, Veranlassung zu sexuellen Ausschweifungen geben, sind bei den Russen alle Feste im ganzen Jahre Ursachen zu ero- tischer Ausgelassenheit.

Am Georgstage, dem 23. April, wird das Vieh nach dem Winter zum ersten Male aufs Feld getrieben, und zugleich trifft man die Vorbereitungen zu den Feldarbeiten; an Stelle der früheren Opfer ist die kirchliche Einsegnung getreten, aber die heidnischen Geschlechtsbräuche sind dieselben ge- blieben : Der MuschiK muß auf dem Felde, das vom Winter befreit ist, vor allem sein Weib beschlafen ; tut er es nicht, so kann ihm auf diesem Felde kein Segen erblühen und das Futter dem Vieh nicht Gedeihen bringen. 3) In der L^kraine

*) Xopono;n5, Reigen.

2) Reinholdt, 24.

3) Ähnlich bei den Südslawen. Vgl. Dr. Friedrich S. Krauß: Anthropo- phyteia, Jahrbücher für folkloristische Erhebungen und Forschungen zur Entwicklungsgeschichte der geschlechtlichen Moral (Privatdruck nur für Ge- lehrte und nicht für den Buchhandel bestimmt), Leipzig 1906, III. Band, Seite 30, XII: ,,Am Georgstage, wenn der Landmann Kukuruz auf dem Acker aussät, da umfriedet er die Stelle, an der das Pferd zum ersten Male mit dem Fuße scharrt, indem er Kukuruzkömer um den Pferdeschatten hin- wirft. Dann besteigt er das Pferd auf dieser Stelle. Auf dieser selben Stelle besteigt er auch sein Weib. Nachdem er das Weib koitirt hat, zündet er auf dieser Stelle ein großes Feuer an und in dieses Feuer legt er sieben Kukuruz-

Lustbarkeit bei den Tschuktschen im nördlichen Sibirien.

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zieht am Georgstage nach beendigtem Gottesdienste der Geist- Hche in vollem Ornat mit seinen Kirchendienern und der gan- zen Gemeinde auf die ausgesäten und bereits grünenden Felder des Dorfes, um sie nach griechischem Ritus einzusegnen. Den ganzen folgenden Nachmittag bis in die sinkende Nacht bringt darauf der Bauer auf den Feldern zu. Man geht von einem Feld zum anderen, begrüßt die Nachbarn und genießt beson- ders für diesen Tag zubereitete kalte Speisen unter dem ge- hörigen Zusatz von Branntwein. Die alten Leute mit den Kin- dern bleiben in der Nähe der Feldwege; die jungen Leute aber entfernen sich über die Felder, bis sie den Alten in einer Vertiefung aus dem Gesichte verschwinden. Hier stecken sie eine Stange mit einem angebundenen Tuche oder einer Flagge auf, angeblich um den Platz zu bezeichnen, auf dem sie sich vergnügen, und zum Zeichen, daß hier die Alten nichts zu suchen haben. Alle legen sich auf die Felder, und wer eine Frau hat, wälzt sich einigemal mit ihr auf dem Saatacker um. Man sagt, darnach werde Getreidesegen zum Vorschein kommen. 1)

Vom Ssemik^), dem Feste am siebenten Donnerstag nach Ostern, ist schon kurz im ersten Teile dieses Buches die Rede ge\vesen.3) Ssemik ist ein Fest der Kränze, und speziell ein Fest zu Ehren der Verstorbenen, der Russalki. Die Alten pflegen die Gräber der Angehörigen zu besuchen und dort Pfann- kuchen oder andere Speisen für die Toten niederzulegen. Die Jugend aber belustigt sich, indem sie Kränze windet, die Bäume mit Bändern schmückt. Kränze und Zweige in den Fluß wirft und das Schicksal um die Zukunft befragt : schwimmt das Hineingeworfene fort, so bedeutet es Gutes; sinkt es unter, dann hat man Schlimmes zu erwarten. Hierauf tanzt und singt

körner zum Verbrennen, die er sieben Heiligen zugedacht, und nachdem dies alles verbrannt ist und sich in Asche verwandelt hat, alsdann klaubt er diese .\sche auf und zerstreut sie über den ganzen Acker. So machen es manche Leute auf jedem Ackerfeld." (Zu beziehen durch H. Barsdorf Verlag, Berlin W. 30.)

1) Krauß, Anthropophyteia, III, Seite 26 27. Daselbst interessante Parallelen.

') CeMHin., von cexti., sieben.

^) Vgl. Seite 105 (dort heißt es irrtümlich Sonntag statt Donnerstag). Stern, Geschichte der öffcntl. Sittlichkeit in Rußland. 23

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man, und schließlich, wenn die Alten dem Branntwein hul- digen, frönen die Jungen der Wollust. Auf diese Weise feiern die Russen Pfingsten, das Fest der Wiederkehr der Frucht- barkeit.

Die Erotik ist femer der Mittelpunkt jener Feste, bei denen der Gebrauch herrscht, daß die jungen Leute durch das Feuer springen. Das ist in einigen Gegenden auch am ersten Oster- tage, allgemein aber am Vorabend des Festes Johannis des Täufers, am Abend des 23. Juni, der Fall. Das Johannisfest fällt zusammen mit dem heidnisch-slawischen Feste des Ku- paloi), dem infolgedessen auch der Vorname Iwan beigegeben wurde. In Weißrußland wird eine Strohpuppe auf einen Scheiterhaufen gelegt und verbrannt. In Kleinrußland baden die jungen Leute beiderlei Geschlechts am Nachmittag vor Kupalo gemeinsam im Flusse; bei Sonnenuntergang zündet man auf den Weiden, den Feldern, in den Gärten und in den Höfen ein Feuer an, und die jungen Leute hüpfen, paarweise je ein Mädchen mit einem Burschen, durch das Feuer. 2j So- bald das Feuer verlöscht, schlägt man sich in die Büsche, um sich aufeinanderzuwälzen, wie der Ausdruck lautet. Ähnliche Gebräuche herrschen in Wolhynien und Podolien. In den Gou- vernements Jaroßlaw, Twer und Nischnij-Nowgorod heißt das Johannisfest: Jarilo. Bis zum sechzehnten Jahrhundert fanden hier zu Ehren des Jarilo Feste statt, bei denen volle geschlecht- liche Freiheit herrschte. Regierung und Kirche versuchten den Festen diesen Charakter zu nehmen, allein die alten Gebräuche erneuem sich immer wieder. Im Aberglauben ist die Jarilo- oder Kupalonacht eine Art Walpurgisnacht. Man nimmt an, daß sich um diese Zeit die russischen Hexen auf dem Kahlen- berg3) versammeln. Ferner heißt es: in der Kupalonacht blüht ein Farnkraut*), das wie Feuer leuchtet; bei dem Glänze dieses

1) Vgl. S. 81 (daselbst heißt es falsch: Kupilo). Kupalo war der Gott der Feldfrüchte.

'^) 3a6ujmHTj, PyccEdü napojti; crp. 66 80: IlBaHt Kyna.io n Arpa(J)eHa Kynajii.imua (Kupalo ist am 24., Agrafena Kupaljniza am 23. Juni).

^) Jlucaa ropa. Vgl. SaöbLiuHij 77.

*) üanopon, oder nauopoxiimcB, imaie KaieaujKHHicb. Baöuinin., 78 (Ilßa- Hom. UH'Ivn.). Die Hexenmeister suchen in dieser Nacht auch nach ,,pa3pbiBi>.

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Krautes kann man verborgene Schätze entdecken. Über die Bedeutung und Abstammung des Wortes Kupalo können sich die russischen Gelehrten nicht einigen; manche von ihnen haben sich zu den merkwürdigsten Vermutungen verstiegen. Die einen behaupten, Kynajio stamme von der Wurzel KynaxB, baden, weil man von diesem Tage an in offenem Wasser zu baden beginnt ; andere leiten Kynajio vom lateinischen copula oder dem deutschen Worte Kuppelei her. Kyna, auch Ky^a, bedeutet lexikalisch einen Haufen, kann also bezogen werden auf das Zusammenwerfen des Reisigs für das Feuer.

In Esthland war es noch zu Ende des achtzehnten Jahr- hunderts Brauch, sich am Abend vor dem Johannistag um eine alte Kirchenruine zu scharen und Feuer anzuzünden; sterile Frauen tanzten nackt herum, um fruchtbar zu werden, junge Mädchen aber eilten mit den Burschen in den Wald, um nach Lust miteinander zu verkehren. In meiner Knabenzeit sah ich im livländischen Badeorte Dubbeln alljährlich, wie die Bauers- leute auf den Höfen um die Johannisfeuer sprangen, aber nicht mehr nackt, sondern bloß barfüßig, und dann in Gärten oder in Heuschobern sich aufeinanderwälzten; kein Vorübergehender nahm an solcher Sitte an diesem Abend An- stoß, i) Bei den Esthen auf der Insel Moon ist das Beilager der Johannispaare ein alter Brauch. Am 23. Juni, oder auch am I. Juli, dem Vorabend des Heu-Marientages, zündet man dort große Feuer an. An diesem heiligen Abend, sagt man, muß der Mooner eine Beischläferin haben. Während die Wei- ber und Mädchen den Rundtanz um das Ledotulli, das Fest- feuer ausführen, gehen die jungen Männer um den Kreis herum, beobachten die Mädchen und entfernen sich daim in den Wald. Bald gibt dieser und jener einem Trupp kleinerer Jungen den Auftrag, die Auserkorene zu holen. Ein Junge ruft die Bezeichnete unter irgend einem Vorwand aus dem Ring der Tänzerinnen heraus. Die übrigen Knaben, etwa zehn an der Zahl, umringen das Mädchen und schleppen es mit Gewalt,

xpaBy", der Springwurzel der Deutschen, welche die Eigenschaft hat, die festesten Schlösser zu öffnen.

1) Parallelen aus dem Orient: Mein Buch über .Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei. II 176. (Verlag H. Barsdorf, Berlin W. 30.)

23*

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ziehend und stoßend, über Stock und Stein, über Zäune und Gräben, bis der Zug nach mehrmahgem Fallen und wiederholtem Ringen bei dem Harrenden angelangt ist. Der Bursche wirft das Mädchen nieder, legt sich neben seine Auserkorene und schlägt ein Bein über sie; diese Zeremonie muß er durchaus beobachten, wenn sie ihn nicht für einen Stümper halten soll. Ohne sie weiter zu berühren, liegt er bis zum Morgen neben ihr. Die Mädchen, denen solches widerfährt, freuen sich dessen nicht wenig, selbst wenn man ihnen auf dem Transporte das Hemd zerrissen hat; die Moonschen Weiber und Mädchen tragen nämlich bloß ein Hemd am Leibe, nur wenn sie zur Taufe oder Hochzeit gehen, ziehen sie darüber einen Rock. Die Mädchen, die nicht gewählt werden, können ihren Neid und Mißmut nicht bezwingen, die Mütter der Bevorzugten aber erzählen mit Wonne den Ruhm ihrer Töchter. i)

Ein russisches Sommerfe^t sind die sogenannter IleTpoBKn,

1) Verhandlungen der Esthnischen Gesellschaft, Band XII, 2. Dorpat 1872, S. 64 65. Zitiert bei Mannhardt, Antike Wald- und Feldkulte aus nordeuro- päischer Überlieferung, Berlin 1877. S. 2841! und in Anthropophyteia III: Beischlafsausübung als Kulthandlung, S. 25. Nach den Verhandlungen der Esthnischen Gesellschaft zu Dorpat, 1850, Band II, 3. Seite 46 ff. erwähnen Mannhardt und Krauß noch folgenden Brauch der alten Esthen: Zur Zeit des Frühlingsfestes zu Ehren des Donnergottes Ukko Paudel, mußten sich unfruchtbare Weiber beim Ukkowak einsperren lassen und sich daselbst einer geheimen Zeremonie unterziehen. Nachdem der Hausherr frühmorgens nüchtern die Grenzen seines Ackers umwandelt, »begann ein Bacchanal, bei dem nament- lich die Weiber viel trinken mußten. In Hiärns Ehst-, Lyf- und Lettlaen- discher Geschichte, S. 28 findet man folgende auf den Gott Ukko bezügliche finnische Verse, des Sigfridi Aronis:

Ja quin Kelwe Kylwo Kylwätin

sillon Uckon Mallia jotin

Siehen hantin Uckon wacka

nin jopuj Pica ette acka

Syte palio Häpie siele techtin

quin seke cuultin ette nechtin

quin R^unj Uckon Naini härsky

jalosti Ukoj pohiasti pärsky. Aus diesen Versen geht hervor, ,,daß Ucko und sein Weib Rauni über das Wetter zu gebieten hatten; wenn die Frühhngssaat soUte gesät werden, so trank man dem Gotte zu Ehren, und Weiber und Mädchen soffen sich voll und verübten schändliche Dinge."

Volksbelustigungen der Russen.

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die am Vorabend des 29. Juni, des Peterpaultages, als ein wirkliches Volksfest gefeiert werden. Mit den Petrowki beginnt das Düngen der Felder, der Schnitt des Getreides, die Zeit der Hitze, neTpoBcma Hvapti. In vielen Städten Rußlands ist an diesem Tage großer Jahrmarkt. In alten Zeiten war der Peterstag der wichtigste Gerichtstag, die Zölle wurden dann eingehoben, es war der Termin für die Abgaben und Steuern. Bei den Bauern ist der Peterstag noch heute der Zahltag der Steuern. Am Petrowkivorabend gab man sich allen möglichen Belustigungen hin. Die Frauen, die sonst so streng abgeschlos- sen waren, durften am Petrowkifeste ihre Kerker verlassen und frei umherstreifen, auf den Jahrmärkten sich unterhalten, die Reigentänze mitmachen und sich auf den öffentlichen Schaukeln wiegen lassen. Im Stoglaw, dem Buche der hundert Kapitel von den russischen Lastern, die Zar Iwan zusammenstellen ließ, heißt es : daß ganz Moskau am Montag des Petrowkifastens auf Völlerei ausgehe. Man nennt dies ryJiHiiLe na Ha.inBKaxt, spazieren auf die Sauferei. Ein älterer russischer Schriftsteller klagt: ,,Am Feiertage der Apostel Pjotr und Pawel legt der Teufel seine Schlingen und Netze über die Katschelii) und •schaukelt die Bösen in Tod und Verderben." Der gute Alte hat umsonst gepredigt und gewarnt. Die Petrowki, der Vor- abend wie der Peterpaulstag selbst, gehören noch immer zu den ausgelassensten Festen der Russen. Im Ssaratowschen Gouvernement ergötzt man sich am Vorabend des 29. Juni in folgender Weise, den Frühling zu begleiten 2), wenn er von dannen zieht. Männer und Frauen fahren in ihren Telegen im Gänsemarsch von einem Ende des Dorfes bis zum anderen, treiben freche Späf3e und beschließen die Nacht mit Reigen- tänzen und Aufeinanderwälzen. Im Gouvernement Twer be- ginnen am ersten Sonntagnachmittag nach dem Peterpaulstage die sogenannten nächtlichen Spaziergänge, ^j In Kaschina spa- ziert man zum Klobukowkloster, wo eine wunderwirkende

1) Ka'ii'.ih, die Schaukel, bildet auf den Volksfesten seit jeher das Haupt- vergnügen der niederen Volksklassen, namentlich der Frauen.

*) ]Ipoif(jai.i »ecHbi.

') Ho'Uibiii ry.iflHKii. Über die Doppelbedeutung von ry.iaiii."', Spazier- gang und Hurerei, ist bereits S. 105 gesprochen worden.

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Quelle fließt. Der Tradition zufolge stand einst an dieser Quelle die Bildsäule des Kupalo. An der vom heidnischen Gefühl geheiligten Stelle finden die ausgelassensten Maskeraden statt, bei denen die Burschen ihr Gesicht mit Tüchern ver- hüllen, um nicht von den Mädchen, mit denen sie der Wollust frönen, erkannt zu werden. Es spielen sich in voller Öffentlich- keit die seltsamsten Szenen ab, man stolpert fortwährend über aufeinandergewälzte Liebespaare, und es kommt zu Skandalen, Eifersuchtsszenen, Handgemenge und Totschlag, i)

Eigentümlich erotische Gebräuche sind auch jene, die sich an die Feier des Mittwochs und Freitags der Karwoche anlehnen. Mittwoch und Freitag, Ssereda und Pjatniza, sind in der anthropomorphischen Vorstellung des Volkes die Personi- fikationen der weiblichen Heiligen Ssereda und Praßkowja. Ursprünglich sollte dieser Kultus die Marterwoche Christi ehren ; die Roheit und die Sinnlichkeit des Volkes fanden aber keine Befriedigung in einem rein religiösen Kultus, und Aberglaube und Unzucht verdrängten die Zeremonien de" Kirche. Der Unfug wurde so furchtbar, daß die orthodoxe Geistlichkeit im sechzehnten Jahrhundert die Ssereda- und Pjatnizafeier unter Androhung der schwersten Strafen gänzlich untersagen mußte.^) Die Sseredafeste sind seither auch verschwunden, dagegen ist der Freitagskult bis auf den heutigen Tag in ganz Rußland un- beeinträchtigt aufrecht geblieben. 3) Man müßte das xA.ndenken der heiligen Großmärtyrerin Praßkowja am 28. Oktober feiern, dem eigentlichen Praßkowia-Freitag*). obwohl der Namenstag der Heiligen natürlich nicht immer auf einen Freitag fällt. Die Russen haben aber diese Heilige so sehr mit dem Freitag identifiziert, daß in vielen Gegenden die Frauen an keinem' Freitag arbeiten dürfen, um diesen heiligen Tag nicht zu ent- weihen. Praßkowja ist die Spezialheilige der Weiber, die zu ihr in allen schlimmen Lagen des Lebens beten. ^) Der Freitag der Karwoche besonders wurde den Frauen ein Tag der Frei-

') 3a6bi:inin., cip. 83 88: IIcTpoBKn.

2) Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur, S. 121.

3) Vgl. über den Freitag bei den Russen auch Seite 65. *) ITpacKOBi.}i-naTHHua.

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Russisches Vergnügen in der Osterwoche.

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heit, an denen sie sich in früheren Zeiten der Fesseln des Hauses und des strengen Gatten entledigen und zu ihrer Be- schützerin flüchten durften. Unter den Fittigen der Heiligen rächten sie sich für die langen Leiden und die schlechte Be- handlung durch Ausgelassenheit und Unzucht. Die Verehrung der Praßkowja wurde eine Art Venuskultus ; es hat auch schon der russische Volksforscher Afanaßjew die Verehrung der Praß- kowja-Pjatniza mit dem Kultus der Freya und der Venus in Zusammenhang zu bringen versucht, i)

Wir sehen also, wie Kirchenfeste zu Volksfesten geworden sind, bei denen das erotische Element das Charakteristische ist. Natürlich muß es noch viel bunter und gänzlich zügellos bei jenen Gelegenheiten zugehen, die mit der Kirche und

1) Es ist selbstverständlich, daß die Herbstfeste denselben erotischen Charakter aufweisen, den die Frühlings- und Sommerfeste zeigen. Die Zeit der Einheimsung der Feldfrüchte ist ebenso eine Epoche der Liebe und der geschlechtlichen Ausschweifung wie die Periode des Frühhngs, wenn die Natur erwacht und die Feldarbeit beginnt. Der Engländer Havelock Elhs (Geschlechts- trieb und Schamgefühl, Würzburg 1901), hat alles zusammengestellt, um zu beweisen, daß es Wechsel im menschlichen Organismus gibt, die sich jahres- zeitlich regeln und besonders mit den Geschlechtsfunktionen in Verbindung stehen, und daß Frühjahr und Herbst in der ganzen Welt Perioden erotischer Feste sind. Die interessantesten Parallelen zu den russischen Bräuchen sind natürhch die aus den südslawischen Ländern: In Gomja Tuzla in Bosnien wälzen sich beim Erntefest die Schnitter mit den Schnitterinnen über eine schiefe Ebene hinab. In Serbien fallen die eigentlichen geschlechtHchen Aus- schreitungen hauptsächlich in die erste Herbstzeit. Dann geberden sich die jungen Leute wie liebestoll. Fest folgt auf Fest. Man stampft ganze Nächte hindurch den Reigen bis zur Erschöpfung und singt bis zum Heiserwerden •die obszönsten Lieder. Die sinnlich aufregende Macht dieser Kolotänze ist verwirrend und der Ansturm des Geschlechtstriebes entwurzelt allen An- stand. — Die südslawischen Gebräuche zuerst gesammelt zu haben, wird ein unvergängliches Verdienst des unermüdlichen Meisters der folkloristischen Wissenschaft, Dr. Friedrich S. Krauß, bleiben. Man sehe die überwältigende Fülle seiner Arbeit und den Reichtum seiner Erfolge in seinem grundlegenden Werke , .Volksglaube und religiöser Brauch der Südslawen", in den hunderten Liedern, Sprüchen, Erzählungen, die er im Originaltext und mit Übersetzungen im V., VI. und VII. Band der Privatdrucke der Kryptadia, sowie in den bis- herigen drei Bänden seiner Anthropophytcia veröffentlicht hat. Solche Leistung steht auf dem Gebiete der folkloristischen Wissenschaft ohne Beispiel da und wird kaum jemals übertroffen werden können.

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dem Glauben gar nichts oder wenig zu tun haben. Die heid- nischen Slawen feierten ein Frühlingsfest, das nach Einführung des Christentums nicht wie die übrigen heidnischen Feste einen Platz unter den neuen Riten und Zeremonien erhielt, sondern in selbständiger Form bestehen blieb, jedoch verschoben wurde; das slawische Frühlingsfest wurde zur Butterwoche, zur Maßljänitzai), liegt zwischen Weihnachten und dem Großen Fasten und ist der russische Karneval ; ein Teil der alten Frühlingsfestgebräuche wurde auch an den Ostersonntag abge- geben. Der russische Karneval ist zweifellos origineller und lebhafter geblieben als der westeuropäische.

Die Fasten sind ein streng beobachteter Bestandteil der Religion, und um sich für die auferlegte Enthaltsamkeit im Vorhinein zu entschädigen, hat man in der den großen Fasten vorausgehenden Butterwoche reichlich Gelegenheit. Man heißt diese Woche Butterwoche, weil das Fleischessen schon aufhört, die Butterspeisen aber noch erlaubt sind. In der Butterwoche feiern die Wollust und die Völlerei ihre schlimmsten Orgien. So wie gegenwärtig noch, war auch früher diese Zeit eine Reihe von schrecklichen Tagen. In dem Buche über die Religion der Moskowiter -) lesen wir : „In dieser Zeit / welche billig zur Busse / und zu einer Vorbereitung zum Fasten solte ange- wandt werden / scheinet es / als wenn die elenden Leute ihnen vorgesetzt hätten / dem Teuffei ihre Seelen zum Opffer zu bringen / so gar sehr begeben sie sich in allerhand Liederlich- keiten : Sie bringen Tag und Nacht in der greulichsten Schwel- gerey zu / wobey sie auch mit Weibsbildern ein sehr unzüch- tiges Leben führen; Sie erwürgen sich einer den andern / und verüben solche grausame und entsetzliche Boßheiten / daß man sie ohne Schrecken nicht kan erzehlen hören. Sie haben die Gewohnheit / daß sie eine Menge Pasteten / Gebackenes und Kuchen mit Butter und Eyer backen / womit sie einander be- wirthcn / und trincken eine unbeschreibliche Menge Honig-

^) MacjiHHima; «.ipHaü ne^kiH. 3a6HJiiiH-b, PyccKÜi Hapo^i.. erp. 34 48. In neuerer Zeit schreibt man auch Mac.ieHnu,a. Der Ausdruck KapHOBa.n» ist ebenfalls in die russische Sprache übergegangen. SchUeßlich übersetzt man einfach das Wort Fastnacht: nanciopio Be.iHKaro iiocxa. 2) S. 126.

I. Baud. 20. Kapitel. Kircheufeste. Volksfeste.

MucjiMHUua. .\Im(i,i;;i 1.^,~)1 Butterwuche.

I Russische Lithooraiihic. )

^ 361

Wein / Bier und Brandtwein darauff / daher sie sich / wann ihnen diese Getränke zu Kopffe steigen / schreckhcher Weise herumschlagen / und als die unvernünfftige Thiere einander umbringen : Man höret auch alsdann von nichts anders reden / als von Leuten / so umgebracht / oder ins Wasser geworffen worden. Zu der Zeit / als ich in Moscau war / zehlete man einige hundert Menschen / so in diesen 8 Tagen des Masla- nize umkommen waren / welche acht Tage man wol die Teuf- fels-Woche nennen kan / wegen der ungezäumten Freyheit und Unordnung / darin die Moscowiter alsdann leben. Weil die Stadt Moscau sehr groß / so ist ein eigener Platz dazu be- stimmt / daß man die Cörper derjenigen / so auff den Gassen todt gefunden worden / dahin lege : man bringet sie des Mor- gens dahin / und wer Jemand von seinen Angehörigen ver- rohren hat / muß ihn an solchem Orte suchen. Diejenigen Cörper / welche nicht erkannt noch wiedergefodert werden / wirfft man in eine mit ungelöschten Kalck angefüllete Grube / darin sie gar bald verzehret werden. Die Wachen versehen zur Zeit des Maslanize ihren Dienst nicht / sondern sauffen sich voll / und leben unordentlich / eben wie die andern."

An dieser alten Schilderung ist kaum etwas zu ändern. Die Butterwoche ist auch heute noch der Gipfel aller russischen Vergnügungen und Unterhaltungen, an denen sich Reich und Arm, Vornehm und Gering, Alt und Jung in ausgelassenster und ausschweifendster W^eise beteiligen.

Die Lust zu Verkleidungen und Maskeraden ist den Russen angeboren. Wir werden im nächsten Kapitel einige Beispiele aus der Hofgeschichte und der vornehmen Welt erhalten. Hier erwähne ich nur einige, seit Jahrhunderten gänzlich verloren gegangene Volksgebräuchc. So erzählte der Verfasser der „Nachricht von Güldenlöwe Reise nach Rußland"!) von einer seltsamen Art der Versuchung, welcher die Bischöfe vor ihrer Weihe vom Volke ausgesetzt wurden: ,,Der Bischof ward auf einen Schlitten gesetzet, von zwey Pferden in der Stadt Moscau herumgcschleppet, und von vielen Pfaffenknechten, deren etliche in leichtfertiger Teufelskleidung verkleidet waren, also

') In Büschings Magazin für die neue Historie, X 240.

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begleitet, daß sie um ihn her, auch bald auf. bald vom Schlitten gesprungen, und nach bestem Vermögen ihre hohen Künste versucht, ob sie den Vater durch ihre leichtfertige Worte und Geberden zu etwa einem Lachen bewegen, und also sträflich und der bischöflichen Ehre verlustig machen könnten, oder ob er dergestalt untadelhaft und geschickt mußte befunden wer- den," Von einem ebenfalls jetzt nicht mehr bekannten mosko- witischen Gebrauch am Palmsonntag berichteten ältere aus- ländische Beobachter i) : Am Palmsonntag versammelte sich das Volk von Moskau vor der Messe im Kreml. Aus der Kathedrale zur Himmelfahrt Maria ward ein großer, mit aller- hand Früchten, Rosinen und Äpfeln behängter Baum heraus- getragen. Man machte ihn auf zwei Schlitten fest, die von sechs Pferden langsam gezogen wurden. Unter den Zweigen des Baumes standen fünf Knaben in weißer Kleidung und sangen laut das '„Hosianna dem Sohne Davids, gesegnet der da kommt im Namen des Herrn." Hinter den Schlitten kam zahl- reiche Jugend, mit Wachskerzen und einer ungeheuren Laterne ; darauf folgten Männer, die zwei Kirchenfahnen, sechs Rauch- fässer und sechs Heiligenbilder trugen, ferner mehr als hundert Priester in Prunkgewändern, die Scharen der Bojaren und vor- nehmen Staatsbeamten in Gala, endlich der Patriarch und der Zar. Der Patriarch ritt quer nach Damenart auf einem mit weißem Zeuge bekleideten Esel oder auf einem Pferde, dem man dann lange Ohren aus Leinwand aufgesetzt hatte, um ihn einem Esel ähnlich zu machen. Mit der Linken hielt der Patriarch das mit Gold beschlagene Evangelium auf seinem Schöße fest, mit der Rechten teilte er dem Volke den Segen aus. Den Esel führte ein Bojar, der Zar aber, der nebenher

1) Hakluyt bei Karamsin, deutsch IX 83, französisch IX _,94, erwähnte ihn zuerst ; er lernte ihn im Moskau Iwans des SchreckUchen kenäen. Später be- richtete dasselbe Margeret, Estat de 1' Empire de Rvssie, 29: ,,Le iour de Pas- ques fleuries Ton monte le Patriarche sur un asne, lequel s'assied en femme, et au d^faut d'un asne l'on prend un cheval que Ton couvre d'un linge blanc, tellement que l'on n'en voit rien que les yeux. L'on luy fait de grandes oreilles et l'Empereur le conduit par la bride jusques dans une Eglise hors du Chasteau. II y a gens ordonnez ce jour-lä, qui depoülllans leurs robbes les estendent sur le chemin suivans «n la Procession les Prestres et autres Ecclesiastiques de la ViUe."

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ging, berührte mit einer Hand einen Zügel, um zu tun, als ob er den Patriarchen führte, während er mit der anderen Hand eine Osterpalme schwenkte. Dieser Aufzug sollte den Einzug Christi in Jerusalem symbolisieren.

Was von den alten Kirchengebräuchen existiert, das kann man hauptsächlich in Moskau beobachten. Matuschka Mos- kwa i) ist nach wie vor der Mittelpunkt der Orthodoxie und der Kirchlichkeit, obwohl seit der Verlegung des zarischen Hofes an die Newa auch hier nichts mehr im alten Glänze leuchtet. Der Zar hatte einst durch seine Teilnahme nament- lich den Großen Fasten und dem Osterfeste in Moskau eine besondere Feierlichkeit verliehen. 2) Wenn sich die Großen Fasten näherten, trug der Zar persönlich dafür Sorge, daß die Ruhe in den heiligen Wochen nicht durch kirchenwidrige Er- scheinungen gestört wurde. Am letzten Tage der Butterwoche erteilte er einem Dumnij Djak oder Ratssekretär den Befehl, in der ersten und der letzten Woche der Fasten sämtliche Schenken zu schließen und die auf den Straßen aufgegriffenen Betrunkenen der strengsten Strafe zuzuführen. Am letzten Tage der Butterwoche erging auch der zarische Befehl, für die Zeit der Großen Fasten den Lebensmittelhandel auf Kalatsch^), Kwaß und vegetabilische Nahrungsmittel zu beschränken. Wer Fische verkaufte, verfiel strenger Strafe. Manche Zaren führten selbst die Fasten mit größter Genauigkeit durch. Vom Zaren Alexe] erzählen die ausländischen Reisenden, daß er während der Großen Fasten nur dreimal in der W^oche, am Donnerstag, Sonnabend und Sonntag zu Mittag speiste, an den übrigen Tagen aber sich mit einem Stücke Schwarzbrot, einer Salzgurke und einem Glase Halbbier begnügte. Fisch nahm er nur zweimal während der ganzen Fastenzeit zu sich. Die zarische Familie und der Hofstaat befolgten des Herrschers Beispiel ; die Kinder jedoch durften eine Ausnahme machen. Vom Patriar-

1) MaTviiii.a MocKBa, Mütterchen Moskau nennt der Russe die alte Zaren- residenz, wie er auch vom Wolgafluß als von Maiviinva Bo-ira spricht.

2) Vgl. rpiiropiil; reoprseBcicifi, BciiiKott iiucn. ii nacxa bt. MocKrjt, PyccKirt Bt.CTiinu-i. 1900. 3aCi.i.iiiin,, ryccKift iiapoa,'/., 48—49; B.'poium hcaIuih; 49 51: Bf-Tincifi 'icTBcpn,; 51 54: ITacxa.

") Ka.ia'ri., eine Art Semmeln.

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chen bis zum Lastträger fastete alles im alten Moskau. Wer das Speiseverbot brach, verlor sein Amt. Alexej nahm an allen Gottesdiensten teil, und die Kirche bot ihm zu Ehren den größten Prunk auf. Am Sonntag vor der Butterwoche sagte man feierlich dem Fleisch Valet, Carne vale. An diesem Tag pflegte Zar Alexej frühmorgens um drei Uhr heimlich den Kreml zu verlassen, um die Gefängnisse und Armenhäuser aufzusuchen, Geld zu verteilen und Gefangenen persönlich die Freiheit zu schenken. Nach der Frühmesse fand unter Voran- tritt des Patriarchen eine Kirchenprozession nach dem Iwan- platze statt, wo ein allgemeines Gebet vor dem Bilde des jüng- sten Gerichts veranstaltet wurde. Nach dem Hochamt gab es im zarischen Dwor Freitisch für die Bettler der Stadt ; der Zar speiste mit ihnen und bewirtete sie als seine teueren Gäste; und zur selben Zeit wurden in den Gefängnissen auch die Ge- fangenen auf Kosten des Zaren gespeist. An einem der Abende der Butterwoche hielt man in der Uspenskijkathedrale die feier- liche Zeremonie der Versöhnung ab. Dann begannen die Fasten. Arn Sonntag in der ersten Fastenwoche erschien bei der Feier der Orthodoxie i) der Zar, um mitzubeten für das ewige Gedächtnis der für die Orthodoxie gefallenen Männer. Besondere Feierlichkeiten gab es in der Fastenzeit noch in der vierten Woche, sowie am Donnerstag und Sonnabend der fünften Woche. Alle Feierlichkeiten und alle Tage haben ihre speziellen Namen. 2) Die Fasten schlössen mit mehreren Gottes- diensten der stillen Woche 3) ab. Am feierlichsten war der Gottesdienst am Mittwoch dieser Woche, welcher Tag auch der große Mittwoch^) heißt. Der Zar kam mit seinen Bojaren ohne jegliches Gepränge in die Kathedrale, und Zar, Beamte, Patriarch und Volk baten einander um Vergebung. Am Don- nerstag, der ebenfalls der große ^) genannt wird,_ verließ der Zar um die erste Morgenstunde die inneren Gemächer, um in den Siechenhäusern und Gefängnissen abermals x\lmosen

*) TopacecTBO npaßocianiH.

^) KpecTonoiüiOHHaa He,T,t,jin : AnjipiH'Bo croHHie : und ITi ixBa.m B(iropo;];imt.

•^) GipacTHan Hea'fc.ia.

"•l Bo.iiiKaji oepe;ia.

^) Be.imciri 'icTBepri,.

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zu verteilen. Unter den Osterbräuchen war die bemerkens- werteste die am frühen Ostersonntagsmorgen stattgefundene Kmebeugung im Angesicht des Zaren, i) Alle höheren Beamten wurden zugelassen, um vor dem Zaren einen Fußfall zu tun und ihm in die klaren Augen zu schauen. 2j Das galt als besondere Belohnung für treuen Dienst. Niedere Beamte wur- den nur nach Auswahl dieser hohen Gnade teilhaftig. Nach dieser Zeremonie begab sich der Zar in einem von Edelsteinen schweren Gewände, in Begleitung seines ganzen Hofstaates, zur Frühmesse in die Uspenskijkathedrale. Hier hatten nur die Beamten vom goldenen KaftanS) Zutritt. Nach der Frühmesse folgte der Osterkuß. Der Patriarch küßte zuerst den Zaren auf den Mund, darauf küßte der Zar die Heiligenbilder und die Erzbischöfe; mit den übrigen Geistlichen und den Bojaren tauschte der Herrscher bloß einen Händedruck aus. Streng nach der durch den Tschin bestimmten Reihenfolge traten alle vor den Fürsten, der jedem, je nach seiner Dienststellung, ein, zwei oder drei prächtig gemalte Eier überreichte. Von der Uspenskij-Kathedrale zog der Zar nach den wichtigsten Kirchen und Klöstern, und überall wiederholte er dieselbe Zeremonie. Zum Schlüsse besuchte er die Gefängnisse und begrüßte die Verbrecher gnädig mit den Worten: „Christus ist auch für euch erstanden!"

Von dieser Tyrannengemütlichkeit ist nichts übrig geblie- ben. Sie ist ebenso verloren gegangen wie fast alles, was an rein kirchlichen Zeremonien und eingebildeter Gläubigkeit im aken Moskau früher vorhanden gewesen sein mag. Nur jene Gebräuche vermochten sich dauernd zu erhalten, welche die •Kirche den heidnischen Empfindungen des Volkes angepaßt hat, oder in denen erotische Elemente die Sinne zur Teilnahme anregen.

1) UapcKoe .iimeiip'hiiio. wörtlich der zarische AnbUck. Diese Zeremonie ist zweifellos asiatischen Ursprungs, denn sie gleicht fast genau der Zeremonie am Bairamsfeste im Sultanspalast.

*) yjiapnTi, qe.ioM-L Hapio r niijiiTr, T.Kry.iapH npocntT.iLin cur.

3) Eine ebenfalls asiatische Rangabstufung. Der Vergleich mit den chinesischen Mandarinen drängt sich von selbst auf.

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21. Hofnarren und Maskeraden.

Vergnügungen der vornehmen Gesellschaft im alten Rußland Die Frauen im Terem Die Männer unter sich Saufwut Leibeigene als Leibnarren der Aristokraten Die Aristokraten als Leibnarren der Zaren Lohn und Strafe der Narren Adelung eines Narren Ermordung des Narren Fürst Gwosdew durch den Zaren Iwan den Schrecküchen Die Narrenwelt am Hofe Peters des Großen Uschakow erhält die Narrenkappe statt des Galgen- stricks — Der portugiesische Jude Dacosta Der König der Samo jeden Die Eskadron der Zwerge Der Narr Turgenjew als Kombattant Neujahrs- spiel — Feuerwerk Assembleen Der Narrenorden Verspottung des Klerus durch Maskeraden Der Papstnarr Heirat des Papstes öffent- liches Beilager Narren und Würdenträger Zwerge Am Hofe Annas Der Narr Fürst Wolkonskij Apraxin Fürst Galitzyn als Henne Bala- kirew Pedrillo Die Wöchnerin Ziege Heirat GaEtzyns mit emer Kalmückin im Eispalast Fußsohlenkitzlerinnen Tschulkow, Oberauf- seher der Fußsohlenkitzlerinnen - - Die Kitzlerinnen Elisabeth Schuwalow und Frau Woronzow Frau Schepelew Das Klapsweib Golowin Der letzte offizielle Hofnarr Aksakow und sein Ende Spaßmacher Katharinas II. Naryschkin Die Plaudertasche Matrona Danilowna Beginn der euro- päischen Vergnügungen, Tänze und Bälle.

Die Unterhaltungen der Vornehmen im alten Rußland waren ganz eigener Art. Die Frauen der Aristokraten ver- ließen nur selten die vergitterten Tore des Terem, lebten abgeschlossen von der Außenwelt und vertrieben sich die Langeweile durch Amüsements mit ihren Sklavinnen, die obszöne Geschichten erzählen, Tänze aufführen oder den Her- rinnen, um. ihre Wollust zu reizen, die Sohlen kitzeln mußten. Gemischte Gesellschaften, an denen die Frauen mit den Män- nern hätten teilnehmen dürfen, gab es nicht. Wenn der Haus- herr ein Fest veranstaltete, so geschah dies nur für männliche Gäste. Die Hausfrau erschien zwar für einen Augenblick, um dem vornehmsten der Gäste den Ehrentrunk zu bringen, aber dann verschwand sie sofort wieder. Das Hauptvergnügen bei solchen Festhchkeiten der Männer unter sich war das Saufen. Der Wirt setzte seinen Stolz darein, seine Gäste volltrunken zu machen; und jede Einladung zu einer Gesellschaft schloß mit dem Refrain: „Gib mir die Ehre, dich bei mir zu be- trinken." So schrieb zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts

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noch Mentschikow in einer Einladung, die er an Peter den Großen richtete. Für den Humor der Gäste sorgten Erzähler von Legenden und Märchen, Guitarrenspieler, Jongleure und namentlich Narren mit ihren obszönen Spaßen und Sprüngen und mit frechen Reden, in denen dem Wirt und den Gästen unverblümt die Wahrheit gesagt virerden durfte, da man der Meinung war, ein Narrenwort, vom Augenblick geboren und vertilgt, könne nicht den Respekt des Sklaven vor dem Herrn schädigen.

Denselben Wert, den der Leibeigene in den Augen des Bojaren hatte, besaß der Vornehmste in der Schätzung des Zaren; und so geschah es, daß jener, der sich in seinem Hause an den Qualen seiner Narren ergötzte, am Zarenhofe häufig selber die Rolle des Hofnarren spielen mußte. Dieses Amt war so gut und so schlecht wie jedes andere; Verdienste in der Pflichterfüllung wurden belohnt, Nachlässigkeiten bestraft. Zar Fedor Alexejewitsch war mit seinem Hofnarren, dem simplen Bürgersmann Andrejew Jirowoj-Zaßjekin so zufrieden, daß er dem braven Spaßmacher für seine Bemühungen um die Er- heiterung des zarischen Gemüts den erblichen Adelstand ver- lieh, i) Iwan der Schreckliche liebte wahnwitzige und rasende Narren, und um solche zu erhalten, ließ er die von ihm für würdig befundenen Hofbeamten oder Edelleute, besonders ganz alte Männer, mit Hunden, Katzen, Eidechsen und Menschen- fleisch bewirten, damit sie vor Ekel verrückt würden. Iwans Lieblingsnarr war Fürst Gwosdew, der mit dem Herrscher an derselben Tafel speisen durfte. Eines Tages gefielen dem Zaren des Narren Spaße nicht mehr; da bestrafte er ihn auf folgende Weise: Der Fürst mußte niederknien und der Zar goß eigen- händig dem Knienden heiße Brühe zwischen Hemd und Haut. Als der Narr darob, statt lustig zu werden, jämmerlich schrie und um Gnade bat, stieß Iwan ihm ein Messer in die Kehle und sagte: ,,Laßt den Hund hinfahren, weil er selber nicht hat leben wollen. "^j Er fand an den Marterqualen des Stcr-

1) Rovinskijs Lexikon der gravierten Porträts (russisch). 1889, IV 510; und Waliszewski, L'heritage de Pierre le Grand, 266.

2) Webers verändertes Rußland, zweyter Theil, S. 37.

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benden das Vergnügen, das der Lebende ihm vorenthalten hatte. Dieser Tyrann war zweifellos selbst auch ein Narr, ein wahrer CaMOAypi>, ein exzentrischer Teufel. Die wichtigsten Männer Rußlands, von Iwan und Peter dem Großen bis hinab zu Paul und Alexander 1., Nikolaj I. und Alexander 111., dann die Mentschikow, Patjomkin, Ssuworow, endhch die Gogolj, Puschkin, Dostojewski], Tolstoj sie alle sind Ssamoduri, exzentrisch in schlechtem oder gutem Sinne gewesen.

Peter der Große pflegte den Adligen, die sein Mißfallen erregt hatten, einfach zu befehlen, daß sie fortan Narren sein sollten. Von diesem Augenblick an muß der Unglückliche, den die Verwandlung von des Zaren Gnaden betroffen hat, allen Hofleuten zum Spotte dienen. Er mag noch so klug und edel denken und handeln : er hat aufgehört Mensch zu sein und ist und bleibt nichts als ein Gegenstand der Verhöhnung. Er hat zwar damit das Recht erlangt, jedem die Wahrheit frei heraus zu sagen, aber es braucht niemand seine Frechheit ernst- nehmen, und es ist jedem anheimgestellt, den Narren zu schla- gen und zu peitschen ; dieser darf sich dagegen nicht auf- lehnen i), darf sich nicht verteidigen, denn er ist kein Mensch; er muß vielmehr zu allen Schlägen, die ihm zuteil werden, Scherze machen, lustig sein, lachen und die anderen zum Lachen bringen, denn er ist ein Narr.

Bei seinem Aufenthalt in Amsterdam sieht Peter den be- rühmten Spaßmacher Testje-Roen auf offener Straße vor dem jubelnden Volke seinen Ulk treiben; der Zar will sofort diesen Meister aller Narren als Hofnarren nach Rußland mitnehmen; aber der Narr hat Verstand genug, um den verlockenden Antrag glattweg abzulehnen. Peter braucht deshalb nicht un- tröstlich zu sein, denn er hat der Hofnarren gerade genug. Sie sind so viele, wenigstens hundert an Zahl, daß sie einen Hofstaat für sich bilden und in Klassen abgeteilt werden können. 2y Da sind erstens jene, denen die Vernunft von der

1) Memoiren der Fürstin Daschkoff, zur Geschichte der Kaiserin Katha- rina II. Nebst Einleitung von Alexander Herzen. Hamburg 1857. I 125.

2) Vgl. ausfülurlicheres bei Weber a. a. O. Jakob von Stählin, Original- anekdoten von Peter dem Großen, 270 und 320. Bergholz' Tagebuch bei Büsching XIX 123 und 131. Waliszewski, Pierre le Grand, 167 und 460.

Ol Trois tetes^dans un bonnet ou le triumvirat des fous.

(Seltene Karik:itiir muI die Feiink- X^ipolcons.)

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Natur versagt wurde. Peter läßt sie auf seine Kosten verpflegen und bei Gelegenheit seinen Russen vorführen, um diesen den Unterschied zwischen Vernünftigen und Unvernünftigen klar- zumachen. Die zweite Klasse besteht aus Leuten, die sich durch eine Dummheit im Dienste unsterbhch blamiert haben; sie müssen eine Narrenjacke, einen Narrenkolben und Schellen tragen, ob sie auch die Vornehmsten im Reiche sein mögen; ihr Los soll die anderen lehren, von der Vernunft den richtigen Gebrauch zu machen. Die dritte Klasse besteht aus freiwilligen Narren, nämlich aus Männern, denen eine Strafe drohte und die sich närrisch stellten, um dem Unheil zu entgehen. Die letzte Klasse bilden die jungen Leute, die Peter zu ihrer Aus- bildung nach Europa geschickt hatte, die aber nichts lernen wollten und so dumm blieben als zuvor; zur Strafe wurden sie Hofnarren.

Die berühmtesten Hofnarren Peters des Großen sind : Tur- genjew, Schanskoj, Lenin, Schachowskoj, Kirsantjowitsch, Da Costa, Uschakow, Tarakanow, Sotow, Witaschij, Romadanows- kij, Strechnjew, Golowin, Buturlin.

Uschakow war früher Offizier. Er erhielt einmal den Be- fehl, Briefschaften des Generals von Smolensk an den kom- mandierenden General von Kijew zu überbringen. Er ritt in rasendem Galopp Tag und Nacht und kam endlich nachts an sein Ziel. Die Wache zögerte, ihn einzulassen; da kehrte er beleidigt um und ritt nach Smolensk zurück, um sich bei seinem General über den Kijewer Wachtposten zu beschweren. Das Kriegsgericht verurteilte Uschakow zum Tode. Aber Peter fand seine Handlungsweise so dumm, daß er ihn zum Wirk- lichen Hofnarren begnadigte.

Da Costa war ein getaufter portugiesischer Jude. Peter gefielen seine Kommentare zur Bibel, er ernannte ihn daher zum theologischen Hofnarren und verlieh ihm als Zeichen dieser

Floegels Geschichte des Grotesk Komischen, bearbeitet von Ebeling, 5. Auflage, T.eipzig 1888 (Barsdorf), S. 299. Herrmann bei Vockerodt, 18. Halcm I 518; II 155, 269, 334; III 86. Sadler, geistige Hinterlassenschaft Peters, in. Nestesuranoi, M6moires sur Catherine, 61. Custinell 342; III 329. Manstein, Memoires 338. Vandal, Louis XV et EUsabeth de Russie, 76. Breton, Rußland, IV 38. Bernhard Stern, Die Romanows I, erstes Kapitel. Stern, Geschichte der öffentl. Sittliclikeit in Kufiland. 24

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Würde den Titel eines Herrn von Samoröe, einer unbewohnten Sandinsel im Finnischen Meerbusen, die eigens für Da Costa zu einer Grafschaft erhoben wurde. Da Costa hatte bei Tafel darauf zw achten, daß fleißig auf die Gesundheit des Iwan Michajlowitsch, das heißt : der russischen Flotte, getrunken wurde. Für jede Vernachlässigung seiner Pflicht drohte ihm eine Tausendrubelstrafe.

Ein anderer Hofnarr führte den) Titel König der Samojeden, und zu seiner Krönung wurden 24 Renntiere und 24 Samojeden nach Petersburg gebracht. Zuweilen spielen die Hofnarren auch ernste Rollen. Ein Scherz ist es noch, wenn 1692 bei den Manövern unter der Kavallerie eine Eskadron von Zwergen dahergeritten kommt; aber 1694 erscheint auf dem Schlacht- felde während des Kampfes eine Kompagnie von Kirchen- sängem unter dem Kommando des Hofnarren Turgenjew als Hilfstruppe. Peter der Große liebt eine derartige Verquickung von Ernst und Narreteien. Das neue Jahr hatte in Rußland früher mit dem i. September begonnen, Peter führte die europäische Rechnung ein. Darob Entsetzen im Volke. Am I. Januar, sagten die einen, gab es ja keine Äpfel, mit denen Eva den Adam hätte verführen können; und wie sollte der I. Januar der erste Tag des Jahres gewesen sein, da vor Er Schaffung des Menschen alles zur Enite reif gewesen sein mußte. Die Frommen, die in Peter den Antichrist sehen, halten diese Zeitänderung für ein richtiges Teufelswerk. Aber der Zar läßt sich nicht einschüchtern und veranstaltet justament am I. Januar 1700 im ganzen Reiche mythologische Festspiele zur Feier der Jahrhundertwende, um das Volk mit einem Schlage in die neue Ordnung hineinzubringen. Eine ähnliche Methode verfolgt Peter, um seine Russen an den Geruch des Pulvers und den Lärm der Kanonen zu gewöhnen : er läßt jeaen Augen- blick ein kolossales Feuerwerk abbrennen, und wenn dabei hier und da Menschen verunglücken, so macht dies nichts aus, denn im wirklichen Krieg kommen auch nicht alle aus dem Getümmel mit geraden Gliedern davon, i)

1) Die Russen haben sich trotzdem mit dem Effekt eines Feuerwerks lange nicht befreunden können. Bei einem Feste, das die Zarin Anna Iwanowna

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Mit aller Gewalt reformiert Peter sein Volk. Durch ein Gesetz ist man gezwungen, ein Gesellschaftsmensch zu werden. Es ist gewiß einzig in der Weltgeschichte, daß man durch kaiserlichen Befehl zu einer bestimmten Stunde in ein bestimm- tes Haus zu Gaste geladen wird und dort erscheinen muß, wenn man sich nicht einer Strafe aussetzen will. Eine Strafe trifft auch den Hausherrn, der seinen Gästen entgegengeht; denn des Zaren Lehre vom guten Ton hat ein für alle Mal festgesetzt, daß jeder Gastgeber seine Gäste an der Tür des Salons empfangen müsse. Persönliche Einladungen werden nicht ausgeschickt. Die Etikette setzt fest, welche Rangklassen an diesen oder jenen Assembleen teilzunehmen haben, und Tag und Ort dieser oder jener Reunion werden in Petersburg vom Polizeimeister, in Moskau vom Militärkommandanten durch Affichen an den Straßenecken bekanntgegeben.

Der Zar führt einen harten Kampf mit dem Klerus und hat den Mut, nicht bloß das Patriarchat einfach abzuschaffen, sondern die Geistlichkeit obendrein zu verhöhnen. Er ernennt den Hofnarren Sotow zum Phantasie-Erzbischof von Preßburg i), zum Patriarchen, schließlich zum Papst ; er betitelt ihn : Heiliger Vater, läßt ihn feierlich krönen und setzt ihm eine Mitra, auf der ein obszöner Bacchus als Schmuck prangt, auf das greise Haupt. Eine Truppe Bacchanten führt den Zug an, mit dem der gekrönte Papst das Konklave, eine Gesellschaft von Trunkenbolden, die bei der Papstwahl als Kardinäle figu- rierten, verläßt. Kurz zuvor ist zum Schrecken der Frommen das Tabakrauchen gestattet worden. Um die zürnenden Ortho- doxen zu verhöhnen, tragen einige Narren bei einer Maskerade auf ihren Hüten Pakete rauchenden Tabaks; und aus dem

im Februar 1740 veranstaltete, gab es infolge eines Feuerwerks eine furcht- bare Panik unter dem zuschauenden Volke. Die offiziöse Petersburger Zeitung brachte über diesen Vorfall folgenden gemütvollen Bericht: ,,Ein blinder Schrecken ergriff die Menge, als das Feuerwerk losprasselte. Man sah sie in Verzweiflung nach allen Richtungen flüchten, was die Freude und das Amüse- ment der hohen Persönhchkeiten des Hofes Ihrer Majestät, die als Zeugen dieses Schauspiels auf dem Balkon des Palastes standen, außerordentlich erhöhte." 1) So hieß die kleine Festung, die Peter als Knabe in der Umgebung Moskaus für seine Kriegsspielereien hatte errichten lassen.

24*

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feierlichen Anlaß der Hinrichtung von 150 Streljzen erscheint der Pseudopapst Sotow unter einer Festversammlung bei Hofe und segnet die Anwesenden mit der Tabakspfeife wie mit einem Kreuze.

Die von dem Augenblick und der Laune geschaffenen Narrenwürden bleiben dauernde Einrichtungen. Die Maske- raden wiederholen sich alljährlich. In der Butterwoche des Jahres 1724 spielt sich auf offener Straße eine besonders furcht- bare Orgie ab. Der Zar erscheint mit einem Cortege der ärg- sten Trunkenbolde, welche die von ihm ernannte Narr- und Saufbrüderschaf 1 1) bilden, und mit einer Schar trunkener Frauen. Der Narr Golowin, ein achtzigjähriger Greis aus vor- nehmer Familie, erhält vom Zaren den Befehl, im Zuge als Teufel zu figurieren. Der Alte will nicht ; da bemächtigt man sich seiner, zieht ihn vollständig aus und stülpt dem Nackten bloß eine Teufelsmütze auf den Kopf. Im Adamskostüm muß der Alte eine Stunde lang auf dem Newaeise stehen; er bricht endlich zusammen und stirbt.

Eines Tags wird der Papst Sotow verheiratet und seine Hochzeit mit großem Gepränge gefeiert; es erscheinen zum Feste nicht bloß Dutzende Pseudo-Geistliche, sondern auch Pseudo-Äbtissinnen und Pseudo-Nonnen. Nach dem Tode So- tows wird der Narr Buturlin zum neuen Papste gewählt; er muß sich aber gleichzeitig mit des alten Papstes Witwe ver- mählen. Er und sie befinden sich schon längst im Greisenalter ; um so lustiger. Im Inneren der Pyramide, die sich vor dem Senatspalast erhebt, wird das Brautbett aufgestellt. Bei der Hochzeitsfeier wird aus Gläsern getrunken, deren Formen ge- treu den Penis und die Vulva wiedergeben. Zum Schluß legt man die beiden betrunkenen Alten entkleidet in das Bett, und durch ein Fenster an der Pyramide ist es der Menge er- laubt, dem köstlichen Augenblick beizuwohnen, wo der Papst seine ihm soeben angetraute Gattin beschläft. 2)

*) ,,CyMac6poa,HMniii1, HcerayTtilniitt n Bceni,HH'I'.r(iiiiu coClop-b" : der allerver- rückteste, allerdümmste und allerversofienste Rat. Vgl. CeMeBCKift, Onepioi II, 280 n npoM.

2) Der Papstnarr ist keine russische Erfindung. In Amiens gab es im sechzehnten Jahrhundet einen von den dortigen Geistlichen gewählten Papst

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Diese Phantasiekönige, Fürsten, Päpste, diese Narren und Komiker haben neben ihren Faschingsämtern zuweilen ganz wichtige staatHche Stellungen inne : Der Narr Golowin ist Chef der Admiralität. Von Turgenjew haben wir schon früher ver- nommen, daß er im Kriege seinen Mann stellen muß. Der Papst-Narr Sotow ist Großsiegelbewahrer. Fürst Romadanows- kij, Vizekaiser und König von Preßburg aus dem Stegreif, dessen Titel und Faschingswürden sich ordnungsmäßig auf seinen Sohn vererben, hat die Aufgabe, wenn der Zar ab- wesend ist, alle auszuspionieren und dem Herrscher allergeheim- sten und allergetreulichsten Bericht zu erstatten.

Eine Unterabteilung der Hofnarren sind die Zwerge, die seit jeher und noch heute den Gegenstand der Amüsements der russischen Großen bilden. Mentschikow gibt 17 lo aus Anlaß der Vermählung der Prinzessin Anna Iwanowna, Nichte Peters des Großen, mit dem Herzog von Kurland ein Festmahl, bei dem zwei riesige Pasteten aufgetragen werden. Aus den Pasteten steigen zwei Zwerge hervor, und sie tanzen in der Mitte der Tafel ein Menuett. Im selben Jahre findet in Petersburg, ebenfalls zu Ehren der Prinzessin Anna, eine Zwergenhochzeit statt, an der sechsunddreißig Zwergenpaare teilnehmen. Drei Jahre später veranstaltet Prinzessin Nathalie, Peters Schwester, die Hochzeitsfeier zweier ihrer Lieblings- zwerge; 93 Zwerge aus allen Teilen des Reiches werden zu dem Feste als Gäste herbeigeschafft. 1) Im Januar 17 13 stirbt ein Zwerg, den Peter besonders geliebt hat. Man veranstaltet ein feierliches Begräbnis. Vier Popen und dreißig Kirchen- sänger gehen vor dem Sarge her, der auf einem von sechs

der Narren; 1548 wurde der Spaß verboten. In Chartres wurden bis zum An- fang des sechzehnten Jahrhunderts in den ersten Tagen eines jeden Jahres von den Kantoren ein [Papi-fol, ein Papst der Narren, und Kardinäle gleicher Art gewählt. Die Mönche von Laon ernannten einen aus ihrer Mitte zum Patriarchen der Narren. Man sehe weitere Parallelen bei Dinaux und Brunet, Les sociales badines, bachiques, litteraires et chantantes, leur histoire et leurs travaux, Paris 1867, I 334. Floegel, 1. c. S. 299 ff.

1) Diese seltsamen Feste sind schon so oft geschildert worden, daß ich sie hier nicht ausführlicher zu erzählen brauche. Man vgl. Bernhard Stern, Die TRomanows I. erstes Kapitel; und Flögel, Geschirhtp df>r TTnfmrron. 524—529.

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winzigen Rappen gezogenen Wurstschlitten ruht. Hinter dem Schhtten kommen alle Zwerge, die man hat auftreiben können, in schwarzen Kleidern; zum Schlüsse der Zar mit seinen Mi- nistern und Offizieren. 1)

Die Zarin Anna Iwanowna, bei deren Hochzeitsfeier die Zwerge en masse aufmarschieren mußten, ist eine besondere Freundin von Narren, Zwergen und Mißgeburten aller Art. An ihrem Hofe wimmelt es von Krüppeln; die Besnogije und Gorbuschy2) sind die wichtigsten Persönlichkeiten. Wenn ein Gouverneur sich die Gunst der Zarin sichern will, schenkt er ihr einen ekelhaften Neger, eine bucklige Tscheremissin oder einen häßlichen Kalmücken. Besonderen Spaß macht der Kaiserin folgendes oft wiederkehrendes Spiel : Ein Teil der Narren muß sich mit dem Gesichte zur Wand aufstellen, dann tritt eine andere Gruppe heran und schlägt im Takt mit den Fußsohlen auf die Hinterbacken der Vordermänner. In Nach- ahmung des Trinker- und Narrenkonseils Peters des Großen will auch Zarin Anna einen Narrenorden vom heiligen Benno als Karikatur des Alexander-Newskijordens gründen. Sie hat aber doch nicht den Mut des Oheims und läßt den Plan aus Angst vor dem Zorn der Kirche fallen.

Die Narren und Närrinnen genießen Redefreiheit gegen- über den höchsten Personen, nur der Kaiserin dürfen sie nicht nahetreten. Wir finden am Hofe Annas manchen alten Bekann- ten wieder : Vor allen Da Costa, den portugiesischen Juden, den der russische Resident in Hamburg einst Peter dem Großen mitgebracht hat ; und noch andere. Neben den alten aber viele neue originelle Käuze. Wie Iwan der Schreckliche und Peter der Große liebt auch Anna Mitglieder der höchsten Aristokratie zu Hofnarren zu machen. Die vornehmsten Familien des Reiches, die Apraxin, Wolkonskij und Galitzyn müssen der Spaßwut der Kaiserin einen Tribut, eine wahre Blutsteuer ent- richten: Fürst Nikita Fedorowitsch W^olkonskij steht im Rufe, daß er auf seinem Landgute wie ein Sonderling lebe; die Zarin

1) Memoires pour servir ä l'histoire de Tempire russien sous Pierre le Grand par un Ministre etranger, 1725, p. 114.

*) BesHorirt. ein Mensch ohne Füße; ropöyiiia, eine Bucklige.

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befiehlt ihm, bei Hofe zu erscheinen, und macht ihn zum Hof- narren. Ähnhch ergeht es dem Grafen Alexe j Petrowitsch Apraxin, der mit einer Prinzessin Galitzyn verheiratet ist. Auf eine merkwürdige Weise gelangt auch der Schwiegervater Apraxins zu der Würde eines Hofnarren: Fürst Galitzyn reist nach dem Tode seiner Frau nach Italien, tritt dort zum Katholi- zismus über und heiratet ein einfaches Mädchen aus dem \'olke. Dann kehrt er nach Moskau zurück und lebt hier in aller Stille, sowohl seine zweite Frau aus Eifersucht, als seine Konversion aus Furcht vor Strafe geheimhaltend. Aber das Geheimnis wird enthüllt und die Kaiserin erfährt davon; sie befiehlt, den Fürsten und seine Frau vorzuführen. Beim An- blick des zitternden Paares bricht sie in ein schallendes Ge- lächter aus und jubelt : diesem Manne gebühre der Vorrang vor allen Narren der Welt. Dem Grafen Ssaltykow, dem sie die Bekanntschaft mit Galitzyn verdankt, schreibt sie : ,,Der hat mit seiner Dummheit alle geschlagen; wenn Sie noch seinesgleichen finden, will ich sofort davon verständigt sein." Die Zarin erklärt Galitzyns zweite Ehe und seine Konversion für ungültig; seine Italienerin wird einfach dem Elend ausge- liefert, so daß sie eines Tages, weil sie nicht drei Rubel für ihr Logis bezahlen kann, auf die Straße hinausfliegt und unter- geht ; der Fürst selbst aber wird zum Hofnarren und Knjäs- Kwaßnik, zum Obermundschenk für den Kwaß, ernannt. Die Kaiserin ist mit ihrer Erwerbung außerordentlich zufrieden, und zum Zeichen dessen befiehlt sie dem Fürsten, fortan kein Mensch, sondern eine Henne zu sein! Von diesem Augen- blicke an muß Fürst Galitzyn im Gemache der Zarin stets in einem, mit Eiern gefüllten Korbe wie eine Henne sitzen und gackern; bei Todesstrafe ist es ihm verboten, menschliche Laute auszustoßen.!) Wenn die Kaiserin zur Kirche fährt, muß Galitzyn sich rückwärts auf den Wagen hocken und auf dem ganzen Wege zum Gaudium der Zarin und des Volkes wie eine Henne gackern.

Seltsam ist auch die Karriere des Hofnarren Balakirew. Er war zur Zeit Peters des Großen Schreiber in einem Kloster,

1) Memoiren der Fürstin Daschkow I u;.

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später Studiosus der Ingenieurwissenschaft und schließlich im Hofstaate der Kaiserin Katharina angestellt gewesen. In seiner letzten Eigenschaft verwickelte er sich in die Affäre der Kaiserin mit ihrem Liebhaber Mons, und als diesen des Kaisers Rache traf, wurde auch Balakirew der Inquisition ausgeliefert, ge- peitscht und zu lebenslänglichem Bagno verurteilt. Katharina I. aber vergaß ihn dort nicht; kaum war sie zur Selbstherrschaft gelangt, als sie Balakirew die Freiheit gab. Anna übernahm ihn in ihren Hofstaat und machte ihn zum Hofnarren.

Ein anderer Hofnarr, Pedrillo, ein NeapoHtaner, der eigent- lich Pietro Mira hieß, war als Sänger-Bouffon und erster Violi- nist an die italienische Oper in Petersburg engagiert worden. Eines Tages zerschlug er sich mit dem Orchesterchef, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als unter die Hofnarren zu gehen. Er mußte gewöhnlich beim Kartenspiel für die Kaiserin Bank halten, und das Sprichwort wurde wahr: der Narr hatte Glück und gewann ein Vermögen. Seine Frau war von außer- ordentlicher Häßlichkeit ; als Anna ihn fragte : „Hast du wirklich eine Ziege geheiratet?" entgegnete er: ,, Tatsächlich; und sie wird nächstens gebären. Ich hoffe, daß Ew. Majestät sie be- suchen und nicht die üblichen Geschenke vergessen werden." Die Zarin ging auch richtig mit dem ganzen Hofstaat hin, und man fand Pedrillo im Bette, an seiner Seite eine große, mit Bändern und Spitzen geschmückte Ziege als Wöchnerin. Die- ser Narr verstand das Geschäft. Die Kaiserin schickte ihn mehrmals ins Ausland, um Sänger und Sängerinnen zu enga- gieren, Schmuck und Möbel einzukaufen, und er wußte dabei seinen Vorteil wahrzunehmen. Die Schwatzfreiheit, die ihm als einem Narren am Zarenhofe gestattet war, glaubte er aus dem sicheren Hinterhalte an der Newa heraus auch gegenüber fremden Fürstlichkeiten mißbrauchen zu dürfen. Als 1735 ^^^ Spanier Toscana besetzten, schrieb Pedrillo an Gastoh de Medi- cis einen Brief, worin er ihm im Namen der Zarin 15000 Ko- saken Hilfstruppen versprach ,,für eine konvenable Quantität Danziger Schnaps von jener Sorte, an der Ew. Hoheit sich in Böhmen zu betrinken pflegten." i)

1) Waliszewski', L'heritage de Pierre le Grand, 267.

Bestrafung der Frau Lopuchin.

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Neben den offiziellen Narren gibt es freiwillige, die sich durch ihre sogenannten Spaße in die zarische Gunst einschmei- cheln wollen; zu ihnen zählt der alte Generalleutnant Ssalty- kow, der durch seine unübertrefflichen Gliederverrenkungen der Kaiserin stets ein unstillbares Lachen verursacht.

Die Spezialität des Hofes der Kaiserin Anna sind die När- rinnen. Aus Kurland hat sich die Kaiserin als ihre Haupt- favoritin die Frau Anna Iwanowoia Juschkow mitgebracht, deren wichtiges Geschäft es ist, der Zarin die Fußnägel zu schneiden. Anna ißt leidenschaftlich Schweinebraten mit Essig und Zwie- bel; eine Kalmückin von abscheulicher Häßlichkeit versteht diese Leibspeise der Herrscherin am besten zuzubereiten, und da die Köchin beim Präsentieren des Bratens die entsetzlichsten Grimassen schneidet, erhöht sie der Herrin den Genuß und erwirbt sich den Rang einer Hofnärrin. Diese Närrin, Anna Iwanowna geheißen wie die Zarin selbst, wird nun auf Befehl der Kaiserin mit dem Narren Galitzyn vermählt, und ihre Heirat gibt im Winter 1 740 Veranlassung zu dem berühmtesten russischen Narrenstück, zu der Errichtung des Palastes aus Eisi), der nach allen Regeln der Architektur aus mächtigen Eis- quadem hergestellt wurde und wie aus einem einzigen Stücke gemacht schien. Vor dem Gebäude standen sechs Kanonen aus' Eis auf Lafetten von Eis ; es wurde aus diesen Kanonen mehrmals mit eisernen Kugeln geschossen. Am Eingang des Eispalastes befanden sich zwei Delphine aus Eis, aus deren Rachen des Abends brennende Naphta floß. Im Hause selbst gab es Treppen, zahlreiche Zimmer, Galerien aus Eis. Die Fenster waren aus dünngeschabtem Eise gemacht. Bei Nacht wurde das Haus illuminiert. Auf den Tischen aus Eis standen Uhren, Spielkarten, Spielmarken, Geschirre --- alles aus Eis. In diesem Eispalaste feierte Galitzyn seine Hochzeit mit der Kalmückin, und in der Hochzeitsnacht mußte er mit seiner jungen Gemahlin in einem Bette aus Eis schlafen.

1) Wahrhaffte und Umständliche Beschreibung und Abbildung des im Monath Januarius 1740. in St. Petersburg aufgerichteten merckwürdigen Hauses von Eiß, mit dem in demselben befindlich gewesenen Haußgeräthe; den Liebhabern der Natur-Geschichte mitgetheilt \on Georg Wolffgang Krafft. 1741- 4°-

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Eine bemerkenswerte Truppe am Hofe der russischen Zarinnen des achtzehnten Jahrhunderts bilden die zahlreichen offiziellen Fußsohlenkitzlerinnen. Die russischen Frauen hatten seit jeher in ihrem Terem Sklavinnen, deren einzige Pflicht es war, der Herrin die Fußsohlen zu kitzeln, um ihr Wollust zu bereiten. Anna Iwanowna erhob dieses Amt zuerst zu einer offiziellen Hofwürde. Die Regentin Anna Leopoldowna, die Braunschweigerin, die nach dem Tode der Zarin Anna Iwa- nowna für das Wickelkind Iwan die Herrschaft führte, hatte in ihrem Alkoven nicht weniger als sechs offizielle Fußsohlen- kitzlerinnen, die der Fürstin um die Wette Vergnügen zu be- reiten trachteten. Während diese Frauen die Sohlen kitzelten, erzählten sie auch schlüpfrige Geschichten und sangen obszöne Lieder. Bei der Zarin Elisabeth bilden die Kitzlerinnen ein großes Korps, das unter Aufsicht eines besonderen Beamten, des ehemaligen .Ofenheizers und späteren Generalleutnants Was- silij Iwanowitsch Tschulkow steht; Tschulkow hat am Hofe Elisabeths die Stellung eines Kammerherrn; seine spezielle Pflicht ist es, allabendlich seine Matratze vor dem Bette Elisa- beths auszubreiten und zu ihren Füßen zu schlafen, ganz gleich, ob die Zarin in ihrem Bette allein liegt oder Gesellschaft hat. Die Kitzlerinnen besitzen nicht geringeren Einfluß als die Günst- linge; ja oft muß ein Liebhaber, um sich dauernd in der Gunst der kaiserlichen Maitresse zu erhalten, die Hilfe einer Kitzlerin in Anspruch nehmen. Der Günstling Schuwalow bringt seine eigene Schwester Elisabeth Iwanowna auf einen dieser wich- tigen Posten, damit er in ihren Schwätzereien jederzeit eine Stütze finde. Elisabeth Iwanowna weiß ihre Stellung so vor- treffhch auszunützen, daß ein Zeitgenosse sie den eigentlichen Minister des Äußeren nennt. Später erhält sie eine scharfe Konkurrentin in der Person der Frau Woronzow, der leibhaf- tigen Gemahhn des durchlauchtigsten Großkanzlers. Diese kitzelt der wollüstigen Zarin die Sohlen und erfreut sie noch in manch anderer Weis?, um dann von der in Verzückung schwel- genden Frau nicht bloß Gnaden für den Gatten zu erbitten, sondern auch Vorteile für den englischen Gesandten zu er- haschen, der durch seine Freigebigkeit den mit ihm kon- kurrierenden französischen Gesandten Marquis de l'Höpital leicht

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besiegt. Auch die übrigen Kitzlerinnen entstammen größten- teils der vornehmsten Gesellschaft: so Mawra Jegorowna Schepelejew und Maria Bogdanowna Golowin, die Witwe des Admirals Peters des Großen. Die Golowin führt auch den besonderen Titel : XHcn-B-öaSa, Klapsweib, weil sie hauptsäch- lich die durch Ausschweifungen erschöpfte Zarin durch Klap- sen auf den kaiserlichen Hintern zu erfrischen hat.i»

Der letzte russische Hofnarr, der diesen Titel offiziell führte, war Aksakow; er nahm ein böses Ende. Er erlaubte sich einmal mit der Kaiserin Elisabeth einen Scherz zu machen, indem er aus seinem Hute ein Stachelschweinchen herausfallen ließ. Die Kaiserin hielt das Tier für eine Maus und flüchtete schreiend; Aksakow wurde der Geheimen Kanzlei überliefert und zur Strafe der Tortur verurteilt, ,,weil er Ihre Majestät er- schreckte." 2) Katharina II. schaffte die Institution der Hof- narren ab; aber sie hatte doch, wenn auch mehr keine offi- ziellen Titulare dieser Würde, einen Lustigmacher in der Person des Leo Nary^schkin, der ihr in seinen Taschen stets allerlei Kleinigkeiten, Süßigkeiten, Spielereien mitbringen mußte; imd eine alte Plaudertasche, Matrona Danilowna, die das Recht hatte, den Höflingen die größten Frechheiten ins Gesicht zu sagen. Nicht-offizielle Hofnarren und Hofnärrinnen finden wir am Zarenhofe noch bis in die jüngste Zeit. 3) Aber sie spielen nicht mehr die wichtige Rolle, wie namentlich im

1) D<^ Vergleiches halber lese man folgende Stelle aus Flögeis Geschichte der Hofnarren, Liegnitz und Leipzig 1789, S. 120 (^'on den Lustigmachern bei den Griechen und Römern): „Es haben nicht allein Männer ihre Schmarotzer, sondern auch Frauen ihre Parasitinnen gehabt, als die Königinnen in Syrien und Cypem, welche Leitern genannt worden, weil sie ihren Frauen den Rücken darbothen, daß sie sich deßelben als einer Leiter oder Stiege bedienten, wenn sie auf den ^Vagen steigen wollten. In Macedonien wurden sie zu schändlichen Verrichtungen gebraucht (loißadEg). Andere Frauenzimmer bedienten sich, in Ermangelung menschlicher Spaßmacher, gewisser Thiere, womit sie sich die Zeit vertrieben."

2) Catherine II, Memoires, Londres 1859. 115.

3) Der Großfürst Konstantin Pawlowitsch, der Diktator Polens, hatte einen Affen als Spaßmacher. Einmal ergriff der Affe eine Flinte und schoß auf den Großfürsten, der nur durch eine schnelle Bewegung der Kugel entging. Vgl. Harring, Memoiren über Polen, Deutschland 1831. S. 61.

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Laufe des achtzehnten Jahrhunderts. Die Französierung Ruß- lands machte unter EHsabeth schon, dann aber unter Katha- rina II. solche Fortschritte, daß die Gesellschaft sich der alten moskowitischen Narrensitten und Maskeraden zu schämen und europäisch zugeschnittene Unterhaltungen und Tänze, elegante Bälle und vornehme, wenn auch langweilige Komödien zu be- suchen begann.

22. Tanz und Bälle.

Tanzen Ketzerei Ein geplanter Ball als Zarenstürzer Peters Reformwerk Polizisten müssen Tänzerinnen bringen Peter der Große als Tanzmeister Zeremonialtänze Am Hofe der Zarin Anna Rasumowskijs Tanzstunden Toilettenluxus der Kaiserin Elisabeth Aus den Erinnerungen der Kaiserin Katharina Maskenbälle Am Hofe Katharinas Stolz der AdeHgen Geschichte des russischen KlubweseTis Paul verbietet Tanzen und Klubs Neues Leben unter Alexander I. Ball und Politik Der Herzog zu Vicenzia und Frau ^^^adek Kaiser Alexander und Naryschkin Sitteniosigkeit auf den Bällen der Vornehmen Nikolajs I. Sittenstrenge Etikette Der Bart des O'rchesterdirektors Tanzwut der Kaiserin Alexandra Katha- rina Dolgoruckij auf den Hofbällen Volkstänze Volksspiele Der Tauben- tanz — Sexueller Charakter der Nationaltänze Schumki oder Tanzbrauser der Kosaken Obszöne und erotische Tanzlieder aus der Ukraine Der Text der Kamarinskaja Der Kranichtanz Der Chaliandratanz Pol- nischer Nationaltanz Tänze der Wotjäken und Kalmücken Tartarische und tscherkessische -Tänze.

Der Tanz im alten Rußland konnte infolge der strengen Trennung der Geschlechter nur eine Unterhaltung der niede- ren Volksklassen sein. Der Kirche und den Orthodoxen war Wissenschaft Ketzerei, Kunst ein Verbrechen, Musik und Tanz eine Entheiligung des Glaubens. Die Polin Marina, die Ge- mahlin des Pseudo-Dmitrij, beschleunigte selbst den Sturz und die Ermordung des falschen Zaren dadurch, daß sie im ehr- würdigen Kremlpalaste einen polnischen Ball veranstalten wollte. 1} Erst Peter der Große sah auch in der Einführung der Bälle nach europäischer Art ein kulturelles Reformwerk. Er zerrifi mit rauher Hand die Traditionen und zwang die Ehe-

1) Karamsin, deutsche Ausgabe X 238.

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männer, ihre Frauen aus dem Terem zu befreien, in die Gesellschaft zu schicken und in den Armen fremder Männer herumdrehen zu lassen. Die Frauen folgten zumeist willig und freudig dem zarischen Befehle. Aber es gab auch manche, die aus Furcht vor dem eifersüchtigen Gatten, aus Angst vor der Strafe des Himmels oder aus bloßer Trägheit mit den alten Gewohnheiten der Abgeschlossenheit hinter vier Mauern und der Scheu vor fremden Männern nicht brechen wollte. Diese Ängstlichen und Zögernden wurden von der Polizei ab- geholt und gewaltsam in den Tanzsaal geschleppt.

Lefort, der Lehrer und maitre de plaisir des jungen Zaren, hatte in seinem Palaste in der Sloboda zu Moskau einen Ball- saal einrichten lassen, der 1500 Personen fassen konnte. Die ersten Bälle müssen gar kurios gewesen sein. Die Bojaren und ihre Frauen hatten sich von ihren Leibeigenen und Sklavinnen zwar oft etwas vortanzen lassen, aber selbst nicht getanzt, i) Zur Not könnten sie nun wohl einen Nationaltanz nach dem Muster ihres Gesindes nachhopsen, aber Peter verlangt von ihnen gleich europäische Zeremonialtänze nach allen Regeln der Kunst. Da bleibt schließlich dem Zaren nichts anderes übrig, als selbst den Tanzmeister zu machen und seine Russen tanzen zu lehren. Noch lange nach der Gründung von Petersburg sieht man Peter den Großen als Tanzmeister Bälle eröffnen, der Gesellschaft vortanzen, und alles macht im Takte die Bewegungen und Ver- renkungen des hohen Herrn nach. Während man aber beim Tanzen selbst die Regeln streng beobachten muß, darf man die Etikettefragen ganz außer acht lassen. Der Kaiser ergreift die erstbeste Frau, die ihm gefällt, und dreht sich mit ihr, bis er genug hat; so steht es auch jedem der Gäste frei, die Kaiserin ohne weiteres zu einem Tänzchen aufzufordern. 2) Nur für die Hochzeitsfeste der Vornehmen hat der Zar genau fest- gestellt, in welcher Reihenfolge und was für Tänze man tanzen müsse : Sobald die Tafel aufgehoben ist, so befahl die kaiser-

1) Reise nach Norden / anno 1706. S. 155: „Die Russen können nicht tantzen / und halten dafür / der Tantz komme ihrer Gravität nicht zu / doch geschiehet es zu v/eilen / daß sie mitten in einer Debauche ihre Tartarische und Polnische Sclaven tantzen lassen".

2) Bergholz bei Büsching XTX 13^, 154 und 170.

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liehe Instruktion, tanzt zuerst der Hochzeitsmarschall mit der Braut, während die zwei ältesten Schaffer die Brautmutter und Brautschwester engagieren. Diese drei Paare tanzen polnisch, nachdem sie vorher einige Touren mit langsamen Schritten gemacht und im Vorbeitändeln der Gesellschaft ihre Reverenz erwiesen haben. Dann tanzt der Marschall, der seinen Mar- schallstab in der Linken hält, noch einmal mit der Braut, während die Brautmutter und Brautschwester von zwei anderen Schafiern engagiert werden. Hierauf tanzt der Bräutigam mit der Braut, der Bräutigamsvater mit der Brautmutter, der Braut- bruder mit der Bräutigamsschwester. Dann tanzen wieder Bräutigam und Braut, ferner die Bräutigamsmutter mit dem Brautvater, und die Brautschwester mit dem Bräutigamsbruder. Schließlich tanzt der Vorschneider mit jeder Brautjungfer. Bei allen diesen Tänzen muß der Marschall mit dem Marschall- stabe allein voraushüpfen. Nachdem die Zeremonialtänze be- endet sind, herrscht Tanzfreiheit.

Trotz des Eifers, den Peter persönlich auf diesem Zivili- sationsgebiete entfaltet hat, können sich die Russen nur schwer an die Bälle nach europäischer Art gewöhnen. Am Hofe der Kaiserin Anna Iwanowna herrscht bei Bällen die größte Ver- wirrung. Die Zarin hat zwar den französischen Ballettmeister Landet eigens dafür engagiert, daß er die Hofbälle arrangiere i), aber der gute Mann karm nicht verhindern, daß mitten im zierlichsten Menuett ein Unteroffizier der Garde mit seiner Gattin, einem Kosakenweibchen aus der Ukraine, einen feurigen Schurawlj, einen schmachtenden Golubez oder einen phäni- schen Zigeunertanz aufführt. Selbst die Kaiserin Elisabeth Petrowna, der es gelungen ist, ihren Tartarenhof mit einer brutal dicken französischen Schminke zu übermalen, muß ihren heimlichen Gemahl, den ehemaligen Kirchensänger Ra- sumowskij, in den Schäferstunden im Tanzen unterrichten und ihm schließlich, da ihre Mühe umsonst ist, einen Franzosen, der für den Zarenhof Ballette komponiert, als ständigen Lehrer der Tanzkunst beigesellen. 2) Im übrigen geht es bei Elisabeths

*) HBaiTb 3a0'kinffb, ncropHTOCide 3TK)äh, II 447. 2) Waliszewski, La derniere des Romanov, 51, 65; 40 42.

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Hoffesten schon prunkvoll genug zu. Die Zarin treibt einen unerhörten Toilettenluxus. Als Großfürstin war sie knapp ge- halten gewesen, nun holt sie alles fieberhaft hastig nach. Sie braucht viel, denn sie ist sehr dick, schwitzt furchtbar und muß während eines Balles wenigstens dreimal die Wäsche und die Kleider wechseln. Ferner zieht sie dasselbe Kleid nicht gern viele Male an. So häufen sich in ihren Garderobeschrän- ken ganze Magazine auf. Im Jahre 1753 verbrennen beim Ausbruch eines Feuers in ihrem Moskauer Palais viertausend Roben. In ihrem Petersburger Palais findet man nach ihrem Tode 15000 Kleider, zwei Koffer vollgepropft mit Seiden- strümpfen, tausende Taschentücher und hundert Stück noch nicht angeschnittener Stoffe. Eigens dazu angestellte Hof- beamte müssen auf die im Hafen ankommenden Schiffe auf- passen und im Namen Elisabeths Hand auf die Nouveautes legen, ehe andere Frauen sie zu Gesicht bekommen. Der rus- sische Gesandte, der 1760 in Paris weilt, um die Beziehungen beider Länder, die unterbrochen waren, wieder anzuknüpfen, verwendet seine meiste Zeit dazu, um Seidenstoffe mit den neuesten Mustern aufzutreiben. Der englische Gesandte in Petersburg, Lord Hyndford, beschäftigt sich tagelang mit Mode- blättern, um für die Zarin Stoffe aus England bestellen zu können. Eine Merkwürdigkeit in der Garderobe Elisabeths sind die zahllosen Männerkleider. Zweimal wöchentlich gibt die Kaiserin in der Ballsaison Maskeraden; sie hat von ihrem Vater den Geschmack an Verkleidungen ererbt und liebt es, bei Hofe in Männertracht zu erscheinen, einmal als französischer Mus- ketier, ein andermal als holländischer Matrose, ein drittesmal als Kosakenataman. Sie hat schöne Beine, und in Hosen kann sie ihre Pracht zur Geltung bringen. Sie ist der Meinung, daß die Männertracht nur sie allein gut kleide, ihre Rivalinnen aber nicht begünstige. Sie befiehlt deshalb, daß bei den Maske- raden die Frauen alle in französischer Herrentracht, die Män- ner in Fraucnkleidern erscheinen, i) Auch sieht sie sehr streng darauf, daß die Modelle jener Kleider und Koiffüren, die sie adoptiert hat, vollständig für sie reserviert bleiben, solange sie

1) Memoires de Catherine II, 148.

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ihr gefallen ; erst dann darf man sie nachmachen, wenn die Kaiserin sie aufgegeben hat. Wehe der Unglückseligen, die es wagt, mit Elisabeth zu konkurrieren, ihr den Preis der ersten Schönheit im Reiche oder den Rang der geschmack- vollsten Frau am Hofe streitig zu machen; die arme Frau Lopuchin zieht sich aus solchem Anlaß den Zorn der Zarin zu und wird dem Henker überliefert, der mit der Knute ihre Schönheit in Fetzen reißt.

Eine glänzende Ballsaison ist der Winter 1745/46. Ruß- land führt Krieg, aber am Hofe Elisabeths amüsiert man sich. Die Vornehmen sind gehalten abwechselnd bald in diesem, bald in jenem Palaste Maskenbälle zu veranstalten. Es vergeht kein Abend ohne Fest. Tagsüber gibt es ein wildes Treiben von Schneiderinnen, Modistinnen und Friseurinnen, und der Tanzmeister fliegt von Palast zu Palast, um die Schönen die neuesten Pas zu lehren. Abends um sechs beginnt die Reunion mit einem Tanz für die Jugend und einem Kartenspielchen für die Älteren. Um zehn Uhr geht man zum Büfett. An einem Tische speisen nur die Kaiserin, ihr Neffe Peter, dessen Gemahlin Katharina und einige Privilegierte; die übrigen Gäste nehmen das Souper stehend ein. Nach dem Essen wird wieder ge- tanzt bis zum frühen Morgen. Eine höfische Etikette wird bei diesen Bällen nicht beobachtet. Die Hausherren und Hausfrauen brauchen niemandem beim Eintritt entgegenzu- gehen, niemanden beim Fortgehen hinauszubegleiten, selbst die Kaiserin macht keine Ausnahme. Ja, es ist geradezu untersagt, sich von den Plätzen zu erheben, wenn die Kaiserin plötzlich in einen Ballsaal kommt, was häufig geschieht ; Elisabeth pflegt sich bald bei einem Aristokraten, bald bei einem fremden Ge- sandten selbst zum Ball oder Souper einzuladen.

Auch um die Weihnachtszeit 1750 geht es lustig her; Katharina II. erzählt in ihren Memoiren i), daß bei Hofe Bälle und Maskeraden miteinander abwechselten und des Tanzens kein Ende war: ,,Um jene Zeit tanzte ich gern. Auf großen Bällen mußte ich mich dreimal umkleiden. Mein Anzug war immer sehr gewählt. Wenn auf einem Maskenball mein Kostüm

1) Seite 155.

1

Elisabeth Alexiewna, Gemahlin Alexanders I.

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allgemein gefallen hatte, so zog ich es natürlich nie mehr an; denn was einmal Effekt hervorgebracht, darf zum zweiten ^lale nicht mehr auf Wirkung rechnen. Auf Maskenbällen, wo die Damen in Herrenkleidem und die Herren in Frauenkleidern erschienen, trug ich prachtvolle, auf allen Nähten gestickte Kostüme, und die Kaiserin machte mir keine Vorwürfe darüber. Ich muß bekennen, daß die Koketterie damals bei Hofe ganz gebräuchlich war, und jede die andere durch Eleganz zu über- treffen suchte. Ich erinnere mich, daß zu einem Maskenballe sich alle Leute neue schöne Kleider machen ließen, und ich verzweifelte daran, sie übertreffen zu können."

Als Kaiserin ist Katharina durchaus nicht mehr so tanz- lustig. Und namentlich, seit sie älter geworden ist, zieht sie den Kartentisch dem Ballsaal vor und veranstaltet in ihrem Palaste lieber Gesellschaftsspiele als Tanzunterhaltungen. In der Intimität ihrer Ernütage macht man lustige Verse, spielt man Theater und treibt allerlei Ulk. Wer beim Pfänderspiel ^ erliert, muß zur Strafe ein Glas Wasser auf einen Zug hin- untertrinken oder gar horribile dictu eine Passage aus Tred- jakowskijs Telemach deklamieren ohne zu gähnen. Es gibt selbstverständlich auch große Bälle, Galafeste, denn man ist ja ein europäischer Hof geworden; aber da herrscht die kühle Zeremonie; die Zeit der Tanzwut bei Hofe ist vorbei. Wie der Hof ist auch die Gesellschaft fein liniiert und genau ge- messen geworden. Die Adeligen in Moskau haben an jedem Donnerstag einen Ball des Adels, bei dem ein Bürgerlicher nicht erscheinen darf; sein Eindringen wäre eine förmliche Revolution, müßte einen Kampf auf Leben und Tod her\'or- rufen. Diese Adeligen verachten das Bürgertum, das Volk, mithin auch alles Nationale, tanzen nur Quadrille, Polonaise' Anglaise und Menuett.

So bleibt das Bürgertum darauf angewiesen, sich selbst zu sammeln. 1770 entsteht in Petersburg der erste Klub, der englische genannt, weil er zumeist von englischen und aus- ländischen Kaufleuten der Hauptstadt begründet wurde.*) 1772

M Konstantinopel und St. Petersburg, eine Zeitschrift. Jahrrane i8o<; ' 4- Heft, S. 528. -»5 6 5.

Stern, Geschichte der öffentl. Sitthchkeit in Ru&land.

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folgt die Eröffnung des ersten musikalischen Klubs, 1776 die Begründung des Bürgerklubs; 1783 konstituiert sich der Klub der vereinigten Gesellschaft, gewöhnlich der amerikanische ge- nannt; endlich kommen dazu 1785 der ältere Tanzklub und 1790 die neue bürgerliche Tanzgesellschaft. Außerdem gibt es eine Menge englische und deutsche Ballgesellschaften. 1781 wird auch ein gelehrter Klub eröffnet, aber den paar Gründern gesellt sich kein einziges Mitglied, und die Pforten dieses Klubs bleiben ewig geschlossen. Der verrückte Paul haßt alles, was anderen gefällt. Vor allem wird der Walzertanz als staats- gefährlich verboten, dann fällt man über die Klubs her, schon das Wort Klub hat in den Ohren des wahnsinnigen Monarchen einen aufrührerischen Klang; kein Klub darf fortan bestehen, es gibt nur noch simple musikalische Gesellschaften mit be- hördlich konzessionierten Programmen und vorsichtig zensu- rierten Musikstücken. Erst Zar Alexander Pa wie witsch ge- stattet neuerdings die Eröffnung von Klubs, läßt sich sogar in diesem und jenem als Mitglied einschreiben und erscheint bei den Bällen der Bürger mit der Kaiserin und den Großfürsten zu Gaste.

In der Gesellschaft und bei Hofe gibt es wieder Festlich- keiten, aber es ist nicht mehr die ungetrübte und zügellose Fröhlichkeit von einst, die Politik singt oft ihr garstig Lied zur Begleitung: 181 1 veranstaltet der französische Botschafter Herzog zu Vicenzia einen Maskenball. Den Gästen ist vorge- schrieben im Kostüm venezianischer Edelleute zu erscheinen. Das diplomatische Korps und die Ausländer befolgen die An- ordnung; die russischen Gäste aber kommen alle unmaskiert auf den Maskenball und in möglichst einfachen Kleidern, oder gar in russischen Nationaltrachten; das ist eine Demonstration gegen Napoleon, ein .Ärgern ganz eigener Art. Auch die Gegen- partei demonstriert. Die Vertreter jener Staaten, die Napoleon unterworfen hat oder die mit ihm verbündet sind, erscheinen in Prachtkostümen. Der Herzog wütet gegen- die Russen, muß aber schweigen, kann doch die Einheimischen nicht einfach hinausweisen. Frau Wladek, die Gattin eines Kammerherrn des Zaren, ist, die einzige Russin, die in einem glänzenden venezianischen Kostüm auftritt. Der Botschafter bemächtigt

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sich sofort dieser einzigen Venezianerin unter den Russen und Russinnen, unterhält sich den ganzen Abend nur mit ihr und vernachlässigt die übrigen russischen Damen demonstrativ. Aber dahinter stecken nicht bloß politische Gründe; Frau Wladek ist die Maitresse des Botschafters, und nicht aus Ver- achtung der nationalen Motive, sondern aus Liebe hat sie das venezianische Kostüm angezogen. Darum verurteilt auch nie- mand die unpatriotische Handlungsweise der Dame. Der Liebe wird alles verziehen. Daß diese Liebe ein Ehebruch ist, das tut nichts. Diese ganze Gesellschaft denkt exzessiv liberal in solcher Hinsicht ; der Kaiser selbst gibt das Beispiel, lebt öffent- lich mit der Frau seines intimsten Jugendfreundes, der schönen Maria Antonowna Naryschkin, und ernennt in einem humor- vollen Augenblick den betrogenen Gatten zum Oberstjäger- meister mit den Worten: „Dem ich Hörner aufgesetzt habe, der soll auch in Harmonie mit den Hirschen leben." Die Bälle sind die beliebtesten Rendezvousplätze, wo sich alle Liebhaber mit ihren Geliebten treffen; und jener, der noch keine Mai- tresse hat, kann sicher sein, auf den Bällen der Vornehmen sofort eine zu finden. ,,Ich erinnere mich," schreibt der General Löwenstern in seinen Memoiren i), „daß ich beim Verlassen eines Balles eine Frau von vornehmstem Range mit mir führte, die bei mir über Nacht blieb." Kaiser Nikolaj I. räumt mit solchen Sitten auf. Sich selbst erlaubt er zwar alles, dem ge- wöhnlichen Sterblichen gegenüber aber läßt er unerbittliche Strenge walten. Junge Mädchen dürfen nur bei ausgesproche- nen Familienstücken im Theater erscheinen. Ehebruch wird unnachsichtlich bestraft, der Ehebrecher verliert seine Stellung. Liebesabenteuer bei Hofe sind Kapitalverbrechen. Im Anitsch- kowpalais, in Gatschina, im Winterpalais sind die Bälle kalte Spiegelbilder des absoluten Willens des Alleinherrschers. Jede Rangklasse hat ihre genau vorgeschriebenen Kostüme zu tra- gen, niemand darf sich auch nur durch ein Bändchen oder ein Knöpfchen eleganter machen, als seiner vom Zaren fest- gesetzten Stellung entspricht. Man muß den Anstand wahren bis zur Selbstverleugnung; und für den, der die Etikette ver-

1) a. a. O. I 168—170.

25*

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letzt, ist Sibirien eine gelinde Strafe. Zur Zeit der Manöver in Wosnetschensk gibt der Handelsstand der Stadt Odessa der kaiserlichen Familie zu Ehren einen Ball. Aber die das Fest arrangieren und bezahlen, dürfen nicht dabei erscheinen. Der Hof, die Minister und Offiziere werden doch nicht mit den Handelsleuten tanzen. Es ist also wirklich nichts vom Plebs zu sehen. Da erblickt plötzlich die Kaiserin als Direktor des Orchesters einen Mann mit langem Barte. Nur Leibeigene und Bauern tragen solche lange Barte. Die Kaiserin ruft entsetzt den Zeremonienmeister imd befiehlt ihm, sie von demi Ärgernis zu befreien. Der Zeremonienmeister ruft den Orchestermeister ein wenig zur Seite, schneidet ihm einfach den Bart ab, und der Zwischenfall ist beseitigt i), der Zeremonienmeister hat durch seine Geistesgegenwart seine Stellung gerettet. Und just diese Kaiserin Alexandra, die Tochter der Königin Luise von Preußen, kennt nur ein einziges Vergnügen : das Tanzen. Sie walzt, wie ein Zeitgenosse schreibt, mit Wut und Tollheit ; sie tanzt mit Leidenschaft und endlos; es ist das einzige Ge- schäft ihres Lebens. Sie gibt manchmal Morgenbälle, die bis in den nächsten Tag währen und bei denen sie nicht vom Platze weicht. Auf ihrem verwüsteten Gesicht kann man die Zahl der durchtanzten Nächte ablesen ; aber die hohe Frau versteht der Terpsichore die strenge Etikette anzuhängen und ihre Leiden- schaft nur in den Armen der Vornehmsten des Reiches auszu- leben.

Seit jener Zeit ist das Tanzen bei Hofe nicht wieder gemüt- lich geworden. Selbst als Alexander II. seine Geliebte Katha- rina Dolgoruckij sich schon hat morganatisch antrauen lassen, also eine unebenbürtige Zaren-Gattin den Winterpalast be- herrscht, kann das Zeremoniell bei den Hofbällen nicht durch- brochen werden. Keine Hoffestlichkeit vergeht, ohne daß die schöne Dolgoruckij einen Strom von Tränen ob der ihr zuge- fügten Zurücksetzung vergießen würde. Aber eines Tages end- lich ist der Augenblick der Genugtuung gekommen. Auf einem Hof ball postiert sich ein junger Offizier mit einer Dame von nicht tadellosem Rufe bei der Quadrille keck in die Reihe der

1) Bernhard Stern, Die Romanows, II 50.

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Großfürsten und Großfürstinnen. Eine Prinzessin beklagt sich beim Kaiser. Alexander II. ruft den jungen Offizier und sagt ihm: ..Wähle deine Tänzerin nach Beheben, aber nicht mit jeder darfst du in die Reihe der Großfürstinnen treten." Der junge Offizier verbeugt sich, engagiert die Fürstin Dolgoruckij und begiebt sich abermals in die Reihe der Großfürstinnen. Diese sind wütend, wagen aber jetzt nichts zu reden, und der Kaiser lacht über den vortrefflichen Witz.

Bei Hofe und in der Gesellschaft werden nur fremde Tänze ge^ tanzt, die nationalen kennt bloß das Volk. Für Ball hat die rus- sische Sprache das französische Wort übernehmen müssen : 6ajn>. Für Tanz aber hat sie neben dem Fremdwort TaHen,i) noch das alte russische njiacKa. Das Volk liebt den Tanz und gibt sich ihm bei jeder Gelegenheit im Hause, in der Isba, auf dem Dorf- platz, auf dem Jahrmarkt und bei den Volksfesten mit Leiden- schaft hin. Man unterhält sich auch mit verschiedenen Spielen. Am beliebtesten von diesen sind die folgenden : Das Ringen, öopoTfc, wo die halbentblößten Athleten einander zu Boden zu werfen suchen. Der Faustkampf, KyjiaHHJtiH: 6on, ähnlich dem englischen Boxen; die Kämpfer tragen dabei dicke Hand- schuhe. CBaÜKa oder cBaeHKa ist ein eiserner Bolzen mit einem Knopfe, den man geschickt in einen am Boden befestigten Ring hineinzuwerfen trachtet; wer einen Fehlwurf tut, muß so lange beim Ziele stehen und das Instrument aufheben, bis einem an- deren ein Fehlwurf passiert. MflH:iE> oder Ma^HK^b ist ein schwe- rer Lederball, mit dem die russische Jugend schon seit Jahrhun- derten Football spielt. Eine echt russische Unterhaltung ist das Stockschlagen, ropo^Kn: in einem Kreise, den man mit Kreide zieht, stellt man vier Kegel nebeneinander und einen fünften obenauf ; dann zielt man aus einer bestimmten Entfernung mit einem langen Stock; wer alle fünf Kegel auf einen Hieb umwirft und am weitesten hinwegschleudert, der hat gewonnen. Diese Spiele haben die Nichtrussen von den Russen gelernt. Ein wotjäkisches Lied sagt: „Auf euerem Hofe ist grüner Rasen, so wollen wir spielen, Ringe werfen." Ebenso verbreitet ist bei den Wotjäken das Stockspiel. Doch spielen die wotjäkischen Knaben auch ein bei den Russen nicht bekanntes Ballspiel, welches die Badstube heißt: auf der Erde zeichnet man einen

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Kreis, in diesen tritt einer der Spieler, und die anderen zielen mit einem Ball nach ihm ; er muß so lange aushalten, schwitzen daher der Name des Spiels bis er einmal durch gewandtes Springen einem Wurf entgeht, dann ist er befreit, und jener, dessen Ball ihn nicht getroffen hat, muß statt seiner schwitzen. i) Das Hauptvergnügen der Frauen und Mädchen bei allen Völ- kern Rußlands ist das Schaukeln. Aber ob man sich zu diesem oder jenem Spiele begiebt, immer ist die Sehnsucht nach dem anderen Geschlecht das Leitmotiv. So heißt es in einem wotjäkischen Liede: „Wenn ein feiner Regen geht, so ordnet die Taube ihre Federn ; wenn die Mädchen zumi. Spiele gehen, so kämmen sie die Haare und salben sie mit Öl." Wem anders zuliebe ttm sie es, als um dem Manne zu gefallen?

Des Ringens und des Spielens oder des Schaukeins wird man endlich überdrüssig ; dann beginnt das Singen imd Tanzen, und davon hat - man nie genug. Man tanzt nicht bloß im Sommer, sondern auch im Winter auf offener Straße ganze Nächte hindurch bis zur Erschöpfung. Der alte Nationaltanz der Russen bestand darin, „die Muskeln zu pressen, die Arme zu rühren, mit den Händen zu fächeln; man drehte sich immer auf demselben Platz herum, hockte sich nieder, stampfte mit den Füßen." Mit Tänzen feierten die Slawen die geheiligten Zeremonien zu Ehren ihrer Götter, die Wahl und die Hochzeit des Fürsten, die Geburt eines Kindes. 2) Der russische National- tanz weist die Züge des uralten slawischen Charakters auf. Er hat seine Originalität bis heute behalten, und dieses Ori- ginelle ist das starke Hervorschlagen der sexuellen Leiden- schaft in den sanften wie in den wilden Takten. Es gibt kein Volk, das durch die Pantomimen beim Tanze so wie die Russen die verschiedenen Gefühle der Sinnlichkeit ausdrücken könnte. Die Liebeserklärung eröffnet den Tanz, die Gewähnmg oder Versagung schließt ihn. 3) Immer tanzen zwei Personen mit-

1) Max Buch, Die Wotjäken, Helsingfors 1882, S. 76.

2) Chronique de Nestor, II. Anhang S. 69. Karamsin, deutsch I 57, französisch I 86.

3) Bellermann, Bemerkungen über Rußland, I 359. WicheUiausen, Gemähide von Moskwa, S. 301 : ,,Der russische Nationaltanz, bedeutender als

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einander. Das Hauptpas besteht aus zwei Schritten und einem Sprung; es ist ähnlich dem Masurischen oder Hanakischen, aber ungleich mannigfaltiger und veränderlicher. Die Stel- lung der Füße ist überaus künstlich; steht der eine auf dem Absatz, so ruht der andere auf den Zehen; Kopf, Augen, Schul- tern, Arme, Leib, alles ist mit beschäftigt. Zwei Personen treten ganz nahe aneinander heran. Der Mann macht seiner Dame eine stumme Liebeserklärung, sie verhält sich passiv, hebt und senkt bloß die Schultern, wie eine Puppe, und neigt er sich rechts zu ihr, so beugt sie sich hnks von ihm. Das wechselt einige Male. Da wird er eindringlicher, und sie entflieht scheu, aber zögernd. Er folgt ihr, und sie flieht wieder. Da wird er traurig, nun kommt sie ihm tröstend entgegen, schließlich ver- ständigen sie sich und drehen sich jubelnd im Kreise. Dieser Tanz ist der berühmte Golubez, rojTy6eii;'B, der Taubentanz der Großrussen.

Noch deutlicher als der großrussische Tanz sind die Tänze der Kosaken, des Volkes in der Ukraine. Die Großrussen haben keine eigenen Tanzlieder, der Golubez mit seinen gemäßigten geistvollen Bewegungen kann auf jedes Lied hin getanzt wer- den, am liebsten zum Lied vom roten Sarafan. Die Kosaken aber haben zu ihren wildbewegten Tänzen ihre eigenen Schumkii), die Schäumer, Tanzbrauser, Brauselieder, voll hei- ßer Glut und vernichtender, alles hinwegreißender Leiden- schaft 2) :

Ente fliegt auf starkem Fittich,

Rauschet mit dem schweren.

Hast mir gute Nacht gewünschet,

Mögst sie auch gewähren.

Im Sturm des Tanzes zersplittert die eheliche Treue, lösen sich alle Bande :

die meisten Tänze anderer Nationen, drückt unverkennbar den Gang der menschlichen Leidenschaft aus."

*) Von IIIyjitTi., brausen,

2) Wilhelm von Waldbrühl, Slawische Balalaika, Leipzig 1843, S. 329—339. gibt 25 solcher Tanzlieder in wortgetreuer Übersetzung, wovon zwei hier als Proben.

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Ha! das rauscht und das braust, Regen läßt sich spüren! Sag, wer wird wohl mich, die Junge, Heut nach Hause führen?

Der Kosak zecht und zecht, Seine Augen flimmern. Ich führ dich, o Schwarzbebraute, Lasse dichs nicht kümmern !

Führ mich nicht, trautes Herz, Führ mich nicht, ich bitte ! Sonst wird mich mein Mann zerprügeln, Ungeschlacht an Sitte.

Teufel auch ! laß ihn nur ! Burschen, weicht hinüber! Wena dein Mann mich nur erschauet, Rüttelt ihn das Fieber.

Wie im Wind Halme sich Regen, mags ihn rütteln. Aber ich will mich, ich Junge, Noch im Tanze schütteln.

Ha ! das rauscht, ha ! das braust, Geig und Baß sich rühren ! Alle Wissens : der Kosake Wird nach Haus sie führen.

Das sind noch ganz solide Aussprachen, die man auch in der besten Gesellschaft anhören kann. Aber häufiger als an solchen lyrischen Produkten begeistern sich die Tanzwütigen und Liebestollen an Liedern, die von Unflätigkeiten strotzen. Da ist beispielsweise gleich der primitive Originalte"xt der be- rühmten Kamarinskaja ein Sammelsurium gereimter und un- gereimter Gemeinheiten 1) :

1) KQv:i^räöiu. Recueil de dccuments pour servir ä l'etude des tradi- tions populaires (tireä 175 exemplaires). Paris, Welter. VII. Chansons russes. Pag. 67.

Marie Antonowna Naryschkin, Geliebte Alexanders I.

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Ax'lI Tfcl, CyKHH1> CMH-B, KaMapHHCIciB: 'NiyJKHK'fcl

nbHHBiii 6e3i> inTaHOBt no yjiiin.'fe o'feiKnT'B: OHt oijKHTi., o'fe/KHTt, noiiepAHBaexij, a isijji^iiMM OHi> nofleprHBaeTi).

,,0 du, Hundesohn, Kamarinscher Bauer, besoffen, ohne Hosen, läuft er durch die Gasse, läuft, läuft, furzt immerfort, und wackelt mit dem Hodensack."

Ein anderes Tanzliedchen singt : „Oh, wie der Pope die Stute besteigt ! i) Die Popin hält die Mähne, der Diakon hält von der Seite, dirigiert in den After. "2) Mit der Sodomie bringen die obszönen Volkslieder fast immer den Popen in Verbindung.

Humorvoll ist die Moral, welche die Mutter der Tochter in einem Liedchen ■'^) predigt: ,,Die Tochter stand am Thor und bohrte sich die Faust in die Pisda. Die Mutter bemerkte sie und begann sie auszuzanken : Ei du Hure, ei du Hure ! *) ich coitire durch und durch deine Mutter ! ^) Verkaufe deinen Zopf, kaufe einen Penis, mit der Faust aber bohre nicht in der Pisda herirni. Der Zopf dient dir nicht ewig, aber der Penis ist ein guter Kerl."

' Der Kosak befeuert sich selbst mit dem jubelnden Reim :

PyccKiH inT£iKi> u pvccKiä xys ABa po^Hfcie 6paTa:

OHH H31> ÖiÄBI BbIB0Ä}IT1>

pyccKaro coJiÄaTa. ,,DasC) russische Bajonett und der russische Penis zwei

1) Im Original das ordinäre russische Wort : 0! KaKi, aoin. eoerb KOÖbUiyl

■■'l HanpaBJiHeTi. (den Penis des Popen) npaMo nr> jKony.

^) Beginnend: y BopoTB aiBKa CToaaa, Kv.iaicoMT. mia^y coBa.ia.

*) Das Original braucht zwei verschiedene Ausdrücke: KypBa und ojui.v.. Kurwa ist das ordinäre Wort, Bljadj bedeutet auch Herumstreicherin, Strich- mensch.

6) Dieses Schimpfwort (paciipocöb tboio Maib) ist so allgemein gebräuch- lich, daß die Sprechende sich ungeniert selbst befleckt.

«) Im Russischen ist das Bajonett männüchen Geschlechts.

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leibliche Brüder : aus der Not führen sie den russischen Sol- daten."

Und der Soldatenpenis hat den Ruhm besonderer Größe:

He noMC/Kexi. KpHK-B tboh o^thäcküi, Kor^a BCTaHBTTb xyii eon:ÄaTCKiH 6os[BniOH.

,, Nicht hilft dein Hurenschreien dir, erhebt sich das Sol- datenglied das große."

An solchen Texten nimmt niemand Anstoß ; ja bei beson- deren Gelegenheiten bemühen sich die jungen Burschen, einan- der durch Improvisationen derartiger Strophen zu übertreffen, und wem es am besten gelingt, der ist ein Mün:o;3,en,'B, ein wackerer Junge. ^) Selbst Frauen und Mädchen schrecken nicht davor zurück, einem klingenden Reim zuliebe einen gewagten Witz zu machen.

Bei den Hochzeitsfesten in der Ukraine sind die Tanzlieder durchwegs obszön, und die Tänze haben einen vollständig phal- lischen Charakter. Nach dem Schmause beginnt die sogenannte Pereswa. HepeaBa bedeutet soviel wie Hochzeitsgesellschaft, im übertragenen Sinne ist es der Abschied vom Hochzeitsfeste, das Ende der zeremoniellen Feieflichkeiten und der Anfang der brausenden Unterhaltung, der obszönen Reden und Ge- sänge, der Tanzschäume. Diese Tänze sind nichts anderes als öffentliche Onanie; mit eindeutigen erotischen Gesten bewegt man sich so, als wollte man sich an den Geschlechtsteilen zu tun machen. Man nennt diesen Tanz Kranichtanz : /KypaBjib. Auf ihn folgt zumeist noch der Zigeunertanz Chaliandra^) : Die Tanzenden halten sich mit einer Hand am Ohre und legen

1) Wie bei den Südslawen; vgl. die angeführten Arbeiten von Dr. Friedrich S. Krausz. Ferner bei Karl Rhamm, Der Verkehr der Geschlechter unter den Slaven in seinen gegensätzüchen Erscheinungen. Globus, Band 82, Nr. 7, Seite 105, Spalte links: ,,In Slavonien gibt es keine anderen Gesänge als Tanz- lieder zur Begleitung des Reigens (Kolo). Bei den größten Festlichkeiten und nationalen Manifestationen wetteifern sozusagen die Kinder, denen die Milch noch aus den Zähnen seiht, in diesen Zoten. Je mehr ein solches Geschöpf mit Säuereien um sich wirft, um so braver (cestitij) ist es".

2) Vielleicht vom Worte xa,n, oder xafi.iu, das einen frechen Menschen bedeutet; xa.xia. ein- freches Weib.

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die andere auf die Geschlechtsteile. Man springt wütend auf und nieder und schlägt mit den Fußsohlen an die Arschbacken. Im Distrikt von Berditschew tanzen die Frauen einen Rundtanz, bei dem sie zwischen den Beinen einen Küchenlöffel halten oder sonst ein langes Ding, worauf sie während des Tanzens einen Trinkbecher stecken. Die Lieder, die man bei solchen Tänzen singt, entsprechen den Gesten :

Oh, rpaÖTe, MysHKn,

B Mene n;nii,i>Kn BejiHKn!

B Mene i];nn,bKn TjDacyTfcca

3 MGHe xjionn,! CMiioTbca.^)

,,0, spielet, Musikanten, meine Zitzen 2) sind groß, meine Zitzen schütteln sich, die Burschen lachen über mich."

Dabei genießen die Kleinrussen unter allen Volksstämmen des Zarenreiches in sittlicher Beziehung den besten Ruf. So seltsam ist die Verschiedenheit der Auffassung von dem, was ländlich sittlich ist.

Von den Tänzen der nichtrussischen Völker in Rußland sind zunächst die polnischen Nationaltänze zu erwähnen, die teilweise ebenfalls eine Versinnbildlichung der Wollust dar- stellen. Die heidnischen oder bis vor kurzem noch heidnischen Völker haben die russischen Tänze adoptiert. Bei den Wotjäken in den Gouvernements Wjatka und Kasanj gibt es aber zwei Originaltänze, die gewöhnlich öffentlich nur von den Frauen getanzt werden. 3) Bei dem einen Tanz stellen sich drei Mädchen oder Frauen nebeneinander auf und beginnen sich bei den Klängen des zitherähnlichen Krödz im Takt umeinander zu drehen, trippelnd, nicht hüpfend. Die erste Tänzerin dreht sich mit der zweiten herum und tauscht mit ihr den Platz; dasselbe Spiel zwischen der ersten und der dritten Tänzerin, bis alle in umgekehrter Reihenfolge stehen ; dann wieder in die alte Ord- nimg zurück. Der andere Tanz wird von vier Frauenzimmern ausgeführt und ist lebhafter. Die vier stellen sich gleichfalls

1) Aus dem Distrikt Uschitzja, Gouvernement Podolien. Vgl. Hyuim- cidff, Tpy,iu oKciieAiiiiÄH, C.-IIfjr. 1877. IV. .>; 1571. KavTizäbia V. Folklore de rUkraine, p. 91. Nr. 66.

2) Im Russischen das gleichlautende Wort: iiiiiu.kii.

3) Buch, Die Wotjäken, S. 82.

39G

zunächst nebeneinander auf. Die zwei mittleren Tänzerinnen fassen sich an den Händen und gehen in raschem Takt einige Schritte vorwärts, drehen sich umeinander, wechseln die Plätze, und beginnen dasselbe Spiel von neuem. Währenddem be- schreiben die beiden seitlich befindlichen Tänzerirmen Achter- tüuren um das mittlere Paar und winden sich zwischendurch. Und so viel Temperament entwickelt man auch bloß dann, wenn man ein paar Gläschen kumyschka oder Branntwein im Leibe hat. Der russische Nationaltanz, einfach pyccKaa njiacKa, russi- scher Tanz genannt, wird ebenfalls von den Wotjäkinnen ge- tanzt, aber nicht mit solchem Feuer wie von den russischen Frauen und Mädchen. Man hat Tänze bei den Wotjäken bisher nur von Weibern tanzen gesehen; es ist wahrschein- lich, daß auch die Männer tanzen, aber vermutlich tanzt jedes Geschlecht für sich allein. Ein wotjäkisches Sprichwort zwar sagt : ,,Der Henne Gackern ist nichts wert, wenn nicht der Hahn zugleich mit kollert." Doch scheint es trotzdem nicht zu großen Intimitäten zwischen beiden Geschlechtern, wenigstens nicht in der .Öffentlichkeit zu kommen.

Die Kalmücken sind besondere Liebhaber von athletischen Spielen und die berühmtesten Ringer in Rußland. Bei ihrem Uerrüßfest gibt es ein großes Schauringen. Getanzt wird haupt- sächlich im Monat des Zogaanfestes und an den Winterabenden. Beim kalmückischen Nationaltanz rühren sich die Tänzer oder Tänzerinnen nicht von ihrem Standpunkt fort, sondern drehen sich bei dem Takte des eintönigen Domburr bloß um ihre eigene Achse; beide x-\rme werden immer zugleich bewegt, bald iii gleichen Winkeln vom Kopfe entfernt, bald in gleichen Krümmungen über die Brust gebogen. Die Tänze sind immer sehr kurz und sehr ernsthaft, die Musik langsam und feierlich. Jedes Geschlecht tanzt für sich, die kalmückische Wohlanstän- digkeit gestattet nicht das gemeinsame Tanzen von -Männern mit Frauen. Gewöhnlich tanzen sogar die. Kalmücken einzeln, immer ein Mann oder '^ine Frau, Wenn aber zwei Männer oder zwei Frauen zugleich tanzen, dann ist es lebhafter, wird es zu- weilen sogar wild.i)

1) Bergmann, Nomadische Streifereien, II ic

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Bei den moslemischen Tartaren geht es natürlich nicht viel stürmischer zu als bei den Kalmücken. Ähnlich wie bei diesen drehen sich die Männer mit ausgebreiteten Armen einzeln um sich selbst herum. Das Tanzen der Mädchen ist nichts als ein schüchternes Hin- und Hergehen und nach einigen Schritten zu Ende.i)

Am leidenschaftlichsten unter allen nichtrussischen Völ- kern Rußlands tanzt man bei den Tscherkessen ; namentlich die Weiber sind hier so tanzwütig, daß man schon vor Jahr- hunderten von ihnen sagte 2): „Sie saufen sich voll und tragen eine so gewaltige Begierde zum Tantzen, daß sie keine Manns- Person nicht achten, wenn er nicht eine Geige bei sich hat."

23. Musik und Theater.

Gesang Anmerkung über die Nationalinstrumente Weltliche Musik ver- pönt — Musikalische Ketzer Peter der Große und die Musik Franzö- sische und italienische Musik Patjomkin und Mozart Geschichte der russischen Jagdmusik Kunstmusik Komponisten Ursprung des Theaters in Rußland Europäisches Theater in russischer Schilderung Aufführungen von Mysterien Typen der russischen Urbühne Das erste Theater in Moskau Der deutsche Pastor Gregorij erster russischer Theater- direktor — Die erste Aufführung eines Dramas am Zarenhofe Der Palast der Ergötzlichkeiten Sold der Schauspieler Das erste Ballet Dauer der Vorstellungen Erstes Drama in russischer Sprache Bischof Simeon von Polozk als Dramatiker - Männer spielen die Frauenrollen Amateur- vorstellungen der Aristokraten Prinzessin Sofia Alexejewna als Dramen- dichterin und Schauspielerin Bischof Dmitry Rostowskij Feofan Proko- powitsch Prinzessin Nathalie Romanow Der deutsche Direktor Kunst ^ Erstes öffentliches Theater in Moskau Aprilscherz Kunsts Direktor Fürst Obszönitäten auf der Bühne Übersiedlung des Theaters nach Petersburg Direktor Mann Italienische Truppe am Hofe der Zarin Anna Caroline Neuber in Petersburg Französische Triumphe Kadetten als Balletteusen Elisabeth und die Kadetten Das Nationaltheater Volksschauspicle Die heilige Jungfrau auf der Bühne Begründung des

1) Der Tanz bei den Astrachaner Tartaren ist ausführlicher geschildert ■worden von Samuel Gottlieb Gmelin, Reise durch Rußland zur Untersuchung der drey Natur-Reiche, St. Petersburg 1774, II S. 138.

2) Reise nach Norden /anno 1706. S. 156.

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Nationaltheaters durch Wolkow Katharina II. Ein Volkstheater von der Polizei dirigiert Bedeutung des russischen Theaters für die Geschichte

der Sittlichkeit.

„Wo eine Slawin ist," sagt Schaf farik, der Verfasser der ersten Geschichte der slawischen Literatur i), „da ist auch Gesang. Die Slawin erfüllt Haus und Hof, Berg und Thal, Wiesen und Felder, Gärten und Weingärten mit dem Schall ihrer Lieder." Dies gilt bei den Russen für die Frauen ebenso wie für die Männer. Der Russe singt fast immer, bei der Arbeit und in der Pause, auf dem Felde und im Kabak. Der Muschik singt, wenn er mit dem Pfluge die Furchen durch den Acker zieht; der Soldat auf dem Marsche, oder auf dem Schlachtfelde, wenn er der tödlichen Kugel entgegenschreitet; der Matrose auf dem schwankenden Schiffe, wenn der brau- sende Sturm ihn umdroht; der Arbeiter an der Düna, wenn er seine schwere Last über den Kai schleppt; der Burlak^) an der Wolga, wenn er mit wuchtiger Kraft sein Floß zimmert; der Iswoschtschik^) singt, wenn er mit seinem Gaste einen weiten Weg' durch einsame Gegenden fährt; und der Postillon stimmt, sobald er sich bekreuzigt hat und die Pferde antreibt, sein Liedchen an. Die Melodie ist zumeist einförmig und schwermütig, der Inhalt : die Liebe, die Steppe, die Wolga, der Don. Dieselben Volkslieder singt man im ganzen Reiche, von der Ostsee bis zum Stillen Ozean und von dem Weißen bis zum Schwarzen Meer. Wie die Großrussen sind auch die Kleinrussen und die Kosaken sangesfreudig, ihre Lieder jedoch heiterer und lebhafter. Im Süden liebt man nicht bloß das Volkslied, sondern man läßt ihm auch künstlerische Pflege angedeihcn, verbreitet es in den Familien und den Schulen, und die Studenten veranstalten öffentliche Volksliederkonzerte. Ein deutscher Arzt und Forscher*), der als das Charakteristische

1) Geschichte der slawischen Sprache und Literatur nach allen Mund- arten von Paul Joseph S>.haffarik. Ofen 1826.

2) Byp.iaKTj heißen speziell die Arbeiter, die auf den Barken der Wolga beschäftigt sind. Es sind durchwegs rohe ungeschlachte Kerle. Daher nennt man in ganz Rußland einen brutalen Menschen: Burlak.

3) Il3B0imiK-h, der Fuhrmann.

*) Wichelhausen, Gemähide von Moskwa, 299.

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am Muschik dessen roheste Sinnlichkeit konstatiert, sieht in dem unverkennbaren Hang der Russen zu Gesang und Musik den Beweis, daß dieses Volk von der Natur auch zu feineren similichen Vorgängen aufgelegt sei.

Schon von den Bewohnern des ältesten Rußland wird be- richtet, daß Musik die vorzüglichste Erheiterung ihres Lebens war, und daß sie auf den Kriegszügen ihre Lieblingsmusikinstru- mente mitführten; singend und spielend zogen sie in den Kampf. 1) Es zeugt für die tiefe Empfänglichkeit der Russen für Harmonie und Melodie, daß noch jetzt unter ihnen die uralten Lieder leben, in denen die heidnischen Gottheiten und die Donau, an deren Ufern die Vorfahren der Russen vor zwölf Jahrhunderten gekämpft haben, besungen werden. 2)

Als Rußland moskowitisch geworden war, begannen die Regierung, die die Trunksucht und die Korruption zu

1) Karamsin, deutsch I 56, französisch I 83. Vgl. ferner: von Arnold, Die Tonkunst in Rußland bis zur Einführung des 'abendländischen Noten- systems. Leipzig 1867.

2) Die alten nationalen Musikinstrumente, fast durchwegs noch heute in Gebrauch, sind folgende: Dudka (;i,yiiKa), eine einfache Hirtenpfeife, die man besonders in Kleinrußland findet, wo sie den speziellen Namen Ssopelka (öjiitJiKa) führt. Roschok (povKOKt), ebenfalls ein Hirteninstrument, aber in Form eines Horns, also ein Kuhhorn. Schilejka oder Ssipowka (jKnJiertKa HJiH cnnoBKa), eine Schalmei. Sswirelj (cKupt.Tb), eines der ältesten musika- lischen Instrumente der Russen, eine Rohrpfeife, die jetzt meist bei den Hirten in Kleinrußland anzutreffen ist und noch viel bei den Reigentänzen zur Geltung gelangt. Auch der Dudelsack, Wolynka (Bo.iwfflai). gehört zu den ältesten Stücken; unter den slawischen Altertümern fand man die Abbildung eines Kriegsgottes, der den Dudelsack spielt. Bei allen großen Festen und auf den Jahrmarktsunterhaltungen kommt der alte Dudelsack zu hohen Ehren. Gudok (ry^oK-i.) ist eine Violine mit drei Saiten, von denen nur die oberste gegriffen wird ; ein kurzer Bogen bestreicht alle drei Saiten. Der Spieler des Gudok heißt Gudilo (iyjii.io, auch ry;ie.ii,mniiK-b und ryÄOiuHiiia.). Diese russischen Bauerngeiger findet man nicht häufig. Oft und überall dagegen trifft man die Balalajschtschiki, die Spieler der Balalajka (l}aaa.iarti,-a), einer Harfe mit zwei, seltener drei Saiten. Dieses Instrument ist äußerst einfach und so leicht zu spielen, daß Jedermann imstande ist, wenigstens ein Volks- lied oder die Begleitung zu einem Tanze zu klimpern. Die Balalajka ist das Lieblingsinstrument der nogajschen Tartaren. Die Balalajki, die man zu den Reigen und den Hochzeitstänzen mitbringt, zeichnen sich von den gewöhnlichen dadurch aus. daß sie mit frivolen und selbst eindeutig obszönen

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Fundamenten der Selbstherrschaft, und der Klerus, der die Dummheit und die Verlogenheit zu Stützen der Orthodoxie gemacht, in der Musik ein der schärfsten Verfolgung würdiges Übel zu sehen. In der ersten Hälfte des siebzehnten Jahr- hunderts belegt der Patriarch die Ausübung der Instrumental- musik mit schweren Strafen. Aber im Zarenhause selbst erhebt sich der erste Ketzer und Verächter des heiligen Verbots : der Bojar Nikita Iwanowitsch Romanow, der Oheim des Zaren Michael. Er ist der erste, der ausländische Kleidung zu tragen wagt. Der Patriarch verbrennt eigenhändig das heidnische Gewand und zwingt den Bojaren, sich durch Weihwasser rei- nigen zu lassen. Nikita ist dadurch nicht orthodoxer gewor- den, der Abtrünnige begeht noch schlimmere - Schandtaten : er hält in seinem Hause weltliche Musikanten, und diese Musi- kanten sind Ausländer. Das böse Beispiel scheint verhängnis- volle Nachahmung zu finden. Der Holländer Konrad von

Figuren geschmückt sind. Loschki (.iuvi.kh). wörtlich Löflfelchen, sind' zwei Instrumente aus' alter Zeit; ihre Form entspricht ihrem Namen. Sie sind mit Schellen und Glöckchen behängt und dienen hauptsächlich als Begleitung zu anderen Instrumenten. Gusli (rycun), Harfen mit drei Saiten, ähnlich dem Psalterium, werden mit den Fingern gerissen. Die Gusli waren früher namentlich in Kleinrußland stark verbreitet, in neuerer Zeit kommen sie immer mehr aus der Mode, man findet sie nur noch hier und da bei Soldaten. Trompeten (TpyÖLi) werden in Rußland schon in einer Chronik des zwölften Jahrhunderts gelegentlich der Belagerung Kijews im Jahre 1151 erwähnt. Aus dem Jahre 12 16 wird berichtet, daß die Nowgorod er bei ihren Truppen 60, die Wladimirzen 40 Trompeter hatten. Aus jener Zeit besitzt man die frühesten Angaben über Trommeln, Bubny (uyuHu) oder Nakry (nairpH) : Sturmtrommeln, Nabatny (HaßaiHBi) oder Barabany (ßapaöaHbi) ; Flöten, Flejty ('KieiliTi); Pauken, Litawry (.iniaBpH); und die zwei schon früher erwähnten Schalmeien -Arten, Ssopelki (cont^Kn) und Ssipowki (cimoBKiiV Auch die Maul- trommel, Wargan (napraHf.), und Zimbeln ( iui.Mi.üa:ibi oder KnMBa..w\ kannte man seit jeher in Rußland. Ein speziell kleinrussisches Instrument ist die Bandura (öanjypa), auch Kobsa (K0ö.3a) genannt, eine Art Harfe mit 12, zu- weilen mit 28 metallenen Saiten. Die Bettler und Greise tragen sie an einem Strick um den Hals gehäng i, und wandern musizierend von Dorf zu Dorf. Die Edelleute hielten früher Kapellen von Banduristen, die beim Mittagstisch und abends bei den Festhchkeiten den Herren aufspielten. Von der russischen Hömermusik wird im Texte die Rede sein. 31. 3a6i.i.Tran,, pyccKÜt Hapoai>, 527- Bemerkungen über Rußland, 1788 (von Bellermann) I 362. Breton. Rußland IV 39.

ili#lijji

Russische Bauern.

Der Quass- und Branntweinhändler.

(Aus Oiiiz, N.ilioiiultriKnl ilcr Kiisslmi.)

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Klenck, der nach Rußland kommt, bemerkt, ,.daß man bei vielen russischen Großen, Liebhabern der Musik, polnische Musikanten findet, die auf verschiedenen Instrumenten spielen." Und ein russischer Würdenträger, der seinen Sohn nach Holland geschickt hat, schreibt dem Jungen: ,, Treibe allerlei Kavalier- künste, gehe in den Mußestunden in Gesellschaften, besuche das Theater, lerne fechten, schießen und reiten." Alle diese Kavalierkünste aber sind vom Domostroj, dem Haus- und Hof- gesetzbuch der Russen, als Todsünden verdammt. Solcher Ungehorsam einiger Vornehmer ruft neue strenge Maßregeln des Patriarchats hervor, die wirksamer sind als die früheren, so daß man bald nur noch den Dudelsack und den Gudok, und auch nur heimlich zu spielen wagt. Bloß Bettler sind jetzt noch Musikanten. Und ein Russe, der um diese Zeit wieder nach Holland als Gesandter kommt, kann sein Erstaunen nicht ver- bergen, daß man ihm zu Ehren ein Konzert veranstaltet; ,,bei uns zu Hause," sagt er, ,, verdienen die Bettler auf solche Weise ihr Almosen."!)

Peter der Große hört in seiner Jugend nur die rauheste Musik von Trommeln und Pfeifen, seltener die Balalajka und das Kuhhom; in besonders eleganten Häusern wohl auch die Bandura. Er ist deshalb ganz begeistert, als bei seiner An- kunft in Riga und Danzig der Chor der Stadtmusikanten ihm von den Kirchtürmen herab mit Zinken und Posaunen den Morgengruß entgegenschmettert; dies erscheint ihm als der höchste künstlerische Genuß, und sofort engagiert er in Riga fünf solcher Meister, die seine Tafelmusik zu besorgen haben und von den Russen mit Bewunderung und Staunen angehört werden. Auf seiner Weiterreise durch Deutschland lernt Peter die Regimentsmusik, Hoboisten, Fagottisten und Waldhornisten kennen; sie gefallen ihm noch besser als die Posaunenbläser. Später imponieren ihm mehr die Querpfeifer, Trommler und Trompeter. Nacheinander wechseln sie in des Zaren Gunst, der die Trompeter besonders für die Flotte bevorzugt. In Holland, in Amsterdam hört der Reformator Rußlands vor der Börse zum ersten Male das Glockenspiel; in Petersburg läßt

1) Reise nach Norden, 154.

Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rufjland. 26

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er daher auf dem Turm der Festungskathedrale und auf jenem der Isaakskirche Glockenspiele anbringen. Alles Bisherige wird schließhch verdrängt von der Bockpfeife, deren Bekanntschaft Peter in Polen gemacht hat. Der Zar erlernt selbst dieses Instrument und stellt für seine Tafelmusik einen Bockpfeifer- chor zusammen.!) Wenn die Musik nicht klappt, so vertauscht der Kapellmeister den Taktstock mit den Batogy^j und haut dabei nicht immer pianissimo drein.

Die französische und italienische Musik konnte Peter der Große nicht leiden. Elisabeth und Katharina II. berufen da- gegen oft Tonkünstler aus Frankreich und Italien nach Ruß- land. Der Günstling Katharinas, Patjomkin, betrachtet sein Privatorchester als seinen Schatz, den er überallhin mit sich führt. Ins Hauptquartier von Bender nimmt Patjomkin nicht weniger als zweihundert Musiker, ein Ballettkorps und eine Schauspielertruppe mit. Als leidenschaftlicher Musikliebhaber steht er lange Zeit mit dem in Wien befindlichen Grafen Andrej Rasumowskij in Unterhandlungen bezüglich des Engagements eines tüchtigen Kapellmeisters. Rasumowskij empfiehlt eifrig „einen exzellenten Klavierspieler und einen der besten Kompo- nisten Deutschlands," einen gewissen Mozart, als Orchester- chef für die Patjomkinsche Truppe. Mozarts Tod macht den eingeleiteten Verhandlungen ein jähes Ende, und Patjomkin engagiert den Italiener Sarti.^)

Ein historisches Ereignis auf dem Gebiete der Musik voll- zieht sich zur Zeit Katharinas durch die vom Oberjägermeister Naryschkin veranlaßte Reform der Jagdmusik. ^) Die russi- schen Jäger und Rüdenknechte führten seit alten Zeiten Hörner. Da auf Harmonie keine Rücksicht genommen ^vurde, war diese Jagdmusik eine entsetzliche. Naryschkin stellte nun ein merk- würdiges System fest: Fünfzig oder sechzig Musiker haben

1) Stählin, Originalanekdoten von Peter dem Großen, 298. Halem, Leben Peters des Großen, III 220.

2) Methode schwerer Züchtigung mit Stöcken.

3) Waliszewski, Autour d'un trone, 131.

*) Waliszewski a. a. O. 132. (Bellermann) Bemerkungen über Ruß- land I 367. (Masson) Geheime Nachrichten über Rußland, deutsch II 82, (französisch II 61). Dupre de St. Maure, L'hermite en Russie, I 263.

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durchwegs an Größe und in der Stufenreihe verschiedene Hörner. Jedes Hörn gibt nur einen Ton von sich und jeder Musikant hat nur eine Note vor Augen. Durch die Verschieden- heit der Größe der Instrumente und die Gesamtheit der Töne entsteht das Konzert, das als russische Hörnermusik (poroBaa uj3hiKa) eine berühmte Speziahtät des Zarenreiches geworden ist. Die Marine besitzt ein vortreffliches Ensemble, und die großen Herren halten sich ein Hornistenkorps, das namentlich auf die Jagd mitzieht und bei den Unterhaltungen in den Pau- sen vielbewunderte Konzerte veranstaltet. Die Möglichkeit der Durchführung dieser Reform der Jagdmusik und die Dauer dieser Institution bis heute kann man mit Recht als Zeichen des sklavischen Charakters des russischen Volkes betrachten. Nirgends in der Welt sonst, sagte schon Major Masson, der Zeitgenosse dieser seltsamen Reform, hätte Naryschkin fünfzig Menschen für ein solches Werk auftreiben können. Alle diese Musikanten müssen sich entschließen, ihr ganzes Leben hin- durch ein und dieselbe Note auf einem und demselben Hom zu blasen; stundenlang haben sie nichts anderes zu tun, als die Pausen zu zählen, um den Moment abzuwarten, wo sie an der Reihe sind. Die Arie, die sie spielen, kennen sie nicht. Für die Kunst haben sie kein Interesse und kein Gefühl. Sie sind Automaten, Sklaven, auf die der Stock des Kapellmeisters niedersaust, wenn sie ihren Augenblick verpassen.

Die Epoche Katharinas II. sah auch den Beginn der russi- schen Kunstmusik. Die Namen der ersten russischen Kompo- nisten sind fast vergessen, obwohl an manche von ihnen glän- zende Triumphe sich hefteten. So hatte Fomina am Theater Katharinas lärmende Erfolge, während gleichzeitig Bortnjanskij die vom Patriarchen Nikon in Angriff genommene, aber durch den Sturz dieses Reformators jäh unterbrochene Verbesserung der Kirchenmusik fortsetzte und prächtige Motetten und Psal- men komponierte. 1805 machte Titow zuerst den Versuch, eine nationale Oper zu gründen. Aber erst Michael Glinka gelang es 1836, mit seiner Oper ,,Das Leben für den Zaren" ein Werk zu schaffen, das einen dauernden Wert behalten hat. Glinkas Erben waren Serow und Dargomijskij. Der übrigen Großen sind nicht viele. Man hat nur die berühmten Fünf

26*

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zu erwähnen: Borodin, Mussorgskij, Balakirew, Cäsar Kuj, Rimskij-Korsakow; ferner den Jünger dieser fünf: Alexander Glasunow ; die erbitterten Widersacher der fünf : Anton Rubin- stein und Tschaikowskij ; und schließhch etwa noch : Ssolow- jew, Iwanow, Arenski j, Ljadow, Skrjabin, Juferow, Koptjajew und Kahnnikow.i)

Interessanter als die Entwickelung der modernen russi- schen Musik ist für die Sittengeschichte der Ursprung des Theaters in Rußland. Aus dem fünfzehnten Jahrhundert be- sitzen wir die erste russische Schilderung eines europäischen Theaters. Sie stammt aus der Feder des Bischofs Abraham von Susdal, der mit einigen Russen nach Italien ging und dort der Aufführung von Mysterien beiwohnte. Zwei Jahrhunderte später sah der Russe Lichatschew am Hofe zu Florenz eine Theatervorstellung, die er in seinem Gesandtschaftsbericht fol- gendermaßen zu -beschreiben versucht 2): ,,Es war ein Meer, darin hat es schwimmende Fische gegeben, auf diesen ritten Menschen. Ebenso sind oben am Himmel Menschen gesessen. Die Menscheh, die auf den Fischen waren, sind auch gen Himmel gefahren. Dann erschienen : ein alter Mann in einem Wagen und ein Fräulein in einem anderen Wagen, die Pferde an beiden Wagen waren wirkliche Pferde und zappelten mit den Beinen ; und der Großherzog hat gesagt und erklärt : der Mann und das Fräulein wären Sonne und Mond. In anderen Szenen kamen vor: ein Feld mit menschlichen Gebeinen, die von Raubvögeln benagt wurden; ein Meer, bedeckt mit Schif- fen; eine Menge Ritter, die miteinander kämpften, so daß einige derselben scheinbar getötet wurden. Dann tanzte man auf der Bühne. Dann kam ein hungriger Mann und bat um Speise; und man gab ihm viele Weißbrote, ohne ihn sättigen zu können."

Der Russe verstand augenscheinlich nichts von den Vor- gängen. Das Schauspiel war ihm völlig neu. Nur an zwei Orten Rußlands gab es damals sogenannte Mysterien-Auffüh-

1) Vgl. über die moderne russische Musik den neunten Band der von Richard Strauß herausgegebenen Sammlung „Die Musik" (Essay von Alfred Bruneau, übertragen von Max Graf). Berlin 1904.

2) Vgl. Brückner, Kulturhistorische Studien.

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rungen. In Nowgorod im Norden, und in Kijew im Süden existierte seit dem zehnten Jahrhundert der Gebrauch, zu Weih- nachten, in der tollen Woche, der Butterwoche, sowie am Tage des Iwan Kupalo, öffentliche Vorstellungen zu veranstalten, in denen die heidnische Vergangenheit mit ihren Göttern und Sitten wieder auflebte, i) Durch die Wiederholungen bildeten sich Typen: der Gevatter-Lustigmacher, die Gevatterin, der Zar Rote-Sonne, der Hexenmeister, die Baba-Jaga, der Haus- geist Domowoj, der Waldteufel U-femen), der Wassergeist iBo- ;];eHon). Zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts begannen die Kijewer Studenten, die unter dem Einfluß der polnischen Kultur standen, auf den öffentlichen Plätzen heilige Szenen darzu- stellen. Statt der heidnischen Götter und Geister wurden jetzt die Apostel, diePropheten, die heilige Jungfrau und Jesus Christus selbst als Puppen vorgeführt. Das Repertoire dieser tragbaren Bühne, die man Wertep (BepTeui> joder Höhle nannte, bestand in einem einzigen Stück: Schilderung der Leiden Christi. Wäh- rend einer der Studenten für die Puppen sprach, ein anderer replizierte, sangen die übrigen im Chore fromme Lieder.

') Die Quellen zur Geschichte des russischen Theaters sind folgende: Russisches Theater, vollständige Sammlung aller russischen Theaterstücke, 43 Bände, St. Petersburg 1786 (russisch). Karabanow, Die Anfänge des russischen Theaters, 1849 (russisch). P. Arapow, Chronik des russischen Theaters, St. Petersburg 1861, Tiblen & Comp. Pekarskij, im Februarheft des „Zeitgenossen" 1858 (CoBpeMeHHiim.). Derselbe, Wissenschaft und Lite- ratur unter Peter dem Großen, Band I (russisch). Tichonrawow, Ursprung des russischen Theaters, Annalen der russischen Literatur und Altertümer, Bd. III, 1861 (russisch). Alexej Wesselowskij, Das alte Theater in Europa, Moskwa 1870 (russisch). Derselbe, Deutsche Einflüsse auf das alte russische Theater, Prag 1876 (deutsch). IL H. BuvKopHuuH'b, luxiiocTpiipoiiaiiiian iicTOpiu pyccKaru Traipa XIX. etKa, C. IIoTopuypn.. 1903. Von der Direktion der kaiser- lichen Theater wurde mir durch Vermittlung des deutschen Theaterdirektors Paul Bock vor einigen Jahren ein nur als Privatdruck in wenigen nume- rierten Exemplaren gedruckter Folioband (von über 1500 Seiten) übersendet, worin sämtliche amtliche Aktenstücke zur Geschichte des russischen Theaters veröffentlicht wurden: Apxiiiri. :uip<Kuiii iiMiiepaTopcKiixi. Tearpoin.. Bi,iiiycifi. I 1746 1801. C. IlfTipuypn. 1892. Ferner vgl. man: Le Theätre de la Moscovie par le R. P. Boussingault (Bibhoth. russe et pol. vol. V). Pierre de Corvin (Pierre Newsky), Le Theatre en Russie, depuis ses origines jusqu'4 nos jours. Paris 1890. Reinholdt. Geschichte der russischen Literatur. Bernhard Stern, Zwischen der Ostsee und dem Stillen Ozean.

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In Moskau fehlten bis zum siebzehnten Jahrhundert auch diese primitiven Anklänge ans Theatralische. Es gab bloß in den Zeremonien der Kirchenfeste manches, was einem dra- matischen Symbolismus gleichkam. Von zweien dieser Ge- bräuche, die den Einzug Christi in Jerusalem und eine Allegorie des jüngsten Gerichts darstellten, ist schon in einem früheren Kapitel die Rede gewesen, i) Eine dritte Szene beobachtete der Engländer Fletcher^) : „Ein Engel stieg von einem Kirchen- dach in einen Ofen herab zu drei Jünglingen ; im Ofen loderten Flammen, welche die Chaldäer, wie man die Akteure nannte, mit Hilfe von Pulver anfachten. Diese Akteure waren bekleidet mit weiten farbigen Überröcken, und auf den Köpfen trugen sie spitzige, vergoldete Hüte."

Das erste wirkliche Theater lernten die Russen in Ruß- land erst zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts kennen. Im Hause des Bojaren Artamon Ssergejewitsch Matwejew fanden sich zur Zeit der Regierung des Zaren Alexej Michajlowitsch die wenigen Russen zusammen, die europäischen Sitten huldigten. Hier verkehrte der Zar selbst, und hier ward ihm die Anregung zur Gründung des ersten russischen Theaters. Am 15. Mai 1672 befahl Alexej dem Oberst Nikolaus von Staden, der nach Kurland reiste, um Bergleute anzuwerben, „auch Trompeter und Komödianten, die Komödien darzustellen verstehen," mit- zubringen. Auf Stadens verlockende Anträge wollte aber fast niemand eingehen, und der Bote brachte bloß einen Trompeter und vier Musiker nach Moskau. Als Staden mit ihnen in der Kremlstadt anlangte, fand er hier zu seiner Überraschung schon ein Theater vor. Der Zar hatte nämlich erfahren, ,,daß der Magister Jogan (Johann) Gregory, Pastor an der lutheri- schen Kirche in der deutschen Sloboda, Komödien darzustellen verstehe." Alexej holte die Zustimmung seines Beichtvaters ein und wagte dann den kühnen Wurf. Er befahl am 4. Juni 1672 dem Pastor Gregory, eine Komödie zu veranstalten, den Stoff dazu aus dem Bu'^he Esther zu nehmen und im Dorfe Preobraschensk ein Komödienlokal einzurichten, ,,mit allem

1) Vgl. S. 361 ff.

2) Corvin bezeichnet (pag. 14) Fletcher irrtümlich als Deutschen.

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Schmuck und Putz, das für ein solches Lokal vonnöten ist." Gregory griff sofort zur Feder und dichtete in wenigen Wochen ein biblisches Stück: Die Tragikomödie von Esther oder die Artaxerxes'sche Handlung. Gregory, sein Freund Doktor Lau- rentius Rinhuber und der russische Lehrer Jurij Michajlowitsch richteten 64 Schüler der deutschen Schule als Komödianten ab, während ein gewisser Peter Inglis, ,.der perspektivischen Zeich- nung Meister," die Kulissen malte. Die Hauptrolle des Stückes wurde dem Sohne des Doktor Blumentrost, des zarischen Leib- arztes, übertragen. Eine Schwierigkeit machte die Frage der musikalischen Begleitung, nicht der Musiker wegen, sondern weil der Zar, der das Schauspiel begründete, gegen die Ein- führung der weltlichen Musik als gegen eine gottlose Tat Be- denken hatte. Erst als Gregory vorstellte, daß der Chor ohne Musik ebensowenig singen könnte, wie die Tänzer ohne Füße zu tanzen vermöchten, gab Alexej nach und beauftragte Mat- wejew, eine Kapelle aus Geigern und Flötisten zu schaffen. Und Matwejew ließ eine Anzahl seiner Leibeigenen in wenigen Monaten zu Musikern ausbilden. Am 17. Oktober 1672 fand die erste Vorstellung statt. J^) Aus dem ganzen Reiche waren Gäste ,,zu dieser bisher nie gekannten Unterhaltung" einge- laden worden. Der Zar war mit seinem ganzen Hofe anwesend. Für die Frauen und die Kinder hatte man eine große vergitterte Loge hinter dem Sitze des Zaren eingerichtet. Die Sprache der Schauspieler war natürlich die deutsche. Neben dem Zaren stand daher ein Dolmetsch, der Satz um Satz übersetzte und gleichzeitig den Gang der Handlung erklärte. Die Aufführung dauerte nicht weniger als zehn Stunden ohne Unterbrechung. Der Herrscher war entzückt und gewährte dem Pastor Gregory die Erlaubnis, eine Gnade zu erbitten : Dieser bat um die Tolerierung der protestantischen Kirche in Moskau und um den Bau einer Kapelle; und der Zar entgegnete: „Ein Mann,

1) So Brückner am zuverlässigsten, nach den maßgebenden Forschungen von Tichonrawow und Morosow. Corvin glaubt, daß Gregory erst im Herbst 1672 nach Moskau kam, und bezeichnet den 2. November 1673 ^^s das historische Datum. Vgl. Corvin Seite 17 und 19. L. Rinhuber, Relation du voyage en Russie, Pubhee d'aprös les manuscrits originaux, Berlin 1883 {nur in 250 Exemplaren gedruckt).

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der so tugendhafte Stücke zu spielen weiß, kann gewiß nur Gutes lehren/' und bewilligte die Bitte. Das Stück Gregorys machte zweifellos auch tiefe Wirkung durch die unabsichtliche Aktualität, die es in bezug auf die Zustände am Hofe besaß. In der Königin Esther sahen die Zuschauer die Zarin Natalia Naryschkin, die als Waise im Hause Matwejews erzogen worden war und durch ihre Schönheit und Klugheit ihr Glück ge- macht hatte; Haman aber war niemand anderer als der ehe- malige Günstling Hitrowo, der gleich dem biblischen Böse- wicht zur Strafe für seine Intrigen gehängt worden war.

Das Theater blieb eine dauernde Einrichtung. Der Tragi- komödie Esther folgte die Tragödie von Holofernes und Judith, worin in einer Szene, da die Heroine dem Scheusal den Kopf abschneiden will, eine andere Aktrice ausrief: ,,0 armer Kerl. Beim Erwachen wird er erstaunt sein, daß ihm der Kopf fehlt." Für die theatralischen Unterhaltungen wurde ein spezielles Haus im Kreml adaptiert, das den Namen führte : IIoT'feinHbiH: ;];Bopei];'i5, Palast der Ergötzlichkeiten ; dieser Palast existiert noch imd dient jetzt als Amtswohnung des Platzkommandanten. Der Bojar Matwejew wurde zum Direktor der Vergnügungen des Zaren ernannt, Johann Gregory erhielt den Titel eines Regisseurs. Der Zar befahl ferner, die Manuskripte Gregorys in Saffian zu binden und in der zarischen Bibliothek zu hinter- legen; endlich sollte man aus dem Ressort der auswärtigen Angelegenheiten 40 Zobelfelle im Werte von 100 Rubel und ein Paar im. Werte von 8 Rubel nehmen und diese 42 Zobel- felle dem Magister Gregory als Geschenk des Zaren über- reichen. Dagegen vergaß Alexe j ganz daran, den armen Komö- dianten, die Gregory nunmehr aus russischen jungen Leuten auswählen muß, die Mittel zum Leben anzuweisen, so daß diese den Zaren selbst an ihr Elend erinnern : .,0 mitleidiger, o barmherziger Herr, o Vater deines Volkes!" schreiben sie in ihrem Bittgesuche, „man hat uns, deine Sklaven, zum Meister Jogan Gottfried Gregory gesandt, damit wir die Kunst der Komödie erlernen sollen; aber man hat nicht für unsere Nah- rung gesorgt. Da wir alle Tage zum Meister w^andern, rui- nieren wir unsere Kleider und unsere Schuhe, und wir haben nichts zu essen und sterben vor Hunger. O barmherziger Herr,

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befiehl, daß man uns täglich zu essen gebe, damit wir nicht Hunger leiden, wenn wir Komödie spielen lernen." Und der barmherzige Zar befiehlt sofort, für jeden Eleven einen Gro- schen per Tag für das Essen anzuweisen; die Ausfolgung dieses Gehalts aber darf jedesmal erst dann erfolgen, wenn der Meister die Fortschritte und den unermüdlichen Fleiß der Aspiranten durch ein Attest bekräftigt hat !

Im Jahre 1675 erschien auf der zarischen Bühne das erste Ballett, betitelt ,, Orpheus". Da man lange Vorstellungen liebte, gab man nach einer Tragödie gewöhnlich noch ein Ballett. Solch ein Theaterabend begann, wie das Dokument über eine Vorstellung vom 21. Februar 1675 beweist, um fünf Uhr nach- mittags und dauerte bis drei Uhr morgens.

Das erste Stück in russischer Sprache verfaßte der Bischof Simeon von Polozk. Es hieß: Alexej, der Gottesmensch. Die russischen Schüler Gregorys führten es auf. Simeon verfaßte noch mehrere andere Dramen. In einem seiner Stücke, be- titel ,,Der verlorene Sohn", wird Moral gepredigt, indem die landesüblichen Laster Trunksucht und Wollust in ihren bösen Folgen dargestellt werden; den ganzen zweiten und dritten Akt hindurch tut der Titelheld nichts anderes als saufen. Die Dramen Simeons hatten zumeist bloß sechs Akte; um den Theaterabend nicht zu kurz zu halten, füllte der Autor die Pausen mit kleineren Stücken aus, die mit dem Drama selbst in gar keinem Zusammenhang standen, aber den Zweck er- reichten, die Unterhaltung bis über Nacht auszudehnen. Zu bemerken ist noch, daß die weiblichen Rollen von Männern gespielt werden mußten.

Nach dem Tode des Zaren Alexej trat ein jäher Rück- schlag ein. Die Reaktionären setzten es beim jugendlichen und kränklichen Fedor Alexejewitsch durch, daß Gregory ver- trieben, Matwejew verbannt und der Palast der Vergnügungen geschlossen wurde. Die Kunst, vom Hofe vertrieben, fand indessen Zuflucht in den Häusern einiger Fortschrittsfreunde, bei den Dolgorukij, Scheremetjew, Galitzyn. Diese Bojaren waren gleichzeitig die Dichter und die Schauspieler. Aber das Wunderbarste war, daß sich diesen Männern auch eine Frau aus dem Zarenhausc zugesellte, Prinzessin Sofia, die Toch-

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ter Alexe js. Sie trat kühn aus dem Terem hinaus, geradewegs auf die Bühne des Scheins und auf die Bühne des Seins. Einige Jahre später spieke sie als Regentin eine weltgeschicht- hche Rolle; vorher aber erschien sie auf einer Privatbühne in ihrem eigenen Palaste als dramatische Dichterin und Schau- spielerin. Das russische Drama „Die heilige Katharina" trägt unter seinem Titel als Autornamen : Sofia Alexejewna Ro- manow. Und während vor wenigen Jahren der Vorstand der Apothekerbehörde Golosow und der junge Bojar Ordin-Na- tschokin den Orthodoxen als des ewigen Höllenfeuers würdige Ketzer erschienen waren, weil sie lateinisch sprachen; während noch zu Zeiten Alexejs die Frauen nicht offen, sondern nur hinter Gittern den theatralischen Vorstellungen im Zarenpalaste anwohnen durften : übersetzte jetzt die Prinzessin Sofia Molieres „Le Medecin malgre lui" aus dem Französischen ins Russische, führte das Stück auf und spielte selbst darin eine Rolle; ihre Partner waren die Fürsten Dolgorukij, Galitzyn, Odjewsky, Tscherkassow, Koslowsky, Scherbatow, Oberst Gribojedow, die Prinzessinnen, Howanska und Bariatinskij und die Gräfin Sche- remet jew.

Dies ereignete sich in Moskau. Mittlerweile begann auch im Süden das theatralische Leben zu pulsieren. Dmitry Tuptalo, Bischof von Rostow, dichtete sechs biblische Dramen und führte sie in einem Betzimmer seiner Amtswohnung mit Hilfe von Seminaristen der Kijewer geistlichen Akademie auf. Noch am Hofe der Zarin Elisabeth, sechzig Jahre später, spielte man Dmitrys Dramen.

Unter Peter dem Großen war es ebenfalls ein Geistlicher, der berühmte Feofan Prokopowitsch, der Dramen, sogar die ersten weltlichen in russischer Sprache schrieb. Neben den Dramen von Feofan führte man auch Stücke der Prinzessin Natalia Alexejewna, einer Schwester der Sofia und Peters, auf. Die Stoffe für ihre Stücke entnahm Natalia wie Feofan ebenfalls zum Teil schon weltlichen Chroniken. Ein Zeitgenosse er- zählt i): ,,Des Czars Vergnügen sind besonders Musiccomödien. Die Slawonische, Moscowitische, auch Lateinische und Teutsche

1) Des großen Herrns Czar Peter .\lexowicz Leben und Thaten von J. H. von L. Franckfurt 1710, S. 97.

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Comödie werden den Winter durch und sonsten öffter auf öffentlichen Theatris mit Vocal- und Instrumental-Music nach der auswärtigen Art ziemhch gut gespielet, damit dadurch die Aktores sowohl als die Zuschauer sich in Reden und Ma- nieren üben, absonderlich den Lastern durch lächerliche und absurde Vorstellung ihrer Scheußlichkeit möge abgeholffen werden." 1701 beauftragte Peter den Kapitän Johann Splawskij, einen Ungarn von Geburt, der ein ehemaliger Schauspieler gewesen sein soll, sich nach dem Ausland zu begeben und eine Komödiantentruppe zu rekrutieren. Splawskij engagierte in Danzig einen gewissen Johann Kunst als Direktor der Hof- komödianten der Zarischen Majestät. Am 25. Dezember 1702 wurde das erste öffentliche Theater in Moskau auf dem Roten Platze (KpacHaa njioma^L) mit einem Stücke von Kunst eröffnet. Die meisten Stücke, die hier gegeben wurden, waren dem Geschmacke Peters entsprechend frivol und zynisch. Der Zar wies dem Direktor 3000 Rubel jährlich für die Schauspieler, für jeden der zwölf Musiker des Orchesters extra 150 Rubel an. Schauspieler und Musiker waren durchwegs Russen, Söhne von Edelleuten, Offizieren und Würdenträgern. Der Direktor hatte aber mit ihnen seine Plage. Sie betranken sich alle Tage bis zur Bewußtlosigkeit, wollten nicht zu den Proben kommen, machten Skandale und wurden dann mit der Peitsche gestraft. Kunst klagte über ihre Unreinlichkeit und weigerte sich, ihnen seine Theaterkostüme zu leihen. Schließlich nahm die Herrlichkeit des Direktors Kunst ein jähes Ende. Er kün- digte für den i. April 1705 eine Gala- Vorstellung an, und ganz Moskau, mit dem Zaren an der Spitze, strömte herbei. •Aber als nach der Ouvertüre der Vorhang in die Höhe ging, sahen die Zuschauer nichts als eine Tafel mit der Aufschrift : „Heute ist der erste April !" Weder der Zar noch seine Russen verstanden den Witz und warteten geduldig; Kunst erschien endlich und erklärte, daß er sich einen Aprilscherz erlaubt hätte. Der Zar sagte zornig: „Das ist eine wirkliche Komödian- tenfrechheit!" und Kunst hatte für immer ausgespielt; er ver- schwand aus Moskau, und an seine Stelle trat ein anderer deutscher Direktor, Otto Fürst, der mit einer deutschen Truppe nach Moskau gekommen war.

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Das Repertoire hatte sich unterdessen stark verwelthcht, aber die Frauenrollen wurden noch immer von Männern ge- spielt, und die kürzesten Stücke hatten auch noch wie früher wenigstens sechs bis acht Akte. Die Vorstellungen boten ein Bild der sittlichen Anschauungen und Empfindungen der Zeit und der Zuschauer. In den Stücken konnte man die ver- borgensten Laster der Menschen kemien lernen, und was in der Handlung selbst von dem Schamgefühl noch unterdrückt wurde, das sagten die Harlekins und Spaßmacher, die in den Zwischenakten das Publikum zu amüsieren beflissen waren, frei heraus, wobei sie ihre Zoten durch obszöne Gesten unzweideutig illustrierten. Zuweilen gerieten die Hanswurste aus dem Spaß in ernsten Streit miteinander; es gab Schlägereien, die Schau- spieler kamen ebenfalls herausgestürzt, und über solche Skan- dale amüsierten sich die Zuschauer am meisten; ja oft steiger- ten sie die Verwirrung, indem sie selbst an den Prügeleien teilnahmen.

Im Jahre 1709 übersiedelte die Truppe des Direktors Fürst nach der neuen Zarenresidenz an der Newa; Fürsts Nach- folger war hier gegen Ende der Regierung Peters der Direktor Mann. In Petersburg erstand neben dem deutschen Theater jetzt auch ein russisches, an dem besonders das Tendenz- drama. ,,Die Streljzy" von Natalia Alexejewna Romanow auf- geführt wurde; die zarische Dichterin hatte sich mit nicht weniger als zwölf Akten begnügen wollen, um mit grauenvollem Realismus die blutigen Ereignisse vorzuführen.

Katharina I. lebte nur ihren Liebhabern und kümmerte sich nicht um. die Pflege des Theaters; Peter II. fand, wenn er nicht auf der Jagd war, nur Geschmack an Hanswurstiaden imd rohen zynischen Spaßen. Erst mit dem Krönungsfeste nach der Thronbesteigung der Zarin Anna Iwanowaia beginnt das Theater in Rußland wieder fortzuschreiten. Zur Krönung Annas werden vom König August von Sachsen ,,Signor Cosimo und seine Frau nach Moskau hergeliehen, damit sie italienische Intermezzi vorstellen." Ihnen folgt 1733 ^i^^ ganze italienische Truppe unter Araja, der zum kaiserlichen Kapellmeister des Petersburgers Hoftheaters ernannt wird. Das Hoftheater ist im Sommer ein Holzhaus im kaiserlichen Garten, im Winter

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ein Saal in einem Flügel des Winterpalastes. Einmal in der Woche gibt es Ballette. Die Balletteusen sind: Kadetten. Man- cher von diesen männlichen Balletteusen, wie Tschoglokow, tanzt sich in das Herz und ins Bett der Zarin hinein und avanciert zum Kammerherrn. Vom Jahre 1737 ab wird all- jährlich eine neue Oper aufgeführt; die Werke sind durchwegs Kompositionen Arajas. Als Ballettmeister fungiert der Italie- ner Rinaldo Fossana, der drei Tänzerinnen imd mehrere Tänzer, unter ihnen den Franzosen Landet, der bald Fossanas Erb- schaft übernehmen wird, mitgebracht hat. Von den Ausländern werden einige Russen und endlich auch drei Russinnen aus- gebildet. Anna Iwanowna versteht aber nicht italienisch und ist auch keine Musikfreundin. Die Oper langweilt sie. Sie ist deshalb glücklich, als Graf Linar, der Gesandte Sachsens an ihrem Hofe, das Engagement einer deutschen Truppe ver- mittelt, und nun unterhält sie sich vortrefflich bei deutschen Possen. 1739 entschließt sich die berühmte Caroline Neuber, die damals dem Ruine nahe war, mit ihrer Truppe nach Peters- burg zu ziehen. Sie kommt im März 1740 an und bleibt bis Oktober, i) Aber nach dem Tode Annas wird sie, einer Bettlerin gleich, davongejagt, denn das neue Regiment ist deutsch- feindlich; die Französierung Rußlands hat begonnen.

Das französische Element triumphiert auf der ganzen Linie der sogenannten russischen Kultur; das deutsche Theater und die deutsche Zivilisation werden hinweggetanzt und hinweg- gespielt von französischen Tänzern und Komödianten. 1748 spielt zwar noch die deutsche Ackermannsche Gesellschaft in einem eigenen „Stadttheater" in Petersburg, und 1749 gibt der Senat dem Wiener Hilferding die Erlaubnis, in Petersburg, Moskau, Narwa, Reval. Riga und Wyborg deutsche Komödien und Opern aufzuführen; aber der Erfolg lohnt nicht die Mühe und Kosten. Den Franzosen dagegen geht es vortrefflich. Monsieur de Serigny erhält 25000 Rubel Subvention, ein Haus für seine Komödien, und auf Kosten des Hofes Beleuchtung, Dekorationen und Musik. Die Kostüme muß er selbst liefern,

ij Caroline Neuber und ihre Zeitgenossen, von Frhr. von Reden-Esbeck, Leipzig i88t, S. 242.

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aber er braucht sich deswegen keine großen Sorgen zu machen, denn „die Vornehmen des Hofes beschenken die Schauspieler mit manch schönem und kaum einmal getragenem Kleide." Auch der Italiener Locatelli verdient ein Vermögen mit leich- ter Mühe, namentlich da er die Kunst durch das Handwerk unterstützt und in die Opemvorstellungen Feuerwerk einführt. Elisabeth liebt Musik und Theater. Noch als Prinzessin, da ihre Mittel äußerst beschränkte waren, hatte sie in ihrem Hof- staate neun Musiker und zwölf Sänger i), unter letzteren Ra- sumowskij, der sich zum heimlich angetrauten Gatten Elisabeths hinaufsang. Als Zarin läßt Elisabeth die weiblichen Rollen zu- nächst noch immer durch Kadetten darstellen. Ihrer perversen Natur, die sie treibt, sich bei Maskeraden in Männerkleider zu werfen, um ihre schönen Beine zu zeigen, gefallen Männer in Frauenldeidem ; den hübschen Kadetten Sswistunow kleidet sie am liebsten selbst an, und an dem Kadetten Beketow ent- deckt sie, als sie ihn ebenfalls auskleidet, um ihn umzukleiden, solche Vorzüge, daß sie ihn von seiner Theatergaderobe hin- weg direkt in ihr Schlafzimmer führt.

Das Interesse für das russische Nationaltheater ist unter- dessen fast ganz verloren gegangen. Das russische Volk ergötzt sich in der Butterwoche wie früher bloß an den rohen Vor- stellungen geistlicher Dramen oder an Hanswurstiaden. Für diese Komödien hat man nirgends ein bestimmtes Gebäude. Die Schauspieler wandern von Platz zu Platz, schlagen für einen Tag hier, für einen andern dort ihr Heim auf, legen eine Matte auf den Boden, dekorieren die Wände mit buntem Papier, und Bühne und Zuschauerraum sind fertig. Zuweilen mietet die Gesellschaft einen Stall; dann hängt man abends eine Laterne vor die Tür, und der Ton eines Waldhorns verkündet, daß hier ein Schauspiel (HrpHme} stattfinden soll. Der vornehmste Platz kostet vier Kopeken. Der Inhalt der Stücke ist einfach blöd. Man führt die alten Mysterien auf, aber die Zensur ist eine strenge geworden. Früher kam es vor, daß in dem Stücke, welches die Verkündigung Maria feierte, die heilige Jungfrau dem Engel, der ihr die Geburt Christi prophezeite,

1) Waliszewski, La derniere des Romanow, 39.

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zornig zurief: „Hältst du mich für eine Hure, da du mir vom Schwangerwerden vorplauderst ? Packe dich fort oder ich werde dich wegfegen!" Elisabeth, die fromme und keusche, verbot derartige Profanierungen der Gottesmutter und befahl, daß man die Personifikation der heiligen Jungfrau durch ein Hei- ligenbild ersetzte; jedesmal, wenn an Maria die Reihe kommt, zu erscheinen, bringt man ein Ikon auf die Bühne. i)

Und doch dichteten damals schon die großen russischen Dramatiker Lomonossow und Ssumarokow. In Petersburg ver- einigten sich die drei Kadetten Melessino, Sswistunow und Osterwald sogar zur Darstellung eines Dramas von Ssumaro- kow. Die Zarin erfuhr davon und räumte den drei Jünglingen einen Saal ein, worin sie Stücke der beiden genannten russi- schen Dichter vor geladenem Publikum aufführten. Zur selben Zeit, 1750, wurde in Jaroßlawl das erste öffentliche russische Nationaltheater von dem ersten russischen Schauspieler Fedor Wolkow begründet. 2) Wolkow war im Hause seines reichen Stiefvaters Poluschkin europäisch erzogen und von einem deut- schen Pastor, dem Prediger des nach Jaroßlawl verbannten Herzogs Biron von Kurland, mit Liebe zur Schauspielkunst erfüllt worden. Er studierte in Moskau und Petersburg, be- suchte hier eifrig Theatervorstellungen, befreundete sich mit deutschen und italienischen Künstlern und machte sich mit dem theatralischen Mechanismus bekannt ; dann kehrte er nach Jaroßlawl zurück, organisierte hier aus Freunden eine Truppe,

1) F. W. Barthold, Ausgang des Joanschen Zweiges der Romanow und seiner Freunde. Raumers hist. Taschenbuch VIII, S. 70.

2) GelegentHch der 150. Jahreswende dieses Ereignisses fanden an allen Theatern Rußlands große Feierlichkeiten statt, und dem Andenken Wolkows wurden Bücher, Festschriften und Festartikel nicht bloß in Rußland, sondern auch im Ausland gewidmet; unter letzeren erwähne ich das schöne Feuilleton von N. Golant (,,Der Begründer des russischen Theaters") im Literaturblatt der Neuen Freien Presse vom 12. Juli 1900. Seither hat man die Verdienste Wolkows auf Grund neuerer Forschungen vielfach herabgesetzt. So wider- legte namentlich P. Morosow im E^Kerojiniirb iiMiiepaTupcKHXi.TeaTpoBT, 1 899/1900 manche der Legenden, die sich um die Erscheinung des ersten russischen Schauspielers gebildet haben. Es ist aber das Eine jedenfalls nicht anzu- fechten, daß Wolkow der Bahnbrecher und Pfadfmder der nationalrussischen Schauspielkunst war. Wolkow starb im Alter von nur 34 Jahren.

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erbaute auf eigene Kosten ein Theater und eröffnete es am 12. Juli 1750 mit dem Drama ,, Esther" und der Schäferidylle „Emwon und Versa", zu der er selbst die Musik komponiert hatte. Der Erfolg übertraf alle Erwartungen. Man sprach in ganz Rußland von dem Ereignis, und Elisabeth befahl, „die Truppe Wolkows mit aller Eile nach Petersburg zu bringen." Die Zarin war von der ersten Vorstellung, welche die Wol- kowsche Truppe an ihrem Hofe gab, entzückt und ordnete die Gründung eines öffentlichen russischen Theaters an. 1) Wolkow wurde zum ersten Hofschauspieler, der Dichter Ssumarokow z'um Direktor mit einem Gehalt von 1000 Rubel ernannt; für die Schauspielergagen waren 5000 Rubel jährlich angewiesen worden.

Katharina II. erklärte : „Das Theater ist die Schule der Nation; sie muß absolut unter meiner Aufsicht stehen, ich bin der erste Lehrer dieser Schule, denn meine erhabenste Pflicht ist vor Gott für die Sitten meines Volkes verantwortlich zu sein." Diese Verantwortlichkeit hat die grofie Zarin wirklich in merk- würdiger Weise erfüllt, der liebe Gott hat wenig Freude an ihr erlebt. Als erster Lehrer der theatralischen Nationalschule verlieh Katharina zunächst dem Meister Wolkow den Andreas- orden und den Adel; gleichzeitig trug sie ihm, nicht mehr und nicht weniger, einen Ministerposten an ! Wolkow wollte aber nichts als Schauspieler sein, und bekümmerte sich bloß um die Vorbereitung der Festvorstellungen an den bevor- stehenden Krönungsfeierlichkeiten. Mitten in dieser Tätigkeit ereilte ihn der frühe Tod. Seine Lebensarbeit war aber trotz ihrer kurzen Dauer keine verlorene gewesen, das russische Theater war erschaffen und blieb bestehen. Katharina selbst schrieb zumeist mit der Feder ihres Sekretärs Derschawin eine ganze Reihe von Theaterstücken 2), die sowohl auf der

1) Das historische Dokument ist abgedruckt im ApxirBt n.MnepaTopci:HXT. TeaTpoBT., oTAfcrb II: J],oKyMOHTbi, ctp. 54, ^ SS (06t> ynpeiKTieBiH PycPKaro Teaxpa).

2) Die verschiedenen Ausgaben der Theaterstücke Katharinas findet man verzeichnet bei B. von BilbassofE, Katharina II. im Urteile der WeltUteratur, autorisierte Übers, aus dem Russischen, mit einem Vorwort von Dr. Theodor Schiemann, Berhn 1897 (2 Bände). Man vergl. ferner Theätre de l'Her- mitage de Catherine II, imperatrice de Russie, compose par cette princesse,

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öffentlichen Bühne als auf der kaiserlichen Privatbühne, dem Theatre de l'Hermitage, wie die Kaiserin ihr intimes Bühnen- haus nannte, zur Aufführung kamen. Im Ermitage-Theater spielten gewöhnlich Dilettanten, intime Freunde der Kaiserin, ihre Gelegenheitsmacher, Günstlinge und Freundinnen. Unter letzteren war die Gräfin Bruce besonders beliebt; aber eines Tages entdeckte Katharina, daß ihr Liebhaber Korsakow seine Gunst heimlich der schönen Gräfin zugewendet hatte, und die Bruce mußte sofort aus Petersburg verschwinden. Auch sonst spielten sich bei diesen intimen \'orstellungen pikante Szenen im allerhöchsten Zuschauerräume ab. Baron de Bre- teuil erzählte, wie er einst an der Seite der Zarin der Auf- führung einer Tragödie beiwohnte, in welcher Gregor Orlow, der Günstling Katharinas auftrat. Er spielt seine Rolle linkisch, aber Katharina schreit immerfort Bravo ! und fragt ununter- brochen rechts und links um die Ansichten der Zuschauer. Sie selbst findet ihn entzückend, lobt seine Noblesse, preist seine Schönheit. 1) Sobald aber ihre Person aus dem Spiele kommt, hat diese große Sittenlehrerin kein Interesse mehr für ihre Schule, das Theater. Um Europa zu blenden, wirft sie Millionen hinaus für das Engagement von Sternen; sie beruft Madame Toldi, bewilligt jede Summe, welche die Künstlerin verlangt, aber muß sich nachher erst darüber informieren lassen, wer die Toldi eigentlich sei, und was sie leiste. Musik liebt die Kaiserin nicht, die Komödie langweilt sie, die Tragödie miß- fällt ihr und so zieht sie sich endlich, nachdem sie genug getan hat, um Europas Staunen ob ihres Kunstverständnisses zu erwecken, mit den alten Herren an den Kartentisch oder mit den jungen Günstlingen in ihren Alkoven zurück.

Dem gemeinen Volke waren die Hoftheater nicht zugäng- lich. Auf Befehl der Regienmg wurde auf einem Platze an der Mojka eine offene Bühne für den Petersburger Plebs er-

par plusieurs personnages de sa societe intime et par quelques ministres etrangers (publ. par F. Castera). 2 vols. Paris 1799. Enthält die Stücke, die 1787 und 1788 auf Katharinas intimer Bühne von französischen Schauspielern aufgeführt wurden.

1) Waliszewski, Autour d'un tröne, page 80. Derselbe, Le Roman d'une imperatrice, 227, 441.

.Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rußland. 2/

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richtet, wo eine von der Polizei dirigierte und besoldete Truppe die Moral durch die Kunst lehrte ! Die Schauspieler erhielten für jede Vorstellung sofort ihr Honorar fünfzig Kopeken per Person - vom Vertreter des Polizeichefs ausbezahlt.

Dies waren die Anfänge des russischen Theaters, das be- rufen gewesen wäre, in der Geschichte der Sittlichkeit einer der wichtigsten Faktoren zu sein, das aber seine hohe moralische Aufgabe nicht erfüllt hat. Wieviel Gutes hätte es gerade für die Veredlung der Sitten in Rußland leisten können ! Trotz der allgemeinen Knechtung des Gedankens und des Wortes hat die Bühne sich einer merkwürdigen Freiheit erfreut. Auf jedem anderen Gebiete der Literatur war die Wahrheit Verbrechen, aber auf der Bühne durfte sie sich frei und kühn aussprechen. Der Publizist Radischtschew wird von Katharina vor Gericht geschleppt und nach Sibirien verbannt, weil er in seiner „Reise von Petersburg nach Moskau" eine ziemlich harmlose Kritik der sozialen Zustände zu veröffentlichen gewagt hat; aber die- selbe Zarin überschüttet den Lustspieldichter Von-Wisin, der in seinen Stücken erbarmungslos den Hof und die Gesellschaft geißelt, mit einer Überfülle von Ehren; und Patjomkin, selbst durch die Satire schwer verwundet, drückt dem Dichter die Hand und sagt ihm: „Jetzt stirb, oder dichte nicht mehr!" Ssumarokow, der erste ernste russische Dramatiker, darf rnit Stolz den Beinamen eines Beschützers der Wahrheit und Geiß- lers der Laster führen. Über Lomonossow wird die Knuten- strafc wegen Beleidigung hoher Beamten verhängt, aber des Dichters Verdienste als Dramatiker erwirken ihm Begnadigung. Knjäschnin und Ssudowtschikow dürfen in Dramen das Sportel- nehmen und die Unehrlichkeit des Beamtentums verspotten. Kaiser Alexander L sperrt den Menschenfreimd Karasin, den Begründer der Universität von Charjkow, in das furchtbare Ver- ließ der Schlüsselburger Festung, weil dieser Mann "es gewagt hat, dem Zaren in einem Buche das Elend des Reiches zu zeigen; doch der Dichter Gribojedow, der: Wehe dem Ge- scheiten ! schrieb und in diesem Lustspiel die vornehmste rus- sische Gesellschaft so furchtbar an den Pranger stellt, daß es anfänglich nur im Geheimen gegeben werden kormte, wird von demselben Zaren ausgezeichnet, als das Stück endlich

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in die Öffentlichkeit dringt und die Verurteilung der knech- tischen und faulen Bureaukratie jubelnden Beifall findet. Niko- laj I. läßt den Satiriker Ssaltykow-Schtschedrin nach Wjätka verbannen, weil er das verrottete System des Tschin ange- griffen; aber wir wissen auch, daß derselbe Nikolaj dem Dich- ter Gogol j nicht bloß die Aufführung des Lustspiels ,,Der Revisor" ermöglicht, sondern der Premiere dieses Stückes, das die Willkür und Korruption der Tschinowniki bloßstellt, mit seiner Gegenwart einen besonderen Glanz verleiht. Auch unter Alexander IL darf Ostrowski] in seinem Lustspiel ,,Eine ein- trägliche Stelle" ungestraft die heilige Bureaukratie angreifen.

Die russischen Dramatiker haben aber nicht immer der Freiheit und der Gerechtigkeit gedient, sondern häufig genug auch den schlechten Instinkten geschmeichelt und namentlich der Wollust und der Grausamkeit weiten Spielraum auf der Bühne verschafft. Im Herbst 1889 wurde im Abramowtheater zu INloskau ein Stück aufgeführt, worin eine der handelnden Personen bestimmte weibliche Mitglieder des Zirkus Sala- monskij bezeichnete, die ihre Gmist willig verschenkten. Woh- nung tmd Tarif der Damen wurden genau angegeben. Außer- dem empfahl man in diesem Stücke Hurenhotels und Ver- gnügungslokale niedrigster Sorte, ij Pissemskij zeigte in seiner V^olkstragödie ,, Bitteres Los", wie der Bauer Ananij das von seinem Weibe aus einem Liebesverhältnis mit dem Gutsherrn geborene Kind in einem Anfall eifersüchtiger Raserei an einer Tischecke zerschmettert. Leon Tolstoj hat in der , .Macht der Finsternis" die schauerlichsten Tiefen aufgewühlt, wie Maxim Gorkij in seinen Szenen ,,Das Nachtasyl". Am weitesten in der Brutalität aber gehen jene modernsten Dramatiker, die, von der Regierung in den Dienst der Reaktion gestellt, in ihren Stücken zeigen müssen, wie man Juden und Fortschritts- männer erschlägt; dies geschieht beispielsweise in dem Stück „Die Söhne Israels", das seit 1901 aufgeführt wird und von allem Anfang an zu fanatischen Demonstrationen der Liberalen wie der Reaktionären Veranlassung gab.

Was bedeutet das Theater in Rußland für die Geschichte

') HoiUM- r,|...M5i. 30. "irr. 1889.

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der öffentlichen Sittlichkeit ? Die Herrscher und Herrscherinnen des Zarenreiches haben es nur als ein Mittel ihres egoistischen Vergnügens betrachtet. Die Zarinnen des achtzehnten Jahr- hunderts unterstützten es, weil sie im Schauspielerpersonal eine neue Gattung von Liebhabern fanden, gleichwie im neunzehnten Jahrhundert der sittenstrenge Nikolaj I. sich seine Maitressen vom General Gideonow, dem Chef der kaiserlichen Theater, aus dem Ballettkorps auswählen ließ. Nikolaj IL, der ein glück- liches Familienleben führt, stellt an das Theater keine derartigen Ansprüche : aber da es nun besteht, so werde es eine Stätte der Propaganda für die zarische Autokratie, predige es die Ausrottung der Feinde des Selbstherrschers durch Mord und Feuer.

Ein Nationalvergnügen im guten Sinn des Wortes konnte das Theater schon deshalb nicht werden, weil man das Volk von ihm fast immer ferngehalten hat. Im Ploftheater Nikolajs I. gab es weder Balkone, noch Logen, sondern nur ein Parterre, einen einzigen Raum für die Allervornehmsten, für die Uni- formierten; Zivilisten durften nicht erscheinen. Die sogenannten Volkstheater, die im Laufe der zwei Jahrhunderte gegründet wurden, hatten keinen Bestand, weil man aus ihnen Schulen machte, in denen nach autokratischer Lehre mit der Peitsche des Polizisten unterrichtet wairde. Die Zuschauer schleppte man durch Kosaken in diese Theater. So zog es der ge- meine Russe vor, bei seinem Hanswurst der Butterwoche zu beharren, der mit seinen obszönen Gesten und zynischen Reden die Sprache spricht, die das Volk versteht, die dem Volke gefällt und die das Volk nicht verlernen wird, so lange die Selbstherrschaft dauert und das Prinzip der Entsittlichung der Massen regiert. Nikolaj II. eröffnete vor einigen Jahren im Alexanderpark zu Petersburg wieder einmal em \'olks- theater und ließ stolz verkünden: ,,Dies soll eine Stätte sein für die Entwickelung der Kultur, ein Geschenk Rußlands an das zwanzigste Jahrhundert." Die Geschichte aber läßt sich nicht durch Worte verblüffen und urteilt unbeugsam nur nach den Ergebnissen.

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24- Rauchen und Tabakbuden.

Tabak eiu Höllenkraut Legende vom Tabak Bibelworte gegen das Rauchen Todesstrafe, Folter und Verstümmelung für Raucher Über die Raucher- leiden in der Türkei Peter der Große Urheber der Rauchfreiheit Monopole des Marquis Caermarthen und des Grafen Schuwalow Rauchen auf den Straßen Ukas Nikolajs I. zugunsten eines Rauchers Raßkoljniki und Geist- lichkeit gegen das Rauchen - Rauchen ein Nationalvergnügen Nogaier Soldaten Tabaksalons Tabakbude und Bordell.

Das Rauchen ist dem Russen gleicherweise Vergnügen wie Lebensbedürfnis. Merkwürdig aber, daß just in Rußland und in der Türkei, also in jenen Staaten, die gegenwärtig als die eigentlichen Raucherländer gelten, der Tabak i) im Anfang verpönt war als das Kraut der Hölle. Die russische Literatur des siebzehnten Jahrhunderts besitzt sogar eine ,, Legende vom Ursprung des Tabaks" 2), worin alle Schrecken ausgemalt sind, die dem Seelenheil des Tabakfreundes drohen. Besonders die Mönche verabscheuten den Tabak. Ein Abt aus einem Kloster in der Ukraine sagte dem preußischen Legationssekretär Vocke- rodt^): ,,Gott habe das Tabakrauchen ausdrückhch verboten; esheißt in der Bibel: Was zum Munde hineingeht, verunreinigt den Menschen nicht; aber was zum Munde herausgeht, ver- unreinigt den Menschen. Deshalb sei eher Bier oder Brannt- wein erlaubt als Tabakrauchen." Zar Michael Feodorowitsch, der erste Romanow, verbot in einem Gesetze „sowohl den Russen als den Ausländem, Tabak bei sich zu haben, Tabak zu trinken oder damit zu handeln." Käufer und Verkäufer sollten festgenommen imd sogleich mit dem Tode gestraft

1) Dr. Gustav Klemm (Das Feuer, die Nahrung, Getränke, Narkotica, Leipzig 1855, S. 366) meint, daß die Russen Jden Tabak durch die Engländer kennen lernten. Nach England aber kam Tabak erst um 1583, während nach Olearius, Orient. Reise S. 126, schon im Jahre 1542 der Tabak in Rußland verboten wurde. Es wird daher angenommen, daß die Russen wie den Tee auch den Tabak aus China erhielten. Vgl. Nicotiana, oder: Taschenbuch für Tabakliebhaber, Berlin 1801, S. 35 und 44.

2) Vgl. A. V. Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur, S. 240.

3) Bei Herrmann, Zeitgenöss. Berichte. S. 15, Abschnitt 22.

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werden ; ihre Häuser und Güter verfielen der Konfiskation, das einfließende Geld erhielt die zarische Kasse. Zar Alexe] Michajiowitsch der Aufgeklärte i) bestätigte nicht bloß das Ge- setz des Vaters, sondern verschärfte es noch durch die An- ordnung, daß der Todesstrafe die Folterung vorausgehen sollte. Wenn jemand beteuerte, daß er den Tabak nicht gekauft, son- dern zufällig auf der Straße gefunden, so wurde er auf die Folter gespannt; bestand er in der Folter bei seinen Angaben, so nahm man diese als wahr an. War der Beschuldigte ein Bojar, so ließ man ihn jetzt frei; ,,ein Streljze, ein Ausländer, ein Herrenknecht, ein Bauer oder ein Spaziergänger" aber wurden, bevor man sie freiließ, .,über dem Bock mit der Knute" geschlagen. Wenn ein Streljze zum zweiten Male im Besitze von Tabak gefunden wurde, so folterte man ihn falls er angab, den Tabak wieder nur gefunden zu haben diesmal wiederholt, um die Wahrheit zu erfahren. Bestand er auf seinen Angaben, so ließ man ihm das Leben, verbannte ihn jedoch in ferne Provinzen oder nach Sibirien und gab ihm einen Denkzettel, indem man ihm die Nase abschnitt oder wenigstens die Nasenlöcher aufschlitzte 2).

Peter der Große, der seine Russen rasierte und nach euro- päischer Art kleidete, steckte ihnen auch die Tabakspfeife in den Mund. Schon vor seiner Reise ins Ausland, im Jahre 1697, hob er das Verbot des Tabakrauchens auf. In England schloß ei- mit dem Marquis von Caermarthen einen Vertrag betreffe eines Tabakshandelmonopols für RuIMand. Er selbst raucht und schnu]ift ; bei den Assembleen müssen auf allen Tischen Tabaksäckchen und Pfeifen aufliegen 3), und die Russen, in neuen eleganten französischen Kleidern herum- spazierend, dampfen auf zarischen Befehl aus den plumpen

1) Vgl. die §§ 10 21 des Kap. XXV in Struveiis Allg. Russ. Land- Recht, Dantzig 1723, S. 24t ff.

~) In der Türkei waren die gleichen Strafen in Gebrauch. Dem Raucher wurde die Nase durchbohrt und der also bestrafte Rauchlüsthng als abschrecken- des Beispiel zur Schau herumgeführt. Murad IV. ließ 1638, zur selben Zeit wie Zar Michael, die Raucher in seinem Heere köpfen, hängen, vierteilen und die Leichen solcher Verbrecher vor die Zelte werfen.

3) Waliszewski, Pierre le Grand, pp. 60, 212, 458.

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holländischen Matrosenpfeifen. Die Anhänger der alten Ge- bräuche sahen in der Erlaubnis des Tabakrauchens eine Ent- heiligung des Glaubens ; um diese Fanatiker zu ärgern, ver- anstaltete Peter, wie bereits in einem früheren Kapitel erzählt wurde 1), eine Maskerade, bei der die Teilnehmer, Päckchen brennenden Tabaks auf den Hüten trugen, während der After- papst Sotow das Volk mit einer Tabakspfeife wie mit einem Kreuze segnete.

Die Russen gewöhnten sich schnell an das Höllenkraut, und bald wurde im ganzen Lande so stark geraucht, daß der Marquis von Caermarthen ein glänzendes Geschäft machte; er allein hatte das Recht des Tabakhandels in ganz Rußland, die Ukraine und Livland ausgenommen, und wer sein Monopol verletzte, verfiel der Knutenstrafe 2). Zarin Elisabeth überließ ihrem Günstling Generalfeldmarschall Grafen Schuwalow und dessen Erben im Jahre 1759 die Tabakpacht für zwanzig Jahre gegen eine Summe von 70000 Rubel. Ein Ukas Katharinas II. hob 1762 diesen Vertrag auf und gab den Tabakhandel im ganzen Reiche frei 3). Nur das alte Verbot des Rauchens auf den Straßen blieb unverändert bestehen. Noch unter Nikolaj 1. wurden Personen, die auf der Straße mit brennenden Zigarren angetroffen wurden, von den Polizisten arretiert und auf der Polizeiwachstube mit 25 Stockschlägen bestraft. Ausländische Matrosen, die sich mit Unkenntnis der Gesetze entschuldigen konnten, zahlten beim ersten Male bloß 5 Rubel Strafe. Eine Ausnahme ließ Kaiser Nikolaj nur für den Uhefarzt des Ge- neralstabs der Marine gelten; dieser war ein so leidenschaft- licher Raucher, daf5 er seine Zigarre fast niemals aus dem Munde nahm. Der Zar gestattete ihm durch einen speziellen Ukas das Rauchen auf der vStraße*).

1) Vgl. Seite 372.

2) Memoires pour servir ä l'histoire de l'Empire Kussieu par uii iMinistre etranger, ä la Haye 1725, p. 102.

3) Büschings Magazin für die neue Historie und Geographie, III 284. Man vgl. auch <len Ukas Katharinas vom ii. Februar 1763 über die Tabaks- lilantagen in Kleinrußland, bei Haigold, Neuverändertes Rußland, II. Bd., S. 1\' und 141 152.

*) Vgl. Fjcdor Wcrnirot. Rußland im Licht und Rußland im Schatten, S. 416.

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Die Raßkoljniki oder Altgläubigen sind unerbittliche Gegner des Tabaks i). Das im Eingang dieses Kapitels er- wähnte Bibelwort dient ihnen als Beweis dafür, daß das Rauchen ein Höllenwerk sei 2). Wenn ein Fremder, der bei einem Alt- gläubigen zu Besuche ist, in Unkenntnis des Absehens der Raßkoljniki vor dem Tabak ahnungslos seine Zigarette raucht, so sagt ihm der Wirt kein Wort. Aber kaum ist der Gast fort, so beginnt die Reparierung des Verbrechens. Alle Fenster werden geöffnet, Türen und Tische gewaschen und gescheuert, das ganze Haus gereirugt und vor allem die Plätze, auf denen der Fremde gesessen, einer gründlichen Säuberung unter- zogen-^).

Gleich den Russen sind auch die nichtrussischen Völker in Rußland, namentlich die im Süden lebenden, leidenschaft- liche Raucher; der Nogaier beispielsweise könnte alles ent- behren, nur den' Tabak nicht*). Für die Soldaten ist die Zi- garette der Inbegriff des Süßesten und Kostbarsten. Ich er- innere mich, daß wir als Knaben den in den türkischen Krieg ziehenden Soldaten alle möglichen Geschenke, Eßwaren und Wertsachen brachten; sie wiesen alles zurück und baten nur um Tabak und Papiroß^). Die Tabakbude, Ta6aHHaa ,TaBKa, ist für den echten Russen ein Ort der Unterhaltung, eine Art Kaffeehaus, wo er, namentlich in den großen, fast durchwegs von krymschen Juden, den Karaiten, gehaltenen Geschäften,

1) Ähnlich sind auch die Wahabiten, die man die Altgläubigen unter den moslemischen Sekten nennen kann, Gegner des Tabakrauchens.

2) Einst sagte ein Pfarrer in Basel: „Wenn ich Männer sehe, die Tabak rauchen, so ist mir als sähe ich lauter Kamine der Hölle". Der Glaubensprediger Scriver schrieb in seinem ,, Seelenschatze" (17. Jahrhundert): ,, Damit man immer mehr saufen könne, macht man den Hals zur Feuermauer und zündet dem Teufel ein Rauchwerk an". Kanzler Jäger (in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts) rief von der Kanzel herab: ,,Sie saufen, fressen, huren, buben, ja sie rauchen sogar Tabak". Der Klerus ist überall derselbe. Bei den Indianern aber ist das Rauchen eine religiöse Handlung. Vgl. \'. Strebel, Die Rauchhexe, Stuttgart 1857, S. 40, 71.

3) Sammlung merkwürdiger Anekdoten das Russische Reich betreffend, Greif swald 1793, S. ^2.

*) Haxthausen, - Studien über die inneren Zustände Rußlands, II 371. 5) Ilaiiiiporr,. das russische Wort für Zigarette.

Prostituierte in einem Bad in Batum.

(Nach eiuer Photographie.)

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jeden nur erdenklichen Luxus antrifft. Da gibt es prächtige Hallen mit Diwanen; Zeitungen liegen auf; und ist man stän- dige Kimdschaft, so erhält man auch sein Glas Tschaj. Man kann an Ort und Stelle die besten Rauchsorten erproben, er- zählt währenddem Geschichten, hört auch einem von Tabak- bude zu Tabakbude wandernden Sskwernoßlowi) zu. Diese Tabatschnije Lawki sind außerordentlich sauber gehalten und die Waren appetitlich aufgestapelt, wie in einem Delika- tessengeschäft 2). Im Süden Ruf51ands, beispielsweise Odessa, sind die kleineren Tabakbuden aber auch Stätten der Prosti- tution. Hier steht am Verkaufstische statt eines Mannes stets eine Frau, die dem Käufer durch einige Worte zu verstehen gibt, sie müsse selbst bedienen, weil sie frische Mädchen be- kommen habe, die das Geschäft noch nicht verstehen. ,, Frische Mädchen, hübsche Mädchen," fügt sie hinzu, und öffnet die Tür eines Nebenzimmers, worin man zwei oder drei halbnackte oder auch völlig nackte Frauenzimmer erblickt. Der Tarif beträgt für Fremde einen Rubel, für Einheimische oder Be- kannte die Hälfte. In manchen Straßen Odessas reiht sich eine derartige Tabakbude an die andere, und der Fremde, der den eigentlichen Zweck der Geschäfte nicht kennt, staunt nicht wenig ob der scheinbar unvernünftigen Häufigkeit und un- sinnigen Konkurrenz : er erhält aber einen geradezu imponie- renden Eindruck von der russischen Rauchwut, beobachtet er dann gar die lebhafte Frequenz dieser Tabakbuden, die trotz des großen Wetteifers glänzend nebeneinander bestehen.

*) CKucpiiucjidHb. Zotenreißer.

2) Vgl. J. (;. Kohl, Südruüland. II 85.

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25. Bäder.

Vorgänger des russischen Schwitzbades Das Bad der Skythen Das finnische Dampfbad Russisches Sch^vdtzbad Flagellation im Bade Das Badblatt im Sprichwort Arten des Badens Nacktheit Bad als Heilmittel Der heilige Andreas über die Bäder von Nowgorod Gemeinsames Baden von Männern und \^'eibern Klagen des Stoglaw Bericht Fletchers Olearius über die Schamlosigkeit der Russinnen Abbe Chappe d'Auteroche und Katharina II. Katharina verbietet das gemeinsame Baden Maler und .\rzte haben freien Zutritt zum Frauenbad Weitere Berichte INIajor IMasson

Erlebnisse eines deutschen Offiziers Erzählung des Grafen de la Garde

Trennung der Geschlechter in den städtischen Bädern Unzucht in Bade- anstalten — Frotteurinnen im Wannenbad Päderastie in den Bädern von Tiflis Anmerkung über Unzucht in abendländischen Bädern Bad und Reinüchkeit Der Geruch der Russen Bad und Aberglaube Der Samstag

und das Baden Coitus und Bäder.

Das berühmte Schwitzbad der Russen hat berühmte \'ür- gänger. Herodot erzählt, daß man bei den Skythen ein Dampf- bad bereitete, indem man Hanfsamen auf ghihende Steine warf. Den Hauptreiz dieses Bades sucht man wohl nicht mit Unrecht in seiner narkotischen Wirkung i). Unter den nord- europäischen Völkern besitzen die Finnen die ältesten Dampf- bäder. Den Finnen ist das Badehaus nicht bloß unentbehrlich, sondern ein wahres Heiligtum. Jeder, selbst der Ärmste, hat sein eigenes, wenn auch noch so kleines Badehaus. Hierher flüchtet er sich, um Heilung zu finden, wenn eine Krankheit .ihn befällt: dann läßt er sich massieren und schwitzt tüchtig. Die Schwangere begibt sich, wenn sie ihre schwere Stunde kommen fühlt, ins Badehaus, um hier ihre Niederkunft abzu- warten. Das finnische Badehaus ist ein aus Balken errichteter kleiner viereckiger Bau mit einem aus Feldsteinen zusammen- gefügten, großen Ofen. An den Wänden entlang läuft oben eine hängende Galerie, die Schwitzbank. Nur zwei oder drei Luken sind dazu bestimmt, dem Rauch und Dampf Abzug zu

^) Vgl. Die Gescliichte des Badewesens von Dr. Eduard Bäumer, Breslau 1903, S. 58 60: Das Badewesen der Finnen. Bäder und Badewesen in Vergangenheit und Gegenwart. Eine kulturhistorische Studie von Dr. med. Julian Marcuse, Stuttgart 1903, S. 86 89.

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lassen; sonst hat der Raum keine Öffnungen. Der Dampf wird dadurch erzeugt, daß man Wasser eimerweise auf die heißen Ofensteine schüttet ; die Temperatur erreicht die Höhe von 70 bis 75 Grad Celsius. Man badet im Sommer zur Erntezeit gewöhnhch jeden Abend, sonst zwei- oder dreimal wöchentlich. Männer. Frauen und Kinder sind im Baderaume in buntem .Durcheinander und tummeln sich ungeniert nackt herum, peitschen sich selbst oder einander mit Birkenreisern und übergießen sich mit kaltem Wasser. Oft läuft man, selbst im W^inter, aus dem Badehaus ins FVeie und stürzt sich in einen Fluß oder wälzt sich nackt im Schnee.

Die Russen haben zweifellos das Dampfbad \ on den Finnen übernommen. In den russischen Dörfern wird das Schwitz- bad noch heute so bereitet, wie es bei den Finnen Brauch ist, indem man auf den glühenden Ofen kaltes Wasser schüttet. In den Städten sind die Bäder eleganter und räumlicher untl bestehen aus wenigstens drei Stuben : einem Auskleide- und Ankleidezimmer, einer Kammer, in der man sich auf Bänke legt, um sich von dem Banschtschik (öaHiu.iiK'B) einseifen zu lassen, und aus dem eigentlichen Schwitzraum, wo in der Mitte sich ein eingemauerter Kessel voll siedenden Wassers befindet, während in einer Ecke Haufen von Birkenruten liegen. Man nimmt einen starken Besen, läßt sich tüchtig flagellieren und steigt dann die Treppe zur Schwitzbank hinauf, auf der man ausgestreckt so lange bleibt als man es aushalten kann. Ehe man das Schwitzbad verläßt, überschüttet man sich tüchtig mit kaltem Wasser. Dies geschieht nicht bloß der Abkühlung wegen, sondern auch um die Birkenblätter, welche sich überall am Körper festsetzen, wieder wegzuspülen, was keine leichte Arbeit ist. Daher stammt das russische Sprichwort zur Be- zeichnung eines zudringlichen Menschen: ,,Er ist anhänglich wie ein Badblatt am After" (IIpHCTajii> KaKt öanntiH JiiiCTb K'i. vKori'fe). Ein anderes Sprichwort warnt daher: ,, Badest du viel, so sproßt dir die Weide im After" (ByAeuib Miioro i:viiaTh('5i Bepöa ni> Hvon-fe BMjjocTeTt). Von einem ängst- lichen Menschen heißt es: ,,Er schrumpfte zusammen, wie die Vorhaut nach dem Bade" rMopiiui.K'n. ivari. :?;i.i\ 11,1 iiucit. r»;imi.j

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Vor zwei Jahrhunderten beschrieb ein Diplomat folgende vier Arten des Badens, die damals in Petersburg üblich waren i) :

Man setzt sich nackt in ein Boot und rudert rührig, bis man in Schweiß gerät, dann springt man in den Fluß und schwimmt umher, hierauf klettert man in das Boot zurück und trocknet sich mit dem Hemd ab oder läßt sich von der Sonne trocknen. Oder man badet im Flusse und begibt sich dann zu einem am Ufer angemachten großen Feuer, bestreicht den Körper mit Öl oder Fett und geht, als wollte man sich rösten lassen, so lange nackt um das Feuer herum, bis die Haut die Fettigkeit ganz eingesogen hat.

Eine dritte Art des Badens war die in dem finnischen Vorort gebräuchliche. Hier waren in einem großen Holzbau am Ufer eines Flüßchens nebeneinander dreißig Bäder errichtet. Beide Geschlechter badeten zwar getrennt, aber man entkleidete sich ungeniert draußen und lief nackt hinein, und wenn man drinnen genug geschwitzt hatte, kühlte man sich durch kaltes Wasser ab, lief zurück ins Freie und trocknete sich an der Sonne. Oft kamen vierzig oder fünfzig Männer und Frauen nackt aus ihren Abteilungen heraus, liefen ungeniert hin und her und lachten die Passanten aus. Diese Bäder in der fin- nischen Sloboda gehörten dem Zaren : für die Benützung zahlte jede Person einen Kopeken. Das vierte Bad, das unser Ge- währsmann schildert, ist das eigentliche russische Schwitzbad. ,,Nach dem Bad," heißt es zum Schlüsse, „werfen sie sich in kaltes Wasser oder im Winter in den Schnee luid vergraben sich in ihm so tief, daß nur Nase und Augen frei bleiben ; und so liegen sie oft zwei Stunden lang. Das betrachten sie als ein Universalmittel in den verschiedensten Krankheiten".

Vom heiligen Andreas wird berichtet, daß er bei seiner Ankunft in Nowgorod dort das Schwitzbad in derselben Art kennen lernte, in der es noch jetzt gebräuchlich ist^i. Nach Rom zurückgekehrt, soll der Heilige seinen staunenden Zu- hörern das Schwitzbad als eine der Merkwürdigkeiten des rus-

^) Memoires pour servir ä l'histoire de l' Empire russien par un miuistre etranger, ä la Haye 1725, p. 39. 2) Chronique de Nestor I 7.

Russisches Dampfbad.

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sischen Landes geschildert haben ij: ,,Ich besuchte die Bad- stuben. Sie sind aus Holz gebaut. Die Slawen heizen soviel als möglich, dann werfen sie ihre Kleider ab und tauchen sich in Seifenwasser ein. Sie haben Ruten und flagellieren sich stumm bis sie schwitzen. Darauf tauchen sie in kaltem Wasser unter. Diesen Gebrauch üben sie mehrmals täghch. Geschützt vor der Tyrannei -j, quälen die Slawen auf diese Weise sich selbst und machen aus dem Bad statt eines Vergnügens eine wahre Strafe."

Ob nun wirklich der heilige Andreas selbst diese Worte gesprochen hat oder nicht, wahr ist diese Schilderung jeden- falls, und sie paßt noch für heute ganz gut. \ur eines ist in dem^ alten Berichte nicht ausdrücklich erwähnt : Das ge- meinsame Baden beider Geschlechter. Es ist möghch, daß diese Sitte erst später entstanden ist, denn im „Stoglaw" Iwans des Schrecklichen wird es als trauriges Charakteristikum ge- rade jener Zeit hingestellt, daß Männer und Frauen, sogar Mönche und Nonnen miteinander baden 3). Der Engländer Giles Fletcher^), der damals Moskau besuchte, wundert sich über die Leidenschaft der Russen für die Schwitzbäder und über ihre Unempfindlichkeit gegen Hitze und Kälte, erwähnt aber nur nebenbei, daß sie ganz nackt aus der Badstube ins Freie laufen und sich ungeniert herumtummeln. Deutlicher ist der Reisende Olearius : „Die Frauenspersonen sind sehr unverschämt und ausgelassen. Es ist in Rußland nichts Sel- tenes, daß junge Weiber, wenn sie baden wollen, sich unter freiem Himmel ausziehen und aus dem Bade wieder nackt herauslaufen. Vierzig, fünfzig und mehr Frauen und Mäd- chen tanzen und springen ohne Scham und Ehrbarkeit, so wie Gott sie erschaffen hat, herum und scheuen sich auch nicht vor den Fremden, die vorübergehen." Baron Mayerberg be- tont, daß die Bäder zwar getrennte Abteilungen für Männer

1) Ebenda, II. Anhang 76.

2) Nowgorod war eine Republik. Die russische Autokratie beginnt erst mit der Hegemonie von Moskau und erreicht ihre eigentUche Gewalt mit der Romanowschen r-aMo/iepiKaBcriw oder Alleinherrschaft.

3) Vgl. S. 143-

*) Karamsin, deutsche Ausgabt- IX ^'4. französische X 374.

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und für Frauen besitzen, aber er fügt hinzu, daß die Frauen ganz nackt aus ihrer Abteilung herauskommen und zur Tür der Männerabteilung gehen ,,und schamlos mit ihren männ- lichen Bekannten sprechen ; wenn ihr Blut durch die Flagel- lation erhitzt worden, werfen sie sich vor den Augen der Männer oder zusammen mit ihnen in kaltes Wasser" ij.

Trotz der Verdammung durch den Stoglaw Iwans des Schrecklichen blieb diese Sitte durch die Jahrhunderte fort- bestehen. Alle Werke des achtzehnten Jahrhunderts, die Ruß- land schildern, tun des gemeinsamen Badens nicht bloß, son- dern auch der schamlosen Nacktheit der Russen und Rus- sinnen außerhalb der Badeanstalt Erwähnung. Berühmt wurden die Mitteilungen des Franzosen Chappe d'Auteroche^j dadurch, daß Katharina II. sich veranlaßt sah, sie anzufechten. Der Franzose erzählt fast wörtlich dasselbe, was Baron Mayerberg um ein Jahrhundert früher berichtet hatte : „Die Abteilung der Männer ist von jener der Frauen durch einen Holzverschlag getrennt, aber Männer und Frauen kommen aus ihren Ab- teilungen nackt heraus und unterhalten sich, werfen sich auch mitsammen in den Schnee. In den V^olksbädern ist selbst das Bad gemeinsam für beide Geschlechter. In den Salzwerken von Solikamskaja sah ich nackte Männer an die Tür des Frauenbades kommen und mit den Weibern sprechen." Katha- rina II. suchte mit großem Eifer und noch größerer ermüdender Ausführlichkeit die Schilderung des Franzosen als freche Lüge hinzustellen 3). Aber man darf nicht einmal von Übertreibung sprechen. Oder man müßte die anderen hier erwähnten älteren

1) Mayerberg, Voyage 1688, 150 (Neudruck I 141).

2) Voyage en Siberie fait en 1761, contenant les moeurs et les usages des Kusses et l'etat actuel de cette puissance, Paris 1768, I 16. Unsere schöne Illustration „Les Bains publics de Russie" von Le Prince haben wir diesem seltenen Buche enthommen.

3) In ihrer satyrisch sein sollenden Schrift: L' Antidote, ou Examen du inauvais üvre superbement imprime, intitule Voyage en Siberie par M. l'abbe Chappe d'Auteroche, 1770. Das zweibändige Buch der Kaiserin ist überaus selten. Eine englische Übersetzung mit langem Titel (The Antidote etc.) erschien London 1772. Ein unvollständiger und veränderter Abdruck des fran- zösischen Originals ist Lausanne 1799 datiert.

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Berichte, die russischen inbegriffen, allesamt als unglaubwürdig verwerfen und die Erzählungen der neueren Reisenden als bloße Plagiate an den früheren Behauptungen hinstellen. Es gibt kaum ein Werk über Rußland, das nicht als charakte- ristisch das gemeinsame Baden beider Geschlechter hervor- heben würde. Ich führe noch einige Beispiele an.

Chantreau erzählt 1) : ,, Das ordinäre Dampfbad besteht aus einer einzigen Stube mit hermetisch verschlossenen Fenstern. Darin waltet eine alte Frau, die Wasser auf heiße Steine schüttet, um Dampf zu erzeugen ; auch seift sie die Leute ein, frottiert sie und schlägt sie mit Ruten. Reiche Leute haben ihre eigenen Bäder. Aus dem Bade tritt man nackt ins Freie, stürzt sich in den Fluß oder in den Schnee; auch die Frauen und Mädchen tun dies, ohne deswegen ängstlich zu sein, daß man sie in naturalibus erblicke."

Major Masson^) sah im Juni einen Haufen Weiber nackt an den Ufern eines Flusses herumlaufen, ehe sie sich zum Baden entschlossen. Überrascht von dieser seltsamen l'ngeniertheit, blieb er stehen, aber seine Aufmerksamkeit führte keine Unter- brechung des Spiels herbei. Eine Alte schwamm mit einem jungen Manne um die Wette und gewann. Als sie aus dem Wasser gekommen waren, ergriff die Frau den Besiegten am Barte und am Penis und warf ihn zwc Strafe für seine Nieder- lage unter allgemeinem Hohngelächter wieder ins Wasser.

Katharina IL befahl durch einen Ukas den Besitzern der öffentlichen Badeanstalten in den Städten, für beide Ge schlechter getrennte Bäder anzulegen ; ., besonders sollen in jene, welche für die Frauen bestimmt sind, keine anderen Männer hineingelassen werden als die zum Dienste durchaus erforderlich sind, und außerdem noch Maler und Ärzte, die ihre Kunst darin studieren wollen". Es geschah daraufhin, daß sich viele den Titel eines Arztes oder Malers willkürlich bei- legten, um die F>auenbäder besuchen zu dürfen. In Peters-

1) Voyage philosophique, politique et littcraire fait cn Russie 17SS et 1789. Trad. du Hollandais. Hambourg 1794. I 296.

2) Geheime Nachrichten über Rußland, IT 174 und 199. französische Origi- nalausgabe II 131 und 149.

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bürg gibt es seitdem nur Bäder, in denen die Abteilungen für Frauen und Männer streng voneinander geschieden sind. Auf dem Lande ist aber das gemeinsame Baden beider Geschlechter noch heute übhch.

Major Masson bemerkte, daß das gemeinsame Baden in Rußland nicht von Ausschweifungen begleitet sei, weil man von Kindheit an alles sehe und kennen lerne. Zu anderer An- sicht aber gelangt ein deutscher Offizier in seiner Schilderung^) : ,,Als ich zum ersten Male diese öffentlichen Bäder gesehen, glaubte ich in Amerika unter den Wilden zu seyn. Ich sähe eine Menge Männer und Weiber, Mädchen und Jünglinge, Kinder und Greise nackend und ohne alle Scham für meinen Augen herumlaufen; einige wuschen sich im Flusse; andere schwammen; noch andere saßen an der Anhöhe des Flusses und wärmten sich in der Sonne. Es hatte das Ansehen, als wenn alle diese Leute noch im Stande der Unschuld lebten, und durch den Anblick verborgener Schönheiten zu keinen un- ordentlichen und ausschweifenden Begierden gereizt würden. Am mehresten wunderte ich mich darüber, daß Alte und Junge von beyden Geschlechtern, ohne die geringsten Zeichen der Scham, untereinander vermischt waren, und daß die Mutter sich den unverschämten Blicken des Sohnes und der Vater den neugierigen Augen seiner Tochter darstelleten. Der An- blick war neu für mich, und mein Freund, mit dem ich einen Spaziergang gethan, und der meine Furchtsamkeit, mich diesem Orte zu nähern, merkte, führte mich bis an die Badstuben selbst : Ich glaubte hier unseren Erzvater Adam mit seiner ersten Familie zu sehen. Ich habe gefunden," schließt der Bericht, „daß diese unverschämte Entblösung vor den Augen der ganzen Welt die Ursache ist, daß sie schon von Jugend auf eine Gewohnheit erhalten, sich ihren viehischen Begierden unein- geschränkt zu überlassen."

Der Verfasser der „Geheimnisse von Rußland" sagt ge- radezu, daß in den Bädern auf dem Lande die gemeinsam Ba- denden Handlungen der Wollust begehen. Man läßt sich die

1) Rußische Anecdoten oder Briefe eines teutschen Officiers an einen Liefländischen Edelinann. Wansbeck 1765, S. 95.

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Haut mit den Fingernägeln kratzen, um die Sinnlichkeit noch mehr zu reizen i).

Endlich finden wir im Tagebuche des Grafen de la Garde 2) folgende Mitteilung über ein Erlebnis in Wassilkow, auf dem Wege von Kijew nach Berditschew : , Junge Burschen und Mädchen baden sich gemeinschaftlich in einem großen See. nahe bei der Stadt; sie schwimmen um die Wette, tauchen unter und jagen sich einander, ohne eine andere Hülle, als die der durchsichtigen Wogen. Das mag hie und da Folgen haben, welche eins oder das andere dieser schönen Kinder verhindern könnten, als Rosenmädchen von Salency gekrönt zu werden ; oder welche sie des rothen, wollenen Bandes be- rauben, das die Jungfrauen hier zu Lande bis zum Hochzeits- tage im Haare tragen; allein die Gewohnheit macht Alles, und der Mißbrauch ist hier wahrscheinlich selten."

Gegenwärtig ist man strenger in Keuschheitsfragen und in der Auffassung des Schamgefühls. Das gemeinsame Baden beider Geschlechter ist in keiner russischen Stadt mehr ge- stattet. Im Seebad Dubbeln amrigaschen Meerbusen existierte eine Zeitlang die Erlaubnis für ein gemeinsames Baden in Ko- stümen; aber diese Einführung fand keinen Anklang. Der Tag blieb daher in bestimmte Stunden für das Baden der Märmer und Frauen eingeteilt. Polizisten wachen auf den Sandhügeln am Strande darüber, daß sich Männer und Frauen nicht einmal in Sehweite in jenen Stunden nähern, die dem anderen Geschlecht eingeräumt sind. In den städtischen Dampf- bädern existiert zwischen den Abteilungen des Männerbades und des Frauenbades keine Kommunikation mehr, wie sie in alten Zeiten bestanden hat imd auf dem Lande zumeist noch besteht. Dagegen ist es erlaubt, daß Mann und Frau gemein- sam ein Kabinett mit Wannenbad mieten, wo sie unter sich bleiben können, ohne das Schamgefühl anderer zu verletzen. In Polen, Südrußland, Odessa und Kaukasien ist es Sitte, daß der Badewirt einem männlichen Gaste unaufgefordert ins Bade-

1) Geheimnisse von Rußland, I 250. Clarke. Travels in Russia, Tartary and Turkey, Hartford 181 7, I 185.

2) Reise von Moskau nach Wien, Heidelberg 1825, 16. Brief, S. 35. Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rußland. 28

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kabinett mehrere Mädchen bringt, von denen man sich eine als Frotteurin auswählen kann. Hierfür ist ein besonderer Preis zu entrichten, der ausgehandelt werden muß. Je nach dem Aussehen des Gastes verlangt der Wirt fünfzig Kopeken bis fünfzehn Rubel. Betreffs des Bades selbst kann man ebenfalls handeln. Werden drei Rubel gefordert, so ist es wahrschein- lich, daß man bei einiger Energie nur 40 Kopeken zu zahlen haben wird. In den Bädern von Batum und Tiflis werden den Besuchern auch Knaben als Werkzeuge der Päderastie angeboten. 1)

Das Bad ist dem Russen nicht Reinigungsbedürfnis in erster Linie, sondern Vergnügen. Wäre es anders, so hätte der Franzose Veuillot nicht vor etwa fünfzig Jahren den Satz aufstellen dürfen, daß die Moskowiter Aussicht haben die Weltherrschaft zu erringen, weil die Herrschaft über die Welt den schmutzigen, Völkern gehöre : ,,Gott hat die menschlichen Körper aus Schmutz gebildet, und sie befinden sich am wohl- sten in inniger Berührung mit ihren Urstoff en ; die Reinlich-

1) Der •sittenverderbende Einfluß des Badelebens wax auch im Abendlande nicht selten zu verspüren. Es bedurfte, wie Marcuse (a. a. O. 64) sagt, nicht erst des äußeren Umstandes, daß die Kreuzfahrer, nachdem sie im Orient die Üppigkeit der morgenländischen Bäder kennen gelernt hatten, diese Ausschwei- fungen in die Heimat übertrugen ; schon in dem Charakter der abendländischen Badestuben, in der totalen Mischung der Geschlechter lag genügend Unter- grund für Sittenlosigkeit. In Frankreich waren die Bäder lange Zeit Rendez- vousplätze der Galanterie und Ausschweifung. Der König St. Louis mußte dagegen Maßregeln ergreifen, obgleich der physische Geschlechtsgenuß damals nicht so geheim gehalten wurde. ,, Meine Damen", fragte der Prediger Maillard seine Zuhörerinnen einmal, ,, gehen Sie denn nicht in die Badstuben nur um dort, das zu tun Sie wissen schon, was ich meine?" Von den Germanen erzählt Cäsar: ,,Und doch macht man aus der Geschlechtsverschiedenheit kein Geheimnis, denn beide Geschlechter baden sich gemeinschaftlich in Flüssen." Im ganzen Mittelalter herrschte in Deutschland die Sitte des .gemeinsamen Badens von Männern und Frauen. Eine Synode im Jahre 745 ordnete an, daß die Männer nicht mit den Frauen vereint baden sollten, der Kirche galt dies als eine Sünde. Aber tr'itzdem blieb die Sitte bis in die Neuzeit bestehen. In Basel badete man gemeinschaftlich bis 1 43 1 . Die Bedienung im Badehause besorgten bis zum 16. Jahrhundert in beiden Abteilungen Frauen. Die An- gehörigen der unteren Volksklassen entkleideten sich zu Hause fast vöUig und verfügten sich dann über die Gasse nach der Badestube. Guarinonius klagt zu Beginn des 17. Jahrhunderts, daß nicht bloß ,, Mannes- und Weibspersonen

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keit aber erschlafft und tötet. Die Moskowiter schmeicheln sich, die Weltherrschaft zu erringen, und ich wäre keineswegs erstaunt, wenn es ihnen gelänge. Ihr Triumph hängt nicht von ihren Fortschritten in der Zivilisation ab, sondern von der Kraft und Dauer ihrer Vorliebe für den Kerzentalg. Die Männer, die Bart und Haupthaar mit Unschlitt und ranzigem Öl salben, das sind die großen Überwinder der Welt." i) Alle älteren Reisenden erzählen von der beängstigenden Unreinlich- keit der Russen, und von dem dadurch entstandenen spezifisch russischen Geruch. Auch moderne Schriftsteller haben viel- fach diesem russischen Geruch Bemerkungen gewidmet. Der Franzose Custine entsetzte sich bei dem Gedanken, daß er am Neujahrsfeste in Peterhof mehrere Tausend Russen auf ein- mal antreffen sollte. Die Russen, sagte er^), tragen im allge- meinen einen unangenehmen Geruch mit sich, den man schon von fem spürt : „Les gens du monde sentent le musc, et les gens du peuple le chou aigre, mele d'une exhalaison d'oignons et de vieux cuirs gras parfumes." Der Deutsche Kohl 3) teilt

in offenen Bädern ganz unverschambt baden", sondern auch, daß sie ,, nackend über die öffentlichen Gassen bis zum Badehaus gehen". Vgl. Johannes Schert, Geschichte der deutschen Frauenwelt, II. Auflage, Leipzig 1865, I 276; Max Bauer, das Geschlechtsleben in der deutschen Vergangenheit, Leipzig 1902, 216; Wilhelm Rudeck, Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Deutschland, Berlin (Barsdorf) 1902, S. 5.

1) Louis VeuiUot, Melanges religieux, historiques, poütiques et litteraires, Paris 1857.

2) La Russie en 1839, Paris 1843, II 103.

3) Reisen im Inneren von Rußland und Polen. Man vergleiche mit diesen Bemerkungen den Artikel von A. Bastian, Allerlei aus Volks- und Menschen- kunde, Berlin (2 Bände) I 384 ff. : ,,Uber gute und schlechte Gerüche"; und die wertvolle Arbeit von Dr. Albert Hagen, Die sexuelle Osphresiologie, Die Beziehungen des Geruchssinnes zur menschlichen Geschlechtstätigkeit, Berlin (Bar^dorf) 1906. Besonders beachtenswert der Abschnitt: Ethnologie der sexuellen Gerüche, S. 166 190, wo auch Kohls Mitteilungen über Rußland zitiert sind. Wenig bekannt und erst jüngst durch ein Buch von Louis Batiffol (La vie intime d'une reine de France au XVIie siöcle, Paris 1906, p. 82) ausführlicher dargelegt ist, daß die Vorliebe der Königin Maria von Medicis für Parfüms keinen Luxus, sondern eine Notwendigkeit befriedigte, weil Hein- rich IV. einen üblen Geruch um sich verbreitete. Des Königs geliebteste Maitresse, Henriette d'Entraigues, erklärt offen, Heinrich stinke wie ein Aas. In einem seltenen Buche von Theodore Agrippa d'Aubigne (Les avantures du Baron

28*

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sogar jedem Volke in Rußland seinen besonderen Geruch zu : „Es herrscht in diesem Gerüche oft eine Sache vor, mit der die Nation vielfach in Berührung kommt ; so bei den Litthauern der Hering, bei den Polen der Branntwein, bei den Großrussen das Juchtenleder, bei den Kleinrussen der Knoblauch, bei den Juden ihr eigentümlich spezifischer Hautgeruch."

Die Unreinlichkeit der Russen hat übrigens ihre guten Gründe. Das Volk ist durch das rauhe Klima gezwungen, den größten Teil des Jahres dicke Kleidung zu tragen, und viele haben sich daran so gewöhnt, daß sie sich auch im Sommer ihres Pelzes nicht entledigen. Der Bauer schläft sogar in seinem Tulup.i) Nach dem Bade zieht man wieder die schmutzigen, vom Ungeziefer nie gesäuberten Kleider an ; Wäsche wechselt man selten, sofern man solch zweckloses Zeug überhaupt trägt.

Also nicht aus purer Reinlichkeitsliebe geht man ins Bad, sondern weil dieses teils ein Nationalvergnügen ist, teils gleich- sam zu den religiösen Vorschriften gehört. , .Nachdem Gott die Welt erschaffen hatte, ging er am sechsten Tage ins Bad." lehrt ein Sprichwort ^j die Russen. Ein anderes Sprichwort kennt sogar drei wichtige Sonnabendpflichten 3) : „Den Sonn- abend feiert man dreifach: man muß die Bliny*) backen, das Bad besuchen und das Weibchen begatten."

Schließlich ist auch der Zusammenhang des Aberglaubens mit dem Baden zu erwähnen. In offenem Wasser soll man nicht vor Iwan Kupalo, dem 24 Juni, und nicht nach dem Eliastage, dem 20. August, baden. Wer Letzteres trotzdem tut, den warnt man mit den Worten: , .Elias hat ins Wasser geschissen" (Hjiba bi> 60^37^ Hacpajit).

Die Neugeborenen, namentlich aber die Erstgeborenen.

de Foeneste, 1729, A Cologne chez les Heritiers de Pierre Marteau (fingierter Verlag!) fand ich die merkwürdige Bemerkung, daß man zur Zeit Heinrichs die Edelleute am Geruch erkannte. Der König als erster Gentilhomme seines Reiches stank am ärgsten.

1) Tyjiym,, Schlafpelz.

^) Bort, C03aaBiuH Mipb, Ha mecTofi .loub iiouiö.Tb wh uaHK).

^) Bt cyöooiy xpii npa3,iniiKa: öaimti neicyrb, bt, 6aHro njiyTi. u oa&L eöyrbl

*) Eram., Art Pfännenkuchen.

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trägt man sobald als möglich ins Schwitzbad und brüht sie mit heißem Wasser ab, um sie von allem zu reinigen, was etwa vom Teufel an ihnen sein könnte.

Beim Geschlechtsakt hat Satan immer seine Hand im Spiel. Vor der Hochzeit geht die Braut ins Bad, um sich von dem Unreinen, Unheiligen zu befreien, und nach der Brautnacht badet sie nochmals, um des Teufels List zu ent- gehen.ij Dieser Gebrauch war seit jeher im Hause des Zaren wie des Bojaren und ebenso in der Isba des Muschik einge- führt und ist noch heute allgemein.^j Auch späterhin muß die Frau jedesmal ein Bad nehmen, wenn sie mit ihrem Manne den Geschlechtsakt ausgeübt hat. 3) Tut sie das nicht, dann kann der Teufel Gewalt über sie gewinnen und als Frucht des Geschlechtsverkehrs leicht ein Wechselbalg entstehen. Rein- lichkeitsliebe spielt bei diesen Bädern gewiß keine Rolle. Denn wie die Russen über die Reinlichkeit beim Geschlechtsakt und über die Sauberkeit der Geschlechtsteile denken^), erfährt man deutlich genug aus ihrem Sprichwort -^ i : ,,Für einen guten Hurer existiert keine dreckige Pisda."

1) Über die Unreinigkeit des Geschlechtsaktes nach der Auflassung des Orients und über die Notwendigkeit des Badens nach dem Coitus vgl. Bernhard Stern. Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei, II 193; über Bäder und Waschungen nach dem Beischlaf im Gebrauche der alten Völker: J. Rosenbaum, Geschichte der Lustseuche, 7. Aufl., Berlin, Barsdorf (II. Ab- schnitt).

^) ;:5ao'ki(fHi.. iivccKÜl HapoA'i'. 119: UaiiH. .Mt.xa it «-iMiiMa njiamiofi homii: 525: BaBB.

3) Sammlung merkwürdiger .\nekdoten, das Russische Reich betreffend. Aus dem Französischen, Greifswald 1793, I 105.

*) Ahnliches sagt Krauß, Anthropophyteia I 247, .Anmerkung, von den Südslawen: Die Bäuerinnen pflegen sich absichtlich ihre Geschlechtsteile nicht zu waschen, weil sie glauben, die angesammelte Unreinlichkeit erhöhe den Liebesgenuß. Auch der Mann bewahrt sorgsam den käsigen Schmutz, der sich hinter seiner Zumpthaut ansammelt.

') ,Uh xopoiiiain euua uliri. .lacpaiiiioM iiii;t,u.i.

FÜNFTER TEIL:

Russische Leiden

26. Schicksalsglaube und Selbstmord.

27. Feuer, Hunger und Pestilenz.

28. Medizin und Aberglaube. 29. Räuberwesen und Revolutionen.

26. Schicksalsglaul^e und Selbstmord.

Fatalismus des russischen Volkes Sprichwörter Totenklagen Die Vor- stellung vom Jenseits Selbstmörder als Dämone Polnischer Aberglaube in betreff der Selbstmörder Aberglaube der Jakuten und Mongolen Der Selbstmord bei den Tschuktschen Selbstaufopferung als Mittel gegen Seuchen Russische Gesetze gegen den Selbstmord Begräbnis der Selbstmörder an einem ehrlosen Orte Der Selbstmord im russischen Aberglauben Selbst- mörder werden Vampyre und Krankheitsgeister Leichenschändungen.

Widerspruchslose und widerstandslose ELrgebung in die traurigen, für unabänderlich gehaltenen Verhältnisse ist eine charakteristische Eigentümlichkeit der slawischen Völker, so- wohl der südlichen als jener im Norden. i) Im russischen Natio- nalcharakter ist der Schicksalsglaube einer der prägnantesten Züge. Er ist nicht bloß allgemein bei den Bauern anzutreffen, sondern dringt häufig genug in die höheren und intelligen- testen Klassen der (Gesellschaft ein. Er ist mit der russischen Denkweise verwachsen. Man findet bei dem Russen Spuren von Fatalismus ebenso in den Momenten todesverachtender Tapferkeit wie in Stunden völliger Resignation, bei der Auf- lehnung wie bei der Unterwerfung, in der Tollkühnheit nicht weniger als in der Entmutigung, in den Anwandlungen fieberhafter Tätigkeit gleicherma(5en wie bei der größten Ab- spannung, im Verneinen wie im Glauben, in allen Neigungen und Vergnügungen. 2) Man kann so weit gehen, diesen Charak- terzug über alle anderen Züge des russischen Charakters zu stellen. Der Glaube an Vorsehung und Schicksal ist im russi

1) Vgl. Dr. Friedrich S. Krausz, Sreca, Glück und Schicksal im \olksglauben der Südslaven. Separatabdruck aus den .Mittoilungon der Anthropologisclu-n Gesellschaft in Wien. i886.

-) Lerov-Beaulieu. Das Reich der Zaren und die Küssen. III 2}.

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sehen Volke so tief eingewurzelt, daß er manchem in der Tat als der einzige wirkliche Glaube erscheint, der die Seele dieses Volkes durchdringt ; er hat jenen eigentümlichen Geistes- zustand ausgebildet, der die außerordentliche Wankelmütig- keit des russischen Volkes verständlich macht und die Laxheit in der Moral als eine unvermeidliche Notwendigkeit erschei- nen läßt.i)

Das unabwendbare Fatum, vom Christentum in das Gericht Gottes verwandelt, wird durch zahlreiche Sprichwörter gelehrt : Was einmal bestimmt ist, kann nicht vermieden werden. Jedem Menschen geschieht, was ihm bei der Geburt bestimmt worden ist. Was geschehen soll, wird geschehen. Dem Schicksal wirst du nicht entrinnen, auch nicht zu Pferde. Sünde und Sorge überholen alle Menschen gleichmäßig. Wenn ein Hund ge- schlagen werden soll, fehlt es nicht an Stöcken. ,Ein Narr schießt, aber Gott lenkt die Kdgel. Der Wolf packt die Schafe, die ihm bestimmt sind. Magst dich fürchten oder nicht, dem Geschick entgehst du nicht. Im Igorlied und bei Daniel dem Verbannten, einem Dichter des zwölften Jahrhunderts, endlich heißt es: Weder die Schlauen noch die Kühnen werden Gottes Gericht entrinnen.

In den Totenklagen 2) wird erzählt, wie der Mensch ver- geblich dem Tode auszuweichen sucht. Wieder Gewalt noch List können das Leben verlängern ; umsonst bemühen sich auch die Verwandten, den Tod durch Geschenke zu besänf- tigen, um ihm eine kurze Frist abzugewinnen; der Tod bleibt unerbittlich, er duldet keinen Aufschub, wenn er kommt und das Leben fordert, muß man unverweilt den langen unbe- kannten Weg antreten. Diese Volkslieder sind vom kirch- lichen Einfluß freigeblieben, man findet in ihnen keine Er- wähnung des Paradieses oder der Hölle. Das Jenseits ward mannigfach, meist unbestimmt, aber immer phantastisch und mit einer Menge heidnischer Bilder geschildert. Entweder nimmt den Toten die feuchte Mutter Erde auf, oder er fliegt empor zu den Planeten, wohin weder Winde noch lebendige

1) Lanin, Russische Zustände, I 95.

-) Reinholdt, Geschichte der russ. Literatur, 30.

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Wesen dringen, oder endlich: er kommt auf die mythische Insel Bujan, die in ewiger Blüte prangt; dort wohnen die Verstorbenen in ihren Häusern. Ebenso ist die Schicksals- idee zu einer halb märchenhaften, halb allegorischen Gestalt verkörpert werden, welche in den Totenklagen, in den Volks- märchen und den volkstümlichen Erzählungen in heidnischem Gewände auftritt; und man wird beispielsweise in einer Er- zählung vom Ursprung des bösen Geschickes in der Welt lebhaft an den Mythus der Pandora und im Einzelnen an Thors Fischfang erinnert, i)

Alles, was sich ereignet, und alles, was nicht eintritt, ist also Fatum. Es ist töricht, etwas zu unternehmen, um sich selbst zu helfen. Man vegetiert dahin, ohne sich zu rühren. Man liegt tatlos auf dem Ofen und sieht zu, wie das Fatum sich gestaltet. Bei dieser fatalistischen Auffassung vom Guten und Bösen, das einem während des Lebens auf Erden begegnet, muß der Selbstmord in Rußland eine Seltenheit sein. Die trostlosen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhält- nisse haben zwar einige Sekten erzeugt 2), die nicht mehr träge das Schicksal an sich heranschleichen lassen, sondern dem unabänderlichen Tod zuvorkommen und durch freiwillige Ver- nichtung ihres Lebens den Qualen ein vorzeitiges Ende be- reiten. Das Volk im großen und ganzen aber begreift den Selbstmord eines Menschen nicht, und sieht im Selbstmörder ein unreines Wesen. Dieses Volk ist so sehr an das Dulden gewöhn . erträgt alle Leiden so gleichmütig, daß es sich nicht vorstellen kann, wie ein Mensch es wagt, sich der Peitsche seines Herrn, dem Kummer, den das Schicksal ihm auferlegt hat, trotzig zu entziehen.

Nicht bloß bei den Russen selbst ''K auch bei fast allen

1) Reinhohlt a a. O. },2.

2) Vgl. S. 248—255.

3) Ich will nicht ermangeln, hier einige seltene Schriften zu notieren, die mir bei der Aufsuchung der Quellen zur Geschichte des Selbstmordes unter- gekommen sind. Namenthch zur Geschichte des Selbstmordes aus Fanatismus enthalten diese Werke interessante .\ngaben: Christliche \'ermahnung vnd Tröstung / Aus Heiliger Schrifft / wider die schwere anfechtung der Entleihung seiner selbst ' so nfft aus verzweiffelung geschieht / Durch ICgidium Mecheler

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in Rußland lebenden Völkern, ja selbst bei vielen heidnischen, betrachtet man den Selbstmörder als einen vom Teufel Be- sessenen, der nach seinem Tode keine Ruhe findet und in der Welt umherschweift, um den Menschen zu schaden : Die pol- nische Dämonologie sieht in jedem, der sich erhängt oder er- tränkt hat, einen bösen Geist, einen unversöhnlichen Feind der Menschheit. Wehe dem, der nachts in die Nähe der Leiche eines Selbstmörders gerät. Die Leiche erwacht und stürzt sich über den ahnungslosen Passanten und erwürgt ihn. Es hilft nichts, wenn man einen Selbstmörder begräbt. Die Leiche steigt um Mitternacht aus dem Grabe, wandert Schrecken säend umher, und kehrt erst beim dritten Hahnenschrei in die Erde zurück. In Polen begräbt man die Selbstmörder am Rande eines Waldes. Die Hirten hüten sich, mit ihren Herden nachts ihr Lager in der Nähe eines Waldes aufzu- schlagen. Tun ßie dies doch, so steigt um Mitternacht einer der am Waldrand begrabenen Selbstmörder her\or und ver- jagt die Hirten ; wer nicht sofort flieht, der kann sich nicht retten, der Dämon reißt ihm den Kopf ab. Dann setzt sich der Geist selbst ans Feuer, um sich zu wärmen, und erst beim dritten Hahnenschrei kehrt er in sein Grab zurück. Auch am Ufer eines Flusses soll man sich nachts nicht aufhalten. Die Geister jener, die sich im Flusse ertränkt haben, steigen her- vor und ziehen den unvorsichtigen Wanderer ins Wellengrab hinunter. Die Selbstmörder werden nach dem Tode auch V'am- pyre ; während aber die gewöhnlichen Vampyre die Menschen

einem guten freunde zugeschrieben / Anno 1541. Sampt etlichen Brieffen D. Lutheri wieder solchen Fall nützlich zu lesen / mit einer Vorrede. M. Georgij Silberschlags /'Pfarrers der Christlichen Gemeine zum Predigern in Erffurd / Jetzt auffs newe auffgelegt vnd gedruckt / Durch Joachim ]Mecheler ' Im Jahr 1609. Traite du suicide ou de meurtre volontaire de sod-meme. Par Jean Dumas. A Amsterdam, chez D. J. Changuion. 1773. Meine Lieblings- stunden in Briefen den besten Menschen bestimmt. Von dem Verfasser der Gallerie der Teufel, Berlin rvSi, bey Christian Ludevvig Stahlbaum. Erster Band, 76 102: Von der Epidemie des Selbstmordes. Der Selbstmord, psychologisch erklärt und moralisch gewürdigt, ein Beitrag zur Warnung vor Trübsinn und Verzweiflung und zur Empfehlung der ächten Lebenskuust; teils nach dem Französischen, teils eigentümlich bearbeitet von August v. Blum- röder, Weimar 1837. Zwei Teile.

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nach und nach entkräften und töten, sind die aus Selbstmör- dern rekrutierten so furchtbar, daß sie schon bei ihrem ersten Besuche dem Menschen alles Blut aussaugen und ihn auf der Stelle umbringen. 1)

Bei den Jakuten werden die Selbstmörder Yours, eben- falls den Menschen feindliche Dämone. Die Mongolen glau- ben, daß die Seelen der Selbstmörder als Boks umherirren, als Geister, die namentlich jenen Übles zufügen, die ihnen im Leben nahegestanden. Die Kamtschadalen betrachten den Selbstmord als eine ziemlich gleichgültige Sache. Wenn sich jemand in einen Fluß stürzt, um sich zu ertränken, leistet ihm ein Kamtschadale niemals Hilfe; denn in Kamtschatka sagt man: Es sei Sünde, einen, der sich ertränken wolle, zu retten; wer das trotzdem unternehme, werde sich zur Strafe dafür früher oder später selbst ertränken. 2)

Bei den Tschuktschen dagegen herrscht der Selbstmord als ein C.cbrauch, erzeugt aus religiösem Fanatismus, aus dem Glau- ben an das jenseitige Leben und dem Wunsche, die ver- storbenen Verwandten schneller wiederzusehen. Die Seelen der \'erstorbenen werden von den Überlebenden als Beschützer der Familie angesehen. Gibt es Unglücksfälle oder Krank- heiten in der Familie, so sind daran nicht bloß die bösen Geister, sondern auch die Seelen der Verstorbenen schuld, denen man l rsache zur Unzufriedenheit gegeben hat ; um die Erzürnten zu versöhnen, opfert ein Familienmitglied sein eige- nes Leben. Der Selbstmord vollzieht sich in aller ( )ffentlich- keit^): Der Selbstmörder in .spe macht allen Nachbarn Mit- teilung von seinem Entschluß. Man versucht pro forma, ihn von dem Vorhaben abzubringen, oder ihn wenigstens zu einem Aufschub der Ausführung zu bereden. Er bleibt jedoch fest, bezieht sich auf die Toten, die ihn quälen, auf Teufel und

1) V. Begicl, La demonologie du peuple polonais. Reviu- de l'histoire des Religions. Paris 1902. Tome XLV No. 2, p. 158 170.

■-') Histoire de Kamtschatka II 169.

3) Vgl. die Schilderung dieser Zeremonie von dem Missionär Adolf Skrzyncki aus St. Louis in der Zeitschrift „Am Urquell", V 267 268. Skrzyncki bemerkt, daß dieser von alters her erhaltene Brauch noch heute mit derselben Genauig- keit befolgt wird, wie er dort vor der Einführung des Christentums geschah.

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verstorbene Verwandte, die ihm fortwährend im Traume er- scheinen und ihn zu sich rufen. Man beginnt also die Vor- bereitungen zum Selbstmord nach dem übhchen Ritual. Der zukünftige Selbstmörder erhält eine neue Kleidung aus weißen Renntierfellcn, dann stellt man einen neuen Schlitten her und kauft neue Geschirre für die Renntiere, mit denen das frei- willige Opfer die Reise ins Jenseits antreten wird. In zehn bis fünfzehn Tagen sind die Vorbereitungen beendet. Am feierlichen Tage versammeln sich die Verwandten und Nach- barn. In ihrer Gegenwart zieht sich der Fanatiker die neue Kleidung an und setzt sich in die Ecke der Jurte. Sein näch- ster Verwandter hält das Werkzeug des Todes, entweder einen Speer, ein Messer oder einen Riemen. Der Todeslustige kann zwischen diesen drei Dingen wählen. Will er mit dem Messer seinem Leben ein Ende machen, so halten zwei Verwandte ihn an den Händen fest, wahrend ein dritter ihm von der Gurgel bis zum Herzen einen tiefen Schnitt macht und die Spitze des Messers zum Schluß in sein Herz stößt. Will er mit dem Speer erstochen werden, so steckt man diesen durch eine Öffnung in der Wand hindurch. Der Fanatiker stellt sich so, daß die Spitze direkt sein Herz treffen muß und ruft dann laut, daß man zustoße. Die Erdrosselung vollführt man, indem zwei Verwandte den Riemen um den Hals des Mannes drehen und dann die Enden so lange nach entgegengesetz- ten Richtungen ziehen, bis der Zweck erreicht ist. Die Leiche trägt man in den neuen Schlitten und setzt sie hier halb auf. Dann fährt man hinaus an den Ort der Toten. Hier werden die Renntiere, die den Geopferten hergebracht, erstochen. Dem Toten zieht man die Kleidung aus und zerschneidet sie in kleine Stücke, die man wegwirft. Die Teilnehmer der Zere- monie beschmieren ihre Hände und ihr Antlitz mit dem Blute des Opfers, bitten den Toten, ihrer nicht zu vergessen, und verbrennen die Leiche auf einem Scheiterhaufen.

Das russische Gesetz hat namentlich unter Nikolaj I. merk- würdige Bestimmungen bezüglich der Selbstmörder festge- legt i): „Wer sich selbst vorsätzlich (nicht etwa im Wahn-

1) Vgl. Strafgesetzbuch des Russischen Reichs, promulgiert im Jahr 1845; deutsche Ausgabe, Carlsruhe und Baden 1S47, S. 367, §§ 1943 1947-

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sinn oder bei vorübergehender Geistesstörung; tötet, wird als eine Person betrachtet, die nicht befugt war, Verfügungen für den Todesfall zu treffen. Demnach bleibt das Testament des Selbstmörders, als nichtig, ohne Vollziehung; ebenso jede andere, von ihm für den Fall seines Ablebens gemachte An- ordnung, sie betreffe seine Kinder, Pflegebefohlenen, Diener, sein Vermögen oder sonst irgend einen Gegenstand. Dem Selbstmörder ist die christliche Bestattung versagt. Wer bei gesundem Verstände einen Selbstmord versucht, und daran nur durch äußere Umstände verhindert wird, muß sich, falls er den christlichen Glauben bekennt, einer Kirchenbuße unter- ziehen. Diese Bestimmungen finden keine Anwendung auf den, der sich aus Vaterlandsliebe oder Pflichttreue einer Lebens- gefahr aussetzt oder dem Tode opfert; ebensowenig gegen die weibliche Person, die sich tötet oder zu töten versucht, um ihre Keuschheit und Ehre gegen einen nicht anders ab- zuwehrenden Angriff zu schützen. Wer einen andern zum Selbst- morde beredet, ihm dazu Mittel verschafft oder dazu sonst auf irgend eine Weise mitwirkt, wird als Begünstiger eines mit Vorbedacht verübten Mordes bestraft. Eltern, Vormün- der und andere Vorgesetzte, welche durch grausamen Miß- brauch ihrer Gewalt eine ihnen untergebene Person zum Selbst- morde verleiten, werden mit Entziehung der Ehren- und Stan- desrechte auf ein bis zwei Jahre Besserungshaus verurteilt und müssen sich, falls sie den christlichen Glauben bekennen, einer Kirchenbuße unterziehen." Bis in die neueste Zeit be- stand der Artikel, der dem Selbstmörder das christhche Be- gräbnis versagte; dieser Artikel wurde in den Entwurf des neuen Strafgesetzbuches, das sich in Vorbereitung befindet, nicht aufgenommen, aber in der Verordnung für die Ärzte aus dem Jahre 1892 ist stehen geblieben: daß der Körper eines vorsätzlichen Selbstmörders vom Schinder an einen ehr- losen Ort zu schleppen und dort zu verscharren sei.

Solche Bestimmungen, ob sie nun befolgt werden oder nicht, lassen dem Volke den Selbstmord nicht nur als etwas Schändliches und Ehrloses erscheinen, sondern haben auch den Aberglauben bestärkt, der seit jeher und fast überall mit dem Selbstmord im Zusammenhang steht. Die an einem ehr-

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losen Orte verscharrten Leichen können nach russischem Glau- ben keine Ruhe finden, schweifen als Geister und Vampyre umher, sind schuld an Dürre. Hungersnot und Seuche^): Im Jahre 1887 erhängte sich im Dorfe Iwanowka im Alexandrij- schen Kreise des Gouvernements Cherson ein Bauer. Kurz darauf entstand anhaltende Trockenheit. Natürlich war der Selbstmörder schuld. Die Bauern pilgerten zu seinem Grabe, gruben die Leiche aus, besprengten sie mit Wasser und sprachen : ,,Ich besprenge, ich besprenge ; Gott gebe einen Platzregen ; führ' ein Regenchen herbei und befreie uns vom Unglück." Als dies Mittel nicht geholfen hatte, wurde die Leiche abermals ausgegraben und möglichst weit weg vom Dorfe entfernt, damit der Verstorbene den Weg nicht zurück- finde. 1872 wurde aus ähnlichen Gründen im Kamenezschen Kreise des Gouvernements Podolien die Leiche eines Mannes, der sich erhängt hatte, ausgegraben und in den Teich ge- worfen; 1883 im Dorfe Begitowskij, im Gouvernement Stawro- pol, die Leiche eines Mannes, der im Wahnsinn einen Selbst- mord begangen hatte, aus dem Grabe gerissen und verbrannt. Das Merkwürdigste ereignete sich 1892 im Dorfe Ssomenitschki des Kreises Ponewjesch im Gouvernement Ko\vno: Eine Bäuerin hatte sich im Walde erhängt. Sie war Katholikin. Der katholische Geistliche weigerte sich, die Selbstmörderin beerdigen zu lassen, und lehnte es ab, Geld für ein Trauer- geläute anzunehmen: ,,ihre Seele ist dem Teufel verfallen," sagte er. Das Entsetzen der Söhne der Selbstmörderin war groß; und ihre Furcht davor, daß die teuflische Mutter keine Ruhe im Grabe finden und daher umherwandern würde, um der Familie und dem Dorfe Schaden zu bringen, steigerte sich schließlich derartig, daß sie es für das beste hielten, der Leiche der Mutter den Kopf abzuhacken; die zerstückelte Leiche scharrten sie dann so ein, daß der Kopf bei den Fußen lag. Jetzt waren sie sicher, daß die Selbstmörderin aus dem Grabe nicht mehr hervorkommen könnte.

1) Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, S. 105.

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27- F'euer, Hunger und Pestilenz.

Feuersbrunst und Zauberei Brandplage Hinrichtung Glinskijs wegen zauberischer Brandstiftung Gründung eines Schornsteinfegerkorps Feuer- wächter — Strafen für Brandstifter Geschichte der Hungersnöte Hunger und Hexerei Weiberleiber als Getreidespeicher Hungertragödien in alten Zeiten Ein Ausspruch des Zaren Boriß Wohltat ein Übel Verheim- lichung des Elends vor Fremden Nikolaj I. haßt das Wort Hunger Kanni- balismus in Hungerzeiten Beispiele aus Rußland und den Ostseeprovinzen Iwan der Schreckliche liebt Verhungernde zu sehen Gnade für Menschen- fresser, Strafe für Kalbfleischesser Die Hungersnot der Gegenwart Ver- brechen der Regierung Der Aberglaube als Regierungsstütze Geschichte der Epidemien Glaube an Pestdämone Hexenmorde Wasserweihe Die Pest in Moskau 1654 und 1771 Die jüngsten Epidenuen.

Nur der fatalistische Glaube und der träge Charakter des Russen können es erklären, daß in diesem Reiche der Selbst- mord nicht eine Volkskrankheit geworden ist. Denn die Leiden Rußlands seit seinem Bestände sind so namenlos und so un- unterbrochen, daß dort das Leben kaum mehr lebenswert er- scheint. Schon die Elemente der Natur haben alles aufgeboten, um den Riesenstaat zu einer Stätte ewiger Not zu machen. Feuer, Hunger und Pest gehören zu den ständigen Institutionen. In früheren Zeiten hat man es nicht einmal der Mühe wert- gehalten, diese natürlichen Plagen zu bekämpfen oder ihnen vorzubeugen. Das Schicksal führte sie herbei oder die Zau- berei verursachte sie Menschenmacht konnte sie also nicht verhindern, noch weniger beendigen; man wartete ergeben, bis der Kelch vorüberging.

Unter Wladimir Monomach zerstörte eine große Feuers- brunst Kijew; gleichzeitig trat eine vollständige Sonnenfinster- nis em, man sah in der Mittagsstunde Sterne am Himmel, und schließlich vernichteten Erdbeben und Orkane ganze Land- striche, Menschenmassen und Viehherden wurden von den empörten Elementen in die Flüsse geschleudert. 1185 und 1190 wurde die Stadt Wladimir durch ein Feuer vollständig verödet; Schätze an Edelmetallen, die in den Kirchen auf- gespeichert waren, die kostbarsten Meßgewänder und sehene

Stern, Geschichte der Offentl. Sitthchkeit in Rufil.ind. 29

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Bücher fielen den Flammen zum Opfer. In denselben Jahren verwüsteten Brände die Städte Rostow, Ladoga, Russa und Nowgorod; in letzterer Stadt brarmten an einem Tage 4300 Häuser, darunter viele steinerne, nieder. Von 1420 bis 1450 wüteten, namentlich in Moskau und Nowgorod, furchtbare Feuersbrünste. Auf dem flachen Lande herrschte Trocken- heit. ,,Die Erde entzündete sich vor Hitze," schreiben die Annalisten, „sodaß die Menschen in den dicken Rauchwolken einander nicht sehen konnten; nach dieser Zeit sind, wie einst nach der Sündflut, die Lebensalter kürzer and die Menschen hinfälliger und schwächer geworden." Für die Feuersbrünste, die 1507 in Nowgorod allein 5314 Menschenleben forderten und im selben Jahre Moskau und Pskow verheerten, machten die Chronisten die Einführung der teuflischen Pulvermühlen \'erantwortlich, in denen man geheime Zauberkräfte vermutete. Als im Jahre 1547 in Moskau ein Riesenbrand die halbe Stadt verzehrte, erhob sich niemand, um dem Feuer Einhalt zu tun, sondern alles forschte nur nach den Urhebern der Zau- berei, die den Brand hervorgerufen haben mußte. Die Familie Glinskij, die für den jugendlichen Zaren Iwan die Regentschaft führte, wurde endlich der Zauberei verdächtigt, und das Haupt dieser Familie fiel als Opfer des Aberglaubens, dessen sich, wie so oft in Rußland, die Politik bedient hatte.

Bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts gab es nicht einmal eine Feuerwehr. 1736 verheerte ein neuer großer Brand Moskau; 2527 größere und 9145 kleinere Bauten, mehr als hundert Kirchen und ein Dutzend Klöster wurden ein Raub der Flammen. Nun zum ersten Male raffte man sich auf, den Feuersgefahren systematisch zu begegnen. 1737 befahl die Zarin Anna die Gründung eines Schornsteinfegerkorps. Patrouillen mußten Tag und Nacht die Straßen der Haupt- stadt durchziehen, um das Brandlegen zu verhüten- oder aus- gebrochenes Feuer im Keime zu ersticken. Man begnügte sich nicht mehr mit der Lynchjustiz des Aberglaubens, sondern schuf strenge Gesetze, um die Brandstifter abzuschrecken. Wer einen Brand legt, befahl die Kaiserin, soll für das Feuer im Feuer büßen, lebendig verbrannt w^erden. Aber wieder echt russisch ist es, daß man nicht bloß die Verbrecher bestraft.

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sondern auch jene, die von dem Verbrechen bloß sprechen; daß also schon für die Erwähnung eines stattgehabten Brandes die Knutenstrafe droht !

Nächst dem Feuer ist es der Hunger, der ununterbrochen Rußland heimsucht. Die erste große Hungersnot entstand neun Jahre nach dem Tode des vielbesungenen Fürsten Wladi- mir, des ersten christlichen Herrschers. Die Zauberer erklärten das Unheil als Folge des Verrats an den alten Göttern und hetzten das Volk, durch Opferung von Christen den Himmel zu versöhnen. Wie bei den furchtbaren Bränden, so feiert auch in Zeiten der Hungersnot der Aberglaube seine Triumphe. Der älteste slawische Chronist, Nestor, berichtet über die Hun- gersnot des Jahres 1070, daß damals Zauberer die Wolga ent- lang zogen und in den Dörfern erklärten: die Weiber hätten die Hungersnot verursacht und alles Getreide in ihren Leibern aufgespeichert. Man schleppte die Frauen und Töchter zu den Hexenmeistern, welche die Weiber massakrierten, und richtig kam mit dem Blute der Opfer Getreide zum Vorschein, das die Zauberer geschickt im Momente der Opferung verschüttet hatten. Das hungrige Volk stürzte sich auf die Frauen, um sich zu sättigen. Der Vater zerfleischte die Tochter, der Sohn die Mutter, und die Mörder tranken gierig das Blut der Weiber, in dem sie Getreide, Honig und Fische zu genießen wähnten.

Jahr um Jahr herrscht partielle Hungersnot, bald in diesem., bald in jenem Landstrich. Eine allgemeine Hungersnot wütet im Durchschnitt in jedem Jahrzehnt mindestens einmal. Am stärksten geplagt erscheint das Gebiet von Nowgorod. 121 5 trat hier eine Mißernte ein zur Zeit, da die Stadt vom Feinde belagert wurde. Die Teuerung war so erbarmungslos, daß die Bewohner ihre Kinder, um sie nicht ernähren zu müssen, an die Gosty oder Kaufleute verschenkten. Die Leichen der Ver- hungerten lagen in den Straßen und wurden von den Hunden verzehrt. Das Elend dauerte fünfzehn Jahre und zog auch die benachbarten Provinzen in Mitleidenschaft. Im Jahre 1230 erreichte es seinen Höhepunkt. Erdbeben und totale Sonnen- finsternis steigerten das Entsetzen, ,,Man erwartete das Ende der Welt, man umarmte sich und nahm Abschied voneinander," erzählen die Chronisten. 6530 ,, Hungergräber" wurden mit

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den Opfern der Not gefüllt; dann gab man das Begraben auf. die Leichen blieben unbestattet auf den Straßen. Endlich fand sich ein Mann, Namens Stanil, der die Toten auf den Friedhof zu führen sich bereit erklärte. Von früh morgens bis spät abends, Tag um Tag und Woche um Woche führte Stanil Leichen aus Nowgorod hinaus, und er allein bestattete 3000 Menschen. „Nowgorod ist im Verscheiden," klagen die Chro- nisten der Zeit; ,,der Vater liebt nicht mehr den Sohn, die Mutter nicht mehr die Tochter; der Nachbar will dem Nachbar nicht mehr ein Stückchen Brod abbrechen. An allen Ecken und Enden sieht man von den verzweifelten Eltern ausgesetzte Kinder, die den Hunden zum Fraß fallen." Rettung brachten endlich deutsche Kaufleute, die zur See Getreide herbeiführten und der Hungersnot Einhalt taten. 1419 herrschte eine Hungersnot in ganz Rußland; sie währte bis 1422, und nur Pskow blieb frei, vom Elend. Am 3. Januar 1446 aber gab es dafür nach den Aussagen der Chronisten von Nowgorod auch ein freudiges Wunder: ,,Aus schwarzen W^olken fielen lichte Roggengarben, endlose Massen Gerste und Weizen zur Erde, bis der ganze Raum zwischen den Flüssen Msta und Wolchowez, auf fünfzehn Werst im Umkreis, mit Getreide bedeckt war." Das W^under half indessen nicht viel, denn 1448 herrschte wieder Hungersnot, und sie dauerte diesmal mit kurzen Unterbrechungen zwanzig Jahre lang.

Furchtbare Hungerjahre gab es zur Zeit der Regierung Iwans des Schrecklichen. ,, Hunger und Seuche," sagt der russische Historiker Karamsin, „halfen dem Tyrannen bei seiner Verwüstung Rußlands. Es schien, als wenn die Erde ihre Fruchtbarkeit verloren hätte: man säete Getreide, aber man erntete nichts; sowohl Kälte als Dürre verdarben die Ernte." Der sogenannte Usurpator Boriß Godunow aber sprach bei seiner Krönung zum Volke : „Qott ist mein Zeuge, daß es, so- viel von mir abhängt, keinen Bettler und keine Waise in meinem Reiche geben soll; mein letztes Hemd will ich den Darbenden opfern." Und als wiederum eine entsetzliche Hun- gersnot über Rußland hereinbrach, da errichtete Boriß Speise- hallen für die Armen, öffnete die Fruchtkammern der Krone, kaufte selbst zu höchsten Preisen alles Getreide auf und ver-

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schenkte es an das hungernde Volk. Unter der Maske dar- bender Leute drängten sich jedoch Wucherer herzu, die sich der Kronsvorräte hstig bemächtigten und dann das angesam- melte Getreide teuer verkauften; des Zaren Wohltat wurde zum Übel, und das Elend wuchs gewaltiger als je zuvor. Hunderttausende, Millionen Menschen starben den Hungertod. Überall lagen Leichen umher, baten Sterbende um Hilfe. In Moskau beförderten die vom Zaren angestellten Beamten im Laufe des Jahres 1604 nicht weniger als 127000 Leichen von Menschen, die auf den Straßen verhungert waren, aus der Stadt hinaus. Aber als damals der Freiherr von der Logau als kaiserlich römischer Gesandter nach dem Kremlj kam, ver anstaltete man trotzdem glänzende Feste. ,,In der Tractation des Herrn Gesandten," berichtet Bussow, ,,wurd an allerley Sachen viel zugeführet, und gingen die Leute der Stadt so prächtig, daß keine Theuerung auf denen Gassen zu sehen war, sondern nur im Hause und im Herzen. Es durfte auch wegen des Herrn Gesandten Leute niemand bey Leibes Strafe klagen, daß Theuerung im Lande gewesen."

Von 1695 bis 1698 herrschte eine schreckliche Hungers- not in Estland. Viele Eltern setzten ihre Kinder aus, um sie nicht vor den eigenen Augen des kläglichsten Todes sterben zu sehen. Auf allen Straßen lagen die Leichen haufenweise. Man warf die Toten in Massengräber; gewöhnlich wurden 25, manchmal 75 in eine Grube gelegt i).

Im achtzehnten Jahrhundert gab es während des Regiments der fünf Frauen auf dem Zarenthrone 33 Hungerjahre. Katha- rina IL glaubte die Hungersnot durch Witze bekämpfen zu können. Einen Komwucherer beschenkte sie mit einem eisernen Orden von einem Pud Gewicht, den der Elende bei seinem Erscheinen in der Öffentlichkeit stets tragen mußte; aber sie selbst vergeudete Hunderte Millionen an ihre Günst- hnge und bestrafte den Publizisten Nikolaj Nowikow, der sich zum Advokaten des gepeinigten verhungernden Volkes machte. Die Regierung Alexanders I. brachte eine Ruhepause, aber seither hat das Elend Jahr um Jahr das Reich heimgesucht.

1) Vgl. Petri, Esthland und die Esthen, Gotha 1802, 1 157.

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1832 verwüstete eine Mißernte Südwestrußland, 1840 das ganze Reich. Unter Nikolaj I. durfte das Wort Hunger nicht er- Avähnt werden. Der Kaiser besuchte i) ein Spital, trat zu dem Bett eines Typhuskranken und fragte den Arzt, wodurch die Krankheit entstanden sein könnte. ,,Wohl durch Hunger," entgegnete der Arzt. Der Kaiser sah den Mann grimmig an und ging weiter. Beim Abschied aber trat er nochmals auf den Unglücksmenschen zu und sagte: ,,Du, halte die Zunge besser hinter den Zähnen." Und am nächsten Tage wurde der Arzt seines Postens enthoben. 2)

Von besonderem Interesse ist die Konstatierung, daß die Hungersnot immer nicht bloß Gelegenheit zu Aberglauben und Ausschreitungen gab, sondern die Sittlichkeit des Volkes unter- grub und die Brutalität seiner Gefühle enthüllte. Die Historiker von tausend Jahren berichten beispielsweise dieses Schauer- liche aus allen Epochen des Elonds : daß die Hungernden ihre Mitmenschen schlachteten und verzehrten, um ihr eigenes Leben für eine kurze Weile fortzufristen. Wir haben bereits er- fahren, daß bei der zweiten historischen Hungersnot in Ruß- land um 1070 die Männer die Weiber schlachteten. 1230 nährten sich die Notleidenden in Nowgorod von Moos, Weiden- und Ulmenblättern, Hunden, Katzen, ,,und selbst von Menschen- leichen, und es wurden Menschen erschlagen, um ihre Leiber zu grauenvoller Speise zu bereiten". Zwar wurden derartige Verbrechen mit dem Tode bestraft, aber man konnte sie in- folge des großen Elends nicht verhüten. Um 13 15 ereignete sich Ähnliches in Estland und Livland anläßlich einer großen Hungersnot 3) : ,,Die Leute haben nicht allein ungewöhnliche und wiederige Thiere gefressen, sondern es trieb sie auch der Hunger zu anderen abscheulichen Thaten, daß die Eltern ihre eigenen Kinder zum Theil aus Mitleiden und der Qvaal ein Ende zu machen, umbbrachten, theils ihren Hunger damit zu stillen, geschlachtet und aufgefressen haben. Es wurden auch

1) Diese Anekdote erzählt Mktor Hehn in seinem nachgelassenen Buche ,,De moribus Ruthenorum", herausgegeben von Th. Schiemann.

2) Ausführliche Schilderung der russischen Hungersnöte vgl. bei Bern- hard Stern, Zwischen der Ostsee und dem Stillen Ozean, S. 139 196.

3) Hiärns Geschichte, 147.

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von den armen Leuten des Nachts die Diebe und die Ge- richteten von den Galgen und Rädern abgestohlen und ver- zehret. Es hat sich in der Zeit in einem in Jerwen gelegenen Dorff, Pugget genennet, zugetragen, daß ein Knecht seinen leiblichen Vater ermordet und auffressen wollen, ist aber darüber ergriffen und wegen solcher Uebelthat mit schwerer Pein zu Tode gemartert worden." Aus dem Jahre 1419 wird berichtet, daß sich das Volk in Rußland während der all- gemeinen Hungersnot nicht bloß vom Fleisch der Pferde, Hunde, Katzen und Mäuse, sondern auch von Maulwürfen und Menschenleichen nährte. Iwan der Schreckliche hatte das wahnsinnige Verlangen, das Schauspiel einer verhungernden Menschenmasse zu genießen; gleichzeitig machte er sich das seltsame Vergnügen, seine Untertanen zum Menschenfleisch- essen zu zwingen. Petrus Petrejusi) erzählt nach Berichten seiner Zeitgenossen : ,,Als Iwan das Hauß Arol erbawete vnd emewerte mit Pasteyen \Tid Pankering, ließ er die Arbeiter vnd Bawlewte von Hunger also verschmachten, daß sie Hungers halber gezwungen worden, einen vnter sich, der am feistesten war, zu schlachten, vnd erwehreten sich also des Hungers. Die anderen, die Menschen Fleisch nicht essen mochten, zwang der Hunger, daß sie ein Kalb abschlachteten. Welches, da es der Großfürst erfuhr, ließ er diejenigen, die Kalb Fleisch gefressen, lebendig verbrennen vnd die Asche in's Wasser werffen. Die anderen, die Menschen Fleisch gefressen hatten, wurden perdoniret vnd von der Straffe erlediget. Denn bei den Mußkowitern ist es abschewlich vnd haltens vor größere Sünde, Kalb Fleisch essen als Menschen." Die Geschichte jeder russischen Hungersnot ist reich an Fällen von Kannibalismus. In dem Schreiben eines königlich polnischen Staatsbeamten, das sich im Mecklenburg-Schwerinschen Archiv befindet, heißt es : „Moskaw. 24. Juni 1570. Der Hunger ist allhier in der Mos- kaw so groß, als nie gehöret oder gesehen worden, daß auch ein Mensch den anderen auffrießt, wo einer den anderen über- weldigen kan ; ja hauet ein Mensch den anderen in Tonnen

1) Historien vnd Bericht von dem Großfürstenthumb Mußkow. Leipzig 1620.

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vnd saltzet ihn ein, vnd frießet, daß ein Grauen zu hören." i) Aus der Zeit der großen Teuerung, die im Jahre 1601 begann, berichtet Bussow : „Mit Gott und der Wahrheit zu bezeugen, habe ich's !mit meinen eigenen Augen gesehen, daß Menschen auf der Gasse gelegen, im Sommer Gras und im Winter Heu wie das Vieh gefressen, ethche sind todt gewesen und in deren Mäuleni Heu und Koth gestecket, theils auch bona venia Menschenkoth und Heu verschlucket. Unzählich viel Kinder sind von ihren Eltern und die Eltern von ihren Kindern, auch der Gast vom Wirthe und der Wirth wiederum vom Gaste ertödtet, geschlachtet, gekochet, das Menschenfleisch klein ge- hacket, in Pirogen, das sind Pasteten, verbacken, auf dem Marckt für ander Thierfleisch verkauffet und aufgefressen, daß ein Wandersmann sich zur selbigen Zeit wohl hatte vor- zusehen, bei wem er zur Herberge einkehrete." Dasselbe er- zählt aus dem Hunger jähr 1570 der früher erwähnte Petrus Petrejus, diesmal als Augenzeuge: „Da starben etliche viel tausend Menschen von Hunger, lagen in den Städten auff den Gassen vnd im Felde auff den Wegen, hatten Häw vnd Stroh in den Mäulem ; jhrer viele aßen Pferde-Fleisch, Hunde, Katzen vnd Ratzen, Menschenkoth vnd dergleichen vnbequemliche Ma- terien. Etliche lagen auff der Erden \aid saugeten in sich das Blut, das von dem geschlachteten Viehe, Schweinen vnd Schaf- fen außgelauffen war, etliche aßen sich vnter einander selber : In den Häusern, da viel Volcks war, schlachteten sie die fet- testen vnd fleischvollsten, viel Eltern aßen jhre Kinder, die Kinder jhre Eltern, die Eltern verkauf ften die Kinder, vnd etliche sich selbst vmb ein gering Geld, Ich sähe in der Stadt Mußkow, daß ein armseliges verschmachtet Weib kam auff der Gassen gegangen, vnd hatte ihr leibliches Kind auff dem Arme, vnd indem sie gieng, fassete sie das Kind mit den Fäusten, vnd vor großen Hunger bieß sie ergrimmlich zwey stück von des Kindes Arm, also sitzend auff der Gassen."

1) Vgl. auch: Tradescant der Aeltere 1618 in Rußland, von Dr. J. Hamel, St. Petersburg 1847, Seite 149, Anmerkung i, den Bericht des Engländers Jenkinson vom 8. August 1571: „Der Hunger zwang die Leute, ihre Zuflucht in der Verzweiflung zu Menschenfleiseh zu nehmen".

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Im Buche des Franzosen Margeret lesen wiri): „Mesmes j'ai vu quatre femmes voisines delaissees par leurs maris les quelles ayant complotte ensemble que l'une iroit au marche pour achepter une voiture de bois ; cela fait, eile promettant le paye- ment au paysant en son logis, mais apres decharge le bois entra dans le poisle pour recevoir son payement, il fut estrangle par ces femmes, et mis en lieu par le gelee il se pouvoit garder, attendant que son cheval fut premierement par elles mange; cela decouvert confesserent le fait, et que le corps dudit paysant estoit le troisieme." Damals herrschte auch in Livland und Lettland große Hungersnot, und selbst in diesen, der Zivilisation näherstehenden Provinzen nährte sich das Volk häufig von Menschenfleisch 2) : „Man stillte den Hunger mit toten Pferden, Hunden, Katzen und Ratzen, und dergleichen unnatür- lichen Dingen. Da sie einen Hund angetroffen, so an einem todten Menschen-Cörper genaget, haben sie selbigen wiederum ge- schlachtet und aufgefressen, und daß die Uebelthäter, sobald sie gerichtet, von den Galgen oder Räder herabgerissen wor- den, mit deren Fleisch die elenden Leute ihren Hunger zu stillen gesuchet. Man hat des Winters allenthalben todte Men- schen gefunden, die, an roh Fleisch der Aeser nagend, ge- storben waren, und solch Fleisch noch im Munde behalten. Aber das allerabscheülichste ist, daß ein Mensch den andern, ja die Eltern die Kinder gefressen, welches dermahlen untoi- den Bauern nicht ungemein gewesen. Unter andern hat im Bersonschen ein Bauernmagdt ihre drey Brüder und vier Schwestern, so alle jünger, als sie gewesen, abgethan, und das Fleisch in Tonnen verwahret, damit ihr Leben auf längere Zeit zu erhalten ; wie es aber offenbar und die Magdt ergriffen wor- den, hat sie der Hauptmann zu Berson gefraget : wie sie sich unterstehen können, Menschenfleisch zu fressen? Darauf sie zur Antwort gegeben : daß, wo es ihr hinfüro zugelassen würde, wolte sie sich kein süßeres Fleisch, als der Menschen, wünschen." Die Herrschaft der Romanows begann mit einer furcht- baren Hungersnot. Als 1615, zwei Jahre nach dem Rcgierungs-

1) Estat de l'Empire de Rvssie et'dv grand Dvche de Moscovie, Paris 1607.

2) Hiärns Geschichte, 384.

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antritt Michaels, der holländische Gesandte Antonius Goeteeris^) in Rußland war, mußte er schauervolle Bilder des Elends mit ansehen. Abermals litt Nowgorod am meisten. Im Winter des genannten Jahres starben hier 18000 Menschen den Hungertod.

Wir müssen auf diese Berichte aus alten Zeiten Nachdruck legen, weil sich heute tagtäglich dasselbe wiederholt. Die russische Regierung hat seit Witte und Kokowzew von euro- päischen Geldmännern nicht weniger als zwanzig Milliarden Francs erhalten, aber nichts ist davon verwendet worden, um die vierzig Millionen Menschen, die seit Jahren hungern, aus dem Elend zu befreien. Hunderte Millionen Rubel werden aus dem Staatsschatze zwar für die Bekämpfung der Not an- gewiesen, aber keine einzige dieser Millionen wird ihrem Ziele zugeführt; das Stehlen der Hilfsgelder beginnt schon beim Minister, und was hier übrig gelassen wird, bleibt bei den Diebs- kreaturen niedrigeren Ranges hängen. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Affäre des Vizeministers Gurko, der durch Ver- mittlung der Korsettenverkäuferin Esther mit dem Liferanten Lidwall einen Vertrag abschließt, um wieviel Millionen Rubel Getreide für die Hungergebiete nicht geliefert, sondern unter- schlagen werden soll.

Wie zur Zeit des Zaren Boriß oder des Kaisers Nikolaj I. ist es auch heute verboten, das Bestehen einer Hungersnot zu- zugeben. Dem französischen Forscher Alexander Ular, der die russischen Hungergebiete bereisen wollte, erklärte der Fi- nanzminister Kokowzew 2): ,, Die Hungersnot ist ein Mythus." Aber in einer Denkschrift von Witte heißt es v;örtlich : „Bei normaler Ernte bleibt das Ernährungsquantum des Bauern duchschnittlich um 30 Prozent unter dem zur Aufrechterhal- tung der Kräfte eines erwachsenen Landarbeiters physiolo- gisch notwendigen Minimum." Das letzte Jahr blieb hinter der normalen Ernte noch um hundert Millionen Meterzentner Ge- treide zurück, und trotzdem würden um hundert Millionen mehr ausgeführt. Die einfachste Rechnung ergibt die Notwendigkeit

1) Vgl. dessen „Journal der Legatie, Jn's Graven-Hage, 1619".

2) Vgl. den Bericht, den Alexander Ular über seine Erlebnisse in Rußland gab, in Nr. 1547 der ,,Zeit" (Wien, 13. Januar 1907).

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des Verhungerns von 40 Millionen Untertanen des Zaren. „Das Landvolk an der Wolga und in Zentralrußland stirbt aus/' klagte Fürst Lwow im Winter 1906/07, ,,das Volk vegetirt von einem Tag zum anderen, ohne Hoffnung, den Frühling zu erleben. Riesige Landstriche sind ohne alle Lebensmittel für Menschen und Vieh. Vieh verkauft man zu Fellpreisen. In manchen Gegenden nährt sich die Bevölkerung von Gras und Wurzeln oder sammelt Eichenlaub und Eicheln als Nahrungs- mittel. Nicht bloß die Bauern, auch die mittleren Gutsbesitzer haben mehr kein lebendes Inventar. In 14 Dörfern von 23 im Gouvernement Ssamara fand ich, daß beim Brodbacken den gemahlenen Eicheln nicht einmal Roggenmehl zugefügt wurde. Eicheln bilden die Hauptnahrung für Millionen von Bauern seit September 1906. Ist es da ein Wunder, daß die Menschen, zernagt von Skorbut, wie Fliegen dahinsterben?"

Und wem bürdet die Regierung die Verschuldung dieses Zustandes auf. Dem Volke ! Ein offizieller Bericht aus dem Gouvernement Jaroßlaw schildert folgendermaßen die alles Übel verursachende ,, Indolenz der Bauern" i): „Die Bevölke- rung verhungert auf dem besten Weizenboden, weil ihr der Wille zu ausdauernder und umsichtiger Arbeit und zur Aus- nützung der landwirtschaftlich-technischen Fortschritte fehlt. So klagen die Bauern im Bezirke Romano w-Borissoglewsk nicht über zu wenig Land, sondern über die geringen Erträge, die sie dem Boden abzugewinnen vermögen. Daß aber nicht etwa die Beschaffenheit dieses Bodens, sondern die Bauern selbst daran schuld sind, geht daraus hervor, daß ein aus einem an- deren Gouvernement zugezogener Landwirt 9000 Pud Heu auf einem Pachtgute erntete, auf dem der frühere Besitzer nicht mehr als 2000 Pud gewann. Wie rückständig die Bauern im Gouvernement Jaroßlaw sind, erhellt auch daraus, daß auf ihren Dörfern Gemüsegärten unbekannte Dinge sind. Auf be- stimmten Ackerflächen zieht man so gut es geht verschiedene Getreidearten, und darin erschöpft sich die ganze bäuerliche Wissenschaft. Gemüse, die man für den Haushalt nötig hat, selbst den unentbehrlichen Kohl kauft man von den Markt-

1) HoBKi' BpcMJi. 11/24 III igd.

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gärtnern der kleinen Städte. Kein Wunder, daß die Not schrecklich ist, wenn diese Bauern einmal mit dem Getreide, das sie anbauen, eine schlechte Ernte haben. Statt sich nach den guten Vorbildern und Lehrmeistern zu richten, welche die russische Landbevölkerung besonders an den deutschen Grundbesitzern und Pächtern hat, verharrt sie im allgemeinen in einer Indolenz, die jeder Verbesserung feindlich gegenüber- steht." Aber wer anders fördert diese Indolenz als die Regie- rung? Diese Regierung, die den Aberglauben zu Hilfe ruft, um das Volk in seinem Elend zu erhalten! Vor kurzem i) reisten zwei russische Damen auf ihre Güter im Gouverne- ment Tambow ab, um dort in den von der Hungersnot heim- gesuchten Ortschaften teils aus eigenen, teils aus Mitteln, die von der Ökonomischen Gesellschaft beigesteuert wurden. Speisehallen zu errichten. V^or ihnen jedoch kam beim Gou- verneur folgende Depesche zn: ,,Zwei Subjekte von jüdischem Typus (beide Damen sind blonde, blauäugige Vollblutrussin- nen) reisen zu widergesetzlichen Zwecken unter dem Vorwand der Errichtung von Speisehallen ins Gouvernement; diese Pro- paganda ist zu unterdrücken." Man wagte nicht, die Damen arretieren zu lassen; da half sich der Gouverneur, indem er an das abergläubische Gewissen der Bauern appellierte. Als die wohltätigen Frauen die Namen der Notleidenden aufzu- schreiben begannen, schrien die Bauern, wie der Pope im Auftrag des Gouverneurs sie gelehrt hatte : ,,Ihr seid der Anti- christ! Ihr seid vom Teufel geschickt, um uns zu notieren, damit wir in die Hölle kommen. Zehnmal besser ist es, vor Hunger zu sterben und in den Himmel zu gelangen."

Wie bei der Hungersnot ist der Aberglaube auch bei den Epidemien in Rußland eine ständige Begleiterscheinung. Der mönchische Chronist Nestor bezeichnet im elften Jahrhundert über den Ursprung einer Epidemie : eine ungeheure Schlange fiel vom Himmel herab, und böse, den Sterblichen unsichtbare Geister ritten Tag und Nacht in Polozk umher und töteten die Einwohner hinterrücks. Der schwarze Tod hat allerdings in westlichen Ländern ebenfalls genug Anlaß zu abergläubi-

1) ülar a. a. O.

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sehen Phantastereien gegeben. In Rußland wütete die Pest furchtbarer als irgendwo sonst. In Smolensk blieben nach einer Epidemie im Jahre 1387 nach den Berichten der zeit- genössischen Chronisten ,,nur drei Menschen übrig, welche die mit Leichen angefüllte Heimat schaudernd verließen und die Tore der ausgestorbenen Stadt verschlossen." Es ist be- greiflich, daß Rußland im Mittelalter nicht aufgeklärter sein konnte, als Europas Länder. Im fünfzehnten Jahrhundert folgte ein Pestjahr dem anderen; 1419 beschlossen diePskower endlich, um die Seuche zu bannen, zwölf Hexen zu schlach- ten. Aber das Mittel half nicht. Es erschienen vielmehr neue drohende Zeichen : der Himmel flammte in seltsamen Farben, das Wasser wandelte sich in Blut, die Heiligenbilder weinten, wilde Tiere änderten ihre Gestalt. Der Aberglaube sah noch entsetzhchere Zeiten, als bisher gewesen, kommen, und die Tatsachen bestätigten die Prophezeiungen der Wahrsager und Priester: Von 1462 bis 1465 starben in Pskow und Nowgorod allein 250652 Menschen. Immer und immer wieder ist es Nowgorod, das vom Unglück heimgesucht wird. 1506 herrschte dort ,,eine ansteckende Krankheit mit Drüsengeschwülsten", wahrscheinlich die Drüsenpest; in wenigen Wochen wurden 15000 Menschen von dieser Seuche hingerafft. 1522 wütete in Pskow die Pest. Bei dem regen Handelsverkehr zwischen Pskow und Now^gorod war das Eindringen der Epidemie nach Nowgorod unvermeidlich; und in wenigen Wochen starben in letzterer Stadt imd der Umgegend fast alle Menschen aus, beinahe 500000. Die Krankheit wich „dank einer Wasser- weihe des Metropoliten Simeon Tschornij/' in Wahrheit, weil sie keine Opfer mehr fand. Ebenfalls 500000 Menschen star- ben in Nowgorod und Pskow 1561 an einer unbekannten Krank- heit. Ein gräßliches Seuchenjahr war 1654.1) Die Zarenresi-

1) In den Berichten der europäischen Zeitgenossen ist von diesem Pest- jahre nur wenig die Rede gewesen. Erst Professor Brückner hat vor einigen Jahren in der Zeitschrift für allgemeine Geschichte diese entsetzliche Epidemie- periode aufgeklärt. Olearius gedachte in seiner „Reyßbeschreibung" nur ober- flächlich „einer in Rußland herrschenden Krankheit", um sogleich hinzu- zufügen: „aber sonst ist in Rußland von pestilenzischen Krankheiten oder großen Sterben nicht viel zu hören". Ebenso lobte der Wnezianer Alberto

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deiiz wurde vollständig entvölkert. Fürst Pronskij, der nach der Flucht der Zarenfamilie und des Patriarchen Nikon in der sterbenden Residenz als Wächter zurückblieb, sandte im Sep- tember 1654 ein Schreiben an den Herrscher, das wie ein erschütterndes Klagelied klingt mit seinem furchtbaren Refrain : „Alle gestorben" : „O Herr, die Pest ist von Tag zu Tag stärker geworden. Nur wenige von den rechtgläubigen Christen sind noch vorhanden, und in sechs Regimentern sind alle Soldaten gestorben. In den übrigen Regimentern liegen viele krank dar- nieder, die anderen sind gestorben. Der Chef der Streljzy ist gestorben. Die meisten Hundertmänner sind gestorben. Kathedralen und Kirchen stehen leer, die Priester sind fast alle gestorben. Nur in der großen Kathedrale sind noch drei Priester am Leben geblieben, die anderen sind ge sterben. Es ist kaum jemand da, der die Toten beerdigen könnte; die Fuhrleute sind alle gestorben. Alle Ämter sind geschlossen, die Beamten und Schreiber sind alle gestorben. Und auch uns, deinen Sklaven, droht ein schrecklicher Tod." Wenige Stunden nach Abfertigung seines Briefes war Fürst Pronskij eine Leiche; sein Nachfolger Fürst Chilkow starb am nächsten Tage. Im Winter hatte die Seuche ein Ende, weil sie keine Opfer mehr fand; Patriarch Nikon kehrte zuerst zurück ; er ließ alle Hunde totschlagen und die Stadt säubern ; dann hielt der Zar wieder seinen Einzug in die Residenz, ge- folgt von den übrigen Flüchtlingen. Von den 200000 Men- schen, die beim Ausbruch der Seuche in Moskau zurückge- blieben waren, hatte kaum einer von hundert die Zeit der Not überlebt. Von Moskau hatte sich trotz der strengen Ab- sperrungsmaßregeln die Epidemie durch das ganze Reich ver-

Vimina, der 1655 in Rußland war, das gesunde Klima des Landes: ,,Die Russen sind stark, erreichen ein hohes Alter, und von Pestkrankheiten unter ihnen hört man nicht viel". Damals war übrigens ganz Europa von Epidemien furcht- bar heimgesucht (vgl. Haesers Geschichte der epidemischen Krankheiten). Aber was war das gegen die Verheerungen der Seuche in Rußland! Für je 1000, die in Europa von der Pest hingerafft wurden, fielen ihr in Moskowien zehn- tausend zum Opfer. Der englische Leibarzt des Zaren, Samuel Colüns (vgl. dessen ,, State of Russia", London 1667, 45) war der einzige, der die Wahrheit kannte; er schätzte die Zahl der 1654 in Rußland von der Seuche Gemordeten auf 4 800 000.

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breitet und jahrelang fortgewütet. Wie Boriß Godunow 1604 dafür Sorge trug, daß Europa nichts von der damahgen Hungersnot in Rußland erfahren sollte, so befahl jetzt Zar Alexej, vor dem venezianischen Gesandten Vimina die Ver- heerungen der Pest zu verheimlichen; und Vimina bemerkte wirklich nichts mehr; ,,non si sente il saggio di morbo pesti- lenziale," schrieb er.i)

Und hundertundzwanzig Jahre später wiederholt sich das- selbe entsetzliche Schauspiel, als 1771 die Pest Moskau aber- mals verheert. 2) Die Seuche brach im Süden aus und kam 1770 nach Kijew durch eine Katze. Die Regierung, statt die Krankheit zu bekämpfen, befahl sie zu verschweigen : die Pest mußte Fleckfieber heißen. Die Ärzte rapportierten gehorsam über ein hitziges, faulendes Fleckfieber mit Geschwüren. Gegen dieses Fieber traf man keine Maßregeln, es grassierte weiter. Einige Tage später starben bereits Tausende in wenigen Stun- den, und für Rettung war es zu spät. Auch in Moskau wurde die Pest zuerst als Fieber deklariert.

Die Regierung Alexanders I. war wie von Hungersnot auch von Seuchen fast ganz verschont. Unter der Regierung Nikolajs I. erschien die Cholera, um fortan in Rußland ihren Lieblingsaufenthalt zu nehmen, dort mit kurzen Unter- brechungen bis auf den heutigen Tag fortzudauern, und von Zeit zu Zeit dieselben Verheerungen in einzelnen Gegenden anzurichten wie in früheren Zeiten die Pest. Letztere trat zum. letzten Male in furchtbarer Weise 1878 in Astrachan auf. Man gab sie nach alter Methode für eine Typhusepidemie aus, sperrte die Stadt einfach ab, als das Übel sich verschlim- merte, und ließ die Bevölkerung hilflos aussterben. Die letzte

1) Vgl. die letzte Anmerkung.

2) Diese Epidemie konnte vor Europa nicht mehr verheimlicht werden, und Katharina II. war daher weise genug, aus dem Unglück wenigstens Reklame für sich und ihren Günstling Orlow zu schlagen, dem sie, weil er die Pest be- siegte, als diese sich schon gesättigt hatte, Triumphpforten errichtete und Me- daillen prägte. Die Zeitgenossen haben dem Pestjahr 1771 ausführliche Berichte gewdmet. Vgl. die zusammenfassende Schilderung von Prof. Brückner, Russische Revue, Bd. XXII. Über die 1771er Pest in Kijew: Büschings Magazin \II, 216 232 (,, Reise von Petersburg nach der Moldau").

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große Cholera-Epidemie herrschte 1892; sie forderte mehr als 400000 Menschenopfer.

Die Geschichte des Hungers und der Pest in Rußland ist eine krasse Illustration des Satzes, daß Rußland sich nicht ändere. Durch tausend Jahre zeigt sich immer dasselbe Bild des Elends, dieselbe Niedertracht der Tschinowniki, die an- fangs verheimlichen, um ihre Fehler nicht eingestehen zu müssen, und dann stehlen, was zur Linderung der Not dienen soll. 1891 konstatierte Ssuworin, der Herausgeber der im Dienste der Regierung stehenden Nowoje Wremjä, daß die A'erspätung der Maßnahmen eine allgemeine Erscheinung war : ,, Diese Verspätung hat die Folgen des Notstandes für Men- schen und Tiere verschärft. Niemals noch hatte Rußland in- folgedessen einen solchen Verlust an Pferden zu verzeichnen wie in diesem unglücklichen Jahre. Ein Jäger hat mir erzählt, daß er jetzt als Fraß für seine Hunde Pferde um fünfzig Ko- peken das Stück kauft. Ja, wenn man rechtzeitig Maßregeln ergriffen hätte !" Trotz des fruchtbaren Bodens bleibt das Hungerelend unausrottbar; und unausrottbar trotz der Fort- schritte der ärztlichen Wissenschaft sind in Rußland die Epi- demien. Denn mächtiger als alle Wissenschaft ist der Aber- glaube.

28. Medizin und Aberglaube.

Wissenschaft als gottlos verpönt Die ersten Arzte in Rußland Ermordung der Ärzte durch Fanatiker Die Hofärzte Iwans des Schrecklichen Das erste russische Medizinbuch Begründung von Apotheken Die Arzte des Zaren Boriß Seltsame Prüfung eines Arztes Stellung der Hofärzte Der Arzt und die Zarin Verdächtigung der .Arzte Ermordung der Arzte unter der Regentin Sofia - Die Arzte dürfen nur dem Zaren dienen Apo- theken gehören dem Zaren Verhalten des Volkes gegen die Ärzte Peters Bezeichnung für Ärzte Wie Peter die Treue seines Leibarztes erprobt Peter der Große als Chirurg Züchtung von Zwergen und Riesen Das Kunstkabinett Sammlung von Mißgeburten und Geschlechtsteilen Peter benützt nur abergläubische Heilmittel Heiliges Wasser Der Wundertäter Alexej als Augenarzt Heiligenbilder als Heilmittel Ermordung des Erz- bischofs Ambrosij Menschenopfer Ermordungen von Mädchen, Kranken und Greisen Parallelen aus Sibirien und Albanien Aus der germanisch- slawischen Urzeit Massenhaftigkeit der Menschenopfer in Rußland Assistenz

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der Dorf Verwaltungen und Dorfpolizei Leichenschändungen ^Der Gebrauch

des Umpflügens Volksmedizin, Grausamkeit und Aberglaube Aus der

Volksmedizin der nichtrussischen Völker in Rußland.

Nicht Historiker, sondern Schmeichler waren es, welche die Behauptung aufstellten, daß die Medizin als Wissenschaft in Rußland schon in frühester Zeit Eingang gefunden hätte. Die russischen Chronisten selbst berichten nur darüber, daß die Russen in Krankheitsfällen die Hülfe von Zauberern in Anspruch nahmen oder sich der Heilkunst erfahrener Weiber anvertrauten. In Kijew gab es zwar zur Zeit des Wladimir Monomach einige berühmte armenische Ärzte i); „einer von ihnen war so geschickt, daß er schon beim ersten Anblick eines Kranken sagte, ob die Heilung möglich sei; oder, falls Letzteres nicht der Fall war, prophezeite er genau den Tag des Todes." Aber außer diesen armenischen Ärzten hatte die Medizin in Rußland keine Vertreter. Die Russen selbst lern- ten nichts, Bildung erschien ihnen als Gottlosigkeit. Ausländer galten als Heiden oder Ketzer. Während der Mongolenherr- schaft war keine Rede von Ärzten oder Medizin. 2) Der mosko- witische Großfürst Iwan III. berief gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts mehrere ausländische Ärzte nach Moskau, die nach russischer Sitte in den Chroniken nur mit ihren Vor- namen erwähnt werden. Unter ihnen befanden sich Anton der Deutsche und der Jude Leon, den ein russischer Gesandter, der nach Rom geschickt war, von dort mitgebracht hatte. Beide Arzte fielen dem Fanatismus des russischen Volkes zum Opfer; die gottlosen Männer, die sich vermaßen, Menschen kurieren zu wollen, starben eines gewaltsamen Todes. 3) Als Nachfolger dieser ermordeten Hofärzte werden von zeitgenös- sischen Chroniken genannt : Theophil, der Grieche Mark, Niko laj Lujew^) oder Nikolaj Buhle 5), beigenannt der Deutsche

1) Chronique de Nestor, II Anhang 172. , *) Vgl. Richters Geschichte der Medizin in Rußland. Eine vollständige Zusammenstellung der Zeugnisse aus russischen Chroniken findet mau bei JI. 9. Swkejfb, BbiJioe Bpaie6Hofi Poccin, C.-IIeTepöypn. 1890.

8) Reinhöldt, Geschichte der russ. Literatur, 211.

*) So heißt er bei Gerebtzoff, Essai I 426.

6) Reinhöldt a. a. O. 173.

Stern, Gesclii.:htc der dffcnt!. Sittli.-hk<it in Rufil.ind. 3O

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(Nikolaj Njemtschin) ; endlich auch zwei Russen, die Brüder Roleff. Iwan IV. hatte als Hofärzte : Arnolf Lensey, Elise] Bomelij, Standich ^j, Johann, Richard Elms und den Engländer Jacoby, der 1581 mit besonderen Empfehlungen der Köni- gin Elisabeth nach Moskau gekommen war. Auch dem Sohne Iwans, dem Zaren Theodor, schickte Elisabeth ihren Leib- arzt Marc Ridley, der fünf Jahre in Moskau blieb. Neben dem früheren Hofarzt Jacoby und dem Engländer Ridley trat besonders der Milanese Paolo hervor. Als der Letztgenannte in seine Heimat zurückkehren wollte, erhielt er hierzu nicht die Erlaubnis, und König Heinrich IV. von Frankreich mußte zu seinen Gunsten beim Zaren Theodor intervenieren, indem er sich erbot, als Ersatz für Paolo ,, einen Mann derselben Profession, dessen Lehren und Treue den Zaren zufrieden- stellen würden" zu senden. 2) Unter Theodor Iwanowitsch er- schien das erste - russische Medizinbuch (als Handschrift) im Jahre 1588, und vier Jahre später gab es zum ersten Male in Rußland eine Quarantäne in Rjew als Maßregel gegen eine Epidemie. Atich der Begründer der russischen Apotheken, der Engländer Frenchham. wurde damals von Elisabeth emp- fohlen und arbeitete in Moskau gleichzeitig mit dem Holländer Klausen. 3) Nach der Thronbesteigung des Zaren Boriß Godu- now kehrte der Engländer Ridley nach London zurück; Elisa- beth schickte statt seiner sofort den Doktor Willis nach Moskau. Doktor Willis wurde von dem Djak (Hofsekretär) Wassilij Schtschelkalow einer seltsamen Prüfung unterzogen : „Hast du Bücher und Arzneimittel mitgebracht ? Welche Grundsätze be- folgst du? Beziehst du dich bei deiner Beurteilung der Krank- heiten auf den Puls oder auf die Beschaffenheit der Säfte im Körper ?" Willis entgegnete : ,,Jch habe meine Bücher in Lübeck gelassen und bin als Kaufmann weitergereist, weil man in Deutschland und anderen Ländern den Ärzten, die nach Ruß- land gehen, nicht günstig gesinnt ist. Mein bestes Buch habe ich im Kopfe. Arzneimittel werden vom Apotheker, nicht vom

1) Mehrere dieser Namen sind offenbar verstümmelt.

2) Dieser noch vorhandene Brief des Königs Heinrich ist das älteste Dokument der offiziellen französisch-russischen Beziehungen.

3) Karamsin, IX 374, Anmerkung 292.

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Arzte hergestellt. Für einen erfahrenen Beobachter sind der Puls und die Beschaffenheit der Säfte von gleicher Wichtig- keit." Der Djak Schtschelkalow erklärte daraufhin den Leib- arzt der Königin Elisabeth für einen Ignoranten ; und nach dem Bericht seines Vertrauensmannes schickte Zar Boriß den Doktor Willis wieder fort. Nunmehr erhielt der zarische Übersetzer Reinhold Beckmann den Auftrag, nach Deutschland zu reisen und deutsche Ärzte für den Zarenhof anzuwerben. Beckmann brachte mit sich : Christoph Ritlengher oder Reitlinger (an- geblich aus Ungarn), David Vasmer, Kaspar Fiedler. Johann Hilke aus Livland und Heinrich Schroeder aus Lübeck. Jeder dieser Hofärzte erhielt 200 Rubel jährlich, ein Lehngut, Be- dienung, Kost und Pferde. Zar Boriß verlieh den Hofärzten auch zum ersten Male das Patent der russischen Doktorwürde. Die Hofärzte hatten keine beneidenswerte Stellung. Zu einem hohen Patienten gerufen, mußten sie sich streng nach dem Zeremoniell verhalten, und ihre Meinung durften sie nicht frei heraussagen. Noch peinlicher war die Situation, wenn gar die Zarin des ärztlichen Rates bedurfte. Selbst die Ge- mahlin des aufgeklärten Alexej duldete anfangs nicht, daß der Arzt in ihrem Zimmer erschien: endlich gab sie nach, aber die Fenster wurden so verhängt, daß der x\rzt die Patien- tin nicht sehen konnte. Die Zarin streckte bloß ihren Arm hervor, damit der Arzt den Puls fühlte, aber vorsichtigerweisc war der Arm mit einem Tuche umhüllt, um die Berührung eines nackten Körperteiles der heiligen Zarin durch den Arzt zu verhüten. 1) Die Hofärzte standen unter strenger Bewachung : Als Baron Mayerberg, der Gesandte des Kaisers Leopold, in Moskau erkrankte, bat er den italienischen Leibarzt des Zaren

1) Mayerberg, Voyage 1688, 304 (Neudruck II 1 17). Wie in Rußland die alten Gebräuche fortdauern, geht aus nachfolgendem hervor : Kaiserin Alexandra , Gemahlin Nikolajs II., erkrankte an Bronchitis. Der Leibarzt Botkin wollte die Zarin auskultieren; die Patientin aber weigerte sich, ihre Brust zu enthüllen, weil eine Zarin sich einem fremden Manne nicht entblößt zeigen durfte; Botkin begab sich darauf zum Zaren und erfuhr hier, daß bisher alle Ärzte die Zarin auskultiert hätten, wälirend sie vollständig angekleidet geblieben. Dem ener- gischen Widerspruch des Leibarztes gab aber der Zar nach, und die seltsame Tradition wurde gebrochen. Vgl. La Chronique medicale und Le Petit Temp.s, Nr. 1605, 29 janvier 1903.

30*

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zu sich. Erst nach zwei Tagen erhielt er die Verständigling, daß der Zar die Erlaubnis erteilt hätte; statt des italienischen Leibarztes kam jedoch der englische. Mayerberg wollte sich diesem nicht anvertrauen und ließ ihn fortschicken. Kurz darauf kam ein Abgesandter des Zaren und fragte den Gesandten, ob der Italiener schon gekommen wäre. Mayerberg erklärte, daß der Engländer dagewesen; der Russe redete ihm nun zu, den Engländer zu akzeptieren, der Italiener sei verreist. Erst später erfuhr Mayerberg den Grund dieses Komödienspiels : Unter den Kriegsgefangenen in Moskau befand sich ein litthau- ischer Würdenträger; der Gefangene erkrankte, und man schickte ihm den italienischen Arzt. Der Doktor empfahl dem Kranken Creme de Tartre. Ein Spion hörte die Worte und berichtete denl Zaren, daß der Arzt und der Gefangene ein Komplott mit den Krymtartaren, mit denen Alexej Krieg führte, verabredet hätten. Der Arzt wurde verhaftet und der Inqui- sition ausgeliefert ; er klärte zwar das Mißverständnis auf, blieb aber verdächtig; und einen solchen verdächtigen Menschen konnte man doch nicht mit dem Gesandten des Kaisers Leo- pold stundenlang allein lassen!

Als Zar Fedor, der Sohn Alexejs, eines frühen Todes starb, beschuldigte Prinzessin Sophie, die nach der Regent- schaft strebte, den holländischen Arzt Daniel Vongad (von Gaden), daß er Fedor im Interesse der Familie Naryschkin und des Prinzen Peter vergiftet hätte. Die Streljzen drangen in das Haus des Arztes, fanden aber nur seinen Sohn; als dieser den Vater nicht verraten wollte, wurde er erwürgt. Die Mörder trafen dann einen anderen Arzt, einen Deutschen. Sie hielten ihn an und sagten ihm : ,,Du hast zwar unseren Herrn nicht vergiftet, aber du bist ein Arzt, und so hast du doch andere vergiftet." Und sie brachten ihn um. Endlich fanderi sie auch den Holländer. Sie schleppten ihn in den zarischen Palast. Die Schwestern des verstorbenen Zaren bezeugten vergebens, daß von Gaden den Herrscner bis zum Tode aufopfernd gepflegt hätte. Die Streljzen erklärten : ,,Er ist ein Hexenmeister, wir sahen bei ihm eine große Kröte und eine Schlangenhaut." Und sie vollzogen an dem Unglücklichen die von den Chine- sen übernommene barbarische Strafe der zehntausend Stücke;

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Kopf, Füße und Hände des Zerstückelten wurden auf eisernen Spitzen zur Schau gestellt. i)

Die ersten Ärzte in Rußland wurden nur für den Zaren- dienst berufen; die Großen nahmen gleichfalls die fremden Doktoren in Anspruch, weil dies Mode zu werden begann, das Volk aber blieb nach wie vor ohne Hilfe in seinen Krank- heiten, Vom Jahre 1616 ab wurde auf Befehl des Zaren Michael den militärischen Kommandanten eine fixe Summe für medi- zinische Ausgaben angewiesen. Auf Veranlassung des Zaren Alexej errichteten die Bojaren J. D. Miloslawskij und A. S. Matwejew in Moskau zwei Apotheken; die eine war nur für den Zarenhof bestimmt und befand sich im Kremlj, ihr Vor- steher war ein Deutscher, namens Guthbier. Die andere, ge- leitet von Christian Eichler, war in dem von Alexej begrün- deten Kauf mannshause 2) und dem ganzen Volke zugänghch.^) Auch die Volksapotheke gehörte dem Zaren; die Medikamente waren so teuer, daß sie einen Gewinn von 27- 28000 Rbl. jährlich abwarfen. Der Zar schickte, da das Geschäft ein loh- nendes zu werden versprach, gleich jenem, das der Schatz mit den Schenken machte, den Apotheker Peter Pontan auch nach anderen Städten, um dort Apotheken einzurichten; so nach Wologda. Die Lobredner Alexejs rühmen seine ,, Barm- herzigkeit und Menschenliebe als die hervorstechendsten Eigen- schaften seiner zarischen Seele" und führen als Beweis dafür an, daß er in Kriegszeiten bei den Regimentern Apotheken errichten und jeder einen Spezialarzt beiordnen Heß.*) Aber als 1654 in Moskau die Pest ausbrach, erhielten alle Ärzte den Auftrag, sich nur um die Gesundheit der zarischen Fa- milie zu kümmern. Der Zar blieb bei der Armee vor Smo- lensk, die Zarin zog ins Kloster Koljäsin. In der Residenz traf man wohl einige Maßregeln gegen die Epidemie, aber diese bezweckten auch nur den Schutz des zarischen Eigen- tums: um die verpestete Luft vom Palast fernzuhalten, wur-

1) Voltaire, Historie de l'Empire de Russie sous Pierre le Grand, franz. und deutsche Ausgabe, Wien 18 10, I 175.

2) rocTHUOÖ OTopT., Packhof, ähnlich dem orientalischen Karawanßerai. *) C.ieHFfirij, HapcTBOBame uapn AjieKctfl Miaatt.iOBHHa), II 14.

*) CieHHiTL a. a. O. 10.

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den di;.' Fenster und Türen des letzteren vermauert. Nach- dem dies große Werk vollbracht war, überließ man die Be- völkerung, die von einem Kordon abgesperrt wurde, der Seuche. Wenn in einem Hause die Leute endlich ausgestorben waren, zündete man das Haus an und ließ die Leichen mitverbrennen. Briefe, die dem Zaren aus einem verseuchten Orte zukamen, durften dem Herrscher nicht im Original vorgelegt werden ; man schrieb die Briefe ab, räucherte die Abschriften, und händigte sie dann dem Zaren ein.

Die ärztliche Wissenschaft würde wahrscheinlich nicht viel ausgerichtet haben, auch wenn man alle vorhandenen Ärzte zum Wohle des Volkes aufgeboten hätte. Denn nicht bloß ist die Zahl der Ärzte gering i), sondern das Volk will von gelehrten Heilkünstlern nichts wissen, und auch die erleuchteten Geister stehen ihnen fremd gegenüber. Selbst für Peter den Großen sind die Ärzte, wie er m einem Briefe aus einem euro- päischen Kurorte an Katharina schreibt, nichts anderes als „Verbotsmenschen". 2) Sein Vertrauen zu den Ärzten ist kein großes, und sein geringer Glaube an ihre Treue wird durch den Ausfall eines Scherzes gänzlich erschüttert : Auf dem Kriegs- marsche läßt der Zar eine Anzahl Soldaten als Schweden verkleiden, und sich von den falschen Feinden, während er mit dem Beichtvater und seinem griechischen Leibarzt tafelt, überraschen. Der falsche Schweden- Anführer schreit : „Wer von euch ist der Zar ? Heraus mit der Sprache, oder ich töte euch alle !" Der Beichtvater sagt : ,,Der Zar ist nicht unter uns" ; der Arzt aber ruft vor Schrecken : ,,Der ist's, der lange Mann," und zeigt auf Peter. 3)

So wenig Peter von der ärztlichen Kunst halten mochte,

1) Die Hofärzte des Zaren Alexej waren: Rosenberg Vater und Sohn; Gramann; Blumentrost; Daniel Jeflöwitz („dieser wird bey Hofe, am meisten gebrauchet, ist ein Jude von Geburt, wurde hernach Papistisch, alsdann Evan- gelisch, und itzo ist er griechischer Religion"). Als Chirurg diente der Schlesier Sigmund Sommer. Vgl. Kilburgers Unterricht von dem russischen Handel. In Büschings Magazin III 337. In diesem Bericht, der aus dem Jahre 1674 stammt, ist der Engländer Samuel Collins, der 1654 die Pestepidemie mit- erlebte, nicht mehr erwähnt.

2) Sadler, Geistige Hinterlassenschaft Peters des Großen, 127.

3) Webers Verändertes Rußland II 121; und Haiern ITT 139.

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so gern spielte er den Arzt, namentlich den Chirurgen. Des Zaren Gegner behaupteten, er wäre gar nicht der Sohn Alexejs, sondern eines deutschen Chirurgen Kind gewesen ; die Zarin Nathalie hätte ein Mädchen geboren, und dieses heimlich gegen das Chirurgenkind vertauschen lassen; von seinem Vater Chi- rurg sollte Peter die Liebe zu chirurgischen Operationen er- erbt haben. 1) In Wahrheit hatte der Zar die Chirurgie von seinem Günstling, dem Wundarzt Tirmont, erlernt. In Amster- dam erweiterte er nach Möglichkeit seine Kenntnisse. Er trug stets ein Besteck mit chirurgischen Insrumenten bei sich. Wenn in einem Hospital eine Operation oder eine Sezierung vor- genommen werden sollte, mußte man ihm dies anmelden, und er legte selbst mit Hand an.-i Zahnoperationen machte er mit Vorliebe; ein Hofbeamter, der wegen eines Vergehens be- straft werden sollte, fiel vor dem Zaren auf die Knie und jammerte plötzlich über Zahnschmerzen ; der Kaiser vergaß seinen Zorn, zog die Zange aus der Tasche und riß dem Manne zwei Zähne aus. Eines Tages berichtete man, daß die F>au eines holländischen Kaufmanns an der Wassersucht dahin- siechte, sich aber der Abzapfung, dem einzigen Rettungs- mittel, widersetzte. Peter ging sofort hin, beredete die Frau zur Operation und vollführte diese selbst auf der Stelle. 3) Große Summen opferte Peter für die Begründung seines so- trenannten Kunstkabinetts. * ) In Amsterdam kaufte er um

1) Vockerodt bei Herr mann, iü8.

2) Bergholz bei Büsching, XXI i86, 239. Stählin, Anekdoten, 14; 206, Anmerkung 6i. Halem III 146.

3) Stählin 207; Halem III 229, No. 61.

*) Eine ausführliche Beschreibung desselben, von O. Bjelajew, mit Kupfer- stichen, erschien in Petersburg 1800, 4°. Die erste Abteilung (215 Seiten) beschreibt die Wachsfigur Peters und aller in der Kunstkammer aufbewahrten Gegenstände, die dem Zaren persönlich gehört haben; die dritte Abteilung bringt Beschreibungen der alten russischen und ausländischen Münzen und -Medaillen, goldener und silberner Antiquitäten, der Mineralien, Gesträuche und Ölgemälde; die zweite Abteilung (287 Seiten) ist die interessanteste: sie enthält außer der historischen Beschreibung der natürlichen und künstliclien Stücke der Kunstkammer viele kuriose Anekdoten zur Geschichte dieser Gegen- stände. — Eine ausführliche deutsche Beschreibung des Naturalienkabinetts und der Kunstkammer hatten schon früher die ., Bemerkungen über Rußland" (von Prof. Bellermann), Erfurt 1788, I 94 155, veröffentlicht.

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3OO0O Gulden die Sammlung des Anatomen Friedrich Ruysch. 1718 befahl er, jede Mißgeburt von Menschen oder Tieren dem Kabinett gegen, einen fixen Tarif abzuliefern: für ein lebendes menschliches Monstrum zahlte man hundert, für ein totes fünfzehn Rubel. Eine Tiermißgeburt wurde mit 3, 7 oder IG Rubel gekauft, je nachdem, ob sie tot, lebend oder selten war. Der Zar hatte auch die Idee gefaßt, der Natur nachzuhelfen und seltsame Menschen auf Kommando zeugen zu lassen. Er verheiratete verkrüppelte Zwerge miteinander, um für das Kunstkabinett ein Zwergengeschlecht zu erhalten. In Calais nahm er einen ungeheueren Riesen in seinen Dienst ; diesen Mann verheiratete er in Petersburg mit einer Finnin,, der größten Frau, die man im Reiche hatte auftreiben können, um ein Geschlecht von Riesen zu begründen i); die Hoch- zeit wurde aber erst gefeiert, nachdem der Riese und die Riesin miteinander mehrmals geschlafen hatten und das Frauen- zimmer schwanger geworden war, also den Beweis geliefert hatte, daß sie nicht unfruchtbar bleiben würde. Zum großen Verdrusse Peters starb der Riese. Der Zar ließ nun wenig- stens die schönsten Stücke der Leiche für das Kabinett prä- parieren. Des Riesen ungeheuerer Magen wurde ausgestopft ; seine getrockneten Gedärme hing man an den Wänden auf, und auch sein imponierender Penis kam unter die Raritäten. Besonders reich wurde das Kabinett an Embryonen; iio un- geborene Kinder schmückten die Etageren der Kunstkammer. Die Sammlung begann mit dem Keim im Augenblick der Emp- fängnis, und schloß ab mit dem Kinde, das zur Geburt reif gewesen. Das erste Stück wurde dem Leibe einer Frau ent- nommen, die in der Ausübung eines Ehebruches von ihrem Manne überrascht und erstochen worden war. In 18 Schränken wurden Präparate, zumeist von Geschlechtsteilen, angesam- melt. 2) Das ganze Kunstkabinett ist für Peter schließlich nur

1) Halem II 376, Anmerkung 61; '378. Bergholz bei Büsching XIX 40.

2) Vgl. Bellermann I 150: Hastarum et vulvarum magna adest collectio, Uterus protrudens infantem. Vulva quae quoad magnitudinem iam Petro I. mira videbatur. Ausonius ex Virgiiio de ea est vaticinatus. Penis falsi numorum signatoris, ob crimen interfecti, superans omnes alios, fortassis et \ ulcani, aequat fere equi inguen. Vir quidam praesens iocose adiiciebat :

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eine Spielerei mit Dingen, welche seinen Grausamkeitstrifeb oder seine Wollust befriedigen. Für die Medizin als Wissen- schaft fehlt ihm jedes Verständnis. Er leidet seit seiner Kind- heit an Gesichtszuckungen und Nervenkrämpfen; um das Übel zu kurieren, wendet er sich nicht an gelehrte Ärzte, sondern er gebraucht immer nur das Mittel, das ihm ein altes Weib angeraten hat : ein aus dem Magen und den Flügeln einer Elster hergestelltes Pulver !i)

Soll das Volk, das bedrückte, in der Finsternis wandelnde, klüger sein als der aufgeklärte Zar? Bei der Wasservveihe drängt es sich herzu, um mit dem geweihten Wasser die Kranken zu besprengen. Rettung aus der Not der Epidemien oder in unheilbaren Krankheiten erwartet es nur von den Wundertätern. Der Großfürst Dmitr Joannowitsch schikt um 1360 den heiligen Alexej, den Wundertäter, ins Land der Agarjäner (wahrscheinlich nach der Krym oder der Türkei), um durch seine überirdische Macht die blindgewordene Zarin der Agarjäner sehend zu machen. Als im Jahre 1654 in Moskau die Pest ausbricht, flüchtet die Zarin Maria Iljinitschna und nimmt alle Ärzte und Arzneimittel mit sich; der Bevölkerung aber schickt sie als Heilmittel das Bild der heiligen Mutter von Kasanj aus dem Troizkijkloster und versichert, es werde den Zoni Gottes stillen und die Pest zum Weichen bringen- Während der Pestepidemie, die 1771 Moskau verheert, er- zählt ein gelähmter Kaufmann dem Volke, das Marienbild der Warwarapforte sei ihm erschienen und habe verkündet, es werde an ihm ein Wunder tun und auch die Pest dämpfen. In Prozessionen strömt das Volk zur Warwarapforte des Kremlj, um das Wunder zu erwarten. Der Archimandrit Ambrosij

,,Stolidus uumorum adulterinorum signator, si tua bene nosses, majora majori cum voluptate lucrari potuisses: vix enim crediderim, tempora in Russia mutasse et unquam mutata iri! Talia naturae dona animi dotibus praepo- nuntur." Membrum virile aref actum, et sicut pertica herbae nicotianae, quae appellatur Canaster, consectum, quo omnes cellulae conspiciuntur. Multa alia naturalia. Haec et quaedam hisce sirailia, profanis oculis obscoena, in scrinio, cuius ianua vitrea velo serico viridi interne recta est, conservantvir, nee unicuique monstrantur.

1) Stählins Anekdoten; Waliszew^ki, Pierre le Grand. 114

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erkennt die verhundertfachte Gefahr der Ansteckung durch das Zusammenströmen der Menschenmassen und will das Ma- rienbild entfernen, aber das Volk in seinem Wahn reißt den Priester in Stücke und wirft die Leichenteile den Hunden vor; der Pöbel stürmt die Spitäler und mordet die Arzte, die in seine Hände fallen. Der unglückliche Erzbischof Ambrosij und die Ärzte gelten den Abergläubischen als böse Zauberer, deren unreine Kräfte die Wunderwirkung der heiligen Bilder verhüten. 1831 und 1892 dieselben Szenen; während der Choleraepidemie in Petersburg ij im Jahre 1831 demoliert das Volk das Choleraspital; ein Mann, der dabei als ruhiger Zu- schauer stehen bleibt, sich am Vernichtungswerk nicht be- teiligt, wird von jemandem als Werwolf bezeichnet, man reißt ihn zu Boden und kleidet ihn nackt aus, um seinen Zauberer- schweif zu suchen; 1892 werden in Astrachan mehrere Ärzte und Apotheker, die das Volk für Zauberer hält, ermordet und verbrannt ; und in Chawalynsk im Gouvernement Ssaratow behaupten Leute, daß der Ortsarzt Moltschanow der Cholera einen Passierschein ausgestellt habe, damit sie in die Stadt eindringen könne : der Alliierte der Cholera wird gesteinigt. Nächst dem Glauben an die Wirkung von Heiligenbildern in Krankheiten und Epidemien ist die Meinung weitverbreitet, daß man die Seuche durch ein Opfer, am sichersten durch ein Menschenopfer zu beschwören vermag. ^j Es existiert eine Überlieferung, daß in alten Zeiten in den großrussischen und kleinrussischen Niederlassungen zur Beseitigung der Viehseuche ein Weib, das böser Anschläge verdächtig war, dem Tode ge- weiht wurde. Solche Weiber wurden in großrussischen Dör- fern mit einer Katze und einem Hahne in einen Sack gebunden und lebendig in die Erde verscharrt. Im Gouvernement Ar- changelsk wurden noch vor wenigen Jahrzehnten dem W^asser- geiste Menschenopfer dargebracht. 1881 herrschte auf No- woje Semljä Skorbut infolge von Hungersnot. Der Samojede Jefrem Pyrerka, dessen Kinder der Krankheit erlegen waren,

') Xaiepa btj Ileiepöyprt Hb npesKaie ro;\u. HcTopii'iecKaa capaBKa. ,4ok- Topa MeaimHHbi r. H. ApxaHre.ihCKaro. C.-IIör. 1892.

2) Löwenstimm,' Aberglaube und Strafrecht, 8 ff., 25.

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erdrosselte das bei ihm bedienstete Mädchen Ssawanei, um

- wie er später vor dem Archangelsker Gerichtshof erklärte

- aus Angst vor dem Hunger dem Teufel ein Opfer zu bringen ; nach diesem Opfer war er sicher, daß ihm der Teufel Nahrung verschaffen würde, und in der Tat kam schon in der ersten Nacht nach dem Morde ein junger Bär vor das Zelt Jefrems, der das Tier erlegte; kurz darauf erbeutete Jefrem noch sechs Renntiere. Der Samojede machte dem Götzen, der sein Opfer so reich belohnte, aus Holz ein Götzenbild, und um sich des Götzen Gnade noch weiter zu erhalten, beschloß er nunmehr, seinen Zeltgenossen Andrej Tabarej ebenfalls zu opfern. Tabarej aber entkam dem Anschlag, zeigte den Jefrem an, und dieser gestand sein Verbrechen ohne weiteres. Im Nowogruder Kreise des Mmsker Gouvernements bringt man beim Ausbruch einer Seuche zunächst Tiere einen schwar- zen Kater, einen schwarzen Hahn oder einen jungen Hund zum Opfer: einem Bauer aus dem Dorfe Kamenka starb 1872 ein Sohn an der Cholera; um den Cholerageist zu versöhnen, begrub man mit der Leiche des Bauernsohnes acht lebendige Kater. Verbreitet sich die Seuche trotz der Tieropfer stärker, so muß man Menschen opfern. 1861 beschloß im Turuchan- schen Gebiete ein Bauer, um sich und seine Familie vor der Epidemie zu retten, ein Mädchen als lebendes Opfer dem Krank- heitsdämon darzubringen. Häufiger aber opfert man alte und kranke Leute ; dies geschah während der Choleraepidemie des Jahres 1831. Im Jahre 1853 lockten die Bauern des Dorfes Okopowitschi im Nowogruder Kreise auf den Rat des Feld- schers Kosakowitsch die Greisin Lucia Manjkow auf den Fried- hof, stießen sie in ein offenes Grab, in das man die Leichname der an der Seuche Verstorbenen gelegt hatte, und schaufelten das Grab schnell zu. Im August 1871 ereigneten sich im Dorfe

i orkatschi. ebenfalls im Kreise Nowogrud, mehrere solcher Fälle; unter anderen wurde ein junges Mädchen, das krank und seinem Ende nahe war, lebendig begraben. Der Umstand, daß in erster Lmie kranke oder alte Leute, deren Tage ohnehin gezählt sind, geopfert werden, gibt zu denken. In Rußland werden auffallend viele Leute sehr alt. In früheren Zeiten führten die vornehmen Russen ein üppiges Leben. Die Tafel

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war reichhaltig, und nach dem Mittagsessen war ein langer Schlaf ebenso obligat, als jede Bewegung verpönt war. Die vornehmen und reichen Leute waren durchwegs dick. Ein wohlbeleibter Mensch sein, hieß : Anspruch auf Hochachtung machen 1). Trotzdem wurden sehr viele hundert Jahre alt und mehr 2). Auch jetzt findet man nicht bloß in größeren Städten öder Dörfern, sondern in jedem, selbst dem kleinsten Orte viele Hundertjährige. Aber man betrachtet die Alten mehr mit Scheu als mit Ehrfurcht. Bei einigen sibirischen Völkern ist Langlebigkeit geradezu todeswürdig. In einem älteren Buche wird erzählt 3) : „Wer in Sibirien 70 Jahre alt ist, wird von seinen nächsten Verwandten in einen Wald gebracht, wo sie ihm eine Hütte bauen, ihm für drei Tage Nahrung geben, und dann Abschied nehmen. Hat der Greis die Nahrung verzehrt, so stirbt er Hungers." Die neueren Reisenden bestätigen es, und George Kennan^) -beispielsweise, der über den Gebrauch der Korjaken, die Alten und Kranken zu ermorden, berichtet, meint den Grund dieses Gebrauches im Wanderleben zu finden : Das Umherziehen lasse Krankheit und Altersschwäche sowohl für den davon Betroffenen als für seine Umgebung außer- ordentlich lästig erscheinen, so daß der Mord eine von der Klugheit und dem Mitleid diktierte Maßregel werde. Man findet Ähnliches in Albanien; in Elbassan nennt man Männer und Frauen, die über hundert Jahre alt sind, Schtrighea oder Schtriku : Wesen, welche böse Zauberkünste treiben ; man glaubt, daß diese Alten imstande sind, durch ihren Hauch Menschen zu töten; in Zeiten der Epidemien gab man ihnen die Schuld am Unheil und verurteilte sie zum Feuertode^i. Die germanisch-slawische Urzeit kannte schon den Gebrauch

1) Karamsin, deutsche Ausgabe IX 309, französische X 367.

2) Margeret, Estat de l'Empire de Rvssie, 53, hebt die Langlebigkeit der Russen als besonders bemerkenswert hervor.

3) Sammlung merkwürdiger Anekdoten, das Russische Reich betreffend, 1793. S. 5.^__

*) Zeltleben in Sibirien und Abenteuer unter den Korjaken und anderen Stämmen in Kamtschatka, deutsch von E. Kirchner, Berlin 1891, S. 179.

6) Bernhard Stern, Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei. I 277.

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der Tötung von Greisen und Kranken, ij Aber der Greis selbst mußte den Tod wünschen. In Zeiten der Nahrungsnot wurden Volksbeschlüsse inbetreff der Tötung der Greise und Kinder gefaßt. Zu Saxo Grammaticus kam die Sage eines solchen Beschlusses der Dänen. Die Olafs Tryggvasonar saga be- richtet, daß auf Island ebenfalls eine öffentliche Volksversamm- lung zur Zeit strenger Kälte und Hungersnot beschlossen habe, alle Greise, Lahmen und Siechen verhungern zu lassen. Der- selbe Zug wiederholt sich aus dem gleichen Anlasse in der Viga Skutus saga. Procopius berichtet als tatsächlich, daß die Heruler ihre Greise und Kranken töteten. In der von Saxo erzählten Sage von Gauti erscheint es als gemeine Sitte, daß die Kinder ihre alten Eltern auf die Stammklippe begleiten und die Eltern sich von da herabstürzen, um froh und heiter den Tod zu finden. Von den Nordslawen erzählt Zeiller: „Es ist ein ehrlicher Brauch im Wagrerlande gleichwie in anderen Wendlanden gewesen, daß die Kinder ihre altbetagten Eltern, Blutfreunde und andere Verwandten, auch die so nicht mehr zum Kriege oder Arbeit dienlich, ertödteten, danach gekocht und gegessen, oder lebendig begraben ; daher sie ihre Freunde nicht haben alt werden lassen, auch die Alten selbst lieber sterben wollen, als daß sie in schwerem, betrübtem Alter länger leben sollten. Dieser Brauch ist lange Zeit bei etlichen Wenden gebheben, insonderheit im Lüneburger Lande." Ganz das gleiche bekundet Notker von dem Slawenvolke der Wihen oder I iuticen an der Ostsee, und Praetorius von den Ah- preußen. Cranz erzählt aus dem Jahre 1309 eine Geschichte von einem wendischen Greise, den sein Sohn unbedenklich lebendig vergraben wollte, und Kreyßler weiß einen ähnlichen ¥n.\l aus der Mark vom Jahre 1220.2) Von dem Selbstmord bei den Tschuktschen in Zeiten von Krankheiten ist in einem früheren Kapitel die Rede gewesen.';) Die angeführten Pa- rallelen, welche beweisen, daß auch bei anderen Völkern Un- menschlichkeiten stattgefunden haben, sprechen aber gleich-

1) Julius Lippert. Die Religionen der europäischen Culturvölker, Berlin ix.si, S. 3S.

2) Lippert a. a. O. 39 40-

3) Vgl. S. 445-

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zeitig eine furchtbare Sprache gegen die russische Kultur und SittHchkeit. Was anderwärts Selbstmord war, ist in Rußland \'erbrechen; und was anderwärts in den finstersten, längstver- gangenen Jahrhunderten und in vereinzelten Fällen geschehen ist, das ereignet sich in Rußland unter dem Himmel des zwan- zigsten Jahrhunderts und tritt nicht als Einzelerscheinung, son- dern massenhaft auf. In dem Berichte einer russischen Wochen- schrift i) über diese Barbareien des russischen Volksaberglau- bens ist festgestellt worden, daß für die Beerdigungen solcher Menschenopfer sogar Ausweispapiere von der Gemeindever- waltung ausgegeben wurden ; der Dorfälteste und die ganze Dorfobrigkeit teilten die Überzeugung, daß die Cholera durch die Opferung eines lebenden Menschen versöhnt werden müsse. Die unter solchem Patronat vollzogenen Verbrechen können vor der großen Öffentlichkeit in einem Lande wie Rußland, wo ganze Provinzen ohne Zeitungen sind und die wenigen Blätter in den übrigen Gouvernements unter der Zuchtrute der Zensur stehen, leicht verheimlicht werden. Die Gerichte erhalten Anzeigen "nur von der Polizei; da die Dorfpölizei selbst im Banne des Aberglaubens steht, ist niemand vorhanden, der die Macht der Finsternis auch nur anzutasten wagt.

Im Vergleich zu diesen Menschenopferungen sind andere Verbrechen aus medizinischem Aberglauben zwar an sich schrecklich genug, doch harmlos, weil es sich bloß um Leichen- schändungen handelt. Als im Jahre 185 1 im Dorfe Possady des Kreises Berditschew im Gouvernement Kijew die Cholera ausbrach, verbreitete sich das Gerücht : der frühere Kirchen- diener und seine Frau seien Vampire gewesen und schuld an der Epidemie. Man grub ihre Leichen aus, hackte ihnen die Köpfe ab und verbrannte diese ; die Leiber wurden ins Grab zurückgelegt, aber vorsichtigerweise mit Eschenpfählen durch stochen und an die Erde geheftet. Als am 30. Juli 1893 im Dorfe Taschtamakowa im Sterlitamakschen Kreise des Gou- vernements Pensa eine epidemische Krankheit ausbrach, be- schloß eine Dorfversammlung das Grab einer Bäuerin, die bei Lebzeiten als Hexe gegolten hatte, zu öffnen und die Leiche

1) HcäIuh 1872, No. 2.

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mit einem Eschenpfahl an die Erde zu nageln; Anlaß zu diesem Beschlüsse gab die Erklärung einiger Dorfbewohner, die bezeugten: sie hätten gesehen, wie aus dem Grabe der Hexe eine feurige Kugel aufgeflogen und in Feuerzungen zer- platzend die Krankheit in alle Hütten geschleudert. Zuweilen ist es der mit dem Aberglauben verbundene Hang zu Grau- samkeit und Wollust, der abscheuliche Vorgänge verursacht. Auch bei den Südslawen geht der Vampirglaube zum Teil auf Nekrophilie zurück. Man fand öfter die Leichen jung verschiedener Frauen und Mädchen ausgescharrt vor. Der Leichenschänder hatte seine Lust an ihnen befriedigt, zum Überfluß aber ihnen die Brüste verstümmelt und die Einge- weide herausgerissen 1). Auch im nachfolgenden russischen Falle handelt es sich offenbar um eine sadistische Leichen- schändung. Im August 1848 gruben die Bauern von Weliko- Schuchowiz im Nowogruder Kreise des Minsker Gouverne- ments die Leiche eines Bauernmädchens aus, das als erstes Opfer der Cholera anheimgefallen war. Der Feldscher des Ortes hatte behauptet, daß diese Bäuerin eine liederliche Person gewesen ; und weil sie als Liederliche in schwangerem Zu- stande gestorben, hätte sie die Cholera hervorgerufen. Auf den Rat des Feldschers beschloß man, das Grab zu öffnen und an der Leiche die Operation des Kaiserschnitts zu machen, um die Lage des Kindes zu erforschen. Man fand im Leibe der Leiche zwar kein Kind, sondern das Kind lag als Leiche neben der Mutter; aber der Feldscher kam nicht in Verlegen- heit und zeigte den Anwesenden, daß die Leiche der Mutter den Mund offen hatte, was ein Zeichen des Hexentums. Darauf hin waren alle überzeugt, daß der Feldscher recht gehabt, und man nagelte die Hexe und Cholerabringerin mit einem Eschen- pfahl an die Erde.'^)

Ein weitverbreitetes Mittel zur Bekämpfung der Epide- mien ist das Umpflügen des verseuchten Dorfes, das soge- nannte Opachiwanije^), auch Korowaja Ssmertj, Kuhtod. ge-

1) Vgl. Krauß, Anthropophyteia II 390.

2) Löwenstimm, 97 ff.

^) OnaxHBanie, die Umhüllung, das Pflügen rund herum. Löwen- stimm, 19 ff.

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heißen. Bei dem Umpflügen oder Umackern müssen die han- delnden Personen nackt oder höchstens im Hemde erscheinen. Man kennt den Gebrauch auch in den slawischen ßalkanländern und in Dalmatien : Es müssen zwölf splitternackte Jünglinge und Jungfrauen von tadellosem Lebenswandel am Vorabend des Sonntags nach Neumond um Mitternacht einen Pflug nehmen, sich in das Joch spannen und still, ohne zu sprechen, ohne einander lüstern anzusehen oder zu berühren, siebenmal in derselben Furche das Dorf umackern. Bricht in einem bul- garischen Dorfe eine Seuche aus, so löscht man auf allen Feuerstätten das Feuer aus, und ganz nackte junge Leute erzeugen stillschweigend ein neues Feuer durch Holzquirlung. Mit Flilfe dieses Feuers zündet man in jeder Heimstatt ein neues Feuer auf dem Herde an. Durch Entblößung der Scham - teile oder des Hintern drückt der Südslawe jemandem seine A'erachtung aus.^ Um die Kraakheitsgeister zu vertreiben, legt man die Kleider ab. Wenn man nachts einem Gespenste be- gegnet, fasse man sich am Penis an und rufe: U Kurac! In den Penis hinein! Frauen, die sich vor Geistern fürchten, ziehen, wenn sie nachts übers Feld gehen, Hemd oder Kittel über den Kopf, so daß sie den Geistern den nackten Hintern zeigen. 1; Wenn der christliche Wotjäke vor Gericht gerufen wird, um zu schwören, so entblößt er zwischen der Vorführung und dem Eide heimlich sein Glied, berührt das entblößte Glied mit der rechten Hand und ist überzeugt, daß sein Eid im- gültig.2) Aus dem Jahre 1738 hat sich in dem Berichte über die damalige Pestepidemie im podolischen Dorfe Gummenez die Erzählung über eine Prozession erhalten, die von den nackten Dorfweibern zu nächtlicher Stunde rund um das Dorf und durch die Felder veranstaltet wurde, um die Pest abzu- wehren. Der Edelmann Michael Matkowsky, der mit einem Zaum in der Hand ein verlorenes Pferd auf den Feldern suchte, wurde von den Teilnehmern der Prozession als die leibhaftige Pest angesehen, gefangen genommen und unter den schreck-

1) Krauß Anthropophyteia I i. Kranß, Südslawische Pestsagen, Micn 1883, 26. Stern, Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Tiirßei I 269.

2) Löwenstimm,' Aberglaube und Strafrecht, 133.

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liebsten Martern lebendig verbrannt. 1871 fanden in Ruß- land während der Cholera häufig Ümackerungen statt. In der jüngsten Zeit wurde das Umpflügen bei Epidemien imd Viehseuchen in den Gouvernements Orel, Tambow, Jaroßlaw und Wologda beobachtet. Aus dem Gouvernement Jaroßlaw berichtete der Geistliche Orlow, daß man im Romano-Borißo- gljebschen Kreise nach Vollendung der Prozession eine schwarze Katze, einen jungen Hund oder einen Hahn verscharrte; in einigen Dörfern des Grjäsowezschen Kreises begrub man einen lebenden Hund und eine lebende Katze. Im Gouvernement Wologda nehmen die Bauern zunächst unter Assistenz der Geistlichkeit eine Prozession bei Tage vor, wobei man unter das Heiligenbild eine Eintagsleinewand legt, nämlich ein Stück neuer ungebleichter Leinewand, das am \^orabend des Prozessions- tages gesponnen und gewebt worden ist. In der Nacht, zwischen Mitternacht und Frühmesse, umpflügen die Weiber das Dorf : Im Mitternacht tritt die alte Dorf Wahrsagerin in die Um- friedung des Dorfes hinaus und schlägt auf eine Pfanne. Nun kommen die Weiber mit Bratpfannen, Feuerhaken, Ofen- gabeln, Sensen und Knütteln gelaufen. Das Vieh wird ein- gesperrt, und die Männer dürfen die Häuser nicht verlassen. Die Prozession beginnt, indem die Wahrsagerin sich ihres Rockes entledigt und den Tod verflucht. Die Weiber ziehen einen Pflug herbei und spannen an denselben nackte, unbe- fleckte Jungfrauen oder eine mißgewachsene Frau. Dann um- pflügt man das Dorf dreimal, man zieht dreimal eine ge- schlossene Linie rund herum ; und zwar also : Voran trägt man das Bild des heiligen Wlaßj, des Beschützers der Herden, falls eine Rinderpest herrscht, oder die Bilder der heiligen Flor und Lawr, falls eine Pferdeseuche ausgebrochen ist. Hinter den Heiligenbildern reitet die Wahrsagerin auf einem Besen; sie ist nur mit dem Hemde bekleidet, und ihre Haare sind aufgelöst. Dann kommen die nackten Mädchen mit dem Pflug, und hinterdrein bewegt sich die Menge der lärmenden V^eiber. Die Zeremonie ist als gelungen zu betrachten, wenn die Prozession bei dem dreimaligen Umpflügen niemandem begegnet. ,,Gott behüte Jeden davor, dieser Prozession in den Weg zu geraten," sagt der Geistliche Orlow. Ein Tier

Stern, Geschichte der üffentl. Sittlichkeit in Kufiland. 31

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wird sofort totgeschlagen, ein Mensch geprügelt, bis er be- wußtlos bleibt oder tot zur Erde sinkt. Das ist unerläßlich. Denn wer der Prozession begegnet, ist sicher der Tod, der in Gestalt eines Werwolfs erscheint, um durch die Durchkreuzung der Umpflügungslinien den heilsamen Kreis des Pfluges zu zerstören. Der gleiche Gebrauch besteht, mit einigen kleinen Abweichungen, in verschiedenen Kreisen der Gouvernements Nischny-Nowgorod, Woronesch und Tula. Am stärksten ver- breitet ist er allem Anschein nach in Mittelrußland. Es ist außer allem Zweifel, daß man es mit einer alten heidnischen Sitte zu tun hat, die von der Orthodoxie nicht nur geduldet, sondern unterstützt wird, denn das Umpflügen wird durch die vorhergehende kirchliche Prozession geweiht; und man tötet die Menschen, die den heiligen Kreis stören, unter dem Zeichen des Kreuzes und mit Gutheißung der Geistlichkeit. Zu erwähnen ist -noch, daß beim Umpflügen auch Fälle von Selbstopferung vorkommen; man wirft das Los, und wen es trifft, der wird mit einem Hahne oder einer schwarzen Katze lebendig begraben.

Der entsetzliche blutige Aberglaube herrscht aber nicht bloß in Zeiten der Epidemien, wo man durch solche Taten sowohl sich als die ganze Gemeinde zu retten glaubt, sondern auch in ganz gewöhnlichen Krankheitsfällen.

Die Zahl der abergläubischen Heilmittel für gewöhnliche Krankheiten ist endlos. Besonders beliebt sind Beschwö- rungen i). Die Heilmethoden sind zumeist grausam und brutal und führen häufig den Tod des Kranken herbei. Mord, Not- zucht und Sodomie werden vom Wunderdoktor oder der Wahr- sagerin ohne viel Bedenken empfohlen, selbst wenn es sich darum handelt, ein ganz gerinfügiges Übel zu kurieren. Epi- lepsie heilt der Snaxapt, der weise Mann, durch warpies Men- schenblut. Im Gouvernement Kasan] ist dieses Mittel all- gemein bekannt. Im selben Gouvernement existiert noch ein anderer furchtbarer Aberglaube, worauf ein Vorfall vom 3. Juli

1) Eine Reihe solcher Beschwörungen und Besprechungen teilt Saßhummj, PyccKÜt Hapcji^B mit: crp, 259 282, 353 386, 417 426 (Hapo;iHaa MejipiiiHHa). Vgl. femer: CysmoBt, KyjibTypHua nepeacHBaniH ; CöopmiK-t xaptK. Hcxop. 4iiiJio.iior. oßmecTBa III ^V; Wisla 1891, No. III.

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1891 hinweist: im Dorfe Stary-Ssalman des Spaßschen Kreises wurde einem sechsjährigen Mädchen die Kehle durchschnitten und Brust und Magenhöhle geöffnet; dann nahm man das Herz heraus und gab dieses als Heilmittel einem Manne zu essen, der nach einem Schlaganfall einen zitternden Kopf be- halten hatte 1). Aber die Heilmethoden sind auch für die Patienten selbst mit großer Gefahr verbunden und führen in den meisten Fällen den Tod herbei. Trotzdem sucht nicht bloß das gemeine Volk die Wunderdoktoren auf, sondern auch die Mitglieder der höheren Gesellschaftskreise und der intelli- genten Klassen strömen massenhaft zum Snacharj oder zur Wahrsagerin, imd jedes Gouvernement, jede größere Stadt hat einen berühmten Kurpfuscher, mit dessen Beliebtheit sich kein gelehrter Arzt messen kann. In den 1880er Jahren war im Busulukschen Kreise des Gouvernements Ssamara der Snacharj Kusmitsch vielgesucht; täglich kamen 150 Patienten aus der ganzen Wolgagegend herbei, um seinen Rat einzu- holen.2) Diese Wunderdoktoren wenden selbst in den harm- losesten Krankheiten geradezu lebensgefährliche Methoden an. Am schlimmsten ergeht es da der Wöchnerin und dem Säug- ling. Allgemein ist es in der russischen Volksmedizin Gebrauch, die Gebärende auf eine Holzschaufel zu legen und sie von einigen Anwesenden in die Höhe werfen zu lassen, während andere sie an den Haaren halten und herunterziehen; dabei ruft man: ,, Schaufelchen, wirf es heraus, wie du d.. Brod her- auswirfst." Das Spiel endet nicht selten mit dem Tode der Gebärenden. Hat der Säugling einen Bruch, so bindet man ihm im Lukojanowkreise des Gouvernements Nischny Now- gorod eine Maus mit einem Faden an den Fuß an und legt dann das Tier auf den Bauch des Säuglings : zernagt die Maus den Nabel des Kindes, so wird dieses gesund werden ; sonst muß es sterben. Leidet das Kind an Abzehrung, so wird es nach einer Heilmethode, die ebenfalls im Lukojanow- kreise üblich ist imd auch in Wilna beobachtet wurde, in Lappen gewickelt und mit ungesäuertem Teig aus Roggenmehl,

1) Löwenstimm 114.

2) Löwenstimm 138 ff.

31*

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das vorher in der Länge des Kindes aufgerollt wurde, umhüllt ; dann bindet man das Paket an eine Küchenschaufel fest und schiebt es dreimal in den Backofen, während ein Weib drei- mal vom Ofen bis zur Türschwelle läuft und schreit : „Backe das Hunde-Alter, backe tüchtig." Diese Krankheit bezeichnet man nämlich als Hundealter. Es geschieht, daß das Kind während das Backens stirbt, dann war das arme Wesen un- heilbar, die Methode aber ist nicht diskreditiert. Für dieselbe Krankheit gibt es in anderen Gegenden auch folgendes Mittel : Man trägt das Kind in den Wald und legt es auf ein paar Tage in einen gespaltenen Baum. Dann nimmt man es heraus und trägt es dreimal neun Male rund um den Baum. Hierauf bringt man es nach Hause und badet es in Wasser, das aus sieben Flüssen oder Brunnen geschöpft ist, überschüttet es mit Asche aus sieben Öfen und legt es auf den Ofen. Schläft es still ein, so wird es geheilt werden; schreit es aber, so muß es sterben. Leidet ein Kind oder ein Erwachsener an Leib- schneiden mit Erbrechen, so verlangt der Doktor eine Suppen- schüssel mit Wasser, Hanf und einen Krug. Die Schüssel wird dem Kranken auf den Bauch gestellt, der Hanf ange- zündet und ganz nahe um den Kranken geschwenkt; hierauf der Rest des Hanfes in den Krug gelegt und dieser in die Schüssel gestellt. Während der Arzt seine Beschwörungen hersagt, gibt man dem Kranken das Wasser aus der Schüssel zu trinken. Schreit der Patient, so heißt es, daß die Krank- heit gerade entweicht. Hat der Kranke früher vom brennen- den Hanf Brandwunden erlitten, so sind das die Zeichen der entflohenen Krankheit. Selbstverständlich kann der Wunder- doktor nicht bloß Krankheiten bannen, sondern er steht Leuten, die sich rächen wollen, auch zur Verfügung, wenn sie ihren Feinden eine Krankheit anwünschen. So zaubert der Doktor wem immer Rheumatismus an, indem er Erde aus einem frischen Grabe nimmt, die Erde mit Asche aus sieben Öfen und Salz aus sieben Hütten vermischt. Das Päckchen muß man in die Strümpfe oder Fußlappen des Verwünschten hinein- praktizieren, und wenn dessen Fußschweiß dazukommt, hat der Mann gleich seinen Rheumatismus. Leute, die sich dem Militär entziehen wollen, halten es für das sicherste Mittel,

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sich vom Snacharj eine passende Krankheit anzaubern zu lassen 1).

Will jemand nicht einmal die Hilfe des Zauberers oder eines alten erfahrenen Weibes in Anspruch nehmen, so bedient er sich des russischen Allheilmittels, das schon im alten Ruß- land gebraucht wurde 2): er ninamt Branntwein mit Schieß- pulver, Zwiebeln oder Knoblauch und darauf ein Schwitzbad. Vor Pillen und noch mehr vor Klistieren hat der Russe eine abergläubische Furcht; die schlimmste Gefahr ist nicht im- stande, die Scheu vor dem Klistier zu überwinden. Die Ko- saken trinken, wenn sie vom Fieber gepackt sind, eine Riesen- schale Branntwein mit einer tüchtigen Portion Kanonenpulver, legen sich darauf nieder und stehen am anderen Morgen frisch und muntei auf. 3)

Die Regierung kümmert sich um die hygienischen Zu- stände wenig. Ganze Landstriche, größer als Königreiche, haben nicht einmal eine einzige Apotheke. Katharina II. be- fahl in einer geheimen Instruktion, daß es in einem Gouverne- ment wenigstens zwei Ärzte geben solle.*) Jetzt hat jeder Kreis in seiner Hauptstadt wenigstens einen Arzt, aber nicht überall eine Apotheke. Zumeist muß die Hausapotheke des Kreis- arztes genügen. Die gesetzgebende Versammlung, die auf Grund der von Katharina II. gegebenen Wahlordnung 1767 und 1768 in Moskau und Petersburg zusammentrat, beschloß die obligatorische Schutzpockenimpfung, und die Kaiserin ließ sich und den Großfürsten-Thronfolger Paul zuerst impfen, um dem Volke mit gutem Beispiel voranzugehen. Anderthalb Jahr-

1) Über Syphilis ist im II. Bande ein besonderer Abschnitt. Hier be- gnüge ich mich mit den angeführten Beispielen zur Illustrierung des Kultur- und Sittlichkeitsgrades der russischen Volksmedizin. Man vgl. ferner R. Krebel, Volksmedizin und Volksmittel verschiedener Völkerstämme Rußlands, Leipzig 1858; und Aurelio Buddeus, St. Petersburg im kranken Leben, Band I, worin die Gesundheitsverhältnisse und Heilanstalten speziell der Residenz eingehend beschrieben sind.

2) Karamsin, deutsche Ausgabe, IX 311.

3) Description de TUkrainie, par le Chevalier de Beauplan, nouvelle Edition par le prince Galitzin, Paris 1861, p. 135.

*) Blum, Ein russischer Staatsmann, J. J. Sievers. Leipzig und Heidel- berg 1857, I 181.

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hunderte sind verflossen, und das russische Volk hat seinen Widerstand gegen die Blatternimpfung noch nicht aufgegeben. Die Pocken wüten deshalb in Rußland noch mit ungebrochener Kraft. Namentlich in den fernen Provinzen und unter den Nomadenvölkern ist diese Krankheit eine fast unausrottbare. Wemi bei den Kirghisen jemand an den Pocken, die Tschit- schak genannt v^erden, erkrankt, so w^ird er sofort von allen, selbst von seinen nächsten Verwandten verlassen. Man sperrt ihn in ein Zelt ein und setzt ihm von fern Lebensmittel und Getränke aus. Gewöhnlich brechen die anderen Kirghisen ihre Zelte ab und ziehen weiter, den Erkrankten seinem Schick- sal überlassend. Nähert sich ein Pockenkranker den Woh- nungen der Kirghisen, so wird er unbarmherzig nieder- geschossen i). Auch die Kalmücken empfinden vor den Pocken eine abergläubische Angst, doch sind sie gegen die Erkrankten menschlicher als die Kirghisen, Zwar ziehen sie ebenfalls, sobald einer von ihnen von den Pocken ergriffen wird, sogleich fort und lassen den Patienten in einer Hütte zurück; aber der Kranke bleibt nicht hilflos, sondern unter dem Schutze eines Stammesgenossen, der die Krankheit schon durchgemacht hat, also immun ist.

Bei den Kalmücken ist es besonders bemerkenswert, daß hier das gemeine Volk die europäischen Ärzte ebenso gern zurate zieht wie die kalmückischen Heilkünstler, während die Vornehmen nur izu den einheimischen Meistern Zutrauen haben. Die Kalmücken halten, im Gegensatze zu den alten Russen, denen die Heilkunde als etwas Gottloses erschien, die Medizin für eine göttliche Wissenschaft; sie besitzen einen Spezialgott der Medizin, den Ototschi Burchan, der auch im Bilde dar- gestellt wird. Eine Klasse der Ärzte heißt Ototschi, diese heilen aber nur Knochenbrüche und Tierkrankheiten; die angesehen- sten Ärzte, Doctores medicinae universalis, sind die Aemtschi, welches Wort auch Arznei heißt. Die Aemtschi gehören dem Priesterstande an und schöpfen ihre Kenntnisse aus Büchern. Der kalmückische Arzt legt den größten Wert auf die Diät, Dem Kranken erlaubt er eine lange Zeit nur eine magere

1) Pallas Merkwürdigkeiten 295.

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Fleischbrühe, einen dünnen Mehlbrei, Tee ohne Milch. An- dere Kranke dürfen nur wenig Milch, wieder andere müssen viel Milch zu sich nehmen. Hämorrhoiden heilt man, indem man dem Kranken mehrere Tage hindurch nichts anderes gibt als eine Schale frischer Kamelmilch morgens imd eine Schale abends. Natürlich fehlt es auch nicht an den beliebten orien- talischen Medikamenten, wie Rhabarber und Magnesia, und noch weniger an den Heilmitteln des Aberglaubens : so wird nicht bloß der Galle von Tieren, sondern auch der Galle von Menschen eine große Heilwirkimg zugeschrieben. Die wich- tigsten aller Mittel aber sind Amulette, Beschwörungszere- monien imd als letztes imd teuerstes: feierliche Gebete. Der kalmückische Arzt ist immer geschäftig, fühlt bald den Puls der linken, bald jenen der rechten Hand, dann beider Hände Pulse auf einmal, läßt sich den Urin des Kranken geben, klopft den Urin mit dem Stab, und wenn die Krankheit gefähi'lich oder der Patient vornehm ist, macht sich der Doktor kaltblütig daran, den Urin zu kosten. Kommt der gemeine Kalmücke zu einem europäischen Arzte, so bietet er die merkwürdigsten Honorare an, imd es ist nicht selten, daß er seine Tochter als Pfand für die Bezahlung, die er gewöhnlich nicht vor voll- endeter Kur leisten will, offeriert. i)

29. Räuberwesen und Revolutionen.

Raubwirtschaft als Folge von Hunger und Pest Organisation der Räuber Die Sjetsch der Kosaken Die Räuber und der Zar Stenjka Rasin Räuberlieder Grausamkeit Rasins Ermordung der Adeligen und Priester Ausschweifungen Rasins Nachfolger Brigandage unter Peter dem Großen Räuber und Revolutionäre Hinrichtung der Strjeljzen Der Richtplatz in Moskau Die Pugatschewsche Rebellion Ihre Folgen Die französische Revolution und Rußland Radischtschew der Freigeist Die Freimaurer in Rußland Nihilismus Das Erwachen des Muschiks Bankerott der Autokratie.

Tausend Jahre lang hat das russische Volk die Tyrannei der Herrschenden, die Willkür des Tschin, die Knuten der Polizei geduldig und fast widerspruchslos ertragen ; aber gegen

1) Bergmann, Nomadische Streifereien II 326. Pallas a. a. O. 295.

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hunderte sind verflossen, nd das russische Vol Widerstand gegen die Blattmimpfung noch nicht Die Pocken wüten deshalb i Rußland noch mit ung Kraft. Namentlich in den fernen Provinzen und Nomadenvölkern ist diese Krankheit eine fast una Wemi bei den Kirghisen jmand an den Pocken, c schak genarmt werden, erl<ankt, so wird er sofort selbst von seinen nächsten v^erwandten verlassen. ]\ ihn in ein Zelt ein und sect ihm von fern Lebensn Getränke aus. Gewöhnlicl brechen die anderen 1 ihre Zelte ab und ziehen weer, den Erkrankten seinen sal überlassend Nähert ch ein Pockenkranker de nungen der Kirghisen, s wird er unbarmherzig geschossen 1). Auch die Kanücken empfinden vor den eine abergläubische Angst, ^och sind sie gegen mensci Ucher als die Kirgisen. Zwar zie sobald einer von ihnen vonlen Pocken er fort und lasseii den Patienm in einer Kranke bleibt nicht hilflos sonder Stammesgenossen, der die Iran also immun ist.

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die Leiden des Hungers und der Pest hat es sich aufgelehnt. Die von Menschen verhängten Plagen verursachten nur selten Empörungen; doch gegen die Plagen, die die Natur erzeugte, murrte das Volk. Hungersnot und Pest hatten in ihrem Ge- folge stets Unordnungen, und wo das Elend herrschte, bildeten sich sofort Räuberbanden. In den alten Chroniken und An- nalen wird oft über die Leiden geklagt, die im heiligen Ruß- land durch die unvertilgbare Raubwirtschaft entstehen. Als 1230 Nowgorod von furchtbarer Hungersnot heimgesucht wird, durchziehen jene, die nicht apathisch den Untergang erwarten wollen, raubend und sengend die Stadt und plündern die Kost- barkeiten in den Häusern der Reichen. 1299 zerstört eine Feuersbrunst Nowgorod, und die dadurch hervorgerufene Ver- wirrung benützen wilde Banden zur Ausraubung der Paläste und Kirchen. 13 14 werden in Pskow 50 Hauptanführer von Räuberbanden, die die Stadt während einer Hungersnot be- unruhigen, aufgehängt. Seit dem vierzehnten Jahrhundert, mit dem Beginne der Tartarenherrschaft, nimmt das russische Räuberwesen kolossale Dimensionen an. Aber nachdem die fremden Bedrücker von den moskowitischen Zaren endlich ver- trieben worden, wird es durchaus nicht besser. Das Volk, so weit es überhaupt fähig ist, unter dem Elend noch das Gefühl des Leidens zu empfinden, verfällt der Trunksucht oder flüchtet sich in die Wälder, um vom Raube zu leben.

Die Epoche Iwans des Schrecklichen schafft ganze Ar- meen von Verzweifelten; und als unter Boriß Godunow um 1600 die entsetzlichste aller russischen Hungerzeiten anbricht, ergibt sich alles, was dem Hunger entrinnen kann, dem Straßen- raub. Aus der Ukraine brechen Scharen nach Inner-Rußland ein, um zu morden und zu plündern. In abgelegenen Gebenden errichten die Räuber förmliche Standquartiere, wo man die Streifzüge berät und von wo aus man bis unter die Tore von Moskau zieht. Einer der verwegensten Räuberhauptleute der Zeit ist Chlopko, mit dem Beinamen Koßolap, der Krumm- pfotige; der Zar muß ihm ein ganzes Heer entgegenschicken, aber erst nach hartem Kampfe wird Chlopko gefangen und unter gräßlichen Marterungen getötet; auch alle seine Unter- anführer werden auf die Folter gespannt und hingerichtet, ob-

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Bestrafung von Räubern an der Wuii^a.

(Nach einer Al)|pililuiiii in j. Ii;inway's Rei.sclicschiciliunj;, 1754.)

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wohl Zar Boriß bei seinem Regierungsantritt gelobt hat, keinen Menschen mit dem Tode zu bestrafen, i) Aber dieses Gericht schreckt niemanden ab, und 1609 wagt es der Räuberhau])t- mann Salkow, ein chatunskischer Bauer, Moskau zu umzingehi und alle Getreidetransporte aufzuhalten, so daß in der Haupt- stadt Hungersnot herrscht. 2)

Die Räuberbanden ziehen zuweilen gleich mächtigen Heeren durch die Provinzen und behandeln das Vaterland wie eroberte Reiche; sie lagern nicht bloß auf den Landstraßen und in den Wäldern, um von den Wanderern und den Kauf- leuten Abgaben und Steuern zu erheben, sondern brandschatzen auch Städte und nehmen Festungen in Besitz. Die Ci^t.' (Sjetsch^), die Niederlassung der Saporeger Kosaken, ist das Zentrum aller Räuberbanden. Flüchtige Leibeigene, Diebe und Mörder, die dem Henker entkamen, Abenteurer aller Art, un- schuldig Verfolgte, mit einem Worte alle, die unter einem Regime der Ordnung oder unter der Herrschaft der Willkür nichts Gutes zu erhoffen haben, suchen das Asyl in der Sjetsch auf. Gogolj hat von diesen Glücksrittern und Verfehmten in seinem Roman Taraß Buljba ein krasses Bild entworfen. Aus der Sjetsch strömen von Zeit zu Zeit und Jahrhunderte hin- durch die Scharen der Freibeuter, die namentlich die Bo- jaren und den niederen Adel drangsalieren und fast überall auf die Sympathien, wenn nicht gar Anteilnahme des be- drückten Muschik und des geknechteten Volkes rechnen kön- nen. Wenn die Räuber die Bojaren und Gutsherren ausplün- dern und ermorden, so erscheinen sie nicht als Diebe und Mörder, sondern als Rächer des namenlos leidenden Volkes, als Geißel für die Herren und Befreier der Leibeigenen.

Die Macht des Räubertums vermag diese kolossalen Dimen- sionen anzunehmen, weil sich die Bewegung niemals gegen den Zaren richtet. Wie dem einfachsten Muschik, bleibt auch dein zügellosen Räuber der Zar noch immer der Inbegriff alles Heiligen auf Erden. Ja, der Räuber ist geradezu ein Mann

1) Karamsin, deutsche Ausgabe X 97, französische XI 153.

2) Ebenda, deutsche Ausgabe XI 145:

3) Dieses Wort ist altrussisch, gleichwie diMoin,. der Krieger, und ctniii:.', die Axt.' In der modernen Sprachi- heißt c-t.'ia oder r+.'ir.: das Blutbad,

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des Zaren. Der Zar ist gut und edel; aber der Bojar, der Adel, der Tschin, die Beamten, sie stehen zwischen dem Zaren und seinem Volke: sie sind es, die den Zaren ebenso verraten, wie sie das Volk bedrücken. Das ist die Meinung, die sich das Volk bildet und der es in seinen Liedern hundertfältigen Aus- druck gibt. In diesen Liedern i) erscheinen die Räuberbanden als wahrhafte Stützen des Zaren; Mord oder Raub, an dem Adel und dem Beamtentum verübt, wird im Volksliede als kühne Tat gefeiert, als das Werk von Befreiern aus Not und Elend; die Räuber, die tapferen Helden, ziehen heran, um die gemeinsamen Feinde des Zaren und des Volkes zu strafen. Dies erzählt am besten die Geschichte der beiden bedeutendsten russischen Räuber: des Stenjka Rasin und des Pugatschew, von denen der erstere, der nichts gegen den göttlichen Zaren zu unternehmen wagt, vom Volke verherrlicht wird, während der andere, der sich fälschlich für Peter III. ausgibt und den Thron anstrebt, "beim Volke nur durch Schrecken Zustimmung erzwingt, in den Liedern aber verflucht wird. Stenjka Rasin. der als der R.etter der Leibeigenen und der Vergewaltigten auf- zutreten liebt, ohne sich direkt gegen den Zaren zu wenden, nimmt in den Liedern des Volkes die Stellung eines Helden ein, gleich jener, die die alten Bylinen oder Heldenlieder dem II ja von Murom einräumen. Diese Räuberlieder malen ihren Helden in den schönsten Farben, schmücken ihn mit den vor- nehmsten Tugenden, schreiben ihm die wunderbarsten Dinge zu. In einem Liede wird erzählt, wie der besiegte Rasin in seinem Kerker auf die Wand ein Boot malt, das sich durch Zauberkraft in ein wirkliches Schifflein verwandelt und den Gefangenen in die Freiheit entführt. Die Gefährten Rasins werden also charakterisiert :

Wir sind keine Räuber ohne Ehr,

Wir sind nur des Rasin Arbeiter,

Des Iinterhetmanns Gehilfen hehr.

Nur ein Ruderschlag - und ein Schiff liegt brach :

Mit dem Riem ein Schlag Karawane wach !

Mit der Hand ein Schlag uns laufen die Mädchen nach.

1) Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur, 89 92.

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In einem Liede, das von Rasin selbst herrühren soll, schil- dert der Hauptmann den Abschied von seinen Gefährten. „Be- grabet mich," bittet er, „am Scheidewege, wo sich die drei Straßen kreuzen: nach Moskau, nach Astrachan, nach Kijew" :

Mir zu Häupten legt ein wundertätig' Kreuz,

Mir zu Füßen legt einen Säbel scharf,

Wer vorübergeht, der soll bleiben stehn;

Sei es, daß er bete zu dem wundertätigen Kreuz,

Sei es, daß ihn ängstige mein Säbel scharf:

Mag er wissen, daß hier liegt der Räuber böse

Stenjka Rasin, Sohn des Timofej.

Dieser böse Räuber Stenjka Rasin ist einer der grausam- sten und wollüstigsten Menschen aller Zeiten und Zonen. Aber seine Grausamkeit richtet sich nur gegen den Adel, die Kirche und die Beamten, und deshalb ist er dem Andenken des Volkes ein teuerer Held. Rasin beginnt seine Räubereien um 1667 in seiner Heimat am Doni) und zieht dann, als er schnell große Scharen von Mordlustigen um sich gesammelt hat, zur Wolga. Die Behörden schicken den Ssotnik der Moskauer Strjeljzen Nikita Siwzow zum Räuberhauptmann, um einen Friedensvorschlag zu machen. Aber Rasin läßt den Boten der verhaßten Behörden totschlagen und die Leiche ins Wasser werfen. Andere Gesandte erleiden dasselbe Schicksal. In kür- zester Frist fällt Astrachan in die Hände des Räubers. Der Befehlshaber von Astrachan, Fürst Prossorowskoj, wird von der Bastei hinabgeworfen; alle Beamten, die nicht sofort dem Sieger Gehorsam geloben und leisten, werden zu Tode ge- martert, und ihre Leichen wirft man ins Wasser. Einen furcht- baren Haß hegt Rasin gegen den Klerus. Der Räuberhaupt- mann verbietet das kirchliche Begräbnis; die Priester dürfen nicht mehr amtieren; die Mönche und Nonnen werden aus den Klöstern geschleppt, entkleidet und dem Volke auf offenem

1) Nachricht von dem Aufruhr und den Freveltaten des donisclicn Kosaken Stenka Rasin, aus einem russischen Chronikenschreiber damaHger Zeit gezogen und übersetzt von M. Christian Heinrich Ha.'^e. Büscliings Maga- zin IX 79 ff. Memoires du Regne de Pierre le Grand par Nestesuranoi, Amsterdam 1728, I 391 433.

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Platze zur Verhöhnung ausgeliefert. Alles, was zu den Vor- nehmen gehört, ist dem Tode geweiht. Die Kinder des er- mordeten Fürsten Prossorowskoj werden aus ihren Verstecken hervorgeholt und an den Füßen über der Stadtmauer auf- gehängt. Die Beamten, welche das Volk bedrückt haben, läßt Stenjka Rasin an den Rippen aufhängen und dem Tode durch Verschmachten aussetzen i): die Weiber und Töchter der er- mordeten Edelleute und Strjeljzen. Schreiber und Kaufleute, überliefert er der Armee zur Schändung. Er zwingt die Priester, die vornehmsten Frauen und Töchter mit den wilden Gesellen zu trauen. Da aber die Räuber die Orthodoxie verspotten und das Sakrament der Ehe verachten, so dürfen die Priester bei Todesstrafe keine kirchliche Zeremonie vornehmen, sondern müssen sich an Stelle des himmlischen Segens mit dem Siegel Rasins begnügen. Wenn ein Priester sich weigert, dem Be- fehle des Räuberhauptmanns Folge zu leisten, wird er ohne weiteres ins Wasser geworfen.

Mit dem Räuberwesen vereinigt sich immer die zügellose Unzucht Rasins Befehl : Erschlaget die vornehmen Männer und schändet die Frauen und Mädchen ! findet bei dem Volke, das nicht bloß von der Knute der Männer, sondern auch von der Peitsche der Weiber gezüchtigt wird, volles Verständnis und jubelnden Beifall. Diesen Befehl schickt Rasin nach der Eroberung Astrachans durch Boten die Wolga aufwärts. Seine Briefe verkünden, daß er für die Vertreibung der Bojaren und der Gouverneure kämpfe und dem bedrückten Volke die Frei- heit geben werde; er verspricht: überall, wo er nur erscheinen

1) Es ist dies dieselbe Todesstrafe, welche die Behörden über die Räuber an der Wolga verhängten und die wir auch im Bilde zeigen. Vgl. J. Hanways Beschreibung seiner Reise, i 75: ,,Es ^v•ird eine Art Floßschiff erbaut, dessen Größe nach Anzahl der Verbrecher eingerichtet wird Auf dasselbe setzet man einen Galgen, der eine zureichende Anzahl eiserner Haken hat, an welchen sie lebendig bey den Rippen gehenket werden. Das Floßholz ^vi^d in den Strom hinein gelassen, nachdem man zuvor ein Stück Pergament über ihre Köpfe fest gemacht hat, worinnen ihre Verbrechen angezeiget werden. Hierauf wird allen Städten und Dörfern an dem Ufer des Flusses bey Lebensstraffe verbothen, keinen von diesen Bösewichtern Hülfe wiederfahren zu lassen, sondern das Floßholz abzustoßen, wenn es bei ihnen sich dem Lande nähern sollte. Diese Uebeltäter leben bisweilen drey, vier, ja wohl gar fünf Tage an solchen Haken."

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könne, die Bojaren, Staats- und Kanzleibediente. Edelleute, Strjeljzen und Soldaten zu erschlagen und ihre Frauen und Töchter dem Volke als Beute zu überlassen. „Wir ziehen aus," heißt es wörtlich in einem Aufruf von Rasin an die Bauern, „und wollen die Bojaren totschlagen, euch aber gute Zeit und viele gute Jahre verschaffen." Vergebens suchen die Be- drohten Rettung in den Wäldern, das Volk spürt die Flücht- hnge auf und schleppt sie Hunderte von Werst weit dem Räuberhauptmann entgegen, um sie von diesem richten zu lassen. Alle Landschaften an der Wolga geraten in Aufruhr, die Bauern erheben sich in Massen. Und so wie Rasin es verlangt und verkündet hat, geschieht es : wo er erscheint, werden Reihen von Galgen errichtet und die verfehmten Vor nehmen bis herab zu den Schreibern und Soldaten aufgeknüpft. Erst nach vier Jahren gelingt es dank einem Wunder des von den Rebellen mit Vorliebe geschmähten wundertätigen Ssergej und durch Aufgebot einer mächtigen Armee die Räuber- bande Rasins zu besiegen. Nun erfolgt blutige Rache. Man errichtet zahllose Galgen und hängt die Räuber zu 30 bis 50 an einem Balken auf, doch so, daß sie eines langsamen Todes und unter furchtbaren Martern sterben. In kurzer Zeit werden auf diese Weise 12000 Räuber hingerichtet. Stenjka Rasin wird bei lebendigem Leibe gevierteilt, sein Bruder Frolko ent- hauptet. Unter den Gefangenen, welche die Truppen in Arsa- maß machen, entpuppt sich ein Hauptmann, der 7000 Rebellen kommandiert hat, als eine verkleidete Nonne ; das Hochgericht verurteilt die Nonne zur Verbrennung bei lebendigem Leibe. Aber die dezimierten Räuber sammeln sich unter einem neuen Hauptmann, namens Baska Us, und dessen erste Tat ist eine Revanche für die Hinrichtung Rasins: Baska Us be- setzt abermals Astrachan, martert den Kommandanten Fürsten Semen Lwow, röstet ihn bei lebendigem Leibe und läßt ihn schließlich köpfen; dem Erzbischof Joseph, Metropoliten von Astrachan, werden die Kleider vom Leibe gerissen, Haare und Bart versengt; dann martert man den Priester zu Tode, und die Leiche wirft man von der Bastei hinunter, den Hunden zum Fräße. Baska Us bleibt unbesiegbar; erst ein Wunder muß Rußland von diesem Räuber befreien; „Endlich ergrift

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ihn Gottes Gericht," erzählt der Chronist, ,,Baska Us wurde lebendigen Leibes von Würmern zerfressen und stieß seine Seele aus." An die Stelle des Us tritt sofort ein neuer Haupt mann, Fedko Scholdjak; auch ihn zu vernichten bedarf es eines Wunders ; imd das Wunder erscheint : „Am neunten des Monats September des Jahres 7179 (1671) gab der Mond in der Stunde der Nacht ein Zeichen; er verfinsterte sich von der Morgenseite her und verwandelte sich in Dunkelheit, fing aber in der sechsten Stunde wieder zu leuchten an."

Zar Alexej verfügt die strengsten Maßnahmen gegen das Räuberwesen; doch die furchtbarsten Marterungen und grau- samsten Todesstrafen!) sind umsonst. Selbst Peter der Große vermag die Brigandage nicht zu unterdrücken. 17 10 muß die Armee ausrücken, um die Hauptstadt vor Räuberbanden zu schützen; 17 19 führen Briganten in den Bezirken von Mo- schajsk und Nowgorod einen förmlichen Guerillakrieg mit den Regierungstruppen; und 1723 berichtet der sächsische Resi- dent Lefort, daß in Petersburg eine Bande von 9000 Dieben und Räubern die Admiralität verbrennen und die Fremden massakrieren wolle. Diese Räuberbande, 9000 Mann stark, inmitten der neuen Hauptstadt, macht ganz den Eindruck einer revolutionären Truppe, einer Armee von nationalen Fa- natikern, die mit Raub und Plünderung, Morden und Brennen gegen die Neuerungen demonstrieren.

Zwischen Räubertum und Revolution ist in Rußland seit jeher nur schwer eine Unterscheidung zu machen. Als Pseudo- Dmitrij den Zarenthron usurpierte, ward das Land eine Beute von Räuberbanden, die aber nicht bloß mordeten und plün- derten aus Lust zum Handwerk, sondern damit eine patrio- tische Tat vollführen, den Haß gegen den Usurpator, den Widerstand gegen seine Regierung bezeigen wollten. Ein ein- ziges Mal in früheren Zeiten wagten die Moskowiter sich zu erheben und Revolution zu mächen: Das war im Jahre 1648, als die Willkür des Zarengünstlings Morosow selbst den Gleich- mut des russischen Volkes erschütterte. Aber auch damals

^) Alexej s Gesetze gegen Straßenräuber bei Struve, Russisches Land- Recht. XXI Cap. S. 205 ff.

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verwandelten sich die Empörer aus Revolutionären schnell in Räuber und diskreditierten ihr eigenes Unternehmen, das in anderem Falle Rußland vielleicht noch um zwei Jahr- hunderte früher als die Länder Europas vom Absolutismus be- freit hätte.

Die Grausamkeit, mit der die Räuber und Revolutionäre einerseits und die Behörden andererseits gegeneinander vor- zugehen pflegten, spottet aller Beschreibung. Man kann sich aber einen Begriff von dieser Grausamkeit machen, wenn man die authentischen Berichte über die Vernichtung der Strjeljzen durch Peter den Großen vernimmt. Ganz Moskau wird in einen Henkerplatz verwandelt. Aus allen Schießscharten der drei Mauern, welche die Stadt umgeben, werden Balken her- ausgesteckt, an denen man je drei bis vier Strjeljzen auf- hängt. Auf dem großen Marktplatz legt man Verurteilte reihen- weise hin, um ihnen die Köpfe abzuschlagen. Der Zar selbst fungiert als Henker und wird nicht müde, diese Blutorgie zu feiern. Er fordert auch seine Bojaren auf, am Morden teilzu- nehmen ; Mentschikow und Romadanowskij bleiben hinter dem Herrn nicht zurück; Galitzyn aber ist ungeschickt und m.uß stets mehrmals das Beil erheben, bis er sein Opfer zu Tode trifft. Jovial lädt der Zar selbst die Fremden, die an seinem Hofe weilen, zu der Ergötzlichkeit ein, aber Lefort und Blom- berg lehnen dankend ab, die Henker zu spielen, und auch der preußische Diplomat Printzen, der den Zaren bei der Arbeit des Kopfabschlagens antrifft, hat keine Lust, es Peter gleich- zutun. Das furchtbare Schauspiel wird nicht in wenigen Tagen beendet, sondern dauert wochenlang, ja monatelang. Am II. Oktober 1698 beginnen die Exekutionen auf dem Roten Platze: 144 Mann werden hingerichtet; am 12. Oktober: 205, am 13. bloß 141, am 17. nur 109, am 18. gar nur 65, am 19. wieder 106. Im Januar 1699 reinigt man die Plätze und schleppt die verfaulten Leichen fort, um neuen Opfern Raum zu geben, deren abgeschlagene Köpfe auf Pfählen aufgepflanzt werden und bis zum Jahre 1727, also durch mehr als ein Vierteljahr- hundert, zur Schau und Warnung ausgestellt bleiben. Ein furchtbarer Platz, kaum irgendwo in der Welt gibt es seines- gleichen. Riclitpla;.'; Jio6Hoe M-fecTO heißt er im Russischen.

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Iwan der Schreckliche beichtet auf diesem Lobnoje Mjesto seine Verbrechen vor dem Volke; auf dem Richtplatze richtet er sich selbst moralisch und erfleht für seine Sünden des Volkes Verzeihung. Auf dem Lobnoje Mjesto publiziert Pseudo- Dmitrij sein Thronbesteigungsfest: und hier wird wenige Mo- nate später sein von den Mördern zerfleischter Leichnam zur Schau gestellt, nachdem man das Antlitz mit einer Maske be- deckt imd an die rechte Hand einen Dudelsack befestigt hat. ^) Seit den Strjeljzenhinrichtungen aber hat der Richtplatz nur noch eine Rolle im kirchlichen Leben gespielt. Denn Lobnoje Mjesto, dieser Ort des Blutes, ist auch ein heiliger Platz. Die Legende erzählt, daß hier Adams Haupt begraben sei. Auf diesem Platze werden zuerst die nach Moskau gebrachten Re- liquien und Heiligenbilder niedergelegt. Hier erteilte der Pa- triarch öffentlich den Segen der Kirche, hier werden noch heute die wichtigen ükase verlesen, und auf dieser Stelle macht ein öffentlicher Ausrufer dem Volke von Moskau Mit- teilung von einem Regierungswechsel.

Die Grausamkeit Peters des Großen gegen Räuber und Empörer hat Rußland weder von der Räuberplage gerettet noch von Revolutionen freigehalten. Aber diese Revolutionen sind nicht im üblichen Sinne zu nehmen. Als Pugatschew gegen Katharina II. eine Revolution hervorrief, konnte er nur dadurch Gefolgschaft gewinnen, daß er sich für Peter III. ausgab. Pugatschews Kampf gegen den Adel und den Tschin fnidet nur Anklang, weil gleich Stenjka Rasin auch Pugatschew seine Anhänger damit an sich fesselt, daß er ihnen alle Zügel- losigkeiten gestattet und die Grausamkeit und Wollust der Russen und Kosaken für seine Zwecke ausbeutet. 2) Mit einer furchtbaren Greueltat beginnt Pugatschew seine Laufbahn. Bei

1) Waliszewski, Pierre le Grand 439. CojiuBteBi.. IIcTopiH XIV 286. \'ockerodt bei Herrmann 29. Brückner, Peter der Große.

2) Zuverlässige Nachricht von dem Aufrührer Jemeljan Pugatschew und der von demselben angestifteten Empörung. In Büschings Magazin XVIII. Catharina die Zweite, Darstellungen aus der Geschichte ihrer Regierung und Anekdoten von ihr und einigen Personen, die um sie waren. 1797. (Seltene Schrift, wahrscheinlich aus dem Verlag von Hammrich in Altona).

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der Eroberung von Nischnaja Osernaja fällt der Befehlshaber der Festung, Major Scharlow, verwundet in die Hände Pu- gatschews. Die junge Frau des Majors bittet verzweifelt um das Leben ihres Gatten. „Er soll vor deinen Augen gehängt werden," ist Pugatschews Antwort, und der Befehl wird auf der Stelle vollführt. Währenddem wird die unglückliche Frau von den Kosaken festgehalten und von Pugatschew vergewal- tigt. Zwei Monate schleppt Pugatschew die Witwe Scharlows als seine Konkubine mit sich herum; dann ist er ihrer über- drüssig und gibt sie seinen Kosaken preis, welche einer nach dem anderen die Frau notzüchtigen, und die förmlich Zer- fleischte schließlich auf die Landstraße werfen. Bei der Er- oberung von Orenburg feiern die trunkenen Scharen entsetz- liche Orgien. Alle gefangenen Offiziere und alle alten Wei- ber werden in die Brunnen geworfen, die jungen Frauen und Mädchen aber öffentlich geschändet. Den Empörern mangelt es an Pflaster für die Verwundeten ; da befiehlt Pugatschew, die fettesten unter den Gefangenen zu schinden, ihr Fett zu sam- meln und als Pflaster zu verwenden. Nach der Eroberung von Kasanj läßt der Pseudokaiser seine Rotten gegen die wehrlose Bevölkerung los. Ein grauenhaftes Morden, Rau- ben, Brennen, Schwelgen beginnt. Die Kosaken schonen weder die Kirchen, noch die Armenhäuser oder Krankenhäuser, schän- den die Frauen vor den Augen ihrer Männer und töten die Kinder in den Armen ihrer Mütter. Schließlich zünden sie die Stadt an allen Ecken an und ergötzen sich an dem Schau- spiel des Verbrennens von tausenden lebenden Menschen. Wie Stenjka Rasin wütet auch Pugatschew vor allem gegen den Adel imd gegen die Kirche. Er und seine Leute gehen be- waffnet und bedeckten Hauptes in die Kirchen, zerschlagen die Kirchengefäße, durchstechen die Heiligenbilder und zer- reißen die Meßgewänder. Die Leibeigenen erheben sich, wo Pugatschew erscheint, und schleppen ihre Herren und ihre Priester jubelnd auf die Schlachtbank als Huldigungsopfer für den Pseudokaiser. In Alatyr bei Kasanj gelingt es den Ade ligen, sich in die Wälder zu verkriechen. Sie werden auf gejagt, vor Pugatschew geschleppt und zu Tode gemartert. In Ssaransk bringen die eigenen Diener des Generals Ssip-

Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rußland. 32

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jägin ihren Herrn vor Pugatschew, der den Befehl gibt, dem General eine Stange durch den Hals zu schlagen. Der Schrecken, der schon im. Klange seines Namens liegt (nyraTB- schrecken), läßt große Festungen widerstandslos in die Hände des Rebellen fallen, der in einem Jahre mit seinem Korps achttausend Werst erobernd zurücklegt und sich siegreich Moskau nähert, nachdem er seinen Weg mit hunderttausend Leichen besät hat. Aber knapp vor seinem Ziele ereilt ihn das Schicksal, und nicht als triumphierender Kaiser, sondern in einem eisernen Käfig, aus dem man den ständigen Be- wohner, einen Tiger, entfernt hat, um Pugatschew Platz zu schaffen, hält er seinen Einzug in den Kremlj. Das Urteil über seine Verbrechen fordert seine Vierteilung bei lebendigem Leibe : es sollen ihm erst die rechte Hand und der linke Fuß, dann die linke Hand und der rechte Fuß, und zum Schlüsse der Kopf abgeschlagen werden. Durch ein Versehen beginnt der Henker sein Werk mit dem Kopfe.

Die Pugatschewsche Rebellion war ebenso wie die Rasin- sche nur eine Räuberei, keine eigentliche Revolution. Aber ihre Wirkung ist doch eine tief ergehende ; sie enthüllt die Ohnmacht des Zarismus gegenüber einem entschlossenen Geg- ner und zeigt zum ersten Male dem Volke, daß es sich befreien könne vom Druck der Tyrannei, wenn es sich befreien wolle. Unmittelbar auf die Pugatschewsche Rebellion in Rußland folgt die große Revolution in Frankreich. Die Vorbedingungen für eine große Revolution sind in Rußland ebenso vorhan- den wie in Frankreich; aber im Zarenreich verhindern geo- graphische und ethnographische Verschiedenheiten und der unpolitische passive Charakter des russischen Volkes den jähen Ausbruch. Eine Revolution findet endlich auch in Rußland statt, jedoch nur auf dem Papier, und die Volksmassen bleiben unbeteiligt. Die aus Frankreich kommenden Ideen dringen in die Salons ein, werden eine Modesache. Aber sie erschüt- tern nur das Trommelfell, nicht die Seelen. Die vornehmen Männer und Frauen, welche Beifall klatschen, wenn sie eine Hymne von Knjaschnin oder Von-Wisin auf Freiheit, Gleich- heit und Brüderlichkeit vernommen haben, entschädigen sich für die Rührung, von der sie sich übermannen ließen, durch

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um so größere Strenge gegen ihre Sklaven. In den Salons beten sie die Freiheit und Gerechtigkeit an, auf ihren Gütern peitschen sie eigenhändig die Leibeigenen zu Tode; in den Salons verspotten sie als zügellose Freigeister die Kirche, die Religion, verneinen sie kühn selbst die Existenz Gottes; aber im Volke erhalten sie nach wie vor den krassen Aberglauben, und sie geraten in Wut und Empörung, wenn auch nur die Rede von der Förderimg allgemeiner Bildung ist. Ein Einzi- ger unter allen, der die Wahrheit sucht, findet und verkün- det : Radischtschew. In seiner „Reise von Petersburg nach Moskau" ruft er der Gesellschaft zu: ,, Besinnet euch, ihr Ver- irrten, lasset euch erweichen, ihr Hartherzigen, zerschlaget die Fesseln euerer Mitbrüder, öffnet den Kerker der Sklaverei 1" Und Katharina IL, die mit den französischen Freigeistern kokettiert, kritisiert dieses Buch Radischtschews folgender- maßen: ,, Zerstörende Absichten, Sympathien für die Revo- lution, freche Sprache gegen die oberste Staatsgewalt." Der kaiserlichen Kritik folgt das Urteil des Gerichts auf dem Fuße : ein Todesurteil, das knapp vor der Vollstreckung umgewan- delt wird in Deportation nach Sibirien. Alexander I. ruft den Verbannten zurück und beauftragt ihn, ein Justizreformprojekt auszuarbeiten; aber als Radischtschew für sein Projekt das Schwurgericht als Basis aufstellt, erklärt der Präsident der legislativen Kommission: „Radischtschew ist durch Sibirien nicht gebessert worden". Da verzweifelt Radischtschew und vergiftet sich.

Zur selben Zeit wie die Freigeisterei Radischtschews blüht auch das kurze Freimaurertum Nowikows. Der erste russi- sche Freimaurer soll Peter der Große selbst gewesen sein. Historisch festgestellt ist, daß 1731 die Freimauerei von Eng- land eingeführt wurde. Mitglieder der russischen Logen waren zunächst nur Ausländer. Unter Katharina IL wurde der Russe [elagin Provinzial-Großmeister des Ordens in Rußland. Die Kaiserin ließ den Orden eine Zeitlang gewähren, aber als die Freimaurer unter Nowikows Wirksamkeit Bildung zu ver- breiten, Wohltätigkeit zu üben begannen, da machten sie sich der Zarin verdächtig, und als man einen Brief auffing, aus dem hervorging, daß der Großfürst-Thronfolger Paul dem

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Orden geneigt war, wurde kurzer Prozeß befohlen. Man ver- haftete Nowikow, begrub ihn in dem Verließ zu Schlüssel- burg und verfolgte unbarmherzig die Freimaurer, die es ge- wagt hatten. Schulen für Arme und Waisen zu stiften.

Hart ist der Weg, den das russische Volk zurückzulegen hat, um sich dem Ziele zu nähern, wo Freiheit und Menschen- rechte es erwarten. Unter Alexander II. begann abermals die enthüllende Literatur die Geister aufzurütteln, aber als die Tendenzromane, welche Gewissensfreiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter, empirische Wissenschaft, Sozialismus in der Agrartheorie verkündeten, mit den Agrarunruhen und der Be- wegung an den Universitäten zusammenfielen, da erschrak die Gesellschaft vor dem Gespenst des Nihilismus und ließ die Nihilisten den Kampf mit der Autokratie allein ausfechten. Viele Jahrzehnte hat es gebraucht, bis endlich das Volk selbst erwacht ist und mitgerissen wird in die grausamste und lang- wierigste aller Revolutionen, die je auf dem Erdball ein Reich erschüttert haben. Träge wie die ganze Entwicklung des rus- sischen Reiches ist auch noch diese Revolution, die wir mit- erleben. Aber der systemlose Nihilismus des neunzehnten Jahr- hunderts, der sich auf dem Grunde der Intelligenz erhob, hat einer Propaganda der Tat Platz gemacht, die systematisch alle Häupter der Autokratie zu zerschmettern sucht ; und gleich- zeitig ist die schwere Masse der Muschiks in Bewegung ge- raten. Es ist nicht mehr der Geist der simplen Verneinung des Bestehenden, nicht mehr der Geist eines naiven Radikalis- mus, der im Zarenreich umgeht; es gärt nicht mehr in ein- zelnen Klassen, sondern die großen Massen stehen auf. Nicht einzelne Fanatiker opfern zwecklos Gut und Blut für eine pa- pierene Revolution, sondern das Volk ist es, das die Freiheit begehrt. Was der Nihilismus lange Jahrzehnte hindurch vor- gearbeitet hat, soll nicht unterschätzt werden. Er hat zuerst an traditionellen Ideen gerüttelt, religiöse Dogmen und politi- sche Vorurteile angegriffen; zuerst die russische Seele erfüllt mit dem Gedanken, daß der Zustand, in dem das russische Reich dahindämmerte seit tausend Jahren, nicht ein ewiger und unabänderlicher sein müsse. Aber alles, was er tat, ge- schah mit naiven Mitteln. Selbst als er mit Verschwörung

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und Mord agierte, war er mehr auf den theatralischen Effekt als auf nachhaltige praktische Wirkung bedacht, galt ihm das Krasse und Schreckhafte seiner Handlung mehr als Zweck und Erfolg. Die Welt sah Menschen mit verschrobenen Ideen, mit abstoßenden Äußerlichkeiten, die sich Nihilisten nannten und Barbaren blieben. Jetzt endlich hat die russische Intelli- genz, die nach Freiheit ringt, auch den Weg zum Volke ge- funden. Die Revolution, die seit Jahren tobt, bald in Kijew. bald in Kasanj die Geister ergreift, bald in Petersburg oder Moskau die Volksmassen in Raserei versetzt, sie ist nicht mehr eine literarische. Die papierenen Helden der krankhaften Phan- tasie eines Gogolj oder Dostojewski]', eines Tolstoj oder Gorkij sind nicht mehr die Ideale der heutigen Freiheitskämpfer. Man predigt dem Volke nicht mehr bloß blinden Haß gegen das Bestehende sondern zeigt ihm auch die Wege, auf denen man zu einer neuen gesunden Einrichtung des Staates gelangen kann. Und damit hat man das Volk aus seiner Lethargie auf- gerüttelt. Früher wurden nur die Straßen der Städte getränkt mit dem Blute von Märtyrern und Idealisten, die aus den Kreisen der Intelligenz stammten; jetzt trägt auch das Bauern- volk in den Steppen der sarmatischen Ebene sein Teil bei zu dem kostbaren Kitt, mit dem das neue Rußland befestigt werden soll.

Ehe dieses Werk vollendet wird, erheben sich noch ein- mal die Mächte der Reaktion, des Aberglaubens und der Grau- samkeit, um alle Schrecken auszuspeien, mit denen sie Ruß- land durch tausend Jahre heimgesucht haben. Kein mongo- lischer oder tartarischer Eroberer hat in Rußland so furcht- bar gewütet, wie jetzt Autokratie und Volk gegeneinander. Wie in den düstersten Jahrhunderten ist das Reich eine Beute von Räuberbanden, und wie ein Bericht aus den Zeiten Iwans des Schrecklichen klingt es, wenn im offiziellen Regierungs- blatt der Gouverneur Muratow von Tambow einen Plan zur Dezimierung des Volkes veröffentlicht, der vorschlägt : die Auto- kratie soll derh Volke Geißeln entnehmen, und für jeden von den Revolutionären ermordeten Soldaten oder Polizisten zwei, für einen Polizei-Offizier drei, für einen Generalgouvemeur fünfzehn, für einen Minister zwanzig Mann aus dem \''olkc.

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die das Los zu bestimmen hätte, hinrichten lassen. Nichts anderes wissen die Retter des Zarismus der Revolution ent- gegenzustellen als den brutalsten Mord. In diesem Programm, das die Sittlichkeit der noch herrschenden Männer in Ruß- land auf dem tiefsten Niveau erscheinen läßt, liegt das un- um\vundene Bekenntnis des Bankerotts der Autokratie.

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523 Geschichte der

S667 öffentlichen Sittlichkeit

Bd.l in Russland;

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