GRIECHISCHE

KUNSTGESCHICHTE

VON

HEINRICH BRUNN

ERSTES BUCH

DIE ANFÄNGE UND DIE ÄLTESTE DECORATIVE KUNST

MÜNCHEN 1893

VERLAGSANSTALT FÜR KUNST UND WISSENSCHAFT

VORMALS FRIEDRICH BRÜCKMANN

GRIECHISCHE

KUNSTGESCHICHTE

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GRIECHISCHE

KUNSTGESCHICHTE

VON

HEINRICH BRUNN

ERS IKS BUCH

DIE ANFÄNGE UND DIE ÄLTESTE DECORATIVE KUNST

MÜNCHEN 1893

VERLAGS ANSTALT FÜR KUNST UND V^ISSENSCHAFT

VORMALS FRIEDRICH BRÜCKMANN

Alle Rechte vorbehalten

Bnickmann sche Huchdruckerei in München.

DEN MANEN

WELCKERS UND RITSCHLS

IN ERINNERUNG AN DEN 20. MÄRZ 1843.

VORREDE.

Als mir vor mehr als zwei Decennien der Gedanke entgegen- gebracht wurde, als das Ziel umfangreicher kunstgeschichtlicher Studien eine zusammenfassende Darstellung der griechischen Kunstgeschichte ins Auge zu fassen, glaubte ich anfangs, mich ablehnend verhalten zu müssen. Allerdings lag die Gefahr nahe, dass die Resultate meiner Einzelnstudien ohne solche Zusammenfassung leicht von Andern als gute Beute in ungerechtfertigter und, was noch schlimmer, in falscher oder missverstandener Weise verwerthet werden dürften. Solchen Erfahrungen gegenüber erschien es fast als Pflicht, den Gedanken nicht ganz abzuweisen, um so mehr als damals die sonstigen Verhält- nisse sogar günstiger gelagert waren, als jetzt. In der That gelang es mir in der Frist weniger Jahre, den Stoff bis über den Höhepunkt der kunstgeschichtlichen Entwickelung hinaus zu bewältigen, aber das zu hoch gesteckte Ziel, nemlich die Absicht, anstatt grösserer Theile sofort das Ganze in harmonischer Abrundung dem Publicum vorzulegen, erwies sich der Vollendung eben dieses Ganzen als verhängnissvoll.

Gerade die Zeit des Beginnes der Arbeit, das weltgeschichtliche Jahr 1870, bezeichnet auch für die Entwickelung der Archäologie einen Wendepunkt. Die Schliemann'schen Ausgrabungen, durch welche unsere Kenntnisse der Anfänge der Kunst in ein höheres Alter hinaufgerückt wurden, gewannen immer mehr an Bedeutung; es folgten die Ent- deckungen von Olympia und von Pergamon, die Ausdehnung der Thätigkeit des archäologischen Instituts auf Griechenland, der Mit-

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bewerb der französischen, englichen und amerikanischen Schulen in Athen und nicht am wenigsten die neuerwachte Thätigkeit und Reg- samkeit der Griechen selbst alles das trug bei zu einer ganz un- erwarteten Erweiterung unserer Denkmälervorräthe, und so sehr ich mich rühmen darf, dass durch die neuen Entdeckungen meine Grund- anschauungen nur wenig berührt oder erschüttert wurden, ja dass sogar gewagte Hypothesen vielfach die erwünschteste Bestätigung erfuhren immer und überall bedurfte das Neue der Verarbeitung und der Ein- ordnung in den grösseren Zusammenhang. Namentlich der Abschnitt über die Ursprünge und Anfänge musste sich bald als veraltet er- w^eisen. Ja, als ich in letzter Zeit den gleichen Abschnitt in völliger Neubearbeitung zu Ende geführt hatte, wurde mir sofort klar, dass auch diese neue Fassung bald wieder von dem gleichen Schicksale ereilt werden würde.

So sah ich mich in bestimmtester Weise vor die Entscheidung gestellt, entweder den Gedanken an die Ausführung einer Kunstge- schichte definitiv und für immer aufzugeben, oder zwar den Grund- gedanken festzuhalten, aber in der Durchführung etwas veränderte Wege einzuschlagen. Ich habe mich für das Letztere entschieden. Denn im Allgemeinen darf ich wohl annehmen, dass augenblicklich Niemand in der Lage ist, eine Geschichte der griechischen Kunst in absolutem Sinne zu schreiben, nicht bloss wegen der Schwierig- keiten, bei der Zersplitterung der heutigen Litteratur die Fülle des neuen und täglich sich mehrenden Stoffes zu erschöpfen, sondern der noch grösseren, in der Fluth der durch diese Bereicherung noth- wendig gewordenen Hypothesen den richtigen Pfad der Entwickelung zu erkennen und festzuhalten. Und doch darf dieses wichtigste Ziel nicht aus den Augen verloren werden.

Es scheint ja einfach und sicher, von den durch die alten Autoren gegebenen Nachrichten und den aus ihnen sich ergebenden Vermu- thungen auszugehen. Aber unsere schriftliche Ueberlieferung über die Zeit vor und zu Anfang der Olympiaden welche Gewähr vermag sie uns in ihren einzelnen Angaben zu bieten ? In ihrer Ausgestaltung

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hat die historische Sage selbst nur den Werth einer Hypothese, die der vorsichtigsten Kritik bedarf und eine unzweifelhafte und sichere Grundlage nicht zu gewähren vermag.

Mindestens ebenbürtig steht solchen Hypothesen gegenüber, was die noch erhaltenen Arbeiten der Kunst an und für sich über die Bedingungen ihres Entstehens lehren. Daraus ergiebt sich also für uns die Nothwendigkeit, an den Denkmälern selbst die Voraussetzungen zu prüfen, aus denen sie erwachsen sind. Hierbei aber dürfen wir, um zur Klärung und Vereinfachung der Probleme zu gelangen, uns nicht scheuen, die elementarsten Voraussetzungen, selbst w^o sie selbst- verständlich scheinen, ausdrücklich auszusprechen, ja nachdrücklich zu betonen. Denn je einfacher sie sind, um so mehr erweisen sie sich als die sicheren, unveränderlichen Grundgesetze, aus denen sich die griechische Kunst wie mit innerer Nothwendigkeit als ein organisches Ganze entwickelt. Und so sehr wir auch in der Deutung der einzelnen Erscheinungen geirrt haben mögen, so werden gerade jene Grund- principien schliesslich wieder den richtigen Weg zur Verbesserung der Irrthümer zeigen.

Mein Ziel ist also nicht, eine vollständige und Alles erschöpfende Kunstgeschichte zu schreiben, sondern für einen Neubau derselben jene nothwendige Unterlage zu schaffen. Dieses Ziel habe ich in dem vorliegenden ersten Buche für die Anfänge der griechischen Kunstgeschichte zu erreichen gestrebt und in solcher Beschränkung hoffentlich auch erreicht. Verhehlen kann ich mir nicht, dass in manchen einzelnen Punkten schon jetzt eine Ueberarbeitung als nützlich, ja noth wendig sich erweisen dürfte, während ich hoffe, dass die vereinfachte Betrachtung der ganzen Aufgabe, wie ich sie anzubahnen versucht habe, sich widerstandsfähiger erweisen und zur Aufstellung der richtigen Gesichtspunkte führen werde, von denen aus die Detailarbeit sicherer und nutzbringender einzugreifen vermag als bisher.

Schliesslich galt es auch für mich, das apelleische manum de tabula zu beherzigen und dem ängstlichen Zaudern ein Ende zu

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machen. Selbst auf die letzte Glättung während des Druckes musste ich verzichten, da ich wegen plötzlicher Erkrankung die Drucklegung nicht selbst überwachen konnte, sondern den Händen meines Schülers und Assistenten, Herrn Dr. Paul Arndt anvertrauen musste, dem ich dafür zu lebhaftem Danke verpflichtet bin. Mit ihm konnte ich auch noch die Auswahl der Illustrationen berathen, denen nicht der Werth eines förmlichen Bilderatlasses beizumessen ist, die aber dem Zwecke, den Text in anschaulicher Weise zu erläutern, in vollstem Maasse entsprechen dürften.

Das Material für die Fortsetzung des Werkes ist so weit vor- bereitet, dass ich mich der Hoffnung hinzugeben wage, nach dem ersten die weiteren Bücher, welche die griechische Kunst in ver- w^andter Auffassung behandeln sollen, in nicht zu langen Zwischenräumen zu gutem Ende zu führen.

Inhalt des ersten Buches.

Seite

Vorrede VII

Erstes Capitel. Die Kunst der vorhomerischen Zeit.

Einleitung i

Die kyklopische Bauweise

Das Constructive , 3

Die Ausschmückung 20

Die »mykenische« Culturstufe 29

Die mykenischen Vasen 42

Die Goldbecher von Vafio 46

Die Vasen des geometrischen und des Dipylon-Styles 52

Historischer Rückblick 59

Zweites Capitel. Die Kunst der homerischen Zeit.

Allgemeines 65

Der homerische Schild 73

Vergleichung des Schildes mit assyrischer Kunst 77

Die norditalischen Situlae 81

Der hesiodische Schild 85

Drittes Capitel. Die Stellung des hellenischen Geistes gegen- über fremden Einflüssen.

Die Zeusgrotte auf dem Ida 90

Das Regulini-Galassi'sche Grab in Caere 93

Kypros und die Phönicier 98

Rückwirkung auf Assyrien 107

Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

Historische Nachrichten 116

Alte Bronzearbeiten I19

Die Vq.senmalerei

Die kyprische Keramik 126

Die Fortsetzung des Dipylon-Styles 130

Melos; Thera 135

Rhodos 141

Resultate 144

Rhodos und Naukratis 145

Korinth 148

Die korinthischen Pinakes 153

Die Sarkophage von Klazomenae 157

Grössere Vasenbilder 1 159

Die Frangoisvase 164

Der Kasten des Kypselos 171

Der amykläische Thron 178

Schlusswort 182

XII

Verzeichnis der Abbildungen.

Seite

1. Stück der westlichen Burgmauer in Tiryns. Nach Schliemann, Tiryns, S. 390 . 7

2. Mauerstück aus Oenone. Nach Gell, Probestücke von Städtemauern 183 1, Taf. 29 8

3. Thor in Alatri. Nach Dodwell, Views and descriptions of cyclopian or pelasgic remains in Greece and Italy (1834), Taf. 93 8

4. Gallerie in Tiryns. Nach Mon. d. Inst. 1838, tav. LVII, Fig VT 8

5. Das Löwenthor von Mykenae. Nach Photographie 9

6. Thor in Oeniadae, Nach Mon. d. Inst. 1838, tav. LVII, Fig. XI 10

7. Gallerie in der Südmauer von Tiryns. Nach Schliemann, Tiryns, S. 385 ... 11

8. u. 9. Das sog. Schatzhaus des Atreus, Durchschnitt u. Grundriss. Nach Mitt. d.

ath. Inst. 1879, Taf. XI 12

10. 12. Nurhagen auf Sardinien. Nach Pais, la Sardegna prima del dominio romano

(atti dei Lincei 1880—81), tav. 11 16 u. 17

13. Heiligthum auf dem Berge Ocha. Nach Mon. d. Inst. 1842, tav. XXXVII, 2 . 19

14. Theil der Decke von Orchomenos. (Nach dem iVbguss des Originales.) Nach Sybel, Weltgeschichte der Kunst, S. 62 22

15. Theil der Decke von Orchomenos (Reconstruction). Nach Journ. of hell, stud., pl. XII 22

16. Alabasterfries aus Tiryns. Nach Sybel, Weltgeschichte der Kunst, S. 62 , . . 23

17. Halbsäule vom Schatzhaus des Atreus in Mykenae. Ebendaselbst, S. 55 . . . 24

18. Relief am Löwenthor von jNIykenae. Nach Brunn-Bruckmann, Denkm. gr. u. röm. Sculptur, Taf. 151 25

19. Felsengrab von Antiphellos in Lykien. Nach Reber, Geschichte der Baukunst

im Alterthum, S. 194 28

20. 22. Spinnwirtel aus Troia. Nach Schliem„ann, Ilios, Abb. 1889, 484 und 1289 30

23. Steingegenstand aus Troia. Ebendaselbst, Abb. 205 ... 31

24. u. 25. Troianische Gefässe. Ebendasebst, Abb. 987 und 1154 31

26. Mykenische Ornamentmotive. Nach Schliemann, Mykenae, S. 102 32

27. Grabstele aus Mykenae. Ebendaselbst, S. 91 32

28. Holzknopf mit Überzug von Goldblech aus Mykenae. Ebendaselbst, S. 299, Abb. 383 33

29. Goldblatt aus Mykenae. Ebendaselbst, S. 194, Abb. 240 33

30. Goldblatt aus Mykenae. Ebendaselbst, S. 198, Abb. 248 34

31. Goldenes Kreuz aus Mykenae. Ebendaselbst, S. 219, Abb. 285 34

32. Goldenes Diadem aus Mykenae. Ebendaselbst, S. 215, Abb. 281 35

33. Goldenes Diadem aus Mykenae. Ebendaselbst, S. 216, Abb. 282 ..... 36

34. Goldenes Ornament aus Mykenae. Ebendaselbst, S. 207, Abb. 265 .... 37

35. Goldblechzierrath aus Mykenae. Ebendaselbst, S. 209, Abb. 268 37

36. u. 37. Goldplatten aus Mykenae. Nach Photographien 38

38. Goldene Gesichtsmaske aus Mykenae. Nach Photographie 39

39. Dolchklinge aus Mykenae. Nach Bull, de corr. hell. 1886, pl. II 40

40. 43. Sogenannte Inselsteine. Nach Collignon, histoire de la sculpture grecque,

P- 56 u. 57 41

44. 46. Gefässe aus Mykenae. Nach Furtwängler und Loeschcke, mykenische Vasen,

Taf. IX, 44; XI, 56; III, 12a 44

47. Vasenscherbe aus Mykenae. Ebendaselbst, Taf. II 44

48. Kriegervase aus Mykenae. Nach Furtwängler und Loeschcke, mykenische Thon- gefässe, Taf. XLII 45

XIII

Seite

49. Vasenscherbe aus Mykenae. Ebendaselbst, Taf. XLI, 423 45

50. Wandgemälde aus Tiryns. Nach Schliemann, Tiryns, Taf. XIII 46

51. u. 52. Becher von Vafio. Nach 'Eq?r]f^. dgx. 1889, jiiv. 9 48 u. 49

53. Elemente und Formen des geometrischen Vasenstyles. Nach Conze, zur Gesch.

d. Anfänge griech. Kunst; Wiener Sitz.-Ber. LXIV 54

54. Vase des Dipylon-Styles. Nach Mon. d. Inst. IX, tav. 39 40 55

55. Vasenscherbe aus Tiryns. Nach Schliemann, Tiryns, Taf. XIV 58

56. Mykenische Vasenscherbe. Nach Schliemann, Mykenae, Taf. XX, Abb. 197 . 58

57. Mykenische Vasenscherbe. Ebendaselbst, Taf. XXI, Abb. 203 59

58. Schema des homerischen Schildes. Nach Zeichnung 74

59. Assyrisches Relief. Nach Layard, Monuments of Niniveh, II. series, pl. 18 . 79

60. Silberscherbe aus Mykenae. Nach 'E(p)]ju. dgx- 1891, jTiv. 2 80

61. Situla aus Bologna. Nach Zannoni, i,cavi della Certosa di Bologna, tav. 35 . . 83

62. Schema des hesiodischen Schildes. Nach Zeichnung 86

63. 65. Bronzeschilde aus Kreta. Nach Halbherr ed Orsi, antichitä dell' antro di

Zeus Ideo in Greta 1888, tav. I, IV u. II 91 u. 92

66. Bronzefragment aus Kreta. Ebendaselbst, tav. IX 92

67. Bronzegefäss aus Caere. Nach Grifi, monumenti di Gere antica, tav. XI, 2 . . 94

68. Theil eines Bronzeschildes aus Gaere. Ebendaselbst, tav. XI, 3 95

69. Silberschale aus Gaere. Ebendaselbst, tav. V, i 96

70. Kyprische Silberschale. Nach Gesnola, Gyprus, pl. XIX, p. 277 98

71. Der sog. Lebensbaum. Nach Perrot et Ghipiez, histoire de l'art II, p. 222, fig. 81 107

72. Assyrische Gewandstickerei in Steinrelief, Ebendaselbst, II, p. 772, fig. 444 108

73. Fussbodenornament aus Kujundschik. Nach Reber, Gesch. d. Baukunst im Alter- thum, S. 38, Abb. 19 109

74. Jagdhunde. Assyrisches Relief. Nach Perrot et Ghipiez, histoire de l'art II,

P. 559, fig. 262 HO

75. Verwundete Löwin. Assyrisches Relief. Ebendaselbst, II, p. 573, fig. 270 . . in

76. Verwundeter Löwe. Assyrisches Relief. Nach Photographie 112

77. Kyprisches Relief. Nach Brunn-Bruckmann, Denkm. griech. und röm. Sculptur,

Taf. 207 114

78. Bronzener Greifenkopf aus Olympia. Nach Furtwängler, Bronzen von Olympia,

Taf. XLVII, 805 117

79. Löwe. Assyrische Bronze. Nach Photographie 118

80. Terracotta einer Brotbäckerin aus Tiryns. Nach Schliemann, Tiryns, S. 169, Abb. 76 118

81. Bronzerelief aus Kreta. Nach Halbherr ed Orsi, antichitä dell' antro di Zeus Ideo in Greta, tav. XI, i 119

82. Theil eines Diadems aus Theben. Nach Annali d. Inst. 1880, tav. G, 2 . . 120

83. Bronzefragment aus Boeotien. Ebendaselbst, tav. H 120

84. Broiizeplatte aus Olympia. Nach Furtwängler, Bronzen von Olympia, Taf. XXXVIII 121

85. Bronzerelief aus Olympia. Ebendaselbst, Taf. XXXIX, 699a 123

86. Relief eines griechischen Spiegelgrififes. Nach: Historische und philologische Auf- sätze, Festgabe an Ernst Gurtius 1884, Taf IV 124

87. Bronzerelief aus Kreta. Nach Annali d. Inst. 1880, tav. T 124

88. Bronzerelief aus Olympia. Nach Furtwängler, Bronzen von Olympia, Taf, XL . 125

89. 91. Kyprische Gefässe. Nach Perrot et Ghipiez, histoire de l'art III, p. 691.

fig. 497, und Brunn-Lau, Taf. I, 2 und II, 2 126

XIV

Seite

92. u. 93. Kyprische Vasen. Nach Perrot et Chipiez histoire de l'art III, p. 699,

fig. 507 und p. 706, fig. 518 127

94 Ornamentmotiv einer kyprischen Schale. Ebendaselbst p. 700, fig. 509 . . . 127

95. Flügelgestalt auf einer kyprischen Vase. Ebendaselbst p. 707, fig. 519 . . . 128

96. Streitwagen. Bild einer kyprischen Vase. Ebendaselbst p. 717, fig. 528 , . . 128

97. Kyprisches Vasenbild, Ebendaselbst, p. 715, fig. 526 129

98. Kyprische Vase. Ebendaselbst p. 711, fig. 523 129

99. Von einer Vase des Dipylonstyles aus Athen. Nach Arch. Zeit. 1885, Taf. 8 . 131

100 Von einer Vase des Dipylonstyles in Athen. Ebendaselbst, S. 139 131

loi. Bild einer Vase aus Attika. Nach Jahrb. d. Inst. II, Taf. 3 132

102 u. 103. Bild einer Vase aus Attika. Ebendaselbst, Taf 4 132 u. 133

104. Sogenannte Phaleron-Va^e. Nach Brunn-Lau, Taf VII, i 134

105. Attische Amphora in Berlin. Nach Jahrb. d. Inst. IT, Taf. 5 135

106. Vase aus Thera. Nach Mon. d. Inst, IX, 5, i 136

107 u. 108. Vasen aus Melos. Nach Conze, melische Thongefässe, Titelvignette und

Taf. I, I 137

109. Bild einer Vase aus Melos. Ebendaselbst, Taf. IV 139

HO. Bild einer Vase aus Kameiros. Nach Salzmann, necropole de Camirus, pl. 39 . 141

111. Rhodischer Teller. Ebendaselbst, pl. 55 142

112. Medusa.*) Teller aus Rhodos. Nach Journ. of hell. stud. 1885, pl- LIX . . 142

113. Rhodischer Teller. Nach Salzmann, necropole de Camirus, pl. 51 143

114. Teller von Kameiros. Nach: Verh. d. 23. Phil.-Vers in Hannover 1864 . . . 143

115. Kanne aus Rhodos. Nach Jahrb. d. Inst. I, S. 138, Abb. 2973 146

116. Bild einer Vase aus Vulci. Nach Urlichs, 2 Vasen ältesten Styls, 1873, Abb. 2a 147

117. Deckel der sogenannten Dodwellvase. Nach Brunn-Lau. Taf. III, ib . . . . 148

118. 122. Korinthisches Salbgefäss in Berlin. Nach Arch. Zeit. 1883, Taf 10 . . 149 123. u. 124. Korinthische Vase des Chares. Nach Arch. Zeit. 1864, Taf, 184 . . 150

125. Korinthische Vase des Timonidas, Nach Arch, Zeit. 1863, Taf. 175 , . . , 151

126. Korinthisches Vasenbild. Nach Annali d. Inst. 1862, tav, B 153

127. -134. Korinthische Pinakes. Nach Ant. Denkm, d. Inst. I, Taf. 7 u. 8 , 154 156

135. Theil eines Sarkophages von Klazomenae. Nach Ant. Denkm. d. Inst. I, Taf. 44 158

136. Chalkidisches Vasenbild. Nach Mon. d. Inst. I, tav. 51 159

137. Die sogenannte Arkesilasschale. Ebendaselbst, tav. 47 161

138. Schale aus Naukratis. Nach Studniczka, Kyrene, S. 18 163

139. u. 140, Schüssel aus Aegina. Nach Arch. Zeit, 1882, Taf. 9 . . . 164 u, 165 141. u. 142, Frangoisvase. Nach Arch, Zeit, 1850, Taf. 23 und 24 . . . 166 u. 167

*) Hiernach ist die irrthümliche Unterschrift im Texte „Sog. persische Artemis'^ zu berichtigen.

Erstes Capitel.

Die Kunst der vorhomerischen Zeit.

Die Anfänge der griechischen Kunstgeschichte reichen bis in die Zeiten der Sage zurück, über welche uns bestimmte historische Zeugnisse nicht vorUegen. Dennoch wünschen wir zu erfahren, nicht nur wann, sondern wie sie entstand, ob sie von Anfang an auf griechi- schem Boden erwuchs oder ob sie äusseren, aus der Ferne empfangenen Anregungen ihren Ursprung verdankt. Es ist Pflicht der Wissenschaft, auch diese Fragen der Erörterung zu unterwerfen : denn was die griechi- sche Kunst geworden, vermögen wir nur dann völHg zu verstehen, wenn wir ihr Werden bis zu den ersten Keimen und Wurzeln zurück verfolgen. Allein ein bestimmter Erfolg lässt sich von solchen Untersuchungen erst dann erwarten, wenn wir die ältesten Erzeugnisse griechischen Kunstsinnes nach ihrem Wesen geprüft, ihren Charakter festgestellt und dadurch eine sichere Grundlage für die Vergleichung mit den Kunstprodukten anderer Völker gewonnen haben werden.

Als allgemeinster Ausgangspunkt darf der Satz hingestellt werden, dass der künstlerische Trieb mit dem Menschen geboren wird. Allein dieser Trieb wird sich keineswegs nur in einer einzigen, sondern in sehr verschiedenen Richtungen und darum auch mit sehr verschiedenen Erfolgen zu äussern vermögen. Der Mensch hat seine Freude daran, seine Person und seine Umgebung, so weit er sie sich selbst schafft, zu schmücken und dadurch über das nackte Bedürfnis hinaus zu ver- edeln. Es liegt aber nicht weniger im Menschen der Trieb, das, was

2

Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

sein Auge sieht, im Bilde nachzugestalten und schliesslich diese Nach- ahmung bis zur Täuschung, bis zum Wetteifer mit der Erscheinung der Natur zu steigern. Und endlich Hegt im Menschen auch das Be- dürfnis, nicht bloss durch das Wort, sondern auch durch das Bild etwas auszusprechen. Das Bild soll etwas bedeuten, und wie sich aus diesem Bedürfnis nach der einen Seite eine wirkliche Bilderschrift entwickelt, so erhebt sich nach der andern Seite das Kunstwerk bis zum Aus- drucke der höchsten Ideen des Göttlichen.

Wie aber die Ziele des Kunsttriebes ursprünglich verschieden sind, so auch die Mittel zur Erreichung derselben. Die menschliche Hand kann sich die Aufgabe stellen, einen festen oder harten Stoff, einen Stamm, einen Wurzelknorren, einen Stein so zu bearbeiten und abzu- arbeiten, dass er sich einer darzustellenden Gestalt immer mehr annähert und schliesslich diese Gestalt selbst in ihren Formen und in ihrer Erscheinung wiedergiebt, aber ebenso, aus einem weichen oder dehn- baren Stoffe ein Bildwerk aufzubauen und frei zu gestalten. Sie ver- mag nicht minder, aus verschiedenartigen Stoffen bestimmte Muster und Gestaltungen zusammenzufügen, und wiederum, aus verschiedenen Farbstoffen ein Bild der Dinge nach ihrer äussern Erscheinung dem Auge sichtbar darzustellen.

Zur Vollendung der Kunst müssen alle diese Elemente mitwirken, müssen sich mischen und in einander verwachsen: in ihren Anfängen werden sie sich nicht notwendig zu gleicher Zeit und an den gleichen Orten als wirksam erweisen, sondern getrennt, vereinzelt oder neben einander eine erste Entwicklung durchmachen.

Diese kurzen Andeutungen sind hier vorangestellt worden, um in dem Widerstreite der Meinungen über die Anfänge der griechischen Kunst einen Standpunkt zu gewinnen, der den einzelnen, sehr ver- schiedenartigen Erscheinungen gegenüber einen freien Um- und Uber- blick gewährt und uns gestattet, dieselben bestimmten allgemeineren Gesichtspunkten unterzuordnen. Sie allein dürften schon genügen, um in uns die Überzeugung zu erwecken, dass die griechische Kunst, in der die Mannigfaltigkeit des Kunsttriebes uns in so seltenem Maasse entgegentritt, von ihren Anfängen an nicht sofort wie ein Strom aus einem einzigen mächtigen Quell hervorbrach, sondern dass die ver- schiedenen Äusserungen des Kunsttriebes, einzelnen Wasseradern ver- gleichbar, zuerst getrennt ans Licht traten, um erst nach kurzem oder längerem Verlauf zusammenfliessend und gesammelt den einheitlichen Strom zu bilden.

Einleitung. Kyklopische Bauweise : Constructives.

3

Hierzu gesellt sich eine weitere Betrachtung allgemeinerer Art. Wir sagten, der künstlerische Trieb werde mit dem Menschen geboren. Wie aber seine Äusserungen bei dem Kinde nicht sofort bei der Geburt zu Tage treten, so verlangt auch die Kindheit der Menschheit eine ge- wisse Entwicklung der Cultur, ehe sich dieser Kunstsinn in bestimmten Formen .^u bethätigen im Stande ist. Die Kunst der Töne und der sprachlichen Laute, Musik, Gesang und Poesie, vermag sich schon bei dem Jäger, der ohne festen Wohnsitz durch die Wälder schweift, bei dem Hirten, der heute hier, morgen dort die fettesten Weiden auf- sucht, bis zu einer verhältnismässig sogar hohen Blüthe zu entwickeln. Die bildende Kunst findet auf der gleichen Stufe der Cultur nur erst ein enges Feld für ihre Bethätigung. Sie ist, von der bei manchen Völkern üblichen Bemalung des Körpers selbst abgesehen, auf die Ausschmückung der Kleidung, der Waffen und der tragbaren, für die nächsten Bedürfnisse des Lebens bestimmten Geräte beschränkt, und folgt zuerst dem Bedürfnis in dienender Unterordnung. Doch wird sich die Bedeutung der dabei zur Verw^endung kommenden Elemente für eine fortschreitende Entwicklung erst da richtiger würdigen lassen, wo wir sie in den Zusammenhang des Culturbildes einer Bevölkerung einzureihen vermögen, bei der sich der Übergang vom Wanderleben zur Sesshaftigkeit bereits vollzogen hat. Auf die dadurch bedingten Verhältnisse hat sich daher unser Augenmerk zuerst zu lenken.

Die kyklopische Bauweise.

Das Constructive. Die Gründung fester Wohnsitze erweckt mit Notwendigkeit eine Reihe von Bedürfnissen, deren Befriedigung der Baukunst anheimfällt. Zwar handelt es sich anfangs noch nicht um die Erfüllung künstlerischer Forderungen; aber in der Richtung, in w^elcher man dem praktischen Bedürfnis gerecht zu werden sucht, wird sich bereits ein bestimmter Grad künstlerischer Auffassung offenbaren.

Der feste Wohnsitz bedarf des Schutzes für den Menschen und seinen Besitz, und dieser Schutz wird nach den durch die Natur gebotenen Bedingungen durch verschiedene Mittel gewonnen. So ent- stehen in sumpfigen oder seereichen Gegenden die Pfahlbauten, in den Ebenen Wall und Graben, in Gebirgen oder steinigen Gebieten der steinerne Wall oder die Mauer.

Die Natur Griechenlands und eines Theiles von Italien musste schon früh auf die letztere Art der Befestigung hinführen, und in der That finden sich dort aus einer Zeit, die mehr der Sage als der Ge-

4

Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

schichte angehört, zahlreiche Reste gewaltiger Anlagen, welche unter dem Namen der pelasgischen oder kyklopischen Mauern bekannt sind : steinerne Wälle, aus mächtigen Blöcken aufgeschichtet, die ohne festen Mörtel sich durch ihre eigne Massenhaftigkeit im Gleichgewicht erhalten. Schon im Altertum mehrfach erwähnt (Overbeck SQ i 26), erregten sie bereits im 15. Jahrhundert die Aufmerksamkeit des ersten wissenschaftlichen Reisenden Cyriacus von Ancona. Merkwürdiger Weise bUeben sie dann mehr als drei Jahrhunderte fast unbeachtet, bis sie in den ersten Decennien des 19. um so eifriger untersucht wurden. 1)

Das Gebiet, über welches diese Bauten zerstreut sind, beschränkt sich keineswegs auf das eigentliche Griechenland, sondern erstreckt sich östlich über den grössten Theil Kleinasiens bis gegen Kappodokien, westlich über ganz Mittelitalien vom Arno bis südlich vom Silarus (Bull. d. Inst. 1883, p. 7). Wenig zahlreich sind die Reste in Sicilien, und vereinzelt steht ein Beispiel an der Küste Spaniens in Tarragona (ib. 1860, p. 161). Es darf mithin die ganze Bauweise nicht als eine ausschliesslich hellenische betrachtet werden. Pelasgisch wird von den Alten allerdings nur ein einzelnes Stück der athenischen Burg- mauer genannt (Herod. 5, 64; vgl. Thuc. 2, 17; Strabo 9, 401).

Doch ist eine allgemeinere Anwendung dieser Bezeichnung im. Sinne von „vorhellenisch" insofern berechtigt, als wir unter dem Namen der Pelasger diejenigen Völkerstämme zusammenzufassen pflegen, welche sich vor der Entwicklung des eigentlichen Hellenenthums nicht nur über Griechenland, sondern auch über einen Theil Italiens ver- breitet hatten. Auch die Benennung „kyklopisch" wird von den Alten nur in beschränkter Geltung von dem Gebiete von Argos, Tiryns, Mykenae und Nauplia angewendet, indem namentlich be= richtet wird, dass Proetos, durch lobates von Lykien in seiner Herrschaft zu Tiryns wieder eingesetzt, von dort Kyklopen mit- gebracht habe, welche für ihn die Stadt mit Mauern umgaben. Diese lykischen Kyklopen können ihrer Natur nach so wenig mit dem homerischen Hirtenvolk wie mit den Gesellen des Hephaestos verwechselt werden, sondern ihr Name bezeichnet sie als Erbauer

^) Ausser den zerstreuten Arbeiten von Petit-Radel und den zahlreichen Aufsätzen in den Schriften des archäologischen Institutes sind besonders zu erwähnen die Werke von Gell: Probestücke von Städtemauern des alten Griechenlands, München 1831 ; Dodwell: Views and descriptions of Cyclopian or Pelasgic remains in Greece and Italy, London 1834, und für Kleinasien das Werk von Texier. Vgl. Müller, Hdb. d. Arch. § 46 u. 166.

Kyklopische Bauweise: Constructives.

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des Mauerringes (xvxlog), und die Siebenzahl, in welcher sie auf- treten, charakterisirt die solenne Anzahl der Thore (vgl. Welcker im Rhein. Mus. 1834. II, 467). Insofern sie also kaum als mythologische Persönlichkeiten, sondern als Gattungsbegriffe, als gewaltige Hand- arbeiter fyaorsQoxetQsg) aufgefasst werden, darf auch die von ihnen geübte Bauweise überhaupt als kyklopische bezeichnet werden.

Aus dem Alter jener Mauern in Argolis glaubte man ferner auch die Zeit ihrer Erbauung an andern Orten genauer bestimmen zu können ; allein die ältesten chronologischen Angaben bieten wegen ihres sagen- haften Charakters keinerlei Gewähr ihrer Richtigkeit. Allerdings wird Tiryns, dessen gewaltige Mauerreste wir noch heute bewundern, schon von Homer (II. II, 559) das ummauerte und von Hesiod (Scut. 81) das wohlgegründete genannt, und ist dadurch wenigstens der Beweis für ein über diese Dichter hinausgehendes Alter geliefert. Nur darf des- halb keineswegs jede kyklopische Mauer als vorhomerisch betrachtet werden. Norba z. B. und Circei im Lande der Volsker sind römische Colonien aus dem Ende der Königszeit, und da sie kyklopisch be- festigt sind, so dürfen wir daraus keineswegs folgern, dass diese Colonien die Stelle älterer Gründungen eingenommen haben, sondern vielmehr, dass man damals noch nach dem alten System baute. Den besten Beweis dafür liefert Alba Fucensis: die noch jetzt erkennbare Bresche, durch welche die Römer 305 v. Chr. G. eindrangen, ist ganz nach dem alten System restauriert. Ja wenn sogar bei einer Aus- besserung der Mauern von Ferentinum auf ein sehr sorgfältig gefügtes Stück ein anderes von weit roherer Construction gesetzt wurde, so müssen wir leider bekennen, dass die grössere oder geringere Vor- trefflichkeit der Fügung uns keineswegs einen Schluss auf höheres oder geringeres Alter gestattet. Nur das ist sicher, dass eine durch- gebildete Ausführung nicht der ältesten Zeit angehören kann, während bei roher Arbeit ein hohes Alter wohl möglich, aber je nach den localen Verhältnissen nicht einmal wahrscheinlich ist. Die Wissen- schaft muss daher auf eine historische Betrachtung dieser Bauweise verzichten und sich mit einer Systematik begnügen, bei welcher aller- dings die vollkommenere Stufe stets die unvollkommenere voraussetzt.

Die künstlerische Befähigung der Erbauer wird sich zunächst in dem Sinne für das Constructive zeigen müssen, welcher sich in dem Bestreben offenbart, den vorgesetzten Zweck mit den relativ einfachsten Mitteln zu erreichen. Für den nächsten Zweck, die Sicherung des Wohnsitzes, ist aber schon die Wahl des Platzes selbst von hoher

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

Bedeutung. Griechenland und der genannte Theil Italiens sind über- wiegend gebirgig. Zu Städteanlagen eigneten sich besonders die von der Hauptkette sich loslösenden, gegen die Thäler und die Ebene vor- springenden Hügel, deren Spitzen natürliche Burgen und Akropolen bildeten, während die eigentlichen Wohnungen an den Abhängen Platz fanden. Es galt hier zunächst, die Natur zu unterstützen. Es war nicht ausgeschlossen, dass im ebenen und weichen Terrain schon ein ausgehobener Graben und aufgeschütteter Wall den nöthigen Schutz bot, wofür z. B. die eine Seite der Befestigungen Troias einen Beleg geboten hat. Weiter konnte es da, wo sich Abhänge mit scharfen Rändern fanden, schon genügen, durch Abarbeiten des Felsens an einzelnen Stellen die natürliche Festigkeit zu verstärken oder einzelne Lücken durch Mauerwerk auszufüllen. wSonst aber, und namentlich wo ein fester Abschluss gegen die Ebene verlangt wurde, musste der Hügel gewissermaassen mit einer künstlichen Felswand umkleidet werden. Das Material dazu lieferte der Berg selbst, und aus dem Material entwickelte sich die besondere Art der Construction. So natürlich dieser Satz erscheint, so hat er sich doch erst spät Geltung verschafft. (Canina, Architect. VII, 87.) Früher glaubte man, dass sich die horizontale und die dem Quaderbau sich annähernde Schichtung erst nach und nach aus dem Polygonalbau entwickelt habe, während eine genauere Beobachtung lehrte, dass hier kein Moment einer chronologischen Scheidung gegeben sei, und dass es bei freier, nicht durch besondere constructive Zwecke bedingten Wahl rein von der Natur des an einem Orte vorhandenen Gesteins abhing, ob man der polygonen oder einer mehr quadratischen Fügung den Vorzug gab.

Die älteste und roheste Art besteht in einfacher Schichtung ge- waltiger Blöcke. So sagt Pausanias (II, 25, 8) von den Mauern von Tiryns, sie seien aus unbehauenen Steinen gebaut, von denen jeder eine Grösse habe, dass ein Maultiergespann auch den geringsten unter ihnen nicht um ein Weniges aus seiner Lage zu verrücken vermöge; kleine Stücke seien schon ursprünglich eingefügt, um die nöthige Verbindung zwischen den grossen herzustellen. Dagegen findet sich ein fester Mörtel noch nicht verwendet : nur haben neuere Beobachtungen den Beweis geliefert, dass die Blöcke in dünne Lagen von Lehm oder Thon eingebettet waren, die jedoch besonders nach aussen hin durch den Einfluss der Witterung meist weggespült sind (Abb. i). Weiter verlangte die SoUdität der Construction, dass so viel als möghch die breiteste Seite nach unten gelegt wurde, während nur die Herstellung einer

Kyklopische Bauweise: Constructives.

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ebenen Aussenseite eine oberflächliche Bearbeitung nöthig machte. Von diesen Anfängen aus entwickelt sich das Constructive durch eine Reihe vön Mittelstufen zu dem feingefügten Polygon- und Quaderbau. Überall zeigt sich dabei die Tendenz grösster Sparsamkeit in der Bearbeitung. Man suchte jeden Stein mit möglichst geringer Einbusse an seinem Volumen zu verwerten und bediente sich dabei w^ahr- scheinlich des sogenannten lesbischen Kanons (Aristot. Ethic. Nie. V, 12). Derselbe bestand, wie es scheint, aus einem biegsamen bleiernen Stabe, den man in die durch die Schichtung mehrerer Steine entstandenen

I. Stück der westlichen Burgmauer in Tiryns.

Winkel drückte. Mit dem auf diese Weise gewonnenen Winkelmaasse liess sich dann unter dem vorhandenen Material leicht ein Stein von ungefähr entsprechender Form auswählen, der nur geringer Nachhilfe bedurfte, um in die betreffenden Winkel eingepasst zu werden. Dieselbe Ökonomie der Arbeit zeigt sich nicht weniger darin, dass die Sorgfalt nicht nur im Allgemeinen durch den besonderen Zweck eines Baues bedingt erscheint, sondern dass sich sogar an einem und demselben Baue verschiedene Grade von Sorgfalt finden. Bei einfachen Stütz- mauern von Terrassen, wie sie nicht selten an den Abhängen im Innern der Städte vorkommen, durfte man sich mit einfacher Schichtung begnügen. Die Umkleidung einer regelmässigen stufenförmigen Tempel-

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

substruction, wie z. B. in Segni (Dod- well, Views 86), verlangte an sich schon eine grössere Aufmerksamkeit. An den Stadtmauern ist stets die innere Seite nachlässiger gearbeitet als die äussere. An letzterer aber steigert sich die Sorgfalt wieder an den leichter ver-

letzlichen Ecken, wo ausserdem der Druck, welchen die Massen von beiden Seiten gegen dieselben aus- üben, zum Theil dadurch aufgehoben wird, dass die Hauptlinien der Schichtung nicht abwärts nach den Ecken, sondern von diesen nach den Seiten abfallen (Abb. 2).

Neue Schwierigkeiten entstanden, wo in dem Mauerringe eine Öffnung, ein Thor zu lassen war. Die Entwicklung scheint hier von zwei Punkten ausgegangen zu sein. Wo sich balkenartiges Gestein vorfand, schloss man die obere Öffnung durch einen einzigen Deckbalken, der z. B. in Alatri eine Länge von mehr als 5 m erreicht (Abb. 3). Wo diese fehlten, da liess man, anstatt senkrechte Seitenpfosten zu errichten, von den dieselben bildenden Stein schichten stets die obere

3. Thor in Alatri. 4. Gallerie in Tiryns.

Über die untere hervorragen, bis sie sich von rechts und links oben in einer Spitze begegneten, so dass eine äusserlich dem gotischen Spitzbogen verwandte Öffnung entstand (Abb. 4). Nach Umständen com-

Kyklopische Bauweise : Constructives.

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binierte man auch beide Systeme, indem man sich bei partieller Ein- ziehung der Lagen mit einem kürzeren Deckbalken begnügen konnte. Um einen schwachen Deckbalken von zu grossem Drucke darüber liegender Schichten zu entlasten, Hess man über seiner Mitte eine nach Art der zweiten Thorgattung construirte dreieckige Öffnung frei, die, wie beim Löwenthor von Mykenae, durch eine Platte geschlossen werden

5. Das Löwenthor von Mykenae.

konnte (Abb. 5). An die Stelle der einfachen Decke traten zuweilen auch sparrenförmig gegen einander geneigte Balken, oder die obersten Schichten wurden durch einen als Schlüssel dienenden Stein in der Mitte auseinander gehalten, so dass schon hier deutlich die praktischen Anfänge wirklicher Bogenconstruction hervortreten (Abb. 6).

Ausser der Thüröfifnung verlangt die ganze Anlage der Thore die Beachtung besonderer Regeln. Man liebte es, die von aussen in das Thor einmündenden Strassen nicht direct auf dasselbe, sondern

lO Erstes Capitel. Vorhornerische Kunst.

in der Art neben der Mauer hinzuführen, dass die rechte vom vSchilde entblösste Seite eines vorrückenden Feindes mit Erfolg von der Höhe der Mauer beworfen werden konnte. War das Terrain für eine solche Anlage nicht geeignet, so musste dafür eine künstliche Flankierung durch einen rechts vom Thore hervortretenden Thurm oder vielleicht richtiger eine Bastion eintreten; denn wenn auch bei Homer die Er- wähnung von Thürmen nicht ganz fehlt, und z. B. an den Mauern von Tiryns sich manche thurmartige Anlagen finden, so mögen eigenthche

Festungsthürme, wenigstens in syste- matischer Anwendung wohl im Fort- schritte der Zeit mit polygonen Mauern verbunden sein, im ganzen aber sind sie den älteren Anlagen fremd.

Es kann nicht dieses Ortes sein, neben den constructiven auch die rein fortificatorischen Gesichtspunkte weiter zu verfolgen. Doch soll nicht unter- lassen werden, hier auf die lehrreichen Erläuterungen hinzuweisen, mit denen Hauptmann Steffen die von ihm be- arbeiteten »Karten von Mykenai« (Berk 1884) begleitet hat. Sie gewähren ein Bild davon, wie man schon in den Zeiten kyklopischer BauAveise sich nicht bloss auf -die Befestigung eines ein- zelnen Platzes beschränkt, sondern wie ein solcher Platz von der Bedeutung- Mykenaes immer den Mittel- und Stütz- punkt eines ausgedehnten Befestigungssystems bildete, das in defensiver und offensiver Beziehung eine ganze Landschaft beherrschte.

Ähnlich wie die spitzbogigen Thore sind die Gallerien construirt, die sich an einigen Orten in Argolis , besonders in Tiryns erhalten haben. Man glaubte dort zwei von einander getrennte, parallel laufende Gänge im Innern der südlichen Burgmauer von einer einfachen Gallerie in der Ostmauer trennen zu müssen, die sich nach aussen, dem Abhänge gegen die Stadt hin, in der Art einer Halle durch eine Reihe von gleichfalls spitzbogigen Thüren zu öffnen schien (Gell, Argolis T. 15 16; Arch. Zeit. 1845, T. 26). Es lag nahe, an die KvxAMJiia TToodvoa des Eurystheus bei Pindar (fragm. inc. 15) zu erinnern.

Kyklopische Bauweise: Constructives.

in welche Herakles die Rinder des Geryon einsperrte, oder auch die ganze Anlage mit den von Pausanias II, 25, g erwähnten Kammern (^dla/iwi) der Töchter des Proetos in Verbindung zu bringen. Erst die Ausgrabungen Schliemanns haben ergeben , dass von den beiden Gängen der Südseite der obere durch eine Treppe den Zugang zu dem unteren vermittelte und dass von diesem aus eine Reihe von Thüren in ebensoviele noch jetzt erhaltene Kammern führte, während die Ostseite die ganz gleiche Anlage zeigt, nur mit dem

7. Gallerie in der Südmauer von Tiryns.

Unterschiede, dass die Kammern jetzt zerstört und nur die Eingänge erhalten sind (Schliemann, Tiryns S. 365 ff.) Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, dass diese Anlagen als kellerartige Vorraths- kammern zu dienen bestimmt waren, deren man für die Zwecke einer längeren Vertheidigung bedurfte, ohne dass ihnen eine fortificatorische Bedeutung im engeren Sinne zukäme (Abb. 7).

Es ist bereits erwähnt worden, dass sich neben dem Polygonbau auch die zu dem regulären Quaderbau hinführende Constructionsweise entwickelte. So sehr nun hierbei die Natur des Materials in Betracht kam, so weist doch der Umstand, dass beide Systeme an demselben Orte neben einander auftreten, darauf hin, dass auf die weitere Aus-

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

bildung noch besondere Bedingungen, namentlich der Zweck und die eigenthümliche Natur gewisser Bauten bestimmend einwirkten.

Den Beweis dafür liefern die sogenannten Thesauren, unter denen durch Grösse und Erhaltung das »Schatzhaus des Atreus« bei Mykenae die hervorragendste Stelle einnimmt (Gell, Argolis pl. 4—6 ; Donaldson im Supplement zu Stuart and Revett Ant. of Athens pl. i 5; Mitt. d. ath. Inst. IV. S. 177). Es lässt sich in seiner Gestalt mit einem Bienenkorb vergleichen, der halb in den Boden eingesenkt mit einem

8. u. 9. Das sog. Schatzhaus des Atreus. Durchschnitt und Grundriss.

Erdhügel überdeckt ist, welcher durch seinen Druck den ganzen Bau zusammenhält. Ein langer, 20' breiter, in den Hügelrand eingeschnittener und an beiden Seiten mit Mauern verkleideter Gang führt zu der über 20' hohen und oben 7V2'> unten etwas breiteren Thür, die in ihrer ganzen Breite und Tiefe durch zwei nebeneinanderliegende Steine überdeckt ist, von denen der grössere an der Innenseite die gewaltigen Maasse von fast 27' Länge, 16^ Breite und fast 4' Dicke hat. Ein über der Mitte in der oben angegebenen Weise offen gelassenes Dreieck dient zu seiner Entlastung. Der innere Rundbau hat einen Durch- messer von etwa 48' und die gleiche Höhe; und aus ihm führt rechts eine kleinere Thür in ein schmuckloses viereckiges Gemach (Abb. 8 u. 9).

Kyklopische Bauweise: Constructives.

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Das Princip der Construction entspricht dem bei den spitzbogigen Thoren angewendeten, nur dass die Natur des Rundbaues einen ziemUch durchgebildeten Quaderbau verlangte. Die Steine liegen horizontal in kreisförmigen Reihen und treffen von unten beginnend in allmälig verengerten Ringen im Scheitel zusammen. Von eigentlicher Gewölbe- construction ist also noch nicht die Rede; ja die Steine sind nicht einmal in den Radien der horizontalen Reihen keilförmig zugeschnitten ; das Versetzen der Steine geschah nur mit geebneter Lager- und Stossfläche; die Glättung der innen regelmässig gebogenen Stirnflächen erst nach dem Versetzen. Die Fügung der Steine ist sehr sorgfältig und ohne festes Bindemittel ausgeführt; nur eine Art Lehm diente zur Ausfüllung der Fugen.

Viel ist über die Bestimmung des Baues gestritten worden. Da Pausanias (II, 16, 6) berichtet, dass unter den Ruinen von Mykenae, die damals kaum bedeutender waren als jetzt, des Atreus und seiner Söhne unterirdische Bauten, in denen sie ihre Schätze aufbewahrten, ferner das Grab des Atreus und verschiedene andere Bauten besonders be- merkenswert seien, so haben die Ansichten zwischen der Bedeutung von Schatzhäusern und von Gräbern geschw^ankt (vgl. besonders Welcker kl. Schriften III, 353). Nun liegt unser Monument nebst den Resten einiger anderen von verwandter Art ausserhalb der Stadt- mauer, während man zur Aufbewahrung von Schätzen gewiss den gegen Angriffe am meisten gesicherten Platz, nämlich die Akropolis wählte. Für ein Schatzhaus erscheint ferner der grossartige Eingang wenig geeignet; man erwartet für ein solches vielmehr eine Anlage wie die des Thesauros in Messene, in welchem Philopoimen seinen Tod fand (Plut. Philop. 19; Liv. 39, 50), ohne Luft und Licht von aussen und ohne Thür, nur mit einer oberen, durch einen grossen Stein verschliessbaren Öffnung, durch welche man sich in das Innere hinabliess; oder es dürften auch die den tirynthischen verwandten Reste von Gallerien in der Burgmauer (Arch. Anz. 1862, S. 329; Schliemann, Myk. S. 35) mit den von Pausanias erwähnten Schatz- häusern in Verbindung zu setzen sein. Für Grabesbestimmung sprechen dagegen sowohl die Lage ausserhalb der Stadt, das Nebeneinander mehrerer ähnlicher Bauten, als der über denselben aufgeschüttete Tumulus, die Art des Zuganges, die mit Steinplatten verschliessbare Thür, die von dem Hauptraum gesonderte kleinere Grabkammer und die aus vorhandenen Spuren noch erkennbare reiche Ausschmückung des Portals und des Inneren in Stein und Metall (s. u.). Mit Recht

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

ist ferner darauf hing-ewiesen worden, wie die Erwähnungen des Sophokles über das Grab, in welches Antigone eingeschlossen wird, durchaus auf einen Bau verwandter Art hindeuten (Antig. 774; 849; 885; 945; 949; 1204—5; vgl- Elect. 379—82).

Die hier dargelegten Ansichten haben durch die Untersuchungen der letzten Jahre ihre volle Bestätigung erhalten (vgl. Adler in der Vorrede zu Schliemanns Tiryns S. 33 ff.). Unsere Kenntnisse sind nicht mehr auf das „Schatzhaus des Atreus" und das des Minyas in Orchomenos (s. u.) beschränkt. Wir haben, wenn auch zum Theil nur ungenügende, Kunde von weiteren fünf verwandten Anlagen bei Mykenae erhalten, ferner von einem ähnlichen Bau in der Nähe des Heräon von Argos (Mitt. d. a. J. III, 271), ebenso bei Pharis (Baphio) in Lakonien und bei Volo (Dimini) in Thessalien (ebd. IX, 99; XI, 435; XII, 136; 'E(pr]^. oLQx. 1889, 136). Von besonderer Bedeutung ist aber das „Kuppelgrab bei Menidi" in Attika (herausgeg. vom d. arch. Inst, in Athen 1880). Von geringerem Umfang als das des Atreus ent- spricht es doch demselben durchaus in seiner Gesamtanlage, zeigt aber einen weit älteren und roheren Baucharakter, indem das Ganze ohne jede eigentliche Meisselarbeit aus Kalkbruchsteinen errichtet ist. Der reiche Inhalt aber, der hier sorgfältiger als anderwärts erforscht worden ist, kann über die Grabesbestimmung des Baues auch nicht den ge- ringsten Zweifel übrig lassen.

Allerdings ist es dadurch keineswegs ausgeschlossen, dass die gleiche Constructionsweise, natürlich unter bestimmten Modificationen, für andere Zwecke verwendet werden konnte und wirklich verwendet wurde. Beispiele dafür liefern das Quellenhaus von Burinna auf Kos (Texier, Asie mineure II, pl. 133; Arch. Zeit. 1850, T. 22) und der untere Theil des mamertinischen Gefängnisses in Rom, ursprünglich ebenfalls ein Ouellenhaus (Canina, Caere t. 10), welche indessen in constructiver Beziehung nichts Neues lehren.

Auf Fragen dieser Art leiten vielmehr einige Nachrichten über eines der Kuppelgräber, das bisher nur kurz erwähnte „Schatzhaus des Minyas" in Orchomenos hin. Pausanias IX, 36, 4; 38, 2 nennt es ein Wunderwerk, welches keinem in Hellas und anderwärts nachstehe; es sei aus Stein (Marmor) erbaut und von runder Gestalt, oben in eine nicht gerade scharfe Spitze auslaufend; der oberste Stein aber solle dem Ganzen als „Harmonia", Verbindung, dienen. Der Bau, nicht nur im Grundplan, sondern auch in seinen Grössen Verhältnissen dem Schatz- haus des Atreus annähernd entsprechend, ist nur in den acht untersten

Kyklopische Bauweise: Constructives,

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Steinschichten ganz, in vier andern nur sehr teilweise erhalten, der ganze obere Theil eingestürzt. Auffällig musste hier die Erwähnung des obersten Steines erscheinen, der, wenn er einfach die runde Öffnung des letzten verengerten Steinkreises zugedeckt hätte, keineswegs die besondere Bedeutung für sich hätte in Anspruch nehmen können, die ihm doch als Harmonia, als Schlussstein des Ganzen beigelegt zu werden scheint. So glaubte man also eine Hindeutung auf Gewölbe- bau zu erkennen, um so mehr als W. Mure (Ann. d. Inst. 1838, p. 141) auf eine leise Neigung nach innen in dem Zuschnitt der oberen Fläche des die Thür überdeckenden gewaltigen Steinbalkens hinwies, welche mit der Auffassung der Worte des Pausanias im besten Einklänge zu stehen schien. In den Berichten Schliemanns über seine ausge- dehnten Untersuchungen an Ort und Stelle wird dieser besonderen Streitfrage gar nicht gedacht. Doch darf aus seinem Stillschweigen, sowie aus den Bemerkungen über einen von ihm für den Schlussstein gehaltenen Steinblock wohl gefolgert werden, dass sich seinen Beob- achtungen nichts dargeboten hat, was sich auf eine von der mykenischen abweichende Constructionsweise deuten liesse.

Eine entscheidende Bedeutung für die Frage nach dem Alter des Gewölbebaues kann leider auch einem anderen besser erhaltenen Bauwerke nicht beigelegt werden. Derselbe W. Mure hat in den Mon. d. Inst. II, 57 einen Brückenbogen in reiner Wölbung von 27' Spannweite abgebildet, welcher zwischen die kyklopischen Substruc- tionen einer Strasse eingesprengt, also mit diesen gleichalterig ist. Er findet sich drei Stunden von Sparta bei Xerokampo an der einzigen Stelle, die einen Übergang zu Wagen von Pherae nach Sparta über den Taygetos ermöglicht. Diese Strasse musste also nach Homers Erzählung Telemachos auf seiner Fahrt von Pylos nach Sparta pas- sieren (Od. IV, 487 97); allein ob damals die noch jetzt erhaltene Brücke schon vorhanden war, lässt sich mit Sicherheit in keiner Weise behaupten. Etwas mehr lehren uns die Mauern von Oeniadae und einigen anderen akarnanischen Städten, die zuerst durch Mure (a. a. O.), dann genauer durch Heuzey (le mont Olympe et TAcarnanie) bekannt geworden sind. Sie bestätigen zunächst die Richtigkeit einer Be- merkung Sempers (Stil II, 456): „Offenbar ist in dem entwickelten kyklopischen Gemäuer das Princip des Gewölbes latent; mag man dasselbe durchbrechen, wo man wolle, so bildet sich über der Bresche von selbst ein Spannbogen, der sich dem Einstürzen der oberen Mauer- theile entgegenstemmt." Von diesem Ausgangspunkt lässt sich an den

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

Thoren von Oeniadae die Entwicklung der Bogenconstruction durch eine Reihe von Zwischenstufen verfolgen, und zwar so, dass auch an den fortgeschrittensten Leistungen (so besonders dem Thore bei Heuzey pl. i6) sich immer noch erkennen lässt, wie die Vervollkommnung mit einer natürlichen Ursprünglichkeit sich durchaus auf dem Wege praktischer Versuche vollzog. Nun hören wir von den Mauern von Oeniadae allerdings zuerst bei Gelegenheit der Belagerung und Er- oberung durch die Messenier im Jahre 453 v. Chr. (Paus. IV, 25), was jedoch in keiner Weise ausschliesst, dass ihre Erbauung in eine weit frühere Epoche hinaufreicht. Schon diese historische Angabe aber zeigt wenigstens, dass Demokrit von Abdera zur Zeit des peloponnesi- schen Krieges nicht, wie Seneca (Ep. 90) behauptet, der Erfinder des Gewölbebaues war, sondern dass sich sein Verdienst auf die wissen-

10. u. II. Nurhagen auf Sardinien.

schaftliche Begründung desselben beschränkt haben mag. Andererseits soll hier weniger betont werden, was durch neuere Forschungen über eine, wenn auch wenig ausgedehnte Anwendung der Bogencon- struction in sehr alten Bauten Aegyptens und Assyriens festgestellt ist (Perrot, Hist. de l'art I, 530; II, 231). Wohl aber muss mit allem Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass wir in der Cloaca maxima in Rom ein Denkmal aus der letzten Königszeit besitzen, welches die volle systematische Durchbildung des Gewölbebaues voraussetzt und umsomehr unsere Bewunderung verdient, als es unter sehr schwierigen Bedingungen in einem sumpfigen Terrain ausgeführt ist (Ant. Denkm. d. Inst. II, 37).

Wir dürfen uns nicht verhehlen, dass wir bei der Erforschung von Zeiten, in welche kaum ein directes historisches Zeugnis zurück- reicht, leichter als sonst dem Irrtum unterworfen sind; aber betrachten wir den verständigen praktischen Sinn, der aus der kyklopischen Bau-

Kyklopische Bauweise : Constructives.

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weise hervorleuchtet, überlegen wir ferner, wie ihre Massenhaftigkeit eine nicht unbedeutende Kenntnis technischer Hilfsmittel und wenigstens praktisches Verständnis mechanischer Gesetze voraussestzt, so wird wenigstens die Möglichkeit anerkannt werden müssen, dass die Anfänge des Gewölbebaues auch bei den Griechen bis gegen die homerischen Zeiten zurückreichen, wenn derselbe auch nur für bestimmte seltene Fälle reserviert und ausserdem bei der zunächst folgenden Entwicklung der griechischen Architektur durch andere Auskunftsmittel vorläufig in den Hintergrund gedrängt worden sein mag.

Im Anschluss an die sogenannten Thesauren oder Kuppelgräber ist hier der eigenthümlichen Bauten kurz zu gedenken, welche unter dem Namen Nurhagen auf Sardinien zu Tausenden, oder Talayots auf

12. Nurhage auf Sardinien.

den Balearen zu Hunderten sich finden (A. de la Marmora, Voyage en Sardaigne II, Atl. pl. 6 14; EttorePais, La Sardegna prima del dominio romano, in den Atti dei Lincei 1880 81) (Abb. 10 12). Der harte Felsboden dieser Inseln gestattete keine unterirdischen Anlagen. Sie sind daher über der Erde in Form von abgestumpften Kegeln aus mög- lichst horizontal geschichteten roh quadratischen Blöcken ohne Mörtel aufgeführt und bilden den sehr massiven, fünf und mehr Meter dicken Mantel eines glockenförmigen Raumes von 4 —5 m Durchmesser, der in seiner Form, wie in der Construction seiner Wände dem Schatz- hause des Atreus im wesentlichen entspricht. Zuweilen findet sich über demselben noch eine zweite, ja sogar noch eine dritte Kammer. Enge, an der äusseren Öffnung nicht mannshohe, nach innen sich erweiternde Gänge bilden die Verbindung zwischen aussen und innen und winden sich spiralförmig nach den oberen Stockwerken und bis

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

auf die Plattform. Ohne Fenster erhalten sie nur selten durch eine spaltenartige Öffnung ein schwaches Licht. Oft finden sich zwei, drei und mehrere solcher Thürme durch einen gemeinsamen Mantel zu einer Einheit von elliptischem oder dreiblattförmigem Grundriss ver- bunden. Lange sind sie für Gräber gehalten worden, doch scheinen manche Gründe für Behausungen der Lebenden zu sprechen: zwar nicht Wohnungen, in denen sich der Mensch nach Bequemlichkeit einrichtet, sondern Zufluchtstätten, die durch ihre schwere Zugänglich- keit bei noch ungeordneten Culturzuständen für Personen und werth- volleren Besitz gegen plötzliche Angriffe Schutz und Sicherheit gewährten. Man hat phönikische Gegenstände in ihnen gefunden. Doch darf uns dieser Umstand nicht verleiten, die Bauten selbst diesem Volke beizulegen, das wohl seine Handelsfactoreien, aber schwerlich eigentliche Colonien auf diesen Inseln besass. Sie können daher nur der ältesten einheimischen Bevölkerung angehören, mag diese nun tyrrhenischen oder iberischen Stammes gewesen sein. Denn wenn sie auch Pseudo- Aristoteles (mirab. auscult. loo) mit lolaos, Diodor (IV, 30) mit Daedalos in Verbindung setzt und ersterer sie nach ihrer Construction mit der althellenischen Bauweise vergleicht, so dürfen sie doch nur als eine Abart derselben betrachtet werden. Noch mehr entfernen sich von rein griechischem Charakter die auf den gleichen Gebieten vorkommenden Sepolcri de' Giganti. Die Giganteja endHch auf Gozzo bei Malta (Nouv. Ann. de l'Inst. pl. i 2), vielleicht phöni- kische Cultstätten, erinnern nur noch in der Schichtung der Steine an die kyklopische Weise, dürften aber am wenigsten geeignet sein, den Ursprung und die Ausbildung derselben auf die Phönikier zurück- zuführen.

Bei einem Blicke auf die bisher betrachteten Bauten lässt sich nicht verkennen, dass die Anwendung der kyklopischen Constructions- weise im Grunde einzig auf dem Principe der Umkleidung beruht. Die Mauer hat nur die Bedeutung eines Walles, der nach aussen durch sorgfältiger gefügte Steine mit einem Mantel umkleidet wird, während umgekehrt bei den Thesauren dieser Mantel die Richtung nach dem inneren Räume hat und bei den Nurhagen die äussere und die innere Bekleidung combiniert erscheinen. Die Vorteile des ganzen Systems, die Ökonomie der Arbeit in der Benützung des Materials mussten natürlich verschwinden, sobald man es für die Errichtung einer aufrechtstehenden Wand verwenden wollte, welche bei mässiger Stärke nach aussen und nach innen eine ebene Fläche darbieten soll.

Kyklopische Bauweise: Constructives.

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Hieraus erklärt es sich, dass in wirklich alter Zeit (vereinzelte Beispiele aus späteren Perioden, wie eine Tempelcella in Rhamnus und die Ruinen von Knidos und Aperrae in Lykien: Texier III, 160 u. 207, können hier nicht in Betracht kommen) die kyklopische Bauweise für einfachen Wandbau nicht nachweisbar ist. Nur in einem kleinen District findet sich eine Ausnahme; aber auch dort ist sie wieder be- g-ründet und gerechtfertigt durch die Natur des Materials. Es handelt sich um einige wahrscheinlich dem dryopischen Volksstamme an- gehörige Bauten auf dem südlichen Teile von Euböa, unter denen namentlich der Tempel auf der Höhe des Ocha genauer bekannt geworden ist (Mon. d. Inst. III, 37; Welcker, kl. Schriften III, 376; vgl. Rhein. Museum X, 611; Bur- sian in der Arch. Zeit. 1855, S. 12g). Er ist ein kleines, länglich viereckiges Gebäude von 12,70 m äusserer und 9,85 m innerer Länge, 7,70 äusserer und 4,95 m innerer Breite, mit einfacher Thür und zwei kleinen Fenstern an der einen Längenseite (Abb. 13). Das Material, welches hier zur Ver- wendung kam, ist ein leicht spalt- barer, schieferiger Stein, der in dünneren oder dickeren Platten brach, denen sich ohne grosse ^3. Heiligthum auf dem Berge ucha.

Mühe eine länglich viereckige Ge- stalt geben Hess. So wurden hier durch oblonge Schichtung wirkliche Wände hergestellt, welche indessen wegen der Art der Bedachung die immerhin sehr bedeutende Stärke von 1,33 1,52 m haben. Mehrere übereinandergelegte Steinplatten, von denen stets die obere über die untere hervorragt, treten nämlich von den vier Seiten nach der Mitte vor und werden durch andere Steine, die senkrecht über der Mauer auf ihnen lasten, im Gleichgewicht gehalten. Diese immerhin etwas kühne Construction würde man sich wesentlich erleichtert haben, wenn man die Kopfenden der obersten Platten sparrenartig gegen- einander gelehnt und sie teilweise durch ihr eigenes Gewicht sich hätte stützen lassen. Allein in der ganzen Firstlinie findet sich eine 0,50 m breite Spalte, die, wo Fenster vorhanden sind, keineswegs bloss zum Behufe der Beleuchtung offen gelassen sein kann. Da nun ähnliche

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

Öffnungen sich auch an den verwandten Bauten von Stura finden (s. o.), so haben wir hier das älteste vSystem hypäthraler Anlagen zu erkennen, und müssen daraus folgern, dass der ganze Bau nicht etwa als Sennhütte oder als Grab, sondern als Local für rehgiösen Cultus gedient hat. Die Sage, dass Zeus seine heilige Hochzeit mit der Hera auf dem Ocha gefeiert habe (Steph. Byz. 5. v. Käqx,oxog), gestattet es, den Tempel mit dem Cultus dieser Gottheiten in Verbindung zu setzen, während die Gebäude bei Stura der Demeter, dem Klymenos und der Kora geweiht sein mochten. Von einer weiteren Verbreitung dieser Bauweise finden sich keine Spuren, wenn nicht etwa die »mit langen Steinen überdeckte« Wohnung der Styx bei Hesiod (Theog. 778) auf verwandte Dachconstructionen in dem benachbarten Böotien hin- deuten sollte.

Was von Labyrinthen, Kanälen und ähnlichen Anlagen der sagenhaften Zeit sonst noch erzählt wird, kann hier übergangen werden, da die betreffenden Nachrichten uns über das Constructive im Un- klaren lassen. Nur die Reste einiger pyramidalen Anlagen im Peloponnes (Bleuet, Exped. de la Moree II, pl. 55; vgl. Reber, Gesch. d. Bauk. S. 224) mögen hier kurz erwähnt werden, um zu bemerken, dass ihre Ähnlichkeit mit den Pyramiden nur eine äusserliche ist. Sie schliessen sich vielmehr den bisher betrachteten pelasgischen Bauten an, gehören aber wegen der Anwendung eines festen Mörtels in eine spätere Zeit.

Die Ausschmückung. So wenig sich die pelasgische Bauweise in chronologischer Entwicklung verfolgen liess, so zeigte sie doch in der Systematik einen Fortschritt von rohen Anfängen zu einer sorg- fältigen Durchbildung des rein Constructiven. Wie überall, war auch hier das Bedürfnis die Mutter des Fortschrittes, und insofern, als die Befriedigung des Bedürfnisses in der äusseren Erscheinung der Form überall zum deutlichen Ausdruck gebracht wurde, war auch den ersten Forderungen einer ästhetischen Wirkung bereits Genüge geleistet. Wir bewundern den gesunden Sinn für das Zweckmässige in der Anlage. Bald indessen musste auch die Lust erwachen, dem Noth- wendigen und Nützlichen den Schmuck hinzuzufügen, und sind uns hier auch nur dürftige Reste erhalten, so bieten sie uns doch nicht unwichtige Fingerzeige für die Entwickelung der weiteren Fortsehnte.

In den Kuppelgräbern, besonders dem grossen von Mykenae und dem von Orchomenos befinden sich an den Wänden, wie an den Thürumrahmungen zahlreiche in regelmässiger Ordnung angebrachte

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Kyklopische Bauweise : Ausschmückung. 2 I

Löcher, in denen vielfach noch breitköpfige Bronzenägel stecken. Dazu sind bei verschiedenen Grabungen Reste von geschmolzenem Metall und Metallplatten, einmal sogar in einer der kleineren Kuppeln „eine Erzplatte an der inneren Fläche noch wohl erhalten" (Arch. Anz. 1862, S. 329), zu Tage gekommen. Wenn nun auch die Annahme, dass das ganze Innere dieser Bauten mit Metall überzogen gewesen sei, durch die neueren Untersuchungen keine Bestätigung gefunden hat, so darf doch eine theilweise Bekleidung mit Sicherheit ange- nommen werden. Wie weit freilich das Metall friesartig in einfachen Platten verwendet oder in anderen Formen decorativ verarbeitet war, hat sich bisher nicht feststellen lassen.

Ein deutliches Bild damaliger Ornamentik bietet die Steindecke der Nebenkammer in Orchomenos (Schliemann, Orchomenos Taf. i u. 2 und im Journ. of hell. stud. II, 12 u. 13), die in flachem Relief nach Art eines ausgebreiteten Teppichs mit besonderem Mittelstück geziert ist. Das Hauptornament bilden spiralförmige Mäander mit Fächerblumen in den Ecken, während die Säumung des Mittelstückes wie des ganzen Teppichs durch reich gegliederte Rosetten bewirkt wird. Beim ersten Anblicke glauben wir es hier mit einer sehr vorgeschrittenen Kunst- entwicklung zu thun zu haben, die in so alter Zeit schwer begreiflich erscheint. Am leichtesten möchte man sich aus dieser Verlegenheit durch den Hinweis befreien zu können meinen, dass die gleichen Elemente der Decoration sich bereits in Ägypten, im neuen Reiche, aber immer noch früher als im ältesten Griechenland wiederfinden. Dass Ägypter in Orchomenos gearbeitet, wird allerdings wohl niemand zu behaupten wagen. Aber, könnte man sagen, ornamentale, schema- tische „Formeln" lassen sich ja leichter, fast wie mechanisch von einem Volke oder einem Orte anderswohin übertragen, als die künstlerischen Gestaltungen lebendiger, organischer Geschöpfe. Doch mahnt hier wieder eine andere Erwägung zur Vorsicht, nämlich dass gerade die Spirale und die Rosette der ältesten ägyptischen Kunst als Grund- elemente nicht eigenthümlich , sondern erst im neuen Reiche durch asiatischen, wahrscheinlich assyrischen Einfluss eingeführt zu sein scheinen (v. Sybel, Kritik des ägypt. Ornamentes S. i). Wenn es hiernach noch keineswegs sicher ist, auf w^elchem Wege diese Elemente in Griechenland Eingang fanden, so werden wir andererseits kaum eine einfache, rein mechanische Übertragung ohne Spuren eigener Weiterentwicklung annehmen dürfen. Vergessen wir also vorläufig die Frage nach dem Ursprünge, um uns vielmehr klar zu machen.

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

auf welcher Stufe der Entwicklung das steht, was wir vor Augen haben. Hier nun kann uns ein merkwürdiger Irrthum in der Publi- cation Schliemanns zur Erkenntnis der engen Schranken führen, inner- halb welcher sich der Künstler bewegte. Die zweite Tafel bietet uns in vergrössertem jMaasstabe einen (wie der Gypsabguss lehrt, richtig gezeichneten) Theil, einen Ausschnitt des auf Taf i dargestellten Ganzen, der aber mit keinem Theile eben dieses Ganzen sich deckt (Abb. 14 u. 15).

14. Theil der Decke von ürchomenos. Nach dem Abguss des Originales

15. Theil der Decke von Orchomenos. Reconstruction.

Denn nicht nur sind in dem einen Bilde die Spiralen umgekehrt, wie von der Gegenseite des anderen gezeichnet, sondern auch die Fächerblätter mit ihren diagonalen Spitzen stehen in der ersten, an den äusseren Rand anstossenden Reihe hier nach aussen, dort nach innen gewendet, in der zweiten umgekehrt u. s. w. Und doch werden wir uns dieses Irrthums, nur mit einer gewissen Anstrengung bewusst. Die Grund- einheit des ganzen Musters bildet nämlich ein Viereck von je zwei Spiralen und zwei Fächerblättern, bei denen die Richtung nach rechts oder nach links principiell durchaus gleichgiltig ist. Ist aber factisch

Kyklopische Bauweise : Ausschmückung.

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die eine oder die andere Richtung einmal gewählt, so können die Grundeinheiten in den Dimensionen der Länge und der Breite in be- liebiger Zahl ohne Ende wiederholt und aneinander gereiht werden, wie das Streifenmuster eines gewebten Stoffes. Der Künstler ist noch beschränkt auf das Princip der Reihung einzelner Elemente, aber noch ohne Kenntnis des tectonischen Princips symmetrischer Entsprechung, welche von einem einheitlichen Mittelpunkte aus die einzelnen Ele- mente nach den verschiedenen Richtungen und Ecken hin in einem festen Gleichgewichte erhält. Nicht einmal die Rosetten der Borden sind mit dem Spiralmuster in ein festes Verhältnis gesetzt, sondern bleiben in ihrer Zahl etwas hinter demselben zurück.

Auf gleicher Linie mit der sculpierten Decke von Orchomenos stehen die gemalten Wanddecorationen des Palastes von Tiryns

16. Alabasterfries ans Tiryns.

(Schliemann T. 5 ff.). In denselben wiederholt sich sogar das gleiche Muster, in welchem allerdings das Fächerblatt, wenn auch wohl nur infolge der flüchtigen Behandlung von Seiten des Malers, einen grossen Theil seines Reizes verloren hat. Andere Reste, die vielleicht einer ge- flügelten Gestalt angehören, zeigen wenigstens in der Stylisierung der Zeichnung keine principielle Verschiedenheit. Einen etwas anderen Eindruck macht ein Alabasterfries mit eingesetzten Glaspasten (T. 4), dessen decoratives Schema fast unverändert auf zwei mykenischen Steinplatten und ganz klein auch auf Glaspasten von Menidi wiederkehrt (Abb. 1 6). Die Elemente der Rosetten u. s. w. bleiben die gleichen und auch in der Nebeneinanderordnung und Reihung herrscht noch das gleiche Princip. Nur möchte ein gewisser Fortschritt in der An- wendung desselben anzuerkennen sein, insofern die aus zwei Halb-

24 Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

rosetten und einem viereckigen Mittelfelde gebildeten Einzelngruppen sich zwar in ihrer horizontalen Reihung nur einfach ohne Verflechtung berühren, für sich selbst aber bereits als Einheiten nach dem Gesetz symmetrischer Entsprechung in sich abgeschlossen erscheinen, wobei die seithche Verlängerung der Halbrosette gegenüber dem viereckigen Mittelfelde eine die zu mechanische GHederung mildernde und rhyth- misch ausgleichende Wirkung ausübt.

Weiter kommt hier die Ausschmückung des Portals an dem grossen Grabe von Mykenae in Betracht. Neben der nach innen ab- gestuften Thüreinrahmung war dasselbe mit zwei sculpierten Halb- säulen geziert, die nach neueren Beobachtungen sich nicht nach oben, sondern nach unten verjüngten (Abb. 17). Indem sonach verschiedene Bruchstücke nicht, wie man glaubte, der Basis, sondern dem Kapitäl zuzutheilen sind, müssen die früher versuchten Restaurationen als unhaltbar be- zeichnet werden, während das an Ort und Stelle, sowie in den Sammlungen von Athen, München und London erhaltene Material zu einer sicheren und vollständigen Wiederherstellung in keiner Weise genügt. Fest steht jedoch, dass in der Decoration der Halbsäule das Spiralornament wiederkehrt ; aber 17. Halbsäule vom Schatz- indem es wie eine P'üllung zwischen zwei zickzack- haus des Atreus in Mykenae. förmige Bänder oder Borden eingeordnet ist, tritt es in Verbindung mit einem neuen Elemente, das sich aus den bisher betrachteten Systemen nicht ohne Weiteres ab- leiten lässt.

„Was sind nun", um mit den Worten Sempers (Stil I, 439) fort- zufahren, „diese marmornen Säulenschäfte mit ihrer allgemeinen Schmuckdecke, mit schwach vertieftem und schwach erhabenem Zick- zack und Spiralornament, mit gleich verzierter tief unterschnittener Basis, anderes als Metallsäulen in Marmor ausgeführt, nämlich Säulen aus getriebenem Metalle? . . . Wie die Säulen sind auch die grünen, weissen und rothen Marmorplatten, die als Antepagmenta (Gewände) in mehrfachen Bahnen rings um die Thür des Atriden- monumentes herumliefen, mit Schilden, Wellenlinien, Agraffen und Rosetten reichlich geschmückt, oder vielmehr vollständig damit über- deckt." Das gleiche Princip der Ornamentation aber waltet in der Steindecke von Orchomenos, wie, auf die Malerei übertragen, in dem Wandschmuck von Tiryns. Zwei Punkte sind bei dieser Auffassung

Kyklopische Bauweise : Ausschmückung^.

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von weitgreifender principieller Bedeutung: in allen diesen Decorationen tritt uns deutlich das Princip der Bekleidung, der Incrustation, ent- gegen, und zwar als ein vom Constructiven gesondertes, noch unver-

18. Relief am Löwenthor von Mykenae.

mitteltes, ja gegensätzliches Element. Nicht minder bedeutsam aber ist es, dass die mit dem Hammer getriebene Metallarbeit, das Sphyre- laton, .bereits in ein anderes Material, in den Marmor (sowie in die Malerei) übertragen erscheint, dass also auch hier über das construc-

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Erstes Capitel. Vorhoinerische Kunst.

tive Bedürfnis hinaus ein neues künstlerisches Princip sich geltend zu machen sucht. Es muss genügen, hier diese beiden Punkte vorläufig zu betonen; ihre historische Wichtigkeit wird erst später hervortreten.

Zunächst ist noch ins Auge zu fassen, was wir über Sculpturen jener ältesten Zeit wissen. Ein steinernes Medusenhaupt in Argos wurde Pausanias (II, 20, 7) als ein Werk der Kyklopen gezeigt. Doch dürfen wir vermuthen, dass dasselbe nicht einem künstlerischen Be- dürfnisse, sondern dem Zwecke, als ein Unheil abwehrendes Symbol zu dienen, seinen Ursprung verdankte. Ein zweites, von Pausanias (II, 16, 5) erwähntes Werk existiert dagegen noch heute und wohl in demselben Zustande wie damals: die Löwen über dem Thore von Mykenae: »auch sie sollen Werke der Kyklopen sein, welche dem Proetos die Mauern von Tiryns baueten« (Abb. 18). Das Dreieck nämlich, welches zur Entlastung des oberen Thorbalkens offen gelassen war, ist durch eine Kalksteinplatte geschlossen, deren Vorderseite mit diesen Thierfiguren in Hochrelief geziert ist (vgl. Adler in der Arch. Zeit. 1865, S. I ; T. 193 ; Brunn-Bruckmann, Denkmäler 151). Aufgerichtet stehen sie einander gegenüber mit den Vorderbeinen auf einer mehrfach gegliederten Basis, auf welcher sich zwischen ihnen eine Säule mit Gebälk bis etwas über die Höhe ihrer Köpfe erhebt. Diese, mit ihrem Blicke nach aussen gerichtet, traten auch materiell aus der Pläche der Reliefplatte heraus, so dass man genötigt war, sie in besonders eingefügten Stücken aus- zuführen, welche leider nicht mehr erhalten sind. Es leuchtet sofort ein, dass wir es nicht mit einem Bilde aus der Wirklichkeit, sondern mit einer symbolischen Darstellung zu thun haben. Wie das erwähnte Medusenhaupt, oder der Phallos an den alten Thoren von Alatri und Ferentino, wie ferner ein Paar Augen mit einer Nase auf den Mauern von Thasos (Conze, Inselreisen S. 12; T. 5) als Unheil abwendende Symbole zu deuten sind, so dürfen auch die den Ankommenden an- blickenden Löwen als gewaltige und schützende Wächter betrachtet werden. Die Säule mit Gebälk als eine auch in der späteren Kunst beibehaltene Abbreviatur des Hauses bezeichnet alsdann den Gegen- stand des Schutzes, die Wohnungen der Menschen oder die Burg. Dagegen ist in dem doppelt getheilten Unterbau schwerlich ein doppelter Steinsitz oder Thron zu erkennen, wie sie wohl bei Homer in den Vorhallen der Königshäuser vorkommen. Die Zusammensetzung aus einer oberen und unteren Platte und einem in der Mitte eingezogenen Zwischengliede, welche in altitalischen Altären eine gewisse Analogie hat (Ritsehl, Prise, lat. mon. t. 56; Brunn, Urne etrusche. I, t. 42 u.

Kyklopische Bauweise: Ausschmückung.

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45 ; vgl. auch einen »Inselstein« aus Kreta bei Furtwängler und Lösch cke, ^ly kenische Vasen T. E, 11), erlaubt eher, an zwei herd- artige Altäre zu denken, die in Verbindung mit der Säule zum Aus- drucke des Gedankens: Haus und Altar oder Herd, dienen könnten. Doch lässt sich auch diese Vermuthung nicht sicher begründen. Wichtiger als die symbolische Bedeutung ist für die Kunstgeschichte der Styl des Werkes. Wer einigermaassen mit griechischer Kunst vertraut ist, wird sich zunächst durch denselben fremdartig berührt finden und bei flüchtiger Betrachtung fast eher mittelalterliche Wappenthiere als grie- chische Löwen vor sich zu haben glauben. Wir werden allerdings von der Forderung strenger Correctheit absehen dürfen und auch an der Vernachlässigung in der Ausführung einzelner Theile, wie der Tatzen, keinen Anstoss zu nehmen brauchen. Wohl aber vermissen wir das Herauswachsen aus der inneren Einheit des Organismus, das Ausgehen von dem organischen Zusammenhange der Theile, worin sich später das eigenthümliche Wesen der griechischen Kunst zeigen wird. Wir empfinden, dass das Werk nicht aus frischer, unmittelbarer Anschauung der Natur entstanden, sondern dass (z. B. in der Verbindung der Vorderbeine mit der Brust) ein mehr schematischer Typus zu Grunde gelegt ist. Wir bemerken das Streben, die Massen auch im Detail auszubilden; aber auch dieses Detail erscheint mehr äusserlich auf- getragen, ohne von der Spannung der Muskeln und Bänder eine deutliche Vorstellung zu erwecken. Anstatt alterthümlicher Härte und Schärfe begegnen wir vielmehr einer gewissen Fülle und Weichheit, ja Weichlichkeit der Formen. Unwillkürlich wendet sich unser Blick nach Asien, wo schon früh die Thierfigur schematisch durchgebildet war, wo der gesamte decorative, aus der Weberei hervorgegangene Kunstcharakter auf ein Schematisieren der einzelnen Formen hindrängt und die Weichheit und Üppigkeit des Orients sich auch in dem Wesen der Kunst unverkennbar ausprägte. Allerdings erscheint sie in dem grösseren Theile der Sculpturen von Niniveh bereits erstarrt und verknöchert. Doch dürfen wir nicht vergessen, dass die letzteren höchst wahrscheinlich jünger sind, als das Löwenthor, und dass wir also zum Behufe einer Vergleichung uns das Bild der assyrischen Sculptur vor ihrer Erstarrung in der Phantasie vergegenwärtigen müssen. Dabei ist ferner zu betonen, dass nur eine Verwandtschaft behauptet werden soll, deren Grad erst näher zu bestimmen ist. Zu diesem Zwecke bedarf es zunächst einer genaueren Betrachtung der Säule zwischen den beiden Thieren. Auch hier erscheint die Form in

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

ihrer, wenn auch schwachen, Verjüngung nach unten als unhellenisch. Ihre Bekrönung ähnelt eher einer umgekehrten ionischen Basis, als einem der Belastung des Gebälkes entgegenstrebenden Echinus. Im Gebälk selbst aber muss sich unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die vier Kreise richten, welche sich durch die Profilansicht als die Köpfe runder Holzbalken charakterisieren. Sie finden ihre sprechende Analogie in den Felsengräbern Lykiens, die in ihren Fa^aden das treueste Abbild einheimischen Holzbaues darbieten (Abb. ig). Auch die Vorsprünge der Platte, auf denen die Säule und die Vorderfüsse der Löwen ruhen, erinnern an die Verzapfungen der Balkenrahmen,

Monumente und der Tradition liefert jetzt den historischen Beweis eines alten Zusammenhanges mit Asien, in welchem Lykien als Zwischenstation erscheint. Wir verstehen jetzt, dass der Umbildungs- process der aus dem inneren Asien herübergenommenen Elemente bereits begonnen hat. Allein der eigentlich hellenische Geist, welcher diese Elemente mit neuem Leben zu durchdringen und daraus etwas durchaus Neues zu schaffen vermöchte, ist noch nicht zum Durch- bruch gekommen. Das Relief des Löwenthores bezeichnet ein Uber- gangsstadium ; und wenn es auch bei der Vereinzelung, in welcher es auf uns gekommen, nicht wohl möglich ist, das Verhältnis der fremden und der einheimischen Elemente in festen Begrenzungen von einander zu scheiden, so steht doch so viel fest, dass es nicht als hellenisch im strengeren Sinne betrachtet werden darf

denen w^ir dort begegnen. In diesem Zusammenhange gewinnt die Nachricht, dass die Mauern von Mykenae von lykischen Kyklopen erbaut und dass auch die Löwen ihr Werk seien, eine unerwartete Bedeutung : eine Bedeutung, die noch dadurch verstärkt wird, dass mehr in dem Innern Kleinasiens, in Phrygien, an einem hochalterthümlichen Felsgrabe der Typus der gegen eine Säule emporgerichteten

[9. Felsengrab von Antiphellos in Lykien.

Löwen sich w^iedergefunden hat : Journ. of hellen, stud. i882,pl. 17. Denn die Übereinstimmung der

Die „mykenische" Culturstufe.

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Die 5,mykenische" Culturstufe.

Die ältesten Bauwerke gewähren uns in ihrer Construction und ihrer Ausschmückung das Bild einer Cultur, welche bereits eine längere Entwicklung zur Voraussetzung hat. Dadurch aber, dass sie uns als an bestimmte Örtlichkeiten gebunden gegenübertreten, bieten sie uns bestimmte Richtpunkte für die Beurtheilung derjenigen Erzeugnisse des Kunsttriebes, welche, wenn auch nicht immer in der Ausführung, doch in ihrem Ursprünge auf noch ältere Culturzustände hinweisen, wie sie sich schon vor Begründung fester Wohnsitze zu entwickeln beginnen. Das Material, welches der Boden Griechenlands der Forschung auf diesen Gebieten dargeboten hat, ist jedoch noch immer ein so zer- streutes und lückenhaftes, dass es sich nicht sofort und wie von selbst zu einem Gesammtbilde ordnet. Die Prüfung muss deshalb von der Betrachtung des Einzelnen oder einzelner Gruppen ausgehen, und erst wenn es gelingt, auf diesem Wege von dem Wesen und der Bedeutung der verschiedenen Gegenstände klarere Anschauungen zu gewinnen und dadurch bestimmte Thatsachen festzustellen, werden wir den Versuch wagen dürfen, das Einzelne unter umfassenderen Gesichts- punkten zusammenzuordnen und für die Anfänge der Kunstgeschichte zu verwerthen.

Zuerst muss hier der Funde Schliemanns auf troischem Boden gedacht werden, über welche der Entdecker selbst am ausführlichsten in dem „Ilios" betitelten Werke (1881; vgl. auch „Troja" 1884) Bericht erstattet hat.^) Ihre hohe Alterthümlichkeit und ihre durch die Poesien Homers verherrlichte Fundstätte geben ihm ein Anrecht auf eine mehr als gewöhnliche Beachtung. Wir dürfen wohl voraussetzen, dass künstlerisches Streben sich vorzugsweise in der Verarbeitung kost- barer Stoffe, besonders des Goldes für Gegenstände des Luxus ver- rathen müsse. Betrachten wir also den sogenannten Schatz, des Priamos (Ilios S. 508 ff.), so finden wir an den Ohrringen und Ohrgehängen, den Armbändern, dem Haarschmuck das Gold seinen natürlichen Eigen- schaften entsprechend in Perl-, Faden-, Blattform verarbeitet. Unter den einzelnen Elementen sind die kleinsten (S. 514) technisch sauber und zierlich, die grösseren einfach und schmucklos gebildet. Aus solchen nicht sehr mannigfaltigen, aber zahlreich wiederholten Ele- menten werden dann grössere Schmuckstücke einfach durch Reihung

^) Eine übersichtliche Behandlung nicht nur der troischen, sondern auch der übrigen Ausgrabungen Schliemanns bietet das Buch von Schuchhardt: Schliemanns Ausgrabungen, 1890.

Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

20. Spinnvvirtel aus Troia.

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in einer regelmässigen Ordnung her- gestellt. Spuren einer weiteren Ent- wicklung finden sich nur in einigen, nicht dem grossen Schatze angehörigen Fundstücken (S. 544; 551; 557), die wegen ihres spärlichen Vorkommens und ihres abweichenden Charakters als wahrscheinlich nicht einheimische

Waare erst an einer späteren Stelle gewürdigt werden können.

Anfängen einer anderen Art von Ornamentik begegnen wir in den zahlreichen Spinnwirteln aus gebrannter Erde: die unteren Flächen sind mit eingeritzten Linien, geraden und gebogenen, verziert (Abb. 20). Aber dieses eng begrenzte Feld gestattet keine breite systematische Ent- faltung; und so ergiebt sich, wenn auch in den mannigfaltigsten Com- binationen, eine Reihe von Mustern, in denen allerdings das Princip der Symmetrie, aber eben nur in eng begrenztem Kreise zur Geltung zu gelangen vermag. Eine weitere Begrenzung ergiebt sich dadurch, dass neben dem linearen die dem Pflanzenreich entnommenen Elemente

gänzlich fehlen, sowie dadurch, dass die wenigen kleinen Thier- und Menschengestalten ohne eigentlichen Körper bloss durch einfache Striche zur Bezeichnung des Leibes und der Gliedmaassen wiedergegeben sind {z. B. Nr. 484; 1289; 1889 ff.) (Abb. 21 u. 22). Weitere Versuche, die volle Menschengestalt zu bilden, fehlen fast vollständig. Denn in ver- schiedenen formlosen Idolen und in den sogenannten Gesichtsurnen begnügte man sich, das menschliche Gesicht durch Augen und Nase, nicht einmal immer durch den Mund zu bezeichnen, so dass, da ausserdem die Angabe der Ohren meist fehlt, die Verwechselung des menschlichen mit dem Eulenkopfe möglich wurde, während an den

21. u. 22. Spinnwirtel aus Troia.

Die „mykenische" Ciüturstufe.

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menschlichen Körper nur die Andeutungen der Brustwarzen und des Nabels erinnern (S. 328; 377; 581) (Abb. 23 u. 24).

Auch in den Thongefässen zeigt sich noch keine künstlerische Entwicklung, und nur eine Gattung, von kugelförmiger Gestalt, mit engem Hals und langgestrecktem Ausguss (z. B. S. 612) lenkt unsere Aufmerksamkeit dadurch auf sich, dass diese Form bisher fast aus- schliesslich nur noch aus kyprischen Fundorten bekannt geworden ist (Abb. 25).

Es darf vollkommen zugegeben werden, dass diese Gegenstände, sowie die zugleich gefundenen Stein- und Metallgeräthe für die Cultur-

geschichte einen hohen Werth besitzen. Aber mit Nachdruck muss hier betont werden, dass die Anfänge der Cultur- und Kunstgeschichte sich keineswegs decken. Eine eigentliche künstlerische Entwicklung hat in den troischen Funden noch gar nicht begonnen; charakteristische Kunstformen treten noch nirgends hervor. Sie liefern zunächst nur eine erneute Bestätigung für die auch sonst bekannte Thatsache, dass die homerischen Gedichte nicht die Zustände zur Zeit des troischen Krieges, sondern nur diejenigen zur Zeit des oder der Dichter schildern. Nur einzelne Elemente, namentlich in der linearen Ornamentik und in den Gefässformen, treten uns entgegen, auf die gelegentlich später noch Rücksicht zu nehmen sein wird.

Was von den troischen Funden, das gilt auch von den Ent- deckungen, die man auf der Insel Thera unter einer durch den Aus-

23. Steingegenstand aus Troia.

24. u. 25. Troianische Gefässe.

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Erstes Capitel. Vorhoinerische Kunst.

26. Mykenische Ornament- motive.

bruch eines Vulcanes gebildeten Schicht gemacht hat, wobei es dahin- gestellt bleiben mag, ob dieselben auf geologische Anzeichen hin bis gegen das Jahr 2000 v. Chr. hinaufzurücken sind; vgl. Heibig, d. homer. Epos S. 48.

Reicher und mannigfaltiger als die troischen Funde sind die von Mykenae, unter denen vor allen diejenigen der innerhalb des Mauerringes hinter dem Löwenthor entdeckten „Königsgräber" unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen (Schliemann, Mykenae 1878; Schuch hardt, Schliemanns Ausgrabungen, Kapitel IV). Als sicher an Ort und Stelle gearbeitet mögen hier zuerst die zur äusseren Bezeichnung der Gräber errichteten Grabstelen genannt werden: längliche Platten aus einheimischem Kalkstein, denen eine architek- tonische Kunstform noch nicht gegeben ist. Als decorative Elemente finden wir die Spirale in Verschlingungen und rundliche Mäander- linien (Abb. 26). Die Figurendarstellungen sind sehr einfacher Art:

Männer zu Wagen, Kampf- und Jagdscenen, immer in Beschränk- ung auf wenige Figuren (Abb. 27). Das flache Relief ist gewonnen, indem um die roh und unbeholfen gezeichneten Figuren herum der Reliefgrund in mässiger Ver- tiefung ausgehoben ist. Eine Modellierung auch nur der Haupt- formen der Körper fehlt noch gänzlich; höchstens wird eine Innenzeichnung durch einige ein- geritzte Linien versucht. So er- klärt es sich auch, dass die Wagen, an denen nur ein Rad sichtbar ist, auch nur mit einem Pferde bespannt erscheinen, nicht etwa, weil dies dem wirklichen Ge- brauche entspräche, sondern weil

27. Grabstele aus Mykenae. ^^^^^ RcUefstylisierUng

in zwei oder mehreren Schichten noch nicht vorgedrungen war. Zu beurteilen, ob in Mykenae von solchen Anfängen aus überhaupt eine weitere Entwicklung stattfand.

Die „mykenische" Culturstufe.

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28. Holzknopf mit Überzug von Goldblech aus Mykenae.

fehlen uns die Mittel. Denn auch was wir von Rundbildern durch kleine Idole und Thiergestalten aus gebranntem Thon und anderen Stoffen erfahren , geht nicht über die ersten Anfänge hinaus, in denen sich ein künstlerisches Princip noch nicht er- kennen lässt.

Einer eingehenderen Prüfung bedarf der übrige reiche Grabesschmuck, der nach der Art seiner künstlerischen Herstel- lung unter verschiedenen Gesichtspunkten zu be- trachten ist. Unter den

Goldsachen, die einen Hauptbestandtheil bilden, sondert sich als eine eigene Kategorie eine Reihe von Schmuckgegenständen aus: Diademe, sternartige Blumen, Schildchen, etwa zum Aufsetzen auf die Gewandung bestimmt, Knöpfe u. a., aus dünnem Goldblech gepresst oder mit Stempeln und Stanzen getrieben (z. B. Nr. 239 ff., 281 ff., 387 ff., 492 ff.). Neben rhomboidalen Combinationen (Nr. 377 ff.) (Abb. 28) sind runde Felder, einzeln oder in der Mehrzahl verbunden (Nr. 281 u. 282), be- sonders zahlreich vertreten. In der Ornamentierung begegnen wir einem Vorwiegen der Spirale und gerundeter Linien. Unter den Elementen

aus der Pflanzenwelt werden Blumen und Blättchen vor dem Blattwerk bevorzugt; aus der Tierwelt treten neben Schmetterlingen besonders polypenartige Geschöpfe des Meeres hervor (Abb. 29). Die ganze Gattung überrascht, ja blendet das Auge durch eine gewisse Eleganz der äusseren Erscheinung. Wie sie aber plötzlich ohne eine uns be- kannte künstlerische Vorstufe uns entgegen- tritt (nur einige spärliche Proben aus Troia gehören hierher), so vermögen wir bis jetzt ebensowenig eine directe Weiterentwicklung nachzuweisen. Um sie richtig zu würdigen, müssen wir daher den Blick rückwärts wenden, uns geistig zurückversetzen in die Zeit der

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29. Goldblatt aus Mykenae.

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

Entstehung und der Ursprünge, aus denen die ganze Gattung er- wachsen ist. Wir haben aber dabei nach den Anfängen einer kunst- mässigen Zeichnung oder plastischen Modelherung gar nicht zu fragen,

30. Goldblatt aus Mykenae.

31. Goldenes Kreuz aus Mykenae.

sondern unsere Aufmerksamkeit vielmehr auf das zu richten, was noch heute fast mit den gleichen Mitteln geübt wird: auf Putzmacherarbeit. Gehen wir zurück auf die einfachsten Elemente derselben!

Der Faden, der biegsame Metalldraht, wenn er in der Ebene um einen Mittelpunkt gelegt wird, ergiebt ni':ht aus künstlerischer Über- legung, sondern selbstverständlich die Spirale; wird er zwischen zwei parallelen Rändern durch regelmässiges Zusammenschieben in seiner Länge verkürzt, so bildet sich eine Art von nicht eckigem, sondern rundlichem Mäander. In ähnlicher Weise lassen sich noch andere Muster darstellen, während sich ebenso leicht aus der Verbindung mehrerer Fäden die gedrehte Schnur ergiebt. Fast ausschliesslich mit diesen Elementen arbeitet noch heute die Filigrantechnik.

Anders ist das Verfahren bei der Darstellung von Blumen. Hier werden zuerst die Stempel und Staubfäden einzeln vorbereitet, die einzelnen Blätter aus Gold, Papier oder andern Stoffen zugeschnitten, gebogen, zurechtgedrückt und dann erst an einem Stiel zusammen- gebunden. Ähnliches gilt von der Bildung von Schmetterlingen, ihren Fühlhörnern, Köpfen , Körpern und Flügeln und nicht weniger von den polypenartigen Geschöpfen. Wir verstehen leicht, wie hier bei den verschiedenartigen Verbindungen die Filigranarbeit wieder zu theilweiser Anwendung gelangt, neben ihr aber eine Reihe von neuen Elementen, nicht bloss in Blattform, sondern perl- oder nagelkopf-

Die ,,mykenische" Culturstufe.

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artigen Knöpfen u. a. Eingang findet. Alles beruht hier in erster Linie auf der Geschicklichheit der Hand oder, um noch schärfer zu scheiden, auf einer besonderen Fertigkeit der Finger, zu der sich weiter nicht sowohl ein ausgeprägter Kunstsinn, sondern eine Eigenschaft zu gesellen hat, die wir wohl als Geschmack im Verbinden und Anordnen bezeichnen mögen: Eigenschaften, welche dem weiblichen Geschlechte in höherem Maasse als dem männlichen eigen zu sein pflegen.

In den mykenischen Goldschmucksachen tritt der ursprüngliche Zusammenhang mit solcher Putzmacherarbeit in den aus verschiedenen Blättern gebildeten Blumen (N. 285 ff.) noch deutlich zu Tage (Abb. 30 u. 3 1). Meistentheils jedoch hat dieselbe bei der Übertragung in den Metall- styl bereits eine weitere Metamorphose durchgemacht. Die Verbindung metallischer Fäden und Blätter weist auf das technische Verfahren des Löthens hin. Weiter aber musste sich der Wunsch und das Streben, nicht bei jeder Wiederholung eines Objectes den ganzen Arbeitsprocess von Anfang bis zu Ende von Neuem durchzumachen, das Bedürfnis nach mechanischen Hilfsmitteln der Vervielfältigung geltend machen. Diesem Bedürfnis wurde man gerecht durch Herstellung von Stanzen, Matrizen, Formsteinen (Nr. 162 3), mit deren Hilfe man durch Treiben, Drücken oder Pressen der dünnen Metallblätter ein gegebenes Muster in be- liebiger Anzahl zu wiederholen im Stande war; wobei es nicht aus-

32. Goldenes Diadem aus Mykenae.

bleiben konnte, dass diese Muster in ihren einzelnen Bestandtheilen von Fäden und Blättern, wie in ihren Verbindungen zu Blumen oder Thieren immer mehr schematisiert und in eine weniger organische als orna-

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

mentale Auffassung übergeführt wurden. Diese Wandelung musste sich um so nothwendiger ergeben, als mit der neuen Technik sich der Übergang von einer Zusammenfügung einzelner Blätter und Theile zu einer Darstellung derselben auf einer gemeinsamen Grundfläche, d. h. zur Reliefdarstellung vollzog. Wie aber auch hier noch in der Ver- bindung zu einem Ganzen die Entstehung aus der Wiederholung und Zusammenordnung der einzelnen gleichartigen Elemente sichtbar bleibt, so bewahrt das gleiche Princip seine Geltung auch noch in der Zu- sammenordnung der auf diese Weise gewonnenen, in sich abge- schlossenen Muster. Da ist z. B. die Fläche eines nach beiden Enden spitz zulaufenden Diadems (Nr. 281) (Abb. 32) mit grösseren und kleineren kreisrunden rosettenartigen Schildchen in bunter Abwechslung bedeckt, ohne weitere Rücksicht auf den Raum, als dass nach den Seiten und nach unten die Grösse der Schildchen, aber auch hier durchaus nicht in strenger Regelmässigkeit, sich verringert. Die auf dem oberen Rande aufstehenden Blätter aber sind ebenso ordnungslos und dazu ohne irgendwelche künstlerische Verbindung mehr angebogen als an- gefügt. Selbst bei dem Diadem Nr. 282 (Abb. 33), wo die einfache Reihe der Schildchen nach den Seiten in regelmässigen Verhältnissen abnimmt, zeigt sich ein Fortschritt nur in der strengeren symmetrischen Anordnung. Von einer Verbindung dagegen, wie in den Arabeskengewinden der eigentlich hellenischen Kunst, die gleich einer Pflanze aus dem ge- gebenen Räume herauswachsen und denselben gliedern, findet sich hier noch keine Spur: alles beschränkt sich auf ein Zusammenordnen von für sich bestehenden Einheiten.

Was uns an diesen Arbeiten anzieht, ist also das „Hand-Werk",

33. Goldenes Diadem aus Mykenae.

welches ja allerdings eine der Voraussetzungen auch für die Ausführung eines wirklichen Kunstwerkes bildet. Nur dürfen wir nicht vergessen, dass die für dasselbe verwendbaren Elemente ihre höhere Bedeutung und Belebung erst durch das Hinzutreten einer eigentlich künstlerischen.

Die „mykenische" Ciilturstufe.

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sei es constructiven oder geistigen Idee zu erhalten vermögen, welche in diesen rein decorativen Schmucksachen noch nicht vorhanden ist. In einer zweiten Reihe kehren nicht nur Schmetterlinge und

Seethiere wieder, sondern es finden sich ausserdem Greife, Sphinxe, mehrfach auch paarweise geordnet, (Doppel-) Adler, Eulen, Hirsche u. a., endlich auch menschliche Gestalten, nackt und bekleidet, vielleicht Aphrodite mit einer oder mehreren Tauben (Nr. 264 80; 424; 480 ff.) (Abb. 34 u. 35). Von der ersten Reihe unterscheiden sie sich dadurch, dass sie nicht auf einen Reliefgrund aufgesetzt erscheinen, sondern an ihren äusseren Umrissen aus dem Goldblech herausgeschnitten sind, und dadurch, obwohl immer noch zu den decorativen Zwecken bestimmt, doch für sich einen mehr selbständigen künstlerischen Charakter zu bean- spruchen scheinen. Bei näherer Betrachtung indessen zeigt sich, dass es sich keineswegs um eine principielle Verschiedenheit handelt. In der Technik begegnen wir namentlich in der Behandlung der Federn und der Flügel derselben Art des Fälteins und Zurechtdrückens, in der Auffassung der Formen dem gleichen Charakter des Rundlichen und Laxen, während der Begriff einer eigentlich künstlerischen Styli- sierung, einer Übersetzung der natürlichen Formen in die Formen der Kunst, auch hier durchaus noch fehlt. Dasselbe gilt von den jagenden Löwen auf zwei Goldplatten (Nr. 470 i) (Abb. 36 u. 37), die schon nicht mehr als Schmuckstücke, sondern als Reliefs an sich gearbeitet scheinen, sowie von dem Bilde eines tempelartigen Baues (423).

34. Goldenes Ornament aus Mykenae.

35. Goldblechzierrath aus Mykenae.

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

36. Goldplatte aus Mykenz

Von einer künstlerischen Gestaltung lässt sich auch bei den goldenen Gesichtsmasken noch nicht reden, die bestimmt waren, das Antlitz der Toten zu bedecken (Nr. 331 2; 473 4): sie sind im Grunde nichts als ein Abdruck oder Abklatsch wirklicher Gesichter, gefertigt etwa, wie ein dem Körper angepasster Panzer (Abb. 38). An

dem silbernen Kuhkopf endlich (Nr. 327 8) tritt die Eleganz der schmückenden Rosette auf der Stirn in einen scharfen Gegensatz zu dem Mangel feiner Model- lierung der Formen des Kopfes selbst.

Einen wesentlich anderen Charakter als die Goldschmuckarbeiten von Mykenae tragen die eben- dort in den ältesten Gräbern gefundenen kurzen Schwerter, die erst längere Zeit nach ihrer Entdeckung sich bei gründlicher Reinigung als reich geschmückt erwiesen haben {'A&,jvaiov IX, 162 u. X, 302; Mitt. d. ath. Inst. 1882, T. 8 u. 1883, i; Bull, de corr. hellen. 1886, p. I 3) (Abb. 39). Technisch unterscheiden sich zwei Haupt gattungen. Bei der einen besteht die Klinge aus einem einzigen Stück Bronze, welches auf beiden Seiten mit Darstellungen in flach erhabener Arbeit verziert ist. An der andern sind in die beiden Seiten der dazu vor- bereiteten Klinge besondere dünne Metallplatten aus Gold oder aus Bronze eingelegt, auf diese sodann figürliche Darstellungen aus ver- schiedenfarbigem Metall, be- sonders aus hellerem und dunklerem Golde, aufge- tragen, vermittelst des Grab- stichels weiter durchge- bildet, und schliesslich deren Farbenwirkung noch durch schmelzartige Zuthaten er- höht. Wir haben es hier mit einer hochentwickelten

Technik zu thun, welche bereits eine lange Kunstübung voraussetzt. Auf eine solche weisen aber auch die Darstellungen selbst hin. Unter diesen finden wir ein aus Spirallinien gebildetes Ornament, welches bestimmt auf ägyptische Vorbilder hinweist. Auf starken ägyptischen

37. Goldplatte aus Mykenae.

Die ,,mykenische" Culturstufe.

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Einfluss deutet ebenfalls der Blumenschmuck eines Silbergefässes, deuten ferner die Lotospflanzen in der Darstellung einer Jagd katzenartiger Thiere auf Wasservögel, ferner greifenartige Bildungen in einer andern, sowie der Schurz der Jäger in einer dritten. Und doch ist der Styl dieser Arbeiten nicht in der Weise ägyptisch, dass wir an Ausfuhr- artikel ägyptischen Handels zu denken berechtigt wären. Vielmehr dürfte es hier ganz besonders zu betonen sein, dass an die religiösen Ideen, an den hieroglyphischen Charakter ägyptischer Auffassung in diesen Arbeiten durchaus nichts erinnert. Die Bedeutung dieser Beobachtung wird aber wesent- lich dadurch verstärkt, dass sie sich bei einer demnächst zu be- trachtenden Gattung von ge- schnittenen Steinen wiederholt, die mehrfach, und zwar gerade in einigen Jagd- und Kampfscenen mykenischer Exemplare durch

die Auffassung der Thiere und der 38. Ooldene Gesichtsmaske aus Mykenae.

wespenartig dünnen Menschen- gestalten auch in stylistischer Beziehung eine sehr enge Verwandt- schaft mit den Darstellungen der Schwerter verraten. , Diese Steine, die sogenannten „Inselsteine", auf welche die Auf-

I merksamkeit besonders durch die Untersuchungen Milchhöfers in der ' Schrift: „Die Anfänge der Kunst in Griechenland" ^1883) gelenkt worden ist, entstammen einem Fundgebiete, das sich von Cypern und Rhodos über die Inseln des ägäischen Meeres bis nach Kreta und über die Küsten des griechischen Festlandes erstreckt und uns als ein einheitliches Bild noch einmal bei Betrachtung der Vasenmalerei ent- gegentreten wird. (Eine grössere Auswahl bieten Furtwängler und Löschcke, Mykenische Vasen, Taf. E, und O. Rossbach, Arch. Zeit. 1883, T. 16) (Abb. 40-43).

Zum Siegeln bestimmt sind sie vertieft geschnitten. Wegen der Schwierigkeit der Technik wählte man zuerst weichere, leichter zu bearbeitende kieselartige Steine, später auch härtere Gemmen, daneben Gold und Silber. Ausser blossen Ornamenten sind besonders häufig Thiere dargestellt, sowohl einheimische als fremde, zahme oder wilde.

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst

theils einfach im Anschlüsse an die Natur, theils in phantastischen Zusammensetzungen. Mit ihnen werden menschHche Figuren ver- bunden, gleichfalls in natürhcher Gestalt oder in Mischbildung. Über- wiegende Bedeutung erhält der Mensch in kriegerischen und Jagddarstellungen. Zuletzt, aber wohl erst bei dem Übergange zu einer neuen Zeit, scheinen einzelne, besonders auf Herakles und Prometheus bezüghche Scenen aus der Heroenmythologie Eingang gefunden zu haben.

Die Beurtheilung dieser Arbeiten ist wesent- lich bedingt durch den Zweck, dem sie zu dienen bestimmt sind. Die Darstellungen sind zwar nicht, wie die Hieroglyphen, als eigent- liche Bilderschrift zu betrachten, aber sie reden eine Bilder spräche, welche theils durch Wiederholung bestimmter Typen in weiteren Kreisen, theils als Ausdruck individueller Vor- stellungen nur wenigen, in erster Linie nur dem Eigenthümer verständlich sein mochten. Es ist die Sprache der Wappen (vgl. Curtius, Über Wappengebrauch und Wappenstyl im griechischen Alterthum 1874). Die erste und Hauptaufgabe, die dem Künstler gestellt wurde, bestand also nicht darin, das Feld des Steines decorativ zu schmücken, auch nicht darin, einen Gegenstand der Natur mit möglichster Treue künstlerisch nachzubilden, sondern der Gegenstand soll so weit erkennbar gemacht werden, dass er etwas aussage, etwas bedeute oder auch nur vergleichsweise andeute. Jeden- falls treten die künstlerischen Anforderungen so weit zurück, dass sie nicht in erster Linie maassgebend erscheinen. Selbst in fortge- schrittenen Zeiten folgt das Wappenschild zwar zum Theil der allgemeinen Entwicklung der Kunst und ihren erhöhten Ansprüchen, doch hat daneben der im engen Sinne heraldische Styl noch bis heute einen hohen Grad von Unabhängigkeit bewahrt.

So tritt uns allerdings in den Inselsteinen eine bestimmte Aus-

39. Dolchklinge aus Mykenae.

Die „mykenische" Culturstufe.

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drucksweise entgegen; innerhalb derselben aber zeigen sich von einer lebendigen Entwickelung nur verhältnismässig geringe Spuren, und was noch wichtiger ist, es fehlt uns bis jetzt wenigstens die Brücke, um die ganze Gruppe der Inselsteine mit der späteren Glyptik, ja mit dem Fortschritt der eigentlich hellenischen Kunst in unmittelbaren Zusammenhang zu bringen. Nehmen wir dazu, dass uns diese Steine meist vereinzelt, ohne Fundnotiz und von der Verbindung mit andern Gegenständen losgelöst überliefert w^erden, so werden wir zugestehen müssen, dass sie sich für die geschichtliche Entwickelung der griechi- schen Kunst nach ihrer formalen Seite zunächst kaum verwerthen lassen.

Andere Gesichtspunkte machen sich für die Beurtheilung des Inhaltes ihrer Bilderkreise geltend. Die älteste schriftliche Urkunde über das Griechenthum ist für uns das homerische Epos, aber keines- wegs für die ältesten Zeiten desselben, sondern, wenn auch unter

40. 43. Sogenannte Inselsteine,

vielfachen Zurückweisungen auf Früheres, doch zunächst und zumeist für das Zeitalter des Dichters selbst. Das ist allerdings allgemein an- erkannt; allein es ist ein Verdienst Milchhöfers, diesen Gegensatz be- stimmter hervorgehoben und in seiner principiellen Bedeutung schärfer betont zu haben. Wenn Homer den Griechen ihren Olymp geschaffen, so steht er damit nicht am Anfange, sondern auf der Höhe einer Entwickelung, der eine lange Vorgeschichte vorangegangen sein muss. »Der Anfang religiöser Vorstellungen, die Personification der zahlreich in der Natur vorhandenen Erscheinungen und Kräfte enthält ur- sprünglich ebensowenig einheitliche als überhaupt reine Götterbegrifife. Weder Monotheismus noch Polytheismus oder Pantheismus bilden die erste Stufe« (vS. 114). Voran geht, was Milchhöfer mit einem passenden Ausdruck als Polydämonismus zu bezeichnen vorschlägt. Dieses Dämonenthum ist es, gegen welches Homer durch seine Götter- schöpfungen ankämpft und welches er durch dieselben im wesent-

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

liehen überwindet. Aber wie diese »tiefere Schicht«, dieser »niedere Glaube, der Dämonismus oder Aberglaube zum unverwüstlichsten, unveräusserlichsten Besitzstande eines Volksindividuums gehört, der an Unwandelbarkeit, Zähigkeit selbst die angestammte Sprache nicht überbietet« . . ., so dass er später »auch unter neuen Formen immer wieder hervorbricht« (S. 88), so ragen auch die Spuren des- selben »in die Dichtung hinein wie Reste einer überwundenen Epoche; nur andeutungsweise und mit unwillkürlicher oder bewusster Zurück- haltung geht der Sänger an ihnen vorüber« (S. 151). Nach dieser Vorzeit weisen uns die Inselsteine zurück; und so wenig bis jetzt über die Deutung ihrer Bilder im Einzelnen ein Einverständnis erzielt worden ist, so bleibt es doch eine Thatsache von Wichtigkeit, dass wir durch dieselben eine wenn auch sehr fragmentarische Anschauung von einem Culturzustande gewinnen, der zu unseren Vorstellungen von der Cultur der homerischen Zeit in einen bestimmten Gegensatz tritt.

Die mykenischen Vasen. Die bisher betrachteten Arbeiten: Goldschmuck, kostbare Waffen, geschnittene Steine dienen weniger dem Bedürfnis, als dem Luxus, der nicht selten das Fremde vor dem Einheimischen bevorzugt. Für die Beurtheilung der allgemeinen Cultur- zustände erweisen sich daher oft die Gegenstände des mehr massen- haften alltäglichen Gebrauches als von grösserer Wichtigkeit. Unter diesen nimmt eine hervorragende Stelle das Töpfergeschirr ein, das aus einem geringwerthigen, aber dem zerstörenden Einflüsse der Zeit wenig unterworfenen Material gearbeitet, sich in grösseren Massen erhalten hat und auch in zertrümmertem Zustande noch seinen wissen- schaftlichen Werth bewahrt. Hier ist es wiederum das Verdienst Schliemanns, durch seine Ausgrabungen in Mykenae namentlich aus den sogenannten Königsgräbern und aus den älteren Fundschichten ein reiches Material ans Licht gefördert zu haben. Die hierdurch ge- wonnene Anschauung lenkte sodann die Aufmerksamkeit auf eine Reihe gleichartiger Funde, die sich über das schon oben bezeichnete Gebiet von Cypern und Rhodos, über die Inseln des ägäischen Meeres bis nach Kreta und über die Ostküste des griechischen Festlandes bis nach Böotien erstreckt (Schliemann, Mykenae 1878; Furtwaengler u. Löschcke, Mykenische Thongefässe 1879, und Mykenische Vasen 1886). Mag nun auch Mykenae bis jetzt die reichste Auswahl von Mustern der ganzen Gattung darbieten, so werden wir uns doch vor der Schlussfolgerung hüten müssen, dass dieser Ort den Ausgangs- und

Die „mykenische" Culturstufe : Die Vasen.

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Mittelpunkt der ganzen Fabricationsweise gebildet habe, von dem aus die fertige Waare über den ganzen oben bezeichneten Umkreis ver- breitet worden sei. Auch bei verhältnismässig regem Handelsverkehr werden wir in so alter, sagen wir vorläufig ganz allgemein: vorhomeri- scher Zeit nicht annehmen dürfen, dass ein so weites Gebiet von einem einzigen, nicht einmal im Mittelpunkte gelegenen Orte aus mit so geringwerthiger Waare versorgt worden sei, deren Herstellung bei ein- facher Übertragung der Handwerksüberlieferung von einem Orte zum andern keiner Schwierigkeit unterworfen sein konnte. Der Augenschein kann dieser Auffassung nur zur Bestätigung dienen : versuchen wir nur einmal, den Eindruck der Funde von lalysos (F. u. L. 1886, T. I Ii) gegenüber denen von Mykenae (T. 23 ff.) zu einem Gesamt- bilde zusammenzufassen, so tritt uns in den ersteren eine gewisse kahlere Nüchternheit, in den letzteren eine etwas laxere oder üppigere Überfülle der Ornamentik entgegen, die eine völlige Gleichheit des Ursprunges ausschliessen. Es lassen sich locale Verschiedenheiten nicht verkennen, wie sie sich aus der Verschiedenheit der Handwerks- übung in den einzelnen Werkstätten ohne Schwierigkeit erklären, während allerdings der Grundcharakter auf dem ganzen Gebiete dieser Funde ein einheitlicher bleibt.

Bei der Bearbeitung des bildsamen Thones gelingt es mit Hilfe der Drehscheibe, Gefässe von schwererer oder leichterer Form und von nicht ungefälligem Ausseren herzustellen, an welche Handhaben und Henkel vielfach mit praktischem Geschick angefügt sind, doch noch nicht so, dass sie mit dem Körper zu einer einheitlichen Kunst- form zusammengewachsen erscheinen. Eine allgemeine Gliederung der Flächen wird durch reifenartige Linien gegeben. Die zwischen ihnen bleibenden Felder werden mit Ornamenten bedeckt, nicht ordnungslos, sondern schon vielfach macht sich, wenn auch noch innerhalb enger Grenzen, ein Sinn für Symmetrie geltend, auf welche ja die Natur selbst in vielen ihrer Bildungen hinweist (z. B. 2, 10; 5, 28 B). Aber auch hier handelt es sich wie bei den Henkeln mehr um eine geschickte An- ordnung, als um eine Entwicklung und Gliederung aus der Natur und den Bedingungen des gegebenen Raumes. Im Ganzen überwiegt in der Ausschmückung noch die Neigung, die Flächen nach dem Princip der textilen Kunst mit sich wiederholenden Mustern zu über- decken oder zu überziehen.

Unter den Elementen der aufgemalten Decoration ist die gerade Linie, insofern sie den Körper der Gefässe reifenartig umzieht, durch

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

die Technik der Drehscheibe wie selbstverständUch gegeben. Ausser- dem dient sie fast nur als eine Art Schraffierung zur Ausfüllung. Schon eigenthümlicher ist die Verwendung der Bogenlinie, aber nicht

f.

44. 46. Gefässe aus Mykenae.

in Kreisform, sondern in Kreisabschnitten und als Spirale (Abb. 45). Der besondere Charakter aber beruht auf der Darstellung von Ge- bilden aus der Pflanzen- und der Thierwelt. Es finden sich Blätter und Blüthen (Abb. 47), vereinzelt oder an Stengeln verbunden, Vögel

(Abb. 4 4), von andern Thieren aber besonders Geschöpfe des Meeres, Fische, Polypen und Muscheln (Abb. 46), nur in jüngeren Exemplaren Stiere (Abb. 49) und Pferde, und schliesslich ausnahms- weise auch die menschliche Gestalt (Abb. 48). Den Aus- gangspunkt der Darstellung bietet überall die einfache Nachbildung der äusseren Erscheinung der Dinge, wie sie sich dem Auge dar- stellt. Die öftere Wiederholung aber erweckt zwar das Streben nach einer festen typischen Ausdrucksweise, doch führt dasselbe in Er- mangelung eines bestimmt ausgesprochenen Princips mehr zu einer

enscherbe aus Mykenae.

Die „mykenische*' Culturstufe : Die Vasen.

schablonenhaften und manierierten Verknöcherung, als zu einem aus- geprägten künstlerischen Styl. Auch in den menschlichen Figuren ist es nicht der Organismus der Gestalt, auf welchen der Nachdruck

Kriegervase aus Mykenae.

gelegt ist, sondern der Maler giebt (T. 42 u. 43) ein Bild der Erscheinung eines menschlichen Wesens mit Armen, Beinen, Kopf mit Mund, Augen, Nase, angethan mit Gewand, Schuhen, Strümpfen und mit kriegerischen Waffen, stehend oder schreitend, ohne Verkrüppelung und Missgestaltung, aber in mehr weicher und laxer, als fester und scharfer Umschreibung der Formen.

Betrachten wir jetzt mit gleichem Auge die Stierfragmente aufTaf. 41 (Abb. 49), so gewinnen wir dadurch zugleich einen Maass- stab für die Beurtheilung der hoch- alterthümlichen Malerei auf einer Mauer des Palastes von Tiryns {T. 13)^ eines wild vorstürmenden Stieres und einer schwer ver- ständlichen, über dem Rücken desselben voltigierenden (?) männ- lichen Figur (Abb. 50). Wir werden überrascht durch die Lebendigkeit

der Conception, und sicher war darin der Wandmaler dem Vasenmaler überlegen. Und doch steht er in der sonstigen künstlerischen Ent- wicklung kaum höher. Er blendet uns. Aber ist denn selbst nur

49. Vasenscherbe aus Mykenae.

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

das Grundmotiv des Rennens charakteristisch aufgefasst? Ist die Haltung des Thieres in seinem Vordertheil nicht fast mehr die eines Rosses als eines Stieres? Gewisse Eigenthümlichkeiten im Bau des Körpers sind trotz kindlichen Ungeschickes der Ausführung vom Vasenmaler fast richtiger aufgefasst als vom Wandmaler. Bei beiden aber fehlt die Zeichnung der Formen innerhalb des silhouettenartigen Umrisses des Körpers, und es ist fast mehr Nachdruck gelegt auf die Flecken des bunten Felles, als auf die Abgliederung der Schenkel und die Zeichnung der Schnauze und der Augen. Durch diese Be-

50. Wandgemälde aus Tiryns.

merkungen, welche nur vor Überschätzung warnen sollen, hört das gemalte Bild auf, eine Anomalie in der Kunst seiner Zeit zu bilden, sondern fügt sich in dieselbe Entwicklung ein, die wir in der „mykenischen" Vasenmalerei kennen gelernt haben. Wir können uns desselben freuen, wie des Versuches eines mit lebendiger Auffassung begabten Knaben, an welchen wir noch nicht den Anspruch stellen, dass er bereits etwas gelernt habe.

Die Goldbecher von Vafio (Abb. 5 1 u. 52). Der Eindruck der Überraschung, den schon dieses Stierbild bei seiner Auffindung hervorrief, musste sich noch bedeutend steigern bei einer Entdeckung, die erst

Die „mykenische" Culturstufe: Goldbecher von Vafio.

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längere Zeit nachher und nachdem die obigen Bemerkungen bereits niedergeschrieben waren, auf spartanischem Boden gemacht wurde. In einem Kuppelgrabe bei Vafio in der Nähe von Amyklae fanden sich zwei einhenkelige goldene Trinkbecher, deren Aussenseiten reich mit getriebenen Reliefs geschmückt sind, die uns bestimmt auf das Wand- gemälde zurückweisen. Denn es handelt sich in denselben um das Einfangen und die Bändigung gewaltiger vStiere, die wir uns nicht in einem geschlossenen Gehöft, sondern auf freier waldiger Weide ge- halten zu denken haben {'Ecprjfi. ao/. 1889, 9). In der Mitte des ersten Bechers ist ein Stier in ein aus dicken Stricken geknüpftes Netz sich überschlagend gestürzt; eilig entflieht nach rechts ein anderer; ein dritter, der nach links stürmt, hat einen Mann zwischen seine Hörner genommen und wirft ihn kopfüber zur Erde, während ein zweiter Mann, der sich zuerst über seinem Rücken, wie in dem Gemälde, be- funden haben muss, rückwärts zur Erde geschleudert wird. Auf dem zweiten Becher wird ein Stier von einem Mann am Hinterfusse mit einem Stricke gefesselt ; hinter ihm stehen zwei andere Stiere ruhig neben- einander, ein dritter schickt sich zum Grasen an. Ausser ausführlichen Terrain an gaben bilden einmal zwei Palmen und einige Sträucher, das andere Mal zwei pinienartige Bäume eine landschaftliche Scenerie, während an den oberen Theilen die Lücken der Composition wie durch herabhängende Felspartien gefüllt sind. Die Ausführung ist keine flüchtige und oberflächliche, sondern geht meist sehr ins Einzelne, so bei dem Terrain und den Bäumen, während an den menschlichen Gestalten die starke Betonung der Musculatur zu einer schlanken Magerkeit der Behandlung führt. Wahrhaft betroffen aber fühlen wir uns durch die Lebendigkeit und Energie der Conception und nicht weniger durch die Abwesenheit alles dessen, was wir sonst als das Eigenthümliche archaischen Kunstcharakters zu betrachten ge- wohnt sind.

So ist es allerdings schwierig, sich in dem ersten Eindrucke dieser Arbeiten zurechtzufinden, und es ist daher noch mehr als sonst nöthig, sich die volle Unbefangenheit zu wahren, um zu einer richtigen Beurtheilung und Würdigung dieser Dinge an sich und im Zusammen- hange mit den sie umgebenden Erscheinungen zu gelangen.

Das Grab, in dem die Becher gefunden sind, gehört nach seiner Bauweise den Kuppelgräbern an, welche derjenigen Culturperiode eigen sind, die wir uns jetzt als die »mykenische« im weiteren Sinne zu bezeichnen gewöhnt haben. Der gleichen Periode entsprechen

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

durchaus die in dem Grabe gemachten Funde an Geräthen und Waffen, wie auch die Reihen von »Inselsteinen«, so dass es schon dadurch unmöghch wird, die Becher aus dem zeitHchen Zusammenhange mit

51. Becher von Vafio.

ihnen loszureissen und einer wesentHch jüngeren Zeit zuzuv/eisen. Sollen wir sie nun etwa für fremde Arbeiten eines in der Cultur vor- geschritteneren Volkes halten ? Aber nichts erinnert uns hier an ägyptische, nichts an assyrische Kunst, nichts auch an kyprische Arbeiten gemischten Styls, während umgekehrt uns nichts entgegen- tritt, was mit griechischem Wesen im allgemeinsten Sinne irgendwie im Widerspruch stände. Fassen wir aber jetzt das Einzelne schärfer ins Auge, so werden wir zwischen Auffassung und Ausführung be- stimmt zu scheiden haben. Wir bewundern die Lebendigkeit der Auffassung. Müssen wir aber nicht z. B. bei dem fliehenden Stiere des ersten Gefässes die Frage wiederholen, die wir bei dem Stiere des Wandbildes aufwarfen : ist selbst nur das Grundmotiv des Rennens charakteristisch aufgefasst ? ist die Haltung des Thieres in seinem Vorder- theil nicht fast mehr die eines Rosses als eines Stieres ? Und bei wei- terem Nachdenken werden wir nicht umhin können, uns der mykenischen Dolchklingen (siehe oben Seite 38) oder auch der Goldplatten (Schlie- mann Nr. 471) zu erinnern: da laufen Löwen, Rehe oder Gazellen, katzenartige Thiere, Pferde gerade so wie der Stier mit gerade vor- gestreckten Vorder- und nach rückwärts geworfenen Hinterbeinen, nicht so, wie es für jedes dieser Thiere in der Wirklichkeit charakte- ristisch ist, sondern der Künstler folgt einer allgemeinen Vorstellung, die er sich von dem Begriffe schnellsten Laufes überhaupt gebildet hat, und die es ihm hier, wo es sich um das einheitliche Grundmotiv

Die „mykenische" Culturstufe: Goldbecher von Vafio.

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des Gestrecktseins handelt, auch gehngt, bei dem Beschauer wieder zu erwecken. Ungewöhnhcher und nicht so einfach ist das Motiv des in das Netz gestürzten Stiers ; auch hier lassen wir uns im Hinblick auf die Zwangslage des Thieres für einen Augenblick täuschen, jedoch nur so lange, bis wir versuchen, uns das Verhältnis des Vorder- zum Hintertheil des Körpers einigermaassen klar zu legen, um sofort die Unmöglichkeit der Verdrehung zu erkennen. Gewaltig ist im Gesammt- motiv das Anstürmen des dritten Stieres, und ebenso ist die Darstellung der beiden in der Luft schwebenden Gestalten aus einer lebendigen Vorstellung des Kopfüberstürzens hervorgewachsen; durch welche be- sonderen Umstände sie jedoch in diese Lage versetzt sind, in welcher Weise der Stier die eine zwischen die Hörner genommen, die andere von seinem Rücken abgeschüttelt hat, darüber vermögen wir uns bei genauerem Zusehen keine Rechenschäft zu geben. Genug, die gesammte Auffassung erinnert vielfach an Darstellungen der Inselsteine, wenn auch bei der besonderen Natur derselben das Unvermittelte, ja theilweise Verdrehte in der Erfindung der einzelnen, wie in der Zusammen- ordnung der verschiedenen Gestalten eine wesentliche Steigerung nach der Seite des Phantastischen erfahren hat. Grössere Ruhe herrscht in den Bildern des zweiten Bechers : wenn das eine Thier den Kopf neigt, wie um zu grasen, wenn das mittlere Paar nebeneinander steht, wie in ruhiger Unterhaltung begriffen, und der Stier vor ihnen der Lage, in die er durch die Fesselung versetzt ist, durch lautes Brüllen

52. Becher von Vafio.

Ausdruck giebt, so vereinigt sich das Alles im Gegensatz zu der Erregung der ersten Reihe zu einer Art von Stimmungsbild, bei dem weniger eine lebhaft erregte Phantasie, als ruhige Beobachtung des

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Erstes Capiiel. Vorhomerische Kunst.

Einzelnen sich geltend macht. Und in der That lenkt sich hier unsere Aufmerksamkeit vor Allem auf das Maass der Durchführung. Um bei den Bäumen anzufangen, so überrascht uns das Bestreben, Stamm, Äste und Laub in fast landschaftlicher Erscheinung wiederzugeben. Bei den Thieren werden an den Beinen, am Schweife, am Halse, an den Köpfen die an der Oberfläche hervortretenden Eormen, besonders auch die Falten der Haut, die Besonderheiten des Felles betont. An der menschlichen Gestalt wird der Nachdruck auf die Musculatur gelegt. Hier aber, wo in der Stellung und Haltung eine bestimmte Handlung ausgedrückt w^erden soll, treten auch die Grenzen bestimmt hervor, innerhalb welcher sich die Beobachtungen des Künstlers be- wegen. Wir verstehen, wie der Mann das Seil fasst, um das Bein des Stiers in die Höhe zu ziehen; aber noch ist es dem Künstler nicht gelungen, die nothwendige Wirkung der Fesselung, den Ausdruck des durch dieselbe hervorgerufenen Widerstandes weder in dem Thiere noch in seinem Bändiger formal zur Darstellung zu bringen. Auch darüber dürfen wir uns nicht täuschen, dass überhaupt trotz des Reich- thums einzelner Beobachtungen das innere Verständnis der Formen in ihren Verhältnissen und ihrem Zusammenhange, in der Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze noch keineswegs erreicht ist. Auch die mykenische Vasenmalerei ging aus von einfacher Nach- bildung der äusseren Erscheinung der Dinge. An den einzigen bis jetzt bekannten Darstellungen der Menschengestalt, den aufmarschie- renden Kriegern (s. oben S. 44), beruhte die Darstellung auf Beobachtungen mehr sachlicher als künstlerischer Art. Es handelte sich mehr um die Wiedergabe der einzelnen Theile des Körpers, um die Einzelnheiten in Kleidung und Bewaffnung, als um die künstlerische Durchbildung der Gestalten. Damit stimmen die Goldbecher in der Grundauffassung überein; und wenn sie uns auf einer höheren Stufe der Vortrefflich- keit entgegentreten, so wird sich dieser Unterschied recht wohl auf die besonderen Bedingungen ihrer Herstellung zurückführen lassen. Die mykenischen Vasenmalereien sind Producte einer reinen Hand- werksthätigkeit. Ähnlich wie das Stiergemälde auf die Wand, sind sie mit weichem Pinsel von flüchtiger, wenig gebildeter Hand auf den Thongrund aufgetragen. Sie bilden dadurch den vollen Gegensatz zu der Metallarbeit der Dolchklingen, die, in einem harten Material aus- geführt, ein sorgsames und langwieriges technisches Verfahren er- heischten und als Luxuswaffen für ihre Anfertigung geschicktere und gewähltere Arbeitskräfte in Anspruch nahmen. Darin sind die Gold-

Die „mykenische" Culturstufe : Goldbecher von Vafio. ^ I

oecher ihnen verwandter, als den Vasenmalereien. Auch sie sind in Metall, allerdings in dem weicheren dehnbaren Golde ausgeführt, in dem die Technik des Treibens auf eine mehr rundliche und weiche Formengebung führte, welche sogar gewisse malerische Elemente be- günstigte, so dass zu schärferer Bezeichnung manchen Details das ein- fachere Verfahren des Treibens eine Ergänzung durch eine Art von Gravierung finden musste. Dass wir schliesslich in den beiden Reliefs nicht gewöhnliche Handwerksarbeiten, sondern hervorragende Lei- stungen eines aussergewöhnlich begabten und in seinem Kunstzweig fertigen Meisters vor Augen haben, wird keines besonderen Beweises bedürfen.

Und doch wird unser Empfinden noch immer Anstand nehmen, die beiden Becher mit den übrigen „mykenischen" Funden nach Ort and Zeit ihrer Entstehung auf ein und dieselbe Linie zu stellen. Um darüber zu einer bestimmten Uberzeugung zu gelangen, werden wir uns die Elemente klar zu machen haben, die bei der Schaffung eines Kunst- w^erkes in vollem Sinn des Wortes mitzuwirken berufen sind. Einmal bedarf es einer regen Einbildungskraft, die sich von den Dingen in der Gesammtheit ihrer Erscheinung eine lebendige Vorstellung zu bilden vermag; weiter einer scharfen Beobachtungsgabe, welche das Einzelne in seinen Formen und seiner Charakteristik zu erfassen versteht. Beide Eigenschaften treten an den Goldbechern als die für ihren künstlerischen Charakter vorzugsweise bestimmenden hervor. Es ist aber für das höhere Kunstwerk noch ein drittes Element erforderlich, welches zwischen den beiden ersten als den Endpunkten gewissermaassen die Vermittlung zu übernehmen und dieselben zu einer höheren Einheit zu verschmelzen hat: das ist die plan- oder schulmässige Durchbildung des Gedankens und der Form und ihre gegenseitige Durchdringung nach klar verstandenen künstlerischen stylistischen Principien. Dieses Element fehlt den Bechern, wie der mykenischen Kunststufe über- haupt. Wir haben es vielmehr mit einer Übung der Kunst, einem ausgedehnten Betriebe künstlerischer Arbeit zu thun, wie er sich auf einer frühen Stufe der Cultur aus dem Volksgeiste entwickelt, aber auch bei fortgeschrittener Civilisation abseits derselben als ein boden- wüchsiger, als eine Bauern- oder Hausindustrie sich erhalten und sogar neben einer schulmässigen Kunst noch lange fortbestehen kann. Bei- spielsweise, um von den Industrieen halbcivilisierter Völker, wie denen der Balkanländer oder des Orients, abzusehen, mag hier nur an die Holzschnitzereien in den Alpenländern erinnert werden, die durch

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

die Vollendung in ihrer besonderen Art andere durch dieselbe nicht nothwendig bedingte Anforderungen uns oft sogar ganz vergessen lassen. Ebenso nahe liegt der Vergleich mit einem anderen Gebiete geistiger Thätigkeit, dem Gebiete der Volkssage und -Dichtung in ihrem Verhältniss zur Kunstpoesie. Wären uns vorhomerische Lieder oder Gesänge erhalten, so würden sie uns gewiss vielfach durch Lebendig- keit der Phantasie, wie durch frische Auffassung des wirklichen Lebens überraschen, und doch bedurfte es des in der Gestalt des Homer personificierten Geistes, um aus der Volksdichtung das Epos in seiner künstlerischen Vollendung erstehen zu lassen. Unter solchen Ge- sichtspunkten treten die beiden Goldbecher nicht aus dem Kreise der mykenischen Kunst heraus, wenn sie auch an die letzte Grenze derselben herabrücken. Das, worin sie über dieselbe hinauszugehen scheinen, beruht auf der persönlichen Befähigung ihres Urhebers, in welchem die Eigenschaften der Umgebung, in der er lebt, zur höchsten Leistungsfähigkeit gedeihen, vielleicht gerade darum, weil er im Princip noch auf dem gleichen Boden stehen bleibt und durch neue Anforderungen nicht beunruhigt wird. Denn wo in einer bestimmt begrenzten Richtung so Vollendetes geleistet wird, da wird es dem Einzelnen schwer, wenn nicht unmöglich, mit eigenem Willen aus diesen Kreisen herauszutreten. Ein solcher Wechsel setzt ganz neue Anregungen voraus, die weniger aus den bisherigen Anschauungen herauswachsen, als dass sie von aussen her durch den Einfluss mannig- fach veränderter Verhältnisse sich vorbereiten und zur Geltung gelangen. Dass wir in allen bisher von uns betrachteten künstlerischen Arbeiten keinen Darstellungen poetisch-mythologischen Inhalts begegnet sind, muss hier zum Schlüsse nochmals ausdrücklich betont werden.

Die hier dargelegten Anschauungen mögen zunächst noch einiger- maassen gewagt erscheinen ; doch finden sie eine erwünschte Bestätigung in thatsächlichen Verhältnissen, die uns entgegentreten, wenn wir nach dieser längeren Abschweifung wieder zur Betrachtung der Vasen- malerei zurückkehren.

Die Vasen des geometrischen und des Dipylon-Styls.

Schon vor den mykenischen Ausgrabungen hat Conze aus der Masse späterer Arbeiten eine bestimmte Gruppe ausgesondert, die sich durch den Charakter hoher Alterthümlichkeit auszeichnet, wenn sie auch darin jetzt hinter die mykenische Gattung zurücktritt (Zur Ge- schichte der Anfänge griechischer Kunst, in den Sitzungsber. d. Wiener

Geometrischer und Dipylon-Styl.

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Akad. LXIV. S. 505). Dass sich im Technischen, in der Behandlung des Thons, der Farbe, des Firnisses bereits eine gewisse Reinigung oder Verfeinerung bemerkbar macht, mag nur kurz angedeutet werden. An den Formen der Gefässe ist der Umriss meist etwas weniger rundhch und bauchig, vielmehr schon etwas gestreckt und nach oben stehend. Doch zeigt sich z. B. in dem Ansätze der Handhaben und Henkel noch kein principieller Fortschritt. Von entscheidender Wichtig- keit aber ist das System und die Ordnung der Ornamente, welche besonders am oberen Theile der Gefässe, oft nur an der Vorderseite, in horizontalen Reihen so vertheilt sind, dass sich häufig innerhalb der- selben durch verticale Linien eine Gliederung in Felder ergiebt (Abb. 53). Im Einzelnen sind sie vorwiegend linearer Natur; wir finden parallele, schachbrettartig und rautenförmig gekreuzte, strahlenförmig und im Zickzack verbundene Linien, ferner das Kreuz, das Hakenkreuz und wenigstens in seinen Elementen den Mäander. Unter den weniger häufigen nicht geraden Linien tritt besonders der Kreis mit Betonung seines Mittelpunktes hervor, während seine Fläche mehrfach durch ein Kreuz oder durch concentrische Kreise gegliedert ist. Eigenthümlich sind die neben einander gestellten, durch schräge Tangenten ver- bundenen Kreise, welche in diesem System die Stelle bandartig ge- reihter Spiralen vertreten. Die Thierbildungen beschränken sich auf Pferde, welche meist an der Krippe angebunden stehen, auch Böcke, Hirsche, und unter den Vögeln fast nur auf Gänse. Dagegen fehlen wilde Thiere wie Löwe und Panther, und bis auf vereinzelte Blätter und Blüthen auch die Ornamente aus der Pflanzenwelt.

So einfach diese Elemente scheinen, so sind sie doch schwerlich zuerst für die Gefässmalerei erfunden worden, sondern sie weisen in ihren Ursprüngen auf die noch ältere Kunstübung nicht sowohl des Webens, als des Flechtens und Stickens zurück, in deren Technik sie ihre natürliche Begründung finden. In ihrer Übertragung sind sie aber bereits zu einem bestimmten System geordnet, das unabhängig von der Individualität eines Einzelnen nicht etwa nur in einem engen Kreise, sondern in weiteren Kreisen sich wirksam erweist. Denn Vasen der besagten Art finden sich nicht nur an den Küsten Klein- asiens, auf den Inseln, wie Rhodos und Melos, ferner im eigentlichen Griechenland, sondern nicht weniger an der Nordküste Afrikas in Tripolis, wie auch in Etrurien. Ja selbst bis auf die nordeuropäischen Völkerschaften hat sich dieses System ausgebreitet, wo es eigentlich erst durch den römischen Einfluss überwunden zu sein scheint. Im

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

Süden dagegen hatte es, wie wir sehen werden, bereits vor Homer seine ausschhesshche Herrschaft verloren, wenn es sich auch noch lange Zeit in handwerksmässiger Übung erhielt und gerade die auf uns ge- kommenen Proben zumeist diesem späteren Nachleben angehören mögen. Die Hauptsache für uns ist, dass es einmal die Herrschaft besass und dass sich in seiner Anwendung bereits ein künstlerisches Princip erkennen lässt, welches, natürlich in mannigfacher Weiterbildung, im Verlaufe der griechischen Kunst seine maassgebende Bedeutung nie verloren hat. Wie das einzelne lineare Ornament auf mathematischer Grundlage beruht (weshalb man auch das ganze System als das geometrische bezeichnet hat), so wird der gleiche Charakter auch

53. Elemente und Formen des geometrischen Vasenstyles.

in den verschiedenen Combinationen desselben festgehalten: das Orna- ment soll den zu schmückenden Raum nicht nur bedecken, sondern soll ihn theilen und gliedern, soll die Natur dieses Raumes künstlerisch charakterisieren. Wo der Körper der Gefässe die volle Rundung darbietet, da wird er durch rings herumlaufende Linien und Streifen gegliedert, in welchen die einzelnen Elemente, Kreise, Mäander, Strahlen u. a. zu einem fortlaufenden Bande verbunden sind; selbst die Thiere folgen sich in ununterbrochenen Reihen. Wo aber die Rundung durch die Henkel unterbrochen wird, da scheiden sich vier- seitige Felder aus, welche meist durch senkrechte Linien und Streifen wieder in mehrfache Unterabtheilungen zerfallen, in denen fast durch- gängig eine symmetrische Anordnung, so namentlich auch in der Gegenüberstellung einzelner Thiere, Platz greift.

Geometrischer und Dipylon-Styl.

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So einfach und fast selbstverständlich dieses mathematische Princip der Raumgliederung- erscheint, so tritt seine tiefere Bedeutung bereits in einer weiteren Entwicklung noch innerhalb derselben Categorie von Vasen deutlicher hervor. Aus athenischen Funden, namentlich aus Gräbern beim Dipylon, sind mehrere Exemplare bekannt geworden, auf denen zwischen den bisherigen decorativen Elementen auch Compositionen menschlicher Figuren eingefügt sind (Mon. dell' Inst. IX, t. 39 40; Annali 1872, t. i k nebst den gründlichen Er-

54. Vase des Dipylon-Styles.

örterungen von Hirschfeld p. 131 181; vgl. auch das Fragment bei Collignon, Hist. de la sculpt. gr. I, p. 76): auf Totencultus bezüghche Darstellungen, Tänze, Reihen von Wagen, Schiffskämpfe (Abb. 54). Die Ausführung lässt sich kaum kindlicher denken: ein Kreis mit Punkt und einer gleich einem Vogelschnabel hervortretenden Nase, zuweilen auch einem Haarschopf bezeichnet den Kopf; den Oberkörper bildet fast ein Dreieck, an welches die Arme wie dünne Stecken angesetzt sind, zuweilen mit Fingern nach Art von Blattbüscheln versehen. Mehr Körper ist den Beinen gegeben, an denen sich wenigstens Schenkel und Waden sondern. Um an dem allgemeinen Typus der nackten

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

Menschheit die Geschlechter zu scheiden, begnügt sich der Maler zur Bezeichnung der Weiblichkeit mit der Angabe der aus dem Dreieck des Oberkörpers heraustretenden Brustwarzen. Kleider sind von ge- würfeltem Stoffe ; die kurzen Röcke oder Rüstungen der Krieger und Wagenlenker dagegen in der Form des böotischen Schildes typisch stylisirt. Alle Stellungen sind schematisch eckig, nur in den Kampf- scenen etwas individueller behandelt. Nicht weiter vorgeschritten ist die Bildung der Pferde mit ihren dünnen Leibern und langen Hälsen. Und dennoch werden wir diese kindlichen Versuche kaum als roh bezeichnen dürfen; denn überall tritt uns ein unverkennbarer Sinn für Ordnung und Regel entgegen. Bei der einzelnen Gestalt richtet sich das Streben nicht zuerst darauf, die äussere Erscheinung in ihrer ganzen Breite wiederzugeben, sondern das mathematische Grundschema der Gestalt, wie es vor Allem auf dem Knochengerüst beruht, zu er- fassen und, man möchte sagen, nur nothdürftig mit weiteren körper- lichen Formen zu umkleiden. Die einzelne Figur aber bildet wiederum nur den Theil eines Ganzen, in welchem ihr nach dem gleichfalls mathe- matischen Gesetz räumlicher Entsprechung ihre Stelle angewiesen wird. Die ganze Composition endlich fügt sich durchaus regelmässig dem oben dargelegten System decorativer Raumgliederung ein. Die Ge- spanne ziehen sich in ununterbrochener Folge um den Körper der Vase herum, und eine ähnliche Anordnung darf bei den Schiffen vorausgesetzt werden. Die grosse Totenausstellung dagegen nimmt das Feld zwischen den Henkeln ein: in dem hohen Leichenwagen gewinnt sie einen klar hervortretenden Mittelpunkt; die obere (der Idee nach als die hintere aufzufassende) Reihe der Figuren aber dient nicht nur, die Mitte noch weiter aufzubauen, sondern auch die Gliederung der Composition in bestimmtere Beziehung zu der ursprünglichen, noch in dieselbe hineingreifenden geometrischen Feldertheilung zu setzen. Es ist also ein und dasselbe Princip, welches das ganze System der Decoration bis in die einzelne Figur durchdringt; und eben darin ist es begründet, dass der unbefangene Beschauer bereits eine gewisse Befriedigung empfindet, auch wenn er von der Ausführung des Einzelnen, ja von dem Inhalte der Darstellung noch völlig absieht.

Doch darf auch dieser nicht ausser Betracht gelassen werden. Er erscheint durchaus bedingt durch die Grabesbestimmung der Ge- fässe. Unzweifelhaft ist dies bei den Darstellungen der Totenklage um den Verstorbenen, der auf der Bahre ausgestellt ist oder auf dem Wagen zur Gruft geführt werden soll. Auf die dem Toten schuldigen

Geometrischer und Dipylon-Styl.

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Ehren lassen sich die Gespanne und die Tänze als Andeutung der Leichenspiele beziehen; und wenigstens möglich ist es, dass in den Schiffskämpfen eine Hinweisung auf die Thaten, das Leben und die Geschicke des Verstorbenen gegeben ist. Jedenfalls ist der Stoff der Wirklichkeit entlehnt, ohne Beimischung irgendwelcher Elemente der religiösen oder poetisch - mythologischen Sagen oder auch nur des phantastischen Polydämonismus der Inselsteine. Und doch ist die Auffassung und Behandlung dieses Stoffes keineswegs eine realistische. Schon in der Wahl der Gegenstände, sofern sie richtig gedeutet sind, verräth sich ein poetischer Sinn, der bedeutsame, allgemein gültige Momente hervorzuheben weiss. Aber auch in der Auffassung ver- bietet schon jenes mathematische Princip in der künstlerischen Com- position und Ausführung ein enges Anschliessen an die Wirklichkeit; und wie die einzelne Figur fast nur das allgemeine Schema der Ge- stalt zeigt, so begnügt sich auch die gesammte Darstellung, die Handlung in ihren allgemeinen unveränderlichen Zügen kenntlich zu machen und zu charakterisiren. Eben dadurch erklärt es sich, dass in Darstellungen der Totenklage die gleiche Grundauffassung bis in die Blüthezeit der griechischen Kunst gewahrt bleiben konnte und dass das Fortschreiten der Entwicklung sich nur in der Ausführung, nicht in der Idee zeigt. Genug: wir dürfen die Behauptung wagen, dass schon in diesen ersten Versuchen die ideale Richtung der helleni- schen Kunst sich in kräftigen Keimen geltend macht und dass eine der fundamentalen Aufgaben dieser Richtung, die gegenseitige Durch- dringung von Inhalt und Form, hier bereits in befriedigender Weise gelöst ist.

Wir haben die Vasen des geometrischen und Dipylonstyls zuerst für sich allein betrachtet. Es wird aber nicht einer Vergleichung im Einzelnen bedürfen, um uns zu überzeugen, dass sie in den Grund- principien und in den Elementen ihres Decorationssystems sich mit der mykenischen Gattung nach keiner Seite berühren, dass beide Arten vielmehr, eine jede für sich, neben einander bestehen. Das mathe- matische System schematischer Linien und Formen bildet den vollsten Gegensatz zu der blossen Nachahmung der Wirklichkeit nach dem Eindrucke ihrer äusseren Erscheinung.

Dieses Verhältniss wird recht augenfällig, wo sich die beiden Richtungen schliesslich begegnen und eine wechselseitige Beeinflussung beginnt, wie es gegen das Ende der mykenischen Periode in Mykenae selbst und in Tiryns thatsächlich der Fall ist. Aus letzterem Orte

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

sind uns mehrere Vasenfragmente mit Thier- und Menschengestalten bekannt geworden (SchUemann, T. 14 fF.), die bei flüchtiger Be- trachtung stark an die Dipylon- vasen erinnern und doch im innersten Grunde sich scharf von ihnen unterscheiden (Abb. 55). Der Dipylonstyl ist hier fast zur Cari- catur geworden; die mathema- tischen Linien und Formen ab- gerundet und verweichlicht ; nicht nur die breiten Flächen, sondern auch das Innere der Doppelum- risse der Köpfe und Linien ist ganz ohne Sinn mit Punkten und Linien ornamental ausgefüllt. In- dem wir an den verschiedenen Bruchstücken die Nachahmung von Stufe zu Stufe verfolgen können, muss der steigende Mangel an Verständnis der Vorbilder nur um so mehr verstimmen. So wirkte offenbar der Dipylonstyl zersetzend und auflösend auf einen an mykenische Auf- fassung gewöhnten Maler. Das Umgekehrte findet sich in Mykenae in einer Gruppe von Vasenscherben, die sich von den übrigen Massen , besonders denen der Königsgräber , schon durch ihre Fund-

56. Mj^kenische Vasenscherbe.

55. Vasenscherbe aus Tiryns.

Stätte im Zugange zu dem in der Nähe des Löwenthores gelegenen Kuppelgrabe scheidet (Schliem ann, T. 20, 21) (Abb. 56 und 57). In der Zeichnung dieser Bruchstücke treten die gerundeten und ge- schwungenen Linien und die Spiralen zurück, ebenso die Elemente

Geometrischer und Dipylon-Styl. Historischer Rückblick.

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aus der Pflanzenwelt und die Geschöpfe des Aleeres. Vielmehr überwiegt die Zickzacklinie, der Mäander und der Kreis, nur mit dem Unterschiede, dass an die Stelle der einfachen meist doppelte Linien mit schraffierter Füllung treten, welche dieser Ornamentik gegenüber der Magerkeit des geometrischen Styles eine gewisse Breite und Fülle verleihen. Hier hat also die gegenseitige Durch- dringung der beiden Stylgattungen begonnen, und zwar so, dass die Strenge und Einseitigkeit des

geometrischen Styls eine Milde- rung durch den Einfluss der weicheren mykenischen Kunst- übung erfährt. Die weitere Ent- wicklung wird sich erst später und an anderen Orten verfolgen lassen.

Zunächst ist es vielmehr an der Zeit, die Thatsachen, welche

wir aus der Betrachtung nicht 57. Mykenische vasenscherbe.

nur der Vasenmalerei, sondern

auch der übrigen Gruppen decorativer Arbeiten gewonnen haben , so weit als möglich zu einem Gesammtbilde zu vereinigen. Die festen Grundlagen bieten uns dabei die örtlichen Grundlagen von AEykenae, Tiryns und Orchomenos.

Historischer Rückblick.

Als Schliemann die ältesten Gräber in Mykenae entdeckte, musste die Lage derselben innerhalb des Löwenthores befremdlich erscheinen; und die dadurch hervorgerufenen Bedenken führten daher auf die Vermuthung, dass sich diese Gräber ursprünglich ausserhalb eines engeren Mauerringes der Akropolis befunden haben, und dass der Theil der Mauer, in welchen das Löwenthor hineinführt, einer Erweiterung der Burg und darum einer jüngeren Zeit als der ihrer ersten Gründung angehöre. Allerdings hat Steffen (Karten von Mykenai S. 50) dagegen den Einwand erhoben, dass die innerhalb des Löwenthores noch jetzt vorhandene Stützmauer nicht die alte Ringmauer gewesen sein könne. Allein die äussere Ringmauer folgt in unverkennbarer Weise der Rundung des von Steffen selbst als jünger anerkannten Plattenringes der Gräber. Fassen wir aber den Bau derselben als ein Herausrücken

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

auf, so begreift es sich leicht, wenn man dazu das Material der dadurch überflüssig werdenden inneren Befestigung verwendete und diese durch eine einfache Stützmauer ersetzte. Halten wir also an der Annahme einer Anlage der Gräber ausserhalb der ältesten Stadt fest, so gehören in den Culturkreis derselben die Malereien der ältesten „mykenischen" Vasen, die Reliefs der Grabstelen, der zum Putz bestimmte Gold- schmuck, die Metallarbeit der Schwertklingen, die Glyptik eines wesentlichen Theiles der Inselsteine. Es folgt die Erweiterung des Mauerringes mit dem Löwenthor, mit der wir die Erbauung der Kuppelgräber ausserhalb desselben in Beziehung setzen dürfen. Hier treten uns an dem Löwenrelief wie an dem Schmucke des einen Grab- portals vielfach neue Elemente entgegen, die auf ein wesentlich ab- weichendes Decorationssystem hindeuten. Die Mauern von Tiryns mögen im Alter denen von Mykenae sogar vorangehen; jünger erscheint aber nach manchen Anzeichen der Palast. Seine Decoration begegnet sich nach der einen Seite mit der der Grabkammerdecke von Orcho- menos, nach der andern weist sie auf die jüngere mykenische Zeit hin. Diesen jüngeren Anlagen von Mykenae wie von Tiryns aber ent- stammen sodann zwei Zweiggattungen der Vasenmalerei, welche bereits mehr oder weniger auf einen Einfluss des geometrischen oder Dipylonstyles hindeuten.

So tritt uns also eine gewisse Abfolge der verschiedenen Lager- ungen entgegen, ohne dass sich jedoch für eine derselben bisher eine feste Zeitbestimmung ergeben hätte. Um auch nur annähernd zu einer solchen zu gelangen, gehen wir davon aus, dass die älteste Culturgeschichte nicht auf Mykenae und seine Umgebung beschränkt war, sondern sich auf weitere Gebiete, namentlich über die Inseln bis nahe an die kleinasiatische Küste erstreckte. Fremde Einflüsse lassen sich nirgends verkennen, die in den Industrieartikeln mehr auf Aegypten, in den baulichen Anlagen mehr auf Kleinasien hinzuweisen scheinen; aber eine Umbildung, eine Verarbeitung der fremden Elemente beginnt bereits Platz zu greifen. So werden wir auf die sagenhafte Urge- schichte Griechenlands hingewiesen, die allerdings Mancherlei, aber freilich auch mancherlei untereinander Widersprechendes zu berichten weiss. Da hören wir von den Wanderungen eines Danaos aus Aegypten, eines Kadmos aus Phönikien, eines Pelops aus Lydien, von den Beziehungen eines Proetos zu Lykien. Wohl möchten wir da als Thatsache behaupten, was wir gern glauben, dass die erste Anlage der Burg von Mykenae von den Persiden, die Erweiterung und Ver-

Historischer Rückblick.

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schönerung von den Atriden herrühre (Adler bei Schliemann, Tiryns S. XLVI), wenn nur in den Sagen dieser Geschlechter irgend ein Element hervorträte, welches diese Namen zu einer bestimmten Stufe der Cultur in nähere Beziehung setzte. Wenn ferner die Untersuchung in dem Maasse, als sie sich in Einzelnes zu vertiefen strebt, in Gefahr geräth, immer mehr jeden sichern Boden zu verlieren, so werden wir uns überhaupt begnügen müssen, uns ein Bild der Verhältnisse nur in sehr allgemeinen Zügen zu entwerfen. Knüpfen wir jetzt an die Beobachtung an, dass in den ältesten decorativen Arbeiten die Ge- schöpfe des Meeres in so auffälliger Weise überwiegen, so dürfen wir uns dadurch an den Sagenkreis des Minos erinnern lassen, der in sich vereinigt, worauf es hier ankommt. Mit dem Namen des Minos ver- knüpft sich nicht nur die Vorstellung einer alten Meeresherrschaft, sondern diese Herrschaft erscheint auch als die erste grösste politische Schöpfung im Gebiete des Griechenthums ; Minos selbst ist Gesetz- geber und dadurch Vertreter einer bestimmten Stufe der Cultur. Die Grenzen seiner Herrschaft und seines Einflusses entsprechen im Ganzen dem Gebiete, das uns in verschiedenen Zweigen der Kunst- übung als ein einheitliches entgegentrat. Dieses Gebiet aber lag den Eirjflüssen älterer Civilisationen offen gegenüber, deren Grundlagen auf Aegypten und Mesopotamien beruhten, während ihre Verbreitung zunächst den Weg über Kleinasien einschlug. Dort hören wir in griechischen Sagen von Phrygiern, Lydiern, Lykiern erzählen, nament- lich auch von dem Treiben der Karer zur See. Hier finden bereits auch die Phönikier eine Stelle, nicht sowohl als Träger einer eigenen Cultur, sondern als Vermittler: sie sind ein Kaufmanns volk , bemüht den Waarenverkehr zwischen verschiedenen Völkern und gerade solchen einer höheren und einer niederen Cultur zu vermitteln. Welcher Antheil in diesen wechselvollen Bewegungen den einzelnen Stämmen zuzuerkennen sei, wird sich bei der Natur unserer Quellen schwerlich jemals mit einiger Sicherheit ermessen lassen. Was aber die Sage von Minos berichtet, das erscheint jetzt gegenüber dem Vordringen von verschiedenen Punkten des Ostens her als eine Gegenströmung, welche ihre natürliche Erklärung in dem Streben findet, dem Westen sein eigenes Recht, seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu wahren, zunächst auf dem Felde der Politik, aber nicht weniger auf allen übrigen Gebieten des socialen Lebens. Man musste danach trachten, durch eigene Arbeit zu erzeugen, was man bisher von aussen empfangen hatte, musste mit dem Auslande in Concurrenz treten.

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

Anfangs überwog die Nachahmung des Fremden, so dass es nicht überraschen kann, wenn es uns oft schwer wird, bei der Betrachtung der einzelnen Fundstücke fremde und einheimische Arbeit zu unter- scheiden. Doch bald dringen neue Elemente ein, durch welche sich eine Umwandlung zu vollziehen beginnt, welche wir nicht umhin können, als eine bereits griechische im allgemeinen Sinne zu bezeichnen. Freilich bewegt sich dieselbe noch innerhalb gewisser Vorstufen und Vorübungen. Die verschiedenen Gattungen der Kunstübung, wie Vasenmalerei, Goldschmuck, Glyptik stehen ohne nähere Berührung neben einander, und in jeder derselben werden einzelne Gesichtspunkte einseitig und nur bis zu einem beschränkten Ziele verfolgt: über dieses hinaus lässt sich eine Entwicklung, wie sie nur durch gegen- seitige Durchdringung verschiedener Stylprincipien auf eine höhere Stufe erhoben werden könnte, in keiner Weise erkennen; wir be- gegnen vielmehr auf den verschiedenen Gebieten geradezu einem Stillstand.

Ist es wohl Zufall, dass die gleichen Erscheinungen auf dem politisch-historischen Gebiete wiederkehren ? Nach Minos verschwindet auch seine Schöpfung, und Kreta tritt z. B. im troischen Kriege aus seiner hervorragenden Stellung in die Reihe anderer Staatswesen zurück. Grössere Katastrophen müssen sodann eingetreten sein, durch welche die führende Rolle an andere Stämme überging, die, anfangs vielleicht auf einer niedrigen Stufe stehend, doch das ganze Leben mit neuen Elementen befruchteten und dadurch eigentlich erst den Grund zu der im engen Sinne hellenisch-nationalen Geistesentwicklung legten.

Entschieden macht sich dieser Umschwung in der Kunst geltend. Hier tritt in den Vasen des geometrischen Styls, namentlich in den vorgeschritteneren Exemplaren der Dipylonvasen, ein neues Princip hervor : im Raum, in der Form, im Ornament wie in der organischen Thier- und Menschengestalt. Von dieser Grundlage aus gliedert sich der Raum, die einzelne Gestalt, die Verbindung der Gestalten zu einer Composition nicht nur im Raum, sondern auch in der Unterordnung unter einen geistigen Gedanken. Dieses Princip aber und das muss schon hier nachdrücklich betont werden verschwindet nicht mehr, sondern bewahrt, wenn auch zeitweilig zurückgedrängt, seine Kraft und lässt sich, im Wesen sich gleich bleibend, nur in immer mehr verfeinerter und gereinigter Anwendung bis zur höchsten Höhe der Kunst verfolgen: es ist recht eigentlich das Princip der helleni- schen Kunst.

Historischer Rückblick.

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Woher stammt es? Es soll hier nicht zu viel Werth darauf gelegt werden, dass das lineare Princip schon in den Ornamenten und den aus blossen Linien gebildeten primitiven Thier- und Menschen- gestalten der troischen Spinnwirtel auftritt. Wenn aber die älteste Geschichte Troias kaum weniger als nach Asien uns nach Thrakien hinüberweist, so dürfen wir uns wohl an dieses Land erinnern lassen, welches trotz aller Dunkelheit der Ueberlieferung in dem Verschiebungs- process alter Völkerstämme als eine Art Mittelpunkt der Bewegung eine ganz eigenartige Stellung eingenommen haben muss. Wir sprechen hier nicht von den Beziehungen zu noch nördlicheren Ländern. Wohl aber darf ein historischer Kern den Erzählungen nicht abgesprochen werden, die von den Völkerzügen aus dem Norden von Griechenland nach dem Süden in den Zeiten bald nach dem troischen Kriege handeln. Die Wanderungen der Dorier, bei denen wir den Nachdruck nicht ausschliesslich auf den Namen der Dorier zu legen haben, erscheinen als ein Wendepunkt in der Geschichte der Griechen, nicht blos in ihren politischen Verhältnissen, sondern in ihrem ganzen übrigen Leben und namentlich auch in der Kunst. Mit dem Vordringen dieser Völker- züge in den Peloponnes verschwindet die Kunstübung, die wir bisher nur örthch und zu eng als die »mykenische« bezeichnet haben, die aber wohl allgemein als eine der altansässigen pelasgisch-achäischen Bevölkerung gemeinsame betrachtet werden darf. Als höchste Leistung derselben lernten wir die Goldbecher von Vafio kennen, und innerhalb der künstlerischen Grundanschauungen, aus denen sie hervorwuchsen, möchte es schwer gewesen sein, sie zu überbieten. Was aber noch fehlte, um zu höherer Vollendung fortzuschreiten, das würde das den geometrischen Styl beherrschende Princip zu leisten im Stande ge- wesen sein. Um so mehr ist hier zu betonen, dass die Goldbecher vom Einflüsse dieses Princips durchaus unberührt geblieben sind. Wir erkennen deutlich, dass dasselbe in Mykenae nicht heimisch, vielmehr durchaus fremden Ursprungs war; und wenn es bei dem ein- tretenden politischen Wechsel nicht sofort zur Herrschaft gelangt, so dürfen wir den Grund dafür wohl darin suchen, dass es noch nöthig hatte, nicht nur sich in sich selbst zu festigen, sondern auch sich durch die Berührung mit fremden Anschauungen über die eigene Einseitig- keit zu erheben. Jedenfalls lehrt die Folge, dass gerade dieses Princip es ist, durch welches auch in der Kunst der Begriff des Hellenen- thums immer entschiedener in den Vordergrund tritt.

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Erstes Capitel. Vorhomerische Kunst.

Durch die dorischen Wanderungen ist eine ungefähre Zeit- bestimmung auch für die Wandlungen auf dem Gebiete der Kunst gegeben. Zu einem verwandten Ergebniss gelangen wir, wenn wir uns schliesslich der geistigen Jdeenkreise erinnern, die in der Kunst zur Darstellung gelangten. Die mykenische Kunst ging kaum über das hinaus, was die Wirklichkeit dem Auge darbot. In den Insel- steinen trat uns ein dämonplogisches Element entgegen. Auch in den Dipylonvasen fehlt noch ein mythologischer Inhalt. Die homerische Poesie hat noch nirgends begonnen, ihren Einfluss auszuüben. Alles, w^as wir bisher betrachtet, gehört also noch der vorhomerischen Zeit an.

Die

Zweites Capitel.

Kunst der liomerisclien Zeit.

Es bietet gewiss ein hohes kunstgeschichthches Interesse, die Zustände des menschlichen Lebens, wie sie in den homerischen Dich- tungen geschildert werden, nach ihren verschiedenen Richtungen bis ins Einzelne zu verfolgen; und eine Behandlung dieser Aufgabe, wie sie in dem Werke W. Helbigs: »Das homerische Epos aus den Denk- mälern erläutert« (2 Aufl. 1887) vorliegt, darf daher der Anerkennung in weitesten Kreisen sicher sein. Die Aufgabe der Kunstgeschichte ist eine beschränktere: sie hat die homerischen Schilderungen nur in so weit zu verwerthen, als in ihnen ein Fortschritt in der Entwicklung künstlerischer Ideen in die Erscheinung tritt (vgl. meine Abhandlung: Die Kunst bei Homer, in den Abhandl. d. Münch. Akad. XI. Bd. 1868).

Es ist jetzt allgemein anerkannt, dass die Dichtungen Homers nicht die Zustände der Zeit des troischen Krieges, um welchen sich die Handlung bewegt, sondern die seiner eigenen Zeit und Umgebung schildern. Was sie aber bieten, bedarf der Ergänzung und Belebung durch die Anschauung noch erhaltener Ueberreste aus alten Zeiten. Daraus ergiebt sich ein Doppelverhältniss eigenthümlicher Art. Die Zustände des homerischen Lebens wurzeln zu einem grossen Theile in der Vergangenheit ; und wenn wir uns bei der Betrachtung derselben schon mehrfach auf Homer berufen mussten, so treten jetzt seine Worte vielfach durch einen Rückblick auf diese Vergangenheit in eine helle Beleuchtung. Umgekehrt bietet uns aber das homerische Leben auch das Bild einer jüngeren Zeit, für das uns eine lebendige Anschauung nur Kunstproducte zu bieten vermögen, welche nicht schon hier einer eingehenden Prüfung unterworfen werden können. Wir werden daher versuchen müssen, uns ein Bild zunächst nur aus den Dichtungen selbst zu gestalten, und uns vorbehalten, dasselbe erst später aus den anderweitigen uns zu Gebote stehenden Quellen zu ergänzen und zu vervollständigen.

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Zweites Capitel. Homerische Kunst.

Der Mauern homerischer Städte ist schon bei den Erörterungen über die kyklopische Bauweise gedacht worden. Da diese letztere sich bis in die historische Zeit verfolgen lässt, so ist es wohl zu ge- wagt, aus ihrer geringen Berücksichtigung bei Homer zu folgern, dass sie damals überhaupt ausser Uebung gekommen sei. Allerdings herrschte sie keineswegs ausschliesslich, da ja ihrer Natur nach ihre Anwendung überhaupt durch locale Verhältnisse bedingt war. Ilios selbst gehörte nicht zu den kyklopisch befestigten Städten, und noch weniger konnten bei dem von Wall und Graben geschützten Lager der Griechen solide wSteinconstructionen in Betracht kommen. Ungewiss muss es bleiben, ob der Brunnen auf Ithaka (Od. XVII, 205) als ein den früher (s. o. S. 14) erwähnten verwandter Bau zu betrachten ist : jedenfalls bietet er mit seinem Hain und Nymphenaltar ein Vorbild für manche spätere Anlagen. Bei der Aufschüttung runder Grab- hügel wird der Steineinfassung an der Basis, die gerade an höchst alterthümlichen noch erhaltenen Grabmonumenten vorkommt, nicht ausdrücklich gedacht. Dagegen erscheint die Grabsäule (Stele) auf den Hügeln schon als fast typisch, und ihr gesellt sich auf dem Grabe des Elpenor (Od. XII, 14) noch das Ruder als besonderes Zeichen. Von Tempeln ist verhältnissmässig so selten die Rede, dass dieselben noch auf wenige Hauptcultusstätten , gewissermaassen die Stammsitze der Götter, beschränkt gewesen zu sein scheinen. Von baulichen Theilen derselben aber wird einzig die steinerne Schwelle des delphi- schen Tempels erwähnt.

Mannigfaltiger sind die Nachrichten über die Behausungen der Menschen, besonders die Wohnsitze der Herrscher; und deutlich lässt sich aus den verschiedenen Aeusserungen zunächst das Gesammtbild einer solchen Anlage erkennen. Es sondert sich ein vorderer, mit Zaun oder Mauer umschlossener Wirthschaftshof von einem zweiten inneren Hofe, der, mit einer Halle umgeben, an das Atrium der Römer erinnert. An diesen schliessen sich die Wohngemächer, und zwar die der Frauen von denen der Männer bestimmt geschieden. Den vor- nehmsten Raum bildet der durch eine Art Flur zugängliche grosse Männersaal, dessen weitgespannte Decke der Stütze bedurfte. Auch Gemächer eines oberen Stockwerkes werden genannt, sowie Keller- räume und ein wahrscheinlich als Vorrathshaus dienender kuppelartiger Bau in einem der Höfe. Der Versuch, die Wohnung des Odysseus noch heute an Ort und Stelle nachzuweisen, muss freilich auf Rechnung einer zu stark angeregten Phantasie gesetzt werden (vgl. Hercher im

Allgemeines.

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Hermes I, 263). Dagegen hat die Ueberzeugung, dass Homer in seinen Schilderungen ein der Wahrheit entsprechendes Bild eines Herrscher- hauses seiner Zeit biete, die glänzendste Bestätigung durch die Frei- legung der Burg von Tirynth erfahren, die wir dem unermüdlichen Eifer Schliemanns verdanken (Tirynth S. 217; Plan Nr. 125): die ganze Plananlage entspricht in allen wesentlichen Theilen so sehr den An- gaben Homers, dass wir uns mit Hülfe derselben sofort in ihr zurecht finden, während umgekehrt in den Ruinen uns das homerische Bild in voller Anschaulichkeit vor Augen tritt.

Ueber das Constructive des Aufbaues fehlt bei Homer fast jede Andeutung. Wir erfahren nur, dass die Decken und die sie stützenden Säulen aus hölzernem Balkenwerk bestanden, dass die Thürschwellen und Pfosten aus Stein, aus Holz, aber auch aus Metall gebildet waren. Reichlicher sind die Andeutungen über die innere Decoration, wenn auch die Schilderung hier ebenfalls mehr das Material, als die be- sondere Art der Verwendung ins Auge fasst. Wir hören von einer wohlgeschnitzten cypressenen Pfoste auf eschener Schwelle (Od. 17, 339), von einer cedernen, wohl mit Cedernholz getäfelten Kammer (II. 24, 192), Im Hause des Menelaos aber ruft Telemach (Od. 4, 72):

Schaue das Eiz ringsum, wie es schallt in der glänzenden Wohnung,

Auch das Gold und Elektron, das Elfenbein und das Silber.

Also glänzet wohl Zeus dem Olympier drinnen der Vorhof! *

Welch ein unendlicher Schatz! Mit Staunen erfüllt mich der Anblick!

Noch glänzender erscheint die Behausung des Alkinoos (Od. 7, 85):

Wänd' aus gediegenem Erz erstreckten sich hierhin und dorthin. Tief hinein von der Schwelle, gesimst mit der Bläue des Stahles. Eine goldene Pforte verschloss inwendig die Wohnung; Silbern waren die Pfosten, gepflanzt auf eherner Schwelle,

Silbern war auch oben der Kranz, und golden der Thürring

Sessel entlang an der Wand auch reihten sich hierhin und dorthin. Tief hinein von der Schwelle des Saals ; und Teppiche ringsum. Fein und künstlich gewirkt, bedeckten sie, Werke der Weiber.

Hieran schliessen sich die flüchtigen Erwähnungen von den ehernen Mauern des Aeolos (Od. 10, 3), vom ehernen Hause des Hephaestos, dem goldglänzenden des Poseidon, von dem ehernen und goldenen Fussboden des Zeus (II. i, 426; 4, 2; 13, 21; 18, 369). Wenn sodann (II. 5, 387) von Ares erzählt wird, dass er von den Aloiden in einem ehernen Fasse gefangen gehalten wird, so erinnern wir uns sofort an die Sage von Eurystheus, der sich vor Herakles in ein

5*

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Zweites Capitel. Homerische Kunst.

ehernes Fass flüchtet, oder an Danae, welche Akrisios in ein ehernes Gemach einsperrt. Wir gedenken auch des „ehernen Tempels", des dritten in der mythischen Reihe der Tempel zu Delphi, und endlich des ehernen Hauses der Athene Chalkioikos zu Sparta, welches Pausanias noch sah (X, 5, 11). Auch bei Hesiod finden wir, von den ehernen Häusern des ehernen Zeitalters abgesehen (Op. 150), silberne Säulen im Hause der Styx (Theog. 771).

In allen diesen Schilderungen war man früher nicht viel mehr als poetische Ausschmückung oder geradezu Erdichtung zu sehen geneigt. Aber wenn auch die häufige Verwendung von Gold und Silber anstatt weniger edler Metalle zum Theil auf Rechnung der dichterischen Phantasie gesetzt werden mag, so weist doch der ein- heitliche Grundcharakter aller dieser Schilderungen auf Thatsächliches hin. Solche positive Thatsachen aber haben Avir bereits früher in den Resten der Thesauren kennen gelernt. Die Behausungen der Todten waren eherne Gemächer, so gut wie die Wohnungen der Lebendigen; sie konnten in mythologischer Sprache zu ehernen Tonnen werden. Wie wir aber in dem Schmucke des Portals und der Säulen am Schatzhause des Atreus und der Steindecke von Orchomenos (s. o. S. 24) ein „in Stein metamorphosirtes Sphyrelaton" erkannten, so müssen wir die silbernen Pfosten und Säulen der Königshäuser für wirkliche Sphyrelata halten, und dürfen uns getriebenes Gold, Silber, Elektron, Stahl und Erz in reichem Wechsel zum Schmucke der Thüren, der Gesimse verwendet vorstellen. Eine wesentliche Er- Aveiterung unserer Anschauung auch nach dieser Seite gewähren wiederum die Ueberreste auf der Burg von Tirynth. Besondere Beachtung ver- dient hier der Alabasterfries mit eingelegten Glaspasten (s. o. S. 23), indem er uns ein lehrreiches Beispiel für die Ausführung der kostbaren Metalldecorationen in minderwerthigem Stoffe bietet, während man die ornamentalen Wandmalereien als eine weitere Metamorphose, als eine weitere Ueberführung der plastischen Formen in eine malerische Behandlung bezeichnen könnte.

Vergegenwärtigen wir uns recht lebendig diesen Glanz der Heroen- zeit, so wird sich hier ein schon mehr als einmal hervorgehobener Eindruck wiederholen, nemlich dass diese ganze materielle Pracht dem eigentlich hellenischen Wesen, wie es sich später entwickelt hat, durch- aus fremd ist. Dadurch aber lenkt sich unser Blick wiederum nach Asien als der Heimat dieser ganzen Art der Decoration. Dort finden wir gewissermaassen auf dem Wege nach dem Innern, nemlich in Jerusalem,

Allgemeines.

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den Tempel Salomons von Stein errichtet, überdeckt mit goldüber- zog-enem sculpirtem Cedernholz und mit kostbaren Steinen incrustirt. Thürpfosten, Thüren, Fussboden, Decke, Alles prangte im reichsten Goldschmuck, so dass, wie Josephus sagt, kein Theil des Tempels weder innerlich noch äusserlich übrig blieb, der nicht golden war. Aber auch Jerusalem hatte seine Vorbilder in Mesopotamien, wo dieser Styl nicht nur principiell seit alten Zeiten herrschte, sondern auch länger als anderswo in Uebung blieb. Zeugniss dafür liefert der um 700 V. Chr. erbaute Palast von Ekbatana, von dem unter Anderem Polybius X, 27 berichtet: „obgleich alles Holzwerk aus Gedern- und Cypressenholz besteht^ so wurde doch nichts nackt gelassen, sondern die Balken, die getäfelten Decken, die Säulen der Hallen und Um- gänge waren mit goldenen und silbernen Platten bekleidet, und alle Ziegel waren silbern". (Vgl. Semper, Stil I, .395 u. 402; ausführlicher Heibig 107 u. 433). Die Schilderungen Homers aber fallen der Zeit nach etwa in die Mitte zwischen die Bauten von Jerusalem und Ekbatana.

Die gleichen Beziehungen zu Asien offenbaren sich nicht minder auf anderen Gebieten: so bei den Teppichen, mit denen Sessel und Betten bedeckt werden, so überhaupt in den gewebten Kleiderstoffen. Silberglänzend mit goldenem Gürtel sind die Gewänder der Kalypso und Kirke (Od. V, 230; X, 543). Purpur, bunte Farben, die oft er- wähnt werden, Blumenmuster, welche Andromache webt (II. XXII, 441), die mancherlei Wunderbilder in dem von Athene gewebten Gewände (XIV, 179) beweisen allerdings nicht nothwendig und direct einen asiatischen Einfluss, um so mehr aber die sidonischen Gewänder, welche Paris nach Troia gebracht hatte (VI, 690). Doch zeigt sich auch bereits eine Begrenzung des fremden Einflusses: Helena webt in ein Gewand Thaten der Troer und Achäer (III, 126), also eine wenigstens dem Gegenstande nach selbständige Darstellung.

Auf dem Gebiete der plastischen Künste werden zunächst die ein- zelnen Thatsachen zu prüfen und dadurch der Umfang festzustellen sein, in welchem dieselben geübt wurden. Ich sage: die plastischen Künste; denn die Plastik im gewöhnlichen Sinne der eigentlichen statuarischen Kunst existirte noch nicht. Zwar erwähnt Homer einmal (II. VI, 92 u. 303) ein Götterbild, das der Athene auf der Burg von Ilion; aber er nennt es nicht einmal Bild, sondern der Göttin selbst soll ein kost- bares Gewand auf den Schooss gelegt werden wie zu wirklichem Gebrauche. Die naive Frömmigkeit der alten Zeit fühlt das Bedürfniss,

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Zweites Capitel. Homerische Kunst.

ihr Götterbild menschengleich zu schmücken und zu putzen; aber künstlerische Anforderungen lagen ihr dabei noch gänzlich fern. Unter einem veränderten Gesichtspunkte sind verschiedene andere Rundwerke zu betrachten. Die goldenen und silbernen Hunde als Thürhüter im Palaste des Alkinoos (Od. VII, gi) erinnern an die Löwen des Thores von Mykenae und noch mehr an die Löwen vor den Thüren und in der Umgebung alter griechischer und etruscischer Gräber. Sie sind nicht integrirende Theile der Architektur, aber sie stehen zu ihr in nächster Beziehung und tragen daher einen decorativen Charakter. Dasselbe gilt von den Jünglingen, die als Fackelhalter auf gesonderten Basen standen, und nach Analogie dieser Werke wird endlich über die goldenen Mägde des Hephaestos (II. XVIII, 418) zu urtheilen sein, bei denen natürlich Leben und Bewegung auf Rechnung des Dichters zu setzen sind. Immerhin darf hier an die Männer als Teppichhalter in assyrischen Reliefs erinnert werden, die bis heute an lebendigen Teppichträgern indischer Fürsten ihre Parallele finden (vgl. Kemper I, 255). Ueberhaupt aber darf zugegeben werden, dass der Dichter in der Schilderung derartiger Rundbilder über seine nähere griechische Umgebung hinausgegriffen und eine glänzendere Färbung aus seiner Kenntniss der vorgeschrittenen und üppigeren Culturzustände des Orients entlehnt habe.

Von diesen gewissermassen architektonischen Sculpturen ab- gesehen, bleibt als das eigenthümliche Gebiet, auf welchem sich die damalige Kunstübung bewegte, die Ausschmückung des für den Bedarf des Lebens bestimmten Geräthes, der Waffen und der Kleidung. Sie übt sich daher an allem dem Material, welches für diese Zwecke in Betracht kommt, am Holz, welches theils für sich, theils in Verbindung mit andern Stoffen, wie Metall und Elfenbein, gearbeitet wird, an ver- schiedenen Metallen: Gold, Silber, Elektron, Erz, Stahl, Zinn, Blei. Sie verarbeitet den Thon zu Geschirren und bedient sich dabei der Töpferscheibe. Nur Stein und Marmor, der in Architektur und Sculptur später eine so grosse Rolle spielt, w^rd noch nicht berücksichtigt. Allerdings bezeichnete man im späteren Alterthum (Paus. IX, 40, 3) ein Marmorrelief in Knosos als den dädalischen »Chor der Ariadne<s dessen Homer in der Beschreibung des Schildes des Achill gedenke. Doch haben schon die sprachlichen Schwierigkeiten, welche die beiden Verse des Ilias (XVIII, 591 2) dem Verständniss darbieten, genügen- den Anlass geboten, um dieselben für eine ungeschickte Interpolation zu erklären (vgl. Heibig 447). Holz und Elfenbein werden geschnitzt.

Allgemeines.

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gedrechselt, mit Meissel und Bohrer bearbeitet, geleimt, eingelegt, ge- färbt, mit Nägeln und Buckeln beschlagen. Das Metall verstand man natürlich zu schmelzen, aber noch nicht in künstlerische F'orm zu giessen; es wurde gehämmert, im Feuer gehärtet, getrieben, genietet, in getriebenen dünnen Platten und Streifen, auch fast fadenartig ver- wendet und geflochten. Selbst eigentliches Vergolden, nicht blos Belegen mit Gold scheint man verstanden und durch Wechsel und Mischung der Metalle, sowie durch eine Art Emaillirung verschiedene Farbentöne erreicht zu haben. Die Zweifel, die man früher gegen eine so vorgeschrittene Technik hegen mochte, sind jetzt durch die Funde der mykenischen Gräber beseitigt. Es genügt daher, zunächst auf die früheren. Bemerkungen über dieselben (s. o. S. 33 ff.) zu verweisen, während Einzelnes erst später durch die Erörterungen über jüngere Kunstproducte seine Erläuterung finden wird.

Der künstlerische Schmuck bestand in Pflanzenornamenten, Thieren und menschlichen Figuren (Overbeck SQ 202 ff.). Mit Blumen ge- ziert waren besonders die Mischkrüge. Goldene Tauben schmückten den Becher des Nestor an den Henkeln und am Fusse. Am Wehr- gehenk des Herakles (Od. XI, 611) prangten

Bären und Eber in Wuth und wildanfunkelnde Löwen, Kriegsschlacht und Gefecht und Mord und Männervertilgung.

Ebenso werden von Hesiod (Theog. 578) Thiere des Landes und Meeres als Schmuck der Krone der Pandora angeführt. An das Ge- wand des Odysseus (Od. XIX, 226) war die goldene Spange geheftet:

Schliessend mit doppelten Röhren ; und vorn war prangendes Stückwerk. Zwischen den Vorderklauen des wild anstarrenden Hundes Zappelt ein fleckiges Rehchen, und jeder schaute bewundernd, Wie, aus Golde gebildet, der Hund anstarrend das Rehkalb Würgete, aber das Reh zu entfliehn mit den Füssen sich abrang.

Am Panzer des Agamemnon (II. XI, 24):

Ringsum wechselten zehn blauschimmernde Streifen des Stahles, Zwölf aus funkelndem Gold, und zwanzig andre des Zinnes ; Auch drei bläuliche Drachen erhoben sich gegen den Hals ihm. Beiderseits voll Glanz, wie Regenbogen . . .

Um den kunstreichen Schild

. . . ihm liefen umher zehn eherne Kreise, Auch umblickten ihn zwanzig von Zinn anschwellende Nabel, Weiss, und der mittlere war von dunkeler Bläue des Stahles. Auch die Schreckengestalt der Gorgo drohete schlängelnd

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Zweites Capitel. Homerische Kunst.

Mit wuthfunkelndem Blick, und umher war Graun und Entsetzen. Silbern war des Schildes Gehenk ; und grässlich auf diesem Wand ein bläulicher Drache den Leib; drei Häupter des Scheusals Waren umhergekrümmt, aus seinem Halse sich windend.

Das kunstreichste Gebilde endlich, der Schild des Achilles, ist mit dem verwandten des Herakles bei Hesiod einer gesonderten Be- trachtung vorzubehalten.

So tritt uns hier ein lebendiger, eng mit dem Leben verwachsener Kunstbetrieb entgegen, und zu dem Reichthum und der Kostbarkeit des Materials tritt die Schätzung der Kunstfertigkeit und Vollendung der Arbeit hinzu, so dass das Schönste geradezu als Werk der Götter, des Hephaestos und der Athene, gepriesen wird. Doch werden auch einzelne kunstreiche Männer, wie Tychios, Ikmalios, Laerkes, Harmonides der Erwähnung gewürdigt, während es durchaus den patriarchalischen Zuständen dieser früheren Zeit entspricht, dass, wie edle Frauen kunst- reiche Gewebe verfertigen, so auch Odysseus sein Schlafgemach baut und sein kunstreiches Bett mit eigener Hand zimmert. Neben diesen auf einheimischen Kunstbetrieb hinweisenden Angaben steht nun aber eine Reihe von andern Erwähnungen, die wieder einen lebendigen Wechsel verkehr mit andern Völkern voraussetzen. Der Panzer des Agamemnon ist ein Geschenk des Königs Kinyras von Kypros. Ein Krater des Menelaos ist zwar ein Werk des Hephaestos, aber ein Geschenk des Phaedimos, Königs von Sidon; einen andern im Besitze des Menelaos hatten kunstfertige Sidonier gearbeitet und Phönicier über das Meer gebracht. Sidonische Gewänder brachte Paris nach Ilion. Aus dem ägyptischen Theben erhalten Menelaos und Helena silberne Wannen, Dreifüsse, Spindel und Spinnkorb. Für die that- sächliche Grundlage aller dieser Angaben bieten diese selbst eine innere Gewähr; denn die Blumenornamente, die wilden und phantastischen Thiergestalten und Kämpfe weisen auf den Orient hin, und dass vor allem Kypros und Phoenicien, nicht das innere Asien genannt wird, darf uns um so weniger irre machen, als wir die Bedeutung dieser Localitäten als Mittelstationen bald noch besonders zu betonen haben werden. Es kann demnach keinem Zweifel unterworfen sein, dass in homerischer Zeit eine Menge von kostbaren Gewändern und Geräthen wirkHch von dort durch den Handel zu den Griechen gebracht wurde, aber eben so wenig, dass zu gleicher Zeit AehnHches von den Griechen producirt wurde. Homer erwähnt das Eine und das Andere mit der grössten Unbefangenheit, ohne hinsichtlich des künstlerischen oder

Allgemeines. - Homerischer Schild.

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stylistischen Charakters einen Unterschied zu machen, etwa davon ab- gesehen, dass das Ausländische noch höher als das Einheimische im Werthe zu stehen scheint. Trotzdem aber würde es ein grosser Irr- thum sein, wenn wir daraus eine vollkommene Gleichheit der Kunst- übung folgern und die griechische Kunst geradezu für eine Tochter der asiatischen erklären wollten. Auch diese Verhältnisse werden uns durch die mykenischen Funde veranschaulicht. Wir begegneten dort einer ähnlichen Mischung sehr verschiedenartiger Elemente; keines zeigte sich in ursprünglicher Reinheit, sondern in einer Umbildung, aber keineswegs überall auf einer und derselben Stufe begriffen. Um so mehr drängt sich jetzt die Frage in den Vordergrund, welche Stellung, welchen Antheil wir in dieser Vermischung dem Griechischen anzuweisen haben. Um hier für die weiteren Untersuchungen eine bestimmte Richtung zu gewinnen, ist vielleicht nichts lehrreicher, als eine kurze Hinweisung auf ein anderes Gebiet des Geisteslebens, auf dem verwandte Verhältnisse schon längst eine klare Scheidung gestattet haben. Die Griechen erhielten von den Phöniciern das Alphabet; aber selbst diese einfachen conventioneilen Zeichen bildeten sie um ; theils modificirten sie die lautliche Bedeutungj theils stylisirten sie die Form nach ihrer eigenen Weise. Von einem dadurch bedingten Ein- flüsse der semitischen Sprache auf die griechische wird aber selbst der eifrigste Vertreter des Semitismus nicht zu sprechen wagen. Gerade ebenso entlehnten die Griechen von den Asiaten die Schrift der Kunst; aber auch in der Kunst redeten sie von Anfang an ihre eigene Sprache.

Der homerische Schild. Die Richtigkeit dieser Vergleichung wird sich später durch die Prüfung noch erhaltener Kunstproducte in das hellste und augenfälligste Licht setzen lassen. Aber auch Homer selbst liefert uns dafür ein unschätzbares Document in der Beschreibung des achilleischen Schildes. Denn dieser Schild ist nach der Idee und Gliederung seines bildnerischen Schmuckes griechisch; in der Darstellung und Behandlung der einzelnen Scenen dagegen ist er noch von asiatischen Vorbildern abhängig.

Freilich hat man wegen des Reichthums und der Fülle der ge- schilderten Scenen und Figuren die Möglichkeit der Existenz eines solchen Schildes leugnen wollen. (Es mag genügen, hier auf die letzte ausführliche Behandlung bei Heibig 395 ff. zu verweisen.) Allein wie sollte ein Dichter in so alter Zeit im Stande gewesen sein, etwas zu

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Zweites Capitel. Homerische Kunst.

schildern, wofür ihm noch gar keine Analogien vorgelegen hätten? Prüfen wir nur diese Schilderungen, so werden wir zwar finden, dass Homer als Dichter weniger beschreibt als schildert, dass er den zeit- lichen Moment der Darstellung in eine Erzählung, in eine Auf- einanderfolge von Handlungen auflöst, dass er dem Hörer nicht ein plastisches, sondern ein poetisches Bild geben will. Versuchen wir aber, seine Schilderungen auf einen bestimmten Raum zu übertragen,

ein rundes Feld zu denken, um welches sich, den verschiedenen Lagen entsprechend, vier concentrische Ringe oder Streifen legten. Für die Entfaltung künstlerischen Schmuckes ist damit sofort ein weites, reich gegliedertes Feld gegeben. Die Mitte enthielt ein allgemeines Bild der Erde, des Meeres und des Himmels mit Helios , Selene und den Sternen. Zwei Städte, die eine im Frieden, die andere im Kriege, nehmen den zunächst folgenden Kreis ein. Aber auch innerhalb dieser Theilung in zwei Hälften sondern sich noch deutlich einzelne (je drei) Scenen : in der friedlichen Stadt Festschmaus , Hochzeits- reigen und Rechtsstreit auf dem Markte; auf der kriegerischen Seite die Mauern mit Frauen, Kindern und Greisen, dazu dem Auszuge unter Führung von Ares und Athene, sodann die Mordung der Heerden und endlich der Kampf der beiden feindlichen Heere unter Betheiligung der Dämonen des Krieges und Todes. Wiederum scheiden sich im folgenden Kreise die vier Jahreszeiten zu zwei und zwei. Aber auch hier schliesst sich an die Bestellung des Ackers im Frühjahr und die Getreideernte im Sommer als dritte Scene das Erntefest unter

so werden sich alsbald die nöthigen Anhaltspunkte darbieten, um auch dieses plastische Bild in seinen künst- lerischen Grundlagen zu recon- struiren.

58. Schema des Homerischen Schildes.

Der Schild (Abb. 58) war rund und in seinem Durchschnitte aus fünf Lagen von ungleichem Durchmesser gebildet. Wie nach dem Vergleiche eines späteren Rhetors (Aristides, Panath. I, p. 15g Dind.) in der Mitte der Erde Hellas lag, in Hellas Attika, in Attika Athen und in dessen Centrum die Akropolis, so haben wir uns in der Mitte des Schildes

Homerischer Schild.

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dem Bilde eines Stieropfers und neben der Weinlese des Herbstes er- scheint das Hirtenleben des Winters in der Doppeltheilung der von Löwen Überfallenen Rinder- und der friedlichen Schafheerden mit Zelten und Ställen. EinheitUcher dem Gedanken nach gestaltet sich der Reigen im vierten Kreise; doch Wechselchöre, Zuschauer, ein Sänger, ein ausgesuchtes Tänzerpaar deuten darauf hin, dass räum- lich wenigstens einige der bisherigen Hauptgliederungen festgehalten gewesen sein werden. Endlich wird im fünften Kreise das Ganze von den Wogen des Okeanos rings umschlossen.

So fügen sich die einzelnen Scenen ungezwungen in den ge- gebenen Raum, und der einfache Versuch, die Schilderungen des Dichters uns innerhalb des Raumes vorzustellen, lässt uns bereits ein bestimmtes künstlerisches Gesetz, das der strengen Entsprechung im Räume, erkennen, ein Gesetz, dessen Erscheinung an dieser Stelle um so schärfer betont werden muss, als es nicht nur für die nächste Zeit, sondern für die gesammte Entwicklung der griechischen Kunst von der weitgreifendsten Bedeutung ist. Aus der räumlichen Gliederung aber tritt uns in eben so un gesuchter Weise der geistige Inhalt als ein in sich abgeschlossenes, wohlgegliedertes Ganzes entgegen. Den Schauplatz, auf dem sich die verschiedenen Aeusserungen des mensch- lichen Daseins bewegen, bildet die in der Mitte dargestellte Erde, unter dem Himmelsgewölbe mit seinen in ewigem Wechsel kreisenden Gestirnen und in ihrer ganzen Ausdehnung bis zu den Grenzen des Okeanos. Auf ihr entbrennt zunächst der Streit, der Kampf um den Besitz, bis dieser Besitz durch die sittlichen und rechtlichen Ordnungen des ehelichen und Familienlebens und rechtmässiger Rechtsprechung gesichert wird. Nun erst gedeihen die Werke des Friedens in den regelmässigen Arbeiten des Jahres. Aber auch diese Arbeiten sind nicht das letzte Ziel des Daseins ; sie finden ihren Abschluss, ihren Lohn in der Vereinigung fröhlicher Feste.

So entwickelt sich aus der Schilderung der einzelnen Theile ganz ungesucht das Bild einer künstlerischen und poetischen Einheit; und diese Einheit müssen wir mit besonderm Nachdruck betonen, da- mit wir uns zur Vorsicht mahnen lassen, an das Ganze der Be- schreibung nicht unbegrenzte und unberechtigte Ansprüche zu stellen. Hat man es doch auffällig finden wollen, dass sich nirgends eine Hin- deutung auf Seeleben finde und „den Dichter" dadurch zu entschuldigen gemeint, dass man seinen Zeitgenossen eine Art Wasserscheu an- dichtete !

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Zweites Capitel. Homerische Kunst.

Wenn es die Aufgabe gewesen wäre, eine Schilderung des Menschenlebens nach den verschiedenartigsten Aeusserungen seiner Thätigkeit in einer gewissen Vollständigkeit vor unsere Augen zu führen, warum fehlen dann die Handwerksthätigkeiten der Männer, das Spinnen und Weben der Frauen, der Fischfang, warum die Be- ziehungen auf Geburt und Tod ? Gerade dieses Fehlen zeigt uns, dass es sich nicht um eine materielle Vollständigkeit handelt, sondern um eine Auswahl bestimmter Scenen, um eine Unterordnung derselben unter eine einheitliche Idee und um die Gliederung derselben in einem bestimmten gegebenen Räume. Das sind aber überwiegend künst- lerische Gesichtspunkte, und wenn es dafür noch eines besonderen Beweises bedürfte, so liefert ihn niemand besser, als Homer selbst, indem er durch seine Beschreibung zeigt, dass er zu einem Verständnis dieses künstlerischen Zusammenhanges nicht durchgedrungen ist. Von einer geistigen Beziehung der verschiedenen Kreise zu einander ist mit keinem Worte die Rede. In den einzelnen Kreisen sucht er da und dort einen Zu- sammenhang einzelner Gruppen, und er legt darum den Schilderungen z. B. der Stadt im Kriege, der Gerichtsverhandlung eine Erzählung unter, die aber als eine subjective Zuthat das Verständniss des wirklich Dar- gestellten eher verdunkelt als fördert, während dagegen eine andere, im künstlerischen Zusammenhange wesentliche Scene, die Festgelage {elkamvai), nur mit diesem einzigen Worte erwähnt wird, weil sie ihm in seiner Erzählung nicht weiter passte. Endlich aber im dritten Streifen schildert er in richtiger Aufeinanderfolge die Arbeiten des Jahres; aber deutet er auch nur mit einem Worte an, dass diese Scenen durch das einheitliche Band des jährlichen Kreislaufes verbunden sind? Giebt er überhaupt eine Andeutung über den Zusammenhang dieser Scenen mit den vorhergehenden und folgenden? Würde er es dem Hörer überlassen haben, die poetische Gesammtidee, welche alles Einzelne zusammenhält, sich zu reconstruiren, wenn er selbst sich dieser Gesammtidee bewusst gewesen wäre? Er löst die Beschreibung in einzelne Scenen auf, oder richtiger: er schildert das Einzelne, wie es in räumlicher Theilung sich seinem Auge darstellt. Damit ist aber ein Beweis für die Realität des vSchildes gegeben, wie er zwingender kaum gedacht werden kann.

Doch, wendet man ein, widerspricht nicht der gesammte, dem gewöhnlichen Leben entnommene Inhalt der Darstellungen der über- wiegenden Bevorzugung des religiösen und mythologischen Stoffes in der griechischen Kunst? Es Hesse sich zunächst erwidern, dass auch

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Homerischer Schild: Vergleichung mit assyrischer Kunst.

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an den übrigen bei Homer erwähnten kunstreichen Arbeiten sich keine einzige mythologische Scene findet. Denn auch die Kämpfe der Troer und Achäer, welche Helena in Geweben darstellt, sind nicht der Sage, sondern aus der vor den Augen der Helena liegenden Wirklichkeit entnommen; und wenn auf dem Schilde Ares, Athene und die Dämonen des Krieges auftreten, so erscheinen auch sie mitten im Leben, wie sie auch in den homerischen Gedichten sich in den Streit der Sterb- lichen mischen. Der Satz, dass Homer den Griechen ihre Götter ge- schaffen, gilt gewiss nicht weniger von der Gestaltung ihrer Sagen- welt, und eben darum konnte dieselbe in der Kunst seiner Zeit noch keine Stelle finden. Zu einer richtigen Beurtheilung werden wir uns aber ausserdem auf den historischen Standpunkt stellen, werden fragen müssen, auf welchen Voraussetzungen die Kunst jener Zeit beruht oder überhaupt beruhen konnte.

Vergleichung des Schildes mit assyrischer Kunst. Schon öfter hat sich unser Blick nach dem inneren Asien gewendet, und es ist dadurch gewiss gerechtfertigt, wenn wir auch jetzt von Kleinasien, der Heimat der homerischen Poesie, unsere Aufmerksamkeit zunächst wieder dorthin lenken. Die zur Bekleidung ausgedehnter Wandflächen bestimmten assyrischen Reliefs sind aber ihrem künstlerischen Princip nach eigentlich nichts anderes, als in Stein übersetzte Teppiche, an denen sogar das flache Relief fast nur die Erhabenheit der Stickerei wiedergiebt. Wir werden daher auch die Existenz wirklicher Teppiche von entsprechendem Charakter zugeben müssen, die, durch den Handels- verkehr nach Kleinasien eingeführt, dort die Kenntniss assyrischer Kunstweise in directester Weise zu vermitteln vermochten. Den Inhalt dieser Reliefdarstellungen bilden die Thaten und die Regierungs- geschichten der Herrscher, welche darin mit einer ins Einzelnste gehenden Ausführlichkeit illustrirt werden. Aber so reich sie an Figuren sind, so arm sind sie an eigentlich künstlerischer Erfindung. Die Figuren haben im Grunde ihre Individualität, alles rein Persönliche völlig eingebüsst, sind Schemata geworden, so zu sagen Buchstaben, aus denen die Worte und Sätze der Bildertafel zusammengesetzt sind. Hier nun finden sich leicht die Formeln, um uns die Beschreibung des homerischen Schildes in Figuren zu übersetzen. Am lehrreichsten sind für diesen Zweck die von Layard in der „zweiten Serie" publi- cirten Reliefs aus dem Palaste des Sanherib, jetzt im britischen Museum, welche zwar nicht über das Jahr 700 v. Chr. zurückgehen, also jünger

7 8 Zweites Capitel. Homerische Kunst.

sind als die Schildbeschreibung, aber sich doch in ihrem Gesammt- charakter nicht wesentlich von älteren Arbeiten unterscheiden.

Unter den so häufigen kriegerischen Scenen bieten T. i8 u. 50 Bilder von Städten mit ihren Vertheidigern auf den Mauern, wie sie mit geringen Modificationen für den zweiten Kreis des Schildes ver- wendbar sind (Abb. 59). Der Ausmarsch, der Ueberfall der Heerden, der Kampf der beiden Heere lassen sich aus T. 31, 37, 38, 46 vortrefflich reconstruiren. Für den Hochzeitszug, Chor und Musik liefern T. 48 u. 49 genügende Analogieen. Für die Darstellungen der Jahreszeiten lassen sich weniger Scenen im Ganzen benützen ; aber z. B. Männer, welche Trauben in Gefässen tragen: T. 8, oder andere, welche Thiere schlachten: T. 36, geben Motive für die Weinlese, das Ernteopfer; andere Scenen, wie das Trinken aus Schläuchen T. 35, das Holzfällen T. 40, das Wasserziehen T. 15, das Treiben der Heerden T. 29 u. 35 zeigen uns Züge aus dem wirklichen Leben, die den von Homer ge- schilderten völlig parallel stehen. Auch die Bezeichnung des Terrains, die Bildung von Bäumen und Weinstöcken, Zelte und andere Baulich- keiten lassen sich passend verwerthen. Selbst zu dem im Charakter wesentlich abweichenden Mittelbilde können für die Darstellung der Erde zwar nicht die Steinreliefs, aber doch die Bronzeschalen T. 61 u. 66 einen ungefähren Vergleichungspunkt abgeben, während sich Sonne, Mond und Siebengestirn in babylonischen und assyrischen Cylindern wiederfinden.

Die Schilderung der Wirklichkeit in den Kunstwerken bei Homer findet also in den Denkmalen Assyriens ihr unzweideutiges Vorbild; das Schematische der ganzen Darstellungs weise aber, welches den letzteren eigen ist, musste die Nachahmung nur erleichtern ; denn das noch nicht entwickelte Fassungsvermögen bedarf zuerst allgemeiner Formeln, ehe es auf das Specielle des Ausdruckes einzugehen vermag. Es darf daher zunächst auch die Frage noch unberücksichtigt bleiben, wie weit die Nachahmung in der Durchführung des Einzelnen gehen mochte. Das erste Ziel konnte damals gewiss noch nicht formale Vollendung sein, sondern die Figuren sollten etwas bedeuten, sollten einen Gedanken, eine Handlung ausdrücken. Die Kunst ist im Wesent- lichen noch Bilderschrift. In der Art aber, wie sie sich der Gestalten bedient, welche Gedanken sie darzustellen unternimmt, tritt bereits eine Scheidung zwischen asiatischer und griechischer Kunst in voller gegensätzlicher Schärfe ein. Jene mit Reliefs überdeckten ausgedehnten Wandflächen von Niniveh sind nichts anderes als in Figuren ge-

Vergleichung mit assyrischer Kunst.

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schriebene Chroniken, geschrieben in vollster Ausführlichkeit, aber wie es der Styl einer Chronik verlangt, in nüchternster Prosa oder in dem Styl des officiellen steifen Hofceremoniells. Der griechische Künstler des homerischen Schildes entnimmt daraus die Formeln für die Bewegung, die Action einer Figur, aber mit der gegebenen Terminologie schafft er sofort ein Gedicht. Nicht um eine Aufzählung einzelner Scenen handelt es sich für ihn, wie sie sich etwa in Wirklichkeit im Raum neben einander, in der Zeit nach einander ereignet haben oder ereignet haben könnten. Seine Schöpfung beruht auf einem einheitlichen Gedanken, dem sich jedes Einzelne unterordnen muss. Das Umfassende der Idee aber im Verhältniss zum gegebenen Räume zwingt ihn sofort, die Breite und Nüchternheit des Chronikstyls auf- zugeben und das Bedeutsame aufzusuchen: er muss sich mit Andeu- tungen begnügen, muss einzelne Momente auswählen, die fruchtbar genug sind, um die Phantasie anzuregen und das Fehlende zu ergänzen. Das Bedeutsame wächst durch die Stelle, die dem Einzelnen im Ganzen angewiesen wird, durch die Gesammtanlage und Gliederung des Ganzen.

8o Zweites Capitel. Homerische Kunst.

Und hier zeigt sich der zweite fundamentale Gegensatz zwischen dem asiatischen und dem griechischen Künstler. Auch in den assyrischen Reliefs findet sich die Eintheilung in verschiedene Streifen; der Dar- steller will Raum gewinnen, um seine ausgedehnten Figurenreihen zu placiren, das Neben- und Uebereinander der Scenen auch im Raum sichtbar zu machen ; aber er benützt den Raum ohne irgendwelche Rücksicht auf ein mathematisch-künstlerisches Gesetz ganz nach Art einer Landkarte. Beim homerischen Schilde erwächst die Gliederung des Raumes gewissermaassen organisch aus der Form und Fügung des Schildes selbst, und ebenso erwächst aus den so gewonnenen räum- lichen Abtheilungen die poetische künstlerische Idee des Ganzen.

Das Eine ist ohne das Andere nicht denkbar, und niemand möchte wohl die Frage zu beantworten wagen, was früher war, der gegebene Raum oder die Idee, die ihn künstlerisch erfüllte. Hier also erscheint der griechische Geist in voller Selbständigkeit, und gewiss lässt sich jetzt mit Recht be- haupten, wovon wir ausgingen, dass, wenn auch die Griechen von Asien die Schrift der Kunst entlehnten, sie doch trotzdem darin ihre eigene Sprache redeten.

Die Ansichten über das Verhältniss der Darstellungen des Schildes zu assy- rischen Vorbildern, welche hier, wie schon vor Jahren, von mir darge- legt worden sind, haben erst kürzlich die erwünschte Bestätigung durch das Fragment eines Silbergefässes gefunden, welches schon von Schlie- mann in dem vierten seiner Königsgräber entdeckt, sich bei seiner nachträglichen Reinigung als mit flachem Relief geschmückt erwiesen hat {'EcpTjju. oiQx- 1891, T. 2) (Abb. 60). Wir erblicken auf demselben im oberen Theile wie im Mittelgrunde eine Stadt und auf deren Mauern eine Versammlung verzweifelter Weiber mit erhobenen Armen; vor den Thoren im freien Felde verschiedene an die Oelbäume der Gold- becher von Vafio erinnernde Bäume, und auf dem vorderen bergigen Terrain das Stück einer Kampfscene: stehende Schleuderer, knieende Bogenschützen und mit Schilden gerüstete Krieger. Die Abhängigkeit von assyrischen Vorbildern tritt uns hier in der Gesammtauffassung

60. Silberscherbe aus Mykenae.

Vergleichung mit assyrischer Kunst. Die norditalischen Sitiilae. g j

und Anordnung-, in der Vertheilung im Räume, der Vortragsweise, der »Schrift« der Kunst in augenfälligster Weise entgegen. Zugleich aber erkennen wir, wie in dem inneren Leben der menschlichen Ge- stalten und der Darstellung ihres Handelns ein durchaus verschiedener Geist waltet, der sich vielmehr den Arbeiten der mykenischen Dolch- klingen entschieden annähert. Dass das Silbergefäss der vorhome- rischen Zeit angehört, kann nicht wohl zweifelhaft sein; und so lehrreich es also für uns ist, die Wege kennen zu lernen, auf denen der grie- chische Geist sich zur vollen Selbständigkeit zu entwickeln bestrebt war, so lässt sich doch der Wunsch nicht unterdrücken, nun auch ein an- schauliches Bild zu gewinnen, wie sich der von Homer beschriebene Schild in Wirklichkeit dem Auge dargestellt habe, um danach zu be- urtheilen, bis zu welchem Grade auch in der Auffassung und Aus- führung des Einzelnen sich griechischer Geist offenbart habe. Zunächst müssen wir doch wohl voraussetzen, dass gegenüber einer so alten Cultur, wie die innerasiatische war, den Anfängen eigener Kunstübung je nach den Umständen hier mehr, dort weniger der Charakter kind- licher Versuche anhaften müsste. Nun werden wir allerdings später noch manche Mittelstufen kennen lernen, in denen uns einerseits der bedeutende Einfluss des Fremden, aber auch andererseits die successive Befreiung des Griechischen von fremden Vorbildern deutlich entgegen- tritt. Doch führen uns dieselben schon vielfach über die homerische Zeit auf jüngere Culturzustände. Wollen wir dagegen eine Vorstellung von der früheren Zeit gewinnen, so werden wir schon einmal einen Sprung wagen müssen, der uns von dem Schauplatze der homerischen Dichtungen zunächst weit abführt.

Die norditalischen Situlae. Zuerst in Bologna, dann aber weiter nördlich in Krain sind in den letzten Jahren einige Bronzeeimer (situlae) mit Reliefs von höchst alterthümlichem Charakter gefunden worden, die allerdings, wenn wir alle Umstände ihrer Entdeckung berücksichtigen, vielleicht erst ein halbes Jahrtausend nach der Zeit Homers ausgeführt sein mögen (s. meinen Aufsatz über die Aus- grabungen der Certosa, in den Abh. d. bayer. Akad. XVIII, S. i68). Sie haben mit den Arbeiten etruscischer Kunst nichts gemein. Auch mit den früher in Bologna, aber schwerlich in Krain ansässigen Umbrern lassen sie sich nicht wohl in Beziehung setzen. Man hat daher auf illyrische Volksstämme hingewiesen, die sich von den Balkanländern nach Nordwesten ausgedehnt haben und mit den Ländern im Gebiete

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Zweites Capitel. Homerische Kunst.

des Po in Berührung getreten sein möchten, in ihrer geistigen Cultur Griechenland gegenüber aber auf einer sehr frühen Stufe stehen gebheben sein dürften. So kühn eine solche Annahme erscheint, so brauchen wir doch vor ihr nicht zurückzuschrecken. Noch heute hat in Russland und den Gebieten der griechisch-orientalischen Kunst der Byzantinismus seine Herrschaft bewahrt, ohne von dem vor einem halben Jahrtausend beginnenden Wiederaufleben der italienischen Kunst berührt zu werden. Es soll nun hier zunächst nicht untersucht werden, wie weit die Zurückführung dieser „illyrischen" auf die älteste griechische Kunst durch Vergleichungen, wie etwa die der Gravierungen eines bei Olympia gefundenen Panzers (Bull, de corr. hell. VII, i 3; Olympial V, die Bronzen, T. 59) unterstützt werden kann (vgl. unten): versuchen wir vielmehr, uns direct unserem Ziele zu nähern.

Die Technik dieser Situlae ist einfacher als die des Schildes, für dessen Ausführung uns jetzt die mykenischen Dolchklingen mancherlei Fingerzeige gewähren. An den Situlae sind die Figuren einfach in flachem Relief von der Rückseite des Metallbleches aus getrieben und von vorn nur wenig mit einem spitzen, nicht schneidenden Instrumente nachgearbeitet. Mit dem Schilde übereinstimmend aber finden wir die Streifenabtheilung. Auf dem bedeutenderen der beiden Bologneser Ge- fässe, auf dessen Betrachtung wir uns hier beschränken wollen (Zannoni, scavi della Certosa t. 35) (Abb. 61), bewegen sich im obersten Streifen Krieger zu Fuss und zu Pferde, durch Verschiedenheit der Bewaffnung in mehrere Abtheilungen gegliedert, in geregeltem Aufmarsche nach links. In entgegengesetzter Richtung schreitet auf dem zweiten eine Procession von Männern und Frauen, welche Opferthiere führen, Holz- bündel, Körbe, verschiedene Arten von Geräthen, Bratspiesse u. A. in den Händen und auf den Köpfen tragen : offenbar die Vorbereitungen für ein feierliches Opfer, eine Art von Prototyp des Parthenonfrieses. In dem dritten Streifen wechselt die Richtung mehrmals: links treibt ein Bauer zwei Ochsen auf das Feld, um dasselbe mit dem Pfluge zu bestellen, den er auf seiner Schulter trägt. Nach der Mitte zu wird ein Schwein wohl 'zum Schlachten geschleift, während von der anderen Seite ein getödteter Hirsch an einer Stange herbeigetragen wird. Gegen das rechte Ende zu wird ein im Gebüsch versteckter Hase gejagt. In der Mitte aber finden wir auf einem Ruhebette sitzend einen Syrinxbläser und einen Lautenspieler, doch wohl zur Andeutung festlicher Freude. Im unteren Streifen endlich schliesst sich die Composition durch verschiedene, nach einer Richtung schreitende

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Thiere , zahme und wilde, geflügelte und ungeflügelte , wieder zu einem einheitlichen Bande zusammen, an dem wir ausserdem er- kennen, wie die Kunst der Situlae von Ein- flüssen des Orients nicht unberührt ge- blieben ist.

Die Verwandtschaft mit den Darstellungen

des homerischen Schildes springt in die Augen ; und zu unserer

Ueberraschung er- kennen wir jetzt, wie geringer Mittel es in

den Anfängen der Kunst zum Ausdrucke grösserer Gedanken- reihen bedarf. Da ist von einer Nachahmung der Wirklichkeit im Einzelnen ihrer äus- seren Erscheinung nicht die Rede. Waffen, Kopf und schreitende Beine bilden den Krieger auf dem Marsche. Einzelne Gestalten erscheinen ganz ein gewickelt ohne Andeutung der Arme. Diese werden nur sicht- bar, wo sie etwas zu thun haben : einer ge- nügt, um eine Last auf 6*

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Zweites Capitel. Homerische Kunst.

dem Kopfe im Gleichgewicht zu halten, um die Tragstange zu fassen, beide sind nöthig, um das Schwein an den Hinterbeinen zu schleppen, oder einer, um die Peitsche zu halten, der andere, um den Pflug zu tragen. Nur gerade so viel ist gegeben, als nöthig ist, dass die Figur etwas aussage, etwas bedeute, und je nur so viele Figuren treten auf, als zur Bezeichnung einer Handlung oder Function eben nothwendig sind. Die Krieger bilden nicht eine ungezählte Masse: zwei sind zu Pferde, fünf sind mit länglich ovalen, drei mit viereckig abgerundeten, vier mit ganz runden Schilden bewaffnet, andere vier tragen Aexte, so dass wir die Vorstellung gewinnen, ein in verschiedenen Abtheilungen ge- gliedertes Heer an uns vorüberziehen zu sehen.

Blicken wir jetzt auf die homerischen Schilderungen zurück , so wird sich nicht leugnen lassen, dass ihr richtiges Verständniss vielfach dadurch erschwert worden ist, dass wir gar zu leicht geneigt sind, uns die Bildwerke des Schildes in einer allen Mitteln der heutigen Kunst entsprechenden Ausführung vorstellen zu wollen. Eine solche Durch- bildung aber birgt jedenfalls die Gefahr in sich, die Einfachheit, Klar- heit und Uebersichtlichkeit wesentlich zu beeinträchtigen, indem sie es erschwert, sich in der Fülle von Einzelheiten zurecht zu finden. Den vollsten Gegensatz dazu bildet gerade durch die naive Kindlichkeit der gesammten Auffassung die Bildersprache der Situla, und an ihr gewinnen wir den richtigen Maassstab für die Anforderungen , die wir an die Ausführbarkeit des homerischen Schildes zu stellen berechtigt sind. Wir gingen bei seiner Betrachtung von der strengen Gliederung des Raumes als einer für den hellenischen Geist charakteristischen Eigenschaft aus. Wir mussten weiter dieselbe Strenge in der all- gemeinen Gliederung des geistigen Inhalts betonen. Wollen wir uns jetzt klar machen, in welcher Weise die gleichen Eigenschaften in Auffassung und Ausführung des Einzelnen zum Ausdruck zu gelangen vermögen, so bieten uns dafür die Bilder der Situla die lebendigste Anschauung, wobei es zunächst wenig verschlägt , ob wir in der be- sonderen (stylistischen) Vortragsweise volle Uebereinstimmung oder mehr oder minder starke „dialektische" Abweichungen vorauszusetzen haben.

So tritt uns der Schild als eine durchaus einheitliche, künstlerisch in sich abgeschlossene Schöpfung entgegen. Sind wir aber den Spuren der in ihr so schroff ausgeprägten Geistesrichtung nicht schon früher begegnet? Erinnern wir uns nur der Vasen des Dipylon- styls! Schon an ihnen macht sich die gleiche einheitliche Grund-

Die norditalischen Silulae. Der hesiodische Schild.

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anschauung geltend, welche ausging von der mathematischen Gliederung des Raumes, aus dieser die Gliederung des Inhaltes herauswachsen Hess und endlich ebenso die Darstellung der Figuren dem gleichen tektonischen Principe unterordnete. Sie trat auf in einem bestimmten Gegensatze zu der mehr äusserlichen Flächendecoration der „mykenischen" Vasen, und wir konnten nicht umhin, in ihr eines der wichtigsten, wenn nicht überhaupt das Grundprincip der im engeren Sinne helle- nischen Kunst zu erkennen. Wir sehen jetzt, dass es der gleiche Geist ist, von dem sich die Schöpfung des Schildes nach allen Seiten durchdrungen erweist. Damit aber hört dieselbe auf, als eine ver- einzelte und dadurch schwer verständliche Erscheinung am Anfange der Kunstgeschichte zu stehen , sondern sie fügt sich bereits in eine bestimmte historische Entwiklung ein, indem sie uns jenes hellenische Princip als bereits gekräftigt und auf eine höhere Stufe der Durch- bildung erhoben erkennen lässt.

Der hesiodische Schild (Abb. 62). Aber nicht blos rückwärts, auch vorwärts müssen wir blicken, und wenn ja die gesammte hier dar- gelegte Auffassung noch einer weiteren Bestätigung bedürfen sollte, so wird dieselbe in erwünschtester Weise durch den hesiodischen Schild des Herakles geboten. Es kann nicht überraschen, dass man ihn als blosse Nachahmung des homerischen und also gleich diesem als eine dichterische Fiction hat betrachten wollen. Es darf zunächst zugegeben werden, dass die Beschreibung so wenig von Hesiod her- rühren mag, wie die homerische Episode von Homer, ferner dass sie durch Interpolationen entstellt und im Einzelnen durch bedeutende Einschiebsel erweitert ist, sowie auch, dass der Dichter in der Art der Beschreibung sich eng an Homer anschliesst. Für die archäologische Betrachtung hängt indessen Alles davon ab, ob sich eben so wie bei Homer auch aus der hesiodischen Schilderung ein künstlerischer Ge- danke, eine künstlerische Einheit entwickeln lässt. Die Prüfung wird zeigen, dass diese Einheit wirklich vorhanden ist und dass sie in ihren Grundlagen der des homerischen Schildes im Allgemeinen entspricht. Aber noch bedeutsamer als diese Uebereinstimmung wird eine Reihe von Verschiedenheiten hervortreten, insofern dieselben ihrem Wesen nach keineswegs als Neuerungen eines den Homer nachahmenden Dichters, sondern nur als Erfindungen eines in der Entwicklung fortschreitenden Künstlers betrachtet werden können.

Schon in dem Grundschema tritt diese Weiterbildung bestimmt

86 Zweites Capitel. Homerische Kunst.

hervor. Die fünf Lagen sind beibehalten. Aber die durch sie gebildeten fünf Hauptstreifen werden jedesmal durch ein schmaleres Band, wie durch eine Einfassung, von einander geschieden, so dass sich der Raum in fünf Haupt- und vier Nebenfelder gliedert. In dem Mittelbilde, dessen Beschreibung am meisten durch Interpolationen verwirrt ist, scheint nur das Gesicht des Phobos, medusenartig umkränzt von zwölf Schlangen, dargestellt gewesen zu sein. Züge von Ebern und Löwen, wie sie oft genug auf alten Kunstwerken wiederkehren, trennen dieses Centrum von dem zweiten Hauptkreise, in welchem sich sofort eine kriegerische und eine friedliche Scene scheiden : der Kampf der Lapithen

und Kentauren unter Dazwischen- kunft des Ares und der Athene, und als Gegenbild der Unsterblichen Chor mit Apollo und den Musen. Beide Scenen umschliesst der Hafen mit Fischen und einem Fischer. Noch einmal folgt Krieg und Frieden: die Mauern einer Stadt mit ver- zweifelnden Frauen, betende Greise, dcmn das Kriegsgetümmel und end- lich die Dämonen der Schlacht und des Todes; als Gegenbild ein Hochzeitszug und Jubel unter Be- gleitung von Syrinx, von Leier und von Flöte in gesonderten Gruppen. Wieder umschliesst beide Bilder in schmalem Kreise ein Rennen zu Pferde. Nun folgen die vier Jahreszeiten, das Frühjahr nur durch Pflüger, der Winter durch eine Hasenjagd angedeutet, ausführlicher der Sommer und der Herbst. Es ist wohl vorauszusetzen, dass, wie bei Homer im zweiten und dritten, so hier im dritten und vierten Kreise die Unterabtheilungen in bestimmter Gliederung hervorgetreten sein werden. Doch ist die Beschreibung zu wenig präcis, um diese im Einzelnen bestimmt aus- zuscheiden. Die Mannigfaltigkeit dieser Scenen wird nun in dem schmalen Kreise wiederum einheitlich durch ein Wettrennen zu Wagen umschlossen. Endlich umfasst das Ganze des Okeanos Strömung, durch Fische und Schwäne belebt. Nur eine Scene ist in der vor- stehenden Aufzählung übergangen worden: die Darstellung des von den Gorgonen verfolgten Perseus, welche in der Beschreibung zwischen

Der hesiodische Schild.

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dem zweiten Neben- und dem dritten Hauptkreise steht. Welchem derselben sie zuzutheilen sei, ergiebt sich jetzt erst durch einen Blick auf die künstlerische Gliederung des Ganzen. Der Hafen mit Fischen und einem einzigen Fischer erscheint den übrigen Kreisen gegenüber etwas zu dürftig ausgestattet. In anderen Bildwerken aber finden wir Perseus, wie er, von den Gorgonen verfolgt, mit gewaltigen Schritten über das Meer eilt. Diese wenigen Figuren mit ihren gedehnten Be- wegungen füllen also sehr wohl einen grossen Theil des Rundes aus und bilden im Grunde mit dem Bilde des Hafens zusammen eine Einheit, welche nur von dem beschreibenden Dichter nicht als solche erkannt wurde. Zugleich aber sind sie das mythische Bild eines Wett- laufens zu Fuss, mit dem sich im folgenden Kreise das Rennen zu Pferde, im zweitfolgenden das Rennen zu Wagen in klar abgewogener Steigerung verbindet. Damit aber wird zugleich die Bedeutung der schmaleren Streifen in einer Weise klar, dass in ihnen ein künst- lerischer Fortschritt über das homerische Schema hinaus anerkannt werden muss. Die zahlreichen Figuren der grösseren Streifen, in drei Reihen ohne augenfällige Scheidung über einander gestellt, konnten das Auge leicht verwirren, und indem sie für dasselbe sämmtlich die Bedeutung von Radien zwischen Centrum und Peripherie hatten, musste fast nothwendig eine gewisse Einförmigkeit entstehen. In dem hesiodischen Schilde tritt durch die schmalen Streifen nicht nur eine bestimmte Scheidung ein, sondern in den nicht aufrecht wie Menschen einherschreitenden Ebern und Löwen, in dem gedehnten Laufe des Perseus und der Gorgonen, in dem gestreckten Carriere der Renner und der Gespanne erhält auch so zu sagen jeder Strahlenkranz von Radien seine eigene ihn umschliessende Peripherie, und das so vor- treffHch ineinander gefügte Doppelsystem von Linien verbindet nun mit reicher Abwechselung zugleich das Verdienst übersichtlicher Klarheit.

Die Art der Ausfuhrung wird im Ganzen der des homerischen Schildes entsprechend zu denken sein. Einzelnes, wie z. B. die anderen Fischen nachjagenden Delphine im Hafenbilde, erinnert an die Schilde- rung der Wirklichkeit in assyrischen Reliefs, wo in ganz entsprechender Weise Taschenkrebse Fische fangen (Layard II, pl. 12; 42; 43). Die Behandlung der schmalen Streifen findet ihre Analogie in so manchem Vasenbilde, und selbst ein Werk wie der berühmte Leuchter von Cortona (Mon. d. Inst. III, 42) darf wohl zur Vergleichung citirt werden, insofern als das von Schlangen umgebene Gesicht des Phobos in der Mitte, der schmale dasselbe umschliessende Kreis von kämpfenden

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Zweites Capitel, Homerische Kunst.

Thieren, endlich die Wellen des Meeres mit Delphinen darüber, wenigstens in der Wahl und Ordnung lebhaft an den Schild erinnern.

Ueberhaupt darf die Auswahl der Scenen nicht unbeachtet bleiben. Das Thema von Kampf und Streit und seinem Gegensatze, friedlicher Arbeit und frohem Lebensgenüsse, gewiss passend gewählt für die Ausschmückung einer Schutzwaffe, ist allerdings im Allgemeinen beiden Schilden gemeinsam. Wie aber der zweite in der Gliederung des Raumes nach grösserer Abwechselung strebt, so zeigt sich die gleiche Tendenz auch hinsichtlich des Inhalts. Von der Entwicklung der Sagenpoesie konnte auch die Kunst nicht unberührt bleiben; und wenn der Künstler des ersten Schildes den Gegensatz von Krieg und Frieden in dem Bilde der beiden Städte darzustellen sich begnügt, so glaubt der Künstler des zweiten denselben Gedanken ausser in der allgemeinen Fassung auch noch in dem poetischen Reflexe der Sage, durch den Kampf der Lapithen und Kentauren und den friedlichen Chor der Musen wiederholen zu müssen. Auf ähnlicher Anschauung beruht es, wenn er in den schmäleren Kreisen dem Wettlaufen zu Fuss das mythologische Bild des Perseus substituirt, und endlich wenn das etwas zu universelle Mittelbild des homerischen Schildes durch ein sprechendes Symbol von Krieg und Streit, das Gesicht des Phobos, ersetzt wird.

So tritt die Sage, wenn auch zunächst in beschränkter Weise, in den Kreis der Darstellungen, Es sind noch wenige altberühmte, auch sonst in der älteren Kunst hochgefeierte Mythen, unter denen wohl nicht zufäUig der später so vielfach ausgebeutete Sagenstoff des troischen Krieges noch unberücksichtigt bleibt. Es mag sogar fast auffälhg erscheinen, die Darstellungen des Menschenlebens im All- gemeinen mit Bildern aus der Sage so wie hier gemischt zu finden. Aber eben darin liegt die specifische Bedeutung des hesiodischen Schildes. Denn gerade diese scheinbare Anomalie bildet das noth- wendige Uebergangsstadium, durch welches wir von dem homerischen Schilde zu der Bilderfülle eines Werkes wie des Kypseloskastens über- geleitet werden, der indessen einer späteren Betrachtung vorbehalten bleiben muss.

Zum Schluss mag hier noch kurz angedeutet werden, dass nach dem Vorbilde Homers auch die kyklischen Dichter die Hinweisung , auf künstlerische Arbeiten gern als einen Schmuck der Dichtung ver- werthet zu haben scheinen (S Q 220 23). So lassen sich die gold- farbigen Fische, die im AVasser spielen, von denen in einigen Versen

Der hesiodische Schild.

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der Titanomachie die Rede ist, sehr wohl als Teil einer Schild- beschreibung fassen. Ein goldener Weinstock, ein Werk des Hephae- stos, welchen Zeus dem Laomedon als Entgelt für den Raub des Ganymedes schenkte, wird in der kleinen Ilias erwähnt. In der Tele- gonie schenkt Polyxenos dem Odysseus einen Krater, auf dem die Geschichte des Trophonios, Agamedes und Augeas dargestellt war. Fraglicher erscheint, ob auch eine Nachricht aus den Kyprien hierher zu ziehen ist. In dieser erzählte Nestor in episodischer Weise jtaQExßdoei) dem Menelaos, wie die Stadt des Epopeus, der des Lykurgos Tochter verführt hatte, zerstört wurde, ferner die Geschichten von Oedipus, vom Wahnsinn des Herakles und von Theseus und Ariadne. Hier möchte Welcker (Ep. Cycl. II, 98) annehmen , dass diese Sagen an einem Kunstwerke, etwa einem Krater, dargestellt gewesen seien, und dass Nestor diese Bildwerke nur benutze, um Menelaos über den Raub der Helena zu trösten und durch den Vergleich verwandter Schicksals- wendungen auf die Hofifnuug gerechter Vergeltung hinzuweisen. Allein, wäre das Letztere wirklich der Fall, so würde gerade darin der Beweis liegen, dass der Dichter nicht ein wirkliches Kunstwerk beschreibe. Nur zu deutlich würden wir empfinden, dass die ver- schiedenen Sagen nicht von einem Künstler unter einem künstlerischen Gesichtspunkte, sondern von dem Dichter für die besonderen Zwecke seiner Dichtung ausgewählt wären. Das Umgekehrte gilt von Homer und Hesiod ; indem bei ihnen die beschriebenen Bildwerke in keiner bestimmten Beziehung zu dem Inhalte der epischen Erzählung stehen, wohl aber in sich selbst eine von derselben losgelöste künstlerische Einheit bilden, befestigt sich bei uns nur immer mehr die Ueber- zeugung, dass wir es mit der Schilderung einst wirklich existierender Bildwerke zu thun haben.

D ritte s Capitel.

Die Stellung des hellenischen Geistes gegenüber fremden

Einflüssen.

Die Poesien Homers gewähren ein lebendiges Bild der Kunst- zustände der Zeit des Dichters, immer aber doch mehr ein Bild für die Phantasie, als für die lebendige Anschauung; denn selbst bei den zur Vergleichung herangezogenen Denkmälern fremder Länder musste die gebotene Anschauung gewissermaassen in eine andere Sprache übersetzt werden. Es frägt -sich aber, ob sich nicht Mittel bieten, die sich für ein Bild der homerischen Zeit in ähnlichem Umfange ver- werthen liessen, wie die Gruppe der mykenischen Funde für eine noch ältere Culturperiode.

Die Zeusgrotte auf dem Ida. Bei einem Umblicke lenkt sich unser Auge zunächst nach der Stelle, wo zufolge der Sage das Zeus- kind von Nymphen gepflegt und von den Kureten beschützt wurde, nach der Grotte auf dem kretischen Ida, die, ein Sitz seiner Verehrung, schon in alter Zeit mit AVeihgeschenken verschiedener Art geschmückt wurde. Ein Teil derselben hat sich unter dem Schutt erhalten und ist in den letzten Jahren ans Licht gezogen worden : Halbherr ed Orsi, antichitä delF antro di Zeus Ideo in Greta 1888 (bei Comparetti: Museo di antichitä classica IT). Für uns kommen hier zunächst verschiedene Schilde und Schalen aus getriebenem Bronzeblech in Betracht. Unter ihnen finden sich zwei (t. VI), welche im Innern um das mit leichten concentrischen Ornamenten geschmückte Mittelfeld herum einen Streifen von Figuren in Flachrelief zeigen: Sphinxe und Apisstiere in regel- mässiger Abwechslung auf der einen, Sphinxe, Uräusschlangen und Scarabäen auf der andern. Darstellung und Styl scheinen beim ersten Anblick ägyptisch, erweisen sich aber als nachgeahmt und mit fremden.

Zeusgrotte auf dem Ida.

asiatischen Elementen gemischt. Einen entgegengesetzten Eindruck macht das Relief eines Schildes (t. I) (Abb. 63): eine herkulische bärtige Gestalt mit enganliegender kurzer Gewandung setzt weit ausschreitend den linken Fuss auf den Nacken

eines laufenden Stiers und schwingt , . , ^

mit beiden erhobenen Armen einen < v v f \

an den Beinen gepackten Löwen ff^%.... ^ - ^ \

über seinem Haupte. Zu jeder Seite steht, etwas weniger gross, ein bär- tiger viergeflügelter Dämon, je auf zwei im Felde vertheilte Tambourins schlagend. Der erste Eindruck ist der eines assyrischen Werkes; und doch ist auch hier nicht nur die , ( 'y^

Ausführung eine weit laxere, weit /:

weniger streng stylisirte, sondern 63. Bronzeschiid aus Kreta,

auch die Bewegung der Hauptfigur,

wie die des Stiers, ist eine weit bewegtere, lebendigere und ener- gischere. Einen orientalisirenden Charakter tragen auch die übrigen Stücke. An den Schilden tritt in der Mitte als stark erhabener Buckel meist ein Eöwenkopf in getriebener Arbeit hervor, um den sich zu- nächst ein grösseres rundes Feld legt. Nur einmal (t. IV) (Abb. 64) . , , tritt an seine Stelle der

'< , (fast ganz zerstörte)

, - . Kopf eines gewaltigen

Vogels , wohl eines Adlers, der von oben nach unten schwebend mit seinem Körper und seinen nach rechts und nach links ausgebrei- teten Flügeln sich über das gesammte Rund ausspannt, das auf dem von concentrischen Bronzeschild aus Kreta. Omamentstrclfen um-

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Drittes Capitel. Der hellenische Geist gegenüber fremden Einflüssen.

Bronzeschild aus Kreta.

gebenen Mittelfelde, so weit es unbedeckt bleibt, mit einer Sphinx, Schlangen und einigen anderen Thieren in Relief geschmückt ist. Bei

anderen finden wir auf dem den Löwenkopf umgebenden Felde gleichfalls Sphinxe, Löwen, die geflügelte Sonnenscheibe u. A., auch menschliche Gestalten, ein- mal (t. II) die nackte Astartege- stalt (Abb. 65). Nach aussen zu wechseln nicht nur glatte und ornamentirte Streifen, sondern treten auch schon Friese von Thieren auf: Löwen, Rinder, Pferde, Rehe, Hirsche, Böcke, die besonders auf den Schalen, wo der Schildbuckel durch ein Flachornament ersetzt wird, in öfterer, zwei- und dreifacher Wiederholung wiederkehren. Auf zwei Schalenfragmenten (t. IX) endlich begegnen wir auch Darstellungen aus dem Menschenleben, wie es scheint rituellen Scenen, Reigen, Processionen (Abb. 66). Hinsicht- lich der Anordnnng ist besonders zu bemerken, dass namentlich an den Schilden auf den kreisförmigen Streifen die lebenden Wesen nicht durchweg radial mit den Beinen nach dem Mittelpunkt gerichtet sind, vielmehr nicht blos in der oberen, sondern eben- so in der unteren Kreis- hälfte dem Beschauer in aufrechter Stellung er- scheinen.

Es braucht hier nicht im Einzelnen dargelegt zu werden, wie manche Be- rührungspunkte sich in der Gliederung und sonst mit dem homerischen Schilde ergeben, nament- lich wenn wir in Betracht ziehen, dass wir es hier mit im Einzelnen keineswegs hochwerthigen Weihgeschenken zu thun haben, während es

66. Bronzefragment aus Kreta.

Zeusgrotte auf dem Ida. Regulini-Galassi'sches Grab in Caere.

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sich beim homerischen Schilde um ein Prunkstück handelt, wie es gewiss nur ausnahmsweise mit allem Aufwände der zu Gebote stehenden künst- lerischen Mittel, etwa als kostbares Geschenk eines Königs, ausgeführt wurde. Die Bedeutung solcher Vergleichungen aber wächst, wenn wir bedenken, dass die Arbeiten aus der Zeusgrotte nach ungefähren Zeit- bestimmungen, welche sich aus der Vergleichung mit assyrischen Funden ergeben, von der homerischen Schildbeschreibung sich nicht allzuweit entfernen, sondern nur als etwa ein bis zwei Jahrhunderte jünger betrachtet werden dürfen. Und doch nicht minder gross als die Aehnlichkeiten empfinden wir die Verschiedenheiten dieser Arbeiten: sie berühren uns fremdartig und, obwohl an der Wiege des höchsten hellenischen Gottes gefunden, können sie doch keineswegs als die Erzeugnisse einer ein- heimischen Kunst betrachtet werden. Leicht beantwortet sich der eine Theil der Frage, woher sie stammen: nach Allem, was wir über die Culturzustände jener Zeit wissen, kann es keinem Zweifel unter- worfen sein, dass sie durch den Handelsverkehr der Phönicier nach Kreta gelangten. Aber es ist nur ein Gebot der Vorsicht, wenn wir die Frage, ob wir in diesem Gemisch von ägyptischen, assyrischen und einem dritten Elemente das Product eines specifisch phönicischen Geistes, einer specifisch phönicischen Kunst anerkennen sollen, nicht ohne Weiteres bejahen. Jedenfalls erscheint es rathsam, dass wir Um- schau halten, ob sich nicht die Mittel bieten, für unsere Beurtheilung einen weiteren, umfassenderen Standpunkt zu gewinnen.

Das Regulini-Galassi'sche Grab in Caere. Schon früher begegneten wir der Thatsache, dass in der ältesten Zeit Griechenland und Italien in den sogenannten pelasgischen Bauten noch das Bild einer einheitlichen Cultur darboten. Es darf aber schon hier der weitere Satz ausgesprochen werden, dass, wie der vollen Herrschaft specifisch hellenischen Geistes in der Kunst der bei Homer geschilderte Zustand in bestimmter Scheidung gegenübertritt, ebenso das echte Etruskerthum in der Kunst seinen Vorläufer in gewissen Verhältnissen hat, die ihre Analogie vielmehr bei Homer, als in Italien selbst finden. Es ist dadurch gerechtfertigt, ohne Rücksicht auf den historischen Schematismus der späteren Darstellung der etruskischen Kunst vor- zugreifen und hier von den ältesten Denkmälern dieses Landes das- jenige heranzuziehen, was zur Veranschaulichung der homerischen Zustände nicht durch Anderes ersetzt werden kann.

Unter allen Gräbern von Caere zeichnet sich das nach seinen

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Drittes Capitel. Der hellenische Geist gegenüber fremden Einflüssen.

Entdeckern sogenannte Regulini- Galassi'sche anerkannter Maassen durch hochaltertümlichen Charakter aus. Die Form ist die eines runden Tumulus mit regulärer Steinumkränzung an der Basis. In das Innere ist ein in der Mitte getheilter und in der hinteren Hälfte etwas schmalerer Gang hineingetrieben, dem sich zur Seite zwei fast runde Räume anschliessen. Die Wände des Hauptganges sind in annähernd quadratischer Schichtung aufgeführt; die Ueber- deckung nach Art der alten Thore durch Vorkragung der oberen Steinlagen, wenn auch nicht bis zum Zusammentreffen in einer Spitze hergestellt. Dieser alten Construction entspricht durchaus der bewegliche Inhalt des Grabes, der, völlig intact erhalten, jetzt einen Hauptbestandtheil des etruscischen Museums im Vatican bildet (Mus, Gregor. I, ii; 15 20; 62 67; 75 77; 82 85; 107. Uebersichtlicher bei Grifi, Mon. di Cere antica). Von einer Reihe kleiner Idole aus schwarzem Thon und einigen unbedeutenden irdenen Gefässen abgesehen herrscht als Material, 67. Bronzegefäss aus Caere, wie iu dcr homerischcn Zeit, durchaus das Metall vor. Aus Bronze sind mehrere, zum Theil auf eisernen Dreifüssen aufgestellte Kessel, eine Reihe von Schalen, ein hohes candelaberartiges Gefäss oder Thymiaterion (Abb. 67), eine Weih- rauchpfanne auf Rädern, Bratspiesse, ferner einzelne Stücke eines Wagens, eine bettartige aus Metallstreifen gebildete Bahre, endlich Pfeile und Schilde (Abb. 68). Golden war der Schmuck der am Ende des Ganges aufgestellten Leiche : ein reicher Haarputz, ein grosses herzförmiges Brustschild, Arm- und Halsbänder mit Kettchen und einigen amuletartig gefassten Stückchen Bernstein, Spangen ; selbst das Gewand war mit dünnem Gold überzogen und besetzt. Eine dritte Gruppe bildet eine Reihe kleinerer Gefässe und Schalen aus theilweise vergoldetem Silber mit Figurenschmuck in Relief. Ihrem künstlerischen Charakter nach sind alle diese Gegenstände nicht nur höchst alter- thümlich, sondern es zeigt sich an ihnen gerade wie bei Homer ein eigenthümliches Schwanken verschiedener Einflüsse und Styl gattun gen. Die kleinen Idole, theilweise mit dünnem Blattgold überzogen, sind äusserst roh und styllos, so dass bei ihnen von einem Einflüsse fremder Kunst nicht w^ohl die Rede sein kann. Die Bronzen sind sämmthch Sphyrelata, d. h. mit dem Hammer getrieben, sogar die an einigen

Regulini-Galassi'sches Grab in Caere.

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Kesseln henkelartig weit hervortretenden rund gearbeiteten Löwen- köpfe; manches, wie z.B. die Schilde, so dünn, dass sie nicht zu wirk- lichem Gebrauche, sondern nur als Grabesschmuck gearbeitet sein können. In der Ornamentirung finden sich ausser der gedrehten Schnur als Elemente aus der Pflanzenwelt die orientaHsche Palmette und lotusartige Blüthe, sodann aber aus dem Thierreiche die ebenfalls orientalisirenden Löwen, Stiere, Greife und Sphinxe, theils geflügelt, theils ungeflügelt, ganz vereinzelt auch eine einfach bekleidete menschliche Figur. In der stylistischen Ausführung sind sie allerdings von dem directen Zusammen- hange mit orientalischen Vorbildern bereits losgelöst, aber immer noch in einem von dort abgeleiteten durchaus ornamentalen Schematismus behandelt. Nur in den Schilden tritt neben flüchtig behandelten Reihen von Thieren und Blüthen das lineare Element des geometrischen Vasenstyls hervor, jedoch mit dem Unterschiede, dass es in seinen Schachbrett-, schuppenartigen und Zickzackeintheilungen schon bestimmt einem regelmässigen architek- tonischen Gesetz unterge- ordnet ist. Ganz wie in den Schilden bei Homer und Hesiod herrscht hier die Einteilung in concentrische Kreise, in welchen radiale und peripherische Linien in mannigfaltigem Wechsel mit einander verbunden sind. Auch das Gold ist als getrie- benes Metall, theils als Blech, theils geradezu als Blatt- gold verarbeitet. Die silbernen Gewänder Homers finden hier ihre vollständigste Pa- rallele. Denn das Gewand der Toten war ganz mit feinem Golde überzogen und an den Säumen mit etwas solideren Ornamentstreifen besetzt. Letztere aber, allerlei Mäander und Kreise, sind ebenso wie die vielen kleinen, von zahllosen Figuren bedeckten Streifen des Brustschildes, einige Armbänder und Anderes, offenbar mit Hülfe von Stempeln in das dünne Metall gepresst ; ja selbst mehrere Reihen kleiner Vögel, die in runder Arbeit auf den Kopf-

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Drittes Capitel. Der hellenische Geist gegenüber fremden Einflüssen.

schmuck aufgesetzt sind, scheinen aus zwei Stücken gepressten Gold- blechs zusammengesetzt zu sein. Ausserdem finden sich an ver- schiedenen Stücken die Ornamente theils gravirt, theils aus feinen Gold- körnchen auf den glatten Grund in höchst sauberer Technik aufgesetzt und gelötet. Merkwürdiger Weise zeigen nun gerade diese Ornamente das System von linearen Zusammenstellungen und Mustern des geo- metrischen Styls und treten dadurch, einige Male sogar an einem und demselben Schmuckgegenstande, in einen bestimmten Gegensatz zu dem orientalisirenden Charakter, der im Uebrigen hier wie an den

Bronzen vorherrscht Denn auch hier finden sich wieder Löwen, Chimären, Böcke, Hirsche, Greife, Menschen- gestalten mit zwei und vier Flügeln , endlich Männer

zwischen anspringenden Löwen oder im Kampfe mit ihnen. Im Styl unterscheiden sich diese gepressten Ar- beiten durch eine grosse Weichlichkeit, die sich nur aus einer Abschwächung durch langen , routinirten und fabrikmässigen Betrieb erklärt.

Von w^esentlich ver- 69. Silberschale aus Caere. schicdcnem Charakter sind

die mit Reliefs gezierten Silbergefässe, die unter den verschiedensten Gesichtspunkten die schla- gendsten Analogieen mit den Schilden bei Homer und Hesiod darbieten. Grosse Uebereinstimmung findet sich namentlich bei den flachen Schalen in der Zoneneintheilung (Abb. 69). Wenn diese bei den Schilden durch die Anwendung verschiedener Metalle den Eindruck grösserer Mannigfaltigkeit dargeboten haben mag, so ist doch auch hier durch theilweise Vergoldung eine gewisse Abwechslung erreicht. Wir sehen daraus zugleich, wie innerhalb derselben Zone auf diesem Wege ein Wechsel des Farbentones ermöglicht war, wobei noch bemerkt werden mag, dass anderwärts anstatt eigentlicher Vergoldung zuweilen das Gold einfach aufgelegt wurde (vgl. Millingen, anc. uned. mon. II, pl. 14),

Regulini-Galassi'sches Grab in Caere.

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und dass auch dieser alten Zeit die Anwendung des Email z. B. für die Augen nicht fremd war. Nicht minder lehrreich ist die Ver- gleichung des Inhaltes der Darstellungen. Unter vollständigem Aus- schlüsse mythologischer Bilder finden sich: eine Kuh mit säugendem Kalbe, ein Stier von Löwen angefallen, dann aber eine Jagd auf Löwen und Steinböcke, Züge von Kriegern zu Fuss, zu Pferde, zu Wagen, begleitet von Vögeln, eine Cultus- oder Opferscene; dabei ist auch die Angabe von Pflanzen, Bäumen, von felsigem Terrain nicht aus- geschlossen. Alles ist aus dem relativ starken Metall nur leicht und in allgemeinen Formen mit dem Hammer getrieben und die weitere Ausführung durch gravirte Linien gegeben. Wenn wir aber auch hier an asiatische Vorbilder gemahnt werden, so lässt sich doch ebenso in vielen Einzelnheiten, in der Zeichnung der Haare, der Gewänder, der Flügel der Vögel und mancher Pflanzen ein Einfluss ägyptischer Muster nicht verkennen. So entsteht ein eigenthümlicher Mischstyl. In der Anlage ist das Schematische eines älteren Vorbildes noch festgehalten, aber in der Durchführung zeigt sich ein Streben nach Vereinfachung des Details, verbunden mit einem gewissen Schwanken, einer Laxheit in der Formenbezeichnung, wie sie der Entwickelung einer neuen Kunstsprache, eines neuen klar ausgeprägten Styls vorauszugehen pflegt. Alles bietet demnach hier die vollständigste Parallele zu den Zuständen der Zeit Homers, in welcher wir gleichfalls eine Mischung fremder und einheimischer Elemente ohne die Möglichkeit scharfer Scheidung im Einzelnen anerkennen mussten. Wenn nun auch die Caeretaner Funde keineswegs in die Zeit Homers selbst hinaufgerückt werden sollen man pflegt sie jetzt um die Wende des VIL bis VI. Jahrh. anzusetzen , so giebt es doch kaum etwas unter den er- haltenen Monumenten, was der homerischen Kunst dem allgemeinen Charakter nach so nahe stände, wenigstens nicht einen Complex so verschiedenartiger Objecte, der uns eine so vielseitige Anschauung jener früheren Zeit zu vermitteln vermöchte. Auch neuere Funde aus Caere, Clusium und namentlich aus Praeneste (Mon. d. Inst. IX, 44; X, 31 33; 39a) haben diese Bedeutung nicht zu schmälern vermocht. Sie erweitern allerdings da und dort unseren Gesichtskreis, indem sie z. B. mehrfach den Einfluss Aegyptens stärker hervortreten lassen, legen aber im Uebrigen nur Zeugnis ab für die weitere Verbreitung dieser besonderen Gattung von Kunstproducten.

Die bisherigen Resultate lassen sich aber noch unter einem anderen Gesichtspunkte weiter begründen. Von dem Inhalte des caeretaner

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Drittes Capitel. Der hellenische Geist gegenüber fremden Einflüssen.

Grabes trägt eigentlich nichts ein ausgesprochenes etruscisches Ge- präge, womit nicht gesagt werden soll, dass nicht wenigstens ein Theil von etruscischer Hand herrühre. Aber das Kunsthandwerk entwickelt sich vielfach zuerst an einer Art Fälschung: es unternimmt, durch Nachahmung fremder Waare die fremde Concurrenz zu bestehen, oder auch es verarbeitet das theil weise vorbereitete Material (Halbfabricate) für die besonderen landesüblichen Bedürfnisse. So mögen theilweise die getriebenen Bronzen, namentlich aber die mit dem Stempel ge- pressten Goldbleche aus der Fremde nach Etrurien importirt worden sein und dort ihre weitere Verwendung gefunden haben. Am wenigsten aber lassen sich die silbernen Reliefgefässe mit allem, was wir von etruscischer Kunst wissen, in einen annehmbaren inneren Zusammen- hang bringen. Da ist es nun eine Thatsache von höchster Be- deutung, dass sich schon seit längerer Zeit im Louvre ein Silbergefäss befindet, welches mit denen italischen Fundortes in so auffallender Weise übereinstimmt, dass es als aus den gleichen Fa- briken hervorgegangen betrachtet werden muss. Dieses Gefäss aber 70. Kyprische Silberschale. Stammt aus Kitiou auf Cypcm ;

und aus anderen Städten dieser Insel, aus Amathus (Abb. 70) und Kurion, sind durch die neueren Ausgrabungen weitere Beispiele von Schalen durchaus übereinstim- menden Charakters bekannt geworden (Cesnola, Cyprus p. 276, 329; vgl. 316 u. 337). Dorthin waren diese Gefässe gewiss nicht aus Etrurien gebracht, sondern, sofern nicht gewichtige Gründe entgegen- stehen, werden wir annehmen müssen, dass vielmehr die caeretaner Gefässe aus Cypern stammen : aus Cypern, auf welches es auch bei Homer nicht an Hinweisungen fehlt. Es ist dadurch geboten, die Verhältnisse dieser Insel etwas schärfer ins Auge zu fassen.

Kypros und die Phönicier. Kypros nimmt durch seine Lage in dem Völkerverkehr der alten Welt eine Stellung ein, deren hervorragende Bedeutung erst in neuester Zeit durch umfangreiche Entdeckungen in ein helleres Licht zu treten anfängt. In dem Winkel zwischen dem Süden Kleinasiens und der syro-phönikischen

Kypros und die Phönicier.

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Küste gelegen, ist es die dem eigentlichen Asien am nächsten zuge- wandte Insel, und beherrscht von der Seeseite nicht nur die genannten Länder, sondern, wenn auch in geringerem Grade, die Mündungen des Nils und Aegypten, während es in der vierten Richtung auf die Vermittlung des Verkehrs mit Griechenland und dem ferneren Westen hingewiesen ist. Bei einer Grösse von 300 400 Ouadrat- meilen zu gross, um, wie später Rhodos, als neutrales Gebiet oder Freihafen Duldung zu finden, und nicht gross genug, um in grossen Völkerconflicten auf die Dauer eine selbständige beherrschende Stellung einzunehmen, mussten sich dort bei Entwicklung lebendigeren Seeverkehrs die Völkerströmungen in der verschiedenartigsten Weise kreuzen. Ueber die ältesten Bewohner fehlen uns sichere Nachrichten ; es mögen den Griechen halb verwandte , halbbarbarische Stämme, Phrygier, Karier, Cilicier gewesen sein. Natürlich mussten schon in sehr früher Zeit die Phönicier auf dem gewissermaassen vor ihrer eigenen Thüre gelegenen Eiland festen Fuss zu fassen suchen. Doch lag wohl in ihrem Sinne weniger eine eigentliche Colonisation des Landes, als die Gründung von Handelsfactoreien und die Gewinnung einer Oberhoheit, welche eine Ausbeutung der reichen Schätze des Bodens für Handel und Industrie gestatteten. Mögen sodann die vSagen, welche sich an das Ende des troianischen Krieges knüpfen, im Einzelnen nur geringen historischen Werth haben, so ist doch ge- wiss, dass von den Wanderungen griechischer Stämme nach Asien in der Zeit, in welcher das eigentliche Hellenenthum sich schärfer auszuprägen begann, auch Cypern nicht am wenigsten berührt und dass namentlich der nördliche Teil der Insel von hellenischen Colonien besetzt wurde. Als ferner die assyrische Macht im neunten Jahr- hundert bis zu den Küsten des Mittelmeeres vordrang und noch später die verschiedenen asiatischen Reiche und Aegypten mit wechselndem Erfolge um die Herrschaft an den Grenzen Asiens und Africa's rangen, musste wiederum Cypern stark in Mitleidenschaft gezogen werden ; und Aehnliches wiederholte sich auch noch später unter veränderten Verhältnissen in den Kämpfen der Hellenen mit dem Perserreiche.

Alle diese wechselnden Strömungen haben ihre deutlichen Spuren in den Erzeugnissen der Kunst und des Handwerkes hinterlassen, welche durch die Ausgrabungen der letzten Jahrzehnte in reicher Fülle an das Tageslicht gezogen worden sind; und Vieles mag* hier noch im Einzelnen eines eingehenden Studiums bedürfen. Aber auch eine flüchtige Betrachtung gestattet schon, gewisse Hauptgesichtspunkte

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lOO Drittes Capitel. Der hellenische Geist gegenüber fremden Einflüssen.

deutlich zu unterscheiden. Es fehlt nicht an einer einheimischen Kunst, die in ihrem weiteren Verlaufe sich allerdings der griechischen stark annähert, aber doch stets als eine halbbarbarische Mischung erscheint. Daneben stellen sich schon in relativ früher Zeit griechische Erzeug- nisse, die sich kaum von denen anderer griechischer Schulen unter- scheiden lassen. Andere Arbeiten dagegen lassen in der unzweifel- haftesten Weise den Einfluss Assyriens, wieder andere eben so ent- schieden den Einfluss Aegyptens erkennen. Unter ihnen mögen ein- zelne Stücke ächt assyrischen oder ägyptischen Ursprungs sein. Der Mehrzahl nach jedoch wollen sie zwar assyrisch oder ägyptisch sein, sind es aber nicht. Die Nachahmung beschränkt sich auf das Aeusser- liche der Erscheinung, aber im Innern Kern wirkt ein anderer Geist. Dieser auffälligen Erscheinung gegenüber drängt sich die Frage auf, welchen Händen diese pseudoasiatischen und -ägyptischen Arbeiten ihren Ursprung verdanken mögen.

Der erste Gedanke wird sich auf die Phönikier richten, in deren Händen damals trotz mancher kriegerischer Bedrängnis noch vorzugs- weise der Handelsverkehr ruhte. Und ihnen hat man in der That diese Arbeiten zuweisen wollen, mit der weiteren Einschränkung, dass die in Italien gefundenen Stücke nicht eigentlich phönikischen, sondern karthagischen Werkstätten zuzuschreiben sein möchten. Diese letztere Beschränkung aber verwickelt uns sofort in eine neue Schwierigkeit: dass wir nämlich die Gesammtmassen der gleichartigen Funde in zwei getrennte, eine phönikische und eine karthagische Gruppe sondern müssten; denn schwerlich werden wir geheigt sein anzunehmen, dass die in Cypern gefundenen Stücke dorthin von Karthago aus gelangt seien, während umgekehrt nichts der Annahme entgegensteht, dass cyprische Producte durch Vermittlung karthagischen Handels sehr wohl nach Etrurien gelangen konnten. Gegen diese Anschauung vermag auch eine phönikisch-„karthagische" Inschrift auf einer in Praeneste gefundenen Silberschale (Mon. d. Inst. X, 32) nichts zu beweisen. Denn da dieselbe nicht in nothwendiger Verbindung mit dem Bilderschmuck steht, und daher sehr wohl nachträglich auf die fertige Arbeit gesetzt sein konnte, so wird dadurch die Schale selbst so wenig zu einer karthagischen, wie etwa ein griechisches Werk durch Hinzufügung einer etruscischen Inschrift zu einem etruscischen. Eben so wenig dürften einige Affen auf einer anderen pränestischen Schale (vgl. Ann. d. Inst. 1876, p. 227) ein vollgiltiges Zeugnis für karthagische Fabrication ablegen. Denn wenn dieselben nach einigen

Kypros und die Phönicier.

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wesentlichen, aber keineswegs allen Merkmalen einer Race angehören sollen, die nicht etwa in Karthago, sondern an der Westküste Africa's, in Guinea, heimisch ist, so konnten eben so gut wie die Karthager auch die Phönikier auf ihren weiten Seefahrten von denselben Kunde erlangt haben.

Alles kommt vielmehr darauf an, wie sich der künstlerische Charakter dieser Arbeiten zu dem Gesammtbilde verhält, welches uns die Cultur und Stellung der Phönikier überhaupt darbietet.

Phönicien war nie eine politische Macht in dem Sinne, wie etwa die ägyptischen und mesopotamischen Reiche, schon darum nicht, weil es kein einheitliches Staatswesen bildete. Wir wissen sogar, dass es in den Jahrhunderten, um welche es sich hier handelt, theilweise der vollen politischen Unabhängigkeit entbehrte und vielmehr zufrieden sein musste, durch Tributleistungen sich seine Freiheit im Handels- und Verkehrsleben zu wahren. In erster Linie waren und blieben die Phönicier ein Handelsvolk; und die Kräfte der an sich keineswegs sehr zahlreichen Bevölkerung waren gewiss zu einem nicht geringen Theile durch die Schifffahrt nach entfernten Meeren und die Thätigkeit in den überall gegründeten Handelsfactoreien in Anspruch genommen. Als Kaufleute aber begnügten sie sich keineswegs, die eigenen Producte auf den Markt zu bringen, sondern mussten noch weit mehr bestrebt sein, den Austausch der an einem Orte überschüssigen, an dem andern mangelnden Erzeugnisse zwischen den verschiedenen Völkern zu vermitteln. In einer solchen Stellung muss der Kaufmann bemüht sein, allen in dieser Richtung an ihn gestellten Forderungen zu genügen, und um sich eine ausgedehnte Kundschaft zu bewahren, muss sein Streben darauf gerichtet sein, sich in der Beschaffung der Waaren, die nicht einfach Naturproduct, sondern durch menschliche Arbeit herzustellen sind, von fremden Producenten unabhängig zu machen. Er wird mit denselben in Concurrenz treten, aber keineswegs die dazu nöthige Arbeit immer selbst, mit eigener Hand verrichten, sondern in eigenen Fabriken unter seiner Leitung verrichten lassen. Denken wir nur, wenn auch der Vergleich nur theilweise berechtigt sein mag, an die nächsten Stammverwandten der Phönicier, die Juden, und ihre Stellung noch in der heutigen Handelswelt: wir werden sie vielfach als Fabrikherren, aber nur in verschwindender Zahl als Fabrik- arbeiter finden.

Ein solcher Fabrikbetrieb, so sehr er materiell gedeihen mag, braucht deshalb noch keineswegs zu einer kunstgewerblichen Blüthe,

I02 Drittes Capitel. Der hellenische Geist gegenüber fremden Einflüssen.

zur Entwicklung eines eigenthümlichen, durch dieselbe hervorgerufenen Kunststyls zu führen. Wo wir einen solchen finden, an der Grenze des Mittelalters in Italien und in Deutschland, später in Frankreich, beruht derselbe auf wesentlich verschiedenen Voraussetzungen : auf der Blüthe des Städtewesens und dem durch diese hervorgerufenen Wohl- stand, auf dem Luxus und der Prachtliebe des Königthums. Anders, wo in erster Linie der Exporthandel in Betracht kommt. In England werden noch heute die kleinen buddhistischen Götterbilder für den ostindischen Hausbedarf von europäischem Kunststyl ganz unabhängig fabricirt; aber trotz seiner Weltherrschaft in Handel und Fabrik- thätigkeit hat es in denjenigen gewerblichen Betriebsarten, die eine bestimmte künstlerische Ausdrucksweise voraussetzen, nie eine führende und leitende Rolle zu erringen vermocht. Wir sind daher in keiner Weise zu der Annahme genöthigt, dass and en durch den Handel der Phönicier verbreiteten kunstindustriellen Producten nun auch nothw endig ein phönicischer Kunststyl zu Tage treten müsse. Im Gegentheil: in den älteren Erzeugnissen, und zwar je älter desto mehr, treten auf den ersten Blick Aegyptisches und Assyrisches ganz überwiegend als zwei Grundbestandtheile entgegen, mit denen sich zuerst in schwachen An- fängen, dann in immer steigendem Maasse ein drittes Element mischt. Aber ist dieses phönicisch?

Schon vor Jahren habe ich bei wenig umfassender Anschauung die Unselbständigkeit der phönicischen Kunst mehr behauptet als be- wiesen. Jetzt hat dieselbe im dritten Bande des grossen kunstgeschicht- lichen Werkes von Perrot, auf Grund eines wesentlich erweiterten Materials und unter Verwerthung eingehender Detailstudien von Heuzey, eine ausführliche und durchaus klare und verständige Behandlung ge- funden. Das Schlusswort (p. 621) aber lautet: sie hat nie ihre volle Unabhängigkeit gewonnen, sie lebt von der Nachahmung fremder Muster.

Was erfahren wir zunächst über Funde des phönicischen Stamm- landes und über Darstellungen der Menschengestalt, an denen sich die Besonderheit künstlerischer Auffassung am Deutlichsten auszusprechen pflegt? Ziehen wir ab, was den Stempel reiner Nachahmung trägt, so bleibt neben dem zwerghaften Bes als eigenthümlichstes Product die nackte Frauengestalt der Astarte ein Muster rohester Natur- nachahmung und Styllosigkeit. Nun: eine solche Astarte finden wir in unverkennbarster Deutlichkeit auf einem der kretischen Schilde (t. II), womit denn doch wohl der phönicische Ursprung dieser Arbeit

Kypros und die Phönicier.

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in unzweifelhaftester Weise dargethan ist ? Mit Nichten : bhcken wir auf den übrigen weit umfangreicheren und bedeutenderen Bilder- schmuck dieses Schildes, so erscheint die weibliche Figur als eine Anomalie, etwa wie ein fremdartiges, von anderswo herübergenommenes Symbol mitten zwischen Darstellungen, die, wenn auch nicht einen ursprünglichen, in sich festen und durchgebildeten Styl, doch ganz entgegengesetzte Styltendenzen verrathen. Vor allem macht sich hier, wie in den übrigen verwandten Arbeiten der Zeusgrotte, die Bedeutung des Raumes geltend als der festen Grundlage, von der die ganze Gliederung des bildlichen Schmuckes ausgeht. Selbst auf dem noch ganz in der Nachahmung des Assyrischen befangenen Schilde I, auf dem die Figurengruppen nur durch einen Knospenkranz umschlossen sind, wird das Auge durch die von oben gerade aus der Mitte herab- steigende Palmette nach unten gerade durch die Mittellinie geführt, auf der uns der weitausschreitende Kämpfer in lebendiger Bewegung entgegentritt, während die höher gestellten geflügelten Dämonen ge- wissermaassen als Seitenflügel das Centrum im Gleichgewicht halten und durch die vier Tambourins mit demselben künstlerisch einheitlich verknüpft werden. Wie sich aber das Ganze der Composition von schematischer Erstarrung frei erhält, so lässt sich auch in den einzelnen Gestalten, in der Stellung der Schulter, in der Bewegung der Arme eine leise Lockerung der typischen Verknöcherung assyrischer Vor- bilder nicht verkennen, während noch weit mehr die Bildung jeder Einzelheit sich von diesen entfernt. In ähnlicher Weise beherrscht auf dem Schilde IV der herabschwebende Vogel die verticale Gliederung, die in den ausgebreiteten Gliedern im wörtlichen Sinne ihre Seiten- flügel erhält. Um das runde Mittelfeld, das auf seinen unbedeckten vStellen mit einer Sphinx und verschiedenen Thieren in nicht peinlicher Symmetrie geschmückt ist, schlingt sich ein wohl gegliederter Rand, gebildet aus einem breiten friesartigen, mit Schilden besetzten Streifen, der nach innen und nach aussen von mehreren schmaleren Ornament- bändern umsäumt wird. An den anderen Beispielen gewinnt der Löwenkopf als wSchildbuckel eine bestimmt ausgeprägte tektonische Bedeutung als Ausdruck der in der Mitte concentrirten Kraft und Stärke, die gegen den Rand zu in der Abfolge von einem belebten Figurenfelde durch mehr schematische Thierfriese zu reinen Ornament- streifen von lebendiger Energie zu dem Charakter eines nur tektonischen Gefüges überleitet. Umgekehrt wird an Schalen, bei denen dem flachen Boden jene Bedeutung fehlt, das organische Leben der

I04 Drittes Capitel. Der hellenische Geist gegenüber fremden Einflüssen.

Thierfriese mehr in die aufwärts g-erichteten Seitenwandungen gelegt. Herrschen nun endUch in der Decoration die symboHschen Gestalten des Orients und weiter die einfachen Thierreihen vor, so fehlen doch auch nicht ganz die zu einem Chor oder sonstigen Handlungen ver- einigten Menschengestalten, bei denen wir des Orients vergessen und uns eher, wenn auch in entfernter Weise, an Gestalten und Scenen der norditalischen Situlae erinnern lassen. Es fehlen uns bestimmte Anhaltspunkte, um die Fabricationsorte dieser Arbeiten genauer zu be- stimmen. Ihre Betrachtung führt uns aber wieder zu der zweiten Denkmäler gruppe zurück, die, noch weiter nach dem Westen bis nach Etrurien verbreitet, durch die verwandten cyprischen Funde uns diese Insel als Erzeugungsgebiet mit hinlänglicher Sicherheit erkennen Hessen. Auch an diesen cyprischen Silberschalen und Gefässen verleugnet sich in der Erfindung und Zeichnung des Figurenschmuckes nirgends der Einfluss und der Zusammenhang mit Aegypten und dem Orient. Aber die Decorirung in concentrischen Streifen ist hier bereits zu einem gewissen systematischen Abschlüsse gelangt. Gerade für diese Raum- gliederung fehlen uns aber in der ägyptischen wie in der assyrischen Kunst nicht etwa die farbigen Vorbilder, sondern selbst die Vorstufen. Sie beruht auf einer durchaus verschiedenen tektonischen Grund- anschauung. Wo aber findet sich für eine solche in echt phönicischer Kunst auch nur der geringste Anhaltspunkt? Wir finden vielmehr das Gegentheil, eine Abschwächung und eine Auflösung der strengen Stylprincipien , welche die Aegypter und Asiaten in verschiedenen, wenn auch einseitigen Richtungen entwickelt hatten. Selbst der Schrift, so hoch wir das Verdienst der Phönicier um ihre Erfindung veran- schlagen wollen, fehlt in der Form der Buchstaben der künstlerische Styl. Dagegen treten uns die Vorstufen einer streng tektonischen Raumgliederung deutlich entgegen in den Vasen des geometrischen Styls, besonders den Dipylonvasen. Wahre Vorbilder aber bieten uns der homerische und hesiodische Schild, der Sache nach und was hier keineswegs zu übersehen ist im Hinblick auf die Zeit der Ent- stehung.

Blicken wir jetzt auf die Verhältnisse Phöniciens und Cyperns zurück, so wird wohl niemand behaupten, dass es vor dem Jahre i ooo V. Chr. eine Entwicklung gebe, welche auf den Namen einer eigen- thümlichen und selbständigen „phönicischen" Kunst Anspruch erheben dürfte. Sollen wir annehmen, dass der Werdeprocess einer solchen sich in den nächstfolgenden Jahrhunderten vollzogen habe, in denen

Kypros und die Phönicier.

die Expansionskraft der Phönicier bereits ihren Höhepunkt überschritten hatte und ihr eigenes Heimatsland sich vielfach dem wechselnden Einflüsse Aegyptens und Assyriens zu unterwerfen genöthigt war? Phönicien beherrschte noch die Handelsverbindungen, und materiell oder quantitativ mochte der Bedarf an Handelswaaren noch ein unge- schmälerter, wenn nicht sogar ein steigender sein, der einem Fabrik- betriebe in dem oben angedeuteten Sinne nur förderlich sein konnte. Ein Hauptsitz dieser Thätigkeit muss aber offen-bar das von der Natur reich gesegnete und durch seine Lage für einen solchen Zweck wie geschaffene Cypern gewesen sein, wo die Fabriketablissements den vorübergehenden Kriegs- und anderen Gefahren weit mehr als auf dem Festlande entzogen waren. Hier aber herrschten die Phönicier nicht ausschliesslich und nur über rohe Barbaren, sondern sie befanden sich in enger Berührung mit Griechen, die bereits eine bedeutende Entwicklung auf geistigen Gebieten durchgemacht hatten. Wir kennen jetzt ein griechisches Schriftsystem auf Cypern, das sich direct oder indirect an das System der Keilschrift anlehnt uud sich schwerlich so lange dort erhalten haben w^ürde, wenn es nicht älteren Ursprunges wäre, als das allgemeine von den Phöniciern entlehnte griechische Alphabet. Wir hören ferner von den zahlreichen griechischen Ein- wanderungen, mögen nun dieselben mit den Folgen des troischen Krieges in Zusammenhang gebracht werden oder in den etwas später erfolgenden Völkerverschiebungen ihren Grund haben. vSicher aber wanderte mit den griechischen Stämmen in ihre neuen Wohnsitze ein geistiges Besitzthum : ihre Poesie. Das in engem Anschluss an die Ilias gedichtete Epos der Kyprien hat von der Insel seinen Namen, ist das Werk eines kyprischen Dichters, und bietet also das schwerwiegendste Zeugnis für eine hohe griechische Culturentwicklung auf Cypern, und zwar vor der Zeit, der die Producte kyprischer Kunstindustrie zuge- schrieben werden dürfen, um deren Ursprung es sich hier handelt. Sollten wir annehmen, dass bei einem solchen Stande der Poesie der Sinn für bildende Kunst noch nirgends zu einer Bethätigung gelangt seij wo es doch an künstlerischer Anlage sicherlich nicht gebrach ? Nichts erscheint natürlicher, als dass die Phönicier diese Anlagen für die Zwecke ihres Handels verwertheten und mit ihrer Hilfe eine Kunst- industrie schufen, durch die sie wieder für längere Zeit und auf .weiten Gebieten den Markt beherrschten. Dem angeborenen, aber noch nicht selbständig ausgebildeten Kunstbetrieb der kyprischen Hellenen aber bot sich hier eine günstige Gelegenheit, ihre Kräfte zunächst bei der

Io6 Drittes Capitel. Der hellenische Geist gegenüber fremden Einflüssen.

Ausführung dieser Arbeiten für phönicische Bestellung in der Nach- ahmung fremder Muster zu bcthätigen und daran eine erste Schulung durchzumachen. In der Entfernung von den Stammsitzen jener im nationalen Gefühl begründeten Stylarten Asiens und Aegyptens musste die Strenge der Nachahmung, zumal den fremden Käufern die For- derung stylistischer Treue gewiss fern lag, je länger desto mehr Ein- busse erleiden. Wie von selbst musste sich vielmehr bei künstlerisch begabten Arbeitern die eigene Individualität immer mehr geltend machen ; und so entsteht nach den pseudo-ägyptischen und -assyrischen Arbeiten jene stylistische Mischgattung, welche zwar den Zusammen- hang mit dem Orient noch nicht verläugnen kann und will, aber die gegebenen Grundlagen doch nach neuen und selbständigen Principien zu verarbeiten anfängt. Je mehr sich aber diese Arbeiten von ein- facher Nachahmüng entfernen, um so mehr tritt ein griechisches Ele- ment in den Vordergrund, ohne dass wir im Stande wären, den Punkt zu bestimmen, wo die frühere Nachahmung aufhört und das Neue zur Geltung gelangt. Ja, bei genauerer Betrachtung werden wir zuge- stehen müssen, dass im ganzen Verlaufe der Entwicklung für die Vermittlung zwischen Anfang und Ende durch eine weitere gesonderte Volksindividualität, wie die der Phönicier, eigentlich der nothwendige Raum fehlt.

Es ist sehr zu bedauern, dass über die Zeit zweier altberühmter Teppichweber, Akesas und Helikon, aus dem kyprischen Salamis (SQ 385 ff.), keine genaueren Angaben vorliegen; aber es ist jedenfalls bezeichnend, dass wir den einzigen uns bekannten kyprischen Künstlern aus älterer Zeit auf einem Gebiete der Kunstübung begegnen, auf dem selbst heute noch der Orient seinen alten Ruhm, ja seine Vormacht- stellung unbestritten bewahrt hat, dem der Teppichweberei. Dass sie darin ausnahmsweise zu hohem Ansehen gelangten, wird sich kaum anders als dadurch erklären lassen, dass sie als hellenische Meister die Concurrenz mit dem Stammsitze der Fabrication aufgenommen und mit gutem Erfolge bestanden hatten. Darin aber dürfen wir wohl eine weitere Bestätigung für unsere Ansicht finden, dass es auch auf den anderen Gebieten der ausgedehnten cyprischen Kunstthätigkeit nicht Phönicier, sondern Hellenen waren, auf welche wir die von uns beobachtete besondere Entwicklungsphase der Kunst zurück- zuführen haben.

Dadurch ist keineswegs ausgeschlossen, dass nicht auch das Ver- hältnis zu den Phöniciern nach manchen Richtungen hin einen be-

Kypros und die Phönicier. Rückwirkung aiif Assyrien.

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stimmenden Einfluss ausübte; ja es ist wohl dieser Einfluss, welcher der ganzen cyprischen Kunstübung eine ganz besondere, sei es provin- cielle oder dialectische Färbung verlieh und für lange Zeit bewahrte. So lange die Phönicier die Herren des Handels waren, blieben die für sie beschäftigten Griechen von ihnen in hohem Maasse abhängig. Sie blieben zunächst gebunden an die Muster, deren Vervielfältigung ihnen aufgetragen wurde. Sie durften dieselben nicht durch etwas ganz Neues und Eigenes ersetzen, und so erklärt es sich aus der Fort- dauer dieser Einflüsse, dass die Keime des Griechenthums gerade in der cyprischen Kunst sich nicht zu voller Selbständigkeit zu ent- wickeln vermochten. Es blieb ihm zunächst nur die Aufgabe, auf die älteren, fremden Kunstweisen zersetzend zu wirken und dadurch den Boden für die volle Unabhängigkeit befruchtend vorzubereiten.

Rückwirkung auf Assyrien. Schon damals aber scheint der jugendlich frische Geist des Hellenenthums die Kraft besessen zu haben, einen andern Erfolg zu erringen, nemlich als geistiges Ferment gewissermaassen rückwärts zu wirken und die erstarrenden Formen der alten Kunstweisen des Orients in ihrer eigenen Heimat vor ihrem Absterben noch einmal mit neuem Lebenssafte zu durchdringen und auf diesem Wege das, was er von aussen empfangen, sofort mit reichem Zins wieder zu erstatten. Wir werden nicht umhin können, die letzte Phase der assyrischen Kunst von 680 650, wie sie in den Sculpturen des Nordpalastes von Kujundschik sich darstellt, als bereits unter einer Rückwirkung griechischen Geistes stehend zu betrachten.

Es ist schon früher erwähnt worden.

dass der Styl der assyrischen Sculpturen sich aus der Teppichweberei entwickelt hat, dass ihre Reliefs eigentlich nichts als in Stein übersetzte Teppiche sind. Man acco- modirte nicht den Styl der Figuren dem Stoffe, dem Material, sondern das Material musste sich dem Styl fügen. Der sogenannte Lebensbaum ist ein für die Teppichweberei vortrefflich stylisirtes Pflanzengeflecht ; aber in Stein übertragen erscheint er als ein Faden-

geflecht ohne Leben (Abb. 71). Das Wachsthum der Pflanze ist ge- schwunden, und in der Zeichnung der Blätter, in ihren Umsäumungen tritt deutlich der Charakter der Stickerei hervor. Dasselbe gilt von

Io8 Drittes Capitel. Der hellenische Geist gegenüber fremden Einflüssen.

anderen Bäumen in der Landschaft, aber auch von den Gewändern, den Fransen und Troddeln, und nicht minder von der Bildung der Haare, der Locken, der Federn. Ja selbst die Formen des thierischen und

menschlichen Körpers mussten sich diesem Grundcharakter fügen: sie zeigen keine freie Modellirung, keine frische lebensvolle Schwellung, sondern die Muskeln, die Adern u. a. erscheinen wie für Reliefstickerei aufgetragen und abgesteppt.

Mit dieser Einseitigkeit des fundamentalen Charakters, in Folge deren die Kunst der Assyrier nur die Bedeutung einer partiellen Entwicklungsphase in Anspruch nehmen kann, steht ein anderer Mangel in engem Zusammenhange. Wir pflegen uns den Decorations- styl, dem doch ihre Arbeiten unzweifelhaft angehören, unwillkürlich als aus einem architektonischen Grundprincip heraus erwachsen vor- zustellen und können uns das Decorative schwer ausser Beziehung zu dem gegebenen Räume denken. Dieses Princip ist bei den Assyriern noch nicht entwickelt. In ihren reich gestickten Gewändern findet sich allerdings in der Zusammenstellung einzelner Elemente aus der Pflanzen-, der Thier- und Menschenwelt eine gewisse Gesetzmässigkeit.

Rückwirkung auf Assyrien.

Aber in der Verwendung der Theile zum Ganzen der Gewandung fehlt die Beziehung zu der Gestalt des Körpers, der mit dem Gewände bekleidet werden soll : wie bei modernen Uniformen und Priester- gewändern finden wir nur Borten als Besatz der Ränder und selbst im reichsten Brustschmuck nur ein Flickwerk von einzelnen Borten, Stücken und Nähten (Layard, I. Serie, pl. 6; 9; 10; 44 ff.) (Abb. 72). Ebenso sind Dolchgriffe, Köcher, Wagenornamente (pl. 10; 14; 15) mit verschieden- artigem Besatz ausgeputzt, aber durchaus nicht aus der Natur ihrer Formen heraus decorirt. Selbst in der Architektur und noch an dem jüngsten Palast begegnen wir einem solchen aus Borten zusammen- gesetzten Friese, aus welchem der Halbkreis des Thorbogens wie mit der Scheere aus einem Stück gemusterten Zeuges herausgeschnitten ist (Rawlinson, anc. monarchies I, p. 417). So erklärt sich denn auch der schon früher hervorgehobene Mangel an Raumvertheilung in den Reliefs. Der ursprüngliche Teppich ist unabhängig von einem be- stimmten (tektonischen) Räume gedacht, und wir gestatten ihm daher noch heute eine freiere Behandlung. Aber indem die Assyrier den beweglichen Teppich in Stein, in einen festen Stoff und in einen architektonisch festbestimmten Raum übertragen, ohne dem Stoffe und dem Räume Rechnung zu tragen, verrathen sie deutlich die Beschränkt- heit ihrer Auffassung und ihrer künstlerischen Befähigung.

Im Gegensatz hierzu begegnen wir in dem jüngsten Palast von Kujundschik nach zwei Richtungen hin ganz neuen Erschei- nungen. Einige jetzt im britischen Museum befindliche Fussbodenplatten (Place, Niniveh pl. 49; Rawlinson I, 350) zeigen in Flach- relief ausgeführt ein Teppichmuster, das zwar in seinen Elementen von Rosetten, Palmetten und Blumenkelchen asiatisch ist, aber diese im asiatischen Webe- und Stickereistyl zu Fadengeflechten vertrock-

, . 1 ^ . -r^. 1 73- Fussbodenornament aus Kujundschik.

neten Elemente nicht nur im Einzelnen

mit organischem Leben erfüllt, sondern in ihrer Verbindung zu einem Ganzen, namentlich in der Anordnung der Ecken, einem Princip streng architektonischer Raumgliederung unterordnet, welches, wie wir sahen, dem asiatischen Webestyl bisher fremd war (Abb. 73). In den Reliefs desselben Palastes überraschen uns ferner bei den zahlreichen Jagddarstellungen die verschiedenen Thiere durch eine Staunens werthe

I lO

Drittes Capitel. Der hellenische Geist gegenüber fremden Einflüssen.

Lebendigkeit und Naturwahrheit (Place T. 50 ff.; RawHnson I, 444 fF. und öfter). Wenn sich auch dieselben in der formalen Ausführung nicht wesentlich von den früheren Darstellungen ähnlicher Art unter- scheiden und im Verständnis des Einzelnen noch manche Mängel zeigen, so überragen sie doch alles Frühere bei weitem dadurch, dass sie in den Motiven und Bewegungen das Schematische aufgeben und mit kindlicher Unbefangenheit und offenem Blicke aus dem Quell directer Naturbeobachtung schöpfen (Abb. 74 76).

74. Jagdhunde. Assyrisches Relief.

Es ist nicht glaublich, dass eine Jahrhunderte lange Kunstübung kurz vor ihrem Ende aus eigener Kraft ihre bisherigen Principien ver- leugnet und neue, damit fast in Widerspruch stehende Bahnen ein- geschlagen haben sollte. Da jedoch der angedeutete Wechsel einem etwaigen Einfluss ägyptischer Kunst diametral widerspricht , so bleibt nur die Annahme einer Befruchtung der asiatischen, mehr vegetirenden als lebendigen Thätigkeit durch den eben erwachenden griechischen Geist übrig.

Rückwirkung auf Assyrien.

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Ein Rückblick auf die Resultate unserer Erörterungen über die Kunst bei Homer kann uns in dieser Annahme nur bestärken. Zwei Punkte treten in denselben besonders hervor: zuerst die strenge Gliederung des Raumes, in welcher sich ein bestimmtes mathematisch- tektonisches Princip aussprach, welches mit dem Räume zugleich auch die Gliederung des geistigen Inhalts durchdringt. Sodann die Auf- fassung eben dieses Inhalts : an die Stelle des Formelwesens chroniken- artiger Darstellung trat eine poetische Auffassung des menschlichen Lebens, die nothw^endig den Blick für eine naive Beobachtung der

75. Verwundete Löwin. Assyrisches Relief.

Wirklichkeit und den reichen Wechsel ihrer Erscheinung öffnen musste. So finden wir also in der homerischen Kunst gerade die beiden Elemente, die uns in der letzten Periode der assyrischen als neu und ihrer eigensten Entwickelung fremd entgegentreten, und die wir daher auf den Einfluss griechischen Geistes zurückzuführen wohl be- rechtigt sind.

Die historischen und chronologischen Verhältnisse stehen damit im besten Einklänge (vgl. Rawlinson, anc. monarch. II, 343; 365; 421;- 463; 468; 483; 487). Schon Assur-idanni-pal (884 859) drang sieg- reich bis an die phönicische Küste und führte reiche Beute von dort weg. Seinem Nachfolger Salmanassar II (859 824) entrichteten unter

I I 2 Drittes Capitel. Der hellenische Geist gegenüber fremden Einflüssen.

76. Verwundeter Löwe. Assyrisches Relief.

anderen Völkern auch die Israeliten Tribut: Gold und Silber in rohem und verarbeitetem Zustande, und Aehnliches wiederholt sich unter den folgenden Herrschern. Allerdings erst ein Jahrhundert später, 708 oder 707, gelingt es Sargon, sich Cypern selbst tributpflichtig zu machen, von wo ihm edle Metalle, Vasen, Ebenholz und Manufactur- waaren gesendet werden. Sein Sohn Sanherib (704 680) kämpft siegreich gegen cilicische Griechen, und gefangene Cilicier werden unter denen genannt, die an seinen Bauten Zwangsarbeit verrichten. Assar- haddon, sein Sohn (680 667) erringt nicht nur neue Siege und führt neue Gefangene weg, sondern 22 Könige von Syrien, Phönicien und Cypern liefern ihm das Material für seine Bauten: Gedern, Cypressen, Ebenholz, Statuen und verschiedene Arten von Metallarbeiten. Wenn endlich dessen Sohn Assur-bani-pal (667 647), der Erbauer des Palastes von Kujundschik, eine cilicische Königstochter heirathet, noch tiefer in Kleinasien eindringt und mit Gyges von Lydien in Beziehung tritt, dessen Vorgänger Kandaules das Schlachtgemälde eines Griechen Bularchos bereits mit Gold aufwog, ist es da zu verwundern, dass sich damals auch in der Kunst Assyriens ein occidentalischer Einfluss in sichtbarer Weise geltend macht? eine Einwirkung griechischen Geistes, vermittelt theils durch den lebendigen Verkehr der Menschen, theils durch die Arbeiten ihrer Hände, von denen Einiges sich sogar bis auf unsere Tage erhalten hat ? Denn aus jenen Tributen stammt

Rückwirkung auf Assyrien.

offenbar eine Reihe von Bronzeschalen, die, im Nordwestpalast von Nimrud gefunden (Layard, II. ser. pl. 57 ff.), uns schliesslich auf die italischen und cyprischen Funde zurückführen, mit denen sie zwar nicht ganz übereinstimmen, aber doch mehrfache Analogieen darbieten. Gemeinsam mit den Schilden und Silberschalen ist ihnen die Eintheilung in concentrische Kreise und Zonen. In den punktirten und gravirten Ornamenten mischen sich orientalische Pflanzenornamente mit den noch ältern Linearornamenten bereits in sehr geschmackvoller und sauberer Durchbildung und Ausführung. In den flach getriebenen und con- tourirten Thier- und Menschenfiguren tritt ausser den Beziehungen zum Orient auch der Einfluss Aegyptens zuweilen in sehr entschiedener Weise hervor. Aber auch hier zeigt sich das Streben nach Durch- dringung der Formen -mit einem neuen Geiste und nach Gewinnung eines neuen selbständigen Styls.

Durch die Tributleistungen wird sich endlich ein Einwand be- seitigen lassen, der gegen griechischen Einfluss auf die letzte Phase der assyrischen Kunst dadurch begründet werden könnte, dass bereits in den Reliefs aus dem Palast Sargons zu Khorsabad Schilde mit Rosetten und Linearornamenten in concentrischen Zonen sich finden, die in ihrer streng tektonischen Gliederung jenen Fussbodenplatten in keiner Weise nachstehen (Rawlinson II, p. 50; Botta, Niniveh I 49; 55; 59; 60; 65; II, 86; 160). Allein sie erscheinen vereinzelt nur zur Deckung vornehmer Bogenschützen verw^endet und verschwinden als Ausnahmen gegen die gewöhnlichen quadrirten und geflochtenen, die als nationale Waffen auch noch unter den späteren Königen vorwiegend in Ge- brauch bleiben. Wie aber Agamemnon bei Homer als besonders aus- gezeichnetes Wafifenstück einen Panzer trägt, den ihm König Kinyras von Cypern zum Geschenk gemacht, so mochten in Sargons Zeiten einzelne Stücke aus phönicischen und cyprischen Tributen die Aus- rüstung assyrischer Grossen verherrlichen. Es waren noch fremde Seltenheiten, aber gewissermaassen die Vorläufer, welche das Eindringen fremden Einflusses vorbereiteten und einleiteten.

Der Hypothese einer Rückwirkung des griechischen Geistes auf Assyrien wird nach den dargelegten Gründen eine innere Wahr- scheinhchkeit nicht abgesprochen werden können. Es muss indessen als ein besonders glückliches Zusammentreffen betrachtet werden, dass dieselbe noch eine thatsächliche Bestätigung durch ein auf dem Boden Cyperns entdecktes Monument erhalten hat. Es ist ein aus den Ruinen von Golgoi stammendes Relief, welches ausserdem als die

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11^ Drittes Capitel. Der hellenische Geist gegenüber fremden Einflüssen.

77. Kyprisches Relief.

erste Darstellung aus der griechischen Sagenwelt, der wir begegnen, unsere besondere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen muss: Cesnola p. 136, Taf. XXIV; Brunn-Bruckmann Taf. 207 (Abb. 77). Von der links auf erhöhtem Grunde stehenden Figur ist gerade genug erhalten, um in ihr Herakles mit dem Löwenfell zu erkennen, wie er in der vor- gestreckten Linken den Bogen hält und mit der erhobenen Rechten rückwärts nach dem Köcher greift. Schon hat ein erster Pfeil einen dreiköpfigen Hund getroffen , der in einiger Entfernung ihm gegenüber auf einer Linie steht, welche das Relief in eine obere und eine untere Hälfte theilt. In der letzteren wird eine zahlreiche Rinderheerde von einem bärtigen, nur mit der Chlamys bekleideten Manne weggetrieben, der im linken Arme einen Baum trägt und rückwärts gewendet mit der Rechten einen Stein nach Herakles werfen zu wollen scheint. Es sind die Rinder des Geryon mit ihrem Hirten Eurytion und dem Hunde Orthros. Geryon selbst wird etwa in einer Fortsetzung des Reliefs zur Rechten auf einer ge- sonderten Platte dargestellt gewesen sein. Es ist unzweifelhaft, dass der Künstler in der äusseren Anlage, so wie in der Behandlung des Flachreliefs auf der Grundlage assyrischer Anschauung steht. Der Baum scheint geradezu nach assyrischen Mustern copirt, und auch im Bart und Haar des Eurytion ist die Nachahmung offenbar. Dagegen

Rückwirkung auf Assyrien.

herrscht in Zeichnung und Form der menschlichen Körper griechischer Geist, und noch mehr überrascht die Fülle von Leben in der Heerde. Die Verwirrung der sich in Eile durcheinander drängenden Rinder zeigt eine ungewöhnliche Frische der Auffassung, und es ist ein künstlerisch glücklicher Gedanke, dass die schwächste Partie, die un- entwirrten und unverstandenen Beine der Rinder, durch die in vorderster Reihe springenden munteren Kälber zum Theil verdeckt wird. Hier be- gegnen wir also denselben Eigenschaften, welche in den Thierbildungen der letzten assyrischen Periode als auffallende Neuerungen plötzlich hervortreten. Sollen wir annehmen, dass der cyprische Künstler auch hierin fremden Vorbildern folgte ? Aber ähnliche Verdienste wie in den Thieren, nämlich lebensvolleres Verständniss, zeigen sich bei ihm auch in den menschlichen Gestalten; und dafür vermochten ihm die assyrischen R.eliefs wegen ihres Festhaltens an der bisherigen typischen Behandlung keine Vorbilder zu bieten. Weiter aber bleibt dort selbst in den Thiergestalten die formale Vortragsweise unverändert: jenes Leben ist ein in die alten Formen hineingetragenes neues und fremdes Element. In Cypern verbreitet sich der neue Geist auch bei noch mangelhafter Ausführung des Einzelnen sofort über das Ganze und bewährt sich dadurch als ursprünglich und original. Gerade diese Eigenschaften verliehen ihm die Kraft, bei den Wechselbeziehungen zwischen Cypern und Asien eine belebende Rückwirkung auf die Kunst jener Gegenden zu äussern, von denen Cypern selbst die Grund- lagen seiner Kunst empfangen hatte. Dass diese Wirkung eine par- tielle blieb, erklärt sich aus inneren Gründen: die menschliche Gestalt betrachtet jedes Volk mit den Augen seiner eigenen Individualität und ist darin fremden Einflüssen am wenigsten zugänghch.

8*

Viertes Capitel.

Erstarkung des hellenischen Geistes.

Historische Nachrichten. Die letzten, schon unter dem Einflüsse griechischen Geistes gearbeiteten assyrischen Sculpturen ge- hören bereits in die Zeit von Ol. 25—30. Ungefähr ein Menschenalter später, Ol. 37, stellten nach Herodot IV, 152 die Samier aus dem Zehnten einer glücklichen Seefahrt nach Tartessos unter Führung des Kolaeos ein ehernes Weihgeschenk im Heiligthum der Hera auf Es war ein argolischer Krater, aus dem rings herum Greifenköpfe hervor- ragten, wohl wie die Löwenköpfe an den caeretaner Kesseln. Drei eherne Colosse von sieben Ellen, mit den Knieen auf die Erde ge- stützt, dienten ihm als Träger. Man wird hier unwillkürlich an das auf zwölf Rindern ruhende Meer im Hause des Salomen erinnert : also auch hier wieder an ein asiatisches Vorbild. Zur Beurtheilung der Technik und des Styls der Colosse fehlt uns leider jeder Anhalt; nur aus der Verwendung dürfen wir schliessen, dass sie einem architek- tonisch-decorativen Zweck bestimmt untergeordnet waren. Dass aber gerade für Greifenköpfe eine streng stylisirte Typik sehr früh aus- gebildet und lange unverändert festgehalten wurde, lehren z. B. die sehr alten Münzen von Teos, einzelne Bronzeexemplare aus Olympia (Ausgrabungen III, 24 und IV, 20) (Abb. 78) und Perugia (im Anti- quarium zu München), sowie die Frangoisvase (M. d. J. IV, 56).

Nicht minder berühmt war im Alterthum eine andere Reihe von Weihgeschenken, welche drei lydische Könige nach Delphi sandten. Schon vor ihnen hatte der Phrygier Midas, des Gordias Sohn, seinen Königsthron dorthin geweiht. Gyges aber, der erste der Lydier um Ol. 20, schickte unter anderen kostbaren Geschenken sechs goldene Mischkrüge (Herod. I, 14); sein Urenkel Alyattes um die 43. Olympiade einen grossen silbernen Mischkrug mit einem eisernen Untergestell, an welches sich die Erwähnung eines der ersten wirklich historischen Künstler, des Glaukos von Chios, knüpfte (SQ 263 ff.). Sein Ruhm

Historische Nachrichten.

Bronzener Greifenkopf aus Olympia.

beruht auf der Erfindung der Löthung des Eisens (vgl. Michaelis: A. Z. 1876, S. 156), die gegen das frühere Verfahren des Nietens mit Nägeln und Bolzen und selbst des Schweissens allerdings einen bedeutenden Fortschritt bezeichnet, überhaupt aber als selbständige technische Erfindung auf den erwachenden neuen Geist hindeutet, der sich bald auch auf anderen Gebieten offenbaren sollte. Mit Hülfe dieser Technik war der Untersatz gearbeitet, den schon Herodot I, 25 rühmend erwähnt, Pausanias X, 16, i aber genauer beschreibt. Er glich einem nach oben sich verjüngenden Thurme, dessen Seiten jedoch nicht volle Flächen darboten, sondern aus eisernen, leiterartig geordneten Querstäben gebildet waren. Die aufrecht stehenden Eckstäbe waren oben nach aussen gebogen, um den Krater aufzu- nehmen. Alle die einzelnen Theile nun waren nicht durch Stifte und Nägel, sondern nur durch Löthung miteinander verbunden. Aus Athenaeus V, 201 erfahren wir endlich noch, dass das Ganze mit Thierfiguren und Pflanzenwerk reich geschmückt war: das System der Decoration war also auch hier noch das alte.

Auf Alyattes folgt Kroesus, der seinen Vorgänger an Reichthum der Gaben noch weit überbietet (Herod. I, 51). Ausser goldenen Waffen an das Orakel des Amphiaraos sandte er nach Delphi eine Reihe goldener und silberner Gefässe, Mischkrüge, Weihwasser- und Giess- gefässe, den goldenen Schmuck seiner Frau; sodann einen goldenen Löwen von zehn Talenten Gewicht, ursprünglich auf goldenen Ziegeln aufgestellt, den wir uns nach Art der assyrischen, zu Gewichten be- stimmten bronzenen Löwen vorstellen mögen (Perrot II, pl. XI) (Abb. 79). Ausserdem wird das goldene, drei Ellen hohe Bild einer Frau erwähnt, das Portrait der Brotbäckerin des Kroesus, wie die Delphier sagten, welches, da es unter den geringeren Gaben aufgezählt wird, wohl nicht massiv gearbeitet, sondern nur aus Goldblech getrieben war (Abb. 80). (Mitten unter diesen Gaben erwähnt Herodot ein allerdings wohl etwas jüngeres Weihgeschenk der Lakedaemonier, einen Knaben, „durch dessen Hand das Wasser fliesst", bei dem wir wohl weniger an spätere Genrebilder, als etwa an Gestalten von der Art der homerischen Fackel- träger im Palaste des Alkinoos zu denken haben.) Wie Kroesus nach Delphi, so wollten umgekehrt die Lakedaemonier dem Kroesus einen ehernen, 300 Amphoren haltenden und um den äusseren Rand herum

ii8

Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

79. Löwe. Assyrische Bronze.

mit Thierfiguren reich geschmückten Krater schenken, der aber nicht an ihn, sondern in das Heraeon von Samos gelangte: Herod. I, 70.

Wir sehen aus dieser Aufzählung, dass sich die Zeit des Kroesus noch keineswegs in ihren Anschauungen von denen der Heroenzeit

völlig losgelöst hatte. Die Schil- derung Herodots könnte, ohne Anstoss zu erregen, ziemlich un- verändert bei Homer eine Stelle finden. Aber wenigstens nach einer Seite hat sich ein gründ- licher Wechsel vollzogen : wäh- rend Homer bei ausgezeichneten Werken öfter auf fremden, asia- tischen Ursprung hinweist, sind wir berechtigt, die Gaben der ly- dischen Könige in ihren wich- tigsten Bestandtheilen als Werke der griechischen Kunst in Anspruch zu nehmen. Wie der Untersatz des Alyattes ein Werk des Glaukos, so war unter den Gaben des Kroesus nach Angaben der Delphier das 600 Amphoren haltende silberne Mischgefäss ein Werk des Theodoros, Sohnes des Telekles, aus Samos, und Herodot stimmt ihnen bei, da es „keine gemeine Arbeit" sei. Ein Werk dieses Künstlers, über den später noch weiter zu handeln sein wird, war ausser dem Ringe des Polykrates auch die berühmte goldene Platane und der, Trauben von Ru- binen und Smaragden tragende, goldene Weinstock, die aus dem Besitze eines Lydiers Pythios, eben so wie ein goldener Krater desselben Theodoros, in die Paläste der Perserkönige in Susa gelangt waren (SQ 284 ff.). So vielbewundert diese Werke im Alterthum waren, so darf doch nicht vergessen werden, dass der Gedanke ihrer Erfindung in eine frühere Zeit hinauf- reicht. Denn abgesehen von einer durch Kypselos nach Delphi geweihten Palme, an deren Wurzeln Frösche und Schlangen dargestellt waren (Plut. de Pyth. orac. 12), spricht schon der Dichter der kleinen IHas (Schol. Eurip. Troad. 822; SQ 223) von einem Weinstock mit goldenen Blättern und Trauben, einem Werke des Hephaestos, welchen Zeus dem Laomedon als Entschädigung für den

80. Terracotta einer ßrotbäckerin aus Tiryns.

Historische Nachrichten. Alle Bronzearbeiten.

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Raub des Ganymedes zum Geschenk machte. Diesem Festhalten am Alten gegenüber soll allerdings nicht in Abrede gestellt werden, dass gerade etwa in der Zeit des Kroesus, ja theilweise schon früher, ein bedeutender Wechsel sich vollzieht, dass an die Stelle materiell kostbarer Weih- geschenke, an denen die Kunst nur zum Schmucke dient, immer mehr eigentliche Kunstwerke und zwar statuarische Kunstwerke treten, unter denen hier der Zeuskoloss aus getriebenem Golde, welchen die Kypseliden nach Olympia weiheten (SQ 295 ff.), genannt werden mag. Doch fehlt es bis in die Blüthezeit der Kunst nicht an Nachklängen der früheren Sitte: es genügt an Werke zu erinnern, wie die bekannte delphische Schlangensäule mit dem goldenen Dreifusse zum Andenken des Sieges bei Plataeae oder die eherne Platane, welche, von Nikias auf Delos aufgestellt (Flut. Nicias c. 3), vom Sturme umgerissen eine grosse Statue der Naxier umstürzte.

Alte Bronzearbeiten. Es darf mit Sicherheit angenommen werden, dass die Werke der decorativen Kunst, von denen wir durch die eben betrachteten Nachrichten der Alten Kunde erhalten, in ihrer stylistischen Ausführung nicht auf einer und derselben Stufe stehen geblieben sind. Doch fehlt uns bis jetzt ein umfassendes und einiger- maassen in sich zusammenhängendes Material, um das allmähliche Fortschreiten in strenger Folge nachzuw^eisen. Was wir von Arbeiten

81. Bronzerelief aus Kreta.

verwandter Art besitzen, genügt nur, um von dem Gange der Ent- wicklung eine allgemeine Vorstellung zu gewinnen.

Wir wenden zuerst unsern Blick nach der Zeusgrotte auf Kreta

I20

Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

82. Theil eines Diadems aus Theben.

zurück (s. o. S. go fF.). In derselben hat sich eine Reihe gegossener Bronze- frag-mente gefunden, welche die Bestimmung hatten, als Reliefschmuck auf eine Lade oder ein ähnliches Geräth aufgesetzt zu werden, und zwar in der Weise, dass die durch netzartig ausgespannte Stäbe ge- bildeten Felder durch Figurendarstellungen eine gitterartige jour) gearbeitete Füllung erhielten (T. XI). Wir finden darunter ein Schiff mit Ruderern und einem Krieger (Abb. 81), einen Wagen mit zwei Kriegern, eine Kuh, welche gemolken wird, mehrere Hunde u. a. m. Auffassung und Ausführung sind von der höchsten kindlichen Einfalt und zeigen nirgends die geringste Verwandtschaft mit dem Mischstyl der zugleich gefundenen Schilde und Schalen. Vielmehr werden wir durch den linearen Charakter der gesammten Anlage, wie durch das Mathematisch- Schematische der einzelnen Gestalten sofort an die Figurendarstellungen der Dipylonvasen erinnert, die wir als die ältesten Erzeugnisse eines ursprünglichen und unverfälschten hellenischen Geistes zu betrachten gelernt haben. Ist es richtig, was wir annahmen, dass dieser Geist durch die von Norden her wandernden hellenischen Stämme in Griechen- land zur Herrschaft gelangte, so würden diese Bronzen dafür Zeugniss ablegen, wie nun diese Strömung auch nach Kreta gelangte, womit sich auch die historische Sage trefflich vereinigen Hesse, dass nicht lange nach dem Heraklidenzuge Dorier vom Peloponnes nach Kreta hinübergeführt wurden.

Weniger einheitlich wirken einige - ^^'^-^^ ,

aus boeotischen Funden stammende Bronzearbeiten (A. d. I. 1880, t. G I). In ihnen mischen sich nicht nur fremde Einflüsse mit einheimischen Elementen, sondern wir erkennen auch an ihnen, wie die Verschiedenheit des technischen Verfahrens bei der Herstellung mehr- fach die gesammte Ausdrucksweise und den künstlerischen Charakter bedingen. Auf einem Bronzeblechstreifen und einer Fibula aus Theben (G) sind die Darstellungen: ein Henkelkreuz, ein Schiff, Vierfüssler,

83. Bronzefragment aus Boeotien.

Alle Bronzearbeiten,

1 2 I

Vögel, Fische, auch menschliche Gestalten in gravirter Zeichnung her- gestellt (Abb. 82). Wenn nun diese in ihrer linearen Behandlungs- weise, wenn namentlich die für die Innenzeichnung verwendeten Zickzack- linien äusserhch an den Dipylonstyl erinnern, so verleugnet sich nicht nur in dem Mangel an innerem Ver- ständniss der einzelnen Figuren, besonders in der Charakteristik ihrer Bewegung, sondern auch in der Zusammenordnung der Figuren im Räume völlig das für diesen Styl so entscheidende geometrisch- tektonische Princip, während ausserdem unter den Thierfiguren der dem orientali- sirenden Styl angehörige Löwe als fremdes Element auftritt. An einigen anderen Fragmenten (I und H unten) führte die Relieftechnik des Heraus- treibens aus dem Metallblech zu einer ruhigeren und fliessenderen Behandlung der Umrisse, wie wir sie in asiatisirenden Arbeiten zu beobachten gewohnt sind, und weist schon das organischere Ver- ständniss in der Gesammtauffassung der Thiere, noch mehr aber die Haltung des Wagenlenkers und besonders das lebendig bewegte Schema eines knieenden Bogen- schützen (Abb. 83) wieder auf die Selb- ständigkeit und Unabhängigkeit des grie- chischen Geistes hin.

Ein mannigfaltigeres Bild gewähren die Funde von Olympia. Aus der ältesten Zeit sind in rein Ornamentalem der geome- trische, wie der asiatisirende Styl vertreten, theils gesondert, theils bereits in mehrfacher Vermischung (Furtwängler, Bronzefunde von Olympia, Abh. d. Berk Akad. 1879; A. d. I. 1880, t. F). Unter den von Curtius (das archaische Bronzerelief aus Olympia, Abh. d. Berl. Akad. 1879) publicirten Stücken verräth das Relief eines Bronzestreifens (S. 11), eine Reihe von Rindern, deren vorderstes unter dem Schlage eines Opferers bereits ins Knie gesunken ist, kaum eine Anlehnung an fremde Muster, wenn auch die Selbständigkeit der Erfindung bei der Unbeholfenheit

84. Bronzeplatte aus Olympia.

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Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

der Ausführung noch nicht zu einem festen Ausdrucke gelangt ist. Eine Silberplatte mit gestanzter Arbeit (S. 12): ein geflochtenes Band, ein Palmettenstreif, Löwen, Sphinxe, mag, wenn auch etwas ungeschickter in der Ausführung, an die Goldarbeiten des Regulini-Galassi'schen Grabes in Caere erinnern. Besonders lehrreich ist aber eine Bronzeplatte mit getriebenem Flachrelief (T. I u. II) (Abb. 84): von viereckiger Gestalt, mag sie zur Bekleidung eines drei- oder vierseitigen Geräthes gedient haben und erinnert durch ihre nach oben sich verjüngende Gestalt an den berühmten Untersatz des Glaukos. Das Ganze ist nach seiner Höhe in vier Felder getheilt. In dem obersten stehen drei Vögel, wohl Adler, in abwechselnder Wendung, in dem folgenden zwei Greife einander gegenüber; im dritten verfolgt Herakles in halb laufender, halb knieender Stellung einen nach ihm zurückblickenden Kentauren mit seinen Pfeilschüssen. Das letzte, fast die halbe Höhe des Ganzen ausmachende Feld nimmt das Bild der viergeflügelten sog. persischen Artemis ein, welche mit jeder ihrer seitlich ausgestreckten Hände einen am Hinterbein gepackten Löwen schwebend emporhält.

Niemand wird daran zweifeln, dass diese auf einer einzigen Platte vereinigten Darstellungen auch von einer und derselben Hand ge- arbeitet sind; und doch zeigt sich in ihnen kein übereinstimmender einheitlicher Styl. Die beiden Greife und die Artemis sind innerhalb der Grenzen einer bestimmten Vortragsweise in sich abgeschlossen und abgerundet; die Ausführung verräth sogar eine gewisse Eleganz, wie sie sich aus einer sicheren Handhabung der zu Gebote stehenden Mittel ergiebt. Diesen Vorzügen gegenüber lässt sich in den beiden anderen Feldern, an den Adlern und dem Kentaurenkampfe, eine ge- wisse Eckigkeit und Unbehülflichkeit, ein Mangel an Rhythmus in der Linienführung nicht ableugnen. Die Erklärung für diese Ver- schiedenheit ist leicht zu finden. Die Darstellungen der beiden ersten Felder sind den Vorbildern einer fremden, der asiatischen Kunst ent- nommen, die beiden andern sind eigene Erfindung.

Die Vereinigung dieser Gegensätze in dem Rahmen eines und desselben Werkes muss uns aber zu w^eiterem Nachdenken über die tiefere Bedeutung derselben anregen. Wo dem Künstler, wie in den Greifen und der Artemis, sein Thema bereits in bestimmter schematischer Gestaltung gegeben war, da blieb ihm über den ersten Theil seiner Aufgabe, über Inhalt und Gedanken, nichts zu denken übrig. Er sah sich auf eine Aufgabe zweiter Ordnung zurück- gewiesen: das Gegebene in Allem, was die Ausführung im weitesten

Alte Bionzearbeiten.

123

Sinne anlangt, in das Feinere durchzubilden. Hierbei durfte er es allerdings wagen, die Schranken früherer Vortragsweisen zu über- schreiten und die Formen derselben in gewissem Sinne neu zu beleben, indem er die decorativ- schematische Behandlung durch Einführung strengerer tektonischer Principien zu läutern und auf eine höhere Stufe künstlerischen Styls zu erheben unternahm. Das hat er in diesen Arbeiten erreicht: sie bezeichnen sogar einen Grenz- oder Endpunkt, den diese Entwicklung aus sich selbst und durch innere Kraft nicht zu überschreiten vermocht haben würde, ohne mit ihrem eigenen Princip in Widerspruch zu gerathen. Ja, als nun der Künstler an die Darstellung des Kentaurenkampfes Hand anlegte, da musste er sogar zu einem grossen Theile auf die Verwendung des bereits erworbenen formal-technischen Besitzes verzichten. An die Stelle der Aufgabe, ein gegebenes Thema im Sinne desselben weiter durchzubilden, war eine andere getreten: nicht etwa nur ein neues Schema aufzustellen, sondern für neue Vorstellungen und Ideen, für eine bewegte Handlung den künstlerischen Ausdruck zu finden. Hier aber versagt das Schematisch- Abgerundete den Dienst; es würde der Freiheit in der Entfaltung dieser Gedanken Fesseln angelegt haben. Es galt vielmehr, neue Formen zu suchen, die nicht zunächst für sich selbst einen künstle- rischen Werth in Anspruch nahmen, sondern nur als das Mittel, um einen Gedanken auszusprechen, dienen sollten. Mochten dabei die ersten Versuche noch an Ungelenkigkeit leiden, mochte das Streben nach Klarheit und Schärfe der Bezeichnung noch zu Uebertreibungen führen, so w^ar doch ein neuer Ausgangs- punkt gegeben, von dem aus der Geist der Freiheit in voller Unabhängigkeit und aus eigener Kraft die Vermittlung zwischen Inhalt und F'orm bis zu voll- ständiger rhythmischer Ausgleichung durchzuführen vermochte.

Durch diese Scheidung zwischen einer von fremden Mustern abhängigen und einer selbständigen Kunst haben wir uns den Weg gebahnt zur Betrachtung einer weiteren Reihe olympischer Bronzen

(Ausgrab. IV, T. 18 u. 19; Curtius a. a. O.). Es sind kleine Bronze- bleche mit getriebener oder gepresster Arbeit, von sehr gleichartigem Charakter, wenn nicht überhaupt zusammengehörig, deren umrahmte

85. Bronzerelief aus Olympia.

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Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

86.

Relief eines griechischen Spiegelgriffes.

Felder von etwa fünf Centimeter im Geviert mit Figurendarstellungen gefüllt sind. Von der ersten ist nur ein Knappe zu Ross theilweise erhalten. Auf einem zweiten Fragment mit zwei zusammenhängenden, übereinand.ergeord- neten Feldern sehen wir links oben den unteren Theil einer am Boden sitzenden unbe- kleideten Figur; unten Herakles, der die Keule gegen einen hässlichen Dämon mit struppigem Haare schwingt; rechts oben eine laufende Flügelgestalt und unten Herakles mit einem fischleibigen greisen Meerdämon ringend (Abb. 85). Ein drittes endlich, nur zur linken Hälfte erhalten, lässt sich mit Hilfe der sachlich, wenn auch nicht mechanisch übereinstimmenden Wiederholung an der Handhabe eines Spiegels

vollständig ergänzen (Furtwängler in der Festgabe an E. Curtius S. 179, T. IV) (Abb. 86): der greise Priamos, von Hermes gefolgt,

berührt flehend das Kinn des Achilles, um den am Boden liegenden Leichnam des Hektor zu erbitten. Nur das gedrehte Band und etwa das Schematische der lau- fenden Gestalt und ihrer Beflügelung mahnen noch an fremde Vorbilder. In den Figuren selbst herrscht durchaus griechischer Geist, der Geist der griechischen Sage, der nament- lich in der Lösung des Hektor zum. ein- fachsten und klarsten Ausdruck gelangt und gerade darin sich zeigt, dass er sich nicht sclavisch an die Einzelnheiten der home- rischen Erzählung hält. Da ist Hermes gegenwärtig, um die Bitte des Priamos zu unterstützen; Achilles liegt nicht beim Mahle, sondern steht. Die Geschenke fehlen ganz: es genügt das Flehen des Priamos, das Zu- reden des Hermes, die gegen Hektor deu- tende Rechte des Achilles, um uns die Ge- währung der Lösung verstehen zu lassen. Nur für den greisen König geziemt sich die lange Bekleidung und der stützende Stab; die anderen sind nackt, der Krieger durch die Lanze, der

J

J

Bronzerelief aus Kreta

Alte Bronzearbeiten.

Gott durch den Heroldstab bezeichnet. Im Formalen ist der Reinigungs- process bereits zu einer bestimmt ausgeprägten Formensprache fort- geschritten, so dass schon die Vergleichung späterer Erscheinungen, die uns natürhch hier noch fern liegt, gestatten wird, auf die pelo- ponnesische Herkunft dieser kleinen Arbeiten zu schliessen, auch wenn wir nicht durch den Schriftcharakter des dem Meerdämon beige- schriebenen ahog yegcov auf das Gebiet von Argos hingewiesen würden.

Vor der Betrachtung eines grösseren olympischen Fragmentes empfiehlt es sich, eines Bronzereliefs (von 0,185 m Höhe) kretischer Herkunft zu gedenken (A. d. I. 1880, t. T.), in dessen Darstellung wohl sicher Apollo zu erkennen ist, wie er dem Herakles gegenüber- tritt, um diesem den von ihm auf den Schultern fortgetragenen Hirsch wieder abzunehmen

(Abb. 87). Die Figuren, nur ganz schwach -| über die Grundfläche herausgehoben, auf die '-^ ' | 1

sie aufgesetzt zu werden bestimmt waren, und ^>--^.^ ' i |

an ihren Umrissen aus dem Bronzeblech heraus- ^ 1 geschnitten, wirken auch in ihrer Innenbildung ; | nicht durch die Rundung der Modellirung, ^ , sondern als entschiedenes Flachrelief, man | 1 j \ \ möchte sagen, als Reliefzeichnung, deren , i 1 _ Scharfkantigkeit uns wieder auf den geome- . trischen Styl der Dipylonvasen als Ausgangs- punkt zurückweist. Noch sind die Verhältnisse r

^ 88. Bronzereliei aus <)lympia.

und Einzelnheiten nicht correct; das Ganze ist

zu knapp und gestreckt; aber es herrscht eine richtige Vorstellung von den Gestalten in ihrer Gesammterscheinung, und die Handlung spricht sich in dem Zugreifen des Apollo in naiver Unbefangenheit aus. Leicht können wir uns im Geiste vergegenwärtigen, wie die Kunst von den bezeichneten Grundlagen aus durch verschiedene Mittelstufen hieher gelangt ist, durch eigene Kraft und ohne jede Anlehnung an fremde Vorbilder, an denen es doch in Kreta durch die Einfuhr vom Osten her nicht gefehlt haben wird.

Das grössere olympische Fragment (Ausgrab. IV, T. XX) (Abb. 88) enthält in einer Umrahmung nur eine knieende Figur, wahrscheinlich Herakles, der auch in dieser Stellung über eine Höhe von 40 cm. hinaus- ging. In dem technischen Verfahren, dass die Gestalt in ihren Umrissen aus dem Metallblech herausgeschnitten ist, stimmt dieses Flachrelief mit dem kretischen überein, und bietet auch sonst in der künstlerischen

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Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

Behandlung manche Vergleichspunkte dar. Es mag zum Theil durch die Grössen Verhältnisse bedingt sein, dass der Künstler etwas mehr nach Rundung und Fülle der Körperformen strebt; anderen Theils scheint er in der künstlerischen Entwicklung etwas weiter fortge- schritten. Doch lässt sich über den stylistischen Charakter im engeren Sinn an dieser Stelle noch nicht urtheilen. Hier galt es zunächst, so weit es ein lückenhaftes Material überhaupt gestattete, den Nachweis zu liefern, wie in den Bestrebungen dieser Zeit bei allem Wechsel der Erscheinungen doch Alles nur auf ein Ziel hinarbeitete, auf die fort- schreitende Erstarkung des hellenischen Geistes nicht weniger nach der Seite der künstlerischen Eorm, wie des ganzen Inhaltes.

Indessen besitzen wir zur Ergänzung unserer Anschauungen noch eine Denkmälerklasse, die einer besonderen Betrachtung vorbehalten bleiben musste, nemlich die bemalten Thongefässe.

Die Vasenmalerei. Die kyprische Keramik. Ehe wir unsere Erörterungen von der Stelle aus weiter verfolgen, w^o wir dieselben früher verlassen

89—91. Kyprische Gefässe.

haben, empfiehlt es sich, einen Blick nach einem Punkte im Osten zu werfen, nach Cypern, um uns darüber klar zu werden, ob diese Insel diejenige Bedeutung, die wir ihr auf gewissen Gebieten der Kunst- industrie zuerkennen mussten, auch auf dem der Keramik bewahrt.

Die kyprische Keramik geht in ihrer Decoration aus von linearen Ornamenten, die eingeritzt oder aufgemalt sind (Perrot III, Fig. 485 ff.), von einfachen Mustern, schmalen, geraden und Zickzackbändern, mit

Vasenmalerei: Kyprische Keramik.

127

Schraffierung ausgefüllten Drei- und Vierecken, die sich der Form der Gefässe in einer gewissen Ordnung anzupassen suchen, aber nicht aus den Grundbedingungen der Form herauswachsen (Abb. 90 u. 91). Es

92. u. 93. Kyprische Vasen.

fehlt anfangs sogar die aus der Bewegung der Drehscheibe mit einer gewissen Nothwendigkeit sich ergebende horizontale Gliederung. Wie wenig Verständniss für dieselbe vorhanden ist, verräth sich recht deutlich in der Einführung der Kreislinie für senkrechte Verwendung, die bei gewissen fassartigen Gefässen (Perrot 496) in der Art von Reifen noch gerechtfertigt erscheint, aber bei der Kugelform (497) (Abb. 89) den Raum nicht sowohl gliedert als zerschneidet, und daher auch nirgends Nachfolge gefunden hat. Weiter finden sich mehrfach horizontale Streifen und Gliederung in quadratische oder rhomboidale Felder (507) (Abb. 92), welche wohl unverkennbar auf den geometrischen Styl hinweisen; was uns nicht gerade Wunder nehmen wird, insofern wir unter kyprischen Funden wenigstens einem Musterstücke des echten Dipylonstyles (517) be- gegnen, das doch nur der Heimat desselben entstammen kann. Doch wird ein solcher Import weder massenhaft noch andauernd genug ge- wesen sein, um vollständig umgestaltend zu wirken. Weit eher musste

94. Ornamentmotiv einer kyprischen Schale.

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Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

die Nähe Asiens einen bestimmenden Einfluss ausüben. Wir begegnen ihm in den Pflanzenornamenten, den Rosetten, Palmetten, in voluten- artigen Verbindungen. Aber finden wir z. B. für das säulenartige Schema (518; Cesnola, Cyprus p. 55; t. XLII, 2) (Abb. 93) irgendwo ein so weit entsprechendes Vorbild, dass wir sagen könnten, es sei von demselben geradezu abgeschrieben? Dann sehen wir die Lotosblüte (508) zur Füllung quadratischer Felder verwendet, die Rosette in geometrische Decoration eingeführt (507) und neben diese wieder ein Anthemienband (507, Cesnola S. 181) als selbständiges Glied hingesetzt. Weiter ver- binden sich wieder Lotosblumen mit mehr naturalisirenden Pflanzen- gebilden (521 ; Herrmann, Gräberfeld von Marion, 48 tes Winckelmanns-

95. Flügelgestalt auf einer

kyprischen Vase. 96. Streitwagen. Bild einer kyprischen Vase.

Programm 1888, Fig. 29 31), die sich nicht wohl als Ueberbleibsel oder Weiterbildungen mykenischen Styls auffassen lassen, um so weniger, als ein Hauptbestandtheil desselben, das Ueberwiegen der Geschöpfe des Meeres, hier nirgends eine Nachfolge gefunden hat. Eigenthümlichen Widersprüchen begegnen wir in den Darstellungen lebender Wesen : Vierfüsslern ganz problematischer Natur, Vögeln, einem Fische, mit rundlichen Körpern und eckigen, man möchte sagen^ stachligen Aussentheilen , deren Innenzeichnung mit schematischen Linien in einer Weise ausgeführt ist, welche an die sogenannte Feder- stickerei (Semper, Stil I, 194) erinnert (P. 509 11; 517 19; Cesnola pl. 44 46) (Abb. 94 u. 95). In einigen Menschengestalten und Pferdege- spannen (525 26) (Abb. 97) glaubt man eine äusserliche, aber im Princip völlig missverstandene, verweichlichte Nachahmung des Dipylonstyles zu erkennen, während ein Gespann mit Lenker und Bogenschützen (527 28) (Abb. 96) in gleicher Weise auf ein eben so missverstandenes

Vasenmalerei : Kyprische Keramik.

129

Vorbild eines assyrischen Reliefs hinweist. Wo solche Anklänge fehlen (520 23; 531; Jahrb. d. Inst. I, T. 8), da handelt es sich bei menschlichen Fig-uren um eine unsichere und schwankende j Wiedergabe der äusseren Er- scheinung ohne einen be- stimmten stylistischen Cha- I rakter, während z. B. die Dar- stellung einfachen Sitzens voll- 1 ständig missrathen ist, die Ge- i stalten vielmehr quer über den Stuhl gelegt oder gehängt scheinen (523) (Abb. 98). Launenhafte Willkür verräth sich in allerlei Gefässformen (4g i ff.) ; und auch in einer eigenthümlichen Gattung von Thonkrügen mit plastischer Verzierung (Herrmann S. 46 ff.), die noch in weit jüngere Zeiten herabreicht, hat sich zwar eine Art Typus fest- g"estellt, nicht aber eine tektonisch durchgebildete Stylistik.

Lassen sich diese Wider- .sprüche der einzelnen Erschei- nungen einigermaassen unter einem einheitlichen Gesichts- punkte vereinigen? Aegypten und Asien besassen keine Kera- mik, wenigstens keine Art ge- malter Keramik, welche als eine Vorstufe zu der griechischen hätte überleiten können. Der kyp- rische Töpfer fand also keine Vorbilder, an die er sich un- mittelbar hätte anlehnen, auf deren Grundlage er sofort hätte weiter bauen können. Noch fehlte ihm die Kraft, die Anregungen, die er etwa durch andere Pro-

98. Kyprische Vase.

ducte der Teppichweberei, der Metallarbeit erhielt, in der nothwendigen Umbildung auf das Gebiet der Keramik zu übertragen. Der Einfluss des geometrischen Styls, der sich da und dort nicht verkennen lässt, war nicht stark und andauernd genug, um sich nachhaltig und innerlich wirksam zu erwei§en. Dazu gesellt sich

9

Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

noch der weitere Umstand, dass kyprische Thonwaaren niemals Aus- fuhrartikel geworden zu sein scheinen. So ging die kyprische Töpferei über den gewöhnlichen Handwerksbetrieb nicht hinaus, dem ein Streben nach einer fortschreitenden, eigentlich künstlerischen Entwicklung fremd blieb. In den einzelnen Töpfereien beschied man sich, dem all- gemeinen menschlichen Triebe nach allerlei Ausschmückung auch des gewöhnlichen Geräthes Genüge zu leisten, indem man dazu die ver- schiedenartigsten Elemente entnahm, wo und wie man sie gerade fand. Ob daran phönikische oder griechische Arbeiter den überwiegenden Antheil hatten, ist fast eine müssige Frage. Selbst das Vorkommen semitischer Typen (z. B. P. 519) genügt noch nicht zum Beweise für phönikische Herkunft, da gerade der ausgeprägte Charakter derselben einen nicht stammverwandten Maler zur Nachahmung anreizen konnte (vgl. Jahrb. d.i. II, S. 46 47). Ein bestimmtes Ziel einer Entwicklung ist kaum erstrebt, jedenfalls nicht erreicht worden; und auf die griechische Keramik bleibt dieser locale kyprische Betrieb ohne sicht- baren Einfluss.

Wollen wir daher den Fortschritt auf griechischem Boden weiter verfolgen, so werden wir am besten da wieder anknüpfen, wo wir früher die Anfänge einer selbständigen Entwicklung gefunden haben.

Die Fortsetzung des Dipylonstyls. In den früheren Erörterungen über die Vasenmalerei (s. o. S. 52 ff.) handelte es sich um die zwei Hauptgruppen des mykenischen einerseits, des geometrischen und Dipylonstyls andrerseits, die, ursprünglich von einander unabhängig, nur in den jüngsten Stufen der in Mykenae und Tirynth vertretenen Funde sich berührten und einigermaassen zu beeinflussen begannen. Die mykenische scheint, vielleicht in Folge der grösseren politischen Veränderungen, die wir mit den Wanderungen hellenischer Stämme von Norden her in Verbindung brachten, die Fähigkeit verloren zu haben, sich aus eigener Kraft oder mit Hülfe fremder Elemente weiter fortzubilden, wie sie umgekehrt auch nur in geringem Umfange durch einzelne decorative Elemente auf andere Richtungen befruchtend einzuwirken vermochte. Anders der Dipylonstyl, der, ohne seine ursprüngliche Natur zu verleugnen, sich in einer fortwährenden Umbildung verfolgen lässt. Schon in zwei athenischen Fragmenten (A. Z. 1885, S. 13 i u. 139) (Abb. 100) tritt uns in äusseren Dingen, den runden Schilden und Helmen der Krieger, in der Einführung eines Viergespannes an Stelle der Zwei- gespanne, ein merkbarer Wechsel entgegen. In zwei anderen Dipylon-

Vasenmalerei: Fortsetzung des Dipylonstyles.

Von einer Vase des Dipylonstyles aus Athen.

vasen (ebd. T. 8, in Kopenhagen) (Abb. gg) sind die Thier- und menschHchen Gestalten die richtigen Nachkommen der früheren. Aber wenn sie auch noch auf das Kernschema des Körpers den Haupt- nachdruck legten und noch nicht zu einer eigentlich fleischigen Behandlung der Körper fort- schritten, so tritt doch das Be- streben hervor, die äusseren Be- grenzungen mehr zu gliedern, besonders aber die Gebundenheit in der Stellung der Beine und namentlich in der Haltung der

Arme in eine Bev^egung zur Darstellung gewisser Handlungen über- zuleiten, freilich nur in der engen Begrenzung, die wir als den ersten Schritt des Heraustretens aus dem Schema der Ruhe bezeichnen dürfen. Denn z. B. bei der Darstellung eines im Kampfe (schräg) fallenden Kriegers fehlt die Kenntnis der Mechanik des Körpers noch ebenso wie früher; und eben so wenig gelungen ist die Gestalt eines in dem Rachen zweier Löwen schwebenden Mannes. In dieser Gruppe tritt uns aber zugleich das Eintreten eines fremden Elementes entgegen durch die Einführung der dem Dipylonstyl früher gänzlich fremden Löwen, und hier zwar in besonders lehrreicher Weise. Denn wenn v^ir an den übrigen Thieren, Pferden, Hirschen, Vögeln, trotz ihrer Unvollkommenheit immer noch erkennen, dass der Maler von eigener Beobachtung der Natur ausging, so lassen uns seine Löwen kaum einen Zweifel übrig, dass er nie einen wirklichen Löwen gesehen,

sondern dass er von einem gege- benen Bilde eines Löwen ausging, welches er in den Schematismus der ihm geläufigen Thierwelt gewisser- maassen zurückübersetzte. Auch in der Ornamentik überwiegen noch die früheren Elemente, und die auf dem Grunde zerstreuten rosettenartigen Gebilde sind nicht genaue Nach- ahmungen fremder Muster; sie zeigen aber, dass der Maler solche Muster, etwa orientalische Teppiche, gesehen und in seinem Sinne verwerthet hat.

An einer dreihenkeligen Kanne aus der Nähe von Athen (Jahrb. d. I. II, T. 3) bewahrt der Dipylonstyl, wie in dem unteren Streifen

9*

100. Von einer Vase de in Athen.

Dipylonstyles

Viertes Capite]. Erstarkung des hellenischen Geistes.

von Vögeln und weidenden Rehen, so auch in dem Figurenschmuck des schlanken Halses seine Geltung in fast unvermischter Reinheit. Ein zweifacher Chor von nackten, sich anfassenden und Zweige haltenden Männern und eben solchen bekleideten Frauen und einem Leierspieler zwischen ihnen, das Ganze in ruhiger gemessener Haltung, boten zur Weiterbildung der menschlichen Gestalt nur mässigen Anlass. Dagegen machen sich in dem mittleren, den Körper des Gefässes einnehmenden Streifen entschieden fremde Einflüsse geltend. Da sind es zuerst wieder

loi. Bild einer Vase aus Atiika.

I02. Bild einer Vase aus Attika (A. vgl. Abb. 103.)

zwei Löwen (Abb. loi), die zwar noch immer keine eigentliche Natur- beobachtung verrathen (man beachte nur die Zeichnung der Klauen), aber doch im Ganzen einen Fortschritt namentlich in der Richtung bezeichnen, dass hier das ,, heraldische" Schema der mit erhobenen Vorderbeinen ein- ander gegenüberstehenden Thiere den Principien des geometrischen Styls mehr assimilirt ist, während dieselben z. B. an dem storchähnlichen Vogel in der Charakteristik der Beine und des Halses wieder ungetrübt hervortreten. Ebenso überwiegt das Fremde in der übrigen Ornamentik. Mögen sich in dieselbe einige Elemente des mykenischen Styls verirrt haben, so weisen doch die Pflanzen-, insbesondere die Palmettenbil-

Vasenmalerei: Fortsetzung des Dipylonstyles.

I

düngen überwiegend auf den Orient. Und doch werden sich für die einzelnen Gebilde, so wie sie sich uns darbieten, keine directen Vorbilder nachweisen lassen, die der Maler geradezu copirt hätte. Vielmehr werden wir auch hier annehmen müssen, dass er aller- dings fremde Muster vor Augen gehabt und sich durch sie hat anregen lassen, ohne darauf zu verzichten, dieselben seinen Anschau- ungen anzupassen und zu versuchen, das Gebiet des linearen Systems über seinen einseitigen eckigen Charakter hinaus durch die Einführung der geschwungenen und Bogenlinien zu erweitern. Unter gleichen Gesichtspunkten ist ein zweihenkeliger Napf aus Theben (ebd. T. 4) (Abb. 102 u. 103) zu betrachten. Denn so erklärt es sich, wie der Maler dieses Gefässes, obwohl er die Pflanzen- ornamente dem gleichen Stylgebiet entnahm, wie der vorige, doch aus ihm wieder ganz abweichende Formen entwickelte. Wenn er sodann bei der Zeichnung der Löwen, besonders der Köpfe und der Klauen, in der Nachahmung seiner Muster offenbar Fortschritte gemacht hat, so finden wir da- gegen in den Rehen den echten Dipylon- styl wieder. Ja, mag selbst die Kentauren- gestalt in der Erfindung fremden Mustern entlehnt sein, so ist doch die Ausführung auf das Vollständigste in die ihm geläufige Vortragsweise übertragen.

Einen eigenthümlich abweichenden Cha- rakter zeigt eine kleine Gruppe von Ge- fässen, meistens Kannen, die wegen ihres hauptsächlicjisten Fundortes in der Nähe von Athen als Phaleronvasen bezeichnet werden (Böhlau im Jahrb. d. I. II, S. 44 ff.) Die Ausführung ist von mehr derber als sauberer Ausführung. Auch an ihnen sind die

134

Viertes Capitel. Erstarkimg des hellenischen Geistes.

fremden Einflüsse unverkennbar. Sie mahnen aber noch mehr als die bisher betrachteten Beispiele zur Vorsicht gegen ein übereifriges Be^ streben, nun auch jedes Element eines Ornamentes auf bestimmte Vor- bilder zurückzuführen. Gerade die am wenigsten ent- wickelten Beispiele (Böhlau Fig. 3 ff.) zeigen , wie der Maler verschiedene Motive durcheinander mischt und sich aus ihnen etwas Eigenes zurecht macht; ja wie er selbst bei Thierfiguren, z. B. Fig. 20, das Dipylon-Pferd ge- wissermaassen in den Styl eines asiatischen Greifen übersetzt, dann Fig. 14 einen Löwenkopf in vortreff- licher Charakteristik malt, bis endlich in einigen Kannen (Fig. 8; München 221; Lau, griechische Vasen VIT, i) (Abb. 104) das Ganze zu einer gewissen Einheitlichkeit verarbeitet ist, aber durchaus auf der Grundlage des geometrischen Styles. 104. Sogenannte D^-S Ictztc Glicd lu dcu bisherigen Gruppirungen

Phaieron-vase. bildet ciuc am Hymcttos gefundene Amphora von ausserge wohnlicher Grösse, 1,10 m hoch: Böhlau, Tafel 5 (Abb. 105). Wenn schon bisher das Streben hervorgetreten war, keinen Theil des Gefässes von malerischer Ausschmückung unbedeckt zu lassen, so tritt doch hier ein weiterer Wechsel in der Richtung ein, dass die Pflanzenornamentik bereits wieder anfängt, sich zurückzuziehen. Sie wird spärlicher als Füllwerk des Grundes und tritt als zusammen- hängendes Band nur einmal zwischen Schulterbild und Körper auf, und zwar schon in starker Umbildung zu rein tektonischer Formulirung. Eben so findet sich ein Thierstreifen schreitender Löwen nur in unterster Reihe. Die menschliche Gestalt gewinnt das Uebergewicht: je ein Kämpferpaar vorn und hinten am Halse; fünf in ununterbrochener Folge im Hauptbilde um den Körper herum; je ein Zweigespann und ein Reiter auf beiden Schulterflächen. Die menschlichen Körper bewahren noch immer ihre übermässige magere Schlankheit; aber die Glieder sondern sich bestimmter; die Bewaffnung, Beinschienen, Helme und Schilde werden mehr im Einzelnen durchgebildet; nur gering ist der Fortschritt in der Zeichnung der Köpfe. Die Handlung ist noch immer kindlich schematisch, und der bedeutende Schritt, sie in irgend einer Weise individuell zu gestalten, bleibt noch zu thun übrig. Dieser aber bildet einen neuen Ausgangspunkt, der hier noch nicht in Betracht gezogen werden kann.

Bhcken wir vielmehr jetzt nochmajls auf die bisherigen Erörte-

Vasenmalerei : Fortsetzung des Dipylonstyles. Melos ; Thera.

rungen zurück, so werden wir nicht wohl von einem „Zurückweichen (des Dipylonstyls) vor den zahlreich und mächtig eindringenden fremden Elementen" (Böhlau, S. 49) reden dürfen, sondern von dem Bestreben, PVemdes sich anzueignen, dieses durch eigene Kraft umzubilden und dem eigenen Besitz einzuverleiben. Und eben so lässt sich an der Richtigkeit der Ansicht zweifeln, dass sich „lange der geometrische Styl in aller Strenge neben dem immer mächtiger einströmenden Import aus dem Osten gehalten, bis es diesem gelang, die Herrschaft jenes allmählich zu untergraben und endlich zu stürzen" (S. 60). Denn welches sind die beson- deren Muster, und haben sich solche überhaupt auf dem Boden Attika's gefunden, die wir als directe Vorlagen betrachten dürften ? Dass Cypern sie nicht geliefert, haben wir bereits gesehen. Ueberhaupt aber würde ein unmittelbares Ent- lehnen von den Malereien fremder Thongefässe der Nachahmung sicher weit mehr den Charakter eigentlicher Copieen aufgeprägt haben. Das an- fängliche Ungeschick, in dem sich trotzdem die eigene Selbständigkeit nicht verkennen lässt, weist vielmehr darauf hin, dass die fremden An- regungen wenigstens nicht ausschliesslich, ja über- haupt wohl weniger durch importirtes gemaltes Geschirr, als durch andere Erzeugnisse orien- talischer Industrie erfolgten, vor allem durch die

Muster der textilen Künste, welche den Bedingungen und Voraus Setzungen der Keramik erst anzupassen waren.

05. Attische Amphora in Berlin.

Melos; Thera. Die fremden Einflüsse, welche auf dem Boden Attikas in der Weiterbildung des Dipylonstyles hervortreten, wiesen nach Asien; und es fragt sich jetzt, ob und in welcher Richtung sich dieselben auch an anderen Orten geltend gemacht haben.

Der Weg nach dem Osten führt über die Inseln des ägäischen Meeres. Dass dort der ältere geometrische Styl nicht fremd war, zeigt in einem ausgewählten Beispiele eine Amphora aus Thera: Conze, Anfänge griech. Kunst, T. 9, 2. Leider ist es nicht nachweisbar, wenn auch nicht unwahrscheinlich, dass dem Inselgebiet zwei andere Gefässe (T. 1 1) entstammen, auf denen zur Füllung geometrischer Feldertheilung als ein neues Element, aber ohne weitere stylistische Vermittlung, je

136

Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

ein Löwe gelagert ist. Theräisch ist dagegen wieder eine Kanne von eigenthümlicher Stylmischung (M. d. I. IX, 5, i) (Abb. 106). Der Hals und die Mündung haben die Gestalt eines Greifenkopfes von jener scharf charakterisirten Bildung, die wir schon früher (s. o. S. 11 6) in alten Bronze- arbeiten kennen gelernt haben. Das Schulterbild ist in drei Felder gegliedert: in dem mittleren würgt ein Panther einen Hirsch, zur vSeite weidet je ein friedliches Pferd. In der übrigen Ornamentik wechseln rautenförmige und mäanderartige Muster mit dem gewundenen Bande und einem eigenthümlich stylisirten, an Palmetten nur erinnernden Anthemienbande. Aus der ganzen Vortragsweise leuchtet noch überall der lineare Charakter des geometrischen Styls deutlich hervor. Wie sich aber aus den Dipylonvasen die Phaleronkannen als eine kleine Gruppe aussondern, die sich durch eine gewisse derbe Unbefangenheit auch in der Ausführung charakterisirt, so tritt uns auch der Maler des theräischen Gefässes als eine gesunde und kräftige Natur entgegen, die in ihrer Eigenart eine gesonderte Stellung genommen hat neben der allgemeineren Strömung einer Entwicklung, wie wir sie durch

mehrere Amphoren kennen lernen, die wir wegen ihres fast aus- schliesslichen Fundortes,

der Insel Melos, als melische zu bezeichnen pflegen: Conze, Melische Thongefässe 1862. Inder Form weichen sie von

der oben erwähnten theräischen des geome- trischen Styls nur in so weit ab, dass sie auf einem höheren Fusse von der Form eines abge-

106. Vase aus Thera. StumpftCn Kcgcls ruhcn.

Dagegen hat die Orna- mentation, wie bei den jüngeren Dipylonvasen, bereits von der ganzen Oberfläche Besitz genommen, wobei in der Mitte des Körpers ein höheres Feld für Figurenschmuck hervorgehoben wird. Auf der ersten (bei Conze C, Titelvignette; Taf. I, 2; V, i) ist dasselbe vorn und hinten je durch zwei einander gegenüberstehende Pferde eingenommen (Abb. 107). In den

Vasenmalerei: Melos; Thera.

umgürtenden Streifen sind die viereckigen Gliederungen durch Runde ersetzt, die aus concentrischen Kreisen oder aus grossen linearen oder

107. u. 108. Vasen aus Melos.

rankenartigen Spiralen gebildet und unter einander durch nur halb- entwickelte blumenkelchartige Ornamente zu einem Bande verknüpft sind, während am Halse diese Spiralen in doppelter Reihung je zu vier verbunden wieder an die quadratische Felderth eilung erinnern. Im Hauptfelde erscheinen zwischen den Pferden und unter den Henkeln schon reichere und strenger entwickelte Voluten- und Palmetten- schemata, dazu auf dem Grunde zerstreut kleinere Voluten und Rosetten und nur nebenbei geringe Reste linearer und Zickzackornamente. wSo entschieden sich also asiatische Elemente in den Vordergrund drängen; so müssen wir doch fragen, ob der Wechsel, welcher sich vollzogen, ein fundamentaler ist, und ob die Principien des geometrischen Styles gänzlich aufgegeben sind. Die Hauptgliederungen sind geblieben. Die Gürtungen würden sich leicht in Vierecke zerlegen lassen, denen die Runde nur rein zur Füllung dienten. Wie man in den zusammen- geschobenen Bändern an den Umrahmungen der mykenischen Stelen und in dem ausgebildeten Mäander das gleiche Grundschema erkannt hat, das sich nur in der Ausführung durch gewundene und eckige Linien unterscheidet (s. oben S. 32, Fig. 26), so liegt auch hier der Unterschied in der Uebertragung aus dem gradlinigen und eckigen Schema in die Kreis- und Spirallinie.

■38

Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

In einer zweiten Vase (bei Conze B, Taf. T, i;4;5; II) (Abb. io8) überwiegen äusserlich durchaus die orientalisirenden Elemente; aber nicht nur, dass sich daneben die Linearornamente fast noch mehr als in der vorigen Vase erhalten, auch die neuen Elemente haben sich von ihren ursprünglichen Vorbildern schon so weit entfernt, dass sie denselben im Einzelnen keineswegs mehr entsprechen; sie haben bereits einen tektonischen Umbildungsprocess erfahren, haben sich aus der textilen Vertrocknung befreit und mit neuem Lebenssaft erfüllt. Vor allem aber waltet in der Gliederung des Ganzen, in der horizontalen des Körpers, der verticalen des Halses ein Geist strenger Ordnung, des Zusammenhanges zwischen bildlichem Schmucke und Körper, der keineswegs von asiatischen Vorbildern übertragen sein kann, sondern aus den Wurzeln des geometrischen Styls herausgewachsen ist und aus diesen heraus sich weiter gebildet hat. Noch deutlicher spricht sich dieses Verhältnis aus in der Darstellung der Thiere und mensch- lichen Figuren. Statt einfacher Rosse finden wir hier je zwei, von denen das vordere von einem kurzbekleideten Knappen geritten wird. Reicher ist der Figurenschmuck auf dem dritten Gefässe ( A, Taf III ; IV; und I, 3). Von einem menschlichen Kopfe am Fusse abgesehen, stehen auf der Vorderseite des Halses zw^ei unbärtige, schwergerüstete Krieger mit erhobener Lanze einander gegenüber; zwischen ihnen am Boden eine Rüstung; hinter ihnen, durch einen Ornamentstreifen von ihnen getrennt, je eine weibliche Gestalt. Ob dabei der Maler an Thetis und Eos und ihre Söhne Achilles und Memnon gedacht hat, muss unentschieden bleiben. Das Hauptfeld der Vorderseite (Abb. 109) nimmt ein von vier geflügelten Rossen gezogener Wagen ein, welcher drei stehende Gestalten trägt: einen kurzbärtigen, leierspielenden Mann und hinter ihm zwei PVauen; dem Rosse gegenüber steht Artemis, durch Bogen und Köcher auf der Schulter und einen Pfeil in der Linken charakterisirt, und einen Hirsch mit der Rechten am Geweihe empor- hebend. Im Hinblick auf sie ist man versucht, in dem leierspielenden Manne Apollo zu erkennen; aber wer sind die beiden Begleiterinnen? An Artemis und Leto zu denken, verbietet gerade die deutliche Artemis. Ohne mit leicht irre führender Gelehrsamkeit eine neue Deutung zu versuchen, halten wir uns daran, dass Artemis und die Beflügelung der Rosse die Darstellung über den Kreis des Alltagslebens hinaus- heben. — Mehr lässt sich zunächst auch nicht von dem Fragment einer vierten Vase sagen, von deren Hauptbilde nur die Reste eines geflügelten Gespannes und einer männlichen und weiblichen Gestalt

Vasenmalerei ; Melos ; Thera.

109 Bild einer Vase aus Melos

erhalten sind, während am Halse eine weibliche geflügelte Göttin, die sog. persische Artemis, einen Löwen an Ohr und Schweif gefasst neben sich führt: A. Z. 1854, T. 61 62; Conze, Vignette über dem Text Eine w^eitere Bedeutmig hat dieses Fragment allerdings durch seine Herkunft, indem es uns den unveränderten „melischen" Styl auf einem der Insel Thera entstammenden Fundstücke kennen lehrt. Endlich ist noch ein fünftes wohl erhaltenes Gefäss, wieder aus Melos selbst, bekannt geworden (Jahrb. d. Inst. II. Taf. i 2), das in Form und Decorations- system mit den vorhergehenden übereinstimmt. Dagegen zeigt ein weiblicher Kopf am Halse in der Zeichnung bereits eine grössere Ab- rundung, während eine schreitende Sphinx im Hauptbilde sich uns später als ein Verbindungsglied mit rhodischer Kunst nützlich er- weisen wird.

Betrachten wir jetzt diese Malereien von der künstlerischen Seite, so möchten die Rosse trotz eines nicht geringen Abstandes doch als die Nachkommen derer des Dipylonstyls zu bezeichnen sein. Die menschlichen Gestalten aber sind ebenso fern von asiatischer Schemati- sirung, wie von einer blossen Nachahmung der äusseren Erscheinung in ihren Einzelnheiten, wie sie uns in den Kriegern einiger myke- nischer Fragmente entgegentrat. Allerdings geht der Künstler aus von unmittelbarer Betrachtung der Natur; er bildet sich einen Begriff

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Viertes Capital. Erstarkung des hellenischen Geistes.

z. B. von der Gewandung, von dem Untergewand, ob es glatt, ob es gewürfelt, von dem Obergewand, wie es über das untere fällt, von der Gestalt der Waffen, und giebt die allgemeinen Züge unbefangen, oft ungeschickt wieder, ohne sich um das Einzelnste viel zu kümmern. Ebenso an den Gestalten selbst; ja gerade der Umstand, dass auf das Gesammtbild mehr Werth gelegt wird, als auf Einzelnheiten, wie Hände, Füsse oder Haar, zeugt von einem richtigen Gefühle, und gern lassen wir uns die scharfkantigen Linien selbst im Profil des Gesichts, an den Nüstern der Pferde, die in hohem Bogen geöffneten Augen, das Eckige im Schritt oder in der Armhaltung gefallen, weil sich in ihnen das Streben nach bestimmter Charakteristik ausspricht; ja wir betrachten sie sogar mit einem gewissen Wohlgefallen, sobald wir uns, gegenüber der missverstandenen Weichlichkeit und Flauheit eines auf etruscischem Boden, in Caere, gefundenen, wenn auch mit einem griechischen Künstlernamen bezeichneten Gefässes (M. d. I. IX, 4), der naiven Ursprünglichkeit nur um so deutlicher bewusst werden.

Für eine annähernde Zeitbestimmung bietet höchstens das Vor- kommen einer siebensaitigen Leier im Arm des angeblichen Apollo einen schwachen Anhaltspunkt. Denn wenn auch in der Angabe der Saiten auf Vasenbildern mancherlei Willkür herrscht, so konnte doch eine siebensaitige Leier nicht wohl gemalt werden, ehe sie durch Terpander erfunden und in Gebrauch gekommen war; wonach das Bild nicht wohl vor der 30. Olympiade entstanden sein könnte. Wenn es nun also in der Derbheit und Unbeholfenheit seiner Ausführung nicht der Vorstellung von relativer Vortrefflichkeit entspricht, welche wir uns von der Kunst bei Homer zu machen pflegen, so dürfen wir doch nicht vergessen, dass auch dort gerade die Ausführung im Einzelnen nur den bescheidenen Ansprüchen einer kindlichen An- schauung genügt haben wird, und dass Homer mit dichterischem Schwünge das Höchste schildert, was überhaupt seine Zeit zu leisten vermochte, während an den jedes materiellen Werthes baaren Thon- gefässen sich zunächst nur das gewöhnliche Handwerk übte. Auch der Blick auf die cyprischen Metallarbeiten darf uns nicht verwirren; denn die auf langer, ursprünglich fremder Kunstübung beruhende Routine lässt sich nicht ohne Weiteres auf entferntere Orte übertragen, welche dagegen bei anfänglichem Ungeschick sich das Verdienst grösserer Ursprünglichkeit w^ahren.

Vasenmalerei: Rhodos.

141

Rhodos. Noch weiter ostwärts gelangen wir nach Rhodos, wo uns der Wechsel verschiedenartiger Erscheinungen zunächst mehr verwirrt als aufklärt. Betrachten v/ir das Fragment vom Halse eines grossen Gefässes (Salzmann, necropole de Camirus 39) (Abb. iio): ein Kentaur fasst mit beiden Händen nach einem Baume, ein zweiter folgt. Dürfen wir es wagen, aus einer so kindlich rohen Pinselei überhaupt Schlüsse zu ziehen? Und doch: sie zeugt von grösserer Selbständigkeit, als die Nachahmungen des Dipylon- oder des assyrischen Styls auf ky prischen Gefässen. Auf einem Teller (Journ. of hell. st. 1885, pl. 59) (Abb. 112) erscheint eine viergeflügelte Medusa, bekleidet mit langem, geschlitztem Chiton, aus dem das zum Vorschreiten vorgesetzte Bein nackt heraus- tritt, mit jeder Hand einen grossen Vogel am Halse gepackt haltend. Das gewaltige übergrosse Haupt ist flach maskenartig in Vorderansicht gezeichnet; in abstracter, schematischer, von einer Nachahmung der Wirklichkeit gänzlich absehender Auffassung. In den auf dem Grunde zerstreuten Elementen macht sich überwiegend orientalischer Ein- fluss geltend; und nicht weniger ist das ganze Schema der Gestalt, die Beflügelung, das Halten der Vögel, orientalisch; orientalisch auch die Art, wie die Nase, das Kinn und die Ohren in voluten- artige Ornamente übertragen sind. „o Bild einer Vase aus Kameiros.

Und doch tritt wieder in der An- gabe der Gewandfalten und eben so in der Zeichnung der Arme und Beine ein griechischer, nicht schematisirender, sondern individueller Charakter hervor. Auf einem anderen Teller (Salzmann 55) (Abb. 1 1 1) läuft eiligen Schrittes ein mit Stiefeln und kurzem Rock bekleideter junger Mann, in der linken Hand eine Tasche haltend, wohl nicht ein Hermes oder Perseus, sondern, weil von einem Hunde begleitet, etwa ein Jäger. Die in ihrer Gliederung, wie in ihrer Bewegung nicht übel gerathene Gestalt zeigt nichts von fremdartigen Einflüssen, und auch unter den auf dem Grunde zerstreuten Ornamenten tritt ein blumenartiges Gebilde zurück gegen die linearen Elemente, die allerdings in ihren ein- zelnen Combinationen, wie in der geringen Ordnung ihrer Vertheilung im Räume uns etwas fremdartig anmuthen, nicht etwa wie das Glied einer bestimmten Entwicklungsreihe, sondern mehr wie die abweichende Ausdrucksweise einer eigenartigen Individualität.

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Viertes Capitel, Erstarkung des hellenischen Geistes.

aus

Rhodischer Teller.

Dagegen lenkt uns zu einer allgemeineren Strömung ein Teller Kameiros zurück, auf dem der Kampf zweier vollständig ge- rüsteter Krieger über einem dritten ge- fallenen dargestellt ist (Conze: 2 3. Philo! .- Versamml. in Hannover 1864; Salz- mann T. 53) (Abb. 114). Hier hat uns der Maler über die Namen der Käm- pfenden nicht im Unklaren lassen wollen. Er bezeichnet sie durch die Inschriften als Menelaos und Hektor im Kampfe um die Leiche des Euphorbos. Freilich entspricht die Darstellung, so wenig wie die Lösung Hektors auf der olympischen Bronze (s. o. S. 124), der Schilderung Homers (II. XVII, 70 ff.): sie giebt nur das Schema des Kampfes um einen Gefallenen. Aber der Schritt ist gewagt, dem bildlichen Schmucke einen neuen Inhalt aus der hellenischen Sagenwelt zu geben, und die Darstellung der Figuren selbst ist rein hellenisch. Und w^enn auch in der eingestreuten Ornamentik die orientalischen Elemente über- wiegen, so machen sich doch in ihrer Anordnung und lebendigeren Behandlung die Spuren helle- nischen Geistes immer mehr fühlbar. Ja wenn w^ir von dem fortgeschrittensten Dipylonstyl ausgehen, so dürfen wir w^ohl sagen, dass der Teller von Ka- meiros über die Entwicklung der melischen Gefässe hinaus- geht und einen neuen Schritt nach der Richtung bezeichnet, dass Schärfen und Einseitig- keiten gemildert, das Ganze in Anordnung und Ausführung mehr abgerundet erscheint.

An dem Euphorbosteller ist, um für das Figurenbild eine

gerade Grundlinie zu gewinnen, von dem untern Theile des Kreisrundes ein mit einem Stabornament gefülltes Segment abgeschnitten. An dieses

sehe Artemis. Teller aus Rhodos.

Vasenmalerei: Rhodos

Beispiel schliessen sich durch die gleiche räumliche Gliederung einige andere rhodische Teller an, denen als künstlerischer Schmuck die Darstellung einer einzelnen Thierfigur eigenthümlich ist. Als Beispiele mögen dienen: ein Stier (Salzmann, Camirus, T. 50); eine schreitende Sphinx nach rechts (T. 54); eine ähnliche nach links (A. Z. 1872, S. 38); ein Widder (Salz- mann, T. 51) (Abb. 113); eine Chimäre, unter der im unteren Abschnitte ausser Ornamenten auch ein grosser Fisch ge- malt ist (T. 49). Unverkennbar rho- discher Herkunft, wenn auch in Nau- kratis gefunden, ist eine kauernde Sphinx (Gardener, NaukratisII, T. 12). Die Füllornamente der Hauptbilder, etwas vereinfacht, weichen sonst von denen des Euphorbostellers kaum ab. Einige Voluten und Palmetten im Abschnitt verrathen dagegen einen schon mehr tektonisch geläuterten Geschmack. Eben so ist in den Gestalten der Thiere in der Art der Ausführung ein Verfahren, das schon in den melischen Gefässen zum

grossen Theile vorgebildet war, in mehr systematischer Weise zur Anwendung gelangt: die Körper sind mit breiter Fläche des Pinsels vollfarbig gemalt; dagegen die Köpfe und mehr- fach auch die Beine und Klauen mit der Spitze des Pinsels in Umriss- und Innenzeichnung auf dem hellen Grunde ausgeführt. Mit diesen Hilfsmitteln haben es die Künstler verstanden, in der Zeichnung des Kopfes und

der Extremitäten zu einer schärferen Charakteristik vorzu-

114. Teller von Kameiros.

schreiten und eben so der Linien- führung in den allgemeinen Umrissen einen mehr harmonischen Fluss zu verleihen. Jedenfalls entfernen sich diese Thiere mehr als bisher vom Schematischen der Behandlung, während an ihnen in weit höherem

144

Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes,

Maasse das Streben hervortritt, die Gattung zu individualisiren. Dazu haben wir das Gefühl, dass wir es hier nicht mit einer Uebertragung fremder Muster zu thun haben, sondern mit der eigenen Auffassung des ausführenden Malers.

Resultate. Blicken wir jetzt zurück, so bildeten unseren Aus- gangspunkt die Vasen des einfach geometrischen und des älteren Dipylonstyles. Wir mussten an ihnen eine volle Ursprünglichkeit der Auffassung anerkennen, die auf einem bestimmten mathematischen Princip beruhte, einem Princip, das wir als den eigentlich hellenischen Stämmen eigenthümlich zu bezeichnen uns berechtigt hielten. Bei seiner anfänglichen Ausschliesslichkeit bedurfte dasselbe zu weiterer Entwicklung einer Ergänzung durch neue Elemente, die ohne An- regung von aussen sich nur schwer aus sich selbst herausgebildet haben würden. Die Berührung mit der „mykenischen" Keramik erwies sich hierbei wenig fruchtbar. Das Laxe in der blossen Nachahmung der Natur in ihrer äusseren Erscheinung steht in einem zu scharfen Gegen- satz mit dem mathematischen Grundprincip und ordnet sich strengen Stylisirungsprincipien schwer unter. Anders der sogenannte asiati- sirende Styl, der sich neben den geometrischen stellt. Der letztere, für den die gewählte Bezeichnung in der That eine zu umfassende ist, beschränkt sich auf die Anwendung gerader, eckiger und gekreuzter Linien; selbst der reine Kreis, der sich ihnen beigesellt, ist in einer gewissen idealen Auffassung eine bei gleichmässiger Krümmung von der einmal eingeschlagenen Bahn niemals abweichende, in ihren Aus- gangspunkt zurücklaufende „gerade" oder wenigstens der geraden am nächsten verwandte Linie, wie sie ja auch thatsächhch z. B. am Körper einer runden Vase mit Hülfe der Drehscheibe sich von selbst erzeugt. Auch der asiatisirende Styl lässt sich unter einer anders gearteten Beschränkung als ein geometrischer bezeichnen. In ihm herrscht, wenn auch weniger ausschliesslich, die gebogene, gekrümmte, gewundene Linie, man möchte sagen ein System von Linien zweiter Ordnung oder zweiten Grades. Wie aber die Geraden und geradlinigen Verbin- dungen in der unbelebten Natur sich an den krystalHnischen Bildungen finden, so weist uns das zweite System auf die Pflanzenwelt, die, wie sie dem geometrischen Styl fremd ist, eben so charakteristisch für den asiatisirenden ist. In dem belebten Organismus der Thier- und Menschen- welt endlich verbindet sich beides und erhebt sich gewissermaassen zu einer dritten Ordnung. Auf der festen, sagen wir linearen Grundlage

Vasenmalerei: Resultate. Rhodos und Naukratis.

des Knochengerüstes entwickelt sich vermöge der vegetativen Um- hüllung der Muskeln, der Haut u. s. w. das lebendige Wachsthum, das schliesslich zum Ausdruck eines noch höheren, animalischen und geistigen Lebens aufsteigt.

Nach dieser Auffassung hört die zweite Stufe auf, einen bestimmten Gegensatz zur ersten zu bilden; sie müsste vielmehr ergänzend zu der ersten hinzutreten. Obwohl in sich bereits weiter entwickelt, konnte sie doch in weiter Entfernung von ihrer Heimat nicht sofort die erstere unterdrücken und sich an ihre Stelle setzen, um so weniger, als es sich nicht um eine directe, persönliche Uebertragung verschiedener Kunstprincipien handelte, sondern nur um Anregungen, welche Gegen- stände des Handelsverkehrs auf eine Verfeinerung des Lebens und eine Veredelung des Kunstgeschmackes auszuüben vermochten. Der fremde Einfluss konnte daher nicht sofort und durchschlagend, sondern nur in dem Maasse wirken, als die einheimische Kunstübung die Kraft und den Willen hatte, sich das Fremde zu eigenem Nutz und Frommen anzueignen und selbständig zu verarbeiten. So erklärt es sich zugleich, dass mehr nach dem Osten, zunächst also auf Thera und Melos, wo die Berührung mit dem Orient eine häufigere war, sich der Einfluss stärker äusserte, als auf dem griechischen Festlande ; stärker aber noch auf Rhodus. Wenn hier die Entwicklung zuerst zu einem, wenn auch nur vorläufigen Abschlüsse, zu einer gewissen grösseren Abrundung des ganzen technischen Gebahrens gelangte, so hat dazu die Nähe Kleinasiens und die Wechselbeziehung zu der älteren, höheren Cultur- stufe dieser Länder sicherlich mitgewirkt. Dass es an einer Rück- wirkung dieser besonderen Richtung auf das eigentliche Hellas nicht gefehlt haben mag, lässt sich nach zwei Fragmenten aus Aegina und Phaleron (Benndorf, gr. Vas. T. 54) wohl vermuthen, aber nicht im Einzelnen nachweisen.

Rhodos und Naukratis. An die bisher betrachteten rho- dischen Gefässe reihen sich zunächst mehr äusserlich einige Teller und Näpfe an, deren malerischer Schmuck aus Elementen gebildet ist, die ausschliesslich der Pflanzenwelt entlehnt sind (Salzm. T. 33; 34; 52; Jahrb. d. Inst. I., S. 143.) Allerdings mögen sie in ihrer schon sehr gereinigten tektonischen Durchbildung einer verhältnissmässig jüngeren Zeit als jene Thierteller angehören; aber sie können uns überleiten zur Betrachtung einer anderen bedeutenderen Gruppe von Gefässen, in denen die gleichen Elemente, aber in mannigfacher Verbindung, sowie

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Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

andere von verschiedener Art auftreten. Es sind bauchige Formen, aber auch napf- und amphoraartige Gefässe, deren Oberfläche wie die der mehschen in horizontale Streifen geghedert ist und die noch mehr als diese den Eindruck machen, als seien sie mit ornamentirten Borten überzogen, besonders wenn sie in doppelter oder verdreifachter Reihe den Haupttheil des Körpers bedecken. Die auf dem Grunde zerstreuten Zierrathen unterscheiden sich kaum von den meli-

schen. Dagegen ruht gewissermaassen der untere Theil des Gefässes, das Sitz-Ende, in einem nach oben gerichteten Anthemienbande aus lotosartigen Blüthen, Knospen und Blättern (Salzm. T. 32; 37; 43 ; 44), das einmal (44) in umgekehrter Richtung auch die Schulterfläche ziert, während anderwärts die Mitte dieser letzteren durch ein noch kunst- volleres Blumengeflecht eingenommen wird (32 ; 37 ; Jahrb. d. Inst. I, S. 138) (Abb. 1 15). Diese Gattung von Ornamenten berührt sich mit denen der vorhin erwähnten Teller, entfernt sich aber schon bedeutend z. B. von denen der Thierteller. Zu diesem Pflanzen-

schmuck gesellen sich aber weiter die in kürzerer oder längerer Reihe aufmarschierenden Thiere, unter denen Löwen, Greife, Sphinxe nicht fehlen, aber weit mehr Hirsche, Steinböcke, Gänse überwiegen. Sie haben mit den Einzelgestalten der oben betrachteten Teller noch gemein, dass die Köpfe und einzelne Aussentheile nicht mit der Breite des Pinsels aufgemalt, sondern mit der Spitze gezeichnet sind; sonst aber fehlt ihnen die Fülle und Breite der Formen, die Weichheit oder Rundlichkeit der Linie; in der Zeichnung der Körper, namentlich aber der Beine tritt eine grosse Schlankheit und Magerkeit hervor, wie überhaupt in der Gesammtanlage der Knochenbau stärker betont ist. Die Grundanschauung, von der der Künstler ausgeht, ist eine durchaus andere.

So treten hier also neue Elemente, veränderte principielle An- schauungen auf, die sich nicht einfach als eine Weiterentwicklung der vorhergegangenen Stufe erklären, ja deren Entstehung an einem und demselben Orte neben oder nach der früheren Art sogar der Wahr- scheinlichkeit entbehrt ; es drängt sich vielmehr die Frage auf, ob wir nicht mindestens bestimmte Anregungen von aussen her anzunehmen haben. Eine sichere Antwort scheint noch nicht möglich. Aber nahe liegt der Gedanke, sich fragend einem Orte zuzuwenden, der erst in

Vasenmalerei: Rhodos und Naukratis.

neuester Zeit als eine alte Stätte griechischer Cultur bekannt geworden ist : Naukratis an den Mündungen des Nils, das, nicht erst unter Amasis gegründet, gewiss schon früher vielfältige Beziehungen zum griechischen Handel hatte. Die nächste der gegenüber liegenden griechischen Inseln ist Rhodos. Von dort stammte offenbar der eine der oben- erwähnten Sphinxteller. Aber weit häufiger sind in Naukratis Gefässe und Fragmente, welche mit den hier in Betracht kommenden rhodischen die grösste Verwandtschaft, ja fast, wenn auch nicht völlige, Ueber- einstimmung zeigen. {Naukratis I [Petrie] T. 4ff. ; II [Gardener] T. 4 ff.). Sind auch diese aus Rhodos importirt? Aber viele Anzeichen weisen darauf hin, dass Naukratis seine eigenen Töpfereien hatte. Nun finden wir auf dortigen Fragmenten eine Reihe von Anthemien- elementen, die nicht im Einzelnen, aber der Gattung nach denen der rhodischen Gefässe weit näher stehen, als die früheren Arten, anderer- seits aber mit ägyptischen Ornamenten sich mindestens eben so nahe berühren, wie mit asiatischen (Perrot I, S. 541, 312; 543, 317; 808 9, 338 41 ; 822, 551; 834, 569). Für die Thiergestalten vermag ich aller- dings aus ägyptischen Monumenten keine directen Vorbilder nachzu- weisen. Aber wir haben bereits öfter bemerkt, dass der hellenische Geist schon von früh an Fremdes nicht unvermittelt annahm, sondern sofort mit einer gewissen Selbständigkeit umarbeitete und sich zu eigen machte. Sollte sich da nicht ein in seinen natürlichen Anlagen den

Dipylonmalern ver- wandter Künstlerkreis in Naukratis durch den An- blick ägyptischer Ar- beiten, in deren knappen, nicht fleischigen Formen die Betonung des

Knochengerüstes als herrschendes Princip sich zu erkennen giebt, zu einer Thierbehandlung wie in den Vasen von Naukratis und Rhodos haben anregen lassen, leichter wenigstens als durch die breiteren und reichlicheren asiatischen Muster? Ein zwingender äusserer Beweis lässt sich allerdings für diese Auffassung nicht beibringen, immerhin aber wird mit der Möglichkeit zu rechnen sein, dass die Berührung mit Aegypten der Kunst von Naukratis be- stijnmte Anregungen gegeben, die zunächst auf Rhodus wirkten: ob auch auf weitere Entfernungen, lässt sich vorläufig nicht nachweisen.

10*

116. Bild einer Vase aus Vulci.

148

Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

Denn weder eine Kanne, die in neuer Zeit „aus Griechenland" nach Italien gelangt ist, noch zwei Gefässe, die schon im Alterthum sich nach Vulci verirrt haben, können etwas für eine Fabrication ausserhalb der genannten Orte beweisen (M. d. I. IX, 5, i ; UrHchs, zwei Vasen ält. Styls, 1873) (Abb. 116).

Korinth. Es scheint, dass diese besondere Richtung durch eine neue Strömung gekreuzt und theilweise in den Hintergrund ge- drängt wurde, die, scheinbar nahe verwandt, sich doch durch wesent- liche Abweichungen bestimmt von ihr scheidet: die gewöhnlich als die korinthische bezeichnete Gattung. Die Bortengliederung, wie überhaupt der „textile" Charakter bleibt, ja steigert sich. Bei den Füllornamenten verschwinden die Reste linearer Decoration gänzlich; es bleiben nur die rundliche Rosette und kleine Blumen. Es ver- schwindet ferner die zeichnerische Behandlung der Köpfe und Extremitäten an den Thiergestalten auf dem hellen Grunde. Diese werden, wie jetzt auch die Füllornamente, voll mit dem Pinsel gemalt. Dagegen wird auf diese Unterlage zur Scheidung gewisser Theile weit häufiger

und consequenter ein dunkles Roth aufgesetzt und die weitere Durchbildung der Zeichnung durch die früher nur ausnahms- weise angewendete Gravirung mit einem spitzen Instrumente gegeben. Endlich gewinnen ge- genüber den Hirschen, Stein- böcken, und Gänsen wieder die Löwen, dazu die Panther, sowie die Mischbildungen, Sirenen und Sphinxe, mehr das Ueberge- wicht. Hierzu kommt noch etwas Anderes: indem, wie bemerkt, mehr mit der Fläche des Pinsels gemalt, als mit der Spitze des- selben gezeichnet wird, bildet sich eine der fabrikmässigen Production sehr günstige Routine aus, welche sich das Schablonenhafte der Typen leicht aneignet, ohne auf eine individuelle Charakterisirung derselben weiter zu achten. Vielmehr führt die Routine der Wiederholung zu Laxheit, Verschwommenheit bis zur handwerksmässigsten Rohheit.

117. Deckel der sog. Dodwellvase.

Vasenmalerei: Korinth.

149

Obwohl wir für diese Gattung fremde Vorbilder im Einzelnen nicht nachzuweisen vermögen, so werden wir doch der allgemeinen Annahme zu widersprechen keinen Anlass haben, dass hier der Orient

118. u. 119. Korinthisches Salbgefäss in Berlin (vgl. Abb. 120 122).

nochmals und zwar noch einmal in verstärktem Maasse seinen Einfluss ausgeübt, der durch die vermehrten Handelsbeziehungen Korinths etwa in der Zeit der Kypselidenherrschaft besonders gefördert werden mochte. Je ausgeprägter es aber der reine Teppichstyl war, der hier auf die Keramik übertragen wurde, um so leichter lässt es sich ver- stehen, dass eine eigentliche Umbildung und eine Assimilirung an die Stylbedingungen der letzteren sich nicht vollzog, sondern ein Stillstand eintrat. Diese ganzen Teppichmuster blieben in der Keramik nur im Gebrauch als die äussere Marke einer bestimmten Waarengattung, wobei wir uns zur Vergleichung aus neuerer Zeit etwa der blauen,

120. 122. Korinthisches Salbgefäss in Berlin (vgl. Abb. 118 u. 119).

sogenannten Zwiebelmuster erinnern mögen, die an dem Meissener Porzellan im vorigen Jahrhundert zur Geltung gelangt, seitdem nie ganz verschwunden, in unseren Tagen wiederum eine weite Verbreitung

150 Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

gefunden haben, ohne vom sonstigen Kunstgeschmacke berührt zu werden.

Für die Geschichte der Kunst würde also die ganze Gattung kaum weiter in Betracht kommen, wenn nicht nach der gewöhnlichen

123 u. 124. Korinthische Vase des Chares.

Annahme an sie eine weitere Entwicklung anknüpfte, indem zwischen die schematischen Thierreihen nun auch freie Darstellungen aus dem Menschenleben und aus der Sagengeschichte eingeführt wurden. Es handelt sich zunächst um eine Reihe kleiner Gefässe aus Korinth und benachbarten Orten, wie Kleonae, Argos, aber auch aus Aegina und Karystos aufEuboea. Es sind kleine kugelförmige oder längliche Lekythoi, Dosen von rundlicher, etwas gedrückter Form, und Tassen, in Thon und Farbe der vorigen Klasse noch nahe verwandt, aber, ihrer Kleinheit entsprechend, in der Technik der Töpferei sorgfältiger behandelt und sauber abgedreht, harmonisch in dem gemässigten Thon von Farbe und Firniss, die nur leider beim Brennen sich nicht immer genügend mit dem Thon verbunden und daher häufig abgesprungen sind. Das am längsten bekannte Beispiel ist die sogenannte Dodwell- vase in München (Nr. 211; Lau, griech. Vas. T. 3 4) (Abb. 117), an welcher der Körper ganz von zwei Thierborten überzogen und auch der Deckel zum grössten Theil von der Darstellung einer Eberjagd eingenommen ist. Wenn nun auch die auf dem Grunde zerstreuten Blumen noch einigemale anderwärts erscheinen (z. B. bei R. Rochette, choix de peint. de Pompei, zu T. 5, und zwischen den Figuren eines Kentaurenkampfes: A. Z. 1883, 10) (Abb. 118 122), so tritt doch eine grössere Zahl zu dieser Decorationsweise sogar in einen bestimmten Gegensatz, indem sich an ihnen das Bestreben offenbart, sich von dem

Vasenmalerei: Korinth.

Einflüsse des weichlichen orientahschen Teppichstyls überhaupt frei zu halten oder wieder frei zu machen oder nur bestimmte Elemente nach der durch die Arbeiten von Naukratis und Rhodos bezeichneten Richtung in echt hellenischem Sinne zu verwerthen. So finden wir auf einem kugelförmigen Lekythos (A. d. I. 1862, A) fast den ganzen Körper mit einem Anthemiengeflecht überzogen, das, reich an vortrefflichen Elementen, noch der Klarheit in der Unterordnung derselben unter einen einheitlichen tektonischen Gedanken entbehrt. An dem schon erwähnten Lekythos, der im Kentaurenbilde den Blumenschmuck bewahrt, verräth das Plechtwerk an der Schulterfläche und am Henkel schon eine systematisch-tektonische Durchbildung, eben so an einem anderen, der in den Bildscenen einer Schlacht, eines Pferderennens und einer Hasenjagd den Blumenschmuck bereits völlig unterdrückt (Journ. of hell. stud. 1889, T. 5). Von der sehr einfachen Ornamentik eines Salbgefässes in Breslau (Herakles und die Hydra: O. Rossbach, Antiken in Breslau, S. 5) ausgehend finden wir dann, dass die An- ordnung der mehr linearen Elemente in der Dose des Chares (Helden des troischen Krieges: A. Z. 1864, 184) (Abb. 123 u. 124) und der Flasche des Timonidas (AchiUes und Troilos, ebd. 1863, 175) (Abb. 125) weit mehr auf die Principien des geometrischen Styls hinweist, und das auch da noch, wo, wie bei einer Tasse mit dem Bilde eines Kentaurenkampfes (Herakles bei Pholos : Journ. of hell. stud. T, pl. I), sich diesem ein An- themienband beigesellt. Wo dieses allein den oberen Rand bildet, wie an

125. Korinthische Vase des Timonidas.

einer Tasse mit den Kämpfen des Herakles gegen Hydra und Kerberos (A. Z. 1859, 125), ist dasselbe bereits ganz in ein griechisches Ornament umgewandelt. Endlich an dem Salbgefässe von Karystos (Krieger und Knappe: Benndorf, gr. u. sie. Vas., T. 30) und der Tasse mit troischen Kampfscenen (A. d. I. 1862, B) (Abb. 126) ist die BlumenornamentiK

Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

Überhaupt und damit natürlich auch der orientaHsche Einfluss völHg zurückgedrängt. So genügt schon die Betrachtung der Ornamentik zur weiteren Bestätigung der Auffassung, dass diese ganze Klasse von Vasen weniger von einer Unterjochung unter asiatischen Einfluss, als von dem Bestreben Zeugniss ablegt, denselben zu bekämpfen und das echt Hellenische immer mehr zur Geltung zu bringen. Noch weit mehr aber offenbart sich dieses Streben in der Aufnahme der Figuren- compositionen, die immer mehr an Bedeutung gewinnen, wenn wir natürlich auch den Fortschritt nicht im Einzelnen und in streng stufenweiser Entwicklung, sondern nur in allgemeinen Zügen zu ver- folgen vermögen. Während ein weiblicher Kopf auf der Henkelfläche des mit Anthemien bedeckten Lekythos noch ganz an die melischen Vasen erinnert, zeigen einige weitere Beispiele eine gewisse Ungleich- artigkeit, indem nicht überall das Können dem Wollen entspricht und Einiges gelingt. Anderes missräth. Erst in den letzten ist ein gewisser Grad von Correctheit in den Haupt Verhältnissen und in dem Schema verschiedener Stellungen erreicht. Ueberhaupt aber ist formale styli- stische Durchbildung noch keineswegs ein Hauptziel. Die Figuren sollen noch nicht im vollen Sinne etwas darstellen, sondern nur be- deuten; und gerade darin beruht der Zauber dieser einfachen Bilder, dass wir in ihnen das Ringen erkennen, eine bestimmte Handlung oder That klar zu entwickeln. Einige bringen es allerdings nur erst zu einfachen Nebeneinander- oder Gegenüberstellungen von Figuren, deren Bedeutung ohne Inschriften unmöglich erkannt werden könnte. Da marschieren auf der Dose des Chares auf: Achilleus auf dem Xanthos, Patroklos auf dem Balios, Protesilaos auf dem Podargos, ferner: Nestor und Palamedes, und ihnen gegenüber Hektor auf dem Orion, und Memnon, alle zu Pferde, einer wie der andere ohne irgend welche Unterscheidung; und doch bietet das Ganze für ein kindliches Gemüth ein Gesammtbild des troischen Krieges in den Hauptvertretern seiner Helden. Da wagt es der Maler, noch kaum im Stande, einen Pferde- und einen menschlichen Körper nothdürftig mit einander zu verbinden, die Kentauren im wilden Kampfe laufend, verwundet und zusammen- stürzend, uns vor Augen zu führen. In anderen Bildern aber erfreuen wir uns an der Frische der Gedanken und an einer Reihe einzelner dem Leben abgelauschter Züge. Da sehen wir Pluton, wie er erschreckt wegläuft, als Herakles ihn mit einem Steine bedroht, oder Herakles, wie er seine Pferde ausgespannt und an einen Baum gebunden hat, während er mit lolaos die schwere Arbeit des Kopfabschneidens an

Vasenmalerei : Korinth. Korinthische Pinakes.

der Hydra vollzieht; da sehen wir bei der Eberjagd einen der Genossen elendiglich von dem wüthenden Thiere überrannt, während ein anderer demselben eine Reihe von Pfeilen nachsendet, deren mehrere gleich- zeitig in der Luft schweben. Da sehen wir in dem Troilosbilde Brunnen und Baum, hinter denen Achilleus als gewaltiger Krieger kauert, in fast landschaftlicher Ausführung. Nirgends tritt uns etwas Conventionelles entgegen, sondern wir sehen, wie der eigenste Gedanke des Künstlers nach einem entsprechenden Ausdrucke sucht; wir erkennen in der kindlichen Freude am Schafifen den Pulsschlag frischesten Lebens. Was kümmert es uns, dass der Gefallene unter dem Eber eigentlich kein Gefallener ist, sondern eine in der Querlage gemalte aufrecht stehende Gestalt? Fast bedauern wir, dass auf der Tasse mit troischen Kampfscenen einer solchen Unbefangenheit der Auffassung durch das Streben nach einer mehr typischen Durchbildung und nach grösserer Reinigung der Form ein hemmender Zügel angelegt ist.

Die korinthischen Pinakes. Was uns diese korinthischen Thongefässe lehren, das findet eine willkommene Ergänzung durch die Täfelchen (Pinakes), welche, 187g in der Nähe von Akrokorinth gefunden, jetzt im Berliner Museum aufbewahrt werden (Furtwaengler, Berl. Vasen- samml. I, 347 955; Ant. Denkm. d. Inst. I, T. 7 8) (Abb. 127 134). Es sind Thontäfelchen, auf einer oder auf beiden Seiten bemalt, in einer Technik, welche durchaus derjenigen der bemalten Vasen entspricht, ur- sprünglich bestimmt, als Weihgeschenke in einem, nach den Inschriften dem Poseidon geweihten Heiligthum aufgehängt zu werden, aber schon im Alterthum wohl als werthlos auf einen Haufen geworfen. So bilden einen Hauptbestandtheil die Darstellungen des Gottes: stehend, schreitend, ruhig

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Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

oder bewegt, auf einem Wagen, zu Pferde (nicht aber sitzend) ; allein oder in Verbindung mit Amphitrite (Abb. 1 27), zu denen sich auch andere Gott- heiten, wie Hermes, Zeus (?), Melikertes ge-

sellen. Eine andere Gruppe: Reiter zu Fusse oder neben ihren Rossen, Krieger zu Ross und zu Fuss oder im Kampfe, Eberjagden, leitet über zu dem mythologischen Gebiete, zu Darstellungen der Kentauren, des Herakles und der Kerkopen, denen sich auch eine leider sehr fragmentirte troische Scene an- schUesst (Diomedes, Sthenelos, Teukros, Pandaros; II. V. 17) (Abb. 128). Ueber- raschender sind die Bilder aus dem Alltags-

127. Korinthischer Pinax. ^^^^ richtiger Handwerkslebcn. Da finden wir Arbeiter beim Bergbau (Abb. 131), bei Schmelzöfen beschäftigt (Abb. 129 u. 130), Töpfer an der Drehscheibe; die Gefässe im Brennofen oder etwa auch zum Verkaufe fertig; Arbeiter bei der Weinernte, einen Bildhauer (?) (Abb. 133), Faustkämpfer (?), Schiffe, Thiere; wie es scheint, auch eine auf die Thierfabel vom Fuchs und vom Raben bezügliche Darstellung (Abb. 132).

Richten wir den Blick auf die künstlerische Ausführung, so begegnen wir nur noch selten den im Felde zerstreuten Blumen, während unter den Figuren nur einmal die sogenannte persische Artemis an orientalischen Einfluss erinnert, der sonst vollständig ver- schwunden ist. Die Zeichnung ist ungleichartig. Bei den öfter wieder-

kehrenden Gestalten, wie bei denen des Poseidon, bei ruhig schreitenden Rossen bilden sich gewisse typische Vortragsweisen aus. Timonidas, der sich einmal als Maler eines Täfelchens bezeichnet hat und hier eine männ-

Vasenmalerei : korinthische Pinakes.

liehe Gestalt mit einem Hunde (Abb. 134) in einem grösseren Maassstabe zu malen hatte, als die Figur seiner oben erwähnten Troilosvase, be- müht sich, von seinem Formenverständniss innerhalb eines noch etwas breiten und derben Archaismus Zeugniss abzulegen, während in dem

[30. u. 131

Korinthische Pinakes

offenbar jüngeren Bilde der fragmentirten troischen Scene dieser Styl bereits zu einer Stufe weit grösserer Verfeinerung gelangt ist. Ueber- haupt werden nicht alle diese Täfelchen einer und derselben Zeit an- gehören, wenn sie auch die Grenzen der hier zu behandelnden Periode nur selten und nicht stark überschreiten. Eine streng chronologische Reihenfolge herzustellen dürfen wir aber nicht wagen, da die einzelnen Stücke, offenbar von verschiedenen, mehr oder weniger geschickten Töpfern gearbeitet, für geringeren oder höheren Preis bei ihnen bestellt oder gekauft wurden. Wichtig sind sie gerade als eine grössere, im Ganzen zusammengehörige Masse, die als solche Zeugniss ablegt von dem künstlerischen Betrieb jener alten Zeit und uns einen Einblick gewährt in seine Freiheit und Vielseitigkeit.

Es ist in unseren Tagen Sitte geworden, bis zum Ueberdruss von einem Formen-, einem Typenschatz der ältesten griechischen Kunst zu reden. Wie man früher es ist noch gar nicht lange her in unseren Schulen zuerst die ein- zelnen Buchstaben der Reihe nach, dann einzelne Silben, Worte lesen lernte, so, meint man, hätten auch die Griechen ein sozusagen künstlerisches Alphabet, ein- zelne Formen oder Motive zeichnen gelernt, und z. B. erst als man auf solchem Wege ein laufendes Pferd zu Stande gebracht, sich dazu aufgeschwungen, einen von Achilleus verfolgten Troilos zu malen. Diese Auffassung erleidet an den korinthischen Pinakes den kläg- lichsten Schiftbruch. Das Kind, oder, was so ziemlich dasselbe ist

132. Korinthischer Pinax.

156

Viertes Capitel. Erstarkung des hellenisehen Geistes.

133. Korinthischer Pinax.

der Künstler in der Kindheit der Kunst beginnt nicht damit, einen Gegenstand der WirkUchkeit in seinen einzelnen Theilen abzuschreiben oder genau zu copiren. Es will einem Gedanken, einer Vorstellung künstlerischen Ausdruck ver- leihen, und indem es dabei die Eindrücke zu Hülfe ruft, die es von der Wirklichkeit erhalten, zeichnet es, wie in zutreffender Weise gesagt worden ist, nicht was es sieht, sondern was es weiss. Es weiss, dass beim Gehen, beim Laufen der Mensch die Beine enger oder weiter aus- einanderstellt, dass er beim Arbeiten die Arme im Gelenk biegt, dass der Gefallene nicht aufrecht steht, sondern quer, der Länge nach auf dem Boden liegt. Wie weit die Wiedergabe dieser Eindrücke und Vorstellungen als correct, mit der Wirklichkeit im Einzelnen übereinstimmend bezeichnet werden kann, kommt weniger in Betracht, als dass die Form, mag sie an sich noch so unvollkommen sein, dem Verständniss entspreche, das dem Kinde, dem kindlichen Sinne gegeben ist. Man beachte namentlich die Hand- werksdarstellungen, die Arbeiter im Bergwerk, an den Schmelzöfen, an der Töpferscheibe: überall, so oft auch Einzelnes misslungen, offen- bart sich das naive Streben nach dem einfachsten Ausdruck des Ge- dankens, in vollster Freiheit, ohne jede schematische Nachahmung. Natürlich sucht der Nachfolger das Misslungene des Vor- gängers zu vermeiden, das Gelungene fest- zuhalten, die frühere Erfahrung nicht noch einmal zu machen, sondern zu verwerthen, ja zu überbieten, ohne dadurch seine eigene Freiheit einzuschränken, die vielmehr durch Uebung erstarkt. Erst das zunftmässige Handwerk und noch später der eigentlich fabrikmässige Betrieb bedarf eines „Typen- schatzes", der auf Selbständigkeit verzichtet, während allerdings schon in früheren Zeiten z. B. bei den wegen Massenverbrauchs oft wiederholten Göttergestalten oder -gruppen der Votivbilder wohl eine gewisse Nachlässigkeit und Flüchtigkeit die Frische beeinträchtigt, weil der Künstler über die Erfindung nicht nachzudenken hat;

[34. Korinthischer Pinax.

Vasenmalerei: korinthische Pinakes. - Sarkophage von Klazomenae, j^y

immer aber wird das eigentlich ^lechanische in der Reproduction vermieden.

Die Sarkophage von Klazomenae. Die korinthischen Vasen in Verbindung mit den Pinakes gewähren uns ein frisches und lebendiges Bild von dem Betriebe der keramischen Malerei in ziemlich enger zeitlicher und örtlicher Begrenzung, dem aber eine zu allgemeine Geltung zuzuerkennen wir eben deshalb uns hüten müssen. Halten wir daher Umschau in weiteren Kreisen,

Da begegnen wir sofort der auffälligen Erscheinung, dass der Osten des hellenischen Culturgebietes, die Küsten des kleinasiatischen Festlandes, sich bisher an Vasenfunden durchaus unergiebig gezeigt haben. Vereinzelte Stücke, die leicht von anderen Orten her ver- schleppt sein können, bieten keine Gewähr für einen selbständigen localen Betrieb. Erst in neuester Zeit ist wenigstens an einem Orte, Klazomenae, ein gewisser Ersatz durch eine Reihe von Terracotta- Sarkophagen geboten worden, welche in einer der Gefässmalerei durchaus verwandten Technik künstlerisch geschmückt sind. (Journ. of hell. stud. 1883, p. I, pl. 31; Mon. d. I. XI, 53 54- Ant. Denkm. d. Inst. T. 44 46) (Abb. 135). Am oberen Rande der Aussenseiten nur mit einem schmalen Ornamentstreifen verziert, zeigen sie die obere Kante zu einem Rahmen verbreitert, der am Kopf und Fussende grössere Bildflächen darbietet, die auf den Langseiten nur durch ein Ornamentband tektonisch mit einander verbunden sind.

Die ganze Art der Ausschmückung ist schwerlich in Klazomenae zuerst erfunden worden. Schon länger ist ein Exemplar aus Kameiros auf Rhodos in das britische Museum gelangt, das leider kaum genau beschrieben und nur theilweise (bei Salzmann T. 28) veröffentlicht ist. Die Thierfiguren, neben denen nur erst zwei Köpfe behelmter Krieger auftreten, schliessen sich künstlerisch noch ganz den rhodischen Thiertellern an. Die Funde von Klazomenae scheinen einer etwas jüngeren Stufe anzugehören; und wenn auch an ihnen gewisse zeitliche Verschiedenheiten hervortreten, so bilden sie doch eine eng zusammen- gehörige Gruppe.

Der asiatische Einfluss ist bereits stark im Zurückweichen be- griffen. Es finden sich noch theilweise die mehr schematisirten Thiere und die eingestreuten Blumen des Teppichstyls. Dagegen haben die architektonischen Ornamente, Palmetten, das gewundene Band, bereits den vollständigen Läuterungsprocess in rein griechischem Geiste durch-

1^8 Viertes Capitel, Erstarkung des hellenischen Geistes.

gemacht. Ebenso ist in den menschlichen Gestalten der fremde Ein- fluss vollkommen abgestreift. Dargestellt sind behelmte Köpfe, wie in Rhodos, dann Reiter, Wagenrennen, Krieger, einfache und grössere Kampfgruppen, abgeschlossen durch Reiter oder Viergespanne, als Lenkerinnen derselben einmal beflügelte Frauengestalten. Ganz vereinzelt erscheint ein pferdebeiniger bärtiger Satyr. Die Compositionen haben mit dem chronikenartig erzählenden Charakter asiatischer Reliefs nichts gemein, aber ebensowenig mit demjenigen poetischen Geist, der es unternimmt, bestimmte Scenen aus der Heroensage in individueller Auffassung bestimmt zu gestalten. Man hat allerdings die künstlerisch entwickeltsten Kampfscenen (A. D. I. 44) mit der Doloneia in Ver- bindung setzen wollen. Aber was dieselbe in der Dichtung charakterisirt, fehlt im Bilde; und was in dem Bilde über die Mittelgruppe hinaus künstlerisch weiter entwickelt ist, widerspricht der Dichtung. Gerade in dem Mangel einer bestimmten Individualisirung der Handlung offenbart sich ein Gegensatz zur Kunst der kleinen korinthischen Ge- mälde und der Pinakes. Das ganze Streben richtet sich zuerst darauf, die einzelnen Gestalten innerhalb der Grenzen des Silhouettenstyls correcter durchzuarbeiten, gewisse Grundschemata für dieselben in

Vasenmalerei: Sarkophage von Klazomenae. Grössere Vasenbilder. i^q

Haltung und Bewegung festzustellen und sie ebenso nach bestimmten künstlerisch-tektonischen Gesetzen zu Gruppen zusammenzuordnen. Die Frische der poetischen Auffassung fehlt. Das Verdienst liegt auf der Seite der formalen Durchbildung, die über ein unsicheres Tasten hinaus mit Bewusstsein eine bestimmte Vortragsweise erstrebt und auf dem Wege zu diesem Ziele bereits die ersten Schritte mit gutem Erfolge zurückgelegt hat.

Grössere Vasenbilder. Wir müssen uns mit der Feststellung dieser Thatsache begnügen, ohne bis jetzt im Stande zu sein, dieselbe in einen weiteren Zusammenhang fest einzureihen. In einer ähnlichen Lage befinden wir uns indessen gegenüber den korinthischen Malereien. Namentlich die Darstellungen aus der Heroenmythologie und aus dem Handwerksleben sind in sehr kleinem Maassstabe ausgeführt, und die

136. Chalkidisches Vasenbild.

formale Durchbildung tritt hier umgekehrt zurück gegen den Aus- druck des Gedankens. Um unsere Anschauung durch Figuren in grösserer Ausführung zu ergänzen, hat man geglaubt, auf zwei Amphoren hinweisen zu dürfen, die, in Vulci gefunden, durch die An- wendung des chalkidischen Alphabets auf einen anderen Entstehungs- ort als Korinth hindeuten. Dargestellt sind auf ihnen der Kampf um die Leiche des Achilleus (M. d. I. I, 51) (Abb. 136) und der Kampf des Herakles gegen Geryon (Luynes, Vases 8 ; Baumeister, Denkm. III , S. 1966). Beide erwecken den Schein hoher Alterthümlichkeit. Athene, die in beiden Bildern als schützende Göttin auftritt, erscheint in ihrer Darstellung als steifes alterthümliches Xoanon wie eine Vorstufe der Athene im äginetischen Westgiebel. Auch in der Scene, in welcher Sthenelos dem im Kampfe verwundeten Diomedes den Finger ver- bindet, mögen wir gern ein Zeugniss für grosse Ursprünglichkeit kindlicher Auffassung erkennen. Aber schon die Gestalten des todten Achilleus, des Eurytion und des Hundes sind von der Naivetät des

l6o Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

Gefallenen unter dem Eber der Dodwellvase weit entfernt und ver- rathen ein etwas gesuchtes Ungeschick, das auch in den Wendungen des Glaukos und Leodokos sich nicht ganz verleugnet. Dabei aber verräth die Gesammtcomposition , die Ghederung, die räumliche und geistige Abwägung der Massen, wie z. B. Aias trotz der Verwundung des Diomedes durch die, man möchte sagen, nur geistige Gegenwart der Göttin ganz allein im Stande ist, der ganzen Schlachtreihe der Troer erfolgreichen Widerstand zu leisten, ein weit über die Stufe des »korinthischen Styls« hinausgehendes allgemein künstlerisches Verständniss. Endlich aber sprechen der Herzog von Luynes und de Witte, beide in einer Zeit, in welcher die heutigen Discussionen über eine weitgreifende späte Nachahmung alterthümlicher Vasen noch gar nicht begonnen hatten, sich übereinstimmend in bestimmter Weise dahin aus, dass das Technische der Fabrication, Thon, Farbe, Firniss, auf eine Entstehung der beiden Bilder in einer verhältnissmässig weit jüngeren Zeit hinweise.^)

Bei der Frage über spätere Nachahmungen wird allerdings schärfer, als es bisher geschehen, zu unterscheiden sein, ob wir es mit eigentlichen Copien älterer Werke oder mit späteren Erfindungen im Sinne und im Anschluss an eine frühere Zeit zu thun haben; aber wenn auch gerne zuzugeben ist, dass die beiden Vasen mehr den Copien als den freien Reproductionen zuzuzählen sind, so werden wir sie doch nicht als vollgültige Zeugen für die hier behandelte Zeit, wenigstens nicht als »originale Handschriften« aus derselben be- trachten dürfen.

Wohl aber verdient hier ein anderes Gefäss berücksichtigt zu werden, die sogenannte Arkesilasschale (M. d. I. I, 47) (Abb. 137), auf welcher Arkesilas, wahrscheinlich der zweite kyrenaeische König dieses Namens, dargestellt ist , wie er das Abwägen des Silphion , des kostbaren Productes seines Landes überwacht. Das Beiwerk, das Tauwerk^ die Wage, allerlei Thiere, ein Panther, eine Eidechse, Vögel und ein Affe,

^) De Witte in den Etudes sur las vases peints 1865, p. 48 bemerkt darüber: la qualite de l'argile , la beaute de l'email et la perfection des couleurs employees et aussi certaines hardiesses dans le dessin, trahissent une main habile et exercee, und deshalb seien diese beiden Vasen d' un äge plus recent, als die Minotaurosvase M. d. I, VI, 13 und die Hebevase A. Z. 1856, T. 209. Aus eigener Anschauung kann ich wenigstens bestätigen, dass an der jetzt im Pariser Münzcabinet befindlichen Geryonvase Farbe und Firniss von einem Glänze sind, wie er an den auf griechischem Boden gefundenen schwarzfigurigen Gefässen wohl nirgends vorkommt.

Vasenmalerei: Grössere Vasenbilder.

i6i

alle in ihren Formen und ihren Bewegungen von sorgfältiger Natur- beobachtung zeugend, verleihen dem Bilde einen durchaus eigenartigen Charakter. Die gleiche Sorgfalt zeigt sich sowohl in den menschlichen Körperformen, in der Angabe der Ellenbogen, der Kniee, der Muskeln, wie in den verschiedenen Bewegungen und Geberden, während es bei den auffällig von den gewöhnlichen abweichenden Gesichtstypen schwer zu sagen ist, ob der Maler etwa in spöttischer Absicht eine caricatur- artige Bildung versuchte oder den fremdartigen Typus einer africanischen Race wiederzugeben die Absicht hatte. Jedenfalls trägt hier Alles ein originelles, selbständiges Ge-

präge und ist mit liebevoller Sorgfalt durchgeführt , die sich auch in der reichge- gliederten und doch nicht überladenen Ornamentik ver-

räth, welche die ganze Aussenseite bedeckt. Thon endlich, Farbe und Firniss sind von der echtesten, un- zweifelhaftesten Alterthüm- lichkeit.

Der Fundort Vulci giebt uns über den Ort der Ent- stehung des Bildes keinen Aufschluss, und so hat man

den Namen des Arkesilas

zum Anlass genommen, um nicht nur für diese Schale, sondern für eine ganze Gruppe von Gefässen eines einigermaassen verwandten, aber keineswegs gleich originalen Charakters Kyrene als Fabrications- ort anzunehmen (A. Z. 1881, S. 215), obwohl von dortigen Funden gleicher Art bisher noch nicht das Mindeste bekannt geworden ist. Und sollte man gerade in Kyrene den König des Landes als Kauf- herrn dargestellt haben, der, wie man angenommen hat, als Unter- drücker seiner Unterthanen den Silphionhandel in seinen Händen monopolisirt? Man hat al^er ausserdem versäumt, das Bild selbst genauer anzusehen, wenn man gesagt hat, der König lasse das ab- gewogene Silphion in einen Vorrathskeller schaffen und aufschichten. Der König sitzt vielmehr auf einem Schiffe. Der Balken, an dem die Waage hängt, ist eine Rae, die Stricke sind nicht die Andeutungen

l52 Viertes Capitel. Erstaikung des hellenischen Geistes.

eines Zeltdaches, sondern die Takelage, der untere Abschnitt des Bildes ist der Raum unter Deck. Das weist auf Ausfuhrhandel hin. Nun hat Puchstein schon in der A. Z. 1880, S. 184 auf die Verwandt- schaft der ganzen Scene mit den häufigen ägyptischen Darstellungen hingewiesen, in denen einem Herrn durch seine Untergebenen Tribute oder Erträgnisse seiner Besitzungen dargebracht und vorgewogen werden, und in denen z. B. auch der in einem altgriechischen Vasen- gemälde so auffälHge Affe seine Stelle hat. Seitdem sind die Funde von Naukratis bekannt geworden, durch welche Naukratis selbst als Fabricationsort von Vasen nachgewiesen worden ist. Dort, in einem Mittelpunkte sich kreuzenden Handelsverkehrs, nicht weit ab von Kyrene, mochte der königliche Kaufherr, in dessen Händen sich der gesammte Ausfuhrhandel in einem werthvollen Artikel vereinigte, eine allbekannte, wohl oder übel beleumundete Persönlichkeit sein, die im Bilde darzustellen sich mehr als ein Anlass bieten mochte. Betrachten wir also Naukratis als den Entstehungsort des Bildes, so finden wir für die von der gewöhnlichen abweichende Ornamentik die nächsten Vergleichungen in verschiedenen Fragmenten aus Naukratis (Petrie I, T. 7), und noch auffälliger ist die Verwandtschaft mit einer leider fragmentirten und im Einzelnen kaum sicher zu deutenden Trinkschale (T. 8 u. 9; Studniczka, Kyrene S. 18) (Abb. 138), wenn auch dieselbe in der stylistischen Entwicklung der Zeichnung um ein nicht Geringes fortgeschritten ist. Hier finden wir die gleiche Schalenform mit Kelch- rand, die gleiche technische Ausführung auf weissem Grunde, die fast den ganzen Innenraum füllende Grösse des Bildes, die verwandten Ornamente, das ungewöhnlich Zerstreute der Dinge im Räume, dazu die Liebhaberei an der Ausführung von Nebendingen, wie der Vögel, endlich die Fremdartigkeit der Gesichtstypen. Selten dürften sich in unserem gesammten Vasenvorrath zwei Gefässe finden, welche in Allem, was von dem gewöhnlichen Durschschnitt abweicht, sich unter einander näher berühren.

So sind wir von Korinth wieder nach Naukratis gelangt, von wo, wie von Rhodos aus, wir früher nach Korinth geführt worden waren. Dass an den verschiedenen Orten uns verschiedene Eigen- thümlichkeiten entgegentraten, lässt sich nicht leugnen, aber eben so wenig, dass in den allgemeinen Grundzügen der Entwicklung auch wieder ein einheitlicher Charakter, eine Erstarkung hellenischen Geistes, hervortritt. Die Forschung wird, wenn einmal ein reicheres Material vorliegt, den Versuch machen müssen, das Gemeinsame und das Unter-

Vasenmalerei : Grössere Vasenbüder.

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scheidende bestimmter auseinanderzuhalten. Für jetzt fällt es noch schwer, zu bestimmen, was etwa als eine individuelle Eigenthümlichkeit, was als die Gepflogenheit einer einzelnen Werkstatt, oder was etwa als das Charakteristische einer mit Bewusstsein arbeitenden Schule zu betrachten, eben so was als alterthümliches Ungeschick, was als blosse

138. Schale aus Naukratis.

Flüchtigkeit oder umgekehrt als blosse Sauberkeit der Ausführung oder als Zeichen einer fortgeschritteneren Entwicklung anzusehen ist. Ohne Nachrichten über die Fundorte, ohne die paläographischen oder dialektischen Formen der Inschriften würden wir kaum wagen dürfen, ein Viergespann mit Lenker (Mitt. d. ath. Inst. 1879, T. 18) für korinthisch, ein grosses, auf Aegina gefundenes Gefäss mit Bildern der Harpyien und des Perseus (A. Z. 1882, T. 9) (Abb. 139 u. 140) oder einen Teller aus Marathon mit der Darstellung des Dionysos und der Ariadne (Mitt. d. ath. Inst. 1882, T. 3) für attisch zu erklären. Auch im

II*

1 64 Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes,

139. Schüssel aus Aegina (A. vergl. Abb. 140).

Technischen, ob z. B. das Weiss schwarz untermalt oder einfach auf den gelben Grund aufgetragen, ob das Weiss nur für den weiblichen oder auch für den männlichen Körper verwendet, ob das Auge rund oder mandelförmig gezeichnet wird u. A. m., zeigt sich noch ein mehrfaches Schwanken. Man strebt überall nach einer Ausgleichung verschiedener Praktiken und Auffassungen, aber man ist noch nicht zu einem, wenn auch nur vorläufigen Abschluss typischer Fixirungen gelangt.

Auch zeitlich ist eine strenge Begrenzung der bisher beobachteten Erscheinungen kaum möglich. Die Inschriften mögen der Mehrzahl nach noch der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts angehören, theilweise aber auch noch weiter herabreichen, und wir sind dadurch schon mitten in eine Zeit geführt, in w^elcher die griechische Kunst auf anderen Gebieten einen von der bisherigen Uebung durchaus ver- schiedenen Aufschwung nahm. Trotzdem empfiehlt es sich, auch diese Grenze noch um etwas zu überschreiten und die Vasenmalerei weniger im Hinblick auf ihre formale Stylistik, als auf den Inhalt ihrer Darstellungen etwas näher ins Auge zu fassen.

Die Fran^oisvase. Wir haben bereits beobachtet, wie die Sagenpoesie immer mehr in den Bereich der Vasendarstellungen ein- bezogen wurde. Auf den korinthischen Gefässen waren es meist einzelne Scenen ; nur selten fanden sich deren zwei verbunden : Herakles

Vasenmalerei : Frangoisvase.

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140. Schüssel aus Aegina (B. vergl. Abb. 139^.

mit der Hydra und mit dem Kerberos, der Zweikampf des Achilleus und Hektor, des Aias und Aeneas, die also durch die Person des Hauptkämpfers oder durch den Kreis der Sage einheitlich verbunden waren. Einen Zusammenhang allgemeinerer Art vermutheten wir allerdings schon für eine weit frühere Zeit in den auf den Grabescult, die Thaten und Ehrungen der Verstorbenen bezüglichen Darstellungen einer grossen Dipylonvase. Ohne nun hier einen besonderen Werth auf die Hymettosamphora (s. o. S. 134) zu legen, auf der verschieden- artige Kampfscenen, aber ohne Namen vereinigt sind, oder auf ein noch unpublicirtes attisches Gefäss schon entwickelten vStyls in München, das eine Eberjagd und eine Kampfscene zwischen Viergespannen mit einander vereinigt, muss dagegen hier betont werden, dass auf dem vorhin erwähnten in Aegina gefundenen attischen Gefässe zwei Scenen (Phineus und) die Harpyien undPerseus (und die Gorgonen) mit einander verbunden sind, die sich künstlerisch vortrefflich zu Seitenstücken eignen, aber zwei ganz getrennten Mythenkreisen angehören. Leider sind von einem grossen Gefässe des Malers Sophilos (Mitth. d. ath. Inst. 1889, T. i), auf dem sicher verschiedene Bilder vereinigt waren, im Schutte der Akropolis von Athen nur geringe Reste aufgefunden worden: Hermes, hinter ihm Hestia und Demeter, Leto und Chariklo, weiter eine Gruppe nysäischer Nymphen, und (auf einem noch unpublicierten Fragment) der Rest eines Gespannes mit Zeus und Hera. Aber diese Fragmente leiten uns durch ihre enge und unverkennbare künstlerische Verwandtschaft

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Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes,

Über zu dem berühmtesten Werke der ältesten Vasenmalerei, der in Chiusi entdeckten, jetzt im Museum von Florenz befindlichen, nach ihrem Entdecker benannten Frangoisvase (Mon. d. Inst. IV, 54 56; Wiener Uebungsbl. 1888, 2 4) (Abb. 141 u. 142). Sie bildet unter verschiedenen Gesichtspunkten den Abschluss der bisherigen Entwicklungen. An Reich thum ihres Bilderschmuckes übertrifft sie alle bis jetzt bekannten Vasen: selbst die Henkel entbehren desselben nicht. Der Körper aber ist mit fünf, ausserdem der Fuss mit einem Streifen von Figuren über- deckt, von denen nur einer, der unterste am Körper, im Anschluss an die

141. Fran^oisvase fA. vergl. Abb. 142^

alte Decorationsweise kämpfende Thiere : Löwen, Panther, Stiere, Eber, Hirsche und je im Centrum der Vorder- und der Rückseite ein streng stylisirtes Pflanzenornament, umgeben von zwei Sphinxen und zwei Greifen, enthält, die übrigens als Einfassung eines der oberen Streifen nochmals wiederkehren. Alle übrigen Streifen füllen Darstellungen aus der Heroen- und der Göttersage, die mit einer epischen Aus- führlichkeit geschildert, man kann sagen, erzählt sind, dass sie mehrfach geradezu als Ersatz verlorener Dichtungen gelten können. Aber so wichtig für uns jede einzelne Scene ist, so drängt sich doch die Frage auf, ob in ihrer Wahl und Zusammenstellung nur der Zufall, die Willkür, oder ein künstlerisches und poetisches Princip walten. Der Versuch ihrer Beantwortung ist bisher kaum gemacht worden ; doch

Vasenmalerei : Frangoisvase.

167

ist es endlich Zeit, ihn zu wagen. Dabei werden die künstlerischen und poetischen Grundmotive zunächst gesondert zu betrachten sein. Die räumliche Mitte, den mittleren Streifen, nimmt, auch durch •\ grössere Höhe ausgezeichnet, die Hauptdarstellung ein: Die Hochzeits- feier des Peleus und der Thetis, welche einheitlich den ganzen Körper der Vase umschliesst. Darunter auf der Vorderseite eilt Troilos zu Ross von Achilleus verfolgt dem unter den Mauern Troias sitzenden Priamos entgegen. Ihm entspricht auf der Rückseite Hephaestos

142. Frangoisvase (B. vergl. Abb. 141.)

auf einem' Maulthiere reitend, der von Dionysos nach dem Olymp, zu dem Thron des Zeus, geführt wird. Ueber dem mittleren Streifen werden vorn die Leichenspiele des Patroklos durch das Wettrennen der Wagen gefeiert. Den Rossen, welche künstlerisch in den Vorder- grund treten, entsprechen auf der Rückseite die rosseleibigen Kentauren im wilden Streite mit den Lapithen. Wiederum kämpfen vorn am oberen Rande griechische .Helden in paarweiser Aufstellung gegen den gewaltigen kaly donischen Eber ; und auf der Rückseite tanzen Paare von Jünglingen und Mädchen den Reigen zur Feier des Sieges des Theseus über den Minotauros. Während aber oben die Rundung der Vase durch die beiden Henkel in zwei Hälften getheilt wird, das mittlere Bild aber rings herumläuft, umfasst unten der Streifen der Thiere den Körper der Vase wie mit einem Bande, welches vorn und hinten durch

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Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

die Sphinxe und Greife wie durch die Schlösser eines Gürtels zusammen- gehalten wird. Um den Fuss endlich, der das Ganze trägt, läuft wiederum einheitlich eine belebte Schlacht herum, in welcher die Pygmäen, zum Theil auf Ziegenböcken, ihre Feinde, die Kraniche, bekämpfen.

Dieser räumlichen Disposition kann aber dem stofflichen Inhalte nach schwerlich die geistige entsprechen. Denn welche Beziehungen finden sich wohl zwischen Troilos und des Hephaestos Rückführung, zwischen den Leichenspielen des Patroklos und dem Kampfe der Kentauren? Eben so schwierig möchte es sein, die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Scenen unter einen mythologischen Gesichtspunkt zu vereinigen. Das Band, welches sie zusammenhält, kann nur ein poetisches, ein Band der poetischen Analogie sein. Mehr als einmal wiederholt sich das Thema von Streit und Kampf, im Bilde des Troilos, der Kentauren, der Eberjagd und der Pygmäen, mehr als einmal das Thema von Versöhnung und Frieden, in der Rückführung des Hephaestos, in den Leichenspielen, die eine Sühnung der Manen bedeuten, im Siegesreigen des Theseus, endlich in der feierlichen Hochzeit des Peleus und der Thetis, dem versöhnenden Abschlüsse nach heftigem Widerstreite. In diesem Gegensatze wird also das allgemeine Grund- thema zu erkennen sein, das aber in seiner Allgemeinheit zum Behufe künstlerischer Darstellung in bestimmter, concreter Weise begrenzt werden muss. Dies geschieht, indem der Künstler zwar von einem bestimmten, in der Sage gegebenen Stoffe ausgeht, aber seine Ideen nicht an diesem ausschliesslich durchführt, sondern ihn in seinen ver- schiedenen Theilen durch die poetische Analogie anderer verwandter Mythen oder Thatsachen veranschaulicht und erläutert.

Die Flochzeit des Peleus und der Thetis ist der Anfangs- und Ausgangspunkt gewaltigen Streites auf Erden. Dieser hohen Be- deutung entspricht die Solennität der Feier. In glänzendem Festzuge erscheinen auf Viergespannen die olympischen Götterpaare, begleitet von den Göttern der elementaren Natur, wie Demeter, Hestia, Dionysos, und von anderen Wesen der göttlichen Weltordnung, wie Hören, Musen und Moiren. An der Spitze des Zuges aber schreitet neben Iris Chiron, der väterliche Freund und Erzieher des Peleus, welcher diesem, der ihn vor der Thür des Hauses erwartet, sei es den ersten Willkommen bietet, sei es ein Gelöbniss abnimmt. Dem Stamm der Kentauren ent- sprossen ist er doch ungleich ihnen in Wesen und Sitte. Jene freilich lassen sich nur treiben von wilder, sinnlicher Lust; uneingedenk des

Vasenmalerei: Frangoisvase.

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Gastrechtes stören sie friedliche Vereinigungen und entzünden mörde- rischen Streit und Kampf. Chiron hingegen vermittelt, versöhnt. Gleich dem Dionysos, der den Zorn des vielverspotteten, auch bei der Hochzeit des Peleus auf seinem Esel an letzter Stelle erscheinenden Hephaestos zu besänftigen und ihn mit listigem Anschlag nach dem Olymp in die Gemeinschaft der Götter zurückzuführen weiss, ist er es hier, durch dessen weisen Beistand es dem Peleus gelungen ist, den Widerstand zu brechen, den die widerwillige Göttin dem sterb- lichen Manne entgegensetzt. So wird auf göttlichen Rathschluss die Ehe vollzogen, aus der Achilleus als vornehmstes Werkzeug des Zeus in dem bevorstehenden Kampfe um Troia entspringen soll. An ihn ist Troias Geschick geknüpft; an Troias Geschick sein eigenes. Wohl hätte der Künstler diesen Gedanken durch Rektors und Achilleus' Tod zur Anschauung bringen können. Er zog es vor, in beziehungsreichen Andeutungen sich auszudrücken. Er wählt zunächst zwar nicht die erste, aber die erste bedeutungsvolle That des Achilleus auf troischem Boden. Auch des Troilos Tod ist nach dem Orakel verhängnissvoll für Troia, verhängnissvoll aber auch für Achilleus; denn durch die Befleckung des thymbräischen Heiligthums reizt er den Zorn des Apollon, der ihm später durch die Hand des Paris den Tod sendet. Nicht aber diesen Tod selbst, sondern die Leichenspiele des Patroklos stellt der Künstler dar; denn dem Freunde folgt der Freund, und die Todtenfeier des einen ist in der Idee das Vorbild der des anderen. Mit dem Geschicke des Achilleus sind indessen noch nicht alle Folgen jener verhängnissvollen Hochzeit erfüllt. Noch ist der Entscheidungs- kampf nicht geschlagen. Doch würde eine Iliupersis mit ihren zahl- reichen tragischen Episoden die Aufmerksamkeit vielleicht zu sehr vom Mittelpunkte abgezogen, zu sehr den Charakter blosser Illustration angenommen haben. Nicht einem Helden erlag schliesslich Troia, sondern wie gegen den gewaltigen Eber von Kalydon die vereinigte Heldenjugend Griechenlands auszog, so fiel auch Ilion nur durch die Anstrengungen des gesammten Heeres der Achäer. Die Verherrlichung des Sieges endlich tritt uns entgegen unter dem Bilde eines Reigen- tanzes, welcher den nicht nur in Attika, sondern überhaupt in alter Poesie und Kunst hochberühmten Sieg des Theseus feierte.

Wie, allerdings in etwas vorgeschrittenerer Zeit, der Tragödie das Satyrspiel folgte, so dient auch hier das humoristische Bild des Kampfes der Pygmäen und Kraniche wie zur Erholung von dem Ernst der übrigen Darstellungen. Gönnen wir aber überhaupt dem Humor eine

lyO Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

Stelle, so dürfen wir vielleicht noch einen Schritt weiter gehen und an die Möglichkeit denken, dass zur Wahl gerade dieses Gegenstandes an untergeordneter Stelle in leichtem Scherze ein Wortspiel den Anlass geboten habe: Die Delier nannten den noch in späteren Zeiten bei ihnen wiederholt aufgeführten Siegesreigen des Theseus den Kranichs- tanz (Plutarch, Thes. 21). Noch in den Bildern der Henkel klingt das Hauptthema nach: im Allgemeinen durch die Gestalt eines Kriegs- dämons, sei es Deimos oder Phobos, im Besonderen durch die Rettung der Leiche des Achilleus auf den Schultern des Aias. Wie aber am Körper der Vase im untersten Streifen der kämpfenden Thiere sich ein Rest des alten Decorationssystems erhalten hat, so erinnert hier die sogenannte persische Artemis mit ihren Löwen, Panthern und Hirschen nochmals an die alten, nun bereits ganz in den Hintergrund gedrängten Beziehungen zum Orient.

Bhcken wir zurück, so ist das allgemeine Thema von Streit und Versöhnung im Grunde noch dasselbe, wie in den Schilddarstellungen bei Homer und Hesiod; nur wird es in der Ausführung dem Kreise des allgemeinen Menschenlebens entrückt und an einer Reihe bestimmt charakterisirter Thaten aus dem Sagenkreise der Heroenzeit zur An- schauung gebracht. Die epische Poesie hat hier eine bereits ent- wickelte künstlerische Gestaltung erfahren. Auch verleugnet die Kunst in der Behandlung der einzelnen Scenen keineswegs ihre Quelle, so beispielsweise in der Troilosscene. Die Verfolgung durch Achilleus unter dem Beistand der Athene, des Hermes und der Thetis, die Flucht der Polyxena, die Meldung des Antenor an Priamos, das Ausrücken des Hektor und Polites aus dem halbgeöffneten Thore der zur Vertheidigung bereiten Stadt, auf der anderen Seite die Gegenwart des Apollo in der Nähe des ausführlich geschilderten Brunnenhauses gewähren uns einen Einblick in den ganzen Verlauf und die Folgen der Handlung, wie sie gewiss nicht erst vom Künstler, sondern vor ihm, wenn auch nicht durch ein einzelnes bestimmtes Epos , aber durch das Epos , die Sagenpoesie in einer dieser eigenen Ausführlichkeit entwickelt worden war. Dagegen waltet in der Wahl und der künstlerischen Verknüpfung der Scenen ein durchaus ver- schiedenes Princip. Der räumlichen Gliederung, welche der Kunst allerdings von Alters her eigen ist, entspricht in der Poesie der strophische Bau der chorischen Lyrik. Wie aber in dieser die poetische Gesammtidee weit mehr das persönliche Eigenthum des Dichters ist, als im Epos, wie die Lyrik ihren einheitlichen Gedanken nicht an

Vasenmalerei: Frangoisvase. Kasten des Kypselos.

dem sachlichen Faden eines und desselben Mythus entwickelt, sondern aus dem gesammten Mythenstoff nach dem Princip der Analogie das Einzelne auswählt, insofern und insoweit es dient, die Grundideen in ihren verschiedenen Theilen dichterisch zu gestalten, so thut es auch der Künstler ; ja der ganze Versuch einer poetischen Analyse der Frangoisvase, der ja zunächst nichts weiter sein kann, als ein Versuch, vermag seine Berechtigung nur zu finden wird sie aber hoffentlich auch finden in dem Hinweise auf die Siegeslieder eines Pindar und die Chorgesänge der tragischen Dichter.

Wir sind bei der Betrachtung der Frangoisvase über die Grenzen hinausgegangen, innerhalb welcher wir uns bei den Erörterungen über die ältere decorative Kunst bisher bewegt haben. Doch schien ein solches Vorgreifen nothwendig, um den Weg zu bereiten zur richtigen Würdigung zweier für die ältere Zeit hochwichtiger Werke, die nur deshalb nicht in den Vordergrund gestellt werden konnten, weil wir über dieselben nicht aus eigener Anschauung zu urtheilen vermögen, sondern von ihnen nur durch die ausführlichen Beschreibungen des Pausanias genauere Kunde besitzen. Es sind dies der Kasten des Kypselos und der Thron des amykläischen Apollon.

Der Kasten des Kypselos.

Das Alter des Kypseloskastens ,/ dessen Beschreibung Pausanias fast drei Capitel widmet (V, 17,5 19), lässt sich leider nicht sicher bestimmen. Man soll Kypselos als Kind darin versteckt haben, um ihn den Nachstellungen der Bakchiaden zu entziehen. Hiernach musste er längere Zeit vor der 30. Olympiade, in welcher Kypselos zur Herr- schaft gelangte, gearbeitet sein. Doch leidet die ganze Sage an zu vielen Unwahrscheinlichkeiten, als dass sie, so wie sie berichtet wird, Glauben verdienen könnte (vgl. Schubring, de Cypselo Corinthiorum tyranno, Gotting. 1862); und wollen wir sie nicht gänzlich verwerfen, so werden wir uns an den Ausdruck des Pausanias halten dürfen, dem zufolge nicht Kypselos, sondern „das nach ihm genannte Geschlecht der Kypseliden" den Kasten in das Heräon zu Olympia weihete. Wurde er nun erst in ihrem Auftrage gefertigt, so gehört er in die Zeit zwischen Ol. 38 und 48. Dass damit der Charakter des Werkes keineswegs in W^iderspruch steht, wird sich erst nach der Betrachtung desselben im Einzelnen behaupten lassen.

Der Kasten, im Allgemeinen w^ohl den reich mit Schnitz werk verzierten mittelalterlichen Laden oder Truhen vergleichbar, war aus

172

Viertes Capitel. Erslarkung des hellenischen Geistes.

Cedernholz gearbeitet und mit weit über hundert Figuren in Relief aus Elfenbein, Gold oder auch aus dem Holze selbst geziert, also in einer Technik, für welche es in der älteren Zeit nicht an Vor- bildern fehlte. Die Figuren, zum Theil mit Namen bezeichnet oder durch metrische Inschriften erklärt, waren in fünf Felder vertheilt, welche Pausanias vom untersten beginnend bis zum obersten durchgeht. Um sich in der reichen Fülle der Darstellungen zu orientiren, ist es nöthig, zunächst den Inhalt derselben kurz zu registriren. Ich glaube, dabei im Ganzen an der Gliederung festhalten zu müssen, die ich in einem Aufsatze „über den Parallelismus in der Composition altgriechischer Bildwerke" (Rhein. Mus., N. F., Band 5) versucht habe. Zugleich ver- weise ich auf den, in Einzelnheiten abweichenden, aber im Princip über- einstimmenden bildlichen Reconstructionsversuch von Overbeck: über die Lade des Kypselos, in den Abhandl. d. sächs. Ges. d. Wiss., IV. Band.

I. unterstes Feld von rechts nach links:

1. Wettrennen des Pelops und Oinomaos.

2. Des Amphiaraos Auszug.

3. Die Leichenspiele des Pelias, und zwar:

a) Herakles sitzend und hinter ihm eine FJötenspielerin.

b) Wettrennen von vier Zweigespannen.

c) Faustkampf des Admetos und Mopsos nebst einem Flötenspieler.

d) Ringkampf des lason und Peleus, dabei ein Diskoswerfer.

e) Fünf Wettläufer zu Fuss.

f) Akastos, die Töchter des Pelias und die Siegespreise.

4. Des Herakles Kampf gegen die Hydra im Beisein der Athene und des lolaos mit dem Viergespann.

5. Phineus, durch die Boreaden von den Harpyien befreit.

II. Feld, von links nach rechts:

1. a) Die Nacht mit einem weissen und einem schwarzen

Knaben, dem Schlafe und dem Tode, in den Armen.

b) Dike straft Adikia.

c) Zwei Frauen, welche Zaubermittel in einem Mörser stossen.

2. Marpessa folgt willig dem Idas.

3. Zeus unter Amphitryons Gestalt und Alkmene.

4. MeneloS; die Helena verfolgend.

Kasten des Kypselos.

5. a) Medea auf einem Throne, mit lason zur Rechten und

Aphrodite zur Linken, nach der Inschrift : die Hochzeit des lason und der Medea. b) Apollo und die Musen singend.

6. Atlas mit der Himmelskugel und den Hesperidenäpfeln von Herakles bedroht.

7. Ares führt Aphrodite.

8. Peleus mit Thetis ringend.

9. Perseus von den Schwestern der Medusa verfolgt.

III. Feld:

Grosse Schlacht, über welche Pausanias verschiedene Deutungs- versuche mittheilt.

IV. Feld, von links nach rechts:

1. Der schlangenfüssige Boreas mit der geraubten Oreithyia.

2. Des Herakles Kampf gegen den dreileibigen Geryon.

3. Theseus mit der Leier und Ariadne.

4. Kampf des Achilleus und Memnon im Beisein der Mutter.

5. Melanien und Atalante mit einem Hirschkalbe.

6. Zweikampf des Aias und Hektor ; zwischen ihnen die hässliche Eris,

7. Die Dioskuren und zwischen ihnen Helena, welche die Aethra mit Füssen tritt.

8. Koon kämpft mit Agamemnon wegen der Leiche des Amphidamas ; auf dem Schilde des Agamemnon der löwen- köpfige Phobos.

9. 10. Hermes führt die drei Göttinnen zu Paris; Artemis geflügelt, einen Panther und einen Löwen mit den Händen fassend. Pausanias betrachtete die Artemis wahrscheinlich als Neben- figur zur Parisscene und nennt sie zuletzt, statt sie ab- gesondert voranzustellen.

1 1 . Aias reisst Kassandra vom Bilde der Athene weg.

12. Der Brudermord des Eteokles und Polyneikes im Beisein der scheusslichen Ker.

13. Der bärtige Dionysos in einer Höhle gelagert; um ihn herum Weinstöcke, Apfel- und Granatbäume.

V. Feld, von rechts nach links:

I . Odysseus und Kirke, auf einem Ruhebett gelagert, und vier Dienerinnenin den von Homer beschriebenen Beschäftigungen.

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Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

2. a) Chiron.

b) Nereiden auf geflügelten Zweigespannen.

c) Hephaestos von einem Diener begleitet übergiebt der Thetis die Waffen.

3. Nausikaa und eine Dienerin auf einem Maulthiergespann.

4. Herakles im Kampfe gegen die Kentauren.

In dem oberen Felde fehlten die erläuternden Inschriften; und Irrthümer in der Deutung des Dargestellten sind daher weniger als sonst ausgeschlossen. In der That hat Loeschcke (Dorpater Programm 1880) darauf aufmerksam gemacht, dass die Beziehung der ersten Scene auf Odysseus und Kirke durch die Hinweisung auf die Schilderung der Dienerinnen bei Homer nur schwach unterstützt wird, sowie ferner, dass die Gegenwart des Chiron bei der Ueberbringung der Waffen an den übrigens gar nicht dargestellten Achilleus keine genügende Er- klärung findet. Er glaubt daher in der ersten Scene anstatt Odysseus und Kirke vielmehr Peleus und Thetis zu erkennen, bei deren Hochzeits- feier die Nymphen des Gebirges durchaus passend als Dienerinnen beim Mahle erscheinen, während die Grotte und die Gegenwart des Chiron in dieser Scene ihre natürliche, ja noth wendige Stellung finden. Aber auch das Ueberbringen der Waffen fügt sich dieser Deutung, insofern schon bei Elomer (II. XVII, 195) die Waffen des Achilleus, nicht diejenigen, die er im Kampfe gegen Hektor trug, sondern die, welche Hektor beim Tode des Patroklos erbeutete, als ein Geschenk der Himmlischen an Peleus bezeichnet werden. Der Deutung Löschcke's möchte daher gegenüber der des Pausanias ein nicht geringer Grad von Wahrscheinlichkeit kaum abzusprechen sein.

Im Uebrigen dürfte es sich empfehlen, an den Beschreibungen des Pausanias nicht grundlos herumzudeuten. So will Pernice (Jahrb. d. Inst. III, 366) an dem untersten Felde die Figuren des Herakles und einer Flötenspielerin gegen das ausdrückliche Zeugniss des Pau- sanias von den Leichenspielen des Pelias loslösen und dem Abschiede des Amphiaraos zutheilen. Das würde voraussetzen, dass Herakles den Leichenspielen ab- und dem Amphiaraos zugewandt dargestellt gewesen wäre. In diesem Falle aber würde ein Missverständniss des Pausanias geradezu unbegreiflich sein. Weiter aber sind wir durchaus nicht berechtigt, an Pausanias den Anspruch zu stellen, dass er die Figuren in strenger Reihenfolge eine nach der andern aufzähle: es ist weit natürlicher, dass er zuweilen mehrere, eine kleine Gruppe, oder eine ganze Scene in der sprachlichen Darstellung zusammenfasst und

Kasten des Kypselos.

dabei die Hauptfigur in den Vordergrund stellt. So folgt die Flöten- spielerin nicht von rechts nach links auf den Herakles, sondern sie steht hinter ihm: omodev avrou. Eben so dürfen wir aus der Beschreibung des Pausanias nicht schliessen, dass die Gespanne bei den Leichen- spielen sich von rechts nach links folgten. Pausanias erwähnt zuerst die Mehrzahl der Bewerber nur kurz, um den Nachdruck auf den fünften, den Sieger, zu legen, der natürlich den anderen voran rechts vor Herakles dargestellt sein müsste. Dagegen werden unter den Läufern zu Fuss, die sich in umgekehrter Richtung bewegen, Argeios als der vierte, und Iphiklos, der Sieger, als der fünfte bezeichnet, dem Akastos den Kranz reicht.

Richten wir jetzt unser Auge auf die Fülle einzelner Scenen, so werden wir uns schwerlich dem Glauben hingeben, dass dieselben nur wie zufällig durcheinander gewürfelt seien. Suchen wir aber Ordnung zu schaffen, so werden wir uns erinnern, dass uns in der ältesten Kunst als eines der Grundprincipien künstlerischer Composition die strenge Entsprechung der einzelnen Glieder untereinander entgegen- trat. Den Spuren des gleichen Princips begegnen wir auch hier schon mehrfach bei einem bloss äusserlichen Abzählen der Figuren und Scenen. Da und dort weist uns auch wohl ein Wort in der Beschreibung des Pausanias auf die Entsprechung einzelner Scenen hin. Freilich geschieht dies ohne Kenntniss des Princips, und oft genug lässt uns der Perieget über die künstlerische Auffassung einer Scene völlig im Dunkeln. Ueberhaupt aber brauchte das Princip keineswegs überall sklavisch in streng mathematischer Regelmässigkeit durchgeführt zu sein: oft mochten eine gewisse Gleichartigkeit der Massen, einzelne augenfällige Analogieen zur Herstellung des Gleichgewichtes vollkommen ausreichen, während anderwärts vielleicht nur der Mangel genügender monumentaler Vergleichungen uns nicht sofort die Entsprechung erkennen lässt. Die Existenz des Principes wird trotzdem leicht nachzuweisen sein.

Besonders deutlich tritt es sofort beim ersten Felde innerhalb der Leichenspiele des Pelias hervor, und die scheinbare Ungleichartig- keit auf Seiten des Akastos bietet in Wirklichkeit eine vortreffliche Ausgleichung zwischen den Wettläufern zu Fuss und dem materiell massenhafteren Rennen zu Wagen. In der 2. und 4. Scene gewähren die Gespanne des Baton und des lolaos dem Auge einen bestimmteren Halt, während die vielköpfige Hydra in der zahlreichen Familie des Amphiaraos ihr Gegengewicht erhält. Bei i und 5 liegt die Entscheidung in der Schnelligkeit, welche den geflügelten Boreaden und Harpyien

Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

gegenüber auch in den Flügelrossen des Pelops ihren Nachdruck erhält. Im zweiten Felde treten 2 und 8: die freiwillige Liebe der Marpessa und die gezwungene der Thetis ; 3 und 7 : die Liebesbe- gegnungen des Zeus und der Alkmene, des Ares und der Aphrodite; 4 und 6 : die friedlich sich lösenden Angriffe des Menelaos auf Helena, des Herakles auf Atlas in der ungezwungensten Weise einander gegenüber. Hiernach vereinigt sich, was zwischen 4 und 6 liegt: die Hochzeit Jasons und Apollo mit dem Chor der Musen, zu einem grösseren Mittelbilde. Denn die beiden Scenen wegen der doppelten Inschrift zu trennen, ist keineswegs, wie Overbeck annimmt, unbedingt geboten: im vierten Felde (8) hat sogar eine Gruppe von nur drei Figuren eine doppelte Inschrift. Bei lason und Medea handelt es sich nicht um eine blosse ,, Liebesvereinigung", sondern die Scene wird durch die Inschrift als Hochzeit (ya/uhi) bezeichnet, bei welcher ein festlicher Chor wohl an der Stelle ist. Am wenigsten scheinen sich die Eckgruppen i 6 dem bisherigen Princip zu fügen. Nehmen wir indessen an , dass der Nacht mit den beiden Kindern auf den Armen etwa ein Bild der Medusa entsprach, aus deren Halse Chrysaor und Pegasos hervorsprangen, so ist gerade an den Ecken wenigstens ein fester Punkt gewonnen, an dem das Auge eine Stütze fand.

Im vierten Felde sondert sich die siebente Scene als Mittelpunkt bestimmt aus, sobald wir uns zu den Dioskuren neben Helena und Aethra noch ihre Rosse hinzudenken. 6 und 8 schliessen sich namentlich durch die Gegenüberstellung der Erls und des Phobos in hinlänglicher Strenge an. Ausserdem bildet bei Nr. 12 das Hinzutreten der Ker zu dem fallenden Polyneikes ein passendes Gegengewicht zu dem drei- leibigen Geryon in Nr. 2. Weniger streng ist die Entsprechung in den Zwischengruppen 3 5 und 9 11, jedoch in dem Zahlen verhältniss der Figuren und Gruppen immer noch ziemlich genügend. In den Eckgruppen wird die scheinbare Ungleichheit bedeutend gemildert, wenn der schlangenfüssige Boreas nicht die fliehende Oreithyia verfolgt, sondern die geraubte vor sich in den Armen hält, während wir für sein wildes Aussehen in einem bärtigen Dionysos von der Art des bei der Hochzeit des Peleus auf der Frangoisvase erscheinenden Gottes eine durchaus passende Analogie finden.

Etwas lockerer ist die Fügung im obersten Felde. Um die Uebergabe der Waffen durch Hephästos gruppiren sich die Zweige- spanne der Nereiden und der wohl vierrädrigen Maulthierwagen der Nausikaa. Die figurenreichen Eckgruppen endlich mochten in der

Kasten des Kypselos.

Grotte der Kirke (oder des Chiron) und der mit Wahrscheinlichkeit vorauszusetzenden des Kentauren Pholos einen entsprechenden räum- lichen Abschluss finden.

Bhcken wir jetzt zurück, so gewährt das unterste Feld den ein- heitlich abgeschlossensten Eindruck. Im zweiten lösen sich die Eck- gruppen von den übrigen durch einen etwas fremdartigen Charakter los; ebenso im vierten, wo ausserdem in der Mitte der Flügel sich eine Lockerung zeigt. Noch freier ist die Behandlung im obersten Felde, dessen Composition sich nur mit Mühe zu der Länge der übrigen ausdehnen lässt. Es scheint also auch hier ein bestimmtes Princip obzuwalten. Unten in der Breite, gewissermaassen der Basis des Ganzen, und in der Höhe, d. h. in der Mitte von unten bis oben, herrscht die grössere Strenge, die aber, überall gleichmässig durchge- führt, leicht ermüdend gewirkt haben würde. Da nun das Ganze schwerlich ohne ornamentale Begrenzung oder Umrahmung an den Seiten zu denken ist, so mochten die freieren und zum Theil phantas- tischen Figuren der Eckgruppen gewissermaassen zum Ornament überleiten , welches eben in das Feld selbst weit eingriff und dadurch diesem Felde den Charakter einer leichten, nicht belastenden Bekrönung verlieh. Auch in der Fran^oisvase zeigen nicht alle Streifen die gleiche Compositionsweise, wenn auch dort der Natur des Gefässes entsprechend die grössere Freiheit sich gerade umgekehrt am Fusse in der Pygmäen- schlacht geltend macht.

Es wird hiernach nicht nothwendig sein, auf eine Erörterung der Annahme einzugehen, der zufolge die einzelnen Bildstreifen nicht nur die vordere, sondern noch dazu die beiden schmaleren Nebenseiten der Lade eingenommen haben sollen. Sie widerlegt sich übrigens auch direct durch eine einfache Bemerkung: Pausanias zieht irrthümlich I, 3 4 das Gespann des lolaos zu den Leichenspielen des Pelias statt zu dem Kampfe mit der Hydra. Dieser Irrthum würde nicht möglich gewesen sein, wenn die Beschreibung gerade bei dieser Gruppe um die Ecke hätte umbiegen müssen.

Den geistigen Zusammenhang der reichen Mannigfaltigkeit dieser verschiedenen Bilder in ähnlicher Weise wie bei der Fran9oisvase im Einzelnen nachzuweisen, wird wohl schwerlich jemals vollständig ge- lingen. Bei einem Blick auf die räumliche Mitte der Felder treten uns indessen einige einfache Gedanken ganz ungesucht entgegen. Die Uebergabe der Waffen V, 2, die grosse Schlacht III und die Leichen- spiele des Pelias I, 3 verhalten sich in der Idee wie Anfang, Mitte

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Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

und Ende. Die einzelnen Scenen von Streit, Kampf, Frevel und Strafe im vierten Felde (dem zweiten von oben) erscheinen danach als die Einleitung zu der Hauptschlacht. Wenn aber Pausanias von dieser sagt: man könne es den Kämpfenden ansehen, dass sie sich miteinander versöhnen und gegenseitig anerkennen werden, so spricht sich die Erfüllung dieses Gedankens in den verschiedenen Liebes- und Ver- söhnungsscenen des zweiten (unteren) Feldes aus, in welchem vielleicht durch den Tod der Medusa auf die Besiegung dunkler elementarer Naturmächte, durch die Strafe der Adikia auf die ethische Begründung des Rechts hingewiesen werden soll (vgl. Memorie dell' Inst. II, p. 383). Mit diesen wenigen Andeutungen sich zu begnügen, erscheint gerathener, als sich in weitgehenden Vermuthungen über Einzelnes zu verbreiten, solange sich denselben nicht durch eine Begründung auf allgemeine Principien wenigstens die Gewähr einer inneren Wahrscheinlichkeit verleihen lässt.

Ueber die kunsthistorische Bedeutung des Ganzen wird erst im Zusammenhange mit dem zunächst im Einzelnen zu betrachtenden amykläischen Throne zu handeln sein.

Der amykläische Thron. Der Thron des Apollo zu Amyklae in der Nähe von Sparta, welchen Pausanias (III, 18, 9 19, 5) in sehr knapper Fassung be- schreibt, war ein Werk des Bathykles aus Magnesia und seiner Genossen. »Wessen Schüler dieser Bathykles war und unter welchem Könige er den Thron verfertigte, das übergehe ich«, sagt leider Pausanias, und nur die allgemeinen Nachrichten über die Beziehungen Spartas zu Kroesos machen es einigermaassen wahrscheinlich, dass der Künstler zur Zeit dieses Königs gelebt habe (vgl. meine Künstlergesch. I, 52). Unklar sind ferner die Angaben über die Anlage des nur sehr un- eigentlich als Thron bezeichneten Werkes. Statt eines zusammen- hängenden Sitzbrettes fanden sich daran mehrere von einander ge- trennte Sitze und in ihrer Mitte stand auf gesonderter Basis das aus älterer Zeit stammende 30 Ellen hohe Bild des Gottes, einer ehernen Säule gleich, an welcher nur der mit einem Helme bedeckte Kopf, die Hände mit Speer und Lanze und die Füsse menschliche Gestalt hatten. Vorn und hinten trugen den Thron je zwei Chariten und zwei Hören. Links (etwa in Verbindung mit den Armlehnen) Standen Echidna und Typhos, rechts Tritonen. An dem oberen Ende des Thrones, also wohl auf den Ecken der Rücklehne, befanden sich die

Amykläischer Thron.

Dioskuren zu Ross und unter den Pferden derselben Sphinxe und aufwärts laufende (anspringende?) Thiere: bei Kastor ein Panther, bei Polydeukes eine Löwin; ganz oben der Chor der Magneter, welche dem Bathykles bei der Arbeit geholfen. Die Versuche, nach diesen Angaben das Ganze zu reconstruiren , sind wenig befriedigend aus- gefallen (vgl. Arch. Zeit. 1852, S. 465; 1853, 137; 1854, 257); und wir müssen uns daher mit der Betrachtung der zahlreichen Reliefs begnügen, welche den Thron an der Aussen- und Innenseite und ausserdem die als Grab des Hyakinthos dienende Basis der Statue schmückten. Weitere Gliederungen giebt Pausanias nicht an, so dass wir bei ihrer Anordnung nur auf innere Gründe angewiesen sind. Welcker (Ztschr. f. alte Kunst, S. 284) zählte auf den Aussenseiten 28 Scenen, die ihn an eine Viertheilung nach der Siebenzahl (4 X 7) denken Hessen, deren Bedeutung auch noch an andern Theilen des Thrones her- vortreten sollte. Wenn aber sogleich am Anfange der Beschreibung die Figur des Atlas nicht wohl für sich bestehen kann, sondern mit der Scene des Raubes seiner Töchter verbunden werden muss, so ist die Möglichkeit gegeben, die nach diesem Abzug übrig bleibenden 27 Bilder je zu neun auf drei Seiten des Thrones zu vertheilen.

I. Seite :

1. Poseidon und Zeus rauben die Töchter des Atlas, welcher selbst gegenwärtig ist.

2. Kampf des Herakles gegen Kyknos.

3. Schlacht des Herakles gegen die Kentauren bei Pholos.

4. Theseus führt den gefesselten Minotauros lebendig fort.

5. Chor der Phäaken und der Sänger Demodokos.

6. Perseus und die Medusa.

7. Kampf des Herakles gegen den Giganten Thurios.

8. Tyndareus kämpft gegen Eurytos.

9. Raub der Leukippiden (wahrscheinlich in Gegenwart ihres Vaters nach Analogie von Scene i.^)

II. Seite:

I. Dionysos als Kind von Hermes in den Himmel getragen (dabei wahrscheinlich die Nymphen als seine Erzieherinnen).

^) Pernice (Jahrb. d. I. III, 369) möchte den Tyndareus der vorangehenden Gruppe als den Vater der raubenden Dioskuren mit dieser Scene verbinden. Aber nicht der Vater der raubenden Jünglinge ist hier an seiner Stelle , sondern nur der Vater der geraubten Mädchen. Noch dazu aber bildete Tyndareus den Theil einer Kampfgruppe.

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Viertes Capitel. Erstarkung des hellenischen Geistes.

2. Herakles von Athene in den Himmel geführt.

3. Peleus übergibt den Achilleus dem Chiron zur Erziehung.

4. Kephalos von Hemera geraubt.

5. Die Götter bringen Geschenke zur Hochzeit der Harmonia.

6. Kampf des Achilleus gegen Memnon.

7. Des Herakles Kampf gegen Diomedes.

8. Herakles rächt sich an Nessos.

9. Hermes führt die Göttinnen zu Paris. III. Seite:

1. Adrastos und Tydeus trennen den Kampf des Amphiaraos und Lykurgos.

2. Hera blickt auf die in eine Kuh verwandelte lo herab.

3. Athene flieht Vor Hephaestos.

4. Kampf des Herakles gegen die Hydra.

[5. Darstellung des Hades (s. u.), von welcher sich als besondere Scene loslöst:]

6. Herakles, den Kerberos wegführend.

7. Anaxis und Mnasinus, jeder auf einem Pferde, Megapenthes und Nikostratos, beide zusammen auf einem Pferde.

8. Bellerophon und die Chimaera.

9. Herakles führt die Rinder des Geryon weg.

An der Innenseite des Thrones („wenn man unter den Thron tritt") fanden sich, von der Seite der Tritonen beginnend :

1. Die kalydonische Jagd.

2. Herakles tödtet die Söhne des Aktor.

3. Kaiais und Zetes treiben die Harpyien von Phineus weg.

4. Peirithoos und Theseus rauben die Helena.

5. Herakles erwürgt den Töwen.

6. Apollo und Artemis erschiessen den Tityos.

7. Herakles kämpft gegen den Kentauren Orion.

8. Theseus kämpft gegen den Minotauros. g. Herakles ringt mit Acheloos.

10. Die Fesselung der Hera durch Hephaestos.

11. Die Leichenspiele des Pelias.

12. Menelaos und Proteus.

13. Admetos, einen Eber und einen Löwen zusammenspannend.

14. Die Todtenfeier des Hektor.

Die Bildwerke an der Basis der Statue, dem Grabe des Hyakinthos, vertheilten sich (nach Trendelenburg im Bull. d. Inst. 187 i,

vielleicht umzustellen.

Amykläischer Thron.

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p. 124) auf die vier Seiten derselben. An ihrer linken Seite befand sich eine eherne Thür, um im Innern dem Hyakinthos Todtenspenden bringen zu können, woraus sich zu erklären scheint, dass die Zahl der Figuren geringer war, als auf den andern drei Seiten.

L Iris, Amphitrite, Poseidon ; Zeus mit Hermes redend ; Dionysos, Semele und Ino, wahrscheinlich auf die Aufnahme des Dionysos in den Olymp bezüglich.

II. Demeter, Kore und Pluto; die Moiren und Hören; Aphrodite, Athene und Artemis, den Hyakinthos und seine Schwester Polyboia (aus dem Hades) in den Himmel einführend.

III. Herakles von Athene und den andern Göttern in den Olymp eingeführt.

IV. Die Töchter des Thestios und die Musen (die Hören scheinen nur aus Versehen in den Handschriften des Pausanias wiederholt.)

Diese kurze Aufzählung wird genügen, um in der räumlichen Gliederung auch hier das Princip einer strengen Entsprechung leicht erkennen zu lassen. Ueber Einzelnes vgl. den oben citirten Aufsatz im Rhein. Mus., N. F., V, S. 325 ff. Auf den Aussenseiten schliessen sich an ein grösseres Mittelbild kleinere Gruppen meist nur von wenigen Figuren an, welche an den Ecken wiederum durch figuren- reichere Scenen zusammengehalten werden. Hierbei war nur an einer Stelle (III, 5 6) eine freiere Deutung des nach seinem eigenen Ge- ständniss sehr kurzen Pausanias nöthig, indem zu der Scene des Herakles, ,;Wie er den Hund des Hades wegführte", eine gesonderte Darstellung der Unterwelt vorausgesetzt wurde, etwa mit dem Palaste des Hades als Mittelpunkt, wenn auch dafür zunächst nur die Analögieen späterer Vasen vorliegen. An den Innenseiten scheiden sich nach dem Wortlaut des Pausanias zuerst zweimal je drei Gruppen aus. Die weitere Theilung von zweimal je vier wird sich durch die strenge Entsprechung zwischen 12:13 und 11:14 rechtfertigen. Schwerlich aber konnte bei Berücksichtigung dieses Zahlenverhältnisses Pausanias diese Bilder in einer Folge vom Anfang bis zum Ende beschreiben, sondern er sprang wahrscheinlich von einer Seite (i 3) zur gegen- überstehenden (4 6) über, und schloss daran die Rückseite, an welcher die übrigen acht Darstellungen etwa in zwei Reihen übereinander an- gebracht sein mochten.

Wenn nun schon in der räumlichen Gliederung manches Einzelne dunkel bleiben muss, so ist es natürlich noch weit schwieriger, einen

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einheitlichen Ideenzusammenhang in der bunten Mannigfaltigkeit dieser Darstellungen aufzufinden. Die religiöse Bestimmung des Werkes musste natürlich auf ganz andere Ideenkreise, als in den bisher be- trachteten Monumenten, hinleiten, und die engen Beziehungen des amykläischen Gottes zu Hyakinthos, dem von ihm geliebten sterblichen Jünglinge, konnten dabei nicht ohne Einfluss bleiben. Vielleicht findet darin die Aufnahme so vieler Scenen ihre Erklärung, in welchen sich Wechselverhältnisse verschiedenster Art zwischen Göttern und Sterb- lichen deutlich aussprechen; und selbst die starke Bevorzugung des zur Unsterblichkeit bestimmten Herakles gegenüber z. B. den troischen Mythen möchte in diesen Anschauungen ihren Grund haben. Am unzweifelhaftesten treten diese Ideen an der Basis der Statue hervor, wo drei von sterblichen Frauen Geborene: Dionysos, Herakles und Hyakinthos, zu den Ehren der Unsterblichkeit gelangen, und auch auf der vierten Seite unter den Thestiaden die der Gemeinsamkeit des Zeus gewürdigte und in ihren Kindern, den Dioskuren und der Helena, hochgefeierte Leda vielleicht den Mittelpunkt bildete. Wenn nun endlich am Feste der Hyakinthien als Hauptmomente einer Todtenfeier die Darbringung eines Gewandes und festliche Chöre hervortraten, so möchten darin wenigstens die drei Mittelbilder der Aussenseiten : das Bild der Unterwelt, die Darbringung der Geschenke bei der Hochzeit der Harmonia und der Chor der Phäaken, ihre Analogie finden.

Schlusswort.

Blicken wir jetzt auf die bisherigen Erörterungen zurück, so tritt uns die Kunst von Homer bis auf die Francoisvase als ein durchaus einheitliches Bild entgegen, das zwar in sich selbst eine mannigfaltige Entwicklung zeigt , aber nirgends über die Grenzen eines bestimmten, in sich abgeschlossenen Grundcharakters hinaus- geht. Diese Einheit offenbart sich zuerst in dem Princip der räum- lichen Gliederung, welches, von Anfang an klar in seiner funda- mentalen Bedeutung erkannt, eine fast unbedingte Herrschaft ausübt und, wenn auch in höherer und feinerer Durchbildung, im weiteren Verfolg der griechischen Kunst auszuüben eigentUch nie aufhört. Nicht minder zeigt sich diese Einheit in der Entwicklung des Stoff- lichen der Darstellung. Zuerst musste sich der Bhck auf die Mannig- faltigkeit der Erscheinungen des wirkUchen Lebens richten, in dessen Mitte sich der Mensch bewegt, ehe der Künstler es wagen konnte, Scenen aus der Vergangenheit in bestimmter, wenn auch immer noch

Schlusswort.

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sehr äusserlicher Charakteristik aus der Phantasie zu reproduciren. Hier bildet der hesiodische Schild einen vortrefflichen Uebergang zum Kasten des Kypselos, an welchem das gesammte Gebiet der Mythen- welt dem Künstler nicht nur bereits erschlossen ist, sondern ihn geradezu überwältigt. Der Bilderreichthum des homerischen Schildes, aus dem man einen Hauptgrund gegen die Realität des Kunst- werkes hat ableiten wollen, erscheint sogar einfach gegen die Fülle des Kastens, welche ihrerseits unbegreiflich sein würde, wenn ihr nicht eine Kunstübung, wie sie eben jene Schildbilder bieten, voran- gegangen wäre. Trotzdem werden wir den Kypseloskasten und ebenso den amykläischen Thron von Ueberladung nicht freisprechen können : rastlos werden wir von einer Scene zur andern getrieben, und selbst die etwas grösseren Mittel- und Eckbilder gewähren dem Auge nicht eigentliche Ruhe-, sondern nur Stützpunkte, um sich in der Fülle des Einzelnen nicht zu verirren und die Uebersicht nicht zu verlieren. Erst in der Fran^oisvase beginnt der Process der Ab- klärung oder, fast möchte man sagen, der Rückkehr zu der früheren Einfachheit. Die einzelnen , der Zahl nach geringeren Scenen gelangen mehr zu ihrem Rechte ; sie haben nicht mehr blos den Werth eines Wortes oder kurzen Satzes, sondern sie bilden eine Strophe, die in sich selbst eine breitere und reichere Entwicklung hat.

Einheitlich ist aber auch der Geist, der sich durch alle diese Arbeiten hindurch in der Auffassung und Verwerthung des Stoff"es offenbart. Schon in den ältesten Darstellungen der Wirklichkeit herrscht überall die poetische Auffassung des Hellenenthums, die über die Schilderung des Einzelnen hinaus das Ganze einer höheren Idee unterordnet; und wenn nun bald der Künstler seinen Stoff dem in der Poesie reich entwickelten und vorgebildeten Schatze der Sage entlehnt, so ist es hier von hoher Bedeutung, dass selbst in einem Werke, wie es der geweihte Thron eines Gottes ist, die Religion, der Cultus doch die poetische Freiheit des Künstlers nicht zu beein- trächtigen vermögen. Selbst der theologische und dogmatische Gedanke muss es sich gefallen lassen, in eine poetisch-künstlerische Form um- gegossen zu werden, und wir werden uns später daran zu erinnern haben, dass, was ein Bathykles wagen durfte , auch einem Phidias ge- stattet gewesen sein wird. So sehr aber die bildende Kunst hinsichtlich des Inhalts ihrer Darstellungen von der Dichtkunst abhängig sein mag, so erscheint sie doch keineswegs als deren Dienerin, sondern indem sie den gebotenen Stoff mit dem künstlerisch bildenden Princip durch-

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Viertes Capitel. Erstarkimg des hellenischen Geistes.

dringt, gewinnt sie ein neues selbständiges Leben und stellt sich der Poesie als ebenbürtige Schwester an die Seite.

Solchen Vorzügen gegenüber nimmt allerdings die formale Durch- bildung noch eine sehr untergeordnete Stellung ein. Denn die Frangois- vase kann trotz ihres streng archaischen Charakters doch für die Aus- führung der älteren Werke, wie des Kypseloskastens und des Throns, nicht maassgebend sein. Vielmehr werden wir uns dieselbe nach Art der kleinen korinthischen Gefässe vorzustellen haben, welche in neuester Zeit durch die Pinakes eine sehr erwünschte Ergänzung erfahren haben ; und noch directere Vergleichungen für unsere Anschauungen bieten die olympischen Bronzefragmente.

Dazu müssen wir uns auch nach dieser Seite den Gang der Entwicklung gegenwärtig halten. Es ist in der Natur der decorativen Kunst begründet, dass sie von dem gegebenen Räume ausgeht; sie theilt, sie gliedert und schmückt ihn zuerst durch mathematisch-schema- tisirende Linien, dann durch Pflanzen und Thiergebilde. Wenn nun schon diese letzteren von dem rein ornamentalen Schema und der blossen Formel zu Leben und Bewegung überleiten, so drängt dazu noch mehr die menschliche Gestalt, freilich noch nicht an und für sich selbst betrachtet, sondern nur erst als Mittel zur Schilderung menschlichen Lebens und Treibens überhaupt. Von den Darstellungen allgemeiner Art schreitet dann die Kunst fort zu bestimmten Hand- lungen, die unter bestimmten Voraussetzungen und Verhältnissen sich wirklich und nur einmal zugetragen haben, oder, was hier dasselbe ist, zugetragen haben können oder sollen. Obwohl hier bestimmte Per- sönlichkeiten die Träger der Handlung sind, so wird doch noch keines- wegs eine eingehende Schilderung ihrer individuellen Besonderheiten beabsichtigt. Sie mögen äusserlich durch gewisse Kennzeichen und Merkmale charakterisirt werden, etwa wie eine bestimmte Person durch ihren Namen; aber in erter Linie sollen sie handeln, und der Künstler hat seine nächste Aufgabe erfüllt, sobald er den besonderen Antheil an der Handlung klar zur Anschauung zu bringen verstanden hat. Um es kurz zu sagen: wir haben es im Grund noch mit einer Bilder- schrift zu thun, in welcher der Gedanke durchaus überwiegt und die Form nur das Mittel zum Ausdrucke des Gedankens ist, so dass sie für sich selbst nur erst einen untergeordneten Werth beansprucht.

Dass die decorative Kunst auf dieser Stufe stehen bleiben kann, lehrt z. B. Assyrien, wo die hier bezeichneten Grenzen in manchen Beziehungen nicht einmal erreicht, nach keiner Richtung aber über-

Schlusswort.

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schritten worden sind. In Griechenland zeigt sich nirgends ein solcher Stillstand; aber auch hier geht der weitere Fortschritt weniger aus einer selbständigen inneren Entwicklung der decorativen Kunst hervor, als dass er durch eine auf wesentlich neuen Grundlagen erwachsende Richtung bedingt wird, welche die decorative Kunst theils in ihrem inneren Wesen umgestaltet und in sich aufnimmt , theils dieselbe aus ihrer bisherigen bevorzugten Geltung in die zweite vStelle zurück- drängt.