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Otto Seeck

Geschichte des Untergangs der antiken Welt

Sechster Band

J.

GESCHICHTE

DES UNTERGANGS

DER ANTIKEN

WELT

VON

OTTO SEECK

SECHSTER BAND

öermany

19 2 0

STUTTGART

J. B. METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG

311

c

Druck der J. B. Metzlerschen Buchdruckerei in Stuttgart-

Meinem Sohne Fritz,

der zur Rettung des Überfallenen Deutschlands

vergebens sein junges, freudenreiches

Leben hingeopfert hat,

zum dauernden

Gedächtnis

Inhalt VII. Die Auflösung des Reichs (Schluß)

Seite

7- Augustin und sein Gottesstaat 1

8. Constantius III 33

9. Die Weiberherrschaft 67

10, Aetius und Geiserich 98

11. Die Kodifikation des Rechts 131

12, Neue Ketzereien 184

13. Das Concil von Ephesus 217

14, Der monophysitische Streit 244

15. Das Reich des Attila 279

16- Maximus und Avitus 317

17. Maiorianus und Severus 338

18. Das Ende des weströmischen Kaisertums - . . 353

Siebentes Kapitel.

Augustin und sein Gottesstaat.

Achthundert Jahre waren verflossen, seit die Gallier des Brenniis Rom erobert hatten, und auch diese waren an der Belagerung des Capitols gescheitert. Seitdem hatte kein Feind mehr den geheiligten Mauer- 5 ring überschritten; die hehre Stadt hatte sich den Weltkreis unterworfen, und wenn sie ihr Reich auch schon lange nicht mehr selbst beherrschte, galt sie doch noch immer für das Symbol seiner Macht und Grösse. Dass Alarich sie hatte erobern können, empfand

10 mau daher allgemein als sicheres Vorzeichen, dass es mit der Herrschaft des Römertums zu Eude gehe. Auf diese Kunde bemächtigte sich starres Entsetzen der ganzen Reichsbevölkerung; selbst im fernen Orient legten die Städte sich öffentliche Trauer auf. Und

15 wieder erschallte der Ruf, dass nur das Christentum au dem Unheil schuld sei: solange man den alten Göttern die schuldige Ehrfurcht erwiesen habe, hätten sie ihre Stadt geschützt; seit aber ihre Opfer verboten, ihre Tempel durch die römischen Kaiser selbst zerstört

20 seien, wollten sie auch den barbarischen Zerstörern nicht mehr wehren. Natürlich rief dies auf christlicher Seite Widerlegungen hervor, und eine davon ist das folgenreichste Schriftwerk der Weltliteratur geworden.

Seeck, Untergang- der antiken Welt. VI. 1

2 VII. Die Auflösung des Reiches.

Der „Gottesstaat" des Augustin hat dem Glaubeu und Denken des ganzen Mittelalters die Wege vorgezeichnet; auf ihn gründete die päpstliche Curie ihre Ansprüche, nach ihm gestalteten die deutschen Kaiser ihr Herrscher- ideal; er stand da als die unerschütterliche Grundlage 5 des echten Christentums, die man, gleich der Bibel selbst, wohl verschieden deuten, aber niemals antasten dürfe. ^Die Scholastik ist nicht nur in ihren Specu- lationen, sondern auch in ihrer Methode durch Augustin bestimmt; von ihm hat die mittelalterliche Mystik in lo ihren kirchlichen wie in ihren häretischen Formen die entscheidendsten Anregungen empfangen; augustinische Einflüsse kommen auch bei allen sogenannten V'^or- reformatoren direkt oder indirekt in Frage. Doch ist er mehr als der Vater des mittelalterlichen Katholicis- is mus: er ist auch der Bundesgenosse der Reformatoren geworden. Auch in der Geschichte der Philosophie reichen seine Einwirkungen weit über das Mittelalter hinaus: noch Descartes und Spinoza, bei denen die augustinischen Traditionen deutlich nachklingen, ge- 20 hören einer Zeit an, die im wesentlichen seinen Horizont noch nicht überschritten hatte", und bis auf den heutigen Tag schwingen die Saiten fort, die sein „Gottesstaat" angeschlagen hat. So hat die Tat des Alarich eine "Wirkung ausgeübt, die weit über ihre unmittelbaren 25 Folgen hinausging.

Für Augustin herrscht in der älteren Ijiteratur die unbeschränkteste Bewunderung; auch in unseren Tagen hat sie sich wenig vermindert, und ohne Zweifel ist sie berechtigt, wenn man ihn nur mit seinen Zeit- 30 genossen vergleicht. Unter ihnen ist keiner, der sich an Kraft des sittlichen Empfindens, an Tiefe des Denkens, an Schärfe der Beweisführung auch nur ent- fernt mit ihm messen könnte. Doch obgleich dies für

7. Augustin und seiu Gottes.staat. 3

die Beurteilung des Menschen wie des Schriftstellers der einzig berechtigte Maassstab ist, möge man uns doch gestatten, einen andern anzulegen. Denn was uns hier interessiert, ist ja nicht der Mann an sich, sondern

5 der Repräsentant seines Zeitalters, und dieses können wir nur an den sittlichen und geistigen Forderungen des unseren messen und abschätzen. Dass er damals zu den Besten gehörte, ja vielleicht gar der Beste war, muss seine Fehler nicht nur entschuldigen, sondern

10 in vollem Maasse rechtfertigen; gerade darum aber sind sie um so bezeichnender dafür, wie niedrig in jener entarteten Zeit auch die Höchsten standen.

Unter dem Namen der ..Bekenntnisse" hat uns Augustin eine Art Selbstbiographie hinterlassen, die

15 in die Form einer Beichte gekleidet ist. Durch das ganze umfangreiche Werk redet er Gott persönlich an, oesteht ihm als dem Kündiger der Herzen seine Sünden und Irruugen und legt vor ihm Zeugnis von seinem Glauben ab. Hier müsste man also die ungeschminkteste

20 Wahrhaftigkeit erwarten, und das um so mehr, als Augustin gegen das Lügen, das seine Zeitgenossen, auch die geistlichen, kaum als Sünde betrachteten, eine eigene Schrift verfasst hat. Doch in welchem Sinne er die W^ahrheitsliebe auffasste, dafür findet sich

25 bei ihm ein ganz eigentümliches Zeugnis.

Natürlich sind für ihn die Patriarchen Muster aller christlichen Tugenden. Da nun Abraham in Ägypten seine Frau für seine Schwester ausgegeben hatte, muss er von dem Vorwurf der Lüge gereinigt werden, und

30 dies geschieht in folgender Weise. Sara war eine Seitenverwandte von ihm und konnte daher in dem gleichen Sinne als Schwester bezeichnet werden, wie er seinen Neffen Loth Bruder nannte; dass sie aber auch seine Gattin war, hatte er nur verschwiegen, nicht

1*

4 Vif. Die Auflösung des Reiches.

geleugnet. Wie mau sieht, ist nach Augustins Ansicht nur der ein Lügner, der etwas sagt, was dem strengen Wortsinne nach falsch ist; aber durch schlaues Ver- schweigen und zweideutige Ausdrücke zu täuschen, ist erlaubt. In diesem Sinne, aber auch nur in diesem, 5 sind die „Bekenntnisse" wahrheitsgetreu. Offenbare Lügen in seine Beichte aufzunehmen, hütet sich Augustin; doch dem lieben Hergott alles zu sagen, war überflüssig, weil er es ja doch schon von selbst wusste; die Menschen aber, die das Buch lesen sollten, i'> brauchten nicht alles zu wissen.

Schon in seiner Form ist das ganze Werk eine grosse Unwahrhaftigkeit. Wie Augustin überhaupt weniger selbständiger Denker, als geschickter Ver- teidiger des Überlieferten ist, so steht er auch darin i5 auf dem althergebrachten Standpunkt seiner Glaubens- genossen, dass er die Rhetorik schroff verurteilt (IV S. 199). Dass er trotzdem in dieser verruchten Kunst lange Jahre unterrichtet hat, mag hingehen; denn tat er es auch als gläubiger Christ, so doch vor seiner jo eigentlichen Erweckung. Aber die ganzen „Bekennt- nisse" sind durch und durch rhetorisch; sie wimmeln von Antithesen, Gleichkläugeu und allen andern Kunst- stücken der Schule. Auch in seiner Beichte will Augustiu glänzen, obgleich er vorgibt, die Mittel dieses 25 Glanzes zu verachten.

Die Ruhmsucht galt dem Heidentum als Tugend, und die Schriftsteller der Blütezeit sind mit Selbstlob nicht sparsam. Doch in dem knechtischen Zeitalter, das uns hier beschäftigt, war auch bei Männern, die sich noch zur alten Religion bekannten, wie Sym- machus und Libanius, eine gezierte Selbsterniedrigung Mode geworden, und das Christentum, als echtes Kind seiner Zeit, ging hierin noch weiter. Für Augustin

7. Augustin und sein Gottesstaat. 5

ist Hochmut die schwerste Sünde, ja der Urgrund aller andern Sünden, weil er schon Lucifer verführt hat, von Gott abzufallen. Gleichwohl ist sein ganzes Buch eitle Selbstbespiegelung in der Form der Selbst- ■i anklage. Zwar fliesst es über von Redensarten demütiger Zerknirschung, doch unterläßt er nicht, seine Gaben und Tugenden gebührend hervorzuheben; nur wahrt er dabei die Bescheidenheit, indem er immer wieder erklärt, sie seien nicht sein Yerdienst, sondern Ge-

10 schenke seines gnädigen Gottes, was ihren Wert in den Augen seiner Leser gewiss nicht herabsetzte.

Demgemäss ist denn auch sein Sündenbekenutnis von sehr eigentümlicher Art. Der heissblütige Afri- caner war den Anfechtungen des Fleisches in hohem

15 Grade ausgesetzt: als er sich schon in reifen Jahren dem geistlichen Stande zuwandte, fiel ihm nichts schwerer, als auf die Weiber zu verzichten, und noch als Bischof wurde er oft von wohllüstigen Träumen heimgesucht. So begann er denn schon mit fünfzehn

20 Jahren in schnell wechselnden Abenteuern seinen wilden Begierden genugzutun; sogar in der Kirche lauerte er schönen Beterinnen auf und scheute selbst vor Ehebruch und Knabenliebe nicht zurück. Doch über diese Vergehen, von denen einzelne durch das

25 Strafgesetz mit dem Tode bedroht wurden, geht er ganz flüchtig hinweg, ja er entschuldigt sie sogar da- mit, dass er gleich der Sünderin des Evangeliums „viel geliebet" habe. Dagegen werden viel unschul- digere Din2:e mit wortreicher Reue breitgetreten : dass

•^0 er als Fünfzehnjähriger einen fremden Birnbaum leer- geplündert hatte, dass er in der Schule mehr Freude fand an den bunten Märchen der Aeneide, als an dem nützlichen, aber langweiligen Lesenlernen, dass er in seiner Jugend gern ins Theater gegangen war,

6 VII. Die Auflösung des Reiches.

dass Musik und lichte Farben ihn erfreuten, dass er mit Genuss ass und trank, ja selbst dass er als Säugling gierig nach Milch geschrien hatte, alles das rechnet er sich zur schweren Schuld an. Auch von seinen Fleischessünden verweilt er am ausführlichsten 5 bei denen, die von seinem Willen am wenigsten ab- hängig waren, bei den unsauberen Träumen seiner Nächte. Auf diese Weise hat er den Schluss hervor- gerufen, den auch sehr ernsthafte Forscher der Neuzeit sich angeeignet haben, ein Mann, den schon so kleine 10 Fehler mit so tiefer Reue erfüllt hätten, müsse viel weniger schuldig gewesen sein, als er selbst sich in seinen Bekenntnissen darstelle, und ohne Zweifel war dieser Eindruck von ihm beabsichtigt. Er hat in seiner Beichte nichts Wesentliches ganz verschwiegen, 15 aber indem er mit schlauer Kunst der Perspective die wirklich schweren Sünden mehr andeutet, als be- spricht, und das ganz Unbedeutende breit ins Licht rückt, bleibt das Auge des Lesers ganz auf diesem haften, und ohne eigentlich zu lügen, erscheint er doch 20 fast wie ein Unschuldsengel.

Auch seine Bekehrungsgeschichte ist ganz im Sinne seines Abraham auf Täuschung augelegt; aber da er nur die Wahrheit, wenn auch nicht die volle Wahrheit, sagt, lassen sich, wenn man zwischen den 25 Zeilen zu lesen versteht, die Hauptumrisse des wirk- lichen Herganges doch erkennen. Von einer bigotten Mutter erzogen, hat er die Grundlehren des Christen- tums von frühester Jugend an als unerschütterliche Wahrheiten betrachtet, und was ihm später an Wissens- 30 Stoff zufloss, nur soweit auf sich wirken lassen, wie es sich mit ihnen vereinigen Hess. Sehr lange aber bewahrte sein Glaube noch die naive Gestalt, wie sie Kindern und wilden Völkern gemäss ist. Wenn er

7. Aiigustin und sein Gottesstaat. 7

seine Schularbeiten nicht gemacht hatte, betete er in- brünstig, dass ihm der Prügel des strengen Lehrers erspart bleibe; da dies aber selten half, fand er es bald zweckentsprechender, sich von der Rute freizu-

5 lügen. Als der Knabe einmal an so heftigem Bauch- grimmen litt, daß er sein letztes Stündlein gekommen glaubte, verlangte er nach der Taufe, um so auch die Strafen des Jenseits abzuwenden. Aber ehe dieser Wunsch erfüllt werden konnte, war das Übel geheilt,

10 und jetzt waren Eltern und Freunde der Meinung, ihn noch eine Zeitlang munter sündigen zu lassen, ehe jenes Bad der Seele ihn endgiltig reinigte. Dies entsprach auch noch lange seinen eigenen Neigungen ; während er als Jüngling von einer Liebschaft zur

15 anderen stürmte, betete er oft zu Gott: „Gib mir Keuschheit und Enthaltsamkeit, aber nur nicht gleich!" Was er trieb, wurde durch die christliche Lehre frei- lich aufs Schärfste verurteilt; doch meinte er, zur Bekehrung sei noch immer Zeit, wenn er alle Lüste gründlich ausgekostet habe, und darin hat sich der heilige Mann ja auch nicht getäuscht.

Doch ganz ohne heimliche Reue ging es nicht ab, ja vielleicht wurde diese für ihn der entscheidende Grund, sich der Sekte der Manichäer anzuschliessen.

25 Denn wie sie lehrten, sündigte der Mensch nicht selbst, sondern nur jener Teil der dunklen Macht, der in ihm Wohnung genommen hatte, und dies begrüsste Augustin als willkommene Entschuldigung. Auch konnte man nach ihrer Lehre durch Liebesgaben an

30 ihre Heiligen Engel und lichte Geister erwecken, die sündige Seelen von ihrem Schmutze reinigten. Diesen Werken der Frömmigkeit gab er sich mit Eifer hin, während er zugleich sein lustiges Leben bei diesen Entsühnung-en munter fortsetzte. Kaum wenig-er aber

8 VII. Die Auflösung des Reiches.

dürfte etwas anderes darauf hiugewirkt haben, ihn jener Ketzerei zuzuführen. Indem er sich darauf vorbereitete, künftig als Lehrer der Rhetorik sein Brot zu erwerben, kam ihm bei seineu literarischen Studien der Hortensius des Cicero in die Hände, in 5 dem der Nutzen der Philosophie gepriesen und die Jugend zur Beschäftigung mit ihr aufgefordert wurde. Durch die schöne Beredsamkeit dieser Schrift begeistert, folgte Augustin ihrem Rate, natürlich nur in dem Sinne, dass die Philosophie ihm dazu dienen sollte, lo die christliche I^ohre, die für ihn unerschütterlich fest- stand, zu erklären und zu ergänzen. Indem er so veranlasst wurde, über das, was er vorher prüfungslos übernommen hatte, tiefer nachzudenken, scheint ihm das Gefühl seiner eigenen Sündhaftigkeit die Frage 1.5 nahegelegt zu haben, wie unter der Herrschaft des alloütigen Gottes das Böse habe entstehen können. Hierauf schien der Dualismus der Manichäer die be- friedigende Antwort zu geben (lY. S. 17). Indem sie der lichten Gewalt eine finstere gleichberechtigt gegen- 20 überstellten, reinigten sie Gott von dem Vorwurf, das Schlechte geschaffen oder trotz seiner Allmacht ge- duldet zu haben. Durch den Hortensius augeregt, hatte Augustin sich auch in die Bibel zu vertiefen gesucht; doch ihr nngeküustelter Stil wollte seinem 25 rhetorisch verbildeten Geschmack nicht behagen. Da- her freute es ihn, dass die Manichäer in vielen ihrer Teile, namentlich im alten Testament, Dinge nach- wiesen, die ihre Unfehlbarkeit sehr in Frage stellten.

Die Anhänger einer verfolgten Sekte pflegen fest 30 aneinander zu hängen und sich mit Eifer gegenseitig zu unterstützen. So fand denn auch Augustin bei seinen neuen Glaubensgenossen vertraute Geselligkeit und stete Hilfsbereitschaft. Er ist ihnen daher noch

7. Augustin und sein Gottesstaat. 9

lange treugeblieben, auch als ihre Lehren ihm zweifel- haft geworden waren. Den Aulass dazu bot seine Beschäftigung mit der Astrologie. Mit dem unruhigen Wissensdurst, der ihm das Geheimnisvolle und Yer- 5 botene besonders lockend machte, hatte er sich auch auf diese heidnische Weissagekunst geworfen, eher weil, als obgleich sie staatlich verfolgt wurde. Da- durch aber lernte er auch etwas von der echten Wissenschaft der Astronomie und überzeugte sich,

10 dass die wunderliche Naturgeschichte, die Mani er- träumt hatte, sich mit den wirklichen Bewegungen der Weltkörper nicht in Einklang bringen liess. Der Forderung der Sekte, einfach das Überlieferte zu glauben, mochte er sich nicht fügen; wohl aber hoffte

15 er, dass bessere Belehrung ihm jene Widersprüche lösen werde. Mit Freuden begrüsste er daher in Karthago die Ankunft des Faustus, der in Africa für das hellste liicht manichäischer Theologie galt. Aber wenn er diesen auch persönlich schätzen lernte, so

20 merkte er doch bald, dass der berühmte Prophet von den streitigen Fragen viel weniger verstand, als er selbst. Aber dass er die heiligen Lehren, die der persische Paraklet verkündet hatte, nach neun Jahren begeisterter Überzeugungstreue aufgeben musste, machte

25 ihn nicht zum Rechtgläubigen, sondern zum Skeptiker. Er meinte mit den Akademikern, deren Philosophie er durch Cicero kannte, dass für den menschlichen Geist ein sicheres Erkennen der Wahrheit unmöglich sei, und hielt seine Beziehungen zur manichäischen

30 Sekte, mit deren Bekennern ihn Bande der Freund- schaft verknüpften, äusserlich aufrecht, auch als er sich innerlich längst von ihr abgewandt hatte.

Erst die Veränderungen seiner Lebensstellung sollten auch hierin Wandel schaffen. AuKustin hatte

10 VII. Die Auflösung dos Reiches.

das Unglück, eine gar zu liebevolle Mutter zu be- sitzen. Die brave Monnica gehörte zu deu glücklichen Naturen, die den Zweifel nie gekannt haben und ihn daher auch bei andern als sündliche Abnormität be- trachten. Sie lief täglich zweimal zur Kirche, opferte 5 Wein und Brot au den Gräbern der Märtyrer, und als Ambrosius seinen Krieg gegen den Arianismus der Kaiserin ausfocht, gehörte sie zu jener streitbaren Ge- meinde, die sich Tag und Nacht Hymnen singend zum Kampfe bereithielt (V S. 203). Dass ihr Sohn Ketzer 10 wurde, musste sie daher bitter schmerzen. Als der Neunzehnjährige, zum Manichäertum bekehrt, von der Universität zurückkehrte, verweigerte sie ihm anfangs die Aufnahme in sein Vaterhaus. Doch bald verhiess ihr ein Traum, was sie ersehnte; diese Offenbarung 15 überzeugte sie, dass Augustin künftig zum rechten Glauben zurückkehren werde, und in dieser Hoffnung versöhnte sie sich freudig mit ihm, um ihn dann sehr gegen seinen Wunsch und Willen nicht mehr loszu- lassen. Eine weiche, schmiegsame Natur, vermochte 20 sie durch die Zähigkeit ihrer Bitten und Klagen doch viel zu erreichen. Ihren heidnischen Gatten Patricius hat sie zum Christentum bekehrt, und während ihre Freundinnen oft die Spuren roher Fäuste im Gesicht erkennen Hessen, hat er sie nie geschlagen, obgleich 25 er von sehr heftiger Gemütsart war. Da sie das echt weibliche Bedürfnis hatte, jemand zu betreuen und zu ermahnen, schloss sie sich nach dem Tode ihres Mannes eng an den entarteten Sohn, was diesem recht unbequem wurde. Er hatte sich in seiner :)0 Vaterstadt Thagaste als Lehrer der Rhetorik nieder- gelassen, wie es scheint, mit gutem Erfolge. Doch um der Mutter zu entgehen, liess er sich von einem Freunde Reisee-eld leihen und entwischte heimlich

7. Augustin und sein Gottesstaat. H

nach Karthago. Sie aber reiste ihm nach, und einige Jahre musste er sie ertragen, weil er in der Haupt- stadt Africas die ehrenvolle Stellung eines öffentlichen Professors erlangt hatte und dadurch au den Ort ge- 5 fesselt war. Doch auf die Dauer erwies sich selbst diese Rücksicht schwächer, als sein Abscheu vor den frommen Ermahnungen der guten Mounica. Sie ahnte etwas von seinen Fluchtplänen; denn als er einen ab- reisenden Freund an den Hafen begleitete, hing sie

10 sich an ihn und Hess ihn auch dort nicht los. Doch er log ihr vor, er wolle auch auf dem Schiffe, natür- lich nur bis es die Anker lichtete, mit dem Freunde beisammen sein, und da er gar kein Reisegepäck bei sich hatte, glaubte sie ihm. Er aber kehrte trotz

1'' ihres Jammerns nicht ans Land zurück, sondern fuhr, seine glänzende Professur aufgebend, ganz ins Un- gewisse nach Rom. Auch diesmal folgte sie ihm, und ihre Klagen und Tränen waren so erbärmlich, dass er die grausame Energie nicht fand, ihr zum

20 dritten Mal davonzulaufen. Dazu mag wohl auch bei- getragen haben, dass er gleich nach seiner Ankunft in Rom schwer erkrankte und dies als eine Strafe des Himmels betrachtete, die er nicht von neuem über sich heraufbeschwören dürfe. Und wie seine

25 erste Flucht, so diente ihm auch die zweite zum Vor- teil; denn auf die Empfehlung des Stadtpräfekten Symmachus wurde er mit dem Lehramt in Mailand betraut, das noch vornehmer und einträglicher war, als das karthagische.

30 In Rom hatte er noch eine manichäische Ge-

meinde gefunden, der er sich anschliessen konnte: doch unter den strengen Augen des Ambrosius wagte sich die Ketzerei nicht hervor. Und wie seine starke Persönlichkeit die ganze Stadt in ihrem Banne hielt,

12 VII. Die Auflösunsj des Reiches.

so übte sie ihre Wirkung zunächst auf Mouuica, dann aber auch auf Augustinus selbst. Dieser hörte jeden Sonntag die Predigten des Bischofs, anfangs nur um sich an ihrer vielgerühmten Rhetorik weiterzubilden, wahrscheinlich auch um seiner Mutter einen Gefallen s zu tun; allmählich aber begannen sie auf seinen be- weglichen Geist auch dogmatisch zu wirken. Dem persönlichen Einfluss seiner manichäischen Freunde entzogen, gab er sich mehr und mehr den Eindrücken seiner neuen Umgebung hin, die ganz von der macht- lo vollen Energie des Ambrosius beherrscht wurde. Durch dessen Bibelauslegung wurde er mit der allegorischen Interpretation genauer vertraut: er sah, wie sich durch dieses stets bereite Hilfsmittel in viele Stellen, an denen die Manichäer Anstoss genommen hatten, ein i-5 sehr hübscher Sinn hineinbringen liess, und gewann das Vertrauen, dass die Zweifel, die ihm noch übrig- blieben, sich ebenso lösen würden. Seine Gesundheit war zerrüttet; ihm kamen Todesgedanken, und in der nahen Erwartung des Jenseits verlangte er angstvoll 20 nach einem Glauben, der ebenso gewiss sei, wie dass zweimal zwei vier ergibt. Diese absolute Sicherheit konnte nur eine göttliche Offenbarung bieten, wie sie die Bibel nach dem christlichen Glauben enthielt. Und wenn es unmöglich war, zu zweifelloser Wahrheit 25 zu gelangen, wie seine Akademiker behaupteten, so schien es Augustin das Sicherste, fest auf dem zu stehen, was er von Kindheit an gelehrt worden war; denn auf diese Art wurde er wenigstens der eigenen Verantwor- tung enthoben. Hatte er in seinen gesunden Tagen w frei forschend seine eigenen Wege gesucht, so klam- merte sich der kranke Mann ängstlich an das Über- lieferte und war hochbeglückt, als sich ihm ein Mittel bot, zwischen Glauben und Denken Friede zu stiften.

7. Auiiu.stin und sein Gotte.sstaat. 13

Wie die neuplatouische Philosophie diesen Dienst schon seit Jahrhunderten den Heiden geleistet hatte, so jetzt auch demjenigen, der bald der entschiedenste Verfechter der christlichen Orthodoxie werden sollte.

5 Sie hatte die kräftigen Menschlichkeiten des griechi- schen Olymp in die eine alldurchdringende Gottheit ohne Wandel, Gestalt und Bewegung aufgelöst und konnte vermittelst der allegorischen Bibeldeutung auch den alten Jahve der Juden in dem gleichen Sinne um-

10 formen. Und den Dualismus der Manichäer beseitigte sie, indem sie einzig das Gute als wirklich seiend, das Böse nur als dessen Negation auffasste. Augustin lernte Übersetzungen des Piaton und seiner Jünger kennen und bemerkte mit gutem Recht, dass ihre

15 Lehren sich von den christlichen nicht wesentlich unterschieden. Sie gewährten ihm die Möglichkeit, auch vor seinem wissenschaftlichen Gewissen zu recht- fertigen, was zu glauben die Überlieferung seiner Kindheit forderte und die Ängste seiner Krankheit ihn

20 trieben. So machte dieselbe Philosophie, die einen Julian zum Heidentum bekehrt hatte, einen Augustin zum überzeugten Christen. Sie war eben dazu an- getan, vor allem gläubig zu machen; was man glaubte, hing dann von der Richtung des Gefühlslebens ab, in

25 die jeder durch seine früheren Schicksale hinein- o-edrängt war.

Wie das Christentum, so predigte auch jene Philo- sophie Abtötung des Fleisches. Dieser sittlichen. For- derung war Julian treu gefolgt; Augustin dagegen hatte

30 sich allen Freuden der Sinnlichkeit unbekümmert hin- gegeben. Zwar die Zeit schnell wechselnder Liebeleien hatte nur von seinem sechzehnten bis in das achtzehnte Jahr gedauert; dann hatte er ein Mädchen gefunden, das mit hingebender Leidenschaft an ihm hing, und

14: VII. Die Auflösimg des Reiches.

ihr auch seinerseits die Treue gehalten. Aber auch dies Verhältnis erschien seiner Mutter und wohl auch ihm selbst als Sünde; sie wünschte ihn durch eine Heirat davon zu lösen und fand in Mailand auch eine Braut für ihn. Er willigte um so lieber ein, als in 5 vierzehnjährigem Zusammenleben die Jugendblüte seines Liebchens gewiss längst dahingewelkt war. Mit bitteren Tränen nahm sie von ihm Abschied, und auch er war gerührt. Da aber seine Braut zum heiraten noch zu jung war, schaffte er sich gleich eine npue 10 Maitresse an. Doch während seine Enthaltsamkeit dem Julian bis an seinen frühen Tod die frischeste Tatenfreude erhielt, war Augustin im gleichen Alter schon von finsterem Lebensüberdruss erfüllt. Als er bei einem Spaziergang einen angetrunkenen Bettler 15 sah, beneidete er ihn um seine Lustigkeit, und all sein Streben nach dem Ruhme des Redners, nach Geld- erwerb und Sinnenlust fand er schal und zwecklos. Dieses bittere Gefühl der Übersättigung steigerte sich durch ein schweres Brustleiden, das ihm bald die Aus- 20 Übung seines rhetorischen Berufes unmöglich machte und wohl auch die Fortsetzung des geschlechtlichen Verkehrs gefährlich erscheinen Hess. So war er um dieselbe Zeit, wo der Neuplatonismus seinen Glauben gestärkt hatte, auch wohlvorbereitet zu christlichem 25 Entsagen. Dass später die heisse und trockene Luft Africas seine Krankheit vollständig heilen werde, konnte er nicht voraussehen; er musste einen nahen Tod er- warten, und wie er schon als Knabe bei einer ver- meintlichen Lebensgefahr nach der Taufe verlangt 30 hatte, so drängte es ihn auch jetzt, durch das heilige W^asser alle seine Sünden abzuwaschen.

Dies ist die wirkliche Geschichte seiner Bekehrung; doch er selbst hat sie viel effektvoller dargestellt. Der

7. Augustiu und sein Gottesstaat. 15

Lungeukrankheit, dit^ ohne Zweifel ihr entscheidender Grund war, erwähnt er nur ganz kurz und gelegentlich, um dafür mit grosser Breite bei einer Erzählung zu verweilen, die sich schöner anhört. Schon brennt

5 Augustin von heiligem Glaubeuseifer, ist aber noch zu schwach und unentschlossen, sich von der Rhetorik und der Gemeinschaft des Weibes loszureissen. Da besucht ihn sein I.andsmann Pouticianus, ein vor- nehmer Hofbeamter. Dieser sieht auf seinem Tisch

10 ein Buch, schlägt es auf uud ist sehr erstaunt, darin nicht eine rhetorische Schrift, sondern die Briefe des Paulus zu finden. So erkennt er, dass Augustin, den er für ein Weltkind gehalten hat, sich mit religiösen Fragen beschäftigt. Er beglückwünscht ihn dazu und

15 beginnt, ihm von der Weltentsagung des heiligen Antonius und von dem Mönchtum zu erzählen, Dinge, die Augustin noch nie gehört hat und die ihn mächtig ergreifen. Noch stärker aber wirkt auf ihn eine Be- kehrungsgeschichte, die Pontician selbst erlebt hat.

20 Mit drei andern Hof beamten hatte er in der Umgegend von Trier einen Spaziergang gemacht, als zwei davon, die sich von ihm und seinem dritten Genossen ab- gesondert hatten, zufällig auf eine Hütte gestossen waren, die Mönchen zum Wohnsitz diente. Sie waren

25 eingetreten, hatten dort eine Biographie des Antonius gefunden uud darin gelesen. Da hatte das wunder- bare Leben des Heiligen solchen Eindruck auf sie gemacht, dass sie beschlossen, gar nicht mehr an den Hof zurückzukehren, sondern gleich als Mönche bei

30 den Mönchen zu bleiben. Beide waren verlobt, ver- zichteten aber auf ihre Bräute, und diese folgten dem Beispiel und wurden ihrerseits Nonnen. Die Erzählung von dieser kurz entschlossenen Weltfiucht mahnt Augustin an seine eigene Schwäche und erfüllt ihn

16 VII. Die Auflösung des Keiclies.

mit bitterer Reue. Sehr rührend und mit sehr vielen Worten wird uns geschildert, wie er in seinem Garten in Tränen zerfliesst und mit stammelndem Munde seinem Herzeusfreunde Alypius den Entschluss eröffnet, es ebenso zu machen, wie jene Hofbeamten. Mit der 5 Ausführung- zögerte er allerdings noch drei Wochen, bis die Schulferien anfingen, offenbar aus keinem andern Grunde, als um vor der Entsagung des

7 DO

Mönchslebens sein Lehrerhonorar noch vollzählig ein- zustreichen. 10

Wer möchte ihn deshalb tadeln? AVir selbst hätten es kaum anders gemacht. Aber w^ir hätten diesen Grund auch ehrlich eingestanden, was er ver- meidet. Wie hätte er auch bei der Prachtschilderung seiner reuigen Zerknirschung von so gemeinen Dingen i5 reden sollen, wie von dem Gelde, das seine Schüler erst postnumerando bezahlten und nicht bezahlt hätten, wenn er sie vor Beginn der Ferien entliess! Das hätte allen Regeln, welche die Rhetorik für den er- habenen Stil aufgestellt hatte, ins Gesicht geschlagen, 20 und rhetorisch ist die Darstellung von Augustins Be- kehrung durch und durch. Wir bezweifeln nicht, dass jenes Gespräch mit Ponticianus wirklich stattgefunden hat und dass es auf den kranken und leicht erreg- baren Mann tiefen Eindruck machte. Auch dass er 25 über seine sündhafte Schwäche viel geweint und ge- klagt hat, glauben wir ihm gern; denn mit Tränen war man damals schnell bei der Hand und hielt weibisches Jammern sogar für verdienstlich. Bis da- hin hatte er das Mönchtum nur in der abschreckenden so Gestalt kennen gelernt, wie es sich in den donatistischen Circumcellionen darstellte (HI S. 316). Und jetzt er- fuhr er von einem bedürfnislosen Leben stiller Be- schaulichkeit, nur dem Versenken in Gott und der

7. Augustin und sein («ottcsstaat. 17

Bekämpfung des Teufels geweiht, von einem Leben christlicher Philosophie, das ihn damals, wo er in platonischen Grübeleien sein höchstes Genügen fand, mächtig locken musste. Er hat später das erste Kloster 5 in Africa gegründet, gewiss nicht nur um dem Circum- cellionentum Konkurrenz zu machen und so den Dona- tismus zu bekämpfen, obgleich auch dieser Zweck ihm sicher nicht ferne lag. Die Erzählung des Ponticianus wirkte also fort in ihm und wird damals, als er sie

10 hörte, ihm tatsächlich ein neues Lebensziel gewiesen haben. Denn da er mittellos war und seine aDo-eo-riffene Lunge ihn hinderte, die rhetorische Lehrtätigkeit fort- zusetzen, musste er sich nach einem neuen Berufe umsehen, und in diesem Sinne konnte ihm das Mönch-

15 tum freudige Zukunftshoffnungen bieten. Aber wenn er es so darstellt, als wenn seine Abkehr vom Welt- leben nicht durch seine Krankheit, sondern einzig durch eine plötzliche Erleuchtung, die jene Erzählung in ihm bewirkt habe, hervorgerufen sei, so ist das

20 eine bewusste Unwahrheit, die nur dem rhetorischen Effekt dienen soll.

Mit der Taufe des Augustinus bricht seine Selbst- biographie ab; seine Beichte wird nur insofern fort- gesetzt, als er über einige ganz kleine Sünden, deren

25 er sich noch immer anklagen kann, tiefe Zerknirschung äussert; so über seine Freude am Essen und Trinken, seine Neigung auch zu weltlicher Forschung, höchstens noch seine lüsternen Träume. Der Leser fühlt sich gedrängt auszurufen: „Wie unglaublich tugendhaft und

30 heilig muss der Mann gewesen sein, den selbst diese unschuldigen Menschlichkeiten mit so wortreicher Reue erfüllten!'' Zwar sind den „Bekenntnissen" noch drei Bücher hinzugefügt; doch sie beschäftigen sich aus- schliesslich damit, den lieben Gott mit grosser Aus-

Seeck, Untorgang dor antiken Welt. VI. 2

18 VII. Die Auflösung des Reiches.

führlichkeit zu belehren, was sich alles in die ersten sieben Worte der Bibel hineindeuten lässt; über das Leben des Verfassers enthalten sie nichts. Doch wissen wir, dass er im Eifer des Neubekehrten gegen seine früheren Glaubensgenossen, die Manichäer und die 5 Akademiker, Bücher schrieb und dann, erst zum Presbyter, endlich zum Bischof von Hippe gewählt, bei allen religiösen Kämpfen Africas in der vordersten Reihe gestanden hat. Namentlich bekriegte er die Donatisten und setzte es durch, dass seine Lehre von lo der Prädestination gegen Pelagius als rechtgläubig anerkannt wurde. Dass solche Streitigkeiten nicht ganz ohne Sünden abzugehen pflegten, haben uns zahlreiche Beispiele gelehrt; doch was er um des Glaubens willen tat, schien Augustin berechtigt, oder 15 er hielt es für gut, die Verfehlungen eines Bischofs dem Publikum nicht auf die Nase zu binden. Jeden- falls schweigt er darüber und bringt so trotz seiner demütigen Redensarten den Eindruck hervor, als wenn er seit seiner Taufe der vollendete Tugeubold ge- 20 wiesen " wäre.

Wir haben uns bei dem Bilde des Augustin länger verweilt, weil er ausser Julian dem Abtrünnigen der einzige Mensch jener Zeit ist, dessen Charakterent- wicklung wir von frühester Kindheit an deutlich ver- 25 folgen können. Dass die inneren Kämpfe, die beide in ihrer Jugend durchzumachen hatten, den Christen nicht zu der gleichen Höhe starrer Tugend empor- führten, wie die Heiden, soll ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden. Denn dass er recht hatte, weil er 30 besser in seine Zeit hineinpasste, ergibt sich schon daraus, dass Julian bei Lebzeiten verlacht, nach dem Tode von bitterem Hass verfolgt. Augustin als Heiliger verehrt wurde. Was konnte er dafür, dass eine ver-

7. Augustin und sein Gottesstaat. 19

rückte Pädagogik, die damals für die einzig mögliche galt, den Knaben durch grausames Prügeln zum Lügner erzog und so auch bei dem Mann einen Charakter hinterliess, der ihm selbst in seiner Beichte

5 nicht ehrlich zu sein erlaubte? War doch die männ- liche Tugend treuer Wahrheitsliebe dem knechtischen Sinne jenes ganzen Zeitalters fremd, am meisten den streitbaren Kirchenfürsten von der Art des Athanasius und Ambrosius, die doch von allen Gläubigen hoch-

10 gepriesen wurden; dass Julian nur widerwillig und gezwungen log, war eine seltene Ausnahme. Und wenn das Yolk, aus dem Augustin herstammte, wegen seiner sinnlichen Ausschweifungen im ganzen Reiche berüchtigt war, wenn in seinen Lebenskreisen, wer

15 sich vieler Liebesabenteuer rühmen konnte, nicht Tadel, sondern Bewunderung fand, wenn selbst sein Vater die kräftige Mannbarkeit des Jünglings mit lächelndem Wohlgefallen beobachtete, so kann man es ihm wahrlich nicht übelnehmen, dass er in jugend-

20 lichem Ehrgeiz es auch auf diesem Gebiete seinen Kameraden zuvortun wollte. Und selbst das Wider- wärtigste an ihm, jenes Schwelgen in selbstgefälliger Reue, jenes aufdringliche Hervorkehren einer er- heuchelten Demut, wird dadurch entschuldbar, dass

25 es ganz dem Geiste seiner Zeit entspricht. Und wenn er nicht, wie andere Kirchenlichter, in starrköpfiger Einseitigkeit immer dasselbe behauptet hat, sondern im treuen Suchen nach Wahrheit von einem Irrtum in den andern verfiel, so kann ihm dies in unseren

30 Augen nur zum Ruhme gereichen. Doch den grossen Männern unserer Zeit darf man ihn nicht gleichstellen, mögen seine Werke auch einen so weitreichenden Einfluss ausgeübt haben, wie er nie einem anderen Schriftsteller beschieden war.

2*

20 VII. Die Aiiflöfsunii' des Reiches.

Man hat Augustinus oft ein Genie genannt. In welcher Beziehung sollte er das gewesen sein? In sittlicher doch jedenfalls nicht, also wohl in theolo- gischer, d. h. in wissenschaftlicher? Und doch hat er eine notwendige Vorbedingung des gründlichen For- 5 schens nicht erfüllt, die heutzutage keinem Kandidaten des Pfarramts erlassen wird. Nicht nur verstand er kein Hebräisch, sondern, wie er selbst gesteht, war er in seiner Schulzeit zu faul, das Griechische zu erlernen, und hat dies auch in späterem Alter nicht nachgeholt, und das, obgleich seine ganze Weltanschauung sich auf den Schriften Piatons aufbaute, obgleich er nicht nur das neue Testament, sondern auch die griechische Übersetzung des alten für untrügliche Eingebung Gottes hielt und sehr wohl wusste, dass der lateinische i5 Text, den er notgedrungen benutzen musste, nicht die gleiche Autorität besass. Zeigt schon dies, dass ein tiefes und selbsttätiges Eindringen in den Wissensstoff nicht seine Sache war, so verrät sich das noch mehr in dem Inhalt seiner Scliriften. So massenhaft sie 20 erhalten sind, findet man in ihnen doch nichts als alte Überlieferung; einen eigenen neuen Gedanken hat er nie gehabt ausser dem, seine Selbstbiographie in die Form einer Beichte zu kleiden, der von recht zweifel- haftem Werte ist. Denn wenn er auch die Präde- -5 stination als erster in die rechtgläubioe Theologie eingeführt hat, so war sie doch nicht nur in der griechischen Philosophie schon seit Jahrhunderten vor- gebildet, sondern auch der Donatist Tychonius hatte ganz Ähnliches gelehrt. Wenn Augustin trotzdem unter 30 seinen Zeitgenossen weitaus der Gedankenreichste ist, so liegt das nur daran, dass er die Schätze sehr ver- schiedener Überlieferungen in seinem Gedächtnis auf- gehäuft liatte. Er hatte das Glück gehabt, zuerst

7. Augustiu und sein Gottesstaat. 21

Manichäer, diinii Akademiker, dann Neuplatoniker ge- wesen zu sein, ehe er sich zum Glauben an die ab- solute Autorität der Bibel bekehrte. So hat er die Lehren sehr vieler Sekten gründlich kenneu gelernt 5 und dadurch seinen Geist erweitert; doch hat er an keiner davon selbständige Kritik geübt, sondern immer nur die eine durch die andere widerlegt. Als die Astronomie ihm Zw^eifel am Manichäismus erweckt hat, wagt er nicht, sich auf eigene Hand von diesem

10 loszusagen, sondern tröstet sich mit dem unterwürfigen Glauben, dass nur sein Verständnis für die Lösung der Widersprüche zu schwach sei und dass ein besser Unterrichteter sie ihm bieten werde; erst nach Jahren, als auch der berühmteste Lehrer der Sekte ihm ver-

15 sagt hat, löst er sich von ihr, aber nicht um seine eigenen Wege zu suchen, sondern um sich durch Cicero zum Akademiker machen zu lassen, und auch was die späteren Änderungen seines Glaubens ver- anlasst, ist nicht selbsttätiges Denken, sondern immer

20 nur die Einwirkung fremder Gedanken, teils der Predigten des Ambrosius, teils der Schriften Piatons und seiner Jünger. Und endlich verzichtet er auf altes Zweifeln und kehrt als reifer Mann zu seinem Kinderglauben zurück, weil diese älteste Überlieferung

25 trotz allen Schwankens denn doch am festesten in ihm haftet. Hatte er als Manichäer die Schwierigkeiten und Widersprüche der Bibelworte richtig bemerkt, so sucht er sie jetzt nur noch wegzuinterpretieren, wie viele das vor ihm getan hatten. Eine Zeit, die durch

30 Ausrottung der Besten so herabgekommen ist, wie das vierte Jahrhundert, kann Genies nicht mehr hervor- bringen, und auch Augustin ist keines gewesen. Er renommiert nicht schlecht damit, dass er die Kategorien des Aristoteles ohne fremde Hilfe begriffen hat; für

22 Vll. Die Auflösung des Reiches.

seine Zeit war dies Eindringen in die Gedanken einer besseren Vergangenheit schon eine gewaltige Leistung. Und freilich steht er hoch über den meisten andern Menschen jener traurigen Jahrhunderte, weil er das einmal Überkommene nicht mit stumpfsinniger Zu- 5 friedenheit bewahrt hat, sondern zu zweifeln und zu forschen wagte.

So bietet denn auch sein „Gottesstaat" nicht nur in der Komposition ein gestaltloses Durcheinander, sondern mehr noch im Gedaukeninhalt. Alle Über- lo lieferungen, deren ganz verschiedener Einwirkung Augustiu im Laufe seiner Entwicklung unterlegen ist, fliessen hier zusammen, ohne ausgeglichen und zur Einheit verarbeitet zu sein. Immer wieder stosseu wir auf Ansätze, die nicht weitergeführt, auf Theorien, 15 die nicht festgehalten, auf Widersprüche, die meist nicht einmal von dem A^erfasser bemerkt, fast nie- mals klar gelöst sind. Der neuplatonische Gott in seiner bewegungslosen Ruhe will sich mit dem alt- testamentlicheu nicht vertragen; der Gegensatz der 20 beiden Staaten, von denen der eine Gott, der andere dem Teufel gehört, weist auf den manichäischen Dualismus hin, und doch soll dieser nicht mehr gelten. Nach einer weit verbreiteten Theorie zerfällt ihm die Geschichte der Welt in sechs Perioden, die den Lebens- 25 altern des Einzelmenscheu analog sind; aber da hier- nach die Epoche des Christentums dem elenden Greisen- alter entsprechen müsste, lässt er kurz vor ihrem Be- ginn die ganze Einteilung fallen und unterdrückt so diese Konsequenz. Aus Hieronymus weiss er, dass ^o vier Weltreiche aufeinander gefolgt sind, das assy- risch-babylonische, (las persische, das macedonische und das römische, und weil dies auf der W^eissagung Daniels beruht, darf er es nicht abweisen; da aber

7. Aiigustin und sein Gottesstaat. 23

für ihn Rom nur die Fortsetzung Babels ist, knüpft er das letzte Reich unmittelbar an das erste an und eskamotiert die beiden dazwischenliegenden, offenbar in der Hoffnung, dass seine Leser das nicht merken

5 werden. Denn sein „Gottesstaat" ist ebenso unwahr und hinterhaltig, wie seine „Bekenntnisse", und wo der Beweis versagt, scheint es ihm um der Sache des Glaubens willen ganz erlaubt, sich durch Verschweigen oder Verdrehen durchzuschwindeln.

10 Die Eroberung Roms durch die Gothen hat das

Werk veranlasst; doch von patriotischem Schmerz über das Unglück und die Schmach, die das ganze Römertum erlitten hatte, zeigt es nicht die leiseste Spur. Denn der Christ hat sein Vaterland im Himmel :

15 was auf Erden aus dem römischen Reiche wird, geht ihn nur soweit an, wie sein Glaube dadurch berührt wird. In diesem Sinne ist schon die Predigt gehalten, zu der sich Augustin veranlasst sah, als die Nachricht von der Katastrophe zuerst in Africa bekannt ge-

20 worden war. Sie stellt sich nicht die Aufgabe, den tief gebeugten Reichsbürger durch die Hoffnung auf künftige Siege zu trösten und aufzurichten, sondern bewegt sich nur in einer dürftigen Polemik gegen diejenigen, welche den Ratschluss Gottes zu bemän-

25 geln wagten. Sodom, so klagte man, habe der Herr verschonen wollen, wenn auch nur zehn Gerechte in der Stadt wären, und Rom habe er nicht verschont, obgleich viele Tausend gläubiger Christen dort wohnten ! Dies weist Augustin durch den Gemeinplatz zurück,

30 dass vor Gott kein Mensch gerecht sei; zudem habe er Sodom von Grund aus zerstören, Rom nur züch- tigen wollen. Wenn diese Züchtigung Gute und Böse mit gleicher Schwere getroffen habe, so kämen doch diese später in die Hölle, während jene als

24 VII. Die Auflösuug des Reiches.

Ausgleich ihrer weltlichen Leiden das Himmelreich zu erwarten hätten. Auf diesen nicht ganz neuen Gedanken kommt er auch im „Gottesstaat" ausführ- licher zurück, und gelaugt dort zu dem Resultat, dass alle irdischen Schicksale gegenüber den Freuden des s Jenseits im Grunde gleichgiltig seien. Das ist von der Lehre der Stoiker nicht wesentlich verschieden, ob- gleich Augustin nicht nur ihre Philosophie im Allge- meinen, sondern auch diesen besonderen Teil der- selben aufs Schärfste bekämpft. lo

Wie schon gesagt, sollen die Heiden, die in der Plünderung Roms eine Strafe für die Unterdrückung ihres Kultus erblickten, durch jenes grosse Werk widerlest werden, und dies ist mit ermüdender Breite und vielen Wiederholungen ein Fehler, von dem i5 keine Schrift Augustins frei ist , aber auch mit schlagender Logik und erschöpfender Berücksichtigung aller Gegengründe durchgeführt. In fünf Büchern wird nachgewiesen, dass die Götter nicht das Glück dieser Erde, in fünf anderen, dass sie auch die ewige 20 Seligkeit nicht gewähren können. Dieser zweite Teil richtet sich vor allem gegen Neupiaton iker von der Art Julians, die in den Einzelgöttern dienende Helfer ihres grossen Allgottes, ähnlich den christlichen Engeln, sahen. Doch Augustin weist darauf hin, dass diese 2.5 guten Geister zu demütig seien, um für sich einen eigenen Kultus zu beanspruchen; sie Hessen sich daran genügen, dass man ihren Herrn lobe und preise. Diejenigen, welche Opfer und Spiele für ihre eigene Person verlangten, könnten also nur jene bösen Engel :^o sein, die aus Hochmut von Gott abgefallen und aus dem Himmel Verstössen seien. Diese höllischen Dä- monen stellten aus Neid den Menschen nach, um in ihnen Genossen ihrer ewigen (^iial zu finden. Dies

7. Augustiu und sein Gottesstaat. 25

ist die hergebrachte Lehre des damaligen Christen- tums, und auch die Gründe, deren sich Augustin be- dient, sind der alten Rüstkammer früherer Glaubens- kämpfer entnommen. Aber wenn nicht der Zorn der

5 Heidengötter es war, der Rom den Gothen preisge- geben hatte, sondern alles nach dem Ratschluss des christlichen Gottes geschah, was hatte diesen veran- lasst, von einer Stadt, in der jetzt die grosse Mehr- zahl der Einwohner zu ihm betete, seine Hand abzu-

10 ziehn? Dies zu erklären, war die zweite Aufgabe, die Augustiu sich gestellt sah, und so klar und schlüssig er in seiner, Widerlegung des Heidentums gewesen ist, so widerspruchsvoll und verworren wird er bei der Rechtfertigung seines Gottes.

15 Der Donatist Tychonius hatte einen Kommentar

zur Offenbarung Johaunis geschrieben, der zu jener Zeit, obgleich sein Verfasser Schismatiker war, auch von den Rechtgläubigen sehr bewundert wurde. Ihm entlehnte Augustin die Begriffe des Gottesstaats und

20 des Teufelsstaats, die den zweiten Teil seines Werkes beherrschen. Die Douatisten hatten von Anfang au im schroffsten Gegensätze zur Staatsgewalt gestanden und das römische Kaisertum als Werkzeug der Finster- nis betrachtet. Hatte es doch in alter Zeit die Christen

25 verfolgt und später die Douatisten, die sich als die einzigen Vertreter des walireii Christentums betrach- teten. Da sie alle, die nicht zu ihrer Sekte gehörten, zu Heiden stempelten, konnten sie das Reich in seiner Gesamtheit als heidnisch und folglich als den

30 Staat des Teufels bezeichnen. Ihm stand die Kirche, natürlich nur die donatistische, als Gottesstaat gegen- über, obgleich auch sie von schweren Süudern nicht frei war, die man den Teufelskindern zurechnen niusste. Doch dies kam nicht in Betracht, weil die

26 VII. Die Auflösung des Reiches.

Sonderung der Spreu von dem Weizen Sache Gottes war. Wie man sieht, war es you diesem Stand- punkt aus leicht, die Eroberung Roms und den Untergang des ganzen Reiches, für dessen Vorboten sie galt, als wohlerw^ogenen Ratschluss Gottes zu recht- 5 fertigen.

In diesem Sinne hat Augustin sich jener Unter- scheidung bemächtigt. Auch ihm fällt der Staat Gottes mit der sichtbaren Kirche zusammen, natürlich unter der Einschränkung, die schon Tychonius ge- 10 macht hatte, dass sie in ihrem irdischen Bestände viele Unwürdige enthält, die erst das Gericht Gottes aussondern wird. Auch ihm bleibt der weltliche Staat der Vertreter des Heidentums, obgleich dies zu seiner Zeit nur noch im Sinne des Donatismus, aber längst 1.5 nicht mehr im Sinne seines eigenen Glaubens richtig war. Hatte Augustin es doch mit Freuden begrüsst, dass durch den Zwang der kaiserlichen Gesetzgebung- zahllose Sektierer in den Schoss der rechtgläubigen Kirche zurückgeführt wurden. So leugnet er denn 20 auch nicht, dass es echt christliche Herrscher geben könne, entwirft das Bild eines solchen und deutet au, dass Constantin und Theodosius diesem Ideal leidlich entsprochen haben. Trotzdem erscheint die Annahme, dass eine Regierung sich an die Gebote Gottes hält und 2.5 dadurch Gutes stiftet, bei ihm nur als unwirkliche Möglichkeit. Aber jede, ob ein Constantin oder ein Nero an ihrer Spitze steht, ist nach dem Ratschluss Gottes eingesetzt, und der Christ hat sich ihr zu unterwerfen, soweit sein Glaube dies gestattet. Wird 30 dieser nicht augetastet, so ist es ganz gleichgiltig, wer die Macht gewinnt, und ob Römer oder Barbaren Sieger bleiben, ist eine Frage, die nur für die eitle Ruhmsucht der Welt ein Interesse hat. Ist doch jede

7. Aiigustin und sein Gottesstaat. 27

staatliche Herrschaft, wie sie nun einmal sind, nichts anderes als Räuberei im Grossen.

Von dieser Anschauung ausgehend, die gleichfalls auf fremder Überlieferung, diesmal auf donatistischer,

5 beruht, versucht Augustin die Entwicklung der beiden Staaten durch die Geschichte zu verfolgen. Doch der Ausdruck „Entwicklung" ist nicht richtig gewählt; denn dieser Begriff findet in einem Anschauungskreise, nach dem alles, was es gibt, nicht langsam geworden,

10 sondern durch das Machtwort Gottes i^lötzlich ge- schaffen ist, keinen Raum. So sind denn auch der Gottesstaat wie der Teufelsstaat schon von Anfang an da und haben sich im Laufe der Jahrtausende kaum verändert. Schon in Kain und Abel sondern sie sich.

15 Jener ist der erste, der nach der Bibel einen welt- lichen Staat gegründet hat, und gleich diesem Ur- bilde des Teufelsstaates verdankt auch Rom seine Entstehung einem Brudermörder. Die ganze Geschichte des Gottesstaates besteht dann so gut wie ausschliess-

20 lieh aus Weissagungen auf Christus, die oft sehr weit hergeholt sind. So war z. B. die Arche nach der Bibel 300 Ellen lang, 50 breit und 30 hoch. In dem- selben Verhältnis von 30 : 5 : 3 sollen aber auch die Maasse des menschlichen Körpers stehen, wenn man

25 ihn vom Kopf bis zu den Füssen, von Schulter zu Schulter und vom Bauche nach dem Rücken misst. Daraus aber soll sich ergeben, dass die Arche den Leib Christi verkündige und ihre Tür die Seiten- wunde, die er am Kreuz empfing. In dieser Weise

30 wird der grösste Teil des alten Testaments kommen- tiert, wobei auch andere Untersuchungen, die wissen- schaftlich sein wollen, vor allem chronologische, nicht fehlen; z. B. wird die hochbedeutsame Frage sehr ausführlich besprochen, ob Methusalem, wie man aus

28 Vil- I*iti Auflösung des Reiches.

der Angabe seines Alters schliesseu müsse, die Sint- flut noch überlebt habe oder nicht. Nachdem die Patriarchen und Propheten, in denen sich der Gottes- staat darstellt, in dieser Weise durchgenommen sind, wendet sich Augustin dem Teufelsstaate zu. Dabei 5 zeigt sich, dass er mit jenen Pädagogen unserer älteren Generation, die uns den historischeu Unter- richt so namenlos langweilig zu machen wussten, in der Ansicht übereiustimmt, das Wesen der Geschiclite bestehe in Namen und Zahlen. Er schreibt aus der lo Chronik des Hieronymus die lange Reihe erfundener Königsnamen mit ihren ebenso erfundeneu Regierungs- jahren ab, um zu dem Resultat zu kommen, dass die Herrschaft Babels um dieselbe Zeit abbrach, wo die Roms begann, dass dieses also nur eine Fortsetzung ^5 von jenem sei. Wo aber für uns die eigentliche Ge- schichte erst einsetzt, da verliert sie für ihn jedes Interesse; von den ersten Anfängen Roms springt er gleich zum jüngsten Tage über und begräbt alles Da- zwischenliegende in Schweigen. Zwar nach der Me- 20 thode, die er bei der Arche Noahs anwendet, wäre es ohne Zweifel möglich gewesen, auch aus den punischen Kriegen und den Taten Caesars Weissagungen auf Christus herauszulesen; zu diesen Deutungen aber findet er nicht genügend vorgearbeitet, und seinen 25 eigenen Scharfsinn anzustrengen, hält er für über- flüssig. In dem, was wirklich Geschichte ist. den Pinger Gottes nachzuweisen, geht über seine Kraft, weil keiner es vor ihm getan hatte: denn wo seine Überlieferung versagt, versagt auch er. Dass Rom ^o sich erst mächtig erhoben hatte, um dann tief zu sinken, weiss er aus Sallusts Catilina und Ciceros Büchern vom Staat; aber das sind auch die einzigen historischen Schriften, die er gründlich gelesen hat,

7. Auirustiii und sein Gottesstaat. 29

und jene Eutwicklung zu verfolgen und zu erklären, genügten sie nicht. Statt sich mit den dicken Büchern des Livius, Tacitus und Ammianus Marcellinus zu plagen, fand Augustin es bequemer, die Geschichte 5 der letzten Tage aus der Apokalypse herauszudeuten, weil ihm hieriu schon Tychonius und viele andere vorangegangen waren.

Man darf wohl die Frage stellen, wie ein so Haches und unselbständiges Buch eine so tiefe Wirkung auf

10 das ganze Mittelalter und selbst noch darüber hinaus ausüben konnte. Dem gegenüber sei darauf hin- gewiesen, dass auch Hieronymus mit seiner Chronik, die gleichfalls kein Wunderwerk menschlichen Geistes ist, viel mehr gewirkt hat, als die echten Historiker

15 Tacitus und Ammianus Marcellinus. Diese sind uns zum sehr grossen Teil verloren gegangen, und jede ihrer Schriften, die wir noch besitzen, ist uns nur durch eine einzige Handschrift, also durch einen halben Zufall, erhalten, während von jenen elenden Zeittafelu

20 unzählige sich gefunden haben. Wäre Augustins „Gottesstaat" minder flach gewiesen, so hätte er jene Wirkung gar nicht üben können. Denn als die Ger- manen noch in der Kindheit tiefster Barbarei steckten, vermochten sie von der antiken Weisheit nicht mehr

25 zu verdauen, als was ihnen zu Kinderbrei verarbeitet vorgesetzt wurde, und als sie reifer geworden waren, hatte sich die Grösse Augustins durch seine jahrhun- dertelange Geltuno; so zum Do£,ina auso-ebildet, dass auch freie Geister nicht mehr daran zu rütteln wagten.

30 Solche Fragen, wie die nach der prophetischen Be- deutung der Arche oder dem Alter Methusalems, er- scheinen uns lächerlich, die Scholastik aber schrieb ihnen die höchste Wichtigkeit zu; und Untersuchungen dieser Art, die immer sehr gründlich und mit dem

30 Vll. Die Auflösunn- des Reiclies.

Anschein schärfster methodischer Kritik geführt werden, begeofnen uns im „Gottesstaat" zu Dutzenden. Und dass sie zum grossen Teil nicht sein Eigentum sind, konnte seinem Ansehn auch nicht schaden, weil es keinem einfiel, Quellenkritik an ihm zu treiben. Ja 5 für das Mittelalter erhöhte seine Unselbständigkeit noch seinen Wert: denn da er nicht nur Origines, Hieronymus und Tychonius, sondern auch Piaton und Porphyrius, Cicero und Sallust, Yergil und Yarro plünderte, bot sein Werk nicht viel weniger als eine w Encyclopädie alles dessen, was das Christentum von der Antike noch brauchen konnte. Hier fand man nicht nur Theologie, sondern auch, was man für Xatur- lehre und Geschichte hielt, und die meisten Richtungen der Philosophie wurden besprochen, um, je nachdem, i5 gebilligt oder zurückgewiesen zu werden. Dass diese Buntheit des Inhalts die Einheitlichkeit störte und nicht selten Widersprüche hervorrief, bemerkte mau nicht, weil keiner die einzelnen Teile des Werkes kritisch untereinander verglich, ja wahrscheinlich nur 20 sehr wenige die Geduld hatten, alle zweiundzwanzig Bücher im Zusammenhange durchzulesen. Man las hier ein Stückchen und dort ein Stückchen und fand immer etwas, das man theologisch oder philosophisch, historisch oder moralisch, vor allem Staats- und kirchen- 25 rechtlich brauchen konnte. Und wenn nicht alles zu- sammenstimmte, um so besser! Auf diese Weise konnte bald der Papst und bald der Kaiser sich auf die hohe Autorität des ,.Gottesstaates" berufen. So wurde er zum Vermächtnis, welches das Altertum in 3o seinem tiefsten Verfall dem Mittelalter hinterliess, ein traurio-er Rest im Vergleich mit den Schätzen des Denkens und Wissens, die unverstanden und daher un- benutzt liegen blieben, aber doch etwas Grosses an dem

7. Augustin imd sein Gottesstaat. 81

gemessen, was die Germanen in jenem frühen Stadium ihrer Entwicklung selbst hervorbringen konnten.

Für uns aber, die wir den Untergang der antiken Welt begreifen wollen, hat dies Werk noch seine

5 besondere Bedeutung als Zeichen seiner Zeit. Die christlichen Sittenprediger beriefen sich darauf, dass die Bibel wohl erzähle, wie Christus geweint, aber nicht, dass er jemals gelacht habe, und hielten daher auch bei denen, die sich zu seiner Xachfolge bekannten,

10 heiteren Lebensgenuss, wenn nicht für unerlaubt, so doch für unangemessen. So findet auch Augustin das ganze Dasein auf Erden freudlos und nutzlos ; nur als Vorbereitung auf das Jenseits hat es Wert, und auch dort ist die ungeheure Mehrzahl der Menschen zu

15 ewiger Flammenqual verdammt. Das Einzige, was in dieser Welt noch erstrebenswert bleibt, ist Friede und Ruhe, also gerade das, was in jener Zeit immer wiederholter Plünderungen durch die Barbaren dem Reich am meisten fehlte. Durch den gleichen finsteren

20 Pessimismus werden auch seine sittlichen Grundsätze bestimmt. Demut und Gehorsam sind für ihn die höchsten Tugenden ; er fordert knechtische Unterwürfig- keit für jeden Beliebigen, der nach Gottes Ratschluss die Macht gewinnt. Ob man sich Honorius oder Alarich

25 beugt, ist ganz gleichgiltig; denn der Ruhm der römi- schen Waffen bedeutet nichts für den Christen, und jede Herrschaft, wer sie auch ausüben mag, wird zur Räuberei im Grossen. Im damaligen Reiche, wo ein Beamter, der nicht Räuber war, zu den Ausnahmen

30 gehörte, ist diese Anschauung sehr natürlich. Haben doch wir selbst in Russland aus Zuständen, die ähn- lich, wenn auch noch lange nicht so schlimm sind, einen Anarchismus erwachsen sehn, der den Staat als solchen für ein schweres Übel erklärt, ganz wie

32 Vil. Die Auflösung des Reiches.

Tychonius und Augustin es taten. Dass sie kein Vaterland hatten und ausser stumpfem Gehorsam keine Bürgerpflicht anerkannten, darf man ihnen daher nicht zum Vorwurf machen. Aber wenn ihre Gesinnung von allen Christen des Reiches oder auch nur von ^ den meisten geteilt wurde, so versteht es sich von selbst, dass es den Barbaren nicht mehr lange wider- stehn konnte, sondern zum Untergange reif war.

Achtes Kapitel.

Constantius III.

Im Jahre 410, als die kurze Herrlichkeit des Attalus eben erst ihr Ende gefunden hatte, war in Eom eine Fortsetzung von Suetons Kaiserbiographien erschienen, die bis auf den Tod des Carinus herab-

5 reichte. Der Verfasser oder die Verfasser denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass mehrere sich in die Arbeit teilten verheimlichten ihre Namen und suchten den Anschein hervorzurufen, als wenn die einzelnen Teile des Werkes teils unter Diocletian,

10 teils unter Constantin entstanden seien. Denn die Erzählung der Vergangenheit sollte durch scharfe Kritik der Gegenwart gewürzt werden, und diese hätte ihren Urhebern, wenn man sie erkannte, gefährlich werden können. Was sie in grösster Eile nach ihrem

15 Diktat zusammenschmieren liessen, ist ein elendes Machwerk geworden. Schlechte Auszüge aus älteren Schriftstellern geben, soweit diese verloren sind, den Anfangsteilen des Werkes für uns noch einen gewissen Wert; doch je weiter es fortschreitet, desto mehr ver-

20 sinken diese echten Bestandteile in einer Flut von Fälschungen, die ebenso unwahrscheinlich, wie ein- förmig und geschmacklos sind. Aber lernen wir auch nicht viel aus ihnen über die Kaiser des dritten Jahr-

Soeck, Untergang der antiken Welt. VI. 3

34 VII. Die Auflösuui» des Reiclies.

hunderts, von denen sie scheinbar erzählen, so sind sie um so bezeichnender für die Stimmungen, die im Anfang des fünften Rom bewegten. Und dass die Verfasser geistig so niedrig stehen, ist für uns um so wertvoller, als wir daraus schliessen können, dass, a was sie aussprechen, nicht die Meinung einzelner Aus- nahmemensclien, sondern des gemeinen Durchschnitts war.

Die Darstellung strömt über von national römischer Begeisterung. Dass der Senat in den Streitigkeiten der lo kaiserlichen Brüder durch Stilicho zum Schiedsrichter aufgerufen war (Y S. 286), dass er über die Kriegs- erklärung gegen Alarich hatte abstimmen dürfen (V S. 382) und endlich gar ein Kaiser, von ihm gewählt, aus seiner Mitte hervorgegangen war, hat den Ver- i5 fassern ganz ihren schwachen Kopf verdreht. Sie träumen von einer neuen Epoche der Senatsherrschaft und erwarten davon die Rückkehr altrömischer Grösse und Herrlichkeit. Trotzdem ist von dem Autigerma- nismus, der noch kurz vorher mit dieser Art der 20 Gesinnung eng verbunden war, bei ihnen nichts mehr zu bemerken. Dessen Programm, das Heer von bar- barischen Elementen zu säubern, war unter Honorius so gründlich, wie irgend möglich, erfüllt worden, und eben dadurch war dieser Richtung der Hals gebrochen. 25 Als man nach dem Tode Stilichos die Frauen und Kinder der fremden Krieger ermordet hatte, hatten sie sich alle von den römischen Truppen gesondert und waren zu Alarich übergegangen (V S. 390. 392). Der Erfolg aber war gewesen, dass man diesem so ^'o gut wie wehrlos gegenüberstand. Und als Honorius Miene machte, ihn ernstlich zu bekämpfen, hatte er sich doch wieder gezwungen gesehn, Gothen und Hunnen in seine Dienste zu nehmen (V S. 399. 402.

8. Constautius III. 35

413). So geben denu auch unsere Historiker wenn man ihnen diesen Ehrennamen gönnen will , wo sie eine Reihe tapferer Offiziere aufzählen, ihnen die Namen Hariomundus, Haidagastes, Hildomuudus und 5 Ariovistus, also nur germanische. Doch stellen sie die Forderung-, dass man die Barbaren nicht zu ge- sonderten Truppen zusammenfassen, sondern vereinzelt unter die römischen verteilen solle, damit man ihre überlegene Tüchtigkeit wohl im Kampfe spüren, aber

10 nicht zu deutlich wahrnehmen könne, dass Rom fremder Hilfe bedürftig sei. Natürlich blieb dies frommer Wunsch, schon weil man mit den angeworbenen Söldnern gar nicht frei schalten konnte, sondern sich ihrem Willen fügen musste.

15 Was aber für uns noch wichtiger ist, wie die ver-

schollenen Rechte des Senats, so wird aus der Rumpel- kammer der Geschichte auch der Grundsatz hervor- gezerrt, dass das Kaisertum nicht erblich sei. Dies war insofern richtig, als es von dem ersten Augustus

20 gar nicht in der Form eines dauernden Rechtsinstituts gegründet war. Auf die Voraussetzung gestützt, dass das Reich durch die Bürgerkriege in eine Lage ge- bracht sei, aus der die ordentlichen Beamten es nicht erretten könnten, und dass man in ihm den einziiren

25 Mann gefunden habe, der dieser Aufgabe gewachsen sei, hatte er sich gewisse Ämter und Gewalten rein persönlich übertragen lassen. So hatten ihn denu auch seine Nachfolger nicht einfach beerbt, sondern bei jedem von ihnen war die Fiktion erneuert worden,

30 dass das Kaisertum mit seinem Yorgänger zu Grabe getragen sei und für ihn durch besondere Seuats- beschlüsse und Gesetze neu geschaften werde. Im Laufe der Zeit war dies abgekommen, und die Gewohn- heit hatte einen Rechtssatz daraus gemacht, dass im

3*

36 VII. Die Auflösung des Reiches.

Wechsel der Personen die Alleinherrscliaft etwas Bleibendes sei. Doch war man von dem Grandsatz nicht abgegangen, dass das Kaisertum ein Wahlamt sei und dessen Verleihung durch persönliche Vor- züge vor den übrigen Bürgern bedingt sein müsse. .5 Als einen solchen, und zwar als den vornehmsten von allen, betrachtete man aber auch kaiserliche Ab- stammung, und dadurch hatte sich die Erblichkeit tatsächlich eingeschlichen, obgleich sie rechtlich nie- mals anerkannt war. In diesem Sinne hatten noch lo die Herrscher des vierten Jahrhunderts, wenn sie ihre Brüder oder Söhne zu Mitregenten und künftigen Erben erheben wollten, sie immer dem Heere vor- gestellt und sie durch die Akklamation desselben, die damals als der erforderliche Wahlakt galt, legitimieren 15 lassen. Doch im dritten Jahrhundert hatten die immer wiederholten Usurpationen, welche diese Soldatenwahl zur Folge gehabt hatte, dem Reiche fast den Unter- gang gebracht, und Diocletian entsprach daher dem Bedürfnis und der Sehnsucht seines ganzen Volkes, 20 als er versuchte, sie zur leeren Formalität herabzu- drücken. Zwar die Erblichkeit gesetzlich einzuführen, 2:ino- nicht an, weil der Kaiser über dem Gesetze stand und die Frage, ob ein Usurpator sich behaupten könne, niemals nach dem formellen Recht, sondern 25 nur durch Waffengewalt zu entscheiden war. Die Truppen konnten ihres Wahlrechts nicht beraubt werden, weil auf ihnen Macht und Bestand des Kaiser- tums beruhte. Doch auch in ihnen selbst war das dynastische Gefühl lebendig und schlug desto festere 30 Wurzeln, je länger es sich erreichen Hess, dass dem Vater der Sohn unangefochten folgte. Diocletian hatte durch Adoptionen eine Dynastie gegründet, die sich in den Nachkommen seines Caesars Constantius

8. Constantius III. 37

auch nach dem Rechte des Blutes fortsetzte. Nach- dem sie sich neuuundsiebzig Jahre behauptet hatte und dann ausgestorben, uicht durch Usurpatoren ge- stürzt war, hatte sich die natürliche Erbfolge zum

5 Gewohnheitsrecht ausgebildet und stand für Volk und Heer so fest, dass dem neugewählten Herrscher Valen- tinian sogar ein vierjähriges Kind auf dem Throne folgen konnte (V S. 39).

Eine Vormundschaft über den Kaiser kannte das

10 römische Staatsrecht nicht und konnte sie nicht kennen, weil seine Stellung von Anfang an als ganz persön- liche gedacht war; doch trat dafür der diocletianische Grundsatz ein, dass der ältere Augustus dem jüngeren zu befehlen habe. Gab es also einen volljährigen Mit-

15 regenten, so konnte dieser, auch wenn er einen andern Reichsteil beherrschte, für das kaiserliche Kind die Beamten ernennen, denen die Leitung desselben zufiel. Aber nach dem Ableben des Theodosius versagte dies Auskunftsmittel, weil Arcadius, wenn auch über die

20 Knabeujahre hinausgewachsen, doch sein Leben lang nicht mündig wurde und kaum in seinem eigenen Reichsteil, geschweige denn in dem seines kleinen Bruders, die Herrscherrechte wahren konnte. So war Stilicho im Westreiche zu einer Art von Vormund-

25 Schaft gelangt, wie er selbst behauptete, durch den letzten Willen des Theodosius, der aber niemals in einer rechtsgiltigen Form ausgesprochen war. Seine Macht beruhte nur darauf, dass die Heere sie aner- kannten, und stürzte zusammen, sobald er ihnen nicht

m mehr gefiel, ganz wie die Macht der Kaiser selbst im dritten Jahrhundert. Und während er in unruhigem Ehrgeiz seine Hand nach dem Osten ausstreckte, war auch der Westen ihr entglitten; sein Vertrag mit Alarich hatte die Folge gehabt, dass die Gothen auch

38 Vif. Die Aiinösung des Reiches.

in Italien eindrangen und endlich die Herrschaft des Honorius kaum noch über den Festungsring von Ra- venna hinausreichte. Da so das vormundschaftliche Regiment zum ärgsten Verhängnis für das Reich geworden war, musste bei allen, die nicht am Dies- j seits ganz verzweifelten, der Wunsch sich regen, dass wieder ein Kaiser die Zügel in die Hand nehme, der, wie in den alten Zeiten, durch seine persönliche Tüchtigkeit das Unheil abwenden könne.

Dies war es, was in dem Adel Roms jenen Um- lo Schwung der politischen Anschauungen hervorrief, von dem jene Biographen uns Kunde geben. Hatte man ein Jahrhundert früher die Erblichkeit der Krone heiss ersehnt und dann mit Genugtuung bemerkt, wie sie sich immer mehr befestigte, so hielt man sie jetzt 15 für den Grund alles Unglücks und forderte die Rück- kehr zur wirklichen, nicht blos formellen Kaiserwahl. Doch sollte sie nicht mehr durch das barbarisierte Heer, sondern durch den Senat ausgeübt werden, dessen Selbstgefühl infolge des Anteils, den ihm Stilicho 20 an der hohen Politik gnädigst gewährt hatte, gewaltig angeschwollen war. Trotz der Gothen des Alarich begrüs.sten viele es mit Jubel, als jene Forderung, nachdem sie mehr als hundertunddreissig Jahre ge- schwiegen hatte, sich bei der Thronerhebung des 2.5 Attalus erfüllte. Aber auch auf Constantin HL, ob- gleich ihn die Soldaten zum Kaiser gemacht hatten, setzte man grosse Hoffnungen. Hatte er doch die Germanen, die durch Stilichos Schuld in Gallien ein- gedrungen waren, glorreich besiegt und ihre Kriegs- ^o macht durch Verträge in seine Dienste gezwungen. Honorius hatte ihm seine Anerkeunung gewähren müssen und sie auch dem Attalus angeboten; doch man erwartete, dass die erwählten Herrscher den

8. Constantius III. 39

schwächlichen Erbkaiser ganz beseitigen würden. Selbst der Feldherr, der bald nach dem Tode Stilichos an dessen Stelle getreten war, hatte diese Bestrebungen unterstützt und den Versuch gemacht, Ravenna und

5 zugleich die Person des Honorius an Constantin aus- zuliefern (V S. 407). Doch die Ermordung Allobichs hatte diesen Plan zerstört, und der jetzt sein Amt über- nahm, weihte alle seine Kräfte der Erhaltung der Dynastie und hat es wirklich erreicht, dass sie sich

10 noch fast ein halbes Jahrhundert auf dem Throne behaupten konnte.

Plavius Constantius stammte, wie Constantin der Grosse, aus dem dacischen Naissus her, also aus der- selben Bevölkerung, deren Blut, seit den Zeiten des

15 Marcus durch immer neue Einwanderungen aufgefrischt, dem Reiche schon viele Kaiser und Feldherren gegeben hatte. Aber da sein Stammbaum wohl nicht sehr hoch hinaufreichte, konnte man bei ihm die barbarische Herkunft nicht mehr nachweisen. Er galt als Römer,

20 und in einer Zeit, in der der x^ntigermanismus zwar ein wenig zurückgedrängt, aber keineswegs erstorben war, bedeutete dies eine sehr wirksame Empfehlung. Und dass er selbst die Abneigung gegen die Fremden und den Stolz des Römertums teilte, beweist ein Gesetz,

25 das in den Jahren gegeben ist, in denen er den Kaiser beherrschte. Es verfügt bei strenger Strafe, dass keiner, auch die Sklaven nicht, sich mit den Ab- zeichen der Germanen, langen Haaren und Pelzkleidern, in Rom und Umgegend zeigen dürfe. In der heiligen

30 Stadt, die den Gedanken des Reiches verkörperte, sollte man äusserlich nicht wahrnehmen, wie sehr es barbarisiert war. Doch ist er nie so töricht gewesen, die Fremden vom Heer oder auch nur von den Offizier- stellen ganz ausschliessen zu wollen, wie man das im

40 VII. Die Auflösung des Reiches.

Osteu nach dem Sturze des Gainas, im Westen nach der Ermordung Stilichos versucht hatte; dazu kannte er als alter Soldat die militärischen Bedürfnisse zu genau. In einer Gegend aufgewachsen, die immer wieder von den Plünderungen der Gothen und Hunnen 5 heimgesucht wurde, hatte er alle Nöte des Krieges schon in frühester Jugend kennen gelernt und hatte dann, unter Theodosius in das Heer eingetreten, sich in zahlreichen Feldzügen bewährt. Und dass er in dieser Schule gelernt hatte, die zuchtlosen Soldaten- 10 banden jener Zeit zu beherrschen und zum Siege zu führen, haben seine Taten deutlich genug gezeigt. Er verstand sie zu nehmen, weil er selbst immer ein schlichter Soldat blieb. Nicht die künstlichen Reden, die damals Mode waren, ergötzten ihn, sondern die 15 plumpen Spässe der populären Possen. Er liess sie sich oft bei seinen Mahlzeiten vorspielen und spielte dann wohl auch selbst lustig mit. Dagegen war ihm das steife Ceremoniell, dem er sich als Oberfeldherr und später gar als Kaiser unterwerfen musste, eine 20 widrige Last. Bei seinen öffentlichen Aufzügen beugte er seinen Stiernacken finster zum Halse des Pferdes herab, auf dem er ritt, und liess aus seinen grossen Augen unter der Stirn hervor unbehaglich nach rechts und links die Blicke schweifen. Anfangs zeigte er 25 sich ehrlich und uneigennützig; erst als er mit der Schwester des Kaisers vermählt war, begann er, ohne in der Wahl der Mittel bedenklich zu sein, Geld zu- sammenzuscharreu. Aber da er sich zu jener Zeit schon als Thronerben betrachten durfte, geschah dies 30 mehr für das darbende Reich, als für seine eigene Person. Und dass er die Leiden der bedrückten Unter- tanen mitempfand und ihre Tjasten nach Kräften zu erleichtern suchte, beweist eine ganze Reihe von Ge-

8. Constantius III. 41

setzen, die unter seinem Einfluss gegeben sind. Der Soldat, dessen Leben immerfort von unberechenbaren Zufällen bedroht ist, hat sich zu allen Zeiten gern unter den Schutz einer höheren Macht gestellt. So

5 war denn auch Constantius ein treuer Sohn der Kirche, erweiterte ihre Rechte und verfolgte, wie sie es ver- langte, Ketzerei und Heidentum. Trotzdem wusste er nicht nur auf die Bischofswahlen entscheidend ein- zuwirken, sondern auch der höchsten kirchlichen Auto-

10 rität gegenüber die Rechte des Staates zu wahren. Als Ende December 418 Papst Zosiraus gestorben war, erhoben zwei Parteien seines Klerus, die eine den Eulalius, die andere den Bonifatius auf den erledigten Bischofsthron, und in Rom begannen jene Krawalle,

15 wie sie bei solchen Gelegenheiten üblich waren. Constantius schlug zunächst den Weg ein, den das kanonische Recht vorschrieb. Er hiess beide Kan- didaten sich einstweilen der Stadt fernhalten und berief ein grosses Concil, das zwischen ihnen entscheiden

20 sollte. Als aber kurz vor dem Osterfest 419 Eulalius ohne Erlaubnis nach Rom zurückkehrte und dort neuen Aufruhr erregte, wurde das Concil abgesagt, und der Kaiser bestimmte aus eigener Machtvollkommenheit, dass Bonifatius als rechtmässiger Papst zu gelten habe.

25 So schnell und mit so kühner Entschiedenheit hatte die weltliche Macht noch nie in die Streitigkeiten der Kirche eingegriffen, wie es unter dem schwachen Honorius geschah, offenbar nicht durch seinen eigenen Entschluss, sondern nur durch die kluge Festigkeit

30 seines Ratgebers.

Als dieser im Sommer 410 zur höchsten Feldherrn- stellung berufen wurde, waren die dringendsten Auf- gaben, die er sich gestellt sah, die Usurpation im o-allischen Reichsteil zu unterdrücken und Italien von

42 Vir. Die Auflösung des Reiclies.

den Gothen zu befreien, die eben damals Rom er- oberten. Zuerst wandte er sich gegen Constautin, weil dieser, durch einen Aufstand in seinem eigenen Gebiete geschwächt, schneller zu besiegen war und die Streit- macht Galliens, wenn sie für Honorius wiedergewonnen 5 wurde, auch den Kampf gegen die Gothen erleichtern musste.

Jener Aufstand war es gewesen, der Constautin im Jahre 409 verhindert hatte, die Hilfe gegen Alarich zu leisten, die Honorius von ihm erwartete (V S. 397). lo Schon gleich im Anfang seiner Regierung hatte sein Feldherr, der Britannier Gerontius, sich grosse Ver- dienste um ihn erworben, indem er den Angriff des Sarus abschlug und dann den Caesar Constaus bei der Unterwerfung Spaniens wirksam unterstützte (V S. 381. 396). Da wurde dieser eiligst zu seinem Vater be- fohlen, der eben über seine Anerkennung mit Honorius in Unterhandlung stand und bei einer so wichtigen Sache den Beirat seines Sohnes und Mitregenten nicht entbehren wollte. Constans liess seinen Hof und seine 20 Gattin, die er als Stammhalter des neuen Herrscher- hauses nach Ablegung der Mönchskutte hatte heim- führen müssen, unter der Obhut des Gerontius in Caesaraugusta zurück und reiste nach Gallien.

Damals, wo der gallische Reichsteil ihm wider- -5 standslos unterworfen, die Germanen zu Bündnissen gezwungen und er auch in Italien durch den legitimen Kaiser anerkannt war, stand Constantin auf dem Höhe- punkte seiner Macht; doch fühlte er sich in ihr nicht sicher. Vor seiner Erhebung hatte sein aufrührerisches '^ Heer zwei Usurpatoren, die es eben erst mit dem Purpur geschmückt hatte, gleich wieder gestürzt und getötet (V S. 378), und auch ihm drohte das gleiche Schicksal, sobald ein Thronkandidat sich fand, der

8. Constantius 111. 43

den Soldaten besser gefiel. Sein erfolgreichster Feld- herr war am meisten zu fürchten. Constantin ver- fügte daher, dass Constans bei seiner Rückkehr nach Spanien den Gerontius seines Amtes entheben und 5 Justus an dessen Stelle setzen solle. Jener aber er- fuhr schon vorher davon und war entschlossen, sich seine Absetzung, hinter der noch grössere Gefahren lauern konnten, nicht gefallen zu lassen. So wurde derselbe Mann, der bisher sein w^irksamster Helfer

10 gewesen war, für Constantin zum gefährlichsten Feinde.

Die Stämme, die er zu Verträgen gezwungen

hatte, wurden durch Gerontius angestiftet, sie wieder

zu brechen und die Plünderung Galliens von neuem

zu beginnen. Doch mit den Franken und Alamaunen

15 war Constantin noch nicht in feindliche Berührung gekommen und durfte daher vou ihnen Hilfe erhoffen. Während sein Sohn Constans mit dem Praefecten Decimius Rusticus sie aufsuchte, um unter ihnen zu werben, wurde sein Feldherr Edobich beauftragt, mit

20 dem Teile des Heeres, der ihm noch treu geblieben war, die bundbrüchigen Völkerschaften zu bekämpfen. Doch zu entscheidenden Schlägen konnte er nicht früher gelangen, als bis die neuen Helfer aus dem Xorden Galliens gewonnen waren.

25 So begann mit Constantin HI. jene Politik, den

einen Barbareustamm gegen den andern auszuspielen, die dem Römerreiclie noch lange Zeit einen Schatten seiner Macht erhalten sollte. Sich selbst zu verteidigen, war es zu schwach geworden; aber seine Feinde

30 hielten nicht zusammen, und indem man bald den einen, bald den andern zum Freunde gewann, Hess sich durch dies schlaue Schaukelsystem die endgiltige Katastrophe doch noch eine Zeitlang aufhalten.

Doch wenn die Barbaren sich bereitfanden, für

44 VII. Die Auflösung des Reiches.

den Kaiser die Waffen zu führen, so geschah dies immer nur für gutes Geld. Um sie zu bezahlen, musste Constantin die Teile Galliens, die ihm noch geblieben waren, furchtbar auspressen, während sie zugleich von den Völkerschaften, die ihre Verträge 5 gebrochen hatten, aufs neue verwüstet wurden. In dieser verzweifelten Lage halfen die Provinzen sich selbst. Ihre waffenfähigen Männer scharten sich zu- sammen, um die feindlichen Raubscharen abzuwehren, versagten aber zugleich dem Herrscher, der sie nicht lo mehr schützen konnte, den Gehorsam und verjagten seine Blutsauger von Beamten. So lösten sich die englische Insel, die Bretagne und andere Provinzen vom gallischen Reichsteil ab und wollten keinem, der den Kaisernamen trug, um sie durch harte Steuern i5 zu erdrücken, weiter zu Willen sein. Constantin sah sich des grössten Teils seiner Hilfsmittel beraubt und wäre wohl schon damals dem Untergänge verfallen, wenn nicht die Barbaren, die ihn vorher bedrängt hatten, ihm selbst etwas lAift geschafft hätten. 20

Wenn früher ein Feldherr durch das Misstrauen seines Herrschers zum Aufstande getrieben war, hatte er selbst nach der Krone gegriffen. Gerontius ver- schmähte sie und liess einen gewissen Maximus zum Kaiser ausrufen. Wahrscheinlich meinte er, dass er 25 sich auf diese Weise noch eine Möglichkeit offen halten könne, um mit Honorius Versöhnung zu suchen. Denn dem unbedeutenden Werkzeuge seiner Macht, dem er den Purpur geschenkt hatte, konnte er ihn ebenso leicht wieder nehmen, wenn der legitime Kaiser 30 sich bereit fand, ihm Amnestie zu gewähren und ihn in seiner Feldherrnstellung zu bestätigen. War er selbst dagegen als Usurpator aufgetreten, so konnte er nicht wieder zu der Rolle des loyalen Untertanen

8. Constantius III. 45

zurückkehren. Seiue nächste Aufgabe aber war, sich Constautin furchtbar zu machen, und dazu hielt er die Mittel in seinen Händen. Denn seit dem Kriege gegen die Verwandten des Honorius (V S. 396) stand noch der

5 grösste Teil des gallischen Heeres in Spanien und fiel ihm ohne weiteres zu. Und um das Unglück vollzumachen, landete eine sächsische Wikingerflotte in Britannien und verheerte das Land, so dass Cou- stantin auch von dort keine Hilfskräfte heranziehen

10 konnte. Unter diesen Umständen war an eine Wieder- eroberung Spaniens nicht zu denken ; er musste sich glücklich schätzten, wenn er Gallien behaupten konnte. Auch dazu aber besass er kein anderes Mittel als die Hilfe der Barbaren, die er erst kurz vorher nieder-

15 gekämpft hatte. So wurde die Kaiserkrone von ihrem guten Willen abhängig, und die Herrschaft bereitete sich vor, die sie bald über den ganzen westlichen Reichsteil ausüben sollten.

Weil die Landschaften, die sie rücksichtslos ver-

20 wüstend durchzogen hatten, ihnen bald nicht mehr die erforderliche Nahrung boten, mussten sie für ihre Plünderzüge immer wieder nach neuen Gebieten streben. Nachdem Gallien leergeraubt war, lockte sie das be- nachbarte Spanien. Auch hier hatte das Landvolk,

25 als es Haus und Hof in Gefahr sah, sich selbst be- waffnet und die Pässe der Pyrenäen tapfer verteidigt. Doch Constans hatte diese bäurischen Krieger unzu- reichend gefunden und sie durch die barbarische Hilfstruppe der Honoriaci ersetzt. Wahrscheinlich

30 aber wurden diese in der allgemeinen Not unregel- mässig bezahlt und schlecht verpflegt; jedenfalls fanden sie es vorteilhaft, als die vereinigten Horden der Vandalen, Alanen und Sueben wieder heranrückten, mit ihnen gemeinsame Sache zu machen und an der

46 VII. Die Auflösung; des Reiches.

Beute Spaniens auch ihrerseits Anteil zu gewinnen. Am 28. September 409 brachen die Germanen ins Land, und Gerontius wird mit ihrer Abwehr genug- zu tun gehabt haben, um sich zunächst noch nicht seg-en Constantin wenden zu können. 5

So gewann dieser Zeit, sein Heer durch die Werbungen des Constans in dem Maasse zu verstärken, dass er an die Wiedereroberung der verlorenen Ge- biete denken konnte. Da bot sich ihm in Italien eine noch stolzere Hoffnung dar. Allobich lud ihn nach lo Ravenna ein, wo er Honorius stürzen und die Herr- schaft über das ganze Westreich gewinnen sollte (V S. 407). Voll freudiger Zuversicht ernannte Con- stantin seinen älteren Solm zum Augustus und über- trug ihm mit der Verwaltung des gallischen Reichs- i5 teils den Kampf gegen Gerontius. Er selbst eilte im Sommer 410 nach Italien; aber noch ehe er den Po überschritten hatte, empfing er die Nachricht von der Ermordung Allobichs. Damit sah er alle seine Hoff- nungen vernichtet und kehrte nach Gallien zurück. 20 Er hatte erwartet, daß die italischen Truppen ihm kampflos zufallen würden und er durch diese Ver- stärkung seiner Kriegsmacht, vielleicht auch durch ein Bündnis mit Alarich, der ja zur Versöhnung mit Kaiser und Reich immer bereit war, auch Spanien 25 und Britannien wiedergewinnen werde. Doch mit dem Aufruhr im Rücken die Herrschaft von Honorius zu erkämpfen, dazu fühlte er sich zu schwach. Und Constantius, der jetzt an Stelle des verräterischen Allobich die Führung des italischen Heeres übernommen 30 hatte, war ein Mann, der die Eigenschaften besass, um den Thron des legitimen Kaisers aus allen Gefahren zu retten.

Da Constans sich in Spanien nicht hatte behaupten

8. Constantius III. 47

könueo, war er nach Gallien zurückgekehrt und traf in Arelate mit seinem Vater zusammen. Wieder be- schloss man, bei den Franken und Alamannen Hilfe zu suchen, und schickte zu diesem Zwecke Edobich

5 an den Rhein. Constans ging nach Vienna, um dort die neuen Hilfstruppen aus grösserer Nähe zu erwarten, während sein Vater iu Arelate zurückblieb. Geroutius aber fiel in Gallien ein und wandte sich, an Arelate vorbeiziehend, zunächst gegen Vienna, weil er durch

10 die Einnahme dieser Stadt Constantin von den erwarteten Verstärkungen abschneiden konnte. Es gelang ihm, die Ermordung des Constans herbeizuführen, vielleicht indem er ihm sein Heer abspenstig machte. Doch als er jetzt gegen Arelate heranzog, näherten sich von

15 der andern Seite her auch die Truppen des legitimen Kaisers, geführt von Constantius und Ulfilas, und die Soldaten des Gerontius fanden es sicherer, mit ihnen Frieden zu machen, als zwei Gegner zugleich zu be- kämpfen. Fast alle fielen sie von ihm ab; nur mit

20 einem kleinen Rest konnte er nach Spanien entfliehen. Aber auch der Teil seines Heeres, der hier zurück- geblieben war, meinte bei Houorius am leichtesten Verzeihung zu finden, wenn er seinen Verführer aus- liefere. Gerontius wurde in seinem Hause belagert

25 und tötete nach heldenmütiger Verteidigung sich selbst.

Unterdessen belagerten die Feldherren des Honorius

Arelate, als sie die Nachricht erhielten, dass Edobich

mit o'ewaltio-en Barbarenhorden heranziehe. Anfangs

waren sie zweifelhaft, ob sie das Heer des Kaisers,

30 der kaum noch andere Truppen besass, der Vernichtung aussetzen dürften, und dachten daran, die Belagerung aufzuheben und nach Italien zurückzugehen. Endlich aber fassten sie doch den Beschluss, den schweren Kampf aufzunehmen, und gingen über die Rhone dem

48 VII. Die Auflösung des Reidies.

Feinde entgegen. Constantius mit dem Fussvolk er- wartete ihn im freien Felde, Ulfilas mit der Reiterei wurde in einen Hinterhalt gelegt. So brach dieser, als kaum die Schlacht begonnen hatte, den Germanen in den Rücken und entschied dadurch den Sieg. Der 5 irrösste Teil von ihnen ergab sich dem Constantius und wurde wahrscheinlich in sein Heer eingereiht. Edobich war zu einem vermeintlichen Freunde ent- flohen; doch dieser ermordete ihn und übersandte seinen Kopf den Feldherren des Kaisers. lo

Noch immer scheint Constantin gehofft zu haben, dass seine barbarischen Verbündeten, wenn ihr erster Angriif auch fehlgeschlagen war, ihm ein z'weites Mal zu Hilfe kommen würden; jedenfalls beharrte er dabei, Arelate zu verteidigen. Da wurde ihm, als die Be- is lagerung schon mehr als drei Monate gedauert hatte, die Kunde überbracht, dass allerdings ein neues Entsatz- heer heranziehe, aber nicht um ihm die Herrschaft wiederzugeben. Die Germanen, die mit ihm Verträge geschlossen hatten, hielten seine Sache für verloren; 20 dem schwächlichen Honorius aber mochten sie sich auch nicht unterwerfen, und das umso weniger, als sie sich seit Jahren gewöhnt hatten, ihn als ihren Feind zu betrachten. Goar und Guntiarius, von denen jener eine alanische, dieser eine burgundische Horde 25 führte, beredeten daher den vornehmen Gallier Jovinus, den Purpur zu nehmen, und versprachen ihm ihre Hilfe. Franken und Alamannen schlössen sich an, und vom Niederrhein her zog die ganze grosse Kriegs- macht gegen Arelate, um erst die Belagerer zu ver- 30 nichten und dann selbst die Belagerung aufzunehmen. Das Unternehmen war höchst aussichtsreich; denn n-elans: es, das Heer des Constantius und Ulfilas gründlich zu schlagen und von den Alpeupässen abzuschneiden.

8. Conistantius III. 49

so gehörte nicht nur Gallien dem neuen Usurpator, sondern auch Italien stand ihm sogut wie wehrlos gegenüber. Sobald Constantin von der Erhebung eines Gegen- kaisers erfuhr, hielt er weiteren Widerstand für nutz- 5 los. Er legte den Purpur ab, Hess sich zum Pres- byter weihen und übergab die Stadt, nachdem ihm Sicherheit seines Lebens zugeschworen war. Aber Honorius fühlte sich durch den Eid seiner Feldherren nicht gebunden. Noch während Constantin, den sein

10 jüngerer Sohn Julian begleitete, nach Ravenna unter- wegs war, wurde ihren Wachen der Befehl über- bracht, beide zu enthaupten (August 411). So fand der Mann ein schmähliches Ende, von dem mau nach seinen Siegen über die Germanen ein Wiedererwecken

15 der römischen Macht erhofft hatte. Ein anderer war

an seine Stelle getreten, der durch die Barbaren,

nicht gegen sie, das Reich behaupten zu können meinte.

Constantius, der es jetzt als seine erste Pflicht

betrachten musste, dem Kaiser sein Heer zu erhalten,

20 scheint bei dem Anmarsch des Jovinus Arelate auf- gegeben und sich nach Italien zurückgezogen zu haben. Jedenfalls bemächtigte sich der Usurpator der Stadt, und da ihm jetzt Gallien bis zu den Alpen gehorchte, fiel ihm auch Britannien zu. Spanien, wo sich der

25 gallische Präfect Dardanus gegen ihn behauptet zu haben scheint, Hess er einstweilen bei Seite liegen: denn es verstand sich von selbst, dass es dem, der Sieger blieb, auf die Dauer nicht widerstehen konnte. Aber wohl in der Hoffnung, mit Hilfe der Gothen

30 Italien zu gewinnen, knüpfte er mit Athaulf, der nach dem Tode Alarichs ihre Führung übernommen hatte, Verbindungen an. Dies sollte für Jovinus verhäng- nisvoll werden, und doch beruht darauf die weltge- schichtliche Bedeutung, die seiner kurzen und ruhm-

Seeck, Untergang der antiken Welt. VI. 4

50 VIT. Die Auflösung des Reiches.

losen Herrschaft zukommt. Denn durch ihn, wenn auch gegen seinen eigenen Willen, veranlasst, traten die Gothen jene ueue Wanderung an, die dem Spanien des Mittelalters seinen Charakter geben sollte.

Bei ihrem unstäten Umherziehen in Italien wer- 5 den sie das Land so gründlich verheert haben, dass es ihre Horden nicht mehr ernähren konnte. Das Bündnis mit Jovinus bot daher Athaulf einen sehr willkommenen Anlass, im J. 412 nach Gallien abzu- ziehen. So aber war es nicht gemeint gewesen; lo denn als Beherrscher Italiens, der auch ihm die Tore der Alpen öffnen konnte, wäre der Gothenfürst dem neugebackenen Kaiser ein sehr wertvoller Helfer ge- wesen; in Gallien dagegen, das ohnehin schon un- geheure Scharen fremder Eindringlinge unterhalten i5 musste, war er ihm nur lästig. Und der Usurpator war unvorsichtig genug, dies nicht zu verheimlichen. Der Gegensatz steigerte sich durch denselben Sarus, der, mit Athaulf von altersher verfeindet, früher auch die Verhandlungen des Honorius mit den Gothen 20 zum Scheitern gebracht hatte (V S. 413). Constautius mag in dem berühmten Krieger einen Nebenbuhler gefürchtet und den Kaiser gegen ihn aufgereizt haben. Jedenfalls sah dieser, als dem Sarus ein naher Freund ermordet wurde, sich nicht veranlasst, darüber eine 25 Untersuchung anzustellen. Die Blutrache musste dem Germanen als Pflicht erscheinen; da sie ihm ver- weigert wurde, bot er voll grimmigen Zornes dem Jovinus seine Dienste an, und dieser hiess einen Mann, dessen uubezwingliche Tapferkeit in aller 30 Munde war, gern willkommen. Doch als Sarus mit kleinem Gefolge nach Gallien kam, lauerte Athaulf ihm auf, nahm ihn nach heldenmütiger Gegenwehr s:efan2:en und liess ihn töten.

8. Constantius III. 51

Jovinus war ein Gallier von vornehmstem Stamm- baum. Obgleich er von den Barbaren auf den Thron erhoben war und g-auz von ihrer Hilfe abhängig blieb, wird ihm doch der Antigermanismus des stolzen

5 Römertums kaum fremd gewesen sein. Durch den Mord eines Mannes, den er in seine Dienste genommen hatte, noch mehr gegen Athaulf gereizt, wollte er ihm seine Unabhängigkeit beweisen. Er hatte .be- schlössen, seinen Bruder Sebastianus zum Mitregenten

10 zu ernennen; aus Gründen, die uns nicht bekannt sind, trat der Gothe dem entgegen, aber Jovinus tat es doch. Wahrscheinlich verliess er sich auf die Hilfe der Burgunder, die ihn auf den Thron erhoben hatten und jetzt zur Belohnung dafür am Ufer des Rheines

15 angesiedelt wurden. Wie es hiess, konnten sie mehr als 80000 Bewaffnete stellen, eine Macht, die zur Abwehr der Gothen mehr als genügend schien; doch dürften sie kaum Zeit gehabt haben, sich zu sammeln und ihren Kriegszug anzutreten, als die Usurpatoren

20 schon von ihrem Schicksal ereilt wurden. Der Prä- fect Dardanus hatte Athaulf dazu bewogen, eine Ge- sandtschaft an Houorius zu schicken, die ihm die Köpfe seiner Feinde versprach, wenn er den Gothen dafür jährliche Kornlieferungen gewähren wolle. Nach-

25 dem der Vertrag zustandegekommen war, wurde Sebastianus, der erst kurz vorher zum Kaiser aus- gerufen war, zugleich mit seinem jüngeren Bruder Sallustius von den Gothen ergriffen, hingerichtet und ihre abgeschlagenen Häupter nach Ravenua geschickt.

?>o Jovinus selbst flüchtete sich in das feste Yalentia, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass die Burgunder ihn befreien würden, rausste sich aber, von Athaulf belagert, bald ergeben. Er sollte lebend dem Honorius zugesandt werden; doch Dardanus Hess ihn zu sich

4*-

52 VII. Die Auflösung des Reiches.

nach Narbo führen und tötete ihn dort mit eigener Hand (Ende Mai oder Anfang Juni 413). Unter- dessen war auch ein Heer des Kaisers, wahrscheinlich unter Führung des Constantius, in Gallien eingerückt, und jetzt w^irde in Arverni (Clermond-Ferrand) über 5 die Anhänger des Usurpators grausam Gericht ge- halten, als plötzlich die Nachricht kam, die Franken hätten Trier überfallen und niedergebrannt. Und gleichzeitig erfuhr man, dass eine noch grössere Ge- fahr den Kaiser in Italien bedroht hatte, die freilich lo überraschend schnell abgewendet war.

Heraclianus, der Stilicho ans Messer geliefert hatte, war für diesen Henkerdienst mit dem Ober- befehl über die africanischen Provinzen belohnt wor- den. Auf die Dankbarkeit des Kaisers vertrauend, i5 hatte er hier in der rücksichtslosesten Weise seinen Beutel gefüllt und selbst die Unglücklichen, die bei der Eroberung Roms übers Meer geflohen waren, mit seinen Erpressungen nicht verschont. Aber es war ihm gelungen, als Attalus nach dem Besitze von 20 Africa strebte, die wichtige Kornprovinz dem Hono- rius zu bewahren (V S. 41ö), und dieses Verdienst wog alle seine Sünden auf. Am 1. Januar 413 durfte er sich sogar mit dem Consulntitel schmücken. Doch um dieselbe Zeit scheint Constantius auf sein Treiben 25 aufmerksam geworden zu sein; Heraclian musste eine Anklage fürchten, die unfehlbar zu seiner Ver- urteilung hätte führen müssen. Um auf den Kaiser zu drücken, begann er die Getreidesendungen zurück- zuhalten. Aber wenn man dies in Ravenna auch ge- 30 wiss peinlich empfand, scheint doch keiner geahnt zu haben, dass Schlimmeres von Heraclian zu be- fürchten war. Im Sommer 413 zog ein grosser Teil des Heeres nach Gallien, und noch am 12. Juni gab

8. Coiistantius III. 53

Honorius ein Gesetz, das für Africa bestimmt war. Unmittelbar darauf muss er erfahren haben, dass Heraelian mit einer ungeheuren Flotte man sprach von 3700 Schiffen bei Rom gelandet war und 5 gegen Ravenna heranzog. Da die Magistri Milituni in Gallien waren, wurde der Comes Domesticorum Marinus mit ihrer Vertretung beauftragt und ging mit dem, was der Kaiser noch an Truppen bei sich hatte, dem Usurpator entgegen. Bei Ocriculum in den

10 Engen der Flaminischen Strasse, die auch ein kleines Heer gegen grosse Übermacht versperren konnte, nahm er seine Stellung. Hier kam es zu einer mör- derischen Schlacht; in Spanien erzählte man sich später, dass nicht weniger als 50000 Mann gefallen

15 seien. Heraelian wurde besiegt, floh auf eines seiner Schiffe und setzte, seine geschlagenen Truppen zu- rücklassend, nach Karthago über. Schon am 5. Juli 413 konnte Honorius sein Todesurteil nach Africa senden, und durch Marinus, der ihn über das Meer

20 verfolgte, wurde es schnell vollstreckt. So verfügte der Kaiser wieder über die reiche Kornprovinz, deren Naturalsteuern er jetzt um so nötiger brauchte, als er eben erst dem Athaulf die Verpflegung seiuer Gothen versprochen hatte.

25 Diese hatte Constantius in Burdigala (Bordeaux)

am fernen Ocean einquartiert; offenbar wünschte man die gefährlichen Freunde nicht zu nah bei Italien zu haben. Und wirklich sollte es, nachdem sie sich dort kaum einige Wochen ausgeruht hatten, schon wieder

30 zu Feindseligkeiten kommen. Galla Placidia, die Halbschwester des Kaisers, hatte in Rom gewohnt und war bei der Eroberung der Stadt von Alarich als Gefangene fortgeführt worden. Honorius verlangte jetzt ihre Auslieferung; doch Athaulf wollte eine so

54 VII. Die Auflösung des Reiches.

wertvolle Geisel nicht aus den Händen geben, ehe die versprochenen Korntribute vollzählig geleistet v^^aren. Dies aber verzögerte sich, weil Africa kaum erst unterworfen war und zudem, durch die Rüstungen Heraclians tief erschöpft, dringend einer gewissen 5 Schonung seiner Steuerkraft bedurfte. Waren doch einzelne Teile des Landes so verödet, dass die Löwen überhand genommen hatten und man ihre Jagd, die vorher kaiserliches Regal gewesen war, allen frei- geben musste. Da so seine Forderungen unerfüllt lo blieben, gab Athaulf Burdigala der Plünderung preis und zog wieder gegen Italien heran. Unterwegs be- mächtigte er sich im Herbst 413 der Stadt Narbo und unternahm dann einen Handstreich auf Massilia. Hier aber wurde er zurückgeschlagen und dabei durch i5 den jungen Bonifatius, der so den Grund zu seinem künftigen Heldenruhm legte, nicht unerheblich ver- wundet. Dies scheint es gewesen zu sein, was seinen weiteren Vormarsch aufhielt. Er liess sich auf neue Unterhandlungen mit dem Kaiser ein, stellte aber für 20 die Auslieferung der Placidia immer schwierigere Be- dingungen. Denn unterdessen hatte er den Plan ge- fasst, sie gar nicht von sich zu lassen, sondern durch sie eine Verbindung mit dem Kaiserhause einzugehn, die seine Stellung innerhalb des römischen Reiches 25 zu einer ganz gesicherten machen sollte.

Auch manchem Römer schien es vorteilhaft, den mächtigen Gothen durch ein Band, das nicht jeden Augenblick zerrissen werden konnte, an die Sache des legitimen Kaisers zu knüpfen. Honorius wurde 30 durch Candidianus, einen seiner Offiziere, dazu über- redet, seine Einwilligung zu der Vermählung des Athaulf mit Placidia zu geben, die im Januar 414 mit grossem Prunk zu Narbo gefeiert wurde. Der

8. Coiistantius III. 55

Gothe erschien dabei in römischer Tracht und Hess, um sich auch darin wie ein gebildeter Römer zu be- tragen, drei lateinische Hochzeitsgedichte, die gewiss nicht kurz waren, über sich ergehen. Um diese Zeit

5 äusserte er Freunden gegenüber, er habe anfangs da- von geträumt, das römische Reich zu vernichten und ein ffothisches an seine Stelle zu setzen. Doch habe er sich überzeugt, dass sein Volk noch zu wild sei, um sich unter Gesetze zu beugen, und ohne diese

10 könne kein rechter Staat bestehen. Er sei daher ent- schlossen, die Kraft der Germanen in den Dienst des römischen Reiches zu stellen, und suche jetzt seinen Ruhm darin, der Wiederhersteller desselben, nicht sein Zerstörer zu sein. So hatte die alte Kultur, mochte

15 sie auch noch so sehr von innerer Fäulnis zerfressen sein, auch diesem rauhen Naturkinde gegenüber ihren Zauber geltend gemacht, und auch er strebte, wie vor ihm so viele Germanen, im Römertum aufzugehn. Damit stand es freilich in seltsamem "Widerspruch,

20 dass Placidia als Morgengabe hundert grosse Teller überreicht wurden, die mit Gold und Edelsteinen aus der Beute Roms gefüllt waren, ein eigentümliches Geschenk für eine römische Kaisertochter. Dass die germanischen Eroberer, die doch nicht Eroberer, son-

25 dern Untertanen sein wollten, in einem höchst wider- spruchsvollen Verhältnis zum Reiche standen, fand auch hierin seinen Ausdruck.

So scheint denn auch die neue Familienverbin- dung die Verhandlungen der beiden Schwäger nur

30 erschwert zu haben; wahrscheinlich erwartete jeder um der Verwandtschaft willen Nachgiebigkeit von dem anderen, und keiner wollte sie erweisen. Honorius wies den Gothen für ihre Ansiedlung Aquitanien zu und glaubte damit wohl genug getan zu haben; sie aber

5(S "VIL Die Auflösung des Reiches.

wollten nicht mühsam den Acker bauen, sondern von africanischem Korn ernährt werden, das nach der langen Misswirtschaft des Heraclianus wohl dem Kaiser selbst kaum in genügender Menge zufloss. Und jene Forderung war um so dringender, als in Gallien, nach- 5 dem seine Felder so viele Jahre hindurch von den Barbaren verwüstet waren, eben damals eine furcht- bare Hungersnot ausbrach. So kam es zwischen den neuen Schwägern bald wieder zu Misshelligkeiten. Noch in demselben Jahre 414, das mit jener Hochzeit 10 begonnen hatte, schuf Athaulf sich einen anderen Kaiser, wie Alarich es früher versucht hatte, und wieder musste der arme Attalus diese undankbare Rolle übernehmen. Als er vier Jahre vorher des Purpurs entledigt wurde (V S. 412), war er, um sich 15 der Rache des Honorius zu entziehen, mit seinem Sohn Ampelius im gothischen Lager geblieben und hatte dort als Ratgeber des Athaulf keinen geringen Einfluss ausgeübt. Bei dessen Hochzeit hatte er dem Barbaren durch künstliche Verse, deren geschraubtes 20 Latein dieser gewiss nicht verstand, zu imponieren gewusst und empfing jetzt als ein Honorar von sehr zweifelhaftem Werte zum zweiten Mal das Diadem.

So brach der kaum beendete Krieg wieder aus. In Italien erwartete man einen neuen Gotheneinfall, 25 und viele flohen von hier auf die dalmatischen Inseln. Doch ob Coustantius ihn abwehrte, ob Athaulf es richtiger fand, sich vor dem Angriff auf Honorius selbst eine sichere Operationsbasis im südlichen Gallien zu schaffen, jedenfalls wandte er sich zunächst nach 30 Westen. Tolosa wurde erobert, Burdigala, obgleich es die Gothen widerstandslos aufgenommen hatte, ge- plündert und verbrannt. Alanische Horden schlössen sich ihnen an, und da in Trier Münzen des Attalus

8. Constautius III. 57

geprägt sind, scheinen auch die Franken mit Athaulf in Verbindung getreten zu sein. Doch unter wilden Barbaren pflegen Bündnisse nicht von langer Dauer zu sein. Als der Alanenkönig Vasates belagerte und

5 dabei hartnäckigen Widerstand fand, wurde ihm der Kampf gegen die Römer leid und er versprach einem befreundeten Unterhändler, zu ihnen überzugehen, wenn man ihm die Tore der Stadt öffnen und so hinter ihren Mauern Schutz gegen die übermächtigen

10 Gothen gewähren wolle. Dies geschah, und Athaulf sah sich durch seinen früheren Bundesgenossen jetzt auch im Rücken bedroht. Trotzdem scheint Constau- tius keine offene Feldschlacht gewagt zu haben; doch besetzte er den Hafen von Arelate, der den ganzen

15 Seeverkehr des südlichen Gallien beherrschte, und schnitt so den Gothen jede Kornzufuhr ab. Die Hungers- not, die im vorhergehenden Jahre geherrscht hatte, dürfte damals noch kaum überwunden gewesen sein, und das um so weniger, als der Wiederbeginn des

20 Krieges die Bestellung der Acker jedenfalls behindert hatte. So sah sich Athaulf durch Nahrungsmauo;el gezwungen, Narbo und die anderen Städte, deren er sich in Gallien bemächtigt hatte, aufzugeben und 415 nach Spanien zu ziehen, wo ihn bald sein Geschick

25 ereilen sollte.

Placidia hatte ihm einen Sohn geschenkt, dem er den Namen Theodosius gab, auch dadurch seine Beziehungen zum Herrscherhause, mit dem er den Frieden immer wieder suchte und doch nie bewahren

30 konnte, scharf betonend. Als das Kind schon bald nach seiner Geburt in Barcelona starb, Hess er es tieftrauerud in einem silbernen Sarge beisetzen, und ein zweiter Sohn der Kaiserstochter sollte ihm nicht beschieden sein. Wie alte Nebenbuhlerschaft um den

58 VII. Die Auflösung des Reiches.

beherrschenden Einfluss bei den Gothen ihn einst zum Todfeinde des Sarus gemacht und diesem endlich das Leben gekostet hatte, so vorher auch einem anderen Gaukönig. Athaulf hatte ihn erschlagen und dann die Unvorsichtigkeit begangen, Dubius, einen Gefolgs- 5 manu seines früheren Gegners, in seine eigenen Dienste zn nehmen. Durch Spott gereizt, erinnerte sich dieser nach langen Jahren, dass er nach germanischer An- schauung seinem alten Herrn Blutrache schuldig sei. Als der Gothenfürst in seinem Marstall zu Barcelona 10 die Rosse betrachtete, nahm jener die Gelegenheit wahr, ihm sein Schwert in den Leib zu stossen (August 415).

Auf dem Sterbebette empfahl Athaulf seinem Bruder, Placidia dem Honorius auszuliefern und mit 15 den Römern Frieden zu schliessen. Doch die Thron- folge war bei den Gothen nicht so fest geordnet, dass derjenige, den er für seinen natürlichen Erben ansah, es auch wirklich geworden wäre. Die Partei des Sarus war unter ihnen nicht ausgestorben und wird 20 durch den Heldentod ihres Führers, der bei germa- nischen Kriegern mitleidige Bewunderung hervorrufen musste, neue Kraft gewonnen haben. So wurde dessen Bruder Segerich zum König gewählt und hielt es für seine erste Pflicht, an den Hinterbliebenen des Athaulf 25 Rache zu üben. Die Kinder, die der ermordete König aus einer früheren Ehe besessen hatte, suchten Schutz bei dem gothischen Bischof Sigesarius, wurden ihm aber mit Gewalt entrissen und getötet. Bei seinem feierlichen Auszuge aus Barcelona liess der neue 30 König Placidia mit andern Gefangenen zwölf Milien weit zu Fuss vor seinem Rosse hergehen. Diese Brutalitäten scheinen die Gothen aufgeregt und einer Gegenpartei Macht verliehen zu haben. Kaum sieben

8. Constantius III. 59

Tage hatte Segerich sich der Herrschaft erfreut, als er ermordet und Yalia auf dem Schild erhoben wurde, der vor allem dafür sorgte, dass jeder, der als Thron- kandidat iu Betracht kommen konnte, abgeschlachtet

5 wurde.

Da auch in Spanien eine Hungersnot ausgebrochen war, hatte Segerich sich der Meinung seines Vor- gängers angeschlossen, dass nur in einem Vertrage mit dem Kaiser, der den Gothen Kornzufuhren sicherte,

10 Kettung zu finden sei. Sie aber hatten das für Feigheit gehalten und erhofften von Yalia neuen Krieg und neues Beutemachen. Und wirklich versuchte er dem Mangel dadurch abzuhelfen, dass er, die Pläne Alarichs wieder aufnehmend, sich der Kornkammer Roms be-

15 mächtigte. An der Strasse von Gibraltar wurde noch im Spätherbst 415 ein Teil seines Heeres nach Africa eingeschifft; doch unterwegs von einem Sturm über- rascht, gingen die Fahrzeuge mit Mann und Maus zu Grunde. Um dieselbe Zeit schlug Constantius einen

20 Angriff, den Valia gegen Gallien richtete, siegreich zurück. Da, als die Heere in den Pyrenäen einander gegenüberstanden, erschien der Agens in Rebus Eu- plutius als Gesandter bei dem Gothenkönig und bot gegen Auslieferung der Placidia, die sich im Lager

25 desselben befand, 600000 Modii "Weizen au, das sind 52 500 Hektoliter. Mit Freuden wurde dies von dem hungernden Volke begrüsst und die Schwester des Kaisers sogleich dem Boten übergeben. Es kam ein Vertrag zustande, durch den Valia sich zur Bundes-

30 hilfe verpflichtete und dafür das Versprechen jährlicher Kornlieferungen empfing.

Die Kosten des Friedensschlusses hatte der un- glückliche Attalus zu tragen. Er wurde zwar nicht ausgeliefert, aber die Gothen entzogen ihm ihren

60 VII. Die Auflösung des Reiclie.s.

Schutz, was ziemlich auf dasselbe herauskam. Er giug zu Schiffe, vielleicht um sich in den östlichen Reichs- teil zu retten, fiel aber der Flotte des Constantius in die Hände und wurde dem Honorius übersandt. Im Frühling 416 feierte dieser einen Triumph in Rom 5 und führte dabei den entthronten Usurpator als vor- nehmste Siegestrophäe mit sich. Dann wurden dem unschuldigen Werkzeuge der Gothen zwei Finger der rechten Hand abgehauen und er auf die Insel Lipara verbannt. 10

Seit die Gothen 412 Italien verlassen hatten, herrschte hier Friede, und nach den Ratschlägen des Constantius klug verwaltet, erholte sich das Land mit überraschender Schnelligkeit. Dazu mochte nicht wenig beitragen, dass aus Gallien und Spanien, wo barba- 15 rische Plünderungen und Hungersnöte wüteten, viele sich dorthin retteten und namentlich in der Haupt- stadt Zuflucht und neuen Unterhalt suchten. So waren die Verwüstungen Alarichs bald vergessen; schon um das Jahr 414 konnte der Stadtpräfect Albinus nach 20 Ravenna melden, dass in Rom an einem einzigen Tage 14000 Kinder geboren seien und dass die Korn- sendungen aus Africa zur Ernährung dieser Volks- menge nicht mehr ausreichten. Auch in Gallien scheint nach dem Abzüge der Gothen (415) Ruhe 2s eingekehrt zu sein. Für die Plünderzüge der Franken und Alamannen mochte das verwüstete Land nicht viel Lockendes mehr bieten: sie scheinen sich in den nächsten Jahren ruhig verhalten zu haben. Und die Alanenhorde, die, anfangs mit den Gothen verbündet, 30 dann zu den Römern abgefallen war (S. 57), dürfte Constantius in seine Dienste genommen haben. So konnte man auch hier die Bebauung der verödeten Felder und die Herstelluno- der Stadtmauern wieder

8. Constantius IJl. 61

in Angriff nehmen, und bald war es sogar möglich, dem Lande wieder schwere Steuern abzuverlangen. Über Britannien schweigt die Überlieferung ganz; es scheint dem römischen Reiche fast ebenso fremd ge- 5 worden zu sein, wie vor seiner Unterwerfung durch Claudius. Spanien dagegen ist jetzt zu dem Kriegs- theater geworden, auf dem sich der Kampf der Römer und Barbaren und der Barbaren untereinander ganz vorzugsweise abspielt.

10 Als Gerontius 411 das Land verliess, um gegen

Constantin III. zu Felde zu ziehen (S. 47), war der geringe Rest der römischen Truppen, der dort zum Schutze des Usurpators Maximus zurückblieb, sehr bald vor den Barbaren nach Africa ausgewichen und

15 dann nach Italien kommandiert worden, um das Heer des Constantius zu verstärken. Waren die Einwohner vorher von den Soldaten und Steuererhebern der Usurpatoren fast noch ärger geplündert worden, als von den Barbaren, so blieben sie jetzt diesen allein

20 überlassen, was sie zunächst wohl als Erleichterung empfanden. Durch Hunger und Pest entmutigt, be- schlossen die Eindringlinge, sich nicht länger unter- einander zu raufen, sondern ganz Spanien friedlich unter die einzelneu Völkerschaften zu teilen, wobei

25 man Kaiser und Reich nicht fragte, sondern nur das Loos entscheiden liess. Den Sueben und der Haupt- masse der Yandalen unter König Gunderich fiel der nördliche Teil zu, den Alanen der mittlere, den silin- gischen Yandalen der südliche. Von den römischen

30 Städten waren viele ganz vernichtet, indem man ihre Einwohner, soweit sie nicht hatten fliehen können, teils erschlagen, teils in die Sklaverei geschleppt hatte; die übrigbleibenden unterwarfen sich den fremden Herren. Man begann, sich miteinander einzuleben:

62 VlI. Die Auflösung des Reiches.

die Bai'baren wurden durch den Huno^er grezwuno-en, selbst den Pflug in die Hand zu nehmen, und die Römer waren nicht unzufrieden, dass sie keine drückenden Steuern mehr zu zahlen hatten und von den räuberischen Beamten des Kaisers verschont 5 blieben.

Dieser friedliche Zustand wurde 415 durch den Einbruch der Gothen zerstört, die sich nicht nur um Barcelona niederliessen, sondern einzelne Scharen so- gar bis an die Meerenge vorschickten (S. 59). Als lo dann Valia Anfang 416 jenen Vertrag mit Constantius schloss, scheint er zum Magister Militum ernannt zu sein und als solcher den Auftrag empfangen zu haben, Spanien dem Kaiser zu unterwerfen. Sogleich wandte er sich nach Süden und bekämpfte zuerst die Alanen, is dann die silingischen Yandalen. Beide und ebenso die Yandalen des Gunderich und die Sueben erkannten jetzt Honorius als Oberherrn an. Dadurch aber liess sich Yalia nicht in seinen Eroberungen stören und wurde dabei durch Constantius wirksam unterstützt. 20 Im Jahre 417 fing dieser durch List den König der Yandalen Fredbai und schickte ihn nach Ravenna. 418 wurden die Silingen völlig ausgerottet und so der Süden der Halbinsel den Römern und den Gothen ganz gewonnen. Dann bekriegte Yalia die Alanen; 25 ihr König Addax fiel in der Schlacht, und das Yolk wurde so zusammengehauen, dass es seine Selbstän- digkeit nicht mehr behaupten konnte. Die Reste ver- zichteten darauf, sich einen neuen Herrscher zu wählen, und schlössen sich Gunderich an. Jetzt meinte Con- so stantius, die Yerwaltung Spaniens wieder für das Reich übernehmen zu können, und rief die Gothen nach Gallien zurück. Sie folgten, weil sie noch immer auf die Kornlieferuns-en der Römer anoewiesen

8. Coustantius III. 63

waren und sie nicht durch Ungehorsam verscherzen durften. Auch mochte ihnen ein Land, das sich durch einen dreijährigen Frieden erholt hatte, besser be- hagen als Spanien, das ihre mörderischen Kämpfe

5 jedenfalls schrecklich verwüstet hatten. Ihnen wurde das Gebiet von Tolosa bis an den Ozean zugewiesen, in erster Linie die Provinz Aquitanica secunda, über deren Grenzen sie nur wenig hinausgreifen durften. Denn weder die Pässe der Pyrenäen noch die Über-

10 gänge über die Rhone wollte Constantius in ihren Händen lassen. In den neuen Sitzen seines Volkes starb Valia noch im Jahre 418, und Theodorich wurde an seine Stelle gewählt.

Durch den Abzug der Gothen war Gunderich, der

15 sich jetzt König der Vandalen und Alanen nennen durfte, der mächtigste Barbarenfürst Spaniens ge- worden. Er benutzte dies, um schon Ende 418 jenen Maximus, der, nach dem Sturze des Gerontius ab- gesetzt, im Lager der Barbaren eine Zuflucht ge-

20 sucht hatte, zum zweiten Mal auf den Thron zu er- heben. Dann wandte er sich gegen seine Nachbarn, die Sueben, drängte sie 419 ins Gebirge zurück und hielt sie hier belagert. Wahrscheinlich hätte er sie durch Abschneiden aller Zufuhren zur Unterwerfung

25 gezwungen, wenn nicht ein römisches Heer unter Asterius ihnen zu Hilfe gekommen wäre. Zum Ab- züge gezwungen, suchte Gunderich für sein Volk Wohnsitze, die von denen aller germanischen Neben- buhler möglichst weit entfernt waren, und siedelte es

30 daher im äussersten Süden Spaniens an. So gelang es dem römischen Feldherrn, sich des Maximus zu bemächtigen; als Honorius am 23. Januar 422 in Eavenna das Jubiläum seiner dreissigj ährigen Re- gierung feierte, wurde der Usurpator in Fesseln zur

64 VII. Die Auflösung des Reiches.

Schau gestellt und dann hingerichtet. Noch in dem- selben Jahre wurde der Magister Militum Castinus mit einem grossen Heere, dem sich auch gothische Scharen angeschlossen hatten, zur Bekämpfung der Yandalen nach Spanien geschickt. Er schloss sie ein 5 und trieb sie durch Hunger soweit, dass sie nahe daran waren, sich zu ergeben. Doch ohne dies ab- zuwarten, strebte er ungeduldig nach einem schnelleren Erfolg und stellte sich ihnen zur Feldschlacht. Da- bei wurde er durch den Verrat seiner Hilfsvölker 10 besiegt und musste nach Tarraco fliehen. Die Van- dalen blieben Herren in Südspanien, und wie wir später sehen werden, liaben sie sich von dort aus Africas bemächtigt, das schon so lange für die Ger- manen das Ziel der heissesten Wünsche war. 15

Unterdessen war Constantius immer höher ge- stiegen. Für die Unterdrückung der gallischen Usur- pation wurde er mit dem konfiszierten Vermögen des Heraclianus und dem Consulat von 414 belohnt, für die Vertreibung der Gothen aus Gallien mit dem Titel 20 des Patricius, für den Vertrag, den er mit Valia schloss, durch ein zweites Consulat und die Hand der Kaisertochter, die er aus der Gefangenschaft befreit hatte. Sie war von streng christlicher Gesinnung, und da die Kirche jener Zeit die zweite Heirat einer 25 Witwe verurteilte, sträubte sie sich gegen diese Ehe; darauf aber nahm Honorius keine Rücksicht. Am

1. Januar 417, demselben Tage, an dem Constantius sein zweites Consulat autrat, wurde sie zu Ravenna vollzogen. Placidia gebar ihrem neuen Gatten zuerst 30 eine Tochter, die Justa Grata Honoria, dann am

2. Juli 419 den Placidus Valentinianus. Ausser den regierenden Kaisern war dies der einzige männliche Spross, den das Herrscherhaus aufzuweisen liatte, und

8. Constantius III. 65

sollte es bleiben. Honorius freute sich so über seine Geburt, dass er Constantius für das folgende Jalir (420) ein drittes Consulat verlieh, und um dessen Sohn die Thronfolge zu sichern, ihn selbst am 8- Fe- 5 bruar 421 zum Augustus ausrufen Hess. Gleich darauf erhielt auch Placidia den Titel Augusta, ihr Sohn den des nobilissimus piier, der freilich nur seine kaiser- liche Abstammung, noch nicht sein Thronrecht zum Ausdruck brachte. Theodosius IL hatte bei der

10 Kinderlosigkeit des Honorius hoffen können, dass seine Nachkommenschaft allein in Zukunft das römische Reich beherrschen werde, und weigerte sich daher anfangs, das Kaisertum des Constantius anzuerkennen. Voll Zorn rüstete dieser schon zum Kriege gegen das

15 Ostreich, als man dort noch im letzten Augenblick nachgab. Doch ist es fraglich, ob man dies in Ra- venna noch bei Lebzeiten des neuen Herrschers er- fuhr; denn schon am 2. September 421 ereilte ihn ein früher Tod.

20 So war der Mann dahingegangen, der schon seit

elf Jahren die Herrschaft über das Westreich in starker Faust gehalten hatte, wenn er gleich nur sieben kurze Monate den Titel des Herrschers trug. Honorius war wieder auf sich selbst angewiesen, und alsbald machte

25 der Verfall des Reiches weitere Fortschritte. Wie einst die Ermordung Julians allen Feinden neuen Mut ge- geben hatte (V S. 22), so jetzt der Tod des Constan- tius. Kaum war die Nachricht davon nach Gallien gedrungen, so regten sich die Franken wieder. Die

30 Gothen begannen über die (irenzeu, die er ihren An- siedlungen gesteckt hatte, hinauszugreifen; allmählich dehnten sie ihre Sitze bis zur Rhone und Ijoire aus, und Tolosa, das früher die Grenze ihres Gebiets be- zeichnet hatte, wurde zum Mittelpunkt desselben. Li

Seeck, Untergang der antiken Welt. VI. O

66 ^ 11- Di<? Auflösung des Reiches.

Spanien wurde Castinus geschlagen; die Vaudalen erkannten die Oberhoheit des Kaisers nicht mehr an, und wahrscheinlich werden die Sueben sehr bald ihrem Beispiel gefolgt sein. So war der grösste Teil der Länder, die jonseit der Alpen lagen, nicht nur tat- b' sächlich vom Reiche unabhängig, sondern hatte seine Unabhängigkeit auch offiziell erklärt. Und was viel- leicht das schlimmste war, auch das einzige Mittel, durch das mau die Abhängigkeit der Germanen er- kaufen konnte, das Korn Africas, drohte zu versagen, lo Der junge Bonifatius, der sich im Kampfe gegen Athaulf so glänzend ausgezeichnet hatte (S. 54) und dadurch zu Ruhm und Eiufluss gelaugt war, mochte dem Feldherrn Castinus ein gefährlicher Nebenbuhler scheinen. Er sollte ihn 422 nach Spanien begleiten, is doch noch vor dem Aufbruch des Heeres kam es zwischen ihnen zu Misshelligkeiten, und Bonifatius musste die Nachstellungen seines Vorgesetzten fürchten. Da floh er aus Ravenna nach dem Hafen von Rom, setzte vou hier nach Africa über und bemächtigte 20 sich auf eigene Faust des Oberbefehls über die dort stehenden Truppen. Zwar nahm er weder selbst den Purpur, noch versagte er dem Kaiser formell den Gehorsam; aber da man nicht daran denken konnte, ihn abzuberufen, blieb die Ernährung Italiens und seiner 2:. Heere auf die Gnade des jungen Aufrührers angewiesen. Wäre die Verwaltung des Reiches noch eine ein- heitliche gewesen, so hätte die Macht des Ostens vielleicht auch dem Westen seine Ruhe wiedergeben können. Aber Theodosius IL spielte zwar zeitweilig no mit dem Gedanken, sich auch des Thrones von Ra- venna zu bemächtigen; doch die Pflichten auf sich zu nehmen, die dies mit sich gebracht hätte, hatte er weder den Willen noch die Kraft.

Neuntes Kapitel.

Die Weiberlierrscliaft.

Während nach dem Tode des Arcadius Alarich in Italien einfiel, hatten die Hunnen auch den östlichen Reichsteil bedroht; doch war ihr Zweck nicht Ansiede- lung, sondern nur Erpressung gewesen. Wer von

5 ihnen als Gesandter oder Söldner die Prachtgebäude Constautinopels gesehn, vielleicht gar den Kaiser selbst im Glänze der purpurnen Seidengewänder und strah- lenden Edelsteine zu Gesicht bekommen hatte, der wusste daheim von Wundern zu erzählen, die seinen

10 halbnackten Volksgenossen in ihren elenden Zeltlagern ganz märclienhaft erscheinen mussten. Auf diese Weise wurde die barbarische Habgier immer wieder ang-ereot, und da man den Reichtum der schwachen Römer für unermesslich hielt, war man geneigt, ün-

15 mögliches von ihnen zu fordern. So hatte es Uldin gemacht, als er im Jahre 408 den Frieden brach; doch gutes Geld hatte die Mehrzahl seiner Mitstreiter zum Abfall verlockt, und nur unter schweren Ver- lusten hatte er sich über die Donau retten können

20 (V S. 409). Dies schreckte in der nächsten Zeit die Hunnen von grösseren Unternehmungen gegen das römische Reich zurück. Und auch den kleineren Raubzügen war wohl dadurch vorgebeugt, dass in den

5*

(;8 VII. Die Auflösung des Reiches.

Donaulandschafteu, die schon seit melir als vierzig Jahren immer wieder verheert waren, sieh kaum noch etwas finden Hess, das zum Beutemachen gelockt hätte. So wurde ihre gründliche Verwüstung zum Schutze für die südlicheren Gegenden, und das Ostreich durfte 5 sich lange Zeit eines leidlich ungestörten Friedens erfreuen.

Dies hatte zur Folge, dass die Vormundschaft, die auch hier erforderlich war, eine andere Gestalt annahm als im Westen. Während in den Kriegs- 10 stürmen, die diesen durchtobten, nur ein Feldherr die höchste Macht behaupten konnte, fiel sie in Constanti- nopel Civilbeamten und endlich gar Frauen zu. Der Praefect Anthemius, der schon in den letzten Jahren des Arcadius der eigentliche Beherrscher des Ostreiches 15 gewesen war, blieb es auch unter dem kleinen Theo- dosius. Noch immer bildete das ganze Gebiet der Römermacht der Idee uach eine untrennbare Einheit; noch immer wurden alle Gesetze und Verordnungen mit den Namen beider Kaiser überschrieben, und 20 von Britannien bis nach Syrien und Ägypten hinüber gaben dieselben Consuln den Jahren ihre Namen. Doch um diesen idealen Zusammenhang kümmerte sich Anthemius sehr wenig; nur einmal hat er dem Westreich in seinen schweren Nöten Kriegshilfe 20 geleistet und das mit nicht mehr als 4000 Mann (V S. 409). Doch Constantinopel schützte er 413 durch eine neue Mauer, die auch die Vorstädte umschloss und nach seinem Sturze 439 noch erweitert wairde, und sorgte auch sonst für die Befestigung der Städte, 30 die den Einfällen der Hunnen ausgesetzt waren. Im übrigen regierte er nach der althergebrachten Weise, bis ihn sein Schicksal ereilte.

Am 19. Januar 414 vollendete die älteste der

9, Die Weiberlierrschaft. 69

kaiserlichen Schwestern Pulcheria ihr fünfzehntes Jahr und meinte in diesem ehrwürdigen Alter vollkommen imstande zu sein, die Zügel der Regierung selbständig in die Hand zu nehmen. Schon als Dreizehnjährige 5 hatte sie ihren Bruder, obgleich er nur zwei Jahre jünger war, sehr energisch bemuttert und setzte es jetzt bei ihm durch, dass sie am 4. Juli 414 zur Augusta ausgerufen wurde. Anthemius musste die Praefectur, nachdem er sie fast zehn Jahre bekleidet

10 hatte, niederlegen, und seine Nachfolger hatten sich nach dem zu richten, was ein kaum erwachsenes Mädchen befahl.

Pulcheria hatte sich und ihre Schwestern ewiger Jungfrauenschaft gelobt und verkündete dies auch

15 gleich der Welt durch die Inschrift eines Prachtaltars aus Gold und edeln Steinen, den sie in der Haupt- kirche von Constantinopel weihte. Kaum hatte sie sich der Regierung bemächtigt, so wurde bei strenger Strafe verboten, dass ein Witwer die Schwester seiner

20 verstorbenen Frau, eine Witwe den Bruder ihres frühereu Mannes heirate. So hinderte ein überspannter Keuschheitsbegriff gerade die Ehen, die ohne jeden Zweifel die natürlichsten und angemessensten sind. Bald bewies auch eine lange Reihe von Gesetzen gegen

25 Ketzer und Juden, eine wie gute Christin die neue Augusta war. Im Kaiserpalast ging es her wie in einem Kloster: täglich hörte man die Geschwister schon vor Tagesanbruch Hymnen singen, und soweit die frommen Damen nicht durch Gottesdienst oder

30 Regierungsgeschäfte in Anspruch genommen waren, sassen sie nach ürvätersitte beim Webstuhl oder anderer Handarbeit. Pulcheria wurde von ihrem Gott mit weissagenden Träumen begnadet und war nicht wenig stolz darauf, als ihr auf diese Weise enthüllt

70 VII. Die Auflösung des Reiches.

wurde, wo die Reliquien von vierzig, verschollenen Märtyrern in der Erde lagen. Doch ihren Bruder zum Manne zu erziehen, war ihr nie eingefallen; auch wäre ihr dies bei seiner dürftigen Natur kaum gelungen. Zwar durfte er sich den hergebrachten Waffeuübuugen, 5 die das Heer von seinem Kaiser verlangte, nicht ent-- ziehen; auch lernte er Hunger und Durst, Hitze und Kälte ertragen, aber nur im Sinne der christlichen Askese, nicht der kriegerischen Tüchtigkeit. Jeden- falls hielt er es bei keinem seiner Kriege für nötig, lo sich persönlich an die Spitze seiner Truppen zu stellen, und hat sich überhaupt fast niemals zu dem Ent- schlüsse aufraffen können, seinen gewohnten Sitz in Constantinopel zu verlassen. In echt weiblicher Art di'essierte ihn Pulcheria vor allem für die Ausserlich- 15 keiten der Herrschaft. Wie ihr Lobreduer Sozomenus erzählt, übte sie ihn darauf ein, wenn er sich auf der Strasse zeigte, feierlich und königlich zu erscheinen. Er lernte, welche Kleidung man bei jeder Gelegenheit antun müsse, wie man zu sitzen habe und zu schreiten 20 und sein Lachen zu beherrschen, wie man, je nachdem, mild oder schrecklich scheinen und in ziemlicher Form die Bittsteller befragen müsse. Natürlich fehlte ihm auch der rhetorische Unterricht nicht; er galt für einen kundigen Beurteiler literarischer Leistungen und hatte 25 in sein armes Hirn allen Gedächtniskram, der seiner Zeit für wissenswert galt, hineinstopfen müssen; vor allem wusste er eine Menge Bibelsprüche auswendig. Doch wenn er bis tief in die Nacht hinein bei den Büchern sass, so geschah dies weniger, um sich an ;io ihrem Inhalt zu erbauen, als um sie hübsch sauber abzuschreiben. Dadurch zeichnete er nicht etwa seine Lieblingsdichter aus, sondern auch so trockenes Zeug, wie die dickleibig-e Grammatik des Priscian und das

9. Die Weiberlierrscliaft. 71

geographische Handbüchlein des Solinus, ist vom Kaiser höchsteigenhändig kopiert worden. Es war eben nur die stumpfsinnige Freude am Malen schöner Buch- staben, mit der sein überfüUtes und doch leeres Hirn 5 am besten die Langeweile des frommen Hofes zu ver- treiben meinte. Denn so fleissig er als Schreiber war, so träge vernachlässigte er die Geschäfte der Re- gierung. Man erzählte sich von ihm, dass er alles, was ihm vorgelegt werde, unterschreibe, ohne es zu

10 lesen. So konnten Pulcheria und ihre Günstlinge machen, was sie wollten. Am Hofe wurde der scham- loseste Ämterschacher getrieben, und wer sich ein Pöstchen teuer erkauft hatte, sorgte natürlich dafür, das Geld mit Zinsen aus den Untertanen heraus-

15 zuschinden. Führte dann jemand Klage, so konnte er bei der allgemeinen Bestechlichkeit meist froh sein, wenn er selbst mit heiler Haut davonkam. Wie mau den höchsten Wert darauf legte, dass Theodosius bei seinem öffentlichen Auftreten imponiere und gefalle,

20 so suchte man ihn auch durch häufige Veranstaltung von Spielen bei der Bevölkerung Constantinopels populär zu machen. Doch die Mittel dazu musste man durch den härtesten Steuerdruck aus den Pro- vinzen herauspressen. Dabei war der Kaiser persönlich

25 von rührender Milde und Gutmütigkeit. Da bei seiner nächtlichen Schreiberarbeit das Ol der Lampe immer wieder nachzufüllen war, Hess er für diesen Zweck eine automatische Vorrichtung schaffen, um keinem seiner Diener den Schlaf zu rauben. Mit Wissen und

ao Willen hat er nie ein Todesurteil vollziehen lassen. Die Rache kannte er nicht, und der Zorn konnte ihn ebensowenig aus seiner feierlichen Ruhe bringen, wie Lust oder Schmerz. Doch diese stoische Freiheit von jeder heftigen Leidenschaft beruhte nicht nur auf au-

72 ^'JI- Die Auflösung des Reiches.

dressierter Selbstbeherrschung, sondern mehr noch auf matter Schlaffheit des Charakters.

Wie dekadente Schwächlinge seiner Art pflegen, suchte auch er für seine innere Haltlosigkeit eine Stütze in der Religion. Als ihm ein Sieg gemeldet 5 wurde, während er eben den Circusspielen zuschaute, Hess er sie unterbrechen und zog mit der ganzen Volksmenge Hymnen singend in die Kirche, und das- selbe wiederholte sich, als einmal bei den Wettrennen ein starker Schneefall den Zorn Gottes zu verkünden lo schien. Nachdem ein Bischof, der im Rufe des Asketen stand, in Constantinopel gestorben war, verschaffte er sich dessen Büssergew^and, um es trotz seines ekel- haften Schmutzes selbst anzulegen und dadurch etwas von der Heiligkeit des Verschiedenen auf sich zu is übertragen. Eifrig schmückte er die Kirchen mit kostbaren Weihgeschenken und glaubte gern den Ver- sicherungen seiner Priester, dass das Glück seiner Regierung einzig von seinen Gebeten abhänge. Seine Schwester hatte ihn gelehrt, sich in abergläubischer 20 Ehrfurcht vor Geistlichen und Mönchen zu beuaen, und dies entsprach auch seiner eigenen Natur, die der Abhäugigkeit bedurfte. Öffentlich hat er erklärt, einem Bischof keine Befehle geben zu können, und wenn er trotzdem immer wieder mit sehr ungeschickter 25 Hand in die kirchlichen Streitigkeiten eingriff, so geschah dies wohl nur auf das Drängen der kaiser- lichen Damen.

Weiberherrschaft ist meist auch Pfaffenherrschaft. Es war daher ein Glück, dass Atticus, der seit dem so Jahre 40(^ die Bischofswürde von Constantinopel be- kleidete und daher auf den Hof grossen Einfluss aus- üben konnte, nicht zu den wilden Eiferern der Ortho- doxie gehörte. Ein frommer Asket von massiger

9. Die Weiberherrschaft. 73

Bildung, war er kein glänzender Prediger, aber auch kein scharfer Dogmatiker, und sah daher seine Auf- gabe mehr in den Werken christlicher Wohltätigkeit, als in der Verbreitung der rechtgläubigen Lehre. Da

5 er selbst als Macedonianer erzogen und erst in reiferem Alter zur herrschenden Kirche übergetreten war, suchte er Ketzer und Sektierer durch Freundlichkeit zu gewinnen, nicht durch Verfolgungen zu quälen. So durfte man denn auch au Theodosius, wenigstens

10 in den Anfängen seiner Regierung, rühmen, dass er Andersgläubige zu dulden wisse und den Verfolgungs- süchtigen abgeneigt sei.

Den meisten dogmatischen Fragen, die im vierten Jahrhundert die Gemüter der orientalischen Geistlich-

J5 keit so wild erregt hatten, war im fünften das Auf- stachelnde des Aktuellen schon geraubt, und auch die neu auftauchenden wurden minder ernst genommen. Ohne Zweifel war der Streit, ob Gott in menschlicher Gestalt zu denken sei oder als rein geistige Substanz

20 das ganze Weltall erfülle, an sich viel wichtiger als die kindische Zänkerei, ob Vater und Sohn wesens- gleich oder nur wesensähnlich oder gar unähnlich seien. Und doch hatten Arius und seine Gegner die ganze christliche Welt in feindliche Parteien zerspalten,

25 während in der origenistischen Frage Johannes Chry- sostomus jede Stellungnahme zu vermeiden suchte, und auch die Concilien, die ihn verurteilten, einer klaren Entscheidung aus dem Wege gingen (V S. 347. 351. 360). Vielleicht können wir auch das als ein

30 Zeichen der immer tiefer sinkenden Geisteskraft be- trachten, dass man sich nicht mehr mit so hitzigem Eifer in theologische Forschungen vertiefte: doch ohne Zweifel wirkte es segensreich. Zwar dass die Arianer und was es sonst an älteren Sekten gab, böse Ketzer

74 VII. Die Auflösung des Reiches.

seien, stand fest durch die Überlieferung der Väter, an der keiner zu rütteln wagte. An Gesetzen gegen sie hat es auch in dieser Zeit nicht gefehlt; doch wie es scheint, war deren Beobachtung sehr lau und un- gleichniässig. Denn auch jene Sünder hatten ja ihre 5 Lehren nicht neu erfunden, sondern von ihren Vätern ererbt, und darin lag ein versöhnendes Moment. Man hatte sich mit ihnen eingelebt und musste im täglichen Verkehr bemerken, dass sie doch nicht ganz so schlimme Teufelsbraten waren, wie Athanasius und lo seinesgleichen verkündet hatten. So begann man sie hinzunehmen als etwas, was einmal da war und, wie viele Versuche zeigten, sich durch keine Unterdrückung ausrotten liess. Und auch sie selbst hielten an ihren Ketzereien mehr aus erblicher Gewohnheit, als aus 15 heiliger Überzeugungstreue fest, und ging ihr Bischof ihnen voran, so Hessen sie sich ohne grosse Schwierig- keit bewegen, davon abzufallen.

Eine sehr merkwürdige Tatsache, die uns zufällig überliefert ist, gibt den Beweis dafür. In dem phry- 20 gischen Synnada gehörte ein grosser Teil der Be- völkerung der Sekte der Macedonianer an, die hier einen eigenen Bischof besass und längere Zeit wenig beunruhigt wurde. Da begann ein gewisser Theodosius, der die orthodoxe Kirche der Stadt als Bischof leitete, ^5 den kleinen Athanasius zu spieleu und die Ketzer nach Kräften zu malträtieren. Weil die Beamten der Provinz, denen diese Störung des konfessionellen Friedens sehr unbequem war, den Eiferer nicht ge- nügend unterstützten, reiste er nach Constantinopel, w um hier zu seinen Gunsten Befehle des Präfecten zu erwirken. Während seiner Abwesenheit versammelte der macedonianische Bischof Agapetus seinen Klerus und bewog ihn, das orthodoxe Dogma anzunehmen.

9. Die Weiberlierrscliaft. 75

Auch seine Gemeinde hatte nichts dawider, und die Rechtgläubigen der Stadt begrüssten diese Herstellung der Glaubeuseinheit mit um so grösserer Freude, als ihnen die Scharfmacherei des Theodosius längst zu- 5 wider gewesen war. Als dieser heimkehrte, fand er zwar die Bekehrung der Ketzer, für die er gewirkt hatte, über alles Erwarten gelungen, aber nicht zu seiner Freude. Denn Agapetus hatte sich seines Bischofsthrones bemächtigt, und er wurde mit höhni-

10 schem Jubel aus der Kirche verjagt. In heller Wut ging er wieder nach Constantinopel und führte bei Atticus Klage. Dieser aber ermahnte ihn, sich des glücklichen Erfolges seiner orthodoxen Bemühungen zu freuen und um der Kircheneinheit willen auf sein

ii> fettes Bistum zu verzichten, wozu er sich denn auch seufzend und zähneknirschend entschloss.

Natürlich war die Überlieferung christlicher Intole- ranz zu fest, als dass er der einzige orthodoxe Eiferer hätte sein können, und nicht alle wurde mau auf so

20 glückliche Weise los. Namentlich bewahrte Alexandria auch jetzt seinen alten Gegensatz zu Constantinopel, indem der dortige Bischof Cyrillus, auf Pulcherias Gunst gestützt, die Fahne des Athanasius hochhielt. Er war ein Neffe des Theophilus und hatte dessen

25 rücksichtslose Herrschsucht geerbt. Als dieser am 15. Oktober 412 gestorben war, hatte er unter wilden Strassenkämpfen, in die auch die Truppen eingreifen mussten, seine Wahl auf den erledigten Thron durch- gesetzt, und eine seiner ersten Amtshandlungen war

30 gewesen, dass er die Bethäuser der Novatianer schliessen liess und sich nicht nur ihres Kirchenschatzes sondern auch des Privatvermögens ihres Bischofs Theopemptus bemächtigte. Denn das Geld schätzte er so hoch, dass er selbst die Bistümer Ägyptens feilbot. Eine reiche

76 VII. Die Auflösung des Reiches,

Einnahmequelle und zugleich ein wichtiges Machtmittel boten ihm die Krankenwärterstelleu, da die Hospitäler von Alexandria als wohltätige Stiftungen unter seiner Aufsicht standen. Weil nämlich ihr Dienst nicht nur ein hübsches Einkommen brachte, sondern wahrschein- 5 lieh auch vom Decurionat und anderen Staatslasten befreite, drängten sich auch reiche und vornehme Leute dazu und erkauften die Aufnahme in die Körper- schaft mit barem Gelde. Denn grosse Anstrengungen brauchte man ihnen nicht zuzumuten, schon weil lo Cyrillus ihre Zahl auf nicht viel weniger als tausend erhöht zu haben scheint. Und alle die Hunderte, die Krankenwärter hiessen, tatsächlich aber auf den Strassen Alexandrias müssig lungerten, bildeten für den Bischof eine handfeste Leibwache und waren höchst geeignet, i5 Krawalle hervorzurufen und anzuführen. So dienten auch die Wohltätigkeitsanstalten den Zwecken der Kirche in einer Weise, an die ihre Stifter gewiss nicht gedacht hatten.

Nachdem Cyrillus mit den Novatianern fertig war, 20 wandte er sich gegen die Juden, die einen sehr grossen Bruchteil der Bevölkerung von Alexaudria bildeten. Wenn er predigte, pflegte der Schulmeister Hierax bei den „schönen Stellen" das Zeichen zum Händeklatschen zu geben. Au einem Sabbat, an dem die Juden zahl- 25 reich im Theater versammelt waren, stiftete dort jener Führer der bischöflichen Claque einen Aufstand gegen sie an, den Orestes, der Praefect von Ägypten, nur durch die grosse Beliebtheit, deren er beim Volke genoss, mit Mühe unterdrücken konnte. Als dieser 30 bei einer späteren Vorstellung in seiner Loge amtliche Schriftstücke ausfertigte, drängten sich Freunde des Cyrillus an ihn heran und guckten ihm über die Schultern, um auszuspionieren, ob er nichts gegen ihren

9. Die Weiberherrscliaft. 77

Bischof schreibe. Unter ihuen erblickte man auch den Hierax, und die Juden, die im Theater sassen, schrien laut, dieser sei nur gekommen, um aufs neue gegen sie zu hetzen. Darauf Hess Orestes, den schon

5 die zudriugliche Neugier des Schulmeisters geärgert hatte, ihn ergreifen und vor den Augen des ver- sammelten Publikums abstrafen. Dies nahm Cyrillus zum Anlass, um die Häupter der Judengemeinde vor- zuladen und hart zu bedrohen. Wie er später be-

10 hauptete, sollen in einer der folgenden Nächte zahl- reiche Christen hinterlistig von den Juden ermordet sein. Ob dies wahr ist oder nur als Vorwand diente, wissen wir nicht. Jedenfalls überfiel der kampfes- freudige Bischof an der Spitze einer grossen Volks-

menge das Judenviertel, Hess die Häuser ausplündern und vertrieb alle ihre Bewohner, ihrer ganzen Habe beraubt, aus der Stadt. Es war das eine Menge, die nach Zehntausenden, ja vielleicht gar nach Hundert- tausenden zählte. Orestes, der schon vorher den ge-

20 walttätigen Pfaffen nicht geliebt hatte, berichtete über diese Entvölkerung von Alexandria an den Kaiser; doch Cyrillus blieb ungestraft. Seine Gemeinde aber zwang ihn, mit dem Praefecten Versöhnung zu suchen, die dieser kühl zurückwies. Der Bischof war ent-

25 schlössen, seine Rache zu nehmen, und da er das Volk der Stadt gegen den allgemein beliebten Manu nicht aufhetzen konnte, wühlte er unter den Mönchen der nitrischen Wüste. Fünfhundert von ihnen kamen nach Alexandria, überfielen den Praefecten auf der

30 Strasse, trieben sein Gefolge auseinander, und er selbst wurde durch einen Steinwnrf am Kopfe verwundet. Da sammelte sich das Volk zu seiner Verteidigung; die Mönche wurden in die Flucht geschlagen und einer, den man für den Hauptschuldigen hielt, ergriffen und

78 VII. Die Auflösung des Reiclies.

vor Gericht gestellt. Bei der Untersuchung Hess Orestes ihn foltern, bis er den Geist aufgab, wahr- scheinlich um Geständnisse gegen Cyrillus zu erpressen. Dieser aber bemächtigte sich des Leichnams und wollte ihn zur Märtyrerreliquie stempeln. Doch als die feier- » liehen Weihen, die er zu diesem Zwecke vollzog, die gewünschte Aufregung nicht hervorriefen, musste der Bischof auf ein anderes Mittel der Rache sinnen.

In Alexandria lebte damals eine heidnische Jung- frau, die als erste Kennerin der platonischen Philo- lo Sophie berühmt war, Hypatia, die Tochter des Mathe- matikers und Astronomen Theon. Von allen Seiten strömten ihr Schüler zu, und die kaiserlichen Beamten, die nach Ägypten kamen, hielten es für ihre Pflicht, ihr vor allen andern ihre Aufwartung zu machen. So i5 stand sie auch mit Orestes in freundschaftlichem Ver- kehr, und im Volke verbreitete sich die Meinung, dass sie es sei, welche seine Versöhnung mit dem Bischof hindere. Da zudem der Neuplatonismus sich viel mit den Theorien des Wunders und der Zauberei befasste, ^o konnte es dem Cyrill nicht schwer fallen, sie dem Pöbel als Hexe zu denunzieren. Unter Führung eines Klerikers, des Vorlesers Petrus, lauerte man ihr auf. Als sie einmal durch die Strassen fuhr, wurde sie aus dem Wagen gerissen und vor die Tür einer Kirche 2.i geschleppt. Dort zerrte man ihr die Kleider vom Leibe, ermordete sie qualvoll mit spitzen Scherben und riss ihre Glieder auseinander, um sie auf den Scheiterhaufen zu werfen (März 416). Dem Orestes blieb auch diesmal nichts anderes übrig, als an den 3o Kaiser zu berichten; doch der Rat von Alexandria wurde durch die Drohungen der Krankenwärterscharen gezwungen, zur Verteidigung des Bischofs eine Gesandt- schaft nach Constantinopel zu schicken. Diesmal

9. Die Weiberlierrscliaft. 79

freilich bewirkte die literarische Berühmtheit der Er- mordeten, dass der Kaiser und seine Schwester dem Orestes Recht gaben. Doch traf Cyrill keine andere Strafe, als dass die Zahl der Krankenwärter auf 500

5 herabgesetzt und deren Auswahl ihm entzogen wurde, um auf den Praefecten von Ägypten übertragen zu werden. Und schon nach anderthalb Jahren wurde dies durch ein neues Gesetz rückgängig gemacht, und nur wenig vermindert empfing der Bischof seine schlag-

10 fertige Leibgarde zurück. Seine Schandtaten waren ja zugunsten der christlichen Kirche verübt und schwächten daher seinen Einfluss bei Hofe nur auf

kurze Zeit. Da der Kaiser es für unerlaubt hielt, Bischöfen Befehle zu geben, konnte er natürlich auch

15 keine Strafen über sie verhängen.

Wenn unter einer solchen Regierung das Ostreich eines langen Friedens genoss, so war das wahrlich nicht ihr Verdienst. Und kaum hatte es sich von den Verwüstungen der Barbaren ein wenig erholt,

20 so beschwor die christliche Gesinnung des Kaisers und seiner Schwester leichtsinnig einen grossen Krieg herauf. Das Perserreich war nicht weniger herab- gekommen, als das römische. Auch dort hatte man begonnen, unter dem Druck eines eisernen Despotis-

25 mus die gesunde Freude am Dasein zu verlieren und in dekadentem Ekel vor der bösen Welt nach einem besseren Jenseits zu seufzen. Wie dadurch die Lehre des Mani hervorgerufen war, so fand auch das Christen- tum Aufnahme und Verbreitung, und nachdem man

30 es anfangs verfolgt hatte, wusste es sich endlich auch in den regierenden Kreisen Anhang zu verschaffen. Da kam der mesopotamische Bischof Maruthas als Gesandter des Kaisers an den persischen Hof und gewann dort auch bei dem König Jesdegerd Einfluss.

80 VII. Die Auflösung des Reidies.

Er heilte ihn durch sein Gebet von einem chronischen Kopfschmerz, trieb seinem Sohn einen Teufel aus, und als die Magier dem christlichen Bekehrer durch ähnliche Kunststücke entgegenzuwirken versuchten, enthüllte er sie als Betrug. So erlangte er, dass 5 in Persien die Predigt des Evangeliums geduldet und der Bau von Kirchen erlaubt wurde. Kaum aber glaubte die christliche Geistlichkeit der Hofgunst sicher zu sein, als sie ihrerseits die Verfolgung gegen die Andersgläubigen begann. Der Bischof Abdas lo nahm sich heraus, mit einer fanatisierten Menge einen Feuertempel zu zerstören. Jesdegerd liess ihn vor- laden, redete ihm freundlich zu und forderte ihn auf, das Heiligtum wiederherzuztellen. Doch die Milde des Königs gab dem Bischof Mut; er weigerte sich, i5 und dies hatte die Folge, dass er hingerichtet und die kaum erbauten Kirchen wieder geschlossen wurden. So war durch die eigene Schuld der Christen eine neue Verfolgung gegen sie heraufbeschworen, und als nach dem Tode Jesdegerds sein Solin Vararanes im '^o Jahre 4'20 den Thron bestieg, nahm sie noch an Härte zu. Viele der Bedrohten retteten sich ins römische Reich, und dass der Perserkönig ihre Aus- lieferung verlangte, wurde der entscheidende Grund für den Krieg. 25

Gewiss erforderte die Ehre des römischen Namens, dass man Schutzflehende nicht preisgab; doch diese Rücksicht wog für Pulcheria und ihr unselbständiges Brüderlein sehr leicht. Wenn später Flüchtlinge, die vor der Grausamkeit des Hutinenkönigs im Reich eine 3o Zuflucht gesucht hatten, von ihm zurückgefordert wurden, hat man ihre Auslieferung nur verweigert, wenn sie einen einflussreichen Beamten bedrohte. Diesmal aber handelte es sich um die Verteidio-ung;

9. Die Weiberherrschaft. 81

yerfolgter Christen, und das entschied. Schon im Frühling 420 scheint mau einen Angriff der Perser erwartet zu haben ; doch blieb er aus, und die Römer konnten im folgenden Jahr ihrerseits den Kampf er- 5 öffnen. Doch kaum war dies geschehen, so traten Ereignisse ein, die, wenn nicht das Reich, so doch den Hof von Constantinopel, viel näher angingen, und Pulcheria wird es bitter bereut haben, dass ihre Heere durch einen Religionskrieg im fernen Osten festge-

10 halten waren.

Da Honorius kinderlos blieb, war Theodosius sein einzig berechtigter Erbe, und wie einst Stilicho, so scheint auch Pulcheria die Aussicht gelockt zu haben, das ganze Reich unter ihrer Vormundschaft

15 zu vereinigen. Sobald sie zur Augusta erhoben war, hatte sie begonnen, die Zusammengehörigkeit beider Reichsteile wieder scharf zu betonen, indem sie die Erfolge, die ihr Oheim im Westen errang, auch in Constantinopel durch Illuminationen und Circusspiele

20 feieru liess. Ihm Soldaten zu schicken, was ihn mehr erfreut hätte, hielt sie allerdings nicht für nötig. Doch als er den Mann, der ihn aus den grössten Gefahren errettet hatte, am 8. Februar 421 zum Mitregeuten ernannte, erhob man in Constantinopel Protest dagegen

25 (S. 65), und eiligst wurden Maassregeln getroffen, um

dem neugeborenen Sohne des Constantius, in dem

Honorius seinen künftigen Nachfolger erblickte, einen

besser berechtigten Thronerben gegenüberzustellen.

Kaisersöhne pflegte man damals sehr früh zu

30 vermählen, gewöhnlich gleich nachdem sie das gesetz- liche Alter der Pubertät, d. h. das fünfzehnte Jahr, erreicht hatten. Doch unter der Obhut seiner frommen und keuschen Schwestern hatte Theodosius sechs Jahre länger seine Jungfräulichkeit bewahren müssen; jetzt

Seeck, Untergang der antiken Welt. VI. 6

82 ^11. Die Auflösung des Reiclies.

aber besorgten sie ihm eine Frau. Am 7. Juni 421 wurde er mit Eudocia verheiratet und damit Houorius der Vorwand geraubt, dass das Herrschergesclilecht sich nur in der Nachkommenschaft des Coustautius fortsetzen könne. Doch in Kavenna Hess man sich 5 dadurch nicht bekehren; mau rüstete sich, die Aner- kennung des neuen Augustus mit den Waffen zu er- zwingen, und da Theodosius eben erst seinen Religions- krieg begonnen hatte, war er nicht in der Lage, zu- gleich den Kampf gegen das Westreich aufzunehmen. 10 So war man zur Nachgiebigkeit gezwungen, und Pulcheria musste einstweilen auf ihre stolzen Pläne verzichten.

Die Gattin, die sie für ihren Bruder ausgesucht hatte denn auch diese Sorge überliess er ihr , 15 war Athenais, die Tochter des Ijeoutius, der in Athen Professor der Rhetorik war und sie trefflich in seiner Kunst unterrichtet hatte. Die Auserkorene war noch Heidin, Hess sich aber durch den Bischof Attieus taufen und empfing dabei den neuen Namen Aelia 20 Eudocia, der sich von dem ihrerverstorbenen Schwieger- mutter Aelia Eudoxia nur durch einen Buchstaben unterschied. Schon im Jahre 422 gebar sie jene LiciniaEudoxia, die später als Gemahlin ValentiniansIII. im Westreiche thronen sollte. In seiner Freude über 23 ihre Fruchtbarkeit ernannte sie Theodosius am 2. Januar 423 zur Augusta und stellte sie damit seiner Schwester im Range gleich.

Eudocia hatte die Untugend, Verse zu machen, und wie sich bei der Kaiserin von selbst versteht, 30 wurden diese zu ihrer Zeit sehr bewundert. Pulcheria wird daher erwartet haben, dass sie gleich ihrem Gemahl hinter den Büchern sitzen und sich um die Regierung nicht bekümmern werde; darin aber sollte

9. Die WeiberheiTschaft. 83

sie sich täuschen. Sehr bakl kam zwischen den kaiser- lichen Damen der Kampf um die höchste Macht zum Ausbruch, und es ist sehr begreiflich, dass die schöue Beherrscherin des allerhöchsten Schlafgemaches zu-

5 nächst Siegerin blieb. Einmal, so erzählte man sich, als Pulcheria die Oberhand zu gewinnen schien, er- klärte Eudocia, sie werde sich zur Diakonissin weihen lassen und dann in geistlicher Enthaltsamkeit den Umarmungen ihres Gatten ganz entziehen; durch diese

10 Drohung soll sie alles erreicht haben, was sie ver- laugte. Gewiss ist das Klatsch, nicht beglaubigte Überlieferung; doch mag er wohl das Richtige ge- troffen haben oder ihm doch sehr nahe kommen. Als Cyrillus, Bischof Ton Alexandria, in jenem Streite mit

15 Nestorius, von dem wir noch zu reden haben, einen Brief formell au den Kaiser, tatsächlich an dessen Gemahlin richtete und einen zweiten über denselben Gegenstand au die Schwestern, da bekam er einen scharfen Verweis. Ihm wurde vorgeworfen, dass er

20 Zwietracht im Herrscherhause säen oder die schon vorhandene benutzen wolle. Offenbar w^ar der Sinn, dass man Gesuche und andere Zuschriften nicht mehr an Pulcheria, sondern nur noch an Theodosius, d. h. an Eudocia, richten solle. Und wirklich fühlte jene

25 sich zeitweilig entthront: sie verliess Constantinopel und zog sich auf ihren Landsitz am siebenten Meilen- stein von der Stadt zurück, wo sie die unmittelbare Berührung mit dem Hofe vermeiden und ihn doch aus nächster Xähe belauern konnte. Zudem waren

30 hier die Reliquien Johannes des Täufers aufbewahrt (Y S. 251), bei denen sie um die Herstellung ihrer Macht beten konnte, und wie wir sehen werden, wurde sie, wenn auch spät, erhört.

Die erhaltenen Verse der Eudocia sind elend

6*

84 VII. Die Auflösung des Reiches.

genug; aber weun wir ihr auch den Namen einer Dichterin, den ihre eigene Zeit ihr zugestand, ab- sprechen müssen, so war sie doch eine hochgebildete Frau, und die Gesetzgebung der Jahre, in denen sie den schwachen Kaiser beherrschte, gibt davon Zeugnis. 5 Im Jahre 425 erhielt die Universität von Constanti- nopel ihre endgültige Organisation, und dabei wurde Sorge getragen, die schmählichen Konkurrenzkämpfe der rhetorischen Lehrer, die Eudocia in Athen nur zu genau kennen gelernt hatte, nach Möglichkeit zu lo unterdrücken. Und was wichtiger ist, durch das Gesetz vom 2G. März 429 wurde zum erstenmal seit den Zwölf Tafeln durch die Staatsregierung selbst eine Kodi- fikation des geltenden Rechtes eingeleitet, deren Be- deutung uns weiter unten noch beschäftigen soll. Für 15 das religiöse Empfinden der hohen Frau ist es ein schöner Beweis, dass sie das Niederfallen vor den Bildern des Kaisers und seiner Angehörigen verbot, weil diese Anbetung keinem Menschen, sondern nur der Gottheit zukomme. Dass sie im Heidentum er- 20 zog-en war, hat ihrem christlichen Eifer keinen Abbruch getan. Sie sorgte dafür, dass Christi Monogramm nicht auf dem Boden angebracht werde, wo ein Fuss darauf treten konnte. Nach Jerusalem ist sie zweimal gepilgert und war nicht wenig erfreut, als sie das 25 erste Mal die Reliquien des heiligen Stephanus heim- bringen konnte. Doch dass sie die hellenischen Über- lieferungen ihrer Kindheit nicht ganz vergessen hatte, zeigt ein Gesetz, durch das dem altgeheiligten Delphi seine Spiele wiedergegeben wurden. Die Synagogen 30 der Juden wurden gegen die Zerstörungswut ihrer christlichen Gegner geschützt und, soweit sie ihr schon zum Opfer gefallen waren, hergestellt; ja selbst den Ketzern räumte man Kirchen ein. Freilich ist die

9. Die AVeiberlieiTsoliaft. 85

Kaiserin dieser milden Toleranz nur treu geblieben, solange Atticus Bischof von Constantinopel war; mit dem Wechsel ihrer Beichtväter hat auch ihre Religions- politik gewechselt. Den Drohungen mit Hölle und 5 Teufel zu widerstehen, war doch auch sie zu sehr schwaches Weib.

Das erste Jahr ihrer Ehe wurde durch den Perser- krieg ausgefüllt. Der Alane Ardabur, dem man den

DO '

Oberbefehl übertragen hatte, fiel von Armenien aus

10 in Azazene ein, schlug im August 4-21 Narses, den Feldherrn des Yararanes, in die Flucht und begann das Feindesland zu verwüsten. Um ihn davon abzu- ziehn, bedrohte das Perserheer römisches Gebiet, indem es sich nach Mesopotamien wandte. Der Zweck wurde

15 erreicht: Ardabur zog dem Narses nach und belagerte ihn in Nisibis. Um die Stadt wiederzugewinnen, die durch den Vertrag des Jovian so schmählicli verloren war (IV S. 362. 364), machte man die grössten Anstrengungen. Theodosius sandte ein grosses Heer zur Verstärkung

20 seines Feldherrn, und alle Belagerungskünste wurden an den Mauern versucht. Unterdessen hatte der Perser- könig den Alamundarus, einen Häuptling schweifender Saraceneustämme, als Bundesgenossen gewonnen, und dieser schickte sich an, über den Euphrat in die

25 syrischen Provinzen einzufallen. Doch wie das bei wilden Völkern manchmal vorkommt, wurden seine Scharen plötzlich von einer ganz grundlosen Panik ergriffen; die meisten seiner Krieger suchten sich schwimmend über den Fluss zu retten, wobei sie fast

30 alle untergingen, und der Rest wurde durch Vitianus, einen Unterfeldherrn des Ardabur, zerstreut. Jetzt aber rückte Vararanes selbst heran, und auf die Nach- richt, dass er Elephanten mit sich führe, wagte das römische Heer, das vor Nisibis lag, ihm nicht ent-

86 VII. Die Auflösung des Reiches.

gegenzutreten und hob die Belagerung auf. Noch unter Julian hatte man kühn die riesigen Tiere be- kämpft und auf die Perser selbst zurückgetrieben; ein halbes Jahrhundert später war der römische Soldat so herabgekommen, dass schon das Gerücht von ihnen 5 genügte, um ihn in feige Flucht zu treiben. Der König sandte den zurückweichenden Feinden nur eine kleine Macht nach, die später in einen Hinterhalt fiel und schwere Verluste erlitt. Er selbst wandte sich nach dem römischen Armenien, das zur Zeit ganz lo unbeschützt war, und versuchte sieh der Stadt Theo- dosiopolis zu bemächtigen. Doch nach dreissigtägiger Belagerung musste er unverrichteter Sache abziehn und kehrte nach Mesopotamien zurück, um den Folgen der Schlappe, die seine dort zurückgelassenen Truppen 15 erlitten hatten, nach Möglichkeit vorzubeugen.

Um eine möglichst grosse Heeresmacht zusammen- zubringen, scheint mau die Nordgrenze von ihren Ver- teidigern entblösst zu haben, und dies dürfte der Grund gewesen sein, warum die Hunnen nach langer Ruhe 20 422 wieder einmal plündernd in Thracieu einfielen. Pulcheria wurde ihr Religionskrieg leid, und der junge Procopius wurde als Gesandter in das Lager des Perser- königs geschickt, um mit sehr stolzen Worten, aber recht bangem Mute den Frieden anzubieten. Da 25 dessen Heer durch den Nahrungsmangel, der es in dem arg verwüsteten Lande bedrängte, in schlimmer Lage war, zeigte er sich den Verhandlungen nicht abgeneigt. Doch die Zehntausend, die ihn unter dem Namen der „Unsterblichen" als Leibwache umgaben, wollten vor 30 dem Abschluss noch ein Heldenstück ausführen. Sie überfielen die Römer, wurden aber durch einen Heeres- teil derselben, der gerade zu rechter Zeit zufällig heranzog, im Rücken gefasst und alle zusammen-

9. Die Weiberherrscliaft. 87

gehauen. Jetzt beeilte sich Yararanes, den Frieden auf hundert Jahre abzuschliessen (422), nachdem der Krieg ein Jahr und vielleicht noch etwas länger ge- dauert hatte. Wie es scheint, übernahm der Koni«: 5 die Verpflichtung, der Christenverfolgung Einhalt zu gebieten, hat sie aber nur sehr kurze Zeit erfüllt. Da der römische Kaiser nicht in der Lage war, was im Innern des Perserreiches vorging, zu beaufsichtigen und zu verhindern, begann das Wüten bald von neuem

10 und wurde dann mindestens drei Jahrzehnte mit einer erfinderischen Grausamkeit fortgesetzt, wie ihrer selbst die Henker Diocletians nicht fähig gewesen waren. Auch sonst w urde der Vertrag von den Persern nicht gehalten. Als die Römer, durch neue Hunueueinfälle

15 bedrängt, ihre Truppen aus dem Orient hatten weg- ziehen müssen, drang der König in Armenien ein; doch die Unwetter, die ihn hier heimsuchten, hemmten in dem schwer zugänglichen Berglande seinen Marsch solange, bis ein kaiserliches Heer zusammengezogen

20 war, dessen Erscheinen seinen Rückzug veranlasst zu haben scheint.

So war ohne wirkliche Entscheidung ein Krieg beendet, der keinem der beiden Gegner Vorteil oder Ruhm gebracht hatte; doch dass man nicht eigentlich

25 besiegt war, betrachtete man in Constantinopel schon als wunderbares Glück. Zahlreiche Lobreden wurden darüber gehalten, und selbst ein Epos verherrlichte den Kampf. In ihm brachte die verskundige Kaiserin, die eben Mutter geworden war, dem Gatten ihre

30 poetische Huldigung dar.

Fast schien es, als wenn sie ihr mildes Regiment bald auch über das Westreich ausdelinen sollte. Der Perserkrieg' war gerade zu rechter Zeit beendet, um das Heer für die Erreichung o-rösserer Ziele freizumachen.

88 VII. Die Autlösung des Reiches.

Na(;h dem Tode des Constantius war Honorius gegen seine Schwester von so überströmender Zärt- lichkeit gewesen, dass seine stürmischen Liebkosungen zu einem hässlichen Verdacht Anlass gaben. Als aber die Warnungen ihrer Amme, ihres Vermögensverwalters 5 und anderer Freunde sie zu grösserer Zurückhaltung veranlassten, verwandelte sich diese gar zu heisse Jjiebe in grimmigen Hass. Der Gegensatz der Ge- schwister trat so ungescheut an die Öffentlichkeit, dass Hof und Heer Partei nahmen. Die Gothen, die lo in Placidia die Witwe erst ihres Königs, dann ihres ruhmgekrönten Feldherrn verehrten, stellten sich auf ihre Seite, und in den Strassen Ravennas kam es wiederholt zu Raufereien. Endlich res-te sich sogar der Verdaciit, dass sie auswärtige Feinde, wahrschein- 10 lieh die Westgothen in Gallien, die sie einst beherrscht hatte, gegen ihren Bruder zu Hilfe gerufen habe. Sie wurde vom Hof entfernt und nach Rom verbannt; aber sich dort nicht sicher fühlend, floh sie mit ihren Kindern im Jahre 423 nach Constantinopel. So war, 20 als der Kaiser am 15. August desselben Jahres durch eine Wassersucht sein ruhmloses Leben schloss, kein Vertreter des Herrscherhauses in Italien anwesend.

Theodosius hatte seiner Muhme ein Asyl gewährt, aber unter der Bedingung, dass sie für sich und ihr 2.5 Söhnchen auf Titel und Abzeichen jeder kaiserlichen Würde verzichtete. Er nahm also das Zugeständnis zurück, das die Kriegsdrohung des Constantius ihm abgepresst hatte, und wahrte das F^rbrecht im West- reiche ausschliesslich für sich und seine Nachkommen- so Schaft. Doch als mit dem Tode des Honorius der Augenblick gekommen war, es geltend zu machen, befand sich Theodosius weit von Constantinopel ent- fernt im südlichen Kleinasien. Wahrscheinlich erfüllte

9. Die Weiberherrschaft. 89

er mit dieser Reise eine ernste Herrscherpflicht. Am 7. April 423 hatte ein Erdbeben in den Städten seines Reichsteils schwere Verwüstungen angerichtet, und eine Hungersnot war gefolgt; es ist also zu vermuten,

5 dass er persönlich zusehen wollte, wie dem Schaden abzuhelfen sei. Doch für sein Eingreifen im West- reiche war diese Abwesenheit von seiner Hauptstadt ein schweres Hindernis. Freilich trafen die kaiser- lichen Damen in Constautinopel schnell ihre Vor-

10 kehruugen. Sie Hessen den Tod ihres Oheims einst- weilen geheimhalten, damit Placidia nichts Ehrgeiziges unternehme, und schickten ganz im Stillen Truppen nach Salona, um so die feste Hauptstadt von Dal- matien in Besitz zu nehmen und von dort aus Italien

15 beobachten zu lassen. Auch wurde Theodosius zu- nächst als Herrscher über beide Reichsteile anerkannt und hätte diese Stellung wohl auch behaupten können, wenn er sogleich nach Ravenna gekommen wäre und dort die Heere des Westens in Eid genommen hätte.

20 Er aber blieb nach seiner Rückkehr aus Kleinasien ruhig in Constautinopel, und in Italien konnte man eines Herrschers um so weniger entbehren, als nicht nur von Westen die Gothen, von Norden die Hunnen das Land bedrohten, sondern wahrscheinlich auch

2j Africa die unentbehrlichen Kornsenduugen versagte. Nachdem Bonifatius sich 422 dieses Landes be- mächtigt hatte (S. 66), befolgte er die Politik, welche ihm die grösste Unabhängigkeit von beiden Kaiser- höfen bot, ohne ihn doch zu einer offenen Erklärung

30 seines Abfalls vom Reiche zu zwingen. Während Honorius seine Schwester feindlich bedrohte, Theodosius sie ihrer Würden beraubte, ergriff er die Partei der ohnmächtigen Frau, die seiner Selbständigkeit am wenigsten Gefahr zu bringen schien, und unterstützte

90 VII. Die Auflösung des Reiches.

sie mit den reichen Mitteln seines Herrschaftsgebietes. Dass er zugleich die Kornsendungen, die Italien und namentlich Rom ernähren mussten, zurückgehalten habe, ist nicht überliefert, aber sehr wahrscheinlich. Denn nicht das Heer von Ravenna, sondern der Senat 5 von Rom war es, der einen neuen Kaiser erwählte, und dieser hielt es für seine erste Pflicht, Africa zu erobern, obgleich die Schwächung seiner Kriegsmacht, die hierdurch bedingt wurde, ihm den Tiiron kosten konnte. ]o

Vier Monate hatte man gezaudert, ehe mau zu eiaer Kaiserwahl geschritten war. Erst als man sich überzeugt hatte, dass weder Theodosius selbst nach Italien kam, noch einen berechtigten Stellvertreter dahin sandte, entschloss sich der furchtsame Senat zu 1.5 einem so gefährlichen Unterfangen, und das Heer, das Castinus befehligte, erhob keinen Widerspruch.

Der neue Herrscher hiess Johannes und hatte am Hofe des Honorius den ersten Platz in dem vor- nehmen Kollegium der Notare eingenommen, also 20 schon eine sehr ansehnliche Stellung bekleidet. Es ist bezeichnend für die Seuatswahl, dass sie auch dieses Mal keinen Offizier, sondern einen Civilbeamten auf den Thron erhob. Von seiner Persönlichkeit wissen wir nicht viel, dies wenige aber scheint darauf 25 hinzudeuten, dass er die Mehrzahl seiuer Zeitgenossen weit überragte. Obgleich er, wie sein Name beweist, Christ war, beschnitt er doch die Privilegien des Klerus, wies dessen Prozesse den weltlichen Gerichten zu und scheint sogar allen Sekten Religionsfreiheit 30 gewährt zu haben. Auch nach seinem Sturze musste man ihm den damals seltenen Ruhm zugestehen, keinen willkührlich zum Tode verurteilt untl keines Vermögen widerrechtlich eingezogen zu haben, was

9. Die Wei))erlierrschaft. 91

um so höher anzuschlagen ist, als er zur Verteidigung seiner Herrschaft dringend Geld brauchte. Und wenn er, um Italien vor Hungersnot zu schützen, eine starke Kriegsmacht nach Africa schickte, mochte auch der

5 Schutz seiner Person dadurch sehr geschwächt werden, so beweist dies, dass er die Sicherheit seiner Unter- tanen über die eigene stellte. Vielleicht darf man es ihm sogar als Fehler anrechnen, dass er zu milde und gewissenhaft, zu wenig rücksichtslos war, um

10 sich in jener harten Zeit durchzusetzen.

Als er Theodosius seine Thronbesteig-uno- offiziell mitteilte und sich dessen Anerkennung erbat, Hess dieser die Gesandten im ersten Zorn gefangen setzen. Doch bei genauerer Überlegung scheint er zweifelhaft

15 geworden zu sein, ob er sich dem Beschlüsse des römischen Senats nicht fügen solle. Placidia, die wahrscheinlich zum Kriege drängte, wurde vom Hofe verbannt und mit ihren Kindern nach Thessalonica geschickt; man verzichtete auf die Besetzung Dal-

20 matiens und verharrte mehrere Monate in ungewissem Zaudern. Doch unterdessen wird man erfahren haben, dass Africa den Johannes nicht anerkannte und er einen grossen Teil seines Heeres über das Meer ge- schickt hatte, um die Kornkammer Roms zu gewinnen.

25 Und in Arelate hatten aufrührerische Truppen seinen Praefecten Exuperautius erschlagen, ohne dass er im- stande war, sie dafür zu bestrafen. So schien auch Gallien gegen ihn im Aufstande und er für seine Verteidigung nur auf die schwachen Kräfte Italiens

:w angewiesen zu sein. Dies hob den Mut des Theodosius und seiner weiblichen Berater; das Erbrecht der Kaiserfamilie wurde dem Wahlrecht des Senats als der einzig legitime Anspruch entgegengestellt und Johannes für einen Usurpator erklärt. Doch wollte

92 VII. Die Auflösung des Reiches.

man den Krieg, so Hess sich Placidia nicht mehr bei Seite schieben. Denn erstens hatte Bonifatius seine starke Macht nicht dem oströmischen Hofe, sondern ihr persönlich zur Verfügung gestellt; zweitens konnte der Anhang, den sie unter den Kriegern des Westens, 5 namentlich den Gothen, besass, für den Kampf be- deutungsvoll werden und hat ihn, wie wir alsbald sehen werden, auch tatsächlich entschieden. Zudem war es dem trägen Kaiser bequem, wenn er ruhig in Constantinopel sitzen und seiner Muhme, die mehr lo Mann war als er, die Leitung des Feldzuges über- lassen konnte. So wurden denn ihr und ihrem Söhnchen die früheren Würden erneuert und bald noch erhöht. Eudocia besann sich darauf, dass es zweifelhaft sei, ob ihr künftig Söhne beschert würden, i5 und dass sie daher gut tue, ihrer Tochter, soweit dies möglich war, die Herrschaft im Westreiche zu sichern. Der Magister Officiorum Helio wurde nach Thessalo- uica geschickt, um dem kleinen Valentinian ein Purpur- gewand zu überbringen und Placidia mitzuteilen, dass 20 der Knabe die zweijährige Eudoxia als seine Verlobte zu betrachten habe. Doch wurde ihm nur der Titel Caesar verliehen, den Theodosius zu diesem Zwecke aus mehr als sechzigjähriger Vergessenheit wieder- erweckte. Damit sollte ausgedrückt werden, dass, 25 auch wenn der Westen Valentinian zufalle, doch die Oberhoheit über das ganze Reich dem oströmischen Kaiser bleiben solle. Natürlich wurde durch diese leere Form nichts erreicht; sobald Placidia sich in ihrem Reichsteil sicher fühlte, hat sie ihn so selb- 30 ständig beherrscht, als wenn über ihrem kleinen Caesar, in dessen Namen sie regierte, gar kein Augustus vor- handen wäre. Die Gewohnheit, die beiden Hälften des Reiches als gesonderte, wenn auch eng verbündete

9. Die Weiberherrschaft. 93

Staaten zu betrachten, war eben schon so eingebürgert, dass die Titeländernng des einen Kaisers sie nicht mehr aufheben konnte.

Am 23. October 424 wurde das fünfjährige Kind 5 mit dem Purpur bekleidet, um sich gleich darauf unter der Obhut seiner Mutter dem Heere anzuschliessen, dass ihm den westlichen Reichsteil erobern sollte. Zum Feldherrn wurde Ardabur, der sich schon im Perser- kriege bewährt hatte (S. 85), gemeinsam mit seinem

10 Sohne Aspar bestimmt. Als dritter trat ihnen Can- didianus hinzu, der vor zehn Jahren die Vermählung des Athaulf mit Placidia erwirkt hatte (S. 54). Wahrscheinlich war er ihr besonderer Vertrauensmann und sollte zu den beiden oströmischen Feldherren eine

15 Art von Gegengewicht bilden. Denn dass Theodosius und seine Werkzeuge es gut mit ihr meinten, durfte die Kaiserin nicht ohne Grund bezweifeln.

Der letzte Feldzug Theodosius des Grossen hatte gezeigt, wie gefährlich die Pässe der julischen Alpen

20 den Angreifern werden konnten. Man beschloss da- her, einen Teil des Heeres zu Schiffe in Italien zu landen, um so die Verteidiger der Engen auch im Rücken fassen zu können. Salona, das für diesen Doppelangriff die gegebene Operationsbasis war, wurde

21) im Sturm genommen und, ehe noch der Frühling kam, stach die Flotte in See.

Johannes hatte noch einmal versucht, den Krieg durch Unterhandlungen zu vermeiden, indem er sich jetzt nicht mehr an Theodosius, sondern unmittelbar

30 au Placidia wandte; auch dieses Mal aber kehrten seine Gesandten unverrichteter Sache zurück. Da der grösste Teil seines Heeres durch den Kampf gegen Bonifatius in Africa festgehalten wurde, beschloss er jetzt, dem Eindringen der feindlichen Landmacht in

94 VII. Die Auflösimg des Reiches.

Italien nicht zu wehren, sondern hinter den Mauern und Sümpfen Kavennas. das man für uneinnehmbar hielt, eine Belagerung zu erwarten. Xur die Flotte des Gegners wollte er bekämpfen, damit sie ihm den Hafen der Stadt nicht sperre und so die Zufuhren 5 abschneide. Der junge Aetius wurde mit grossen Geldmitteln an die Donau zu den Hunnen gesandt, mit deren Herrschern ihn persönliche Beziehungen verbanden, um bei ihnen ein Hilfsheer anzuwerben. Mit diesem sollte er die Truppen des Feindes, wenn 10 sie vor Raveuna lagen, im Rücken angreifen und so, vielleicht durch einen Ausfall unterstützt, den Kampf entscheiden.

Der Plan war gut und hätte wohl den Sieg herbei- führen köunen, wenn nicht ein Zufall, der anfangs 15 günstig schien, sich zum Unheil gewandt hätte. Die Schiffe, die Ardabur schon im ersten Vorfrühling 425 über das adriatische Meer führte, wurden durch einen Sturm, wie sie in dieser Jahreszeit häufig sind, zer- streut und er selbst durch die Flotte des Johannes 20 gefangen. In Ravenua, wohin er geführt wurde, ge- stattete ihm die grossmütige Sorglosigkeit des Gegners ganz freie Bewegung, und er benutzte dies, um unter den dortigen Truppen für Placidia zu werben. Wie wir oben (S. 88) gesehn haben, besass sie unter diesen 25 einen so starken Anhang, dass sie früher schon dem Honorius gefährlich geworden war. Dass Johannes durch den Senat, nicht durch das Heer, gewählt war, konnte den Soldaten als Eingriff in ihre Rechte er- scheinen, und die Geltung der kaiserlichen Erbfolge, 30 die für Valentinian sprach, mochte ihnen einleuchten. Durch alles dies konnte es Ardabur gelingen, sie so aufzuwiegeln, dass sie, sobald eine passende Gelegenheit sich bot, zu Verrat und Abfall bereit waren.

9. Die Weiherlierrscliaft. 95

Unterdessen hatte das oströmische Landheer mit der Kaiserin und ihren Kindern das Gebirge über- schritten und sich Aquileias bemächtigt. Als man dort von der Gefangenschaft des Ardabur Nachricht 5 erhielt, eilte sein Sohn Aspar sogleich mit der Eeiterei nach Ravenna, wo keiner so schnell einen feindlichen Angriff hatte erwarten können. Durch die Sümpfe, welche die Stadt umgaben und für undurchdringlich galten, wusste ein Hirte ihm einen Weg zu zeigen,

10 und als er so ganz unvermutet vor den Mauern er- schien, fand er die Tore offen, und der grösste Teil des feindlichen Heeres schloss sich ihm an. Johannes wurde gefangen und der Placidia zugesandt. Sie Hess ihm die eine Hand abhauen, und nachdem der Er-

15 wählte des Senats zum allgemeinen Spott auf einem Esel durch den Circus von Aquileia geführt war, wurde er enthauptet (Mai 425).

Kaum war er drei Tage tot, so stand Aetius mit 60 000 Hunnen in Italien. Es kam noch zu harten

20 Kämpfen; doch wurden sie dadurch schnell beendet, dass er sich verpflichtete, seine barbarischen Helfer mit Geld abzufinden und heimzuschicken, wofür ihm nicht nur Straflosigkeit, sondern auch ein Feldherrn- amt zugesichert wurde. Doch schien es Placidia

25 wünschenswert, den gefährlichen Menschen nicht zu sehr in ihrer Nähe zu haben. Die Westgothen hatten sich die Verwirrung des Reiches zu Nutze gemacht, um ihr Gebiet zu erweitern, und belagerten schon Arelate. Ihnen wurde Aetius entgegengeschickt und

30 legte durch einen ersten Sieg die Grundlage zu der Macht, die er bald über das ganze Westreich aus- üben sollte.

Inzwischen hatte Placidia im Namen ihres kleinen Sohnes am 6. Juli ein Gesetz erlassen, durch das der

96 VII. Die Auflösung des Reiches.

orthodoxen Kirche alle Rechte, die Johannes ihr ge- raubt hatte, zurückgegeben wurden. Gegen den Inhalt desselben konnte Theodosius nichts einzuwenden haben, wohl aber dagegen, dass es formell von dem Caesar, tatsächlich von dessen Mutter ausging, während doch 0 das Recht der Gesetzgebung nur dem Augustus zu- stehen durfte. In Constantinopel begriff man, dass damit der westliche Kaiserhof die volle Selbständigkeit für sich in Anspruch nahm, und Eudocia schickte ihren Mann auf Reisen, um dieser Anmaassung entgegen- 10 zutreten. Im September machte er sich auf den Weg, um in Ravenna oder Rom die Zügel der Regierung selbst in die Hand zu nehmen; aber schon in Thessa- lonica bot eine leichte Erkrankung ihm den will- kommenen Vorwand, um wieder in sein ruhiges Heim 15 zurückzukehren. So musste man denn Placidia ihre Freiheit lassen; dem Kaiser blieb nichts übrig, als dem, was er gezwungen tat, den Anschein freien Ent- schlusses zu geben. Es wurde offiziell verbreitet, dass er bei seiner Reise keinen andern Zweck gehabt habe, 20 als den kleinen Bräutigam seiner Tochter persönlich zum Augustus zu ernennen, und dass nur jene Krank- heit dies verhindert habe. Noch von Thessalonica aus schickte er denselben Hello, der Yalentinian mit dem Purpur bekleidet hatte, nach Italien, um ihm jetzt 25 auch das Diadem zu überbringen.

Als nach der Hinrichtung des Johannes das Kind mit seiner Mutter sich den Truppen in Ravenna gezeigt hatte, scheinen sie es sogleich zum Augustus aus- gerufen zu haben. Dann war Placidia mit ihm nach 30 Rom gereist, um mit dem Senat ihren Frieden zu machen und auch durch ihn die neue Würde ihres Söhnchens bestätigen zu lassen. Hier fand sich auch Hello ein, und durch ihn war die Möglichkeit geboten,

9. Die Weiberlierrscliaft. 97

den Knaben auf die legitimste Weise im Auftrage des regierenden Erbkaisers zum Augustus krönen zu lassen. Wie es scheint, sah sich Placidia dadurch veranlasst, die frühere Ausrufung durch die Soldaten zu ignorieren

5 und sich zu stellen, als wenn Valentinian die höchste Kaiserwürde nur dem guten Willen seines hohen Vetters verdanke. Am Jahrestage seiner Erhebuno- zum Caesar, dem 23. Oktober 425, wurde die An- nahme des Augustustitels gleichzeitig in Rom und in

10 Constantinopel gefeiert.

Wenn Theodosius ein sechsjähriges Kind sich selbst an Würde gleichstellte, so konnte dies nichts anderes bedeuten, als dass die Vormünderin desselben das freie Recht der Gesetzgebung aus seinen Händen

ij empfing und er sich verpflichtete, in die Verwaltung ihres Reichsteils nicht kraft irgend einer Obergewalt dreinzureden. In Wirklichkeit schützte sich Placidia damit nicht vor ihm, der ihr in seiner Trägheit niemals lästig geworden wäre, sondern vor ihren herrsch-

20 süchtigen Nichten. Die Weiberherrschaft aber, die im Orient schon lange tatsächlich bestand, w^ar damit für den Occident auch formell anerkannt. Aber während sie dort bei verhältnismässig friedlichen Zuständen sich längere Zeit behaupten konnte, war

25 sie unter den kriegerischen Barbarenvölkern, die den westlichen Reichsteil erfüllten und immer wieder be- drohten, auf die Dauer unhaltbar. Hier musste sie in ein Hausmeiertum übergehen, das naturgemäss dem tapfersten Feldherrn zufiel.

Seeck, Untergang der antiken Welt. VI.

Zehntes Kapitel.

Aetiiis und Geisericli.

Seit die Erblichkeit des Kaisertums sich soweit durchgesetzt hatte, dass auch Unmündige es bekleiden konnten, war eine Vormundschaft unvermeidlich ge- worden; doch wurde dies niemals rechtlich anerkannt. Daraus ergab sich zweierlei: Erstens war keiner gesetz- 5 lieh dazu berufen, sondern sie wurde einfach von demjenigen ausgeübt, der die Macht dazu besass. Ging diese also in andere Hände über, so wurde auch der Vormund ein anderer, ohne dass ein Rechtsbruch dazu erforderlich war. Zweitens brauchte dieser seine 10 Stellung nicht aufzugeben, wenn der Kaiser in das Alter eintrat, das bei Privatleuten die vermögens- rechtliche Mündigkeit herbeiführte. Denn wie die Vormundschaft nicht auf irgend einem Recht, sondern nur auf tatsächlicher Macht beruhte, so konnte man 13 sie auch dauernd festhalten, wenn man die Macht dazu nicht verlor. Arcadius und Honorius sind niemals mündig geworden, und dasselbe galt von ihren Nach- folgern. Diese Niclitigkeit der Herrscher aber hatte die merkwürdige Folge, dass sie das erbliche Kaisertum 20 befestigte. Gegen Arcadius, Theodosius H. und Valen- tinian HI. sind keine Usurpatoren mehr aufgestanden, doch blieben Bürj^erkriege dem Reiche darum nicht

10. Aetius und Geisericli. 99

erspart. Das aber, warum jetzt von Ehrgeizigen ge- kämpft wurde, war nicht mehr Purpur und Diadem diese waren fast zu einem wertlosen Schmuck herabgesunken , sondern das höchste Feldherrnamt, 5 das sehr bald mit der eigentlichen Regierung des Westreiches zusammenfiel.

Auch eineu titularen Ausdruck hat sich diese

Herrschergewalt zweiten Ranges, aber erster Macht,

^geschaffen. Der Patriciat war von Constantin dem

10 Grossen aus langer Vergessenheit auferweclct und an Würde sogar noch über die Praefectur erhöht, aber sehr wenigen, vielleicht nur einem einzigen, verliehen worden. Es war Optatus, der Consul des Jahres 334, der in wirklichen Ämtern nicht nachweisbar ist, aber, '15 wie man munkelte, durch seine schöne Frau mit dem Kaiser in ein sogenanntes dreieckiges Verhältnis trat.

i^ Auch Datianus, dem Constantius II. diesen Titel verlieh, war Consul (358), bekleidete aber auch, so viel wir wissen, kein hohes Amt; doch befand er sich

20 stets in der unmittelbaren Umgebung des Herrschers, begleitete ihn auf seinen Reisen und besass bei ihm

i- grossen Einfluss. Valens ernannte seinen Schwieger- vater Petronius zum Patricier, wahrscheinlich auch den Denuntianten Heliodorus, von dem er glauben

25 mochte, dass er ihm durch den Verrat des Theodorus und seiner Genossen (V S. 10) das Leben gerettet habe. So bezeichnete während des vierten Jahrhunderts der Patriciat keine amtliche Stellung, sondern nur ein enges persönliches Verhältnis zum Kaiser, und iu

30 anderem Sinne wird es auch nicht geraeint gewesen

V sein, dass Attalus den Jovius, Arcadius nacheinander

V Eutropius, Aurelian und Anthemius zu Patriciern er- nannten. Auch bei Constantius, der gleich darauf der Schwager des Honorius werden sollte, hatte der

7*

100 VII. Die Auflösung des Reiches.

Titel die gleiche Bedeutung; iu diesem Falle aber erhob er einen der Magistri Militum über seine Kollegen und bezeichnete ihn als Vorgesetzten derselben. Dies Beispiel ist dann auch für die Folgezeit ent- scheidend geworden. Wird der Patriciat an Civilisten 5 verliehen, so besitzt er keinen andern Wert, als heut- zutage ein sehr hoher Orden: er steigert die Würde, aber nicht die Macht. So wurde Helio, nachdem er Valentiuian den Purpur überbracht hatte, durch diesen Titel geehrt, blieb aber darum Magister Officiorum, lo wie er es vorher gewesen war. Wird dagegen ein Offizier Patricius, so darf er von allen Heeren und Feldherren Gehorsam fordern und tritt damit dem Herrscher selbst an die Seite. Auch dass seine Würde die einzige ist, die auf Lebenszeit verliehen wird, i5 nähert sie dem Kaisertum.

Ein sehr wirksames Mittel, diese Stellung zu er- ringen oder zu behaupten, boten die Leibwachen dar, welche die Feldherren und bald auch die niedrigeren Offiziere damals zu halten pflegten. Eäuberbanden ?o gehörten schon von Alters her zu den Plagen des Römerreiches, und seit viele Teile desselben von ein- gewanderten Horden bewohnt waren, wurde die Un- sicherheit auf dem flachen Lande noch grösser. Reiche Grundbesitzer bewaffneten nicht nur einen Teil ihrer 25 Sklaven, sondern dangen auch barbarische Krieger zu ihrem Schutz, die dann nicht weniger gegen die Steuererheber, als gegen die Räuber benutzt wurden. Die Gesetzgebung ist daher dem Halten solcher Privat- sölduer entgegengetreten, aber da sie kaum entbehrlich so waren, wird man wenig damit erreicht haben. Noch grössere Scharen unterhielten iiohe Beamte, die ihr Leben durcli Mörderhand bedroht glauben mussten; so haben sich sowohl Rufinus als auch Stilicho mit

10. Aetius imd Geisericli. 101

einer Leibwache vou hunnischen Reitern umgeben.

K Wenig später setzten sich diese privaten Truppen zum

Teil aus Römern, hauptsächlich aber wohl aus Gothen

zusammen und nahmen unter deren Einfluß völlig

5 den Charakter der altgermanischen Gefolgschaften an

(I S. 202). Dies prägt sich schon in ihrem Namen

i huccellarii aus, der ihnen anfangs wohl zum Spott

gegeben war, aber noch unter Honorius zu ihrer regel-

^ raässio-en Bezeichnuno- wurde. Buccellae Messen die

10 kleinen Feinbrötchen, deren sich im Gegensatze zu

dem derben Brot des niederen Volkes die Reichen

und Vornehmen bedienten. Buccellarii waren also

^ Krieger, die sich nicht von der groben Annona der

kaiserlichen Soldaten zu ernähren brauchten, sondern

15 am Tische hoher Herrschaften gespeist wurden. Wie das Gefolge eines deutschen Häuptlings mit ihm in seiner Halle schmauste und zechte, so dachte man sich jene als Tafelgenossen ihrer Herren, wenn sie es auch in Wirklichkeit nur selten waren. Denn mochten auch

20 die niederen Offiziere, denen nur wenige Leibwächter zur Seite standen, mit ihnen einen so vertrauten Ver- kehr unterhalten, bei den höheren und höchsten ver- bot sich das schon durch die grosse Anzahl. Zwar sind uns aus dem fünften Jahrhundert keine be-

25 stimmten Ziffern überliefert; doch aus dem sechsten

v- wissen wir von Belisar, dass er nicht weniger als 7000 Buccellarii unterhielt, und bei Aetius oder Ricimer, deren Machtstellung noch beherrschender war, dürften die Zahlen kaum geringer gewesen sein.

30 Alle waren sie beritten, jeder ein anserwählter Krieger;

, begrüssten es doch Soldaten, die sich ausgezeichnet hatten, als heissersehnte Belohnung, wenn der Feld- herr ihnen gestattete, aus dem Heer des Kaisers in seine Leibwache überzutreten. Jedes Mitg^lied der-

102 ^'^- I^iß Auflösung des Reiches.

selben musste sich einzeln durch die kräftigsten Eide seinem Dienst angeloben, jedes fühlte sich verant- wortlich für das teure Leben seines Herrn und zur Blutrache verpflichtet, wenn er dennoch fiel, ganz wie ^' Gefolgsleute germanischer Fürsten. Zwar mussten 5 sie auch dem Kaiser Treue schwören; doch was sie jedem beliebigen Soldaten des Reichsheeres gleich- stellte, wog für sie natürlich viel leichter, als die be- sondere und ganz persönliche Verpflichtung gegen ihren Führer. Da dem Patricius die grösste Zahl lo solcher Kämpfer zu Gebote stand, die ihm blind- lings ergeben und militärisch brauchbarer waren, als irgend eine andere Truppe, besass er auch dem Kaiser gegenüber eine ganz unabhängige Kriegs- macht, die diesem selbst furchtbar werden konnte, is Und was noch wichtiger war, aus der Zahl seiner Gefolgsleute ernannte er die meisten Offiziere für das Reichsheer und gewann so durch deren beschworene Treue auch über dieses eine fast unbeschränkte Gewalt. 20

Es liegt in der Natur der Dinge, dass diese neue Macht sich nicht ohne Kampf (.lurchzusetzen vermochte. Sobald ein Kaiser sich erinnerte, was seine Vorgänger bedeutet hatten, und nach ihrem Beispiel selbst zu regieren versuchte, musste dies zu Konflikten mit dem 25 Fatriciat führen. Schon bei seinen Vorläufern hatte sich das gezeigt. Die Übermacht des Arbogast hatte Valentiniau II. in den Tod getrieben; Stilicho und AUobich waren der Eifersucht des Honorius zum Opfer gefallen, und je festere Gestalt dies Hausmeier- 30 tum gewann, desto mehr schärfte sich sein Gegensatz zum Kaisertum. So musste sich der oberste Feldherr nicht nur gegen die Barbaren, sondern auch gegen seinen eigenen Herrscher waffnen, und dies unnatür-

10. Aetius und Geiseric]]. 103

liehe Verhältnis hat nicht wenig dazu beigetragen, den Zerfall des Reiches zu beschleunigen.

Schon unter Placidia machte sich dies geltend. Durch den Anhang, den sie unter den Soldaten des

5 Honorius besass, war sie zuerst ihm selbst gefährlich ge- worden und hatte dann Johannes überwunden. Wahr- scheinlich waren es die Buccellarii ihres verstorbenen Gatten gewesen, die auch seinen Hinterbliebenen die Treue wahrten und so den Kern ihrer Macht bildeten.

10 Doch als Weib nicht imstande, den Oberbefehl über die Truppen selbst zu übernehmen, und doch zu herrschsüchtig, um sich der Gewalt eines Untertanen füo-sam zu beugen, suchte sie immer einen ihrer Feld- herren gegen den anderen auszuspielen, und gewann

15 damit nichts weiter, als dass an die Stelle des früheren Gebieters ein neuer trat, den sie bald nicht weniger hasste. Je glänzender sich ein Führer bewährte, desto sicherer erweckte er ihre boshafte Eifersucht, und ihr hinterlistiges Ränkespiel rief Kämpfe hervor, die fast

20 noch unheilvoller wirkten, als die Einfälle der Barbaren. Die beiden Männer, die ihrem kleinen Sohne den Thron erkämpft hatten, Ardabur und Aspar, ge- hörten dem Ostreiche an und mussteu nach ihrem V- Siege dorthin zurückkehren. Castinus, der in der

25 letzten Zeit des Honorius Reichsfeldherr des Westens

gewesen war, hatte die Erhebung des Johannes, wenn

auch nicht herbeigeführt, so doch nicht verhindert,

V und wurde dafür mit Verbannung bestraft. Zwei

Männer gab es unter den Offizieren des Reiches, die

30 alle andern so hoch überragten, dass sie für die Neu- besetzung seiner Stelle in erster I^inie geeignet schienen, Aetius und Bonifatius; doch keiner von beiden wollte der Placidia passen. 1/ Zu Durostorum (Silistria) um das J. 391 geboren,

104 VII. Die Auflösung des Reiches,

war Flavius Aetius schon in der Wiese von dem Kriegslärm umtobt gewesen, der an den Ufern der Donau ja fast niemals zur Ruhe kam. Sein Vater Gaudeutius war ein angesehener Offizier gewesen, der bis zum Magister Militum aufstieg, aber dann bei 5 einem Soldatenaufstand erschlagen wurde. Damals kam es nicht selten vor, dass Söhne einflussreicher Eltern schon als Kinder in die Matrikel eines vor- nehmen Beamtenkollegiums eingetragen wurden, um dessen Gehalt zu empfangen und nach dem Dienst- lo alter schon früh darin aufzurücken. So wurde auch Aetius dem Officium des Reichspräfecten zugeteilt, noch ehe er dem Knabenalter entwachsen war; aber da der Tod ihn früh der Unterstützung seines Yaters beraubte, war seine Beförderung keine glänzende ge- i5 Wesen. Im Jahre 425 war er nur zu dem bescheidenen Amte eines Cura Palatii gelangt, als die Wirreu, die nach dem Tode des Honorius eintraten, ihn aus dem Civildienst herausrissen, um ihn in eine ganz andere, viel mächtigere Stellung zu versetzen. Was ihm dazu 20 verhalf, waren die engen Beziehungen, in die er schon seit seinem fünfzehnten Jahre zu den Feinden des Reiches getreten war. Als Stilicho 405 jenen Vertrag zur Plünderung des Ostreiches schloss (V S. 375), wurde Aetius dem Alarich als Geisel übergeben und 25 blieb drei Jahre in seinem Lager. Dadurch lernte er Sprache und Sitte der Gothen und gewann sich ihre Zuneigung. Der König selbst betrachtete ihn wie seineu Sohn; nachdem er ihn bei der Kündigung lies Vertrages hatte ausliefern müssen, stellte er, sobald so er mit Honorius Friedensverhandlungen eröffnete, gleich die Bedingung, dass sein Liebling ihm wiedergegeben werde. Statt dessen musste Aetius bei den Hunnen Geisel werden, als sie dem Kaiser gegen Alarich

10. Aetius iiiul Geiserich. 105

Hilfstruppen stellten (V S. 402), und knüpfte so auch

mit diesem Volke persönliche Verbindungen an, die

für ihn noch folgenreicher werden sollten. Zurück-

p-ffekehrt, heiratete er die Tochter des früheren Comes

5 Domesticorum Carpilio, die sich der Abstammung aus gothischem Königsblute rühmte, was die Bande, die ihn mit den nordischen Barbaren verknüpften, noch fester schloss. So konnte Johannes, als er hunnische Scharen für sich anwerben Hess, keinen geeigneteren

10 für diesen Auftrag finden, als Aetius, obgleich dieser zu jener Zeit noch Civilbeamter war. Schon oben (S. 95) haben wir erzählt, wie er erst nach dem Sturze des Usurpators mit seinen Hilfstruppen in Italien eintraf, aber durch Waffengewalt erzwang, dass ihm

j5 nicht nur Amnestie gewährt, sondern auch ein Kom- mando übertragen wurde, das ihn vor der Rache der Placidia schützen konnte. Wenn sie diesen Mann, der seine Stellung ertrotzt hatte, nicht zu ihrem obersten Feldherru machte, sondern ihn mit dem bescheidenen

-20 Range eines Comes in Gallien, möglichst fern dem

Hofe, für sich kämpfen Hess, so ist dies begreiflich

und entschuldbar, obgleich rückhaltloses Vertrauen ihr

selbst und dem Reiche wohl nützlicher gewesen wäre.

Ganz anders stand Bonifatius zu ihr. Er hatte

25 sie während ihrer Verbannung mit Geldmitteln unter- stützt, und indem er Johannes zwang, einen grossen Teil seiner Truppen nach Africa zu senden, ihr die Eroberung des westlichen Reichsteils sehr erleichtert (S. 90). Und nicht nur um sie selbst und ihren kleinen

30 Sohn, sondern auch um das Reich hatte er sich hoch- verdient gemacht. Denn er war es ja gewesen, der Athaulf mit eigener Hand schwer verwundet und so wahrscheinlich die Gothen an einem Einfall in Italien verhindert hatte (S. 54). Doch für kleine Seelen ist

106 VII, Die Auflösung des Reiches.

die Dankbarkeit eine schwere Last, die sie ihren Wohltätern oft mehr entfremdet, als verpflichtet. Uud den Leistungen des Bonifatius standen doch auch arge Verfehlungen gegenüber. Er hatte sich mit seinem Vorgesetzten Castinus entzweit und des Oberbefehls 5 von Africa ohne Erlaubnis des Kaisers bemächtigt (S. 66). Die Unbotmässigkeit, die er so bewiesen hatte, konnte auch Placidia bedrohen, wenn er dazu berufen wurde, in ihrer unmittelbaren Umgebung zu wirken. Zudem war sein geschlechtliches Leben nichts 10 weniger als tadellos, was der züchtigen Christin be- sonders anstössig sein musste. Nach dem Siege über Johannes hatte sie ihn zu sich geladen, und stolzer Hoffnungen voll, war er gekommen. Doch sie be- o-nügte sich damit, ihn mit dem leeren Titel eines 15

OD ^

Comes Domesticorum abzufinden, und schickte ihn dann nach Africa zurück, damit er, wie Aetius, dem Hofe nicht zu nahe sei. Zum Magister Militum wurde ein gewisser Felix ernannt, und bald sollte sich zeigen, dass diese Wahl keine schlechte w^ar. 20

Im J. 427 gelang es ihm, mit gothischen Hilfs- -^ truppen die Hunnen aus Pannouien zu verdrängen und die Donaugrenze, die fast seit einem halben Jahr- hundert verloren war, für das Westreich herzustellen. Schnell erhob sich an den Ufern des Stromes eine 25 Eeihe neuer Burgen, uud Felix wurde mit dem Consulat des folgenden Jahres (428) belohnt. Doch was für ihn noch erfreulicher war, der Sieg beraubte einen Mann, der sein Nebenbuhler werden konnte, seines wichtigsten Stützpunktes. Denn Aetius stand mit den 30 Hunnen in den engsten Beziehungen. Sie hatten ihm die Truppen geliefert, durch die er seine Ernennung zum Comes erzwungen hatte, und dass ihre Wohn- sitze die Grenzen Italiens unmittelbar berührten, hatte

10. Aetius und Geiserich. 107

ihm die Möglichkeit gewährt, sie gegebenen Falles

schnell zu seiner Hilfe herbeizuholen. Als er zu un-

,, bescliränkter Macht gelaugt war, hat er daher das

kaum eroberte Land ihnen freiwillig wieder abgetreten,

.5 ein deutliches Zeichen, wie sehr die immer drohende Gefährdung des Reiclisfeldherrn auch das Reicli selbst gefährdete. Einstweilen aber durfte Felix hoffen, sich o-e^eu Aetius gesichert zu haben, und strebte nun danach, den Bonifatius, der als Verwalter der unent-

10 behrlichen Kornprovinz noch gefährlicher schien, un- schädlich zu machen.

V Gleich nach dem Siege über die Hunnen, ja viel- leicht noch während Felix gegen sie im Felde stand, wurde Placidia veranlasst, den Bonifatius nach Ravenna

1.5 zu berufen. Dieser argwohnte nicht ohne Grund, dass man ihn mindestens seines Kommandos, vielleicht gar des Lebens berauben wolle. Denn dass es dem Reichs- feldherrn auf einen Mord nicht ankam, hatte er erst

V kurz vorher bewiesen, indem er sogar zwei Geistliche, 20 deu Bischof Patroclus von Arelate und den römischen

V Diakonen Titus, umbringen Hess. Bonifatius weigerte sich zu kommen, und da dies als offene Auflehnung gegen die Krone gelten konnte, wurde noch im Jahre 427 ein Heer gegen ihn eingeschifft, an dessen Spitze

1^ nicht weniger als drei Feldherren standen, Mavortius, Gallio und Sanoeces. Offenbar fürchtete Felix einen starken Sieger als einheitlichen Beherrscher Africas und erwartete, dass bei solcher Teilung des Kommandos jeder der Dreie die Macht der andern hemmen werde.

30 Dies sollte vollständiger in Erfüllung gehn, als seinen Wünschen entsprach. Bonifatius konnte das Feld nicht halten und musste sich belagern lassen. Unter seinen Gegnern aber gab es Streit, und durch deu Verrat des Sanoeces wurden dessen beide Genossen getötet.

108 VII. Die Auflösung des Reiches.

Bald darauf fiel auch er selbst, und Bonifatius war wieder Herr in Africa; doch konnte ihm nicht ver- borgen sein, dass ihn trotz seines Sieges noch schwere Gefahren bedrohten.

Die Länder nördlich des Mittelmeers waren alle 5 von den Barbaren schrecklich verwüstet; doch ihre Plünderer wurden zugleich ihre Helfer. Denn gegen gutes Geld Hessen sich aus ihnen jederzeit starke Heere bilden, während die Mauren des africanischen Wüsten- randes für die Werbung nur ein sehr zweifelhaftes 10 Material boten. Zudem hatten sie in dem Kriege, den die Römer gegeneinander führten, eine günstige Ge- legenheit erkannt, um raubend und verwüstend in die ■^ Provinzen einzufallen, und Bonifatius, der einen zweiten Augriff von Italien her erwarten musste, war nicht in 15 der Lage, diesen neuen Feinden entgegenzutreten. Und wirklich landete sehr bald der Comes Sigisvultus, ' dem Felix, durch Schaden klug geworden, das einheit- liche Kommando in Africa übertragen hatte, mit einer Schar gothischer Söldner und breitete seine Macht 20 gefahrdrohend aus. Bonifatius durfte den Sieg nur erhoffen, wenn er jenem nicht schwächliche Africauer, sondern ein gleichwertiges Heer entgegenstellen konnte; germanische Krieger aber waren für ihn nur aus Spanien zu erlangen, wo damals Gunderich als König 25 der Vandaleu und Alanen die beherrschende Stellung einnahm (S. 63). An ihn wandte sich Bonifatius um v- Bündnis und Hilfe und versprach ihm Schiffe zu stellen, -^ die sein Heer über die Meerenge befördern sollten. Wenn er so einen barbarischen Herrscher in seine 30 Dienste nahm, so tat er damit nichts anderes, als was man in ßavemia und Constantinopel längst zu tun gewohnt war. Und wenn ein germanischer Stamm, der gut bezahlt und dadurch in zuverlässiger Treue

10. Aetius und Geiserich. 109

erhalten wurde, in Africa hauste, so schien dies die Kräfte des Landes eher zu steigern, als zu schwächen. Nur darin verrechnete er sich, dass er meinte, die Fremden würden sich damit begnügen, abhängige 5 Bundesgenossen des Reiches zu bleiben, wenn sie auf dessen Korntribute nicht mehr angewiesen waren, sondern deren Quelle selbst in Händen hielten.

In Raveuna begriff man die Gefahr besser. Ein »/ starkes Heer wurde nach Spanien gesandt, um dort / 10 die Vandalen zurückzuhalten, und im Lager des Boni- fatius erschien Darius, ein Mann vornehmsten Ranges, der mit ihm über einen Frieden unterhandeln sollte. Dem aufrührerischen Feldherrn wurde bis auf weiteres sein Kommando in Africa belassen, wogegen er seinen 15 Sohn Verimodus als Geisel seines Wohlverhaltens dem Abgesandten der Kaiserin übergab. Doch seine Unter- werfung, die gegen Ende 428 erfolgt zu sein scheint, kam zu spät. Wahrscheinlich hatte er die Schiffe, auf denen die Vandalen nach Africa übersetzen sollten, 20 schon abgeschickt, und erst in Spanien angelangt, konnten sie leicht zurückgehalten werden, auch wenn ihre Führer den Gegenbefehl erhielten. Und wollte Bonifatius an die Meerenge ziehen, um dort die Landung der Vandalen abzuwehren, so musste er sich durch V 25 die Scharen der Mauren durchschlagen, die eben da- mals in vollem Aufstande waren und seinen Marsch jedenfalls sehr aufgehalten, vielleicht auch ganz ver- hindert hätten. So war es nicht mehr abzuwenden, dass das Unheil seinen Gang ging. 30 Um diese Zeit trat bei den Vandalen ein Re-

gierungswechsel ein und brachte den Mann ans Ruder, den die Römer bald mehr als jeden andern fürchten ■^und hassen sollten. Im Jahre 428 starb Gunderich, und sein Halbbruder Geiserich wurde auf den Schild

110 Vll. Die Auflösung des Reiches.

gehoben, obgleich er uur der Bastard einer- Sklavin \ war. Von mittlerem Wuchs und durch einen Sturz vom Pferde hinkend, konnte er nicht durch seine Gestalt imponieren; mit seinen Mannen zu zechen und zu schmausen, hatte er geringe Neigung, und seine :> finstere Schveeigsamkeit, aus der nicht selten ein wilder Jähzorn hervorbrach, war wenig o-eeiornet, die Herzen germanischer Krieger zu gewinnen. Misstrauisch und grausam, hat er gegen die, welche ihm am nächsten standen, am schrecklichsten gewütet, und sein Wort lo pflegte er nicht länger zu halten, als ihm selbst das nützlich schien. Doch war er ein Organisator, wie es unter den wilden Deutschen jener Zeit wohl keinen zweiten gab, und man durfte vertrauen, dass die tief ^ versteckten Pläne, die er mit zäher Schlauheit verfolgte, i.") immer zum Ziele führten. Vor allem aber wusste er den religiösen Fanatismus in seinen Scharen auf- zustacheln und sie dadurch zu todverachtendem Helden- mute zu begeistern.

Wie die orthodoxen Spanier sich schaudernd er- 20 v zählten, war er in ihrer Konfession aufgewachsen und erst in reifen Jahren zum Arianismus, als dem Glauben seines Volkes, abgefallen, um ihn dann mit dem leidenschaftlichen Eifer des Apostaten zu verteidigen. Sehr verschieden von den meisten anderen Sekten, 20 hatten die Schüler des Arius anerkannt, dass auch das Bekenntnis ihrer Gegner vom Himmelreich nicht ausschliesse (HI S. 387); doch ihre milde Toleranz hatte sie der herrschenden Kirche noch verhasster gemacht und zu um so härterer Bedrückung geführt. :i() Für den Germauen war Rache Pflicht, und Geiserich übertrug dies auch auf das religiöse Gebiet. Durch ihn ist der Arianismus allen seineu Überlieferungen v entgegen zum Verfolger geworden; auch dies aber

10. Aetius und Geiserieli. 111

förderte seine politischen Ziele. Denn der gemein- same Hass gegen die orthodoxe Kirche verband ihn mit den Douatisten nnd brachte so eine Partei auf seine Seite, die in Africa nach Millionen zählte

5 (III S. 371).

Von den Plünderungen der Barbaren weniger heimgesucht, als alle übrigen Teile des Römerreiches, scheint Africa damals der Zufluchtsort für viele wohl- habende Flüchtlinge aus Italien, Gallien und Spanien kT 10 geworden zu sein. In den elend ausgesogenen Pro- vinzen des westlichen Europa erzählte man sich mit neidischem Staunen Wundenliuge von seinem Reich- tum, seiner Fruchtbarkeit, seinem blühenden Handel. Schon Alarich hatte sich dieser Schatzkammer, die

15 unerschöpflich schien, wieder und wieder zu be- mächtigen versucht; dann hatten auch seine Nach- folger von Spanien aus den Übergang gewagt, aber ihre Scharen waren kläglich im Meere versunken (S. 59). Doch die Vaudalen waren durch die Schiffe,

2) die ihnen in den eroberten Hafenstädten zur Beute wurden, mit der Seefahrt besser vertraut geworden:

V schon 425 hatten sie die balearischen Inseln plündern . können und dann auch Sardinien und Sicilien heim- gesucht. Doch ihr u-anzes Volk nach Africa überzu-

•25 setzen, namentlich wenn eine feindliciie Macht es am andern Ufer erwartete, dazu hätten ihre eigenen Mittel nie gereiciit. Geiserich begrüsste daher das Anerbieten des Bonifatius mit Freuden; seine Mannen aber waren des langen Wanderns müde und mochten

30 die Wohnsitze, in denen sie sich schon einzuleben

V begannen, nicht gleich wieder verlassen. Da wusste er es ihnen so darzustellen, als ob er auf unmittel- baren Befehl der Gottheit handele, und wenn auch widerwillig, folgten sie seinem Rufe. Als das Heer,

112 ^'11. Die Auflösung des Reiches.

(las Placidia nach Spanien geschickt hatte, sie aufzu- halten suchte, Hess er seinen Völkern eine Bibel, wohl die gothische des ülfilas, vorangetragen, und unter diesem Zeichen schlugen sie die Feinde so vollständig, dass man den Verlust der Römer und 5 v ihrer Bundesgenossen auf 20000 Mann schätzte.

Während Geiserich seine Scharen, denen sich v auch zahlreiche Gothen angeschlossen hatten, mit Weibern, Kindern und Sklaven an der Meerenge versammelte, hielten die Sueben die Zeit für ge- lo kommen, sich des leergelassenen Landes im südlichen Spanien zu bemächtigen. Er aber war vorsichtig genug, sich bei einem so gefährlichen Unternehmen, wie er es vorhatte, den Rückzug zu sichern. Mit einem Teil seiner Mannen kehrte er um und brachte i5 den Eindringlingen bei Emerita eine vernichtende Niederlage bei; ihr König Hermengarius ertrank auf der Flucht im Guadiana. Dann überschritten die Vandalen im Mai 429 die Meerenge. Indem ein Schiff nach dem andern sich au der Küste Africas 20 entlud, stellte er eine Zählung seiner waffenfähigen / Mannschaft an und teilte sie danach in achtzig Tausend- schaften ein. Wahrscheinlich war er der erste ger- manische Herrscher, vielleicht Marbod ausgenommen, \/ der in dieser Weise versuchte, seiner Heeresmacht 25 eine taktische Gliederung zu schaffen und so den Krieg zu organisieren.

Ohne Zweifel wusste er schon, dass Bonifatius in den Dienst der Kaiserin zurückgekehrt war, und dies verlieh ihm das unbestreitbare Recht, nicht als :^o Bundesgenosse, sondern als Feind aufzutreten. So besiegelte die Unterwerfung des Unglücksmenschen das Verderben, das seine Erhebung heraufbeschworen hatte. Die blühendste und reichste Diöcese, die es

10. Aetius und Geisericli. 113

im westlichen Reichsteil gab, hatte sich den Barbaren

erschlossen, und sie waren nicht blöde, sich deren

j/8chätze anzueignen. Plündernd, sengend und mordend

durchzogen sie das Land; selbst die Kirchen gingen

5 in Flammen auf, und die orthodoxe Geistlichkeit war

am wenigsten vor Folter und Tod gesichert. •^ Mit gothischen Hilfstruppen, vielleicht denselben,

^ die Sigisvult uach Africa geführt hatte, stellte sich Bonifatius dem Geiserich zur Schlacht, wurde aber

10 besiegt und musste im Juni 430 hinter den Mauern von Hippo Regius Schutz suchen. Während er hier belagert wurde, starb am 28. August der Bischof der Stadt, sein Freund und geistlicher Ratgeber Augustinus. So endete ein Leben, das überreich an Kampf und

15 Arbeit, aber auch an Erfolgen gewesen war, unter dem Drohen wilder Barbaren, die seine Kirche ver- folgten und seiner Heimat das Verderben brachten. Vierzehn Monate hielt sich die Stadt; dann hoben die Vandalen, durch Nahrungsmangel gezwungen, die

20 Belagerung auf. Denn selbst in dem reichen Africa waren diese Wanderhorden, nachdem sie das Land so schonungslos verwüstet hatten, vor dem Hunger nicht geschützt.

Unterdessen hatte man auch in Constantinopel

25 begriffen, was der Verlust der Kornkammer Roms für vdas ganze Reich bedeutete. Im Sommer 431 landete unter Führung Aspars ein oströmisches Heer in Africa, und auch aus Italien kamen neue Truppen- sendungen. Man konnte eine zweite Schlacht wagen,

30 unterlag aber auch diesmal, und damit erlahmte der

Widerstand der Römer. Denn Placidia kränkte der

Verlust der unentbehrlichen Kornprovinz weniger, als

der Übermut ihres Hausmeiers, und um sich seiner

^ zu entledigen, berief sie 432 Bonifatius mit dem

Seeck, Untergang der antiken Welt. VI. o

114 VII. Die Auflösung des Reiclies.

grössten Teil seines Heeres nach Italien. Die Ver- teidigung Africas blieb Aspar überlassen, der mindestens bis zum Jahre 434 sich dort aufhielt, aber mit der geringen Zahl von Truppen, die er behalten hatte, nichts Nennenswertes ausrichten konnte. 5

Nachdem Aetius 425 erzwungen hatte, dass Pla- cidia ihm das Kommando in Gallien übertrug, hatte er die Gothen, als sie Arelate angriffen, noch in dem- ^ selben Jahre zurückgeschlagen. Dann hatte er 428 durch Siege über die Franken die Rheingrenze ganz lo oder teilweise wiederhergestellt. Zur Belohnung dafür wurde er 429 zum Magister Militium ernannt, blieb aber trotzdem Untergebener des Felix, weil dieser gleichzeitig die Würde des Patricius empfing. Aber schon war dessen Macht der Placidia unbequem ge- is worden. Um ihr ein Gegengewicht zu schaffen, be- orderte sie Aetius nach Italien und übertrug ihm den Kampf gegen die Juthungen in Noricum. Nachdem er Anfang 430 als Sieger nach Ravenna gekommen war, hetzte sie ihn gegen Felix auf, indem sie ihm 20 einflüsterte, dieser stehe ihm nach dem Leben. Ob dies auf Wahrheit beruhte oder nicht, jedenfalls bot es Aetius den Anlass, einen Soldatenauf rühr anzuzetteln. Der Patricius floh in das Asyl einer Kirche, wurde aber auf ihren Stufen erschlagen; seine Gattin Padusia 25 und der Diakon Gruuitus teilten sein Schicksal.

So o-elano-te im Mai 430 Aetius zur höchsten - Gewalt im Westreiche, obgleich ihm die Kaiserin die Würde des Patriciats noch vorenthielt. Doch wenn - sie hoffte, dadurch seine Macht niederzudrücken, so 30 sollte sie bald wahrnehmen, dass diese nicht auf Hang und Titel, sondern auf dem Vertrauen des Heeres beruhte, und ihn ebenso bitter hassen, wie seinen Vorgänger. Er aber wusste, was ihm von der Kaiserin

10. Aetiiis und Geisericli. 115

drohte, und warb Bundesgenosseu gegen sie, selbst auf Kosten des Reiches. Als ihn ein Aufstand der Provinzialen, der sich nur mit Waffengewalt nieder- schlagen Hess, 431 nach Noricum rief, erneuerte er 5 mit dem benachbarten Hunnenreiche seine alten Ver- bindungen und lieferte ihm durch Vertrag Pannonien wieder aus, das Felix erst vier Jahre vorher dem Reiche zurückgewonnen hatte (S. 106). Aus den v/ Burgen an der Donau, deren Erbauung man als

10 glänzende Ruhmestat der neuen Regierung pries, mussteu die Besatzungen herausgezogen und die leeren Mauern einem wilden Nomadenvolke zur Zerstörung überlassen werden. Dass Placidia voll tiefen Grimmes war und die erste Gelegenheit benutzte, um Aetius zu

15 beseitigen, war ganz berechtigt, wenn sie nur nicht zu diesem Zwecke Africa ebenso preisgegeben hätte, wie er Pannonien.

Einstweilen sah sie sich freilich gezwungen, ihren Hass noch zu verbergen, ja sie machte den Aetius

^0 sicher, indem sie ihm das höchste Zeichen kaiserlicher

Gunst, das Consulat für das nächste Jahr (432), verlieh.

Gleich darauf aber sollte sich die Gelegenheit, nach

>^der sie suchte, darbieten. Kaum war der Feldherr

von der Donau zurückgekehrt, so erfuhr er, dass die

25 Burgunder das nördliche Gallien plünderten, und da- durch ermutigt, auch die Franken, die er erst wenige Jahre vorher besiegt hatte, von neuem gegen das Reich in WafPen standen. P]r zog ihnen noch im Jahre 431 entgegen, drängte zuerst die Burgunder zurück und ^30 zwang Anfang 432 die Franken, ihre Verträge zu ^erneuern. Dann wandte er sich in den Westen des Landes, wo in den Stürmen der vorhergehenden Jahre tlie Aremoricaner sich vom Kaisertum losgesagt und einen freien Räuberstaat gegründet hatten, und unter-

8*

116 VII- Die Auflösung des Reiches.

warf ihn wieder den harten Steuern des Reiches. Auch in Spanien erwartete man, dass seine Waffen, nachdem die Vandalen abgezogen waren, die Sueben zur Ruhe bringen würden. Die Gesandtschaft, die diese Bitte überbrachte, wandte sich, was sehr bezeichnend ist, 5 nicht nach Ravenua an den Kaiserhof, sondern un- mittelbar an Aetius. Denn mit Recht nahm man an, dass er Krieg führen könne, ohne Placidia zu fragen. Und wirklich schickte er einen Offizier als Gesandten nach Spanien; doch selber hinzukommen, fand er nicht lo mehr die Zeit. Denn während er im fernen Westen kämpfte, hatte Placidia seine Abwesenheit benutzt, um ihn seines Amtes zu entsetzen und es auf Boni- - fatius zu übertragen, den Einzigen, der dem Aetius im Kampfe gewachsen schien. Dieser aber war ent- i5 schlössen, seine Macht mit den Waffen in der Hand zu behaupten, und sein Heer gehorchte ihm allein und kümmerte sich nicht um die Befehle, die mit der Unterschrift eines Kindes, von einem Weibe diktiert, aus Ravenua kamen. So entbrannte von neuem ein 20 Bürgerkrieg, aber jetzt zum erstenmal wurde er nicht um das Kaisertum geführt, sondern um die Stellung des Oberfeldherrn.

Während das Heer des Bonifatius übergesetzt wurde, kehrte Aetius in fliegender Eile nach Italien 25 zurück, um sich ihm in den Weg zu werfen, ehe es hinter den uneinnehmbaren Mauern von Ravenua Deckung finden konnte. Noch kurz bevor es die Festung erreichte, bot er ihm bei Ariminum die Schlacht; doch sie entschied gegen ihn. Aber wenn :w er sein Amt auch nicht länger behaupten konnte, brauchte er doch nicht für sein Leben zu fürchten, weil sein tapferes Gefolge ihm genügenden Schutz verlieh. Er blieb daher ruhiir in Italien und zo»- sich -

10. Aetius und Geiserich. 117

nur in ein befestigtes Landhaus zurück, um seine Zeit zu erwarten.

Schon nach zwei Monaten starb Bonifatius, wie man sich erzählte, an den Folgen einer Wunde, die 5 er in der Schlacht bei Ariminum empfangen hatte; doch das Unheil, das er über das Reich herauf- beschworen hatte, sollte nicht mit seinem Leben enden. Zu seinem Nachfolger wurde sein Schwiegersohn Sebastianus ernannt, und dieser suchte sich des ge- t^io fährlichen Nebenbuhlers zu entledigen, indem er dessen Landsitz plötzlich überfallen Hess. Aetius aber ver- mochte sich nach Rom zu retten und im Hafen an der Tibermündung ein Schiff zu gewinnen, das ihn nach Dalmatien brachte. Von dort gelangte er nach

15 Pannonien zu den Hunnen, und ihr König Ruas, den er sich erst kürzlich verpflichtet hatte, war bereit, ihm seine Unterstützung zu leihen. Während Aetius mit einer Horde des wilden Volkes gegen Ravenna heran- zog, baten seine Gegner die Gothen um Hilfe; doch

20 wie es scheint, kamen diese zu spät. Placidia wurde gezwungen, ihm sein Amt wiederzugeben und jetzt (433) dessen Würde noch durch den Patriciertitel zu erhöhen. Sebastianus floh nach Constantinopel, und da er bald auch dort sein Leben bedroht sah, zu dem Westgotheu-

25 könig Theodorich. Aber auch dieser trat zu Aetius in engere Beziehungen. Da suchte sich der verfolgte Feldherr in Spanien eine eigene Kriegsmacht zu schaffen, und wandte sich, als dies misslang, nach Africa zu Geiserich, der den gefährlichen Menschen

30 umbringen Hess. Wer im Römerreiche damals kriege- rischen Ruhm erlangte, hatte eben nur die Wahl zwischen höchster Macht und gewaltsamem Tode. -' Unterdessen hatte Aetius die Witwe des Bonifatius, Pelagia, veranlasst, sich mit ihm zu verheiraten, und

1[8 VII. Die Auflösung des Reiches.

bemächtigte sich dadurch der ganzen reichen Hinter- lassenschaft seines früheren Feindes und jedenfalls auch der Buccellarii desselben. Denn obgleich diese freie Männer waren, betrachtete man sie doch als Teil des Vermögens und pflegte sie mit diesem zu 5 vererben oder auch zu konfiszieren. So war die Macht des Aetius fester gegründet als je vorher und konnte in der Folgezeit nur noch durch Meuchelmord ange- tastet werden.

Einen Versuch, Africa wieder zu erobern, hat er lo nie gewagt, wohl weniger aus Furcht vor den Van- dalen, als vor dem Kaiser hofe. Denn jene galten für das schwächste und wenigst kriegerische unter den germanischen Völkern, und wer über Hilfstruppen der tapferen Gothen und der schrecklichen Hunnen i5 verfügte, brauchte daher an einem Siege über Geiserich nicht zu verzweifeln. Doch wenn Aetius durch das Meer von Ravenna getrennt war, mochte man dort gefährliche Intriguen gegen ihn spinnen, ohne dass er es hindern konnte, ja vielleicht gar ohne dass er 20 es erfuhr, ehe seine Stellung völlig untergraben war. Und schickte er einen andern F'eldherrn nach Africa, so wäre dieser, falls er als Sieger heimkehrte, ihm leicht zum überlegenen Nebenbuhler geworden. Sein Bestreben war daher immer, nicht die Vandalen zu 25 vernichten oder über das Meer zurückzutreiben, sondern mit ihnen zu einem Frieden zu gelangen, der ihm die Kornzufuhren Africas wenigstens teilweise sicherte.

Hippo, die Stadt des Augustin, hatte ihnen beiden . mutig widerstanden; gleich darauf aber verliessen sie 30 die Einwohner aus Furcht vor einer neuen Belagerung, und die Feinde steckten sie in Brand. Gleichwohl scheint Geiserich hier seine Residenz genommen zu haben, solange Karthago sich gegen ihn wehrte. Denn

10. Aetius und Geiserich. 119

ausser dem numidiseheu Cirta war dies die einzige Stadt Africas, die ihm noch ihre Tore zu schliessen waste. Trotzdem liess er sieh zu einem Friedens- Schlüsse bereit finden, wahrscheinlich weil er einen 5 neuen Augriff der beiden vereinigten Keichsteile fürchtete, vielleicht auch weil er dadurch Cirta ohne v/weiteren Kampf zu gewinnen hoffte. Am 11. Februar 435 wurde der Vertrag in Hippo abgeschlossen, der den Vandalen einen Teil der africanischen Diöcese, 10 wahrscheinlich den westlichen, Numidieu mit einge- schlossen, als "Wohnsitz zuwies. Nachdem er dann über vier Jahre Frieden gehalten und dadurch die t/ römische Bevölkerung sicher gemacht hatte, überfiel er am 19. October 439 plötzlich Karthago und nahm i/- i.-) es ohne Widerstand ein. Es wurde durch Edikt ver- kündet, dass die Einwohner alles, was sie an Kost- barkeiten besässen, auszuliefern hätten, und argwöhnte man, dass jemand etwas versteckt habe, so wurde er ^ grausam gemartert. Ein grosser Teil der Stadt fiel i^ 20 der Zerstörung anheim; die orthodoxen Kirchen, so- weit sie nicht dem arianischen Gottesdienst übergeben wurden, machte mau zu Ställen. Yor allem aber be- mächtigte sich Geiserich der Schiffe, die im Hafen lagen, und gewann damit eine Seemacht, die dem 25 römischen Reiche bald furchtbar werden sollte.

Als der Frühling nahte und damit die Schiffahrt eröffnet wurde, erwartete man, dass die Vandalen demnächst Italien heimsuchen würden. Am 3. März 440 erging der Befehl, die Befestigungen Roms in 30 verteidigungsfähigen Zustand zu setzen, und die Bürger wurden verpflichtet, im Falle eines Angriffs die Mauern - zu besetzen. Ebenso wurde Neapel, wahrscheinlich >.. auch andere Seestädte, neu befestigt und grosse Aus- hebungen vorgenommen. Zugleich wandte man sich

120 ^'11- Pi»-' Auflösung des Reiches.

um Hilfe an Theodosius und empfing von ihm das Versprechen, dass demnächst ein orientalisches Heer in Italien einrücken solle. Zwar blieb Rom diesmal noch verschont; doch landete Geiserich im Juni 440 in Sicilien, wo er nicht nur plünderte, sondern auch 5 den Arianisnius mit roher Gewalt zu verbreiten suchte, so dass der orthodoxen Kirche neue Märtyrer erstanden. Doch nachdem er Palermo vergeblich belagert hatte und auch bei einem Angriff auf Brnttien zurück- geschlagen war, erhielt er die Nachricht, dass Sebasti- 10 anus in Africa gelandet war (S. 117), und da er fürch- tete, dieser könne sich in seiner Abwesenheit Karthagos bemächtigen, kehrte er eilends heim.

So war die Gefahr von Italien durch einen Feld- herrn abgewandt, den es selbst von sich gestossen 15 hatte. Jetzt aber begriff mau auch in Constantinopel den Ernst der Lage, und Theodosius leistete, spät genug, die versprochene Hilfe. Er sandte 441 eine starke Flotte ans, die unter der Führung von Areo- vindus, Ansila und Germanus die Vandalen in Africa 20 selbst angreifen sollte. Doch die Vielköpfigkeit des Oberbefehls lähmte auch diesmal die Kraft des Ent- schlusses. Sie blieben den ganzen Winter über un- tätig in Sicilien, erschöpften durch ihre zügellose Soldateska die letzten Kräfte,, die dem unglücklichen 25 Lande nach den Plünderungen Geiserichs noch ge- blieben waren, und als der Frühling 442 kam und man endlich Taten von ihnen erwartete, zogen sie heim. Denn die Nachricht war gekommen, dass die Hunnen in Illyricum und Thracien eingefallen waren, 30 und die tapferen Feldherren wurden zurückgerufen, um das Land ihres eigenen Kaisers zu schützen. Immer- hin hatte dies Eingreifen des Ostreiches wenigstens eine moralische Wirkung: in der Furcht, dass es sich

10. Aetiiis und Geiserich. 121

wiederholen und dann bessere Erfolge haben könne, Hess sich Geiserich zu einem neuen Vertrage bereit finden. Zudem fühlte er sich in seinem eigenen Yolke nicht mehr sicher. Unter den Edeln hatte sich eine v^" Verschwörung gebildet, wahrscheinlich um die Söhne seines Bruders Gunderich, der vor ihm König ge- wesen war, auf den Thron zu erheben. Er liess sie mit ihrer Mutter töten, wütete furchtbar gegen ihre Anhänger und blieb seitdem ein misstrauischer Tyrann,

10 der seinem Argwohn immer neue Opfer schlachtete. So im Innern seines Reiches und zugleich von aussen her bedroht, entschloss er sich, den Kaiser zufrieden zu stellen, indem er ihm jährliche Kornlieferungen zusicherte und für die Erfüllung dieses Versprechens

15 seineu Sohn Huuerich als Geisel stellte. Zugleich

\/wurde Africa neu geteilt. Für sich und seine Van-

daleu nahm Geiserich die Kernlande um Karthago und

lieferte die ausgesogenen und verwüsteten Gebiete

des Westens, die ilim in dem früheren Vertrage zu-

20 gewiesen waren, die beiden Mauretanien und den

grössten Teil von Numidien, dem Reiche aus. Von

da an bis zum Tode Valentinians hielt Geiserich

-Frieden; seine Piratenflotten plünderten wohl das

Gebiet der Sueben in Spanien, aber nicht mehr die

25 Provinzen, die dem Kaiser noch geblieben waren, ja zeitweilig trat er mit diesem sogar in noch engere Verbindung.

Als Theodosius den fünfjährigen Valentinian zum Caesar ernannte, hatte er ihn zugleich mit seiner

so Tochter Licinia Eudosia verlobt (S. 92). Nachdem

V die Braut fünfzehn, der Bräutigam achtzehn Jahre alt geworden waren, wurde am 29. Oktober 437 in Con- stantinopel die Hochzeit gefeiert, und Placidia erwies

V sich dafür so dankbar, dass sie Illyricum an das Ost-

122 VII. Die Auflösung des Reiches.

reich abtrat. Nach Ravenna zurückgekehrt, ernannte Valentinian am 6. August 439 seine junge Frau zur Augusta, wahrscheinlich weil sie ihm kurz vorher ihr erstes Kind, eine Tochter geboren hatte, die sogleich getauft wurde und nach ihrer mütterlichen Grossmutter 5 den Namen Eudocia empfing. Diese wurde 445 mit Hunerich verlobt und dadurch ein so freundliches Verhältnis zu Geiserich hergestellt, dass man sich nicht scheute, ihm jene wertvolle Geisel zurückzugeben. Später erreichte man sogar, dass er am 25. Oktober 454 lo die Ordination eines rechtgläubigen Bischofs in Kar- thago duldete und damit wenigstens auf einige Zeit seine arianische Verfolgung unterbrach.

Wenn man wieder aus Africa Korntribute empfing, so reichten sie zwar vielleicht aus, um von der Be- i5 völkerung Roms den Hunger abzuwehren und das italische Heer zu erhalten, doch konnten sie jeden- falls nicht gross genug sein, um auch Gothen, Sueben und Franken damit satt zu machen. Als bei dem Eindringen der Vandalen der Hof seine Einkünfte aus 20 Africa versagen sah, "hatte er zu der nächstliegenden Aushilfe gegriffen und die Steuern der Gebiete, die ihm noch geblieben waren, entsprechend erhöht. Der Druck, der ohnehin arg genug war, mnsste sich da- durch so steigern, dass auch wohlhabende Familien 25 mit dem Ruin bedroht wurden. War es schon vorher nicht ungewöhnlich gewesen, dass die Mächtigen und Reichen sich den staatlichen Leistungen zu entziehen wussten und dafür den kleinen Mann um so grausamer auspressen Hessen, so wurde jetzt, wo die Steuern in .30 diesem Maasse anwuchsen, erst recht jeder <lazu ge- trieben, dass er sie, wenn er den erforderlichen Ein- fluss besass, von sich auf die unterdrückte Menge abwälzte. Und dazu kam, dass trotz der Not der Zeit

10. Aetius lind Geiserich. 123

v jeder, der mit dem Eintreiben der Gefälle zu tun hatte, an seinen Fingern etwas kleben Hess, so dass man doppelt so viel zu zahlen hatte, als in die kaiserlichen Kassen einlief. Dabei begnügte man sich nicht, denen,

5 die rückständig blieben, ihre Habe zu nehmen, sondern man unterwarf sie auch körperlichen Martern, damit sie vielleicht mit verstecktem Gelde herausrückten oder ihre Freunde aus Mitleid für die Gefolterten einträten. Wer über genügenden Grundbesitz ver-

10 fügte, sah sich nicht selten veranlasst, barbarische

Krieger zu sich einzuladen und ihnen einen Teil seiner

Ländereien abzutreten, damit sie ihn gegen die Steuer-

v/erheber verteidigten. Der arme Bauer aber tloh in

die Gebiete, die schon in der Gewalt germanischer

15 Stämme waren und daher den römischen Steuern nicht mehr unterlagen, oder er ging in die Berge und wurde Räuber. Die Banden, welche sich auf diese Weise bildeten und wieder den alten keltischen Namen der Bagauden, d. h. der Streitbaren, annahmen, waren im

20 südlichen Gallien schon zu Anfang des fünften Jahr- hunderts so angewachsen, dass sie 408 dem geschlagenen Heere des Sarus den Durchzug durch die Alpenpässe wehren konnten. Nach den neuen Bedrückungen aber, welche durch den Verlust Africas hervorgerufen wurden,

25 verbreiteten sie sich über ganz Gallien und Spanien, soweit diese Länder nicht schon in den Händen der Barbaren waren, wahrscheinlich auch über die ganze Ausdehnung der Alpen, deren Schluchten und Engen ihnen leicht zu verteidigende Zufluchtstätten boten.

30 Immer wieder mussten römische Heere gegen sie marschieren, die dann regelmässig jene ordnungslosen Haufen besiegten. Aber solange diese eine Gegend beherrschten, zahlte sie natürlich keine Steuern; und waren die Banden unterdrückt, so hatten sie solche

124 Vn. Die Auflösimg des Reiches.

Verwüstungen hinterlassen, dass das Land auch dann nichts hergeben konnte. Infolgedessen scheint alles, was westlich der Alpen lag, schon im Jahre 438 der kaiserlichen Kasse gar nichts mehr eingebracht zu haben, kostete aber desto mehr wegen der Kriege, die 5 fast ununterbrochen in diesen Provinzen tobten.

Denn seit man den germanischen Stämmen, die dort hausten, nicht mehr die versprochenen Korntribute leisten konnte, fühlten auch sie sich durch ihre Ver- träge nicht mehr gebunden. Als 433 die Sueben 11» v- einen Gesandten an den Hof schickten, kehrte er un- verrichteter Sache heim, offenbar weil man ihnen nichts zu bieten hatte, was sie für die Plünderungen, von denen sie lebten, hätte entschädigen können. Fast jedes Jahr hatten Aetius und seine Unterfeld- is herreu gegen Gothen oder Sueben, Franken oder Burgunder oder auch gegen die Bagauden zu kämpfen, und wenn er auch durch seine hunnischen Hilfstruppen meist Sieger blieb, konnte dies doch nicht verhindern, dass die Barbaren ihre Macht immer weiter aus- 20 breiteten. Köln und Mainz fielen in ihre Hände. Aus Trier, das früher das Centrum der Verwaltung- Galliens gewesen war, hatte der Praefect seine Re- sidenz nach dem weniger ausgesetzten Arles verlegt; die alte Hauptstadt des AVestens wurde viermal von 25 den Germanen erobert, ausgeplündert und teilweise, zerstört. Wie in den Pesten des Mittelalters viele nur daran dachten, den Rest des Daseins, das ihnen jeden Augenblick geraubt werden konnte, schwelgend zu geniessen, so lebten die Gallier unter diesen un- :!ü unterbrochenen Kriegen im Taumel der Verzweiflung- wüst dahin. Sie schmausten und zechten und er- götzten sich an feiler Weiblichkeit, ehe ihr ganzes Vermöo;en oder o-ar ihr Leben, wie sie das immer

10. Aetius und Geisericli. 125

erwarten mussteii, den Feinden zum Opfer fiel. Als i' Trier dreimal verwüstet war und die Bürger sich unter den rauchenden Trümmern kaum notdürftig- eingerichtet hatten, petitionierten sie an den Kaiser, 5 dass er sie wieder einmal durch Circusreunen amü- sieren möge. Man stand dem immer drohenderen Ver- derben mit so stumpfem Fügen in das Unvermeidliche t/ gegenüber, dass man es nicht einmal der Mühe wert fand, die Mauern der Städte ernstlich zu bewachen.

10 Durch das lange Walten der Despotie war der Bürger jeder Mitarbeit an den öffentlichen Dingen entwöhnt; der Kaiser und seine Beamten machten alles: mochten sie auch dafür sorgen, dass man nicht ausgeplündert oder totgeschlagen werde. Und konnten sie dies nicht

15 verhindern, nun, so war das eben Gottes Wille. „Kismet!" sagt der Türke, „Sudjba!" der Russe und zuckt dabei in fauler Ergebung die Achseln. Dies elende Verzichten auf eigenen Willen und eigene Tätigkeit ist das bezeichnende Merkmal lange ge-

20 knechte ter Völker.

Doch wenn das Versagen der africanischen Korn- zufuhr den Untergang des römischen Reiches besiegelte, so schuf es zugleich die Grundlage, auf der das Staaten- system des Mittelalters sich aufbauen sollte. Die Ger-

25 mauen wurden nicht mehr vom Kaiser gefüttert, und nur vom Plündern zu leben, war auf die Dauer un- möglich. Hatte sie die Erfahrung doch nur zu deutlich belehrt, dass sie mit dem Verwüsten des eroberten Landes die Kühe schlachteten, deren Milch sie ernähren

,30 sollte. Nur wenn sie in ewigein Umherziehen immer neue Landschaften ausbeuteten, konnten sie sich durch Raub erhalten. Dies war möglich gewesen, solange sie nur das geschwächte Römertum gegen sich hatten ; jetzt, wo Bruderstämme von gleicher Kraft und Wehr-

126 Vir. Die Auflösung des Reiches.

barkeit, wie sie selbst, sie auf allen Seiten einengten, mussten sie notgedruugen zu sesshafter Ausnutzung des Landes übergehen. Darum wurden sie selbst noch nicht Bauern; auch wenn sie es früher gewesen waren, hatten sie in jahrzehntelangem Wanderleben doch ver- 5 lernt, Pflug und Hacke mit eigner Hand zu führen. Dies aber hatten sie auch nicht nötig; denn selbst wenn sie nicht Tausende und Abertausende von Ge- fangenen zu ihren Knechten gemacht hätten, fanden sie doch auf den römischen Äckern überall Sklaven 10 und Colonen, die ihnen die harte Arbeit abnahmen. Freilich werden auch sie durch die langen, grausamen Kriege arg zusammengeschmolzen sein; doch hatten sie viel weniger gelitten, als ihre grundbesitzenden Herreu. Von den plündernden Horden wurde der 15 reiche Mann gefoltert, um den Versteck seiner Schätze zu verraten, und oft auch getötet; dem elenden Arbeits- tier, das in Lumpen ging und selbst nichts hatte, tat man nicht viel Böses an. In Africa erwartete das Landvolk den Einmarsch der Barbaren mit freudiger 20 Ungeduld, und auch in den andern Ländern, die sie in Besitz nahmen, fühlte es sich unter ihrer Herrschaft ganz wohl. Denn hatte der Colone auch seine Frucht- quote, wie früher an den alten Herrn, so jetzt an den neuen zu entrichten, so fielen doch die Steuern weg 25 und zugleich alle die Erpressungen und Martern, mit denen ihre Erhebung verbunden war.

Die Eroberer konnten sich das römische Steuer- system schon deshalb nicht aneignen, weil ihre staat- lichen Einrichtungen und Gewohnheiten viel zu primitiv w waren, als dass sie den komplizierten Apparat des- selben hätten handhaben können. Auch iiätten sie mit dem Ertrage kaum etwas anzufangen gewusst. Denn ihre Krieoe kosteten nichts, weil sie keine

10. Aetius und Geiserich. 127

Soldaten zu bezahlen hatten, sondern jeder Mann des Volkes ein Kämpfer war, der sich selbst kleidete und bewaffnete und meist auch selbst ernährte. Und die bescheidenen staatlichen Bedürfnisse, die sich sonst

5 noch darbieten mochten, Hessen sich leicht aus den Erträgen des ausgedehnten Grundbesitzes befriedigen, den ihre Könige gleich bei der Eroberung für sich genommen hatten. So hat Geiserich nicht nur die ganze Provinz Byzacena, sondern auch noch grosse

10 Teile der angrenzenden Gebiete zum Krongut gemacht. Die Pachten dieser Ländereien, die ebenso fruchtbar wie umfangreich waren, genügten ohne jeden Zweifel, um alles, was er für Hof und Verwaltung brauchte, überreichlich herzugeben.

15 Die Art, wie sich die Germanen ihres neuen

Grundbesitzes bemächtigten, war je nach den Zeiten und Provinzen verschieden. In Africa wurden die frühereu Eigentümer einfach totgeschlagen oder weg- gejagt, viele auch zu Sklaven gemacht, um für ihre

20 neuen Gebieter denselben Acker zu bebauen, dessen Pachten sie vorher müssig eingestrichen hatten. Familien, die noch vor kurzem reich und angesehen waren, denen aber die Vandalen auch alle ihre beweg- liche Habe genommen und selbst das Versteckte durch

25 grausame Folterungen abgezwackt hatten, sammelten sich scharenweise in Italien, um dort, so gut es ging, ihr Brot zu verdienen. Das Land, das ihnen gehört hatte, liess Geiserich vermessen und in gleichen Parzellen unter die vandalischen Krieger als erbliches Eigentum

30 verteilen, wobei ihnen jedenfalls auch die dazugehörigen Colonen und Ackerbausklaven zufielen. Nicht so gut organisiert, aber nicht minder gewaltsam wird die Besitznahme Spaniens durch die Sueben, Nordgallieus durch die Franken verlaufen sein. So wissen wir von

128 VII. Die Auflösimg des Reiches.

einer Köluerin aus guter Familie, dass sie anfangs zur Sklavin gemacht war und nach ihrer Freilassung als gelegentliche Aufwärterin bei germanischen Frauen ihren dürftigen Unterhalt gewinnen musste. Ohne Zweifel hatte sie vorher, wie alle angesehenen Bürger 5 des Reiches, über Grundbesitz verfügen können; doch ihre Ländereien waren den Barbaren zugefallen.

Dass eine andere, minder harte Form der Besitz- ergreifung daneben in Übung kam, scheint das Ver- dienst des Aetius gewesen zu sein, und wenn dies lo richtig ist, so war es gewiss nicht das geringste seiner Verdienste. Im Jahre 440 wies er einer Alaneuhorde die arg verwüstete Gegend von Valence an, um dort das Land mit den früheren Einwohnern zu teilen. Das Experiment misslang; die beiden Parteien gerieten i5 in Streit, die alten Grundherren wurden vei-jagt, und die Barbaren bemächtigten sich allein der Äcker. Ohne sich durch diese Erfahrung abschrecken zu lassen, erneuerte Aetius gleich darauf denselben Versuch, aber mit einem Volke, das schwer genug gebeugt war, um 20 keine Gewaltsamkeit von ihm befürchten zu müssen. Im Jahre 436 hatte er die Burgunden besiegt und ihre waffenfähige Mannschaft mit Hilfe der Hunnen fast ganz aufgerieben. Jetzt siedelte er die Reste des - V^olkes in Savoyen unter den gleichen Bedingungen au, 25 die er früher jenen Alanen gestellt hatte. In welcher Weise das Land damals verteilt wurde, ist nicht über- liefert; aber da wir wenige Jahrzehnte später dieselben Grundsätze dafür sowohl bei den Burgunden als auch bei den Westgothen in Geltung finden, dürfen wir 30 vermuten, dass sie auf Aetius zurückgingen, um so mehr, als sie an eine römische Übung anknüpften. Die Last der Einquartierung war nämlich im Jahre y 398 folgendermaassen im östlichen Reichsteil geregelt

10. At'tiiis und Geisericli. 129

worden, und was hier bestimmt war, wurde 438 mit der Einführung des Codex Theodosianus auch für den westlichen Rechtens. Das betroffene Haus sollte durch einen Beamten in drei Teile geteilt werden; von ihnen

5 sollte der Eigentümer sich den einen für seinen Ge- brauch auswählen, den zweiten der Einquartierte, und der dritte sollte wieder dem Eigentümer zufallen. Eine u- entsprechende Drittelung wurde jetzt auch für den Grundbesitz eingeführt, den die Römer den angesiedelten

10 Germanen abtreten sollten, aber mit dem sehr wesent- lichen Unterschiede, dass diese zwei Drittel bean- spruchten und dem früheren Besitzer nur eines blieb. Doch wurde dies einigermaassen dadurch aufgewogen, dass ihm zwei Drittel der Sklaven und Colonen zu-

15 gewiesen wurden, während der Germane nur eines er- hielt. Der Grund dürfte gewesen sein, dass die Eroberer von ihren Kriegszügen schon eine grosse Zahl erbeuteter Sklaven mitbrachten, vielleicht auch, dass sie ihren nomadischen Sitten gemäss das Land mehr für die

20 Viehzucht als für den Ackerbau gebrauchten und jene einer geringeren Zahl von Arbeitskräften bedarf. Da aber diese viel wertvoller waren, als die verwüsteten Grundstücke selbst, gewannen die Römer den grossen Vorteil, dass sie ihre Sklaven und Colonen auf einen

25 geringeren Raum zusammendrängen und dadurch ihren Anteil intensiver bewirtschaften konnten.

So mischten sich die Germanen unter die alten Grundbesitzer, und bald mussten sie sich auch mit ihnen vermischen. Und indem diese ihre höhere

30 Kultur geltend machten, unterwarfen sie ihre Sieger. Ihre deutsche Sprache, die den Römern ein bar- barisches Tdiom war, gaben jene im Laufe der Jahr- hunderte auf, und aus dem allmählichen Verwachsen beider Teile entstanden die Nationen, die wir heute

Seeck, Untergang der antiken Welt. VI. 9

130 VII. Die Auflösung des Reiches.

romanische nennen. Und doch waren nicht nur die stolzen Eroberer, die sich von ihren Colonen und Sklaven ernähren Hessen, sondern auch diese selbst zum grössten Teil germanischen Blutes. Denn schon seit den Tagen des Marcus waren aus den gefangenen 5 und unterworfenen Barbaren geknechtete Laudarbeiter geworden, und fast jeder der folgenden Kriege, soweit sie dem Römerreich Siege brachten, hatte ihnen Schick- salsgenossen hinzugefügt. Doch hatten die meisten ihren Ursprung längst vergessen und dienten jetzt ihren lo eigenen Volksgenossen, ohne sie als solche zu erkennen. So strömte von unten und oben die Flut der germa- nischen Einwanderung zusammen und gab den Yölkeru, die sich jetzt auf den Trümmern der antiken Welt ein- richten mussten, einen neuen Charakter, auch wo die 15 Sprache die alte blieb.

Elftes Kapitel.

Die Kodifikation des Hechts.

Während das Westreich in verzweifelten Kämpfen um seine Existenz zu ringen hatte, bereitete sich im Osten ein Friedenswerk vor, das für anderthalb Jahrtausende folgenreich werden sollte. Unter dem

5 Einfluss seiner klugen und hochgebildeten Gattin liess Theodosius II. den Plan für das Corpus Juris ent- werfen und die ersten Schritte zu seiner Verwirk- lichung tun.

Wahrscheinlich war das römische Recht nicht

10 besser, als manches der griechischen und orientalischen, die es vielfach beeinflusst haben. Doch durch die Eroberungen Roms wurde es zum Weltrecht, und das ist es geblieben, auch als der Grund seiner Geltung, das römische Reich, längst zusammengestürzt war.

15 In der Idee aber bestand auch dieses fort und sollte nach der Prophezeiung Daniels niemals untergehn. So war es für das Mittelalter zum Glaubenssatze ge- worden, dass das Kaisertum unveroiäno-lich sei. und mit ihm musste auch das altehrwürdige Recht, das es

20 geschaffen hatte, ewig währen. Dies aber verdankte es nicht seiner inneren Vorzüglichkeit, sondern nur seiner historischen Stellung. Und doch war seine Ge- schichte, die es so hoch erhoben hat, zugleich der Grund

9*

132 ^'If- T)ie Anflösuiis des Reiclies.

sehr vieler Unvollkommenheiteu, derea verderbliche Wirkung bis auf den heutigen Tag nicht aufgehört hat. In dem ältesten Rom, wie in allen primitiven Staaten, hatte man nur nach Billigkeit und nach den Gewohnheiten der Väter Recht gesprochen. Traten 5 beide in Widerspruch, so wird in den meisten Fällen wohl die Billigkeit das ÜbergeM'icht behauptet haben, ausser soweit religiöse Fragen auf die Entscheidung einwirkten. Diese aber machten sich im staatlichen, wie im privaten Verkehr immer wieder geltend, lo Jede Volksabstimmung wurde nichtig, sobald sich nach- weisen Hess, dass sie unter bösen Götterzeichen statt- gefunden habe; keiner konnte eine Erbschaft antreten, der nicht gewillt und fähig war, alle religiösen Pflichten ebenso zu erfüllen, wie es der Erblasser getan hatte. 15 Diese und viele ähnliche Bestimmungen griffen auf das tiefste ins praktische Leben ein. Z. B. konnten gewisse Opfer nur von Patriciern dargebracht werden; daraus hätte aber folgen müssen, dass niemals ein Plebejer einen Patricier beerben könne, und ohne 20 Zweifel wird man in der ältesten Zeit diesen Schluss wirklich gezogen haben. Als dann das Conubium gewährt war und Faniilienverbindungen zwischen den beiden Ständen immer häufiger wurden, Hess sich dies nicht mehr aufrecht halten. Doch das heilige Recht 25 war von den Göttern offenbart und daher für immer unveränderlich; aufheben durfte man es nicht, wohl aber umgehen. Wie man dies in jedem einzelnen Falle getan hat, können wir nicht mehr nachweisen, weil der grösste Teil dieser Rechtsentwicklung im so Dunkel der ältesten römischen Geschichte verschwindet; doch welchen Weg man dabei einschlug, das lassen uns die wenigen Beispiele, die überliefert sind, noch deutlich genug erkennen.

11. Die Kodifikation des Rechts. 133

Gewisse religiöse Handlungen gehörten von alters her zu den Obliegenheiten des Königs. Als man dann zur republikanischen Staatsform überging, wagte man weder sie abzuschaffen, noch sie einem Priester

5 zu übertragen. Man wählte einen lebenslänglichen Beamten, der den Titel König führte, aber gar keine anderen Rechte oder Pflichten besass, als jene fest vorgeschriebenen Handlungen zu vollziehen. Auf diese Weise konnte man das heilige Recht, soweit es einen

10 König forderte, unverändert lassen und es dem Buch- staben nach erfüllen; die Götter aber wurden be- trogen, indem an die Stelle desjenigen, der wirklich König gewesen war, im Verkehr mit ihnen ein anderer trat, der nur König hiess, ohne es zu sein.

15 Noch bezeichnender ist folgende Rechtsverdrehung.

Es war uralt heiliges Gesetz, dass kein Priester durch das Volk gewählt werden dürfe; der fortschreitenden Demokratie aber wurde dieser Grundsatz unbequem. Man umging ihn daher in höchst scharfsinniger Weise.

20 Nur was die Mehrheit des Volkes beschloss, konnte als Volksbeschluss gelten. So Hess man denn aus den 35 Tribus 17 auslosen und übertrug ihnen die Priesterwahl. Auch wenn alle Stimmen auf denselben Kandidaten fielen, hatte ihn so doch nur die Minderheit

2.5 des Volkes gewählt, also nicht das Volk, und der Buchstabe des Gesetzes blieb gewahrt.

Einen geistlichen Stand hat das heidnische Rom nie besessen. Die Priestertümer wurden als Ehren hoch geschätzt, aber nur als eine Art von Neben-

30 ämtern verwaltet, die mit jeder anderen staatlichen und wirtschaftlichen Beschäftigung vereinbar waren. Dies erhielt der römischen Geistlichkeit ihre enge Fühlung mit dem praktischen Leben, ohne doch ihre Überzeugung zu erschüttern, dass das heilige Recht

134 VH- Die Auflösung des Kelches.

keinerlei Veränderung dulde. So gelangte man zu Ausgleichen von der Art, wie die angeführten Beispiele sie uns zeigen. Wenn die Pontifices in der Ent- wicklung des römischen Rechtes die Führung über- nahmen, so geschah dies nicht nur, weil sie die hei- 5 ligen Satzungen, die immer auch auf die weltlichen Verhältnisse einwirkten, am genauesten kannten, sondern mehr noch, weil diese Kenntnis ihnen die Möglichkeit bot, sie am geschicktesten zu umgehen. So steht schon an der Schwelle der römischen Rechts- lo bilduug jenes Deuteln am Buchstaben des Gesetzes, das als verhängnisvolle Erbschaft des Altertums der Juristerei noch heute ihr Gepräge gibt.

Die Religion war es gewesen, die zuerst das Rechtsgefühl der Römer fälschte und demoralisierte. i5 Doch bald sollte der ungesunde Scharfsinn, der sich an ihren Satzungen ausgebildet hatte, auch auf dem rein weltlichen Gebiete für seine Betätigung reichliche Gelegenheit finden. Denn jene Unveränderlichkeit, die dem geistlichen Rechte seiner Natur nach anhaftete, 20 wurde auch auf das profane zwar nicht grundsätzlich übertragen, wohl aber in der Regel angewandt. Man hatte sich durch das Sacralrecht gewöhnt, veraltete Gesetze nicht abzuändern, sondern durch geschickte Umdeutung in ihr Gegenteil zu verkehren, und blieb 25 dieser schlechten Gewohnheit treu, auch wo kein Zwang religiöser Skrupel sie aufrecht erhielt.

Das ungeschriebene Gewohnheitsrecht hatte dem freien Ermessen der Richter den weitesten Spielraum gelassen, was gut und nützlich ist, wenn man sich auf 30 ihre Unparteilichkeit verlassen kann. Doch in der Erregung des Ständekampfes war dies Vertrauen ge- schwunden. Die Plebejer meinten wohl nicht ohne Grund, dass zu ihren Ungunsten das Recht durch die

11. Die Koditikatioii des Rechts. 135

patricischeu Consuln gebeugt werde, und erzwangen Maassregeln, die dem mit ängstlichem Misstrauen vor- bauten. Nicht nur wurde das geltende Recht in den Zwölf Tafeln schriftlich aufgezeichnet, sondern auch 5 zugleich verordnet, dass kein Beamter eine Klage annehmen dürfe, die sich nicht auf den Wortlaut eines geschriebenen Gesetzes stützte. Die späteren Juristen erläuterten dies durch folgendes Schulbeispiel. Die Zwölf Tafeln regelten den Ersatzanspruch für den-

10 jenigen, dem auf seinem Grundstück von fremder Hand „Bäume" abgehauen waren. Nun klagte jemand wegen abgehauener Weinstöcke. Hätte er sie „Bäume" genannt, so hätte der Richter sich nicht besonnen, diesen Begriff auf sie anzuwenden; weil aber der

15 Kläger das Wort „Weinstöcke" gebraucht hatte, das im Gesetze nicht stand, musste er abgewiesen werden. Wie man sieht, wurde jener leere Formalismus, den das Sacralrecht grossgezogen hatte, durch diese übel angebrachte Vorsicht mächtig verstärkt.

20 Noch eine andere Bestimmung wurde durch sie

hervorgerufen. Ursprünglich hatten die Consuln, wie vorher der König, jeden Rechtsstreit endgültig ent- schieden; jetzt wurde der eigentliche Richterspruch ihrer Macht entzogen und diese auf die Einleitung des

25 Prozesses beschräidct. Sie hatten nur festzustellen, ob die Klage in den Gesetzen vorgesehen sei, ferner die Besitzfrage zu regeln und endlich einen Richter zu ernennen, gegen dessen Person die Parteien das Ein- spruchsrecht besassen. Vor ihm waren die Beweise

30 zu führen, und er fällte ganz unabhängig von den Consuln die Entscheidung.

W^ar so die Macht der Beamten in die engsten Grenzen eingeschlossen, soweit Personen bürgerlichen Standes bei ihnen Recht suchten, so blieb sie um so

138 VII. Die Auflösimg des Reiches.

unbeschränkter den Fremden gegenüber. Grundsätzlich schrieb man ihnen gar keine Rechte zu, nicht einmal das Recht der Freiheit, auf dem alle andern beruhten. Noch Cicero konnte den Ausspruch tun: „Wie kann der nach bürgerlichem Rechte frei sein, der nicht zu 5 den Bürgern gehört?" Dies bedeutet nicht, dass ein Fremder nicht tatsächlich frei sein konnte, wohl aber, dass er es niemals nach bürgerlichem Rechte war. Denn dieses galt, wie sein Name das ausdrückt, nur für den Bürger; den Zustand des Fremden ignorierte es. Dieser 10 war also nicht nur rechtlos, sondern rechtsunfähig; Ausnahmen konnten nur durch ausdrückliche Volks- beschlüsse, namentlich durch Verträge geschaffen werden, die man mit seinem Heimatstaat abschloss. Aber mochte dies auch bis an die Schwelle der Kaiserzeit 15 prinzipiell aufrecht erhalten werden, in einer Handels- stadt, in deren Hafen schon seit den ältesten Zeiten immer wieder etruskische, griechische, phönicische Schiffe einliefen, Hess es sich praktisch nicht durch- führen. Den Schutz, den das bürgerliche Recht den 20 Fremden versagte, gewährten ihnen die Consuln kraft ihrer Amtsgewalt, der alle Bürger Gehorsam schuldig waren. Doch wie weit er von ihr Gebrauch machen, welche Ansprüche er als berechtigt anerkennen wolle, das blieb ganz dem freien Ermessen des Beamten 25 anheimgegeben. Hier entschied nur die Billigkeit; doch liegt es in der Natur der Sache, dass sie sich auch auf diesem freien Gebiete allmählich zum Gewohn- heitsrecht verdichtete. Dieses nicht geschriebene, wohl aber empfundene Recht, das man den Fremden gegen- 30 über anwandte, nannte man Jus gentium, d. h. wörtlich „Völkerrecht"; doch nach dem modernen Sprach- gebrauch werden wir es besser mit „Naturrecht" über- setzen. Denn man ging von der Anschauung aus, dass

11. Die Kodifikation des Hechts. 137

sein Inhalt nach der Natur des Menschengeschlechts von allen Völkern der Welt anerkannt werde. Dies war gründlich falsch, weil es eine Übereinstimmung des Rechtsgefühls, die alle Nationen umfassen könnte,

5 nicht gibt und nie gegeben hat. So war denn auch das Jus gentium im Grunde nichts anderes als römisches Recht, nur befreit von den Altertümlichkeiten, welche seit den Zwölf Tafeln die Bürger einengten, und daher frei wandelbar, wie der Wandel der Zeiten

10 dies forderte. Setzte sich doch echt römische Sitte selbst darin durch, dass sehr bald jene Trennung von magistratischer Einleitung und richterlicher Ent- scheidung auch im Fremdenprozess üblich wurde. Aber nur in dieser Beziehung wurden die Consuln

15 beschränkt; welche Klagen sie annehmen und welche Anweisungen sie demgemäss den ernannten Richtern geben wollten, blieb ihnen überlassen, weil, wie schon gesagt, die römischen Gesetze für den Fremden nicht vorhanden waren.

20 So gab es in dem alten Rom zwei Arten der

Rechtsprechung, die eine durch Gesetze streng ge- bunden, die andere nur auf Billigkeit und schwankender Gewohnheit beruhend, jene für die Bürger, diese für die Fremden bestimmt. Im Laufe der Zeit aber musste

25 es sich herausstellen, dass die scheinbar Bevorrechteten in Wirklichkeit benachteiligt waren. Denn der Wort- laut jener Gesetze, an dem man mit so starrer Zähig- keit festhielt, erwies sich allmählich als viel zu eng für die praktischen Bedürfnisse. Die Zwölf Tafeln

:!o waren um das Jahr 450 v. Chr. entstanden, als Rom noch ein kleines Landstädtchen war. Indem es sich in den folgenden Jahrhunderten nicht nur zur Gross- stadt, sondern auch zur Beherrscherin Italiens und . dann auch zahlreicher Provinzen entwickelte, änderten

138 Vll. Die Auflösung des Reiclies.

sich alle wirtschaftlichen Verhältnisse so gründlich, dass jenes alte Recht in keiner Beziehung mehr passen wollte. Um nur ein Beispiel anzuführen, hatte es auf Injurien eine Strafe von 25 As gesetzt. Das war zu seiner Zeit ein stattliches Sümmchen gewesen, seit dem 5 Kannibalischen Kriege aber bedeutete es weniger als zwei Mark unseren Geldes. Es kam vor, dass ein unverschämter Geselle die Strassen Roms durchzog und die Begegnenden mit Ohrfeigen traktierte, aber auch jedem sofort aus einem grossen Beutel, den ein lo Sklave ihm nachtrug, die gesetzlichen 25 As Kupfergeld auszahlen Hess. In diesem Falle griff der Praetor ein und verfügte, dass künftig Injurien nicht mehr durch dies unbedeutende feste Strafgeld, sondern nach arbi- trärer Schätzung gesühnt werden sollten; aber dass er 15 so verfügen konnte, war nur dadurch möglich, dass eine grundlegende Änderung des gesamten Rechtszu stand es damals schon eingetreten war.

Jenes Misstrauen der Plebejer gegen die richter- lichen Beamten, das deren enge Fesselung durch das 20 Gesetz herbeigeführt hatte, war geschwunden, als auch der zweite Stand vollen Anteil am höchsten Amt er- langt hatte. Zugleich war die Praetur entstanden, d. h. man hatte einen Kollegen von gleicher Kom- petenz, aber geringerer Macht den Consuln beigesellt, 25 dessen Übergriffe und Fehler sie kraft ihres höheren Befehlsrechts jederzeit hemmen und zurechtstellen konnten. Indem man ihm die Rechtsprechung über- trug, hatte mau für diese eine übergeordnete Aufsicht gewonnen, und brauchte schon aus diesem Grunde :•.() vor ihrer Entfesselung nicht zurückzuscheuen. Zwar blieben Einleitung und Entscheidung des Prozesses noch in der alten Weise getrennt, doch wurde jene viel freier s-estaltet. Im wesentlichen geschah das in

11. Die Koditikation des Kochts. 139

der Weise, dass man die Rechte, die der Beamte schon vorher den Fremden gegenüber besessen hatte^s ihm jetzt auch für die Bürger verlieh. Allerdings blieb der Unterschied, dass für diese die Gesetze ihre

5 Kraft bewahrten; der Praetor durfte nicht gegen sie handeln, war aber nicht mehr ganz an sie gebunden, sondern konnte auch Klagen annehmen, die in ihnen nicht vorgesehen waren. Hatten ihm die Parteien ihre Sache vorgelegt, so ernannte er den Richter

10 und fasste für ihn eine Anweisung ab, in der ganz genau angegeben war, welche Behauptungen des Klägers und welche Einwendungen des Beklagten zu untersuchen seien und wie man danach die Ent- scheidung zu fällen habe. Keine dieser Fonnulae,

15 wie man sie technisch nannte, konnte der andern genau gleich sein, schon weil die Namen der Parteien, das Streitobjekt und alle sonstigen Einzelheiten des Falles darin bezeichnet waren. Diese Notwendigkeit steter Veränderungen hatte den günstigen Erfolg, dass

20 der Praetor nicht nur die Besonderheiten jedes Pro- zesses, sondern auch die Wandelungen des Rechts- gefühls, die im Laufe der historischen Entwicklung eintreten mussten, immer berücksichtigen konnte. Ein grosser und wichtiger Teil des Rechtes war nicht mehr

25 gesetzlich festgelegt, sondern blieb in stetem Flusse und näherte sich eben dadurch dem höchsten Ideal praktischer Brauchbarkeit.

Freilich stand dem der Nachteil einer gewissen Unsicherheit des Rechtes gegenüber; denn keiner, der

30 einen Prozess anhängig machte, konnte genau voraus- wissen, nach welcher Formula er ihn werde führen müssen. Doch einigermaassen schuf hierfür das prae- torische Edict die nötige Abhilfe.

Das Wort edictum bedeutet das Herausgesagte,

140 VII. Die Auflö.sung des Keiclies.

d. h. das öffentlich Gesagte, und alle Edicte trugen bis in die Zeit Diocletians die Überschrift: „Der und der sagt (dicif).'^ Demgemäss wurde ihr Inhalt ursprünglich wohl von dem Beamten in das ver- sammelte Volk hineingerufen, doch schon in sehr 5 früher Zeit bevorzugte man die schriftliche Form der Ankündigung. Hölzerne geweisste Tafeln, auf denen mit grossen Buchstaben das Erforderliche geschrieben stand, wurden öffentlich angeschlagen. Enthalten konnten sie alles mögliche, was ein Beamter dem 10 Publikum kund und zu wissen tun wollte. Bibulus, der feindliche Mitconsul Caesars, hat Schmähschriften gegen seinen Kollegen in der Form des Edictes veröffentlicht, und Kaiser Claudius ermahnte durch Edict die Bürger, dass sie bei reicher Weinernte die Fässer tüchtig aus- 15 pichen sollten, oder teilte ihnen mit, dass Taxussaft gut gegen Schlangenbiss sei. Besondere Bedeutung aber wurde den Kundgebungen zugeschrieben, die man beim Antritt eines höheren Amtes zu veröffent- lichen pflegte, weil sie das Programm der neuen 20 Beamten enthielten. Bei den Consuln waren sie wohl meist von allgemein politischer Art, ähnlich den Pro- clamationen, mit denen die modernen Herrscher ihre Regierung eröffnen; bei den Praetoren und anderen rechtsprechenden Beamten dagegen enthielten sie die 25 Grundsätze, die für die Erteilung der Formulae maass- gebend sein sollten, und boten so denen, die einen Prozess führen wollten, die Möglichkeit, die Rechts- kraft ihrer Ansprüche zu prüfen.

Das praetorische Edict war nichts weiter, als 30 eine Äusserung des Praetors über seine juristischen Meinungen und Absichten, die nicht einmal für ihn selbst, geschweige denn für seine Nachfolger bindend war. Doch wenn er von dem, was er öffentlich ver-

11. Die Kodifikation des Kedits. 141

heissen hatte, ohne triftige Gründe abgewichen wäre, hätte die öffentliche Meinung dies scharf missbilligt, und im J. 67 v. Chr. w^urde es auch gesetzlich ver- boten. So bot das Edict einige Sicherheit, freilich

5 nur für das Amtsjahr des Praetors, von dem es aus- gegangen war. Doch was sich von seinem Inhalt praktisch bewährt hatte, wurde meist auch von dem Nachfolger in sein neues Edict herübergenommen, und auf diese AVeise bildete sich ein fester Kern, der

10 Jahr für Jahr wiederkehrte und so beinahe den Charakter einer kleinen Gesetzsammlung gewann. Diese aber war im höchsten Grade wandlungsfähig und konnte sich so allen neuen Erscheinungen des Wirtschaftslebens, jeder fortgeschrittenen Anschauung

15 von dem, was recht oder unrecht war, geschmeidig anpassen. Denn wollte man eine Bestimmung auf- heben oder neu hinzufügen, so brauchte man dafür keine Majorität im Senat oder in der Volksversamm- lung zu gewinnen, sondern es genügte, dass der

20 einzelne Mann, der für das nächste Jahr zum Praetor gewählt war, sich von der Nützlichkeit der Änderung überzeugte, um sie alsbald in das Edict einzuführen. Und lehrte die Praxis, dass er sich getäuscht hatte, so brauchte die Schädlichkeit des Irrtums doch nicht

25 länger als ein Jahr zu dauern. Schon der nächste Praetor konnte das Alte wiederherstellen oder auch den neuen Paragraphen passender umgestalten. Und dazu kam, dass mehrere Gesetzgebungen dieser beweglichen Art nebeneinander herliefen und sich gegenseitig beein-

30 flussten und korrigierten. In Rom selbst gab es nicht nur das Edict des Praetor urbanus für die Bürger, sondern auch das des peregrinus für die Fremden und die der Aedilen für den Bagatellprozess des Marktverkehrs, und ausserdem veröffentlichte in jeder

142 ^11- Die Auflösung des Reiches.

der zahlreichen Provinzen jeder neu antretende Statt- halter sein Edict. Da sie alle das Jus gentium zu vertreten meinten, hätten ihre Verfügungen zwar identisch sein müssen, wenn wirklich alle Völker ein so gleichartiges Rechtsgefühl besessen hätten, wie die 5 Theorie es annahm. Doch glücklicherweise waren diese Beamten keine solchen Theoretiker, um nicht auch den nationalen oder lokalen Satzungen, die sich noch aus vorrömischer Zeit in den einzelnen Provinzen er- halten hatten, in ihren Edicten Rechnung zu tragen, lo So wirkten griechische und barbarische Rechtsätze zunächst auf die Provinzialedicte ein: da diese aber in Rom nicht unbekannt blieben, konnten die städtischen Praetoren aus ihnen lernen und sich das Brauchbare auch für ihre Gerichtsbarkeit aneignen. Auf diese i5 Weise trat jener leichten Veränderlichkeit, die immer- fort durch die Beobachtungen des praktischen Gebrauches geleitet und gezügelt wurde, noch der weitere Vorzug einer höchst mannigfaltigen Anregung aus der Fremde hinzu, und beides im Verein machte das praetorische 20 Edict wohl zu der besten Rechtsquelle, die jemals ein Staat besessen hat.

Allerdings bedarf dieses Lob gewisser Einschrän- kungen. Bei der weit verbreiteten Korruption der römischen Beamten kam es vor, dass Praetoren Be- 25 Stimmungen in ihre Edicte aufnahmen, die jedem Rechtsgefühl Hohn sprachen und nur den Zweck hatten, irgend jemand, der sie bestochen hatte, eine fette Erbschaft oder andere Vorteile zuzuwenden. Doch ungerechte Paragraphen dieser Art wurden regelmässig -^o schon durch den nächsten Praetor wieder beseitigt und entstellten daher das Edict kaum jemals länger als ein Jahr. Und wenn die freie Verfügung der Beamten auch Beugungen des Rechtes erleichterte, so hätten

11. Die Kodifikation des Rechts. 148

o-eo-en ihre Bestechlichkeit doch selbst die festesten Gesetze keinen Schutz geboten. Ein viel ernsterer Schaden des praetorischen Rechtes lag vielmehr darin, dass neben ihm noch feste Gesetze bestanden, die zum

5 grössten Teil veraltet waren und auf die es doch immer- fort Rücksicht nehmen musste.

Das Recht der Zwölf Tafeln ist niemals auf- gehoben worden. Im Anfang des ersten Jahrhunderts vor Christus pflegten die Knaben der höheren Stände

10 sie noch auswendig zu lernen, und wenn dies auch bald darauf abkam, konnte man sie doch noch unter Augustus als „Quelle alles öffentlichen und privaten Rechtes" bezeichnen. Selbst noch unter Antoninus Pins fand ein praktischer Jurist es der Mühe wert, einen

15 Kommentar dazu zu schreiben. Damals waren sie durch die Gesetzgebung der Kaiserzeit zwar schon zurückgedrängt und fielen dann allmählich der längst verdienten Vergessenheit anheim. Während der ganzen Dauer der Republik aber bewahrten sie ihre volle

■20 Geltung. In dieser Zeit hatte mau zwar in die Gebiete des Staatsrechts und des Strafrechts durch zahlreiche neuere Gesetze bedeutsam eingegriffen, das civilrecht- liche aber nur ganz ausnahmsweise berührt. Dies lag einesteils daran, dass die Form der Gesetzgebung durch

35 Senat und Volk äusserst schwerfällig war und man sich daher nicht leicht anders als im Drange politischer Erregung oder wirtschaftlicher Not entschloss, von ihr Gebrauch zu machen. Anderenteils schien das prae- toiische Edict den drins-endsten Bedürfnissen zu «e-

30 uügen, und wo es durch die Zwölf Tafeln zu sehr ein- geengt war, da half man sich durch jene Rechts- verdrehungen, zu denen das Umgehen der religiösen Satzungen die Schule gebildet hatte.

Ein Beispiel aus vielen mag dies klar machen.

144 VII.^Dic Auflösuni; des Kelches.

Nach ältestem Rechte war die Gattin Eigentum des Gatten. In der Regel kam dies dadurch zum Aus- druck, dass sie ihr Vater an ihn verkaufte; aber auch wenn diese Form nicht beobachtet wurde, fiel sie ihm nach einjähriger Ehe durch dasselbe Recht der Er- 5 Sitzung zu, das auf alle beweglichen Gegenstände an- gewandt wurde. Nun konnte aber, wer im Eigentum eines anderen stand, selbst kein Eigentum besitzen; alles, was er erwarb, ging in das Vermögen seines Herren über. Daraus ergab sich, dass es im Falle lo der Scheidung nur vom Belieben des Gatten abhing, ob er der Frau ihr Zugebrachtes ganz oder zum Teil oder auch gar nicht wiedergeben wolle. Auch hatten ihre Kinder an dem, was ihr gehört hatte, kein besseres Erbrecht, als die Nachkommen des Vaters aus anderen i5 Ehen; selbst dass sie testamentarisch Verfügungen zu ihren Gunsten traf, war ausgeschlossen. Diesen Zu- stand empfand man immer mehr als unerträglich, je häufiger die Scheidungen wurden. Man wollte die vermögensrechtliche Selbständigkeit der Frau herbei- 20 führen, tat dies aber nicht durch eine gesetzliche Änderung des alten Rechtes, sondern auf folgende "Weise. Alljährlich musste sie drei Tage und Nächte hinter- einander dem Hause des Gatten fernbleiben. So be- sass sie dieser niemals ein zusammenhängendes volles 25 Jahr, und die Rechtsfolgen der Ersitzung blieben aus- geschlossen.

An Kniffen dieser Art, die als ganz berechtigt anerkannt und durch die Formeln des Praetors legi- timiert waren, ist das römische Recht überreich. Um ?.o sie auszutifteln, bedurfte es aber grossen Scharfsinns und der genauesten Kenntnis der alten Gesetze; denn nur wenn man ihren Wortlaut ganz beherrschte, konnte man die Hintertüren entdecken, die sich in ihm dar-

11. Die Kodiükation des Reclits. 145

boteu. Diese Beherrschung aber war nicht leicht; denn sprachlich waren sie nicht weniger veraltet als sachlich. Zu den Zwölf Tafeln musste man schon seit dem dritten Jahrhundert v. Chr. Kommentare .5 schreiben, und über die Bedeutuug manches Wortes, das sie enthielten, zerbrachen sich schon die ältesten Erklärer vergebens die Köpfe. So wurde eine Wisseu- schaft des Rechts unentbehrlich. Ihre Ausgangspunkte waren einerseits die religiösen Satzungen, andererseits

10 die Zwölf Tafeln, also das Veraltete und Unbrauchbare. Ihre Hauptaufgabe fand sie darin, diesen Teil des Hechtes brauchbar zu machen, indem sie ihm eine Nase drehte. Das Publikum aber war auf sie augewiesen; denn daran hielt man mit zäher Pedanterie fest, dass

15 der Wortlaut der alten Gesetze streng beobachtet werden musste. Hatte sich z. B. eine Frau erst sa spät aus dem Hause ihres Mannes entfernt, dass die dritte Mitternacht ganz an das Ende des Ersitzungs- jahres fiel, so urteilten die klugen Juristen, dass sie

20 ihre vermögensrechtliche Selbständigkeit verlieren müsse, weil die Besitzunterbrechung nicht drei, sondern nur zwei und ein halb Nächte gedauert habe. So lagen in jenem abgelebten Recht überall Schlingen und Fallgruben, denen man nur durch die schlaue

25 Führung der Sachverständigen entgehen konnte.

Wäre man nicht teils zu abergläubisch, teils zu faul gewesen, um das Veraltete durch neue Gesetze abzuschaffen oder zeitgemäss umzugestalten, so hätte Rom ebenso gut ohne Juristen auskommen können,

30 wie Athen sie in seiner Blütezeit ohne Schaden ent- behrt hat. Aber wie die Römer nun einmal waren, bedurften sie dieser sonderbaren Wissenschaft zur Lösung einer grossen Kulturaufgabe, Denn sie ist es gewesen, die das abgestorbene Recht aus ihm selbst

Seeck, Untergang der antiken Welt. VI. 10

146 VII. Die Auflösung des Reiclies.

heraus vernichtet und daraus den Dünger bereitet hat, auf dem Neues emporspriessen konnte. Unheilvoll aber war, dass sie nicht nur zerstörend, sondern auch erhaltend wirkte; veränderten doch die Juristen nur so den Inhalt, dass sie die Form unverändert Hessen. 5 Indem sie sich nun gewöhnten, mit veralteten Formen geistreich zu spielen, wurden diese ihnen lieb und wert, wie das ja mit jedem Spielzeug zu gehen pflegt. Sie bestanden mit grossem Ernste darauf, dass bei der Abfassung von Kontrakten und Testamenten, bei der lo Einleitung des Prozesses, kurz überall, wo sie als Kundige mitzusprechen hatten, die Sitte der Urväter ganz genau beobachtet werde, und drohten mit Un- giltigkeit, falls dies nicht geschehe. In den Gesetzen, die unter ihrem Beirat aufgesetzt wurden, bedienten is sie sich eines geziert altertümlichen Stiles mit un- zähligen Synonymen und Wiederholungen und ganz unleidlicher Ineinanderschachtelung der Nebensätze. Dies Juristenlatein war viel schlimmer, als unser amt- liches Deutsch selbst in seinen schlimmsten Zeiten. 20 Wenn solch ein Gesetzentwurf der Volksversammlung vorgelesen wurde, damit sie ihn durch ihre Abstimmung legalisiere, so verstand gewiss nicht der hundertste Teil der Anwesenden, worüber sie eigentlich abstimmen sollten. Über die weitläufigen Redensarten in einer 25 halb verscholleneu Sprache, die symbolischen Hand- lungen, die keiner mehr recht verstand, kurz über alles, was die Herren Juristen als hochwichtig vor- zuschreiben pflegten, konnte sich Cicero sogar als Consul in öffentlicher Rede lustig machen und fand 30 für seine Witze ein höchst dankbares Publikum. Doch wenn man auch gern über ihren zopfigen Formel- kram lachte, so hinderte dies doch nicht, dass man ihrem geheimnisvollen Wissen, das einem fette Erb-

11. Die Kodilikatiou tles Hechts. 147

Schäften verschaffen oder zunichte machen konnte, mit respektvoller Scheu gegenüberstand. Und was sie vertraten, war ja scheinbar die Überlieferung der Vor- väter, vor deren unübertrefflicher Weisheit sich jedes

5 römische Gemüt demütig neigte.

Der grosse Caesar war frei von dieser Art der Pietät. Wie er die Verwirrung des römischen Kalenders, obgleich auch sie unter dem Schutze der Religiou stand, durch sein einfach klares Schaltsystem beseitigt hat,

10 so wollte er auch den ganzen veralteten Kram des bürgerlichen Rechtes kurzweg in die Rumpelkammer werfen. An seine Stelle sollte ein modernes System treten, dass in einem neuen Gesetzbuch mit möglichster Kürze und Klarheit zusammeugefasst werden sollte.

15 Hätte sein allzu früher Tod die Ausführung dieses Planes nicht verhindert, so wäre die ganze römische Jurisprudenz wahrscheinlich aus Mangel an Nahrung hingestorben. Doch die Götter wollten es, dass sie erhalten bleibe, um bis in unsere Zeit fruchtbar fort-

20 zuzeugen.

Caesar war das Kind der Revolution gewesen und hatte daher den echt revolutionären Mut besessen, mit dem Althergebrachten gründlich aufzuräumen. Augustus vertrat die Reaktion, die das Zerstörte herzustellen

25 suchte und an die Reste desselben auch das Neue, das sie schuf, pietätvoll anknüpfte. Die Zeitalter, denen diese beiden grossen Männer ihren politischen Ausdruck gaben, verhielten sich zueinander, wie in den Tagen unserer Väter Aufklärung und Romantik. Wie diese

30 durch den ästhetischen Reiz des Altertümlichen verführt wurde, es auch in das moderne Leben nach Möglichkeit zurückzuführen, so fanden die Gelehrten des Augustus und er selbst die Sprache der Zwölf Tafeln nicht nur ehrwürdig, sondern auch wunderschön, und hätten es

10*

148 Vll. Die Auflösung des Reiches.

schon aus diesem Grunde für sehr bedauerlich gehalten, wenn man sie nie mehr vor Gericht angeführt hätte. Mit Eifer trieben die Juristen sprachliche Studien, um durch recht zweifelhafte Etymologien die unverständ- lichen Stellen der alten Gesetze wieder praktisch brauch- 5 bar zu machen. Und mit noch grösserem Wohlwollen stand man dem Sacralrecht gegenüber. In den furcht- baren Verwüstungen des Reiches, welche die Revolution veranlasst hatte, sah man eine Strafe der Götter und glaubte die Gunst, die sie einst den Tätern erwiesen 10 hatten, nur dadurch zurückgewinnen zu können, dass man sie wieder nach der Yäter Weise verehrte. Augustus stellte in Rom 82 verfallene Tempel wieder her und erneuerte ihre vergessenen Kulte, und gleich jenen alten Gemäuern sollten auch die Satzungen des is heiligen Rechtes aus ihren Ruinen auferstehn. Bezeich- nend für den Gegensatz der Caesarischen und der Augusteischen Epoche sind die beiden Männer, die damals in der juristischen Wissenschaft die Führung übernahmen. Der ältere, Marcus Antistius Labeo, 20 stand dem Kaisertum des Augustus in schroffer Ab- lehnung gegenüber, verfocht aber jede zeitgemässe Neuerung ganz im Sinne Caesars; der Hofjurist dagegen, Gaius Ateius Capito, hielt starr am Alten fest und galt namentlich als erste Autorität im Sacralrecht. Und wie 25 Augustus diesen bevorzugte, so ernannte Tiberius den Schüler des Capito, Masurius Sabinus, sogar zum officiellen Deuter des Rechtes. Denn infolge dieser rückläufigen Strömung bekamen die Herren Juristen mehr zu tun, als je vorher, aber nicht mehr um das Ter- 30 altete durch schlaue Umdeutung zu zerstören, sondern um seine Reste sorgsam aufzusuchen und, sow^eit das ging, zu neuem Leben zu erwecken. Und bald sollte ihnen die kaiserliche Rechtsbildung Aufgaben stellen.

11. Die Kodifikation des Rechts. 149

die bei weitem schwieriger, aber auch viel bedeutsamer waren.

Wie Savigny dem Zeitalter der Romautik den Beruf zur Gesetzgebung abgesprochen hat, so ver- 5 zichteten auch die ersten Jahrhunderte des Kaisertums mit Absicht und Bewusstsein auf jede Neuschöpfung grossen Stiles. Die Weiterentwicklung des praeto- rischen Edicts schläft ein, weil die Beamten, die sich nur noch als gehorsame Untertanen fühlen, nicht mehr

10 den Mut zu eigener Reformtätigkeit besitzen. Und auch die Verfügungen der Kaiser tragen zum grössten Teil interpretatorischen Charakter; sie sind bestimmt, das alte Recht zu deuten und anzuwenden, nur ganz ausnahmsweise neues zu begründen. Was so geleistet

15 wird, ist alles Kleinarbeit. Doch wie die Schalen mikroskopischer Tierchen sich im Verlaufe geologischer Perioden zu Gebirgen auftürmen können, so bringt auch jenes Kleine in jahrhundertelanger Häufung all- mählicli eine gründliche Veränderung des ganzen

20 römischen Rechts hervor.

Die wichtigste Neuerung war, dass, während vor- her jeder Richter in erster und letzter Instanz ent- schieden hatte, jetzt ein Appellationsverfahren eintrat. Freilich brauchte ein romantisches Zeitalter auch hierin

25 keine Neuerung zu sehen, sondern konnte es als Wiedererweckung uralter Sitte auffassen; denn die ersten Ansätze dazu reichten in eine Epoche zurück, die noch vor den Zwölf Tafeln lag. Dasselbe Miss- trauen, das ihre Aufzeichnung veranlasst hatte, war

30 der Grund gewesen, weshalb man schon ein halbes Jahrhundert früher neben die Consuln als Hemmnis ihrer Amtsgewalt die Volkstribunen gestellt hatte. Fühlte sich ein Plebejer durch den Spruch eines patri- cischen Beamten benachteiligt, so konnte er jene Ver-

150 ^'JI- l^ie Auflösung des Reiches.

treter seines Standes anrufen (appeUaye), welche die Macht besasseu, die Execution durch ihr Dazwischen- treten unmöglich zu machen. Diese Appellation der Tribunen war im Auo-usteischen Zeitalter läng-st zur Antiquität geworden; das aber verlieh ihr in den Augen 5 von Komantikern nur höheren Wert. Augustus konnte sie daher unter allgemeiner Zustimmung zum Mittel- punkte seiner tribunicischen Gewalt macheu, gab ihr aber dabei einen ganz neuen Inhalt. Denn während die alten Tribunen wohl die Vollstreckung eines Urteils 10 verhindern, es aber nicht reformieren konnten, hand- habte er die Intercession ganz als eine höhere Gerichts- barkeit, wie sie noch heute besteht. Dies aber wurde für ihn und seine Nachfolger das bedeutsamste Mittel, um auf die Rechtsbildung der Folgezeit einzuwirken. 15 Denn jede Entscheidung des Kaisers, mochte sie in erster oder letzter Instanz, im Civil- oder Criminal- prozess oder auch in Verwaltungsfragen gefällt sein, konnte rechtsbildende Kraft gewinnen, weil alle Be- amten sich nach ihr richteten. Mussten sie doch, wenn 20 sie das nicht taten, erwarten, dass man gegen ihre Urteile appellierte und diese dann umgestossen wurden. Auf diese Weise konnte jede Willensäusserung des Herrschers, selbst die mündlichen Aussprüche, die er im Kronrat oder in Reden an seine Soldaten tat, zur 25 Rechtsquelle werden, sobald sie protokolliert und da- durch ihr Wortlaut sicher festgestellt war. Solche decreta, wie man sie technisch nannte, wurden beob- achtet, als wenn sie Gesetze wären, und später diesen völlig gleichgestellt. w

Die Republik kannte zwei Arten von Gesetzen, die man als leges rogatae und leges datae unterschied. Die erstereu legte ein Magistrat dem Volke vor und Hess sie durch dessen Abstimmung genehmigen; die

11. Die Kodifikation des Rechts. 151

letzteren gab er selbständig, nachdem er durch eine lex rogata die Vollmacht dazu empfangen hatte. Sollte z. B. eine Colonie gegründet werden, so gab man den Beamten, die für diesen Zweck gewählt waren, wohl 5 regelmässig den Auftrag, der neuen Stadt eine Ver- fassung zu geben, die dann volle Gesetzeskraft besass. Namentlich machte das Volk von dem ihm allein zu- stehenden Rechte, Privilegien zu erteilen, gern in dieser mittelbaren Form Gebrauch, Wer eine Provinz

10 unterworfen hatte, durfte meist die Städte oder Völker- schaften, die ihn dabei wirksam unterstützt hatten, durch besondere Rechtsvorteile belohnen; Feldherren wurde gestattet, bundesgenössischen Kriegern, die sich im Kampfe ausgezeichnet hatten, das Bürgerrecht zu

15 verleihen u. dgl. m. Dies war schon in der Blütezeit der Republik üblich gewesen; viel weiter aber wurde das Gebiet der Jeges datae in dem Jahrhundert der Revolutionen ausgedehnt. Sulla, Caesar, die Triumvirn empfingen durch die gewöhnliche Form der Gesetze

20 den Auftrag, den zerrütteten Staat neu zu ordnen, damit zugleich aber auch das Recht, dass ihre Ver- fügungen auch ohne Volksabstimmung Gesetzeskraft besitzen sollten. Doch haben sie alle nur für Einzel- maassregeln davon Gebrauch gemacht, die unter den

25 Begriff des Privilegiums fielen oder sich ihm doch an- näherten, wie Laudanweisungen, Städtegründungen, Bürgerrechtsverleihungen oder auch die Proscriptionen. Beabsichtigten sie ein dauerndes, allgemeingiltiges Gesetz zu geben, so Hessen sie es in ganz republika-

30 nischer Weise durch die Volksversammlung bestätigen.

Die Kaiser besassen das Recht zu leges datae

anfangs nur in dem Umfange, wie die Gewaltherrscher

der Revolutionszeit es tatsächlich ausgeübt hatten. Aber

auch wenn sie über das hinausgrifFen, was sich noch

152 VII. Die Auflösung des Reiches.

als Privileg betrachten liess, wagte keiner an der vollen Giltigkeit ihrer Verfügungen zu zweifeln. So konnte die Theorie sich ausbilden, dass das Volk alle seine Rechte auf sie übertragen und ihnen folglich auch das unbeschränkte Gesetzgebungsrecht eingeräumt habe. 5 Doch wie es scheint, hat man dies erst im dritten Jahrhundert klar formuliert. Die früheren Kaiser, vor allen Augustus selbst, waren viel mehr bemüht, ihre Macht zu verbergen, als sie zu zeigen. Behauptete er doch noch in seiner Grabschrift, dass er keine höheren lo Rechte besitze als die Beamten, die nach altrepubli- kanischer Anschauung für seine Kollegen gelten konnten. Demgemäss gab er auch seiner Rechtsetzung Formen, die möglichst unscheinbar waren und sie des Charakters einer selbständigen Gesetzgebung äusserlich geradezu is beraubten.

Tiefgreifende und weitumfassende Gesetzentwürfe pflegte er noch durch die Volksversammlung bestätigen zu lassen, wozu jeder Consul und jeder Volkstribun ganz ebenso berechtigt war; der Unterschied zwischen 20 ihm und diesen republikanischen Beamten war nur, dass sie mit ihren Anträgen mitunter durchfielen, wovon bei dem Kaiser nie die Rede sein konnte. Doch die ganze Richtung der Zeit w^ar aristokratisch, und es fiel ihr daher nicht schwer, zu durchschauen, dass jene 25 Mitwirkung des Volkes Faxe war. So ist sie denn im ersten Jahrhundert abgekommen; dafür griff man zu einer anderen Form, die nicht minder leer war, aber vornehmer aussali. In republikanischer Zeit war es üblich gewesen, die Gesetze, ehe man sie an die Volks- 30 Versammlung brachte, dem Senat vorzulegen, und stimmte er ihnen bei, so konnte ihre Annahme für gesichert gelten. Hieran anknüpfend ging man in der Kaiserzeit dazu über, dem Senatsconsult auch ohne

11. Die Kodifikation des Rechts. 153

nachfolgenden Yolksbeschluss Gesetzeskraft beizulegen. Ein solches aber konnte jeder höhere Beamte bean- tragen; auch in dieser Beziehung schien der Kaiser nur einer von vielen zu sein. Doch was Seine Majestät 5 gnädigst vorzuschlagen geruhten, dem stimmten die loyalen Herren Senatoren immer mit begeisterten Rufen zu. Auf diese Weise gestaltete sich die Rede, die der Herrscher im Senat hielt oder durch seinen Quaestor verlesen Hess, zur vornehmsten und feier-

10 lichsten Form, in der die neue Rechtsbilduug sich vollzog. Ihre Giltigkeit beruhte freilich darauf, dass sie durch jene Akklamationen zum Senatsconsult er- hoben war; aber da diese sich ebenso von selbst ver- standen, wie schon vorher die Zustimmung des Volkes

15 bei Gesetzesanträgen, wurden sie bald nicht mehr be- achtet, und die Rede an sich galt als Rechtsquelle. An zweiter Stelle stand das Edict; denn wie alle Beamten, so konnte natürlich auch der Kaiser durch öffentlichen Anschlag zum Volke reden. Anfangs

20 mochte mau auch bei ihm annehmen, dass die Giltig- keit dieser Willensäusseruugen auf seine Amtszeit beschränkt sei; diese aber war lebenslänglich, wäh- rend sie bei den meisten andern die kurze Dauer eines Jahres nicht überschritt. Und hatte man sich

•25 jahrzehntelang nach einem Edicte richten müssen, so war sein Inhalt in das Gewohnheitsrecht übergegangen, und es bedurfte besonderer Verfügungen, um es wieder abzuschaffen. Man ist daher schon früh dazu gelangt, die kaiserlichen Edicte als bleibende Gesetze zu be-

30 trachten.

Sowohl das Beantragen von Senatsconsulten als auch das Veröffentlichen von Edicten waren keine unterscheidenden Rechte des Kaisertums und fügten sich insofern sehr gut in die altrepublikanischen Formen

154 VII. Die Auflösung des Reiclies.

ein, die Augustus seiner Herrschaft gegeben hatte. Die dritte und folgenreichste Art der Rechtsbildung war freilich neu, aber dafür höchst unscheinbar. Denn sie vollzog sich gar nicht vor der Öffentlichkeit, sondern hatte ihr Organ nur in der Korrespondenz des Herr- 5 Sehers, durch die er teils mit seinen Beamten, teils auch mit Privatleuten verkehrte. Wo irgend eine Frage des Kechts oder der Verwaltung sich nicht zweifels- frei entscheiden Hess, da fragte man meist brieflich beim Kaiser an, und seine „Rescripte", d. h. Antwort- 10 schreiben, gaben dann die Norm für das Verfahren. In erster Linie bot seine Appellationsgerichtsbarkeit den Anlass für derartige Anfragen. Denn natürlich war es den Beamten nicht angenehm, wenn ihre Ent- scheidungen später umgestossen wurden, und auch den 15 Parteien musste es erwünscht sein, mit geringerem Aufwand an Zeit und Kosten schon in der ersten Instanz zu Ende zu kommen. Bot daher die Rechts- frage Schwierigkeiten, so veranlassten bald die einen, bald die andern den Kaiser, schon vorher brieflich 20 mitzuteilen, wie er im Falle der Appellation urteilen werde, und richteten sich danach. Jede dieser Ent- scheidungen galt zunächst nur für den einzelneu Fall; aber da man voraussetzen konnte, dass der Herrscher bei ähnlicher Sachlage von den gleichen Grundsätzen 25 ausgehn werde, wurden sie doch als allgemeingiltige Regeln behandelt. Auf diese Weise wurden, wie die Decrete (S. 150), so auch die Rescripte Gesetzen ähnlich, und bald stellte man sie diesen völlig gleich. Da sie nun an Zahl die Senatsreden und Edicte weit über- so trafen, vollzog sich in ihnen der wesentlichste Fort- schritt der kaiserlichen Rechtsbildung.

Indem diese Gesetzgebung sich meist in der Form des Briefes, daneben auch der Rede bewegte, trat sie

11. Die Koditikatioi) des Rechts. 155

hl ein Gebiet ein, das man der schönen Literatur zu- rechnete. Dies hatte zunächst die günstige Folge, dass jener schwerfällig altertümliche Stil, den mau in den Gesetzen der Republik für erforderlich gehalten hatte,

5 durch ein zeitgemässes Latein verdrängt wurde. Da- durch gewannen die Rescripte jene schlichte Klarheit, die uns in der Korrespondenz Trajans mit seinem Statthalter Plinius so anziehend entgegentritt. Aber weil man von Briefen und Reden künstlerische Form

10 verlangte, wurden auch die Gesetze in die rhetorische Entwicklung hineingezogen, die mehr und mehr dahin neigte, einer vermeintlichen Schönheit auch auf Kosten leichter Verständlichkeit zuzustreben. Namentlich in der christlichen Kaiserzeit befleissigten sich die Herr-

15 scher und ihre Kanzleien mit Yorliebe jenes blühenden Schwulstes, der damals von den Sophisten gepflegt wurde. Die Gesetze des Codex Theodosianus sind durch diese schlechte Mode meist so unklar, dass das westgothische Rechtsbuch, als es sie übernahm, ihnen

20 Interpretationen hinzufügen musste, die sie nicht etwa

juristisch erläuterten, sondern einfach ihren Inhalt in

schlichteren und verständlicheren Worten wiederholten.

Noch schlimmer war eine anderere Wirkung, die

diese Art der Gesetzgebung mit sich brachte. Die

25 Edicte wurden öffentlich angeschlagen, und jeder konnte sie abschreiben; die Reden machte man oft auf dieselbe Art bekannt, und wenn nicht, standen sie doch in den Senatsakten. Auch so war es nicht leicht, sie sich zu verschaffen, wenn man sie vor Gericht brauchte;

30 ganz unmöglich aber wurde dies bei den meisten Rescripten. Denn als Briefe an einzelne Personen gerichtet, verschwanden sie, sobald sie in dem Prozesse, für den sie zunächst bestimmt waren, ihre Dienste geleistet hatten. Trotzdem verloren sie ihre Rechts-

156 VII. Die Auflösung des Reiches.

kraft uicht; wenn es einer Partei gelang, ein Rescript, das ihr günstig war, aus seiner Vergessenheit hervor- zuziehen, konnte dies die Sache entscheiden. Zwar wurden Abschriften in den kaiserlichen Archiven auf- bewahrt; man trug sie zeitlich geordnet in Bücher 5 ein, die man commentarii nannte. Doch geschah dies nur auf ausdrücklichen Befehl des Kaisers, sodass nicht einmal an dieser höchsten Stelle seine Ent- scheidungen vollzählig zu finden waren. Trotzdem füllte schon unter Marcus jedes Halbjahr einen vollen lo Band; welche Stösse von Büchern hatte man also zu durchwühlen, wenn man einen kaiserlichen Erlass auf- finden wollte! Sogar die klassischen Juristen zitieren sowohl Decrete als auch Rescripte, darunter solche, die erst kürzlich ergangen sind, mitunter nur nach i5 dem Hörensagen, nehmen aber trotzdem volle Rechts- kraft für sie in Anspruch. Und die am wenigsten Bescheid wussten, was das zur Zeit geltende Recht bestimmte, waren die Beamten, die es handhaben sollten.

Die Trennung von Magistrat und Richter, wie sie 20 in der Republik bestanden hatte, erhielt sich noch im Anfang der Kaiserzeit, war aber im vierten Jahrhundert längst aufgegeben; Einleituug und Entscheidung des Prozesses lagen jetzt in derselben Hand. Aber die das Urteil fällten, waren Senatoren und Ritter, die 25 sehr viel Rhetorik getrieben hatten, aber von Juris- prudenz fast nie etwas verstanden. Und weil auch jetzt die Amter meist auf kurze Zeit vergeben wurden, konnten sie auch aus der Praxis nicht lernen. Die Subalternen, die ihnen zur Hand waren, wurden dauernd 30 angestellt und kannten daher wenigstens die Formen des Prozesses. So konnten sie die Unwissenheit ihres hohen Vorgesetzten teilweise mit dem Schleier ihrer Zuflüsterungen bedecken; doch juristische Bildung

11. Die Kodifikation des Rechts. 157

besassen auch sie nicht, und noch weniger konnten sie sich in dem Wirrsal der kaiserlichen Rescripte zurechtfinden. Man musste es den Advocaten über- lassen, die Gesetze, die für den betreffenden Fall in

5 Betracht kamen, herbeizuschaffen, Dass diese sich oft widersprachen und man eben so oft nicht fest- stellen konnte, ob sie echt oder nur zum A'orteil der Parteien erfunden waren, versteht sich von selbst. Die Rechtsunsicherheit wurde um so grösser, als auch

10 die höchste Instanz in ihren Urteilen, die sie auf Appellation fällte, sich nicht immer gleich bleiben konnte, schon weil die Herrscher selbst gewiss oft nicht wussten, wie ihre Vorgänger in entsprechenden Fällen entschieden hatten. Aber auch derselbe Kaiser

15 richtete sich einmal nach dem Handbuch eines be- rühmten Rechtslehrers und verwarf später bei einem Prozess ganz gleicher Art die Meinung desselben, weil unterdessen die Gründe seiner Kronjuristen ihn eines andern belehrt hatten.

20 Schon dieses zeigt, wie bedeutungsvoll die Juris-

prudenz der Kaiserzeit in die Rechtsbildung eingriff. Indem Augustus alles Altertümliche mit romantischer Vorliebe pflegte und als Pontifex maximus es für seine amtliche Pflicht hielt, sogar das abgelebte Sacralrecht,

25 das nur noch Wenigen bekannt war, streng zu be- obachten, konnte er gelehrten Beirats nichts entbehren, und dasselbe gilt von seinen Nachfolgern. Sie alle haben dafür gesorgt, dass sich stets Juristen in ihrer Umgebung befanden und sie sogar bei ihren Reisen

30 und Feldzügen begleiteten, um ihnen bei der Abfassung ihrer Decrete und Rescripte als Sachverständige Hilfe zu leisten. Selbst als Tiberius sich nach Capri zurück- zog, um dem Verkehr mit dem sklavischen und doch zugleich boshaften Adel Roms zu entfliehen, musste

158 ^'11- ßi^ Auflösung des Keiclies^

er einen Manu senatorischen Standes in seinem Ge- folge dulden, den berühmten Rechtsgelehrten Marcus Cocceius Nerva. Solange die Kaiser sich nicht als Setzer neuen Rechtes, sondern nur als Deuter des alten betrachteten, lag es in der Natur der Dinge, dass 5 sie die Ansichten der Männer, die als die berufensten Kenner desselben galten, selbst noch über die eigenen stellten. Tiberius gab dem Masurius Sabinus das Recht, dass seine Gutachten, ob sie seinen Büchern entnommen oder auf Befragen für den einzelnen 10 Prozess gegeben waren, für die Gerichte bindend sein sollten, und stellte sie damit den eigenen Rescripten gleich. Da dieser Mann natürlich bald mit Geschäften überhäuft war, wurden ihm auch andere Juristen zur Seite gestellt, deren Anweisungen, auch ohne Angabe 15 von Gründen, jeder richterliche Beamte zu befolgen hatte.

Ob diese staatlich anerkannten Gelehrten die Rechtssicherheitgesteigerthaben, darf bezweifelt werden. „Der Professor ist ein Mann, der immer anderer 20 Meinung ist." Wie noch heute, so galt dieser Spruch auch im römischen Altertum. Nerva, der den Kaiser beriet, war ein Schüler des Antistius Labeo, Sabinus des Ateius Capito, und der Gegensatz, der ihre Lehrer getrennt hatte (S. 148), wurde durch sie noch ver- 25 schärft. Wahrscheinlich wollte Tiberius seine Un- parteilichkeit erweisen, indem er beide ungefähr gleich- stellte; doch die Folge musste sein, dass der Streit der gelehrten Schulen auch in die praktische Rechts- pflege hineingetragen wurde. Zweifellos standen 30 die Decrete und Rescripte des Kaisers, von Nerva dictiert, oft genug im Widerspruch zu den rechtlich bindenden Gutachten, die sein wissenschaftlicher Gegner abo:ab. Und auch nach ihrem Tode bestanden ihre

11. Die Kodifikutiou tles Reclits. 159

Schulen fort und bekämpften siel) weiter, ohne dass von allerhöchster Stelle zugunsten der einen oder der andern eine Entscheidung kam. In den Gerichten bildete sich die Praxis aus, dass man sich durch die

5 Meinungen der staatlich anerkannten Juristen für ge- bunden hielt, weun sie übereinstimmten, anderenfalls aber sich das freie Urteil vorbehielt, und dies wurde auch von den Kaisern stillschweigend gutgeheissen. Doch wenn nicht die Beamten selbst, so waren jeden-

10 falls ihre Assessoren juristisch gebildet, und jeder gehörte natürlich einer der beiden Schulen an und richtete im Zweifelsfalle nach deren Lehrmeinung: die Entscheidungen mussten also höchst zwiespältig sein. Und wenn man an den Kaiser appellierte, konnte

15 man auch nie wissen, ob in seinem hohen Rat die Sabinianer oder die Proculianer zeitweilig die Ober- hand gewonnen hatten.

Trotz dieses Gegensatzes der Schulen sind im ersten Jahrhundert die Schriften der Juristen für die

20 Rechtsbildung noch viel bedeutungsvoller gewesen, als die Verfügungen der Herrscher, und das aus guten Gründen. Zunächst gab es eine ganze Anzahl Er- lasse, von denen keiner recht genau wusste, ob sie o-iltio- seien oder nicht. Denn es war ein anerkannter

25 Grundsatz, den man schon nach' dem Tode Caesars geltend gemacht und auch später nie bezweifelt hat, dass alle Rechtshandlungen eines Mannes, dessen An- denken der Senat verdammt hatte, nichtig seien, und auf mehrere Kaiser, z. B. Gaius, Nero, Domitian, traf

30 dies zu. Eine Regierung aber, die vielleicht Jahr- zehnte gedauert hatte, zu behandeln, als wenn sie gar nicht vorhanden gewesen wäre, ging nicht an; doch ebensowenig konnte man die Verfügungen, die wirklich tyrannisch waren, weiter in Gültigkeit be-

160 VII. Die Auflösung des Reiches.

lassen. Der richtige Weg wäre gewesen, jede ein- zelne Regierimgshandlung des verdammten Herrschers nachzuprüfen und dann durch seine Nachfolger ent- scheiden zu lassen, welche anzuerkennen seien und welche nicht; mit einem so weitläufigen Verfahren 5 aber wäre man wahrscheinlich nie zu Ende gekommen. Die Kaiser haben daher die Erlasse ihrer verurteilten Vorgänger ganz principlos teils als giltig behandelt, teils als ungiltig, und damit wohl getan, was in diesem verzweifelten Falle das einzig Mögliche war. Doch 10 ihre Beamten konnten niemals wissen, ob sie sich nach einem Gesetz Neros oder Domitians noch zu richten hätten. Noch mehr aber als diese Unsicherheit kam den juristischen Schriften zugute, dass in ihnen die einzelnen Entscheidungen nicht zeitlich, sondern syste- 15 matisch augeordnet waren und sich daher für den Gebrauch der Gerichte viel leichter auffinden Hessen, als die Decrete und Rescripte, die in dem ungeheuren Wust der kaiserlichen Commentarii begraben lagen. So konnte es kommen, dass im ersten Jahrhundert 20 die anerkannten Juristen ihre Entscheidungen so gut wie ausschliesslich auf Grund der Theorie fällten; so- weit unsere Kunde reicht, hat vor der Zeit Hadrians keiner von ihnen sich auf Erlasse der Kaiser berufen.

Unter diesem Herrscher scheint in dem Streit 25 der beiden Schulen die Erbitterung ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Es 'ist bezeichnend dafür, dass von ihren damaligen Häuptern, Juveutius Celsus und Salvius Julianus, jeder in seinen Schriften die Leistungen des andern gänzlich ignoriert. Wahr- 30 scheinlich drohte dieser Zwiespalt die Einheitlichkeit der Rechtsprechung so zu gefährden, dass die höchste Stelle eingreifen musste, und Hadrian war dazu um so mehr geeignet, als er selbst zum Juristen ausge-

11. Die Kodifikation des Keclits. Ißl

bildet war. Dies aber dürfte nicht wenig dazu bei- getragen haben, eine noch grössere Vorliebe für An- tiquitäten bei ihm auszubilden, als schon Augustus sie besessen hatte. Wie er in Athen die Gesetze des Drakon 5 und Selon von den Toten zu erwecken suchte, so knüpfte er seine Reform des römischen Rechtes an das praetorische Edict an. dessen Fortbildung seit mehr als einem Jahrhundert geruht hatte. Er Hess seine Reste durch Salvius Julianus sammeln und

10 ordnen. Dies hatte für die Jurisprudenz zwei wichtige Folgen. Erstens wurde sie darauf angewiesen, sich künftig weniger mit den Zwölf Tafeln und mehr mit dem Edict zu beschäftigen, das wesentlich moderner, wenn auch gleichfalls längst veraltet war. Noch

15 wichtiger aber war, dass die Titel, unter die Julianus den StofP verteilt hatte, eine Disposition boten, die für die meisten späteren Rechtsbücher maassgebend wurde. Da sie auf diese Weise immer wiederkehrte, wurde sie Richtern und Advokaten oeläufig- und er-

20 leichterte ihnen so das Nachschlagen, ein Vorteil, der gegenüber den wirren Massen, durch die sie sich früher hindurchzuquälen hatten, wahrlich nicht gering anzuschlagen ist. Den Streit der Schulen konnte dies abgelebte Recht freilich nicht entscheiden; an der

25 Interpretation desselben hätte er nur neue Nahrung gefunden, wenn nicht der Kaiser kräftig eingegriffen hätte. Seine Rescripte wiesen die Gerichte an, welcher der streitigen Ansichten sie zu folgen hätten, und da so die Kontroversen eine nach der andern durch eine

30 Autorität, die niemand anzweifeln durfte, aus der Welt geschafft wurden, hörten bald auch die Gegen- sätze der Schulen zu existieren auf. Dafür erlangten die kaiserlichen Erlasse einen immer grösseren Ein- fluss auf die Rechtsbildung, und schon ein halbes

Seeck, Untergang der antiken Welt. VI. 11

162 ^^11- Die Auflösung des Reiches,

Jahrhundert später wurde die erste juristische Schrift nötig, die sich mit ihrer Sammlung und Erklärung beschäftigte.

Wie mau schon hieraus ersieht, wurden dadurch, dass die Herrscher den wichtigsten Teil der Rechts- 5 deutung selbst in die Hand nahmen, die Bücher der Juristen nicht überflüssig. Aber während sie sich früher vorzugsweise damit beschäftigt hatten. Veraltetes zu konservieren und für die gerichtliche Praxis er- träglich zu machen, fiel ihnen jetzt auch die bessere 10 Aufgabe zu, das Neue dem Publikum zu vermitteln. Denn nach wie vor verbargen sich die kaiserlichen Erlasse im Wust der Archive, und nur sehr Wenige erfuhren von ihrem Inhalt. Die Männer aber, die seit den Zeiten Hadrians zu Klassikern der Rechts- 25 Wissenschaft wurden, hatten fast alle in den nächsten Beziehungen zum Hofe gestanden; mehrere waren sogar Reichspraefecten gewesen, hatten als solche die Appellationsgerichtsbarkeit ausgeübt und im Namen des Kaisers die Entscheidungen selbst formuliert, die 20 zu Rechtsquellen wurden. Zwar dass irgend einer von ihnen den Inhalt der Decrete und Rescripte voll- ständig beherrschte, ist ausgeschlossen. Doch hatten sie Zutritt zum kaiserlichen Archiv und waren über dessen Inhalt besser unterrichtet, als irgend ein 25 anderer. So konnten sie Nachricht davou geben, was in ihrer eigenen Zeit geltendes Recht war, und taten das in Büchern, die meist nach den wohlbe- kannten Titeln des julianischen Edicts geordnet, den Advocaten die Möglichkeit boten, ohne gar zu grosse :?o Mühe aufzufinden, was sie für den einzelnen Fall brauchten. Freilich war die entsetzliche Fruchtbarkeit der juristischen Schriftsteller ein schweres Hindernis für ihre Benutzung. Von Paulus kennen wir 305

11. Die Kodifikation des Keclits. 163

Bücher, von Ulpian 287, und damit wird die Zahl derer, die sie geschrieben haben, noch kaum er- schöpft sein. Und da die meisten Entscheidungen einzehier Rechtsfälle enthielten, die auch für spätere

5 Prozesse bedeutungsvoll werden konnten, war von dieser unübersehbaren Masse nicht Atiel für den prak- tischen Juristen ganz entbehrlich. Mau half sich durch Auszüge, die zunächst einen Überblick boten und so das Nachschlagen in den umfassenden Werken

10 etwas erleichterten.

Dass keiner, der nicht in der Lage war, unzählige dicke Bücher zu wälzen, das geltende Recht wirklich beherrschen konnte, war kein erfreulicher Zustand; doch seit der Zeit Diocletians wurde es noch schlimmer.

15 Freilich hätte es ein Glück sein können, dass jene ängstliche Pietät, die das alte Recht nur durch schonende Umdeutung weiterzubilden wagte, mit ihm ihr Ende fand, wenn er und seine Nachfolger nur imstande gewesen wären, ein neues an dessen Stelle zu setzen.

•20 Doch sie reglementierten zwar flott drauflos und konnten nicht umhin, dabei die konservative Juris- prudenz der jüngst vergangenen Epoche als lästige Fessel zu empfinden. Schon Galerius scheint den kaiserlichen Willen zur einzigen Quelle des Rechtes

•25 gemacht zu haben, indem er die Befugnis, bindende Gutachten zu erteilen, keinem Juristen mehr verlieh und diejenigen, welche sie noch besassen, kurzweg hinrichten oder verbannen Hess. Auch Licinius hasste die Rechtswissenschaft; doch rechneten die Zeitgenossen

30 ihm dies zur schweren Sünde, und die meisten Herrscher hatten zu grossen Respekt vor der Weisheit der Vor- fahren, als dass sie deren juristische Schriften hätten beiseitewerfen können. Allerdings wurden die Wider- sprüche in diesen oft recht unbequem, da die geistige

11*

164 VII. Die Auflösung des Reiches.

Kraft, selbsttätig zwischen ihnen zu entscheiden, mehr und mehr dahinschwand. Schon Constantin verfügte daher, dass manche Erzeugnisse der älteren Juris- prudenz, in denen jene Streitfragen am ärgsten ihr Wesen trieben, vom Gebrauch der Gerichte aus- 5 zuschliessen seien. Doch die Hauptwerke wurden in ihrer Geltung ausdrücklich bestätigt und nur die weitere Fortbildung des Rechts den Juristen entzogen, um ausschliesslich den Kaisern vorbehalten zu bleiben.

So galt das alte Recht weiter, und den Juristen i'> blieb es unbenommen, nach wie vor in Antiquitäten zu schwelgen. Daneben aber schritt die kaiserliche Gesetzgebung mit fieberhafter Eile fort, aber nicht indem sie jenes systematisch umgestaltete, sondern indem sie nach Laune hier und da eingriff, wie dem 15 Herr.«*cher irgend ein Übelstand zufällig ins Auge sprang. Dass man die entgegenstehenden Rechtssätze aufhob, kam dabei nur ausnahmsweise vor. Denn die Kaiser und ihre Beamten konnten die ungeheure Masse juristischer Schriften, die sie doch als kanonisch -lo anerkannt hatten, gar nicht genügend übersehen, um jedesmal zu bemerken, wann sie zu ihnen in Wider- spruch traten. Zwar sollte man sich an die Regel halten, dass im Zweifelsfalle das jüngere Gesetz dem älteren vorzuziehen sei. Doch Richter und Advocaten 25 waren zwar gewohnt, sich im Ulpian und Paulus leidlich zurechtzufinden: dass man aber alle Ge- setze kenne, die alljährlich in neuen Strömen das Reich überfluteten und nur höchst mangelhaft publi- ziert wurden, liess sich keinem Menschen zumuten. Dass sie in einer brauchbaren Sammlung vereinigt wurden, war ein Bedürfnis, das sich im Verlaufe von Diocletians Regierung inmier dringender geltend machte; doch weder er selbst noch einer seiner Mit-

11. Die Kodilikutioii des Keclits. 165

regeuten fanden die Zeit, eine solche Arbeit zu leiten oder auch nur zu veranlassen. Es waren zwei Privat- leute, Gregorius und Hermogenianus, die um das Jahr 297 wahrscheinlich gleichzeitig und unabhängig

5 voneinander solche Werke veröffentlichten.

Bei dem ungeheuren Material, das sie zu ver- arbeiten hatten, mussten sie vor allem nach Kürze und Übersichtlichkeit streben. Jene wurde dadurch erreicht, dass man die meisten Gesetze nicht voll-

1(1 ständig aufnahm, was für ihre gerichtliche Benutzung auch gar nicht nötig war. Denn die rhetorischen Neigungen der Zeit hatten sie mit sehr viel über- flüssigem Schwulst behängt. Gleichwohl konnte man auf den Wortlaut dessen, was in ihnen wesentlich

war, nicht verzichten. Man entnahm daher jedem die Sätze, die juristisch bedeutsam waren, meist aber auch nur diese allein. Ausserdem war das Datum erforder- lich. Denn oft widersprachen die Bestimmungen ein- ander, und den privaten Sammlern stand es nicht zu,

•20 ihrerseits zu entscheiden, was als noch giltig, was als veraltet zu betrachten sei. Doch nach dem schon erwähnten Rechtsgrundsatz, dass ein späteres Gesetz dem früheren vorgehe, entschied in Fällen des Wider- spruclis das Datum, nach welcher Verfügung man sich

25 zu richten habe. Ausserdem wurden die Überschriften mit den Namen der Kaiser, die das Rescript erlassen hatten, und der Empfänger desselben hinzugefügt. Die Übersicht wurde dadurch erleichtert, dass man die Gesetze nach dem Inhalt zusammenstellte und für

30 die Anordnung der Titel die Reihenfolge des juli- anischen Edictes zugrunde legte, die jedem Juristen geläufig war. Keine der beiden Sammlungen hatte Vollständigkeit erreichen können, und jede enthielt Verfügungen, die in der andern fehlten. Man war

166 VII. Die Auflösung des Reiclies.

daher gezwungen, den Codex Gregorianus neben dem Hermogenianus zu benutzen; beide zusammen aber boten ein Material, das für den Gebrauch der Gerichte genügen konnte, freilich nicht ohne dass man die Schriften der klassischen Juristen mit heranzog. So 5 hatte der Advocat noch immer einige Mühe, um das zusammenzusuchen, was er für den einzelnen Prozess brauchte: aber es war doch nicht mehr in den Archiven vergraben, sondern konnte in zugänglichen Büchern gefunden werden. w

Aber da im vierten Jahrhundert die Kaiser in der Gesetzgebung viel eifriger blieben, als dem Wohle ihrer Untertanen zuträglich war, mussten auch jene beiden Sammlungen bald veralten. Zwar veranstaltete Hermogenian unter Constantin noch eine zweite, ver- i5 vollständigte Ausgabe seines Codex, und unter Valen- tiniau und Valens erschien eine dritte, der wieder ein paar neue Gesetze hinzugefügt waren. Doch der Umfang dieser Nachträge scheint mehr durch den Zufall bestimmt zu sein, als dass man sich zu einem jo neuen systematischen Sammeln alles Vorhandenen ent- schlossen hätte. Und nicht nur die Überproduktion an Gesetzen, sondern auch das Vielkaisertum wirkte darauf ein, dass jetzt die Rechtsunsicherheit grösser wurde als je zuvor. 25

Früher hatte der Hof seinen Sitz im Mittelpunkte des Reiches gehabt, wo das höchste Appellationsgericht hingehörte; Diocletian machte ihn zu einem Wander- lager und hielt sich meist im äussersten Osten, bald in Nicomedia, bald in Alexandria oder Antiochia auf. 3o Hätte er verlangt, dass man sogar aus Brittannien oder Spanien nur an ihn allein appellierte, so hätte dies die letzte Entscheidung der Prozesse, die ohnehin schön weitläufig und kostspielig genug waren, noch

11. Die Kodifikation des Rechts. 167

mehr verschleppt und verteuert. Wahrscheinlich hatte er eben darin einen Vorzug der Vielherrschaft gesehen, dass die Verteilung der vier Kaiserhöfe über das Reich es den Bürgern der entfernteren Provinzen erleichterte,

5 mit einem davon in Verkehr zu treten. Die eigent- liche Gesetzgebung hatte er zwar sich allein vor- behalten; die höchste Gerichtsbarkeit aber und damit auch das Recht, Rescripte zu erlassen, konnte er weder seinem Mitaugustus noch seineu Caesaren entziehen.

10 Die beiden Reichspraefecten, die im Namen des Kaisers über Appellationen zu entscheiden pflegten, Hess er daher an den Hoflagern des Coustantius und des Galerius residieren, während die beiden Augusti sich für diesen Zweck der Vicare bedient zu haben scheinen.

15 Diese Einrichtung wird der Grund gewesen sein, warum man um jene Zeit begann, die Wirkung des Rescripts auf den einzelnen Prozess, für den es gegeben war, zu beschränken und das allgemeine Gesetz scharf davon zu unterscheiden. Aber diese wichtige Neuerung hat

20 sich erst unter den folgenden Herrschern völlig durch- gesetzt; unter Diocletian steht sie noch in ihren An- fangen.

So gab es vier Stellen, von denen Erlasse aus- gingen, und dass sie sich manchmal widersprachen,

25 konnte nicht ausbleiben. Trat dies zu Tage, so hätten die Verfügungen Diocletians gegen die der anderen Herrscher den Vorzug haben müssen, wenn sie nur erkennbar gewesen wären. Doch obgleich von Vieren ausgeübt, galt das Kaisertum als ein-

30 heitlich, und zum Ausdruck dessen wurde jeder Er- lass, von w^elchem der Herrscher er auch herrührte, mit den Namen aller vier Kollegen überschrieben. Welchem er angehört, können wir nur an dem Orte des Datums oder dem Adressaten erkennen; dazu

168 VII. Die Auflösimi- des Reiches.

aber bedarf es historischer Untersuchungen, die mau vor Gericht natürlich nicht anstellte. Die Yerwirruns steigerte sich noch, als unter den Nachfolgern Diocle- tians alle Mitregenten den Anspruch erhoben, nicht nur Rescripte, sondern auch allgemeine Gesetze zu 5 erlassen. Durch jene Vieldeutigkeit der Überschriften konnte man schon nach wenigen Jahren nicht mehr wisseu, ob eine Verfügung von Valentinian oder Valens, von Gratian oder Theodosius, von Arcadius oder Honorius ausgegangen war. Dies konnte sogar lo dazu führen, dass Gesetze, die ausdrücklich aufgehoben waren, nach einiger Zeit doch wieder als giltig be- handelt wurden.

Wurde ein Herrscher entthront, so pflegte man ihn für einen Tyrannen und alle seine Erlasse für is nichtig zu erklären. So war es auch Maximinus Daja und Licinius ergangen. Doch ihre Gesetze trugen die Überschrift: h^iperatores Constantinus, Maximinus et Licinius Augusti^ genau wie die Constantins, und waren folglich von diesen gar nicht zu unterscheiden. 20 Gleich nach dem Sturze der „Tyrannen" wusste man freilich noch, welche Kaiserbriefe von ihnen ausge- gangen waren, und wird diese in den verschiedenen Archiven vernichtet haben. Hatte sich aber einer zu- fällig in irgend einem Winkel erhalten und tauchte 25 nach langen Jahren wieder auf, so konnte man ihm nicht ansehen, dass er ungiltig war, und behandelte ihn nicht anders als jede echte Urkunde Constantins.

Ein wenig wurde dieser Nachteil dadurch aus- geglichen, dass man auf die Veröifentlichung der 30 Gesetze etwas sorgfältiger achtete, als in frühereu Zeiten. Trugen sie Briefform, was die Regel war, so wurden sie meist nicht nur einem Beamten zuge- stellt, sondern allen, die mit ihrer Ausführung irgend-

11. Die Kodifikation des Hecht.s. l(;i)

wie zu tun hatten. Ausserdem pflegte am Schlüsse der Befehl zu stehen, dass die Empfänger sie durch Edicte zur allgemeinen Kenntnis bringen sollten. Auf diese Weise wurden sie nicht nur in mehreren Amts-

5 archiven niedergelegt, sondern auch an vielen Orten durch öffentlichen Anschlag bekannt gemacht. Dies trug auch dazu bei, dass, wenn mehrere Kaiser ge- meinsam regierten, die Widersprüche zwischen ihren Gesetzen nicht sogleich störend zutage traten. Denn

10 jeder teilte sie nur den Beamten mit, die ihm unter- standen, und veröffentlichte sie nur in seinem Reichs- teil, so dass sie in den Gebieten seiner Mitregenten einstweilen gar nicht bekannt wurden. Doch wie gesagt, principiell galt jedes Gesetz als Ausfluss des

gesamten Kaisertums, nicht als persönliche Willens- äusserung eines Kaisers, und beanspruchte daher Geltung für das ganze Reich. Wenn also bei dem regen Verkehr, der innerhalb seiner Grenzen herrschte^ ein orientalischer Erlass in den Occident gebracht

20 wurde, musste er auch dort beobachtet werden, und ebenso umgekehrt. Und dabei arbeitete die Gesetzes- fabrik mit unheilvoller Geschäftigkeit; Jahr für Jahr erschienen Dutzende von Verfügungen, von denen viele sich gegenseitig aufhoben oder durchkreuzten.

25 Welche Not es Gerichten und Advocaten machte, sich in diesem Wust zurechtzufinden, dass sie oft von einem bestehenden Gesetze gar nichts wussten oder ein auf- gehobenes für noch rechtsgiltig hielten, kann man sich leicht denken.

30 Die staatlichen Autoritäten taten nichts, um dieser

Unsicherheit des Rechtes abzuhelfen, wohl aber die private Wissenschaft. Noch unter Constantin suchte ein unbekannter Jurist die Codices des Gregorius und Hermogenianus zu überbieten, indem er unter die Titel

170 VII. Die Auflösung des Reiclies.

seines Werkes nicht nur die Kaisergesetze einreihte, sondern auch die entsprechenden Bruchstücke aus den Schriften der klassischen Rechtslehrer. Doch seine Arbeit, deren Reste unter dem Titel der Vaticanischen Fragmente bekannt sind, war nicht geeignet, sich all- 5 gemeine Geltung zu verschaffen, obgleich sie gewiss von vielen Advocateu benutzt wurde. Und wenn auch ihren späteren Auflagen noch einzelne Nachträge hinzugefügt wurden, musste sie doch mit jeder neuen Regierung mehr veralten. lo

Das einzige Hilfsmittel der Rechtspflege, das über- sichtlich und eiuigermaassen handlich war, blieben auch jetzt noch die Schriften der klassischen Juristen, obgleich die meisten schon vor einem Jahrhundert und mehr entstanden waren: aber auch o-egen sie 15 regten sich Zweifel. Denn erstens wusste man nicht, welche als zweifellos klassisch zu betrachten seien, zweitens konnte es auch in ihren Büchern an Wider- sprüchen nicht fehlen. Diese Schwierigkeiten suchte Placidia durch das sogenannte Citiergesetz vom 7. No- 20 vember 426 zu beseitigen, in dem sich die juristische Verständnislosigkeit des Weibes mit einem geradezu barbarischen Schematismus verbindet. Die Autoren werden aufgezählt, die als klassisch gelten sollen; widersprechen sie einander, so sollen nicht die besseren 25 Gründe, sondern einfache Stimmenmehrheit entscheiden ; tritt Stimmengleichheit ein, so ist der Teil vorzuziehen, auf dessen Seite sich Papinian befindet. Was aber das Merkwürdigste ist, mau nimmt au, dass ein Rechts- zustand, der vor zweihundert Jahren geherrscht hatte, ''-o noch immer fortbestehe, obgleich eine Unzahl von Gesetzen ihn seitdem gründlich verändert hatten. Offenbar wird vorausgesetzt, dass von diesen Richter und Advocateu kaum etwas wissen können.

11. Die Kodifikation des Rechts. 171

Und das, obwohl noch der Herr Vater der Kaiserin in stolzem Tone befohlen hatte: „Keinem erlauben wir, die Verfügungen unserer Gnädigkeit, die in langer Überlegung erwogen sind, nicht zu keunen oder sich 5 zu stellen, als wenn er sie nicht kennte." Freilich klang dies höchst lächerlich im Munde eines Herrschers, der immer wieder seine eigenen Gesetze widerrufen hatte, sodass zu wissen, was davon noch in Geltung blieb, wirklich kein leichtes Kunststück war.

10 Bei diesen Zuständen hatte mau es schon längst

als dringendes Bedürfnis empfunden, dass die Kaiser für ein Rechtsbuch sorgten, in dem unter ihrer eigenen Autorität alle Widersprüche der bisherigen Gesetz- gebung beseitigt wären. Doch unter den steten

15 Kämpfen gegen Usurpatoren und Barbaren war man nicht dazu gelangt, eine so schwierige Friedensarbeit in die Hand zu nehmen. Erst seit dem Tode des Arcadius war das Ostreich eiuigermaassen zur Ruhe gekommen, und dies benutzte Theodosius oder rich-

20 tiger wohl Eudocia, um auf dem langen Wege, der zur Vollendung des grossen W^erkes führen sollte, wenigstens den ersten Schritt zu tun. Dieser musste darin bestehen, zunächst eine vollständige Übersicht über die kaiserliche Gesetzgebung zu gewinnen. Für

25 die früheren Zeiten schienen die Codices des Gregorius und Hermogenianus diesen Zweck genügend zu er- füllen; mit dem Anfang des vierten Jahrhunderts da- gegen begann ein wildes Chaos. Der Erlass vom 26. März 429 ernannte daher eine Kommission und

30 übertrug ihr die Aufgabe, vom Jahre 312 an, mit dem die Gesetzgebung Constantins des Grossen begann, das ganze erreichbare Material zu sammeln und es nach den gleichen Grundsätzen zu excerpieren und zu ordnen, wie sie jene beiden Vorgänger angewandt

172 ^11- I^it' Aiiflösiui!; des Reiches.

hatten. Derselbe Pjrlass teilte mit, dass diese Samm- lung nur eine vorläufige sein solle. Hatte man durch sie die Möglichkeit gewonnen, die Kaisergesetze voll- ständig zu übersehen, so sollte ihr eine zweite folgen, die nicht nur aus diesen, sondern auch aus den 5 Schriften der juristischen Klassiker alles zusammen- stellen sollte, was noch nicht veraltet war. So sollte dieser zweite Codex das gewähren, was erst ein volles Jahrhundert später durch das Corpus Juris wirklich geleistet wurde; er sollte alles enthalten, was noch lo als geltendes Recht anerkannt war, und den Gerichten die Benutzung jedes anderen Buches ersparen.

Olgleich die erste Sammlung nur eine Vorarbeit sein sollte, nahm sie doch über neun Jahre in An- spruch, und wirklich war sie nicht leicht zusammen- is zubringen, woran in erster Linie die unglaubliche Vernachlässigung der kaiserlichen Archive die Schuld trug. Seit die Herrscher ihre Residenz in Rom auf- gegeben hatten, war auch ihre Verbindung mit dem alten Centralarchiv gelöst. Als höchste Appellations- 20 richter konnten sie zwar kaum vermeiden, bei ihrem steten Umherreisen eine Anzahl von Rechtsquelleu mit sich zu führen, doch mussten sie diese auf das Not- wendigste beschränken. Hätten sie alle Urkunden, die sie und ihre Vorgänger erlassen hatten, mit- 25 schleppen wollen, so wäre dazu ein langer Wagenzug nötig gewesen, bespannt mit Tieren, welche die armen Untertanen unentgeltlich liefern mussten. Da die Leistungen für das kaiserliche Fuhrwesen ohnehin er- drückend waren, strebte man während der ganzen Zeit, 30 von der wir zu erzählen hatten, sie nach Möglichkeit herabzusetzen. Wie hätte man sie für Papierhaufen in Anspruch nehmen sollen, aus denen man nur wenige einzelne Stücke wirklich benutzte? Und brauchte man

11. Die Ko(iitikatioii des Rechts. 173

eine Urkunde, so war sie in dieser Reiseverpackuug sicher nicht aufzufinden. Die regelmässige Führung von Commentarii war in dieser Zeit am Hofe nicht mehr üblich, und die Concepte, die man bei Absendung

5 der Kaiserbriefe zurückbehielt, wird man nur sehr selten dauernd aufbewahrt haben; meist verschwanden sie in den Winkeln irgend eines Büros oder wurden gar ab- sichtlich weggeworfen. Auch als mit dem Ableben des Theodosius der eine der beiden Herrscher in

10 Constantinopel wieder eine bleibende Residenz gewann, scheint das nicht viel anders geworden zu sein; denn lüderliche Gewohnheiten behaupten sich, auch wenn die Gründe, die sie hervorgerufen hatten, geschwunden sind. Jedenfalls ist von dem Material, das im Codex

15 Theodosianus zusammengetragen ist, nur ein ganz ver- schwindender Teil dem kaiserlichen Centralarchiv entnommen.

Man musste sich also an die ürkundensammlungen halten, welche die Empfänger der Kaiserbriefe angelegt

20 hatten, und dabei ergab sich das merkwürdige Re- sultat, dass der Orient, in dessen Hauptstadt die Kommission tagte, sehr viel weniger beisteuerte, als der Westen. Der Grund lag wohl in den sprachlichen Verhältnissen des Reiches. Rom hatte es geschaffen,

25 und sein Latein war daher nicht nur die Sprache der Gesetze, sondern auch der Gerichte gewesen. Da aber in den östlichen Provinzen nur Wenige sie ver- standen, hatte man hier die Verhandlungen schon lange griechisch geführt. Als Rudiment des alten

30 Zustandes war nur noch die Bestimmung übrig- geblieben, dass der Richter das Urteil lateinisch fällen musste; aber auch dies hatte Eutrop durch ein Gesetz vom 9. Januar 397 in sein Belieben gestellt, was jedenfalls zur Folge hatte, dass es ganz unterblieb.

174 VII. Die Auflösung des Reiches.

Auf diese Weise war eine gründliche Kenntnis der alten Reichssprache nicht nur bei den Advocaten, sondern auch bei den Beamten, im griechischen Osten recht selten geworden, und daher wird es gekommen sein, dass man die lateinischen Gesetze, weil man sie 5 nur mangelhaft verstand, schnöde vernachlässigt hatte. In den Archiven der orientalischen Reichspraefecten fand sich allerdings noch reiches Material; doch schon der Stadtpraefect vonConstantinopel konnte viel weniger herffeben, als der von Rom. An den Proconsuln von 10 Africa finden sich im Codex 103 Gesetze, an den von Asia nur 13; der Vicar von Africa ist durch 48 ver- treten, der von Asia wieder nur durch 13, der von Thrakien, in dem Constantinopel selbst gelegen war, durch ein einziges. Selbst die berühmte Rechtsschule 15 von Berytus, an die man sich gleichfalls wandte, bot nur eine sehr bescheidene Beisteuer. Offenbar hatte sie sich viel mehr mit den Schriften der klassischen Juristen beschäftigt, als dass sie es nötig gefunden hätte, den Wust der späten Kaisergesetze aufzuheben 20 und zu ordnen.

Von diesen sollte keines unberücksichtigt bleiben, und wirklich finden sich der Vollständigkeit zu Liebe Stücke aufgenommen, die für den praktischen Ge- brauch der Sammlung nicht den geringsten Wert 25 hatten. So enthält sie Amnestien, Steuernachlässe und andere Verfügungen, die nur für eine ganz bestimmte Zeit Bedeutung gehabt hatten, in grosser Menge; ja selbst der folgende Erlass des Honorius ist nicht über- gang-en: „Über die Schiffero-ilden und die Decurionen 3o würden wir etwas verfügt haben, wenn nicht ein Gesetz unseres seligen Vaters über diese Personen erschienen wäre." Und während lächerliche Nichtigkeiten dieser Art, die jeder vernünftige Mensch hätte unterdrücken

11. Die Kodifikation des Rechts. 175

müssen, ihren Platz in der Sammlung behaupten, fehlt die lange Reihe hochwichtiger Gesetze, durch die Constantin die gesammte Verwaltung des Reiches umgestaltet hatte, von den zahlreichen anderen Lücken

5 ganz zu geschweigen. Das zusammengebrachte Material war eben höchst unvollständig, weil im Westen, der das Meiste hergeben musste, die Barbaren schon furcht- bar gehaust und dabei natürlich auch die Archive nicht verschont hatten. Es ist bezeichnend dafür,

10 dass Gallien, Spanien und Pannonien, die schon lange der Schauplatz ihrer Raubzüge waren, nur ganz wenige Gesetze beigesteuert haben, Africa dagegen, das vor dem Einbruch der Vandalen einer langen Ruhe genossen hatten, eine ausserordentlich grosse Zahl. Aber neben

15 dem Mangel, der die beabsichtigte Vollständigkeit un- möglich machte, stand andererseits ein Überfluss, der wieder andere UnvoUkonmienheiten der Sammlung zur Folge hatte. Denn da sehr zahlreiche Archive durchstöbert waren, besass man dasselbe Gesetz nicht

20 selten in mehreren Exemplaren und nahm es dann mitunter auch zwei oder drei Mal in den Codex auf. Auch die Kürzungen und kleinen Veränderuno^en, die man an dem Urtext vornahm, waren oft sehr un- geschickt, ja/ es kam vor, dass sie den Sinn bis zur

25 Unkenntlichkeit entstellton. Am nachlässigsten verfuhr man mit den Datierungen, denen man offenbar sehr geringen Wert beilegte; und doch konnten sie für die Giltigkeit sich widersprechender Gesetze entscheidend sein. Nachdem man über sechs Jahre an der Samm-

:w lung gearbeitet hatte, überzeugte sich Theodosius, dass die Leistungen der Kommission ganz unzureichend waren. Er ernannte eine andere, fast doppelt so grosse, in die von den neun Mitgliedern der ersten nicht mehr als zwei aufgenommen wurden. Die sech-

176 VII. Die Aiiflö.suns des I'oiclies.

zehn neuen Männer haben sich dann mehr beeilt, als ihre Vorgänger, und in zwei Jahren den Codex ab- geschlossen; doch dass sie viel bessere Arbeit geleistet haben, ist nach dem vorliegenden Resultat kaum an- zunehmen. 5

Doch nicht immer sind es die grössten Erzeug- nisse menschlicher Weisheit, welche die bedeutsamsten Folgen haben. Die Sammlung, die Theodosius mit Stolz nach seinem Namen benannte, war erbärmliches Plickwerk, hat aber trotzdem durch Jahrhunderte fort- lo gewirkt. Dass die Senate von Coustantinopel und Rom, als sie ihnen 438 vorgelegt wurde, sie mit einer endlosen Reihe von Begeisterungsrufen begrüssten, versteht sich von selbst. Aber auch wo man nicht zu diesem Enthusiasmus der Loyalität verpflichtet war, i5 empfand man es als Wohltat, dass sich jetzt auch die Gesetze des letzten Jahrhunderts, über die man vorher am schlechtesten unterrichtet war, einigermaassen über- blicken Hessen. Und der Jubel, mit dem die römische Bevölkerung diesen Zuwachs an Sicherheit des Rechtes 20 begrüsste, wirkte auch zu ihren barbarischen Nach- barn hinüber. Wenig mehr als ein Menschenalter war nach dem Erscheinen des Codex Theodosianus ver- uangen, als die Germanen, die bis dahin nur nach den Gewohnheiten der Väter Recht gesprochen hatten, ihr 25 erstes schriftlich aufgezeichnetes Gesetzbuch empfingen. König Eurich Hess es in lateinischer Sprache für seine Westgothen abfassen, wahrscheinlich durch den römischen Gallier Leo, den er als Kanzler und juristi- schen Ratgeber zu benutzen pflegte. Dass dieser den 30 Codex des Theodosius kannte, unterliegt keinem Zweifel, um so weniger, als manche Bestimmung des Eurich durch ihn beeinflusst ist. Noch viel stärker wirkte auf dessen Sohn Alarich IL das römische

11. Die Kodifikation des Ileclit». 177

Gesetzbuch ein. Denn die sogenannte Lex Romana Visigothorum^ die er 506 zum Gebrauch der nicht- germanischen Untertanen seines Reiches veröffentlichen Hess, ist nichts weiter als ein Auszug auf dem Codex

5 Theodosianus nebst den ihn ergänzenden Novellen, vermehrt um wenige Stücke aus dem Gregorianus, dem Hermogenianus und den Schriften der klassischen Juristen. In ähnlicher Weise sind die römischen Gesetzbücher der Burgunder und des ostgothischen

10 Theodorich zusammengestellt, und diese Auszüge, aus denen immer wieder andere noch kürzere Auszüge gemacht wurden, haben die germanischen Reiche, für die sie gefertigt waren, überdauert und bis tief ins Mittelalter ihre Geltung behauptet.

15 Bei Veröffentlichung des Codex Theodosianus war

verfügt worden, dass aus dem Zeitraum, den er um- fasste (312 437), kein Gesetz vor Gericht angeführt werden dürfe, dass ihm nicht entnommen sei. Damit wurde zwar manches echte Stück, das der Kommission

20 nur durch Zufall entgangen war, seinei Geltung be- raubt, zugleich aber und darauf kam es an alle jene Fälschungen ausgeschlossen, die vorher der Rechtsprechung oft gefährlich geworden waren. In demselben Sinne wurde bestimmt, dass kein künftiges

25 Gesetz des einen Kaisers im Reichsteil des andern giltig sein solle, ehe es diesem mit einem Begleit- schreiben seines hohen Kollegen zugeschickt und auch von ihm für seine Untertanen veröffentlicht worden sei. Damit verhütete man, dass occidentalische Ver-

30 fügungen, deren Echtheit noch nicht festgestellt war, im Orient benutzt wurden und umgekehrt; zugleich aber wahrte man jedem der beiden Kaiser die Un- abhängigkeit seiner Gesetzgebung. Denn es hing ja nur von seinem freien Willen ab, ob er die Urkunde,

Seeck, UntPigang der antiken Welt. VI. 12

178 VII. Die Auflösung des Reiches.

die ihm übersandt war, auch in seinem Reichsteil publizieren wollte. An der Art, wie diese Bestimmung durchgeführt wurde, zeigte es sich am deutlichsten, dass die beiden Hälften des Römerreiches zu selb- ständigen Staaten geworden waren und ihren Zu- 5 sammenhang nur noch in der Idee aufrecht erhielten. Theodosius II. fand es nicht der Mühe wert, seine Gesetze, gleich nachdem sie erlassen waren, einzeln nach Ravenna zu schicken; erst im zehnten Jahre nach der Vollendung seines Codex übersandte er einen 10 ganzen Stoss auf einmal, und entsprechend machte es sein Nachfolger Marcian. Im Occident hat man diese Novellensencfungen zwar pflichtschuldigst veröffent- licht, sah sich aber nicht veranlasst, sie zu erwidern. So hat der Orient zwar noch in einem gewissen Grade 15 auf die Rechtsbildung des anderen Reichsteils und damit auch der neuen germanischen Staaten ein- gewirkt; doch was man in Rom und Ravenna ver- fügte, blieb in Constantinopel unbekannt und un- beachtet. 20

Nach der Absicht der Eudocia sollte der Codex Theodosianus nur die Vorarbeit für eine abschliessende Kodifikation bedeuten, in der alle Widersprüche be- seitigt und das römische Recht, nur soweit es noch in tatsächlicher Geltung war, dargestellt werden sollte. 25 Doch als die Sammlung kaum veröffentlicht war, trat sie eine Wallfahrt nach Jerusalem an, und bald zog sie sich ganz dorthin zurück, verzichtete auf ihren weltlichen Einfluss und lebte nur noch für das Heil ihrer Seele. :^o

Damit war auch ihr stolzer Plan zu Grabe ge- tragen. Schon in dem Erlass, mit dem Theodosius die Veröffentlichung seines Codex begleitete, stellte er sich, als wenn durch diesen alles geleistet sei, was

11. Die Kodifikation des Reclits. 179

man erwarten und verlangen könne. Und doch blieben auch künftig- nicht nur die Sammlungen des Gre- gorius und Hermogenianus, sondern auch die Schriften der alten Juristen, soweit das Citiergesetz der Placidia

5 sie als klassich anerkannte (S. 170), in voller Geltung. Aber sich in ihrer ungeheuren Masse zurechtzufinden, war jetzt viel schwieriger geworden, als die Kaiser- gesetze zu benutzen, obgleich man auch zu diesem Zweck drei Codices nachschlagen musste. Dass diese

10 jetzt im Gebrauch der Gerichte in den Vordergrund traten, war bei der allgemeinen Geistesträgheit dieser Zeit selbstverständlich und auch insofern nicht un- berechtigt, als ja das jüngere Recht grundsätzlich dem älteren vorgehn musste. Als daher Justiniau ein

15 Jahrhundert später den Plan der Eudocia wieder auf- nahm, beabsichtigte er anfangs nur, die drei Codices nebst den später erschienenen Novellen zu einem zu- sammenarbeiten zu lassen. Dabei sollten alle Wieder- holungen und Widersprüche beseitigt und alles, was

20 veraltet war, gestrichen oder durch Änderungen des Textes umgestaltet werden. Auch die Bücher der klassischen Juristen in derselben Weise benutzbarer zu machen, hielt er bei ihrer unübersehbaren Menge für unmöglich. Doch scheute er auch davor zurück,

25 sie ihrer gerichtlichen Geltung kurzweg zu entkleiden; dazu war die allgemeine Bewunderung für sie zu gross, ihre uralte Autorität zu fest gewurzelt. So hätte, wenn der Plan des Kaisers nur in seiner ursprünglichen Beschränkung zur Ausführung gekommen wäre, neben

30 seinem neuen Codex noch immer eine Rechtsquelle fortbestanden, die in manchem Einzelfalle höchst un- liebsame Überraschungen bereiten konnte, weil keiner ganz genau wusste und wissen konnte, was in ihr alles enthalten war. Zwar dass sie nicht in gar zu

12*

180 VII. Die Auflösung des Keiclies.

weitem Umfange zur Anwendung kam, dafür sorgte die Faulheit der Advocaten; gab es doch unter ihnen manche, die überhaupt kaum Bücher besassen, ge- schweige denn in jeuer ungeheuren Literatur Bescheid wussten. Doch um so leichter konnte es kommen, 5 dass, falls jemand so glücklich war, irgend eine ihm o'ünstio-e Stelle in solch einem alten Schmöker auf- zufinden, dadurch ein Prozess entschieden wurde, auch wenn andere ebenso klassische Stellen ihr wider- sprachen. Denn dies festzustellen, war die sehr 10 bescheidene Gelehrsamkeit der meisten Advocaten nicht imstande, und nach dem Citiergesetz der Placidia die Autoritäten nach Mehrheit entscheiden zu lassen, war noch schwieriger, weil nicht leicht einer die juristische Literatur so beherrschte, um jene Mehrheit 15 zusammenzufinden. Wie es im römischen Reiche immer gewesen w^ar, seit die Zwölf Tafeln und das praetorische Edict sich gegenüberstanden, so wäre es auch ferner geblieben; hinter dem neuen Recht hätte das alte gelauert, halb verschüttet und vergessen, aber 20 stets bereit, seinem siegreichen Nebenbuhler boshafte Streiche zu spielen.

Dass dies vermieden wurde, war das Verdienst eines Mannes von unerschöpflicher Arbeitskraft und srossem Talent der Organisation. Tribonian hatte schon der Kommission für die Zusammenstellung des Codex Justinianus angehört, und obgleich er in ihr nicht an erster Stelle stand, scheint man es doch als seine Leistung betrachtet zu haben, dass in kaum mehr als einem Jahre das Werk vollendet war. Diese 30 erstaunlich schnelle Erledigung einer nicht kleinen Aufgabe liess es dem Kaisers möglich erscheinen, dass auch die viel grössere und schwierigere, w^elche die Schriften der klassischen Juristen stellten, durch diese

11. Die KiMlitilsutinii »l.-s i;(M|it>. 181

Kraft gelöst werden könne, l'riboninn wurde gestattet, sich seine Mitarbeiter selbst zu wählen, und mit ihrer Hilfe brachte er es durch eine sehr geschickte Arbeits- teilung fertig, dass er schon nach drei Jahren das

5 abgeschlossene Werk dem Kaiser vorlegen konnte. Und mehr als das! Diese Digesten oder, wie man sie auch nannte, Pandekten umfassten nicht weniger als 50 Bücher; dazu kamen noch die 12 des Codex. Sich in einer so ungeheuren Masse von Stoff zurecht-

i(» zufinden, war nur durch eine tüchtige juristische Vor- bildung möglich. Eine solche zu vermitteln, sollten die vier Bücher Institutionen dienen, welche die Ge- schichte und die Grundzüge des Rechtes übersichtlich zusammenfassten. Und auch dies Lehrbuch wurde

15 von denselben Männern innerhalb derselben drei Jahre zum Abschluss gebracht.

Dass sie in diesem kurzen Zeitraum nicht in der Lage waren, bei jedem einzelnen Paragraphen ihrer 5-4 Bücher reiflich zu erwägen, ob sie ihn aufnehmen

20 oder unterdrücken, unverändert lassen oder zeitgemäss umgestalten sollten, ist klar. So ist denn ' auch ihre Arbeit eine ganz verblüffende Leistung des Sitzfleisches, aber eine sehr bescheidene des Kopfes. Wenn man heutzutage ein Gesetzbuch schafft, so benutzt man

25 zwar natürlich das ältere Recht, aber nur als An- regung oder „schätzbares Material"; mit Ausnahme einzelner Paragraphen, für die man nichts Besseres als das Hergebrachte zu finden weiss, ist die Formu- lierung immer neu. Doch zu einer selbsttätigen

:w Schöpfung dieser Art, wie der grosse Caesar sie be- absichtigt hatte (S. 147), reichte die erschlaffte Geistes- kraft dieser Epoche nicht mehr aus. Das Lehrbuch ist aus den Institutionen des Gaius abgeschrieben; nur haben Tribonian und seine Genossen einiges weg-

182 VII. Die Auflösung des Reiches.

gelassen, was ihnen veraltet oder überflüssig schien, nnd anderes hier und da hinzugefügt, was dem Rechte ihrer Zeit besser entsprach. Ebenso enthalten die Digesten nur wörtliche Auszüge aus den Schriften der alten Juristen, die in derselben Weise teils ver- 5 stüinmelt, teils interpoliert sind. Daraus ergibt sich, dass Materien, die man bei eigener Neuformulierung in einer massigen Zahl von Paragraphen hätte er- schöpfen können, bei dieser Art der Behandlung sich ins Unendliche dehnen, natürlich nicht zum Vorteil lo des praktischen Gebrauches. So handeln allein vom testamentarischen Erbrecht in den Digesten mehr als 1700 Fragmente, die in der verbreiteten Ausgabe bei- nahe 200 engbedruckte Quartseiten füllen, und dazu kommt noch eine ganz erkleckliche Anzahl von Ge- is setzen des Codex. Man wollte eben keinen Fall, den das Gutachten eines alten Juristen oder das Dekret eines Herrschers früher entschieden hatte, in der Sammlung übergehen, wenn irgend eine Möglichkeit vorlag, dass er sich künftig in ähnlicher Weise wieder- 20 hole. Doch lehrt die Erfahrung, dass bei solcher Kasuistik, w^enn sie für tausend Fälle genaue An- weisungen gegeben hat, doch immer wieder ein tausend- underster eintritt, den sie nicht hat vorsehen können. Und diesem steht der Richter dann ratlos gegenüber, 25 weil er nicht gewohnt ist, selbst zu denken, sondern nur im Gesetzbuch nachzuschlagen, was bei einem so kolossalen Umfang desselben freilich auch keine ganz leichte Sache war. Und wenn Justinian verordnet hatte, dass aus seinen Rechtsbüchern alle Widersprüche 30 zu beseitigen seien, so konnte bei der erdrückenden Masse der Fragmente und der kurzen Zeit, in der sie verarbeitet wurden, auch dies nur sehr unvoll- kommen zur Ausführung gelangen.

11. Die Kodifikation des Reclits. 183

So musste das Corpus Juris eine Plage für die Gerichte sein und ist es bis in die neueste Zeit ge- blieben, solange das gemeine Recht noch in dem modernen Europa verbreitet war. Doch je weniger 5 es praktisch brauchbar war, desto mehr Freude machte es den Gelehrten; denn hier gab es Unend- liches zu glossieren und zu kommentieren. Und wie einst das Sacralrecht und die Zwölf Tafeln, weil kein gewöhnlicher Mensch sie mehr verstehen konnte, den

10 Juristen zu hoher Macht verhalfen, so das römische Recht in Mittelalter und Neuzeit. Neben den neueren Gesetzen des Codex hatte sich in den Digesten noch ein stattlicher Rest jener halbzerfallenen Ruinen er- halten, wie sie der Antiquitätenkrämer Wonne sind.

15 Der Scharfsinn der klassischen Juristen hatte sich daran geübt, sie umzudeuten und so für die Rechts- pflege möglichst unschädlich zu machen, und jener Scharfsinn wurde von den Modernen bewundert und nachgeahmt. Auf diese Weise hat sich an den Digesten

20 das ausgebildet, was man juristisches Denken nennt, d. h. ein Denken, das der arme Laie meist noch weniger begreift, als theologische Dogmatik oder Hegeische Philosophie.

Zwölftes Kapitel.

Neue Ketzereien.

Einzig im griechischen Reichsteil war bis zum Ende des vierten Jahrhunderts die christliche Theo- logie weiter fortgebildet worden, woraus sich von selbst ergibt, dass hier die Heimat aller Ketzereien gewesen war. Denn nur im Streite der Meinungen kann eine 5 Wissenschaft Fortschritte machen; damals aber führte jeder Streit über das Dogma zur Yerketzeruug der unterliegenden Partei. Zwar hatte es auch im Occi- dent an Spaltungen nicht gefehlt, aber die meisten bezeichnete man nur als Schismen, nicht als Häresien, lo Denn was die Novatianer, die Donatisten, die Luci- ferianer von der Kirche trennte, waren überspannte Forderungen an die Reinheit der christlichen Ge- meinden, nicht abweichende Lehrmeinungen. Wo auch solche auftraten, wie bei den Photinianern in Panno- is nien, den Priscillianisten in Spanien, da waren sie aus dem Orient eingeschleppt. So war denn auch die erste wirkliche Ketzerei, die im lateinischen Gebiete entstanden ist, mehr ethisch als dogmatisch, und was besonders bezeichnend ist, sie richtete sich gegen den 20 orientalischen Begriff der Askese.

Die Lehre, dass Abtötung des Fleisches etwas Verdienstliches sei und der Gottheit näher bringe, ist

12. Neue Ketzereien. 185

schon von den Schamanen und Medizinmännern -der niedrigsten Kulturstufen ausgebildet worden. Denn die Beobachtung, dass Überreizung der Nerven durch Hunger und Nachtwachen oft Visionen und ekstatische

5 Zustände herbeiführt, konnte ihnen nicht verborgen bleiben (II S. 415). Die gesunde Lebensfreude der Griechen und Römer hatte diesen unnatürlichen Trieb zur Selbstquälerei in den Hintergrund gedrängt; doch mit vielen Resten urzeitlicher Barbarei war beim

10 Verfall der antiken Welt auch dieser aus halber Ver- gessenheit wieder ans Licht getreten. Auch die Heiden des sinkenden Reiches, vor allem die Neuplatoniker, erblickten in der visionären Ekstase die höchste Er- hebung des Menschen und schätzten die Askese als

15 das wirksamste Mittel derselben (III S. 153); ihre höchsten Triumphe aber feierte sie in der Christen- heit. Schon in anderem Zusammenhange haben wir dargelegt, wie der heilige Antonius von Ägypten als ihr vollkommenstes Muster galt und in den Einsiedlern

20 und Mönchen des Orients viele tausend Nachahmer fand (III S. 227), deren Beispiel dann auch auf das weibliche Geschlecht hinüberwirkte.

In dem minder dekadenten Occident wagte man die Heiligkeit dieses Treibens zwar nicht zu leugnen,

25 schloss sich ihm aber doch nur zögernd und halb widerwillig an. In Africa bildeten die Circumcellionen mönchische Gemeinschaften, aber nur um zu beten und sich fürs Martyrium zu bereiten, nicht um zu hungern und noch weniger um zu dursten (III S. 316).

:ho Jenseit der Alpen erklärte man gesunde Esslust für eine nationale Eigenschaft der Gallier, und dass die Priscillianisten nach manichäischem Vorbild ihr Fleisch abzutöten suchten, machte die Askese sogar verdächtig. Doch wie man die dogmatischen Schlagworte des

186 VII. Die Auflösung des Reiches.

Osteiis prüfungslos nachsagte, so konnte man sich auch der Einwirkung seiner ethischen Grundsätze nicht ent- ziehen. Die Biographie des heiligen Antonius, die sehr bald ins Lateinische übersetzt wurde, machte gewaltigen Eindruck. Als Athanasius, der sie ver- 5 fasst hatte, aus Alexandria vertrieben, sich längere Zeit in den westlichen Provinzen aufhielt, scheint seine Propaganda es erreicht zu haben, dass man auch dort das ägyptische Muster nachzuahmen begann. Alle grossen Kirchenlichter, Damasus, Ambrosius, lo Martin von Tours, beeiferten sich, diese Bestrebungen zu fördern; doch bis in die achtziger Jahre des vierten Jahrhunderts scheint ihr Erfolg nicht gross gewesen zu sein. Als damals Augustin sich in Mailand auf- hielt, bestand dort zwar schon ein Kloster, war aber is so klein und wenig beachtet, dass das Möuchtum, als er durch Erzählungen darüber unterrichtet wurde, ihm eine ganz neue Erscheinung war. Doch um dieselbe Zeit wurde schon in Gallien durch Martin, in Korn durch Hieronymus sehr wirksam dafür agitiert. 20

Dieser war in Dalmatien geboren, hatte aber das ganze Reich von Trier bis Antiochia durchstreift, da- bei fleissig alle Bibliotheken benutzt und sich eine Gelehrsamkeit zu eigen gemacht, mit der kein anderer sich damals messen konnte. Als er, durch Papst 25 Damasus angeregt, die lateinische Bibelübersetzung zu revidieren unternahm, hat er selbst das Hebräische gelernt, eine Mühe, die fast alle Theologen seiner Zeit für überflüssig, der grosse Augustin sogar für nicht unbedenklich hielt. Auch mit der weltlichen Literatur hatte er sich viel beschäftigt, ja er fand den schönen Stil der klassischen Schriftsteller anziehender, als die schlichte Kunstlosigkeit der Bibel, bis ein Gesicht ihn bekehrte. Durch Fasten und Wachen

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hatte er sich im Orient ein Fieber zugezogen und meinte, sei letztes Stündlein sei gekommen. Da fühlte er sich vor den Thron des Weltenrichters entrückt und wurde von diesem nach seinem Glauben gefragt. 5 Als er sich zu Christus bekannte, wurde ihm die Ant- wort: „Du lügst: ein Ciceronianer bist du, kein Christ; denn wo dein Schatz, da ist auch dein Herz." Darm gab der liebe Herrgott seinen lieben Engelein den Befehl, den Ciceronianer erbärmlich zu verhauen; erst

10 als er um Gnade schrie und auch die Heiligen, die den Thron umstanden, Fürbitte einlegten, Hess man von ihm ab und gestattete ihm, Besserung zu geloben. Nachdem er zu sich gekommen war, erkannte er an den blauen Flecken auf seinem Rücken, dass er nicht

15 geträumt hatte, sondern wirklich und leibhaftig aus dem Himmel zurückkehrte, wenn er auch von dessen Freuden nicht viel zu erzählen wusste. Doch die kräftige Motion des Geprügeltwerdeus hatte die Macht des Fiebers gebrochen; Hieronymus behielt noch lange

20 Jahre Zeit, sein Gelöbnis zu erfüllen, d. h. der welt- lichen Literatur ganz abzusagen und nur noch seinem Seelenheil zu leben.

Nachdem er so nah an der Hölle vorbeigekommen * war, scheint die Furcht vor ihr der Leitstern seines

2r> Lebens geworden zu sein, und gleich Johannes Chry- sostomus erblickte er das sicherste Mittel, um ihr zu entgehen, in mönchischer Askese. Wenn aber schon die harmlose Freude am Stile Ciceros ihn mit der Verdammnis bedroht hatte, wie viel sorgfältiger musste

30 er sich vor jeder Ketzerei in Acht nehmen! In seinen theologischen Schriften, so zahlreich sie sind, hat er daher jeden neuen Gedanken mit Glück vermieden und nur das erklärt und verteidigt, was althergebracht war. Und stiegen ihm Zweifel auf, so wandte er sich

188 VII. Die Auflösung des Reiches.

an den Papst und erklärte, alles unbesehen zu glauben oder nicht zu glauben, wie es der Nachfolger Petri verordnete. Ein Mann, der alles gelesen hatte, alles wusste und doch selbst so wenig dachte, musste Da- masus als auserwähltes Rüstzeug erscheinen. Als 5 Hieronymus in der Begleitung des Paulinus von Antio- chia 382 zum römischen Concil reiste (V S. 161), behielt der Papst ihn bei sich als Helfer und wissenschaft- lichen Ratgeber. Yor allem aber benutzte Hieronymus diese Zeit, um das asketische Ideal, zu dem er sich lo im Orient bekannt hatte, auch in Rom zu vertreten und zu verbreiten. In einen Kreis vornehmer Damen eingeführt, wurde er ihr einflussreichster Gewissensrat, hielt die Witwen von einer zweiten Ehe zurück und veranlasste die Unverheirateten, ihre Jungfrauenschaft is zu bewahren. Es wurde nicht nur Mode, sich von ihm hebräische Namen erklären zu lassen, sondern man ging auch nach seinem Beispiel ungekämmt und in schmutzigen Kleidern, versagte sich Waschwasser und ausreichende Nahrung und weinte die Nächte 20 durch über die eigene Sündhaftigkeit. Dass die tränen- reiche Hysterie der ungewaschenen Frauenzimmer ihrer hohen Verwandtschaft wenig Freude machte, versteht sich von selbst. Als mit dem Tode des Damasus Hieronymus seinen mächtigen Beschützer verloren 25 hatte, musste er bald (385) aus Rom weichen und begab sich in das heilige Land, um in der Nähe von Bethlehem als Einsiedler seinen Studien und Buss- übungen zu leben. Doch unterliess er nicht, durch lange Briefe an seine Freundinnen und Freunde in so Rom auch dort die Flammen zu schüren, die er bei seinem persönlichen Aufenthalt entfacht hatte.

Das verrückte Treiben der hochgeborenen Nonnen rief sehr bald nach seiner Abreise in Rom selbst eine

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gesunde Reaktion hervor. Jovinianus, von dem sie ausging, war Mönch und hatte daher am eigenen Leibe erfahren, wie wenig die Abtötung des Fleisches die wirkliche Heiligung der Seele fördere. So predigte

5 er die Lehre, dass Fasten nicht besser sei, als mit Dank gegen Gott Essen, und dass die Jungfräulichkeit vor der Mutterschaft nichts voraushabe. Zwar konnten sich seine Schriften weder an Gelehrsamkeit noch an cicerouischem Glänze des Stiles mit denen des Hiero-

10 uymus messen, machten aber doch bedeutenden Ein- druck. So manche, die sich ewiger Jungfrauenschaft gelobt hatte, entschloss sich zur Ehe: doch kein Bischof fand sich, der gegen die Lehren des Atha- nasius und so vieler anderen Kirchenlichter den Mut

15 gefunden hätte, sich Jovinian anzuschliessen, und da- mit war sein Urteil gesprochen. Die gläubigen Horden waren so gewohnt, ihren anerkannten Hirten blindlings nachzulaufen, dass ohne deren Hilfe selbst die Bildung einer dauernden Sekte nicht gelingen konnte. Hiero-

20 nymus verfasste gegen ihn eine Streitschrift von so hanebüchener Grobheit, dass selbst die Freunde des mönchischen Eiferers daran Anstoss nahmen. Doch schon vorher hatte einer von ihnen den Jovinian bei Papst Siricius denunziert, und er wurde in den Bann

25 getan. Denn freilich konnten seine Gegner beweisen, dass die Bibel das Fasten als verdienstlich pries und jeden Beischlaf, auch den ehelichen, als etwas Un- reines betrachtete, und dies galt natürlich mehr, als alle Forderungen der gesunden Vernunft. Aus Rom

30 verbannt, suchte Jovinian noch in der Ums-eoend der Stadt seine kleine Gemeinde zu gemeinsamen Gottes- diensten zu versammeln, bis ein Gesetz des Honorius vom 6. März 398 dem ein Ende machte. P]s ver- ordnete, dass der Sektenstifter aufgegriffen, mit Blei-

190 Vll. Die Auflösung des Reiches.

knuten gepeitscht und auf eine Insel Dalmatieus ver- schickt werde. Da auch seine Anhänger über weit voneinander entlegene Verbannungsorte verteilt wurden, so dass zwischen ihnen jede Verbindung unterbrochen war, erlosch die Sekte schon nach 5 wenigen Jahren. Denn eine Gemeinschaft, die sich auf eine Ethik der gesunden Natur gründete, hatte in jener traurigen Zeit viel geringere T^ebeuskraft, als was sich im Namen leerer dogmatischer Stich- worte, wie „Wesensähnlich" u. dgl. m., zusammenfand, lo

Wenn es auch kirchliche Lehre war und blieb, dass der Beischlaf unrein sei, ging man doch nicht so weit, die Ehe für Sünde zu erklären. Hatte doch Gott selbst sie eingesetzt, als er zu Adam und Eva sprach: „Seid fruchtbar und mehret euch!" Nur hielt is man daran fest, dass mönchische Enthaltsamkeit noch höher geschätzt werden müsse, und daraus musste man zu dem Schlüsse gelangen, dass der Mensch reichere Tugend zu üben im Stande sei, als Gott von ihm verlangen könne. So ist später die Lehre 20 von dem Schatze guter Werke ausgebildet worden, den die Heiligen über das hinaus, was für ihre eigene Seligkeit erforderlich war, angesammelt hätten, damit es armen Sündern zu Gute komme. Dass Gott auf diese Weise zum Schuldner von Menschen werde, die 25 dann über ihr Guthaben zu Gunsten anderer frei ver- fügen könnten, wagte man damals noch nicht zu be- haupten. Wohl aber zog man den Schluss, dass das Himmelreich nicht allein durch Gottes Gnade, sondern vor allem durch die eigene freie Tugend zu ge- 30 winnen sei.

Zwei Mönche, die durch Wort und Schrift ganz im Sinne des Hieronymus gewirkt hatten, Caelestius und Pelagius, wurden die Begründer dieser Lehre.

12. Neue Ketzereien. 191

Sie leugneten die Erbsünde und behaupteten, dass der Mensch durch die eigene Kraft seines freien Willens sich zur sittlichen Vollkommenheit erheben könne. Augustin, der die Schwäche des Fleisches an sich

5 selbst nur zu deutlich erfahren hatte, wurde ihr ent- schiedenster Gegner und entwickelte im Kampfe mit ihnen die folgenreiche Theorie der Praedestination. Ohne Zweifel war sie zeitgemässer als die falsche, aber männlich kühne Annahme eines freien Willens.

10 Die matte Resignation, mit der man die Bedrückungen habgieriger Beamten oder siegreicher Barbaren hoff- nungslos ertragen lernte, musste die Empfindung hervorrufen, dass der Mensch ganz ohnmächtig sei, und dies übertrug sich naturgemäss auch auf das

15 sittliche Gebiet. Dass bei dem Wert, den man auf die fleischliche Askese legte, die Entstehung jedes Kindes als eine Wirkung böser Sinnenlust erschien, verlieh der Lehre von der Erbsünde eine neue Stütze. Und da es von der Laune des Kaisers abhing, ob er

20 einen Untertan qualvoll hinrichten oder zum glück- lichen Günstling erheben wolle, lag die Annahme nahe, dass auch der allmächtige Gott nach ebenso willkührlicher „Gnadenwahl" Verdammnis oder Selig- keit austeile. Und der sittliche Standpunkt der Zeit

25 war niedrig genug, um den Gedanken nicht auf- kommen zu lassen, dass man den Allgütigen damit zum grausamen und launischen Tyrannen mache. Trotzdem war der Kampf, durch den sich die Prae- ilestinationslehre durchsetzen musste, schwer und

30 wechselvoll. Wie einst die Arianer (III S. 387), ver- langte auch diesmal die unterliegende Partei, dass man die Meinungsverschiedenheit nur als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung, nicht als Glaubens- sache auffasse und sie daher nicht mit dem Ver-

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dammungsurteil der Ketzerei belege. Doch wer durfte erwarten, dass man jetzt freisinniger denken werde, als zur Zeit des nicaenischen Concils? Und wirklich griff, was man dort entschieden hatte, lange nicht so tief in das ganze christliche Empfinden ein, wie 5 die Frage, ob man durch die Kraft des freien Willens oder nur durch göttliche Gnade selig werde. Ohne Zweifel hätte sie vor allen andern gestellt werden müssen, und wenn dies bisher nicht geschehen war, so ist dies wohl nur aus der sehr begreiflichen Scheu lo vor den Konsequenzen zu erklären, die sich aus jeder der möglichen Autworten ergeben mussteu. Denn zog man den freien Willen vor, so büsste der Tod Christi sehr viel von seiner erlösenden Bedeutung ein, und entschied man sich für die Gnadenwahl, so war die 15 menschliche Tugend jeden Verdienstes bar. Infolge dieses bösen Dilemmas blieb der Sieg lange zweifel- haft. Im Jahre 411 verurteilte eine africanische Synode den Pelagianismus; 415 erklärten ihn zwei orientalische für rechtgläubig; 416 wiederholten zwei 20 africanische das Verdammungsurteil, und 417 wurde es von Papst Innocenz bestätigt. In demselben Jahre aber starb er, und sein Nachfolger Zosimus stellte sich wieder auf die Seite der Pelagianer. Hatte kurz vorher Augustin triumphierend verkündigt, Rom habe 25 gesprochen und damit sei der Streit beendigt (causa finita est), so trat jetzt der unfehlbaren Entscheidung eine ebenso unfehlbare schroff entgegen. Doch in diesem Kampfe stand Hieronymus mit Augustiu zu- sammen, und die Stimme der beiden, die mit Recht 30 für die gelehrtesten Theologen ihrer Zeit galten, über- wog bei Hofe die päpstliche Autorität. Auf Andringen einer neuen africaniscben Synode erliess Honorius am 30. April 418 ein Gesetz, das Pelagius und Caelestius

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aus Rom zu entferneu uud jeden, der sich offen zu ihren Lehren bekannte, mit Einziehung seines Ver- mögens und Verbannung zu bestrafen befahl. Diesem Gewaltakt gegenüber kroch Papst Zosimus zu Kreuze,

5 widerrief, was er eben erst verkündet hatte, und die Pelagianer wurden im Occident zu verfolgten Ketzern. Wenn ihre Lehre, obgleich sie ein viel tieferes und bedeutungsvolleres Problem betraf, als die des Arius, doch lange nicht so weitgreifende Wirkungen übte, so

10 wird dies zwei Gründe gehabt haben. Höhnisch betont Augustin, dass sie nicht von Bischöfen, ja nicht ein- mal von niederen Klerikern, sondern nur von ganz gewöhnlichen Mönchen ausgegangen sei. Für den knechtischen Sinn der damaligen Christenheit entschied

15 eben die Rangordnung der Geistlichen auch über den Wert ihrer Lehren, und wie Jovinian sich dadurch gehemmt sah, dass er sich auf keine bischöfliche Autorität stützen konnte, so auch Caelestius und Pelagius. Noch wichtiger aber dürfte gewesen sein,

20 dass eben damals der ganze westliche Reichsteil von wildem Kriegsgeschrei durchtobt war, und dass man unter den täglichen Gefahren für Leib und Gut nicht viel Zeit übrig hatte, sich um dogmatische Fragen zu raufen. Im Orient durfte man dies eher erwarten,

25 und wirklich raufte man dort kräftig genug, aber um eine Frage von viel geringerer Bedeutung.

Während es der Mehrzahl der occidentalischen Geistlichen geradezu als Blasphemie erschien, an der Rechtgläubigkeit eines Hieronymus oder Augustin zu

30 zweifeln, war deren Ausehn im Orient viel minder fest begründet. Denn ihre Schriften waren lateinisch und blieben im griechischen Reichsteil den Meisten unverständlich. Hier konnten daher die Pelagianer, darunter auch mehrere Bischöfe, eine Zuflucht finden,

Seeck, Untergang der antiken Weif. VI. 13

194 VII. Die Auflösung des Reiches.

als Honorius sie in die Verbannung trieb. Wie Eudocia über den Streit dachte, ergibt sich aus der sehr bezeichnenden Tatsache, dass ihr gehorsamer Gatte von den Ketzergesetzen seines Oheims wohl das gegen Jovinian in den Codex Theodosianus aufnehmen 5 Hess, aber diejenigen, welche in den Jahren 418, 419 und 421 gegen Pelagius und seine Anhänger gerichtet wurden, alle drei überging. Doch obgleich die Ent- scheidung über Erbsünde und freien Willen für den Glauben an die Erlösung durch Jesu Tod, ja für die 10 ganze christliche Ethik als unentbehrliche Grundlage hätte gelten müssen, stand man ihr im Osten doch sehr gleichgiltig gegenüber. Der Grund wird gewesen sein, dass kein orientalischer Bischof eine der beiden Theorien, die sich gegenüberstanden, ganz zu seiner 15 eigenen gemacht hatte. Da so der Streit nicht dazu angetan war, persönlichen Gehässigkeiten zu dienen, schrieb man ihm auch sachlich keine Bedeutung zu.

Nach seiner ersten Verurteilung in Africa (411) hatte Caelestius es noch erreichen können, dass er in 20 Ephesus zum Presbyter geweiht wurde und so die Möglichkeit gewann, auch durch kirchliche Predigt für seine Theorien zu wirken. Doch als er zu diesem Zwecke um 417 nach Constantinopel kam, wurde er von Bischof Atticus aus der Stadt gewiesen. Für 25 einen Ketzer scheint dieser ihn nicht gehalten zu haben, da er, soviel wir sehen können, ihn seiner geistlichen Würde nicht beraubte. Wahrscheinlich vermied er es ganz, zu der streitigen Frage Stellung zu nehmen, und legte dem dogmatischen Agitator nur so das Handwerk, weil sein milder Sinn vor dem Auf- tauchen neuer kirchlicher Zwistigkeiten Furcht hegte.

Unter seinem klugen und versöhnlichen Regiment hatte sich die Macht des hauptstädtischen Bischofsamtes

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sehr gehoben. Am 14. Juli 421 verfügte ein Gesetz, dass in lUyricum keine kirchliche Streitfrage ent- schieden werden dürfe, ohne dass er gefragt werde, und hob dabei ausdrücklich hervor, dass Constantinopel

.5 im Orient dieselbe Stellung einnehme, wie Rom im Westen. In der asiatischen Diöcese, wahrscheinlich auch in der pontischen, durfte kein Bischof ohne seine Zustimmung gewählt werden, kurz der ganze nörd- liche Teil des Ostreiches war ihm untergeben, wenn

10 man auch in Aegypten die Rechte Alexandrias, im Orient die Antiochias noch nicht anzutasten wagte. Doch am 10. Oktober 425 starb Atticus, und sein Nachfolger Sisinnius, der in seinem Geiste weiter- herrschte, überlebte ihn nur zwei Jahre. Als auch

15 er am 24. December 427 aus dem Leben geschieden war, trat eine Bischofswahl ein, die der Religions- politik des Ostreiches eine ganz andere Richtung gab. Dass bei den Kandidaten keine Eigenschaft mehr Beachtung verdiene, als was man damals Heiligkeit

20 nannte, stand für den Kaiser und seine Leiterinnen fest. In dieser Beziehung war es ein Verdienst, vor dem alle andern verblassten, dass Dalmatius, das Haupt der Mönche von Constantinopel, seit fünfund- vierzig Jahren in seiner Zelle gesessen hatte, ohne

25 jemals an die freie Luft zu kommen. Hier hatte ihn der Kaiser schon mehrmals aufgesucht, wenn Erd- beben, Hungersnöte, Pesten oder andere Kalamitäten das Reich betroffen hatten, damit er als Führer öffent- licher Bittgänge durch seinen zweifellosen Einfluss im

■V) Himmel den Zorn Gottes beschwichtige; doch hatte er sich dem immer versagt. Jetzt wurde ihm die Bischofswürde angeboten; er aber musste erklären, dass er für diese Stellung zu unwissend sei. Theo- dosius wandte sich an einen andern Mönch, wahr-

13*

196 Vll. Die Auflösung des Reiches.

scheinlich jenen Eutyches, der zwanzig Jahre später sehr gegen seinen eigenen Willen zum Vater der monophysitischen Ketzerei wurde. Er hatte sich nur in sein Kloster, nicht auch in seine Zelle, auf Lebenszeit eingesperrt und stand daher an Heiligkeit etwas hinter 5 Dalmatius zurück, wenn auch nicht gar zu viel. Aber auch von ihm erhielt Theodosius die gleiche Antwort. Man musste sich also an die Weltgeistlichkeit halten. Der Hof überliess den versammelten Bischöfen und dem städtischen Klerus die freie Wahl, räumte aber lo auch Dalmatius und seinen Mönchen dabei ein sehr einflussreiches Vorschlagsrecht ein. Doch die Guust- buhlerei der Kandidaten, die auch vor der Bestechung durch Geld nicht zurückscheute, trat so schamlos hervor, dass bald sie alle ihre Anwartschaft verspielt i5 hatten. Wurde einer vorgeschlagen, so schollen ihm aus der Menge nur zu berechtigte Schmähungen ent- gegen. Denn auch in ihr hatte jeder seine Partei, und daraus ergab sich von selbst, dass die Gegen- parteien ihn nach Kräften verunglimpften. Der Kaiser 20 liess die Akklamationen des Volkes protokollieren und las sie den Mönchen vor, um ihnen zu zeigen, dass keiner, der bisher in Betracht gezogen war, wählbar sei. Nachdem man sich monatelang mit wilder Er- bitterung befehdet hatte, zogen alle, die der Kaiser 25 zur Wahl berufen hatte, zu ihm hin und baten ihn, sie selbst zu vollziehen. Nur widerwillig nahm er diese Verantwortung auf sich, doch blieb ihm nichts anderes übrig. Der hohe Rat der Damen und Eunuchen, bei dem unter dieser Regierung jede wichtige 30 Entscheidung zu ruhen pflegte, entschied dahin, dass von den einheimischen Kandidaten, unter denen die Presbyter Proculus und Philippus hervorragten, keiner zu wählen sei, weil sie sich alle bitter hassten und

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jeder den andern mit Schmutz beworfen hatte. Wollte man jemand finden, dessen Sünden noch nicht ans Licht gezogen waren und von dem man erwarten konnte, dass keine Partei ihn mit Wutgebrüll empfangen

5 werde, so musste man ihn ausserhalb Constantinopels suchen.

Atticus hatte das Andenken des Chrysostomus wieder zu Ehren gebracht und dadurch die Sekte der Johanniten für seine Kirche zurückgewonnen. Doch

10 was für ihn eine Maassregel kluger Politik gewesen war, wurde für die kaiserlichen Damen und ihren frommen Zögling bald Herzenssache. Schon im Sep- tember 428 wurde der Gedenktag des Märtyrers bei Hofe festlich begangen, und am 27. Januar 438 holte

15 man seinen Leichnam unter grosser Feierlichkeit in Coustantinopel ein. Theodosius fiel vor den Reliquien auf die Knie und bat ihnen das Unrecht ab, das seine Eltern durch die Verbannung der Heiligen be- gangen hatten. Da die Anschauung, die sich hierin

20 ausprägt, wohl schon beim Tode des Sisinnius am Hofe herrschend war, lag der Gedanke nahe, den neuen Bischof von Constantinopel wieder aus der Heimat des Chrysostomus zu berufen. Und wirklich gab es in Antiochia auch jetzt einen Presbyter, der

25 sich durch strenge Askese und tönende Rede aus- zeichnete, seinem Bischof teuer und von dem Volke der Stadt hochbewundert war, den Nestorius aus Germanicia. Man berief ihn nach Constantinopel, unter lautem Jubel der Bevölkerung hielt er seinen

30 Einzug und wurde am 10. April 428 zum Bischof geweiht.

Wenn der Kaiserhof zu allererst unter den Mönchen nach einem passenden Bischof gesucht hatte, so fand er in Nestorius einen Mann nach seinem Herzen.

198 VII. Die Auflösimg des Reiches.

Deun obgleich dieser Presbyter war, hatte er doch im Kloster des Euprepius, das vor den Toren Antio- chias lag, der mönchischen Askese gelebt, und auch seine theologische Gelehrsamkeit stand nicht sehr hoch über dem, was bei den Mönchen üblich war. In dem 5 einzigen grösseren Werk, das uns von ihm durch eine syrische Übersetzung erhalten ist, weiss er von der patristischen Literatur nichts weiter anzuführen als die Stellen, auf die sich Cyrillus gegen ihn berufen hatte, und sogar seine Bibelkenntnis erweist sich als lo höchst bescheiden. Unklar im Denken und verworren in der Disposition, tritt er ein paar dogmatische Phrasen breit, die auch nicht sein Eigentum sind, und kann sich nicht genug darin tun, hunderte von Seiten lang immerfort dasselbe zu wiederholen. Durch Ge- is dankentiefe konnten seine Predigten nicht fesseln-, doch er besass die Kraft unbeirrbarer Überzeugung, und was . vielleicht noch mehr ins Gewicht fiel, ein wunderschönes Sprechorgan. Bei dem Völklein des Ostens, das für sinnliche Reize sehr empfänglich war, 20 genügte schon dies allein, um seine Kirche immer voll zu erhalten und die Hörer mit der Begeisterung zu erfüllen, die auch rein musikalische Wirkungen hervor- bringen können. Da er noch jung und ein schöner Mann war, kann man sich denken, dass die kaiser- 25 liehen Damen, und nicht nur diese, für ihn schwärmten. Aber auch darin blieb er Mönch, dass es ihm nicht einfiel, sich vor ihnen zu beugen oder auch nur auf ihre weiblichen Schwächen Rücksicht zu nehmen. Als starrer Vertreter der altüberlieferten Glaubensreinheit 3o hat er niemals abweichenden Meinungen irgendwelche Berechtigung zugestanden, und sein geistlicher Hoch- mut fand es unter seiner Würde, sich um die Ver- hältnisse der bösen Welt, die in Constautinopel wahrlich

12. Neue Ketzereien. 199

nicht leicht zu beherrschen waren, im Geringsten zu kümmern. Die kühne Schroffheit seines Auftretens machte ihn höchst unliebenswürdig, scheint aber den Kaiserinnen anfangs umso mehr imponiert zu haben,

5 als sie sich sonst immer nur von schweifwedelnder Kriecherei umgeben sahen. Doch schon nach kurzer Zeit führte sie dazu, dass auch diejenigen, die ihn anfangs bewundert hatten, ihm zu grimmigen Feinden wurden.

Gleich seine erste Predigt, der natürlich der Kaiser

mit seinem Hofe beiwohnte, verkündigte der Welt, dass die friedlichen Zeiten des Atticus und Sisinnius ihr Ende gefunden hatten. „Gib mir, o Kaiser", so rief Nestorius aus, „die Erde rein von Ketzern, und ich

15 werde dir dafür den Himmel geben; tilge mit mir die Ketzer aus, und ich werde mit dir die Perser aus- tilgen." Schon am fünften Tage nach seiner Bischofs- weihe wollte er sich eines Bethauses bemächtigen, in dem die Arianer ihre heimlichen Gottesdienste hielten.

2(1 In ihrer zornigen Yerzweifluno- zündeten sie es an, und mehrere der benachbarten Häuser gingen mit ihm in Flammen auf. Doch das Feuer verbreitete sich nicht weiter, und dies konnte man für ein Zeichen nehmen, dass die Gebete des Nestorius Kraft besassen.

25 Zwar suchte Eudocia seinen heiligen Eifer ein wenig durch freundliche Überredung zu zügeln; doch seine Drohungen und Yersprechungen hatten auf sie und ihren Gemahl zu tiefen Eindruck gemacht, als dass sie gewagt hätten, sich ihm offen zu widersetzen.

Schon wenige Wochen nach seinem Amtsantritt, am 80. Mai 428, wurde auf seine Veranlassung ein hartes Ketzergesetz erlassen, und mit Einwilligung des Kaiser- paares, das sich in frommer Scheu vor den feurigen Reden des heiligen Asketen beugte, konnte die Ver-

200 Vii- ^^it' Auflösung des Reiclies.

folgung uicht nur in Constantinopel, sondern auch in allen Provinzen, die seinem Bischof unterstanden, munter fortgesetzt werden. Zur Wut getrieben, er- mordeten in dem mysischen Germe die Macedonianer den orthodoxen Bischof Antonius, der sich zum Werk- 5 zeuge des Nestorius hergegeben hatte; in Milet und Sardes kam es zn Aufständen, die viel Menschenblut kosteten. Gerade weil eine Zeit der Duldung voran- gegangen war, in der die Andersgläubigen sich leid- lich sicher gefühlt hatten, war jetzt ihre Erbitterung lo um so wilder, ihr Widerstand um so kühner. Und schnell sollte den Ketzerrichter die Vergeltung ereilen, dass er selbst zu den Ketzern geworfen wurde, und wie zum Hohn war das Werkzeug seines Sturzes der- selbe Cyrillus, dessen gewalttätiger Verfolgungseifer i5 ihm das Beispiel gegeben hatte.

Der Bischof von Antiochia, Johannes, war mit seinem ehemaligen Presbyter eng befreundet. Zwischen seinem Stuhl und dem alexandrinischen bestand ein alter Gegensatz, und die hoffärtige Frechheit des 20 Cyrillus war nicht geeignet gewesen, ihn zu mildern. Nestorius fühlte sich veranlasst, beim Antritt seiner neuen Stellung dem Bischof von Alexandria die üblichen Ehrengeschenke nicht zu übersenden. Dies Unterlassen einer hergebrachten Höflichkeit kam einer 25 Beleidigung gleich und konnte nur als öffentliche Abweisung eines kollegialen Verhältnisses aufgefasst werden; dies aber hatte für Cyrill sehr unbequeme Folgen. Dass seine Gewalttätigkeit zu vielen Be- schwerden Anlass gab, versteht sich von selbst; nach- ;w dem aber ein so hochstehender Mann, wie der Praefect Orestes, mit seinen höchst berechtigten Klagen so gut wie nichts erreicht hatte (S. 78), wird sich kaum noch einer gegen den Bischof vorgewagt haben. Doch

12. Neue Ketzereien. 201

als man erfuhr, dass der einzige Mann, der zum Richteramt über ihn befugt war, sich offen als seinen Gegner bekannt hatte, trafen Ankläger gegen ihn aus dem Klerus von Alexandria in Constantinopel ein. Zu

5 derselben Zeit waren Abgesandte des Cyrill, die für ihn irgend welche Geschäfte besorgten, in der Haupt- stadt anwesend. Sie erklärten es für ganz ungehörig, dass man Leute, die gegen den Patriarchen von Aegypten Klage zu erheben wagten, nicht gleich ohne

10 jede Untersuchung selbst verurteile; doch Nestorius war anderer Meinung. Cyrill musste also erwarten, dass dieser eine Synode gegen ihn versammele, und strebte daher, nach dem Beispiel seines Oheims Theo- philus den Spiess umzudrehen. Denn wenn er seiner-

15 seits den Bischof von Constantinopel anklagte, so gewann er damit einen Rechtsgrund, dessen Richter- amt abzulehnen, weil er ihm feindlich und folglich parteiisch sei. Und wie er bald erfuhr, konnte eine solche Anklage nicht nur ihn selbst schützen, sondern

20 ihm auch Rache an seinem Gegner bieten, weil Pul- cheria dessen Feindin geworden war.

Als Fünfzehnjährige hatte sie ewige Jungsfrauen- schaft gelobt; jetzt aber, wo sie sich dem gefährlichen Alter der femme de trente ans näherte, scheint der

25 lang unterdrückte Geschlechtstrieb des Weibes in ihr aufgeflammt zu sein. Nestorius ist diskret genug, darüber nur Andeutungen zu machen; doch kann man aus ihnen wohl das Folgende herauslesen. Er hatte erfahren, dass sie mit dem Magister Officiorum Pau-

30 linus eine Liebschaft habe, und in der plumpen Ehr- lichkeit, die ihm eigen war, uuterliess er fortan, sie in den Gebeten für das Kaiserhaus, wie das bisher üblich gewesen war, als die reine Braut Christi zu preisen. Dies musste auffallen; sie stellte ihn zur

202 ^H- T^ie Auflösung des Reiclies.

Rede, und um öffentlichen Skandal zu vermeiden, fügte er sich, wenn auch nach einigem Widerstreben. Doch was geschehen war, genügte, um ihre Be- wunderung für ihn in glühenden Hass zu verwandeln.

So hatte er schon in den Anfängen seines Epi- 0 skopats nicht nur durch seine sinnlose Ketzerjagd Constantinopel und das ganze Ostreich in wilde Auf- regung gestürzt, sondern auch zwei der mächtigsten Leute, Pulcheria und Cyrill, zu seinen Feinden ge- macht. Wenn er ihre W^idersacherin an den Pranger 10 gestellt hatte, so musste dies freilich Eudocia veran- lassen, noch fester auf ihn zu vertrauen, namentlich da er aus den reinsten Gründen gehandelt hatte. Doch bald sollte sein bischöflicher Stolz ihm noch einen dritten Gegner erwecken, und dieser war kein 15 geringerer, als der Nachfolger Petri.

Nach dem Tode des Atticus hatten sich die ver- bannten Pelagianer wieder in Constantinopel gesammelt und den Kaiser mit Bitten bestürmt, sich bei Placidia für ihre Rückberufung zu verwenden. Nestorius stellte 20 sich auf ihre Seite und schrieb zu ihren Gunsten an Papst Caelestinus. Doch blieb seine Verwendung eine sehr laue, ja er erklärte sich bereit, wenn mau in Rom darauf bestehe, auch seinerseits in dessen Ver- dammungsurteil einzustimmen. Denn zur Zeit lag ihm 20 eine andere dogmatische Frage mehr am Herzen, und wenn er den Papst für seine Theorie gewinnen wollte, durfte er ihn nicht reizen, indem er sich mit aller Entschiedenheit einer Lehre annahm, die der Occideut schon für ketzerisch erklärt hatte. Wie es im Geiste 30 der damaligen Theologie lag, sich in unwesentliche Difteleien wütend zu verbeissen und das wirklich Grundlegende verständnislos zu überhüpfen, so hatte auch Nestorius sich ein Steckenpferdchen angeschaift,

12. Neue Ketzereien. 203

und dieses schien ihm viel wichtiger, als Erbsünde und freier Wille, weil es das seine ^var.

Da Jesus als Gott anerkannt war, hatte man schon von Alters her kein Bedenken getragen, Maria 5 als Muttergottes {d-eoxoxoq) zu bezeichnen. Doch kam der Ausdruck bei den früheren Kirchenvätern nicht so häufig vor, um in den christlichen Sprachgebrauch überzugehen, weil die Theologie noch keinen Anlass gefunden hatte, sich eingehender mit der heiligen

10 Jungfrau zu beschäftigen. Aber je vollständiger man mit dem Heidentum aufräumte, desto mehr sah man sich bewogen, was in ihm dem Volke ganz besonders teuer war, auch in den neuen Glauben herüberzu- nehmen. Wie vielen der alten GJötter und Dämonen

15 unter der Maske von Heiligen ihr früherer Kultus in anderer Form erneuert wurde, so wollte man auch der Göttermutter, die im sinkenden Römerreich eine so bedeutsame Rolle gespielt hatte (HI S. 127), nicht entbehren. War doch der Geburtstag ihres Sohnes,

20 des unbesiegten Sonnengottes Mithras, schon seit der Zeit Constantins in den Geburtstag Christi umgedeutet und so der 25. Dezember zum Weihnachtsfest ge- worden. Und das Ewigweibliche übte damals, wie noch heute, seine Anziehungskraft und verlangte nach

25 einer Vertretung auch im christlichen Olymp. Zwar war man von dem Madonnenkultus des Mittelalters noch weit entfernt; aber die ersten Keime desselben regten sich, und im niederen Volke wahrscheinlich stärker, als bei den Vertretern der höheren Bildung,

30 von deren Denken und Empfinden uns die christliche Literatur Zeugnis gibt. Auch diese aber hatte es als schwere Ketzerei bekämpft, dass Jovinian, obgleich er die unbefleckte Empfängnis Christi zugab, doch be- hauptete, Maria sei nicht ihr ganzes Leben lang Jung-

204: Vll. Die Auflösuii» des Keicliess.

frau geblieben. Schon als Nestorius noch in Antio- chia Presbyter war, hatte man dort gestritten, ob mau sie als Mutter des Gottes Logos betrachten dürfe oder ob nur der menschliche Teil Christi aus ihr hervorgegangen sei. In seinen Predigten hatte er 5 das Letztere für richtig erklärt, und sein "Bischof hatte ihm nicht widersprochen, sodass er die Frage schon für entschieden und abgetan hielt. Doch in Constan- tinopel angelangt, fand er dort die gleichen Streitig- keiten, und ein Mann aus seiner nächsten Umgebung lo trug dazu bei, sie zu schärfen und zu vergiften. Der Presbyter Anastasius hatte ihm in Antiochia nahe- gestanden und ihn dann als Freund und Ratgeber in sein neues Bistum begleitet. Natürlich kannte er die Ansichten seines Bischofs, und wie Parteigänger i5 oft noch eifriger sind als Parteihäupter, beeilte er sich, sie seinerseits zum Ausdruck zu bringen. In einer seiner ersten Predigten erklärte er, man dürfe Maria nicht Muttergottes nennen ; denn sie sei Mensch gewesen, und dass von einem Menschen ein Gott ge- -'o boren werde, sei unmöglich.

Jeder wusste, dass Anastasius dem Bischof nahe stand; dass er ein Wort, das dem Volke lieb geworden war, so entschieden verpönte, erregte daher eine un- geheure Aufregung. Der Streit der Parteien wurde 25 noch wilder; jede verketzerte die andere, und als sie sich endlich dahin einigten, die Entscheidung des Nestorius anzurufen, hofPte wahrscheinlich jede, dass er über ihre Gegner das Anathem sprechen werde; denn bis dahin war er noch neutral geblieben. Vor :«) seinem Richterstuhl wurden die Streiter der „Mutter- gottes" des Manichäismus beschuldigt, die Anhänger der „Mutter des Menschen'' des Photinianismus. Er examinierte beide sorgfältig, ob sie sich zu den Lehren

12. Neue Ketzereien. 205

so böser Ketzer bekannteu, und natürlich wiesen beide dies mit Entrüstung von sich. So entschied er denn, dass beide rechtgläubig seien und sich ihrer Stich- worte ohne Ketzerei bedienen dürften, wenn sie nur

5 den rechten Sinn damit verbänden. Aber sowohl „Muttergottes" als auch „Mutter des Menschen" könne einseitig missverstanden werden und sei daher besser zu vermeiden. Er empfehle „Christusmutter" zusagen; denn das Wort „Christus" drücke sowohl die gött-

10 liehe, als auch die menschliche Natur des Erlösers aus und beuge so jeder falschen Deutung vor.

Mit diesem Urteil hoffte er es beiden Par- teien recht gemacht zu haben, und wirklich trat zeitweilig Ruhe ein. Aber da er jeder erlaubt hatte,

15 ihr Stichwort weiter zu gebrauchen, gebrauchte es natürlich auch jede weiter, und sein Yermittlungs- vorschlag war ins Wasser gefallen. Dies musste ihn wurmen; denn je ärmer sein Hirn an neuen Gedanken war, desto stolzer war er auf das neue Wort, das er

20 ganz allein geprägt hatte. Doch eben dessen Neuheit stand seiner Anerkennung im Wege, nicht nur weil es dem Volke ungewohnt war, sondern auch weil die Kirche es als ihren Ruhm betrachtete, in allem und jedem auf den uralten Überlieferungen der Yäter zu

25 stehen. Die Geschäftsträger des Alexandriners, die sich in Constantinopel aufhielten, liefen bei dem dor- tigen Klerus umher und warnten ihn, das Wort „Christusmutter" zu brauchen. Denn mit richtigem Instinkt hatte ihr Herr und Meister empfunden, dass

30 diese Neuerung zu einem Streite Anlass geben und ihm so die Gelegenheit bieten könne, im Trüben zu fischen.

Starrköpfig, wie er war, sah Nestorius sich durch diese Ablehnung veranlasst, erst recht für seine schöne

206 VII. Die Auflösung des Reiches.

Erfindung zu kämpfen. Er tat es in einer Reihe von Predigten, und weil der Widerstand, der ihm entgegen- trat, seinen frommen Eifer spornte, Hess er sich zu immer grösserer Heftigkeit fortreissen. Das Wort „Muttergottes" hatte er anfangs duhien wollen; da er 5 aber erkannte, dass es der gefährlichste Feind seiner „Christusmutter" war, ging er endlich soweit, es ganz zu verpönen. Die Aufregung in der Gemeinde wuchs; doch blieb der Friede noch leidlich erhalten, bis die zahlreichen Gegner des Bischofs in einem der an- 10 gesehensten Presbyter einen Führer fanden.

Proculus war schon zweimal als Kandidat für den ßischofsthron von Constantinopel aufgetreten, aber beidemal übergangen worden. Jetzt, wo er der Unterstützung sowohl des Cyrill als auch der Pulcheria 15 gegen Nestorius sicher war, benutzte er die Gelegen- heit, um sich der Gemeinde aufs neue zu empfehlen. Am 15. August 428, dem Feste von Mariae Himmel- fahrt, hielt er eine Predigt, deren Hauptinhalt, der Bedeutung des Tages entsprechend, ein Lobhymnus 20 auf die Muttergottes war, ein Wort, das Proculus, dem zuhörenden Nestorius zum Trotz, ungescheut brauchte. Dieser hatte gelehrt, dass Christus als neugeborenes Kind noch Mensch gewesen und erst später der Gott Logos in ihn eingezogen sei. Dem gegenüber rief 25 Proculus aus: „Wenn ein anderer Christus, ein anderer der Gott Logos ist, so gibt es keine Dreiheit, sondern eine Yierheit. Zerreisse nicht den Mantel der Welt- ordnung, der im Himmel gewebt ist! Werde kein Schüler des Arius! Denn jener hat gottlos die Wesen- 3o heit zerschnitten: du aber scheide nicht die Zusammen- gehörigkeit, damit du nicht von Gott geschieden werdest!" Dies richtete sich an die Gemeinde, nicht an Nestorius persönlich. Gleichwohl war darin aus-

12. Neue Ketzereien. 207

gesprochen, dass er der arianischeii Ketzerei, die er noch kürzlich so rücksichtslos bekämpft hatte, selber schuldig sei. Und wurde dies anerkannt, wozu Cyrill freudig bereit war, so rausste jener von seinem Bischofs-

.5 throne weichen, und seinem durchgefallenen Gegen- kandidaten eröffneten sich neue iVussichteu.

Nestorius musste empfinden, dass seine Lage nicht ganz ungefährlich war. Es lag ihm daran, die Zu- stimmung Roms zu gewinnen, aber ohne dass er, der

10 stolze Bischof der zweiten Reichshauptstadt, sich dem Richterspruche des Papstes unterwarf. Er schrieb daher jenen Brief an ihn, dessen wir oben (S. 202) schon erwähnt haben, in der Sache der Pelagianer, deutete an, dass er ihnen nicht abgeneigt sei, fügte

1.5 aber hinzu, er habe zu ihrer Lehre noch nicht ent- schieden Stellung genommen und sei bereit, sich dem Urteil Roms, falls es aufrechterhalten werde, anzu- schliessen. Zugleich erzählte er von seinem Streite gegen die Muttergottes und legte in Kürze seine

20 Gründe dar, aber nicht als wenn er die Entscheidung Caelestins anrufen wolle, sondern nur wie ein gleich- berechtigter Bruder dem andern von den Ereignissen in seiner Diöcese Mitteilung macht. Offenbar er- wartete er, dass der Papst von ihm die Abweisung

25 der Pelagianer fordern und dafür als Gegengabe einen strengen Tadel gegen die Anhänger der Muttergottes aussprechen werde. Der wesentliche Inhalt des Briefes war also das versteckte Anerbieten: „Haust du meinen Ketzer, so haue ich deinen Ketzer." Doch Caelestin

30 hüllte sich in tiefes Schweigen und liess sich auch durch mehrere andere Briefe, die in demselben Tone redeten, nicht aus seiner vorsichtigen Reserve heraus- bringen. Er hatte sich durch den Praefecten Antio- chus Abschriften von den ersten Predigrteu des Nestorius

208 VII. Die Aiiflösmig des Reiches.

verschafft und liess sie uach Marseille an Johannes Cassianus übersenden, den berühmtesten Theologen, den seit dem Tode des Augustinus der lateinische Reichsteil besass. Der römische Diakon Leo, der spätere Papst, musste ihn auffordern, den Gegner der Mutter- s gottes zu widerlegen. So bereitete sich Caelestin das Material, um mit dem schwersten Rüstzeug theologischer Gelehrsamkeit als Richter über den Bischof von Con- stantinopel auftreten zu können, ohne dass er doch persönlich Stellung zu nehmen schien und dadurch lo den Ruf seiner Unparteilichkeit gefährdete. Doch so schnell Cassian auch rlie bestellte Arbeit lieferte, er konnte mit seinem umfangreichen Werk noch lange nicht fertig sein, als schon im östlichen Reichsteil der wildeste Kampf entbrannt war. 15

Es ist bezeichnend, dass nicht ein Geistlicher, sondern ein Laie, der Rechtsanwalt Eusebius, es als Erster wagte, den Nestorius offen mit Nennung seines Namens der Ketzerei zu bezichtigen, freilich nur in einem anonymen Schriftstück. Er war Alexandriner 20 und dürfte wohl durch den Bischof seiner Vaterstadt nicht ganz unbeeiuflusst gewesen sein. Durch einen öffentlichen Anschlag suchte er den Beweiss zu führen, dass Nestorius nur die längst verurteilte Lehre des Paul von Samosata erneuere, und forderte im Namen 25 der heiligen Dreieinigkeit jedermann auf, für die Ver- breitung dieser Anklage zu sorgen. Und bei dem Hass, den der Bischof gegen sich hervorgerufen hatte, fehlte es nicht an Leuten, die sich dieser Aufgabe unterzogen. Wie es scheint, wurde eine Abschrift 30 gleich nach Rom geschickt und von dort aus dem Cassianus mitgeteilt, damit er sie bei seiner Wider- legung des Nestorius benutze.

Unterdessen war auch Cyrill nicht müssig ge-

12. Neue Ketzereien. 209

blieben. Sein Gegner hatte sich eine schlimme Blosse gegeben, und der Zeitpunkt schien ihm gekommen, um wieder einmal zu beweisen, dass Alexandria als kirchliche Führeriu des ganzen Orients die jüngeren

5 Ansprüche der kaiserlichen Residenz niederzukämpfen vermöge. Die Mönche, in denen sich immer die roheste Form des religiösen Empfindens verkörperte, hatten am eifrigsten gegen Nestorius Partei genommen. Wie sie kurz vorher den leibhaftigen Gott mit seinen

10 Augen, Händen und Füssen gegen die Origenisten ver- teidigt hatten (V S. 347), so wollten sie auch auf die leibhaftige Göttin nicht verzichten. An sie richtete Cyrill ein dogmatisches Schreiben, in dem er zwar Nestorius nicht nannte, aber seinen Yermittlungsvor-

15 schlag, 3Iaria nur Christusmutter zu nennen, also seine allereigenste Lehre, scharf bekämpfte. Christus, so legte er dar, bedeute ja nichts weiter, als den Ge- salbten; gesalbt aber seien sehr viele, die sich doch mit dem göttlichen Erlöser nicht vergleichen Hessen.

20 Muttergottes sei also der einzig richtige Ausdruck und das um so sicherer, als schon Äthan asius, an dessen Rechtgläubigkeit man nicht zweifeln könne, ihn wieder- holt gebraucht habe. Auch auf das Stichwort, das Proculus geprägt hatte, man dürfe den einheitlichen

25 Christus nicht in zwei Personen zerschneiden, den Logos und den Menschen, wird hingewiesen, aber nur kurz und beiläufig. Doch gerade diese Teilung wurde später zum Kernpunkte des ganzen Streites und sollte noch über das Ende desselben hinauswirken.

30 Cyrill hatte seinen Brief nur an die ägyptischen

Mönche gerichtet und, wie schon gesagt, den Namen des Nestorius nicht darin genannt. Er wollte eben jeden Schein vermeiden, als ob er über seine Diöcese hinausgreife und sich zum Richter über den Bischof

Seeck, Untergang ilor antiken Welt. VI. 14

210 VII. Die Auflösung des Reiclies.

der Hauptstadt aufwerfe. Doch sorgte er dafür, dass die Schrift auch in Constantinopel verbreitet wurde, wo sie ihre Wirkung nicht verfehlte. Nestorius geriet in wilden Zorn und war ungeschickt genug, ihn nicht zu verbergen. Er Hess sich sogar zu Drohungen hin- 5 reissen, und Cyrill hatte den Rechtsgrund, den er brauchte, gefunden, jenen als parteiischen Richter ab- lehnen zu können (S. 201). Jetzt aber hatte er sich schon höhere Ziele gesteckt. Auch in Rom scheint sein Brief an die Mönche wohl nicht ohne sein Zutun 10 bekannt geworden zu sein, und ein Schreiben des Papstes fragte bei ihm an, ob jene Predigten, an denen er selbst und die Bischöfe Italiens lebhaftes Ärgernis genommen hätten, wirklich so von Nestorius gehalten seien. Offenbar verfolgte Caelestinus mit 15 dieser sehr überflüssigen Frage keinen anderen Zweck, als eine Verbindung zu gemeinsamem Vorgehen mit Cyrillus anzuknüpfen. Denn in dem Kampfe Roms gegen das übermütige Constantinopel konnte Alexan- dria sein wertvollster Bundesgenosse werden. Von 20 jenem päpstlichen Schreiben machte Cyrill dem Nestorius in einem bitter höhnischen Briefe Mitteilung. Er nahm darin den Ton des freundschaftlich über- legenen Ratgebers an, stellte sich, als wenn er an die Ketzerei seines lieben Kollegen noch nicht recht 25 glauben könne, und mutete ihm zu, allen Zweifeln ein Ende zu machen, indem er sich öffentlich zur Muttergottes bekenne. Nestorius w^ollte dies anfangs ganz unbeantwortet lassen; doch bewog ihn ein Priester, den er schätzte, zwar nicht zu einer wirklichen Ant- ?.o wort, wohl aber zu einem kurzen brieflichen Gruss an Cyrill, der zeigen sollte, dass er sehr erzürnt, aber nicht unversöhnlich sei. Doch wenn er erwartete, der Alexandriner werde darauf hin furchtsam ein-

12. Neue Ketzereien. 211

lenken, so verkannte er die Gefahr, in der er selber schwebte.

Jenes anonyme Blatt des Eusebius hatte ihn dem Anathem preisgegeben; er hielt für nötig, es durch

5 ein Anathem gegen seine Widersacher zu beantworten, konnte es aber nicht selber sprechen, weil er vor nicht sehr langer Zeit erklärt hatte, man könne das Wort Muttergottes ohne Ketzerei gebrauchen. So wählte er zu seinem Werkzeug den Bischof Dorotheus von

10 Marcianopel, der in der Christenheit hohes Ansehn genoss. Dieser erhob sich in der Kirche des Nestorius und rief in dessen Beisein mit lauter Stimme: „Wer Maria Muttergottes nennt, sei als Ketzer verflucht!" Das Yolk brach in lautes Zorngeschrei aus und stürzte

15 den Ausgängen zu, und Viele lehnten seitdem mit Nestorius, in dem jeder den Anstifter des Dorotheus erkannte, die Kirchengemeiuschaft ab, vor allem die Mönche. Einer von ihnen machte sogar den Versuch, den ketzerischen Bischof in dessen eigene Kirche nicht

20 hineinzulassen. Dieser schlug wacker auf den Frechen los und Hess ihn dann zur Bestrafung den Praefecten übergeben, die dem Beichtvater der Kaiserin ihre Unterstützuno; nicht versagten. Der Mönch wurde ab- gepeitscht, dann von einem Ausrufer, der das Ver-

25 brechen und die Strafe zur Warnung aller übrigen laut verkündigen musste, durch die Stadt geführt und endlich in die Verbannung geschickt. Mehrere seiner Gesinnungsgenossen misshandelte man in ähnlicher Weise; einzelnen Presbytern verbot Nestorius zu pre-

ao digen, darunter auch dem Philippus, der, wie Proculus, schon zweimal Bischofskandidat gewesen war. Dann versammelte er eine Synode von gefügigen Bischöfen gegen sie, Hess sie durch diese als Ketzer verdammen und wies sie aus Constantinopel aus. Zwar wagte er

14*

212 VII. Die Auflösung des Reiclies.

njcht von ihr zu verlangen, dass sie das Wort „Mutter- gottes" verwerfe; doch gegen die Anhänger desselben ging er mit derselben Gewaltsamkeit vor, mit der er in den Anfängen seines Episkopats die Arianer be- kämpft hatte. 5

Jetzt aber wusste man, wo man gegen ihn einen Helfer fand. Cyrill hatte geschickt erreicht, dass, wie in den Zeiten des Athauasius, der Bischofsthron von Alexandria allen Rechtgläubigen als der starke Felsen galt, an dem die Wogen der Ketzerei sich brechen lo müssten. Die Mönche von Constantinopel verfassten eine Eingabe an den Kaiser, in der sie Nestorius ver- klagten und zu seiner Aburteilung um die Berufung eines ökumenischen Concils baten. Dies Schriftstück übersandten sie dem Cyrillus, damit er es begutachte i5 und durch seine einflussreiche Vermittlung an den Hof o-elano-en lasse. Er aber hielt ein Concil erst für an- gezeigt, wenn durch die Entscheidung Roms ein Prä- judiz geschaffen sei. Er empfahl daher den Mönchen, die Eingabe bis zu einem günstigeren Zeitpunkt zurück- 20 zuhalten. Er seinerseits werde den Kampf nicht auf- geben und wisse, in welcher Form und an wen er Briefe zu schreiben habe. Damit waren Nestorius selbst, der Papst und die kaiserlichen Damen gemeint, wie sich bald zeigen sollte. 25

Die Feinde der Muttergottes hatten unterdessen nicht wenig von ihrer Zuversicht eingebüsst. Jener Anastasius, der zuerst als Rufer im Streit aufgetreten war (S. 204j, suchte schon in den Schriften des Cyrill nach Anhaltspunkten, die ein Übereinkommen ermög- 30 liehen könnten. Wie dieser über alles, was sich in Constantinopel zutrug, durch die Berichte seiner An- hänger auf dem Laufenden erhalten wurde, so erfuhr er auch hiervon, hielt aber nur umso schroffer an

12. Neue Ketzereien. 213

seinem Standpunkt fest. Doch um den Schein der Versöhnlichkeit zu wahren, schrieb er im Februar 430 noch einen Ermahuungsbrief an Nestorius, und jetzt fand dieser es nicht unter seiner Würde, ausführlich 5 Antwort zu geben. Wenn auch in sehr gereiztem Tone, deutete er dennoch an, dass er Zugeständnissen nicht ganz abgeneigt sei, und schrieb zugleich an Caelestin, unter gewissen Kautelen könne man die Bezeichnung „Muttergottes" vielleicht dulden, wenn

10 auch die andere „Mutter des Christus"' bedeutend vor- zuziehen sei. Aber noch waren diese Briefe in Ale- xandria und Rom nicht eingetroffen, als Cyrillussich schon an den Papst und die Kaiserfraueu wandte, an beide, wie er den Mönchen verheissen hatte, in sehr

15 verschiedener Form, aber auch mit sehr verschiedenem Erfolge.

Der Brief an Caelestin, dem die Predigten des Nestorius und eine umfangreiche Widerlegung der- selben beigelegt waren, gibt sich unverhüllt als Anklage-

■20 Schrift. Doch erklärt Cyrill, sich nicht von der Kirchen- gemeinschaft mit Nestorius offen lossagen zu wollen, ehe der Papst dies gebilligt habe. Er macht also den Bischof von Alexandria zum demütigen Gefolgsmanne Roms, wenn dieses den Kampf gegen Constantinopel

■25 aufnehmen wolle. Zugleich aber weist er darauf hin, dass man auch im östlichen Reichsteil auf zahlreichen Anhang zu rechnen habe, weil die Bischöfe von Mace- donien für die Muttergottes einträten. So bot sich dem Papste die lockende Aussicht, gegen den Bischof

30 des zweiten Rom, der an ihn nur im hochmütigen Tone des Gleichberechtigten geschrieben hatte, mit gutem Erfolg als strafender Richter aufzutreten, und dass er dies nicht zurückwies, war fast selbstverständlich. Er hatte, noch ehe die Anklage des Cyrillus anlangte,

214 VII. Die Auflösung des Reiches.

mit einer Anzahl Bischöfe, die gerade in Rom an- wesend waren, die Streitfrage verhandelt, und alle waren für die Muttergottes eingetreten. Jetzt fertigte er unverzüglich am 10. und 11. August 430 eine Reihe von Urkunden aus, die Nestorius, falls er nicht 5 innerhalb zehn Tagen schriftlich widerrufe, in der beleidigendsten Form von der Kirchengemeinschaft ausschlössen und dies den hervorragendsten kirchlichen Autoritäten des Orients kund und zu wissen taten. Klerus und Volk von Constantinopel wurden zum Auf- lo rühr gegen ihren Bischof aufgefordert und ihnen mit- geteilt, dass eben diejenigen in der Kommunion des Papstes ständen, die Nestorius von der seinen aus- geschlossen habe. Nicht im Namen der römischen Synode, sondern kraft eigener Machtvollkommenheit, i5 fällte Caelestin diesen Spruch und ernannte Cyrill zu seinem Stellvertreter im Orient und zum Vollstrecker seines Urteils. So erhob sich Alexandria über Con- stantinopel, indem es sich Rom unterwarf. Doch der Papst hauste weit entfernt in einem andern Reichsteil 20 und konnte daher den Machtgelüsten des alexandri- nischen Stuhles viel schwerer gefährlich werden, als der nahe Bischof der kaiserlichen Residenz.

Weniger Glück hatte Cyrill mit den Schriften, die er dem Hof übersandte. In ihnen wagte er nicht, 25 offen als Ankläger aufzutreten, ja der Name des Nestorius wurde überhaupt nicht genannt. Eudocia suchte er bei ihrem Aberglauben zu fassen, indem er ihr darlegte, dass sie für sich und das Reich nur Glück erwarten könne, wenn sie den rechten Glauben so verteidige. Was dieser rechte Glaube sei, wurde dann im Gegensatze zu den Lehren des Nestorius durch eine ausführliche Abhandlung erläutert. Eine noch viel längere aber richtete er an die Sclnvostern des

12. Neue Ketzereien. 215

Kaisers und fügte ihr eine Unzahl von Stellen aus der Bibel und älteren Kirchenvätern hinzu. So wurde der Pulcheria das ganze theologische Material zur Ver- fügung gestellt, das sie zur Bekämpfung des ihr ver-

5 hassten Bischofs brauchen konnte. Jedenfalls hat sie es in diesem Sinne zu benutzten gesucht, und unter den hohen Damen setzte es harten Zank. Dem armen Theodosius, der zwischen Gattin und Schwester ent- scheiden sollte und doch keine von ihnen gern ge-

10 kränkt hätte, wurde die Laune gründlich verdorben. Er erteilte dem Cyrill als einem Mann, der sowohl in der Kirche, als auch im Kaiserhause böswillig Un- frieden stifte, einen scharfen Verweis und erklärte ihm, in Constantinopel befänden sich Kirche und Hof, d. h.

15 Nestorius und Eudocia, in schönster Eintracht. Die dogmatische Streitfrage könne nur ein Coucil ent- scheiden, das Theodosius eben zusammenberufe. Ein solches hatte nicht nur die Eingabe der Mönche (S. 212), sondern auch Nestorius selbst gefordert, während Cyrill

20 es viel lieber gesehen hätte, wenn die Entscheidung des Papstes endgiltig geblieben wäre. Doch um den Zorn des Kaisers kümmerte er sich nicht viel; wusste er doch aus seinem Streite mit Orestes, dass jener nur schelten konnte, aber ein energisches Eingreifen

25 gegen den Stuhl von Alexandria nicht wagte (S. 79). Um für das bevorstehende Concil ein neues Prä- judiz zu schaffen, versammelte er eine ägyptische Synode und Hess durch sie Nestorius zum Widerruf seiner Ketzereien auffordern. Es genüge nicht, so

■60 schrieb man diesem, dass er sich zum nicaenischen Symbol bekenne, weil er es falsch auslege; er müsse auch zwölf Sätze ausdrücklich verdammen, die Cyrill aus seinen Predigten und Schriften entwickelt hatte. Doch indem dieser formulierte, was man von Christus

216 VII. Die Auflösung des Reiches.

und seiner Mutter nicht glauben dürfe, bot er zugleich etwas, was einer positiven Definition des Gottmenschen ähnlich sah, und dies war sehr unvorsichtig. Denn das Unbegreifliche lässt sich eben nicht definieren, und sobald man neue Begriffsbestimmungen zu geben 5 versuchte, war kaum zu vermeiden, dass sie zu den althergebrachten und anerkannten Lehren der Kirche irgendwie in Widerspruch traten. Nachdem jene Anathemen am Sonntag den 6. Dezember 430 dem Nestorius übergeben waren, konnte er sie sogleich lo mit ebensovielen Gegenanathemen beantworten, und auf dem Concil boten sie den Feinden des Cyrill die Hand- habe, um ihn selbst als Ketzer zu verurteilen.

Dreizehntes Kapitel.

Das Coiicil von Ephesus.

Am 19. November 430 hatte Theodosius eine Ver- fügung erlassen, welche allen Metropoliten seines Reichsteils bei Strafe seines kaiserlichen Zornes gebot, sich zum nächsten Pfingstfeste, d. h. zum 7. Juni 431, 5 in Ephesus zu versammeln. Der Ort war deshalb gewählt, weil er sich von Alexandria und Antiochia zur See fast ebenso schnell und bequem erreichen Hess, wie aus den Städten Macedonieus und Thraciens. Nach eigener Wahl sollte jeder der Geladenen einige

10 der ihm untergebenen Bischöfe mitbringen, aber nur eine kleine Anzahl, weil eine gar zu grosse Ver- sammlung leicht tumultuarisch werde. Um die Ord- nung aufrechtzuhalten, wurde dem Nestorius ein mili- tärischer Begleiter mitgegeben, der Comes Domesti-

15 corum Candidianus. Er sollte dafür sorgen, dass der Fanatismus der Mönche und Laien das Concil nicht terrorisiere und dass keiner der Bischöfe Ephesus verlasse, ehe die Entscheidung gefallen sei. Sich an den Beratungen selbst zu beteiligen, wurde ihm ver-

20 boten; wohl aber sollte er auf die Tagesordnung ein- wirken und verhindern, dass vor der Erledigung der Glaubensfrage irgend etwas anderes verhandelt werde; namentlich sollte, wenn Anklagen gegen irgend einen

218 VII. Die Auflösung des Reiches.

Bischof vorlägen, nicht in Ephesus, sondern erst nach Abschluss des Concils in Constantinopel darüber ge- urteilt werden. Dies wurde verfügt, weil unter den eutschiedensteu Anhängern des Nestorius sich mehrere befanden, die teils der Ketzerei, teils anderer Sünden 5 verdächtig waren, namentlich die Pelagianer. Sie sollten nicht durch ein vorhergehendes Urteil des Concils von der Abstimmung ausgeschlossen werden und sich umso fester an den Bischof von Constanti- nopel anschliessen, als dieser später über sie zu Ge- lo richte sitzen sollte. Auch dass kein Teilnehmer das Concil vorzeitig verlassen durfte und jeder Metropolit, der sein Kommen versagte, mit dem Zorn des Kaisers bedroht wurde, wird im Interesse des Nestorius gewesen sein; denn wahrscheinlich hatten diese Bestimmungen is den Zweck, ihm den Schutz seines Freundes, des Jo- hannes von Antiochia, zu sichern.

Von den drei grossen Patriarchaten des Orients führte nur Antiochia seine Gründung noch auf die Apostel selbst zurück und hätte daher die vornehmste 20 Stellung beanspruchen dürfen; doch war es daraus schon längst durch Alexandria verdrängt worden. Wie dieses sich gegen die Übergriffe Constautiuopels wehrte, indem es sich an Rom anschloss, so lag es im Inter- esse des antiochenischen Bischofs, seinen nächsten und 25 deshalb gefährlichsten Nebenbuhler durch das fernere Constantinopel herabdrücken zu lassen. Dazu kam, dass Nestorius dem Johannes als Presbyter gedient hatte und beide durch alte Freundschaft verbunden waren. Doch andererseits hing auch der Antiochener 30 au der Gottesmutter und hatte seinen früheren Unter- gebenen sclion brieflich ermahnt, vom Kampfe gegen sie abzulassen. So lag seine dogmatische Überzeugung im Streite mit dem Vorteil seines Patriarchats und

13. Das Concil von Kphesus. 219

seinen persönlichen Neigungen. Es war daher zu fürchten, dass er sich diesem Konflikt entzog und jede Stellungnahme vermied, indem er dem Concil fern- blieb. Dies sollte durch die kaiserliche Drohung ver-

5 hütet werden; denn wenn er kam, so glaubte Nestorius seiner Unterstützung sicher zu sein, und hat sich darin auch nicht getäuscht.

Um das Terrain für den bevorstehenden Kampf zu rekognoszieren, war Nestorius schon sehr bald

10 nach dem Osterfest in Ephesus eingetroffen und fand hier alles feindlich. Memnon, der Bischof der Stadt, behandelte ihn gleich als Ketzer, indem er ihn von dem Besuche seiner Kirchen ausschloss, und das fanatisierte Volk zeigte eine äusserst drohende Haltung.

15 Gegen dessen Ausschreitungen gewährten die Soldaten des Candidian genügenden Schutz; bedenklicher aber war, dass auch mehr als dreissig Bischöfe aus Asien sich zum Concil versammelten und diese alle sich ihrem Metropoliten Memnon anschlössen. Doch auf

20 die Gunst des Kaisers gestützt, blieb Nestorius sieges- gewiss; noch in Ephesus erklärte er Bischöfen der Gegenpartei, er könne ein zwei- oder dreimonatliches Kind, das noch an der Mutterbrust gesäugt werden müsse, unmöglich für einen Gott halten. Dass aber

25 diese Anschauungen nicht einstimmig angenommen werden, ja kaum eine schwache Majorität finden könnten, musste ihm schon damals klar sein. Doch für fromme Zwecke ist bekanntlich jedes Mittel erlaubt. So beschloss denn Nestorius, dem nachzuahmen, was

30 der hochheilige Athanasius in Serdica mit so treff- lichem Erfolge getan hatte. Er wollte, gleich diesem, das Concil in zwei Gegenconcilien spalten, von denen jedes einstimmig beschliesseii und das andere ver- ketzern konnte. Welches dann zuletzt als rechtgläubig

220 Vll. Die Auflösung- des Reiches.

anerkannt wurde, hing von der Entscheidung des Hofes ab, deren er sich sicher fühlte. Trotzdem musste er sich bestreben, die Gegner dem Kaiser gegenüber wenigstens formell ins Unrecht zu setzen, und dies liess sich durch ein sehr einfaches Mittel erreichen. 5 Erstens galt ein Urteil gegen einen Abwesenden, der sich nicht hatte verteidigen können, niemals als ganz rechtskräftig; Nestorius brauchte also nur sein Er- scheinen vor dem Concil zu verweigern, um dessen Entscheidung nichtig oder doch anfechtbar zu machen, lo Dazu aber bedurfte er eines passenden Vorwandes, und dieser bot sich ihm am leichtesten dar, wenn die Sitzungen stattfanden, ehe noch alle erwarteten Teil- nehmer gekommen waren. Es galt also, die Gegner ungeduldig zu machen, sodass sie ihre Beschlüsse fassten, 15 ehe das Concil vollzählig war, und diesen Freundes- dienst sollte Johannes von Antiochia ihm leisten.

Dieser reiste mit den orientalischen Bischöfen, die er sich beigesellt hatte, schon verspätet ab und wählte nicht den kurzen und bequemen Seeweg, zu dem die 20 Jahreszeit einlud, sondern pilgerte zu Fuss nach Ephesus. Hier w^ar unterdessen Cyrill pünktlich zum Pfingstfest eingetroffen, hatte aber nicht, wie der kaiser- liche Erlass dies vorschrieb, eine kleine Zahl ägyp- tischer Bischöfe mitgebracht, sondern nicht weniger 25 als fünfzig. Vereinigt mit den Trabanten des Memnon, bildeten diese einen so grossen Teil des Concils, dass keine Gegenpartei gegen sie aufzukommen vermochte. Doch Gegner fand man kaum: nicht mehr als sech- zehn Bischöfe hatten sich um Nestorius gesammelt. 30 Alle übrigen, die sich nach und nach einfanden, bis sie die ZifPer von 210 erreichten, waren entschlossen, für die Muttergottes einzutreten. So konnte die Partei des Cyrillus und Memnon sicher sein, die kleine Schar

13. Das Concil von Ephesus. 221

der Orientalen, falls dies nötig war, niederzustimmen, und wartete daher geduldig auf sie. Noch am 20. Juni 431, nachdem der angesetzte Termin schon fast seit zwei Wochen abgelaufen war, schrieb Cyrill 5 an Johannes, er wolle nichts vor dessen Ankunft be- schliessen lassen. Dies musste den Plan des Nestorius durchkreuzen; so schickte denn der Antiochener, ob- gleich er nur noch wenige Tagereisen von Ephesus entfernt war, doch die Botschaft, wenn er den ver-

10 sammelten Bischöfen zu lange zögere, möchten sie beschliessen, was sie wollten. Dies konnte man nicht anders auffassen, als dass es ihm lieb sein würde, an der dogmatischen Entscheidung nicht persönlich teil- zunehmen, und da sie ihn in die Verlegenheit gebracht

15 hätte, entweder gegen seinen Freund oder gegen seine Überzeugung zu stimmen, musste dieser Wunsch dem Cyrillus sehr berechtigt scheinen. Er setzte daher die erste Sitzung des Concils auf den 22. Juni an. Jetzt aber trafen Nestorius und seine Genossen ihre Maass-

20 regeln, um die Gegner formell ins Unrecht zu setzen. Sie legten Protest dagegen ein, dass vor dem Eintreffen der Orientalen etwas beschlossen werde, und der Ver- treter des Kaisers Candidianus schloss sich ihnen an. Dies aber erfüllte die versammelten Väter mit wildem

25 Zorn; die Bischöfe, w^elche das Schriftstück über- brachten, mussten nicht nur Schimpfworte, sondern auch Schläge erleiden, und wenn man auch gegen den Comes nicht mit so handgreiflichen Gründen vorging, wies man doch seine Forderung, das Concil solle

30 warten, bis er selbst es berufe, entschieden zurück. In Ephesus herrschte Hungersnot und diese hatte, wie das ja Regel ist, auch eine Epidemie hervorgerufen. Manche von den Teilnehmern des Concils waren schon gestorben, andere erkrankt, und die Teuerung der

222 VII. Die Auflösung des Reiches.

Lebensmittel machte deu Aufenthalt in der Stadt kost- spielig und erschöpfte die Kasse der ärmeren Bischöfe. Alle hatten es daher eilig, in ihre Heimat zurück- zukehren, was Nestorius natürlich nicht unbekannt war. So trat denn ein, was er wünschte und erwartete. 5 Das Concil begann seine Verhandlungen am fest- gesetzten Tage ohne die Orientalen und fällte gleich in der ersten Sitzung sein urteil. Man hatte ihn ordnungsmässig dreimal vorgeladen, aber da er sich weigerte zu kommen, wurde er auf Grund seiner 10 Schriften und mündlichen Erklärungen abwesend der Ketzerei schuldig gesprochen, seines Bischofsamtes entsetzt und von der Kirchengemeinschaft aus- geschlossen. Vor den Toren der Kirche, in der die Sitzung stattfand, hatte das Volk in aufgeregter Span- 15 nung gewartet. Als es das Urteil erfuhr, brach es in lauten Jubel aus, und am Abend war zu Ehren der Muttergottes die ganze Stadt illuminiert.

Wer aber in Wirklichkeit Grund hatte zu trium- phieren, das war Nestorius; denn weil das Concil noch 20 nicht vollzählig versammelt war, als es seinen Beschluss fasste, wurde dieser seinem Plane gemäss anfechtbar. Sogleich legten er und seine sechzehn Anhänger in Gemeinschaft mit dem Vertreter des Kaisers Protest ein, und schon nach fünf Tagen erschien Johannes 25 mit seinen Orientalen in Ephesus und schloss sich, nachdem er kaum den Staub der Reise abgeschüttelt hatte, ihrem Vorgehen an. Da Cyrill ganz in seinem Sinne gehandelt zu haben meinte, glaubte er ihn als Freund empfangen zu dürfen. Um ihn zu begrüssen 30 und vor dem Verkehr mit dem verurteilten Ketzer zu warnen, schickte er ihm eine Deputation von Bischöfen und anderen Geistlichen entg-eiifen: doch die Soldaten des Candidianus Hessen sie garnicht an ihn heran.

13. Das Concil von Epliesus. 223

Als sie ihm dennoch nach seinem Absteigequartier folgte, musste sie viele Stunden vor der Türe warten, und nachdem sie endlich vorgelassen war und ihren Auftrag bestellt hatte, prügelte man sie zum Hause

5 hinaus. Das waren die gesellschaftlichen Formen, in denen hohe Geistliche, wenn sie nicht derselben Meinung waren, damals miteinander verkehrten. Noch an dem- selben Tage, dem 28. Juni 431, versammelte Johannes ein Gegenconcil von nah an fünfzig Bischöfen; denn

10 etwa so viele scheinen den Anhang des Nestorius ge- bildet zu haben, nachdem der Antiochener und seine Begleiter ihm hinzugetreten waren. Da sich ihre Unterstützung auf andere Weise nicht gewinnen Hess, erklärte Nestorius sich jetzt bereit, die Muttergottes

15 anzuerkennen. Bei seinen Gegnern konnte ihm dies freilich nichts nützen, weil es viel zu spät kam; hatte ihm Caelestin doch nur einen zehntägigen Termin gesetzt. Selbst wenn er der Forderung des Papstes gemäss in aller Form widerrufen hätte, was er natür-

20 lieh nicht tat, hätten sie darauf bestanden, dass er für seine frühere Ketzerei bestraft werden müsse. Doch den befreundeten Orientalen gegenüber war jetzt die aufregendste Frage bei Seite geschafft; sie wird in den Schriften des Gegenconcils gar nicht

25 mehr berührt. Um so eifriger stürzte man sich auf die zwölf Anatheme der ägyptischen Synode und er- klärte sie für ketzerisch. Nur das nicaenische Glaubens- bekenntnis ohne jede Erweiterung sei für die Kirche bindend; neue Definitionen, wie Cyrill sie verlangt

30 hatte (S. 215), dürfe man ihm nicht hinzufügen. Hierdurch war aber auch der frühere Standpunkt des Nestorius gerechtfertigt, weil er immer den Aria- nismus verdammt und behauptet hatte, fest auf dem Boden des Nicaenums zu stehen.

224 VII. Die Auflösung des Reiches.

Ein Jahrhundert früher hatten Arius und die beiden Eusebius verlangt, dass ausschliesslich die Bibel als Grundlage des christlichen Glaubens gelte und alles, was nicht durch ihren klaren Wortlaut be- zeugt sei, dem freien Denken überlassen bleibe (III .5 S. 387). Das erste ökumenische Concil hatte sie ver- dammt, und seitdem stand dies Urteil für jeden Recht- oläubigen als unantastbare Norm neben der Bibel. Wenn aber jetzt die Freunde des Nestorius jeden Zu- satz zum nicaenischen Glaubeusbekenntnis ablehnten 10 und diesem gegenüber die Freiheit der Interpretation in Anspruch nahmen, so bedeutete dies im Wesent- lichen, wenn auch mit etwas engerer Beschränkung, dieselbe Forderung, die einst den Arianern und dann auch den Pelagianern (S. 191) abgeschlagen war. 10 Dass man sie dieses Mal bewilligen werde, war aller- dings kaum denkbar; hätte doch Nestorius selbst sie nicht bewilligt, wenn er Sieger geblieben und sie von seinen Geo-nern o-estellt worden wäre. Denn immer waren es nur die unterliegenden Parteien, die wieder 20 und wieder den Satz vertraten, auch innerhalb der Rechtgläubigkeit seien Verschiedenheiten der Lehre zulässig. Wie das Christentum als Ganzes nur so lange Toleranz gepredigt hatte, als es selbst die ver- folgte Religion war, so wurde auch seine Theologie, 25 wenn sie sich durchsetzen konnte, sogleich zur Unter- drückerin jeder fremden Meinung. Mochte diese an sich auch noch so unschuldig sein, von den siegreichen Gegnern wurde sie doch zur Lästerung und Ketzerei gestempelt. 30

W^ar die Forderung nach Freiheit der theologischen Auslegung sehr alt, aber ganz hoffnungslos, so erschien eine andere um so hoffnungsvoller, obgleich sie nagel- neu war. Ursprünglich hatten alle Bischöfe, ob ihre

13. Das C'oncil von Ephesus. 225

Stadt gross oder klein war, als gleichberechtigte Träger des heiligen Geistes gegolten. Dann hatte man die kirchlichen Häupter der Provinzialhauptstädte zu Leitern der Bischofswahlen und der geistlichen Ge- 5 richte gemacht; doch für die Concilien war die Regel bestehen geblieben, dass ihre Stimmen nicht mehr galten, als die ihrer Untergebenen. Da aber diese vor den hohen Vorgesetzten, die ihre Wahl gewöhn- lich bestimmt hatten und ihre Absetzung in Händen

10 hielten, meist demütig krochen, lag in den Kircheu- versammlungen die Entscheidung tatsächlich bei den Metropoliten. In Ephesus gab ein Trabant des Cyrillus in dieser Form seine Stimme ab: „Es ist überflüssig, von den Bischöfen aus Ägypten Rechenschaft über

15 den wahren Glauben zu fordern. Denn Allen ist klar, dass wir dem Glauben, den unser hochheiliger und hochehrwürdiger Vater, der Erzbischof Cyrillus, auf- gestellt hat, folgen und zustimmen, da er überein- stimmt mit dem Glauben der heiligen Väter." So

20 hatte denn auch Theodosius, als er das Concil berief, die Abstimmung der untergeordneten Bischöfe für „überflüssig" gehalten und seine Einladung nur an die Metropoliten gerichtet. Wenn er ihnen anheim- gegeben hatte, eine geringe Zahl ihrer Untergebenen

25 mitzubringen, so w^ird der Grund kaum ein anderer gewesen sein, als dass sich unter diesen Theologen befinden mochten, deren Gelehrsamkeit für die Dis- kussion der dogmatischen Fragen von Wert sein konnte. Denn dass sie nicht anders stimmen würden,

30 als ihr Metropolit, dafür bürgte die freie Auswahl, die diesem übertragen war. Wenn sich also Cyrill mit 50 Ägyptern, Memnon mit 30 40 Asiaten um- geben hatten, so verfolgten sie nur den Zweck, durch die Ziffer von Stimmen, die nicht mehr als Ziffern

Seeck, Untergang der antiken Welt. VI. 15

226 VII. Die Auflösung des Reiches.

waren, dem Kaiser zu imponieren. Demgegenüber beantragten Nestorius und sein Gegenconcil, dass eine neue allgemeine Versammlung die Glaubensfragen be- spreche, zu der kein Metropolit mehr als zwei Bischöfe mitbringen dürfe. Mithin sollten alle Provinzen des 5 östlichen Reichsteils durch je drei Stimmen vertreten sein, die aber tatsächlich nur für eine, die des Metro- politen, gelten konnten. Man setzte also voraus, dass der heilige Geist, wie jeder andere im Reich, auf Rang- und Würde die o-ebührende Rücksicht nehme. 10

Eine dogmatische Anklage gegen ihre Widersacher hatten Nestorius und Johannes für nötig gehalten; doch besass sie fast nur ornamentalen Wert. In der richtigen Erkenntnis, dass alles von der Entscheidung des Hofes abhänge, legte man das Hauptgewicht dar- 15 auf, dass Cyrill und seine Genossen die Befehle des Kaisers missachtet hätten. Nicht nur durch die grosse Zahl ihres untergeordneten Gefolges hätten sie gegen seinen Willen gesündigt, sondern mehr noch dadurch, dass sie bei einem Coucil, das er als ökumenisches 20 gedacht habe, die Ankunft wichtiger Teilnehmer nicht erwartet hätten, und dies trotz der Proteste seines Vertrauensmannes Caudidianus. Daraufhin wurden Cyrill und Memnon für abgesetzt erklärt und mit allen Bischöfen, die ihnen zugestimmt hatten, die Kirchen- 25 gemeiuschaft so lange aufgehoben, bis sie sich dem Urteil des Gegenconcils angeschlossen hätten. Dies hastige Vorgehen widersprach allen Sitten, die sich für den kirchlichen Strafprozess gebildet hatten. Ab- wesend und ohne Verteidigung hatte man die Gegner 30 schuldig gesprochen, ja nicht einmal die Form der Vorladung war beobachtet worden. Offenbar fürchtete man, dass sie dem Rufe folgen und dauu auch im Gegenconcil die Frage der Muttergottes zur Sprache

13. Das Coucil von Ephesus. 227

bringen könnten, und dieser wich mau geflissentlich aus. Natürlich erklärte Cyrill mit seinem Concil den Spruch des Johannes für nichtig und forderte ihn jetzt vor seine Schranken. Dabei beobachtete man

5 die Vorschrift der dreimaligen Ladung mit Sorgfalt, und erst als der Angeklagte den Gehorsam weigerte, wurde er verurteilt. Aber dies und alle weiteren Ver- handlungen der beiden Gegenconcile hatten nur noch den Zweck, für jede Partei das formelle Recht nach

10 Möglichkeit zu wahren; sachlich waren sie bedeutungs- los. Denn jeder empfand, dass der Streit sich nicht in Ephesus, sondern nur in Constantinopel am Kaiser- hofe entscheiden könne.

Dort hatte man anfangs mit grosser Entschieden-

15 heit für Nestorius Partei genommen; wenn dessen Gegner von Candidian ofPen bekämpft wurden, so ge- schah dies zweifellos im Sinne des Kaisers oder rich- tiger wohl der Kaiserin. Gleich nach der ersten Sitzung des Concils schickte der Comes einen Bericht

20 nach Constantinopel, der die Vorgänge ganz im Sinne des Nestorius darstellte; und schon am 20. Juni, noch ehe er von dem Gegenconcil des Johannes etwas wissen konnte, schrieb der Kaiser nach Ephesus, man habe seine Befehle missachtet, indem man den Spruch

25 gefällt habe, ehe die Versammlung vollzählig gewesen sei. Das Urteil gegen Nestorius, das nur durch per- sönliche Feindschaft eingeo^eben sei, betrachte er da- her als nichtig. Nach der Ankunft der Bischöfe, die bei der ersten Abstimmung noch gefehlt hätten,

30 müssten die Verhandlungen ganz von neuem beginnen, und kein Teilnehmer des Concils dürfe Ephesus ver- lassen, ehe sie mit grösserer Unparteilichkeit zu Ende geführt seien.

Nachdem diese kaiserliche Verfügung den Bischöfen

15*

228 VII. J)ie Auflösung des Reiches.

zugestellt war, wollte Nestorius mit seinem Gegeu- concil bei den Reliquien des Evangelisten Johannes einen Dankgottesdienst halten; doch Memnon hielt die Kirche vor ihnen verschlossen. Und als sie vor der Tür derselben beten wollten, fiel die Bevölkerung der 5 Stadt mit Knütteln und Steinen über sie her, ver- wundete mehrere und trieb sie zur Flucht in ihre Wohnungen. Sie berichteten an den Kaiser und baten ihn, Memnon als Urheber des Tumultes zu verbannen, weil auf andere Weise die Ruhe nicht herzustellen 10 sei. Doch bald überzeugten sie sich, dass auch dieses nicht genügen werde, um das aufgeregte Volk im Zaume zu halten, und beantragten Verlegung des Concils nach Constantiuopel, da sie in Ephesus ihres Lebens nicht mehr sicher seien. 15

Ein hoher Würdenträger, der Comes Irenaeus, hatte mit Erlaubnis des Kaisers den Nestorius nach Ephesus begleitet, nicht mit officiellen Aufträgen, wohl aber, um durch sein Ansehen für ihn zu wirken. Dort hatte er um sich gesammelt, was sich für die 20 Lehren des Nestorius gewinnen Hess, und mit diesen aufgeregten Scharen das Concil einzuschüchtern ge- sucht und seine Sicherheit bedroht. Diesem treuen Parteigänger wurden um Mitte Juli die Briefe des Gegenconcils an den Kaiser anvertraut, um sie nach 25 Constautinopel zu überbringen und in ihrem Sinne seinen Eiufluss bei Hofe geltend zu machen. Doch hier fand er dae Stimmung ganz anders, als er nach allem, was vorhergegangen war, erwarten musste.

Was sich in Ephesus ereignet hatte, war anfangs 30 nur durch den arg gefärbten Bericht des Candidian dem Kaiser bekannt geworden: die Briefe und Pro- tokolle, die von Cyrillus und seinem Concil abgeschickt waren, hatte man garnicht nach Constautinopel hinein-

13. Das CoiK'il von Epliesus. 229

gelassen. Die mächtigen Freunde des Xestorius Hessen den Hafen bewachen und jeden Ankommenden durch- suchen, ob er nicht irgend ein Papier, das ihrem Bischof gefährlich werden könnte, einzuschmuggeln

•5 beabsichtige. Endlich gelang es einem Mönch, einen Brief des Concils, in die Höhlung seines Rohrstabes eingerollt, den Blicken der Wächter zu entziehen und in ein Kloster der Hauptstadt zu befördern: denn unter den Mönchen konnte man sicher sein, begeisterte

10 Vorkämpfer der Muttergottes zu finden. Das Schreiben wurde jenem greisen Abt Dalmatius übergeben, dessen unvergleichliche Heiligkeit Theodosius und seine Damen so sehr bewunderten (S. 195). Schon waren es acht- undvierzig Jahre, dass selbst die Bitten des Kaisers

15 ihn aus seiner Zelle nicht hatten herauslocken können; jetzt aber, wo es den Kampf gegen den Feind der Muttergottes galt, rief ihn eine Stimme vom Himmel und er musste ihr folgen. Umgeben von seinen Mönchen zog er zum kaiserlichen Palast, und nicht nur eine

20 unzählbare Menore gläubioren Volkes schloss sich ihm an, sondern auch die Heiden, Juden und Ketzer, die alle in Nestorius ihren gewalttätigen Unterdrücker hassten. Während draussen sich diese Schareu Psalmen singend drängten, wurde Dalmatius mit den Vor-

25 nehmsten seiner Begleiter zum Kaiser geführt. Dieser nahm aus seinen Händen die Schrift entgegen, in der das Concil sein Urteil über Nestorius ausgesprochen und begründet hatte, und vermochte auch sonst dem Heiligen nichts abzuschlagen. In der Heimlichkeit des

30 ehelichen Schlafgemaches scheint ihn Eudocia dann freilich umgestimmt zu haben; denn auch später hielt er noch an Nestorius fest. Doch wurden die Ver- sprechungen, die er den Mönchen gegeben hatte, wenigstens soweit erfüllt, dass der Befehl, kein Bischof

230 ^'11- I^i^ Auflösung des Reiches.

dürfe Ephesus vor dem Ende des Concils verlassen, nicht in seinem vollen Umfang aufrecht erhalten wurde. Der Kaiser gestattete, dass Abgesandte des Cyrillus nach Constantinopel kamen, um den Staudpunkt der Mehrheit vor ihm zu verteidigen. 5

So waren drei Tage vor Irenaeus zwei ägyptische Bischöfe angelaugt, und da sie nicht mit leeren Händen kamen, hatte ihr Erscheinen Wunder gewirkt. Die Liste der „Geschenke", die wegen des nestorianischen Streites aus der Kasse des Cyrillus verteilt wurden, 10 hat sich noch erhalten. Sie bestehen zum grossen Teil aus Geweben, Straussenbälgen, Elfenbeiuarbeiten, Ge- mälden u. dgl. m.; doch tritt bei jedem Empfänger noch eine Summe Geldes hinzu, die je nach seiner Bedeutung von 100 Solidi bis zu 200 Pfund Gold an- 15 steigt, d. h. von 1269 Mark bis zu 182 718 Mark. Der nestorianische Streit verzehrte nicht nur das ganze bewegliche Vermögen der alexandrinischen Kirche, sondern zwang sie auch noch, in Constantinopel eine Anleihe von 1500 Pfund Gold zu machen, das sind 20 1370 385 Mark. Es ist erstaunlich, dass ein Bischof so hohen Kredit besass. Der Löwenanteil an den Spenden fliesst den Enuchen zu, die trotz ihres hohen Ranges doch nicht mehr waren als Kammerdiener der kaiserlichen Familie. Doch im vertrauten Verkehr 25 des Schlafgemaches und des Ankleidezimmers Hess sich ein Theodosius am wirksamsten beeinflussen. Die grösste Summe, doppelt so viel, wie die an zweiter Stelle stehenden, erhält Chrysoretus, den die Ägypter als ihren gefährlichsten Gegner betrachten, „damit er :io aufhöre, uns zu bekämpfen". Auch zwei Kammer- frauen der Eudocia werden bestochen, jede mit 50 Pfund Gold (45 680 Mark). An den Reichspraefecten selbst wagt man sich nicht heran, wohl aber an seine Frau

13. Das Concil von Ephesus. 231

und seinen Assessor, und das zwar mit den sehr statt- lichen Summen von 100 Pfund und 50 Pfund. Der Eunuche Scholasticus, den Nestorius für seineu treuesten Freund hielt, Hess sich durch 100 Pfund Gold be- 5 stimmen, wütend für die Muttergottes zu eifern. Als Irenaeus, nachdem er kaum der Gefahr entgangen war, vom Pöbel ins Meer geworfen zu werden, vor den Kaiser hintrat, schienen auch die hohen Herren des Consistoriums ihn in Stücke reisseu zu wollen.

10 Doch die Urkunden des Concils, die er vorlegte,

bestärkten Theodosius im Glauben an seinen Bischof. Er bestätigte die Absetzung des Cyrill und Memnon, die das Gegenconcil ausgesprochen hatte, und die bestochenen Beamten, die ihn umgaben, mussten wohl

15 oder übel beistimmen. Da scheint die zweite Kaiser- tochter Flaccilla schwer erkrankt zu sein. Johannes, ein eng befreundeter Geistlicher des Cyrillus, der zu- gleich Arzt war, erschien in Coustantinopel, und plötz- lich änderte sich die Stimmung des Hofes und wurde

20 für Nestorius höchst bedrohlich.

Schon vor dem Zusammentreten des Concils hatte sich der Zorn Gottes angekündigt. Nicht nur in Ephesus (S. 22 Ij, sondern auch in Antiochia und Constantinopel, also wahrscheinlich im ganzen öst-

25 liehen Reichsteil, herrschte schon im Frühling Hungers- not und hatte, wie das regelmässig geschah, zu Auf- ständen des notleidenden Volkes geführt. Als der Kaiser in seiner Hauptstadt die Kornspeicher besich- tigte, hatte man mit Steinen nach ihm geworfen.

30 Wenn die Wut des Pöbels sich gegen ihn selbst wandte, so zeigt dies, dass man in ihm den Schuldigen sah, wahrscheinlich weil er dem Beleidiger der Mutter- gottes seinen Schutz gewährt und dadurch ihre Gnade verscherzt hatte. Er seinerseits aber konnte das Un-

232 ^11 l'iö Auflösung des Reiches.

heil auch anders deuten. Denn da Constautinopel und viele andere Teile des Orients durch ägyptisches Korn ernährt wurden, muss gerade dort die Ernte versagt haben, wo Cyrill, der Gegner des Nestorius, herrschte. Wenn aber jetzt die Tochter des Kaisers 5 erkrankte, so konnte mau dadurch die Meinung des Volkes und der Mönche bestätigt finden, dass der Zorn des Himmels sich gegen ihn und seinen Bischof wende. Am Hofe rieten daher nicht wenige, alle, deren Rechtgläubigkeit angefochten war, also nicht lo nur Cyrill und Memnon, sondern auch Nestorius ab- zusetzen; dadurch werde mau die Gefahr, irgend eine Ketzerei zu unterstützen, am sichersten vermeiden. Auch Theodosius neigte dieser Ansicht zu, und Nestorius tat das Seine, um ihm diese Wendung zu erleichtern. i5

Durch den Bericht, den Irenaeus nach Ephesus schickte, hatte er erfahren, wie schlecht am Hofe, der bisher seine festeste Stütze gewesen war, seine Sachen standen. Wenn selbst der Eunuche Scholasticus, in dem er seinen treuesten Anhänger gesehen hatte, von ihm 20 abgefallen war, so blieb ihm kaum noch etwas übrig, als sich einen anständigen Abgang zu sichern. Zu- gleich aber wollte er nicht unterlassen, soweit ihm das noch möglich war, an seinen Feinden Rache zu nehmen. Er schrieb daher an den ungetreuen, setzte 25 ihm sein Dogma, um seine mächtige Fürsprache vielleicht doch noch zurückzugewinnen, genau aus- einander, fügte aber hinzu, dass ihm an seinem Bistum gar nichts liege. Er sei bereit, nach Antiochia in sein Kloster zurückzukehren, wenn man nur seine 30 Feinde für die Ketzerei ihrer Anatheme (S. 215) ge- bührend bestrafe. Dass ihre Anklagen unwahr seien, wolle er beweisen, entweder vor dem Kaiser selbst oder vor einem Vertrauensmann desselben in Ephesus.

13. Das Concil von Kpliesus. 233

Hiermit schlug Nestorius in leichtsinniger Zu- versicht etwas vor, wovor der Bericht des Irenaeus ausdrücklich gewarnt hatte. Denn schon ehe dies Schriftstück abgeschickt wurde, waren mehrere Hof- 5 leute bemüht gewesen, mit einer derartigen Sendung betraut zu werden. Konnte doch das Richteramt einem Cyrillus gegenüber, wenn man nicht unerbittlich war, ein höchst lukratives Geschäft werden. Und was Nestorius forderte, wurde alles gewährt. Hatte

10 der Kaiser zeitweilig an ihm gezweifelt, so wurde sein Glaube durch den Brief an Scholasticus, der die edelste Uneigennützigkeit zu verraten schien, glänzend wiederhergestellt. Die Rückkehr nach Antiochia wurde ihm gnädigst zugestanden und für Constantinopel eine

15 neue Bischofswahl ausgeschrieben; doch als die Mehr- heit sich Proculus zuneigte, der zuerst als Rufer im Streit gegen Nestorius aufgetreten war, wies der Hof ihn unter einem sehr fadenscheinigen Verwände zurück, und die Entscheidung schleppte sich monatelang hin.

20 Ja man vermutete sogar, dass der Kaiser hoffe, den Nestorius doch noch auf seinen Bischofsthron zurück- zuführen, indem er durch seine Strenge gegen Cyrill und Memnon von diesen eine Versöhnung mit ihm erzwang. In diesem Sinne geschah es wohl auch,

25 dass er, wie Nestorius es gewünscht hatte, einen Ver- trauensmann nach Ephesus schickte, der Verhand- lungen der Parteien anbahnen und leiten sollte. Er wählte dazu einen seiner höchsten Beamten, den Schatzmeister Johannes.

30 Als dieser an seinem Bestimmungsorte eingetroffen

war, trat er zuerst so schroff gegen die Feinde des Nestorius auf, dass Memnon im ersten Schreck in das Asyl einer Kirche floh. Nachdem die übrigen sich bei Johannes versammelt hatten, erklärten Cyrill

234 Vll l^ie Auflösung des Reiches.

und seine Genossen, dass sie nicht einmal den Anblick des Ketzers Nestorius ertragen könnten. Auf ihr wildes Gebrüll niusste Johannes sich entschliesseu, ihn durch einen Vorhang von ihnen zu trennen, damit überhaupt eine Verhandlung möglich werde. Freilich 5 wurde auch damit nichts weiter erreicht, als dass beide Parteien sich wütend anschrien. Da über alle drei Bischöfe, welche die beiden Gegenconcilien in den Bann getan hatten, auch vom Kaiser die Absetzung ausgesprochen war, schloss Johannes sie von den lo künftigen Beratungen aus; denn von diesen war ein besserer Verlauf zu erhoffen, wenn die Spitzführer entfernt waren. Einstweilen wurden Nestorius und Cyrill, später auch Memuou, als er sich aus seinem Asyl hervorgewagt hatte, unter militärische Bewachung i5 gestellt. Dem Nestorius aber wurde sein Freund und Mitkämpfer Candidianus zum Wächter gesetzt, was deutlich verriet, dass Johannes ihm wohlwollte. Wenn aber dieser so verfuhr, scheint das doch nur ge- schehen zu sein, um seinen Preis zu steigern; denn ^o auch ihn soll Cyrillus erkauft haben. Und wenn er den Gegner desselben scheinbar begünstigte, so konnte ihm dies sehr dienlich sein, um jeden Verdacht des Kaisers abzuwehren. Er liess das Geld der ephesi- nischen Kirche, weil es ihm selbst zugute kommen 25 konnte, in den Händen des abgesetzten Memnon und verschwieg dessen Flucht, die ihn hätte kompromittieren können, in seinem Bericht au den Kaiser. Obgleich das Toben der Cyrillianer jede ernsthafte Beratung un- möglich machte, setzte er doch eine Sitzung nach der :w anderen an und schleppte so die Zeit hin, bis der Wind in Constantinopel umschlug. Denn dass dies eintreten werde, konnte man mit grosser Wahrschein- lichkeit erwarten; mochte die Kaiserstochter sterben

13 Das Concil von Ephesus. 235

oder durch den Arzt des Cyrillus geheilt werden, beides musste seiner Partei nützlich sein.

Eudoeia verlor ihren kleinen Liebling, und jetzt konnten die bestochenen Eunuchen und Kammer- 5 frauen sie leicht überzeugen, dass sie an ihrer Mutter- schaft gestraft sei, weil sie die Mutter des Heilandes durch die Unterstützung ihres Widersachers schwer beleidigt habe. Voll tiefer Reue gelobte sie eine Wallfahrt nach Jerusalem, wenn ihre andere Tochter

10 die Hochzeit erlebe, und wurde später die eifrigste Parteigängerin der Monophysiten, weil sie die Lehren des Nestorius am konsequentesten bekämpften. Sie ist es dann gewesen, die später in Jerusalem das Bildnis der Muttergottes entdeckte, das der Apostel

15 Lucas eigenhändig gemalt hatte, und es nach Constan- tinopel übersandte. Geschäftskundige Leute wussten eben, welche göttliche Person der Kaiserin nach ihrer früheren Ketzerei besonders am Herzen lag, und ver- schafften ihr für gutes Geld, wonach sie am meisten

20 begehrte. Und Theodosius zeigte sich auch jetzt als gehorsamer Gatte. Hatte er vorher noch immer an seinem Bischof festgehalten, so mochte er jetzt kaum noch dessen Namen hören, und als zwei Jahre später der Stuhl von Constantinopel wieder erledigt war, hat

25 er die Wahl des Proculus nicht nur gestattet, sondern aufs lebhafteste unterstützt. Mit seinem Vertreter in Ephesus war er so zufrieden, dass er den Schatz- meister gleich nach seiner Rückkehr zum Magister officiorum ernannte. Dort hatte man natürlich schnell

30 erfahren, wie sich die Stimmung am Hofe geändert hatte, und traf danach seine Maassregeln. Hatten vorher die Anhänger des Nestorius vergeblich darauf gedrungen, dass die Verhandlungen des Concils nach Constantinopel verlegt würden, so machte jetzt der

236 VII. Die Auflösunit des Keiches.

Comes Johannes diesen Vorschlag, und freudig nahm ihn die Partei des Cyrillus an. Demgemäss befahl Theodosius, dass je acht Bischöfe beider Richtungen sich an den Bosporus zu verfügen hätten; denn wäre die ganze Horde gekommen, so hätten sich die TumuUe, 5 die vor seinem Bevollmächtigten aufo-eführt waren, auch vor dem Kaiser wiederholt und eine Einigung wäre ausgeschlossen gewesen. Auch wurde dafür ge- sorgt, dass die Chorführer der Schreier nicht mitkamen. Nestorius hatte schon gleich nach der Abreise der beiden 10 Kommissionen den kaiserlichen Befehl empfangen, Ephesus zu verlassen, sonst aber seinen Aufenthalt frei zu wählen. Er ging, wie er das angekündigt hatte, nach Antiochia und war so jeder Einwirkung anf seine Anhänger entzogen. Cyrill und Memnon 15 blieben unter Bewachung in Ephesus, bis ein uner- warteter Zwischenfall den ersteren veranlasste, sich in Sicherheit zu bringen. Im October starb Scholasticus; in seinen hinterlassenen Papieren fand der Kaiser den Beweis, dass der Ägypter ihn bestochen hatte, und 20 diesem drohten neue Gefahren. Da auch seine Wächter für blanke Gründe nicht unempfänglich waren, konnte er ihnen entfliehen und nach Alexandria gelangen, wo am 31. October 431 das Volk seinen Bischof wie einen Triumphator empfing. Hier blieb er unbehelligt; 25 denn ihn aus der Mitte seiner Getreuen herauszu- reissen, hätte Tumulte hervorgerufen, die der feige Hof lieber vermied.

Doch dass Theodosius den Spitzführer der Partei nicht für einen tadellosen Mustermenschen halten so konnte, schadete ihr kaum; denn auf die Recht- gläubigkeit der Dogmen kam es an, nicht auf die Sittlichkeit ihrer Verfechter. Johannes hatte immer daran festgehalten, dass nur das Nicaenum ohne jede

13. Das CoDcil von EplK'Su.s. 237

Veränderung und jeden Zusatz als Norm des Glaubens gelten müsse. Er hatte nur behauptet, dass auch die Deutung, die Nestorius ihm gab, zulässig sei; an dessen Kampf gegen die Muttergottes hatte er sich

5 nie beteiligt. An seiner Rechtgläubigkeit konnte also kein Zweifel sein. Auch Cyrillus stand auf dem Boden des Nicaenums; aber er hatte erklärt, dass es einer Ergänzung durch seine zwölf Anatheme bedürfe, und in diesen hatte Johannes, darin mit Nestorius

10 übereinstimmend, Ketzereien gefunden. So wurden jetzt die Ankläger zu den Angeklagten, und anfangs schien auch der Kaiser sie verurteilen zu wollen. Er hatte den Abgesandten beider Parteien befohlen, jen- seit des Bosporus in Chalcedon zu bleiben, weil ihr

15 Erscheinen in Constantinopel die Mönche veranlassen könne, neuen Aufruhr zu stiften. Am 1 1. September 431 kam er mit seinem Consistorium nach Drys, wo man einst den Johannes Chrysostomus verurteilt hatte (V S. 359), um die Disputation der Parteien zu hören.

20 Was für das reine Nicaenum und gegen die Anatheme des Cyrillus gesagt wurde, machte den tiefsten Ein- druck auf ihn. Zwar wollte er nicht die Konsequenz ziehen, dass, wenn Nestorius von Ketzern verurteilt sei, seine Absetzung nicht rechtsgiltig sein könne;

25 trotzdem hielten dessen Anhänger ihre Sache schon für gewonnen. Doch es war die Art des guten Theodosius, jedem Recht zu geben, der zeitweilig sein Ohr besass, und als er nach Constantinopel zurück- gekehrt war, wo jetzt Eudocia und Pulcheria in dem

30 gleichen Sinne auf ihn einredeten, schlug der Wind sehr bald um. Noch vier Sitzungen wurden im Bei- sein des Kaisers gehalten; doch die Cyrilliauer Hessen sich auf die Diskussion des Dogmas gar nicht mehr ein. Desto eifriger werden sie gewesen sein, auf die

238 VII. Die Auflösung des Reiches.

Wahl des Bischofs, der an die Stelle des Nestorius treten sollte, durch Geld und gute Worte einzuwirken. Das Interesse au dogmatischen Fragen hatte eben seit dem vorhergehenden Jahrhundert bedeutend ab- genommen (S. 73); man schob sie vor, als ob sie 5 die Hauptsache wären, wenn man damit seinem Gegner schaden konnte, tatsächlich aber standen im Mittelpunkte dieser geistlichen Streitereien nur noch Machtfragen oder persönliche Neigungen und Ab- neigungen. Um den Anhängern des Cyrillus ihre lo Agitation noch zu erleichtern, wurden sie nach Con- stantinopel beschiedeu, während ihre Gegner in Chal- cedon zurückbleiben mussten. Die Wahl fiel auf den Presbyter Maximianus, der sich beim Volke dadurch beliebt gemacht hatte, dass er von seinem Gelde Grab- 10 statten für Unbemittelte hat bauen lassen. Er war ein frommer Asket, wie dies dem mönchischen Geschmacke des Hofes entsprach, und zugleich ein abgelebter Greis von bescheidener Redegabe und ruheseliger Trägheit, der nicht leicht den Machtgelüsten Roms und Alexan- 20 drias ffefährlich werden konnte. Und wirklich er- öffnete er sein Amt gleich mit einem Brief voll unter- täniger Bewunderung für Cyrillus, in dem er diesen bat, ihn nicht nur durch sein Gebet, sondern auch durch seine Ratschläge gütigst zu unterstützen. Natur- 25 lieh fand auch der Papst, der über den Sturz des Nestorius triumphierte und die gefallene Grösse in seinen Briefen mit Schimpfreden überhäufte, dass der neue Bischof von Constantinopel der allerwürdigste Hirte sei. 3o

Als die Genossen des Alexandriners, obgleich sie sich von der Beschuldigung der Ketzerei noch nicht gereinig-t hatten, den Maximian ordinieren wollten, er-

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hoben zwar die Antiochener Protest, aber ohne Erfolg.

13. Das Concil von Kphesus. 239

Am 25. Oktober wurde die Weihe vollzogen, und dass sie von jenen beanstandet wurde, hatte natürlich (He Folge, dass Maximian erst recht darauf hielt, sie nicht nach Constantinopel hereinzulassen. So wurden

5 die dogmatischen Fragen gar nicht ausdrücklich ent- schieden, aber praktisch diejenigen, welche die Ana- theme Cyrills vertraten, als rechtgläubig anerkannt, indem der Kaiser sie zu der höchsten geistlichen Funktion, der Ordination eines Bischofs, ohne Anstand

10 zuliess. Als er endlich die Auflösung des Concils verfügte, hielt er noch an der Verurteilung Cyrills und Memnons fest. Sehr bald darauf aber muss die Nachricht in Constantinopel eingetroffen sein, dass jener eigenmächtig in sein Bistum zurückgekehrt war,

15 und da man sich jetzt nicht mehr getraute, seine Ab- setzung aufrecht zu halten, konnte man auch auf der des Memnon nicht länger bestehen.

Unterdessen sassen die Verfechter des reinen Nicaenums untätig in Chalcedon, durch den dortigen

20 Bischof von allen seinen Kirchen ausgeschlossen und von den Steinwürfen der Mönche, denen das Geld des Cyrillus noch eine Anzahl verkleideter Vagabunden als Verstärkung zugeführt hatte, täglich an Leben und Gesundheit bedroht. Dass ein grosser Teil des Volkes

25 für sie gewonnen war und ihre Predigten mit be- geisterter Zustimmung anhörte, ja dass der Kaiser selbst bis zuletzt dabei blieb, ihre Lehre für die richtige zu halten, half ihnen nicht viel dagegen. So waren sie froh, des aussichtslosen Wartens enthoben zu werden,

als er ihnen nach wiederholten Bitten im December 431 endlich die Heimkehr gestattete, und die Bischöfe beider Gegenconcilien, obgleich sie sich gegenseitig verketzerten, konnten ungestört ihres geistlichen Amtes walten.

240 VII. Die Auflösunf^ des Reiches.

Heute weiss man aus reicher Erfahrung, dass die Staaten die blühendsten sind, in denen die zahl- reichsten Sekten ungestört nebeneinander hausen; da- mals meinte man, dass jede Gefährdung einer toten Giaubenseinheit den Zorn Gottes hervorrufe und ver- .3 künde. Der Kaiser war daher eifrig bemüht, sie wiederherzustellen. Er schrieb Briefe an Bischöfe und Heilige, seine Beamten ermahnten und drohten, und sein Notar Aristolaus reiste zwischen Alexandria und Antiochia hin und her, um zuzureden und aus- lo zugleichen. Denn auf die beiden Patriarchen kam es an: wenn sie sich einigten, konnte man erwarten, dass auch die ihnen untergeordneten Bischöfe sich an- schliessen würden. Beide ersehnten den Frieden, weil beide sich von der Fortsetzung des Kampfes is gar keinen Vorteil versprechen konnten; doch steckten sie in einer Sackgasse, aus der nicht leicht heraus- zufinden war. Immer wieder hatte Johannes in dem Brustton tiefster Überzeugung erklärt, dass die zwölf Anatheme des Cyrill ketzerisch seien und er lieber 20 den Märtyrertod erleiden, als sie anerkennen wolle; seinem Gegner aber fiel es nicht ein, sie zu wider- rufen, nachdem Rom und der ganze Westen ihnen zugestimmt hatten. Trotzdem empfand man von An- fang an, dass der dogmatische Gegensatz viel weniger 25 Schwierigkeiten mache, als die rein persönliche Frage. Denn natürlich musste man verlangen, dass Maximian als rechtmässiger Bischof von Constantinopel aner- kannt werde: daraus aber ergab sich mit Notwendig- es o

keit, dass die Orientalen auch die Absetzung seines 00 Vorgängers billigen mussten. Doch auch in dieser Beziehung gab Johannes schneller nach, als man hatte erwarten können. Cyrill nahm seine Anatheme nicht zurück, gab ihnen aber Erläuternngen, die jener

13. Das Concil von Epliesus. 241

bereitwillig gelten Hess, und schon gegen Ende 432 konnte ihre Einigung verkündet werden. Freilich wollten eine beträchtliche Anzahl von Bischöfen ihr nicht beitreten: selbst als Maximian am 12. April 434 5 schon gestorben war und Proculus das Ziel seiner langen Bemühungen endlich erreicht hatte, dauerten die Unter- handlungen noch fort. Jetzt aber fügten sich die Meisten, und der neue Bischof von Constantinopel war energisch genug, diejenigen, welche noch hartnäckig

10 blieben, absetzen zu lassen. Es waren nicht weniger als fünfzehn, darunter jener Dorotheus von Marcianopel, der über die Anhänger der Muttergottes zuerst das Auathem gesprochen hatte (S. 211).

Wenn Johannes sich so schnell entschloss, an die

15 Orthodoxie des Cyrill zu glauben, so geschah auch dies aus persönlichen Gründen: Nestorius war ihm selbst lästig geworden. Als dieser nach Constantinopel berufen wurde, hatten die Antiochener ihn nur ungern ziehen lassen, und die kurzen drei Jahre seiner Ab-

20 Wesenheit hatten nicht genügt, das Andenken an ihn zu verwischen. Jetzt kam er als Märtyrer seines Glaubens wieder, umstrahlt von dem Glanz einer grossen Vergangenheit; und das stolzeste Bistum des ganzen Orients hatte er scheinbar freiwillig auf-

25 gegeben, um zu den frommen Übungen seiner Mönchs- zelle zurückzukehren. Natürlich strömte alles Volk ihm zu; selbst diejenigen, welche für die Muttergottes schwärmten, wird die Neugier getrieben haben, den Mann wiederzusehu, von dem man im letzten Jahre

30 mehr gesprochen hatte, als von irgend einem andern. Und die Predigten, glühend von Hass und Glaubens- eifer, die er mit seiner schönen Stimme vortrug, fesselten und begeisterten. Was ihm in Constantinopel fehlgeschlagen war, in Syrien gelaug es ihm, eine

Seeck, Untergang der antiken Welt. VI. ]6

242 ^11- ^^i*^ Aut'lösiiug des Keiclie.s.

grosse Schar treuer Anhänger zu gewinnen und eine Sekte zu bilden, die bis auf den heutigen Tag noch nicht ganz erloschen ist. Galt er dem Kaiser und seinen Bischöfen als Ketzer, so verehrte man ihn in Aiitiochia als Heiligen. Sehr bald hatte sich der Ruf 5 seiner Wirksamkeit bis nach Rom verbreitet, und selbst in dieser weiten Ferne empfand mau sie als Gefahr. Schon in den Briefen, die Caelestinus am 15. März 432 nach Constantinopel richtete, drang er darauf, dass Nestorius aus der volkreichen Stadt ent- 10 fernt und in eine Einöde verbannt werde, wo er keinen verführen könne. Johannes aber sah sich in seiner eigenen Gemeinde durch ihn in den Schatten gestellt und hätte daher der Forderung des Papstes wohl gerne zugestimmt, wenn er es denen gegenüber 15 gewagt hätte, die seine eigenen Anhänger gewesen waren und noch immer an Nestorius festhielten. So erkannte er zwar dessen Absetzung an und stempelte ihn dadurch zum Ketzer, hütete sich aber vor strengeren Maassregeln, die ihm selbst Gegner erweckt hätten. 20 Erst um das Jahr 435, als die letzten Freunde des Verbannten teils abgefallen, teils in den Bann getan waren, wandte Johannes sich an den Kaiser mit der Bitte, ihn von dem unbequemen Nebenbischof zu be- freien. Einstweilen erreichte er freilich nur, dass 25 durch Gesetz vom 3. August 435 verfügte wurde, die Schriften des Nestorius sollten verbrannt, seine An- hänger mit dem Schimpfnamen der Simonianer belegt und ihre Gottesdienste bei Strafe der Vermögens- konfiskation für jeden, der sein Haus oder CJrund- 30 stück dazu hergebe, verboten werden. Wahrscheinlich meinte der Kaiser, damit jede fernere Wirksamkeit \ des bösen Ketzers zu verhindern, dürfte sich aber darin getäuscht haben. Er verbannte ihn daher im

13. Das (V.ucii V(.u Kpla-sus. 243

nächsten Jahre nach der arabischen Stadt Petra. Aber auch dort schien sich ihm noch ein zu grosses Feld für die Ausbreitung seiner ]jehren darzubieten. Er wurde daher auf Betreiben seiner alten Feindin

5 Pulcheria bald nach einer ägyptischen Oase verbannt,. wo er nicht nur in einem elenden Dorfe leben musste, sondern auch wie zum Hohn auf seine frühere Macht der Aufsicht des Cyrillus unterstellt war. Trotzdem setzte er den Kampf gegen diesen fast bis zu seinem

10 letzten Atemzuge mit ungebrochener Streitlust fort; noch in seiner erhaltenen Schrift greift er ihn mit derben Scheltreden an, und doch kann diese nicht früher als im Herbst 450 vollendet sein, eine Zeit, die er kaum sehr lange überlebt haben wird.

15 So hatte Alexandria auch diesmal den ent-

schiedenen Sieg über Constantinopel davongetragen; doch der Übermut, den dies in seinen geistlichen Beherrschern hervorrief, sollte schon dem Nachfolger des Cyrillus verderblich werden. Den Kampf, den er

20 mit Hilfe Eoins gewonnen hatte, glaubte es bald auch gegen Rom ausfechten zu können; darin aber sollte es sich täuschen. Die Waffe der Dogmatik, die vor- her im Orient solano-e o-eruht hatte, dass sie fasst verrostet schien, hatte Cyrill mit boshafter Geschick-

2.5 lichkeit wieder zur Geltuno- o-ebracht. Doch einmal aus ihrer Scheide hervorgeholt, sollte sie nicht so bald wieder zur Ruhe kommen, und der ihm als Patriarch von Ägypten folgte, wusste sie nicht mit so raffinierter Fechterkunst zu schwingen, wie der Bischof des alten Rom.

16*

Vierzehntes Kapitel.

Der monophysitisclie Streit.

Während der ersten zwei Jahrzehnte des Theodo- sius hatte sein Reichsteil einer Ruhe genossen, um die der schwer heimgesuchte Westen ihn beneiden musste; seit aber Nestorius die Muttergottes beleidigt und der Kaiser ihm seinen Schutz gewährt hatte, häufte sich 5 Unalück auf Unglück. 430 eine schwere Missernte, 431 die Hungersnot, die ihre Folge war; dann starb die Tochter des Theodosius; dann erlitt sein Feldherr Aspar gegen Geiserich eine schwere Niederlage und Africa musste den Yandalen überlassen werden (S. 113). lo Schon vorher hatten die zerstreuten Stämme der Hunnen sich zu einem «rossen Könioreiche zusanmien- geschlossen; in demselben verhängnisvollen Jahre 431 hatte Aetius ihnen Fannonien abgetreten (S. 115), und sehr bald darauf um 432 begannen sie ihre Macht is gegen das oströmische Reich zu missbrauchen und ihm schwere Tribute abzuj)ressen. Im Jahre 433 brach am 21. August eine grosse Feuersbrunst aus und verwüstete drei Tage lang alle nördlichen Teile von Constautinopel. 434 hatte der Hunnenkönig Ruas 20 den Kaiser mit Krieg bedroht; zwar war er vor dem Beginne desselben plötzlich gestorben, doch von seinen Nachfolgern Bleda und Attila hatte man den Frieden

14:. Der monophysitische Streit. 245

teuer erkaufen müssen, indem man den ohnehin schon drückenden Tribut auf das Doppelte erhöhte. So war kein Jahr vergangen, ohne ein neues Unheil zu bringen. Sobald aber zwischen den kirchlichen 5 Parteien, die sich in Ephesus so grimmig befehdet hatten, der Friede endgiltig hergestellt war, schien man auch mit dem Himmel Frieden zu haben. In den nächsten sechs Jahren (435 440) wissen unsere Quellen, die allerdings sehr dürftig sind, nichts Böses

10 mehr aus dem Ostreiche zu berichten; wohl aber er- zählen sie von einem Freudenfest, das Eudocia Jieiss ersehnt hatte (S. 235). Am 29. October 437 durfte sie die Hochzeit des einzigen Kindes, das ihr noch geblieben war, mit dem jungen Kaiser des West-

15 reiches feiern (S. 121). Alles dies schien klar zu be- weisen, dass die Ketzerei des Nestorius an allem Unheil Schuld trage und dass mit der Herstellung der Glaubens- einheit, die er gestört hatte, auch der Zorn Gottes abgewaudt sei.

20 Die Kaiserin hatte das Gelübde getan, wenn sie

die Hochzeit ihrer Tochter erlebe, eine Wallfahrt nach Jerusalem anzutreten, und erfüllte es schon im fol- genden Jahre. Wie es scheint, bereitete diese fromme Pflicht ihr die schönste Vergnügungsreise. Hatte sie

•25 vorher in den Frauengemächern des Palastes streng abgeschlossen gelebt, so umwehte sie jetzt die freie Luft, und sie durfte ungehemmt mit den Menschen verkehren, die ihr zu Tausenden huldigend entgegen- strömten. Die Tochter des Rhetors hatte die litera-

30 rische Beschäftigung nie aufgegeben und hörte natürlich ihre Verse loben. Welch' anderer Genuss aber war es, wenn sie in den Städten, die sie durchzog, ihre fein ausgearbeiteten Reden hielt und Jauchzen und Händeklatscheu zahlloser Yolksmenaen ihr lohnten !

246 VI- l^'t" Aullösniiii; des Reiches.

Und dazu hatte sie das Glück, die zweifellos echten Keliquieu des ersten Märtyrers aufzufinden und sie nach Constantiuopel überführen zu dürfen. Nachdem sie die Kirchen Jerusalems und der anderen Städte, die sie besuchte, reich beschenkt hatte, kehrte sie 0 Anfang 439 in ihr ödes Heim zurück, wo sie die tausend Intriguen des Hofes und der Kampf gegen die Schwestern des Kaisers von neuem erwarteten. Auch diesmal blieb sie Siegerin. Ihr Günstling Cyrus, ein epischer Dichter, den sie als Bruder in Apollo 10 schätzte, wurde gleich nach ihrer Rückkehr zum Stadt- praefecten von Constantiuopel und noch in demselben Jahre zum Reichspraefecten des Orients ernannt. Im .lahre 441 durfte er das Consulat bekleiden und empfing den Titel des Patricius. Und wenn im Jahre 440 15 jener Paulinus hingerichtet wurde, dem man einen gar zu vertrauten Verkehr mit Pulcheria nachsagte (S. 201), so dürfte wohl auch dies ein Schlag gegen die Nebenbuhlerin gewesen sein, die den Einfiuss der Gattin auf den Gatten zu hemmen suchte. Doch diese 20 Triumphe waren nicht imstande, die Erinnerung an die schöne Reise in ihr zu verwischen und die Sehn- sucht nach einer neuen Zeit glücklicher Freiheit zu unterdrücken.

Da begann 441 wieder ein schwerer Hunnenkrieg, 25 und gleichzeitig fielen Perser und Saracenen, Tzannen und Isaurer plündernd in die östlichen Provinzen ein. Diese Not des Reiches scheint Eudocia den will- kommenen Vorwand geboten zu haben, um eine zweite Wallfahrt nach Jerusalem zu unternehmen-, denn wo -'o konnte sie erfolgreicher um Abwendung des Unheils beten, als an den heiligen Stätten? Und wirklich wurde im folgenden Jahre der Friede hergestellt, wenn auch unter Bedingungen, die nichts weniger als ehren-

14. Der iiioiiopliysitisolie Streit. 247

voll waren; aber schon im November 442 verkündete sieh wieder der Zorn Gottes durch einen grossen Kometen. Die Kaiserin blieb in Jerusalem und zeigte gar keine Lust heimzukehren; in Constantinopel aber

5 schien es, als wenn mit ihr der gute Engel des Reiches entwichen sei. 443 trat ein so harter Winter ein, dass der Schnee, der in grossen Massen gefallen war, sechs Monate liegen blieb, im Süden, wo es keine Vor- richtungen gibt, um sich gegen andauernde Kälte zu

10 schützen, eine sehr schwere Kalamität, die vielen Menschen und Tieren das Leben raubte. Und als im Frühling 444 der Schnee endlich schmolz und zugleich grosse Regengüsse niedergingen, traten in Bithyuien ausgedehnte Überschwemmungen ein und richteten

15 neues Unheil an. Theodosius wollte seine Frau zurück- holen lassen und schickte zu diesem Zwecke seinen Comes Domesticorum Saturninus nach Jerusalem. Er brachte die Gevvissensräte der Kaiserin um, den Presbyter Severus und den Diakon Johannes, wahr-

20 scheinlich weil er in ihnen das schwerste Hindernis für die Erfüllung seines Auftrags sah. Der Erfolg aber war, dass sie ihn selbst tötete, vielleicht gar mit eigener Hand, und nur noch trotziger auf ihrem Willen beharrte. Auch als ihr zur Strafe die kaiserliche Be-

25 dienung entzogen wurde, blieb sie unbeirrt bei den heiligen .Stätten. Unterdessen ging aber in Constan- tinopel das Unheil seinen Gang. 445 gab es einen wilden Kampf unter den Circusparteieu, der Vielen das Leben kostete; es folgte ein grosses Sterben von Menschen

30 und Vieh. 446 brach eine Hungersnot aus, der sich wieder eine Pest hinzugesellte, und die grosse Kirche brannte ab. 447 richteten Erdbeben furchtbare Zer- störungen an, und zugleich begann ein neuer Hunnen- krieg, der verderblicher wurde, als alle vorhergehenden.

248 VII. Die Auflösung des Reiches.

448 wieder eiue schlimme Feuersbrunst. So war die ganze Stadt voll Trauer und Angst, als es plötzlich hiess, dass die nestorianische Ketzerei wieder ihr Haupt erhebe. Dass dies den Zorn des Himmels reizen und noch schlimmeres Unglück bringen müsse, konnte für 5 den Kaiser und seinen Hof nicht zweifelhaft sein. Als Eudocia Constantinopel zum zweiten Mal ver- liess, war es nicht Pulcheria gewesen, welche die Erb- schaft ihrer Macht antrat, sondern der oberste Kammer- diener des Kaisers, der Eunuche Chrysaphius. Dieser 10 stand, wie sein Herr, in tiefster Verehrung dem Möuch- tum gegenüber, das ja im Streite gegen Nestorius die tapfersten Vorkämpfer gestellt hatte und nächst dem Gelde dos Cyrillus sich das Verdienst des Sieges in erster Linie zuschreiben durfte. Als sein Haupt galt 15 nach dem Tode des Dalmatius der nicht viel minder heilige Eutyches. Wie es scheint, hatte Theodosius ihn vor zwanzig Jahren aufgefordert, das Episcopat der Hauptstadt zu übernehmen; er aber hatte bekennen müssen, dass er für diese Stellung zu unwissend sei 20 (S. 196). Doch hielt er sich nicht für zu unwissend, um die Bischöfe zu beaufsichtigen, ob sie den rechten Glauben hätten und im Sinne des Mönchtums ihres Amtes walteten. Den Nestorius hatte er hitzig be- kämpft, und als nach dem Tode des Proculus im 25 Jahre 446 Flavian dessen Nachfolger wurde, erlaubte sich Eutyches, auf die Gunst des Chrysaphius gestützt, dessen Taufpate er war, immerfort mit herrischen Forderungen in die Amtstätigkeit des Bischofs ein- zugreifen. Dieser war ein Mann von bescheidener :{o Begabung, der das Volk der Hauptstadt nicht durch zündende Predigten an sich zu fesseln wusste; doch ein nichtiger Mensch in hoher Stellung empfindet es am peinlichsten, wenn niedriger Stehende ihn in den

14. Der monophysitische Streit. 249

Schatten stellen. Seine Abhängigkeit wurde ihm auf die Dauer unerträglich, und er fand kein besseres Mittel, sich von ihr zu befreien, als die Verketzerung des übermütigen Mönches. Selbst als Ankläger auf-

5 treten mochte er nicht, schon weil er dadurch die Möglichkeit eingebüsst hätte, den unparteiischen Richter zu spielen; doch fand er ein Werkzeug in demselben Eusebius, der zuerst den Nestorius als Ketzer denunziert hatte (S. 208). Die mannhafte Tat, anonym auf seinen

10 Bischof zu schimpfen, war ihm dadurch belohnt worden, dass man ihn selbst in Dorylaeum auf den Bischofs- thron erhoben hatte. Er brauchte also nicht mehr als Laie seine Pfeile aus dem Dunkeln abzuschiessen, sondern konnte kraft seiner geistlichen Gewalt vor

15 einem Concil klagen. Und da dies im heimlichen Auftrage des mächtigsten Bischofs geschah und sich nur gegen einen unwissenden Mönch wandte, schien es nicht gar zu gefährlich. Denn mit welcher heiligen Scheu der Kaiser zu den Fürsten der Kirche aufblickte,

20 war ja wohlbekannt.

Proculus hatte behauptet, Nestorius verwandele die heilige Dreiheit in eine Vierheit, indem er den Er- löser in zwei Personen zerspalte, den Gott Logos und den menschlichen Sohn der Maria (S. 206). Er selbst

25 hatte dies zwar entschieden zurückgewiesen, doch hinderte das seine Feinde nicht, auf dieser Anklage zu bestehen. Meinte man so in seiner Lehre die Zerteilung des Heilands abzuwehren, so ergab sich daraus die natürliche Reaktion, dass man desto mehr

30 nach dessen Vereinheitlichung strebte. Zwar hatte noch bei den Unterhandlungen von Chalcedon Johannes von Antiochia die Behauptung, dass ein Gott als solcher habe leiden und sterben können, für Lästerung er- klärt; auch der Kaiser hatte sie voll Eutrüstung von

250 ^"'I- r*ie Auflösung des Keiolies.

sich gewieseu, und selbst die Partei des Cyrillus hatte nicht zu widersprechen gewagt und sich eben deshalb' der Fortsetzung der Diskussion entzogen (S. 237). Dem Volke aber und mit ihm den Mönchen, die geistig durchaus auf dem Standpunkte des niedrigsten Pöbels 5 standen, wollte dies keineswegs einleuchten. War doch der leidende, sterbende und dann wieder auferstehende Gott, wie er sich in Osiris, Dionysos, Attis darstellte, dem Heidentum ein ganz geläufiger Begriff gewesen. Wie man sich für die Muttergottes begeisterte, weil 10 in ihr die heidnische Göttermutter wiedererstand, so wollte man auch einen Gott haben, der gleich den Geschöpfen der alten Mythologie menschliche Schicksale erlitten hatte. Als das Volk unter Führung des Dal- matius vor den Kaiserpalast gezogen war, wobei natür- 15 lieh auch Eutyches nicht gefehlt hatte, und dann in fröhlicher Siegerstimmung wieder zurückkehrte, da hatte es immer wieder geschrien: „Der Gott Logos ist gestorben." Damals hatte man das ungerügt hin- gehn lassen, weil sich die orthodoxe Wut nur gegen 20 die Lehren des Nestorius wandte und man alles will- kommen hiess, was ihnen widersprach. Jetzt aber er- innerte sich Eusebius, dass einst der Kaiser selbst es als Lästerung empfunden hatte, wenn man die Qualen des Kreuzestodes einem Gotte zuschreibe. Dass 25 Eutyches noch auf demselben Standpunkt verharrte, dem damals die Rufe der Massen, die ihn und Dal- matius umdrängten, Ausdruck gegeben hatten, unterlag keinem Zweifel. Hatte er doch selbst den Eusebius, den er als Mitkämpfer gegen Nestorius schätzte, schon :!o wiederholt in freundschaftlichen Gesprächen auf- "•efordert, geg-en die Lehre von den zwei Naturen in Christo, in der er einen Rest der verurteilten Ketzerei erblickte, seine Stimme zu erheben. Da bot sich also

14. Der inonopliysitisolie Streit. 251

etwas, womit man dem frechen Mönch einen Strick drehen und dem mächtigen Bischof von Constantinopel einen kleinen Gefallen tun konnte.

Schon vorher hatte Domnus, der Patriarch von 5 Antiochia, in einem Brief an den Kaiser Eutyches als irrgläubig denunziert. Dieser hatte an Papst Leo ge- schrieben, dass die nestorianische Ketzerei sich wieder hervorwage, und darauf eine freundliche, aber aus- weichende Antwort erhalten, die vom 1. Juni 448 10 datiert ist. Man wusste also, dass man Antiochia auf seiner Seite hatte und Rom sich neutral verhielt, als man zum Angriff vorging. Doch gegen den Günstling des allmächtigen Eunuchen musste mau grosse Vor- sichtbrauchen; namentlich durfte Flaviau nicht merken 15 lassen, dass er hinter dem Ankläger steckte.

Am 8. November 448 versammelte er eine Synode der zufällig in Constantinopel anwesenden Bischöfe scheinbar für einen ganz anderen Zweck. Da trat Eusebius von Dorylaeum vor sie hin und überreichte 20 eine Anklageschrift gegen Eutyches, die ihn noch in ganz allgemeinen Ausdrücken der Ketzerei bezichtigte. Flavian stellte sich sehr erstaunt und forderte den Ankläger wiederholt auf, sich freundschaftlich mit dem frommen Mönch auseinanderzusetzen. Eusebius er- 25 widerte, er habe ihn schon oft in Gesprächen von seinem Irrglauben zu überzeugen versucht, aber nichts damit erreicht. Darauf wurde beschlossen, den An- geklagten vorzuladen.

In der nächsten Sitzung wurden dann die Glaubens- so bekenntnisse vorgelesen, die Cyrill in verschiedenen Schriften aufgestellt hatte. Da er dank seinem guten Gelde in Ephesus Sieger geblieben war, galt er jetzt als Heiliger, und jedes Mitglied der Synode beeiferte sich zu erklären, es glaube nicht anders als Cyrill.

252 VII. Die Auflösung des Reiches.

Man brauchte sich also mit Eutyches auf dogmatische Disputationen nicht mehr einzulassen: fand man in seinen Erklärungen irgend etwas, das von den ver- lesenen Worten des Alexandriners abwich, so war er schon von vornherein verurteilt; und solche Wider- 5 Sprüche zu finden, musste umso leichter sein, als der einfältige Mönch kaum imstande war, die geschraubte Dogmatik jener Schriften zu verstehen.

Der Deputation, die ihn vorladen sollte, hatte er erwidert, er könne sich dei* Synode nicht stellen, weil 10 er das Gelübde getan habe, sein Kloster, wie das Grab seines Leibes, nie zu verlassen. Dass Flavian und seine Bischöfe ihn verurteilen wollten, wusste er und traf danach seine Maassregeln. Er sandte eine Recht- fertigung seines Glaubens an die Äbte der Klöster in 15 und um Constantinopel und forderte sie auf, das Schrift- stück durch ihre Unterschrift als rechtgläubig anzu- erkennen. Wie einst die Mönche sich einhellig gegen Nestorius erhoben hatten, so hoffte er auch, sie gegen das mobilmachen zu können, was er ein Wiedererwacheu 20 des Nestorianismus nannte; hierin aber sollte er sich täuschen. Sie hatten für ihre Muttergottes gekämpft, solange diese angegriffen war; zu feineren dogmatischen Unterscheidungen aber fühlten sie sich ausserstande. Ein Abt gab dem Abgesandten des Eutyches die Ant- 25 wort, nicht er als Vertreter der Mönche habe sein Votum abzugeben, sondern dies stehe nur den Bischöfen zu, und ebenso vermieden die andern jede Stellung- nahme. Der Günstling des Hofes, der gewohnt war, dass man jedem seiner Winke blindlings gehorchte, so fühlte sich durch dies Versagen seiner alten Mit- kämpfer tief entmutigt. Bei der zweiten Ladung der Synode steifte er sich noch auf sein Gelübde; bei der dritten entschuldigte er sich nur mit Krankheit, und

14. Der raonopliysitische Streit. 253

(lies war kein leerer Vorwand. Der siebzigjährige Greis hatte durch Aufregung und Enttäuschung den Schlaf seiner Nächte eingebüsst und befand sich wirk- lich in einem elenden Zustande. Er bat, ihm nur 5 noch eine Woche Frist zu gönnen, und erklärte sich bereit, am 22. Xorember sich dem Concil zu stellen. Flavian hatte sein Verfahren danach eingerichtet, dem Kaiser ganz unschuldig au dem Streit und sehr milde zu erscheinen. Er hatte das Auftreten des

10 Eusebius wie einen unvorhergesehenen und höchst un- erfreulichen Zwischenfall behandelt, erst auf dessen Drängen das Verlesen der Anklageschrift gestattet, ihn zweimal nacheinander gebeten, sich durch freundschaft- liches Gespräch mit Eutyches zu vergleichen, damit

15 die Kirche Christi nicht wieder in Verwirrung gestürzt werde, und endlich sogar erklärt, selbst wenn der Abt Ketzer sei, solle ihm verziehen werden, falls er wider- rufe und Reue bezeige. Natürlich bewilligte er auch die verlangte Frist. Doch alles dies geschah in der

20 sehr begründeten Voraussetzung, dass der macht- gewohnte Greis, auf den Schutz des Hofes bauend, hartnäckig bleiben werde. Noch ehe man seine Ver- teidigung gehört hatte, war das Verdammungsurteil von Flavian schon schriftlich abgefasst. Dieser brachte

25 es fertig zu der eutscheideuden Sitzung mit, und dass Eutyches sich wider alles Erwarten zu der geforderten „Reue"' bereit erklärte, blieb ohne allen Erfolg.

Schon, dass er sich überhaupt der Synode stellte, war seinen Gegnern sehr unbequem. Eusebius fürchtete.

30 der Mönch werde allem zustimmen und er selbst dann als falscher Ankläger bestraft werden: doch darüber gab man ihm die beruhigendsten Versicherungen.

Zum anberaumten Termin des 22. November 448 erschien der Greis mit einem grossen Gefolge, nicht

25-4 VII. Die Auflösung des Reiches.

nur von Mönchen, sondern auch von Soldaten und ünterbeaniten der Reichspraefecten. Wie dies be- stimmt war, seinen Einfluss bei Hofe in warnende Erinnerung zu bringen, so auch die Forderung des Kaisers, die jetzt der Synode überbracht wurde, den 5 hohen Würdenträger Florentius, dessen Rechtgläubig- keit niemand bezweifelte, als Teilnehmer ihrer Be- ratungen zuzulassen. Dies hatte man schon wiederholt von Elavian verlangt, doch w^ar er immer ausgewichen ; jetzt aber musste es zugestanden werden. Doch hin- 10 derte die Anwesenheit des Florentius nicht, dass man gegen Eutyches allen früheren Versicherungen ent- gegen mit äusserster Härte vorging. Schon bei seinen Ladungen hatte er ein schriftliches Glaubensbekenntnis angeboten und wollte es auch jetzt verlesen lassen. 15 Doch mit gutem Grunde setzte man voraus, dass in einem sorgfältig ausgearbeiteten Schriftstück alles, was ketzerisch scheinen könne, vermieden sein werde. Ob- gleich Florentius widersprach, wies man es zurück und zwang den Angeklagten, sich mündlich zu verantworten, 20 weil auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit viel grösser war, dass er sich zu Aussprüchen werde hiureissen lassen, die man gegen ihn gebrauchen konnte. So begann denn ein scharfes Kreuzverhör. Eutyches er- klärte, er glaube an seinen Gott, habe sich aber nie 25 erlaubt, über dessen Natur zu grübeln; doch was die heilige Synode für richtig halte, dem sei auch er bereit zuzustimmen. Er glaube also, dass zwei Na- turen sich in Christus vereinigt hätten, nach ihrer Vereinigung aber seien sie zu einer geworden. Dies 3o billigte anfangs auch Flavian; nur erklärte er, eine solche erzwungene Zustimmung habe keinen Wert; Eytyches müsse sich aus innerer Überzeugung zu iiir bekennen, unter den gegebenen Umständen eine recht

14. Der iiionopliysiti.sclie Streit. 255

sonderbare Zumutung. Zum Zeichen dessen müsse von ihm verlangt werden, dass er über alle, die seine frühere Ansicht teilten, das Anathem ausspreche. Da- zu dachte der Greis zu anständig; doch als er sich

.5 weigerte, sprangen die Bischöfe auf und schrien: „Anathema ihm selbst!" Während man hierüber noch verhandelte, kam man auf den glücklichen Einfall, dass Eutyches die Trennung der beiden Naturen auch nach ihrer Vereinigung in Christo an-

10 erkennen müsse, was später zum entscheidenden Streit- punkt wurde; einstweilen aber blieb er noch im Hinter- grunde. Der Bischof Seleucus von Amasia hatte Mit- leid mit dem machtgewohnten Greise, der sich so demütig vor der Synode gebeugt hatte. Er bean-

15 tragte, man solle die anerkannten Glaubensschriften vorlesen und Eutyches fragen, ob er ihnen zustimme. Ohne Zweifel hätte er dies getan, und eine Ver- urteilung wäre unmöglich geworden. Auch Plorentius, der Abgesandte des Kaisers, schloss sich jener Forde-

2(( rung an, und Flavian wagte nicht zu widersprechen. Da erhob sich plötzlich sein Presbyter Asterius und verlas das Verdammungsurteil, das sein Bischof schon vor der Sitzung niedergeschrieben hatte. BegeisterteZustimmung begrüsste diese kühne Tat, und von dem Antrag des

25 Seleucus war nicht mehr die Rede. Eutyches appellierte an die Bischöfe von Rom, Alexandria, Jerusalem und Thessalonica; was diese bestimmen würden, nehme er an. Doch in dem Tumulte, der sich schon vorher er- hoben hatte, wurde diese Erklärung von den Meisten

:io gar nicht gehört. Die draussen harrende Volksmenge, der die Verurteilung mitgeteilt wurde, stürzte sich auf den siebzigjährigen Greis, und nur die Soldaten, die wahrscheinlich vor der Türe gewartet hatten und jetzt eingriffen, konnten ihn vor Misshandlungen schützen.

256 VII. Die Auflösung des Reiches.

Das Protokoll der Synode, das dem Kaiser A'or- gelegt werden musste, machte man recht hübsch zu- recht. Es ist noch erhalten und erweckt auf den ersten Blick den Anschein, als wenn die Geschäfts- ordnung, welche für den geistlichen Strafprozess vor- 5 geschrieben war, mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit eingehalten sei. Aber dass Flavian der Erklärung des Eutyches über die Vereinigung der beiden Naturen anfangs zugestimmt hatte, war weggelassen und statt dessen gesetzt, die Synode habe darüber Anathema 10 gerufen. Weder der Antrag des Seleucus, noch das kecke Eingreifen des Asterius, noch die Appellation des Eutyches waren erwähnt. Vor allem aber hatte man danach gestrebt, den Vertreter des Kaisers in voller Übereinstimmung mit den versammelten Vätern 15 erscheinen zu lassen, Florentius hatte widersprochen, als man dem Greise die Verlesung seines schriftlichen Glaubensbekenntnisses verweigerte; davon aber steht nichts im Protokoll. Dagegen ist ein freundschaft- licher Rat zur Nachgiebigkeit, der an Eutyches per- 20 sönlich, gar nicht an das Concil, gerichtet war, sorg- fältig verzeichnet, weil er zu verraten schien, dass Florentius den Bischöfen beistimmte. Zu dem, was er wirklich gesagt hatte, waren unscheinbare Zusätze gemacht, von denen man hoffen konnte, dass er sie 25 übersehen werde, die aber eine Verurteilung des Mönches enthielten. Man sorgte dafür, dass dieser selbst das Protokoll nicht zu sehen bekam; mehr als vier Monate dauerte es, ehe er sich, wahrscheinlich aus der kaiserlichen Kanzlei, eine Abschrift davon 3o verschaffen konnte. Sogleich erklärte er in einer Ein- gabe au den Kaiser, dass die Verhandlungen unrichtig wiedergegeben seien, und die Untersuchung, die am 9. April 449 im Beisein des Florentius angestellt

14. Der iiiouopliysitisclie Streit. 257

wurde, ergab die Berechtigung dieser Anklage. Unter diesen Umständen ist es leicht begreiflich, dass Theo- dosius an das Walten des heiligen Geistes bei dieser Synode nicht recht glauben konnte und bis zu seinem 5 Tode an Eutyches festhielt.

Unterdessen aber war auch Rom in den Kampf eingetreten, das, seit es in Ephesus Sieger geblieben war, mit noch gesteigerten Ansprüchen der orien- talischen Kirche gegenübertrat. Schon vor der Synode

10 hatte Eutyches gegen diejenigen, welche er für Nesto- rianer hielt, die Macht des Papstes Leo augerufen (S. 251). Jetzt hatte er wieder an ihn geschrieben, zugleich aber auch an Petrus, den Bischof der kaiser- lichen Residenz Raveuna, wahrscheinlich auch an die

15 Bischöfe von Alexandria, Jerusalem und Thessalonica, auf die er sich vor der Synode berufen hatte. Petrus antwortete ihm freundlich ausweichend und verwies ihn an den Stuhl Petri, dem allein die Entscheidung zustehe. Leo musste sich dadurch verletzt fühlen,

20 dass neben ihm noch andere Autoritäten angerufen waren, als wenn sie ihm gleichberechtigt wären. Aber die Beschwerde des Eutyches war von einem Briefe des Kaisers begleitet gewesen und verlaugte schon aus diesem Grunde freundliche Berücksichtio-une-. Der

25 Papst schrieb daher am 18. Februar 449 sowohl au Theodosius als auch an Flavian, er wundere sich sehr, dass dieser ihm nicht selbst von dem Kirchen- streit Mitteilung gemacht und seine Entscheidung an- gerufen habe; diese behalte er sich vor, bis er genauer

30 unterrichtet sei. Aber noch ehe diese Briefe anlangten, hatte Flavian seinen Fehler gut gemacht und sandte jetzt ein zweites Schreiben ab, indem er erklärte, Eutyches habe gelogen, wenn er behaupte, der Synode ein Appellationslibell eingereicht zu haben, wie der

Seeck, Untergang der antiken Welt. VI. 17

258 VII. Die Auflösung- des Reiches.

Papst irrtümlich geschriebeu liatte. Jenes war inso- fern richtig, als der Greis nicht schriftlich, sondern nur mündlich appelliert halte; dies letztere aber hielt Flavian für gat zu verschweigen. Auch übersandte er das gefälschte Protokoll der Synode, in dem die 5 entscheidenden Worte des Eutyches unterdrückt waren, damit man in Rom sein Verfahren hiernach prüfe. Auf diese Weise klang sein Brief, als wenn er keine Appellation au den Nachfolger Petri unbeachtet ge- lassen habe und gern bereit sei, sich diesem demütig lo zu fügen. So sah Leo nicht nur den heiligen Mönch, sondern auch den stolzen Bischof der zweiten Haupt- stadt hilfesuchend zu seinen Füssen und hatte die freie Wahl, für welchen er sich entscheiden wollte. Wie sich das gebührte, zog er den Mächtigeren vor, 15 weil er ihn und die zahlreichen anderen Bischöfe, die seine Synode gebildet hatten, nicht in die Auflehnung gegen Rom hineindrängen durfte. Auch mochte es ihm wünschenswert erscheinen, dass Übergriffe des Mönchtums in die bischöfliche Gewalt, wie Eutyches 20 sie sich erlaubt hatte, ihre Strafe fänden; und dass der Kaiser diesem wohlgesinnt war, kam bei der allbekannten Schwächlichkeit des Theodosius kaum in Betracht.

Dieser war in heller Angst, dass mit der Ver- 25 urteilung des Mönches, der den Nestorius so tapfer bekämpft hatte, dessen Ketzerei wiedererwache und den Zorn Gottes aufs neue über das Reich herauf- beschwöre. Dem Chrysaphius aber, der um die staat- lichen Bedürfnisse wahrscheinlich mehr sorgte, als :io sein kaiserlicher Herr, war der Zwischenfall vielleicht nicht ganz unwillkommen. Denn um die ungeheuren Tribute aufzubringen, die Attila forderte, musste man auch das Kirchenvermögen in Anspruch nehmen, und

14. Der monophysitische Streit. 259

dazu hätte sich der fromme Theodosius nie entschlossen, wenn nicht die Bischöfe seinen Zorn erregt hätten. Jetzt aber, wo er sie für irrgläubig hielt, wurden die Steuern, die ihuen früher erlassen waren, von allen

5 Gegnern des Eutyches für eine lange Reihe von Jahren auf einmal nachgefordert, eine kaum zu er- schwingende Leistung.

Als am Ostersonntag (27. März) der Kaiser in die Kirche kam, hielt ihm Flaviau das Evangelienbucli

10 vor und fiel ihm gnadeflehend zu Füssen. Die übrigen anwesenden Bischöfe, der ganze Klerus, das ver- sammelte Volk, vor allen die Täuflinge, die in ihren weissen Hemden das heilige Bad erwarteten, schlössen sich mit lauten Rufen seinen Bitten an. Theodosius

15 aber, der furchtsam vor jedem öffentlichen Skandal zurückscheute, betrachtete dies als Beleidigung. Er wies den Bischof schroff zurück und besuchte seit- dem seine Kirchen nicht mehr. Als Flavian ihm sagen Hess, er werde seine Forderungen nicht be-

■20 friedigen können, ohne die Kirchengeräte, die der Kaiser selbst und seine Vorfahren gestiftet hätten, einzuschmelzen, bekam er die Antwort, Theodosius wolle nicht wissen, wie das Geld aufgebracht werde, aber aufgebracht müsse es werden. Um das Volk

25 noch weiter aufzuhetzen, Hess Flavian die Ein- schmelzung kirchlichen Goldes und Silbers auf ofTenem Markte vornehmen, wo jeder sie sehen konnte, und erbitterte damit den Kaiser noch mehr. Die Folge war, dass gleich darauf geschah, wovor der Bischof

30 sich am meisten gefürchtet hatte. Am 30. März 449 erging die Verfügung, dass sich am 1. August ein ökumenisches Concil in Ephesus versammeln solle, um die Beschlüsse der Synode von Constaiitinopel umzustossen.

17*

260 VII. Dio Anllösung des Kelches.

Nachdem durch diese Eutyches in deu Bann getan war, hatte der Kaiser nicht nur nach Rom, sondern auch nach Alexandria darüber berichtet. Während dort der Papst mit seiner Entscheidung noch zögerte (S. 257), hatte hier Dioscorus, der Nachfolger Cyrills, 5 sogleich erkannt, dass sich wieder einmal eine treff- liche Gelegenheit biete, die älteren Rechte seines Patriarchats Constantinopel gegenüber geltend zu machen. Den Beschluss, den Plavian mit seinem Gefolge verkündet hatte, behandelte er als nichtig, in- m dem er Eutyches in seine Kirchengemeinschaft auf- nahm und wahrscheinlich ein allgemeines Concil zur Entscheidung der Glaubensfrage verlangte. Dies dürfte der Grund gewesen sein, warum Flavian, der anfangs die Selbständigkeit seines Bistums wahren und Rom j.) daher ganz aus dem Spiele lassen wollte, sich doch noch entschloss, das Urteil des Papstes anzurufen (S. 257). Denn er hoffte, wenn dessen Autorität sich gegen Eutyches entscheide, werde der Kaiser ein Concil für überflüssig halten. Konnte dieser doch 21* nach allen den peinlichen Ungelegenheiten, die seine erste grosse Kirchenversammlung ihm bereitet hatte, nicht leicht wünschen, Ähnliches zum zweiten Male zu erleben. Erst nachdem Flavian ihn so blutig ge- ärgert hatte, entschloss er sich vielleicht noch an 25 demselben Tage, jedenfalls gleich in der ersten Hitze, ihn jetzt auch seinerseits zu ärgern, indem er ein neues ephesinisches Concil berief.

Der Ort war des guten Omens wegen gewählt. Wie in Ephesus die nestorianische Ketzerei zu Falle :io gebracht war, so sollten dort auch ihre letzten Reste auso-etilgt werden. Den Vorsitz sollte Dioscorus von Alexandria führen. Er empfing deu Auftrag, nicht zu dulden, dass dem Glaubensbekenntnis von Nicaea

14. Der luoiuipliysitisclie Streit. ^(U

irgend etwas hinzugefügt werde, also auch nicht die Behauptung der zwei Naturen. Das war dasselbe, was Eutyches von der Synode von Constantiuopel ver- langt hatte. Die Bisehöfe, welche dieser beigewohnt

5 hatten, sollten vor dem Coucil erscheinen, aber als Angeklagte und deshalb nicht berechtigt sein, an der Abstimmung teilzunehmen. Yon Geldfragen dürfe nicht geredet werden; offenbar fürchtete Chrysaphius, dass, wo es sich um die Steuern handelte, der dog-

10 matische Gegensatz hinter der bischöflichen Kollegiali- tät zurücktreten könne. Da man erwarten konnte, dass die Mönche, als die wildesten Gegner des Nestorius, für ihren Mitbruder Eutyches eintreten würden, wurde einem von ihnen, dem Abt Barsumas, durch die

15 Dekrete vom 14. und 15. Mai 449 Sitz und Stimme neben den Bischöfen verliehen, was bisher noch nie- mals vorgekommen war. Der brave Mann war so ungebildet, dass er nicht einmal Griechisch verstand und nur durch einen Dolmetscher mit dem Concil

2(1 verkehren konnte; doch das tat dem Respekt vor seiner Heiligkeit keinen Abbruch. Dagegen sollte der Kirchenhistoriker Theodoret von Cyrus, der sich nur zögernd und widerwillig von Nestorius getrennt hatte und durch seine anerkannte Gelehrsamkeit gefährlich

25 schien, nur zugezogen werden, falls das Concil selbst dies beschliesse.

So hatten der Kaiser und mit ihm der Patriarch von Alexandria schon ganz entschieden Partei ge- nommen, ehe der Papst noch Zeit gefunden hatte,

30 sich deutlich zu erklären. Dieser war von Flavian angerufen worden, wenn auch ziemlich spät, w^as er nicht versäumte, deutlich zu rügen; Dioscorus aber hatte sich gar nicht um ihn gekümmert. Wenn bei dem früheren Concil von Ephesus Alexandria mit

262 ^^^- r)i^ Auflösung des Reiches.

Rom im Bumle über Constantinopel Sieger geblieben war, so musste ihm jetzt klar gemacht werden, dass es ohne Rom nichts vermöge. Leo sandte daher am 13. Juni 449 an Flavian einen schönen, langen Brief, der unter dem Namen der Ejjistnla dogmatica noch 5 jetzt den vornehmsten Glaubensurkunden der katho- lischen Kirche beigezählt wird. Er setzte darin seine Christologie auseinander, natürlich im Gegensatze zu Eutyches. Doch fügte er hinzu, einem ungelehrten Mönche gegenüber, der mehr aus Dummheit, als aus i<» Bosheit gesündigt habe, dürfe man Gnade w^alten lassen. Dieser hatte ihm ja selbst geschrieben, dass er bereit sei, sich dem Spruche Roms zu unterwerfen ; vor der Synode hatte er freilich noch Alexandria, Jerusalem und Thessalonica hinzugefügt, aber hier- i5 über in seinem Brief an flen Papst wohlweislich ge- schwiegen. Wenn er also sein Wort hielt und über diejenigen, welche seine frühere Ketzerei teilten, pflichtschuldigst sein Anathema sprach, wie die Synode das von ihm verlangt hatte, so sollte er wieder in die •_>(> Kirchengemeinschaft aufgenommen werden und seine geistlichen Würden zurückerhalten. In demselben Sinne schrieb Leo zugleich an Theodosius, Pulcheria und einzelne befreundete Bischöfe, aber nicht an Dioscorus, und teilte ihnen die Namen derer mit, die 25 er zu seinen Delegierten für das bevorstehende Concil ernannt hatte. Freilich meinte er, diesem schon ganz den Boden entzogen zu haben; denn er zweifelte nicht daran, dass Eutyches sich ihm fügen und damit den Streit aus der Welt schaffen werde. In einem wenig ?-o späteren Brief, vom 20. Juni, schrieb er daher an Flavian, es sei ganz offenbar, dass man das Concil nicht mehr brauche.

Doch sollte er sich in Eutyches täuschen : ohne

14. Der iiioiiopliysitische Streit. 263

Zweifel hätte dieser sicli gehorsam unterworfen, wenn alle von ihm angerufenen Autoritäten einig gewesen wären; da aber nicht nur Alexandria, sondern auch Jerusalem auf seiner Seite standen, blieb er natürlich

ö bei seiner Meinung. Und Juvenalis, der Bischof der heiligen Stadt, unterstützte ihn mit umso grösserem Eifer, als die weitabgewandte Kindlichkeit eines Mönches dazu gehörte, um dem geistlichen Leiter eines verfalleneu Wallfahrtsortes noch irgend eine Bedeutung bei kirch-

10 liehen Streitigkeiten zuzuschreiben. Doch unter dem mächtigen Schutz Alexandrias, das einer zahlreichen (Tefolgschaft sicher war, konnte der Name seiner Stadt immerhin noch einige Wirkung tun. Und in ihr lebte Eudocia, die ihren Einfluss auf den Kaiser zw^ar zeit-

15 weilig verloren hatte, ihn aber leicht hätte wieder- gewinnen können. Sie hatte mit glühendem Eifer die Lehre von der einheitlichen Natur Christi ergriffen, und ihr Gatte Hess Bischöfe, die auf dem Coucil stimmen sollten, zu sich kommen, um persönlich auf diese ein-

2f" zureden. Flavian sah, welches Gewitter sich über seinem Haupte zusammenzog, und hatte nicht den Mut, ihm die Stirne zu bieten. Er wollte abdanken und sich in ein Kloster zurückziehen, wie einst Nestorius es getan hatte; doch Theodosius gestattete

25 es nicht und forderte, dass er sich dem Coucil zur Untersuchung stellen sollte.

Noch ehe dieses am 8. August 449 seine erste Sitzung hielt, konnte keiner an dem Ausgang zweifeln. Die Grundlage der Verhandlungen bildete der Befehl

30 des Kaisers, dass dem Symbol von Nicaea nichts hinzu- gefügt werden dürfe. Freilich hatte Papst Leo be- hauptet, die Lehre von den zwei Naturen sei kein Zusatz, sondern nur die richtige Deutung jenes un- anfechtbareu Glaubensbekenntnisses, und wie sich von

264 ^"11- l^if Aiiflö.siuii' des Keiclies.

selbst versteht, forderte sein Jjegat, der römische Diakou Hilarus, dass die epistaJn doyinatica vorgelesen werde; doch dies wusste Dioscorus als Vorsitzender zu verhindern. Er wies sie nicht ausdrücklich zurück, verstand aber die Geschäftsordnung so geschickt zu 5 handhaben, dass der Brief doch nicht zur Verlesung kam. Unter dem Verwände, dass nicht Eutyches, sondern Flavian sich zu verantworten habe, durfte der Ankläger des Mönches, Eusebius von Dorylaeum, dessen advocatische Geschicklichkeit man fürchtete, gar nicht lo vor dem Concil auftreten. Der unfähige Flavian be- klagte sich, dass man ihn nicht anhöre; als aber Dioscorus ihm das Wort gab, wusste er nicht, was er sagen solle. So gab es denn auf dem Concil gar keine Opposition. Selbst diejenigen, welche an der 15 Synode von Constantinopel teilgenommen und dort den Eutyches verurteilt hatten, wagten nur demütig zu bitten. Sie stellten dem Dioscorus vor, er sei doch selbst Bischof und habe Presbyter unter sich; er dürfe also nicht dulden, dass Eutyches, der nur 20 Presbyter sei, gegen seinen Bischof Recht behalte. Aber so überzeugend dieser Grund auch war, noch mächtiger wirkte die sichere Aussicht, wieder einmal den Patriarchen der Reichshauptstadt durch Alexandria gestürzt zu sehen. Dioscorus bestand darauf, dass 25 Eutyches für rechtgläubig erklärt, Flavian und Eusebius abgesetzt und in den Bann getan würden, und ein- stimmigwurde dies von allen Bischöfen angenommen; auch diejenigen, welche in Constantinopel dem Flavian beigestimmt hatten, ja selbst Domnus von Antiochia, :!o der als erster gegen die einheitliche Natur Christi aufgetreten war (S. 251), schlössen sich nicht aus. Der päpstliche Legat protestierte zwar; aber er war nur Diakon, nicht Bischof; zudem hielt er für gut.

14. Der iiioiKipliysitische Streit. 2<S5

gleich darauf in aller Stille zu verschwinden. Flavian wurde in die Verbannung geführt, starb aber schon unterwegs in dem Städtchen Epipa. Tn einer der folg-enden Sitzuni^en des Concils wurden auch Domnus,

5 obgleich er der Absetzung des Flavian zugestimmt hatte, und mit ihm Theodoret als Nestorianer in den Bann getan.

Schon sehr bald darauf hat Leo das Coucil von Ephesus zur Räubersynode (latrocinniin) gestempelt,

10 und dieser Schimpfname hängt ihm bis auf den heutigen Tag noch an. Aber was ihn rechtfertigte, war nichts weiter, als dass die ephtidn dogrnaficd unbeachtet ge- blieben war; und freilich konnte es einen Theologen kränken, dass ein so schönes Werk von ihm nicht

15 vorgelesen und gebührend bewundert wurde. Am 13. Oktober 449, nachdem Hilarus ihn über die Vor- gänge auf dem Concil unterrichtet hatte, erhob er in einem Brief an den Kaiser Protest. Doch gegen die Giltigkeit der Beschlüsse wusste er nichts anderes an-

20 zuführen, als dass Eusebius von Dorylaeum nicht zu- gelassen war und dass die Bischöfe ans Furcht für ihre Stellung falsch gestimmt hätten. Dies aber war nichts der Versammlung von Ephesus Eigentümliches, sondern bei jedem beliebigen Concil wnssten diejenigen, die

25 sich der Majorität nicht anschlössen, dass sie mit Bann und Absetzung bedroht waren. Auch Eusebius richtete einen Protest an die Kaiser, aber auch er wusste gar keine stichhaltigen Gründe, um die Beschlüsse an- zufechten. Er behauptet nur. Dioscorus habe mit einer

30 durch Geld bestocheneu Volksmenge das Concil terro- risiert. Nun hatte sich freilich die Bevölkerung von Ephesus schon dem Nestorius feindlich erwiesen (S. 228) und wird denen, die augeblich seine Lehre erneuerten, o-ewiss auch kein freundliches Gesicht o-ezeigt haben.

266 VII. Die Auflösung des Reiches.

Doch um dies zu erreichen, bedurfte es keiner Be- stechungen: auch hat man in Chalcedon, wo alles Belastende für Dioscorus sorgfältig aufgestöbert wurde, diese Anklage gegen ihn nicht zu erheben gewagt. Und wenn die Bischöfe dort auch behaupteten, durch 5 Furcht zu ihrem Votum veranlasst zu sein, so nannten sie doch nicht das Volk der Stadt als dasjenige, was ihnen jene Furcht eingeflösst habe. Wenn aber sowohl Leo als auch Eusebius, obgleich beide dem Dioscorus feindlich und beide über die Verhandlungen des Concils lo genau unterrichtet waren, nichts Stichhaltigeres da- o'eo-en vorbrinoen konnten, so ist damit zweifellos bewiesen, dass wirklich nichts vorlag. Die Beschuldi- gungen, die später in Chalcedon gegen Dioscorus er- hoben wurden, hat er also jedenfalls mit Recht als i5 Lügen bezeichnet. Besonderes Gewicht wurde darauf gelegt, dass er die Bischöfe ein unbeschriebenes Papier hatte unterschreiben lassen, und dies leugnete auch er selbst nicht. Doch offenbar war das nur geschehen, weil der Tag schon zu weit vorgeschritten war, um 20 das Urteil gegen Flavian und Eusebius noch schriftlich abzufassen, und weil man fürchten musste, dass in der Nacht einer oder der andere von den Bischöfen sich heimlich drücke, wie der päpstliche Legat dies wirklich getan hat. Denn welche Entscheidung auf jenes leere 25 Blatt gesetzt werden sollte, war sicher jedem klar; nur die Motivierung konnte zweifelhaft sein. So haben denn auch weder der Papst noch Eusebius in seiner ersten Protestschrift auf diesen Formfehler irgend welches Gewicht gelegt; erst in der zweiten hat der 30 frühere Advocat ihn geschickt zu benutzen gewusst, und das Concil von Chalcedon ist ihm darin gefolgt. Freilich ist die siegende Partei in Ephesus nicht ganz ehrlich verfahren; aber bei welcher andern der grossen

14. Der monophysitisclie Streit. 267

Kirchenversammlungen war mau denn ganz ehrlich gewesen? Der Satz, dass der Zweck die Mittel heilige, rührt nicht erst von den Jesuiten her. Im Ganzen aber wurde bei der sogenannten Räubersynode die

5 Geschäftsordnung so richtig gehandhabt und der heilige Geist wirkte eine solche Einhelligkeit der Entscheidung, wie bei sehr wenigen andern Concilieu, die man als hochheilige und unfehlbare gepriesen hat.

Auch dass Dioscorus oder Barsumas durch Miss-

10 handiungen den Tod des Plavian herbeigeführt hätten, ist erst in Chalcedon behauptet worden. Die Protest- briefe des Leo und Eusebius wissen nichts davon, ob- gleich beide gewiss nicht versäumt hätten, diese Schuld ihren Gegnern anzustreichen, wenn sie ihnen glaub-

15 würdig oder auch nur wahrscheinlich erschienen wäre. Gewiss werden die Mönche, die Barsumas mitgebracht hatte, nicht versäumt haben, der gestürzten Grösse einige Püffe und Fusstritte zu versetzen: doch dass diese seinen Tod veranlasst hätten, ist anfangs keinem

20 eingefallen.

Gleich nach dem Concil erliess Theodosius ein Gesetz, das die Beschlüsse desselben in vollem Um- fange bestätigte und jeden Bischof abzusetzen befahl, der ihnen seine Zustimmung verweigerte. Der Papst

25 protestierte, und als Valentiniau mit Mutter und Gattin nach Rom kam und die kaiserliche Familie am 22. Fe- bruar 450 die Peterskirche besuchte, vergoss er ihr gegenüber einige Tränen, mit denen man ja in jenem schwächlichen Zeitalter sehr schnell bei der Hand war.

30 Alle drei schrieben in seinem Sinne an Theodosius und Pulcheria, bekamen aber die kühl freundliche Antwort, in der orientalischen Kirche herrsche die schönste Ruhe und es liege kein Grund vor, irgend etwas an ihrem Zustande zu ändern. Leo schickte

268 Vll. Die AiiflösiiUK des Reiclies.

unterdessen seine cpistida dogmatica den Metropoliten des Westens zu weiterer Verbreitung zu, und da hier noch keiner sich über die zwei Naturen Christi eine eigene Ansiclit gebildet hatte, schloss man sich ihr unbedenklich an. Auch an Anatolius, den neugewählten :> Bischof von Constantinopel, stellte er das Ansinnen, dass er, um die Anerkennung Roms zu gewinnen, sich das Glaubensbekenntnis jenes Briefes durch seine Unterschrift zu eigen macheu solle. Jener hatte brief- lich dem Papst seine Wahl gemeldet und ein freund- lo liches Verhältnis zu ihm anzubahnen gesucht: doch dem Dioscorus verdankte er seine Würde und hätte nicht gewagt, sich gegen einen so übermächtigen Gönner aufzulehnen. So wäre vielleicht der Bruch zwischen der päpstlichen und der orientalischen Kirche, 15 der auf die Dauer unvermeidlich war, schon damals eingetreten, wenn nicht gerade zur rechten Zeit Theo- dosius gestorben wäre und damit der Hof von Con- stantinopel ganz plötzlich seine Stellung gewechselt hätte.

Pulcheria hatte Nestorius und seine Lehre noch 20 mehr gehasst, als ihr Bruder. Sie hatte daher, gleich diesem, anfangs den Eutyches begünstigt und sich auch durch die epistula dogmatica nicht bekehren lassen. Umso freudiger war Leo überrascht, als er anfang März 450 ein Schreiben von ihr empfing, das 25 ihm ihre kräftigste Unterstützung verhiess. Wodurch ihre Gesinnung so umgeschlagen war, ist nicht über- liefert; doch mag eine Vermutung gestattet sein. Einige Monate vorher hatte Chrysaphius die Torheit begangen, dem Edeco, einem Gefolgsmann Attilas, so eine grosse Geldsumme zu versprechen, weun er seinen Herrn ermorden wolle. Jener war scheinbar darauf eingegangen, hatte aber nichts Eiligeres zu tun gehabt, als dem Hunnenköniff alles zu verraten. Die Folge

14. Der iiioiiopliysitisdie Streit. 269

für (las Ostreich war natürlich noch tiefere Schmach und noch härtere Bedrückung gewesen. Der Feldherr Zeno, der von der Hofgunst ziemlich unabhängig war, weil seine isaurischen Laudsleute einen grossen Teil

5 des Heeres bildeten und ihm treu ergeben waren, hatte die Forderung gestellt, dass der Eunuche ihm zur Bestrafung ausgeliefert werde, sie aber noch nicht durchsetzen können. Wenn jetzt, nachdem dessen Stellung schon erschüttert war, sein Schützling Eutyches

10 mit Hilfe des Papstes zum Ketzer gestempelt wurde, so konnte dies den Sturz des Allmächtigen entscheiden und Pulcheria den früheren Einfluss über ihren Bruder zurückgewinnen. Falls dieser Plan bestand, ist er ge- scheitert: Chrysaphius blieb im Amt, und Theodosius

15 hielt an seiner religiösen Überzeugung fest. Aber am 20. Juli 450 starb er durch einen Sturz vom Pferde, nachdem seine Schwester schon zu Gunsten Leos Stellung genommen hatte, und dies sollte für den Aus- gang des mono})hysitischen Streites entscheidend sein.

20 Da die Tochter des Kaisers im fernen Westen

hauste, von seinen drei Schwestern Arcadia schon im Jahre 444, Marina 449 gestorben war, blieb nach seinem Tode Pulcheria die einzige, welche in Con- stantinopel die Dynastie vertrat. Eine weibliche Erb-

25 folge kannte das Kaisertum nicht; doch erschien sie nicht mehr undenkbar, da man sich schon seit den Zeiten der Justina gewöhnt hatte, die tatsächliche Regierung in Frauenhänden zu sehen. Pulcheria hiess nicht nur Augusta, sondern hatte auch wirklich ge-

30 herrscht, ehe die Frau des Kaisers und dann seine Kammerdiener ihr die Macht entrissen hatten. Es war daher nur eine Wiederherstellung des früheren Zustandes, wenn sie jetzt die Regierung übernahm. Nur um der althergebrachten Reichsordnung willen

270 VII. Die Auflösung des Reiches.

musste ein männlicher Augustus ihr zur Seite stehn; doch durfte sie selbst ihn wählen. Sie entschied sich für den alten Krieger Marcianus, vielleicht auf den Rat des verdienten Feldherrn Aspar, in dessen Diensten er gestanden hatte. Denn diesen selbst konnte sie 5 nicht mit dem Purpur bekleiden, weil er Barbar und Arianer war. Um den Kandidaten der Herrscherwürde an die aussterbende Dynastie anzuknüpfen, reichte sie ihm ihre Hand, freilich nur zu einer Josephsehe, was auch der Öffentlichkeit nicht vorenthalten wurde. Denn 10 vor dieser hatte sie ihre nonuenhafte Jungfräulichkeit ja immer aufrecht erhalten und wollte sie auch jetzt nicht verleugnen. Da sie selbst einundfünfzig Jahre, ihr neuer Gemahl achtundfünfzig alt war, fiel ihr dies nicht schwer. Am 25. August 450 wurde Marcian dem i5 Heere und dem Senat von Constantinopel vorgestellt und durch ihre Zurufe, die als Wahl galten, in seiner Herrschaft bestätigt. Schon vorher hatte Pulcheria in frommer Barmherzigkeit den Chrysaphius mit Stöcken totprügeln lassen, und damit war Eutyches seine wert- 20 vollste Stütze geraubt.

Die officielle Mitteilung seines Regierungsantritts übersandte Marcian nicht nur dem weströmischen Kaiser, sondern auch, was bisher nie üblich gewesen war, dem Papste. Und schon in dieser ersten Urkunde 25 war es ausgesprochen, dass die Forderungen der römischen Kirche erfüllt werden sollten. Leo iiatte verlangt, dass die Beschlüsse von Ephesus suspendiert bleiben sollten, bis ein neues grösseres Concil sie nncli- geprüft habe. Dieses sollte sich in Italien versammeln, 30 wo es unter seinem unmittelbaren Einfluss gestünden hätte und den Bischöfen des lateinischen Reiclisteils, die ilim unbedingt ergeben waren, jedenfalls die Majorität zugefallen wäre. Jetzt wurde ihm ein Concil v.-r-

14. Der monophysitische Streit. 271

sprocheu, weuu sich der ueue Kaiser auch über den Ort desselben einstweilen noch ausschwieg. Die Ge- sandtschaft Ton Klerikern, die Leo sogleich nach Con- stantinopel schickte, wurde dort sehr gnädig empfangen

.5 und kehrte mit neuen, noch erfreulicheren Briefen, die vom 22. November datiert waren, zu ihm zurück. Zwar erfuhr er durch Marcian, dass das Concil im Orient stattfinden solle, was seinen Wünschen nicht entsprach, doch bot ihm ein beigelegtes Schreiben der

10 Pnlcheria reichlichen Trost. Anatolius, so teilte es ihm mit, hatte die epistnla dogmatica durch seine Unter- schrift anerkannt; die Bischöfe, die durch das Concil von Ephesus verbannt waren, hatte man zurückberufen und den Leichnam Flavians feierlich nach Constan-

15 tinopel eingeholt, um ihn bei den Gräbern seiner Vor- gänger zu bestatten. Dies bedeutete nichts Geringeres, als dass die Beschlüsse von Ephesus als nichtig be- handelt wurden, und zugleich wurde Leo durch einen Brief des Anatolius belehrt, dass nicht nur dieser selbst

20 sich unterworfen hatte, sondern auch mehrere andere Bischöfe, die vorher dem Dioscorus zugestimmt hatten, jetzt mit dem Nachfolger Petri Versöhnung wünschten. Natürlich war dieser bereit, den Reuigen Gnade zu gewähren; denn hätte er dies nicht getan, so hätte

25 die Angst der Bedrohten ihm eine Opposition erweckt, die besser vermieden wurde. So war alles für einen gedeiiilichen Verlauf des Concils vorbereitet, auch wenn es nicht in Italien gehalten wurde.

Da hier die Verhandlungen nur lateinisch geführt

30 werden konnten, bedeutete dieser Wunsch seiner Heiligkeit nichts anderes, als dass sie die Orientalen mundtot machen wollte. Denn schon längst war die Unbildung soweit vorgeschritten, ilass sich unter den Bischöfen kaum noch einer fand, der beide Reichs-

272 ^'Jf- J^i^ Auflösimy des Reiches.

sprachen beherrschte. Hatten doch zwei, ja vielleicht gar vier, dem Concil von Ephesus beigewohnt, die nicht einmal imstande waren, ihren Namen zu unter- schreiben. Es war also eine Forderung der Gerechtig- keit, dass auch die neue Kirchenversammlung griechisch 5 sein musste, da sonst die Angeklagten kaum verstanden liätten, was man ihnen im Einzelnen vorwarf, und sich nur durch Dolmetscher hätten verteidigen können. Seit man aber in diesem Sinne entschieden hatte, fand der Papst, dass das Concil, das er früher selbst gefordert lo hatte, ganz überflüssig sei. Über den Glauben brauche man ja nicht mehr zu verhandeln, da die meisten Bischöfe seine epistula dogmatica angenommen hätten. Es bleibe also nur übrig zu untersuchen, welchen der früheren Sünder man Begnadigung gewähren könne, i5 und diese Frage könnten seine Legaten beantworten, die ausserdem die Freundlichkeit haben würden, den Bischof von Constantinopel zu ihren Beratungen mit heranzuziehen. Ausserdem sei Eutyches von der Haupt- stadt möglichst weit zu entfernen und in seinem Kloster 20 ein anderer Abt an seine Stelle zu setzen. Offenbar fürchtete Leo, der Greis, in dem Pulcheria noch kurz vorher einen Heiligen gesehen hatte, könne aufs neue Einfluss gewinnen, wenn man ihm nicht jede Yerbindung mit dem Hof unmöglich mache. 25

Diesen letzteren Wunsch scheint man erfüllt zu haben; jedenfalls war der Mönch nicht in der Lage, sich vor dem Concil, als es wenig später zusammen- trat, selbst zu verteidigen. Was aber der Papst sonst begehrte, widersprach zu sehr allen Grundsätzen des so damaligen Kirchenrechts, als dass Pulcheria es hätte bewilligen können. Schon seit den Zeiten des Atha- nasius stand es fest, dass der Spruch einer Synode nur durch eine andere grössere aufzuheben sei. Wenn

14. Der mooopliysitische Streit. 273

also Leo es nahelegte, dass man die Beschlüsse von Ephesus nur deshalb beseitigen könne, weil er sie ab- wies und einige andere Bischöfe ihm zustimmten, so erhob sich der Papst über das Concil, d. h. er be- 5 anspruchte schon damals die Unfehlbarkeit, wozu es doch noch einige Jahrhunderte zu früh war.

Man kam nicht in die Verlegenheit, die Forde- rung Leos ablehnen zu müssen; denn noch ehe sie in Constantinopel anlangte, war schon durch kaiserliche

10 Verfügung vom 17. Mai 451 ein Concil für den 1. September nach Nicaea einberufen. Dieser Ort sollte ihm eine ganz besondere Weihe geben; war hier doch das Glaubensbekenntnis beschlossen worden, das schon im nestorianischen Streit und dann ebenso

15 im monophysitischen beide Parteien als untrügliche und unveränderliche Norm anerkannt hatten. Doch das Kaiserpaar w^ollte auf die Beratungen nicht ohne Einfluss bleiben, und da es durch die Vorbereitung des Hunnenkrieges in Constantinopel festgehalten

20 wurde, mussten die Bischöfe, nachdem sie mehr als einen Monat in Nicaea vergebens gewartet hatten, nach Chalcedon übersiedeln, wo das Concil vom 8. October bis zum 1. November 451 tagte. Freilich nahmen Marcian und seine Gattin nur an einer ein-

2') zigen Sitzung teil, die einen wesentlich repräsentativen Charakter trug, und wiederholt liess er der Versamm- lung bestellen, sie möge ganz selbständig beschliessen und sich um ihn nicht kümmern. Doch hinter den Kulissen wird zwar nicht er selbst, wohl aber Pul-

30 cheria kräftig gewirkt haben. Denn dass sie die Leiterin der Kirchenpolitik war, ergibt sich aus den Briefen des Papstes. An den Kaiser schreibt er nur kurz und officiell; die eigentlichen Verhandlungen führt er immer mit der Kaiserin. Und nicht minder

Seeck, Untergang der antiken Welt. VI. 18

274 ^^^- Di^ Auflösung des Keiclie.s.

bedeutsam, als ihre versteckte Tätigkeit, war die Ein- wirkung ihres Hofes, und diese Hess mau ganz öffent- lich hervortreten. Wenn ein Bischof das Präsidium führte, wie das bisher üblich gewesen war, hatte er regelmässig die Redefreiheit seiner Gegner ganz uu- 5 gebührlich beschränkt und auch dasjenige, was er ihnen gnädigst zu sagen erlaubte, in dem Protokoll durch seine geistlichen Notare entstellen und ver- stümmeln lassen. Die Leitung der Verhandlungen wurde daher hohen Würdenträgern des Hofes über- lo tragen und ihre Aufzeichnung den Schriftführern des kaiserlichen Consistoriums. So geben uns die Akten, die vollständig erhalten sind, ein ganz unverfälschtes Bild und lassen deutlich erkennen, dass sich niemals ein ehrloseres Gezüchte zusammengefunden hat, als 15 diese sechshundert geistlichen Herren. Der einzige, der sich in dieser Gesellschaft von heulenden alten Weibern als Mann erweist, ist Dioscorus; dieser aber kämpfte einen Kampf der Verzweiflung und wusste ganz genau, dass, auch wenn er sich duckte, wie die 20 übrigen, es für ihn keine Gnade gab. Trotzdem ist es bewundernswert, wie er, von allen Freunden ver- lassen und bei jedem Worte, das er sagt, von der ganzen Bande angebrüllt, doch seine kühne Haltung zu bewahren weiss. 25

Das grosse Wort führte der päpstliche Legat Paschasinus. Er wurde immer zuerst gefragt, und dem, was er sagte, stimmte die ganze Schar unbedingt zu. Auch hier gab es keine Opposition. Wie man Eutyches in Constautinopel unter Leitung Flavians so einstimmig verurteilt hatte, in Ephesus unter Leitung des Dioscorus einstimmig freigesprochen, so herrschte auch jetzt unter Leitung des Paschasinus die schönste Einstimmigkeit. Die zahlreichen Bischöfe, die auch

14. Der inoiioplf^sitisehe Streit. 275

an dem ephesinischen Concil teilgenommen hatten, be- haupteten jetzt, aus Furcht vor Dioscorus dort gegen ihre Überzeugung gestimmt zu haben, und waren sie so kompromittiert, dass diese Entschuldigung sich für

5 sie nicht anwenden Hess, so wimmerten sie: „Wir haben geirrt!" Da der Papst den Reuigen versprochen hatte, dass sie ihre schönen Bischofssitze nicht ver- lieren sollten, war jeder Sünder reuig. Die Einzigen, die der Absetzung des Dioscorus anfangs nicht zu-

stimmen wollten, waren die ägyptischen Bischöfe, aber auch dies geschah nur aus Feigheit. Denn sie fürch- teten den Zorn ihrer Gemeinden, wenn sie ihren Patriarchen verrieten. Doch auch sie fügten sich: die augenblickliche Gefahr wirkte eben noch stärker,

15 als die künftige. So gewann Rom den vollständigsten Sieg: zu derselben Zeit, wo sein weltliches Reich aus- einanderfiel, wurde das geistliche widerspruchslos an- erkannt. Freilich rief dies in Alexandria, wo das Volk an Dioscorus festhielt, in Palaestina, wo die

20 Mönche für Eutyches kämpften, und noch an manchen anderen Orten wilde Aufstände hervor, die man mit Waffengewalt niederschlagen musste. Und als Marcian starb, brachen sie von neuem los; denn da der Begriff dessen, was rechtgläubig sein sollte, bei dem vorher-

25 gehenden Regierungswechsel in sein Gegenteil um- geschlagen war, durften die Unterdrückten dasselbe auch bei dem neuen erhoffen. Doch wenn man bei Kämpfen um die weltliche Macht mörderisches Blut- vergiessen selbstverständlich fand, warum sollte es

30 der Papst bei seinem Kampf um die geistliche scheuen ?

Leo hatte behauptet, das Christentum gehe zu

Grunde, wenn man die zwei Naturen des Erlösers

nicht auseinanderhalte, als wenn diese feinen Destink-

tionen der Theologie für die Masse des Volkes, dem

18*

276 VII. Die Auflösung des Reiches.

sie ganz unverständlich waren, irgend eine Bedeutung gehabt hätten. Tatsächlich aber hatte es sich für ihn nur darum gehandelt, dem stolzen Alexandria, das sich gegen den römischen Stuhl aufgelehnt hatte, seine Macht zu zeigen. Und nichts anderes als Macht- 5 fragen waren es gewesen, die den drei sich wider- sprechenden Synoden von Constantinopel, Ephesus und Chalcedon ihr Gepräge gegeben hatten. Bei der ersten hatte man geglaubt, dass Theodosius nach seiner wohl- bekannten Art sich vor der hohen Geistlichkeit beugen lo werde. Man hatte einen Günstling des Hofes ein- stimmig verurteilt, w'eil man den Bischof von Con- stantinopel für noch mächtiger hielt als ihn. Nicht um seine kaiserliche Autorität aufrecht zu halten, sondern aus feiger Furcht vor dem Zorne Gottes, den das 15 Wiedererwachen des Nestorianismus heraufbeschwören könne, hatte Theodosius sich hartnäckiger erwiesen, als man erwarten konnte. Und er hatte die Bischöfe an dem Teil ihres edlen Selbst gefasst, der beim nor- malen Menschen der empfindlichste zu sein pflegt, am 20 Geldbeutel. Nachdem man gesehen hatte, dass der Kaiser denn doch zu fürchten war, hatte man in Ephesus gestimmt, wie er wollte, und in Chalcedon wieder, wie der Kaiser wollte, nur dass es jetzt ein anderer mit anderen Forderungen war. Nicht ohne 25 Grund schrieb Papst Leo einige Jahre später, dass der heilige Geist im Herrscher wohne und bei ihm keinen Irrtum in Glaubenssachen zulasse; denn wenn dieser heilige Geist über den Concilien gewaltet hatte, so war das zweifellos durch o;uädio;e Vermittluno- der -'O Kaiser geschehen. Und doch krochen diese ebenso vor den geistlichen Herren, die über die ewige Selig- keit verfügten, wie sie vor den weltlichen, die ihnen ihr Geld nehmen oder sie gar in die Yerbannuno

14. Der monophysitische Streit. 277

schicken konnten. Die Instinkte des ganzen Zeit- alters waren so knechtisch geworden, dass selbst die Beherrscher des Staates wie der Kirche begierig sich dazu drängten, Knechte zu sein. Natürlich hinderte 5 sie das nicht, despotische Launen an denen auszu- lassen, die unter ihnen standen. Wenn inmitten dieses Gesindels sich wirkliche Männer erhoben, wie Papst Leo und Dioscorus es waren, so verstand es sich von selbst, dass alles sich ihrem Willen beugte. Aber

10 mit derselben inneren Notwendigkeit mussten solche Herrschernaturen Konkurrenten und Gegner werden, und dabei verstand es sich wieder von selbst, dass die kluge Ausnutzung aller Verhältnisse, wie sie einem Leo eigen war, über die unbedenkliche Gewalttätigkeit

15 eines Dioscorus den Sieg errang.

Wie furchtbar im Laufe des einen Jahrhunderts, seit Constantin das Christentum zur Staatsreligion gemacht hatte, die antike Menschheit und vor allem die Geistlichkeit herabgekommen war, das ergibt sich

■20 wohl am deutlichsten, wenn man das Coucil von Ni- caea mit diesem mehr als doppelt so zahlreichen ver- gleicht, das gleichfalls ein Concil von Nicaea hatte werden sollen. Damals hatte man noch Grund, das Kaisertum zu fürchten; denn eben erst hatte die Ver-

25 folgung des Licinius ihr Ende gefunden, und wenn man von Constantin auch Wohlwollen für das Christen- tum erwarten durfte, konnte man doch nicht wissen, wie er sich bei dessen inneren Streitigkeiten verhalten werde. Trotzdem entschied die Majorität gegen den

30 Willen des Kaisers, und der Vertreter seiner Ansicht, Eusebius von Caesarea, entging nur mit Mühe der Verurteilung. Der Gegenstand des Streites war frei- lich auch damals herzlich unbedeutend; doch konnte man meinen, für die Ehre des Heilandes zu streiten,

278 VII. Die Auflösuuii- des ReicJies.

wenn mau diejenigen, welche ihn nicht als wesens- gleich mit dem Vater anerkennen wollten, als Lästerer brandmarkte. Ob die zwei Naturen in Christus nur vor seiner Geburt oder auch nach derselben getrennt gewesen seien, war dagegen nichts weiter als eine 5 theologische Doctorfrage, die das Yolk gar nicht be- greifen konnte und die auch die Bischöfe nicht inter- essiert hatte, ehe sie sich gegen Eutyches ausnutzen Hess. Im vierten Jahrhundert war der dogmatische Eifer zwar arg missleitet, aber bei den Meisten doch 10 ehrlich gewesen ; im fünften benutzte man ihn nur noch als Deckmantel, um Gegner zu bekämpfen, denen man auf andere Weise nicht beikommen konnte.

In der unübersehbaren Masse der Briefe und Akten, die uns über den monophysitischen Streit er- 15 halten sind, finden sich kaum ein paar flüchtige An- deutungen, dass eben damals das Reich in der höchsten Gefahr schwebte. Freilich waren den frommen Herren die weltlichen Dinge keineswegs gleichgiltig; verbargen sie doch unter den Phrasen heiligen Glaubenseifers 20 nur die Sorge um die eigene Macht. Dass aber zu derselben Zeit, wo Leo den Aufmarsch gegen Alexan- dria leitete, auch die Hunnen ihre Scharen sammelten, dass sie Gallien furchtbar verwüsteten und das ganze Westreich mit dem Untergange bedrohten, ging den 25 Papst nichts an. Zwar versicherte man den Kaisern immer wieder, dass auch ihr weltliches Glück von der Reinheit des Glaubens abhänge, und schreckte sie mit dem Zorne Gottes, wenn sie die Ketzerei nicht aus- rotteten; weiter aber hat sich um ihre Rettung die so Kirche nie bemüht.

Fünfzehntes Kapitel.

Das Keich des Attila.

Seit unter Valens die fremden Horden in das Reich eingedrungen waren, hatten sie sich anfangs dadurch ernährt, dass sie es bald plünderten, bald sich durch fast unerschwingliche Korntribute füttern liessen.

5 Wie eine Schmarotzerpflanze den Baum, an dem sie haftet, aussaugt, damit aber auch den Nährboden, von dem sie lebt, allmählich zerstört, so schienen sie mit dem Untergange des Römertums auch ihren eigenen Untergang vorzubereiten. Doch nachdem der Hunger

10 viel schrecklicher unter ihnen gewütet hatte, als das feindliche Schwert, war durch die Tat Geiserichs ein Wandel eingetreten. Er selbst hatte in Africa Zu- stände geschaffen, welche die Möglichkeit dauernden Bestehens gewährten, und der Getreidelieferungen des

15 Kaisers beraubt, mussten die Führer der anderen Stämme seinem Beispiel folgen. Man war des Wan- derns und Rauhens müde geworden, und aus den Horden bildeten sich Staaten. Aber während ihre Entwicklung noch über die ersten Anfäuge nicht hin-

20 ausgelangt war, wurden mehrere von ihnen zu einem gewaltigen Reiche zusammengefasst, das dem römischen nicht nur ebenbürtig, sondern weit überlegen an die Seite trat, aber freilich keinen Bestand haben konnte.

280 VII. Die Auflösung des Reiches.

Denn die Leitung fiel einem Volke zu, das weniger als alle anderen Feinde der Römer im Stande war, eine staatliche Organisation zum Abschluss zu bringen. Wenn die Hunnen trotzdem eine ganze Reihe ger- manischer Stämme sich zeitweilig unterwerfen konnten, 5 so lag das nur an jener kriegerischen Furchtbarkeit, die gleich bei ihrem ersten Erscheinen in Europa alle Gegner in Schrecken gesetzt hatte (V S. 94).

Als Ammianus Marcellinus sie kennen lernte, be- sassen sie noch gar keine dauernde Obrigkeit, sondern 10 ordneten sich nur für den einzelnen Krieg, vielleicht gar nur für die einzelne Schlacht, den Befehlen irgend eines angesehenen Häuptlings unter. Natürlich stand auch fast nie das ganze Volk einheitlich zusammen, sondern die zahlreichen kleinen Stämme, in die es i5 zerfiel, gingen jeder seine eigenen Wege. Gleichzeitig fallen hunnische Scharen über den Kaukasus in Kleiu- asien und andere über die Donau in Thrakien ein; bald plündert eine Horde die Römer, bald lässt sie sich von ihnen anwerben, und dann kämpfen wohl 20 auch Hunnen gegen Hunnen. Denn die leidenschaft- liche Begierde nach Schmuck, die allen primitiven Völkern eigen ist, machte ihnen das Gold und Silber, das sie als Räuber oder als Söldner erwarben, zum köstlichen Besitz. Namentlich für jene privaten 25 Reiterscharen, die Bucellarii, nahm man sie gern in Dienst, weil sie mit barbarischer Gewissenlosigkeit jeden Blutbefehl ihres Herrn, wenn er gut zahlte, un- bedenklich ausführten und sich durch jenen Eid, den sie auch dem Kaiser leisten mussten, niemals binden 30 liessen. In dieser Weise hatten sie sowohl dem Rufiuus, als auch seinem Feinde Stilicho gedient, und die Macht des Aetius beruhte vor allem darauf, dass ein Hunnen- könig seine Werbungen duldete und begünstigte.

15. Das Reich des Attila. 281

Denn seit dem Ende des vierten Jahrhunderts hatte sich auch bei diesem wilden Volk ein Königtum ausgebildet. Dass die tapfersten Kämpfer, vor allem die besten Pfeilschützen, einen Vorrang in Anspruch

5 nahmen, liegt in der Natur der Sache und wird von jeher üblich gewesen sein. Doch unter dem Einfluss der germanischen Könige und ihrer Gefolgschaften scheint dies Häuptlingswesen festere Gestalt gewonnen zu haben. Denn wahrscheinlich geschah es nach

10 ihrem Beispiel, dass ein solcher Krieger, wenn er eine dienende Schar um sich gesammelt hatte, den Köuigstitel annahm. Auf diese Weise gab es in den einzelnen Stämmen mehrere Könige, und dass einer von ihnen als der erste und führende anerkannt war,

15 braucht nicht Regel gewesen zu sein. Doch kam es vor, und darin lag der Keim zur Entwicklung eines wirklichen Königtums. Denn indem er seine Neben- buhler tötete oder zur Unterwerfung zwang, konnte jener Erste zum Einzigen werden. Zunächst wird

20 seine Herrschaft sich nur über einen der zahlreichen Hunnenstämme ausgedehnt haben; doch wo die staat- liche Gewalt eines einheitlichen Oberhauptes vorhanden war, musste sie ihre natürliche Überlegenheit den staatlosen Teilen des Volkes gegenüber geltend machen

25 und einen nach dem anderen bald in ihre Dienste zwingen. Und hatte sich erst eine grössere Masse zu- sammengeschlossen, so konnte sie auch die kleinen germanischen Völkerschaften, die noch im Donau- gebiete schweiften, mit Güte oder Gewalt zur Heer-

30 folge veranlassen. Der erste anerkannte Herrscher, dem wir bei den Hunnen begegnen, ist jener Uldiu, der seit dem Jahre 400 das Römerreich bald unter- stützte, bald bedrohte (V S. 408), und schon in seinem Heere finden wir neben seinem eig-enen Volk auch

282 VII. Die Auflösung des Reidies.

verbündete Sciren. Ob mit seinem Tode sein Reich zerfiel und Ruas, der zuerst im Jahre 432 als Hunuen- könig erwähnt wird (S. 117), ein neues begründete, lässt sich aus der Überlieferung nicht entscheiden. Aber da dieser .infangs mit seinem Bruder Octar ge- 5 meinsam regierte, hat es den Anschein, als wenn nicht er selbst sich zum Herrscher aufgeschwungen, sondern nur eine schon bestehende Dynastie fortgesetzt hat; sie könnten also die Söhne und Nachfolger des Uklin gewesen sein. lo

Jedenfalls hatte das junge Königtum schon zur Zeit des Ruas eine gewaltige Macht unter seinem Scepter vereinigt. Schon er betrachtete die meisten Stämme, die an der Donau hausten, ja vielleicht alle, als seine Untertanen; schon er befolgte, wie später Attila, die is Politik, die Reichsteile der Römer voneinander zu trennen und von beiden Geld zu ziehen, indem er den westlichen unterstützte, den östlichen bedrohte. Aetius, der unter deu Hunnen gelebt hatte und in ihrer eigenen Sprache mit ihnen verkehren konnte, stand zu ihrem "^o König in dem freundschaftlichsten Verhältnis. Den Scharen, die dieser ihm dargeliehen hatte, verdankte er erst die Begründung seiner Macht und dann ihre Herstellung, als Bonifatius sie ihm geraubt hatte; mit ihnen kämpfte er gegen Gothen, Franken und Bur- 25 uunden. Natürlich mussteu diese Liebesdienste bezahlt werden und zwar nicht nur mit blankem Golde, sondern auch durch die Abtretung Panuoniens (S. 115). Dem schwachen Theodosius dagegen wurde verboten, Unter- tanen des Königs in seine Dienste zu nehmen, und so tat er es dennoch, so galt dies als Kriegsfall. Das bedeutete, dass dem östlichen Reichsteil die Werbung- unter den Nordbarbaren völlig abgeschnitten war, und dass Ruas die Ohnmacht, zu der er ihn so verdammt

15. Das Reich des Attila. 283

hatte, nicht benutzte, um ihn auszuplündern, Hess er sich jährlich mit 350 Pfund Gold bezahlen, das sind etwa 320 000 Mark.

Im Jahre -434 waren mehrere kleine Horden, über

5 die Ruas die Herrschaft beanspruchte, in oströmische Dienste getreten, und er forderte drohend ihre Aus- lieferung. Aber noch ehe die Unterhandlungen zum Abschluss kamen, starb er plötzlich. In Constantinopel triumphierte man: es hiess, der böse König sei vom

10 Blitz erschlagen, seine Mannen erst durch eine Pest, dann durch Feuer vom Himmel, das auf sie nieder- geregnet sei, hingerafft, und das alles habe man den Gebeten des frommen Kaisers zu danken. Der Bisehof Proculus hielt eine schöne Predigt darüber, und auch

15 am Hofe, obgleich man dort besser unterrichtet war, mochte man hoffen, dass mit dem Tode des Herrschers sein kaum gegründetes Reich auseinanderfallen werde. Doch erfuhr man bald, dass Bleda und Attila, die Söhne seines Bruder Mundzuc, seineu Thron wider-

■20 standslos hatten besteigen können, und fand es denn doch angemessen, an sie einen Gesandten zu schicken. Dieser aber musste sich überzeugen, dass mit den neuen Königen noch schlechter Kirschen essen war, als mit ihrem Vorgänger. Nicht nur bestanden sie

25 auf den Auslieferungen, die schon dieser gefordert hatte, sondern sie verlangten auch, dass jeder Römer, der aus hunnischer Gefangenschaft in seine Heimat entflohen war, ihnen zurückgegeben werde, wenn man es nicht vorziehe, ihn mit acht Solidi zu lösen, das

30 sind über 100 Mk. Ausserdem wurde der jährliche Tribut auf das Doppelte erhöht. Furchtsam bewilligte man alles, und noch angesichts der Abgesandten, welche die Auslieferung vollzogen, wurden zwei vornehme Hunnenknaben, wahrscheinlich Söhne eines Häuptlings,

284 VII. Die Auflösung des Reiches.

der seine Horde dem Kaiser zugeführt hatte, ans Kreuz geschlagen. Welche Strafe die andern traf, die so töricht gewesen waren, dem Schutze des römischen Reiches zu vertrauen, scheint man nicht erfahren zu haben; denn diese Exekutionen vollzogen sich im Innern des 5 Hunnenreiches. Doch dass sie furchtbar grausam waren und jeden davon abschrecken konnten, sich der Macht der Könige entziehen zu wollen, bewies das Beispiel jener zwei unglücklichen Kinder.

Jeder der beiden Brüder nahm eine bestimmte lo Anzahl von Völkerschaften als sein besonderes Erbe in Anspruch; aber trotz dieser Teilung des Reiches scheinen sie ihre Residenzen nicht getrennt und bei Krieg und Vertrag regelmässig zusammengewirkt zu haben. Bleda war der Altere und galt als Oberkönig; is doch auch ehe er um 446 auf Anstiften seines Bruders ermordet wurde, scheint dieser es gewesen zu sein, der die Politik der Hunnen im Wesentlichen bestimmte.

Nachdem die Brüder das oströmische Reich ein- geschüchtert und gedemütigt hatten, traten sie sogleich 20 einen Feldzug an, um eine hunnische Völkerschaft, die ihnen noch nicht gehorchte oder sich nach dem Tode des Ruas gegen sie erhoben hatte, ihrer Macht zu unterwerfen. So waren sie unermüdlich, an der Vergrösserung ihres Herrschaftsgebietes zu arbeiten, 25 und da die besiegten Völker ihnen Heerfolge leisten raussten, v.'uchs mit jedem Kriege ihre Truppenzahl und damit auch die Möglichkeit, neue Völker in ihre Dienste zu zwingen. In den letzten Jahren Attilas erstreckte sich sein Reich im Westen bis in die Gegend 3o des Rheines, im Norden umfasste es noch die dänischen Inseln, im Osten verloren sich die Grenzen in den russischen Steppen, und gut unterrichtete Leute meinten, der König beabsichtige, von dort aus auch das Perser-

15. Das Reich des Attila. 285

reich zu unterwerfen. Im Süden hatte schon Ruas Pannonien vom weströmischen Reiche gewonnen, und an das oströmische stellte Attila das Ansinnen, dass es auf seinem Ufer der Donau einen Landstreifen, der 5 fünf Tagemärsche breit, bis zur Stadt Naissus reichen sollte, wüst und menschenleer liegen lasse, damit der Hunnenkönig dort ungestört jagen könne. Hierauf verzichtete er freilich und begnügte sich mit der Donau- grenze, aber erst als er einen Angriff gegen Aetius

10 plante und Theodosius davon zurückhalten wollte, diesem Hilfe zu leisten. Denn den vereinigten Wider- stand beider Reichsteile hatte er zu scheuen, wenn er auch den östlichen allein leicht genug hätte unter- werfen können. Dies aber wollte er gar nicht, weil

15 ihm das Römerreich in seiner Schwäche auf andere Weise viel nützlicher war.

Wie schon gesagt, waren die Hunnen höchst be- gierig nach Schmuck und Kostbarkeiten. Wer dazu die Mittel besass, trank aus goldenen Bechern, ass

20 von silbernen Schüsseln und schmückte seine Waffen, sein Reitzeug, selbst seine Schuhe mit Gold und Edel- steinen. Attila selbst verschmäte dies und blieb in ostensibler Weise der Vätersitte treu. Sein Teller und seine Trinkschale waren von Holz, wie bei seinen

25 armen Vorfahren in den Wüsteneien Asiens, sein Ge- wand zeigte keinen Schmuck ausser der Reinlichkeit. Trotzdem legte auch er den höchsten Wert darauf, seinen Schatz zu hüten und zu mehren. Denn sein Gefolge und die Gäste, die er zu seinen Mahlzeiten

30 lud, Hess er mit üppigstem Prunke bewirten, und wer sich um ihn Verdienste erwarb, den wollte er reich machen. Zu diesem Zweck scharrte er aus den Städten, die er eroberte, alles wertvolle Gut gierig zusammen, und wer ihm ein Stück entzog oder es auch nur ver-

286 VII. Die Auflü.suni; des Keiclie.s.

steckte, war der härtesten Strafe sicher. Der Bischof vou Margus scheint goldene und silberne Kirchengeräte vor den räuberischen Händen der Hunnen verborgen zu haben; dafür wurde seine Auslieferung gefordert. Als sie Sirmium belagerten, bestimmte der Bischof 5 einige goldene Schalen dazu, für ihn, falls er gefangen werde, als Lösegeld zu dienen. Doch der Mann, dem er sie anvertraute, veruntreute sie und gab sie einem römischen Bankier zum Pfände, um darauf Geld zu leihen. Sobald Attila dies erfuhr, verlangte er von lo Aetius, dass ihm nicht nur die Schalen, sondern auch der unschuldige Bankier ausgeliefert werde. Kein ge- fangener Römer durfte sich der Gewalt der Hunnen durch die Flucht entziehen, ohne ihnen zurückgegeben oder durch Geld ausgelöst zu werden. Noch mehr 15 aber, als durch die Kriegsbeute, wurde der Schatz des Attila durch die römischen Tribute gefüllt. Wie wir gesehen haben, erhöhte er sie gleich bei seinem Re- gierungsantritt auf das Doppelte, und nach dem sieg- reichen Krieg des Jahres 447 wurden sie wieder ver- 20 dreifacht, so dass sie nach unserem Gelde beinahe die Summe von zwei Millionen Mark jährlich erreichten. Und ausserdem musste man noch eine einmalige Kriegs- entschädigung von 5V2 Millionen Mark hergeben. Und neben diesen öffentlichen Schröpfuugen liefen geheime 25 her, die kaum minder hart drückten. Wollte Attila einem seiner Gefolgsleute wohl, so schickte er ihn unter irgend einem Vorwande als Gesandten nach Constan- tinopel mit dem ausgesprochenen Zwecke, ihn dort mit hohen Summen beschenken zu lassen, was durch 30 die sklavische Furcht des Kaisers auch immer erreicht wurde. Einmal wurde dieser sogar gezwungen, einem Günstling Attilas eine reiche Frau zu verschaffen, wo- für der König dann als Heiratsvermittler eine hübsche

15. Das Reich des Attila. 287

Gebühr von dem glücklicheu Ehemann einzog. Viel- leicht tat er Entsprechendes auch bei seinen Gesandten ; denn wenn sie heimkehrten, unterliess er nie, sie aus- zuforschen, wieviel sie von Theodosius erpresst hätten. 5 Alle diese glänzenden Einkünfte wären ihm und den Seinen verloren gegangen, wenn er das Ostreich er- obert hätte. Denn seinen eigenen Völkern forderte er keine Steuern ab, nicht aus Milde, sondern weil die Technik ihrer Erhebung seinen wilden Nomaden

10 noch ganz unbekannt war. Mit gutem Grunde fand er es daher zweckentsprechend, den Kaiser mit furcht- barem Druck die Summen von den römischen Unter- tauen herauspressen zu lassen, die dann den Schatz des Huunenkönigs füllten und dessen Gefolgsleute

15 reich machten.

Dieselben Gründe, die ihm das Erheben von Steuern unmöglich machten^ führten auch dazu, dass der Zusammenhalt seines Reiches ein ganz loser war. Denn um es einheitlich zu organisieren, fehlte den

20 Hunnen die staatenbildende Kraft. Jede der zahl- reichen Völkerschaften, die ihm gehorchten, regierte sich auf ihre eigene Art. Einzelnen gab er seine Söhne zu Beherrschern, andere blieben unter ihren angestammten Fürsten, so dass sein Reich im Wesent-

25 liehen den Charakter eines Völkerbundes trug. Doch w^ar er weit entfernt, den abhängigen Herrschern die Ehre der Bundesgenossen zuzugestehen, sondern be- trachtete und behandelte sie als Sklaven, die er mit des Schwertes Schärfe erbeutet habe. So waren denn

30 auch immer wieder einzelne der unterworfenen Stämme gegen ihn im Aufstande, und nicht am wenigsten die hunnischen, weil sie die wildesten und daher am schwersten zu bändigen waren. Demgegenüber fand er das beste Mittel der Herrschaft darin. Furcht und

288 VII. Die Auflösung des Reiches.

Schrecken um seine Person zu verbreiten. War er mit jemand unzufrieden, so überhäufte er ihn mit rohen Schimpfworten und drohte mit den qualvollsten Todesarten, die er oft genug auch zur Anwendung brachte. Doch waren jene scheinbaren Zornausbrüclie 5 nur berechnetes Mittel zur Einschüchterung, nicht Mangel au Selbstbeherrschung. Denn durch ein Lächeln die finstere Würde seines hässlichen Mongolen- gesichts zu gefährden, dazu konnte kein Spass seiner Hofnarren ihn vermögen. Auch Hess er sich in der lo Schlacht nicht dazu hinreissen, in tapferer Erregung selbst die Waffe zu führen, wie das sonst die Art barbarischer Könige war, sondern leitete nur den Kampf mit überlegener Ruhe. Seine kleine Gestalt mit der breiten Brust und dem grossen Kopfe bewegte 15 er nur in feierlich wiegendem Schritt, die schmalen Schlitzaugen mit düsterem Blicke bald rechts, bald links wendend. Mit Ausnahme seiner Allervertrautesten scheute sich jeder, ihn anzureden. Als er unter ehren- vollem Verwände einen hunnischen Häuptling zu sich 20 beschied, fürchtete dieser alsbald böse Hinterlist. Er schickte die Antwort, es sei dem Sterblichen schwer, vor das Angesicht eines Gottes zu treten; wenn man schon die Sonnenscheibe nicht fest anschauen könne, wie solle man den höchsten der Götter ohne Schaden 25 sehen? Diese Anerkennung seiner götterähnlichen Furchtbarkeit schmeichelte dem Attila so, dass er auf das Kommen des Häuptlings verzichtete und dessen Ungehorsam straflos Hess.

In seiner Hofhaltung beobachtete er ein bar- so barisches, aber darum nicht minder strenges Ceremo- niell. Seine Grossen mussten, täglich in fest bestimmter Reihenfolge sich ablösend, bei ihm die Ehrenwache halten. Nach der Art der niederen Kulturen, die

15. Das Reich des Attila. 289

Räume des Hausos nicht ihrer Bestimmung gemäss zu sondern, diente ihm die grosse Empfangshalle zugleich als Schlafzimmer. Es war ein umfangreicher Holzbau, der in einem weiten umzäunten Gehege vor den gleich-

5 falls hölzernen Häuschen seiner zahlreichen Weiber stand. In der Mitte der Rückwand befand sich sein Bett, nur durch bunte Vorhänge von dem übrigen Räume getrennt, davor der Hochsitz des Königs, von dem aus er seine Gäste bewirtete. Es war ein Sofa, während

10 sie sich mit Stühlen begnügen mussten. Neben Attila thronte sein Oheim oder sein ältester Sohn; doch wagte dieser nicht, an den gestrengen Herrn Vater nah heranzurücken, sondern begnügte sich mit einem Eck- chen des Sofas, die Augen in ängstlicher Schüchtern-

15 heit zu Boden geschlagen. Zur Rechten des Herrschers, au demselben Tische, aber auf einem Stuhl, sass der Oberfeldherr Onegesius, ihm gegenüber die anderen Köuigssöhne. Die Sitze der übrigen Gäste zogen sich, streng nach ihrem Range geordnet, rechts und links

20 an den Wänden des Saales entlang. Beim Eintritt wurde noch auf der Schwelle jedem ein Becher Wein überreicht, um den Göttern ein Trankopfer zu spenden oder, wenn er Christ war, beim Trünke sein Gebet zu sprechen. Dann nahm man auf dem vorgeschriebenen

25 Sessel Platz. Waren die Reihen voll, so trank Attila jedem einzelnen nach der Rangfolge zu; der so Ge- ehrte musste sich erheben und stehend Bescheid tun. Erst dann wurden die Tische hereingetragen und auf ihnen die Mahlzeit serviert. Nach dem ersten Gange

30 erhoben sich wieder die Gäste, um einer nach dem andern, mit dem Vornehmsten angefangen, aufs Wohl des Königs ihren Becher zu lehren. Auf den zweiten Gang folgte dieselbe Ceremonie, und so fort bis zum Ende der Mahlzeit. Wenn die Fackeln angezündet

Seeck, Untergang der antiken Welt. VI. 19

290 VII. Die Auflösung des Reiclies.

w'urdeD, traten Säuger in die Halle, um durch epische Lieder die Taten Attilas zu preisen. Dann mussten seine Hofaarren die Gesellschaft ergötzen, von denen namentlich einer, indem er in unsinnigem Geschwätz hunnische, gothische und lateinische Worte durch- 5 einandermengte, brüllendes Gelächter erregte. Nur Attila sass, keine Miene verziehend, in grimmiger Steif- heit dabei, während um ihn her das starre Ceremoniell sich allmählich in wilde Lustigkeit und tolle Betrunken- lieit auflöste. lo

Indem er so bestrebt war, die Roheit seiner Völker in höfische Formen zu zwingen, die freilich seine eigene sehr bescheidene Kulturhöhe deutlich genug verrieten, musste ihm der Byzantinismus in seiner strengen Feierlichkeit, die durch Jahrhunderte- i5 lange Ausbildung ihr Gepräge empfangen hatte, mäch- tig imponieren. Er liess es sich daher gern gefallen, dass ihm der Kaiser den Titel eines Magister Militum verlieh und so den Tributen die minder anstössige Form eines Beamtengehaltes gab. Auch legte er Wert 20 darauf, dass die Gesandten, die man ihm schickte, von hohem Range waren. Doch hielt ihn dies nicht ab, sie mit zur Schau getragener Geringschätzung und barbarischer Grobheit zu behandeln und dem Kaiser selbst die derbsten Wahrheiten sagen zu lassen. Als 20 dessen Hof Mordpläne gegen ihn spann, nahm er dies keineswegs tragisch; ja es scheint ihm sogar recht angenehm gewesen zu sein, dadurch neue Gelegenheiten zum Geldmachen zu gewinnen. Doch liess er durch seinen Abgesandten mündlich bestellen: Theodosius '^-^ sei der Sohn eines vornehmen Vaters; aber auch er selbst sei von guter Abstammung und habe als Nach- folger seines Vaters Mundzuc dessen Vornehmheit be- wahrt. Der Kaiser aber habe sie eingebüsst, indem

15. Das Keicli des Attilii. 291

er durch seinen Tribut der Sklave des Attila geworden sei. Er handle wider das Recht, wenn er einem Besseren, den das Geschick ihm zum Herrn gegeben habe, als schlechter Sklave heimlich nachstelle. Dies

5 und Ähnliches musste man sich in Constantinopel ge- fallen lassen und immer zahlen und wieder zahlen. Denn dass man den Waffen des Barbaren nicht wider- stehen könne, hatte schwere Erfahrung nur zu deut- lich gelehrt.

10 Nachdem Bleda und Attila den Thron besties-en

hatten, scheinen sie anfangs mit dem Niederschlagen von Aufständen und der Ausdehnung ihres Gebietes nach Norden und Westen beschäftigt gewesen zu sein. Erst im achten Jahre ihrer Regierung (441) kam es

15 zum Kriege mit dem östlichen Reichsteil. Der Vertras: von 434 hatte bestimmt, dass bei den Messen, die an der Grenze abgehalten wurden, die Kaufleute beider Teile nach gleichem Rechte miteinander verkehren und ihre Person geschützt sein solle. Trotzdem über-

■>o fielen die Hunnen das Kastell, in dem der Jahrmarkt stattfand, bemächtigten sich seiner und brachten zahl- reiche Händler um. Die Veranlassung dazu bot wohl nur die Raubgier der Barbaren, die durch die feil- gebotenen Waren angelockt wurde. Doch als Gesandte

25 des Kaisers Beschwerde führten und sich dabei auf den Vertrag beriefen, wurde ihnen die Antwort, die Römer hätten ihn zuerst gebrochen, indem sie Unter- tanen der Hunnenkönige in ihre Dienste genommen hätten. Diese müssten ausgeliefert werden und zugleich

30 der Bischof von Margus, weil er den königlichen Schatz bestohlen habe. Dass Männer, die im Gebiete des Attila zu Hause waren, im Heere des Kaisers dienten, war richtig; wahrscheinlich gehörte selbst einer seiner Feldherren, der Gothe Arnegisclus, dazu. Leute dieser

19*

292 VII- l>ie Auflösung des Reiches.

Art waren einflussreich genug, um die Ehrenpflichten des Reiches, die man früher nur zu leicht vergessen hatte, in Erinnerung zu bringen, und gegen die Aus- lieferung eines Bischofs sträubte sich das Gefühl des frommen Kaisers. Seine Gesandten leugneten daher j alles ab, was keine andere Folge hatte, als dass die Hunnen ohne weitere Verhandlungen die Donau über- schritten, das Land an ihrem Ufer verwüsteten und selbst die Stadt Yiminacium einnahmen. Gleichzeitig fielen Perser, Saracenen, Tzannen und Isaurer in die lo asiatischen Provinzen ein und machten es unmöglich, deren Grenzwehren gegen die Hunnen zu benutzen. In dieser Not rieten manche dazu, sich ebensowenig um die römische Ehre zu kümmern, wie man es bei dem Vertrage von 434 getan hatte, und wenigstens i'^ den Bischof von Margus auszuliefern. Dieser aber fand es angezeigt, mit den Hunnen seinen Sonder- frieden zu machen, indem er ihnen gegen Zusicherung seines Lebens die Tore seiner Stadt bei Nacht öffnete. Nachdem auch diese wichtige Festung verloren war, -'o sahen sich die Feldherren des Kaisers gezwungen, mit Bleda und Attila einen einjährigen Waffenstillstand zu schliessen. Auf diese Weise konnte man vielleicht mit den asiatischen Feinden fertig werden, ehe der neue Hunnenkrieg begann,

Bald darauf wurde der Vandale Johannes, der als Magister Militum in Thrakien befehligte, durch Arue- gisclus ermordet. Wahrscheinlich war er dafür ein- getreten, diesen mit seinen Genossen auszuliefern und so den endgiltigen Frieden zu erkaufen. Denn für :»> die Hunnen scheint sein Tod das Signal gewesen zu sein, als der Waffenstillstand noch lange nicht ab- gelaufen war, von neuem in das Reich einzufallen. Um des guten Scheines willen trat Attila vorher noch

15. Das Reicli des Attila. 298

einmal mit dem Kaiser in Uuterhaudluug. Er forderte ausser der Zahluug- des Tributes, die wegen des vorher- gehenden Krieges unterblieben war, wieder die Aus- lieferung derer, die er als Überläufer betrachtete.

[, Gewähre man dies nicht, so werde er sein Volk nicht zurückhalten können, den Waffenstillstand zu brechen. Diesmal fand man in Constantinopel den Mut, die Forderung zu versagen. Die Feinde in Asien brachte iuan zur Ruhe, indem mau auch ihnen Tribute zu-

10 sicherte; doch noch ehe man von dort Hilfstruppen nach Europa schaffen konnte, gingen die Hunnen vor und eroberten Ratiaria. Auch Singidunum, Naissus und andere Städte fielen in ihre Hände, und noch im folgenden Jahre (442) dauerte die Verwüstung von

15 Thrakien und Illyricum fort. Endlich erbarmte man sich in Ravenna des schwer heimgesuchten Bruder- reiches, und Aetius schritt zu dessen Gunsten ein. Die Hunnenkönige hatten die Politik ihres Vorgängers Ruas fortgesetzt und das Zusammenwirken der beiden

20 Reichsteile zu hindern gesucht, indem sie zu dem west- lichen ein freundliches Verhältnis erhielten und zugleich den östlichen ausbeuteten. Denn beide zugleich zu bekämpfen, hielt man denn doch für gefährlich, umso mehr als sich von Gallien aus die benachbarten Teile

25 des Hunnenreiches leicht aufwiegeln liessen, während Attila und Bleda im fernen Osten beschäftigt waren. So gelang es Senator, dem Vater des Cassiodor, der von Italien nach Constantinopel und von dort zu den Hunnen geschickt wurde, einen Frieden zu vermitteln,

30 ohne dass Arnegisclus ausgeliefert wurde. Carpilio, der Sohn des Aetius, begleitete den Gesandten und blieb als Geisel bei den Feinden zurück. Wie der Patricius selbst durch seine Vergeiselung bei den wilden Nomaden die Grundlage seiner späteren Macht ge-

294 Vll. Die Auflösuu«; des Reiches.

schaffen hatte, sollte auch sein Sohn auf die gleiche Weise sich zur Nachfolge des Vaters vorbereiten.

Fünf Jahre dauerte der Friede; nachdem aber Attila seinen Bruder umgebracht und so die ganze Macht des Hunnenreiches in seiner Hand vereinigt 5 hatte, brach 447 der schwerste und unheilvollste Krieg aus, den er gegen das Ostreich geführt hat. Den Anlass kennen wir nicht; vielleicht war es eine Ver- zögerung in dem Einlaufen des Tributes. Denn in den Jahren 446 und 447 wurde Constantinopel von Hungers- 10 nöten und Pesten heimgesucht: langdauernde Erdbeben zerstörten mehrere Städte und brachten in der Haupt- stadt die Mauer mit 57 Türmen zum Einsturz. Alles dies lähmte die Steuerkraft und kostete zugleich schweres Geld, umso mehr als die Not der Zeit dazu 15 zwang, die Befestigungen Constautinopels so schnell zu erneuern, dass man durch die grosse Zahl der dazu aufgebotenen Arbeiter schon in drei Monaten damit fertig wurde. Und dazu gefiel sich der Hof in un- besinnlicher Verschwendung: reiche Geschenke an die Günstlinge des Kaisers und der Kaiserinnen, prächtige Spiele und unnützer Prunk vergeudeten das Geld, das man mit immer schärfer angespanntem Steuerdruck den Untertanen abpresste. Unter diesen Umständen ist es sehr wahrscheinlich, dass die Mittel gerade für 25 das versagten, was in der damaligen Lage des Reiches das Dringendste gewesen wäre. Nachdem die Hunnen die Donau überschritten hatten, stellte sich ilineu Arnegisclus am Ufer des Utus entgegen, fiel aber nach tai)ferem Kampfe. Sie nahmen Marciauopel und drangen 3o plündernd und verwüstend bis an die Thermopylen vor. Nicht weniger als siebzig Städte und Burgen, darunter so bedeutende, wie Philippopolis und Arcadiopolis, sollen sie erobert haben. Als sich der Feind, aus

15. Das Heicli des AttiUi. 295

Griechenland zurückkehrend, gegen Constantiuopel wandte, wurde ihm auf dem thrakischen Chersounes noch eine Schlacht geliefert; da auch diese gegen die Römer entschied, drang er bis an das Kastell Athyras wenige

5 Meilen von der Hauptstadt vor. Da musste man auch unter den härtesten Bedingungen Frieden schliessen. Wie schon oben (S. 286) erzählt ist, wurde neben ein- maliger Zahlung von 6000 Pfund Gold der Jahrestribut auf das dreifache erhöht: alle, die Attila als Überläufer

10 galten, mussten herausgegeben werden, und der Kaiser verpflichtete sich, keine neuen aufzunehmen. So sehr dieser sonst der Kirche ergeben war, jetzt sah er sich gezwungen, die Steuern, die er früher den Bischöfen geschenkt hatte, von ihnen beizutreiben und das zwar

15 für eine ganze Reihe vergangener Jahre, so dass einzelne die heiligen Geräte ihrer Kirche einschmelzen mussten, um seine Forderungen zu befriedigen (S. 258). Unter dem Verwände, dass noch einzelne Überläufer im Römerreiche versteckt seien, begannen dann jene

20 immer wiederholten Gesandtschaften, die nur bestimmt waren, die Günstlinge Attilas zu bereichern. Mit be- rechneter Nichtachtung wurde das oströmische Reich behandelt, weil Attila wusste, dass Theodosius, je brutaler mau ihn einschüchterte, desto williger hergab,

25 was man nur verlangte.

Gleich nach jenem Kriege wurde durch einen Zufall der Übermut des Attila aufs höchste gesteigert. Wie mau sich erzählte, war ein Schwert, in dem man sich den Kriegsdämon eiugekörpert dachte, in alten

30 Zeiten der meist geschätzte Fetisch der Hunnen ge- wesen, aber bei einer ihrer Wanderungen verloren gegangen. Da bemerkte einer dieser nomadischen Hirten, da,ss eine Kuh durch eine Verwundung am Fusse hinkte. Er folgte ihrer Blutspur und wurde

296 Vn. Die Auflösung des Reiches.

dadurch zu einem alteu Schwert geführt, das uur ein wenig aus der Erde hervorragte. Nachdem er es ausgegraben hatte, überbrachte er es Attila, und dieser war sogleich überzeugt, das müsse der laug vermisste Fetisch sein. Durch den Besitz eines solchen Wunder- 5 Schwertes hielt er sich für unüberwindlich und zweifelte iiiclit, dass ihm die Herrschaft über den Weltkreis be- stimmt sei. Seitdem träumte er von der Unterwerfung des Perserreiches, wollte aber vorher die näher ge- legenen Gebiete, soweit sie noch unabhängig waren, h. unter seinen Willen zwingen. Das weströmische Reich zu erobern, hatte für ihn keinen Sinn; denn nur ge- wohnt, über Horden zu gebieten, hätte er den kompli- zierten Verwaltungsapparat eines hochcivilisierten Staates gar nicht zu handhaben gewusst. Er konnte nur be- 15 absichtigen, es ebenso zu tyrannisieren und zur Füllung seines Schatzes auszubeuten, wie er dies schon lange mit dem oströmischen tat. Dem aber stand nicht der schwache Kaiser entgegen, sondern nur dessen kühner und selbstbewusster Feldherr. 20

Mit Aetius hatte er sich bisher gut vertragen: denn einerseits hatte dieser allen Grund, die Hunnen bei freundlicher Laune zu erhalten, andererseits war er ein erprobter Krieger, dessen Waffen auch ein Attila scheuen musste. Der Nomadenkönig, für den .25 gewiss die Buchstaben finstere Geheimnisse bedeuteteu. hatte aus Ravenna schriftkundige Römer empfangen, die seine Korrespondenz führten, wofür sich Attila nicht nur dadurch dankbar erwies, dass er dem Aetius einen lächerlichen Hofnarren schenkte, sondern auch :^o durch die Sendung von Hilfstruppen. Infolgedessen hatte sich der römische Westen noch im Kriege von 447, in dem man seine Hilfe im Ostreich driugeml brauchte und wohl auch erwartete, neutral gehalten.

15. Das Reicli des Attila. 297

Doch gleich nach der Entdeckung jenes Fetisches begann Attila durch dieselben Auslieferungschikanen, mit denen er den Hof des Theodosius zur Yerzweif- lung brachte, auch Aetius zu quälen. Offenbar suchte

5 er Händel; denn dass der tapfere Patricius sich nicht zu solchen Ehrlosigkeiten hergeben werde, wie man sie in Constantinopel als unvermeidlich betrachtete, konnte er wissen. Diesmal war seine Forderung so haltlos, dass er nicht auf ihr bestehen konnte; bald

Kj aber sollte ihm eine abenteuerliche Liebesgeschichte eine Handhabe bieten, die sich besser als Kriegsgruud benutzen liess.

Die drei Schwestern des Theodosius, von denen zwei etwas älter waren als er, hatten sich ewiger

15 Jungfrauenschaft geweiht, vergasseu aber über ihrer gottseligen Enthaltsamkeit nicht die Angelegenheiten der bösen Welt, sondern waren stets bereit, ihrem trägen Bruder die Geschäfte der Regierung abzu- nehmen. Während ihres Aufenthalts in Constantinopel

2() hatte Placidia mit ihren fronmien Nichten gefastet und gebetet, und selbst im strengsten Christentum erzogen, sah sie in deren Verhalten das Ideal der Weiblichkeit. Auch ihre Tochter Justa Grata Honoria war ein Jahr älter als ihr Sohn; auch dieser erwies sich ebenso un-

2.5 tüchtig, wie sein Vetter und Schwiegervater im öst- lichen Reichsteil. Placidia wollte daher das schöne Vorbild nachahmen, das ihr der Hof von Constan- stinopel bot. Noch ehe Honoria ihr zwanzigstes Jahr vollendete, wurde sie nicht nur zur Augusta ausgerufen,

30 sondern auch in aller Form zur Mitregentin ernannt; «loch sollte sie dafür auch die nonnenhafte Keuschheit ihrer Basen auf sich nehmen. Diesem Gelübde blieb sie mindestens bis zu ihrem siebenundzwanzigston Jnhre treu; wenig später aber regten sich auch in ihr die

298 VII. Die Auflösung- des Reiches.

Instinkte des Weibes. Man ertappte sie auf einem Verhältnis mit Eugenius, dem Verwalter ihres Ver- mögens, und dieser wurde hingerichtet, sie selbst aus dem Kaiserpalast Verstössen und nach Coustantinopel geschickt, wo ihre keuschen Basen sie zur Tugend 5 bekehren sollten. Als sie nach Ravenna zurückgekehrt w^ar, wollte man sie, da es mit der ewigen Jung- fräulichkeit doch nichts mehr war, zur Frau des Flavius Bassus Herculanus macheu, eines hochvor- nehmen Herrn, der unbedeutend genug war, um von 10 ihm auch als Schwager des Kaisers keine Herrschafts- gelüste fürchten zu müssen; sie aber hatte andere Pläne. Wenn in unseren zoologischen Gärten Neger oder Indianer zur Schau gestellt werden, kann man es noch heute beobachten, dass Fremdartigkeit und 15 urwüchsige Wildheit auf manche Weiber einen starken geschlechtlichen Reiz ausüben. Auf die Kaisertochter, die der einzwängenden Überkultur eines byzantinischen Hofes gründlich satt war, mochte die Gestalt des furcht- baren Hunnenkönigs ähnlich wirken, umso mehr als 20 der gewaltige Kriegsheld wohl geeignet war, ihre Phantasie lebhaft zu beschäftigen. So versöhnte sie sich sogar mit dem Gedanken, nur eine unter den vielen Weibern seines Harems zu sein : sie übersandte ihm um das Jahr 449 durch ihren vertrauten Eunuchen 25 Hyacinthus heimlich einen Ring und Hess ihm ihre Hand antragen.

In Coustantinopel, wo immerfort hunnische Ge- sandte aus- und eingingen, erfuhr man zuerst davon. Theodosius meldete es nach Ravenna und fügte in 30 seiner feigen Angst vor dem unüberwindlichen Bar- baren den Rat hinzu, man möge diesem seinen Willen tun und die Braut übersenden. Valentinian aber, der die schwere Hand des Attila noch nicht gefühlt hatte, liess

15. Das Reich des Attila. 299

den Hyacinthus nach grausamen Martern enthaupten, entsetzte Honoria aller ihrer Ehren und Würden und bedrohte sie mit der Todesstrafe. Die Bitten ihrer Mutter retteten ihr das Leben; doch wurde jetzt ihre 5 Vermählung mit Herculauus eiligst vollzogen. Um dieselbe Zeit empfing man die Nachricht, dass Theo- dosius am 20. Juli 450 plötzlich gestorben und am 25. August Marcian an seiner Statt auf den Thron erhoben war fS. 269). Dieser war ein erprobter

10 Krieger, von dem man erwarten konnte, dass er den Hunnen kühn entgentreteu und das weströmische Reich, falls es gegen sie zum Kriege käme, kraftvoll unterstützen werde.

Attila empfing fast zugleich die Nachricht von

]5 dem Thronwechsel in Constantinopel und der Strafe der Honoria, aber, wie es scheint, noch nicht von ihrer Vermählung. Alsbald schickte er an beide Kaiser Gesandtschaften; aber deren Aufträge brauchten nicht zum Kriege zu führen, wenn nur Aetius beseitigt

20 wurde. Marcian wurde nur an die Zahlung des Tri- buts erinnert; erklärte er sich bereit dazu oder bat auch nur um Aufschub, so hatte er damit die Ober- hoheit Attilas anerkannt, und das alte Verhältnis zum Ostreiche dauerte auch unter dem neuen Beherrscher

25 desselben fort. Valentinian empfing die Botschaft, dass die Verlobung Honorias mit dem Hunuenkönig keine Strafe verdiene und dass er, wenn er Krieg vermeiden wolle, sie wieder zur Mitregentin einsetzen müsse. Das bedeutete, dass Attila selbst als Gemahl der Augusta

30 Mitregent des weströmischen Kaisers werden, also Aetius bei Seite schieben und sich an dessen Stelle setzen wollte. Placidia und ihr Sohn hatten ihren Patricius längst in die Hölle gewünschst, und es war nicht ausgeschlossen, dass ein starker Barbarenfürst

300 VII- Die Auflösung des Reiclies.

als Feldherr und Schützer des Reiches ihnen will- kommen war. Aber welche harte Tyrannei Attila auszuüben pflegte, hatte sich im Ostreiche zu deutlich gezeigt, als dass dieser Personenwechsel ihnen hätte erwünscht sein können. Und dass jetzt die beiden 5 Reichsteile auf gegenseitige Unterstützung rechnen konnten, gab den Kaisern Mut. In Constantinopel empfingen Attilas Gesandte die stolze Antwort, von einem Tribut könne nicht mehr die Rede sein ; wolle er Frieden halten, so werde man ihn durch freiwillige lo Geschenke ehren; anderenfalls sei man bereit, seinen Heeren mit einer ebenbürtigen Macht entgegenzutreten. Yalentinian Hess ihm sagen, die Hand seiner Schwester sei schon vergeben; auch kömie sie nicht Mitregentin sein, weil das römische Staatsrecht keine weiblichen i5 Herrscher zulasse. Dies war früher richtig gewesen; doch schon Arcadius hatte zu Gunsten seiner schönen Frau eine Ausnahme gemacht (V S. 318), und nach seinem Tode hatten im Osten wie im Westen Weiber nicht nur den Augustatitel getragen, sondern auch 20 tatsächlich regiert. Doch machte es sich hübsch, wenn man dem barbarischen Könige gegenüber sich auf altrömische Grundsätze berief. Und wie dieser Bescheid eine Lüge, so war der des Marcian eine törichte Prahlerei. Denn seit Ruas und Attila dem 25 Ostreiche die Werbungen jenseit der Donau abge- schnitten hatten, gab es hier gar keine Heeresmacht, die der hunnischen auch nur annähernd ebenbürtig gewesen wäre. Doch jeder der beiden Kaiser ver- liess sich auf den andern und mochte vielleicht gar :w hoffen, den Angriff des furchtbaren Feindes ohne eigene Gefahr auf das Bruderreich abzulenken. Jeden- falls hat Marcian nichts getan, um die Hunnen von einem Anffriff auf Gallien zurückzuhalten oder den

15. Das Reich des Attila. 301

Widerstand des Aetius durch Hilfstruppen zu er- leichtern.

Attila hatte jetzt die Wahl, welchen der beiden Reichsteile er zuerst angreifen wollte. Mit dem öst-

-) liehen hätte er leicht genug fertig werden können, wenn er nicht hätte fürchten müssen, dass Aetius ihm in den Rücken fiel, vielleicht gar einige der Völker- schaften, die den Hunnen nur gezwungen Heerfolge leisteten, zum Abfall brachte. So begnügte sich Attila

10 dem Ostreiche gegenüber, es ein wenig zu erschrecken, damit es ihn nicht seinerseits beunruhige. Im Sep- tember 451 fielen plündernde Scharen in das orien- talische Illyricum ein, wurden aber von Kaiser Marcian, der ihnen persönlich entgegenzog, schnell zurückge-

15 schlagen. Der Hunnenkönig selbst wandte sich gegen den stärkeren Feind, wollte aber nicht gleich ihn selbst bekriegen, sondern vorher die Quellen seiner Macht abgraben. Das Ostreich hatte er dadurch zur Ohnmacht verdammt, dass er ihm die Werbungen jen-

20 seit der Donau unmöglich machte; denn die Soldaten, die im römischen Gebiet ausgehoben wurden, taugten nicht viel. Auf ähnliche Weise sollte auch Aetius lahmgelegt werden. Seit ihm die Kriegshilfe der Hunnen versagt war, konnten nur die Niederlassungen

25 der Barbaren in Gallien und Spanien seine Werbe- bezirke sein. Für Attila war also das nächste Ziel, auch diese Völker in seine Heerfolge zu zwingen, und eben damals boten sich ihm dafür günstige Hand- haben dar.

80 Schon 448 war der Arzt Eudoxius, der als Ba-

gaudenhäuptling verfolgt wurde, aus Gallien zu ihm geflohen. Dieser konnte ihm als ortskundiger Führer dienen, vielleicht gar durch seine früheren Verbin- dungen die gallische Bevölkerung zu neuen Aufständen

302 ^'11- Di^ Auflösung- des J\eio]ies.

gegen Aetius anreizen. Dann war bei den Franken der König gestorben und seine Söhne über die Nach- folge in Streit geraten. Der ältere hatte sich um Hilfe an Attila gewandt, der jüngere an Aetius, und dieser hatte ihn nicht nur freundlich aufgenommen, sondern, s um ihn noch fester an sich zu fesseln, sogar adop- tiert. Danach durfte der Hunnenkönig erwarten, dass wenigstens der Teil der Franken, der die Partei des älteren Bruders bildete, sich ihm in Gallien anschliessen w^erde, und wirklich scheint dies eingetreten zu sein, lo Endlich konnte er, wenn er die Westgothen angriff, auch auf die Unterstützung Geiserichs hoffen. Dieser hatte früher seinen Sohn Hunerich mit der Tochter ihres Königs Theodorich vermählt, aber mit dem finsteren Misstrauen, das ihm eigen war, bald gearg- 15 wohnt, dass sie ihn vergiften wolle, um ihrem Gatten die Herrschaft zu verschaffen. Er hatte ihr Nase und Ohren abschneiden lassen und sie so schmachvoll ent- stellt ihrem Yater zurückgeschickt. Jetzt musste er fürchten, dass dieser sich zur Rache mit Aetius ver- ■:<) binden und ihm zur Wiedereroberung Africas Mann- schaften stellen werde, deren germanische Tapferkeit den Vandalen verhängnisvoll werden konnte. Geiserich schickte daher an Attila reiche Geschenke und ver- sprach ihm wahrscheinlich für einen Krieg gegen die 25 Westo-othen auch seine Hilfe. Denn ohne grosse Opfer seinerseits konnte er sehr wirksam in den Kampf eingreifen. Er brauchte dazu nur eine seiner Räuber- flotten im südlichen Gallien landen zu lassen oder auch den römischen Heeren die africanische Kornzufuhr zu m versagen.

So beschloss denn Attila, sich zunächst nach Gallien, in erster Linie aegen die Westo-othen zu wenden. Doch mnsste er vorher versuchen, Aetius

15. Das Reich des Attila. 308

vou ihrer Unterstützuug zurückzuhalteü, und dies schien keineswegs unmöglich. Denn der Patricius hatte Tiieodorich als den mächtigsten unter den Beherrschern der barbarischen Stämme, die innerhalb der Reichs-

3 grenze hausten, immer als seinen gefährlichsten Feind betrachten müssen. Schon seine erste Waffentat war gewesen, dass er die Gothen von Arelate zurückschlug (S. 114). Dann hatte er 436 439 mit den Uilfs- truppen, die Attila ihm damals gewährte, einen schweren

lu Krieg gegen sie geführt, und nachdem sein Mitfeldherr Litorius in ihre Gefangenschaft geraten war, nur mit Mühe von ihnen einen nicht unvorteilhaften Frieden erlangt. Doch noch 444 hatte Theodorich Sebastianus, den Feind und Nebenbuhler des Aetius (S. 117), bei

15 sich aufgenommen, 446 gothischen Horden gestattet, sich an der Plünderung Spaniens zu beteiligen, und an den Verwüstungen, die sein Schwiegersohn, der Sueben- könig Rechiarius, 449 über dies unglückliche Land verhängte, wird auch er kaum ganz unschuldig gewesen

20 sein. So hatten bis unmittelbar vor der Kriegserklärung des Attila die Reibungen zwischen Gothen und Römern nicht aufgehört, und dass sie jetzt ihres alten Grolles vergessen würden, um sich gegen den gemeinsamen Feind zu verbünden, war recht unwahrscheinlich.

•jo Die nächste Politik des Hunnenkönigs war daher,

diesen Riss zu erweitern. Theodorich erinnerte er daran, wie viel Schaden ihm Aetius getan hatte, und suchte ihn zu einem Bündnis gegen diesen zu ver- locken. Kam es zustande, so gewann er einstweilen

30 die freiwillige Heerfolge der Gothen, die seine Über- macht bald in eine erzwungene verwandeln konnte. Auch Valentinian gegenüber stimmte er seine Forde- rungen etwas herab. Zwar bestand er auf seiner Ver- mählung mit Honoria, beanspruchte aber für sie nicht

304 VII. Die Auflösung des Reiches.

mehr die Mitregentschaft, sondern die Hälfte des West- reiches. Dies klingt uns heute gefährlicher, als es damals Valentinian erscheinen musste. Denn natürlich verlangte Attila für sich und seine künftige Gattin den gallischen Reichsteil, in dem die Hoheitsrechte des 5 Kaisers sich nur durch immer wiederholte Kämpfe aufrecht erhalten Hessen. Wenn hier sein Schwager unbestritten herrschte und dann einem Sohne der Honoria eine ebenso fest gefügte Herrschaft hinterliess. konnte dies sogar helfen, das auseinanderfallende West- lo reich neu zu kitten. Schon Valentinian selbst hing nur durch seine Mutter mit der Familie des Theodosius zusammen; schon in ihm war daher die weibliche P]rb- folge anerkannt, und da er keine männlichen Nach- kommen besass, konnte sich durch seine Schwester i5 die regierende Dynastie fortsetzen. Freilich wären ihre Kinder hunnisches Halbblut gewesen; aber in der damaligen Lage des Westreiches hätte man sich auch solche Herrscher gefallen lassen. Die Anträge des Attila waren also für Valentinian nicht unannehmbar, 2a wohl aber für Aetius, der die höchste Feldherrnstelle natürlich an den Hunnenkönig hätte abtreten müssen. Aber da ihm die Truppen in Ravenna gehorchten, konnte er vom Kaiser erzwingen, was er wollte. Zudem war seine alte Feindin Placidia am 27. November 450 25 gestorben, was seine Stellung noch mehr befestigte. So wurden die Gesandten Attilas abgewiesen, und in banger Erwartung sah mau dem Kriege entgegen. Jetzt musste die erste Sorge sein, Theodorich von dem Bündnis mit den Hunnen zurückzuhalten und für 30 Aetius zu gewinnen. Dies gelang, doch dass diejenigen, welche noch kürzlich Feinde gewesen waren, sich nicht ohne verstecktes Misstrauen zusammenfinden konnten, sollte für den Verlauf des Krieges böse Folgen haben.

15. Das Reich des Attila. 305

Im Frühling 451 überschritt Aetiiis die Alpen. Das Heer, das er mitbrachte, war schwach; doch indem er die kriegerischen Völker, die Gallien bewohnten, an sich zog, versammelte er schnell eine achtung-

5 gebietende Macht. Nur konnte er sich auf die Treue dieser Hilfsvölker nicht unbedingt verlassen; z. B. sagte man dem Alanenkönig Sangibanus nach, dass er heim- lich mit Attila in Verbindung getreten sei. Und was noch schlimmer war, Aetius erfuhr, dass die Gothen

10 sich nicht ihm auschliessen, sondern nur ihre eigenen Grenzen gegen die Hunnen verteidigen wollten.

Unterdessen war Attila ihm zuvorgekommen. Schon im Winter hatte er von Pannonien aus den Feldzug angetreten und, unterwegs die Scharen seiner

15 Vasallen an sich ziehend, sein Heer zu einer gewaltigen Masse angeschwellt. Mau schätzte es auf eine halbe Million, was freilich stark übertrieben sein wird. Aber selbst wenn es kaum die Hälfte zählte, musste diese unübersehbare Menge ordnungsloser Horden die Krieg-

20 führung mehr behindern, als fördern. Denn wie sich von selbst versteht, konnte sie sich nur langsam vor- wärts bewegen und war sehr schwer zu ernähren. Schon der Übergang über den Rhein, zu dem man sich die Bote und Flösse erst selbst zimmern musste,

25 wird lange Wochen in Anspruch genommen haben. Leicht hätte Aetius ihn hindern oder die Scharen, so- lange sie durch den breiten Strom voneinander getrennt waren, einzeln schlagen können, wenn er nicht viel zu spät nach Gallien gekommen wäre. So aber konnte

30 Attila ungehindert in das nördliche Gallien einfallen, wo der junge König der Franken, der seine Hilfe an- gerufen hatte, sich mit ihm vereinigen konnte. Am Ostersonnabend (7. April 451) wurde Metz eingenommen, die ganze Bevölkerung niedergemacht und die Stadt

Seeck, Untergang der antiken Welt. VI. -0

306 VII. Üie Auflösuug des Reiches.

verbrannt. Dann wandten die Hunnen sich südlich und bereiteten nocli mehreren anderen Städten das gleiche Schicksal, bis Aetius, als sie Orleans belagerten, ihrem Vordringen Einhalt gebot.

Durch Yermittluug des vornehmen Galliers Avitus, 5 der bei den Gothen soviel galt, dass sie ihn später zum Kaiser erhoben, hatte er es erreicht, dass sie auf ihre feige Defensive verzichteten und ihre Kriegsmacht der seineu anschlössen. So v^erstärkt, konnte er es wagen, den Hunnen entgegenzuziehn. Durch die lo Prophezeiungen ihres Bischofs, des heiligen Annianus, zum Kampfe begeistert, hatten die Bürger Orleans verzweifelten Widerstand geleistet; doch war ihre Mauer schon an einer Stelle durchbrochen, als die verbündeten Heere anrückten und den Feind, ehe er die Stadt u plündern und verwüsten konnte, zum Abzug zwangen (24. Juni 451).

Wenn ein grosses Heer sich nur durch Plünderung des eroberten Landes ernähren muss, ist es gezwungen, sich über sehr ausgedehnte Gebiete zu verbreiten. Dass 20 Attila sich jetzt nach Norden zurückzog, wird also den Zweck gehabt haben, seine zerstreuten Scharen, vom Feinde ungestört, für den Entscheidungskampf zu sammeln. Auf den weiten Ebenen der Champagne, die für die Verwendung hunnischer Reiterhorden besonders 25 günstig waren man nannte sie damals Campt CataJamih'i , bei dem Orte Mauriacum, westlich von Troyes, schlug er seine Wagenburg. Wie es scheint, schnitt er dadurch die Teile der Franken, die dem Thronkandidaten des Aetius anhingen, von der Ver- 30 einigung mit den Römern und Gothen ab; jene suchten bei Nacht unbemerkt an seinem Lager vorbeizukommen, stiessen aber dabei auf die Gepiden, und es kam in der Dunkelheit zu einem mörderischen Kampfe. Die

15. Das Keicli des Attila. 307

Franken scheinen sich den Durchzug erzwungen zu haben, aber nur unter schweren Verlusten; denn nicht weniger als 15 000 Mann sollen auf beiden Seiten gefallen sein. Doch war dies nur das kleine Vorspiel

5 eines viel gewaltigeren und schrecklicheren Ringens. Beide Teile sahen ihm nicht ohne furchtsames Grauen entgegen, und dies prägte sich in der Weis- sagung aus, die Attila, als er nach seiner Gewohnheit die Opferschauer befragte, über den Ausgang des

10 Kampfes erhielt. Ein Sieg sei ihm nicht beschieden, den feindlichen Feldherrn aber erwarte der Tod. Aetius, der den Hunnen so viel verdankte und sie jetzt doch zu bekämpfen wagte, war dem König tief verhasst. Zudem mochte Attila nicht mit Unrecht meinen, der

1.5 Völkerbund, den jener vereinigt hatte und nur durch seine Person zusammenhielt, werde auseinanderfallen, sobald ihm sein Schöpfer und Leiter geraubt werde. Den Tod des Aetius betrachtete er daher als einen genügenden Erfolg des bevorstehenden Kampfes: war

20 er mit einer Schlappe der Hunnen verbunden, so schien diese doch künftige Siege zu verbürgen. So nahm er trotz jener Weissagung die Schlacht an, begann sie aber erst drei Stunden vor Sonnenuntergang, damit die Feinde den Sieg, der ihnen verkündigt war, durch den

■25 Einbruch der Nacht verhindert, nicht verfolgen könnten.

Als man sich zum Kampfe aufstellte, überliess

Aetius den Ehrenplatz auf dem rechten Flügel den

Westgothen; er selbst mit den Römern stand auf dem

linken. Doch hatte er Thorismund, den ältesten Sohn

:io des Theodorich, in seiner Umgebung behalten, um an ihm eine Geisel für die Treue des Vaters zu besitzen. Die Mitte der Schlachtordnung wies er den Alanen unter Sangibanus an, dessen Zuverlässigkeit man nicht recht traute. Dies war dieselbe Taktik, durch die

20-

308 VII. Die Auflösung des Reiches.

einst Haunibal die Schlacht bei Cannae gewonuen hatte. Indem er den schlechtesten Teil seines Heeres ins Centrum stellte, hatte er hier dem Feinde das Vor- dringen ermöglicht; doch war dieser so zwischen die starken Flügel hineingeraten und von beiden Seiten 5 her erdrückt worden. Es ist nicht unmöglich, dass Aetius dies im Polybius gelesen hatte uud mit vollem Bewusstseiu das grosse Vorbild nachahmte. Attila aber unterstützte diesen Plan, indem er selbst mit den furchtbarsten seiner Horden sich dem Sangibanus gegen- überstellte. Dem Theodorich traten seine Stammes- genossen, die Ostgothen, mit den Gepiden entgegen. Auf der Rechten stand gemischtes Volk geringeren Wertes; gerade hier aber sollte die Entscheidung fallen. Die Ebene zog sich in sanfter Neigung zu einer Anhöhe w empor, die sich auf dem linken Flügel der Römer, dem rechten der Hunnen befand. Die Wichtigkeit dieses Hügels, der das ganze Schlachtfeld beherrschte, hatten beide Teile bemerkt und eilten bei der Auf- stellung ihrer Reihen von beiden Seiten herbei, um -'u ihn zu besetzen. Doch Aetius uud Thorisraund langten zuerst oben an und konnten so, von der Höhe .herab gegen die niedriger stehenden Feinde vorstürmend, deren rechten Flügel, der ohnehin der schwächste Teil von Attilas Schlachtordnung war, leicht in die Flucht 20 schlagen. Dadurch aber mussten sie in die Flanke des starken Centrums gelangen, namentlich wenn es schon gegen die Alanen vorgedrungen war. Als durch deren Zurückweichen ihre Verbindung mit den West- gothen zerrissen wurde, konnten diese dem Attila und :50 seinen Hunnen auch in die linke Flanke fallen. So von beiden Seiten umfasst, wurden diese furchtbar zusammengehauen; der König selbst entging dem Tode nur dadurch, dase er mit seinem Gefolge sich ins feste

15. Das Reich des Attila. 309

Lager zurückzog. Doch seine Horden kämpften mit wilder Entschlossenheit, und da die Schlacht erst gegen vier Uhr nachmittags begonnen hatte, vermochten sie noch solange das Feld zu behaupten, bis tiefe Nacht 5 die Kämpfenden trennte. In dem schauerlichen Ge- metzel, das bald die Sage ins Unglaubliche steigerte. verschwand auch der greise König Theodorich, ohne dass mau sicher erfahren konnte, wie sein Geschick ihn ereilt hatte. Erst am anderen Tage fand man seinen

10 Leib, von Pferden zertreten, in dem dichtesten Leichen- haufen. Die Zahl der Gefalleneu schätzten manche auf 300 000, besser Unterrichtete auf 165 000, wohl auch noch sehr übertrieben. Jedenfalls war sie so gross, dass sie einstweilen die Stosskraft beider Heere lähmte.

15 Attila hatte sich in die Wagenburg zurückgezogen

und wagte sich nicht aus ihr heraus. Er erwartete, dass man sie stürmen werde, und soll schon einen Scheiter- haufen aus den hölzernen Sätteln seiner Hunnen er- richtet haben, um, wenn der Feind eindrang, sich selbst

20 zu verbrennen. Doch einen so kühnen Entschluss, wie sein Gegner ihm zufraute, vermochte Aetius nicht zu fassen : ein Sturm auf das Lager eines Volkes, das durch die Zielsicherheit seiner Pfeilschützen berühmt war, hätte seinem erschöpften und zusammen-

26 geschmolzenen Heere zu grosse Opfer gekostet. Anfangs dachte er daran, die Feinde durch ihre eigene Menge zu vernichten, indem er, jedes Furagieren hindernd, sie in ihrer Wagenburg aushungerte. Aber als er sich überzeugte, dass Attila eingeschüchtert genug

30 war, um nur an den Kückzug zu denkeu, fand er es besser, ihm dazu goldene Brücken zu bauen. Nur durch die Unterstützung der Hunnen hatte er früher die Westgothen niederhalten können; blieb diese Mög- lichkeit ihm künftio; verschlossen, so mussten aus den

310 VII. Die Auflösung des Reiclies.

neuen Bundesbrüdern sehr bald übermächtige Feinde werden. Das Römertum selbst war zu schwach ge- worden, um, wie in der glücklichen Vorzeit, seine Au- greifer zu vernichten; es konnte sich nur behaupten, indem es die Völker der dummen Barbaren das eine 5 gegen das andere ausspielte. Dass man mit den Hunnen, nachdem sie aufgehört hatten, unüberwindlich zu sein, neue Bündnisse schliessen könne, war nicht unwahr- scheinlich. Rühmte man ihrem König doch nach, dass er Bittenden nicht sein Ohr verschliesse. Man durfte 10 sie also nicht zu schwach werden lassen, damit die Gothen nicht zu stark würden. So musste die nächste Sorge des Patricius sein, die unbequemen Helfer los- zuwerden, damit sie ihn nicht zur energischen Fort- setzung des Kampfes drängten. 15

Noch auf dem Schlachtfelde hatten die Gothen den Thorismund als ältesten Sohn ihres glorreich ge- fallenen Herrschers zum König ausgerufen. Doch bei ihrem Ausmarsch waren vier seiner Brüder zu Hause geblieben, und zu ihnen war sein Verhältnis durchaus 20 kein brüderliches; ist er doch schon zwei Jahre später auf ihr Anstiften ermordet worden. Aetius fiel es daher nicht schwer, ihm klarzumachen, dass er eiligst heimziehen müsse; denn gelange die Nachricht vom Tode des alten Königs früher nach Tolosa, als Thoris- 25 mund mit seinem Heere, so könne einer seiner Brüder dort leicht den Thron usurpieren. Auch der fränkische Prätendent hielt für gut, mit seinem Volke abzuziehn und sich der heimischen Krone zu versichern, ehe der Kandidat des Attila, sein älterer Bruder, ihm zuvor- :!0 kommen könne. Was im Lager des Aetius blieb, waren nur Truppen, über die er ganz unbehindert verfügen konnte, und mit diesen wich er aus, den Hunnen den Rückzug frei lassend. Als Attila keinen

15. Das Heicli des Attila. 311

Feind mehr sich gegeuübersah, fürchtete er anfangs eine Kriegslist und blieb in seinem Lager; da aber dauernd alles ruhig blieb, führte er seine Scharen an den Rhein zurück und konnte diesen unbelästigt überschreiten.

5 Wenn Aetius gehofft hatte, von dem besiegten

Feinde, indem er ihm die Rettung gestattete, neue Bündnisverträge zu erlangen, so sollte er sich täuschen. Attila hielt es nicht mit Unrecht für erforderlich, sein schwer erschüttertes Prestige durch einen Rachezug

10 herzustellen. Schnell hatte er ein neues Heer ver- sammelt, und dieses Mal verfolgte er mit grösserem Geschick seinen alten Plan, Römer und Westgothen gesondert zu schlagen, ehe sie sich vereinigen konnten. Er fiel 452 in Italien ein, um hier zuerst mit den

15 eigenen Truppen des Kaisers fertig zu werden und sich dann über die westlichen Alpenpässe gegen Thoris- mund zu wenden. Wahrscheinlich überschritt er, dem Beispiel Alarichs folgend (V S. 329), noch im tiefsten Winter die julischen Alpen und fand daher ihre Engen

2(1 nicht gesperrt und Aetius ganz unvorbereitet. Dieser hatte erwartet, dass die Hunnen nach ihrer schweren Niederlage, wenn nicht einen dauernden Frieden suchen, so doch wenigstens eine Zeitlang Ruhe halten würden. Er wird daher die Mehrzahl seiner Bundesgenossen

25 entlassen und das römische Heer schon der leichteren Verpflegung wegen in weit zerstreute Winterquartiere verteilt haben. Vielleicht stand der grösste Teil des- selben sogar noch in Gallien. Attila fand daher kaum einen andern Widerstand, als den die Bürger der

30 italischen Städte ihm hinter ihren Mauern boten. Nachdem aber Aquileja, die erste Festung, auf die er^ von den Alpen herabsteigend, traf, nach schwerer Belagerung gefallen und schrecklich für seine tapfere Verteidigung gestraft worden war, scheinen die Be-

312 ^11- Die Auflösung des Reiches.

wohner der anderen Städte den Mut verloren zu haben. Eine nach der andern, wie sie auf seinem Wege nach Gallien lagen, wurde mit erstaunlicher Geschwindigkeit erobert und zerstört; selbst Mailand, das noch vor kurzem die stolze Residenz des Kaisers gewesen war, 5 erlitt das gleiche Schicksal. Doch die Grösse des Heeres bereitete auch diesmal seiner Ernährung Schwierigkeiten, und sie wurden gesteigert durch die Verwüstung des Landes, an der es selbst die Schuld trug. Unter den Hunnen brach eine Hungersnot aus, lo der sich bald eine schwere Seuche hinzugesellte. Zu- gleich erfuhr man, dass Marcian sich endlich auf seine Pflichten gegen das Bruderreich besonnen hatte und seine Truppen in das Gebiet Attilas eingefallen waren. Unter diesen Umständen musste der beabsichtigte An- i3 griff gegen die Gothen aufgegeben werden; aber von den ohnmächtigen Römern liess sich noch immer ein günstiger Friede erpressen. Nachdem die Hunnen Pavia eingenommen hatten, überschritten sie den Po und zogen plündernd und sengend flussabwärts. Da- -ju durch mussten sie den Eindruck hervorrufen, als wenn sie sich gegen Ravenna oder, was noch wahrschein- licher war, gegen Rom wenden wollten. Denn die Residenz des Kaisers war eine uneinnehmbare Festung, und die alte Reichshauptstadt versprach bei geringerer 25 Gefahr noch reichere Beute.

Aetius soll anfangs beabsichtigt haben, mit der kaiserlichen Familie aus Italien zu entfliehen; ob nach Gallien, wo er bei den Gothen Hilfe erwarten konnte, oder in das Ostreich, bleibt unentschieden. Aber da 3o ihm die Not der Hunnen jedenfalls bekannt wurde, durfte er hoff'eu, sie durch Unterhandlungen vom An- griff' auf Rom zurückzuhalten und zur Heimkehr zu bewegen. Da man wusste, dass Attila mit hoch-

15. Das Reich des Attila. 313

vornehmen Gesandten menschlicher verkehrte, als mit Männern von geringerer Stellung (S. 290), standen die drei, die man in sein Lager schickte, alle im höchsten Range. Der greise Trygetius war Praefect

5 gewesen und hatte sich den Barbaren gegenüber schon früher als gewandten Unterhändler erwiesen, indem er 435 den ersten Friedensvertrag mit Geiserich abschloss: Avienus hatte 450 das Consulat bekleidet, und der sich ihnen als Dritter anschloss, war der höchste Bischof

10 der Christenheit, Leo von Rom. Wahrscheinlich hatten sie Vollmacht zu versprechen, dass Yalentinian die Würde eines Magister Militum, die Attila durch Marcian verloren hatte, ihm jetzt seinerseits erneuern und als Gehalt einen ansehnlichen Tribut zahlen werde. Die

15 Gesandten trafen den Hunneukönig am Einfluss des

Mincio in den Po und bewogen ihn leicht, an die Donau

zurückzukehren, was er ohnedies hätte tun müssen.

Alarich war nach der Plünderung Roms sehr bald

gestorben, und viele hielten dies für eine Strafe des

20 Frevels, den er an der hehren Stadt begangen hatte. Dies soll Attila bekannt gewesen sein und ihn von einem Angriff gegen sie zurückgeschreckt haben. Es ist nicht unmöglich, dass solche Erwägungen auf seine Entschlüsse eingewirkt haben; denn Rom war damals

25 nicht schwer zu erobern, und eine schnelle Beutefahrt von wenigen hundert Kilometern hätte den unvermeid- lichen Rückzug nicht gar zu lange aufgehalten. Doch die Stadt, die durch der Götter Gnade sich die Reiche der Welt unterworfen hatte, mochte auch für den

30 wilden Barbaren mit einem strahlenden Nimbus um- geben sein und seinen Aberglauben schrecken. Aber wenn er auch die Schuld des Alarich vermied, entg-ino- er doch nicht dessen schnellem Tode. Kaum in die Heimat zurückgekehrt, starb er in der Hochzeitsnacht

314: VII. Die Auflösunü,- des Reiches.

mit einer iieiieD Gattin Ildico am Nasenbhiten, einem sonst sehr unschuldigen Übel, das ihn schon oft be- fallen hatte. Aber durch das Festmahl trunken, er- wachte er nicht beim Beginn der Blutung, so dass sie sich in seine Kehle ergiessen und ihn ersticken konnte. 5 Auf diese Weise verschied durch blöden Zufall der Mann, vor dem eben noch halb Europa gezittert hatte, und ein unzeitiges Nasenbluten lenkte das Schicksal zahlloser Völker in neue Bahnen.

Dem Attila war durch seine Wahrsager verkündet, 10 nach seinem Tode werde sein Reich zerfallen, aber durch seinen jüngsten Sohn Hernac wieder aufgerichtet werden. Um das Erstere vorauszusagen, brauchte man Mut, aber keine grosse Prophetengabe, und das Zweite sollte sich nicht erfüllen. Nur die Furcht vor Attilas 13 wilder Grösse hatte seine Horden zusammengehalten; sobald sie schwand, wirbelten sie auseinander, wie ein Haufen dürrer Blätter, in den der Herbstwind fährt. Wie Attila mit seinem Bruder gemeinsam regiert, aber jeder von ihnen doch bestimmte Völkerschaften als 20 sein besonderes Erbteil in Anspruch genommen hatte, so wollten es auch seine Söhne machen. Aber ihre grosse Anzahl erschwerte sowohl die Teilung, als auch das Zusammenwirken; und ihr Vater, der, noch in voller Manneskraft stehend, sein plötzliches Ende nicht 25 voraussehen konnte, hatte, wie es scheint, über die Nachfolge keinerlei Bestimmungen getroffen. Die Zwie- tracht der Erben gab den unterworfenen Völkern den Mut, ihre Befreiung zu versucheu. Unter Führung des Gepidenkönigs Ardarich erhoben sie sich, und am :^'0 Flusse Nedao, dessen Lage sich nicht bestimmen lässt, kam es zu einer grossen Schlacht. Die Gefallenen beider Teile schätzte mau auf 30 000, uud zu ihnen gehörte auch Ellac, der älteste Sohn Attilas. Von den

15. Das Keidi des Attila. 315

jüngeren Brüdern setzte Dintzic die gewohnten Kriegs- züge der Hunnen bald gegen die Ostgothen, bald gegen das oströmische Reich mit den Horden, die ihm ge- blieben waren, auch weiter fort; er fiel 469 im Kampfe 5 gegen i^nagastes, den Sohn des Arnegisclus, und sein abgeschlagenes Haupt wurde zur Freude des Volkes in Constantinopel zur Schau gestellt. Hernac schloss Frieden mit dem Kaiser und liess sich mit seinen Völkern im römischen Scythien ansiedeln. Die grosse

10 Masse der Hunnen wurde in die Steppen des südlichen Russland zurückgedrängt, wo sie mit dem Römerreiche wenig mehr in Berührung kamen. Ihrer früheren Sitze an der Donau bemächtigten sich die Völker- schaften, die ihr Joch durch die Schlacht am Nedao

15 abgeworfen hatten, in erster Linie die Ostgothen und Gepiden, und Hessen sich diesen Besitz durch Kaiser Marcian bestätigen.

So war die Herrschaft der Hunnen über Europa hingebraust gleich einem schweren Unwetter, das

20 furchtbare Yerwüstungen anrichtet, dessen Spuren aber sehr bald verschwunden sind. Das Reich eines wilden Nomadenhäuptlings konnte keine Dauer haben, so mächtig es während einiger Jahre schien. Es war nur eine historische Episode, hat aber auf die Phantasie

25 der Nachlebenden mächtiger eingewirkt, als mancher viel bedeutsamere Vorgang. Die französische Heiligen- legende knüpfte immer wieder an den Einfall Attilas in Gallien an; das deutsche Epos feierte ihn als den mächtigen König, in dessen Diensten grosse Helden

30 ihre Abenteuer bestanden, und aus seiner Verwüstung Oberitaliens will das schöne Venedig noch heute seine Gründung ableiten. Die wichtigste F^olge aber, die sein kurzes Wüten gehabt hat, scheint man bisher noch garnicht beachtet zu haben. Wenn das byzan-

316 VII. Die Auflösung des Reiches.

tinische Reich bis an die Grenzen der Neuzeit fort- bestand, das weströmische schon früh unterging, so dürfte das eine ebenso das Verdienst Attilas sein, wie das andere die Schuld Geiserichs. Indem dieser durch die Eroberung Africas es dem Kaiser unmöglich 5 machte, die Germanen des Westens durch seine Korn- tribute zu ernähren, machte er sie von dem Reiche unabhängig und trieb sie dazu, weil es ihnen über- flüssig geworden war, es bald ganz zu zerstören. Attila dagegen schnitt die Werbungen jenseit der Donau ab 10 und machte dadurch die Oströmer unabhängig von den Germanen. Zwanzig Jahre hindurch sah sich ihr Reichsteil auf die eigenen Kräfte angewiesen und lernte sie durch so lange Gewöhnung kriegerisch ausnutzen, wenn ihm dies anfangs auch recht schlecht bekam. i5 So wurden die Ideale des Antigermanismus, wie sie einst Synesius vertreten hatte (V S. 315), beinahe zur Wirklichkeit, aber nicht durch die nationale Begeiste- rung des Kaisers und seines hohen Adels, sondern durch den Zwang eines fremden Tyrannen. Als Wer- io bungen an der Nordgrenze nach dem Tode Attilas wieder möglich geworden* waren, hat man nicht auf sie verzichtet, aber der Kern des Heeres bestand jetzt doch aus Männern, deren Heimat innerhalb des Reiches lag. Freilich war die zahme Bevölkerung desselben noch immer wenig brauchbar; man musste sich vorzugs- weise an die Barbaren halten, die noch unbezwungen in seinen Grenzen hausten, die Kurden, die Tzanneu, die Saracenen, vor allen die Isaurer. Deren Herrschaft beginnt, sobald die germanische zurücktritt, und da w sie als Römer galten, wenn sie auch nicht weniger wild und ungebändigt waren, als ihre Nebenbuhler jenseit der Donau, konnten einzelne von ihnen sogar auf den Kaiserthron g-elantren.

Sechzehntes Kapitel.

Maximus und Avitus.

Seit im Westen die eigentliche Regierungsgewalt vom Kaisertum getrennt und in die Hände eines über- mächtigen Feldherrn übergegangen war, eröffneten sich den Barbarenfürsten für ihr Verhältnis zum Reiche

5 neue Aussichten. Schon lange hatte es sich gegen die fremden Horden nur dadurch behaupten können, dass es bald die eine, bald die andere durch Geld und diplomatische Künste für seinen Dienst gewann. Ein Fürst, der kraft eigener, angestammter Macht über

10 grosse Kriegerscharen gebot, konnte es ohne Zweifel am besten schützen, zugleich aber auch den Reichtum seiner höheren Kultur für die eigenen Zwecke aus- beuten, sodass beide Teile dabei auf ihre Rechnung kamen. Und das Barbarentum war wohl für den Er-

15 werb des Kaiserpurpurs, nicht aber für die höchste Feld- herrnstellung ein Hindernis. In diesem Sinne dürfte Attila, als er um die Hand der Honoria warb, die Mitregeutschaft gefordert haben (S. 299). Er kämpfte nicht so sehr gegen Valentinian, als gegen Aetius, der

seinen Plänen allein im Wege stand, und dessen Tod schien ihm selbst um den Preis einer verlorenen Schlacht nicht zu teuer erkauft fS. 307). Mit ähnlichen Ent- würfen scheint sich auch Geiserich getragen zu haben,

318 VII. Die Auflösung des Reiches.

wenn nicht für sich selbst, so doch für seinen Sohn und Nachfolger. Denn indem er Hunerich mit der älteren Kaisertochter Eudocia verlobte, sicherte er ihm den Platz zunächst dem Throne und damit die Anwart- schaft auf das beherrschende Feldherrnamt. s

Die Übermacht des Aetius war Yalentinian schon längst verhasst geworden und wohl noch mehr, als dem schwächlichen Kaiser selbst, seinen Kammer- dienern, denen das Eunuchenregiment am Hofe des Theodosius als lockendes Beispiel vorschweben mochte, lo Doch die Schlacht auf den Catalaunischen Gefilden hatte der Stellung des Siegers neue Stützen verliehen. Yalentinian versöhnte sich mit ihm unter heiligen Eiden und verlobte seine zweite Tochter Placidia mit dem Sohne des Aetius. Als diese ihr zwölftes Jahr vollendet 15 hatte und damit nach römischem Rechte heiratsfähig geworden war, wünschten die Eltern aus leicht ver- ständlichen Gründen die Ehe doch noch aufzuschieben. Hatte doch ihre Mutter, obgleich sie schon als Zwei- jährige mit Yalentinian verlobt gewesen war, ihn erst 20 mit fünfzehn Jahren geheiratet, und auch bei ihrer älteren Schwester hatte man die Vermählung mit Hunerich noch nicht vollzogen. Doch Aetius drängte, und bei dem Kaiser, der ihm ohnehin nicht traute, konnte dies neuen Yerdacht erwecken. Denn da erst 25 kurz vorher das Beispiel Marcians gezeigt hatte, dass man auch durch eine Heirat dynastische Ansprüche erwerben könne, lag die Vermutung nicht fern, dass der Patricius seinen Sohu zum Kaiser machen und zu diesem Zwecke Yalentinian beseitigen wolle. Der :w Eunuche Heraclius wusste diesem klarzumachen, dass er der Ausführung jenes finsteren Planes durch die Ermordung des Aetius zuvorkommen müsse: doch dem Feldherrn in der Mitte seiner Leibwache beizu-

IG. Maxiiaus und Avitiis. 319

kommen, war unmöglich. Er wurde daher am 21. Sep- tember 454 zu einer Beratung in den Palast geladen, und als er hier, nur begleitet von seinem Freunde, dem Reichspraefecten Boethius, und anderen unbe-

5 wafPueten Civilbeamten, vor dem Kaiser erschien, stürzte sich dieser auf ihn und ermordete ihn und seine Beo-leiter mit Hilfe des Heraclius und des übrio^en Hofeesindes. So wurde durch den Ehrgeiz eines Ilalbmaunes das Reich des Feldherrn beraubt, der

10 es unter den schwierigsten Verhältnissen nicht weniger durch geschmeidige Klugheit als durch kühne Helden- kraft zu verteidigen gewusst hatte. Nicht mit Un- recht sagte man, Valentinian habe mit der linken Hand seine rechte abgehauen.

15 In unversöhnlichem Hasse liess er die Leichname

uubeerdigt. Während sie auf dem Markte zur Schau gestellt wurden, musste der Senat sich eiligst ver- sammeln, und der Kaiser erschien persönlich inmitten der vornehmen Kör])erschaft, um seine Tat zu ver-

•20 teidigen. Da viele ihrer Mitglieder dem Aetius ihre Stellung verdankten und alle ihn knechtisch um- schmeichelt hatten, fürchtete der Kaiser, hier auf ge- fährlichen Widerspruch zu stossen; doch bewies dies nur, wie wenig er, in seinen Palast eingeschlossen,

25 die Menschen seiner eigenen Zeit kennen gelernt hatte. Denn ohne Zweifel schallten ihm freudige Akklamationen entgegen, und derselbe Mann, vor dem mau noch kurz vorher auf den Knien gelegen hatte, wurde jetzt mit Schimpfworten überhäuft. Mit w^irk-

30 liehen Gefahren drohte nicht der Senat, der grosse Ansprüche machte, aber gar nichts bedeutete, sondern die Völker der Barbaren. Sie alle hatten Aetius ge- fürchtet; mit ihm hatten sie ihre Verträge geschlossen, und man konnte erwarten, dass sie diese mit seinem

320 VII. Die Auflösung des Reiches.

Tode als hinfällig betrachten würden. Zu ihnen allen bis nach Spanien hinüber wurden daher Gesandte ge- schickt, um Versprechungen zu geben und die Bünd- nisse zu erneuern, mit sehr verschiedenem Erfolge. Die Alamannen überschritten wieder den Rhein; die 5 Franken plünderten im nördlichen Gallien, und im südlichen bereiteten sich die Gothen, in Spanien die Sueben, ihr Reich auf Kosten des römischen zu er- weitern. Geiserich dagegen sah in dem Tode des Aetius, der die beherrschende Feldherrnstellung für Hunerich freimachte, nur den erwünschten Anlass, um seine Beziehungen zum Kaiser noch fester zu knüpfen. Kaum war die Nachricht nach Africa über- bracht, so gestattete er den Karthagern, sich wieder einen orthodoxen Bischof zu wählen. Schon am J5 '25. October 454, also nur einen Monat nach dem Morde, wurde Deogratias zum geistlichen Oberhaupte der africanischen Provinzen geweiht. Damit war der religiöse Gegensatz, der Geiserich am entschiedensten von Valentinian trennte, zwar nicht beseitigt, wohl 20 aber sehr gemildert. Doch die Hoffnungen, die der Vandalenkönig an den künftigen Schwiegervater seines Sohnes knüpfte, sollten schnell enttäuscht werden. In Rom war die wichtigste Sorge gewesen, die Buccellarii des Aetius zu gewinnen, jene Leibwache, -iö die aus einer sehr grossen Zahl auserwählter Krieger bestand (S. 100). Der Kaiser bediente sich dazu jenes Majorian, der wenige Jahre später den Thron des V\^est- reiches besteigen sollte. Da er viel bei diesen Truppen galt, gelang es ihm, ihren Zorn einstweilen zu be- so schwichtigen und sie dazu zu vermögen, dass sie sich in die kaiserliche Garde einreihen Hessen. Um sie noch enger an sich zu fesseln, glaubte Valentinian, ihnen Vertrauen zeigen zu müssen, und nahm daher

16. Maxiiims und Avitus. 321

ganz uugescheut au ihreu kriegerischen Übungen teil. Doch manche unter ihnen gedachten in finsterem Grolle des Eides, den sie dem Ermordeten geleistet hatten; germanischen Gefolgsleuten war Rache für den er- 5 schlagenen Herrn heilige Pflicht, und zwei von ihnen wagten sie zu erfüllen, Thraustila, der Schwiegersohn des Aetius, und Optila. Als am 16. März 455 Valen- tinian, nur von einer kleinen Zahl von Leibwächtern begleitet, sich auf dem Marsfelde erst im Reiten, dann

10 im Bogenschiessen übte, tötete ihn Optila, während zugleich Thraustila den Heraclius niedermachte. Ohne von den anwesenden Soldaten, unter denen sich wohl sehr viele Anhänger des Aetius befanden, angegriffen oder behindert zu werden, überbrachten die beideu

15 Mörder Ross und Diadem ihres kaiserlichen Opfers dem Vornehmsten unter den Senatoren, Petronius Maximus. Damit war dessen Wahl zwar noch keines- wegs entschieden. Im Heer erhoben sich viele Stimmen für einen gewissen Maximian, weil er dem Aetius als

20 dessen Domesticus besonders nahegestanden hatte; die verwitwete Kaiserin trat für Majorianus ein. Doch Maximus war reich genug, um ein grosses Donativ zu zahlen, und dies erhob ihn auf den Thron. Schon am Tage nach der Ermorduug seines Vorgängers, dem

25 17. März 455, wurde er zum Kaiser ausgerufen.

In Constantinopel erzählten sich schon die Zeit- genossen, seine Frau sei von Valentinian vergewaltigt worden und aus Rache dafür habe er erst den Mord des Aetius, dann den des schuldigen Herrschers

30 angestiftet. Doch scheint dies Klatsch gewesen zu sein, nur veranlasst durch die naheliegende Annahme, dass derjenige, welchem der Tod jener beiden nützte, ihn auch veranlasst haben müsse; und dass er die Mörder nicht bestrafte, gab solchen Gerüchten neue

Seeck, Untergang der antiken Welt. VI. 21

322 VII. Die Auflösung des Reiches.

Nahrung. Aber da sie es gewesen waren, die ihm zuerst das Diadem überbrachten, erklärt sich dies leicht auch ohne die Annahme seiner Mitschuld. Und dass sie es taten, wird seinen Grund nur darin gehabt haben, dass er an Amtern und Würden alle damals 5 lebenden Untertanen überragte und daher in erster Linie zum Kaiser geeignet schien. Aus hochadliger Familie um das Jahr 396 geboren, war er schon als Knabe in das vornehme Kollegium der Notare auf- genommen und darin zum Tribunus emporgestiegen, lo Als Achtzehnjähriger wurde er von Honorius zum Schatzmeister ernannt und dann drei Jahre (414 417) in diesem hohen Amte belassen. Als Vierundzwauzig- jähriger bekleidete er schon die Stadtpraefectur von Rom, und als er sie nach anderthalb Jahren nieder- is legte (421), beantragte der Senat für ihu eine Statue auf dem Forum Trajans, wo man nur historische Grössen zu verewigen pflegte. Zweimal hatte er das Consulat bekleidet (433. 443), eine Ehre, wie sie ausser den Kaisern und ihren allmächtigen Leitern, Stilicho, 20 Constantius und Aetius, keinem seiner Zeitgenossen zuteil geworden war. Natürlich fehlte ihm auch der Titel des Patricius nicht. Unter diesen Umständen bedurfte es keiner Anstiftung seinerseits, um den Mördern Valentinians den Gedanken nahezulegen, dass 20 dieser hohe Herr und kein anderer Kaiser werden müsse. Dass er an ihrer Tat irgend welche Mitschuld trug, hat daher auch keiner geglaubt, der näher, als man es in Constantinopel sein konnte, mit den Ver- hältnissen vertraut war. ao

Die Erhebung dieses hochangesehenen Mannes begrüsste man allgemein mit freudigen Hoffnungen. Hatte man mehr als ein halbes Jahrhundert lang ganz nichtige Herrscher ertragen, deren elendes Regiment

16. Maximus und Avitus. 323

das Reich dem Untergange nahegebracht hatte, so war jetzt eine Persönlichkeit auf den Thron gelangt, die nicht nur durch kaiserliche Abstammung, sondern durch sich selbst etwas bedeutete. Doch das dynastische 5 Gefühl war schon zu einem so starken Instinkt ge- worden, dass Maximus nicht nur seinerseits eine neue Dynastie zu gründen versuchte, indem er seinen Sohn Palladius zum Caesar ernannte, sondern es auch für nötig hielt, sie durch Familienbande an die unter-

10 gegangene anzuknüpfen. Wie Marcian sich dadurch ein Thronrecht geschaffen hatte, dass er die Tochter des Arcadius heimführte, so sollten Tochter und Enkelin des Theodosius sich jetzt mit dem neuen Augustus und seinem Caesar vermählen. Schon wenige Tage, nach-

15 dem ihnen Gatte und Vater ermordet war, wurden sie zu diesen Ehen gezwungen. Wie leicht zu begreifen, rief diese Roheit nicht nur im Volke, sondern, was wichtiger war, auch im Heere tiefe Entrüstung hervor, und das umso mehr, als die Verletzung des Trauer-

20 Jahres durch eine Witwe jedem Christen der damaligen Zeit als gottlose ünenthaltsamkeit galt. Die Popularität des eben erst auf den Thron erhobenen Kaisers war mit einem Schlage vernichtet. Man erwartete, dass der Himmel ihn strafen müsse, und schnell sollte sich

25 dazu das Werkzeug finden.

Später ging das Gerücht, Eudoxia habe dem Geiserich Botschaft gesandt, dass er sie von der er- zwungenen Ehe befreien möge, und keiner fand sich, der ihr das zum Vorwurf gemacht hätte. Doch ob sie

30 einen solchen Brief geschrieben hat oder nicht, nach Africa kann er kaum gelangt sein, als man dort schon zum Kriege rüstete. Der Vandalenkönig sah durch den Mord Valentinians die Hoffnungen vernichtet, die er an seine Verschwägerung mit dem römischen

21*

324 VII. Die Auflösung des Reiclies

Herrscherhause geknüpft hatte, und die Yermählung des Palladius mit der Kaisertochter griff in die Rechte seines Sohues ein. Zugleich hielt er den Vertrag, den er mit dem Ermordeten geschlossen hatte, durch dessen Tod für aufgelöst, und die Schätze Roms lockten seine 5 barbarische Habgier. Mit einer grossen Flotte landete er in der Tibermüudung und schlug sein Lager am sechsten Meilenstein. Als man dies am 31. Mai 455 in Rom erfuhr, stürzte eine bunte Menge angstvoll den Toren zu, und unter ihr befand sich auch der neue lo Kaiser. Da er bisher in der Üppigkeit eines reichen Sena- torenpalastes ein friedliches Leben geführt hatte, fühlte er sich einem Yerzweiflungskampfe nicht gewachsen. Leibwache und Hof hatten ihn verlassen, und keinen hatte er zurückgehalten. Doch als er zu Rosse die Strassen Roms durcheilte, begleiteten ihn Steinwürfe und laute Schmähungen seiner Feigheit. Als er schon fast das Stadttor erreicht hatte, sank er, an der Schläfe getroffen, vom Pferde. Das Volk, dem sich auch Soldaten und Männer des Hofgesindes beigesellten, 20 zerriss ihn in Stücke. Die Leichenteile wurden auf Stangen umhergetragen und dann in den Tiber ge- worfen. Sein Caesar scheint ihn nicht überlebt zu haben. Es war damals das Schicksal aller Kaiser, die nicht aus dem Kriegerstande, sondern aus dem Senat 25 hervorgingen, dass ihre Herrlichkeit ein schnelles Ende fand: so schmählich aber, wie dieser Vornehmste unter ihnen, ist kein anderer zu Grunde gegangen.

An eine Verteidigung Roms dachte keiner, obgleich die Aureliansmauer leicht genug zu verteidigen w^ar; :iO doch für die Kornversorgung war man schon seit vielen Jahren von der Gnade des Vaudalen abhängig gewesen, und jedenfalls war sie für das Aushalten einer Be- lagerung unzureichend. Am 2. Juni hielt Geiserich

16. Maximus und Avitus. 325

seineu Einzug, am Tore von Papst Leo empfangen, der mehr Mut zeigte als sein unglücklicher Kaiser, ob- gleich er wusste, dass der König Arianer war und die orthodoxe Geistlichkeit grausam verfolgt hatte. Doch

-j dem Nachfolger Petri versagte er die Ehrfurcht nicht und gab ihm das Versprechen, sich von Brandstiftung, Mord und Folter zu enthalten. Dafür musste der Papst mit eigener Hand die goldenen und silbernen Geräte seiner Kirchen ausliefern. Vierzehn Tage ver-

10 weilten die Barbaren in Rom, um in behaglicher Müsse alles zusammenzusuchen, was ihnen des Mit- nehmens w^ert schien. Von brauchbaren Metallen wird wenig genug in der Stadt zurückgeblieben sein selbst die bronzenen Dachziegel am Tempel des Jupiter

15 Capitolinus deckte man ab , und wer sich von den Einwohnern als Arbeiter oder gar als kunstreicher Handwerker verwenden liess, wurde auf die Schiffe geschleppt. Neben vielen Tausenden von Unglück- lichen, die jetzt zu Sklaven wurden, entführte man

20 auch einen Sohn des Aetius, \or allem aber die Kaiserin mit ihren zwei Töchtern. In ihnen meinte Geiserich wertvolle Geiseln zu besitzen, die das Römerreich am Kampfe gegen ihn hindern könnten; darin aber sollte er sich täuschen. Zwar Marciau betrachtete sich noch

■2:j immer, obgleich Pulcheria, ihr ganzes Vermögen den Armeu hinterlassend, schon im Juli 453 gestorben war, als Mitglied des Kaiserhauses und suchte durch wieder- holte Gesandtschaften an Geiserich die Auslieferung seiner angeheirateten Nichten zu erlangen. Auch sein

30 Nachfolger Leo, den keine Familienbande mehr mit ihnen verknüpften, setzte diese Bemühungen fort, und ihm o-elano; es um das Jahr 462, Eudoxia und Placidia zu befreien, nachdem Eudocia sich mit Hunerich ver- heiratet hatte. Im Westreich aber, auf das es zu-

326 VII- Die Auflösung des Reiches.

nächst ankam, war die Not zu gross, als dass man sich um das Schicksal dreier Frauen hätte kümmern können. Ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, entschloss man sich zum Kampfe gegen die Yandalen und führte ihn nicht ganz ohne Erfolg. Nicht der Kraft des 5 römischen Reiches war dies zu danken, sondern nur den Gegensätzen, welche die neuentstandenen germa- nischen Staaten voneinander trennten.

Geiserich hatte eine westgothische Königstochter schmählich misshandelt (S. 302): doch ihr Vater hatte lo sie nicht rächen können, weil er auf den Catalauuischen Gefilden im Kampfe gegen Attila gefallen war. Ihm war sein ältester Sohn Thorismund in der Regierung gefolgt, ein echter Barbar von kriegerischer Wildheit. Die Alanen, die noch in Gallien zurückgeblieben waren, is hatte er seiner Herrschaft unterworfen und diese auch auf Kosten des römischen Reiches auszudehnen gesucht. Als er Arelate bedrohte, hatte ihn zwar der Praefect Ferreolus zur Mahlzeit geladen und ihn beim ^Yeine durch geschickte Überredung zum Friedenhalten be- •>» wogen ; doch bereitete er aufs neue einen Krieg gegen die Römer vor, als seine Brüder ihn 453 im dritten Jahre seiner Regierung ermordeten. Der älteste von ihnen Theodorich war auf den Thron erhoben und hatte das freundliche Verhältnis zum Reiche wiederhergestellt. 25 Mit diesem fühlte er sich noch fester verbunden, nach- dem Geiserich Rom geplündert hatte. Denn ihm selbst war der Schänder seiner Schwester jenseit des Meeres unerreichbar, wohl aber konnten ihn die Römer mit seiner Hilfe bekriegen, namentlich wenn die Flotten 30 des Ostens bereit waren, seine tapferen Gothen nach Africa überzusetzen. Als daher nach dem Tode des Maximus in Italien alles ratlos war, beschloss Theo- doricb, sich selbst zum Protektor des Westreiches zu

16. Maximus und Avitus. 327

erheben, indem er einen Kaiser seiner Mache au dessen Spitze stellte. Wie die Mörder Valentinians den vor- nehmsten Mann des römischen Senats auf den Thron erhoben hatten, so entschied er sich für den vornehmsten 5 Gallier, und seine Wahl sollte eine glücklichere sein. Der Arverner Eparchius Avitus zählte unter seinen Vorfahren Patricier, Consuln und Praefecten und war selbst 439 Praefect von Gallien gewesen. Doch hatte er sich nicht nur, wie Maximus, dem er ungefähr

10 gleichalterig war, in friedlichen Ämtern versucht, sondern auch den Aetius bei seineu Kriegszügen be- gleitet und einmal sogar einen Barbaren, der ihm einen Diener getötet hatte, im Zweikampf mit eigener Hand erschlagen. Ein Mann, der im Vollbesitze der höchsten

15 römischen Bildung war und zugleich den Speer zu schwingen verstand, wie der Kühnste der Germanen, konnte den Gotheu imponieren. An ihrem Hofe zu Tolosa war er ein gerugeseheuer Gast und hatte dort sogar den König und seine Brüder, während ihr Vater

20 noch lebte, im römischen Recht und in der lateinischen Literatur unterrichtet. Als Unterhändler mit deu West- gothen hatte er dem Reiche schon mehrmals wertvolle Dienste geleistet, namentlich war er es gewesen, der sie bewogen hatte, sich dem Aetius bei seinem Feld-

25 zuge gegen Attila auzuschliesseu. Als nach der Er- mordung des Patricius in Gallien neue Kriege teils drohten, teils schon ausgebrochen waren, hatte ihu Petronius Maximus gleich nach seinem Regierungs- antritt zum Magister Militum ernannt, obgleich es da-

30 mals unerhört war, dass derselbe Mann nach dem höchsten civilen Amte auch das höchste militärische be- kleidete. Nachdem er die Franken und Alamannen wohl mehr durch Unterhandlungen, als durch die Gewalt der Waffen zur Ruhe gebracht hatte, suchte er die Gotheu

328 VII. Die Auflösung des Reiches.

auf, die dem Reiche die gefährlichsten Feinde, aber auch die wertvollsten Bundesgenossen werden konnten. In Burdigala traf er ihren König in sehr kriegerischer Stimmung und begleitete ihn, über Frieden und Bündnis verhandelnd, nach Tolosa. Da empfing man die Nach- 5 rieht von dem Schicksal Roms und seines Kaisers, und alsbald forderte Theodorich den Avitus auf, jetzt seinerseits die Herrschaft zu übernehmen. Er war bereit, wollte aber die Krone nicht aus der Hand der Barbaren, sondern, wie es das römische Recht vor- lo schrieb, durch Senat und Heer empfangen. In ügernum, ganz nah bei Arelate, wo das Hauptquartier Galliens sich befand, wurde alles versammelt, was sich in den Nachbarprovinzen von Männern senatorischen Standes auffinden Hess. Begleitet von dem König und 15 seinen Brüdern erschien Avitus vor diesem im- provisierten Senat und wurde mit Jubel empfangen. Am dritten Tage darauf, dem 9. Juli 455, stellte er sich in Arelate dem Heere vor, dessen Akklamation ihn zum Kaiser machte. 20

Zur unanfechtbaren Legitimität, die er anstrebte, fehlte dem Avitus jetzt nur noch die Anerkennung des oströmischen Herrschers. Er schickte an ihn eine Gesandtschaft ab und begab sich, nachdem er am 21. September zuerst den Boden Italiens betreten hatte, 25 nach Pannouien, um dieses Land, das Aetius dem Ruas abgetreten hatte (S. 115), für das Reich zurück- zugewinnen und zugleich aus grösserer Nähe die Ant- wort aus Constantinopel zu erwarten, ehe er sich den Römern vorstellte. Das erstere gelang ihm ohne so Schwertstreich ; denn seit mit dem Tode Attilas die Macht der Hunnen gebroclien war, konnten sie ihren Landbesitz nicht mehr gegen ein Heer verteidigen, das zum grössten Teil aus tapferen Gothen bestand. Von

16. Maxiiiius und Avitus. 329

Marcian aber kam keine Botschaft, und dies war ein harter Schlag für Avitus. Zwar in Gallien und Italien brauchte dieser die Unterstützung seines neuen Kollegen nicht; doch mit dem Kaisertum hatte er die Ehren-

5 pflicht übernommen, Rom an Geiserich zu rächen, und für einen Angriff auf Africa war die oströmische Flotte kaum zu entbehren.

Marcian hatte darin seine erste Pflicht erkannt, die furchtbare Last der Steuern, die das Volk unter

10 Theodosius IL fast erdrückt hatte, nach Möglichkeit zu erleichtern. Da er von vornherein entschlossen war, Attila den Tribut zu verweigern, hatte er seine Re- gierung mit einem vollständigen Nachlass aller Steuer- schulden beginnen können. Er suchte die Käuflichkeit

15 der Amter und die Erpressungen ihrer Inhaber zu unterdrücken, was ihm allerdings nur sehr unvollständig gelingen konnte, befahl den Consuln das Geld, das sie bei ihrem Amtsantritt unter das Volk auszuwerfen pflegten, für nützlichere Dinge zu verwenden, kurz er

20 erstrebte während seiner ganzen Regierung in erster Linie das Ziel, seinen Reichsteil wirtschaftlich zu heben. Um dies zu erreichen, musste er ihn vor allem mit schweren Kriegslasten verschonen. Man schrieb ihm den Ausspruch zu, ein Kaiser dürfe niemals einen

25 Kampf beginnen, solange ihm Frieden halten noch möglich sei. Dabei kam es ihm zugute, dass die Last des Hunnenkrieo-es fast ganz das Westreich traf und auch sonst während seiner Regierung nur unbedeutende Plünderzüge kleiner Völkerschaften, der Blemmyer, der

so Saraceuen, der Lazen, abzuwehren blieben. Nachdem Geiserich die Reichshauptstadt ausgeplündert hatte, schickte Marcian wohl Gesandtschaften an ihn, um die Auslieferung der gefangenen Kaiserfrauen zu erwirken. Doch vor einem africanischen Kriege, für den die

330 VIT. Die Auflösimg des Reiches.

Flottenrüstung ungeheure Summen gefordert hätte, nahm er sich sorgfältig in Acht. Dies aber bedingte, dass er sich mit Avitus, der seine Unterstützung gegen Geiserich notwendig hätte fordern müssen, nicht zu tief einliess. Er zeigte sich ihm nicht gerade unfreundlich, 5 so dass man in den abgelegeneren Teilen des Reiches meinen konnte, zwischen den beiden Kaisern herrsche die schönste Eintracht, erkannte ihn aber nicht officiell als Mitregenten an und behandelte demgemäss das Consulat, das der römische Senat dem Avitus für das lo Jahr 456 zuerkannt hatte, im Ostreiche als ungiltig. Die Yandalen hatten die Schätze Roms in ihre Schiffe verpackt und sie nach Africa mitgenommen, wobei gerade dasjenige, welches die kostbarste Beute trug, die bronzenen Statuen, unterwegs zugrunde ging. i5 In den Zeiten seiner Macht hatte Rom den Griechen ihre schönsten Kunstwerke entführt, um damit seine Tempel und die Paläste seiner Senatoren zu füllen: jetzt hatten wilde Barbaren sie erobert, die an ihnen kaum etwas anderes als den Metallwert schätzten, und 20 als wenn die Werke des Myron und Phidias sich den Händen so unwürdiger Besitzer entziehen wollten, waren sie spurlos im Meere verschwunden. Nach Karthago zurückgekehrt, brach Geiserich alle Beziehungen zum römischen Reiche ab, was darin seinen Ausdruck fand, 25 dass seitdem die Consuln in seinem Herrschaftsgebiet nicht mehr verkündigt wurden und man nur noch nach Regierungsjahren der vaudalischen Könige datierte. Und was wichtiger war, auch die Teile Africas, die er bisher noch unter der Verwaltung des Kaisers ge- 30 lassen hatte, brachte er jetzt in seine Gewalt und suchte seine Herrschaft dann auch über die italischen Inseln auszudehnen. Schon im nächsten Jahre schickte er zu diesem Zwecke Flotten aus.

16. iMaximus und Avitiis. 331

Unterdessen hatte Avitus am 1. Januar 456 in Rom sein Consulat angetreten. Das Festgedicht, das ihm sein Schwiegersohn Apollinaris Sidouius bei dieser Gelegenheit vortrug, atmete noch die frohe Zuversicht. 5 dass man bald die räuberischen A^andalen aus Africa vertreiben werde. Doch bald erfuhr man, dass auf die Hilfe des orientalischen Reichsteils nicht zu rechnen sei, und der Kaiser musste sich zu Unterhandlungen mit Geiserich entschliessen. Doch weder dass er an

10 die früheren Verträge erinnerte, noch dass er mit seinen gothischen Bundesgenossen drohte, machte Eindruck. Eine vandalische Flotte verwüstete die Küsten von ünteritalien, wahrscheinlich nur um die Aufmerksamkeit der Römer von dem eigentlichen Ziele

15 der Expedition abzulenken, und wandte sich dann gegen Sicilien. Aber Geiserich hatte die Macht seines Gegners so sehr unterschätzt, dass ihm 60 Schiffe für die Eroberung der Insel genügend schienen. Als ihre Mannschaft bei Agrigent gelandet war, machte der

20 Patricius Ricimer, den Avitus noch rechtzeitig nach Sicilien geschickt hatte, den grössten Teil nieder, und eine andere Flotte, die Corsica angriff, traf bald darauf ein ähnliches Schicksal.

So hatte Avitus, wenn er auch Africa noch nicht

25 angreifen konnte, doch einstweilen den Ruhm der römischen Waffen hergestellt; aber dieser Sieg sollte ihm selbst zum Verderben werden. Denn er schuf dem Feldherrn seine beherrschende Stellung, der mehr als jeder andere zum Untergange des w^eströmischen

30 Kaisertums beigetragen hat.

Flavius Ricimer war der Sohn eines Sueben, stand aber den Westgothen noch näher, weil seine Mutter eine Tochter ihres Königs Valia war. Schon als Jüngliug hatte er in römischen Diensten gestanden

332 VII. Die Auflösung des Reiches.

und dabei mit jenem Maiorianus Freundschaft ge- schlossen, den er später erst auf den Thron erheben und dann wieder vom Throne stürzen sollte. Sehr bald nach seiner Kaiserwahl scheint ihn Avitus zum Patricius ernannt zu haben, wohl um damit seinen n Bundesgenossen, den Gothen, zu Willen zu sein. Aber damit er nicht ein ebensolches Übergewicht über den Kaiser selbst erlange, wie es Aetius besessen hatte, war ihm in Remistus, der ebenfalls Germane und vielleicht Gothe war, ein gleichberechtigter Kollege an lo die Seite gestellt worden. Dieser aber hatte sich nicht im Kampfe gegen die Vandalen Kriegsruhm erwerben können, und zudem stand Maiorianus, der ihnen als Comes Domesticorum untergeben war, aber bei den Truppen, die früher dem Aetius gedient hatten, wohl i5 mehr Einfluss besass, als sie alle beide, in engster Verbindung mit Ricimer. Gegen dessen Ehrgeiz konnte sich Avitus zur Zeit noch auf die gothischen Scharen stützen, die ihn nach Rom begleitet hatten; aber auch dieser Schutz sollte ihm bald geraubt w^erden. 20

Da die Koruzufuhren aus Africa, die Geiserich in den früheren Jahren noch gnädig gespendet hatte, jetzt ausblieben, zudem auch die Äcker von Sicilien und Uuteritalien arg verheert waren, litt die Haupt- stadt unter schwerer Hungersnot. Doch die bundes- 25 genössischen Truppen, die Avitus aus Gallien mit- gebracht hatte, wollten anständig verpflegt sein. Das Volk schrie, dass sie ihm die Nahrung raubten, und der Kaiser musste sie aus Rom entfernen. Ein Teil wurde wahrscheinlich nach Ravenna geschickt, die 30 Gothen in ihre Heimat entlassen. Ohne reiche Be- lohnung aber wollten sie nicht ziehen, und Gold oder Silber war nach der Plünderung Geiserichs in der Stadt nicht zu finden Was an kostbarem Besitz zurück-

16. Maximus und Avitus. 333

geblieben war, bestand in einigen bronzenen Denk- mälern, welche die öffentlichen Plätze zierten und wohl zu gross und ungefüge gewesen waren, als dass die Yaudalen sie hätten wegschleppen können. Avitus

5 liess sie einschmelzen und verkaufte das Metall an die Händler, die im Hafen gelandet waren, um so das nötige Geld für seine Gothen zu gewinnen. Doch kaum waren diese fort, so begannen Ricimer und Maiorian den Kaiser ihre Macht fühlen zu lassen.

1'» Dass er die Stadt ihres letzten Schmuckes beraubt hatte, trieb das Volk zum Aufruhr, und selbst der Senat scheint gewagt zu haben, ihm ernste Vorstellungen zu machen. Da verliess er das undankbare Rom und kehrte in sein Gallien zurück; in Arelate, wo er schon

15 als Praefect residiert hatte, hoffte er für seine schwer erschütterte Stellung an den Westgothen eine feste Stütze zu finden. Doch in seinem eigenen Auftrage war Theodorich abwesend und vermochte, selbst in schwere Kämpfe verwickelt, dem Kaiser, den er ge-

30 schaffen hatte, keine Hilfe zu gewähren.

Nach der Ermordung des Aetius hatten auch die Sueben in Spanien gemeint, sich ohne grosse Gefahr auf Kosten der Römer bereichern zu können; plündernd und sengend waren sie in das Gebiet von Cartagena

25 eingefallen. Gleich nach seiner Thronbesteigung hatte Avitus gemeinsam mit Theodorich Gesandte au ihren König Rechiarius geschickt, um sie an ihre Verträge zu erinnern; die Antwort darauf war gewesen, dass sie auch die Tarraconensische Provinz heimsuchten

30 und selbst nach einer zweiten Mahnung des Gothen- königs munter im Beutomachen fortfuhren. Während Avitus nach Italien zog, hatte er Theodorich beauf- tragt, in Spanien Ruhe zu schaffen. Dieser hatte die Pyrenäen überschritten und am 5. October 456 die

334 VII. Die Auflösung des l^eiclies.

Sueben am Flusse Urbicus nicht weit vou Astorga gründlich geschlagen. Am 28. October war er in Bracara eingezogen und hatte die römische Stadt, wenn auch mit einer gewissen bundesgenössischen Schonung, gründlich ausgeplündert. Bald darauf wurde 5 der flüchtige Rechiarius gefangen und im December hingerichtet. Dann zogen die Gothen in Lusitanien ein, wo sie bis Emerita vordrangen. So hatte die kurze Regierung des Avitus ein Resultat von welthistorischer Bedeutung: das Reich der Westgothen dehnte sich über lo Spanien aus, und nur hier hat es sich bis zum Ein- dringen der Araber behauptet, während seine gallischen Teile bald verloren gingen. Der Kaiser aber hoffte in Arelate vergebens auf die Unterstützung des Gothen- königs, dem er seine Krone verdankte, weil dieser i5 mit der Hauptmacht seines Volkes fern im Süden weilte. Unterdessen hatten sich Ricimer und Maiorian schon offen als Feinde des Avitus zu erkennen ge- geben, und an einem Rechtsgrunde, ihn zu bekämpfen, fehlte es ihnen nicht. Denn da Marcian, der zweifellos 20 legitimer Kaiser war, ihn nicht anerkannte, durfte man ihn zum Usurpator stempeln. Das Reich war ja nur tatsächlich, nicht dem Rechte nach, geteilt; grund- sätzlich galten die beiden Herrscher als Mitregenten, und fiel der eine weg, so gehörte dem anderen das -^5 Ganze. Nach dem Tode Yaleutinians HI. hatte man daher Marcian bis nach Spanien hinüber als Herrn des einheitlichen Reiches betrachtet, und dass er nichts weiter tue, als dessen Rechte wahren, konnte Ricimer, indem er sich gegen Avitus auflehnte, mit 30 gutem Schein behaupten. Man hat ihn daher in Con- stantino})el auch nicht als Aufrührer augesehen; nicht nur Marcian, sondern auch dessen Nachfolger Leo sind zu ihm im freundlichsten Verhältnis ffeblieben.

16. Maxiiuiis und Avitiis. 335

Einstweilen behauptete Avitus noch die starke Festung Ravenua durch seinen zweiten Patricius Re- mistus. Doch dieser wurde am 17. September 456 jedenfalls auf Anstiften Eicimers ermordet. Jetzt

5 durfte der Kaiser nicht länger zögern, wenn ihm Italien nicht ganz verloren gehn sollte. Er übertrug dem Messianus die Stelle des Remistus und überschritt mit dem, was er an barbarischen Hilfsvölkern zu- sammenraffen konnte, die Alpen. Doch die GJothen

10 fehlten ihm, und seine Kriegsmacht wird daher nur schwach gewesen sein. Auf dem Marsche nach Ra- veuna wurde er bei Flacentia am 17. October an- o-esriffen und sein Heer nach schweren Verlusten in die Flucht getrieben, wobei sein neuer Patricius den

15 Tod fand. Er selbst rettete sich in die Stadt und Hess sich dort zum Bischof weihen, um durch die Heiligkeit dieser neuen Würde dem Mordstahl seiner Feinde zu entgehen. Zunächst gelang ihm das wirklich ; doch bald meinte er, wohl nicht ohne Grund, dass man

20 ihm nach dem Leben stehe. Er wollte in seine Heimat entfliehen, starb aber unterwegs, ob an einer Krank- heit, ob, wie andere meinten, durch Maiorian ermordet, wissen wir nicht.

Es ist bezeichnend für die unselbständige Denk-

25 faulheit dieses Zeitalters, dass in ihm alles verwüstet und zerstört wird, ausser der Tradition. Nicht nur in der Kirche erweist sie sich als unbeschränkte Herr- scherin, deren Rechte anzufechten man für Frevel hält, sondern auch auf dem weltlichen Gebiete setzt

30 sie sich unbarmherzig durch, selbst wenn das Unheil, das sie stiftet, noch so augenscheinlich ist. Und alles, was sich durch die Macht der Verhältnisse eine Zeit- lang erhalten hat, wird zur Tradition und behauptet sich, auch wenn es seine Berechtigung längst verloren

336 VII. Die Aiiflösimg- des Reiches

liat. So wird diese couservative Macht zur Zerstörerin, wie das Schicksal dieses unglücklichen Herrschers wohl am deutlichsten beweist. Vor Diocletian war für die Kaiserwahl die einzige Tradition gewesen, dass Heer oder Senat sie vollziehen müsse. Dies hatte Avitus so sorg- 5 faltig beobachtet, dass er beide heranzog. Nicht von den Gothen hatte er das Diadem angenommen, obgleich sie die Macht besassen, es ihm zu verleihen, sondern von der Senatorenversammlung zu Ugernum und den Truppen in Arelate. Aber seit die Mitregentschaft zur lo Regel geworden war, hatte man jene Form der Kaiser- wahl zwar nicht beseitigt, doch war neben sie die neue Forderung getreten, dass wesentlicher als die Stimmen von Senat und Heer die Anerkennung durch den schon regierenden Herrscher sei, und auch dies war i5 zur Tradition geworden. Sie war berechtigt gewesen, solange das Reich auch in der Teilung ein einheit- liches geblieben war. Seit es sich aber in zwei selb- ständige Staaten aufgelöst hatte, von denen keiner sich ernstlich um den andern kümmerte, hatte sie ihren 20 Sinn verloren. Trotzdem war die ablehnende Haltung Marcians für Avitus verhängnisvoll geworden, freilich nur indem sie seinen Gegnern den legitimen Kriegs- grund lieferte. Aber auch dass sie seine Gegner wurden, beruhte auf jener alles beherrschenden Tra- 25 dition. Sie hatte bewirkt, dass die Erblichkeit eine feste geworden war und durch sie Weiber, Kinder und ganz unfähige Männer sich auf dem Throne behaupten konnten. Doch im Namen jener nichtigen Kaiser hatte der oberste Feldherr die Regierung geführt, und dies 30 hatte sich wieder zur Tradition ausgebildet. Freilich wollten diejenigen, welche Herrscher hiessen, sie nie recht anerkennen und hatten sich immer wieder gegen die wirklichen Herrscher aufsrelehnt. Die eifersüchtige

16. Maxinms und Avitus. 337

Tücke des Honorius hatte Stiliclio und AUobicli das Leben gekostet, Placidia hatte den Mord des Felix veranlasst, Yalentioian den Aetius mit eigener Hand ermordet. Hierbei aber hatte es sich gezeigt, dass die

f) Barbaren und nicht auders das römische Volk dies einem Regierungswechsel gleichachteten, und dieselbe Verwirrung des Reiches war eingetreten, wie sie früher die Usurpationen des Kaisertums herbeizuführen pflegten. Und als mit Avitus ein Mann auf den Thron

10 erhoben wurde, der selbst gebieten keimte und wollte, erschien dies seinem Feldherrn wie ein Eingriff in erworbene Rechte. Das Hausmeiertum, das Stilicho begründet und Aetius zur traditionell anerkannten flacht erhoben hatte, tastete die Scheinherrschaft von

15 Knaben und Schwächlingen nicht an, konnte aber keinen auf dem Kaiserthrone dulden, der ein Mann war. Und doch lag es, seit die erbliclie Dynastie erloschen war, in der Natur der Dinge, dass nur Männer, die imstande gewesen waren, durch ihre

20 Tüchtigkeit die Blicke von Heer und Senat auf sich zu lenken, zur Herrscherwürde erhoben wurden. So wurde der Kampf zwischen Kaisertum und Feldherrn- tum, die beide von der unwiderstehlichen Macht der Tradition gestützt wurden, zum dauernden Zustande,

25 und er ist es gewesen, der den Untergang des west- römischen Reiches nicht herbeigeführt, wohl aber be- siegelt hat.

Sepck, Untergang Apv antiken Welt. VI. 22

Siebzehntes Kapitel.

Maiorianiis und Severus.

Im Namen des oströmischen Kaisers hatten Ricimer und Maiorian den Avitus bekämpft: durch ihren Sieg wurde also dem Rechte nach die Alleinherrschaft Marcians über das gesamte Reich hergestellt. Tat- sächlich aber bedeutete dies nichts anderes, als dass 5 der Zustand eintrat, den zwanzig Jahre später Odoacer zum dauernden gemacht hat: der Westen wurde ohne Kaiser durch einen barbarischen Patricius beherrscht, der nur formell die Oberhoheit Constantinopels an- erkannte. Am 26. Januar 457 starb Marcian, als er bei einer Procession demütig zu Fusse mitging, wahr- scheinlich an einem Schlagfluss, und am 7. Februar wurde Leo mit dem Purpur bekleidet. Der neue Herrscher ernannte sogleich Maiorian zum Magister Militum, Ricimer zum Patricius; d. h. er behandelte ij die Würde, die dieser schon durch Avitus empfangen hatte, als nichtig, übte aber seinerseits, indem er sie erneuerte, auch im Westreich Hoheitsrechte aus. Ohne Zweifel bedeutete dies, dass jene beiden, wie vorher im Namen Marcians, so jetzt im Namen Leos, den 20 anderen Reichsteil verwalten sollten; hier aber wollte man, auch darin der Tradition folgend, seinen eigenen Kaiser haben.

17. Maiorianus und Severus. 339

Am 28. Februar 457 empfingen sie die Diplome, die ihnen ihre Feldherrnämter verliehen oder be- stätigten. Um dieselbe Zeit hatte eine Alamannenhorde den Sanct Gotthard überstiegen und plünderte im Tale

6 von Bellinzoua. Maiorian schickte ihr seinen Unter- feldherrn Burco mit geringer Macht entgegen; doch genügte sie, die Feinde zurückzuschlagen. Die Sieges- uachricht scheint den Anlass geboten zu haben, dass am 1. April 457 bei Raveuna der Magister Militum

10 zum Kaiser ausgerufen wurde; denn der Patricius, obgleich er an Rang höher stand, konnte als Barbar nicht in Betracht kommen. Nachdem die Mitteilung davon nach Constautiuopel überbracht war, erkannte Leo den neuen Mitregenten an, aber nur als Caesar;

15 er behielt sich also als einziger Augustus des Reiches ein höheres Kaiserrecht auch für den Occident vor, und einige Monate lang liess sich Maiorian das gefallen. Doch im Laufe des Sommers gelang es seinen Truppen, eine Vaudalenhorde, die in Campanien plünderte, zu

20 überfallen, einen grossen Teil niederzumachen und die übrigen auf ihre Schiffe zurückzutreiben. Wie es scheint, gab dieser neue Sieg dem römischen Senat den Anlass, dem Caesar zugleich mit dem Cousulat für 458 auch die Augustuswürde zu übertragen, und

25 am 28. December 457 wurde sie in Ravenna durch das Heer bestätigt. Dies hatte dann freilich zur Folge, dass der oströmische Kaiser seine Anerkennung zurück- zog; in den Überschriften seiner Gesetze ist Maiorians Name nicht genannt, und sowohl sein Cousulat als

30 auch das des Ricimer im Jahre 459 wurden im Orient nicht verkündigt. Ln Occident hat mau anfangs Gleiches mit Gleichem vergolten und war dazu be- rechtigt; denn auch Leo besass ja keine dynastischen Ansprüche, sondern war nur durch Senat und Heer

340 VII. Die Auflösung des Reielies.

erhoben; seine Wahl beruhte also auf keinem anderen Kechtstitel, als die Maiorians. Doch schon seit dem Mcärz 458 erkannte dieser seinen feindlichen Mit- reo-enten wieder an, offenbar aus keinem andern Grunde, als damit wenigstens in seinem Herrschaftsgebiet die 5 Zwietracht der beiden Reichsteile nicht öffentlich ein- gestanden werde. Ricimer aber besass gegen ihn den- selben Vorwand zum Aufruhr, wie gegen Avitus, und hat, sobald ihm die rechte Zeit gekommen schien, davon Gebrauch gemacht. 10

Julius Valerius Maiorianus hatte seinen Namen nach seinem mütterlichen Grossvater empfangen, der im Jahre 379 als Magister Militum das pannonische Heer befehligt hatte. Sein Vater hatte lange Jahre die Krieo-skasse des Aötius verwaltet. Unter diesem hatte 15 auch der Sohn Dienste genommen und sich namentlich in deu gallischen Kriegen ausgezeichnet. Trotzdem war er entlassen worden, wir wissen nicht, aus welchem Grunde, und musste noch in jungen Jahren als Privat- mann auf seinen Gütern leben, als der Feldherr durch jd die eigene Hand seines Kaisers fiel. Dieser hatte ihn nach Rom berufen, um durch seinen Eiufluss die Buccellarii des Ermordeten zu gewinnen, und ihn zum Comes Domesticorum ernannt. Dass nach dem Tode ihres Gatten Eudoxia ihn auf den Thron erheben wollte 25 (S. 321), musste seinen Ehrgeiz stacheln. Er benutzte seine hohe militärische Stellung, die ihm auch unter den folgenden Kaisern blieb, um in Gemeinschaft mit Ricimer Avitus zu stürzen und dann selbst nach der Krone zu greifen. Doch empfand er deutlich genug, ao dass er von seinem Patricius abhängig blieb. In dem Schreiben an den Senat, mit dem er seine selbständige Regierung antrat, unterliess er daher nicht, jenen als seinen vornehmsten Helfer zu feiern. Doch konnte

17. Maiorianus und Severus. 341

auch er uicht umhin, nach Befreiung von dem Haus- meiertum zu streben, und dies sollte ihm bald zum Verderben werden.

Noch jung und von brennendem Tatendurst er- 5 füllt, ergriff der neue Kaiser seine Aufgabe mit einem freudigen Optimismus, der in dieser Zeit etwas rührend Lächerliches an sich hat. Nach dem Beispiel Marcians wollte er seine Untertanen vor Bedrückung schützen und ihren Wohlstand heben, zugleich aber auch die

10 Schmach Roms an den Vandalen rächen. Beides war berechtigt und geboten, doch die kriegerischen Zwecke shiuden den wirtschaftlichen im Wege. Gleich seinem Vorbild in Constantinopel begann er seine Kegierung mit dem Geschenk aller Steuerschulden. Damit aber

15 nützte er nur den Vornehmen und Einflussreichen, welche die Macht besassen, die Zahlung immer wieder hinauszuschieben; was der arme Bauer zu leisten hatte, wurde immer rechtzeitig mit Folter und Bleiknute bei- getrieben. Und auch später entblödete sich ein so

20 reicher Grundbesitzer, wie der Dichter ApoUiuaris Sidonius, nicht, die Gutmütigkeit des Kaisers zu miss- braucheu, indem er ihn um Steuerlass anbettelte, und das zu einer Zeit, wo die Provinzen für den Krieg gegen Geiserich aufs härteste ausgepresst wurden.

25 Freilich bemühte sich Maiorian, die Blutsauger, die ausser den Steuern noch ungeheure Sportelu für sich selbst erhoben, den Untertanen fernzuhalten. Er wies die Städte an, sich Defensoren zu bestellen, und gab diesen das Recht, ihre Beschwerden direkt an ihn zu

w richten. Doch ob sie den übermächtigen Beamten gegenüber, deren Rache sie zu fürchten hatten, davon sehr häufigen Gebrauch machten, ist mindestens zweifel- haft. Die Zahl seiner Gesetze ist nicht übermässig gross; aber jedes enthält eine Menge von Einzel-

342 VII. Die Auflösung des Reiches.

Verfügungen, die überall, wo Missstände bemerkbar waren, helfen wollen, aber kaum irgendwo wirklich geholfen haben. Auch wenn seine Regierung länger gewesen wäre, dem allgemeinen Verfalle der Zeit gegenüber hätte sie sich doch ohnmächtig erwiesen. 5 Fast scheint es, als wenn er selbst das gefühlt hätte. Denn nur sein erstes Jahr ist reich an reformatorischen Gesetzen; später scheint er eingesehen zu haben, dass er mit dem Reglementieren nicht weiter kam. Trotz- dem hat in der allgemeinen Mattigkeit dieser traurigen lo Epoche das kecke Selbstvertrauen, mit dem er an seine unlösbaren Aufgaben herantritt, etwas Erfrischendes. Es ist bezeichnend für den Geist, der ihn beseelte, dass er nicht, wie die meisten Herrscher dieser Zeit, in feiger Furcht vor dem Zorne Gottes sich der Geist- 15 lichkeit beugt und die Ketzer verfolgt. Im entschieden- sten Widerspruche zu den damals herrschenden An- schauungen verbot er den Jungfrauen und kinderlosen Witwen, sich vor dem vollendeten vierzigsten Jahre zu Nonnen weihn zu lassen, trat der Erbschleicherei, 20 wie sie namentlich der Klerus betrieb, energisch ent- gegen und wies ihn auch sonst in seine Schranken zurück.

Denselben jugendlichen Feuereifer, wie in seiner Gesetzgebung, bewies er in den Vorbereitungen zum 25 Kriege gegen die Vandalen. Trotz der Erschöpfung des kaiserlichen Schatzes wurden an beiden Meeren Transport- und Schlachtschiffe gebaut und grosse Wer- bungen unter den Donaubarbaren vorgenommen. Nach- dem das Reich des Attila in Trümmer gegangen war, 30 fanden sich die Horden, die ihm dienstbar gewesen waren, leicht bereit, gegen gute Bezahlung einem neuen Herrn zu Willen zu sein, und strömten unter die Fahnen des Maiorianus. Doch ehe er den Kampf

17. Maioriami.s und Severus. k 343

gegen Geiserich beginnen konnte, musste er mit Gallien

Frieden haben, das Avitus auf den Thron erhoben

hatte und dessen Gegnern noch immer feindlich war.

Während der Schützling des Westgothenkönigs in

5 Italien der Krone beraubt wurde, hatte dieser in Spanien geweilt, wo er seit dem Sieg am Urbicus zwar keinen ebenbürtigen Gegner mehr fand, aber die Ruhe doch noch keineswegs hergestellt war. Die Reste der Sueben hatten sich nicht unterworfen, sondern durchzogen

10 plündernd und verwüstend das Land. Nach dem Tode des Rechiarius hatten sie noch Ende 456 den Maldras zum König gewählt. Doch erstand diesem ein Neben- buhler in Framtane, der allerdings schon im Früh- ling 458 starb, dann in Maldras eigenem Bruder, bis er'

15 diesen 459 umbrachte. Und während man so unter den Trümmern des halbvernichteten Yolkes um die Herr- schaft eines Landes stritt, das ihm längst nicht mehr o-ehörte, erhob sich als neuer Prätendent ein Verräter aus dem Lager der Westgothen. Als Theodorich nach

20 dem Süden Spaniens zog, hatte er im Norden als seinen Statthalter den Agiulf zurückgelassen. Dieser sagte sich im Winter 456/57 von seinem Herrscher los und versuchte sich mit Hilfe der Sueben selbst ein Königtum zu schaffen. Diese Nachricht wird es

25 gewesen sein, die Theodorich veranlasste, gleich nach Ostern (3L März) 457 Emerita zu verlassen und wieder nach Norden zu ziehn. Unterwegs aber muss er er- fahren haben, dass Maiorian am 1. April zum Kaiser ausgerufen war, und in ihm einen gefährlicheren

30 Gegner fürchtend, schickte er nur einen Teil seiner Truppen gegen Agiulf, der schon im Juni seinen Tod fand, und führte selbst die Hauptmacht nach Gallien zurück, wo zur Zeit noch alles ruhig war.

Während des Interregnums, das dem Sturze des

344 VII. Die Auflösung des Reiches.

Avitus gefolgt war, hatte ein gewisser Paeoniiis sich der Verwaltung Galliens bemächtigt und sie als Praefect geführt, obgleich keiner ihn dazu ernannt hatte. Mit Theodorich scheint er sich vertragen zu haben; jeden- falls hat dieser, als er in Gallien eingetroffen war, 5 ihn in seiner usurpierten Stellung belassen. Nach- dem Maiorian zum Augustus erhoben war, hatte dieser den Paeonius zwar in der Würde des Praefecten be- stätigt, ihm aber das Amt genommen, und so schonend auch diese Absetzung war, scheint sie doch bei vielen lo böses Blut-gemacht zu haben. Und von dem neuen Prae- fecten, der als Vertreter der Herrschergewalt 458 nach Gallien geschickt wurde, liess sich erwarten, dass er sich den Anhängern des Avitus feindlich erweisen werde. Die Partei des gestürzten Kaisers erregte einen Auf- i5 stand, an dem sich auch sein Schwiegersohn, der Dichter Apollinaris Sidouius, beteiligte. Maiorian schickte einen seiner Feldherrn über die Alpen, um Ruhe zu schaffen. Er selbst musste noch in Ravenna bleiben; denn als er eben aufbrechen wollte, hatte eine Schar der an- 20 geworbenen Hunnen unter Führung des Tuldila sich ^egen ihn empört, und diese Bundesgenossen, die den Kern seiner Macht bildeten, waren daher noch nicht für den Krieg verwendbar. Er suchte die Aufrührer durch Unterhandlungen zu gewinnen; aber während 20 diese noch andauerten, hatte eine andere Schar sich auf sie gestürzt und einen grossen Teil von ihnen niedergemacht. So war die Zwietracht der Horden, die aus den verschiedensten, vielfach untereinander verfeindeten Völkern sich in seinem Lager gesammelt -so hatten, ihm diesmal zum Heil geworden; doch für den bevorstehenden Krieg konnte sie sehr bedenkliche Folgen haben, wenn der Kaiser seine gefährlichen Helfer nicht im Zaum zu halten verstand. Dieser

17. Maiorianiis iiiul Sevenis. 345

schweren Aufgabe war sein jugendlicher Mut gewaclisen. Unter den ärgsten Strapazen, denen sie sich nicht olme Murren, aber doch ohne ernstlichen Widerstand unter- zogen, führte er sie im November über die schnee- j bedeckten Alpen. Liigdunum, das Centrnm des gal- lischen Aufstandes, hatte das vorausgeschickte Heer schon eingenommen und übel darin gehaust. So waren die Gegner gestraft genug, und Maiorian konnte die echt kaiserliche Pflicht erfüllen, Gnade zu üben. Noch

10 im December 458 durfte ihm Apollinaris Sidouius ein schwülstiges Lobgedicht vortragen, dessen weit hergeholte mythologische und historische Gelehrsamkeit der schlichte Krieger wohl kaum verstand. Doch je seltener damals literarische Leistungen waren, desto

15 dankbarer nahm man hin, was sie noch bieten konnten, und der Kaiser hat sich seinem Dichter fortan sehr gnädig erwiesen.

Im nächsten Frühling zog Maiorian von Arelate aus gegen die Westgothen, die ihm noch immer feind-

•20 lieh gegenüberstanden. Nachdem er sie aber geschlagen hatte, benutzte er seinen Sieg nur, um mit Theodorich Frieden und Bündnis zu schliessen. Noch musste er in Gallien eine Erhebung der Alanen niederschlagen; dann aber war er im Rücken gesichert, wenn er den

25 lauge vorbereiteten Krieg gegen Geiserich begann.

Nur hatte er noch abzuwarten, bis sich in Spanien die

Verhältnisse einigermaassen geklärt hatten, weil dieses

Land die Operatiousbasis für seinen Angriff bilden sollte.

Seine neugebauten Schiffe mit ihrer wenig geübten

30 Mannschaft waren den Vandalen in offener Seeschlacht kaum gewaclisen. Wie es scheint, beabsichtigte er daher, auf dem kürzesten Seewege über die Strasse von Gibraltar nach Africa überzusetzen, wie einst Geiserich es aetan hatte. Dieser hatte eine solche

346 VII. Die Auflösuug des Reiches.

Gefahr denn auch vorausgesehen und, um den Kaiser in Spanien durch kriegerische Verwickelungen auf- zuhalten, schon 458 mit den Sueben Verbindungen an- geknüpft. Doch deren Beherrscher Maldras wurde Ende Februar 460 ermordet; um seine Nachfolge stritten 5 wieder zwei Gegenkönige, Frumarius und Rechimun- dus, und der letztere suchte Anschluss bei den West- gothen. Auf diese Weise fand Maiorian nicht nur an den Eroberungen, die Theodorich gemacht hatte, sondern auch an einem der suebischen Prätendenten lo in Spanien einen festen Rückhalt. Nachdem er den Winter über in Arelate gerüstet hatte, überschritt er im Mai 460 die Pyrenäen und machte sich nach Car- tagena auf den Weg, in dessen Hafen seihe Flotte, die er bis auf dreihundert Schiffe vermehrt hatte, 15 sich sammelte, und zugleich hatte er dafür gesorgt, dass Geiserich auch von Sicilien her bedroht wurde. Aetius hatte den Oberbefehl in Dalmatien einem eng befreundeten Manne namens Marcelliuus anvertraut. Er gehörte zu der geringen Zahl hochgebildeter Römer, 20 die trotz aller Lockungen von oben her noch an der heidnischen Religion der Väter festhielten, und auch an seinem Freunde hielt er fest. Nachdem dieser durch die Hinterlist Valentinians gefallen war, wollte Marcellinus den Mörder nicht mehr als seinen Herrscher 2.3 anerkennen, sondern behauptete zwischen den beiden Reichsteilen eine ganz selbständige Macht, und unter den Wirren, die der Mord des Aetius hervorgerufen hatte, wagte keiner, sie ihm streitig zu machen. Der Mann imponierte den Zeitgenossen so, dass sich in den 30 letzten Monaten des Avitus sogar in dem fernen Gallien unter der vornehmen Jugend eine Verschwörung bildete, um ihn auf den Thron zu erheben, die freilich erfolglos blieb. Über die seegewohnte Bevölkerung der dal-

17. Maioriaini.s und Sevenis. 347

matinischen Inseln herrschend, konnte er leicht eine starke Flotte bilden, und dies wird es gewesen sein, was Maiorian veranlasste, mit ihm in Verbindung zu treten. Marcellinus Hess sich bewegen, den Schutz

5 Siciliens zu übernehmen, vielleicht auch von dort aus gegen Karthago zu operieren. Die Yandalen sahen sich durch einen kombinierten Angriff von zwei Seiten her bedroht, der bei der grossen Überlegenheit der mit Maiorian verbündeten oder von ihm angeworbenen

10 Truppen fast sicheren Erfolg zu versprechen schien. Geiserich hatte durch eine Gesandtschaft an den Kaiser versucht, die alten Verträge mit ihm zu er- neuern, war aber abgewiesen worden. Jetzt Hess er die mauretanischen Landschaften, die sein Feind hätte

15 durchziehen müssen, gründlich verwüsten und ihre Brunnen, die in dem wasserarmen Nordafrica von besonderer Bedeutung waren, unbrauchbar machen. Zugleich aber schickte er eine Flotte gegen Cartagena, und dieser gelang es im Mai 460 durch A'errat, noch

20 ehe Maiorian dort anlangte, dessen SchifPe zu überfallen und einen grossen Teil von ihnen wegzuschleppen. Da- mit war der Plan einer Landung in Africa gescheitert. Der Kaiser kehrte nach Arelate zurück und musste sich freuen, dass Geiserich ihm noch einmal, wenn auch

35 unter harten Bedingungen, den Frieden bot. Er "war gezwungen, ihn anzunehmen, um seine Länder vor den Piratenflotten der Vaudalen zu schützen. Doch wahr- scheinlich hätte er neue Schiffe gebaut und den Kampf, der nicht nur durch die Ehre des Reiches gefordert,

:ho sondern der auch für den Bestand desselben notwendig war, zum zweitenmal aufgenommen, wenn sein Patricius ihm dazu Zeit gelassen hätte.

Kluge Höflinge, die Witterung dafür besassen, woher der Wind wehte, hatten schon 458 bemerkt,

348 VII. Die Auflösung des Reiches.

dass die Freundschaft Ricimers und seines Kaisers stark erkaltet war. In seinem Panegyricus über- schüttete ApoUinaris Sidonius die anderen hohen Be- amten Maiorians mit Lobpreisungen, für den höchsten aber hatte er kaum ein flüchtiges Wort der Erwähnung. 5 Zudem war Aegidius, ein hochgeborener Herr, der den seltenen Vorzug besass, kriegsgewandt und doch kein Barbar zu sein, dem Kaiser in Gallien nahegetreten und von ihm zum Magister Militum ernannt worden. Er hatte ihm bei dem Gothenkriege zur Seite gestanden 10 und war wohl auch bestimmt gewesen, ihn nach Africa zu begleiten, während Ricimer untätig und ruhmlos in Italien sass. Nicht ohne Ursache hegte der Patricius Groll und tiefes Misstrauen gegen den Kaiser, das dieser in seiner sanouinischen Sorg^losiokeit leider nicht i5 erwiderte. Denn kaum nach Italien zurückgekehrt, entliess er die neugeworbenen Barbarenhorden, deren Löhnung der erschöpften Staatskasse gar zu grosse Lasten auferlegte, und wollte, nur von seiner Leib- wache begleitet, nach Rom ziehen. So stand er seinem -o Feinde, den er noch nicht als solchen erkannt hatte, fast wehrlos o'eo-enüber. Durch hinterlistio-en Verrat bemächtigte sich Ricimer schon bei Dortona am 2. August 461 der Person des Kaisers, entkleidete ihn der Abzeichen seiner Würde, Hess ihn körperlich miss- 25 handeln und nach fünf Tagen, als man an das Flüsschen Ira gelangt war, ihm das Haupt abschlagen. Unter ärmlichem Grabmal fand der Mann seine letzte Ruhe, der hoffnu!i";svollen Juo-endmut und tatenfreudige Manneskraft auf den römischen Thron zurückgebracht ao hatte. Doch eben diese Eigenschaften mussten ihm verderblich werden, weil sie sonst dem Hausnieiertum verderblich geworden wären.

Es dauerte einige Monate, ehe Ricimer einen Mann

17. Maioriainis und Sevcnis. 349

fand, der unbodeutend genug für seine Zwecke und doch gewillt war, sich die leere Würde des Kaisertums gefallen zu lassen. Es war ein Lucaner, der nicht einmal seinen Namen richtig zu schreiben verstand.

5 Denn statt Livius Severus nennt er sich der korrupten Aussprache seiner Zeit gemäss auf seinen Denkmälern immer Libius Severus. So erfahren wir denn auch von ihm nichts weiter, als dass er am 19. November 461 in Ravenna zum Kaiser ausgerufen und von dem

10 römischen Senat bestätigt wurde, dann aber fern dem Heere in Rom lebte und starb. Die Regierung blieb in den Händen Ricimers, doch hatte dieser an den Folgen seines Tuns schwer genug zu tragen.

Zunächst machte Aegidius Miene, mit dem Heere,

i.") das ihm Maiorian in Gallien zurückgelassen hatte, in Italien einzufallen und den Tod seines Kaisers zu rächen. Doch die Westgothen fanden die Zeit sehr passend, um ihr Gebiet auf Kosten des römischen auszudehnen, und der treue Feldherr erkannte es als

20 seine erste Pflicht, die Feinde des Reiches abzuwehren. Auch er konnte dabei nicht anders verfahren, als dass er nach dem Vorbilde des Aetius den einen Barbaren- stamm gegen den andern benutzte. In erster Linie scheint er sich auf die Frauken gestützt zu haben;

mit ihnen stand er in so engen Beziehungen, dass später die Sage entstehen konnte, sie hätten ihn zu ihrem König erwählt. Doch der Streit um die oberste Feldherrustellung, der schon seit den Tagen des Aetius und Bonifatius das Reich zerrüttet hatte, brach jetzt

HO auch in Gallien aus. Der Comes Agrippinus machte sie dem Aegidius streitig und lieferte, um die Gothen für sich zu gewinnen, ihnen im Jahre 4G2 Narbo aus. Doch im folgenden Jahre schlug Aegidius mit Hilfe der Franken die Westgothen bei Orleans, wobei sogar

350 VII. Die Auflösung des Reiches.

Fredericus, der Bruder ihres Königs, fiel. So wurde die Ehre der römischen Waffen in Gallien gewahrt, für Ricimer aber und seinen Kaiser war es verloren.

In Sicilien stand beim Tode Maiorians noch Marcellinus. Doch die Hunnen, die unter ihm dienten, 5 wurden ihm durch hohe Geldversprechungen von Ricimer abspenstig gemacht, und da er nicht die Mittel besass, diesen zu überbieten, musste er nach Dalmatien zurückkehren. Seitdem aber plünderte Geiserich alljährlich Italien und die Inseln. Zwar lo hielten sich seine Flotten den Orten fern, in denen militärische Besatzungen lagen, und vermieden so nach Möglichkeit ernste Kämpfe. Wo das Land aber un- beschützt war, wurde es zur Wüste gemacht, und da man aus Gallien und Spanien keine Naturalsteuern 15 mehr erhielt, musste die Folge sein, dass die Ernährung des römischen Heeres sich nur noch mit den grössten Schwierigkeiten durchführen Hess.

Die Gesandtschaft Ricimers, durch die er Geiserich an seinen eben erst geschlossenen Vertrag erinnern 20 Hess, brachte natürlich die Antwort zurück, dass die Versprechungen, die er Maiorian gegeben habe, ihn dessen Mördern gegenüber nicht bänden. Gegen den östlichen Reichsteil, dessen Flotten er zu fürchten hatte, erwies sich der Vandalenkönig fügsamer, aber 25 nicht zum Vorteil Ricimers. Nachdem Eudocia mit Huuerich verheiratet war, ihre jüngere Schwester mit dem römischen Senator Anicius Olybrius, der wahr- scheinlich auch als Gefangener in Karthago lebte, wurden 462 Eudoxia, Placidia und ihr neuer Gatte :to an Kaiser Leo ausgeliefert. Doch musste dafür alles, was sich von dem Erbteil seiner Schwiegertochter im Ostreiche befand, Geiserich übergeben werden, und von Ricimer verlangte er die o-anze Hinterlassenschaft

17. Maioriamis uud Severus. 351

Valentinians uud die des Aetiiis noch dazu, wahr- scheinlich weil sie nach dessen Ermordung konfisziert worden war und dadurch auch als Erbe der Eudocia betrachtet werden konnte. Diese Forderung zu er-

:> füllen, war aber unmöglich. Denn wenn man den kaiserlichen Grundbesitz, der über das ganze Reich zerstreut war, dem Vandalenkönig zugew^iesen hätte, würden natürlich überall seine Güterverwalter er- schienen sein und hätten ihm nicht nur als Spione

10 gedient, sondern auch in alle politischen und wirt- schaftlichen Verhältnisse des Westreiches entscheidend eingegriffen. Zudem wollte er jetzt Olybrius, den Schwager seines Sohnes, an Stelle des Severus auf den Thron erheben, und dies hätte kaum etwas anderes

bedeutet, als dass Hunerich den Ricimer ersetzen solle. Darauf konnte dieser natürlich nicht eingehen; dem Reiche aber hätte es vielleicht genützt, wenn es wieder, wie in den letzten Jahren Valentinians III. (S. 121), die Vandalen zu Freunden gewonnen hätte.

2(t In diesem Sinne dürfte es geschehen sein, dass Aegidius im Mai 464 mit ihnen durch eine Gesandtschaft Ver- bindungen anknüpfte. Durch einen doppelten Angriff zugleich von Gallien uud von Africa aus hätten Ricimer und sein nichtiger Kaiser leicht gestürzt und Olybrius

zum Beherrscher des Westreiches gemacht werden können. Doch wenn dieser Plan bestand, scheiterte er daran, dass Aegidius noch im Laufe desselben Jahres starb, wie manche behaupteten, durch Gift, das ihm Ricimer habe reichen lassen. Aber noch ehe diese

w Gefahr abgewendet war, tauchte eine neue auf. Mar- cellinus konnte das Elend, das die Flotten Geiserichs über Italien verhängten, nicht länger untätig mit an- sehen. Im Jahre 464 besetzte er wieder Sicilien und vertrieb die plündernden Vandalen von der Insel;

352 VII. Die Auflösuiiii; des Reiches.

zugleich aber bedrohte auch er die Herrschaft des Ricimer.

Dieser wusste in seiner äussersten Not keine andere Hilfe, als den oströmischeu Kaiser um Schutz zu bitten. Leo hatte bisher Serverus ebensowenig an- erkannt, wie Maiorian; als aber der stolze Patricius sich ihm demütig unterwarf, Hess er sich rühren. Hatte dieser doch erst kurz vorher bewiesen, dass er noch immer kein verächtlicher Bundesgenosse war. Als die Alanen in Italien eingefallen waren, hatte er sie am 6. Februar 464 bei Bergomum besiegt, wobei ihr König Beorgor gefallen war. So bewog denn Leo den Marcellinus, gegen Italien nichts zu unternehmen, und suchte auch durch eine Gesandtschaft an Geiserich, diesen zum Friedenhalten zu veranlassen, was aller- dings erfolglos blieb. Immerhin war wenigstens er- reicht, dass die beiden Reichsteile jetzt wieder zu- sammenwirkten, und ihre Verbindung wurde nocli fester, als am 15. August 465 Severus sein ruhmloses Leben beschloss. Nicht ganz ohne Grund tauchte aucli damals der Verdacht auf, dass Ricimer ihn durch Gifr aus der Welt geschaff't habe. Denn durch seinen Toil wurde wieder einmal die Alleinherrschaft im Reiche hergestellt, und es ist nicht unmöglich, dass Leo dies zur Bedingung für sein Eingreifen gemacht hatte. Frei- lich liess sie sich auf die Dauer nicht aufrecht erhalten ; doch als ein neuer Herrscher für das Westreich bestellt wurde, fand Ricimer sich bereit, ihn aus den Händen des oströmischen Kaisers zu empfangen.

10

Achtzehntes Kapitel.

Das Ende des weströmischen Kaisertums.

Auch abgesehen von der hohen, aber unfrucht- baren Ehre, wieder für den Alleinherrscher des ganzen Römerreiches zu gelten, musste es Leo willkommen sein, Ricimer und mit ihm Marcellinus für seinen un-

5 mittelbaren Dienst zu gewinnen. Denn auch in Con- stantinopel hatte sich ein Hausmeiertum gebildet, und zwei Hausmeier oder gar drei, die mau gegeneinander ausspielen konnte, waren jedenfalls erträglicher, als ein einziger.

10 Unter deu Nachkommen des grossen Theodosius,

in denen die dynastische Erbfolge auf dem Thron ihre Festigkeit erwies, begann sie auch in den Feldherrn- ämtern sich geltend zu machen, obgleich sie hier nicht von langer Dauer sein konnte. Die barbarischen

15 Truppenführer, durch ihre Nationalität und mehr noch durch ihren arianischen Glauben von dem oströmischen Adel getrennt, verschwägerten sich untereinander und bildeten so Familiencliquen, die über die Offizierstellen verfügten und für das schnelle Aufsteigen ihrer Spröss-

20 linge sorgten. Auf diese Weise war Flavius Ardabur Aspar dazu gelangt, schon im Jünglingsalter ein Heer zu befehligen; denn sein Vater war jener Alane Ardabur, der sich im Perserkriege von 421 als Feld-

Seeck, Untergang der antiken Welt. VI. 23

354 ^ 'I- Die Auflösung des Reiches.

herr ausgezeichnet hatte (S. 85), und der Yater seiner Mutter der Gothe Plinta, dem als Belohnung für kriegerische Taten das Consulat des Jahres 419 zuteil geworden war. Dem Aspar war es gelungen, 425 den Usurpator Johannes gefangen zu nehmen (S. 95), und 5 seitdem galt er für den ersten Feldherrn des östlichen Reichsteils, obgleich seine Taten seinem Rufe kaum entsprachen. 431 hatte er sich von Geiserich schlagen lassen, aber dass er sich noch mehr als drei Jahre in Africa zu behaupten vermochte, wurde ihm von Pia- lo cidia so hoch angerechnet, dass sie ihm das Consulat für 434 verlieh (S. 113). Auch in seinen Kämpfen gegen die Hunnen hatte er kein Glück gehabt; doch hinderte dies nicht, dass sein ältester Sohn Ardabur in früher Jugend 447 zum Consulat gelangte und 25 jedenfalls schon vorher hohe militärische Ämter be- kleidet hatte. Denn die Familienverbindungen, die ihn selbst erhoben hatten und dann auch seinen Söhnen zugute kamen, hielt Aspar sorgfältig aufrecht und suchte sie immer mehr zu erweitern. So heiratete er 20 noch in dritter Ehe über die beiden ersten ist nichts Genaueres bekannt die Schwester des Gothen- führers Theodorich Strabo und vermählte seine Enkelin mit dem Sohne des Magister Militum Ariobindus. Nachdem wohl nicht ohne sein Zutun sein Vertrauter 25 Marcian auf den oströmischen Thron erhoben war, stieg noch seine Macht. Aspar scheint schon vorher Patricius gewesen zu sein; jetzt aber wurde auch sein ältester Sohn Ardabur zu der gleichen Würde erhoben, nachdem ihn der Kaiser kurz vorher zum Magister 30 Militum per Orientem ernannt hatte. Trotz seines Arianismus konnte Aspar sogar in kirchlichen Fragen seineu Einfluss geltend machen; der Bischof Theodoret, den das Concil von Ephesus abgesetzt hatte (S. 265),

18. Das Ende des weströmischen Kaisertums. 355

glaubte ihm die Aufhebung dieses Urteils zu verdanken. Vor allem aber seheint er auf das Verhältnis Marcians zu deu Vandalen entscheidend eingewirkt zu habeu. Wie wir schon gesehu haben, suchte dieser jeden

5 Konflikt mit ihnen ängstlich zu vermeiden (S. 329); und dem Aspar wurde auch später nachgesagt, dass er um der Gemeinsamkeit des arianischen Glaubens willen ihnen freundlich gesinnt sei und selbst auf Kosten des Reiches in Constautinopel ihre Geschäfte besorge.

10 Nach dem Tode des Theodosius war dessen

Schwester die Wählende, Aspar nur ihr Ratgeber ge- wesen; nach dem Tode Marcians sollte er eine noch bedeutsamere Rolle spielen. Zwar gab es auch damals eine Frau, die dynastische Ansprüche besass, die einzige

15 Tochter des verstorbenen Herrschers, Aelia Marcia Euphemia. Er hatte sie mit Procopius Anthemius ver- mählt, einem Jüngling, der sich kaiserlichen Blutes rühmte. Wahrscheinlich knüpfte er seinen Stammbaum an den Usurpator Procopius an und durch diesen an die

20 Constantinische Dynastie (V S. 46). Doch mochte dies auch eine jener Erfindungen sein, wie sie vornehmen Familien zu Liebe damals nicht selten ausgeheckt wurden, jedenfalls stand es ausser Zweifel, dass so- wohl sein Vater als auch sein mütterlicher Gross vater

25 den Titel des Patricius geführt hatten. Der eine war jener Procopius, der 421 den Frieden mit den Persern verhandelte (S. 86) und später zum Magister Militum per Orientem erhoben wurde, der andere Anthemius, der in den letzten Jahren des Arcadius

30 und den ersten seines Sohnes als Praefect den öst- lichen Reichsteil regiert hatte (S. 68). Marcian hatte seinen Schwiegersohn trotz der grossen Jugend des- selben zum Comes ernannt und mit dem Oberbefehl über die Donaugrenze betraut. Nach Constautinopel

23*

356 VII. Die Auflösung des Reiches.

zurückgekehrt, war dann Anthemius zum Magister Militum, zum Patricius und im Jahre 455 auch zum Consuln gemacht worden. Danach konnte es niemand zweifelhaft sein, dass der alte Kaiser ihn zu seinem Nachfolger bestimmt hatte und nur durch seinen plötz- 5 liehen Tod verhindert worden war, die Ceremonieu, die dies beglaubigen mussten, vollziehen zu lassen. Aber auch ohne sie konnte Anthemius auf Grund seiner Vermählung mit der Kaiserstochter dynastische Ansprüche geltend machen. Denn war die weibliche lo Erbfolge auch nicht rechtlich anerkannt, tatsächlich hatte sie sich schon in dem Sohne der Placidia und dem Gatten der Pulcheria durchgesetzt, und kein anderer war vorhanden, den Familienbande mit dem verstorbenen Herrscher verknüpften. Doch wenn auch i5 der Jüngling an Ämtern und Würden dem Aspar gleichstand, an persönlichem Einfluss bei den Soldaten konnte er sich mit ihm nicht messen, vor allem aber fehlten ihm jene Familienverbindungen mit den höchsten barbarischen Offizieren und, was noch wichtiger war, 20 die Scharen von gothischen und hunnischen Buccellarii, welche die Macht des Alanen fast unangreifbar machten. Dieser aber wollte einen Kaiser haben, der ihm allein den Thron verdankte und daher ganz von ihm abhängig war.

Leo, der dem halbbarbarischen Volke der thra- kischen Besser entstammte, hatte es in der militärischen Hierarchie noch nicht weiter als bis zum Tribunen gebracht. Doch Aspar hatte ihm die Verwaltung seines Vermögens übertragen und ihn damit als den 30 Mann seines höchsten Vertrauens anerkannt. Beim Tode Marcians befehligte er die kleine Garnison von Selymbria, das nur wenige Meilen von Constautinopol entfernt war. Er wurde durch Aspar hierher beschieden,

18. Das Eude des weströmischen Kaisertums. 357

am 7. Februar 457 den Truppen vorgestellt und durch sie zum Augustus ausgerufen. Natürlich versagte auch der Senat seine Bestätigung nicht. Anthemius musste sein militärisches Amt niederlegen und sich ins Privat-

ö leben zurückziehen. Dass man ihn nicht tötete, spricht für die Milde des neuen Kaisers, noch mehr aber dafür, dass man den jungen Thronkandidaten für zu unbedeutend hielt, um ihn zu fürchten.

Leo hatte Aspar versprechen müssen, dessen

10 zweiten Sohn Patricius, den einzigen, der einen römischen Namen trug und vielleicht von einer Römerin geboren war, zum Caesar zu ernennen und ihm so die Nachfolge zu sichern. Doch wurde dies hinaus- geschoben, vielleicht weil der Thronkandidat noch

15 sehr jung war. Trotzdem durfte er schon 459, gleich nach dem neuen Kaiser, das Consulat bekleiden, und 461 wurde dem Dagalaifus, der mit der Enkelin Aspars verheiratet war, die gleiche Ehre zuteil. Dieser trat jetzt ganz als Mitregent auf. Er sorgte für die

■20 bessere Wasserversorgung der Hauptstadt, indem er 459 eine grosse Cisterne zu bauen begann; als Con- stantinopel seit dem 2. September 465 vier Tage lang von einer grossen Feuersbrunst heimgesucht wurde, leitete er die Herstellungsarbeiten, und selbst Papst

25 Leo sah sich veranlasst, in seinen Briefen an den Kaiser auch auf den Patricius Rücksicht zu nehmen, obgleich dieser arianischer Ketzer war. Doch scheint der religiöse Gegensatz zwischen ihm und dem Kaiser zuerst Misshelligkeiteu hervorgerufen zu haben, und

30 nachdem im Jahre 465 Hermanarich, der jüngste Sohn des Alanen, Consul gewesen war, sinkt sein Einfluss sehr bemerkbar. Denn in demselben Jahre starb Kaiser Severus, und da Ricimer und Marcellinus jetzt in die Dienste Leos getreten waren, konnte dieser

358 VlI. Die Auflösung des Reiches.

meinen, in ihnen ein Gegengewicht gegen die Über- macht Aspars gewonnen zu haben.

Als zwei hohe Beamte, Yibianus und Tatianus, von denen jener 463, dieser 466 Consul war, dem Alanen missliebig wurden, gab es zwischen ihm und 5 dem Kaiser scharfe Auseinandersetzungen. Diesmal scheint Aspar es noch durchgesetzt zu haben, dass sie gestürzt und vielleicht gar hingerichtet wurden; doch Leo erfüllte dies mit bitterem Groll. Gegen die Gotheu des übermütigen Patricius suchte er sich in den lo Isaurern, die schon einen grossen Teil des oströmischen Heeres bildeten (S. 316), eine Stütze zu schaffen, und wagte bald, ihm kühner entgegenzutreten. Zwischen den Ostgothen und den Scireu brach ein Krieg aus, und beide bewarben sich um die Unterstützung des i5 Reiches. Aspar hätte wohl gerne dem Yolke geholfen, das ihm seine meisten Buccellarii stellte, riet aber doch nur zur Neutralität. Leo aber entschied sich für die Sciren, und wie es scheint, ernannte er zum Führer des Heeres, das ihnen zu Hilfe zog, denselben Anthe- 20 mius, den Aspar vom Throne ausgeschlossen hatte und der natürlich der Feind desselben war. Und nachdem jener die Gothen leicht besiegt hatte, über- schritt im Winter 466/67 eine Hunnenschar das Eis der gefrorenen Donau, wurde aber von ihm bei Serdica 25 nach hartem Kampfe zurückgeschlagen. Als Anthemius jetzt ruhmgekrönt nach Constantinopel zurückkehrte, konnte er, von den Isaurern unterstützt, vielleicht als ebenbürtiger Gegner des Aspar gelten.

Doch auch dem Kaiser selbst konnte ein Mann, 30 der nicht nur Rechte auf den Thron besass, sondern jetzt auch das Ansehn beim Heere erworben hatte, um sie geltend zu machen, im östlichen Reichsteil gefährlich werden, im westlichen dagegen von hohem

18. Das Ende des weströmisclien Kaisertums. 359

Nutzen sein. Seit Leo durch den Tod des Severus zum Alleinherrscher geworden war, musste er es als Pflicht empfinden, den Nöten des schwerbedrängten Westens abzuhelfen. Dafür war die Wiedereroberung

r) Africas die erste Bedingung; nur sie konnte Italien vor den Piratenzügen Geiserichs schützen und sowohl für die Ernährung Roms als auch für den Unterhalt der occidentalischen Heere eine gesicherte Grundlage schaffen. Freilich widersprach ein Vandalenkrieg der

10 Politik, die Aspar immer vertreten hatte; jetzt aber war dies eher ein Grund dafür, als dagegen. Als man im Westen erfuhr, dass er beschlossene Sache war, gab dies zu dem falschen Gerücht Anlass, der Patricius sei gestürzt. Doch von Constantinopel aus

15 liess sich der Kampf nicht leiten und beaufsichtigen; wenn man ihn nicht Ricimer überlassen und so dessen Macht, die er schon so oft missbraucht hatte, bedrohlich steigern wollte, musste man einen Kaiser in Italien haben, wo er sowohl mit den Barbaren in Gallien und

20 Spanien aus grösserer Nähe verhandeln, als auch die Rüstungen gegen Africa leiten konnte. Es geschah daher wohl nicht ohne einen Wink Leos, dass der römische Senat, natürlich mit Zustimmung Ricimers, eine Gesandtschaft nach Constantinopel schickte und

25 sich Anthemius zum Herrscher erbat. Indem der Kaiser am 25. März 467 diese Bitte erfüllte, befreite er sich von einem nicht ungefährlichen Praetendenten und schuf sich zugleich einen wertvollen Helfer. Um zwischen den Beherrschern der beiden Reichsteile

30 auch eine Familienverbiudung herzustellen, vermählte er seine ältere Tochter Leontia mit dem ältesten Sohne des Anthemius, der nach seinem kaiserlichen Gross- vater Marcianus hiess. Anfangs scheint er auch seinen neuen Kollegen, wie vorher Maiorian (S. 339), nur

360 VII. Die Auflösung des Reiches.

zum Caesar ernannt und sich so die Obergewalt im Reiche vorbehalten zu haben. Aber nachdem Anthe- mius, der die Reise zu Schiff antrat, in der Tiber- mündung- gelandet war, wurde er in Brontotae auf dem Wege nach Rom am 12. April von dem Heere 5 zum Augustus ausgerufen, und diesmal scheint dadurch das freundliche Verhältnis zum oströmischen Kaiser nicht gestört zu sein-

Mit liebevoller Sorgfalt hatte Leo sich bemüht, seinen neuen Kollegen von dem Hausmeiertum des lo Westens unabhängig zu machen. Eine starke Truppen- macht wurde aus dem Orient nach Italien geschickt; sie war von dem Einfluss Ricimers noch ganz unberührt, und da Anthemius sich schon als Feldherr bewährt hatte, konnte man erwarten, dass er sich persönlich 15 an ihre Spitze stellen werde. Ausserdem wurde Mar- celliuus bewogen, den neuen Kaiser zu begleiten. Er sollte dem Patricius des Westens mit gleichem Range und gleichen Rechten an die Seite treten und so die Übermacht desselben hemmen. Ihm, nicht Ricimer, 20 war die Führung des Vandalenkrieges bestimmt, der die Hauptaufgabe war und den Sieger über alle andern Feldherren erheben musste. Der Mann, der in Italien bisher den Allmächtigen gespielt hatte, konnte nicht anders, als sich dies gefallen lassen. Denn die Not 25 des westlichen Reichsteils war unter seiner Miss- regierung so hoch gestiegen, dass er sich jeder Be- dingung unterwerfen musste, um die Hilfe des öst- lichen zu gewinnen. Doch war seine Stellung noch immer zu fest, als dass man ihn hätte zur Yerzweiflung treiben dürfen. Man suchte ihn daher zu versöhnen und für das Interesse der Dynastie zu gewinnen, in- dem man ihm Alypia, die Tochter des Anthemius, zur Frau üab. Doch so wohlerwosen diese Maass-

18. Das Ende des weströmisclieu Kaisertums. 361

regeln der Vorsicht waren, über die unermesslichen Schwierigkeiten, die den neuen Kaiser empfingen, sollten sie ihm nicht hinweghelfen.

Gleich anfangs säte religiöser Fanatismus Miss-

5 trauen gegen ihn. Zur Zeit seiner Ankunft war in Rom eine Seuche ausgebrochen, und wie sich von selbst versteht, schrieb man sie dem Zorne Gottes zu. Nun befand sich in der Umgebung des Anthemius der Macedonianer Philotheus, und dieser sammelte in der

10 Stadt seine Glaubensgenossen zu gemeinsamen Gottes- diensten. Die Folge war, dass Papst Hilarus in der Peterskirche den Kaiser öffentlich darüber zur Rede stellte und ihm das eidliche Gelöbnis abnahm, es nicht zu dulden. Doch der Verdacht, dass es mit der

15 Rechtgläubigkeit des Anthemius schlecht bestellt sei, blieb bestehen und fand bald neue Nahrung. Der heidnische Philosoph Severus hatte sich vorher aus Rom geflüchtet, kehrte aber in der Hoffnung, dass der neue Herrscher auch eine neue Zeit der Grösse und

20 des Ruhmes bringen werde, jetzt zurück. Dieser hatte sich viel mit Philosophie beschäftigt; er zog daher den hochgeschätzten Gelehrten an seinen Hof und ernannte ihn sogar zum Consuln für das Jahr 470. Daraus aber schloss man, dass er selbst zum Heidentum

25 hinneige und heimlich den Plan berate, dessen Kultus wiederherzustellen, und das, obgleich er um dieselbe Zeit in Constantinopel eine Kirche erbauen Hess. Doch diese religiösen Anfeindungen waren zwar ärgerlich und mögen ihm nicht nur das Volk von Rom, sondern

30 auch viele Soldaten des Heeres entfremdet haben; einstweilen aber kamen sie nicht in Betracht gegen- über der grösseren Gefahr, mit der ein Regierungs- wechsel im Westgothenreich ihn bedrohte.

Theodorich war durch den Mord seines ältesten

362 ^^^I- Diß Auflösung des Reiches.

Bruders auf den Thron gelangt; zur A^ergeltung wurde er 466 von einem jüngeren Bruder in seiner Haupt- stadt Tolosa ermordet, und jedesmal leitete der neue König auch eine neue Politik dem Reiche gegenüber ein. Thorismund war ihm feindlich gewesen, Theo- 5 dorich freundlich; Eurich wechselte mit grossem Ge- schick seine Stellung, je nachdem es der Vorteil seiner eigenen Herrschaft gebot, wie er überhaupt unter den westgothischeu Königen der klarste und zielbewussteste war. Theodorich hatte die Regierungsgeschäfte nicht lo vernachlässigt, aber das lebhafteste Interesse doch seinen Pferden und seinem Goldschatze zugewandt; in Tolosa verging kein Tag, ohne dass er sich am An- blick der einen oder des andern ergötzte. Im Übrigen waren seine täglichen Freuden entweder die Jagd, bei i5 der er sich als glänzender Bogenschütze erwies, oder eine Mischung von Brettspiel und Würfelspiel, die wohl unserem Pufi" nicht unähnlich war. Gewann er dabei, so wurde seine Laune eine so gute, dass er nicht leicht einem Bittsteller etwas abschlug. Bei 20 seinen Mahlzeiten betrank er sich nur an Sonn- und Festtagen. Er schätzte an ihnen römische Kochkunst und römische Aufmachung, ergötzte sich aber dabei au Possenreissern oder an Saitenspiel mit Gesang, nicht an römischer Dichtung oder Redekunst. Eurich 25 dagegen w^usste diese zu schätzen. Den Leo, der in Gallien als eine der ersten literarischen Grössen galt, zog er an seinen Hof und Hess durch ihn seine officiellen Schriftstücke stilisieren. Er war der erste germanische Herrscher, der seinem Volke nach dem Vorbilde der so Römer ein geschriebenes Gesetzbuch gab (S. 176), und während vorher der Landmann sich gefreut hatte, wenn er unter barbarische Herrschaft kam, weil da- durch das Steuerzahlen aufhörte (S. 1'26), organisierte

18. Das Ende des weströmischen Kaisertums. 363

Eurich auch dieses nach dem Muster der römischen Verwaltung.

So schien er dem Kömertum näher zu stehn, als sein gutmütiger, aber noch ganz barbarischer Vor- 5 ganger; eins aber trennte ihn davon und zwar das, was in jener Zeit das Entscheidendste war, die Kon- fession. Theodorich war zwar jeden Morgen zur Kirche gegangen, aber mehr aus Gewohnheit, als weil er zu ihr irgend ein inneres Verhältnis gehabt hätte. Eurich

10 dagegen war überzeugter Arianer, stimmte aber auch insofern mit den römischen Anschauungen überein, als er meinte, das Glück, das ihm in Krieg und Politik immer treu blieb, sei die Belohnung seines rechten Glaubens. Er hat daher die orthodoxe Kirche zwar

15 nicht in ihrer eigenen rohen Weise verfolgt, wohl aber absichtlich o-eschädio-t indem er ihre Bischofssitze oft jahrelang unbesetzt liess. Freilich spielten dabei nicht nur religiöse, sondern auch politische Gründe mit. Denn überall im Reiche hing das Volk an seinen

20 Seelenhirten, und diese wurden so zu seinen natür- lichen Anführern in der Opposition gegen die aria- nischen Gothen. Vor allem aber verband ihn die Gleichheit der Eeligion mit den Vandalen, und dies hat er klug zu benutzen gewusst.

25 Ein halbes Jahrhundert früher hatte Athaulf für

die Politik der Westgothen das Programm aufgestellt, nicht Zerstörer, sondern Erhalter des römischen Reiches zu sein (S. 55). Dies hatte ihn nicht gehindert, wenn es sein Vorteil gebot, den Kaiser zu bekämpfen,

30 und dasselbe galt von seinen Nachfolgern. Im all- gemeinen aber hatten sie daran festgehalten, nicht gegen die Römer, sondern durch sie, ihre Macht zu befestigen. So hatte Valia im Auftrage des Kaisers die Barbaren Spaniens bekämpft, der erste Theodorich

364 VII. Die Auflösung des Reiches.

auf den Catalauuischen Gefilden gegen Attila mit- gefochten, der zweite den Avitus auf den Thron erhoben und Maiorian bei seinen Rüstungen gegen Geiserich unterstützt. Eurich war der erste Gothenkönig, der klar erkannte, dass das Reich zu schwach geworden 5 war, um ihm noch eine Stütze zu gewähren. Nicht als Lehnsmann Roms, sondern als unabhängiger Herrscher w^ollte er seinem Volke gebieten, und in diesem Sinne seine Macht zu erweitern, ist von Anfang an das Ziel seiner politischen und kriegerischen Unternehmungen lo gewesen.

Sobald er den Thron bestiegen hatte, schickte er eine Gesandtschaft an die Sueben in Spanien, um mit diesen nächsten Nachbarn ein Einverständnis zu ge- winnen, und eine andere an Leo, der damals noch is der einzige Kaiser war, um mit ihm einen Vertrag zu schliessen. Wenn Leo das behauptet hätte, was er Allein- herrschaft nannte, so wäre dies Eurich sehr erwünscht gewesen; bedeutete es doch nichts anderes, als dass Ricimer in seiner hilflosen Lage blieb und die Gothen 20 in Gallien freie Hand behielten. Sobald diese Hoff- nung sich durch die Erhebung des Anthemius als trügerisch erwies, versuchte Eurich Verbindungen mit Geiserich anzuknüpfen. Doch seine Gesandten konnten nicht zu diesem gelangen; denn schon war eine römische 20 Flotte ausgelaufen, und wenn sie auch noch nicht in Africa landen konnte, versperrte sie ihnen doch den Weg. Unterdessen hatten die Sueben au Anthemius . eine Gesandtschaft geschickt, und er hatte die Männer für sich gewonnen, die in Gallien die römische Macht so noch aufrecht hielten, wie Ecdicius und Apollinaris Sidonius, den Sohn und den Schwiegersohn des ver- storbenen Kaisers Avitus. Der letztere kam selbst nach Rom, um Anthemius, als er am 1. Januar 468 sein

18. Das Ende des weströmischen Kaisertums. 3ß5

zweites Consulat antrat, ein Festgedicht vorzutragen. In diesem war die freudige Hoffnung ausgesprochen, dass man bald Africa wiedergewinnen werde, und wirklich schien man diesem Ziele näher zu sein, als f> je vorher.

Nachdom Leo den Anthemius auf den Thron er- hoben hatte, liess er dem Vandalenkönig davon officielle Mitteilung machen und zugleich erklären, dass er jeden ferneren Angriff auf Italien als Kriegsfall betrachten

10 \verde. Geiserich hatte erwidert, dass er hierdurch seinerseits den Vertrag als gebrochen betrachte, den er mit dem östlichen Reichsteil geschlossen hatte, und gleich darauf begonnen, auch die Küsten Griechenlands mit seinen Raubzügen heimzusuchen. Sardinien nahm

15 er, wahrscheinlich um dieselbe Zeit, ganz in Besitz. Dem gegenüber rüstete Leo ein Heer und eine Flotte, wie man sie seit unvordenklichen Zeiten nicht gesehen hatte. Da man seit den Tagen Marcians die ungeheuren Tribute, die Attila gefordert hatte, nicht mehr bezahlte,

20 die Steuern aber, aus denen sie bisher entrichtet waren, wahrscheinlich forterhob, hatte sich im kaiser- lichen Schatz eine Summe von über 100 000 Pfund Gold angesammelt, was nach unserem Gelde beinahe 100 Millionen Mark entspricht. Indem auch das grosse

25 Vermögen des Anthemius mit herbeigezogen wurde, konnte man nicht viel weniger als 119 Millionen Mark auf die Rüstungen verwenden. Zum Feldherrn er- nannte der Kaiser Basiliscus, den Bruder seiner Gattin Verina. Aspar konnte nicht in Betracht kommen,

30 weil mau ihn als Vandalenfreund kannte. Kehrte die Flotte siegreich zurück, so musste damit auch die Macht des Hausmeiers gebrochen sein.

Im Jahre 468 wurden die Vandalen au drei Stellen zuo;leich ang-eo-rifFen. Mit der weströmischen Flotte

366 ^11- Die Auflösung des Reiches.

wurde Marcellinus nach Sardinien geschickt und er- oberte es ohne Schwierigkeit. Von Aegypten aus schiffte ein Heer unter Heraclius und dem Isaurer Marsus, der als Landsmann Zenos dies Kommando empfangen hatte, nach der Tripolitaua, schlug dort ein vandalisches r. Heer und bemächtigte sich leicht der Städte. Denn um den feindlichen Einwohnern seines Gebietes keine festen Stützpunkte zu lassen, in denen sie ihm hätten widerstehen können, hatte Geiserich überall mit einziger Ausnahme von Karthago die Mauern niederreissen lo lassen. Gegen dies Centrum der feindlichen Macht musste sich also der Hauptangriff wenden. Dorthin richteten Heraclius und Marsus ihren Marsch, vor vor allem aber schiffte hierher die gewaltige Flotte des Basiliscus. Hätte sie unverzüglich den Kampf 15 begonnen, so hätte die grosse Übermacht, die sie den Vandalen entgegenstellen konnte, ihr wahrscheinlich den Sieg verschafft. Doch sie warf am Vorgebirge des Mercur noch einige Meilen von Karthago entfernt ihre Anker aus, und ihr ungeschickter Feldherr Hess 20 sich durch Geiserich bewegen, ihm noch fünf Tage Waffenstillstand zu gewähren. Sie dienten den Feinden nur dazu, günstigen Wind abzuwarten. Sobald er eintrat, lief die vandalische Flotte aus mit einer An- zahl unbemannter Schiffe im Schlepptau, die mit Brenn- 2.5 Stoffen gefüllt waren. Als man sich bei Nacht dem Vorgebirge genähert hatte, setzte man diesen alle Segel auf, zündete sie an und Hess sie durch den Wind in die römische Flotte hineintreiben. Hier hatte man, durch den Waffenstillstand sicher gemacht, jede Vorsicht "o versäumt und wurde so vollständig überrascht. Ein grosser Teil der Schiffe ging in Flammen auf, andere wurden von den Vandalen in den Grund gebohrt oder geentert. Das Admiralschiflf des Basiliscus ergriff die

18. Das Ende des weströmischen Kaisertums. 367

Flucht, und was sich vor dem Feuer und der Um- klammerung des Feindes retten konnte, folgte ihm nach Sicilien. Wie vorher die Flotte Maiorians (S. 347), so war jetzt auch diese zweite, grössere durch die List

5 Geiserichs vernichtet, und jedem schien er hinfort un- angreifbar.

Schon die Zeitgenossen haben Basiliscus des Ver- rats geziehen. Einerseits meinte mau, er habe nach der Krone gestrebt und, um den Vandalenfreund

10 Aspar für sich zu gewinnen, absichtlich die Niederlage herbeigeführt; andererseits hielt man ihn für bestochen von Geiserich, ja man wusste sogar die Summe zu nennen, für die er sich habe erkaufen lassen. Dass er für die Bewilligung des WafPenstillstandes Geld

15 genommen hat, ist nicht bewiesen, aber an sich nicht unwahrscheinlich. Sie konnte ihm ja nur eine kurze Verschiebung des sicheren Sieges bedeuten, und wenn dabei ein hübsches Geschäftchen für ihn selbst heraus- sprang, so hätte es nicht im Geiste der Zeit gelegen,

20 es abzulehnen. Doch ohne Zweifel wünschte er zu siegen, und dass ihm dies nicht gelang, war nicht böse Absicht, sondern nur die Schuld seiner unnützen Zauderei und groben Nachlässigkeit. So ist er denn auch nicht zu Eurich oder sonst au einen sicheren

25 Ort geflohen, sondern ruhig nach Coustantinopel zurück- gekehrt. Freilich suchte er hier das Asyl einer Kirche auf, und das mit gutem Grunde; denn schuldig war er, wenn auch kein Verräter. Doch seiner Schwester, der Kaiserin, fiel es nicht schwer, ihm bei ihrem Gatten

30 Begnadigung zu erwirken.

Trotz ihrer furchtbaren Niederlage stand die Sache der Römer noch nicht verzweifelt. Die Flotte des Westens war in Sardinien siegreich gewesen, und wenn sie die Trümmer der oströmischen an sich zo«^

368 VII. Die Auflösung des Reiches,

und gleich bei Karthago landete, konnte sie mit dem Heere des Heraclius und Marsus zusammenwirken und immer noch den Vandalen gefährlich werden. Geiserich selbst erkannte dies an, indem er seinerseits Kaiser Leo durch eine Gesandtschaft um Frieden bat. Doch 3 Marcellinus, der für die Erneuerung des Krieges der gegebene Feldherr war und sich schon nach Sicilien begeben hatte, um ihn von dort aus zu führen, wurde im August 468, wohl auf Anstiften des Ricimer, er- mordet. Jetzt entsank Leo der Mut; er hiess Heraclius 10 und Marsus umkehren, schloss für das Ostreich einen Sonderfrieden mit den A^andalen und überliess den unglücklichen Anthemius seinem Schicksal. Es war das letzte Mal gewesen, dass das ganze Eömerreich einträchtig im Kampfe zusammenstand. 15

Die Niederlage des Reiches bedeutete einen Tri- umph des Hausmeiertums. Nicht nur war der Krieg, den Aspar immer zu verhindern gesucht hatte, unglück- lich abgelaufen und seinen Ratschlägen damit Recht ge- geben, sondern auch das Heer vernichtet, durch das Leo 20 seine Gewalt hätte brechen können. Noch am 28. August 468 hatte dieser das Halten von gothischen oder isau- rischen Privattruppen zu verbieten gewagt. Dadurch wurde der Isaurerhäuptling Tarasicodissa betroffen, auf dessen Hausmacht der Kaiser sich gegen Aspar gestützt 25 hatte, zugleich aber auch dieser selbst. Und wenn beide die Gefolge, die auf sie persönlich eingeschworen waren, entlassen mussten, so blieb das kaiserliche Heer ohne Nebenbuhler. Zugleich empfing Tarasicodissa den Trost, dass er, nachdem er seinen barbarischen Namen 30 mit dem griechischen Zeno vertauscht hatte, für das Jahr 469 zum Consuln designiert wurde. Wahrschein- lich hat sich keiner der beiden Feldherren um jenes Gesetz gekümmert, und nachdem Leo von dem Tode

18. Das Ende des weströmischen Kaisertums. 369

des Marcellinus erfahren hatte, wird auch er nicht darauf bestanden haben. Denn jetzt sah er sich völlig in Aspars Hand gegeben. Das Versprechen, dessen Erfüllung er so lange hinausgeschoben hatte, musste

5 er einlösen und sich eutschliessen, noch in demselben Jahre 468 Patricius, den Sohn des Hausmeiers, als Caesar zu proklamieren und mit seiner Tochter Ariadne zu vermählen. Doch die Ehe musste aufgeschoben werden; denn die Bevölkerung von Constantinopel

10 sandte eine Deputation unter Führung des heiligen Mönches Marcellus an den Kaiser ab, um sich den arianischen Thronfolger zu verbitten. Um die Auf- regung zu beschwichtigen, wurde dieser aus der Haupt- stadt entfernt und nach Alexandria geschickt, wo er

15 schon mit allem Prunke des künftigen Herrschers auftrat. Doch 470 war er wieder in Constantinopel, und jetzt wurde die Ehe vollzogen. Aber auch Zeno, den die Nachstellungen Aspars 469 gezwungen hatten, sich nach Serdica zu flüchten, war zurückgekehrt, und

20 ihm wurde verraten, dass dieser sich bemühe, auch die Isaurer für seine Privattruppen zu gewinnen. Gelang dies, so war der Kaiser ganz schutzlos der Willkür seines Hausmeiers preisgegeben; doch diesem beizukommen, war nur durch Meuchelmord möglich.

25 Wieder einmal hatte sich das Volk der Hauptstadt

gegen die arianischen Gothen erhoben und sie bei den Circusspielen mit Schmähungen überhäuft. Aspar mochte nicht mit dem Schwerte dreinschlagen und meinte, die Schreier würden sich auch diesmal be-

30 ruhigen, wenn er und die Seinen ihnen eine Zeitlang aus den Augen kämen. Er ging 471 mit seinen Truppen über die Meerenge und nahm seine Wohnung in der Kirche der heiligen Eupheniia bei Chalcedon, weil hier die Weihe des Ortes ihn auch vor Mörder-

Seeck, Untergang: der antiken Welt. VI. 24

370 ^11- Die Auflösung des Reiches.

bänden zu sichern schien. Der Kaiser schickte den Bischof von Constantinopel an ihn ab und Hess Aspar, indem er sich für seine Sicherheit verbürgte, zu sich entbieten. Dieser weigerte sich zu kommen, wenn Leo ihn nicht persönlich seiner wiederhergestellten 5 Gnade versichere. Und wirklich ging dieser selbst in die Kirche der Euphemia, gab alle gewünschten Versprechungen und lud Aspar mit seinen Söhnen Ardabur und Patricius zu einem Versöhnungsmahle in den Palast. Als sie das Speisegemach verlassen lo hatten, stürzte sich Zeuo mit den bewaffneten Hof- eunuchen auf sie und machte sie nieder. Später aber zeigte sich, dass Patricius nicht tot, sondern nur schwer verwundet war; dass er genas, betrachtete Leo als göttliche Fügung und schonte auch weiter seines i5 Lebens. Doch musste Ariadne sich von ihm scheiden und dem Zeno zur Belohnung für seine Mörderdienste die Hand reichen.

Die blutige Tat hatte ein noch blutigeres Nach- spiel. Die Buccellarii des Aspar hielten sich für ver- 20 pflichtet, den Tod ihres Gefolgsherrn zu rächen. Unter der Führung des Comes Ostrys drangen sie in den Kaiserpalast ein und konnten erst nach heftigem Kampfe von den Leibwächtern zurückgetrieben werden. So wichen sie aus der Stadt, schlössen sich aber dem 25 Gothenhäuptliug Theodorich Strabo, dem Schwager des Ermordeten, an und zogen mit ihm gegen Con- stantinopel. Mit Mühe gelang es Basiliscus und Zeno sie abzuwehren; doch ganz Thrakien wurde verwüstet, Adrianopel durch Aushungern zur Übergabe gezwungen, 30 und nur dass die Gothen selbst Nahrungsmangel litten, veranlasste sie, den Kaiser um Frieden zu bitten. Doch musste er sich zu einem Jahrestribut von 2000 Pfund Gold (1 827 000 Mark) verstehen und Theodorich den

18. Das Ende des weströmischen Kaisertums. 371

Titel eines Magister Militum gewähren. So wirkte das Hausmeiertum des Aspar noch lange über seinen Tod hinaus schweres Unheil für das Reich.

Noch verderblicher sollte im Westen die neu-

5 erstandene Macht des Ricimer sich erweisen. Nach- dem Marcelliuus durch Mord beseitigt war, wurde jenem der Krieg gegen Geiserich übertragen; doch scheint er in Rom geblieben zu sein und nur durch ausgesandte Streifscharen die Küsten Italiens,

10 so gut es ging, geschützt zu haben. Da Anthemius ihm gegenüber eine selbständige Heeresmacht besass (S. 360), regte sich zwischen ihnen bald das Miss- trauen. Der Magister Officiorum Romanus war eine Kreatur des Ricimer und kam in Verdacht, mit dessen

15 Hilfe nach der Krone zu streben. Als nun der Kaiser 470 schwer erkrankte, schrieb er das der Zauberei zu und Hess auf diese Anklage hin den Romanus mit mehreren anderen, die für seine Mitschuldigen galten, hinrichten. Nicht ohne Grund hielt auch Ricimer sich

-20 für bedroht. Mit den 6000 Mann, die ihm für den Yandalenkrieg anvertraut waren, verliess er Rom und begab sich nach Mailand, von wo aus er am leichtesten mit seinen Stammesgenossen, den Westgothen in Gallien, Fühlung gewinnen konnte. Schon jetzt schien

25 ein Bürgerkrieg zu drohen, und diesmal wäre die kleine Schar der Aufrührer leicht zu besiegen gewesen. Doch Bischof Epiphanius von Ticinum Hess sich bewegen, als Gesandter Ricimers zum Kaiser nach Rom zu gehen, und dieser konnte einem Manne, der als grosser

30 Heiliger galt, nichts abschlagen. Als am 9. März 471 Epiphanius die Hauptstadt verliess, konnte er seinem Auftraggeber die beruhigendsten Versicherungen über- bringen. Der Friede schien hergestellt, dauerte aber nur so lange, bis die Ereignisse in Gallien Ricimer

24*

372 VII. Die Auflösung des Reiclies.

die Möglichkeit gewährten, dem gar zu vertrauens- vollen Kaiser mit besserer Aussicht auf Erfolg die Stirue zu bieten.

Die ganz unerwartete Errettung der Yandalen aus der höchsten Gefahr hatte in Eurich die Überzeugung 5 befestigt, dass Gott mit den Arianern sei (S. 363). Er erklärte, dass der Vertrag, den er mit Leo ge- schlossen hatte, ihn dem Anthemius gegenüber nicht binde, und traf mit Geiserich die Vereinbarung, das Reich gemeinsam zu berauben. Auch unter den 10 römischen Beamten Galliens begriff so mancher, dass es mit der Herrschaft des Kaisers zu Ende gehe und die Zeit gekommen sei, bei dem neuen Herrn Anschluss zu suchen. Der Praefect Arvandus trat mit Eurich in hochverräterische Verbindung und wurde dafür 15 durch den Senat von Rom 469 zum Tode verurteilt. Anthemius milderte diese Strafe in Verbannung, wahrscheinlich weil er empfand, dass unter den ge- gebenen Verhältnissen jene Schuld nicht unverzeihlich sei. Doch hielt er es für nötig, den Übermut der 20 Gothen zu dämpfen, und dafür boten sich ihm in Gallien selbst streitbare Bundesgenossen. Zu den römischen Untertanen, die sich dort von dem Kaiser und seinen harten Steuerboten nuabhängio: o-emacht hatten, gehörten auch die Britonen an der Loire. 25 Derartiges war schon so oft vorgekommen und von so langer Dauer gewesen, dass man längst aufgehört hatte, sie als Empörer zu betrachten. 31it Riothamus, den sie sich zum Könige gewählt hatten, standen die Vertreter des gallischen Römertums in freundlichem so Briefwechsel, und der Kaiser selbst fand es nicht unter seiner Würde, sich um dessen Kriegshilfe zu bewerben. Und sie wurde gern gewährt, weil auch jener als nächster Nachbar der Gothen ihre Überg-riffe fürchten

18. Das Ende des weströmischen Kaisertums. 373

musste oder schon darunter gelitten hatte. Auch mit den Burgunden wurde ein Bündnis geschlossen. Man scheint sich dahin geeinigt zu haben, dass Eurich gleichzeitig von Norden durch Riothamus, vielleicht 5 auch durch die Burgunden, von Süden durch das Heer des Kaisers anzugreifen sei. Doch um diese Zeit er- folgte jener Aufstand des Ricimer, von dem wir eben gesprochen haben. Wahrscheinlich wurde dies der Grund, warum die Römer nicht rechtzeitig zur Stelle

10 waren. Jedenfalls konnten die Gothen den Riothamus vereinzelt angreifen, und obgleich er 12 000 Krieger, wahrscheinlich die ganze waffenfähige Mannschaft seines kleinen Königreichs, aufgeboten hatte, w^urde er bei Vicus Dolensis (Deols) gründlich geschlagen

15 und musste zu den Burgunden fliehen, während Eurich sein Gebiet in Besitz nahm. Als die Römer, geführt von Anthemiolus, dem jungen Sohne des Kaisers, der sich in diesem Kampfe seine Sporen verdienen sollte, tl:71 in Gallien einrückten, hatte der Gothenkönig

20 gegen sie freie Hand. Er konnte ihnen über die Rhone entgegenziehen und besiegte auch sie, wobei Anthemiolus seinen Tod fand.

Nachdem durch diese Niederlage die Macht des Kaisers furchtbar geschwächt war, fand Ricimer es

25 an der Zeit, sich zum zweiten Mal gegen ihn auf- zulehnen. Doch wenn er selbst Italien beherrschen wollte, musste er sich vor allem gegen die Raubzüge der Vandalen sichern. Er trat daher mit Geiserich in hochverräterische Verbindung und verpflichtete sich,

30 dessen Kandidaten Olybrius, für den der König schon seit Jahren wirkte (S. 351), auf den weströmischen Thron zu erheben. Der Prätendent, dem seine Ehe mit der Tochter Valentinians HL auch erbrechtliche Ansprüche verlieh, lebte in Constantinopel; doch Leo,

374 ^11. Die Auflösung des Reiclies.

der eben damals in den schweren Kampf gegen die Anhänger des ermordeten Aspar verwickelt war, konnte nicht wagen, Olybrius gegen den Willen des furchtbaren Geiserich zurückzuhalten. Im Februar 472 erhob Ricimer die Fahne der Empörung; im April, nach- 5 dem die Schiffahrt eröffnet war, stellte sich Olybrius in Rom bei ihm ein und wurde von seinen Soldaten zum Kaiser ausgerufen. Doch schuf Anthemius den Aufrührern härtere Arbeit, als vor ihm Avitus und Maiorian. lo

Ricimer war auf der riaminisclien Strasse heran- gezogen und hatte an der Aniobrücke sein Lager geschlagen. Der Kaiser war zu schwach, um ihm in offener Feldschlacht zu begegnen; nach Absendung des gallischen Heeres wird er kaum viel mehr als die 15 Leibwachen bei sich gehabt haben. Aber da die Be- völkerung Roms ihn unterstützte, scheint er es doch möglich gemacht zu haben, die Stadtmauer eine Zeit- lang zu verteidigen. Doch ihr weiter Umkreis Hess sich mit seinen geringen Kräften nur sehr unvollständig 20 besetzen. Die Feinde drangen ein, und er musste sich auf den palatinischen Hügel, auf dem der Kaiserpalast stand, zurückziehen. Hier behauptete er sich, obgleich Ricimer das Tiberufer besetzte und ihm die Zufuhren abschnitt, bis man in Gallien von seiner Bedrängnis 25 erfahren hatte, und was sich von seinem Heere aus dem Kampfe gegen Eurich gerettet hatte, unter der Führung Bilimers zum Entsatz heranzog. An der Engelsbrücke stellte sich der Feind diesen Truppen entgegen und errang einen vollständigen Sieg, bei 30 dem auch ihr Feldherr fiel. Der Rest der Soldaten Hess sich von Ricimer gewinnen, und jetzt fielen auch diejenigen ab, die auf dem Palatiu trotz Hunger und Seuchen bei Anthemius ausgehalten hatten. Dieser

18. Das Ende des weströmischen Kaiscrttuns. 375

selbst suchte in der Verkleidung eines Bettlers bei einem Märtyrergrabe ein Asyl zu finden; aber während das barbarische Heer der Feinde die Stadt schonung-s- los plünderte, wurde er von Gundobad, dem Neffen

5 des Ricimer, am 11. Juli 472 getötet.

Dies ist der letzte weströmische Kaiser, der für unsere Kenntnis noch eine Individualität besitzt; die folgenden ziehen an uns vorüber gleich der Königs- reihe Banquos in der Hexenküche, wie Schatten, nicht

10 wie lebendige Menschen. Die Probe, ob ein Kaiser von Geiserichs Gnaden sich besser behaupten könne, als die andern, welche den Vandalen bekämpft hatten, Hess sich nicht machen, weil Olybrius schon drei Monate nach dem Tode seines Vorgängers am 2. No-

15 vember 472 starb, merkwürdigerweise eines natürlichen Todes. Der Mann des Unheils Ricimer war ihm schon vorangegangen; er erlag am 19. August 472 einem Blutsturz. Doch wie vorher beim Kaisertum, so setzte sich jetzt bei dem höchsten Feldherrnamt die dynastische

20 Erbfolge durch. Es wurde dem Keffen des verstorbenen Hausmeiers, Gundobad, übertragen, der den Comes Domesticorum Glycerius veranlasste, sich am 3. März 47 3 in Ravenna durch das Heer zum Augustus ausrufen zu lassen. Doch Leo hielt immer noch daran fest,

25 dass ihm die Obergewalt auch im Westreich zukomme, und versagte dem neuen Kaiser, der ohne seine Ein- willigung erhoben war, die Anerkennung. Zwar ihn selbst zu bekämpfen, hatte er nicht die Macht, fand aber ein Werkzeug dazu in Julius Nepos, der als

30 Schwestersohn des Marcellinus dessen Herrschaft über Dalmatien geerbt hatte. Ihm übersandte Leo den Purpur durch seinen Klienten Domitian und vermählte ihn zugleich mit seiner Nichte. Als im Juni 474 die Flotte des Nepos im Hafen von Rom landete, wagte

376 VII. Die Auflösung des Reiches.

ihm Glycerius nicht zu widerstehen und wurde zum Bischof von Salona geweiht. Dort inmitten seines angestammten Machtgebiets konnte Nepos ihn für un- gefährlich halten, sollte sich aber darin täuschen. Als auch er aus Italien vertrieben war und in Dalmatien 5 seine Macht zu festigen suchte, stiftete Glycerius als Bischof seiner Hauptstadt Mörder gegen ihn an, die seinem Leben 480 ein Ende machten.

Die Herrschaft über das Westreich hatte er schon fünf Jahre früher verloren, nachdem er sie nur vier- lo zehn Monate hatte behaupten können. In Gallien war der Vorkämpfer des Römertums gegen die Westgothen Ecdicius, der Sohn des Kaisers Avitus. Nachdem er aus seinen Privatmitteln ein kleines Heer gebildet und durch manches kühne Heldenstück den Feinden ir> Schaden getan hatte, hatte Anthemius ihn an den Hof berufen und ihm die Würde des Reichsfeldherru und Patricius zugesagt, sein Versprechen aber nicht mehr halten können. Nepos erfüllte es, als Eurich aufs neue Krieg begann und sich anschickte, Arverni, 20 die Heimat des Ecdicius, zu belagern. Dieser konnte ihr nicht zu Hilfe kommen; die Übermacht der Feinde zwang ihn, sich in eine feste Stellung zurückzuziehn. Die Stadt aber verteidigte sich mit dem Mute der Verzweiflung, selbst als ihre Lebensmittel fast erschöpft 25 und viele der Bürger gezwungen waren, sich von Kräutern nnd Wurzeln zu nähren. Doch Nepos ver- zweifelte an der Fortsetzung des Kampfes und schickte den Bischof Epiphanius von Ticinum, der schon einmal einen höchst unglücklichen Frieden vermittelt hatte so (S. 371), als Unterhändler zu Eurich. Es kam ein Vertrag zustande, durch den die heldenmütige Stadt den Gothen ausgeliefert wurde. Dass ihre Kämpfe und Leiden vergeblich gewesen waren, erfüllte die

18. Pas Ende des weströmischen Kaisertums. 377

Arverner mit bitterem Groll, und gewiss nicht am wenigsten den Ecdicius. Da er sich kaiserlicher Ab- stammung rühmte, konnte ihm der Gedanke nicht fern- liegen, sich durch seine Truppen zum Augustus aus- 5 rufen zu lassen, und diese Befürchtung dürfte es gewesen sein, die Xepos veranlasste, den gefährlichen Menschen zu sich nach Rom zu bescheiden und dessen Kommando dem Orestes zu übertragen.

Hatte der Kaiser gemeint, durch diesen Wechsel

10 des Oberbefehls die Gefahr einer Usurpation zu ver- meiden, so sollte er eine arge Enttäuschung erfahren. Orestes, der Sohn des Tatulus, war in Pannouien zu Hause, das Aetius den Hunnen abgetreten hatte (S. 115). Attila hatte ihn zu seinem Geheimschreiber gemacht

15 und ihn wiederholt als Gesandten an den oströmischen Hof benutzt. So hatte er unter den Barbaren Ver- bindungen angeknüpft, die ihm, wie einst dem Aetius, für Werbung von Söldnern und Bündnisse wertvoll sein konnten. Zu der militärischen Aristokratie der

20 Römer war er dadurch in Beziehungen getreten, dass ihm der Comes Romulus seine Tochter zur Frau g-e- geben hatte. Wie hoch er diese Verschwägerung schätzte, ergibt sich daraus, dass er sein spätgeborenes Söhnchen, das einst als letzter weströmischer Iviiser

25 den Purpur tragen sollte, nach dem Grossvater be- nannte. Da dieser zu Aetius in engen Beziehungen stand, hatte wohl auch sein Schwiegersohn diesem allmächtigen Gönner seine Beförderung zu verdanken, wenn er auch erst zwanzig Jahre nach dem Tode

30 desselben zur höchsten Staffel des militärischen Dienstes aufstieg. Doch dem Ehrgeize des Greises wollte dies nicht genügen. Zum Oberfeldherrn für Gallien er- nannt, sollte er von Rom aus, wo der Kaiser residierte, ein Heer über die Alpen führen ; doch als er in Ravenna

378 VII. Die Auflösung des Reiches.

angelaugt war imd sich dieser stärksten Festung Italiens bemächtigt hatte, erklärte er Nepos für abgesetzt. Dieser scheint nicht die genügenden Truppen besessen zu haben, um den Kampf aufzunehmen ; als Orestes gegen Rom heranzog, bestieg der Kaiser am 28. August 475 ein •> Schiff und kehrte in sein heimatliches Dalmatien zurück.

In Constantinopel war schon vor dem Sturze des Glycerius Kaiser Leo am 18. Januar 474 gestorben. Noch bei seinen Lebzeiten hatte er das kleine Söhnchen seiner Tochter Ariadne zum Kaiser und Nachfolger lo erhoben. Dessen Yater, der Isaurer Zeno, sollte als Hausmeier für dies Kind regieren, was freilich nicht Bestand hatte. Denn schon wenige Tage nach dem Tode Leos am 29. Januar musste dessen Enkel, der denselben Namen führte, auch seinen Yater zum i5 Augustus krönen. Doch so kurz jenes Yerhältnis von Hausmeier und Kaiser gewährt hatte, dem Occident bot es doch das Beispiel. Schon seit den Zeiten des Honorius hatten der Herrscher und sein höchster Feld- herr sich meist grimmig befehdet, und dies war einer io der Gründe für den tiefen Fall des Westreiches. Wenn die bisher feindlichen Gewalthaber im Yerhältnis von Sohn und Yater zueinander standen, so liess sich ihr verderblicher Gegensatz vermeiden. Orestes liess daher sein Söhnchen Romulus, dem er jetzt nicht nur den 25 Titel, sondern auch den Namen Augustus beilegte, am 31. October 475 in Ravenna zum Kaiser ausrufen. So vereinigten sich bei dem, der die Herrschaft Roms zu Grabe tragen sollte, die Namen des ersten Königs und des ersten Kaisers. Doch ob das neue Experiment, 30 die Eintracht zwischen Kaisertum und Hausmeiertum zu erhalten, auf die Dauer gelang, konnte nicht mehr erprobt werden.

Das Heer des Westreiches bestand so gut wie aus-

18. Das Ende des weströmisclien Kaisertums. 379

schliesslich aus aiigeworbeuen GermaneD. Aber da jetzt nicht nur Africa, sondern auch Gallien und Spanien verloren waren, wahrscheinlich auch die Inseln Sicilien, Sardinien und Corsica sich in der Gewalt

5 Geiserichs befanden und noch dazu seine Flotten die Küstenlandschaften Italiens verwüsteten, müssen die Einkünfte des weströmischen Kaisers fast auf Nichts zusammengeschw^unden sein. Schw^erlich war er in der Lage, seine Söldner zu bezahlen oder auch nur

10 ausreichend zu verpflegen. Sie beanspruchten daher, dass man ihnen Land anweise, von dessen Ertrag sie sich ernähren könnten. Bescheiden genug forderten sie nur ein Drittel Italiens, obgleich sie die Gewalt hatten, das Ganze zu nehmen. Doch Orestes fühlte

15 noch zu sehr als Römer, um ihren Wunsch zu ge- währen. Da fand sich in Odoacer ein barbarischer Offizier, der ihnen alles zusagte, was sie wollten. Sie riefen ihn am 23. August 476 zu ihrem König aus: Orestes wurde am 28. August in Placentia, sein Bruder

20 Paulus am 4. September in Ravenna erschlagen, und Romulus Augustus, dessen liebliche Kindheit den ger- manischen Krieger rührte, hörte zwar auf Kaiser zu sein, durfte aber in dem schönen Campanien, mit einer jähr- lichen Rente beschenkt, in Ruhe seines Lebens ge-

25 uiessen. Ein enthronter Kaiser erschien damals schon so

ungefährlich, dass man ihn nicht zu ermorden brauchte.

So trat den barbarischen Königreichen, die sich

schon in allen Provinzen des Westens gebildet hatten,

ein Königreich Italien hinzu. Rom selbst, nach dem

30 das Imperium Romanum seinen Namen führte, war einem germanischen Herrscher unterworfen. Dass dies das Ende seines gewaltigen Reiches bedeute, hat man damals nicht anerkannt, und die ewige Fortdauer desselben blieb, weil Daniel sie prophezeit hatte, auch

380 VII. Die AuflösuDg des Keiclies.

für das Mittelalter religiöses Dogma. Doch wenn es auch in Constantinopel noch einen Kaiser gab und seit Karl dem Grossen ihm auch im Westen ein Kollege erstand, so waren sie doch nicht mehr die Oberhäupter eines abgeschlossenen Weltkreises, sondern nur Be- 5 herrscher eines beschränkten Landgebietes, denen andere mit geringerem Titel, aber kaum geringerer Macht zur Seite standen.

Man hat gemeint, es sei lächerlich, die Absetzung eines Kindes zum Epochenereignis zu machen, das 10 zwei Weltalter scheiden soll; doch verrät diese Kritik des mit Recht Hergebrachten ein sehr geringes Ver- ständnis für den hohen Wert, den die äusseren Formen des staatlichen Lebens in der Geschichte beanspruchen. Wenn man von den Mauern einer Stadt eine Fahne 10 herunterreisst und eine andere an ihre Stelle setzt, so ist auch dies eine höchst geringfügige Handlung, und doch bedeutet sie für die Stadt sehr viel. Eine solche Fahne, nicht für eine einzelne Stadt, sondern für einen Weltkreis, war der Kaisername, auch wenn 20 nur ein Knabe ihn trug. Wohl ist die Geschichte ein ununterbrochener Strom, in dem es nirgend wirkliche Abschnitte gibt; denn jedes Ereignis ruft andere her- vor, an die sich in ewiger Kette immer wieder andere reihen. Doch für unser Verständnis brauchen wir Ein- 20 teilungen, und eine solche zu schaffen, ist nichts besser geeignet, als das Verschwinden des Kaiseruarnens aus Rom und Italien, wo seine Heimat war. Denn es be- deutet, dass jenes einheitliche Reich, zu dem die antike Welt bei ihrem Niedergange zusammengeschmolzen war, so jetzt auch formell aufgehört hatte zu bestehen und ein System unabhängiger Staaten an seine Stelle trat, in dem schon die Grundzüge vorgebildet lagen, aus denen der heutig-e Zustand sich entwickeln sollte.

DG 311

1921

Bd. 6

Seeck, Otto

Geschichte des Untergang? der antiken Welt

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