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Gelchichte

inductiven Wiſſenſchaften,

Aſtronomie, Phyſik, Mechanik, Chemie, Geologie x.

von der früheften bis zu unkerer Zeit.

Nach dem Engliſchen des W. Whewell, 5 iii Anmerkungen von

J. J. v. Littrow,

Direktor der kaiſerl. königl. Sternwarte in Wien.

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Erſter Theil.

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Stuttgart. Hoffmann’iche Verlags: Buchhandlung.

1840.

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Vorwort des Mebertetzers.

Die vorliegende Geſchichte der Naturwiſſenſchaften *), die ich von dem Verfaſſer ſelbſt kurz nach ihrer Vollendung erhielt, ſchien mir ein ſo vorzügliches, und auch für meine Landsleute ein ſo nützliches und ſelbſt nothwendiges Werk zu ſeyn, daß ich einem allgemeinen Wunſche derſelben ent— gegen zu kommen glaube, wenn ich ihnen daſſelbe hier in deutſchem Gewande übergebe. Ich würde mich ſehr freuen, dieſen Wunſch glücklich errathen, und ihm auch zur Zu—

friedenheit meiner Leſer entſprochen zu haben.

) History of the inductive Sciences from the earliest to the present times. By the Rev. William Whewell. M. A. Fellow and Tutor of Trinity College, Cambridge: Presi- dent of the Geological Society of London. III. Vol. Lon- don, J. W. Parker.

4 Vorwort des Ueberſetzers.

Uebrigens ſuchte ich bei der Ueberſetzung mehr dem Sinne, als dem Worte des Verfaſſers zu folgen; der Ver— ſtändlichkeit des deutſchen Leſers auch durch deutſche Wen— dungen und, wo es nöthig ſchien, ſelbſt durch Einſchaltung einiger, die Begriffe näher bezeichnender Ausdrücke entgegen zu kommen; die ſelbſtſtändigen, eigenen Anmerkungen aber habe ich, zur Unterſcheidung des Driginaltertes, durchaus

mit einem L bezeichnet.

Der Ueberſetzer.

An Sir John Fred. Will. Hertchel, A. G. H.

Mein theurer Herſchel!

Nicht mit gewöhnlicher Freude ergreife ich die Feder, Ihnen dieſe Schrift zu widmen. Sie enthält die Reſultate einer Kette von Ideen, die oft der Gegenſtand unſeres Geſpräches geweſen ſind, und deren erſte Glieder bis zurück in die Zeit unſerer frühen Freundſchaft an der Univerſität gehen. Wenn ich je ge— ſchwankt hätte in meinem Vorſatze, dieſe Reflexionen und Unter— ſuchungen alle in ein gemeinſchaftliches Ganze zuſammen zu bringen, ſo würde Ihre eigene ſchöne Schrift über einen ver— wandten Gegenſtand meine Kraft erneut und meinen Muth wie— der belebt haben. Denn ich konnte dieſe Schrift nie zur Hand nehmen, ohne die Wiſſenſchaften, um die es ſich hier handelt mit immer neuen Reizen bekleidet zu finden, und wenn ich mir gleich ſelbſt geſtand, daß ich mich nicht bis zu dieſem Grade der Gemeinverſtändlichkeit, die Ihr Werk ziert, erheben kann, ſo dürfte ich doch auch bemerken, daß ein Theil derſelben dem be— handelten Gegenſtande ſelbſt angehört, und ſonach hoffen läßt, daß die gegenwärtige Schrift ſo glücklich ſeyn wird, das In— tereſſe einiger Ihrer eigenen Leſer zu erwecken. Daß es Sie ſelbſt intereſſiren werde, ſtehe ich nicht an zu glauben.

Wenn Sie jetzt in England wären, ſo könnte ich hier enden: aber wenn ein Freund mehrere Jahre in einem fremden Lande lebt, ſo haben wir ein Recht, offen von ihm zu ſprechen. Ich kann es daher nicht über mich gewinnen, meine Feder wieder hinzulegen, ohne der innigen Bewunderung der ſittlichen und

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geſelligen Vorzüge und des geiftigen Adels zu gedenken, die in den Herzen Ihrer Freunde erwacht, ſo oft ſie Ihrer gedenken. Mit innigem Entzücken ſehen ſie die Strahlenkrone des verdien— ten Ruhmes, die ſich um Ihren Scheitel zieht, und mit noch größerem haben ſie, um mit einem derſelben zu ſprechen, be— merkt, daß Ihr Kopf noch bei weitem nicht der beſte Theil Ihrer ſelbſt iſt. z

Möge Ihr Aufenthalt in der ſüdlichen Hemiſphäre fo glück lich und folgenreich ſeyn, als der Gegenſtand deſſelben edel und Ihrer würdig iſt, und wenn Ihr hohes Ziel erreicht ſeyn wird, möge Ihre Rückkehr in die Heimath ſchnell und glücklich ſeyn.

Für immer, mein theuerſter Herſchel, Ihr 5. Hyde Park Street,

22. März 1837. W. Whewell.

Vorrede des Verkatlers.

In unſeren Tagen wird jede Bemühung, die Philoſophie der Wiſſenſchaft auszubilden und zu erweitern, auf Beifall rechnen können. Alle Gebildeten ſtimmen darin überein, daß es ſehr vortheilhaft wäre, wenn ein neues Licht gewor— fen werden könnte auf die Wege, die uns zur Wahrheit führen, auf die Kräfte, die wir zu dieſem Zwecke von der Natur erhalten haben, und endlich auch auf die Gegenſtände ſelbſt, an welchen dieſe Kräfte vorzüglich angebracht werden ſollen. Auch werden wohl die Meiſten geſtehen, daß in allen dieſen Beziehungen noch viel zu thun übrig iſt; denn die Verſuche, die man von Zeit zu Zeit dazu gemacht hat, find weit entfernt, alle fernere Bemühungen überflüſſig zu machen. So iſt zum Beiſpiel die große Reform der Wiſſen— ſchaft und ihrer Methoden, zu der Baco ſeine Zeitgenoſſen auffordern und vereinigen wollte, ſelbſt in unſern Tagen noch immer nicht vollſtändig ausgeführt worden. Und ſelbſt wenn ſie es wäre, ſo müßte ſie doch jetzt weiter verfolgt und ausgebreitet werden. Wenn Baco alles, was die Wiſſenſchaft in ſeiner Zeit hervorgebracht, umfaßt, und wenn er die Geſetze der wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen, ſo weit ſie aus der Erkenntniß ſeiner Tage geſammelt werden konn— ten, vollſtändig dargeſtellt hat, ſo wird es doch noch unſere

8 Vorrede des Verfaſſers.

Sache ſeyn, das Erbe, welches er uns hinterließ, zu er— halten und zu vermehren, indem wir ſeine Vorſchriften mit den neuen Anſichten und Vortheilen verbinden, welche uns unſere eigenen Erfahrungen an die Hand gegeben haben, und zugleich fuͤr jede Art von Erkenntniß diejenigen Metho— den aufzuführen, die uns die klarſte und ſicherſte Ueberzeu— gung gewähren. Eine ſolche Erneuerung und Ausdehnung jener Reform ſcheint recht eigentlich unſeren Tagen vorbe— halten zu ſeyn. Viele und unzweifelhafte Anzeigen verkün— digen uns die Nähe einer ſolchen Epoche, und der Verſuch, den überall zerſtreuten Elementen derſelben Form und Zu— ſammenhang zu geben, kann nicht wohl anders, als zeitge— mäß erſcheinen.

Das Novum organon von Baco wurde ſehr angemeſſen durch ſein früheres Werk: Advancement of Learning, in die gelehrte Welt eingefuͤhrt, und ſo wird denn auch ein Verſuch, ſeine Reform der Methode und der Wiſſenſchaft ſelbſt fortzuſetzen und weiter zu führen, ebenfalls durch eine vollſtändige Ueberſicht des gegenwärtigen Zuſtandes der menſchlichen Erkenntniß, am beſten eingeleitet und begrün— det werden können. Der Wunſch, zu dieſer Reform etwas, ſo wenig dieß auch ſeyn mag, beizutragen, war die Veran— laſſung zu dem gegenwärtigen Werke über die Geſchichte der inductiven Wiſſenſchaften. Die unmittelbare Folge der Unter— ſuchungen, die mich zu der Ausarbeitung deſſelben führten, war die Ueberzeugung, daß wir, ſelbſt in unſeren Zeiten, nicht verzagen dürfen, eine Wiederbelebung derjenigen Er— fenntniß zu erleben, die durch das Licht geleitet wird, wel— ches die Geſchichte der Wiſſenſchaft um ſich verbreitet. Zwar wird eine ſolche Reform, wenn einmal ihre Stunde gekom— men iſt, nicht das Werk eines einzigen Mannes, ſondern

Vorrede des Verfaſſers. 9

ſie wird nur das Reſultat aller geiſtigen Beſtrebungen des ganzen Zeitalters ſeyn können. Und wer am meiſten vor— geſchritten iſt in der großen Arbeit, wird am liebſten das Geſtändniß ſeines ſcharfſinnigen Vorgängers wiederholen: Ipse certe, ut ingenue fatear, foleo aestimare hoc opus magis pro partu Temporis, quam Ingenii.

Einem ſolchen Werke alfo, wenn immer und von wem immer es kommen mag, ſoll das Gegenwärtige, wie ich hoffe, zum nützlichen Vorläufer dienen. Doch vertraue ich auch, daß es, in ſeinem ſelbſtſtändigen Charakter, als eine bloße Geſchichte der Wiſſenſchaften, der Aufſchrift, die es an feiner Stirne trägt, nicht ganz unwürdig befunden wer— den ſoll.

Der Verfaſſer einer ſolchen Geſchichte legt ſich offenbar eine ſchwere und bedenkliche Pflicht auf, da er über den Charakter und die Arbeiten der erſten Phyſiker aller Zeiten ſein Urtheil fällen ſoll. Aber dieſe richterliche Stellung iſt jedem Hiſtoriker ſo eigenthümlich, daß ſie, bei einer wiſſen— ſchaftlichen Geſchichte, nicht als anmaßend erſcheinen kann. Es iſt wahr, die letzte ſoll über die Verdienſte von Män— nern abſprechen, die ein viel tieferes Studium und eine viel genauere Kenntniß erfordern, als man von dem politiſchen Hiſtoriker gewöhnlich zu fordern pflegt, und die Volksſtimme, die oft als gute Führerin dient, da ſie über die in der Geſellſchaft hervorragenden Männer nur ſelten ſehr oder lange im Irrthume iſt, iſt von geringem Gewichte, wenn es ſich von rein wiſſenſchaftlichen Angelegenheiten handelt. Allein dieſe Nachtheile, unter welchen eine Geſchichte der Wiſſen— ſchaft leidet, werden wieder durch einen großen Vortheil auf— gewogen. Hier haben wir nämlich nicht bloße Sagen und Erzählungen von den Thaten unſerer Helden, ſondern wir

10 Vorrede des Verfaſſers.

haben dieſe Thaten ſelbſt vor uns. Die Thaten dieſer Männer aber ſind ihre Schriften, und dieſe werden uns nicht durch Tradition übergeben, ſondern ſie liegen ſelbſt vor unſern Augen: wir leſen nicht von ihnen, ſondern wir leſen fie ſelbſt. Und wenn ich noch von dem mich ſelbſt betref— fenden beſonderen Grund ſprechen darf, der mir Muth und Vertrauen zur Ausführung meines Unternehmens gibt, fo bin ich mir bewußt, mein ganzes Leben größtentheils mit denjenigen Arbeiten zugebracht zu haben, die uns am meiſten in den Stand ſetzen, dasjenige zu verſtehen, was Andere hervorgebracht haben. Auch war mir ein beftändiger freund— licher Verkehr mit vielen der ausgezeichnetſten Männer der Wiſſenſchaft, im In- und Auslande, gegönnt, und dieſe Geſellſchaft der größten Geiſter der vergangenen und der gegenwärtigen Zeit hat mich, wie ich glaube, fähig ge— macht, der Schönheit ihrer Entdeckungen mich zu erfreuen, ihre hohen Conceptionen zu bewundern, und in ihre Abſich— ten und Hoffnungen einzudringen. Deßhalb werde ich auch nicht zurückweichen dürfen vor der Verantwortlichkeit, die der Charakter eines Geſchichtſchreibers der Wiſſenſchaft mir auferlegt, ſelbſt dann nicht, wenn ich dadurch in den Kreis Derjenigen geführt werde, die noch mit mir leben, und unter denen wir uns ſelbſt noch bewegen. Hätte ich vor meinen Zeitgenoſſen verſtummen wollen, ſo wurde mein Werk unvollſtändig und verſtümmelt, ſo würde es nicht mehr, wie ich doch beabſichtigte, eine Warte geworden ſeyn, auf deren Höhe ich den Leſer ſtellen wollte, um von ihr den Blick vorwärts in die noch kommenden künftigen Tage zu werfen. Ich gab mich daher dem Vertrauen hin, daß meine Bemühungen, die Arbeiten der bereits längſt ſchon von uns geſchiedenen Weiſen kennen zu lernen, mich auch

Vorrede des Verfaſſers. 11

fähig machen werden, die Entdeckungen der Gegenwart ge— höͤrig zu ſchätzen, und von den noch unter uns wandelnden Männern mit derſelben Parteiloſigkeit und in demſelben Geiſte zu ſprechen, als ob ſie ſchon bei jenen des grauen Alterthums verſammelt wären. Aus dieſen Betrachtungen und aus dem Bewußtſeyn, Mühe und Arbeit bei meinen Unterſuchungen nicht geſcheut zu haben, ſchöpfte ich den Muth, meine Geſchichte von den früheſten Zeiten zu begin— nen und bis auf die heutigen Tage fortzuführen.

Manche Leſer werden vielleicht mit mir rechten wollen, daß ich die Wiſſenſchaften, um die es ſich in dieſer Ge— ſchichte handelt, vorzugsweiſe die inductiven genannt habe, da ſie doch ſonſt gewöhnlicher die phyſikaliſchen oder die Naturwiſſenſchaften genannt werden. Ich wollte dadurch die Mißdeutung vermeiden, als hätte ich nur einige Wiſſen— ſchaften theilweiſe gewählt oder willkührlich beſchränkt. Die— jenigen, die in dieſem Werke abgehandelt werden, ſcheinen mir ein zuſammenhängendes ſyſtematiſches Ganze der menſch— lichen Erkenntniß zu bilden. Und wenn es noch andere Zweige dieſer Erkenntniß gibt, z. B. die moraliſchen, poli— tiſchen oder die ſchönen Wiſſenſchaften, die man ebenfalls inductive nennen könnte, wogegen ich nichts einzuwenden habe, ſo wird man doch, denke ich, auch geſtehen muͤſſen, daß das Verfahren, aus ſpeciellen Thatſachen allgemeine Wahrheiten abzuleiten, und von dem Beſonderen allmählig zu dem Allgemeinen aufzuſteigen, ein Verfahren, das durch das Wort Induction bezeichnet wird, bisher weit beſſer und richtiger in den Naturwiſſenſchaften befolgt worden iſt, mit welchen ſich dieſes Werk beſchäftigt, als in allen den hyperphyſiſchen Doctrinen, die ich von meiner Schrift ausge— ſchloſſen habe. Ich will noch hinzuſetzen, daß wenn ich

12 Vorrede des Verfaſſers.

ſpäter einen Ueberblick der Philoſophie der inductiven Wiſſen— ſchaften in ihren großen Zügen bekannt machen ſollte, es noͤthig ſeyn wird, um auch die moraliſchen, die ſchönen Wiſſenſchaften u. a. in ihrem rechten Lichte zu erblicken, die Geſchichte dieſer letzteren ebenfalls ſo zu behandeln, und dadurch dasjenige gleichſam zu ergänzen, was einige in dem Umfange des gegenwärtigen Werks noch vielleicht vermiſſen mögen.

Ich habe übrigens, wie man wohl nicht anders erwar— ten wird, andere Schriftſteller, der Geſchichte ſowohl, als der Philoſophie der Wiſſenſchaften, nach Kräften benützt *). Ich that dieß ohne Anſtand, da die Neuheit meiner Schrift nicht in der Sammlung der in ihr enthaltenen Thatſachen, ſondern in dem allgemeinen Geſichtspunkt, unter welchen ſie hier gebracht ſind, beſtehen ſoll. Doch habe ich in allen Fällen dieſe meine Vorgänger nachgewieſen, und es werden wohl nur wenige Punkte ſeyn, wo ich nicht auch die früheren Hiſtoriker zu Rathe gezogen und die Quellen ſelbſt einge— ſehen hätte.

) Unter dieſen nenne ich als ſolche, denen ich beſonders ver— pflichtet bin, Tennemann's Geſchichte der Philoſophie; Degerando’s Histoire comparee des Systemes de Phi- losophie; Montucla’s Histoire des Mathématiques mit Delambre’s Fortſetzung derſelben; Delambre’s Astro- nomie ancienne, du moyen äge, et moderne, und deſſen Astr. du dixhuitieme siecle; Bailly’s Hist. d’Astronomie ancienne et moderne; Voiron’s Histoire d’Asironomie; Fiſcher's Geſchichte der Phyſik; Gmelin's Geſchichte der Chemie; Thomson’s Hist. of chemistry; Sprengel's Geſchichte der Medicin und Botanik, und endlich die natur— hiftorifchen und phyſiologiſchen Werke von Cuvier.

Vorrede des Verfaſſers. 13

Nach dem von mir entworfenen Plane ſollte die Geſchichte jeder einzelnen Wiſſenſchaft ein für ſich abgeſondertes Ganze bilden, das durch die Epochen ihrer verſchiedenen Fort— ſchritte in eben ſo viele beſtimmte, aber zuſammenhängende Glieder getheilt wird. Wenn ich, durch meine Auswahl dieſer Epochen, die competenten Richter einer jeden Wiſſen— ſchaft zufrieden geſtellt habe, ſo muß der Entwurf, das eigentliche Schema des ganzen Werkes, von dauerndem Werthe bleiben, ſo unvollkommen auch die Ausführung ſeiner einzelnen Theile ſeyn mag.

Mit all dieſen Hoffnungen eines guten Erfolgs iſt es doch unmöglich, nicht zu ſehen, daß eine Unternehmung dieſer Art im hohen Grade ſchwer und zweifelhaft bleibt. Aber alle, die ſich an ein ſolches Werk wagen, müſſen Troſt und Ermunterung in jenen Betrachtungen ſuchen, durch welche ihr großer Vorläufer ſelbſt ſich zu ſeinem Vorhaben ausrüſtete, in der Betrachtung, daß ihr Ziel iſt, die böch: ſten Intereſſen und Vorrechte der Menſchheit zu fördern, und daß ſie von den Beſten und Weiſeſten ihres Zeitalters Verbindung in ihrem Streben und Beihülfe in ihrer Arbeit erwarten konnen.

„In Beziehung auf uns ſelbſt ſprechen wir nichts, aber „in Beziehung auf unſer Vorhaben ſagen wir, daß es nicht „auf das Aufſtellen einer Meinung, ſondern auf die Vollen— „dung einer Arbeit ankömmt, daß wir den Grund legen „wollen, nicht für irgend eine Secte oder Lehre, ſondern „für die Würde und den Nutzen der Menſchheit; daß daher „die, welche dieſen Nutzen fördern und Factionen und Vorur— „theile beſiegen wollen, ſich mit uns zu Rath und That „vereinigen, und ihre Hand an das, was noch zu thun „erübrigt, legen mögen; daß ſie übrigens alle guter Hoffnung

14 Vorrede des Verfaſſers.

„ſeyn und ſich nicht einbilden ſollen, dieſe Reform ſey ein „endloſes und den Sterblichen unausführbares Unternehmen, „und daß endlich ein Unternehmen dieſer Art nicht in einem „Menſchenalter zum Abſchluß gebracht, ſondern als die Auf— „gabe einer ganzen Folge von Generationen betrachtet wer— „den ſoll.“

Baco, Instaur. Mag. Praef. ad fin.

Gelchichte der inductiven Witlencchakten.

Einleitung.

„Eine wahre Geſchichte der Wiſſenſchaften, ich darf es wahrlich „ſagen, fehlt uns noch. Aber dieſe Schrift iſt nicht ſowohl für die „Neugierde oder für die bloßen Freunde der Literatur, ſondern für einen „ernſtern und höhern Zweck beſtimmt, nämlich den wiſſenſchaftlichen „Mann in dem Gebrauche und der Verwendung ſeiner Kenntniſſe zu „unterſtützen.“

Bacon. Advancement of Learning. Lib. II.

Einleitung.

Meine Abſicht iſt, die Geſchichte der vorzüglichſten inductiven Wiſſenſchaften von den früheſten Zeiten bis auf dieſe Tage zu ſchreiben. Ich werde demnach einige der merkwürdigſten Zweige der menſchlichen Erkenntniß von ihrem erſten Keime bis zu ihrer gegenwärtigen Höhe verfolgen, von den ſpitzfindigen, aber un— fruchtbaren Speculationen der alten griechiſchen Philoſophen bis zu den umfaſſenden Syſtemen von bewieſenen allgemeinen Wahr— heiten, welche die Wiſſenſchaft der Aſtronomie, der Mechanik und der Chemie in unſern Tagen bilden.

Die Vollſtändigkeit der hiſtoriſchen Ueberſicht, die einer ſol— chen Abſicht entſpricht, beſteht nicht in der Aufhäufung aller einzelnen Kleinigkeiten, die zu der allmähligen Ausbildung der Wiſſenſchaft beigetragen haben, ſondern vielmehr in der klaren Darſtellung der Hauptzüge des großen Gemäldes. Der Ge: ſchichtſchreiber muß zeigen, wie jeder von jenen großen Schritten gemacht worden iſt, durch welche die Wiſſenſchaft ihre gegen— wärtige Geſtalt gewonnen hat, und zu welcher Zeit und durch welchen Mann jede von den großen Wahrheiten erhalten worden iſt, deren Sammlung jetzt einen ſo köſtlichen Schatz bildet.

Ein ſolches Unternehmen, gehörig ausgeführt, muß allen denen intereſſant ſeyn, die auf den gegenwärtigen Zuſtand der menſchlichen Erkenntniſſe mit Wohlgefallen und Bewunderung hinblicken. Das jetzt lebende Geſchlecht betrachtet ſich als den Erben eines reichen wiſſenſchaftlichen Gutes, und es muß ihm daran gelegen ſeyn, zu erfahren, auf welche Weiſe dieſes Gut erhalten worden iſt, und durch welche Mittel es bewahrt und vermehrt und unſern ſpäten Nachkommen überliefert werden

kann. Seit der Entſtehung dieſes Geſchlechtes hat es, im Auf— Whewell. I. 2

18 Einleitung.

ſuchen der Wahrheit, vorwärts geſtrebt, und jetzt, wo wir eine ſo hohe, gebietende Stellung erreicht haben, auf der uns das helle Licht des Tages umſtrahlt, jetzt müſſen wir nur mit inni— gem Danke hinblicken auf die Wege, welche wir ſeit Jahrtau— ſenden zurückgelegt haben, zurück auf die große Pilgrimſchaft, die unſere erſten Väter im dämmernden Zwielicht mitten unter den Wilden der Urwelt begannen, und die Jahrhunderte durch unter unzähligen Hinderniſſen nur ſehr langſam vorrückte, bis ſie end— lich, in den letzten Tagen, auf mehr offenen und lichten Pfaden, uns in weitere und fruchtbarere Gegenden geführt hat. Der Geſchichtſchreiber der Wiſſenſchaft aller dieſer ſo verſchiedenen Perioden wird ſchon durch den Gegenſtand ſeiner Erzählung ſelbſt auf Theilnahme rechnen dürfen, da kein Gebildeter die Ereig— niſſe und die Hauptperſonen ſeines eigenen Geſchlechts mit Gleichgültigkeit betrachten kann.

Aber eine ſolche Geſchichte wird auch noch ein Intereſſe anderer Art haben. Es wird für den Leſer zugleich angenehm und nützlich ſeyn, die gegenwärtige Geſtalt und Ausdehnung, und die künftigen Hoffnungen und Ausſichten, ſo wie auch die letzten Fortſchritte der Wiſſenſchaft, näher kennen zu lernen. Der Gipfel, den wir nun erreicht haben, zeigt uns eben ſo die Wildniſſe, durch welche wir uns durchgewunden haben, als auch, auf der andern Seite, das Land der Verheißung, dem wir raſchen Schrittes entgegen eilen. Die Prüfung der Wege, auf welchen unſere Väter die Wiſſenſchaft auf ihren heutigen intel— lectuellen Zuſtand gebracht haben, wird uns, nicht nur unſer gegenwärtiges Beſitzthum, ſondern auch unſere Erwartungen für die Folgezeit, näher kennen lehren, wird uns nicht bloß mit unſern Reichthümern, ſondern auch mit den Mitteln bekannt machen, ſie zu ſichern und noch weiter zu vermehren. Mit Recht darf man erwarten, daß eine Geſchichte der inductiven Wiſſenſchaften uns nicht nur eine Ueberſicht des jetzt beſtehenden Vorraths von Kenntniſſen, ſondern auch eine Anzeige von den beſten Methoden geben werde, dieſen Vorrath noch zu vergrößern und ihn wohl geſichert unſern Enkeln zu überlaſſen.

Solche Regeln aus der Literargeſchichte der Vergangenheit abzuleiten, dieß war die urſprüngliche Abſicht, die zu der gegen— wärtigen Schrift Veranlaſſung gegeben hat. Auch iſt dieſe Ab- ſicht nicht aufgegeben worden, aber ihre Ausführung, wenn ſie

Einleitung. 19

ſtatthaben ſoll, muß auf ein eigenes, künftiges Werk: „Ueber „die Philoſophie der inductiven Wiſſenſchaften“ ver: ſchoben werden. Ein Verſuch dieſer Art wird, von dem bereits ausgeführten Theil deſſelben zu ſchließen, bald nach dem gegen— wärtigen Werke vor dem Publikum erſcheinen.

Obſchon aber viele von den Principien und Grundſätzen dies ſes künftigen Werkes auch ſchon in dem gegenwärtigen mit mehr oder weniger Klarheit hervortreten werden, ſo muß doch eine ſyſtematiſche und vollſtändige Auseinanderſetzung derſelben jenem ſpäteren vorbehalten bleiben. Nach meiner Ueberzeugung kann dieſem wichtigen Gegenſtande nur durch eine ſolche Theilung deſſelben Gerechtigkeit widerfahren.

Auf dieſes ſpätere Werk muß daher auch der Leſer wegen der umſtändlichen Erklärung des Titels der gegenwärtigen Schrift verwieſen werden. Ohne in die Philoſophie der Wiſſenſchaft einzudringen, iſt es unmöglich, vollkommen genügend zu erklä— ren, auf welche Weiſe eigentlich die inductiven Wiſſenſchaften ſich von allen denen, die es nicht ſind, unterſcheiden, oder auf welche Weiſe einzelne Theile unſerer Erkenntniß aus der ganzen Maſſe herausgehoben werden und doch noch als Wiſſenſchaft beſtehen können. Hier mag es genügen, zu ſagen, daß die in dieſer Schrift behandelten Wiſſenſchaften gewöhnlich die ph y— ſiſchen oder auch die Natur-Wiſſenſchaften genannt wer— den, und daß man durch das Wort Induction das Verfahren verſteht, in welchem man von einzelnen Beobachtungen und Thatſachen zu allgemeinen, jene Beobachtungen umfaſſenden Wahrheiten ſich erhebt.

Indeß gibt es einige techniſche Ausdrücke, die ſo oft in dieſer Schrift vorkommen und die ganz beſonders geeignet ſind, uns einen deutlichen Begriff von den hier abgehandelten Gegen— ftänden zu geben, daß eine kurze Erklärung derſelben hier nicht am unrechten Orte ſeyn wird.

„Thatſachen und Ideen.“ Bemerken wir alſo zuerſt, daß zur Entſtehung einer Wiſſenſchaft zwei Bedingungen erfor— dert werden: Thatſachen und Ideen, oder Beobachtungen der Dinge außer uns, und Reflexion darüber in uns, oder kurz: Sinn und Verſtand. Keines von dieſen beiden Elementen kann für ſich allein eine Wiſſenſchaft conſtituiren. Die Ein— drücke der Sinne, ohne das ſie verknüpfende Band des Ver—

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20 Einleitung.

ſtandes, führt bloß zu einem Aggregat von individuellen, unzu— ſammenhängenden Erfahrungen: die Operationen des Verſtandes aber, ohne alle weitere Beziehung auf die Dinge außer uns, können nur zu leeren Speculationen und zu trockenen, unfrucht— baren Abſtractionen leiten. Eine wahre, reelle Erkenntniß aber fordert die Vereinigung jener beiden Elemente. Man drückt ſich ſehr richtig aus, wenn man ſagt, daß wahre Erkenntniß in „der Interpretation der Natur“ beſtehe, alſo wird auch zu einer ſolchen Erkenntniß Beides, die Natur und ihr Interpret, der Verſtand, erfordert. Demnach wird auf der einen Seite Erfin— dungskunſt, Scharfſinn und gehörige Verbindung der Ideen, und auf der andern Seite die genaue und ſtetige Anwendung -dieſer Facultäten auf richtig beobachtete und wohl verſtandene Thatſachen unerläßlich ſeyn, wenn unſere auf dieſe beiden Grund— lagen gebaute Erkenntniß der Natur auf die Benennung einer wiſſenſchaftlichen Anſpruch machen ſoll. Die Geſchichte zeigt uns viele Fälle, wo die Wiſſenſchaft ſtille ſtehen oder irre gehen mußte, weil die eine oder die andere jener zwei Bedingungen vernachläſſigt wurde. Ja ſelbſt die Geſchichte der verſchiedenen Völker der Erde, die allgemeine Weltgeſchichte enthält ſehr viele Beiſpiele dieſer Art. Jene äußern Erſcheinungen, auf welchen die erſten phyſiſchen Erkenntniſſe der Menſchen beruhten, waren ſehr lange ſchon vor der Zeit bekannt, in welcher man ſich von ihnen durch den Verſtand Rechenſchaft geben konnte. Die Bewegungen der Himmelskörper, der Fall der Körper auf der Oberfläche der Erde waren eine alltägliche und allgemein bekannte Sache, lange vor der Entſtehung der griechiſchen Aſtronomie und Mechanik; aber der „göttliche Funken“ war noch nicht über ſie gekommen, um ſie mit ſeinem Lichte zu beleuchten die Idee, der Verſtand fehlte noch, der dieſe äußern Erſcheinungen unter der Form eines Geſetzes unter einander verbinden ſollte. Selbſt in unſern Tagen haben die über die ganze Erde zerſtreu— ten Stämme der wilden und halbciviliſirten Völkerſchaften jeden Tag ganz dieſelben Phänomene der Natur vor ihren Augen, auf welchen die Europäer das große herrliche Gebäude der Wlſſen— ſchaft aufgeführt haben, während dort, in allen übrigen Welt— theilen, das geiſtige Band, welches dieſe Erſcheinungen zur Wiſſenſchaft vereint, noch beinahe gänzlich unbekannt iſt. Dort iſt das geiſtige Element noch nicht erwacht, und die Steine zu

Einleitung 1

jenem Gebäude liegen wohl dort zerſtreut umher, aber die Hand des Baumeiſters wird noch immer vermißt.

Ganz eben ſo haben wir auch auf der andern Seite keinen Mangel an Beweiſen, daß die geiſtige Kraft des Meuſchen allein ebenfalls unfähig iſt, die Wiſſenſchaft zu erzeugen. Bei— nahe die ganze lange Bahn, welche die Philoſophie bei den Griechen durchlaufen hat, ſo wie die Scholaſtiker des Mittel— alters, ſo wie endlich die ſogenannten Philoſophen der Araber und Indier zeigen uns, daß die feinſte Subtilität und die ſchaͤrfſte Spitzfindigkeit, daß das höchſte Genie und die ſtrengſte ſchulgerechte Methode, ſo lange ſie allein ſteht, keine unſerer gegenwärtigen Naturwiſſenſchaften zu erzeugen im Stande gewe— ſen iſt. Die Logik allerdings, oder die Metaphyſik, ſelbſt Geo— metrie und Algebra konnten durch ſolche Mittel erhalten werden, aber nimmermehr wird man aus dieſen Materialien die Me— chanik oder die Optik, die Chemie oder die Phyſtologie erbauen können. Wie ſo ganz unmöglich die Entſtehung und Ausbildung der letztgenannten Wiſſenſchaften ohne eine ſtetige, ſorgfältige Verbindung mit den äußern Erſcheinungen, mit den eigentlichen Beobachtungen der Natur iſt, und wie raſch und glücklich im Gegentheil ihr Fortſchreiten iſt, wenn die geiſtige Kraft des Menſchen aus dieſen Quellen der Erfahrung ſchöpft, dieß zeigt uns die Geſchichte der Wiſſenſchaft in den letzten drei Jahrhun— derten auf eine Weiſe, die keinen weitern Zweifel mehr zu— laſſen kann.

Dieſem gemäß wird alſo das Auftreten einer klaren Idee mit ihrer Anwendung auf eine beſtimmte Thatſache in der Ge— ſchichte der Wiſſenſchaft immer dann bemerkbar ſeyn, wenn dieſe Wiſſenſchaft ſelbſt einen bedeutenden Schritt zu ihrer wei— tern Ausbildung wagt. Wir werden im Verfolge unſerer Ge— ſchichtserzählnng ſehen, daß, fo oft eine ſolche Epoche des Forts ſchritts eintritt, auch die Combination jener beiden Elemente ihr vorausgegangen iſt. So oft ſich, in dem Laufe ſo vieler Jahrhunderte, unſere Kenntniß der Natur plötzlich erweitert, ſo oft irgend eine große Entdeckung die allgemeine Aufmerkſam— keit gefeſſelt hat, ſo oft iſt auch ein Mann, oder zuweilen meh— rere Männer zugleich, unter den Menſchen aufgeſtanden, dem eine klare und helle Vorſtellung des neuen Gegenſtandes den Geiſt erleuchtete, und der zugleich dieſe Vorſtellung mit Kraft

22 Einleitung.

und Beſtimmtheit auf den Gegenſtand außer ihm anzuwenden verſtand. Wir werden davon in der Folge Beiſpiele in Menge finden.

„Allmähliger Fortſchritt der Wiſſenſchaft.“— Aber hiebei dringt ſich uns noch eine andere Betrachtung auf. Die Naturwiſſenſchaften ſind nämlich ſämmtlich nicht der Art, daß ſie gleichſam durch einen einzigen Anſtoß, er komme, woher er wolle, entſtehen, oder daß ſie, durch die bloße Entdeckung eines ihrer Hauptgrundſätze, ſchon vollendet vor uns daſtehen. Im Gegen— theile, ſie ſchreiten alle nur in gemeſſenem Schritte dieſer ihrer Voll— endung langſam entgegen; ſie erleiden auf ihrem langen Wege manche Veränderungen; ſie gehen ſelbſt öfter von einem Princip zum andern, ſelbſt zu ſolchen über, die von den früheren ganz ver— ſchieden und ſogar mit ihnen im Widerſpruche ſind. Doch muß dabei bemerkt werden, daß dieſer Widerſpruch nur ſcheinbar iſt. Die Principien, die den Triumph der Wiſſenſchaft in der frühe— ren Periode conſtituirten, ſcheinen oft durch ſpätere Entdeckungen umgeſtürzt, ja ganz vernichtet zu werden, aber ſie ſcheinen dieß nur, denn in der That werden ſie, ſo weit ſie nämlich der Wahr— heit gemäß ſind, in die ihr folgende Darſtellung aufgenommen und der neuen Lehre, als ein weſentlicher Beſtandtheil derſelben, gleichſam einverleibt. Die früher als ſolche erkannten Wahr— heiten werden von der ſpätern Wiſſenſchaft nicht verworfen, ſondern vielmehr von ihr aufgenommen und abſorbirt, ſie wer— den von ihr nicht widerſprochen, ſondern nur berichtigt und weiter ausgedehnt, und ſo beſteht die Wiſſenſchaft, nicht, wie es anfangs ſchien, aus einer Reihe von Umwälzungen, deren eine die andere zerſtört und aufhebt, ſondern vielmehr aus einer ſtetigen Folge von Entwicklungen, deren eine die andere in ſich aufnimmt, um fie auf dem neuen Wege noch weiter auszubil— den und ſo der geſuchten Wahrheit immer näher zu führen. Auf dieſe Weiſe kann man von der intellectuellen Welt daſſelbe behaupten, was der Dichter von der materiellen geſagt hat:

Omnia mutantur, nil interit . Nec manet ut fuerat, nec formas servat Bun Sed tamen ipsa eadem est.

„Alles ändert fich, und nichts geht verloren;

„Nichts bleibt, wie es war, noch behält es dieſelbe „Geſtalt; aber es ſelbſt iſt doch immer daſſelbe.“

Einleitung. 23

So enthält demnach die Wiſſenſchaft in ihrer gegenwärtigen Geſtalt die Subſtanz aller ihrer vorhergegangenen Modificatio— nen, und alles, was in den frühern Perioden in ihr entdeckt oder aufgeſtellt worden iſt, gibt ihrer letzten Form das ihr eigen— thümliche Gepräge. Ihre frühern Lehren mußten vielleicht erſt ſchärfer beſtimmt, in der Sprache der Gegenwart genauer aus— gedrückt werden, bis fie, nach manchen chemiſchen Prozeſſen und Läuterungen, in die neue Lehre aufgenommen werden konnten aber ſie hören deßwegen nicht auf, in ihrer Art wahre Ver— beſſerungen der Wiſſenſchaft zu ſeyn.

„Ausdrücke, als Erzeuger von Entdeckungen.“ Die Arten, auf welche die früheſten wiſſenſchaftlichen Entdeckungen in ihrer heutigen Geſtalt von den Menſchen aufbewahrt werden, ſind in der That ſehr mannigfaltig. Anfangs traten ſie als alle Welt befremdende Neuigkeiten auf, und am Ende gehen ſie gewöhnlich in Axiome über, die ſich gleichſam von ſelbſt ver— ſtehen. Sie werden in die Sprache des Volks eingetragen als ein gewöhnlicher Satz oder vielleicht durch ein Wort der damals herrſchenden Schule, und ſo behaupten ſie ein Princip, während ſie nur eine vorübergehende Bezeichnung anzudeuten ſcheinen; ſie enthalten und bezeichnen zugleich eine Wahrheit, und gleich unſerem Golde, ſind ſie ein bloßes Zeichen und zugleich ein werth— voller Schatz. Wir werden ſpäter oft Gelegenheit haben, zu ſehen, wie große Entdeckungen auf dieſe Weiſe ihr Gepräge in den einzelnen Lauten und Worten der Wiſſenſchaft zurücklaſſen, und wie ihr Andenken, gleich jenem unſerer politiſchen Revolu— tionen, in der Veränderung des zu ihrer Zeit gangbaren Münz— fußes, leicht wieder erkannt wird.

„Generaliſation.“ Die großen Veränderungen, die in der Literargeſchichte Epoche machen, dieſe Revolutionen der intellectuellen Welt, haben, und dieß iſt ihr gewöhnliches und leitendes Kennzeichen, alle das Eigenthümliche, daß ſie als Schritte zur Generaliſation auftreten, als Uebergänge von befchränkten Wahrheiten zu andern höheren, in welchen jene nur als beſondere Theile enthalten ſind. Dieſer Fortſchritt der Erkenntniß von individuellen Erſcheinungen zu allgemeinen Geſetzen, von iſolirten Sätzen zu generellen Principien, iſt dem menſchlichen Geifte fo eigenthümlich, daß wir die Beiſpiele davon beinahe auf allen Blattern unſerer Geſchichte antreffen werden.

24 Einleitung.

„Suductive Epochen, ihre Einleitung und Folge.“ Ju der Geſchichte der Wiſſenſchaften müſſen wir vor allem die Fortſchritte derſelben ſorgfältig beachten. Dieſe bilden die Haupthandlung unſeres Schauſpiels, und alles übrige, was mit derſelben nicht unmittelbar zuſammenhängt, ſo innig es auch ſonſt die Ausbildung und die Ausbildner ſelbſt der Wiſſenſchaft angehen mag, wird doch keinen weſentlichen Theil unſeres Themas ausmachen können. Unſere Erzählung wird ſich alſo nur auf die Reihe von Generaliſationen beziehen, von welchen wir ſo eben geſprochen haben. Aber unter ihnen werden wir einige von entſchiedener und hervorragender Größe antreffen, die auf das Geſchick der Wiſſenſchaft vorzüglichen Einfluß haben, und gegen welche alle andern nur als untergeordnet zurücktreten. Dieſe Hauptveränderungen, bei welchen der inductive Prozeß, durch den die Wiſſenſchaft allein gebildet wird, vorzüglich thätig war, wollen wir die inductiven Epochen derſelben nennen, und ſie verdienen daher unſere höchſte Aufmerkſamkeit. Sie werden in der Geſchichte gewöhnlich durch jene glänzenden Ent— deckungen und durch die unſterblichen Namen ihrer Urheber bezeichnet, in deren Bewunderung alle gebildete Völker der Erde gleichſam ſtillſchweigend unter ſich übereingekommen ſind. Wenn wir aber dieſe Hauptepochen näher betrachten, ſo finden wir, daß ſie nicht plötzlich und ohne alle ſie vorbereitende Einleitung entſtanden ſind. Immer geht ihnen eine Zeit voraus, die wir ihre Einleitung nennen wollen, während welcher die den Ge— genſtand betreffenden Ideen der Menſchen aufgeregt und gleich— ſam in eine geiſtige Frementation verſetzt werden, wo dieſe anfangs nur dunklen Ideen nach Klarheit und Zuſammenhang ſo lange ringen, bis endlich der helle Gedanke, die reine Wahr— heit hervorſpringt und die bisher finſtere Gegend um ſich mit ihrem Lichte beleuchtet. Und wenn nun dieſe Epoche vorüber iſt, ſo folgt ihr gewöhnlich eine andere Periode, die Folge von jener, während welcher jene Entdeckung immer mehr ausgebildet und erweitert wird. Jene, die Epoche, wird von den Heroen der Wiſſenſchaft heraufgeführt; dieſe, die Folge derſelben, wird gewöhnlich von den Leitern der Wiſſenſchaft eröffnet, und dann von ihnen den Geiſtern der zweiten und weitern Ordnung über— geben, um ſie in ihren kleineren Verzweigungen auszubilden. Dazu gehört meiſtens lange Zeit und die Vereinigung vieler Männer.

Einleitung. 25

Aber die Auszeichnung jener großen Epochen mit ihren beiden Be— gleitern iſt ſehr geeignet, in die Geſchichte der Wiſſenſchaft Licht und Beſtimmtheit zu bringen. Sie ſind gleichſam die Ruheplätze unſerer langen Reiſe, wo wir innehalten wollen, bis der Staub, den die Menge auf der Heerſtraße erregt, gefallen, und die Aus— ſicht in die Umgegend wieder klar geworden iſt.

„Inductive Karten.“ Da, wie gejagt, die Ausbil— dung der Wiſſenſchaft darin beſteht, daß aus iſolirten That— ſachen und Beobachtungen allgemeine Geſetze durch Induction abgeleitet werden, von welchen letztern man dann allmählig zu den allgemeinſten ſich zu erheben ſucht, ſo wird man von allen dieſen Fortſchritten eine Art von Zeichnung, eine Karte ent— werfen, in welcher man jene einzelnen Facten und die aus ihnen hervorgehenden, in immer größerer Allgemeinheit aufſteigenden Principien, gleichſam wie mit einem Blicke überſehen kann. Eine ſolche Karte der Wiſſenſchaft wird nicht unangemeſſen mit einer Flußkarte verglichen werden, in welcher ſich mehrere kleine Bäche zu einem Fluſſe, und mehrere ſolcher Flüſſe endlich zu einem mächtigen Strome vereinigen. Eine ſolche Darſtellung der Wiſſenſchaft muß, wenn ſie auf Vollſtändigkeit Anſpruch machen ſoll, alle die einzelnen Hauptſätze enthalten, aus welchen ſie beſteht, und ſie muß dieſe Sätze bis zurück zu ihren erſten Quellen verfolgen. Daher wird auch eine ſolche Karte als ein Criterium für unſere richtige Vertheilung der inductiven Epoche dienen, wenn ſie mit dem Urtheile der beſten Richter, und mit dem in der Geſchichte aufgeführten materiellen Inhalt der Wiſ— ſenſchaft vollkommen zuſammenſtimmt. Die Ausarbeitung ſol— cher Karten diente mir als ſicherer Führer durch das Gebiet der Geſchichte jeder einzelnen Wiſſenſchaft, und bewahrte mich vor Irrthümern in der Vertheilung der einzelnen Parthien derſelben, da gewiß nicht jede willkührliche Eintheilung jener Bedingung entſprechen wird. Indeß theile ich dieſe Karten hier noch nicht mit, ſondern behalte ſie für die Erläuterung der oben erwähnten „Philoſophie der Literargeſchichte“ vor, für welche fie eigentlich gehören, da ſie gleichſam als ein Theil von der Logik der Induction betrachtet werden können.

„»Stillſtandsperioden.“ In der Zeichnung einer ſolchen Karte ſieht man die Wege, auf welchen die Wiſſenſchaft vorgeſchritten iſt, und nichts weiter. Aber in der Geſchichte

26 Einleitung. ſelbſt begegnet man auch noch andern Erſcheinungen, die ebenfalls viel zu belehrend und intereſſant ſind, um ganz übergangen werden zu können. Um den Fortgang einer Wiſſenſchaft richtig zu erkennen, muß man nicht bloß auf die Vortheile, ſondern auch auf die Nachtheile und Irrthümer ſehen, denen ſie auf ihrem Wege begegnet iſt. Wenn man bedenkt, wie kurz die Zeiten des wahren Fortſchritts einer jeden Wiſſenſchaft in dem Laufe ſo vieler verfloſſenen Jahrhunderte geweſen ſind, ſo fühlen wir ein dringendes Bedürfniß, zu fragen, was denn in den vielen andern ſtationären Perioden mit ihr geſchehen iſt, und welches denn die Gegenden ſind, in denen ſie ſo weit von dem wahren Wege ſich entfernen und ſo lange in der Irre herum— wandern konnte. Es wird für unſern Zweck gleich nothwendig ſeyn, die glücklichen und die verunglückten Verſuche des menſch— lichen Geiſtes näher kennen zu lernen.

„Deduction.“ Während einem großen Theil der eben erwähnten ſtationären Perioden finden wir gewöhnlich eine Un— terbrechung des weſentlichen Bedingniſſes aller wahren wiſſen— ſchaftlichen Fortbildung, nämlich den Mangel an Verbindung klarer Ideen mit beſtimmten Thatſachen, und in ſolchen Zeiten ſieht man die Menſchen bloß mit leeren Ideen tändeln. Sie gebrauchen ſie, um ihre Schlüſſe ſchulgerecht aus gegebenen Principien abzuleiten; ſie ordnen, claſſificiren und analyſiren dieſe Ideen, um ſie den Regeln des Verſtandes und der Logik gemäß in ein Syſtem zu bringen. Dieſes Verfahren wollen wir künftig mit dem Worte Deduction bezeichnen. An ihrem rechten Orte iſt ſie allerdings ein höchſt wichtiger Theil der Wiſ— ſenſchaft ſelbſt, aber ſie iſt ohne Werth, wenn die Principien, auf welchen das ganze Syſtem ruhen ſoll, nicht unmittelbar aus der Induction der Thatſachen hervorgehen, um das aus— ſchließende Material der ſubſtantiellen Wahrheit zu liefern. Ohne ein ſolches empiriſches Material gleicht ein Aggregat von De— monſtrationen der wahren inductiven Wiſſenſchaft höchſtens nur ſo, wie etwa ein Schatten dem reellen Körper gleicht, der ihn wirft. Wenn unſere Demonſtrationen eine reelle Bedeutung haben ſollen, jo muß die Induction das liefern, was die Deduction allein nie geben kann. An einen an die Wand bloß gemalten Haken läßt ſich auch nur wieder ein gemaltes Bild haͤngen.

Einleitung. 27

„»Unterſchied zwiſchen gewöhnlichen und wiſſen— ſchaftlichen Begriffen.“ Wenn man die Begriffe und Worte, welche man in den Geſchäften des gewöhnlichen Lebens braucht, womit die Menſchen in ihrer Umgangsſprache unter einander verkehren, wenn man dieſe mit jenen vergleicht, auf welchen die exacten Wiſſenſchaften gegründet ſind, ſo findet man zwiſchen dieſen zwei Klaſſen von geiſtigen Aeußerungen viel Aehn— liches, und zugleich wieder große Verſchiedenheiten. Ohne hier das Verhältniß zwiſchen beiden vollſtändig anzuführen, was über— haupt ein ſehr ſchweres Problem iſt, ſo wollen wir nur bemerken, daß beide darin übereinkommen, daß ſie durch eine geiſtige Ver— bindung der äußern Eindrücke erzeugt werden, und daß ſie in einer gewiſſen zuſammenhängenden Reihe von Schlüſſen beſtehen, oder daß alle dieſe Begriffe, wenn man kürzer ſo ſagen darf (da wir dieſen Gegenſtand hier nicht bis in ſeine letzten Gründe verfolgen können), auf eine inductive Weiſe erworben und auf eine deductive Weiſe gebraucht werden. Im Gegentheile aber ſind beide wieder darin weſentlich verſchieden, daß die wiſſenſchaftlichen Begriffe beſtimmt und unveränderlich, die andern aber unbeſtimmt, viel— deutig und zweifelhaft ſind: jene gewähren eine klare Einſicht, werden in einem ſcharf begrenzten Sinne gebraucht, und bleiben ſtets identiſch dieſelben; dieſe aber ſteigen, gleich Irrlichtern, aus tauſend verſchiedenen, unklaren und düſtern Anſichten unſeres Innern auf, und die Dunkelheit und Inconſiſtenz ihres Ur— ſprungs hängt ihnen in allen ihren Anwendungen unzertrennlich an. Die wiſſenſchaftlichen Begriffe kann man durch Hülfe von Definitionen und Axiomen, zu allen Verſtandesoperationen gebrauchen, aber jeder Verſuch, mit den andern zu demſelben Ziele zu gelangen, kann nur zu inhaltsleeren Formen oder zu einer gänzlichen Verwirrung führen.

Für das gewöhnliche practifche Leben reichen die letzten aller— dings hin. Aber der Menſch iſt nicht bloß ein practiſches Weſen; in ſeinem Innerſten trägt er eine unbeſiegbare Neigung zur Speculation, eine Luſt an der Betrachtung ideeller Verhältniſſe, eine Liebe zur Erkenntniß als reine Erkenntniß und ohne alle andern Nebenrückſichten. In dieſer ſpeculativen Tendenz des menſchlichen Weſens muß man den eigentlichen Grund zu der Verſchiedenheit jener zwei Gattungen von Begriffen ſuchen, von welchen wir fo eben gefprochen haben. Der Geiſt analyfirt dieſe

23 Einleitung.

Begriffe, baut Schlüffe darauf, combinirt, trennt und folgert, denn er fühlt, daß intellectuelle Gegenſtände eine ſolche Behand— lung ertragen. Selbſt bloße practiſche Kenntniß iſt, wie wir alle wiſſen, ohne Verſtand nicht möglich, aber der ſpeculative Verſtand iſt nur derjenige, der ſich ſelbſt auf ſeinem eigenen Boden genügt. Dieſe ſpeculative Facultät unſers Geiſtes kann nicht durch Thatſachen controllirt werden. Der Geiſt ſpricht bloß das Recht an, über ſeine eigenen Handlungen und Schöpfun— gen zu ſpeculiren; aber wenn er dieſes Recht auch auf die ae wöhnlichen Begriffe des Lebens ausdehnen will, ſo verirrt er ſich in trockene Abſtractionen und dreht ſich in einem Kreiſe von leeren Spitzfindigkeiten herum. Solche Begriffe gleichen den ſtehenden Gewäſſern unſerer Seen: ſo ſehr man ſie auch bewegen und erſchüttern mag, ſie treiben ſich immer nur in beſtimmten Wirbeln herum. Aber der menſchliche Geiſt beſitzt auch wiſſen— ſchaftliche Begriffe, und dieſe ſind wohl geeignet, auf jene Dis— cuſſionen und intellectuellen Verrichtungen einzugehen. Wenn ihm aus dem Born der Erfahrung und der Beobachtung hinläng— liches Material für ſeine Speculation zugeführt worden iſt, und wenn er ſich dann, angefüllt mit dieſem Vorrathe, auf das Gebiet der practiſchen Wiſſenſchaften herabläßt, dann gleichen ſeine Erzeugniſſe dem lebendigen Strome einer in ſich zuſammen— hängenden und nach einer beſtimmten Richtung fortſchreitenden Wiſſenſchaft. Daß aber eine Wiſſenſchaft beides zugleich ſeyn kann, reell in Beziehung auf ihren practiſchen Inhalt, und rein logiſch in Beziehung auf ihre Form, das iſt bereits durch die Exiſtenz mehrerer ſolcher Wiſſenſchaften über allen Zweifel erhoben.

„Schulphiloſophie.“ Wenn man aber eine Wiſſen— ſchaft, ohne jene Verification und Realiſation ihrer erſten Prin— cipien, errichten will, jo kann eine ſolche kein Correctiv mehr fuͤr ihre innere Wahrheit in ſich tragen. Eine Philoſophie, die auf dunklen, unbeſtimmten und inhaltsleeren Begriffen erbaut iſt, und bei der man nicht weiter auf den Zuſammenhang ihrer innern Doetrin mit den Erſcheinungen der Außenwelt ſieht, eine ſolche Philoſophie kann wohl lange Zeit durch beſtehen und ſelbſt den menſchlichen Geiſt ſehr feſt halten, aber dieſe Dauer beruht nur auf der Luſt, die der Menſch ſeiner innern Natur nach fühlt, wenn er die Operationen ſeines eigenen und des Geiſtes der

Einleitung. 29

andern betrachten und verfolgen, und fie dann in eine Art von logiſcher Conſiſtenz und von ſyſtematiſcher Anordnung bringen kann. In allen dieſen Fällen find aber die Gegenſtände, mit denen er ſich beſchäftigt, nicht mehr die Dinge außer ihm, ſon— dern nur die innern Beſchauungen ſeines eigenen Selbſts; und ſeine Abſicht iſt nicht, die äußere Welt, ſondern nur ſein inne— res Ich zu unterſuchen. Die Thatſachen, über welche hier ſpe— culirt wird, ſind nicht die Erſcheinungen in der Natur, ſondern nur die Sätze, welche die Meiſter in der Schule aufgeſtellt haben, und dieſe zu discutiren, zu reduziren, combiniren und analyſiren, das iſt das Geſchäft, welches den Nachfolgern dieſer Meiſter obliegt. Eine Aufeinanderfolge von Speculanten ſolcher Art, die eine gewiſſe Richtung verfolgen, hat man ſehr ange— meſſen eine Schule, und ihre Lehren ebendeshalb eine Schul— philoſophie genannt, gleichviel, ob ihr Zuſammentreffen auf dem Wege, auf dem ſie die Wahrheit ſuchen, bloß in einer per— ſönlichen Mittheilung, in Tradition, beſteht, oder ob daſſelbe nur das Reſultat der Uebereinſtimmung ihres intellectuellen Charakters und ihrer Neigung zu einer beſtimmten Speculation ſeyn mag. Die zwei großen Perioden der Schulphiloſophie (die wir aber hier bloß in Beziehung auf die eigentlich phyſiſchen Wiſſenſchaften betrachten) unſerer Literargeſchichte werden von den griechiſchen Philoſophen und von denen des Mittelalters gebildet. In jener erwachte die Wiſſenſchaft zuerſt unter den Menſchen, und in dieſer Periode hielt ſie ihren langen und tiefen Mittagsſchlaf.

Was wir im Vorhergehenden kurz und unvollſtändig geſagt haben, würde viel Raum und Mühe fordern, es ganz nach ſeiner Wichtigkeit aus einander zu ſetzen. Indeß wird es ge— nügen, auch nur ſo viel davon mitgetheilt zu haben, um das nun Folgende deutlicher und Jedermann verſtändlich zu machen. Es iſt vielleicht als ein Nachtheil zu betrachten, daß man ein Unternehmen, wie das gegenwärtige, mit ſolchen metaphyſiſchen und manchen Leſer ſogar zurückſtoßenden Betrachtungen beginnen, und daß man dieſe noch dazu nur unvollſtändig und ohne ge— hörige Entwicklung geben muß. Mag man indeß dieſe Ein— leitung mit einer geographiſchen Karte von einem Lande ver— gleichen, mit welchem die Geſchichtſchreiber, die ſich mit dem Schickſale dieſer Länder beſchäftigen, ebenfalls oft genug ihre

30 Einleitung.

Erzählung beginnen. Unſere Leſer werden wohl nicht eben ſo viel Metaphyfik für die nun folgende Darſtellung bedürfen, als jene Geſchichtſchreiber an geographiſchen Kenntniſſen bei ihren Leſern vorauszuſetzen pflegen, und ſo ſoll denn, was bisher geſagt worden iſt, als ein ſchwacher Umriß der Geographie jener intellectuellen Welt betrachtet werden, zu deren Geſchichte wir nun übergehen wollen.

Erſtes Buch.

Gelchichte der Philotophie der griechifchen Schulen in Beziehung aut die Phyfik,

Tig yag aoXa os Sar vavrıkag, Tig de xıvövvog xgaTegpo1Lg Adauavrog Önoev Hg.

Wer begann die Schifffahrt? Und welche Gefahr band fie mit mächtigen, diamantnen Feſſeln? Pind. Pyth. IV. 124.

Erſtes Buch.

Gelchichte der Philofophie der griechifchen Schulen in Beziehung auf Phyfik.

Erſtes Capitel. Eingang zur griechiſchen Philoſophie. Erſter Abſchnitt. Erſte Derfuche des menfchlichen Geiftes in phyfifchen Gegenftänden,

Schon in einer ſehr frühen Zeit unſerer Weltgeſchichte trat der Hang des Menſchen zu ſpeculativen Unterſuchungen der ihn umgebenden Natur hervor. Was ſie ſahen, forderte ſie zum Nachdenken, zu Vermuthungen, zu Schlüſſen auf: ſie bemühten ſich, die Erſcheinungen der Natur kennen zu lernen, ihre Urſachen zu finden, und dieſelben auf Principien zurückzuführen. Zuerſt vor allen Völkern ſcheint ſich dieſe geiſtige Thätigkeit bei den Griechen entfaltet zu haben. Während jener dunklen, einleiten— den Periode, in welcher dieſe ſpeculative Facultät des Geiſtes noch kaum ſich von den Feſſeln des practiſchen Lebens befreit hatte, wurden diejenigen, die in ſolchen Unterſuchungen am meiſten über die andern hervorragten, mit demſelben Ehren— namen, mit dem man überhaupt jeden practiſch vorzüglichen Mann belegte, Weiſe oder oopoı genannt. Nachdem aber dies ſelben Männer deutlicher einſehen gelernt hatten, daß ihre Be— mühungen bloß aus ihrer Liebe zur Erkenntniß entſprangen, alſo aus einer ganz andern Quelle, als die, welche gewöhnlich zur

Klugheit im practiſchen Leben führt, ſo wurde für ſie ein anderer,

mehr ee uud zugleich mehr beſcheidener Rau gewählt Whewell, 1.

34 Eingang zur griechiſchen Philoſophie.

und fie wurden loco oder Freunde der Weisheit genannt. Dieſe Bezeichnung, ſagt man ), ſoll Pythagoras auf: gebracht haben. Allein derſelbe wird von Herodot ?) noch der kräftigſte Sophiſt genannt. "EAAnvav 8 f aodEVveotat@ cogıorn H 8H. Dieſer Geſchichtſchreiber ſcheint das Wort „Sophiſt“ nicht mit jenem Nebenbegriff von „Mißbrauch der Weisheit“ genommen zu haben, den es erſt ſpäter erhielt. Die Literaturgeſchichte ſtellt Pythagoras an die Spitze der ſoge— nannten italieniſchen Schule, eine der zwei Hauptzweige der griechiſchen Philoſophie. Die andere aber, die joniſche Schule, ſoll Thales geſtiftet haben, der wenigſtens hundert Jahre vor jenem lebte, und der unter den ſogenannten ſieben Weiſen von Griechenland aufgezählt wird. Dieſe letztere Schule verdient unſere Aufmerkſamkeit im höhern Grade durch ihren eigenthümlichen Charakter ſowohl, als auch durch die großen Fortſchritte, welche ſie in den ſpätern Zeiten gemacht hat. Dieſer joniſchen Schule folgten in Griechenland mehrere andere philoſophiſche Schulen, und die Gegenſtände, mit welchen ſich dieſe Inſtitute beſchäftigten, waren ſehr ausgebreitet. Ihre früheſten Verſuche beſtanden in der Aufſtellung von Syſtemen, durch welche ſie die Geſetze und Erſcheinungen der materiellen Welt erklären wollten, und dieſen folgten bald andere, die ſich auf die moraliſchen Fähigkeiten und Verhältniſſe des Menſchen bezogen. Die phyſiſchen Unterſuchungen dieſer Schule aber ſind unſerer Aufmerkſamkeit beſonders dadurch würdig geworden, weil ſie den Charakter und die Schickſale des merkwürdigſten aller menſchlichen Verſuche, zu einer ganz allgemeinen Erkennt— niß der Natur zu gelangen, in ſich enthalten. Es iſt in der That in hohem Grade intereſſant, die Hauptzüge dieſer ſehr gewagten Unterſuchung zu zeichnen. Der Weg, den ſie dabei verfolgten, war ein ſehr natürlicher und ungemein anlockend, und der Ver— ſuch wurde von einem Volke gemacht, dem in den feinſten Geiſtesgaben bisher kein anderes gleich gekommen iſt, und doch, man muß es geſtehen (in Beziehung auf die Phyſik wenig— ſtens wird Niemand es läugnen wollen) der Verſuch iſt ein völlig verunglückter geweſen. Denn nur als ein ganz mißlungenes

1) Cicero Tusc. V. 3. 2) Herod. IV. 95.

Eingang zur griechiſchen Philoſophie. 35

Unternehmen, den Grund aller Dinge zu erforſchen, muß man das Vollſtändigſte, was davon auf unſere Zeit gekommen iſt, die Ariſtoteliſchen Schriften über die Phyſik betrachten, die, nachdem fie ihr eingebildetes Ziel erreicht hatte, den menſchlichen Geiſt, in allen Beziehungen auf jene hyperphyſiſchen Gegenſtände, durch beinahe zwei volle Jahrtauſende in ſtarren Feſſeln ſchmach— ten ließ.

Jene erſten Philoſophen Griechenlands ſchritten an ihr Werk mit einer Art, welche die Springkraft und das Selbſt— vertrauen ihres jugendlichen Geiſtes bewies, der noch ungebeugt von Nachtwachen und mißlungenen Verſuchen kühn vorwärts ſtrebt. Erſt den ſpätern Zeiten war es aufbehalten, zu lernen, daß es dem Menſchen nur gegönnt iſt, langſam und geduldig, und Strich für Strich das Alphabet zu erlernen, in welchen die Natur ihre Antworten auf unſere Fragen ertheilt. Jene jungen Weiſen aber wollten, mit einem einzigen Blicke fchon, den ganzen Inhalt ihres großen Buchs überſehen. Ihre Abſicht war es, den Urſprung und die Elemente des Univerſums zu erforſchen. Nach Thales war dieß das Waſſer, nach Anaxi— menes die Luft, und nach Heraclit endlich war das Feuer die eſſentielle Quelle, aus der alle Dinge des Weltalls hervor— gegangen ſind. Man hat, nicht ohne Wahrſcheinlichkeit, die Vermuthung aufgeſtellt, daß dieſe Umwandlung der Philoſophie in eine Cosmogenie eine Folge jener poetiſchen Weltbildung geweſen iſt, in welcher ſich die Dichter Griechenlands in einer viel früheren Periode ſo ſehr gefallen haben. Auch waren dieſe erhabenen, in undurchdringliches Dunkel gehüllten Gegenſtände allerdings mehr für die düſtere Hoheit der Dichtkunſt, als für die Philoſophie geeignet, die es nur mit dem ſcharf ſichtenden Verſtande zu thun hat. Wenn wir aber von den Principien aller Dinge ſprechen, ſo iſt dieſer Ausdruck, ſelbſt jetzt noch, ſehr vag und unbeſtimmt: aber wie viel mehr mußte er dieß bei jenem früheſten Gebrauche ſolcher abſtracten Begriffe ſeyn. Das Wort, welches die Griechen gewöhnlich dafür brauchten, war «ex, das zuerſt „den Anfang“ bezeichnete, das aber bald, ſchon in ſeinen erſten philoſophiſchen Anwendungen, eine dunkle vermiſchte Be— ziehung auf die mechaniſchen, chemiſchen, organiſchen und ſelbſt hiſtoriſchen Urſachen der Natur in ſich aufgenommen hat, nebſt den theologifchen, die damals nur kaum noch von den phyſiſchen

3 *

36 Eingang zur griechiſchen Philoſophie.

Urſachen getrennt waren. Es darf uns alſo auch nicht überraſchen, wenn die philoſophiſchen Meinungen jener alter— grauen Zeiten nur vage Muthmaßungen und ſcheinbare Analo— gien, nicht aber ſolche Vernunftgründe ſind, die eine ſtrenge Unterſuchung vertragen. Ariſtoteles ) ſagt mit viel Wahrſchein— lichkeit, daß die Lehre des Thales, nach welcher das Waſſer das Element des Univerſums ſey, aus der offenbaren Nothwendigkeit der Feuchtigkeit für das Leben aller Thiere und Pflanzen ent— ſprungen ſey. Aber dieſe ſchwankenden Analyſen von ſo dunklen und unbeſtimmten Doctrinen des Alterthums können nur von ſehr geringem Einfluß auf den eigentlichen Gegenſtand unſerer Geſchichte ſeyn.

Einen deutlicheren Anfang der wahren Art, Gegenſtände der Natur zu unterſuchen, findet man in den enger begrenzten und mehr beſtimmten Beiſpielen von einzelnen Erſcheinungen dieſer Natur. Eine der intereſſanteſten derſelben iſt vielleicht die Unterſuchung, die uns Herodot ?) über die Urſachen der jährlichen Ueberſchwemmung des Nils mitgetheilt hat. „Was „die Natur dieſes Fluſſes betrifft, ſagt er, fo konnte ich darüber „weder von den Prieſtern, noch von andern Menſchen etwas „erfahren, fo oft ich fie auch darum gefragt habe. Der Nil „wächst nahe hundert Tage und ſein Wachsthum beginnt mit „dem Sommer-Solſtitium; nach jener Zeit aber nimmt er wieder „ab, und bleibt dann, während den ganzen Winter, ſehr klein. „Kein Aegyptier konnte mir aber etwas Befriedigendes über »„dieſe Kraft ſagen, durch welche der Nil in feiner Natur allen „andern Flüſſen gerade entgegengeſetzt iſt.“

Es ſcheint, Herodot fühlte in ſeinem griechiſchen Geiſte etwas, was ihn antrieb, die Urſache dieſer Erſcheinung zu er— forſchen, während dieſes Etwas den ägyptiſchen Geiſtern fremd geblieben iſt. Die Aegyptier hatten offenbar keine Theorie dieſes Phänomens, und fühlten auch kein Bedürfniß derſelben. Nicht ſo ſeine griechiſchen Landsleute, die wohl ihre Urſachen hatten, aber, wie es ſcheint, keine ſolchen, die unſern Herodot befrie— digten. „Einige Griechen, fährt er fort, die gern für große „Philoſophen gelten möchten, haben drei Wege eingeſchlagen,

1) Metaphyſtk I. 3. 2) Herodot II. 19.

Eingang zur griechiſchen Philoſophie. 37

„jenes Phänomen zu erklären. Die erſten ſagen, daß die Ete— »ſiſchen Winde (die von Norden wehen) die Urſache jener Fluth „des Nils find, weil fie dieſen Fluß hindern, fein Waſſer in „das Meer auszugießen.“ Allein dagegen wendet er ſehr richtig ein: „Sehr oft wehen jene Winde nicht, und doch wächst der „Nil. Und überdieß, wenn jene Winde die wahre Urſache „feines Wachsthums wären, fo müßten alle gegen Norden fließen— „den Ströme dieſelben Eigenſchaften, wie der Nil, haben, was „doch die eben ſo gelegenen Ströme von Syrien und Libyen „nicht thun.“

„Die zweite Urſache iſt noch unwiſſenſchaftlicher (aveniorn- „uoveoreeon), und wahrhaft durch ihre Thorheit ausgezeichnet. „Nach ihr ſoll nämlich der Nil aus dem Ocean kommen, und „va der Ocean, heißt es, die ganze Erde umfließe, fo müſſe der „Nil auch jene Erſcheinung zeigen. Allein dieſe Meinung von „dem die Erde überall umkreiſenden Ocean gehört in das dunkle „Gebiet der Mythe, und ermangelt alles Beweiſes. Ich wenig— „itens weiß von keinem ſolchen Ocean, und glaube, daß Homer, „oder irgend ein anderer Dichter vor ihm dieſe Sache erfunden „und in feine Fictionen willkührlich eingewebt hat.“

Er geht nun zu der dritten Erklärung über, die einem Neueren wohl nicht unphiloſophiſch erſcheinen mag, die er aber doch eben ſo beſtimmt, wie jene beiden verwirft. „Der dritte „Weg, ſagt er, iſt unter allen der ſcheinbarſte, und zugleich der „unrichtigfte. Es heißt nämlich, daß der Nil von dem geſchmol— „zenen Schnee anlaufe, weil er aus Libyen mitten durch Aethio— „rien lauft und durch Aegypten ausfließt. Allein wie kann er „von Schnee anlaufen, da er aus den heißeren Gegenden in die „kälteren kömmt? Es gibt Gründe genug für Jedermann, dieſer „Erklärung zu widerſprechen. Die erſten und ſtärkſten geben „die Winde, die warm aus jenen Gegenden wehen. Die zwei— „ten, daß dieſes Land immerdar ohne Regen und Eis iſt. Da „aber auf Schneewetter nothwendig in wenigen Tagen Regen „fallen muß, fo würden jene Länder, wenn fie Schnee hätten, „auch nothwendig Regen haben. Der dritte Grund iſt die »ſchwarze Farbe der dort wohnenden Menſchen, die nur von der „Hitze kommt. Auch bleiben daſelbſt Weihe und Schwalben das „ganze Jahr, ohne abzuziehen, und die Kraniche, die ſich vor „oem Winter flüchten, wenn er in Seythien einbricht, wandern

38 Eingang zur griechiſchen Philoſophie.

„zur Ueberwinterung in dieſe ſüdlichen Gegenden. Wenn es „daher auch nur etwas in dem Lande ſchneite, aus welchem und „durch welches der Nil fließt, ſo würde dieß alles nicht ſo ſeyn, „wie es wirklich daſelbſt iſt.“ Nach dieſen Darſtellungen der fremden Meinungen gibt nun Herodot (II. 24) ſeine eigene Anſicht von der Sache, nicht eben auf die klarſte Weiſe, wie man geſtehen muß. Er ſagt wörtlich, wie folgt: „Zur Winters— „zeit wird die Sonne durch die Winterſtürme aus ihrer alten „Bahn getrieben und kommt in's hintere Libyen, alſo muß auch „dieſes Land, dem die Sonne jetzt am nächſten iſt, am meiſten „nach Waſſer dürſten, und ſeine Flüſſe werden, ſo weit ſie im „Lande ſtrömen, eintrocknen. Wenn nämlich die Sonne durch „das hintere Libyen hinauslauft, hat ſie, bei der heitern Luft „und der Wärme dieſes Landes, dieſelbe Wirkung, die ſie ſonſt im „Sommer zu haben pflegt, wo ſie mitten am Himmel läuft, das „heißt, fie zieht das Waſſer an ſich, und dann ſtößt fie es „wieder ab in die hinteren Gegenden, wo es die Winde auf— „fangen, zerſtreuen und auflöſen, wie denn natürlicher Weile „der Süd- und Thauwind, die von dieſem Lande herkommen, „unter allen Winden den meiſten Regen bringen. Doch glaube „ich, daß die Sonne das jährlich gezogene Nilwaſſer nicht jedes: „mal ganz fahren läßt. Wenn nun der Winter gelinder wird, „ſo kommt die Sonne wieder mitten am Himmel herauf, und „von jetzt an zieht fie bereits an allen Flüſſen gleich ſtark. Bis „dahin haben aber die anderen Flüſſe bei reichlichem Zufluß von „Regenwaſſer, da ihre Länder Regen- und Gießbäche haben, „eine ſtarke Strömung; des Winters aber, wenn die Regengüſſe „fie verlaſſen und zugleich die Sonne an ihnen zieht, nur eine „ſchwache. Dagegen iſt der Nil, der, ohne Regenwaſſer zu „haben, von der Sonne angezogen wird, der einzige Fluß, der „um dieſe Zeit eine weit geringere Strömung hat, als des Som: „mers, und indem er da mit allen Gewäſſern gleichmäßig ange— „zogen wird, ſo leidet er des Winters allein. Auf dieſe Art „halte ich daher die Sonne für die eigentliche Urſache dieſer „Erſcheinung.“

Es ſcheint alſo, ſo viel man aus der etwas geſchwätzigen Darſtellung des alten Joniers ſchließen kann, daß er die Un— gleichheiten des Nils in beſtimmten Jahreszeiten dem Einfluß der Sonne bloß auf die Quellen dieſes Fluſſes zuſchreibt,

Eingang zur griechiſchen Philoſophie. 39

während er die andere Urſache, den Regen, ganz ausſchließen will, und daß unter dieſer Vorausſetzung der relative Erfolg derſelbe ſeyn würde, wenn die Sonne dieſe Quellen im Winter durch das Schmelzen des Schnees vermehrt, oder wenn ſie im Sommer dieſelben durch das vermindert, was er das Anziehen des Waſſers durch die Sonne nennt.

Dieſes Beiſpiel, eine phyſiſche Unterſuchung aus der früheften Zeit der Griechen, ſcheint mir klar dafür zu ſprechen, daß ihre Philoſophie über ſolche Dinge auf dem eigenen Boden ihres Landes entſtanden, nicht aber aus Aegypten oder aus dem Oſten dahin geführt worden iſt, eine Meinung, die auch jetzt von beinahe allen competenten Richtern angenommen iſt ). In der That haben wir kein deutliches Zeugniß, daß die Afrikaniſchen oder die Aſiatiſchen Völkerſchaften, mit Ausnahme vielleicht der einzigen Indier, je den Trieb in ſich fühlten, ihre Begriffe von Urſache und Wirkung auf die ſichtbaren Erſcheinungen der Natur auf eine ſolche Weiſe anzuwenden, oder eine ſo ſcharfe Grenze zwiſchen einer fabelhaften Legende und einem Verſtandesſchluß zu ziehen, wie hier geſchehen iſt, oder endlich den Verſuch zu machen, durch Zuſammenſtellung mehrerer Erſcheinungen der— ſelben Art ſich zu der natürlichen Urſache derſelben zu erheben. Wir ſind daher auch wohl berechtigt, anzunehmen, daß dieſe Völkerſchaften den Griechen nicht gegeben haben, was ſie ſelbſt nie beſaßen, und daß daher die Philoſophie der Phyſik ſeinen eigenthümlichen und unabhängigen Urſprung in dem thätigen und ſcharfſinnigen Geiſte der Griechen ſelbſt ſuchen muß.

Zweiter Abſchnitt. Erfte Milsverftändniffe der phyfiichen Philofophie der Griechen.

Wir wollen nun zuſehen, mit welchem Glücke die Griechen den von ihnen eingeſchlagenen Weg verfolgt haben. Und hier müſſen wir ſogleich geſtehen, daß ſie ſich ſchon ſehr früh von der wahren Bahn, die allein zur Wahrheit führt, entfernten, und daß ſie in ein weites Feld von Irrthümern ſich verloren, in

1) Thirlwall, Geſch. von Griechenl. II. 130, und Ritter, Geſch. der Philoſophie I. 150—173.

40 Eingang zur griechiſchen Philoſophie.

dem ſie und alle ihre Nachfolger beinahe bis auf unſere Zeiten herumgeſchwärmt ſind. Es wird unnöthig ſeyn, hier zu unter— ſuchen, wie es gekommen iſt, daß diejenige geiſtige Kraft, welche uns zur Aufſpürung der Wahrheit verliehen worden iſt, ſo lange irre geführt und gleichſam gemißbraucht werden konnte. That— ſache iſt, daß die phyſiſche Philoſophie der Griechen nur zu bald eine tändelnde, werthloſe Sache wurde, und es wird nun an uns ſeyn, zu finden, worin eigentlich der Hauptmißgriff derſelben beſtand.

Kehren wir, zu dieſem Zweck, noch für einen Augenblick zu der vorhergehenden Erklärung Herodots von der Ueberſchwem— mung des Nils zurück. Er ſagt, das Waſſer werde von der Sonne angezogen. Dieß iſt eigentlich ein metaphorifcher Aus— druck, da der Begriff der Anziehung hier in einer viel allgemeinern, als in der gewöhnlichen Bedeutung genommen wird. Die abſtracte Bedeutung des Worts „Anziehung“ iſt aber bei unſerem Geſchicht— ſchreiber, wie wir geſehen haben, noch ſehr vag und unbeſtimmt. Man kann nämlich zweierlei dabei denken, entweder eine mecha— niſche oder eine chemiſche Attraction, entweder einen gewiſſen Druck, oder auch eine Art von Verdunſtung. Auf gleiche Weiſe führten beinahe alle erſten Verſuche, die Erſcheinungen der Natur zu erklären, auf ſolche abſtracte Begriffe, die dunkel und unbeſtimmt waren, wie z. B. die Worte Geſchwindigkeit, Kraft, Druck, Stoß, Moment u. dergl. Bald nach der Auf— nahme ſolcher Worte mußte man das Bedürfniß fühlen, ihnen eine ſchaͤrfere Bezeichnung, eine größere Beſtimmtheit zu geben, ſo daß ſie zu den geiſtigen Operationen, zu welchen man ſie verwenden wollte, mit Sicherheit und Conſequenz gebraucht werden konnten. Zu dieſem letzten Zwecke aber gab es zwei Mittel. Das eine beſtand in der Unterſuchung, in der Analyſe des Worts in Beziehung auf die Vorſtellung, welche dieſes Wort in uns hervorrufen ſollte, und das andere beſtand in der Unterſuchung des äußeren Gegenſtandes, welcher dieſes abſtracte Wort in uns erzeugt hatte. Der letzte Weg, die reelle Methode, konnte allein zu einem glücklichen Erfolg führen, aber die Griechen verfolgten nur den erſten Weg, die Verbal-Methode, und gingen eben deßhalb irre.

Wenn Herodot, als der Einfall von einer Anziehung des Waſſers durch die Sonne in ſeinem Kopfe entſtand, ſich bemüht

Eingang zur griechiſchen Philoſophie. 41

hätte, ſich ſelbſt weiter zu erklären, aber durch Thatſachen zu erklaren, auf welche Weiſe er dieſes Wort näher beſtimmen mußte, um es auf ſeinen Gegenſtand gehörig anzuwenden, ſo würde er ſich wahrſcheinlich bald der wahren Auflöſung des Problems genähert haben. Hätte er z. B. verſucht, ſich durch ſolche Thatſachen zu belehren, ob dieſe Anziehung der Sonne nur auf die Quellen des Fluſſes, oder ob fie auf den ganzen Lauf deſſelben und auch auf ſolche Gewäſſer einwirke, die nicht unmittelbar zu dem Nil ſelbſt gehören, ſo würde er ſich ſehr bald veranlaßt gefunden haben, ſeine Hypotheſe ganz zu ver— werfen. Er würde nämlich die ſehr einfache und leichte Bemer— kung gemacht haben, daß dieſe Anziehung der Sonne eine Ver— minderung aller expandirten und offenen Sammlungen von Flüſſigkeiten bewirkt, dieſe letzten mögen nun ein Fluß, ein See oder ein Meer ſeyn, ſie mögen aus einer Quelle kommen oder nicht. Dieſe Bemerkung aber würde ihm gezeigt haben, daß dieſe Einwirkung der Sonne, die auf den ganzen Nil ſtatthat, im Sommer fein Waſſer eben fo, wie das aller anderen Flüſſe, nur vermindere, und daß alſo auch dieſe Anziehung der Sonne nicht die Urſache ſeines Austritts ſeyn kann. Auf dieſem Wege würde er ſeine erſte, vage Conception von jener Anziehung näher begrenzt und ſchärfer bezeichnet, er würde ſie weſentlich korrigirt haben, und dadurch würde er auf den wahren Begriff der Verdunſtung geleitet worden ſeyn. Und auf gleiche Weiſe hätte es mit allen jenen erſten abſtracten Notionen geſchehen ſollen, bis endlich der verbeſſerte Begriff, den man damit ver— bindet, dahin gebracht iſt, daß er mit der Vernunft und zugleich mit dem Zeugniß der Sinne in eine Parınamelde und ſcharf begrenzte Uebereinſtimmung gelangt.

Aber auf dieſe Weiſe verfuhren jene griechiſchen Specula— toren nicht. Im Gegentheil, ſo bald ſie ein ſolches abſtractes, allgemeines Wort in ihre Philoſophie aufgenommen hatten, ſo ſuchten ſie nun eben dieſes Wort mit dem inneren Lichte ihres Geiſtes nach allen Seiten zu beleuchten und zu durchgrübeln, ohne ſich weiter um die Sache zu bekümmern, die in der äußeren Sinnenwelt jenem Worte entſprechen ſollte. Sie nahmen einmal als ausgemacht an, daß die wahre Philoſophie nur aus den inneren Relationen der Wörter hervorgehen müſſe, die in der Sprache des gemeinen Lebens gebraucht werden, und ſo ſuchten

42 Eingang zur griechiſchen Philoſophie.

ſie auch ihre Weisheit nur in dieſen Wörtern. Sie ſollten ihre erſten Conceptionen durch Beobachtung der Außenwelt fixiren und verbeſſern; aber ſie wollten ſie nur durch innere Reflexionen analyſiren und erläutern. Sie ſollten, durch wirkliche Verſuche, jene Conceptionen den Thatſachen anpaſſen, aber ſie wollten nur, umgekehrt, dieſe Thatſachen ſo lange modificiren und abändern, bis ſie ihren davon aufgefaßten Notionen angepaßt ſeyn würden. Sie ſollten, mit einem Worte, durch Induction beſtimmte Begriffe von den Dingen außer ihnen ſich verſchaffen, aber ſie wollten nur, durch Deduction, aus ihren Kunſtwörtern die denſelben, nicht aber die der Außenwelt, entſprechenden Reſul— tate ableiten.

Dieſe durchaus falſche Methode wurde ſpäter auf eine ſehr ausgedehnte Weiſe in den philoſophiſchen Schulen der Griechen verfolgt, zu denen wir nun übergehen.

Zweites Capitel. Die griechiſche Schulphiloſophie— Erſter Abſchnitt.

Allgemeine Gründung der griechilchen Schulphilofophie,

Die Naturphiloſophie der Griechen entſtand, indem ſie die ſie umgebende materielle Welt durch das Medium ihrer gewöhn— lichen Umgangsſprache betrachtete, und indem ſie zu der Unter— lage ihrer auf die Erſcheinungen der Natur gebauten Schlüſſe ſolche Worte brauchten, die wohl in einem weiteren und mehr abſtracten Sinne, als im gemeinen Leben, genommen waren, die aber demungeachtet eben ſo unbeſtimmt und dunkel waren. Eine ſolche Philoſophie aber, ſo ſehr ſie auch die aus der ge— meinen Sprachweiſe aufgenommenen Notionen analyſiren und ſublimiren mochte, konnte doch nie den Grundfehler, an welchem ihr erſtes Princip litt, wieder gut machen. Allein ehe wir von dieſem Fehler ſprechen, müſſen wir ihn zuerſt näher kennen lernen.

Griechiſche Schulphiloſophie. 43

Die Neigung des Menſchen, alles auf Gründe und Prin— cipien zurückzuführen, hat man ſelbſt in den Sprachgebäuden der Völker, ſchon in ſehr frühen Zeiten, bemerkt. Ein Beiſpiel da— von mag uns Thales, der eigentliche Gründer der griechiſchen Philoſophie, geben ). Als er gefragt wurde: „was iſt das Größte aller Dinge?“ antwortete er: „der Raum, denn alle Dinge ſind in der Welt, und die Welt ſelbſt iſt im Raum.“ Aber in Ariftoteles finden wir dieſe Art der Speculation auf ihrem höchſten Gipfel. Beinahe alle feine Unterſuchungen fängt er damit an, daß man „im gemeinen Leben ſo oder ſo ſage.“ So z. B. wenn er die Frage discutiren will, ob es in der Na— tur einen leeren Raum gebe, ſo beginnt er damit, in wel— chem Sinne wir zu ſagen pflegen, daß irgend ein Ding in einem andern enthalten ſey. Er zählt mehrere derſelben auf 2), indem wir z. B. ſagen, der Theil ſey in dem Ganzen, ſo wie der Fin— ger in der Hand iſt, oder die Species ſey in dem Genus, ſo wie der Begriff „Menſch“ in dem „des Thieres“ iſt; eben ſo, die Herrſchaft Griechenlands ſey in dem König, und dergl. Allein von allen dieſen Sprecharten, ſetzt er hinzu, iſt die beſte und eigentlichſte die, wenn wir ſagen, ein Ding ſey in einem Gefäße oder überhaupt in einem beſtimmten Raume. Wenn er bis dahin gelangt iſt, ſo unterſucht er auf dieſelbe Weiſe das Wort „Raum“ und kommt ſonach zu dem Schluſſe, „daß wenn ein „Körper einen andern Körper einſchließt, der eingeſchloſſene im „Raum ift, und wenn nicht, nicht.“ Ein Körper, fährt er dann fort, bewegt ſich, wenn er ſeinen Raum ändert; aber, ſetzt er wieder hinzu, wenn ein Gefäß Waſſer enthält, und wenn das Gefäß auch in Ruhe bleibt, ſo kann ſich doch noch das Waſſer im Gefäße bewegen, denn es iſt in dem Gefäße eingeſchloſſen, ſo daß alſo, wenn auch das Ganze ſeinen Raum nicht ändert, doch die einzelnen Theile ſich in einer kreisförmigen Bewegung befinden können. Von da geht er nun zu dem eigentlichen Pro— blem des „leeren Raumes“ über, und unterſucht wieder, in wie viel verſchiedenen Bedeutungen dieſes Wort in der griechiſchen Sprache gebraucht werden kann, und endlich nimmt er von allen dieſen Bedeutungen als die angemeſſenſte dieſe an, daß „leerer

1) Plutarch, Conv. Sept. Sap. Diog. Laert. I. 35. 2) Ariſtot. Phys. Ausc. IV. 3.

44 Griechiſche Schulphiloſophie.

Raum“ ſo viel heiße, als „Raum ohne Materie.“ Wie ganz ſteril und nutzlos aber dieſe Unterſuchung in Beziehung auf die darauf zu gründenden Folgerungen iſt, werden wir bald ſehen.

Wenn er an einem andern Orte ) das Problem der „mes chaniſchen Wirkung“ discutiren will, ſo heißt es: „Wenn ein „»Menſch einen Stein mit einem Stabe ſtößt, fo ſagen wir, „daß der Stein von dem Manne, und wir ſagen nicht, daß »der Stein von dem Stabe bewegt wird, aber das letztere iſt „eigentlicher geſagt, als das erſte.“

Auch leiten dieſe griechiſchen Philoſophen ihre Dogmen am liebſten aus den allgemeinſten und abſtracteſten Begriffen ab, die ſie nur auftreiben können, z. B. von dem Begriff des Uni— verſums, als der Einheit oder als des Inhalts aller Mannig— faltigkeiten. Und einen ſo aufgeſtellten, höchſt ſublimirten Begriff ſuchen ſie nun, wie ſie ihn mit mehreren anderen Con— ceptionen combiniren und vereinigen können, mit dem Ganzen und ſeinen Theilen, mit der Zahl, der Grenze, dem Raume, dem Anfang und Ende, dem Vollen und Leeren, der Ruhe und der Bewegung, der Urſache und der Wirkung u. ſ. w. Auf dieſe Weiſe z. B. beſteht die bekannte Schrift des Ariſtoteles De Coelo ganz und gar nur aus der Analyſe und Unterſuchung ſolcher, den eben angeführten ähnlichen Worten.

Das ſchöne Geſpräch Plato's, das Parmenides überſchrieben iſt, ſcheint anfangs zum Zweck zu haben, den gänzlichen Unwerth einer ſolchen philoſophiſchen Methode zu zeigen. Denn der Phi— loſoph, deſſen Namen der Dialog trägt, wird als im Streite mit Ariſtoteles aufgeführt, indem er den letzten durch eine Reihe von metaphyſiſchen Kunſtſtücken bis zu dem Schluſſe bringt: „daß, es mag nun Etwas exiſtiren oder auch nicht eriftiren, doch „daraus folgt, daß immer alles, und in allen Beziehungen, zu— „gleich iſt und nicht iſt, zugleich erſcheint und nicht erſcheint.“ Uebrigens iſt die Methode Plato's, ſo weit ſie das, was wir jetzt Wahrheit nennen, betrifft, um nichts beſſer oder inhalts— voller, als die ſeines großen Gegners. Sie beſteht, wie wir aus den meiſten ſeiner Dialogen, beſonders aus dem Timaeus ſehen, bloß in dem Gebrauch oder Mißbrauch von Wörtern, die eben ſo vag und unbeſtimmt find, als die des Peripatetikers. So

1) Ariſtot. Phys. Ausc. VIII. 5.

Griechiſche Schulphiloſophie. 45

tändelt er z. B. mit den Wörtern „Gut, Schön, Vollkommen“ u. f. und verwirrt die damit zu verbindenden Begriffe nur noch mehr, indem er ſie mit den ihm doch gänzlich unbekannten Ab— ſichten des Schöpfers aller Dinge und mit den Eigenſchaften des Univerſums in eine Art von Verbindung zu bringen ſucht. Auf dieſe Weiſe wird er durch eben ſolche Um- und Irrwege, wie Ariſtoteles, zu den im Alterthum berühmten Schlüſſen gelei— tet, daß der „leere Raum“ nicht exiſtirt, daß alle Dinge ihren „eigenen Raum“ ſuchen, und was dergleichen mehr iſt ).

Eine andere, den Griechen ſehr geläufige Art, zu philoſo— phiren, beſteht in den Gegenſätzen, wobei vorausgeſetzt wurde, daß Adjective oder Subſtantive, die im gewöhnlichen Leben, oder auch in der abſtracten Sprache der Schule einander entgegenge— ſetzt ſind, auch immer zu einer Grundantitheſe in der Natur führen müſſen, daher man dieſelben mit großer Sorgfalt unter— ſuchen ſolle. So belehrt uns Ariſtoteles?), daß aus den Gegen— ſätzen, welche der Scharfſinn der Pythagoräer in den Zahlen be— merkte, zehn Principien abgeleitet werden können, nämlich, das Begrenzte und Unbegrenzte; das Gerade und Ungerade; das Rechts und Links; das Männliche und Weibliche; Ruhe und Bewegung; Gerad und Krumm; Licht und Finſterniß; Gut und Bös; Eins und Alles; Kreis und Viereck. Wir werden bald ſehen, daß Ariftoteles eben fo geſchickt die Lehre von den vier Elementen und andern wichtigen Dogmen aus ähnlichen Anti— theſen ableiten kann.

Unſere Leſer werden ſich nicht verwundern, wenn wir ſagen, daß Discuffionen ſolcher Art nicht zur Wahrheit führen und durchaus von gar keinem reellen Nutzen ſeyn können. Wenn man alſo nur auf den wahren Fortſchritt unſerer Erkenntniß der Natur ſieht, ſo ſchrumpft die ganze große Maſſe der griechi— ſchen Philoſophie, ſo breit ſie ſich auch viele Jahrhunderte durch gemacht hatte, in einen kaum bemerkbaren Punkt zuſammen. Demungeachtet aber iſt der allgemeine Charakter dieſer Philoſo— phie, ſo wie auch ihr Schickſal von der Zeit ihres Anfangs bis zu der des gänzlichen Verfalls ihres hoch und lange verehrten Anſehens, für uns zugleich ſehr intereſſant und lehrreich. Geben

1) Timaeus, S. 80.

2) Metaphyſik I. 5,

46 Griechiſche Schulphiloſophie.

wir alſo einige Proben von dieſer Philoſophie aus der Zeit, wo ſie in ihrer höchſten Blüthe ſtand, d. h. aus den Werken des Ariſtoteles ſelbſt.

Zweiter Abſchnitt. Die Naturphiloſophie des Arittoteles.

Die vorzüglichſten phyſiſchen Schriften des Ariſtoteles ſind: Acht Bücher phyſtſcher Lectionen; vier Bücher von dem Himmel, und zwei von der Production und Deſtruction. Denn die Schrift „von der Welt“ wird jetzt allgemein als untergeſchoben betrach— tet, und die „Meteorologie“ iſt zwar ganz voll von Erklärungen natürlicher Erſcheinungen, enthält aber die Doctrinen der Schule nicht in ſo allgemeiner Form, wie die oben genannten Werke. Daſſelbe mag auch von den „Mechaniſchen Problemen,“ von den „Abhandlungen über verſchiedene Gegenſtände der Naturgeſchichte, „über die Thiere, Pflanzen, Farben, Schall u. f.“ geſagt werden, die wohl alle eine außerordentliche Menge von Thatſachen und eine wahrhaft bewunderungswürdige ſyſtematiſche Geiſteskraft des Stagiriten beweiſen, die aber keine rein philoſophiſche, keine Principien exponirende Werke find, und daher auch nicht hieher gehören.

Die „phyſiſchen Lectionen“ find das Werk, von dem die bekannte Anecdote gilt, die Simplicius, ein griechiſcher Com— mentator des VI. Jahrhunderts ſowohl, als auch Plutarch er— zählt. Es heißt, Alexander der Große habe ſeinem ehemaligen Lehrer über dieſes Werk geſchrieben: „Du haſt nicht gut gethan, „diefe Schrift herauszugeben; denn wie ſollen wir, deine Schü— „ler, die anderen Menſchen noch weiter übertreffen, wenn du, „was du uns gelehrt haſt, jetzt allen vorträgſt.“ Darauf ſoll Ariſtoteles geantwortet haben: „Meine Lectionen find, und find „auch zugleich nicht, von mir öffentlich bekannt gemacht worden, „denn fie werden nur denen verſtändlich ſeyn, die fie früher von „mir ſelbſt gehört haben, und allen andern nicht.“ Dieſe Ge— ſchichte mag wohl von denen erfunden worden ſeyn, die das Werk über ihre eigene Faſſungskraft gehalten haben, und man muß geſtehen, jeden einzelnen Satz deſſelben ſich klar zu machen, iſt ſehr ſchwer, wo nicht unmöglich. Doch läßt ſich ein großer Theil des Inhalts ohne Schwierigkeit verfolgen, um daraus den

Griechiſche Schulphiloſophie. 47

Charakter und die Grundſätze ſeines Vortrags abzuleiten, und das iſt es, was wir hier thun wollen.

Die Einleitung zu dieſem Werke beſtätigt ganz, was wir oben geſagt haben, daß er nämlich fetne Thatſachen und feine - darauf gebauten Schlüſſe ganz aus dem Sprachbau der von ihm gebrauchten Worte nimmt. „Wir müſſen vor allem, ſagt er, „von dem, was wir bereits wiſſen, zu dem übergehen, was wir „noch nicht kennen.“ Dagegen läßt ſich nichts einwenden, aber ſchon die nächſte Folge, die er aus dieſem Satze zieht, will uns nicht mehr einleuchten. „Wir müſſen daher, ſagt er, von dem „Allgemeinen zu dem Beſonderen übergehen. Und einiges von »dieſem Allgemeinen, fährt er fort, finden wir ſchon in unſerer „Sprache, denn die Wörter bezeichnen die Dinge in ihrer allge— „meinen und unbegrenzten Form, wie dieß z. B. bei dem Worte „Kreis der Fall iſt, und indem wir dieſelben näher beſtimmen, „entfalten wir das Einzelne, was in dieſem Allgemeinen einge— »ſchloſſen iſt.“ Er erläutert dieß ſogleich durch ein Beiſpiel: „Auf dieſelbe Art heißen, ſagt er, die Kinder anfangs alle Män— „ner Vater, und alle Weiber Mutter, aber jpäter unter: „Icheiden fie dieſe Gegenſtände beſſer.“

Dieſer Anſicht gemäß beginnt er damit, mehrere von den großen Fragen über das Univerſum aufzuſtellen, welche die ſcharffinnigſten Männer vor ihm fo anhaltend beſchäftigt hatten, indem er nämlich die Wörter und Ausdrücke betrachtet, mit welchen dieſe Männer die allgemeinſten Notionen der Dinge und ihrer Verhältniſſe zu einander bezeichnet hatten. Wir haben be— reits einige Beiſpiele von dieſem ſeinem Verfahren mitgetheilt, die folgenden werden es noch mehr in's Licht ſetzen.

Ob ein leerer Raum ſey oder nicht ſey, iſt bereits von vie— len Philoſophen unterſucht worden. Die Vertheidiger des leeren Raumes bringen für ihre Meinung kürzlich folgende Gründe: Ein leerer Raum muß ſeyn, weil ein Körper ſich ſonſt nicht bewegen könnte, ſo daß alſo ohne leeren Raum auch die Bewegung un— möglich wäre. Die Gegner aber ſagen: Es gibt keinen leeren Raum, denn die Intervalle zwiſchen den Körpern ſind mit Luft angefüllt, und die Luft iſt ein Körper. Dieſe Beweiſe hat man auch durch unmittelbare Experimente zu unterſtützen ge— ſucht. Anaxagoras und ſeine Schule hat gezeigt, daß die Luft, wenn ſie eingeſchloſſen wird, dem Drucke widerſteht, wie man

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ſieht, wenn eine aufgeblaſene Blaſe gepreßt, oder wenn ein umgekehrtes Glas im Waſſer untergetaucht wird. Auf der an— dern Seite aber wird wieder angeführt, daß ein mit feiner Aſche ganz angefülltes Gefäß doch eben ſo viel Waſſer aufneh— men kann, als wenn es gar keine Aſche enthält, was ſich nur erklären läßt, wenn man zwiſchen den Aſchentheilchen einen leeren Raum annimmt. Darauf entſcheidet nun Er ſelbſt die Frage dahin, daß es keinen leeren Raum gibt, und zwar aus folgenden Gründen ): „Im leeren Raume kann es keinen Un— »terſchied von Oben und Unten geben, denn da bei einem Nichts „kein Unterſchied ſeyn kann, fo kann auch keiner bei einer blo— „Ken Privation oder Negation exiſtiren; der leere Raum ift aber „eine bloße Privation oder Negation der Materie, alſo würden »ſich, in einem leeren Raum, die Körper weder auf- noch ab: „wärts bewegen, was fie doch ihrer Natur nach thun müſſen.“ Es iſt klar, daß eine ſolche Art zu argumentiren die gewöhn— lichen Worte der Sprache und unſere innere Verbindung dieſer Worte weit über die Herrſchaft der äußern Thatſachen erhebt, indem ſie die Wahrheit davon abhängig macht, ob dieſe Worte oder der damit verbundene Begriff privativ oder nicht iſt, und ob wir in der gewöhnlichen Sprache zu ſagen pflegen, daß die Körper ihrer Natur nach fallen. In einer ſolchen Philoſophie wird das Ergebniß jeder neuen Beobachtung ſo lange gedreht und gezwungen, bis es dem gewöhnlichen Sprachgebrauche entſpricht, weil der ganze Begriff auch nur aus dieſem Sprach— gebrauche ſelbſt entſtanden iſt.

Wir wollen hiemit nicht ſagen, daß die gewöhnliche Art der äußern Eindrücke auf uns, die offenbar auch die Baſis unſe— rer gewöhnlichen Sprache ſind, beſchränkt oder bloß zufällig ſeyen. Sie enthalten vielmehr allgemeine und nothwendige Be— dingungen unſerer Auffaſſung. So werden z. B. alle Dinge als im Raume und in der Zeit enthalten, als durch die Rela— tion von Urſache und Wirkung verbunden, von uns aufgefaßt, und ſo weit, als die Ariſtoteliſche Philoſophie bei dieſen Auf— faſſungen ſtehen bleibt, hat fie einen reellen Boden, obſchon ſelbſt in dieſem Falle ihre Schlüſſe oft ſehr unſicher ſind. Wir haben davon ein Beiſpiel in dem achten Buche?), wo er beweiſen

1) Ariſtot. Phyſik. IV. 7. 2) Idem, VIII. 1.

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will, daß es nie eine Zeit gegeben habe, in welcher Verän— derung und Bewegung nicht exiſtirt hätte. „Denn, ſagt er, „wenn alle Dinge einmal in Ruhe waren, fo müßte die erſte „Bewegung durch eine gewiſſe Veränderung in dieſen Dingen „erzeugt werden, d. h. fo müßte eine Veränderung ſchon vor der „allererften Veränderung da geweſen ſeyn.“ Und ſpäter: „Wie „könnte man vor und nach anwenden, wo keine Zeit exiſtirt? „oder wie kann die Zeit exiſtiren, wenn keine Bewegung da iſt? „Wenn die Zeit eine bloße Numeration der Bewegung iſt, und „wenn die Zeit ewig iſt, fo muß auch die Bewegung ewig ſeyn.“ Von dieſer Behauptung einer ewigen Bewegung geht er nun, durch eine ſonderbare Reihe von Schlüſſen, dahin weiter, dieſe ewige Bewegung mit der täglichen Bewegung des Himmels zu identi— ficiren. „Es muß, ſagt er ), etwas geben, welches das erſte „Bewegte iſt, wie das aus der Relation zwiſchen Urſache und „Wirkung folgt. Ferner muß aber auch die Bewegung immer „beitändig fortgehen, und daher entweder continuirlich oder „ſucceſſiv ſeyn. Allein von dem Continuirlichen ſagt man rich— „tiger, daß es beftändig iſt, als von dem Succeſſiven. Das „Continuirliche iſt daher das Beſſere. Aber das Beſſere iſt „immer zugleich das, was in der Natur ſtatt hat, wenn es „nur ſonſt möglich iſt. Alſo muß auch die erſte Bewegung des „Himmels eine continuirliche ſeyn, wenn ſonſt eine ewige Be— „wegung möglich ſeyn ſoll.“ Wir ſehen hier die vagen Bes griffe von Beſſer und Schlechter in ſeine Argumentation eingeführt, ſo wie er es vorhin mit dem Natürlich und Un— natürlich gemacht hat.

Aber gehen wir mit dem berühmten Stagiriten auf ſeiner Bahn noch weiter. „Wir wollen nun, ſagt er ), zeigen, daß „es eine ewige, einfache und continuirliche Bewegung gebe, und „daß dieſe kreisförmig ſeyn muß.“ Dieß wird nun, wie man leicht errathen kann, daraus bewieſen, daß ein Körper nur dann ſich ewig fortbewegen kann, wenn er ſich gleichfoͤrmig in einem Kreiſe bewegt. Und ſonach iſt denn, nach den Principien dieſer Philoſophie, dargethan, daß es ein erſtes Bewegtes gibt und geben muß, das ſich ewig und gleichförmig in einem Kreiſe bewegt.

1) Ariſtot. Phyſ. VIII. 6. 2) Ariſtot. Phyſ. VIII. 8. Whewell. I. 4

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Obſchon eine ſolche Art zu beweiſen uns gar zu tändelhaft erſcheint, um länger bei ihr zu verweilen, ſo war es doch noth— wendig, ſie kennen zu lernen, um unſerm Autor nicht Unrecht zu thun, und dann ſicher mit ihm weiter gehen zu können.

Gehen wir nun von ſeiner Lehre der Bewegung zu jener von den Elementen über, aus denen das Univerſum beſtehen ſoll, und bemerken wir dabei, daß die Sucht, ſpeculative Con— ceptionen aus den bloßen Verhältniſſen der Wörter zu ziehen, hier beſonders natürlich erſcheint. Denn die in einem ſehr wei— ten Sinne aufgefaßte Lehre von den vier Elementen, die gänz— lich aus dem Gegenſatze der vier Beiwörter heiß und kalt, feucht und trocken entſtanden zu ſeyn ſcheint, iſt viel älter, als Ariſtoteles, und war ſehr wahrſcheinlich eines der früheſten Dogmen der griechiſchen Philoſophie. Aber der große Meiſter in dieſer Kunſt brachte dieſe Anſicht in eine mehr ſyſtematiſche Form, als ſein Vorgänger.

„Wir ſuchen, ſagt er, die Principien der ſinnlichen, d. h. „der betaſtbaren Dinge. Wir müſſen daher nicht alle Antitheſen „der Qualität, ſondern nur diejenigen nehmen, die eine Bezie— „hung zu dem Taſtſinn haben. So unterſcheiden ſich z. B. „ſchwarz und weiß, ſüß und bitter, nicht als taſtbare Dinge, „daher fie auch hier ganz außer unſerer Betrachtung fallen.“

„Diejenigen Antitheſen aber, die dem Taſtſinn angehören, „find folgende: heiß und kalt; trocken und feucht; ſchwer und „leicht; hart und weich; fett und mager; rauh und glatt; dick „und dünn.“ Indem er nun weiter fortgeht, findet er, daß man alle dieſe Antitheſen, bis auf die vier erſten, verwerfen müſſe, aus verſchiedenen Gründen. Schwer und leicht z. B. werden verworfen, weil ſie nicht zugleich active und paſſive Eigenſchaften bezeichnen, und die andern alle, weil ſie bloße Combinationen aus den vier erſten ſind, welche letztere daher, nach feiner. Behauptung, die vier Elementarqualitäten der Materie ſeyn müſſen.

„Zwiſchen vier Dingen aber, heißt es weiter ), gibt es „»ſechs Combinationen zu zwei. Allein die Combinationen von „zwei entgegengeſetzten, wie heiß und kalt, müſſen verworfen „werden, fo daß wir alſo nur vier Elementarcombinatio⸗—

1) Ariſtot. De Gen. et Corrupt. II. 2.

Griechiſche Schulphiloſophie. 51

„nen haben, die offenbar mit den vier Elementarkörpern über: „einſtimmen. Das Feuer nämlich iſt heiß und trocken; die „Luft iſt heiß und feucht (denn Dampf iſt auch Luft); das „Waſſer iſt kalt und feucht, und die Erde endlich iſt kalt und „trocken.“

Bemerken wir, daß dieſer Hang zur Annahme einer Ele— mentareigenſchaft in den Fällen, wo man in der gewöhnlichen Sprache ein bloßes Beiwort braucht, nicht nur ſchon lange vor Ariſtoteles im Gebrauch war, ſondern auch viele Jahrhunderte nach ihm im Gebrauch geblieben iſt. Um nur eines diefer Fälle zu erwähnen, fo würde es wohl ſchwer ſeyn, Baco’s »Inquisitio „in naturam calidi“ von dem Vorwurfe zu befreien, ganz ver— ſchiedene Klaſſen von Erſcheinungen unter der gemeinſchaftlichen Decke des Wortes „heiß“ zuſammenzubringen.

Die Rectification dieſer erſten Anſichten über die elementare Zuſammenſetzung der natürlichen Körper gehört in eine viel ſpätere Periode, die eigentlich erſt nach der Wiedererweckung der Wiſſenſchaften eintrat. Indeß gibt es hier noch einige andere Sätze des Stagiriten, die wir beſonders betrachten müſſen, da ſie, bei jener Wiedererweckung, eine ſehr wichtige Rolle ſpielten, nämlich ſeine Lehre von der Bewegung.

Auch dieſe ſind auf ſeine Art, alle Schlüſſe aus gewiſſen Wörtern, beſonders aus Beiwörtern, abzuleiten, gegründet. Hier aber zieht er ſeine Folgerungen nicht bloß, wie oben, aus der Antitheſe der Wörter, ſondern auch aus einer Unterſchei— dung derſelben, ob ſie nämlich eine bloß relative, oder aber eine abſolute Wahrheit enthalten. „Die frühern Schriftſteller, „ſagt Ariftoteles, haben die Begriffe von ſchwer und leicht „nur relativ genommen, indem ſie ſolche Fälle betrachteten, „wo beide Dinge, die ſie mit einander verglichen, ein gewiſſes „Gewicht hatten, nur das eine mehr, das andere weniger, und „fie glaubten, auf dieſem Wege auch das abſolut (drAws) „Schwere und Leichte beſtimmen zu können.“ Heut zu Tage wiſſen wir, daß die Dinge, die wegen ihres geringen Gewichtes in der Luft aufwärts ſteigen, dieß nur deßwegen thun, weil ſie durch die ſie umgebende ſchwerere Luft aufwärts gedrückt werden. Allein dieſe ariſtoteliſche Annahme einer abſoluten Schwere, die offenbar ganz willkührlich oder vielmehr bloß eine nominelle iſt,

hat die ganze darauf gebaute Demonſtration unſers Philoſophen 4 *

52 Griechiſche Schulphiloſophie.

verdorben. Er geht davon aus, daß das Feuer Habſolut leicht“ iſt, weil es ſich immer über die übrigen drei Elemente erhe— ben will, und daß die Erde „abſolut ſchwer“ iſt, weil ſie ihre Stelle immer unter den drei andern Elementen einzunehmen ſtrebt. Er behauptet ferner, mit viel Scharfſinn, daß die Luft, die ihren Platz ſtets zwiſchen Feuer und Waſſer einzunehmen ſtrebt, dieß „nach ihrer Natur“ ſo thun müſſe, nicht aber in Folge von irgend einer Combination von andern Elementen. „Denn wenn die Luft, ſagt er, aus denjenigen Theilen zuſam— „mengeſetzt wäre, die dem Feuer ſeine Leichtigkeit geben, und „aus ſolchen, welche die Schwere hervorbringen, ſo könnte man „eine ſolche Quantität von Luft annehmen, die leichter wäre, „als eine andere Quantität von Feuer, das doch mehr leichte „Theile in ſich enthält.“ Und daraus ſchließt er dann, daß jedes von den vier Elementen nach der ihm beſonders angewie— ſenen Stelle ſtrebt, ſo daß das Feuer den höchſten Ort ein— nimmt, nach ihm die Luft, daß dann das Waſſer kömmt, und endlich die Erde am tiefſten ſteht.

Die ganze Reihe dieſer Fehlſchlüſſe kömmt aber nur aus einem Irrthume, der eigentlich wieder einen bloßen Verbal— urſprung hat, nämlich daher, daß er das Wort „Leicht“ bloß im Gegenſatze mit dem Worte „Schwer“ betrachtet, und daß er, was er „Leichtigkeit der Körper“ nennt, als eine dieſen Körper inhärirende Eigenſchaft betrachtet, da er ſie doch nur als die Wirkung der ſie umgebenden Körper hätte betrachten ſollen.

Es iſt immer merkwürdig, daß die Schwierigkeit, die noch jetzt den meiſten Anfängern in der Phyſik bei ihrem Eintritte in dieſe Wiſſenſchaft zu begegnen pflegt, die Schwierigkeit näm— lich, bei den Wörtern „oben“ und „unten“ ſich bloß entgegenge— ſetzte Richtungen zu denken, nicht nur von Ariſtoteles, ſondern überhaupt von allen griechiſchen Philoſophen ganz überſehen worden iſt. Sie waren von der runden Geſtalt der Erde feſt überzeugt, und ſie ſahen, daß, vermöge dieſer Geſtalt, alle Körper in convergierenden Richtungen gegen den Mittelpunkt der Erde gehen müſſen. Und da nun die ſchweren Körper in der That zu dieſem Mittelpunkte gehen, ſo mußte das Licht, als ein leichter Körper, von dieſem Mittelpunkte weg nach Außen zu gehen: „denn das Aeußere iſt dem innern Mittelpunkte der

Griechiſche Schulphiloſophie. 53

„Erde eben ſo entgegen geſetzt, wie das Schwere dem Leichten „gegenüberfteht ).“

Dieſes Beſtreben einiger Körper abwärts, und der andern aufwärts, und die daraus folgenden Erſcheinungen, ihr Gewicht, ihr Fall, ihr Schwimmen oder Untertauchen im Waſſer alles dieß, ſo ungenügend es auch ſeyn mochte, befriedigte doch den größten Theil der ſpeculativen Welt bis hinauf zu Galilei und Stevinus. Zwar hatte bald darauf Archimedes die wahre Lehre von den ſchwimmenden Körpern vorgetragen, die ſehr verſchieden von jener ariſtoteliſchen iſt, aber man blieb bei der letztern, als der vermuthlich beſten, ſtehen.

Ebenſo wurden die andern Theile von der Lehre der Bewe— gung durch unſern Stagiriten in demſelben Geiſte und mit dem— ſelben Erfolge vorgetragen. Nach ihm wird die Geſchwindigkeit eines auf dem Boden hingehenden Körpers allmählig geringer und hört endlich ganz auf (wobei er aber weder der Reibung, noch des Widerſtandes gedenkt); umgekehrt aber, die Bewegung eines in der Luft frei fallenden Körpers wird mit der Zeit immer ſchneller. Dieſe zwei Erſcheinungen erklärt er (oder be— zeichnet er vielmehr nur) dadurch, daß er die erſte Bewegung eine „gewaltſame,“ die andere aber eine „natürliche“ nennt. Seine ſpätern Nachfolger, die ſich feſt an dieſe Anſicht hielten, drückten ſie bekanntlich, um ſo wichtige Dinge leichter im Ge— dächtniß zu behalten, in Verſen aus 2). Von der natürlichen Bewegung (der fallenden Körper) hieß es:

Principium tepeat, medium cum ſine calebit. Der Anfang lau, gegen Mitte und Ende immer wärmer.

Von der „gewaltſamen“ Bewegung der z. B. auf einer horizon— talen Ebene fortgehenden Körper aber war die Regel:

Principium fervet, medium calet, ultima friget. Anfang heiß, Mitte warm, Ende kalt.

Ariſtoteles ſchien das Problem für ein ſehr ſchweres zu hal— ten, warum ein geworfener Stein ſich eine Weile durch bewegt und dann aufhört. Wenn die Hand, ſagt er, die den Stein

1) Ariſtot. De Coelo. IV. 4. 2) Alsted. Encycl. Vol. I. p. 687.

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wirft, die Urſache der Bewegung des Steins iſt, wie kann dieſer, ſobald er die Hand verlaſſen hat, ſich überhaupt noch bewegen? Und wenn er ſich doch noch bewegt, warum nicht immerfort? Er beantwortet dieſe Fragen auf folgende Weiſe ): „Bei dem Wurfe des Steins wird der Luft eine Bewegung „mitgetheilt, deren einzelne Theile den Stein vorwärts treiben; „und ſo wirkt jedes Lufttheilchen auf den Stein, bis er zu ſol⸗ „chen Lufttheilchen kommt, die nicht mehr auf ihn wirken, weil „auch die anfängliche (von der Hand erhaltene) Bewegung des „Steins nicht mehr auf dieſe Lufttheilchen wirkt.“ Man ſieht, daß er die durch die alltägliche Beobachtung bekannte Retarda⸗ tion des Steins in der Luft nicht der wahren Urſache, nämlich eben der den Stein umgebenden Luft, ſondern daß er ſie „dem Steine ſelbſt“ zuſchreibt, was offenbar wieder aus der Sprache des gemeinen Lebens genommen iſt, wo man auch ſagt, daß der „Stein ſelbſt“ ſich immer langſamer bewegt.

Einer der am heftigſten vertheidigten und beſtrittenen Sätze des Ariftoteles, ſelbſt noch bei der Wiederauflebung der phy— ſiſchen Wiſſenſchaften, war der 2): „daß derjenige Körper der »ſchwerere iſt, der bei gleichem Inhalt ſchneller abwärts geht.“ Die Anſicht, welche die Ariſtoteliker zu Galilei's Zeiten mit dieſem Satze verbanden, war, daß die Körper genau in demſel⸗ ben Verhältniß ſchneller fallen, je größer ihr Gewicht iſt. Ari— ſtoteles ſagt dieß auch ſelbſt in ausdrücklichen Worten ). Allein in einer andern Stelle ſcheint er wieder zwiſchen Gewicht und wirklicher Bewegung unterſcheiden zu wollen ). „In der „Phyſik, heißt es hier, nennen wir die Körper ſchwer und leicht „nach der Gewalt (Conn) ihrer Bewegung, aber dieſe Benen— „nungen find ihren wirklichen Operationen (evepysaıs) nicht „angemeffen, außer wenn man das Wort bonn (etwa Moment) „unter dieſen beiden Bedeutungen annehmen wollte.“ Diefer Unterſchied zwiſchen Gewalt (oder Facultät) der Bewegung, und zwiſchen der wirklichen Operation (oder Energie) derſelben, kömmt ſehr oft im Ariſtoteles vor, und wenn er auch nicht eben

1) Ariſtot. Phys. Ausc. VIII. 10.

2) Id. De Coelo. IV. 1.

3) Id. Ibid. III. 2.

a) Ibid. IV. 2. x

Griechiſche Schulphiloſophie. 55

ganz unfruchtbar ſeyn mag, ſo war er doch vorzüglich geeignet, zur bloßen nominellen Speculation hin- und von aller wahren Sachkenntniß abzuführen.

Die ſehr ſpitzfindigen Unterſchiede, die Ariſtoteles zwiſchen den verſchiedenen Arten der Urſachen aufgeſtellt hat, haben zwar auf ſeine Lehre von der Bewegung nur wenig unmittel— baren Einfluß, aber da ſie doch ſpäter in einem ſo weit ausge— dehnten Sinne aufgefaßt und ſo lange hartnäckig beibehalten wurden, fo müſſen wir ihrer hier noch in Kurzem erwähnen ). „Eine Art von Urſache, ſagt er, bezieht ſich auf die Materie „oder auf das Ding, woraus etwas gemacht iſt, z. B. Bronce „für eine Statue, Silber für ein Gefäß. Eine andere bezieht ſich „auf die Form oder auf die Aehnlichkeit, z. B. von der Octave »iſt die Urſache das Verhältniß von eins zu zwei; eine dritte „auf den Anfang oder die Entſtehung, fo iſt der Vater die Ur— »ſache des Kindes; und eine vierte endlich auf das Ende oder „den Endzweck, wie z. B. der Spaziergang die Urſache der Ge— »ſundheit iſt.“ Dieſe vier Arten von Urſachen, nämlich die materielle, formelle, die efficiente und endlich die finale, wurden lange wie hohe Leuchten aller ſpeculativen In— quiſitionen verehrt, und ſelbſt unſere gewöhnliche Umgangsſprache hat noch ſehr deutliche Spuren derſelben aufzuweiſen.

Meine Abſicht iſt, den Leſern die Principien und die ganze Art der ariſtoteliſchen Philoſophie, nicht aber die Reſultate derſelben mitzutheilen. Von dieſen letzten aber könnte man ohne Mühe mehrere anzeigen, die ſich ſo ſehr von unſern gegenwärti— gen Anſichten entfernen, daß man fie kaum ohne Lächeln vers nehmen kann. Ich erwähne hier nur kurz zwei derſelben.

Gleich im Eingange zu feiner Schrift: De Coelo, beweist er „die Vollkommenheit der Welt“ auf folgende Weiſe 2): „Die „Dinge, aus welchen die Welt beſteht, ſind alle ſolide Körper, „und fie haben daher alle drei Dimenſionen. Aber drei iſt „unter allen Zahlen die vollkommenſte, denn fie iſt die erfte „aller Zahlen (weil nämlich eins noch keine Zahl iſt, und weil man ſtatt zwei auch beide ſagen kann, während drei dies „jenige Zahl iſt, durch die wir auch alles bezeichnen können);

1) Ariſtot. Phys. II. 3. 2) Id. De Coelo. I. 1.

56 Griechiſche Schulphiloſophie.

„überdieß hat dieſe Zahl drei auch einen deutlichen Anfang, „eine Mitte und ein Ende u. ſ. w.“ Man ſieht, wie daraus unmittelbar folgen muß, daß dieſe Welt die vollkommenſte von allen möglichen Welten iſt, und daß überdieß dieſe ganze Be— weisart wieder nur auf bloßen Meinungen über die einzelnen Wörter der gemeinen Sprache gebaut iſt.

Das zweite Beiſpiel, aus demſelben Buche, fängt mit den folgenden Worten an: „Die einfachen Elemente der Natur müſ— „fen auch einfache Bewegungen haben. So haben auch in der „That Feuer und Luft ihre natürlichen Bewegungen aufwärts, „Waſſer und Erde aber abwärts, beide in gerader Richtung. „Aber außer dieſen (geradlinigen) Bewegungen gibt es auch noch „eine kreisförmige, die jenen Elementen nicht natürlich iſt, ob— „Ichon fie eine viel vollkommenere Bewegung iſt, als jene. Denn »der Kreis iſt ſelbſt eine vollkommene Linie, und eine gerade „Linie iſt dieß nicht. Es muß daher auch etwas geben, dem „oiefe vollkommene, kreisförmige Bewegung ebenfalls natürlich „it. Daraus folgt aber klar und unwiderſprechlich, daß es eine „gewiffe Eſſenz (3044) von Körpern geben muß, die ganz ver: „Ichieden von jenen vier Elementarkörpern, die göttlicher als »dieſe ſeyen, die daher auch über dieſen ſtehen müſſen. Denn „wenn diejenigen Dinge, die ſich in einem Kreiſe bewegen, in „einer unnatürlichen Bewegung begriffen ſeyn ſollten, fo wäre »es doch wunderbar, oder vielmehr, es wäre ganz abſurd, daß „eben dieſe unnatürliche Bewegung zugleich die einzige immer „fortgehende und wahrhaft unendliche Bewegung ſeyn ſollte, da „doch alle unnatürlichen Bewegungen ſehr bald ein Ende nehmen „müſſen. Aus allem dieſem folgt, denn fo müſſen wir fchließen, „daß es außer den vier Elementen, die wir hier auf der Erde vum uns haben, noch ein anderes von uns entferntes Element „geben muß, das deſto vollkommener iſt, je weiter es von uns »abſteht.“ Dieſes fünfte und vollkommenſte aller Elemente des Weltalls iſt denn das, was die ſpätern lateiniſchen Schrift— ſteller über Ariſtoteles die „Quinta Essentia“ genannt haben, und zugleich das, was noch jetzt, in unſerem gewöhnlichen Sprach— gebrauche, unter der Benennung der „Quinteſſenz“ ſelbſt dem gemeinſten Manne bekannt iſt.

Griechiſche Schulphiloſophie. 57

Dritter Abſchnitt. Techniſche Ausdrücke der griechilchen Schulen.

Bisher haben wir nur das Princip der griechiſchen Schulen betrachtet, das, wie wir geſehen haben, darin beſteht, ihre Doc— trinen nur aus der Analyſe der Wörter, wie ſie ihnen die ge— wöhnliche Sprache lieferte, zu entnehmen. Allein obſchon dieſe Philoſophen ihre Speculation mit dieſen Wörtern anfingen, ſo fanden ſie doch auch hald ſich gezwungen, dieſen Wörtern be— ſtimmte Bedeutungen und Begrenzungen zu geben, und ſo ent— ſtanden die techniſchen Ausdrücke dieſer Schulen. Die Ein— führung der letzten war allerdings ein wichtiger Fortſchritt der Erkenntniß in jeder Philoſophie, dieſelbe mag wahr oder falſch ſeyn, ſo daß es uns daher angemeſſen ſcheint, auch bei ihnen hier etwas zu verweilen.

A. Techniſche Ausdrücke der Ariſtoteliſchen Phi— loſophie.

Wir haben bereits in dem Vorhergehenden gelegentlich einige dieſer Ausdrücke des Stagiriten angeführt, wie z. B. die Wör— ter materiell, formell, final, cauſal, abſolut, relativ u. ſ. w. Wir wollen ihnen hier noch einige wenige hinzufügen.

Die Unterſcheidung zwiſchen Materie und Form, beſon— ders wenn dieſe Wörter auf metaphyſiſchem Wege im allgemein— ſten Sinn auf unſichtbare Dinge angewendet werden ſollten, wurde bald ein Lieblingsausdruck, eine ſtehende Redensart der ariſtoteliſchen Schule. Iſt doch dieſe Metapher ſelbſt jetzt noch einer unſerer gewöhnlichſten und wahrhaft fundamentalen Aus— drücke, wenn wir die Dinge, die den Sinnen und die dem Ver— ſtande angehören, unterſcheiden wollen. Auf die Anwendung dieſer zwei Wörter haben beſonders die deutſchen Philoſophen, bis auf unſere Zeit, einen großen Theil des Gewichts ihrer ver— ſchiedenen Syſteme gelegt, wie denn z. B. Kant ſagt, daß Raum und Zeit die Formen unſerer ſinnlichen Erkenntniß ſind.

Ein anderer Lieblingsausdruck des Ariſtoteles iſt die Anti— theſe von Kraft und Wirkung (dvvans xaı evepysia). Dieſe Diſtinction iſt die Baſis von den meiſten ſeiner phyſiſchen Phi— loſophemen. Beide Wörter wurden jedoch mit beſondern Beſchrän— kungen in die Schulen eingeführt. So hieß es: „Licht iſt die

58 Griechiſche Schulphiloſophie.

„Wirkung von dem, was leuchtet, ſo fern es leuchtet.“ Und wenn, wird dann hinzugefügt, „wenn das Leuchtende in Kraft, „aber nicht in Wirkung iſt, fo entſteht Finſterniß.“ Die obige Beſchränkung, „ſo fern es leuchtet,“ wurde daher genom— men, weil ein leuchtender Körper auch auf eine andere Art wirken kann. Eine Fackel z. B. kann ſich ſowohl bewegen als auch leuchten, aber ihre Bewegung iſt keine Wirkung derſelben, „jo fern fie leuchtet.“

Ariſtoteles ſchien mit dieſer Auseinanderſetzung ſelbſt ſehr zufrieden geweſen zu ſeyn, denn er fährt nun ſo fort: „Dem— „nach iſt das Licht kein Feuer, noch auch irgend ein anderer „Körper, noch auch der Ausfluß irgend eines Körpers (denn das „würde doch nur wieder ein Körper ſeyn), ſondern es iſt die Ge— „genwart von Etwas, gleich dem Feuer in den Körpern, allein „da es unmöglich iſt, daß zwei Körper in derſelben Stelle „zugleich ſeyn ſollen, fo iſt auch das Licht kein Körper.“

Ariſtoteles führte noch ein anderes Wort in ſeinen philoſo— phiſchen Vortrag ein, das er wahrſcheinlich ſelbſt geſchaffen hat, um dadurch diejenige Wirkung auszudrücken, die einer unwirk— ſamen Kraft entgegen geſetzt iſt. Dieß iſt das berüchtigte Evre- A held. So heißt es von der bekannten Definition der Be— wegung im dritten Buche feiner Phyſik ): „Die Bewegung iſt „die Entelechie eines bewegten Körpers in Beziehung auf feine „Beweglichkeit.“ Und eben ſo iſt, nach ſeiner Definition, „die „Seele die Entelechie eines lebenden Körpers vermöge ſeiner Kraft.“ Dieſes Wort wurde von den Nachfolgern des Stagiriten auf die mannigfaltgſte Weiſe überſetzt, und manche haben es auch für ganz unüberſetzlich erklart. Actus und Actio wollte den meiſten nicht genü— gend erſcheinen; actus verus, ipse cursus actionis erhielt von an⸗ anderen den Vorzug; auch primus actus wurde von mehreren ge— braucht, obſchon der letztere Ausdruck von einer anderen Schule in einer ganz verſchiedenen Bedeutung angewendet worden iſt. Budäus braucht dafür Eflicacia. Cicero?) paraphraſirt es mit: quasi quan- dam continuatam motionem et perennem. Aber dieſe Umſchreibung ſtimmt, wohl mit der Definition der Seele, wie ſie Cicero gibt,

1) Ariſtot. Phyſ. III. 1. 2) Cicero Tusc, Quaest. I. 10.

Griechiſche Schulphiloſophie. 59

aber nicht mit den übrigen Gegenſtänden überein, bei welchen jenes Wort überall von Ariſtoteles gebraucht wird. Von Her— molaus Barbarus erzählt man, er ſey von der Schwierigkeit, dieſes Wort gehörig zu überſetzen, ſo ſehr gepeinigt worden, daß er einſt bei Nachtzeit den böſen Geiſt zu Hülfe rief. Allein der alte Spötter ſagte ihm nur ein Wort, das noch dunkler war, als jenes, und endlich begnügte er ſich mit dem ſelbſt— gefundenen »perfectihabia.“

Es würde unangemeſſen ſeyn, hier die endloſen Reihen von techniſchen Ausdrücken aufzuführen, welche die ſpätern Zeiten in die ariſtoteliſche Philoſophie einzuführen beliebt haben. Be— merken wir jedoch bei dieſer Gelegenheit, daß der allgemeine und viele Jahrhunderte dauernde Gebrauch dieſer Kunſtwörter den mächtigen Einfluß einer jeden techniſchen Phraſeologie auf die Feſthaltung der Wahrheit ſowohl, als auch ſelbſt des Irrthums beweist. Dieſe ariſtoteliſchen Phraſen, und die metaphyſiſchen Anfichten, die fie involviren, find jetzt noch gang und gebe unter uns, und noch nicht vor langem hat es einem der erſten Schrift— ſteller Englands nöthig geſchienen, dieſe veralteten techniſchen Gerüſte durch die Waffen des Lächerlichen zu bekämpfen und ſie auf dieſe Art vielleicht aus unſerer Mitte zu verjagen. „Crambe „bedauerte höchlich, dieſe ſubſtantiellen Formen, dieſes „Geſchlecht von harmloſen Dingerchen, die ſich ſo viele Jahr— „hunderte friedlich unter uns herumgetrieben und gar manchem „unferer armen Philoſophen zu einem behaglichen Lebensunter— „halt gedient haben, und die man jetzt überall, wo man ſte trifft, „n iederſchießen und für immer von unſern Grenzen vertreiben „will, als ob ſie alle reißende Wölfe wären. Wie viel grau— „amer iſt man mit dieſen unſchuldigen Dingern verfahren, als „mit den ihnen fo ähnlichen Eſſenzen (Essentia, sor«), denen „man doch erlaubte, von den Schulbänken ſich in die Büchſen „unferer Apotheker zu flüchten, wo einige derſelben ihr Glück „gemacht haben, und ſogar bis zu 5 Grad von Quinteſſenzen yavancirt ſeyn ſollen ).

Betrachten wir nun auch in Kürze die techniſchen Ausdrücke einiger anderen griechiſchen Schulen.

1) Martinus Scriblerus Cap. VII.

60 Griechiſche Schulphiloſophie.

2. Techniſche Ausdrücke der Platoniker.

Die Ideen des Plato haben vielleicht eine größere Cele— brität erlangt, als alle techniſchen Phraſen der ariſtoteliſchen Schüler zuſammengenommen. Die Nachricht von der Entſtehung derſelben gibt uns Ariſtoteles ſelbſt ). „Plato, ſagt er, be— »ſchäftigte ſich in feiner Jugend viel mit Cratylus und den „Heraclitiſchen Dogmen, die alle ſinnliche Gegenſtände als in „einem beſtändigen Fluſſe darſtellen, ſo daß, in Beziehung auf „fie, keine beſtimmte Wiſſenſchaft oder Erkenntniß möglich ſeyn „toll. Dieſelben Anſichten behielt Plato auch in feinen fpäteren „Lebensperioden bei. Als aber ſpäterhin Sokrates bloß die „»moraliſchen Gegenſtände zu behandeln und die phyſiſchen ganz „zu vernachläßigen anfing, und dabei doch auch auf allgemeine „Wahrheiten gerieth, ſo ſchlug Plato einen ähnlichen Weg ein, „und conſtruirte die von ihm aufgefundenen Dogmen fo, daß „fie, wenn auch nicht auf ſinnliche Dinge, doch auf Gegenftände „höherer Art anwendbar ſeyn ſollten. Und dieſe Dinge, die „nach ihm die Subjekte jener allgemeinen Wahrheiten find, „nannte er Ideen.“

Ganz übereinſtimmend damit finden wir denn auch in dem „Parmenides“ des Plato, der, wie man dafür hält, die Lehre von den Ideen am beſtimmteſten ausgedrückt enthält, die— ſen Parmenides ſelbſt auf folgende Weiſe zu Sokrates ſprechen: „O Sokrates, die Philoſophie hat dich zwar noch nicht ganz „aufgenommen, aber fie wird, wie ich glaube, dieß bald thun, „und du wirft ihr keine Schande machen. Schon jetzt, noch ein „Jüngling, unterſuchſt du ſchon die Meinungen der Menſchen. „Aber ſage mir, ſcheint dir auch, daß es gewiſſe Ideen (Eıön) „gibt, von welchen die anderen ſinnlichen Dinge ihre Benennung „erhalten und angenommen haben, wie man z. B. die Dinge „ähnlich nennt, die mit anderen das Aehnliche angenommen „haben, oder die groß, die mit anderen die Größe gemein haben, „oder die ſchön und gerecht, die der Schönheit und Gerechtigkeit „theilhaftig geworden find.“ Dieſem ſtimmt nun Sokrates völlig bei. Und an einem anderen Orte deſſelben platoniſchen

1) Aristot. Mesaphys. I. 6 und XII. 4.

Griechiſche Schulphiloſophie. 61

Dialogs ſagt er, daß dieſe „Ideen“ keineswegs in unſerer ge— meinen Erkenntniß von den Dingen eingeſchloſſen ſind, daher ſie, wie er folgert, Gegenſtände oder Ausflüſſe eines höheren, göttlichen Geiſtes ſeyn müſſen. Auch in dem Phädon wird die— ſelbe Anſicht vorgetragen und das Ganze endlich in folgende Worte zuſammengezogen: „Daß jede Idee ihre eigene Exiſtenz „habe, und daß die anderen Dinge an dieſen Ideen theilnehmen „und auch, nach der Art dieſer Theilnahme, von uns ihre Benen— „nung erhalten.“

Die Folge, die daraus gezogen wird, iſt, daß der Menſch, um einer gewiſſen und wahrhaftigen Erkenntniß theilhaftig zu werden, ſich ſo ſehr als ihm möglich bis zu dieſen Ideen erheben müſſe, und da alle anderen Dinge nur nach dieſen Ideen be— nannt werden, ſo haben auch die letzten den Vorrang unter allen Dingen. Die Idee von gut, ſchön, weiſe iſt das erſte Gut, das erſte Schöne, die erſte Weisheit. Dieſe höch— ſten aller Ideen (denn es gibt mehrere Grade unter ihnen) ſind die ewigen und für und aus ſich ſelbſt beſtehenden, und ſie ſind es, welche die Verſtandeswelt bilden, die voll iſt von Mo— dellen und Archetypen aller erſchaffenen Dinge. Auf dieſelbe Weiſe, wie dort in den moraliſchen, betrachtet er auch bei ſeinen phyſiſchen Unterſuchungen die „Idee“ des primi calidi, des primi frigidi u. ſ. f. als die Fundamental-Principien, durch deren Einwirkung alle natürlichen Dinge kalt oder heiß u. ſ. f. genannt werden. Uebrigens finden wir in der platoniſchen Schule eben nicht viele Anwendungen ihrer Speculationen auf die Phyſik. Plutarch's Schrift „De primo frigido“ kann als eine ſolche betrachtet werden. Sie enthält in der That eine Discuſſion, die auch in den neueren Zeiten die Phyſiker beſchäf— tigt hat: ob nämlich die Kälte eine poſitive Eigenſchaft der Körper, oder eine bloße Negation ſey.

3. Techniſche Ausdrücke der Pythagoräer.

Die pythagoräiſchen Zahlen, fo weit fie als Mittel zur Erklärung der Natur dienen ſollten, ſind noch viel dunkler, als die platoniſchen Ideen.

Uebrigens finden ſich zwiſchen beiden auch mehrere Aehn— lichkeiten. Plato nannte ſeine Ideen auch Einheiten oder Monaden, und wie nach ihm dieſe Ideen, ſo ſind auch,

62 Griechiſche Schulphiloſophie.

nach Pythagoras, die Zahlen die Quellen aller Dinge ). Sie waren aber auch wieder unter einander verſchieden, da alle Dinge die Natur der platoniſchen Ideen nur durch „Participa— tion“ annehmen, während ſie die Natur der pythagoräiſchen Zahlen „durch Imitation“ theilen. Einige dieſer Zahlen wurden überdieß von den Pythagoräern mit ganz außerordentlichen At— tributen bekleidet, die oft ſehr ſonderbare und wahrhaft gewalt— ſame Analogien erzeugten. So wurde z. B. die Zahl Vier, die fie Tetras oder Tetractys nannten, für die allervollkom— menſte Zahl und gewiſſermaßen auch für eine Analogie der menſchlichen Seele gehalten. Allein dieſe Lehren der Pythagoräer ſind in große Dunkelheit gehüllt, und die Arbeiten ihrer ſpä— teren Commentatoren haben dieſe Dunkelheit nur noch größer gemacht. Die Liebe dieſer Schulen zu mathematiſchen Specu— lationen mag ſie wohl zu der Lehre von den Atomen und von da zu manchen anderen, vielleicht nützlichen Kenntniſſen geführt haben. Indeß, ſo viel uns bekannt iſt, waren dergleichen in den älteſten Schulen dieſer Secte nicht zu finden, und vielleicht iſt es erſt unſeren Tagen aufbehalten geweſen, unter den neueren Unter— ſuchungen der Chemie und Kryſtallographie Spuren ähnlicher Speculationen bei den Alten zu ahnen.

4. Techniſche Ausdrücke der Atomiſten und Anderer.

Die atomiſtiſche Doctrin war eine der beſtimmteſten und meiſt ausgebildeten Theorien der alten Phyſiker, und ſie wurde auch mit großem Eifer und Ernſt auf die Erklärung der Natur angewendet. Obſchon ſie aber, in den ältern Zeiten, zu keinem großen Erfolg führte, jo diente fie doch gleichſam als tradi— tioneller Träger vieler reellen phyſiſchen Wahrheiten durch eine lange Reihe von Jahrhunderten, aus welchem Grunde ſie auch von Baco feiner eigenen hiſtoriſchen Unterſuchung werth gehal— ten wurde 2).

Der Ausdruck „Atom“ ſelbſt bezeichnet hinlänglich die Natur dieſer Lehre. Nach ihr beſteht die ganze Welt nur aus Collectionen ſolcher „einfachen Körperchen,“ die alle von

1) Ariſtot. Metaph. J. 6. 2) Baco, Parmenidis et Telesii et praecipue Demacriti Philosophia M. f. deſſen Werke Vol. IX. 317.

Griechiſche Schulphilofonhie. 63

derſelben Art und von untheilbarer Kleinheit ſind (wie ſchon die Benennung Atom ſagt) und die durch ihre mannigfaltigen An— einanderfügungen und Bewegungen alle Körper der Natur her— vorbringen.

Dieſer Atomenlehre des Leucipp und Demokrit wurde die Homoiomeria des Anaxagoras entgegen geſetzt, d. h. die Meinung, daß alle materiellen Dinge aus ſolchen kleinſten Theilen beſtehen, die aber bei jeder Körperart homogen und nur bei verſchiedenen Körpern verſchieden ſind. Weil nun z. B. durch unſere Speiſen das Fleiſch, das Blut und und die Knochen des menſchlichen Körpers unterhalten werden, ſo müſſen auch, nach Anaxagoras, in jener Nahrung Theile des Fleiſches, des Bluts und der Knochen enthalten ſeyn. Wenn die erſte Meinung mit der Atomenlehre der neuern Zeit Ver— wandtſchaft hat, ſo kann die zweite als die erſte Dämmerung des Begriffs unſerer chemiſchen Verwandtſchaften angeſehen werden. Auch die Stoiker, die ſich ebenfalls, beſonders in den letztern Zeiten, zu den materialiſtiſchen Anſichten hinneigten, hatten ihre eigenen techniſchen Ausdrücke für ſolche Gegenſtände. Sie behaupteten, daß die Materie in ſich ſelbſt eine Tendenz oder eine Dispoſition zu gewiſſen Geſtalten trage, welche Dis— pofition fie Aoyoı onspuarınoı (Saamenſtoffe) nannten.

Was aber auch in dieſen techniſchen Ausdrücken aller diefer Schulen Geſundes und Brauchbares enthalten ſeyn mochte, ſo wurde es doch wieder durch das Vorherrſchen jener trockenen, mit Worten und Begriffen tändelnden Speculationen wieder verdunkelt und unnütz gemacht. Bei den Nachfolgern dieſer Männer wurde noch das wenige Gute, was jene gebracht hatten, durch den ungemeſſenen Hang zu Subtilitäten und zu den Commentationen der Schriften der Vorgänger, völ— lig verdorben, da es keinem derſelben einfiel, ſtatt jenen todten Büchern das große lebendige Buch der Natur ſelbſt zu befragen. Auf dieſe Weiſe dienten alle jene techniſchen Phraſen nur dazu, den traditionellen Dogmen der Secten Dauer und Feſtigkeit zu geben, aber ſie führten beinahe zu gar keiner reellen Erweiterung in der Erkenntniß der Natur.

Die wahren Fortſchritte, welche in den Naturwiſſenſchaften gemacht wurden, verdankt man, wenn man etwa die Lehre von der Harmonie bei den Pythagoräern ausnimmt, nicht dieſen

64 Griechiſche Schulphiloſophie.

philoſophiſchen Schulen, ſondern da und dort einzelnen Männern, die ihren eigenen Weg für ſich verfolgten. Die ſtolzen Erwar— tungen der alten griechiſchen Philoſophen, ihre großen Entwürfe, und alle ihre hochmüthigen, ſelbſtvertrauenden Unternehmungen endigten in einem totalen Fehlſchlagen aller eigentlichen Erkennt— niß der Natur und ihrer Erſcheinungen.

Dieſes Unfalls ungeachtet dürfen wir aber nicht zu klein von dieſen früheren Speculationen des menſchlichen Geiſtes denken. Die Männer, die ſich denſelben hingaben, waren mit einem außergewöhnlichen Scharfſinn, mit Erfindungskraft und mit einer ſeltenen Tiefe der Gedanken begabt, und, vor allem, ſie hatten das Verdienſt, die ſpeculativen Facultäten unſeres Geiſtes zuerſt kräftig entfaltet zu haben. Mit hohem Muthe drangen dieſe kühnen Jäger auf dem neuen Felde der Erkenntniß vor, und ſie ſind es, die zu aller folgenden Cultur und zur Erweiterung dieſer Kenntniſſe die erſte Gelegenheit gegeben haben. Dieſe Philoſophen des alten Griechenlands bilden gleichſam das heroiſche Zeitalter unſerer Literargeſchichte. Gleich den kühnen Schiffern in ihrer eigenen Mythologie ſteuerten ſie mit ihren unge— übten Barken muthvoll in das fremde, gefahrvolle Meer, voll von ſchönen jugendlichen Hoffnungen auf den glücklichſten Erfolg. Sie verfehlten wohl das goldene Vließ, das ſie ſo eifrig ſuchten, aber ſie erſchloſſen uns doch die Thore zu jenen unbekannten Gegenden, und ſie eröffneten jene hohe See vor unſern Blicken, auf der ſeitdem Tauſende von Abentheuern mit ihren bewim— pelten Fahrzeugen munter hin und wieder ſegeln, um den Schatz der geiſtigen Erkenntniß der Menſchheit in's Unendliche zu vermehren.

Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 63

Drittes Capitel.

Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie der griechiſchen Schulen.

Erſter Abſchnitt. Relultate der Schulphilofophie bei den Griechen.

Die Methoden, welche die Schulen der griechiſchen Philoſophie auf die Erſcheinungen in der Natur angewendet hatten, waren völlig mißrathen. Keine einzige Entdeckung eines allgemeinen Geſetzes, nicht einmal die Erklärung irgend eines ſpeciellen Phänomens der Natur brachten dieſe kühnen und ſcharfſinnigen Forſcher von ihren weiten Wanderungen zurück. Die Aſtronomie, die während der Dauer dieſer Schulen nicht unbedeutende Fort— ſchritte machte, verdankt vielleicht auch etwas davon dem hohen Anſehen, mit welchem Plato die Vorzüglichkeit und Allgemein— heit der mathematiſchen Methode angeprieſen hatte, ſo wie auch der Lehre von der Harmonie, die wahrſcheinlich die Liebe der Pythagoräer zu den Zahlen erzeugte, deren Eigenſchaften ein vorzüglicher Gegenſtand der Beſchäftigung ihrer Schulen wurde. Allein, außer dieſen erſten Verſuchen, gewannen die Wiſſen— ſchaften nichts von allen jenen philoſophiſchen Secten, und der weitläufige und verwickelte Apparat, den der Stagirite errichtet hatte, ſcheint auch nicht eine einzige phyſiſche Wahrheit hervor— gebracht zu haben.

Dieſer Vorwurf wird keiner weiteren Beweiſe bedürfen, da in dem ganzen großen, auf uns gekommenen Vorrath von grie— chiſchen Wiſſenſchaften nichts enthalten iſt, wofür wir ihnen und beſonders der ariſtoteliſchen Schule Dank wiſſen ſollten. Reelle Wahrheiten, einmal entdeckt, verbleiben bis an das Ende aller Zeiten ein Theil unſeres geiſtigen Schatzes, und ſie werden, durch alle Hinderniſſe ſpäterer Tage, doch immer leicht wieder erkannt. Allein wir können keinen einzigen phyſiſchen Satz an— anführen, den ſchon Ariſtoteles anticipirt hätte, auf die Weiſe nämlich, wie z. B. das Syſtem des Copernicus von Ari— ſtarch, oder die kreisförmigen Bewegungen der Geſtirne von

Plato, oder endlich die Verhältniſſe der geen Accorde Whewell. I.

66 Mißgeſchick der pſochiſchen Philoſophie d. griech. Schulen.

ſchon durch die Zahlenlehre der Pythagoräer anticipirt wor— den iſt.

Um dieß noch etwas näher zu betrachten, ſo finden wir unter den Werken des Ariſtoteles acht und dreißig Capitel von „Pro⸗ blemen,“ wie er ſie nennt, die vorzüglich geeignet ſind, die Fortſchritte kennen zu lernen, die dieſer Philoſoph in der Zurückführung der Erſcheinungen der Natur auf ihre „Geſetze und erſten Gründe“ gemacht haben mag. Die eigentlich phyſi— ſchen unter ihnen, die wir hier allein betrachten wollen, beziehen ſich beinahe alle auf ſolche Thatſachen, deren Erklärung recht eigentlich das Geſchäft der Theorie ſeyn muß. Man darf aber kühnlich ſagen, daß auch nicht eine von den Erklärungen, die Ariſtoteles von jenen Thatſachen gibt, eine wahrhaft werthvolle iſt. Bei den meiſten ertheilt er ſeine Antworten ſo zögernd und ſo ſchwankend, daß man den Mangel an wahrer wiſſenſchaft— licher Diſtinction ſeiner Ideen nicht weiter verkennen kann, wie denn auch die Endreſultate, die er aufſtellt, durchaus kein beſtimmtes allgemeines Princip in ſich enthalten. Vergeſſen wir aber dabei nicht, daß hier bloß von den eigentlich phyſiſchen Wiſſenſchaften des Ariſtoteles die Rede iſt.

Nehmen wir, zum Beweiſe unſerer Ausſage, eines der ein— fachſten dieſer Probleme, deſſen wahre Principien am nächſten bei der Hand liegen das mechaniſche: „Wie können,“ ſo fragt er), „kleine Kräfte große Laſten durch Hülfe eines Hebels „in Bewegung ſetzen, da doch hier, nebſt der Laſt, auch noch „der Hebel ſelbſt bewegt werden muß? Dieß geſchieht darum,“ antwortet er, „weil ein größerer Halbmeſſer ſich ſtärker bewegt, „als ein kleinerer. Wie kann ein kleiner Keil große Klötze „zerfprengen )? Weil der Keil aus zwei entgegen geſetzten „Hebeln beſteht. Warum muß ein Menſch, wenn er von „einem Stuhle aufſteht, ſeinen Fuß und ſeinen Körper in einen „ſpitzen Winkel mit ſeinem Schenkel verſetzen? ). Weil der „rechte Winkel mit der Gleichheit und Ruhe in Verbindung „fteht. Warum treibt ein Mann den Stein weiter mit einer „Schleuder, als mit der bloßen Hand . Weil er mit der

1 Aristot., Prob. 4. 2) Ibid. Exobl. 18. 3) Ibid. 31. 4) Ibid, 13.

Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 67

„Hand den Stein aus ſeiner Ruhe bewegt, während er mit der „Schleuder einen ſchon bewegten Stein in Bewegung ſetzt. „Wenn ein kreisförmiger Reifen gegen den Boden geworfen „wird, warum beſchreibt er zuerſt eine gerade Linie, und dann, „wenn er fällt, eine Spirale )? Weil die Luft ihn zuerſt „gleichmäßig auf beiden Seiten drückt und unterſtützt, ſpäter „aber nur auf einer einzigen. Warum iſt es ſo ſchwer, einen „Ton von feiner Octave zu unterſcheiden 27? Weil dann das „Verhältniß in der Stelle der Gleichheit fteht.“ Man muß geſtehen; daß dieß ſehr unbeſtimmte und werthloſe Ant— worten ſind. Denn ſelbſt wenn wir, wie einige Commen— tatoren gethan haben, mehrere derſelben fo auslegen wollten, daß ſte mit einer richtigen Anſicht der Sache übereinſtimmen, ſo ſind wir doch unfähig, in den Worten unſeres Autors irgend einen klaren Begriff von einem allgemeinen Princip zu entdecken, welche eine ſolche Auslegung erfordert.

Die Phyſik des Ariſtoteles kann daher nicht anders, als ein ganz mißglücktes Werk betrachtet werden. Er ſuchte keine allgemeinen Geſetze aus den Erſcheinungen, und wenn er daher dieſe Erſcheinungen erklären wollte, ſo hatte er kein Prineip, welches ihm dazu verhelfen konnte.

Daſſelbe kann auch von den phyſiſchen Speculationen aller anderen philoſophiſchen Schulen geſagt werden. Sie kamen zu keiner Lehre, aus welcher ſie, durch richtige Vernunftſchlüſſe, die Thatſachen, welche fie vor ſich ſahen, erklären konnten, obs ſchon ſie oft verſuchten, ihre Principien in Gegenden zu ſuchen, die ganz außer dem Bereich unſerer Sinne liegen. Auf dieſe Weiſe führte z. B. das Princip, daß jedes Element feine eigene Stelle ſuche, zu der Lehre, daß die Stelle des Feuers die höchſte, d. h. über der Luft, eine wahre Feuerſphäre ſey, aus welcher Lehre dann das Wort Empyreum entſtand, welches unfere, Dichter noch jetzt gebrauchen. Die Pythagoriſche Lehre, daß zehn die vollkommenſte Zahl ſey ), verleitete ſie zu der Ber hauptung, daß es auch zehn himmliſche Körper gebe, und da ſie nur neun derſelben kannten, fo ſagten fie kühn, daß es noch

1) Hei Ayvxa 11. 2) Ilegı Apuov 14. 3) Ariſtot., Metaphyſ.

68 Mißgefchiet der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen.

ein Antichthon (Gegenerde) gebe, die auf der andern Seite der Sonne ſtehe, und daher für uns unſichtbar ſey. Ihre Mei— nung über die Verhältniſſe der Zahlen führte ſie eben ſo zu ver— ſchiedenen anderen Speculationen über die Stellungen und Diſtanzen der Planeten, und da ſie früher ſchon gewiſſe Verhält— niſſe zwiſchen Diſtanzen und muſikaliſchen Noten gefunden hatten, ſo dachten ſie ſich, auf dieſen Grund hin, die Muſik der Sphä— ren aus. Obſchon wir alſo in der Phyſik der Griechen vergebens nach irgend beſſeren Reſultaten, als die vorhergehenden ſuchen, ſo darf es uns doch nicht überraſchen, daß mehrere Schriftſteller den Werth dieſer griechiſchen Philoſopheme viel höher ſchätzen, wenn wir bedenken, in welchem Grade der menſchliche Geiſt, ſo viele Jahrhunderte durch, von der Bewunderung des claſſiſchen Alterthums erfüllt geweſen iſt. Unter dieſen Bewunderern nennt man Dutens, der im Jahr 1766 feinen „Urſprung der den Neuern zugelegten Entdeckungen“ herausgegeben hat, und in welchem gezeigt wird, daß unſere berühmteſten Phyſiker den größten Theil ihrer Entdeckungen aus den Werken der Alten genommen haben. Die Abſicht dieſes Werkes iſt, wie man erwarten kann, dieß aus den Auslegungen der allgemeinen Phraſen, welche dieſe Alten gebraucht haben, zu beweiſen. Wenn z. B. Timäus in dem Dialog dieſes Namens von Plato, von dem Schöpfer der Welt ſagt ), „daß er in dieſe Welt zwei „Kräfte, die Quellen der Bewegungen derſelben und der verſchie— „denen Dinge gelegt habe,“ fo findet Dutens ?) in dieſer Rede einen klaren Beweis von der Central- und Tangential-Kraft der neuern Mechanik. Ganz eben ſo hatte er auch in den gewöhn— lichen Declamationen der Pythagoräer und Platoniker über die Verhältniſſe der Zahlen im Univerſum, den Zuſammenhang die— ſes Geredes mit dem Geſetze des verkehrten Quadrats der Ent— fernung entdeckt, welches der allgemeinen Gravitation zu Grunde liegt, obſchon er geſteht ), daß es all' den Scharfſinn News tons und ſeiner Nachfolger bedurfte, dieſe Entdeckung aus den kargen Fragmenten herauszufinden, durch welche ſie uns über— liefert worden ſind.

1) Timäus 96 a. 2) Edit. III. S. 83. 3) Ibid. S. 88.

Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 69

Verſuche ſolcher Art reichen offenbar nicht hin, das gänzliche Mißglücken der griechiſchen Philoſophie zu verſchleiern, oder viel— mehr, man muß ſagen, daß ſolche Argumente, immerhin die beſten, die man für jene Behauptung aufbringen kann, nur um ſo deutlicher das gänzliche Mißlingen jener Philoſophie darthun. Gehen wir nun zu den eigentlichen Urſachen ihres Mißgeſchickes über.

Zweiter Abſchnitt. Urſache des Milslingens der griechifchen Phylik.

Der Grund des Mißlingens ſo vieler Verſuche der Griechen, eine wiſſenſchaftliche Phyſik zu errichten, iſt ſo wichtig, daß wir ihn hier näher betrachten müſſen, obſchon eine vollkommene Entwicklung dieſes Gegenſtandes mehr in unſere künftige „Phi— „lofophie der Induction“ gehört. Wir wollen zuerſt einige Fehler auszeichnen, auf die des Leſers Verdacht gleich anfangs fallen könnte, die aber, wie wir bald zeigen werden, nicht die wahren Urſachen jenes Unfalls ſind.

Dieſe Urſache war erſtens nicht die Vernachläſſigung der Thatſachen. Es iſt oft geſagt worden, daß die Grie— chen alle Beobachtung verſchmäht, und alle ihre Philoſophie aus ihrem eigenen Innern herausgeſponnen haben, und dies wird von Mehreren als ihr Hauptfehler angeſehen. Es iſt ohne Zweifel wahr, daß der Ausdruck „Vernachläſſigung der Erfah— „rung“ fo ausgelegt werden kann, als wäre er ein Mangel der philoſophiſchen Methode ſelbſt, weil die Coincidenz aller Theorie mit der Erfahrung zu der Wahrheit von jener nothwendig iſt. Wenn man aber jenen Ausdruck näher beſtimmt, ſo glaube ich ſagen zu können, daß die griechiſche Philoſophie die Nothwen— digkeit und den hohen Werth der Beobachtungen gehörig aner— kannt habe; daß fie, gleich vom Anfange aus, von beob— achteten Thatſachen ausgegangen iſt, und daß ſie endlich keinen geringen Gebrauch davon bei der Claſſifikation und Anordnung

70 Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen.

der äußeren Phänomene gemacht hat. Wir müſſen dieſe Be- hauptung erläutern, weil es wichtig iſt, zu zeigen, daß ſolche Schritte allein noch zu keiner Wiſſenſchaft führen.

1. Die Anerkennung der Erfahrung, als des allgemeinen Grundes alles phyſiſchen Wiſſens, wird ſo allgemein als der unterſcheidende Charakterzug unſerer neuern Zeit angenommen, daß es wohl unſere Verwunderung erregen mag, zu hören, ſchon Ariſtoteles und andere alte Philoſophen haben auf das beſtimmteſte behauptet, daß alle unſere Erkenntniß mit der Erfahrung begin— nen muß. Sie drückten dieß ſelbſt auf eine unſerer philoſophi— ſchen Sprechart ähnliche Weiſe dadurch aus, daß man zuerſt eine Collection von einzelnen Facten haben, und dann aus dieſer erſt allgemeine Principien durch Induction ableiten müſſe, wo dann dieſe Principien, wenn ſie der höchſten Art waren, Axiome genannt wurden. Einige wenige Stellen werden dies näher zeigen.

„Der Weg der Philoſophie,“ jagt Ariſtoteles ), indem er von den Regeln der Schlüſſe ſpricht, „iſt derſelbe mit dem aller „anderen Wiſſenſchaften: man muß nämlich zuerſt Thatſachen „ſammeln und die Dinge, an welchen dieſe Thatſachen ſich er: „eignen, kennen lernen, und davon fo viel als möglich zuſam— „mentragen.“ Dann lehrt er, daß man nicht dieſe ganze Maſſe auf einmal, ſondern zuerſt nur kleine Theile derfelben, einen nach dem andern, betrachten ſoll. „Und auf dieſe Weiſe,“ fährt er fort, „iſt es Sache der Beobachtungen, die Principien für „jeden Gegenſtand anzubieten, wie z. B. die aſtronomiſchen „Beobachtungen uns die Prineipien der aſtronomiſchen Wiſſen— »ſchaft liefern. Denn wenn die Erſcheinung am Himmel gehörig „aufgefaßt ift, fo folgert man dann aus ihnen die Geſetze der „Sternkunde. Daſſelbe läßt ſich auch von jeder anderen Wiſſen— „Ihaft ſagen, fo daß, wenn wir einmal die Thatſachen (ra „Üünapxovra) eines jeden Gegenſtandes erhalten haben, es unſere e iſt, daraus den Lauf der einzelnen Sätze gehörig abzu⸗ „leiten,“

1) Anal. Prior. I. se.

Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 71

Dieſe Thatſachen (ra Unapxovra) begreift er wieder, au andern Orten, unter der gemeinſchaftlichen Benennung der Senſation. So ſagt er ): „Es iſt klar, daß wenn die „Senſation unvollſtändig iſt, jo wird auch die darauf gebaute „Erkenntniß unvollſtändig ſeyn, da wir zur Erkenntniß nur ent— „weder durch Induction oder durch Demonſtration gelangen „können. Die Demonſtration geht aber von allgemeinen, und »die Induction nur von beſonderen Propoſitionen aus. Allein „wir können keine allgemeinen theoretiſchen Propoſitionen, außer „durch Induction, haben, und Inductionen können wir nicht „ohne Senſation machen, denn die Senſation hat es immer nur „mit dem Einzelnen zu thun.“

In einer andern Stelle ) behauptet er, daß die Principien vorhergehen und früher bekannt ſeyn müſſen, als die Concluſionen, und dabei unterſcheidet er dieſe Principien in abſolute und rela— tive. „Dieſe für uns relative Principien ſind die, die der Sen— „ſation näher liegen; abſolute Principien aber, die von unſerer „Senſation weiter entfernt ſind. Die allgemeinſten Principien „find auch die von uns entfernteſten. Diejenigen allgemeinen „Principien aber, die zur Erkenntniß abſolut nothwendig ſind, „heißen Axiome.“

Zu den angeführten Stellen kann man noch diejenigen hin— zufügen, in welchen er zu erklären ſucht, wie Leucipp auf die Lehre von den Atomen gekommen iſt. Nachdem er die Meinungen einiger früherer Philoſophen über dieſen Gegenſtand mitgetheilt hat, ſagt er ): „Indem fie auf dieſe Weiſe der Senſation Ge— „walt angethan und ſie ganz gemißachtet hatten, weil, wie ſie „behaupteten, ſie nur dem Verſtande allein folgen müſſen, ſo „kamen einige dieſer Philoſophen zu dem Schluſſe, daß das Uni— „verſum ein einziges Ganze, unendlich und in ewiger Ruhe „ſey. Da es aber doch offenbar war, daß es bei dieſen ſogenann—

1) Anal. Post. I. 218. 2) Anal. Post. I. 2. 3) De Gen. et Cor. I. 8.

72 Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen.

„ten Vernunftſchlüſſen nahe an Wahnſinn gränzte, ſolche Mei— „nungen von den Thatſachen aufzuſtellen, weil doch keiner fo „tehöricht ſeyn wird, Feuer und Waller für eines zu halten, ſo „verfolgte Leucipp einen anderen Weg, der mit der Senſation „befler übereinſtimmte, und der doch wenigſtens nicht mehr im „Widerſpruche ſtand mit der Erzeugung und dem Untergange, „mit der Bewegung und der Abwechslung aller Dinge.“ Man ſieht daraus klar, daß die Schule, zu welcher Leucipp gehörte (die eclectiſche), wenigſtens anfänglich von der Nothwendigkeit durchdrungen geweſen ſeyn muß, daß jede philoſophiſche Theorie vor allem mit den Erſcheinungen der Natur in Uebereinſtimmung gebracht werden muß.

2) Auch war dieſe Anerkennung des großen Werthes der Beob— achtung nicht bloß eine leere Declamation, ſondern die griechiſche Philoſophie ging, gleich anfangs, bloß von Beobachtungen aus. Es iſt zuerſt klar, daß ſie dieſe ihre Principien nur in der Ab— ſicht annahmen, um dadurch mehrere ganze Klaſſen von Erſchei— nungen darzuſtellen, ſo unvollkommen ihnen auch dieſes zuweilen gelingen mochte. Das Princip, daß jedes Ding ſeine eigene Stelle ſuche, wurde bloß ausgedacht, um dadurch die Erſchei— nungen der fallenden und die der aufwärts ſtrebenden Körper (wie z. B. die des Feuers) zu erklären. Eben ſo, wenn Ariſto— teles ſagt, daß die Wärme dasjenige iſt, was die Dinge von derſelben Art zuſammenbringt, und die Kälte das, was die Dinge von derſelben und auch von verſchiedener Art zuſammen— bringt, ſo will er offenbar durch dieſes ſogenannte Princip die bekannten Erſcheinungen erklären, wie feuchte Dinge in der Kälte frieren, und wie durch Schmelzung andere Dinge getrennt werden. Denn, ſetzt er hinzu, wie das Feuer einander unver— wandte Dinge vereinigt, ſo trennt es auch wieder die einander verwandten. Man könnte leicht noch mehrere ſolche Beweiſe anführen, wenn nicht die Sache ſchon für ſich ſelbſt fo deutlich wäre. Denn wie konnte man doch ein Princip, gleichſam wie für einen Augenblick, aus Uebermuth oder Eigenſinn, auf Gerade— wohl annehmen, wenn es nicht einigermaßen wenigſtens an— nehmbar iſt, wenn es nicht, ſcheinbar wenigſtens, mit der Natur und der Erfahrung im Einklange ſteht.

Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 73

Allein die Werke des Ariſtoteles zeigen uns noch auf eine ganz andere Weiſe, wie ungerecht es gegen ihn ſeyn würde, an— zunehmen, daß er die Thatſachen und Erfahrungen mißgeachtet habe. Viele von ſeinen größern Abhandlungen beſtehen beinahe ganz nur aus ſolchen Thatſachen, wie z. B. die „von den Far— ben, den Tönen“, ſo wie auch die bereits oben erwähnten „Pro— bleme“, nicht zu erwähnen der wahrhaft großen Sammlungen von Thatſachen in ſeiner „Naturgeſchichte und Phyſiologie“, die einen ſo bedeutenden Theil ſeiner Werke bilden, und ſelbſt noch jetzt für ſehr belehrend gelten können. Eine geringe Ueber— legung wird uns ſchon zeigen, daß die geſammten Naturwiſſen— ſchaften unſerer eigenen Zeit, z. B. die Mechanik, die Hydro— ſtatik u. a. gänzlich nur auf ſolchen Thatſachen beruhen, welche die Alten eben ſo gut, als wir ſelbſt gekannt haben. Die eigentlich fehlerhafte Stelle ihrer Philoſophie alſo, wo ſie ſich auch befinden mag, liegt weder in ihrer Mißachtung des hohen Werthes der Thatſachen, noch auch in der Vernachläſſigung der practiſchen Anwendung derſelben.

3) Auch würden wir wohl der Wahrheit kaum näher kom— men, wenn wir ſagen wollten, daß Ariſtoteles und die andern alten Philoſophen wohl Thatſachen in Menge zu ſammeln, aber nicht, ſie zu vergleichen und zu claſſificiren wußten, und daß ſie alſo deßwegen zu keiner richtigen allgemeinen Erkenntniß gelan— gen konnten. Denn alle die oben erwähnten Abhandlungen des Ariſtoteles zeichnen ſich eben ſo vortheilhaft durch ſeine Kraft der Claſſification und der rein ſyſtematiſchen Zuſammenſtellung, als durch die eifrige Sammlung und Aufhäufung der einzelnen Thatſachen und Beobachtungen aus. Allein dieſe Claſſification allein führt uns noch zu keiner eigentlichen Erkenntniß, und man könnte noch gar manche Beiſpiele anführen von ſehr ſinnreichen, künſtlichen und äußerſt ſyſtematiſchen Claſſificationen, die dem— ungeachtet ganz unnütz und ohne allen guten Erfolg geblie⸗ ben ſind. N

So wurden z. B. lange Zeit durch alle feurigen Erſcheinun— gen am Himmel auf eine ſehr gelehrte Weiſe als Meteore in verſchiedene Klaffen gebracht. Kometen, Sternſchnuppen, Feuers

74 Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen.

kugeln, ſelbſt das Nordlicht in allen ſeinen Geſtalten wurden in beſtimmte Gruppen geordnet, und mit ſpitzfindiger Mikrologie in ein ſogenanntes meteorologiſches Syſtem zuſammengeſtellt. Allein dies Syſtem war einer ganz willkührlichen und daher auch ganz unfruchtbaren Art. Als Charakter der Eintheilung hob man die Geſtalt, die Farbe, die Bewegung dieſer Meteore her— aus, und wo der Verſtand nicht mehr ausreichte, mußte die Phantaſie nachhelfen, die in dieſen Meteoren feurige Speere, Schwerter, Wagen, Drachen und ſelbſt ganze Armeen erblickte. Durch eine ſolche Claſſification wurden alle jene Erſcheinungen ganz um ihren eigentlichen Werth gebracht, und dieſer Werth würde ſich nicht vermehrt haben, wenn auch die Anzahl dieſer Erſcheinungen ſelbſt noch ſo viel größer geweſen wäre. Keine Regel, kein Geſetz konnte auf dieſe Weiſe entdeckt werden, das die Probe mit der ihm entſprechenden Beobachtung ausgehalten hätte. Solche Claſſificationen alſo mußten von allen Berftäns: digen zur Seite geſtellt werden, wie fie denn auch alle längft ſchon vergeſſen find. In dieſen unſeren beſonderen Beiſpielen konnte man, auf jenem Wege, offenbar nie zu einer eigentlichen Wiſſenſchaft gelangen, und, man darf wohl ſagen, in Beziehung auf mehrere einzelne von dieſen Meteoren, kann man es auch ſelbſt heute noch eben fo wenig, nicht ſowohl aus Mangel an Thatſachen, noch auch aus Mangel einer ſyſtematiſchen Claſſiſi— cation, ſondern weil dieſe Claſſification der Art iſt, daß ſie kein reelles Princip enthält und auch nicht enthalten kann.

4) Da nun, nach dem Vorhergehenden, zu einer Wiſſen- ſchaft zwei Dinge nöthig ſind Erfahrungen und Ideen, und da, wie wir auch geſehen haben, die Erfahrungen oder die Beob— achtungen den alten griechiſchen Phyſikern nicht gemangelt haben, ſo müſſen wir nun nothwendig auf die Vermuthung kommen, daß der Fehler ihrer Philoſophie in den Ideen gelegen habe. Wie alſo, ſoll es ihnen an Geiſteskraft, an dem logiſchen Zu— ſammenhang ihrer Gedanken gefehlt haben? Da Niemand zweifeln kann, daß dieſe Frage verneint werden müſſe, ſo dürfen wir auch nicht weiter dabei verweilen. Nicht einer, der die Literargeſchichte der alten Griechen nur einigermaßen kennt, wird läugnen wollen, daß fie in Scharffinn, in der Kraft der ſtrengen

Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 75

Beweisführung, kurz in der geſammten Geiſteskraft von irgend einem andern Volke übertroffen worden ſeyen.

5) Gehen wir alſo wieder zu unſerer erſten Frage zurück: „worin beſtand der eigentliche radicale Fehler der philoſophiſchen „Schulen Griechenlands?“

Darauf antworte ich: „Dieſer Fehler beſtand darin, daß, „obfchon fie beides, Thatſachen und Ideen, im Ueberfluſſe be— „ragen, daß doch dieſe Ideen weder beſtimmt noch jenen That— „»ſachen angemeſſen waren.“

Dieſer eigenthümliche Character aller wahrhaft „wiſſenſchaft— lichen Ideen“, daß ſie „beſtimmt und den Thatſachen angemeſſen“ ſeyn müſſen, werden wir in dem bereits öfter erwähnten Werke „über die Philoſophie der inductiven Wiſſenſchaften“ umſtändlich auseinander zu ſetzen Gelegenheit erhalten. Hier wird es genü— gen, wenn der Leſer mit uns darin einverſtanden iſt, daß es für jede Klaſſe von Thatſachen eine ſpecielle Art von Ideen gebe, mittels welcher jene Thatſachen in allgemeine wiſſenſchaftliche Wahrheiten aufgenommen werden können, und daß dieſe Ideen, die wir eben deßwegen angemeſſen heißen wollen, mit völliger Beſtimmtheit und Klarheit aufgenommen werden müſſen, wenn ſie anders mit Nutzen auf jene Thatſachen angewendet wer— den ſollen. Der Mangel an ſolchen Ideen, die eine beſtimmte Beziehung zu den reellen äußeren Erſcheinungen in der Natur haben, dieſer Mangel alſo war es, der jene alten Philoſophen, mit ſehr wenig Ausnahmen, zu fo unbeholfenen und unglückli— chen Speculationen über die Natur verführte.

Wir wollen dieß, der größeren Deutlichkeit wegen, durch einige Beiſpiele erläutern. Ariſtoteles will unter anderen auch die bekannte Erſcheinung erklären, warum, wenn die Sonne einen Baum beſcheint, die kleinen hellen Stellen des Schattens am Boden immer kreisrund erſcheinen, da doch die Zwiſchen— räume der Blätter, durch welche die Sonnenſtrahlen dringen, um jene hellen Stellen zu erzeugen, nicht rund, ſondern von allen möglichen Formen ſind. Man ſollte auf den erſten Blick glauben, daß dieſe bellen Stellen die Geſtalt jener Zwiſchen—

76 Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen.

räume annehmen ſollten, ſo wie z. B. der Schatten der Körper an ſeiner Grenze auch die Geſtalt dieſer Körper annimmt. Wir erklären jetzt dieſe Erſcheinung bekanntlich als eine noth— wendige Folge der kreisförmigen Geſtalt der Sonne, indem wir vorausſetzen, daß jeder Punkt der Sonne ſein Licht in gerad— linigen Strahlen ausſendet. Aber ſtatt dieſer, der Sache ſelbſt völlig angemeſſenen Idee von geradlinigen Strahlen, geht Ariſtoteles von der (ganz unangemeſſenen) Vorausſetzung aus, daß das Sonnenlicht eine Circular-Natur habe, welche ſie daher auch überall zu äußern ſtrebe. Dieſe vage und ganz un— beſtimmte Conception von einer circularen Eigenſchaft des Sonnenlichts (ſtatt der eigentlichen und reell angebbaren Con— ception von geradlinigen Strahlen) war die Urſache, die den Stagiriten hinderte, von dieſer einfachen und alltäglichen Er— ſcheinung die wahre Erklärung zu geben.

Wie kam es ferner, um noch ein treffendes Beiſpiel zu geben, wie kam es, daß Ariſtoteles, dem doch die Eigenſchaft des He— bels und noch ſo manche andere Wahrheit der Mechanik wohl bekannt ſeyn mußte, doch unfähig war, daraus auch nur den Anfang einer eigentlichen Wiſſenſchaft zu conftruiren, wie doch nach ihm Archimedes in der That gethau hat?

Die Urſache war, daß er, ſtatt Ruhe und Bewegung direct und beſtimmt und mit Beziehung auf ihre Urſache (d. h. auf Kraft) zu betrachten, daß er unter ganz anderen Anſichten und Ideen herumſchweifte, die er zu keinem ſtetigen Zuſammen— hange mit den Thatſachen bringen konnte, nämlich unter den Eigenſchaften des Kreiſes, der Geſchwindigkeitsverhältniſſe, und unter den unbeſtimmten Notionen von „ſeltſam und gewöhnlich“, von „natürlich und unnatürlich“, und was dergleichen mehr iſt. So ſetzt er, im Eingange zu ſeinen „mechaniſchen Problemen“ einige Schwierigkeiten, die er in ſeinem Werke zu bekämpfen haben würde, auseinander, und ſagt dann: „In allen dieſen „Fällen enthält der Kreis das eigentliche Princip von jenen Ur— „ſachen. Darauf muß man daher auch vorzüglich ſehen, denn „es kann nicht abſurd ſeyn, aus etwas ſchon an ſich Wunder: „baren etwas anderes noch Wunderbareres abzuleiten. Nun iſt

Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 77

„aber das Wunderbarſte von allem das, daß einander entgegen— „gefeßte Dinge verbunden werden können. Der Kreis iſt jedoch nur „aus ſolchen Verbindungen von entgegengeſetzten Dingen entſtan— „den: denn der Kreis wird durch einen ruhenden Punkt und durch „eine ſich bewegende Linie erzeugt, welche beide Dinge einander in „ihrer innerſten Natur entgegengeſetzt ſind, ſo daß wir uns alſo „nicht weiter verwundern dürfen, wenn aus ihm auch wieder „ſolche entgegengeſetzte Dinge entſpringen. So hat zuerſt die „Peripherie des Kreiſes, obſchon fie eine Linie ohne Breite iſt, „ganz entgegengeſetzte Eigenſchaften; denn fie iſt zugleich con ver „und auch concav. Zweitens hat der Kreis auch entgegenge— „ſetzte Bewegungen, indem er zugleich vor- und rückwärts geht, „indem die Peripherie, wenn ſie von einem Punkte ausgeht, zu „demſelben Punkte wieder, auf beiden Seiten, zurück kommt, ſo „daß der erſte Punkt zugleich der letzte iſt. Es wird daher, nach „allem bisher Geſagten, Niemand mehr wunderbar erſcheinen, „wenn der Kreis zugleich das Princip von andern, ebenfalls „wunderbaren Erſcheinungen iſt.“

Nach dieſem ſonderbaren Exordium, das ganz im Geſchmacke unſerer neuern deutſchen Naturphiloſophie verfaßt iſt, geht er nun zur näheren Erklarung der Erſcheinungen an dem Hebel aus jenen „wunderbaren Qualitäten“ des Kreiſes über. „Die wahre „Urſache, ſagt er in ſeinem vierten Problem, warum eine Kraft „in einer größeren Entfernung von dem Unterſtützungspunkte ein „gegebenes Gewicht leichter bewegt, iſt, weil ſie einen größeren „Kreis beſchreibt.“ Früher hat er ſchon feſtgeſetzt, daß wenn ein Körper an dem Ende eines Hebels in Bewegung geſetzt wird, derſelbe als zwei Bewegungen in ſich enthaltend betrachtet wer— den muß, nämlich eine in der Richtung der Tangente und die andere in der Richtung des Halbmeſſers des Kreiſes. Jene erſte iſt, wie er ſagt, die der Natur angemeſſene, und dieſe nennt er die der Natur conträre Bewegung. Nun iſt aber in dem kleineren Kreiſe die conträre Bewegung jtärfer, als in dem größeren Kreiſe, „deßhalb, ſetzt er hinzu, wird das Bewe— „gende oder das Gewicht an dem längeren Hebelsarme durch die— „ſelbe Kraft einen weiteren Weg fortgeführt, als das Bewegte, „welches letztere am Endpunkte des kürzeren Armes liegt.“

78 Mißgeſchick der pſochiſchen Philoſophie d. griech. Schulen.

Dieſe unbeſtimmte und ganz unangemeſſene Notion von na- türlicher und unnatürlicher Bewegung konnte unmöglich zu irgend einer wahrhaft wiſſenſchaftlichen Erkenntniß führen, und einer Gedankenfolge, die ſolche Speculationen ausbrütete, mußte die Auffaſſung eines wahren mechaniſchen Princips ganz unausführ— bar ſeyn. In dieſem Falle alſo beſtand der Fehler unſeres Philo— ſophen in der Vernachläſſigung einer den Thatſachen angemeſ— ſenen Idee, nämlich der Idee von irgend einer mechaniſchen Urſache, die wir jetzt Kraft nennen. Einer ſolchen Idee, die ihm fehlte, fubftituirte er ganz andere vage und unangemeſſene, ja ſelbſt unanmeßbare Notionen von den Verhältniſſen des Raumes und von den wunderbaren Eigenſchaften des Kreiſes.

Alle übrigen Beiſpiele, die wir noch anführen könnten, ſind von derſelben Art. Wir wollen uns daher mit der Anführung von jenen beiden begnügen, und wir hoffen, daß nun unſere Leſer darin mit uns vollkommen übereinſtimmen werden, daß man aus den beobachteten Thatſachen nur dann allgemeine Wahr— heiten ableiten kann, wenn wir auf dieſe Thatſachen diejenigen ihnen angemeſſenen Ideen anwenden, durch welche feſte, be— ſtimmte und dauernde Relationen zwiſchen dieſen beiden Dingen erhalten werden können.

Allein an ſolchen Ideen waren die Alten ſehr arm, und der verkrüppelte und unförmliche Wuchs ihrer Naturwiſſenſchaft war die unmittelbare Folge dieſer Armuth. Sie beſaßen allerdings ſehr deutliche Ideen von Raum und Zeit, von Zahl und Bewe— gung, und jo weit dieſe reichten, war auch ihre Erkenntniß er- träglich gut zu nennen. Auch hatten fie einen Schimmer von den Ideen eines Mediums, durch welches wir mehrere Eigen— ſchaften der Körper, z. B. die Farbe oder den Ton erkennen. Aber die Idee der Subſtanz blieb trocken in ihrem Geiſte. In⸗ dem ſie über die Elemente und die Qualitäten des Univerſums ſpeculirten, verloren ſie ſich auf Irrwege, weil ſie vorausſetzten, daß die Eigenſchaften des Zuſammengeſetzten mit denen feiner, Elemente identiſch ſeyn müſſen, und fo viel und lange fie auch mit den Ideen des Uebereinſtimmenden und Entgegengeſetzten tän— delten, ſo gelangten ſie doch nie zu einem Begriffe, dem unſerer modernen „Polarität“ ähnlich, durch welche die neueren Phy—

Mißgeſchick der pfochifchen Philoſophie d. griech. Schulen. 79

ſiker und Chemiker ſo manche verwickelte Erſcheinungen der Na— tur, ſo weit es uns jetzt möglich iſt und in Erwartung eines künftigen beſſeren Princips, mit einſtweilen hinlänglicher Ge— nauigkeit zu erklären wiſſen.

In dem nächſten Buche werden wir den Einfluß dieſer all— gemeinen Idee auf die Bildung der verſchiedenen Wiſſenſchaften beſſer kennen lernen. Wir bemerken zuvor nur noch, daß wir, um den Naturwiſſenſchaften der Griechen volle Gerechtigkeit wieder— fahren zu laſſen, nicht den ganzen Lauf dieſer Schulen bis an ihren endlichen Verfall zu verfolgen nothwendig haben. Der Zu— wachs dieſer Schulen an ſolchen Kenntniſſen, wie wir fie in uns ſerer Geſchichte zu betrachten haben, war ſehr gering Die ſpä— teren Anführer dieſer philoſophiſchen Secten traten beinahe alle in die Fußtapfen ihrer erſten Meiſter, und obgleich ſie gar manches an ihren Lehren änderten, ſo konnten ſie ihnen doch beinahe Nichts von Bedeutung hinzuſetzen. Die Römer aber nahmen die Philoſophie der von ihnen beſiegten Griechen ohne weiteres unter ſich auf, und blieben immer, wie ſie auch ſelbſt geſtanden, tief unter ihren Lehrern. Sie waren eben ſo unbe— ſtimmt und willkührlich in ihren Ideen, wie die Griechen, ohne den Scharfſinn, die Erfindungskraft und den ſyſtematiſchen Geiſt der letzteren zu beſitzen. Um die vage Unbeſtimmtheit, welche die Griechen mit ihren oft ſehr tief gehenden Specula— tionen zu verbinden wußten, noch nach Kräften zu vermehren, führten die Römer eine gewiſſe rhetoriſche Declamation in ihre Philoſophie ein, welche wahrſcheinlich aus ihrem gewohnten politiſchen Treiben auf dem Forum hervorging, und welche die ohnehin nur düſter ſchimmernde Wahrheit noch mehr verdun— kelte. Doch läßt ſich unter denjenigen römiſchen Philoſophen, welche dieſer Vorwurf am meiſten trifft (Lucrez, Plinius, Se— neca u. a.), die dieſem Volke eigene Kraft und ihr ſtolzes Nationalgefühl nicht verkennen. Es liegt etwas ächt Römiſches in dem öffentlichen Geiſte, in jener Anticipation der Univerſal— monarchie, die fie, auch als Bürger jener intellectuellen Repn— blik, zu errichten gedenken. Sie ſprechen nur mit Bedauern, mit Mißachtung von den Werken ihrer eigenen Generation, aber ſie beurkunden einen tieferen und lebendigeren Glauben an die

80 Mißgefchie der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen.

Würde und an die künftige Entwickelung des Menſchengeſchlechts, als man unter den Philoſophen des alten Griechenlands zu finden gewohnt iſt.

Wir müſſen nun einige Schritte zurück gehen, um mehrere viel beſtimmtere Schritte zur Ausbildung der Wiſſenſchaften zu beſchreiben, als die ſind, mit welchen wir uns bisher beſchäftiget haben.

Zweites Buch.

Geſchichte der Uaturwillenkchatten des alten Griechenlands.

Whewell. J. 6

Hooun$evs ea nog Imynv xhonaıav, didaoxaAog rexvns Ilaons ßeotoıs nepnve.

Prometheus, des Feuers verſchloſſene Quelle, erſchien den Sterblichen der Lehrer aller Wiſſenſchaft. RN.

Aeschyl. Prom. Vinct. 109.

Ein lei u u .

Eine wahre Naturwiſſenſchaft erfordert, wie bereits gefagt, beſtimmte und angemeſſene Ideen, angewendet auf Beobachtun— gen. Dieſe Ideen werden dann zu allgemeinen Sätzen fortge— führt, wie wir anderswo umſtändlicher zeigen werden, und dieſe Sätze endlich find es, aus welchen jede Wiſſenſchaft beſteht. Wir wollen ſehen, wie die Naturwiſſenſchaften auf dieſem Wege bei den Griechen entſtanden ſind. Wir treten nun in das Ge— biet der Aſtronomie, der Mechanik, Hydroſtatik, der Optik und Harmonik, von welchen Doctrinen wir die erſten Spuren und ihre nächſten Fortſchritte auseinander ſetzen wollen.

Von dieſen einzelnen Parthien der menſchlichen Geſammter— kenntniß iſt ohne Zweifel die Aſtronomie die älteſte und merk— würdigſte, und wahrſcheinlich war ſie in einer Art von wiſſen— ſchaftlicher Geſtalt ſchon in Chaldäa, Aegypten und in anderen Gegenden vorhanden, ehe ſie in den Kreis der intellectuellen Thätigkeit der Griechen aufgenommen wurde. Doch müſſen wir, ehe wir von der Aſtronomie ſprechen, zuvor der andern Wiſſen— ſchaften Erwähnung thun, weil erſtens der Urſprung der Aſtro— nomie in der Dunkelheit des entfernten Alterthums verborgen iſt, ſo daß wir die näheren Umſtände ihrer Entſtehung nicht, wie bei den ſpäter entſtandenen Wiſſenſchaften, mit Beiſpielen bele— gen können, und zweitens auch, weil ich die Geſchichte der Aftro- nomie, der einzigen wahrhaft fortſchreitenden Wiſſenſchaft des Alterthums, wenn ſie einmal von uns begonnen iſt, nicht gern durch andere Gegenftände wieder unterbrechen möchte.

84 Früheſter Zuſtand der Mechanik und Hydroſtatik⸗

Erſtes Capitel. Früheſter Zuſtand der Mechanik und Hydroſtatik. Erſter Abſchnitt. Mt ei d n i k

Die Aſtronomie iſt eine ſo alte Wiſſenſchaft, daß wir kaum eine Zeit in unſerer Menſchengeſchichte angeben können, wo ſie nicht exiſtirte. Die Mechanik im Gegentheile entſtand erſt nach der Zeit des Ariſtoteles, indem man Archimedes als den eigentlichen Gründer derſelben betrachten muß. Und was noch merkwürdiger iſt, und uns zugleich zeigt, wie wenig der Fortgang der Erkenntniß von den Menſchen ſelbſt abhängt: Dieſer Zweig blieb, obſchon anfangs der rechte Weg zu ſeiner Ausbildung eingeſchlagen wurde, unbebaut und ftationär durch beinahe zwei volle Jahrtauſende. Seit Archimedes bis auf Ga— lilei und Stevin wurde auch nicht ein einziger Schritt zur Ver— vollkommnung dieſer Wiſſenſchaft gemacht. Dieſer außerge— wöhnliche Stillſtand ſoll uns in der Folge beſchäftigen: jetzt wollen wir den erſten Anfang dieſer Doctrin betrachten.

Der große Schritt des Archimedes beſtand in der gehörigen Begründung des Hauptſatzes über den geradlinigen Hebel, der mit zwei Gewichten beladen und in einem Punkte unterſtützt iſt. Dieſer Satz beſteht darin, daß die zwei Gewichte im Gleichge— wichte ſind, wenn ſie ſich verkehrt, wie ihre Entfernungen von dem Unterſtützungspunkte befinden.

Archimedes beweist dieß in einem Werk, welches wir noch beſitzen, und ſein Beweis, der einfachſte von allen, iſt auch in unſere heutigen Lehrbücher aufgenommen worden. Er ſteht in inniger Verbindung mit dem Satze, daß jeder ſchwere Körper einen beſtimmten Punkt habe, welchen man den Schwerpunkt nennt. Und in dieſem Punkte kann man ſich jene beiden Ge⸗ wichte vereinigt denken, fo daß fie dann auf dieſen Punkt ganz eben ſo wirken, wie ſte früher, wo jedes Gewicht an ſeiner Stelle war, gewirkt haben. Oder allgemeiner: der Druck, durch welchen ein ſchwerer Körper getragen wird, bleibt derſelbe, wie

Früheſter Zuſtand der Mechanik und Hydroſtatik. 85

auch die Geſtalt und Lage dieſes Körpers geändert wird, wenn nur die Größe und Maſſe deſſelben nicht geändert wird.

Die Wahrheit dieſes Satzes wird durch alltägliche Erſchei— nungen beſtätiget. Das Gewicht eines Steinhaufens wird nicht geändert, wenn die einzelnen Steine deſſelben ihre Lage unter einander ändern. Wir können die Laſt eines Steines in unſerer Hand durch eine bloße Wendung deſſelben nicht anders machen. Wenn wir die Wirkung einer Wage oder eines ähnlichen Inſtru— ments unterſuchen, ſo ſehen wir noch deutlicher, daß die verän— derte Lage eines Gewichtes, oder die veränderte Stellung meh— rerer Gewichte, auf die Wirkung der Wage keinen Einfluß bat, ſo lange nur der Unterſtützungspunkt derſelben nicht geändert wird.

Dieſe allgemeine Thatſache wird uns klar, ſobald wir nur in unſerem Geiſte diejenige Vorſtellung aufnehmen, die nöthig iſt, ſie von anderen gehörig zu unterſcheiden. So vorbereitet, erſcheint uns dieſe Wahrheit offenbar, ſelbſt unabhängig von jedem Experi— ment; ſie ſcheint uns ein Geſetz zu ſeyn, dem jedes Experiment dieſer Art unterworfen ſeyn muß. Was iſt alſo die leitende Idee, die uns in den Stand ſetzt, über dieſe mechaniſchen Er— ſcheinungen Schlüſſe zu bauen? Mit einiger Aufmerkſamkeit auf den Gang dieſer Schlüſſe bemerken wir, daß dieſe Idee die des Druckes iſt. Dieſer Druck wird nehmlich als die meßbare Wir— kung aller ſchweren ruhigen Körper betrachtet, unterſchieden von allen andern Wirkungen, wie z. B. Bewegung, Aenderung der Figur u. dgl. Ohne hier die Geſchichte der Entſtehung dieſer Idee in unſerer Seele geben zu wollen, mag es genügen, zu ſagen, daß eine ſolche Idee in uns deutlich hervorgebracht wer— den kann, und daß auch auf ihr das ganze Gebäude unſerer wiſſenſchaftlichen Statik errichtet worden iſt. Druck, Laſt, Ge— wicht, ſind Namen, durch welche dieſe Idee bezeichnet wird, wenn ihre Richtung direct abwärts geht; aber in anderen Faͤllen ſehen wir auch Druck ohne Bewegung, oder ein bloßes todtes Beſtre— ben der Körper. 2

Auch mag Druck in irgend einer Richtung ohne alle Bewe— gung beſtehen. Aber die Urſachen, die einen ſolchen Druck her— vorbringen, find auch fähig, Bewegung zu erzeugen, und erzeu— gen ſie auch gewöhnlich, wie z. B. bei zwei Ringern, oder auch bei der Wage, wenn man ſie zum Wägen braucht. Auf dieſe

86 Früheſter Zuſtand der Mechanik und Hydroſtatik.

Weiſe kamen wir dahin, den Druck als die Ausnahme und die Bewegung als die Regel zu betrachten, oder vielleicht ſtellten wir uns den Druck nur als eine Bewegung vor, die eintreten könnte oder wollte, wie z. B. die Bewegung, welche die Arme eines Hebels haben würden, wenn ſie ſich zu bewegen anfangen möchten.

Wir wenden uns weg von dem reellen Fall, der vor uns liegt, nehmlich, von dem ruhenden, ſich im Gleichgewichte hal— tenden Körper, und gehen zu einem anderen Fall über, welchen wir willkührlich annehmen, um dadurch den erſten deutlicher darzuſtellen. Dieſen willkührlichen und gleichſam imaginären Sprung ſetzen wir dann jener diſtinkten und eigentlichen Idee des Druckes gegenüber durch Mittel, aus welchen die wahren Principien dieſes Gegenſtandes abgeleitet werden können.

Wir haben bereits geſehen, daß Ariſtoteles in der Zahl der— jenigen iſt, welche die Schwierigkeiten dieſes Problems vom Hebel umgehen wollten, und deren Bemühungen daher auch mißrathen ſind. Er fehlte, wie bereits geſagt, weil er ſeine Principien in vagen und unbeſtimmten Begriffen von der Be— wegung ſuchte, in dem Unterſchiede zwiſchen einer natürlichen und unnatürlichen Bewegung, und in noch andern, ganz unzu— läſſigen Dingen, wie z. B. in dem Kreiſe, welchen das Gewicht beſchreiben will, in der Geſchwindigkeit, welche es bei dieſer Bewegung haben ſoll u. ſ. w., alles Umſtände, die mit der hier zu betrachtenden Thatſache nichts zu thun haben. Der Ein— fluß ſolcher unangemeſſenen Speculationen war das Haupthinder— niß, welches der Ausbildung der wahren wiſſenſchaftlichen Idee des Archimedes im Wege ſtand.

Zweiter Abſchnitt. hy d er od a ee

Archimedes legte nicht allein den Grundſtein zur Statik der ſoliden Körper, ſondern er löste auch das Fundamental-Problem der Hydroſtatik, oder der Statik der flüſſigen Körper, glück⸗ lich auf. Dieſe Auflöſung iſt um ſo merkwürdiger, da das von ihm für die Hpdroſtatik aufgeſtellte Princip nicht nur bis zum Ende des Mittelalters unbenutzt blieb, ſondern da es auch ſelbſt

Früheſter Zuſtand der Mechanik und Hydroſtatik. 87

dann, als es wieder aufgenommen wurde, fo wenig klar einge- ſehen worden iſt, daß man es nur das hydroſtatiſche Para— doxon genannt hat. Dieſes Princip nimmt nämlich nicht nur die Idee des Drucks, den es mit der Statik der ſoliden Körper gemein hat, in ſich auf, ſondern es ſetzt überdieß auch die be— ſtimmte Idee eines flüſſigen Körpers auf, das heißt, eines ſol— chen Körpers, deſſen kleinſte Theile alle untereinander ſchon durch den geringſten Druck vollkommen beweglich werden, und in wel— chem jeder auf eines dieſer Theilchen ausgeübte Druck ſofort allen andern Theilen der Flüſſigkeit mitgetheilt wird. Aus dieſer Idee der Flüſſigkeit folgt nothwendig jene Vervielfachung des Drucks, welche das erwähnte hydroſtatiſche Paradoxon conſtituirt. Man ſah, daß die Natur ſelbſt dieſen Begriff be— ſtätigt, und daß auch die Folgen deſſelben durch die Beobach— tungen realiſirt werden. Dieſe Idee von der Flüffigkeit wird nun in dem Poſtulate ausgedrückt, das den Eingang zu Archime— des „Abhandlung von den ſchwimmenden Körpern“ bildet, und durch deſſen Hülfe werden von ihm nicht nur die erſten und einfachſten, ſondern ſelbſt mehrere, nicht wenig ver— wickelte Aufgaben der Hydroſtatik glücklich aufgelöst.

Die Schwierigkeit, dieſe Idee der Flüſſigkeit gehörig feſtzu— halten, um daraus ſichere Schlüſſe zu ziehen, mag daraus beur— theilt werden, daß ſelbſt noch in den neueſten Zeiten Män— ner von großem Talente, und die mit mathematiſchen Concep— tionen nicht unbekannt waren, mehreren Mißgriffen und falſchen Anſichten in Beziehung auf dieſen Gegenſtand nicht entgangen ſind. Die hohe Wichtigkeit dieſer Idee aber, klar aufgefaßt und ſtreng feſtgehalten, iſt ſchon daraus erklärbar, daß die ganze heutige Hydroſtatik, als ſtrenge Wiſſenſchaft betrachtet, nichts anders, als die bloße Entwicklung jener Idee ſelbſt iſt. Wie weit man aber, in dieſer Doctrin, ohne jene Idee kommen kann, haben wir oben bei Ariſtoteles in ſeinen Speculationen über die leichten und ſchweren Körper geſehen. Der Stagirit betrachtete nämlich die Begriffe von Leicht und Schwer als einander ent— gegengeſetzt, oder als ſolche Dinge, die in den Körpern ſelbſt liegen, und indem er ſich von der Unterſtützung der Körper durch die ſie umgebende Flüſſigkeit keine klare Anſicht verſchaffen konnte, wurde ſeine ganze Beweisführung eine verwirrte Maſſe von falſchen und unzuſammenhängenden Aſſertionen, die auch

88 Früheſter Zuſtand der Mechanik und Hydroſtatik.

der höchſte Scharfſinn nicht mit den Thatſachen in Ueberein— ſtimmung bringen, und noch weniger aus ihnen irgend ein reelles Naturgeſetz ableiten konnte.

Für die Statik und Hydroſtatik beſtand ohne Zweifel die Hauptbedingung der glücklichen Entwicklung dieſer Wiſſenſchaften in der klaren Auffaſſung der zwei angemeſſenen Ideen von dem ſtatiſchen und von dem hydroſtatiſchen Drucke. Aus ihnen folgte ſofort der Ausdruck der zwei Experimentalgeſetze, daß erſtens der ganze Druck eines feſten ſchweren Körpers abwärts gerichtet iſt und immer derſelbe bleibt, und daß zweitens bei den flüſſigen Körpern jeder auf einen Theil derſelben angebrachte Druck ſich ſofort allen Theilen mittheilt. Wenn einmal jene Ideen vollkommen verſtanden ſind, ſo liegen auch dieſe zwei Ge— ſetze ſo klar am Tage, daß kein weiterer Zweifel über fie möglich ſeyn kann. Jene zwei Ideen ſind gleichſam die Wurzel aller mechaniſchen Wiſſenſchaft, und das vollkommene Verſtändniß derſelben iſt auch heut zu Tage noch das erſte Erforderniß, zur Kenntniß dieſer Wiſſenſchaft zu gelangen. Allein nachdem ſie in dem Geiſte des Archimedes klar aufgewacht waren, fielen ſie wieder, viele Jahrhunderte durch, in tiefen Schlaf zurück, bis ſie endlich in Galilei's, und klarer noch in Stevin's Geiſte wie— der erwachten. Seit dieſer letzten Epoche kehrten ſie nicht mehr zu dem alten Schlummer zurück, und das Reſultat ihres Wachens war die Ausbildung zweier Wiſſenſchaften, die eben ſo ſtreng und ſicher in ihren Demonſtrationen ſind, als es die Geometrie ſelbſt nur immer ſeyn kann, mit der ſie auch an Intereſſe und Fülle des Inhalts wetteifern, und die überdieß noch den großen Vorzug vor ihr voraushaben: daß ſie ein getreues Bild von den Geſetzen der phyſiſchen Welt geben, und vor unſern Augen die hohen Vorſchriften entfalten, nach welchen die Phäno— mene der Natur auf einander folgen und folgen müſſen, ſo lange dieſe Natur ſelbſt keine Aenderung erleidet.

Früheſter Zuſtand der Optik. 89

Zweites Capitel. Früheſter Zuſtand der Optik.

Die Fortſchritte, welche die Alten in der Optik machten, waren nahe denjenigen in der Statik gleich, und wie ſie die wahre Urſache der Lehre vom Gleichgewicht fanden, ohne irgend einen ſicheren Begriff von der Bewegung zu erhalten, ſo fanden ſie auch das Geſetz der Reflexion des Lichts, aber ſie hatten keine oder doch nur ſehr unklare Anſichten von der Refraction deſſelben.

Das optiſche Princip, zu welchem ſie gelangten, läßt ſich kurz ſo ausdrücken: Sie wußten, daß das Sehen durch Strahlen bewirkt wird, die in geraden Linien fortgehen, und daß dieſe Strahlen durch gewiſſe Körper (Spiegel) ſo zurückgeworfen wer— den, daß die Winkel, welche der einfallende und der zurückge— worfene Strahl mit dem Spiegel bildet, derſelbe iſt. Aus dieſen Prämiſſen zogen ſie, mit Hülfe der Geometrie, mancherlei Fol— gerungen, wie z. B. für die Convergenz derjenigen Strahlen, die von einem Hohlſpiegel kommen u. dgl.

Bemerken wir, daß die in dieſe Anſichten eingeführte Idee die der Geſichtsſtrahlen, d. h. derjenigen Linien iſt, längs welchen das Licht geleitet und das Sehen hervorgebracht werden ſoll. Es war wohl nicht ſchwer, aus dieſer einmal feſt aufge— faßten Anſicht noch zu finden, daß dieſe Strahlenlinien gerade Linien ſeyn müſſen. Gleich im Eingange zu Euclid's „Abhand— lung von der Optik“ werden einige Beweiſe für dieſe gera— den Linien angeführt, indem er ſagt: „der beſte Beweis dafür „find die Schatten und die hellen Streifen, die entſtehen, wenn „das Licht durch die Fenſter oder durch enge Spalten tritt, die „nicht fo ſeyn könnten, wenn die Strahlen der Sonne nicht in „geraden Linien beſtänden. Eben ſo ſind auch bei unſeren irdi— „ichen Lichtern die Schatten größer als die Körper, wenn das „Licht kleiner iſt; und umgekehrt, die Schatten kleiner als die „Körper, wenn das Licht größer iſt,“ unzähliger anderen Erſchei— nungen nicht zu gedenken, die jene Idee, wenn ſie einmal klar aufgefaßt iſt, von allen Seiten beſtätigen.

90 Früheſter Zuſtand der Optik.

Nicht ſo leicht war es, die Gleichheit der beiden Winkel bei der Reflexion des Lichts von Spiegeln zu beweiſen. Allein die vollkommene Aehnlichkeit des Bildes mit dem Object bei einem ebenen Spiegel, z. B. bei der Oberfläche eines ſtehenden Waſ— ſers, welche Aehnlichkeit eine unmittelbare Folge jenes Geſetzes iſt, wird in dieſem Falle leicht auf dieſes Geſetz führen können, das dann, einmal gefunden, durch unzählige andere Erſcheinun— gen beſtätiget wird.

Aber mit dieſen, an ſich richtigen Principien war viel Un— beſtimmtes, waren ſelbſt Irrthümer, auch bei ihren beſten Schrift— ſtellern, verbunden. Euclid und die Platoniker behaupteten, daß das Sehen durch Strahlen bewirkt werde, die von dem Auge ausgehen, nicht alſo von dem leuchtenden Gegenſtande zu dem Auge kommen, ſo daß wir alſo, wenn wir Gegenſtände anſehen, ihren Umriß und ihre Geſtalt gleichſam nur wie ein blinder Mann kennen lernen, der dieſe Gegenſtände nach und nach in allen ihren Theilen mit der Spitze ſeines Stockes befühlt. Dieſer Mißgriff, ſo ſehr ihn auch Montucla rügt, war übrigens weder fo arg, noch auch fo ſchädlich, da die mathematiſchen Reſultate für beide Vorausſetzungen doch immer dieſelben bleiben. Eine andere ſonderbare Annahme der Alten beſtand darin, daß ſie jene Geſichtsſtrahlen keineswegs nahe an einander, ſondern viel— mehr durch Zwiſchenräume getrennt vorausſetzten, etwa wie die Finger einer ausgebreiteten Hand. Der Grund, der ſie zu dieſer Annahme bewog, war der Umſtand, daß wir ſehr feine Gegen— ſtände, z. B. eine Nadel, nicht mehr deutlich ſehen, wenn wir fie zu nahe vor das Auge halten, was, nach ihrer Meinung uns möglich wäre, wenn die Geſichtsſtrahlen von den Augen in der That zu allen Punkten des Gegenſtands fortgingen.

Dieſe Fehler alle würden aber den Fortgang der Optik nicht aufgehalten haben. Allein die Ariſtoteliſche Phyſik enthielt auch hier, wie überall, viel ſchädlichere Irrthümer. Der ſpitzfindige Stagirite begnügte ſich nicht, die Geſetze des Sehens zu ſuchen, er wollte vielmehr den letzten Grund, die Cauſation, wie man es nannte, dieſes Sehens erforſchen, und der Apparat, den er zu dieſer Entdeckung in Bewegung ſetzte, beſtand, wie ſonſt überall, aus unbeſtimmten Worten, aus unangemeſſenen Ideen und aus ſchlecht combinirten Beobachtungen. Nach ihm wird das Sehen durch ein gewiſſes Mittleres, ein Medium, hervor—

Früheſter Zuſtand der Optik. 91

gebracht, das zwiſchen dem Object und dem Auge ſich aufhält. Dieß ſchließt er daraus, daß wir an das Auge feſt angelegte Gegenſtände nicht mehr ſehen. Dieſes Medium nun iſt ihm »das Licht“ oder „das Transparente in Action“; Dunkelheit aber ſoll entſtehen, „wenn dieſe Transparenz potential, nicht actual iſt; „und eben jo iſt auch die Farbe nichts abſolut Sehbares, on— „dern nur ein an dem abſolut Sehbaren haftendes Ding, wie »denn dieſe Farbe die Kraft hat, das Transparente in Action zu »verſetzen u. ſ. w.)

In allem dieſem Gerede ſieht man keinen Zuſammenhang, weder mit dem inneren Begriffe, noch mit der äußeren Erſchei— nung des Gegenſtandes. Seine Unterſcheidungen von Kraft und Action, von eigentlichen und uneigentlichen Farben u. dgl. ent— halten in ſich ſelbſt nichts, was von dem Verſtande feſtgehalten und weiter fortgeführt werden könnte, und ſie ſind daher von jenen fruchtbaren phyſiſchen Speculationen des Archimed und Euclid, deren wir oben erwähnt haben, völlig verſchieden und ganz nutzlos.

1) Ariſtot. de Anim. II. 6.

92 Erſte Zuſtände der Harmonik.

Drittes Capitel. Erſte Zuſtände der Harmonik.

Die Muſik beſtand bei den Alten in einer Anwendung der Arithmetik, ſo wie die Mechanik und Optik derſelben eine An— wendung der Geometrie auf die Gegenſtände dieſer Doctrinen enthielt. Die Geſchichte der Entſtehung der arithmetiſchen Muſik wird in der „arithmetiſchen Abhandlung des Nikomachus“ auf folgende Weiſe erzählt.

Pythagoras kam auf einem Spaziergange, in Gedanken über das Maaß der muſikaliſchen Noten verſunken, an der Hütte eines Schmiedes vorbei, und verwunderte ſich, die Töne der Hämmer, wie mehrere derſelben den Ambos trafen, in einem gewiſſen muſikaliſchen Verhältniſſe zu hören. Indem er die Sache näher unterſuchte, fand er, daß die Intervalle zwiſchen dieſen Tönen eine Quarte, eine Quinte und eine Octave ſeyen. Er wog die Haͤmmer, und fand, daß der eine, der die Octave gab, halb fo ſchwer war, als der ſchwerſte, während der mit der Quinte zwei Dritttheile, und der mit der Quart drei Viertheile von jenem wog. Er ging nach Hauſe, dachte über die Sache nach, und entdeckte endlich, daß, wenn er gleichlange Metallſaiten mit Ge— wichten ſpannte, welche daſſelbe Verhältniß wie jene Hämmer hatten, daß dann von dieſen Saiten dieſelben drei muſtkaliſchen Accorde hervorgebracht werden. So erhielt er ein beſtimmtes Maaß für die verſchiedenen Töne, und die Muſik wurde unter ſeiner Hand ein Gegenſtand arithmetiſcher Speculation.

Dieſe Erzählung, wenn ſie nicht etwa bloß eine philoſophi— ſche Fabel ſeyn ſoll, iſt ohne Zweifel ſehr ungenau, da jene drei muſikaliſchen Accorde keineswegs durch Hämmer von den bezeich— neten Gewichten hervorgebracht werden. Das Experiment mit den Saiten aber iſt vollkommen richtig, und iſt auch noch heut— zutage die Baſis aller muſikaliſchen Theorie.

Es möchte ſcheinen, als ob die Wahrheit, ja ſchon die Wahrſcheinlichkeit einer ſolchen Geſchichte, nach welcher eine wiſſenſchaftliche Entdeckung durch einen bloßen Zufall gemacht worden iſt, gegen die oben aufgeſtellte Behauptung ſtreitet, daß

Erſte Zuſtände der Harmonik. 93

jedes wiſſenſchaftliche Princip die Bedingung einer wohlüberleg— ten Idee vorausſetzt. Allein, genauer beſehen, wird man in dieſen, wie überhaupt in allen bloß zufälligen wiſſenſchaftlichen Entdeckungen finden, daß eben der ſchon vorgängige Beſitz einer ſolchen Idee es war, durch welche der glückliche Zufall erſt mög— lich geworden iſt. Indem Pythagoras die Wahrheit durch Tra— dition erhielt, mußte er ſchon eine beſtimmte und genaue Idee von dieſen Relationen der Töne beſitzen, die man jetzt Octave, Quinte und Quarte nennt. Wäre er dieſe Relationen ſcharf aufzufaſſen nicht früher ſchon befähigt geweſen, ſo würden jene Hammerſchläge ſein Ohr ganz eben ſo ohne allen Erfolg, wie die Ohren jenes Schmiedes, in Bewegung geſetzt haben. Ja er mußte auch überdieß fchon eine innige Bekanntſchaft mit den Zahlen verhältniſſen überhaupt gemacht haben, und, vor allem, was vielleicht ſein größter Vortheil vor dem Schmiede war, er mußte einen gewiſſen inneren Drang in ſich fühlen, zwei ſchein— bar ſo verſchiedene Dinge, wie Zahlen und Töne ſind, in eine innige Verbindung mit einander zu bringen. Nachdem aber ein— mal dieſe geiſtige Paarung zweier ſo heterogener Elemente in ſei— nem Innern voraus gegangen war, konnte es ihm wahrſcheinlich nicht mehr ſchwer werden, auch ein Experiment auszuſinnen, wo— durch dieſelbe beſtätiget werden ſollte.

Solche Experimente mit Saiten machten die Philoſophen der Pythagoräiſchen Schule ), und beſonders Laſus von Her— mione, und Hippaſus von Metapontum, indem ſie bald die Länge der Saiten, bald die ſie ſpannenden Gewichte mannigfal— tig abänderten, und auf dieſe Weiſe wurde jene Verbindung der Idee mit der Thatſache, der Vorſtellung mit der Beobachtung hergeſtellt, auf welche in letzter Inſtanz dieſe ſo wie auch jede andere Wiſſenſchaft beruht.

Mit dieſer kurzen Darſtellung von der Entdeckung der Fun— damental-Principien, welche die Griechen entdeckten, will ich die Geſchichte ihrer Naturwiſſenſchaft beſchließen, nicht nur weil die erſten Schritte in jeder Wiſſenſchaft immer zu den wichtigſten Punkten derſelben gehören, ſondern auch, weil die Griechen in

1) Man ſehe Montucla, III. 10.

94 Erſte Zuſtände der Harmonik.

der That auch keine weiteren Schritte gemacht haben. Man be⸗ merkt bei dieſem Volke keinen ſtetigen Fortgang in dieſem Zweige der menſchlichen Erkenntniß; keine neuen Thatſachen, die unter die Herrſchaft der früheren Principien gebracht worden wären, und noch weniger eine Erweiterung dieſer Principien ſelbſt. Ihre ganze Reiſe endete mit ihrem erſten Schritte. Archi— medes hatte die intellectuelle Welt aus ihrer Ruhe aufgeweckt, aber ſie fiel, gleich nach ihm, wieder in die frühere paſſive Ruhe zurück, und die Wiſſenſchaft der Mechanik blieb dort ſtehen, wo man fie hingeſtellt hatte. Und obſchon in anderen Dingen, wie in der Harmonik, viel geſchrieben wurde, ſo beſtanden doch dieſe Werke nur in weiteren Deductionen aus dem früheren Princip, mittels arithmetiſcher Berechnungen, die wohl, es iſt wahr, ge— legentlich durch die Unterhaltung, welche die Muſik, als Kunſt betrachtet, mancherlei Abänderungen und Modificationen erzeug— ten, die aber die Wiſſenſchaft ſelbſt durch keine neue Wahrheit bereichern konnten.

Drittes Buch.

Gefchichte der griechifchen Attronomie.

Tode de undcıg nore oB) rov EAAnvov, og N negı Ta Heim TIOTE nomyuarevsoda Yvnrag org.

Nie beforgte einer der Griechen, daß es dem Sterblichen nicht zieme, ſich mit den Himmliſchen zu beſchäftigen. Plato Epinomis.

Einleitung.

Die früheſten aſtronomiſchen Begriffe ſind aus der Sprache des gewöhnlichen Lebens entſtanden, und ſcheinen auf den erſten Blick nichts Techniſches zu enthalten. „Tag, Jahr, Monat, Himmel, Sternbild“ find Worte, die auch den ſorgloſen, rohen Menſchen nicht fremd ſind, aber ſie ſind doch die erſten Elemente der Aſtronomie. Wie es möglich war, daß der menſch— liche Geiſt, unter allen Feldern der Erkenntniß, auf dieſem allein ſo früh ſchon, und zwar bloß aus den alltäglichſten Erſcheinun— gen, eine Wiſſenſchaft errichten konnte, werden wir ſpäter, in der „Philoſophie der Wiſſenſchaften“ umſtändlich zu erläutern Gelegenheit finden. Zwei der hieher gehörenden Urſachen aber müſſen wir jetzt ſchon anzeigen. Erſtens iſt nämlich das auch im gemeinen Leben gewöhnliche Verfahren, durch welches wir eine Anzahl von homogenen Dingen auf eine höhere Einheit zurückführen, wie dieß bei den obigen Benennungen „Jahr, Mo— nat“ u. f. der Fall iſt, offenbar ein rein inductives Der fahren, und demnach dasjenige, dem alle Wiſſenſchaften ihr Daſeyn verdanken. Zweitens aber ſind die Ideen, welche hier jener Induction zu Grunde liegen, alle der Art, daß ſie auch dem gemeinſten Manne ſehr beſtimmt und deutlich vorliegen, wie z. B. die von Raum und Zeit, von Zahl, Geſtalt, Bewegung, Wiederkunft u. dgl., ſo daß alſo, gleich bei der erſten Beſchäf— tigung mit dieſen Gegenſtänden, die ſie bezeichnenden Begriffe eine ſcharfbegrenzte, wiſſenſchaftliche Form annahmen.

Wir wollen nun die einzelnen Wege kennen lernen, die der menſchliche Geiſt in Beziehung auf die Erſcheinungen des Him— mels von den früheſten Zeiten an gegangen iſt.

Whewell. J. 7

98 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie.

Erſtes Capitel. Früheſter Zuſtand der Aſtronomie.

Erſter Abſchnitt. Entftehung des Begriffs von dem Jahr.

Der Begriff von Tag dringt ſich den Menſchen gleichſam von ſelbſt in allen Verhältniſſen des Lebens auf. Die regel— mäßige Abwechslung des Lichts und der Finſterniß, der relativen Wärme und Kälte, des Lärms und der Stille, der Geſchäfte und der Ruhe aller lebenden Dinge; die Erſcheinung des Auf- und Niederſteigens und des Untergangs der Sonne, ſelbſt die mit dieſen Erſcheinungen verbundenen und eben ſo regelmäßig auf einander folgenden Bedürfniſſe der Nahrung und des Schlafes alle dieſe in ſo abgemeſſenen, kurzen, und eben daher ſo leicht aufzu— faſſenden Perioden von immer wiederkehrenden, Jedermann ſicht— baren, ja auffallenden Phänomene müſſen in jedem Menſchen, der nur eben von Zeit und Periode eine Vorſtellung hat, den beſtimmten Begriff des Tages, d. h. derjenigen Periode er— zeugen, in welcher die eben genannten Erſcheinungen in der Ordnung, wie ſie regelmäßig auf einander folgen, enthalten ſind.

Der Begriff von Jahr wird auf dieſelbe Weiſe gebildet, indem wir auch hier wieder andere Phänomene, die eben ſo regel— mäßig wiederkehren, wie jene, durch einen, den ganzen Cyclus derſelben umfaſſenden Zeitraum bezeichnen. Aber dieſer zweite Begriff erforderte ſchon, wenn er ebenfalls beſtimmt ſeyn ſollte, eine größere Aufmerkſamkeit auf die ihn conſtituirenden Erſchei— nungen. Denn hier iſt die regelmäßige Wiederkehr derſelben weniger auffallend, und die Periode iſt auch viel größer, um in allen ihren Theilen mit Leichtigkeit aufgefaßt zu werden. Un— gewöhnlich kühle Sommer oder warme Winter mögen Kinder und Wilde ſchon oft auf die Anſicht geführt haben, daß die aufeinander folgenden Jahre von ganz ungleicher Länge ſind, was bei den „Tagen“ nicht ſo leicht der Fall ſeyn kann.

Demungeachtet iſt die Wiederkehr der das Jahr bildenden Erſcheinungen ſo offenbar, daß wir uns den Menſchen nicht wohl ohne dieſen Begriff denken können, obſchon dieſelben Erſchei—

Früheſter Zuſtand der Aftronomie. 99

nungen in verſchiedenen Ländern und Klimaten gar große Ver— änderungen erleiden. In einigen Gegenden ändert der Winter die Anſicht des Landes gänzlich, indem er graſige Ebenen und dichtbelaubte Wälder und fließende Ströme in ſchneebedeckte Wüſten und in ſtarre Eisfelder verwandelt, während wieder in andern Ländern die Wieſen ihr Grün und die Bäume ihre Blätter durch das ganze Jahr behalten, und wo nur die Regenzeit oder die, von den unſern ganz verſchiedenen Arbeiten des Land— manns, die Reihe der vorübergehenden Jahreszeiten bezeichnen. Doch wurde, in allen Theilen der Oberfläche der Erde, der jähr— liche Kreislauf dieſer Erſcheinungen durch eine eigene Benennung unterſchieden. Der Bewohner der Aequatorialgegenden hat am Ende eines jeden ſechsten Monats die Sonne vertikal über ſei— nem Scheitel, und ſo ähnlich auch für ihn die Erſcheinungen des Himmels in den nächſten ſechs Monaten, mit denen der eben ſo langen vorhergehenden Periode ſind, ſo finden wir doch bei keinem jener Völker ein Jahr, deſſen Länge nur die Hälfte des unſrigen beträgt. Bloß die Araber 9), die weder Schiff: fahrt noch Ackerbau treiben, haben ein von dem Monde abhängi— ges Jahr, und borgen dafür auch, wenn ſie von dem Sonnen— jahr ſprechen wollen, die Benennung deſſelben aus einer andern Sprache.

Im Allgemeinen bezeichneten die verſchiedenen Völker dieſe Periode immer durch ein ſolches Wort, das mit der Wiederkehr der Jahreszeiten und der Landarbeiten in irgend einem Zuſam— menhange ſteht. Das Annus der Römer bezeichnet einen Ring, wie wir in dem davon abgeleiteten Annulus ſehen; das grie— chiſche eviavros drückt „etwas in ſich ſelbſt Wiederkehrendes“ aus, und das Wort, welches in mehreren celtifchen Sprachen unſer „Jahr“ bezeichnet, ſoll, wie das Year der Engländer, von dem alten Vra kommen, das in der ſchwediſchen Sprache ebenfalls „Ring“ heißt und vielleicht aus dem römiſchen Gyrus ſtammt.

Zweiter Abſchnitt.

Beltimmung des Civiljahrs.

Sobald die Menſchen das Bedürfniß fühlten, Ereigniſſe, die in längeren Zwiſchenzeiten vorgefallen waren, unter einander zu

1) Ideler. Berl. Memoir. 1813. S. 51. 7 aK

100 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie.

verbinden, mußte ſich ihnen jene Periode der wechſelnden Jah— reszeiten gleichſam von ſelbſt zu dieſem Zwecke anbieten. Wenn aber dieſe Verbindung mit einiger Genauigkeit erfolgen ſollte, ſo mußte man vor allem die Anzahl Tage kennen, die jeder die— ſer Jahreszeiten entſprechen, eine Kenntniß, die ſchon höhere Fähigkeiten und Kunſtgriffe, als die bisher erwähnten, voraus— ſetzt. Um z. B. mit ſo großen Zahlen zu rechnen, wie die ſind, die der Menge der Tage im Jahre gleichkommen, muß man ſchon ein beſtimmtes „Zahlenſyſtem“ und gewiſſe praktiſche Rechnungsmethoden kennen ). Die Indianer in Südamerika, die Kuſſa Kaffern, die Hottentoten und die Einwohner von Neu— holland, die nicht weiter zählen ſollen 2), als die Finger und Zehen ihrer Hände und Füße, können daher den Begriff eines Jahres von 365 Tagen nicht mehr aufnehmen, und daſſelbe wird von allen den Völkern gelten, welche jene erſten Schritte zur Civiliſation, eine Zählungsart von zwei oder fünf oder zehn Einheiten, noch nicht kennen.

Aber ſelbſt wenn eine Nation ſchon ein ſolches Zahlenſyſtem beſitzt, ſo wird es ihr noch immer ſchwer genug fallen, die ge— naue Anzahl der Tage zu finden, welche jene Periode des Wech— ſels der Jahreszeiten in ſich ſchließt; da die unbeſtimmte Be— grenzung dieſer Zeiten und die oft großen Veränderungen, welchen ſie von einem Jahre zum andern unterworfen ſind, die darauf zu gründende Länge des Jahrs lange ſehr ungewiß laſſen wird. Erſt dann wird es dem Menſchen möglich ſeyn, dieſem Zwecke näher zu kommen, wenn er eine längere Zeit durch auf die verſchiedenen Stellungen und Bewegungen der Sonne auf— merkſam geweſen iſt, alſo auf Erſcheinungen, die viel mehr Beobachtungsgeiſt und Präciſion der practiſchen Auffaſſung er— fordern, als der bloße Wechſel von Licht und Dunkel, oder von warm und kalt. Die Bewegung der Sonne am Himmel, die Verſchiedenheit der Orte auf der Erde, wo ſie für uns auf- und untergeht, die größte Höhe über dem Horizont, die ſie jeden Mittag erreicht, das veränderliche Verhältniß des Tags zur Nacht während dem Laufe des Jahres, alles dieß kann, wie

1) M. f. den Art. Arithmetic. in der Encycl. Metrop. (von Peacock)

Art. 8. 2) Ibid. Art. 32.

Früheſter Zuſtand der Aftronomie. 101

man wohl bei näherer Aufmerkſamkeit ſchon ſehr früh bemerkt haben mag, zu jenem Ziele führen. Doch wird die Rückkehr der Sonne, wenn ſie ihre größte oder auch ihre kleinſte mit— tägige Höhe über dem Horizont erreicht hat, mit der Wieder— kunft ihres Auf- oder Untergangs an demſelben irdiſchen Ge— genſtande, wohl diejenige Erſcheinung ſeyn, die man vorzugs— weiſe zu jenem Zwecke gebraucht hat. Daher werden auch die Sonnenwenden (roonaı nAıoıo) von Heſiod wiederholt als die— jenigen Punkte gebraucht, von denen er die Jahreszeiten der verſchiedenen Arbeiten des Landmanns zählt. „Fünfzig Tage „nach der Wendung der Sonne, ſagte er , iſt die angemeſſenſte „Zeit zum Anfang der Jagd“ u. ſ. f.

Dieſe Erſcheinungen ſind allerdings verſchieden für verſchie— dene Erdſtriche, aber die Periode der Wiederkehr iſt doch für alle Länder dieſelbe. Wenn auch nur eine derſelben mit einiger Aufmerkſamkeit betrachtet wurde, ſo konnte man ſchon eine ge— näherte Kenntniß der Anzahl der Tage eines Jahres erhalten, und je länger die Beobachtungen dieſer Art fortgeſetzt wurden, deſto genauer mußte auch, wie ſchon aus der Natur des Gegen— ſtandes folgt, jene Kenntniß werden.

Nebſt dieſen Kennzeichen, die zu einer genauen Beſtimmung der Jahreslänge durch die Sonne führten, gab es noch andere Erſcheinungen von einer weniger ſcharf beſtimmten Art, die aber dafür auch dem gemeinſten Manne auffallen mußte, wie z. B. die jährliche Wiederkehr der Zugvögel, der Schwalben (XeAıdov) und ider Geier oder Habichte (ıxtıw). Ariſtophanes ſagt in ſei— nem Luſtſpiele dieſes Namens, daß es das Geſchäft dieſer Vögel ſey, die Jahreszeiten zu bezeichnen, und auch Heſiod ſchon be— trachtet das Geſchrei der Kraniche als den Vorboten des kom— menden Frühlings ). Die Griechen kannten anfangs nur zwei Jahreszeiten, den Sommer (Jegços) und Winter (Ne,Eẽ ), wel— cher letzte die ganze kühle und regnige Zeit des Jahres umfaßte. Später wurde der Winter in zwei Theile getheilt, in Xeıuov und sap (Frühling), und der Sommer ebenſo in 989 und onwe« (Herbſt). Tacitus ſagt, daß die Germanen weder die Wohl—

3) Hesiod. Opera et Dies. V. 661. 1) Ideler, Chronologie. I, 240.

102 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie.

thaten, noch ſelbſt den Namen des Herbſtes kennen: Autumni perinde nomen ac bona ignorantur. Aber das Wort „Herbſt“ oder Harvest ſcheint doch ein altgermaniſches Wort zu ſeyn ).

In derſelben Periode, in welcher die Sonne durch ihren ganzen Cyclus von Erſcheinungen geht, vollenden auch die Fix— ſterne einen andern Kreis von Erſcheinungen, und dieſe letzten wurden vielleicht eben ſo früh, wie jene, zur Beſtimmung der Länge des Jahres gebraucht. Viele von den Gruppen, welche die Fixſterne am Himmel bilden, mußten, ſo wie die ausge— zeichnet helleren Sterne, ſchon in den erſten Zeiten die Blicke der Menſchen auf ſich ziehen. Man bemerkte wohl bald, daß dieſe Sterne zu gewiſſen Jahreszeiten nach dem Untergange der Sonne am weſtlichen Himmel ſichtbar waren, daß ſie bald darauf der Sonne ſelbſt immer näher und näher kamen und endlich ganz in dem hellen Lichte dieſes Geſtirns verſchwanden. In einigen Wochen darauf ſah man dieſelben Sterne wieder im Oſten kurz vor der Sonne aufgehen, und ſich jeden folgenden Tag wieder von derſelben mehr und mehr entfernen. Dieſer Auf- und Untergang der Fixſterne in Beziehung auf die Sonne konnte in den Gegenden von Griechenland und Chaldäa, wo die Luft ſo rein iſt, gar leicht auch als ein Zeichen der ver— ſchiedenen Jahreszeiten gebraucht werden, und Aeſchylus !) zählt dieß als eine der vielen Wohlthaten auf, die Prometheus, der Lehrer aller Künſte, dem früheſten Menſchengeſchlechte mitge— theilt hat. So wurde der Aufgang der Pleiaden am Abend als ein Zeichen des herannahenden Winters betrachtet ?). Das Anſchwellen des Nils in Aegypten fiel mit dem heliſchen Auf— gang des Sirius, den die Aegyptier Sothis nannten, zuſammen. Selbſt ohne ſolche Inſtrumente, durch die man die Zeit und die Grade eines Bogens am Himmel mit einiger Genauigkeit meſſen kann, konnte man doch, durch Beobachtungen dieſer Art, die Anzahl der Tage im Jahre mit hinlänglicher Genauigkeit be— ſtimmen, und dadurch die Grenzen der Jahreszeiten durch jene Erſcheinungen der Fixſterne feſtſetzen. Ja dieſe Beobachtungen des Auf- und Untergangs der Fixſterne ſcheinen ſelbſt die erſte

5) Ideler, Chronologie. J. 243. 6) Aeschyl. Prometh. Vinet. 7) Vergl. Ideler Chronol. I. 242 und Plin. H. Nat. XVIII. 69.

Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 103

nähere Kenntniß des geſtirnten Himmels veranlaßt und herauf— geführt zu haben. So lehrt Heſiod die Landleute ), daß fie beim Aufgang der Pleiaden ernten und bei dem Untergange derſelben pflügen ſollen. Auf ähnliche Weiſe wird von ihm auch Sirius), Arctur !“), die Hyaden und Orion“) gebraucht.

Auf ſolchen Wegen alſo wurde endlich gefunden, daß das Jahr nahe 365 Tage enthalte. Die Aegyyptier eigneten ſich die Ehre dieſer Entdeckung zu, wie Herodot) erzählt. Die Prie— ſter jenes Landes lehrten ihn, „daß die Aegypter zuerſt die „wahre Länge des Jahrs gefunden und daſſelbe in zwölf gleiche „Theile getheilt haben, und ſie ſagten, daß man dieſe Ent— „deckung mit Hülfe der Sterne gemacht habe.“ Jeder dieſer zwölf Theile, oder jeder dieſer Monate, beſtand aus 30 Tagen, und am Ende des Jahrs wurden noch 5 Tage hinzugefügt, „wodurch der jährliche Sonnenkreis vollendet war.“ Es ſcheint, daß auch die Juden ſehr früh ſchon eine ähnliche Zeitrechnung gehabt haben, denn die Sündfluth, die 150 Tage währte (Ge— nes. VII. 24), ſoll mit dem 17ten Tag des zweiten Monats (Genes. VII. 11) angefangen und mit dem 17ten Tag des ſie— benten Monats (Genes. VIII. 4) geendet, das heißt, 5 Monate zu 30 Tagen, gedauert haben.

Ein ſolches Jahr mit einer beſtimmten ganzen Zahl von Tagen wird ein Civiljahr (oder ein bürgerliches Jahr) ge— nannt, und es gehört zu den allerfrüheſten, noch auf uns ge— kommenen Einrichtungen derjenigen Völker, die bereits die erſten Schritte zur Civiliſation gemacht haben, ſo wie auch die Be— mühungen, das bürgerliche Jahr mit dem natürlichen (mit dem Lauf der Sonne) in Uebereinſtimmung zu bringen, zu den älteſten Spuren gehören, die uns von wahrhaft ſyſtematiſchen Erkenntniſſen der erſten Menſchen erhalten worden ſind.

Dritter Abſchnitt. verbellerung des Civiljahrs; Julianiſcher Kalender.

Durch die bisherige Art, die Länge des Jahrs in ganzen Tagen zu beſtimmen, läßt ſich dieſe Periode mit der eigentlichen

8) Hesiod. Opera et Dies. V. 381.

9) Id. v. 413.

10) Id. V. 562.

11) Id. V. 612. Vergl. Ideler, hiſtor. Unterſuchungen, S. 209. 12) Herodot. II. 4.

104 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie.

Wiederkehr der Jahreszeiten in keine genaue Uebereinſtimmung bringen. Die wahre Länge des Jahres iſt nämlich, wie bekannt, nahe 365 Tage und 6 Stunden. Wenn nun alſo ein Jahr von bloß 365 Tagen beſteht, ſo wird nach vier Jahren das fünfte ſchon um einen ganzen Tag zu früh anfangen, wenn man näm— lich den Anfang des Jahrs in Beziehung auf die Sonne und die Fixſterne betrachtet, und in 120 Jahren würde es ſchon um 30 Tage oder um einen ganzen Monat zu früh anfangen, ein Fehler, den auch eine geringe Aufmerkſamkeit ſehr leicht bemer— ken müßte. Auf dieſe Weiſe würde demnach das bürgerliche Jahr nicht mehr mit den Jahreszeiten übereinſtimmen, der An— fang von jenem würde bald in dieſe, bald in jene Jahreszeit fallen, und daher auch dieſe Jahreszeiten ſelbſt nicht weiter an— zeigen; das Wort „Jahr“ würde unbeſtimmt und zweifelhaft werden, und die Verbeſſerung deſſelben würde ſich immer mehr aufdringen, je weiter man in der Zeit ſelbſt vorſchreitet.

Man weiß jetzt nicht mehr, wer zuerſt die Unzuläſſigkeit dieſer ganzen Zahl von 365 Tagen entdeckt hat ). Wir finden dieſe Kenntniß, die Zugabe von 6 Stunden oder den vierten Theil eines Tages, beinahe bei allen gebildeten Völkern des Alterthums, ſo wie auch die mannigfaltigen Mittel, davon Rech— nung zu tragen. Das gewöhnlichſte war die Einſchaltung (In— tercalation), die auch wir noch beibehalten haben, indem wir nämlich alle vierte Jahre dem Monat Februar einen Tag mehr geben, als in den drei andern Jahren. Auch in Weſtindien fand man ſchon dieſe Einſchaltungen vor. Die Mexicaner z. B. gaben am Ende von je 52 Jahren noch 13 Tage hinzu. Die Methode der alten Griechen aber (die ſich zu dieſem Zwecke der Octaedris oder des Cykels von acht Jahren bedienten), war mehr zuſammengeſetzt, weil ſie ihr Jahr auch noch mit dem Lauf des Monds in Uebereinſtimmung bringen wollten, wovon wir ſpäter ſprechen werden. Die Aegyptier im Gegentheile ließen ihr bür— gerliches Jahr abſichtlich von einer Jahreszeit zur andern wan—

1) Syncellus (Chronographia) ſagt, daß der Sage zufolge der König Aſeth der erſte zu den 360 Tagen, die das älteſte Jahr bildeten, die fünf andern Tage hinzugab, um die Länge des Jahrs auf

Z 365 Tage zu bringen. Aſeth foll im XVIII. Jahrhundert vor Ch. G. gelebt haben.

Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 105

dern, wenigſtens in Beziehung auf ihre religiöſen Gebräuche. „Sie wünſchen nicht, ſagt Geminus )), daß dieſelben Opfer ihrer „Götter immer auf dieſelben Jahreszeiten fallen, ſondern daß „fie vielmehr alle dieſe Zeiten allmählig durchwandern, und daß „daher daſſelbe Feſt bald auf den Frühling oder Sommer, bald „wieder in den Herbſt oder Winter falle.“ Die Periode, in welcher ſonach ihre Feſte alle Jahreszeiten durchlaufen, betrug 1461 Jahre, denn 1460 Jahre zu 365 ¼ Tagen find gleich 1461 Jahren zu 365 Tagen. Dieſe Periode von 1461 Jahren hieß bei den Aegyptiern die Sothiſche Periode, von Sothis (Hundsſtern oder Sirius), daher derſelbe Zeitraum auch zu— weilen die Canicular-Periode genannt wird 5).

Andere Völker gebrauchten dieſe Intercalation nicht zur Verbeſſerung ihres Jahrs, ſondern ſie rectificirten daſſelbe von Zeit zu Zeit, wenn ſich die Fehler zu ſtark angehäuft hatten. Die Perſer ſollen alle 120 Jahre einen Monat von 30 Tagen hinzugefügt haben. Der Kalender der Römer war anfangs ſehr unvollkommen, wurde aber ſpäter durch Numa verbeſſert und ſollte auch für die Folgezeit durch die Auguren in Ordnung erhalten werden. Allein dieß geſchah nicht, und die Folge dieſer Vernachläßigung war eine gänzliche Unordnung des Kalender— weſens dieſes Volkes, dem endlich Julius Cäſar ein Ende machte. Auf den Rath des Aegyptiers Soſigenes adoptirte er die Ein— ſchaltung eines Tages in je vier Jahren, die wir im Allgemeinen noch jetzt beibehalten, und um den bis auf ſeine Zeit angewach— ſenen Fehler wegzubringen, ſetzte er 90 Tage zu dem Jahre, in welchem dieſe verbeſſerte Zeitrechnung anfing, welches Jahr deß— halb das Annus confusionis genannt wurde. Dieſer Julia— niſche Kalender begann mit dem erſten Januar des Jahrs 45 vor Chr. G.

Vierter Abſchnitt.

Derfuche die Länge des Mondsmonats zu beftimmen.

Der Kreislauf des Monds, in welchem dieſes Geſtirn alle ſeine Veränderungen durchläuft, wird, in den früheſten Sprachen

2) Geminus. Uranolog. 3) Censorinus de Die Natali, Cap. 18.

106 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie.

ſchon, nach dieſem Geſtirne ſelbſt benannt. Dieſe Veränderungen des Monds fallen in der That mehr in die Sinne, als die jähr— lichen Variationen der Sonne; jene drängen ſich auch dem Sorg— loſeſten gleichſam auf, und wenn die Sonne von uns ſcheidet, zieht der Mond vor allen andern Geſtirnen unſere Blicke nur um ſo mehr auf ſich, als die Stille und Ruhe der Nacht ſich zu den Betrachtungen des Himmels ſo viel mehr eignet, als die geräuſchvollen Geſchäfte des Tages. Uederdieß ſind die Verän— derungen der Geſtalten des Monds und ſeines Ortes unter den Geſtirnen ſo auffallend, und die Periode derſelben iſt ſo kurz, daß ſie auch von dem ſchwächſten Gedächtniß leicht aufgenommen werden kann. Aus dieſen Urſachen mag es erklärt werden, warum die älteſten Völker ihre Zeiten lieber nach Monden, als nach den Jahren der Sonne gezählt haben.

Die Benennungen, welche ſie für dieſe Periode gebraucht haben, ſcheinen uns auf die früheſte Geſchichte der Sprachen ſelbſt zurückzuführen. Unſer Wort „Monath, Month u. f.“ iſt offenbar von dem Worte „Mond, Moon u. f.“ abgeleitet, und dieſe Bemerkung ſcheint in allen Teutoniſchen Sprachen zu gelten. Auch das griechiſche unv (Monat) kam von ruemùm (Mond), wie dieſes Geſtirn ſchon im Homer genannt wird, obſchon man ſpä— terhin die Benennung „Selene“ gebrauchte ).

Auch dieſer Monat iſt keine Periode von einer ganzen Anzahl von Tagen, da ſie mehr als 29 und weniger als 30 Tage in ſich faßt. Die letzte Zahl wurde anfangs vorgezogen, wahr— ſcheinlich weil ſie die einfachſte war, und ſie herrſchte auch lange Zeit in vielen Ländern. Aber ſchon eine geringe Anzahl von ſolchen Mondmonaten zu 30 Tagen zeigte keine Uebereinſtim— mung mehr mit den Erſcheinungen des Mondes. Eine weitere Betrachtung zeigte, daß man mit abwechſelnden Monaten von 29 und 30 Tagen eine lange Zeit durch leicht ausreichen könnte.

Die Griechen nahmen dieſe Mondzeitrechnung an, und fie ſahen daher die Tage ihres Monats als die Repräſentanten der Mondsphaſen an. Der letzte Tag jedes Monats wurde sun xcı

1) Cicero leitet das Wort mensis von mensura (Maaß) ab, und einige Etymologiſten wollen alle die oben genannten Benennungen von dem hebräiſchen Manah (Maaß) deriviren, mit dem auch das arabiſche Almanach verwandt ſeyn ſoll.

Früheſter Zuſtand der Aftronomie- 107

ver (der alte und neue) genannt, da auf ihn die Verſchwindung und die Wiedererſcheinung dieſes Geſtirns fiel 2). Auch waren die Feſt- und Opfertage der Griechen, wie ſie durch die Kalender beſtimmt wurden, in unmittelbarem Zuſammenhange mit den Perioden der Sonne und des Monds: „Geſetze und Orakel, „age Geminus, beſtimmten, daß bei den Opfern drei Dinge „beachtet werden, der Tag, der Monat und das Jahr.“ Bei ſolchen Anſichten mußte ihnen ein verbeſſertes Syſtem der Inter— calation als eine religiöſe Pflicht erſcheinen.

Da die getroffene Abwechslung der Mondmonate von 29 und 30 Tagen nicht genau mit dem Lichtwechſel des Monds übereinſtimmte, ſo gerieth dieſe Zeitrechnung der Griechen bald in Unordnung. Ariſtophanes läßt in ſeinen „Wolken“ den Mond ſich beſchweren über dieſe ſchlechte Einrichtung des griechiſchen Kalenders (Nubes, Vers. 615—619). Allein die Verbeſſerung dieſer Unordnung ſollte ſich, ſo wurde es gewünſcht, nicht bloß auf eine genauere Kenntniß der Mondsphaſen beziehen, ſondern ſie ſollte zugleich eine beſſere Verbindung des Mondjahres mit dem Sonnenjahre umfaſſen, da das letzte doch immer der Haupt— zweck aller früheren Zeitrechnung ſeyn mußte.

Fünfter Abſchnitt.

neh

Nimmt man in einem Jahre ſechs Monate zu 30 und ſechs zu 29 Tagen, ſo erhält man ein Jahr von 354 Tagen, ſo daß demnach die Differenz zwiſchen einem ſolchen Mondjahr und einem Sonnenjahr von 365 ¼ Tag, volle 11¾ Tage betragen würde. Dieſem Fehler wollte man ſchon in ſehr frühen Zeiten dadurch begegnen, daß man in jedem zweiten Jahre einen gan— zen Monat von 30 Tagen einſchaltete. Herodot“) hat uns eine Converſation Solons aufbehalten, die eine noch rohere Einſchal— tungsart enthält. Beide Verfahren aber können nicht als ein wahrer Fortſchritt der Chronologie angeſehen werden.

2) Aratus in der Stelle von dem Monde, die Geminus S. 33 anführt. 1) Herodot I. 15.

108 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie.

Der erſte Cyelus, der als eine wahrhaft genäherte Verbin— dung zwiſchen den Sonnen- und Mondjahren zu betrachten iſt, war die Octaödris oder die bereits erwähnte Periode von acht Jahren. Acht Jahre von 354 Tagen, zuſammen mit drei Mo— naten von 30 Tagen, geben die Summe von 2922 Tagen, und dieß iſt auch zugleich der genaue Betrag von acht Jahren, deren jedes 365 ¼ Tag hat. Dieſe Periode wird demnach dem gewünſch— ten Zwecke wenigſtens ſo weit entſprechen, als die oben angegebene Länge des Solar- und Lunarcyelus an ſich ſelbſt genau iſt ). Sie wird übrigens verſchiedene äußere Geſtalten annehmen, je nach der Art, wie die Einſchaltungen in die verſchiedenenen Monate vertheilt werden. Das gewöhnliche Verfahren war, einen dreizehnten Monat am Ende jedes dritten, fünften und achten Jahres einzuſchalten. Dieſe Einrichtung oder dieſe Pe— riode wird verſchiedenen Perſonen und Zeiten zugeſchrieben. Dodwell ſetzt die Einführung derſelben in die 59. Olympiade, im VI. Jahrhundert vor Ch. G., aber Ideler hält die aſtrono— miſchen Kenntniſſe der Griechen von dieſer Zeit N fähig, eine ſolche Einrichtung zu treffen.

Indeß war dieſer neue Cyclus nichts weniger, als ſehr genau. Die Dauer von 99 (nämlich Smal 12, mehr 3) Luna— tionen iſt nahe 2923½ Tage, alſo mehr als 2922 Tage, ſo daß man alſo in 16 Jahren ſchon einen Fehler von 3 Tagen hatte. Dieſer Cyclus von 16 Jahren (Heccaedecaeteris), mit drei In— terpolationstagen an feinem Ende, ſoll eingeführt worden ſeyn, um die Berechnung mit dem Monde in Uebereinſtimmung zu bringen, aber auf dieſe Weiſe wurde wieder der Anfang des Jahrs in Beziehung auf die Sonne verſchoben. Nach zehn ſol— chen Cyclen, d. h. nach 160 Jahren, würden die eingeſchalteten Tage auf 30 ſteigen, und ſonach würde das Ende des Mond— jahres um einen ganzen Monat von dem Ende des Sonnenjahres voraus ſeyn. Schließt man aber das Mondjahr mit dem Ende des vorhergehenden Monats, ſo könnte man die beiden Jahre

2) Der Solareyclus beträgt 365 T. 6 St., während das wahre Solar— jahr (die tropiſche Umlaufszeit der Erde 365 T., 5 St., 48 Min., 47.81 Sec. beträgt. Der obige Lunarcyelus beträgt 29½ Tag, wäh: rend die wahre ſynodiſche Revolution des Monds jetzt gleich 29 T., 12 St., 44 Min., 27 Sec. iſt.

Früheſter Zustand der Aſtronomie. 109

wieder zur Harmonie bringen, wodurch man alſo einen Cyclus von 160 Jahren erhielt. Allein dieſer Cyclus von 160 Jahren war nur aus dem von 16 Jahren genommen und wahrſcheinlich nicht in den eigentlichen Volksgebrauch gekommen, was mit dem anderen, wenigſtens mit dem von acht Jahren, allerdings der Fall geweſen iſt. Allein eine viel genauere und von dieſen Cykeln ganz un— abhängige Periode wurde im Jahr 432 vor Chr. G. von Meton ?) eingeführt. Dieſe aus 19 Jahren beſtehende Periode iſt ſo genau und angemeſſen, daß ſie noch bis auf dieſe Tage von uns ſelbſt gebraucht wird. Die Zeit, welche 19 Sonnenjahre und 235 Lu— nationen umfaſſen, iſt nahe dieſelbe (die frühere iſt nämlich um 9 Stunden, und die letzte um Stunden kleiner als 6940 ganze Tage). Wenn daher dieſe 19 Jahre ſo in 235 Monate getheilt werden, daß ſie mit den Veränderungen des Monds übereinfommen, jo werden am Ende dieſer Periode dieſelben Erſcheinungen wieder in derſelben Ordnung beginnen, wie zuvor. Damit aber 235 Monate, von 30 und von 29 Tagen, zuſammen 6940 Tage machen, mußte man 125 von den erſten, und 110 von den letzten Monaten nehmen, wo dann die erſten volle, die letzten aber hohle Monate genannt worden ſind. Man be— diente ſich eines eigenen Kunſtgriffs, um die 110 hohle Monate unter die 6940 Tage zu vertheilen. Man fand, daß nahe auf je 63 Tage ein hohler Monat komme. Zählt man alſo 30 Tage für jeden Monat, und läßt man jeden 63ſten Tag einen Tag aus, ſo hat man in 19 Jahren 100 Tage ausgelaſſen. Und dieß hat man denn auch wirklich gethan, indem man den dritten Tag des dritten Monats, den ſechsten Tag des fünften Monats, den neunten Tag des ſiebenten Monats u. f. f. ausließ, und dadurch dieſe Monate hohl nahm. Von den neunzehn Jahren der Periode mußten ſieben Jahre von dreizehn Monaten ſeyn, aber man ſieht nicht mehr, nach welcher Regel man dieſe ſieben Jahre ausgewählt hat. Einige unſerer Chronologen geben das 3., 6., 8., 11., 14., 17. und 19. Jahr dafür an, andere aber nehmen dafür das 3., 5., S., 11., 13., 16. und 19. Jahr an. Die nahe Uebereinſtimmung der Solar- und Lunar-Periode in dieſem Cyclus von neunzehn Jahren war ohne Zweifel eine

) Ideler, Hift. Unterſ. S. 208.

119 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie.

bedeutende Entdeckung für die Zeit, in welcher ſie gemacht worden iſt. Es iſt aber nicht leicht, den Weg zu zeigen, wie man dar— auf gekommen ſeyn mag, da wir nicht wiſſen, auf welche Weiſe man damals die Tage des Kalenders mit den Erſcheinungen des Himmels in Uebereinſtimmung zu bringen ſuchte. Die Länge des Monats wurde ohne Zweifel durch die Beobachtungen der— jenigen Finſterniſſe, die in der Zeit ſehr weit von einander entfernt waren, mit hinlänglicher Genauigkeit beſtimmt, da man ſehr früh ſchon bemerkte, daß dieſe Finſterniſſe nur zur Zeit des Neu— oder Vollmonds eintreten ). Wenn aber einmal die Länge des Monats genau bekannt war, ſo war die Entdeckung eines dem Volkskalender regulirenden Cyclus bloß Sache der arithmetiſchen Gewandtheit, und mußte daher von dem Zuſtande der Arithme— tik jener Zeit abhängen, obſchon vielleicht die Entdeckung ſelbſt mehr dem arithmetiſchen Scharfſinn irgend eines Einzelnen, als der Methode der Wiſſenſchaft ſelbſt zugeſchrieben werden muß. Es iſt möglich, daß der „Meton'ſche Cyclus“ genauer war, als ſein Urheber ſelbſt es wußte, und daß er durch einen glücklichen Zufall weiter gekommen iſt, als er durch irgend eine ſtreng wiſſenſchaftliche Berechnung ſeiner Zeit gekommen ſeyn könnte. In der That iſt dieſer Cyclus fo genau, daß die Kirche jetzt noch, durch ſeine Hülfe, die Neumonde zur Beſtimmung des Oſterfeſtes beſtimmt, und die in unſern Kalendern aufgeführte „goldene Zahl“ iſt bekanntlich nur die Zahl, welche die Jahre dieſes Cyclus anzeigt ).

Etwa hundert Jahre ſpäter (i. J. 330 vor Chr. G.) wurde dieſer Cyclus von Calippus verbeſſert, der den Fehler deſſelben durch die Beobachtung einer Monds-Finſterniß entdeckte, die er ſechs Jahre vor dem Tode Alexanders des Großen angeſtellt hatte 5). In dieſen corrigirten Cyelus wurden wieder vier Me— ton'ſche Perioden von neunzehn Jahren genommen, und am Ende

4) Thycyd. VII. 50. IV. 52 und II. 28.

5) Derſelbe Cyclus von neunzehn Jahren wurde auch eine ſehr lange Zeit durch von den Chineſen gebraucht, deren bürgerliches Jahr, wie das der Griechen, ebenfalls aus Monaten von 29 und 30 Tagen beſtand. Auch die Siameſen haben dieſelbe Periode (Astronom. Lib. Usef. Knowl.).

6) Delambre Hist. de l’Astron. Aec. S. 17.

Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 111

des 76ſten Jahrs ein Tag weggelaſſen, um dadurch von den Stunden Rechnung zu tragen, um welche, wie oben geſagt wurde, jene 6940 Tage größer als neunzehn Jahre und als 235 Lunationen find. Dieſe „Calippiſche Periode gebraucht Ptolomäus in feinem Almageſt zur Angabe der von ihm ange— führten Finſterniſſe.

Dieſe beiden Perioden, von Meton und Calippus, ſetzen ohne Zweifel ſchon eine beträchtlich nahe Kenntniß der Aſtrono— men jener Zeit von der wahren Länge des Mondmonats voraus, und die erſte beſonders iſt ein recht glückliches Mittel, um den Sonnen- und Mond⸗-Kalender in Uebereinſtimmung zu bringen.

Der Römiſche Kalender, von dem unſer eigener abſtammt, zeugt von viel weniger Geſchicklichkeit, als der Griechiſche. Ob— ſchon die Chronologen in Beziehung auf die Conſtruction des römiſchen Kalenders nicht ganz übereinſtimmen, fo iſt doch nicht zu zweifeln, daß ihre Monate ſich urſprünglich ebenfalls auf den Mond bezogen haben. Auf welche Weiſe ſie aber auch den Lauf des Mondes mit dem der Sonne in Uebereinſtimmung zu bringen ſich bemüht haben mögen, ſo iſt doch ſo viel klar, daß der Verſuch mißglückt, und daß er in ſpätern Zeiten ganz aufgegeben worden iſt. Die Römiſchen Monate, vor und nach der Correction durch Julius Cäſar, waren bloße Theile des Jahres, die zu den Neu- und Vollmonden keine weitere Be— ziehung mehr hatten. Da aber die Neueren dieſe Eintheilung des Jahres beibehalten haben, ſo hat dadurch unſer Kalender zwar einen der früheſten Verſuche, unſere Zeitrechnung mit den Erſcheinungen des Himmels in Uebereinſtimmung zu bringen, aber auch zugleich einen gänzlich mißglückten Verſuch, aufge— nommen, um ihn der ſpäteſten Folgezeit zu überliefern.

Wenn man nun, wie es dieſer Geſchichte ziemt, auf die eigentlichen Fortſchritte der Wiſſenſchaft ſieht, ſo ſcheinen bloße Kalenderverbeſſerungen nur wenig Stoff zu unſeren Betrach— tungen zu liefern. Aber ſie dürfen deßhalb nicht ganz über— gangen werden. Denn wenn die Kalender eines ſcheinbar noch rohen Volkes, eines noch ganz unwiſſenſchaftlichen Zeitalters, doch ſchon einen höheren Grad von Uebereinſtimmung mit den wahren Bewegungen der Sonne und des Monds zeigen (wie dieß bei den Lunarkalendern der Griechen, und den Solarkalendern der Mexikaner der Fall iſt), ſo enthalten ſolche Schriften zugleich

112 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie.

die einzigen Ueberreſte von den aſtronomiſchen Entdeckungen dieſer Völker, auf welche ſie vielleicht viel Zeit und Mühe und Geiſteskraft verwendet haben, von denen aber alle weitere Spuren verloren gegangen ſind. Spätere Verbeſſerungen dieſer Art, die erſt entſtehen, wenn bereits die aſtronomiſchen Beobachtungen einen höheren Grad von Genauigkeit erreicht haben, ſind von geringem Werthe für die Geſchichte der Wiſſenſchaft, da fie den ihnen zu Grunde liegenden Entdeckungen nur nachfolgen und gewöhnlich noch tief unter denjenigen Erkenntniſſen ſtehen, aus welchen ſie abgeleitet werden, während ſo kurze und doch zugleich ſo genaue Perioden, wie die des Meton, vielleicht noch das erſte Gepräge der Kenntniß tragen, welche ſie enthalten, und immer— hin genaue Beobachtungen ſowohl, als auch arithmetiſchen Scharf— ſinn vorausſetzen. Die Entdeckung eines ſolchen Cyclus ſetzt immer einen talentvollen glücklichen Geiſt voraus, wie die Ent— deckung eines jeden anderen Naturgeſetzes. Außer dem aber mag uns die nähere Betrachtung ſolcher Verſuche fremd bleiben, da ſie mehr der Kunſt, als der Wiſſenſchaft, angehören, und da ſie mehr eine bloße Anwendung unſerer Erkenntniß auf das practiſche Leben, als eine wahre Erweiterung dieſer Erkennt— niß ſind.

Sechster Abſchnitt. Die Conſtellationen.

Bei dem erſten aufmerkſamen Blick zum Himmel wird man zu einer gewiſſen Anordnung der Geſtirne derſelben in verſchie— denen Gruppen gleichſam aufgefordert. Wie aber der Menſch dazu gekommen ſeyn mag, dieſen Gruppen ſo ſeltſame phan— taſtiſche Namen und Bedeutungen zu geben, die ſie in der That ſchon in den allerälteſten Zeiten erhalten haben, möchte ſchwer zu erklären ſeyn. Einzelne Sterne und auch auffallende Gruppen derſelben, wie z. B. die Pleiaden, führt ſchon Homer und Heſiod an, und die in dem Buche „Job“ enthaltenen Benennungen gehören einer noch viel frühern Zeit ).

1) Kannſt du hemmen den füßen Einfluß der Chima (der Pleiaden), oder löſen das Band von Keſil (Orion)? Kannſt du aufſtellen

Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 113

Das Merkwürdigſte bei dieſen Sternbildern iſt erſtens, daß ſie ganz willkührliche Combinationen von einzelnen Geſtirnen enthalten, da die künſtlichen Figuren, in welche man ſie einzu— ſchließen ſuchte, gar keine Aehnlichkeit mit der Anordnung der Sterne ſelbſt zu haben ſcheinen, und zweitens, daß demunge— achtet dieſe Figuren auch in ſehr entfernten Ländern wieder an— getroffen werden, ſo daß eine Mittheilung derſelben von einem Volke zum andern nicht weiter gelängnet werden kann. Die ganz willkührliche Zuſammenſtellung dieſer Figuren zeigt, daß fie mehr das Werk der Imagination und der mythologiſchen Anſichten, als das der Convenienz und einer wahren Anordnung geweſen ſeyn muß. „Die Sternbilder,“ ſagt einer unſerer heuti— gen Aſtronomen 2), „ſcheinen dieſe Figuren und Benennungen „abfichtlich erhalten zu haben, um die Verwirrung und Unſchick— „lichkeit ſo groß als möglich zu machen. Zahlloſe Schlangen „winden ſich in langen, verwickelten Zügen, die man kaum mit „dem Auge verfolgen kann, am Himmel hin; Bären, Löwen, „Hunde, Vögel und Fiſche, große und kleine, nördliche und „füdliche, treiben ſich da herum und verwirren alle Gegenſtände. „Ein beſſeres Syſtem der Conſtellationen würde eine weſentliche „Nachhülfe für unſer Gedächtniß ſeyn.“ Wenn man dieſe Grup— pen durch Geſtalten anzeigen wollte, die ihnen in der That ähnlich ſind, ſo würde man in den meiſten Fällen auf ganz andere Benennungen, als die eingeführten, gelangen. So findet der gemeine Mann bei uns mit Recht angemeſſener, daß der Haupttheil des Sternbildes, den die Alten „den großen Bären“ genannt haben, der „Wagen“ heiße ).

Mazzaroth (Sirius) in ſeiner Jahreszeit? oder kannſt du leiten Aiſch (Arctur) mit feinen Söhnen? Tob. XXVVIIII. 31. Der Arctur und Orion und die Pleiaden gemacht hat und die Gemächer des Südens Tob. IX. 9. Dupuis VI. 545 glaubt, daß Aisch oder dig die „Ziege“ bedeutet. M. ſ. Hyde's Ulughbeigh. 2) Herſchel. 3) Beide Benennungen waren auch ſchon den erſten Griechen bekannt. Aorrov Tv xaı dauakav enıxAnow xaArscıv. Die Bären, die man gewöhnlich den Wagen nennt. Homer. Odys. I. Aoxrog war wahrſcheinlich die traditionelle, und daga die,

der auffallend ähnlichen Form wegen, gewöhnliche Benenunng. Whewell. I, 8

114 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie.

Die erwähnte Aehnlichkeit der Benennung der Sternbilder in verſchiedenen Gegenden iſt in der That ſehr auffallend. Die Uebereinſtimmung der Chaldäiſchen, Aegyptiſchen und Griechi— ſchen Benennungen iſt nicht zu verkennen. Mehrere Schriftſteller behaupten, daß dieſelbe Aehnlichkeit auch in den Arabiſchen und Indiſchen Conſtellationen wieder gefunden werde“), wenigſtens unter denen des Thierkreiſes. Obſchon aber die Figuren beinahe alle dieſelben ſind, ſo ſind doch die Benennungen und die mit ihnen verbundenen Mythen verſchieden, je nach den hiſtoriſchen und religiöſen Anſichten jedes Volkes ). Der himmliſche Fluß, den die Griechen Eridanus nannten, hieß bei den Aegyptiern der Nil. Viele ſind der Anſicht, daß die Zeichen des Thierkreiſes, die Zone, in welcher die Sonne und der Mond einhergeht, ihre Benennungen erhalten haben von dem Lauf der Jahreszeiten, von der Bewegung der Sonne, oder von den Arbeiten der Land— leute. Wenn wir diejenige Lage des Himmels aufſuchen, die vermöge der jetzt wohlbekannten Theorie die Präceſſion der Nachtgleichen vor 15,000 Jahren ſtattgehabt hat, ſo iſt die Be— deutung der Zeichen des Thierkreiſes, in Beziehung auf den Lauf der Sonne und auf das Klima von Aegypten, in der That ſehr auffallend ), daher man auch davon Gelegenheit genommen hat, die Erfindung des Thierkreiſes in jene entfernte Zeitperiode zu verſetzen. Andere Schriftſteller haben dieſes zu große Alter— thum als unwahrſcheinlich verworfen, und dafür die Hypotheſe aufgeſtellt, daß das jeder Jahreszeit angewieſene Sternbild das— jenige ſey, welches in dieſer Jahreszeit bei dem Einbruche der Nacht eben aufgeht. Auf dieſe Weiſe, glauben ſie, wurde die „Wage,“ durch welche die Gleichheit der Tage und Nächte ange— zeigt wird, unter diejenigen Sterne verſetzt, die bei dem Anfang des Frühlings zur Abendzeit aufgehen. Durch dieſe Annahme würde die Zeit der Erfindung der Sternbilder im Zodiakus auf das Jahr 2500 vor unſerer Zeitrechnung gebracht werden.

Y Dupuis VI. 548. Der Indiſche Thierkreis ſetzt einen Widder

und einen Fiſch an die Stelle unſeres Steinbocks, ſo daß ſelbſt hier die Aehnlichkeit nicht gut geläugnet werden kann. Bailly, Hist. d' Astr. I. S. 157.

5) Dupuis VI. 549.

6) Laplace, Hist. d’Astron., in deſſen Expos. du Syst. du Monde.

Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 115

Ohne Zweifel hatte die Phantaſie und wahrſcheinlich auch der Aberglaube ſeinen guten Theil bei der Bildung der Conſtel— lationen des Himmels. Wenigſtens iſt gewiß, daß ſchon in ungemein früher Zeit ſehr abenteuerliche Eigenſchaften mit demſelben vers bunden wurden “). Die Aſtrologie iſt ſchon in den älteften Zeiten im Oſten bekannt geweſen, und nach ihr hatten die Ge— ſtirne einen ſehr weſentlichen Einfluß auf den Charakter und das Schickſal der Menſchen, da ſie in unmittelbarer Verbindung mit den höhern Mächten der Natur ſtehen ſollten.

Fernerhin können wir die Bildung dieſer Conſtellationen und die mit ihnen verbundenen Begriffe als einen der früheſten, und zugleich als einen gänzlich mißlungenen Verſuch anſehen, in den Geſtirnen des Himmels irgend eine Relation zu uns ſelbſt zu fin— den. Die erſten Verſuche der Menſchen, die Erſcheinungen und Bewegungen der himmliſchen Körper durch Schlüſſe auf Einheit und Zuſammenhang zurückzuführen, wurden auf eine ganz falſche Weiſe gemacht. Denn ſtatt dieſe Erſcheinungen bloß in Beziehung auf Raum und Zeit und Zahl, auf eine rein ra— tionelle Art, zu betrachten, wurden noch ganz andere Mittel zu Hülfe gerufen, die Phantaſie, die Tradition, Hoffnung, Furcht, Ahnung des Uebernatürlichen, Verhängniß u. dergl. Der Menſch, für dieſen Grad der Erkenntniß noch zu jung, mußte erſt lernen, welche Ideen er, um ſeine Verſuche mit Erfolg anzuſtellen, über dieſe Gegenſtände in ſich aufnehmen, und welche er von ſeinen Betrachtungen ausſchließen müſſe. In jener frühen Zeit war dieſe Unkenntniß wohl ſehr natürlich und auch zu entſchuldigen, aber dafür iſt es deſto merkwürdiger, zu ſehen, wie lang und hartnäckig der Glaube ſich erhielt (wenn er ja in unſern Tagen in der That ſchon gänzlich erloſchen iſt), daß die Bewegungen der Geſtirne mit den Schickſalen der Menſchen in unmittelbarem Zuſammenhange ſtehen, und daß es uns möglich ſey, das Geſetz dieſer Verbindung zu entdecken.

Wir können daher auch denjenigen nicht beiſtimmen, welche die Aſtrologie der früheren Jahrhunderte nur „als eine entartete „Aſtronomie, als den Mißbrauch einer noch viel früheren eigent— „lichen Wiſſenſchaft“ betrachten 9. Die Aſtrologie bezeichnet

7) Dupuis VI. 546. 8) Dupuis VI. 546.

116 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie.

vielmehr die erſten Schritte der Menſchen zur Aſtronomie, indem ſie dieſelben gewöhnte, die Erſcheinungen des Himmels in Grup— pen zu ordnen, in eine Art von Zuſammenhang zu bringen, und ihnen am Ende zu zeigen, daß jene eingebildeten mythologiſchen Relationen, von denen ſie ſo Großes erwarteten, nur einen ſehr ge— ringen Werth haben. Seitdem ſie einmal zu dieſer Ueberzeugung gekommen ſind, ſieht man die Wiſſenſchaft ſelbſt, im Gefolge von deutlichen Begriffen des Raums, der Zeit und der Zahl, ſtetigen Schritts auf der wahren Bahn einhergehen.

Siebenter Abſchnitt. Die Planeten.

Als man einmal mit den Geſtirnen des Himmels eine nähere Bekanntſchaft eingegangen hatte, konnten ſich auch die „Planeten“ nicht leicht mehr der Aufmerkſamkeit des Beobachters entziehen. Venus beſonders mußte durch ihren Glanz und durch ihre immer— währende Nähe bei der Sonne die Augen der Menſchen bald auf ſich ziehen. Pythagoras ſoll der erſte geweſen ſeyn, der den Morgen- und Abendſtern für ein und daſſelbe Geſtirn hielt. Gewiß wurde dieſe Bemerkung ſchon ſehr früh gemacht, da eine nur ein oder zwei Jahre fortgeſetzte Betrachtung des Himmels ſchon darauf leiten mußte.

Auch Jupiter und Mars, die oft noch heller als Venus ſind, konnten nicht lange unbemerkt bleiben. Merkur und Saturn haben zwar weniger Licht, aber in jenen reinen Himmelsſtrichen mußten auch ſie, bei einiger Aufmerkſamkeit, bald gefunden werden. Aber die ſonderbaren Bewegungen dieſer Körper unter den andern Geſtirnen des Himmels unter eine beſtimmte Regel zu bringen, mag wohl viel Zeit und Mühe gekoſtet haben, und wahrſcheinlich waren die erden, ohne Zweifel ſehr frühen Verſuche zu dieſem Zweck, mehr aſtrologiſcher, als eigentlich aſtronomi— ſcher Natur.

In einer Zeit, zu der unſere einigermaßen verläßliche Ge— ſchichte der Menſchheit nicht hinaufreicht, wurden dieſe Planeten, zugleich mit der Sonne und dem Monde, durch die Aegyyptier, oder durch irgend ein anderes ſehr altes Volk, in eine gewiſſe Ordnung gegen einander geſtellt. Wahrſcheinlich hielt man ſich dabei an die verſchiedene Geſchwindigkeit, mit welcher die

Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 117

Planeten unter den Fixſternen einhergehen. Denn obſchon die Bewegung eines jeden einzelnen Planeten ſehr veränderlich iſt, ſo iſt doch die Stufenreihe dieſer Geſchwindigkeiten von einem Planeten zu dem andern, ſehr in die Augen fallend, und dieſe jedem derſelben eigene Bewegung ſcheint die Phantaſie jener frühern Völker auf die Anſicht gebracht zu haben, daß auch jedem Planeten ein eigener Charakter, eine ihm ausſchließend zu— kommende Eigenſchaft beiwohne. So wurde Saturn mit einer kalten trägen Natur begabt; Jupiter, der wegen ſeiner ſchnellern Bewegung auch näher zur Sonne verſetzt wurde, galt für einen gemäßigten, Mars für einen feurig lebhaften Körper u. ſ. w.

Es wird nicht nöthig ſeyn, bei den Benennungen und Eigen— ſchaften dieſer Körper, die ihnen von den Alten beigelegt wur— den, länger zu verweilen ). Bemerken wir dafür, daß ſie die deutlichen Spuren einer der älteſten unſerer Zeiteintheilungen, die „der Woche,“ an ſich tragen. Dieſe Eintheilung der Zeit in ſieben Tage iſt, wie wir aus den älteſten Schriften der Juden ſehen, aus dem graueſten Alterthume zu uns gekommen. Dieſe Woche fand ſich bei den Arabern, den Aſſyriern und den Aegyptiern 2). Auch die Bramanen Indiens kennen ſie, und auch hier werden die einzelnen Tage der Woche nach den Plane— ten benannt.

Es ſcheint nicht leicht, die leitende Idee aufzufinden, welche zu dieſen Benennungen der Wochentage Gelegenheit gegeben hat. In den älteſten Zeiten ließ man die Planeten in folgender Ord— nung auf einander folgen, wenn man mit den von der Erde ent— fernteſten anfängt: „Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, „Merkur und Mond.“ Und das wahrſcheinlichſte Verfahren,

1) Achilles Tat ius (Uranol) gibt folgende Aegyptiſche und Griechiſche Namen der Planeten nebſt ihren Eigenſchaften. Aegypt. Griechiſch. Eigenſchaften. Saturn. Neueoewg Koovsaotno yaıyov, hell. Jupiter. Ooıgıdos Zeus, Jog gYaedov, glänzend.

Mars. Hodxleouvg nvoosiSs, feurig. Venus. Ayoodırzns Ewopogos, morgenbringend. Merkur. AToAAwvog ‘Eoue crix g, blinkend.

2) Laplace, Hist. d’Astron.

118 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie.

mit ihnen die einzelnen Tage der Woche zu beſtimmen, ſcheint folgendes zu ſeyn. (Man nahm an, daß jeder dieſer Himmels⸗ körper, in der angeführten Ordnung, die einzelnen Stunden des Tages beherrſchen oder der Regent dieſer Stunden ſeyn, und daß überdieß derjenige, welcher die erſte Stunde eines Tages regiert, auch zugleich dieſem Tage ſeinen Namen geben ſoll. So hieß alſo z. B. der Tag, deſſen erſte Stunde Saturn regierte, Dies Saturni, oder Samſtag. Demnach beherrſchte Jupiter die zweite Stunde dieſes Tags, Mars die dritte, die Sonne die vierte u. ſ. w., alſo auch der Mond die ſiebente, dann wieder Saturn die achte, Jupiter die neunte u. ſ. w., ſo daß demnach die fünfzehnte und zwei und zwanzigſte Stunde wieder auf Sa— turn, die drei und zwanzigſte auf Jupiter, die vier und zwan— zigſte auf Mars und die fünf und zwanzigſte, das heißt die erſte Stunde des folgenden Tages, auf die Sonne kam, daher auch dieſer zweite Tag der Woche Dies Solis oder Sonntag genannt wurde. In dieſem zweiten Tage beherrſchte alſo Venus die zweite Stunde, Merkur die dritte und die Sonne wieder die achte, fünfzehnte und zwei und zwanzigſte, ſo daß alſo Venus die drei und zwanzigſte, Merkur die vier und zwanzigfte, und daher der Mond die erſte Stunde des nächſtfolgenden Wochentags beherrſchte, weßhalb dieſer Tag Montag, Dies Lunae, genannt wurde u. ſ. w. L.)

Man kann mit Laplace ?) die „Woche“ als das älteſte Denk: mal der Aſtronomie der Vorzeit betrachten. Ohne Unterbrechung wand ſich dieſe einfache Periode aus den dunkelſten Zeiten der Vorwelt bis auf unſere Tage, indem ſie ihren Lauf durch ſo viele Jahrhunderte fortſetzte, ungeſtört von den Revolutionen der Völker und ſelbſt von den Verwirrungen, in welche unſere übrige Zeitrechnung ſo oft verfallen iſt. Als die Gottheiten jener Zeit, die den Tagen dieſer Periode ihre Namen gegeben hatten, von ihren Thronen ſteigen mußten, wurden die Benennungen der alten Teutoniſchen Götter an ihre Stelle geſetzt ). Nur die Quäcker, welche dieſe heidniſchen Namen der Wochentage nicht an— nehmen wollten, verwarfen zugleich mit ihnen das älteſte Monument des die Welt ſo lange beherrſchenden aſtrologiſchen Aberglaubens.

2) Laplace, Hist. d’Astron.

3) Donnerſtag, Thursday, kömmt von Thor, dem Donnergotte, Freitag, Friday, von Freya, der Venus der alten Deutſchen u. f.

Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 119

Achter Abſchnitt. Kreiſe der Sphäre.

Die bisher angeführten Erfindungen können zwar als Fort— ſchritte in der aſtronomiſchen Erkenntniß, aber nicht als reine techniſche oder wiſſenſchaftliche Speculationen betrachtet werden, da eine richtige Zählung der Zeit nur als eines der erſten Bedürfniſſe der aus dem rohen Zuſtand der Wildheit ſich erhebenden Völker angeſehen werden muß. Die Eintheilung des Himmels aber durch Hülfe einer Kugel, auf deren Oberfläche mehrere Kreiſe in beſtimmten Richtungen gezogen ſind, iſt ein weſentlicher Schritt zur Aſtronomie. Es iſt ſchwer, die erſten Urheber dieſer Sphären anzugeben. Die Anſicht des Himmels ſelbſt leitet uns ſchon auf die Idee einer hohlen Kugel, auf deren Oberfläche die Sterne ſtehen. Man ſah bald, daß man die Bewegung dieſer Sterne, wie ſie jede Nacht durch geſehen wurde, durch eine Drehung jener Kugel um einen beſtimmten Durchmeſſer, um eine Axe derſelben, darſtellen kann. Man bemerkte nämlich unter dieſen Sternen des Himmels einen, der an dieſer Bewegung keinen Theil nimmt, ſondern ſcheinbar ſtille ſteht, während die andern alle ſich in parallelen Kreiſen um jenen bewegen, und dabei ihre Diſtanzen unter ſich unverändert beibehalten. Dieſer unbeweg— liche Stern iſt alle Nächte derſelbe und immer an derſelben Stelle, während alle übrigen ihre allgemeine Stellung gegen den Horizont mit jeder Nacht etwas ändern, und die ganze Periode aller dieſer Aenderungen in einem jeden Jahre durchlaufen. Alles dieß ſtimmt ſehr wohl mit jener erſten Anſicht überein, daß der Himmel, gleich einem großen Dome, in der Geſtalt einer Kugel über uns gewölbt iſt, und daß ſich dieſe Kugel immerwährend und regelmäßig um eine Axe bewegt, die durch jenen in ſcheinbarer Ruhe befindlichen Stern geht.

Allein damit iſt jene Erſcheinung noch nicht erklärt, nach welcher die Lage der Geſtirne gegen den Horizont von einer Nacht zur andern während dem Laufe eines Jahres geändert wird. Man fand wohl bald, daß man, zu dieſem Zwecke, noch eine eigene Bewegung der Sonne unter den fixen Geftirs nen des Himmels an jener Kugelfläche annehmen müſſe. Dieſe Sonne macht wahrſcheinlich durch die Helligkeit ihres Lichts die

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in ihrer Nähe ſtehenden Sterne unſichtbar, wie dieß auch der Vollmond, wenigſtens mit den ſchwächeren Sternen thut, daher wir dieſe Sterne, wie das Licht des Tages gen Abend abnimmt, wieder allmählig hervorkommen ſehen. Und wie dann dieſe Sonne, wenn ſie während einem Jahr ihre ganze Bahn unter den Sternen zurücklegt, mit jedem Aufgang den Tag, und mit jedem Untergange die Nacht über uns heraufführt, ſo wird auch, während derſelben Zeit eines Jahres, jeder Theil des geſtirnten Himmels, einer nach dem andern, zur Nachtzeit ſich unſern Blicken darſtellen.

Dieſer Satz, „daß die Sonne ihren Weg unter den Sternen „in jedem Jahre zurücklegt,“ iſt die Baſis der ganzen Aſtronomie, und ein großer Theil dieſer Wiſſenſchaft beſteht nur in der wei— tern Entwicklung und Erläuterung dieſes Satzes. Es iſt ſchwer, die Methode, durch welche man dieſe Bahn der Sonne am Himmel näher kennen lernte, oder die eigentlichen Entdecker derſelben, oder auch nur die Zeit dieſer Entdeckung anzugeben. Es mochte wohl nicht gleich einleuchten, wie man dieſen Weg der Sonne unter den Sternen beſtimmen ſoll, da die Sterne, bei welchen ſie eben iſt, durch ſie ſelbſt unſichtbar gemacht werden. Wenn man den ganzen Umkreis des Himmels in zwölf gleiche Theile oder „Zeichen“ theilt, ſo bemerkt Autolycus, der älteſte Schriftſteller über dieſe Gegenſtände, deſſen Werke auf uns ge— kommen find ), daß die Sonne immer die Sterne eines ſolchen Zeichens für uns unſichtbar macht. Demnach würden diejenigen Sterne, die beim Auf- oder Untergange der Sonne ihr zunächſt noch ſichtbar ſeyn, ein halbes Zeichen (oder 15 Grade) von ihr abſtehen, die abendlichen Sterne auf der Oſtſeite, und die mor— gendlichen auf der Weſtſeite der Sonne. Mit Hülfe dieſer Be— merkung konnte ein Beobachter, der nur einige Kenntniß des geſtirnten Himmels beſaß, jeden Tag diejenigen Sterne angeben, bei welchen die Sonne für dieſen Tag ſich eben aufhielt.

Auf dieſen oder einem ähnlichen Weg wurde ohne Zwei— fel die Bahn der Sonne am Himmel von den erſten Aſtronomen gefunden. Thales, den man den Vater der griechiſchen Aſtro— nomie nennt, lernte dieſe Kenntniſſe wahrſcheinlich bei den Aegyptiern, und brachte ſie von da in ſein Vaterland. Seine

1) Delambre, Astr. Anc. S. XIII.

Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. f 121

Einſicht war vielleicht noch beträchtlich weiter vorgedrungen, wenn es wahr iſt, was man von ihm behauptet, daß er eine Finſterniß vorherſagen konnte. Allein dieß iſt nicht überein— ſtimmend mit den Fortſchritten, die ſeine Nachfolger in der Aſtronomie noch zu machen hatten.

Der Kreis, in welchem ſich die Sonne jährlich am Himmel bewegt, iſt gegen den, welchen die Sterne täglich zurücklegen, um einen beträchtlichen Winkel geneigt. Plinius?) ſagt, daß Anaximander, ein Schüler des Thales, dieſe ſchiefe Lage der Ecliptik zuerſt bemerkt, und dadurch, wie er ſich ausdrückt, „die Thore des Himmels geöffnet habe ).“ Ohne Zweifel hat der, welcher zuerſt eine klare Idee von der Natur der Sonnenbahn in der Himmelsſphäre aufſtellte, einen großen Schritt gemacht, der gleichſam von ſelbſt zu allem Uebrigen führte, aber es hält ſchwer, zu glauben, daß die Aegyptier und Chaldäer nicht ſchon früher ſo weit gekommen ſeyn ſollten.

Die tägliche Bewegung der Himmelsſphäre und die Bewe— gung der Sonne und des Mondes in ihren eigenen Bahnen gaben einer eigenen mathematiſchen Doctrin, „der Lehre von der Sphäre“ den Urſprung, die einen der früheſten Zweige der practiſchen Mathematik bildete. Bei dieſer Gelegenheit wurde eine Anzahl von neuen techniſchen Ausdrücken eingeführt. Man nahm den Himmel als eine „ganze Sphäre“ an, obſchon wir jedesmal nar die Hälfte derſelben ſehen. Man feste ferner voraus, daß er ſich um den (uns ſichtbaren oder) nördlichen, und überdieß noch um einen, jenem entgegengeſetzten ſüdlichen Pol drehe, und nannte durch die dieſe beiden Pole verbindende gerade Linie die „Axe“ des Himmels. Derjenige größte Kreis, der in der Mitte zwiſchen dieſen zwei Polen liegt, und den Himmel in zwei Hälften theilt, wurde Aequator (Iomusoıvos) genannt. Die zwei dem Aequator parallelen Kreiſe, welche die ſchiefe Bahn der Sonne über und unter dem Aequator begrenzten, hießen die Wendekreiſe (Tropici, roonıxaı), weil die Sonne, wenn ſie in ihrem Laufe dieſe Kreiſe erreicht hat, gleichſam wieder in die vorige Gegend des Himmels zurückkehrt. Dieje—

2) Hist. Nat. II. Cap. VIII. 3) Plutarch. de Plac. Philosoph. L. II. Cap. XII. ſagt, daß Pytha⸗ goras dieſe Entdeckung gemacht habe.

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nigen Sterne, welche nie untergehen, ſind von einem anderen Kreiſe eingeſchloſſen, der der arktiſche Kreis (apxrıxog von agxros, dem großen Bären, der ſelbſt nicht untergeht) genannt wurde. Ein ihm gegenüberſtehender, von dem Südpole eben ſo weit entfernter Kreis hieß der antarktiſche, und er enthielt diejenigen Sterne, die bei uns nicht mehr aufgehen). Die dem Aequator parallele Zone, welche die ganze Sonnenbahn enthält, wurde Zodiacus (Thierkreis) genannt; die zwei Punkte, in welchen die Sonnenbahn den Aequator durchſchneidet, hießen die Aequinoctialpunkte, weil zu der Jahrszeit, wo die Sonne in dieſen Punkt tritt, Tag und Nacht auf der ganzen Erde gleich groß iſt. Solſtitialpunkte aber wurden die zwei Punkte der Sonnenbahn genannt, in welchen ſte die beiden Wendekreiſe berührte. Die Coluren (zoAgoor, verſtümmelte Kreife) ſind jene Kreiſe, welche durch die beiden Pole und durch die Solſtitialpunkte gehen, und ſie haben ihren Namen davon, daß man immer nur einen Theil derſelben ſieht, weil der andere unter dem Horizonte iſt.

Der Horizont (öensov) wird gewöhnlich als die Grenze zwiſchen Erd und Himmel angenommen. In der „Lehre von der Sphäre“ iſt er als ein größter Kreis, d. h. als ein ſolcher Kreis vorausgeſetzt, der durch den Mittelpunkt des Himmels und der dem Himmel concentriſchen Erde geht, ſo daß demnach immer die Hälfte des Himmels über dem Horizonte iſt. Dieſer Ausdruck begegnet uns zuerſt in einem Werke Euclid's, das Phän o— mena (Dawoueva) genannt wird.

Wir beſitzen zwei Schriften des Autolycus ) (der nahe 300 Jahre vor Ch. G. lebte), welche die Reſultate der „Theorie der Sphäre“ auf eine deductive Weiſe enthalten. In dem Werke Neo Kıvsusvng Zpaıoag (von der beweglichen Kugel) zeigt er, wie aus der Annahme einer gleichförmigen täglichen Bewe— gung der Sphäre verſchiedene Eigenſchaften des Auf- und Unter: gangs und der Bewegungen der Geſtirne folgen. Und in einer zweiten Schrift: Neo Enirol o xaı Zvosov (von dem Auf: und Untergehen s) ſetzt er die Bewegung der Sonne in ihrer

4) Die beiden Polarkreiſe der neuern Aſtronomie find von jenen ark tiſchen und antarktiſchen Kreiſen verſchieden.

5) Delambre, Astr. Anc. S. 19.

6) Ib. S. 25.

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Bahn gleichförmig voraus, und gibt verſchiedene Propoſitionen über den Auf- und Untergang der Sterne in Beziehung auf den gleichzeitigen Auf- und Untergang der Sonne). Mehrere von dieſen Propoſitionen werden jetzt noch als für die Aſtronomie weſentlich betrachtet, und ſind ſelbſt zum Verſtändniß der grie— chiſchen und römiſchen Dichter nothwendig.

Das oben erwähnte Werk von Euclid iſt von derſelben Art. Delambre ®) ſchließt aus dieſem Werke, daß Euclid feine aſtrono— miſchen Kenntniſſe nur aus Büchern genommen, aber nie ſelbſt den Himmel beobachtet habe.

Bemerken wir hier zum erſtenmale, was wir fpäter noch oft in dieſer Geſchichte ſehen werden den Trieb des menſchlichen Geiſtes zur Deduction. So oft er ſich ſo viele Kenntniſſe der Art verſchafft, daß ſie durch logiſche Schlüſſe verbunden und wieder in ihre Theile aufgelöst werden können, ſo oft ſucht er auch daraus eine Art von Wiſſenſchaft zu bilden, indem er dieſe Schlüſſe in ein Syſtem zu bringen ſtrebt. Die Geometrie iſt von jeher ein Lieblingsgegenſtand dieſes Triebes geweſen, und fie ſowohl, als auch die Trigonometrie, die ebene wie die ſphä— riſche, ſind bis auf die gegenwärtigen Zeiten dasjenige Feld ge— weſen, auf dem ſich das mathematiſche Talent der Deduction vorzugsweiſe gefallen hat, indem ſchon einige wenige Wahrheiten genügten, um auf ihnen, als auf einer Baſis, das ganze Ge— bäude der Wiſſenſchaft zu erheben.

Neunter Abſchnitt. Augelgeltalt der Erde.

Die Begründung der Kugelgeſtalt der Erde iſt als ein wich— tiger Schritt der Aſtronomie betrachtet worden, da ſie die erſte von jenen Ueberzeugungen enthält, die mit dem offenbaren Sinnen— ſcheine im Widerſpruche ſteht, und demungeachtet von der Wiſſen— ſchaft über alle Zweifel erhoben wird. Dem Menſchen den Glau— ben aufzudringen, daß die Begriffe von „Oben“ und „Unten“ ſich

7) Ueber den ſogenaunten cosmiſchen, heliſchen und achroniſchen Auf⸗ und Untergang der Sterne. 8) Astr. Anc. S. 53.

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bloß auf verſchiedene Richtungen in verſchiedenen Stellen beziehen; daß das Meer, anſcheinend fo eben, doch conver iſt; daß die Erde, die uns auf ſo feſtem Grund zu ruhen ſcheint, doch ganz und gar ohne Unterſtützung iſt: dieß ſind allerdings große Triumphe des entdeckenden ſowohl, als auch des die Andern belehrenden Geiſtes. Man wird dieß nicht läugnen können, wenn man bedenkt, daß vor noch nicht ſehr langer Zeit die Lehre von den Antipoden für monſtros und ketzeriſch verſchrieen worden iſt.

Und doch führt die Verſchiedenheit der Lage des Horizonts an verſchiedenen Orten der Oberfläche der Erde fchon jeden Anz fänger in der Aſtronomie auf die Annahme einer kugelförmigen Erde. Anaximander ) ſoll der erſte unſere Erde kugelförmig und zugleich frei im Raume ſchwebend angenommen haben, ſo wie er auch eine Kugel conſtruirt haben ſoll, auf welcher man die Länder und Meere der Erde ſehen konnte. Da wir aber die Beweiſe, die er für ſeine Behauptung gebraucht haben mag, nicht kennen, ſo können wir auch über den Werth derſelben nicht urtheilen. Vielleicht war dieſer ſein Satz nicht beſſer begründet, als der, den ihm Diogenes Laertius ebenfalls zuſchreibt, daß die Erde die Geſtalt einer Säule oder eines Pfeilers habe. Wahrſcheinlich wurden dieſe Vertheidiger der Kugelgeſtalt der Erde durch die Bemerkung darauf geführt, daß die geographi— ſchen Breiten oder die Polhöhen an verſchiedenen Orten der Erde ebenfalls verſchieden ſind. Sie mochten gefunden haben, daß der Weg, den ſie auf der Erde von Nord gen Süd zurücklegen, dem Wege proportional iſt, welchen ihr Horizont, während einer ſol— chen Reiſe, am Himmel beſchrieb, und da dieſer Horizont für jeden Ort der Erde eine waſſerrechte oder tangirende Lage hat, ſo konnten ſie leicht auf die Anſicht kommen, daß die Erde in der Mitte der himmliſchen Kugel aufgeſtellt und ſelbſt wieder eine ähnliche, nur kleinere Kugel iſt. a

Bei Ariſtoteles findet man dieſe Lehre ſchon ſo beſtimmt aus— gedrückt, daß man ihn für den erſten Begründer derſelben an— ſehen kann 2). „Was die Geſtalt der Erde betrifft, ſagt er, ſo „muß ſie eine Kugel ſeyn.“ Er beweist dieß zuerſt durch das abwärts gerichtete Streben aller Dinge au allen Orten der

1) M. ſ. Brucker, Vol. I. S. 486. 2) Aristot. de Coelo. Lib. II. Cop. XIV. Casaubon. S. 290.

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Erde, und ſetzt dann hinzu: „Dazu kömmt noch das Zeugniß „der Sinne. Denn wenn die Erde keine Kugel wäre, ſo würden „die Mondsfinfterniffe keine fo geſtalteten Ausſchnitte in dieſem „Geſtirne zeigen; denn die Schattengrenze des Monds nimmt „während dem Laufe eines Monats verſchiedene Geſtalten an, „die einer geraden Linie, die einer convexen und dann wieder „einer concaven Kreislinie, aber zur Zeit der Finſterniß iſt dieſe „Grenze immer convex. Da nun eine Mondsfinſterniß durch den „Erdſchatten entſteht, ſo muß dieſe Erde ſelbſt die Geſtalt einer „Kugel haben. Auch folgt aus der Erſcheinung der Sterne über „dem Horizont, daß dieſe Geſtalt kugelförmig, und zugleich, daß »dieſe Kugel ſelbſt nicht eben ſehr groß ſeyn kann. Denn wenn „man auch nur wenig gen Süd oder gen Nord fortgeht, fo än— „dert ſich der Kreis des Horizonts ſogleich auffallend, fo daß die „in unſerem Scheitel ſtehenden Sterne ſich ſofort von demſelben „entfernen. Eben fo werden mehrere (ſüdliche) Sterne in Aegyp— „ten und Cypern noch geſehen, die man in den nördlicher lie— „genden Ländern nicht mehr ſieht, und wieder andere Sterne, die „gegen Norden liegen, bleiben in den nördlichen Gegenden der „Erde, während ihrem ganzen täglichen Laufe über dem Hori— „zont, während fie in den ſüdlichen Gegenden gleich allen andern „auf: und untergehen. Die Mathematiker, die den Umfang „der Erde durch Schlüſſe beſtimmen wollen, geben denſelben zu „400,000 Stadien an, woraus wir denn folgern, daß die Geſtalt „der Erde nicht nur ſphäriſch, ſondern daß auch ihr Volumen „nur gering iſt, wenn man fie mit dem Himmel vergleicht.“ Dieſe Wahrheit, einmal aufgefaßt, konnte dann auch leicht noch durch andere Gründe vertheidigt und beſtätigt werden, wie wir derſelben in mehreren Schriftſtellern finden. So ſagt z. B. Plinius), „daß alle Dinge einen Hang haben, nach dem „Ort der ſchweren Körper zu fallen, und da dieſer Ort der „Mittelpunkt der Erde iſt, daß dieſe Erde ſelbſt keinen ſolchen „Hang haben kann; ferner, daß die Unebenheiten der Oberfläche der „Erde ſo gering ſind, daß ſie keinen weſentlichen Einfluß auf die „Geſtalt der Erde haben können; daß die Waſſertropfen von »ſelbſt die Kugelform annehmen; daß die Grenzen des Meeres

3) Plinius, Hist. Nat. II. LXV.

126 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie.

„herabfallen müßten, wenn die Oberfläche deſſelben nicht eben- „falls abgerundet wäre; daß wir von entfernten Schiffen zuerft „die oberſten Theile erblicken, was ebenfalls die runde Geſtalt der „Erde beweist u. ſ. f.“ Dieſelben Sätze werden auch in unſeren Tagen noch in den Schulen vorgetragen, fo daß alſo ſchon in jenen frühen Zeiten gleichſam die Schätze geſammelt worden. ſind, die jetzt noch einen Theil unſerer Wiſſenſchaft bilden.

Zehnter Abſchnitt. Cichtgeſtalten des Mondes.

Sobald man ſich einmal einen beſtimmten Begriff von dem Monde, als einem kugelförmigen Körper, gemacht hatte, der ſich in einer Bahn um die Erde bewegt, von welcher die außer dieſer Bahn ſtehende Sonne nicht eingeſchloſſen wird, ſo war man auch ſchon auf dem Wege, die verſchiedenen Lichtgeſtalten, die uns der Mond während jedem Monate zeigt, auf eine be— friedigende Weiſe zu erklären, da die convexe Lichtſeite des Monds immer der Sonne zugewendet iſt. Dieſe Erklärung ließ ſich auf eine ſehr einfache Weiſe ſelbſt für den gemeinen Mann verſinnlichen, wenn z. B. eine ſteinerne Kugel von der Sonne beſchienen wird, und wenn wir uns ſo ſtellen, daß uns der Stein in derſelben Richtung mit dem Monde erſcheint. Dann wird der von der Sonne beſchienene Theil des Steines immer eine der Lichtphaſe des Mondes ähnliche Geſtalt haben, mit dem einzigen Unterſchiede, daß wir den dunklen Theil der uns zuge— wendeten Seite des Mondes nicht, oder doch nicht ſo deutlich ſehen, wie bei dem Steine.

Dieſe Erklärung der Lichtgeſtalten des Mondes wird dem Anaximander zugeſchrieben, und Ariſtoteles kannte ſie ebenfalls !). Auch konnte ſie, da ſie ſich gleichſam von ſelbſt anbietet, den Chaldäern und Aegyptiern nicht wohl entgangen ſeyn, wenn ihre Aſtronomen ſich überhaupt damit beſchäftiget haben, die Urſachen der Erſcheinungen des Himmels zu erforſchen.

1) Aristot. Probl. XV.

Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 127

Eilfter Abſchnitt. inter ni te.

Die Finſterniſſe wurden ſchon in den älteſten Zeiten mit vor— züglicher Theilnahme betrachtet. Der Glaube an einen überna— türlichen Einfluß der Geſtirne auf den Menſchen, der, wie wir geſehen haben, ſchon in dem grauen Alterthume herrſchte, konnte nur mit Verwunderung und Schrecken auf plötzliche Aenderun— gen in den Erſcheinungen des Himmels blicken, die man durch lange Zeit nur ſehr regelmäßig vor ſich gehen ſah. In dieſem Falle befanden ſich wahrſcheinlich alle Völker zur Zeit ihrer an— faugenden Bildung.

Dieſer Eindruck, den die Finſterniſſe auf die Menſchen machte, war auch die Urſache, warum ſie ſo ſorgfältig bemerkt und der Nachwelt erhalten worden ſind. Auch ſind die Nach— richten von den beobachteten Finſterniſſen die älteſten aſtronomi— ſchen Denkmäler der Vorzeit, die uns überliefert worden ſind.

Sobald man einmal einige von den Geſetzen entdeckt hatte, nach welchen andere Erſcheinungen des Himmels, z. B. der Lauf der Sonne oder die Lichtgeſtalten des Monds, ſo regelmäßig auf einander folgen, ſo war die Vermutbung wohl ſehr natürlich, daß auch dieſe ungewöhnlichen und ſcheinbar unregelmäßigen Phänomene ebenfalls gewiſſen Geſetzen unterliegen könnten. Die Aufſuchung eines ſolchen Geſetzes ſcheint fchon in ſehr frühen Zeiten der Menſchengeſchichte erfolgreich geweſen zu ſeyn. Die Chaldäer ſollen bereits im Stande geweſen ſeyn, künftige Finſter— niſſe voraus zu ſagen. Sie thaten dieß wahrſcheinlich mit Hülfe ihres Cyklus von 223 Monaten oder nahe 18 Jahren, da am Ende einer jeden ſolchen Periode die Finſterniſſe des Monds und der Sonne wieder in derſelben Ordnung zurückkehren. Dieß war wohl das erſte Beiſpiel der Vorherſagung einer beſtimmten Er— ſcheinung des Himmels. Die Chineſen tragen ſich noch mit einer viel früheren Erzählung dieſer Art, nach welcher unter der Re— gierung von Tſchon-kaung, gegen das Jahr 2000 vor Chr. Geb. eine Sonnenfinſterniß ſich erreignet haben ſoll, bei welcher Gelegen— heit zwei hohe Staatsbeamte und Aſtronomen, welche dieſe Finſterniß ſchlecht vorausberechnet hatten, von dem regierenden Kaiſer zum Tode verurtheilt worden ſind. Allein dieſe Nachricht

128 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie.

ſcheint nicht verläßlich, da das ganze folgende Jahrtauſend durch die chineſiſchen Jahrbücher auch nicht einer einzigen Beobachtung oder irgend einer aſtronomiſchen Erſcheinung erwähnen, und da ſelbſt ſpäter noch die chineſiſche Aſtronomie auf einer ſehr nie— deren Stufe der Ausbildung ſtehen geblieben iſt.

Es iſt ſchwer, den Weg zu finden, auf welchem die Chal— däer zu ihrem Cyklus von 18 Jahren gekommen ſeyn mögen. Man kann mit Delambre vorausſetzen ), daß fie die von ihnen beobachteten Finſterniſſe genau aufgezeichnet, und dann, bei der Durchſicht ihrer Verzeichniſſe gefunden haben, daß die Monds— finſterniſſe in beſtimmten Zeiten wieder kommen. Man kann auch mit andern Schriftſtellern annehmen, daß ſie die Bewe— gungen des Monds und der Sonne mit beſonderer Sorgfalt ver— folgt haben, und dadurch endlich auf die Periode gekommen ſind, welche dieſe Ordnung der Finſterniſſe umfaſſen. Aber dieſer letz— tere Weg ſetzt ſchon viel höhere aſtronomiſche Kenntniſſe voraus. Es iſt daher wahrſcheinlicher, daß dieſer Cyklus auf jenem erſten Wege gefunden worden iſt. Nach 6585 ¼ Tag oder nach 223 Lunationen kehren die Finſterniſſe in derſelben Ordnung, und auch nahe in derſelben Größe, wieder zurück. Die Schriftſteller der Alten wenigſtens beſtreiten es nicht, daß die Chaldäer mit dieſer Periode von 18 Jahren, die ſie Saros nannten, bekannt waren, noch daß ſie mit Hülfe derſelben die Finſterniſſe berechnet haben.

Zwölfter Abſchnitt.

Erfte Folgen dieles frühelten Zuſtandes der Aftronomie.

Jeder Zuftand der Wiſſenſchaft wird von einer Reihe prac- tiſcher Anwendungen und ſyſtematiſcher Verſuche begleitet, die aus dem bereits oben erwähnten Hange geiſtvoller Menſchen zu deductiven Speculationen entſpringen. Der früheſte Zuſtand der Aſtronomie, ſo weit ſie ſchon als eigentliche Wiſſenſchaft betrach— tet werden kann, gibt uns deren mehrere Beiſpiele, von welchen wir einige hier kurz anführen wollen.

1) Delamhre, Astr. Anc. S. 212.

Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 129

Vorherbeſtimmung der Finſterniſſe.

Die verſchiedenen Cykeln, welche die älteſten Völker zum Behufe ihres Kalenders oder ihrer Zeitrechnung erfunden hatten, gab ihnen auch, wie bereits geſagt, Gelegenheit, die künftigen Finſterniſſe vorherzubeſtimmen, und dieſer Zweig der aſtronomi— ſchen Erkenntniß wurde in allen Zeiten mit einer Art von Vor— liebe ausgebildet.

Irdiſche Zonen.

Nachdem einmal die Kugelgeſtalt der Erde erkannt war, wurde die „Lehre von der Sphäre“, die man bisher nur für den Himmel gebraucht hatte, auch auf die Erde angewendet. Demnach wurde die Oberfläche der Erde durch verſchiedene imaginäre Kreiſe in eine Art von Eintheilung gebracht. Man zog auf der Erde den Aequator, die Wendekreiſe und andere Kreiſe ganz in derſelben Winkeldiſtanz, wie man ſie früher auf dem Himmel verzeichnet hatte. Dadurch gerieth man auf die Annahme, daß die Erde in, dem Aequator parallele, Gürtel oder Zonen einge— theilt ſey, die ſehr weſentlich unter einander verſchieden ſeyn ſollen. Je näher man gegen Süden reiste, deſto wärmer wurde das Klima. Man ſchloß daraus, ohne es eben in der That er— fahren zu haben, daß der Theil der Erde, der zwiſchen den beiden Wendekreiſen enthalten iſt, wegen ſeiner großen Hitze ganz un— bewohnbar ſeyn müſſe, und daß eben ſo der von den beiden Polarkreiſen eingeſchloſſene Theil der Erde, durch ſeine große Kälte, allem Leben feindlich entgegen wirke. Dieſe Anſicht war, wie jetzt Jeder weiß, ungegründet, aber jene Eintheilung der Erde in parallele Zonen führte demungeachtet zu mehreren ſehr richtigen und nützlichen Propoſitionen über die Länge der Tage und Nächte an verſchiedenen Orten der Erde und dgl.

Gnom onik.

Eine andere Frucht der „Lehre von der Sphäre“ war die Gnomonik, oder die Kunſt, Sonnenuhren zu verfertigen. Anaxi— menes ſoll, wie Plinius erzählt, der erſte die Griechen dieſe Kunſt gelehrt haben, ſo wie auch er und Anaximander die erſte

Sonnenuhr in Lacedämon errichtet haben ſollen. Whewell, A 9

130 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie.

Größe der Sonne.

Die oben erwähnte Erklärung der Lichtgeſtalten des Mondes führte Ariſtarch von Samos auf eine ſehr finnreihe Mes thode, die Verhältniſſe der Entfernungen der Sonne und des Mondes von der Erde durch Beobachtung zu beſtimmen. Wenn der Mond, in ſeinen Vierteln, genau halb beleuchtet iſt, ſo iſt in dem Dreiecke zwiſchen Sonne, Erde und Mond der Winkel am Monde gleich 90 Graden. Beobachtet man alſo in dieſem Augenblicke den Winkel an der Erde, ſo iſt der Sinus dieſes Winkels gleich der Entfernung des Mondes von der Erde, divi— dirt durch die Entfernung der Erde von der Sonne. Man erhält alſo die Sonnenparallaxe aus der bekannten Parallaxe des Mondes, welche letzte durch unmittelbare Beobachtungen auf der Erde leicht gefunden werden kann. Dieſe in theoretiſcher Be— ziehung richtige Methode läßt aber keine verläßliche practiſche Ausführung zu, da es ſehr ſchwer iſt, die Zeit anzugeben, wann der Mond genau zur Hälfte beleuchtet, oder wann die Schatten— grenze (bei ihrem Uebergang aus einer converen Curve in eine concave) genau eine gerade Linie iſt, und da der geringſte Fehler in dieſer Zeitangabe jenes Verhältniß der beiden Diſtanzen ſehr unrichtig machen kann. Auch war das Reſultat, welches Ari— ſtarch erhielt, ſehr fehlerhaft, indem er fand, daß die Entfernung der Sonne nur achtzehnmal größer ſeyn ſoll, als die des Mondes von der Erde, da ſie doch, wie wir jetzt wiſſen, über vierhundert— mal größer iſt.

Obſchon wir leicht noch länger bei dieſen Gegenſtänden ver— weilen könnten, ſo wird es doch angemeſſener ſeyn, vorwärts zu eilen. Zu dem Vorhergehenden wurden wir durch das Intereſſe gleichſam verleitet, welches der ſpeculative Geiſt der Griechen über die früheſten aſtronomiſchen Entdeckungen verbreitete, fo lange derſelbe bloß bei dieſen Speculationen verweilte. Nun aber iſt es Zeit, daſſelbe Volk zu betrachten, wie es zu einem wür— digeren Geſchäfte, zu der eigentlichen Entwicklung und Vollen— dung jener frühen Entdeckungen übergeht.

Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs. 131

Zweites Capitel. Eingang zu der inductiven Epoche Hipparch's.

Obſchon wir die nächſten Folgen jener früheſten aſtronomi— ſchen Entdeckungen keineswegs vollſtändig aufgezählt zu haben glauben, gehen wir doch ſofort zu der Betrachtung der nun fol— genden großen Entdeckung über, die in der Geſchichte der Aſtro— nomie Epoche gemacht hat: zu der Theorie der Epicykel und der excentriſchen Kreiſe. Ehe wir aber dieſe Theorie ſelbſt näher kennen lernen, wollen wir, unſerm urſprünglichen Plane gemäß, vorerſt einige von den Verſuchen und Conjecturen, die ihr vor— ausgingen, und zugleich die anwachſende Menge von Thatſachen näher betrachten, welche das Bedürfniß einer ſolchen Theorie immer fühlbarer machte.

Zu den bisher erzählten Fortſchritten der Aſtronomie bedurfte man keines beſonderen Talents, um den beabſichtigten Zweck zu erreichen. Die Bewegungen der Himmelskörper konnten und mußten beinahe als die Reſultate einer Bewegung der Sphäre betrachtet werden, und auch die Variationen dieſer Erſcheinungen des Himmels, wie ſie von verſchiedenen Punkten der Erdober— fläche geſehen werden, führten gleichſam von ſelbſt auf die An— nahme der Kugelgeſtalt der Erde. In allen dieſen Fällen leitete die erſte Vermuthung, die Vorausſetzung der einfachſten Geſtalt und die Annahme der einfachſten, der gleichförmigen, Bewegung ſofort zu ſolchen Reſultaten, die keine nachträglichen Verbeſſe— rungen mehr erforderten. Allein dieſe Einfachheit, dieſe leichte und uns gleichſam von ſelbſt ſich anbietende Erklärung des Gegen— ſtandes konnte keine Anwendung mehr finden, ſobald es ſich um die Darſtellung der viel mehr zuſammengeſetzten Bewegungen der Planeten handelte. Dieſe wunderbar verſchlungenen Bahnen der „Wandelſterne“ waren nicht fo leicht zu ergründen, „da „jeder derſelben, wie Cicero ſich ausdrückte, fo mannigfaltige „Veränderungen in ſeinem Laufe erleidet, bald vor-, bald rück— „wärts, bald ſchnell, bald wieder langſam geht, bald zur Abend— »zeit erſcheint, allmählig ſchwächer wird, und wieder in der

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132 Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs.

„Morgendämmerung mit neuem Lichte hervortritt ).“ Eine wei— ter fortgeſetzte Aufmerkſamkeit auf dieſe Planeten mochte wohl eine gewiſſe, übrigens ſehr verwickelte Regelmäßigkeit in ihren Bewegun— gen bemerken, die man auch als einen „Tanz“ derſelben zu be— ſchreiben pflegte. Divdor ?) erzählt, daß die Chaldäer den Auf— und Untergang der Geſtirne von der Zinne des Belus-Tempels mit vielem Fleiße beobachtet haben. Auf dieſem Wege allein konnten ſie auch nur die Perioden des Vor- und Rückgangs von Mars, Jupiter und Saturn gefunden haben, ſo wie die Zeiten ihres Umlaufs, in welchen ſie wieder zu denſelben Punkten des Himmels zurückkehren ). Merkur und Venus blieben immer in der Nachbarſchaft der Sonne, um welche ſie, gleich einem Pen— del, ihre auf und ab gehenden Schwingungen, zu beiden Seiten der Sonne, vollenden, ſo daß es jenen alten Beobachtern nicht ſchwer fallen konnte, die Größe und Dauer der Amplituden die— ſer Schwingungsbogen zu beſtimmen.

Von dieſen Bewegungen der Planeten hat man ſich, in den älteſten Zeiten, etwa auf folgende Art Rechenſchaft zu geben ge— ſucht. Saturn z. B. geht, wie man fand, in je 30 unſerer Jahre 29 mal durch jenen Cyklus von Veränderungen, nach welchen er ſich bald vor-, bald rückwärts bewegt, ſo daß er zu— gleich in derſelben Zeit ſeine ganze Bahn am Himmel vollendet, und wieder zu demſelben Fixſterne zurückkehrt. Mit ſolchen Dar— ſtellungen, mit ſolchen Beſtimmungen und Perioden mögen ſich die älteſten Aſtronomen des Orients lange Zeit begnügt haben. Allein der Scharfſinn der Griechen, der dabei nicht ſtehen blieb, ſuchte ein ſinnliches Bild, einen eigenen Mechanismus zu erfor— ſchen, durch den man jene verwickelten Bewegungen darſtellen

1) La quae Saturni stella dieitur, Paıv@vque a Graecis nominatur, quae a terra abest plurimum, triginta fere annis cursum suum conficit; in quo cursu multa mirabiliter efficiens, tum antece- dendo, tum retardando, tum vespertinis temporibus delitescendo, tum matutinis se rursum aperiendo, nihil immutat sempiternis sae- culorum aetatibus, quin eadem iisdem temporibus effieiat. Cicero, de Nat. Deor. Lib. II. und auf gleiche Weiſe auch von den andern Planeten.

2) Delambre, Astr. Anc. S. 4.

3) Plinius, Hist. Nat. L. II.

Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs. 133

konnte, und ſie fanden dazu bald ein ſehr angemeſſenes Mittel. Venus z. B., die im Ganzen ſich vorwärts oder von Weſt gen Oſt unter den Fixſternen bewegt, ſieht man zu gewiſſen Zeiten einen kurzen Weg rückwärts (von Oſt gen Weſt) gehen, dann einige Tage ſtill ſtehen, und dann wieder ihre erſte vorwärts ge— richtete Bewegung annehmen Die Griechen ſtellten ſich alſo vor, daß Venus in dem Umkreis eines Reifens (Rades) liege, deſſen Ebene, verlängert, nahe durch die Erde geht, deſſen Mittelpunkt aber ſich ſelbſt wieder am Himmel, und zwar vorwärts (von Weſt gen Oſt) rund um uns bewegt, während ſich derſelbe Rei— fen in derſelben Richtung um ſeinen eigenen Mittelpunkt bewegt, und ſo den an dem Umkreis befeſtigten Planeten mit ſich fort— führt. Bei dieſer Einrichtung wird die Bewegung des Reifens um ſeinen eigenen Mittelpunkt, an manchen Stellen, der Bewe— gung dieſes Mittelpunkts entgegen wirken, und ſie zuweilen ſo— gar gänzlich aufheben, wo dann der Planet uns am Himmel ſtillſtehend erſcheinen muß, ſo wie er ſogar rückwärts zu gehen ſcheinen wird, wenn die Rotation des Reifens um ſeinen Mittel— punkt jene geocentriſche Bewegung dieſes Mittelpunktes noch über— trifft. Ganz dieſelbe Erſcheinung würden wir haben, wenn zur Nachtzeit ein Mann mit einer brennenden Lampe in einiger Ent: fernung von uns in der Peripherie eines Kreiſes herumgeht, wo uns das Licht dieſer Lampe bald vor-, bald rückwärts zu gehen, bald für einige Augenblicke gänzlichſtillzuſtehen ſcheinen würde.

Eine ſolche Vorrichtung wurde nun für jeden einzelnen Pla— neten ausgedacht, und die imaginären Reifen oder Kreiſe, die man zu dieſem Zwecke anwendete, wurden Epieykel genannt.

Die Anwendung dieſes ſinnreichen Mechanismus auf die Planeten ſcheint in Griechenland um die Zeit des Ariſtoteles ent— ſtanden zu ſeyn. In Plato's Werken findet man einen ſonder— baren Vorgeſchmack von dieſer Art von mechaniſchen Specula— tionen. Im zehnten Buche der „Politik“ liest man nämlich die Erzählung des Aleinus aus Pamphylien, der, nachdem er in der Schlacht ſcheinbar getödtet war, auf dem Scheiterhaufen wieder erwachte, und nun den Zuhörern mittheilt, was er wäh— rend ſeiner Entrückung von der Erde geſehen hat. Unter anderen Offenbarungen beſchreibt er auch die Maſchinerie, durch welche die Himmelskörper in Bewegung geſetzt werden. Die Um—

134 Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs.

drehungsaxe des ganzen Himmels iſt eine große diamantene Spindel, die das „Schickſal“ zwiſchen ſeinen Knieen hält, und an dieſer Axe ſind, mittelſt verſchiedener Stäbe, Ringe befeſtigt, in deren Umkreiſen die Planeten ſich bewegen, wo denn die Ord— nung und Größe dieſer Stäbe und Ringe umſtändlich beſchrieben werden. Ebenſo beſchreibt Plato in ſeinen „Epinomis“ die verſchiedenen Bewegungen der himmliſchen Körper auf eine Weiſe, die allerdings eine beſtimmtere Bekanntſchaft mit dem allgemeinen Charakter der planetariſchen Bewegungen verräth, und nachdem er von den Aegyptiern und Syriern, als den erſten Ausbildnern dieſer Kenntniſſe, geſprochen hat, muntert er ſeine eigene Landsleute zur weiteren Verfolgung dieſes Gegenſtandes mit den merkwürdigen Worten auf: „Was wir Griechen von „den Barbaren erhalten, pflegen wir zu verbeſſern und weiter „auszubilden, fo daß wir dennoch hoffen dürfen, daß auch dieſe „Kenntniſſe von uns weit über die Grenze geführt werden mögen, „welche die Fremden erreicht haben.“ Doch weiß er die Schwierig— keiten einer ſolchen Erweiterung und die dazu nothwendigen Kennt— niſſe gehörig zu würdigen. „Ein (ſolcher) Aſtronom,“ ſetzt er hin— „zu, muß ein Mann von den vorzüglichſten Talenten ſeyn, und „fein Geiſt muß ſchon von Jugend auf mit dieſen Studien, be— „fonders den mathematiſchen, bekannt gemacht werden, ſowohl „mit der Zahlenlehre, als auch mit jenen anderen Zweigen der „Mathematik, die fo nahe mit der „„Wiſſenſchaft des Himmels“ „verwandt find, und die man thörichter Weiſe die „„Erdmeßkunſt““ „(Geometrie) genannt hat.“

Dieſe Vorherſagungen wurden im weiteren Verlaufe der griechiſchen Aſtronomie auf eine ſehr merkwürdige Weiſe erfüllt.

Die Auflöſung dieſes Problems machte bald, nachdem es ein— mal aufgeſtellt war, raſche Fortſchritte. Eudox von Enidus ſoll, wie Simplicius *) erzählt, die Hypotheſe dieſer beweglichen Kreiſe oder Sphären, der erſte eingeführt haben. Calipp von Cyzicus beſuchte den Polemarch, einen vertrauten Freund des Eudox, und ging dann mit ihm nach Athen, um daſelbſt dem Ariſtoteles die Entdeckung des Eudox mitzutheilen, mit deſſen Hülfe er auch dieſelbe noch weiter ausgebildet haben ſoll.

4) Lib. II. De Coelo Bullialdus. S. 18.

Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs. 135

Anfangs ſuchte man dieſe Hypotheſe ohne Zweifel nur fo weit zu bringen, daß ſte die allgemeinſten Erſcheinungen der Planeten: ihre Stationen und Retrogradationen, darſtellen konnte, aber man erkannte bald, daß auch die Bewegungen der Sonne und des Mondes, ſo wie ſelbſt die Bewegungen der Planeten, welche in dieſer Hypotheſe als kreisförmig angenommen wurden, noch mehreren Anomalien oder Unregelmäßigkeiten unterliegen, die eine noch weitere Vervollkommnung jener Hypotheſe noth— wendig machten.

Jener Mangel an Gleichförmigkeit in der Bewegung der Sonne und des Mondes mußte, obſchon er viel weniger als die der Planeten auffiel, doch leicht bemerkt werden, als man einmal angefangen hatte, nur einige Genauigkeit in die aſtro— nomiſchen Beobachtungen zu bringen. Wir haben bereits oben (im erſten Kapitel) geſehen, daß ſchon die Chaldäer in dem Be— ſitze einer Periode von 18 Jahren waren, die fie bei der Vor— herbeſtimmung der Finſterniſſe gebrauchten, und die vielleicht durch eben ſolche genauere Mondsbeobachtungen von ihnen gefun— den worden iſt, obſchon es wahrſcheinlicher iſt, daß ſie bloß durch die von ihnen aufbewahrten Verzeichniſſe der bereits vorüberge— gangenen Finſterniſſe auf jene Periode gekommen ſeyn mögen. Die Bewegungen des Monds ſind ſo verwickelt, daß ſie ohne Mühe und langfortgeſetzte Beobachtungen nicht wohl auf be— ſtimmte Geſetze zurückgebracht werden können. Wenn man die Bahn dieſes Satelliten unter den Fixſternen des Himmels ver— zeichnet, ſo findet man, daß ſie, wie die der Sonne, ſchief gegen den Aequator liegt, daß ſie aber demungeachtet nicht, gleich dieſer, immer durch dieſelben Fixſterne geht. Eben ſo iſt alſo auch die Breite des Monds, oder ſein ſenkrechter Abſtand von der Ecliptik, nicht für jeden Punkt der Ecliptik derſelbe. Die Urſache davon iſt, daß die Knoten, oder die Punkte, in wel— chen die Ecliptik von der Mondsbahn geſchnitten wird, beweglich ſind und ihre Lage ſtets ändern, ſo daß dieſe Knoten im Mittel jährlich um nahe 19 Grad auf der Ecliptik rückwärts oder von Oſt gen Weſt gehen. Ueberdieß iſt auch die Bewegung des Monds, in ſeiner Bahn ſelbſt betrachtet, keineswegs gleichför— mig, ſondern ſeine Geſchwindigkeit in verſchiedenen Punkten ſeiner Bahn iſt ebenfalls ſehr verſchieden. Wenn der Mond nach einer beſtimmten Anzahl ſeiner Umläufe um die Erde wieder

136 Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs.

zu derſelben Lage gegen die Sonne, gegen jene Knoten und auch gegen dieſe Punkte ſeiner größten und kleinſten Geſchwindigkeit in der Bahn zurückgekehrt iſt, ſo werden auch alle die Umſtände, von welchen eigentlich die Finſterniſſe abhängig ſind, wieder die— ſelben ſeyn, und dieſe Finſterniſſe ſelbſt werden daher wieder einen neuen Cyklus in derſelben Ordnung beginnen ). In 6585 Tagen aber find 239 Umläufe des Monds in Beziehung auf die Punkte der größten und kleinſten Geſchwindigkeit in ſeiner Bahn 241 Umläufe in Beziehung auf ſeine Knoten, und endlich 223 ganze Umläufe in Beziehung auf die Sonne enthal— ten, daher dieſe Periode von 6585 Tagen die Finſterniſſe des Mondes und der Sonne wieder auf die frühere Ordnung und Größe derſelben zurückführt.

Wenn die Chaldäer die Bewegung des Mondes unter den Fixſternen nur mit einiger Genauigkeit beobachten konnten, wie man dieß vorausſetzen muß, wenn ſie jene Perioden in der That auf dem Wege unmittelbarer Mondsbeobachtungen gefunden haben ſollen, ſo konnte ihnen die Veränderlichkeit ſeiner Ge— ſchwindigkeit nicht wohl entgehen, da der tägliche Weg des Mon— des in ſeiner Bahn, im Laufe einer jeden Revolution, von 22 bis zu 26 Durchmeſſer des Mondes (von 11¼ bis 13 Graden) variirt. Aber es fehlen uns alle Nachrichten, daß ſie dieſe Variationen gekannt haben, und Delambre ©) mag daher wohl Recht haben, wenn er alle ſolche genauere Beobachtungen nur den Griechen zuſchreibt.

5) Nach den neueſten Beſtimmungen iſt für den Anfang des gegen— wärtigen Jahrhunderts von dem Monde die ſideriſche Revolntion gleich 27.321661 Tage

die tropiſche ? ; 27321582 5 die ſynodiſche . 8 5 29.530589 die anomalyſtiſche . 3 27.554600 und der Drachenmonat . 27.212220

wo die ſideriſche Revolution die Umlaufszeit des Mondes um die Erde in Beziehung auf die Fixſterne, die tropiſche in Beziehung auf die Nachtgleichen, die ſynodiſche in Beziehung auf die Sonne, die anomalyſtiſche in Beziehung auf die Punkte der größten und kleinſten Geſchwindigkeit, und wo endlich der Drachenmonat die Umlaufszeit des Mondes in Beziehung auf die Knoten ſeiner Bahn mit der Ecliptik bezeichnet. L. 6) Delambre, Astr. Anc. I. 212.

Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs. 137

Auch die Ungleichförmigkeit der Bewegung der Sonne mußte bekannt werden, ſobald man nur ein Mittel hatte, die Länge der vier Jahreszeiten, d. h. diejenigen Epochen mit Verläßlichkeit zu beobachten, wo die Sonne in den Nachtgleichen oder in den Sol— ſtitialpunkten ankömmt. Dieſe Jahreszeiten würden nämlich alle unter ſich von gleicher Länge ſeyn, wenn die Geſchwindigkeit der Sonne immer dieſelbe wäre.

Es konnte nicht ſchwer ſeyn, einzuſehen, daß man mit Hülfe der Epicykel auch von ſolchen Ungleichheiten Rechenſchaft geben kann. Ein Reifen, an welchem die Sonne oder der Mond be— ſeſtigt iſt, und der ſich um die Erde und zugleich um ſeinen eigenen Mittelpunkt bewegt, mußte die Wirkung hervorbringen, daß dieſe beiden Geſtirne bald ſchnell, bald wieder langſam zu gehen ſcheinen, ganz ebey ſo, wie dieß oben bei den Planeten der Fall geweſen iſt, nur konnten dieſe Reifen oder Ringe für die Sonne und den Mond viel kleiner ſeyn, als für die Planeten. Es iſt daher wahrſcheinlich, daß man ſchon zu Plato's und Ari— ſtoteles Zeiten Verſuche machte, dieſe Hypotheſe der Epicykel in Gang zu bringen, obſchon die eigentlich wiſſenſchaftliche Ausbil— dung derſelben erſt in die Tage Hipparchs gefallen iſt.

Das Problem, welches ſich den Aſtronomen zur Löſung anbot, und welches auch, wie man ſagt, Plato denſelben förmlich an— geboten hat, läßt ſich in beſtimmten Worten ſo ausdrücken: „die „Bewegungen der Himmelskörper durch eine Combination von „gleichförmigen kreisförmigen Bewegungen darzuftellen.“ Daß nämlich eine kreisförmige Bewegung auch zugleich eine gleich— förmige ſeyn ſollte, war eine Vorausſetzung, die, wenn ſie bloß anfangs als die einfachſte, gleichſam nur zum Verſuche, gewählt worden wäre, nicht getadelt werden könnte. Allein dieſe Be— dingung, die in der That in der Natur nicht beſteht, wurde in der Folge mit einer Hartnäckigkeit feſtgehalten, die in die ganze Aſtronomie eine unendliche Verwirrung eingeführt hat. Die Geſchichte dieſer Annahme zeigt uns einen der ausgezeichnetſten Fälle jener Vorliebe des menſchlichen Geiſtes zur Einfachheit und Uebereinſtimmung, welche zwar die Quelle beinahe aller unſerer allgemeinen Wahrheiten iſt, welche aber auch zugleich ſchon viele Irrthümer erzeugt und Jahrtauſende lang feſtgehalten hat. In unſeren Tagen iſt es allerdings leicht, zu ſehen, wie phantaſtiſch man damals die Idee von Einfachheit und Vollkommenheit, in

138 Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs.

der Lehre von der gleichförmigen Bewegung der Himmelskörper in Kreiſen, aufgenommen und ausgelegt hat. Die Platoniker, ſo wie auch früher ſchon die Pythagoräer, hatten dieſe Anſicht als ein unantaſtbares Dogma in ihren Schulen aufgenommen. Nach Geminus „festen fie die Bewegung der Sonne, des „Mondes und aller Planeten gleichförmig und in Kreiſen vor „ſich gehend voraus, da ſie unter den ewigen und göttlichen „Dingen keine ſolche Unordnung zugeben konnten, nach welcher „diefelben bald geſchwinder, bald wieder langſamer gehen, bald „endlich gänzlich ſtille ſtehen. Wer könnte eine ſolche Unregel— „mäßigkeit der Bewegung auch nur bei einem Menſchen erträg— „lich finden, der auf Anſtand und Sitte hält. Zwar zwingen „uns die Verhältniſſe des gemeinen Lebens öfter, unſere Schritte „zurückzuhalten oder zu beſchleunigen, aber in der höchſtvoll⸗ „kommenen Natur der Himmelskörper iſt es unmöglich, einen „Grund aufzufinden, warum dieſelben bald langſamer, bald wieder „geſchwinder gehen ſollten, und eben deßwegen haben jene Weiſen „auch das Problem aufgeſtellt, auf welche Art man die Bewe— „gungen dieſer Körper durch einen „„gleichförmigen Fortſchritt „derſelben in Kreiſen““ darſtellen könnte.“

Dieſe Anſicht führte demnach auf geradem Wege zu der Theorie der Epicykel. Es iſt wahrſcheinlich, daß dieſe Theorie, wenigſtens für die Planeten, zu oder ſelbſt noch vor den Zeiten Plato's ſchon als die wahre angenommen war. Ariſtoteles aber ſetzt uns dieſelbe zuerft näher auseinander '). „Eudox,“ jagt er, „gab „jedem Planeten vier Sphären. Die erſte drehte ſich mit den „Fixſternen (wodurch die tägliche Bewegung des Himmels ent— „ſteht); die zweite Sphäre gab dem Planeten eine Bewegung „längs der Ecliptik (wodurch die ſogenannte mittlere Länge des „Planeten entſteht); die dritte Sphäre hatte ihre Are?) ſenkrecht „auf die Ecliptik (wodurch die Ungleichheit der Bewegung in

7) Ariſtoteles, Metaphyſ. XI. 8.

8) Ariſtoteles ſagt: „die dritte hatte ihre Pole in der Ecliptik.“ Allein dieß ſcheint aus einem Mißverſtändniß von ſeiner Seite entſtanden zu ſeyn. Er bekennt, daß er dieſe Nachrichten von den eigentlichen Aſtronomen erhalten habe (ex Tg omeioratng gıhocogıag Tav nadmuarızav), die er aber nicht vollkommen verſtanden haben mag.

Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs.“ 139

„Länge dargeſtellt wurde), und die vierte endlich die gegen jene „Richtungen ſchiefe Bewegung (oder die Bewegung in der „Breite).“ Er ſoll auch der Sonne und dem Monde eine eigene Bewegung in der Breite, und daher eine beſondere Sphäre zu dieſem Zwecke ertheilt haben; aber entweder hat Ariſtoteles jene Nachrichten, oder haben wir ſeine Ausdrücke nicht gehörig verſtanden, denn es wäre abſurd, dem Eudox eine Kenntniß der Bewegung der Sonne in der Breite zuſchreiben zu wollen. Ca— lippus ſetzte noch zwei andere Sphären für die Sonne und den Mond hinzu, um die Erſcheinungen dieſer beiden Himmelskörper vollkommen zu erklären, ſo daß es alſo ſcheint, er habe die un— gleichen Geſchwindigkeiten derſelben bereits gekannt. Er ſoll ſelbſt für die Planeten noch eine fünfte Sphäre ausgedacht haben, wahrſcheinlich um dadurch die Excentricität ihrer Bahnen zu erklären.

In dieſer erſten Geſtalt, in welcher die neue Hypotheſe auf— trat, ſcheint man ſich um die Größen und Entfernungen der verſchiedenen Kreiſe, aus welchen die complicirte Maſchine be— ſtand, wenig gekümmert zu haben. Die Auflöſung der „ſchiefen“ Bewegung des Mondes in zwei andere, die Eudox vorſchlug, war nicht eben der einfachſte Weg, die Sache darzuſtellen. Ca— lippus wollte noch auf andere bemerkte Unregelmäßigkeiten Rück— ſicht nehmen, wodurch die Anzahl der Kreiſe dieſes Syſtems bei— nahe verdoppelt und das Syſtem noch verwickelter wurde. Nach ſeiner Hypotheſe beſtand die ganze Maſchine aus nicht weniger, als 55 Sphären.

Dieß waren alſo die Fortſchritte, welche die neue Idee der epicykliſchen Hypotheſe kurz vor dem Auftreten Hipparchs gemacht hatte, durch welchen ſie erſt ihr eigentlich wiſſenſchaftliches Da— ſeyn erhielt. Doch wurde demſelben auch noch auf einem an— deren Wege, durch Sammlung von Beobachtungen, eifrig vor— gearbeitet. Schon die Chaldäer hatten bereits um das Jahr 367 vor Chr. Geb. in Babylon mehrere Finſterniſſe beobachtet, und dieſe Beobachtungen ſind den Griechen überliefert worden, da Hipparch und Ptolemäus ihre Theorie des Mondes auf dieſe Finſterniſſe gründeten. Nicht für ganz ſo verläßlich dürfen wir wohl die Erzählung halten, daß die Chaldäer zur Zeit von Ale— rander dem Großen eine Reihe von Beobachtungen beſaßen, die volle 1900 Jahre alt waren, und die Calliſthenes, auf Ariſtoteles

140 Inductive Epoche Hipparchs.

Verlangen, nach Griechenland gebracht haben ſoll. In der That beginnen alle griechiſchen Beobachtungen von einigem Werthe erſt mit der Alexandriniſchen Schule. Ariſtyll und Timocharis ſcheinen, wie man aus den Citationen Hipparch's ſieht, die Orte der Fixſterne und der Planeten, und die Zeiten der Solſtitien zwiſchen den Jahren 295 und 269 vor Chr. Geb. beobachtet zu haben. Ohne dieſe Beobachtungen würde es dem Hipparch ſehr ſchwer, wo nicht unmöglich geweſen ſeyn, die Theorie der Sonne und die der Präceſſion der Nachtgleichen aufzuſtellen. Wenn Beobachtungen, die in der Zeit ſehr von einander ent— fernt ſind, unter ſich verglichen werden ſollen, ſo müſſen ſie zuerſt auf eine ihnen allen gemeinſchaftliche Epoche reduzirt werden. Die Chaldäer rechneten nach der Nabonaſſariſchen Aera, die mit dem Jahre 749 vor Chr. Geb. anfing. Die griechiſchen Beobachtungen aber wurden auf die Calippiſche Periode (die 76 Jahre betrug) bezogen, und die mit dem Jahre 331 vor Chr. Geb. anfing, und nach welcher Hipparch und Ptolemäus ihre Beobachtungen anzugeben pflegten.

Drittes Capitel. Inductive Epoche Hipparch's. Erſter Abſchnitt.

Aufftellung der Theorie der Epicykel,

Obſchon die Idee der Epicykel bereits zu Plato's Zeiten bes ſtanden, und obſchon die Nachfolger deſſelben ſich an dem neuen Problem auf mannigfaltige Weiſe zu üben geſucht hatten, ſo müſſen wir doch Hipparch als den eigentlichen Entdecker und Begründer dieſer Theorie betrachten, da er ſich nicht, wie jene, begnügte, bloß die Möglichkeit einer Darſtellung der himm— liſchen Bewegungen durch Kreiſe zu behaupten, ſondern da er die Wirklichkeit, ja die Nothwendigkeit dieſer Darſtel— lung bewies, und da er zugleich die wahre Größe und Verhältniſſe dieſer Kreiſe durch Rechnung beſtimmt hatte. Mit Recht ſagt

Inductive Epoche Hipparchs. 141

man, „daß derjenige eine Sache entdeckt, der ihre Wirklichkeit „am erſten beweist“, nicht bloß, weil eine jede Theorie, ehe fie als wahr erwieſen wird, keinen Vorzug vor allen den andern Meinungen hat, unter welchen ſie herumirrt, ſondern vielmehr, weil erſt derjenige, der ſich ihrer auf dem Wege der Rechnung bemächtigt, ſie allein mit derjenigen klaren Beſtimmtheit beſitzt, wodurch ſie, ſo zu ſagen, erſt ſein Eigenthum wird.

Um dieſe Theorie der Epicykel in der That aufzuſtellen, war es nothwendig, die Größe, die Diſtanz und die Lagen aller dieſer Kreiſe oder Sphären zu beſtimmen, in welchen ſich die Himmelskörper bewegen, und zwar ſo zu beſtimmen, daß dadurch die ſcheinbaren unregelmäßigen Bewegungen dieſer Körper den Beobachtungen gemäß dargeſtellt werden. Die beſte Einſicht in die Schwierigkeiten dieſes Problems werden wir erhalten, wenn wir uns die in der That ſtatthabenden Bewegungen dieſer Kör— per, die wir nun vollſtändig kennen, näher vorſtellen wollen. Die wahre Bewegung der Erde um die Sonne, alſo auch die ſcheinbare Bewegung der jährlichen Sonne um die Erde geht nicht, wie man früher glaubte, in einem Kreiſe vor ſich, deſſen Mittelpunkt die Erde iſt, ſondern ſie hat in einer Ellipſe ſtatt, in deren Mittelpunkt die Erde nicht iſt, und die Geſchwindigkeit der Sonne iſt am größten, wenn ſie dieſem Orte der Erde im Innern der Ellipſe am nächſten kömmt. Man könnte ſtatt dieſer Ellipſe auch wohl noch einen Kreis annehmen, wenn man nur die Erde nicht in den Mittelpunkt dieſes Kreiſes ſetzt, denn auch dann würde die Sonne eine deſto größere Geſchwindigkeit haben, je näher ſie demjenigen Punkte ihrer Peripherie (dem Perigäum) kömmt, welcher zunächſt bei der Erde ſteht. Eine ſolche kreis— förmige Bahn wurde von den Alten eine excentriſche genannt, ſo wie man die Diſtanz der Erde von dem Mittelpunkte dieſes Kreiſes die Ercentricität hieß. Man kann durch eine leichte geometriſche Betrachtung zeigen, daß ein ſolcher excentriſcher Kreis ganz dieſelbe ſcheinbare Bewegung der Sonne geben würde, wie ein kreisförmiger Epicykel, in deſſen Peripherie ſich die Sonne gleichförmig bewegt, während der Mittelpunkt dieſes Epi— cykels wieder gleichförmig in der Peripherie eines andern Kreiſes einhergeht, in deſſen Mittelpunkt die Erde ſteht. Auch hat ſchon Ptolemäus (im dritten Buche ſeines Almageſt's) dieſe Identität des excentriſchen Kreiſes mit den Epicykeln vollftändig erkannt.

142 Inductive Epoche Hipparchs.

Excentriſcher Kreis der Sonne.

Nachdem Hipparch deutlich erkannt hatte, daß ſich auf dieſe Weiſe die Bewegung der Sonne den Beobachtungen gemäß dar— ſtellen laſſe, ſo war es nun ſeine Sache, um die Möglichkeit der Hypotheſe zur Wirklichkeit zu erheben, von dieſem excentriſchen Kreiſe, in welchem ſich die Sonne bewegen ſollte, erſtens die Ercentricität, zweitens den der Erde nächſten Punkt der Pe— ripherie oder das Perigeum (Erdnähe), und endlich drittens die Epoche anzugeben, zu welcher die Sonne in dieſes Perigeum tritt. Nur durch die gehörige Angabe dieſer drei Elemente der Son— nenlehre konnte er die Wahrheit ſeiner epicykliſchen oder, was daſſelbe iſt, ſeiner excentriſchen Hypotheſe genügend beweiſen. Und dieß hat er auch in der That gethan, und ſich eben dadurch in den Stand geſetzt, fortan den Ort und die Geſchwindigkeit der Sonne für jede künftige Zeit durch Rechnung voraus zu beſtimmen, oder mit andern Worten, eine Sonnentafel zu conſtruiren, aus der man den Ort der Sonne unter den Geſtirnen des Him— mels für jede vergangene oder folgende Zeit berechnen konnte. Dieſe Tafeln, die uns Ptolemäus ) mittheilt, enthalten die Anomalie oder die Ungleichheit der Bewegung der Sonne, und zwar mit Hülfe der Proſtaphäreſis (unſerer heutigen Mittel punktsgleichung), die für jede Diſtanz der Sonne von dem Pe— rigeum zu ihrer mittleren (oder gleichförmigen) Bewegung hin⸗ zugeſetzt werden muß, um die wahre Bewegung derſelben zu erhalten, wie ſie uns von der excentriſchen Lage der Erde aus in der That erſcheint.

Mancher Leſer wird vielleicht glauben, daß die Berechnung eines Sonnenorts für jede vergangene oder künftige, auch noch fo weit von uns entfernten Zeit, die Kenntniß einer ſehr großen Anzahl von Beobachtungen der Sonne, die man zu allen Jahres— zeiten angeſtellt hat, vorausſetzen muß. Allein dieß iſt keines— wegs der Fall, und eben darin that ſich der Genius des Erfinders dieſer Theorie, wie dieß bei allen ſolchen Gelegenheiten geſchieht, hervor, daß er durchſah, daß auch ſchon eine ſehr kleine Anzahl von Beobachtungen vollkommen hinreicht, die Wahrheit ſeiner

1) Almagest. Lib. lil.

Inductive Epoche Hipparchs. 143

Hypotheſe für alle Zeiten zu beweiſen. Zwei beobachtete Aequi— noctien und ein Solſtitium genügten dem Geiſte Hipparchs, um ſeinen großen Zweck zu erreichen. „Er bemerkte,“ ſagt Ptole— mäus, „daß die Zeit von dem Frühlingsäquinoctium zu dem „Sommerſolſtitium 94½ Tage, die von dem Sommerſolſtitium „aber zu dem Herbſtäquinoctium nur 92½ Tage betrage, und „aus dieſen zwei Beobachtungszeiten wußte er den Schluß abzu— „leiten, daß die gerade Linie, welche den Mittelpunkt des excen— „triſchen Kreiſes der Sonne mit dem Mittelpunkte des Zodiakus „(d. h. mit dem Mittelpunkt der Erde) verbindet, den vier und „zwanzigſten Theil des Halbmeſſers jenes excentriſchen Kreiſes „beträgt, und daß das Apogäum (die Erdweite) in der Peri— „pherie dieſes Kreiſes um 24½ Grad vor dem Sommerſolſtitium „liege.“

Die Genauigkeit dieſer Tafel oder dieſes Canons der Sonne wurde nicht nur durch die Uebereinſtimmung derſelben mit den Beobachtungen der Griechen aus jener Zeit (welche letz— tere noch ſehr unvollkommen waren), ſondern noch viel mehr dadurch beſtätiget, daß man nun, mit Hülfe dieſer Tafeln, die Sonn- und Mondfinſterniſſe genau voraus berechnen konnte. Dieſe Finſterniſſe ſind nämlich ein ſehr guter Probierſtein ſolcher Tafeln, weil ſchon die geringſte Aenderung in dem Orte der Sonne oder des Mondes die Erſcheinung einer Finſterniß ganz umändern, ja wohl völlig unmöglich machen kann. Obgleich nun Hipparchs Tafeln, wenn ſie mit unſeren neuern verglichen wer— den, nicht mehr auf Genauigkeit Anſpruch machen können, ſo hielten ſie doch jene ſchwere und immer wiederkehrende Prüfung mit einer für jene Zeit ſehr erträglichen Richtigkeit aus, und beſtätigten auf dieſe Weiſe die Wahrheit der Theorie, nach wel— cher ſie berechnet waren.

Excentriſcher Kreis des Monds.

Die Bewegungen des Monds ſind viel mehr zuſammengeſetzt, als die der Sonne. Da aber für die letzte die Annahme eines excentriſchen Kreiſes oder eines Epicykels hinreichend gefunden war, ſo mußte der Verſuch ganz natürlich ſcheinen, auf dieſelbe Weiſe auch den Mond zu behandeln. In der That zeigte Hip— parch, daß man durch dieſes Mittel wenigſtens die größte Un—

144 Inductive Epoche Hipparchs.

gleichheit des Mondes darſtellen kann. Es iſt nicht eben leicht, die verſchiedenen Wege anzuzeigen, auf denen man hier zum Ziele zu kommen ſuchte, da es ſchon ſchwer hält, durch bloße Worte (ohne analytiſche Formeln) die bloßen Thatſachen der Bewegung des Mondes auszudrücken. Wenn dieſes Geſtirn eine ſichtbare, helle Spur ſeines Weges unter den Geſtirnen des Himmels zurückließe, fo würde dieſe als eine äußerſt verwickelte krumme Linie erſcheinen. Der Umfang einer jeden Revolution des Monds gleitet über oder unter der vorhergehenden weg, und viele ſolche Revolutionen zuſammen genommen bilden eine Art von ſehr complicirtem Netzwerk, das ſich über die Fläche des Thierkreiſes verbreitet ). Bei jedem Umlauf des Monds wird die Länge deſſelben durch eine Anomalie verändert, die der oben von der Sonne erwähnten ähnlich iſt. Ueberdieß aber weicht die Bahn des Mondes auch zu beiden Seiten der Eclip— tik ab, wodurch die verſchiedene Breite des Monds entſteht. Man bemerkte aber bald, daß die Periode, in welcher dieſe Breite alle ihre auf einander folgenden Veränderungen durch— wandert, nicht dieſelbe iſt, in welcher die Veränderungen der Länge eingeſchloſſen ſind, und eben dieß iſt die Urſache, daß der Mond in jeder folgenden Revolution wieder einen andern Weg am Himmel beſchreibt, und daß dieſer Weg, ſo wie auch die Geſchwindigkeit, mit welcher er zurückgelegt wird, immerwäh— renden Aenderungen unterworfen iſt.

Demungeachtet wußte Hipparch dieſe Bewegungen des Monds ganz eben ſo in Tafeln zu bringen, wie er es für die Sonne gethan hatte. Mit viel größerer Schärfe, als je vor ihm ge— ſchehen iſt, beſtimmte er die ſogenannte mittlere Bewegung des Monds in Länge und Breite, und ſtellte dann die Anoma— lien der Länge, wie oben bei der Sonne, durch einen excentri— ſchen Kreis dar.

Aber bei dieſen Verſuchen begegnete ihm noch ein neues Hinderniß. Das Apogäum der Sonne blieb immer auf derſelben Stelle des Himmels unbeweglich ſtehen, wenigſtens konnte Pto— lomäus für den von Hipparch vor 270 Jahren angegebenen Ort

2) Man findet einen ſehr angemeſſenen Verſuch, dieſen Gegenſtand bildlich darzuſtellen in dem Companion to the British Almanak für d. 1834.

Inductive Epoche Hipparchs. 145

dieſes Apogaͤums der Sonne keine Verbeſſerung finden. Nicht ſo bei dem Monde, deſſen Apogäum eine ſehr bedeutende Be— wegung im Raume hat. Schon vor Hipparch (der nahe 150 Jahre vor Ch. G. lebte) hatte man einen Cyclus von 6585 ¼ Tagen gefunden, in welchem 241 ſideriſche und 239 anomali— ſtiſche Revolutionen des Monds enthalten ſind. Dieſer Unter— ſchied von zwei Revolutionen in nahe 18 Jahren gab die Ver— anlaffung zu der Annahme, daß bei dem Monde der excentriſche Kreis ſelbſt wieder eine eigene Bewegung habe, nach welcher das Apogäum vorwärts oder von Weſt gen Oſt geht, ſo daß alſo nebſt den drei Elementen, die wir oben für die Sonnen— tafeln angeführt haben, für den Mond noch ein Viertes hinzu— kam, nämlich die Geſchwindigkeit, mit welcher ſich das Apogäum deſſelben am Himmel vorwärts bewegt.

Auch dieſe Aufgabe wurde von Hipparch gelöst, und ſeine Mondstafeln beruhen ebenfalls nur auf einigen wenigen Beob— achtungen des Monds, nämlich bloß auf ſechs meiſtens von den Chaldäern beobachteten Finſterniſſen ). Drei von dieſen Finſterniſſen wurden zu Babylon in den Jahren 366 und 367 der Nabonaſſariſchen Aera, und die drei anderen wurden zu Alexandrien in dem 547ſten Jahre dieſer Aera beobachtet. Auf dieſe Weiſe konnte er die Excentricität und das Apogäum der Mondsbahn für zwei Epochen beſtimmen, die 180 Jahre von einander entfernt waren, wodurch er alſo auch die Bewe— gung dieſes Apogäums erhielt 9).

Zwar gibt es noch, außer den von Hipparch beobachteten, mehrere andere große Ungleichheiten des Mondes, aber ſeine Mondstafeln waren demungeachtet für jene Zeiten ſehr brauchbar, beſonders zur Berechnung der Finſterniſſe, da

3) Ptolemaeus, Almag. IV. 10.

4) Ptolemäus ſtellt die Ungleichheit des Monds durch einen Epieykel vor, aber Hipparch gebrauchte dazu den excentriſchen Kreis, wie für die Sonne. Es iſt bereits oben geſagt worden, daß beide, in Beziehung auf die Reſultate, identiſch ſind. Auf die Planeten wurde dieſelbe Theorie der Epicykel damals noch nicht, wenigſtens nicht auf mathematiſchem Wege, fortgeführt, obſchon auch ſie, wie jene zwei erſten Geſtirne, Ungleichheiten unterliegen, die ſich ganz auf dieſelbe Weiſe durch Epicykel oder durch excentriſche Kreiſe dar— ſtellen laſſen.

Whewell. I, 10

146 Inductive Epoche Hipparchs.

glücklicherweiſe die größte von den Ungleichheiten, die Hipparch nicht berückſichtigte, nämlich die ſogenannte Evection, zur Zeit des Neu- und Vollmonds gänzlich verſchwindet.

Dieſe numeriſche, auf Beobachtung und auf Rechnung gegrün— dete Auseinanderſetzung der Bewegungen des Monds und der Sonne, dieſe Begründung der Theorie der Epieykel und endlich die auf dieſer Theorie erbauten Tafeln der beiden Geſtirne enthal— ten den größten und ſchönſten Theil des hohen Verdienſtes, das ſich Hipparch um die Ausbildung der Aſtronomie erworben hat.

Hipparch hatte, und zwar mit großer Genauigkeit, die mittleren Bewegungen der Planeten beſtimmt, aber der

Mangel an hinreichenden Beobachtungen hinderte ihn, auch die Ungleichheiten derſelben durch feine epicykliſche Theorie darzuſtel— len. Die Maſſe der ſämmtlichen Beobachtungen, die er von ſeinen Vorgängern erhielt, war, wie Ptolemäus ſagt, lange nicht ſo groß, als die, welche er ſelbſt uns hinterließ. „So kam es,“ ſetzt er hinzu '), „daß er, der die Bewegung der Sonne und des „Monds durch feine Epicykel jo genau darzuſtellen wußte, für „die Planeten, jo weit wir aus feinen Schriften ſehen können, „nicht einmal einen Verſuch dazu machte, ſondern ſich bloß damit „begnügte, die bisher geſammelten Beobachtungen in Ordnung „zu bringen, ihnen von feinen eigenen mehr, als er von andern „erhalten hatte, hinzuzufügen, und endlich ſeinen Zeitgenoſſen „die Unzulänglichkeit derjenigen Hypotheſen zu zeigen, durch „welche andere Aſtronomen die Erſcheinungen des Himmels dar— „zuſtellen gedachten.“ Es ſcheint, daß ſchon mehrere Aſtro— nomen vor ihm den Verſuch gewagt hatten, einen „Canon“ oder eine „Tafel“ für die Planeten zu entwerfen, durch welche man den ſcheinbaren Ort dieſer Körper für jede gegebene Zeit durch Rechnung beſtimmen könnte; aber da ſie ohne Rückſicht auf die Excentricität der Bahnen entworfen waren, ſo konnten ſie nicht anders, als ſehr fehlerhaft und ganz unbrauchbar ſeyn.

Ptolemäus ſagt mit Recht, daß Hipparch ſeine bekannte Wahrheitsliebe und ſeinen geraden Sinn dadurch bezeugte, daß er dieſen Theil der von ihm begonnenen großen Arbeit der Nachwelt überließ. Die von ihm aufgeſtellte Theorie der Sonne und des Monds zeigt ihn uns als einen der größten, erfindungs—

5) Ptolemaeus, Almag. IX. 2.

Inductive Epoche Hipparchs. 147

reichſten Aſtronomen, und fie beſtätiget zugleich vollkommen das hohe Anſehen, in welchem er immer bei feinen Zeitgenoſſen und Nachfolgern geſtanden hat.

In der That wird man unter den Weiſen des Alterthums kaum einen zweiten mehr finden, von dem alle ſo gleichſtim— mig nur mit Bewunderung ſprechen. Ptolemäus ſelbſt, dem wir eigentlich die nähere Kenntniß dieſes außerordentlichen Mannes verdanken, ſpricht beinahe nie von dieſem Manne, ohne demſelben zugleich irgend ein lobendes Beiwort hinzuzu— fügen. Hipparch iſt ihm nicht nur ein „ſorgfältiger und „vortrefflicher Beobachter,“ ſondern auch zugleich „ein höchſt „wahrheit- und arbeitliebender Mann“), der in allen Theilen „der Wiſſenſchaft feinen ſeltenen Scharfſinn und ſeine bewun— „derungswürdige Erfindungskraft gezeigt hat.“ Indem Plinius der Aeltere von ihm und von Thales ſpricht, ruft er begeiſtert aus: „Große Männer, weit erhaben über das gemeine Maaß „menſchlicher Kräfte, die ihr die Geſetze entdeckt habt, denen die „»himmliſchen Körper gehorchen; die ihr die Herzen der Menſchen „von den Feſſeln befreit habt, mit welchen das Vorurtheil und „die Furcht vor den Erſcheinungen des Himmels (der Finſterniſſe) „fie umgab. Heil Euch und Eurem hohen Geiſte, der uns die „Sprache des Himmels und die Geſetze des Univerſums kennen „gelehrt, der das Band geknüpft hat, welches fortan die Men— „ſchen mit den Göttern verbindet.“ Auch die neueren Schrift— ſteller können von Hipparch nur mit Bewunderung ſprechen. Selbſt Delambre, der ſo ſelten lobt und ſo gern tadelt, ſcheint alle ſeine Sprödigkeit zu verlieren, wenn er auf Hipparch kömmt. Von Ariſtarch bemerkt er?), daß „unglücklicherweiſe“ fein Werk ganz auf uns gekommen iſt, und von Halicon aus Cyzitus, der eine Finſterniß richtig vorausgeſagt hat, ſagt er ), daß, wenn je die Geſchichte wahr iſt, Halicon mehr glücklich als geſchickt geweſen ſeyn mag. Aber von Hipparch heißt es“): „In ihm „ſehen wir einen der außerordentlichſten Männer des Alterthums, „ja den allergrößten in denjenigen wiſſenſchaftlichen Unter— „ſuchungen, welche die Combination der Geometrie mit den

6) Ptolem. Almag. IX. 2. 7) Delambre, Astr. Anc. I. 75. 8) Ibid. I. 17. 9) Ibid. I. 186. 1943

148 In ductive Epoche Hipparchs.

„Beobachtungen erfordern.“ Delambre ſetzt noch hinzu, offenbar um dieſe Lobrede mit der geringſchätzigen Weiſe zu verſöhnen, in welcher er gewöhnlich von mittelmäßigen aſtronomiſchen Be— obachtungen ſpricht, „daß gute Beobachtungen und vorzügliche „Inſtrumente nur ſehr langſam, nur durch eine Reihe von Jahr— „hunderten und durch die Vereinigung vieler ausgezeichneten „Männer erhalten werden können, während Fleiß und Geiſtes— „kraft von dem einzelnen Manne abhängig iſt.“

Außer dieſer Theorie der Epicykel verdanken wir dem Hip— parch noch mehrere andere große Entdeckungen und Verbeſſerungen in der Aſtronomie. Allein jene erſcheint als der größte Bor ſchritt dieſer Wiſſenſchaft unter den Alten, und daher als der „leitende Punkt“ unſerer Geſchichte, deren Zweck nur die Auf— zeichnung des Fortgangs der reellen theoretiſchen Erkenntniß, und der dieſen Fortgang zunächſt begleitenden Verhältniſſe iſt.

Zweiter Abſchnitt. Würdigung der Theorie der Epicykel.

Es wird nicht unangemeſſen ſeyn, hier den eigentlichen Werth dieſer epicykliſchen Theorie näher kennen zu lernen, um ſo mehr, da vielleicht manche zu leicht davon denken. Denn erſtens wird jetzt dieſe Theorie als falſch anerkannt, und einige der ausgezeichnetſten Aſtronomen der neuern Zeit verdanken ihren Ruhm größtentheils dem Verdienſte, jene Theorie zuerſt in ihrer Blöße gezeigt und ſte endlich völlig zerſtört zu haben. Zweitens iſt auch dieſe Theorie nicht bloß falſch, ſondern auch äußerſt zuſammengeſetzt und verwickelt, ſo daß ſie jetzt nur als eine Maſſe von willkührlichen und ſelbſt abſurden Complicationen betrachtet wird. So ſpricht Milton von dieſem Gegenſtande ).

. . He his fabric of the heavens Hath left to their disputes, perhaps to move His laughter at their quaint opinions wide; Hereafter when they come to model heaven And calculate the stars, how will they wield The mighty frame! how build, unbuild, contrive, To save appearances! how gird the sphere Wilh centric and eccentrie scribled o’ver Cycle in epicyele, orb in orb! u. s. f.

1) Milton, Verlorenes Paradies VIII.

Inductive Epoche Hipparchs. 149

„.. Er übergab feinen Himmelsbau ihrer geſchwätzigen Zänkerei (mundum tradidit disputationibus eorum), vielleicht nur, um über ihre weither geholten Hypotheſen zu lächeln. Und als fie dann kamen, um die Sterne zu berechnen und ſelbſt die Himmel zu modelliren, wie behandelten ſie den erhabenen Bau! Sie riſſen nieder, bauten wieder auf, und quälten ſich ab, um nur den Schein zu retten. Sie bevölkerten den Himmel mit centrifchen nnd excentriſchen Kreiſen, die ſie übereinander thürmten, mit Cyklen in Epichklen, mit Bahn' in Bahnen u. ſ. f.“

Wer erinnert ſich nicht dabei des bekannten Ausſpruchs Alphons des Zehnten von Caſtilien 2), als man ihm dieſes verwickelte Syſtem auseinanderſetzte: „Wenn ich damals mit „zu Rathe gezogen worden wäre, fo hätte ich einen anderen, „einfacheren und beſſeren Plan für das Weltall vorgeſchlagen.“ Ueberdieß wird dieſes epicykliſche Syſtem noch mit einer phan— taſtiſchen Conception von der Beſchaffenheit der Sphären beladen, aus welchen es zuſammengeſetzt iſt, daß nämlich dieſe Sphären alle von Kryſtall ſeyn, und daß auch die weiten Zwiſchenräume, welche dieſe Sphären von einander trennen, aus einer ſoliden Maſſe beſtehen ſollen, zwiſchen welchen ſich jene Kryſtallſphären, als eben ſo viele Kugelſchaalen, immerwährend bewegen, eine Annahme, die man mit Recht für unglaublich und monſtros gehalten hat.

Allein wir müſſen vorerſt dieſe Anſichten zu verbeſſern oder ganz zu entfernen ſuchen, damit wir erſtens dieſer Hipparchiſchen, oder wie fie gewöhnlich genannt wird, dieſer Ptolemäiſchen Hy— potheſe nicht Unrecht thun, und zweitens noch aus einem andern, für uns noch wichtigeren Grund. Wir können nämlich an dieſem Beiſpiele ſehen, wie eine Theorie in hohem Grade ſchätzbar ſeyn mag, obſchon ſie von dem wahren Zuſtande der Dinge falſche Anſichten aufſtellt, und wie ſie, wenn ſie gleich ganz unnöthige Verwicklungen in ſich aufgenommen hat, doch für die Wiſſenſchaft ſelbſt von ſehr großem Nutzen ſeyn kann. Bei den weiteren, ſpäteren Fortſchritten unſerer Erkenntniß kann der Fall eintreten, daß der Werth des wahren Theils einer Theorie den anderen falſchen Theil derſelben weit überwiegt, und daß der Gebrauch, der Nutzen irgend einer Vorſchrift durch ihren

2) Im Jahre 1252 nach Ch. G.

150 Inductive Epoche Hipparchs.

Mangel an Simplicität keineswegs verringert wird. Die erſten Schritte der menſchlichen Erkenntniß verlieren dadurch ihren Werth nicht, daß fie nicht auch zugleich die letzten find, und der Anfang einer Reiſe in unbekannte Gegenden erfordert oft nicht weniger Muth und Kraft als das Ende derſelben.

Das eigentlich Wahre an Hipparchs Theorie und das, def— ſen Werth durch keine nachfolgende Entdeckung vermindert wer— den konnte, iſt die „Auflöſung“ der ſcheinbaren Bewegungen der himmliſchen Körper in ein Aggregat von bloß kreisförmigen Bewegungen. Der Prüfſtein der Wahrheit und Realität dieſer Auflöſung iſt der, daß fie zur Conſtruction von „Tafeln“ führt, durch welche die Orte jener Körper für jede gegebene Zeit, mit den Beobachtungen nahe übereinſtimmend, angezeigt werden. Das Grundprincip der ganzen Methode iſt die Annahme, daß alle Bewegungen des Himmels gleichförmig ſind und in Kreiſen vor ſich gehen. Dieſe Annahme kann man allerdings falſch nennen, und wir haben geſehen, welche ſonderbare, phantaſtiſche Gründe man zu Gunſten dieſer Annahme aufgeſtellt hat. Aber irgend eine Hypotheſe iſt doch einmal nothwendig, um die Bewe— gungen jedes Planeten in verſchiedenen Punkten ſeiner Bahn unter einander in Verbindung zu bringen, das heißt, um irgend eine Theorie dieſer Bewegungen zu erhalten, und man muß geſtehen, eine einfachere Hypotheſe, als eben dieſe, kann man nicht mehr finden. Das eigentliche Verdienſt dieſer Theorie be— ſteht alſo darin, daß man, wenn man einmal den Betrag der Excentricität, der Lage des Apogeums und der Epoche aus eini— gen wenigen Beobachtungen gehörig beſtimmt hat, man dar— aus, mittels jener Theorie, den Ort des Planeten für alle, auch für die entfernteſten Zeiten, in Uebereinſtimmung mit den Beobachtungen ableiten kann. Um irgend eine bemerkte Ungleich— heit in der Bewegung durch Hülfe eines Epicykels darzuſtellen, dazu wird nicht bloß vorausgeſetzt, daß dieſe Ungleichheit in der That exiſtire, ſondern auch, daß dieſe Ungleichheit der Art ſey, daß ſie an gewiſſen Stellen ihren größten und kleinſten Werth habe, daß ſie zwiſchen dieſen Stellen nach einem beſtimmten Geſetze allmählig zu- und abnehme, und daß daher der einge— führte Epicykel alle dieſe Modifikationen der Ungleichheit voll— ſtändig darſtellen müſſe.

Dieß wird noch weiter durch die Bemerkung erläutert, daß

Inductive Epoche Hipparchs. 151

dieſe Auflöſung der himmliſchen Bewegungen in lauter kreisför— mige im Grunde ganz mit der beſten und neueſten Methode übereinſtimmt, welche die Aſtronomen unſerer Tage für jene Be— wegungen anwenden. Dieſe unſere Methode beſteht bekanntlich darin, alle Ungleichheiten der himmliſchen Bewegungen durch Reihen darzuſtellen, deren einzelne Glieder, jedes für ſich, die einzelnen Theile darſtellt, aus welchen man ſich jede Ungleich— heit zuſammengeſetzt vorſtellt. Dieſe Glieder enthalten aber nur die Sinus und Coſinus von gewiſſen Winkeln, das heißt, ſie enthalten gewiſſe techniſche Hülfsmittel, durch welche man den Kreis, alſo auch die kreisförmigen Bewegungen auszumeſſen pflegt, unter der Vorausſetzung, daß alle kreisförmige Bewegung ihrer Natur nach auch eine gleichförmige Bewegung iſt, und da— her mit der Zeit ſelbſt in einem conſtanten Verhältniß bleibt, eine Vorausſetzung, welche die Alten ihrer epicykliſchen Theorie ebenfalls zu Grunde gelegt haben. In dieſer Beziehung iſt alſo das große Problem, alle himmliſchen Bewegungen in partielle, kreis— förmige aufzulöſen, dieſes Problem, das ſchon vor zwei Jahr— tauſenden in Plato's Schule aufgeſtellt worden iſt, auch noch in unſern Zeiten der Gegenftand, mit welchem ſich die wiſſenſchaft— liche Aſtronomie vorzugsweiſe beſchäftigt.

Daß Hipparch bei ſeinem erſten Verſuche, dieſes Problem für die Bewegungen der Sonne und des Mondes aufzulöſen, ſeinen Zweck ſo vollſtändig erreichte, und daß er zugleich die Möglichkeit der Anwendung ſeiner Methode auf alle andere Himmelskörper fo klar erkannte, dieß allein ſichert ihm ſchon eine der erſten Stellen unter den großen Aſtronomen aller Zeiten. Was die Vorwürfe und ſelbſt die Spöttereien betrifft, die ſich manche gegen die Verwicklung dieſes Syſtems erlaubt haben, ſo ſieht man leicht, daß ſie von wenig Gewichte ſind. Als ein Rechnungsſyſtem iſt es nicht nur gut, ſondern, wie wir ſo eben gezeigt haben, ſelbſt in ihrer Hauptbeziehung nicht von dem neueſten und beſten Syſtem verſchieden. Wenn die Bewegungen der Planeten, durch irgend eine Berechnungsart, ſo gut als nur möglich, dargeſtellt werden, und wenn man dann über die Ver— wicklung und Beſchwerde dieſer Rechnung Klage führen wollte, ſo mögen wir nur die Natur ſelbſt, nicht aber den Aſtronomen anklagen. Dieſer wird ſich gegen ſolche Vorwürfe ohne Zweifel

152 Inductive Epoche Hipparchs.

zu vertheidigen willen. „Ohne uns, ſagt Ptolemäus), ohne „uns durch die Verwicklung einer Hypotheſe oder durch die „Schwierigkeit einer Berechnung abſchrecken zu laſſen, haben wir „bloß darauf zu ſehen, die Erſcheinungen der Natur ſo gut als „möglich darzuſtellen. Wenn dieſe Hypotheſe jede einzelne Un— „gleichheit genau darſtellt, ſo wird die Combination derſelben „der Wahrheit gemäß ſeyn, und warum ſollen wir uns über die „Verwicklungen der himmliſchen Körper ſo ſehr verwundern, da „uns doch die Natur dieſer Körper noch ſo gänzlich unbe— „kannt iſt?“

Aber man könnte jetzt ſagen, daß jene himmliſchen Bewe— gungen in der That viel einfacher ſind, als ſie in jener Hypo— theſe dargeſtellt waren, und daß die ganze Theorie der Epicykel, als Conſtruction der eigentlichen Planetenwelt betrachtet, völlig grundlos und falſch iſt. Darauf kann erwiedert werden, daß keiner der beſſern Aſtronomen des Alterthums, ſo viel wir wiſſen, dieſen Epicykeln eine wirkliche, reelle Exiſtenz zugeſchrieben hat. Wenn auch die dogmatiſchen Philoſophen, wie Ariſtoteles, dieſe himmliſchen Sphären für wirklich beſtehende, ſolide Körper ge— halten haben mögen, fo fpricht doch Ptolemäus“) von ihnen nur, als von bloßen imaginären Dingen, und ſchon aus feinem Beweiſe, den er für die Identität eines Epicykels mit einem excen— triſchen Kreiſe gibt, folgt klar, daß er dieſe Epieykel für nichts anderes gehalten hat, als für eine geometriſche Conception, durch welche er die ſcheinbaren Bewegungen des Himmels den Beob— achtungen gemäß darzuſtellen verſuchte.

Es iſt allerdings wahr, daß die reellen Bewegungen der Planeten viel einfacher ſind, als die ſcheinbaren, wie ſie von der (ſelbſt wieder beweglichen) Erde geſehen werden, und daß wir demnach, die wir dieſe reellen Bewegungen kennen, jene Ver— wicklungen und Verwirrungen der alten Hypotheſen nur mit einer Art von Abneigung betrachten müſſen. Allein dieſe reellen Bewegungen würden wir nie kennen gelernt haben, wenn nicht zuerſt jene?fcheinbaren Bewegungen fo fleißig und genau une terſucht worden wären. Wie ſchwer der Uebergang von den Er— ſcheinungen zur Wahrheit, von den beobachteten Thatſachen zur

3) Almag. XIII. 2. 4) Aluag. III. 3.

er

Inductive Epoche Hipparchs. 153

wahren Theorie derſelben iſt, davon kann ſich jeder leicht ſelbſt überzeugen, wenn er es verſucht, aus bloßen allgemeinen Be— griffen von der reellen Bewegung des Mondes die Regeln abzu— leiten, nach welchen man eine Finſterniß berechnen ſoll, oder auch nur einem Anfänger zu zeigen, welcher Art der ſcheinbare Weg des Mondes unter den Sternen des Himmels iſt.

Der beſte Beweis von dem Verdienſte und dem hohen Werthe der epicykliſchen Theorie beſteht darin, daß ſie geeignet war, die geſammten aſtronomiſchen Kenntniſſe jener Zeiten zu umfaſſen, daß ſie den Aſtronomen Mittel zu anderen, noch beſſeren und genaueren Methoden an die Hand gab, und daß ſie endlich, wenn wir ſo ſagen dürfen, als ein Behältniß diente, in welchem man die Reſultate einer langen Reihe von Arbeiten und Ent— deckungen, der Griechen, Römer, Araber und der Europäer des Mittelalters, aufnehmen und ſo lange bewahren konnte, bis end— lich die neue Theorie ſich erhob, durch welche jene ältere entbehr— lich gemacht und ihrer fo lange treu erfüllten Pflichten überhoben werden konnte. Es mag manchem ſonderbar ſcheinen, daß der Vater dieſer neuen Theorie, daß Copernicus ſelbſt die Epicykel der Alten noch unverändert beibehalten hat. Allein er behielt nur das von der Theorie der Alten bei, was wir oben als das eigentlich Werthvolle derſelben bezeichnet haben. „Wir müſſen „annehmen, ſagt er ), daß die himmliſchen Bewegungen kreis— „förmig ſind, weil die Ungleichheiten derſelben ein beſtimmtes „Geſetz befolgen und in unveränderlichen Perioden wiederkehren, „was ſie nur dann thun können, wenn ſie in Kreiſen vor ſich „gehen.“ a

In dieſem Sinne alſo war Hipparchs Theorie eine reelle und unzerſtörbare Wahrheit, die nicht durch ſpätere Wahrheiten wider— legt oder verworfen, ſondern die in jeder folgenden, beſſern aſtro— nomiſchen Theorie, mit ihren wahren Beſtandtheilen aufgenom— men und gleichſam von ihr abſorbirt werden konnte, und die daher auch für alle Folgezeiten einen der wichtigſten Theil unſerer aſtronomiſchen Erkenntniß bilden wird.

Schon eine geringe Ueberlegung wird uns zeigen, daß die Ein— führung und Aufſtellung der epicykliſchen Theorie zwar die charakte— riſtiſchen Kennzeichen an ſich trägt, die wir oben als die Bedin—

5) Copernicus. De Revol. L. I Cab. 4.

154 Inductive Epoche Hipparchs.

gungen eines jeden wahren Fortſchritts der Wiſſenſchaft bezeichnet haben, nämlich die „Anwendung von klaren, angemeſſenen Ideen „auf eine Reihe von reellen Thatſachen.“ Die Klarheit der geo— metriſchen Conception, durch die es dem Hipparch möglich wurde, der Sonne und dem Monde ihre Bahn am Himmel anzuweiſen, bedarf hier keiner weiteren Erläuterung, und wir haben ſo eben gezeigt, wie dieſelben Ideen, auf das ganze Planetenſyſtem an— gewendet, auch die verſchiedenen Erſcheinungen dieſer anderen Himmelskörper den Beobachtungen gemäß dargeſtellt haben. Um dieſe Schritte in der Wiſſenſchaft zu machen, war Mühe und Fleiß in der Sammlung und Sichtung der Beobachtungen, war mathematiſche Klarheit der Begriffe, war endlich ein ſtetes Feſt— halten der Anſicht nothwendig, daß jede gute Theorie nur in einer glücklichen Analyſe der Beobachtungen beſtehe.

Dritter Abſchnitt. Präcelſion der Nachtgleichen.

Dieſelben Eigenſchaften, die wir in den bisher erwähnten Unterſuchungen Hipparchs bemerkt haben, ſorgſamen Fleiß in der Sammlung von Beobachtungen und eine klare Beſtimmtheit des Begriffs in der Darſtellung derſelben dieſelben Eigen— ſchaften finden wir auch bei ſeinen andern Entdeckungen, die wir hier kurz anzeigen wollen. N

Eine der wichtigſten dieſer Entdeckungen iſt die des „Vor— rückens der Nachtgleichen.“ Der Umſtand, der ihn darauf führte, war eine von ihm bemerkte Aenderung der Länge aller Fixſterne. Dieſe Längen werden bekanntlich auf der Ekliptik von dem Punkte an gezählt, wo dieſe Ekliptik den Aequator durch— ſchneidet. Jene Längen werden ſich alſo ändern, wenn dieſe Ekliptik oder wenn die Sonnenbahn ſich ändert. Allein eine Aen— derung in der Länge dieſer Bahn iſt nicht ſo leicht zu bemerken. Man lernt den Weg der Sonne unter den Sternen nicht durch eine bloße Anſicht des Himmels, ſondern nur durch eine Reihe von Schlüſſen aus ganz anderen Beobachtungen kennen. Hipparch bediente ſich zu dieſem Zwecke beſonders der Mondsfinſterniſſe. Da nämlich dieſe Finſterniſſe immer nur an ſolchen Orten ſich ereignen, die der Sonne am Himmel diametral gegenüber ſtehen,

Inductive Epoche Hipparchs. 155

ſo gaben ſie ihm ein Mittel, den Ort der Sonne für jede ſolche Zeit kennen zu lernen. Indem er aber die von ihm ſelbſt beob— achteten Finſterniſſe mit denen verglich, die nahe 150 Jahre vor ihm Timocharis angeſtellt hatte, fand er, daß der helle Stern, der damals ſchon, wie jetzt, die Kornähre der Jungfrau genannt wurde, und der zu ſeiner Zeit ſechs Grade von dem Nachtgleichenpunkte entfernt war, daß dieſer Stern vor 150 Jahren acht Grade von demſelben Punkte abſtand. Er fiel bald auf die Vermuthung, daß eine ähnliche Aenderung der Länge wohl bei allen Fixſternen Statt habe, aber ſein philoſophiſcher Geiſt ließ ihn dieſe Vermuthung nicht ſogleich als Wahrheit an— nehmen. Er unterſuchte auf ähnliche Weiſe auch den Ort des Regulus und mehrerer anderer Fixſterne, und fand ſeine dadurch frühere Vermuthung vollkommen beſtätigt. Auch jetzt aber konnte er nicht wohl annehmen, daß dieſe Sterne alle ihre Länge in der That ändern, ſondern er ſuchte vielmehr, ob die von ihm be— merkte Erſcheinung ihren Grund vielleicht in einer Aenderung derjenigen Kreiſe habe, die man, wie wir ſchon oben geſagt haben, auf der Sphäre des Himmels gezogen hat, um dadurch die Lage der Geſtirne angeben zu können.

Die Klarheit, mit welcher Hipparch die von ihm bemerkte Erſcheinung des Himmels betrachtete, folgt ſchon aus der von ihm gegebenen Erklärung derſelben. Nach ihm hat, wie uns Ptolemäus erzählt, der Grund jener Aenderung in einer Bewe— gung des Himmels ſtatt, die um den Pol der Ekliptik, nicht aber um den Pol des Aequators vor ſich geht. (Mit andern Worten: Jene Erſcheinung wird durch die Annahme vollkommen erklärt, daß der Pol des Aequators um den ruhenden Pol der Ekliptik, gegen die Ordnung der Zeichen, oder daß der Aequator ſich auf der ruhenden Ekliptik, ebenfalls gegen die Ordnung der Zeichen, ſich bewegt, wobei der Aequator ſich nahe ſelbſt parallel bleibt. L.) Dadurch wurde der reine Begriff dieſer eigenthümlichen Bewe— gung ſowohl, als auch die Realität ihrer Exiſtenz, dieſe zwei Hauptbedingungen jeder wahren Entdeckung, zur klaren Anſicht gebracht. Welche Maſſe von Beobachtungen aber durch dieſe Entdeckung unter ein gemeinſchaftliches Geſetz gebracht worden iſt, dieß läßt ſich gewiſſermaßen ſchon daraus abnehmen, daß durch die Präceſſion, die ſeit Hipparchs Zeit bis auf unſere Tage die Orte aller Sterne am Himmel nahe um 30 Grade

156 Inductive Epoche Hipparchs.

verändert hat, die ganze Revolution des geſtirnten Himmels um volle 360 Grade ihrer Peripherie erſt in dem Zeitraume von 25,000 Jahren vollendet ſeyn wird. Auf dieſe Weiſe iſt dieſe Entdeckung das Band geworden, welches die entfernteſten Perio— den unſerer Menſchengeſchichte mit einander verbindet, wie denn auch z. B. die ſcharfſinnigen Unterſuchungen Newton's in ſeiner Chronologie ſämmtlich nur auf dieſer Präceſſion der Nachtgleichen beruhen.

Dieſe zwei Entdeckungen, die der Conſtruction der Tafeln der Sonne und des Mondes, und die der Präceſſion, gehören zu den größten und wichtigſten Fortſchritten der Aſtronomie, nicht nur an ſich ſelbſt, ſondern auch in Beziehung auf die neuen Gegenſtände und Unterſuchungen, zu welchen ſie die Aſtronomen geführt haben. Die erſte fand Ordnung und ein beſtändiges Ge— ſetz unter den Erſcheinungen, die dem erſten Blicke nur Ver— wirrung und immerwährende, regelloſe Aenderung darboten, und die zweite lehrte uns eine neue, immerfort thätige Veränderung aller Fixſterne des Himmels kennen, die man bisher, wie ſchon ihr Name ſagt, als feſt und für ewige Zeiten unbeweglich an— genommen hatte. Entdeckungen dieſer Art waren wohl geeignet, gar manche Fragen in dem forſchenden Geiſte des Menſchen zu erwecken, da fortan nichts mehr, ohne die ſtrengſte Unterſu— chung, als feſt und beſtändig angenommen werden konnte, und da keine künftige, ſcheinbar auch noch ſo verwickelte Erſcheinung uns von dem Verſuche abſchrecken konnte, eine einfache Erklärung und ein regulirendes Geſetz derſelben zu ſuchen, nachdem uns dieß bei einem der ſchwerſten Probleme dieſer Art ſo glücklich gelungen war. Allein dieſen Forderungen zu entſprechen, waren vor allem beſſere Beobachtungsmethoden nothwendig, als die, mit welchen man ſich bisher begnügt hatte. Ueberdieß führten jene zwei großen Entdeckungen, ſo wie auch die, welche durch ſie zu— nächſt veranlaßt wurden, zu mancherlei Folgerungen, Verbin— dungen und Erweiterungen, durch welche die Wiſſenſchaft ſelbſt nur gewinnen konnte. Kurz, dieſe Epoche der Induction leitete, wie dieß bei jeder ſolchen Epoche der Fall iſt, auf eine ihr zunächſt folgende Periode der Entwicklung, der Verification, und der Anwendung und Erweiterung derjenigen Schätze, in deren Beſitz man ſich ſo eben geſetzt hatte.

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 157

Viertes Capitel. Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. Erſter Abſchnitt. Unterſuchungen zur Beſtätigung der gefundenen Theorie.

Die Entdeckung des leitenden Geſetzes der Bewegungen der Sonne und des Mondes, und die der Präceſſion der Nachtglei— chen können als die zwei Glanzpunkte der Hipparchiſchen Aſtro— nomie betrachtet werden, als die zwei Stammentdeckungen, aus welchen manche andere, kleinere hervorſproßten. Durch ſie wurde das Bedürfniß fühlbar gemacht, auch die übrigen Nebenzweige des großen Baumes näher kennen zu lernen, und dieſes Bedürf— niß wurde durch eine Reihe von eifrigen Beobachtern und Be— rechnern befriedigt, die zuerſt aus der Alexandriniſchen Schule, und ſpäter auch aus andern gebildeten Ländern hervorgingen. Indem wir aber der verſchiedenen Bemühungen dieſer Nachfolger Hipparchs gedenken wollen, werden wir uns kürzer, als bisher, faſſen können, da die bloße weitere Entwicklung einer einmal aufge— ſtellten Lehre für unſere Geſchichte nicht mehr von dem Gewichte ſeyn kann, wie jene erſte Conception, jene primitive Beſtätigung der Fundamentalwahrheit, auf welche dann ſpäter jede ſyſtema— tiſche Doctrin gewöhnlich erbaut wird. Doch dürfen dieſe Pe— rioden der Verification nicht gänzlich überſehen werden, und ihre Betrachtung iſt vielleicht nirgends ſo nützlich, als eben in der Aſtronomie.

Eigentlich aber hinterließ Hipparch ſeinen Nachfolgern nur wenig von jenen Nebenarbeiten, zu welchen ſeine großen Ent— deckungen Veranlaſſung gegeben haben. Er ſelbſt hatte ſchon mit der genaueſten Sorgfalt beinahe alle einzelne Theile ſeines Gegenſtandes unterſucht. Wir wollen hier nur die vorzüglichſten derſelben näher bezeichnen.

Das von ihm aufgeſtellte Geſetz der Präceſſion, nach welchem bloß der Aequator ſich auf der feſten Ekliptik bewegt, ſetzte vor— aus, daß die Orte der Fixſterne am Himmel und ihre gegen— ſeitigen Diſtanzen unveränderlich ſind, und eben ſo beruhten auch ſeine Sonnen- und Mondtafeln gleichſam ſtillſchweigend auf der

158 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

Vorausſetzung, daß unſer Tag, ſo wie auch unſer Jahr, unver— ändert von derſelben Länge für alle Zeiten bleibe. Allein Hip— parch begnügte ſich nicht, dieſe zwei Hypotheſen als die Baſis ſeiner Theorie bloß anzunehmen, er ſuchte ſie auch zu be— weiſen.

1) Unbeweglichkeit der Fixſterne.

Schon die bloße Entdeckung der Präceſſion mußte fofort auf die Frage führen, wenn ſie auch früher nie aufgeſtellt worden wäre, ob die Firfterne auch in der That immer denſelben Ort am Himmel einnehmen. Dieſe wichtige Frage zu beantworten, unternahm Hipparch die Conſtruction einer eigenen Himmels— karte. Denn obſchon die Reſultate ſeiner Unternehmung von ihm eigentlich nur in Worten ausgedrückt wurden, ſo glauben wir doch dieſen Namen dem von ihm entworfenen Catalog der vorzüglichſten Fixſterne geben zu müſſen. Er bedient ſich näm— lich zur Ortsbezeichnung dieſer Sterne der ſogenannten Aligne— ments, indem er immer drei oder mehr ſolcher Sterne aus— wählt, die durch eine ſcheinbare gerade Linie am Himmel unter einander verbunden werden können. So ſagt er z. B., daß der größere Stern in der ſüdlichen Scheere des Krebſes, ferner der hellere in demſelben Sternbilde, der dem Kopf der Hydra voran— geht, und endlich der hellſte Stern im kleinen Hund, nahe in derſelben geraden Linie liegen. Ptolemäus, der uns dieſe und viele andere Alignements Hipparchs erhalten hat, folgert dar— aus, daß ſich die gegenſeitige Lage der Sterne ſeit Hipparchs Zeit, d. h. ſeit nahe 300 Jahren nicht geändert habe, eine Wahrheit, die man ohne Hipparchs Catalog, der 1080 Sterne enthielt, nicht beſtätigen konnte.

Dieſe Aufzahlung der vorzüglichſten Sterne des Himmels durch Hipparch iſt ein in der Geſchichte der Aſtronomie ſehr be— rühmt gewordenes Ereigniß. Plinius ) ſpricht davon mit Bes wunderung als von einer erhabenen, übermenſchlichen Unterneh— mung: Ausus rem etiam Deo improbam, annumerare posteris stellas. Derſelbe Geſchichtſchreiber erzählt uns, daß die Aus— führung dieſer großen Arbeit durch ein wunderbares aſtrono—

1) Plin. Hist. Nat. II. XXVI.

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 159

miſches Ereigniß veranlaßt worden ſey, nämlich durch die Er— ſcheinung eines neuen, früher unſichtbaren Sterns: novam stel- lam et aliam in aevo suo genitam deprehendit, ejusque motu, qua die fulsit, ad dubitationem est adductus, anne hoc saepius fieret, moverenturque et eae, quas putamus af- fixas. Gegen dieſe Nachricht iſt nichts einzuwenden, nur mag man mit Delambre ?) bemerken, daß uns nicht geſagt wird, ob dieſer neue Stern am Himmel geblieben, oder vielleicht bald darauf wieder verſchwunden iſt. Ptolemäus erwähnt weder des Sterns noch dieſer Geſchichte, und ſein Catalog enthält keinen hellen oder größern Stern, der nicht auch in den „Cataſterismen“ des Eratoſthenes gefunden würde. Dieſe Cataſterismen ſind ein Verzeichniß von 475 der hellſten Sterne, die nach der Ordnung der Sternbilder, zu welchen ſie gehören, aufgezählt werden, und die nahe ſechzig Jahre vor Hipparch zuſammengeſchrieben wor— den ſind.

2) Beſtändigkeit des Jahrs.

Hipparch unternahm auch die Unterſuchung, ob alle Jahre gleiche Länge haben, und obſchon er, bei ſeiner ängſtlichen Liebe zur Genauigkeit 5), ſich ſelbſt über dieſe Gleichheit nicht völlig zufrieden ſtellen konnte, ſo zeigte er doch, durch die Finſterniſſe ſowohl, als auch durch die Beobachtungen der Zeiten, in welchen die Sonne durch die Aequinoctialpunkte geht, daß der Unter— ſchied der aufeinander folgenden Jahre, wenn er ja noch beſteht, wenigſtens ungemein klein ſeyn müſſe. Die Beobachtungen der nachfolgenden Aſtronomen, beſonders die des Ptolemäus, beſtä— tigten dieſe Meinung, und zeigten mit Verlaͤßlichkeit, daß die Länge des Jahrs für alle Zeiten unveränderlich iſt.

3) Beſtändigkeit des Tags, Zeitgleichung.

Schwerer war es, ſich von der völligen Gleichheit der Tage zu überzeugen. Das Jahr nämlich wird durch die von der Na— tur gegebene Anzahl der Tage, die es enthält, gemeſſen, aber

2) Delambre, Astr. Anc. I. 290. 3) Ptolem. Almag. III. 2.

160 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

der Tag wird von uns ſelbſt nur durch künſtliche Mittel in Stunden oder in ſeine Theile getheilt. Die mechaniſchen Mittel der Alten reichten jedoch nicht hin, dieſe letzte Eintheilung mit der hier nöthigen Genauigkeit vorzunehmen, obſchon ihre Aſtro— men ſich auch wohl der Waſſeruhren und anderer ähnlicher Inſtrumente bedienten. Man nahm indeß als das einfachſte, was man vorausſetzen konnte, an, daß die ſcheinbare tägliche Bewegung der Fixſterne, durch welche eigentlich die Länge des Tages beſtimmt wird, vollkommen gleichförmig und immer von derſelben Dauer iſt. Aus dieſer Annahme folgte von ſelbſt, daß der Sonnentag (d. h. die von einer Culmination der Sonne bis zur nächſtfolgenden andern) ungleich ſeyn müſſe, weil nämlich die Geſchwindigkeit der Sonne für verſchiedene Zeiten veränderlich iſt. Dieſe Bemerkung führte auf die ſogenannte Zeitgleichung, d. h. auf den Unterſchied der Zeit, die für jeden Augenblick zwiſchen einer richtigen Sonnenuhr und einer guten (nach der ſogenannten mittleren Zeit gehenden) aſtrono— miſchen Uhr ſtatt hat. Die alten griechiſchen Aſtronomen haben auf dieſe Zeitgleichung immer Rückſicht genommen, was vor— ausſetzt, daß ſie auch die Unveränderlichkeit des Tages aner— kannt haben.

Zweiter Abſchnitt. Unterfuchungen, welche Hipparch's Theorie nicht beftätigten.

Einige von den Unterſuchungen Hipparch's und ſeiner Nach— folger betrafen die eigentliche ſchwache Seite der von ihm auf— geſtellten Theorie, und fie würden, wenn die Beobachtungen der Alten genau genug geweſen wären, entweder auf die Verbeſſerung, oder auch auf eine gänzliche Verwerfung dieſer Theorie geführt haben. |

Unter diefen müſſen wir zuerft der Parallaxe der Him— melskörper erwähnen, das heißt jener ſcheinbaren Verſetzung ihres Ortes am Himmel, wenn ſie von dieſem oder einem an— deren Punkte der Oberfläche der Erde betrachtet werden. Pto— lemäus handelt umſtändlich von dieſem Gegenſtande, und man kann nicht zweifeln, daß auch Hipparch ſich ſorgfältig damit beſchäftiget habe, da er ein eigenes „parallactiſches Inſtrument“

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 161

erfunden hat. Der Begriff einer Parallaxe, als einer geome— triſchen Conception, war in der That zu einfach, als daß man ihn lange hätte überſehen können, und ſchon bei der erſten Be— gründung der „Lehre von der Sphäre“ mußte es auffallend er— ſcheinen, daß man, ohne bemerklichen Irrthum, jeden Punkt der Oberfläche als den Mittelpunkt der Himmelsſphäre annehmen konnte. Allein wenn dieß in Beziehung auf die Fixſterne als richtig anerkannt wurde, durfte man es auch für die Sonne und den Mond als wahr vorausſetzen? Bei der Sonne zwar iſt die Ortsveränderung, die ſie durch die Parallaxe erleidet, ſo gering, daß auch der beſte practiſche Aſtronom des Alterthums dieſelbe unmöglich bemerken konnte, aber bei dem Monde verhielt ſich dieſe Sache ganz anders. Der Mond kann durch die Parall— axe um einen Bogen am Himmel verſetzt werden, der zweimal den Durchmeſſer dieſes Geſtirns (genauer 57“) beträgt, eine Größe, die auch das unvollkommenſte aſtronomiſche Inſtrument angeben muß, wenn es auf dieſen Namen überhaupt noch Anſpruch machen will. Das Geſetz, nach welchem die durch die Parallaxe erzeugten Aenderungen erfolgen ſollen, iſt leicht zu finden, wenn man die Erde als kugelförmig vorausſetzt, aber die eigentliche „Größe“ dieſer Aenderung hängt von der Diſtanz des Monds von der Erde ab, und ſetzt alſo wenigſtens eine gute Beobachtung zur Beſtimmung dieſer Diſtanz voraus. Ptolemäus hat eine Tafel der Wirkungen der Parallaxe berechnet, deren Argument die ſcheinbare Höhe des Monds iſt, und wobei er verſchiedene Diſtanzen des Monds vorausſetzt. Allein dieſe Di— ſtanzen ſtimmen in ihrer Aufeinanderfolge nicht mit der wahren Bewegung des Monds überein, weil ſie, wie natürlich, nur nach der epicykliſchen Bewegung deſſelben angenommen wurden.

In der That iſt dieſe ganze epieykliſche Theorie, obſchon fie, die „ſcheinbaren Orte“ oder die Länge und Breite der Himmels— körper allerdings der Wahrheit gemäß darzuſtellen vermag, doch in Beziehung auf die Diſtanzen derſelben von der Erde, ſehr fehlerhaft. Man kann die Halbmeſſer eines oder auch mehrerer Epicykel ſo annehmen, daß dadurch die ſcheinbaren Längen der Planeten mit jeder willkührlichen Genauigkeit dargeſtellt werdenz allein wenn man dieß thut, ſo laſſen ſich, eben weil man es gethan hat, die Diſtanzen der Planeten von der Erde nicht mehr der Wahrheit gemäß darſtellen und umgekehrt.

Whewell. I. 11

162 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

Durch die in verſchiedenen Zeiten beobachtete Parallaxe laſſen ſich die für dieſelben Zeiten ſtatthabenden Verhältniſſe der Diſtanzen des Monds von der Erde finden. Ein anderes Mit— tel, die letzten Verhältniſſe zu finden, gewährt die Beobachtung des ſcheinbaren Durchmeſſers des Monds in verſchiedenen Zeiten. Allein beide Beobachtungen, die der Parallaxe und die des ſchein— baren Durchmeſſers des Monds, konnten mit den unvollkom— menen Inſtrumenten der Alten, wie es ſcheint, nicht mit der erforderlichen Schärfe gemacht werden, um daraus ein Argument gegen ihr epicykliſches Syſtem abzuleiten, obſchon die Falſchheit deſſelben auf dieſem Wege ſich am beſten hätte erkennen laſſen müſ— ſen. Man begnügte ſich, wie es ſcheint, mit der Uebereinſtim— mung dieſes Syſtems in Beziehung auf die beobachteten Längen der Planeten, die man auch allein mit einiger Genauigkeit meſſen konnte, und bekümmerte ſich wenig darum, ob auch die Diſtanzen derſelben von der Erde durch daſſelbe Syſtem genau dargeſtellt wurden, weil man doch die Beobachtungen der Parall— axe ſowohl, als auch die der ſcheinbares Durchmeſſer dieſer Pla— neten, aus welchen ſich allein jene Diſtanzen ableiten ließen, mit den Inſtrumenten jener Zeit nicht genau genug beobachten konnte.

In der That läßt ſich zeigen (m. ſ. Littrow's theor. und pract. Aſtr. Vol. II. S. 110 u. f. L), daß derjenige Halbmeſſer des Epicykels, welcher die Ungleichheit der Länge des Monds richtig darſtellt, die Ungleichheit ſeiner Diſtanz von der Erde um das Doppelte zu groß gibt. Ptolemäus nahm die Excen— tricität der Mondsbahn gleich / —= 0.0833 des Halbmeſſers dieſer Bahn an, da ſie doch in der That nur halb ſo groß (ge— nauer gleich 0.0548) iſt. Dieſer Theil der von Hipparch aufge— ſtellten epicykliſchen Theorie trägt alſo in ſich ſelbſt den Keim ihrer Zerſtörung. Auch wurde die Unzuläſſigkeit dieſer Theorie von der Zeit an vollſtändig anerkannt, als die aſtronomiſche Beobachtungskunſt dahin gelangt war, den ſcheinbaren Durch— meſſer des Monds bis auf ſeinen dreißigſten oder vierzigſten Theil (d. h. bis auf eine Minute) genau zu meſſen. Wir wer— den in der Folge ſehen, welche weitere Wege dieſe Theorie ein— geſchlagen hat; hier mag es genügen, zu bemerken, daß eine ſehr lange Zeit vergehen mußte, bis die Kunſt zu beobachten ſolche Fortſchritte gemacht hatte, die Unzuläßlichkeit jener Hypotheſe vollkommen zu erweiſen.

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 163

Dritter Abſchnitt.

Beobachtungsmethade der griechifchen Altronomen.

Da es in allen ſogenannten Verificationsperioden eine Hauptſache iſt, die abſolute Größe der Dinge, um die es ſich handelt, mit Genauigkeit kennen zu lernen, ſo müſſen auch alle Verbeſſerungen der bisher zu den Beobachtungen gebrauchten Inſtrumente und Methoden als characteriſtiſche Züge einer ſol— chen Epoche betrachtet werden. Wir wollen hier einige derſelben näher anführen.

Die Schätzung der Diſtanzen der Geſtirne durch das bloße Auge iſt ein ſehr unverläßliches Verfahren, obſchon es die Alten öfters angewendet zu haben ſcheinen. Man liest in ihren Schrif— ten von Sternen, die zwei oder drei Ellen (cubitus, nyxvs) von einander abſtehen. Man kann ſich einen Begriff von der Ge— nauigkeit einer ſolchen Meſſungsart machen, wenn man hört, daß die frühern Griechen die Sonne einen Fuß groß angenom— men haben, eine Meinung, die Cleomedes ) auf das Umſtänd— lichſte zu widerlegen für gut fand.

Etwas genauer iſt die Methode der Alignements, von der wir ſchon oben bei Gelegenheit des Sterncatalogs von Hipparch geſprochen haben. Eine gerade Linie z. B. durch die zwei Hinter— räder des Wagens (des großen Bären) geht verlängert durch den Polarſtern, eine Art ſich auszudrücken, die man auch wohl jetzt noch gebraucht, um Anfängern den geſtirnten Himmel kennen zu lehren.

An verläßlichere Beobachtungen irgend einer Art aber konnte man nicht eher denken, bis die Aſtronomen auf das Zuſammen— treffen der Geſichtslinie der Himmelskörper mit eigentlichen Inſtrumenten verfielen, dieſes Zuſammentreffen mag nun durch unmittelbares Sehen oder auch, bei der Sonne beſonders, durch den Schatten derſelben vermittelt werden.

1) M. ſ. Delambre, Astr. Anc. I. 222.

164 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

Die älteſte und gewöhnlichſte Weiſe, die Lage der Himmels— körper zu beſtimmen, war ohne Zweifel die, wo die Höhe der Sonne durch die Länge des Schattens gefunden wurde, den ein von ihr beſchienener ſenkrechter Stab (oder ein Gnomon) auf ſeinen horizontalen Boden wirft. Nach einem Memoir von Gaubil, das zuerſt in der Connaisance des temps f. d. J. 1809 erſchien ), fand Tſchou-kong um das Jahr 1100 vor Ch. G. in der untern Stadt Loyang, die jetzt Honanfu heißt, die Schattenlänge eines Gnomons von acht Fuß Höhe zur Zeit des Sonnenſolſtitiums gleich einem und einem halben Fuß. Die Griechen bedienten ſich ſchon ſehr früh eines ähnlichen Verfahrens. Strabo ſagt ), „daß Byzanz und Marſeille auf „demſelben Breitenparallel liegen, weil in dieſen Städten die „Schatten daſſelbe Verhaͤltniß zu der Länge des Gnomons haben, „wie Hipparch berichtet, der hierin dem Pytheas folgt.“

Allein die Aſtronomen drücken die Lagen der Himmelskörper gewöhnlich durch ſogenannte Winkeldiſtanzen aus, und dieſe wer— den am einfachſten durch den Bogen eines Kreiſes angegeben, deſſen Mittelpunkt das Auge des Beobachters einnimmt. Der Gebrauch des Gnomons mag durch graphiſche Methoden der Geometrie auf dieſe Beſtimmungen der Winkel durch ihre Tangenten geführt haben, obſchon man auch ſchon ſehr früh dieſe Winkel unmittelbar durch Kreisinſtrumente, die an ihrer Peri— pherie eingetheilt waren, gemeſſen zu haben ſcheint. Man theilte dieſe Peripherie ſchon in den älteſten Zeiten in 360 gleiche Theile, vielleicht weil man durch jeden ſolchen Theil, für jene Beobachtungen nahe genug, den täglichen Weg der Sonne am Himmel darſtellen wollte. Die Lage der Sonne wurde durch den Schatten eines durch den Mittelpunkt auf dem Kreiſe ſenk— rechten Styles an der eingetheilten Peripherie deſſelben angezeigt. Eines der älteſten Inſtrumente dieſer Art war die Hemiſphäre des Beroſus. Eine hohle Halbkugel wurde mit ihrem Rande horizontal geſtellt, und in dem Mittelpunkte derſelben wurde ein Stiel befeſtigt. Der Schatten des unterſten Endpunkts dieſes

9) Useful knowledge. Hist. Astron. ©. 5, 3) Delambre, Astr. Anc. I. 257.

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 165

Stiels hatte dann dieſelbe Lage gegen den tiefſten Punkt der Halbkugel, welche die Sonne gegen den höchſten Punkt des Himmels hatte. Doch wurde dieſes Inſtrument vielmehr zur Eintheilung des Tages in Stunden gebraucht.

Eratoſthenes ) beſtimmte der erſte die Größe der Nei— gung der Ecliptik gegen den Aequator, man weiß nicht mehr, durch welche Inſtrumente. Er ſoll von der Großmuth des Ptolemäus Evergetes zwei Armillen erhalten haben, die aus verſchiedenen Kreiſen zuſammengeſetzt waren. Sie wurden in dem Porticus von Alexandrien aufgeſtellt, wo ſie lange Zeit zu den Beobachtungen dienten. Einer dieſer Kreiſe wurde ſo ge— ſtellt, daß er mit dem Aequator parallel war, wo dann an dem Tage die Sonne durch den Aequator ging, an welchem die innere Seite dieſes Ringes nicht beſchienen wurde. Mit einem ſolchen Inſtrumente konnte man alſo die Zeit der Nachtgleichen finden. Auch Hipparch ſcheint ſich eines ähnlichen Werkzeugs bedient zu haben ). „Der Kreis von Kupfer,“ ſagt Ptolemäus, „der zu „Alexandrien in dem ſogenannten Quadratportal aufgeſtellt war, »ſcheint zur Beobachtung der Nachtgleichen beſtimmt geweſen zu »ſeyn.“ Ein ſolches Inſtrument wurde Aequinoctial-Ar— mille genannt.

Ptolemäus beſchreibt auch eine Solſtitial-Armille, die aus zwei Ringen beſtand, die ſich in einander bewegten. Der innere war mit zwei hervorſtehenden, einander diametral gegen— über liegenden Schnäbeln verſehen. Dieſe Kreiſe wurden beide in die Ebene des Meridians gebracht, und dann der innere ſo lange gedreht, bis der Schatten des einen Schnabels genau auf den anderen fiel, wo dann der Ort der Sonne im Mittag durch die Eintheilung des äußeren Ringes beſtimmt werden konnte.

Zu den Berechnungen wurde ſchon damals der Grad in 60 Minuten, und die Minute in 60 Secunden eingetheilt. Allein für die Mechaniker jener Zeit war es unmöglich, die Peripherie ihrer Kreiſe in ſo viel kleine Theile zu theilen. Die Armillen von Alexandrien waren nur in Sechstheile des Grades oder von zehn zu zehn Minuten getheilt. Die an dieſen Inſtrumenten beobachteten Winkel aber pflegte man in Theilen

4) Delambre, Astr. Anc. I. 86. 5) Ptolem, Almag. III. 2.

166 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

der ganzen Peripherie anzugeben. So ſagte Eratoſthenes, daß der Zwiſchenraum zwiſchen den beiden Sonnenenden ½3 der Peripherie betrage ).

Man bemerkte bald, daß man zu dieſen Beobachtungen keinen ganzen Kreis brauchte. Ptolemäus jagt daher “), daß er bequemer zu ſeinen Höhen-Beobachtungen eine viereckige Platte von Stein oder Holz gebrauche, auf deren einer Seite der vierte Theil eines Kreiſes mit ſeinen Eintheilungen angebracht iſt. In dem Mittelpunkte dieſes Kreiſes wurde ein Stift ſenkrecht auf die Platte angebracht, und wenn dann der oberſte Halbmeſſer des Kreiſes horizontal geſtellt wurde, ſo konnte man die Höhe der Sonne durch den Schatten finden, welcher von jenem Stifte auf die Peripherie des Kreiſes geworfen wurde. Als das Be— dürfniß einer größern Genauigkeit dieſer Beobachtungen mehr und mehr fühlbar wurde, war man auf verſchiedene Vorrich— tungen und Verbeſſerungen dieſer Inſtrumente bedacht. Sie wurden mittels einer Mittagslinie genau in die Ebene des Meridians geſtellt; die Ebene des Inſtruments wurde durch ein Bleiloth in eine vertikale Lage gebracht, ſo wie auch der oberſte Halbmeſſer durch die Waſſerwage horizontal geſtellt Ne e.

Auf dieſe Weiſe konnte man alſo die Lage der Sonne und des Mondes am Himmel mittels des Schattens beobachten, wel— chen dieſe Geſtirne verurſachten. Zur Beobachtung der Sterne vi— ſirte der Beobachter längs der Fläche ſeines Rings, ſo daß der von dem Stern ausgehende Lichtſtrahl dieſer Fläche parallel wurde ).

6) Delambre, Astr. Anc. I. 87. Seine Beobachtung gab ihm wahr⸗ ſcheinlich für dieſen Zwiſchenraum 47⅝ 847.66 Grade, und 2

üft gleich 0.132 oder nahe gleich

7) Almagest. I. 1.

8) Schon Ptolemäus bemerkte die Krümmung feiner Inſtrumente, die aus Holz gemacht waren, wenn ſie ſich durch die Feuchtigkeit warfen. Almag. III. 2. Er ſah, daß der innere Rand ſeines Aequa— torialrings in demſelben Aequinoctial-) Tage zweimal beleuchtet wurde, denn er wußte nicht, daß die Urſache dieſer Erſcheinung in der Refraction zu ſuchen iſt.

9) Delambre, Astr. Anc. I. 185. Ptolem. Almag. I. I.

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 167

Später fand man es angemeſſener, die Sonne unmittelbar in Beziehung auf die Ekliptik zu beobachten, und zu dieſem Zwecke gebrauchte man das ſogenannte Aſtrolabium, deſſen Beſchreibung uns Ptolemäus aufbehalten hat ). Auch dieſes Inſtrument beſtand aus mehreren ineinander beweglichen Ringen, von welchen der eine in die Lage der Ekliptik gebracht wurde, während man den anderen, der immer durch den Pol der Eklip⸗ tik ging, ſo ſtellte, daß ſeine Fläche zugleich die Sonne traf. Auf dieſe Weiſe konnte man auch die Lage des Monds gegen die Ekliptik und die Poſition deſſelben gegen die Sonne oder gegen einen Fixſtern beſtimmen.

Dieſes Aſtrolabium blieb lange im Gebrauch, noch länger aber der oben erwähnte Quadrant des Ptolemäus, der, im größern Maaßſtab ausgeführt, den ſogenannten Mauerqua— dranten bildet, deſſen man ſich noch in den 1 Zeiten zu bedienen pflegte.

Es mag auffallend erſcheinen “), daß Hipparch, der eine längere Zeit durch die Geſtirne in Beziehung auf den Aequator (alſo Rectaſcenſionen und Declinationen) beobachtet hatte, ſpäter— hin den Gebrauch ſeines Aequatorial-Inſtruments gänzlich ver— ließ, und das Aſtrolab vorzog, welches unmittelbar die Lage der Geſtirne gegen die Ekliptik (oder die Länge und Breite dieſer Geſtirne) angab. Wahrſcheinlich that er dieß in Folge ſeiner Entdeckung der Präceſſion, nach welcher die Breite aller Fixſterne unverändert bleibt, ſo daß er für verſchiedene Zeiten nur die Länge derſelben zu kennen nöthig hatte ).

10) Ptolem. Almag. V. I.

11) Delambre, Astr. Anc. S. 181.

12) Die Folgen dieſer Wahl Hipparchs find jetzt noch in allen Theilen der Aſtronomie ſichtbar. Die ganze Einrichtung unſerer Inſtru— mente und ihre innige Verbindung, beſonders mit unſerer Zeit— beſtimmung durch Uhren, verweist ung, bei unſern Berechnungen, auf den Aequator, während die meiſten unſerer Beobachtungen, wie auch die Ebenen bei den Planeten- und Kometenbahnen, ſich noch immer auf die Ekliptik beziehen. Unſere Sterncataloge ſtimmen mit unſerer Beobachtungsart überein, da ſich hier dieſe Uebereinſtimmung beſonders fühlbar machte; aber dieß iſt nicht mehr der Fall mit den neuern Tafeln der Sonne und des Monds, und aller Planeten, die ſich noch immer, wie bei den alten Grie—

168 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

Zu den erwähnten Inſtrumenten kann man auch die Dio p— tern und das parallactiſche Inſtrument zählen, deren ſich Hipparch und Ptolemäus bedienten. Mittels des letztern wurde die Zenithdiſtanz der Geſtirne durch zwei an einem Stabe ange— brachte Abſehen beobachtet, welcher Stab ſich um den Endpunkt eines andern drehen ließ, der mittels eines Bleiloths ſenkrecht geſtellt wurde, wo man dann den Winkel zwiſchen den beiden Stäben meſſen konnte.

Das folgende Beiſpiel einer aus dem Ptolemäus entlehnten Beobachtung mag uns zeigen, auf welche Weiſe N dieſe Beobachtungen anzugeben pflegte. „In dem zweiten Jahre „Antonins, den neunten Tag des Pharmuthi, nahe bei Unter— „gang der Sonne, als die letzten Theile des Stiers im Meridian „waren, d. h. (5½; Aequinoctialſtunden nach dem Mittag), war „der Mond im dritten Grad der Fiſche, in dem Abſtand von „92 Graden und 8 Minuten von der Sonne; eine halbe Stunde „ſpäter war die Sonne untergegangen, und das Viertel der „Zwillinge im Meridian, und da erſchien Regulus an dem andern „Ringe des Aſtrolabs, 57½ Grad mehr vorwärts, als der „Mond, in Länge ).“ Aus dieſen Angaben berechnet dann Ptolemäus die Länge des Regulus.

Nach dem Vorhergehenden ſieht man wohl, daß die Beob— achtungen der Alexandriniſchen Aſtronomen auf keine große Ge— nauigkeit Anſpruch machen konnten. Dieſer Umſtand hatte aber, nach der allgemeinen Aufnahme der Hipparchiſchen Theorie, einen ſehr ungünſtigen Einfluß auf den Fortgang der Wiſſenſchaft. Hätten jene Aſtronomen den Ort des Mondes Tag für Tag genau angeben können, ſo würden ſie alle die Ungleichheiten deſſelben entdeckt haben, die ſo ſpät erſt durch Tycho Brahe gefunden wurden; und hätten ſie die Parallaxe oder den ſchein—

chen, auf die Ekliptik beziehen, obſchon wir ſie doch, gleich den Fixſternen, nur in Beziehung auf den Aequator beobachten. Indeß möchte es ſchwer ſeyn, die Aſtronomen dahin zu vereinigen, ſich von dieſem, dem gegenwärtigen Zuſtande der Wiſſenſchaft nicht mehr angemeſſenen Reſte des Alterthums zu trennen, um die gewünſchte Gleichförmigkeit zwiſchen den Beobachtungen und ihren Berechnungen zu erhalten. L.

13) Delambre, Astr. Anc. II. 248.

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 169

baren Durchmeſſer des Mondes auch nur mit einiger Schärfe meſſen können, ſo würden ſie ihre epicykliſche Theorie, durch die Kennt— niß der wahren Mondsbahn, als vollkommen falſch erkannt haben. Aber die große Unvollkommenheit ihrer Beobachtungen und die ſehr geringe Uebereinſtimmung derſelben mit den Be— rechnungen hielt ſie von allen weitern Fortſchritten ab, und hieß ſie ihre beliebte Theorie mit ſerviler Zuſtimmung und bloß mit dunklem Bewußtſeyn erkennen, ſtatt mit jener ratio— nellen Ueberzeugung, mit jener intuitiven Klarheit, die allein der Wiſſenſchaft einen Anſtoß zum weiteren, wahren Fort— ſchritte geben kann.

Vierter Abſchnitt. periode von Hipparch bis Ptolemäus.

Wir wollen nun die Nachfolger Hipparchs bis zu Ptolemaͤus näher kennen lernen, dem erſten großen Aſtronomen, der ſeit jenem in der Geſchichte dieſer Wiſſenſchaft erſchien, obſchon auch er nur in der Reihe derjenigen ſteht, welche die von Hipparch aufgeſtellte Theorie bloß beftätigt, entwickelt, und in einzelnen Theilen weiter ausgeführt haben. Die übrigen Aſtronomen, die zwiſchen dieſen beiden Männern lebten, drangen ſelbſt auf dem letzten Wege nicht weiter vor, obſchon man mit Recht annehmen darf, daß ſie ihre Arbeiten unter ſehr günſtigen Verhältniſſen ausgeführt haben, da ſie alle ſich der freigebigen Unterſtützung der Aegyptiſchen Könige zu erfreuen hatten ). Die „gött— „liche Schule Alexandriens,“ wie ſie von Syneſius im vierten Jahrhundert genannt wird, ſcheint nur ſehr wenig Männer hervorgebracht zu haben, die im Stande waren, die Wiſſenſchaft vorwärts zu führen, oder auch nur, die Entdeckungen ihres unſterblichen Lehrers zu beſtätigen und weiter zu begründen. Die mathematiſche Klaſſe dieſer Schule wußte ſehr viel zu ſchrei— ben, und offenbar beobachteten ſie auch fleißig: aber ihre Beob— achtungen waren von geringem Werth, und ihre Schriften ſind bloße Expoſitionen der von ihrem Meiſter aufgeſtellten Theorie

1) Delambre, Astr. Anc. II. 240.

170 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

mit den geometriſchen Folgerungen derſelben, ohne weitere Be— mühung, ſie mit den Beobachtungen ſelbſt zu vergleichen. So ſcheint z. B. auch nicht einer dieſer Männer um die Verification der von Hipparch entdeckten Präceſſion der Nachtgleichen ſich be— müht zu haben, bis hinauf zur Zeit des Ptolemäus, volle 250 Jahre nach jenem; eben ſo wenig wird bei den Schriftſtellern dieſer Zwiſchenzeit jener Präceſſion auch nur erwähnt, und Pto— lemäus führt keine einzige Beobachtung aus dieſer Periode an, während er unabläſſig von den Beobachtungen des Hipparch ſpricht, ſo wie von der des Ariſtyll und Timochanis, des Conon und anderer, die noch vor Hipparch gelebt und beobachtet haben.

Demungeachtet iſt die Alexandriniſche Schule, ſo unfrucht— bar ſie auch für die Aſtronomie war, für die literariſche Cultur überhaupt von großem, nützlichem Einfluß geweſen. Viele Schrif— ten derſelben hat uns die Zeit erhalten, obſchon die von Hip— parch ſelbſt verloren gegangen ſind. Wir beſitzen noch das „Ura— nologium“ von Geminus (im Jahre 70 vor Chr. Geb.), eine ſyſtematiſche Zuſammenſtellung der Aſtronomie, in welcher Hip— parchs Theorie mit ihren nächſten Folgerungen gehörig auseinan— der geſetzt wird, und die vorzüglich recht gute Nachrichten von den verſchiedenen chronologiſchen Cykeln enthält, deren Ge— brauch mit der Calippiſchen Periode aufhörte. Eben ſo haben wir noch die „Kreistheorie der Himmelskörper“ von Cleomedes (60 Jahre vor Chr. Geb.), deren vorzüglichſter Theil die „Theorie der Sphäre“ iſt, mit Einſchluß der Folgen der Kugelgeſtalt der Erde. Ein anderes Werk „Ueber die Sphäre“ von Theodoſius aus Bithynien (50 Jahre vor Chr. Geb.) enthält die vorzüg— lichſten Lehren dieſes Gegenſtandes, und iſt lange, ſelbſt in den neuern Zeiten, als allgemeines Lehrbuch gebraucht worden. Hieher gehört auch Menelaus, der etwas ſpäter als jener lebte, und der uns drei Bücher über die Sphären hinterlaſſen hat.

Eine der vorzüglichſten „Deductionen“ jeder geometriſchen Theorie, wie z. B. der von der Sphäre oder von den Epicykeln, beſteht ohne Zweifel in der numeriſchen Berechnung der Reſul— tate dieſer Theorie in einzelnen Fällen. Auf dieſem Wege hat man z. B. auf der epicykliſchen Theorie die Sonnen- und Monds⸗ tafeln erbaut, wie wir bereits oben geſagt haben. Allein dieſer Bau ſetzte eine neue Rechnungsmethode, die Trigonometrie, voraus, durch welche man die Verhältniſſe der Seiten und

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 171

Winkel der Dreiecke beſtimmen konnte. Hipparch ſelbſt hatte ſich dieſe neue Methode entworfen, wie er denn überhaupt der Ur— heber jedes großen Fortſchritts in der Aſtronomie der Alten ge— weſen iſt 2). Er ſchrieb ein Werk in zwölf Büchern „Ueber die „Conſtruction der Tafeln der Sehnen und Bogen,“ da die Grie— chen Tafeln dieſer Art zur Auflöſung der Dreiecke gebrauchten. Die „Lehre von der Sphäre“ erforderte auf ähnliche Weiſe auch eine „ſphäriſche Trigonometrie“, und Hipparch ſcheint auch dieſe zuerſt ausgebildet zu haben ), da er Reſultate vor— trägt, die den Beſitz einer Methode zur Auflöſung ſphäriſcher Dreiecke vorausſetzen. Auch Hypſtikles, ein Zeitgenoſſe des Pto— lemäus, machte mehrere Verſuche zur Auflöſung ſolcher Pro— bleme. Allein es iſt auffallend, daß die erwähnten Nachfolger Hipparchs, nämlich Theodoſius, Cleomed und Menelaus, der Berechnung der Dreiecke, der ebenen wie der ſphäriſchen, nicht einmal Erwähnung thun ), obſchon der letzte, wie man ſagt ), über die Chordentafel ein eigenes Werk geſchrieben hat, das aber verloren gegangen iſt.

Wir werden ſpäter noch oft ſehen, wie vorherrſchend in ge— bildeten Zeiten die Anlage iſt, welche die Schriftſteller zu den Com— mentatoren vorhergegangener Werke macht. Daſſelbe Beſtreben zeigte ſich auch ſchon ſehr früh in der Alexandriniſchen Schule. Aratus “), der gegen 270 vor Chr. Geb. am Hofe des Antigonus, Königs von Macedonien, lebte, beſchrieb die Sternbilder des Himmels in zwei Geſängen, welche die Aufſchrift tragen: „Phaenomena“ und „Prognostica“. Dieſe Gedichte waren wenig mehr, als eine in Verſe gebrachte Darſtellung der Schrift des Eudoxus über den achroniſchen und heliſchen Auf- und Untergang der Sterne. Dieſes Werk wurde ſogar der Gegenſtand eines eigenen Commentars, den Hipparch über daſſelbe verfaßte, der dieß vielleicht für den einfachſten Weg hielt, ſeinen Entdeckungen eine günſtige Auf— nahme bei dem größern Kreiſe der Leſer zu verſchaffen. Die Römer wurden durch drei lateiniſche Ueberſetzungen mit dieſem

2) Delambre, Astr. Anc. II. 37. 3) Delamb. Anc. Ast. I. 117, 4) Id. Ibid. I. 248.

5) Id. Ibid. II. 37.

6) Id. Ibid. I. 74.

172 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

Gedichte des Aratus bekannt gemacht; die erſte derſelben war von Cicero, von deſſen Ueberſetzung noch verſchiedene Fragmente auf uns gekommen find “); die zweite iſt von Germanicus Cäſar, einem der Schwiegerſöhne des Kaiſers Auguſtus, und dieſe iſt beinahe vollſtändig auf uns gekommen; die dritte ebenfalls voll— ſtändige endlich iſt die von Avienus ?). Die „Astronomica“ des Manilius und das „Poeticon Astronomicon“ des Hyginus, beide aus der Zeit des Auguſtus, ſind Dichtungen, welche die erſten Elemente der Aſtronomie mit mythologiſchen Ausſchmückun— gen zu verbinden ſuchen, die aber für die Geſchichte der Aſtro— nomie ohne weiteren Werth ſind. Nahe daſſelbe Urtheil läßt ſich auch über die Erläuterungen und Declamationen von Cicero, Seneca und Plinius fällen, da file uns von keiner Erweiterung der aſtronomiſchen Erkenntniſſe Nachricht geben, und da ſie ſelbſt nicht ſelten nur dunkle und unbeſtimmte Begriffe über die Gegen— ſtände verrathen, die ſie beſchreiben wollen.

Die merkwürdigſten Stellen in den zwei letztgenannten Au— toren find vielleicht noch die rhetoriſchen Ausdrücke, mit welchen ſie ihre Bewunderung für die Entdeckungen in der Phyſik und Aſtronomie mittheilen. In einer dieſer Stellen drückt Seneca ſeine Ueberzeugung von dem unbegrenzten Fortgang der Wiſſen— ſchaft, als die eigentliche Beſtimmung des Menſchen, aus. Ob— ſchon dieſer Glaube nicht viel mehr, als eine unbeſtimmte Mei— nung war, die auf einer willkührlichen Annahme beruhte, ſo führte ſie doch zu manchen andern Vermuthungen, von welchen einige, da ſie zufälliger Weiſe in Erfüllung gegangen ſind, viel Aufſehen gemacht haben. So ſpricht Seneca von den Kometen °): „die Zeit wird kommen, wo dieſe Dinge, die jetzt verborgen ſind, „durch Genie und Fleiß an's Licht gelangen werden, und die Nach— „welt wird ſich verwundern, daß wir ſo alltägliche Dinge nicht „wiſſen konnten.“ Die Bewegungen der Planeten, ſetzt er hin— zu, die ſo verwickelt und ſcheinbar verworren ſind, werden dem—

7) Zwei Copien dieſer Ueberſetzung, mit Zeichnungen ſehr verſchie— dener Zeitalter, des Römiſchen und des Anglo-Sächſiſchen, werden, nach Ottley's Bericht, in der Archaeologia, Vol. XVIII. be: ſchrieben.

8) Montucla, Hist. des Mathem. I. 221.

9) Seneca, Quaest. nat. VII. 25.

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 173

ungeachtet auf beſtimmte Geſetze zurückgeführt, und Andere ſol— len nach uns kommen, die uns auch die Bahnen der Kometen enthüllen werden. Solche Muthmaßungen und Vorausſetzun— gen aber darf man ihrer großen Weisheit wegen nicht eben be— wundern, denn Seneca wurde mehr durch die Phantaſie, als durch wahre Vernunftgründe, zu dieſen Meinungen gebracht. Doch ſollen ſie auch nicht als bloße glückliche Einfälle, ohne alles weitere Verdienſt, betrachtet werden, da ſie uns vielmehr bewei— ſen, daß die Ueberzeugung von der Exiſtenz ſolcher allgemeinen Geſetze, und daß der Glaube an die Möglichkeit der Entdeckung ſolcher Geſetze, immer dann in des Menſchen Bruſt ſich erhebt, wenn er ſich einmal zum Nachdenken über fo erhabene Gegen— ſtände gewöhnt hat.

Eine wichtige practiſche Anwendung der bisher erworbenen theoretiſchen Kenntniſſe wurde durch die bereits erwähnte Kalender— verbeſſerung des Julius Cäſar gemacht, und das Verdienſt dieſer Verbeſſerung gehört recht eigentlich der Alexandriniſchen Schule an, da der Aſtronom Soſigenes, der ſie ausführte, aus Aegyp— ten zu dieſem Zwecke nach Rom berufen wurde.

Fünfter Abſchnitt.

Ervmeffungen.

Nur wenige Verſuche wurden, wie wir bereits geſagt haben, in dieſer Epoche gemacht, die den Zweck hatten, die erſten Ent— deckungen der früheren Aſtronomen von Alexandrien zu erweitern oder auch nur zu beſtätigen. Eine Frage beſchäftigte beſonders die Aufmerkſamkeit der beſſeren Köpfe dieſer und auch wohl aller Zeiten: die Größe der Erde, deren Geſtalt bereits allgemein als kugelförmig angenommen war. Die Chaldäer hatten in einer viel früheren Zeit behauptet, daß ein Mann den Umfang der ganzen Erde binnen einem Jahre zurück— legen würde. Allein dieß war bloß eine auf Nichts gegründete Sage. Der Verſuch des Eratoſthenes aber, dieſes Problem zu löſen, beruhte auf vollkommen richtigen Gründen. Die Stadt Syene lag unter dem Wendekreiſe, weil dort, am Tag der Sonnenwende, alle ſenkrechten Gegenſtände keinen Schatten mehr warfen, und weil ein ſenkrechter Brunnen an dieſen Tagen

174 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

bis an ſeinen Boden von der Sonne beſchienen wurde. Zu Ale— randrien aber war die Sonne, an denſelben Tagen, um die Zeit des Mittags, noch um den fünfzigſten Theil der Peripherie, oder um Grade von dem Zenit entfernt. Beide Städte lagen nahe in demſelben Meridian, und ihre Diſtanz wurde durch die könig— lichen Straßenaufſeher zu 5000 Stadien beſtimmt. Daraus ſchloß Eratoſthenes, daß der Umkreis der Erde 250,000, und der Halb- meſſer derſelben 40,000 Stadien betrage. Ariſtoteles ), der ein Jahrhundert vor Eratoſthenes lebte, ſagt, daß die Geometer den Umkreis der Erde zu 400,000 Stadien angegeben haben, und Hipparch, 150 Jahre nach Eratoſthenes, war der Anſicht, daß das Reſultat des Letzteren um ſeinen zehnten Theil vergrößert, alſo der Umfang der Erde auf 275,000 Stadien gebracht werden ſollte ). Poſidonius, der berühmte Freund Cicero's, machte einen anderen Verſuch zu demſelben Zwecke. Zu Rhodus erſchien der Stern Canopus eben noch am Horizont; zu Alexandrien er— hob er ſich im Mittag ſchon bis zu dem 48ſten Theil der Peri— pherie. Auch dieſe beiden Orte liegen nahe in demſelben Meri— dian, und ihre Diſtanz beträgt 5000 Stadien, woraus Poſidonius den Umkreis der Erde zu 240,000 Stadien ableitete. Wir kön— nen aber alle dieſe Meſſungen nicht als genau betrachten, da wahrſcheinlich weder auf die Meſſung der geradlinigen Diſtanz der beiden Endpunkte, noch auf die des Bogens, welchen ſie zwiſchen ſich enthalten, große Sorgfalt verwendet worden iſt. Endlich iſt auch die Größe des zu dieſen Meſſungen angewende— ten Stadiums nichts weniger, als genau bekannt.

Als die Araber im neunten Jahrhundert die vorzüglichſten Bebauer der Aſtronomie wurden, ſo wiederholten ſie dieſe Meſ— ſungen mit größerer Genauigkeit. Unter dem Kalifen Alma— mon) wurde die weite Ebene von Singiar in Meſopotamien zu dieſer Unternehmung ausgewählt. Die arabiſchen Aſtronomen theilten ſich daſelbſt in zwei Geſellſchaften, von welchen die eine unter der Anführung des Chalid ben Abdolmalic ſtand, während die andere der Leitung des Alis ben Iſa übergeben wurde. Die eine derſelben ging in der Richtung des Meridians nördlich, die

1) Aristot. de Colo. II. ad fin. 2) Plin. Hist. Nat. II. 108. 3) Moniucia. Hist. des Math. I. 357.

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 175

andere füdlich, ihren zurückgelegten Weg durch unmittelbare Anz legung ihrer Meßſtangen bezeichnend, bis jede einen vollen Grad auf der Oberfläche der Erde vollendet hatte. Sie fanden dieſe zwei Grade, den einen 56 und den andern 36 Meilen, die Meile zu 4000 Ellen (Cubitus) gerechnet. Um allen Zweifel über das von ihnen gebrauchte Maaß zu entfernen, wird geſagt, daß damit der ſogenannte ſchwarze Cubitus gemeint ſey, der 27 Zolle enthielt, wo jeder Zoll ſechsmal die Dicke eines Gerſten— korns beträgt. f

Sechster Abſchnitt. Entdeckung der Evection durch Ptolemäus.

Wir haben zum Schluſſe des vorhergehenden Abſchnitts be— reits der Araber erwähnt, weil in der That in der Zeit von Hipparch bis zu den Arabern und ſelbſt viel weiter noch keine große, Epoche machende Entdeckung gefunden wird, mit welcher ſich eine neue Periode der Wiſſenſchaft beginnen ließe. Es wird daher auch belehrender für uns ſeyn, den Charakter dieſer langen Periode bloß im Allgemeinen kennen zu lernen, als ein umſtändli— ches Verzeichniß von allen den unbekannten und meiſtens werthloſen Schriftſtellern und ihren, doch nur geborgten und oft ſelbſt nur halbverſtandenen Meinungen aufzuſtellen. Einer jedoch zeichnet ſich unter dieſer Menge rühmlich aus, ja fein Name iſt ſelbſt berühmter geworden, als der ſeines großen Vorgängers, und ſeine, glücklicherweiſe auf uns gekommene Werke enthalten neunundneunzig Hunderttheile deſſen, was uns von der ganzen griechiſchen Aſtronomie bekannt geworden iſt. Zwar war er nicht der Gründer einer neuen Theorie, aber wir verdanken ihm doch einige ſehr wichtige Fortſchritte in der Beſtätigung, der Verbeſ— ſerung und der weiteren Entwicklung der von Hipparch aufge— ſtellten neuen Theorie. Wir ſprechen von Ptolemäus, deſſen Werk Meyan Zuvrakıs (Große Conſtruction) eine voll— ſtändige Auseinanderſetzung des Zuſtandes der Aſtronomie ſeiner Zeit (d. h. der Zeit von 110 bis 150 nach Chr. Geb. unter der Regierung Adrians und Antonins) enthält. Dieſes Werk iſt unter uns mehr durch einen fremden Namen bekannt, der uns zur Erin— nerung dient, daß wir unſere erſte Kenntniß ſeines Inhalts deu

176 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

Arabern verdanken, die es Al Magisti oder Almagest genannt haben.

Als eine mathematiſche Expoſition der epieykliſchen Theorie und der Anwendung derſelben auf die Bewegungen der Sonne, des Monds und der Planeten und aller übrigen aſtronomiſchen Unterſuchungen iſt es ein glänzendes, dauerndes Denkmal des Fleißes, der Geſchicklichkeit und des Scharfſinns ſeines Verfaſ— ſers. In der That ſetzen alle übrigen aſtronomiſchen Schriften, die von den Alten auf uns gelangt ſind, kaum irgend etwas von Werth zu dem Vorrathe von Kenntniß hinzu, den wir aus dem Almageſt erhalten, und wer immer die Aſtronomie der Griechen kennen lernen will, muß ſich vorzugsweiſe, wenn nicht allein, zu Ptolemäus wenden. Er gibt uns einen vollſtändigen Bericht über die Art, auf welche Hipparch die Hauptpunkte ſeiner Theo— rie feſtgeſetzt hat, einen Bericht, den wir um ſo bereitwilliger von ihm hinnehmen, da er ſelbſt immer nur mit Bewunderung, mit Begeiſterung von ſeinem großen Meiſter ſpricht, dem er und dem auch wir ſelbſt jene glänzenden Entdeckungen verdanken.

In den meiſten Zweigen der Wiſſenſchaft weiß Ptolemäus dem, was Hipparch gethan, noch weſentliche Verbeſſerungen oder genauere Beſtimmungen hinzuzufügen. Wir wollen dieſelben nicht alle umſtändlich anführen, ſondern begnügen uns mit der näheren Anzeige derjenigen zwei Theile des Almageſts, die in der Hip— parchiſchen Theorie wahrhaft neue Fortſchritte bezeichnen, näm— lich der Evection des Monds, und der Planetentheorie.

Die Ungleichheiten des Monds hat man, wie bereits geſagt, durch Hülfe der Epicykel darzuſtellen geſucht, indem man die Halbmeſſer derſelben aus der Beobachtung der Finſterniſſe durch Berechnung zu beſtimmen ſuchte. Aber obſchon die Hypotheſe eines Epicykels hinreichte, den Ort des Mondes am Himmel zur Zeit der Finſterniſſe zu beſtimmen, ſo konnte man doch da— mit noch nicht für andere Punkte der Mondsbahn ausreichen. Ptolemäus bemerkte dieß, als er ſich anſchickte, die Winkel— Diſtanzen des Monds von der Sonne auch außer den Finſter— niſſen zu beobachten. „Dieſe Diſtanzen, ſagt er‘) ſtimmten „wohl zuweilen, aber oft auch wieder nicht mit der epicykliſchen „Theorie überein; aber bei einer näheren Unterſuchung fand ſich

1) Ptolem. Almag. V. 2.

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 227

„bald eine beſtimmte Regel für dieſe Differenz“ 2), die ſpäter von Bullialdus, einem Aſtronomen des ſiebzehnten Jahrhunderts, den Namen der Evection erhielt. Ptolemäus ging ſofort daran, dieſe Ungleichheit durch ſeine Combination von Kreiſen darzuſtellen, und da Hipparch fur die (elliptifche) Mittelpunktsglei— chung des Mondes bereits einen Epicykel gebraucht hatte, der ſich in der Peripherie eines Kreiſes bewegte, deſſen Mittelpunkt die Erde einnahm, ſo ſetzte Ptolemäus die Erde außer den Mittelpunkt des letzten Kreiſes, um dadurch jener Ungleichheit zu genügen, ſo daß er alſo einen Epicykel mit einem excentriſchen Kreis verband. Die Art, wie er dieſe beiden Kreiſe gebrauchte, war etwas verwickelt, verwickelter kann man ſagen, als nöthig war?). Nach ihm bewegt ſich die Erdferne ſeines excentriſchen Kreiſes rückwärts (oder gegen die Ordnung der Zeichen), während der

2) Dieſe Regel läßt ſich jetzt am einfachſten auf folgende Art aus— drücken. Bezeichnet a die Länge des Monds weniger der der Sonne, und iſt b die Anomalie des Monds vom Perigeum ge— zählt, ſo iſt jene Ungleichheit oder die ſogenannte Evection gleich 13 Sin (2 a—b). Für die Neu- und Vollmonde iſt a gleich o oder 180%, alſo die Evection gleich 1.3 Sin b. Für die Zeit der beiden Viertel aber iſt a gleich 90 oder 270, alſo auch die Evection + 1.3 Sin b. Die elliptiſche Mittelpunktsgleichung des Monds aber iſt für alle Punkte der Bahn gleich 6%3 Sin b. Die griechiſchen Aſtronomen vor Ptolemäus beobachteten den Mond nur zur Zeit der Finſterniſſe, oder im Neu- und Voll— mond, wo ſie demnach für die Summe dieſer zwei größten Ungleichheiten des Monds (63 1.3) Sin b oder Sin b finden mußten, und da ſie dieſe letzte Größe für die, von der Excentri— cität der Mondsbahn abhängige Mittelpunktsgleichung des Monds anſahen, fo fanden fie aus dieſer zu kleinen Gleichung auch eine zu kleine Excentricität der Mondsbahn. Ptolemäus aber, welcher der erſte, den Mond auch in den Quadraturen (oder den Vierteln) beobachtete, fand für die Summe jener Ungleichheiten in dieſen beiden Zeiten (6.3 + 1.3) Sin b oder 7% Sin b, alſo wieder die Excentricität der Mondsbahn hier, in den Vierteln, eben ſo viel zu groß, als man ſie zur Zeit der Finſterniſſe zu klein ge— funden hatte. Er ſchloß daraus, daß die Excentricität der Monds— bahn veränderlich ſey, was aber nicht gegründet iſt. L.

3) Hätte Ptolemäus, umgekehrt, die Mittelpunktsgleichung des Monds durch einen excentriſchen Kreis, und die Evection durch einen Epicykel vorgeſtellt, ſo würde die Darſtellung ſeiner Monds—

bewegung viel einfacher geworden ſeyn. Whewell. 1. 12

178 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs—

Mittelpunkt des Epicykels nahe zweimal geſchwinder auf der Pe— ripherie des excentriſchen Kreiſes vorwärts fortſchreitet, ſo daß der Mittelpunkt des Epicykels in jedem Monat zweimal ſich um den excentriſchen Kreis bewegt. Durch dieſe Vorrichtung wurde aller— dings die Bewegung des Monds ſo weit richtig dargeſtellt, daß jene zweite Ungleichheit, oder daß die Evection die Lange des Mondes zur Zeit des Neu- und Vollmondes am meiſten vermin— derte, und wieder im Gegentheile in den Vierteln am meiſten vermehrte.

Die Entdeckung der Evection und ihre Darſtellung durch die epicykliſche Theorie war, aus mehr als einem Grunde, ein ſehr wichtiger Schritt in der Aſtronomie. Wir wollen dieſes hier etwas näher angeben.

1) Sie führte zuerſt auf die Vermuthung, daß die Bewe— gungen der himmliſchen Körper mehreren verſchiedenen Un— gleichheiten unterworfen ſeyn mögen; daß, wenn man auch eine Gattung derſelben entdeckt oder auf eine beſtimmte Regel zurück— gebracht hat, dann wieder andere ſichtbar werden; daß die Ent— deckung einer ſolchen Regel auch wohl zugleich auf die Entdeckung von Abweichungen dieſer Regel führen könne, welche letztere dann wieder neue Regeln erforderten; daß man überhaupt, bei der Anwendung der Theorie auf die Beobachtungen, nicht bloß die— jenige beſtimmte Erſcheinung, welcher jene Theorie entſprechen ſoll, ſondern auch noch häufig andere, gleichſam übrigblei— bende Erſcheinungen findet, denen durch jene Theorie nicht ent— ſprochen wird, und die daher ganz außer den Grenzen der bis— herigen Berechnung ſtehen; und daß ſonach die Natur nicht immer ſo einfach und regelmäßig iſt, wie ſie unſere Hypotheſen darſtellen, ſondern daß wir von ihr ſelbſt immer weiter vorwärts zu mehr und mehr verwickelten Phänomenen, gleichſam zu einer An— häufung von Regeln und Verhältniſſen, geführt werden. Eine ſolche Thatſache, wie die Evection, dargeſtellt durch eine ſolche Hypotheſe, wie die des Ptolemäus, war ſehr geeignet, einem aufmerkſamen Aſtronomen den Muth zu benehmen, wahre Naturgeſetze aus bloßen ideellen Anſichten, oder nur aus einigen wenigen Beob— achtungen ableiten zu wollen. 5 229) Die Entdeckung der Evection hatte eine Wichtigkeit, die aber erſt ſpät hinterher erkannt wurde, indem fie als die erſte jener zahlreichen Ungleichheiten des Mondes auftrat, die ihren

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Urſprung in der ſtörenden Kraft der Sonne haben. Dieſe Ungleichheiten wurden nur nach und nach entdeckt, und ſie führ— ten endlich zu der Aufſtellung des Geſetzes der allgemeinen Gra— vitation. Die früheſte Ungleichheit des Monds, welche die Alten kennen lernten, kam aus einer ganz anderen Quelle, nämlich aus derſelben, aus welcher auch die Ungleichheit der Bewegung der Sonne entſteht, aus der Bewegung derſelben in einer El— lipſe, ohne alle Rückſicht auf äußere Störungen. Dieſe erſte Ungleichheit, wie ſie genannt wurde, iſt jetzt unter der Be— nennung der Mittelpunktsgleichung bekannt)), und dieſe kömmt nicht nur der Sonne und dem Monde, ſondern auch allen Planeten ohne Ausnahme zu, da ſich alle dieſe Körper in El— lipſen bewegen; während die Evection dem Monde ausſchließend angehört, und, wie geſagt, aus einer ganz andern Quelle, näm— lich aus den Störungen kömmt, welche der Mond in der Bewe— gung um ſeinen Hauptplaneten, um die Erde, von der Sonne erleidet. Die Entdeckungen der andern großen Ungleichheiten des Monds, der Variation und der ſogenannten jährlichen Gleichung ſchließen ſich jener der Evection durch Ptolemäus unmittelbar an, obſchon fie erſt viele Jahrhunderte nach Ptole— mäus von Tycho Brahe im ſechzehnten Jahrhunderte gemacht worden ſind. Die vorzüglichſte Urſache dieſer langen Verzögerung lag in der Unvollkommenheit der aſtronomiſchen Inſtrumente jener Zeiten.

3) Die epicykliſche Hypotheſe war ſehr geeignet, dieſe neue Entdeckung in ſich aufzunehmen. Blos ein zweiter Epicyfel zu dem erſten gefügt, war, wie wir geſehen haben, hinreichend,

4) Dieſe Mittelpunktsgleichung iſt der Unterſchied des Ortes des Planeten in ſeiner elliptiſchen Bahn von demjenigen Orte, den der Planet einnehmen würde, wenn er ſich in derſelben Umlaufs— zeit gleichförmig in einem Kreiſe bewegen würde, deſſen Mittel— punkt die Sonne einnimmt. Man nennt den letzten, bloß imas ginären Planeten, den mittleren, während der eigentliche, in der Ellipſe ſich bewegende, der wahre Planet genannt wird. Kennt man alſo für jede gegebene Zeit die Länge des mittleren Planeten, die aber wegen ihrer gleichförmigen Bewegung ſehr leicht zu finden iſt, ſo darf man nur zu ihr die Mittelpunkts— gleichung hinzufügen, um ſofort auch die geſuchte Länge des wahren Planeten in ſeiner Bahn zu erhalten. L.

8

180 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

dieſe Ungleichheit darzuſtellen. Auch wurden alle, reellen und eingebildeten, übrigen Entdeckungen von Ptolemäus bis zu Co— pernikus hinauf, dieſer Theorie der Epicykel, wenn wir ſo ſagen dürfen, einverleibt, wie denn dieß auch von Tycho mit der von ihm entdeckten Variation und jährlichen Gleichung in der That geſchehen iſt. Auch Copernikus hatte, wie wir bereits oben bemerkten, die Epicykel in ſeiner neuen Theorie unverändert bei— behalten, und, was beſonders merkwürdig erſcheinen mag, ſelbſt Newton) hatte noch die Bewegung des Mondsapogeums mit— telſt eines Epicykels zu erläutern geſucht. Als ein Mittel, die beobachteten Ungleichheiten jeder Art in der Bewegung der Himmelskörper darzuſtellen, und der eigentlichen Berechnung zu unterwerfen, war demnach dieſe epieykliſche Theorie ſehr geeignet, der Aſtronomie ſelbſt in der Folgezeit noch ſehr wichtige Dienſte zu leiſten, ſo große Fortſchritte und Erweiterungen ſie auch in dieſer Zeit erhalten mochte. Auch war dieſe Theorie im Grunde, wie be— reits geſagt, identiſch mit dem noch jetzt gebräuchlichen Verfah— ren, nach welchem die Aſtronomen alle dieſe Ungleichheiten durch beſtimmte Reihen von Kreisfunktionen auszudrücken pflegen.

4) Obſchon aber dieſe Doctrin von den Epicykeln und ercen— triſchen Kreiſen, als bloße Hypotheſe, ſehr zuläßig, und als Mittel zur Darſtellung der einzelnen himmliſchen Bewegungen ſehr angemeſſen erſchien, ſo verlor ſie doch durch die wiederholten, ſich immer mehr häufenden Anwendungen, deſto mehr die Geſtalt einer eigentlich wiſſenſchaftlichen Theorie, je öfter ſie gebraucht und in immer neuen Nothfällen zu Hülfe gerufen werden mußte. Wenn ſie auch jene Ungleichheiten, den ſehr befchränften For— derungen der Aſtronomen jener Zeiten gemäß, mit genügender Genauigkeit darſtellte, ſo gab ſie doch keine getreue Anſicht von der eigentlichen Natur dieſer Bewegungen, und noch weniger von den Urſachen derſelben. Je mehr dieſe Doctrin, mit den ſteigenden Bedürfniſſen der Wiſſenſchaft, erweitert und ausge— bildet wurde, deſto verwickelter und verworrener wurde ſie zu— gleich, da ſie doch, wie dieß bei jeder wahren Theorie ſtets der Fall iſt, immer einfacher werden, immer klarer und deut— licher hervortreten ſollte. Wenn eine Gattung von Bewegungen eine gewiſſe Anordnung und Verbindung dieſer Epicykel hervor—

5) Newton, Princip. Lib. III. Prop. XXXV.

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 181

gerufen hatte, fo mußte dieſe wieder abgeändert und modificirt, ja oft gänzlich verworfen werden, ſobald eine andere, neue Gat— tung von Bewegungen hinzukam, die ebenfalls wieder ihre be— ſonderen Erklärungen durch dieſelben Epicykel verlangten. Man konnte durch dieſes Hülfsmittel die Längen, und allenfalls auch die Breiten der Planeten mit einigermaßen befriedigender Ge— nauigkeit darſtellen, allein von den Parallaxen und von den ſcheinbaren Durchmeſſern dieſer Planeten ließ ſich, durch dieſe epicykliſche Doctrin, keine Rechenſchaft geben. In der That hät— ten auch die Griechen, wie wir bereits erwähnt, jene Doctrin als falſch und unſtatthaft gänzlich verwerfen müſſen, wenn nur ihre Inſtrumente gut genug geweſen wären, die Diſtanzen des Monds von der Erde, durch Hülfe des ſcheinbaren Durchmeſſers deſſelben, mit einiger Verläßlichkeit zu beſtimmen ). Gewiß nur die Unvollkommenheit der Inſtrumente und ſonach der gan— zen aſtronomiſchen Beobachtungskunſt jener Zeiten war die Ur— ſache, daß dieſe Theorie der Epicykel ſo viele Jahrhunderte durch ihre Herrſchaft in der Wiſſenſchaft erhalten konnte.

Siebenter Abſchnitt.

Beſchluls der Geſchichte der griechifchen Aftronomie.

Wir ſollten nun zu dem bereits erwähnten zweiten großen Schritte übergehen, durch welchen Ptolemäus ſein Verdienſt um die Wiſſenſchaft begründet hat, zu ſeiner Beſtimmung der Theorie der Planeten durch Hülfe der Epicykel. Da aber dieſer Gegenſtand, ſo intereſſant er auch für ſich ſelbſt iſt, in der Geſchichte der Wiſſenſchaft keine neue Epoche begründet, ſo wollen wir nur kurz bei ihm verweilen. Alle Planeten bewe— gen ſich bekanntlich in Ellipſen um die Sonne, ſo wie auch der Mond ſich um die Erde, und, ſcheinbar wenigſtens, die Sonne

6) Die Veränderung des ſcheinbaren Durchmeſſers des Mondes iſt ſo groß, daß ſie uns ſelbſt mit ſehr mittelmäßigen Inſtrumenten nicht mehr entgehen könnte. Dieſer ſcheinbare Durchmeſſer be— trägt in der Erdnähe 2010, und in der Erdferne 1762 Secunden, alfo 248 Secunden oder 4 Minuten s Secunden weniger, als in dem erſten Punkte. L.

182 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

ſelbſt ſich um dieſe unſere Erde bewegt. Die Planeten werden alſo, fo wie der Mond und die Sonne, einer Mittelpunkts⸗ gleichung unterworfen ſeyn, da dieſe bloß von der Bewegung in der Ellipſe kömmt. Dieſe erſte Ungleichheit wird demnach bei den Planeten, ſo wie dieß oben für die Sonne und den Mond geſchehen iſt, durch einen excentriſchen Kreis vorgeſtellt wer— den können. Für die andere, größere und auffallendere Un— gleichheit aber, nach welcher dieſe Planeten bald vor-, bald rück— wärts gehen, wurde von den Alten der eigentliche Epicykel zu Hülfe gerufen, der ſich auf jenem excentriſchen Kreiſe bewegen ſollte. Die Beſtimmung der Größe dieſer Excentricität des letzten Kreiſes, und die Angabe des Orts der Erdnähe und Erdferne jener planetariſchen Bahnen war nun die Aufgabe, die Ptole— mäus zu löſen ſich bemühte, da Hipparch, wie wir geſehen haben, nicht die zu einer ſolchen Unternehmung nothwendigen Beobach— tungen vorgefunden hatte.

Die Beſtimmungen der Excentricität hatten aber, in der Anſicht des Ptolemäus, etwas Eigenthümliches, auf das wir hier beſonders aufmerkſam machen müſſen. Die elliptiſche Be— wegung der Planeten hat um die Sonne Statt; Ptolemäus aber ſah dieſe Bewegungen als von der Sonne unabhängig an, indem er ſie bloß auf die Erde bezog, und auf dieſe Weiſe war die— jenige Excentricität, die er zu beſtimmen hatte, eigentlich die Summe von zwei Excentricitäten, von der der Planeten- und von jener der Erd-Bahn. Ptolemäus ſtellte dieß auf die herge— brachte Weiſe durch ſeinen Mechanismus eines excentriſchen Kreiſes (des excentriſchen Deferenten, wie er dieſen Kreis nannte), und durch einen Epicykel dar, deſſen Mittelpunkt auf der Pe— ripherie jenes Deferenten, jedoch ſo ſich bewegte, daß dieſe Be— wegung des Mittelpunkts des Epicykels, nicht um den Mittel— punkt des Deferenten, ſondern um einen andern Punkt dieſes deferirenden Kreiſes, gleichförmig angenommen wurde. Dieſer andere Punkt wurde der Aequant genannt. Ohne hier weiter in dieſen Gegenſtand einzudringen, mag es genügen, zu ſagen, daß es ihm durch eine glückliche Combination dieſer deferirenden Kreiſe mit ihren Epicykeln gelang, jene beiden Ungleichheiten der planetariſchen Bewegungen mit einer für ſeine Zeiten genü— genden Genauigkeit darzuſtellen. Indem er ſeine eigenen Beob— achtungen mit denen ſeiner Vorgänger (z. B. mit den Beobach—

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tungen der Venus durch Timocharis) verglich, gelang es ihm auch, die Dimenſionen und Stellungen dieſer Kreiſe für alle Planeten gehörig zu beſtimmen ).

Indem wir hier unſere Nachrichten von den Fortſchritten der Griechen in der Aſtronomie ſchließen, bemerke ich bloß, daß es meine Abſicht dabei war, nur die vorzüglichſten Gegenſtände anzugeben, auf welchen der eigentliche Fortſchritt der Wiſſen— ſchaft bei dieſem Volke beruhte, nicht aber alle einzelnen Theile des Gegenſtandes umſtändlich auszuführen. Einige Parthieen jener alten Theorieen, z. B. die Art, auf die Breite des Monds und der Planeten Rückſicht zu nehmen, ſind demjenigen, was bereits oben geſagt wurde, im Allgemeinen analog, und bedürfen daher hier keiner beſonderen Anführung. Andere Theile der griechiſchen Aſtronomie, wie z. B. die Refraction, nahmen bei dieſem Volke keine klare, beſtimmte Geſtalt an, und können höchſtens als entfernte Vorſpiele zu den Entdeckungen

1) Ptolemäus beſtimmte die Halbmeſſer und die Umlaufszeiten ſeiner beiden Kreiſe für die Planeten auf folgende Weiſe. Für die ſogenannten unteren Planeten, d. h. für Merkur und Venus, nahm er den Halbmeſſer des Deferenten gleich dem Halbmeſſer der Erdbahn, und den des Epicykels gleich dem der Planetenbahn an. Für dieſelben Planeten verhielt ſich, nach ſeiner Voraus— ſetzung, die Umlaufszeit des Planeten in ſeinem Epicykel zur Umlaufszeit des epicykliſchen Mittelpunkts im Deferenten, wie die ſynodiſche Revolution des Planeten zu der tropiſchen Revo— lution der Erde um die Sonne. Für die drei oberen Plane- ten, Mars, Jupiter und Saturn aber war der Halbmeſſer des Deferenten gleich dem Halbmeſſer der Planetenbahn, und der Halbmeſſer des Epicykels gleich dem Halbmeſſer der Erdbahn; die Umlaufszeit des Planeten in feinem Epicykel aber verhielt ſich zur Umlaufszeit des epicykliſchen Mittelpunkts im Deferenten, wie die ſynodiſche Revolution des Planeten zur tropiſchen Revo— lution deſſelben Planeten. Ptolemäus hätte offenbar ſchon durch eine einzige dieſer beiden Vorausſetzungen die geometriſche Bewe— gung aller Planeten den Beobachtungen gemäß darſtellen konnen, aber er ſcheint dieſe Duplicität der Darftellung gewählt zu ha— ben, um bei den untern ſowohl, als auch bei den oberen Plane— ten dem Epicykel ſtets den kleineren der beiden Halbmeſſer geben zu können, oder um ſtets den kleineren Kreis auf dem größeren, nicht umgekehrt, ſich bewegen zu laſſen. L.

184 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

der Neueren in dieſem Punkte betrachtet werden. Ehe wir aber zu dieſer neuen Geſchichte der Aſtronomie übergehen, müſſen wir noch einen langen, immer merkwürdigen, obſchon zugleich be— trübenden Weg durch weite, unfruchtbare Wüſten zurücklegen.

Achter Abſchnitt. Altronomie der Araber.

Die eben erwähnte Wüſte dehnt ſich von Ptolemäus bis zu Copernicus aus. Nach jenem ſchritt die griechiſche Aſtronomie nicht mehr vorwärts, und von ihm bis zu Copernicus war aller Geiſt der wiſſenſchaftlichen Entdeckung in tiefen Schlaf verſunken. Während dieſer langen Zeit von vierzehn Jahrhunderten ) er— ſchienen bloß die Araber als die Träger der aſtronomiſchen Kenntniſſe, als die Mittler, welche die alte Zeit der Wiſſenſchaft mit der neuen verbanden. Sie erhielten ſie von den Griechen, ihren Beſiegten, und ſie überlieferten ihre geſammelten Schätze eben— falls den Eroberern Weſteuropas, als hier die Liebe zur Wiſſen— ſchaft und die Fähigkeit, ſie zu faſſen, wieder erwacht war. In dieſer langen Zwiſchenzeit hatte aber das koſtbare Erbe der Vorzeit nur wenige Veränderungen erlitten. Die arabiſchen Aſtronomen waren getreue, aber unbeholfene Diener, die das ihnen anver— traute Gut zu bewahren, aber nicht zu vermehren wußten. In der Geſchichte der arabiſchen Aſtronomie findet man nur wenige Züge, die auf einen Fortgang der Wiſſenſchaft deuten; aber da dieſes Wenige als eine unmittelbare Folge der griechiſchen Aſtronomie betrachtet werden muß, ſo wollen wir einige Züge der— ſelben kurz anzeigen.

Als das Zepter der weftaflatifchen Länder in die Hände der Abaſſidiſchen Caliphen ?) überging, erhob ſich Bagdad, „die Stadt des Friedens“, zu Pracht und Bildung, und dieſe Stadt wurde der Hauptſitz der Wiſſenſchaft unter den Nachfolgern Alman— ſors des Siegreichen, ſo wie es Alexandrien unter den Nachfolgern des großen Macedoniers geweſen war. Die Aſtronomie

1) Ptolemäus ſtarb gegen d. J. 150 nach Chr. Geb. und Copernicus am 24. Mai 1543. 2) Gibbon, Hist. of the decl. X. 31.

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 185

vor allen gewann die Gunſt der Mächtigen und die Liebe der Gebildeten im Volke, und alles Gute, deſſen ſie ſich unter ihren neuen Freunden rühmen konnte, ſcheint feinen Urſprung nur in dem Schutze, und alſo in der perſönlichen Zuneigung der ſara— ceniſchen Fürſten genommen zu haben. Unter ſolchen Ermun— terungen mußte, in allen den Theilen der Wiſſenſchaften, Großes geſchehen, die von dem Reichthume und dem Einfluſſe der Mäch— tigen abhängen. Man überſetzte die Werke der Griechen; man errichtete Inſtrumente von ungewöhnlicher Größe, baute Stern— warten und unterhielt Beobachter, und da die neuen Beobach— tungen die Fehler der bisher beſtehenden Tafeln erkennen lehrten, ſo wurden ſofort auch neue Tafeln entworfen. Noch unter Alman— ſor wurden die Schriften der Griechen aus allen Gegenden ge— ſammelt und die meiſten derſelben in die arabiſche Sprache über— ſetzt ?). Unter derſelben Regierung erſchien auch die Ueberſetzung der MeyaAn Zvvraäıs des Ptolemäus, die fortan den Namen Almageſt erhielt, von Iſaak ben Homain.

Der größte arabiſche Aſtronom aber kam erſt ein halbes Jahrhundert ſpäter. Dieß iſt Albategnius, wie er gewöhnlich genannt wird, oder eigentlich Muhammed ben Geber Albatani, der, wie der letzte Name ſagt, aus Batan, einer Stadt Meſo— potamiens ) ſtammte. Albategnius, ein ſyriſcher Prinz, hatte feine Reſidenz Aracte oder Racha in Meſopotamien, doch ſtellte er auch einen Theil ſeiner Beobachtungen in Antiochien an. Sein Werk iſt in der lateiniſchen Ueberſetzung auf uns gekommen. „Nachdem ich, ſchreibt er, die Syntaxis des Ptolemäus geleſen „und die Nechnungsmethoden der Griechen kennen gelernt hatte, „leiteten mich meine eigenen Beobachtungen darauf, daß jene „wohl noch einige Verbeſſerungen erleiden könnten.“ Er fand es nöthig, zu den Bemerkungen des Ptolemäus noch einige Zuſätze zu machen, ſo wie dieſer es mit denen des Abrachis (Hipparchs) gethan hat. Demnach gab Albategnius eigene Tafeln der Sonne, des Monds und der Planeten heraus, die lange Zeit nach ihm in großem Anſehen ſtanden. ö

Allein dadurch wurde die Herausgabe anderer Tafeln nicht aufgehalten. Unter dem Kalifen Hakem (gegen d. J. 1000 nach

3) Gibbon, X. 36. 4) Delambre, Astr. du moyen Age. 4.

186 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

Chr. Geb.) erſchienen die Tafeln des Ebn Junis für die Sonne, den Mond und die Planeten, die deßhalb die Hakemitiſchen Ta— feln genannt worden ſind. Bald darauf gab Arzachel von Toledo ſeine Tolediniſchen Tafeln heraus. Im dreizehnten Jahrhundert gab Naſir Eddin ſeine Geſtirntafeln heraus, die er dem Tarta— riſchen Fürſten Ilchan gewidmet hatte, und die deßwegen die Ilchaniſchen Tafeln hießen. Noch zwei Jahrhunderte ſpäter er— ſchien Ulugh Beigh, der Enkel Timur-khans (oder Tamerlan's) ein Fürſt aus den Ländern jenſeits des Oxus. Die Tafeln dieſes eifrigen practiſchen Aſtronomen werden ſelbſt von den neuen Aſtro— nomen als ſehr wichtig für jene Zeiten angeführt. Sie wurden von Hyde im Jahre 1665 herausgegeben. Dieſe Reihen von aſtronomiſchen Tafeln, denen wir noch mehrere andere hinzufü— gen könnten, führt uns bis hinauf zu den alphonfinifchen Ta— feln, die zuerſt im Jahr 1252 unter den Auſpicien von Alphons X., Königs von Caſtilien, erſchienen, und durch die wir uns ſchon der Grenze der neueren Aſtronomie nähern. Dieſe letzten Tafeln wurden durch einen Verein von fünfzig Aſtronomen zuſammen— gebracht, unter welchen ſich Alragel und Alkabiz aus Toledo beſonders auszeichneten. Sie erſchienen gedruckt zu Venedig 1483 und berichtiget ebendaſ. 1524 und zu Paris 1545.

Allen dieſen Tafeln wurde die epicykliſche Theorie des Ptole— mäus zu Grunde gelegt, und jene größtentheils ohne alle Ab— änderung. Die Araber fühlten wohl zuweilen die übermäßige Verwicklung dieſer Lehre, die ſie ſo eifrig ſtudirten, aber ihr Geiſt hatte nicht die Kraft der Erfindung, durch welche ſich die Aſtronomen Europas in ſpäteren Zeiten ihren eigenen Weg zu einem einfacheren und beſſeren Syſteme zu bahnen wußten. So ſagt Alpetragius im Eingange zu ſeiner „Theorie der Planeten“, „daß er anfangs über die Verwicklung dieſes Syſtems ganz er— „ſtaunt und verwirrt war, daß aber ſpäterhin Gott die Gnade „hatte, ihm das verborgene Geheimniß ſeiner Planetenbahnen „zu offenbaren, ihm die Eſſenz ſeiner Wahrheit kund zu geben, „und ihm die wahre Geſtalt der planetariſchen Bewegungen auf: „zudecken.“ Sein Syſtem beſtand, nach Delambres) in der Anz nahme einer ſpiralförmigen Bewegung der Planeten von Oſt gen Weſt, ein Einfall, den doch ſchon Ptolemäus widerlegt hatte. Ein anderer arabiſcher Aſtronom, Geber von Sevilla, weiß an

5) Delambre, Hist. du Moyen Age. S. 7.

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 187

Ptolemäus fehr viel zu tadeln “), aber ohne ihn weſentlich ver— beſſern zu können. Uebrigens ſind die arabiſchen Beobachtungen im Allgemeinen ſchätzenswerth, da ſie mit beſſern Inſtrumenten und mit mehr Geſchicklichkeit gemacht ſind, als die griechiſchen, und da ſie uns zugleich dienen, die Stätigkeit oder auch die Veränderlichkeit mehrerer Elemente kennen zu lernen, wie die der Schiefe der Ekliptik, der Neigung der Mondsbahn u. f.

Doch müſſen wir einiger Theorieen der Araber beſonders ers wähnen. Die wichtigſte derſelben iſt die Entdeckung der Bewe— gung der Erdnähe durch Albategnius. Er hatte für ſeine Zeit die Länge des Periheliums der Erdbahn gleich 82 Grade gefun— den, während es von Ptolemäus in die Länge von 65 Graden geſetzt wurde. Der Unterſchied von vollen 17 Graden konnte unmöglich auf Rechnung von unvollkommenen Beobachtungen geſetzt werden, obſchon ſich dieſer Punkt allerdings nicht gut mit Schärfe beſtimmen läßt. Der Schluß davon, auf die Beweglichkeit dieſes Punktes, iſt ſo einfach, daß man wohl nicht mit Delambre übereinſtimmen kann, der das Recht auf dieſe Entdeckung dem Albategnius verkümmern oder ganz abſprechen will, bloß weil es derſelbe nicht ausdrücklich ausgeſprochen hat.

Um zu dieſer Entdeckung zu gelangen, ſchloſſen übrigens die arabiſchen Aſtronomen ganz richtig aus ihren eben ſo richtigen Be— obachtungen. Aber ſie waren nicht immer ſo glücklich. Arzachel fand im eilften Jahrhundert die Länge des Perihels der Erdbahn um einige Grade geringer, als Albategnius, der gegen das Jahr 880 lebte, woraus jener ſofort den Schluß zog, daß das Perihel in dieſer Zwiſchenzeit rückwärts gegangen ſey. Allein wir wiſſen jetzt, da wir die Theorie dieſer Bewegung ſehr wohl kennen, daß ſich die Sache ganz anders verhält Albategnius, deſſen Ver— fahren weniger genau war, als das des Arzachel, hatte ſich um eben jene Differenz geirrt, und das Perihel für ſeine Zeit um ſo viel zu groß angegeben, woraus dann Arzachel auf ein Rück— wärtsgehen deſſelben irriger Weiſe geführt worden iſt. Auf ſol— chen fehlerhaften Beobachtungen wurde dann eine wunderliche, ebenfalls ganz falſche Hypotheſe erbaut, die unter dem Namen der Trepidation der Fixſterne lange Zeit im Schwunge blieb. Arzachel war auf den Einfall gekommen, daß ein ein— faches Rückwärtsgehen der Aequinoctialpunkte auf der feſten

6) Delambre, Hist. du Moyen Age. S. 180,

188 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

Ekliptik (wie ſie von Hipparch aufgeſtellt wurde) nicht hinreiche zur Erklärung der ſcheinbaren Bewegungen des geſtirnten Him— mels, ſondern daß man zu dieſem Zwecke noch zwei kleine Kreiſe von nahe acht Graden im Halbmeſſer anwenden müſſe. Dieſe Kreiſe hatten ihre Mittelpunkte in den beiden Aequinoctialpunkten, und ihre Peripherien ſollte der erſte Punkt des Widders und jener der Wage während nahe 800 Jahren zurücklegen. Auf dieſe Weiſe würden die wahren Nachtgleichpunkte 400 Jahre durch rückwärts, und dann eben ſo lange wieder vorwärts gehen, wobei auch noch die Breite der Fixſterne eine Aenderung erleiden müßte. Obſchon aber eine ſolche Bewegung ganz grundlos und blos eingebildet iſt, ſo fand ſie doch viele Anhänger unter den Aſtronomen, und wurde ſelbſt noch in der erſten Ausgabe der Alphonſiniſchen Tafeln angewendet, ſpäter aber, wie fie es ver— diente, gänzlich verworfen.

Eine wichtige Ausnahme von dem allgemeinen Vorwurf, daß die Aſtronomie unter den Arabern keine Fortſchritte machte, wurde erſt vor Kurzem von Sedillot gefunden ). Es ſcheint, daß Mohammed Abul Wefa al Buzdjñani, ein arabiſcher Aſtro— nom des zehnten Jahrhunderts, der um das Jahr 975 zu Bagdad beobachtete, eine neue große Ungleichheit des Monds entdeckt habe, dieſelbe, welche jetzt unter dem Namen der Variation bekannt iſt und für deren erſten Entdecker man bisher Tycho Brahe gehalten hat. In Folge dieſer Ungleichheit iſt die Geſchwindig— keit des Monds am größten im Neu- und Vollmond, und am kleinſten in den beiden Vierteln, ſo daß alſo der Mond vom erſten Viertel bis zum Vollmond hinter ſeinem mittlern Orte iſt; daß er im Vollmond ſelbſt mit dieſem mittlern Orte über— einſtimmt; daß er ferner von dem Vollmond bis zu dem letzten Viertel vor ſeinem mittlern Orte iſt, und ſo weiter, woraus dann ſofort folgt, daß die größte Wirkung dieſer Anomalie in die Octanten, d. h. in diejenigen Punkte feiner Bahn fällt, die in der Mitte zwiſchen den vier Vierteln liegen. (vergl. S. 177) Ein Theil des „Almageſts“ von Abul Wefa iſt in der k. Bibliothek zu Paris aufbewahrt. Nachdem er in demſelben die zwei ſchon früher bekannten Ungleichheiten des Monds, die Mittelpunkts—

7) Sedillot, Nouvelles Recherches sur I’hist. de l’Astron. chez les

Arabes Nouv. Journal asiatique. 1835. Novemb. N 95. (Vergl. Libri, Hist. des sciences mathem. en Italie. S. 122. 154. 401. u. f. L).

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gleichung und die Evection aufgezählt hat, gibt er dem neunten Ab— ſchnitte ſeines Werks die Aufſchrift: „Ueber eine dritte Anomalie „des Monds, Muhazal oder Prosneuſis genannt.“ Wenn der Mond, ſagt er hier, in der Erdnähe oder Erdferne iſt, wo jene zwei erſten Anomalien verſchwinden, ſo fand ich durch meine Beob— achtungen, daß der Mond, wenn er zugleich nahe im Gedritt— ſchein oder im Geſechstſchein mit der Sonne ſtand, ſtets um Grad von feinem berechneten Orte entfernt war. „Ich ſchloß „daraus,“ fährt er fort, „daß dieſe Anomalie von den beiden „anderen unabhängig iſt, was allein durch eine Abweichung des „Durchmeſſers des Epicykels von dem Mittelpunkte des Thier— »kreiſes verurſacht werden kann.“

Man wird hier bemerken, daß die Entdeckung dieſer neuen Ungleichheit des Monds auf einem reell-inductiven Weg gemacht worden iſt. Die Beobachtungen zeigten eine Abweichung von der bisherigen Berechnung, und man wußte diejenigen Fälle, wo dieſe Abweichung ſtatthatte, gehörig auszuwählen und auf die wahre inductive Weiſe unter einander zu vergleichen. Der dadurch gemachte Fortſchritt war allerdings nicht eben ſehr groß, denn Abul Wefa ſcheint bloß die Exiſtenz, nicht aber die wahre Größe, noch auch das Geſetz dieſer Ungleichheit gefunden zu haben. Demungeachtet gibt uns dieſe Entdeckung einen höhern Begriff von dem wahren wiſſenſchaftlichen Geiſt der Araber, als alles übrige, was wir von ihnen kennen gelernt haben.

Unter ſeinen Zeitgenoſſen und nächſten Nachfolgern aber ſcheint dieſe Entdeckung keine beſondere Aufmerkſamkeit auf ſich gezogen zu haben, wenigſtens war ſie längſt ſchon vergeſſen, als Tycho Brahe, ſechs Jahrhunderte ſpäter, dieſe ſchöne Entdeckung noch einmal machte. Man kann nicht umhin, dieſen Umſtand als einen Beweis der geiſtigen Beſchränktheit der arabiſchen Periode zu betrachten. Die Gelehrten unter den Arabern waren ſo wenig daran gewohnt, die Wiſſenſchaft als etwas Fortſchrei— tendes zu betrachten, daß ſie nicht einmal den Muth hatten, an diejenigen Entdeckungen zu glauben, die ſie ſelbſt gemacht hatten, und daß ſie durch die Feſſel der Autorität ſelbſt dann noch zurückgehalten wurden, wenn ſie, was ſelten genug eintrat, ihren griechiſchen Meiſtern einige Schritte vorangeeilt waren.

Da die Araber ihre ganze aſtronomiſche Theorie (bis auf die wenigen ſo eben bezeichneten Ausnahmen) von den Griechen genommen hatten, ſo nahmen ſie auch von denſelben die mathe—

190 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

matiſchen Methoden an, durch deren Hülfe man zu jenen Theo— rien gekommen war. Die Arithmetik und Trigonometrie, die zwei vorzüglichſten dieſer Hülfsmethoden, wurden in den Händen der Araber bedeutend verbeſſert. In der erſten beſonders leiſteten ſie der ganzen gebildeten Welt durch die Einführung der noch jetzt unter uns gewöhnlichen Zahlzeichen, ſtatt den unbeholfenen der Alten, einen Dienſt, den man nicht leicht zu hoch anſchlagen kann ). Dieſe Zahlzeichen ſcheinen indiſchen Urſprungs zu ſeyn, wie die Araber ſelbſt anerkannten, und ſonach würden ſie keine Ausnahme von dem oben aufgeſtellten Vorwurf begründen, daß nämlich der wiſſenſchaftliche Erfindungsgeiſt den Arabern nicht vorzugsweiſe beigewohnt habe ).

8) Montucla, Hist. de Math. I. 376.

9) Dieſe Erfindung, nach welcher jedes Zahlzeichen einen doppelten Werth hat, einen abſoluten und einen relativen, welcher letzte durch die Stellung des Zeichens ausgedrückt wird, ſcheint ſo ein— fach, und iſt uns allen bereits ſo gewöhnlich geworden, daß wir kaum mehr im Stande find, den hohen Werth derſelben gehörig zu ſchätzen. Um ſich davon zu überzeugen, darf man nur fragen, in welchem Zuſtande ſich wohl unſere Mathematik und mit ihr alle diejenigen Wiſſenſchaften befinden würden, welche die Mathematik zu ihrer Grundlage haben, wenn wir unſere Rechnungen noch auf die Weiſe machen müßten, auf welche ſie die alten Römer mit ihren Zahlzeichen gemacht haben, wo z. B. M taufend, D fünf: hundert, Ceinhundert, L fünfzig u. ſ. f. bedeutete. Die hohe Wichtigkeit dieſer Erfindung muß uns aber auch zugleich auf eine zweite Frage führen, nämlich auf das Volk oder auf den einzelnen Mann, dem wir ein ſo großes werthvolles Geſchenk verdanken. Unſer Verf. ſchreibt ſie, wie wir geſehen haben, den Indiern zu, von welchen ſie die Araber zu uns gebracht haben ſollen. Dieß war auch bisher in der That die am meiſten verbreitete Meinung. Allein erſt in unſern Tagen iſt dieſer Gegenſtand wieder zu einer neuen, ernſteren Discuſſion gekommen, und es wird dieſem Orte nicht unangemeſſen ſeyn, die vorzüglichſten Reſultate jener Unter— ſuchung kurz mitzutheilen. Libri, in feiner Hist. des sciences mathem. en Italie. Vol. I. S. 20. (Paris 1838) ſchreibt die Erfin— dung unſeres gegenwärtigen arithmetiſchen Syſtems den Hindus zu, von welchen ſie Leonard Fibonacci (wie er in einer Contraction ftatt Filius Bonacci heißt) erhalten und in das europäifche Abend: land eingeführt haben ſoll. Fibonacci war ein Kaufmann in Piſa, und ſein erſtes und vorzüglichſtes Werk iſt der „Tractatus de l’Abaco, das er im Jahr 1202 geſchrieben hat. Er erzählt darin,

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 191

Eine andere arabiſche Verbeſſerung, zwar von untergeord— netem Rang, aber doch von großem Nutzen, verdanken wir dem Albategnius. Er führte die Sinus oder die halben Chorden in die Trigonometrie ein, ſtatt den ganzen, viel unbeholfnern, welche die Griechen gebraucht hatten. Ueber den Urſprung des

daß er Aegypten, Syrien, Griechenland und die Provence durch— reist, und in jenen Ländern die indiſche Rechnungsart kennen ge— lernt hat, die er für ganz vorzüglich halte, und daher hier ſeinen Landsleuten mittheilen wolle. Er legt, und mit Recht, ſehr viel Gewicht darauf, daß man mit dieſer ſeiner von den Hindus er— lernten Methode, durch bloß zehn Zeichen, alle Zahlen, auch die größten, ſchreiben könne. Cum his itaque novem figuris, ſagt er, et cum sino o, quod arabice Zephirum appellatur, seribitur qui- libet numerus. Dieſe und die übrigen mathematiſchen Schriften des Fibonacci ſind nie gedruckt worden, ſondern ſie liegen noch jetzt in dem Staube der Bibliotheken als Manuſcripte begraben.

Gegen dieſe Anſicht Libri's, daß wir unſer heutiges Zahlen: ſyſtem von den Indiern, wenn auch vielleicht erſt durch Vermitt— lung der Araber, erhalten haben, hatte ſchon früher Chasles (in den Mém. couronnés par l’Acad. de Bruxelles, Vol. XI. Brüſſel 1837) Einwendungen gemacht, und dieſelben erſt neuerlich noch zu bekräftigen geſucht. Nach Chasles (m. ſ. Comptes rendus de l’Acad. de Paris 1839. Janvier 21) ſtammt unſer gegenwärtiges Zahlenſyſtem nicht aus dem Oriente, ſondern aus Griechenland, und zwar von Pythagoras oder doch von der Pythagoräiſchen Schule. In der Geometrie des Boethius oder Boecius (geb. 470, geſt. 526 nach Ch. G.) befindet ſich nämlich eine hieher gehörende Stelle über den ſogenannten Abacus oder Tabula Pythagorica welche man, nach Chasles, bisher ganz unrichtig verſtanden haben ſoll. Chasles entdeckte ein bisher unbekanntes Manuſcript dieſes Werks, wo dieſer locus classicus ganz verſtändlich unſere gegenwärtige Rechnungsart auseinanderſetzt und ſelbe auch als der Pythagoräi— ſchen Schule gehörig angibt. Chasles fand auch noch, daß dieſe Rechnungsart zugleich dieſelbe iſt, die Gerbert (Pabſt Sylveſter II.) um das Jahr 1000 unſerer Zeitrechnung vorgetragen hat. Drei bisher ganz unbekannte Manuſcripte der Leidner, und eines der k. Pariſer Bibliothek ſollen dieſe Thatſachen über allen Zweifel er— heben, und Chasles ſchließt daraus, daß dieſe Rechnungsart uns weder von den Arabern noch von den Indiern gelehrt worden, fondern daß fie, ſchon vor unferer Bekanntſchaft mit den Arabern, wenigſtens unter den Gelehrten in Europa, bekannt und aufge— nommen war, daß ſie aber vor dem XIII. Jahrhundert nicht in den eigentlichen Volksgebrauch überging, und daß ſie endlich

192 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

Worts Sinus hat man allerlei Vermuthungen. Die wahrſchein— lichſte iſt vielleicht die, nach welcher Sinus die wörtliche Ueber— ſetzung des arabiſchen Gib (Falte) iſt, fo daß die zwei Hälften der Chorde, zuſammengefaltet, den Sinus bilden.

Das größte Geſchenk, welches die Wiſſenſchaft den Arabern verdankt, iſt, daß ſie von dieſem Volke, während einer langen Periode von Finſterniß und Verwilderung, aufrecht erhalten wurde, ſo daß Europa, als einmal die Tage des Unheils zu Ende gingen, die Wiſſenſchaft aus den Händen dieſes Volkes ungeſchwächt wieder entgegen nehmen konnte. Wir werden ſpä— ter ſehen, wie der Genius Europa's mit dieſem koſtbaren Erbe verfuhr, nachdem er es einmal wieder erhalten hatte.

Es wird nicht unangemeſſen ſeyn, am Ende dieſes Buches die vorzüglichſten Züge der Literaturgeſchichte dieſes Volkes zuſammen zu ſtellen. Es wurde bereits geſagt, daß die Araber ihre Kenntniſſe meiſtens nur aus den Schriften der Griechen genommen haben. Almamon (7 833 nach Ch. G.) hatte dem griechiſchen Kaiſer, Michael dem Stammler, einen Frieden dic— tirt, deſſen eine Hauptbedingung war, den Arabern eine Anzahl griechiſcher Manuſcripte auszuliefern. Dieſe Ueberſetzungen wurden bald ſehr beliebt unter den Nachfolgern der erſten Cha— lifen, aber es iſt zu beklagen, daß die meiſten derſelben nicht ſowohl aus dem griechiſchen Original, als vielmehr aus frühern, meiſtens ſehr fehlerhaften ſyriſchen Ueberſetzungen gemacht wor— den ſind, und daß auch die Araber ſelbſt bei ihren Arbeiten mit

ſelbſt unter den Gelehrten des VI. bis VIII. Jahrhunderts wieder in eine beinahe allgemeine Vergeſſenheit gekommen iſt. Aus die— ſer Urſache hätten ſich auch die vielen Ueberſetzer der arabiſchen Schriften im XIII. Jahrhundert mit den algebraifchen und arith— metiſchen Schriften der Araber beinahe gar nicht befaßt, was ſie gewiß gethan haben würden, wenn ſie eine ſo vortreffliche, neue Art zu zählen darin gefunden hätten, oder wenn ihnen dieſe Art zu zählen nicht ſchon anders woher bekannt und ſelbſt ſchon ge— läufig geweſen wäre. Damit ſtimme nun auch das oben erwähnte Manuſcript der k. Bibliothek zu Paris überein, das von Radulph, Biſchof von Laon, verfaßt iſt, der mit ſeinem Bruder, dem be— rühmten Anſelmus, in Paris und Laon Profeſſor war, und i. J. 1132 geſtorben iſt, und der in dieſem Manuſcripte ſelbſt ſagt, daß dieſes Syſtem der Numeration bei den Abendländern ganz in Vergeſſenheit gekommen, und erſt von Gerbert und Hermann wieder aufgeweckt und in den Gebrauch eingeführt worden iſt. L.

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 193

ſehr wenig Auswahl und Kritik verfuhren. Außer den griechiſchen Schriftſtellern über Medicin, die ſich ihrer beſondern Vorliebe erfreute, waren es vorzüglich die Philoſophen Griechenlands, und unter dieſen vor allen Ariftoteles und Plato, mit welchen ſich die Araber beſchäftigten. Der erſte ſchien ihrem fpeculativen, und der zweite ihrem ſchwärmeriſchen Talente zuzuſagen, und ſie ſuchten bald beide, ſo heterogen ſie auch ſeyn mochten, nicht nur mit ſich ſelbſt, ſondern auch mit den Dogmen ihres Isla— mismus zu vereinigen ). Leider hat der Haß der Spanier gegen die Mauren die arabiſchen Schriften ſehr ſelten gemacht. Indeß ſieht man aus den immer noch ſehr zahlreichen Ueber— reſten derſelben, daß ſie ſich vorzüglich mit der Auslegung des Ariſtoteles beſchäftigten, deſſen Anſehen ſie über alles verehrten. Alfarabi (oder Abu Naſr Ibn Tarkhan F 954), der den Namen des zweiten Metaphyſikers erhielt (der erſte war und blieb Ariſto— teles) rühmte ſich, die Bücher der Phyſik des Stagiriten vierzig— mal, und die Rhetorik deſſelben zweihundertmal durchgeleſen zu haben, und Averroes (oder Abul Walid F gegen 1200) behaup— tete, daß die Natur erſt bei der Geburt des Ariſtoteles vollendet worden ſey. Alkendi (Jacob ben Iſak Alkendi F 880), vorzugs— weiſe der „Philoſoph“ genannt, trug durch ſeine Vorleſungen über den Ariſtoteles, die er zu Baſra hielt, ebenfalls viel zu der Hochachtung ſeiner Landsleute für die alten Griechen bei. Avicenna (Abu Ali al Hoſain Ibn Sina 1036), der „Fürſt der Aerzte“ genannt, galt zugleich unter den Arabern als der

1) Aus dieſer Quelle entſtanden unter den Arabern die Motaſalim, eine heterodoxe Secte von Gelehrten, die mit den erſten Gnoſtikern der Chriſten viel Aehnlichkeit hatte, und die auch, wie dieſe, der gegen ſie ausgebrochenen Verfolgung unterlag. Johannes Chry— ſorrhoas aus Damaskus (+ 790) ſcheint dazu vorzüglich beigetragen zu haben, da er, der Gründer des erſten eigentlichen Syſtems einer chriſtlichen Theologie, die philoſophiſchen Werke des Ariſtoteles in das Syriſche überſetzte oder vielmehr auf feine Weiſe umarbei— tete, die dann von den Arabern begierig aufgefaßt und weiter geführt wurde. Dieſer Johannes Damascenus galt für einen der vorzüglichſten Theologen der morgenländiſch-griechiſchen Kirche, und ſtand lange Zeit im Dienſte eines Chalifen, ſtarb aber als Mönch im Kloſter Saba bei Jeruſalem. Seine Werke gab Lequien zu Venedig 1748 in 2 Foliobänden heraus.

Whewell. I. 13

194 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

größte ariſtoteliſche Philoſoph, ſo wie er auch vielleicht unter allen Schriftſtellern jener Zeiten den bedeutendſten Einfluß auf die ſogenannten Scholaſtiker der folgenden Jahrhunderte aus— geübt hat. Algazel (Abu Ahme del Gaſali + 1127), ein berühm— ter Eiferer für den Islamismus, erkärte ſich auf das heftigſte gegen alle Philoſophie in feiner „Destructio omnium systema- tum,“ welcher Schrift Averroes feine „Destructio Destructionis“ entgegenſetzte. Abu Dſchufur Ibn Tophail (aus Sevilla, + 1176) wurde durch feinen philoſophiſchen Roman, Hai ebn Voktan oder (Philosophus autodidaetus) berühmt, das ſchönſte Product der arabiſchen Literatur, das wir kennen gelernt haben. Er trieb die Verehrung für Ariſtoteles fo weit, daß er die Formen (Schemen) deſſelben für geiſtige Kräfte, mit eigener Intelligenz begabt, für beſondere Naturweſen erklärte, deren Complex die Weltſeele bildet, welche letzte Gott ſelbſt zur Quelle und zum Mittelpunkte hat. Unter den Schülern des oben erwähnten Averroes war der berühmteſte Moimonides (Moſes ben Maimon + 1205), der gefeiertſte Schriftſteller der Juden im Mittelalter, von ſeinen Zeitgenoſſen unter dem Namen „der „Ruhm des Orients und die Leuchte des Abendlandes“ bekannt?).

Die Araber vor Mahomed ſcheinen ſeit den älteſten Zeiten für ſich abgeſchloſſen, ohne Zuſammenhang mit den übrigen Völkern, ihre nächſten Gränznachbarn ausgenommen, gelebt zu haben, gegen welche letzten ſie ihre Unabhängigkeit männlich zu behaupten wußten. Aber in den Nomaden Arabiens ſchlummerten ſeltene Kräfte, deren Erwachen zuerſt ihr Schwert, und dann ihren Glauben mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit über einen großen Theil der Erde verbreitete. Dieſer Glaube war früher Sabäismus. Arm an Kenntniſſen, ohne roh zu ſeyn, befreundeten ſie ſich mit der ſie umgebenden Natur und beob— achteten die Geſtirne des Himmels, die ihnen als Wegweiſer zu ihren nächtlichen Wanderungen dienten. Die Stämme der Beduinen hatten Sagen und genealogiſche Ueberlieferungen, und die Geſänge ihrer Dichter waren ihnen Ergötzung zugleich und Volksunterricht ). Dieſes der ganzen übrigen Erde unbekannte

2) Ein ausſührlicheres Verzeichniß der arabiſchen Philoſophen findet man in: Tydemann’s conspectus operis Ibn Chalicani, de vitis illustrium virorum. Leiden 1809.

3) Sylvest. de Sacy. in Mem. des Inscript. Vol. 50. S. 247.

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 195

Hirtenvolk erhob ſich, durch die Kraft eines einzigen Mannes, plötzlich zu einer erobernden weltbeherrſchenden Nation. Der Koreſchite Abul Kaſem Mohammed aus Mekka (geb. 20. April 571, geſt. 8. Juni 632) kündigte ſich, ergriffen von dem Glau— ben an höhere Offenbarung, in der Nacht der Geheimniſſe (am 27. Ramaſan 609) als göttlichen Geſandten an. Alle Hinder— niſſe und Gefahren beſiegend erreichte er ſein hohes Ziel und hinterließ ſeinem Volke das noch jetzt im Orient allgemein ver— ehrte und heilige Buch, den Koran, deſſen 114 Suren Moham— meds erſter Nachfolger, der Chalife Abubekr (im J. 633) gefams melt hatte, und der unter den zweiten Chalifen Othman (650) all— gemein bekannt gemacht wurde. Die Zeit dieſer erſten Chalifen war den kriegeriſchen Stürmen geweiht und ohne Ertrag für Geſittung und Wiſſenſchaft. Auch unter den Ommajaden, an welche das Chalifat von Mekka nach Damaskus gelangte, blieb die gei— ſtige Bildung der Nation noch auf einer niedern Stufe ſtehen, da noch immer ſoldatiſcher Enatismus vorwaltete, der ſeinen Schrecken nach Aſien, Afrika und Europa verbreitete, und dem, weit von allen wiſſenſchaftlichen Bedürfniſſen entfernt, der Koran genügte. Aber mit der Dynaſtie der Abbaſſiden (i. J. 750) beginnt das Zeit— alter der arabiſchen Literatur. Dieſe Eroberer waren für höhere Geiſtesbildung ſehr empfänglich. Sie hatten an dem genußreichen Leben der Bewohner Syriens, Griechenlands und Aegyptens Geſchmack gefunden, und der durch reiche Beute zunehmende Wohlſtand hatte, unter den Großen beſonders, den Sinn für Frieden, für Kunſt und Wiſſenſchaft, und für eine veredelte Behaglichkeit des Lebens erweckt. Die Prunkſucht der Chalifen in ihrer glanzvollen Reſidenz zu Bagdad begünſtigte dieſen Hang. Almanſun (753 bis 775) berief ſyriſche Aerzte aus der Schule der Neſtorianer an ſeinen Hof, unter welchen ihn beſonders Georg Bochtiſchua auf den reichen Gehalt der medieiniſchen Literatur der Griechen aufmerkſam machte. Dieß gab Anlaß zur ſchnel— len Vermehrung der ſchon früher angefangenen ſyriſchen Ueber— ſetzungen aus dem Griechiſchen, und bald darauf zur Uebertragung derſelben aus dem Syriſchen in die Landesſprache der Araber. Auch wurden die mit Medicin in näherer Verbindung ſtehenden griechiſchen Werke über Philoſophie, Naturkunde, Aſtronomie und Mathematik immer mehr berückſichtigt. Es bildeten ſich, dem neuen Bedürfniß gemäß, Unterrichtsanſtalten und wiſſen— 13°

196 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

ſchaftliche Academien im großen Style. Der Hof des durch Tapferkeit, Gerechtigkeit und Liebe zur Wiſſenſchaft ausgezeich— neten Chalifen Harun al Raſchid (786-808) wurde der Haupt⸗ ſitz dieſer Anſtalten, deren Glanz ſich bald über ganz Südaſien verbreitete. Noch freigebiger und kunſtliebender erwies ſich ſein Sohn, Al Mamun (808-833), der überall, beſonders in Gries chenland, literariſche Schätze ſammeln, und Gelehrſamkeit und Gelehrte jeder Art in ſeinen hohen Schutz nehmen ließ. Unter ihm und feinem Nachfolger, dem Chalifen Motaſem (833841) wurden förmliche große Ueberſetzungs-Geſellſchaften errichtet, die griechiſche unter Aufſicht des ſyriſchen Arztes Joannes Meſpe, dem Lehrer Mamun's, und die perſiſche unter Joannes ebn Batrik. Andere ähnliche Unterrichtsanſtalten und Academien wurden, außer der Hauptſtadt Bagdad, auch in Kufa, Damas— kus, Basra, Bokhara, Samarkand und in anderen großen Städten des Reichs errichtet, wie denn die Nebenländer des weit verbreiteten Reiches mit dem Chalifenſitze in wiſſenſchaft— licher Thätigkeit wetteiferten, die gleichſam zum Hofton und zum gewöhnlichen Bedürfniß der Mächtigen und Großen gewor— den war. So fand Kunſt und Wiſſenſchaft Pflege und Achtung in Perſien ſeit dem achten Jahrhundert unter der Herrſchaft der Barmekiden, Somaniden und Buiden; in Aegypten unter den Ajubiden, Bahoriden und Abbaſſiden; in Nordafrika unter den Aglabiden und anderen Herrſcherfamilien. Am folge— reichſten für Europa war der Anbau der Literatur und Kunſt in Spanien unter den Ommajaden (vom Jahre 755 bis 1038), beſonders unter den Chalifen Abderrahman III. und Hakem II. Zu dieſer Zeit war es, und nicht, wie viele glauben, unter Ferdinand und Iſabella, wo Amerika entdeckt wurde, zu jener erſten Zeit war es, daß Spanien ſein wahrhaft goldenes Jahr— hundert und die höchſte Stufe ſeines Glanzes erreicht hatte. Damals goß Spanien, von arabiſchem Feuer erwärmt, ſein geiſtiges Licht in reichen Strömen aus über das ganze übrige, in finſterer Nacht der Barbarei liegende Europa, und ſelbſt über den fernen Oſten, aus welchem dieſes Licht zuerſt gekommen war. Hier fügte der glänzende Hof der Ommajaden zu dem Rufe der Waffen noch den Ruhm der Kunſt und Wiſſenſchaft, und aus allen Theilen Europa's, ja ſelbſt aus den entfernteſten Ländern Aſiens wanderte man nach der Academie von Co r- dova. Nie vielleicht wurde die Wiſſenſchaft und jede Blüthe

Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 197

des menſchlichen Geiſtes höher geſchätzt und mehr geehrt, als am Hofe Hakems II., und der Ruf ſeiner Academie zu Cordova ließ den der längſt verſchollenen zu Alexandrien, ließ ſelbſt den Ruf der kurz zuvor von Harun und Mamun geſtifteten Hoch— ſchulen von Bagdad, Kufa, Baſſora u. a. weit hinter ſich zurück. Auch war zu keiner anderen Zeit Spanien intelligenter und reicher und glücklicher, und nie waren daſelbſt die Finanzen, die Verwaltung, die Induſtrie, der innere und äußere Handel, der Landbau und ſelbſt der Zuſtand der öffentlichen Straßen beſſer beſorgt, als in dieſer glänzenden Zeit. Dieſe moham— medaniſche Academie zu Cordova hat ſich ſogar den Ruhm an— geeignet, der Chriſtenheit einen Pabſt gegeben zu haben, der durch ſein eigenes Vorbild, durch ſeine Schriften und durch ſeine Erziehung von Kaiſern und Königen, mehr als irgend ein an— derer, auf die Kultur des damals der Bildung jeder Art ſo hochbedürftigen chriſtlichen Europa's auf das wohlthätigſte ein— gewirkt hat. Pabſt Sylveſter II. (+ 1003), das Kind armer Landleute in der Auvergne, hatte den Schatz ſeiner ausgebreiteten Kenntniſſe an dieſer hohen Schule Spaniens geſammelt, um ihn dann der übrigen, nicht bloß im Geiſte, ſondern auch in der Wahr— heit von ihm beberrfchten chriftlichen Welt mitzutheilen. Aber nicht bloß in Cordova, der prachtvollen Reſidenzſtadt Abderrahmans und Hakems, ſondern auch in den vielen andern blühenden Städten Spaniens, in Granada, Toledo, Sevilla, Valencia, Mur— cia, Almeria, Malaga u. a. gab es weltberühmte Hochichulen, Academien und reiche Bücherſammlungen. In Hakems Pallaſt jedoch verſammelten ſich die berühmteſten Männer ſeiner Zeit, und hier wurde auch die Sammlung der vorzüglichſten Schriften ſeines und aller vorhergehenden Jahrhunderte aufgeſtellt, die er mit großen Koſten durch eigene Abgeſandte in den größten Städten von Afrika, Aegypten, Syrien, Arabien und Perſien entweder aufkaufen, oder, wo dieß unmöglich war, abſchreiben ließ. Auf dieſe Weiſe ſammelte er eine Maſſe von 600,000 Manuſcripten, deren Katalog allein 44 Bände faßte. Von den vielen in ſeine Nähe gezogenen Gelehrten forderte er nichts, als die Been— digung ihrer angefangenen Werke, indem er es an nichts mangeln ließ, um ihnen die Mittel und die nöthige Muſe zu ihren Unternehmungen zu ſichern ). Dieß war die Nationalbildung,

4) M. ſ. über die Geſchichte der arab.-ſpan. Literatur Murphry, history of the mahomedan. Emp. in Spain; Casiri biblicth. Arab.

198 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs.

dieß die Nationalwohlfahrt Spaniens im neunten Jahrhundert und welches iſt das Schickſal dieſer beiden immer unzertrennli— chen Gefährtinnen in demſelben Lande zu unſerer Zeit? Beide theilen ihr Loos mit den gegenwärtigen Unterrichtsanſtalten und Akademien dieſes Reiches; ſie ſind alle entflohen, um der Noth, dem Elende und der Barbarei ihre Stelle zu überlaſſen. So wahr iſt, was Leibnitz ſagte, daß ein Volk ſchon durch die Errichtung wiſſenſchaftlicher Anſtalten ſich dem Bunde der civiliſirten Nationen beigeſellt und dadurch allein in den Kreis derjenigen eintritt, die an der allgemeinen geiſtigen Entwicklung und daher auch an dem Glücke der Menſchheit wahren und lebendigen Antheil nehmen. L).

Ehe wir dieſen Gegenſtand für immer verlaſſen, wollen wir noch bemerken, daß die Aſtronomie noch jetzt in unſerer Sprache häufige Spuren ihres Aufenthalts unter den Arabern an ſich trägt. Dahin gehört z. B. unſer Zenith und der ihm gegenüberſtehende Punkt, das Nadir; die dem Horizonte pa— rallelen Kreiſe oder Almikantharats; ſo wie Azimut, Alhidade u. m. a. Mehrere Sterne tragen noch jetzt arabiſche, obſchon oft ſehr verſtümmelte Namen, wie Aldebaran, Rigel, Fomalhaut, und dahin gehört auch das Wort Almanach, vielleicht das am meiſten unter uns gebräuchliche Wort von allen, die aus der arabiſchen Zeit der Aſtronomie auf uns über— gegangen find ).

Hisp.; Aſchbach, Geſchichte der Ommajaden 1830; Mitteldorf de institutis litt. in Hisp. Gölting. 1811.

5) Es iſt nicht meine Abſicht, alle Bemühungen der anderen Natio— nen anzuführen, die, ſo berühmt ſie auch ſonſt geweſen ſeyn mögen, dem großen Syſtem der europäiſchen Kultur fremd ge— blieben ſind. Sonſt mußte ich auch von der Aſtronomie einiger orientaliſcher Völkerſchaften ſprechen, z. B. von den Chineſen, von denen Montucla (Hist. du Math. I. 465) ſagt, daß fie ſchon im dritten Jahrhundert unſerer Zeitrechnung die erſte Ungleichheit (die Mittelpunktsgleichung) des Monds, und die eigene Bewe— gung der Fixſterne (oder die Präceſſion der Nachtgleichen) entdeckt haben ſollen, da doch die Griechen dieſe Entdeckungen ſchon fünf Jahrhunderte früher gemacht haben.

Viertes Buch.

Gefchichte der phyfitchen Wiltentchaften im Mittelalter, oder Darftellung des ſtationären Zeitraums der inductiven Wilfentchaften.

Und ſchüchtern flieht die Wahrheit

Zur alten Höhle, über der

Sich caſuiſt'ſche Berge thürmen;

Und die Philoſophie, die früher bis

Zum Himmel ragte, trocknete

Auf ihre letzten Gründe ein,

Und war nicht mehr zu ſehen.

Die Phyſik ging zur Metaphyſik betteln,

Und ſelbſt die Mathematik mußte

Zum Myſticismus fliehen. Doch vergebens!

Der Geiſt der Wiſſenſchaft erkrankt,

Stiert uns mit ſcheuem Blicke an,

Dreht ſchwindelnd ſich und raſ't und ſtirbt. Dunciade. B. IV.

Einleitung.

Wir gelangen nun zu der nähern Betrachtung jenes langen und unfruchtbaren Zeitraums, der die wiſſenſchaftliche Thätig— keit des alten Griechenlands von der des neuern Europa's trennt, und den wir deßwegen die ſtationäre Periode der Wiſſenſchaften ge— nannt haben. Es würde zwecklos ſeyn, der verſchiedenen Formen zu erwähnen, in welche die Menſchen dieſer Zeit die Entdeckungen früherer Jahrhunderte vorzutragen geſucht haben, oder die geringen Fortſchritte aufzuzählen, die ſie ſelbſt, entblößt von aller wahren Philoſophie, gemacht haben mögen. Wir begnügen uns, die allgemeinen, charakteriſtiſchen Züge von dem Geiſte und den Sitten dieſer Zeit aufzuſtellen, um dadurch, ſo weit dieß mög— lich iſt, die Fehler und Irrthümer derſelben aufzudecken, und ſo wenigſtens einige Kenntniß von den Urſachen der Finſterniß und der Unfruchtbarkeit dieſer Periode zu erhalten.

Wir haben ſchon öfter geſagt, daß ein wahrer Fortgang in der Wiſſenſchaft immer die Vereinigung von zwei Dingen er— fordert: beſtimmte und klare Begriffe von dem Gegenſtande, um den es ſich handelt, und richtige Anwendung derſelben auf ſpecielle Thatſachen oder auf Beobachtungen. In der Periode, zu welcher wir nun übergehen, waren aber alle Begriffe der Menſchen über wiſſenſchaftliche Gegenſtände nur dunkel und ver— worren, und die geiſtige Anlage, dieſe Begriffe mit den Be— obachtungen in irgend eine beſtimmte Harmonie zu bringen, ſchien gänzlich zu fehlen. Dieſe ihre Beobachtungen, wenn ſie deren je gemacht hatten, blieben daher, unter jenen dunklen Begriffen, für ſie ohne Nutzen. Dieſes Uebel wurde noch durch eine beſondere moraliſche Eigenſchaft in dem Charakter jener Zeiten vergrößert: durch eine ſclaviſche Feigheit des Denkver—

202 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

mögens auf der einen Seite, das nicht umhin konnte, ſich nach einer höheren intellectuellen Macht umzuſehen, und durch Unverträglichkeit alles Widerſpruchs auf der andern Seite. Dazu kam noch eine eigene Art von enthuſiaſtiſcher Stimmung, die, einmal in die Unterſuchung eingeführt, alle geiſtigen Opera— tionen gewiſſen ganz verdrehten und illuſoriſchen Ideen unterzu— ordnen ſtrebt.

Dieſe charakteriſtiſchen Kennzeichen unſeres Zeitraums, die Unklarheit der Begriffe, die Servilität des Geiſtes, ſeinen Hang zur Intoleranz und endlich ſeine enthuſiaſtiſchen Verirrungen wollen wir nun in den vier Capiteln des folgenden Buchs, über die Dunkelheit der Ideen, über den commentatoriſchen Geiſt, über den Dogmatismus und über den Myſticismus des Mittel— alters, kurz zuſammenſtellen.

Erſtes Capitel. Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

Jener feſte und ſichere Beſitz von beſtimmten und klaren allgemeinen Begriffen, der zu jeder wahren Erkenntniß erfordert wird, war das charakteriſtiſche Kennzeichen derjenigen unter den Alten, welche als die Schöpfer oder Gründer der einzelnen Wiſſen— ſchaften, die ſich unter ihnen erhoben, betrachtet werden. Dieſe Entdecker im Reiche der Wiſſenſchaften mußten ſich vor allen andern lichte und ſtetige Aperceptionen von ſolchen allge— meinen Verhältniſſen zu eigen machen, wie z. B. Raum und Zeit, Ordnung, Urſache und dergleichen ſind, und ſie mußten ſie auch mit Präciſion und vollkommener Fertigkeit den äußeren Erſcheinungen, d. h. den Beobachtungen anzupaſſen verſtehen. Dieſe wiſſenſchaftlichen Begriffe waren nothwendiger Weiſe viel ſchärfer und beſtimmter, als die des gewöhnlichen Lebens, und ſie mußten zugleich dem wiſſenſchaftlichen Manne geläufig genug ſeyn, da die damit verbundenen Worte eigentlich die Sprache bilden, in welcher er denken ſoll. Auf dieſe Weiſe wird der Entdecker neuer Wahrheiten zu Lehren geführt, welche von den

Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 203

anderen nur in dem Maaße angenommen und befolgt werden, als auch dieſe den Grundbegriff der Sache eben ſo ſcharf auf— faſſen und mit ihm eben ſo vertraut werden können, als jener es durch ſeine eigene Kraft geworden iſt. So bemerkte Hipparch, indem er ſich von den Bewegungen und den Combinationen der Bewegungen, die ſeine epicykliſche Theorie conſtituiren, einen klaren Begriff aufgeſtellt hatte, daß die bloße relative Länge der vier Jahreszeiten ſchon hinreichend iſt, um daraus die eigent— liche Geſtalt der Sonnenbahn zu beſtimmen; und fo wurde auch Archimed, nachdem er ſich einmal in den Beſitz eines klaren Begriffs von dem mechaniſchen Druck geſetzt hatte, in den Stand geſetzt, nicht nur, aus dieſem Begriffe, die Eigenſchaften des Hebels und die des Schwerpunkts abzuleiten, ſondern auch zu— gleich die Wahrheit dieſes ſeines Princips in der Vertheilung des Drucks bei den flüſſigen Körpern zu erkennen, auf welchen, in letzter Inſtanz, die geſammte Hydroſtatik beruht.

Unter dieſen klaren Ideen allein gedeihen und blühen die Wiſ— ſenſchaften, und wo immer jene fehlen, wird die Wiſſenſchaft matt, ſtationär oder retrograd. Wenn die Menſchen nur die Worte der Wiſſenſchaft gedankenlos wiederholen, ohne klare Begriffe damit zu verbinden; wenn die geiſtige Auffaſſung dieſer Worte unbeſtimmt und düſter wird; wenn ſie der wiſſenſchaft— lichen Lehre nur als einer fremden Tradition, nicht aus eigener Ueberzeugung, beiſtimmen, wenn ſie ihr nur glauben, ſtatt ſie ſelbſt zu prüfen, wenn endlich das ganze Syſtem der Wiſſen— ſchaft nur als eine Sammlung von Meinungen, nicht aber als ein jedem menſchlichen Verſtande zur immer neuen Selbſtunter— ſuchung vorgelegtes Geſetzbuch betrachtet wird, durch welches die geſammte Natur in der That regiert wird dann kann es natürlich nicht anders kommen, als daß, unter ſolchen blinden Nachbetern, das Licht der Wahrheit, das jene großen Vorgänger angezündet haben, wieder ganz erlöſcht und verloren geht. Sie ſind viel zu ſchwach, die Fackel der Wahrheit, an die ſie ihre ohnmächtigen Hände legen wollen, lebendig zu erhalten; ſie können es nicht einmal hindern, wenn dieſe Fackel wieder in die Höhlen, aus welchen ſie gebracht worden iſt, ſich zurück— zieht, oder auch wohl gänzlich erliſcht. !

Dieſe geiftige Schwäche aber, dieſe wankende Unbeſtimmtheit alles Gedankens, iſt in der Periode, an deren Eingang wir

204 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

nun ſtehen, vorherrſchend, und ſie iſt es auch, die den eigent— lichen Character dieſes ganzen Zeitraums bildet. Wir wollen einige ſpecieile Züge derſelben näher betrachten.

1. Sammlung von Meinungen.

Daß in dieſer Periode bloße Sammlungen von Meinungen und Anſichten der Phyſiker und Aſtronomen eine ſo vorzügliche Stelle in der Literatur einnehmen konnten, ſchon dieß allein iſt ein Beweis, daß ſich der menſchliche Geiſt zu unbeſtimmten und ſchwankenden Begriffen hinneigte. Dieß gilt ſelbſt von ſolchen Werken der frühern Zeit, wie z. B. Plutarchs (50 J. nach Ch. G.) fünf Bücher „über die Meinungen der Philoſophen,“ oder Diogenes Laertius (250 nach Ch. G.) „Leben der Philoſo— phen,“ in welchem er ebenfalls die Meinungen derſelben über phyſiſche Gegenſtaͤnde geſammelt hat. Nahe zugleich mit Plutarch's erwähnter Schrift erſchien noch ein anderes Werk dieſer Art, die „Naturgeſchichte“ des ältern Plinius, das man übrigens mit Recht die „Encyclopädie des Alterthums“ genannt hat. Selbſt Ariſtoteles pflegte ſchon jeder ſeiner Unterſuchungen die Mei— nungen aller ſeiner Vorgänger vorauszuſchicken. Aber dieſe „Zuſammenſtellungen“ allein ſchon als einen Haupttheil der Wiſſenſchaft anzuſehen, zeugt von einer ſehr ſeichten und fehler— haften Anſicht der Wiſſenſchaft ſelbſt. Denn nicht um Autorität handelt es ſich hier, und noch weniger um die Meinungen vieler, ſondern die einzige Probe, welche die Wiſſenſchaft und jede ihrer einzelnen Doctrinen zu beſtehen hat, beruht bloß auf der getreuen Anwendung und Uebereinſtimmung ihrer allgemeinen Sätze auf jeden einzelnen, beſonderen Fall. Das Anſehen vorhergegangener, großer Männer, das in der Moral, in der Politik und in andern practiſchen Gegenſtänden von großem Gewichte ſeyn kann oder vielleicht ſelbſt ſeyn ſoll, unterſcheidet hier nichts mehr. Das Verweilen und Feſthalten bloßer fremder Meinungen erzeugt in dem Schriftſteller, ſo wie in dem Leſer, nur eine dunkle und unangemeſſene Auffaſſung des vollen Inhaltes der auf dieſe Weiſe vorgetragenen Lehren, ſelbſt wenn unter den letzten ſolche gefunden werden, die durch jene klare Präciſion für die Wiſſenſchaft von wahrem Nutzen ſeyn könnten. Die bloße Verſchiedenheit der Meinungen anderer führt noch keine Wahrheit

Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 205

mit ſich; dieſes Aufzählen deſſen, was der und jener geſagt hat, lehrt uns nicht, was von allem dieſem Geſagten wahr oder falſch iſt, und dieſe Anhäufungen unbeſtimmter Begriffe, wäre ihre Anzahl auch noch ſo groß, gibt uns doch keinen einzigen wahrhaft beſtimmten Begriff. Im Gegentheile, die Gewohnheit, bei den Worten und Anſichten anderer ſtehen zu bleiben und uns mit jenen loſen Auffaſſungen fremder, gleichſam nur im Fluge einer vorübereilenden Lectüre erhaltener Sätze zu begnügen, wird jeder feſten Einſicht, jedem eigenen klaren Gedanken nur ſchädlich ſeyn, da ſie zu jener ſchwächlichen Unbeſtimmtheit aller Conceptionen führt, die mit allen wahrhaft wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen unverträglich iſt.

Man kann daher das Vorherrſchen der erwähnten Samm— lungen mit Recht als ein Zeichen des Verfalls des wahren philoſophiſchen Talents in dem Mittelalter betrachten. Als Beweiſe dazu könnte man eine lange Reihe von Auszügen, Epitomen, Lehrbüchern und dergl. anführen. Alle Schriften dieſer Gattung ſind für die eigentliche Wiſſenſchaft ohne Werth; die Arbeit ihrer Verfaſſer iſt ein todter Körper; ihnen fehlt das Princip alles wiſſenſchaftlichen Lebens, und Bücher dieſer Art leiten ihre Entſtehung, und ziehen ihre Ernährung nur aus dem Leichnam der wahren Wiſſenſchaft; ſie gleichen den Inſecten— ſchwärmen, die aus dem verweſenden Körper irgend eines edleren Thieres hervorgehen.

2. Unbeſtimmtheit der Begriffe über Mechanik.

Jene Unbeſtimmtheit der Begriffe, jener verderbliche Cha— rakterzug des Geiſtes im Mittelalter, läßt ſich am beſten aus den Werken der Schriftſteller jener Zeiten, ſelbſt der vorzüglichſten derſelben, entnehmen. Keiner von ihnen iſt im Stande, die klaren und beſtimmten Begriffe, welche von den Griechen auf ſie übergegangen waren, gehörig feſt zu halten. In der Mecha— nik z. B. bemerkt man auch nicht einen Schritt vorwärts ſeit der Zeit des Archimedes bis zu Stevinus und Galilei. Archi— medes hatte die Lehre von dem Hebel aufgeſtellt; von ſeinen Nachfolgern aber während jener langen Zeit hatten manche, und alle vergebens, verſucht, die Lehre von der ſchiefen Fläche auf eine ähnliche Weiſe zu begründen. Betrachten wir einen dieſer

206 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

Verſuche näher, z. B. den des Pappus (400 nach Ch. G.) in ſeinen acht Büchern „mathematiſcher Sammlungen,“ und wir werden die Urſache dieſes Mißlingens bald kennen lernen. Schon ſein Problem, ſchon die Worte, mit welchen es vorgelegt wird, zeu— gen von Mangel an klarer Auffaſſung des Gegenſtandes: „Wenn „die Kraft gegeben iſt, die eine beſtimmte Laſt längs einer hori— yzontalen Ebene bewegt, die Vermehrung dieſer Kraft zu finden, »die nöthig iſt, dieſelbe Laſt längs einer gegebenen ſchiefen Ebene „zu bewegen.“ Dieſe Aufgabe wird aufgeſtellt, ohne vorher zu ſagen, auf welche Weiſe man die Kräfte meſſen ſoll, die ſolche Wirkungen hervorbringen; und auf die Art, wie die Laſt gezogen werden ſoll, ſo wie auf die Beſchaffenheit der Ebene, auf der die Bewegung vor ſich gehen ſoll, wird, als auf gleich— gültige Nebenſachen, keine weitere Rückſicht genommen. Das eigentliche Problem ſollte heißen: „Die Kraft zu finden, die eine „Laſt auf einer ſchiefen Fläche erhalten ſoll,“ und ohne Zweifel hat auch die Auflöſung, die Pappus gibt, mehr Bezug auf dieſes, als auf das von ihm ſelbſt aufgeſtellte Problem. Doch iſt ſeine Schlußfolge ganz verſchieden von denjenigen mechani— ſchen Begriffen, auf welche dieſes Problem ſich bezieht. Er nimmt die Laſt kugelförmig an, und wenn dann dieſe Kugel mit der ſchiefen Ebene in Berührung gebracht wird, nimmt er an, daß die Wirkung dieſelbe ſeyn wird, als wenn dieſe Laſt von einem horizontalen Hebel getragen würde, deſſen Hypomoch— lion jener Berührungspunkt iſt, wo dann die Kraft auf die Oberfläche der Kugel wirkt. Allein eine ſolche Annahme ſetzt einen völligen Mangel jener klaren mechaniſchen Idee von dem Drucke voraus, auf dem doch in letzter Inſtanz die Wirkung aller Kräfte beruht, jener ſelben Idee, auf welche Archimedes die Eigenſchaften des Hebels, und ſpäter Stevinus die der ſchie— fen Ebene mit vollkommener Richtigkeit erbaut hat. Der Be— weggrund, den Pappus haben mochte, von einer ſo ſonderbaren Vorausſetzung auszugehen, kam wahrſcheinlich von feiner Be: merkung, daß jene „Vermehrung der Kraft“ für eine horizontale Ebene verſchwindet, und im Gegentheile deſto größer werde, je größer die Neigung der Ebene gegen den Horizont iſt. Offenbar war alſo ſein Begriff von dem Gegenſtande unbeſtimmt und ſchwankend; es fehlte ihm die auf Verſtand gegründete Ueber— zeugung; er begnügte ſich mit bloßen Muthmaßungen und vagen

Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 207

Anfichten, die aber nie zu einer wahren, reellen Erkenntniß führen.

Pappus war ohne Zweifel einer der beiten Mathematiker der Alexandriniſchen Schule, allein über mechaniſche Gegenſtände, wo ſeine Ideen noch ſo unbeſtimmt waren, hatten auch alle ſeine Zeitgenoſſen keine beſſeren aufzuweiſen. Ueberhaupt ſchien über alle Gegenſtände der ſpeculativen Mechanik, ſeit Archimed bis zu den neuern Zeiten, nichts als Dunkelheit und Verwirrung zu herrſchen. Der menſchliche Geiſt war vollauf beſchäftigt, die feinen Diſtinctionen und Subtilitäten der ariſtoteliſchen Schule über Kraft und Bewegung in eine Art von Syſtem zu bringen, und da ein Geſchäft mit Dingen, von welchen ſie keine beſtimm— ten Ideen hatten und haben konnten, jede Anwendung auf reelle Thatſachen und Beobachtungen von ſelbſt ausſchloß, ſo konnte auch, in ſolchen Händen, die Wiſſenſchaft nicht vorwärts ſchreiten. Wir haben bereits geſehen, daß die Anſichten des Ariſtoteles über die Phyſik, wie ſie unmittelbar von ihm ſelbſt kamen, aller eigentlich wiſſenſchaftlichen Präciſton ermangelten. Seine Nachfolger, ſo ſehr ſie ſich auch bemühten, die Lehren ihres Meiſters zu entwickeln und zu vervollkommnen, haben es doch nie verſucht, deutlichere Begriffe in ihre Diſcuſſionen einzu— führen, und da ſie ſich nie, auf irgend eine feſte Weiſe, auf Thatſachen bezogen, fo konnte auch die Unbeſtimmtheit ihrer Begriffe durch keine Beobachtung widerlegt oder verbeſſert werden. Die phyſiſchen Syſteme, die ſie aus den Werken des Stagiriten borgten, wurden in der Folge der Zeit in große, regelmäßige Syſteme umgeformt. Aber obſchon man dieſen Syſtemen keine practiſche Geltung geben konnte, ohne wieder neue Diſtinctionen und Modificationen einzuführen, durch welche die Verwirrung der alten dunklen Begriffe nur noch größer wurde, ſo behielt man doch dieſe Syſteme mit allen ihren Dogmen ſo lange und ſo hartnäckig bei, bis endlich die ganze ſogenannte gelehrte Welt zu dem Glauben gelangte, es müſſe fo und es könne und dürfe nicht anders ſeyn. Als aber, in einer viel ſpätern Zeit, andere, hellere Köpfe, wie Galilei und Boyle, einen Widerſpruch gegen dieſen allgemeinen Volksglauben wagten, da hatten die neuen, von dieſen Männern aufgeſtellten Maximen einen eben ſo frem— den Klang in den Ohren ihrer Zeitgenoſſen, als jetzt jene ſo lange feſtgehaltenen ariſtoteliſchen Diatriben in den unſeren

208 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

haben. So durfte Boyle ſeine neuen Entdeckungen über die Mechanik der flüffigen Körper nur unter dem Titel von „Hydro: »ſtatiſchen Paradoxen“ bekannt machen, die er aber durch „Ex— »perimente“ erläutern und beweiſen konnte. Die Meinungen, mit deren Widerlegung er es in dieſer Schrift zu thun hat, ſind aber eben dieſelben, welche die ariftotelifchen Philoſophen bisher als gewiß, als die einzig wahren verſchrieen hatten, wie z. B., daß in allen Flüſſigkeiten die oberen Theile gegen die unteren nicht gravitiren; daß eine leichtere Flüſſigkeit gegen eine ſchwere nicht gravitirt; daß die Schwere, ſo wie auch die Leichtigkeit, eine poſitive Eigenſchaft der Körper ſelbſt ſey u. ſ. f. So lange Behauptungen dieſer Art von anderen unbeſtritten und ungeprüft blieben, wurden ſie von allen Menſchen angehört und wiederholt, ohne die Widerſprüche, welche ſie enthalten, auch nur zu ahnen, und ſo blieb man Jahrhunderte durch in dem ruhigen Beſitz von erträumten Schätzen, auf die man noch ſtolz zu ſeyn guten Grund zu haben glaubte. Als aber die Controverſen zu Galilei's Zeit die Menſchen mit mehr Schärfe und Beſtimmtheit denken gelehrt hatten, ſo entdeckte man bald, daß gar viele von dieſen früher ſo hochgeſchätzten Lehren mit der Wahrheit, mit den Beobach— tungen und oft genug mit ſich ſelbſt im Widerſpruche ſtehen. Wir haben ein merkwürdiges Beiſpiel von der Ideenverwirrung, in welche die Ariftotelifer mit ihrer Lehre von dem Fall der Körper gerathen ſind. „Gewichtige Körper,“ ſagten ſie, „müſſen ſchneller fallen, als leichte, denn Gewicht iſt die Urſache des Fal— lens, und bei größeren Körpern iſt auch das Gewicht größer.“ Sie bedachten nicht, daß, wenn ſie das Gewicht des Körpers als eine denſelben bewegende Kraft anſehen, ſie auch den Körper als ein der Bewegung widerſtehendes Ding anſehen mußten, und daß die Wirkung von dem Verhaͤltniſſe der Kraft zum Widerſtand abhängen müſſe, kurz, fie hatten keine klare Idee von einer ac= celerirenden Kraft. Dieſer Mangel erſtreckt ſich über das ganze Gebiet ihrer mechaniſchen Speculationen und macht ſie daher auch ganz werthlos ).

1) Da des Ariſtoteles bisher fchon fo oft gedacht worden iſt und auch ferner noch erwähnt werden wird, ſo wird es manchen Leſern nicht unangemeſſen ſcheinen, dieſen einflußreichſten aller Philoſophen und vielleicht aller Schriftſteller der alten und neuen Zeiten hier

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Dieſelbe Verwirrung der Gedanken über Gegenftände der Mechanik läßt ſich auch in den Schriftſtellern von weniger tech—

etwas näher kennen zu lernen. Er war im erſten Jahre der neun und neunzigſten Olpmpiade (d. h. im Jahre 384 vor Ch. G.) zu Stagira, einer griechiſchen Kolonie in Thracien, geboren. Sein Vater Nicomachus war der Arzt und Freund des Königs Amyntas von Macedonien. Schon frühzeitig verlor er ſeine Ael— tern und kam in ſeinem ſiebenzehnten Jahre zu Plato nach Athen, deſſen Schüler er die nächſten zwanzig Jahre blieb. Die letzten dieſer Jahre ſchien er ſich mit Plato nicht mehr gut vertragen zu haben, und nach dem Tode ſeines Lehrers ſuchte er nach und nach die Meinungen deſſelben in ſeinen Schriften bei jeder Gelegenheit zu bekämpfen. Gegen ſein vierzigſtes Jahr wurde er von König Philipp von Macedonien zur Erziehung ſeines damals dreijährigen Sohnes Alexanders berufen. Er ſtand bei Philipp, bis an das Ende des Lebens dieſes Königs, in großer Gunſt. Daß er, wie mehrere glauben, Alexander in ſeinen Kriegen nach Indien begleitete, iſt unrichtig, da er vielmehr, als der perſiſche Krieg begann, nach Athen zurückkehrte, um daſelbſt ſeine philoſophiſche Schule zu errichten, während er ſeinen Freund und Verwandten Kalliſthenes an ſeiner Stelle bei Alexander zurückließ. In Athen errichtete er ſeine Schule im Lyceum (Lykeion), dem einzigen Gymnaſtum, das ihm noch offen ſtand, da Kenocrates die Acade— mie, und die Cyniker das Kynoſarges bereits beſetzt hielten. Da er hier ſeine Vorträge meiſtens im Auf- und Abgehen mit ſeinen Schülern hielt, fo bekamen dieſe den Beinahmen der Peripate— tiker (der Herumwandelnden). Ariſtoteles theilte feine Zuhörer in zwei Klaſſen, von welchen die einen des Morgens in tieferen philoſophiſchen Unterſuchungen (die akroamatiſchen), die anderen aber des Abends in mehr vorbereitenden und allgemein foßlichren Vorträgen (den exoteriſchen) geübt wurden. Hier lebte er dreizebn Jahre. Gegen das Ende dieſer Zeit ſoll er bei ſeinem königlichen Schüler und Gönner in Ungnade gefallen ſeyn, weil er die ver— N änderten Sitten deſſelben zu freimüthig getadelt hatte. In Folae dieſer Spannung begab er ſich nach Chaleis, um, wie man ſagt, dem Tod des Socrates zu entgehen, indem man ihm ein Gedicht zum Lobe ſeines Freundes Hermias als Frevel gegen die Götter ausgelegt hatte. Bald nach dieſer Flucht von Athen ſtarb er auch zu Chalcis i. J. 322. Von den ſehr zahlreichen Schriften des Ariſtoteles iſt viel, aber doch lange nicht alles gerettet worden. Der größte Theil der übrig gebliebenen ſcheint nur die akroama— tiſchen, nicht aber auch die exoteriſchen zu betreffen. Dieſe akroa— Whewell. J. 14

210 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

niſcher Art aus jenen Zeiten wieder finden. Wenn ein Menſch nur einen einigermaßen beſtimmten Begriff von einer mechaniſchen

matiſchen Schriften des Stagiriten hatten ſonderbare Schickſale. Zuerſt wurden ſie auf Theophraſt, und dann auf deſſen Schüler Neleus aus Skepſis vererbt. Neleus hinterließ dieſelben bei ſeinem Tode unwiſſenden Menſchen, die ſie ſchlecht verwahrten und endlich unter die Erde vergruben. Nachdem ſie hier durch Näſſe und Moder gelitten hatten, wurden ſie zu einem hohen Preis an den Bücherfreund Apollicon verkauft, der die Stellen, wo die Hand— ſchrift gelitten hatte, durch ſeine Zuſätze, wohl nicht immer glück— lich, auszufüllen ſuchte. Später kam dieſes Manuſcript mit der athenienſiſchen Beute durch Sulla nach Rom, wo ſie Tyrannion und Andronicus in Ordnung brachten und in der Geſtalt, wie wir ſie jetzt beſitzen, herausgaben. Unter den verſchiedenen neuern Ausgaben derſelben gilt die von Friedrich Sylbury für die beſte; doch wird auch die von Caſaubonus und Duval, fo wie die ueueſte von Buhle ſehr geſchätzt.

Ohne uns hier in eine Darſtellung der ariſtoteliſchen Philoſo— phie im Allgemeinen einzulaſſen, die man in Ritters „Geſchichte der Philoſophie, im dritten Theile, nachſuchen kann, mögen folgende Bemerkungen genügen. Nach Ariſtoteles iſt die Philoſophie „die Wiſſenſchaft von den oberſten Gründen des Seyns“ und ihr Gegenſtand iſt nur das Ewige und Nothwendige, getrennt von allen Künſten des Lebens, und ſelbſt von allen ſittlichen Rückſichten. Seine ganze geiſtige Tendenz war, wie Degerando (in ſeiner Geſch. der Syſteme der Philoſophie) ſagt, auf die Erfahrung gerich— tet, und von allen Idealen, auch den ſittlichen, denen Plato ſo ſehr nachhing, ſuchte er ſich fern zu halten. Wo er konnte, blieb er bei der Wirklichkeit ſtehen, bei dem, was iſt, nicht was ſeyn ſollte oder könnte. Diefe feine Tendenz wurde aber ſchon von den Römern, beſonders von Cicero verkannt, der ihn, nach ſeiner Weiſe die Philoſophie zu behandeln, mit Plato und den Academikern ver— ſchmelzen wollte, gegen welche Vereinigung er ſich ſelbſt gewiß ſehr erklärt haben würde. Noch weiter wurde dieſe geiſtige Amalgami— fation des empiriſchen Stagiriten mit dem ihm diametral gegenüber ſtehenden ideellen Plato von den Scholaſtikern des Mittelalters getrieben, die ſich die theoſophiſchen Neuplatoniker der erſten chriſt— lichen Jahrhunderte zum Muſter nahmen, und deren platonijirender Ariſtoteles, ein anderer Z@xgarng uaıvouevog, in den Schriften deſſelben nicht mehr zu erkennen iſt. Ariſtoteles leitet alles Denken aus finnlichen Wahrnehmungen ab, die er Empfindungen

Unbeftimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 211

Wirkung hatte, fo konnte er keinen Augenblick die alberne Fabel von dem Echineis oder Remoral (Schiffhalter), einem kleinen

nennt. Er geht darin ſo weit, daß er auch von einer Wiſſenſchaft der Sinne ſpricht, von einer ſinnlichen Empfindung des Guten und Böſen, und daß er zuweilen ſogar eine gewiſſe Art von Empfindung ſelbſt ſchon Verſtand nennt. Nach ihm iſt das durch den Geiſt Erkennbare nicht für ſich ſelbſt, ſondern nur in dem Sinnlichen da, und deßwegen kann es auch nur wieder in dem Sinnlichen erkannt werden, und ohne Empfindung würde auch keine Anerkennung ſtatthaben. Der Geiſt erkennt alfo nur die äußeren Dinge, wenn ſie ihm durch die Empfindung offenbart werden. Wenn uns einer unſerer Sinne fehlte, ſo würden uns auch eine oder mehrere Erkenntniſſe oder Wiſſenſchaften fehlen. Zu diefem, allem Denken nothwendig vorhergehenden ſinnlichen Eindruck zählt er aber auch diejenigen Vorſtellungen, welche uns die Erinne— rung bereits vergangener Eindrücke, ſo wie die, welche uns die bloße Phantaſie gewährt. Zuerſt entſtehen in uns Empfin— dungen, dieſe werden feſtgehalten durch das Gedächtniß, und wenn die von dem Gedächtniſſe erhaltenen Eindrücke mit neuen Empfindungen verglichen werden, ſo geben ſie uns Unterſchei— dung, aus der dann Erfahrung, und aus dieſer endlich die Wiſſenſchaft ſelbſt erwächst. Allein diejenige Wiſſenſchaft, welche die Urſache jener Erſcheinungen aufſucht, iſt ſelbſt kein Reſultat jener Erfahrungen, ſondern es gibt noch eine andere, eigene Thätigkeit des Geiſtes, die ſich zwar auch an die Erfahrung anſchließen muß, die aber nicht von ihr hervorgebracht wird, und dieſe Thätigkeit iſt es, welche „die Wiſſenſchaft“ im höhern Sinne des Wortes erzeugt.

In der Phyſik ſtellt Ariſtoteles die Natur als eine ſelbſtſtän— dige innere Kraft dar, welche die Dinge, ihrem Weſen gemäß, bewegt oder feſthält. Die Natur (Yvaoıg) iſt ihm ein eigenes Weſen, das weder Materie noch Form iſt, aber doch als Beides zugleich habend betrachtet werden muß. Die Natur iſt ihm ein Weſen, deſſen Einheit in der alle Dinge zuſammenhaltenden Form beſteht, während die Elemente, die zuſammengehalten werden, die Materie bilden. Dieſe Natur iſt ihm eins mit der allgemeinen lebendigen Weltkraft, und er nimmt an, daß durch das ganze Weltall eine belebende Wärme dringe, und dadurch alles gleichſam mit einem Geiſte erfülle. Er vergleicht dieſe Natur oft mit einem Künſtler, der nicht nach vollem Bewußtſeyn, ſondern nur nach einem dunklen Triebe handle, daher er ſie auch nicht göttlich,

14 *

212 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

Seefiſch glauben, der das größte Schiff, an dem er ſich anſaugt, in feinem Laufe zurückhalten ſoll. Plinius (Hist. Nat. XXXU. 7)

ſondern nur dämoniſch nennt, 7) yao pvoıg daıuovın, aAN 8 Heil esıv. Dieß ift, nach ihm, auch der Grund, warum unter den Urfachen, die in der Natur wirkſam ſind, dem Zufall und Ungefähr ſo viel Raum gegeben wird; daher kommen endlich auch die vielen Un— vollkommenheiten (oder Mißgeburten, wie er ſie nennt), die wir in den Erzeugniſſen der Natur bemerken. Kunſt nämlich und Natur kann fehlen, weil beide ihre Werke nicht aus vernünftiger Ueberzeugung, ſondern nur aus Trieb, aus einer Art von Inſtinct vollbringen. Diejenigen Unterſuchungen der Erſcheinungen in der Natur, welchen die Mathematik als Folie dient, Aſtronomie, Mechanik u f. ſcheinen zwar für ihn beſondere Reize gehabt zu haben, da er ſich ſo gern über ſie verbreitet, aber ſie bilden dem— ungeachtet die eigentliche „ſchwache Seite“ ſeiner Philoſophie. Ueberhaupt gilt von ihm, wie von Plato, wie von den meiſten Philoſophen der alten und neuen Zeit, daß ſie deſto mehr und lieber über Mathematik, und beſonders über Anwendung derſelben auf die Natur ſprechen, je weniger ſie davon verſtehen, und daß ihnen von der Mathematik häufig nicht einmal das gehörig bekannt geworden zu ſeyn ſcheint, was den erſten Compendien derſelben angehört. Auch hatten ſie es nicht eben ſehr noth, da ihre „philo— „ſophiſche Aſtronomie“ und ihre ganze „hyperphyſiſche Phyſik“ keine Beobachtungen, alſo auch keine eigentlichen Berechnungen bedurfte, indem fie das Weltall a priori conſtruirten, und ſich wenig darum kümmerten, ob dieſe ihre imaginäre Natur auch mit der reellen Welt außer ihnen übereinſtimmte oder nicht. Die Hauptſätze der ariſtoteliſchen Aſtronomie laſſen ſich auf Folgendes zurückführen: „Im Himmel herrſcht eine viel größere Ordnung der Bewegungen, „als auf der Erde. Dieſe himmliſchen Bewegungen können nur „die einfachſten und die vollkommenſten zugleich, d. h. fie können „nur kreisförmige Bewegungen ſeyn, in welchen nämlich die Kör— „per immer in gleicher Richtung fortgehen und doch wieder in ſich „ſelbſt zurückkehren. Dieſe himmliſchen Körper ſind leidenloſe „Weſen, welche das beſte Ziel erreicht haben; ſie ſind dem Gött— „lichen viel näher, als die Erde oder die auf ihr lebenden Men: „ſchen. Der Himmel hat eine Seele und den Urſprung feiner „Bewegung in ſich ſelbſt, und dieſe Bewegung bedarf keines Aus— „ruhens, wie z. B. die der Thiere, weil fie ohne alle Mühe ge— „ſchieht und daher auch keine Ermüdung erzeugt. Zu der Vortreff— „lichkeit dieſer Bewegung der himmliſchen Körper gehört auch, daß

Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 213

erzählt dieſes Mährchen ganz ernſthaft und declamirt noch darüber auf ſeine Weiſe: „Was,“ ſagt er, „iſt wohl ſtärker, als das

„ſie von der Rechten wieder zur Rechten vor ſich geht. Dieß gilt „jedoch nur von dem oberſten Himmel, in welchem jene Geſtirne „wohnen. Die niederen Sphären aber enthalten die Planeten, „und dieſe letzten find ſchon nicht mehr fo vollkommene Weſen, „da fie ſich auch zur Linken und in ſchiefen Kreisbahnen bewegen. „In der Mitte der Welt aber ſteht die Erde, weil das Irdiſche „immer nur nach dem Mittelpunkt der Welt ſtrebt.“ Wie ſchwan— kend und nichtsſagend dieß alles iſt, leuchtet von ſelbſt ein.

In einem günſtigeren Lichte erſcheint der Stagirit auf dem eigentlich philoſophiſchen Gebiete. Wenn Plato mit ſeiner blühen— den Feder, mit feiner lebhaften Phantaſte, mit all' feinem Schmuck der Rede als ein hohes Muſter der „ſchönen Darſtellung“ mit Recht betrachtet wird, ſo bleibt dem Ariſtoteles dafür der reine, durchdringende, von allem Sremdartigen geläuterte Verſtand, und darin ſteht er vielleicht höher, als irgend ein Philoſoph der alten und der neuen Zeiten. Unſere heutigen ſogenannten Naturphilo— ſophen wollten die Strenge, deren ſich die Mathematik rühmt, auch auf ihr Feld verpflanzen. Aber fie benahmen ſich dabei ſehr ungeſchickt, indem ſie ſich nur an die äußeren Formen dieſer Wiſ— ſenſchaft hielten, und auch wohl halten mußten, da fie, wie man aus ihren Schriften ſelbſt am beſten ſieht, von dem Inneren der— ſelben keine Kenntniß hatten. Sie glaubten übrigens damit etwas ganz Neues, bisher Unverſuchtes gethan zu haben. Aber Ariſtoteles iſt ihnen hierin ſchon vor mehr als zweitaufend Jahren, nur auf einem ganz anderen Wege, vorausgegangen, indem er nämlich die „ſtrenge Conſequenz“ der Schlüſſe, deren ſich die Mathematik rühmt, auch in ſeinen philoſophiſchen Unterſuchungen einzuführen ſuchte. Leſſing, dem dieſe Conſequenz auch nicht fremd war, ſagte daher ganz recht, daß das, was Ariſtoteles z. B. über die Natur und Eigenſchaft des Dramas in feiner Schrift: Legr Houriung aufgeſtellt hat, ganz eben ſo wahr und ſtreng bewieſen erſcheine, als irgend ein Satz in der Geometrie Euklids, wenn gleich dort weder Figuren noch algebraiſche Zeichen zu Hülfe gerufen worden find. In der That iſt bei allen rein philoſophiſchen Unterſuchuugen der tief eingehende, ſcharf ſondernde Geiſt des Stagiriten un— verkennbar, der in die Maſſe des Gegebenen eindringt und ſelbſt in der größten Dunkelheit ſich Licht zu verſchaffen weiß. Durch alle dieſe Forſchungen aber zieht ſich die Anſicht, daß der Menſch für feine Erkenntniß überall nichts Sicheres hat, als die äußeren

214 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

„Meer und die Winde? Welches Gebäude iſt wohl größer, als „ein Schiff? Und doch kann ein kleiner Fiſch, der Echineis, ſie

Erſcheinungen. An dieſen letzten darf daher nichts geändert, ihnen darf durchaus nichts vergeben werden. Der geiſtigen Kraft, in dieſen Erſcheinungen der Außenwelt Einheit und Ordnung zu finden, wird viel, aber lange nicht alles eingeräumt. Die Er— fahrung zeigt uns vielmehr, daß wir dieſelben häufig nur in einem ſehr unvollkommenen Lichte erblicken. Nach ihr waltet mehr Zufall, als vernünftiges Geſetz in der Welt, und da ſich die Vernunft nicht ganz mit der Erfahrung in Einklang bringen läßt, ſo muß auch ein großer Theil derſelben dem Zufall und der Unver— nunft preisgegeben werden. Das Ideal unſerer Erkenntniß, im theoretiſchen wie im practifchen Leben, iſt auch ihm, wie feinem Lehrer Plato, etwas Göttliches aber mit kaltem Scharfblick den Lauf der Natur beobachtend findet er, daß für uns dieſes Ideal nicht paßt, daß dieſes Göttliche zwar für ſich exiſtirt, aber nur als ein Fremdling zu uns herabgelangt, und daß es ſich in der beſtändigen Bewegung des Lebens nicht feſthalten läßt. Darum iſt ihm die Wiſſenſchaft ſelbſt auch etwas Veränderliches, die Tugend aber, zwar an ſich bleibend, jedoch die Uebung derſelben dem wechſelnden Spiele des vielbewegten Lebens unterworfen. Darum endlich iſt auch das höchſte Gut des Menſchen, die Glückſeligkeit, den Wechſelfällen des Zufalls preisgegeben. Der Wirklichkeit dieſer Welt iſt daher das Ideal verſagt, aber demungeachtet iſt es in Wahrheit da, nur nicht in uns, ſondern bloß in dem höchſten Weſen, das alles bewegt, das die ganze Natur umfaßt und be— ſeelt, und das ſelbſt in unſer Juneres herabſteigt, um hier der Wahrheit und Tugend eine Stelle, nicht zu geben, ſondern nur vorzubereiten. Dieſe betrübenden Anſichten ſind aber weit ent— fernt, ihn kleinmüthig zu machen, vielmehr zählt er es zu einer der vorzüglichſten Eigenſchaften des Menſchen, zu einer wahren Tugend deſſelben, ſich in die einmal unabänderlich gegebene Wirk— lichkeit zu finden, und ihr ſo viel als eben möglich iſt, mit hei— terem Muthe abzugewinnen. Zwar erſcheint ihm der Menſch in der Stellung, in welcher er hier von der Natur geſetzt iſt, nur als ein geringes, dürftiges Weſen, aber er findet das Leben deſ— ſelben doch noch immer lebenswerth, wenn er nur ſein Streben dahin richtet, daß er in der That und wahrhaft lebe, indem er, ſtatt ſich mit eitlen Beſtrebungen vergebens abzumühen, die ihm ge— gebene Wirklichkeit mit reger, verſtändiger Thätigkeit ergreift. Darin unterſcheiden ſich auch die beiden Lehrbegriffe Plato's und

Unbeftimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 22

„alle zurückhalten, wenn ſie auch ſämmtlich denſelben Weg gehen. „Mögen die Winde blaſen und die Wogen raſen, dieſes kleine

des Stagiriten am auffallendſten, daß jene die Erſcheinungen der Außenwelt mittels der inneren Ideen begründet, während Ariſto— teles die Materie, als den ewigen Grund dieſer Erſcheinungen, außer uns feſtſetzt, und indem er dieſes Materielle als etwas Untergeordnetes und durchaus nur Leidendes betrachtet, daraus die Zufälligkeiten und Anomalien der materiellen und der ſittlichen Welt abzuleiten ſucht. Plato ſuchte eine Wiſſenſchaft, die ſich über die Beſchränkung der irdiſchen Verhältniſſe, die auch er er— kennt und erkennen muß, herausſchwingt, und er betrachtet den Menſchen, abgeſehen von ſeinen gegenwärtigen beſchränkten Ver— hältniſſen, in einem künftigen, reineren, höheren Zuſtande. Ari— ſtoteles aber betrachtet ihn, wie er ihn eben findet, und dieſem gegenwärtigen Menſchen ſucht er auch ſeine Wiſſenſchaft anzupaſſen. Ihm mißfällt jener hohe Flug der Gedanken, und noch mehr jenes Sichhingeben an die Phantaſie auf Koſten des Verſtandes, jenes Streben nach Ueberſinnlichem und Geträumten auf Koſten des Gegenwärtigen und Wirklichen, und dieſes Mißfallen, das aus der ganzen Denkweiſe des Ariſtoteles und aus dem eigentlichen Weſen ſeiner Philoſophie hervorgeht, findet ſchon darin ihre voll— ſtändige Erklärung, daß er, gleich ſeinem berühmten Nachfolger Theophraſt, die AYavacız ng Yuxng nicht annimmt, und auch die Vernunft zwar als etwas an ſich Ewiges, aber nicht als ein dem Menſchen eigenthümliches, ſondern als ein dem Ganzen, dem Weltall oder dem höchſten Weſen angehörendes Gut betrach— tet. In Plato, den Panätius mit Recht den „Homer der Philoſophie“ genannt hat, offenbarte ſich der jugendlich aufſtrebende Sinn der Wiſſenſchaft: Pato lebte mehr in der Zukunft, als in der Gegenwart; er zehrte von ſeinen Hoffnungen und nährte ſich mit Ideen. Der männlichere Geiſt des Stagiriten dagegen ſchreitet feſt und ſicher in die Tiefe der Gegenwart hinab: weg— gewendet von den poetiſchen Träumen der Jugend kehrt er feinen Blick der Wirklichkeit zu, und findet ſie lange nicht ſo ſchön und reizend, als ſein Vorgänger, doch ſucht er zugleich mit dieſer Wirklichkeit ſo gut, als es eben geht, ſich abzufinden. Zeno endlich, der Stifter der Stoa, und ſeine berühmten Nachfolger Kleanthes und Chryſipp, gleicht dem grämlichen, lebensmüden Greiſe, der, mit Unmuth zurück und ohne Hoffnung vorwärts blickend, nirgend einen feſten Stand finden kann, und dem nichts mehr übrig bleibt, als mit dem Schickſal zu hadern oder ſich ihm

216 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

„Geſchöpf meiſtert ihre Wuth und feſſelt ein Schiff, das keine „Ketten, kein Anker mehr feſthalten kann, und dieß vermag jenes

ſchweigend zu unterwerfen. Nach Plato ſind die Menſchen glück— liche, ätheriſche Weſen, die einer immer höheren Glückſeligkeit entgegengehen; nach Ariſtoteles aber ſind ſie ſehr mittelmäßige Ge— ſchöpfe, die nichts Beſſeres thun können, als ſich mit dieſer Mit— telmäßigkeit ſo viel möglich abzufinden; nach Zeno endlich ſind fie Sklaven des blinden Geſchicks und Thoren, die von der wahren Weisheit ewig fern bleiben, obſchon ſie ewig nach ihr zu ringen beſtimmt ſind.

Ueber das hohe Anſehen, das Ariſtoteles beſonders im Mittel— alter genoß, iſt bereits oben geſprochen worden. Die Araber gingen hierin mit ihrer Liebe zur Spitzfindigkeit und mit ihrer lebhaften Imagination voraus. Im zehnten und eilften Jahr— hundert ſchon war dieſes Anſehen ſo hoch geſtiegen, daß es einer Menge von Bullen und kirchlichen Bannflüchen kräftig widerſtehen konnte, und endlich wurde ſein Triumph ſo groß, und die Ver— ehrung, die man gegen den Stagiriten hegte, ſo abgöttiſch, daß die Profeſſoren bei dem Antritte ihres Lehramtes einen Eid ab— legen mußten, in ihren Vorträgen ſich nie, weder von dem Evangelium, noch von den Schriften des Ariſtoteles, zu entfernen. Noch zu Ende des XVI. Jahrhunderts war es gefährlich, ſich dem Anſehen des Ariſtoteles zu widerſetzen oder auch nur einige ſeiner Sätze nicht anzunehmen. Petrus Ramus (c 1572) hatte es an der Univerſität zu Paris gewagt, einige Behauptungen des Sta— giriten für falſch zu erklären. Die Folge dieſer Frevelthat war eine allgemeine Revolte ſeiner Schule, ja der ganzen Stadt. Das Parlament von Paris machte die Sache des Ariſtoteles zu feiner eigenen Angelegenheit. Remus wurde entlaſſen, der König proſcribirte ſeine Schriften, und er ſelbſt konnte ſich der allgemeinen Verfolgung nur durch eine ſchleunige Flucht entziehen. Einige Jahre ſpäter, wo eine peſtartige Seuche in Paris ausbrach, und wo man, wie er glaubte, über der allgemeinen Calamität ſeiner vergeſſen haben würde, wagte er es, aus ſeinem Verſtecke hervorzukommen, und ſeine Lehrſtätte wieder zu beſteigen. Er hütete ſich ſehr, auch nur den Namen des Ariſtoteles weiter aus— zuſprechen. Aber der neuerungsſüchtige Profeſſor konnte ſich nicht enthalten, feinen Schülern den Rath zu ertheilen, das Qu in der lateiniſchen Sprache nicht mehr, wie kw, ſondern blos wie k aus— zuſprechen, weil er gefunden haben wollte, daß die alten Römer ebenfalls kamkam für quamquam und kiskis für quisquis geſprochen

Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 217

„Thierchen, nicht etwa durch große Anftrengung, ſondern nur „indem es ſich an das Schiff hängt. Bejammernswerthe Eitelkeit »der Menſchen, vom thurmhohen Schiffe, durch ihre Hände

haben. Sofort erwachte die alte Wuth ſeiner Gegner, und der verruchte Anti-Ariſtoteles wurde mit Steinen geworfen und mit Stöcken von ſeinem Lehrſtuhl getrieben, und durfte fortan ſich nicht mehr auf der Gaſſe ſehen laſſen. Aller Vorſicht ungeachtet wurde er doch bald darauf von einem dieſer philoſophiſchen Banditen meuchlings ermordet.

Noch muß bemerkt werden, daß daſſelbe Anſehen und derſelbe nachtheilige Einfluß, den Ariſtoteles auf die Philoſophen des Mit: telalters ausgeübt hat, in den letzten Decennien des verfloſſenen Jahr— hunderts, in Deutſchland wenigſtens, wieder zurückzukehren drohte. Er ſcheint es, in Verbindung vielleicht von den Scholaſtikern jener finſtern Zeiten, geweſen zu ſeyn, der unſern neuern Naturphilo— ſophen das Beiſpiel jener dunklen, geſchraubten, oft bis zur Un— verſtändlichkeit verdeckten Härte der Sprache und des Gedankens gegeben hat, durch welche ſich dieſe ſogenannten Weltweiſen aus— zuzeichnen geſucht haben. Zu den bereits oben gelieferten Be— weiſen dieſer Behauptung wollen wir hier noch die wörtliche ariſtoteliſche Erklärung der „Bewegung“ im Allgemeinen hinzu— fügen. „Die Bewegung,“ heißt es, „iſt die Thätigkeit des dem „Vermögen nach Seyenden, ſofern es dem Vermögen nach iſt. „Demnach muß die Bewegung ein Mittleres ſeyn zwiſchen dem „bloßen Vermögen nach beſtehenden Seyn, und zwiſchen dem „reellen Seyn der gänzlich verwirklichten Thätigkeit, in welcher „letzten nichts mehr dem Vermögen nach iſt, weil die Bewegung „weder früher noch ſpäter ſeyn kann, als indem das dem Vermögen „nach Seyende ſich verwirklicht, früher aber nur das dem Ver— „mögen nach Seyende, und ſpäter nur die Wirklichkeit ſelbſt iſt, „aus welchem Grunde die Bewegung weder dem Vermögen, noch „der Energie angehört, weil weder das ſich nothwendig bewegt, „was dem Vermögen nach eine Größe hat, noch auch das, was „der That nach eine Größe hat.“ Stellen dieſer Art, und man findet ihrer nicht wenige in den ariſtoteliſchen Schriften, können immerhin, ohne zu erröthen, an die Seite unſerer ſchönſten naturphiloſophiſchen Productionen geſetzt werden, und um ihre Vortrefflichkeit ganz zu genießen, wollen wir die Leſer erſuchen, ſie Wort für Wort in irgend eine andere alte oder neue Sprache zu überſetzen, die alle weniger, als unſere gute deutſche Mutter— ſprache geeignet zu ſeyn ſcheinen, ſich von jedem Unberufenen mißhandeln zu laſſen. L.

218 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

„erbaut, und von ihren Wällen herab, zur See, wie zu Land, zu „fechten, da fie doch bewegungslos, gleich einem Gefangenen, von „einem Fiſch feſtgehalten werden können, deſſen Länge nicht einmal „einen und einen halben Fuß beträgt. Ein ſolches Thier ſoll das „Hauptſchiff in der Schlacht von Actium feſtgehalten, und An— „tonius dadurch gezwungen haben, ein anderes Fahrzeug zu be— »„ſteigen. Selbſt in unſeren eigenen Tagen hielt ein ſolches Thier „das Schiff des Kaiſers Cajus feſt, als er von Aſtura nach Anz „tum fahren wollte. Man ſtaunte nicht wenig, als dieſes „Schiff wie eine Mauer ſtehen blieb, während alle andere von »der Flotte weiter ſegelten; aber die Verwunderung währte nicht „lange, da einige von der Schiffsmannſchaft in das Waſſer „ſprangen und den Fiſch an dem Steuerruder fanden. Sie zeig— „ten ihn dem Kaiſer, der ergrimmte, zu ſehen, daß ein ſolches „Thier ſich ſeinem von vierhundert Ruderern befolgten Befehle „entgegenſetzen durfte. Es glich einem Klumpen Blei und hatte „keine Kraft mehr, als es einmal in's Schiff gebracht war.“ Auch Lucan ?) bezieht ſich nach Dichterweiſe auf dieſe Legende, und führt dieſen Fiſch nur an, um ihn mit mehreren anderen Monſtroſitäten zuſammen zu ſtellen.

Ein nur einigermaßen richtiger Begriff von dem, was wir Ziehen nennen, würde den Römern gezeigt haben, daß das Schiff und die Ruderer den angehängten Fiſch durch die Kraft, welche das Ruder auf das Waſſer ausübt, fortziehen müſſen, und daß der Fiſch, wenn er keinen Anhaltspunkt an einem äuße— ren Körper hat, dieſer Kraft nicht widerſtehen kann.

3) Unbeſtimmte Begriffe in der Baukunſt.

Dieſe Unbeſtimmtheit der Begriffe, auf die wir ſo oft ſchon aufmerkſam gemacht haben, wird vielleicht noch beſſer hervor—

2) Lucanus, Pharsalia. IV. 670, wo er eine von den Miſchungen bes ſchreibt, die man bei Bezauberungen anzuwenden pflegt: Huc quicquid foetu genuit Natura sinistro, Miscetur: non spuma canum quibus unda timori est, Viscera non lyncis, non durae nodus hyaenae Defuit, et cervi pasti serpente medullae; Non puppis retinens, Euro tenente audentes In mediis Echineis aquis, oculique draconum etc.

Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 219

treten, wenn wir die Veränderungen bemerken, die in dem rö— miſchen Reiche die Baukunſt erlitten hat. Jedes Bauwerk muß, wenn es auf die ihm eigenthümliche Schönheit Anſpruch machen ſoll, in mechaniſcher Beziehung ein in ſich abgerundetes, ſelbſt— ſtändiges Ganze ſeyn. Die bloß zur Zierde deſſelben beſtimmten Glieder müſſen eine Anordnung haben, die das Princip der Hal— tung und der Stabilität in ſich trägt. Die Collonaden der Griechen z. B. ſtellten einen horizontalen geradlinigen Balken vor, der auf einer vertikalen Unterlage ruhte, und ihre Thor— giebel ahmten den Bau eines Daches nach, an dem einander entgegengeſtellte Balken ſich gegenſeitig trugen. Dieſe Bauart wurde zu einem beſtimmten Modell der Kunſt, da ſie das Gepräge der unterſtützenden Kraft in ſich trug. Allein jene anderen Col— lonaden oder Giebel, die, obſchon jenen griechiſchen ganz ähnlich, aller eigentlich mechaniſchen Wahrheit ermangelten, gehören ſchon in die Zeit des Verfalls der Architektur, und fie zei— gen uns, daß die Menſchen dieſer Zeit den Begriff der inneren haltenden Kraft verloren, und nur den der äußeren Form be— halten haben. Eben dieß aber haben die Baumeiſter des römi— ſchen Kaiſerreichs gethan. Unter ihren Händen wurden jene Giebel an ihrem Scheitel geſpalten und in zwei getrennte Hälften getheilt, die ſich nicht länger gegenſeitig unterſtützten, und die daher einen mechaniſchen Widerſpruch darſtellten. Das horizon— tale Hauptgebälke ihrer Collonaden ſtellte nicht mehr einen gerad: linigen Balken vor, der von einem Pfeiler zum andern reichte, ſondern es ragte über jede Säule hervor, wand ſich wieder zur Wand zurück und hing ſelbſt mit derſelben in den Zwiſchenſtellen zuſammen. Die prachtvollen Ueberreſte von Palmyra, Balbas und Patra (in Arabien) geben uns zahlloſe Belege zu dieſen ganz verkehrten Einfällen, und ſie zeigen uns auf eine ſehr be— lehrende Art, wie der Verfall der Kunſt und Wiſſenſchaft immer Hand an Hand mit jener Unbeſtimmtheit und Verdunkelung der klaren Begriffe zu gehen pflegt.

4) Unbeſtimmte Begriffe in der Aſtronomie.

Indem wir von der Kunſt wieder zur Wiſſenſchaft zurück— gehen, könnte man, auf den erſten Blick, vorausſetzen, daß wir in Beziehung auf Aftronomie jene Unbeſtimmtheit der Begriffe

220 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

von dem Mittelalter nicht erwarten ſollten, da bereits ganz klare und beſtimmte Notionen aus der Vorzeit da lagen, die man nur wieder aufnehmen und allenfalls auch ſelbſt unterſuchen und an— wenden durfte. Auch iſt wohl gewiß, daß die Begriffe der Menſchen von Raum und Zahl und Zeit von jeher immer hinlänglich be— ſtimmt geweſen ſeyn mögen, da ſo einfache elementare Begriffe nicht wohl einer Verdunklung oder einer Verwirrung fähig zu ſeyn ſcheinen. Auch haben die ſpäteren Griechen, die Araber und ſelbſt die früheſten neueren Aſtronomen die Hypotheſen des Pto— lemäus mit einer immerhin erträglichen Klarheit aufgefaßt. Demungeachtet darf man ſagen, daß das Mittelalter dieſe Be— griffe von Raum und Zahl nicht in jener lebendigen, kräftigen Weiſe beſaß, die allein zur Entdeckung neuer Wahrheiten führen kann. Hätten ſie deutlich eingeſehen, daß es der theoretiſche Aſtronom bloß mit relativen Bewegungen zu thun hat, ſo würden ſie, wenn auch nicht die Wahrheit, doch wenigſtens die Möglichkeit des Copernicaniſchen Syſtems eingeſehen haben, wie denn die Griechen, ſchon in ſehr früher Zeit, dieſe Möglichkeit ſehr wohl begriffen haben. Allein davon findet man auch nicht die leiſeſte Spur. In der That, die Art, wie die arabiſchen Mathematiker die Auflöſung ihrer Probleme darſtellen, zeugt keineswegs von jener klaren Auffaſſung der räumlichen Verhält— niſſe, noch von jener inneren Luſt der Betrachtung dieſer Relatio— nen, die aus den geometriſchen Speculationen der Griechen überall hervorſieht. Die Araber gewöhnten ſich, ihre Reſultate ohne Beweiſe, und ihre Lehren ohne die Unterſuchungen und Wege darzuſtellen, durch welche fie zu jenen gelangt find, Ihr Haupt— zweck dabei ſcheint mehr practiſch, als rein ſpeculativ, mehr auf die Berechnung des Reſultats, als auf die Expoſition der Theo— rieen gerichtet geweſen zu ſeyn. Delambre 3) mußte öfter ſich nicht wenig bemühen, um die Methoden zu errathen, durch welche Ibn Junis ſeine Auflöſung mehrerer ſchwieriger Probleme ge— funden haben mag.

5) Un beſtimmtheit der Ideen der Skeptiker.

Dieſelbe Unſtätigkeit des Geiſtes, die den Menſchen hindert, klare Begriffe und feſte Ueberzeugung über einzelne Gegenſtände zu er—

3) Delaubre, Astr. du Moyen Age. S. 125.

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halten, führt ihn am Ende auch dahin, die Möglichkeit aller ſicheren Erkenntniß überhaupt zu läugnen, und als reiner Skep— tiker in allen Wiſſenſchaften aufzutreten. Männer dieſer Art müſſen immer nur unbeſtimmte Begriffe von ihren Gegenftänden haben, da ſie ſonſt die ſtreng bewieſenen Wahrheiten der Wiſſen— ſchaft nicht läugnen könnten, und ſo ſehr ſie auch in ihrem Zeitalter Aufſehen gemacht haben, ſind ſie doch zugleich ein Beweis, daß unter ihren Zeitgenoſſen ſelbſt größtentheils nur wieder ſolche unbeſtimmte Begriffe geherrſcht haben müſſen. Im Mittelalter mochte überdieß die unendliche Speculationsſucht und die allge— meine Jagd nach Subtilitäten, die in den philoſophiſchen Schu— len vorherrſchte, einen Mann von kühnem und ſcharfſinnigem Geiſte ſehr leicht bis zu jener allgemeinen Zweifelſucht gebracht haben, da jene Schulen ſo durchaus nichts darboten, was einen verſtändigen Mann befriedigen konnte. Und ſo mag allerdings der Skepticismus jener Zeit unſerer Aufmerkſamkeit werth ſeyn, als ein Zeichen der Erſchlaffung der Wiſſenſchaft, die einem ſo allgemeinen Angriff, der gegen ihre eigene Eriftenz gerichtet war, nichts Weſentliches mehr entgegenſtellen konnte.

Unter dieſen philoſophiſchen Skeptikern iſt Sextus Empiricus der merkwürdigſte. Den Zunamen Empiricus erhielt er von der eben ſo genannten ärztlichen Secte jener Zeit, die alle ihre Kenntniſſe aus der Erfahrung nehmen wollte, im Gegenſatze zu den rationalen und methodiſchen Secten, welche der Arznei— kunde eine mehr wiſſenſchaftliche Form zu geben ſuchten Y). Seine Werke enthalten eine Reihe von Abhandlungen, die nach

4) Sextus Empiricus, aus Mitilene, gegen das Jahr 200 nach Chr. Geburt, gilt als der wiſſenſchaftliche Wiederherſteller und Voll— ender des Pyrrhonismus. Wir beſitzen von ihm zwei Werke: „Anweiſung zur Skepſis“, 3 B., und „Gegen die dogmatiſchen Philoſophen“, 11 B. Die Skeptiker läugneten durchaus alle Er: kenntniß, ſie möge uns durch die Sinne oder auf einem anderen Wege zugeführt werden, und ſie ließen durchaus keinen Beweis für irgend eine Sache gelten, ihren eigenen, daß es keinen ſolchen Beweis gebe, allein ausgenommen. Daher zieme dem Weiſen vor allem eine gänzliche Zurückhaltung jedes Urtheils, ja ſelbſt jedes, auch zweifelhaften Ausſpruchs, worin die berühmte ayaoıa dieſer Secte beſtand. .. L.

222 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

der Reihe gegen alle Wiſſenſchaften feiner Zeit gerichtet find. Da findet man ein eigenes Capitel gegen die Geometer, ein an— deres gegen die Arithmetiker, gegen die Aſtrologen, Muſiklehrer, Grammatiker, Logiker u. f., und es iſt, wie ein neuerer Schrift— ſteller ſich ausdrückt, als ein Rahmen zu betrachten, der die ganze encyclopädiſche Ueberſicht aller Wiſſenſchaften feiner Zeit umfaßt. Doch gehen ſeine Einwürfe mehr auf die Metaphyſik im Allgemeinen, als auf die einzelnen Theile der Wiſſenſchaften, und er läugnet nicht ſowohl die aus der Erfahrung abgeleiteten, als vielmehr nur die durch bloße Speculationen erhaltenen Lehren. So ſind ſeine Einwürfe gegen die Arithmetik und Geome— trie eigentlich nur gegen die abſtracten Spitzfindigkeiten gerichtet, welche die Natur des mathematiſchen Punkts, der Linie, der Einheit u. dgl. betreffen. Ueber die Aſtrologie aber drückt er ſich ſo aus: „Ich betrachte hier nicht jene vollendete Wiſſenſchaft, „die auf Geometrie und Arithmetik beruht, denn die Schwäche »dieſer letzten Doctrinen habe ich bereits gezeigt, noch bekämpfe „ich jene Gabe der Vorausſagung aus den Bewegungen der »himmliſchen Körper, die ſich die Schüler vom Eudox und Hip— »parch vorbehalten haben, und alles übrige, was einige Aſtro— „nomie zu nennen pflegen, denn dieß find alles Beobachtungen „von Erſcheinungen, gleich denen in der Landwirthſchaft oder in »der Schiffkunſt, ſondern ich erkläre mich hier nur gegen jene „Kunſt, nach welcher die Chaldäer aus der Geburt eines Men— „ſchen fein Schickſal vorherverkündigen wollen.“ So ſehr alſo auch Sextus ein Skeptiker von Profeſſion war, ſo entging ihm doch nicht der Unterſchied zwiſchen einem aus Beobachtungen ab— geleiteten und einem bloß hyperphyſiſchen oder myſtiſchen Dogma, wenn auch ſchon das erſte nichts hatte, was ſeine Bewunderung erregen konnte.

Die früheſten Schriftſteller der chriſtlichen Kirche bekämpften die Philoſophie ihrer heidniſchen Gegner viel zu leicht, aber aus ganz anderen Gründen, wie wir ſpäter ſehen werden. Noch un— verträglicher war der Geiſt des Islamismus mit der kühnen Prüfung und der Negation aller Autorität der griechiſchen Schriftſteller. Doch läßt ſich ein merkwürdiges Beiſpiel von Skeptik unter den Arabern aufſtellen. Dieß iſt der ſchon oben erwähnte Algazel oder Algezeli, ein berühmter Philoſoph zu Bagdad im zwölften Jahrhundert, der ſich als den Gegner nicht

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nur von der gemiſchten peripatetiſchen und platoniſchen Philo— ſophie ſeiner Zeit, ſondern als den Feind von Ariſtoteles ſelbſt erklärte. In feiner von Avicenna widerlegten „Deſtruction“ der Philoſophie ) ſcheint er die Grundprincipien der Philoſophie des Plato und Ariſtoteles angegriffen, und die Möglichkeit eines bekannten Zuſammenhangs zwiſchen Urſache und Wirkung ge— läugnet zu haben, wodurch er gleichſam der Vorgänger des be— rühmten engliſchen Philoſophen Hume geworden iſt. In ſeinem andern Werke: „Von den Meinungen der Philoſophen“ unter— ſuchte er dieſe Sätze einzeln in Beziehung auf die Principien der phyſikaliſchen Wiſſenſchaften. Wir können aber nicht an— ſtehen, zu ſagen, daß ſeine Einwürfe, ſo weit ſie die reell-bewie— ſenen Wahrheiten der Aſtronomie und anderer inductiven Wiſ— ſenſchaften betrafen, nur noch eine größere Verwirrung der Ideen in ihm ſelbſt ſowohl, als auch in ſeinen Zeitgenoſſen, die er dadurch zur Wahrheit führen wollte, hervorbringen mußten.

6) Geringſchätzung der Naturwiſſenſchaften bei den erſten Chriſten.

Wenn die Araber, die erſten Beförderer der Wiſſenſchaft im Mittelalter, ſich ſchon mit ſo ſchwachen und ſervilen Kennt— niſſen begnügten, ſo läßt ſich leicht errathen, daß bei den früheren Chriſten die Dunkelheit und Verwirrung in allen wiſſenſchaft— lichen Begriffen noch viel größer geweſen ſeyn muß, da die letzten alle Phyſik mit Geringſchätzung, wenn nicht mit völliger Nichtachtung, behandelten. In der That wurde durch mehrere Jahrhunderte alles Studium der Naturwiſſenſchaften, ſelbſt von den erſten und ausgezeichnetſten Schriftſtellern der chriſtlichen Kirche, nicht bloß vernachläßigt, ſondern ſelbſt als ſchädlich widerrathen. Die großen practiſchen Lehren, die ſich jetzt dem menſchlichen Geiſte geoffenbart hatten, und die ernſten Pflichten der Unterordnung des Willens und der Zügelung aller Leiden— ſchaften, welche die neue Religion auferlegte, machten aus jenen Speculationen, die bloß der Neugierde angehören ſollten, einen ſehr tadeluswerthen Mißbrauch der geiſtigen Kraft des Mens ſchen, und viele von den Kirchenvätern ließen, mit verſtärktem

5) M. ſ. Degerando Hist. Comp. des Systemes philos. IV. 124.

224 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

Nachdruck, die Meinung von Sokrates wieder hervortreten, daß die einzig wahre und unſer ſelbſt würdige Philoſophie diejenige iſt, die ſich nur mit unſern gegenwärtigen Pflichten und mit unſern künftigen Hoffnungen näher bekannt macht ). So ſagt Euſe—

6) Brucker, III. 317. Der weiſe und ſonſt fo nüchterne Sokrates ließ ſich hierin von ſeiner Abneigung gegen die Sophiſten ſeiner Zeit viel zu weit führen. Er verwarf ſelbſt in den mathematiſchen Wiſſenſchaften alles als unnütz und ſchädlich, was nicht unmittel- bar bei den Geſchäften des gemeinen Lebens mit Vortheil gebraucht werden kann. „Er befahl deshalb auch, wie Xenophon in feinen „Memor. Soer. IV Cap. erzählt, die Aſtronomie nur fo weit zu „erlernen, daß man die Theile des Jahrs und des Tages kenne, „um auf Reiſen und bei andern Gefchäften ſich darnach zu richten, „und fo viel (ſetzt er naiv hinzu) läßt ſich allenfalls ſchon von „Jägern und Schiffern lernen. Aber die Bewegungen der himm— „liſchen Körper, ihre Entfernung von der Erde, die Urſachen ihrer „Entſtehung u. dergl. kennen zu lernen, davor warnte er ſeine „Schüler auf das Eindringendſte, weil er davon durchaus keinen „Nutzen ſehe, und weil auch der, der ſolche Dinge erforſchen will, „auf ſo viele andere wichtigere und nützliche Unternehmungen „Verzicht thun müſſe. Jene Dinge, ſetzte er hinzu, werden dem „Menſchen doch immer ein Geheimniß bleiben, und den Göttern „ſelbſt kann es nicht anders als unangenehm ſeyn, wenn die „Menſchen dasjenige zu entdecken ſuchen, was ihnen jene ſo ſorg— „fältig zu verdecken ſich bemühen.“ Welche Vorſtellungen eines ſonſt ſo großen Mannes von der Gottheit, und welche Rath— ſchläge, die er auf dieſe Vorſtellungen baut! Wenn die Nachwelt dieſelben genau befolgt hätte, wo wären wir jetzt? Die Gering— ſchätzung aller Wiſſenſchaft und eine allgemeine Barbarei würden ihre Folge geweſen ſeyn. Zu dieſem Extreme wurde er aber ohne Zweifel durch die Sophiſten verleitet, durch welche die Jugend von Athen mit ganz nutzloſen und inhaltsleeren Diatriben hingehalten wurde. In ſeiner edeln Entrüſtung über dieſen Mißbrauch der geiſtigen Kräfte des Menſchen ergriff er die Geißel, um dieſe Verkäufer einer ſehr ſchlechten Waare aus dem Tempel zu jagen, aber er bedachte nicht, daß er durch das hinter ihm offen gelaſ— ſene Thor einem noch viel größeren Uebel den freien Zutritt geſtattete. Sein Johannes, der liebſte und treueſte ſeiner Jünger, Xenophon, ſcheint dieſe Anſicht des Meiſters ganz in ſich aufgenommen zu haben. Indem er die Verbannung ſeines großen Zeitgenoſſen Anaxagoras erzählt, der ebenfalls in der Kenntniß

Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 225

bins (Praee. Ev. XV. 61): „Nicht aus Unkenntniß dieſer Dinge, „die jene bewundern, ſondern aus Verachtung ihrer unnützen „Arbeiten iſt es, daß wir jo klein von dieſen Sachen denken, yund unſern Geiſt zu beſſeren Gegenſtänden wenden.“ Wenn

des geſtirnten Himmels weiter gehen wollte, als es dem ſouve— rainen Pöbel Athens zu gefallen geruhte, der dann, um feine thörichte Wuth zu entſchuldigen, den verfolgten Weiſen für wahn— ſinnig erklärte, ergreift Kenophon dieſe Gelegenheit, feine Leſer alles Ernſtes zu rathen, ſich von dieſem Beiſpiele warnen zu laſſen, ‚und ja nicht zu ſehr der Aſtronomie nachzuhängen, um „nicht Gefahr zu laufen, ſo wie Anaxagoras, darüber den Ver— „ſtand zu verlieren.“ Selbſt Plato, von dem man zu rühmen pflegte, daß er ungewöhnliche Kenntniſſe in der Mathematik und Aſtronomie beſeſſen habe, obſchon feine Werke, ſo vortrefflich dieſe auch in andern Beziehungen ſeyn mögen, davon kein Zeugniß geben, ſelbſt Plato iſt der Aſtronomie, in dem neuern Sinne des Wortes, ſehr abhold. Zu ſeiner Zeit war nämlich das, was die Philoſophen „Aſtronomie“ nannten, ein Theil ihrer Methaphyſik, ein Aggregat von Hypotheſen über den Urſprung und den Zweck des Weltalls, über die Endlichkeit oder Unendlichkeit der Materie, über das primitive Chaos, den Grunditoff aller Dinge, die Welt— ſeele, über das vovg und anelgov, das Aoyog und qrouo, das ro ov und das um ro ov, und was dergleichen Spitzfindigkeiten mehr ſind, die er aber alle gar ſehr in Schutz nimmt und mit ganzer Kraft zu cultiviren räth, während er die auf wirkliche Beobachtungen gegründete Aſtronomie nur als eine Nebenſache verwirft, mit welcher ſich die kleinen unphiloſophiſchen Geiſter bes ſchäftigen mögen, die aber des wahren Weiſen ganz unwürdig iſt. „Die wahren Aſtronomen, ſchließt er, rechne ich daher aller— „dings zu den weiſen Männern, aber nicht die, welche, wie He— „ſiod (?) und alle andern ihm gleichen Aſtronomikaſter (xaı av- „Tag rag rolsreg aspovousvreg) dieſe Wiſſenſchaft dadurch „betreiben wollen, daß fie den Auf- und Untergang der Geſtirne „und dergleichen mehr beobachten, ſondern vielmehr diejenigen, „welche die acht Sphären des Himmels und die große Harmonie „des Weltalls erforſchen, was allein dem Geiſte des von den Göt— „tern erleuchteten Menfchen angemeſſen und würdig iſt.“ Daß aber dieſer Vorſchlag des Heis IIAgrovog, wenn er genau befolgt worden wäre, zu demſelben Ziele geführt hätte, wie der oben erwähnte von Sokrates und Kenophon, obſchon beide von ganz entgegengeſetzten Gründen ausgehen, iſt für ſich klar. L. Whewell. I. 15

226 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

aber die Gedanken der Menſchen abſichtlich von allen Ideen abs gewendet werden, die zu den Naturwiſſenſchaften gehören, ſo kön— nen die letzten wohl nicht anders als dunkel und unbeſtimmt blei— ben. Ja man konnte am Ende auch nicht begreifen, wie Andere beſſere und deutlichere Begriffe über ſolche Gegenftände haben ſollten. Dieſe Menſchen hielten, wie Lactantius (Lib. III. Init.) alle Wiſſenſchaft für eitel und nichtig. „Um die Ur: »ſachen der natürlichen Dinge zu erforſchen, ſetzt er hinzu, und „zu fragen, ob die Sonne auch in der That fo groß iſt, als fie „und erſcheint; ob der Mond convex oder concav iſt; ob die „Fixſterne feſt am Himmel ſtehen oder frei in der Luft ſchwim— „men; von welcher Form und Maſſe der Himmel gemacht wurde; „ob er in Ruhe oder in Bewegung iſt; wie groß die Erde ſeyn „mag, und auf welche Art fie aufgehängt oder im Gleichgewicht „erhalten wird über ſolche Dinge zu forſchen und zu diſpu— »tiren, iſt daſſelbe, als wenn wir über unſere Meinungen von „einer Stadt in einem entfernten Lande ſtreiten wollten, von »der keiner mehr als den Namen derſelben gehört hat.“ Es iſt kaum möglich, die gänzliche Abweſenheit alles klaren Begriffs von phyſiſchen Gegenſtänden ſtärker auszudrücken, als in dieſer Stelle geſchieht.

7) Frage von den Antipoden.

Bei ſolchen Anſichten darf es uns nicht wundern, wenn auch die Folgerungen, die man ſelbſt aus gut begründeten Theo— rien abgeleitet hat, auf eine unvollſtändige und ganz unange⸗ meſſene Weiſe aufgenommen wurden. Man könnte mehrere merkwürdige Beiſpiele von ſolchen Mißgriffen anführen. Eines der auffallendſten iſt die Frage von der Exiſtenz der Anti— poden oder von Menſchen, welche uns gegenüber auf der Ober— fläche der Erde wohnen und deren Füße daher gegen die unſri— gen gekehrt ſind. Die Lehre von der Kugelgeſtalt der Erde folgt, wie wir oben geſehen haben, als eine geometriſche Noth— wendigkeit aus dem klaren Begriff von den verſchiedenen Er— ſcheinungen, die uns die Natur über dieſen Gegenſtand dar— bietet. Dieſe Lehre wurde von den Griechen rein aufgefaßt und ſtetig feſtgehalten, und ſie wurde auch von allen arabiſchen und europäiſchen Aſtronomen, die ihnen folgten, angenommen. Sie

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war in der That ein unveräußerlicher Theil jedes aſtronomiſchen Syſtems, das nur überhaupt die Erſcheinungen der Natur im Großen auf eine faßliche Weiſe darſtellen wollte. Allein jene Menſchen, die von der Natur ganz und gar keinen klaren Be— griff hatten und abſichtlich auch nicht haben wollten, und die alle hieher gehörenden Fragen in einem ganz andern Lichte be— trachteten, jene allein mochten wohl noch als Gegner dieſer Leh— ren auftreten. Und fie thaten dieß auch. Die Exiſtenz von den Bewohnern der uns entgegengeſetzten Theile der Erde war etwas, worauf der Menſch durch Nachdenken und Ueberlegung gekommen war, deſſen Wahrheit aber allein durch die Erfahrung beſtätigt oder widerlegt werden konnte; aber andere Rückſichten, die ſich nicht unmittelbar weder auf den Verſtand, noch auf die Erfah— rung beziehen, und die ſich auf alle Menſchen ohne Unterſchied erſtrecken ſollen, gaben den erſten chriſtlichen Lehrern Mittel an die Hand, ſich gegen die Möglichkeit der Antipoden zu erklären. Lactantius ) gab dieſe feine Erklärungen auf eine Weile ab, welche die Unverträglichkeit dieſer neuen Philoſophen und zugleich die Unbeſtimmtheit und Verwirrung aller, ihrer Begriffe von der Phyſik ſehr deutlich bezeugen. „Iſt es möglich, fagt er „(Lib. III. 23), daß Menſchen fo albern ſeyn können, zu glaus „ben, daß auf der andern Seite der Erde das Getreide und die „Bäume mit ihrer Spitze abwärts hängen, und daß dort die „Menſchen ihre Füße höher als ihre Köpfe haben ſollen? Wenn „man dieſe Philoſophen fragt, wie ſie ſolche Ungereimtheiten „beweiſen, wie fie ſich erklären wollen, warum dort nicht alle „Dinge von der Erde wegfallen, ſo antworten ſie, daß die Na⸗ „tur aller Dinge ſo eingerichtet iſt, daß die ſchweren Körper „gegen den Mittelpunkt der Erde ſtreben, gleich den Speichen

7) Lactantius lebte mit dem oben erwähnten Euſebius im vierten Jahrhundert. Jener wurde ſeines ſchönen Vortrags wegen der chriſtliche Cicero genannt, und feine Divine institutiones in VII Büchern werden als ſein vorzüglichſtes Werk gerühmt. Euſebius Hieronymus, aus Stridon, iſt durch ſeine Polymathie, ſeinen Eifer für die Rechtgläubigkeit und durch ſeine Bibelerklärungen berühmt geworden. Er wird der „Vater der Kirchengeſchichte“ genannt. Anfänglicher Gegner der Arianer ward er ſpäter, als Biſchof zu Cäſarea in Paläſtina, ihr Freund und Vertheidiger gegen den h. Athauaſtus. L.

25 *

228 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

„eines Rades, während die leichten Körper, Wolken, Rauch, „Feuer überall von dem Mittelpunkte weg gegen den Himmel „hin gehen. Ich bin wahrhaftig in Verlegenheit, wie man »ſolche Leute nennen ſoll, die, wenn fie einmal in den Irrthum „gerathen find, dann noch fo hartnäckig in ihrer Thorheit bes »harren, und eine abſurde Meinung durch eine zweite, noch »abſurdere, vertheidigen wollen.“ Es iſt offenbar, daß, fo lange Lactantius den eigentlichen Hauptbegriff der neuen Theorie nicht in ſich aufnehmen will, er auch die Argumente ſeiner Gegner abſurd finden muß, und daß er auf dieſe Weiſe von der Wahrheit der Sache nicht überzeugt werden konnte. Im ſechsten Jahrhundert, unter der Regierung Juſtinians, finden wir einen andern Schriftſteller, Cosmas Indicopleuſtes ), der die Erde als eine längliche Tenne beſchreibt, die mit ſenkrechten Wällen rings umgeben und mit einem Gewölbe überdeckt iſt, unter wel— chem letzten ſich die himmliſchen Körper hin und her bewegen, indem ſie alle um ein gewiſſes ſehr hohes Gebirg rund herum laufen, welches ſich im nördlichen Theil der Erde befindet, und welches zugleich, wenn die Sonne ſich hinter dieſes Gebirge be— gibt, unſere Nächte verurſacht. In den Schriften des h. Au— guſtins (De Civit. Dei, XVI. 9), der um das Jahr 400 lebte, wird die Lehre von den Antipoden auf eine andere Weiſe wider— legt. Ohne die Kugelgeſtalt der Erde läugnen zu wollen, wird doch behauptet, daß die uns entgegenſtehende Seite der Erde nicht von Menſchen bewohnt ſeyn könne, und zwar aus dem Grunde, weil die h. Schrift keiner ſolchen Race unter den Nach— kommen Adams erwähnt. Aehnliche Rückſichten walteten auch bei dem bekannten Prozeſſe des Virgilius vor, des Biſchofs von Salzburg im achten Jahrhundert. Als dem h. Bonifacius, Erz— biſchof von Mainz, berichtet wurde, daß Virgilius die Exiſtenz der Antipoden vertheidige, wurde jener ganz erſchreckt durch die

8) Dieſer Cosmas war ein Alexandriniſcher Kaufmann, der weite Reiſen gemacht, ſich längere Zeit in Indien aufgehalten hatte und ſpäter als Mönch (im Jahr 550) geſtorben iſt. Er trug eine To— pographia Christiana in XII Büchern zuſammen, in der Abſicht, das ptolemäiſche Syſtem zu chriſtianiſiren oder mit der Bibel in Einklang zu bringen. Man findet dieſe Schrift græce et lat. in Montfaucon Coll. patrum. Tom. II. L.

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Annahme einer Welt, die ganz außer dem Bereiche der Erlöſung liegen ſollte, und machte die Anzeige von dieſer Ketzerei bei dem Papſte Zacharias anhängig. Es ſcheint übrigens nicht, daß die Klage zu einer ſtrengen Ahndung geführt habe, und die Erzäh— lung von der Abſetzung des Biſchofs von Salzburg, die Kepler und andere neuere Schriftſteller in Umlauf gebracht haben, iſt ohne Zweifel erdichtet ?). Dieſelben Bedenklichkeiten blieben aber noch lange unter den chriſtlichen Schriftſtellern vorherrſchend, und Toſtatus 1%) erklärte die Meinung von der Rundung der Erde als ſehr bedenklich und gefahrvoll wenige Jahre noch vor der Entdeckung Amerika's durch Columbus.

8) Intellectuelle Stellung der Mönchsorden.

Noch muß bemerkt werden, daß dieſe Meinungen vieler kirchlichen Schriftſteller zwar als ein vorherrſchendes und charak— teriſtiſches Kennzeichen jener Zeit angeſehen werden können, daß ſie aber demungeachtet nicht ſo allgemein verbreitet geweſen ſind, als uns manche glauben machen wollten. Wurden doch auch öfter in aufgeklärten Tagen einzelne, ſelbſt hervorragende Per— ſonen, von einer ſolchen Verwirrung der Begriffe auf Abwege ge— bracht; und ebenſo findet man auch in jenen finſtern Zeiten, wo klare Begriffe jeder Art allerdings ſehr ſelten waren, doch immer auch mehrere, die ſich der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß mit Glück hingegeben, und die alte, wahre Anſicht von der Geſtalt der Erde unverändert beibehalten haben. So führt

9) Bonifaz, der h. Apoſtel Deutſchlands, war im Jahr 680 in Eng— land geboren, wo er in der Taufe den Namen Winfred erhielt. In feinem dreißigſten Jahre ging er als Heidenbekehrer nach Deutſchland, wozu er von Gregor II. in Rom förmlich den Auf— trag erhielt. Gregor III. machte ihn zum Primas von Deutſch— land und Erzbiſchof von Mainz. Er errichtete mehrere Bisthümer in Regensburg, Salzburg, Freiſingen, Erfurt, Würzburg; ver— ſammelte in Deutſchland acht Concilien, ſtiftete die berühmte Abtei zu Fulda und unternahm im Jahr 754 in feinem 7aften Lebensjahre eine neue apoſtoliſche Reiſe zur Bekehrung der Un— gläubigen, wo er aber am 3. Juni 755 von Barbaren auf dem freien Felde erſchlagen wurde.

10) Montfaucon. Patrum Collectio. Vol. II.

230 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

Boethins *) im fechsten Jahrhundert die Kleinheit der Erd— kugel, im Vergleich gegen den Himmel, als einen Grund an, den menſchlichen Stolz zu bekämpfen. Dieſes Werk wurde von dem engliſchen König Alfred in das Angel-Sächſiſche überſetzt, und von dem berühmten Beda commentirt, der ſich, bei Gelegenheit der eben angeführten Stelle, für dieſelbe Lehre erklärt und über— haupt eine nähere Bekanntſchaft mit Ptolemäus und feinen grie— chiſchen und arabiſchen Erklärern verräth. Gerbert, im zehnten Jahrhundert, reiste von Frankreich nach Spanien, um da von den Arabern die Aſtronomie zu erlernen, und er übertraf bald ſeine Meiſter. Auch ſoll er künſtliche Uhren conſtruirt und ein Aſtrolabium von einer beſonderen Einrichtung verfertigt haben. Im Jahr 999 beſtieg er unter dem Namen Sylveſter II. den päpſtlichen Stuhl ). Unter den übrigen Pflegern der Wiſſen— ſchaft, von welchen einige, nach ihrem Fortgange zu ſchließen,

11) Boäthius de Consolat. pr. 7.

12) Bosthius wurde im Jahr 470 in Rom aus einer alten, ange⸗ ſehenen Familie geboren. Seine eigentliche Bildung erhielt er in Athen. Theodorſch, König der Oſtgothen, überhäufte ihn mit Bes weiſen ſeiner Huld und erhob ihn zu den erſten Staatsſtellen. Später wußten ihn feine Gegner bei dem alternden, mißtrauiſchen König zu verſchwärzen, als wäre er den Gothen abhold, und Boethius wurde in ein Schloß zu Pavia eingekerkert und daſelbſt im Jahr 528 auf die grauſamſte Weiſe ermordet. In ſeiner Ju⸗ gend ſchon hatte er viele lateiniſche Ueberfetzungen des Plato, Ptolemäus, Euklides, Archimedes u. a. herausgegeben, die ſein Freund Caſſiodor wegen der Reinheit der Sprache ſehr zu rühmen pflegte. Sein vorzüglichſtes Werk iſt: De Consolatione phikoso- phica, das er im Kerker ſchrieb und das ſpäter in beinahe alle europäifche Sprachen überſetzt worden ift. Beda, mit dem Bei⸗ namen Venerabilis, ein angel⸗ſächſiſcher Mönch im ſiebenten Jahr: hundert, war durch ſeine für jene Zeiten große Beleſenheit berühmt. Wir haben von ihm ein Chronicon (allgemeine Weltgeſchichte) und eine engliſche Kirchengeſchichte. Gerbert oder Sylveſter II., deſſen wir ſchon oben erwähnten, bildete ſich ebenfalls unter den Arabern aus, durchreiste die vorzüglichſten Länder Europa's und ſtarb im Jahr 1003 mit dem Ruhme eines der gelehrteſten Män⸗ ner ſeiner Zeit. Er beſchäftigte ſich vorzüglich mit Mathematik und Philoſophie, und wurde durch feine Kenntniſſe bei feinen ſtupiden Zeitgenoſſen in den Verdacht der Zauberei gebracht. L.

Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 231

eine hinreichend klare Erkenntniß wenigſtens der erſten Ele— mente ihrer Doctrinen beſeſſen haben mögen, nennen wir hier (nach Montucla ““) Adelbold, deſſen Werk „über die Sphäre“ dem Papſt Sylveſter gewidmet war, deſſen geometrifches Rai— ſonnement aber, demſelben Montucla zufolge, unbeſtimmt und phantaſtiſch iſt; Hermann Contractus, ein Mönch von St. Gallen, der im Jahr 1050 ein aſtronomiſches Werk herausgab; William von Hirsanger, der im Jahr 1080 dem Beiſpiel ſeines Vorgängers folgte; und Robert von Lothringen, den Wilhelm der Eroberer wegen ſeiner großen aſtronomiſchen Kennt— niſſe zum Biſchof von Hereford ernannte. Im nächſtfolgenden zwölften Jahrhundert legte ſich Adelhard Goth, ein Engländer, unter den Arabern auf die Wiſſenſchaften, wie es Gerbert im vorbergehenden Jahrhundert gethan hatte, und bei ſeiner Rück— kehr nach England überſetzte er die Elemente Euklids, die er aus Spanien oder aus Aegypten mit ſich gebracht hatte. Ro— bert Grostéte, Biſchof von Lincoln, war der Autor einer „Abhandlung über die Sphäre,“ und Roger Bacon lobt ſehr die mathematiſchen Kenntniſſe des Letzteren, mit dem er ſeine jüngern Jahre verlebt hatte ).

„Und hier, ſagt Montucla in ſeiner Geſchichte der Mathe— „matik, dem ich in dem Vorhergehenden vorzüglich gefolgt bin, yhier kann man nicht umhin, zu geſtehen, daß alle die genann—

13) Montucla. I. 502.

14) Roger Bacon, ein engliſcher Mönch des dreizehnten Jahrhunderts, der ſich durch die Kraft ſeines Genies weit über ſeine Zeit erhob. Er hatte die Univerſitäten zu Oxford und zu Paris beſucht, und ließ ſich im Jahr 1240 als Mönch in dem Franciskanerkloſter zu Oxford nieder. Er beſchäftigte ſich vorzuͤglich mit Phyſik, und ſcheint einen für feine Zeiten an's Wunderbare grenzenden Scharf: ſinn beſeſſen zu haben. Durch ſeine Gelehrſamkeit zog er ſich den Haß feiner Klofterbrüder zu, und als er dem Papſt einen Bor: ſchlag zur Reform des Clerus machte, wurde er in den Kerker geworfen. Der nachfolgende Papſt Clemens IV., der ihn früher als Cardinal perſönlich kennen gelernt hatte, befreite ihn, und unter ſeinem Schutze ſchrieb er ſein berühmtes Werk: Opus majus. Aber unter dem nächſtfolgenden Papſt Nicolaus III. wurde er wieder ſeinen Verfolgern überlaſſen und neuerdings in den Kerker gebracht. Nach zehn Jahren erſt erhielt er ſeine Freiheit, ging nach Oxford zurück und ſtarb daſelbſt bald darauf im Jahr 1294. L.

232 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

„ten Männer, die, wenn ſie auch die Wiſſenſchaften nicht er— „weitert, fo doch uns erhalten haben, daß beinahe alle dieſe „Männer aus den Mönchsklöſtern hervorgegangen ſind. Dieſe „Klöſter waren, während jener rohen und ſtürmiſchen Zeiten, „die Freiſtätten der Wiſſenſchaft geworden. Ohne jene frommen „Männer, die in der Stille ihrer Kloſterzelle die claſſiſchen „Werke der Alten abſchrieben oder ſtudierten oder, ſo gut ſie „konnten, nachzuahmen ſuchten, wären alle dieſe Werke für uns „verloren gegangen, ſo daß wir vielleicht kein einziges derſel— „ben kennen gelernt hätten. Das einzige Band, das uns mit „den Griechen und Römern verbindet, wäre entzwei geriſſen „und die koſtbaren Erzeugniſſe der alten Literatur würden für „ung eben fo für immer verloren ſeyn, wie die Werke jenes „Volkes, wenn es je in der That da geweſen iſt, das, wenn „wir Bailly glauben wollen, in der Vorzeit die Mitte Hochaſiens „bewohnt und bereits alle Künſte und Wiſſenſchaften in dem „Zuſtand einer ſehr weit vorgeſchrittenen Kultur beſeſſen haben »ſoll. Alle durch Jahrtauſende erworbene Kenntniſſe und Er— „fahrungen hätten wir wieder von ihren erſten Elementen be— „ginnen müſſen, und in der Zeit, wo der menſchliche Geiſt wies „der aus feinem langen Schlafe erwacht und von feiner Betäu— „bung zu ſich gekommen wäre, würden wir uns auf derſelben „Stufe der Cultur befunden haben, welche etwa die Griechen „zur Zeit des trojaniſchen Krieges eingenommen haben.“ Dieſe Betrachtungen, ſetzt Montucla hinzu, ſind wohl geeignet, uns Empfindungen gegen dieſe religiöſen Orden einzuflößen, die ſehr von jenen verſchieden ſind, welche ihre Gegner geltend zu machen geſucht haben ).

So weit als ihre religiöſen Anſichten nicht hindernd entge— gen traten, war es wohl zu erwarten, daß Männer, die ihren

15) Andere Anſichten über dieſen Gegenſtand ſ. m. in Gibbon’s History of the decline etc. Cap. 29 und 37. Jedenfalls kann das im Text Gefagte nicht auf die eine Klaſſe der Mönche, auf die Anach o reten, und wohl auch nur mit großen Beſchränkungen auf die andere, die Connobiten, angewendet werden, welche letztere doch noch eine geſellige Verbindung unterhielten, aus der allein die Beförderung irgend eines wiſſenſchaftlichen Zweckes hervorgehen konnte. Was wir mehreren von den ausgezeichneten Stiftungen dieſer Art verdanken, iſt bekannt. L.

Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 233

Studien in zurückgezogener Ruhe lebten, entfernt von allen Zer— ſtreuungen des gewöhnlichen Lebens, den Wiſſenſchaften mit viel größerm Fortgange obliegen konnten, da ihre Begriffe über ſpeculative Gegenſtände Zeit und Gelegenheit hatten, zu reifen, ſich abzuklären und eine gewiſſe ſtetige Feſtigkeit anzunehmen. Die Wiſſenſchaften jener Zeit, als Gegenſtände der gelehrten Bildung und der Cultur überhaupt betrachtet, wurden unter der Benennung der „fieben freien Künſte“ zuſammengefaßt. Das Trivium enthielt die drei erſten dieſer freien Künſte, die Grammatik, Logik und Rhetorik, hatte alſo mit den eigentlich inductiven Wiſſenſchaften nichts gemein. Das Quadrivium aber, welches die vier andern Doctrinen, die Arithmetik, Geo— metrie, Aſtronomie und die Muſik enthielt, konnte nicht wohl mit Erfolg ohne jene drei cultivirt werden, und forderte bereits eine gewiſſe Gewöhnung des Geiſtes an Präciſion in der Beobach— tung und an reine Begriffe von den zu beobachtenden Gegen— ftänden ).

9) Volksmeinungen.

Daß ſelbſt in den beſten Köpfen etwas fehlen mußte, ſie zu wiſſenſchaftlichen Fortſchritten und Entdeckungen zu befähi— gen, iſt ſchon daraus klar, daß die Wiſſenſchaft eine fo lange Zeit durch ſtationär geblieben iſt. Ich habe bereits ge— zeigt, daß eine Urſache davon in dem Mangel aller kräftigen und beſtimmten Ideen über dieſe Gegenſtände gelegen hat. Wenn aber dieſe ſelbſt den ausgezeichnetſten und gebildetſten Männern fehlte, ſo läßt ſich leicht vorausſetzen, daß in den andern gemeineren Klaſſen eine noch viel größere Dunkelheit und Verwirrung aller dieſer Begriffe vorherrſchen mußte. Man nahm in der That allgemein an, ſo roh und widerſinnig uns auch dieſe Annahme jetzt erſcheint, daß die Geſtalt der Erde und des Himmels diejenige iſt, welche ſie uns in jedem

16) M. ſ. Brucker III. 597. Roger Bacon ſagt in ſeiner Specula mathematica, Cap. I: Harum scientiarum porta et clavis est ma— thematica, quam sancti a principio mundi invenerunt ete. Cujus negligentia jam per triginta vel quadraginta annos destruxit totum studium Latinorum. Ich kann nicht ſagen, bei welcher Gelegenheit dieſe Vernachläſſigung eingetreten ſeyn ſoll.

234 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters.

Punkte der Oberfläche der Erde wirklich erſcheint, und daß das Gewäſſer des Himmels ſich an dem maäteriellen Gewölbe des Firmaments befinde, woher es zuweilen als Regen oder Schnee herabſteigt. Doch ſcheinen einige richtige aſtronomiſche Ideen ſelbſt in jener Zeit nicht unpopulär geweſen zu ſeyn. Ein fran⸗ zöſiſches Gedicht „Bild der Welt“ aus den Tagen Eduard II. (um das Jahr 1300) enthält einen metriſchen Bericht von der Erde und dem Himmel, der mit den Anſichten des Ptolemäus übereinſtimmt. In einer Handſchrift davon, die in der Univer- ſitätsbibliothek zu Cambridge aufbewahrt wird, ſieht man übereins ſtimmend mit dem Texte eine kugelförmige Erde abgebildet, auf der an allen Orten Menſchen aufrecht ſtehend dargeſtellt ſind. Um die Neigung aller Körper gegen den Mittelpunkt der Erde zu bezeichnen, wird dieſe Erde in der Richtung mehrerer ihrer Durchmeſſer durchbohrt dargeſtellt, wo die Menſchen Kugeln in dieſe Oeffnungen fallen laſſen, die ſich alle im Mittelpunkt der Erde begegnen. Was die Schwierigkeit betrifft, welche die Begriffe von Oben und Unten mit ſich führen, wenn ſie auf die Kugelgeſtalt der Erde angewendet werden, ſo wie die Ver— änderung der Richtung der Schwere jenſeits des Mittelpunkts der Erde, ſo mögen unſere Leſer die außerordentliche Weiſe be— merken, auf welche Dante mit ſeinem Führer aus dem unterſten Boden des Abgrunds ſich erhebt. Nachdem ſie durch die Oeff— nung gedrungen waren, in der Lucifer wohnt, ſagt der Dichter:

Jo levai gli oichi e credetti vedere Lucifero com’ io l’avea lasciato, E vidili le gambe in su tenere,

. „Questi come & fitto* „Ei sottasopra ?* Quando mi volsi, tu passast' il punto, Al qual si traggon d’ogni parte i pesi.

Inferno. XXXIV.

„Ich erhob die Augen und glaubte Luzifer wieder fo, wie ich „ihn verlaſſen hatte, erblicken zu können, aber ich ſah ihn die „Füße aufwärts halten. Wie iſt denn der (fragte ich) ſo um⸗ „gekehrt geſtellt? Als ich mich wendete (war die Antwort), „gingſt du durch den Punkt, zu welchem die ſchweren Körper „von allen Seiten hingezogen werden.“

Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 235

Dieß iſt gewiß philofophifcher ausgedrückt, als Milton's Darſtellung in einer viel gebildeteren Zeit, der Uriel auf einem Sonnenſtrahl zur Erde gleiten läßt, auf welchem er auch wieder, als die Sonne unter den Horizont geſunken war, zurückfährt.

.. . Uriel to his charge Returned on that bright beam, whose point now raised, Bore him slope downward to the pun, now fallen Beneath the Azores. Parad. Cost. B. IV.

Die richtigen Begriffe von Oben und Unten erleiden durch die täglichen Erſcheinungen zu viele Veränderungen, als daß ſie von einem unwiſſenſchaftlichen Geiſte gehörig feſtgehalten werden könnten. So mag auch die mißverſtandene Lehre von der krum— men Oberfläche des Meeres Gelegenheit zu den Erzählungen ge— geben haben, daß ein Theil des Weltmeers über der Erde ſtehe, ſo daß von ihm zuweilen Körper zur Erde fallen oder Anker herabgelaſſen werden. Auch ſolche wunderliche Einfälle ſind übrigens lehrreich, indem ſie den Leſer immerhin mit jener Dunkelheit und Unbeſtimmtheit der Ideen mehr und mehr be— kannt machen, von denen wir hier zeigen wollten, daß ſie im Mittelalter die vorherrſchenden geweſen ſind.

Wir wollen nun zu einem anderen Charakterzug übergehen, der den Geiſt dieſes Zeitraums, wie mir ſcheint, recht eigentlich bezeichnet.

Zweites Capitel. Der commentatoriſche Geiſt des Mittelalters.

Nachdem die erſten großen Entdecker und Begründer der Wahrheit, in den verſchiedenen Zweigen der menſchlichen Er— kenntniß, das Intereſſe und die Bewunderung aller derer an ſich gezogen hatten, die ſie begreifen und ihnen folgen konnten, da erwachte auch bald darauf, wie wir bereits geſagt haben, eine Neigung unter den Menſchen, ſich dem Anſehen jener großen Vorgänger unbedingt hinzugeben; die Meinungen derſelben zu

236 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters.

ergründen, um dadurch feine eigenen Anſichten zu berichtigen; die Natur nicht in ihr ſelbſt, ſondern nur in Büchern zu ſtu— dieren, und überhaupt mehr auf das zu ſehen, was Andere ge— dacht und gejagt haben, als ſelbſt über die Dinge nachzudenken. Dieſe neue Tendenz des menſchlichen Geiſtes verdient unſere ganze Aufmerkſamkeit, da ihre Wirkungen ſehr wichtig und für das Mittelalter ſehr charakteriſtiſch ſind, und da ſie der ganzen geiſtigen Thätigkeit vieler aufeinanderfolgender Jahrhunderte eine beſondere Richtung, ein eigenthümliches Gepräge gegeben hat. Eine ganz neue Art von Beſchäftigung aller zur Specu— lation ſich hinneigender Köpfe trat nun an die Stelle jener reel— len Prüfungen der Erſcheinungen in der Natur, durch die allein unſere Erkenntniß derſelben wahrhaft gefördert werden kann. In manchen Gegenſtänden, wie z. B. auf dem Gebiete der Moral, der Poeſie, der bildenden Künſte, mag dieſes Widerſpiel zwiſchen früheren Meinungen und der gegenwärtigen Wirklich— keit nicht ſo deutlich hervortreten, da hier, wie man vielleicht ſagen kann, Meinung und Wirklichkeit nicht mehr verſchieden ſind. In den ſogenannten ſchönen, redenden und bildenden Künſten ſind unſere Gedanken, unſere Gefühle gleichſam das Material unſerer Kunſtwerke; fie können als die Inſtrumente, die wir hier anzuwenden haben, angeſehen werden. Wenn wir alſo in ſolchen Gegenſtänden das Studium, oder auch nur das Anfeben des Alterthums verwerfen wollten, fo würde dieß nur unſere Unwiſſenheit, unſere Unbekanntſchaft mit den Gegenſtän— den ſelbſt verrathen, und wir würden, durch ein ſolches Ver— fahren, nur diejenigen zwei Dinge gewaltſam von einander trennen, die wir doch eigentlich zu einem einzigen lebendigen Ganzen ver— binden ſollen ). Aber ſelbſt auf dem Gebiete der Poeſie und der

1) Auch über dieſen ſehr wichtigen Gegenſtand ſind Andere anderer Anſicht geweſen. Ohne hier darüber entſcheiden zu wollen, führen wir bloß die Meinung eines der neueſten Schriftſteller an, dem in Dingen dieſer Art eine Stimme wohl zugeftanden werden wird. Quetelet in ſeinem Werke „Ueber den Menſchen und die Entwick— lung ſeiner Fähigkeiten“ drückt ſich darüber auf folgende Weiſe aus: Der Künſtler, der redende ſowohl, als auch der bildende, der z. B. nur den Typus des griechiſchen Menſchen, nach ſeiner körperlichen oder nach ſeiner geiſtigen Bildung ſtudiert hat, und

Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 237

Geſchichte zeigte ſich die Armuth und Servilität des menſchlichen Geiſtes im Mittelalter auf eine wahrhaft merkwürdige Weiſe.

der ihn dann auch wieder, wie dieſes gewöhnlich geſchieht, bei feinen eigenen Darſtellungen unſerer Zeit benützen will, dieſer Künſtler wird, mit dieſem feinem uns fremden Typus, fo bewunderungs— werth uns derſelbe auch im Allgemeinen erſcheinen mag, ſeine Zu— ſchauer oder Zuhörer doch meiſtens nur kalt und unempfindlich laſſen. Man wird ſeine Kunſt bewundern, aber man wird nicht gerührt, nicht ergriffen werden. Die griechiſchen Phyſiognomieen, (die körperlichen, wie die geiſtigen) haben doch alle einen gewiſſen Familienzug, der uns, ſo bald wir ihn erblicken, ſofort und gleichſam unwillkührlich in das Alterthum verſetzt. Läßt aber der Künſtler dieſen griechiſchen Menſchen, wie im Scaufpiele, ſogar handelnd auftreten, ſo wird der Anachronismus nur um ſo fühlbarer. In der Zeit der Wiedergeburt der Künſte erkannten die Maler und Bildhauer ſehr gut die Nothwendigkeit, nicht das Alterthum, ſondern die um ſie ſelbſt lebende Gegenwart darzuſtellen, und eben dadurch brachten fie fo magiſche Wirkungen hervor. Das Geſicht des Heilandes von Michael Angelo, das Geficht der Madonna von Raphael hat nichts mit der Phyſiognomie gemein, welche die Alten ihrem Zeus oder ihrer Minerva gegeben haben, und doch ſtehen jene modernen Bilder in keiner Beziehung den ſchönſten Formen des Alterthums nach, ja ſie wirken nur um ſo mehr auf uns, als ſie uns ſelbſt und der uns umgebenden Natur entnom— men ſind. Dieſe Künſtler thaten alſo ſehr wohl daran, ihre Dar— ſtellungen auch aus ihren Umgebungen zu nehmen, und den Ty— pus ihres höheren, veredelten Menſchen nicht aus einer früheren, für uns längſt ſchon abgeſchiedenen, ſondern aus ihrer eigenen Zeit zu ſuchen. Man war bisher auf dieſen Gegenftand nicht auf: merkſam genug, aber man wird, bei genauerer Ueberlegung, nicht läugnen können, daß er ſich noch viel weiter fortführen läßt. Einen ſolchen ſtehenden Typus hatte z. B. die preußiſche Armee unter Friedrich II., und die dieſes Gepräge tragen, werden noch jetzt von Jedermann auf den erſten Blick erkannt. Eben ſo hatte in dem franzöſiſchen Heere der Soldat der alten Kaiſergarde einen ihm eigenthümlichen Typus, der klaſſiſch und gleichſam ſprich— wörtlich geworden, und der noch jetzt mit den Erinnerungen an das Kaiſerreich innig verſchmolzen iſt.

So weit Quetelet. Es ſcheint uns, daß dieſe Bemerkungen von unſeren redenden und bildenden Künſtlern bisher zu wenig beachtet worden ſind, und daß dieß wohl die Haupturſache von jener Einförmigkeit und Kälte ſeyn mag, die uns aus den meiſten

238 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters.

Die Geſchichtſchreiber jedes Landes z. B. führen beinahe alle den Urſprung ihres Volkes auf die doch eben nur fabelhaften Er—

neueren Schöpfungen der Imagination, die den Alten nachgebildet ſind, anzuwehen ſcheint. Halten wir doch die Erzählungen von dem Enthuſiasmus für ganz unglaublich, mit welchen ähnliche Erzeugniſſe jener alten Dichter und Künſtler von ihren Zeitge— noſſen aufgenommen worden ſind. Zwar mußten auch wir das Bedürfniß, die Natur ſelbſt zu ſtudieren, dringend fühlen, aber indem wir dieſe Natur für alle Zeiten unveränderlich wähnten, haben wir ſie nicht in ihr ſelbſt, ſondern nur in den Werken der Alten geſucht. Dieſe Alten, vorzüglich die Griechen, haben ohne Zweifel denjenigen phyſiſchen und geiſtigen Menſchen, wie er da— mals lebte, mit außerordentlicher Kunſt geſchildert, und über— raſcht durch die Vollkommenheit ihrer Schilderungen glaubten wir nichts Beſſeres thun zu können, als ſie ſklaviſch nachzuahmen. Aber eben wegen dieſem Glauben ſind wir, in der eigentlichen Naturſchilderung, ſo weit hinter ihnen zurückgeblieben. Als die Römer aus ihrer Barbarei erwachten, fanden ſie die hohe Kultur der Griechen bereits vollendet, ja dem Alter nahend, vor ſich, und ſie hatten, wie ſie glaubten, nichts anderes zu thun, als dieſe hohe Muſter nachzuahmen. Statt ſich, nach dem Bei— ſpiele der Griechen, aus ſich ſelbſt herauszubilden, ließen ſie ihren Geiſt durch ein fremdes, von ihnen beſiegtes Volk, in Feſſeln ſchlagen, und ſie konnten ſich von dieſen Banden nie mehr gänzlich

befreien. Fortan mußte, wer in Rom auf Bildung Anſpruch machen wollte, vorerſt ein Grieche werden. Daher konnte ſelbſt der erſte und größte unter den römiſchen Dichtern, der, wie er ſelbſt ge— ſteht, ſich auch nur auf dieſem Wege gebildet hatte, ſeinen Lands— leuten keinen beſſeren Rath geben, als die exemplaria graeca noc- turna diurnaque manu zu durchblättern. Das Verderbliche, ja das Vergebliche dieſes Rathes ſchien ſchon fein würdiger Zeitgenoſſe zu fühlen, als er denſelben Römern zurief, jenen von Horaz gezeigten Weg lieber ganz zu verlaſſen, und Römer, d. h. Krieger zu bleiben:

Excudant alii mollius aera Tu regere imperio populos, Romane memento, Hae tibi erunt artis :

Virg.

Aber er ſelbſt wurde, ohne es zu willen, mehr als jener, von dem Strome fortgeriſſen, und ſeine Aeneis iſt, aller ihrer großen und ſchönen Stellen ungeachtet, doch nur eine Nachahmung des

Commenkatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 239

zählungen der Dichter von der Entſtehung Roms zurück, oder ſie wählen die Gründer ihres Volkes aus den Helden, die Troja

unſterblichen griechiſchen Epos, hinter welchem fie in allen Haupt— beziehungen weit zurückgeblieben iſt.

Und was war die Folge dieſes Mißgriffs? Daß die Römer, die, als Eroberer, noch heut zu Tage als das erſte Volk der Welt betrachtet werden, in Beziehung auf Wiſſenſchaft und Kunſt gegen die Griechen nur gleich unmündigen Kindern daſtehen. In der That, wenn man die Römer alles deſſen, was ſie von den Griechen gelernt und geraubt haben, wieder entkleidet, ſo können ſie größtentheils nichts, als ihre eigene kahle Blöße zeigen.

Ich beſorge aber ſehr, daß auch unfere eigene ſogenaunte öffent⸗ liche Erziehung, nicht bloß die der Schule, ſondern unſere ganze wiſſenſchaftliche Cultur, ſeit der Wiedererweckung der Wiſſenſchaf— ten im fünfzehnten Jahrhundert bis auf unſere Zeiten, auf einer ähnlichen falſchen Baſis, ja vielleicht auf einem noch ſchlechteren Grunde erbaut worden iſt. In der That, beinahe alle Völker Europa's waren zu der Zeit, als ſie aus ihrer Barbarei hervor— treten ſollten, nahe in derſelben Lage, wie die Römer, als ſie am Ende ihrer Kriege mit Karthago die erſte Bekanntſchaft mit dem Luxus und den Reichthümern Aſiens und mit den Künſten und Wiſſenſchaften Griechenlands gemacht hatten. Sie erwachten beinahe plötzlich aus einer langen Nacht der Unwiſſenheit, und ihr von dem neuen, ungewohnten Lichte geblendetes Auge ſah nicht die lebendige, von allen Seiten ſie umgebende lebendige Natur, ſondern nur den Reflex des göttlichen Lichtes derſelben, wie es ſich in den Werken, in den todten Werken der Griechen und Rö— mer abſpiegelte, in dieſen Werken, die man den halbwilden Völkern Europa's aus der fernen Fremde zugeführt, mit denen man ſie beinahe überſchüttet hatte, und aus denen ſie nun ihren brennen— den Durſt nach Erkenntniß ſtillen ſollten. Hätten fie nur, wenn ihnen keine andere Wahl mehr frei ſtand, gleich jenen Römern, ſich wenigſtens auch den, wenn gleich ebenfalls ſchon längſt ver— ſtorbenen Kindern der Natur, hätten fie ſich nur den Griechen zugewendet, ſo wäre vielleicht noch der größte Theil des Unheils abgewendet worden. Gewiß würde, wenn Plato und Xeuophon, ſtatt Cicero, die eigentlichen Lehrer und Führer des neuern Euro— pa's geworden wären, unſere ganze Literatur eine andere, beſſere Geſtalt erhalten haben. Aber der mißgünſtige Genius, der ihnen bereits den wahren, urſprünglichen Born des Lebens verdeckt, der fie gleich anfangs einen falſchen Weg geführt hatte, warf fie den Römern in die Arme, in deren Feſſeln fie noch liegen,

240 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters.

belagerten, wenn nicht aus den unmittelbaren Familien von Noah oder auch von Adam ſelbſt 2).

und wahrſcheinlich auch noch ferner, ſo lange wenigſtens, liegen werden, als ſie es für ihren höchſten Ruhm halten, es ihren Bor: gängern gleich zu thun, und als ſie ſich ſelbſt unter einander mit der Ehre brüſten, die Affen von den Affen zu heißen. Ohne das viele Gute, das wir den Römern verdanken, zu verkennen, wollen wir doch auch nicht unſere Augen abſichtlich gegen das Beſſere ver— ſchließen. Anweiſung, Lehre und Erziehung jeder Art bedarf der Einzelne, bedarf auch jedes Volk, wenn es zu etwas Bedeutſamem heranwachſen ſoll; aber die eigentliche Ausbildung in letzter In— ſtanz muß doch aus ihm ſelbſt hervorgehen. Dieſe geiſtige Ausbildung der Völker äußert ſich, der Geſchichte zufolge, immer zuerſt in ſeiner Dichtkunſt. Wohlan, haben unſere Barden, haben die Minneſänger und Troubadours des Mittelalters auf dieſer erſten Stufe der Bildung einen ſchlechten Anfang gemacht? Was ließ ſich von einem Volke erwarten, das beinahe noch im Zuſtande der Wildheit einen Oſſian hervorgebracht hat, wenn es auf dem— ſelben ſelbſtſtändigen Wege fortgegangen wäre? Und was hat es, was haben wir endlich alle von dieſen Römern, die doch nur wieder die geiſtigen Sklaven der Griechen geweſen und in den meiſten Zweigen der Literatur gegen dieſe nur unmündige Kinder geblie— ben ſind, was haben wir alle von ihnen, daß wir uns ſo hinzu— drängen, ihnen bei jeder Gelegenheit den Bart zu ſtreicheln? Es iſt fürwahr eine große Ehre für uns, zu geſtehen, daß es vor zweitauſend Jahren große Kinder gegeben hat, die geſcheuter waren, als wir ſind, und als wir wahrſcheinlich auf dieſem Wege auch immer bleiben werden. L.

Den Völkern, welche die moſaiſche Erdgeſchichte angenommen haben, leiſtete die Arche Noah's nahe dieſelben Dienſte, wie früher den Griechen und Römern die Belagerung Troja's. Nach des ge— lehrten Dr. Keatings „Geſchichte von Irland“ (Seite 13 u. f.) landete der Rieſe Portholanus, der Sohn Searas, des Sohnes Eras, des Sohnes Srus, des Sohnes Framants, des Sohnes Fathaclans, des Sohnes Magogs, des Sohnes Japhets, des Sohnes Noah's, am 14. Mai im Jahre der Welt 1978 an der Küſte von Munſter im ſüdlichen Irland. Obſchon ihm ſein großes Unternehmen gelang, machte doch das zügelloſe Leben ſeines Wei— bes ſein häusliches Leben ſehr unglücklich, und reizte ihn endlich in einem fo hohen Grade, daß er ihren Lieblingsfreund tödtete. Das war, wie der grundgelehrte Hiſtoriker hinzuſetzt, das erſte Beiſpiel weiblicher Falſchheit und Untreue, welches je in Irland

2

Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 241

Wie ſich dieß auch übrigens verhalten mag, unſer gegen— wärtiges Geſchäft iſt, die mannigfaltigen Geftalten der Natur— wiſſenſchaften in den verſchiedenen Jahrhunderten darzuſtellen, in der Hoffnung, aus dieſer vorläufigen Betrachtung dann auch einiges Licht über die andern Erkenntniſſe des menſchlichen Geiſtes bringen zu können. In jenen Wiſſenſchaften aber iſt es nur

vorgekommen iſt. Es gab noch im ſiebzehnten Jahrhundert mehrere Alterthumsforſcher von eben ſo großer Gelehrſamkeit als Leichtgläubigkeit, welche bei dem düſtern Licht von Legenden, Sagen, Chroniken und Etimologieen die Urenkel Noah's vom Thurm Babels bis an die entfernteſten Zeiten vor uns rückwärts zu füh— ren wußten. Einer der unterhaltendſten dieſer einſichtsvollen Ge— ſchichtsforſcher iſt Olaus Nudbek, Profeſſor an der Univerſität zu Upfala (+ 1702).

Sein berühmteſtes Werk iſt die „Atlantica sive vera Japheti posterorum sedes ac patria. Upsala, 1675. III. Vol.“ in Fol. Was die Alten von der Atlantis erzählten, wendet er in dieſem Werke auf Schweden an, und behauptet, von großer antiquariſcher und hiſtoriſcher Beleſenheit unterſtützt, daß Sch weden die wahre At— lantis des Plato ſey, und daß nicht nur Griechen und Römer, ſondern auch Engländer, Deutſche und andere europäiſche Völ— ker aus Schweden abſtammen. Von Schweden erhielten die Grie— chen ihr Alphabet, ihre Aſtronomie, ihre Religion. Gegen dieſes wonnevolle Land, denn ſo erſcheint ihm ſein Vaterland, waren die Atlantis des Plato, das gerühmte Land der Hyperboräer, die Gärten der Hesperiden, die glücklichen Inſeln, ja ſelbſt die ely— ſäſſchen Felder nur ſchwache, unvollkommene Abbildungen. Ein von der Natur ſo verſchwenderiſch begünſtigtes Klima konnte, un— ſerem Hiſtoriker zufolge, nach der Sündfluth nicht lange unbe— wohnt bleiben, und da er der Familie des Noah nur einige wenige Jahre geſtattet, um ſich von 8 bis auf 20,000 Perſonen zu ver— mehren, fo muß er dieſe Nachkommenſchaft auch bald in einzelne Kolonieen theilen und ſie ausziehen laſſen, um die Welt zu be— völkern. Die nach Schweden beſtimmte Kolonie zog unter Aske— naz, Sohn Gomers, Sohn Japhets aus, und war bald ſo frucht— bar, daß ſie, gleich einem Bienenſtock, ſeine Schwärme nicht nur in Schweden ſelbſt, ſondern auch über den größten Theil von Eu— ropa, Afrika und Aſien ausgoß, ſo daß, mit des Autors Metapher zu reden, das Blut dieſes großen Volkskörpers wieder von den Extremitäten zu dem (aſiatiſchen) Herzen zurückſtrömte, von dem es gekommen war. L.

Whewell J. 16

242 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters.

allzugewiß, daß man ſich der Mühe, eigentliche Beobach— tungen anzuſtellen, im Mittelalter größtentheils, wo nicht ganz zu überheben fuchte, indem man an die Stelle derſelben Sammlungen und Auszüge und Erläuterungen der früheren Autoren ſetzte. So wurden die Beobachter durch Commentatoren, die Induction und Autokritik durch Beleſenheit, und die großen Entdeckungen durch große Gelehrſamkeit erſetzt.

1) Natürlicher Hang zur Autorität.

Die Hinneigung zu fremder Autorität iſt, wie man leicht ſieht, in der Natur des Menſchen begründet, und ſie äußert ſich auch bei ſeinen geiſtigen Functionen. Ergebung in das Anſehen eines weiſen, verſtändigen Mannes, ein Hang, den wir weder verwerfen können noch wollen, ſcheint den Menſchen in practiſchen ſowohl, als auch in bloß ſpeculativen Dingen gleichſam angeboren. Die meiſten fühlen eine Art von Genugthuung, von Troſt dar— in, zu wiſſen, daß es andere, weiſe, ſcharfſinnige, höhere Men— ſchen gegeben hat, die ſich von den gewöhnlichen Irrthümern des Lebens frei gemacht haben. Das Vergnügen, welches uns die Bewunderung dieſer Männer verſchafft, und auch wohl die Be— quemlichkeit, die wir dem Vertrauen auf ſolche Männer verdanken, macht uns dieſen Glauben meiſtens ſehr willkommen. Auch gibt es wohl noch andere Gründe, die uns gern annehmen laſſen, daß es in allen Zweigen der Wiſſenſchaft Geiſter von vorzüglicher Stärke gegeben habe, die wir nur zu leſen und zu ſtudiren brauchen, um ebenfalls in den Beſitz aller der Wahrheiten zu gelangen, zu welchen jene ſich aus eigener Kraft erhoben haben. Der dem Menſchen inwohnende Trieb zur Geſelligkeit findet es angenehmer, mit den Gedanken ſeines Nachbars, im Geſpräch oder in der Schrift, als mit der todten Maſſe der Natur zu verkehren, die kein Mitgefühl in ihm erregt, und das bloße Aufſuchen der Geſetze dieſer für ihn todten Natur gewährt ihm lange nicht die freund— lichen Genüſſe, die er in der Geſellſchaft von Plato und Ariſto— teles und von anderen großen Männern des Alterthums findet. Ein großer Theil dieſes geſelligen Umgangs mit den Geiſtern der Vorzeit hat überdieß feine beſonderen Reize für denkende Menſchen, da er in bloßen Folgerungen aus einmal als unbe— zweifelt angenommenen Principien beſteht, in Folgerungen de—

Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 243

ductiver Art, gleich denen der Geometrie, die meiſtens ohne große Anſtrengung gemacht werden können, die viel Selbſtbe— ruhigung und zugleich eine unerſchöpfliche Quelle von geiſtigen Genüſſen gewähren.

Dieſe und andere Gründe erwecken gewöhnlich die Kritiker und die Commentatoren zu einer Zeit, wenn die Erfinder ſich zu verlieren beginnen; wenn die bereits geſammelte Maſſe von Entdeckungen ſich anhäuft und nicht mehr gut überſehen werden kann, und wenn endlich, wie dieß gewöhnlich der Fall iſt, die geiſtige Kraft und die Hoffnungen der Menſchen durch bürgerliche und politiſche Unglücksfälle geſchwächt wird. Dieſem gemäß zeichnete ſich die Alexandriniſche Schule aus durch den Geiſt der Gelehrſamkeit, der kritiſchen Beurtheilung, der Auslegung und der Nachahmung alles deſſen, was vorher in den Wiſſenſchaften geleiſtet worden war, und dieſelbe Thätigkeit, die zum erſtenmale in ihrer ganzen Kraft in dem Muſeum herrſchte, wurde auch ſpäterhin, bei allen ähnlichen Gelegenheiten, als das leitende Princip jedes academiſchen Inſtituts wieder erkannt >).

3) Dieſem Geiſte, der in der alexandriniſchen Schule lebte, und der mehr auf Ausbreitung als auf innere Intenſität der Gelehrſam— keit bedacht war, wurde auch die Bibliothek dieſes Inſtituts angemeſſen eingerichtet. Die ägyptiſchen Ptolemäer hatten dieſes Denkmal ihrer Liebe zur Literatur errichtet. Der ſchönſte Theil von Alexandrien hieß Bruchion, und hier prangten, nahe an dem großen Hafen, die königlichen Paläſte. Hier befand ſich auch das oben erwähnte Muſeum oder das academiſche Gebäude der Alexandriniſchen Schule, in welchem die Hälfte der großen Bibliothek in 400,000 Bänden, aufgeſtellt war; die andere Hälfte, von 300,000 Bänden, ſtand im Serapion, dem Tempel des Jupiter Serapis. Dieſe größte aller Bibliotheken des Alter— thums hatte ſehr traurige Schickſale und wurde dreimal zerſtört. C. J. Cäſar, ſelbſt einer der ausgezeichnetſten Schriftſteller der Alten, der eine große öffentliche Bibliothek in Rom angelegt und ſie dem gelehrten Varro zur Aufſicht übergeben hatte, Cäſar ſelbſt war der erſte Zerſtörer dieſer Bibliothek. Wahrend ſeiner Belagerung Alexandriens brannte das Muſeum ſammt ſeiner Bibliothek, wohl ohne Cäſars Schuld und gewiß ohne ſeinen Willen, gänzlich ab. Jene 400,000 Bände oder Rollen, welche die ganze römiſche, griechiſche, indiſche und ägyptiſche Literatur um— faßten, wurden ein Raub der Flammen. Cäſar hat es nicht für

16 *

244 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters.

Wie natürlich es den Menſchen immer geweſen iſt, irgend einen großen Mann aus ihrer Mitte als ihren oberſten Leiter zu wählen, und ihm außerordentliche Geiſteskraft zuzuſchreiben, ſehen wir in der Art, wie Griechenland ſeinen Homer zu ver—

angemeſſen gefunden, in ſeinen Commentarien dieſes Unfalls zu erwähnen. (M. ſ. die Sammlungen Freinsheims, Supplem. Livian. Cap. 12. 43.) An die Stelle dieſer Bibliothek trat nachher die ſogenannte Pergamiſche Bücherſammlung, die Antonius der Kleo— patra zum Geſchenk gemacht hatte. Dieſe Bibliothek von Pergamus ſoll aus 200,000 Bänden beſtanden haben. Nahe vierhundert Jahre ſpäter, i. J. 390 nach Ch. G. unter der Regierung des Arcadius, wurde der Tempel des Serapis von den Chriſten unter Anführung ihres Erzbiſchofs Theophilus zerſtört, wobei auch die hier aufgeſtellte Bibliothek gänzlich zu Grunde ging, ſo daß der Geſchichtſchreiber Oroſius, mehrere Jahre nachher, nur noch die leeren Schränke ſehen konnte. Nos vidimus armaria librorum exinanita a nostris hominibus (Oros. L. VI. Cap. 15). Im Jahre 640 wurde dieſelbe Stadt, nach einer vierzehnmonatlichen Belas gerung, von Amru, dem erſten Feldherrn des Chalifen Omar, mit Sturm eingenommen. Man kennt die Antwort, die Omar gegeben haben ſoll, und nach welcher die Papyrus- und Pergament: rollen der Bibliothek in 4000 Bäder der Stadt vertheilt wurden, wo davon durch ſechs Monate die Feuerung dieſer Bäder beſtritten wurde. So wird dieſe Geſchichte von Abulpharagius (Dynaſt. S. 114 Ueberſetzung von Pokok) erzählt, eines arabiſchen Schriftſtellers, der aber erſt ſechshundert Jahre ſpäter an der Grenze von Medien gelebt hat. Allein zwei Annaliſten früherer Zeit, Eutychius und Elmacin, erwähnen derſelben nicht, obſchon der erſte dieſe Eroberung Alexandriens weitläufig beſchrieben hat. (M. f. Gibbon's Geſch. des röm. Reichs Cap. 51, und Libri's Hist. des sciences math. en Italie.) Noch ſchlechter ging es der großen Bibliothek, welche die erſten griechiſchen Kaiſer in ihrer neuen Hauptſtadt Conſtantinopel angelegt hatten, und die Leo III. oder der Iſaurier, der berüchtigte Bilderſtürmer in feinem fanati— ſchen Eifer, zugleich mit den ſämmtlichen Gelehrten dieſer Stadt, an einem Tage verbrennen ließ, wie Zonaras, An- nales. Par. 1686. Vol. II. p. 104 mit folgenden Worten erzählt: Eos (doctos) demum dimisit Leo in aedes illus regias, multamque materiam aridam circum eos collocatam, noctu incendi jussit, atque ita aedes cum libris et doctos illos ac venerabiles viros combussit. L.

Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 245

ehren pflegte. Ihre lebhafte Phantaſie wußte in ſeinen Gedichten den Urſprung aller Künſte und Wiſſenſchaften zu entdecken, und dieſe Anſichten haben ſelbſt in den neueren Zeiten noch manchen Beifall gefunden. Denn andere Beiſpiele zu übergehen, wollen wir bloß bemerken, daß Strabo ſeine Geographie mit den Worten beginnt, daß er vollkommen mit Hipparch übereinſtimme, der den Homer den erſten Begründer aller unſerer geographiſchen Kenntniſſe nennt. Auch beſchränkt Strabo dieſe Benennung nicht etwa nur auf die verſchiedenen topographiſchen Nachrichten, die man in der Ilias und der Odyſſee über die Gegenden finden kann, die das mittelländiſche Meer umgeben, ſondern er findet auch in denjenigen Ausdrücken des Dichters, die offenbar bloß der poetiſchen Fiction angehören, ganz unzweideutige Beweiſe von tiefen geographiſchen Kenntniſſen. Homer ſpricht z. B. von der Sonne, „die ſich über den ſanft und tief hinfließenden Ocean „erhebt;“ oder von ihrer „hellen Gluth, die ſich in das Weltmeer „taucht ;“ oder von den Sternbildern im Norden, „die unbenetzt „bleiben von den Wogen des Meeres,“ oder endlich von Jupiter, „der zu dem Ocean herabſteigt, um mit den tadelloſen „Aethiopiern zu fchmaufen“ und alle dieſe Ausdrücke find für Strabo eben ſo viele Beweiſe der tiefen geographiſchen Kenntniſſe ſeines Homers.

2) Charakter der Commentatoren.

Der Geiſt der Commentation wendet ſich viel lieber zu Ge— genftänden des Geſchmacks, der Philoſophie und der Moral, als zu den eigentlichen Naturwiſſenſchaften. Daher bilden die ſoge— nannten Kritiker und die Grammatiker den eigentlichen großen Haufen dieſes Volkes. Und obſchon dieſe Commentatoren zuweilen auch mathematiſche oder phyſiſche Gegenſtände zu ihren Bearbei— tungen wählen (wie z. B. Proklus, der die Elemente der Geome— trie von Euklid commentirte, oder Simplicius, der die Phyſik des Ariſtoteles bearbeitete), ſo ſind doch auch dieſe Commentatio— nen mehr philoſophiſcher als rein mathematiſcher Art. Nur ſelten oder nie wußten dieſe Leute ihren Autor ſo zu commentiren, daß ſie die Behauptungen deſſelben ihren eigenen Prüfungen und Experimenten unterwarfen. Wenn z. B. Simplicius die Lehre des Ariſtoteles von dem „leeren Raume“ erläutern will, fo führt er die

246 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters.

Behauptung des Stagiriten an, daß ein mit Aſche gefülltes Gefäß eben ſo viel Waſſer aufnehmen könne, als ein ganz leeres, citirt dann auch wohl noch die Meinungen einiger anderer Schrift— ſteller, aber er bringt ſelbſt keinen eigenen Verſuch, durch welchen er ſelbſt die Wahrheit der Sache beſtätiget hätte. Eudemus hatte geſagt, daß die Aſche etwas Heißes in ſich enthalte, gleich dem ungelöſchten Kalke, und daß dadurch etwas von dem Waſſer verdampft werde; andere meinten wieder, das Waſſer werde durch die Aſche verdichtet und was dergleichen mehr iſt ).

Des Commentators eigentliche Sache iſt Erläuterung; er will das Werk, auf das er ſelbſt ſich ſtützt, dem Zuſtande der Bildung und der Meinungen ſeiner eigenen Zeit anpaſſen; dunkle Stellen aufklären, und Lücken ausfüllen, aber nicht neue Wahrheiten hinzufügen oder auch nur die alten erweitern. Er beſchränkt ſich darauf, wieder zu geben, was er in ſeinem Autor gefunden hat; er will nur alte Sätze entwickeln, nicht aber neue aufſtellen. Er pflegt und beſorgt nur fremde Ge— danken; er bearbeitet nicht ſeinen eigenen Boden, er pflügt mit fremden Stieren, und ſelbſt ſeine Ernte ſoll nur die Scheune eines Andern füllen. Demnach arbeitet er nicht wie ein freier Mann, ſondern nur als ein gedungener Sklave; er gehört zu dem Geſinde, nicht zu den ſelbſt producirenden Arbeitern ſeines Gebieters, und ſeine Pflicht iſt es, den äußeren Glanz des fremden Hauſes durch ſeine Dienſte zu ſchmücken, nicht aber den inneren Wohlſtand deſſelben durch eigene Erfindungen zu ver— mehren.

So untergeordnet aber auch dieſes Geſchäft eines Commen— tators anderen erſcheinen mag, ſo iſt doch er ſelbſt gewöhnlich nur zu ſehr geneigt, dieſem Geſchäfte eine viel größere Wichtig— keit beizulegen. Es es allerdings ſehr nützlich, ein gutes Buch zu erläutern, und wenn irgend ein Mann ein ſolches Geſchäft gehörig vollführt, ſo würde es ohne Zweifel ſehr un— billig ſeyn, ihm Vorwürfe zu machen, daß er nicht noch mehr gethan hat. Aber wer lang und mühſam mit einem Buche ſich beſchäftiget hat, iſt gewöhnlich geneigt, dieſer ſeiner Mühe einen höheren Werth beizulegen, als ſie in der That verdient; ihm erſcheint das von ihm bearbeitete Feld viel größer, als es

4) Simplicius S. 170.

Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 247

wirklich iſt, und er kommt endlich in ſeiner Selbſtgenügſamkeit dahin, ſein Geſchäft als das höchſte des menſchlichen Geiſtes zu betrachten, zu dem nur das ausgezeichnetſte Talent zugelaſſen werden kann. Den Plato oder den Ariſtoteles zu verſtehen, iſt ihm der Gipfel des Scharfſinns und der Gelehrſamkeit. Wenn er dann einen guten Theil dieſer voluminöſen Bände durchge— macht hat, fo ſieht er mit ſelbſtgefalligem Stolz auf den glücklich zurückgelegten Weg, auf die Zeit und Mühe, die er darauf verwendet, auf die Hinderniſſe, die er beſiegt hat, und glaubt ſich nun berechtigt, ſich ſelbſt auch als einen Meiſter anzuſehen und neben ſeinem Ideale aufzuſtellen. Als einen Beleg zu dieſer Philautie kann man die Rede betrachten, die Henry Savile am Schluſſe ſeiner jährlichen Vorleſungen über den Euklid an die Univerſität zu Oxford gehalten hat: „So „habe ich denn alſo, meine Herren Zuhörer, mit der Gnade „Gottes mein Verſprechen gehalten, und bin nun meines Wortes „entbunden: denn ich habe nun, nach meinen beſten Kräften, „die Definitionen und Poſtulate und Axiome nebſt den acht erften „Sätzen der Geometrie des Euklides glücklich geendet ). Und

6) Exsolsi per Dei gratiam, Domini auditores, promissum et liberavi fidem meam: explicavi pro meo modulo definitignes, petitiones, communes sententias et octo priores propositiones Elementorum Euclidis. Hic, annis fessus, cyclos artemque repono. Diefem können wir, als Seitenſtück, noch eine andere Schlußrede beifügen, die Odofredi gehalten hat, der im XIII. Jahrhundert zu Bologna die Digeſten lehrte: Ergo finivimus ſibrum istum et est consuetudo, quod nunc cantatur missa ad honorem Sancti Spiritus, et est bona consu:tudo, ideo est etiam tenenda. Sed quia moris est, quod Doctores in ſine libri dicant aliqua de suo proposito, dicam vobis aliqua, pauca tamen. Et dico vobis, quod in anno sequenti in- tendo docere ordinarie et bene et legaliter, sicut unquam feci: extraordinarie autem non credo legere, quia scholares non sunt boni pagatores (weil die Schüler ſchlechte Zahler find); quia vo— lunt scire, sed nolunt solvere, juxta illud: „scire volunt omnes, mercedem solvere nemo.“ Non habeo vobis plura dicere, eatis cum benedictione Domini, tamen hene veniatis ad missam, et rogo Vos, Odolredus. Und doch fanden die Profeſſoren jener Zeit, beſonders in Italien, in ſehr hohen Beſoldungen, die ſie, wie man ſieht, noch durch andere Vorleſungen, für welche ſie ſich von den

248 Commentatoriſcher Geift des Mittelalters.

„nun will ich, vom Alter niedergedrückt, meine Zirkel und „meine Kunſt niederlegen.“

Wir ſprechen aber hier von dem genöhnbchee Verfahren dieſer Commentatoren. In beſondern Fällen wurde allerdings auch wohl der commentirte Autor gebraucht, um auf ihn, als auf einer neuen Baſis, ein ganz anderes, dem Autor ſelbſt fremdes Syſtem aufzuführen, wie z. B. die Neuplatoniker mit den Schriften Plato's gethan haben. Solche Commentatoren, deren es mehrere im Mittelalter gegeben hat, gehören aber in eine ganz andere Klaſſe.

3) Griechiſche Commentatoren des Ariſtoteles.

Die Schüler und Nachfolger dieſes großen Philoſophen nahmen nicht gleich anfangs, und nicht auf einmal, jenen ſervilen commentatoriſchen Charakter an. Zuerſt war ihr Geſchäft, das Fehlende in den Schriften ihres Lehrers zu erſetzen, die einge— ſchlichenen Irrthümer zu verbeſſern, und auch den Inhalt der— ſelben zu erklären. So hat, unter den erſten Commentatoren des Stagiriten, Theophraſt fünf Arten von Syllogismen aufgeſtellt, ſtatt den vier, die Ariſtoteles ſelbſt gegeben hatte, wie jener auch zugleich die Regeln für den hypothetiſchen Syllo— gismus genauer beſtimmt hat. Theophraſt ſammelte auch noch mehrere naturhiſtoriſche Nachrichten, beſonders über die verſchie— denen Thiere und Pflanzen, die Ariſtoteles überſehen hatte. In vielen Gegenſtänden weicht er ganz von ſeinem Lehrer ab, wie 3: B. über den Salzgehalt des Meerwaſſers, den Ariſtoteles der Ausdunſtung des Waſſers durch die Sonnenſtrahlen, Theophraſt aber den Salzlagern auf dem Meeresboden zuſchrieb. Porphy— rius, im dritten Jahrhundert, ſchrieb ein Werk über die „Prä— dicabilien,“ das als eine ſo angemeſſene Ergänzung zu den „Prädicamenten oder Categorien“ des Ariſtoteles angeſehen ward, daß es dem letzten gewöhnlich, als ein integrirender Theil deſſelben, angebunden wurde (m. ſ. Buhle. Ariſtot. I. 284). Beide zu⸗

Zuhörern eigens zahlen ließen, zu vergrößern ſuchten. Die Uni— verſität von Bologna koſtete zu dieſer Zeit der Stadt jährlich zwanzigtauſend Ducaten, nahe die Hälfte ihrer ganzen Revenüen. M. f. Libri, Hist. des sc. math. L.

Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 249

ſammen wurden bis auf die neuern Zeiten als ein Elementar— buch zum höheren Unterricht gebraucht. Dieſe fünf Prädicabilien ſind die fünf Stufen, die man gewöhnlich bei der Eintheilung mehrerer zuſammenhängender Dinge betrachtete, nämlich das Genus, Species, Differentia, Individuum und Aceidens. Die zehn Categorien des Ariſtoteles aber find die Titel, unter welche ſich die verſchiedenen Sätze oder die Eigenſchaften der Dinge bringen laſſen, nämlich Substantia, Quantitas, Relatio, Qualitas, Spatium, Tempus, Positio, Habitus, Actio und Passio.

In den folgenden Zeiten wurden die Commentatoren des Stagiriten immer ſerviler. Sie folgten ihm Wort für Wort, und erläuterten ſeine Lehren und Ausdrücke oft mit ſchleppender Weitwendigkeit, indem ſie einzelne Worte in ganze Sentenzen, und Sentenzen in lange Paragraphe ausdehnten. Hieher gehört z. B. Alexander Aphrodienſis, der im zweiten Jahrhundert zu Athen, und fpäter zu Alexandrien die ariſtoteliſche Philoſophie vortrug, und der wegen ſeiner Gewandtheit in der Auslegung ſeines Meiſters vorzugsweiſe der Exeget genannt wurde. Sein Commentar iſt, wie der neueſte Herausgeber der Werke des Ariſtoteles [Buhle. 1. 288] ſagt, öfter nützlich, aber durch die Weitſchweifigkeit ſeines Styls, durch ſeine Sucht, alle Sätze des Ariſtoteles ſelbſt zu discutiren, und durch die immerwähren— den Vertheidigungen ſeiner eigenen, und die Widerlegungen der fremden Meinungen, macht er den Text ſeines Meiſters in vielen Fällen nur noch dunkler, ſtatt ihn aufzuhellen. Mehr als einmal verſuchten es auch dieſe Commentatoren, beſonders die aus der Alexandriniſchen Schule, ganz entgegengeſetzte Meinungen der früheren Philoſophen zu vereinigen, oder wenn ſie ſich nicht vereinigen ließen, doch auf eine gewaltſame Weiſe unter einander zu verbinden. Simplicius z. B. und mehrere Ale— randriniſche Philoſophen, Alexander, Ammonius und andere, mühten ſich vergebens ab, die Lehren des Pythagoras, der Eleatiker, der Stoiker, ſo wie beſonders die des Plato und Ariſtoteles, unter einander zu vereinigen 8). Boethius hatte ſich vorgenommen, die geſammten Werke des Plato und Ariſto— teles in die lateiniſche Sprache zu überſetzen ), und die Ueber—

6) Buhle. I. 311. 7) Degerando, Hist. des Sciences. IV. 100.

250 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters.

einſtimmung ihrer Lehren zu zeigen, ein Rieſenwerk, das er nie ausführen konnte. Andere mühten ſich wieder ab, die Verwir— rungen, die durch ſolche Uebereinſtimmungsverſuche entſtanden waren, wieder aufzulöſen, wie z. B. Johann der Grammatiker, der unter dem Namen Philoponus (Arbeitsfreund) bekannter iſt, und der gegen das Ende des ſiebenten Jahrhunderts den weitläufi— gen Beweis führen wollte, daß Proklus und Porphyrius den Ari— ſtoteles völlig mißverſtanden, und daher ſich vergebliche Mühe gegeben haben, die Lehren des Stagiriten mit der neuplato— niſchen Schule, oder auch wohl mit Plato ſelbſt in eins zu verſchmelzen ). Andere wieder wurden Verfaſſer von Auszügen, Epitomen und Compendien, durch welche ſie ihre Autoren in eine einfachere, dem Leſer mehr faßliche Form gießen wollten,

8) Degerando. IV. 100 und 155. Dieſer Philoponus, der letzte Schü— ler des Ammonius, von dem wir eine Meſſung des Umfangs der Stadt Rom haben, war es, der die oben erwähnte Verbrennung der Alexandriniſchen Bibliothek durch die Araber zu verhindern ſuchte. Amru hatte nach einer hartnäckigen Belagerung dieſe Stadt endlich eingenommen, und ſchrieb dem Chalifen Omar: „Dieſe große Stadt des Weſtens enthält 4000 Palläſte, eben ſo „viele Bäder, 400 Theater oder Beluſtigungsorte, 12,000 Buden „zum Verkaufe von Eßwaaren und 40,000 zinspflichtige Juden. „Die Stadt iſt durch die Gewalt der Waffen, durch Sturm, ohne „Kapitulation, eingenommen worden, und die getreuen Muſel— „männer dürſten nach der Frucht ihres Sieges (d. h. nach Plün⸗ „derung der Stadt). Aber der Beherrſcher der Gläubigen verwarf „mit Feſtigkeit jeden Gedanken an Plünderung, und befahl ſeinem „Stellvertreter, die Schätze der Stadt zum Beſten des Glaubens „zu verwenden. (M. ſ. Eutychius, Annal. Vol. II. p. 316.) Nicht „ſo dachte Omar in Beziehung auf die Bibliothek. Amru, der die „Wiſſenſchaften und die Gelehrten liebte, ließ in ſeinen Muſe— „ſtunden den oben erwähnten Philoponus öfter zum Geſpräche „laden. Durch dieſen vertrauten Umgang ermuthigt, wagte es „Philoponus, um die Erhaltung der Bibliothek zu bitten, deren „Schickſal in der allgemeinen Verwirrung nach der Einnahme der „Stadt noch nicht beſtimmt worden war. Amru war geneigt, dem „Wunſche ſeines gelehrten Schützlings zu willfahren, aber ſeine „itrenge Redlichkeit wollte zuerſt die Einwilligung feines Beherr— „ſchers einholen, worauf er die bekannte Antwort erhalten haben „fol.“ L.

Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 251

wie Joannes von Damascus, in der Mitte des achten Jahrhun— derts, der mehrere Auszüge aus den ariſtoteliſchen Werken machte und der zuerſt das Studium dieſes Philoſophen in die Theologie einführte. Dieſe beiden Schriftſteller lebten unter dem Schutze der Araber, jener unter Amru, dem Eroberer Aegyptens, und dieſer als Secretär des Chalifen, von welchem er ſich ſpäter in ein Kloſter zurückzog ).

Zu dieſer Zeit wurden, an der Stelle der Griechen, die Araber die Pfleger und Beſchützer der Philoſophie. Juſtinian hatte durch ein eigenes Edict die athenienſiſche Schule, die letzte, wo noch die heidniſche Philoſophie gelehrt wurde, geſchloſſen, und Leo der Iſaurier, der eifrige Bilderſtürmer, verbot alle Schulen, wo nebſt dem Chriſtenthume auch noch andere Wiſſen— ſchaft vorgetragen wurde “). Doch zog ſich die Reihe der

9) Degerando. IV. 150.

10) Degerando. IV. 150. 163. und 167. Die philoſophiſchen Schulen Athens wurden noch viele Jahrhunderte nach ihren berühmten Stiftern von Griechen und von Fremden häufig beſucht, und von den weiſeſten und tugendhafteſten der römiſchen Kaiſer beſchützt. Ha— drian ſtiftete in Athen eine öffentliche Bibliothek mit einem Por— ticus von hundert Säulen, mit Gemälden und Statuen geſchmückt. Die Antonine wieſen den Lehrern, die bisher von ihren Zuhörern unterhalten wurden, bedeutende Gehalte aus der Staatskaſſe an. Selbſt unter den Nachfolgern Conſtantins rühmte man noch die Freigebigkeit der Kaiſer gegen dieſe berühmten, und wenigſtens wegen ihres Alterthums und ihres ehemaligen Glanzes verehrten Anſtalten. Die ſpätern Einfälle der Gothen und anderer barba— riſcher Völker des Nordens wurden ihnen wohl verderblich, aber doch nicht in dem Grade, als die Einführung eines neuen Cultus. Die überlebende Secte der Platoniker beſonders hatte ſich einem ſchwärmeriſchen Geiſte der Forſchung, hatte ſich dem Aberglauben und der Magie übergeben, und da ſie in der Mitte der neuen chriſtlichen Welt allein blieb, nährte ſie hartnäckig ihren Abſcheu vor der Regierung und vor der neuen Kirche. Proklus und Iſidor, im fünften Jahrhundert, werden als die zwei letzten großen Lehrer dies ſer athenienſiſchen Schulen gerühmt. Aber die „goldene Kette der Platoniker,“ wie fie mit Vorliebe genannt wurde, reichte auch noch, nach dem Tode dieſer beiden Männer, ununterbrochen fort bis zu dem Edicte des Kaiſers Juſtinianus I., des ſogenannten Geſetzgebers, i. J. 529, durch welches den Schulen von Athen

252 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters.

Commentatoren des Ariſtoteles, obſchon ſchwach genug, bis zu den letzten Zeiten des griechſchen Kaiſerthums fort. Die Kaiſerin Anna Comnena erwähnt eines gewiſſen Ereſtratus, der mora— liſche und dialectiſche Abhandlungen verfaßt hatte, und den ſie nicht anſteht, wegen ſeines Talents in philoſophiſchen Discuſ— ſionen über alle Stoiker und Platoniker zu erheben. Nicephorus Blemmydes ſchrieb ebenfalls logiſche und phyſiſche Auszüge für den Unterricht des Joannes Ducas (F 1255); Georg Pachymeus verfaßte ein Epitome der ariſtoteliſchen Philoſophie und ein Compendium ſeiner Logik; Theodor Metochytes, zu ſeiner Zeit berühmt durch Eloquenz und Gelehrſamkeit, gab eine Paraphraſe der Bücher des Ariſtoteles über Phyſik, über die Seele, und über den Himmel “). Dieſer Metochytes ſoll, wie Fabricius ſagt, behauptet haben, daß alle Philoſophen, und beſonders Plato und Ariſtoteles, die Meinung und das Anſehen ihrer Vorgänger verſchmäht und verworfen haben. Es konnte ihm wohl nicht entgehen, wie ganz anders die Philoſophie zu ſeiner eigenen Zeit betrieben wurde.

4) Griechiſche Eommentatoren über Plato und andere.

Wir haben bisher vorzüglich von Ariſtoteles geſprochen, da er es war, an welchem ſich die Commentatoren jener Zeiten beſonders zu üben pflegten. Der Name ſeines großen Neben—

ewiges Stillſchweigen auferlegt wurde. Sieben Freunde, die letz⸗ ten Lehrer dieſer Schulen, flohen nach Perſien, wo ſie unter Chosroes, der den Titel eines Beſchützers der Wiſſenſchaften affec— tirte, Schutz und Unterſtützung zu finden hofften. Sie fanden ſich nur zu bald in ihren Erwartungen getäuſcht, und wollten wieder zurückkehren, indem fie, wie fie ſagten, es vorzogen, an den Grenzen ihres Vaterlandes zu ſterben, als dieſe Gunſtbe— zeigungen der Barbaren zu genießen. Chosroes ſendete ſie zurück, nachdem er in ſeinem Friedensvertrage mit Juſtinian bedungen hatte, daß ſie von den Strafen, mit welcher der letzte alle ſeine noch heidniſchen Unterthanen belegt hatte, frei bleiben ſollten. Dieſe letzten „ſieben Weiſen von Griechenland,“ unter denen der vorzüglichſte Simplicius war, endeten ihr Leben im Vaterlande in Friede und Dunkelheit (M f. Gibbon. XL. Cap.). L.

11) Degerando. IV. 168.

Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 253

buhlers Plato glänzte zwar, bei ſeinen Verehrern, in keinem minder hellen Lichte, aber dieſe „Neuplatoniker,“ wie ſie genannt wurden, hatten ſo viele und ſo große Aenderungen mit den Lehren ihres Meiſters vorgenommen, daß ſie eine ganz eigene Art von Commentatoren zu bilden ſcheinen. Bemerken wir jedoch zuerſt, wie ſchnell ſich die Nachbeter dieſer beiden Philoſophen aus ſich ſelbſt zu vermehren wußten. Porphyrius, der den Ariſtoteles commentirte, wurde wieder von Ammonius commentirt; die ſechs Enneaden des Plotinus wurden von Proklus und Dexippus commentirt; der ältere Pſellus war der Paraphraſt von Ariftoteles, und der jüngere Pſellus, im eilf— ten Jahrhundert, machte den Verſuch, die neuplatoniſche Schule wieder herzuſtellen. Der erſte von dieſen beiden Schriftſtellern hatte zu ſeinen Zöglingen zwei in der Geſchichte berühmte Männer, den Kaiſer Leo VI., den ſogenannten Philoſophen, und Photius, den Patriarchen von Conſtantinopel, die beide das Reich der Wiſſenſchaft in Griechenland wieder herſtellen wollten. Wir beſitzen noch die Sammlung von Auszügen des Photius, die, gleich jenen des Stobäus und anderer, die Hin— neigung ihres Zeitalters zur Compilation, zu Excerpten und Epitomen, d. h. zum Erlöſchen alles wiſſenſchaftlichen Lichtes bezeugen.

5) Arabiſche Commentatoren des Ariſtoteles.

Man könnte vielleicht erwarten, daß die griechiſche Phi— loſophie, indem ſie zu einem Volke überging, das einen ganz anderen Charakter hatte und unter gänzlich verſchiedenen Verhältniſſen lebte, jener Reihe von ſervilen Commentatoren ein Ende gemacht und neue Wahrheiten zu Tage gefördert haben werde. Auf dieſe Weiſe hätten die arabiſchen Schulen in Bagdad ſich erheben können, gleich denen der Peripatetiker, der Acade— miker, der Stoiker in Athen, ja jenes Volk hätte wohl auch den ganzen Boden, auf dem ſpäter Copernikus, Galilei, Lavoi— ſier und Linnee ihre Syſteme erbauten, fur ſich ſelbſt vorweg nehmen können. Von allem dem aber iſt nichts geſchehen. Die Araber können, in der Philoſophie und in der Wiſſenſchaft überhaupt, keinen wahrhaft großen Mann aus ihrer Mitte nennen, und keine bedeutende Entdeckung, die einen weſentlichen

254 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters.

Einfluß auf den Fortgang und die Beſtimmung des Menſchen— geſchlechts hatte. Sie fügten ſich knechtiſch in die geiſtige Dienſt— barkeit der Nation, die ſie durch ihre Waffen beſiegt hatten, und ſie ſpannten ſich ſelbſt an daſſelbe Sklavenſeil, um gemein— ſchaftlich mit den Griechen den Triumphwagen des Plato und Ariſtoteles zu ziehen. Auch werden wir uns, bei näherer Ueber— legung, über dieſen Mangel an geiſtiger Kraft bei einem ſchein— bar jugendlichen Volke nicht eben ſehr verwundern dürfen. Die Araber waren nicht gehörig vorbereitet, die Schätze zu genießen und anzuwenden, die ihnen gleichſam von ſelbſt in die Hände fielen. Wie die meiſten halbgebildeten Volker lebten ſie nur für ihre vaterlaͤndiſchen Dichtungen, durch die wohl ihre Phantaſie, aber nicht ihr Verſtand, nicht ihre höheren ſpeculativen Fähig— keiten erweckt und geübt werden konnten. Sie nahmen die Philoſophie der Griechen plötzlich in ſich auf, ohne früher durch alle jene Stufen der brennenden Neugierde und der jugendlich kühnen Forſchungsluſt gegangen, ohne aus der Nacht in die Dämmerung und dann erſt in das helle Licht der Erkenntniß, ohne aus dem Lande des Zweifels in das der Wahrheit und der Entdeckung übergegangen zu ſeyn, wodurch der Geiſt der Griechen erweitert, geübt und zu ihren Forſchungen gleichſam zubereitet worden iſt. Auch hatten die Araber nie, gleich den Griechen, jenes individuelle Selbſtgefühl, jene unabhängige Willenskraft, jene geiſtige Freiheit genoſſen, die nur aus der Freiheit der politiſchen Einrichtung eines Landes entſpringt. Ihnen fehlte jene mittheilende geiſtige Thätigkeit, die nur in kleineren Ge— meinden wohnt; ihnen fehlte jene erhebende Begeiſterung, die aus dem allgemeinen Mitgefühle, der Bewunderung einer Ver— ſammlung von gebildeten Zuhörern entſpringt, und kurz ihnen fehlte die Nationalerziehung, die ſie allein hätte fähig machen können, würdige Schüler des Plato und des Ariſtoteles zu werden. Darum wurden ſie auch von ihren neuen literariſchen Schätzen mehr erdrückt und unterjocht, als bereichert und geſtärkt, und da es ihnen an dem Sinn für wahre geiſtige Freiheit mangelte, ſo waren ſie ſchon zufrieden, ſich der Leitung des-Ariſtoteles und an— derer dogmatiſchen Philoſophen hinzugeben. Ihr kriegeriſches Leben hatte ſie gewöhnt, einem Führer zu gehorchen, und ihre unbe— grenzte Verehrung für das ihnen auferlegte religiöſe Geſetzbuch hatte ihnen auch die Annahme eines philoſophiſchen Korans leicht

Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 255

gemacht. Auf dieſe Weiſe überſetzten die Araber, zwar nicht die griechiſchen Dichter, aber dafür deſto eifriger die griechiſchen Philoſophen, und ſie überſetzten dieſelben Wort für Wort, ohne Abweichung und ohne ſich an ihrem Originale irgend eine Aen— derung oder einen Zuſatz zu erlauben. Sie wurden alle Ariſto— teliker. Sie ſtudierten nicht blos den Ariſtoteles ſelbſt, ſondern auch die Commentatoren des Ariſtoteles, und die ohnehin ſchon ſo große und unnütze Heerde der letzteren wurde von ihnen noch vermehrt. Die philoſophiſchen Werke des Stagiriten hatten eigentlich ſchon vor dem Anwachs der arabiſchen Macht ihren Weg nach Oſten gefunden. Schon im ſechsten Jahrhundert hatte Uranus, ein Syrier, aufgemuntert durch des Königs Chosroes Liebe zur Philoſophie, mehrere Schriften des Ariſtoteles über— ſetzt 2), und um dieſelbe Zeit gab auch Sergius ſeine ſyriſchen Ueberſetzungen einiger griechiſchen Philoſophen. Im ſiebenten Jahrhundert überſetzte Jacob von Edeſſa die Dialectik des Ari— ſtoteles und fügte dem Werke ſeine Anwendungen bei. Dieſe Arbeiten wurden allmälig ſehr zahlreich und die erſten Ueber— ſetzungen des Ariſtoteles durch die Araber wurden beinahe alle in die Syriſche oder in die Perſiſche Sprache gemacht.

Die arabiſchen Ausleger des Stagiriten, ſo wie auch ſchon früher viele von den alexandriniſchen, gaben ihrer Philoſophie einen eigenen Anſtrich, zu dem ſie die Farben aus einer beſonderen Quelle ſchöpften, die wir ſpäter unter dem Namen des Myſti— cismus beſprechen werden. Uebrigens tragen ſie beinahe alle ſehr deutlich das jeder Commentation eigenthümliche Gepräge. An der Spitze derſelben ſteht Alkindi !“), der an dem Hofe Almamons gelebt zu haben ſcheint, und der Commentationen zu dem ari— ſtoteliſchen Organon geſchrieben hat. Alfarabi aber war die glänzendfte Zierde der philoſophiſchen Schule zu Bagdad. Er umfaßte die Mathematik, die Aſtronomie, die Arzneikunde und die Philoſophie. Aus einer hohen Familie entſproſſen, und mit einem reichen Erbe ſeiner Väter ausgeſtattet, führte er doch ein ſehr ſtrenges Leben, und weihte ſich ganz dem Nachdenken und der Wiſſenſchaft. Mit Vorliebe bemühte er ſich, beſonders den Inhalt des ariſtoteliſchen Werks von der Seele zu erktären.

12) Degerando. IV. 196. 13) Degerando. IV. 187. 205.

256 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters.

Avicenna (oder Eba Sina) war zugleich der Ariſtoteles und der Hippokrates der Araber, und ohne Zweifel der ausgezeichnetfte Mann, den dieſes Volk hervorgebracht hat. In dem Laufe eines unglücklichen, ſtürmiſchen Lebens, überhäuft von Vergnü— gungen und politiſchen Geſchäften, wußte er doch Werke zu ſchreiben, die lange Zeit nach ihm als das höchſte Geſetzbuch der Wiſſenſchaft in Ehren geſtanden find, Seine medieiniſchen Werke beſonders, obſchon fie wenig mehr als eine Compilation von Hippokrates und Galenus ſind, wußten doch die Stelle dieſer beiden, ſelbſt an den europäiſchen Univerſitäten, einzu— nehmen; ſie wurden zu Paris und Montpellier als hohe Muſter verehrt, und zwar bis zu dem Ende des ſiebenzehnten Jahrhunderts, wo ſie plötzlich in beinahe gänzliche Vergeſſenheit fielen. Meh— rere neuere Autoren ſind der Anſicht, daß Avicenna eine eigene, originelle Kraft in ſeinen Darſtellungen der Logik und Meta— phyſik des Ariſtoteles gezeigt habe. Unter den ſpaniſchen Ariſtotelianern zeichnete ſich beſonders Averroes (Ebn Roſhd) aus, welcher der allgemeine Führer der Schulmänner wurde, die ihn dem Ariſtoteles zur Seite, oder ſelbſt noch über ihn ſtellten ). Da er der griechiſchen Sprache nicht mächtig war, fo überſetzte er den Ariſtoteles aus dem Syriſchen. Er war mehrere Jahrhun— derte durch nur unter dem Namen des Commentators bekannt, und er verdiente dieſen Titel allerdings ſchon durch die Servilität, mit welcher er behauptete, daß Ariſtoteles alle Wiſſenſchaften auf den größtmöglichen Grad ihrer Vollendung gebracht, daß er den ganzen Kreis des menſchlichen Wiſſens ausgemeſſen, und die Grenzen deſſelben für immer feſtgeſetzt habe. Demungeachtet erblickt man in den Werken des Averroes mehrere Spuren der neuplatoniſchen Philoſophie, die doch dem Ariſtoteles gewiß ganz fremd geweſen iſt. Diejenigen ſeiner Schriften, die er gegen Algazel, dem arabiſchen Skeptiker, geſchrieben, haben wir ſchon oben erwähnt.

Nachdem ſolchergeſtalt die Suprematie des Ariſtoteles von den Männern der Schule einmal allgemein anerkannt war, ſo verſuchten ſie nun auch, in der Verehrung ihres großen Führers, einen Schritt weiter zu gehen. So entſtand allmäh— lig aus dem bisherigen Syſtem der Commentation das neue

14) Degerando. IV. 247. Averroes ſtarb i. J. 1206.

Myſticismus des Mittelalters. 257

des Dogmatismus, von dem wir in dem vierten Kapitel ſprechen wollen, nachdem wir zuerſt noch einen anderen, wichti— gen Charakterzug unſeres ſtationären Zeitraumes beobachtet haben werden.

Drittes Capitel. Myſticismus des Mittelalters.

Wir hatten ſchon öfters Gelegenheit zu bemerken, daß ſich bereits in der alexandriniſchen Schule ein neues, beſonderes Element in die Philoſophie eingeſchlichen hat, welches den Spe— culationen der folgenden Jahrhunderte eine eigene Färbung zu geben ſchien. Wir wollen dieſes Element Myſticismus nennen, da der Leſer aus der jetzt üblichen Bedeutung dieſes Worts leicht den eigentlichen Charakter jenes Elements ableiten wird, beſonders wenn wir ihm mehrere ſpecielle Fälle deſſelben vorgeführt haben werden. Statt z. B. die Erſcheinungen der Außenwelt, wie uns dieſelben durch die Sinne dargeſtellt werden, auf Raum und Zeit, oder auf die bisher gewöhnliche Verbin— dung von Urſache und Wirkung zu beziehen, fing man jetzt an, jene Erſcheinungen auf geiſtige und überſinnliche Relationen zurückzuführen, auf höhere Intelligenzen oder auf theologiſche Ob— jekte, auf den Zuſammenhang der vergangenen und zukünftigen Ereigniſſe einer moraliſchen Welt, auf gewiſſe Zuftände des Gemüths und vorzüglich endlich auf Ausgeburten einer neuen eingebil— deten Mythologie, die man durch die Benennung der Dämos nologie zu bezeichnen pflegte. Auf dieſe Weiſe wurde die Phyſik zur Magie, die Aſtronomie zur Aſtrologie, die Philoſo— phie ging in eine Art von Theoſophie über, das Studium der Zuſammenſetzung der natürlichen Körper artete in Alchemie aus, und die Mathematik ſelbſt wurde auf eine Contemplation der geiſtigen Eigenſchaften der Zahlen und der Figuren beſchränkt.

Die Betrachtung dieſes Zuſtandes des menſchlichen Geiſtes iſt für die Geſchichte der Wiſſenſchaften ſehr wichtig, da ſie auf den eigentlichen Charakter des Mittelalters den größten Einfluß

hat. Dieſe Hinneigung zum Myſticismus gab allen Arbeiten Wgewell. 1. 17

258 Myſticismus des Mittelalters.

und Gedanken der Menſchen, in Beziehung auf ihre geiſtige Ausbildung, eine ganz beſondere Richtung. Zuerſt entſtand aus dieſer Quelle die ſchon öfter erwähnte „neuplatoniſche Phi— loſophie“ unter den Griechen, und die ihr entſprechende Doctrin unter den Arabern, und da durch dieſe Philoſophie auch die Alchemie, die Magik und die Aſtrologie in hohes Anſehen kamen, ſo wurde dadurch der ganzen gebildeten oder auf Bildung Anſpruch machenden Welt eine falſche Richtung gegeben. Auf dieſe Weiſe wurde aber auch aller Fortſchritt der Wiſſenſchaft ver— zögert oder ganz verhindert, denn wir werden bald ſehen, daß die Wiſſenſchaft durch jene Verkehrtheit und Mißleitung des menſchlichen Geiſtes viel mehr verloren hat, als ſie durch irgend einen Zuwachs des Eifers gewinnen konnte, der aus den über— ſpannten Hoffnungen und Erwartungen dieſer Myſtiker in der That hervorgegangen ſeyn mag.

Es iſt nicht unſere Abſicht, eine allgemeine Ueberſicht von den Fortſchritten und Schickſalen dieſer myſtiſchen Philoſophie zu geben. Wir wollen uns begnügen, einige charakteriſtiſche Züge derſelben herauszuheben, die auf den dadurch veran— laßten Verfall der Wiſſenſchaften vorzüglich eingewirkt haben. Der leitende Faden in dieſem Labyrinth iſt aber der bereits oben erwähnte Hang, alle Dinge und Erſcheinungen nicht auf be— ſtimmte und klare, durch die Sinne gegebene Verhältniſſe, nicht auf allgemeine, der Pruͤfung durch Beobachtung fähige Geſetze, ſondern bloß auf ſolche vage, entfernte und bloß ima— ginäre Notionen zurückzuführen, die wir mit unſern Beobach— tungen und Experimenten in keinen weitern Zuſammenhang bringen können, weil ſie zu einer ganz anderen, von der uns hier umgebenden, ganz verſchiedenen Welt gehören. Der eigent— liche Charakter des Myſticismus beſteht darin, daß er die ein— zelnen Erſcheinungen in der Natur, nicht den zunächſt höheren, homogenen ſondern daß er ſie ganz heterogenen und unendlich weit von uns entfernten Urſachen unterordnet, und daß dieſe Unterordnung, wie man noch hinzuſetzen muß, nicht aus einem Akt des ruhigen Verſtandes, ſondern nur aus einer bloßen Aufwallung der erhitzten Pbantaſie hervorgeht.

Myſticismus des Mittelalters. 259

1) Neuplatoniſche Theoſophie.

Der Neuplatonismus iſt das erſte Beiſpiel dieſer myſtiſchen Philoſophie, die wir hier näher zu betrachten haben. Der Hauptpunkt, auf welchen wir unſere Aufmerkſamkeit richten wollen, iſt jene Lehre von einer intellektuellen Welt, die un— mittelbar aus dem Akt des „göttlichen Geiſtes,“ als aus der „einzigen Realität“ hervorgeht, verbunden mit einer Sehnſucht nach der Vereinigung der menſchlichen Seele mit dem göttlichen Geiſte, welche Vereinigung der Zweck unſerer Exiſtenz ſeyn ſoll. Die „Ideen“ Plato's waren, für dieſen Philoſophen, bloße Formen unſerer Erkenntniß; für die Neuplatoniker aber wur— den ſie wirkliche Weſen, ja eigentlich die einzigen in der Welt wirklich exiſtirenden Gegenſtände, und das unzugäng— liche Schema des Univerſums, das nur aus dieſen Ideen beſtehen ſoll, wurde als das größte und höchſte Objekt aller philoſophiſchen Contemplationen aufgeſtellt. Das Verlangen des menſchlichen Geiſtes, ſeinem Schöpfer und Erhalter näher zu kom— men und in eine unmittelbare geiſtige Verbindung mit ihm zu treten, kann zu einer Gedankenreihe leiten, die der Aufmerkſam— keit eines religiöſen Philoſophen in hohem Grade würdig ſeyn mag; aber ein Beſtreben dieſer Art, ſelbſt wenn es wohl geord— net und auf Offenbarung geſtützt iſt, kann doch kein Mittel ſeyn, in den Naturwiſſenſchaften Fortſchritte zu machen. Wenn es aber endlich bloß das Reſultat einer phantaſtiſchen Exaltation iſt, ſo kann es den menſchlichen Geiſt leicht in eine Lage verſetzen, in welcher er ganz unfähig für alle eigentliche Wiſſenſchaft wird. Dieſer Hang, eine übernatürliche Urſache mit den äußeren Erſcheinungen der materiellen Natur in Gemeinſchaft zu bringen, muß daher als rein myſtiſch, und als eine von denjenigen Quellen betrachtet werden, aus welchen der Verfall der Wiſſenſchaften im Mittel— alter abzuleiten iſt. Die neuplatoniſche Philoſophie aber iſt eine der merkwuͤrdigſten Formen dieſes Myſticismus.

Obſchon Ammonius Saccas, am Ende des zweiten Jahr— hunderts, gewöhnlich als der Gründer der neuplatoniſchen Schule angeſehen wird, ſo gebührt dieſe Auszeichnung doch eigentlich ſei— nem Schüler Plotinus, ſowohl wegen den verſchiedenen Schrif— ten, die wir von ihm größtentheils noch beſitzen, als auch wegen

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260 Myſticismus des Mittelalters.

dem Enthuſiasmus, den ſein Charakter und ſeine Sitten in den Schülern und Nachfolgern dieſes immerhin außerordentlichen Mannes aufgeregt hat. Sein ganzes Leben war der Betrachtung, der Milde und der Selbſtverläugnung geweiht, und er ſtarb im zweiten Jahre der Regierung des Claudius (i. J. 270).

Sein Schüler Porphyrius hat uns eine Lebensbeſchreibung des Plotinus hinterlaſſen, aus welcher wir ſehen können, wie ſehr das Betragen des letzteren geeignet war, auf Andere lebhaften Ein— druck zu machen. „Plotinus, der Philoſoph unſerer Zeit,“ ſo be— ginnt Porphyrius ſeine Schrift, „erſchien uns als ein höheres Weſen, »das beſchämt iſt, einen Körper zu bewohnen. Mit ſolchen Anſichten „war es ihm ſchon unerträglich, von ſeiner Familie, von ſeinen „Aeltern, von ſeinem Vaterlande weiter zu ſprechen. Nie gab er „zu, daß fein Körper von einem Maler oder von einem Bildhauer „vorgeftellt werde, und als einſt Aurelius ihn um die Erlaubniß „erſuchte, eine Abbildung von ſeinem Geſtchte zu nehmen, ant— „wortete er: Iſt es nicht genug, daß wir dieſen Körper, in „welchen uns die Natur eingeſchloſſen hat, mit uns herumtragen „»müſſen; ſollen wir auch noch ein länger dauerndes Bild von „diefem Kerker entwerfen, als ob die Anſicht deſſelben fo „was Großes wäre.“ Und dieſelben Geſinnungen behielt er auch bis an ſein Ende. Als er ſchon mit dem Tode rang, ſagte er: „Ich gehe nun, das Göttliche, das in uns wohnt, „mit dem Göttlichen des Univerſums zu vereinigen.“ Alle ſeine Nachfolger ſahen auf ihn nur mit Verehrung, mit unge— wöhnlicher Bewunderung herauf, und Porphyrius, fein Schüler, ſammelte von den Lippen ſeines großen Lehrers die ſechs Ennea— den ſeiner Lehre, die er in eine eigene Ordnung brachte und mit beſonderen Anmerkungen verſah.

Es iſt nicht ſchwer, in dieſer Schrift des Porphyrius hin— längliche Beiſpiele jener myſtiſchen Speculation aufzufinden, durch welche ſich die Neuplatoniker ausgezeichnet haben. Die intelligible Welt, heißt es (VI. Ennead. III. 1), der Realitäten oder Eſſenzen entſpricht der Sinnenwelt in allen einzelnen Klaſſen der Dinge, welche ſie enthält. Zu jener intelligiblen Welt er— hebt ſich der menſchliche Geiſt auf einem dreifachen Wege, auf dem der Muſik, auf dem der Liebe, und auf dem der Philoſophie (II. Ennead. II. 2). Die Thätigkeit der menſchlichen Seele wird von Plotinus mit der Bewegung des Himmels identificirt.

Myſticismus des Mittelalters. 261

„Dieſe Thaͤtigkeit, ſagt er, hat um einen Mittelpunkt ſtatt „und iſt daher kreisförmig; aber ein Mittelpunkt iſt nicht daſſelbe „»in einem Körper und in einem Geiſte; in jenem iſt der Mittel: „telpunkt etwas locales, in dieſem aber iſt er Das, von dem alles „Uerbige abhängt. Doch beſteht zwiſchen beiden eine Analogie; denn „wie in dem einen, ſo muß auch in dem andern ein mittlerer „Punkt ſeyn, und wie die Kugel ſich um ihr Centrum dreht, fo „wird auch die Seele des Menſchen durch ihre geiſtigen Triebe „um Gott, als um ihren Mittelpunkt, bewegt.“

Der Beſchluß dieſer Enneaden “*) iſt der Annäherung, der Vereinigung und des Genuſſes der menſchlichen Seele mit Gott gewidmet. Auch hier beginnt der Verfaſſer wieder mit ſeiner Analogie zwiſchen der kreisförmigen Bewegung der Seele und jener des Himmels. „Wir drehen uns, ſagt er, um ihn, wie „in einem Chorreigen; ſelbſt wenn wir uns von ihm wenden, „bewegen wir uns nur um ihn. Nicht immer wenden wir unſer „Auge zu ihm, aber wenn wir es thun, zieht ſogleich Ruhe und „Zufriedenheit in uns ein, und eine unausſprechliche Harmonie, „die dieſer göttlichen Bewegung eigenthümlich zukommt. Bei „oiejer Bewegung ſucht unſer Geiſt die Quelle des Lebens, „den Born des Weltalls, den Urſprung aller Weſen, den Grund „»der Tugend und die Wurzel aller Geiſter (VI. Ennead. IX. „S. 9.) Dermaleinſt wird die Zeit für uns kommen, wo dieſer „Anblick immerdauernd ſeyn, wo die Seele nicht mehr von dem „Körper geſtört werden, wo fie nichts mehr von ihm zu leiden „haben wird. Aber das, was anblickt, iſt nicht das, was ae: »ſtört wird, und wenn dieſer Anblick verdunkelt wird, jo wird „dadurch nicht auch die Erkenntniß verfinſtert, die in dem Be— »weiſe, in dem Glauben, in der Vernunft liegt; und dieſer An— „blick ſelbſt iſt noch nicht Vernunft, ſondern größer, als Ver— „nunft, und ſchon vor aller Vernunft da geweſen.“

Im fünften Buche der dritten Enneade wird der Dämon beſprochen, der jedem Menſchen beigegeben ſeyn ſoll. Die hier gegebene Lehre ſcheint darauf hinzugehen, daß die Liebe, dieſe gemeinſame Quelle aller Leidenſchaften, in eines jeden Menſchen Herz zugleich „der Dämon iſt, der ihn überall begleitet.“ Dieſe

1 Der Name Enneaden wurde von Porphyrius gewählt, weil ſein

Werk aus ſechs Theilen beſteht, deren jeder neun Bücher enthält.

262 Myſticismus des Mittelalters.

Dämonen werden aber, wenigſtens von den ſpätern Schriftſtellern dieſer Schule, mit einem ſichtbaren Körper, mit einem eigenen Charakter bekleidet, ähnlich der menſchlichen Geſtalt und dem menſchlichen Charakter. Es iſt ſonderbar, zu ſehen, wie dieſe unhaltbare und viſionäre Geiſterſeherei doch wieder zurückfällt in das Gebiet der Sinne und der Körperwelt, nachdem ſie ſich vergebens abgemüht hat, ſich in jener luftigen Höhe ſchwebend zu erhalten. Dieſe philoſophiſchen Phantasmagorien riefen end— lich auch den Wunſch hervor, jene Dämonen oder ſichtbare Genien ſich dienſtbar zu machen, und die Abhandlung über die Myſterien der Aegyptier, die man dem Jamblichus zuſchreibt, gibt uns Nachricht von den geheimen Ceremonien, von den myſtiſchen Worten und den Sühnopfern, durch welche jener Zweck erreicht werden ſoll ).

16) Dieſe neuplatoniſche Schule gelangte erſt in der Mitte des dritten Jahrhunderts nach Ch. G. zu Anſehen, zu welcher Zeit die ſtoiſche Philoſophie ihrem gänzlichen Verfalle nahe war, und jenes Anſehen währte bis gegen die Mitte des ſechsten Jahrhunderts, wo K. Juſtinian den bereits erwähnten Befehl ertheilte, alle heidniſchen philoſophiſchen Schulen Griechenlands zu ſchließen, und wo die letzten Lehrer derſelben zu Chosroes nach Perfien flächteten. Dieſe neuplatoniſche Schule nahm mit der größten Duldſamkeit beinahe alle älteren Syſteme in ihren Schooß auf, daher ſie auch ſo viele Freunde und Anhänger fand, die über die ganze griechiſch— römiſche Welt verbreitet waren. Nur einen Gegner hatte ſie, mit dem fie ſich nie abfinden wollte und konnte das Chriſten— thum, an deſſen Klippen ſie auch endlich ſcheiterte. Ihr vereintes Streben war dahin gerichtet, dieſe neue religiöſe Lehre zu unter— graben, und mit ihr eben ſo unduldſam zu verfahren, als dieſe ſelbſt gegen alle Andersdenkende verfuhr aber ihr Beſtreben gereichte zu ihrem eigenen Untergang und zur Verherrlichung ihres Feindes. Die Neuplatoniker ſtrebten nach der Erkenntniß des Höchſten, des Abſoluten, und nach inniger Vereinigung mit demſelben, um dadurch die Beſtimmung des Menſchen, Erfaſſung des Alls, Heiligkeit und Seligkeit zu erlangen, wozu, nach ihrer Lehre, nur Anſchauung (Oewgıa) des Abſolute führen ſollte.

Plotinus war i. J. 205 zu Lycopolis in Aeypten geboren, und hörte zu Alexandrien den berühmten Ammonius Saccas. Unter K. Gordianus zog Plotinus als Soldat gegen die Perſer, und am Ende dieſes unglücklichen Feldzugs ging er nach Rom, wo

Myſticismus des Mittelalters. 263

Es wird für unſern Zweck nicht nöthig ſeyn, dieſe Schule bis zu ihrem Ende im ſechsten Jahrhundert zu verfolgen, oder ihre

er ſeine neue philoſophiſche Schule gründete. Er wurde ſelbſt von feinen Gegnern wegen feiner hohen Rechtlichkeit verehrt, die ſich aber oft einer ungemeſſenen Schwärmerei hingab. So faßte er unter Galienus, deſſen Gewogenheit er gewonnen hatte, den aben— theuerlichen Entſchluß, eine Stadt, Platonopolis, zu gründen, die ganz nach den Geſetzen eingerichtet und verwaltet werden ſollte, die Plato in ſeiner „Republik“ aufgeſtellt hatte. Nach Art der Pythagoräer enthielt er ſich aller Fleiſchſpeiſen und genoß ſelbſt Brod nur ſelten. Seines Körpers ſchämte er ſich als eines eitlen Schattenbildes, daher er auch nie, ihm aufzuhelfen, Arznei nahm. Obſchon er, wie oben geſagt, feinen Freunden auf ihre Fragen über Verwandte, Aeltern und Vaterland, als über gar zu ver— ächtliche Dinge, keine Antwort gab, ſo feierte er doch den Geburts— tag des Plato und Sokrates jedes Jahr mit großer Sorgfalt. Seine Schüler und Zeitgenoſſen ſchrieben ihm geheime Künſte und förmliche Wunderwerke zu, ja ſelbſt unmittelbare Zuſammenkünfte mit der Gottheit. Seine Schriften ſind größtentheils durch ſeinen Schüler Porphyrius auf uns gekommen, aber, wie es ſcheint, nicht wenig verändert und ſelbſt verſtümmelt. Er ſelbſt ſoll nicht gut zu ſchreiben verſtanden und oft ſogar gegen die Orthographie gefehlt ha— ben. Schon die Alten haben über die Dunkelheit ſeines Vortrags Klage geführt, da ſeine Vorträge oft bis zum Räthſelhaften myſtiſch ſind. Sein erwähnter Lehrer Saccas war früher Laſtträger in Ale— randrien, und er verdankte feinen ſpätern Ruhm nicht ſowohl ſich ſelbſt, als ſeinen berühmten Schülern Plotinus, Longinus (deſſen Schrift „über das Erhabene“ auf uns gekommen iſt), Origenes, dem berübmten Kirchenvater, und Porphyrius.

Porphyrius war i. J. 233 in Syrien geboren und lehrte zu Rom mit großem Beifall. Seine Zeitgenoſſen rühmen „das Füll— horn ſeiner Gelehrſamkeit und die Süßigkeit ſeiner Rede.“ Er war es vorzüglich, der die berüchtigte Dämonenlehre dieſer Schule ausgebildet hat. Die damals ſchon ſehr in Verfall gerathene Religion ſeines Vaterlandes fand an ihm einen heftigen Gegner, aber er wollte auch zugleich den chriſtlichen Glauben bekämpfen, und alles auf ſeine Philoſophie reduzirt wiſſen.

Jamblichus, des Porphyrius Schüler, ebenfalls ein geborner Syrier, lebte unter Conſtantin dem Großen im Anfang des vier— ten Jahrhunderts. Seine Werke, voll Myſticismus, zeugen von dem Verfalle der Literatur, von Mangel an Geſchmack, von einer ſehr unphiloſophiſchen Leichtgläubigkeit und endlich von einer grenzen,

264 Myſticismus des Mittelalters.

theurgiſchen Syſteme alle anzuführen, und die Bemühungen aufzuzählen, die ſich die letzten Philoſophen dieſer neuen Sekte gegeben haben, das hohe Alterthum ihrer Lehre zu beweiſen, wie ſie denn Orpheus ſelbſt den Vater ihrer Schule genannt haben. Dieſes Syſtem nahm bald, wie alle myſtiſchen Syſteme, mehr eine religiöſe, als eine rein philoſophiſche Geſtalt an, doch hatten die Meinungen und Anſichten ſeiner Bekenner einen entſchiedenen Einfluß auf ihr Betragen im geſelligen Leben. Sie gaben der Welt das Schauſpiel einer ſtrengen Sittlichkeit und einer from— men Erhebung des Geiſtes, die ſie übrigens mit dem gröbſten Aber— glaubendes Heidenthums zu vereinigen ſuchten. Die Nachfolger des Jamblichus, wie Proclus, Syrianus, ein gewiſſer Plutarch u. a. im fünften Jahrhundert gaben ihrem Vereine mehr das Anſehen eines Prieſterthums, als einer philoſophiſchen Schule *). Da fie nicht aufhörten, dem Chriſtenthume ſich drohend gegenüber zu ſtellen, ſo wurden ſie endlich auch unter den Kaiſern Conſtantin und Conſtantius Verfolgungen ausgeſetzt. Sopater, ein ſyriſcher Philoſoph aus dieſer Schule, wurde auf Befehl Conſtantins ent— hauptet, weil er durch die Kraft ſeiner Magie dem Winde Feſſeln angelegt hatte ). Aber Julian (+ 363), der bald darauf den

loſen Geſchwätzigkeit, aber dieß alles hinderte nicht, daß er von ſeinen Zeitgenoſſen für einen der größten Männer gehalten wurde. Auch ihm wurden Wunder zugeſchrieben. Wenn er in Gebeten begriffen war, ſoll man ihn oft bis zehn Ellen über die Erde erhöht und von goldfarbnem Lichte umſtrahlt geſehen haben, und häufig traf man ihn auch im Umgange mit Dämonen. In ſeiner pythagoriſchen Vorliebe für die Zahlen gibt er unter anderen ein umſtändliches Namen- und Zahlenregiſter einer ganzen Armee von Dämonen und heidniſchen Gottheiten, die er, nach Art der römiſchen Kriegs— heere, in verſchiedene Klaſſen eintheilt, und deren jedem er ſeinen beſonderen Wirkungskreis anweist. I.

17) Degerando III. 407.

18) Gibbon. Cap. XXI. Sopater, der die Freundſchaft Conſtantins ge— noſſen hatte, reizte den Grimm des prätorianiſchen Präfecten Ab— lavius. Die jährliche Kornflotte aus Aegypten blieb einmal wegen Mangel eines Südwindes in Konſtantinopel längere Zeit aus, und um die Unzufriedenheit des Volkes zu ſtillen, wurde Sopater auf des Präfecten Beſchuldigung hin enthauptet, daß er die Winde

Myſticismus des Mittelalters. 265

Thron beſtieg, erklärte ſich wieder eifrig für die Lehre des Jam— blichus. Später zeichnete ſich Probus als einen der berühm— teften Männer der neuplatoniſchen Schule aus “), der im Leben und Lehre ein getreuer Nachfolger des Platinus geweſen iſt. Wir beſitzen eine Biographie oder vielmehr einen Panegy— ricus auf ihn, den fein Schüler Marinus verfaßt hatte, und in dem er als das Ideal eines Philoſophen, im Sinne der Neupla— tonifer, dargeſtellt wird. Die lange Reihe feiner Tugenden und Vorzüge wird unter verſchiedenen Kapiteln aufgeführt, von den phyſiſchen, den moraliſchen, den purifikatoriſchen, den theoreti— ſchen und den theurgiſchen. In ſeinem Knabenalter ſchon ſoll er Beſuche von Apollo und Minerva erhalten haben. Er ſtudirte die Redekunſt in Alexandrien, aber in Athen wurde er erſt von Lyſianus und dem oben erwähnten Plutarch in die Geheimniſſe der Neuplatoniker eingeweiht. Asklepigenia, die berühmte Toch— ter dieſes Plutarch, ertheilte ihm mit eigener Hand die Weihe; fie führte ihn zu den myſtiſchen Geheimniſſen der Chaldäer und in die verborgenen Gänge der Theurgie, ſo wie er auch zu den Eleuſiniſchen Myſterien zugelaſſen wurde. Er hatte ſich durch Beredſamkeit und weit verbreitete Kenntniß großen Ruhm ers worben, aber größeren noch durch ſeine Gewandtheit in den über— natürlichen Künſten, die ſo innig mit den Lehren ſeiner Sekte verbunden waren. Er ſcheint uns mehr in dem Lichte eines Hierophanten, als in dem eines Philoſophen zu glänzen. Einen großen Theil ſeines Lebens brachte er zu in Faſten und Gebet, mit Hymnen und Purifikationen und Erſcheinungen der Dämo— nen, und mit der Feier der Feſte der heidniſchen Gottheiten, beſon— ders der großen „Mutter der Götter.“ Uebrigens verbreitete ſich feine ſehr tolerante religiöſe Verehrung über die Mytholo— gien aller Völker, und der Philoſoph, pflegte er zu ſagen, iſt nicht blos der Prieſter von einer, ſondern von allen Religionen in der Welt. Aus dieſem Grunde verfaßte er auch Hymnen zur Ehre der Gottheiten Griechenlands, Roms, Aegyptens und

durch die Macht ſeiner Magie gebannt hätte. Suidas fügt hinzu, daß Conſtantin durch dieſe Hinrichtung zeigen wollte, daß er den Aberglauben der Heiden gänzlich abgelegt habe. L.

19) Degerando III. 419. Probus ſtarb im Jahr 487.

266 Myſticismus des Mittelalters.

Arabiens bloß das Chriſtenthum blieb von ſeiner e aus⸗ geſchloſſen.

2) Myſtiſche Arithmetik.

Es wird nicht nothwendig ſeyn, aus den Werken dieſes Proclus noch mehrere Beiſpiele von dem myſtiſchen Charakter ſeiner Schule anzuführen, aber einer beſonderen Form dieſes Myſticismus müſſen wir noch gedenken, die zu jener Zeit fo oft, beſonders bei Proclus, vorkömmt, und die nicht unangemeſſen

die „myſtiſche Arithmetiké genannt werden kann. Wie alle Gat— tungen dieſer geiſtigen Krankheit, ſo beſteht auch dieſe in einer Verbindung unſerer Begriffe von den äußeren Objecten mit jenen allgemeinen und unbeſtimmten Ideen von der Güte und Voll— kommenheit höherer Weſen. Hier aber geſchieht dieß mit den Be— griffen, die wir von den „Zahlen“ haben, und es iſt ſonder— bar, daß eben dieſe den menſchlichen Geiſt ſo oft und lange auf Abwegen feſtgehalten haben. Die Zahlen laſſen ſich allerdings unmittelbar auf die Moral und auf unſere Gefühle eben ſo gut, als auf die Gegenſtände der materiellen Welt anwenden. Ueberdieß hatte man, durch die Entdeckung des Princips der muſikaliſchen Accorde, wahrſcheinlich gegen alle Erwartung, ge— funden, daß die Töne ſehr innig mit Zahlenverhältniſſen zu— ſammenhingen, die man doch nicht ganz eben ſo leicht bei unſeren Gedanken oder Gefühlen entdecken mochte, und die zugleich auf die Vermuthung führen konnte, daß das geſammte Weltall, das körper— liche wie das geiſtige, noch ſehr viele ſolcher allgemeinen und abſtrac— ten Wahrheiten enthalte, die ſich ebenfalls durch Zahlen ausdrücken laſſen. Zahlenverhältniſſe aber haben überhaupt ein ſo weites Feld, daß ſich die Vergnügungen einer ſolchen Beſchäftigung leicht in's Unendliche ausſpinnen laſſen, ſobald ſich nur einmal der menſchliche Geiſt dem Hange hingeben will, in jene Abgründe der Finſterniß und der Unbeſtimmtheit herabzuſteigen, und dieſer Hang eben iſt es, der das Eigenthümliche des Myſticismus aus— macht. Dieſem gemäß erſchien auch dieſe Art von Speculation ſchon ſehr früh in unſerer Literargeſchichte, und zwar zuerſt unter den Pythagoräern, deren beſondere Aufmerkſamkeit ſchon gleich an— fangs auf die Theorie der Harmonie gerichtet war. Dieſe und einige andere Lehren der Pythagoräiſchen Philoſophen wurden

Myſticismus des Mittelalters. 267

nicht bloß von den Neuplatonikern, ſondern auch ſogar ſchon von Plato ſelbſt aufgenommen, deſſen Speculationen über die Zahlen bereits das Gepräge des myſtiſchen Charakters deutlich genug an ſich tragen. Auf dieſe Weiſe wurden die anfangs reinma— thematiſchen Zahlenbegriffe von „Gerad und Ungerad, von Groß und Klein“, durch eine Art von phantaſtiſcher Wendung, auf die Begriffe von „Güte, Vollkommenheit und Schönheit“ übertragen, und aus der Paarung ſolcher Ideen untereinander entſprang endlich ein ſehr complicirtes und weitverbreitetes neues Syſtem. Ohne lange bei dieſem Gegenſtande zu verweilen, wird es ſchon genügen, die bloßen Titel der hiehergehörenden Werke kennen zu lernen. Architas ſchrieb eine eigene Abhandlung über die Zahl Zehn 2°), und Telauge, die Tochter des Pythagoras, eine andere über die Zahl Vier. Dieſe letzte Zahl, die unter dem Namen der Tetractys bekannt war, wurde in der Pythagoräiſchen Schule beſonders hoch gehalten. Sie wird auch in den „Goldenen Verſen“ erwähnt, die man dem Pythagoras zuſchreibt. In Pla— to's Werken zeugen mehrere Stellen von ſeinem Glauben an ſittliche oder religidfe Verhältniſſe der Zahlen. Bei den Neu— platonikern aber wurde dieſe Lehre zu einem förmlichen Syſtem er— hoben. Proclus gründete ſeine Philoſophie größtentheils auf das Verhältniß der Einheit zur Vielheit, und aus dieſer Quelle ſchöpft er ſeine Darſtellung der Cauſalität des Weltgeiſtes durch drei Tria— den von Abſtractionen, wo denn in der Entwicklung eines Theils dieſes Syſtems auch die Zahl Sieben eine große Rolle ſpielt ?). „Die intelligiblen und intellectuellen Gottheiten erzeugen alle „Dinge auf einem dreifachen Wege; denn die Monaden in ihnen „werden je nach ihren Zahlen eingetheilt; und was die Monade „in der früheren war, iſt die Zahl in der letzten. Und die ins „tellectuellen Gottheiten erzeugen auch alle Dinge auf einem „ſiebenfachen Wege, denn fie entwickeln die intelligiblen und zu „gleicher Zeit die intellectuellen Triaden in intellectuelle Hebdo— „maden, und verbreiten ihre concentrirten Kräfte in intellectueller „Mannigfaltigkeit.“ Die Zahl „ſieben“ iſt bei den Mathema— tikern eine ſogenannte Primzahl, das heißt, eine Zahl, die bloß

20) Montucla. Hist. des Math. II. 123. 21) Proclus. V. 3. nach Taylors Ueberſetzung.

268 Myſticismus des Mittelalters.

die Einheit und ſonſt keine ganze Zahl zum Factor hat; in der Sprache der Neuplatoniker aber iſt ſie eine „jungfräuliche Zahl, die keine Mutter hat,“ und die deßhalb der Minerva heilig iſt. Die Zahl „ſechs“ im Gegentheile iſt ihnen eine „perfecte Zahle, und deßhalb der Venus geweihet u. ſ. w.

Auch die Verhältniſſe des Raumes wurden auf eine ähnliche phantaſtiſche Weiſe behandelt, indem ſie die geometriſchen Eigenſchaften mit jenen phyſiſchen und metaphyſiſchen Notionen zu paaren ſuchten, die ihnen von ihrer lebhaften Einbildungskraft oder von ihrem auf Geradewohl herumſchweifenden Verſtande eingegeben wurden. Als ein Beiſpiel davon können wir die Meinung Plato's über die Atome der vier Elemente anſehen 22). Er gibt jeder Gattung dieſer Atome eine von den fünf Geſtalten der regelmäßigen Körper, mit welchen letzten er und ſeine Schule ſich mit Vorliebe beſchäftigten. Die Atome des Feuers waren Tetra— eder oder Pyramiden, weil ſie ſpitzig ſind und aufwärts ſtreben; die der Erde ſind Würfel, weil ſie beſtändig ſind und den Raum vollkommen ausfüllen; die der Luft find Octaͤder, da fie denen des Feuers am ähnlichſten ſind; und die Atome des Waſſers endlich find Ikoſasder, da fie der Kugel am nächſten kommen. Das Dodecaeder iſt die Geſtalt der Atome des Himmels, und dieſe Geſtalt zeigt ſich auch in anderen Dingen wieder, wie in den zwölf Zeichen des Thierkreiſes. Man ſieht, wie leicht und los dieſe Verbindungen von Zahl und Raum in allen dieſen myſtiſchen Viſionen ſich darſtellen.

Es ſehlte nicht an neuern Schriftſtellern, welche dieſe Zahlen— träume der alten Philoſophen fortgeſetzt haben, wie Peter Bungo und Kircher, die beide große Werke „über die Myſterien der Zahlen“ geſchrieben haben. Der erſte beſonders behandelt die ge— heimnißvollen Eigenſchaften aller Zahlen nach der Reihe mit der größten Umſtändlichkeit. Selbſt auf die Aſtronomie hat dieſe Geiſteskrankheit Einfluß gehabt. In der erſten Ausgabe der Alphonſiniſchen Tafeln ) wird, um die Präceſſion der Nacht— gleichen darzuſtellen, der erſte Punkt des Aries während einer Zeit von 7000 Jahren in der Peripherie eines Kreiſes bewegt, deſſen Halbmeſſer 18 Grade beträgt, während der Kreis ſelbſt in

22) Stanley. Hist. philos. 23) Montuela. Hist. des Math. I. 5ll.

Moſticismus des Mittelalters. 269

49,000 Jahren ſich um die ganze Ekliptik bewegt, und dieſe Zahlen 7000 und 49,000 waren ohne Zweifel von den jüdiſchen Berechnern dieſer Tafel gewählt, weil ſie ihnen in Beziehung auf die hebräiſche Feier des Sabbats zu ſtehen ſchienen.

3) Astrologie.

Von allen den Geſtalten aber, die der Myſticismus ange— nommen hatte, wurde keine mehr ausgebildet, als die Aſtrologie. Obſchon die Aſtrologie im ganzen Mittelalter beinahe deſpotiſch herrſchte, fo geht doch ihr Urſprung, ſelbſt ſchon als ausgebil— detes techniſches Syſtem, in das graueſte Alterthum zurück. Höchſt wahrſcheinlich iſt ſie im Orient entſtanden. Man ſchreibt ſie gewöhnlich den Babyloniern oder Chaldäern zu. Der Name Chaldäer war zu Rom gleichbedeutend mit „Mathematiker“ oder „Aſtrolog“, und wir leſen in den Schriften der Alten, daß dieſe Menſchenklaſſe mehr als einmal des Reiches verwieſen worden iſt, zur Zeit der Republik ſowohl, als auch unter dem Kaiſer— reiche?“). Dieſe immer wiederholten Ausweiſungen aber zeigen, daß ſie ſelbſt ohne großen Erfolg geweſen ſeyn müſſen. „Dieſe Gattung „von Menſchen, ſagt Tacitus, wird bei uns immer verwieſen „werden und immer wieder zurückkommen.“ In Griechenland ſcheint die Regierung keine feindliche Stellung gegen dieſe Leute an— genommen zu haben, denn hier ſchienen ſie immer aus der Stellung der Geſtirne zur Zeit ihrer Geburt die Schickſale der Menſchen ungehindert beſtimmt zu haben. Die Lehren der erſten Aſtrolo— gen ſind gänzlich verloren gegangen, und wir können daher nicht wiſſen, ob die Anſichten der Menſchen bei der Entſtehung dieſer Kunſt mit denjenigen übereinſtimmten, welche ſpäterhin, als ſie ſo heftig angegriffen und verfolgt wurden, im Schwunge waren. Doch iſt es wahrſcheinlich, daß die Aſtrologie, obſchon ſie ſpäter durch phyſiſche Analogien unterſtützt worden iſt, in den früheren Zeiten mehr auf einem mythologiſchen Glauben geruht hat. Die Grie— chen ſprachen von der „Influenzé oder von dem „Ausfluß“ (anogH010S) der Geſtirne, die Chaldäer aber legten ihnen wahr: ſcheinlich beſondere Kräfte bei, die von ihnen, als von Gott— heiten, ausgeübt würden. Auf welche Weiſe man aber auch die

24) Tacit. Annal. II. 32. XII. 52. und Histor. I. 22. JI. 62.

270 Myſticismus des Mittelalters.

Sonne, den Mond und die Planeten mit Göttern und Göttinnen identificirt haben mochte, ſo ſcheint es doch, daß die Charaktere, die ſie dieſen Gottheiten zuſchrieben, die Kräfte und Eigenſchaften derjenigen Geſtirne beſtimmen ſollten, deren Namen ſie trugen. Dieſe offenbar nur eingebildete Aſſociation wurde beibehalten, erweitert und durch die Phantaſie ausgebildet, ſtatt daß ſie an— deren mehr beſtimmten und weſentlicheren Verbindungen ihre Stelle hätten abtreten ſollen, und auf dieſem Wege entſtand eine neue ſogenannte Wiſſenſchaft, die das Gepräge des Myſticismus deutlich in ſich trägt.

In den früheren helleren Zeiten ſcheint jener Gemeinſinn vorgeherrſcht und dem Aufkommen der Aſtrologie entgegen— gearbeitet zu haben, nach welchem man jede theoriſche Mei— nung ruhig zu unterſuchen, und mit den Erſcheinungen in der Natur durch Beobachtungen zu vergleichen pflegte. So erzählt uns Cicero 2), daß Eudor die Anmaßungen der chaldäiſchen Aſtrologen verworfen hat, und Cicero ſelbſt erklärt ſich ge— gen dieſelben mit ſo klaren und verſtändigen Gründen, daß ſie auch noch in unſern Tagen angewendet werden könnten, in— dem er z. B. der großen Verſchiedenheit des Charakters und der Schickſale derjenigen Menſchen erwähnt, die doch alle in demſelben Augenblicke geboren werden; indem er das gänzliche Mißlingen ihrer Vorherſagungen in Beziehung auf Pompejus, Craſſus und Cäfar namhaft macht, denen jene Propheten ein glorreiches Alter und einen ruhigen Tod verkündigt hatten. Er führt ſelbſt noch einen andern Grund an, den die Leſer vielleicht von ihm nicht erwarten werden, nämlich die große Entfernung der Planeten in Vergleich mit der Entfernung des Monds von der Erde: „Welchen Einfluß, ſagt er, können ſolche Dinge auf „uns haben, die beinahe in einer unendlichen Entfernung von „uns abſtehen!“

Plinius erklärt ſich ebenfalls und aus denſelben Grün⸗ den gegen die Aſtrologie 22). „Homer, jagt er, erzählt uns, daß „Hector und Polydamas in derſelben Nacht geboren wurden: „Menſchen von ſo ganz verſchiedenem Charakter. Und werden

25) Cicero, de Divin. II. 42. 26) Plinius, Hist. Nat. VII. 49.

Myſticismus des Mittelalters. 271

„nicht zu jeder Stunde, in jedem Lande der Welt, zugleich Herren und Sklaven, Könige und Bettler geboren!“

Den Eindruck, den Gründe dieſer Art gemacht haben mögen, kann man aus der Anekdote abnehmen, die man von Publius Nigidius Figulus erzählt, ein römiſcher Bürger zur Zeit des Julius Cäſar, deſſen Lucanus als eines berühmten Aſtrologen erwähnt. Als man ihm den Einwurf machte, daß ſehr nahe zugleich geborne Menſchen doch alle ſo verſchiedene Schickſale haben, ſoll Nigidius ſeinen Gegner erſucht haben, zwei einander ſehr nahe Punkte auf einer Töpferſcheibe zu machen, die ſich eben ſehr ſchnell vor ihm bewegte. Als er die Scheibe zum Stillſtand gebracht hatte, zeigte ſich, daß jene zwei Punkte ſehr weit aus einander lagen. In Folge dieſer ſinnreichen Wider— legung ſoll Nigidius ſogar den Beinamen Figulus (der Töpfer) erhalten haben. „Aber dieſe Wiederlegung ſetzt der h. Auguſtin „hinzu, der uns jene Anekdote erhalten hat, iſt eben ſo gebrech— lich, als die Waare, die auf der Töpferſcheibe gemacht wird.“

Als aber die finſteren Zeiten immer mehr über das römiſche Reich hereinzogen, da ſcheine nauch die beſſeren Köpfe jene klaren Anſichten völlig verloren zu haben, durch die allein ſolche Blend— werke vertrieben werden können. Seneca nimmt bereits den Einfluß der Planeten für ausgemacht an, und ſelbſt Tacitus wagt nicht, ſich beſtimmt dagegen zu erklären. „Was mich betrifft, ſagt „er 2), jo zweifle ich; aber gewiß, der größte Theil des Menſchen— »geſchlechts läßt ſich nicht von der Meinung abbringen, daß „»das Schickſal eines jeden Menſchen ſchon bei feiner Geburt be— »ſtimmt iſt, obgleich manche Ereigniſſe dieſen Vorherſagungen „nicht entſprechen, wegen der Unwiſſenheit derer, die dieſe Kunſt „treiben, ſo daß alſo dieſe Kunſt ſelbſt mit Unrecht beſchuldigt „wird, deren Wahrheit vielmehr durch fo viele bekannte Beiſpiele „aller Zeiten beſtätigt iſt.“ Der große Geſchichtſchreiber nimmt Ge— legenheit zu dieſer Bemerkung von Theaſyllus, dem Lieblingsaſtro— nomen des Kaiſers Tiberius, deſſenGeſchicklichkeit durch die folgende Anekdote beſtätigt werden ſoll. Mehrere Männer, die einer wich— tigen Angelegenheit wegen mit Tiberius ſprechen wollten, wurden zur Audienz in einem Gebäude zugelaſſen, das auf einer hohen Felſenſpitze der Inſel Capreä (in der Nähe von Neapel) errich—

27) Tacitus. Annal. VI. 22.

272 Myſticismus des Mittelalters.

tet war. Sie gelangten zu dieſer Stelle auf einen engen Pfad, blos von einem einzigen Freigelaſſenen von großer körperlichen Stärke begleitet. Bei ihrer Rückkehr, als der Kaiſer einigen Verdacht in ihre Verläßlichkeit geſchöpft hatte, war ein einziger Stoß hinreichend, das Geheimniß und das Opfer deſſelben in den Wellen des Meeres unter ihm für immer zu begraben. Nachdem Theaſyllus in dieſer Einnöde das Schickſal des Kaiſers nach den Regeln ſeiner Kunſt beſtimmt hatte, fragte ihn dieſer, ob er auch berechnet hätte, wie lange er ſelbſt noch zu leben habe. Der Aſtrolog betrachtete den Lauf der Geſtirne, zögerte mit der Antwort, zeigte Beſorgniß und Schrecken, und erklärte endlich: „dieſe gegenwärtige Stunde ſey für ihn kritiſch, vielleicht „ſelbſt feine Todesſtunde.“ Aber Tiberius umarmte ihn, und ſagte: „Du hatteſt recht. Du warſt in Gefahr, aber du ſollſt „ihr entfliehen,“ und von dieſem Augenblicke an machte er ihn zu ſeinem geheimen Rathgeber.

Der Glaube an die Wahrheit der Aſtrologie, die auf dieſe Weiſe ſelbſt wiſſenſchaftlich gebildete und ſehr verftändige Män— ner ergriffen hatte, äußerte einen noch viel größeren Einfluß auf die ſpeculativen, aber unſtäten Gemüther der ſpäteren philoſophi— ſchen Schüler von Alexandria, Athen und Rom. Wir beſttzen noch eine Abhandlung des Proclus über Aſtronomie, die uns von dem myſtiſchen Treiben dieſer Kunſt zu jener Zeit ein Bei— ſpiel gibt. Proclus gibt ſeine Schrift als einen Commentar über ein anderes Werk „Tetrabiblos“ über denſelben Gegenſtand, welches letzte dem Ptolemäus zugeſchrieben wird. Aber wir haben gute Gründe, zu zweifeln, daß der Verfaſſer der „Megale Syntaxis“ in der That der Autor einer ſolchen Schrift geweſen iſt. Einige wenigen Stellen daraus werden dieß in ein näheres Licht ſetzen 2°). Die ganze ſogenannte Wiſſenſchaft wird zu— erſt aus dem Grunde in Schutz genommen, weil cs allgemein bekannt iſt, welche gewaltige phyſiſche Einflüſſe die himm— liſchen Körper auf die Erde haben. „Die Sonne ordnet alle „irdiſchen Dinge, die Geburt der Thiere, das Wachſen der Früchte, „das Fließen des Waſſers, die Wechſel der geſunden und kranken „Zuſtände nach den verſchiedenen Jahreszeiten u. ſ. f. Die „Sonne erzeugt Wärme, Früchte, Trockenheit und wieder Kälte, „je nach ihren verſchiedenen Abſtänden von dem Zenith. Der

f 28) Proclus, Tetrabiblos 1. 2.

Myſticismus des Mittelalters. 273

„Mond, der unter allen Geſtirnen der Erde am nächſten ſteht, „hat auch den größten Einfluß auf dieſelbe; mit dem Monde »ſympathiſiren alle lebende und unbelebte Weſen; die Gewäſſer „der Flüſſe fallen und ſteigen nach feinem Lichtwechſel, die Ebbe „und Fluth des Meeres wird von dem Auf- und Untergange des „Mondes bedingt, und nach ihm richtet ſich auch das Zu- und „Abnehmen der Pflanzen und Thiere in einzelnen Theilen und „im Ganzen.“ Man ſieht, wie man im Verfolge ſolcher Zu: ſammenſtellungen, von denen einige reell und andere bloß eingebildet ſind, mit Hülfe einer ungeregelten Einbildungskraft zu einer Art von ſcheinbarer Wiſſenſchaft aufſteigen wollte. Nach dieſem Eingange geht nun Proclus (J. 4) zu den eigent— lichen Lehren der Aſtrologie über. „Die Sonne, ſagt er, iſt die „Urfache der Hitze und Trockenheit; die Kraft derſelben iſt in „ihrer Natur beſchränkt, aber doch noch fühlbarer, als die der ande— „ren Himmelslichter, wegen ihrer Größe und wegen dem Wechſel „der Jahreszeiten, die von ihr erzeugt werden. Die Natur „des Monds iſt größtentheils feucht, denn da er der Erde am „nächiten ſteht, fo zieht er die Dünſte an, die von den feuchten „Körpern aufſteigen, daher werden die Körper durch ihn weich „und zur Fäulniß geneigt. Durch das Licht aber, welches der „Mond von der Sonne erhält, theilt er der Erde auch einen „guten Theil Wärme mit. Saturn iſt kalt und trocken, weil „er am meiften von der wärmenden Kraft der Sonne und von „den feuchten Dünſten der Erde entfernt iſt. Doch herrſcht auf „oem Saturn die Kälte weit vor und iſt viel größer, als die „Trockenheit, auch wird er, ſo wie alle andere Planeten, von „en verſchiedenen Stellungen häufig verändert, die er gegen „die Sonne und den Mond einnimmt.“ Auf dieſem Wege findet der Verfaſſer, daß Mars trocken und ſcharf iſt „wegen „ieiner feurigen Natur, die auch in der That ſchon durch feine „Farbe angezeigt wird.“ Jupiter hat eine gute Miſchung von Warm und Feucht, ſo wie auch Venus. Merkur aber iſt in ſeinem Charakter ſehr veränderlich. Aus dieſen Eigenſchaften fließen dann mehrere andere, die ſich auf die wohlthätigen oder nachtheiligen Wirkungen dieſer Geſtirne beziehen. Nach ihm find Wärme und Feuchte erzeugende Elemente, daher die Alten dem Jupiter, der Venus und dem Mond gute Kräfte zuſchrieben, während Saturn und Merkur eine bösartige Natur haben, u. dgl. Whewell. I. 18

0

274 Myſticismus des Mittelalters.

Er weiß auch noch andere Unterſchiede des Charakters dieſer Geſtirne aufzuzählen, die aber alle gleich eingebildet und nur von einer zügelloſen Phantaſie eingegeben ſind. Einige Planeten ſind ihm männlich, andere weiblich; wie denn der Mond und die Venus zu dem weiblichen Geſchlechte gerechnet werden, ohne Zweifel aus einem mythologiſchen oder auch wohl aus einem etymologiſchen Grunde. Einige Planeten find Nacht- und wieder andere Taggeſtirne: zu jenen gehört die Sonne und Jupiter, zu dieſen der Mond und die Venus; Saturn und Mars aber ſind zugleich Tag- und Nacht-Geſtirne u. ſ. w.

Auch die Fixſterne, beſonders die des Thierkreiſes, haben ihre eigenen Einflüſſe und beſtimmte ihnen angewieſene Gegenſtände. Jeder der zwölf Zeichen des Thierkreiſes hat ſeine eigene Herr— ſchaft über einen beſtimmten Theil des menſchlichen Körpers, der Widder auf den Kopf, der Stier auf den Nacken u. ſ. w. Aber der wichtigſte Theil des geſtirnten Himmels für den Aſtro— logen war dasjenige Zeichen des Zodiacus, das im Augenblick der Geburt eines Menſchen eben aufgeht. Dieß wurde eigentlich das Horoſcop, der „Ascendent“ oder auch „das erſte Haus“ ge— nannt. Der ganze Umkreis des Himmels wurde nämlich in zwölf Häuſer eingetheilt, in welchem Leben und Tod, Ehe und Kinder, Reichthum und Ehre, Freunde und Feinde enthalten ſeyn ſollten.

Es wird unnöthig ſeyn, den Fortgang dieſer Wiſſenſchaft umſtändlich zu verfolgen. Bei den Arabern ſtand ſie in vorzüg— lichem Anſehen, wie man es von dem Charakter dieſes Volkes erwarten kann. Albumaſar, aus Balk, im Khoraſan, der im ſiebenten Jahrhundert lebte, war einer ihrer größten Aſtronomen und zugleich ein ſehr berühmter Aſtrolog. Sein aſtrolsgiſches Werk: „De magnis Conjunctionibus, Annorum Revolutionibus „ac eorum Perfectionibus“ war viele Jahrhunderte durch auch in Europa hochgeſchätzt. Aboazen Haly, der ein Werk „De judiciis Astrorum“ ſchrieb, lebte im dreizehnten Jahrhundert in Spanien, und wurde in der Aſtrologie für einen wahrhaft claſ— ſiſchen Schriftſteller gehalten.

Es iſt leicht zu errathen, daß dieſe apotelesmatiſche oder Judicial-Aſtrologie (fo wurde diejenige Aſtrologie genannt, die ſich vorzugsweiſe mit der Beſtimmung der menſchlichen Schickſale aus den Geſtirnen beſchäftigten), nachdem ſie einmal von dem

Myſticismus des Mittelalters. 275

menſchlichen Geiſte feſten Beſitz genommen hatte, in unzählige ſpitzfindige Diſtinctionen, und in die wildeſten Conceptionen aus— arten mußte, um ſo mehr, da Verſtand und Erfahrung dieſen ungeregelten Ausflügen der Phantaſie nichts mehr entgegen zu ſetzen hatten. Einige Lehrer dieſer Kunſt unternahmen es zwar, die von den Aſtrologen aufgeſtellten Regeln durch Vergleichung mit den in der That ſtattgehabten Ereigniſſen zu läutern oder zu verbeſſern, allein dieſe ſchwachen und oft ſelbſt wieder trügeriſchen Bemühungen blieben ohne Erfolg. Selbſt in der ſogenannten „natür— lichen Aſtrologie,“ die ſich mit dem Einfluß der himmliſchen Geſtirne auf unſere Witterung beſchäftigt, welche Maſſe von ſorgfältig angeſtellten Beobachtungen iſt da nothwendig, um auch nur eine einzige, wahrhaft verläßliche Vorſchrift aufzuſtellen. Wer weiß es nicht, wie lange Zeit hindurch ganz falſche und grundloſe Regeln über den Einfluß des Monds auf die Witterung, allen unſern Erfahrungen gleichſam zu Trotz, das menſchliche Gemüth feſtgehalten haben und noch feſt halten. Wenn aber die Gegen— ſtände, um die es ſich hier handelt, ſo unbeſtimmt und ſo vielſeitig ſind, wie z. B. der Charakter oder die Leidenſchaften des Men— ſchen, wie durfte man da erwarten, daß auch das höchſte menſchliche Talent einen feſten Boden gewinnen könne, um von ihm aus einer Lehre zu widerſtehen, die aus überall zuſammen getragenen, kühnen Behauptungen beſtand, die das Anſehen des großen Haufens und ſelbſt der Mächtigen und Gebildeten im Volke gewonnen hatte, und die bereits ſeit Jahrhunderten als ein geſchloſſenes Syſtem, als eine wohlbegründete Wiſſenſchaft ſich dargeſtellt hatte. Dieſem gemäß war der Einfluß der Geſtirne auf die Handlungen und Schickſale der Menſchen ein feſter, ſeit den älteſten Zeiten be— währter Glaube geworden, von dem auch der Beſte und Ver— ſtändigſte ſich nicht mehr losmachen konnte, um ſo weniger, da ein dunkles Gefuͤhl von der Höhe des Gegenſtandes dieſem Glauben an eine innige Verbindung der Erde mit dem Himmel noch eine beſondere Kraft verlieh, die ſelbſt den beſcheidenſten Zweifel von ſich fern zu halten wußte. Nicht eher wurde es beſſer, bis die Aſtrologen ſelbſt ihrer Zeit ein Opfer bringen mußten, bis ſie ſelbſt in jenen ſervilen commentatoriſchen Weg geriethen, der dem Mittelalter ſo eigenthümlich war, und wodurch ſie, wie jene Philo— ſophen, ſich ſelbſt und ihre Wiſſenſchaft um ihr bisher behauptetes Anſehen brachten. Die fpäteren Aſtrologen copirten und commen— 18 *

276 Myſticismus des Mittelalters.

tirten und erlaͤuterten die Werke ihrer Vorgänger, aber auch ihre Sonne ging unter, als das Licht der wahren Wiſſenſchaft ſich über unſern Horizont erhob.

Bemerken wir noch, daß die Aſtrologie, auch außer den Mahomedanern, bei den orientalifchen Völkern in beſonders großem Anſehen geſtanden hat und wahrſcheinlich noch ſteht. Die Juden, die Indier, die Siameſen und Chineſen ſind von jeher große Verehrer derſelben geweſen. Das Vorherrſchen von unbeſtimmten, ſchwärmeriſchen und inhaltsleeren Begriffen bei dieſen Völkern kann uns nicht überraſchen, da keines derſelben, wie allerdings die Völker Europa's gethan haben, über irgend einen Gegenſtand der Phyſik richtige und originelle Principien aufge— ſtellt hat. Die Künſte mögen in verſchiedenen Orten der Ober— fläche der Erde entſtanden ſeyn. Die Wiſſenſchaften aber ſind nur in Europa und auch da nur in beſonders günſtigen Zeiten entſtanden.

Während der langen Zeit jedoch, von der wir hier ſprechen, war auch für Europa dieſe produktive Kraft des menſchlichen Geiſtes unterbrochen oder ganz gelähmt. Während dieſer ganzen Periode ſank unſer Erdtheil zu derſelben Tiefe herab, in welcher die anderen immer geweſen ſind. Unſere Wiſſenſchaft war da— mals ein wildes Gemenge von Kunſt und Myſticismus, von denen wir bereits mehrere Formen kennen gelernt haben, und von welchen wir auch noch zwei andere (die Alchemie und die Magie) näher betrachten müſſen.

Jedoch können wir, ehe wir zu dieſen übergehen, uns der Bemerkung nicht enkhalten, daß der tiefe und dauernde Einfluß, den die Aſtrologie auf den menſchlichen Geiſt erlangt hat, ſich vorzüglich darin kund gibt, daß ſelbſt die ſtärkſten und hellſehend— ſten Männer, auch noch nach der Wiedererwachung der Wiſſen— ſchaften in Europa, lange Zeit durch ſich nicht völlig von dem - Wahne losmachen konnten, daß es in dieſer Kunſt doch irgend ein Element der Wahrheit geben müſſe. Roger Bacon, Cardan, Kepler, Tycho Brahe, Franz Bacon u. a. liefern uns die Be— ftätigung zu dieſer Behauptung. Dieſe Männer, oder doch die meiſten von ihnen, verwerfen allerdings jene gemeinen, excen— triſchen Thorheiten, mit welchen die Aſtrologie nur zu ſehr bela— den war; aber wenn dieſe entfernt werden, dachten ſie, ſo müſſe doch noch irgend etwas Reelles und Werthvolles zurückbleiben.

Myſticismus des Mittelalters. 277

Dahin gehört auch Campanella **), von dem wir bald als von einem der erſten Gegner des Ariſtoteles ſprechen werden, und der ein eigenes Werk geſchrieben hat, das die Aufſchrift hat: „Aſtrologie, gereinigt von allem Aberglauben der Juden und Ara— ber, phyſiologiſch behandelt ?°).“

29) Baco, de Augm. scient. III. 4. Campanella war 1568 zu Stilo in Calabrien geboren, und ſtarb 1639. Wegen ſeiner Oppoſition gegen Ariſtoteles wurde er verfolgt und (i. J. 1635) zur Flucht nach Frankreich gezwungen. L.

30) Bemerken wir hier noch, daß dieſer Glaube an Aſtrologie, vielleicht der älteſte Aberglaube der Menſchheit, auch zugleich unter allen am längſten gedauert hat. Noch zu Ende des ſiebenzehnten Jahrhunderts war er allgemein in Europa. Der berühmte engliſche Dichter Dry— den (+ 1701) ließ ſich noch für feine Kinder die Nativität ftellen. Katharina von Medicis brachte den neugebornen Heinrich IV. von Frankreich zu dem berühmten Aſtrologen Noſtradamus, um dem Kinde die Nativität ſtellen zu laſſen. Der Knabe mußte, wie alle anderen, nackt ausgezogen werden, wo dann der Sterndeuter den ganzen Körper unterſuchte, und daraus, in Verbindung mit dem Stand der Geſtirne zur Zeit der Geburt des Kindes, das künftige Schickſal deſſelben vorausſagte. Dieſer Noſtradamus (eigent— lich Michael Notredame) lebte größtentheils in Abgeſchiedenheit von allen Menſchen zu Salon in Frankreich, wo er ſeine Prophe— zeihungen in Reimen zu ganzen Hunderten in die Welt ſchickte, und wo er von den erſten Perſonen des Reichs beſucht wurde, bis ihn Carl IX. zu feinen Leibarzt erhob. Er ſtarb im Jahr 1566, und noch 1781 wurden ſeine Prophezeihungen von Rom aus ver— boten, weil darin auch der Untergang des Pabſtthums vorhergeſagt wurde. Da er Carl IX. vorausgeſagt hatte, daß er ſo viele Jahre leben werde, als er ſich, auf der Ferſe eines Fußes ſtehend, in einer Stunde umdrehen kann, ſo übte ſich der König jeden Morgen in dieſem Manövre ein, und bald wurde dieſe Bewegung Jedermann für ſo zuträglich gehalten, daß ſich alle Hofleute darin übten, um es ihrem Herrn nachzuthun und vielleicht gleich ihm ihre Anſprüche auf Longävität geltend zu machen. Sollen wir nicht hinzuſetzen, daß auch unſere eigene kränkelnde Zeit noch nicht ganz von Rück— fällen dieſer aſtrologiſchen Krankheit ſicher zu ſeyn ſcheint? Als Beweiſe dafür ließe ſich Pfaffs „Aſtrologie“ Bamberg 1816, „der Stein der drei Weiſen „Bamb. 1821, das Buch der Seherin von Prevorſt, und wohl noch manches andere anführen. L.

278 Myſticismus des Mittelalters.

4) Alchemie.

Wie andere Zweige des Myſticismus ſcheint auch die Alche— mie aus denjenigen Ideen von moraliſchen, perſönlichen und mythologiſchen Eigenſchaften entſtanden zu ſeyn, welche die Men— ſchen mit Worten verbanden, die anfangs eine bloße Anwen— dung auf phyſiſche Eigenſchaften enthalten hatten. Dieß folgt aus der Art, wie in den erſten auf uns gekommenen Schriften über Chemie dieſer Gegenſtand behandelt worden iſt, nämlich in den Werken Geber's von Sevilla), der in dem achten oder neun— ten Jahrhundert gelebt haben ſoll. Schon die Titel von dieſen Schriften zeigen den Geiſt, der in ihnen weht. „Ergründung der Vollkommenheit.“ „Von der Summe der Vollkommenheit „oder von dem vollkommenen Meiſterthume.“ „Ueber die Auf: „findung der Wahrheit und Vollkommenheit“ u. dgl. Die Grund— lage dieſer Phraſeologie iſt ſeine Unterſcheidung der Metalle in vollkommene und un vollkommene. Gold iſt ihm das vollkom— menſte Metall, da es das ſchönſte, reinſte, dauerhafteſte und koſtbarſte iſt; ihm zunächſt ſteht das Silber, und dann kommen die anderen Metalle. Seine „Ergründung der Vollkommenheit“ hatte den Zweck, zu verſuchen, ob ſich wohl auch andere Me— talle in Gold verwandeln laſſen. Dieſem gemäß wurden weit— läufige Theorien aufgeſtellt, nach welchen die Metalle ſämmt— lich aus denſelben Elementen beſtehend angenommen wurden, ſo daß demnach jene Verwandlung wenigſtens für theoretiſch möglich gehalten werden konnte. Allein der myſtiſche Hang, die entfernteſten Dinge mit einander zu verbinden, ging bald noch viel weiter. Man erklärte Gold und Silber für die zwei „edel— ſten“ Metalle, und nannte jenes den „König,“ und dieſes die „Königin“ aller Metalle. Dieſe Einfälle zu unterſtützen, wurden mythologiſche Ideen zu Hülfe gerufen, wie dieß früher auch in der Aſtrologie geſchehen iſt. Gold war gleichbedeutend mit Sol oder Sonne; Silber wurde identiſch mit Luna oder Mond, und eben fo wurde der Venus Kupfer, dem Mars Eiſen, dem Jupi— ter Zinn, und dem Saturn Blei zugeordnet. Die chemiſchen Prozeſſe der Miſchung und Erwärmung wurden unter dem Bilde

31) Thomſons Geſchichte der Chemie. I. 117.

Myſticismus des Mittelalters. . Au

von perſönlichen Actionen und Reactionen, von Kämpfen und Siegen dargeſtellt. Einige Elemente hießen „Sieger,“ andere „Befiegte,“ und man beſaß Vorrichtungen, welche die Kraft haben ſollten, das Ganze eines Körpers in die Subſtanz eines andern Körpers zu verwandeln, welche Vorrichtungen unter dem Titel „Magifterien“ bekannt wurden. Wenn Gold mit Queckſilber gemiſcht wurde, ſo hieß es, der König und die Königin wären getraut worden, um Kinder ihrer eigenen Art zu erzeugen. Man fieht aber leicht, daß, wenn chemiſche Operationen auf ſolche Weiſe dargeſtellt wurden, der Aufſchwung der Phantafle mit der Hoff: nung auf Gewinn ſich verbinden muß, um jeden verſtändigen Verſuch zu vereiteln, Täuſchung durch Beobachtungen zu ent— fernen, oder reelle und beſtimmte Begriffe über dieſe Gegenſtände herrſchend zu machen.

Dieſe Ausſchweifung des vagen Begriffs von „Vollkommen— heit“ bei alchemiſtiſchen Unterſuchungen wurde ſelbſt noch weiter getrieben. Daſſelbe Präparat, das die Kraft haben ſollte, un— edlere Metalle in Gold zu verwandeln, wurde auch zu einer Univerſalmedizin erhoben, die alle Krankheiten heilen oder ihrem Ausbruche vorbeugen, die das menſchliche Leben verlängern, kör— perliche Kraft und Schönheit verleihen ſollte, und kurz, der „phi— loſophiſche Stein“ oder der „Stein der Weiſen“ wurde endlich mit allen nur gedenkbaren Vorzügen ausgeſchmückt, welche die Phan— taſie dieſer neuen Gattung von Weltweiſen nur auszubrüten im Stande war.

Es iſt beinahe zum Sprichworte geworden, daß die Alchemie die Mutter der Chemie geweſen iſt, und daß wir nie die Ent— deckungen gemacht haben würden, auf denen nun die wahre wiſſenſchaftliche Chemie erbaut iſt, wenn wir nicht durch die Hoff— nungen und durch die Leiſtungen jener eitlen und betrüglichen Kunſt dazu aufgefordert und angeleitet worden wären. Um die Richtigkeit einer ſolchen Ausſage gehörig zu beurtheilen, muß man vor allem das Intereſſe zu ſchätzen wiſſen, das der Menſch an rein ſpeculativen Wahrheiten und an den reellen Verbeſſerun— gen fühlt, zu welchen jene führen können. Seit dem Untergange der Alchemie und dem Aufleben der wahren Chemie waren dieſe Intereſſen mächtig genug, eine viel größere und eifrigere Anzahl von Männern für die letzte Wiſſenſchaft zu gewinnen, als dieß bei der erſten je der Fall geweſen iſt. Wir ſehen keinen Grund,

280 Myſticismus des Mittelalters.

warum der Erfolg weniger glänzend hätte ſeyn ſollen, wenn die wahre Chemie noch früher entſtanden wäre. Die Aſtronomie wurde lange Zeit ohne Hülfe der Aſtrologie cultivirt. Vielleicht aber läßt ſich die Sache auch ſo darſtellen. In jener langen Stillſtandsperiode war der menſchliche Geiſt ſo geſchwächt und herabgewürdigt, daß eine reine ſpeculative Wahrheit nicht mehr ihre volle Kraft auf ihn ausüben konnte, und die myſtiſchen Be— ſtrebungen, wo man bloß nach dunklen und entſtellten Bildern der Wahrheit ſo eifrig jagte, mögen mit zu jenen Vorherbeſtimmun— gen gezählt werden, durch welche der menſchliche Geiſt, ſelbſt in ſeiner tiefſten Verſunkenheit, immer noch zu etwas Edlerem geleitet wird, das hoch über der Sinnlichkeit und der gemeinen Leiden— ſchaft liegt; ſie mögen mit in dem großen Plane der Erziehung des Menſchengeſchlechts gelegen haben, die den Mangel an in— tellectueller Kraft des Geſchlechts durch andere analoge Gaben zu erſetzen ſuchte 57).

32) Wie die Alchemie, nachdem ſie einmal weiter ausgebildet war, ihre eigene Sprache hatte, ſo hatten auch die verſchiedenen Grade ihrer Verehrer eigene Titel. Die Inhaber der Wiſſenſchaft wurden Weiſe genannt; die dem wahren Lichte Nachſtrebenden hießen Philoſophea; die Meiſter der Kunſt Adepten, und die Jün— ger derſelben Alchemiſten. Ihre Kunſtſprache beſtand größten— theils in Bildern und Gleichniſſen, und ſie wurde unter ihnen auch deßwegen beſonders cultivirt, um ihre Kenntniſſe vor den Fremden geheim zu halten. Als den erſten Gründer ihrer Wiſſen— ſchaft rühmten ſie den Hermes, Sohn des Anubis in Aegypten, von dem ſie viele magiſche und alchemiſtiſche Bücher aufwieſen, die aber natürlich alle in viel ſpäteren Zeiten entſtanden ſind. Deß— halb wurde ihre Kunſt auch die hermetiſche genannt. In der Folge verbreitete ſich die Luſt zu dieſen myſtiſchen Künſten beſon— ders unter den Römern, die ihres großen Reichthums ungeachtet immer noch nach größerem verlangten. Schon Caligula ſtellte Ver— ſuche an, aus Operment Gold zu machen. Diocletian hingegen befahl, alle ägyptiſchen Bücher über die Magie zu verbrennen, in der Beſorgniß, wie es in dem Edicte hieß, daß ſonſt die Römer durch den Reichthum, den fie aus dieſen Künſten ziehen, zu be ſtändigen Empörungen gegen das Reich gereizt werden. Es iſt aber wahrſcheinlicher, daß ſein geſunder Sinn die Thorheit dieſer Unternehmungen anerkannt hatte, da er ſonſt dieſe alchemiſtiſchen

Operationen zum Vortheile feines Staatsſchatzes angewendet

Myſticismus des Mittelalters. 281

5) Magie.

Die magiſchen Künſte, ſo weit ſie von denen, die ſie aus— übten, geglaubt werden und auf die Wiſſenſchaft ſelbſt Einfluß haben konnten, ſtehen mit der Aſtrologie auf demſelben Boden, wie denn auch dieſe beiden Doctrinen immer in enger Freund— ſchaft gelebt haben. Unfähigkeit und Abneigung, die natürlichen und philoſophiſchen Urſachen der Erſcheinungen aufzuſuchen, und der Glaube an bloß geiſtige und übernatürliche Verbindungen

haben würde. Zu ſeiner Zeit ſcheinen die meiſten zwar alten alche— myſtiſchen Bücher entſtanden zu ſeyn, die man dem Pythagoras, Salomon, Demokrit u. ſ. w. zuſchrieb, die aber wohl meiſtens nur ägyptiſche Mönche und ſophiſtiſche Einſiedler zu ihren Verfaſſern hatten. Die alten Griechen ſchenkten dieſen Dingen wenig oder keine Aufmerkſamkeit. Die Römer ſcheinen erſt durch die Erobe— rung Aegyptens darauf aufmerkſam geworden zu ſeyn. Von eben daher kamen ſie auch im ſiebenten Jahrhundert zu den Arabern, die fie fpäter nach Spanien und von da über ganz Europa verbreiteten. (M. ſ. die Werke des La Mothe le Vayer. Vol. I. S. 327 u. f.) Im Mittelalter wurde die Alchemie beſonders von den Mönchen getrieben, daher ſie auch ſpäterhin von den Päbſten verboten wurde, obſchon ſelbſt einer von ihnen, Johann XXII., viel Geſchmack daran gefunden hatte. Im vierzehnten Jahrhundert war Raymund Lully (von dem bald näher geſprochen werden ſoll) einer der berühmteſten Alchemiſten. Von ihm wird erzählt, daß er bei ſeiner Anweſenheit in London für den König Eduard J. eine Maſſe von 50,000 Pfund Queckſilber in Gold verwandelt habe, aus welchem Golde dann die erſten Roſenobel geprägt worden ſeyn ſollen. Dieſe Verwand— lung der ſogenannten unedleren Metalle in edlere wurde ſpäter der vorzüglichſte, wo nicht der einzige Zweck der Alchemiſten, und das Mittel, welches ſie dazu erfunden haben wollten, ſollte zugleich als eine Univerſalmedizin dienen, allen Krankheitsſtoff aus dem Körper zu entfernen und das menſchliche Leben zu erhalten. Dieſes Mittel wurde von ihnen der Stein der Weiſen, Lapis philosopho— rum, das große Magiſterium, die rothe Tinctur, das große Elixir genannt, und durch daſſelbe ſollten zugleich alle Metalle in Gold ver— wandelt werden können. Ein anderes Mittel, die unedleren Metalle in Silber zu verwandeln, hieß der Stein der zweiten Ordnung oder das kleine Magiſterium, oder auch die weiße Tinctur. M. f. Schmieders Geſchichte der Alchemie. Halle 1832. L.

282 Myſticismus des Mittelalters.

dieſer Erſcheinungen, dieß ſind die beiden Elemente von dieſer, und von jeder anderen Gattung des Myſticismus. So iſt auch der Hang, der den Menſchen zur Annahme jenes eingebildeten Anſehens der Magie über die Elemente verleitete, nur wieder ein neues Beiſpiel von jener unſeligen Gedankenrichtung, die den Fortgang aller reellen Wiſſenſchaft während der Zeit des Mittelalters, und die alle Erhebung des Geiſtes über die äußeren Erſcheinungen gehindert hat, durch welche allein die wahre Wiſ— ſenſchaft begründet werden kann.

Doch gibt es noch einen andern Standpunkt, aus welchem dieſer Gegenſtand in Beziehung auf den geiſtigen Charakter jener Periode betrachtet werden kann.

Der Hang dieſer Zeit, alle durch practiſche Kenntniſſe oder Geiſtesſtärke ausgezeichnete Perſonen für Magier zu erklären, zeigt uns, wie ausgedehnt, wie vollſtändig die Unfähigkeit dieſer Periode geweſen ſeyn muß, das Weſen einer wahren, reellen Wiſſenſchaft zu begreifen. In aufgeklärten und erleuchteten Zei— ten, wie in denen des alten Griechenlands oder des neuern Eu— ropa's, wird Erkenntniß jeder Art von allen, auch von denen gewünſcht und anerkannt, die ſie ſelbſt am wenigſten beſitzen; aber in den Tagen der Finſterniß und der geiſtigen Unterjochung iſt wahre Wiſſenſchaft die Zielſcheibe des Haſſes, der Furcht und der Verfolgung. Dort iſt das Auge des Menſchen offen, ſeine Gedanken ſind klar, und wie ſehr ſich auch der Denker über die übrige Menge erheben mag, die letzte hat doch immer einen Schim— mer von ſeiner lichten Bahn, ſie ſieht dieſe Bahn für alle geöffnet, und Ruhm und Ehre iſt auch für dieſe Menge der Lohn des Fleißes und der Kraft. Hier aber iſt der große Haufen nicht bloß unwiſſend, ſondern auch geiſtlos; er hat alle Luſt an Er— kenntniß jeder Art, allen Wunſch nach ihr und alles Gefühl für die Würde derſelben verloren, und zwiſchen ihr und dem weiſeren Manne gibt es keine Verbindung mehr. Er ſieht ihn wohl über ſich, aber er weiß nicht, wie er zu dieſer Höhe gekommen iſt, noch wie er ſich auf ihr erhält; ja dieſer höher geſtellte Mann wird am Ende für ihn ein Gegenſtand des Widerwillens oder der Abneigung, des Verdachtes und der Furcht, und dieſe An— ſichten werden durch die Einbildungen des Aberglaubens noch be— ſtätigt und verſtärkt. Jede höhere Kenntniß galt als Magie, und die. Magie als eine gottloſe und verbrecheriſche Kunſt zu betrach—

Myſticismus des Mittelalters. 283

ten, darauf führte jene Abneigung gegen alles Große und Un— gewöhnliche gleichſam von ſelbſt, und ſo entſtand jene merkwürdige Zeit in der Geſchichte, wo beinahe Jedermann, der einen ausge— zeichneten wiſſenſchaftlichen Namen erworben hatte, ebendeßwegen auch für einen Magiker, für einen Zauberer oder Schwarzkünſtler gelten mußte. Naudäus, ein gelehrter Franzoſe im ſiebzehnten Jahrhundert, ſchrieb eine „Apologie aller Gelehrten, die ungerech— ter Weiſe für Magiker gehalten wurden.“ Das große Verzeichniß aller derer, die er in ſeinen Schutz zu nehmen hatte, wurde aus allen Ständen und Altern gewählt. Alkindi, Geber, Artephius, Thebit, Raymund Lully, Arnold von Brescia, Peter von Apono, Paracelſus und viele andere waren dem Verdachte der Zauberei und der Schwarzkunſt ausgeſetzt geweſen. Selbſt Thomas von Aquino, Roger Bacon, Michael Scott, Pico von Mirandola und Trithemites konnten, obſchon dem Prieſterſtande angehörend, jenem Verdachte nicht entgehen. Selbſt hohe Würdenträger der Kirche wurden in dieſe weitverbreitete Verketzerung verwickelt, wie Ro— bert Grostete, Biſchof von Lincoln, Albert der Große, Biſchof von Regensburg, und die Päbſte Sylveſter II. und Gregor VII. Und auf dieſelbe Weiſe, wie der gemeine Haufe große Kenntniß und ausgezeichnete Gelehrſamkeit zu ſeiner eigenen Zeit mit der Geſchicklichkeit in jenen finſtern und übernatürlichen Künſten ver— mengte, ſo wußte er auch die beſten und edelſten Männer der Vorwelt in Zauberer und Hexenmeiſter zu verwandeln, wie Ari— ſtoteles, Salomon, Joſeph, Pythagoras, und endlich auch den Dichter Virgilius, der ebenfalls für einen ſehr mächtigen und geſchickten Nekromanten gehalten wurde, wie aus gar manchen Hiftorien von feinen wundervollen Thaten und Kunſten hervor: gehen ſollte 3).

33) Die Volksſage des Mittelalters hat den großen römiſchen Dichter Virgilius zu einen Zauberer gemacht, und ſeine Verſe wurden zu prophetiſchen und anderen myſtiſchen Zwecken als Looſe gebraucht. (Sortes Virgilianae.) Seine vierte Ecloge wurde ſchon zu Kaiſer Conſtantins Zeit als eine Prophezeihung der nahen Ankunft des Meſſias angeſehen. (Gibbon, Cap. XX.) Von den im Texte genannten und einigen anderen, der Zauberei verdächtigen Mannern wird hier eine kurze Erwähnung nicht am unrechten Orte ſeyn. Zuerſt gedenken wir des Namensverwandten des eben angeführten römiſchen Dichters, des Virgilius, Biſchofs von Salzburg. Er

284 Myſticismus des Mittelalters.

Dieſe verſchiedenen Formen des Myſticismus bilden einen hervorſtechenden Charakterzug in dem Gemälde der geiſtigen Welt

wurde viele Jahre durch als ein Zauberer gefürchtet, bis ihn endlich der Biſchof von Metz als einen Ketzer des Scheiterhaufens würdig erklärte, weil er an die Antipoden glaube. Geber, der erſte Chemiker oder Alchemiſt unter den Arabern, lebte im achten Jahr— hundert. In feinen Werken ſoll fchon die Bereitung des Queck— ſilbers gelehrt worden ſeyn. Raymund Lully oder Lullus war aus einem alten Geſchlechte in Palma auf der Inſel Majorca im Jahr 1234 geboren. In ſeinen Jünglingsjahren pflegte er der ausſchweifendſten Liebe gegen das andere Geſchlecht; ſpäter wurde er durch übernatürliche Viſionen geiſtigen Contemplationen zu— gewendet. Er ſpielte mehrere Jahre durch den Pilger im Orient, wo er als Miſſionär die Türken zu bekehren ſuchte. Seine Ab» ſicht, ſelbſt der Stifter eines neuen Mönchsordens zu werden, konnte er nicht erreichen, obſchon er ſich, als Vorbereitung zu dieſem Geſchaͤfte, mehrere Jahre als Einſiedler in der Wüſte auf— gehalten hatte. Später lehrte er, was er ſeine Philoſophie nannte, in Rom ſowohl, als auch in Paris. Nachdem er ſich in ſeine Spitzfindigkeiten ſo tief hineinſtudirt hatte, daß er endlich glaubte, die Geheimniſſe der Incarnation u. f. durch gewöhnliche natürliche Gründe beweiſen zu können, ging er, da er bei ſeinen Landsleuten keine Neigung für ſolche Beweiſe fand, wieder zu den Mahome— danern, und zwar (i. J. 1295) nach Tunis, wo er die gelehrteſten Imans dieſer Stadt zu einer theologiſchen Diſputation aufforderte, durch welche er ſie alle für ſeine Anſichten zu gewinnen hoffte. Ein gemeiner Fakir verrieth ihn dem König, und Lully ſollte ent— hauptet werden. Er wurde des Landes verwieſen, mit der Dro— hung, wenn er wieder kommen ſollte, geſteiniget zu werden. Von da wandte er ſich wieder an Päbſte und Concilien, um vielleicht dieſe für ſeine Anſichten zu gewinnen. Nachdem er ſich lange ver— gebens abgemüht hatte, ging er, ein Greis von 80 Jahren, wieder nach Tunis zurück, wo er nach einer Predigt auf dem großen Platze Bugia von dem wüthenden Pöbel geſteiniget wurde. Sein vorzüglichſtes Werk iſt die Ars major seu generalis, das er zur Widerlegung des Islams geſchrieben hat. Sonſt haben wir noch von ihm verſchiedene Schriften, aus deren Titel man ſchon ihren Werth und Inhalt ſehen kann: De Forma Dei; de Convenientia fidei et intellectus in objecto; de substantia et accidente, in quo probatur Trinitas; de Trinitate in Unitate sive de Essentia Dei: de Ente infinito; de Ente absoluto; de Incarnatione; de Praede- stinatione u. dergl. M. ſ. Fleury Hist. Eecles. Vol. 18 und 19.

Myſticismus des Mittelalters. 285

durch eine lange Reihe von Jahrhunderten. Die Theoſophie und die Theurgie der Neuplatoniker, die myſtiſche Arithmetik der

Seine Opera omnia hat Yvo Salzinger, Mainz 1722, herausgege— ben. Arnold von Brescia, einer der ausgezeichnetſten Män— ner des zwölften Jahrhunderts, ſtudirte zu Paris unter Abä— lard, und kehrte 1136 voll neuer Ideen in feine Vaterſtadt zurück, wo er durch ſeine Strafreden das Volk gegen die Geiſtlichkeit auf— regte. Er wurde von Innocenz II. in den Bann gethan, floh nach der Schweiz, und kehrte im Jahr 1144 nach Rom zurück, wo er ſeine Predigten wieder vornahm. Da ihn Volk und Senat be— ſchützte, fo widerſtand er ſelbſt dem Pabſte Anaſtaſius IV., und ſeine römiſche Herrſchaft, denn ſo kann ſie genannt werden, dauerte zehn Jahre, bis endlich Adrian IV. mit Hülfe des Kaiſers Fried— richs Barbaroſſa den kühnen Gegner bändigte. Er wurde gefangen genommen (1155), als Ketzer und Zauberer lebendig verbrannt, und feine Aſche in die Tiber geworfen. M. ſ. Gibbon. Cap. 69. Peter von Apono, ein berühmter Arzt im Anfange des vier— zehnten Jahrhunderts, lebte in Venedig in großem Anſehen, wo er zugleich für einen großen Aſtronomen galt, obwohl er ſich nur mit Aſtrologie und Alchemie, und zwar mit ſo weniger Umſicht beſchäftigte, daß er 1316 als ein Zauberer in efligie verbrannt wurde, denn er ſelbſt entfloh und ſtarb bald darauf i. J. 1320. Wir haben von ihm noch eine Schrift über das Aftrolabium. Paracelſus oder Theophraſtus Paracelſus von Hohenheim, auch Bombaſtus genannt, wurde gegen 1490 im Kanton Schwyz ge— boren. Er wurde von ſeinem Lehrer, dem berühmten Chemiker Trithemius, Abt von Spanheim, und von dem großen Labo— ranten Sigismund Fugger in die Geheimniſſe der Alchemie einge— weiht. Er durchreiste ſpäter den größten Theil Europa's als Arzt und Chemiker, wo er ſich durch glückliche Kuren bald einen ſehr großen Namen gemacht hatte. Um das Jahr 1527 wurde er Profeſſor der Medicin in Baſel, wo er ſich gegen die Werke des Galen und Avicenna erklärte, die er auch öffentlich verbrannte, aber dafür die des Hippokrates in ſeinen Schutz nahm. Mit lächerlichem Stolze maßte er ſich die Alleinherrſchaft in der Me— dizin an. Nachdem er mit dem Magiſtrate von Baſel ſich ſatt ge— ſtritten hatte, zog er wieder als Arzt in Deutſchland herum, wo er auch i. J. 1541 zu Salzburg ſtarb. Er ſtand noch lange nach feinem Tode in großem Anſehen als Arzt, Alchemiſt, Aſtrolog und Theoſoph, fo wie auch als Magiker und Geomant. Seine vor: züglichſten fixen Ideen waren die unmittelbare Emanation des Menſchen von Gott, der Einfluß der Geſtirne auf den menſchlichen

286 Myſticismus des Mittelalters.

Pythagoräer und ihrer Nachfolger, die Prophezeihungen der Aſtro— logen, und endlich die excentriſchen Anſprüche der Magie und Alche— mie ſtellen nicht unangemeſſen die verſchiedenen Verzweigungen jenes allgemeinen Hangs zum Myſticismus dar, zu welchem ſich die Philoſophie und die Wiſſenſchaft überhaupt hinneigte. Allerdings

Körper, und der Stein der Weiſen. Er ſuchte die Kabbala auf die Medizin anzuwenden. Unter den von ihm eingeführten Arz— neien ſtand das Opium obenan. Gegen die Syphilis ſoll er der erſte den Mercur angewendet haben. Die vollſtändigſte Ausgabe feiner Werke erſchien zu Genf, 1658, II. Vol. in Fol. Thomas Aquinas, Roger Bacon und Albert der Große wird an anderen Orten dieſes Werkes beſprochen. Pico von Mirandola, Graf, einer der gelehrteſten und zugleich ſonderbarſten Menſchen, geb. 1463, mit ungewöhnlichen Talenten, beſonders einem großen Gedächtniß begabt, der i. J. 1486 an den Kirchenthurm Roms 900 Theſen aus allen Wiſſenſchaften anſchlug, über die er mit jedem Ge— lehrten, in jeder Sprache und in jedem beliebigen Versmaße zu diſpu— tiren ſich anbot. Niemand wagte zu erſcheinen, aber dafür machte man die Rechtgläubigkeit ſeiner Theſen verdächtig, worauf ſein gelehrtes Werk „Apologja“ erſchien. Er befolgte die ſtrengſte Lebensweiſe, um ſich ganz den Wiſſenſchaften widmen zu können. Sein Heptaplus ift eine myſtiſche Auslegung der Schöpfungsgeſchichte. Der Hauptzweck ſeines Lebens war die Vereinigung des Plato mit Ariſtoteles. Er lebte mit den berühmteſten und mächtigſten Männern ſeiner Zeit in vertraulichen Verhältniſſen und ſtarb 1494 auf feinem Landgute bei Florenz, das ihm Lorenzo von Medici geſchenkt hatte. Von feinen Zeit— genoſſen wird er als ein Wunder von Genie und Gelehrſamkeit ge— prieſen. Er war ein Gegner der Aſtrologie, aber demungeachtet dem Myſticismus zugethan. Robert Grosteſte oder Gros— tete, Lehrer der Philoſophie zu Paris und Oxford, Biſchof von Lincoln (+ 1253), Ueberſetzer mehrerer ariſtoteliſcher Schriften, und Verfaſſer eines Compendiums der Phyſik und mehrerer Ab: handlungen über die freien Künſte. Gerbert oder Sylveſter II., wie er als Pabſt genannt wurde, ſtarb 1003 mit dem Ruhme eines der gelehrteſten Männer ſeiner Zeit. Sein Gegner, der Biſchof Otto, verſicherte ganz ernſthaft, daß Gerbert ſeine hohe Stelle nur ſeinem Bunde mit dem böſen Feinde zu danken habe. Gregor VII. oder Hildebrand, ſtarb 1088, einer der größten Päbſte, durch ſeinen Kampf mit Heinrich IV., durch ſeine Gebote über Simonie und Prieſterehe, und durch ſein Bündniß mit der Gräfin Mathilde von Toscana bekannt. M. ſ. Voigts Hildebrand und ſein Zeitalter. Weimar, 1815, II. Vol. L.

Myſticismus des Mittelalters. 287

gab es in dieſer langen Zeit auch einige ſtärkere Geiſter, welche ſich von der Laſt dieſer Ketten von dieſen grundloſen und trügeriſchen Einbildungen mehr oder weniger befreiten, aber auf der andern Seite drang der Myſticismus unter der großen, gedankenloſen Menge, die er völlig feſſelte, bis zu Extremen vor, von denen wir uns jetzt kaum eine Vorſtellung machen können. Im All— gemeinen ſehen wir aus dem Vorhergehenden, daß während dem Mittelalter der Myſticismus in allen ſeinen Geſtalten das lei— tende Princip der Geiſter war, des gewöhnlichen Menſchen im Volke ſowohl, als auch der meiſten von den ausgezeichnetſten Weiſen und Gelehrten. In dieſer langen Zeit fehlten größtentheils alle klaren Begriffe von den Gegenſtänden außer uns, ſo wie alle An— Anwendungen dieſer Begriffe auf eigentliche Beobachtungen. Die Gedanken der Menſchen waren unſtet und ſchwankend, und ſie wurden nicht von dem ruhigen Verſtande, ſondern nur von einer krankhaft aufgeregten Phantaſie aufgenommen und fortgeführt. An die Stelle der eigenen Forſchung war fremde Autorität, war ein unbegrenzter Glaube an dieſe Autorität getreten. Die auf ſolchem Wege erhaltenen Anſichten konnten aber keinen dauern— den Werth haben; ſie konnten weder zur ſicheren Erhaltung der alten, noch zur Erwerbung von neuen Wahrheiten geeignet ſeyn. Umſonſt mochte die Erfahrung ihre Schätze und Vorräthe auf— häufen. Da ſie alle nur in dem loſen Schleyer des Myſticismus aufbewahrt werden ſollten, und da die Augen aller Menſchen nur auf jene übernatürlichen Schätze gerichtet waren, die von den Wolken des Himmels zu ihnen herniederſteigen ſollten, ſo achteten ſie wenig oder überſahen auch ganz alle diejenigen Reich— thümer, mit welchen uns die Natur auf der Erde ſelbſt zunächſt umgeben hat.

288 Dogmatismus des Mittelalters.

Viertes Capitel. Dogmatismus des Mittelalters.

Indem wir in dem Vorhergehenden von dem Geiſte der Commentatoren ſprachen, ſo machten wir vorzüglich aufmerkſam auf die eigenthümliche ſinnreiche Servilität, mit welcher ſich dieſer Geiſt entfaltete, auf die Spitzfindigkeit, mit welcher er die Ge— danken der Andern durchwühlte, und auf den Mangel aller kräftigen Erzeugung von eigenen, neuen und reellen Wahrhei— ten. Dieß war in der That der Charakter der Commentatoren im Anfang des Mittelalters, allein in den ſpäteren Zeiten erlitt er, aus mehreren Urſachen, verſchiedene Aenderungen. Dieſelbe Servilität, die ſich ſelbſt dem fremden Joche unterworfen hatte, beſtand jetzt auch darauf, dieſes Joch auf den Nacken der An— dern zu legen; dieſelbe Spitzfindigkeit, die alle Wahrheiten, deren ſie eben bedurfte, in einigen von ihr ſelbſt beglaubigten Büchern gefunden hatte, beſchloß nun auch, und zwar in perem— toriſcher Form, daß Niemand in dieſen oder auch in allen übri— gen Büchern eine andere Wahrheit finden ſollte; und ſo gingen jene feinſpeculirenden Wortphiloſophen in förmliche Tyrannen über, ohne deßhalb aufzuhören, Sklaven zu ſeyn, oder, mit einem Worte, die Commentatoren wurden Dogmatiker.

1) Urſprung der ſcholaſtiſchen Philoſophie.

Die Urſachen dieſer merkwürdigen Veränderungen haben mehrere neuere Schriftſteller ſehr gut auseinander geſetzt !). Wir wollen hier den Fortgang derſelben in Kürze verzeichnen.

Der Hang der Römer in den letzten Zeiten ihres Reiches zu einer bloß commentatoriſchen Literatur und zu einer bloß nachbetenden Philoſophie iſt bereits oben beſprochen worden. Der Verluſt ihrer bürgerlichen Freiheit, der Mangel jener aus Wohl— ſtand entſtehenden Heiterkeit, und ſelbſt die Subſtitution der un— philoſophiſchen lateiniſchen Sprache an die Stelle der verftändig

1) Dr. Hampden in feiner Biographie des Thomas Aquinas (Eney— elop. Metrop.); Degerando in feinen Hist. Comparee. Vol. IV. und Tennemanns Geſch. der Philoſ. Vol. VIII. Einleitung.

Dogmatismus des Mittelalters. 289

und fein gegliederten griechiſchen Sprache, alles dieß trug dazu bei, die bereits vorherrſchende Schwäche und Trockenheit des Geiſtes immer mehr zu vergrößern. Die Menſchen jener Zeit hatten entweder ganz vergeſſen, oder ſie wagten es nicht mehr, die Natur ſelbſt zu befragen, mit eigenen Händen nach neuen Wahr— heiten zu ſuchen, und überhaupt das zu thun, was jene großen Männer der Vorzeit gethan haben: fie waren ſchon zufrieden, ihre Bücher um Rath fragen, fremde und veraltete Meinungen ſtudieren, erklären und vertheidigen, und von dem, was andere vor ihnen geleiſtet haben, wenigſtens ſprechen zu können. Sie ſuchten ihre Philoſophie nur in denjenigen Büchern, die einmal als die beſten angenommen waren, und ſie wagten es nicht, ähnliche, aber neue Fragen, wie in eben dieſen Büchern ge— ſchehen war, ſich ſelbſt vorzulegen.

Dieſer gänzliche Mangel an Muth und Originalität bezeich— nete denn auch die Philoſophie, zu der ſie auf ſolchem Wege ge— langten. Es gibt mehrere einander ſcheinbar entgegengeſetzte Principien, auf welche ſich die Meinungen der Menſchen grün— den, die aber alle ihre Wurzeln in der intellectuellen Conſtitution derſelben haben, und die, wenn einmal der Geiſt in eine höhere Thätigkeit verſetzt wird, ſelbſt von den entgegengeſetzteſten Par— theien und Secten ergriffen und benützt zu werden pflegen. Hieher gehört z. B. das Berufen auf eine höhere Autorität der Anderen oder auch wohl auf eigene höhere Einſicht; die Aufſuchung der Quelle unſerer Erkenntniß in der Erfahrung oder auch in bloßen Begriffen; das Anſehen, welches man durch eine myſtiſche oder auch durch eine ſkeptiſche Wendung ſeines Vortrags gewinnt u. ſ. w. Solche Gegenſätze finden ſich oft genug in den Vorträgen der größten Schriftſteller, und beſonders zwei von dieſen, Plato und Ariſto— teles, waren in dieſer Beziehung, obſchon fie beide nach dem— ſelben Ziele ſtrebten, doch ſehr verſchieden in den Mitteln, welche ſie dazu in Bewegung ſetzten. Wir haben bereits oben der Bemühungen erwähnt, die ſich Boethius und andere gegeben haben, dieſe beiden großen Philoſophen des Alterthums zu einer Art von Vereinigung zu bringen. Man kann auch dieſe Verſuche ſo fern wenigſtens als gelungen anſehen, als ſie in dem Gemüthe der Menſchen den feſten Glauben an die Möglich—

keit eines philoſophiſchen Syſtems zurückgelaſſen Pa das auf Whewell. J.

290 Dogmatismus des Mittelalters.

dieſen beiden Männern erbaut werden und des Beifalls aller denkenden Menſchen ſich erfreuen ſollte.

Allein während dieſer Glaube ſich nach und nach entwickelte, bemächtigte ſich noch ein anderer, mit viel größerer Kraft, des menſchlichen Geiſtes. Die chriſtliche Religion wurde allmählig das leitende Princip alles Denkens, und die erſten großen Lehrer der neuen Kirche verkündigten dieſe Religion nicht bloß als die einzige Führerin des Menſchen durch ſein Leben, nicht bloß als das beſte Mittel der Ausſöhnung deſſelben mit den himmliſchen Mächten, ſondern auch zugleich als die einzige Philoſophie im weiteſten Sinne des Wortes, als eine in ſich ſelbſt beſtehende ſpeculative Wiſſenſchaft von der Beſtimmung und Natur des Menſchen ſowohl, als auch von der Welt, in die er geſetzt worden iſt.

Dieſe Anforderungen jener erſten Kirchenväter wurden auch ſogleich allgemein und willig anerkannt. Der Gegenſtand des reinen, mit Vertrauen einer höheren Macht ſich hingebenden Glau— bens war ſeitdem zugleich ein Gegenſtand ſpeculativer Wiſſenſchaft geworden. Unglücklicherweiſe aber wurde bei dieſer Erhebung des Glaubens zur Wiſſenſchaft nicht bedacht, daß die letzte ohne Hülfe von eigentlichen Beobachtungen nicht beſtehen kann, und daß der Verſtand, auf dem Felde der Wiſſenſchaft, doch nur mit dieſen Beob— achtungen zu thun hat, durch die allein die Errichtung eines eigent— lich wiſſenſchaftlichen Syſtems möglich wird. Es wurde ferner ohne weiteres angenommen und feſtgeſetzt, daß diejenige Philoſophie, die den Menſchen durch jene großen Denker des Heidenthums zugekom— men war, identiſch mit der ſey, die unmittelbar aus den Offen— barungen folge, die Gott ſelbſt dieſen Menſchen gegeben hat, und daß demnach die Theologie auch zugleich die einzig wahre Phi— ſoſophie ſeyn müſſe. In der That waren auch ſchon die Neupla— toniker, obſchon auf anderen Wegen, zu derſelben Anſicht ge— langt. Johannes Scotus Erigena ), der unter der Regierung

2) Johannes Scotus Erigena, einer der gelehrteſten und ſcharfſinnigſten Männer, war im neunten Jahrhundert in Irland geboren. Von Karl dem Kahlen an den franzöſiſchen Hof berufen, lebte er daſelbſt längere Zeit, bis er ketzeriſcher Meinungen wegen Frank— reich verlaſſen mußte. Er wurde von Alfred dem Großen nach Oxford gerufen, wo er i. J. 886 ftarb. Seine Philoſophie ſchloß

Dogmatismus des Mittelalters. 291

Alfreds im neunten Jahrhundert in England, alſo noch vor der Exiſtenz der ſcholaſtiſchen Philoſophie, lebte, hatte bereits dieſelbe Lehre zu der feinigen gemacht: Anſelmus ) aber hatte fie im

ſich an die Neuplatoniſche an, hatte jedoch viel Eigenthümliches. Wir haben von ihm eine Ueberſetzung des Dionyſius Areopagita, der die Hauptquelle der myſtiſchen Anſichten des Mittelalters ge— worden iſt. Für ſeine vorzüglichſte Arbeit wird die Schrift de divisione naturae gehalten. Er nahm eifrigen Antheil an den Streitigkeiten des Paſchaſius Radbertus, Abtes zu Corbie; des berühmten Hinkmar, Erzbiſchofs von Rheims, und des Godeſchalk, Mönchs zu Fulda, über die Lehre von der Transſubſtantiation und Prädeſtination, worin er ſich als einen weit über ſein Zeitalter erhabenen Mann zeigte. Seine religiös-philoſophiſchen Anſichten neigten ſich zu denen des Pelagianismus, welche Lehre der eng— liſche Mönch Pelagius im fünften Jahrhundert gegründet hatte. Daß er nicht, wie ſein armer Gegner, der oben erwähnte Gode— ſchalk oder Gottſchalk, verfolgt wurde, verdankte er wohl ſeiner Freundſchaft der Großen, mit denen er auf einem ſehr vertraulichen Fuße umgegangen zu ſeyn ſcheint, wie folgende Anecdote bezeugen kann. Als er einmal an dem Tiſche Karls des Kahlen, wo er für einen Schotten galt, ihm gegenüber ſaß, und der König, vom Weine aufgeregt, ſeinen Witz über das für einen Franzoſen unbe— holfene Weſen des Philoſophen glänzen laſſen wollte, fragte er denſelben: Amice, die mihi, quid distat inter Sottum (Tölpel) et Scotum? „Latitudo hujus tabulae“ „die Breite dieſes Tiſches“ antwortete Erigena, und der König dachte groß genug, die Replik hinzunehmen. M. ſ. Baronius, Annales Eeclesiastici und Fleury Hist. Weclesiastique. L.

3) Anſelmus wurde zu Aoſta in Piemont, i. J. 1034 geboren. Im

Jahre 1093 wurde er Erzbiſchof von Canterbury in England, wohin ihn ſein Vorgänger in dieſem Biſchofſitze, der berühmte Lanfranc, gezogen hatte. Anſelmus iſt einer der ausgezeichnetſten Religionsphiloſophen des Mittelalters. Ihm wird die Erfindung des ontologiſchen Beweiſes von dem Dafeyn Gottes zugeſchrieben, nach welchem die Exiſtenz deſſelben ſchon die unmittelbare Folge des Be: griffs eines höchſten und vollkommenſten Weſens ſeyn ſoll. In ſeinen Jünglingsjahren lebte er fo ausſchweifend, daß er feinem Vater Gondulf mit Entſagung auf ſein künftiges Erbe entfliehen mußte. Er ging nach Frankreich, wo er i. J. 1060 in ein Klofter zu Bee trat, zu deſſen Abt er 1078 erwählt wurde. Er erhob dieſes Klofter zu einer für lange Zeit berühmten Bildungs-Anſtalt für 19 *

292 Dogmatismus des Mittelalters.

eilften und Bernard von Clairvaux ) im zwölften Jahrhun— dert gleichſam von Neuem wieder aufgeſtellt.

Geiſtliche und gründete zugleich ſeinen eigenen literariſchen Ruhm durch mehrere Schriften, von welchen das Monologium und das Proſologium (Anrede an ſeinen Geiſt) die ausgezeichnetſten ſind. Er ſtarb 1109, in einem Alter von 75 Jahren. Seine Biographie von Cadmerus de Vila Anselmi, iſt den Werken Anſelms in den Ausgaben des Gerberon, 1721, beigedruckt. Sein ganzes Streben war dahin gerichtet, die Grundwahrheiten der chriſtlichen Religion bloß aus der Vernunft zu beweiſen, und durch Vernunftſchlüſſe das Glauben in Wiſſen zu verwandeln, und zu dieſem Zwecke hielt er die Dialektik für das geeignetſte Mittel. Dadurch legte er den erſten förmlichen Grund zur ſcholaſtiſchen Philoſophie, als deren eigentlichen Gründer ihn viele betrachten. M. ſ. Tennemann's Geſch. der Philoſophie. Leipzig 1810. Vol. VIII. S. 115 u. f. L. Bernhard von Clairvaux, vielleicht der einflußreichſte Geiſtliche des Mittelalters. Er war 1091 in Burgund geboren und ſtarb 1153 als Abt von Clairvaux bei Langres. Seine Strenge gegen ſich ſelbſt, ſein Freimuth gegen die Großen, ſeine hinreißende Bered— ſamkeit und der Ruf eines Propheten machten ihn zum Orakel des chriſtlichen Europa's. Er beförderte vorzüglich den ſogenann— ten zweiten Kreuzzug des Jahrs 1146, der unter Conrad III. unternommen wurde, und er war es, dem man die Stillung der großen Verfolgung der Juden zuſchrieb, die zu ſeiner Zeit ſich über ganz Deutſchland und mehrere benachbarte Länder verbreitete. Er lehnte jede Erhebung zu höheren Würden ab, und wollte nur Abt ſeines Jeruſalems bleiben, wie er ſein geliebtes Clairvaux nannte. Er genoß die Freundſchaft und Achtung mehrerer Könige und Päbſte, war öfter Schiedsrichter zwiſchen Biſchöfen und Fürſten, und auf den Concilien wurde ſeine Stimme vor allen geehrt. Seine Vorliebe für das Mönchsleben war ſo groß, daß er nicht eher ruhte, bis er ſeinen eigenen Vater, ſeinen Onkel, fünf Brüder und eine Schweſter dahin gebracht hatte, in das Kloſter zu gehen. Nicht geringeren Eifer zeigte er auch in der Be— kehrung fremder Familien zum Kloſterleben, und ſo groß wurde endlich die Furcht vor ſeiner Bekehrungsſucht, daß die Weiber ihre Männer, die Mütter ihre Kinder verſteckten, ſobald er ſich vor einem Hauſe ſehen ließ. In dem Jahre 1113, wo er ſelbſt Mönch wurde, erſchien er, von dreißig durch ihn Neubekehrten begleitet, vor dem Thore des von dem h. Robert kurz vorher geſtifteten Ciſterzienſer-Kloſters. Sein Körper war durch Faſten und Buße abgezehrt und einer Leiche gleich, aber aus ſeinen

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Dogmatismus des Mittelalters. 293

Dieſe Anſicht wurde durch die damals allgemein verbreitete

Meinung über das Weſen aller philoſophiſchen Wahrheit überhaupt beſtätigt, eine Anſicht, die ſchon Plato und Ariſtoteles aufgeſtellt hatten, und zu deren Annahme der Menſch ſeiner Natur nach immer ſehr geneigt zu ſeyn ſcheint, die Annahme nämlich, daß alle Wiſſenſchaft bloß in dem Verſtande liege, und, daß man, durch bloße Analyſe oder Combination der Worte, welche uns die Sprache darbietet, alles das erlernen könne, was man zu wiſſen nöthig hat. Daher galt ihnen auch die Logik ſo viel, das ſie die— ſelbe weit über alle anderen Wiſſenſchaften ſtellten, wie Abälard!)

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Augen ſprühte das Feuer der Begeiſterung, die in ſeiner Seele wohnte. Von dieſem Tage zählt man das Aufblühen und den wun— derbar ſchnellen Fortgang dieſes neuen Mönchsordens. Sein Cha— rakter war eine ſonderbare Miſchung von Stolz und Demuth. Den gemeinſten Handarbeiten unterzog er ſich willig, und jede Beſchwerde des Lebens trug er mit Ruhe und Ergebung; aber wenn es den Glanz oder den Nutzen der Kirche galt, war er hochmüthig, unbeugſam und unverſöhnlich. Mit demſelben Feuereifer zog er auch gegen Kaifer und Pabſt, wenn fie fein Mißfallen erregten. In feinem berüchtigten Streit mit Abelard begnügte er ſich nicht, den vermeinten Ketzer bloß zu widerlegen, er verfolgte ihn auch und bedeckte ihn mit den gemeinſten Schimpfworten. Er hatte die ſcholaſtiſche Philoſophie, wie fie in feinem Jahrhundert ihre größte Höhe, ihre eigentliche Reife erlangt hatte, zu wohl kennen gelernt, um nicht zu ſehen, welche Gefahr ſie der Kirche bereite. Ohne große Gelehrſamkeit, ohne eindringenden Verſtand riß er doch alle, die ihn umgaben, durch feine Beredſamkeit hin. Wäh— rend ſeinem Leben hatte er ſelbſt 72 Klöſter in Europa errichtet, von denen die meiſten mit Mönchen fo angefüllt waren, daß fie ſich in mehrere andere zertheilen mußten, ſo daß bald nach ſeinem Tode die urſprünglich von ihm geſtifteten Klöſter die Zahl von 160 erreichten. L.

Abälard, Peter, geboren 1079 in der Nähe von Nantes, geſtorben 1142 bei Chalons an der Saone. Er hatte in Paris ſtudirt, wo er den berühmten Wilhelm de Champeaux hörte, deſſen Haß er ſich, durch ſeine Ueberlegenheit über den Meiſter, zuzog. Seitdem hielt er ſich an mehreren Orten flüchtig auf, verfolgt von ſeinen gelehrten Gegnern. Später kam er als Lehrer der Philoſophie nach Paris zurück, wo er den berühmten Peter Lombardus, Beringer, Arnold von Breſcia u. a. zu feinen Schülern hatte. Um das Jahr 1115 lernte er Heloiſe, die wegen ihrer Schönheit

294 Dogmatismus des Mittelalters.

ausdrücklich verlangte. Dieſe Anſicht war es vorzüglich, die zu dem Schluſſe führte, daß die theologiſche Philoſophie die einzig wahre, und daß ſie allein eine in ſich ſelbſt abgeſchloſſene Wiſ— ſenſchaft ſeyn ſoll.

Auf dieſe Weiſe wurde alſo eine Univerſalwiſſenſchaft auf— geſtellt, und dieſelbe noch mit der Autorität eines religiöſen Glau— bens umgeben. Jene beruhte auf einer irrigen Relation des bloßen Wortes zur Wahrheit. Aber dieſes Irrthums ungeachtet wurde ſie doch von den ſervilen Geiſtern jener Zeit als Wiſſenſchaft nicht nur angenommen, ſondern derſelben auch zugleich eine höhere, und zwar eine religiöſe Weihe ertheilt. Da aber der Glaube innerhalb der Grenzen ſeiner eigenen Gerichtsbarkeit ſeiner Na— tur nach unbedingte Zuſtimmung und Gehorſam gebieteriſch fordert, ſo maßte ſich auch die Wiſſenſchaft dieſelben Forderungen an, und fortan wurde jede Entfernung von ihren Lehren als unerlaubt, als ſtrafbar behandelt. Jeder Irrthum in der Wiſ— ſenſchaft war zugleich ein Laſter; jede Abweichung von ihren Leh— ren galt für eine Ketzerei, und die philoſophiſchen Meinungen der herrſchenden Parthei nicht annehmen, war gleichbedeutend mit dem Zweifel an den unmittelbaren Offenbarungen des Himmels; kurz, die ſcholaſtiſche Philoſophie verlangte unbedingt die Zuſtim— mung und die Unterwerfung aller Gläubigen.

Die äußere Geſtalt, der Inhalt und auch der eigentliche Text dieſer Philoſophie wurde übrigens größtentheils aus den Werken des Ariſtoteles genommen, obſchon der eigentliche Geiſt und ſelbſt der Styl von Plato, und beſonders von den Neuplatonikern, geborgt war. Dieſe Erhebung des Stagiriten zu ſeiner neuen,

berühmte Nichte des Canonicus Fulbert in Paris kennen, mit welcher er die bekannten Abentheuer erlebte, in deren Folge er Mönch und ſie Nonne wurde. Sein gelehrter Streit mit dem h. Bernhard führte i. J. 1140 die Verdammung ſeiner Lehre von dem päbſtlichen Stuhl nach ſich. Dieſe Lehre war ein vollſtändiger Rationalismus, nach welchem nichts zu glauben ſey, als was man vorher mit dem Verſtande begriffen habe. Abälard iſt auch als der Chorrage der Nomilaſtiten anzuſehen, deren oben erwähnter Streit mit den Realiſten mehrere Jahrhunderte äußerſt heftig durchgeführt wurde, und von dem wir im letzten Capitel dieſes Buches einige nähere Rachricht geben. L.

Dogmatismus des Mittelalters. 295

alle anderen überragenden Würde hatte mehrere Urſachen. Seine Logik war früher ſchon allgemein als die beſte Waffe für theolo— giſche Diſputationen anerkannt, und fein ſyſtematiſirender Geiſt, ſeine ſpitzfindigen Diſtinctionen, ſeine grübelnden Wortanalyſen, ſo wie endlich ſeine Neigung, alles, auch das, was er nicht ver— ſtand, ohne weiteres zu beweiſen, boten dem commentatoriſchen Geiſte jener Zeit eine eben ſo natürliche als angenehme Beſchäf— tigung dar. Die Principien, die wir oben als die leitenden Punkte ſeiner Naturphiloſophie bezeichnet haben, wurden ſorg— fältig ausgewählt und angenommen, und nachdem ſie in eine der neuern Denkungsart angemeſſene Form gebracht und in ein ſogenanntes ſyſtematiſche Ganze geſammelt waren, bildeten ſie einen großen Theil, wenn nicht das eigentliche Ganze der Natur— philoſophie des Mittelalters.

2) Scholaſtiſche Dogmen.

Aber noch vor der Errichtung des Thrones, von welchem herab Ariſtoteles die ganze geiſtige Welt beherrſchte, ſchien im neunten und zehnten Jahrhundert eine eigene Art von Erwachen aus dem langen und ſchweren Schlafe anzubrechen. Die ihrer ſelbſt noch nicht klar bewußten Menſchen wendeten ſich damals mehr den Platoniſchen Doctrinen zu, die ihren Anſichten beſſer zuſagten, und die mit den myſtiſchen Speculationen und der beſchaulichen Frömmigkeit jener Jahrhunderte inniger übereinſtimmten, als die trockenen Vernünfteleien des Stagiriten. Der oben erwähnte Johannes Scotus Erigena kann als der eigentliche Wiedererwecker der neuplatoniſchen Philoſophie zu Ende des neunten Jahrhun— derts angeſehen werden. Gegen das Ende des eilften Jahrhunderts kleidete Peter Damien °) in Italien dieſe Philoſophie in ein

6) Damien oder Damianus, Peter, geb. 1007, geſt. 1072, ein Benedictiner aus Ravenna, ſpäter Cardinalbiſchof von Oftia. Er hinterließ 60 Abhandlungen über Kirchenzucht, 75 Homilien und ſehr viele Briefe theologiſchen Inhalts. Seine Schriften wurden 1606 zu Rom in fünf Foliobänden herausgegeben. Durch ihn beſonders kam die „Geißelung“ zur Buße für begangene Sünden in Aufnahme, die bald darauf auch an den Höfen allgemeine Sitte wurde. Ludwig IX. von Frankreich trug zu dieſem Behufe beſtän— dig eine Büchſe bei ſich, in welcher fünf kleine eiſerne Ketten ver— ſchloſſen waren, und theilte auch dergleichen Kettenbüchſen an die

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rein theologiſches Gewand. Eben fo hinterließ Godefeoy, Cenſor von St. Victor, eine Schrift „Microcosmus“, die ganz auf eine platoniſch-myſtiſche Analogie zwiſchen den Menſchen und dem Welt— all gegründet iſt, und die auch zu vielen ähnlichen nachfolgenden Veranlaſſung gab. „Die Philoſophen und die Theologen, ſagt „er, ſtimmen darin überein, den Menſchen als eine kleine Welt „zu betrachten, und da die eigentliche Welt aus vier Elementen „zuſammengeſetzt iſt, fo beſteht auch der Menſch aus den vier Fa— „cultäten der Sinne, der Einbildungskraft, des Verſtandes und „der Vernunft.“ Bernard von Chartres nahm dieſelbe Idee wieder auf in feinen Megacosmus und Microcosmus.“ Hugo, Abt von St. Victor ') aber machte das beſchauliche Leben zu der Hauptpflicht und zu der „Krone aller Philoſophie,“ und er ſoll der erſte unter jenen Scholaftifern geweſen ſeyn, der die Pſychologie zu ſeinem beſonderen Studium gewählt hat. Er nimmt ſechs Facultäten des menſchlichen Geiſtes an: die Sinne, die Imagination, den Verſtand, das Gedächtniß, die Vernunft und die Intelligenz. Die Phyſik bildet keinen eigentlichen, beſonders hervorra— genden Theil der fcholaftifchen Philoſophie, die im Grunde bloß in einer Reihe von Fragen und Sätzen über die verſchiedenen Eigenſchaften einer von ihr ſelbſt ausgedachten eigenthümlichen Gottheit beſteht. Hieher gehört z. B. das berühmte Werk-Liber Sententiarum“ des Petrus Lombardus ), Biſchofs von Paris,

Prinzen und Prinzeſſinen ſeines Hofes als beſondere Gnadengeſchenke mit. In der letzten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts hatte dieſe Wuth der „Slagellation“ ganze Länder ergriffen, und die Flagel— lanten bildeten große „Brüderſchaften,“ deren Apoſtel von Land zu Land wanderten. L.

Hugo, a St. Victore, aus dem Geſchlechte der Grafen von Blankenburg (geb. 1097, geſt. 1141) ein ſorgfältiger Bibelausleger und treuer Verehrer der Kirchenväter. Seine Werke ſind 1648 zu Rouen in 3 Folivbänden erſchienen. L.

8) Petrus Lombardus, aus Novara in der Lombardey, ſtarb 1164 als Biſchof zu Paris. Er war Abälard's Schüler, und ſuchte in feinem Werke: Sententiarum libri IV. die theologiſchen Mei— nungen der Kirchenväter in ein Syſtem zu bringen. Dieſes Werk erhielt fein klaſſiſches Anſehen unter den Theologen bis zur Zeit der Reformation. Er war von niederer Abkunft, da ſeine Mutter

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Dogmatismus des Mittelalters. 297

das man auch emphatiſch „Magister Sententiarum« zu nennen pflegte. Dieſes Werk erſchien im zwölften Jahrhundert und blieb lange der Leitſtern für alle Discuſſionen dieſer Art. Die darin auf— geſtellten Probleme werden meiſtens nur durch die Autorität der h. Schrift und der Kirchenväter aufgelöst. Das Werk iſt in vier Bücher getheilt. Das erſte enthält die Fragen über Gott im Allge— meinen und über die Lehre von der Dreieinigkeit im Beſondern; das zweite handelt von der Schöpfung; das dritte von Chriſtus und ſeiner Religion, und das vierte endlich ſpricht von unſern religiöſen und moraliſchen Pflichten. In dem zweiten Buche wird, ein Lieblingsgegenſtaud der Schriftſteller jener Zeit, die Natur der Engel ſehr umſtändlich auseinander geſetzt, und die ganze Hierarchie derſelben beſchrieben, die aus neun verſchiedenen Ordnungen oder Rangsſtufen beſtehen ſoll. Eigentlich phyſiſche Discuſſionen findet man nur da und dort, ſo weit ſie mit der geoffenbarten Geſchichte der Schöpfung der Welt im Zuſammen— hange ſtehen ſollen. Indem er von der Trennung der Gewäſſer über und unter dem Firmamente ſpricht, theilt er die Mei— nung des Beda) mit, nach welcher dieſes Gewölbe von

als Wäſcherweib in fremden Häuſern diente. Nach ſeiner Erhe— bung zum Biſchof in Paris beſuchte ihn die Mutter in feſtlichem Kleide, aber er ließ ſie nicht eher vor, bis ſie ihre frühere Klei— dung wieder angenommen hatte, wo er ſie dann mit kindlicher Liebe bis an ihren Tod pflegte. Sein erwähntes Werk zeugt von großem Scharfſinn und Beleſenheit in den Kirchenvätern. Nach dem Titel ſeines Werkes wurde er Magister Sententiarum ge: nannt. L.

8) Beda, mit dem Beinamen Venerabilis, ein angelſächſiſcher Mönch, geb. 673 bei Durham, geft. 735 in Wearmouth. Seine Schriften zeugen von einer für ſeine Zeit ſehr großen Beleſenheit über Grammatik, Rhetorik, Mathematik, Phyſik, Geſchichte und Theo— logie. Selbſt uns noch wichtig iſt feine Historia ecelesiae gentis Auglorum, welche die Geſchichte Englands von Cäſar's Landung bis zu dem Jahr 731 umfaßt. Wir verdanken ihm noch unſere chriſtliche Zeitrechnung nach der Beſtimmung des römiſchen Abtes Dionyſius des Kleinen, die er in den nördlichen Gegenden Europa's der erſte in Aufnahme brachte, ſo wie auch die Beſchreibung der verlornen Dionyſianiſchen Oſtertafel. Seine ſämmtlichen Werke erſchienen in acht Foliobänden zu Baſel im Jahr 1583. L.

298 Dogmatismus des Mittelalters.

Kryſtall ſeyn ſoll, an dem die Sterne befeſtigt find e), die er aus der Urſache für die richtigſte hält, „weil der Kryſtall, der „fo hart und durchſichtig zugleich iſt, aus Waller entſteht.“ Doch erwähnt er auch der Meinung des h. Auguſtin s), nach welcher die Waſſer des Himmels daſelbſt in dampfförmigem Zu— ſtande (vaporaliter) und in der Geſtalt von kleinen Tropfen ſeyn ſollen. „Wenn alſo, ſchließt er weiter, das Waſſer in ſo kleine „Theile getheilt werden kann, die, wie wir bei den Wolken ſehen, „in der Geſtalt von bloßen Dünften von der Luft getragen werden, „wie ſollten wir nicht annehmen dürfen, daß daſſelbe Waſſer in „noch viel kleineren Theilen auch noch über der Luft ſchwimme? „In welcher Geſtalt aber dort auch das Waſſer ſchweben mag, »ſetzt er hinzu, fo können wir doch nicht zweifeln, daß es da— „ſelbſt wirklich exiſtirt.“

Das noch berühmtere Werk „Summa Theologiae“ des h. Thomas von Aquinas “) iſt ganz von derſelben Art, und

9) Liber Sententiar. Lib. II. Distinct. XIV.

10) Auguſtinus (Aurelius) der Heilige, geb. 354 zu Tegaſte, einer kleinen Stadt in Nordafrika, geſt. 403 als Biſchof zu Hippo. Sein Leben erzählt er ſelbſt in ſeinen „Confeſſionen,“ die neuer— dings von Neander (Berl. 1823) herausgegeben wurden. Seinen erſten Unterricht erhielt er von ſeiner würdigen Mutter Monica. Seine Jünglingsjahre waren größtentheils verliebten Ausſchwei— fungen gewidmet, bis er, gegen ſein dreißigſtes Jahr, durch die (für uns verlorne) Schrift „Hortenſius“ des Cicero zum Studium der Philoſophie geleitet wurde. Auch die folgenden zehn Jahre verlor er in den Ketzereien der Manichäer, bis er endlich durch den Biſchof Ambroſius in Mailand auf den Weg geleitet wurde, den er von nun an mit Kraft und Glück bis an ſein Ende eifrig verfolgte. Von Mailand nach Afrika zurückkehrend verkaufte er alle ſeine Güter, behielt von dem gelösten Gelde nur das zum Leben nothwendige und vertheilte das Uebrige unter die Armen. Er trat nun in den geiſtlichen Stand und wurde im Jahr 395 zum Biſchof von Hippo erwählt. Hier gerieth er mit Pelagius und Cöleſtius in heftige theologiſche Streitigkeiten, die ihm Gele— genheit zu vielen Schriften über dieſe Gegenſtände gaben. Er wird für einen der ſcharfſinnigſten, geiſtreichſten und eifrigiten Kirchenväter gehalten. Unter ſeinen Werken zeichnet ſich vor— züglich die Schrift De Civitate Dei, libri XXII. aus. L.

11) Thomas Aquinas oder der h. Thomas von Aquino, geb. 1224 in

Dogmatismus des Mittelalters. 299

auch von ihm macht das ſogenannte phyſiſche Capitel bei weitem den kleinſten Theil des Ganzen aus. Von allen den 522 Quä— ſtionen dieſer „Summa« iſt bloß eine einzige (Part. I. Quäſt. 115) „über die körperliche Wirkung,“ die noch die materielle Welt angeht. Dafür trifft man deſto mehr „über die Hierarchie des „Himmels, über die Natur der Engel, ihre Handlungen, ihre „Sprache, Nahrung, Verdauung u. dgl.“

Bemerken wir noch, daß in dieſem Werke, obſchon mehrere Stellen von Plato und anderen heidniſchen und chriſtlichen Schriftſtellern als eben ſo viele hohe Autoritäten erwähnt werden, doch Ariſtoteles immer vorzugsweiſe „der Philoſoph“ genannt

Neapel, geſt. 1274. Er iſt der einflußreichſte unter den fcholaiti- ſchen Philoſophen. Seine erſte Bildung erhielt er unter den Be— nedictinern zu Monte Caſino, und feine ſpätere auf der Hochſchule zu Neapel. Er trat gegen den Willen ſeiner Eltern im Jahr 1243 in den Dominikanerorden, reiste dann nach Paris und Köln, um in der letztern Stadt den Unterricht des berühmten Schola— ſtikers, Albertus Magnus, zu genießen. Bald darauf trat er als Lehrer der Scholaſtik zu Paris auf, wo er feine Vorträge mit dem größten Beifall bis 1261 hielt. Dann lehrte er abwechſelnd, ein reiſender Philoſoph, zu Rom, Bologna, Piſa und in andern Städten Italiens. Gegen ſein Ende hielt er ſich in dem Dominikaner— kloſter zu Neapel auf, und ſchlug die ihm angetragene erzbiſchöf— liche Würde aus, um in der Einſamkeit ganz ſeinem Studium leben zu können. Noch während ſeines Lebens und ſelbſt lange nach ſeinem Tode genoß er das größte Anſehen in der Kirche und unter den Gelehrten ſeiner und der folgenden Zeiten. Wie den meiſten Scholaſtikern fehlte ihm die Kenntniß der griechiſchen und hebräiſchen Sprache. Seine Hauptwerke find die Summa theologiae; die Quaestiones disputatae et quodlibetales; ſeine Opuscula theo— logica und ſein Commentar über die Libri Sententiarum des Petrus Lombardus. Sein größter theologiſcher Gegner war Duns Scotus. Durch dieſe beiden Männer wurde die geſammte ſcholaſtiſche Welt in zwei Partheien geſpalten, die Thomiſten und Scotiſten, oder die Nominaliſten und Realiſten. Als der heftige Streit zwiſchen beiden Partheien ſchon längſt vorüber war, erwachte er noch einmal zu Ende des ſechszehnten Jahrhunderts zwiſchen den ſogenannten Moliniſten Jeſuiten und Franciskanern) und den Janſeniſten, von welchen jene im Allgemeinen den Scotiſten, und dieſe der Lehre des h. Auguſtins und Thomas zugethan waren, obfchon ſich beide auch in mehreren Punkten von ihren erſten Lehrern entfernten. L.

309 Dogmatismus des Mittelalters.

wird. Schon vor ihm bemerkte Johann von Salisbury!) als ein Zeichen ſeiner Zeit (er ſtarb im Jahr 1182), „daß von den „verfchiedenen großen Lehrern der Dialectik wohl jeder mit feinem „eigenen Verdienſte in den philoſophiſchen Schriften feiner Zeit „glänzt, daß aber alle dieſe Schriftſteller in der ausſchließenden „höchſten Verehrung des Ariſtoteles übereinkommen, jo zwar, „daß der Name eines Philoſophen, der doch jenen allen zu— „kommen ſollte, für dieſen allein gleichſam vorbehalten worden „it, indem er von allen der „Philoſoph“ autonomatice (d. h. „vorzugsweiſe oder für ſich allein ftehend) genannt wird).“ Die Quäſtion von der körperlichen Wirkung wird von Aquinas in ſechs Artikeln vorgetragen, und das Reſultat, das daraus folgt, iſt: „daß ein Körper aus Kraft und Wirkung „zuſammengeſetzt, und ſowohl activ als paſſiv iſt“).“ Da: gegen wird von ihm ſelbſt eingewendet, daß die Quantität eine Eigenſchaft des Körpers iſt, welche der Wirkung der— ſelben hinderlich entgegentritt, wie dieß auch in der That ſo erſcheine, da ein größerer Körper ſchwerer bewegt wird, als ein kleiner. Allein darauf antwortet er: „Die Quantität hin— „dert die körperliche Form in keiner ihrer Wirkungen, fondern „nur ſo weit, daß ſie kein allgemeines Agens werde, ſo weit „nämlich, als dieſe Form individualiſirt wird zu dem, was fie, „in jeder der Quantität unterworfenen Materie, wirklich iſt. „Weberdieß gehöre der Einwurf von dem verſchiedenen Gewichte „der Körper nicht hieher, erſtens weil die Vermehrung der „Quantität nicht die Urſache der Schwere iſt, wie dieß in dem „vierten Buche De Coelo et de Mundo, (man ſieht, wie er ſelbſt „die Titel der ariftotelifchen Schriften nachzuahmen ſucht), be— „wieſen wird; zweitens weil es falſch iſt, daß das Gewicht die

12) Johann von Salisbury, oder Joannes Parvus, hatte feine erſte Bildung in Frankreich erhalten, und wurde dann Geheimſchreiber des Erzbifchofs Thibaut von Canterbury. Er ſuchte ſich über die bei: den ſtreitenden Partheien der Realiſten und Nominaliſten zur eigenthümlichen Selbſtſtändigkeit zu erheben, und trat ſelbſt als Gegner ſeines ſophiſtiſchen Zeitgeiſtes mit Verſtand und Nachdruck auf. Seine zwei vorzüglichſten Werke ſind der Metalogicus und der Policraticus. L.

13) Joannis de Salisbury opp. Metalogicus. Lib. II. Cap. 16.

14) Summa Theolog. P. I. Quaest. 115. Art. I.

Dogmatismus des Mittelalters. 301

„Bewegung langſamer mache, da im Gegentheile jeder Körper, „je gewichtiger er iſt, ſich auch deſto mehr mit der ihm eigenen „Kraft bewegt; und drittens weil die Wirkung der Körper nicht „bei Ortsveränderungen derſelben ſtatt hat, wie Demokrit be— „»hauptet, ſondern nur dann, wenn der Körper von einer Kraft »zu einer Wirkung gebracht wird.“

Es gehört nicht zu unſerm Zwecke, alle die theologiſchen oder metaphyſiſchen Lehren, die einen jo großen Theil dieſes und aller ähnlichen Werke ausmachen, hier näher zu unterſuchen. Vielleicht wird ſich ſpäter zeigen, daß unſere Geſchichte der inductiven Wiſſenſchaften ſelbſt ein eigenes, helleres Licht über alle dieſe Probleme werfen kann, mit welchen ſich die Metaphyſiker aller Zeiten ſo eifrig beſchäftiget haben. Ehe wir uns aber in den Stand geſetzt ſehen, die vorzüglichſten Controverſen dieſer Art näher zu unterſuchen, würde es nutzlos ſeyn, jetzt ſchon ſo um— ſtändlich über ſie zu ſprechen. Immer jedoch kann man hier be— merken, daß die wichtigſten von ihnen ſich auf die große Frage beziehen, „welches das eigentliche Verhältniß zwiſchen den wirk— „lichen Dingen und ihren allgemeinen Bezeichnungen (oder Aus— »drücken) iſt.“ In den neueren Zeiten werden vielleicht dieſe ſoge— „nannten wirklichen Dinge“ meiſtens nur als ſolche betrachtet wer— den, mit welchen man ſich nicht weiter beſchäftigen will, da man jetzt mehr darauf ſieht, wie man das Einzelne in Klaſſen, wie man das Individuelle dem Univerſellen näher bringen kann. Allein die ſcholaſtiſchen Philoſophen, welche die Anſichten des Plato und Ariſtoteles, ſo viel an ihnen war, zu den ihrigen gemacht hatten, gingen einen ganz entgegengeſetzten Weg. Sie bemühten ſich nur, wie ſie die Individuen von den Arten und Gattungen ableiten mochten, was ſie „das Princip der Individuation“ zu nennen pflegten. Dieß Princip wurde übrigens von verſchiedenen Philoſophen auf verſchiedene Weiſe aufgeſtellt. Bonaventura“)

15) Bonaventura (oder Johann von Fidanza), geb. 1221 in Toskana, geſt. 1274, einer der berühmteſten fcholaftifchen Philoſophen. Er wurde im Jahr 1248 Franciskanermönch, wo er den Namen Bo— naventura erhielt, und kurz vor ſeinem Tode Cardinal. Die Fran— ciskaner ſtellen ihn als ihren größten Gelehrten dem ſcholaſtiſchen Heros, dem Dominikaner Thomas von Aquino, entgegen. Seine merkwürdigſten Schriften find das Breviloquium, das Centiloquium,

302 Dogmatismus des Mittelalters.

z. B. löst die ganze Schwierigkeit durch Hülfe der ariſtoteliſchen Diſtinktion zwiſchen Materie und Form. Das Individuum leitet von der Form die Eigenſchaft ab, ein „Etwas“ zu ſeyn, und von der Materie erhält es die Eigenſchaft, ein „beſtimmtes Et— was“ zu werden. Duns Scotus !), der berühmte Gegner des Thomas Aquinas in der Theologie, ſetzte jenes Princip der In— dividuation „in eine gewiſſe poſitive, beſtimmende Entität,“ die in ſeiner Schule die Hocceität oder die „Dießniß“ genannt wurde. „So iſt nach ihm z. B. Peter ein beſtimmtes menſchliches In— »dividuum, weil feine Hocceität mit feiner Petreität in „ihm verbunden tft.“

Die Frage über die eigentliche Bedeutung und die Kraft der „abſtracten Ausdrücke“ war zu jenen Zeiten ein gar ſonder— bares Problem, zu deſſen Löſung ſchon im Anfange des Mittel— alters mehrere lateiniſche Ariſtoteliker anthropologiſch merkwür— dige Verſuche gemacht haben; und wie wir jetzt noch von Quan— tität und Qualität ſprechen, jo wußte man damals auch von der Quiddität, der Hocceität, Ubität, Cauſalität, Modalität u. dgl. gar viel zu reden und zu ſchreiben.

Das dreizehnte Jahrhundert, in welchem Bonaventura und Duns Scotus lebten, war die Zeit, wo das Feld dieſer leeren Diſputationen in ſeiner vollſten Reife ſtand. Die ganze Philo— ſophie dieſes Zeitalters war der Art, daß irgend ein richtiger Begriff von der uns umgebenden Natur in ihren Lehren keine Stelle fand und auch nicht finden konnte. Schwankende, luftige

Itinerarium mentis in Deum, Reductio omuium artium in Theolo- giam und ſein Commentar über das Liber Sententiarum des Peter Lombardus. Seine ſämmtlichen Werke erſchienen zu Rom 1588 in ſieben Foliobänden. L.

16) Duns Scotus, einer der berühmteſten Scholaſtiker, aus dem Frans ciskanerorden. Er wurde in dem Jahr 1275 in Northumberland in der Stadt Duns oder Dunſton geboren, und ſtudirte zu Oxford, wo er auch als Lehrer mit dem größten Beifall auftrat. Er ſtarb zu Köln im Jahr 1308. Von ihm, als Anführer der Realiſten und Gegner des Thomas Aquinas, wurde bereits oben geſprochen. Seine Werke, die größtentheils in Commentarien über Ariſtoteles und Petrus Lombardus beſtehen, aber voll dialectiſchen und kriti— ſchen Scharfſinns find, erſchienen in Leiden im Jahr 1639 in zwölf Foliobänden. L.

Dogmatismus des Mittelalters. 303

Abſtractionen, unbeſtimmte Combinationen und inhaltsleere Grübeleien über bloße Worte, aus denen ſchon früher die grie— chiſchen Philoſophen alle ihre Naturwiſſenſchaft ableiten wollten, waren auch hier die einzige Quelle, aus welcher die Scholaſtiker des Mittelalters ihre Meinungen und ihre ſogenannten Argumente ſchöpften. Und obſchon dieſe ihre Wortanalyſen in einer techniſch ſehr fein ausgeſponnenen, aber auch zugleich in einer ſehr ver— wickelten und oft wahrhaft barbariſchen Sprache vorgetragen waren, ſo wurden doch dadurch die Begriffe nicht deutlicher, ſondern vielmehr nur immer dunkler und verwirrter, und ſie führten daher auch zu keiner einzigen reellen, werthvollen Wahrheit. Dieſen Philoſophen ſchien es überhaupt nicht um klare Begriffe von den einzelnen Erſcheinungen, ſondern bloß um abſtracte Ausdrücke zu thun zu ſeyn, und ſtatt reellen Generaliſationen begnügten ſie ſich mit bloßen Verbal-Diſtinctionen, die für alle wahre Erkenntniß ſtets unfruchtbar bleiben. Die ganze Art ihres Verfahrens machte ſie nicht bloß unwiſſend in der wahren Phyſik, ſondern auch zu— gleich ganz unfähig, die ihnen noch fehlenden Kenntniſſe auf dem von ihnen eingeſchlagenen Weg ſich je zu verſchaffen.

Da ſie ſonach die Rolle über ſich genommen hatten, alle Fragen der Phyſik nur durch abſtracte Begriffe zu diſcutiren und durch bloße Verbal-Diſtinctionen nach den Regeln der Logik in's Reine zu bringen, ſo konnten ſie auch, weil ihnen die Bedingung alles wahren Fortgangs mangelte, mit ihren Bemühungen zu keinem Ende gelangen. Immerwährend kehrten ſie zu denſelben Fragen und zu denſelben Antworten zurück; dieſelben Schwierig— keiten, dieſelben Subtililitäten, heut geſucht und morgen wieder ver— worfen, heut geprieſen und morgen ſchon verſpottet und verfolgt, trieben ſie ewig in demſelben Kreiſe herum, von welchem ſie weder den Ausgang noch den Mittelpunkt finden konnten. Johann von Salisbury ſagt von den Lehrern der Philoſophie zu Paris, daß er ſie, nach einer mehrjährigen Abweſenheit von dieſer Stadt, bei ſeiner Zurückkunft auch nicht einen Schritt in ihren Speculationen vorwärts gerückt, daß er ſie vielmehr immer noch mit denſelben Problemen ſich vergebens abmühend gefunden habe “). Immer

17) Salisbury ſtudirte die Logik in Paris zu St. Genovefa, und ver— ließ dann dieſe Stadt. Duodecennium mihi elapsum est diversis studiis occupatum. Jucundum itaque visum est veteres, quos re-

304 Dogmatismus des Mittelalters.

wurden dieſelben Knoten geſchürzt und wieder aufgelöst, dieſelben Wolken zerſtreut und wieder zuſammengeführt. Schön und paſſend ſpricht von ihnen der Dichter in ſeinen „Söhnen des Ariſtoteles:“

They stand

Lucked up together hand in hand;

Eresy one leads as he is led

The same bare path they tread,

And dance like Fairies a fantastic round,

But neither change their motion nor their ground 18),

Es wird daher unnöthig ſeyn, die Geſchichte der Schulphilo— ſophie des drei-, vier- und fünfzehnten Jahrhunderts hier um— ſtändlich auszuführen. Im Allgemeinen blieb ſie dieſelbe, die ſie gleich anfangs war. In der Folge wird ſich überdieß eine an— dere Gelegenheit anbieten, auf die letzten Zeiten dieſer Philoſophie noch einmal zurückzukommen. Uebrigens waren, ſelbſt zur Zeit ihrer höchſten Blüthe, die Elemente ihres Verfalls bereits im Gange. Während jene „Doctoren,“ wie ſie ſich nannten, der höchſten äußeren Achtung aller ihrer Zeitgenoſſen ſich erfreuten, bil— dete ſich im Stillen eine neue Lehre, eine Philoſophie ganz anderer Art aus. Der allmählig immer mehr erwachende geſunde prak— tiſche Sinn der Menſchen; die Ungeduld, mit der ſie die Tyran— nei jener Dogmatiker ertrugen; der Fortgang anderer nützlicheren Künſte, und ſelbſt die großen Verſprechungen der Alchemie, alles dieß machte die Menſchen geneigt, die Autorität und die An— maßungen jener Lehre zu bekaͤmpfen und endlich ganz zu ver:

liqueram, et quos adhuc Dialeetica detinebat in monte Sanctae Genovefae, revisere socios, conferre cum eis super ambiguitatibus pristinis, ut nostrum invicem collatione mutua commetiremur pro- fectum. Inventi sunt, qui fuerant et ubi; neque enim ad palmam visi sunt processisse ad questiones pristinas dirimendas, neque propositiunculam unam adjecerunt. Quibus urgebant stimulis, eis- dem et ipsi urgebantur. Metalogieus Lib. II. Cap. X.

18) Sie ftanden da, die Hände in einander verſchlungen; jeder führte den andern und wurde von ihnen wieder geführt; und ſo zogen ſie alle hin denſelben nackten Weg, tanzten gleich den Feen einen phantaſtiſchen Reigen, aber änderten dabei weder ihre Bewegungen, noch ihren Boden.

Dogmatismus des Mittelalters. 305

werfen. Zwei ſich widerſtrebenden Meinungen erhoben ſich, deren jede eine Zeit durch ſcheinbar für ſich allein ihren Weg ging, ohne ſich um die andere zu bekümmern, die aber zuletzt beide im offenen Kampfe einander gegenüber ſtanden. Dieß geſchah zur Zeit des Galilei, und der geiſtige Krieg, der ſich damals entzündete, verbreitete ſich ſchnell über die ganze gebildete Welt.

3) Scholaſtiſche Phyſik.

Es iſt nicht leicht, eine kurze und angemeſſene Darſtellung von dem Weſen derjenigen ariſtoteliſchen Phyſik zu geben, die in den Schriften jener Zeit enthalten iſt. Da die „Schwere“ der Körper einer der erſten Gegenſtände des erwähnten Kampfes zwiſchen jenen beiden neuen Methoden geweſen iſt, ſo wollen wir die Art, wie dieſer ſpecielle Kampf geführt wurde, hier anzeigen ). Zarabella aus Padua, im fünfzehnten und ſechszehnten Jahr— hundert, behauptete, daß die nächſte Urſache der Bewegung der Elemente der Körper die Form ſey, das Wort im Sinne des Ariſtoteles genommen. „Allein damit können wir, ſagt Kecker— „mann, nicht übereinftimmen, da in allen andern Rückſichten »„dieſe Form die nächſte Urſache, nicht von der Wirkung, ſon— „dern von der Kraft oder von derjenigen Facultät iſt, aus welcher „die Wirkung, der eigentliche Act, erſt entſteht. So iſt bei den „Menſchen die vernünftige Seele nicht die Urſache von dem Acte des „Lachens, ſondern nur von der Kraft oder Facultät des Lachens.“ Keckermanns Syſtem war vordem ein Werk von nicht geringem Anſehen, und es wurde im Jahr 1614 bekannt gemacht. Indem er die Dinge, die er in ſeinem Ariſtoteles gefunden hatte, unter einander verglich und in eine Art von Syſtem zu bringen ſuchte, trug er die von ihm gefundenen Reſultate in der Form von Definitionen und Theoremen vor. So iſt ihm die „Schwere „eine bewegende Qualität, die aus Kälte, Dichte und Maſſe „entfteht, durch welche die Elemente der Körper abwärts gezogen „werden.“ Nach ihm iſt das Waſſer das untere intermediäre Element, das kalt und feucht iſt. Sein erſtes Theorem in Be— ziehung auf das Waſſer drückt er ſo aus: „Die Feuchtigkeit des „Waſſers wird durch feine Kälte controllirt, fo daß es weniger

19) Keckermann. S. 1428. Whewell. J. 20

306 Dogmatismus des Mittelalters.

„feucht iſt, als die Luft, obſchon, nach der gemeinen Meinung, „das Waſſer feuchter ſcheint, als die Luft.“ Man ſieht, daß die zwei vorzüglichſten Eigenſchaften der Flüſſigkeiten, die Beweg— lichkeit ihrer Theile und ihre Befeuchtung unter einander, hier verwechſelt oder vermengt worden ſind. Ich habe dieſes Beiſpiel, dieſes von den flüſſigen Körpern genommene Theorem abſichtlich gewählt, da es allgemein angenommen und ſcheinbar ſo feſt ge— gründet war, daß Boyle ?°), als er ſpäter die wahren mechani— ſchen Principien der Theorie der flüſſigen Körper bekannt machte, gezwungen war, ſeine Anſichten nur unter dem Namen von „hydroſtatiſchen Paradoxen“ bekannt zu machen. Jene Theoreme aber waren folgende: „Die Flüſſigkeiten gravitiren nicht in pro— „prio loco, (das heißt, das Waſſer hat in oder auf dem Waſſer „ſelbſt keine Schwere, weil es da an feiner Stelle ift); ferner, „die Luft hat keine Schwere auf dem Waſſer, weil ſie immer „über dem Waſſer ſteht, welches wieder der proprius locus der „Luft iſt; die Erde im Waſſer ſtrebt abwärts, weil der proprius „locus der Erde unter dem Waſſer iſt; das Waſſer ſteigt in der „Pumpe oder im Hebel, weil die Natur einen Abſcheu vor dem „leeren Raume hat, quia natura abhorret Vacuum; und endlich, „einige Körper, haben, wenn ſie in anderen ſich befinden, eine „negative Schwere, wie z. B. das Oel im Waſſer, weil jenes „auf dieſem ſchwimmt“ u. ſ. w.

4) Großes Anſehen des Ariſtoteles unter den ſcholaſtiſchen Philoſophen.

Die Autorität des Ariſtoteles und mit ihr die Gewohnheit, ihn zur Baſis und zum Grundtext aller philoſophiſchen Syſteme, beſonders aber in den Naturwiſſenſchaften, zu machen, herrſchte durch die ganze Zeit des Mittelalters vor. Doch war der Glanz, der den Stagiriten umgab, nicht ohne gewiſſe Verfinſterungen, die das Licht dieſer philoſophiſchen Sonne zuweilen verdunkelten. Lau—

20) Boyle (Robert), ein berühmter engliſcher Phyſiker, geb. 1626, dem wir vorzüglich die Verbeſſerung der Guerik'ſchen Luftpumpe und die Kenntniß der Einſaugung der Luft bei Verkalkungen und Verbren— nungen verdanken. Seine ſämmtliche Schriften erſchienen zu Lon— don 1744 in 5 Foliobänden. Er ſtarb im Jahr 1691. L.

Dogmatismus des Mittelalters. 307

noy ) hat uns die Schickſale des Ariſtoteles und feiner Lehre in einer eigenen Schrift erhalten. „Ueber die verſchiedenen Schickſale „des Ariſtoteles an der Univerſität zu Paris.“ Dieſe feine Schickſale hingen größten Theils von dem Einfluſſe ab, welchen die Schrif— ten des großen Griechen zu verſchiedenen Zeiten auf die Theologie hatten. Verſchiedene dieſer Schriften, beſonders die metaphy— ſiſchen, wurden ſchon im Anfange des dreizehnten Jahrhunderts in die lateiniſche Sprache überſetzt, und auf der hohen Schule zu Paris vorgetragen 2). Im Jahr 1209 wurden fie in der Kirchenverſammlung von Paris förmlich verboten, weil ſie, wie es hieß, Gelegenheit zu der Ketzerei des Almeric (oder des

21) Wir haben bereits oben über die erſten Schickſale der ariſtoteliſchen Werke bald nach dem Tode ihres Verfaſſers Nachricht gegeben. Allein die ſpäteren des zehnten bis dreizehnten Jahrhunderts ſind nicht weniger merkwürdig. Im zehnten Jahrhundert fing der Eifer an, ihn zu ſtudiren, und in dem zwölften erreichte derſelbe ſeine größte Höhe. Allein die Theologen bemerkten bald, daß dieſer Eifer ihnen Verlegenheiten bereiten könnte, wie denn auch mehrere Ketzereien dieſer Zeit, 3 B. die des Berengarius, vorzüg— lich dieſem Studium der ariſtoteliſchen Schriften zur Laſt gelegt wurden. Im Jahre 1209 wurden daher dieſe Schriften von den franzöſiſchen Biſchöfen förmlich verboten und zum Feuer verdammt. Im Jahre 1215 wurde dieſes Verbot durch den Cardinallegaten wiederholt, und 1231 erfolgte endlich das Verbot Gregors IX. ſelbſt, das zugleich die phyſiſchen Schriften des Averroes traf. Allein dieſer Vorgänge ungeachtet vermehrten ſich die Lehrer und Anhän— ger der Stagiriten, und bald darauf ſah man ſelbſt die zwei größ— ten Gelehrten ihrer Zeit, Albertus Magnus und den h. Thomas, den Ariſtoteles commentiren, über ihn öffentlich lehren und dem großen Meiſter eine Celebrität verſchaffen, die er weder in ſeinem Vaterlande, noch auch ſpäter auf den Hochſchulen von Bagdad und Cordova genoſſen hatte. Da man der Gewalt, mit welcher der Stagirit in den Zeitgeiſt eindrang, nicht mehr widerſtehen konnte, ſo hielt man endlich für beſſer, ſich derſelben nicht nur nicht weiter zu widerſetzen, ſondern ſich ſelbſt an die Spitze der ſo lange verfolgten Neuerung zu ſtellen, und ſo wurde ſeitdem an mehreren Hochſchulen Europa's, beſonders Italiens befohlen, keinen Profeſſor der Philoſophie mehr aufzunehmen, wenn er nicht zuerſt eidlich bekräftigte habe, ſich genau an die Lehre des Ariſtoteles zu halten. L.

22) Mosheim III. 157.

200°

308 Dogmatismus des Mittelalters.

Amauri) gegeben haben, und „weil ſie auch wohl zu andern „bisher noch unbekannten Ketzereien Anlaß geben könnten.“ Die Logik des Ariſtoteles wußte ſich aber doch wenige Jahre nachher wieder in Anſehen zu bringen, da ſie im Jahr 1215 an der Univerſität zu Paris öffentlich vorgetragen wurde. Die Naturphiloſophie und die Metaphyſik deſſelben aber wurden durch eine päbſtliche Bulle von Gregor IX. im Jahre 1231 ausdrücklich verboten. Der Kaiſer Friedrich II. hatte eine Anzahl Gelehrter in Sold genommen, um die Werke des Ariſtoteles und anderer Philoſophen aus der griechiſchen und arabiſchen Sprache in die lateiniſche zu überſetzen, und wir haben noch einen Brief von Peter de Vineis ), in welchem dieſe Werke der Aufmerkſamkeit der Univerſität zu Bologna empfohlen werden, und wahrſchein— lich iſt daſſelbe auch mit andern Univerſitäten geſchehen. Alber— tus Magnus ) und Thomas Aquinas ſchrieben beide eigene Commentarien über die Werke des Stagiriten, und da dieß kurze Zeit nach jenem Decrete Gregors IX. geſchah, ſo iſt Lannoy in großer Verlegenheit, wie er dieſe Thatſache mit der Orthodoxie jener beiden berühmten Schriftſteller vereinigen ſoll. Campa—

23) Peter de Vineis, aus Capua, war Kanzler K. Friedrichs II., als geiſtvoller italieniſcher Dichter bekannt. Es iſt eine große Menge von Briefen meiſtens politiſchen Inhalts von ihm vorhanden, von welchem aber ein beträchtlicher Theil noch ungedruckt iſt, ſtarb im Jahr 1249. L.

24) Albert, Graf von Bollſtedt, mit dem Beinamen der Große, geb. 1193 in Schwaben. Nach geendeten Studien trat er 1223 in den Dominikanerorden, lehrte dann mit großem Beifall den Ari— ſtoteles in Paris und erhielt 1260 von Pabſt Alexander VI. das Bisthum zu Regensburg. Er ging aber ſchon 1262 wieder in die Einſamkeit ſeines Kloſters zurück, um beſſer den Wiſſenſchaften leben zu können. Seine Studien bezogen ſich größtentheils auf den Ariſtoteles, wobei er auch die Araber benützte. Er ſtarb im Jahr 1280, nachdem er ſchon einige Jahre zuvor in völligen Stumpf— ſinn verfallen war. Die vollſtändigſte Ausgabe ſeiner Werke lieferte Peter Janny, Leiden 1651, in 21 Foliobänden. Seine für jene Zeit große Kenntniſſe der Mechanik und Chemie brachten ihn in den Verdacht der Zauberei. Die Scholaſtiker des dreizehnten Jahrhun— derts, die ſeiner Lehre folgten und eine eigene Schule bildeten, wurden Albertiſten genannt. L.

Dogmatismus des Mittelalters. 309

nella 2), der einer der erſten es wagte, das ariſtoteliſche Joch abzuſchütteln, ſagt darüber: „Wir ſind keineswegs der Meinung, »daß der h. Thomas ariſtoteliſire; er legte nur die Schriften „des griechiſchen Philoſophen aus, um die Irrthümer deſſelben „zu verbeſſern, und ich ſollte glauben, er habe dieß unter der „förmlichen Erlaubniß des Pabſtes gethan.“ Allein dieſe Dar: ſtellung ſtimmt durchaus nicht mit der Natur dieſer Commen— tarien des Albertus und Aquinas überein, da beide ihrem Autor mit der tiefſten Unterwerfung gefolgt ſind. So vertheidigt z. B. Aquinas 25) mit allen Kräften die Behauptung des Ariſtoteles, daß, wenn kein Widerſtand da wäre, ein Körper ſich durch den Raum in keiner Zeit bewegen würde, und denſelben Satz nimmt auch Scotus ſehr in ſeinen Schutz.

Immerhin läßt ſich ſchon daraus das Anſehen und die Be— wunderung, deſſen ſich Ariſtoteles im Mittelalter erfreute, ab— nehmen, daß er den Angriffen der Gelehrten und der Mächtigen ſo lange zu widerſtehen vermochte. Mehrere Jahrhunderte durch konnte auf vielen Univerſitäten keiner der gewöhnlichen Grade (eines Magiſters, Baccalaureus oder Doctors) erhalten werden, ohne eine vorläufige Prüfung, ob der Candidat mit den Werken der Ariſtoteles ſich bekannt gemacht habe. Im Jahre 1452 gab der Cardinal Totaril dieſe Vorſchrift für die Univerſität von Paris, und als Ramus“) im Jahre 1543 einen Angriff

25) Campanella, Thomas, geb. 1568 zu Stilo in Calabrien, geſt. 1639 zu Paris, einer der erſten Gegner der ſcholaſtiſchen Philoſophie, wodurch er ſich unter den Gelehrten ſeiner Zeit Haß und Verfol— gung zuzog, die ihn, ohne den beſonderen Schutz Urban's VIII., zu dem grauſamſten Tod im Kerker geführt haben würden. Er hat viele philoſophiſche, theologiſche und ſelbſt poetiſche Werke hinter— laſſen L.

26) F. Piccolomini. II. 833.

27) Ramus (Peter), geb. 1515 in Frankreich von armen Eltern, ging als Bedienter nach Paris, wo er feine Nächte den Studien wid— mete. Um das Jahr 1540 trat er als Profeſſor der Philoſophie an der Univerſität zu Paris auf. In feinem Antrittsprogramm hatte er die Verwegenheit zu behaupten, daß nicht nur einige, ſondern durchaus alle Behauptungen des Ariſtoteles grundfalſch ſeyen, was ſich, da er ſonſt ein geſcheuter Mann war, wohl nur aus

310 Dogmatismus des Mittelalters.

gegen die Unfehlbarkeit des Stagiriten gewagt hatte, wurde er von dem Parlamente ſowohl, als auch von dem Hofe zurecht gewieſen. Franz J., damals König von Frankreich, ließ wegen dieſer Angelegenheit ein förmliches Edict ergehen, in welchem geſagt wird, „daß die über dieſen Gegenſtand von ihm eigens „eingefeste Richter den Ramus als einen hominem temerarium; „arrogantem et impudentem erklärt haben, und daß derſelbe, „weil er in feiner Schrift den Ariftoteles zu tadeln gewagt habe, „dadurch nur feine eigene Ignoranz zu Tage gelegt habe,“ worauf dann dieſe Schrift des Ramus auch unterdrückt und verboten ward. Uebrigens waren auf der andern Seite die Klagen der Frommen nicht ſelten, daß die Theologie durch den Einfluß des Ariſtoteles und ſeiner Commentatoren nur verdorben werde. Petrarca erzählt 23), daß einer jener italieniſchen Gelehrten, nach— dem er von den Apoſteln und den Kirchenvätern mit ſehr geringer Achtung geſprochen hatte, zu ihm geſagt habe: „Utinam tu Aver— „Toem pati posses, ut videres, quanto ille tuis his nugatoribus „major sit!“

der Reaction und aus der Erbitterung ſeiner Gegner erklären läßt, die endlich auch ihn zu Extremen fortgeriſſen hatte. Ueber ſeine vielen Schriften und ſein Leben ſehe man die Historia Petri Rami, Wittenb. 1713. Als Nachtrag zu der im Text erzählten Geſchichte wollen wir noch bemerken, daß Ramus einige Jahre nach ſeiner Verbannung wieder nach Paris kam, wo er die Ver— wirrung, welche eben die Peſt in dieſer Stadt verbreitete, benutzte, ſeinen früheren Lehrſtuhl wieder zu beſteigen. Er hütete ſich ſehr, hier auch nur den Namen des Ariſtoteles auszuſprechen, aber der neuerungsſichtige Lehrer drang dafür deſto eifriger darauf, künftig das Qu in der lateiniſchen Sprache nicht mehr, wie Kw, ſondern bloß wie k auszuſprechen, weil er nämlich gefunden haben wollte, daß die alten Römer es eben fo gemacht haben ſollten. Er ſprach demnach kiskis für Quisquis, und kamkam ſtatt Quanquam u. f. und dieß war ſchon genug, die Wuth ſeiner früheren Gegner wieder anzufachen, die den verruchten Anti-Ariſtoteles mit Stöcken von ſeinem Lehrſtuhle trieben, und die ihn aus der Stadt getrieben hätten, wenn er nicht bald darauf zur Nachtzeit auf der Gaſſe meuchlings ermordet worden wäre. L.

28

Hallam, Vien of the state of Europe durlng the middle age. Lond. 1819. III. S. 536.

Dogmatismus des Mittelalters. 311

Als die Wiedererwachung der Wiſſenſchaften eintrat, und als eine große Anzahl Männer von Geiſt und Bildung, empfäng— lich für die Schönheiten des Styls und für die Würde des Aus— drucks, nähere Bekanntſchaft mit der Literatur der Griechen ge— macht hatten, da hatte allerdings Plato größere Reize für Männer dieſer Art, als der trockene Ariſtoteles. Damals erhob ſich auch eine neue, kräftige Schule von Platonikern, (die aber ſehr von den ehemaligen Neuplatonikern verſchieden waren), und ver— breitete ſich ſchnell über ganz Italien. An ihrer Spitze ſtanden mehrere der ausgezeichnetſten Männer dieſer Zeit, wie Marſilius Ficinus 2°) und der ſchon oben erwähnte Pico von Mirandola. Damals ſchien auch das Anſehen des Stagiriten ſeinem Falle ganz nahe zu ſeyn, obſchon es, in den Naturwiſſenſchaften wenigſtens, bald darauf wieder ſiegreich aus dem Kampfe mit ſeinen neuen Geg— nern hervorging. In der That konnte auch Ariſtoteles nicht durch bloße Diſputationen beſiegt werden, und die erwähnten italieniſchen Platoniker, ſo ehrenwerthe Leute ſie auch in anderen Beziehungen ſeyn mochten, waren doch nicht geeignet, die einzige Waffe, die ſich gegen ihren großen Gegner mit Vortheil führen ließ, die Waffe der Beobachtungen, zu gebrauchen.

Aus dieſer Urſache gehört auch die Erzählung ihrer mannig— faltigen Streitigkeiten nicht in den Plan unſerer Geſchichte. Aus ähnlichen Gründen gedenken wir auch derjenigen nicht, die ſich der ſcholaſtiſchen Philoſophie, wegen ihren andern theoretiſchen Anſichten, feindlich entgegen ſtellten. Zwar ſind dergleichen all— gemeine Aufſtände gegen den Dogmatismus oder andere herr— ſchende Syſteme immer auch zugleich ſehr intereſſante und wich— tige Erſcheinungen, in der „Philoſophie der Wiſſenſchaften.“ Allein in dem gegenwärtigen Werke haben wir es nur mit der „Geſchichte der Wiſſenſchaften“ zu thun, und dieſe ſoll uns, wie

29) Marſilius Ficinus, geb. 1433 zu Florenz, ein berühmter italieniſcher Arzt, der ſich beſonders um das Studium Plato's große Verdienſte erworben hat, deſſen Werke er, ſo wie auch die des Plotinus, Jamblichus und Proclus in die lateiniſche Sprache überſetzte. Im Jahre 1450 wurde er von Cosmo de medici als Lehrer der Plato— niſchen Philoſophie an der neuen Platoniſchen Academie zu Florenz angeſtellt, wo er mit großem Beifall lehrte. Er ſtarb 1499. Die beſte Ausgabe feiner Werke erſchien zu Baſel in 2 Foliobänden. L.

312 Dogmatismus des Mittelalters.

wir hoffen, ſpäter ſelbſt ein helleres Licht über jene Philoſophie ver— breiten helfen, und uns zugleich eine genügende Erklärung, ſowohl von dem Stillſtande dieſer Zeit, als auch von dem ihm folgen— den raſchen Fortgange des menſchlichen Geiſtes gewähren.

5) Jurisprudenz und Arzneikunde.

Unſere Abſicht war, die wiſſenſchaftliche Wüſte des Mittelalters mit ſchnellen Schritten zu durcheilen. In den unfruchtbaren Gegen— den, durch welche wir die Leſer geführt haben, hätten wir allerdings noch manche andere merkwürdige Gegenſtände bemerken, und meh— rere Spuren von Unterſuchungen anführen können, die zu ihrer Zeit die geiſtige Welt entzweiten, und von denen die Ueberreſte noch jetzt in unſeren politiſchen, philoſophiſchen und ſelbſt in unſeren gegen— wärtigen ſittlichen Verhältniſſen, in unſeren geſelligen Zuſtänden und auch in unſeren neueren Sprachen aufgefunden werden. Die heftigen und lange dauernden Streitigkeiten der Nominaliſten und Realiſten; die philoſophiſchen Diſputationen über den Grund der Moral und über die Motive der menſchlichen Handlungen; die Controverſen über die Prädeſtination, über den freien Willen, über die Gnade und über die Eigenſchaften der Gottheit; der gegen— ſeitige Einfluß, den die Metaphyſik und die Theologie auf ein— ander und auf andere Gegenſtände der menſchlichen Wiß- oder Neubegierde hatten; die Einwirkungen der öffentlichen Meinung auf die Politik, und der Politik auf die Anſichten des Volkes; der Einfluß der Literatur und der Philoſophie auf einander und auf die menſchliche Geſellſchaft überhaupt dieſe und viele andere Gegenſtände würden uns wohl einer näheren Betrachtung bedür— fend erſchienen ſeyn, wenn unſere Hoffnung auf Erfolg nicht mehr in der ſtetigen Verfolgung unſeres Zweckes, als in dem Reichthume der angeführten Thatſachen beſtünde. Aus dieſer Urſache müſſen wir ſelbſt zwei andere Hauptſtudien jener Zeit übergehen, ſo einen großen Einfluß ſie auch auf die menſchliche Geſellſchaft hatten. Das eine derſelben, die Jurisprudenz, be— ſchäftigte ſich bloß mit den Begriffen der Moral und Sittlichkeit, und das andere, die Arzneikunde, mit den reellen Gegenſtänden des Lebens, wiefern beide dem praktiſchen Leben und vorzüglich der Erhaltung deſſelben angehörten. Von der Medizin werden wir ſpäter wieder zu ſprechen Gelegenheit haben, da ſie die vorzüg—

Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 313

lichſte Veranlaſſung zur Ausbildung der Chemie geweſen iſt. In ſich ſelbſt aber iſt dieſe Doctrin zu ſehr zuſammengeſetzt und unbeſtimmt zugleich, um ſie den eigentlich ſogenannten exacten Naturwiſſenſchaften zur Seite zu ſtellen. Die Geſetzkunde im Gegentheile, wenigſtens die römiſche, wird von ihren Bewunde— rern als eine ſyſtematiſche, deductive Wiſſenſchaft betrachtet, die, wenn wir ihnen glauben wollen, an Genauigkeit und Beſtimmt— heit ſelbſt den mathematiſchen Wiſſenſchaften gleich kommen ſoll. Immer aber wird es nützlich ſeyn, auch ſie näher zu betrachten, wenn wir in der Folge die Unterſuchung anſtellen werden, ob überhaupt zwiſchen den moraliſchen und phyſiſchen Wiſſenſchaften irgend eine Analogie ſtatthaben kann.

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Fünftes Capitel. Fortſchritt der Künſte im Mittelalter.

1) Kunſt und Wiſſenſchaft.

Ehe wir die Geſchichte der Wiſſenſchaften wieder aufnehmen, muß ich einige Worte über die Aufſchrift dieſes Capitels vor— ausſchicken, damit mich die Leſer nicht des Verdachtes zeihen, als wollte ich dem Mittelalter Unrecht thun, und auch weil ich, bei dieſer Gelegenheit, einige bisher überſehene Umſtände anzu— führen Gelegenheit erhalte, die gleichſam als die Vorläufer des Wiederauflebens der Wiſſenſchaften betrachtet werden können.

Jener Verdacht der Leſer könnte von dem bekannten Gemein— platze geholt werden, daß wir in unſerm Gemälde des Mittel— alters, in welchem Verwirrung und Myſticismus, Gervilität und Dogmatismus um die Herrſchaft ſtritten, die Vortheile, die Kenntniſſe und Schätze ganz überſehen hätten, denen wir doch ſo viele unſerer neueſten und wichtigſten Entdeckungen verdanken. Unſer Papier und ſelbſt unſer Pergament; die Buchdruckerei und die Kupferſtecherkunſt; die Vervollkommnung des Glaſes und des Stahls; das Schießpulver, die Glocken, das Fernrohr, der See— compaß, der verbeſſerte Kalender, die Decimaleintheilung bei unſern Rechnungen, die Algebra, Trigonometrie, Chemie und der Contrapunkt, der einer gänzlichen Umſchaffung der Muſik

314 Fortſchritte der Künſte im Mittelalter.

gleich zu achten iſt alle dieſe Schätze haben wir von jener Zeit geerbt, die wir ſo verächtlich die „ſtationäre Periode des menſchlichen Geiftes“ genannt haben. Und wenn wir nun gar die Denkmäler der Baukunſt aus dieſer Periode betrachten, dieſe Gegenſtände der Bewunderung und der Verzweiflung unſerer neuern Architecten, und zwar nicht bloß wegen ihrer Schönheit, ſondern auch wegen der uns unerreichbaren Geſchicklichkeit, welche die Erbauer dieſer Werke entwickelt haben, wie kann man, mit ſolchen Zeugniſſen vor unſern Augen, nur einen Augenblick an— ſtehen zu bekennen, daß die Meiſter jener Zeit doch wenigſtens einigen Fortgang in der Aſtronomie gemacht haben müſſen, wie wir doch in dem Vorhergehenden, aus Scheelſucht vielleicht, ge— laugnet haben, und wie könnte man nun vollends in Abrede ſtellen, daß ſie auch in anderen Wiſſenſchaften, in der Optik, der Harmonik, der Phyſik, und vor allem in der Mechanik ſehr bedeutende Kenntniſſe beſeſſen haben müſſen? Wenn wir, könnte man noch hinzuſetzen, wenn wir ſelbſt die gegenwärtige Vervoll— kommnung unſerer Künſte als einen Beweis des großen Fort— ſchritts unſerer phyſiſchen Wiſſenſchaften betrachten; wenn unſere Dampfmaſchinen, unſere Gasbeleuchtungen, unſere Tempel und Palläſte, wenn unſere Schifffahrt und unſere Manufacturen als der Triumph dieſer Wiſſenſchaften der neueren Zeit angeführt werden ſollen dann alle früheren Entdeckungen, die unter viel ungünſtigeren Verhältniſſen gemacht worden ſind, ſollen dann jene noch viel größeren Werke der Kunſt, die aus einer viel niedrigern Stufe der menſchlichen Erkenntniß hervorgegangen ſind, ſollen ſie nicht auch als ein Beweis gelten dürfen, daß das Mittelalter ebenfalls ſeinen Theil, ſeinen guten und großen Theil an dieſer unſerer Erkenntniß anſprechen könne?

Auf dieſe Fragen läßt ſich nur dadurch gehörig antworten, daß man den großen Unterſchied in Anſchlag bringe, der zwiſchen Kunſt und Wiſſenſchaft beſteht, das letzte Wort in dem Sinne einer allgemeinen, inductiven, ſyſtematiſchen Erkenntniß genommen, in welchem es in dieſem gegenwärtigen Werke immer gebraucht wird. Die genaue Trennung und die ſcharfe Vergleichung dieſer beiden Dinge gehört in die „Philoſophie der Induction,“ daher dieſes Geſchäft dem ſchon öfter erwähnten folgenden Werke aufbewahrt bleiben muß. Doch ſind die Haupt— unterſchiede zwiſchen beiden offenbar und klar genug, um hier auch

Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 315

ſchon als bekannt vorausgeſetzt werden zu können. Die Kunſt ift ihrer Natur nach praktiſch, die Wiſſenſchaft aber iſt theore— tiſch oder rein ſpeculativ. Die Sache der Kunſt iſt es, etwas darzuſtellen oder auszuführen; die Wiſſenſchaft aber bleibt bei der Betrachtung des bereits Gegenwärtigen, Ausgeführten ſtehen. Die Kunſt des Architecten zeigt ſich in ſeinem Bauwerke, obſchon er vielleicht nie über die abſtracten Sätze nachgedacht hat, von denen im Allgemeinen die Schönheit, die Stärke und die Dauer eines Gebäudes abhängt. Die Wiſſenſchaft des mathematiſchen Mechanikers aber zeigt ſich in ſeiner Einſicht, nach welcher die Körper, unter gegebenen Bedingungen, einander drücken oder unterſtützen, obſchon er vielleicht nie auch nur zwei Steine zu dieſem Zwecke an einander gefügt hat.

Nun iſt aber wohl zu bemerken, daß die Kunſt in allen Fällen, der Zeit nach, vor der Wiſſenſchaft hergeht. Die Kunſt iſt die Mutter, nicht die Tochter der Wiſſenſchaft, und die practiſche Ausführung der Principien bildet immer einen weſent— Theil von dem Eingange ſowohl, als auch von der Folge einer jeden theoretiſchen Entdeckung.

Obſchon demnach die oben angeführten Erfindungen des Mittelalters in der That noch einen guten Theil unſerer eigenen heutigen Kenntniſſe bilden, ſo ſind ſie doch keineswegs als Be— weiſe anzuſehen, daß dieſe Kenntniſſe auch ſchon damals exiſtirt haben, ſondern ſie zeigen uns nur, daß zu dieſer Zeit ſchon jene Kraft der practiſchen Beobachtung, jene practiſche Geſchicklichkeit exiſtirt haben müſſen, die überall die Vorläufer von theoretiſchen Doc— trinen und von wahrhaft wiſſenſchaftlichen Entdeckungen ge— weſen ſind.

Man könnte einwenden, daß jene großen Kunſtwerke wenig— ſtens die Exiſtenz der wahren Principien ihrer Wiſſenſchaften vorausſetzen, und daß es daher ein Widerſpruch iſt, einem großen Künſtler dieſe Wiſſenſchaft abläugnen zu wollen. Man könnte ſagen, daß jene coloffalen Bauwerke von Köln, Straßburg, Wien oder Canterbury, ohne eine tiefe Kenntniß der Principien der Mechanik, nicht einmal hätten errichtet werden können.

Darauf ſteht zur Antwort, daß eine ſolche Kenntniß noch ſehr von dem verſchieden iſt, was wir Wiſſenſchaft nennen. Wenn die ſchönen, allerdings von ſehr großer Geſchicklichkeit zeugenden Gebäude des Mittelalters ein Beweis ſeyn ſollen,

316 Fortſchritte der Künſte im Mittelalter.

daß die Mechanik damals ſchon als Wiſſenſchaft exiſtirte, fo muß dieſe Wiſſenſchaft auch ſchon den Erbauern der Cyclopen— wälle in Griechenland und Italien, und der alten Steinhügel “) in England beigewohnt haben, da die ungeheueren Maſſen, die hier über einander gehäuft ſind, nicht ohne große mechaniſche Geſchick— lichkeit auf dieſe Höhe gebracht werden konnten. Aber man darf ſelbſt noch viel weiter gehen. Die Bewegungen jedes Menſchen, der ein Gewicht hebt oder trägt, oder der längs einem Balken hin— geht, ſetzt die Geſetze des Gleichgewichts als gegeben voraus, und ſelbſt die Thiere machen von dieſen Geſetzen Gebrauch. Beſitzen fie aber deßhalb auch ſchon die Mechanik als Wiſſen— ſchaft? Und wieder, wenn ſolche Handlungen, die mit Benutzung mechaniſcher Eigenſchaften ausgeführt werden, ſchon als ein Zeug— niß für den Beſitz der Mechanik als Wiſſenſchaft gelten ſollen, ſo müßte daſſelbe auch von der Geometrie gelten. Dann würden aber ſchon die alltäglichſten Handlungen der Menſchen und der Thiere beweiſen, daß ſie alle insgeſammt große Geometer ſind. Nach der Lehre der Epikuräer, wie uns Proclus berichtet, ſollen ſelbſt die Eſel wiſſen, daß die zwei Seiten eines Dreiecks zuſammen ge— nommen größer ſind, als die dritte. Man wird vielleicht ſagen können, daß dieſe Thiere eine Art practicher Kenntniß von dieſem Satze beſitzen, aber wer wird daraus den Schluß ziehen wollen, daß ſie die Geometrie als Wiſſenſchaft beſitzen? Und daſſelbe gilt auch von den Menſchen, bei denen die practiſche Aufnahme irgend eines Princips noch keineswegs auch zugleich die wiſſen— ſchaftliche Einſicht deſſelben vorausſetzt.

Auch läßt ſich noch auf einem anderen Wege zeigen, wie unzulänglich die Meiſterwerke jener Künſtler des Mittelalters ſind, um daraus einen Beweis von dem Fortſchritte der Wiſſen— ſchaft zu ihrer Zeit zu entnehmen. Der Zweck unſerer Ge— ſchichte iſt, diejenigen allgemeinen Principien anzuzeigen, welche jede einzelne Naturwiſſenſchaft conſtituirt. Daher gehören alle untergeordneten Thatſachen oder Entdeckungen auch nur ſo fern in unſern Bereich, als ſie entweder zu jenen Principien geführt haben, oder als ſie in ihnen ſchon enthalten waren, und nur in dieſer

1) Stone-henge, große Felsblöcke, in der Geſtalt von alten Altären, in der Grafſchaft Salisbury, auf welchen die Druiden ihre Opfer geſchlachtet haben ſollen. L.

Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 317

Beziehung können ſie für uns ein beſonderes Intereſſe haben. Wohlan denn, jene Leiſtungen der Künſte des Mittelalters, zu welchem wiſſenſchaftlichen Princip haben ſie uns geführt? Welche chemiſche Doctrin iſt aus der Fabrikation des Glaſes, des Stahls, des Schießpulvers hervorgegangen? Selbſt die Drucker: preſſe, welches wiſſenſchaftliche Princip der Mechanik hat ſie uns aufgeſchloſſen, das dem Archimeds verborgen geweſen wäre? Wir ſprechen hier nicht von dem practiſchen Nutzen, oder von dem äußeren Werthe dieſer Erfindung, ſo wenig, als von der Geſchicklichkeit und dem Talente, das dazu erfordert wurde, ſondern wir fragen nur, welches iſt die Stelle, die dieſe Erfin— dungen in der Geſchichte der ſpeculativen Wiſſenſchaft einnehmen ſollen? Gewiß, ſelbſt in den wenigen Fällen, wo ihrer in einer ſolchen Geſchichte erwähnt werden kann, welche kleine Rolle ſpielen ſie, wenn ſie als ein integrirender Theil der Wiſſenſchaft betrachtet werden! Wie groß iſt der Abſtand zwiſchen ihrem practiſchen Nutzen und ihrem bloß theoretiſchen Werthe! Sie können immerhin der ganzen Welt eine neue Geſtalt gegeben haben; in der Geſchichte der wiſſenſchaftlichen Principien aber werden ſie größtentheils, ohne vermißt zu werden, ganz über— gangen werden können.

Zur Erwiederung auf die Frage endlich, wie es komme, daß der hohe Stand der Künſte zu unſerer Zeit zugleich ein Beweis der wiſſenſchaftlichen Ausbildung dieſer Zeit ſeyn ſoll, während wir daſſelbe, von dem Mittelalter nicht gelten laſſen wollen, muß man ſagen, daß wir zuerſt einige dieſer Anſprüche, in Beziehung auf unſere Zeit, aufgeben ſollen. Die große Vollkommenheit der mecha⸗ niſchen und anderer Künſte unter uns beweist den vorgerückten Stand unſerer Wiſſenſchaften nur ſo weit, als wir annehmen dürfen, daß dieſe Künſte ihre Vorzüglichkeit der unmittelbaren Anwendung einer jener großen wiſſenſchaftlichen Wahrheiten, mit einer klaren Einſicht in die Natur dieſer Wahrheiten, zu danken haben. Die größte und wichtigſte Vervollkommnung der Dampfmaſchinen ſind wir der feſten und ſicheren Auffaſſung eines atmologiſchen Satzes durch den berühmten Watt ſchuldig; aber welches theoretiſche Princip wird auf gleiche Weiſe durch unſere ſchönen Manufacturen von Glas oder Stahl oder Por⸗ zellan erläutert? Eine chemiſche Unterſuchung dieſer zuſammen— geſetzten Körper, die uns die Bedingungen angäbe, unter welchen

318 Fortſchritte der Künſte im Mittelalter.

dieſe Manufacturen gelingen oder mißrathen, würde für die Kunſt von großem Werthe ſeyn, und zugleich als eine wichtige Entdeckung in der Theorie der Chemie angeſehen werden. So wenig iſt daher der gegenwärtige Zuſtand dieſer Künſte als ein Triumph der Wiſſenſchaft unſerer Zeit anzuſehen. Daſſelbe kann aber auch noch von vielen, wo nicht von allen Künſten unſeres Jahrhunderts geſagt werden.

2) Arabiſche Wiſſenſchaft.

Nachdem ich auf dieſe Weiſe das Verhältniß der Wiſſen— ſchaft zur Kunſt genügend, wie ich glaube, auseinander geſetzt habe, werde ich deſto ſchneller über mehrere andere Gegenſtände wegeilen können, die uns ſonſt wohl länger aufgehalten haben würden. Obſchon übrigens dieſer Unterſchied ſchon längſt auch von anderen gemacht worden iſt, ſo iſt man doch nicht immer mit Strenge bei ihm verblieben, wie man aus den unbeſtimmten Ausdrücken ſieht, die für dieſe zwei ſo verſchiedenen Gegenſtände häufig angewendet werden. So ſagt z. B. Gibbon ?), indem er von dem Grad der Bildung des Mittelalters ſpricht: „In der „Ausübung der Künſte und in den Manufacturen wurden zu jener „Zeit viele nützliche Erfahrungen gemacht, aber die Wiſſenſchaft „der Chemie verdankt ihre Entſtehung und ihre erſte Verbeſſerung „ganz der Induſtrie der Saracenen. Sie erfanden und benann— „ten zuerſt den Brennkolben (Alembic) zum Zwecke der Deſtilla— „tion, ſie analyſirten die Subſtanzen der drei Naturreiche, er— „probten den Unterſchied und die Verwandtſchaften der Alkalien „und der Säuren, und ſie verwandelten giftige Metalle in heil⸗ „»ſame Arzneien.“ Die erſte Bildung und die weitere Aus— bildung des Begriffs von Analyſe und Affinität waren allerdings wichtige Schritte der wiſſenſchaftlichen Chemie, aber ſie gehörten, wie ich ſpäter zeigen werde, den europäiſchen Che— mikern einer viel ſpätern Zeit an. Hätten die Araber dieſe Schritte gemacht, jo würden fie, mit Recht die Gründer der wiſſenſchaftlichen Chemie genannt werden. Aber in ihren auf uns gekommenen Werken wird man vergebens eine Lehre ſuchen, auf welcher ihre Anſprüche auf eine ſolche Auszeichnung gegrün—

2) Gibbon's Geſch. des Verfalls u. |. w. Cap. 52.

Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 319

det werden könnten. Dieſe Anſprüche werden vielmehr durch unſere vorhergehende Bemerkung, über den Unterſchied zwiſchen Kunſt und Wiſſenſchaft, gänzlich vernichtet. Welches war die Analyſe, durch die jenes Volk irgend eines der jetzt angenom— menen chemiſchen Principien aufgeſtellt hätte? Welche wahre Lehre über die Differenzen und Affinitäten der Säuren und Alkalien haben wir ihnen zu verdanken? Wir dürfen uns nicht verwundern, daß Gibbon, deſſen Anſicht von den Grenzen der wiſſenſchaſtlichen Chemie wahrſcheinlich ſehr beſchränkt und un— beſtimmt war, die chemiſchen Künſte der Araber mit in dieſe Grenzen aufgenommen hat, allein dieſe Künſte ſind und bleiben der wiſſenſchaftlichen Chemie, dieß Wort in ſeiner eigent— lichen Bedeutung genommen, völlig fremd.

Das Urtheil aber, was wir über die Kenntniß des Mittel— alters, und beſonders der Araber, in der Chemie fällen müſſen, läßt ſich auch ſofort auf manche andere Doctrin anwenden, da die Chemie zu dieſer Zeit eine der Hauptbeſchäftigungen der Gelehrten war und daher vorzugsweiſe cultivirt worden iſt. In der Botanik, der Zoologie, der Anatomie, in der Optik und in der Akuſtik haben wir überall dieſelbe Bemerkung zu machen, daß nämlich die erſten bedeutenden Fortſchritte nach jenen, die früher ſchon die Griechen gemacht hatten, nur den Europäern des ſechzehn— ten und ſiebzehnten Jahrhunderts vorbehalten waren. Die Ver— dienſte und Vorzüge der Araber in der Aſtronomie und in der reinen Mathematik haben wir übrigens ſchon oben betrachtet.

3) Experimentalphiloſophie der Araber.

Die Schätzung des wahrhaft wiſſenſchaftlichen Verdienſtes des Mittelalters iſt alſo viel geringer ausgefallen, als es vielen ältern, und ſelbſt einigen neuern Schriftſtellern beliebt hat. Aber ich bin überzeugt, daß dieſe Anpreiſungen der hohen An— ſprüche, der Araber beſonders, ungegründet und unhaltbar ſind. Man kann dieſe Sache nur zur Entſcheidung bringen, wenn man ſich entſchließt, den Begriff des Wortes „Wiſſenſchaft“ in einem ſcharf beſtimmten Sinn zu nehmen ). Wenn wir aber

3) Wenn es meine Abſicht wäre, den Verfaſſer einer ſehr intereſſanten Darſtellung des hier in Rede ſtehenden Zeitraums zu kritiſtren

320 Fortſchritte der Künſte im Mittelalter.

dieß thun, ſo werden wir ſehr wenig finden, in den einzelnen Entdeckungen ſowohl als auch in den allgemeinen Methoden der Araber, was in einer Geſchichte der inductiven Wiſſenſchaften von Bedeutung ſeyn könnte.

Das Anſehen aber, welches die Araber wegen ihrer Ver— beſſerung der allgemeinen Methode des Philoſophirens erhalten haben, iſt ſchwerer mit Genauigkeit zu unterſuchen. Wir werden die Antwort auf dieſe Frage erſt dann geben können, wenn wir einmal die Geſchichte aller dieſer Methoden im Ab— ſtracten betrachtet haben werden, was nicht der Zweck unſerer gegenwärtigen Schrift iſt. Doch dürfen wir ſchon jetzt bemerken, daß wir nicht mit denen übereinſtimmen, die auch hierin die Verdienſte der Araber wieder ſehr hoch anſchlagen. Wir haben bereits geſehen, daß ihr Geiſt durch die zwei ſchlechteſten Eigen— ſchaften des Mittelalters, durch Myſticismus und Commenta— tionsſucht, verfinſtert war. Sie folgten beinahe alle ihren grie— chiſchen Führern mit willenloſem Sklavenſinne, und was ihren eige— nen Scharfſinn oder ihre von den Griechen unabhängigen Specus - lationen betraf, ſo waren ihnen dieſe Eigenſchaften nur eben in dem Maaße zugetheilt, als es dem Berufe eines Commentators entſprechend erſcheinen mag. Selbſt ihre Wahl des Hauptge— genſtands dieſer Commentationen, die Phyſik des Ariſtoteles, war eine ſehr unglückliche zu nennen, da dieſes Buch durchaus nichts zum eigentlichen Fortgange der Wiſſenſchaft, oder doch

(m. ſ. Mahometanism unveiled, by the Rev. Charles Forster. 1829), ſo würde ich vor allem bemerken, daß in dieſem Werke jene Vor— ſicht gar zu wenig angewendet worden iſt. So heißt es Vol. II. S. 270 von Alhazen: „In dieſem Auctor kann allerdings die „Theorie „des Teleſcops gefunden werden,“ und von einem anderen wird geſagt, „Der Gebrauch der Vergrößerungsgläſer und der Fern— „röhre, ſo wie auch das Princip der Conſtruction dieſer Inſtru— „mente, ſind in dem großen Werke des Roger Bacon mit einer „Wahrheit und Deutlichkeit auseinander geſetzt, die zur allgemei— „nen Bewunderung auffordern.“ Solche Ausdrücke würden ſchon viel zu viel ſagen, ſelbſt wenn ſte auf die optiſchen Lehren Keplers angewendet würden, die doch unvergleichbar mehr Wahrheit und Deutlichkeit haben, als die von Baco. Solche Worte in ſolchem Sinn zu brauchen, heißt den Ausdrücken Theorie, Wiſſenſchaft, Princip u. ſ. f. alle beſtimmte Bedeutung rauben.

Fortſchritte der Künfte im Mittelalter. 321

nur inſofern beigetragen hat, daß eben dieſe Lehre endlich zum Widerſtande und zur Widerlegung aufgefordert hat, eine Auffor— derung, welche den Arabern ſelbſt immer fremd geblieben iſt. Sie haben einige Schritte über die Aſtronomie der Griechen hinaus gemacht, wie wir ſchon oben erwähnten, beſonders durch die Entdeckung des Albategnius von der Bewegung des Apogeums der Sonne, und durch die erſt in unſeren Tagen wieder erweckte Entdeckung des Abul Wefa von einer zweiten Ungleichheit des Mondes. Aber man kann nicht umhin, dabei zu bemerken, daß ſie dieſe beiden Entdeckungen auf eine ganz andere Weiſe be— handelten, als dieß von Hipparch oder Ptolemäus geſchehen ſeyn würde. Die letzte der beiden erwähnten Entdeckungen, die „Variation des Monds“ wurde nicht von den Arabern dem bis— herigen aſtronomiſchen Syſtem, durch Hülfe eines neuen Epicykels, einverleibt, wie es Ptolemäus mit der von ihm gefundenen „Evection“ gethan hat, ſondern jene Entdeckung gerieth, wahr— ſcheinlich bald nach der Zeit, wo ſie gemacht worden war, wieder in Verfall und in gänzliche Vergeſſenheit, zum Beweiſe, daß die arabiſchen Aſtronomen nur gewohnt waren, ihre Weisheit aus fremden Büchern, nicht aber aus eigenen Beobachtungen und Nachdenken zu nehmen. Daß ſie aber in manchen anderen Dingen Experimente gemacht haben, kann immerhin zugegeben werden. Iſt doch nie, in dem ganzen Laufe unſerer Menſchengeſchichte, eine Zeit da geweſen, wo nicht, in Beziehung auf Handel und Manufactur, auf Kunſt und Luxus vielerlei Verſuche gemacht worden ſind, die man eben ſo gut Experimente nennen könnte. Auch haben die Araber, wir wollen es nicht in Abrede ſtellen, von den Griechen die Liebe zur Botanik und Zoologie, ſo wie die zur Alchemie, erhalten und auch mit einer Art von Vorliebe gepflegt. Aber ſie waren ſo weit davon entfernt, „ein Volk zu »ſeyn, deſſen intelligente Experimente fie zur Ausbildung von „solchen Wiſſenſchaften geeignet machten, die ſelbſt dem abſtracten „Scharfſinn der Griechen verborgen geblieben ſind,“ wie ſich der oben erwähnte Forſter (II. 271) ausdrückt, daß man vielmehr die umgekehrte Behauptung aufſtellen muß, daß nämlich die Araber mehrere von den Wiſſenſchaften, die von den Griechen erfunden wurden, nicht einmal zu begreifen im Stande geweſen ſind. Ich wenigſtens ſehe nichts, was beweiſen könnte, daß dieſe gerühm— ten Schüler der Griechen ſich auch nur bemüht hätten, die reellen Whewell. I. 21

322 Fortſchritte der Künfte im Mittelalter.

Principien der Mechanik, der Hydroſtatik oder der Harmonik zu verſtehen, welche ihre Meiſter vor ihnen gefunden und aufgeſtellt hatten. Wie dieß aber auch ſeyn mag, das iſt gewiß, daß Europa zu der Zeit, wo dieſe Wiſſenſchaften wieder auflebten, da wieder anfangen mußte, wo die Griechen aufgehört hatten. Man findet auch nicht einen einzigen arabiſchen Namen, den ſelbſt irgend einer ihrer Bewunderer zwiſchen Archimedes und Galilei als Mittelsmann aufzuſtellen gewagt hätte.

4) Roger Bacon.

Ein Schriftſteller des Mittelalters aber iſt noch da, auf den man immer ein beſonderes Gewicht gelegt hat, und der auch ohne Zweifel ein ſehr merkwürdiger Mann geweſen iſt. Die Werke des Roger Baco ) find nicht bloß ſehr weit vor feinem Zeitalter

4) Roger Baco wurde, wie ſchon erwähnt, i. J. 1214 in Sommerſet geboren, ſtudirte in Oxford, ging zu ferner weitern Ausbildung nach Paris und trat, nach ſeiner Rückkehr, i. J. 1240 in den Franziskaner-Orden zu Oxford. In der Einſamkeit ſeiner Zellen beſchäftigte er ſich vorzüglich mit Naturforſchung, und durch ſel— tenen Scharfſinn und Eifer erhob er ſich bald weit über ſein Zeit— alter. Er gerieth durch ſeine Kenntniſſe und Entdeckungen in den Verdacht der Zauberei, wurde verfolgt und ſelbſt viele Jahre durch in einen Kerker geſperrt. Bald nach ſeiner endlichen Befreiung ſtarb er um das Jahr 1293 zu Oxford. Aus ſeinen Schriften, von welchen die ungedruckten in den Cottoniſchen Handſchriften des britiſchen Muſeums aufbewahrt werden, ſieht man, daß er von den Vergrößerungsgläſern, ſelbſt von den Fernröhren, wenigſtens eine ahnende Vorausſicht hatte, jo wie von dem Phosphor, als einem unauslöſchlichen Feuer, von dem Schießpulver u. dergl. Von ihm iſt wohl zu unterſcheiden ſein großer Nachfolger Franz Bacon von Verulam, geb. 1561 zu London, ebenfalls einer der außerordentlichſten Geiſter ſeiner und vielleicht aller Zeiten, der als Reformator der geſammten Philoſophie durch Richtung auf Erfahrung und Natur Epoche gemacht hat. Schon in ſeinem ſechszehnten Jahre erklärte er ſich, in ſeiner erſten Schrift, gegen die ſcholaſtiſch⸗ ariſtoteliſche Philoſophie. Drei Jahre ſpäter, nach— dem er ganz Frankreich durchreist hatte, ſchrieb er ein Werk über den Zuſtand Europa's, das mit allgemeinem Beifall aufgenommen wurde. In ſeinem acht und zwanzigſten Jahre wurde er zum

Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 323

voraus, ſondern ſie ſind auch in ihren Aſſertionen, in ihren Beobachtungen und in ihren Vorherſagungen künftiger Erkenntniſſe ſo gänzlich verſchieden von dem Geiſte ſeiner Zeit, daß es in der That ſchwer wird, einzuſehen, wie ſolch' ein Mann in dieſer Zeit entſtehen konnte. Ohne Zweifel erhielt er viele ſeiner Kennt— niſſe von arabiſchen Schriftſtellern, die zu ſeiner Zeit gleichſam die allgemeine Niederlage aller traditionellen Wiſſenſchaft der Vorzeit bildeten. Aber daß er auch von ihnen gelernt hätte, das Joch des Ariſtoteles abzuſchütteln, die Wichtigkeit der Experi— mente und Beobachtungen einzuſchärfen und auf die Kenntniß ſeines Jahrhunderts nur als auf die Kindheit der Wiſſenſchaft herabzublicken, dieß kann ich nicht glauben, weil ich noch nie in den Werken der Araber eine Stelle gefunden oder von anderen erwähnen gehört habe, die ſolche Anſichten ausdrücken. Auf der anderen Seite finden wir in den älteren europäiſchen Schriftſtellern, in den klaſſiſchen Autoren Griechenlands und Roms, jenen geſunden

außerordentlichen Rath der Königin Eliſabeth ernannt. Sein leichtſinniges Betragen gegen den Grafen Eſſex, ſeine ſchwankende Partheiſucht, ſeine immerwährenden Geldverlegenheiten, und die Handlungen des Eigennutzes, die er ſich erlaubte, als er im Jahr 1619 bereits zum Großkanzler von England erhoben war, überlieferte ihn endlich der Strenge der Geſetze. Er wurde, nach— dem er die Richtigkeit der gegen ihn erhobenen Klagen über Er— preſſungen faſt ſämmtlich eingeſtanden hatte, zu einer großen Geld— buße und zur Einkerkerung in den Tower verurtheilt. Später wurde dieſes über den ſonſt gut geſinnten Mann gefällte Urtheil wieder gemildert, und der König Jakob J. wandte ihm wieder feine frühere Gunſt zu. Bacon ſtarb im Jahr 1626. Seine vorzüglichſten Werke find: De dignitate et augmentis scientiarum. (engl. London 1605 lat. London 1623 und deutſch Peſth 1783); Novum organon scientiarum (London 1620, und deutſch Leipzig 1830). Dieſe beiden Werke find als Theile eines größeren, Instauratio Magna, zu be: trachten, welches letztere er wahrſcheinlich noch weiter ausführen wollte. Sonſt beſitzen wir noch von ihm Sermones fideles über mora— liſche Gegenſtände; die Geſchichte Heinrichs VII. und VIII.; eine Schrift über die Weisheit der Alten, eine Naturgeſchichte unter dem Titel Silva silvarum, nebſt mehreren anderen über die Arz— neikunde, die Chemie, Aphorismen über die Rechtswiſſenſchaft u. f. Eine Ausgabe feiner ſämmtlichen Schriften erfchien von Mallet. London 1765 in fünf Quartbänden. I..

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324 Fortſchritte der Künfte im Mittelalter.

Sinn, jenen kühnen, männlichen Geiſt, der wohl zu ähnli— chen Anſichten leiten konnte. Wir haben bereits bemerkt, daß Ariſtoteles mit den deutlichſten und beſtimmteſten Worten ſich dahin ausſpricht, daß alle Erkenntniß unmittelbar aus der Beobachtung entſtehen muß, und daß jede Wiſſenſchaft nur durch Induction aus Thatſachen gebildet werden kann. Auch haben wir geſehen, wie die römiſchen Schriftſteller, beſonders Seneca, mit zuverſichtlicher Begeiſterung von den Fortſchritten ſprechen, welche die Wiſſenſchaft noch in der Folge der Zeiten machen wird. Wenn nun Roger Baco im dreizehnten Jahrhundert eine ähnliche Sprache führt, ſo mag wohl dieſe Aehnlichkeit mehr aus der Sympathie des Charakters, als aus unmittelbarem Selbſtdenken kommen, aber mir wenigſtens iſt nichts bekannt, was uns zu einer ſolchen Verbindung zwiſchen ihm und den arabiſchen Schriftſtellern führen könnte.

In den letzten Zeiten iſt auch viel geſprochen worden über die Aehnlichkeiten der Anſichten Roger Baco's mii denen feines großen Namensverwandten Franz Baco von Verulam im ſechszehnten Jahrhundert »). Die Aehnlichkeit beſteht hauptſächlich in ſolchen Punkten, wie die ſo eben erwähnten, und man muß geſtehen, daß gar manche von den Ausdrücken des Franziskaner-Mönchs uns an die großen Gedanken und hohen Conceptionen des phi— loſophiſchen Kanzlers mahnen. Wie weit man von dem erſten ſagen kann, daß er die Methoden des zweiten anticipirt habe, werden wir ſpäter umſtändlicher unterſuchen, wenn wir von dem Charakter und der Wirkung ſprechen werden, welche die Schriften des Franz Baco gehabt haben.“

5) Baukunſt des Mittelalters.

Obſchon wir aber gezwungen ſind, mehrere von den An— ſprüchen zu läugnen, die man zu Gunſten des wiſſenſchaft— lichen Charakters des Mittelalters geltend machen wollte, ſo gibt es doch zwei Gegenſtände, von welchen man, wie ich glaube, reelle Spuren von wiſſenſchaftlichen Ideen dieſes Zeitalters er—

5) Hallam’s Middle Ages. III. 539. Forster's Mahom. Unveiled. U. II. 313.

Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 325

blickt, und die daher als die eigentlichen Vorläufer der kom— menden Periode der Entdeckungen betrachtet werden können. Ich meine die practiſche Architektur und die Schriften jener Zeit über eben dieſen Gegenſtand.

In der Einleitung zu dieſem vierten Buche haben wir zu zeigen verſucht, auf welche Weiſe die Unbeſtimmtheit der Ideen, welche den Verfall des römiſchen Reiches begleitete, auch in der Form ihrer Bauwerke bemerklich wurde, nämlich in dem Miß— verhältniß zwiſchen den Verzierungen dieſer Gebäude und den nothwendigen mechaniſchen Bedingungen der Feſtigkeit derſelben. Das urſprüngliche Schema der architektoniſchen Verzierungen der Griechen beſtand in horizontalen Maſſen, die auf verticalen Columnen ruhten. Als die Römer die Gewölbe annahmen, wurden ſie ganz verſteckt oder in einem untergeordneten Zuſtande gehalten, und die Seitenſtützen, welche das Gewölbe forderte, wurden wieder entweder nur heimlich angebracht oder durch irgend ein anderes Kunſtwerk wieder verhehlt. Dieſer Streit zwiſchen der rein mechaniſchen und der bloß verzierenden Eonftruction 6) endete mit einer vollſtändigen Disorganiſation alles klaſſiſchen Styls. Jene Unzukömmlichkeiten und Ausſchweifungen, die wir oben angeführt haben, waren die Anzeigen und zugleich die Reſultate des Verfalls aller guten Architektur. Die Elemente des alten Syſtems hatten auf dieſe Weiſe ihre Bedeutung, ihren Zuſam— menhang verloren. Die Baukunſt ſank nicht bloß zu einem Hand— werke herab, ſondern dieſes Handwerk wurde noch überdieß von Männern ohne Einſicht und Geſchmack getrieben.

Als nun die Architektur, nach ihrem tiefen Falle, im zwölf— ten und den folgenden Jahrhunderten ſich wieder in den ſchönen und geſchickt ausgeführten ſogenannten gothiſchen Gebäuden wieder erhob, was war die Urſache dieſer Veränderung, ſo weit ſie auf einen wiſſenſchaftlichen Fortgang zeigte? Die Ideen der wahren Verhältniſſe eines Gebäudes waren wieder in dem Gemüthe der Menſchen erwacht, wenigſtens in Beziehung auf Kunſt und Schönheit der Darſtellung, und dieß, ſo verſchieden es auch von dem Wiedererwachen einer rein wiſſenſchaftlichen Idee

6) Man ſehe die vortrefflichen Remarks on the Architecture of the Middle Age, von Willi. Cap. II.

326 Fortſchritte der Künſte im Mittelalter.

ſeyn mag, konnte doch immer als eine Vorbereitung dazu gelten. Fortan wurde der Begriff der Stabilität und der Unterſtützung, ſelbſt in den Verzierungen der Baukunſt, wieder ſichtbar und auch als allgemeine Vorſchrift aufgeſtellt. Das Auge des verſtändigen Mannes, wenn es in beſtimmten und richtigen Verhältniſſen der Theile eines Gebäudes nach Schönheit ſucht, wird nur dann zu— frieden geſtellt, wenn jedes Gewicht dieſer Theile gehörig unter— ſtützt wird, und dieſes Bedürfniß wurde nun wieder befrie— digt ). Die Baukunſt legte ihr barbariſches Kleid ab, und eine neue Art von architektoniſcher Verzierung reifte heran, keine hin— dernde und widerſprechende, ſondern eine hülfreiche, eine mit den Bedingungen der allgemeinen Mechanik in harmoniſchem Einklang ſtehende Art. Alle bloß verzierenden Theile fügten ſich in die Forderungen des Hauptzweckes, und wurden ebenfalls Träger von Laſten, und mitten unter der Menge von Stützen, deren eine die andere trug, mitten in der daraus entſpringenden Vertheilung der Gewichte, war das Auge des Betrachters zufrieden geſtellt durch die Feſtigkeit der Structur des Ganzen, ſo ſehr auch die einzelnen Theile deſſelben dünn und ſchwach erſcheinen mochten. Bogen und Gewölbe, nicht mehr durch unangemeſſene Verzierungen zerſchnitten, ſondern durch zweckmäßigere Formen getragen und begünſtigt, fanden ihre Grenze nur mehr in der Kunſt des Baumeiſters, und alles zeigte, daß die Menſchen, wenigſtens auf eine practiſche Weiſe, den wahren Begriff von Druck und Unterſtützung wieder erhalten hatten, und daß ſie ihn auch mit Feſtigkeit und Geſchmack auszuführen wußten.

Der Beſitz dieſer Idee, als eines Princips der Kunſt, führte dann im Laufe der Zeit zu der ſpeculativen Entwicklung der— ſelben, als der Grundlage einer Wiſſenſchaft, und auf dieſe Weiſe bereitete die Baukunſt gleichſam den Weg für die Mechanik vor. Allein dieſer Uebergang erforderte mehrere Jahrhunderte. Die Zwiſchenzeit von der bewunderungswürdigen Cathedrale zu Sa— lisbury in England, von der Metropolitankirche in Amiens, Köln, Straßburg und Wien, bis zu den mechaniſchen Abhand— lungen des Stevinus und des Galilei, betrug nicht weniger als

7) M. ſ. Willi's angezeigtes Werk. S. 15 21. Ich habe die Dar: ſtellungen dieſes trefflichen Schriftſtellers über den gothiſchen Styl fleißig benützt.

Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 327

drei volle Jahrhunderte. Seit der letzten Epoche ſchritt die Wiſſen— ſchaft vor, aber die Kunſt ging auch von derſelben Zeit an zurück. Die Bauwerke des fünfzehnten Jahrhunderts, die zu derſelben Zeit errichtet wurden, wo die wiſſenſchaftlichen Principien der Mechanik bereits in allgemeinen Formeln aufgefaßt wurden, ſtellen dieſe Principien ſchon mit viel weniger Nachdruck und Einfach: heit und Eleganz dar, wie jene des dreizehnten Jahrhunderts. Wir werden weiter unten ſehen, ob man noch andere Beiſpiele für den ſo allgemein angenommenen Glauben anführen kann, daß der Fortgang der Wiſſenſchaft gewöhnlich von den Rück— ſchritten der Kunſt begleitet iſt.

Das leitende Princip des ſogenannten gothiſchen Styles war nicht bloß, daß jede Laſt gehörig unterſtützt, ſondern daß dieſe Unterſtützung auch ſichtbar gemacht werde, und daß auf ſolche Weiſe dieſe gegenſeitigen Verhältniſſe der Laſten, nicht bloß bei den größeren Maſſen, ſondern auch bei den kleinſten Gliedern des Gan— zen, den Augen fühlbar dargeſtellt werden. Jeder andere Styl, in welchem dieſe Verhältniſſe nicht beobachtet ſind, wird daher auch nicht als der urſprüngliche oder reine gothiſche Styl betrachtet werden können. In den arabiſchen Bauwerken der vorhergegan— genen Zeit bemerkt man aber keineswegs jene verhältnißmäßige Unterſtützung der Laſten oder jenen mechaniſchen Zuſammenhang der einzelnen Theile, der allein das Ganze über den Charakter einer barbariſchen Baukunſt zu erheben im Stande iſt. Die Maſſen dieſer arabiſchen Gebäude ſind in unzählige einzelne Theile geſondert, die weder Subordination noch Beziehung gegen einander haben, und die bloß aus grillenhafter Laune oder aus Liebe zum Abentheuerlichen aufeinander gehäuft ſcheinen. „In „»der Conſtruction ihrer Moſcheen war es ein Lieblingseinfall »der Araber, ungeheuere maſſive Laſten durch ſehr dünne Säulen „tragen zu laſſen, damit es ſcheinen ſolle, als würden jene „Maſſen durch eine unſichtbare Hand in der Luft ſchwebend „erhalten ?).“ Dieſe Luft in der Betrachtung ſcheinbar unmög— licher Dinge iſt zwar ſehr allgemein unter den Menſchen, aber ſie ſcheint doch mehr der Kindheit, als dem verſtändigen Man— nesalter der Völker anzugehören. Das Vergnügen, das die

8) Forster, Mahom. Unveiled. II. 255.

328 Fortſchritte der Künſte im Mittelalter.

klare Betrachtung der Wahrheit erzeugt, das Beſtreben nach einer vollkommenen Einſicht der Urſachen der Dinge, dieß iſt allein dem reiferen europäifchen Geiſte eigen, und dieß allein führt auch zur Wiſſenſchaft.

6) Abhandlungen über die Baukunſt.

Wer nur immer die Werke derjenigen Baukunſt, die von dem zwölften bis zum fünfzehnten Jahrhundert in England, Frank— reich und Deutſchland vorherrſchte, in Beziehung auf ihre Schönheit und Symmetrie, auf ihre Gleichförmigkeit und innere Conſiſtenz, ſelbſt in den kleinſten und verſteckteſten Theilen, be— trachtet hat, wird darin ein beſtimmtes, und auf eine ſehr merkwür— dige Weiſe eng verbundenes, künſtleriſches Syſtem erblicken. Auch läßt ſich nicht zweifeln, daß dieſe Gebäude von einer Klaſſe von Künſtlern aufgeführt wurden, die in einer innigen Verbindung un— ter einander ſtanden, und die ſich ſelbſt unter einander durch müh— ſame Studien und Arbeiten auszubilden ſuchten. Gewiß fehlte es dieſen Corporationen nicht an Meiſtern und Schulen, nicht an einer angemeſſenen Disciplin, noch an beſtimmten traditionellen Lehrern der Kunſt. Ich will hier nicht unterſuchen, auf welche Weiſe ſich dieſe Künſtlervereine über ganz Europa verbreiteten, noch ob überhaupt eine genaue Geſchichte dieſes merkwürdigen Vorgangs in unſern Zeiten noch möglich iſt. Allein das Daſeyn ſolcher gleichförmigen, allgemeinen Bildungsinſtitute, die Exiſtenz eines ſolchen umfaſſenden Lehrgebäudes iſt ſchon durch die große Anzahl der Kirchen erwieſen, die alle in ihrer allgemeinen Form ſowohl, als auch in der Anwendung der einzelnen Theile, unter einander ſo große Aehnlichkeit zeigen. Die Frage iſt alſo nur: ſind dieſe Lehren, iſt dieſes Syſtem der Bildung jener Baukünſtler auch irgendwo ſchriftlich verzeichnet worden? Können wir den Fort— gang der Kunſt, die wir in den Bauwerken aus jener Zeit be— wundern, auch durch Schrifien nachweiſen?

Es darf uns nicht auffallen, wenn wir aus derjenigen Periode, wo die Kunſt ſich practiſch am thätigſten bezeigte, wo ſie in jenen Prachtwerken am herrlichſten ſich entfaltete, keine Bücher über ſie auffinden können. Die Kunſt wurde, zu allen Zeiten und bei allen Völkern, nur durch die Ausübung ſelbſt und durch wörtliche Tradition, nicht aber durch Bücher gelehrt.

Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 329

Nur unſern eigenen Tagen ſcheint es vorbehalten zu ſeyn, alles, was wir den Andern mittheilen oder vor dem Untergange er— halten wollen, der Schrift anzuvertrauen. Und ſelbſt jetzt noch wird gar manche Kunſt weit mehr auf practiſchem Wege und durch Verbindung mit denen, die ſie ausüben, als durch eigent— liche Lectüre erworben. Dieß iſt der Fall nicht bloß mit allen Manufacturen und Handwerken, ſondern ſelbſt mit den feineren Künſten, mit dem Maſchinenbau, ja ſelbſt mit der Baukunſt, von der wir eben ſprechen.

Wir werden uns alſo nicht verwundern, wenn wir aus jener Periode der großen Baukünſtler des Mittelalters keine Abhandlungen über ihre Kunſt finden; oder auch, wenn wir ſehen, daß die wenigen Schriftſteller, die uns etwa noch aus jener Zeit aufbehalten wurden, aus ganz anderen Gründen, als wir erwarten, zur Mittheilung ihrer Ideen bewogen wurden; oder endlich, wenn ſie, ſtatt ſich über die erſten Principien der Kunſt, die ſie ſo vortrefflich practiſch darzuſtellen wußten, auch eben ſo gut theoretiſch zu verbreiten, in frivolen Bemerkungen und in jenen ſpeculativen Ausſchweifungen ſich ergießen, die zu ihrer Zeit in der Welt der Künſtler eine Art von Mode geworden waren.

Dies ſcheint auch in der That der Fall geweſen zu ſeyn. Die früheſten Abhandlungen über die Baukunſt aus dem Mittel— alter tragen alle das Gepräge des commentatoriſchen Geiſtes jener Zeit. Sie beſtehen größtentheils in Ueberſetzungen des Vitrup, allen: falls mit Anmerkungen begleitet. In einigen dieſer Schriften, wie z. B. in der des Cesare Cesariano, die 1521 zu Como erſchien, ſehen wir, wie die einmal angenommene Sitte, in jedem Zweige der Literatur die Alten als Meiſter zu betrachten, auf eine ſonderbare Weiſe den Autor dahin bringt, ſelbſt die ganz neue gothiſche Baukunſt den Vorſchriften des Römers fklaviſch zu unterwerfen. Da ſehen wir gothiſche Schafte, gothiſche Simswerke und andere Verzierungen mit ſolchen zuſammenge— ſtellt, die dem römiſchen Style angehören ſollen, die aber in der That nur aus jener vermiſchten Baukunſt genommen ſind, welche die Ital äner den Styl der linque cento, und die Frans zoſen den der renaissance genannt haben, und die bis jetzt noch in England unter dem ſogenannten Styl der Eliſabeth begriffen werden. Uederdieß kommt aber auch in den frühern architektoniſchen

330 Fortſchritte der Künſte im Mittelalter.

Schriften jener Zeit, nebſt einer abergläubiſchen und mißverſtan— denen Gelehrſamkeit, die den Fortgang aller reellen architektoniſchen Lehren hinderte, ein anderes, bereits erwähntes Element des Mit— telalters, nämlich der Myſticismus, zum Vorſchein. Die Dimen— ſionen und die gegenſeitigen Lagen der verſchiedenen Theile eines Gebäudes werden durch verſchränkte Dreiecke, Vierecke, Kreiſe und andere Figuren beſtimmt, und dieſen geometriſchen Figuren werden beſondere abſtruſe Bedeutungen beigelegt. So wurde die Fronte der Cathedrale zu Mayland in Ceſariano's Schrift durch verſchie— dene gleichſeitige Dreiecke conſtruirt, und aus dem Ernſt, mit welchem er die Verhältniſſe dieſer Dreiecke darſtellt, blickt deut— lich genug feine myſtiſche Denkweiſe hervor ).

Auch in den übrigen Schriften des Mittelalters, die uns in Beziehung auf Architektur noch intereſſiren könnten, finden wir dieſen Myſticismus mit Erudition gepaart. Demungeachtet ha— ben dieſe Schriften immerhin ihren Werth. In der That ſcheint der Ausbildung einiger Künſte die Beimiſchung eines gewiſſen Grades von Myſticismus nicht eben ſchädlich zu werden, und es kann immer ſeyn, daß die Verhältniſſe der geometriſchen Figuren, wenn auch myſtiſche Gründe dafür angeführt werden, einige reelle Principien der Schönheit oder der Stabilität in ſich enthalten. Abgeſehen davon finden wir aber in den beſten Werken aller Zeiten über Architektur, ſo wie über den Maſchinenbau, daß den Verfaſſern derſelben der wahre Begriff des mechaniſchen Drucks heller und deutlicher beiwohnt, als allen übrigen gebildeten Männern ihrer Zeit, obſchon dieſer Begriff vielleicht bei jenen nicht immer in einer wiſſenſchaftlichen Geſtalt entwickelt erſcheint. Dieſe Be— merkung gilt ſelbſt noch von unſerer eigenen Zeit, und jene beiden Künſte würden auch gewiß jetzt nicht ſo hoch ſtehen, wenn

9) Den Plan, den er Fol. 14 gibt, betitelt er: „Ichnographia Funda- „menti sacrae Aedis baricephalae, Germanico more a trigono et „pariquadrato perstructa, uti etiam ea quae nunc Milani videtur.“ Das Werk des Ceſariano wurde von Gualter Rivius in's Deutſche überſetzt, und zu Nürnberg 1548 herausgegeben. Vor wenigen Jahren behauptete der Verf. eines Artikels in den Wiener Jahrb. der Lit. (Oct., Dec. 1821), auf die Autorität eines Diagramms in dem Werke des Rivius, daß die gothiſche Architektur nicht in England, ſondern in Deutſchland entſtanden iſt.

Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 331

jene Bemerkung nicht richtig wäre. In ſo fern laſſen ſich alſo die Schriftſteller über jene zwei Künſte im Mittelalter allerdings als die Vorläufer von der ſpäter erwachenden wiſſenſchaftlichen Mechanik betrachten. Vitruv hat uns in feiner „Architektur,“ und Julius Frontinus, der unter Vespaſian lebte, hat uns in ſeinem Werke „über die Waſſerleitungen“ das Vorzüglichſte über die practiſche Mechanik und Hydraulik der Römer hinterlaſſen. In den neueren Zeiten ſind dieſe Gegenſtände von vielen anderen fortgeführt worden. Die früheren Schriftſteller über Architektur haben mei— ſtens auch von dem Maſchinenbau und ſelbſt oft von der Hydro— ſtatik gehandelt, wie Leonardo da Vinci, der über das Gleich— gewicht des Waſſers geſchrieben hat. Und ſo werden wir fort— geführt bis zu Stevinus von Brügge, Ingenieur des Prinzen Moriz von Naſſau und Inſpector der Dämme in Holland, in deſſen Werke der erſte klare Begriff eines wiſſenſchaftlichen Prin— cips der Mechanik und der Hydroſtatik in den neueren Zeiten aufgeſtellt wird.

Sechstes Capitel. Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter.

Ehe wir die Zeiten des Mittelalters gänzlich verlaſſen, um zu erfreulicheren Ereigniſſen überzugehen, wollen wir noch einige, wie wir hoffen, nicht unintereſſante Bemerkungen über den all— gemeinen Zuſtand der Cultur dieſer Periode nachtragen, die ſich nicht wohl ohne Störung des Haupteindrucks in den Text un— ſeres Autors einſchalten ließen. I.

1) Völkerwanderung.

Zwei der größten und ausgedehnteſten politiſchen Ereigniſſe, deren die Geſchichte der Menſchheit gedenkt, ereigneten ſich, die eine unmittelbar vor, und die andere im Laufe des Mittelalters, die beide von dem wichtigſten Einfluſſe auf den Geiſt dieſer Zeit geweſen ſind: die Völkerwanderung im fünften und ſechsten, und die Kreuzzüge im eilften und zwölften Jahrhundert, welchen

332 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter.

letzten man noch, als die unmittelbare Folge derſelben, die weit— verbreiteten Krankheiten hinzufügen kann, die vom eilften bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ganz Europa ver— heerten. Jedes dieſer unglücklichen Ereigniſſe allein würde ſchon die nachtheiligſten Folgen auf Kultur und Geſittung äußern, wie viel größer mußte aber das Unglück ſeyn, wenn ſie alle in Gemeinſchaft hereinbrachen. Da es unſere Abſicht nicht iſt, dieſe drei wichtigen Epochen der Menſchengeſchichte hier um— ſtändlich zu betrachten, ſo werden wir uns mit der Angabe einiger Züge des großen Gemäldes begnügen, ſo weit daſſelbe mit dem Zwecke des gegenwärtigen Werkes in näherer Verbin— dung ſteht, indem ſich aus dieſen Zügen vielleicht am beſten die Finſterniß und der Stumpfſinn erklären läßt, der nach dem Vorhergehenden den eigentlichen Charakter des Mittelalters bildet.

Die Völkerwanderung fing bekanntlich um das Jahr 375 nach Ch. G. an, wo die Hunnen und andere Völkerſchaften des nordöſtlichen Aſiens in Europa einbrachen. Von ihnen wurden zuerſt die Alanen am Kaukaſus, dann die Weſtgothen in dem alten Dacien, und die Vandalen im heutigen Ungarn gedrängt, die dann, in Vereinigung mit dieſen ihren Treibern, über das ganze ſüdliche Europa ſich ergoſſen. Im Jahre 406 brachen ſie in Gallien, 409 in Spanien, 427 unter Genſerich in Nordafrika und 451 unter Attila in Italien ein. Dem römiſchen Reiche wurden vorzüglich die Gothen gefährlich. Schon im Jahr 274 mußte man ihnen Dacien überlaſſen, von wo ſie im Jahr 375 von den Hunnen gedrängt, mehr ſüudlich in das römiſche Reich zogen. Unter Alarich eroberten und plünderten ſie Rom im Jahr 410, gründeten unter Ataulf das weſtgothiſche Reich in Spanien und dem weſtlichen Frankreich, eroberten im Jahr 493 unter Theodorich Italien, und wurden daſelbſt 554 von Beliſar und Narſes wieder dem Kaiſer Juſtinian unterworfen. Bald darauf im Jahr 568 entriſſen wieder die Longobarden den größten Theil Italiens dem griechiſchen Kaiſerthume. Das Reich der Longobarden wurde 774 von Karl dem Großen wieder zerſtört. Während dieß in Italien vorging, wurde Gallien und Deutſchland von Sueven, Burgundern, Alemannen und Franken verwüſtet, welche letzten unter Chlodwig 486 die frankiſche Monarchie gründeten. Meh— rere dieſer Völkerzuüge hatten nur eine militäriſche Beſitznahme,

Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 333

oft auf kurze Zeit, zur Folge, da nach dem Untergange der neu— eingedrungenen Heeresmaſſen die alten Bewohner des Landes, obſchon nur mühſam, ſich wieder erhoben. Nur wo die barba— riſchen Sieger als Krieger- und Adel-Kaſte blieben, veränderte ſich auch der bürgerliche Zuſtand, und es kam mit dem Adel die Leibeigenſchaft und das Lehenweſen auf. Die Eroberer ließen den Beſiegten, zum Theil wenigſtens, die römiſchen Geſetze, ver— miſchten ſie aber mit ihren eigenen Gewohnheiten und führten meiſtens eine militäriſche Diſciplin ein, da ſie nur das Waffen— handwerk ehrten, Künſte und Wiſſenſchaften aber verachteten.

Da es, ſelbſt wenn hier der Raum dazu gegeben wäre, unmög— lich ſeyn würde, die Verwüſtungen, welche dieſe Einbrüche der Bar— baren in Europa anſtellten, im Großen zu beſchreiben, ſo wollen wir uns (nach Robertſon's Hist. of Charles V.) auf einige mehr ſpecielle Erzählungen beſchränken.

Spanien war vielleicht die reichſte und bevölkertſte Provinz des römiſchen Reichs. Die Spanier hatten ſich früher durch den männlichen Muth ausgezeichnet, mit dem ſie ihre Unabhängigkeit gegen die Römer lange Zeit durch vertheidigten. Aber ſie wurden durch eben dieſe Römer fo entnervt, daß die Vandalen, die 409 in Spanien eindrangen, die Eroberung des ganzen Landes ſchon in zwei Jahren vollendeten, wo ſie dann die einzelnen Provinzen deſſelben an ihre Anführer durch das Loos vertheilten. Der Chronikenſchreiber Idatius beſchreibt die Verwüſtung Spaniens durch dieſe Barbaren mit folgenden Worten: „Sie zerſtörten „alles, was ſie fanden, mit unerhörter Grauſamkeit. Die Peſt »ſelbſt kann nicht verheerender ſeyn. Auch wüthete eine fürchter— „liche Hungersnoth durch das ganze Land, ſo daß die Ueber: »lebenden die Körper ihrer verftorbenen Mitbürger verzehrten, „und daß verheerende Krankheiten das ganze Königreich zu einer »Wüſte machten.“ Bald darauf drangen die Weſtgothen in Spas nien ein, um die Vandalen daraus zu vertreiben. Daraus ent— wickelte ſich ein neuer, allgemeiner Volkskrieg, in welchem das unglückliche Land von beiden Partheien geplündert wurde. Die wenigen Städte, die der erſten Zerſtörung der Vandalen ent— gangen waren, wurden nun in Aſche gelegt, und die Einwohner allen Drangſalen des Elends bloßgeſtellt. Auch dieſe nachfol— genden Scenen werden von Idatius beſchrieben, und ähnliche Nachrichten gibt auch der Chronikenſchreiber Iſidor Hiſpalienſis

334 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter.

und andere gleichzeitige Schriftſteller. Von Spanien zogen die Vandalen nach Afrika, das nächſt Aegypten die fruchtbarſte Pro— vinz des römiſchen Reiches war. Die Armee, mit welcher die Vandalen nach Afrika überſetzten, betrug kaum 30,000 ſtreitbare Männer, aber auch hier hatten fie in zwei Jahren ſchon das ganze Land unterjocht. Der zu jener Zeit lebende Victor Vitenſis gibt von dieſer Eroberung folgende Beſchreibung: „Die Vanda— „len fanden hier in Afrika eine wohl bebaute und ſehr frucht— „bare Provinz, die man wohl den Schmuck der ganzen Erde „nennen könnte. Aber ſie verbreiteten ihre Verwüſtung in „alle Theile des Landes; ſie entvölkerten es durch ihre Ver— „heerungen; fie vertilgten alles durch Feuer und Schwert. Sie „iparten nicht einmal den Weinſtock und die Fruchtbäume, da— „mit doch die unglücklichen Flüchtlinge, wenn ſie aus ihren Höhlen „oder von ihren Bergen wieder zurückkämen, eine Nahrung „finden könnten, ihren Heißhunger damit zu ſtillen. Ihre Zer— „ſtörungswuth konnte gar nicht geſättiget werden, und keine Stelle „im Lande war gefunden, die nicht die Spuren derſelben getra— „gen hätte. Ihre unglücklichen Gefangenen wurden mit der „ausgeſuchteſten Grauſamkeit gefoltert, um ihren Peinigern „die verborgenen Schätze des Landes zu entdecken. Aber je mehr „fie deren fanden, deſto mehr begehrten fie, deſto unverſöhnlicher „wurde ihre Wuth. Weder Krankheit noch Alter, weder Ge— „ſchlecht noch Stand und Würde, noch auch die Heiligkeit der „Kirche konnte dieſe Furien zurückhalten; vielmehr je vornehmer „der Gefangene war, defte grauſamer wurde er behandelt. Die: „jenigen öffentlichen Gebäude, die dem allgemeinen Brande ent— „gangen waren, wurden der Erde gleich gemacht. Viele Städte „hatten auch nicht einen einzigen Einwohner mehr, und wenn „diefe Barbaren einem befeſtigten Orte begegneten, den ihr un: „diſciplinirter Haufen nicht einnehmen konnte, ſo trieben ſie alle „ihre Gefangenen um die Feſtung zuſammen, hieben ſie mit ihren „Schwertern nieder, und ließen ſie dann unbegraben zurück, um „die Belagerten durch den Geſtank dieſer Leichen zur Uebergabe „zu zwingen.“ Der h. Auguſtin, ſelbſt ein Afrikaner, der die Eroberung ſeines Vaterlandes durch die Vandalen einige Jahre überlebte, gibt eine ähnliche Beſchreibung ihrer Grauſamkeiten (Opera, Vol. X. S. 372. Edit. von 1616). Nahe hundert Jahre nach dieſer Zeit wurden die Vandalen von Beliſar aus Afrika

Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 335

vertrieben, und Procopius, der gleichzeitige Geſchichtſchreiber, ſagt darüber (Procop. Hist. Ariana Cap. 18): „Afrika war durch „die Vandalen ſo ganz entvölkert, daß man in dieſem Lande „mehrere Tage reiſen konnte, ohne einem einzigen Mann zu be— „gegnen, und es iſt keine Uebertreibung, wenn ich fage, daß in „dem Laufe jenes Krieges fünf Millionen Menſchen ihren Tod „gefunden haben.“

Dieſe Nachrichten von dem damaligen Zuſtande Nordafrika's durch gleichzeitige Schriftſteller werden auch noch in unſeren Tagen durch den bloßen Anblick jenes Landes beſtätigt. Viele der größten und volkreichſten Städte dieſes Landes wurden ſo voll— ftändig vernichtet, daß man jetzt den Ort vergebens ſucht, wo fie geſtanden haben. Noch heute liegt dieſe einſt ſo reiche und frucht— bare römiſche Provinz größtentheils als eine unbebaute Wüſte da, und daſſelbe Land, das der eben angeführte Victor Vitenſis in feinem barbariſchen Latein die „speciositas totius terrae florentis“ nennt, iſt jetzt größtentheils ein Aufenthalt der Straßen: räuber und Piraten geworden.

Von allen jenen barbariſchen Völkerſchaften aber waren die Hunnen die wildeſten und fürchterlichſten. Ammianus Marcel— linus, der im vierten Jahrhundert lebte, gibt uns eine merkwür— dige Beſchreibung dieſes Volkes, das den heutigen Wilden von Nordamerika nicht unähnlich ſcheint. „Liebe zum Krieg iſt ihre „Hauptleidenſchaft, und wie in geſitteten Staaten Friede und „Wohlſtand gepflegt wird, fo pflegen fie des Krieges und feiner „Gefahren. Der in der Schlacht Getödtete wird von ihnen glück— »lich geprieſen, und wer vor Alter oder Krankheit ſtirbt, wird „für ehrlos gehalten. Jauchzend brüſten fie ſich mit der Zahl »der von ihnen erſchlagenen Feinde, und ihr höchſter kriegeriſcher „Schmuck beſteht in den Schädeln derſelben, die fie an die Sättel „ihrer Pferde binden.“ Die Römer, obſchon bekannt mit dem Anblick der Barbaren am Rhein und an der Donau, erſchraken, als ihnen dieſe menſchlichen Ungeheuer zu Geſichte kamen. Zuerſt brachen ſie in Thracien, Pannonien und Illyrien ein, welche Provinzen ſie verwüſteten, und von denen nun ſie wiederholte Einfälle in das römiſche Reich machten. In jedem dieſer Ein— brüche, ſagt Procopius, wurden wenigſtens zweimalhunderttauſend Römer erſchlagen oder in die Gefangenſchaft fortgeführt. Thra— cien wurde in jener Zeit in eine große Wüfte verwandelt; die

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Städte dieſer Provinz waren nicht mehr von ihren früheren Bürgern, ſondern nur von elenden Bettlern bewohnt, die unter den Ruinen der Häuſer ein Obdach ſuchten, und die Felder um— her waren mit den Gebeinen der Erſchlagenen bedeckt. Noch größer waren die Verwüſtungen, welche dieſe Hunnen unter At⸗ tila in Gallien anrichteten, wo nicht bloß Städte und Dörfer, ſondern auch das ganze offene Land ihrer Zerſtörungswuth preis— gegeben wurde, wie der gleichzeitige Geſchichtſchreiber Salvianus erzählt. Unter Aetius und Theodorich wurde Attila endlich im Jahr 451 bei Chalons beſiegt, in welcher Schlacht, wie die Chroniken— ſchreiber jener Zeit ſagen, dreimalhunderttauſend Menſchen auf dem Wahlplatze geblieben find. Im folgenden Jahre brach er, feine Schmach zu rächen, mit noch größerer Wuth in Italien ein, wo er mit einer unüberſehbaren Armee drei Monate Aquileia belagerte und ſo von Grund aus zerſtörte, daß ſchon das nächſtfolgende Ge— ſchlecht kaum mehr den Ort dieſer einſt ſo großen und mächtigen Stadt an ſeinen Ruinen erkannte. Ein gleiches Schickſal hatten die übrigen Städte, Padua, Verona, Mailand u. f. Was Italien durch dieſen Barbaren und ſeinen Nachfolger gelitten hat, ſieht man aus dem Zuſtande deſſelben im achten Jahrhundert, wo dieſes einſt ſo blühende, hochkultivirte, mit Städten und Bauwerken aller Art reich verſehene Land, nur mehr mit weiten Wüſten und Sümpfen und wilden Wäldern bedeckt war. (M. ſ. Muratori, Antiquitates Italicae medii aevi).

2) Kreuzzüge.

Dieſe wurden bekanntlich von den Völkern Europa's zur Eroberung Paläſtina's unternommen. Die Veranlaſſung zu den erſten Kreuzzügen gab Peter von Amiens, der, als Pilgrim von Jeruſalem zurückkehrend, dem Pabſte Urban II. den traurigen Zuſtand der Chriſten in dem h. Lande ſchilderte. Nach zwei Concilien, zu Piacenza und zu Clermont, wurde der Kreuzzug beſchloſſen und im Jahr 1096 unter Gottfried von Bouillon be— gonnen. Von ihm wurde Nicäa, Antiochien, Edeſſa und Jeruſalem erobert. Die ſpätere Nachricht von der Wiedereroberung Edeſſa's durch die Ungläubigen im Jahr 1142 erregte in Europa Beſorg— niß und veranlaßte den zweiten Kreuzzug unter Kaiſer Konrad III. und dem König Ludwig VII. von Frankreich, die beide im Jahr 1147

Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 337

mit zahlreichem Heere auszogen. Der dritte Kreuzzug wurde im Jahre 1189 unter Kaiſer Friedrich I., Philipp Auguſt von Frank: reich und Richard J. von England begonnen. Den vierten führte K. Andreas II. von Ungarn im Jahr 1217 an; den fünf— ten unternahm Kaiſer Friedrich II. im Jahr 1228, und den ſechsten endlich Ludwig der Heilige von Frankreich, im Jahr 1248. Die vorzüglichſte Urſache, welche dieſe ſo großen und ſo lange dauernden Heereszüge nicht ſowohl erzeugten, als beförderten, war wohl der im eilften Jahrhundert allgemein verbreitete Glaube an das nahe bevorſtehende Ende der Welt. Man kennt jetzt noch mehrere Urkunden aus jener Zeit, die mit den Worten: appropinquante mundi termino ete. anfangen. Schon mehrere Jahrzehnte vor den erſten Kreuzzügen gingen daher ganze Geſellſchaften von Gläubigen aus Europa nach Paläſtina, um dort entweder zu ſterben, oder die Ankunft des Meſſias abzu— warten, und unter dieſen Pilgrimen fand man auch Könige, Grafen, Biſchöfe und beſonders viele Frauen. Mehrere von dieſen Reiſenden kamen wieder zurück, und erfüllten, gleich jenem Peter, Europa mit bitteren Klagen über das Schickſal ihrer Glaubens— brüder in dem fernen Lande. Es wurde bald allgemeine Sitte, unter dieſer Firma bettelnd die Länder zu durchziehen. Schon im Jahr 986 ließ deshalb Sylveſter II. eine ſehr beredte Mah— nung an die Gläubigen ergehen, ihren fernen Brüdern zu helfen. Dadurch ließen ſich mehrere wohlhabende Einwohner von Piſa bereden, eine Flotte auszurüſten, und damit die Türken in Sy— rien anzugreifen. Das Aufſehen, welches dieſe Privatexpedition unter den Türken erregte, führte zum Widerſtand von ihrer Seite, und dadurch zur neuen Aufregung des Abendlandes. Um das Jahr 1010 ſoll, nach den Zeugniſſen der Chroniken jener Zeit, die allgemeine Meinung vorgeherrſcht haben, die Türken mit der vereinten Macht aller europäiſchen Staaten anzugreifen, ſo daß alſo die Kreuzzüge nicht, wie man ſo oft geſagt hat, bloß durch einen einzigen Mann, ſondern vielmehr durch eine allmählig ſich immer mehr verbreitende Anſicht beinahe aller damals leben— den Menſchen entſtanden ſind. Der weitere Fortgang und der hohe Aufſchwung derſelben aber wurde ebenfalls von mannigfal— tigen Urſachen bewirkt. Dahin gehörten vorzüglich die großen Vorrechte, welche denjenigen gegeben wurden, die das Kreuz nah— men. Sie konnten, fo lange fie in den heiligen Kriegen dienten, Whewell. 1. 22

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wegen ihrer Schulden nicht verfolgt werden; ſie durften von den zu dieſem Kriege geborgten Summen keine Intereſſen zahlen; ſie wurden von allen Taxen und Steuern befreit; ſie konnten ihre Ländereien ohne Bewilligung ihrer Lehensherren verkaufen; ihre Perſonen wurden unmittelbar unter den Schutz des h. Pe— ters geſtellt; ſie genoßen alle Rechte der Geiſtlichkeit, deren Ge— richtsbarkeit ſie auch mit Entfernung aller weltlichen Tribunale unterſtanden; ſie erhielten endlich einen vollkommenen Ablaß und die Thore des Himmels wurden ihnen vorzugsweiſe offen gehalten. Durch dieſe und ähnliche Vortheile bewogen, ſtürzten ſich alle in den heiligen Krieg, und wer ſich, wenn ihn nicht Ge— ſchlecht, Alter oder Krankheit entſchuldigte, nicht in die Zahl der Kreuzfahrer einſchrieb, wurde für einen ehrloſen Feigling gehalten. Die Meinungen und Anſichten aller Menſchen hatten ſich geändert, es war eine neue geiſtige Welt unter ihnen entſtan— den, und der Enthuſiasmus hatte alle in ſolchem Maaße ergriffen, daß es uns ſchwer, wo nicht unmöglich wird, in den Geiſt dieſer Zeiten einzugehen, und das zu begreifen, was jene für ausge— macht und unbezweifelbar gehalten haben. Dacherius hat uns einen Brief Stephan's, des Grafen von Chartres und Blois, an ſeine Gemahlin Adele erhalten, in welchem er ihr von der heiligen Stätte, die er mit ſeinen Brüdern eingenommen hat, Nachricht gibt. Er beſchreibt in dieſem Briefe die Kreuzfahrer „als die auserwählte Armee des Erlöſers, als die Diener und „Streiter Gottes, als Soldaten, die unter dem unmittelbaren „Schutze des Allmächtigen ausgezogen und von ſeiner Hand zum „Siege geführt worden ſind, während ihm die Türken verfluchte, „kirchenräuberiſche, vom Himmel zum Untergange beſtimmte „Hunde ſind, und während er zugleich diejenigen Soldaten „aus ſeiner eigenen Armee, die unter den Händen dieſer Beſtien „den Tod gefunden haben, glücklich preist, weil ihre Seelen auf „dem kürzeſten Weg zu den ewigen Freuden des Paradieſes ge: „führt worden find.“ (Dacherii Specilegium Vol. IV. S. 257).

Daß der Einfluß dieſes allgemeinen Krieges von Europa gegen das Morgenland, deſſen Dauer ſich beinahe auf zwei volle Jahrhunderte erſtreckte, auf die Bewohner unſeres Welttheils groß und wichtig geweſen, bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung. Die neueren Geſchichtſchreiber dieſes heiligen Krieges haben mei— ſtens nur die wohlthätigen Folgen deſſelben betrachtet, welche die

Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 339

Kreuzzüge gehabt haben mögen; die nähere Verbindung der europäiſchen Völker unter einander und mit den Nationen des Morgenlandes, der Aufſchwung des Handels, die Erhebung der mittleren Stände bei der Verarmung der höheren; Erweiterung des Geſichtskreiſes des menſchlichen Geiſtes, neue Kenntniſſe und Künſte u. f. Man ſehe über dieſen Gegenſtand Wilken's Geſch. der Kreuzzüge. Leipzig 1830, 7 Vol. Michaud’s Hist. des croi- sades. Paris 1829. 4 Vol. und Mill's Geſch. der Kreuzzüge. London 1820. Allein daſſelbe Ereigniß hatte ohne Zweifel auch ſehr nachtheilige Folgen, beſonders auf die Kultur und Geſittung der europäiſchen Völker, die, in der Unwiſſenheit der vorherge— henden Jahrhunderte verſunken, dem drückenden Joche ihrer neuen barbariſchen Gebieter erlagen, die in immerwährenden ein— heimiſchen Fehden ihre Kräfte vergeudeten, und nun auch in einen fremden, allgemeinen, zweihundertjährigen Krieg fortgeriſſen wurden. Wenn ſolche Zuſtände ſchon überhaupt der Pflege der Kunſt und Wiſſenſchaft abhold ſind, welche Ausſichten auf ihren Fortgang konnte man hegen zu einer Zeit, wo die Unwiſſenheit ihren höchſten Stand erreicht hatte und wo die unausbleiblichen Folgen derſelben, Noth und Verarmung, Stumpfſinn und Un— wiſſenheit, auf allen Völkern laſtete.

3) Krankheiten im Mittelalter.

Zu den Folgen der immerwährenden Kriege und Befeh— dungen jener Zeiten gehören auch die vielen verheerenden Krank— heiten, von welchen die Menſchen in dieſer Periode mehr als in irgend einer andern der Weltgeſchichte heimgeſucht worden ſind. Schon unter Juſtinian im ſechsten Jahrhundert ſchien dieſe Ca— lamität den Anfang zu nehmen, die von nun an ſo lange Zeit durch das geängſtete Menſchengeſchlecht verfolgen ſollte. Die ewigen Kriege ſeiner Vorgänger und ſeine eigenen mit den Van— dalen in Afrika, in Spanien und Italien, mit den Avaren, Türken und Perſern hatten die unglücklichen Bewohner ſeines noch immer ſehr großen Reiches auf jene Drangſale gleichſam vorbereitet. Die Trauerſcene wurde von einem großen Erdbeben eröffnet, das im Jahr 526 ganz Syrien zerſtörte. Die Stadt Berytus, durch ihre große Rechtsſchule im ganzen Orient hoch—

berühmt, wurde von der Erde verſchlungen, und in der Haupt— 34°

340 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter.

ſtadt des Landes, in Antiochia, deren ſtarke Bevölkerung durch das Zuſammenſtrömen der Fremden am Himmelfahrtsfeſte noch vergrößert wurde, ſollen zweimalhundert und fünfzigtauſend Menſchen unter den Trümmern der Gebäude begraben worden ſeyn. Im Jahre 542 aber erſchien, zuerſt in Oberägypten, jene verheerende Seuche, die ſich mit reißender Schnelligkeit über alle drei damals bekannten Welttheile verbreitete. Procopius, Ge— heimſekretär Juſtinian's und der Geſchichtſchreiber jener Zeiten, hat die Verwüſtungen derſelben, die ſie beſonders in Konſtanti— nopel anrichtete, umſtändlich beſchrieben. Jeder Stand, jedes Alter, jedes Geſchlecht wurde mit derſelben Wuth von der Seuche ergriffen, und die meiſten von den wenigen Geretteten verloren den Gebrauch der Sprache, ohne dadurch gegen einen Rückfall der Krankheit geſichert zu ſeyn. Als die Verwirrung der geäng— ſtigten Einwohner die höchſte Stufe erreicht hatte, wurde kein poli— tiſches und kein moraliſches Geſetz mehr geachtet. Die Ordnung der Leichenbegängniſſe wurde nicht mehr beobachtet, und die Todten blieben unbeſtattet in ihren verddeten Häuſern oder auf den Straßen liegen, bis zu dieſem Zwecke eigens gedungene Menſchen die ver— worrenen Haufen der Leichen ſammelten, um ſie jenſeits der Stadt in tiefe Gruben oder in das benachbarte Meer zu werfen. Da die heilſamen Maaßregeln, denen Europa gegenwärtig ſeine Sicherheit verdankt, der Regierung Juſtinian's unbekannt waren; da dem freien Handelsverkehr der römiſchen Provinzen keine Schranken geſetzt wurden und da auch die Aerzte jener Zeit in Unwiſſenheit und Aberglauben verſunken waren, ſo wüthete die Peſt volle zweiundfünfzig Jahre in allen Theilen des römiſchen Reiches. In Konſtantinopel ſollen durch drei Monate täglich fünf- und end— lich ſogar zehntauſend Menſchen geſtorben ſeyn. Viele Städte des Oſtens verödeten ganz, und in mehreren Gegenden Italiens ver— moderte Getreide und Wein auf dem Felde, da es an Schnittern fehlte. Das geſammte römiſche Reich erlitt eine ſichtliche Ab— nahme des Menſchengeſchlechts, das ſeit dieſer Zeit nie wieder erſetzt worden iſt.

Anderer folgenden Krankheiten nicht zu gedenken, wie z. B. der von 746, wo Konftantinopel beinahe ganz ausſtarb, erwähnen wir nur im Kurzen derjenigen, die ſich durch ihre mehr ausgebreiteten Verheerungen beſonders auszeichneten. So erſchien im Jahr 996 das ſogenannte heilige Feuer, eine bisher in Europa unbekannte,

Nachträgliche Bemerkungen Aber das Mittelalter. 341

ſehr verheerende und ſchnell verlaufende Krankheit. Sie ergriff entweder die inneren Organe, die ſie durch Brand ſchnell zer— ſtörte, oder einzelne äußere Glieder, welche ſogleich ſchwarz und brandig wurden und abfielen. Aus dieſer Seuche entſtand ſpäter das fchon ſehr gemilderte, aber immer noch höchſt gefährliche Antonius-Feuer, und dieſes ging endlich in unſerer Zeit in die ſogenannte Roſe (Rothlauf) über, die ſelbſt jetzt noch zuweilen die Spuren ihrer früheren Wuth nicht verkennen läßt.

Im Jahre 1060 begann eine andere peſtartige Krankheit, die aus Hungersnoth entſtand und ſieben Jahre durch das ſüdliche Europa verheerte, wo der dritte Theil der Einwohner als ihr Opfer gefallen ſeyn ſoll. Damals, wie bald darauf im J. 1092 wieder erwarteten die geängſteten Menſchen das Einbrechen des Endes der Welt; viele große Städte wurden zur Hälfte und darüber verödet, die Kirchen waren ohne Prieſter, und ſelbſt die Hausthiere flohen in die benachbarten Wälder. In den letz— ten Jahren derſelben, im Jahr 1100, wüthete ſie im Morgen— wie im Abendlande mit gleicher Wuth; in Jeruſalem ſtarben täglich 3000 Menſchen, unter ihnen auch Gottfried von Bouillon; Antiochien ſtarb beinahe ganz aus, und von dem Heere des erſten Kreuzzuges gingen in zwei Monaten über 200,000 Menſchen zu Grunde. Ein im November ihnen aus Europa nachgeſchicktes Hülfscorps von 15,000 Mann wurde gleich bei ſeiner Ausſchiffung von der Seuche gänzlich aufgerieben.

Im Jahre 1200 erſchien die vrientaliche Peſt mit beſonderer Wuth, da in Aegypten über eine Million, und bloß in Kairo 110,000 Menſchen als ihr Opfer fielen. Die Leichen trieben zu Tauſenden auf dem Nil, und in dem Lager zu Damiette blieben von 70,000 Kriegern nur 3000 am Leben.

Im Jahre 1248 erſchien der Scorbut zum erſtenmale in Eu— ropa; Ludwig IX. ſoll ihn mit ſeinen Kreuzfahrern aus Aegypten gebracht haben. Er äußerte ſich vorzüglich durch eine Verhär— tung des Fleiſches an den Extremitäten, die ſchnell in Fäulniß übergingen. Zu dieſer Zeit wurden die großen Spitäler für den orientaliſchen Ausſatz errichtet. Dieſe Krankheit äußerte ſich in einer borkenartigen Bedeckung der ganzen Haut und in einer eigenen Umbildung der Nägel an Händen und Füßen, die den Vogelklauen ähnliche Auswüchſe erhielten. Dieſe Krankheit war äußerſt anſteckend und da fie für unheilbar galt, fo wurden

342 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter.

ſelbſt die Reichen und Großen, wenn ſie von ihr befallen wurden, gezwungen, jene Spitäler zu beziehen, die alle unter dem Lazarus— Orden ſtanden, und deren Haupt in jedem Lande der König ſelbſt war.

Im Jahre 1310 brach nach einem ſehr ſtrengen Winter eine peſtartige Krankheit aus, die durch ſieben Jahre in ganz Europa wüthete. In Trier ſtarben 12,000, in Straßburg 13,000, in Baſel 15,000, in Mainz 17,000 und in Köln 30,000 Men⸗ ſchen. Viele andere kleine Städte verloren alle ihre Einwohner. Die Felder wurden nicht mehr bebaut, und die Straßen waren mit Leichen bedeckt. Wie gewöhnlich war auch ſie von großer Theurung und Hungersnoth begleitet.

Im Jahre 1347 endlich erſchien jene verheerende Seuche, die noch jetzt unter der Benennung des „ſchwarzen Todes“ bekannt iſt. Sie kam vom nordöſtlichen Aſien und überzog bald alle be— wohnten Länder Europa's. Ohne Unterſchied des Alters, des Ge— ſchlechts, und der Lebensart unterlag jeder, den ſie traf. Ein vier— zig Tage dauernder dichter Nebel, zahlreiche Meteore am Himmel, und ein heftiges Erdbeben gingen der Seuche voran. Im erſten Jahre hielt fie ſich vorzüglich an die Meeresküſte, aber ſchon im zweiten drang ſie auch in das Innere der Länder, und wüthete mit gleicher Stärke unter den Menſchen und unter allen Arten von Thieren. Das ſchnelle Schwarzwerden der Leichen gab ihr den Namen des ſchwarzen Todes. Die Verheerungen unter den Menſchen waren ſo groß, daß man die Todten ganz unbegraben liegen ließ, daß die Ernte nicht mehr beſorgt wurde, daß die Hausthiere verwildert auf den Feldern herumirrten und daß ſich ſelbſt Gatten, Eltern und Kinder flohen, da alles nur auf ſeine eigene Erhaltung bedacht, da jedes Band der menſchlichen Geſellſchaft aufgelöst, und da an die Stelle aller übrigen Leiden— ſchaften nur die Furcht und ein verwilderter Trieb der Selbſter— haltung getreten war.

Dieſe ſchreckliche Krankheit, mit deren grauſenvollen Ver— wüſtung wohl kein anderes Unglück verglichen werden kann, was, ſo weit unſere Geſchichte reicht, die Menſchen traf, warf das Loos der Trauer und des Todes nicht bloß auf einzelne Familien, ſondern faſt auf alle Bewohner der ganzen weiten Erde. Alle drei damals bekannten Welttheile ſchienen nur ein weites, offenes Grab zu ſeyn; kein Reich, keine Provinz, kein

Nachtraͤgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 343

Dorf blieb verſchont, und volle fünfzig Jahre, von 1347 bis zu Ende des vierzehnten Jahrhunderts, zog die Verheerung von einem Lande zum andern, ſo daß man wohl ſagen kann, daß ſeit Noah's Zeiten der Würgengel nicht fo grauſam gewüthet hat, und daß es darauf abgeſehen ſchien, die ganze Erde in eine menſchenleere Wüſte zu verwandeln.

Selbſt die Regenten der verſchiedenen Reiche jener Zeiten wurden, ſo ſehr ſie ſich auch ſchützen wollten und konnten, in der allgemeinen Verderbniß fortgeriſſen. Im Jahr 1353 ſtarb an dieſer Krankheit der Zar Simeon Iwanowitſch zu Moskau, und in wenig Tagen folgte ihm ſein Bruder Andreas mit allen feinen ſieben Kindern. In Konftantinopel ſtarb Andronicus, in Portugal die Königin Johanna, in Spanien König Alfons XI. u. f. Ja die Krankheit ſchien ſich die höheren Stände vorzugsweiſe zu ihrem Opfer ausgeſehen zu haben, vielleicht weil ſie durch ihre Lebensart mehr geſchwächt waren. Die meiſten adelichen Familien ſtarben im vierzehnten Jahrhundert ganz aus, andere verarmten, oder wurden auf der Flucht verſtreut und verloren ſich in die Maſſen des Volkes, ſo daß beinahe keines der gegen— wärtigen Häuſer ſeine Ahnen bis über dieſe Schreckenszeit hinaus mit Sicherheit nachweiſen kann.

Nach den Geſchichtsſchreibern jener Zeit ſtarben die Städte Bagdad, Diarbekier und Damask beinahe ganz aus; in Haleb ſtarben durch drei Monate täglich 500, und in Gaza in einem ein— zigen Monat 22,000 Menſchen. In London ſtarben von Lichtmeß bis Oſtern täglich 200, und überhaupt 80,000; in Paris 100,000, in Florenz und Lübeck gegen 90,000 Menſchen. In Wien ſtarben während der erſten Hälfte des Jahrs 1349 täglich 700 bis 800 Menſchen, und zur Zeit der größten Höhe der Krankheit ſogar einmal 1400 an einem einzigen Tage. In den geſammten Franciskaner— Klöſtern Europa's ſtarben, nach dem Berichte ihres Generals zu Rom, 124,400 Menſchen, und viele andere Klöſter ſtarben ganz aus. Alle ſüdeuropäiſchen Länder ſollen wenigſtens den vierten Theil, und Spanien ſogar zwei Dritttheile ihrer Einwohner ver— loren haben.

Aber ſtatt dieſer allgemeinen Beſchreibungen, die immer den gewünſchten Eindruck verfehlen, wollen wir zwei berühmte Zeitge— noſſen dieſer Unglücksperiode ſelbſt reden laſſen, welche die Verhee— rungen der Krankheit mit eigenen Augen angeſehen haben. Petrarca

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ſchreibt an feinen Freund Socrates, (Petrarca’s epistolae de reb. familiaribus, Lib. VIII. 7): „Mein Bruder, weh mir, „mein geliebter Bruder! Was ſoll ich ſagen? Wo ſoll ich „anfangen? Wohin ſoll ich mich wenden? Ueberall Trauer „und Schrecken! In mir allein ſiehſt du vereinigt, was Virgil „von einer ganzen Stadt gejagt hat: crudelis undique luctus, „ubique pavor et plurima mortis imago. Ach mein Bruder, „wäre ich doch entweder nie geboren, oder vor dieſem Gräuel „getödtet worden. Dieſes Jahr hat nicht nur uns alle Freunde, „ſondern der ganzen Erde beinahe alle ihre Bewohner geraubt. „— Wie wird es die Zukunft glauben können, daß es eine Zeit „gab, wo, ohne Feuer vom Himmel, ohne Krieg, ohne irgend „ein anderes ſichtbares Unglück, nicht nur dieſer oder jener „Theil der Erde, ſondern wo beinahe die ganze Oberfläche der— „»ſelben zu einer öden menſchenleeren Wüſte gemacht wurde. „Wann hat man je dergleichen geſehen oder gehört? Wann hat „man je in den Jahrbüchern der Menſchheit geleſen, daß alle „Häuſer leer, alle Städte von ihren Bewohnern verlaſſen, daß „das Land einſam und verödet, die Felder mit Leichen bedeckt „und überall nichts als die Spuren des Todes zu ſehen ſind. „Frage die Geſchichtsſchreiber, ſie ſchweigen: geh' zu den Aerzten, „ſie verſtummen; ſpreche mit den Weiſeſten aller Zeiten, ſie wiſſen nicht zu antworten. O du glückliches Geſchlecht unſerer „Vorfahren, das du dieſen Jammer nicht geſehen haſt, und du „überglückliches Geſchlecht der kommenden Enkel, das dieſe „Nachrichten unſerer Angſt und unſerer Verzweiflung für un— „möglich, für ein bloßes Mährchen halten wird.“ Fügen wir dieſem Berichte noch den des Boccacio bei, der, wie ſich ein geiſtreicher Schriftſteller ausdrückt, in ſeinem Decamerone der Thucydides dieſes Würgengels neuerer Zeit geworden iſt: „Dieſe Peſt, ſagt Boccacio, war um ſo verheerender, weil ſie „ſich von den Kranken auf die Gefunden nicht anders fortpflanzte, „als das Feuer auf trockenen und fetten Brennſtoff. Sie hatte „das Eigene, daß ſie ſich nicht blos durch Geſpräch und Umgang „mit den Kranken, ſondern auch durch Berührung ihrer Gewänder „und alles deſſen, was ſie ſelbſt berührt hatten, mittheilte. Das „Gift dieſer Peſt war in ſeinem Uebergange von dem einen zum „andern ſo wirkſam, daß nicht bloß der Menſch, ſondern daß „auch die Thiere nicht die Sachen eines an der Peſt geſtorbenen

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„berühren durften, ohne ſogleich davon ergriffen zu werden. Ich „ſelbſt war Augenzeuge von folgendem Vorfalle. Die zerfetzten „Kleider eines an der Peſt verftorbenen Bettlers lagen auf der „Straße. Zwei Schweine ſtritten ſich um dieſelben, faßten ſie mit „ihren Zähnen und hatten es kaum eine Weile hin und hergezo— „gen, als fie beide Zuckungen bekamen, und über dem verderbli— „chen Raube todt zur Erde ſtürzten.“

Ohne der dem ſchwarzen Tode folgenden großen Ausbrüche der Peſt von den Jahren 1431, 1482, 1556, 1574, 1647, 1680 und 1713 weiter zu erwähnen, noch der übrigen neuen, bisher in Europa unbekannten Krankheiten zu gedenken, unter denen z. B. die Luſtſeuche i. J. 1493, die Pocken 1518, die Angina 1605, die Rhachitis 1612 und das gelbe Fieber i. J. 1700 und die Cholera i. J. 1830 erſchienen, wird ſchon das Vorhergehende genügen, unſere Forderungen an die Kultur des Mittelalters nicht zu hoch zu ſtellen, und die unglücklichen Menſchen jener Zeit mehr unſeres Mitleids, als unſerer Mißachtung werth zu halten.

4) Mangel an Unterrichtsmitteln.

Aber ſelbſt dann, wenn auch dieſe Menſchen unter den ſo eben erwähnten Drangſalen nicht zu leiden, wenn ſie ſelbſt die nöthige Ruhe und Muſe zu ihrer geiſtigen Ausbildung gehabt hätten, welche Mittel ſollten ſie, zu dieſem Zwecke, ergreifen? Wir kennen nur zwei: den öffentlichen Unterricht oder den Umgang mit anderen höher gebildeten Menſchen und die Bücher. Die erſten fehlten ihnen beinahe gänzlich, und wie es um die letzten ſtand, ſehen wir aus ihren eigenen Klagen.

Die Griechen und Römer ſchrieben bekanntlich auf Perga— ment oder auf die Blätter der ägyptiſchen Papierſtaude. Die letztern wurden, als die wohlfeileren, bald die gewöhnlichſten. Als aber im ſiebenten Jahrhundert die Araber Aegypten erober— ten, wurde der Papirus in Italien ſo ſelten, daß man wieder zu Thierhäuten zurückkehren mußte, wodurch die Bücher unge— mein vertheuert wurden. Man findet bekanntlich noch viele Schriften aus dem achten und den folgenden Jahrhunderten auf Pergament, wo die früher auf daſſelbe aufgetragene Schrift radirt und weggelöſcht wurde, um der neueren Platz zu machen, und dadurch den Ankauf des Pergaments zu erſparen. Dieſe

346 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter.

Palimpſeſte find ſchon allein ein Beweis der Seltenheit der Bücher jener Zeit. Aber wie ſo manches ſchätzbare Buch der Alten mag durch dieſes Verfahren verloren gegangen ſeyn! Die Werke Menanders, oder die Bücher des Livius und Tacitus wurden abgeſchabt und vernichtet, um einer Legende, einer Kloſter— Chronik, einem Volkskalender ihre Stelle zu überlaſſen! Mont— faucon verſichert uns, daß der größte Theil der älteſten Manu— ſeripte auf ſolchem radirten Pergamente geſchrieben worden iſt.

Der aus dieſen und anderen Urſachen entſtandene Bücher— mangel war vom ſiebenten bis zum zwölften Jahrhundert ſo groß, daß ſelbſt ſehr reiche Perſonen in der Regel gar kein Buch be— ſaßen. Selbſt berühmte Klöſter und Abteien hatten oft nur ein einziges Meßbuch. Lupus, der Abt von Ferries in Frankreich, ſchrieb i. 5. 855 an den Pabſt, und bat ihn um eine Copie des Cicero de Oratore und um Quintinian's Inſtitutionen, von welchen Werken, wie er hinzuſetzt, in ganz Frankreich keine complete Abſchrift zu finden iſt. Daher war aber auch der Preis der Bücher ſehr groß. Die Gräfin von Anjou zahlte für eine Copie der Homilien von Raimon, Biſchof von Halberſtadt, 200 Schafe, 5 Quart Weizen und eben ſo viel Roggen und Hirſe. Selbſt noch i. J. 1471, als Ludwig XI. von der medi— ciniſchen Facultät zu Paris die Werke des arabiſchen Arztes Raſis ausborgen wollte, mußte er nicht nur eine beträchtliche Menge von Silbergeſchirr als Pfand niederlegen, ſondern auch noch einen anderen Edelmann ſtellen, der ſich verbürgte, im Falle des Todes des Königs die Rückgabe des Werkes zu beſor— gen. Wenn in den früheren Zeiten ein Reicher einem Kloſter oder einer Kirche mit einem Buche ein Geſchenk machte, was ſich ſelten genug ereignete, ſo geſchah dieß mit den größten Feierlichkeiten, an deren Ende das Buch gewöhnlich auf dem Altar der Kirche niedergelegt wurde pro remedio animae pecca- toris, wie die dabei übliche Formel lautete.

Im eilften Jahrhundert wurde unſer aus Leinwand ver— fertigtes Papier erfunden, und nun nahm auch die Menge der Bücher ſchnell zu. Dieſe Erfindung und die der Buchdruckerei ſind vielleicht die zwei wichtigſten, deren unſere Kultur- und Literatur-Geſchichte zu erwähnen hat. Jene fiel in das Ende des eilften Jahrhunderts, in die erſte Morgenröthe der wieder—

Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 347

kehrenden Geſittung Europa's, und dieſe ging unmittelbar der Reformation voraus.

5) Daraus folgende Unwiſſenheit jener Zeiten.

Mit dem Mangel an Büchern und an mündlichem Unterricht mußte die Unwiſſenheit gleichen Schritt halten. Die wilden Horden, welche zur Zeit der Völkerwanderung in das ſüdliche Europa einbrachen, waren nicht nur ſelbſt ein rohes, bloß dem Waffenhandwerk hingegebenes Volk, wie die Araber es anfangs ebenfalls waren, ſondern ſie hatten auch keinen Sinn für irgend eine künftige Bildung. Sie fanden die Einwohner des römiſchen Reiches entnervt, verweichlicht und dem Kriege abgeneigt, und ſie hielten dieß für die Folge der höheren Bildung der Römer. Da ihnen aber der Krieg über alles ging, ſo wurde Kultur jeder Art, gleichſam aus Grundſatz, ein Gegenſtand ihrer Verachtung. Wenn wir, ſagt Luitprand, Biſchof von Cremona zu Ende des zehnten Jahrhunderts (der eine Geſchichte ſeiner Zeit ſchrieb und von Otto dem Großen häufig in Staatsgeſchäften gebraucht wurde), wenn wir Franken einen Fremden mit den abſcheulichſten Schimpf— worten belegen wollen, jo heißen wir ihn einen Römer, hoc solo, id est Romani nomine, comprehendentes quiequid igno- bilitatis, timiditatis, avaritiae, luxuriae, quicquid mendacii, immo quiequid vitiorum, inveniri potest. Aus diefer Urſache ließen auch die Franken, Gothen u. a. ihre Kinder nicht” im Leſen und Schreiben, und überhaupt in nichts, als in dem Ge— brauche der Waffen unterrichten, weil ſie, wie der oben ange— führte Procopius de Bello Gothorum ſagt, der Anſicht waren, daß die Wiſſenſchaften den Menſchen nur verderben, ihn weichlich machen und den männlichen Geiſt unterdrücken, da der, welcher die Ruthe des Lehrers gefürchtet hat, auch künftig kein Schwert und keinen Speer mehr mit feſten Augen anſehen kann.

Aber nicht bloß dieſe eigentlichen Barbaren, von welchen man nichts anderes erwarten konnte, ſondern auch ihre ſpätern Nachkommen, ja die entarteten und unter dem fremden Joche verwilderten Römer und Griechen ſelbſt ſind von dieſen Vor— würfen nicht frei geblieben. Der Mangel an Bildung jeder Art nahm von dem fünften bis zum eilften Jahrhundert in ſolchem Maße zu, daß ſelbſt die Reichen, hohe Prälaten, Mi:

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niſter und Feldherrn, Könige und Kaiſer nicht einmal mehr ihren Namen ſchreiben konnten. Wie viele Urkunden haben wir noch aus jenen Zeiten, die ſtatt der Namensunterſchrift bloß ein Kreuz tragen, signum crucis manu propria pro ignorantia literarum, wie gewöhnlich eine fremde Hand hinzuſetzen mußte, aus welcher Sitte auch noch unſer Wort „figniren“ ſtatt „unter: „zeichnen“ kommen mag. Herbard, Comes Palatii und höchſter Richter des ganzen großen fränkiſchen Reichs im neunten Jahr— hundert, konnte ſeinen Namen nicht ſchreiben. Du Guesclin, im vierzehnten Jahrhundert, der erſte Staatsmann und vielleicht der größte Mann ſeiner Zeit, konnte weder leſen noch ſchreiben. Und ſo ging es nicht bloß unter den Laien, ſondern auch unter den Geiſtlichen, ſelbſt den höheren. Viele Biſchöfe und Aebte konnten die Acten der Concilien nicht unterzeichnen, in welchen ſie als ſtimmgebende Mitglieder geſeſſen hatten. Alfred der Große klagte, daß er in ſeinem ganzen Reiche keinen Menſchen finden könne, der die Liturgie in ſeiner Mutterſprache wiederzu— geben oder die einfachſte lateiniſche Stelle zu überſetzen im Stande iſt. Alanus, der i. J. 770 im Kloſter Farfa ſtarb und ein Homiliarium geſchrieben hat, das öfter fälſchlich unter Alcuin's Namen angeführt wird, beſchreibt die Bildung und die wiſſenſchaftliche Liebe der Ordensbrüder ſeiner Zeit auf eine beſondere Weiſe: Potius dediti gulae quam glossae, potius colligunt libras, quam legunt libros; libentius intuentur Mar- tham quam Marcum, et malunt legere in salmone quam in Salomone.

Welchen Einfluß dieſe allgemeine Unwiſſenheit auf jede Art des bürgerlichen Verkehres, au Künſte, Handel u. ſ. f. gehabt haben mag, läßt ſich leicht erachten. Da es mit den gemeinſten geographiſchen Kenntniſſen nicht beſſer, als mit Kenntniſſen jeder Art ausſah, ſo hörte beinahe alle Communication nicht bloß mit entlegenen, fremden Ländern, ſondern ſelbſt mit den nächſten Provinzen eines und deſſelben Landes gänzlich auf. Gegen das Ende des zehnten Jahrhunderts wollte, wie Robertſon in feiner Geſchichte Karls V. erzählt, ein Fürſt in der Gegend von Paris ein neues Kloſter gründen. Er wendete ſich deßhalb an den Abt von Clugny im Burgund mit der Bitte, die für jenes Kloſter beſtimmten Mönche durch feine eigenen nach Paris führen zu laſſen. Allein die Bitte wurde abgeſchlagen, „weil es gar

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„zu beſchwerlich und gefahrvoll ſey, eine ſo weite Reiſe zu unter— „nehmen, und in ganz fremde und unbekannte Gegenden ein— „zudringen.“ Noch im zwölften Jahrhundert wußten die Be— wohner des Kloſters Ferries in der Gegend von Sens nicht, daß es eine Stadt Namens Tournay in Frankreich gebe, und die Mönche von Tournay wußten eben ſo wenig von der Exiſtenz jener in Ferries. Da aber ihre gegenſeitigen Intereſſen ſie zwangen, einander aufzuſuchen, ſo wurden zu dieſem Zwecke mehrere große Reiſen unternommen, bis ſie ſich endlich, vom Zufall begünſtigt, aufgefunden hatten. Die ältefte geogra— phiſche Karte des Mittelalters wurde in einem Manuſcripte der Chronik von St. Denys entdeckt. In ihr ſind die drei ſoge— nannten alten Welttheile ſo dargeſtellt, daß Jeruſalem in der Mitte des ganzen Feſtlandes liegt, und daß Nazareth eben ſo weit, als Alexandrien, davon entfernt liegt. Bekanntlich fehlte es in dieſen Zeiten an Gaſthäuſern zur Einkehr für Rei— ſende. Aus dieſem Grunde wohl wurde die Gaſtfreundlichkeit Jedermann unter harten Strafen zum Geſetz gemacht, da ſonſt alles Reiſen ganz unmöglich geworden wäre. Beſonders ſtreng waren dieſe Geſetze bei den Slaven. Nach dieſen ſollte jedem, der einem Fremden die Aufnahme verweigert, alle Hausgeräthe weggenommen, und ſein Haus ſelbſt niedergebrannt werden. Zur Unterſtützung des Reiſenden durfte auch fremdes Eigenthum genommen, ſelbſt mit Gewalt genommen werden. So hieß es in dem Mecklenburgiſchen Codex: Quod noctu furatus fueris, cras appone hospitibus. Wenn fo dem armen Reiſenden jede fremde Thüre offen ftand, jo ging es ihm dafür deſto ſchlechter auf der offenen Straße, die bei dem Mangel aller inneren Po— lizei von Dieben, Räubern und wilden Thieren eingenommen wurde. Der bereits erwähnte Lupus, Abt von Ferries, ſagt, daß man in Frankreich durchaus nicht anders, als in Caravanen und wohlbewaffnet reiſen konnte. Karl der Große wollte dieſer Landplage abhelfen und gab Geſetze ohne Zahl und Ende, aber die Sache blieb, wie ſie war. Wie weit mußte dieſes Uebel vorgedrungen ſeyn, da, nach einem dieſer Geſetze, jedem Richter im Lande vor ſeiner Beſtellung ein Eid abgenommen werden ſollte, in welchem er beſchwoͤren mußte, daß er zu keiner Diebs— oder Näuberbande gehöre. Als dem immer wachſenden Unweſen durch die weltliche Hand nicht weiter geſteuert werden konnte,

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wurde die geiftliche zu Hülfe gerufen, und viele Concilien ge— halten, auf welchen man, die Sache eindringlicher zu machen, auf den Reliquien der Heiligen die fürchterlichſten Excommuni— cationen gegen dieſe Diebe und Räuber, welche alle Straßen des Landes bedeckten, ergehen ließ. Eines dieſer Anathemata, die in den Kirchen dem Volke verkündigt wurden, hat uns Bouquet in feinen Recueils des hist. S. 517 erhalten, und es verdient, nicht bloß ſeines Styles wegen, eine nähere Betrach— tung, da es als ein Beitrag zur Charakteriſtik jener Zeiten angeſehen werden kann. Nach dem gewöhnlichen Eingange und nach einer umſtändlichen Auseinanderſetzung des Elends, welche dieſe Banden über das Land gebracht, heißt es zum Schluſſe der Imprecation: »Obtenebrescant oculi vestri; semper laboretis, „nec requiem inveniatis; debilitentur omnia membra, arescant „manus, formidetis et tremuletis, ut tabescendo deficiatis. Sit „portio vestra cum Juda traditore Domini in terra mortis „et tenebrarum, et ne cessent a vobis hae maledictiones, sce- „lerum vestrorum persecutrices, quamdiu permanebitis in „peccato.“

Von dieſer kraſſen Unwiſſenheit des Mittelalters ſieht man übrigens noch heut zu Tage ſehr deutliche Spuren in allen den Ländern Europa's, in welchen der Volksunterricht noch ſo un— vollkommen iſt, daß die meiſten Menſchen der untern Klaſſen weder leſen noch ſchreiben können. Zu dieſen gehörten aber noch in der Mitte des ſechszehnten Jahrhunderts alle Länder Europa's und ſelbſt die größten Städte derſelben, wie man aus folgendem Beiſpiele ſieht. König Heinrich VII. von Eng— land (geſt. 1547) hatte die fremden Kaufleute in London mehr begünſtigt, als es den einheimiſchen lieb ſeyn mochte. Eines Morgens wurde daher ein Pasquill auf ihn an dem Kirchthore von St. Paul gefunden. Der König war darüber ſo erzürnt, daß er den Verfaſſer dieſer Schmähſchrift um jeden Preis ent— deckt haben wollte. Um ganz ſicher zu gehen, ließ er in jeder Pfarrei der Hauptſtadt alle diejenigen, welche ſchreiben konnten, vor den Aldermann und einen eigens dazu ernannten k. Rath treten, wo ſie einige Zeilen niederſchreiben mußten, die dann geſiegelt nach Guildhall geſchickt wurden, um die Hand— ſchrift mit der des Pasquills zu vergleichen. Wie mußte es, wenn ſolche Mittel als die ſicherſten in Bewegung geſetzt wurden,

Nachträgliche Bemerkungen Aber das Mittelalter. 351

in dieſer Zeit um die Verbreitung der Schreibkunſt in London ſtehen? Und wie dann erſt in den Hauptſtädten der anderen Länder? Jetzt würde man ohne Zweifel lächeln, wenn man einen ſolchen Verſuch auch nur in einem Landſtädtchen machen wollte.

6) Daraus folgender Zuſtand der Wiſſenſchaften.

Daß unter ſo betrübenden Verhältniſſen an eigentliche Wiſſenſchafft nicht weiter gedacht werden kann, würde ſchon für ſich klar ſeyn, wenn es auch unſer Verfaſſer im Vorher— gehenden nicht ſchon ſo umſtändlich bewieſen hätte. Wir haben ge— ſehen, daß alles, was man damals Wiſſenſchaft nannte, ſich größtentheils auf die ſcholaſtiſche Philoſophie zurückführen ließ. Immerhin waren dieſe ſogenannten Philoſophen die einzigen Denker jener Zeit, aber würden wir, wenn auch ſie weggeblieben wären, darum eben viel ſchlechter geſtanden ſeyn? Und iſt dieſer krankhafte Auswuchs der Philoſophie nicht vielmehr ein eigent— licher Rückſchritt unſerer Erkenntniß geweſen? Es wird ſchwer ſeyn, von den unverſtändlichen ſublimirten Speculationen dieſer Leute irgend einen reellen Vortheil für das Menſchen— geſchlecht abzuleiten, eben ſo ſchwer vielleicht, als von den ihrer neuern Brüder in Deutſchland, die in unſern Tagen ihr Weſen unter uns getrieben haben, und die jenen in vielen Rück— ſichten ſo ähnlich ſehen, daß man in Verſuchung kömmt, ſie für die unmittelbaren Nachkömmlinge jenes Geſchlechts zu halten.

Wir haben bereits oben mehrere Heroen dieſer abentheuerlichen Secte erwähnt. Zur Vervollſtändigung des Geſagten ſoll hier noch ein kurzer Ueberblick ihrer Lehre folgen, dem wir eine Nachricht über einige ausgezeichnete, bisher noch nicht umſtändlich erwähnte Vorgänger derſelben vorausſenden, um dadurch die vorzüglichſten wiſſenſchaftlichen Männer jenes Zeitalters gleichſam mit einem Blicke zu überſehen.

Im ſiebenten und achten Jahrhundert lagerte ſich finſtere Nacht über ganz Europa. Außer dem bereits oben erwähnten Beda Venerabilis gedenken wir bloß des Iſidorus His pa— lienſis (geſt. 636), Erzbiſchof von Sevilla, von dem wir mehrere grammatiſche Werke, und die berühmten Dekretalen (Litteras decretales) haben, die aber im neunten Jahrhundert viele unächte Zuſätze erhielten; und des Paul Warnefried,

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der am Ende des achten Jahrhunderts lebte, und uns ein ſchätz— bares Werk über die Geſchichte der Longobarden (De gestis Longobardorum) hinterließ. Er war der Freund und Kanzler es letzten Königs der Longobarden, und lebte die letzten Jahre als Mönch in dem berühmten Kloſter zu Monte-Caſino. Seine Gelehrſamkeit und ſelbſt ſeine Verſe wurden von Männern, wie Alcuin und Karl der Große, bewundert. Sein Freund Petrus Piſanus drückte dieſe Bewunderung in einigen Zeilen aus, die den Geſchmack und die Gelehrſamkeit jener Zeiten charakteriſiren:

Graeca cerneris Homerus, Latina Virgilius;

In Hebraea quoque Philo, Tibullus in artibus; Flaccus crederis in metris, Tibullus eloquüs.

Auf diefen Bombaſt ſchrieb der befcheidene Warnefried die Verſe zurück: Graecam nescio loquelam, Ignoro Hebraicam ; Tres aut quatuor in scholis Quas didiei syllabas, Ex his mihi est ferendus Manipulus adorea.

Alcuin, geb. 736 zu York in England. Seine Bildung erhielt er in der damals berühmten Kloſterſchule zu Pork, deren Vorſteher er auch ſpäter wurde. Auf ſeiner Rückreiſe von Rom lernte ihn Karl der Große in Parma kennen, deſſen Freund und Rathgeber er bald wurde, und dem er auch bei ſeinen Unterneh— mungen für die Kultur ſeines Reiches thätig beiſtand. In den Ge— lehrtenvereinen, die Karl an ſeinem Hofe hielt, führte er den Namen Flaccus Albinus. Hier ſtand er der neuen Hofſchule (Schola palatina) vor, die der Kaiſer zum Unterrichte der ihn zu— nächſt umgebenden Perſonen errichten ließ. Alcuin erhielt auch die Aufſicht über mehrere Klöſter, in welchen er ebenfalls für die Verbreitung des Unterrichts ſorgte, ſo wie er auch viele neue Schulen im Lande errichtete, wie z. B. die berühmte Lehranſtalt in der Abtei St. Martin du Tours, wohin er ſich i. J. 800 ſelbſt zurückzog, um ungeſtört von dem Geräuſche des Hoflebens den

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Wiſſenſchaften und der Kultur feiner neuen Mitbürger zu leben, und wo er auch i. J. 804 ſtarb. Seine theologiſchen, philoſophiſchen und grammatiſchen Schriften find von Frobenius geſammelt und 1777 zu Regensburg in einem Foliobande er— ſchienen.

Rhabanus Maurus, der Freund und Schüler Alcuin’g, wurde zu Ende des achten Jahrhunderts in Mainz geboren, erhielt ſeine Bildung in dem Benedictinerkloſter zu Fulda, und ging in der Folge nach Tours, um ſeine Studien unter Alcuin zu vollenden. Im Jahr 822 wurde er Vorſteher der Schule zu Fulda und Abt des Kloſters daſelbſt, wo er über zwanzig Jahre auf die Kultur ſeines Vaterlandes im Großen wirkte. Er ſtarb 856 als Erzbiſchof von Mainz. Seine meiſt theologiſchen Schrif— ten ſind 1627 in Folio zu Köln erſchienen. Sein lateiniſch— deutſches Gloſſar über die Bibel iſt ein wichtiges Denkmal der älteſten deutſchen Sprache.

Ottfried, des vorhergehenden Schüler, aus dem Benedictiner— Kloſter zu Weißenburg im Elſaß. Er verfaßte um d. J. 870 eine freie poetiſche Bearbeitung der evangeliſchen Geſchichte, die unſer wichtigſtes Denkmal der althochdeutſchen Sprache iſt. Eine kritiſche Ausgabe derſelben beſorgte Graff unter dem Titel „Kriſt.“ Königsberg 1831. Eginhard, Sekretär und Kaplan Karls des Großen, iſt der älteſte deutſche Geſchichtſchreiber. Die übrigens unverbürgte Erzählung von des Kaiſers Tochter, Emma, iſt bekannt. Er ſtarb als Abt des Benedictinerkloſters Seligenſtadt i. J. 844. Wir haben von ihm eine Vita Caroli Magni, die viele Bearbeitungen und Ausgaben erlebt hat. Die „fränkiſchen „und karolingiſchen Annalen von 741—829“ werden ihm wohl nur fälſchlich beigelegt.

Paulinus, Patriarch von Aquileia, ein für feine Zeit ſehr gelehrter Mann, wie aus ſeinen Werken, die 1437 zu Venedig erſchienen ſind, und noch mehr aus dem wohl etwas über— triebenen Lobe Alcuin's hervorgeht: Tuum est, ſagt der letzte, o pastor electe gregis, qui clavem scientiae potente dextera tenes, Philistaeos uno veritatis ietu conterere. Ad te omnium aspiciunt oculi, aliquid de tuo affluentissimo eloquio coelesti desiderantes audire u. f. Unter den Philiftern find hier die Ketzer gemeint, die dem Felix von Urgel und dem Elipando von

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Toledo folgten, und die Paulinus eifrigſt bekämpfte. Er ſtarb im Jahr 804.

Liutprand, im zehnten Jahrhundert, ſchrieb die „Geſchichte ſeiner Zeit“ und die „feiner Geſandtſchaft nach Konſtantinopel,“ die beide auf uns gekommen und ein ſehr ſchätzbares Denkmal des Mittelalters find. Er ſtarb als Biſchof von Cremona.

Roswitha, Nonne des Benedictiner-Kloſters zu Ganders— heim, wegen ihrer Gelehrſamkeit weit berühmt. Sie war mit dem kaiſerlichen Haufe der Ottoer verwandt. Die Sammlung ihrer meiſt poetiſchen und hiſtoriſchen Schriften gab zuletzt Schurzfleiſch heraus. Wittenb. 1707. Sie ſtarb zu Ende des zehnten Jahrhunderts.

Lanfranc, Erzbiſchof von Canterbury, war im Anfange des eilften Jahrhunderts zu Pavia geboren. Er wurde als einer der großen Reſtauratoren der Gelehrſamkeit jener Zeit verehrt, und in der That ſcheint auch ſein Einfluß auf die Kultur beſon— ders in England und Frankreich ſehr groß geweſen zu ſeyn. Seine heftigen Streitigkeiten mit Berengar ſind ſchon oben er— wähnt worden. Seine meiſt theologiſchen Schriften gab L. d' Ar⸗ chery, Paris 1648, heraus. Er ſtarb i. J. 1089.

Mit dem nun folgenden zwölften Jahrhundert beginnt die eigentliche ſcholaſtiſche Philoſophie, deren Choragen be— reits oben an den ſie betreffenden Stellen angeführt worden ſind, und von welchen wir daher hier nur noch eine allgemeine Ueber— ſicht beifügen wollen.

Die ſcholaſtiſche Philoſophie beginnt mit 1100 und endet mit 1500, ſo daß alſo ihre Periode volle vier Jahrhunderte umfaßt. Sie läßt ſich, den allmähligen Veränderungen gemäß, die ſie erlitten hat, in vier Abſchnitte eintheilen, die nahe den einzelnen vier Jahrhunderten ihrer ganzen Dauer ent⸗ ſprechen.

Nach Wachler's Geſchichte der Literatur, der wir hier vorzüg— lich folgen, war der Gegenſtand dieſer Philoſophie, um es, wie er meint, kurz zu jagen, „eine ſpeculativ-dogmatiſch-ſkeptiſch-alle⸗ „goriſch-myſtiſch-theoſophiſch-idealiſch-realiſtiſch-transcredentale „Hyperphyſik,“ was doch wohl zu deutſch „ein leeres Geſchwätz“ heißen ſoll. Dieß von dem Inhalte jener Philoſophie. Die Form aber, in die fle gegoſſen wurde, war die Dia lectik, d. h.

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die edle Disputirkunſt, die wie man erwarten kann, dem Inhalte vollkommen angemeſſen war, wenn es anders richtig iſt, daß zu einem ordentlichen Dispute zweier Partheien über eine Sache vor allem erfordert wird, daß beide Theile von dieſer Sache nichts verſtehen, weil ſonſt, wenn auch nur einer klug iſt, der Streit nicht dauern, und wenn beide, nicht einmal an— fangen kann.

Der erſte Abſchnitt alſo dieſer Philoſophiſterei geht von 1100 bis 1200 und enthält, unſerem Führer zufolge, die „theo— „ſophirende Dialectik, gepaart auf der einen Seite mit „dem ihr opponirten Supernaturalismus, und auf der andern „Seite mit der ſie moderirenden Myſtik.“ Da ein ſo monſtröſes Amphibium ſeine zerſtörende Kraft bald gegen ſich ſelbſt, gegen ſeine eigenen Eingeweide wenden mußte, da alſo auch die Sprößlinge einer ſo unnatürlichen Verbindung bald unter ſich uneins werden, und gleich bei ihrer Geburt mit einander im Kampfe liegen mußten, jo zerfiel die edle Brut ſchon in ihrem Neſte in zwei Partheien, die ſich, damit die künftigen Streit— hähne ſchon bei Zeiten ihre Klauen üben konnten, ſogleich auf das heftigſte bekriegten: in die Realiſten nämlich und in die Nominaliſten. Der Gegenſtand des Streites und der Grund der Trennung war, wie man leicht denken kann, von der größten Wichtigkeit. Die Realiſten nämlich behaupteten die Universalia in re, und die Nominaliſten im Gegentheil wollten nur die Universalia post rem gelten laſſen. Das ſoll aber, nach unſeres Verfaſſers Exegeſe, ſo viel heißen: Die Realiſten behaupteten die Wirklichkeit der allgemeinen Begriffe in den Dingen ſelbſt, die Nominaliſten aber geſtanden dem allgemeinen Begriffe nur ein fubjectives Daſeyn in dem menſchlichen Vorſtellungsvermögen zu. Als Stifter der realiſtiſchen Secte wird Wilhelm von Cam— pellis (+ 1121), Archidiacon von Paris, angegeben, und der eigentliche Gründer der Nominaliſten ſoll Johann Rouſſelin, Canonicus zu Compiegne, geweſen ſeyn. Einer der Choregen der Nominaliſten war Abälard, von dem bereits oben geſprochen worden iſt. In dieſe Periode fällt auch Arnold von Brescia, der beſonders durch ſeine heftigen Streitigkeiten mit dem h. Bernard von Clairvaux durch die ganze gelehrte und ungelehrte Chriſtenheit ein ſo ge— waltiges Aufſehen gemacht hat; ferner Peter Lombardus, Biſchof

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von Paris, deſſen dialectiſches Syſtem der Theologie noch im ſechszehnten Jahrhundert für klaſſiſch gehalten wurde. Hugo a St. Victore, einer der gemäßigſten in feinen Behauptungen, ſo überſpannt ſie uns auch jetzt erſcheinen mögen; Richard, ein ſchottiſcher Theologe, der einen vernünftigen Supernaturalismus, wie er ihn nannte, einführen wollte, und Walther, ſein Gegner, der ſich brüſtete, ein abſoluter Antirationaliſt zu ſeyn. Johann von Salisbury wollte den Rationalismus mit dem Hypernatu— ralismus paaren, was aber bei ſo ganz unvereinbaren Dingen nicht gelingen konnte.

Der zweite Abſchnitt von 1200 bis 1300 enthält, nach Wachler, die „ariſtoteliſch-realiſtiſche Philoſophie. Auch dieſe ſcheint einen guten Theil von der Zankſucht ihrer Mutter geerbt zu haben, da ſie ſich gleich nach ihrer Geburt wieder in zwei Theile ſpaltete, die ſich ebenfalls auf das heftigſte bekämpften. Die Anhänger der einen Parthei waren die Scotiſten (von Johan— nes Duns Scotus, ihrem Anführer), und die anderen wurden Thomiſten (von ihrem Choragen Thomas Aquinas) genannt. Später bildete ſich noch eine dritte Parthei, die Myſtiker, die bei dem Kampfe jener beiden Heere die Rolle des Schakalls ſpielten, die hinter den Armeen herziehen, um die Leichen der Erſchlagenen aufzuleſen. Die Hauptſitze dieſer Philosophia tri- ceps waren die drei Städte Paris, Oxford und Köln.

Die berühmteſten Philoſophen dieſer zweiten Periode ſind Thomas von Aquin, deſſen ſämmtliche Werke, Rom 1570, acht— zehn Foliobände füllen, und Johannes Duns Scotus (dev nicht mit Scotus Erigena im neunten Jahrhundert zu verwechſeln iſt), deſſen Werke zu Lyon 1639 in zwölf Foliobänden erſchienen ſind. Ferner Alexander ab Hales in England (+ 1245), der zu Paris den Ariſtoteles und die Bibel commentirte, und deſſen Werke (Venedig 1576) in vier Foliobänden herausgekommen ſind. Robert Grostéte (Groß- oder Dickkopf), der ebenfalls viele Foliobände über den Ariſtoteles und über die ſogenannten ſieben freien Künſte zuſammen geſchrieben hat. Vincenz von Beauvais (+ 1270) verfaßte eine allgemeine Encyclopädie de omnibus re- bus seibilibus et de quibusdam aliis, die er Speculum majus nannte, in ſieben Foliobänden (Straßburg 1473). Albertus

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Magnus, der größte Polymath und Polygraph des Mittelalters, deſſen Opera omnia Jammy zu Lyon 1651 in einundzwanzig großen Foliobaͤnden herausgegeben hat. Eheu, quis nostrum tantum potest legere, quantum ille conscripsit, ſagte Auguſtin von Chryſoſtomus, welcher letzte doch nur dreizehn Foliobände zufammengebracht hat. Henricus Goethals ( 1293) aus den Niederlanden, ein ſupernaturaliſtiſcher Realiſt, wie ihn Wachler nennt, ( 1293), der ſich ſchon mit zwei Foliobänden begnügte. Guilielmus Durand (+ 1332), ein heftiger Gegner von Thomas, und Aegidius Columna aus Rom (T 1316), deren jeder nur einen Folioband hinterlaſſen hat. Bonaventura (+ (1274), der in acht Foliobänden die Vereinigung des Rationalismus mit dem Super— naturalismus auf dem trockenen Wege der Myſtik zu Stande bringen wollte. Richard de Mediavilla (F 1300), der ſich vor: züglich mit der Pſychologie und der natürlichen Theologie be— ſchäftigte. Raymund Lully (+ 1315), ein tiefer Kenner der Kab— bala, ein unbändiger Rabuliſt, und, wie unſer Führer ſelbſt hinzuſetzt, ein ganz entſetzlicher Enthuſiaſt, der mit ſeinen Ein— fällen zehn große Foliobände gefüllt hat.

Die dritte Abtheilung, von 1300 bis 1400, umfaßt die eigentliche Blüthenzeit des Nominalismus. In dieſer Periode erhob ſich Wilhelm Decam (+ 1347) aus England, der Stifter der Occamiſten und der ausgezeichnetſte Schüler des Duns Sco— tus, der zu Paris Philoſophie gelehrt, und dann, obſchon zwei— mal in den Bann gethan, am Hofe Kaiſers Ludwig des Bayern in großer Achtung gelebt hat; Johannes Buridanus (F 1358), ein Schüler Oecams; Walther Burleigh (+ 1337); Petrus de Aquila (+ 1344); Heinrich von Oyta (+ 1380) und Heinrich von Frankenſtein ( 1390), aus Heſſen, der anfangs in Paris, und ſpäter an der Hochſchule zu Wien mit großem Beifall lehrte u. f.

Der vierte Abſchnitt, von 1400 bis 1500 endlich enthält die Bekaͤmpfung des ſcholaſtiſchen Dogmatismus oder den eigent— lichen Verfall der ſcholaſtiſchen Philoſophie. Man hatte nach drei vollen Jahrhunderten einſehen gelernt, daß man auf dieſem Wege nicht weiter kommt; der Zweifel an Ariſtoteles und ſeine Anhänger wurde immer reger; der Skepticismus erhob ſein Haupt und der Dogmatismus ging unter. Dieſe große Um—

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wandlung verdankt man vorzüglich der Wiedererweckung der alten klaſſiſchen Literatur in Italien, von welcher wir ſogleich näher ſprechen werden. In dieſer Periode erhoben ſich die beiden Grafen Pico von Mirandola, der unermüdet thätige Marſilius Ficinius, Diomedes Caraffa, Vergarius, Vegius u. a. der ges feierten Namen eines Dante, Boccaccio, Petrarka, Lorenzo de Medici u. a. nicht zu gedenken, die zum Theil einer früheren Periode angehören, und da fie etwas Beſſeres, als ſcholaſtiſche Philoſophie zu treiben wußten, nicht in die Geſellſchaft derjenigen Leute gehören, mit welchen wir hier unſere Leſer, vielleicht ſchon zu lange, aufgehalten haben.

Demungeachtet waren dieſe fcholaftifchen Philoſophen, die vorzüglichſten wenigſtens von ihnen, die beſten Köpfe ihrer Zeit, die erſten Denker Europa's, und Männer, deren Scharfſinn und geiſtige Kraft, ſelbſt in ihrem Mißbrauche dieſer Kraft, nicht verkannt werden kann, obſchon fie zugleich von jedem nüchter— nen, ſeinen geſunden Menſchenverſtand noch beſitzenden Mann nur als eine Art von aberwitzigen Genies betrachtet werden müſſen. Zu dieſem nur ſcheinbar harten Urtheile berechtigen uns ſchon die berüchtigten Quaestiones Quodlibeticae, mit welchen ſich dieſe ſogenannten Philoſophen, nicht bloß die einzelnen, ſon— dern ganze Corporationen derſelben, gegenſeitig zuſetzten und ver— folgten, und die als ein Beweis im Großen gelten können, bis zu welcher Tiefe der menſchliche Geiſt fallen kann, wenn er ſich dem Irrthume nicht bloß überlaſſen, ſondern ſich ſo recht ge— fliſſentlich in ihn hineinſtudirt hat. Die Thomiſten, Scotiſten, Occamiſten, und wie fie alle hießen, ſtritten ſich durchaus nur über ſolche Dinge, von denen ſie ſämmtlich nichts verſtanden und auch nichts verſtehen konnten, und zwar mit einer Hitze, die nur zu oft in Verfolgungen und blutige Kämpfe überging. Viele dieſer höchſt abſurden Fragen ſpalteten England, Frankreich und beſonders Oberitalien in Partheien, die ſich von den Gelehrten auf das ganze Volk fortpflanzten, die mehrere Jahrzehnte kämpfend einander gegenüber ſtanden, und die nur zu oft in blutige Fehden übergingen, bei welchen gewöhnlich Steine und Dolche die Haupt: rolle ſpielten. Man muß gerechten Anſtand nehmen, mehrere dieſer Fragen hier näher anzuzeigen, da ſie nicht bloß mit dem geſunden Menſchenverſtande, ſondern auch mit dem ſittlichen

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Anſtande unverträglich erſcheinen, während ſie doch von jenen großen Philoſophen mit einem Ernſte und mit einer Wichtigkeit behandelt wurden, die uns im hohen Grade lächerlich erſcheinen würden, wenn fie nicht zugleich in einem noch höheren Grade bemitleidenswerth und erbaͤrmlich wären. So wurde z. B., um nur einige dieſer am wenigſten auffallenden Quodlibetfragen anzuführen, das Problem zur Beantwortung aufgeſtellt, ob Adam, ſo lange er ohne Sünde war, auch das Liber Senten— tiarum des Petrus Lombardus ſchon gekannt habe? oder ob ein Menſch mit einer halben Seele auch noch denken könne? Ob der Heiland auch die Menſchen hätte erlöſen können, wenn er in einer anderen, als der menſchlichen Geſtalt auf die Welt gekom— men wäre? Welches Alter und welches Kleid der Engel hatte, welcher der h. Jungfrau die Botſchaft des Himmels ausrichtete? Worin die innere Structur des Paradieſes beſtanden habe? Ob es im Paradieſe auch Excremente gegeben habe? Welche Sprache die Engel ſprechen? u. ſ. w. Dieſe letzte Frage beſonders erregte eine große Spaltung aller Gelehrten Oberitaliens, die über fünfzig Jahre dauerte und ganze Bibliotheken von Folianten erzeugte, indem die eine der beiden Partheien behauptete, daß die Engel griechiſch ſprechen, weil dieß die ſchönſte und vollkom— menſte aller Sprachen wäre, während die andere Parthei die hebräiſche Sprache in ihren Schutz nahm, weil dieſe die älteſte unter allen Sprachen und zugleich die des heiligen Bundes iſt. Einer von dieſen Philoſophen, und zwar einer der be— rühmteſten, der große Doctor Angelicus, wie er genannt wurde, ſchrieb einen gewaltigen Folioband von 1250 Seiten „über die „Natur und Weſenheit der Engel.“ Wir begnügen uns hier bloß mit den Titeln einiger von den 358 großen Kapiteln dieſes Werkes, in welchen die Eigenſchaften und Attribute der Engel von dem Verfaſſer angeführt und ſo im Detail auseinandergeſetzt werden, daß man in Verſuchung geräth, zu glauben, er habe ſelbſt lange Zeit mitten unter ihnen gewohnt. Eines dieſer Kapitel alſo zeigt, daß die Engel vor der Erſchaffung der Welt nicht exiſtirt haben; ein anderes, daß ſie in dem empyriſchen Himmel entſtanden ſind; ferner, daß jeder derſelben aus Action und Potentialität zuſammengeſetzt iſt; daß fie unter ſich nicht in es— sentia, ſondern bloß in specie verſchieden ſind; daß die Körper,

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welche ſie zuweilen annehmen, aus ſehr dünner Luft beſtehen; daß ſie nicht im Raume, aber wohl der Raum in ihnen enthalten iſt; daß ihre Bewegungen ſowohl continuirlich, als auch discon— tinuirlich ſind; daß ihre Intelligenz am Morgen jedes Tages größer iſt, als am Abend; daß ihrer mehrere Tauſende zugleich auf einer Nadelſpitze ſtehen können, ohne ſich zu drängen oder zu hindern u. ſ. f.

Ueber den bereits oͤfter erwähnten Streit zwiſchen den Mo: minaliſten und Realiſten wollen wir noch bemerken, daß der Kampf dieſer beiden Partheien eigentlich bis zu Ende des fünf— zehnten Jahrhunderts oder bis zu dem völligen Untergange der ſcholaſtiſchen Philoſophie ſelbſt gedauert hat, und daß er zuweilen ſo heftig wurde, daß die weltliche Gewalt einſchreiten mußte, um den Frieden, auf einige Zeit wenigſtens, wieder herzuſtellen. Im Anfange des vierzehnten Jahrhunderts waren die Nominaliſten nahe daran, von ihren Gegnern, den Realiſten, ganz zermalmt zu werden. Der berühmte philoſophiſche Klopffechter Occam aber brachte die Nominaliſten wieder zur Aufnahme, die nun ihren Sieg um ſo muthiger verfolgten, da auch Ludwig XI. von Frank— reich ſich ihrer ſehr Eräftig anzunehmen anfing. Aller Wahrſchein— lichkeit nach würden die Realiſten von ihren mächtigen Gegnern erdrückt worden ſeyn, wenn ſich nicht wieder Johann XXIII. zu Rom der Beſiegten auf das eifrigſte angenommen hätte. Von dieſer Zeit an war es in Frankreich und mehr noch in Italien für einen Nominaliſten gefährlich, ſeine Stimme hören zu laſſen. Ludwig XI. widerſtrebte lange, er wollte feine früheren Schütz— linge nicht fallen laſſen, aber endlich gab auch er nach, und nun erſchien im Jahr 1474 ein Edict, in welchem unter Androhung ſtrenger Strafen befohlen wurde, alle Werke der Nominaliſten in den Bibliotheken mit eiſernen Ketten an die Wand zu ſchmie— den und ſie keinem, ohne Ausnahme, zum Leſen zu überlaſſen. Seit dieſer Zeit flüchteten ſich die Nominaliſten, die auf noch ſchlechtere Dinge gefaßt ſeyn mußten, nach Deutſchland und Eng— land, wo fie ſpäter bei der Reformation ſich wieder thätig be— zeugten. Wir können in unſeren Tagen kaum mehr glauben, mit welcher Heftigkeit damals ſolche philoſophiſche Fehden geführt worden ſind. Vives, ein Augenzeuge und Mitkämpfer, drückt ſich darüber mit folgenden Worten aus: „Wenn die ſtreitenden Par—

Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 361

»theien ſich in gegenſeitigen Schimpfreden erſchöpft hatten, fo „gingen fie gewöhnlich auf Fauſtkämpfe über, und nicht ſelten „endeten dieſe Händel über „Univerſalien und Particularien“ »mit Stock- und Säbelhieben, wobei gar mancher dieſer Philo— »ſophen einen blutigen Kopf davon trug oder wohl gar fein Leben „einbüßte.“

Gedenken wir zum Schluſſe dieſes Gegenſtandes, noch der ſonderbaren Titel und Namen, welche ſich die Scholaſtiker bei— legten und wodurch ſie gleichſam eine Art von Adel unter ſich conſtituirten. So hieß z. B.

Petrus Lombardus, der Doctor Sententiarum.

Henricus Goethals Doctor Solemnis. Alexander ab Hales Doctor Irrefragabilis. Aegidius Columna Doctor Fundatissimus. Guilielmus Durand Doctor Resolutissimus. Bonaventura Doctor Seraphicus. J. Duns Scotus Doctor Sublimis. Wilhelm Occam Doctor Invineibilis. Roger Bago Doctor Mirabilis. Walter Burleigh Doctor Perspicuus. Petrus Aquila Doctor Sufficiens. Thomas Aquinas Doctor Angelicus.

7) Wiedererweckung der alten Schriftſteller.

Es iſt bereits oben geſagt worden, daß wir den endlichen Untergang der alle eigentliche Wiſſenſchaft hindernden ſcholaſti— ſchen Philoſophie und die Wiedererweckung einer wahren Gelehr— ſamkeit und eines gereinigten Geſchmackes in den Werken der Kunſt, vorzüglich dem Umſtande verdanken, daß ſich die Aufmerk— ſamkeit der Menſchen im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhun— dert wieder dem literariſchen Schatze zugewendet hatte, den wir von den alten Griechen und Römern ererbt haben, und zwar zu dem Zwecke, um von ihnen zu lernen und ſich ſelbſt nach ihnen zu bilden, nicht bloß um fie ſklaviſch zu commentiren oder darauf unhaltbare, inhaltsleere Syſteme zu erbauen.

Wenn wir die Werke des Ariſtoteles und Plato's über Phi—

362 Nactragliche Bemerkungen über das Mittelalter.!

loſophie, und die des Ptolemaͤus über Aſtronomie ausnehmen, ſo waren die übrigen Schriften der alten Griechen und Römer, von den Arabern ſowohl, als auch von den Europäern im Mit— telalter größtentheils überſehen worden, und wir dürfen uns mit Recht verwundern, daß demungeachtet noch ſo viele derſelben erhalten und auf uns gekommen ſind. Dazu haben ohne Zweifel die Abſchreiber in den Klöſtern jener Zeit ſehr viel bei— getragen, obſchon man auf der andern Seite auch wieder geſtehen muß, daß die oben erwähnten Palimpſeſte, die aus denſelben Klöſtern hervorgingen, ſehr großen Schaden angerichtet haben. Am meiſten trug wohl zur Erhaltung jener Werke die en— thuſtaſtiſche und nahe excentriſche Vorliebe nach dem Beſitze der: ſelben bei, die im fünfzehnten Jahrhundert, beſonders in Italien, erwachte und daſelbſt gleichſam allgemeine Sitte wurde.

Zu dieſer Zeit des Wiederauflebens der Wiſſenſchaften waren die Bemühungen der meiſten Gelehrten auf die Auffindung jener nun ſehr ſelten gewordenen griechiſchen und römiſchen Manu— ſcripte gerichtet. Alle Winkel von Griechenland und Italien wurden durchwühlt, um von dieſen Schriften ſoviel als möglich zu entdecken, und viele reiche und wohlhabende Männer, die ſich auf demſelben Wege auszeichnen wollten, verarmten durch die großen Reiſen, die ſie zu dieſen Zwecken unternahmen, und durch die hohen Summen, welche ſie für jene Manuſcripte entrichteten. Wenn man die Briefe der italieniſchen Gelehrten jener Zeit liest, ſo kann man ihr Entzücken über einen ſolchen Fund, ſo wie ihre Verzweiflung über ihre fehlgeſchlagenen Erwartungen, jetzt kaum mehr begreifen. Kronen und Throne würden dieſen Leuten nicht ſoviel Freude gemacht haben, als die Entdeckung eines bisher unbekannten oder auch nur unvollſtändig bekannten griechiſchen oder römiſchen Manuſcripts. Als Poggio, ein Flo— rentiner, im ſechszehnten Jahrhundert eine Copie von Quintilian gefunden hatte, ſchrieb ihm ſein Freund Aretinus: „O herrlicher „Fund! O ungeheurer Gewinn! O unerwartetes Glück! Ich „bitte, ich beſchwöre dich, mein Poggio, ſende mir das Manuſcript „fo bald als möglich, damit ich es noch ſehe, eh' ich ſterbe.“ Poggio hatte dieſe Abſchrift Quintilians in dem Kloſter von St. Gallen gefunden, aber nicht in der Bibliothek deſſelben, ſondern in einer halbvermoderten Kiſte eines ſchmuzigen Winkels, in deterrimo

Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 363

quodam et obscuro carcere, wie er ſagt. Viele Unvorſich— tige, die ſich ohne hinreichende Kenntniß in dieſe Manuſcripten— Jägerei gewagt hatten, wurden oft ſchmählich hintergangen und zahlten große Summen für untergeſchobene oder ganz falſche Schriften. Aber auch die glücklicheren Kenner des Gegenſtandes hatten viel zu leiden, weil ſie, wenn ſie einen guten Fund dieſer Art gemacht hatten, von allen beneidet, verfolgt und ſelbſt wie— der um ihr Gut beraubt wurden, da der Ruhm, ein Manufeript z. B. von Cicero zu beſitzen, beinahe demjenigen, der Verfaſſer deſ— ſelben zu ſeyn, gleich geſchätzt wurde. Johannes Aurispa, einer der vorzüglichſten Schriftenjäger im fünfzehnten Jahrhundert, brachte mehrere Hunderte von Manuſcripten griechiſcher Schriftſteller nach Italien, und er bedauerte nur, daß der größte Theil der— ſelben blos profane heidniſche, nicht aber heilige Autoren betraf, woran, wie er ſagt, der Geſchmack der Griechen Schuld war, die ihm durchaus keine theologiſchen Werke abgeben wollten, während ſie mit den profanen Autoren ſehr freigebig waren.

Dieſe Manuſcripte wurden nicht immer bei den Reichen oder in den Kloſterbibliotheken, ſondern gewöhnlich halbvermodert in finſtern Winkeln unterm Schutt gefunden. Es war oft ſchwer, die Orte aufzufpüren, wo man nach ihnen ſuchen ſollte, und gewöhnlich noch ſchwerer war es für dieſe meiſtens ganz kenntnißloſen Schatzgräber, den Werth eines ſolchen gemachten Funds zu beſtimmen. Einer der größten dieſer ſogenannten Bibliophilen gab einem gewiſſen Valerius den Vorzug vor allen lateiniſchen Autoren; ob er damit den Valerius Maximus oder den Martial meinte, iſt ungewiß. Derſelbe ſetzte Plato und Tullius unter die Dichter, und hielt Ennius und Statius für Zeitgenoſſen, obſchon beide durch ſechs Jahrhunderte von einan— der getrennt waren. Auf dieſelbe Weiſe, wie Poggio den Quin— tilian gefunden hatte, entdeckte man auch die uns noch übrig geblie— benen Werke des Tacitus in einem Klofter von Weſtphalen. Es iſt auffallend, daß ſich von dem erſten aller Hiſtoriographen nur dieſes einzige Manuſcript erhalten hat, da doch der röm. Kaiſer Tacitus (T 276) von den Werken dieſes feines erlauchten Vorfahrs jährlich zehn Abſchriften verfertigen und den öffent— lichen Bibliotheken des Reichs vertheilen ließ. Aber dieſe römi— ſchen Bibliotheken wurden ſpäter alle zerſtört, und die kaiſerlichen

364 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter.

Befehle vermochten nichts gegen die Barbaren der Völkerwan— derung und gegen den alles verwüſtenden Zahn der Zeit. Der juſtinianiſche Codex wurde von den Piſanern zufällig bei der Einnahme einer Stadt in Calabrien entdeckt; er wurde in der Bibliothek von Piſa aufgeſtellt, und hier nahmen ihn ſpäter die Florentiner, die ihn noch beſitzen. Manches andere Manuſcript wurde in dem Augenblicke entdeckt und erhalten, wo es eben für immer verloren gehen ſollte. Agobard, Bifchof von Lyon (+ 840), ein für feine Zeit ſehr freiſinniger Beſtreiter des Aber: glaubens, ſchrieb unter anderm eine Abhandlung über den Hagel und Donner, und über die Verwerflichkeit der Ordalien. Sein Manuſcript wurde von Papirius Maſſon bei einem Buchbinder zu Lyon in dem Augenblicke gefunden, als der letzte die Blätter dieſes Manuſcripts eben zerſchneiden wollte, um damit die Deckel der von ihm gebundenen Bücher zu überziehen. Ein Blatt von der zweiten Decade des Livius wurde zufällig von einem Kenner als Enveloppe einer Rakete gefunden, mit der eben ein Land— edelmann ſeine Familie unterhalten wollte. Er lief ſogleich zu dem Raketenmacher, um vielleicht noch mehrere dieſer Blätter zu finden. Aber er kam zu ſpät, da der Mann ſchon vor einer Woche die letzten Blätter des Livius verbraucht hatte.

Mehrere dieſer Manuſcripte ſind erſt in den neueren Zeiten verloren gegangen. Aus einem Geſuche des Dr. Dee an die Köni— gin Maria Stuart im ſechszehnten Jahrhundert folgt, daß zu dieſer Zeit die Abhandlung Cicero's De Republica noch in den Bibliotheken Englands vorhanden geweſen iſt. Huet bemerkt, daß die Werke des römiſchen Dichters Petronius, der zu Nero's Tagen lebte, zur Zeit des Johann von Salisbury, d. h. im zwölften Jahrhundert, noch vollſtändig da geweſen ſind, da der letzte mehrere Stellen aus Petronius anführt, die jetzt nicht mehr in ihm gefunden werden. Raimund Soranzo, ein Rechts— gelehrter an dem päbſtlichen Hofe, beſaß zwei Bücher des Ci— cero, De Gloria, die er dem Petrarca lieh, der ſie wieder einem armen alten Manne, ſeinem ehemaligen Lehrer, geliehen hatte. Von Mangel gedrückt, verſetzte ſie der letzte, und ſtarb bald darauf plötzlich an einem Schlagfluſſe, ſo daß man nicht erfahren konnte, wem er das Manuſcript gegeben habe. Es iſt nie wieder gefunden worden. Petrarca ſpricht von dem Inhalte

Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 365

deſſelben mit Entzücken, und fagt, daß er nicht müde werden könne, es zu leſen. Zwei Jahrhunderte ſpäter fand man diefer Abhandlung Cicero's in einem Verzeichniſſe von Büchern erwähnt, die einem Nonnenkloſter als Erbe überlaſſen wurden, allein als man näher nachforſchte, war das Buch in dem Kloſter nicht mehr zu finden. Man glaubte, daß Peter Alcyonius, der Haus— arzt der Nonnen, das Manuſcript aus der Bibliothek entwen— det, und es, nachdem er es fleißig benützt hatte, vertilgt habe. In der That findet man in den Werken De Exilio dieſes Arztes viele ganz treffliche Stellen, die ganz iſolirt daſtehen und gegen welche das Uebrige ſehr unvortheilhaft abſticht. Betrügereien dieſer Art ſcheinen zu jener Zeit nicht ſelten geweſen zu ſeyn. Leonhard Aretino, ein ausgezeichneter Literator des ſechszehnten Jahrhun— derts, hatte ein griechiſches Manuſcript des Procopius „De Bello Gothico“ gefunden, es in die lateiniſche Sprache über: ſetzt, und als ſein eigenes Werk bekannt gemacht. Erſt ſpäter fand man ein zweites Manuſcript deſſelben Werks, wodurch der Betrug Aretino's entdeckt worden iſt. Auch Machiavelli iſt von dieſen Künſten nicht frei geblieben. Er hatte ein Manuſcript Plutarchs von den Apophthegmen der Alten gefunden, wählte von ihnen diejenigen aus, die ihm am meiſten gefielen, und legte ſie dann ſeinem Helden Caſtrucio Caſtricani in den Mund.

Zu dieſen literariſchen Impoſtoren muß auch Annius von Viterbo im fünfzehnten Jahrhundert unter Pabſt Alerander VI. gezählt werden. Er wollte die vollſtändigen Werke von Sanchu— niathon, Manethon, Beroſus und anderer alten Schriftſteller gefunden haben, von denen man bisher bloße, meiſtens nur ſehr kurze Bruchſtücke erhalten zu haben glaubte. Er füllte mit ſeinen aufgefundenen Autoren ſiebenzehn Bände! Da er aber die Manuſcripte, die er unter der Erde gefunden zu haben vor— gab, Niemand zeigte, ſo erregte dieß großen Verdacht, dem auch die Entdeckung nach des Betrügers Tod bald folgte.

Nicht geringeres Aufſehen machte ein anderer Impoſtor, Joſeph Vella, in unſeren Tagen. Er kam im Jahr 1794 als ein Reiſender aus dem Morgenlande an, und behauptete, daß er ſiebenzehn von den verlornen Büchern des Livius in der ara—

360 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter.

biſchen Sprache entdeckt habe. Er wollte fie von einem Fran: zoſen erhalten haben, der ſie aus einem Schrank der Sophien— kirche in Konſtantinopel entwendet haben ſollte. Als er von allen Seiten gedrängt wurde, das Manuſcript bekannt zu machen, wozu ſich die damals eben in Italien anweſende Lady Spencer antrug, die Druckkoſten zu übernehmen, gab er endlich, als Probe ſeiner Entdeckung, eine italieniſche Ueberſetzung des ſechs— zehnten Buchs des Livius, die aber nur ein einziges Oktapblatt füllte, und die, wie man bald ſah, weiter nichts, als ein Aus— zug aus der Epitome des Florus war. Auch wollte er in der Abtei von St. Martin mehrere ſehr wichtige arabiſche Ma— nuſcripte, beſonders über die Geſchichte Siciliens, entdeckt haben. Vella wurde mit Geld und Ehrenbezeigungen überhäuft, und der König von Neapel nahm ihn in ſeinen beſondern Schutz. Endlich erſchienen vier Quartbände von den entdeckten Schätzen, und da fand ſich, daß er arabiſche Manuſcripte, die aber bloß von Mahomed und ſeinen Nachfolgern handelten, durch Entſtel— lungen und Aenderungen beinahe jeder Zeile derſelben, in eine bloß fingirte Geſchichte Siciliens unter der arabiſchen Herrſchaft umgeſchmolzen habe. Der Betrüger wurde in's Gefängniß ge: ſetzt, in dem er auch bis an ſeinen Tod geblieben iſt.

Der Cardinal Granvella hatte nach ſeinem Tode mehrere große Kiſten mit Briefen von und an beinahe alle Potentaten und einflußreiche Männer ſeiner Zeit hinterlaſſen. Viele der— ſelben waren mit Bemerkungen und Randnoten von des Cardi— nals eigener Hand verſehen. Alle dieſe Kiſten wurden nach ſei— nem Tode in einer Bodenkammer ſeines Pallaſtes dem Regen und den Ratten preisgegeben. Fünf derſelben hatte der Auf— ſeher des Hauſes bereits an einen Krämer verkauft, als endlich ein Kenner davon Nachricht erhielt. Er kaufte die übrigen an, und mehrere Jahre durch beſchäftigte er ſich mit ſeinen gelehrten Freunden, dieſe wichtigen Originalſchriften gekrönter Häupter und berühmter Staatsmänner zu ordnen. Die auf dieſe Weiſe zu Stande gebrachte Sammlung ſoll über achtzig Foliobände ge— füllt haben.

Die große Sammlung von Staatspapieren des Thurlon, Secretärs von Cromwell, betrug im Original nahe ſiebenzig

Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 367

Bände in Folio, und wurde erſt lange nach Cromwells Tod hinter der hölzernen Vertafelung eines Zimmers in Lincollns-Inn entdeckt.

Auch die Reiſebeſchreibung des berühmten Montaigne's durch Italien hatte ein ähnliches Schickſal. Ein Stiftsherr von Peri— gord kam zufällig auf ſeiner Reiſe durch Frankreich in das Schloß Montaigne's, das jetzt von ſeinem Nachkommen bewohnt wurde. Als er die Bewohner um das Archiv des Hauſes fragte, zeigten ſie ihm einen großen, alten Koffer, in welchem mehrere Papiere unordentlich durch einander geworfen waren. Er zog ſie aus dem Staube, der ſie bedeckte, hervor, und fand die lang vermißte Reiſebeſchreibung Montaigne's, größtentheils von ſeiner eigenen Hand geſchrieben.

Jenes großen Eifers unſerer Vorfahren ungeachtet, ſind doch ſehr viele der ſchätzbarſten Werke der Alten völlig verloren gegangen. Beſonders ſchmerzhaft iſt der Verluſt der älteren Geſchichtſchreiber. Von Sanchuniathon z. B., der zur Zeit Sa— lomons gelebt haben ſoll, haben wir nur noch einige wenige Zei— len, die uns Euſebius erhalten hat. Von der Geſchichte des Polybius, die aus vierzig Büchern beſtand, ſind uns nur fünf geblieben, und von der hiftorifchen Bibliothek des Diodor von Si— cilien, in ebenfalls vierzig Büchern, find fünfzehn auf uns ges kommen. Von den römiſchen Alterthümern des Dionyſius von Halikarnaß iſt die Hälfte verloren gegangen, und von den acht— zig Büchern des Diokaſſius beſitzen wir nur noch fünfundzwanzig. Die Geſchichte des Livius enthielt einhundert und vierzig Bücher, und davon ſind nur fünfunddreißig gerettet worden. Von den unſchätzbaren dreißig Büchern des Tacitus ſind wenig mehr als vier noch übrig. Die Regierung des Titus, dieſes Lieblings des Menſchengeſchlechtes, iſt aus den Geſchichtbüchern des Tacitus ganz verſchwunden, ſo wie auch die Regierung Domitians der rächenden Feder dieſes größten aller Hiſtoriker entgangen iſt. Welchen Verluſt hat die Nachwelt durch den Untergang der Schrift „über die Urſachen des Verfalls der Beredſamkeit“ von Quintilian erfahren, deren er ſelbſt mit ſo viel Selbſtzufrieden— in feinen „Inſtitutionen“ erwähnt. Petrarca ſagt, daß er in ſeiner Jugend die Werke des Varro und die zweite Decade des

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Livius öfter geſehen habe, daß aber alle ſeine ſpäteren Verſuche, dieſe Schriften wieder zu erhalten, fruchtlos geblieben ſeyen.

Dieß ſind nur einige der bekannteſten Schriftſteller, die wir nicht mehr beſitzen. Aber wie viele andere finden wir in den noch übriggebliebenen Autoren angeführt, von denen auch nicht ein Wort auf uns gekommen iſt. Zwei große biographiſche Werke der Alten ſind ganz für uns verloren: Varro's Leben von ſiebenhun— dert berühmten Römern, und das Werk des Atticus, des Freun— des von Cicero, über die Thaten ſeiner ausgezeichneten Lands— leute. Wenn wir bedenken, daß Männer dieſer Art mit den erſten Geiſtern ihrer Zeit in vertraulichen Verhältniſſen lebten, und daß ſie ſelbſt ſehr reiche Freunde und Beſchützer der Künſte ge— weſen ſind, ſo mögen wir wohl über den Verluſt trauern, den uns der Untergang dieſer Lebensbeſchreibungen verurſacht, die noch überdieß mit den Bildniſſen der in ihnen geſchilderten Männer geziert geweſen ſeyn ſollen ). Von anderen verloren gegangenen Schriften der Alten haben wir nur einige leiſe Spu— ren ihrer früheren Exiſtenz erhalten. So erwähnt der jüngere Plinius außer dem großen Werke ſeines Onkels über die Natur— geſchichte noch eines anderen hiſtoriſchen Werkes deſſelben in zwanzig Büchern (Plin. Junior. Lib. III. Ep. V.), deſſen Gegen⸗

10) Das 186ſte Epigramm des vierzehnten Buchs von Martial ſpricht von einer ſehr klein geſchriebenen Ausgabe der Werke Virgils mit dem Bildniſſe des Verfaſſers:

Quam brevis immensum cepit membrana Maronem! Ipsius vultus prima tabella gerit. Auch Seneca erwähnt (De Tranquillitate animi, Cap. IX.) der vielen, Eojtbar gebundenen, mit den Bildniſſen ihrer Verfaſſer ges ſchmückten Bücher in den Bibliotheken der Römer. Plinius (H. IV. Lib. 35. Cap. 2.) bemerkt, daß Aſinius Pollio dieſe Sitte, die Werke der Schriftſteller mit den Bildniſſen derſelben zu zieren, eingeführt habe. Derſelbe Plinius ſagt von dem oben ange— führten Werke des Varro, welcher die Biographieen von 700 Rö— mern enthielt, nicht undeutlich, daß ſie auch mit den Bildniſſen dieſer Römer, aliquo modo imaginibus eorum, verſehen waren. Cicero erzählt uns, daß Atticus eine Gallerie von Bildern der großen Römer in ſeinem Pallaſte aufgeſtellt habe, unter welche er ſelbſt die Thaten derſelben in kurzen Worten geſchrieben hatte.

Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 369

ſtand uns ganz unbekannt geblieben iſt. Welch' ein ganz vor— züglicher Dichter muß derjenige geweſen ſeyn, von dem derſelbe Plinius (Lib. I. Ep. XVI.) ſagt, daß er ihn immer zur Hand babe, daß er ihn jedesmal wieder vornehme, wenn er ſelbſt et— was ſchreiben oder ſich einmal recht gütlich thun will, und daß er, fo oft er ihn auch ſchon gelefen habe, doch immer wieder neue Schönheiten in ihm entdecke. Wer muß ferner nicht den „Anticato“ und die übrigen verlorenen Schriften des Julius Cäſar betrauern? Menanders Schauſpiele, welche die Alten nie genug rühmen konnten, ſind bis auf einige abgeriſſene Verſe gänzlich verloren gegangen. Dieſer große Sittenſchilderer ſeiner Zeit, wie er von den Alten genannt wird, würde uns vielleicht mehr noch als Homer intereſſirt haben, da er der Lieblings-, der Familiendichter der Griechen und der Römer, da er der Sitten— maler und der Geſchichtſchreiber der Leidenſchaften ſeiner Zeit ge— weſen zu ſeyn ſcheint. Sophokles und Euripides ſollen jeder gegen hundert Trauerſpiele geſchrieben haben, wovon uns von jened ſieben, und von dieſen neunzehn geblieben ſind. Von den hundert und dreißig Comödien des Plautus haben wir nur zwanzig, und von dieſen noch viele ſehr unvollſtändig, erhalten können.

Seit der Erfindung der Buchdruckerkunſt iſt wohl die Be— ſorgniß ähnlicher Verluſte für alle künftigen Zeiten von uns entfernt worden. Wenn nur nicht die große Maſſe der Bücher und vor allem die ſorgenloſe Nachläßigkeit, mit der fie verfaßt und, beſonders bei unſern deutſchen Landsleuten, auch gedruckt werden, ein anderes, noch größeres Uebel herauf führt. In den erſten Zeiten der Buchdruckerkunſt wurde dieſe neue und preis— würdige Erfindung mit viel mehr Ernſt und Würde behandelt, und die Stephanus, Plantinus und Manutius lieferten zur Zeit der Kindheit dieſer Kunſt Werke, die wir, bei uns wenigſtens, heut zu Tage wohl vergebens ſuchen würden.

Robert Stephanus, im Anfange des ſechszehnten Jahr— hunderts, war als Gelehrter und als Buchdrucker zugleich weit berühmt. Da er beſonders für die Correctheit der von ihm ge— druckten Bücher ſehr beſorgt war, ſo heftete er die Probebogen zu Paris öffentlich an, indem er für jeden entdeckten Fehler eine Belohnung verſprach. Im Jahre 1534 gab er die erſte Auflage ſeines Thesaurus linguae latinae heraus, den er in jeder fol—

Whewell. J. 24

370 Nachträgliche Bemerkungen Ader das Mittelalter.

genden mehr vervollkommnete, und den ſpaͤter Geßner dem feir nigen zu Grunde legte. Auf fein Anſuchen ließ König Franz J. die ſchönen Schriften gießen, welche die königliche Druckerei zu Paris noch jetzt aufbewahrt. Nach dieſes Königs, ſeines Be— ſchützers, Tod nöthigten ihn die Verfolgungen der Sorbonne, Paris zu verlaſſen und nach Genf zu ziehen, wo er 1559 ſtarb. Sein Sohn Heinrich (geſt. 1598) ſetzte die rühmlichen Unterneh— mungen ſeines Vaters fort und wurde der würdige Erbe ſeines Ruhmes. Plantinuss, war ebenfalls durch feine tiefe Gelehr— ſamkeit, doch mehr noch als berühmter Buchdrucker bekannt. Seine große Druckerei in Antwerpen wurde das achte Welt— wunder genannt, und aus dieſer Officin gingen die ſchönſten Werke in allen damals bekannten alten und neuen Sprachen hervor. In Italien endlich ragten die drei Manutii (oder Ma— nuzzi, Vater, Sohn und Enkel) über alle Buchdrucker ihrer Zeit hervor. Der älteſte war 1446 zu Baſſano geboren, und der jüngſte ſtarb 1597. Sie lebten und wirkten alle drei größten— theils zu Venedig. Sie ſind als die erſten Vervollkommner der Buchdruckerkunſt anzuſehen, indem fie die bisher gebräuchliche Mönchsſchrift abichafften, die ſogenannte Antiqua und die Curſiv einführten, und vorzüglich auf die höchſte Correctheit ihres Drucks ſahen. Noch jetzt werden die Werke der genannten Buch— drucker von den Antiquaren, vorzüglich wegen der hohen Cor— rectheit ihres Drucks, ſehr geſchätzt. Zu jener Zeit brüſteten ſich die erſten Gelehrten, zugleich die Correctoren der Bücher eines Plantinus, Stephanus oder Manutius zu heißen. Aerzte, Ge— richtsperſonen, ſelbſt Biſchöfe geizten um dieſe Ehre, und auf den Titeln der Bücher wurden auch die Namen dieſer Correctoren angegeben, auf die man nicht weniger ſah, als auf die Namen der Verfaſſer. Selbſt die Päbſte nahmen ſich der Sache an, und der Ausgabe des Varro von Manutius iſt das Privilegium Leo's X. beigedruckt, in welchem befohlen wird, das Werk zum Beſten der Gelehrten in einem niedrigen Preiſe zu halten, weil ſonſt die Vergünſtigung des Drucks einem Andern ertheilt werden würde.

Dieſe außerordentliche Vorliebe für den Beſitz der Schriften der Alten, die im fünfzehnten Jahrhundert einen beinahe krank— haften Charakter angenommen hatte, erweckte natürlich auch den Hang zur Nachahmung dieſer großen Muſter, der aber, wie

Nachtraͤgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 371

es der Geſchmack jener Zeiten mit ſich brachte, ebenfalls oft über— trieben wurde. Der zweite der oben erwähnten Manutier, Paulus Manutius (geb. 1512, geſt. 1574), hatte befonders die latei— niſche Sprache ſtudiert, in welcher er auch in der That vortreff— lich zu ſchreiben verſtand. Da er ſich aber vorgenommen hatte, beſonders dem Cicero nachzuahmen und ſeinem Style ſo nahe als möglich zu kommen, ſo ſoll er ſich oft Tage lang gequält haben, ſeinen Ausdruck dieſem Zwecke gemäß einzurichten. Er geſteht ſelbſt, öfter ganze Monate an dem Schreiben eines ein— zigen lateiniſchen Briefes zugebracht zu haben. Auch war er vorzüglich unter denen gemeint, die Erasmus in feinen »Cice- roniani“ als die ſklaviſchen Nachbeter des Tullius belächelt, wo ein „Noſoponus“ uns erzählt, daß er ganze Wochen über einer Zeile brüten könne, und daß er eine ganz außerordentliche Hoch— achtung für das Wort, aber beinahe gar keine für den Sinn in ſich fühle.

Le Brun, nicht mit dem franzöſiſchen Lyriker Lebrun im achtzehnten Jahrhundert zu verwechſeln, ſuchte für ſeine Nach— ahmung der Alten einen beſonderen Weg in ſeinen lateiniſchen Gedichten. Sein Virgilius Christianus beſteht, wie der heid— niſche, aus Eclogen, aus Georgicis und aus einem Epos in zwölf Büchern; allein die Gegenſtände, welche in dieſen Gedichten beſungen werden, ſind von denen des römiſchen Poeten gar ſehr verſchieden. Sein Epos heißt die „Ignaziade“ und beſchreibt die Pilgrimſchaft des h. Ignatius. Eben ſo beſingt er in ſeinen „Fastis“, die er dem Ovid nachbilden will, die ſechs Schöpfungs— tage; in ſeinen „Elegien“ wiederholt er die Klagen des Jeremias, und ſtatt der Metamorphoſen gibt er die „Converſionen“ einiger Heiden. A

Noch weiter trieb denſelben Mißbrauch der ſonſt durch feine Eleganz des Vortrags bekannte Sannazar (geboren 1458, geſt. 1530) in ſeinem lateiniſchen Gedichte De partu Virginis, wo die Incarnation von Proteus prophezeiht wird, wo die heilige Jungfrau ihr Schickſal in den Sybilliniſchen Büchern nach— liest, und wo ſie, ſtatt von Engeln, von Nereiden, Dryaden u. dgl. bedient wird. Dieſe abenteuerliche Miſchung des Poly— theismus mit den Geheimniſſen des Chriſtenthums trat auch in allen ſeinen Umgebungen hervor. Auf ſeinem Landhauſe hatte er eine Kapelle, in welcher er ſein künftiges Grabmal bereiten

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372 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter.

ließ. Zu beiden Seiten deſſelben waren zwei alte lebensgroße Statuen von Apollo und Minerva aufgeſtellt, aber unter der erſten war der Name „David“ und unter der andern „Judith“ eingegraben, und Niemand, wie es ſcheint, am wenigſten er ſelbſt, fand einen Anſtoß an dieſen ſonderbaren Inverſionen, die wir als die letzten Anzeigen des Verfalls der wahren Bildung und des geläuterten Geſchmackes im Mittelalter anſehen, und nun zu erfreulicheren Zeiten übergehen wollen. L.

Fünftes Buch.

Gelchichte der formellen Aſtronomie nach dem Mittelalter.

His demum exaciis Devenere locos laetos et amoena vireta Fortunatorum nemorum sedesque beatas. Largior hic campus aether et lumine vestit Purpureo, solemque suum sua sidera norunt. Virgil. Aen. VI. 630.

Ein lbesihung.

Von der formellen und phyſiſchen Aſtronomle.

Wir haben in dem Vorhergehenden die Urſachen von der beinahe völligen Leerheit angegeben, die uns die Geſchichte der Naturwiſſenſchaften ſeit dem Verfall des römiſchen Reiches durch ein ganzes Jahrtauſend gezeigt hat. Zugleich mit den alten Formen und Gebräuchen der Geſellſchaft verſank auch die alte Kraft des Gedankens, die Klarheit der Begriffe und alle Stetigkeit der intellectuellen Thätigkeit des Menſchen. Dieſer Verfall des menſchlichen Geiſtes führte eine ſklaviſche Be— wunderung für den Genius der früheren, beſſeren Zeiten, und durch ſie den Geiſt der Commentationen herauf. Das Chriſten— thum erhob ebenfalls ſeine ausſchließenden Anſprüche auf Wahr— heit, um dadurch die Welt zu beherrſchen. Dieſes Princip, miß— verſtanden und mit der ſervilen Unwiſſenheit der Zeiten gepaart, erzeugte das Syſtem des Dogmatismus, und der dem Menſchen angeborne Hang zur Unterſuchung, der keinen ſichern und er— laubten Weg auf feſtem Boden mehr fand, warf ſich endlich in die Arme des Myſticismus.

Nach ſo langer Zeit aber begannen die Urſachen der Träg— heit und Finſterniß jener Periode dem Einfluſſe neuer Prin— cipien nachzugeben, die auf den Fortgang der menſchlichen Er— kenntniß gerichtet waren. Die Unbeſtimmtheit der Ideen, jener eigenthümliche Charakterzug des Mittelalters, wurde in gewiſſem Maße durch ein fortgeſetztes Studium der mathematiſchen und aſtronomiſchen Wiſſenſchaften, und durch die Fortſchritte aller der Künſte entfernt, die ganz befonders geeignet find, unſere Begriffe von den Verhältniſſen der natürlichen Erſcheinungen aufzuklären und feſtzuhalten. Wie der Geiſt des Menſchen heller

376 Von der formellen und phyſiſchen Aſtronomie.

wurde, war er auch weniger ſervil geworden. Die Erkenntniß der Wahrheit entfernte ſie von eitlen Zänkereien über bloße Mei— nungen, und als ſie einmal die wahren Relationen der Dinge in der Natur mit ihren eigenen Augen erblickten, hörten ſie nicht mehr bloß auf das, was Andere von dieſen Dingen ge— ſagt hatten, und kurz, die Wiſſenſchaft ſtieg, jo wie der Geiſt der Commentation zu fallen begann. Als die Menſchen einmal dahin gelangten, über wiſſenſchaftliche Gegenſtände ſelbſt zu den— ken, lehnten ſie ſich gegen das angemaßte Recht der Andern auf, die ihnen ihre Meinungen als Geſetze vorſchreiben wollten, und als ſie ihre blinde Bewunderung für die Alten ablegten, fühlten ſie ſich auch veranlaßt, ihren paſſiven Gehorſam für jene Lehrſyſteme ihrer alten Meiſter abzuwerfen. Seit der commentato— riſche Geiſt nicht mehr auf ſie drückte, wollten ſie ſich auch nicht länger mehr dem Dogmatismus der Schule unterwerfen; und ſeit fie fühlten, daß fle ſelbſt im Stande find, Wahrheiten zu ent— decken, fühlten ſie auch ihr Recht und ihre männliche Kraft, dieſe Entdeckungen der Wahrheit ſelbſt auszuführen.

Auf dieſe Weiſe leitete aber das Wiedererwachen klarer Begriffe auch zugleich zu einem Kampfe mit der bürgerlichen und intel— lectuellen Autorität der bisher beſtandenen philoſophiſchen An— ſtalten. Zuerſt zeigte ſich das neue Licht der klaren Begriffe in der Aſtronomie, wo es in dem Gewande des Copernicaniſchen Syſtems auftrat. Allein der dadurch veranlaßte Kampf kam erſt ein Jahrhundert ſpäter zum Ausbruch, als Galilei und ſeine Schüler ſich für die neue Wahrheit erklärt hatten.

Da es nicht meine Abſicht iſt, die Geſchichte der Aſtronomie weiter, als nöthig iſt, zu verfolgen, um die Principien, auf wel— chen der Fortgang der Wiſſenſchaft gegründet wurde, auseinan— der zu ſetzen, fo übergehe ich alle untergeordneten Perſonen und Ereigniſſe, und beſchränke mich bloß auf die großen, leitenden Züge des Gemäldes.

Bei dem erſten Auftreten des Copernicaniſchen Syſtems wirkten vorzüglich zwei Anſichten auf die Gemüther der Menſchen: die Betrachtung des Syſtems als eine bloße Darſtellung der ſcheinbaren Bewegungen der Himmelskörper, und die Betrach— tung deſſelben in Beziehung auf ſeine Urſachen oder die for— melle und die phyſiſche Anſicht der neuen Theorie, d. h. die nun zuerſt neu auftretenden Verhältniſſe zwiſchen Raum und

Bon der formellen und phyſiſchen Aſtronomie. 377

Zeit, und die Relationen zwiſchen Maſſe und Kraft. Dieſe Ein— theilung wurde anfänglich nicht ganz klar aufgefaßt, indem die zweite Anſicht längere Zeit durch mit der erſten auf eine düſtere und ſchwankende Weiſe vermiſcht erſchien und ſich in dieſer gleichſam verloren hatte, bis ſie endlich von ihr getrennt und als eine für ſich beſtehende Erkenntniß bets achtet wurde. Die Anſichten des Copernicus blieben meiſtens nur bei den formellen Bedingungen des Weltſyſtems, bei den Verhältniſſen der Zeit und des Raumes ſtehen. Erſt Kepler, Galilei und andere wur— den durch Controverſe und andere der Sache ſelbſt fremde Ereig— niſſe dahin gebracht, auch den phyſiſchen Verhältniſſen der himmli— ſchen Körper ihre Aufmerkſamkeit zuzuwenden. Auf dieſem Wege entſtand die Mechanik, eine neue Wiſſenſchaft, die ſchnell an Wichtigkeit und Ausdehnung zunahm. Bald nach dieſer Zeit end— lich führten die Entdeckungen Keplers, die ihm von ſeinem zwar unbeſtimmten, aber tiefen Glauben an eine phyſiſche Verbindung aller Theile des Weltalls eingegeben wurden, auf die großen und entſcheidenden Entdeckungen Newtons, durch welche die phy— ſiſche Aſtronomie in ihren Hauptzügen abgeſchloſſen wurde.

Dieſe Unterſcheidung zwiſchen der formellen und der phyſi— ſchen Aſtronomie iſt nothwendig zu einer klaren Darſtellung aller der Verhandlungen, zu welchen das Auftreten des Copernicaniſchen Syſtems Gelegenheit gab. Doch muß bemerkt werden, daß die Aſtronomie, außer der großen Revolution, die ſie in dieſer Zeit erfuhr, auch noch auf dem früher von ihr betretenen Wege meh— rere Fortſchritte machte; in der genaueren Beſtimmung nämlich von ſolchen Bewegungen, die durch die älteren Methoden noch dargeſtellt oder doch, mittels einiger Modificationen derſelben, ihnen noch angepaßt werden konnten. Ich meine hiemit jene neuen Ungleichheiten und Erſcheinungen, die Copernicus, Galilei und Tycho Brahe entdeckten. Da aber dieſe Entdeckungen ſehr bald, mehr in das Copernicaniſche, als in das alte Ptolemäiſche Syſtem, als integrirende Theile deſſelben, aufgenommen wurden, ſo wird man ſie beſſer unter den Entwicklungen des neuen Sy— ſtems aufzählen, und wir werden daher auch von ihnen, in Uebereinſtimmung mit unſerem bisher befolgten Plan, erſt bei der Auseinanderſetzung der Folgen des Copernicaniſchen Syſtems ſprechen.

378 Vorbereitung zu der inductiven Eycibe des Copernicus

Erſtes Capitel.

Vorbereitung zu der inductiven Epoche des Copernicus.

Der Vorzug der Lehre des Copernicus, daß die Sonne der wahre Mittelpunkt aller planetariſchen Bewegungen iſt, hängt vorzüglich von der Betrachtung ab, daß dieſe Vorausſetzung auch alle beobach— teten Erſcheinungen der Planetenwelt auf eine einfache und voll— ſtändige Weiſe darſtellt. Um zu ſehen, ob dieß von dieſer Lehre auch in der That geleiſtet wird, wird vor allem ein beſtimmter Begriff von der Natur der relativen Bewegung, und die Kennt— niß der vorzüglichſten aſtronomiſchen Erſcheinungen erfordert. Es war demnach kein Grund vorhanden, warum eine ſolche Lehre nicht früher ſchon entdeckt, das heißt, als eine auf den erſten Blick annehmbare Hypotheſe aufgefaßt werden ſollte, oder vielmehr, es war zu erwarten, daß auch dieſer Verſuch, gleich mehreren ähnlichen, zur Erklärung der ſcheinbaren Bewegungen des Him— mels, auch von anderen ſchon längſt vorgeſchlagen worden iſt. Es darf uns daher auch nicht verwundern, wenn wir, ſelbſt in den früheren Zeiten der Aſtronomie, und auch ſpäter noch öfter, ein ſolches Syſtem unter den Aſtronomen beſprochen, von einigen als wahr vertheidigt, und von andern wieder als falſch verworfen finden.

Wenn wir aber, in unſeren Tagen, auf dieſe Verſchieden— heit der Anſichten zurückblicken, wir, die wir nun von dem neuen Syſtem eine ſo klare und deutliche Einſicht haben und von der Wahrheit deſſelben ſo innig überzeugt ſind, ſo fühlen wir uns gleichſam gezwungen, jenen früheren Anhängern deſſelben einen ganz beſonderen Scharfſinn, eine ſeltene Wahrheitsliebe zuzu— ſchreiben, und im Gegentheile die Anhänger des Ptolemäiſchen Syſtems für blinde und in Vorurtheilen höchſt befangene Men— ſchen zu halten, die ganz unfähig geweſen ſeyn müſſen, die Schön— heit, die Einfachheit, die Symmetrie der neuen Theorie zu begreifen, ſich von ihrem alten Irrthume los zu machen, und dafür der neuen, ſonnenklaren Wahrheit zu huldigen. Aber indem wir ſo urthei— len, ſind wir wahrſcheinlich ſelbſt in den Anſichten unſerer Zeit

Vorbereitung zu der industiven Epoche des Copernicus. 379

befangen, der wir, ohne es zu wiſſen, unſer Opfer bringen müſſen. Iſt es denn in der That ſchon fo ausgemacht, daß zur Zeit des Copernicus die heliocentriſche Theorie (welche den Mittel— punkt aller planetariſchen Bewegungen in die Sonne verſetzt), ein fo entſchiedenes Recht auf einen Vorzug von der geocentri— ſchen Theorie des Ptolemäus anſprechen dürfte?

Worin beſteht die Baſts jener heliocentriſchen Lehre? Daß die relativen Bewegungen der Planeten dieſelben bleiben, unter der einen, ſo wie unter der anderen Vorausſetzung. In dieſer Beziehung alſo ſtehen beide Theorien gleich feſt und auf demſelben Boden. Aber, ſagt man, auf der Seite der heliocen— triſchen Hypotheſe liegt der Vortheil der größeren Einfachheit. Wohl wahr, aber auf der anderen Seite ſteht das Zeugniß unſerer Sinne, oder mit andern Worten, die geocentriſche Theorie (welche den Mittelpunkt aller himmliſchen Bewegungen in die Erde verſetzt), iſt offenbar die einleuchtendſte, jedermann ſich gleichſam von ſelbſt darbietende Erklärung jener Erſcheinungen. Uebrigens ſind dieſe beiden Vortheile, von der Einfachheit auf der einen, und von der leichtern Verſtändlichkeit oder größeren Deutlichkeit auf der anderen Seite, nur unbeſtimmt und im Grunde nichts entſchei— dend. Ueberhaupt werden wir die Vorzüge ider neuen Theorie nicht leicht feſt begründen können, wenn wir nicht zuerſt beide näher kennen gelernt haben.

Wenn man überdieß die hohe Einfachheit des Copernicani— ſchen Syſtems geltend machen will, ſo darf man nicht ver— geſſen, daß dieſes Syſtem, ſo einfach es auch uns erſcheint, doch im Grunde ſehr zuſammengeſetzt iſt, wenn man dadurch, ſo wie Ptolemäus gethan hat, auch die Ungleichheiten in den Bewegungen der Sonne, des Mondes und der Planeten darſtellen will; und daß es, ſo lange es in den Händen des Copernicus blieb, noch einen guten Theil von den excentriſchen Kreiſen und den Epicykeln ſeines Vorgängers beibehielt, ja daß es die alten Maſchinerien des Ptolemäus in manchen Theilen ſogar noch vermehrte. Ohne dieſe dem neuen Syſteme wieder ange— bängten Epieykel würde es hinter der alten ptolemäifchen Theorie, in der genauen Erklärung der Erſcheinungen, weit zurück geblie— ben ſeyn. Was endlich die Vorgänger des Copernicus, ſelbſt unter den Griechen ſchon, betrifft, die ſich ebenfalls für die

380 Vorbereitung zu der inductiven Epoche des Copernicus.

helibcentriſche Theorie erklärt haben, fo muß bemerkt werden, daß keiner derſelben auch nur verſucht hat, auf welche Weiſe man, in dieſer Vorausſetzung, die großen und mannigfaltigen Ungleichheiten der Planeten erklären ſoll, ſo daß man mit vollem Rechte behaupten kann, daß ſeit der Aufſtellung der epicykliſchen Theorie des Ptolemäus in der geocentriſchen Hypotheſe, durch— aus keine eigentliche heliocentriſche Theorie bekannt gemacht worden iſt, die ſich jener hätte zur Seite ſtellen können.

s iſt wahr, daß all' das Gerüſte von Epicykeln und excen— triſchen Kreiſen, das der geocentriſchen Hypotheſe zu ihren Er— klärungen ſo zu gut gekommen iſt, auch eben ſo wohl auf die heliocentriſche Hypotheſe ihre Anwendung finden konnte. Allein es gehörte vor allem ein mathematiſches Talent dazu, dieſes Problem aufzulöſen. Eben dieß aber war es, was Copernicus unternahm und auch zugleich glücklich zu Ende führte. Vor der Erſcheinung ſeines Werkes aber hatte man von dieſem Syſteme immer nur als von einer ohne weitere nähere Prüfung hingeworfenen Meinung geſprochen, einer Meinung, die ſich wohl mit den ganz allgemeinen Erſcheinungen des Himmels gut zu vertragen ſchien, die aber ſogleich wieder als eine bloße Hypo— theſe in den Hintergrund zurücktrat, wenn man ſie mit der wiſſenſchaftlich ausgearbeiteten Theorie des Ptolemäus verglich, deren Uebereinſtimmung mit den Beobachtungen allgemein an— erkannt war, und auf deren mathematiſche Ausbildung ſo viele vorzügliche Talente unter den Griechen und Arabern Zeit und Mühe verwendet hatten.

Obgleich aber diejenigen, die vor Copernicus ſchon für die heliocentriſche Anſicht ſich erklärt hatten, keineswegs für ein— ſichtsvoller gehalten werden können, als ihre ptolemäiſchen Geg— ner, ſo bleibt es doch immer intereſſant, den Weg, den dieſe ſchon ſehr früh entſtandenen und ſpäter oft wiederholten Mei: nungen genommen haben, kennen zu lernen. Die Griechen hatten ſich ſchon mit viel Beſtimmtheit darüber ausgeſprochen, zum Zeichen, daß ſie den Gegenſtand mit klaren Begriffen und mit kräftigem Geiſte aufgefaßt hatten, ſo wie es im Gegentheile auch als ein Beweis der intellectuellen Schwäche und Servilität des Mittelalters gelten muß, daß ſich, ein ganzes Jahrtauſend hindurch, auch nicht ein einziger Mann gefunden hat, dem es

Vorbereitung zu der inductiven Epoche des Copernicus. 381

eingefallen wäre, den eigentlichen Werth dieſer Hypotheſe näher zu unterſuchen, und ſie, den weiter vorgerückten aſtronomiſchen Kenntniſſen ſeiner Zeit gemäß, darzuſtellen.

Pythagoras iſt der Aelteſte von denen, welchem die Griechen die heliocentriſche Lehre zugeſchrieben haben. Diogenes Laertius aber nennt uns den Philolaus, einen Nachfolger des Pythagoras, als den Erfinder dieſer Hypotheſe. Archimedes ſagt in feiner Sandrechnung, daß Ariſtarch von Samos, fein Zeitgenoſſe, den Satz aufgeſtellt habe, daß die Fixſterne und die Sonne ſtille ſtehen, und daß ſich dafür die Erde in einem Kreiſe um die Sonne bewege. Plutarch “) ſetzt hinzu, daß dieß von Ariſtarch nur als eine Hypotheſe vorgetragen, von Seleucus aber förmlich bewieſen worden iſt. Allein man kann es wohl wagen, zu behaupten, daß zu jener Zeit ein Beweis dieſer Art noch unmöglich geweſen iſt. Ariſtoteles erkannte das Daſeyn einer ſolchen Lehre bloß dadurch, daß er ſich gegen dieſelbe er— klärt. „Alle Dinge, ſagt er ), ſtreben zu dem Mittelpunkt der „Erde und verbleiben dann daſelbſt, alſo könnte auch die ganze „Maſſe der Erde bloß in dieſem Mittelpunkte in Ruhe verblei— ben.“ Auf eine ähnliche Weiſe argumentirt auch Ptolemäus gegen die tägliche Rotation der Erde um ihre Axe. Eine ſolche Bewegung, ſagt er, würde alle nicht befeſtigten Theile dieſer Erde in den Raum des die Erde umgebenden Himmels zerſtreuen. Doch gibt er zu, daß eine ſolche hypothetiſche Vorausſetzung die Erklärung einiger himmliſchen Erſcheinungen ſehr erleichtert. Cicero ſcheint den Merkur und die Venus um die Sonne gehen zu laſſen, wie es auch Martianus Capella in einer ſpäteren Periode (im fünften Jahrhundert) gethan hat. Seneca ſagt ), es ſey ein der Betrachtung des menſchlichen Geiſtes würdiger Gegen— ſtand, zu entſcheiden, ob die Erde in Ruhe oder in Bewegung iſt. Allein zur Zeit des Seneca, wie man an ihm ſelbſt am beſten ſehen kann, war bereits eine gewiſſe Unbeſtimmtheit der Begriffe und ein leeres rhetoriſches Formelweſen an die Stelle jener intellec— tuellen Geiſtesſtärke getreten, die zur Auflöſung ſolcher Pro—

1) Plutarch, Quaest. Plat. in Delambre's Astr. ancienne VI. 2) Man ſehe Copernicus de Revol. 1. 7. 3) Seneca Nat, Quaest. VII. 2.

382 Vorbereitung zu der Inductiven Epoche des Copernicus.

bleme erfordert wird. Die guten Mathematiker und Beobachter jener Zeit, wenn überhaupt deren damals noch einige gefunden wurden, beſchäftigten ſich bloß mit der Ausbildung und der Verification der alten ptolemäifchen Theorie.

Nächſt den alten Griechen ſcheinen noch die Indier jene oris ginelle Klarheit und Kraft des Geiſtes beſeſſen zu haben, aus der allein wahre Wiſſenſchaft entſpringt. Es iſt in der That merkwürdig, daß auch die Indier ſchon eine heliocentriſche Theorie der Planeten hatten. Oryabatta ), der um das Jahr 1320 lebte, und nebſt ihm auch andere Aſtronomen deſſelben Landes, ſollen die Lehre von der Rotation der Erde um ihre Axe in Schutz genommen haben, die aber von den ſpäteren Philoſophen unter den Hindus wieder verworfen wurde.

Einige Schriftſteller haben die Meinung aufgeſtellt, daß Pythagoras oder andere griechiſche Philoſophen die heliocentriſche Theorie von den Nationen des Orients erhalten haben. Dieſe Anſicht ſcheint aber wenig Gewicht zu haben, wenn man bedenkt, daß dieſe Lehre, in der von den Alten aufgeſtellten Form, zu einfach und augenfällig war, um erſt viel fremden Unterricht nothwendig zu machen; daß ſie von den orientaliſchen Völkern, wie wir dieſelben kennen, gewiß keinen weſentlichen Zuſatz erhielt und auch nicht erhalten konnte, und daß endlich jeder eigentliche Aſtronom ſie entweder annehmen oder verwerfen mußte, nicht weil ſie ihm von dieſem oder jenem Meiſter in der Wiſſenſchaft gelehrt worden iſt, ſondern weil er ſelbſt entweder ſeiner Neigung zur geometriſchen Einfachheit, oder dem Zeugniß feiner eigenen Sinne den Vorzug geben wollte. Wahre Wiſſenſchaft, die von einer klaren Einſicht in die Verhältniſſe der äußeren Erſchei— nungen zu den allgemeinen theoretifchen Ideen abhängt, kann nicht auf dem Weg der Geheimnißkrämerei oder der ausſchließ— lichen Tradition einer Kaſte, gleich den Vortheilen mancher Künſte und Gewerbe, mitgetheilt werden. Wenn der wiſſen— ſchaftliche Mann nicht ſelbſt ſieht, daß eine Theorie der Wahrheit gemäß iſt, ſo iſt ihm wenig daran gelegen, daß er bloß hört, ſie ſey von dieſen oder jenen behauptet worden.

Man kann daher denjenigen nicht beiſtimmen, die in dieſer heliocentriſchen Doctrin die alten Spuren einer viel weiter

4) Usef. Knowl. Hist Astron. S. 11.

Vorbereitung zu der inductiven Epoche des Copernicus. 383

vorgerückten Aſtronomie erblicken wollen, als die iſt, welche wir von ihnen durch ihre Schriften erhalten haben. Dieſe Doctrin war nichts anderes, als eine Meinung, eine bloße Vermuthung von Männern, die mit einem kräftigen geometriſchen Talente begabt waren, aber dieſe Meinung hatte keinen weſentlichen Einfluß auf die Geſtalt oder den Inhalt der aſtronomiſchen Er— kenntniſſe jener Zeiten. Man dürfte ſelbſt ſagen, daß die geo— centriſche Lehre des Ptolemäus, da ſie die dem Sinnenſcheine ge— mäßere, alſo die ſich uns zunächſt anbietende iſt, auch in der Zeit als die erſte auftreten, und daher gleichſam den Weg zu der heliocentriſchen Lehre des Copernicus erft vorbereiten mußte. Der Grund, den die Alten für die heliocentriſche Doctrin anführten, war, wie bereits geſagt, ihre hohe Einfachheit und ihre geometriſche Uebereinſtimmung mit den allgemeinen Erſchei— nungen des Himmels. Es war aber nicht wahrſcheinlich, daß der menſchliche Geiſt dieſen Gegenſtand lange bloß in dieſem beſchränkten Lichte betrachten ſollte. Sein Hang zu anderen, entfernteren Gründen und Speculationen führte ihn bald wieder zu jenen allgemeinen und unbeſtimmten Ideen, denen er fo gern alles unterzuordnen gewohnt iſt. Ganz eben fo, wie man für die geocentriſche Lehre geſagt hatte, daß die ſchwerſten Körper ihrer Natur nach gegen den Mittelpunkt ſtreben, ſo wurde auch, als leitendes Princip für die heliocentriſche Lehre angeführt, daß das Feuer, als das edelſte Element, nothwendig in dem Mittelpunkte des Weltalls wohnen müſſe. Sogar das Anſehen der Mythologie wurde, und zwar für beide Partheien, zu Hülfe gerufen. So ſoll Numa, wie uns Plutarch) berichtet, einen kreisrunden Tempel über dem ewigen Feuer der Veſta, das in dem Mittelpunkte dieſes Tempels brannte, erbaut haben, indem er dadurch, nicht die Erde, ſondern den Himmel darſtellen wollte, in deſſen Mitte, dem Pythagoras zu Folge, das Feuer wohnt. An einer anderen Stelle ſeiner Werke läßt Plutarch einen ſeiner Zwiſchenredner ſagen: „Nur ziehe mich „deshalb nicht mit einer Klage über Unglauben vor Gericht, wie „Ariſtarch der Samier der Ruchloſigkeit beſchuldigt wurde, weil „er den Mittelpunkt des Univerſums verrückt haben ſollte,“ was übrigens von mehreren nur für eine Scherzrede gehalten wird.

5) Plutarch. De Facie in Orbe Lunae. 6.

384 Vorbereitung zu der inductiven Epoche des Copernicus.

Ueberhaupt waren die phyſiſchen Anſichten über die Urſachen der Bewegungen einzelner Theile des Weltalls eben ſo dunkel und ungewiß, als die über die Verhältniſſe der vier Elemente, bis endlich Galilei die erſten wahren Principien von der Mecha— nik entdeckte. Obſchon daher, bald nach Copernicus, aus dieſen Gründen viel für und wider geſtritten wurde, ſo wurde doch nichts entſchieden. So wurde von den Anhängern der neuen Lehre die ungeheuere Maſſe des Himmels als ein Grund gegen die Bewegung deſſelben angeführt, während die anderen wieder behaupteten, daß die Erde, wenn ſie ſich in der That ſo ſchnell um ſich ſelbſt bewegt, alle Körper von ihrer Oberfläche wegſchleu— dern müßte u. ſ. w. Bei dem damaligen Zuſtande der mecha— niſchen Kenntniſſe konnten aber alle ſolche Schlüſſe nicht anders als unbeſtimmt und nicht entſcheidend ſeyn.

Noch müſſen wir eines Vorgängers des Copernicus erwähnen, des Cardinals Nicolaus de Cuſa, der in der erſten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts gleich berühmt als theologiſcher und als mathematiſcher Schriftſteller war ?). Er ſchlug in der That in feinem Werke »De docta ignorantia“ die Lehre von der Be— wegung der Erde vor, jedoch mehr in der Form eines Parado— xons, als in der eines als wahr erkannten Satzes, ſo daß man dieß nicht als eine wahre Anticipation der neuen Lehre betrach— ten kann.

Wir wollen nun dieſe Lehre ſelbſt, ihre allmählige Verbrei— tung und ihre nächſten Folgen näher kennen lernen.

6) Nicolaus de Cuſa, einer der gelehrteſten Männer ſeiner Zeit, war 1401 bei Trier geboren, wurde vom Pabſt Nicolaus VI. zum Car— dinal ernannt und als Geſandter an den deutſchen Höfen in Staats— geſchäften häufig verwendet. Daß er jene Lehre nur als ein ſinn— reiches Paradoxon vortrug, geſchah wahrſcheinlich, um ſich vor Anfeindungen zu ſchützen. Außer dem oben angeführten Werke beſitzen wir noch feine auf die Correction der Alphonſiniſchen Tafeln gegründete Verbeſſerung des Kalenders. Er glaubte auch die Qua— dratur des Eirkels gefunden zu haben, aber Regiomontan zeigte ihm den Irrthum ſeiner Schlüſſe. Seine Werke erſchienen zu Baſel i. J. 1665. Er ſtarb 1464 zu Todi in Umbrien. I.

Zweites Capitel.

Induction des Copernicus. Die heliocentriſche Lehre wird auf formellem Grunde errichtet.

Erinnern wir uns zuvörderſt, daß die formellen Gründe einer Theorie von den phyſiſchen Gründen derſelben ganz verſchieden ſind, indem die erſten nur eine Darſtellung von den Verhältniſſen der äußeren Erſcheinungen in Raum und Zeit, das heißt, von den beobachteten Bewegungen geben, wäh— rend die letzteren die Urſachen dieſer Bewegungen, die ſich auf Kraft und Maſſe beziehen, aufſtellen. Die kräftigſten Gründe, durch welche Copernicus zu der Entdeckung und Annahme ſeines Syſtems geführt wurde, waren von der erſten, der formellen Art. Er wäre, ſagt er in ſeiner dem Pabſte Paul III. gewid— meten Einleitung ſeines Werkes, unzufrieden mit dem Mangel an Symmetrie des alten Syſtems, und der vielen Zweifel über daſſelbe überdrüßig geworden, deshalb hätte er in den Werken der Philoſophen nachgeſucht, ob ſie nicht andere von den angenom— menen verſchiedene Anſichten der himmliſchen Bewegungen enthal— ten. Auf dieſe Weiſe fand er in den Schriften der Alten meh— rere Nachrichten von Philolaus und anderen, welche die Bewegung der Erde annahmen. „Dann fing ich, fest er fort, ſelbſt an, über „dieſe Bewegung der Erde nachzudenken, und obſchon eine ſolche „Meinung abſurd ſcheint, ſo wußte ich doch, daß in früheren „Zeiten Jedermann erlaubt war, ſich die Kreiſe nach Be— „lieben auszuwählen, durch welche er jene Erſcheinungen erklären „wollte, und daß ich daher auch die Erlaubniß haben werde, zu— „zuſehen, ob es durch die Annahme einer bewegten Erde mög— „lich wäre, von jenen himmliſchen Bewegungen beſſere Erklärun— „gen, als die bisher vorgebrachten, aufzufinden. Nachdem ich „auf dieſe Weiſe durch lange und mühſame Studien zu der An— „nahme von denjenigen Bewegungen der Erde, von welchen ich „in dieſem Werke reden werde, gelangt bin, fand ich zugleich, „daß, wenn die Bewegungen der anderen Planeten mit denen der

Whewell, I. 25

386 Induction des Copernicus.

„Erde verglichen werden, nicht nur die Erſcheinungen derſel— „ben vollkommen erklärt werden, ſondern auch, daß die verſchie— „denen Bahnen dieſer Planeten und daß überhaupt das ganze „große Syſtem derſelben, in Beziehung auf Ordnung und Größe, ſo „wohl verbunden ſind, daß man keinen Theil des Syſtems ändern „kann, ohne dadurch das Ganze zu ſtören und das geſammte „Weltall in Unordnung zu bringen.“

Dieſe befriedigende Darſtellung der äußeren Erſcheinungen der Planeten, und dieſe Einfachheit und Symmetrie ſeines Sy— ſtems, waren alſo die Gründe, durch welche er zur Annahme deſſelben bewogen wurde, wie ihn auch nur eine Vorliebe für eben dieſe Eigenſchaften zu dem Aufſuchen eines ſolchen neuen Syſtems bewogen hatte. Offenbar war auch hier, wie bei jeder wiſſenſchaft— lichen Entdeckung, der klare Beſitz einer abſtracten Idee, und die Geſchicklichkeit, eine von der Natur gegebene Erſcheinung unter dieſe allgemeine ideelle Conception zu ſubſummiren, der leitende Faden in dem Geiſte des Entdeckers. Er mußte ein vorzügliches geometriſches Talent, und er mußte auch nicht gewöhnliche aſtrono— miſche Kenntniſſe beſitzen. Er mußte die Folgen ſeiner Annahme, die ſcheinbaren Bewegungen nämlich, die aus der von ihm ange— nommenen reellen Bewegung entſpringen, mit beſonderer Klarheit in ſeinem Geiſte erkennen, ſo wie er zugleich alle die Unregel— mäßigkeiten jener ſcheinbaren Bewegungen, von welchen er nun Rechenſchaft geben ſollte, genau kennen mußte. Daß er aber dieſe beiden Eigenſchaften in der That beſaß, davon finden ſich die Be— weiſe in ſeinem Werke. Er verlangt vor allem von dem Leſer deſſelben eine ruhige und fortgeſetzte Betrachtung der von ihm aufgeſtellten Theorie, als die Hauptbedingung zu ihrer Anerken— nung und Aufnahme. „Wenn ihr, ſagt er, die Erde in Bewe— „gung und den Himmel in Ruhe annehmt, ſo werdet ihr, si „serio animadvertatis, wenn ihr dieß mit männlichem Ernſt „unterfucht, finden, daß daraus fofort die ſcheinbare tägliche Be— „wegung dee Himmels folgt.“ Und nachdem er weiterhin alle feine Gründe für das neue Syſtem aus einander geſetzt hat, fährt er fort: „Wir nehmen daher keinen Anſtand zu geſtehen, daß der „ganze Raum innerhalb der Mondsbahn zugleich mit dem Mittel— „punkt der Erde ſich jährlich, gleich jedem der übrigen Planeten, „um die Sonne bewegt, da die Größe des Weltalls fo gewaltig ers „icheint, daß ſelbſt die Entfernung der Erde von der Sonne nur als

Die heliocentr. Lehre wird auf formell. Grunde errichtet. 387

„eine ganz verſchwindende Größe zu betrachten iſt, wenn fie mit „dem Halbmeſſer der Sphäre der Firfterne verglichen wird. „Alles dieß, ſo ſchwer und beinahe unbegreiflich es auch manchen „erſcheinen, und ſo ſehr es auch gegen die Anſicht des großen „Haufens ſeyn mag, alles dieß wollen wir, in der Folge unſeres „Werkes, mit Gottes Hülfe, klarer noch, als die Sonne machen, „wenigſtens für diejenigen, die nicht aller mathematiſchen Kennt— „niſſe baar und ledig find ).“

Da die alte geocentriſche Hypotheſe den Planeten jene Be— wegungen in der That zuſchrieben, obſchon ſie nur ſcheinbar waren, indem ſie bloß von der reellen Bewegung der Erde kamen, ſo it ſchon daraus klar, daß die neue helivcentrifche Bewegung die ganze Theorie der Planeten viel einfacher machen mußte, als ſie bisher geweſen iſt. Kepler?) zählt eilf verſchiedene Bewegungen des Ptolemäiſchen Syſtems auf, die alle durch die Einführung der copernicaniſchen Theorie überflüſſig geworden und weggefallen ſind.

Da aber die wahren Bewegungen der Erde ſowohl, als auch die aller Planeten an ſich ſelbſt ungleichförmig ſind, ſo mußte man noch ein anderes Mittel haben, dieſe Ungleichheiten darzu— ſtellen, und ſonach wurde denn auch die alte Theorie von den Epicy— keln und excentriſchen Kreiſen, ſo weit ſie zu dieſem Zwecke nöthig war, noch ferner beibehalten. Die Planeten bewegen ſich, nach der Lehre des Copernicus, um die Sonne mittels eines deferirenden Kreiſes, auf deſſen Peripherie der Mittelpunkt des den Planeten enthaltenden Epicykels einhergeht. Die Halbmeſſer dieſer beiden Kreiſe wurden etwas verſchieden von denen, die Ptolemäus angenommen hatte, gewählt, aus Gründen, die wir ſogleich näher angeben wollen. Dieſe excentriſchen Kreiſe und dieſe Epicykel blieben aber, auch in dem neuen Syſteme, noch nahe ein Jahr— hundert im Gebrauch, bis ſie endlich, durch Kepler's Entdeckungen, für immer verbannt wurden.

Nebſt der täglichen Rotation der Erde um ihre Axe und der jährlichen Bewegung derſelben um die Sonne, gab ihr Copernicus noch eine dritte Bewegung, einen motus in declis

1) Copernicus, Revol. Introd. 2) Kepler, Myst. Cosm. Cap. 1. 25*

388 Induction des Copernicus.

natione, wie er ſie nannte, durch welche die Richtung der Erd— axe durch das ganze Jahr ſich ſelbſt immer parallel bleiben, alſo verlängert immer durch dieſelben zwei Punkte des Himmels gehen ſollte. Allein dazu bedurfte es keiner eigentlichen dritten Bewegung. Die Erdare bleibt ſich ſelbſt parallel, weil nichts da iſt, was ihre Lage ändern könnte, wie etwa ein Strohhalm auf der Oberfläche einer Waſſerſchale ſeine parallele Lage bei— behält, wenn auch die Schale in einem Zimmer rund herum getragen wird. Dieß wurde auch von Rothmann, einem Schüler und Freund des Copernicus, wenige Jahre nach der Erſcheinung des Werkes feines großen Lehrers, bemerkt ). „Es iſt, ſagt er „in ſeinem Brief an Tycho Brahe, es iſt kein Grund für dieſe dritte „Bewegung der Erde vorhanden, denn die tägliche und jährliche „Bewegung derſelben reicht für alles aus.“ Dieſer Fehler des Copernicus, wenn er als ein Fehler bezeichnet werden ſoll, kam daher, daß er die Lage der Erdaxe auf einen beſtimmten Raum beſchränkte, auf denjenigen Raum des Himmels nämlich, den die Erde zugleich mit ſich jährlich um die Sonne führen ſollte, ſtatt daß er dieſe Lage in Beziehung auf den unbegrenzten Raum des Himmels oder der Fixſterne betrachten ſollte. Wenn in einem Planetarium die durch einen feſten Stab mit der Sonne ver— bundene Erde um die Sonne geführt wird, ſo muß allerdings der Erdaxe durch eine eigene Maſchinerie noch eine neue Bewe— gung gegeben werden, um den Parallelismus dieſer Axe zu er— halten. Eine ähnliche Verwirrung des geometriſchen Begriffs, die durch die gedoppelte Beziehung auf den abſoluten Raum und auf den Mittelpunkt der Bewegung entſteht, hat auch zu dem bekannten Streite Anlaß gegeben, ob der Mond, der bei ſeiner Bewegung um die Erde der letzten immer dieſelbe Seite zeigt, ſich dabei um ſeine Axe drehe oder nicht.

Wegen der Präceſſion der Nachtgleichen bleibt aber die Erd— axe eigentlich nicht genau ſich ſelbſt parallel, ſondern ſie weicht jährlich um einen, übrigens ſehr kleinen, Winkel davon ab. Co— pernicus ſetzte irrigerweiſe voraus, daß dieſe Präceſſion in einer ungleichförmigen Bewegung dieſer Axe beſtehe, und ſeine Erklärung derſelben, die allerdings ſchon einfacher als jene der Alten iſt, wird

3) Tycho, Epist. I. p. 184 von dem Jahre 1590.

Die heliocentr. Lehre wird auf formell. Grunde errichtet. 389

dieß noch mehr, wenn dieſe Bewegung gleichförmig angenommen wird, wie ſie es auch in der That iſt.

Der dem Menſchen angeborne Hang, welcher uns in der Auf: ſuchung der Urſachen und der Geſetze der Erſcheinungen immer vorwärts treibt, derſelbe Hang, dem wir das Copernicaniſche Syſtem und überhaupt alle unſere wiſſenſchaftlichen Entdeckungen verdanken, hat auch noch das Merkwürdige, daß er gewöhnlich weit über fein eigenes Ziel herausgeht. Indeß findet er doch immer etwas, wenn er auch nach ganz anderen und größeren Din— gen ausgeht. Schon oft hat er auf dieſem Wege die wirklich in der Natur beſtehende Ordnung und die wahren Verhältniſſe ihrer Erſcheinungen gefunden, während er auf ganz andere, bloß imaginäre Verhältniſſe Jagd gemacht hatte. Auf dieſe Weiſe vermiſchen ſich auch häufig reelle Entdeckungen mit ganz grundloſen Hypotheſen, Ausgeburten der Phantaſie mit den Erzeugniſſen des tief forſchenden Verſtandes, und dieſe Ver— miſchung zweier ſo heterogenen Elemente würden wir vielleicht ohne Ausnahme bei allen Entdeckungen bemerken, wenn wir die Gedanken der Entdecker und die Wege, welche ſie gegangen ſind, eben ſo ſehen könnten, wie wir ſie z. B. in den Werken Kepler's vor unſeren Augen liegen haben. Nur durch Anfangs mißlun— gene Verſuche gelangen wir gewöhnlich zu den gelungenen, und das wahre wiſſenſchaftliche Talent erkennt man nicht daran, daß er nur wahre und richtige Hypotheſen aufſtellt, ſondern darin, daß ſeine Hypotheſen alle klar aufgefaßt und in eine ſtetige Verbindung mit der Erſcheinung gebracht werden, die man durch jene erklären will. Das Talent ſieht klar und unterſcheidet deutlich den Begriff und den ihm zu Grunde liegenden Gegenſtand. Unter ſolchen Umſtänden aber iſt ihm kein Vorwurf, ſondern vielmehr Lob zu ertheilen, daß er alle, auch die irrigen Wege verſucht, daß er nach jedem Schein von einem allgemeinen Geſetze haſcht, und daß er jedes Mittel ſucht und prüft, welches ihm die ge— wünſchte Einfachheit und Uebereinſtimmung zu verſprechen ſcheint.

Copernicus macht keine Ausnahme von dieſer allgemeinen Regel, und ſein Werk ſelbſt gibt uns ein redendes Beiſpiel von dieſem Charakterzug des Erfindungsgeiſtes. Der Grundſatz der Alten, daß die himmliſchen Bewegungen alle gleichförmig ſeyn und in Kreiſen vor ſich gehen müſſen, erſchien auch ihm als eine unerläßliche Forderung, der man ſich nicht entziehen darf, und

390 Induction des Copernicus.

ſeine Theorie der planetariſchen Bewegungen, ſo weit ſie die Ungleichheiten derſelben betrifft, iſt ganz dieſer Erläuterung ge— mäß von ihm ausgebildet worden. Er behielt die Epicykel des Ptolemäus bei, und ſein Beſtreben ging nur dahin, ſie beſſer noch, als der alte Grieche, anzuwenden. Die Zeit, das ganze Syſtem zu verwerfen, war noch nicht gekommen, und dazu mußten erſt die Beobachtungen Tycho's und die Berechnungen Kepler's abgewartet werden.

Es iſt nicht meine Abſicht, die Theorie der planetariſchen Ungleichheiten, wie fie Copernicus aufgeſtellt hat, hier umftändlic) aus einander zu ſetzen. Er behielt, wie geſagt, die Epicykel und die excentriſchen Kreiſe der Alten bei, aber er änderte die Mittel— punkte ihrer Bewegungen; das heißt, er behielt von dem alten Syſteme das, was man das Weſen deſſelben nennen konnte, und überſetzte es in die Sprache ſeines neueren Syſtems. Dieſe Modification der alten ptolemäiſchen Einrichtung wurde ſo lange beibehalten und ſelbſt bewundert, bis Kepler durch ſeine elliptiſche Theorie das ganze epicykliſche Gerüſte für immer zer— ſtörte. Doch muß man bemerken, daß Copernicus ſelbſt ſchon mehrere Unzukömmlichkeiten dieſer alten Theorie bemerkte. Für Merkur z. B., deſſen Bahn ſehr excentriſch iſt, ſucht er ſich durch mehrere in der That etwas verwickelte Annahmen zu helfen, die aber doch zugleich zeigen, daß er die Unvollkommenheit dieſer Theorie ſehr deutlich ahnte. Für den Mond ſchlägt er ſogar eine ganz neue Theorie vor, eine Theorie, die in der That auf denſelben Gründen beruhte, aus welchen ſpäterhin der eigentliche Untergang der epicykliſchen Theorie entſprungen iſt, nämlich auf der Unmöglichkeit, durch dieſe Theorie auch die Variationen des ſcheinbaren Halbmeſſers des Mondes darzuſtellen.

Ohne allen Zweifel wußte Copernicus mit der mathematiſchen Klarheit ſeiner Ideen, und mit ſeinen tiefen aſtronomiſchen Ein— ſichten auch eine große Kraft und Kühnheit des Geiſtes zu ver— binden, um ſein von allen bisherigen ſo gänzlich verſchiedenes Syſtem fo feſt auffaſſen und fo vollſtändig entwickeln zu können. Sein Schüler und Freund Rheticus ſchreibt von ihm an Schoner: „Ich bitte dich, dieſe Anſicht von meinem gelehrten Meiſter feſt— „zuhalten, daß er ein eifriger Bewunderer und Nachfolger des „Ptolemäus geweſen iſt, daß er aber, von den äußeren Erſchei— „nungen und von der inneren Ueberzeugung gedrängt, wohl zu

Die heliocentr. Lehre wird auf formell. Grunde errichtet. 391

„thun glaubte, daſſelbe Ziel, wie Ptolemäus, zu verfolgen, nur „mit einem ganz anderen Bogen und auch mit einem andern Pfeil. „Erinnern wir uns, daß Ptolemäus ſelbſt gejagt hat: J Ö'ekev- „Veo eπν i, TI Yvayın Tov uerkovra gıAocogeıv, wer der Wiſſen— „ſchaft wahrhaft dienen will, muß vor allem freien Geiſtes ſeyn.“ Dann ſucht Rheticus ſeinen Meiſter von dem Vorwurfe der Nichtachtung gegen die Alten zu befreien: „Dieſe, ſagt er, iſt „jedem braven Manne fremd, vorzüglich dem weiſen Manne, und „gewiß keinem mehr, als meinem Lehrer. Er war weit davon „entfernt, die Meinungen der alten Philoſophen ſchnell zu ver— „werfen, und nur gewichtige Gründe, nur unwiderſtehliche That— „lachen, gewiß aber nie die Liebe zu Neuerungen, konnte ihn „zu einem ſolchen Schritte bewegen. Seine Jahre, der Ernſt „ſeines Charakters, feine tiefe Gelehrſamkeit und der Edelſinn „eines großmüthigen Geiſtes entfernten ihn ſehr weit von „einem ſolchen Hange, der nur der Jugend, oder heftigen und „leichtbeweglichen Gemüthern, oder endlich jenen angehört, die ſich „auf ihre kleinen Kenntniſſe große Dinge einbilden, rr ueya goovavraov enı Oewpız wıxon, wie Ariftoteles jagt.“ In dieſer Achtung vor den großen Männern, die ihm vorausgegangen ſind, verbunden mit dem Talente, den Geiſt ihrer Lehre auch dann noch feſtzuhalten, wenn das todte Wort derſelben nicht mehr haltbar iſt, darin beſteht ohne Zweifel die eigentliche geiſtige Con— ſtitution aller großen Erfinder.

Nebſt dieſer intellectuellen Kraft aber, die zur Errichtung eines ganz neuen Syſtems erfordert wurde, war auch kein kleiner Grad von Muth zur öffentlichen Bekanntmachung ſeiner Entdeckungen nothwendig. Sie waren mannigfaltigen Streitigkeiten und Gegen— reden, ſie waren der Deutung einer böswilligen Abſicht, und ſelbſt dem Vorwurfe der Ketzerei bloßgeſtellt. Doch war wohl dieſe letzte Gefahr nicht ſo groß, als man von den heftigen Kämpfen und den gewaltſamen, ſelbſt gerichtlichen Handlungen ſchließen möchte, die ſpäterhin zu Galilei's Zeiten eintraten. Der Dogmatismus des Mittelalters, der ſich ſeinem Untergange näherte, behandelte zwar wiſſenſchaftliche und religiböſe Wahrheiten für identiſch, aber er fand ſich doch, wenigſtens damals noch, nicht unmittelbar durch den Fortſchritt der phyſiſchen Erkenntniß angegriffen, daher er auch den neuen geiſtigen Bewegungen mit ruhiger Gleich— gültigkeit zuſah. Dennoch wurden auch jetzt noch die Anforde—

392 Induction des Copernicus.

rungen der Schrift und der kirchlichen Autorität als die höchſten in allen Dingen betrachtet, und gar manche mochten durch die neuen ſchriftlichen Auslegungen, die aus jener Lehre folgten, beunruhigt und ſelbſt gekränkt werden. Copernicus ſcheint dieſes Uebel vorhergeſehen zu haben, und aus dieſer und noch mancher andern Urſache hielt er wohl die Bekanntmachung ſeines Werkes ſo lange zurück. Er gehörte ſelbſt dem geiſtlichen Stande an und war, vielleicht durch Unterſtützung ſeines Onkels von mütterlicher Seite, Präbendarius der Johanneskirche zu Thorn und Domherr von der Kirche zu Frauenburg in der Diöceſe von Ermeland ). Er hatte früher in Bologna ſtudirt, wurde i. J. 1500 Profeſſor der Mathematik in Rom, und ſpäter ſetzte er ſeine Studien und Beobachtungen zu Frauenburg, am Ausfluffe der Weichſel, fort. Die Entdeckung ſeines neuen Syſtems muß ſchon vor dem Jahre 1507 ſtattgehabt haben, denn im Jahre 1543 berichtet er Pabſt Paul III., in der Dedication ſeines Werkes, daß er ſeine Schrift viermal die Zeit von neun Jahren, die Horaz empfiehlt, bei ſich zurückgehalten und daß er dieſelbe auch dann noch nur auf das ernſtliche Zureden ſeines Freundes, des Cardinals Schomberg, deſſen Brief den Werfen beigedruckt iſt, herausgegeben habe. „Obſchon ich weiß, ſetzt er hinzu, daß die Ideen eines Philoſophen „nicht von der Meinung der Menge abhängen, da ſein Zweck iſt, „in allen Dingen der Wahrheit nachzuſtreben, fo weit dieß von „Gott dem menſchlichen Verſtande erlaubt iſt; ſo mußte ich doch, „bei der Betrachtung, daß meine Theorie vielen abſurd erſcheinen „wird, lange anſtehen, ob ich mein Werk bekannt machen, oder „ob ich den Inhalt deſſelben, nach den Beiſpielen der Pythago— „räer, nur durch mündliche Tradition meinen Freunden mittheilen ſoll.“ Man bemerke aber, daß er hier nur von den Aſtronomen, nicht von den anderen Zeloten ſeiner Zeit ſpricht. Die letzteren ſcheint er in der That für viel weniger furchtbar zu halten. „Wenn es, ſagt er am Ende ſeiner Vorrede, wenn es vielleicht „einige uararoAoyoı (eitle Schwätzer) gibt, die nichts von Mathe: Fmatik verſtehen, die aber aus einigen zu ihrer Abſicht liſtig ver: „zerrten Stellen der Schrift ihr Urtheil fällen und mein Unter— „nehmen tadeln und angreifen wollen, ſo beachte ich ſie nicht weiter „und ſehe auf ihre Ausſprüche als auf unüberlegte verächtlich

4) Rheticus, Nax. S. 94.

Die heliocentr. Lehre wird auf formell. Grunde errichtet. 393

„herab.“ Er ſchickt ſich dann an, zu zeigen, daß die Kugelgeſtalt der Erde, (die daher unter den Aſtronomen ſeiner Zeit ein bereits unbeſtrittener Punkt ſeyn mußte), aus ähnlichen Gründen auch von Lactantius angegriffen worden ſey, der in andern Rückſichten wohl ein ſehr achtbarer Schriftſteller ſey, in dieſer aber nur ſehr kindiſch geſprochen habe. In einem andern dem Werke beige— druckten Briefe, (der nach Kepler *) von Andreas Oſiander ſeyn ſoll), wird der Leſer erinnert, daß die Hypotheſen der Aſtronomen nicht als unumſtößliche Wahrheiten, ſondern nur als Mittel, die Erſcheinungen zu erklären, aufgeſtellt zu werden pflegen. Dieſe Ausflucht ſcheint in der That auch noch jetzt gebraucht zu werden, wenn man die Schwierigkeiten vermeiden oder umgehen will, die aus der Lehre von der Bewegung der Erde, wenn ſie mit meh— reren Stellen der Schrift verglichen wird, entſtehen. Die be— kannten Herausgeber der Principien Newton's von der G. J. haben dem dritten Buche dieſes Werkes eine Declaration beige— fügt, daß auch ſie die Bewegung der Erde nur als eine Hypo— theſe gelten laſſen, und dabei ſich den höheren Befehlen gegen dieſe Bewegung der Erde willig unterwerfen. Latis a summis P. contra telluris motum deeretis nos obsequi profitemur. Uebrigens muß man auch bedenken, daß zur Zeit des Copernicus die Lehre von der Bewegung der Erde noch nicht mit den Geſetzen der Mechanik in engerer Verbindung geſtanden iſt und daher auch nicht ſo deutlich als wahrhaft beſtehend erkannt werden konnte, als in ſpäteren Zeiten.

Dieſer lange Aufſchub des großen Werkes brachte endlich den Verfaſſer deſſelben an den Rand ſeines Lebens. Er ſtarb in demſelben Jahr (1543), in welchem feine Schrift erſchien “). Doch

5) M. ſ. das Motto zu Kepler's: De stella Martis.

6) Nicolaus Copernicus war zu Thorn i. J. 1472 nach Juncten (oder nach Mäſtlin i. J. 1473) geboren. Sein Vater, Nicolaus Köper— nik, war ein Wundarzt in Krakau, und ſeine Mutter Bar— bara Watzelrodt, war eine Schweſter des Biſchofs von Ermeland, Seine erſten höheren Studien machte er auf der Univerſität von Krakau, wo er auch den mediciniſchen Doctorgrad erhielt. In feinem 2ꝛ3ſten Jahre unternahm er eine Reiſe nach Italien, wo er ſich zuerſt in Bologna bei dem berühmten Aſtronomen Dominic Maria Movarra aufhielt, und dann nach Rom zog, wo er eine

394 Induction des Copernicus.

war bereits vor dieſer Epoche ſein Syſtem gewiſſermaßen ſchon bekannt und auch ſein Ruhm überall verbreitet. Der Cardinal

Lehrerſtelle der Mathematik erhielt. Nach einigen Jahren kehrte er nach Thorn zurück und erhielt durch Verwendung ſeines Oheims, des Biſchofs von Ermeland, ein Canonicat an dem Domſtifte zu Frauenburg. Die erſten Jahre daſelbſt brachte er in Streitigkeiten mit dem deutſchen Ritterorden zu, der Eingriffe in die Rechte ſeines Stiftes machen wollte. Nachdem er ſich Ruhe verſchafft hatte, lebte er ganz ſeinem Amte und ſeinen Studien. Von ſeinem Biſchofe und ſelbſt von dem Könige wurde er öfter zu Staats— geſchäften, unter dieſen auch zur Regulirung des damals ſehr ver— fallenen Münzfußes in Polen verwendet. Seine Muſeſtunden widmete er der Aſtronomie, zu welchem Zwecke er ſich ſelbſt meh— rere Inſtrumente, größtentheils aus Holz, verfertiget und damit viele Beobachtungen gemacht haben ſoll. Seit dem Jahre 1516 legte er ſich beſonders auf eine genauere Beſtimmung der Umlauf— zeit des Monds, wozu ihn die auf dem lateranifchen Concilium auf's neue angeregte Kalenderverbeſſerung veranlaßte, die aber erſt ſpäter i. J. 1582 von Gregor XIII. ausgeführt wurde. Um das Jahr 1530 ſcheint er bereits ſein großes Werk, das die Entdeckung der neuen Weltordnung enthielt, geſchrieben zu haben, mit deſſen Bekanntmachung er bis zu dem Jahre 1542 zurückhielt. Im Jahre 1536 erhielt der Cardinal Nicolaus Schomberg eine Abſchrift des Werkes von ſeinem Verfaſſer und drei Jahre nachher legte Rheti— cus, Profeſſor in Wittenberg, ſeine Lehrerſtelle nieder, um ſich zu Copernicus zu begeben, um von ihm ſelbſt ſein neues Syſtem ken— nen zu lernen. Rheticus ließ noch in dem Jahre 1539 eine an den Mathematiker Schoner in Nürnberg gerichtete Abhandlung unter dem Titel „Narratio“ drucken, und durch dieſe Schrift wurde die Entdeckung ſeines Meiſters zuerſt allgemein bekannt. Unter den Gründen, die den Copernicus zu der langen Zurückhaltung ſeines Werkes bewogen, ſoll auch der geweſen ſeyn, daß er die Spötteleien der Unwiſſenden von ſich abhalten wollte. Seine Gegner, die ihn für einen ruhmſüchtigen Neuerer verſchrieen, hatten einen Kommödien— ſchreiber beredet, daß er, wie Ariſtophanes den Sokrates, den Aſtrono— men auf die Bühne bringe und vor dem Volke lächerlich mache. End— lich wollte er, von ſeinen Freunden gedrängt, bloß die Tafeln der Sonne und der Planeten, wie ſie aus ſeiner neuen Theorie folgten, bekannt machen, in der Hoffnung, wie er ſagte, daß die Kenner aus dieſen Tafeln auf die ihnen zu Grunde liegende Theorie wer— den zurückſchließen können. Allein damit waren ſeine Freunde, beſonders der Biſchof von Culm, Tiedemann Gieſe, nicht einvers

Die heliocentr. Lehre wird auf formell. Grunde errichtet. 395

Schömberg jagt in feinem ſchon erwähnten Brief von d. J. 1536: „Wenn ich vor Jahren ſchon von fo vielen Perſonen Ihre Ber: „dienfte rühmen hörte, jo wuchs meine Liebe zu Ihnen immer „mehr, und ich wünſchte allen unſern Zeitgenoſſen Glück, in deren „Mitte Sie auf eine ſo ehrenvolle Weiſe glänzen. Ich habe „nämlich vernommen, daß Sie nicht bloß mit den Entdeckungen „der griechiſchen Mathematiker innig vertraut ſind, ſondern daß „Sie auch ein neues Weltſyſtem aufgeſtellt haben, in welchem „Sie zeigen, daß die Erde ſich bewegt, und daß die Sonne die „unterſte, alſo auch die mittlere Stelle einnimmt, während die „Sphäre der Fixſterne feſt und unbeweglich bleibt.“ Darauf erſucht er ihn auf das angelegenſte, ſein Werk auch herauszu— geben. Dieſes ſcheint im Jahr 1539 geſchrieben worden zu ſeyn, und 1540 ſoll es durch Achilles P. Geſſarus von Feldkirch an den Dr. Vogelinus in Conſtanz als eine Palingeneſie (Wieder— geburt) der Aſtronomie geſchickt worden ſeyn. Am Ende des Werkes ſteht die bereits oben erwähnte „Narratio“ des Rheticus. Dieſer war zu Copernicus gereist, um ſeine Theorie näher ken— nen zu lernen, und wir haben bereits gehört, mit welcher Be— wunderung er von ſeinem Lehrer ſpricht; „Er ſcheint mir, ſagt „Rheticus, mehr als irgend ein anderer Aſtronom, dem Ptole—

ſtanden, und er entſchloß ſich endlich, ſein ſchon längſt vollen— detes Manuſcript demſelben Gieſe zu übergeben, um die Heraus— gabe deſſelben zu veranſtalten. Dieſer ſandte es an Rheticus, der es ſofort in Nürnberg unter der Aufſicht ſeiner gelehrten Freunde Schoner, Oſiander u. a. drucken ließ. Es erſchien unter dem Titel: Nicolai Coperniei, Torinensis, de Revolu— tionibus orbium coelestium libri sex cum tabulis expeditis, No— rimbergae 1543. Fol. Spätere Auflagen ſind zu Baſel 1566 und zu Amſterdam 1617 erſchienen. Kurz vor der Beendigung des Druckes erkrankte der ſonſt kräftige ſiebenzigjährige Greis. Ein Schlagfluß hatte feine rechte Seite gelähmt; dadurch ermatteten auch feine Geiſteskräfte und er verſchied am 24ſten Mai 1543. Nur wenige Stunden vor ſeinem Tode wurde ihm noch das erſte, eben angekommene Exemplar feines vollendeten Werkes überreicht. Seine Leiche wurde in dem Dome zu Frauenburg vor dem Altare beſtattet. Lebensbeſchreibungen des Copernicus ſiud von Gaſſendi, Lichtenberg und Weſtphal erſchienen. I..

396 Folgen der Copernicaniſchen Epoche.

„»mäus zu gleichen.“ Und dieß war, muß man hinzuſetzen, die höchſte Vergleichungsſtufe, die er wählen konnte.

Drittes Capitel.

Folgen der Copernicaniſchen Epoche. Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie.

Erſter Abſchnitt. Erfte Aufnahme der neuen Theorie.

Die Lehre des Copernicus ging unter den Aſtronomen ſeiner Zeit ihren Weg auf die Weiſe, wie wahre Theorien immer den Beifall der competenten Richter zu erhalten pflegen. Sie führte zuerſt zur Conſtruction von Tafeln der Sonne, des Monds und der Planeten, wie die Theorie des Hipparch oder Ptolemäus zu ihrer Zeit ebenfalls gethan hat, und die Verification dieſer Ta— feln zeigte ſich in der Uebereinſtimmung derſelben mit den Beob— achtungen. Dem erwähnten Werke „De Revolutionibus“ find auch bereits ſolche Tafeln beigegeben worden. Im Jahre 1551 gab Reinhold ähnliche, aber verbeſſerte Tafeln nach dem Coper— nicaniſchen Syſteme heraus. „Wir ſind, ſagt er in ſeiner Vor— „rede, dem Copernicus großen Dank ſchuldig für ſeine mühſamen „Beobachtungen ſowohl, als vorzüglich für ſeine Wiederherſtellung „der wahren Lehre von der Bewegung der himmliſchen Körper. „Obſchon aber ſeine Geometrie ſehr gut iſt, ſo ſcheint der gute „alte Mann doch in ſeinen numeriſchen Berechnungen etwas ſorg— „08 geweſen zu ſeyn. Ich habe daher das Ganze noch einmal „durchgerechnet, indem ich feine eigene Beobachtungen mit denen „des Ptolemäus und anderer verglich, und dabei den allgemeinen „Plan des Copernicus unverrückt im Auge behielt.“ Dieſe Pru— teniſchen wurden in dem Jahre 1571 und 1585 wieder auf— gelegt und blieben längere Zeit durch in gutem Rufe, bis ſie endlich im Jahr 1627 von den Rudolphiniſchen Tafeln Kepler's verdrängt wurden. Die Benennung Pruteniſche (oder Preußiſche) Tafeln wurden dem Copernicus zu Ehren gewählt, da durch ihn

Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 397

feine Landsleute zuerft berechtigt wurden, in den Kreis der wiſſenſchaftlichen Männer Europa's einzutreten. In einer Ahn- lichen Abſicht hatte auch Rheticus ein Encomium Borussiae“ geſchrieben, das ebenfalls feiner oben erwähnten Narratio beige: druckt worden iſt.

Dieſe auf die Copernicaniſche Theorie gegründeten Tafeln wurden früher allgemeiner aufgenommen, als die Theorie ſelbſt. So gab Maginus i. J. 1587 zu Venedig „eine neue Theorie „der Himmelsbahnen, in Uebereinſtimmung mit den Beobach— „tungen des Copernicus“ heraus, in deren Vorrede, nach einer dem Copernicus dargebrachten Huldigung, er ſagt: „Er hat, ent— „weder um fein Talent zu zeigen, oder aus anderen Gründen, „die alten Meinungen des Nicetas, Ariſtarch u. a. über die Be— „wegung der Erde wieder aufbringen wollen, und dadurch die „angenommene Weltordnung verwirrt, aus welcher Urſache auch „viele ſeine Hypotheſe mißfällig aufgenommen oder ganz ver— „worfen haben. Ich habe es für angemeſſener gehalten, die Hy: „pothefen des Copernicus von mir zu weiſen, aber dabei feine „Beobachtungen und den darauf gebauten Pruteniſchen Tafeln „andere Gründe unterzulegen,“ womit er aber wahrſcheinlich auch nur gewiſſen Vorwürfen ausweichen wollte.

Indeß wurde die neue Lehre doch von vielen, ſelbſt noch vor dem öffentlichen Auftreten derſelben mit Beifall aufgenommen. Wir haben bereits gehört, mit welcher Begeiflerung Rheticus davon geſprochen hat. „So hat Gott, ruft er aus, meinem »vortrefflichen Lehrer ein großes, endloſes Reich übergeben, das „er ihm auch zu leiten, zu beherrſchen und zu erweitern verleihen »wolle zur völligen Bekräftigung der aſtronomiſchen Wiſſenſchaft.“

Von den erſten Bekennern der neuen Lehre, welche dieſelbe noch vor den darüber entſtandenen Streitigkeiten angenommen hatten, nennen wir nur Mäſtlin und ſeinen Schüler, den gro— ßen Kepler. Mäſtlin (geb. 1550, geſt. 1631) gab i. J. 1588 eine »Epitome Astronomiae“ heraus, in welcher die Unbeweg— lichkeit der Erde noch behauptet wird. Aber i. J. 1596 gab er Kepler's „Mysterium Cosmographicum« und die „Narratio Rhe- ticik heraus, und dieſem Werke fügte er einen Brief von feiner Hand bei, in welchen er das Copernicaniſche Syſtem durch die— jenigen phyſiſchen Gründe vertheidigte, die wir ſpäter kurz angeben werden, da ſie in den über dieſen Gegenſtand entſtandenen Strei—

398 Folgen der Copernicaniſchen Epoche.

tigkeiten als die gewöhnlichſten angeführt zu werden pflegten. Kepler ſelbſt ſagt in der Vorrede zu ſeinem ſo eben erwähnten Werke: „Als ich in Tübingen die Vorleſungen des Michael „Mäſtlin hörte, wurde ich durch die vielerlei Unzuläſſigkeiten des „alten Weltſyſtems ganz verwirrt, aber dafür erfreute mich die „Lehre des Copernicus deſto mehr, von welcher mein Lehrer in „einen Vorträgen fo viel Aufſehens machte, daß ich dieſe Lehre „nicht nur in unſeren öffentlichen Diſputationen mit den Candi— »daten der Univerſität vertheidigte, ſondern daß ich auch damals »ſchon eine eigene Theſis über die „erſte Bewegung“ ſchrieb, die „durch die Bewegung der Erde erzeugt wird.“ Dieß muß gegen das Jahr 1590 geweſen ſeyn.

Die verſchiedenen Anſichten, mit welchen das neue Syſtem aufgenommen wurde, führten zu manchen Controverſen, die längere Zeit dauerten. Dieſe Streitigkeiten drehten ſich vorzüglich um eigentlich phyſiſche Betrachtungen, die beſonders unter den Händen von Kepler und ſeinem Nachfolger bereits deutlicher hervortraten, als es zur Zeit des Copernicus ſelbſt der Fall war. Wir werden in den letzten Abſchnitten dieſes Capitels dieſem Gegenſtande eine beſondere Betrachtung widmen. Zuerſt aber wollen wir einige Bemerkungen über den Fortgang der neuen Lehre, unabhängig von jenen phyſiſchen Speculationen, mittheilen.

Zweiter Abſchnitt. Verbreitung des Copernicanifchen Syltems.

Die Verbreitung der neuen Lehre ging anfangs ſehr langſam vor ſich. Auch war in der That einige Zeit nothwendig, bis die damals noch geringen Fortſchritte in den Beobachtungen und in der theoretiſchen Mechanik der neuen Lehre jenes Anſehen, jene innere Kraft geben konnten, die nun, zu ganz anderen Tagen, unſere Verwunderung erregt, daß ein Menſch noch anſtehen konnte, einen Gegenſtand dieſer Art nicht auch ſofort anzuneh— men, wie er ihm nur eben angeboten wird. Doch gab es zu jener Zeit auch einige ſpeculative Köpfe anderer Art, die von den erweiterten Anſichten, welche ihnen die neue Lehre von dem Weltall eröffnete, nur zu heftig ergriffen wurden. Unter dieſen ſteht der unglückliche Giordano Bruno oben an. Er war um die Mitte des ſechszehnten Jahrhunderts zu Nola im Nea—

Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 399

politaniſchen geboren, und wurde i. J. 1600 zu Rom als Ketzer verbrannt. Doch wurde er zu dieſem ſchmählichen Ende nicht ſo— wohl durch ſeine aſtronomiſchen Anſichten, ſondern durch ſein Werk „Spaccio della Bestia trionfante“ geführt, das er in England verfaßt und dem Sir Philip Sidney gewidmet hatte. Uebrigens nahm Bruno einer der erſten das Copernicaniſche Syſtem an, und verband daſſelbe noch mit dem Glauben an unzählige andere Welten nebſt der, die wir bewohnen, ſo wie er ſich auch mit verſchiedenen metaphyſiſchen und theologiſchen neuen Lehren trug, die er ſeine „Nolaniſche Philoſophie“ zu nennen pflegte. Im Jahre 1591 gab er fein Werk De innumerabilibus mundis heraus, in welchem er behauptet, daß jeder Fixſtern eine Sonne iſt, um welche ſich unſerer Erde ähnliche Planeten bewegen. Aber alle dieſe Anſichten ſind bei ihm mit einer großen Maſſe von grundloſen Wortkrämereien gemiſcht.

Bruno ſcheint einen vorzüglichen Theil an der Einführung des Copernicaniſchen Syſtems in England zu haben ). Er hatte dieſes Land unter der Regierung der Königin Eliſabeth beſucht, und er ſpricht von ihr und ihren Räthen mit großen Lobeser— hebungen, mit deſto größerem Widerwillen aber auch von dem gemeinen Straßenvolke in London: „Una plebe la quale in essere irrespettevole, incivile, rozza, rustica, selvatica et male allevata, non cede ad altra che pascer possa la terra nel suo seno ?). Sein unſeren Gegenſtand betreffendes Werk hat die Aufſchrift: La cena de le cenere „Tiſchreden am „Aſchermittwoch,“ die das von ihm vertheidigte Syſtem des Co— pernicus behandeln. Von den Sprechenden ſtellt Il Nolano den Verfaſſer ſelbſt dar, und ſeine vorzüglichſten Gegner ſind zwei Dottori d’Oxonia, die er Nundino und Torquato nennt ).

1) M. ſ. Burton's Anat. Mel. Pref. „Bruno.“

2) Opere di G. Bruno. Vol. I. p. 146.

3) Bruno war anfangs Mönch, entfloh i. J. 1580 aus feinem Kloſter nach Genf, hielt ſich ſpäter abwechſelnd in Paris, London, Wit— tenberg und Helmſtädt auf, und kehrte 1592 wieder nach Ita— lien zurück, wo ihn die Inquiſition 1595 verhaften, und da er ſeine Lehren nicht widerrufen wollte, am 17. Februar 1600 dem Scheiterhaufen übergeben ließ. Seine meiſten Feinde, deren er ſehr viele hatte, erwarb er ſich durch ſeine leidenſchaftliche Be— kämpfung der Ariſtoteliſchen Philoſophie. Seine geſammelten

400 Folgen der Copernicaniſchen Epoche.

Auch der große Baco von Verulam beharrte fein ganzes Leben durch im Widerſtreben gegen das Copernicaniſche Syſtem. Doch muß bemerkt werden, daß er die Meinung von der Be— wegung der Erde nicht in der peremtoriſchen und dogmatiſchen Weiſe, die er ſonſt ſo oft anwendet, verwirft. So ſagt er in ſeinem „Thema Coeli:“ „Da wir nun die Erde als ruhend voraus— „ſetzen, denn dieß erſcheint uns die wahre Anſicht der Sache zu „ſeyn u. ſ. f.“ Und in ſeiner Abhandlung „Ueber die Urſachen „der Ebbe“ drückt er ſich ſo aus: „Wenn Ebbe und Fluth von „der täglichen Umwälzung des Himmels kommt, fo folgt, daß „die Erde unbeweglich iſt, oder wenigſtens, daß ſie ſich viel „langſamer bewegt, als das Waſſer.“ In ſeiner „Descriptio „globi intellectualis“ bringt er die Gründe vor, wegen welchen er die copernicaniſche Theorie nicht annimmt. „In dieſem Syſteme, „sagt er, finden ſich viele und große Schwierigkeiten; die dreifache „Bewegung, mit der die Erde belaſtet wird, iſt ſchwer anzu— „nehmen; die gänzliche Abſonderung der Sonne von den Plane— „ten, mit welchen ſie doch ſo vieles gemein hat, iſt auch nicht „wahrſcheinlich, ſo wie die Einführung ſo vieler unbeweglicher „Himmelskörper, der Sonne und aller Fixſterne, die doch alle „lichte Körper ſind; ferner die Verknüpfung des Monds mit „der Erde mittels eines Epicykels; dieß und ſo manche andere „Annahme läßt uns im Copernicus einen Mann erblicken, der „Einfälle jeder Art aufnimmt und in die Natur einführt, wenn „fie nur mit ſeinen Calculationen in Uebereinſtimmung ge— „bracht werden können.“ Baco wünſchte offenbar ein ſolches Weltſyſtem, deſſen Einrichtung ſeinen Anſichten und der Einfachheit der Natur entſpricht, und man darf geſtehen, daß dieß zu jener Zeit mit dem Copernicaniſchen Syſtem noch nicht ganz der Fall war, wie man z. B. aus den Epicykeln ſieht, die Eos pernicus von dem alten Syſtem beibehalten hat. Man kann auch hinzuſetzen, daß Baco noch nicht recht klar über das Syſtem war, das an die Stelle des Copernicaniſchen treten ſollte. Endlich mag er auch wohl, in Beziehung auf ſtrenge geometriſche Begriffe, von derſelben Unbeſtimmtheit befangen geweſen ſeyn,

Schriften wurden (Leipzig. 1830. II. Vol.) von Wagner herausge— geben. M. ſ. noch Schelling's „Bruno, oder über das göttliche „und natürliche Princip der Dinge.“ Berl. 1802. L.

Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 401

die wir oben bei Ariftoteles jo oft bemerkt haben. Ohne dieſe Ans nahme kann man ſich nicht gut erklären, wie Baco die Auflöſung der ſcheinbar unregelmäßigen Bewegung der Planeten in zwei regelmäßige für unnütz erklären ſollte. An einem anderen Orte (Thema Coeli S. 246) ſpricht er überhaupt etwas leichtfertig über dieſen Gegenſtand: „Die ganze ſogenannte retrograde „Bewegung der Planeten von Oſt gen Weſt exiſtirt gar nicht: „fie iſt ein bloßer Schein, und fie entſteht nur daraus, daß das „feſte Himmelsgewölbe mehr auf die eine Seite vorrückt, wo „dann der Planet auf der anderen Seite zurückzubleiben fcheint *).“

Baco's Zeitgenoſſe, Gilbert, deſſen Weisheit jener ſo oft preist, war der neuen Lehre mehr geneigt, obſchon auch er nicht eben alle Theile derſelben in ſich aufnehmen wollte. In ſeinem Werke „De Magneta,“ das i. J. 1600 erſchien, trägt er die vorzüglichſten Gründe für das Copernicaniſche Syſtem vor, und ſchließt damit, daß ſich die Erde um ihre Axe drehe ). Er bringt dieſen Schluß mit ſeiner Lehre vom Magnete in Verbin— dung, und will auf dieſem Wege beſonders die Präciſſion der Nachtgleichen erklären. Aber mit der jährlichen Bewegung der Erde kann er nicht eben ſo gut zu Stande kommen. In einem nach ſeinem Tode im Jahr 1651 erſchienenen Werke „De Mundo nostro sublunari philosophia nova“ ſcheint er noch zwiſchen den beiden Syſtemen des Tycho und des Copernicus auf und ab zu wanken ). Um dieſe Zeit ſcheinen überhaupt viele Zweifel über dieſe Dinge geherrſcht zu haben. Auch Milton war darüber noch unentſchieden. Im Anfange des achten Buches ſeines verlornen Paradieſes läßt er den Adam die Schwierig— keiten des ptolemäiſchen Syſtems vortragen, und dann den Erzengel Raphael die gewöhnlichen Auflöſungen geben, allein bald darauf erklärt der Engel ſeinem Schüler das neue Syſtem, und ſpricht darin ebenfalls von der dreifachen Bewegung der Erde. Indeß neigte ſich Milton offenbar dieſem neuen Syſteme

4) Unſer Verf. ſucht hier die unvollkommenen aſtronomiſchen Anſich— ten ſeines großen Landsmannes noch weiter zu entſchuldigen, was wir hier übergehen zu können glauben. L.

5) Gilbert. de Magn. Lib. VI. Cap. 3. 4.

6) Id. Lib. II. Cap. 20.

Whewell. I. 26

402 Folge der Copernicaniſchen Epoche.

zu, da er ſonſt dieſe Bewegungen der Erde nicht ſo klar und nicht mit ſo innigem Vergnügen hätte beſchreiben können.

Der berühmte Biſchof Wilkins trug vielleicht mehr, als viele andere, zur Verbreitung des neuen Syſtems in England bei, ſelbſt dann noch, als die Ausſchweifungen ſeiner Schriften eine ſtrengere Ahndung derſelben erregt hatten. In dem Jahre 1638, wo er erſt vier und zwanzig Jahre alt war, gab er eine Schrift: „Entdeckung einer neuen Welt“ heraus, in welcher er behauptete, daß der Mond wahrſcheinlich auch bewohnt iſt, und wo er ſogar eine Reiſe in den Mond nicht für unmöglich hielt. Dieſer letzte Vorſchlag gab den Kritikern und Witzlingen ſeiner Zeit Gelegenheit, ihr Talent an dem Verfaſſer zu üben. Zwei Jahre ſpäter erſchien ſein Werk „Geſpräch über einen neuen Planeten,“ in welchem er zu beweiſen ſuchte, daß unſere Erde auch ein Planet iſt, und in welchem er ſich ganz für das coper— nicaniſche Syſtem erklärte, wobei er alle gegen daſſelbe vorge— brachte Einwürfe, beſonders die theologiſchen, zu widerlegen ſuchte. Auch Thomas Salisbury trug ſeinen guten Theil zur Verbreitung der neuen Lehre in England bei. Als ein inniger Verehrer Galilei's gab er im Jahr 1661 eine Ueberſetzung meh— rerer Schriften des Letztern heraus. Die engliſchen Mathema— tiker des ſiebenzehnten Jahrhunderts, Napier, Briggs, Horrox, Crabtrer, Oughtred, Ward, Wallis und Wren waren höchſt wahrſcheinlich alle entſchloſſene Copernicaner. Kepler hatte eines ſeiner Werke dem Napier gewidmet, und Ward erfand eine ge— näherte Methode, das berühmte Kepler'ſche Problem aufzulöſen, die jetzt noch unter der Benennung der „einfachen elliptiſchen „Hypotheſe“ bekannt iſt. Horror ſchrieb, und zwar ſehr gut, zur Vertheidigung der neuen Lehre feine „Astronomia Kepleriana „defensa et promota,= die wahrſcheinlich ſchon 1635 verfaßt, aber erſt 1673 bekannt gemacht wurde, da der Verfaſſer ſchon in ſeinem zwei und zwanzigſten Jahre geſtorben und die Samm— lung ſeiner Schriften lange Zeit unbekannt geblieben war. Salisbury's Werk aber war für einen anderen Leſerkreis beſtimmt. „Meine Schrift, ſagt er in der Vorrede, iſt des Inhalts und „der Ausführung nach vorzüglich für die elegante Welt beſtimmt, „und ich vermied daher eben ſo ſorgfältig jede Pedanterie des „Styls, als ich einen ſchönen und gefälligen Eindruck zu erre— „gen ſuchte.“

Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 403

Um jedoch den wahren Fortgang des neuen Syſtems näher kennen zu lernen, müſſen wir vorzüglich das neue Licht betrach— ten, welches durch die Entdeckungen Galilei's auf dieſes Syſtem geworfen wurde, da daſſelbe dadurch gleichſam erſt die practiſche Beſtätigung ſeiner inneren Wahrheit erhielt.

Dritter Abſchnitt.

Practiſche Beltätigung des copernicaniſchen Syltems durch Galilei's Entdeckungen.

Der große Zwiſchenraum, der die letzten Entdeckungen der Alten von den erſten der Neueren trennte, bot eine hinlängliche Zeit dar, um jene erſten in allen ihren Folgen umſtändlich zu entwickeln. Als aber der menſchliche Geiſt wieder einmal zur Selbſtthätigkeit erwacht war, ſchlug er ſofort einen ganz anderen Weg ein. Nun häuften und drängten ſich die neuen Ent— deckungen, und kaum hatte ſich dem erſtaunten Blicke ein bisher unbekanntes Feld geöffnet, als ſich demſelben ſchon wieder eine an— dere, noch reichere Gegend zeigte. So kömmt es, daß die Geſchichte dieſes Zeitraums die Entſtehung mehrerer ganz neuen Wiſſenſchaf— ten in ſich ſchließt, die aber alle erſt in der folgenden Periode ihre vollſtändige Ausbildung erhalten konnten, wo ſie oft noch, durch dieſe Ausbildung ſelbſt, eine ganz andere Geſtalt erhielten. Auf dieſe Weiſe wurde z. B. die Statik, deren Wiedererweckung in die gegenwärtige Periode gehört, in der folgenden durch die Dy— namik gleichſam verfinſtert oder doch in den Hintergrund geſtellt, und eben ſo wurde auch das copernicaniſche Syſtem, in der von ſeinem Entdecker aufgeſtellten Geſtalt, nur als ein integrirender Theil von der ein viel höheres Intereſſe anſprechenden phyſi— ſchen Aſtronomie aufgenommen und gleichſam abſorbirt.

Doch wurden, auch ſchon in dieſem Zeitraume, Entdeckungen gemacht, welche die Wahrheit der heliocentriſchen Theorie auf einem anderen, practiſchen Wege, unabhängig von den phyſiſchen Principien derſelben, beſtätigen follten. Ich ſpreche von den neuen Anſichten des Himmels, die wir dem Fernrohre ver— danken; von der Entdeckung der Mondsflecken, der Lichtphaſen der Venus, der Jupitersmonde und des Saturnringes. Dieſe Entdeckungen erregten zu ihrer Zeit das höchſte Intereſſe. Die

N

404 Folge der Eopernicanifchen Epoche.

Schönheit der neuen Gegenſtände, die ſich nun dem Auge des Beobachters darboten; die Erweiterung der Grenzen des Welt— alls, welche dieſe Entdeckungen gewährten, und endlich auch, was uns hier zunächſt angeht, der mächtige Einfluß derſelben auf die endliche Trennung des alten und neuen aſtronomiſchen Syſtems und auf den für alle Zeiten entſcheidenden Sieg des letzten über das erſte dieß alles macht die Zeit dieſer Entdeckungen zu einer ſehr wichtigen Epoche unſerer Geſchichte. Es mag immerhin wahr ſeyn, was Lagrange und Montucla ſagte, daß die von Galilei entdeckten Geſetze der Bewegung den tiefen Geiſt dieſes Mannes in einem viel höheren Grade beurkunden, als alle die neuen Gegenſtände, die er mit ſeinem Fernrohre am Himmel gefunden hat, allein dieſe letzten zogen bei weitem den größten Theil der Aufmerkſamkeit der Menſchen gewaltſam an ſich, und ſie wurden auch bald der Gegenſtand von ſehr lebhaften Diskuſſionen. f

Es iſt nicht unſere Abſicht, die erſte Veranlaſſung und die näheren Umſtände der Entdeckung des Fernrohrs zu beſchreiben. Man weiß, daß Galilei ſein Inſtrument gegen das Jahr 1609 verfertigt, und daß er daſſelbe ſofort auf den Himmel angewen— det hatte. Die Entdeckung der Satelliten Jupiters war beinahe der unmittelbare, erſte Lohn ſeines Fleißes, und er kündigte die— ſelbe in feinem „Nuncius Sidereus“ an, der 1610 in Venedig erſchien. Der lange Titel dieſes Werkes wird am beſten die Anſprüche kund geben, welche daſſelbe auf die Aufmerkſamkeit des Publikums machen ſollte: „Der himmliſche Bote ver— „kündigt ein großes und wundervolles Schauſpiel, das derſelbe „vor Jederman, beſonders aber vor den Gelehrten und Aſtro— „nomen darſtellt, entdeckt von Galileo Galilei, mit Hülfe „eines von ihm erfundenen Fernrohres, nämlich: auf der Ober— „fläche des Monds, in unzähligen Fixſternen der Milchſtraße, „in Nebelſternen, beſonders aber in vier kleinen Planeten, die „ſich in verſchiedenen Entfernungen und Perioden mit wunder— „barer Geſchwindigkeit um Jupiter bewegen, alle bisher ganz „unbekannt, von dem Verfaſſer erſt kürzlich entdeckt und die „Mediceiſchen Geſtirne zugenannt u. f.“

Das Intereſſe, welches dieſe Entdeckungen erregten, war tief und allgemein, und ſo wenig waren noch die Menſchen jener Zeit gewohnt, ihre wiſſenſchaftlichen Anſichten dieſen neuen

Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 405

Thatſachen anzupaſſen, daß viele von dieſen „Bücherphiloſophen,“ wie fie Galilei nannte, glaubten, dieſe Entdeckungen wieder zu nichte machen zu können, wenn ſie nur auch wieder ein Buch gegen dieſelben in die Welt ſchickten. Deſto größer war dagegen der Einfluß derſelben Entdeckungen auf die Annahme und Bes gründung des copernicaniſchen Syſtems. Sie zeigten, daß die wahre Welt ganz verſchieden von derjenigen iſt, welche die alten Philoſophen ausgedacht hatten, und ſie führten zugleich auf die Vermuthung, daß der Mechanismus der himmliſchen Bewegun— gen viel größer und mannigfaltiger ſeyn werde, als man bisher geglaubt hatte. Wenn überdieß die kleine Mondenwelt Jupiters dem Auge ſich als ein Bild, als ein Modell des ganzen Sonnen— ſyſtems, ſo wie es von Copernicus angenommen wurde, darſtellte, ſo galt es zugleich, durch die beinahe unwiderſtehliche Analogie, die zwiſchen beiden herrſchte, als einer der ſtärkſten Beweiſe für die neue Lehre. Auf dieſe Weiſe wurde Jupiter mit feinen vier Satelliten, wie J. Herſchel gejagt hat, der Anhaltspunkt aller Copernicaner. Selbſt Baco konnte ſich der Einwirkung eines ſolchen Arguments nicht entziehen, obſchon er die Bewegung der Erde anzunehmen ſich gewei— gert hatte. „Wir erkennen, ſagt er, die der Sonne fol— „gende Anordnung (solisequium) der beiden Planeten Merkur „und Venus, ſeit wir von Galilei gelernt haben, daß auch „Jupiter ſolche Begleiter hat.“ (Baco, Thema Coeli. IX. p. 253.)

Derſelbe „Nuncius sidereus“ enthielt noch manche andere Entdeckungen, die im Grunde, obſchon auf anderen Wegen, zu demſelben Ziele führten. Die nähere Betrachtung des Mondes zeigte, daß er ein ſolider Körper mit einer ſehr unregelmäßigen, ſchroffen Oberfläche iſt. Obſchon dieſe Bemerkung nicht unmit— telbar mit der neuen Lehre des Copernicus in Verbindung ſtand, ſo war ſie doch ein Beweis mehr gegen die Anhänger des Ari— ſtoteles, die mit ihrer Philoſophie den Mond zu einem ganz anderen Körper gemacht, und die gar manche, nun offenbar ganz unftatthafte Gründe für dieſe Mondflecken angegeben hatten. Auf gleiche Weiſe führten auch die übrigen Entdeckungen zu demſelben Ziele, wie z. B. all' die neuen, bisher unbekannten, dem unbewaffneten Auge unſichtbaren Fixſterne, die wunder— baren Nebelſterne u. dergl.

406 Folge der Copernicaniſchen Epoche.

Allein noch vor dem Ende dieſes Jahres (1610) hatte Galilei fchon wieder neue Mittheilungen zu machen, die auf eine noch entſcheidendere Weiſe für das copernicaniſche Syſtem ſprechen. Er hatte ſich nun von der Bewegung der Venus um die Sonne auf die beſtimmteſte Art, nämlich durch unmittelbare Beobachtung, überzeugt, indem er ſah, daß dieſer Planet während jeder ſeiner Revolutionen ganz dieſelben Lichtgeſtalten annimmt, die uns unſer Mond in dem Laufe eines jeden Monats zeigt. Er drückte dieß durch den Vers aus:

Cynthiae figuras amulatur mater amorum. „Venus, Mutter der Liebe, ahmt der Cynthia (Diana) Bild nach.“

welchen Vers er aber, nach der Sitte jener Zeit, mit verſetzten Buchſtaben (litteris transpositis) in ſeinem ſchriftlichen Bericht über dieſe Entdeckung aufnahm, um ſich dadurch die Priorität ſeiner Entdeckung, noch vor der eigentlichen Bekanntmachung derſelben, zu ſichern.

Es war immer einer der ſtärkſten Einwürfe gegen das copernicaniſche Syſtem, daß dieſe Lichtgeſtalten der Venus und des Merkurs, die doch eine unmittelbare Folge dieſes Syſtems ſeyn mußten, nicht ſtatthatten, oder doch, was für uns daſſelbe ſeyn mußte, nicht geſehen werden konnten. Copernicus wußte ſich gegen dieſen Einwurf nicht anders zu ſchützen, als daß er dieſe beiden Planten durchſichtig annahm, ſo daß die Strahlen der Sonne durch ſie frei durchgehen konnten. Galilei nimmt daran Gelegenheit, die Feſtigkeit des ſeltenen Geiſtes zu preiſen, der ſich durch dieſe Schwierigkeit nicht von einem Syſtem ablenken ließ, das in allen anderen Beziehungen ſo gut mit den Erſcheinungen übereinftimmte ). Aber fo lange das Schickſal der neuen Theorie noch unentſchieden war, mußte doch eben dieſer Mangel als die eigentliche ſchwache Seite derſelben betrachtet werden.

Auch noch in einer anderen Geſtalt war dieſer Einwurf für das ptolemäiſche ſowohl, als auch für das copernicaniſche Syſtem einigermaßen beklemmend. Warum, ſo fragte man, warum erſcheint Venus nicht ſechsmal größer in ihrer Erdnähe, als in der Erdferne? Der Verfaſſer des dem Werke des Copernicus vorgeſetzten Briefes nimmt zu dieſem Argumente ſeine Zuflucht,

1) Lib. of. Usef. Know. Life of Galilei. S. 35,

Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 407

um ſich gegen die Gefahr des Vorwurfs zu ſchützen, daß er an die Realität des neuen Syſtems glaube. Bruno aber ſuchte demſelben durch die Wendung zu begegnen, daß leuchtende Körper anderen Regeln der Perſpective unterliegen, als dunkle. Allein die wahre Antwort auf dieſe Frage erfolgte nun gleichſam von ſelbſt. Venus erſcheint uns nicht ſechsmal größer, wenn ſie ſechsmal näher bei uns iſt, weil der beleuchtete Theil derſelben nicht ebenfalls ſechsmal größer iſt, und da Venus über— haupt zu klein für unſere unbewaffneten Augen iſt, um ihre Ge— ſtalt, um die wahre Form ihres beleuchteten Umriſſes zu ſehen, ſo beurtheilen wir dieſe Geſtalt, oder die ſcheinbare Größe derſelben nur nach der Menge von Licht, welche uns der Planet zufchickt.

Die übrigen großen Entdeckungen, die man durch das Fern— rohr am Himmel gemacht hat, die des Saturnrings und ſeiner Satelliten, die der Sonnenflecken u. a. gehören den wei— teren Fortſchritten der Aſtronomie an. Doch können wir hier ſchon bemerken, daß die Lehre von der Bewegung des Mer: kurs und der Venus um die Sonne noch eine weitere Be— ſtätigung durch die Beobachtung Kepler's erhielt, der i. J. 1631 den Merkur vor der Sonnenſcheibe ſah. Der Engländer Horrox war der erſte, der i. J. 1639 auch einen Vorübergang der Venus vor der Sonne beobachtete.

Dieſe Ereigniſſe ſind ein merkwürdiges Beiſpiel von der Art, auf welche die Entdeckung in einer Kunſt (denn ſo muß für jene Zeit die Verfertigung der Fernröhre genannt werden) ihren Einfluß auf den Fortgang einer Wiſſenſchaft zu nehmen pflegt. In der Folge werden wir noch ein auffallenderes Bei— ſpiel von der Art ſehen, wie ſelbſt zwei Wiſſenſchaften (die Aſtronomie und die Mechanik) auf einander Einfluß haben und ſich gegenſeitig fördern können.

Vierter Abſchnitt. Einwirfe gegen das Copernicanilche Syltem. Wir haben oben geſehen, daß die Lehren des Copernicus unter den Gelehrten ſeiner Zeit keine beſondere Unruhe erweck—

ten, und als Grund davon haben wir angegeben, daß die jenigen, welche in Glaubensſachen die oberſte Autorität anſprachen,

408 Folge der Copernicaniſchen Epoche.

von den ſich allmälig erhebenden Neuerern noch nicht beunruhigt und angegriffen waren, wie ſie es bald darauf in der That geworden ſind. Auch müſſen wohl die verſchiedenen Umſtände und Denkweiſen der italiäniſchen und der ultramontanen Ge— lehrten jener Zeit berückſichtiget werden. Jene bewegten ſich in den unmittelbaren Strahlen des h. Stuhls, waren alſo auch weniger kühn in ihren Speculationen und zurückhaltender in der Veröffentlichung ihrer Meinungen. Viel geringer aber war dieſer Einfluß in Polen und Deutſchland, und man findet keine Spur, die dieſen Ländern die Ehre ſtreitig machen könnte, die neue Lehre des Copernicus vor allen zuerſt, aus Ueberzeugung und ohne alle Oppoſition, aufgenommen zu haben. Die große Reform, die in Deutſchland um' dieſelbe Zeit der erſten Verbreitung des copernicaniſchen Syſtems ſtatthatte, zeigte hin— länglich, daß dieß das Land ſey, wo der Gedanke feine Unab— hängigkeit zu behaupten ſtrebt, und wo die Autorität, ſo lange ſie mit Klugheit gepaart bleibt, ſich keine anmaßenden For— derungen erlauben kann.

In Italien aber war die Meinung vorherrſchend, daß jene Autorität nur dann aufrecht erhalten werden kann, wenn ſie in allen Dingen als die höchſte Inſtanz auftritt. Der dogmatiſche Geiſt des Mittelalters, den wir bereits oben geſchildert haben, lagerte noch auf den Inſtitutionen dieſes Landes im ſiebenzehnten Jahrhundert, und in Uebereinſtimmung mit dieſem Geiſte galt es für ein Verbrechen, althergebrachte Meinungen zu ſtören, oder auch die Philoſophie von der Religion zu trennen. Der Satz, daß die Erde in der Mitte der Welt ruhig ſtehe, war nicht bloß ein Theil der damals herrſchenden Schulphiloſophie, ſondern er war auch, ſo wurde es wenigſtens angenommen, durch die Schrift ſelbſt beftätigt. Aus dieſem Grunde ſah man alſo auf die neue Lehre nur mit Mißtrauen und ſelbſt mit Widerwillen hin. Obſchon aber dieſes Syſtem ſpäterhin, bei der officiellen Verur— theilung deſſelben, als ein „von vielen angenommenes“ bezeichnet wird, ſo kam es doch nicht eher auf eine auffallende Art zur Kenntnißnahme feiner ſogenannten Richter, bis es durch Galilei's Entdeckungen in ein helleres Licht geſetzt, und durch ſeine Schriften öffentlich angeprieſen worden war.

Die Geſchichte von der Verurtheilung Galilei's, weil er die Bewegung der Erde gelehrt habe, und ſein Widerruf dieſer

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Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 409

Lehre in der Gegenwart ſeiner Richter iſt ſchon ſo oft erzählt worden, daß es überflüſſig ſeyn würde, fie hier noch einmal zu wiederholen. Näher liegt uns die Betrachtung, welche Folgerun— gen wir daraus in Beziehung auf den Fortgang der Wiſſenſchaf— ten überhaupt ableiten ſollen.

Vorerſt dringt ſich uns die Bemerkung auf, daß das Be— tragen des Galilei, ſo wie das ſeiner Richter, mehrere Züge von dem ächt italiäniſchen Charakter an ſich trägt. Die Annahme einer höchſten Autorität in allen Meinungsſachen, eine Annahme, die dem Menſchen und ſeiner geiſtigen Kraft ſo unangemeſſen iſt, ſcheint in dieſem Lande zu einer Art von künſtlicher Ueber— einkunft geführt zu haben, nach welcher alle öffentlich geäußerten Meinungen nur in Beziehung auf einen gewiſſen Anſtand beur— theilt werden, während die Wahrheit oder Unwahrheit derſelben ganz unbeachtet zur Seite liegen bleibt. Dieſem gemäß ſcheint Galilei erwartet zu haben, daß ſchon der lockerſte Schleier einer ſcheinbaren Unterwerfung gegen jene Autorität hinreichen würde, ſeine Schutzrede des neuen Syſtems vor jenen Richtern unbe— achtet vorübergehen zu laſſen, und eben ſo wären auch dieſe Richter im Allgemeinen wieder mit ſeiner ſcheinbaren Renunciation zufrieden geſtellt, obſchon fte dieſelbe nicht immer für aufrichtig hal— ten konnten. Dieſer künſtliche Zuſtand der Geſellſchaft war ohne Zweifel auch die Urſache von der heimlichen, verſtohlenen Weiſe, mit welcher Galilei ſeine neuen Lehren einzuſchwärzen ſuchte, eine Weiſe, die von einigen ſeiner Biographen als eine feine Ironie ge— lobt, und von anderen wieder als Gleißnerei getadelt wurde. Man ſieht klar, daß Galilei zu allen Zeiten ſich bereitwillig gezeigt hat, ſich den an ihn ergangenen Forderungen ſeines Tribunals zu unterwerfen, obſchon er ohne Zweifel auch zugleich innigſt wünſchte, die Sache der Wahrheit, oder was er dafür hielt, nach ſeinen beſten Kräften zu befördern. Ganz derſelbe Mangel alles Ernſtes erſcheint aber auch auf der anderen Seite in der Nachſicht und Milde, mit welcher, wie man jetzt allgemein zugeſteht, Galilei während dem ganzen Verlaufe feines Prozeſſes behandelt worden iſt. Denn feine Einkerkerung in den Gefängs niſſen der Inquiſition, wie ſein Loos öfter geſchildert worden iſt, ſcheint bloß in einigen leichten Beſchränkungen beſtanden zu haben, zuerſt in dem Hauſe Nicolini's, des Geſandten ſeines eigenen Landesherrn, des Herzogs von Toscana, und ſpäterhin

2

410 Folge der Copernicaniſchen Epoche.

in dem Landſitze des Erzbiſchofs Piccolini, eines ſeiner wärmſten Freunde. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man annimmt, daß die ganz ungewöhnlichen Anſprüche ſeiner Richter, denen man nicht aufrichtig nachkommen konnte, und denen man daher nur auf kunſtvollen Wegen zu entgehen ſuchte, bei den italiäniſchen Gelehrten eine gereizte Schlauheit, aber auch zugleich eine gewiſſe biegſame Servilität erzeugt hat, die ſehr verſchieden iſt von dem kräftigen und unabhängigen Geiſte Deutſchlands und Englands !).

Wie dieß auch ſeyn mag, die Verfolger Galilei's ſind noch immer der Mißachtung und dem Unwillen der Menſchheit bloß— geſtellt, obſchon Fe, wie gejagt, erſt dann gegen ihn zu handeln anfingen, als ihre eigene Stellung in der Geſellſchaft ſie dazu zwang, und obſchon ſie auch dann noch mit all' der Milde und Mäßigung verfuhren, die ſich mit ihren richterlichen Formen vertrug.

Fünfter Abſchnitt.

Beltätigung der heliocentrifchen Lehre durch phyfitche Gründe. Einleitung zu Kepler's aftronomifchen Entdeckungen.

Phyſiſche Gründe werden, wie bereits geſagt, diejenigen genannt, die ſich auf die Urſachen der Bewegungen beziehen. wie z. B. auf die Geſetze des freien Falls der Körper. Die nähere Unterſuchung des Copernicaniſchen Syſtems führt un— mittelbar und ſchon ihrer Natur nach auf ſolche Gründe, aber die unbeſtimmten und ſelbſt unrichtigen Begriffe, die noch immer über das Weſen und die Geſetze der Bewegung vorherrſchten, hinderten noch für einige Zeit alle richtigen Urtheile über dieſen Gegenſtand, und erſchwerten ſonach den endlichen Sieg der Wahrheit über den ſo lange beſtandenen Irrthum. Vorerſt mußte eine ganz neue Wiſſenſchaft, die Mechanik, entſtanden ſeyn, um der neuen Lehre auch von dieſer Seite ihr Recht widerfahren zu laſſen.

Die hierher gehörenden Unterſuchungen wurden zuerſt, wie

1) Der Verf. verbreitet ſich hier in mehrere allgemeine und intereſ— ſante Betrachtungen über dieſen Gegenſtand, die wir aber, da ſie nicht unmittelbar zu dem Zwecke des Werkes gehören, über gehen. L.

Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 411

man erwarten kann, in den althergebrachten, d. h. in den ari— ſtoteliſchen Formen geführt. So fagte noch Copernicus, daß alle irdiſchen Körper eigentlich in Ruhe ſind, wenn ſie eine der Natur angemeſſene, d. h. eine kreisförmige Bewegung haben, und daß ſie entweder ſteigen oder fallen, wenn ſie, nebſt jener natürlichen, noch eine geradlinige Bewegung erhalten, durch welche letzte ſie eigentlich nur die ihnen von der Natur angewieſene Stelle zu erreichen ſtreben. Aber ſchon die erſten Schüler des Copernicus wagten es, jenes ariſtoteliſche Dogma zu bezweifeln und andere, beſſere Gründe, mit ihrer eigenen Vernunft, aufzuſuchen. „Der „wichtigfte Einwurf gegen das neue Syſtem, jagt Mäſtlin, iſt „der, daß nach ihm die ſchweren Körper ſich gegen den Mittel— „punkt des Univerſums bewegen, während die leichten Körper „ſich von demſelben entfernen ſollen. Allein ich möchte fragen, „woher haben wir denn dieſen Unterſchied zwiſchen leichten und „ſchweren Körpern erhalten? Iſt denn unſere Kenntniß des „Univerſums auch in der That ſo groß, daß wir mit Sicherheit „von dem Mittelpunkte deſſelben ſprechen können? Iſt denn „nicht die Erde und die ſie umgebende Luft der eigentliche „Ort und die Heimath aller Körper, der ſchweren, wie der „leichten? Was iſt aber dieſe Erde mit ſammt ihrer Atmoſphäre „gegen die Unendlichkeit des Weltalls? Ein bloßer Punkt, ein „Pünktchen, oder noch ein kleineres Etwas, wenn es überhaupt „noch ein Etwas heißen kann. So wie unſere leichten und ſchweren „Körper alle gegen den Mittelpunkt der Erde zu gehen ſtreben, „eben fo haben höchſt wahrſcheinlich auch die Sonne und der „Mond und andere Himmelskörper ähnliche Beſtrebungen, durch „welche fie die kugelförmige Geſtalt erhalten, die wir an ihnen „sehen. Aber deßhalb iſt es noch nicht nothwendig, daß der „Mittelpunkt irgend eines dieſer Körper auch zugleich der Mit: „telpunkt des Univerſums ſeyn müßte.“

Die auffallendſte und wichtigſte Schwierigkeit, die ſich der Bewegung der Erde entgegen ſtellte, wurde auf folgende Weiſe vorgebracht. Wenn die Erde ſich bewegt, wie kömmt es, daß ein Stein, der von der Spitze eines hohen Thurms herabgelaſſen wird, an dem Fuße dieſes Thurms zur Erde fällt? Wenn ſich, während dem Fall des Steins, der Thurm zuſammt der ganzen Erde von Weſt gen Oſt bewegt, ſo müßte ja der Stein auf der Weſtſeite des Thurmes zurückbleiben. Die eigent—

412 Folge der Copernicaniſchen Epoche.

liche Antwort auf dieſe Frage war, daß die Bewegung des Steins in dem Augenblicke, wo er die Spitze des Thurms ver— läßt, eine doppelte iſt; die erſte derſelben iſt, wegen der Anziehung der Erde, abwärts gerichtet, und die zweite hat er gemeinſchaftlich mit der Thurmſpitze und zwar ſchon vor feinem Falle. Allein dieſe Antwort konnte nicht wohl gegeben oder auch nur verſtanden werden, bis Galilei und ſeine Schüler die Lehre von der Com— poſition der Kräfte und der Geſchwindigkeiten gehörig ausein— ander geſetzt hatten. Rothmann, Kepler und andere Anhänger der neuen Lehre gaben ihre Vertheidigung gegen dieſen Einwurf gleichſam auf gut Glück oder nur verſuchsweiſe, indem ſie ſagten, daß die Erde ihre eigene Bewegung den Körpern auf ihrer Oberflache mittheile. Demungeachtet waren die Thatſachen, die ſich auf dieſe Wahrheit bezogen, Jederman klar und offenbar, und die jungen Copernicaner fanden bald, daß ſie auch hier, wie in allen andern Dingen, die Vernunft auf ihrer Seite hatten. Die Angriffe des neuen Syſtems von Durret, Morin und Riccioli, ſo wie die Vertheidigungen deſſelben durch Galilei, Lansberg und Gaſſendi konnten bei jedem verſtändigen und un— partheiiſchen Leſer nur einen für die neue Lehre günſtigen Ein— druck zurücklaſſen. Morin wollte die Erde in ihrem Fluge auf— halten oder, wie er ſagte, die Flügel derſelben brechen. Seine Alae terrae fractae erſchienen im Jahr 1643 und wurden von Gaſſendi widerlegt. Riccioli aber zählte in feinem Almagestum novum (1653) fieben und fünfzig Argumente der Copernicaner für ihr Syſtem auf, die er alle ſiegreich zu widerlegen ſich vermeſſen wollte. Aber ſolche Widerlegungen, wie er fie vorbrachte, konn— ten Niemand bekehren. Auch wurden zu ſeiner Zeit die mechani— ſchen Einwürfe gegen die Bewegung der Erde als ganz grundlos betrachtet, wie wir fpäter ſehen werden, wenn wir zu der Erzäh— lung der Fortſchritte der Mechanik, als einer eigentlichen Wiſ— ſenſchaft, gelangen werden. In der Zwiſchenzeit aber gewann die Einfachheit und Schönheit der neuen Theorie ſtets an Freunden und Bewunderern, ſelbſt unter denen, die aus einer oder der andern Urſache ihren öffentlichen Beifall noch zurück— halten wollten. So mußte ſelbſt Riccioli, der letzte nahmhafte Gegner dieſes Syſtems, den Vorzug deſſelben, in dieſer Be— ziehung, bekennen, und noch im Jahr 1653 geſtand er öffentlich in ſeinem Werke, daß der copernicaniſche Glaube unter den

Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 413

gegen ihn erlaſſenen Decreten mehr zu- als abgenommen habe, ſo daß er auf dieſe Erſcheinung die Verſe des Horaz an— wendet !): 2

Per damna, per caedes, ab ipso

Sumit opes animumque ferro.

„Unter Gefahr und Niederlage, ja von dem Schwerte „ſelbſt nimmt er neue Kraft und Muth.“

Wir haben oben von dem Einfluß der Bewegung der Erde auf die Bewegung der Körper an ihrer Oberfläche geſprochen. Allein die Idee von einem ähnlichen phyſiſchen Zuſammenhange der einzelnen Theile des Univerſums erfaßte Kepler 2) von

1) Riccioli. Almag. novum. S. 102.

2) Johann Kepler, geb. d. 27. Dezember 1571 zu Magſtadt, einem Dorfe nahe bei Weil in Würtemberg, wo ſein Vater ein Gaſtwirth war. Seine erſte Erziehung wurde ſehr vernachläßigt. Nach ſei— nes Vaters Tod bezog er die Kloſterſchule zu Maulbronn, und ſpäter die Univerſität zu Tübingen. Die Armuth war hier, wie in ſeinem ganzen Leben, ſeine ſtete Begleiterin. Im Jahre 1593 wurde er Profeſſor der Mathematik zu Grätz, und hier fing er auch an, ſich mit Aſtronomie zu beſchäftigen. Im Jahre 1596 erſchien ſein erſtes größeres Werk „Prodromus dissertationum cos— mographicarum, continens mysterium cosmographicum,“ und dieſe Schrift trägt ſchon ganz das Gepräge feines Geiſtes, der ſich fpäter ſo eigenthümlich entwickelte. Er nimmt hier das Copernicaniſche Syſtem in feinen Schutz, wobei er viel Scharfſinn, aber noch mehr Phantaſie vorherrſchen ließ. Drei Jahre ſpäter kam er nach Prag, um ſich daſelbſt mit Tycho, mit dem er ſchon früher in Briefwech— ſel geſtanden hatte, zu aſtronomiſchen Zwecken zu vereinigen. Durch Tychos Protection erhielt er hier die Stelle eines kaiſerli— chen Mathematikers, allein da ihm in den dem dreißigjährigen Kriege vorausgehenden Bedrängniſſen ſeine Beſoldung nicht aus— gezahlt wurde, ging er, nach einem eilfjährigen dürftigen Aufent— halte in Prag, i. J. 1610 nach Linz als Profeſſor der Mathematik, wo er neue fünfzehn Jahre in nicht weniger drückenden Verhält— niſſen zubrachte. Im Jahr 1625 trat er in die Dienſte eines Pri— vatmanns zu Ulm, wo er ſich mit Zeichnungen von Landkarten u. dgl. beſchäftigte, und weil ihm auch hier die eingegangenen Be— dingniſſe nicht erfüllt wurden, ſo ging er 1628 in Wallenſtein's Dienſte, der ihm eine Profeſſorsſtelle an der Univerſität zu Roſtock, über die er das Patronatrecht hatte, verlieh. Da ihm aber auch

414 Folge der Copernicaniſchen Epoche.

einem viel höheren Geſichtspunkte aus, von einem Geſichts— punkte, den man ohne Zweifel für höchſt phantaſtiſch gehalten haben würde, wenn das Reſultat deſſelben nicht zugleich auf die ſchönſte und erhabenſte Kette von Wahrheiten geführt hätte, das wir in dem ganzen großen Gebiete der menſchlichen Erkenntniß aufzufinden vermögen. Ich ſpreche aber hier von der Exiſtenz der numeriſchen und geometriſchen Geſetze, durch welche die Di— ſtanzen, die Umlaufszeiten und die Kräfte der Planeteu in ihren Bewegungen um die Sonne beherrſcht werden. Die innige und unerſchütterliche Ueberzeugung von der Exiſtenz eines ſolchen ober— ſten Princips, deſſen Entdeckung und weitere Entwicklung Kepler

hier ſeine Beſoldung nicht ausgezahlt wurde, reiste er zu dem Reichstag nach Regensburg, um hier die Auszahlung ſeiner immer noch rückſtändigen Penſion zu erbetteln. Bald nach ſeiner Ankunft in Regensburg verfiel er, in Folge der Anſtrengungen ſeiner Reiſe und des ihn überall begleitenden Kummers, in eine Krankheit und ſtarb am 15. November 1631 in feinem ſechzigſten Lebensjahre. Der Fürst Primas von Dalberg ließ ihm i. J. 1808 in Regens— burg ein Monument von Backſteinen durch Subſcription ſetzen. Aber fein wahres Denkmal iſt mit Flammenſchrift an dem geſtirn⸗ ten Himmel eingetragen, wo es ſeine dankbaren Landsleute, wenn ſie dieſe Schrift verſtehen, leſen können, und wo ſie andere auch dann noch leſen werden, wenn von ihnen ſelbſt wahrſcheinlich längſt ſchon keine Rede ſeyn wird.

Kepler's vorzüglichſte Schriften ſind, nebſt den bereits oben angezeigten: Paralipomena ad Vitellionem, quibus astronomiae pars optica traditur. Frankf. a. M. 1604. Astronomia nova aıTtıoAoynrtog seu Physica coelestis tradita commentariis de motibus stellae Martis. Prag. 1609. Dioptrica. Augsburg 1611. Eclogae Chronicae. Frankfurt 1615. Stereometria doliorum vinariorum. Linz 1615. Epitome astronomiae Copernicanae, 2 Vol. Linz 1618. Harmonice mundi. Linz 1619. De Cometis. Augsburg 1619. Chilias Logarithmorum. Marburg 1624. Tabulae Rudolphinae, quibus astronomiae restauratio continetur. Ulm 1627. Somnium astronomicum, opus posthumum de astronomia lunari. Frankf. 1634. Kepleri aliorumque epistolae mutuae, heransgean. von Hauſch. Leipzig 1718. Die noch übrigen hinterlaſſenen, ſehr zahlreichen Handſchriften Kepler's hat die K. Academie der Wiſſenſchaften zu Petersburg angekauft. Seine Lebensbeſchreibung iſt den letzt— erwähnten epistolis mutuis von Hauſch vorgedruckt. Vergl. Kep— lers' Leben und Wirken, von Breitſchwert. Stuttg. 1831. L.

Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 415

ein ganzes höchſt thätiges und ſorgenvolles Leben weihte, kann nur als die Folge ſeines tiefen Scharfſinns betrachtet werden. Es iſt nicht zu zweifeln, daß dieſe Ueberzeugung in ſeinem Geiſte zugleich mit einer, wenn gleich nur dunklen Ahnung von einer Centralkraft verbunden war, welche die Sonne auf alle Planeten ausübt. In ſeinem erſten, auf dieſes erhabene Ziel gerichteten Verſuche, in feinem „Mysterium Cosmographieum« ſagt er: „die Bewegung der Erde, die Copernicus aus mathema— „tiſchen Gründen bewieſen hat, möchte ich durch phyſiſche, oder „wenn ihr lieber wollt, durch metaphyſiſche Gründe beweiſen.“ In dem zwanzigſten Capitel deſſelben Werkes bemüht er ſich, einige Verhältniſſe zwiſchen den Entfernungen der Planeten von der Sonne und zwiſchen ihren Geſchwindigkeiten zu finden. Daß aber die alten unbeſtimmten Begriffe von Kräften auch in dieſem Verſuche noch immer vorherrſchten, kann man aus der folgenden Stelle entnehmen: „Wir müſſen demnach eines von beiden vor— „ausſetzen, entweder daß die bewegenden Geiſter, wie fie ſich wei— „ter von der Sonne entfernen, ſchwächer werden, oder daß es „einen ſolchen großen, beſonderen Geiſt der Bewegung in dem „Mittelpunkte aller dieſer Bahnen, nämlich in der Sonne gebe, „der jeden Planeten in eine um jo ſchnellere Bewegung verſetzt, je „näher ihm dieſer Planet iſt, deſſen Kraft und Einfluß aber mit „der Entfernung von der Sonne immer mehr abnimmt und ers „mattet.“ Bei der Lectüre ſolcher Stellen darf man nicht ver— geſſen, daß ſie unter der Annahme geſchrieben wurden, daß eine eigene Kraft nöthig ſey, die Bewegung eines Körpers zu ändern ſowohl, als auch dieſelbe in ihrem gegenwärtigen Zuſtande zu er— halten, und daß daher ein in einem Kreiſe ſich bewegender Körper ſtill ſtehen würde, ſobald die Kraft des Centralpunkts aufhört, ſtatt daß er ſich, wie wir jetzt wiſſen, in der Tangente des Kreiſes, nach dem Geſetze der Trägheit, immer weiter fort bewegen wird. Die Kraft, die Kepler hier vorausſetzt, iſt eine Tangentialkraft, die in der Richtung der Bewegung des Planeten liegt und nahe ſenkrecht auf den Halbmeſſer ſeiner Bahn ſteht; während im Gegentheile die Kraft, welche ihm von der neueren Mechanik ange- wieſen wird, in der Richtung dieſes Halbmeſſers liegt und daher nahe ſenkrecht auf der Bahn des Körpers ſteht. Kepler's hohe Ahnung war nur richtig in Beziehung auf die Connexion zwiſchen der eigentlichen Urſache der Bewegung und der Entfernung des

416 Folge der Copernicaniſchen Epoche.

bewegten Körpers von dem Sitze jener bewegenden Urſache, und nicht nur war ſeine Erkenntniß in allen Theilen des großen Ge— genſtandes unvollkommen, ſondern ſelbſt ſeine allgemeine Concep— tion von der Wirkungsart einer ſolchen bewegenden Urſache muß noch als irrig betrachtet werden.

Mit ſolchen allgemeinen Ueberzeugungen aber, und mit ſo un— vollkommenen phyſiſchen Kenntniſſen ging der Geiſt des großen Kep— ler muthig auf die Entdeckung der numeriſchen und geometriſchen Verhältniſſe der einzelnen Parthien des Sonnenſyſtems aus. Er verwendete darauf ungewöhnliche Anſtrengung, Geduld und Scharf— ſinn. Seine Bemühungen wurden auch endlich gekrönt, und er hat die Geſetze, die er ſo lange ſuchte, glücklich entdeckt; aber den Zuſammenhang dieſer Geſetze, den phyſiſchen Urſprung der— ſelben in einem andern, noch höheren Geſetze zu entdecken, dieſes Verdienſt, dieſer Ruhm war ſeinem großen Nachfolger, war Newton vorbehalten.

Viertes Capitel. Inductive Epoche Kepler's.

Erſter Abſchnitt. Intellectueller Charakter Keppler's.

Verſchiedene Schriftſteller ) beſonders der neueren Zeiten, die uns eine Ueberſicht der Entdeckungen Kepler's gegeben haben,

1) Laplace, in feinem Precis de l’Hist. de l’Astr. ſagt: „Es iſt betrü⸗ „bend für den menſchlichen Geiſt, zu ſehen, wie ſelbſt dieſer große „Mann, in feinen letzten Werken ſich in feinen phantaftifchen Spe— „culationen gefällt, und fie gleichſam als das Leben, als die „Seele der Aſtronomie betrachtet.“

In der Lib. of usef. knowl. Geſch. der Aſtr. S. 53 heißt es: „Kep⸗ „ler's glücklicher Erfolg wird wohl alle diejenigen mit Beſorgniß ers „füllen, die gewohnt ſind, Beobachtungen und ſtrenge Inductionen „als das einzige Mittel zu betrachten, die Geheimniſſe der Natur „zu erforſchen.“ Und eben daſelbſt, in Kepler's Leben, S. 14:

Inductive Epoche Kepler's. 417

waren überraſcht und gleichſam unzufrieden damit, daß ſeine ſcheinbar fo willkührlichen und phantaſtiſchen Conjecturen zu fo großen und wichtigen Entdeckungen geführt haben. Sie wurden durch die Lehre ganz in Schrecken geſetzt, die ihre Leſer aus der Erzählung des abentheuerlichen Zuges nach dem goldenen Fließe der Erkenntniß ziehen möchten, in welcher der grillenhafte, eigenwillige Held alle herkömmlichen Geſetze des Denkens, wie ſie glauben, verletzt, und doch am Ende den glänzendſten Triumph gefeiert habe. Vielleicht läßt ſich aber dieſes Paradoxon durch einige einfache Bemerkungen erklären.

Zuerſt dürfen wir ſagen, daß die Hauptidee, die Keplern in allen ſeinen Verſuchen leitete, nicht nur völlig wahr, ſondern daß ſie auch zugleich eine ſehr philoſophiſche und ſcharfſinnige Idee geweſen iſt, daß nämlich irgend ein algebraiſches oder geometri— ſches Verhältniß zwiſchen den Diſtanzen der Planeten, und zwiſchen ihren Umlaufzeiten oder Geſchwindigkeiten exiſtiren müſſe. Die feſte und unerſchütterliche Ueberzeugung von dem Daſeyn einer ſolchen Wahrheit regelte alle ſeine Verſuche, ſo ſonderbar und phantaſtiſch ſie auch ſcheinen mochten.

Dann läßt ſich aber auch wohl behaupten, daß große Ent— deckungen gewöhnlich nicht ohne Wagniß des kühnen Entdeckers aufzutreten pflegen. Das Auffinden neuer Wahrheiten ſetzt ohne Zweifel Sorgfalt in der Ueberlegung und genaue Prüfung des Gegenſtandes, aber eben ſo gut auch eine ſchnelle Auffaſſung und eine lebendige Befruchtung deſſelben voraus. Die Erfindungs— kraft beſteht in dem Talente, alle Fälle, die eintreten können, ſchnell zu überſehen, und aus ihnen die geeigneten auszuwählen. Wenn die ungeeigneten einmal als ſolche erkannt und verworfen ſind, ſo werden ſie auch gewöhnlich bald ganz vergeſſen, und nur wenige jener Entdecker haben es für gut gefunden, uns auch ihre verunglückten Hypotheſen und ihre mißlungenen Verſuche mit— zutheilen, wie Kepler es gethan hat. Wer immer eine Wahrheit fand, mußte gewöhnlich manchen Irrweg zurücklegen, um zu ihr

„Kepler's wunderbares Glück, aus den wildeſten und ganz abſur— „ven Einfällen die Wahrheit herauszufinden;“ und wieder ©. 54, wo von der Gefahr geſprochen wird: „in dem Aufſuchen der „Wahrheit dem Beiſpiele Kepler's zu folgen.“

Whewell. I. 27

418 Inductive Epoche Kepler's.

zu gelangen, und jeder jetzt als wahr erkannte Satz mußte zuerſt aus mehreren andern unwahren hervorgeſucht und ausgewählt werden. Wenn Kepler ſo viele Verſuche unternahm, die bei einer genaueren Prüfung zum Irrthume führten, ſo handelte er darin nicht unphiloſophiſcher, als wohl Andere auch gethan haben. Der Geiſt des Entdeckers geht nicht fo vorſichtig auf dem gebahnten Wege einher, der am kürzeſten zum Ziele führt. Irrwege und ſelbſt ganz ſalſche Verſuche ſind hier oft unvermeidlich. Aber darauf kommt es an, die Falſchheit derſelben ſchnell zu entdecken, und den Irrweg nicht länger zu verfolgen, ſondern ſich ſogleich wieder der Wahrheit zuzuwenden. Kepler iſt auch dadurch ein ſo merk— würdiger Mann geworden, daß er uns erzählt, wie er ſeine Irrthümer ſelbſt zu widerlegen ſuchte, und daß er uns dieß eben ſo umſtändlich als offenherzig erzählt. Dadurch ſind ſeine Schrif— ten in hohem Grade lehrreich und interreſſant geworden, indem ſie uns ein treues Gemälde von dem Verfahren geben, das der menſchliche Geiſt bei ſeinen Entdeckungen zu befolgen pflegt. Sie zeigen, wir wagen es zu ſagen, den gewöhnlichen (ob— ſchon etwas carrifirten) Weg des inventiven Talents; fie zeigen uns die Regel, und keineswegs, wie manche bisher geglaubt haben, die Ausnahme von dem Verfahren, welches das Genie bei ſeinen Unternehmungen zu verfolgen pflegt. Setzen wir noch hinzu, daß wohl manche von Kepler's Einfällen uns phantaſtiſch und ſelbſt abſurd erſcheinen, jetzt wo Zeit und Nachdenken ſie längſt widergelegt haben, daß aber auch andere, die in ſeinen Tagen ganz eben ſo willkührlich und grundlos waren, in der Folgezeit auf eine Weiſe beſtätigt worden ſind, daß ſie nun uns höchſt ſcharfſinnig und bewunderungswürdig erſcheinen, wie z. B. ſeine Behauptung von der Rotation der Sonne um ihre Axe, die er noch vor der Erfindung des Fernrohres gemacht hat, oder ſeine Anſicht von der Abnahme der Schiefe der Ekliptik, die ihm zufolge noch lange dauern, aber dann inne halten und endlich wieder in eine Zunahme übergehen wird 2). Wie richtig, wie poetiſch ſchön iſt ſein Gemälde von der Art, wie er die Wahrheit ſuchte, die ſich bald vor ihm zurückzog, bald wieder zur Nachfolge reizte, und wie glücklich ſpielt er dabei auf die liebliche Stelle in Virgil's Eklogen an:

2) M. ſ. Bailly, Hist. d' Astr. Moderne. III. 175.

Inductive Epoche Kepler's. 419

Malo me Galatea petit, lasciva puella, Et fugit ad salices et se cupit ante videri.

Als eine andere Eigenthümlichkeit des ſeltenen Mannes mag die Umſtändlichkeit und Mühſeligkeit des Verfahrens betrachtet werden, durch welches er ſich ſelbſt von den Irrthümern ſeiner erſten Einfälle zurückzubringen ſuchte. Eines der nothwendigſten Talente eines erfindungsreichen Geiſtes iſt die leichte Geſchicklich— keit, diejenigen Mittel ſchnell zu ergreifen, die ihn von den einge— ſchlagenen falſchen Wegen wieder auf den wahren führen. Dieſes Talent ſcheint Kepler nicht beſeſſen zu haben. Er war nicht ein— mal ein guter, ſicherer Rechner, da er oft Rechnungsfehler machte, von denen er mehrere ſelbſt entdeckte, wo er denn die darauf verwendete Zeit betrauerte, von denen ihm aber auch mehrere andere bis an ſein Ende verborgen blieben. Aber dieſer Mangel wurde bei ihm reichlich erſetzt durch Muth und durch Ausdauer, die er in allen ſeinen Unternehmungen zeigte. Nie erlaubte er ſich, durch vergebliche Arbeiten, ſo lang und mühſam dieſe auch waren, zu irgend einer Abneigung von dem Gegenſtand, zu Veranlaſſung ſeiner erſten Idee verführt zu werden, ſo lange nur dieſe ſelbſt noch einige Wahrſcheinlichkeit für ſich hatte, und der einzige Lohn, den er gleichſam ſich ſelbſt für alle ſeine Müh— ſale gönnte, war der, daß er dieſelben in ſeiner lebendigen, oft ſelbſt ſcherzhaften Weiſe, ſeinen Lehrern auf das Umſtändlichſte vorerzählte.

Der myſtiſche Theil ſeiner Anſichten von der Natur ſcheint auf ſeine Entdeckungen keinen nachtheiligen Einfluß gehabt, ſon— dern vielmehr ſeine Erfindungskraft und ſeine ganze geiſtige Thätigkeit nur noch mehr aufgereizt zu haben. Hieher gehört ſein Glaube an die Aſtrologie, von dem er ſich doch immer nicht ganz losmachen konnte; ſeine Meinung, daß die Erde ein lebendes Thier ſey, und endlich ſeine Ahnung von geiſtigen Weſen, durch die er die Planeten um die Sonne führen und das ganze Welt— all leiten läßt. In der That ſieht man oft, daß, wenn nur überhaupt klare Begriffe über einen beſtimmten Gegenſtand in dem menſchlichen Geiſte vorherrſchen, myſtiſche Anſichten über andere Gegenſtände dem glücklichen Auffinden der Wahrheit nicht eben hinderlich ſcheinen.

Wir erblicken daher in dem Bilde Kepler's die allgemeinen Charakterzüge des erfindungsreichen Geiſtes, obſchon allerdings

27

420 Inductive Epoche Kepler's.

einige von dieſen Zügen zu ſehr ausgeprägt, und andere wieder nur ſchwach angedeutet zu ſeyn ſcheinen. Seine Entdeckungs— kraft war ohne Zweifel ſehr thätig und fruchtbar, und dadurch, ſo wie durch die Unermüdlichkeit ſeiner Ausdauer in der Verfol— gung ſeines Zweckes, kam er dem Mangel an mathematiſcher Kenntniß und Methode zu Hülfe. Was ihn aber vor allen andern weſentlich unterſcheidet, das iſt das erwähnte Verweilen bei ſeinen eigenen Fehlern, ſeine ganz vorzügliche Luſt an der Beſchreibung aller der Irrwege, die er auf ſeiner Bahn zur Wahrheit, durch— wandert iſt; Beſchreibungen, die ſeinem Charakter Ehre machen, die für uns ſehr lehrreich ſind, und die von den meiſten andern verheimlicht oder auch ganz vergeſſen werden, weil ſie gewöhnlich Mittel geſucht und gefunden haben, dieſe ihre ſchwa— chen Seiten mit einem dichten Schleier zu bedecken. Er ſelbſt drückt ſich darüber im Anfange ſeines Werkes mit folgenden Worten aus: „Wenn Columbus, wenn Magellan, wenn die „Portugieſen wegen der Erzählung ihrer Irrwege von uns nicht „nur entſchuldigt, ſondern ſelbſt gelobt werden, und wenn wir, „durch die Unterdrückung dieſer Erzählungen viel Vergnügen ver— „toren hätten, fo wolle man auch mich nicht tadeln, wenn ich „daſſelbe thue.“ Kepler's Talente waren ein guter, fruchtbarer Boden, den er mit unſäglicher Mühe und Anſtrengung, und zu— gleich unter großem Mangel an allen Kenntuiſſen und Hülfs— mitteln des Landbaues bearbeitete; Weizen und Unkraut wucherte gleich gut auf allen Seiten dieſes Feldes, und die Ernte, die er auf demſelben erhielt, hatte das Eigenthümliche, daß dabei beide Gattungen von Pflanzen mit gleichem Fleiße und mit derſelben Sorgfalt in die Scheuer gebracht wurden.

Zweiter Abſchnitt.

Kepler's Entdeckung des dritten Gelettzes.

Indem wir nun von den aſtronomiſchen Speculationen und Entdeckungen Kepler's einen kurzen Bericht geben wollen, bemer— ken wir zuvörderſt, daß ſein erſter Verſuch, ein Verhältniß zwiſchen den verſchiedenen Entdeckungen der Planeten von der Sonne zu finden, ein Fehlgriff war. Dieſer Verſuch war ohne allen feſten Grund angeſtellt, obſchon er die Reſultate deſſelben mit einer Art

Inductive Epoche Kepler's. 421

von Triumph in feinem Werke „Mysterium Cosmographicum“ vor: trug, das in dem Jahre 1596 erſchien. Die Nachricht, die er uns von dem Gang ſeiner Gedanken über dieſen Gegenſtand mittheilt, nämlich die verſchiedenen Hypotheſen, die er zu dieſem Zwecke aufgebaut und wieder zerſtört hat, ſind allerdings aus den bereits oben angeführten Gründen für uns ſehr intereſſant und beleh— rend. Demungeachtet wollen wir hier nicht länger bei ihnen verweilen, da ſie doch nur zu einer nun längſt und allgemein verworfenen Meinung geführt haben. Dieſe neue Lehre aber, welche die wahren Verhältniſſe der Planetenbahnen enthalten ſollte, wurde mit den folgenden Worten aufgeſtellt ): „Die Erdbahn iſt ein „Kreis. Wenn man um die Kugel, zu der dieſer größte Kreis „gehört, ein Dodecaeder beſchreibt, fo gibt die dieſem letzten Kür: „per eingeſchriebene Kugel die Marsbahn. Beſchreibt man dann „um dieſe Bahn ein Tetraeder, ſo ſtellt der demſelben eingeſchrie— „bene Kreis die Jupitersbahn vor. Beſchreibt man aber um die „Jupitersbahn einen Kubus, fo wird der demſelben eingeſchloſſene „Kreis die Saturnusbahn ſeyn. Eben fo: beſchreibt man „in jener erſten Kugel der Erdbahn ein Ikoſaeder, fo wird der „dieſem letzten Körper eingeſchriebene Kreis die Bahn der Venus „vorſtellen, und beſchreibt man endlich in der Venusbahn ein „Detaeder, fo wird der dieſem Körper eingeſchriebene Kreis die „Merkursbahn bezeichnen.“ Die fünf hier erwähnten polyedri— ſchen Körper ſind bekanntlich die einzigen regulären Körper dieſer Art.

Obſchon aber dieſer Theil des Mysterium Cosmographicum, wie geſagt, ein Fehlgriff war, ſo hörten demungeachtet ähnliche Betrachtungen nicht auf, den Geiſt deſſelben Mannes zu beſchäf— tigen, und zweiundzwanzig Jahre ſpäter leiteten ſie ihn endlich zu der einen von jenen drei merkwürdigen Entdeckungen, die nun unter der Benennung der „Kepler'ſchen Geſetze“ bekannt find. Er gelangte aber zu dieſer Entdeckung, indem er die mittleren Diſtanzen der Planeten von der Sonne mit den Umlaufszeiten derſelben verglich. Er drückt dieſes Geſetz in der Sprache der Algebra mit den Worten aus, „daß die Quadrate der Um— »laufszeiten den Würfeln der mittleren Diſtanzen proportionirt

1) Lib. usef. knowl. Kepler. 6.

422 Inductive Epoche Kepler's.

ſind.“ Dieſes Geſetz war für Newton, zur Auffindung der an— ziehenden Kraft der Sonne, von der größten Wichtigkeit.

Man kann dieſe Entdeckung Kepler's als die Folge ſeines früheren, ſo eben angeführten Gedankenganges betrachten. Er ſagt im Eingange ſeines Myſteriums: „Im Jahre 1595 brütete „ich mit der ganzen Kraft meines Geiſtes über der Einrichtung „des Copernicaniſchen Syſtems. Darin ſuchte ich unabläſſig vor: „züglich von drei Dingen die Urſachen, warum fie eben fo und „nicht anders ſich verhalten; nämlich von der Anzahl, von der „Größe und von der Bewegung der Planetenbahnen.“ Wir haben geſehen, wie er es anfing, um den beiden erſten Fragen zu genügen. Er hatte auch hier mehrere Verſuche gemacht, die Geſchwindigkeiten der Planeten mit ihren Diſtanzen in Verbin— dung zu bringen, aber er war hierin mit dem Erfolge ſeiner Be— mühungen ſelbſt nicht ſehr zufrieden. In dem fünften Buche ſeiner „Harmonice mundi“ aber, die i. J. 1619 erſchien, ſagt er: „Was „ich vor zweiundzwanzig Jahren, als ich die fünf regulären Kür: „per zwiſchen den Planetenbahnen fand, verſprochen hatte; was ich „ihon glaubte, ehe ich die Harmonie des Ptolemäus geſehen „hatte, was ich meinen Freunden ſchon in dem Titel des Buches „(über die vollkommene Harmonie der himmliſchen Bewegungen) »verſprach, das ich ihnen nannte, noch ehe ich meiner Entdeckung „ſelbſt ſicher war; was ich noch ſeche zehn Jahre ſpäter als eine „immer noch zu machende Erfindung anſah; das, weßwegen ich nach „Prag ging und mich mit Tycho Brahe verband; und das endlich, „dem ich den größten und beften Theil meines Lebens geopfert habe „— das habe ich endlich gefunden und an's Licht gebracht, und „die Wahrheit deſſelben auf eine Weiſe erkannt, die ſelbſt meine „glühenditen Wünſche noch überſteigt.“

Das Geſetz ſelbſt wird in dem dritten Capitel des fünften Buches mit den Worten aufgeſtellt: „Es iſt völlig gewiß und „iehr genau, daß das Verhältniß von den periodiſchen Umlaufs— „zeiten je zweier Planeten das ſesquiplicate von dem Verhältniß „der mittleren Diſtanzen, d. h., von den Halbmeſſern der Bahnen „»iſt. Die Umlaufszeit der Erde z. B. beträgt ein Jahr, „und die des Saturns dreißig Jahre. Wenn man aber die „Kubikwurzel von der Zahl dreißig nimmt, und dieſe Zahl „aufs Quadrat erhebt, ſo findet man genau das Verhältniß der „mittleren Diſtanz der Erde und des Saturnus von der Sonne.

Inductive Epoche Kepler's. 423

„Denn das Quadrat der Kubifwurzel von Eins iſt 1; die Kubik— „wurzel von 30 aber iſt etwas größer als 3, und daher das „Quadrat dieſer Wurzel auch etwas größer als 9. Saturn's „mittlere Diſtanz von der Sonne aber iſt ebenfalls nur etwas „größer, als neunmal die Diſtanz der Erde von der Sonne.“ Wenn wir nun zurückſehen auf die lange Zeit und auf die große Mühe, die Kepler zur Auffindung dieſes Geſetzes verwen— det hat, ſo ſcheint es uns, als müßte er blind geweſen ſeyn, daß er daſſelbe nicht ſchon viel früher geſehen hat. Sein Zweck war, ſo müſſen wir vorausſetzen, irgend einen Zuſammenhang zwiſchen den Diſtanzen und den Umlaufszeiten der Planeten zu finden. Welche Art des Zuſammenhangs aber, kann man ſagen, iſt ein— facher und natürlicher als die, daß die eine dieſer Größen wie irgend eine Potenz der andern Größe ſich verhalten ſoll? Das Problem einmal ſo geſtellt, war alſo die Frage, welcher Potenz der Umlaufszeiten ſind die Diſtanzen der Planeten proportionirt? Und darauf konnte die Antwort nun nicht ſchwer ſeyn, daß die Diſtanzen der Potenz / (oder daß fie der Kubikwurzel aus den Quadraten) der Umlaufszeiten proportionirt ſind. Allein dieſe erſt hintendrein bemerkte. Leichtigkeit der Entdeckungen iſt eine Täuſchung, der wir in Beziehung auf gar manche der wichtigſten Dinge ausgeſetzt ſind. In Rückſicht auf den gegenwärtigen Fall muß man zuerſt bemerken, daß die Verbindung mehrerer Größen, durch Hülfe ihrer verſchiedenen Potenzen, nur von denen ausgehen kann, die mit den algebraiſchen Formeln innig bekannt ſind, und daß zu Kepler's Zeit die Algebra noch nicht in die Geometrie eingeführt war, wo ſie jetzt als eines der vor— züglichſten Hülfsmittel bei allen mathematiſchen Unterſuchungen erſcheint. Auch kann man hinzuſetzen, daß Kepler feine for: mellen Geſetze immer nur auf dem Wege des phyſiſchen Raiſonnements zu ſuchen pflegte, und dieſes letzte, auch wenn es nur unbeſtimmt und ſelbſt fehlerhaft war, beſtimmte doch allein die Natur des mathematiſchen Zuſammenhangs, die er einmal angenommen hatte. So wurde er in feinem „Mysterium“ durch ſeine Ideen von dem bewegenden Geiſt der Sonne unter anderen auf die Muthmaßung geführt, daß bei den Planeten der Zuwachs der Umlaufszeiten das Doppelte von der Differenz der Diſtan— zen ſey, und dieſe Vorausſetzung gab ihm, wie er ſah, wenig— ſtens eine Annäherung an das wahre Verhältniß, allein ſie ſchien

424 Inductive Epoche Kepler's.

ihm ſelbſt nicht genau genug, um ſich mit ihr zufrieden zu ſtellen.

Der größte Theil feiner „Hamonice mundi“ beſteht in verſchiedenen anderen Verſuchen, ähnliche Verhältniſſe zwiſchen den Umlaufszeiten, den Entfernungen und den Excentrici— täten der Planeten, mit denen des muſikaliſchen Accords in Verbindung zu bringen. Dieſer Theil ſeines Werkes iſt ſo complicirt und verwickelt, daß wohl nur wenige Leſer deſſelben Muth und Ausdauer genug gehabt haben mögen, es bis zu Ende zu ſtudiren. Delambre ?) geſteht, daß ſeine Geduld oft dabei ermüdete, und er ſtimmt ganz dem Urtheile Bailly's bei: „Nach dieſer erhabenen Unternehmung ſtürzt ſich Kepler „wieder in die Tiefen der Verhältniſſe zwiſchen den Bewegungen, „den Diſtanzen und den Ercentricitäten der Planeten, und „zwilchen den muſikaliſchen Accorden herab; aber in allen dieſen „»harmoniſchen Verhältniſſen, wie er fie nennt, findet ſich nicht „eine einzige richtige Bemerkung, in dem ganzen Gewühl von „Ideen auch nicht eine einzige Wahrheit, und der frühere Geiſt „Kepler's iſt wieder zu einem gemeinen Menſchen herabge— »ſunken.“ Ohne Zweifel find Speculationen dieſer Art ohne allen Nutzen für die Wiſſenſchaft, aber wir werden gewiß duld— ſamer auf fie hinblicken, wenn wir uns erinnern, doß ſelbſt Newton ) ähnliche Analogien zwiſchen den Räumen, weiche die prismatiſchen Farben trennen, und zwiſchen den muſikaliſchen Noten der Tonleiter aufgeſucht hat.

Es gehört nicht zu meinem Zweck, von den Speculationen über die Kräfte der himmliſchen Bewegungen umſtändlich zu ſprechen, durch welche Kepler auf die Entdeckung jenes großen Geſetzes geleitet worden iſt, noch auch von jenen, welche er ſpäter aus dieſem Geſetze wieder abgeleitet hat, und die er in feiner „Epitome Astronomiae Copernicanae“ von dem Jahre 1622 auseinander ſetzt. In dieſer letzten Schrift dehnt er (S. 554) daſſelbe Geſetz, obſchon auf eine noch unvollkommene Weiſe, auch auf die Satelliten Jupiters aus. Aber alle dieſe phyſiſchen Speculationen waren nur unbeſtimmte und ent—

2) Delambre, Astr. Mod. I. 358. 3) Newton. Optik. B. II. Prop. IV. Obs. 5.

Inductive Epoche Kepler's. 425

fernte Vorläufer zu der großen Entdeckung Newtons, obſchon das Geſetz ſelbſt als ein formelles, als ein ſelbſtbeſtändiges und vollendetes zu betrachten iſt.

Gehen wir nun zu den zwei anderen Geſetzen über, mit welchen der Name Kepler's für ewige Zeiten in Verbindung ſteht.

Dritter Abſchnitt.

Entdeckung der zwei erften Gefetze Kepler's: elliptiſche Theorie der Planeten.

Die zwei erſten Geſetze Kepler's ſind in den folgenden Worten enthalten: 1) die Bahnen der Planeten ſind Ellipſen, in deren einem Brennpunkte die Sonne iſt; und 2) die von dem Radius Vector der Planeten beſchriebenen Räume ſind den Zeiten proportional.

Gelegenheit zur Entdeckung dieſer zwei Geſetze gab der Ver— ſuch, die beobachteten Bewegungen des Planeten Mars der alten epicykliſchen Theorie anzupaſſen. Die Folge dieſes Verſuchs war die gänzliche Verwerfung der alten Theorie, und damit zugleich die Aufſtellung der neuen oder der elliptiſchen Theorie der Planeten. Auch war die Aſtronomie jetzt reif geworden, um dieſe totale Metamorphoſe mit ſich vornehmen zu laſſen. Denn nachdem Copernicus gezeigt hatte, daß die Bahnen der Planeten ſich auf die Sonne, als auf ihren gemein— ſchaftlichen Mittelpunkt beziehen, ſo entſtand auch zugleich die Frage, welches die wahre Geſtalt dieſer Bahnen, und welches die wahre Bewegung jedes Planeten in dieſer ſeiner Bahn ſeyn möge? Copernicus ſuchte die Längen der Planeten, wie wir bereits geſagt haben, durch excentriſche Kreiſe und durch Epi— cykel darzuſtellen; die Breiten derſelben aber erklärte er ſich durch gewiſſe Librationen oder durch ein Auf- und Nieder— ſchwanken dieſer Epicykel. Wenn ein guter Geometer mehrere wahre und vollſtändige Ortsbeſtimmungen eines Planeten am Himmel erhalten könnte, ſo würde er daraus die Geſtalt ſeiner Bahn und die Art ſeiner Bewegung in dieſer Bahn, in Beziehung auf die Sonne oder auf die Erde, durch Rechnung ableiten können. Allein ſolche vollſtaͤndige Ortsbeſtimmungen der Planeten find uns unmöglich, da wir von der Erde nur die geoeentriſche

426 Inductive Epoche Kepler's.

Länge und Breite, nicht aber auch die Entfernungen der Planeten durch Beobachtungen beſtimmen können. Als daher Kepler ſich anſchickte, die wahren Bahnen der Planeten zu ſuchen, mußte er die beobachteten Längen und Breiten derſelben unter verſchiedenen Modificationen der epicykliſchen Theorie mit einander vergleichen, und dieſes Geſchäft ſetzte er ſo lange fort, bis er endlich, am Ende aller ſeiner mißlungenen Verſuche, ſich entſchloß, dieſe Theorie als unrichtig gänzlich zu verwerfen, und ihr eine neue, die elliptiſche Theorie zu ſubſtituiren. Bemerken wir noch, daß er bei jedem Schritt ſeiner langen und mühſamen Laufbahn, wenn ſeine alten Truppen, wie er ſich in ſeiner bilderreichen Sprache ausdrückte, geſchlagen wurden, neue Hülfs— völker herbeirief, oder daß er ſeine früheren Hypotheſen, wenn er ſie unhaltbar fand, ſofort wieder durch neuere zu erſetzen ſuchte ). Dieß iſt auch ohne Zweifel der wahre Weg, der zu Entdeckungen führt. Nur diejenigen gelangen zu dem Beſitze neuer Wahrheiten, die von einem Punkte ihrer Erkenntniß zu anderen oft ſehr entfernten lebhaft überſpringen und ſie mit jenen verbinden können, nicht aber die, die an jeder Stelle vor— ſichtig ſtehen bleiben und warten, bis ſie von außen getrieben werden, weiter zu gehen.

Kepler vereinigte ſich mit Tycho Brahe im Jahre 1600 zu Prag, wo er dieſen mit Longomonton eifrig beſchäftigt fand, die Theorie des Planeten Mars durch die von ihm angeſtellten

———

1) So erklärt er ſich ſelbſt über eine dieſer Niederlagen, die er in ſeinem Kampfe mit dem Planeten Mars erlitten hatte: Dum in hune modum de Martis motibus triumpho, eique ut plane devicto tabularum carceres et aquationum compedes necto, diversis nuntia- tur locis, futilem victoriam et bellum tota mole recrudescere. Nam domi quidem hostis, ut captivus, contemptus, rapit omnia aequationum vincula, carceresque tabularum eflregit. Foris specu- latores profligarunt meas causarum physicarum arcessitas copias, earumque jugum excusserunt resumta libertate. Jamque parum abfuit, quin hostis fugitivus sese cum rebellibus suis conjungeret, meque in desperationem adigeret: nisi raptim, nova rationum physicarum subsidia, fusis et palantibus veteribus, submisissem, et qua sese captivus proripuisset, omni diligentia edoctus vestigiis ipsis nulla mora interposita inhaesissem. Itaque causae physicae in ſumos abeunt. L.

Inductive Epoche Kepler's. 427

Beobachtungen zu verbeſſern. Kepler warf ſich ſogleich mit aller Kraft auf denſelben Gegenſtand. Die Reſultate ſeiner Arbeiten machte er im Jahr 1609 in ſeinem vortrefflichen Werke: De Motibus stellae Martis bekannt. In dieſer, wie in allen ſeinen zahlreichen Schriften, erzählt er mit der größten Offenheit, nicht nur ſeine gelungenen, ſondern auch alle ſeine mißglückten Verſuche; die verſchiedenen Hypotheſen, die er aufgeſtellt hat; die Wege, wie er zu ihnen gekommen iſt, oder wie er den Irrthum derſelben entdeckt hat, und die ganze lange Reihe von Entwürfen und Hoffnungen, von Niederlagen und Siegen, durch welche er end— lich zu ſeinem Ziele gelangte.

Eine der wichtigſten Wahrheiten dieſes großen Werkes iſt die Entdeckung, daß die Ebene der Planetenbahnen bloß in Be— ziehung auf die Sonne betrachtet werden müſſe, nicht aber auf die Erde, wie es die alte epicykliſche Theorie gethan hat, und daß dadurch allein ſchon alle jene Librationen wegfallen, mit welchen Ptolemäus und Copernicus ihr Syſtem überladen haben. Im vierzehnten Capitel des zweiten Buches wird geſagt, Plana eccentricorum esse arakavra, d. h., die Ebenen der Pla— netenbahnen ſchweben im Gleichgewichte, indem ſie immer die— ſelbe Neigung und dieſelbe Knotenlinie in der Ekliptik beibehalten. Dieſe Entdeckung ſchien ihm viel Freude zu machen, und feine Bemerkungen darüber tragen das Gepräge eines Acht philoſophiſchen Geiſtes. „Copernicus, ſagte er, kannte nicht „den Werth des von ihm gefundenen Schatzes, und feine Abſicht „Icheint geweſen zu ſeyn, mehr den Ptolemäus, als die Natur „zu erklären, obſchon er der letzten näher gekommen iſt, als „irgend ein anderer. Er bemerkte mit Vergnügen, daß die »Breite der Planeten mit der Annäherung derſelben zur Erde „zunimmt, wie dieß mit feiner Theorie übereinſtimmend war, „aber er wagte es doch nicht, den Reſt der ptolemäiſchen Hypo— »theſe zu verwerfen, und um dieſe vielmehr noch mehr zu be— „tätigen, dachte er ſich jene Librationen der Planetenbahnen „aus, die nicht von ihren eigenen excentriſchen Kreiſen, ſondern, »was ganz unwahrſcheinlich war, von der Erdbahn abhängen »ſollten, mit welcher jene doch nichts zu thun haben können. »Ich ſtritt immer gegen dieſe ganz ungeräumte Verbindung von »zwei einander ſo heterogenen Dingen, ſelbſt noch ehe ich die „Beobachtungen Tychos geſehen hatte, und es erfreut mich recht

428 Inductive Epoche Kepler's.

„ehr, daß in dieſen, wie in vielen anderen Dingen, meine Vor— „herſagungen von den Beobachtungen vollkommen beſtätiget „worden find.“ Kepler brachte dieſen wichtigen Punkt durch mühſame und zugleich ſehr ſinnreiche Rechnungen in's Reine, die er über Tychos und feine eigenen Beobachtungen des Mars geführt hatte, und er hatte wohl ein Recht, ſich zu freuen, daß das Reſultat ſeiner Arbeiten ſeine früheren Anſichten von der Einfachheit und Symmetrie des Planetenſyſtems auf eine ſo ſchöne Weiſe bejtätiget hatten.

Wie ſchwer es damals geweſen ſeyn mußte, ſich von der alten Theorie der Epicykel los zu machen, erhellt ſchon daraus, daß Copernicus ſich noch gar nicht von ihr trennen, und daß auch Kepler ſeine Befreiung von ihren Feſſeln erſt nach langen und harten Kämpfen durchſetzen konnte, deren Erzählung volle neun und dreißig Capitel ſeines Werkes einnimmt. Am Ende der— ſelben ſagt er: „Dieſe umſtändliche Abhandlung war nothwendig, „um dadurch den Weg zu der wahren Theorie der Planeten zu „bahnen, mit welcher wir uns jetzt beſchäftigen wollen. Mein „erfter Irrthum war, daß die Bahn der Planeten ein Kreis „ſeyn müſſe, eine heilloſe Meinung, die mir nur um fo mehr „Zeit geraubt hat, da ſie von dem Anſehen aller Philoſophen „unterftüßt und beſonders den Metaphyſikern ſehr willkommen „war :).“ Ehe er dieſen Grundfehler des alten Syſtems zu vers beſſern unternahm, ſuchte er zuerſt das Geſetz, nach welchem die einzelnen Theile der Bahnen von ihren Planeten beſchrieben werden. Er fing dieſe Unterſuchung mit der Erde an, da die kleine Excentricität ihrer Bahn die Sache ſehr erleichterte (und da er auch die Erdbahn vorerſt genau kennen mußte, um die gevcentrifhen Beobachtungen der übrigen Planeten in heliocen— triſche verwandeln zu können). Das Reſultat dieſer Unter— ſuchung war 5): daß die Zeit, in welcher jeder Planet einen gegebenen Bogen ſeiner Bahn um die Sonne zurücklegt, ſich

2) Die Worte Kepler's find: Primus meus error fuit, viam planetae perfectum esse eirculum: tanto nocentior temporis fur, quanto erat a) auctoriate omniam philosophorum instructior et metaphysicae in specie convenientior. L.

3) De stella Martis. &. 194.

Inductive Epoche Kepler's. 429

wie die Flaͤche verhält, die zwiſchen dieſem Bogen und zwiſchen den beiden äußerſten Radien Vectoren deſſelben enthalten iſt, oder daß die von dieſen Radien beſchriebenen Flächen ſich wie die Zeiten verhalten, in welchen ſie beſchrieben werden. Doch muß bemerkt werden, daß dieſes Geſetz, obſchon es aus vielen anderen, die ihm früher beigefallen waren, und die er als un— ſtatthaft wieder verlaſſen mußte, ausgewählt war, doch keines— wegs von ihm gehörig erwieſen oder auch nur vollſtändig erkannt war. Er fand daſſelbe in den beiden Apſiden der Erdbahn, durch Berechnung der Beobachtungen, beſtätiget, und dieß war ihm ſchon hinreichend, um es ſofort auf alle andere Theile dieſer Bahn, und auch auf die Bahnen aller übrigen Planeten aus— zudehnen. Er nahm anfangs dieſe Hypotheſe von der Propor— tionalität der Flächen mit den Zeiten nur als eine Annäherung, zur Erleichterung ſeiner Rechnungen, der Kürze und Bequem— lichkeit wegen an, da er eigentlich, wie er ſagte, die Summe aller der unzähligen Radien kennen ſollte, die von jedem Punkte des Bogens zu dem Mittelpunkte der Sonne gezogen werden, ein geometriſches Problem höherer Art, zu deſſen Auf— löſung eigentlich die höhere Analyſis gehörte, die damals noch nicht erfunden war. Auch gerieth er bald darauf, als er die— ſelbe Hypotheſe auf die Bewegung des Mars anwenden wollte, auf neue Schwierigkeiten, da die Bahn dieſes Planeten ſehr excentriſch iſt, und daher von der kreisförmigen Geſtalt, die er bisher für alle Planeten angenommen hatte, beträchtlich abweicht. Erſt nachdem er ſich lange Zeit vergebens abgemüht hatte, die Bewegungen dieſes Planeten mit feiner neuen Hypotheſe, in Beziehung auf den Kreis, in Uebereinſtimmung zu bringen, nahm er, aber auch hier nur vorerſt zur Erleichterung der Rech— nung, an, daß dieſe Bahn vielleicht eine von jenen ovalen Linien ſeyn könnte, die man Ellipſen nennt ). Er war aber

4) Nachdem er nämlich gefunden hatte, daß die Radien der Mars bahn immer kleiner ſind, als in dem excentriſchen Kreiſe, und zwar deſto kleiner, je weiter Mars von feiner Apfidenlinie entfernt iſt, ſagte er S. 213: Itaque plane hoc est, orbita planetae non est eircu- lus, sed ingrediens ad latera utraque paulatim, iterum ad eireuli amplitudinem in perigeo exiens; cujusmodi ſiguram itineris ova- lem appellitant.

450 Inductive Epoche Kepler's.

anfangs ſo wenig gewiß, ob dieſe Bahn auch in der That eine Ellipſe, oder nur eine dieſer Curve ähnliche ovale Figur iſt, daß er die Abweichungen, die er auch jetzt noch zwiſchen ſeinen Be— rechnungen und den ihnen zu Grunde liegenden Beobachtungen fand, nicht der Unvollkommenheit der letzten, ſondern vielmehr nur der Ungenauigkeit ſeiner elliptiſchen Hypotheſe und der auf dieſe Hypotheſe gebauten Berechnungen zuſchrieb. Uebrigens hatte ſich dieſe Vorausſetzung einer ſolchen ovalen Curve ſchon früher dem Purbach ) bei der Bahn Merkurs, und auch dem Reinhold bei

5) Purbach, Georg, (eigentlich Peurbach) war i. J. 1423 in dem Städtchen Peurbach in Oeſterreich geboren. Er vollendete ſeine Studien in Wien und erhielt ſeine fernere Ausbildung in Italien, wo ihn beſonders der Cardinal Cuſa mit hoher Auszeichnung be— handelte. Peurbach hatte ſich vorzüglich der Aſtronomie gewidmet, und wurde auch, nach ſeiner Zurückkunft aus Italien, als Pro— feſſor der Aſtronomie an der Univerſität zu Wien angeſtellt. Sein erſtes aſtronomiſches Werk war eine Erklärung der ſechs erſten Bücher des Almageſts, dem bald eine große Anzahl anderer mathematiſcher und aſtronomiſcher Werke folgte, unter welchen ſeine Sinustafeln, ſeine ekliptiſchen Tafeln (zur leichtern Berech— nung der Finſterniſſe) und vorzüglich ſeine Theoriae novae pla- netarum bemerkt werden. Er war auch als beobachtender Aſtro— nom ausgezeichnet. Auf den Rath des Cardinals Beſſarion ent- ſchloß er ſich im Jahr 1460, Italien noch einmal zu beſuchen, um daſelbſt die griechiſche Sprache zu erlernen. In dieſem Vorſatze wurde er am 8. April 1461 von dem Tode überraſcht. Sein Grabmal wird in der Stephanskirche zu Wien gezeigt.

Reinhold, Erasmus, geb. 1511 in Thüringen, einer der berühmteſten Aſtronomen feiner Zeit. In der Ausgabe der Theo— riae planetarum des Peurbach, die Schreckenfuchs i. J. 1542 ge⸗ geben hat, findet man die merkwürdige Nachricht, daß Reinhold die Bahnen des Monds und des Merkurs eiförmig angenommen hat. Im Jahr 1549 gab er ſeinen Commentar über das erſte Buch des Almageſts mit der lateiniſchen Ueberſetzung, und 1551 erſchienen ſeine Tafeln der Sonne und der Planeten, die er Ta— bulae Prutenicae nannte, zu Ehren Alberts von Brandenburg, Herzogs von Preußen, der ſein Gönner und Beſchützer war. Dieſe Tafeln waren nach dem copernicaniſchen Syſtem conſtruirt und viel genauer, als die welche früher Copernicus ſelbſt berechnet und ſeinem Werke De Revolutionibus beigefügt hatte. Dieſe Tafeln des

Inductive Epoche Kepler's. 431

der Mondsbahn gleichſam aufgedrungen, indem jener ſtatt den bisherigen excentriſchen Kreis eine eiförmige, und dieſer eine linſenförmige Figur, wie fie dieſelben nannten, ſubſtituirte ).

Um den Weg beſſer kennen zu lernen, den Kepler gehen mußte, um zu ſeinen Entdeckungen zu gelangen, wollen wir die ſechs Hypotheſen anführen, unter welchen er die ihm von Tycho gegebenen Orte des Mars berechnete, um zu ſehen, welche von ihnen am beſten mit den Beobachtungen übereinſtimmte. Er zählt dieſe Hypotheſen im ſieben und vierzigſten Capitel ſeines Werkes, wie folgt, auf:

1. Die einfache Ercentricität.

2. Die Biſection der Excentricität und die Duplication des

obern Theils des Gleichers.

3. Die Biſection der Excentricität mit einem feſten Punkt des Gleichers, nach Art des Ptolemäus.

4. Die ſtellvertretende Hypotheſe durch eine willführliche Section der Excentricität, die ſo nahe als möglich mit den Beobachtungen übereinſtimmt.

5. Die phyſiſche Hypotheſe, in welcher die Bahn genau kreis— förmig angenommen wird.

6. Endlich die phyſiſche Hypotheſe, in welcher die Bahn genau elliptiſch angenommen wird.

Durch das Wort „phyſiſche Hypotheſe“ drückte er die Bor: ausſetzung aus, daß die Zeit, in welcher der Planet einen Bogen ſeiner Bahn beſchreibt, der Diſtanz des Planeten von der Sonne proportional ſey, da er für dieſe Proportionalität, wie er ſagte, phyſiſche Gründe aufgefunden hat.

Die zwei letzten Hyhotheſen kommen in feinen Rechnungen der Wahrheit am nächſten, indem ſie von den Beobachtungen nur um acht Minuten abwichen, die einen zu wenig und die

Reinhold waren nach dem Meridian von Königsberg conſtruirt. Reinhold ftarb 1553 als Profeſſor in Wittenberg. Kepler ſpricht oft von ihm in ſeinen Werken, als von einem ausgezeichneten aſtronomiſchen Talente, und er lobt ſeine Schriften beſonders wegen ihrer hohen Klarheit. Reinholds Tafeln wurden auch bei der berühmten Reformation des Kalenders im Jahr 1582 ge— braucht. L.

6) M. ſ. Lib. Usef. Krowl. Kepler. S. 30.

432 Inductive Epoche Kepler's.

andern um dieſelbe Größe zu viel. Nachdem ihn dieſe noch übrigen Fehler lange aufgehalten hatten, fiel es ihm endlich bei (Cap. 58), eine andere Ellipſe zu verſuchen, die zwiſchen der früher angenommenen und dem Kreiſe in der Mitte läge, wodurch er zu einem erwünſchten Reſultate zu kommen hoffte. Er machte ſich ſofort an die neue Berechnung, und indem er jetzt zugleich die Flächen der elliptiſchen Sectoren den Zeiten proportional nahm, ſah er bald zu ſeinem großen Vergnügen, daß ſowohl die Längen des Mars, als auch die Diſtanzen deſſelben in der gewünſchten Schärfe mit den Beobachtungen übereinſtimmten. Kepler berichtet uns (in dem fünf und fünfzigſten Capitel ſeines Werks), daß ihm in der Entdeckung der wahren, ellipti— ſchen Bahn der Planeten ein Anderer bald zuvorgekommen wäre. „David Fabricius “), ſagt er, dem ich meine frühere (auf die „kreisförmige Bahn der Planeten ſich beziehende) Hypotheſe „mittheilte, zeigte mir durch feine Beobachtungen, daß dieſe „Hypotheſe alle Diſtanzen zu klein gebe. Er benachrichtigte „mich davon in einem Briefe zu der Zeit, wo ich eben durch „mehrere wiederholte Verſuche die wahre Bahn der Planeten zu „finden ſuchte. So nahe war er daran, mir in dieſer Entdeckung „zuvorzukommen.“ Allein dieſe Entdeckung war doch auch jetzt noch ſchwerer, als es auf den erſten Blick ſcheinen mag, und Kepler verfiel gleichſam nur durch einen glücklichen Zufall auf ſie, indem er die Coincidenz mehrerer Zahlen in ſeinen Rech— nungen bemerkte, die ihn, wie er ſagt, wie aus einem Traume erweckt, und ihm ein ganz neues Licht gegeben haben. Ueberdieß muß noch bemerkt werden, daß er lange in Verlegenheit war, wie er dieſe ſeine neue Anſicht (der Ellipticität der Planetenbahnen) mit ſeiner früheren Meinung vereinigen ſollte, nach welcher die wahren Bewegungen der Planeten durch eine gewiſſe Libration (Veränderung) in den Halbmeſſern ihrer Epicykel dargeſtellt wur— den. „Das war, ſagt er, meine größte Noth, aus der zu „kommen ich mich ſo lange quälte, bis ich ſchon ganz blödſinnig „wurde Ich hatte früher die Bewegungen der Planeten durch

7) Fabricius David), war in Oſtfriesland geboren und hatte längere Zeit mit Tycho gelebt und gearbeitet. Er war es, der im Jahr 1596 den berühmten veränderlichen Stern o im Wallfiſch, Mira Ceti, entdeckte. Er ſtarb 1616. L.

Inductiue Epoche Kepler's. 433

„eine Libration des Durchmeſſers ihrer Epicykel, in Beziehung „auf ihre Diſtanzen von der Sonne, ſo gut mit den Beobach— „tungen übereinſtimmend dargeſtellt, und nun ſollte ich dieſe „Librationen und alles Frühere wieder verlaſſen, um ſie gegen „eine elliptiſche Bahn zu verwechſeln. Wie einfältig waren „aber dieſe meine Klagen! Als ob dieſe Librationen der epicyk— „lifchen Durchmeſſer nicht eben ſelbſt der beſte Weg zu den ellip— „tiſchen Bahnen geweſen wären!“

Eine andere Bedenklichkeit, die ſich gegen die neue Theorie erhob, entſtand aus der Unmöglichkeit, das hieher gehörende Problem durch eine geometriſche Conſtruction aufzulöſen, näm— lich „die Fläche eines Halbkreiſes, mittels einer durch einen „Punkt des Durchmeſſers gehenden geraden Linie, in einem ge— „gebenen Verhältniſſe zu theilen.“ Dieſe Aufgabe wird jetzt noch das „Kepler'ſche Problem“ genannt, und die ſtrenge, directe Auflöſung deſſelben iſt in der That unmöglich. Da aber doch eine genäherte Auflöſung deſſelben gegeben werden kann, und auch von Kepler gegeben worden iſt, und da er dadurch zur Genüge bewieſen hat, daß ſeine elliptiſche Hypotheſe der Wahr— heit vollkommen gemäß iſt, ſo gehören die eigentlich mathema— tiſchen Schwierigkeiten, die ſich der directen Auflöſung dieſes Problems entgegenſtellen, nur mehr dem deductiven Prozeſſe an, der nach dem inductiven Verfahren Kepler's gefolgt iſt.

Von den phyſiſchen Anſichten Kepler's werden wir bei einer anderen Gelegenheit umſtändlich ſprechen. Seine vielen und oft phantaſtiſchen Hypotheſen haben ihren Dienſt gethan, indem ſie ihm Gelegenheit zu ſeinen mühſamen Rechnungen und Unter— ſuchungen gaben, und indem ſie ihn unter dem Drucke ſeiner Anſtrengungen, ſeiner mißlungenen Verſuche und ſeiner häusli— chen Sorgen aufrecht und muthvoll erhielten. Der Zweck ſeines Werkes war die Aufſtellung des formellen Geſetzes der planeta— riſchen Bewegungen auf dem Wege einer klaren Induction, um dadurch die beſten Beobachtungen ſeiner Zeit mit hinlänglicher Genauigkeit darzuſtellen. Man darf ſagen, daß Kepler ein gutes Recht“ hatte auf den Preis, den er im Eingange feines Werkes ausſpricht. Ramus hatte früher erklärt, daß er dem— jenigen ſeine Lehrerſtelle an der Univerſität zu Paris willig ab— treten wolle, der eine Aſtronomie ohne Hppotheſen ſchreiben kann. Kepler erwähnt dieſer Geſchichte und ſetzt hinzu: „Du haſt

Whewell. I. 28

434 Inductive Epoche Kepler's.

„fehr wohl gethan, Ramus, von deinem Wort dich loszumachen, „indem du deinen Lehrſtuhl zugleich mit deinem Leben verließeſt „(Ramus wurde in der Pariſer Bluthochzeit im Jahr 1572 „ermordet): denn wenn du jenen noch hätteſt, würde ich ihn „mit Fug und Recht von dir fordern.“ In der That hat Kepler damit nicht zu viel geſagt, weil er nicht nur die alte Hypotheſe der Epicykel für alle Folgezeit völlig zerſtört, ſondern auch zugleich eine Theorie aufgeſtellt hat, die jeder, der ſie näher kennt, nicht mehr als eine bloße Hypotheſe, ſondern als eine wahre, durch unzählige Beobachtungen erwieſene Darſtellung des in der That ſtatthabenden Weltſyſtems erkennen wird.

Fünftes Capitel.

Folgen der Kepler ' ſchen Epoche. Aufnahme, Verification und Ausbildung der elliptiſchen Theorie.

Erſter Abſchnitt. Anwendung der elliptifchen Theorie auf die Planeten.

Was Kepler von der Marsbahn ausgeſagt hatte, wurde nun ſofort auch auf die Bahnen der übrigen Planeten ange— wendet, und die Wahrheit deſſelben auch hier vollkommen beſtä— tigt. Zuerſt machte man dieſen Verſuch an der Merkursbahn, die wegen ihrer großen Excentricität die elliptiſche Bewegung ihres Planeten mit viel größerer Schärfe hervortreten ließ. Dieſe und verſchiedene andere nachträgliche Unterſuchungen, zu welchen Kepler ſeine großen Entdeckungen geleitet hatten, erſchie— nen i. J. 1622 in dem letzten Theile feiner »Epitome Astrono- „miae Copernicanae.‘“

Die eigentliche Verification der neuen Theorie der Planeten mußte aber in den Tafeln gefunden werden, welche die Bewe— gungen dieſer Himmelskörper darſtellten, und die, wenn jene Theorie der Wahrheit gemäß iſt, mit den fortgeſetzten Beob—

Folgen der Kepler'ſchen Epoche. 435

achtungen der Aſtronomen in genauer Uebereinſtimmung bleiben ſollten. Die Entdeckungen Kepler's wurden größentbeils, wie wir geſehen haben, auf Tycho's Beobachtungen erbaut. Longo— montan !) hatte i. J. 1621 in feiner »Astronomia Danica“ Tafeln herausgegeben, die ſich auf die Theorie und auf die Beobachtungen Tycho's, feines Landsmannes, gründeten. Kepler aber machte i. J. 1627 ſeine „Rudolphiniſchen Tafeln“ bekannt, denen er ſeine eigene Theorie zu Grunde gelegt hatte. Im Jahre 1633 erſchienen die ⸗Tabulae perpetuae“ des Lansberg, eines Belgiers, der ſein Werk mit viel Pomp angekündigt, und dabei Keplern und Tycho vornehm zu tadeln wagte. Den Eindruck, den er damit auf die aſtronomiſche Welt machte, läßt ſich aus der Erzählung des Engländers Horror ſchließen, der anfangs auch von den großen Verſprechungen Lansberg's ) und den dem Werke vorgedruckten Lobeserhebungen ſeiner Freunde verführt war, und der die Meinung derer, die Keplern und Tycho höher hielten, für ein Vorurtheil anſah. Im Jahre 1636 aber wurde er mit Crabtree, einem jungen Aſtronomen, bekannt, der in der—

1) Longomontan, geb. 1562 in dem däniſchen Dorfe Lonborg, Freund und Gehülfe Tycho's bei feinen aſtronomiſchen Beobach— tungen auf der Inſel Hveen, von wo er auch Tycho nach Prag begleitete. Später wurde er Profeſſor der Mathematik in Kopen— hagen, wo er 1647 ſtarb. Sein vorzüglichſtes Werk iſt die Astro- nomia Danica (Kopenhagen 1622), in welchem er das ganze damals bekannte Gebiet der Wiſſenſchaft zu umfaſſen ſuchte. Die Theorie der Planeten wird in demſelben dreimal, nach Ptolemäus, nach Copernicus und nach Tycho vorgetragen, und endlich dem letzten, als dem Syſteme ſeines Lehrers, der Vorzug eingeräumt. So groß war die Vorliebe dieſes ſonſt ſo talentvollen Mannes für den Kreis, daß er darauf drang, denſelben auch dann noch beizubehal— ten, wenn die Folge andere Formen der Planetenbahnen kennen lehren ſollte. Auch er, wie ſein großer Lehrer, huldigte noch der Aſtrologie. M. ſ. über ihn den Art.: Longomontan in Bay— le's Dict. critique. L.

2) Lansberg, geb. 1560 zu Gent, geſt. 1632 in Zeland, wo er pro— teſtantiſcher Prediger war. Seine aſtronomiſchen Tafeln, die 1632 herauskamen, waren lange im Gebrauche. Seine anderen, mei— ſtens aſtronomiſchen Werke find 1663 zu Middelburg herausge—

kommen. 288

436 Folgen der Kepler'ſchen Epoche.

ſelben Gegend von Lancaſhire lebte. Von dieſem wurde Horrox gewarnt, ſich nicht zuviel auf Lansberg zu verlaſſen, da ſeine Hypotheſen irrig, ſeine Beobachtungen verfälſcht und ſeine Theorie künſtlich angepaßt wären. Horrox begann nun die Werke Kepler's zu leſen und allmählig auf die Seite deſſelben überzugehen. Nach einigem Bedenken, das er in der Unterneh: mung, gegen den Gegenſtand ſeiner früheren Verehrung aufzutreten, fühlte, ſchrieb er eine Abhandlung über die Punkte, über welche jene Männer verſchieden dachten. Es ſcheint, er wollte ſich zu— gleich als Schiedsmann zwiſchen den drei um den Preis kämpfen— den Theorien von Longomonton, Kepler und Lansberg aufwerfen, daher er auch feine Schrift „Paris astronomicus“ betitelte. Man ſieht leicht, daß er Keplern den goldenen Apfel zuerkennt. Die Beobachtungen ſeiner Nachfolger haben ſein Urtheil beſtätigt, und die Rudolphiniſchen Tafeln ſind lange Zeit vorzugsweiſe im allgemeinen Gebrauche geblieben.

Zweiter Abſchnitt. Anwendung der elliptifchen Theorie auf den Mond.

Die Bewegungen des Mondes waren viel ſchwerer in Tafeln zu bringen, als die der Planeten, denn jene ſind einer ſehr großen Menge von höchſt verſchiedenen und unter einander verwickelten Ungleichheiten unterworfen, die, ſo lange ihr Geſetz noch nicht bekannt iſt, aller Theorie zu ſpotten ſcheinen. Demungeachtet wurden auch hierin fchon zu jener Zeit einige bedeutende Fort: ſchritte gemacht. Die vorzüglichſten derſelben verdanken wir dem Tycho Brahe ). Wir haben bereits oben von zwei großen Un:

1) Tycho Brahe, wurde am 14. Dez. 1546 zu Kuutſtrup in Scho⸗ nen geboren und ſtarb am 24. October 1601 zu Prag. Seine Aeltern ſtammten beide von altadelichen däniſchen Familien ab. Den größten Theil ſeiner Jugend bis zu ſeinem dreizehnten Jahre brachte er in dem Hauſe ſeines kinderloſen Onkels Jürgen zu, bis er i. J. 1559 die Univerſität von Kopenhagen bezog. Hier ſoll er durch den Eindruck, den die Sonnenfiuſterniß des 21. Auguſt 1560 auf ihn machte, für die Aſtronomie gewonnen worden ſeyn. Im Jahre 1562 ging er auf die Univerſität zu Leipzig,

Folgen der Kepler'ſchen Epoche. 437

gleichheiten dieſer Satelliten geſprochen, von feiner „Gleichung des Mittelpunkts“ und von der „Evection,“ welche letzte Ptole—

wo er die Rechte ſtudiren ſollte, aber alle ſeine Nebenſtunden und ſelbſt ſein Geld der Aſtronomie widmete, zu welchen Zwecken er ſich mehrere Inſtrumente gekauft hatte. Als er bei ſeiner Rück— kehr in's Vaterland i. J. 1565 feine Verwandten feiner Lieblings: wiſſenſchaft abgeneigt fand, ging er wieder nach Deutſchland zurück, wo er ſich abwechſelnd in Roſtock, Wittenberg und Augsburg auf— hielt, und ſich beſonders der Aſtronomie und der Chemie widmete. Im Jahre 1570 kehrte er wieder nach Dänemark zurück, wo ihm ein anderer Onkel Steen Bilde unweit Knutſtrup eine Privatſtern— warte erbauen ließ. Auf derſelben entdeckte er am 11. Nov. 1572 den bekannten neuen Stern im Sternbilde der Caſſiopeia. Da— durch gewann er die Zuneigung K. Friedrichs II., auf deſſen Zu— reden er ſich entſchloß, aſtronomiſche Vorleſungen in Kopenhagen zu halten. Seine bald darauf erfolgte Ehe mit Chriſtinen, der Tochter eines Bauers in ſeinem Geburtsorte, zog ihm die Feindſchaft ſeiner Verwandten zu, die auf ſein ganzes übriges Leben ſehr nachtheilig einwirkte. Im Jahre 1575 machte er eine Reiſe durch Deutſchland, wo er der Krönung des K. Rudolphs in Regensburg beiwohnte, und von wo er mit vielen aſtronomiſchen Schriften und Inſtrumenten beladen wieder nach Dänemark zurück— kehrte. König Friedrich II., dem er beſonders durch den Landgra— fen von Heſſen, Wilhelm IV. empfohlen war, gab ihm 1576 einen Jahrgehalt von 2000 Thalern, und beſchenkte ihn auch auf Lebens— zeit mit der in Oreſund, zwiſchen Seeland und Schonen gelegenen ſchönen und fruchtbaren Inſel Hveen, ſchoß zur Erbauung eines Schloſſes auf derſelben beträchtliche Summen vor, und vermehrte endlich ſeine Einkünfte noch mit einem bedeutenden Lehen in Nor— wegen und mit einem Canonicate zu Roeskilde. Das erwähnte Schloß, dem er eine ganz aftronomifche Anordnung gab, wurde Urania genannt, und daſelbſt eine eigentliche Sternwarte und ein chemiſches Laboratorium eingerichtet, beide im größten Style für jene Zeit. Hier lebte und wirkte er, umgeben von zahlreichen Schülern und Freunden, in der Mitte feiner Familie, einundzwan— zig Jahre, geehrt und ſelbſt beſucht von allen Großen Europa's, die auf ihren Reiſen Dänemark nicht verlaſſen konnten, ohne Tycho, den berühmteſten Mann des Landes, geſehen zu haben. Nach Friedrich's II. Tod aber war auch die Gnade des Hofes für ihn verſchwunden. Der Miniſter Walkedorf wurde bei ſeinem Beſuche auf der Inſel Hpeen von einem der großen Hunde Tycho's an— gefallen, und glaubte ſich von dem Herrn der Inſel überhaupt

438 Folgen der Kepler'ſchen Epoche.

mäus entdeckt hat. Tycho zeigte der erſte, daß es noch eine andere große Ungleichheit gibt, die er „Variation“ nannte ). Dieſe Ungleichheit hängt von der Lage des Mondes gegen die Sonne ab, und beträgt in ihrem größten Werthe vierzig und eine halbe Minute, alſo nahe den vierten Theil der Evection. Auch bemerkte Tycho, obſchon nicht ganz deutlich, die Nothwen—

nicht mit der gehörigen Achtung behandelt zu ſehen. Er trat feit- dem als erbitterter Gegner Tycho's bei dem jungen Könige Chri— ſtian IV. auf, und Tycho verlor unter wiederholten Angriffen alles, was er früher von dem königlichen Hofe erhalten hatte. Tycho ſah ſich zuletzt 1597 gezwungen, ſeine Inſel und ſelbſt ſein Vaterland zu verlaſſen, um ſich den Verfolgungen des rachſüchtigen Feindes zu entziehen. Er ging nach Roſtock, wo er ſich nahe ein Jahr aufhielt, und dann 1599 von Kaiſer Rudolph II. mit einem Jahresgehalt von 3000 Ducaten als Aſtronom nach Prag. Hier richtete er auf dem ihm von dem Monarchen in Benatek außer Prag geſchenkten Schloſſe eine neue Sternwarte und ein chemiſches Laboratorium ein. Nach zwei Jahren fand er dieſes Gebäude zu ſeinen Arbeiten nicht bequem genug, und bezog ein Palais in Prag, das ihm der Kaiſer für 22,000 Thlr. gekauft und das er ſelbſt zu ſeinen Geſchäften eingerichtet hatte. Wenige Monate darauf ſtarb er am 13. October 1601 an einer Uriſche— fig, die er ſich bei einem Gaſtmahle des Grafen Roſenberg aus falſcher Schaam zugezogen hatte. Tycho wird mit Recht als der erſte und geuaueſte Beobachter ſeiner Zeit angeſehen, und mit ihm beginnt die Periode der beſſeren beobachtenden Aſtrono— mie der Neueren. Er war einer der Gegner des copernicaniſchen Syſtems, dem er i. J. 1582 ein anderes entgegenſetzte, das noch jetzt ſeinen Namen trägt, das aber jetzt nicht weiter beachtet wird. Auch von der Aſtrologie konnte er ſich nicht ganz frei erhalten. Seine größtentheils ſehr koſtbaren Inſtrumente, die Rudolph II. ange: kauft hatte, wurden i. J. 1620 nach der Schlacht am weißen Berge bei Prag größtentheils vernichtet, und nur einige wenige derſelben ſoll man noch in Prag aufbewahrt haben. Tycho's Leben wurde von Wandal (Kopenhagen 1783), und von Helfrecht (Hof 1787) be: ſchrieben. L.

Es wurde bereits oben, im dritten Buche. geſagt, daß Abul Wera im zehnten Jahrhundert dieſe Ungleichheit des Mondes erkannt hatte, daß aber dieſe Entdeckung zur Zeit Tycho's längſt wieder vergeſſen war und erſt viel ſpäter in den Schriften jenes arabiſchen Aſtronomen zufällig wieder aufgefunden wurde.

2

Folgen der Keplerschen Epoche. 439

digkeit einer andern Correction der Länge des Mondes, die von der Länge der Sonne abhängt und die ſpäter die „jährliche Glei— chung des Mondes“ genannt wurde.

Dieſe Schritte betrafen die Länge des Mondes. Aber Tycho brachte auch weſentliche Verbeſſerungen in der Breite dieſes Geſtirns an. Die Neigung der Mondsbahn gegen die Ekliptik wurde bisher als conſtant, und die Bewegung der Knoten dieſer Bahn als gleichförmig angenommen. Er fand, daß die Neigung nach der verſchiedenen Lage der Knoten, um nahe zwanzig Minuten wächst oder abnimmt, und daß die Knoten, obſchon im Allgemeinen rückgängig, doch auch einer anderen kleineren bald poſitiven, bald negativen Bewegung unterworfen ſind.

Tycho theilte ſeine Entdeckungen in Beziehung auf den Mond in ſeinem „Progymnasmata“ mit, die i. J. 1603, zwei Jahre nach des Verfaſſers Tod, erſchienen. Er ſtellt darin die Bewe— gung des Mondes noch durch die Combination von Epieykeln und excentriſchen Kreiſen vor. Allein da Kepler einmal gezeigt hatte, daß ſolche Mittel für immer aus der Aſtronomie verwieſen werden müſſen, ſo war es beinahe unmöglich, nicht auch hier die Anwendung der neuen elliptiſchen Theorie zu verſuchen. Hor— rox *) that dieß, und er ſchickte feinen Verſuch i. J. 1638 an

3) Horror oder Horrockes, (Jeremias), ſtarb i. J. 1641 in feinem zweiundzwanzigſten Jahre. In dieſer kurzen Zeit und ſo früh ſchon wußte er ſich durch ſein mathematiſches Talent, als feiner Beobachter und als der Verfertiger von neuen Mondstafeln auszu— zeichnen. Seine Werke hat Wallis zu London 1678 herausgegeben.

Crabtree, (Wilhelm), der Freund und Gehülfe des Horror, die beide in der Nähe von Mancheſter lebten. Crabtree machte viele aſtronomiſche Beobachtungen, auch die des erſten Durchgangs der Venus vor der Sonne im Jahre 1639. Er jtarb zwei Jahre darauf. Auch ſeine Werke ſind von Wallis herausgegeben worden. Ein anderer aſtronomiſcher Freund dieſer beiden, Gascoigne, hatte der erſte die Idee, im Brennpunkte des Fernrohrs feine Fäden zu fpannen, eine Idee, die in der praftifchen Aſtronomie Epoche machte, da ſich von dieſer Zeit an die größere Genauigkeit in den Beobachtungen datirt. Auch Gascoigne wurde den Wiſſenſchaften durch einen frühen Tod entriſſen. Er ftarb in feinem dreiund— zwanzigſten Jahre in der Schlacht von Marſton Moor, wo Crom well die königlichen Truppen gefchlagen hatte. Man hat früher mit Unrecht jene wichtige Erfindung dem Morin oder dem Picard vin— diciren wollen. (M. ſ. Philos. Transact. XXX. 603.)

440 Folgen der Kepler'ſchen Epoche.

ſeinen Freund Crabtree. Erſt 1673 wurde dieſe Schrift mit den numeriſchen Elementen, die Flamſteed hinzugefügt hatte, öffentlich bekannt gemacht. Flamſteed hatte nämlich in den Jahren 1671 und 1672 die Theorie des Horrox mit ſeinen Beobachtungen ver— glichen, und gefunden, daß ſie viel beſſer mit dieſen Beobach— tungen übereinſtimmte, als die „Philolaiſchen Tafeln“ des Bullial— dus, oder die „Caroliniſchen Tafeln“ des Street. Halley gab eine Erklärung von der Mittelpunktsgleichung des Mondes ſo— wohl, als auch von der Evection, indem er den Mittelpunkt einer kleinen Ellipſe auf der Peripherie eines excentriſchen Kreiſes ein— hergehen ließ. Die neueren Aſtronomen haben die Störungen des Mondes durch die Sonne auf theoretiſchem Wege geſucht, und dann, durch Vergleichung derſelben mit den Beobachtungen, noch ſehr viele andere, bisher unbekannte Correctionen des Mondes ges funden. Aber auch die Störungen, welche die Planeten unſeres Sonnenſyſtems unter einander erleiden, waren zu jener Zeit noch unbekannt, und ſonach konnten die Tafeln der Aſtronomen in Beziehung auf dieſe Himmelskörper mit den Beobachtun— gen nicht in die gewünſchte Uebereinſtimmung gebracht werden. Dieſe Abweichungen der Tafeln von den Beobachtungen ſetzte die Aſtronomen öfter in nicht geringe Verlegenheiten, und mehr als einmal wurde die Frage aufgeworfen, ob wohl die Bewe— gungen der Himmelskörper auch in der That ſo regelmäßig vor ſich gehen, wie man bisher angenommen hatte, oder ob ſie nicht auch, wie z. B. die Winde oder die Witterung, zufälligen, nicht zu berechnenden Veränderungen unterworfen wären. Kepler glaubte in der That an ſolche ungefähre Aenderungen in der Bewegung der Planeten, aber Horrox wollte ſie durchaus nicht gelten laſſen, obſchon auch er, wie er ſelbſt geſteht, durch dieſe Abweichung der Beobachtungen von der Theorie oft in große Verlegenheit gebracht wird. Seine Aeußerungen über dieſen Ge— genſtand zeugen von einer ſehr klaren und richtigen Anſicht deſſelben. „Dieſe Fehler, ſagt er ), find bald poſitiv, bald wie— „der negativ, ſo daß ſie ſich gleichſam gegenſeitig wieder auf— „heben. Das könnte aber nicht ſeyn, wenn ſie bloß zufällig „wären. Ueberdieß iſt dieſer Uebergang von dem Poſitiven zum

4) Astron. Kepler. Proleg. S. 17.

Folgen der Kepler'ſchen Epoche. 441

„Negativen bei dem Monde ſehr ſchnell, bei Jupiter und Saturn „aber ungemein langſam, ſo daß bei dieſen zwei letzten Planeten „die Fehler oft Jahre lang immer dieſelben bleiben. Wenn dieſe „Fehler bloß dem Zufalle zuzuſchreiben ſeyn ſollten, müßten ſie nicht „bei dem Monde fi) ganz eben jo, wie bei Saturn, verhalten? „Nimmt man aber an, daß unſere Tafeln in Beziehung auf die „mittleren Bewegungen dieſer Geſtirne nahe richtig find, daß „aber die Correctionen oder die „Gleichungen“ derſelben noch einer „Verbeſſerung bedürfen, ſo erklärt ſich jene Erſcheinung ſehr gut. „Denn die Ungleichheiten Saturns haben durchaus nur ſehr „lange Perioden, während die des Mondes im Gegentheile ſehr „zahlreich find und ſämmtlich nur kurze Perioden haben.“ Selbſt jetzt noch könnte man ſich nicht beſſer über dieſen Gegen— ſtand ausdrücken. Auch war die Anſicht, daß alle beobachteten Unregelmäßigkeiten der Himmelskörper nur ſcheinbar und daher ebenfalls beſtimmten Geſetzen unterworfen ſind, einer der wich— tigſten Grundſätze, der zu jener Zeit für die Wiſſenſchaften auf— geſtellt werden konnte.

Dritter Abſchnitt.

Urſache des weitern Fortgangs der Altronomis.

Wir gelangen nun zu dem Zeitpunkte, wo Theorie und Beobachtungskunſt, mit einander wetteifernd, vorwärts ſtrebten. Die phyſiſchen Lehren Kepler's und die Unterſuchungen anderer Anhänger des copernicaniſchen Syſtems mußten unvermeidlich, nachdem man die erſte Dunkelheit und Verwirrung der Begriffe zerſtreut hatte, zu einer richtigen Mechanik führen, und dieſe Wiſſenſchaft, einmal in's Leben gerufen, gab wieder der Aſtrono— mie eine neue Geſtalt. In der Zwiſchenzeit, in der ſich die Me— chanik auf mathematiſchem Wege ausbildete, waren die Aſtrono— men beſchäftigt, neue Beobachtungen und Thatſachen zu ſammeln, die dann wieder Gelegenheit zu neuen, oder zur Erweiterung der bereits früher aufgeſtellten Theorien geben. Copernicus hatte die beſtändige Länge des Jahres beſtimmt, die Bewegung der großen Are der Erdbahn beſtätigt, und überdieß gezeigt, daß die Schiefe der Ekliptik ſowohl, als auch die Excentricität der Erdbahn in einer immerwährenden, obſchon ſehr langſamen Abnahme begriffen

442 Folgen der Kepler'ſchen Epoche.

ſey. Auf einer andern Seite hatte Tycho einen großen Vorrath trefflicher Beobachtungen geſammelt. Dieſe Beobachtungen, ſo wie die von ihm entdeckten Geſetze der Mondsbewegung gaben Materialien an die Hand, an welcher fpäter die Mechanik des Himmels ihre ſeitdem gereiften Kräfte üben konnte. Zugleich hatte das Fernrohr neue Wege geöffnet und bisher ganz unbe— kannte Gegenſtände der Beobachtung und der Speculation vor unſere Augen geführt. Dieſes Inſtrument beſtätigte uns die Wahrheit des copernicaniſchen Weltſyſtems durch die Lichtgeſtal— ten der Venus, und die unſerer Mondenwelt analogen Erſchei— nungen an Jupiter und Saturn, die ſich gleichſam als Modelle des ganzen Planetenſyſtems darſtellten, und es ließ uns zugleich ganz neue Theile dieſes Syſtems, in dem Saturnring, in dem Sonnenflecken u. ſ. f. erblicken. Die aſtronomiſche Beobachtungs— kunſt machte ſeit dieſer Zeit ſchnelle Fortſchritte, durch die An— wendung des Teleſcops ſowohl, als auch durch eine zweckmäßigere, von Tycho eingeführte Conſtruction der Inſtrumente. Copernicus hatte den Rheticus mitleidig belächelt, als dieſer ſich wegen der Differenz von einer Minute in ſeinen Beobachtungen grämte, und er verſicherte ihn, daß, wenn er nur auf zehn Raumminu— ten in ſeinen Beobachtungen ſicher ſeyn könnte, er nicht minder darüber erfreut ſeyn würde, als Pythagoras geweſen war, als er die Haupteigenſchaft des rechtwinkligen Dreiecks entdeckte. Dieſe große Unvollkommenheit der aſtronomiſchen Beobachtungen aber ſollte nicht lange mehr währen. Die merkwürdige Revolu— tion, die Kepler in der Aſtronomie bewirkt hatte, war bereits auf einer viel kleineren Differenz, als auf einer ſicheren Baſis, erbaut worden. „Seitdem wir, jagt er ), durch die göttliche Güte „einen ſo genauen Beobachter an Tycho erhalten haben, daß ein „Fehler von acht Minuten ganz unmöglich iſt, ſo müſſen wir dieß „dankbar anerkennen und zu unſerem Vortheile anwenden. Dieſe „acht Minuten, die wir alſo nicht mehr überſehen dürfen, ſollen „uns in den Stand ſetzen, das ganze Gebäude der Aſtronomie „noch einmal umzubauen.“ In Beziehung auf andere Ver— beſſerungen machte auch die Kunſt zu rechnen einen unſchätzbaren Fortſchritt durch Napier's Erfindung der Logarithmen, und eben ſo waren auch die Vervollkommnungen anderer Theile der Ma—

3) Kepler de mot. stella Martis 19.

Folgen der Kepler'ſchen Epoche. 443

thematik und Geometrie den Anſprüchen angemeſſen, welche die Aſtronomie, die Mechanik und die geſammte Naturlehre an jene beiden Wiſſenſchaften machte.

Die Genauigkeit der neueren Beobachtungen ſetzte die Aſtro— nomen in den Stand, die bereits beſtehende Theorie näher zu prüfen und zu verbeſſern, und auch die neuen, dem Syſteme bisher noch nicht angeeigneten Erſcheinungen zu berückſichtigen. Auf dieſe Weiſe wurde die Wiſſenſchaft von allen Seiten vor— wärts gedrängt. Indem wir uns nun anſchicken, die Bahn näher kennen zu lernen, welche ſie, in Folge dieſes Dranges, eingeſchla— gen hat, wollen wir zuerſt von der in dieſelben Zeiten fallende Eutſtehung und erſte Ausbildung einer neuen Wiſſenſchaft, von der Lehre von der Bewegung, ſprechen.

Ende des erſten Theiles.

Inhalt des erſten Theils.

Selte Einleitung ———[ ——g 9 8 % J Pransusnnsnenaesunennunnsansnnsuunnnnnansnnsenen 17

Erſtes Buch. Gefchichte der griechifchen Schulphiloſo— phie in Beziehung auf Phyfik.

Erſtes Capitel. Einleitung in die Philoſophie der grie— chiſchen Schulen.

Erſter Abſchnitt. Erſte Verſuche der Speculation bei

phyſiſchen Unterſuchungen ---mrerereesnrsennesnennencnnnnnsnnsnennenen 33 Zweiter Abſchnitt. Primitive Mißgriffe der Phyſik der griechiſchen Philoſophen . eee νεννονν 39

Zweites Capitel. Philoſophie der griechiſchen Schulen.

Erſter Abſchnitt. Allgemeine Gründung dieſer Philoſophie 42 Zweiter Abſchnitt. Phyſiſche Philoſophie des Ariſtoteles 46 Dritter Abſchnitt. Techniſche Ausdrücke der griechiſchen

Schule —-——-—-2ͥ2ñ2 z L —— AZ d' —[—L —-—1ii B—B BE S q .Qͤ᷑O[UV .. 57 1) Techniſche Ausdrücke des Ariſtoteles h 57 2) er. er Plato's P 60 3) ai der Pythagoräer „„ 61 4) 8 der Atomiſten und anderen 862

Drittes Capitel. Fehler der griechiſchen Schulphiloſophie. Erſter Abſchnitt. Reſultate dieſer Philoſophie 65 Zweiter Abſchnitt. Urſache der Fehler derfelben 69

Inhalt. 445

Seite Zweites Buch. Gefchichte der phyfifchen Wittenſchaften Fe een 81 Einleitung e r 83 Erſtes Capitel. Früheſter Zuſtand der Mechanik und Hydroſtatik. Erſter Abſchnitt. Mechanik eee 84 Zweiter Abſchnitt. Hydroſtatik eee 86 Zweites Capitel. Früheſter Zuſtand der Optik . 89 Drittes Capitel. Früheſter Zuſtand der Harmonik 92 Drittes Buch. Gecchichte der griechifchen Altronomie n 9s Einleitung e eee eee ee se teen sunabebanbadsnaceekedues 97

Erſtes Capitel. Früheſter Zuſtand der Aſtronomie.

Erſter Abſchnitt. Bildung der Kenntniß des Jahres 98 Zweiter Abſchnitt. Beſtimmung des bürgerllchen Jahres 99 Dritter Abſchnitt. Verbeſſerung des bürgerlichen Jahres

(Julianiſcher Kalender) VPP 103 Vierter Abſchnitt. Verſuche, die Länge des Monats zu

beſtimmen - „„„„%õk 105 Fünfter Abſchnitt. Erfindung des Luniſolarjahres --- 107 Sechster Abſchnitt. Sternbilder eee 112 Siebenter Abſchnitt. Planeten 44 116 Achter Abſchnitt. Kreiſe der Himmelsſphäre . 119 Neunter Abſchnitt. Kugelgeſtalt der Erde mn. 123 Zehenter Abſchnitt. Mondsphaſen eee 126 Eilfter Abſchnitt. Finſterniſſe neten, 127 Zwölfter Abſchnitt. Folgen des erſten Zuſtandes der

Aſtronomie eee e eee 128

Zweites Capitel. Einleitung in die inductive Epoche ih.... En ehsonnanennas 131

Drittes Capitel. Inductive Epoche Hipparch's.

Erſter Abſchnitt. Aufſtellung der epieykliſchen Theorien 140

Zweiter Abſchnitt. Beurtheilung des Werths dieſer Theorie ẽ½æ . . 4———j—— —ñb. (IB ß L . . . 148

Dritter Abſchnitt. Entdeckung der Präceſſion der Nacht: gleichen —uj—öVy—U—.ͤ— o?! 1b ã ã . 154

446 Inhalt.

Seite Viertes Capitel. Folgen der inductiven Epoche Hip— parch's. Erſter Abſchnitt. Unterſuchungen, welche die Theorie be— ſtätigten /) A . 157 Zweiter Abſchnitt. Unterſuchungen, welche die Theorie nicht beſtätigten eee eee nen 160 Dritter Abſchnitt. Beobachtungsart der griechiſchen Aſtro— nomen ů —y—y—7mũiof&½ñũ¹⸗: eʒß :: kk „„ 163 Vierter Abſchnitt. Periode von Hipparch bis Ptolemäus 169 Fünfter Abſchnitt. Meſſungen der Erde eee. 173

Sechster Abſchnitt. Ptolemäus entdeckt die Evection 175 Siebenter Abſchnitt. Schluß der Geſchichte der grie—

chiſchen Aſtronomie eee e eee 181

Achter Abſchnitt. Arabiſche Aſtronomie m eee 184 Viertes Buch. Gefchichte der inductiven Wilfenfchaften

im Mittelalter, 8 199

Einleitung „eee ee eee ee ee e nenne ee U ARE 201

Erſtes Capitel. Unbeſtimmtheit der Ideen im Mittel—

Alter RER ee 202 1) Sammlungen bloßer Meinungen 3 8 204 2) Unbeſtimmtheit der Ideen ig der Mechanik ren 205 3) in der Architecture 218 4) —ç in der Aſtronomie e. 219 5) ae == der Sceptiker ——— nenn 220 6) Vernachläßigung der phyſiſchen Studien bei den Chriſten 223 7) Frage von den Antipoden eve eeeveseees, 226 8) Geiſtiges Verhältniß der religiöſen Orden a . 229 9 Volks meinungen §J2Jj3222 nA ae ren 233

Zweites Capitel. Commentatoriſcher Geiſt des Mittel—

alle en Se 222 REEL 235 1) Neigung zur Autorität eee 242 2) Charakter der Commentatoren e 245 3) Griechiſche Commentatoren des Ariſtoteles 248 4) Griechiſche Commentatoren Plato's P rel 252

5) Arabiſche Commentatoren des Ariſtoteles . 253

Inhalt. 447

Selte Drittes Capitel. Myſticismus des Mittelalters e 257 1) Neuplatoniſche Theoſophie eee 259 2) Myſtiſche Arithmetik ᷣ•nnꝛnPBPBPBPkx53õũ—333630—3ẽ * 266 3) Aftrologie BER Sees susuesnandunssassonnosnennsuususssennssnnessennäonsensnne 269 4) Alchemie eee eee 278 5) Magie esse sees eee e eee ese bees eee see eee eee eee eee HEUER EEE“ 281 Viertes Capitel. Dogmatismus des Mittelalters 288 1) Urſprung der ſcholaſtiſchen Philoſophie . 288 2) Scholaſtiſche Dogmen eee. 295 3) Scholaſtiſche Phyſik ))FFCCCVCVTCTpTCC . denen 305 4) Anfehen des Ariſtoteles in den Schulen rss 306 5) Geſetzkunde. Medizin u. f.. eee 312 Fünftes Capitel. Fortſchritte der Künſte im Mittel— dle bb e e RR: 313 % ee eee a nee 313 2) Arabiſche Wiſſenſchaft . eee eee 318 3) Experimentalphiloſophie der Araber a nen 319 4) Roger Bacon eee . 322 5) Baukunſt des Mittelalters a e : 324 6) Schriften über die Baukunſt aa 328

Sechtes Capitel. Nachträgliche Bemerkungen über das

Mittelalter.

1) Völkerwanderung e RER ROSEEREELEE 331

2) Kreuggügermemeneensenennnnnnnnnnnnnnnennnnnnnnnnnnnnnnnsnnnnnnnnnn nn snnnnnen 336

3) Krankheiten im Mittelalter ee eee e eee 339

4) Mangel an Unterrichtsmitteln . 345

5) Daraus folgende Unwiſſenheit jener Zeiten a d . 347

6) Daraus folgender Zuſtand der Wiſſenſchaften 351

7) Wiedererweckung der alten Schriftſteller me 361 Fünftes Buch. Gecchichte der formellen Altronomie nach

der ktationären Periode CCC 373 Einleitung PPPFPVVVTTTTTTTTTbThTTTVTVVTbTVTVTVTVTVTTVbbbbVbbbb bbb 375

Erſtes Capitel. Eingang zu der inductiven Periode des Soße e eee r 378

Zweites Capitel. Inductive Periode des Copernicust« 385

448 Inbalt.

Drittes Capitel. Folgen der Copernicaniſchen Reform.

Erster Abſchnitt. Erſte Aufnahme dieſer Theorie 396 Zweiter Abſchnitt. Verbreitung derſelben . 444 398 Dritter Abſchnitt. Galilei's aſtronomiſche Entdeckungen 403 Vierter Abſchnite. Oppoſition der Theologie e. 407 Fünfter Abſchnitt. Beſtätigung der heliocentriſchen Theorie durch die Phyſik eee 410 Viertes Capitel. Inductive Periode Kepler's. Erſter Abſchnitt. Intellectueller Charakter Kepler's 416 Zweiter Abſchnitt. Kepler's drittes Geſetz +++ 420 Dritter Abſchnitt. Kepler's erſtes und zweites Geſetz 425 Fünftes Capitel. Folgen der Kepler'ſchen Periode . 431 Erſter Abſchnitt. Anwendung der elliptiſchen Theorie auf die Planeten . . . . . . . . . . . . . . 4341 Zweiter Abſchnitt. Anwendung der elliptiſchen Theorie Nee . 436 Dritter Abſchnitt. Urſache der weiteren Fortſchritte der Aſtronomie - 4 . . . . . . . . . . . 4e v 441

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125 Geschichte der inductiven 1515 Wissenschaften

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Physical &

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