■^r ^^m^ COLUMBIA LIBRARIES OFFSITE HEALTH SCIENCES STANDARD __, HX64059723 QM23 L56 Grundlagen der theor X DER THEOKETISCHEN ANATOfflE VON P. LESSHAFT, PROF. DER ANATOMIE. ERSTER TEIL. MIT 52 EINGEDRÜCKTEN HOLZSCHNITTEN. LEIPZIG. J. C. HINRICHS'SCHE BUCHHANDLUNG. 1892. iM Ätnn t.l GRÜNDLAGEN DER THEORETISCHEN ANATOMIE VON P. LESSHAFT, PROF. DER ANATOMIE. ERSTER TEILL MIT 52 EINGEDRUCKTEN HOLZSCHNITTEN. LEIPZIG. J. C. HINRICHS'SCHE BUCHHANDLUNG. 1892. U. I g 1944 Vorwort. Die Anatomie wurde bis jetzt, wie auch die Melirzahl der bio- logischen Wissenschaften, ausschliesslich descriptiv studiert; bei der- artiger Behandlung hat der Gegenstand natürlich nicht die Bedeutung einer Wissenschaft, er giebt gar keine Begriffe und allgemeinen Grund- sätze, nach welchen man die Bedeutung der Form und der Structur des menschlichen und überhaupt tierischen Körpers erkennen könnte. Die Wissenschaft ist die Zusammenfassung von Wahrheiten, welche zu- sammen eine Lehre bilden, den Gegenstand in allen seinen Teilen um- fassen und gar keine Ausnahmen zulassen; die blosse Beschreibung dagegen und das Erlernen von Benennungen, welche gewöhnlich aus uns ganz fremden Lauten bestehen, oft ganz willkürlich sind und gar nicht mit der Bedeutung des Gegenstandes in Verbindung stehen, hat weder eine bildende, noch eine practische Bedeutung und beschränkt nur die Fähigkeiten des Studierenden, ohne ihn für seine zukünftige Thätigkeit vorzubereiten und ohne ihm die Functionen des lebenden Menschen zu erklären. Nur der hell leuchtende Strahl der Wissen- schaft kann den Zusammenhang zwischen der zu beobachtenden äusseren Form und der von ihr in die Erscheinung gebrachten Function er- leuchten und klarlegen, nur der Gedanke kann uns einen vor uns be- findlichen Körper durchsichtig machen und zeigen, wie diese Form fortwährend verbrennt und wiederhergestellt wird, wie sie durch all- mählig sich verstärkende Thätigkeit vervollkommnet wird und sich ihrem Aussehen und ihren Functionen nach unendlich verändert. Die Pädagogik, die Jurisprudenz und die Medicin sind bis jetzt rein be- obachtende Fächer, welche der wissenschaftlichen Grundlagen entbehren ; die descriptive Anthropologie giebt ihnen nichts ausser den nackten Benennungen und der einförmigen Belastung des Gedächtnisses. Die Physiologie lässt gegenwärtig die Form ganz ausser Acht und sucht nur alles durch einseitige und ausschliessliche Anwendung der Ex- perimentalmethode zu erforschen; hierbei vergisst man das lebende Wesen, dessen Function eigentlich das einzige Ziel aller Zweige der Anthropologie und der Biologie im Allgemeinen sein muss, ganz und gar. Maximale Thätigkeit kann der Mensch nur dann ausüben, wenn alle seine Functionen sich in vollkommener gegenseitiger Übereinstimmung - IV — befinden, wenn er alles in der ihn umgebenden lebenden Mitte erfassen kann, wenn er versteht, alles durch Beobachtung Erfasste mit allen vorhandenen Methoden zu prüfen, wenn er gelernt hat, die Grundidee in allem Beobachteten herauszuscheiden und in Übereinstimmung mit dieser Grundidee zu handeln. Diese Eigenschaften erlangt der Mensch am allerschnellsten beim Studium eines Gegenstandes, der die Bedeutung einer Wissenschaft hat. Von den Beobachtungen der Lebensfunctionen, der Formen, mit denen sie ins Werk gesetzt werden, und der mit diesen Formen verbundenen Thätigkeit ausgehend, muss man darauf diese Beobachtungen durch Analyse des Objectes prüfen, die Kenntnis der aus dieser Analyse erhaltenen Elemente und die Vergleichung der- selben giebt die Möglichkeit, die allgemeinen Merkmale und Er- scheinungen zu gewahren und allgemeine Folgerungen zu machen und Schlüsse zu ziehen. Bei der Prüfung der letzteren durch Anwendung der mathematischen Methoden und auf experimentalem Wege können die erhaltenen allgemeinen Schlüsse zu allgemeinen Grundsätzen, sogar wissenschaftlichen Gesetzen, welche ein Vorhersagen der Erscheinungen und die Bestimmung der Bedeutung der beobachteten Lebensfunctionen möglich machen, führen. Auf diese Weise muss also die wissenschaft- liche Methode der Erforschung von Erscheinungen unbedingt von Be- obachtungen am Leben ausgehen und zur Erklärung der angetroffenen Formen und Erscheinungen führen. Im vorliegenden Werk werden „die Grundlagen der theoretischen Anatomie", als Frucht meiner Thätigkeit, behandelt. Ich widme diese Arbeit meinen Zuhörern, da ich glaube, dass sie mich am besten verstehen werden, denn sie enthält den Knäuel, welchen wir im Ver- lauf unseres Cursus abgewickelt haben. Natürlich konnte das Wort nur anregend wirken, das Buch muss das Wort ergänzen, als Haupt- object muss jedoch stets nur der lebende Organismus, der wiederum durch das tote Präparat ergänzt und durch mathematische Methoden und Experimente geprüft wird, dienen; das Ziel aller Beschäftigungen aber ist das Studium der Form und ihres Verhältnisses zu den Functionen des lebenden Organismus. Ich widme dieses Buch auch noch deswegen meinen Zuhörern, als sie an allem hier Ausgedrückten und Verarbeiteten unmittelbar teilgenommen haben ; ihr junger, prüfender Geist förderte durch ihre Fragen und nicht selten auch durch die Lösung derselben oft die Erklärung dessen, wozu meine eigenen Kräfte nicht ausreichten, durch ihre Teilnahme unterhielten sie in mir oft die für theoretische Arbeit notwendige Frische und Kraft des Geistes. Folglich also sind die in der Litteratur ausgesprochenen Ideen, die x4rbeiten meiner Schüler und Schülerinnen und meine eigenen Untersuchungen, soweit dazu Kraft und Fähigkeit ausreichten, die Grundlage alles hier Ge- sagten. Wenn dieses alles die Aufstellung einer vollständigen, ge- schlossenen wissenschaftlichen Theorie, welche die Bedeutung der Formen des menschlichen und tierischen Organismus und das Verhältnis dieser Formen zu den mit ihnen verbundenen physiologischen und psycho- logischen Functionen beleuchtet und darlegt, fördern wird, so ist der Zweck der Arbeit erreicht. Nur wenn der Mensch sich allgemeine Grundsätze gebildet hat, kann er selbständig handeln, seine Fähigkeiten entfalten und, indem er sich auf die gefundenen Wahrheiten stützt, auch seine moralischen Eigenschaften feststellen. Die Wissenschaft und die von ihr gegebenen Grundwahrheiten müssen stets unserer Vervollkommnung zu Grunde liegen und die Entwickelung unseres Characters, und zwar unserer moralischen Eigenschaften fördern; sie müssen uns der Finsternis ent- führen, die Willkür unserer Handlungen einschränken und uns den Weg zeigen, wie wir uns ein Ideal von der Persönlichkeit des Menschen und ihrer Unantastbarkeit bilden sollen. Ich will mit dieser Arbeit zur Erreichung des vorgesteckten Zieles nach Kräften beitragen. Im Laufe der letzten 20 Jahre meiner Lehrthätigkeit hielt ich mich bei der Behandlung meines Cursus stets an folgende Methode: zuerst setzte ich den allgemeinen Teil des Abschnittes auseinander, darauf construierte ich auf Grund der Untersuchung des lebenden Menschen einen jeden einzelnen Teil oder Apparat und prüfte das a priori Construierte durch die Analyse des Objectes wo möglich auf mathematischem und experimentalem Wege. Meine Zuhöier können bestätigen inwieweit das möglich ist und inwieweit es wirklich streng durchgeführt worden ist. Im ersten Teile werden die theoretischen Grundlagen der Anatomie der Bewegungsorgane behandelt; im zweiten, der diesem bald nach- folgen wird, werden die allgemeinen Grundlagen des Baues der vege- tativen Organe und der Organe der activ-psychischen Thätigkeit aus- einandergesetzt werden; diesem lasse ich dann eine kurze historische Übersicht der biologischen Theorien und die Behandlung der Ver- erbungsfrage, als Folgerung aus allem vorher Gesagten, folgen. Alles dieses wird in meinen Vorlesungen bereits auseinandergesetzt und ist daher für den Druck vollständig vorbereitet. Die meisten Originalzeichnungen sind von Herrn Stud. Butyrkin ausgeführt. Die Übersetzung stammt von Herrn Stud. Boroffka. Heraus- gegeben wird das Werk von Herrn J. M. Sibirjakow. Die Holzstöcke wurden bei Herrn Aarland & Müller in Leipzig verfertigt. Bei anderen Werken entnommenen Zeichnungen sind überall die Quellen angegeben. St. Petersburg, den 12./24. Mai 1892. p Taggliaft Inhaltsverzeichnis Seite Vorwort III Einleitung 1 Aufgaben und Einteilung der Anatomie, dem Studium des lebenden Organis- mus zu Grunde liegende Sätze. Kapitel I. Die Gewebe der festen Stüfze und ihre allgemeinen Eigenschaften . . 10 Das Knochengewebe 11 Chemische Zusammensetzung. — Histologische Structur. — Mechanische Eigenschaften. Das Knorpelgewebe 20 Chemische Zusammensetzung. — Verschiedene Knorpelarten. — Histo- logische Structur des Hyalinknorpels. — Histologische Structur des Netz- knorpels. — Histologische Structur des Bindegewebsknorpels. — Mecha- nische Eigenschaften des Knorpelgewebes. Das Bindegewebe 26 Verschiedene Arten des Bindegewebes. — Chemische Zusammensetzung. — Histologische Structur des faserigen Bindegewebes. — Histologische Structur des reticulären Bindegewebes. — Histologische Structur des Gallertgewebes. — Mechanische Eigenschaften des Bindegewebes. Das elastische Gewebe . 36 Chemische Zusammensetzung. — Histologischer Bau. — Mechanische Eigenschaften. Das Fettgewebe 39 Chemische Zusammensetzung. — Histologische Structur. — Mechanische Bedeutung. Das Blut 42 Physische Eigenschaften. — Chemische Zusammensetzung. — Rote Blut- körperchen. — Weisse Blutkörperchen. — Bedingungen der amöboiden Bewegungen der weissen Blutkörperchen. — Blutscheiben. Die Vermehrung der Elemente 49 Einfache Teilung. — Complicierte Teilung. Die Entwickelung der Gewebe der Stütze 53 Entwickelung des Bindegewebes. — Entwickelung des elastischen Gewebes. — Entwickelung des Fettgewebes. — Entwickelung des Knorpelgewebes. — Entwickelung des Knochengewebes. Kapitel II. Das Knochensystem, Die Einteilung, Architectur und Entwickelung der Knochen 63 Anzahl der Skelettknochen 65 Einteilung der Knochen: lange, breite und dicke Knochen 65 Periost 67 Seine Bedeutung. - VII - Seite Berührungsflächen der Knochen 70 Knochenarchitectur 71 Knochenmark 81 Seine Structur. — Seine Gefässe. — Seine Nerven. — Knocheninhalt bei Vögeln. Gefässe der Knochen 86 Foramina nutritia. — Venöse Öffnungen. — Öffnungen der Capillargefässe. — Öffnungen der Knochencanälchen. — Venen der Knochen. — LymiDh- gefässe der Knochen. — Nerven der Knochen. Mechanische Eigenschaften der Knochen 91 Knochenwachstum 95 Ursachen der Knochenformen 99 Einwirkung der Nahrung auf die Knochen 106 Einwirkung der Farben auf die Knochen 107 Entwickelung des Knochensystems 108 Chemische Zusammensetzung des Eidotters. — Befruchtungsprocess. — Eifurchung. — Entstehung der Eihöhlen. — Entstehung der Keimblätter. — Gasträa- und Cälomtheorie. — Wachstums- und Formungsbedingungen. — Entwickelung der Wirbelsäule. — Entwickelung des Kopfes und des Gesichtes. — Wirbelursprung des Schädels. — Chondrocranium. — Haut- cranium. — Entwickelung des Gesichtes. — Entwickelung der Rippen und des Brustknochens. — Entwickelung der Extremitäten. — Entwicke- lung der Knochen der oberen Extremität. — Entwickelung der Knochen der unteren Extremität. Kapitel III. Allgemeine Anatomie der Knochenverbindungen 138 Membranenverwachsung 140 Durch Häute. — Durch Nähte. — Durch Zwischenknochenbänder. Synchondrose 145 Durch hyalinen Knorpel. — Durch Bindegewebsknorpel. — Durch elastisch( s Gewebe. Synostose 148 Gelenk, seine Bestandteile 148 Die die Gelenkflächen zusammenhaltenden Kräfte. — Einteilung der Gelenke. Einfache Gelenke 157 Winkelgelenk. — Rollgelenk. — Freie Gelenke. — Strafl'e Gelenke. Complicierte Gelenke 166 Gelenke mit elliptischen und sattelförmigen Articnlationsflächen — Ge- lenke mit membranösen und Knorpelmenisken. — Gelenke mit Knochen- menisken. — Gelenke mit einem zusammengesetzten Knochenmenisk. — Gelenkhemmungen. — Gewölbe. — Entwickelung der Gelenke. — Mechanis- mus des Schultergelenkes. — Mechanismus des Kniegelenkes. Kapitel IV. Allgemeine Anatomie des Muskelsystems :212 Chemische Zusammensetzung des Muskelgewebes 213 Structur des Muskelgewebes 216 Mechanische Eigenschaften des Muskelgewebes 221 Entwickelung des quergestreiften Muskelgewebes 221 Die Muskeln als Organ 223 Bindegewebshüllen 223 Sehne und Sehnenausbreitung 224 Die Muskelform und ihre Bedeutung 224 Einfache Muskelformen 226 — VIII — Seite Gesetze der Dynamik 231 Mechanische Bedingungen der Muskelthätigkeit 231 Typus der starken und Typus der gewandten Muskeln 235 Verhältnis der Muskelinsertion zu ihrer Stütze 235 Bestimmung der Muskelkraft 249 Complicierte Muskelformen 253 Muskeln mit zwei oder mehr Köpfen. — Muskeln mit zwei oder mehr Schwänzen. — Zwei und mehrbäuchige Muskeln. — Geteiltbäuchige Muskeln. Über zwei Gelenke gehende Muskeln 256 Muskeln, die keine Beziehung zu Gelenken haben 258 Bewegungsmechanismus der Scapula 260 Vorrichtungen, welche die Stütze und den Angriffswinkel der Muskeln ver- grössern 263 Gefässe der Muskeln 264 Nerven der Muskeln 266 Aponeurosen 268 Gefässe der Aponeurosen. — Nerven der Aponeuiosen. Fibröse Sehnenscheiden 273 Synovialscheiden 275 Schleim- und Synovialbeutcl 277 Bedeutung und Functionen des Muskelsystems 278 Gesichtsausdruck 287 Muskelanomalien 302 Gewichtsverhältnisse der Muskeln 305 Kapitel V. Der Schwerpunct des menschlichen Körpers, seine Länge, sein Gewicht und seine Proportionalität 312 Schwerpunct des menschlichen Körpers 312 Körperlänge 315 Gewichtsverhältnisse des menschlichen Körpers 326 Proportionalität des menschlichen Körpers 329 Einleitung. Die Erforschung- der Grundidee des Baues des menscMichen Körpers und die Erklärung seiner Formen auf Grund dieser Idee bildet den Gegenstand der theoretischen Anatomie. In der sogenannten be- schreibenden Anatomie beschränkt man sich gewöhnlich auf die Unter- suchung der äusseren Form und der äusseren Merkmale der einzelnen Teile und Organe des vollkommen entwickelten menschlichen Körpers und ihrer Beziehungen zu den anliegenden Teilen. Eine derartige trockene Beschreibung der Formen mit einem endlosen Verzeichnisse von Benennungen bringt natürlich dem Studierenden wenig Nutzen und erschwert ihm nur die Sache, wobei sie ihm jedoch gar keinen Begriff von der Bedeutung dieser Formen giebt. Bei einem solchen Studium bleibt die Anatomie ein totes Fach, das gar nicht die Bedeutung einer Wissenschaft hat. Betrachtet man jedoch die Formen der einzelnen Teile und Organe des menschlichen Körpers und sucht man sich ihre mechanische Bedeutung und Abhängigkeit von den sie umgebenden Be- dingungen zu erklären, so kann man auch die allgemeine Idee des Baues des Organismus auffinden und kann die allgemeinen Gesetze ab- leiten, welche diesem Bau zu Grunde liegen; hieraus kann man dann auch den Bau und die Bedingungen für die Entwickelung der Formen des normalen menschlichen Organismus bestimmen. Die Anatomie wird nicht die Bedeutung einer Wissenschaft haben und wird ohne Verwen- dung für das Leben bleiben, solange keine allgemeinen Grundlagen ausgearbeitet sind und solange es keine Theorie giebt, welche die Be- deutung der Formen und des Baues des tierischen Organismus erklärt. Ohne Philosophie des Gegenstandes giebt es keine Wissenschaft, giebt es keine Erklärung des Zusammenhanges zwischen Form und Function. Man muss lernen, nach den Formen die mit ihnen verbundenen Func- tionen herauszulesen. Beim Studium der Anatomie muss der lebende Organismus stets als Hauptobject dienen, und von den Beobachtungen an diesem muss jedes Studium ausgehen; das tote Präparat jedoch muss nur zur Controlle und als Ergänzung zum lebenden Organismus dienen. 1 — 2 — Die Fächer, die sich auf die Ergebnisse gründen, die man aus dem Studium der Formen und Functionen des menschlichen Organismus erhält, wie z. B. die Medizin und die Pädagogik, werden rein intuitiv, eng- empirisch bleiben, so lange Anatomie und Physiologie nicht wissen- schaftlich studiert werden, so lange ihre Theorie noch nicht ausgearbeitet ist, die es möglich macht, auf Grund der so gefundenen allgemeinen Grundlagen nach den Functionen des lebenden Organismus die ihnen zu Grunde liegenden Formen zu konstruieren, deren Bau zu bestimmen, und umgekehrt, nach den isolierten Formen die in Wirklichkeit beob- achteten Functionen des lebenden Organismus vorherzusagen, was gerade als Controlle für die gegebenen allgemeinen Grundlagen dienen wird. Gerade nur in diesem Sinne wurde die allgemeine Anatomie am Anfange dieses Jahrhunderts (1801) von dem bekannten Anatomen Bichat behan- delt. Leider hat bis jetzt die wissenschaftliche Richtung Bichat's wenig Nachfolger gefunden, und die Anatomie bleibt noch immer ein descrip- tives Fach ohne theoretische Grundlagen und ohne Erklärung der Lebenserscheinungen des Organismus. Gegenwärtig hat die Anatomie immer noch die Bedeutung eines Examinationsfaches, bei dessen Studium man dem Gedächtnisse eine Menge Namen einprägt, ohne zu analy- sieren und ohne sich die Bedeutung des Erlernten zu erklären. Das tote Material, dessen man sich zu diesem Zwecke bedient, wird Leben gewinnen und wird zur Erklärung desjenigen, was man im Leben an- trifft, dienen. Ausserdem darf man sich nicht nur auf das Studium des Organismus des erwachsenen Menschen beschränken: man hat es nicht nur mit Erwachsenen zu thun, sondern noch öfter mit jungen Individuen, von ihrer Geburt an bis zur vollständigen Entwickelung. Um den menschlichen Organismus zu studieren, teilt man ihn gewöhnlich in mehrere getrennte Systeme. Die einzelnen Teile dieser Systeme heissen Organe; die Organe bestehen ihrerseits aus verschie- denen Geweben und diese letzteren aus Teilchen oder Elementen. Element eines Gewebes nennt man ein Teilchen desselben, welches einzeln genommen imstande ist, unter gewissen Bedingungen seine Lebensthätigkeit fortzusetzen. Das Leben ist nach Bichat ^) ,, die Summe der Funktionen, die dem Tode Widerstand leisten" (la vie est l'ensemble des fonctions qui resistent ä la mort). Nach der Definition von Herbert Spencer ist das Leben „eine fortwährende Anpassung der inneren Ver- hältnisse an die äusseren'^ Aus der Definition von Bichat folgt, dass in allen Teilen des tierischen Organismus ein fortwährender Stoff- wechsel vor sich geht, ein fortwährender Verlust und die ihm ent- sprechende Wiederherstellung. Die Lebensthätigkeit wird in dem Grade erhalten, als dieser Verlust und diese Wiederherstellung einander ent- 1) Recherches physiologiques sur la vie et la mort. 3. Edition. Paris. 1805, pag. 1. sprechen. Jedes Auflösen dieser Harmonie muss zur Krankheit und sogar zum Tode führen. Die Definition von Spencer deutet auf die inneren Verhältnisse des Organismus einem äusseren Reiz gegenüber. Alles, was im lebenden Organismus vor sich geht, wird in der That von diesem Reiz hervorgerufen und unterhalten. Die Lebensthätigkeit wird dem Grade seines Einflusses entsprechend erhöht oder erniedrigt. Die activ-physische Thätigkeit des Menschen wird gewöhnlich als innere Thätigkeit, als Thätigkeit der inneren Muskelkräfte aufgefasst; es stellt sich jedoch heraus, dass jede physische Arbeit nur bei dem Vorhanden- sein einer äusseren Widerstandskraft vor sich geht. Ebenso bedarf auch die activ-psychische Thätigkeit zu ihrem Zustandekommen durch- aus eines äusseren Reizes. Die Ernährung wird verstärkt zugleich mit der Vergrösserung des Unterschiedes zwischen der zugeführten Nahrung und den zerfallenden Elementen, denn die ganze Ernährung hängt ab von dem Stoffwechsel, der um so grösser ist, je grösser der Unterschied in der Zusammensetzung der wechselwirkenden Teile ist. Das Leben erscheint stets nur als eine Anpassung der inneren Verhältnisse an die äusseren, es wird ganz in Abhängigkeit von den äusseren Bedingungen erhöht oder erniedrigt. Die Lebensthätigkeit eines jeden tierischen oder Pflanzenelementes drückt sich durch folgende Cardinaleigenschaften aus: durch die Erscheinungen der Ernährung, durch die Erscheinungen der Bewegung und durch die Erscheinungen der Empfindlichkeit. Die Er- nährung, die in einem Stoffwechsel zwischen den zugeführten Nähr- stoffen und den Stoffen, die als Bestandteile des thätigen Elementes dienen, besteht, steht bestimmt in Verbindung mit der Bewegung sowohl der einzelnen Teilchen des Elementes, als auch des ganzen Elementes. Die Empfindlichkeit aber ist die Fähigkeit dieses Elementes, unter dem Einflüsse eines mittelbar oder unmittelbar wirkenden äusseren Reizes seine Thätigkeit zu verändern oder zur Erscheinung zu bringen. Dass aber die Empfindlichkeit eine unumgänglich notwendige Bedingung des Lebens sowohl der Tiere, als auch der Pflanze ist, — davon kann man sich leicht überzeugen: man braucht nur die Empfindlichkeit eines Organismus, eines Organs oder eines Elementes zu verringern oder zu vernichten, um die Lebensäusserungen desselben abzuschwächen oder ganz zu vernichten (Gl. Bernard). Ein Samenkorn, das sich unter den günstigsten Bedingungen befindet, keimt dennoch nicht, wenn man auf dasselbe mit Substanzen wirkt, die seine Empfindlichkeit verringern, wie z. B. Äther, Chloroform u. s. w., während es doch zur Keimung kommt, sobald ihr Einfluss beseitigt wird. Ähnliches bemerkt man auch bei einer Flüssigkeit, bei der alle Bedingungen zur Gährung vorhanden sind: dieser Process geht unter dem Einfluss der genannten Substanzen nicht vor sich. Dieselben Erscheinungen, nur in viel stärkerem Grade, bemerkt man auch sowohl bei Pflanzen, als auch bei Tieren. Wenn man eine Pflanze, bei der man intensivere Bewegungen beobachten kann, wie z. B. Mimosa pudica, dem Einfluss von Äther- oder Chloro- formdämpfen unterwirft, so hört ihre Bewegung auf, und die Blätter, die man berührt, verändern ihre Lage nicht. Wenn man ein Tier, z. B. eine Ratte, unter eine Glasglocke setzt, wo die Luft freien Zutritt hat, und der reinen Luft Äther- oder Chloroformdämpfe beimengt, so verringert oder vernichtet man beim Tier die Empfindlichkeit, zugleich aber auch die Ernährungs- und Bewegungserscheinungen, und das Tier stirbt. Die Lebensthätigkeit wird zugleich mit der Verstärkung aller ihrer Cardinalerscheinungen, die wieder ihrerseits sich stets in voll- kommener Übereinstimmung unter einander befinden, erhöht. Die Ver- stärkung oder Abschwächung einer dieser Eigenschaften zieht unwider- ruflich die Erhöhung oder Verringerung der übrigen sowohl hinsicht- lich der Kraft, als auch der Schnelligkeit nach sich. Die Ernährung, die Bewegung und die Empfindlichkeit sind die Elementareigenschaften sowohl der vegetativen, als auch der sich durch grössere Energie aus- zeichnenden activ-physischen und activ - psychischen Functionen , und folglich muss jedes Element eines jeden lebenden Gewebes dieselben besitzen. Ein Aggregat von Elementen einer bestimmten Form und einer bestimmten Zusammensetzung bildet ein bestimmtes Gewebe. Verschie- dene Gewebe, die zu einer bestimmten Function zu einem Ganzen ver- bunden sind, bilden ein Organ. Organe, die die gleiche Bedeutung im Organismus haben, werden gewöhnlich in einzelne Systeme kombiniert. Untersuchen wir jetzt, welche Systeme man im menschlichen Organis- mus unterscheidet. Als Stütze und Grundlage des tierischen Organismus dienen feste, elastische und biegsame Gewebe. Das feste Gewebe er- scheint gewöhnlich als Knochen, das elastische als Knorpel, elastisches Gewebe im eigentlichen Sinne und als Fett; das biegsame Gewebe aber findet man als Bindegewebe in seinen verschiedenen Arten und Formen, angefangen von einem Gewebe von dickfiüssiger Consistenz bis zu einem ganz dichten und festen Gewebe, Alle diese Gewebe dienen allen übrigen Geweben und Organen als Stütze und als Grundlage und geben ihnen eine Lage, in der sie ihre Functionen frei verrichten können. Die Lehre von den Organen, die aus diesen Geweben bestehen, wird gewöhnlich einseitig Knochenlehre oder Osteologie (osteologia) genannt. Die festen Teile des Skelettes sind beweglich unter einander verbunden: dieses geschieht entweder ohne Unterbrechung der Substanzeinheit durch elastisches oder biegsames Gewebe, und dies nennt man Verwachsung (synarthrosis), oder aber mit Unterbrechung der Substanzeinheit, so dass eine bestimmte Bewegung zwischen den sich berührenden Teilen möglich wird, und dies heisst dann Gelenk (diarthrosis). Von der geo- metrischen Form der Enden der sich berührenden Knochen hängt sowohl die Art, als auch die Grösse des Bogens der zwischen ihnen möglichen Bewegung ah. Diese Bewegung wiederholt die Bewegung der Erzeugungslinie der gegebenen geometrischen Fläche. Der Abschnitt, in dem die Verbindungen der festen Teile des Skeletts unter- einander untersucht werden, heisst Syndesmologie (syndesmologia). Die einzelnen Teile des Skeletts, die beweglich miteinander ver- bunden sind, stellen Hebel dar, die in den Berührungspunkten sich gegeneinander stemmen. Um diese Hebel in Bewegung zu setzen, müssen Kräfte an ihnen wirken. Diese Kraft entwickeln Organe, die zwischen den festen Teilen des Skeletts gelegen sind und die imstande sind sich auszudehnen und sich zusammenzuziehen; im letzteren Falle wird eine Kraft entwickelt, die die festen Teile einander nähert oder von einander entfernt, wobei sie sie in einer bestimmten Richtung fort- bewegt. Diese Kraft, die man eine innere Kraft des Organismus nennen kann, kann in der That jedoch nur bei einer äusseren Stütze, d. h. beim Vorhandensein einer äusseren Widerstandskraft, zur Erschei- nung kommen. Die Organe, die diese innere Kraft entwickeln, heissen Muskeln. Da der Charakter der Bewegung zwischen den einzelnen Knochen durch die Form der Enden der sich berührenden Knochen, oder der sogenannten Gelenkflächen, bestimmt wird, so ist es begreiflich, dass die Muskeln den Achsen dieser Flächen, um die die Bewegung vor sich geht, entsprechend gelagert sein müssen. Die Art der Befestigung der Muskeln, ebenso wie auch die Entfernung ihres Ursprungs- und Ansatz- punktes vom Drehpunkte des Hebels, hängen von der Bedeutung der Muskelkraft an der gegebenen Stelle, d. h. von der Grösse der zu ent- wickelnden Kraft und von dem Grad der Gewandtheit, mit dem die Bewegung vor sich geht, ab. Wie die Form und gegenseitige Lagerung der einzelnen Knochen von ihrer mechanischen Bedeutung und von den mechanischen Bedingungen ihrer Entwickelung im Organismus, die Be- wegungen zwischen den Knochen aber von den sich unter dem Einfluss derselben Bedingungen entwickelnden Formen der Gelenkflächen ab- hängen, ebenso wird auch die Form, die Art und die Lagerung der einzelnen Muskeln und Muskelgruppen von den hier vor sich gehenden Bewegungen und von dem Grade ihrer Gewandtheit und Kraft abhängen: diese ganz bestimmte Abhängigkeit ist einem bestimmten Prinzip unter- worfen, nach welchem der gegebene Teil unseres Körpers aufgebaut ist. Die Lehre von diesen Organen der activ- physischen Thätigkeit mit all ihren Ergänzungsbestandteilen bildet den Gegenstand der Muskellehre (myologia). Aus der Definition des Lebens ersieht man schon, dass zur Unter- haltung desselben ein Aufwand von Stoffen nötig ist; der Verlust, der stets in allen Organen und Geweben unseres Körpers stattfindet, muss — 6 — doch irgendwie ersetzt werden. Die Notwendigkeit dieser Wiederher- stellung hat das Vorhandensein von Organen zur Folge, die feste, flüssige und gasförmige Nahrung aufnehmen und sie in einen solchen Zustand versetzen, in welchem sie am vorteilhaftesten assimiliert werden und nach allen Teilen des Organismus gelangen und zu ihrer Nahrung dienen können. Ausserdem sind Organe nötig, die die nicht auf- genommenen Speiseüberreste und überhaupt alle für den Organismus unbrauchbaren Stoife aus demselben ausscheiden. Diesen Forderungen entsprechen die sogenannten Verdauungs-, Atmungs- und Harnorgane; an diesen Functionen nehmen auch die äusseren Hüllen des Körpers teil. Alle diese Organe unterhalten das Leben des Individuums; im Organismus existieren aber noch Organe, die zur Unterhaltung der Gattung dienen, — dies sind die sogenannten Geschlechtsorgane. Alle die genannten Organe sind so gebaut, dass sie in einem möglichst geringen Volumen eine möglichst grosse Berührungs- oder Secretions- fläche darbieten. Sie sind in den Rumpf höhlen gelagert, und der Ab- schnitt der Anatomie, in welchem sie behandelt worden, heisst Ein- geweidelehre (splanchnologia). Aus dem Vorhergehenden leuchtet bereits ein, dass zur Leitung des Nahrungsmaterials durch den ganzen Körper ein besonderes System von Organen nötig ist, die dieses besorgen, d. h. es sind Apparate nötig, die die Nährstoffe aus den Organen, welche die Nahrung von aussen aufnehmen, empfangen und sie nach allen Teilen des Körpers leiten, ebenso aber auch die unbrauchbaren Stoffe wieder fortleiten. Diese Forderung wird von einem System von Röhren erfüllt, die von allen Teilen, Organen und Geweben des Körpers zu einem centralen Saug- und Druck-Muskelapparat gehen, von diesem aber wieder zu allen Teilen des Organismus zurückgehen; die Röhren, die zu diesem letzteren Teile des Systems gehören, verzweigen sich immer mehr und mehr, indem sie allmählich enger werden, und gehen endlich in feine Netze von Röhrchen über, die sich dann wiederum miteinander vereinigen, um in demselben Centrum ihr Ende zu nehmen, aus welchem sie aus- gegangen waren. Diese Röhren heissen Gefässe (vasa), der Muskel- apparat aber, wo sie beginnen und in den sie wieder einmünden, heisst Herz (cor). Die aus dem Herzen heraustretenden Gefässe heissen Arterien (arteriae), die in dasselbe einmündenden Venen (venae); das feine Netz von Röhrchen, die fast alle Gewebe und Organe durchsetzen und die Arterien mit den Venen verbinden, bildet das Capillargefäss- netz (vasa capillaria). In den Geweben und Organen selbst nimmt noch ein System von Röhrchen seinen Anfang, die sich zu einem gemein- samen Stamm vereinigen und ihren Inhalt zu demselben Centrum leiten, dieses sind die Lymphgefässe. Das Centralorgan des gegebenen Systems ist so constnüert, dass es bei möglichst geringem Volumen und bei — 7 — möglichst geringem Aufwand von Material möglichst viel Arbeit zu leisten imstande ist. Bei verschiedenen Tieren und in verschiedenen Perioden ihrer Entwickelung erscheint es in Form einer einfachen bogenförmigen Eöhre, die aus sich bewegenden Elementen (Bildungs- elementen) besteht, durch allmähliche Entwickelung aber wird es zu einem vierkammerigen Muskelsack, der mit den beiden Systemen der einmündenden und austretenden Gefässe in Verbindung steht. Das System der Röhren oder Gefässe ist so angelegt, dass durch dieselben das Nahrungsmaterial auf dem kürzesten Wege nach allen Teilen des Körpers geleitet wird und die Zersetzungsproducte, die sich durch die hier vor sich gehende Thätigkeit entwickeln, wieder auf dem kürzesten Wege zurückgeleitet w^erden. Die Lehre von diesen Gefässen bildet einen besonderen Abschnitt der Anatomie — die Gefässlehre (angio- logia). Die Eingeweide zusammen mit dem Gefässsystem bilden den vegetativen Apparat des tierischen Organismus. Die Organe der activ- geistigen Thätigkeit bestehen aus Centren, deren Elemente sich durch die allergrösste Energie ihrer Thätigkeit auszeichnen, und aus Leitern, die alle diese Centra untereinander und mit allen übrigen Teilen des Körpers ver- binden und die jede auf sie wirkende Erregung und jeden Eeiz vermitteln. Die Entwickelung des Organismus beginnt mit dem Organ, mit dessen Funktion augenscheinlich die ganze geistige Thätigkeit des Indi- viduums zusammenhängt. Hier unterscheidet man Elemente, die in der Form eines Kernes oder einer Schicht gelagert sind und die die so- genannten Nervencentren bilden. Zu diesen Centren verlaufen und von ihnen gehen die Leiter aus, die sie mit allen übrigen Teilen des Orga- nismus verbinden. Ein Centrum, das mit einem begrenzten Teil oder System des Körpers in Verbindung steht, erscheint als Reflexions- centrum. Das Centrum, welches mittelbar oder unmittelbar mit allen übrigen Reflexionscentren verbunden ist, steht augenscheinlich mit den Funktionen des Bewusstseins im Zusammenhange. Die Leiter, oder die sogenannten Nerven, verlaufen entweder centripetal, oder centrifugal; die ersten heissen gewöhnlich sensitive, die zweiten motorische Nerven. Der Abschnitt der Anatomie, in dem die centrale Gehirnmasse mit all ihren peripheren Fortsätzen und Verzweigungen behandelt wird, heisst Nervenlehre (neurologia). Die Nerven der sogenannten höheren Sinne nehmen ihren Anfang von Organen, welche auf besondere Art der Aufnahme von gewissen Eindrücken und der durch diese Nerven vermittelten Übertragung auf die entsprechenden Nervencentren an- gepasst sind. Zu diesen Organen gehören: das Gehör-, das Gesichts-, das Geruchs-, das Geschmacks- und das Tastorgan. Der Bau all dieser Organe wird in der Lehre von den höheren Sinnesorganen (ästhesio- logia) behandelt. Alle angeführten Systeme kann man auf drei Haupt- systeme reducieren: das System der Locomotionsorgane, das System der vegetativen Organe und das System der Organe der Reflexions- thätigkeiten und der geistigen Functionen. Wenn man die Entwicke- lungsgeschichte des Organismus ins Auge fasst, so kann man alle Teile des tierischen Organismus einteilen in solche, die sich aus dem Medul- larrohr, in solche, die sich aus dem vegetativen Rohr, und in solche, die sich aus den Teilen entwickeln, welche diese beiden Rohre um- geben und ihnen als Stütze dienen. Alle Organe der activ- geistigen und der activ -physischen Thätigkeit (nach Bichat das Centralnerven- system mit seinen peripheren Verzweigungen, die Sinnes-, Bewegungs- und Stimmorgane), die sich aus dem Medullarrohr und den dasselbe umgebenden Teilen entwickeln, sind stets paarig; sie können nur durch Erziehung vervollkommnet werden, und ihre Entwickelung ist nur bei einer Harmonie zwischen ihrer Form und ihrer Function möglich. Die vegetativen Organe aber (nach Bichat die Organe der Assimilation und der Disassimilation der Nährstoffe) sind meist unpaarig, sie müssen der Grösse ihrer Thätigkeitsoberfläche nach stets im Verhältnisse zu den activen Organen stehen, damit der Verlust, der mit der Thätigkeit der letzteren verbunden ist, sowohl qualitativ, als auch quantitativ ganz entsprechend ersetzt werde. Folgende allgemeine Grundlagen kann man als der Form, dem Bau und der Function aller Organe des menschlichen Organismus zu Grunde liegend annehmen: -1) Alle Organe des menschlichen Körpers sind so con- struiert, dass sie bei möglichst geringem Volumen und bei möglichst geringem Materialaufwand imstande sind, die höchstmögliche Thätigkeit zu entwickeln (das morphologische Gesetz). 2) Die Thätigkeit aller Organe wird erhöht, wobei zu- gleich ihre Form sich verändert und ihr Volumen sich ver- grössert, wenn sie allmählich (gradatim) und stetig (conse- quent) dazu angeregt werden, und wenn die Zufuhr aller Bestandteile der Organe dem Verbrauch entspricht (das phy- siologische Gesetz). 3) Nur bei einer harmonischen Entwickelung aller Organe ist der menschliche Organismus imstande, bei möglichst ge- ringem Aufwände an Material und an Kraft die höchstmög- liche Thätigkeit zu entwickeln und sich geistig zu vervoll- kommnen (das psychologische Gesetz). Das erste Gesetz liegt allen Formen und dem Aufbau des tierischen Organismus zu Grunde. Man muss dieses Gesetz so verstehen, dass ß}\e in der Technik bekannten Bauten und Apparate sich von den — 9 — Organen des tierischen Organismus stets durch bedeutend grössere Dimensionen, Gewicht und Materialaufwand im Vergleich zu der von ihnen geleisteten Arbeit unterscheiden. Die Thätigkeit der Organe wird in der That nur durch Übung, durch allmähliche (gradatim) und consequente Anregung erhöht. Jede Abweichung von der Gradation und der Consequenz muss auf Grund des psychophysischen Gesetzes stets zu einer Verminderung der Thätig- keit führen, denn jede schroffe Thätigkeit ist stets mit einem grossen Verlust verbunden und muss zur Unterdrückung und zur Apathie führen; hierbei erweist sich, dass zur Erhöhung der Thätigkeit der Reiz in einer geometrischen Progression wachsen muss, während der Effect nur in einer arithmetischen Progression wächst. Wenn man die umgebende Natur beobachtet, so bemerkt man leicht, wie im Frühling infolge der allmählichen und stetigen Anregung durch den anwachsen- den Einfluss der Sonnenstrahlen die Thätigkeit des ganzen Pflanzen- und Tierreiches erweckt wird, und wie in der Mitte des Sommers, trotz des immerwährenden Einflusses der Wärme und der Feuchtigkeit, nur infolge der Verminderung des Einflusses der Sonnenstrahlen, die jetzt bereits unter einem allmählich sich vermindernden Winkel fallen, die Blätter gelb werden und welken. Was das dritte Gesetz anbetrifft, so kann man sagen, dass in der That nur in den Fällen die Thätigkeit des Menschen mannigfaltiger, fruchtbringender und um so langandauernder wird, dass sie nur durch einen ganz kurzen tiefen Schlaf unterbrochen zu werden braucht, wenn sie so mannigfaltig ist, dass an ihr alle beim Menschen vorhandenen activen Functionen teilnehmen, wobei die vegetativen Functionen nur zum Zwecke einer möglichst einfachen Wiederherstellung des durch die active Thätigkeit verursachten Verlustes und einer möglichst schleunigen Entfernung der mit dieser Thätigkeit verbundenen Zer- setzungsproducte ausgeübt werden. Kapitel I. Die Gewebe des festen Körperskeletts und ihre allgemeinen Eigenschaften. Das allgemeine Gesetz, das dem Bau der Organe und Gewebe des Skeletts zu Grunde liegt, kann man folgendermassen formulieren: Das Skelett des tierischen Organismus ist so gebaut, dass es bei grösster Leichtigkeit die höchstmögliche Festigkeit und Widerstandsfähigkeit besitzt und dass es imstande ist, der Wirkung derStösse und Erschütterungen möglichst zu wider- stehen. Um sich die Bedeutung des gegebenen Systems zu erklären, muss man vor allem die Mischung, den Bau und die Qualität des Materials oder der Gewebe, aus denen die Teile dieses Systems bestehen, kennen lernen. Alle Organe, die dem tierischen Organismus als Stütze und als Grundlage dienen, bestehen aus festem oder Knochengewebe, aus elastischem, d. h. Knorpel, dem eigentlichen elastischen und Fett- gewebe, und aus biegsamem oder sogenanntem Bindegewebe in seinen verschiedenen Varietäten, vom festen bis zum dickflüssigen oder schlei- migen. Alle diese Gewebe bestehen aus Elementen oder Körperchen und aus einer Zwischensubstanz, von deren Qualität die mechanischen' Eigenschaften des Gewebes abhängen. In allen Fällen besteht die organische Zwischensubstanz aus einer leimgebeuden Substanz, aus der man beim Kochen Leim erhält. Die grössere oder geringere Festigkeit und Dichtigkeit dieser Gewebe hängt von der Einlagerung von Kalk- salzen in der Zwischensubstanz ab. Die eine oder die andere Art von Geweben entwickelt sich aber in Übereinstimmung mit den am ge- gebenen Orte vorhandenen mechanischen Bedingungen. Dort, wo der Druck und der Zug am grössten ist, entwickelt sich das festeste, dich- teste Gewebe; dort, wo Bewegung vorhanden ist, entwickelt sich Knorpel und elastisches Gewebe, das die Einwirkung der Stösse und Er- schütterungen vorteilhaft verringert, an den Stellen aber, wo die Teile — 11 — zusammengehalten werden und wo Stösse und Erschütterungen nicht schädlich einwirken können, findet man die verschiedenen Arten des biegsamen Bindegewebes. Knochen, Knorpel und die verschiedenen Arten des Bindegewebes bilden also, zusammengenommen, das ganze Gerüst des Körpers und erscheinen in den verschiedenen Teilen desselben den örtlichen Be- dingungen entsprechend. Das Knochengewebe zeichnet sich durch seine Dichtigkeit und durch seine Festigkeit aus; in frischem Zustande ist es hellgelb mit leicht rötlicher Nuance. Diese letztere, durch die Entwickelung der hierselbst befindlichen Blutgefässe bedingt, variiert sehr stark: während die Knochen des Neugeborenen fast rotbraun gefärbt sind, verliert sich allmählich diese Färbung in den Knochen eines alten oder entkräfteten Organismus. Gewöhnlich unterscheidet man zwei Arten von Knochen- geweben: die eine erscheint in Form einer compacten, dichten Sub- stanz, deren Oberfläche glatt ist und mit feinen Löchern (die man manchmal nur mit bewaffnetem Auge sehen kann) und mehr oder weniger deutlich ausgeprägten Furchen bedeckt ist; dies ist die compacte Knochensubstanz (substantia ossium compacta s. corticis); sie dient als Hauptstütze für den Knochen und ist gewöhnlich rindenartig an der äusseren Oberfläche desselben gelagert. Die zweite Art Knochengewebe erscheint in Form von mehr oder weniger dünnen Plättchen oder Bälk- chen, zwischen denen Räume von verschiedener Form und Grösse frei- bleiben, die dem Gewebe ein schwammiges Aussehen geben, weshalb es auch schwammiges Knochengewebe oder Spongiosa (substantia ossium spongiosa) heisst. Je nach der Grösse der Zwischenräume wird die Spongiosa noch in netzförmige, mit grösseren, und in zellige, mit kleineren Zwischenräumen, geteilt (substantia ossium spongiosa reticularis et cellu- laris s. cancellata). Die Bälkchen oder Plättchen der letzten Art Knochengewebe stützen sich gewöhnlich auf die compacte Knochensub- stanz, wie auf die Stütze des gegebenen Organs, und lagern sich der mechanischen oder architectonischen Bestimmung desjenigen Knochen- teils, wo sie sich befinden, entsprechend. Die Räume, die zwischen diesen Bälkchen oder Plättchen freibleiben, sind alle untereinander ver- bunden, so dass, wenn man an einem Ende eines langen getrockneten Knochens eine künstliche Öffnung macht und Quecksilber hineingiesst, dasselbe in alle Zwischenräume eindringt und durch die im Knochen vorhandenen natürlichen Öffnungen nach aussen gelangt (Bichat^). In den flachen Knochen sind die äusseren Lagen der Compacta durch Plättchen des zelligen Knochengewebes verbunden (diploe). 1) Traite d'anatomie generale. Paris. 1855, pag. 258. — 12 — Die Knochen des frischen menschlichen Skeletts von einem Indi- viduum mittleren Alters enthalten, nach den Analysen von Volkmann ^): 50 '»/o Wasser 15,75% Fett 12,40/0 Ossein 21,85 7o anorganischer Substanzen. Das Knochengewebe besteht aus organischen und aus anorganischen Substanzen. Man kann sich leicht von dem Vorhandensein dieser beiden Arten von Substanzen überzeugen: man braucht nur einen reinen ge- trockneten Knochen in eine schwache (5 bis 10 ^o) Salzsäurelösung zu legen. Wenn man den Knochen mehrere Tage lang in dieser Lösung liegen lässt, so bemerkt man, dass der feste Knochen weich wird und nach und nach eine derartige Biegsamkeit erlangt, dass man, wenn er schmal und lang ist, ihn zum Knoten binden kann. Die auf diese Art erhaltene, weiche, elastische Substanz ist der sogenannte Knochenknorpel oder das Ossein, in der Flüssigkeit aber, in der sich der Knochen be- fand, findet man verschiedene aufgelöste Salze, vornehmlich Kalksalze. Die Form des übriggebliebenen Teiles des Knochens verändert sich hierbei gar nicht. Ebenso kann man einen getrockneten Knochen stark durchglühen: dann verbrennen alle organischen Substanzen, und es bleibt wiederum ein Überrest nach, welcher ebenso die Form des Knochens beibehält, aber nur aus anorganischen Substanzen besteht. Ein Knochen, aus dem alle übrigen Gewebe ausser dem Knochengewebe (Fett, Blutgefässe u. s. w.) nach Möglichkeit entfernt sind, enthält nach Kühne ^) im Mittel 70 ^Jq anorganischer Substanzen und 30% Ossein, nach Milne - Edwards ^) aber 29,5—30.9% des letzteren und 68,1 — 69,74% der ersteren. Nach den Analysen von Berzelius *) und Middleton ^) enthält trockene Knochensubstanz folgende Bestandteile: Organische Substanzen Phosphorsaures Kalcium Kohlensaures Kalcium Fluorkalcium Magnesia, teilweise phosphorsaure Kohlensaures und Chlornatron Das Ossein und der durch Kochen daraus «gewonnene Leim ent- Berzelius Middleton 33,30 33,43 51,04 51,11 11,30 10,31 2,00 1 1,16 1,67 1,20 1,68 1) Untersuchung der menschlichen Knochen. Ber. d. Sitz. d. naturforsch. Ges. zu Halle. 1872. 2) Lehrbuch der physiologischen Chemie. Leipzig. 1866. pag. 391. 3) Ebendaselbst, S. 392 oder Annal. d. scienc. nat. 4. Sörie. Tome 13, pag. 191. 4) Chemie. 2. Aufl. IV Abtl. 1, pag. 441. 5) Philosophical Magazine. Vol. XXV. S. 18. Siehe Quain's Elements of Ana- tomy. 7 Edit. London. 1867. Vol. I, pag. 89. — 13 C. H. Az. 0. (Fisch) Leim 50,76 6,64 18,32 24,69 Knochenleim 50,40 6,64 18,34 24,64 Ossein aus dem Ochsenfemur 50,13 7,07 18,45 24,35 Ossein aus Karpfenrippen 50,32 7,22 18,42 24,24 Mulder Bibra halten nach den Analysen von Mulder und Bibra folgende Elemente und in folgenden Proportionen: Fisch) Leim Knochenleim Dssein aus dem Ochsenfemu Ossein aus Karpfenrippen Ausserdem enthält das Ossein noch eine geringe Quantität Schwefel, ungefähr 0,216% (nach Bibra). Der histologische Bau eines jeden Gewebes wird in möglichst dünnen Plättchen, die durch in drei gegenseitig perpendiculären Ebenen: einer horizontalen und zwei verticalen (Frontal- und Sagittalebene) nacheinander ausgeführte Schnitte erhalten werden, studiert. Indem man derartige Präparate aus verschiedenen Lagerungsstellen des ge- gebenen Gewebes verfertigt und in Gedanken alle unter dem Microscop beobachteten Bilder zu einem Gesammtbild vereinigt, erhält man eine ganz genaue und vollständige Vorstellung von dem microscopischen Bau des gegebenen Gewebes im lebenden Organismus. Fig. 1. "^^^ Querschnitt durch das Knochengewehe (Quain). a. Haversischer Kanal, b. Kuochenhöhle. c. Knochenkanälchen. d. Ha versische Lamellen. Sägt man aus der Mitte eines trockenen langen Knochens, der Längsachse des Knochens perpendiculär, ein dünnes Plättchen heraus und schleift man es auf einem Schleifstein in einigen Tropfen Wasser solange, bis es ganz dünn, fast durchsichtig, überall von gleicher Dicke wird, so sieht man unter dem Microscop folgendes: Bei durchgehendem (gebrochenem) Licht erscheinen im Sehfelde — 14 (Fig. 1) dunkle runde, ovale oder polyedrisclie Lumina, — die Quer- schnitte der sogenannten Haversischen oder Gefässcanälchen (a); sie sind von concentrischen Ringen oder Lamellen (d) in einer Anzahl von 3 bis 25 (Rauber) umgeben, die durch hellere Zwischenräume von einander getrennt sind. Ausser diesen Lamellen, die man specielle oder Haversische Lamellen nennt, findet man noch andere, welche zwischen den (Iruppen dieser concentrischen Lamellen gelagert sind oder sie an der Peripherie umfassen. Diese letzteren heissen umfassende oder Fundaraentallamellen. Li den Lamellen oder zwischen denselben be- merkt man dunkle längliche Hohlräume, deren Längsdurchmesser den Lamellen oder der Wand der Haversischen Canälchen parallel ver- läuft. Dies sind die Querschnitte der sogenannten Knochenhöhlen (b). Von diesen Hohlräumen, die eine gezahnte Contur besitzen, gehen strahlenförmig Canälchen aus, die durch die Grundsubstanz der La- mellen gehen; diese Canälchen verzweigen sich mannigfaltig und ver- binden sich durch ihre Äste sowohl untereinander, als auch mit den Canälchen der benachbarten Hohlräume. Die Canälchen der Knochen- höhlen, die in der Nähe der Haversischen Kanäle liegen, münden in di^ letzteren ein. Alle diese Canälchen heissen Knochencanälchen (canaliculi ossium s. chalicophori). Wenn man ebensolche Plättchen in einer Frontal- und in einer Saggittalebene aussägt , so erhält man in beiden Fällen genau dasselbe Bild. Man sieht nämlich in beiden Fällen unter dem Microscop folgendes (Fig. 2): in der Längsrichtung (der Längs- achse desjenigen Teils, aus dem die Plättchen gesägt sind, entsprechend) gehen cylindrische Canäle (die Längsschnitte der Haver- sischen Canälchen a), die untereinander durch schmä- lere Canäle verbunden sind. Sie sind von parallelen Reihen von Längsstreifen (den Haversischen Lamellen) umgeben, die mit helleren und sehr schmalen Zwischen- streifen abwechseln. Sowohl in den ersteren, als auch in den letzteren sind ovale, oft runde Zwischenräume (die Knochenhöhlen b) gelagert, Längsschnitt durch das Knochengewebe (Sappey). a. Haversischer Canal. h. Knochenhöhle, c. Knochen- canälchen. — 15 — die zuweilen unregelmässige Conturen haben; von ihnen gehen strahlen- förmig sehr dünne Canälchen (die Knochencanälchen e) aus, die sich sowohl untereinander, als auch mit den Canälchen der benachbarten Hohlräume verbinden; nur die Canälchen der Hohlräume, die den Haversischen Canäleu am nächsten liegen, münden in die letzteren ein. Wenn man nun in Gedanken diese zwei Flächenbilder zu einem Gesammtbilde vereinigt, so kann man sich den Bau des Gewebes selbst, das derartige Schnitte giebt, leicht vorstellen. Dieses Gewebe muss aus Gefässcanälen bestehen, welche der Längsachse des Knochens oder der Länge der Lamellen (der Bälkchen der Spongiosa) parallel ver- laufen; diese Canäle sind von Knochencylindern, die gleichsam ineinander eingeschachtelt sind, umgeben; in der Masse dieser Cylinder oder zwi- schen ihnen befinden sich die linsenförmigen Knochenhöhlen, von denen strahlenförmig die Knochencanälchen ausgehen, welche diese Höhlen untereinander, ebenso wie auch mit den Gefässcanälen verbinden. Ausser all diesen Bestandteilen findet man in dem Knochengewebe noch die sogenannten durchbohrenden oder Sharpeyschen Fasern ^). In- dem sie an der Innenfläche des Periosts ihren Anfang nehmen, dringen sie quer durch die umfassenden Lamellen des Knochengewebes und verlieren sich in denselben , indem sie sich verzweigen und zuspitzen. In den langen Knochen der Säugetiere nehmen sie auch von Längs- säulen, die zwischen den umfassenden und den speciellen Lamellen ge- lagert sind, ihren Ursprung, indem sie die ersteren nach aussen hin bis zur Innenfläche des Periosts, die letzteren strahlenförmig bis zu den Wandungen der Haversischen Canäle durchbohren. Specieller betrachtet bieten die Bestandteile des Knochengewebes folgende Eigentümlichkeiten. Die speciellen Lamellen, die die Gefässcanäle concentrisch umgeben, bilden hohle cylindrische Säulen, welche gewöhnlich der Längsachse des Knochens parallel, entsprechend der Längsachse derjenigen Canäl- chen, die von ihnen umgeben w^erden, gelagert sind. Auf Querschnitten sind diese Cylinder rund, oval oder polyädrisch, ähnlich wie die Lumina der Gefässcanälchen. Das Lumen der letzteren variiert sehr stark, in- dem es sich nach Rauber bis 0,009 mm (minimum) verringert und bis 0,4 mm (maximum) erweitert. Die Canälchen sind um so schmäler (nach Henle -) von 0,0109 mm bis 0,043 mm im Durchmesser), je näher sie der äusseren Oberfläche sind, wo sie als ganz kleine Öffnungen ihren Anfang nehmen; indem sich die Gefässcanäle in der Längs- richtung durch Queräste vereinigen, werden sie je weiter von der 1) Quain's Elements of Anatomy. London. Vol I. Part. II. 10 Edit. 1891, pag. 261-263. 2) Allgemeine Anatomie. Leipzig. 1841, pag. 814. — 16 ^ äusseren Oberfläche des Knochens, um so breiter, und endlich münden sie in die allgemeinen Markhöhlen oder Markräume der Spongiosa ein. Diese Canälchen enthalten Blutgefässe, Nerven, lockeres Bindegewebe^ in dessen Zwischenräumen sich Fett ablagert. Die Wandungen der- jenigen Cylinder, die Canälchen von mittleren Dimensionen umgeben, sind am stärksten. Im Alter vergrössert sich das Lumen der Canäl- chen, während die Stärke der Wandungen abnimmt (Rauber i). Auf Querschnitten durch den Knochen erscheinen die äusseren Oberflächen der Lamellen wellenförmig, und die Erhöhungen der einen Lamelle greifen in die Vertiefungen der' benachbarten ein. Die Substanz des frischen Knochens selbst erscheint bei durchgehendem Licht feinkörnig, bei von oben fallendem bildet sie eine dunkle Masse; diese körnige Substanz scheint bei starken Vergrösserungen aus kleinen, stark licht- brechenden polj^edrischen Körnern zu bestehen. Zwischen den Lamellen bemerkt man ganz durchsichtige Streifen. Nach den Untersuchungen von Ebner^ ) besteht die Grundsubstauz des Knochengewebes aus leim- gebenden Fasern, die keine Kalksalze enthalten; diese letzteren lagern sich in der Substanz, welche diese Fasern zusammenkittet, ab. Die Bälkchen der Spongiosa bestehen meistenteils aus einzelnen Lamellen, die aus einem Bälkchen in das andere übergehen und meisten- teils der Peripherie der Zwischenräume zwischen den Bälkchen con- centrisch gelagert sind. Überhaupt erweitern die Gefässcanälchen sich beim Übergang der Compacta in Spongiosa und münden in die Räume zwischen den Bälkchen, Fundamentallamellen findet man erstens an der Oberfläche des Periost, wo sie in Gestalt von concentrischen Ringen die Haversischen Lamellen oder Haversischen Säulen bedecken; darauf umgeben sie als ebensolche Schichten die Markhöhle des Knochens; endlich sind sie auch in den Räumen zwischen den Haversischen Lamellensystenien ge- lagert. Man kann auf diese Weise äussere und innere umfassende La- mellen und Schaltlamellen unterscheiden. Die verschiedenen Knochen, ebenso aber auch verschiedene Stellen ein und desselben Knochens bie- ten in Bezug auf die Anzahl und die Lagerung dieser Lamellen grosse Verschiedenheiten. So ergiebt sich z. B. aus den Untersuchungen von Rauber"), dass ungefähr in der Mitte des Schienbeins, den Seiten- flächen desselben entsprechend, die beiden Gürtelschichten teils mit- einander in Berührung treten, teils von nur spärlichen Haversischen Säulen durchsetzt sind. An der Crista desselben Knochens ist die äussere Gürtelschicht teils sehr dünn, teils wird sie auf ganze Strecken 1) Elastizität und Festigkeit des Knochens. Leipzfg. 1876, pag. 5. 2) Über den feineren Bau der Knochensubstanz. Sitzungsberichte d. k. Acad. d. Wissensch. in Wien. Bd. 72. III Abtl. Juli 1875. 3) L. c. pag. 6. — 17 - vollständig unterbroclien. Überhaupt fehlt diese Schicht nach den Be- obachtungen von Eauber oft an den Stellen, wo starke Sehnen und Bänder ihren Ursprung nehmen. Was die Knochenhöhlen betrifft, so differenziert sich nach den Un- tersuchungen von Neumann ^) von der Grundsubstanz eine Schicht, welche eine besondere Wandung oder Knochenkapsel für jede dieser Höhlen abgiebt. Die Länge der Knochenhöhlen ist — 0,0185 — 0,0514 mm, die Breite ist = 0,0068 — 0.0135 mm und die Dicke ist = 0,0045 bis 0,0090 mm. Die Knochenhöhlen kommunizieren untereinander dank der grossen Anzahl kleiner sogenannter Knochencanälchen , die allerseits von den unebenen Wandungen der Knochenhöhlen ausgehen; auf eben diese Weise kommunizieren diejenigen Knochenhöhlen, die in der Nach- barschaft der Gefässcanälchen gelagert sind, mit diesen letzteren. In den Knochenhöhlen sind die Knochenzellen enthalten (Virchow ^), Heule ■'), welche die Form dieser Höhlen haben und eine Menge von Fortsätzen entsenden, welche in den Knochencanälchen verlaufen. Diese Zellen bestehen aus Protoplasma, das einen Kern enthält, dessen Länge ungefähr = 0.0074 mm ist; in dem Nucleus unterscheidet man manch- mal einen oder mehrere Nucleoli. Die Knochenzelle mit der sie um- gebenden Kapsel bildet den sogenannten Knochenkörper. Ob die Knochenzellen und ihre Fortsätze die Knochenhöhlen und die Canälchen vollkommen ausfüllen (Joseph), oder ob diese Hohlräume nicht etwa Nahrungsflüssigkeiten oder sogar Gase (Klebs *) enthalten, bleibt bis jetzt unentschieden. Nachdem man den Bau des Knochengewebes untersucht hat, tauchen die Fragen auf, ob wirklich der gegebene Bau dem oben angeführten Grundsatze entspricht? inwieweit die concentrische Lagerung der Cy- linder vorteilhaft erscheint? warum hier gerade Cj^linder und nicht andere Formen auftreten u. dgl. m.? Alle diese Fragen muss die Unter- suchung der mechanischen Architecturbedingungen der Gewebe des Knochens, über die weiter unten bei der Untersuchung des Knochens als Organ die Rede sein wird, beantworten. Das specifische Gewicht des Knochengewebes ist nach Rauber '^) = 1,8777, nach Wertheim «) = 1.934 und nach Aeby = 1,936. Das specifische Gewicht der frischen Spongiosa aus dem unteren Ende des menschlichen Femur ist = 1,197, aus dem frischen Fischwirbel = 1,584. 1) Beitrag zur Kenntnis des normalen Zahnbeid- und Knochengewebes. Königs- berg. 1863, pag. 42. 2) Würzburger Verhandlung. Bd. I. 1830, pag. 193. 3) Archiv f. pathol. Anatomie. Bd. V, pag. 179—181. 4) Mediz. Centralblatt. 1868. S. 81. 5) L. c. pag. 3. 6) Annales de chimie et de pbysique. T. XXI. 1847. 2 — 18 — In dem Knochengewebe kann man eine Substanz, die als Stütze, und eine zweite, die als Bildungsmaterial dient, unterscheiden; ausser- dem existieren hier noch Organe, die diesen Substanzen Nahrungs- material zuführen. Die erste dieser Substanzen besteht aus den Grund- und Speciallamellen, die zweite aus dem Inhalt der Knochenhöhlen und Knochen canälchen, d. h. aus den Knochenelementen und ihren Fort- sätzen, die letzteren aber aus den Gefässcanälchen. Auf einer Fläche von 1 Dmm eines Querschnitts durch einen Knochen befinden sich nach den Untersuchungen von Hartmann ^) bis 910 Knochenhöhlen, nach Welcker -) aber im Mittel bis 740. Der Eaum, der von den Knochen- canälchen eingenommen wird, bildet ungefähr die Hälfte desjenigen der Knochenhöhlen; in diesem Falle verhält sich die im Knochengewebe aus- schliesslich als Stütze dienende Substanz zu der übrigen Substanz wie 16:1 (dem Volumen nach). Wenn man noch den von den Knocliencanälchen ein- genommenen Raum abzieht, welcher Vso des festen Knochengewebes aus- macht, so nimmt nach den Berechnungen von Rauber alle Substanz, die zur Bildung und Zufuhr von Nahrungsmaterial zu den Knochen dient, 7i i des Volumens der ganzen festen Substanz ein. In den Geweben unter- scheidet man überhaupt eine Zug- (absolute) und eine Druckfestigkeit (rückwirkende Festigkeit). Die erstere wird durch den Widerstand des Gewebes, welchen es der Einwirkung einer darangehängten Last leistet, die es zu zerbrechen oder zu zerreissen sucht, bestimmt; die zweite aber durch den einer Kraft, welche es zu zerdrücken oder zusammen- zupressen sucht, geleisteten Widerstand. Ebenso unterscheidet man eine Zug- und eine Druckelasticität: die erstere besteht in der Fähigkeit des Gewebes, die Entfernung ihrer Molecüle von einander, die durch eine darangehängte Last bewirkt werden kann, aufzuheben, die zweite aber in dem Aufheben der Verdichtung oder der Annäherung der Molecüle aneinander, die durch die Wirkung einer pressenden Kraft bedingt wird. Der Elasticitätscoefficient eines Körpers wird gewöhnlich durch die Spannkraft ausgedrückt, welche nötig ist, um ein Prisma von be- stimmter Länge, dessen Durchmesser in einer Längseinheit ausgedrückt ist (1 Dmm, 1 Dem u. s. w.), um seine eigene Länge auszudehnen, ohne dabei, wenn das möglich ist, die Elasticitätsgrenze zu über- schreiten.^) Natürlich wird dieser Coefficient durch Berechnung erhalten, und es erweist sich hierbei, dass der Elasticitätscoefficient der Dehn- barkeit des Körpers umgekehrt proportional ist. Die Zugfestigkeit des menschlichen Knochens ist nach Bevau *) = 25,11—50,7 kg auf 1 Dmm. 1) Recherches micrometriques, pag. 72. 2) Zeitschrift f. rationelle Medizin. Nr. 1. Bd. 8, pag. 232. 3) S. Rauber. L. c, pag. 20. 4) Valentin. Lehrbuch d. Physiologie des Menschen. 2. Aufl. Bd. I, pag. 34. — 19 — Wertheim ^) nahm zur Bestimmung der Zugfestigkeit lange Streifen aus dem Wadenbein und aus dem Schenkelbein. Aus seinen Unter- suchungen ergiebt sich, dass bei der Austrocknung des Knochens dessen Festigkeit zunimmt; sie schwankte zwischen 3,3 und 15,03 kg auf 1 Dmm. Rauber ^) nahm bei seinen diesbezüglichen Untersuchungen Knochen- stäbchen aus der Mitte der langen Knochen des Menschen und ver- schiedener Säugetiere. Die Länge des mittleren prismatischen Teiles der Stäbchen war = 3 cm, ihr rechtwinklicher Durchmesser = 2 oder 3 mm, die Enden waren verdickt und bildeten mit dem mittleren Teil einen Winkel von 135". Die trockenen Stäbchen wurden bei einer Tem- peratur von 15—25" C. untersucht, die frischen wurden in Wasser bis 35 " C. erwärmt und wurden während des Experimentes mit irgend einer Flüssigkeit von derselben Temperatur benetzt. Aus seinen Untersuchungen folgt, dass die Zugfestigkeit des fri- schen Knochengewebes bei normaler Temperatur, bei Menschen mittleren Alters, zwischen 9,25 und 12,41 kg auf 1 Dmm schwankt. Bei alten Leuten wird sie geringer (6,37—7,75 kg). Die Druckfestigkeit des frischen Knochengewebes ist = 12,56 — 16,8 kg auf 1 Dmm. Beim Aus- trocknen der Knochen wird sie gewöhnlich grösser (12,6—19,48 kg). Die Druckfestigkeit der frischen Spongiosa ist = 0,84 — 0,96 kg auf 1 nmm. Ein Knochenprisma von 5 mm Eandmesser, aus dem durch eine zweiprocentige Salzsäurelösung die Kalksalze entfernt sind, wird durch eine Last von 68 kg zerdrückt, während ein ebensolches Prisma aus demselben Knochen in unversehrtem Zustande eine Belastung bis 426 kg aushält ; folglich vergrössert das Vorhandensein von Kalksalzen die Widerstandsfähigkeit mehr als sechsmal. Ein ebensogrosses Prisma calcinierten Knochens, aus dem also die organischen Bestandteile ent- fernt sind, erträgt eine Belastung von 149 kg. Bei alten Leuten ver- mindert sich die Druckfestigkeit nicht so bedeutend, wie die Zugfestig- keit. Ausserdem folgt aus den Untersuchungen von Rauber, dass durch Erwärmung die Festigkeit des Knochengewebes verringert wird. In mittlerem Alter verhält sich die Druckfestigkeit zur Zugfestigkeit des frischen Knochens, wie 14,41 : 10,25 12,56 : 9,25 16,8 : 12,41 15,43 : 11.07. Zum Vergleich wird hier die Zug- und Druckfestigkeit verschie- dener Körper bei einem Durchmesser von 1 Dmm, bei zeitweiligem Widerstand im Verlauf des Experimentes ■^), angeführt. 1) Annales de chimie et de physique. T. XXI. 1847. 2) L. c. pag. 34—35. 3) Vgl. Vorlesungen über Baumechanik von Pr. N. A. Belelubsky. 1. Lieferung. St. Petersburg. Beilage, pag. 22. Tafel Nr. III (russisch). 2* 20 - Benennung der Köi -per: Festigk Zug eit Elasticitätscoeff. Elasticiti Zug ätsgreuze A Druck Zug Scheer- fertigkeit Druck Gussstahl 80—100 kg 100 kg 25000 10300 50- -60 — Gewöhnl. (Cement) Stahl 60-75 60 22000 8400 27- -30 27-30 Stangeneisen 40 35 20000 7500 15 15 Graues Gusseisen 13 75 10000 3700 6,5- -7 14—19 Kupfer (Blech) 21 41 10700 4010 3 2,75 Messing 12,5 7,3 6500 2400 4,9 — Gegossenes Zink 5,5 — 9500 3560 2,3 — Zinn 3,2 — 3200 1500 — — Blei 1,3 5,2 500 187 1 — Eichenholz 8,1 5,3 1200 80 2,7 1,8 Tannenholz 10,5 5,25 1250 — 2,9 2,15 Der Elasticitätscoefflcient wird, wie oben bereits gesagt war, durch Berechnung bestimmt, die Elasticitätsgrenze aber findet man, wenn man einen Körper von bestimmter Länge und bestimmtem Durchmesser solange belastet, als er im Stande ist, nach Entfernung der Last seine frühere Länge wieder anzunehmen. Bei beständig wirkender Belastung an Bauten werden alle diese Zahlen verringert: für Gussstahl um 4. „ gewöhnl. Stahl um 4. . „ Eisen „ 4. „ Gusseisen „ 5. „ Holz „ 10. Aus dem Vergleich dieser Data ersieht man, dass die Zugfestigkeit der frischen Compacta der Festigkeit von Messing nahe kommt, der Festigkeit von Tannenholz gleich ist und die des Zinks und des Eichen- holzes übertrifft. Die Druckfestigkeit aber übertrifft diejenige des Bleis und des Holzes mehr als um das Doppelte. Nach Wertheim ist der Elasticitätscoefflcient des Knochengewebes = 1819 — 2710 kg auf 1 Dmm. Nach Rauber ist derselbe = 1871 bis 2560 auf 1 Dmm. Die Austrocknung des Knochens und die Temperaturerniedrigung vergrössert seinen Elasticitätscoefflcient. Wenn man diese Zahlen vergleicht, so ergiebt sich, dass der Elasticitätscoefflcient des festen Knochengewebes den des Bleis vier oder sogar fünfmal, den des Holzes zweimal übertrifft, beinahe zwei- mal so klein ist, als der des Zinks, und dreimal so klein als der des Messings. Der Knorpel. Zum festen Körperskelett des tierischen Organis- mus gehört auch das Knorpelgewebe; es unterscheidet sich von dem Knochengewebe hauptsächlich durch seine Elasticität. Eine dünne Platte dieses Gewebes, wie sie z. B. am äusseren Ohr oder an der Nase vor- — 21 — kommt, kann stark gebogen werden, ohne dass sie bricht, und nimmt ihre frühere Form wieder an, sobald die Einwirkung der äusseren Kraft aufhört. Dicke Knorpelstücke zeigen einige Sprödigkeit: wenn man versucht, sie zu biegen, so brechen sie; die Bruchfläche ist hier- bei bald glatt, bald körnig oder faserig. In dünnen- Plättchen ist das Knorpelgewebe ein wenig durchsichtig; es ist milch weiss mit mehr oder weniger bläulicher oder gelblicher Nuance. Die erstere findet man bei dem sogenannten hyalinen-, die zweite beim Faserknorpel; diese beiden Knorpelarten unterscheiden sich, wie wir gleich sehen werden, sowohl der Mischung, als auch dem Bau nach. Nach Analyse enthält der Knorpel im Vergleich zum Knochen ziemlich viel Wasser. Nach Hoppe-Seyler ^) enthalten 100 Teile fri- schen hyalinen Knorpels von einem 22jälirigen Menschen: Rippenkaorpel. Knorpel aus dem Kniegelenk. Wasser 67,67 Tle. 73,59 Tle. Organische Substanzen 30,13 „ 24,87 „ Anorganische Substanzen 2,20 „ 1,54 „ Wenn man Knorpel 24 Stunden lang in einem offenen Gefässe oder drei bis vier Stunden in einem hermetisch geschlossenen Gefäss (Papin- scher Kessel) bei einer Temperatur von 120'* C. kocht, so löst er sich auf und verwandelt sich beim Erkalten in eine gallertartige Substanz oder in Leim (Chondrin), die aus dem Chondrogen, welches in der Zwischensubstanz des Knorpelgewebes enthalten ist, ensteht. Nach den Untersuchungen von Morochowetz^), L. Mörner'^) und Schmiedeberg*) besteht Chondrin aus Leim und Eiweiss mit einem Alkalisalz einer organischen Säure, der Chondroitsäure. Am Boden des Gefässes sammelt sich beim Kochen ein Niederschlag , der aus Knorpelelementen besteht, welche keine Gallerte gaben, sondern hauptsächlich Eiweissverbindungen enthalten. Der Bindegewebsknorpel enthält nur eine geringe Quantität Chon- drogen, hauptsächlich aber besteht seine organische Substanz aus Col- lagen, einem Bestandteile des Bindegewebes. Der elastische oder Netzknorpel enthält nur wenig Chondrogen und Collagen, da ihm ein anderes Gewebe beigemischt ist: er selbst enthält aber hauptsächlich Elastin, welches ein Hauptbestandteil des sogenannten elastischen Gewebes ist. In Bezug auf den Bau unterscheidet man drei Arten Knorpelgewebe: den hyalinen, den Netz- und den Bindegewebsknorpel. 1) Vgl. Kühne. Lehrbuch d. physiologischen Chemie. Leipzig. 1866. pag. 387. 2) Verhandlungen d. naturh.-med. Vereins zu Heidelberg. Bd. I. 3) Skandinavisches Archiv für Physiologie. Bd. I, pag. 210. 4) Archiv f. experim. Pathologie und Pharmacologie. Bd. XXVIII, pag. 111. — 22 — Der hyaline Knorpel {Fig. 3) bestellt aus Zellen, den sogenannten Knorpelzellen (a), und aus structurloser Grundsubstanz (b). In jungem Knorpelgewebe trifft man gewöhnlich eine grosse Anzahl Knorpelzellen an; sie sind rund, häufiger länglich und sogar spindelförmig, zuweilen haben sie die Form eines Keils oder Halbovals. Diese Zellen bestehen aus körnigem Protoplasma, besitzen keine Zellhaut und enthalten ge- wöhnlich einen deutlich sichtbaren Kern. Im lebenden Gewebe können diese Zellen sich zusammenziehen (Rollet), in ihren Kernen aber be- merkt man amöboide Bewegungen (Schleicher). In dieser Periode sind diese Zellen nur durch kleine Zwischenräume ganz strukturloser Grund- substanz von einander geschieden. Fig. 3. ^1 -^^, ^ ^rf m ./Ät a Hyaliner Knorpel, a. Knorpelelemente, b. Zwiscbensubstanz. In dem vollkommen ausgebildeten Knorpel lagern sich die Elemente entweder einzeln oder in Gruppen verschiedener Grösse, gleichsam in besonderen Hohlräumen der Grundsubstanz, welche sie auf grössere oder geringere Strecken von einander trennt. Oft sind diese Zell- gruppen von einem oder mehreren concentrisch gelagerten Ringen um- geben, welche von einem an seiner ganzen Peripherie direct in die Grundsubstanz übergehenden hellen Rand begrenzt werden; das sind die sogenannten Knorpelkapseln. — 23 — In dem vollkommen entwickelten Knorpelgewebe, besonders in den Rippen- und Kehlkopf kuorpeln, bemerkt man, dass diese structurlose Grundsubstanz stellenweise ein faseriges Aussehen bekommt. Bei Be- trachtung mit blossem Auge zeichnet sich diese Stellung durch ihre weisse Färbung und durch ihre Undurchsichtigkeit aus; unter dem Microscop aber sieht man hier ganz deutlich parallele Fasern, die in die umgebende structurlose Grundsubstanz übergehen. Ebenso wie im Knochengew^ebe, dient auch im Knorpel die Zwischen- substanz hauptsächlich zur Stütze und zum Widerstand, die Elemente aber zur Bildung und Ernährung der Grundsubstanz. Daher ist auch in dem Knorpelgewebe diese letztere Substanz in grösseren oder ge- ringeren Mengen und in bestimmten Richtungen, den mechanischen Anforderungen und Bedingungen am gegebenen Ort entsprechend, gelagert. Nach Rauber ^) sind in den Gelenkknorpeln an der Peripherie zahlreiche flache Elemente der Gelenkoberfläche parallel gelagert; weiter nach innen w^erden die Elemente runder. In -der Nähe des Knochens nehmen die einzelnen Elemente oder ganze Gruppen derselben eine längliche Form an und lagern sich der Längsachse des Knochens parallel. Die Zwischensubstanz bildet daher an der Peripherie dieser Knorpel Schichten, die die Knochenachse unter einem rechten Winkel durch- kreuzen und an der freien Oberfläche ineinander übergehen. Weiter nach innen folgen bogenförmige Schichten der Grundsubstanz, welche einander durchkreuzen. Endlich in der Nähe des Knochens findet man intercelluläre Säulen, die der Achse des Knochens parallel verlaufen und sich durch Querfortsätze mit einander verbinden, da die Elemente sich nicht bis zum Knochengewebe fortsetzen und dasselbe nicht berühren ; diese Säulen gehen direct in die Grundsubstanz mit Kalkablagerungen, welche den Gelenkknorpel mit der unebenen Oberfläche des anliegen- den Knochens verbindet, über. Also widerstehen die horizontalen Plätt- chen der Grundsubstanz einem auf sie wirkenden Druck, indem sie durch Vermittlung der sich kreuzenden Schichten sich auf die verti- calen Säulen stützen, welche direct in die Säulen des Knochengewebes übergehen. Eine solche Lagerung der Zwischensubstanz des Knorpel- gewebes verringert die Einwirkung von Stössen und Erschütterungen sehr vorteilhaft, da dieselben nicht durch linear gelagerte, sondern durch bogenartige Schichten der elastischen Zwischensubstanz über- tragen werden. Der hyaline Knorpel erscheint daher an den sogenann- ten Gelenkoberflächen; als Stütze findet man ihn in dem Eingang zum Atmungsapparat und in Synchondrosen, die eine gewisse Elastici- tät und Beweglichkeit des Apparates zulassen, wie z. B. an dem Thorax 1) L. c. pag. 9. 24 als Rippenknorpel; endlich in Form von Zwischenlagen oder sogenann- ten Meniscen in den komplicierten Gelenken. In einer gewissen Periode des Embryonallebens besteht der grösste Teil des Skeletts aus hyalinem Knorpel. Blutgefässe sind in hyalinem Knorpel gewöhnlich nicht vor- handen, daher geht die Ernährung durch Vermittelung der Zwischen- substanz, durch welche das Nahrungsmaterial leicht dringt, vor sich (Ranvier). Man hat schon oft Saftbahnen in dem hyalinen Knorpel, die in der Zwischensubstanz verlaufen, beschrieben, allein alle diese Untersuchungen bedürfen noch genauerer Bestätigung. —b Elastischer Knorpel, a. Knorpelelemente. b. Zwischensubstanz. Der Netz- oder elastische Knorpel unterscheidet sich vom hyalinen durch seine gelbliche Färbung, durch seine Undurchsichtig- keit, hauptsächlich aber dadurch, dass seine Grundsubstanz aus deut- lich ausgeprägten elastischen Faseni besteht (Fig. 4). In diesem Knorpel sind die Fasern (b) der Grundsubstanz nicht gleich dick in ihrer ganzen Länge; sie verzweigen sich und bilden stellenweise ein dünnes, engverflochtenes Netz von elastischen Fasern. Durch die Einwirkung — 25 - von Säuren und Alkalien werden diese Fasern selbst beim Kochen nicht zerstört ; sie bestehen aus Elastin. Die Elemente des Netzknorpels (a) sind sowohl ihrer Form, als auch ihrer Grösse nach sehr veränder- lich; sie sind ebenso gelagert, wie die Elemente des hyalinen Knorpels. Aus Netzknorpel sind beim Menschen Teile des Skeletts gebaut, welche geringe Festigkeit und dabei grosse Elasticität besitzen und welche daher keinen bedeutenden Widerstand leisten, sondern nur hindern, dass die Teile zusammenfallen, so z. B. die Knorpel des äusseren Ohres, der Kehldeckelknorpel, die feineren Kehlkopf knorpel und das Ende des Stimmfortsatzes des Giessbeckenknorpels. Fig. 5. Bindegewebsknorpel. a. Knorpelelemente. b. Zwischensubstanz. Der Bindegewebsknorpel ist, nach der Meinung von Kollet, ^) eine Vereinigung von Knorpel und Bindegewebe (Fig. 5). Er ist milch- weiss, manchmal mit leicht gelblicher Nuance. Er zeichnet sich durch 1) Handbuch d. Lehre von d. Geweben, herausg. von S. Stricker. Leipzig. 1868, pag. 78. - — 26 — grössere Biegsamkeit und geringere Elasticität im Vergleich zum hya- linen Knorpel aus. In der intercellulären Substanz (b) dieses Knorpels bemerkt man mehr oder weniger deutlich ausgeprägte Bindegewebs- flbrillen, die unter der Einwirkung von Essigsäure quellen und ver- schwinden. Knorpelelemente (a) findet man überhaupt wenig, sie. sind gewöhnlich kleiner, als die Elemente des hyalinen Knorpels und ent- halten meistenteils nur einen Kern; ihre Kapseln sind nicht immer deutlich zu sehen. In diesem Knorpel sind, wenn auch in geringer An- zahl, Blutgefässe vorhanden. Vom Vorhandensein von Nerven darin ist bis jetzt noch nichts bekannt. Diese Art Knorpel kommt überall da vor, wo es gilt, bei möglichst grosser Festigkeit die Einwirkung der Stösse und Erschütterungen möglichst zu verringern, wie z. B. in den Pfannenlippen sphärischer Gelenke, in den Zwischenknorpeln der Gelenke, als Verdickung in den Sehnen mancher Muskeln, die über Knochenränder gehen; aus diesem Knorpel besteht auch die Knorpel- stütze des Augenlides. Das specifische Gewicht des Knorpelgewebes aus einem mensch- lichen Rippenknorpel ist nach Rauber = 1,112. Im Knorpelgewebe unterscheidet man gleichfalls eine Zug- und Druckfestigkeit und ebensolche Elasticität. Alle diese Eigenschaften des Knorpelgewebes sind bis jetzt noch wenig studiert worden. Rauber nahm zur Bestimmung der mechanischen Eigenschaften des Knorpels Plättchen aus dem Gelenkknorpel von Hornvieh und aus dem Rippen- knorpel des Menschen; die Länge der Plättchen betrug 70 mm., ihr quadratischer Durchmesser 2—4 mm. Er erhielt folgende Resultate: Die Zugfestigkeit des Gelenkknorpels ist = 1,51 kg auf 1 D mm, die des Rippenknorpels = 0,17 kg auf 1 Gmm. Die Druckfestigkeit des Gelenkknorpels ist = 2,72 kg, die des Rippenknorpels = 1,57 kg auf 1 nmm. Folglich ist die Druckfestigkeit des Rippenknorpels 9 mal so gross, als seine Zugfestigkeit. Der Elasticitätscoefficient des Gelenkknorpels, durch Zug bestimmt, ist = 3,888—5,833, der des Rippenknorpels = 0,875—1,071. Das Bindegewebe. Wie wir schon sahen, besteht das Skelett des tierischen Körpers aus Knochen- und Knorpelgewebe, von denen das erstere sich durch seine Festigkeit, das zweite durch seine Elasti- cität auszeichnet. Ein dritter Bestandteil des Skeletts ist ein Gewebe, welches hauptsächlich characterisiert wird durch seine grössere oder geringere Festigkeit, durch seine Biegsamkeit und durch die Fähig- keit, sich der Form anderer Gewebe und Organe anzupassen, indem es sie umgiebt und Zwischenräume zwischen ihren Hauptbestandteilen aus- füllt — dies ist das sogenannte Bindegewebe (tela conjunctiva). Es variiert sehr stark, je nach dem Orte seiner Lagerung und den mecha- nischen Anforderungen, und kann bald als sehr festes Gewebe mit — 27 — deutlich sichtbaren, silberglänzenden Fasern, bald als dickflüssige foim- lose Masse erscheinen. Man unterscheidet faseriges, netzartiges oder reticuläres Bindegewebe und Schleim- oder Gallertgewebe. In dem fibrillären oder faserigen Bindegewebe kann man stets mit blossem Auge die Fasern leicht sehen, welche entweder in einer Richtung verlaufen, oder einander mannigfach durchkreuzen. Dieses Gewebe findet man als geformtes (festes) und als formloses (lockeres) Bindegewebe. Als erstere Modiflcation bildet es biegsame Fortsätze des festen Skeletts, oder es hält die Teile des Skeletts an den Stellen, wo sie beweglich miteinander verbunden sind, zusammen; oder es erscheint in Form von biegsamen Zwischenlagen zwischen den Teilen des festen Skeletts, um die Einwirkung der Stösse und Er- schütterungen zu vermindern; oder es bildet mehr oder weniger starke Plättchen, Brücken, Stränge, Säckchen oder Röhren, und führt dement- sprechend verschiedene Benennungen: Häute, Fascien, Aponeurosen, Seimen, Bänder, Scheiden, Kapseln u. s. w. , die Knochen und Knorpel bedeckt es als Knochen- und Knorpelhaut (periosteum und perichon- drium); es bildet den Hauptbestandteil der serösen und synovialen Häute, der Lederhaut, der Schleimhaut u. s. w. Die zweite Art des faserigen Bindegewebes oder das lockere Zellengewebe (textus cellulosus) oder formlose Bindegewebe (Henle^) füllt alle Zwischenräume aus, die zwischen den Organen und ihren einzelnen Teilen bleiben, wie z. B. zwischen den Muskeln, zwischen deren einzelnen Bündeln, unter der beweglichen Haut u. s. w. Wenn man in das lockere Zellengewebe Wasser oder irgendeine gefärbte Flüssigkeit injiciert, so bildet sich nach Ran vier 2) um das Ende der Canüle eine leicht abgeplattete Kugel, deren Dimensionen der Quantität der injicierten Flüssigkeit entsprechen. Wenn man die Injection fort- setzt, so vergrössert sich die Kugel, verändert aber ihre Form nicht. Infolgedessen nimmt Ran vier an, dass dieses Bindegewebe nicht, wie Bichat glaubte, aus untereinander kommunicierenden sphärischen Hohl- räumen besteht. „Bichat, sagt Ran vier, blies das Bindegewebe auf, wie es die Fleischer thun, und zog aus den Resultaten, die er dabei erhielt, den Schluss, dass es aus sphärischen Hohlräumen bestehe; die- selben verglich er mit Zellen, warum er auch das ganze Gewebe Zellen- gewebe nannte. Die von uns vorgenommene Injection dieses Gewebes jedoch widerlegt diese Meinung." Betrachtet man Fett enthaltendes lockeres Bindegewebe macroscopisch, so kann man sich allerdings davon überzeugen, dass es aus vollständig abgeschlossenen Räumen 1) Allgemeine Anatomie, pag. 355. 2) Traite technique d' Histologie (russische Übers.). St. Feteraburg. 187G. 3. Heff, p. 377. — 28 — besteht, die nicht miteinander kommunicieren, sondern überall durch sehr dünne Scheidewände von einander getrennt sind. Das reticuläre Bindegewebe besteht aus einem anastono- sierenden feinen Netzwerk, welches Zwischenräume freilässt, in denen jedes beliebige andere Gewebe, wie z. B. Drüsengewebe u. s. w., sich lagern kann. Es bildet die Stütze der Lymphdrüsen, der Milz, des Knochenmarks, oder als Neuroglia die Stütze des Hirngewebes. Das Gallert- oder Schleimgewebe (Virchow ^) zeichnet sich durch seine Compressibilität aus, ist sehr weich und durchsichtig, hat ein gallertartiges Aussehen und fällt ein wenig zusammen, wenn man es aufschneidet, wobei Flüssigkeit hervorquillt. Bei jungen Embryonen umgiebt dieses Gewebe die Gefässe des Nabelstranges; dasselbe Ge- webe bildet das Gallertgewebe des Schmelzorgans des Zahnes und den Glaskörper des Auges (corpus vitreum) u. s. w. Nach den Analysen von Wienholt ''^) enthält das Bindegewebe: Wasser 57,50 Teile Gewebteile (Gefässe u. s. w.) 32,53 „ Eiweiss 1,54 „ Alcoholextract 0,83 „ Wasserextract 7,60 „ Im Bindegewebe kann man unterscheiden: 1) Elemente oder Körper- chen, 2) die Intercellularsubstanz, welche meistenteils in Form von Fibrillen auftritt, 3) die Bindesubstanz zwischen diesen Fibrillen. Die Elemente können die verschiedensten Formen annehmen; so- wohl ihre Grösse, als auch ihre Anzahl ist veränderlich. Die Inter- cellularsubstanz ist bald von dickflüssiger Consistenz, bald fest, Fasern bildend; zwischen diesen äussersten Varietäten beobachtet man die allermöglichsten Übergangsstadien. Die Bindegewebselemente widerstehen der Einwirkung von starken Säuren (Salz-, Schwefel- und Salpetersäure) sehr hartnäckig, sehr leicht jedoch lösen sie sich in heissen Alkalienlösungen auf. Die faserige Intercellularsubstanz des Bindegewebes besteht aus Collagen, welches beim Kochen Leim (Glutin, Colla) giebt. Sie schrumpft im Wasser, Alcohol und Äther nicht zusammen; Essigsäure bringt sie zum Quellen, bei Erwärmen löst sie sie auf. Ebenso löst sie sich in Alkalienlösungen (35 ^/o) auf. Es ist selbstverständlich, dass zugleich mit diesen Veränderungen in der Dichtigkeit der Intercellularsubstanz und in der Anzahl der darin enthaltenen Elemente auch die mechanischen Eigenschaften des gegebenen Gewebes sich verändern müssen. 1) Würzburger Verhandlungen. Bd. II, pag. 160. 2) Vgl. V. Schlossberger, Thier- Chemie. Leipzig. Heidelberg. III. Doppel- lieferung. 1856, pag. 130. — 29 — Um die Bestandteile des Bindegewebes zu beobachten, nimmt man eine dünne Scheibe von dem zwischen den Muskeln gelagertem Binde- gewebe , z. B. vom Schenkel des Frosches oder des Hundes oder einem Teil des grossen Netzes eines jungen Tieres oder eines Embryo (Fig. 6). Diese Membran breitet man auf einer erwärmten Glasplatte aus und tröpfelt einige Tropfen durchsichtigen Blutserums darauf; hierauf be- deckt man das Ganze mit einem erwärmten Objectglase und legt es in a Aus dem grossen Netz eines 7 cm langen Schafembryo (Rollet), a. Bildungselement, b. Junges Bindegewebselement. c. Fixes Bindegewebselement. d. Zwischensubstanz. einer feuchten Kammer auf den erwärmten Objecttisch des Microscops. An einem solchen Präparat bemerkt man folgendes: ein Teil der Ele- mente ist polyedrisch oder sternförmig (c) und ist abgeplattet; derselbe enthält elliptische Kerne, welche sich meistenteils in dem breitesten — 30 - Teil des Elements befinden, und grobkörniges, stark liclitbrechendes Protoplasma; diese Elemente liegen den Fibrillenbündeln an, indem sie sie stellenweise gleichsam mit ihren Fortsätzen umfassen; andere Ele- mente haben geringere Dimensionen (b), weniger deutliche Fortsätze, sind aber ebenso abgeflacht und grobkörnig; ihre Kerne treten nur unter Einwirkung von Essigsäure deutlicher zu Tage ; wenn man lange und consequent diese Elemente beobachtet, so bemerkt man, dass die Form ihrer Fortsätze sich ein wenig verändert, allein diese Form- veränderung geht sehr langsam vor sich, der ganze Körper aber ver- ändert seine Lage nicht. Diese zw^ei Formen von Elementen sind die fixen Bindegewebselemente. Ausser ihnen findet man noch Elemente, die aus einem rundlichen oder länglichen Klümpchen körnigen Proto- plasmas bestehen, und in denen deutliche Bewegungen zu sehen sind; diese Bewegungen bestehen darin, dass das Element an verschiedenen Stellen seiner Oberfläche Fortsätze hervortreibt, die wieder ver- schwinden und wieder hervortreten u. s. w.; diese Bewegungen heissen amöboide. Dank diesen Bewegungen bewegt sich auch das ganze Element fort und verändert seine Lage. Diese Elemente sind unter dem Namen von Wander- elementen bekannt, sie bilden gleichsam eine Übergangsstufe von den fixen Elementen zu den gleich- falls im Bindegewebe vorkommen- den Bildungselementen (a), welche rund oder oval sind. Die Zwischensubstanz (d) ist ganz durchsichtig und structurlos; nur stellenweise bemerkt man zer- streute Fibrillen oder ganze Fi- brillenbündel , deren Konturen schwach hervortreten; beim Zusatz von Essigsäure quellen diese Fi- brillen und werden durchsichtig, nach Bearbeitung mit Picrinsäure aber zerfallen die Fibrillenbündel in einzelne wellenförmig gebogene Fibrillen. In diesem Bindegewebe sind stellen \\ eise auch Capillar- gefässe vorhanden. Wenn man anstatt einer solchen Scheibe lockeren Zwischenmuskel- gewebes ein festeres Gewebe, z. B. eine einen Muskel bedeckende Fascie oder sogar eine dünne Sehne nimmt, so findet man hier die Aus einer Sehne des Menschen (Rollet), a. Element b. Fibrillen der Intevcellularsubstanz. — 31 — Elemente schon viel schwerer, statt dessen sieht man aber Bündel von parallel und leicht wellenförmig verlaufenden Fibrillen (Fig-. 7). Zer- fasert man diese Bündel, so werden schmale, lange, schwachkörnige Elemente mit langem Kern sichtbar (a); dieselben sind also zwischen den Fibrillenbündeln (b) gelagert. Die meisten dieser Elemente sind spindelförmig, doch findet man auch sternförmige mit mehreren Aus- läufern. Oben wurde bereits gesagt, dass alle Gewebe, die den übrigen Organen und Geweben des menschlichen Organismus zur Stütze dienen, aus zelligen Elementen oder Körperchen und aus der Grundsubstanz bestehen. Die ersteren dienen zur Bildung und Ernährung der Inter- cellularsubstanz , von deren physicalischen Eigenschaften der Grad des Widerstandes, den ein gewisses Gewebe zu leisten imstande ist, ab- hängt. Alles dieses hat auch auf das Bindegewebe seine Anwendung. Fig. 8. Festes Fasergewebe (dura mater). Die angeführten Arten von Elementen in demselben muss man als ver- schiedene Übergangsstufen betrachten ; der Grad der Entwickelung und die Eigenschaften der Intercellularsubstanz geben uns die Möglichkeit, die verschiedenen Arten von Bindegewebe zu unterscheiden, ebenso aber auch ihre Bedeutung im Organismus zu erkennen. In dem festen faserigen Bindegewebe (Fig. 8) besteht die Zwischen- substanz aus Fasern; die Elemente sind spindelförmig. Um den Bau — 32 — dieses Grewebes zu unteisuclieii, nimmt man eine Sehne und zerfasert sie mit Nadeln. Betrachtet man nun ein solches Präparat unter dem Microscop, so sieht man. dass das fibrilläre Bindegewebe aus wellen- förmig gebogenen Fasern, die sich nicht verästeln, besteht ; der Durch- messer dieser Fasern ist = 0,000(3 — 0,002 mm (Rollet). Querschnitte dieser Bündel zeigen, dass sie von einem Ring umgeben sind, von wel- chem Fortsätze ausgehen und Scheidewände zwischen den einzelnen Bündeln bilden (Ranvier); diese Ringe sind Querschnitte von Scheiden, welche die Bündel ihrer ganzen Länge nach umgeben. Viel leichter lassen sich die Fasern trennen und isoliren, wenn man das Gewebe vordem mit concentrierter Picrinsäurelösung oder mit 1 "/„ Osmium- säurelösung bearbeitet und darauf mit Nadeln zerfasert (Ranvier). Unter Einwirkung von kochendem Wasser oder erhöhter Temperatur ziehen sich die Elemente des Bindegewebes zusammen, werden kürzer und dicker, hierauf verliert sich das faserige Aussehen, und das ganze Ge- webe wird homogen. Auch Essigsäure löst die Grundsubstanz auf, und dann treten, besonders im jüngeren Gewebe, die oben beschriebenen spindelförmigen Zellen deutlich zu Tage. Sie sind in langen Reihen gelagert und vereinigen sich an ihren verengerten Enden mit einander. Jedoch sind diese Elemente nur auf Längsschnitten spindelförmig. In Wirklichkeit aber erscheinen sie, von der Fläche betrachtet, wie Ran- vier ^), Boll -) u. a. bewiesen haben, unregelmässig polygonal, platt („cellule plate" — Ran vier), mit einer grösseren oder geringeren An- zahl von Fortsätzen versehen, welche sowohl von den Rändern, als auch von der Oberfläche abgehen; im letzteren Falle bilden sie hervor- tretende Streifen oder Kämme („crete d'empreinte" — Ranvier). Li den Elementen findet man gewöhnlich deutliche Kerne, die nach An- wendung von verschiedenen Farbstoffen besonders gut sichtbar werden. Die Fibrillenbündel des Bindegewebes verlaufen entweder parallel, odei- sie treffen sich unter spitzem Winkel, wie z. B. in den Sehnen und Bändern. In verschiedenen Fascien und Aponeurosen durchkreuzen sie einander bald unter einem mehr oder weniger spitzen, bald auch unter einem rechten Winkel. Letzteres findet man besonders in den Aponeurosen. Das reticuläre Bindegewebe besteht aus einem Netz von einander durchkreuzenden Strängen. Wie einige Forscher annehmen, 1) Des eleraents cellulaires des teiulons et du tissu conjonctif laclie. Archives de Physiol. 1869. T. II. S. 471 und „Siir les elements conjonctifs de la moelle öpiniere." Comptes rend. LXXVI. Nr. 22. S. 1299 und „Nouvellos rechercl^es sur la structure et le developpement des tendon." Archives de Phys. 1874. S. 181-202. 2) Untersucliungen über den Bau und die Enlwickflung der Gewehe. Archiv f. mikroskopische Anatomie. Bd. VII. H. 4. 1871, pag. 275-326 und Bd. VIll. H. 1. 1871, pag. 28-68. — 33 — besteht dieses Gewebe aus sternförmigen Elementen, deren Ausläufer mit benachbarten sich verbinden und so ein dünnes, fadenförmiges Netz bilden, weshalb es auch schwammiges (cytogenes) Gewebe genannt wird. Andere Forscher nehmen augenscheinlich mit besserem Rechte an, dass das Netz von dünnen Bündeln Bindegewebfasern gebildet wird, denen an den Durchkreuzungsstellen platte, Kerne enthaltende Zellen anliegen. Die Maschen dieses Netzwerks sind 0,01 — 0,02 mm gross. Die Elemente, Fortsätze und Stränge des reticulären Gewebes verän- dern sich beim Kochen und durch Reaction von Säuren nicht und geben keinen Leim, in einer Ätznatronlösung jedoch zerfällt sein Netz, wo- durch es sich von den elastischen Fasernetzen unterscheidet (Rollet ^). In den Zwischenräumen des Netzwerks können Capillargefässe ver- laufen, an denen die Stränge gleichsam die äussere Schicht bilden; diese Schicht nennt His „adventitia capillaris". Das reticuläre Gewebe bildet einen Bestandteil des adenoiden (His) oder Drüsengewebes, wel- ches zur Neubildung von weissen Blutkörperchen (Bildungselementen) dient; diese letzteren haben also keine directe Beziehung zum reticu- lären Gewebe, das hier nur als Stütze dient. Das Gallert- oder Schleimgewebe besteht aus rundlichen, ovalen oder sternförmigen Elementen, die durch ihre Fortsätze mit einander communizieren; die Intercellulärsubstanz ist homogen, dick- flüssig, gallertartig, zuweilen durchsichtig; dann und wann findet man schwach angedeutete Züge von dünnen Fasern. Reagiert man mit Essigsäure, so scheidet sich ein Niederschlag aus, der sich nicht in einem Überfluss von Säure auflöst und der Mucin enthält. Dieses Gewebe kommt auf frühen Entwickelungsstufen des Embryo im Nabelstrange vor, wo es den Namen Whartonsche Sülze führt, späterhin jedoch geht es in andere Gewebe über; hierher gehört auch der Glaskörper des Auges und das Gallertgewebe des Schmelzorganes des Zahns. Die Anzahl der Blutgefässe und Nerven im lockeren Bindegewebe ist verschieden, in Abhängigkeit von dem Organ, welches das genannte Gewebe enthält oder dessen Zwischenräume es ausfüllt. Jedenfalls führt es stets mehr Gefässe und Nerven, als die einzelnen Teile des- jenigen Organs, in welchem es gelagert ist, denn in dem Bindegewebe verlaufen alle ein- und austretenden Gefässe und Nerven. In dem faserigen Bindegewebe ist die Anzahl der Blutgefässe der Dichtigkeit desselben umgekehrt proportional (Henle -). Die wenigsten Gefässe sind in den Sehnen und fibrösen Häuten enthalten, grösser ist ihre Anzahl in den serösen und synovialen Häuten; ziemlich reich an 1) L. c, pag. 49. 2) Allgemeine Anatomie, pag. 373. — 34 — Gefässen ist diejenige Scliicht der Schleimhäute, welclie unter dem Namen der Nervenmembran (tunica nervea) bekannt ist. In den Sehnen verlaufen die Blutgefässe dort, wo das Gewebe weniger dicht ist, d. h. in den Zwischenräumen zwischen den Fibrillenbündeln. Was die Nervenverzweigungen anbetrifft, so gilt hier auch: je dichter das Gewebe, desto weniger Nerven enthält es. Im fibrillären Geweben nehmen, soviel bekannt, die Nerven mit protoplasmatischen Verdickungen ihren Anfang (Sachs i) ; durch besonderen Nervenreichtum zeichnet sich die fibröse Kapsel des Kniegelenks aus. Was die Nerven der serösen und synovialen Häute anbetrifft, so nimmt man an, dass sie hier ebenso verlaufen und endigen, wie in der Haut und in den Schleimhäuten, wovon seinerzeit die Rede sein wird. Die mechanischen Eigenschaften des Bindegewebes verändern sich in Abhängigkeit von seiner Bestimmung und den umgebenden Bedingun- gen. Es erscheint in Form von mehr oder weniger dicken, flachen Strängen oder Bändern, die grosse Festigkeit und Biegsamkeit be- sitzen. Die Elasticität dieser Stränge ist sehr gering, wenn sie nur aus faserigem Bindegewebe bestehen; deshalb werden sie stets aus- gereckt und verlängert, sobald sie einer fortwährenden starken Span- nung unterworfen werden. Je grösser die Anzahl der elastischen Fasern in denselben ist, desto grösser wird auch ihre Elasticität:, dabei nimmt jedoch zugleich ihre Festigkeit ab. Solche Stränge aus Bindegewebe bilden Seimen (tendines), mit deren Hülfe die Muskeln ihre Kraft auf die Hebel (Knochen) übertragen, und Bänder (ligamenta), welche die Knochen verbinden und sie an ihren Berührungsstellen umgeben. Sie bestehen aus Bündeln paralleler Fasern, die meist seilförmig gewunden sind, was ihre Festigkeit vergrössert. Fibrilläres Bindegewebe bildet auch verschieden dicke und feste Membranen oder Häute, die auch sehr fest und biegsam sind. In dieser Form dient es als Hülle für die Knochen und Knorpel, im ersteren Falle als Knochenhaut (peri- osteum), im zweiten als Knorpelhaut (perichondrium). Diese Häute sind stets ein wenig elastisch, was von dünnen elastischen Netzen ab- hängt. Von dem Periost geht die fibröse Membran entweder als Kapsel über die freien oder sogenannten Gelenkenden der Knochen, um sich darauf in das Periost des benachbarten Knochens fort- zusetzen, — dies sind die sogenannten fibrösen Gelenkkapseln (Capsula fibrosa) — oder sie bildet Aponeurosen und Sehnenausbreitungen, welche den übrigen Bewegungsorganen als Stütze dienen, oder endlich fibröse Hüllen. 1) Archiv f. Anatomie , Physiologie u. s. w. v. Reichert und du Bois - Reymond. 1875. Nr. 4, pag. 402—416. — 35 — Als merabranöse Fortsetzungen der Knochen dierxen die Aponeu- rosen den übrigen Organen als Stütze. Eine gleiche Bedeutung haben auch die fibrösen Membranen, die entweder als Hüllen (Nervenhülle — Perineurium s. neurilemma, feste Gehirnhaut — dura mater, die Kapseln der Drüsen u. s. w.) oder als Tunica propria dienen. Von all diesen Häuten, Hüllen und Membranen gehen dann Fortsätze von ungeformtem lockeren Bindegewebe aus, in denen die Blutgefässe und Nerven der verschiedenen Organe verlaufen und die zugleich die Lagerstätte für die Elemente und eine ihre einzelnen Teile verbindende Substanz ab- geben. Die Hohlräume, welche sich zwischen den Gelenkoberflächen der Knochen und den sie verbindenden fibrösen Kapseln, ebenso auch zwischen den einzelnen Organen und den sie umgebenden Wandungen befinden, sind ebenfalls durch dünne fibröse Membranen abgeschlossen, deren eine Oberfläche stets glatt und feucht ist. Diese Membranen sind der Hauptbestandteil der synovialen und serösen Häute (tunicae syno- viales et tunicae serosae). Die genannten Häute bilden gewöhnlich mehr oder weniger hohle, abgeschlossene Säcke, deren äussere Oberfläche so- wohl mit der Innenfläche der Wandungen irgend eines Hohlraumes, als auch mit der äusseren Oberfläche der darin enthaltenen Organe ver- wächst. Die Innenflächen dieser Säcke, die gegeneinander gerichtet sind, liegen einander dicht auf; Luft ist nicht zwischen ihnen enthalten. Diese glatten, feuchten Innenflächen sind von einer Schicht polygonaler, grosse Kerne enthaltender Elemente überzogen, dem sogenannten Pseu- doepithel oder Endothel (endothelium — His). Die endothelialen Säcke enthalten eine grössere oder geringere Anzahl Flüssigkeit, welche Sy- novia oder Serum heisst. Die fibrösen Membranen der synovialen und serösen Häute bestehen aus einem Netz von Bindegewebsfasern und von feinen elastischen Fasern mit einem Capillargefässnetz. Sie dienen dazu, die Reibung zwischen den aneinander liegenden Organen und den sie umgebenden Teilen zu vermindern. Das reticuläre, gallertige, wie auch das lockere Bindegewebe dienen ausserdem noch Blutgefässen und Nerven als Stütze, und da sie eine hochgradige Anpassungsfähigkeit besitzen, so machen sie eine Form- veränderug derjenigen Organe, an deren Peripherie oder in deren Zwischenräumen sie sich lagern, möglich. Das Bindegewebe bildet also biegsame und feste Fortsätze des Knochen- oder Knorpelskeletts; je nach den Bedingungen und den mechanischen Anforderungen vari- iert auch seine Resistenzfähigkeit: bald ist es eine ungeformte, dick- flüssige Substanz, bald ein sehr festes Gewebe. Das Bindegewebe selbst zeichnet sich durch seine geringe Elasticität aus; diese besitzen die elastischen Fibrillen und das elastische Gewebe, dafür ist jedoch ihre Festigkeit im Vergleich zu der des Bindegewebes kleiner. — 36 — Das specifische Gewicht des Bindegewebes ist — 1,117 (nach Krause und Fischer). Die Festigkeit des flbrillären Bindegewebes ist von Valentin ^) für die Sehne des musculus palmaris longus und des musculus plantaris bestimmt worden; er belastete dieselben mit Gewichten und vergrösserte die Belastung so lange , bis das Gewebe zerriss. Die Sehne des ersten Muskels zerriss bei einer Belastung von 8,424 kg; die des zweiten hielt eine Belastung von 10,764 kg aus. Nach der Berechnung von Valentin kann eine runde Sehne von einer Linie im Durchmesser eine Belastung von 12,37 kg aushalten, bei einem Durchmesser von 1 nZoll aber kann sie einer Belastung von 33,67 Centnern (1732,32 kg) widerstehen, oder es hält eine Sehne von 1 Dmm Querschnitt eine Belastung von 2,53 kg aus. Nach Rauber-) ist die Zugfestigkeit einer Sehne von 1 Dmm Querschnitt =. 6,94 kg. Zum Vergleich führen wir hier die Zugfestigkeit von Drähten nach den Tabellen von Prof. N. A. Belelubsky an. Zugfestigkeit. 1 Dmm Eisendraht 50—65 kg 1 „ Kupferdraht 40 „ 1 „ Bleidraht 2,2 „ 1 „ Tau (Weisbach) 3,76—6,77 kg — — Aus den angeführten Daten folgt, dass das Bindegewebe viel fester ist als das Knorpelgewebe. Vergleicht man jedoch die Zugfestigkeit des Bindegewebes mit derjenigen anderer Körper, so sieht man, dass sie grösser ist, als die Festigkeit des Bleidrahts, und derjenigen eines Taus gleichkommt. Die Daten von Valentin und Eauber gehen weit auseinander, was um so schwieriger zu erklären ist, als Rauber nicht angiebt, welche Sehnen er zu seinen Untersuchungen genommen hat; deshalb muss man weitere Untersuchungen abwarten. Die Druckfestig- keit dieser Gewebe ist, soviel bekannt, noch nicht bestimmt worden. Wie die Untersuchungen von Rauber ^) zeigen, ist der Elasticitäts- coefficient der Sehne = 166,93 kg auf 1 Dmm. Das elastische Gewebe. Ausser diesen Hauptarten von Binde- gewebe giebt es noch ein Gewebe, das, wie wir weiter unten sehen werden, nach seinen mechanischen Eigenschaften den Übergang vom Knorpel zum Bindegewebe bildet. Dies ist das elastische Gewebe (tela Zugelasticitäts- Coefficient. Elasticitätsgrenze beim Zuge. 22000 25 12000 12 700 0,47 1) Lehrbuch der Physiologie. Bd. I, pag. 34. 2) L. c, pag. 35. 3) L. c, pag. 62. — 37 — elastica); es ist viel elastischer, zugleich aber auch weniger fest, als das Bindegewebe. Macroscopisch betrachtet, erscheint dieses stroh- gelbe Gewebe homogen und glatt, wobei die faserige Structur ent- weder gar nicht, oder nur sehr schwer zu unterscheiden ist. Das elastische Gewebe bildet entweder für sich ganze Membranen oder Stränge, oder es tritt anderen Geweben bei, wodurch es ihre Elasticität vergrössert. Eine gelbliche Nuance des Bindegewebes deutet stets auf das Vor- handensein von elastischen Fibrillen. Im Organismus gehen aus star- ken Ansammlungen von elastischem Gewebe elastische Bänder, wie z. B. die gelben Wirbelbänder (lig. intercruralia s. flava), des Nackenband (lig. nuchae) u. s. w., oder Häute, welche die einzelnen Teile des Knorpelskeletts der Atmungswege verbinden, hervor, elastische Faser- netze bilden Lagen oder Schichten, wie z. B. in den Wandungen der Arterien und in einigen serösen Häuten; vereinzelte elastische Fasern sind in vielen Fascien, in der Haut u. s. w. zerstreut. Das elastische Gewebe reagiert sehr stark auf plötzliche Temperaturwechsel: bei Er- höhung der Temperatur zieht es sich zusammen, bei Erniedrigung der- selben dehnt es sich aus und büsst seine Elasticität ein. Diese Wirkung ist so stark, dass bei einem derartigen Übergange das Gewebe sehr leicht platzt; diese Eisse werden später von festem Bindegewebe aus- gefüllt, das in diesem Falle den Namen Narbengewebe trägt. Dieses erklärt die häufigen Krankheiten der Blutgefässe und solcher Organe, welche, wie z. B. die Lungen, hauptsächlich aus elastischen Geweben bestehen. Die chemische Zusammensetzung des elastischen Gewebes ist nach den Analysen von Schulz i) folgende: Wasser 69,30 Unlösbare organische Substanzen 18,63 Natronalbuminat (Casein) 6,45 Eiweiss 2,27 Wasser- und Spiritusextract 2,27 Lösbare Salze 0,74 Unlösbare Salze 0,34 Durch Kochen in Säuren gewinnt man aus diesem Gewebe eine Substanz, das Elastin, welche in trockenem Zustande hart und gelblich gefärbt ist. Das Elastin löst sich nur in kochenden concentrierten Kalilösungen, in concentrierter Schwefelsäure und sehr starker Salpeter- säure auf. 1) Vgl. E. Gautier. Chimie appliquöe h la Physiologie etc. T. I. Paris. 1874, pag. 327. — 38 — Das elastische Gewebe kommt vor in Form von: 1) structurlosen Membranen, 2) Membranen, welche aus feinen, sich durchkreuzenden Fasern bestehen, 3) solchen, welche durch dicke, spiralförmige und ver- flochtene Fasern gebildet werden, 4) Membranen, welche Löcher ent- halten oder sogenannte gefensterte Membranen (membrana fenestrata). Als bestes Object für die Untersuchung des elastischen Gewebes kön- nen die Wandungen der Blutgefässe, namentlich der grossen Arteiien dienen. Derartige Membranen bestehen, wie man sich bei der Unter- tersuchung derselben überzeugen kann, aus einem Netz dünner Fasern (0,0012 — 0,0074 mm), dessen Zwischenräume von einer homogenen, durchsichtigen Substanz ausgefüllt werden. Stellenweise sind verschie- den geformte Lücken zu sehen (gefensterte Membran). Im jungen Ge- webe kann man bei starken Vergrösserungen polygonale Elemente un- terscheiden, welche sich nach Art der Bindegewebselemente zwischen den Fibrillen lagern. Weiter kann die elastische Membran aus dickeren Spiralen Fibrillen bestehen, welche sich durch Seitenäste verbinden oder sich verzweigen, um sich später wieder zu vereinigen. Diese Zweige halten gewöhnlich die Hauptrichtung derjenigen Fasern ein, von denen sie ausgehen und mit denen sie sich später wieder vereinigen. Die Zwischenräume zwischen den Ästen bilden verschieden grosse und verschieden geformte Öffnungen, so dass eine netzförmige Membran (Henle ^) entsteht. Der Durchmesser dieser Fasern ist = 0,0045 bis 0,0055 mm. Aus dieser Art elastischen Gewebes besteht die äussere Schicht der Arterienwandung. Endlich können einzelne Fibrillen in dem faserigen Bindegewebe zerstreut sein. Elastische Fasern sind scharf contouriert, gewöhnlich spiral und zeichnen sich durch grosse Beständigkeit chemischen Reagentien gegenüber aus. Sie sind bald sehr dünn, bald von beträchtlicher Dicke; bald verzweigen sie sich nicht und verbinden sich nicht unter einander, bald geben sie von den Seiten Fortsätze, welche sich mit ebensolchen Fortsätzen der benach- barten Fasern vereinigen, wobei zwischen ihnen kleine, längliche Lücken übrig bleiben. Die Form der dünnen Fasern ist gewöhnlich eine cylin- drische, sie verlaufen mehr oder weniger wellenförmig und sind spiral- förmig, stellenweise knäuelförmig gewunden. Derartige feine Faser- netze findet man in dem lockeren Unterhautzellengewebe und in einigen serösen und Schleimhäuten. Dickere Fibrillen sind gewöhnlich ein wenig abgeplattet und verlaufen weniger wellenförmig; sie bilden ge- wöhnlich Netze und unterscheiden sich von den dünnen Fasern ausser durch ihre Dimensionen noch durch grössere Sprödigkeit, da sie zu- weilen beim Zerfasern mit Nadeln in kleine Stückchen zerfallen. Dicke Fasernetze kommen in den gelben Wirbelsäulenbändern (ligamenta flava), 1) L. c. pag. 401. — 39 — in den Lungen u. s. w, vor. Von schwacher und sogar starker Essig- säure werden die elastischen Fibrillen nicht angegriffen, ebenso wider- stehen sie den Alkalienlösungen, was sie von den Bindegewebsflbrillen unterscheidet, und zerfallen nur beim Kochen in solchen Lösungen. Leim entsteht nicht bei langem Kochen aus ihnen. Die Zugfestigkeit des elastischen Gewebes ist nach den Unter- suchungen Raubers an Arterien- und Venenwandungen = 0,16 kg für die Arterie und 0,12 kg für die Venen auf 1 Qmm. Die Zugfestigkeit der Sehne ist also 43 mal grösser, als die der Gefässwandungen. Der Elasticitätscoefficient der Arterienwandung ist nach Rauber = 0,0726 kg, der der Venen wandung = 0,844 kg auf 1 Dmm. Der Elasticitäts- coefticient eines Lederriemens von 1 Dmm Querschnitt ist = 7,3 kg. Je geringer der Elasticitätscoefficient, desto elastischer ist bekannter- weise der gegebene Körper oder das gegebene Gewebe. Wenn man demzufolge die oben angeführten Zahlen mit den Zahlen, welche bei den übrigen Geweben angegeben wurden, zusammenstellt, so ergiebt sich, dass man diese Gewebe nach ihrer Elasticität so ordnen kann: am elastischsten sind die Arterienwandungen, Elasticitätscoefficient = 0,0726 kg darauf folgen die Venenwandungen = 0,844 „ „ „ der Rippenknorpel = 0,875—1,071 kg ,, „ der Knochenkorpel = 3,888—5,833 kg „ „ die Sehne = 166,93 kg „ „ das Knochengewebe = 1871—2794 kg Folglich ist die Elasticität des Knochenknorpels 43 mal grösser, als die der Sehne, letztere aber ist 11 — 16 mal elastischer, als das Knochengewebe. Die Arterienwandungen sind 2299 mal elastischer, als die Sehnen. Das Fettgewebe. Das Fettgewebe ist in dem menschlichen Körper sehr verbreitet, da es ein leichtes, compressibles elastisches Gewebe, welches sich den umgebenden Teilen sehr leicht anpasst, ist. Zuweilen umhüllt es als subcutane Fettschicht (panniculus adiposus) ganze Körperregionen, was man jedoch durchaus nicht als normale Er- scheinung auffassen darf. Die stärkste Schicht Fettgewebe findet man gewöhnlich in den Regiones glutaeae, an der Sohle und um die Milch- drüsen herum. Die Zwischenräume zwischen Knochen und Muskeln, und zwischen diesen und den grossen Blutgefässstämmen sind stets von Fettgewebe ausgefüllt, welches die Formveränderungen dieser Organe nachahmt. Im normalen Organismus darf das Fettgewebe nur als Schutzpolster an Sohlen und Hinterbacken, in den synovialen Fort- sätzen und Falten der Gelenke, zwischen den Gefässen und den Rücken- markhüllen im Canal der Wirbelsäule und endlich zwischen den ihre — 40 — Form verändernden Organen und den anliegenden Knochenwandungen vorkommen. Die Knochenhöhlen sind bei Erwachsenen vom Fettgewebe aus- gefüllt, welches hier gelbes Knochenmark heisst. Grosse Ansamm- lungen von Fett sind sehr unvorteilhaft für den Organismus und ziehen Blutarmut nach sich, da die Lebensfunctionen dieses Gewebes sehr gering sind und es sich durch seine geringe Energie aus- zeichnet. Das Fettgewebe tritt in Form von Fettläppchen auf; es ist gelblich gefärbt, elastisch, zergeht sehr leicht beim Zerreiben, wobei eine ölige Substanz sich ausscheidet, die Stütze des Gewebes aber zv^^ischen den Fingern bleibt. Nach dem Tode wird es fester, weniger elastisch, bei einer Temperatur von 25 <* C. aber gewinnt es seine früheren Eigen- schaften wieder. Das Fettgewebe enthält nur neutrale Fette, wie Tripalmitin, Tri- stearin/ Trimargarin und Triolein, zuweilen enthält es gar keine freien Fettsäuren oder nur wenig. Durch Verseifung erhält man aus ihnen hauptsächlich : Palmitin-, Stearin-, Margarin- und Oleinsäure. Je fester das Fett ist, desto mehr Tripalmitin- und Tristearinsäure enthält es; je weicher, desto mehr Triolein- nnd Trimargarinsäure. Das Fett des Menschen schmilzt bei 25" C. , es ist weicher, als das des Hornviehs; letzteres schmilzt erst bei 37 " C. , es besteht aus ^/^ Tle. Stearin und Palmitin und etwa ^4 Tl. Olein und Margarin^). Die verschiedene Consistenz und Schmelzbarkeit der Fette hängt von der Lösbarkeit der festen Fette im Olein bei verschiedenen Temperaturen ab. Seine Farbe verdankt das Fettgewebe einer darin enthaltenen färbenden Substanz, welche besonders in Triolein löslich ist. Diese färbende Sub- stanz scheidet sich schwerer aus den Fettelementen, als das darin ent- haltene Fett, woher bei der Resorption die Farbe des Fettgewebes dunkler wird und sich sogar bis zu einer dunkel-orangen Färbung steigern kann. Nur wenn alles Fett sich aus den Elementen entfernt, so entführt es gewöhnlich auch die färbende Substanz. Das Fettgewebe besteht aus Fettzellen, deren Durchmesser = 0,03 — 0,07 mm, ja sogar bis 0,2 mm ist. Sie sind rund oder länglich und liegen einzeln oder zu mehreren zwischen dem Bindegewebsstroma. Längs diesem Stroma gehen hier und da auch feine Blutgefässe. Die Zwischenräume zwi- schen den Teilen des Bindegewebsstroma communizieren gewöhnlieh nicht mit einander, die in ihnen enthaltenen Fettzellen aber sind von eigenen Membranen umgeben, so dass der Inhalt einer Zelle nicht in eine andere übergehen kann. 1) Vgl. Kühne. Physiologische Chemie, pag. 368. — 41 — Die Fettzelleu bestehen aus einer dünnen äusseren Membran und Inhaltsteilen. Unter dem Microscop erscheinen sie als glänzende, scharf abgegrenzte und stark lichtbrechende Bläschen. Die äussere Membran ist gewöhnlich sehr dünn, glatt und durchsichtig; wenn man dieselbe durch Druck zerreisst, so dass der Inhalt hervorquillt, so fällt sie zu- sammen und bildet Falten; bearbeitet man Fettgewebe mit starkem Alcohol oder Äther, so erhält man ebenfalls Falten in der Membran (Rollet 1), An diese Membran lehnt sich inwendig an einer Stelle eine mehr oder weniger dünne Schicht Protoplasma, das zuweilen auch einen Kern enthält, an. Ausser diesen Elementen findet man im Fettgewebe noch andere, die kleiner sind, als die ersteren. In diesen ist die Fettkugel von körnigem Protoplasma, in dem man manchmal auch einen Kern findet, umgeben. Solche Elemente kommen am häufigsten an der Peripherie der Fettläppchen und bei der Entwickelung des Fettgewebes bei Em- bryonen und bei Erwachsenen vor. Beim Erkalten des Körpers nach dem Tode gerinnt der flüssige Inhalt der Fettzellen; er verringert sein Volumen, nimmt eine poly- edrische Gestalt an und wird trübe und undurchsichtig. Er nimmt sogar teilweise crystallinische Form an, entweder als Bündel von langen Crystallen, oder als feine crystallinische Masse. Im ersten Falle wird die Oberfläche der Elemente uneben und die sie bedeckende Membran faltig und höckerig. Das specifische Gewicht des Fettgewebes ist = 0,924 — 0,932 (Krause). Die mechanische Bedeutung des Fettgewebes kann man sich aus seiner Structur leicht erklären. Jede Zelle dieses Gewebes stellt ein ganz abgeschlossenes Bläschen dar, welches aus einer gespannten feuchten Membran mit ölig-flüssigem Inhalt besteht. Die Membran, von der nährenden Flüssigkeit durchtränkt, ist fest genug, um den Inhalt nirgends hervortreten zu lassen, und deshalb muss bei einem Druck das ganze Element einen ebensolchen elastischen Widerstand leisten, wie jedes andere elastische Polster mit gespannten Wandungen und flüssi- gem Inhalt. Daher finden wir das Fettgewebe auch an denjenigen Stellen, welche bei verschiedenen Lagen des Körpers einem Druck unterworfen werden, wie z. B. an den Sohlen und den Sitzhöckern der Gesässgegend. Ausser der angegebenen mechanischen Function giebt Fett noch das Material für Entwickelung von Wärme im menschlichen Körper ab, da es beim Hinzutritt von Sauerstoff sich verändert und endlich in Kohlensäure und Wasser zerfällt, wobei Wärme ausgeschieden wird. 1) L. c. pag. 68. — 42 — Ehe wir zur Entwickelung der besprochenen Gewebe des Skeletts übergehen, müssen wir zuerst das Blut betrachten. Das Blut. Das Blut ist ein flüssiges, ein wenig zähes Gewebe, welches einen characteristischen Geruch besitzt, der bei verschiedenen Tieren und bei Menschen in gesundem und krankem Zustand variiert. In sehr dünnen Schichten ist es durchsichtig, in dickeren jedoch ist es für Lichtstrahlen undurchdringlich. Seine Färbung verändert sich und bietet alle Übergänge vom Hellroten bis zum Dunkelkirschroten. Der Geruch des frischen Blutes erinnert entfernt an den der Butylsäure; durch Hinzufügen von einigen Tropfen Schwefelsäure wird er bedeutend verstärkt (Barruel); er wird augenscheinlich hauptsächlich von dem Vorhandensein flüchtiger Fettsäuren bedingt: das Blut ist von unange- nehm salzigem Geschmack; in frischem Zustande reagiert es schwach alkalisch. Tritt das Blut aus den Gefässen, so gerinnt es und bildet den sogenannten Blutkuchen; das geschieht auch, wenn das Blut in den Gefässen stockt oder mit deren unebener Oberfläche in Berührung kommt. Die Dichtigkeit des Blutes ist im Mittel = 1,055. Es ist ein flüssiges Gewebe, welches alle nötigen Bestandteile zur Wiederherstel- lung des durch die Function der Teile des Organismus bedingten Ver- lustes enthält; in gleicher Weise führt es auch alle Zersetzungsproducte mit sich, welche bei dieser Thätigkeit entstehen. Deshalb zeichnet sich das Blut sowohl durch seine höchst rege Lebensthätigkeit und Energie, als auch durch sein starkes Variieren aus. Es variiert in der Zusammensetzung und im Verhältnis der einzelnen Bestandteile nicht nur bei verschiedenen Individuen, sondern in Abhängigkeit von allen umgebenden Bedingungen mehrmals am Tage bei ein und demselben Menschen. Deshalb muss man, ehe man zur Ent Wickelung der ver- schiedenen Gewebe übergeht, das Blut als die Hauptquelle aller Veränderungen, welche mit dem Wachstum und der Formation aller Teile und Organe des animalen Organismus verbunden sind, be- trachten. Die Färbung des Blutes wird hervorgerufen durch eine Eiweiss- substanz, das sogenannte Hämoglobin oder Hämatocrystallin (Hoppe- Seyler und Stockes). Diese Substanz ist in den geformten Teilen des Blutes, welche rote Blutkörperchen heissen und bei den Säugetieren den grössten Teil des Gewichts der festen Blutteile ausmachen, ent- halten. Die Zähigkeit des Blutes erklärt sich aus dem Vorhandensein von löslichen Eiweisskörpern, welche, wie auch das Eiweiss des Vogeleies, sich durch ihre Zähigkeit auszeichnen. Das speciflsche Gewicht des Blutes variiert sehr stark, von 1,030 bis 1,075 und mehr. Das dunkle venöse Blut ist specifisch schwerer 3,1s das arterielle. — 43 — Die alkalische Reaction des Blutes wird durch doppelkohlensaures Natron und dreihasisch phosphorsaures Natron (Gautier) bedingt. Die Zeit, welche das Blut zum Gerinnen braucht, ist nicht nur bei verschiedenen Tieren, sondern auch bei verschiedenen Individuen verschieden. Beim Menschen fängt das Blut 1 Min. 46 See. bis 6 Min., nachdem es den Blutgefässen entnommen ist, an zu gerinnen (nach Nasse), vollständig ist das Gerinnen nach 7—16 Min. Hiernach zieht sich der Blutkuchen zusammen, wird dichter, und aus ihm wird eine durchsichtige gelbliche Flüssigkeit herausgepresst, das sogenannte Blut- serum (plasma sanguinis). Der zurückbleibende Blutkuchen (crassa- mentum, placenta, coagulum sanguinis) besteht aus roten und weissen Blutkörperchen, aus Blutblättchen (Bizzozero), aus feinen Körnchen, Fett- und Pigmentkörnchen und aus Fibrin. Die Blutquantität im Körper eines erwachsenen Menschen beträgt 7,7 "/(. bis 8,3 **/o des gesammten Körpergewichts, bei dem Neugeborenen ungefähr 5,2 "/o.; im Mittel hat ein Mensch von 63,5 kg Körpergewicht ungefähr 5,080 kg Blut. Das Blut enthält nach Becquerel und Kodier^) folgende Bestand- teile: Wasser 781,5 Trockene Elemente 135,0 Ei Weissbestandteile 70,0 Fibrin 2,5 Extractivstoffe und anorganische Salze 8,4 Phosphate ■ 0,35 Eisen 0,55 Fett 1,7 1000,0 Der Blutkuchen enthält 57—67 «/o Wasser und 43 — 33 »/o feste Bestandteile; das Serum enthält 90,4 — 91,2 "/o Wasser und 9,6 — 8,8 % feste Bestandteile. Die roten Blutkörperchen (Fig. 9) sind Gasträger, was mit dem in ihnen enthaltenen Farbstoff, dem Hämoglobin, in Verbindung steht; sie haben bei jedem Tier eine bestimmte Form. Ihre Dimen- sionen sind um so bedeutender, je geringer die Lebensthätigkeit des betreffenden Tieres ist; dies erscheint schon daraus erklärlich, dass ihre Oberfläche in einem bestimmten Volumen um so kleiner ist, je grösser die Dimensionen der Blutkörperchen, und umgekehrt, und dass von der Grösse der Oberfläche der Grad des Stoffwechsels in den betreffenden Teilen abhängt. Bei den Menschen beträgt die Oberfläche 1) Vgl. E. Gautier. Chimie appliquee ä la Physiologie etc. T. 1. Paris. 1874^ pag. 449. — 44 — der roten Blutkörperchen in 1 cubmni Blut 640 nmm (Welcker i). 1 cubmm Blut enthält beim Menschen ungefähr 5000000 rote Blutkör- perchen; ihre Anzahl kann jedoch bei einem 20 — 58 jährigen Menschen zwischen 3 266 250 und 5904375 schwanken (Bouchut und Dubrisay). Die roten Blutkörperchen der Säugetiere haben die Form von run- den biconvexen Scheibchen mit beiderseitiger Einsenkung in der Mitte ihrer Oberfläche; nur beim Kameel und beim Lama sind sie oval. Beim Menschen messen sie 0,007—0,008 mm im Durohmesser; als Mittelzahl 0,0075 mm, minimum 0,0045 mm, maximum 0,0097 mm; ihre Dicke be- trägt 0,0016— 0,0019 mm. Auf einem Querschnitt durch die Mitte er- scheinen sie bisquitförmig; sie haben weder Kern, noch Membran. Diese Körperchen bestehen aus einer Grundsubstanz, einem feinen ana- c Fig. 9. A. Rote Blutkörperchen des Menschen. B. Rote Blutkörperchen des Frosches. C. Chyluselemente (Ecker). stomosierenden Netzwerk (Stroma), — und aus einer weniger festen, in diesem Netzwerk enthaltenen Zwischensubstanz, deren Bestandteil der Farbstoff des Blutes, das Hämoglobin, ist. Diese Körperchen sind sehr elastisch, verändern ihre Form sehr leicht und werden dann läng- lich. Wenn sie aus dem Blutgefäss heraustreten, so legen sie sich mit ihren Flächen aneinander, wodurch ein Gebilde in der Art von Geld- rollen entsteht; diese Erscheinung kann durch blosse Adhäsion der feuchten Oberflächen erklärt werden. Beim Embryo enthalten die roten Blutkörperchen bis zum vierten Monat Kerne, welche darauf verschwin- den. An der Luft nehmen sie infolge des Verdunstens der flüssigen Bestandteile eine sternförmige Gestalt an, bei Zusatz von Wasser aber quellen sie auf und werden kugelförmig. 1) Zeitschr. f. rat. Med. XX. 1863, pag. 280. — 45 — Die weissen oder farblosen Blutkörperchen tragen den Clm- racter von Bildungselementen; in letzter Zeit hat man versucht, ihnen die Bedeutung einer Armee zu geben, welche den lebenden Organismus vor äusseren Feinden, hier niederen Organismen, schützt. Sie heissen auch Lymphkörperchen, Leucocyten, Phagocyten u. s. w, Sie sind entweder rundlich oder oval und können sich unter gewissen Bedingun- gen bewegen, wobei sie ihre Form verändern; diese Bewegungen heissen amöboide und sind sowohl in Bezug auf ihre Kraft, als auch auf ihre Schnelligkeit individuell verschieden. Die Anzahl der weissen Blut- körperchen variiert sehr stark und nicht nur bei verschiedenen Indi- viduen, sondern auch bei ein und demselben mehrmals am Tage. Am Morgen vor einer Speiseaufnahme ist ihr Verhältnis zu den roten Blut- körperchen, wie 1:716, eine halbe Stunde nach dem Frühstück wie Fig. 10. o"o Blutkörperchen von Lumbricus terrestris (Ecker) mit Vacuolen und Fortsätzen. 1:347, 2 — 3 Stunden darauf, wie 1:1514, 10 Minuten nach dem Mit- tag, wie 1:592, eine halbe Stunde darauf, wie 1:429, nach 2 — 3 Stunden, wie 1 : 1482, eine halbe Stunde nach dem Abendessen, wie 1 : 544, 2—3 Stunden darauf, wie 1 : 1227 (Hirt). Bei einem 25jährigen Menschen zählt man in 1 cubmm Blut ungefähr 3000 — 9000 weisse Blut- körperchen. Aus diesem allem ersieht man, wie sehr sich das Ver- hältnis der Anzahl der weissen Blutkörperchen zu der der roten ver- ändert und in welcher Beziehung dieses Verhältnis zur Speiseaufnahme steht. Unter dem Microscop erscheinen die weissen Blutkörperchen rund oder oval mit einem Kern und körniger Zellsubstanz. Betrachtet man sie bei starken Vergrösserungen, so bemerkt man ein Netz feiner Fasern, zwischen denen sich eine flüssige Substanz befindet; dieses Netz nennt man Protoplasma (Kupfer, oder mitoma — Flemming, oder sub- stantia opaca s. Spongioplasma — Leydig), die Zwischensubstanz aber Paraplasma (Kupfer, paramitoma — Flemming, subst. hyalina s. hyalo- plasma — Leydig). Ausser diesem Netz trifft man im Protoplasma — 46 — auch Eiweissköinchen. Das Protoplasma besteht hauptsächlich aus Eiweisskörpern. Der Kern, der die Mitte des Blutkörperchens ein- nimmt, enthält gleichfalls ein feines Netz, welches sich leicht färbt, besonders mit Anilinfarben, und deshalb Chromatin (Flemming) heisst, und eine homogene Zwischensubstanz oder den Kernsaft, der sich wenig oder gar nicht färbt und deshalb Achromatin (Flemming) genannt wird. In dem Kern ist ein phosphorhaltiger Eiweisskörper , — das Albuminoidnuclein, enthalten, welcher im Magensaft nicht lösbar ist. Im Kern findet man noch einen oder mehrere Nucleoli. An den weissen Blutkörperchen kann man Bewegungen beobachten, die unter dem Namen amöboide Bewegungen bekannt sind; sie sind in- dividuell sehr verschieden, sowohl was ihre Kraft, als auch was ihre Schnelligkeit anbetrifft. Die Bedingungen, unter welchen diese Be- wegungen, die man jedoch nur bei anhaltender Beobachtung bemerken kann, vor sich gehen, sind folgende: 1) Es ist notwendig, dass die Elemente sich in einer gewissen Quantität Wasser befinden, das nicht weniger als 60 **/„, und nicht mehr als 90 ^l„ derjenigen Substanz, in welcher sich die Elemente be- finden, ausmachen darf. Wird die Quantität des Wassers unter 60 "/„ vermindert, so hören die Bewegungen auf, sie werden bei Erhöhung des Wassergehaltes stärker, sobald jedoch dieser das höchste angeführte Maass erreicht, so verändern sich die bei den amöboiden Bewegungen hervortretenden Fortsätze, werden breiter und die Bewegung hört auf. 2) Ist die Anw^esenheit von Sauerstoff erforderlich, da ohne den- selben die Bewegungen nicht stattfinden. Der Mangel an Sauerstoff hebt den Stoffwechsel, zugleich aber auch die Bewegung auf; diese fängt wieder an, sobald der Sauerstoff freien Zutritt erhält. 3) Ist eine bestimmte Temperatur nötig. Am intensivsten werden die Bewegungen bei einer Temperatur von 37" C. ; wird diese erhöht, so dauert die Bewegung noch so lange fort, bis die Eiweissteile bei einer Temperatur von 40—42" anfangen zu gerinnen. Beim Fallen der Temperatur werden die Bewegungen schwächer und allmählich lang- samer, bis sie endlich bei 0" ganz aufhören. 4) Ist erforderlich, dass die Flüssigkeit, in der die Elemente schwimmen, schwach alkalisch oder sogar neutral sei. Sobald dieselbe sauer oder stark alkalisch reagiert, verändert sich die Substanz des Elements und die Bewegung hört auf; in Gegenwart von Säure gerinnt das Eiweiss; unter Einwirkung von Alkalien quillt der Zellinhalt auf und zerfällt. Giftige Substanzen, Äther, Spiritus vernichten gleichfalls die Bewegungen. 5) Müssen die Elemente an den sie umgebenden Teilen eine Stütze haben. Wenn sie in der Flüssigkeit schwimmen, so sind gar keine Bewegungen zu sehen; sobald sie aber die Wand berühren, an der sie — 47 — eine Stütze gewinnen, so fangen sie an, sich zu bewegen, und zwar um so stärker, je grösseren Widerstand die Wände leisten; die Bewegun- gen können so stark werden, dass die Elemente durch die Wandungen der Capillargefässe dringen und in den benachbarten Geweben auf- treten, wo sie sich Dank der Vergrösserung der Stütze sogar durch Teilung vermehren können. Die Bewegungen können auch durch verschiedene künstliche Reiz- mittel — chemische, mechanische und electrische — hervorgerufen werden. Die Experimente von Bütschli ') zeigen, dass man sowohl die Structur des Protoplasma, als auch die amöboiden Bewegungen in einem Tropfen dünnen Schaums künstlich wiedergeben kann; diesen Schaum erhält man auf die Weise, dass man fein pulverisierten Rohrzucker oder Kochsalz mit einem Tropfen alten Olivenöls verreibt. AVenn man einen Tropfen dieses Gemischs auf die untere Oberfläche eines auf Wachsfüsschen ruhenden Deckglases tropft, so sieht man mit Hülfe des Microscops, dass dieser Tropfen ganz die Struktur des feinkörnigen Protoplasma hat und dass seine äussere Schicht der äusseren Schicht der protoplasmatischen Elemente vollkommen ähnlich sieht und ebenso bemerkt man den amöboiden Protoplasmabewegungen völlig entsprechende Bewegungen. Die weissen Blutkörperchen besitzen die Fähigkeit, feine, stark lichtbrechende Farbstoffe, die sich im Blut nicht auflösen, aufzunehmen (Phagocytose). Die Untersuchungen von Recklingshausen-) und Kohn- heim ■^) (darauf auch von Hofmann, Langerhans *) u. a.) beweisen, dass in den Körper injicierte fein-zerkörnte Farbstoffe (wie z. B. feiner, durch Niederschlag gewonnener Zinnober mit Blutserum vermischt) in den weissen Blutkörperchen, in den Wanderelementen und in den fixen Elementen des Bindegewebes auftreten. Durch derartige Experimente suchten die Forscher die Entwickelung und Entstehung der Zellen des Bindegewebes aus den Bildungselementen oder weissen Blutkörperchen zu beweisen. Derartige Resultate der Fütterung der Blutkörperchen mit Farbstoffen lassen sich dadurch erklären, dass, so lange die Elemente nicht von einer Membran umgeben sind und so lange in ihnen ein reger Stoffwechsel vor sich geht, die durch Strömung mitgeführten, stark lichtbrechenden Teilchen des Farbstoffs in dem Protoplasmanetz der Elemente stecken bleiben; wenn sich nun eine feste äussere Membran 1) Bütschli. Über die Structur des Protoplasma. Verhandl. d. naturhist. med. Vereins zu Heidelberg. N. F. IV. 3 H, pag. 12. Desgl. Über zwei interessante Ciliatenformen und Protoplasmastructuren. Tage- blatt d. 62. Vers, deutscher Naturf. und Ärzte. 1889. 2) Virchow's Archiv. Bd. 38. H. 2, pag. 184. 3) Virchow's Archiv. Bd. 40. H. 1-2, pag. 19. 4) Virchow's Archiv. Bd. 48. H. 2, pag. 303—325. — 48 — bildet, so verbleiben sie so lange in dem Elemente, bis das letztere zerstört wird. Sie können nur so lange in die Bildungselemente ein- dringen, als diese membranlos sind, so dass ihr Vorhandensein in den Wanderzellen und in den fixen Bindegewebszellen nach der Meinung jener Forscher als Beweis für ihre Abstammung dient. Alles hier An- geführte ist sehr wichtig, namentlich zur Erklärung verschiedener Theorien über die Bedeutung der weissen Blutkörperchen, welche in der letzten Zeit aufgetaucht sind, wovon weiter unten die Rede sein wird. Die Blutscheibchen (Bizzozero ^). von letzterem im Jahre 1882 beschrieben) sind sehr dünne Plättchen mit parallelen, selten biconvexen Wandungen, sie sind rund oder oval, stark lichtbrechend und bei den höheren Tieren kernlos. Ihr Durchmesser ist zwei- bis dreimal kleiner als der der roten Blutkörperchen, sie sind stets farblos und kommen sowohl in der Mitte, als auch an der Peripherie des Blutstroms vor; ge- wöhnlich sind sie von einander getrennt, zuweilen jedoch bilden sie mehr oder weniger grosse Häufchen. Sie sind im Blute in bedeuten- der Anzahl vertreten; nach Hayeni sind in 1 cbmm Blut bis 255000 enthalten, folglich ist ihre Anzahl 40 mal grösser als die der weissen Blutkörperchen, und etwa 20 mal kleiner als die der roten Blutkörper- chen. Was ihre Bedeutung ist, in welchem genetischen Verhältnis sie. zu den weissen und roten Blutkörperchen stehen und wie sie sich ent- wickeln, konnte bis jezt durch die Untersuchungen nicht festgestellt werden. Hayem setzt auf Grund seiner Untersuchungen voraus, dass sie eine Übergangsstufe zu den Hämatoblasten, d. h. zu den Bildungs- elementen der roten Blutkörperchen, bilden. Dies alles waren geformte Elemente des Bluts; alle sind sie im Blutserum enthalten, welches sich zu den Formenelementen, wenn man die Mittelzahlen nimmt, wie 6ö : 35 verhält, d. h. 100 Teile Blut ent- halten 60,3 — 67,3 — im Mittel 65 — Teile Blutserum. Das Blutserum besteht aus Stoffen, welche durch Gerinnen Fibrin bilden; in der übriggebliebenen Flüssigkeit sind Eiweissstoffe, an- organische Salze, Fette und sogenannte Extractivstoffe enthalten. Nach AI. Schmidt -) entsteht das Fibrin aus der Verbindung zweier Stoffe, welche im Blute in aufgelöstem Zustande, nämlich als fibrino- plastische (Paraglobulin) und fibrinogene Substanz enthalten sind; wenn sie sich verbinden, so entsteht eben Fibrin; dabei werden Alkalien frei, wodurch die alkalische Reaction des übriggebliebenen Serums ver- stärkt wird. H. Smee '^) erhielt Fibrin künstlich aus Hühnereiweiss, indem er durch denselben Sauerstoff leitete. Je stärker der Mensch 1) Virchow's Archiv. Bd. 90. H. 2. 1882. pag. 261-332. 2) Archiv v. Reichert u. du Boih-Reymond. 1861 u. 1862. 3) Vgl. Gautier. T. I. pag. 501. — 49 — ist, desto langsamer gerinnt das Blut, und umgekehrt, je schwächer er ist, desto schneller gerinnt dasselbe, wobei sich feine Fäden bilden, welche sich filzartig lagern und die übrigen geformten Elemente ein- schliessen. Das Blut gerinnt in den Gefässen einer Leiche nicht früher, als 12 Stunden, manchmal sogar erst 24 Stunden nach dem Tode. Über die Entwickelung der Formenelemente des Blutes und ihr gegenseitiges Verhältnis giebt es bis jetzt keine positiven Angaben, auf Grund deren man definitiv ihren genetischen Zusammenhang aufklären könnte. Die Untersuchung des Knochenmarks, des adenoiden Gewebes und der Lymphdrüsen lässt voraussetzen, dass die roten Blutkörperchen sich aus den weissen entwickeln, wobei sie alle Übergangsstufen pas- sieren müssen, welche man besonders im roten Knochenmark antrifft, wovon weiter unten die Rede sein wird. Nach dieser Betrachtung des Blutes als Hauptersatzmaterial des Verlustes, der mit der Function aller Teile und Organe des tierischen Organismus verbunden ist, muss man vor allem die Vermehrung der Elemente kennen lernen. Die Vermehrung der Zellen. Die Elemente vermehren sich, indem ihr Körper durch eine Einschnürung geteilt wird; dieser Teilung geht entweder eine ebensolche Teilung des Kerns, oder eine faserige Veränderung des Kerns, welcher vor der Teilung verschiedene Formen annimmt, voraus; die erstere Art der Teilung heisst directe oder ein- fache Teilung (fragmentatio oder holoschisis), die zweite indirecte oder complicierte Teilung (karyokinesis, karyomitosis oder mitoschisis). Bei der einfachen Zellteilung teilt sich zuerst der Nucleolus, der Stelle dieser Teilung entsprechend verengert sich darauf der Kern, er ver- längert sich und wird allmählich bisquitförmig, endlich teilt auch er sich in zwei Teile; hierauf beginnt auch die Form der Zelle sich zu verändern, und dieselbe wird durch eine die Mitte umfassende Ein- schnürung ebenso geteilt, wie auch der Kern. Eine derartige Teilung kann man bei den weissen Blutkörperchen beobachten. Die einfache Zellteilung kann man sich folgendermassen erklären: Das Element besteht aus einzelnen Schichten, und das von aussen durch diese Schichten dringende Nahrungsmaterial wird, je weiter nach innen, um so mehr verändert, hieraus folgen Verschiedenheiten in der Composition des Zellinhalts, und diese rufen eben die hier beobachteten physischen Erscheinungen hervor. In der äusseren Schicht, welche die Nahrung unmittelbar erhält, ist die Bewegung der Molecüle am energischsten, während die innerste Schicht, welche die Nahrung mittelbar erhält und deshalb weniger energisch ist, den Bewegungen der äusseren Schicht nur inert folgen wird, hier ist also die Cohäsion der Molecüle am ge- ringsten und hier nimmt auch die Teilung des ganzen Elements ihren Anfang. 4 — 50 — Bei der indirecten Zellteilung- (Fig. 11) bemerkt man zu Anfang eine fibrilläre Transformation des Kerns, d. h. die Kernsubstanz nimmt durch Cohäsion ihrer Teilchen die Form von Fasern an. Hierbei geht eine Vermehrung des Chromatins im Kern vor sich, seine Fasern, die anfangs netzförmig gelagert waren, wickeln sich zu einem Knäuel zu- sammen, hierauf nehmen sie eine sternförmige Gestalt an; endlich teilt sich der Kern, und jeder Teil nimmt durch ebendieselben Veränderungen, nur in umgekehrter Reihenfolge, seine anfängliche Form wieder an; man unterscheidet hier also folgende Stadien: 1) der netzförmige Kern, 2) der knäuelförmige Kern (spirema), 3) der sternförmige Kern (mo- naster), 4) die Periode der äquatorialen Scheibe (metakinesis), 5) die Tochtersterne (diaster), 6) die Tochterknäuel und 7) die netzförmigen Tochterkerne. Diese Stadien sind zuerst von Peremeshko an Triton- embryonen, von Flemming an Salamanderembryonen und von Schleicher am Knorpel der Säugetiere und der Amphibien beobachtet worden. A B Fig. II. c D Complioierte Teilung der Elemente (Quain). 1) In dem netzförmigen Kern oder seinem Ruhezustand (A) besteht das Netz aus einzelnen Teilchen, welche sich durch ihre Seitenfortsätze miteinander zu einem gemeinsamen Netz verbinden. Zu Anfang der Kernteilung werden diese Seitenfortsätze eingezogen, weshalb die ein- zelnen Teilchen dicker werden und schärfer hervortreten. — 51 — 2) In der Periode des Kernknäuels wächst der Kern infolge An- wachsens der Chromatinquantität. Die schärfer hervortretenden und verdickten Teilchen desselben erscheinen, indem sie sich vereinigen, als gebogene Fäden, welche einen runden oder ovalen Knäuel (fester Knäuel B) bilden; nach einiger Zeit wird der Knäuel lockerer und die Fäden in demselben lagern sich mit ihren Windungen so, dass sie strahlenförmige Schleifen bilden (lockerer Knäuel C). Die Fäden werden dicker, teilweise gerade und teilen sich (segmentieren sich) in einzelne Schleifen, deren Spitzen zum Centrum des Kerns gerichtet sind. 3) Während der sternförmigen Periode der Kernteilung sind die vereinzelten Schleifen alle mit ihren Spitzen zum Centrum des Kerns (D), ihre freien Enden aber zur Peripherie gerichtet, hierauf beginnen sie ihre Lage zu verändern, indem ihre Spitzen sich allmählich zu den Polen des Kerns wenden (E). 4) Im nächsten Stadium sind die Schleifenspitzen zu den Polen entrückt (Fj, wobei die Protoplasmaschicht, welche den Kern umgiebt, zwischen den auseinandergehenden Schleifen durchdringt und so eine continuierliche Äquatorialscheibe bildet. Der ganze Kern nimmt die Form einer Spindel (Spindelkern) an, welche in der Mitte auseinander- geht und von der Äquatorialscheibe ersetzt wird. 5) In der Periode der Tochtersterne entfernen sich die Schleifen immer mehr zu den Polen des Spindelkerns und verändern hier ihre gegenseitige Lage in der Weise, dass ihre Gipfel sich wieder einander nähern und an jedem Pol einen Stern bilden (G). Die den Kern um- gebende Protoplasmaschicht lagert sich an der Peripherie eines jeden dieser Tochtersterne; und auf diese Weise fängt auch das ganze Ele- ment an sich zu teilen. In seltenen Fällen, besonders bei pathologischen Processen, teilen sich die Kerne in mehr als zwei Teile zu gleicher Zeit. 6) Zum Tochterknäuel (H) übergehend, verbinden sich die ein- zelnen Schleifen an ihren freien Enden und bilden auf diese Weise wiederum aufgewickelte Knäuel. 7) In dem netzförmigen Stadium der Tochtersterne endlich (J) werden aus den Knäueln durch Zerfallen der gewundenen Fäden in einzelne Teilchen und durch ihre gegenseitige Verbindung mit Hilfe seitlicher Fortsätze ebensolche Netze, wie man sie im ßuhestadium des Mutterkerns beobachtete. Die hier beschriebene Transformation des Kernes kann man sich ebenso erklären, wie auch alle Vorgänge der einfachen Teilung. Das Einziehen der Äste des Kernnetzes und die Verwandlung dieses Netzes in Fäden, welche sich zu einem Knäuel aufwickeln, steht augenschein- lich mit den Ernährungsbedingungen in Verbindung. Der Umstand, dass die Äste eingezogen werden, dass die Teilchen sich enger an- einander schliessen und sich zu Fäden ansammeln, hängt sowohl von — 52 — dein vor sich gehenden Stoffwechsel, als auch von der vorhandenen Stütze ab. Die einzelnen Teile des Fadens nähern sich bald dem Centrum, bald entfernen sie sich von demselben, was augenscheinlich mit der Lagenveränderung der stoffwechselnden Teile bei der Er- nährung im Zusammenhang steht. Die Ernährungsbedingungen sind in den verschiedenen Schichten des Kerns verschieden, dadurch entsteht Verschiedenheit im Wachstum und in der Cohäsion der Teile; durch verschiedenes Wachstum aber werden mechanische Bedingungen ge- schaffen, welche die Bildung einzelner Teile des Kerns fördern. Die Ursache, welche die nacheinander folgenden Stadien des Kerns zur Folge hat, aufzuklären, vermag man gegenwärtig wohl kaum, doch muss die sorgsame Prüfung der einzelnen hier vor sich gehenden Pro- cesse diese Transformation des Kerns erklären. Nach der jetzt herrschenden Ansicht vermehren sich die Elemente nur durch Teilung, jede Zelle kann nur aus einer Zelle entstehen (omnis cellula e cellula); dazu fügt man jetzt noch hinzu, dass jeder Kern nur durch Teilung des Mutterkerns entsteht. Inwieweit die Facta dem zuletzt angeführten Grundsatz entsprechen, werden wir später sehen, jetzt führen wir nur folgendes an: 1) Es ist bekannt, dass, je frischer das Gewebe und je weniger es also der Einwirkung der Reactive unterworfen wird, man desto schwieriger in den Elementen desselben Kerne unterscheiden kann und am schwierigsten in eben aus dem lebenden Organismus ge- nommenem Gewebe. 2) Im Blute existieren geformte Elemente, die Blutplättchen, welche, wie bekannt, die Bedeutung eines progressiven Gewebes haben, welche aber indessen keine Kerne beobachten lassen. Ebenso findet man keinen Kern in den roten Blutkörperchen des Menschen und in einigen kleinen Elementen des roten Knochenmarks, obgleich diese letzteren auch ein progressives Gewebe darstellen und sich aus ihnen aller Wahrscheinlich- keit nach rote Blutkörperchen bilden. 3) Es giebt niedere Organismen, bei denen man bis jetzt keine Kerne beobachtet hat, wie z. B. die sogenannten „kernlosen Amöben". Die Dauer der Zellenteilung schwankt zwischen V2 Stunde (beim Menschen) und 5 Stunden (bei den Amphibien). Die Elemente leben nur eine bestimmte Zeit, hierauf werden sie zerstört und von anderen ersetzt. Bei der Zellenteilung wird die Quantität des Protoplasma der Tochterzellen und die des Achromatins ihrer Kerne geringer. So- genannte Vacuolen im Kern deuten gleichfalls auf eine Zerstörung in ihm. Die Zellen wachsen gewöhnlich dadurch, dass das Protoplasma in ihnen an Menge zunimmt, wobei die Elemente gewöhnlich den sie um- gebenden mechanischen Bedingungen entsprechend ihre Form verändern; — 53 — . je nach der Richtung des Druckes werden sie länglich, abgeplattet öder verästelt. Die Entwickelung der Gewebe der Stützorgane des Tier- körpers. Die Veränderung der chemischen Zusammensetzung der Ele- mente geht entweder von der Peripherie zum Centrum derselben, oder die Zellensubstanz wirkt als Ferment auf den sie umspülenden Nahrungs- saft, welcher sich dann infolge von Gährung verändert und als Secret des Gewebes oder des Organs ausgeschieden wird. Geht die Ver- änderung von der Peripherie zum Centrum vor sich, so wird die Zelle von einer Membran umgeben, oder ihre peripherische Schicht ver- wandelt sich in die Zwischensubstanz des Gewebes, welches, je nach dem Druck, der Bewegung oder den Erschütterungen, welche es erleidet, von verschiedener Festigkeit sein wird. Tritt die Zwischensubstanz zwischen den Elementen in nur geringer Quantität auf, so heisst sie Kitt- oder Bindesubstanz, übertrifft aber die Quantität derselben die Dimensionen der Elemente selbst, so heisst sie Grundsubstanz des Ge- webes. Diese Grundsubstanz kann entweder biegsam, oder elastisch, oder endlich fest sein. Gewebe mit biegsamer Grundsubstanz sind die verschiedenen Bindegewebsarten ; elastisch ist die Grundsubstanz beim elastischen und dem Knorpelgewebe; feste Grundsubstanz endlich hat das Knochengewebe. Verfolgt man die Entwickelung des Embryo, so findet man, dass die Gewebe seiner Stützorgane anfangs aus Bildungs- elementen bestehen (membranöse Stütze), welche stellenweise in Gallert- gewebe übergehen, später aber zu Bindegewebe von verschiedener Festigkeit werden und zwar an den Stellen, wo die einzelnen Teile mehr oder weniger beweglich in einer bestimmten Lage gehalten werden. Zu Ende des ersten und zu Anfang des zweiten Monats des mensch- lichen Embryo werden die Hauptteile der Stütze knorpelig, besonders infolge der von den auftretenden Bewegungen hervorgerufenen Er- schütterungen. Am Ende des zweiten und am Anfang des dritten Monats endlich tritt in den Hauptteilen der Stütze auch Knochengewebe auf, und zwar stets in der Mitte der Knorpel- und membranösen Stütze, wo der Druck der sie umgebenden Teile, die durch Wachstum ihr Volumen vergrössern, am stärksten concentriert ist. Die Entwickelung des Bindegewebes. Im Bindegewebe, wie auch in allen übrigen Geweben des Skeletts, dienen die Zellen oder Körperchen allem Anschein nach hauptsächlich zur Bildung und Er- nährung des Gewebes, die aus ihnen entstandene Zwischensubstanz aber verleiht ihm die mechanische Bedeutung, welche es im gegebenen -Falle hat und welche von den Bedingungen seiner Entwickelung ab- hängt. In frühen Embryonalperioden stellt es ein Gewebe dar, das nur aus Bildungselementen besteht, welche mit den weissen Blut- körperchen und ebensolchen Bildungselementen, die in dieser Entwicke- — 54 — limgsperiode in allen anderen Geweben vorkommen, Ähnlichkeit hat. Das aus Bildungselementen bestehende Gewebe verwandelt sich stets in sogenanntes Gallertgewebe, aus welchem sich dann schon alle mög- lichen Bindegewebearten entwickeln können. Am besten kann man die Entwickelung des Bindegewebes verfolgen, wenn man mit Henle dünne seröse Häute junger Embryonen nimmt. Auf derartigen Präparaten sieht man Zellen, welche amöboide Bewegungen besitzen und welche wie Bildungselemente oder wie weisse Blutkörperchen aussehen. Ausser- dem findet man hier längliche, körnige Zellen, ebenfalls mit deutlichen Anzeichen der Bewegung, spindelförmige und polygonale Zellen mit grobkörnigem Kern, ohne Membran, in welchen man schon keine Be- wegungen mehr wahrnehmen kann. Zwischen diesen Elementen lagert sich durchsichtige Zwischensubstanz, in welcher stellenweise längliche Streifen den Elementen parallel verlaufen. Dass alle diese Elemente Übergangsstufen von den Bildungselementen zu den vollkommen ent- wickelten Körperchen bilden, davon kann man sich, wie oben bereits erwähnt wurde, durch Injection von Farbstoffen ins Blut oder in die Lymphgefässe überzeugen. Die glänzenden oder gefärbten Körner dieser Farbstoffe, welche anfangs in den Bildungseleraenten auftreten, findet man später gleichfalls in den Wanderzellen und in allen übrigen Zellen des Bindegewebes. Wie entsteht nun die faserige Zwischensubstanz des Binde- gewebes? Früher bestand die Meinung, dass die Fibrillen und die Fibrillenbündel des Bindegewebes aus den Zellen entstehen. — Später nahm Reichert') an, dass die Zwischensubstanz, welche zwischen den jungen Elementen auftritt, mit ihnen verschmilzt, und dass aus all diesem die Bündel und Bindegewebsfasern entstehen. Er negierte das Vorkommen von spindelförmigen Zellen in diesem Gewebe ganz und gar. Die Untersuchungen von Virchow^) und Donders^^) jedoch haben bewiesen, dass die stern- und spindelförmigen Elemente im Bindegewebe nicht verschwinden, sondern als Körperchen zurück- bleiben oder zuweilen in ein Netz von elastischen Fibrillen übergehen (Donders). Nach Virchows früherer Meinung können sie, sich unter einander verbindend, sich auch in ein System von Canälchen verwan- deln, welche den Nahrungssaft leiten (Plasmacanälchen). Beale*) und ebenso Max Schnitze '") nehmen an, dass die Zwischensubstanz, aus der 1) Bemerkungen zur vergleichenden Naturforschung und vergleichende Beobach- tungen über das Bindegewebe und die verwandten Gebilde. Dorpat. 1845, pag. 108. 2) Würzburger Verliandlungen. Bd. II, pag. 150. 3) Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie. Bd. III, pag. 351. 4) Die Structur der einfachen Gewebe des menschl Körpers. Leipzig. 1862, pag. 107. 5) Archiv f. Anatomie, Physiologie, wiss. Med. v. Reichert u. du Bois-Reymond. 1861. H. 1, pag. 13. — 55 — die Fibrillen bestehen, die peripherische Protoplasmaschicht der jungen Elemente ist. welche noch keine besonderen Membranen haben, und dass ausser dem Kern an seiner Peripherie noch eine grössere oder geringere Quantität Protoplasma übrig bleibt, was zusammengenommen die Binde- gewebszellen ausmacht. Nach der Beschreibung von Rollet sieht man bei der Betrachtung des Netzes eines 4 cm laugen Schafembryo runde oder ein wenig läng- liche Zellen, welche noch wenig differenziert sind, so dass ihre Grenzen fast zusammenfallen; Man kann sie jedoch durch Zerfasern mit Nadeln von einander trennen. Sie enthalten runde oder leicht ovale körnige Kerne. Bei einem 7 cm langen Embryo (Fig. 8) desselben Tieres ver- längern sich die Elemente und werden spindelförmig; auf dem Object sieht man alle Übergangsstufen von runden und ovalen bis zu spindel- förmigen Elementen; ihre Kerne bestehen aus gröberen Körnern, welche von dem umgebenden Protoplasma durch einen hellen Ring getrennt werden. Die Fortsätze der der Länge nach benachbarten Zellen gehen stellenweise ineinander über. Die langen Zellen sind durch eine durch- sichtige Substanz, in welcher man anfangs einige kurze geschlängelte Streifchen bemerkt, von einander geschieden. In den übrigen Embryonal- perioden findet man an derartigen Objecten noch mehr spindelförmige Zellen, jedoch sie verlängern sich und nehmen so sehr an Durchmesser ab, dass man zuweilen nur mit Mühe ihre Fortsätze verfolgen kann. In der homogenen Zwischensubstanz treten immer mehr dünne, ge- schlängelte und nicht verästelte Fasern auf, sie kreuzen entweder die Zellenfortsätze, oder verlaufen ihnen parallel, nie jedoch bilden sie ihre Fortsetzung. In dem grossen Netz eines fünf Monate alten menschlichen Embryo sind ausser den langen spindelförmigen Elementen bereits deutlich Fasern und Faserbündel zu sehen. Weiterhin bilden sich zwischen den Bündeln Öffnungen, die sich erst nach der Geburt erweitern, die Bündel und Fasern werden dicker, sind aber nirgends die Fortsetzung der Elemente oder ihrer Fortsätze. Das faserige Gewebe der Sehnen entwickelt sich gleichfalls aus Bildungselementen, welche sich verlängern; ihre Kerne haben ziemlich scharfe Contouren und sind körnig. Die Grenzen der einzelnen Ele- mente sind anfangs sehr undeutlich, statt einer structurlosen Z^vischen- substanz treten sehr bald dünne und glatte Fibrillen auf. Je grösser die Anzahl dieser Fibrillen wird, desto länger und schmäler werden die Elemente. Die Fibrillenbündel lassen sich sehr leicht der ganzen Länge der Sehne nach verfolgen, nirgends gehen sie in die Elemente über, welche immer mehr durch die sich entwickelnden Fibrillenbündel auseinander gerückt werden. Aus all diesen Daten kann man schliessen, dass sowohl die Zwischen- substanz im Netz, als auch die Fibrillenbündel im festen Bindegewebe — 56 — sich augenscheinlich aus den peripherischen Schichten der Elemente entwickeln, diese Elemente selbst gehen jedoch mit ihren Fortsätzen nicht in die Fibrillen über, ebensowenig zerfallen sie in Fibrillen- bündel. Folglich verhalten sich diese Bindegewebselemente zur Zwischen- substanz und zu den darin befindlichen Fibrillen, wie das bildende Sub- strat zur aus ihm entstandenen Substanz. Ein ebensolches Verhältnis zwischen Elementen und Zwischensubstanz findet auch im Knorpel und im Knochen statt. Die Entwickelung des elastischen Gewebes. (Fig. 12). Ueber die Entwickelung des elastischen Gewebes hat man bis jetzt keine genauen Angaben. Nach den Untersuchungen, welche Dr. N. Kus- kow^) angestellt hat, bilden die elastischen Fasern Fortsätze, welche Entwickelung des elastischen Gewebes (N. Kuskow). a. b. Elastische Fasern , welche von dem Ende des Kerns ausgehen, c. Elastische Fasern , welche von der Mitte des Kerns ausgehen, d. Elastische Fasern, welche von den Seitenteilen des Kerns ausgehen. von den Enden der Kerne der Bildungselemente ausgehen (a, b), oder aber, was jedoch allem Anschein nach seltener vorkommt, gehen sie von den Elementen selbst aus (c) ; endlich fand dieser Forscher Fasern, welche von den Seitenteilen des Kernes ihren Anfang nahmen (d). Aus einer Stelle des Kernes entspringen gewöhnlich 1 — 3 Fasern, aus dem ganzen Kern aber bis 5 Fasern. Ob diese Fasern ebenfalls aus dem Protoplasma des Elements durch Veränderung seiner Substanz ent- stehen, kann man nicht sagen, obgleich die Fasern, welche an den 1) Archiv für microscopische Anatomie. Bd. XXX, pag. 35. — 57 — Seitenteilen des Kernes ausgehen, vielleicht in der That aus dem Proto- plasma hervorgegangen sind. Die Entwickelung des Fettgewebes. Die Entwickelung des Fettgewebes kann man am besten am grossen Netz der Tiere verfol- gen. Vor der Entwickelung des Fettgewebes findet man kleine runde, aus körnigem Protoplasma bestehende Zellen, welche grosse Kerne ent- halten. Darauf erscheinen in diesen Zellen einige kleine, stark licht- brechende Tröpfchen; dieselben verschmelzen bald und bilden einen grossen Tropfen in der Mitte der Zelle, welcher von einer körnigen Protoplasmazone umgeben ist. Allmählich nimmt die Zelle an Dimen- sionen zu, wobei der darin enthaltene Fetttropfen am stärksten wächst. Die Protoplasmazone wird immer kleiner, und endlich bleibt an der Oberfläche des Elements nur noch die dünne und glatte Membran des entwickelten Fettbläschens, in welchem man gewöhnlich noch den nur kleiner und ganz homogen gewordenen Kern vorfindet. Das Fettgewebe entwickelt sich stets aus Bildungselementen, ob aber das Fettgewebe aus dem Protoplasma dieser Elemente entsteht oder nicht, ist noch nicht genau festgestellt. Beim Hungern und nach aufreibenden Krank- heiten kann das Fett in den Elementen verschwinden, und anstatt seiner füllen sich die Bläschen mit seröser Flüssigkeit. Nach Valentin^) treten die ersten Spuren von Fettgewebe in der vierzehnten Woche des Embryonallebens, und zwar an der Fusssohle und an der Handfläche, als einzelne zerstreute Läppchen oder Bläschen auf. Deutlicher entwickelt sind sie zu Ende des fünften Monats. In der Mitte des vierten Monats ist der Durchmesser der einzelnen Ele- mente von 0,015 — 0,020 mm, im achten und neunten Monat aber 0,024 bis 0,045 mm. Die Entwickelung des Knorpelgewebes. Nach den Unter- suchungen von Kölliker -) entwickelt sich das Knorpelgewebe folgender- massen aus den Bildungselementen: Die Elemente wachsen, zugleich aber verändert sich ihre äussere Schicht; sie verwandelt sich nämlich in eine homogene durchsichtige Masse, welche die Elemente als heller Ring umgiebt; diese Ringe werden durch eine dunkle Linie oder einen dunklen Streifen von einander geschieden. Der Ring stellt gleichsam die Kapsel des Elements dar, der Streifen aber die Berührungsstelle der den Kapseln benachbarten Elemente. In dieser Periode kann man die Knorpelzellen mit ihren Kapseln durch Nadeln leicht von einander trennen. Die Zwischensubstanz aber, welche anfangs als Streifen zwischen den Elementen erscheint, ist nichts anderes, als die compacter gewor- dene peripherische Schicht der Knorpelzelle, woraus sich allmählich die 1) Entwickelungsgeschiehte, pag. 272. 2) Microscopische Anatomie. II, pag. 349. — 58 — ganze chondrogene Substanz, welche die Hauptstütze des Knorpel- gewebes ist, entwickelt. Eine solche Zwischensubstanz bildet sich an den Stellen, wo das Gewebe infolge der hier stattfindenden Bewegun- gen, Stössen und Erschütterungen ausgesetzt ist. Der Netzknorpel erscheint anfangs als hyaliner Knorpel und bleibt bis zum dritten oder sogar vierten Monat des Embryonallebens ein solcher (Rollet "). Im fünften Monat werden in der Zwischensub- stanz dünne Fasern sichtbar, welche allmählich den ihnen im voll- kommen entwickelten Gewebe eigenen Character annehmen. (Rabl- Rückhardt -). Die Entwickelung des Knochengewebes. (Fig. 13.) Im Knochensystem unterscheidet man im Hinblick auf die Entwickelung der einzelnen Knochen — primäre Knochen, die zum Grundskelett ge- hören, und secundäre oder Belegknochen. Die ersteren kommen zu- erst in häutigem Zustande vor, gehen dann in Knorpel und endlich in Knochen über; die zweiten aber kommen nie als Knorpel vor, sondern gehen aus dem häutigen Zustand direct in Knochen über. Deshalb unterscheidet man gewöhnlich die Entwickelung des Knochengewebes an Stelle des Knorpels oder aus ihm, oder die enchondrale Osteogenese und die Entwickelung desselben aus Bindegewebe oder die intermem- branöse Osteogenese. Ausserdem spricht man noch von der Entwicke- lung des Knochengewebes unter der Knochenhaut oder der periostalen Osteogenese. Untersuchungen haben jedoch bewiesen, dass alle diese drei Arten der Osteogenese ihrem Wesen nach wenig von einander verschieden sind, und dass der Knochen sich stets aus Bildungselementen, aber nicht aus fertigen Elementen eines anderen Gewebes entwickelt. Den ganzen Ossificationsprocess kann man in der Verknöcherungs- periode der dicken und kurzen Knochen und ebenso des Schaftes und der Endteile (Epiphysen) der langen Knochen studieren. Bei Betrachtung des verknöchernden Knorpels kann man auch mit unbewaffnetem Auge die Blutgefässe (a), welche aus der Knorpelhaut (perichondrium) in denselben eindringen, deutlich erkennen. Diese Gefässe verlaufen ra- diär zum Centrum der Knorpelstütze und anastomosieren hier miteinan- der, so dass sich in der Mitte ein rotgefärbter Punkt bildet, um wel- chen herum der Ossificationsprocess beginnt. Dieser Punct heisst Knochenpunct (punctum ossificationis). Von hier setzt sich der ganze Process fort, indem er vom Centrum der Knorpelstütze zu ihrer Peri- pherie geht. Betrachtet man microscopisch Schnitte, welche an bereits verhärteten Präparaten oder solchen, aus denen die Kalkbestandteile 1) Handbuch der Lehre von den Geweben, pag. 83. 2) Archiv v. Beichert und du Bois-Reymond. 1863. — 59 — teilweise entfernt worden sind, verfertigt worden sind, so bemerkt man folgende Erscheinungen: Die Knorpel stütze besteht aus einer Menge länglicher, dreieckiger und ovaler Zellen, die durch durchsichtige Zwischenräume getrennt Fig. 13. EntWickelung des Knochengewebes, a. Gefäss. b. Säulen von Knorpelelementen, c. Kalkablaeeruneen d. Nester von Bilduugselementen. e. Knochenelemente und die sie umgebenden Zonen sind. Die stellenweise auftretenden Capillargefässe sind von einer Schicht Bildungselemente umgeben; je näher zum Ossificationspunct, desto dichter werden die Gefässe und desto dicker wird die umgebende Schicht. — 60 — Näher zum Ossiflcationspunct werden die Knorpelzellen ein wenig grösser und lagern sich in Säulen, welche radiär zu demselben gerichtet sind (b). Der kürzeste Durchmesser der Zellen fällt mit der Längs- achse der Säule zusammen; die Form der Zellen ist hier eine rundliche oder oft eine keilförmige, wobei der schmälere Teil einer Zelle zwischen den breiteren Teilen der benachbarten Zellen zu liegen kommt und umgekehrt. Näher zum Centrum wird der mit der Längsachse der Säule zusam- menfallende Durchmesser der Zellen grösser, sie sind nicht mehr so sehr abgeplattet, in ihnen bemerkt man einen körnigen Inhalt, welcher zuweilen die Form eines runden, ovalen oder polygonalen Kerns an- nimmt. Zwischen den Zellen treten feine, stark lichtbrechende Körner auf, — das sind Kalkablagerungen, welche dem Knorpel dort, wo sie sich befinden (c), Festigkeit und Härte verleilien. Weiter ergiebt sich, dass diese körnige Substanz mit scharfen bogenartigen Kanten die ein- zelnen Zellennester, welche sich von den grossen Elementen der Säulen bedeutend unterscheiden, umschliesst. Diese Zellennester befinden sich um die Gefässe herum, welche sich im Centrum schleifenartig verbin- den. An der Peripherie dieser Zellenlager befindet sich eine gleich- massige Schicht runder oder ovaler Zellen, von denen einige mit mehr oder weniger langen Fortsätzen - versehen sind (d). Diese Zellenlager heissen Markräume, die peripherischen Elemente aber sind unter dem Namen Osteoblasten bekannt (Gegenbaur *). Die grossen Knorpel- elemente der Säulen zerfallen allem Anschein nach, die Osteoblasten aber sind Bildungselemente, welche aus den Blutgefässen hervorgegan- gen sind. Die äusserste Zellenschicht des Zellennestes erleidet Ver- änderungen; die modificierte Aussenschicht eines jeden Elementes ver- schmilzt mit ebensolchen Schichten der benachbarten Elemente; in ihnen lagert sich Kalk ab, während die mit Fortsätzen versehenen Elemente länglich werden, d. h. den Character von Knochenelementen annehmen (e). Die Aussenschichten der Elemente aber bilden, sich vereinigend, die Knochen- oder Haversischen Cylinder. Die Entstehung der Zwischensubstanz erklärt Gegenbaur dadurch, dass die Osteoblasten von einer sich erhärtenden Ausscheidung umgeben werden, indem sie sich selbst in Knochenzellen verwandeln. Glaubenswürdiger ist die Meinung von Waldeyer-), dass entweder der peripherische Teil des Bildungselementes selbst zur Zwischensubstanz, in der dann Ablagerun- gen anorganischer Substanzen vor sich gehen, wird, wobei die Mitte des Elementes als Knochenzelle zurückbleibt, oder das ganze Element homo- gen wird und in Knochensubstanz übergeht. Den Vorgang kann man 1) Jenaische Zeitschr. f. Medizin u. Naturwiss. 1884, pag. 360. 2) Archiv f. microscopische Anatomie. Bd. I. — 61 — sich hier augenscheinlich folgendermaassen erklären: Die äussersten Elemente des Zellenlagers sind am weitesten vom Gefäss entfernt, sie erhalten ihre Nahrung mittelbar durch die Schichten, welche sich zwi- schen ihnen und dem Gefäss befinden; nach aussen von ihnen befinden sich Kalkablagerungen, welche den Elementen ziemlich grossen Wider- stand leisten. Unter diesen Bedingungen der Ernährung und des Druckes verändert sich die Aussenschicht der Bildungszellen und verwandelt sich in Ossein, in welchem sich Kalksalze ablagern. Die Ablagerung dieser Salze wird noch durch die stärkere Ausscheidung von Kohlen- säure beim Zerfallen der grossen Knorpelzellen der Säulen bedingt. Durch weitere schichtenweise Modification der Bildungselemente der einzelnen Zellnester entstehen concentrische Knochenlamellen oder Cy- linder; die in der Mitte der Zellnester befindlichen Zellen aber geben dem Inhalt der Haversischen Canälchen und den Blutgefässen ihren Ursprung. Nach Ebner ') besteht die Grundsubstanz des Knochen- gewebes aus leimgebeuden Fasern, welche durch eine Kittsubstanz ver- bunden werden; in dieser Kittsubstanz eben lagern sich die anorgani- schen Verbindungen ab. Nach seinen Beobachtungen kann man die faserige Structur dieser Substanz am besten verfolgen, wenn man den Knochen in eine 10 — löprozentige Kochsalzlösung mit Zusatz von 1—3 "/o Salzsäure legt. Den ganzen Ossificationsprocess kann man demnach in folgende Perioden einteilen: 1) es treten Gefässe in der Knorpelstütze auf; 2) die Knorpelzellen nehmen an Dimensionen zu und lagern sich in radiären Säulen, und 3) diese Zellen zerfallen und an ihre Stelle lagern sich Kalksalze ab. Alle diese Processe werden von Veränderungen und Zerstörungen der Knorpelstütze begleitet. Nähert man sich dem Ossi- flcationsherde selbst, so beobachtet man folgende, mit der eigentlichen Bildung des Knochengewebes verbundene Vorgänge: 1) die Gefässe verbinden sich netzförmig unter einander ; 2) an ihrer Peripherie treten Nester von Bildungselementen auf, und 3) in der Richtung von der Peripherie zum Centrum dieser Zellennester bilden sich schichtenweise die Knochencylinder. Es ist selbstverständlich, dass diese beiden Teile des Ossificationsprocesses , die Veränderung der Knorpelstütze und die Entwickelung des Knochengewebes, zu gleicher Zeit stattfinden. Die Gefässe, welche vor dem Ossificationsprocess in das Knorpel- gewebe eindringen, sind gewöhnlich von Fasern verschiedener Dicke umgeben; dieselben bilden die Fortsetzung der Fasern des Gewebes, von welchem die Blutgefässe ausgehen. Diese durchbohrenden Fasern sind von Bildungselementen umgeben; sie werden bald compact, es 1) Sitzungsberichte d. k. Akad. d. Wissensch. in Wien. Bd. 72. III. AbtI. Juli- Heft. 1875, Mit 4 Tafeln. — 62 — lagern sich in ihnen Kalksalze ab und dann bilden sie die sogenannten Sharpeyschen Fasern. Bei der Entstehung' des Knochens im Bindegewebe sind die Vor- gänge ganz dieselben wie bei der enchondralen Osteogenese. Hier wachsen ebenso die Gefässe von der Peripherie zum Centrum hinein; im Centrum nehmen unmittelbar vor dem Ossificationsprocess die Binde- gewebszellen an Dimensionen zu, die Gefässe aber werden von Bildungs- elementen umgeben. Nach Wolff ^) geht hier eine rasche Neubildung von Blutgefässen vor sich. Die Schichten von Bildungselementen, welche die Gefässe um- geben, bilden, sich allmählich erweiternd, die Markhöhlen, an deren Peripherie gleichfalls eine Ablagerung von Kalkverbindungen beginnt. Aus der peripherischen Schicht der Bildungselemente, die die Mark- höhle ausfüllen, entstehen die dünnen Fasern der Zwischensubstanz, welche als dünne fibrilläre Schicht die einzelnen Elemente umgiebt; in dieser Schicht treten darauf stark lichtbrechende Körner unorganischer Verbindungen auf (Wolff ^). Der weitere Gang der Osteogenese ist derselbe, wie auch bei der enchondralen. Die periostale Osteogenese unterscheidet sich ihrem "Wesen nach ebenfalls wenig von der oben beschriebenen. Unter der zum Periost gehörigen fibrillären Schicht befindet sich eine Schicht, welche aus einer grossen Anzahl kleiner runder Elemente besteht, die in den Zwischenräumen des feinen Fasernetzes gelagert sind. Diese Schicht bildet das sogenannte Cambium von Billroth •^). Diese Zellen nehmen allmählich an Grösse zu, in ihnen werden Kerne sichtbar, an ihrer Peripherie aber bilden sich Fortsätze, welche man bis zu den Fasern des sie umgebenden Netzes verfolgen kann. In dem feinen Netz der Stütze sondert sich darauf Kalk ab, es bilden sich die zackigen Ränder der Markhöhlen, welchen die eben beschriebenen Zellen anliegen ; diese Zellen spielen hier die Rolle von Bildungselementen des Knochengewebes oder Osteoblasten. Durch diese Schicht dringen vom Periost her scharf hervortretende Fasern und Gefässe, welche sich in der Mitte der Mark- höhlen schnell vermehren. Die Ausläufer der zackigen oder halbrunden Ränder umgeben die einzelnen Höhlen, in welche sich darauf die con- centrischen Haversischen Plättchen mit den centralen Gefässcanälen bilden. 1) Untersuchungen über die Entwickelung des Knochengewebes. 2 Taf. Leipzig, 1875, pag. 11. 2) L. c. pag. 29. 3) Archiv für klinische Chirurgie. Bd. XI, pag. 733. Kapitel IL Das Knochensystem. Die Einteilung, Architectur und Entwickelung der Knochen. Am menschlichen Körper unterscheidet man den mittleren Teil oder den Rumpf (truncus), auf dem der mit demselben durch den Hals (Collum) vei^bundene Kopf (caput) ruht, und die nach oben und nach unten von demselben ausgehenden Fortsätze, welche obere (extremitas superior) und untere (extremitas inferior) Extremitäten heissen. An allen diesen Teilen unterscheidet man die vordere oder ventrale Ober- fläche und die hintere oder dorsale, das obere Ende, das zum Kopf- scheitel gerichtet ist, und das untere Ende, das zum Boden gerichtet, die seitlichen oder äusseren Oberflächen, welche auf die der Sagittal- ebene, die durch die Mittellinie des Körpers oder der Extremität geht, entgegengesetzte Seite gerichtet sind, und die mittleren oder inneren Flächen, welche zur Mittellinie des Körpers oder der Extremität ge- richtet sind. Die feste Stütze des Körpers bildet das Knochensystem, das aus einer Anzahl von mehr oder weniger beweglich miteinander verbundenen Knochen besteht. Im Einzelnen besteht das Skelett eines jeden Körper- teils aus folgenden Knochenteilen. Die Stütze des Eumpfes und des Halses bilden eine Reihe von Knochen, welche Wirbel (vertebrae) heissen und säulenförmig über einander gelagert sind; alle zusammen bilden die Wirbelsäule (colurana vertebralis). Diese ganze Säule ruht unten auf einem keilförmigen Knochen, dem Kreuzbein (os sacrum), an dessen Spitze sich noch das kleine Steissbein (os coccygis) anschliesst. Das Kreuzbein bildet zu- sammen mit den Knochen, auf denen es ruht (Hüftbein), einen Gürtel, welcher bogenartig gebaut ist; dieser Gürtel heisst Becken (pelvis). Von dem mittleren oder Brustteil der Wirbelsäule gehen zu beiden Seiten derselben zwölf Paar bogenförmige Knochen, die Rippen (costae), aus ; die meisten von denselben reichen durch Vermittelung von Knorpeln — 64 — bis zu den Seitenrändern des Brustbeins (sternum), welches vorn in der Mittellinie des Körpers gelagert ist. Alle diese Knochen zusammen- genommen bilden den Brustkasten (thorax). Die Kopfstütze bildet der Schädel; sie besteht aus dem oberen und hinteren Teil oder der Hirnschale (cranium; calvaria, theca cerebri) und aus dem vorderen und unteren Teil oder dem Gesichtsskelett (facies). Die Wandungen der Hirnschale bilden die Schädelknochen (ossa cranii), das Gesichtsskelett aber die Gesichtsknochen (ossa faciei). Zwischen dem Gesichtsteil des Schädels und dem vorderen, oberen Rande des Brustkastens liegt dem oberen Teil der Wirbelsäure entsprechend noch ein kleiner bogenförmiger Knochen, dessen convexe Seite nach vorn gerichtet ist, er dient dem oberen Teil des vegetativen Rohrs zur Stütze und heisst Zungenbein (os liyoideum). Den oberen Teil des Brustkastens umgiebt ein unvollständiger Gürtel, der aus zwei Paar Knochen besteht, von denen das erste Paar — die Schlüsselbeine (claviculae) vor dem Thorax, das zweite — die Schulter- blätter (scapulae) hinter dem oberen Teil des Thorax gelagert ist. In der Nähe der Berührungsstelle dieser Knochen an dem äusseren Teil des Brustkastens verbindet sich von jeder Seite ein langer Knochen beweglich mit dem Schulterblatt; dieser Knochen dient als Stiel des Obef'arms (humerus s. brachium) und heisst Oberarmbein. An seinem unteren Ende sind die beiden Knochen des Vorderarms (antibrachium) befestigt; der äussere derselben heisst Speiche (os radii), der innere Elle, (os ulnae). Die ganze Extremität endigt mit einem erweiterten Teil, der Hand (manus). Der oberste Teil der Hand, dessen Skelett aus acht Knochen besteht, ist die Handwurzel (carpus); dem folgenden Teil der Hand dienen vier Knochen als Stütze, dies ist die Mittelhand (metacarpus); die Hand endigt mit fünf langen Fortsätzen oder Fingern, welche je drei Knochen enthalten, auch den grossen Finger nicht aus- genommen, welcher keinen entsprechenden Mittelhandknochen hat. Die Seitenteile des Beckens ruhen auf Säulen, den unteren Extremitäten, in denen man den oberen Teil oder den Oberschenkel (femur), den Unterschenkel (crus), und den gewölbeförmigen Fuss (pes) unterscheidet. Dem Oberschenkel dient das Schenkelbein (os femoris) als Stiel; der Unterschenkel enthält zwei Knochen, den inneren oder das Schienbein (os tibiae) und den äusseren oder das Wadenbein (os fibulae). Die hintere Hälfte des Fusses oder die Fusswurzel (tarsus) enthält sieben Knochen (ossa tarsi); vor der Fusswurzel befindet sich der Mittelfuss (metatarsus) , dessen Stütze aus vier Knochen (ossa metatarsi) besteht. Die fünf Fortsätze oder Zehen (digiti) enthalten fünfzehn Zehenglieder (phalanges digitorum pedis). Der menschliche Körper enthält im ganzen 199 Knochen, und zwar: — 65 — die Wirbelsäule besteht aus 24 Knochen der Brustkasten „ 25 ,, der Beckengürtel mit Kreuz- und Steissbein ,, 4 „ die Hirnschale „ 7 „ Gesichtsknochen mit dem Zungenbein „ 15 „ der Schultergürtel mit der oberen Extremität enthält 32 Knochen, im Ganzen 64 ,, die untere Extremität enthält 30 Knochen, im Ganzen 60 „ Summa: 199 Knochen. Ausserdem findet man noch zwischen den Schädelknochen Nahtknochen (ossa suturarum s. Wormiana), deren Zahl unbeständig- ist; in einzelnen Muskelsehnen und in der Nähe ihrer Angriffspuucte giebt es auch kleine Knochen, die unter dem Namen Sesambeine bekannt sind; ihre Anzahl ist gleichfalls veränderlich. Alle Knochen in ihrem gegenseitigen Verhältnis ; genommen und miteinander verbunden bilden das Skelett des menschlichen Körpers. Wenn die Knochen durch natürliche Bänder, d. h. Gelenkkapseln und Hülfsbänder miteinander verbunden sind, so bildet das das natürliclie Skelett, sind sie dagegen durch irgend welche künstlich bereiteten Bänder miteinander verbunden, so giebt das ein künstliches Skelett ab. Das Gewicht des Skeletts eines 25- bis 30jährigen Mannes beträgt 5 bis 6 kg. Nach de Luca ^) übertrifft das Gewicht der rechten Skelett- hälfte das der linken um ein geringes. Aus seinen Untersuchungen ergiebt sich gleichfalls, dass, wenn man das Skelett durch eine durch die Mitte des Nabels gezogene Horizontalebene teilt, das Gewicht der oberen Skeletthälfte dem der unteren gleich ist. Die Hand ist nach de Luca gewöhnlich 1/5 der ganzen Extremität, und ebenso beträgt das Gewicht der Handknochen Vö des Gewichts der ganzen Extremität. Das Gewicht der Fussknochen ist gleich dem doppelten Gewicht der Handknochen. Man kann alle Knochen, wie bereits oben erwähnt wurde, in lange, breite oder flache und kurze oder unregelmässig geformte einteilen. Lange Knochen nennt man solche, deren ein Durchmesser einige Mal grösser ist, als alle anderen. Der Körper oder Schaft (diaphysis) der langen Knochen ist der dünnste Teil derselben, und zwar ist er, je näher zur Mitte, um so dünner; seine Form ist cylindrisch oder drei- seitig-prismatisch. Die Endteile der langen Knochen heissen Epiphysen (epiphyses) und sind bei jungen Individuen durch Knorpelplättchen vom Körper geschieden. Die Fortsätze der Endteile der Knochen, welche eigene Ossificationspuncte besitzen, heissen Apophysen (apophyses). Die 1) Recherches sur les rapports qui existent entre le poids des divers os du sque- lette cLez l'homme. Comptes rendus de l'Acad. des Sciences. Octobre. 1863. 5 — 66 — Endteile der langen Knoclien sind stets verdickt; Merdurch wird 1) die Berührungsfläche mit den benachbarten Knoclien vergrössert, folglich auch die Festigkeit oder Beweglichkeit der Verbindung, 2) werden die Sehnen von der Längsachse des Knochens entfernt, so dass sie unter einem grösseren Winkel an den benachbarten Knochen herantreten, wodurch eine günstigere Anwendung der Muskelkraft erreicht wird, 3) wird die Einwirkung der Stösse und Erschütterungen verringert, da diese Endteile mit elastischen Knorpelplatten bedeckt sind, welche um so grösser sind, je mehr die Epiphyse verdickt ist, 4) wird der Bogen der Bewegung grösser, welcher gleich der Differenz der sich berührenden Flächen ist. Die langen Knochen dienen hauptsächlich den oberen und den unteren Extremitäten als Stütze, sie haben hier die Bedeutung von Hebeln. Vergleicht man die langen Knoclien der Extremitäten des Menschen mit den entsprechenden Knochen verschiedener Tiere, so ergiebt sich, dass, je gewandter ihre Bewegungen sind, sie desto länger und dünner sind, und dass im Gegenteil, je mehr Widerstand sie leisten können, sie um so kürzer und dicker sind. Die breiten oder flachen Knochen haben hauptsächlich zwei Dimensionen. Sie dienen vornehmlich verschiedenen Hohlräumen als Wandungen, und deshalb ist gewöhnlich bei ihnen eine Oberfläche con- vex, die andere aber concav. An den Rändern sind sie dicker, zur Mitte hin aber werden sie dünner, zuweilen sogar ganz durchsichtig. Ihre Eänder können uneben, manchmal zackig sein und dienen in ein- zelnen Fällen Muskeln zum Ansatz. Hierher gehören die Schädel- wandungen, das Becken u. s. w. Die Dimensionen der kurzen oder unregelmässig geformten Knochen sind fast gleich nach allen drei Richtungen. Sie sind an denjenigen Stellen des Knochensystems gelagert, wo die Mannichfaltig- keit der Bewegungen mit möglichst grosser Festigkeit Hand in Hand geht und die Einwirkung der Stösse und Erscliütterungen mög- lichst verringert werden muss, wie z. B. in der Hand- und Fusswurzel, in der Wirbelsäule. An diesen Knochen findet man gewöhnlich zwei bis vier Gelenkoberflächen, welche mit Knorpel bedeckt sind, voraus- gesetzt, dass sie nicht durch flbrilläres oder Knorpelgewebe mit den benachbarten Knochen verbunden sind. Die übrigen Oberflächen sind frei, uneben, oft mit Höckern, Fortsätzen oder Bögen zum Befestigen von Bändern und Muskeln versehen. Der frische Knochen besteht aus Knochengewebe, welches in jedem Knochen je nach der mechanischen Bedeutung desselben gelagert ist; an der Oberfläche ist dieses Gewebe von einer faserigen Haut, der Knochenhaut , umhüllt. An den Berührungsstellen sind die Knochen gewöhnlich von Knorpellamellen bedeckt, diese Stellen heissen Gelenk- oberflächen. In dem Knochen zwischen den einzelnen Bälkchen, oder — 67 - in den langen Knochen in der Mitte sind Zwisclienrämne, Hohlräume oder ganze Canäle vorhanden, welche von sogenanntem Knochenmark ausgefüllt werden. Endlich enthält jeder Knochen noch Gefässe nnd Nerven. Betrachten wir diese Bestandteile einzeln. Die Knochenhaut (periosteum) ist eine elastische, fibrilläre Mem- bran, welche den ganzen Knochen mit Ausnahme der Gelenkflächen bekleidet. Sie enthält alle in den Knochen eintretenden und aus ihm austretenden Gefässe und Nerven, und hat daher unmittelbare Be- ziehung zur Ernährung . des Knochens. In das Periost gehen über und verschmelzen mit ihm alle Bänder, Membranen und Sehnen, überhaupt alle an den Knochen herantretenden faserigen Gewebe. An der Peri- pherie der Gelenkoberflächen geht es direct in die hier vorhandenen Knorpel plättchen über. Es besteht aus fibrillärem Bindegewebe und enthält ein Netz feiner elastischer Fasern; dieses Netz befindet sich gewöhnlich in den tieferen Schichten des Periosts, während an der Oberfläche das fibrilläre Bindegewebe vorwiegt. An der inneren Ober- fläche des Periosts, in den Maschen des faserigen Netzes, sind noch eine beträchtliche Anzahl kleiner, runder Bildungselemente gelagert, die eine Schicht, das sogenannte Cambium, bilden. Die Dicke der Knochenhaut ist nicht überrall gleich, meistenteils entspricht sie den Dimensionen des von ihr umhüllten Knochens ; in der Mitte der langen Knochen ist sie ein wenig dünner, als an den Enden dieser Knochen. Am dünnsten ist sie an der Oberfläche der Sinus oder Hohlräume, welche sich in einigen Knochen des Gesichts und des Schädels vorfinden. Besonders dick ist sie an der unteren Oberfläche des Hinterhauptbeinkörpers. Überhaupt ist sie um so dicker, je grösser der Durchmesser der angreifenden Muskeln ist und je tiefer ihre Sehnen in den Knochen eindringen, ebenso auch je fester und ausgebildeter das an den Knochen herantretende Band ist. Die Dünne des Periosts an den Oberflächen der Schädelsinus wird dadm-ch bedingt, dass an diesen Oberflächen weder Muskeln, noch irgend welche festen Gebilde ihren Ursprung nehmen und dass nur die in die Sinus eindringende Luft mit ihnen in Berührung kommt. In der Jugend ist die Festigkeit der Verbindung des Periosts mit der Oberfläche des Knochens sehr unbedeutend, mit zunehmendem Alter aber wird sie sehr beträchtlich. Im allgemeinen aber verbindet sich das Periost besonders stark mit den unebenen Oberflächen der Knochen, an der Oberfläche der kurzen und an den Enden der langen Knochen. An dem Schaft der langen Knochen und in der Mitte der breiten Knochen jedoch lässt es sich sehr leicht loslösen. Die Festigkeit der Verbindung hängt nicht nur von der Anzahl der aus dem Periost in den Knochen übergehenden Gefässe, sondern hauptsächlich von dem Verschmelzen seiner Fasern mit dem Knochengewebe selbst ab. — 68 — Die Anzahl der Gefässe im Periost ist stets bedeutend. Am Schaft der langen Knochen gehen die Gefässe meistenteils an den Ansatz- stellen der Muskeln, Sehnen und Fascien in die Knochenhaut über'). Im Femur z. B. verlaufen die Gefässe hauptsächlich an der sogenannten rauhen Linie (linea aspera), welche sich in der Mitte des hinteren Teiles dieses Knochens befindet und fast die ganze Länge desselben einnimmt. Von hier aus gehen dann Äste nach oben zu den Rollhügeln und nach unten zu den Gelenkknorren. Diese Gefässe entsenden Seiten- äste, welche beiderseits den Knochen wie Ringe umgeben. Am Femur sind 6 — 7 solcher Ringe. Diese Ringe verbinden sich durch auf- und absteigende Ästchen miteinander, und ebenso münden in sie die von den Enden der Knochen ausgehenden Äste hinein. An den Enden der Knochen communiciefen die Äste mit den sogenannten Gelenknetzen (retia articularia). Alle diese Gefässe teilen sich, communicieren unter- einander und bilden Netze, deren Äste in die feinen Öffnungen der Oberfläche des Knochens eintreten; hier gehen sie in ein Capillarnetz über und verästeln sich in den Gefässcanälchen der Knochen. Trennt man die Knochenhaut vom Knochen, so erscheinen die zusammen- geschrumpften Gefässe als dünne Fäden zwischen der Innenfläche der Knochenhaut und dem blossgelegten Knochen. Bei der Vernichtung eines grossen Teils des Periosts wird dem darunter befindlichen Knochen die Nahrung entzogen und er stirbt ab, ist es jedoch nur auf kleine Strecken zerstört oder verändert, so wird die Ernährung durch die be- nachbarten Gefässe wiederhergestellt. Die grösseren Arterien werden gewöhnlich von zwei Venen begleitet, welche aus unabhängig von den Arterien verlaufenden Venen ihren Ursprung nehmen. Nerven sind in der Knochenhaut stets in ziemlich grosser Anzahl vorhanden, anfangs verlaufen sie zusammen mit den Gefässen, später aber trennen sie sich von denselben, bilden ein feines Netz und ent- senden Ästchen, welche in das Knochengewebe eintreten. An einigen Stellen endigen die Nerven im Periost mit Verdickungen — Vaterschen Körpern, wie z. B. in den Knochen der Extremitäten u. s. w. (Rauber). Das Periost enthält alle zur Ernährung des Knochens dienenden Gefässe, und deshalb hat eine Veränderung oder Zerstörung desselben stets auch eine Veränderung des entsprechenden Knochens zur Folge. Ollier-) suchte durch seine Experimente zu beweisen, dass das Periost auch die Bedeutung eines knochenbildenden Organs besitze. Er kam zu folgenden Resultaten. 1) Vgl. Langer. Über das Gefässsystem der Röhrenknochen. Wien. 1875, pag. 3. 2) Recherches experimentelles sur la production artif. des os, au moyen de la transplantation du perioste. Societö de biologie. 1858, pag 146. — 69 — 1) Trennt man ein Stück der Knochenhant vom Knochen, jedoch so, dass sie an einer Stelle noch mit dem Knochen in Verbindung bleibt, und versetzt man es unter die Haut oder zwischen die benach- barten Muskeln, so bildet sich an der Innenfläche desselben (die früher den Knochen berührte) Knochen, der eine unmittelbare Fortsetzung des Hauptknochens bildet. 2) Befestigt man das Stück zwischen den Weichteilen und schneidet man es nach einigen Tagen ab, so dass es vom Knochen ganz und gar getrennt ist, so bildet sich an seiner Innenfläche Knochen, der in Bezug auf Dimensionen und Form von dem, von welchem die Haut genommen worden ist, Ähnlichkeit hat. 3) An der Innenfläche eines Knochenhautstücks, das ganz und gar von dem Ort seiner Lagerung losgelöst und zwischen dem benachbarten oder sogar mehr oder weniger entfernten Weichteile eingebettet worden ist, bildet sich gleichfalls Knochen, dessen Form und Dimensionen an den Knochen erinnern, zu dem das Knochenhautstück gehörte. 4) Ein Perioststück , welches von einem Tier genommen ist und auf ein Tier derselben Art übertragen wird, behält noch die Fähigkeit Knochen zu bilden; derselbe entsteht jedoch nicht, sobald man das Stück auf ein Tier einer anderen Art überträgt. 5) Der Knochen entsteht stets an der inneren (früher zum Knochen gerichteten) Fläche des Periosts, und zwar entwickelt er sich aus den Elementen, welche hier gelagert sind; schabt man bei dem Stück diese Elementschicht ab, so bildet sich kein Knochen. Die Experimente von Heine^) haben ausserdem gezeigt, dass, wenn man z. B. beim Hunde das Wadenbein oder eine Rippe zusammen mit dem Periost ausschneidet, der Knochen meder entsteht und seine '' frühere Form wieder annimmt. Die Form des neu entstehenden Knochens ent- spricht zwar nicht ganz der normalen, dieses kann jedoch davon ab- hängen, dass die Muskeln und überhaupt die benachbarten Gewebe sich in unnormalen Bedingungen befanden und noch nicht auf die Ausbildung der Formen einwirken konnten. Endlich haben auch die veränderten statischen und mechanischen Bedingungen, welche bei der Verwachsung und Neu- bildung des Knochens vorhanden sind, ihre Bedeutung. Welche Rolle bei der Neubildung des Knochens die umgebenden Weichteile spielen, kann man daraus ersehen, dass der an der Oberfläche der Knochenhaut entstandene Knochen nach einiger Zeit wieder resorbiert wird; man muss dieses der Wirkung der benachbarten Weichteile, besonders der Muskeln, zu- schreiben. 1) Über die Regeneration gebrochener und resecierter Knochen, Virchow's Archiv f. pathol. Anat. und Physiol. Bd. XV. — 70 - In letzter Zeit liat Strawinsky ^) die Experimente von Ollier wieder- holt. Die von ihm erhaltenen Resultate sind mit den angeführten ganz identisch; er versichert, dass an einem Knochenhautstück, welches von einem Kaninchen 48 Stunden nach seinem Tode genommen und auf ein lebendes Kaninchen übertragen wird, sich noch Knochengewebe bildet, vorausgesetzt, dass die Elemente an der Innenfläche der Knochenhaut nicht abgeschabt worden sind. Ausser allem Angeführten hat das Periost zweifellos aucli die Be- deutung einer fibrillärelastischen Hülle, welche dem von ihr bekleideten Knochen an seiner ganzen Oberfläche fest anliegt; dadurcli vergrössert es natürlich den Grad der Widerstandsfähigkeit und der Elasticität des Knochens, wodurch derselbe jedoch nicht viel an Gewicht zu- nimmt. Die Berührungsflächen der Knochen. Sind die Knochen mit- einander verbunden, so gehen sie entweder vermittels irgend eines Zwischengewebes ineinander über, oder die Verbindung wird unter- brochen, und sie sind nur durch eine Membrankapsel, welche von der Peripherie des Endes des einen Knochens zur Peripherie der Enden der benachbarten Knochen geht, verbunden. Die Berührungsflächen der benachbarten Knochen heissen in letzterem Falle Gelenkflächen , die ganze Verbindung aber — Gelenk. Die unmittelbare Verbindung der Knochen ohne Unterbrechung ihrer Substanzeinheit kommt am häufigsten zwischen breiten und kurzen Knochen vor. Die Verbindungsstellen der Knochen sind uneben, rauch, zuweilen gezahnt, mit Höckern oder schräg abgeschnittenen Rändern versehen; die Zwischensubstanz des Knochengewebes geht hier unmittel- bar in die Zwischensubstanz des zwischen diesen Knochen gelagerten Gewebes über, hierauf erst treten auch die Elemente dieses letzteren Gewebes auf. Die Gelenkflächen kommen am häufigsten an den Enden der langen Knochen vor; sie sind glatt, feucht und mit mehr oder weniger dicken Platten aus Hyalinknorpel bedeckt. Diese Plättchen sind 0,5—4 mm dick. Je grösser die Beweglichkeit zwischen den sich berührenden Knochen, desto dicker ist die Knorpellamelle, welche der Einwirkung der mit der Bewegung verbundenen Stösse und Erschütterungen vor- teilhaft Widerstand leistet, und umgekehrt je geringer die Beweglich- keit und je grösser die Festigkeit, desto dünner ist die Knorpellamelle. Die Form der Gelenkflächen ist ziemlich regelmässig, und dieselben er- scheinen als Vorsprünge oder als Vertiefungen; in letzterem Falle heissen sie je nach ihrer Tiefe Gruben, Einsenkungen oder Pfannen. 1) Gazeta lekarska. Bd XXIII. Nr. 7—21. — 71 — Im erstereil Falle aber können sie in Form eines kugelförmigen oder irgendwie anders geformten Vorspruugs erscheinen; befindet sicli diese Oberfläche auf dem erweiterten Ende des Knochens, welches von dem Knoclienschaft durch einen schmalen Teil getrennt ist, so lieisst dieses Knochenende Kopf (caput articulare), der schmale Teil aber — Hals (Collum). Derjenige Teil des Knochens, welcher in einer der Längs- achse perpendiculären Richtung vorspringt, heisst Knorren (condylus). Die Knorpelplatten sind so fest mit dem darunterbefindlichen Knochen verbunden, dass man sie nicht loslösen kann; sie werden stets zusammen mit einer Schicht Knochengewebe abgerissen. Die Elemente sind in einer solchen Knorpellamelle so gelagert, dass in der Nähe der freien Oberfläche der Längsdurchmesser derselben dieser Oberfläche parallel ist; näher zum Knochen aber wird dieser Durchmesser der Längsachse des Knochens parallel. An der Stelle, wo die Knorpellamelle in den Knochen übergeht, verschwinden die Knorpelelemente, in der hj^alinen Zwischensubstanz treten Kalkahlagerungen auf, hierauf folgt eine Schicht Zwischensubstanz des Knochens, und auf diese erst folgt die Schicht mit Knochenhöhlen und Elementen. Eine derartige Verbindung erklärt die Festigkeit des Zusammenhanges zwischen Knorpel und Knochen. Die Architectur der Knochen. Das Knochengewebe, der Haupt- bestandteil des Knochens, ist entweder ganz dicht und homogen, oder bildet dünne Bälkchen und Plättchen, zwischen denen Hohlräume von verschiedenen Dimensionen freibleiben. Im ersten Falle heisst das Knochengewehe feste Knochenmasse (substantia compacta), im letzten — schwammige oder zellenartige Sub- stanz (substantia spongiosa s. cellularis), oder aber netzförmige Sub- stanz (substantia reticularis). Die schwammige und die netzförmige Substanz unterscheidet sich nur durch die Dicke ihrer Bälkchen und durch die Grösse der Zwischen- räume. Sind diese Zwischenräume sehr gross, die sie trennenden Bälkchen aber verhältnismässig klein, so dass die Zwischenräume durch grosse Öifnungen miteinander communicieren und nicht mehr das Aus- sehen abgeschlossener Zellen haben, so wird das Gewebe netzförmig genannt, im entgegengesetzten Falle aber — schwammig. Die Zwischenräume der Spongiosa heissen Markhöhleu. Die Compacta ist an der Oberfläche der Knochen gelagert; am stärksten ist sie in der Mitte der langen Knochen, und je fester und entwickelter ein solcher Knochen ist, desto dicker ist die Schicht der Compacta. An den Enden der langen und an der Oberfläche der dicken Knochen bildet sie nur eine dünne Schicht, und je grösser die Dimen- sionen derselben, desto dünner die Schicht. Die breiten Knochen be- stehen aus zwei ziemlich dicken Platten aus compacter Knochensubstanz, welche in der Mitte des Knochens gewöhnlich zusammentreffen, nach — 72 — den Rändern zu aber auseinanderg-elien so dass der Radius der inneren Platte stets kleiner ist, als der der äusseren. Die Compacta hat die Bedeu- tung einer Stütze oder einer Säule, welche voraussichtlich aus Schichten concentrischer, sich eng aneinander schliessender Plättchen besteht. Die Spongiosa besteht aus verschiedenen dicken Plättchen oder Sparren, welche in jedem gegebenen Knochen seiner mechanischen Be- deutung entsprechend gelagert sind. Diese Plättchen bilden die Fort- setzung der Compacta an der Oberfläche der Knochen. Die Hohlräume der Spongiosa haben das Aussehen von Zellen; sie sind von verschiedener Grösse, wobei die kleineren näher zur Oberfläche, die grösseren aber zur Mitte hin gelagert sind. Die Spongiosa kommt an den Enden der langen Knochen vor; ausserdem bildet sie den Hauptbestandteil der dicken Knochen und ist ebenso zwischen den Platten der breiten Knochen gelagert, wo sie Zwischensubstanz (diploe) heisst. Die netzförmige Substanz findet man nur in der Mitte des Schaftes der langen Knochen. Sie bildet gleichfalls die Fortsetzung der Lamellen der Compacta, und ihre Bälkchen sind ebenfalls der mecha- nischen Bedeutung desjenigen Knochenteils, wo sie sich befindet, ent- sprechend gelagert. Die Knochen sind so gebaut, dass sie mit maximaler Festigkeit maximale Leichtigkeit und minimalen Material- aufwand vereinigen, wobei nach Möglichkeit die Einwirkung jeder Erschütterung durch bei der Bewegung erzeugte Stösse vermindert wird. Dieses ist das Grundgesetz der Architectur des ganzen Knochen- systems. Früher war man der Meinung, dass die Spongiosalamellen ganz unregelmässig und nicht gesetzmässig gelagert seien. Professor Hum- pliry ^) in Cambridge wandte zuerst die Aufmerksamkeit auf die Be- ständigkeit und Regelmässigkeit der Spongiosaarchitectur in den Wirbelkörpern. Hierauf bewies Hermann Meyer ^) in Zürich, dass die Spongiosa stets eine ganz bestimmte, regelmässige Architectui- be- sitze, welche sich nur je nach dem Ort der Lagerung des betreffenden Knochen verändere. In der Naturforscherversammlung, wo Meyer seine Präparate demon- strierte, war der berühmte Professor Culmann zugegen. Diese Präpa- rate betrachtend, bemerkte er^), dass die Balken der Spongiosa in 1) A Treatise on the human skeleton (including the joints). Cambridge. 1858, pag. 137. 2) Die Architectur der Spongiosa. Arch. f. Anat. etc. v. Reichert u. du Bois- Reymond 1867, pag. 615-628. 3) Vgl. die Abhandlung von Jul. Wolff. Über die innere Architectur der Knochen und ihre Bedeutung für die Frage vom Knochenwachstum. Archiv f. pathol. Ana- tomie etc. R. Virchow. Bd. L. II. 3. 1870, pag. 401. 73 — vielen Teilen des meuschliclien Körpers nach genau denselben Linien gelagert sind, die von den Mathematikern in der graphischen Statik bei dem Aufbau von Körpern gezogen werden, welche ebensolche Form, wie die demonstrierten Knochen, haben und welche ebensolclien Kräften Widerstand leisten, wie sie auf den Knochen einwirken. Zur Bekräftigung seiner Worte zeichnete er einen der oberen Hälfte des menschlichen Femur ähnlichen Krahn auf und trug seinen Schülern auf, die Linien zu construieren, welclie zum Widerstand gegen eine von oben auf das obere Ende des Femur wirkende Kraft nötig wären. Es erwies sich, dass die von ihnen construierten Linien ebenso gelagert waren, wie die Spongiosabälkchen im oberen Ende des Femur. Balken heissen in der Lehre vom Widerstand der Materialien Körper, die durch die Bewegung einer ebenen Figur, z. B. eines Kreises oder Vierecks, auf solche Weise erzeugt werden, dass der Schwerpunct Fig. 14. der Figur eine ununterbrochene gerade oder gebogene Bahn beschreibt, zu der die Ebene der erzeugenden Figur stets normal bleibt. Die erzeugende Figur heisst Querschnittfläche, die Bahn des Schwerpuncts aber Achse des Balkens. i) Befestigt man einen gebogenen Bal- ken oder Krahn ABC (Fig. 14-) an seiner Basis A B und lässt man auf sein oberes Ende C die Last D wirken, so werden alle Teilchen des Krahns, welche zwi- schen B und C gelagert sind, zusammen- gedrückt, während die zwischen A und C gelagerten im Gegenteil auseinander- gezerrt werden. Selbstverständlich muss es zwischen den durch den Druck sich einander nähernden und den durch den- selben sich von einander entfernenden Teilchen eine Schicht geben, wo man weder das eine, noch das andere findet, — dieses ist die neutrale Achse CE, die im Längsschnitt des Krahns gelagert ist. Je näher die Teilchen der neutralen Achse sind, desto geringer ist also die Spannung, welche in ihnen durch den Zug oder den Druck erzeugt wird. Auf diese Weise kann man also den Grad des Zuges 1) Vgl. Culmann. Die graphische Statik. Zürich. 1866, pag. 209. 2) Die Abbildungen sind der Abhandlung von J. Wolff entnommen. 74 — (oder die Ziig-spannimg) der einzelnen Teilchen in der Hälfte FH des Querschnitts FG durch die Länge von zu FH normalen und gegen C hin gerichteten Pfeilen ausdrücken. Ebenso kann man auch auf der Seite des Druckes den Grad desselben (oder die Druckspannung) in den einzelnen Teilchen durch die Länge von zu HG normalen, aber gegen AB hin gerichteten Pfeilen bezeichnen. Demzufolge kann die Zugspannung durch die Lage der die Enden der Pfeile verbindenden Linie LH in Bezug auf den Querschnitt, die Druckspannung aber durch die Lage der Linie HM zu demselben Quer- schnitt ausgedrückt werden. Die Wirkung der Last D auf den Krahn besteht nicht blos im Zug und im Druck, sondern die Teilchen eines jeden Querschnitts haben zugleich die Intention, sich gegen die Teilchen des benachbarten Quer- schnitts zu verschieben, die Teilchen eines jeden Längsschnitts aber zeigen dieselbe Litention in Bezug auf die Teilchen des benachbarten Längsschnitts. Die diese Er- u scheinung hervorrufende Kraft heisst Schub- oder Scheerkraft. Hierbei muss notwendig in jedem Quer- oder Längsschnitt eine Spannung entstehen, die der Verschiebung zweier benach- barter Quer- oder Längsschnitte Widerstand leistet — dieses ist die Schubspannung. Die Verschiebungstendenz ist in der neutralen Achse am stärksten und fehlt ganz an den Stellen des grössten Zuges und Druckes. Hiervon kann man sich am besten auf folgende Weise über- zeugen: nimmt man einen ge- raden Balken (ab cd Fig. 15 A), und zei-sägt man ihn genau durch die neutrale Achse (B), so wird die dem Schub entgegenwirkende Spannung keinen Widerstand linden und deshalb wird die untere Hälfte des Balkens beim Biegen (unter der Einwirkung einer Last) unter der oberen Hälfte auf die Entfernung ef hervortreten. Diese Entfernung ef wird jedoch be- deutend geringer, wenn man den Balken in der Nähe der oberen oder unteren Oberfläche in zwei ungleiche Teile zersägt. — 75 — Auf der oben gegebenen Zeichnung eines Kralins kann man also auf dem Querschnitte JK die Wirkung der Schubkraft durch Linien, welche zu der Normalebene des Querschnitts JK vertical sind, dar- stellen; verbinden wir die freien Enden dieser Linien, so erhalten wir den Bogen JNK, welcher die Schubkräfte graphisch darstellt. Be- sonders verdient hier erwähnt zu werden, dass die Schubkräfte in einer jeden Querschnittebene ebenso gross sind, als in der Längsschnittebene derselben Stelle '). Wenn in einer bestimmten Richtung eine Schub- oder Scheerkraft nicht vorhanden ist, so können an diesen Stellen die Fasern des Balkens entfernt werden (Fig. 16), ohne dass dadurch die Festigkeit des Balkens vermindert wird. Nach der Entfernung dieser Fasern würden Fasern oder Linien übrigbleiben, welche von den Stellen des grössten Druckes, und solche, welche von den Stellen des grössten Zuges ausgehen. Diese Linien heissen Zug- und Druckcurven. Sie sind an den Stellen des grössten Zuges und des grössten Druckes, d. h. an ihrem Anfange, der neutralen Achse Fig. 16. UJJJ mm parallel; sie treffen die neutrale Achse unter einem Winkel von 45", und durchkreuzen einander unter einem rechten Winkel. Eine Schub- oder Scheerkraft ist in ihnen nicht vorhanden (Culmann-), Man kann natürlich durch die Analyse der Curvensysteme leicht bestimmen, in welcher Rich- tung der gegebene Balken dem durch Belastung ausgeübten Zug oder Druck am meisten Widerstand leistet. Aus all diesem folgt, dass, wenn man einen Körper aus gebogenen Bälkchen, die in den Richtungen der Zug- und Druckcurven gelagert sind, construiert, dadurch die Schubkraft aufgehoben wird und dem Druck und Zug der grösste Widerstand geleistet wird. Ein solcher Körper kann ohne Veränderung eine ebensolche Belastung aushalten, als wenn er compact wäre (Culmann'^). In einem Balken kann man selbstverständlich eine unendliche Menge Zug- und Druckcurven ziehen; wie viele man ihrer in jedem gegebenen Falle construieren muss, das hängt von der Grösse der Belastung und von der Qualität des an- gewandten Materials ab. 1) Culmann, 1. c. pag. 224. 2) L. c. pag. 230. 3) L. c. pag. 237. — 76 — Eine solche Bauart, welche in der Praxis 211m ersten Mal von Pauli zur Stützung der hängenden Brücken angewandt wurde, zeichnet sich, wie Culmann sagt, dadurch aus, dass sie bei einer möglichst zweck- mässigen Form, durch die jede Erschütterung der Brücke nach Möglich- keit vermieden wird, den Materialaufwand und die Baukosten auf ein Minimum reduciert.^) Studiert man die Architectur des Knochensystems, so kann man sich leicht überzeugen, dass es den eben angeführten Ausführungen voll- kommen entspricht. Wenn man z. B. das Schenkelbein des Menschen (in einer Frontalebene) mitten durchsägt und betrachtet, so sielit man ganz deutlich, dass sein Körper einen hohlen Cylinder darstellt, . dessen Wandungen in der Mitte am dicksten sind und aus com- pacter Knochensubstanz be- stehen. Diese Substanz kann man sich aus der Knochen- achse parallelen concen- trischen Haversischen und anderen Lamellen bestehend denken. In seinem oberen Teil ist dieser Knochen krahn- förmig gebogen (Fig. 17), seine Oberfläche ist mit einer dünnen Schicht fester Knochensubstanz bedeckt und er enthält Spongiosa, in der man ganz deutlich die gebogenen Bälkchen ver- folgen kann. Diese Bälk- chen entspringen an der inneren Peripherie (vorn, hinten, aussen und innen) der Compacta und verlaufen bogenförmig zur Mitte des Knochens; hier treffen sie die Knochenachse unter einem Winkel von 45'*, einander aber durchkreuzen sie unter einem rechten Winkel, ver- 1) L. c. pag. 398 und 403. — 77 — folgen darauf ilire Baliii bis zur (esten Oberfläche der entgegengesetzten Seite weiter und endigen liier, wobei sie dieselbe unter einem rechten Winkel treffen. Im oberen Teil der inneren Peripherie der Compacta, von der Stelle, wo der Knochen eine Biegung nach innen erhält, gehen Bälkchen, welche sich fächerförmig auseinanderbreiten und nach oben, zur Stelle der grössten Belastung (K), verlaufen. Diese Bälkchen durchkreuzen gleichfalls in der Mitte des Knochen die von der ent- gegengesetzten Seite kommenden unter einem rechten Winkel und die Knochenachse unter einem Winkel von 45". In dem hervortretenden Höcker an der äusseren Peripherie des ge- bogenen Knochenteils sind ebenfalls sich kreuzende Bälkchen vorhanden, welche von der Compacta der äusseren Oberfläche des Höckers aus- gehen. Dass die Bälkchen der Spongiosa des oberen Endes dieses Knochen an der ganzen Peripherie der Compacta entspringen, sieht man an Querschnitten dui'ch diesen Knochenteil sehr gut; stets sind die durch die sich kreuzenden Curven entstandenen concentrischen KJi'eise, die dui'ch Bälkchen miteinander verbunden sind, ziemlich deutlich zu sehen. Alle diese Besonderheiten der Architectur kann man sich auf Grund der oben angeführten Gesetze leicht erklären: der Körper der langen Knochen ist eine cylindrische Säule, deren Substanz an der äusseren Hälfte der Innenfläche in Zugcurven, an der inneren Hälfte der Innen- fläche aber in Druckcurven übergeht. Diese Curven verlaufen in der Richtung zur Knochenachse, durchkreuzen dieselbe unter einem Winkel von 45" und leisten hier, wie bekannt, der Schub- und Scheerkraft den grössten Widerstand. In dem Hohlraum des Körpers der cylindrischen Säule findet man ausserdem noch sich in der Mitte durchkreuzende Bälkchen, welche hauptsächlich dem den Hohlraum ausfüllenden Gewebe und den hier durchgehenden Gefässen als Stütze dienen. Teilweise geben sie auch den Wandungen des Balkens selbst eine grössere Festigkeit. Als ein anderes Beispiel kann man einen dicken Knochen nehmen, und zwar den hintersten Knochen der Fusswurzel, das genannte Fersen- bein. Er ist ein Teil des Fussgewölbes; auf den vorderen Teil seiner oberen Fläche stemmt sich die untere Extremität, wobei sie also mit dem ganzen Körpergewicht auf diesen Knochen drückt, wälirend sich an dem hinteren Teil der unteren Fläche ein Höcker befindet, der den hinteren Schenkel des Fussbogens — den sich auf den Boden stützenden Teil — bildet. Durchschneidet man den Knochen in sagittaler Richtung durch die Mitte (Fig. 18), so kann man sehen, dass der Knochen an seiner ganzen Peripherie mit einer dünnen Schicht fester Knochensubstanz bedeckt ist; die Spongiosa aber besteht aus einem System hinterer Sparren, — 78 — welclie sicli bogenförmig von der inneren Fläche der Compacta des Fersenliöckers (CC'C) bis zum Ort der maximalen Belastung (F) hinziehen, und einem System vorderer Sparren, die an der Berührungs- fläche des Fersenbeins (BD) mit dem vor ihm gelagerten Würfelbein (welches das Fussgewölbe weiter nach vorn begrenzt) ihren Anfang nehmen und gleichfalls zum Ort der maximalen Belastung (F) gehen; ausserdem verlaufen noch bogenförmige Sparren auch von den Seiten- teilen der unteren Fläche des Fersenbeins zu demselben Ort; alle diese Bälkchen zusammengenommen bilden gleichsam concentrische Kuppeln (mit strahlenförmigen Spalten zwischen den Sparren), deren Scheitel- puncte an der Belastungsfläche, die sich am Höcker vorn an der oberen Knocherfläche befindet, zusammentreffen. Ausser diesen Bälkchen sind noch andere vorhanden, welche gleichfalls ein System von Kuppeln bilden, nur dass ihre stumpfen Gipfel sich unten in der Mitte der Fig. 18. unteren Fläche des Fersenbeins be- ^ ^ finden (H), ihre Basis ist nach vorn und nach oben (B D) , nach hinten und nach oben (AG ') und zu den oberen Flächen der Seitenwandungen gerichtet. Im Centrum bleibt ein Q, dreieckiger Zwischenraum frei, den nur stellenweise dünne Bälkchen durchsetzen, um die darin enthaltenen G-ewebe und Gefässe zu stützen. Die ersteren Sparren bilden das System der Druckcurven, die letzteren — das der Zugcurven; diese letzteren durchkreuzen die ersteren unter einem rechten Winkel und hindern das Auseinanderweichen derselben, welches durch den Wider- stand des Bodens hervorgerufen wird. In der Mitte bleibt ein in- differenter Zwischenraum; hier ist das Vorhandensein von Sparren unnötig; denn die Festigkeit wird nicht geringer, wenn sie fehlen, dabei gewinnt man aber, ganz übereinstimmend mit dem obengegebenen Gesetz, an Gewicht und an Aufwand von Material. Aeby ^) wollte das allgemeine Gesetz für den Verlauf der Spongiosa- sparren ausdrücken; er formulierte es folgendermassen : „Die Spongiosa- sparren sind dort, wo die Achsen der einander berührenden Knochen parallel bleiben, stets parallel zueinander gelagert; wo dies jedoch nicht der Fall ist, oder wo der parallele Verlauf der Achse unter- brochen wird, da convergieren die Sparren zum freien Ende des Knochens." 1) Centralblalt f. d. med. Wissenschaft, Jahrg. 1873 Nr. 50, pag. 786. 79 — Fig. 19. Dieses Gesetz erklärt bei weitem nicht den Verlauf der Spongiosa- sparren in den verschiedenen Teilen des Knochensystems. In der That sind in den Teilen, wo die Knochen so miteinander verbunden- sind, dass ihre Achsen zusammenfallen oder der Körper- oder Extremitäten- achse parallel bleiben, auch die Sparren diesen Achsen parallel und durchkreuzen andere, quer verlaufende, unter rechtem Winkel; dieses sieht man z. B. an den Wirbelkörpern des Menschen (Fig. 19). Man kann gleichfalls annehmen, dass die Compacta der langen Knochen des Menschen aus concentrisch gelagerten Sparren, die der Knochenachse parallel sind, besteht. Diese Annahme wird durch die Lagerung der Haversischen und anderen Cylinder in der Compacta der lange Knochen vollkommen bewiesen. Hier ist in der That ihr Längsdurchmesser der Knochenachse parallel, wie oben bereits erwähnt wurde. Daher tritt das feste Knochengewebe stets in den Teilen auf, wo möglichst grosse Festigkeit zum Widerstand gegen Druck und Zug erforderlich ist; die Plättchen, aus denen es besteht, widerstehen dem auf sie wirkenden Zug oder Druck stets unter rechtem Winkel. Sie sind folglich, was Festigkeit und Widerstandskraft an- betrifft, sehr vorteilhaft gelagert, sehr ungünstig aber, wenn man die Über- tragung der Stösse und Erschütte- rungen ins Auge fasst. Da sie der Knochenachse parallel sind, so ver- laufen sie in der kürzesten Entfernung zwischen der auf sie wirkenden Last und der Stütze, die Curven der Spon- giosa sind länger, deswegen verteilen sich die Stösse und Erschütterungen auf eine grössere Fläche, und schon dadurch wird ihre Einwirkung verringert. Dasselbe beobachtet man auch in anderen Knochen, z. B. in den Wirbeln. Bei dem Menschen sind die Wirbelkörper in ihren Dimensionen verhältnismässig grösser, bestehen jedoch fast ausschliesslich aus Spongiosa und sind an ihrer Oberfläche nur von einer dünnen Schicht fester Knochensubstanz bedeckt. Die Wirbelkörper bei Tieren aber, z. B. beim Pferde, Bären u. s. w. sind an Dimensionen kleiner und schmäler, wobei die compacte Knochen- schicht an ihrer Oberfläche bedeutend dicker ist. Sie bilden Teile des Gewölbes zwischen den vorderen und hinteren Extremitäten, und des- halb werden die die Bewegungen begleitenden Stösse und Erschütterungen nicht so leicht auf die Centralorgane übertragen, wie beim Menschen, bei dem die Wirbelkörper eine Säule und nicht ein Gewölbe bilden. Wenn nun aber in der Mitte der dicken Knochen, deren Achsen mit denen der benachbarten Knochen zusammenfallen oder denselben parallel bleiben, die Bälkchen diesen Achsen parallel gelagert sind — 80 — (was man auch in Bezug auf die Knocliensubstanz der Mitte langer Knochen annehmen kann), so verändert sich ihre Richtung dennoch, sobald sich diese Bälkchen den [Berührungsflächen der Knochen oder den Gelenkenden nähern, denn liier gehen dieselben stets auseinander und ändern ilu'e Richtung um so mehr, je mehr sich diese Flächen oder Enden erweitern. Hier convergiereu die Bälkchen nicht, sondern im Gegenteil, sie divergieren und haben überhaupt einen Bau, der im Princip dem Bau des Fersenbeins ganz entspricht. Eine solche Ai'chi- tectur findet man in den Wirbelkörpern, welche sich an den Stellen, wo sie die verbindenden Knorpellamellen berüln-en, erweitern, ebenso am unteren Ende des Schenkelljeins u. s. w. Die langen, kurzen und breiten Knochen müssen also folgender- massen construiert sein: 1) Die langen Knochen werden an den Enden (Epiphysen) stets breiter. Die Knochensubstanz ist in ihnen gewöhnlich so gelagert, dass sie an der Oberfläche des Knoclienkörpers eine mehr oder weniger dicke Schicht Compacta bildet; der Hohlraum dieses Cylinders ist von netz- förmigem Knochengewebe, welches aus in der Knochenachse einander ki'euzenden Sparren besteht, ausgefüllt. Zu den Enden hin gehen die Plättchen der Compacta in Spongiosa über, welche aus Druck- und Zug- curven besteht, die einander in der Knoclienachse unter rechtem Winkel dui'chkreuzen und sich dann bis zur Compacta der Knochenenden fort- setzen und mit ihr in eins zusammenfliessen. 2) Die Längsachse der kurzen oder dicken Knochen kann entweder mit der Körper- oder Extremitätenachse zusammenfallen oder sie unter rechtem Winkel treffen. Im ersteren Fall gewäln-en diese Knochen durch ihre vergrösserte Oberfläche den benachbarten Teilen eine stärkere Stütze und bestehen aus netzförmiger Knochensubstanz, deren Sparren der Peripherie des Knochens parallel zmschen der compacten Schicht des oberen und der des unteren Knochenplättchens gelagert sind; sie durchki-euzen andere Sparren, welche von der Dura der Knochen- peripherie ausgehen. Die peripheren Wandungen sind niemals gerade, sie sind meistenteils von aussen concav. Im zweiten Falle bestehen die Knochen aus Druckcurven, die von den Seitenwänden bis zum Ort des maximalen Druckes von Seiten der darüberliegenden Belastung ver- laufen, und aus Zugcmwen, die auch von den Seitenwänden ausgehen, nur in entgegengesetzter Richtung, nämlich zum Boden hin. In der Mitte zwischen den Druck- und Zugcui^ven bleibt ein indifferenter Zwischem^aum. 3) Die breiten oder platten Knochen bestehen aus parallelen Com- pactaplättchen; dieselben werden durch eine Zwischenschicht netz- förmiger Knochensubstanz (diploe), welche aus sich durchkreuzenden Curven besteht, miteinander verbunden. — 81 — lu Betreff der Verteilung der Spongiosa und iln'er Architectur kann man augenscheinlich folgendes sagen: 1) Die Spongiosa tritt in allen denjenigen Knochen oder Teilen derselben auf, wo es erforderlich ist, bei möglichst grosser Festigkeit das Volumen und die Berührungsoberfläche derselben zu vergrössern, damit der Bevvegungsbogen und die Stütze der einzelnen Teile des Knochensystems zuneinne und damit der Einwirkung der Stösse und Erschütterungen möglichst vorteilliaft Widerstand geleistet werde. 2) Die Spongiosasparren sind parallel gelagert, wenn die Längs- achse des Knochens mit der Körperachse zusammenfällt oder ihr parallel ist, und solange der Querdui-climesser des Knochens sich nicht verändert-, im entgegengesetzten Falle bilden die Sparren Zug- und Druckcurven, die der Schub- oder Scheerkraft Widerstand leisten. Über die Architectur der Knochen haben geschrieben: H. Meyer. Die Architectur der Spongiosa. Arch. Reichert und Du Bois-Eej^mond. 1867, pag. 615 — 628 und Die Statik und Mechanik des menschlichen Knochengerüstes. Leipzig. 1873, pag. 40—46. J. Wolff. Centralblatt. 1869. Nr. 54 und Virchow's Archiv. Bd. L. Berlin. Ib70, pag. 389— 450. Zaaijer. De architectuur der beenderen. Nederlandsch. Tijdschrift voor Geneeskunde. 1871. Wolfermann. Beitrag zur Kenntnis der Architectur der Knochen. Ar'ch. Reichert und Du Bois-Rejonond. 1872, pag. 312—346. Aeby. Centralblatt f. d. med. Wissensch. 1873. Nr. 50, pag. 786 und Correspondenz- Blatt f. Schweizer Arzte. 1874. Nr. 7, pag. 191. K. Bardeleben. Beiträge zur Anatomie der Wirbelsäule. Jena, 1874. Das Knochenmark. Die Hohlräume in der Mitte der langen Knochen und alle Zwischenräume z^nschen den Sparren der schwammigen und der netzförmigen Knochensubstanz sind von einem Gewebe aus- gefüllt, das unter dem Namen Knochenmark (medulla ossium) bekannt ist. Ausserdem beschreibt man noch eine innere Knochenliaut (perio- steum internum s. membrana meduUaris s. endosteum), welche die ganze Oberfläche des Canals der langen Knochen auskleiden soll. Bichat^) verneinte das Vorhandensein einer Haut, die die Zellen des schwammigen oder netzförmigen Knochengewebes auskleidet, dennoch aber beschreiljt er (pag. 287) eine dünne Membran, welche die ganze Innenfläche des Canals bedeckt. Gosselin und Regnault^) forschten nach dieser Mem- bran, fanden sie jedoch nicht und stritten sie deshalb entschieden ab. Gegenwärtig steht es fest, dass eine Membran, welche ebenso, wie die Knochenhaut von aussen, die Innenfläche des Knochencanals als con- 1) Anatomie generale. Paris. 1855, pag. 286. 2} Recherches sur la subst. meduU. des os. Arch. gen. de med. 1849. 6 — 82 — tinuierliche Schicht überzieht, nicht vorhanden ist; man findet hier aber eine Schicht, welche hauptsächlich aus feinen Netzen von elastischen Fasern besteht, die auf der zum Knochen gerichteten Seite mit Endo- thelium bedeckt sind, so dass diese Membran der Synovialhaut ähn- lich ist. Das Knochenmark stellt eine weiche, gallertige Substanz dar; zu- weilen ist es von dichterer Consistenz, zuweilen aber ist es dickflüssig. Die Farbe des Knochenmarks variiert; man unterscheidet rotes oder blutiges, gelbes oder fettiges und graues oder gallertiges Knochen- mark. Die Verschiedenheit der Färbung hängt von dem Alter, dem Knochen und von dem allgemeinen Zustande des Individuums, bei dem es sich befindet, ab. Vor der Geburt und einige Zeit nach derselben findet man in allen Knochen rotes Knochenmark. Im Kindesalter und sogar bei Erwachsenen ist rotes Knochenmark in den Knochen des Fig. 20. Elemente des Knochenmarks eines Guineaschweines (Quain). Eumpfes und des Kopfes vorhanden; in den Knochen der Extremitäten ist es mehr gelblich gefärbt. Im Greisenalter nimmt es eine mehr gelbe Färbung an, welche wiederum in den Knochen der Extremi- täten stärker hervortritt, als in denen des Rumpfes und des Kopfes. Unter dem Einflüsse abzehrender und chronischer Leiden verliert es seine rote und gelbe Färbung und wird gräulich oder sogar asch- graufarben. Das Knochenmark (Fig. 20) besteht aus kleinen und aus grossen Elementen, Fettkörperchen, formloser Substanz, Bindegewebe, Gefässen und Nerven. Die kleinen Elemente (medullocelles- Robin) kommen in grösster Anzahl in dem roten Knochenmark von Embryonen und jungen Indi- — 83 — viduen vor. Robin i) fand sie in den Knochen aller Lebensalter, ob- gleich in sehr beschränkter Anzahl. Die kleinen Elemente (e, f, g, h, i) sind den bei der Entwickelung- des Knochengewebes beschriebenen Elementen, welche die Markräume ausfüllen, ähnlich. Sie sind rundlich, körnig, oft ohne Kern; man hat an ihnen ebensolche Bewegungen beobachtet, wie an den weissen Blutkörperchen (Rovida^) und Bizzozero'^). Robin fand in ihnen auch Kerne, welche er auch einzeln, frei zwischen den kleinen Elementen liegend, antraf. Die grossen oder Riesenelemente (myeloplaxes - Robin) mit einer grossen Anzahl Kerne kommen hauptsächlich zwischen den feinen Binde- gewebssträngen vor, wobei sie den Wandungen der Knochenhöhlen oder der hier befindlichen Vertiefungen anliegen. Sie werden gleichfalls in grosser Anzahl bei Embryonen und jungen Individuen angetroffen. Die Rieseneleraente des Knochenmarks (a, b, c, d) erscheinen als grosse, unregelmässig geformte Plättchen körnigen Protoplasmas und enthalten 8 bis 10 und sogar bis 25 und 30 (Robin) Körner. Ihr Durchmesser ist gleich 0,020 — 0,100 mm. Bredichin *) meint, dass sie aus den Knochenkörperchen entstehen, wobei die Grundsubstanz des Knochens resorbiert wird. Dies kann man schwerlich annehmen, da die Knochen- körperchen regressive Elemente sind, aus denen schwerlich grosse Massen protoplasmatischer Substanz entstehen können; glaubwürdiger erscheint es, dass sich aus den Riesenelementen die kleinen Elemente bilden, da man bei jungen Individuen alle möglichen Übergangsformen zwischen beiden antrifft. Fettgewebe ist in den Knochen des Embryo nicht vorhanden, es tritt erst nach der Geburt auf und nimmt an Quantität zugleich mit der Bildung der Knochenhöhlen zu; schliesslich füllt es diese Höhlen fast gänzlich aus. Das Fettgewebe stellt hier traubenförmige Läppchen dar, die zwischen den Gefässen gelagert sind. Es umgiebt die Gefässe bei ihrem Eintritt in die Gefässknochencanälchen von grösserem Durchmesser. Formlose, körnige, dickflüssige Substanz füllt alle freibleibenden Zwischenräume aus (Sappey"^). Das Bindegewebe besteht aus sich verflechtenden feinen Fibrillen, 1) Journal de 1' Anatomie et de Physiologie. T. I. 1864, pag. 88—109. Taf. I — III und Littre et Robin. Dict. de med. et de Chirurgie de Nysten. 12 edition. 1864, pag. 983. 2) Wiener Sitzungsber. Bd. 36 und Centralbl. f. d. med. Wissensch. 1868, pag. 245. 3) Centralbl. f. d. med. Wissensch. 1868, pag. 885 und Sul midollo delle ossa. Napoli. 1869, pag. 20. 4) Centralbl. f. d. med. Wissensch. 1867, pag. 563. 5) Traitö d'anatomie descriptive. 3 edit. T. I. Paris. 1876, pag. 97. 6* die den Fettläppclien als Stütze dienen; ausserdem begleiten feine Bindegewebsbündel die hier durcligehenden Gefässe. Da das Binde- gewebe hier als Stütze dient, so kommt es nur in grossen Hohlräumen, hauptsächlich in der Mitte der langen Knochen, vor. Von den Arterien, die sich in dem Knochenmark verzweigen, sind die hauptsächlichsten die sogenannten Vasa nutritia (oder arteriae nu- tritiae), welche durch besondere Canäle in den Wandungen des Knochen- körpers gehen. Bei ihrem Austritt aus diesen Canälen in den Knochen- hohlraum teilen sich die Gefässe in einen aufsteigenden und einen niedersteigenden Ast; jeder dieser Äste zerfällt quastenförmig in eine grosse Anzahl Astchen. Diese Ästchen dringen in das Gewebe des Knochenmarks und von da durch Öffnungen an der Innenfläche in das Knochengewebe ein. Sie anastomosieren untereinander und mit den Gefässen des Gewebes sowohl des Knochenkörpers, als auch der Knochen- enden. Durch diese Anastomose entstehen lange, schmale Schleifen, zwischen denen das Gewebe des Knochenmarks gelagert ist. Von den Schleifen gehen ihrerseits feine Astchen aus, welche sich zwischen den Lappen und Läppchen des Knochenmarks verzweigen. Neumann ^) und unabhängig von ihm Bizzozero -) beobachtete, dass die kleinen Knochen- markzellen, welche Lymphkörperchen ähnlich sind, hier in rote Blut- körperchen übergehen. Bei der Untersuchung der Blutgefässe fand Neumann, dass die Capillargefässe hier sehr breit sind und dass sie aus Arterienästen von viel kleinerem Durchmesser ihren Anfang nehmen. Hoyer ■^) fand , dass die Gefässe hier keine vollständigen Wandungen haben, und dass ihr Inhalt mit den Knochenmarkzellen in directer Ver bindung stehe. Dagegen äusserten sich Bizzozero und Rustizki *) ; letzterer fand bei Bearbeitung des Gewebes mit salpetersaurem Silber endotheliale Elemente in den Wandungen der breiten Capillargefässe. Langer ■') meint, dass hier beim Übergang der feinen Arterien in Venen dieselben Verhältnisse obwalten, wie auch in der Milz, und dass die feinen Arterien von einem Durchmesser von 0,005 mm unmittelbar in ein wenig grössere Venen von einem Durchmesser von 0,015 mm über- gehen. In dem Knochenmark Neugeborener bis zum Ende des zweiten Jahres, wenn noch keine Fettzellen in dem Mark vorhanden sind, findet man eine grosse Anzahl Blutgefässe, die in allen möglichen Rich- tungen verlaufen (Langer). 1) Centralblatt f. d. med. Wissensch. 1868, pag. 689 u. 1869, pag. 230. 2) Centralbl. f. d. med. Wissensch. 1868, pag. 885 und Sul midollo delle ossa. Napoli. 1869, pag. 20. 3) Centralbl. f. d. med. Wissenscli. 1869, pag. 244 und 258. 4) Centralbl. f. d. med. Wissensch. 1872, pag. 562. 5) Über das Gefässsystem der Röhrenknochen. M. 6 Taf. Wien. 1875, pag. 16 und 17. Denkschrift d. math. naturw. Classe d. Kais. Acad. d. Wiss. T. XXXVl. — 85 — Die Nerven des Kuoclienmarks treten hier zugleicli mit den Vasa nutritia ein; sie teilen sich nach ihrem Eintritt in den Knochenhohl- raum gleichfalls in einen aufsteigenden und einen niedersteigenden Zweig, zerfallen in feine Astchen, bilden Netze und enden in den Ge- fässwandungen, namentlich in den Muskelelementen derselben. Aus der Structur des roten Knochenmarks, seinem Reichtum an Gefässen und daraus, dass es an indifferenten Orten, wo der Druck am geringsten, gelagert ist, kann man schliessen, dass dieses Gewebe die Bedeutung eines bluterzeugenden Gewebes hat. dass darin die ge- formten Elemente des Blutes sich entwickeln und dass es seinem Typus nach am meisten dem sogenannten adänoiden Gewebe analog ist. Letz- teres tritt, wie weiter unten beschrieben werden wird, an allen den- jenigen Orten auf, wo in lockerem Gewebe, bei geringem Druck, eine grosse Menge Capillarge fasse vorhanden ist. Das Vorhandensein eines solchen Gewebes im jungen Knochen erklärt auch alle Veränderungen der Ernährung und des allgemeinen Befindens des Kindes bei allen Krankheiten des Knochensystems. Das rote Knochenmark besteht hauptsächlich aus kleinen Zellen; an seiner Oberfläche trifft man zuweilen auch Eiesenzellen in geringer Anzahl; es enthält viele Gefässe. Gewöhnlich hat es nur sehr wenig Fettzellen und Bindegewebe. Das gelbe Knochenmark besteht fast ausschliesslich aus Fettgewebe; an seiner Oberfläche befinden sich zuweilen Riesenzellen; es enthält viel weniger Gefässe, als das rote Knochenmark. Bindegewebsfasern kommen nur in den grossen Hohlräumen langer Knochen vor; in den Enden der langen Knochen, in den kurzen und breiten Knochen ist kein Bindegewebe vorhanden. Das Knochenmark füllt als leichtes, elastisches Gewebe alle Hohl- räume in den Knochen aus. Ob das Knochenmark irgendeine Be- ziehung zur Bildung und Zerstörung des Knochengewebes hat, ist bis jetzt noch nicht festgestellt. Die Untersuchungen von Goujon, Baikow und Bruns ') haben erwiesen, dass. Avenn man bei lebenden Tieren Knochenmark zwischen andere Gewebe versetzt, sich eine Schicht Knochengewebe an seiner Oberfläche bildet. Stravinski und Bonome '^) bestreiten auf Grund ihrer Experimente die Möglichkeit dieser Bildung. Bei der Zerstörung des Knochenmarks wird es nach Verlauf von 112 Tagen oder spätestens 9 Monaten vollkommen restituiert und kann wieder als bluterzeugendes Gewebe fungieren (Bajardi^'). 1) Archiv f. kliu. Chirurgie. Bd. XXVI. 2) Yirchow's Archiv. Bd. C. 1885, pag. 317. 3) Moleschott's Untersuchungen zur Naturlehre d. Menschen u. d. Tiere Bd. XIII, 1882. — 86 — Beiden Vögeln ist in den meisten Knochen anstatt des Knochenmarks Luft enthalten, und diese Luft enhaltenden Knochenhohlräume stehen mit den Atmungsorganen in Verbindung. Nach Sappey ^) können die Knochen der Vögel in dieser Beziehung eingeteilt werden: 1) in Knochen, die bei allen Vögeln Luft enthalten; 2) in Knochen, die nur bei einigen Vögeln Luft enthalten, und 3) in Knochen, die niemals Luft enthalten. Die stets Luft enthaltenden Knochen sind: die Hals- und Brust- wirbel, der Brustknochen und das Oberarmbein. Zu den Knochen, welche nur bei einigen Vögeln Luft enthalten, gehören: die Furcula, die Ossa coracoidea, die Schulterblätter, die Rippen, das Kreuz- und das Steissbein und das Femur. Niemals enthalten Luft, dafür aber Knochenmark, die Knochen des Vorderarms und der Hand, des Unterschenkels und des Fusses. In den langen Knochen reichen die Luftcanäle bis zu den Gelenkflächen. Die diese Canäle umgebenden Knochenplatten zeichnen sich durch grosse Festigkeit aus. Während der Entwickelung sind die Knochen der Vögel mit Knochenmark angefüllt, und erst kurz vor dem Ausschlüpfen aus dem Ei treten die Knochenhöhlen mit den Atmungsorganen in Verbinduug, zugleich wird das in ihnen enthaltene Knochenmark allmählich resor- biert, und zwar von dem zum Rumpf gelegenen Ende an. Die Gefässe der Knochen. An der Oberfläche der Knochen findet man eine grosse Menge Öffnungen von verschiedenem Durch- messer, welche in Knochencanäle und -canälchen führen. Nach ihrem Durchmesser und nach ihren Beziehungen zu den verschiedenen Teilen des Knochens unterscheidet man: 1) Nalirungsöffnungen (foramina nutritia). Sie kommen an dem Schaft langer Knochen und auf der Oberfläche einiger breiten Knochen vor. Diese Öffnungen führen in die grössten Knochencanäle, welche Nahrungscanäle (canales nutritii) heissen und durch die ganze Knochen- wand bis zur Knochenhöhle gehen. Solche Löcher sind von länglicher Form; die Wandungen der Canäle sind gewöhnlich gleichsam schräg abgeschnitten und beginnen deshalb zuweilen als kleine Rinne an der Oberfläche des Knochens. Am Schaft eines jeden langen Knochens ist gewöhnlich nur eine grosse Öffnung und ein Canal. Manchmal sind anstatt einer grossen Öffnung mehrere kleinere vorhanden oder zu der grossen treten noch mehrere kleinere hinzu, diese letzteren führen in die sogenannten secundären Nahrungscanälchen (canaliculi nutritii accessorii). Die Richtung der Canäle ist stets eine bestimmte, näm- 1) Recherches sur l'appareil respiratoire des oiseaux. 1847 und Traite d'ana- tomie, 1. c, pag. 99. — 87 — licli: in der oberen Extremität, in den Knochen des Ober- und des Vorderarmes verlaufen sie zur Verbindungsstelle derselben, d. h. zum Ellenbogengelenk; in den (4) Mittelhand- und allen (15) Fingerknochen verlaufen sie in der Richtung von ihrer Verbindungsstelle; also in den ersteren nach oben — zum Vorderarm, in den letzteren aber nach unten — zu den freien Finger enden. An den Knochen der unteren Extremität sind die Nahrungscanäle im Femur und in der Tibia und Fibula nach der der Verbindungsstelle, d. h. dem Kniegelenk entgegen- gesetzten Seite gerichtet, in den (4) Mittelfussknochen und den (15) Zehen aber ebenso, wie in der oberen Extremität. Die Richtung der durch diese Canäle gehenden Gefässe hat für die Ossiflcation und das Wachstum der Knochen Wichtigkeit. Die Epiphyse, welche ihre Nahrung von dem Hauptgefässe erhält, verschmilzt mit der Diaphyse früher, als das entgegengesetzte Ende; das Wachstum dieses letzteren dauert deswegen gewöhnlich auch länger. Eine solche Lagerung der Gefässe und ihr Verhältnis zum Wachstum der Knochenenden demon- striert deutlich die Abhängigkeit des Wachstums von der Ernährung. Das Blut, welches durch ein gebogenes Gefäss fliesst, stösst an die Wand der Biegung, dabei wird die Reibung vergrössert, und deshalb geht ein Teil der Kraft, womit das Blut durch das Gefäss strömt, ver- loren. In dem Knochenende, wohin sich dieses Gefäss wendet, erfolgt die Ernährung unter geringerem Druck, wird aus diesem Grunde die Verschmelzung mit dem Knochenschafte verzögert; sein Wachstum dauert noch ungefähr 2—3 Jahre fort, nachdem das Ende, zu dem das Gefäss unmittelbar geht, bereits mit dem Knochenkörper ver- wachsen ist. 2) Venenöffnungen. Sie befinden sich an den Enden der langen Knochen, an den Rändern der breiten Knochen und auf den Flächen der kurzen Knochen, welche die benachbarten Knochen nicht berühren. Ihr Durchmesser ist nicht kleiner, als der der vorhergehenden, zuweilen sogar grösser; ihre Zahl ist sehr bedeutend. Bichat^) fand z.B. etwa 140 solcher Löcher am unteren Ende des Femur, 20 am Körper eines Brustwirbels , 50 am Fersenbein u. s. w. ; er meint überhaupt, dass ihre Anzahl der Quantität der im Knochen enthaltenen Spongiosa entspricht. Diese Öffnungen sind rundlich oder von unregelmässiger Form und sie führen in Canälchen, welche perpendiculär zur Oberfläche des Knochens in denselben eindringen. Hier treten Arterien und hauptsächlich Venen ein, und deshalb nennt man dieselben Venenöffnungen. 3) Die Mündungen der Capillargefässe. Sie sind über die ganze vom Periost bedeckte Oberfläche des Knochens zerstreut. Sie 1) Anatomie generale. 1855, pag. 257. sind sehr klein, so dass man sie mit blossem Auge kaum bemerken kann. Ihre Anzahl übertrifft die der Venenöffnungen bei weitem; auf einer Fläche von 1 Dem zählt man 25 bis 30, an einzelnen Stellen sogar 60 oder 70; im Mittel 40 bis 50 auf 1 Dem (Sappey ')• Die- selben führen in Canälchen, welche mit der Oberfläche des Knochens einen schiefen Winkel bilden, in ihrem Verlauf miteinander verbunden sind und Capillargefässnetze enthalten. 4) Die Mündungen der Knochencanälchen (canaliculi ossium). Man findet sie in unzähligen Mengen auf der Oberfläche aller Knochen; ihre Anzahl ist grösser, als die aller vorhergehenden, so dass man auf 1 Dmm mehrere Hundert zählen kann. Sie sind so klein, dass man sie nur bei 200 Mal Vergrösserung sehen kann. Durch diese Mün- dungen gelangt man in Canälchen, welche bis zu den Knochenkörper- chen enthaltenden Hohlräumen gehen. Sie enthalten keine Gefässe, aber wohl, wie man annimmt, Nahrungsflüssigkeit, welche von den Ge- fässen des Periosts ausgeschieden wird. Oben war bereits beschrieben, wie sich die Gefässe im Periost und im Knochenmark verzweigen. Die Arteriae nutritiae, welche durch die Nahrungscanäle bis zu den Knochenhöhlen gehen, teilen sich hier, wie bekannt, in aufsteigende und absteigende Äste, von denen die Ästchen sowohl zum Knochenmark, als auch zu den Wandungen des Markcanals ausgehen. Diese letzteren Astchen dringen durch die hier befindlichen Löcher in die Knochenwandungen und verzweigen sich in ihnen zu einem Capillarnetz, das in den Gefäss- oder Haversischen Canälchen seinen Verlauf nimmt; die langen Aste dieses Netzes sind in der festen Knochensubstanz langer Knochen, deren Längsachse parallel, gelagert. Diese Gefässe stehen mit denen, welche vom Periost aus durch die feinen Öffnungen an der Oberfläche des Knochens in den Knochen dringen, in Verbindung. Diese letzteren haben jedenfalls für die Er- nährung des Knochens die grösste Bedeutung: nimmt man nämlich ein grösseres Stück Periost vom Knochen ab, so sterben an dieser Stelle die oberflächlichen Schichten des Knochens ab, während bei Ampu- tationen zuweilen ein Teil des Knochens mit dem in ihm verlaufenden Nahvungsgefäss oberhalb der Teilung des letzteren entfernt wird, der Knochen aber nicht einmal an seiner Innenfläche abstirbt. An den Enden der Knochen treten feine Arterien aus dem Periost durch die sogenannten Venenöffnungen ein, gehen bis zu den Hohl- räumen zwischen den Spongiosasparren und verzweigen sich in dem zwischen den Sparren befindlichen Knochenmark ebenso, wie die Nah- rungsgefässe in den Höhlen der langen Knochen; die Zweige der beiden Gefässe anastomosieren miteinander. Ausserdem dringen aus dem 1) Traite d'Anatomie, pag. 73. — 89 — Perioste durch die feinen Öffnungen auch Capillargefässe ein, welche in der Tiefe des Knochens sowohl mit den Verzweigungen der eben beschriebenen feinen Arterien, als auch mit den Asten der Nahrungs- arterien des Knochenschaftes anastomosieren. In den langen Knochen sind folglich Nahrungsarterien des Schaftes und der Enden vorhanden, die sich hauptsächlich im Knochenmark und in den tieferen Schichten der Knochenwandungen verzweigen. Ausser- dem erhält der Knochen vom Periost noch feine Arterien und Capillar- gefässe, welche hauptsächlich die Knochendura mit Blut versehen und nähren ; sie anastomosieren in der Tiefe des Knochens mit den Nahrungs- gefässen, von den Gefässen der Knochenenden aber anastomosieren so- wohl die tiefer gelegenen, als auch die oberflächlichen gleichfalls mit den entsprechenden Gefässen des Knochenschaftes. In den breiten oder platten Knochen kann man Gefässe, welche durch die Nahrungs- und Venenöffnungen eintreten, und andere ober- flächliche, die als Capillarästchen an der ganzen Oberfläche von dem Periost in den Knochen übergehen, unterscheiden. Auch hier ver- zweigen sich die ersteren Gefässe in dem Knochenmark, das in der Diploe gelagert ist, die letzteren aber in der Knochendura. Einen solchen Verlauf der Gefässe sieht man z. B. am Schulterblatt, am Hüft- bein, dem Brustknochen, den Rippen u. s. w. Eine gleiche Verteilung der Gefässe zeigen auch die Schädelknochen, nur dass hier die Nutri- tionscanälchen kürzer sind, ihre Anzahl aber grösser ist; die Gefässe sind hier in tiefen Furchen an der Innenfläche der Knochen gelagert. In den kurzen Knochen kann man ebenso Gefässe, welche durch die Venenöffnungen eindringen und sich im Knochenmark der Spongiosa verästeln, und feine Capillargefässe, die vom Periost aus in den Knochen dringen und mitten durch die Spongiosasparren gehen, unterscheiden. Was den Verlauf der Venen in den Knochen anbetrifft, so sagt man gewöhnlich, dass sie die Arterien begleiten. Langer i) kam bei seinen Untersuchungen zu ebendenselben Resultaten; dieses kann man sich durch die von ihm angewandte Methode, die sich nicht durch Genauigkeit auszeichnet, erklären. Er bohrte ein Loch in die Spongiosa der Knochenenden und injicierte, wie er annahm, durch diese die Venen. Diese Methode ist zu ungenau, als dass sie richtige Resultate geben könnte. Sappey-) (1876), der die Gefässe der Knochen studierte, ent- fernte zu diesem Zwecke die anorganischen Substanzen aus denselben, indem er sie der Einwirkung einer schwachen Salzsäurelösung aussetzte. Aus seinen Untersuchungen ergab sich, dass die Venen in den Knochen 1) Über das Gefässsystem der Röhronknochen, Mit 6 Taf. Wien. 1875, pag. 56, 2) Traitö d'Anatomie, pag. 99—102. ~ 90 — die Arterien niemals oder doch nur zufällig begleiten. Er Leschreibt den Verlauf der Venen folgendermassen. In den langen Knochen wenden sich fast alle Venen zu den Knochen- enden und verlassen hier durch eine grosse Anzahl grosser (venöser) Öffnungen auf der Oberfläche dieser Enden den Knochen. Den Zweigen der Nutritionsarterie folgen Venenästchen, welche sich zu beiden Enden wenden and sich mit den Venen der Spongiosa verbinden. Nur zwei oder drei unbedeutende Venen verlaufen zu dem Nutritionscanal des Knochens und wenden sich zusammen mit dem Stamm der Nutritions- arterie zurück. Hierdurch erklärt sich auch der geringere Durchmesser der Nalirungsöffnungen des Knochenkörpers im Vergleich zu den Venen- öffnungen der Enden. Die Venenästchen der Wandungen des Knochen- körpers langer Knochen verlaufen ebenfalls zum grössten Teil zu den Enden des Knochenmarkraums und treten hier mit den aus dem Knochen- mark kommenden Venen in Verbindung. Die Venen der Compacta und des Knochenmarks bilden, indem sie sich mit den Venen der Spongiosa verbinden, ziemlich starke Stämme, deren Durchmesser bei ihrem Aus- tritt aus den die Gelenkflächen umgebenden Venenöffnungen oft grösser ist, als der der Nutritionsarterie. Grössere Stämme gehen auch zu- weilen durch Canäle, welche sich in der Spongiosa befinden und von festem Knochengewebe ausgekleidet sind. Nach Sappey enthalten die Wandungen dieser Venen keine Muskelfasern und bestehen nur aus der inneren Schicht gewöhnlicher Venenwandungen. Hierdurch sucht er die häufigen Blutstockungen in diesen Gefässen und die hier so häufigen Entzündungen zu erklären. Der ganze Verlauf der Venen in den Knochen beweist seiner Meinung nach, warum Entzündungen der Venen- wandungen so häufig in den Knochenenden und so selten in den Knochen- höhlen vorkommen. In den breiten Knochen sind die Venen gleichfalls unabhängig von den Arterien gelagert. Sie münden fast alle in Venencanälchen (venae diploeticae Dreschet^), welche die Diploe dieser Knochen durchsetzen; diese Canälchen verengern sich stellenweise und haben überhaupt eine sehr unregelmässige Form. Sie nehmen von Erweiterungen ihren An- fang, verbinden sich oft mit den benachbarten Canälen und münden an einer der Oberflächen des Knochens, indem sie hier in benachbarte Venen übergehen. In den kurzen Knochen verlaufen die Venen augenscheinlich ebenso, wie in den Enden der langen Knochen, die grössten liegen auch hier in Knochencanälen, welche in einigen Knochen, wie z. B. in den Wirbel- körpern, sehr stark entwickelt sind, in anderen dagegen, wie z. B. in 1) J. Breschet. Eecherches anat. , physiol. et pathol. sur le Systeme veineux. Paris. 1829. Livr. VI. pl. I. Fig. 2. — 91 — den Knochen der Handwurzel, garniclit vorhanden sind. In kurzen Knochen kann man überhaupt nur schwer den Verlauf der Venen verfolgen. Die Lyniphgefässe der Knochen sind zuerst von Cruikshank ') und Breschet^) beschrieben worden; der erstere erwähnt ihr Vorhanden- sein in den Wirbelkörpern. Sappey ■') versichert, dass es ihm nicht ge- lang, Lyniphgefässe in den Knochen zu beobachten, und deshalb spricht er sich entschieden gegen das Vorhandensein derselben aus. In letzter Zeit haben Budge*) und Schwalbe-^) wiederum perivasculäre Lymph- räume und L3^mphgefässe an der äusseren Oberfläche des Periosts be- schrieben. Schwalbe findet hier wahre Lympfgefässe (vasa supraperio- stalia); an der Oberfläche des Knochens (subperiostale Räume), in den Haversischen Canälen und an der Oberfläche des Knochenmarks (perimy- eläre Räume) aber findet er perivasculäre Lymphräume. Die Nerven der Knochen. Von den Nerven der Knochen ist bekannt, dass sie in den langen Knochen aus dem Periost zusammen mit den Nahrungsarterien durch Nahrungscanälchen, wo man sie zuweilen bis zum Knochenmark verfolgen kann, eintreten. Im Periost enden sie stellenweise in sogenannten Vaterschen Körpern (Kölliker *''), Räuber^); wie sie im Knochengewebe selbst enden, ist bis jetzt noch nicht bekannt. Sappey^) kommt auf Grund seiner Unter- suchungen zu dem Schluss, dass „kein einziger Nervenfaden in die Compacta eindringt". In der Spongiosa aber sind nach Sappey's Meinung wahrscheinlich Nerven vorhanden ; man findet sie leicht in der Spongiosa der Wirbel. Die mechanischen Eigenschaften der Knochen. Oben war bereits über die mechanischen Eigenschaften des Knochengewebes die 1) W. Cruikshank ii. Paul Mascagni. Geschichte u. Beschreibung der Saugadern d. menschl. Körpers. Bd. I. Leipzig. 1789, pag. 172. 2) Le Systeme lymphatique. 1836, pag. 40. 3) Traite d' Anatomie, pag. 102—103. 4) Über Lymph - und Blutgefässe der Röhrenknochen. Sitzung d. medic. Vereins zu Greifswald. 6. Mai. 1876 und die Lymphwurzeln der Knochen. Arch. f. micr. Anat. XIII, pag. 87—94. 5) Über die Lymphwege der Knochen. Zeitschrift für Anatomie u. s. w. von W. Eis und Braune. 2. Bd. 1876, pag. 131—142. 6) Verhandlung d. physicalisch-medicinischen Gesellschaft zu Würzbiirg. 1850. Bd. I und Handbuch d. Gewebelehre d. Menschen. Leipzig. 1863, pag. 248. 7) Vater'sche Körper d. Bänder und Periostnerven. Neustadt. 1865, pag. 15— 33. Untersuchungen über das Vorkommen und die Bedeutung der Vater'schen Körper. München. 1867, pag. 7. Über d. Nerven d. Knochenhaut u. d. Knochen d. Vorder- arms und Unterschenkels. München. 1868, pag. 7. 8) L. c , pag. 103. — 92 — Rede; in Bezug- auf ganze Knochen aber ist bekannt, dass z. B. der Schaft des menschlichen Femur bei einer Belastung von 5607 kg zer- sprengt wird (Rauber). Derselbe Knochen wird, wenn man ihn sich als regelmässigen Cylinder von 45 cm Länge, mit einem äusseren Radius von 14 mm und einem inneren von 6 mm vorstellt, unter dem Druck einer Belastung von 7787 kg zermalmt. Bei querer Lage dieses Knochens, wobei seine eine Hälfte befestigt ist, die andere aber auf 20 cm her- ausragt, zerbricht derselbe unter der Einwirkung einer Last von 383 kg. Die Zerbrechlichkeit der Knochen alter Individuen kann man sich haupt- sächlich aus der Verringerung ihrer Zugfestigkeit erklären. Das Ge- wicht der Knochen ist nach den Untersuchungen von Rauber in directer Abhängigkeit von der Thätigkeit der ihn umgebenden Muskeln. So ist z. B. das Gewicht des Schienbeines einer paralysierten Extremität ^= 198 gr, und diejenigen der gesunden Extremität = 281 gr. Nimmt man als mittleres Körpergewicht 125 — 130 Pfund an, so macht im Alter von 21 Jahren das Gewicht des Skeletts bei Männern 10,5^/ü, bei Frauen aber 8,5"/o des gesammten Körpergewichts aus (Leh- mann ^). Im Alter werden mit dem Zurückgehen des Muskelsystems auch die Knochen leichter, lockerer und zerbrechlicher; da sie als Stütze dienen, so sind sie überhaupt in Abhängigkeit von dem Muskel System und ver- ändern sich in den verschiedenen Lebensperioden und unter verschiedenen Umständen, je nach dem Zustande dieses Systems; hierbei verändern sie gewöhnlich ihre Grösse und Dichtigkeit und zugleich natürlich auch ihr Gewicht (Humphry -). Aus den Untersuchungen von Falk und Schiermann '^j am Skelett des Hundes ergiebt sich, dass das Gewicht aller Knochen zusammen mit den Zähnen 8,8P„ des ganzen Körpergewichts ausmacht. Dabei ist das Gewicht des Kopfskeletts = 16,78 Tl., das des Rumpfes = 32,44 Tl., das der vorderen Extremitäten = 23,28 Tl., und das der hinteren == 27,49 Tl. Die Widerstandsfähigkeit des Knochens kann durch Formeln, welche in der Baukunst zur Bestimmung der Widerstandsfähigkeit der ange- wandten Materialien gebraucht werden , ausgedrückt werden. Diese Formeln dienen zur Bestimmung der Kraft, 1) wenn sie unter rechtem Winkel zur Achse einer an einem Ende befestigten cylindrischen Säule wirkt, und 2) wenn die cylindrische Säule in der Richtung ihrer Achse zusammengepresst wird. 1) Lehrbuch d. physiol. Chemie. 2. Aufl. 3 T. Leipzig. 1853, pag. 31. 2) A treatise on the human skeleton. Cambridge. 1858, pag. 8. 3) Studien über die Gewichte der Hundeknochen. Archiv für Anat. und Phys. Jahrg. 1878. Anat. AbtL, pag. 233—255. — 93 — Die erste FormeP) ist folgende: F. 1 = 4-- r . — , 4 r wo F die Kraft, welche den Körper zermalmt, k — die Festigkeit der Substanz der Säule, 1 — ihre Länge, r — ihren Radius bezeichnet. Diese Formel kann man anders darstellen: ^ = ^•^•4 0) Für Hohlcylinder wird die Formel wenn man durch i\ den Innern Radius bezeichnet, so lauten: F. 1 ^(r-ri I r oder F -= 4 Iy — y, \ k_ (2^ Die zweite Formel ist (pag. 290): p = (^);w. E, wo P die zerstörende Kraft, die in der Achse der cylinderischen Säule wirkt, bezeichnet; W. E ist das Biegungsmoraent, das Product aus dem Elasticitätscoefficienten der Substanz der Säule (E) und dem Mass des Biegungsmomentes (W), welch letzteres durch die Form des Quer- schnittes der Säule bedingt wird; für einen Cylinder (pag. 265) ist W = — r^- r*- Diese Formel kann man auch anders darstellen: 4 V ^J^. J".-. y\ A oder P — — . r^ A fs^ Für einen Hohlcylinder, bei dem W —- —r- \^. ^ j ist, wird diese Formel so lauten: P 16 ■ Vr — Ti J' 12 y^} Mit Hülfe dieser 4 Formeln kann man die Widerstandsfähigkeit so- wohl compacter, als auch hohler cylindrischer Säulen bestimmen, erstens, wenn dieselben durch eine Last, welche rechtwincklich zur Achse auf das freie Ende des Knochens wirkt, zersprengt werden, und zweitens, wenn dieselben in der Richtung ihrer Längsachse zusammengepresst werden. Um die Widerstandsfähigkeit des Knochens zu bestimmen, nahm Hermann Meyer ^), indem er die eben angegebenen Formeln anwandte, 1) Weisbach, Lehrbuch der Ingenieur- und Maschinen-Mechanik. 2. Aufl. Bd. I, pag. 297. 2) Die Statik und Mechanik des menschlichen Knochengerüstes. Leipzig. 1873, pag. 35-40. — 94 — Knochen in Form von: 1) einem compacten Cylinder mit einem Radius von 50 Einheiten; 2) einen Hohlcylinder mit einem äusseren Radius von 50 und einem innern von 30 Einheiten, als Scliema eines normalen Röhren- knochens; 3) ein System concentrischer 1,31 Einheiten dicker Platten, mit äusserem Radius von 100, — 90, — 80, — 70, — 60, — 50, — 40, — 30, — 20, — 10 Einheiten, wobei dieses System Spongiosa dar- stellen sollte, und 4) einen Hohlcylinder mit einem äusseren Radius von 50 und einem innern von 40 Einheiten, welcher einen Knochen mit Greisenalterveränderungen darstellte. Er bestimmte die Kraft, welche gerade genügend ist, den Knochen abzubrechen, wenn sie senkrecht zur Achse desselben einwirkt, und diejenige Kraft, welche in der Richtung der Achse wirkend, gerade genügend sein würde zum Zerknicken. Auf Grund dieser Daten berechnet er annähernd die Widerstandskraft des Knochens sowohl der ziehenden als auch der drückenden Kraft gegenüber. Aus der von ihm zusammengestellten Tabelle ergiebt sich folgendes : 1) Bildet sich im Knochen ein Hohlraum, so nimmt der Grad seiner Widerstandsfähigkeit nicht in demselbe Masse ab wie seine Substanz ; ist z. B. der äussere Radius gleich, und verhalten sich die Querschnitte der Substanz, wie 100:64:36, so stehen die Grade der Widerstands- fähigkeit im Verhältnis 100:87:59, d.h. die Widerstandsfähigkeit ver- ringert sich nicht proportional der Verringerung der Querschnittfläche sondern in viel geringerem Grade, 2) Nimmt der äussere Radius eines hohlen Knochens zu (bei gleichem Durchmesser des Substanz), so wächst zugleich auch der Grad seines Widerstandes und sogar mehr, als die entsprechende Vergrösserung des Radius: wenn sich z. B. bei gleicher Dicke der Substanz die Radien zu einander verhalten wie 100 : 125 : 250, so verhalten sich die Leistungs- fähigkeiten des Knochens als Tragbalken, wie 100 : 170 : 307, und die Leistungsfähigkeiten als Stützsäule, wie 100:213:604, d.h. nimmt der äussere Radius eines Röhrenknochens bei gleicher Dicke der Substanz zu, so wächst seine Widerstandsfähigkeit bedeutend, besonders beim Druck; in diesem Falle ist nämlich die Widerstandsfähigkeit beinahe doppelt so gross, als beim Zug. Diese Untersuchungen sind ein Versuch, durch Berechnung die ab- solute Festigkeit eines jeden gegeben Knochens annähernd zu bestimmen; sie beschränken sich nur auf Versuche an compacten, hohlen und schwammigen Knochen ^). 1) Siehe auch: 0. Messerer. Über Elasticität und Festigkeit der menschlichen Knochen. Stuttgart. 1880. — 95 — Das Wachstum der Knochen. Die Theorie von Cl. Havers^), welcher dieselbe vor 150 Jahren aufstellte, lehrt, dass der Knochen in jedem einzelnen, ihm als Bestandteil dienenden Teilchen wiederhergestellt wird und sowohl in die Länge, als auch in die Breite wächst. Durch die Versuche von Duhamel'-), Flourens ■^) und Bunter^) wurde diese Theorie verworfen und folgende Lehre von dem Wachstum des Knochens aufgestellt: Der Knochen wächst durch Aufschichtung an seiner Oberfläche in die Breite, in die Länge aber wächst er durch Aufschichtung an den Oberflächen der Knorpel, welche zwischen der Epiphyse und der Diaphyse desselben gelagert sind. Als Basis dienten dieser Lehre folgende Versuche; 1) Duhamel bemerkte, dass, wenn er junge Thiere in der Wachs- tumsperiode mit Krapp (Rubia tinctorum) fütterte, sich an der Oberfläche der langen Knochen mit dieser Substanz gefärbte Schichten ablagerten; bei abwechselnder Fütterung mit gewöhnlicher und mit gefärbter Nahrung bilden sich concentrische weisse und rote Schichten, welche sich in der Richtung von der Peripherie zum Centrum abgelagert haben. Wie Flourens beobachtete, nimmt das Skelett einer jungen Taube, welche eine mit 6 Gramm E^rapp gefärbte Nahrung bekommt, schon nach fünf Stunden eine grellrote Färbung an. Man erklärte diese Erscheinung dadurch, dass zwischen dem Krapp und dem phosphorsauren Kalk eine chemische Verwandtschaft bestehe und dass infolgedessen dieses Salz bei seiner Ablagerung im Knochen auch den Farbstoff" mit sich zieht. Bei einem Ferkel, dessen Nahrung im Laufe von 20 Tagen Krapp beigemengt wurde, fand man auf dem Querschnitt des Femur einen äusseren roten und einen inneren weissen Ring, bei einem anderen Tiere aber, dessen Fütterung mit Krapp einen Monat lang dauerte, war der Knochen auf dem Querschnitt durch und durch rot gefärbt, da die innere Schicht der nicht gefärbten Knochensubstanz bereits resorbiert war. Wenn man nach einiger Zeit, wo man das Tier mit Krapp ge- füttert hatte, ihm wieder gewöhnliche Nahrung gab, so bildete sich je nach der Zeit, welche das Tier noch am Leben blieb, folgendes: anfangs befand sich die rote Schicht von aussen, darauf zwischen zwei weissen Schichten, weiter näherte sie sich immer mehr der Wandung des Markcanals, wurde hier immer dünner und verschwand schliess- lich ganz. 1) Novae observat. de ossibus. Lugd. Bat. 1734, pag. 161—163. 2) Histoire de l'Acad. des sciences de Paris. 1742, pag. 354. 1743, pag. 138. 3) Annales des sciences naturelles. 2 ser. XIII, pag. 103. 4) Transact. of the soc. for the improvement of medical and chirurgical knowledge. II, pag. 277. — 96 — 2) Ein Dralit, welcher unter dem Periost um einen langen Knochen gezogen war, näherte sich nach einiger Zeit der Mitte der Markhöhle des Knochens. 3) Die Beobachtungen von Duhamel und Hunter haben gezeigt, dass Löcher, welche in der Diaphyse des Knochens in gleicher Entfernung von der Mitte und dem Epiphysenknorpel gebohrt waren, beim Wachs- tum ihre gegenseitige Lage nicht verändern, sondern in derselben Entfernung von einander bleiben; nur die Entfernung zwischen dem Epiphysenknorpel und dem nächsten Loch wird grösser. 4) Bei erwachsenen Tieren färben sich nach Flourens die Knochen nur nach langdauernder Fütterung mit Krapp. Bei erwachsenen Tauben blieben sie noch farblos, nachdem dieselben 18 bis 22 Tage mit gefärbter Nahrung gefüttert worden waren, und fingen erst nach zwei Monaten an sich zu färben. Macdonald 1) hat beobachtet, dass bei jungen Tauben bei der Zer- störung langer Knochen das Exsudat, welches an der Peripherie der- selben sich bildet, sich bei der Fütterung mit Krapp rot färbt. Auf Grund seiner Untersuchungen behauptet Miescher^), dass bei Knochenbrüchen die Neubildung des Knochens sowohl von der äusseren Oberfläche, als auch von den Bruchflächen des Knochens ausgehen kann. B. Heine '') hat sogar beobachtet, dass bei einem Hunde eine Eippe und das Wadenbein ganz wiederhergestellt wurde, nachdem der erstere Knochen ganz entfernt worden war, der letztere sogar zusammen mit dem ihn bedeckenden Periost, so dass hier die Neubildung des Knochens augenscheinlich von Seiten der umliegenden Weichteile vor sich ging. Beim Studium der Architectur der Knochen erwies sich, dass im Knochen schon bei seiner Bildung die Compacta und die Spongiosa- sparren genau ebenso, wie im erwachsenen Knochen, nach dem all- gemeinen Gesetz der Knochenarchitectur gelagert sind. Deshalb meinte J. Wolff^), dass „aus den Verhältnissen der Architectur der Knochen sich mit mathematischer Sicherheit die Notwendigkeit des ausschliess- lich interstitiellen Wachsens der Knochen ergiebt". Diese Folgerung sucht er auch auf experimentellem Wege zu begründen. Obgleich die Theorie des Knochenwachstums durch Aufschichtung von Hunter hauptsächlich auf Grund seiner Experimente aufgestellt 1) Diss. de necrosi et callo. Edinb. 1795. 2) Infi, ossium. 1836. Siehe Heule. Müller's Arch. 1838, pag. XXIII und AU- gem. Anatomie. 1841, pag. 844. 3) V. Gräfe's und v. Walther's Journ. 1836, pag. 513. 4) Über die innere Architectur der Knochen und ihre Bedeutung für die Frage vom Knochenwachstum. Arch. für Anat. und Phys. und klin. Medicin. Bd. L. H. 3. Berlin. 1870, pag. 391. — 97 — worden war, so legten dennoch die Verteidiger dieser Theorie den Eesultaten der Fütterung junger Tiere mit Krapp viel zu grosse Be- deutung bei. Die Färbung, welche der sich neubildende Knochen durch diesen Farbstoff annimmt, ist aber, wie sich erweist, lange nicht so überzeugend, wie man annahm. Kölliker i) wiederholte die Experimente der Krappfütterung und kam zu folgenden Resultaten: 1) „Der Krapp verbindet sich einzig und allein mit der während der Fütterung neu abgelagerten Knochensubstanz und lässt die schon gebildeten Teile gänzlich unverändert." 2) „Die einmal durch Krapp gefärbte Knochensubstanz scheint ihre Färbung lange Zeit zu bewahren, und der rotgefärbte Knochen schwindet nur infolge der typischen Resorption an gewissen Stellen." Die Resultate von Kölliker stehen mit den Beobachtungen anderer, wie Gibson, Tomes, Bruch nicht in Übereinstimmung; letztere sagen, dass die Knochen junger Tauben, schon nachdem sie 24 Stunden lang mit Krapp gefüttert worden sind, eine Rosa- und sogar eine lebhaft rote Färbung annehmen, nach 3 Tagen aber schon purpurrot werden. Ausserdem weist Strelzow -) auch noch darauf hin, dass bei der Fütterung mit Krapp sich zugleich mit der äusseren Oberfläche auch die Innen- fläche färbt, was mit den Beobachtungen von Kölliker, Tomes, Flourens und anderen übereinstimmt, so dass man zugeben muss, dass zur Zeit der Krappfütterung die Knochensubstanz sich an beiden Oberflächen ablagert, während die Meinung der letzteren Autoren, dass der Mark- canal des Knochens sich infolge Resorption des Knochens an den Wänden dieses Canals erweitere, damit, dass sie die Färbung der Knochensubstanz auch an der Innenfläche des Knochens zugeben, in deutlichem Widerspruch steht. Was den zweiten Satz KöUikers anbetrifft, dass nämlich die mit Krapp gefärbte Knochensubstanz nur infolge von Resorption ver- schwinde, so behauptet Strelzow =^), dass der Resorptionsprocess durch Facta noch nicht bewiesen ist, dass im Gregenteil eine Reihe von Facten das Gegenteil zeigen. Das Experiment mit dem Draht, welcher unter dem Periost um den langen Knochen gezogen war, wurde von J. Wolff*) wiederholt. Der Drahtring war in der That mit Knochengewebe bedeckt und be- fand sich näher zum Knochenmarkcanal, doch dieses war nur die Folge 1) Verh. der Würzburger phys. -med. Gesellschaft. 1872. Bd. III, pag. 226—227 und die normale Resorption des Knochengewebes. 1873, pag. 29—31. 2) Über die Histogenese der Knochen. Untersuchungen aus d. patholog. Institut zu Zürich. Leipzig. 1873, pag. 67. 3) L. c, pag. 431. 4) L. c, pag. 67. 7 — 98 — des mechanischen Hindernisses, das der Ring dem Wachstum des Knochens bot. Der Knochen war von demselben zusammengedrückt worden und war an der Stelle, wo der Ring lag, in der Richtung zum Markcanal, der auch verengt war, eingebogen. Bei microscopischer Untersuchung erwies sich, dass die Haversischen Säulen und Canäle der Lagerung des Ringes entsprechend zur Mitte hin verrückt waren. Durch das Experiment selbst werden derartig unnormale Bedingungen geschaffen, dass man nach ihnen garnicht über das normale Knochen- wachstum urteilen kann; die Verengerung des Knochencanals aber infolge der Verschiebung der Säulen deutet direct darauf, dass eine Lagenveränderung der äusseren Schichten und eine Resorption der- selben im Canal, wie dies von den Anhängern der Aufschichtungs- theorie beschrieben wurde, nicht zugelassen werden kann. Über das Längenwachstum des Knochens wurden von J. Wolff^), Grudden'^) und Lieberkühn •^) Experimente angestellt. Der erstere fand, dass drei Drahtstiftchen, welche am unteren Ende des Schienbeins eines jungen Kaninchens, das eine in der Epiphyse, die beiden anderen aber in der Diaphyse, 3 mm von einander entfernt, befestigt worden waren, nach Verlauf von 13 Tagen so auseinandergerückt waren, dass die Entfernung zwischen ihnen 5^2 mm betrug. Entsprechende Resul- tate erhielt auch Gudden: er bohrte seitwärts von der sagittalen Naht an der Oberfläche der Schädelknochen Löcher; nach Verlauf von 3 Wochen hatte die Entfernung zwischen den Löchern zugenommen und zwar um so mehr, je näher sie zum Rande der Naht gelagert waren. Die Experimente von Lieberkühn gaben entgegengesetzte Re- sultate: die Entfernung zwischen den äusseren Enden von in dem Körper langer Knochen befestigten Stiftchen wird bedeutend grösser, während die inneren Enden derselben Stiftchen ihre gegenseitige Lage nicht verändern. Strelzow *) meint, dass man diesen Widerspruch durch den von ihm bemerkten Unterschied im Wachstum der äusseren und inneren Schichten des Knochens erklären kann, indem nämlich die jungen äusseren Schichten verhältnismässig sehr rasch, die am weitesten nach innen gelegenen aber langsam wachsen. Deshalb kommen J. Wolff und Strelzow auf Grund des Studiums der Knochenarchitectur, der Topographie des wachsenden Knochens und der Veränderung der einzelnen Sparren und anderen Teile zu dem 1) L. c, pag. 435. 2) Experimental- Untersuchungen über d. Schädelwachstum. München. 1874, pag. 25—27. 3) Sitzungsb. d. Gesellschaft zur Beförderung der gesaaimten Naturwissenschaften zu Marburg. 1872. März. Nr. 2. 4) L. c, pag. 67. — 99 — Schluss, dass der Knochen, wie auch jedes andere Gewebe, durch inter- stitielle Restitution der Teile, nicht aber durch Aufschichtung an der Oberfläche und von selten der Epiphysenknorpel wächst, und dass der dem Knochen vorhergehende Knorpel nur dem sich bildenden Knochen als Stütze dient, so dass die Sparren des letzteren sich auf diese Weise je nach der Einwirkung der statischen Bedingungen regelmässig ent- wickeln können. Überhaupt ist die Frage vom Knochenwachstum gegenw^ärtig noch nicht soweit aufgeklärt, dass man endgiltig entscheiden könnte, welche von den vorhandenen Hypothesen die richtige sei. Da jedoch die Ver- suche, auf Grund deren die Aufschichtungstheorie des Knochenwachs- tums aufgestellt wurde, nicht genügend überzeugend sind, so büsst diese Theorie dadurch sehr viel von ihrer Bedeutung ein. Unterdessen deutet die Architectur der Knochen, und zwar die Beständigkeit ihres Baues in den verschiedenen Entwickelungs - und Bildungsperiodeu, wobei Übergangsformen nicht zu bemerken sind (was bei der Lagen- veränderung der von aussen gebildeten Schichten notwendig wäre), das Vorhandensein von Gefässen in den Haversischen Cy lindern, ihre all- gemeine Verteilung und Beziehung zu den Canälchen der Knochenhöhlen, das Vorhandensein von Elementen an der Innenfläche des Knochens (an der zum Canal und zu den Hohlräumen der Spongiosa gerichteten Seite), welche die Bedeutung von Bildungselementen haben, — alles das deutet, wie gesagt, eher darauf hin, dass der Knochen ebenso wachse, wie jedes andere Gewebe. Diese Facta stimmen mit der Auf- schichtungstheorie nicht überein, während sie durch die Theorie des interstitiellen Wachstums am besten erklärt werden. Die Bildung des Knochencanals und der Zwischenräume zwischen den Sparren der Spon- giosa und der netzförmigen Knochensubstanz kann viel eher durch die Einwirkung des Druckes und des Zuges auf die verschiedenen Schichten der Knochensäule, als z. B. durch Riesenelemente oder Osteoclasten von Kölliker erklärt werden. Ausser dem Druck und dem Zuge, welche hauptsächlich auf die äusseren Schichten der Säule ihren Einfluss aus- üben, wirken noch, wie das bei der Architectur der Knochen klar- gelegt worden war, die Schub- oder Scheerkräfte, welche hauptsächlich zum centralen Teil des Knochens gerichtet sind; der Richtung ihrer Wirkung entsprechend entwickeln sich dann auch die Sparren, welche als Zug- und Druckcurven erscheinen, zwischen ihnen aber bleiben indifferente Zwischenräume frei, welche zu Markcanälen und -höhlen werden. Hier lässt sich folglich das Auftreten von Zwischenräumen viel besser durch die mechanischen Bedingungen ohne jegliche Teil- nahme von Elementen mit speciflschen Eigenschaften erklären. Die Ursachen der Knochenforraen. Die Frage von den Ur- sachen der Knochenformen zu lösen, wurde bis jetzt hauptsächlich durch 7* — 100 — Experimentalnntersnchungen versucht , und zwar : von L. Fick ^), F. Kehrer 2), B. Gudden^), Er. Brücke'^), teilweise von Hüter •'^) und durch eine Reihe von Versuchen, welche unter meiner Initiative und Teilnahme an Tieren von Dr. Popow''), A. Dronsik'), teilweise auch M. Rudkow^) ausgeführt wurden, und endlich durch die Untersuchung von Extremitäten na,ch einer in der Jugend stattgehabten Muskel- lähmung und einer Handgelenkverrenkung ^), Bei diesen Versuchen erhielt man folgende Resultate: 1) Unter der Leitung von Prof. Brücke wurden von Dr. Schauta an 2 Kaninchen, welche die Hälfte ihres vollen Wuchses erreicht hatten, folgende Experimente angestellt: ihnen wurde von einer Seite der Ge- sichtsnerv, der sich in den Gesichtsmuskeln verzweigt, ausgerissen. 6 — 7 Monate nach ausgeführter Operation fand man bei einem der- selben folgende Veränderungen: die Mundspalte und die ganze Schnauze hatte sich nach der paralysierten Seite hin verzogen, die vorderen Zähne sowohl des Ober-, als auch des Unterkiefers standen schief; auf der kranken Seite bildete die Haut Falten, welche eine vom äussersten Teil des Auges zum Mundwinkel gezogene Linie unter rechtem Winkel .schnitten. Die Muskeln der paralysierten Seite waren gespannt. Bei dem anderen Kaninchen, welches 2 Monate später untersucht wurde, waren die Muskeln dünn, atrophiert, und man konnte in ihnen deutlich regressive Veränderungen wahrnehmen. Die Speicheldrüsen der paraly- sierten Seite waren kleiner und leichter. Die auffallendsten Ver- änderungen waren am Schädel zu bemerken: er war bei beiden Kanin- chen so gekrümmt, dass die paralysierte Seite concav, die gesunde aber convex war; es trat dieses am deutlichsten am Ober- und Unterkiefer hervor. Eine solche Krümmung des Schädels erklärt Brücke durch 1) Über die Ursachen der Knochenformen. Göttingen. 1857. Neue Unter- suchungen über die Ursachen d. Knochenformen. Marburg. 1859. 2) Beiträge zur vergleichenden und experimentellen Geburtskunde. Giessen. 1868. Heft 3, pag. 34-49. 1875. Heft 5, pag. 3-68. 3) Experimental-Untersuchungen über das Schädelwachstum. München. 1874. 4) Vorlesungen über Physiologie. Wien. 1873. Bd. II, pag. 87—88. 5) Die Fortentwickelung am Skelett des menschlichen Thorax. Leipzig. 1866. 6) Die Veränderung der Knochenform unter dem Einfluss unnormaler mecha- nischer Bedingungen. Dissertation. St. Petersb. 1880 (russisch), 7) Über die Ursachen der Schädelform. Dissertation. St. Petersburg. 1883 (russisch). 8) Der Einfluss verschiedenartiger Nahrung auf die Grösse und die Form des Verdauungsapparates. Dissertation. St. Petersburg. 1882 (russisch). 9) Über die Ursachen der Knochenformen. Sitzungsbericht der Gesellschaft russischer Ärzte vom 6. Nov. 1880 (russisch). — 101 — die Veränderung der Muskeln an der paralysierten Seite, die um so viel kürzer waren, dass die Haut über ihnen Falten bildete. Infolge der Thätigkeit an der gesunden Seite wurde hier die Capillarcirculation befördert, ausserdem ging durch ihre Contraction das aus dem Blute kommende Nahrungsmaterial unter stärkerem Druck durch die um- gebenden Gewebe; alles das verstärkte die Ernährung der Gewebe, also auch der Knochen, die sich auf dieser Seite befanden und die deshalb auch schneller wuchsen. Zu diesem muss man noch hinzufügen, dass Muskeln und Knochen ihre Nahrung aus derselben Quelle erhalten, so dass die Verstärkung des Blutandranges zu den Muskeln auf jeden Fall eine Verstärkung der Ernährung und des entsprechenden Wachs- tums des Knochens nach sich zieht. Ahnlich diesem Experiment von Brücke wurde von Dr. Popow folgender Versuch an einem Kaninchen gemacht: bald nach seiner Ge- burt wurde ihm die rechte Gesichtshälfte und das geschlossene Augen- lid mit Collodium bedeckt. Als man das Tier nach 2 Monaten unter- suchte, fand man, dass der Schädel sich so gekrümmt hatte, dass der concave Teil nach rechts, der convexe aber nach links schaute. Auch hier war diese Krümmung am deutlichsten an beiden Kiefern zu be- merken. Bei diesem Versuch war die rechte Gesichtshälfte des Tieres einem gleichmässigen Druck unterworfen worden, was eine freie Ver- breitung der Nahrungsflüssigkeit auf dieser Seite hinderte; infolge- dessen aber war der Knochen an dieser Seite im Verlauf von 2 Monaten so sehr im Wachstum zurückgeblieben, dass der Schädel sich ebenso krümmte, wie bei der Durchschneidung des Gesichtsnervs. 2) Einem von drei Kaninchen von derselben Mutter wurde (W. Popow) am fünften Tage nach seiner Geburt die linke Extremität im Hüftgelenk exarticnliert, weshalb es beim Gehen stets suchte die Hinterpfote gegen das Becken zu stemmen, überhaupt aber Bewegungen mit derselben vermied. Bei der Section nach 2 Monaten erwies sich sein Becken um ein Drittel kleiner als das Becken des dritten Kanin- chens; die Beckenknochen der linken Seite waren länger (3,2 cm), dünner und schmäler, als die Knochen der anderen Seite (Länge 3 cm), die linke Gelenkgrube war im Vergleich zur rechten viel flacher. Die Wirbelsäule war gekrümmt und war mit ihrem Lendenteil nach links gerichtet. Dem zweiten Kaninchen war die rechte hintere Pfote so verbunden worden, dass der Fuss dem Unterschenkel fest anlag; von aussen wurde die Binde mit Collodium befeuchtet; 2 Monate nach dieser Operation erwies sich, dass das Becken dieses Kaninchens kleiner war, als das des dritten, jedoch grösser, als das des ersten. Die rechte Seite des Beckens (Länge -=3 6 cm) war in ihrer Entwickelung be- merkbar zurückgeblieben (Länge der linken Seite = 3,8 cm); die Beckenknochen dieser Seite waren fast um V^ kleiner, als beim dritten -- 102 — Kaninchen, sie waren dünner, schmäler und in ilirer Lagerung gerader. Die Gelenkgrube der rechten Seite war nicht so tief, als die der linken. Im Fussgelenk war das untere Ende des Schienbeins infolge des Druckes atrophiert. Der verbundene Fuss war halb so gross, als der Fuss der anderen Seite. Dem dritten Kaninchen wurde am Kopfe vor dem rechten Ohr eine Last angehängt. Infolge dieser (einseitigen) Be- lastung des Kopfes ergab sich eine kleine nach links gerichtete Krüm- mung des Lendenteils der Wirbelsäule. Das Becken ist entwickelter, als in den beiden vorhergehenden Fällen (Länge der Beckenknochen = 4,3 cm). Der äussere Gehörgang der rechten Seite ist nach hinten, oben und aussen gekrümmt. Diese Seite des Schädels ist glatter und, wie es scheint, ein wenig asymmetrisch. In den beiden ersteren Fällen hatte man eine Verminderung der Stütze (erster Fall) und der Thätigkeit der Extremität (zweiter Fall); sowohl im ersteren, als auch im zweiten Falle war dementsprechend, infolge von Unthätigkeit, die Ernährung und die Entwickelung der Muskeln eine geringere. Eine verminderte Ernährung der Muskeln aber hat eine Verminderung der Ernährung des anliegenden Knochens zur Folge (Brücke), da beide mehr oder weniger gemeinsame Nahrungs- quellen haben; hieraus werden alle beobachteten Folgen begreiflich: das Kleinerwerden und die Verdünnung der darunter befindlichen Knochen, die Verrückung der einzelnen Teile und die statischen Krüm- mungen, das Zurückbleiben im Wachstum des ganzen Knochens u. s. w. 3) Bei einem Hund und bei einem Ferkel wurden (W. Popow) Teile der Schläfenmuskeln von einer Seite ausgeschnitten, die Wunde wurde vernäht und verwuchs durch prima intentio. Nach 2 Monaten stellte sich heraus, dass die Linea semicircularis, welche die Grenze der Befestigung des Schläfenmuskels bildet, an der operierten Seite verschwunden war; die Convexität des Schädelgewölbes ist von dieser Seite etwas stärker, die Knochenwandungen sind dicker, die Schädel- höhle asymmetrisch. Bei einem jungen Hunde, einer Katze und einem Ferkel wurde der Augapfel extrahiert, wobei die umgebenden Teile und die Augenlider in ihrer Lage blieben. Die Operation wurde 2—3 Wochen nach der Geburt ausgeführt. Zwei Monate nach der Operation wurden die Tiere getötet; bei der Untersuchung fand man, dass die Augenhöhle der operierten Seite bedeutend kleiner sei, als die der gesunden; die Entfernung zwischen der Mittellinie des Gesichts und dem äusseren Rande der Augenhöhle war kleiner geworden, und ebenso war der Jochbogen kürzer und schmäler geworden; die Wan- dungen der Augenhöhle und überhaupt des ganzen Oberkiefers waren verdickt, die Schädelhöhle asymmetrisch, der Schädelbogen auf der operierten Seite ein wenig grösser. Bei einem Kaninchen wurde 6 Tage nach seiner Geburt die breite Fascie über die ganze Länge des linken — 103 — Schenkels subcutan durchschnitten. Nach 2 Monaten war das Feniur der operierten Seite ein Avenig kürzer, als das der anderen Seite, jedoch viel dicker, als dieses; die Köpfe der Schenkelbeine waren gleich gToss, der grosse Rollhügel trat links mehr hervor, als rechts. Zu verschiedenen Zeiten wurden am rechten Oberkiefer Teile der Krone des Schneidezahns ausgebrochen; am Unterkiefer wurde die Krone des rechten Schneidezahns anfangs abgebrochen, dann aber ganz entfernt. Nach 2 Monaten w^urde das Tier getötet, wobei der Schädel eine Krüm- mung aufwies, deren convexe Seite nach links und deren concave Seite nach rechts schaute. Die linken Schneidezähne standen schief, besonders der untere. Das Tier konnte nur mit den linken Schneide- zähnen arbeiten; dieselben wuchsen unter einem nach links offenen Winkel. Der Unterkiefer war gleichfalls gekrümmt und links ver- dickt. Eine Asymmetrie des Schädels war bis nach hinten zu be- merken. In allen diesen Fällen sieht man, dass der Knochen nach der Seite des geringsten Widerstandes wächst. Entfernen wir einen Teil des Muskels, oder nehmen wir den Augapfel oder einen Zahn heraus, oder durchschneiden wir endlich eine Fascie, — in allen diesen Fällen vermindern wir den Druck auf den Knochen, die Gefässe des Periosts erfahren daher einen geringeren äusseren Widerstand und geben eine grössere Quantität Nahrungsflüssigkeit an das umgebende Gewebe ab, wodurch sie ein verstärktes Wachsen des Knochens nach der Seite des geringsten Widerstandes hervorrufen. Der Knochen wird so lange fortsetzen, nach dieser Seite hin zu wachsen, bis die Falten der Haut sich glätten, und letztere durch ihre Spannung und Elasticität einen gehörigen Widerstand bietet. 4) Einem Kaninchen wurde fünf Tage nach seiner Geburt in der Mitte der Innenflächen beider Unterschenkel die Haut zerschnitten; die Ränder der Wunde eines Unterschenkels wurden mit den entsprechen- den Rändern des anderen Unterschenkels vernäht. Die Extremitäten wurden verbunden. Beim Gehen stellte das Tier beide verbundene hintere Extremitäten stets mehr unter die linke Körperhälfte; dasselbe war auch beim Liegen zu bemerken. Nach sechs Wochen erwies sich, dass der rechte Unterschenkel länger und schmäler, der linke aber kürzer und dicker war. Der linke Unterschenkelknochen war verdickt, besonders im unteren Teil. Einem jungen Huhn und einem Kaninchen wurden an den Kopf Lasten angehängt. Bei ersterem wurde einen Monat, nachdem es aus dem Ei geschlüpft war, am Kamm mit dem Übergewicht nach der rechten Seite des Kopfes zu eine Last befestigt. Beim Schlafen suchte es seinen Kopf einem seiner Gefährten auf den Rücken zu legen. Beim Kaninchen wurde die Last, die aus vier mit Calico umnähten kupfernen Kopekenstucken bestand, vor dem rechten — 104 — Ohr befestigt. Das rechte Auge war bei ihm gewöhnlich durch eine Hautfalte geschlossen; das entsprechende Ohr aber meist in horizon- taler Haltung. Im allgemeinen aber war es besser entwickelt, als andere Kaninchen desselben Alters. Nach sechs Wochen fand man bei der Untersuchung: am Schädel des Huhns war das rechte Stirnbein ein wenig über das linke gerückt, mit ihren hinteren Rändern aber traten diese beiden Knochen ein wenig unter die Vorderränder der Scheitelbeine. Der rechte Kieferknochen war ein wenig dünner und länger, als der linke. Die Eabenschnabelbeine (ossa coracoidea) waren gekrümmt, besonders auf der linken Seite, wo sich über dem Brust- ende sogar eine kleine Biegung gebildet hatte; der rechte Knochen war kürzer und dicker, der linke aber länger und schmäler. In beiden Sternoclaviculargelenken waren Bewegungen fast ganz unmöglich, rechts war bei der Bewegung eine Rauhigkeit zu bemerken. Der untere Teil der Wirbelsäule war ein wenig gekrümmt, wobei die convexe Seite nach links gerichtet war. Beim Kaninchen war der äussere Gehörgang nach hinten gerichtet, der ganze Schädel ein wenig asymmetrisch. Aus diesen Experimenten kann man schliessen, dass unter dem Einfluss eines Druckes oder einer Last das Wachstum des Knochens abnimmt, seine Form sich ändert und die Harmonie nicht nur der einzelnen Teile, sondern des ganzen Organismus gestört wird. Die Beschränkung der Bewegungen im Gelenk (durch verstärkten Druck unter dem Einfluss einer angehängten Last) könnte sogar eine Ver- wachsung hervorrufen, da man (beim Huhn) im rechten Gelenk bereits eine Rauhigkeit infolge Verschwindens des mittleren Teils der knorpe- ligen Gelenkfläche bemerken konnte. Auf Grund der beschriebenen Experimente und Untersuchungen über die Ursachen, welche auf die Form der Knochen und, wie wir später sehen werden, überhaupt auf alle Gewebe der Stütze des Organis- mus einwirken, kommen wir zu folgenden Schlüssen. 1) Die Knochen entwickeln sich gleichmässig und um so stärker, je grösser die Thätigkeit der sie umgebenden Muskeln ist. Wird die Thätigkeit dieser Organe vermindert, so werden die Knochen dünner, schmäler und schwächer. 2) Die Form der Knochen verändert sich, sobald der Druck von Seiten der umgebenden Organe (der Muskeln, der Haut, des Auges, des Zahnes u. s. w.) geringer wird; sie werden dicker und wachsen nach der Seite des geringsten Widerstandes. 3) Die Form des Knochens verändert sich auch durch den Druck von Seiten der umliegenden Teile; der Knochen wächst dort, wo der äussere Druck stärker ist, langsamer, indem er sich unter dem Einfluss einseitiger Thätigkeit krümmt. 4) Die x4poneurosen, welche unter direktem Einfluss von Muskeln — 'lOS — stehen, leisten auch einen seitlichen Druck, werden sie durchschnitten, so wird dieser Druck vermindert, was für die Knochenform dieselben Folgen nach sich zieht, wie die Entfernung eines Teils der Muskeln. 5) In Bezug auf ihre Architectur erscheinen die Knochen als active Organe, als Stützen für die umgebenden Organe; in Bezug auf den Einfluss dieser Organe, welche die äussere Form der Knochen bedingen, erscheinen dieselben jedoch passiv. Dieses hängt hauptsächlich davon ab, dass diese Organe gemeinsame Nahrungsquellen haben; infolgedessen wird ihre Nahrung verstärkt, wenn der Druck von Seiten der umliegen- den Teile abnimmt und wenn die Thätigkeit der anliegenden Muskeln verstärkt wird (was mit einer Verstärkung des Druckes in den zu- führenden Gefässen verbunden ist), und umgekehrt wird die Ernährung vermindert, wenn der Druck von Seiten der umliegenden Teile zunimmt, und wenn die Thätigkeit der anliegenden Muskeln geschwächt wird. 6) Aus allen diesen Experimenten kann man schliessen, dass eine Veränderung der Ernährungsbedingungen eine Verschieden- heit im Wachstum hervorruft, was auf die Formation der Teile Einfluss ausübende mechanische Bedingungen schafft. Die Experimente von Dronsik an jungen Hunden und Katzen (an 55 Tieren) wurden zum Zweck des Studiums der Ursache der Schädel- formen ausgeführt. Er presste den Schädel durch Binden in zwei zu einander rechtwinkligen Richtungen zusammen und extrahierte die Augen. Durch diese Experimente bestätigte er die eben formulierten Grund- sätze ganz und gar. Aus seinen Versuchen erhielt er unter anderem noch folgende Resultate: 1) Ein mechanisches Zusammenpressen des Schädels hat eine Ver- zögerung des Wachstums und ein Zurückbleiben in der Entwickelung des ganzen Organismus zur Folge. 2) Unter dem Einfluss des mechanischen Zusammenpressens ver- ändert sich nicht nur die Form des Schädels, sondern seine Wandungen verdünnen sich, die Unebenheiten an der inneren Oberfläche desselben verschwinden. Bei sehr beschleunigter (nicht allmählicher und nicht consequenter) Verstärkung des Druckes haben die Schädelwandungen nicht Zeit, sich dem starken Druck von Seiten des wachsenden Gehirns anzupassen und als Folge davon treten verschiedene Leiden, wie Her- vortreten der Augen, Krämpfe und Lähmungen auf. 3) Ein mechanisches Zusammenpressen des Schädels in horizontaler Richtung, welches auch im vorderen Teil der Schädelhöhle einen starken Druck auf das Gehirn hervorruft, wirkt nicht nur auf die Form des Schädels und der Schädelhöhle, sondern auch auf die Form des Ge- sichtsskeletts, auf die Stellung der vorderen Augenhöhlenöffnungen und auf die Formen der Augenhöhlen selbst, 106* — Diät Milch Fleisch Vermischte Vegetabilische Diät Milch Fleisch Vermischte Vegetabilische 1 M. 2 W. 3 W. 4 W. 5 W. 7 W. N N u. Geschlecht w. M. ^\ w. % organische Bestandteile 45,98 52,12 51,06 68,90 56,43 71,05 ^jo organische Bestandteile 44,40 45,85 51,63 59,04 f Bemerkungen Der Eiuflitss der Nahrung auf den Knochen. Inbetreff des Einflusses der Nahrung auf Zusammensetzung, Form und Festigkeit des Skeletts haben die Untersuchmigen von M. Eudkow^) gezeigt, dass bei der chemischen Analyse der Schenkelbeine von Tieren, welche von der dritte Wochen nach ihrer Geburt an vegetabilische und vermischte (hauptsächlich vegetabilische, und zwar 18 Teile auf 10 Teile Fleisch) Nahrung erhielten, der Hauptteil des Gewichtes auf Rechnung des Wassers kam. während es bei Milch- und Fleischnahrung nur in ge- ringer Quantität vorhanden war; so fand man bei Milchnahrung im frischen Knochen 24,63'^/„, bei Fleischnahrung 27,72%, bei vermischter Nahrung 64.82% und vegetabilischer Nahrung 78.25% Wasser: ausser- dem stellte sich bei verschiedenen Diäten ein grosser unterschied im Procent gehalte der organischen und anorganischen Bestandteile heraus, was aus folgender Tabelle zu ersehen ist: 1. Wurf. ]S' N u. Geschlecht '",, Asche in lOOTlen. Knochen 54,02 47.88 48.94 31.10 43,57 28,95 2. Wurf. '^0 Asche in 100 Tlen. Knochen 55,60 54.15 48,37 40,96 32.14 28.06 o/o Asche 54,59 48,40 36,94 28,50 rachitische Erscheinungen Bemerkungen 67,86 71.94 rachitische Erscheinungen Mittelwerte Milch Fleisch Vermischte Vegetabilische Hieraus folgt, dass % organische Substanzen 45,41 51,60 63,06 71.50 welche nur die Knochen derjenigen Hunde, Milch erhielten, an Festigkeit alle übrigen übertrafen, ein wenig schwächer waren sie bei Fleischnahrung und noch schwächer bei ver- 1) L. c, pag. 45—47. — 107 — mischter und vegetabilischer Nahrung. Hierdurch lassen sich auch viele Erscheinungen, welche im Leben im Character der Hunde aus den verschiedenen Diätgruppen zu bemerken waren, erklären; so z. B. waren die Hunde der Milch- und Fleischgruppen im Leben verschieden dreist, lebhaft und empfindlich gegen Stösse und Fallen, an den Hunden aus der Gruppe der vermischten und der vegetabilischen Nahrung aber konnte man Schwäche und Krümmung der Extremitäten beobachten. Bei den Tieren der letzten Gruppe waren die Knochen kürzer, ge- krümmt und verdickt, bei der microscopischen Untersuchung aber fand man an ihnen Erscheinungen, welche dem rachitischen Process eigen sind. Der Einfluss der Farben auf den Knochen. In Bezug auf den Einfluss verschiedenfarbiger Strahlen auf die Entwickelung des Knochensystems erweist sich nach den Untersuchungen von Er. Gorbat- chewitsch^). dass der Mittelwert des Knochengewichtes und sein Ver- hältnis zum Mittelwert des Körpergewichts folgende sind (Gewicht in Grammen) : Mittelwert des Körpergewicht 8173 9962 9708 8758 10046 9021 Eine chemische Analyse dieser Knochen wurde nicht vorgenommen; und muss man dieses von der Fortsetzung dieser Experimente erwarten. Bis jetzt aber sind irgend welche Folgerungen unmöglich. Im Leben unterschieden sich diese Tiere ihrem Character nach ziemlich schroff von einander. Durch die grösste Beweglichkeit und Munterkeit zeichneten sich diejenigen Hunde aus, w^elche in grünem Licht aufgewachsen waren, ihre Bewegungen waren leicht und graciös, und ihre Beweglichkeit so gross, dass sie selbst beim Essen liefen und spielten. Die im orangen Licht aufgewachsenen Hunde zeichneten sich durch schwere und solide Bewegungen aus; sie waren sehr bös- artig und fingen oft Balgereien an, da sie aber stärker, als die anderen, waren, so mishandelten sie dieselben nicht selten; sie waren störrisch und in ihren Handlungen consequent. Die roten unterschieden sich von den orangen durch geringere Beweglichkeit und Bösartigkeit. Die blauen Farben Anzahl der Tiere Weiss 3 Rot 5 Orange 5 Grün 5 Blau 3 Violett 4 Absolutes Relatives \nochengewicht Knochengewicht 1142 13,9 1327 13,3 1376 14,1 1286 14,6 1545 15,3 1302 14,4 1) über den Einfluss verschiedenartiger Lichtstrahlen auf die Entwickelung und das "Wachstum der Säugetiere. Dissertation. St. Petersburg. 1883, pag. 120 — 121 (russisch). — 108 — und violetten waren stets ruhig und sogar ein wenig apatisch, besonders die blauen, welche nie spielten. Die bei gewöhnlichem Licht aufge- wachsenen Hunde standen in dieser Beziehung ungefähr in der Mitte zwischen allen anderen, wobei sie sich mehr den grünen, als den blauen näherten. Die Entwickelung des Knochensystems. Um sich die Ent- stehung der Grundsubstanz, aus der sich das ganze Knochensystem entwickelt, zu erklären, muss man vor allem mit den ersten Verände- rungen, welche im befruchteten Ei vor sich gehen, bekannt werden. Das menschliche Ei, welches im Jahre 1827 von dem Academiker Baer ^) aufgefunden wurde, ist ein einzelliger Organismus und besteht aus einer breiten durchsichtigen Hülle (zona pellucida) und dem körnigen Eidotter (vitellus); etwa in der Mitte des letzteren liegt das runde, durchsich- tige Keimbläschen von Purkinje (vesicula germinativa), welches einen dunkleren Kern oder den Keimfleck von Wagner (macula germinativa) enthält. Der Durchmesser eines solchen Eies ist = 0,2mm, das Keim- bläschen misst 0,040—0,050 mm, der Keimfleck aber 0,005—0,007 mm (Kölliker -). Die durchsichtige Hülle hält man gegenwärtig für die äussere Membran des Eies (Pflüger •^), während man nach innen von ihr noch eine dünne Haut unterscheidet, welche man als eigentliche Dotter- membran betrachtet (Van-Beneden *). Die Zona pellucida besteht aus dünnen, radiär gelagerten Streifen, welche feine Canälchen (micropyle) vorstellen; durch diese Canälchen können augenscheinlich die Samen- körperchen durchgehen. Das Eigelb des Hühnereies besteht nach den Analysen von Gobley ^) aus folgenden Teilen: Wasser 51,490 Eiweisssubstanzen (vitelline) 15,760 Fette (Margarin und Olein) 21,300 Lecithin (Phosphor enthaltend) 8,430 Cholesterin 0,440 Cerebrin 0,300 Chlornatron und Kali und schwefelsaures Kali 0,273 Phosphorsaurer Kalk und Magnesia 1,022 Chlorammonium 0,033 Spiritusextract 0,400 Farbstofii'e, Spuren von Eisen und Milchsäure 0,552 1) De ovi mammalium et hominis genesi. Lipsiae. 1827. 2) Entwickelungsgeschichte des Menschen und der höheren Tiere. 2. Aufl. Leipzig. 1879, pag. 44. 3) Die Eierstöcke der Säugetiere und des Menschen. Leipzig. 1863, pag. 80. 4) Recherches sur la composition et la signification de l'ceuf . Bruxelles. 1870, pag. 745. 5) Journ. de pharm, et de chim. T. XII, pag. 12. — 109 — Die Samenfäden oder -körperchen entstehen aus ebensolchen Ele- menten, wie das Ei. Sie bestehen aus 3 Teilen: aus dem starklicht- brechenden Köpfchen, dem mittleren Teil und dem beweglichen Faden oder Schwanz, Beim Menschen ist das Samenkörperchen 0,5 mm lang; sein Kopf hat die Form eines ovalen Plättchens, dessen Oberfläche ein wenig eingebogen ist, zum freien Ende ein wenig spitz zuläuft; er be- steht hauptsächlich aus Nuclein oder Chromatin. Der Kopf setzt sich in ein kurzes Mittelstück fort', das in einem dünnen fadenförmigen Fortsatz, dem Schwanz, endet; der Schwanz lässt lebhafte Bewegungen wahrnehmen. Der Kopf und das Mittelstück entstehen aus dem Kern eines Elements (Spermatocyt), der Schwanz aber aus den einander ad- härierenden Protoplasmakörnchen dieses Elements. Die ersten Veränderungen, welche man nach der Befruchtung beob- achten kann, lassen sich am Ei des Frosches oder Axolotl am besten verfolgen; sie bestehen, wie man glaubt, im Verschwinden des Keim- bläschens und des Keimfleckes. Untersuchungen von Hertwig^) und von Van-Beneden ^) haben jedoch gezeigt, dass das Keimbläschen nicht vollkommen verschwindet, sondern dass ein Teil desselben zurückbleibt und den sogenannten Eikern (Hertwig) oder Vorkern (pronucleus cen- tralis, Van -Beneden) bildet. Mit diesem Kern oder dem weiblichen Element verbindet sich ein anderes Element, welches aus dem in den Eidotter eingedrungenen Samenkörperchen entsteht, dieses ist der Samenkern (Hertwig) oder der männliche Vorkern (pronucleus mäle-Fol). Aus der Verbindung beider entsteht der erste Furchungskeim. Die ersten, welche im Eidotter der Säugetiere Samenkörperchen fanden, waren Weil ^) und Hensen ^). Fol ^) beobachtete unter dem Microscop das Eindringen dieser Körperchen in das Ei von Asterias glacialis. Nach neueren Untersuchungen dringt nur ein Samenkörperchen bei der Befruchtung in in das Ei ein, sein Kopf wird darauf zum Samenkern, um den sich 1) Beiträge zur Kenntnis der Bildung, Befruchtung und Teilung des tierischen Eies. Gegenbauer's morph. Jahrb. Bd. I. 1876, pag. 347. Bd. III. 1877, pag. 1 und 271. Bd. IV, pag. 177. 2) La maturation de l'ceuf, la fecondation et les premieres phases du developpe- ment embryonnaire des mammiferes. Bull, de l'Acad. royale de Belgique. 1875, pag. 686 u. 736 und Contribution ä l'histoire de la vesicule germinative et du premier noyau embryonnaire. Bull, de l'Acad. de Belgique. II Ser. T. öl. 1876. 3) Beiträge zur Kenntnis der Befruchtung und Entwickelung der Kanincheneier. Wiener medic. Jahrb. 1873. 1 Heft. 4) Beobachtungen über die Befruchtung und Entwickelung des Kaninchens und Meerschweinchens. Zeitschr. f. Anat. u. Entwickelung. Bd. I. 1876. 5) Sur le commencement de l'Henogenie (s. Ontogenie). Arch. d. sc. phys. et natur. de Geneve. T. LVllI und Mömoires. T. XXVI. — 110 — strahlenförmig die Protoplasmateilclien lagern. Hierauf zieht sich das Ei ein wenig zusammen und verändert seine Form, womit auch der unter dem Namen Eifurchung (disseptio vitelli) bekannte Process be- ginnt. Dieselbe kann total oder partiell sein, je nachdem ^ zu welcher Tierclasse das Tier, dessen Ei untersucht wird, gehört. Die Teilung wird durch die Quantität und die Verteilung der Nahrungssubstanz im Ei bedingt. Das Ei hat meistens in den Fällen nur Bildungsdotter (holoblastisches Ei), wenn der Embryo sich im Leibe der Mutter entwickelt; dies ist das Ei der Säugetiere. Entwickelt sich jedoch das Ei ausserhalb des Mutterleibes, so enthält es ausser Bildungsdotter auch noch Nahrungsdotter (meroblastisches Ei); solche Eier findet man bei Vögeln, Fischen, Reptilien und anderen. Gegenwärtig erkennt die Mehrzahl der Gelehrten folgende Theo- rien an: 1) Die Theorie der Befruchtung: Die Befruchtung besteht in der Verbindung zweier dem Geschlechte nach verschiedener Kerne. 2) Die Theorie der Vererbung: Die Substanzen des männlichen und weiblichen Kerns, die im Samen- und im Eikern enthalten sind, sind die Träger der erblichen Eigenschaften, welche von den Erzeugern auf die Nachkommenschaft übertragen werden. Eine Kritik dieser Theorien und eine Erklärung ihrer Bedeutung wird erst später, wenn sich mehr Material für ihre Analyse angesammelt hat, möglich sein. Die Eifurchung von Fröschen wurde von Prevost und Dumas ^) entdeckt, darauf wurden Untersuchungen über diese Erscheinung von M. Rusconi -) und Baer '') fortgesetzt. Bei den Fröschen findet ebenso wie beim Menschen und bei den Säugetieren totale Eifurchung statt. Bei der Eifurchung findet eine caryokinetische Teilung des Eiinhaltes mit fadenförmigen Veränderungen des Furchungskerns und darauffolgen- der Teilung der die Tochterkerne umgebenden Substanzen statt. Be- obachtet man den Furchungsprocess an den Eiern von Fröschen, so kann man leicht folgende äusserliche Erscheinungen bemerken: an dem dem Lichte zugewandten Eipol zeigt sich eine dunkele Furche, welche sich rasch in meridionaler Richtung beiderseits zum Äquator fortsetzt und darauf langsam bis zu dem dem Boden zugekehrten Pol fortgeht. Diese Furche teilt, sich vertiefend, das ganze Ei in zwei Hälften. Während 1) Annales des sc. naturelles. T. II. Paris. 1824. Developpement de l'ceuf des Batraciens, pag. 100—120 und 129—148. 2) Sur le developpement de la grenouille. Milan. 1826 und MüUer's Archiv. 1836, pag. 203—224 und 278-288 3) Müller's Archiv. 1834, und Entwickelungsgeschichte der Tiere. 1837. — 111 — diese Furche noch den Äquator nicht überschritten hat, zeigt sich am ersten Pol noch eine Furche, welche rechtwinklig zur ersten ist und sich gleichfalls in zwei entgegengesetzten Richtungen zum Äquator wendet. Während diese dunklen Furchen sich vertiefen und sich dem anderen Pol allmählich nähern, bemerkt man noch eine dritte Furche, welche jedoch dem Äquator parallel einen Parallelkreis, welcher ungefähr das obere Drittel der Eioberfläche vom mittleren abteilt, entlang ver- läuft. Die Furchen gehen in die Tiefe, durchkreuzen die vorhergehenden und trennen dabei am oberen Eipol vier Teile von der übrigen Ei- substanz ab. Ferner erscheint am Pol eine neue Furche, welche die vorhergehenden durchkreuzt, wodurch die einzelnen Teile weiter geteilt werden; alles das geht bei einer Temperatur von 18" bis 20" C. vor sich, das Auftreten immer neuer Furchen, welche in der Richtung der Meridiane oder der Parallelkreise des Eies verlaufen, geht immer fort. Die meriflionalen Furchen überschreiten den Äquator und erreichen dann, nachdem sie die auch unter dem Äquator sichtbaren Parallelkreise durchnitten haben, allmählich den entgegengesetzten Pol. In der Mitte der Furchungsteile, welche sich am oberen Pol befinden, bemerkt man dunkle Kerne die, wie man annimmt, durch die Teilung des ersten Teilungskerns entstanden sind; diese Teilung muss in diesem Falle natürlich der Teilung des Eies vorangegangen sein. Ferner bemerkt man am oberen Pol, von dem die ersten Furchen ausgegangen sind, zwischen den einzelnen neuentstandenen Zellen einen Hohlraum, welcher sich bei fortgesetzter Teilung immer mehr erweitert; dieses ist die so- genannte Baer'sche Furchungshöhle, oder, ihrer Form nach, elliptische Höhle (Golubew ^) (Fig. 21. B). Sie ist mit albuminöser Flüssigkeit angefüllt und entsteht infolge des schnelleren Ganges der Teilung der oberflächlichen Elemente, welche eine immer grössere Fläche einnehmen und sich von den unteren Teilen, wo die Teilung viel langsamer vor sich geht, trennen. In diesem Stadium kann man am Ei unterscheiden: einen oberen, den Kopfpol und den entgegengesetzten, den Schwanzpol, die rechte oder Bauchhälfte (Fig. 21 B) und die linke oder dorsale Hälfte (C). Die Furchungshöhle ist mit feinen Elementen bedeckt; den Boden der Furchungshöhle nehmen jedoch grössere polygonale Elemente ein, in denen man eine Bewegung bemerken kann : indem sie sich nämlich zusammenballen, bilden sie einen sich von der dorsalen Seite der Furchungshöhle zum oberen Teil derselben erhebenden Fortsatz. Um dieselbe Zeit bildet sich von dem Schwanzteile näher zur dorsalen Seite aus ein Spalt zwischen den an seiner dorsalen Seite bleibenden kleinen Teilungselementen und den grösseren Elementen, welche näher zur 1) Beiträge zur Entwickelungsgeschichte der Batrachien. Untersuchungen aus dem Institute für Phys. und Histologie in Graz. Leipzig. 1870, pag. 89. 112 — Mitte des Eies liegen. Das ist die Rusconische Spalte (Fig. 21, A), welche gleichfalls infolge von verschieden schneller Teilung der sie umgebenden Elemente entseht. In der ventralen Hälfte, gleichfalls am Schwanzpole, bildet sich noch eine Spalte, welche jedoch weniger deutlich ausgedrückt ist, als die erstere; es ist dies die sogenannte Afterspalte (3 Fig. 22). Die erste Spalte nimmt rasch an Dimensionen zu, erweitert sich nach oben und rückt sogar die Elemente des Fort- satzes, der sich von der dorsalen Seite der Furchungshöhle erhebt, aus- Fig. 21. 23. 23. B. Furchungshöhle. T. Kopfpol. X. Schwanzpol. C. Dorsale Oberfläche. B. Ventrale Oberfläche. A. Rusconi'sche Spalte. 3. Afterspalte. R. Nahrungshöhle (nach Golubew). einander. Diese Spalte erweitert sich in der Mitte und verwandelt sich allmählich in eine Höhle, welche von ßusconi beschrieben wurde und deshalb Eusconi'sche oder Nahrungshöhle, oder halbmondförmige Höhle (Golubew) heisst (Fig. 23. R). Während die halbmondförmige Höhle sich entwickelt, wird die elliptische Höhle immer kleiner; die beiden Höhlen sind nur durch eine Schicht Teilungselemente von einander ge- schieden. Mit dem Wachsen der ersteren Höhle ändert das ganze Ei seine Lage in der Weise, dass die dorsale Hälfte nach oben, die ventrale aber nach unten zu liegen kommt, während der Kopf- und Schwanzpol zu lateralen Polen werden. — 113 — Nach allen diesen Veränderungen nähern sich die Furchungs- kugeln, welche sich über der Nahrungshöhle befinden, einander, und die äussere Schicht derselben schliesst sich so eng zusammen, dass sie eine Platte bildet, in deren Mitte die Elemente die Form von beider- seits zusammengedrückten Würfeln annehmen. Hier entstehen die ersten geformten Elemente, welche den Keim der centralen Gehirn- masse bilden; an dieser Stelle trägt die Platte den Namen Medullar- platte; aus ihr entwickelt sich, wie wir gleich sehen werden, das MeduUarrohr. Die Bedingungen, welche das Auftreten der ersten geformten Ele- mente hervorrufen, sind folgende: der Ort, wo sie auftreten, befindet sich in der Mitte der kuppeiförmigen Decke, welche die Nahrungshöhle bedeckt und sich an ihrer ganzen Peripherie auf feste Elemente, die sich bei der Furchung gebildet haben, stützt. Die Aussenfläche ist von der äusseren Eihülle bedeckt und befindet sich unter unmittel- barer Einwirkung der umgebenden Mitte, wie z. B. der Feuchtig- keit, des Lichts, der Bestandteile der Luft u. s. w.^). Dort wo alle die Entwickelung fördernden Bedingungen am unmittelbarsten wirken, da muss auch die Vermehrung „. „^ Flg. 24. der Elemente schneller vor sich gehen: und so stossen die in der Mitte der l2^^f^i ' ijj'/' VrA" /^ äusseren Embryonalplatte liegenden Ele- mente, indem sie sich rasch vermehren T r~i •■ 1 111 ^TTT'j a. Ectoderma. b. Ento derma. und an Grosse zunehmen, bald auf Wider- stand von Seiten der ganzen Peripherie der darunterliegenden Teile und nehmen deshalb die Form von Würfeln und darauf Cylindern an, deren Längsachse zur Eioberfläche perpendiculär steht (Fig. 24a). Aus diesen Elementen entsteht die Medullarplatte, deren Seitenfort- sätze das Hornblatt (ectoderma) bilden. Dieses Blatt ist selbst ein schlechter Leiter, und deshalb wächst und vermehrt sich die tiefer liegende Zellenschicht langsamer, aber auch die Elemente dieser Schicht schliessen eng aneinander und bilden das Darmdrüsenblatt (entoderma). Da sie durch das schnelle Wachstum der äusseren Platte auseinander- gezogen werden, nehmen diese Elemente auch eine längliche Form an (Fig. 24 b), nur dass ihre Längsachse zur Längsachse der Elemente des MeduUarblattes perpendiculär ist. Aus neuerer Zeit sind noch die sogenannte Gasträatheorie- und die Cölomtheorie zu verzeichnen; die erstere bezieht sich auf die früheste 1) Bei den Säugetieren berührt ein Eipol unmittelbar die Wandungen des Ei- leiters oder des Fruchthalters, die übrigen Teile desselben sind jedoch von diesen Wandungen durch Schleim , welcher sich durch seine geringe Leitungsfähigkeit aus- zeichnet, getrennt. 8 — 114 — Entwickelung-speriode der Blätter, und zwar des äusseren und des inneren, die letztere aber auf die folgende Entwickelungsperiode , auf die Entwickelung der beiden mittleren Blätter. Der ganze Process be- steht in der Bildung von Falten infolge des Wachstums des anfangs blasenartigen Gebildes. Die erste Theorie ist von E. Häckel^) und E. Ray Lankester -) begründet worden ; über die zweite sind Unter- suchungen von A. Kowalewski ^) , Hertwig ^) und anderen vorhanden. Nach diesen Theorien bilden sich aus der einfachen, nur aus einer Zellenschicht bestehenden Blase durch Einstülpung der Wand bis zur vollkommenen Berührung mit der concaven Fläche der ersten Schicht die' beiden ersten Blätter: das äussere (ectoblast oder ectoderma), aus dem sich Körperhüllen und Medullarrohr, und das innere (entoblast oder entoderma), aus dem sich alle übrigen Körperteile entwickeln. Aus der letzteren entstehen durch zwei Seitenfalten erstens die beiden mittleren Keimblätter (die parietale und viscerale Lamelle des Meso- blasts oder Mesodermas), welche die Leibeshöhle umgeben, zweitens das Darmdrüsenblatt, welches den primären Darmcanal auskleidet, und drittens die Grundlage des Achsenskeletts oder die sogenannte Rücken- saite (chorda dorsalis). Betrachtet man ferner das Embryo von der Fläche, so bemerkt man, dass sich an seiner Oberfläche zwei parallele Längsfalten bilden, zwischen denen eine Furche bleibt: das sind die Medullarfalten und die Primitivrinne. In der Tiefe dieser Einne erscheint der sogenannte Primitivstreifen. Sowohl Falten, als auch Rinne bilden sich an der Stelle, wo sich in dem äusseren Blatt eben erst die Elemente differen- ziert haben. Das Auftreten dieser Falten erklärt W. His '") folgender- massen: Nimmt man irgend eine organische Platte, zum Beispiel ein Papier- blättchen, so kann man leicht in der Mitte desselben regelmässige 1) Monographie der Kalkspongien. 1872 und die Gasträatheorie in Jenaigche Zeitschrift. Bd. VIII. 1874, pag. 1 und auch: Die Gastrula und die Eifurchung der Tiere. Ebendaselbst. Bd. IX. 1875, pag. 402. Bd. XI. Bd. XVIII. 1884. 2) Annais and Mag. N. Eist. Vol. XI. 1873. 3) Entwickelungsgeschichte der Sagitta. Memoires de l'Academie imperiale des Sciences de St. Petersbourg. VII ser. T. XVI. 1871. Beobachtungen über die Ent- wickelung der Brachiopoda. Nachr. d. kais. Ges. d. Freunde d. Naturw. , Anthropol. und Ethnogr. 1874 (russisch). Weitere Studien über die Entwickelungsgeschichte des Amphioxus lanceolatus u. s. w. Archiv f. microsc. Anat. Bd. XIII. 1877. 4) Lehrbuch der Entwickelungsgeschichte. 1. Abt, Jena. 1886, pag. 78—106. 5) Unsere Körperform und das physiologische Problem ihrer Entstehung. Leipzig. 1874, pag. 49—54. 115 Falten erhalten, indem man entweder das Blättclien von den Rändern her zusammenschiebt, wobei die Falten um so höher sein werden, je mehr man die Ränder einander nähert, oder indem man die Mitte des Blättchens mit Flüssigkeit befeuchtet; hierdurch quillt die Mitte auf. dehnt sich aus und findet an den trockenen Rändern einen Widerstand, weswegen sie mehr oder weniger regelmässige Falten bildet. Als not- wendige Bedingung einer solchen Faltenbildung erkennt His die Elasticität des Blättchens an. Unterwirft man das Blättchen des Em- bryo ebensolchen Einflüssen, wie auch das Papierblättchen , so erhält man dieselben Resultate. In der Embryonalplatte sind jedoch auch noch andere Bedingungen vorhanden, wie z. B. innere Ursachen, welche mit ihrem Wachstum in Verbindung stehen und bei der Faltenbildung mitwirken. Die Embryonalzellen, welche sich an dem einen Eipol zu einer Lamelle zusammengeschlossen haben, verbreiten sich von hier aus über die Oberfläche des Eidotters und umgeben ihn. Dieses Wachs- tum kann entweder in allen Teilen der Lamelle gleichmässig sein, oder es ist an verschiedenen Stellen ungleich. Im letzteren Falle muss die Faltenbildung eine notwendige Folge sein. Wenn man z. B. eine Platte (Fig. 25) von 18 mm Kantenlänge in neun gleiche Quadrate teilt, und wenn das mittelste derselben (e) am schnellsten wächst, so bilden die dasselbe umgebenden Quadrate einen Rahmen, welcher seinem Wachstum Widerstand leistet und, je nach dem Grrad seines Fig. 25. Wachstums, Faltenbildung bei ihm hervorruft. Die Feuchtigkeit, Ernährungsbedingungen und der unmittelbare Einfluss dieser Bedingungen sind hier an einer bestimmten Stelle vorhanden und müssen Falten hervorrufen, deren Form und Grösse von dem verschiedenen Grade des Einflusses der das Ei umgebenden Mitte ab- hängt. Die Untersuchungen von His^) haben in der That bewiesen, dass bei dem Hühnerembryo und in den Fischeiern die Keimblätter sowohl in die Dicke, als auch in der Fläche ungleichmässig wachsen. So beträgt z. B. die Dicke der Medullarplatte : beim 40 stündigen Embryo beim 50 stündigen Embryo in der vorderen Hirnblase = 0,045—0,048 mm, ebendas.= 0,050 -0,060mm „ hinteren „ =0,038—0,040 „ „ =0,040-0,045 „ in d. Halsteile d. Medullarrohrs =0,035 „ „ =0,038-0,040 „ a l e d ^ f y Ä i 1) Unsere Knochenform L. c, pag. 52 und Untersuchungen über die Eatwickelung von Knochenfischen, besonders über diejenige des Salmens. Zeitschr. f. Anat. n. Ent- wickelungsgesch. I. Jahrg. Leipzig. 1875. 1. u. 2. Heft, pag. 1—40. — 116 — Die Breite des Embryo beträgt: im vorderen Drittel des Kopfes in der Gegend des ersten ürwirbels beim 18 stündigen 1,0 mm — mm „ 24 „ 0,8 „ 1,0 „ „ 40 „ 0,7 „ 0,6 „ „ 50 „ 0,9 „ 0,5 „ Obgleich folglich die Oberfläche des Embryo grösser wird, nimmt sein Durchmesser, infolge des Zusammendrückens desselben und der Faltenbildung, anfangs sogar absolut ab. Alle diese Facta können dazu verhelfen, die ersten Veränderungen und Formbildungen beim Embryo zu erklären. Die ersten Falten, welche auf diese Weise beim Embryo sichtbar werden, sind die so- genannten Medullarfalten ; sie entwickeln sich am stärksten am Kopf- ende, treten immer mehr und mehr hervor, nähern sich an der Stelle, wo das Kopfende des Embryo in dessen Rückenteil übergeht, einander und verwandeln sich in das geschlossene Medullarrohr. Das weiter nach innen gelegene Darmdrüsenblatt wächst viel lang- samer (bei einer Länge des äusseren Blattes von 2,0 mm ist die des inneren nur 1,3 mm), und folglich ist es gespannt und bietet von innen Fig. 26. a. ■* Primitivrinne.. 'b.'^ Medullarfalten. c. Hornblatt, d. Darmdrüsenblatt, e. Achsenstrang, f. Ursegmentplatten. g Verbindungsplatten, li. Hautplatte (obere Muskelplatte nach His). i. Darm- faserblatt (untere Muskelplatte nach His). k. Cavum pleuro-peritoneale. 1. Gefässblatt (nach His). , einen gewissen Widerstand. Die zwischen diesen beiden Blättern (ecto- derma und entoderma) gelagerten Elementen passen sich den Form- veränderungen des ersten an, sie werden in der Mitte zwischen der Wand der Medullarfurche oder des Medullarrohrs und dem inneren Blatt zusammengedrückt, ballen sich hier zusammen und erscheinen als Achsenstrang des Primitivstreifens; ein Teil desselben bildet die Stütze des Medullarrohrs oder die Rückensaite (chorda dorsalis). Zu beiden Seiten der Medullarfurche oder des Medullarrohrs bilden die Zellen oder Plättchen der mittleren Schicht (mesoderma), sich zusammen- ballend, die Ursegmentplatten; die letzteren gehen, weiter nach aussen sich verengend, in die sogenannten Verbindungsplatten über, die ihrer- — 117 — Fig. 27. seits sich in die von einander getrennten äussere oder obere und innere oder untere Schicht fortsetzen. Die erstere bildet die sogenannte Haut- platte oder äussere Muskelplatte, die letztere die Darmfaserplatte oder die untere Muskelplatte, der zwischen ihnen befindliche Hohlraum aber heisst die Pleuroperitonealhöhle (cav. pleuro-peritoneale). Die Ent- wickelung dieser Höhle ist augenscheinlich durch die Bildung einer zweiten Falte, und zwar der Amnionfalte bedingt. Bei der Entwickelung der Embryonalblätter kann man folgende allgemeine Erscheinung constatieren : die Teile wachsen dort am schnell- sten, wo die Nahrungsstoffe am unmittelbarsten auf sie einwirken; hieraus folgt ein Unterschied im Wachstum, der seinerseits durch die geschaffenen mechanischen Bedingungen eine Mannigfaltigkeit der sich entwickelnden Formen zur Folge hat, so dass die Ernährung auf das Wachstum einwirkt, die Verschiedenheit im Wachstum aber die Formation bedingt. Die ürsegmentplatten , welche zu beiden Seiten der Chorda ge- lagert sind, gehen an beiden Enden der letzteren bogenförmig ineinander über. Während des Wachstums des Embryo und der bedeutenden Vergrösserung des Kopfendes des MeduUarrohrs, biegt sich das letztere zur Ober- fläche des Eidotters, wobei sich in den ürsegment- platten helle Querstreifen bilden, zu allererst dort, wo der Kopfteil des MeduUarrohrs in dessen Eückenteil übergeht. Auf diese Weise beginnt die Differenzierung der Platten und die Entwickelung der Urwirbel (Fig. 27). Von diesen Platten löst sich bald der grössere Innenteil los, umgiebt die Rückensaite und bildet zusammen mit dieser den sogenannten Urwirbel. Als Grenze zwischen diesem Innen- und Aussenteil dient die Ursegmenthöhle, der Aussenteil aber bildet nach Remak die Nerven- und Muskelplatte. Der Innenteil der Ürsegment- platten bildet zusammen mit der Chorda dorsalis, welche er umfasst, den Keim des Rumpfskeletts. Nach der Theorie von His ^) bilden die Grenz- platten (ectoderma und entoderma) zusammen mit der mittleren Platte (mesoderma) den^Hauptkeim (archiblast). Aus den ersteren (dem äusseren und dem inneren Blatt) entwickeln sich die Nervencentren und alle epidermoidalen, epithelialen und Drüsengebilde; aus der zweiten (mittleren) das periphere Nerven- a. ürsegmentplatten. l). Differenzierte Urwirbel. c. Rückensaite (chorda dor- salis). d. Vordere Hirnblase, e. Mittlere Hirnblase, f. Hin- tere Hirnblase. g. Kopf- kappe, h. Vasa omphalo- enterica. 1) Untersuchungen über die erste Anlage des Wirbeltierleibes. Leipzig. 1868 U. Unsere Körperform und das physiologische Problem ihrer Entstehung. Leipzig. 1874. — 118 — System, das Muskelsystem, und zwar sowohl die quergestreiften, als auch die glatten Muskelfasern (nämlich: die Haut- und die Darmfaser- platten, Teile der Urwirbel und die Rückensaite). Alle diese Gewebe entstehen aus dem Hauptkeim. Die Gebilde, welche aus der das Em- bryo umgebenden Zone oder aus dem sogenannten weissen Dotter in das Embryo hineinwachsen, gehören zu dem Nebenkeim (parablast); derselbe dringt, wie His beschreibt, von der Zone aus in den Raum zwischen dem Entoderm und den Zellen des Mesoderms und bildet den Keim der Gefässe, des Bindegewebes, der Knorpel und der Knochen. Die Rückensaite hält His für ein Gebilde, das sich aus dem Mesoderm entwickelt hat, bei der Bildung der Wirbel jedoch von einem Fortsatz des Parablasts umgeben wird. Ans der die Chorda umgebenden Hülle zusammen mit Überresten derselben entwickelt sich also die Wirbelsäule, und durch diese Be- dingungen wird der Typus der einzelnen Teile derselben oder der Wirbel bestimmt; einen Wirbel darf man folglich nur das nennen, was sich aus der Chorda und dem sie umgebenden Gürtel (dem Innenteil der ürsegmentplatte) entwickelt, wobei die Form des daraus ent- standenen Organs gar keine integrierende Bedeutung hat. Während man. ein Organ als typisch bestimmend, sich in den meisten Fällen durch allgemeine Merkmale bei der ersten Entwickelung leiten lässt, müsste man sich augenscheinlich auch in Bezug auf die Wirbel an den- selben Grundsatz halten, um nach Möglichkeit subjective oder will- kürliche Urteile zu vermeiden. Von dem hinteren und seitlichen Teil dieser Urwirbel wachsen nach hinten Fortsätze hervor, welche beiderseits das Wedullarrohr um- fassen und sich über oder hinter demselben vereinigen, indem sie die Wirbelbogen und die obere Verbindungshaut oder den häutigen Wirbel- bogen (membrana reuniens superior) bilden; die Seitenfortsätze des- selben sind die Anfänge der Querfortsätze, die sie in longitudinaler • Richtung aber vereinigenden Teile — die Gelenkfortsätze. Aus den Zellen dieser häutigen Wirbelsäule werden in der Nähe der Chorda Knorpelzellen, welche sich darauf im Wirbelkörper, später im Wirbelbogen verbreiten. Der häutige Urwirbel geht auf diese Weise in einen Knorpelwirbel über; bei dem menschlichen Embryo geht, soweit bekannt, diese Veränderung etwa am Anfange des zweiten Monats vor sich, so dass in der sechsten Woche die Wirbelsäule aus knorpeligen Wirbeln besteht, welche durch die häutigen Zwischen- wirbelbänder (ligamenta intervertebralia) von einander getrennt sind. Im vierten Monat nähern sich die Knorpelbogen einander. Die Chorda geht (nach^E. Rosenberg i) bis zum letzten Steisswirbel, deren bis sechs 1) Über die Entwickelung der Wirbelsäule und das Centrale carpi des Menschen. Morph. Jahrb. Bd. I, pag. 83. Taf. III, IV. — 119 — vorkommen. Die falschen Steisswirbel können im knorpeligen Zustande auch mit ihren Seitenteilen untereinander verschmelzen, was bei den Kreuzbeinwirbeln stets der Fall ist. Was das obere Ende der Wirbel- säule anbetrifft, so haben schon die Untersuchungen von Eathke^) be- wiesen, dass die Chorda durch den Zapfen des zweiten Halswirbels und durch das Ligamentum Suspensorium dentis geht, so dass in Wirk- lichkeit der Zapfen der Körper des ersten Halswirbels (Atlas) ist. Nach Hasse entwickelt sich aus dem Körper dieses Wirbels nicht nur der Zapfen, sondern ausserdem auch noch der vordere Bogen des ersten Wirbels und das Querband (lig. transversum). In der zweiten Hälfte des zweiten Monats treten in den Knorpel- wirbeln Gefässe auf, welche aus der Knorpelhaut (perichondrium) in der Richtung nach dem Centrum des Knorpelkörpers in dieselben hinein- wuchern. In den meisten Wirbeln erscheinen zu Ende des zweiten Monats Knochenkerne in der Mitte des Körpers, zu beiden Seiten der Chorda und in den beiden Seitenbogen. In den Brustwirbeln tritt zuerst (in der siebenten bis achten Woche, nicht später, als in der neunten) in der Mitte des Körpers, hinter der Chorda, und darauf erst in den Bogen ein Knochenkorn auf. Nach Eambaud und Renault -) und Schwegel ■') bilden sich in den Wirbelkörpern zwei Knochenkerne, sie fliessen jedoch sehr bald zusammen. Nachdem sich im Brustteil der Wirbelsäule in den Wirbelkörpern Knochenkerne gebildet haben, treten sie in der zweiten Hälfte des dritten Monats im Lendenteil und bis zur Mitte des vierten Monats im Kreuzteil auf. In den Halswirbeln findet man die ersten Knochenpuncte in den Bögen zwischen dem 55. und dem 60. Tage, und erst zu Ende des vierten Monats auch in der Mitte der Wirbelkörper. Nach der Geburt fliessen die Bogen erst mit einander und dann mit den Wirbelkörpern zusammen. Hierbei kann man folgende Reihen- folge beobachten *) ; die Bogen der Brustwirbel vereinigen sich in der Zeit zwischen dem sechsten und dem neunten Monat; die der letzten Halswirbel zwischen dem zehnten und dem zwölften Monat; die der mittleren Hals- wirbel zwischen dem 12. und dem 14. Monat; die des zweiten Halswirbels zu Ende des zweiten Jahres; der Bogen des ersten Wirbels im vierten und fünften Jahr; endlich die Bögen der Kreuzwirbel im sechsten und siebenten Jahre. Die Vereinigung beginnt gewöhnlich von der Seite des Wirbelsäulencanals und schreitet von vorn nach hinten vor. 1) Entwickelungsgeschichte der Natter. Königsberg. 1839. 2) Origine et developpement des os. Paris. 1864. 3) Die Entwickelungsgeschichte der Knochen des Stammes und der Extremitäten. Wiener Sitzungsber. Bd. 30. 1858, pag. 337. 4) Ph. C. Sappey. Traite d'Anatomie descriptive. T. I. 3. edit. Paris. 1876, pag. 309. — 120 — Wenn die Bogen sich mit einander vereinigt haben und der Canal von hinten geschlossen ist, so beginnt die Vereinigung mit den Wirbelkörpern. Dieselbe dauert vom dritten bis zum sechsten oder sogar achten Jahre. Ausser diesen Hauptknochenpunkten kommen noch accessorische, deren Anzahl in den verschiendenen Teilen der Wirbelsäule nicht die gleiche ist, vor. In allen Wirbeln erscheinen accessorische Knochenpuncte in den Lamellen der oberen und unteren Fläche und an den Spitzen der Dorn- und der Querfortsätze. Diese Knochenpuncte sind an den Halswirbeln sehr klein, so dass Sappey ihr Vorhandensein hierselbst ganz bestreitet. In den Lendenwirbeln finden sich besondere Knochenpunkte noch in den Pro- cessus mamillares. An den Gelenkfortsätzen sind die Knochenkerne nicht beständig; am häufigsten kommen sie an den Gelenkfortsätzen der Lenden- und der Brustwirbel vor; überhaupt^ sind sie sehr klein und verschmelzen daher, wie es scheint, früher. Zuweilen finden sich accessori- sche Knochenpuncte auch in den vorderen Sparren der Halswirbel ^), be- sonders in siebenten, sechsten und fünften und sogar zweiten Wirbeln (KöUiker). An der oberen und unteren Fläche der Wirbelkörper geht die Verknöcherung nicht von einem centralen Punkt aus, sondern schreitet in Form von halbrunden Plättchen von der Peripherie zum Centrum vor. Alle diese Knochenpuncte erscheinen ziemlich spät: in den Lamellen der Wirbelkörper ungefähr im 10. bis 12. Jahre (nach Sappey vom 14. bis zum 15. Jahr), in den Fortsätzen vom 12. bis zum 15. Jahr (nach Sappey, in den Querfortsätzen im 15. bis 16., in den Dorn- und Gelenkfortsätzen im 16. bis 17. Jahr). Alle diese Teile verschmelzen mit dem Körper und dem Bogen im 18. bis 25. Jahre; am spätesten, und zwar vom 20. bis 22. bis zum 25. Jahre verschmelzen die oberen und unteren Platten mit den Wirbelkörpern ; die Spitzen der Quer- und Gelenkfortsätze verschmelzen um das 18. Jahr, die Dornfortsätze und alle übrigen Teile um das 20. Folglich bilden die Wirbel erst gegen das 25. Jahr ein Ganzes. Der erste Halswirbel (atlas) verknöchert aus drei Knochen- puncten; zwei seitliche Punkte erscheinen gegen das Ende des zweiten Monats des embryonalen Lebens in den Seitentheilen (massae laterales atlantis) und setzen sich in den hinteren Bogen fort, und ein mittlerer tritt erst gegen Ende des zweiten oder in der Mitte des dritten Jahres nach der Geburt im vorderen Bogen auf. Der mittlere Punkt ist zu- weilen doppelt. Die Seitenteile verschmelzen im vierten oder fünften Jahre mit einander, und im siebenten oder neunten Jahre mit dem vorderen Bogen. Der zweite Halswirbel (epistropheus) verknöchert aus fünf Hauptknochenkernen: zwei Seitenkerne, welche sich jederseits im hin- 1) W. L. Gruber. Über die Halsrippen des Menschen. Mem. de l'Acad. Imp. des Sciences. T. XIII. Nr. 2. St. Petersbourg. 1869, pag. 38—39. — 121 — teren Bogen befinden (der erste Knochenkern der Wirbelsäule) ent- wickelte sich am 50. oder 55. Tage nach der Befruchtung (Sappey) ; ein Kern (selten noch zwei Seitenkerne) tritt um die Mitte der Schwanger- schaft im mittleren Teil des Wirbelkörpers auf, und endlich erscheinen zu Ende des fünftenMonats zwei Kerne im Zapfen; sie verschmelzen im siebenten oder achten Monat, und zwar zuerst in ihrem vorderen unteren Teil. Ausser- dem ist noch ein accessorischer Kern in der Spitze des Zapfens und in der Knochenplatte der unteren Fläche des Wirbelkörpers vorhanden: der erstere erscheint im vierten oder fünften Jahre, die letzteren aber, wie in den anderen Wirbeln. Der Bogen verschmilzt in seinem Hinterteil im zweiten, mit dem Körper und dem Zapfen aber im vierten oder im sechsten Jahre. Die Verschmelzung des Zapfens mit dem Körper geht anfangs in den Seitenteilen, darauf in der Mitte der Basis desselben vor sich. Die untere Platte verschmilzt mit dem Körper im 20. bis 25. Jahre. Das Kreuzbein entsteht aus der Verschmelzung von fünf falschen Wirbeln. Jeder der vier ersten, verknöchert aus fünf Haupt- und drei accessorischen Knochenkernen, im fünften erscheinen drei Haupt- und zwei Nebenknochenkerne. Ausserdem treten in den Seitenteilen dieses Knochens noch je zwei Kerne von jeder Seite auf. In den Körpern der oberen Wirbel erscheinen die Knochenkerne im vierten Monat, in den Bögen und Fortsätzen im fünften und sechsten Monat; in den unteren AVirbeln aber nicht früher, als im achten Monat der Schwangerschaft. Die Nebenknochenkerne treten um das 10. oder 13. Jahr auf. Die Bögen vereinigen sich ungefähr im achten oder zehnten Jahre, in der Mitte, mit dem Körper aber um das 18. oder 20. Jahr; alle Teile ver- schmelzen gegen das 25. Jahr unter einander und mit den Seitenteilen. Das Steissbein, welches gewöhnlich aus der Verbindung von fünf falschen Wirbeln entsteht, verknöchert aus fünf Haupt- und elf Nebenkernen; die letzteren erscheinen in den Platten der oberen und der unteren Fläche des Körpers. Im ersten Wirbel erscheint der Hauptknochenkern gewöhnlich vor der Geburt, im neunten Monat, in den folgenden ungefähr im vierten oder fünften Jahre, in den letzten in der Zeit zwischen dem sechsten und neunten Jahre; die Nebenkerne aber entwickeln sich im zehnten oder zwölften Jahre. Die Wirbel ver- schmelzen in der Reihenfolge von unten nach oben; der fünfte ver- schmilzt im 12. bis 14. Jahre mit dem vierten, der ganze Knochen ver- schmilzt in allen seinen Teilen im 25., zuweilen sogar erst im 30. Jahre. Die Entwickelung des Kopfes und des Gesichts. Göthe/) äusserte, (im Jahre 1790) als er einen zerbrochenen Schafschädel, den 1) Göthe's sämmtliche Werke. Bd. XXX. Stuttgart. 1858, pag. 363Xund Das Schädelgerüst aus sechs "Wirbelknochen auferbaut. 1824. Sämmtliche Werke. Bd. XXVII, pag. 199—200. — 122 — er auf dem jüdischen Kirchhof zu Venedig fand, betraclitet hatte, die Meinung, dass der Schädel aus sechs Wirbeln bestehe. Unabhängig von ihm fand Oken ^) (im Jahre 1807), als er in einem Walde im Harze spazierte, den Schädel einer wilden Ziege, an dem er die typischen Eigentümlichkeiten eines Wirbels bemerkte. Diese Meinung bekräftigte er später durch vergleichend- anatomische Untersuchungen, besonders an Wiederkäuerschädeln. Er fand, dass der Schädel aus drei Wirbeln bestehe, später fügte er diesen noch einen vierten, den Gesichtswirbel hinzu. Spätere Forscher nahmen drei (Stannius -), vier (R. Owen •^), Rathke^), fünf (Geoifroy-St. Hilaire'^), sechs (Carus**), sieben (Grant) u. s. w. Wirbel an. Andererseits fanden sich Forscher, wie Cuvier ^) und Huxley ^), welche es für nicht möglich hielten, eine solche Einteilung anzunehmen; der erste fand nur im Hinterhauptbein Ähnlichkeit mit einem Wirbel. Oben wurde gesagt, dass in den Ursegmentplatten die ersten hellen Streifen an der Grenze zwischen dem Kopf- und dem Rückenteil er- scheinen. Derjenige Teil der Ursegmentplatten, welcher oberhalb dieses hellen Streifens sich betindet, dient für die Entwickelung des Schädels als Grundlage. Die Rückeusaite endigt, wie bekannt, dort, wo der Körper des Hinterhauptbeins sich mit dem des Keilbeins vereinigt. Vor diesem Ende der Chorda gehen die Ursegmentplatten bogenförmig in einander über, indem sie den Spheno-ethmoidalteil der Schädelbasis bilden; von diesem bogenförmigen Teil gehen paarige Fortsätze, welche den Ort der Verschmelzung des Medullarrohrs mit dem vegetativen Rohr umfassen. Die Fortsätze heissen seitliche Schädelbalken (Rathke); zwischen ihnen befindet sich der mittlere Schädelbalken (die primitive Sattellehne von Kölliker). Die ersten paarigen Fortsätze vereinigen sich vorderhalb der erwähnten Verschmelzungsstelle und bilden, sich nach vorn fort- setzend, denjenigen Teil, welcher dem sphenoidalen und nasalen Schädel- teil entspricht und vorn mit dem sogenannten Zwischenkiefer endigt. 1) Über die Bedeutung der Schädelknochen. Jena. 1807. 2) Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere. Berlin. 1846, pag. 359. 3) On the archetype and homologies of the vertebrale skeleton. London. 1848, und Lectures on comparative anatomy. T. IL 1848, pag. 87. 4) Vierter Beriebt über das naturwissenschaftliche Seminar der Universität Königs- berg. 1839, pag. 29. 5) Mem. de l'Acad. royale de med. 1824. 6) Von den Urteilen des Knochen- und Schädelgerüstes. Leipzig. 1828. Mit 12 Taf., pag. 91—95. 7) Le^ons d'Anatomie comparee. 2. edit. 1837. T. II, pag. 710 und Eecherches sur les ossements fossiles. Nouv. edit. V. 2, pag. 387. 8) On the theory of the Vertebrale skull. London. 1858. — 123 — Man kann folglich die ganze Schädelbasis in einen hinteren, occipitalen Teil, welcher vom ersten differenzierten Wirbel bis zum Ende der Chorda geht, und in einen vorderen, Spheno-ethmoidal- oder Prächordalteil, ein- teilen. Die Fortsetzung des occipitalen Teils, welche den Wirbelbögen entspricht, umgiebt von hinten die untere Hirnblase (die medulla oblongata), die Seitenfortsätze des vorderen oder Spheno-ethmoidalteils aber sind nicht vollständig, wie auch die Hörner des Kreuz- und Steissbeins, und bilden die grossen und die kleinen Flügel, die äusseren Platten der unteren Flügel und das Labyrinth des Siebbeins. Ihre Fortsetzungen schliessen sich über den Hirnbläschen als häutiges Primordialcranium zusammen. Zwischen dem occipitalen und dem sphenoidalen Teilen drängt sich von aussen die Gehörblase ein, deren Kapsel später die Pyramide des Schläfenbeins bildet. Der Wirbeltypus ist, wie bereits gesagt, in jedem Teil, der aus dem Innenteil der Ursegmentplatten mit der in der Mitte gelagerten Chorda entstanden ist, ausgedrückt. Dieses findet sich jedoch nur beim Hinterhauptbein. Die Chordaverdickungen, welche zwischen allen Wir- beln in den Zwischenwirbelbändern (lig. intervertebralia) zu beobachten sind, finden sich auch am oberen Ende der Chorda und ebenso, nach Robin 1), zwischen dem Körper und dem Zapfen des zweiten Halswirbels und in dem ligamentum Suspensorium dentis, zwischen dem Hinter- hauptbein und der Zapfenspitze. Andere Verdickungen fand derselbe hier nicht. Der Yerknöcherungsprocess des Hinterhauptbeines entspricht, wie wir bald sehen werden, gewöhnlich dem der übrigen Wirbelkörper. Der Hinterhauptwirbel, der aus dem occipitalen Teil entstanden ist, bildet auch vom mechanischen Standpuncte aus die Hauptgrundlage, auf Avelcher Schädel und Gesicht ruhen und die ihrerseits sich nur auf die Wibelsäule stützt. Der Basalteil des Kopfes, welcher sich auf die Wirbelsäule stützt und sich über derselben in der Gleichgewichtslage befindet, ist eben der Occipitalwirbel, d. h. der Körper des Hinter- hauptbeins mit seinem Bogen; dieser Knochen kommt in der That in seiner Entwickelung dem Wirbeltypus am nächsten. Das Keilbein, welches die vordere Fortsetzung des Hinterhaupt- beinkörpers darstellt, dient zur Vergrösserung seiner Oberflächen, an denen das Scheitel- und das Stirngewölbe (grosse und kleine Flügel), ebenso auch wie der ganze Gesichtsteil (untere oder Gaumenflügel) eine vorteilhafte Stütze finden. Seitwärts stemmen sich die Pyramiden in das Hinterhauptbein, welche gleichfalls durch Vermittelung der Schläfenbein- schuppe dem Scheitelgewölbe und durch Vermittelung des Jochfortsatzes 1) Mem. sur l'övolution de la Notocorde. iLu ä TAcadömie des Sciences le 6. Mai 1867. Paris. 1868, pag. 28—40. Taf. III. Fig. 6 u. 7, — 124 — dem Gesicht als Stütze dienen. Auf den Bogen des Occipitalwirbels endlich stützt sich das Hinterhauptgewölbe , die Schuppe des Hinter- hauptbeines. Alle diese Teile sind in entwickeltem Zustande durch Knorpelbogen, welche sich näher zur Schädelbasis befinden, und durch Bindegewebelagen oder Nähte, welche zwischen der Basis und dem Gipfel des Schädels in drei gegenseitig perpendiculären Richtungen gelagert sind und den, auf irgend einen Teil des Kopfes oder des Gesichts wirkenden, Stössen und Erschütterungen günstigen Widerstand leisten, von einander getrennt. Man kann am Schädel einen Haupt- und einen accessorischen Teil unterscheiden. Die Knochen des ersteren, wie überhaupt alle Teile des Achsenskeletts, erscheinen in verschiedenen Embryonalperioden nach einander im häutigen, knorpeligen und Knochenzutsande, während die Knochen des letzteren nur im häutigen und Knochenzustande erscheinen, wobei auch der Ossificationsprocess hier anders vor sich geht, als im ersten Falle. Dieser Unterschied ist um so wichtiger, als man, wie Kölliker ^) meint, beim Vergleich menschlicher Knochen mit denen von Tieren nur Primordialknochen mit Primordialknochen und Deck- oder Belegknochen mit Belegknochen vergleichen kann. Knorpelelemente erscheinen im Schädel des menschlichen Embryo im zweiten Monat. Den Verknorpelungsprocess zeigen nur folgende Knochen: der Körper und der hintere Bogen des Hinterhauptbeins, das vordere und das hintere Keilbein mit ihren Flügeln, das Felsenbein und der Warzenfortsatz der Schläfenbeine, das Siebbein und seine vor- deren Fortsätze, — die knorpelige Nasenscheidewand, der Knorpel des Pflugscharbeins und des Zwischenkieferknochens (os intermaxillare), — Hammer, Ambos und Steigbügel im mittleren Ohr. Belegknochen sind: die Schuppe des Hinterhauptbeins und der Schläfenbeine, die Stirn- und die Scheitelbeine, die Pauckenringe (ossa tympanica), die innere Platte der unteren oder Gaumenflügel (proc. pterygoidei). Verfolgen wir jetzt die Verknöcherung der einzelnen Schädelteile, worauf die Entwickelung des Gesichts folgen wird. Das Hinterhauptbein verknorpelt genau ebenso, wie die Körper und die Bögen der Wirbel. Der grössere Teil der Schuppe ist Belegknochen. Die Verknöcherung beginnt in der. siebenten bis achten Woche, wobei ein Knochenpunct in der Mitte des Körpers, je einer in jedem Gelenkteil und einer im Knorpelbogen erscheint. Ausserdem bilden sich zerstreute Knochenpuncte in der Mitte des oberen Teils der Schuppe, welcher ebenso, wie alle Deckknochen, verknöchert. Nach Rambaud und l) EntwickelungsgescWchte d. Menschen und d. höheren Tiere. 2. Aufl. Leipzig. 1879, pag. 455. — 125 — Renault ^) befindet sich in der Mitte des Körpers des Hinterhauptbeins ausser dem grossen vorderen Knochenpuncte noch ein kleinerer hinterer, welcher bald mit dem grösseren zusammenfliesst. Der obere und der untere Teil der Schuppe verschmelzen auf der Höhe des äusseren Hinter- haupthöckers um ein Ganzes zu bilden. Bei neugeborenen Kindern findet man gewöhnlich an den Schuppenrändern, den oberen halbmondförmigen Linien entsprechend, Querspalten, welche mehr oder weniger tief in querer Richtung medianwärts eindringen. Im vierten Jahre verschmilzt die Schuppe mit den partes condyloideae, im fünften oder sechsten aber ver- schmelzen diese letzeren mit der pars basilaris. Die Verschmelzung fängt gewöhnlich am Rande der Hinterhauptöifnung an und setzt sich nach aussen fort. Um das 13. oder 15. Jahr verbindet sich der Körper des Hinterhaupt- beins mit dem des Keilbeins, von aussen beginnend medianwärts; nach ihrer Verbindung bilden sie das sogenannte Grrundbein (os basilare). Der prächordale oder spheno-ethmoidale Abschnitt wird in das hintere (os sphenoidale posterius) und vordere Keilbein (os sphenoi- dale anterius) und das Siebbein (os ethmoideum) eingeteilt: einen Fortsatz des letzteren bildet die knorpelige Nasenscheidewand und der Zwischenkiefer (Fig. 28). Im hinteren Keilbein erscheinen zum Ende der achten oder zum Anfang der neunten Woche zwei Knochen- puncte in der Mitte des Körpers, welche sich bald miteinander vereinigen; zwei la- terale Puncte bilden sich den Sulci carotici und den Ligulae entsprechend; zwei Knochen- puncte in den grossen Flügeln, von wo aus sich die Verknöcherung auch in die äussere Platte der Gaumenflügel (processus ptery- goidei) fortsetzt. Etwa im vierten Monat beginnt die Verknöcherung der inneren Gaumenflügelplatte, zu Ende des embryo- nalen Lebens aber verknöchern die Cornua scMdeibasis^lü^s dreimonatlichen sphenoidalia (s. ossicula Bertini). Im vierten ^'''^SZ^'b!^£S^i^ und fünften Monat verschmelzen die einzel- j^IlJl: e. Nal°aier KnoS^^^^^^^^ nen Teile des Körpers, im fünften oder beinpyramide. sechsten aber die beiden Platten der Gaumenflügel (proc. pterygoidei) miteinander. Ungefähr im achten Monat des embryonalen Lebens fängt der Körper des hinteren Keilbeins an sich an seiner Peripherie mit dem des vorderen Keilbeins zu verschmelzen, im Lauf des ersten Jahres nach der Geburt aber verschmelzen die grossen Flügel mit dem Körper. 1) Origine et developpement des os. Paris. 1864, pag. 101. Taf. II. Fig. a. ä. — 126 — Die Bertinisclien Knöclielchen vereinigen sich um die Pubertätsperiode mit dem Körper. Das vordere Keilbein verknöchert gleichfalls zum Ende der achten oder zum Anfang der neunten Woche des embryonalen Lebens; zwei Knochenpuncte bilden sich in den kleinen Flügeln und zwei im Knochen- körper. Sie verschmelzen alle ungefähr im sechsten oder siebenten Monat, im achten Monat aber vereinigt sich der ganze Knochen mit dem Körper des hinteren Keilbeins; bei der Geburt ist zwischen beiden stets noch eine Knorpellage zu bemerken, und der knorpelige Kamm (rostrum) geht in die knorpelige Nasenscheidewand über. Die Ossification des Siebbeins beginnt im Labyrinth; in der Mitte der Papierplatte erscheint ein Knochenpunct im vierten oder fünften Monat, und von hier geht die Verknöcherung auf die Muscheln über. Nach der Geburt bildet sich ein Knochenpunct in der senkrechten Platte; um das fünfte oder sechste Jahr verschmelzen alle Teile mit einander. Der Felsen- und der Warzenteil des Schläfenbeins bestehen beim achtwöchentlichen menschlichen Embryo aus Knorpel, der sich von der Knorpelbasis der benachbarten Teile nicht absondert. Ossifications- puncte bilden sich in demselben im vierten Monat; die Verknöcherung der Schuppe beginnt früher, in der siebenten oder achten Woche. Die Paukenknochen gehören zu den Belegknochen und verknöchern im dritten Monat, in den Gehörknöchelchen beginnt die Ossification um den vierten Monat, der Griffelfortsatz aber verknöchert um die Pubertäts- periode. Die Pyramiden verschmelzen zu Ende des ersten Jahres mit dem Schuppenteil. Die Deck- oder Belegknochen des Schädelgewölbes verknöchern aus folgenden Knochenkernen: zwei frontalen, zwei parietalen, zwei occipitalen, zwei temporalen, zwei nasalen, zwei lacrymalen, einem im Pflugscharbein, einem im Zwischenkieferknochen, zweien in den inneren Gaumenflügelplatten (proc. pterygoidei), zweien in den Bertinischen und einem im Paukenknochen. Ausser den letzteren, von denen bereits die Rede war, erscheinen diese Knochenpuncte alle in der siebenten oder achten Woche. In allen diesen Teilen entwickelt sich der Knochen im membranösen Substrat, wobei zu allererst Gefässe hineinwuchern, dann aber in der Mitte des Stirn- und Scheitelhöckers und überhaupt eines jeden sich entwickelnden Knochenteils erst ein, darauf auch mehrere Knochenpuncte erscheinen, welche sich vergrössern und verschmelzen, wodurch sich Sparren bilden. Die letzteren werden, indem sie sich all- mählich verdicken, zu compacten Knochenplättchen. An der Peripherie bilden sich immer neue Puncte, welche, sich untereinander und mit den nach innen von ihnen liegenden vereinigend, Bälkchen bilden, die radiär, in der Richtung der Gefässe, gelagert sind (Fig. 29). Nach — 127 — Maceration und Austrocknung des Scheitel- oder Stirnbeins eines Neu- geborenen oder eines achtmonatlichen Embryo sieht man z. B., dass ihre ganze Peripherie aus radiär auseinandergehenden Nadeln besteht (Fig. 30) ; an ihrer Innenfläche aber bemerkt man radiäre Furchen, in denen die Gefässe gelagert pi 99. waren. Zwischen allen ^ ^^.^.^ ^. diesen Rändern sind beim Neugeborenen Bindege- webezwischenlagen , die sogenannten Fontanellen (fonticuli) gelagert, welche stellenweise von bedeuten- der Grösse und von mehr oder weniger regelmässi- ger Form sind. Das Gewebe dieser Zwischenlage geht ohne jede Abgrenzung in die dura mater und in die Die Verknöclierung des Scheitelbeins eines 14 Wochen alten äussere Knochenhaut der — ^^^i»^^- Embryo, IS mal vergrössert (nach KÖUiker . benachbarten Knochen über. Die Kenntnis des Entwickelungsganges der Knocben des Schädel gewölbes erklärt sehr gut das Vorhandensein von Nahtknochen, deren Anzahl sehr bedeutend sein kann. Bei dem Entwickelungsprocess des pj„. 30 Gesichts findet man die Wiederholung der Erscheinungen, welche bei der Entwickelung der Rippen zu beobachten sind. Bei der Ent- ^^^ Wickelung des vegetativen und des Medullär- A ^J rohrs bleibt vorn zwischen ihren oberen Enden eine Vertiefung, welche die von der Horn- platte ausgekleidete Mnndbucht bildet. In den Seiten Wandungen der Bucht, unter der Hornplatte erscheinen als Fortsätze der Seiten- teile der Schädelbasis Verdickungen, welche durch Spalten von einander getrennt sind. Diese Verdickungen sind die Kiemenbogen, die Spalten aber die Kiemenspalten. Die Teile des ersten Bogens, welche die Mundbucht be- grenzen, bilden den Oberkiefer- und den Unter- kieferfortsatz des ersten Kiemenbogens, der ^.^ ^^^^^^^^^^ ^^^ Hinterhauptheins sich vor- und seitwärts von dem hinteren Keil- f^^i^ S^^r^A^TnneStle. teil der Schädelbasis befindet; die Verdickung, b- Aussenfläche. welche nach aussen von dem Ohrbläschen gelagert ist, bildet den zweiten Kiemenbogen; tiefer und weiter nach hinten zu liegt der dritte — 128 — Kiemenbogen (Fig. 31). Ausserdem bildet der Stirnteil der primordialen Schädelbasis über dem ersten Kiemenbogen und über der Mundbucht einen unpaarigen Fortsatz; es ist dies der Stirnfortsatz, der jederseits in den äusseren und inneren Nasenfortsatz übergeht. Zwischen den letzteren befinden sich die Nasengruben, welche durch zwei kleine Öif- nungen. von Kölliker ^) innere Naseuöffnungen genannt, mit dem oberen Teil der aus der Mundbucht entstandenen Mundhöhle communicieren. Zwischen dem äusseren Nasenforstatz und dem Oberkieferfortsatz des ersten Kiemenbogens liegt eine Furche, die Thränenfurche (sulcus lacrymalis, Coste). welche nach hinten bis zum Augenbläschen geht. In die Nasenmundhöhle ragt das vordere Ende der primordialen Schädel- basis als Nasenscheidewand und eine Verdickung an der Spitze der- selben, der Zwischenkieferknochen, hinein. Die äusseren Gesichtsteile entstehen dadurch, dass sich der Stirn- fortsatz mit der Nasenscheidewand und in der Mitte die inneren Nasen- fortsätze miteinander vereinigen. Ebenso verschmilzt jeder der beiden äusseren Nasenfortsätze mit dem Oberkieferfortsatz des ersten Kiemen- bogens. Die Thränenfurche. welche zwischen ihnen liegt, schliesst sich und verwandelt sich in den Nasenthränencanal '^* ' ■ (canalis naso-lacrymalis). Die äusseren Nasen- fortsätze nähern sich zusammen mit den Ober- kieferfortsätzen der Gesichtsmittellinie und verschmelzen mit den Seitenteilen des zwischen ihnen gelegenen Zwischenkieferknochens. Auf diese Weise entsteht der Zahnrand des Kiefers, die Öffnungen aber zwischen den Nasenfortsätzen bilden die äusseren Öffnungen der Nasenhöhle. Die Unterkieferfortsätze verbinden sich schon früher in der Mittellinie des Gesichts miteinander. Das Kopiende eines 33 Tage alten Allcdicse Veränderungen gelicu im Lauf der fünf- menschliclien Embryo (nach Koste). ° 1. Innerer Nasenfortsatz. 2. Aeus- tCU, SechstCn UUd Siebenten WOChc VOr sich. lu serer Isasenfortsatz 3. Tliränen- fuvciie. 4 oberkieferfortsatz des dieser Periode ist die Mundhöhle sehr g-eräumis:; ersten Kiemenbogens. 5. Unter- . . ^ !=i ■: kieferfortsatz desselben Bogens inihreu obcreu Teil müuden die Naseu-oder Riech- 6. Zweiter Kiemenbogen. 7. Dritter Kiemenbogen. y. Nasensciieide- grubeu. Zum Eiide der Siebenten oder zum An- hand. 9. Zunge. 10. Nasengriibe. ^ lang der achten \\ oche bildet sich an der Innenfläche des Oberkieferfortsatzes infolge der Vermehrung der Ele- mente ein horizontal gerichteter Vorsprung; dies ist die sogenannte Gaumenplatte von Kölliker. Bei ihrem w^eiteren Wachstum trifft sie an dem unteren Eande der Nasenscheidewand mit einer ebensolchen Platte der anderen Seite zusammen; alle diese Teile verschmelzen zu 1) Entwickelungsgeschichte. 1879, pag. 467. — 129 — Anfang- der ntiunttn AVoclie und bilden auf diese Weise den harten Gaumen. Durcli diese Sclieidtrwand ^\ird der obere Atmungs- und Geiucdisteil vün dem unteren Verdauungsteil getrennt. Im Verlauf des dritten Monats des emljryonalen Lebens verschmilzt der harte Gaumen von vorn nach hinten, in der zweiten Hälfte dieses Monats aber nähern sich die verdickten hinteren Ränder des Gaumens ebenso einander bis zur Berührung und bilden den weichen Gaumen mit dem Zäpfchen an dem hinteren unteren Eande. Wie der äussere Nasenfortsatz den Torderteil der äusseren Wand der Nasenhöhle bildet, so giebt das Labyrinth des Siebbeins zusammen mit der Siebplatte dieses Knochens die oliere und äussere Wand dieser Höhle ab. Die Gaumenbeine, das Pflugscharbein, die Nasen-, Joch- und Thränenbeine sind Belegknochen, welche, wie die Belegknochen des Schädelgewölbes, direct verknöchern. r>ie unteren Muscheln gehören zu den Primordialknochen. Die Weich- teile wachsen über dem Gesichtsskelett nach der Verschmelzung des- selben von allen Seiten in Form von Falten, bilden die Wangen, ihre Eänder aber sind die Lippen, zwischen denen die Mundöffiiung sich befindet. Von der Innenfläche des Unterkieferfortsatzes des ersten Fiemen- boo-ens, von derselben Fläche des zweiten und dritten Kiemenbogens nehmen Leisten ihre Entstehung, welche, indem sie miteinander ver- schmelzen und von einem Fortsatz der Hornplatte (ectoderma) unihüUt werden, die Zunge bilden. Der Fortsatz zwischen der Innenfläche des Unterkiefers und dem Gehörbläschen stellt in knorpeligem Zustande den sogenannten MeckeLschen Xnorpel (cartilago Meckelii 1821) oder den temporären Unterkiefer von Serres (1822) dar. Aus seinem oberen Ende entwickeln sich Hammer undAmbos; vom diitten Monat an bleibt dieser Enorpel schon in seiner Entwickelung hinter den benachbarten Teilen zurück, im sechsten oder siebenten Monat aber verschwindet er gänzlich. Aus dem zweiten Kiemenbogen entwickeln sich: der Steigbügel, der Muskel des Steigbügels im. stapediusi. ein kegelförmiger Vorsprung, die Eminentia papillaris, der Griffelfortsatz (processus styloideus). das Griffelfortsatz -Zungenbeinband (üg. stylo - hyoideum) und endlich das kleine Hörn des Zungenbeins. Aus dem dritten Fiemenbogen entsteht der Förper und das grosse Hörn des Zungenbeins. Der Verknöcheiungsprocess beginnt in allen diesen Teilen ziemlich früh: in dem Ober- und Unterkiefer erscheinen Knochenpuncte in der Mitte der sechsten oder zu Anfang der siebenten Woche. Nach Eam- baud und Eenault und nach Sappey ^) verknöchert der Oberkiefer aus fiinf Knochenkernen: der erste äussere, im .Jochfortsatze, tritt nach 1) L. c. pag. 21.5. — 130 — aussen von der Infraorbitalfurclie (sulcus infraorbitalis) auf; der zweite im Innenteil der unteren Augenhöhlenwand: der dritte im Gaumenfortsatz; der vierte im aufsteigenden Nasenfortsatz und der fünfte im Zahnfortsatz des Oberkiefers. Die Gaumen-, Nasen- und Jochbeine und das Pflugschar- bein verknöchern in der siebenten oder achten Woche, die Thränenbeine zu Ende des dritten Monats, die unteren Muscheln aber im fünften Fötalmonat. Vor der Geburt bilden sich Knochenkerne in den grossen Hörnern, darauf auch im Körper des Zungenbeins. Die kleinen Hörner verknöchern im Laufe des ersten Jahres nach der Geburt. Bei der Geburt ist der Gesichtsteil des Schädels sehr wenig entwickelt. Die Höhlen des Oberkiefers sind bereits im dritten oder vierten Fötalmonat als kleine Grübchen an der Innenfläche der Oberkiefer vorhanden; eine eigentliche Höhle bilden sie erst um das dritte oder viertn Jahr. Die Höhlen des Keilbeinkörpers (sinus sphenoidalis) entstehen zu Ende des ersten Jahres; im dritten oder vierten, zuweilen aber erst im achten oder sogar zehnten Jahr treten die Höhlen der Augenfortsätze der Gaumen- beine (sinus palatinus) hervor. Im siebenten oder achten, zuweilen um das zehnte Jahr ist das Erscheinen der Stirnhöhlen (sinus frontalis) zu be- obachten. Die Entwich elung dieser Höhlen steht, nach den Unter- suchungen von Fick ^) , zu der der Oberkieferhöhlen in umgekehrtem Ver- hältnis. Die ersteren sind augenscheinlich um so mehr entwickelt, je weniger das Geruchsorgan entwickelt ist, und umgekehrt. Bei dem Menschen ist dieses Organ verhältnismässig schwach entwickelt, und daher sind auch die Stirnhöhlen gewöhnlich klein, die Oberkieferhöhlen dagegen erreichen einen verhältnismässig hohen Grad der Entwickelung. Die Entwickelung der Eippen und des Brustbeins. Die Rippen entstehen, wie bekannt, aus den Aussenteilen der Ursegment- platten; indem sie in die Seidenwandungen des Oberteils des Rumpfes hineinwachsen, wenden sie sich nach vorn und nach innen, zur Mittel- linie des Körpers. Diese Seitenwandungen bestehen aus den Haut- platten (oder, nach His, oberen Muskelplatten), welche sich vorn ver- einigen und dann unter dem Namen untere Vereinigungshaut (membrana reuniens inferior) beschrieben werden. Im zweiten Monat gehen die häutigen Fortsätze der Ursegmentplatten in den Knorpelzustand über, wobei die Knorpelstreifen, von hinten beginnend, sich nach vorn fort- setzen, wo ihre Enden sich verdicken und sich vereinigen. An dieser Vereinigung nehmen vornehmlich die Enden der sieben oberen Eippen teil. Nachdem sie sich so vereinigt haben, nehmen sie an Grösse zu und nähern sich der Mittellinie des Körpers, wo sie mit den entsprechen- den Teilen der anderen Seite zusammentreffen und mit denselben ver- 1) Neue Untersuchungen über die Ursachen der Kuochenformen. Marburg, 1859, pag. 15. — 131 — schmelzen, um das knorpelige Brustbein zu bilden; die Versclimelzung beginnt von oben und setzt sich nach unten fort; unten bildet der Knorpel als frei hervorstehendes Gebilde den Schwertfortsatz. Die Ossilication der Eippen beginnt ziemlich früh, am 40. oder 50. Tage, also in der 7. Woche nach der Befruchtung. Ausser dem ersten, mittleren Knochenpunct erscheinen um die Pubertätsperiode, d. h. nicht später, als im 16. oder 17. Jahr, drei accessorische Knochenpuncte : einer im Oberteil des Rippenhöckers, der zweite im Unterteil desselben und der dritte in der Mitte des Köpfchens. Der erste Knochenpunct verschmilzt mit der Rippe um das 18. Jahr, der zweite im 18. oder 20. und der letzte im 22. oder sogar 25. Jahr. Im Handgriff des Brustbeins entwickelt sich im fünften oder sechsten Monat des Embryonallebens meist ein Knochenkern in der Mitte , manch- mal zwei, die übereinander gelagert sind, selten drei. Im Körper des Brustbeins kommen fünf bis sieben Knochenpuncte vor, ihre Zahl kann sich jedoch auch auf vier beschränken oder umgekehrt bis zu neun oder sogar dreizehn (Schwegel) anwachsen. Sie treten im siebenten und achten Monat im zweiten, darauf im dritten, vierten u. s. w. Intercostalraum auf. Ist ihre Anzahl grösser, so erscheinen sie paarweise und verschmelzen dann miteinander. Die Verschmelzung schreitet von oben nach unten vor und beginnt im zweiten Jahr nach der Geburt. Zur Zeit der Pubertät besteht der Körper des Knochens gewöhnlich aus einförmiger Masse. Im Schwertfortsatze entwickelt sich ein Knochenkern im dritten Jahr, zuweilen auch später, im 10 oder 15. Jahr. Der Schwertfortsatz verschmilzt mit dem Körper gleichfalls in sehr verschiedenem Alter, angefangen vom Alter von 25 Jahren bis zu 50jährigem Alter. Die Entwickelung der Extremitäten. Die Extremitäten ent- stehen, wie man annimmt, durch die Wucherung der Elemente der verbindenden Platten; welchen Anteil die äusseren Schichten der Ur- segmentplatten daran haben, ist noch nicht festgestellt. Aus den Teilen, welche nach aussen von diesen Platten liegen, entwickeln sich der Schulter- und der Beckengürtel. Die Extremitäten wachsen an der Oberfläche des Rumpfes im oberen und unteren Teil desselben hervor. Oben befinden sie sich mit dem Unterteil des Herzens auf einer Höhe. Sie erscheinen hier im Lauf der vierten Woche des Embryonallebens als kleine Warzen; die oberen Extremitäten beginnen ihre Entwickelung gewöhnlich etwas früher, als die unteren. In der fünften Woche teilen sich diese Fortsätze in einen äusseren und einen inneren Abschnitt; aus dem äusseren, ein wenig verdickten Abschnitt entwickelt sich die Hand oder der Fuss, aus dem inneren, cylindrischen aber Oberarm und Unterarm oder Oberschenkel und Unterschenkel. An den verdickten Enden zeigen sich helle Streifen, welche die Extremitätenenden in fünf einzelne Abschnitte teilen. In der siebenten Woche verschwinden zuerst die hellen Streifen — 132 — zwischen den einzelnen Abschnitten der Hand, dann anch zwischen denen des Fusses, und es entstehen die Finger; in der achten "Woche trennt sich im inneren cylindrischen Abschnitt der Oberarm vom Unterarm und der Oberschenkel vom Unterschenkel, so dass zu Ende des zweiten Monats alle Teile der Extremitäten von aussen bereits angedeutet sind. Um diese Zeit sind die Extremitäten so gelagert, dass die oberen (bei verticaler Lage des Embrj^o) mit ihren convexen Seiten nach innen zu den Rumpf Wandungen gekehrt sind, die unteren aber nach unten und nach innen, wobei sie mit dem äusseren Teil der Kniebeuge die Bauch- wandungen berühren. Anfangs bestehen die Keime der Extremitäten nur aus Bildungselementen, welche zu Anfang des zweiten Fötalmonats be- ginnen sich zu differenzieren und in den Knorpelzustand überzugehen; auf diese Weise entwickelt sich in jedem Teil ein Knorpel von bestimm- ter Form, welche der Form des sich später bildenden Knochens ent- spricht. Zwischen diesen Knorpelteilen bleibt Zellsubstanz übrig, in der sich Gelenke, von denen an geeigneter Stelle die Rede sein wird, entwickeln. Über die Ossification der einzelnen Teile der Extremitäten ist folgendes bekannt: 1) In den knorpeligen Teilen erscheinen vor dem Ossificationsprocess zu allererst Gefässe, welche von der Seite der diese Teile bedeckenden Haut ihren Anfang nehmen. 2) In den langen Knochen entwickelt sich der erste Knochenpunct in der Mitte des Schaftes (Diaphyse des Knochens), darauf zuerst in einem, \f dann in dem anderen Ende (Epiphyse) desselben. 3) Die Epiphyse, zu der das Hauptnutritions- gefäss seinen Verlauf nimmt, verschmilzt mit dem RicMungssciiema der Nutri- Körper früher. lu der oberen Extremität sind tionsgefässe.. a. Richtung des Hauptnutritionsgefässes diese Gefässe im Ober- und Unterarm zum Bil- des Oberarmbeins, b. Rich- tung dieser Gefässe des bogcugeleuk (Fig. 22), lu den Mittelhand- und TTutif THiTlTlS C itlClltilAIlfi' U.6r~ o C-> VC-» y / selben in den Fingerknochen. Fingerkuoclien aber (ossa metacarpea und pha- d. Ellenbogengelenk, e. Fin- " \ x x gercarpaigeienk. f. Richtung lauges) vou deu Fiugermetacarpalgelenken weg ge- des Hauptnutritionsgetasses o / o a o -,■ des Oberschenkelbeins. richtet. In der Unteren Extremität verlaufen die g. Richtung dieser Geiasse indenunterschenkeikn9chen. Nutritiousgefässe im Ober- uud Uutersclienkel h. Richtung derselben m deu ° Mitteitussknochen. i. Rieh- ebeuso, wie auch iu deu Mittelfussknochen und m tung derselben m den Pha- ' langen, k. Kniegelenk. (Jen Zcheu iu der Riclitung von ihrer Verbmdungs- 1. Zehentarsalgelenk. ° ° stelle weg. Die Richtung der Hauptstämme der Nahrungsgefässe kann man leicht behalten, wenn man sich merkt, in welcher Lage der Fötus sich bis zur Mitte des embryonalen Lebens, wenn noch sein Kopfende nach oben gerichtet ist, im Fruchtbehälter befindet (Fig. 32). Die einander kreuzenden Vorderarme sind nach — 133 — oben gerichtet, die Finger sind in den Fingermetacarpalgelenken ge- beugt. Stellt man sich nun vor, dass bei dieser Lage alle Haupt- nahrungsgefässe nach unten, die von ihnen abgehenden Äste aber nach oben gerichtet sind, so hat man ein genaues Schema des Verlaufes der Nutritionsgefässe in den langen Knochen. 4) An dem Ende des Knochens, wo das Hauptnahrungsgefäss sich hinwendet, wächst der Knochenkörper (Diaphyse) rascher und bildet (formiert) sich früher, als an dem entgegengesetzten Ende. 5) Die Enden der langen Knochen (Epiphysen) wachsen nach der Seite der Gelenke stärker, als nach der des Knochenschaftes (Kölliker); ziemlich stark wachsen auch alle verknöchernden Fortsätze, Ränder, Höcker und überhaupt alle hervortretenden Teile der Knochen. Ihr Wachstum ist von der Thätigkeit der an sie herantretenden Muskeln abhängig. 6) Die ersten Knochenpuncte in den langen Knochen bilden sich in der Mitte des Knochenkörpers, von dem zweiten Fötalmonat angefangen. In den Epiphysen entwickelt sich der erste Knochenpunct um die Mitte des neunten Fötalmonats, und zwar in der unteren Epiphyse des Femur. In den übrigen Epiphysen erscheinen die Ossiiicationspuncte nach der Geburt bis zum siebenten Jahr. Darauf erscheinen Puncte in den Fort- sätzen (Apophysen) und in den Rändern bis zur Periode der Pubertät (14 J.). Alle Teile verschmelzen gegen das 21. Jahr. Der Verknöcherungsprocess der einzelnen Knochen verläuft folgen- dermassen. Das Schlüsselbein rechnet man gewöhnlich zu den Belegknochen, da man annimmt, dass es aus dem häutigen Zustand direct in den Knochenzustand übergeht, wie auch die Belegknochen des Schädels. Nach Gegenbauer ^) besteht bei einem siebenwöchentlichen menschlichen Embryo die Mitte des Schlüsselbeins aus einem Knochenkern, die Enden aber aus Knorpel, das innere oder Brustende ist stets knorpelig. In dem Körper des Schlüsselbeins beginnt die Verknöcherung früher, als in allen anderen Knochen des Skeletts, und zwar zu Anfang des zweiten Monats in der fünften oder sechsten Woche. In dem Brustende bildet sich im 18. oder 20. Jahre ein Knochenpunct und vereinigt sich mit dem Körper um das 22. oder sogar erst 25. Jahr. Das Schulterblatt verknöchert aus einem Haupt- und sechs oder sieben accessorischen Puncten. Der Hauptknochenpunct entwickelt sich zu Ende des zweiten oder zu Anfang des dritten Fötalmonats. Von den acces- sorischen Puncten entwickeln sich zwei im Rabenschnabelfortsatz, einer im Schulterfortsatz, einer im äusseren (lateralen) Winkel des Schulterblatts, einer im unteren Winkel und einer im medialen Rand desselben. Im 15. 1) Jenaische Zeitschr. Bd. I, pag. 7. — 134 — oder 18. Monat nach der Geburt bildet sich ein Knochenpunct in der Mitte des Rabenschnabelfortsatzes (proc. coracoideus). Um die Pubertäts- periode entwickelt sich an der Basis dieses Fortsatzes ein anderer, kleiner Knochenkern, zuweilen beobachtet man an der Spitze desselben noch einen dritten. Der ganze Fortsatz verknöchert und verschmilzt im 15. oder 16. Jahre mit dem Körper. Im Schulterfortsatz tritt der Knochen- punct um die Pubertätsperiode auf. Vom 16. bis zum 18. Jahre ent- wickeln sich gewöhnlich alle übrigen Puncte und verschmelzen ungefähr im 20. bis 22. oder sogar 24. Jahre mit dem Körper. Im Oberarmbein sind ein Hauptpunct im Körper, welcher gegen den 40. Tag auftritt, und sieben Puncte in den Knochenenden vorhanden; von diesen sind drei im oberen und vier im unteren Ende. Im Laufe des ersten Jahres erscheinen Knochenpuncte in der Eminentia capitata und in der Rolle am unteren Ende des Knochens, einen Monat später in der Mitte des Kopfes. Im dritten Jahr bildet sich ein Knochenpunct im grossen Höcker, um das fünfte Jahr aber im kleinen Höcker, im achten oder zehnten Jahr bemerkt man einen Knochenkern im Epicondylus internus, um das 15. Jahr aber einen im Epicondylus externus. Zwischen dem 16., 17. und 18. Jahr verschmilzt die untere Epiphyse mit dem Körper, um das 20. bis 22. Jahr aber auch die obere Epiphyse mit allen ihren Teilen. Die Hauptknochenpuncte in Elle und Speiche entwickeln sich in der siebenten und achten Woche. Die Anzahl der accessorischen Puncte ist drei oder vier, am unteren Ende entwickeln sie sich früher, als am oberen; die ersteren bilden sich um das siebente Jahr, im oberen Ende der Elle erscheint im 12. oder 13. Jahr ein grosser Knochenpunct in der Mitte, näher zur Basis des Olecranon, um das 14. Jahr bemerkt man noch einen Punct in der Spitze des Olecranon. Manchmal finden sich auch noch besondere Knochenkerne im Kronenfortsatz (proc. coronoideus) und im Griffelfortsatz (proc. styloideus ulnae) der Elle. Ungefähr im 15. Jahr vereinigen sich die Knochenpuncte des Olecranon untereinander, im 16. oder 17. Jahr aber verschmilzt das obere Ende des Knochens mit dem Schafte; das untere Ende vereinigt sich später mit demselben, gegen das 20. oder 22. Jahr. Im unteren Ende der Speiche erscheint der Knochenpunct ein wenig früher, als in der Elle, und zwar um das dritte oder vierte Jahr, im oberen Ende desselben Knochens im fünften oder sechsten Jahr. Es kommen noch Knochenpuncte in der Tuberositas radii und in dem Processus Styloideus radii vor. Das obere Ende verschmilzt mit dem Körper um das 16. oder 18. Jahr, das untere um das 20. bis 22. Von den Knochen der Handwurzel, welche schon von der Mitte des zweiten Embryonalmonats an aus Knorpel bestehen, fangen am frühesten die grossen Knochen an zu verknöchern: das Os capitatum und das Os hamatum verknöchern im ersten Jahr nach der Geburt, darauf erscheinen Knochenpuncte im Os triquetrum im dritten Jahr, im — 135 — Os lunatum im vierten oder fünften Jahr, im Multangulum majus im fünten, im Naviculare im sechsten, Multangulum minus im sechsten oder siebenten und endlich im Os pisiforme im achten bis zehnten Jahr. In allen diesen Knochen bilden sich die Knochenpuncte gewöhnlich in der Mitte derselben. Die Mittelhandknochen, und zwar der zweite, dritte, vierte und fünfte, verknöchern in der zweiten Hälfte des dritten Monats; der Knochenpunct, w^elcher sich in der Mitte des Körpers gebildet hat, nimmt hier später auch das obere Ende ein. In den Fingerknochen treten Knochenpuncte zu Anfang des vierten Monats und zuallererst in den Knochen der ersten Reihe auf. Bei der Geburt bestehen die unteren Enden des zweiten, dritten, vierten und fünften Mittelhandknochens aus Knorpel, ebenso wie auch die oberen Enden aller Fingerknochen und aller drei Knochen des ersten Fingers. In den unteren Epiphysen der Mittel- handknochen erscheinen Knochenpuncte im fünften oder sechsten Jahr; diese Epiphysen verschmelzen im 16. oder 18. Jahr mit dem Körper. In den Fingerknochen verknöchern die oberen Enden im sechsten oder siebenten Jahr und verschmelzen mit dem Schaft ebenso, wie die Mittelhandknochen, wobei dies gewöhnlich bei denen der dritten Reihe beginnt und zuletzt in denen der ersten Reihe vor sich geht. Dem Typus der Verknöcherung nach hat der erste Finger nur Fingerknochen, aber keine Mittelhandknochen. Das Hüftbein (os innominatum) verknöchert aus drei Haupt- knochenpuncten, von denen einer um den 60. Tag (im Anfang des dritten Monats) in der Mitte des Darmbeins erscheint, der zweite ent- wickelt sich im vierten Monat im Sitzbein, an der Stelle, wo der absteigende Ast vom Körper dieses Knochens abgeht; der dritte im fünften oder sechsten Monat im horizontalen Schenkel des Schambeins. Beim neugeborenen Kinde sind noch in knorpeligem Zustande : der Boden und der Rand der Gelenkpfanne, der Rand des Darmbeins, der Höcker des Schambeins, der Sitzhöcker und die Spina ischiadica; der Knorpel der letzteren Teile nimmt, indem er sich nach oben fortsetzt, den ganzen Zwischenraum zwischen den Teilen des Sitz- und des Schambeins ein. Vom sechsten bis zum zehnten oder zwölften Jahre erscheinen drei accessorische Puncte im Knorpel der Gelenkpfanne (epiphyses acetabuli). Einer von ihnen entwickelt sich in der Mitte des Pfannenbodens, indem er einen Gelenkknochen (os cotyloidien Serres, Rambaud und Renault) bildet und verdrängt das Scham- bein, so dass letzteres an der Bildung der Pfannenwandungen, wie Kölliker und Krause meinen, keinen Anteil hat; diser Knochen kann jedoch beim Menschen, wie die Beobachtung lehrt, diese Bedeutung nicht haben, da er dem Centrum zu nahe liegt. Der zweite Punct erscheint vor und über der Pfanne, zwischen dem Scham- und dem Darmteil des Hüft- beins;, der dritte am hinteren Rande der Pfanne, zwischen dem Darm- bein und dem Körper des Sitzbeins. Die Anzahl dieser accessorischen — 136 — Knochenpimcte in den Wandungen der Pfanne kann, soviel wir beobach- ten konnten, bis fünf anwachsen. Alle diese Knochenpuncte verschmelzen um das 16. bis 18. Jahr miteinander. Die Äste des Sitzbeins und des Schambeins vereinigen sich um das siebente oder achte Jahr. Gegen die Periode der Pubertät und nicht später als im 16. Jahr entwickelt sich ein Knochenpunct in der Mitte des Kammes, einer in dem vorderen unteren Stachel des Darmbeins, ein dritter in dem Sitzhöcker und schliesslich ein vierter am Rande des Schambeins, welcher die Symphysis ossium pubis begrenzt. Alle diese Teile verschmelzen gegen das 20., 22. oder sogar erst 24. Jahr miteinander. Der Hauptknochenpunct in der Mitte des Körpers des Schenkel- beins tritt ungefähr am 40. Tage (sechste Woche) des Embryonallebens auf. In der zweiten Hälfte des neunten Monats entwickelt sich der Knochenpunct in der unteren Epiphyse des Knochens, dessen Durch- messer bei der Geburt eines reifen Kindes 4—5 mm. beträgt. Dieser Punct ist sehr constant, so dass man sich seiner bei der Bestimmung der Reife der Frucht bedient. Zu Ende des ersten Jahres oder zu An- fang des zweiten erscheint ein Knochenpunct im Centrum des Schenkel- kopfes, im dritten und vierten Jahre im grossen Rollhügel und vom achten bis dreizehnten Jahre im kleinen Rollhügel. Die Verschmelzung mit dem Körper geht in umgekehrter Reihenfolge vor sich: am frühesten verschmelzen der kleine und der grosse Rollhügel, im 16. oder 17. Jahr; darauf der Kopf im 17. oder 18. Jahr, wobei die Vereinigung an der Peripherie beginnt und zum Centrum fortschreitet. Die untere Epiphyse verschmilzt, von hinten anfangend, um das 20. bis 22., zuweilen aber erst gegen das 25. Jahr mit dem Körper. In der Mitte der Körper der Unterschenkelknochen beginnt die Ossification zu Ende des zweiten Monats oder zu Anfang des dritten. Zu Ende des Embryonallebens oder erst gleich nach der Geburt bildet sich ein Knochenpunct in der oberen Epiphyse des Schienbeins; zu Ende des ersten oder in der Mitte des zweiten Jahres erscheint ein Knochenkern auch in der unteren Epiphyse des Knochens. In der Tuberositas tibiae entwickelt sich noch ein Konchenkern um das 13. Jahr; nicht später als im 14. Jahr verschmilzt diese Tuberositas mit dem Körper. Das untere Ende verbindet sich mit dem Körper früher, ungefähr im 17. bis 18. Jahr, das obere Ende aber im 18. oder 20. Jahr. In dem Wadenbein erscheint im zweiten Lebensjahr ein Knochen- punct im unteren, darauf im vierten Jahr einer im oberen Ende; der erste Knochenpunct verschmilzt um das 18. bis 19. Jahr, der zweite um das 20. bis 22. Jahr. Die Kniescheibe entwickelt sich, wie alle Sesambeine, in der Sehne des M. extensor cruris. Bei dem neuge- borenen Kinde besteht dieser Knochen aus Knorpel, er verknöchert im zweiten, zuweilen erst im vierten oder fünften Jahr, — 137 — Von den Fusswurzelknochen (ossa tarsi) verknöchert am frühes- ten das Fersenbein (os calcaneum); der Hauptknochenkern erscheint bei ihm zu Ende des sechsten Fötalmonats; im Höcker bildet sich im siebenten oder achten Jahr noch ein Punct. Die Verschmelzung findet um das 16. und nicht später, als im 18. Jahr, statt. In dem Sprung- bein tritt der Knochenpunct zu Ende des siebenten oder zu Anfang des achten Fötalmonats auf. In dem Würfelbein entwickelt sich der Knochenpunct zuweilen vor der Geburt, meist jedoch erst nach der Geburt. In dem dritten Keilbein beginnt die Ossification zu Ende des ersten Jahres, in den beiden übrigen Keilbeinen und im Kahnbein aber im zweiten bis vierten Jahr. Die Verknöcherung der Mittelfussknochen und der Zehen- knochen geht ebenso, wie die der Mittelhand- und Fingerknochen, vor sich. Die Hauptknochenpuncte entwickeln sich in den Knochenkörpern zu Ende des dritten (Mittelfussknochen) oder um die Hälfte des vierten Monats (Zehenknochen), in den unteren Enden der vier äusseren Mittel- fussknochen erscheinen die Knochenpuncte im vierten Jahre, in den Zehenknocben, in den oberen Epiphysen, um die Mitte oder zu Ende des vierten Jahres. Mit dem Körper verschmelzen sie um das 17. oder 18. Jahr. Alle Knochen des grossen Fingers verschmelzen nach dem Typus der Zehenknochen. Kapitel III. Allgemeine Anatomie der Knochenyerbindnngen. Die Lehre von der Verbindung der festen Teile der Körperstütze miteinander oder die Syndesmologie (syndesmologia) bietet sehr viel wissenschaftliches theoretisches Interesse. In keinem anderen Ab- schnitte der Biologie kann man sich, wenigstens gegenwärtig, so exact und so logisch den Zusammenhang zwischen Form und Function er- klären, wie gerade in diesem. Hier kann mau in der That sagen, dass die Form die Verkörperung der Function ist. Dieser Abschnitt, der sich bis jetzt nur mit dem Studium des Körperbaues höherer Wirbel- tiere beschäftigte, enthält nichtsdestoweniger so weit ausdehnbare all- gemeine Gesetze, dass die letzteren ohne Zweifel für die Lehre von der Verbindung aller Bewegungsorgane des ganzen Tierreichs Bedeu- tung haben müssen; die Anwendung dieser Gesetze auf das Studium des menschlichen Körperbaues wird folglich nur ein specieller Fall sein. Ausserdem kann man in diesem Abschnitt alle die Methoden wissen- schaftlicher Erkenntnis, welche gegenwärtig bekannt sind, anwenden. Von der Beobachtung der Bewegungen beim lebenden Tier ausgehend, baut man sich auf Grund erkannter allgemeiner Gesetze die gegebenen Verbindungen auf und die auf diese Weise gewonnene Vorstellung verificiert man darauf am Präparat, darauf durch mathematische Ana- lyse und schliesslich auf experimentalem Wege. Genau ebenso kann man auch umgekehrt aus der Form der einander berührenden Flächen die mit ihnen verbundenen Bewegungen, die Lagerung sowohl der Teile, welche diese Flächen fixieren, als auch derjenigen Organe, welche die Bewegung ausführen, und schliesslich die Lagerung der hier durch- gehenden Gefässe und Nerven vorausbestimmen. Dieser Abschnitt, der eine genaue Beschreibung nicht zulässt und infolge der unendlichen Anzahl von Einzelheiten bei der gewöhnlichen Behandlung desselben schwer zu erlernen ist, lässt also mit Hülfe der allgemeinen Gesetze eine sehr consequente und logische Erklärung zu. Zugleich kann er — 139 - als Beweis dafür dienen, wie weit sich biologische Facta wissenschaft- lich und nicht blos beschreibend studieren lassen. Die beschreibende Anatomie der Gelenke erklärt die Bedeutung der Teile sehr wenig und kann nur als Material für die Entwickelung des Gedächtnisses dienen; dieser Abschnitt wird deswegen in den Cursen der Anatomie sehr oft schweigend umgangen und wird bei den Präparierübungen fast gar nicht berücksichtigt. Unterdessen kann man jedoch gerade hier den Lernenden am leichtesten üben, sich allgemeine Begriffe auszu- arbeiten und die inductive und deductive Methode, ebenso wie auch die Veriflcierung der gefundenen Gesetze auf experimentalem Wege an- zuwenden. Die ganze wissenschaftliche Bedeutung der Anatomie besteht nur in der Ausarbeitung des allgemeinen Teils. Und in der That kann sie nur dann die wissenschaftliche Grundlage der Medicin und der Päda- gogik werden, wenn sie allgemeine Gesetze, welche dem Bau aller einzelnen Teile des menschlichen Organismus zu Grunde liegen und welche die Bedeutung dieses Baues klarlegen, ausgearbeitet haben wird. Bei dem Studium darf man sich nicht blos auf Kenntnisse beschränken, es ist auch Verständnis und Begreifen nötig, ohne welche die Anwendung der Kenntnisse unmöglich ist. Alles Gesagte hat für das Studium des Baues der Bewegungsorgane ganz besondere Wichtigkeit. Untersuchen wir die Verbindung der Skelettteile untereinander, so können wir uns von der Eichtigkeit des folgenden allgemeinen Gesetzes überzeugen: Die Knochen verbinden sich untereinander derartig, dass in einem minimalen Umfang der Verbindungsstelle hier eine maximale Verschiedenheit und Grösse der Bewegung exi- stiert, bei möglichst grosser Stärke des Baues dieser Stelle und Minderung der mit den Bewegungen verbundenen Er- schütterungen und Stösse. Hierbei können die fibrösen Teile, welche unter normalen Bedingungen die einzelnen Teile verbinden, nie die Grenze ihrer Spannfähigkeit erreichen; sie befinden sich stets unter dem Einfluss von Muskeln, welche es im lebenden Organismus nie zu- lassen, dass sie bis aufs Äusserste ausgedehnt werden. Bei den Tieren, deren Extremitäten nur dem Rumpf als Stütze dienen, muss man das angeführte allgemeine Gesetz anders, und zwar folgendermassen aus- drücken: die Knochen sind bei diesen Tieren so miteinander verbunden, dass die Gelenke in einem minimalen Umfang der Verbindungsstelle sich bei möglichst grosser Verschiedenheit und Grösse der Bewegungen durch maximale Stärke auszeichnen; hierbei vermindern sie die Einwirkung der Stösse und Erschütterungen. Vergleicht man überhaupt verschiedene Ge- lenke beim Menschen und bei den Tieren, so sieht man, dass, je grösser die Festigkeit dieser Gelenke ist, um so geringer auch ihre Beweglich, keit und die Mannigfaltigkeit der Bewegungen ist, und umgekehrt. — 140 — Die Richtigkeit dieser allgemeinen Gesetze, insoweit sie auf den Menschen Bezug haben, wird nach Möglichkeit in diesem ganzen Ab- schnitt dargethan werden. Alle Teile des Knochensystems in unserem Organismus stehen mit einander in Verbindung; diese Verbindung kann zweiartig sein: 1) ohne Unterbrechung der Continuität der Stütze, Synarthrose (synarthrosis), und 2) mit Unterbrechung der Continuität, Verbindung durch Gelenke (diarthrosis). Synarthrosen. Die Verwachsung der Knochen (synarthrosis s. Symphysis) ge- schieht mit Hülfe von Bindegewebe, Knorpel oder Knochen. Betrachten wir diese Art der Verbindung und ihre Unterabteilungen. I. Membranöse Verwachsung (syndesmosis). Die Verbindung durch Bindegewebe oder die membranöse Verwachsung kommt als häutige Verbindung, als Naht und als Verbindung mit Hülfe von Zwischen- knochenbändern vor. 1) In einigen Fällen sind die Knochen durch ganze Membranen, in anderen durch eine kaum zu bemerkende Schicht Bindegewebe mit einander verbunden; da das Bindegewebe grosse Biegsamkeit besitzt, so ist die Verbindung um so beweglicher, je mehr Bindegewebe vor- handen ist. Das Bindegewebe hat in den membranösen Verbindungen nicht nur die Aufgabe, die Beweglichkeit der Knochen zu vergrössern, sondern es leistet auch, da es die Zwischenräume zwischen den un- ebenen und folglich vergrösserten Oberflächen der einander berührenden Knochen ausfüllt, infolge seiner Biegsamkeit der Einwirkung der Stösse und Erschütterungen günstigen Widerstand. In der Folge werden wir uns noch öfters davon überzeugen können, eine wie wichtige Rolle in unserem Organismus alle Einrichtungen haben, welche der Einwirkung der Stösse und Erschütterungen Widerstand leisten, i) Überhaupt kann man von den Verbindungen mit Hülfe von Bindegewebe sagen, dass sie sich durch bedeutende Biegsamkeit und durch verhältnismässig ge- ringe Elasticität auszeichnen; wenn daher die Knochen einer solchen Verbindung aus ihrer ursprünglichen Lage herauskommen, so kehren sie nur mit Hülfe irgend einer äusseren Kraft oder dank ihrer eigenen Schwere, nicht aber unter dem Einfluss der Elasticität des sie ver- einigenden Gewebes in dieselbe zurück. Wenn z. B, der Vorderarm, dessen Knochen durch eine breite Zwischenknochenmembran miteinander verbunden sind, in die Stellung der Supination gebracht wird, so kann 1) P. Lesshaft. Über die Vorrichtungen in den Gelenken zur Milderung der mit den Bewegungen verbundenen Stösse und Erschütterungen. Anatomischer Anzeiger. l. Jahrg. 1886. Nr. 5, 141 - Flg. 33. Fig. 34. er diese Stellung- infolge der Elasticität der Zwischenknoclienmembran allein nicht verlassen, sondern kann seine ursprüngliche Stellung nur unter dem Einfluss einer Muskelkraft oder einer äusseren Kraft wieder einnnehmen. Die Stellung der Fasern in den membranösen Verbindungen ist von der grösseren oder geringeren Beweglichkeit der verbundenen Knochen abhängig. Überhaupt kann man beobachten, dass, je beweglicher die Knochen miteinander verbunden sind, die Fasern der sie verbindenden Membran um so schräger gelagert sind. Bei minimaler Beweglichkeit verlaufen die Fasern der Achse eines jeden der eng verbundenen Knochen fast perpendiculär. Sobald sich einige Bewegung zwischen den Knochen, wie z. B. in den Knochen des Unterschenkels, zeigt, so werden die Fasern schräger und zwar verlaufen sie von oben nach unten (bei der normalen Körperstellung) von dem feststehenden Teil ac zu dem beweglichen b d (Fig. 33). In den Verbindungen aber, welche um eine bestimmte Achse, die in solchen Fällen stets schräg gelagert ist, indem sie im Centrum des Gelenkkopfes des beweglichen Knochens be- ginnt und im entgegengesetzten Ende des fest- stehenden Knochens endet, bedeutende Beweg- lichkeit besitzen, wie z. B. in den Vorderarm- knochen, sind die Fasern der Membran der Achse fast parallel; sie verlaufen hier von unten nach oben, aber natürlich von dem beweglichen Teil b d zu dem feststehenden a c (Fig. 34). Eine derartige Lagerung der Fasern entspricht dem Grade der Beweglichkeit zwischen den beiden verbundenen Knochen vollkommen. In der That lassen die geraden, der Achse perpendiculären Fasern, da sie die kürzeste Strecke zwischen den verbundenen Teilen der Stütze bilden, dank ihrer geringen Elasticität fast gar kein Auseinanderweichen der Knochen zu; bei gleicher Elasticität der Fasern ist eine um so grössere Entfernung der Knochen von einander möglich, je schräger die Fasern gelagert sind. Endlich, bei vollkommener Beweg- lichkeit der Knochen um eine schräge Achse liegen die Fasern, da sie der Bewegungsachse parallel verlaufen oder mit ihr zusammen- fallen, in dem unbeweglichsten Teil, werden nicht auseinandergedehnt und hindern deswegen weder die Bewegung des beweglichen Knochens um den unbeweglichen, noch auch die Spannung des Bandes, welche — 142 — infolge der accessorischen Rotation des beweg-lichen Knochens mn seine eigene Achse stattfindet. 2) Die Nähte und die Verbindungen in Form von Einkeilungen (gomphosis) dienen als Beispiel für Verbindungen, wo das Bindegewebe sich als dünne Schicht lagert. Das Bindegewebe findet sich in Nähten, nicht nur um die Biegsamkeit dieser Verbindungen zu vergrössern oder den durchgehenden Gefässen als Stütze zu dienen, auch nicht der Festigkeit dieser Verbindungen wegen, sondern hauptsächlich, um die Berührungs- fläche der Knochen zu vergrössern, was die Einwirkung der Stösse und Erschütterungen abschwächt. Da derartige Verbindungen hauptsächlich am Schädelgewölbe und im Gesicht vorkommen, so wollen wir die Be- deutung dieser Art Verbindungen in Bezug auf diese Teile des Skeletts untersuchen. Eine unmittelbare Knochenverbindung der Schädelteile würde die Fortpflanzung eines jeden Stosses und einer jeden Erschütte- rung zu den Centralorganen in hohem Grade fördern. Davon kann man sich durch die höchst unangenehme Empfindung, welche man beim Kauen hat, wenn die Zahnwurzel infolge irgend welcher Processe mit der Alveole verwachsen ist, leicht überzeugen. Ebenso ist bekannt, dass man in der Jugend sehr rasche und starke Bewegungen, wie z, B. Sprünge, ohne jede üble Folge ausführen kann, während das im vorge- schrittenen Alter, wo die Nähte bereits verknöchert sind, unmöglich ist. Im letzteren Falle sind die Bewegungen vorsichtig und gemessen, was überhaupt das Alter characterisiert , denn sonst kann infolge leichterer Fortpflanzung der Stösse und Erschütterungen nach den centralen Ge- hirnteilen leicht Bewusstlosigkeit eintreten. Die Verknöcherung der Nähte pflegt man gewöhnlich zu den Alters Veränderungen des Organis- mus zu rechnen, sie wird allerdings auch bei alten Leuten beobachtet, doch nur bei der Einwirkung gewisser Ursachen, die hier zu besprechen nicht möglich ist. Sie findet von innen nach aussen statt und zwar augenscheinlich, sobald das Volumen des Schädelhöhleninhalts und in- folgedessen auch die Spannung zwischen den Rändern der einander be- rührenden Knochen sich verringert. Hierbei geht die Verknöcherung gleichmässig vor sich, wenn die ganze Masse des Inhalts an Volumen abnimmt, dagegen ungleichmässig, wenn nur einzelne Teile desselben und nur an bestimmten Stellen ihr Volumen verringern. Die Ver- knöcherung der Nähte kann man auch künstlich hervorrufen, wenn man durch Druck die mechanischen Bedingungen der Entwickelung der ge- gebenen Knochen verändert; dies gelingt jedoch viel schwerer und nur in dem Falle, wenn zugleich auch Volumenveränderung des Inhalts statt findet. Man kennt drei Haupttypen von Nähten: a) zackige Naht (sutura dentata s. serrata), b) Schuppennaht (sutura squamosa) und c) glatte Naht (harmonia s. sutura superficialis). Zackig heisst die Naht dann, — 143 — wenn die Ränder der einander berührenden Knochen aus zackigen Vor- sprüngen bestehen, welche in einander eingreifen und durch eine Schicht Bindegewebe von einander getrennt sind. In der Schuppennaht sind die Flächen der mit einander verbundenen Knochen schräg abgeschnitten, so dass die schräge Schnittfläche bei dem einen Knochen sich an seiner convexen Oberfläche, bei dem anderen aber an seiner concaven Ober- fläche befindet (Sappey). Hierbei bemerkt man gewöhnlich, dass die Richtung der Schnittflächen in benachbarten Teilen gleichsam ab- wechselt, d. h. wenn an einem Knochen der Rand anfangs auf Kosten der convexen äusseren Fläche , gleich darauf aber auf Kosten der con- caven (inneren) Fläche beschnitten war, so ist an dem Knochen, der mit dem ersteren verbunden ist, die Richtung der Schnittflächen eine umgekehrte; auf diese Weise durchkreuzen die bogenförmigen Ränder der Schnittflächen einander an der Stelle der Richtungs Veränderung, was die Knochen sich zu verschieben hindert und zugleich die Festig- keit ihrer Verbindung vergrössert. In der glatten Naht sind die Ränder eben, und nur stellenweise bemerkt man an ihnen feine Vorsprünge oder Unebenheiten. Die Nähte kommen nur an bestimmten Stellen vor, nämlich: die zackige Naht findet man an der Spitze von kuppelartigen Skelettteilen, wo die Spannung zwischen den Rändern der sich berühren- den Knochen dank dem Druck von Seiten des Inhalts gross ist und wo deshalb möglichste Festigkeit der Verbindung erforderlich ist, wie z. B. in der Sagittalnaht des Schädels; wo diese Spannung geringer ist, da befinden sich glatte Nähte, die weniger Festigkeit bieten, wie z. B. in dem Nasenrückengewölbe; wo die Wandungen absteigen, geht die zackige Naht in eine schräg abgeschnittene oder Schuppennaht über, welche der hier möglichen Verschiebung der Knochen Widerstand leistet und durch ihre schräge Schnittfläche in einem geringen Volumen grosse Verbindungsflächen möglich macht. Sich der Basis der Kapsel nähernd, kann die Naht in einen Spalt oder Zwischenraum übergehen, welcher von fibrillärem Gewebe mit glatten Muskelfasern oder von Faserknorpel ausgefüllt ist, denn je näher zur Basis, desto stärker kann die Ein- wirkung der bei der Bewegung entstehenden Stösse und Erschütte- rungen sein. Die Entwickelung eines bestimmten Nahttypus ist augenscheinlich von dem mechanischen Einfluss der benachbarten Organe und von der Richtung der Gefässe abhängig; so ergeben die Untersuchungen von Gudden ^), dass, wenn die Gefässe dem Knochenrande parallel verlaufen, sich eine glatte oder einfache Naht (sutra simplex s. harmonia) ent- wickelt; sind sie jedoch den Knochenrändern perpendiculär, so ensteht 1) Experimentaluntersuchungea über das Schädelwachstum. München. 1874, pag. 3—4. — 144 — eine zackige Naht. Gudden untersuchte auch die Bildung von Ver- bindungen zwischen künstlich getrennten Knochen und erhielt dabei Verbindungen durch Nähte, Membranen oder Knochenverwachsung. Die Entwickelung der einen oder der anderen Art von Verbindungen, ebenso auch des einen oder des anderen Nahttypus war auch davon abhängig, in welcher Beziehung die Knochenränder zu einander stehen, d. h. ob sie einen Druck auf einander ausüben oder ob sie sich in Spannung befinden: im ersten Falle erhält man eine Knochenverwaclisung, im letzten eine Naht. Durch Nähte wird die Berührungsfläche der Knochen bedeutend vergrössert, wodurch der Einwirkung der Stösse und Er- schütterungen günstig Widerstand geboten wird, es kann jedoch kein bedeutenderer Grad von Festigkeit erreicht werden, während ein com- pacter Knochen zweifellos die grösste Festigkeit besitzt. 3) Die dritte Art der membranösen Verwachsung, die Verwachsung durch Zwischenknochenbänder kommt ziemlich oft vor, namentlich bei der Verbindung dicker Knochen. Die Fasern des Bindegewebebandes sind hierbei kreuzweise oder in Bezug auf die sich berührenden Flächen schräg gelagert. Wie es scheint, kommen hier gerade Fasern gar nicht vor, da auch in den Bändern mit geraden Fasern dieselben spiralförmig gewunden sind. Die schrägen Fibrillen der Zwischenknochenbänder treten von entgegengesetzten Seiten unter einem Winkel zu einander an den Knochen heran, so dass die Fortsetzungen ihrer Richtungen sich im Knochen selbst durchaus kreuzen müssen. Hieraus folgt, dass man alle Arten von Zwischenknochenbändern mittelbar oder unmittelbar auf Bänder mit kreuzweisen Fasern zurückführen kann. Solche Bänder halten die Gelenkflächen in engster Berührung, wobei sie wohl Eotationen und geringe seitliche Bewegungen, nicht aber Auseinandergehen der Knochen, ohne dass die Substanzeinheit der Bänder unterbrochen würde, zulassen. Wenn man sich in der That Bänder mit kreuzweisen Fibrillen zwischen den in Berührung stehenden Oberflächen vorstellt, so kann man sich leicht überzeugen, dass sie sich fast garnicht verlängern können, da die Entfernung zwischen ihrem Ursprung und ihrer Befestigung am Knochen stets dieselbe bleiben muss. Eine Entfernung oder Annäherung der Berührungsflächen ist nur bei stärkerer oder geringerer Rotation zugelassen. Durch die schräge Lagerung ihrer Fasern verringern diese Bänder ausserdem im Vergleich zu den Bändern mit geraden, d. h. zur Verbindungsfläche perpendiculären Fasern die Einwirkung der Stösse und Erschütterungen sehr vorteilhaft, da die letzeren, indem sie in der kürzesten Entfernung zwischen den beiden sich berührenden Flächen liegen, durch ihre geringere Masse auch die Einwirkung der Stösse und Erschütterungen weniger mildern würden. Alle diese Arten der membranösen Verwachsung sind folgender- massen verteilt. Die häutigen Verbindungen kommen nur zwischen — 145 — parallel gelagerten langen Knochen, welche mehr oder weniger beweg- lich mit einander verbunden sind, und auch als Häute, welche Spalten und Öffnungen, besonders die von grösseren Dimensionen schliessen, vor. Nähte findet man zwischen breiten Knochen (in kuppelartigen Skelett- teilen) und bei keilartiger Einbettung der Knochen ineinander; im ersten Falle sind sie in der Bewegungsebene gelagert, und zwar in um so grösserer Anzahl, je grösser der Bewegungswinkel ist, geht jedoch die Be- wegung in drei Ebenen, welche gegenseitig perpendiculär sind, vor sich, so sind auch die Nähte in den entsprechenden Ebenen gelagert, wobei jedoch die höher gelegene Naht (an der Kuppel) sich nie mit der niedriger (an der Basis) gelegenen in ein und derselben Ebene befinden wird, sondern die basale wird meistenteils der Mitte des Zwischenraums zwischen den oberen Nähten entsprechend liegen. Die Verwachsungen durch Zwischen- knochenbänder findet man zwischen dicken Knochen (den Fuss- und Handwurzelknochen) und zwischen Knochen, welche in der Mittellinie des Körpers zusammentreffen, wie z. B. zwischen den Darmbeinen und dem Kreuzbein, zwischen den Sitzbeinen, dem Kreuz- und dem Steiss- bein, zwischen den Schlüsselbeinen und dem Brustbein, zwischen dem Hinterhauptbein und dem Zahnfortsatz des zweiten Halswirbels. Wo diese Bänder starken Widerstand leisten, dort bilden sie die Fortsetzung der Muskelsehnen, sind von Muskeln bedeckt oder befinden sich unter directem Einfluss derselben, da sie sich sonst dank ihrer geringen Elasticität ausdehnen könnten^ IL Die Synchondrose, (synchondrosis). Diese Art Symphyse müsste man eigentlich elastische Verwachsung nennen; die eigent- liche Synchondrose ist nämlich nur ein specieller Fall der elastischen Verwachsungen im Allgemeinen, während man mit dem Namen Syn- chondrose, ausser der eigentlichen Synchondrose, auch die Verbindung durch elastisches Gewebe bezeichnet. Bei der elastischen Verwachsung werden die Teile durch die Elasticität des zwischen ihnen befindlichen Knorpels aufrechterhalten, wodurch sich diese Verwachsung von der Syndesmose durch Membranen und Zwischenknochenbänder, wo die Teile, wenn sie nichts aufhält, dank ihrer Schwere zusammenfallen, unter- scheidet. Man unterscheidet drei Arten der Synchondrose: 1) Synchondrose durch hyalinen Knorpel, 2) Synchondrose durch Bindegewebsknorpel und 3) Synchondrose durch elastisches Gewebe. 1) Die Synchondrose durch hyalinen Knorpel bewahrt alle Eigen- schaften dieses Gewebes, d. h. in dieser Synchondrose befinden sich die Elasticität und die Festigkeit in vollkommener Übereinstimmung; hier- durch unterscheidet sie sich von der Synchondrose durch Bindegewebs- knorpel, wo die Festigkeit grösser und die Elasticität kleiner ist, und von der Synchondrose durch elastisches Gewebe, wo die Elasticität grösser und die Festigkeit kleiner ist. Wie bekannt, sind in dem 10 — 146 — hyalinen Knorpel die Elemente dort, wo sie sich der Oberfläche nähern, mit ihrem Längsdurchmesser derselben parallel gelagert; in den langen Zwischenlagen der Synchondrosen, wie z. B. im Rippenknorpel, lagern sich die Elemente, indem sie sich der Längsachse dieser Zwischenlagen nähern, mit ihrem Längsdnrchmesser dieser Achse perpendiculär. Eine hyaline Synchondrose findet man in dem Thorax zwischen den Vorderen- den der Eippen nnd dem Brustbein und temporär als Epiphysenknorpel zwischen den Körpern der langen, stellenweise auch der breiten Knochen und ihren Endteilen, Höckern, Kämmen u. drgl. m. Der temporäre Epiphysenknorpel verschwindet zugleich mit der Verschmelzung der Enden mit den Knochenkörpern, genau ebenso kann jedoch auch jede andere Synchondrose verknöchern, wenn der Bewegungsbogen geringer wird und wenn der Knorpel einem stärkeren Druck unterworfen wird. Die Beweglichkeit der hyalinen Synchondrose hängt von der Länge und dem Durchmesser des Knorpels ab. E. Weber i) bestimmt diese Ab- hängigkeit der Elasticität von der Länge und dem Durchmesser durch folgende Formel (—■,-) d. h. der Grad der Elasticität ist dem Quadrat der Länge direct und dem Quadrat des Durchmessers des Knorpels umgekehrt proportional; die Beweglichkeit der Synchondrose aber ist der Elasticität der Zwischenlage direct proportional. Der Zwischenlagenknorpel kann entweder mit beiden Knochen, zwischen denen er liegt, verschmelzen, oder das eine beweglichere Ende kann mit dem anderen Knochen so verbunden sein, dass es ein Gelenk bildet. Man trifft hier alle Übergangsformen zwischen einer Synchon- drose und einem sogenannten straffen Gelenk. 2) Die Bindegewebsknorpelsymphysen zeichnen sich, wie bereits gesagt wurde, durch grössere Festigkeit, aber geringere Elasticität aus; sie kommen daher an Teilungsstellen der Stütze vor, welche jeder äusseren mechanischen Action grossen Widerstand leisten. Die Fasern dieses Gewebes gehen von einer Knochenfläche zur andern, wobei sie sich verwinden. Diese Art Symphyse kann in einfacher oder complicierter Form erscheinen. Im ersteren Falle besteht die Zwischenlage nur aus Bindegewebsknorpel. Im letzeren Falle kann eine Schicht Bindege- websknorpel mit einer Schicht einander unter rechtem Winckel durch- kreuzender elastischer Fasern abwechseln, ausserdem kann sich in der Mitte einer solchen Zwischenlage ein gallertartiger Kern, der von einer festen, elastischen Membran umgeben ist, befinden. Dieser Kern be- sitzt in hohem Grade die Fähigkeit, im Wasser aufzuquellen, in getrockne- tem Zustande aber stellt er ein dünnes kornartiges Plättchen dar. Ver- tical abgeschnittene Teile dieser Platte können im Wasser aufquellen, 1) Mechanik der menschlichen Gehwerbzeuge. Göttingen 1836, pag. 95. — 147 — wobei sie sich 12 bis 18 Mal vergiössern. Der frische Kern aber ver- grössert sein Volumen unter diesen Bedingungen zweimal (Henle^). Diese Fähigkeit aufzuquellen lässt sich dadurch erklären, dass das Wasser in die vorhandenen Knorpelelemente und auch in die Räume zwischen den locker gelagerten Fasern eindringt. Die äusseren Wan- dungen eines solchen Kernes sind verdickt; sie bestehen aus circulären Bindegewebsfibrillen, welche von elastischen Fasern durchflochten sind; von der Innenfläche dieser Wandungen ragen zottenartige Fortsätze, welche sich stellenweise verbinden, in den Hohlraum des Kerns. Zwischen diesen Fortsätzen und den Fibrillen befinden sich gallertartige Zwischen- substanzen, welche Knorpelelemente, zuweilen auch Überreste der Rücken- saite (chorda) enthält. Die Wandungen des Kerns sind gewöhnlich ausgedehnt und durch den Druck von Seiten des Inhalts gespannt und gehen unmittelbar in den sie umgebenden Bindegewebsknorpel über. Eine solche Vereinigung von Bindegewebsknorpel mit elastischem Gewebe und mit einem gallertartigen Kern verbindet sehr vorteilhaft Festigkeit mit Elasticität: bei jeder Bewegung verrückt sich der Kern in die der Bewegung entgegengesetzte Seite und macht dadurch die Bewegung leicht, und ebenso nehmen die Teile durch eine entgegen- gesetzte Verschiebung' des Kerns ihre frühere Lage wieder leicht ein. Zwischen solchen complicierten Verbindungen und der einfachen Symphyse findet man verschiedene Übergangsformen. Complicierte Formen solcher Symphysen befinden sich zwischen den Wirbelkörpern bei Erwachsenen; einfache Formen zwischen den Wirbeln neugeborener Kinder und junger Individuen und ebenso in den grossen Zwischenräumen an der Schädel- basis bei dem Körper des Hinterhauptbeins; Übergangsformen in der Symphysis pubis. In den einfachen Formen der Symphysen, welche bei Neugeborenen und jungen Individuen zu finden sind, bermerkt man im Centrum der Symphyse Überreste der Chordaverdickung, deren Ele- mente hier noch wenig verändert sind. 3) In den Symphysen durch elastisches Gewebe ersetzt dieses letztere den elastischen Knorpel, der, soviel bekannt, nicht als Zwischenlage in den Symphysen vorkommt. Das elastische Gewebe erscheint in solchen Symphysen als mehr oder weniger dicke und lange Membran; die dick- sten Zwischenlagen erscheinen bei den Tieren zwischen dem äusseren Kamm des Hinterhauptbeins und den Dornfortsätzen der Halswirbel ; beim Menschen sind dicke elastische Zwischenlagen zwischen den Wirbelbögen vorhanden; die allerdünnsten elatischen Bänder findet man zwischen den kleinen Knorpeln des Kehlkopfes. Die Fasern dieser Bänder oder Membranen sind bei der Leiche stets spiralförmig gewunden und mit 1) Handbuch der systematiscbeu Anatomie des Menschen. Bänderlehre. Bd. I. Abt. 2, pag. 21. 10* — 148 — einander verflochten; im lebenden Organismus ist dieses vielleiclit nicht der Fall, da sie stets durch die Gleichgewichtsbedingungen ausgedelmt werden; davon kann man sich z. B. an der Wirbelsäule überzeugen: sägt man die Wirbelbögen von den Körpern ab, so verkürzt sich die Bogensäule um 3 bis 4,5 cm, was auch darauf hindeutet, wie sehr sie im gewöhnlichen Zustande ausgedehnt sind. Die elastischen Bänder nehmen unmittelbar an der Knochenhaut des einen Knochens ihren Ursprung und versclimelzen mit der Knochenhaut des anderen Knochens. Zwischen den Knorpeln des Kehlkopfeinganges bilden sie die directe Fortsetzung der Zwischensubstanz der Knorpel, zwischen denen sie liegen. Eine solche Symphj^se kommt an den Stellen vor, wo die Festig- keit der Verbindung gering ist und wo die Teile durch ihre Elasticität in der Lage erhalten werden. IIL Die Verbindung der Knochen durch Knochensubstanz (synostosis) ist in Bezug auf die Festigkeit am vorteilhaftesten, sie fördert aber die Fortpflanzung der Stösse und Erschütterungen am meisten. Verbindung durch Gelenke. Eine Verbindung mit Unterbrechung der Substanzeinheit der Teile der Stütze heisst Gelenk (diarthrosis). Die Hauptbestandteile einer solchen Verbindung sind: die Gelenkflächen und das Kapselbaud (lig. capsulare), welches aus der fibrösen und synovialen Kapsel und einer Flüssigkeit (Synovia), welche die Oberfläche der letzteren bedekt, besteht. Ausser- dem kommen noch Haftbänder (lig. accessoria) vor. Die Gelenkflächen waren bereits fi^üher untersucht worden. Der Hyalinknorpel, der sie bedeckt, ist verschieden dick, von 0,25 bis 4 mm; je geringer die Beweglichkeit des Gelenkes ist, desto dünner ist er, und umgekehrt. An den convexen Teilen der Gelenkflächen oder Köpfe ist der Knorpel gewöhnlich in der Mitte am dicksten und wird zur Peripherie hin immer dünner, während er an den concaven Gelenk- flächen oder an den Gelenkgruben, im Gegenteil, in der Mitte dünner und zur Peripherie hin dicker ist. Die äussere oder flbröse Kapsel verbindet die das Gelenk bildenden Knochen mit einander; sie kann in verschiedener Entfernung von den Eändern der Knorpelflächen ilu^en Anfang nehmen und bildet die Fort- setzung der Knochenhaut, wobei sie auch eine derselben analoge Stuctur hat: sie besteht gewöhnlich aus einer äusseren Schicht von Fasern, welche in longitudinaler Richtung, und zwar von der Knochenhaut des höherbefindlichen Knochens zu der des unteren Knochens verlaufen. Nach innen von dieser Schicht befinden sich circuläre Fasern, welche der Anheftungs stelle der Kapsel parallel sind. Diese letztere Schicht ist gewöhnlich ein wenig dünner, als die erste. Überhaupt sind diese — 149 — Fasern niclit so deutlich ausgeprägt und verweben sich stellenweise so sehr mit den longitudinalen, dass man sie schwer sondern kann. Elastische Fibrillen sind hier nur in sehr geringer Anzahl vorhanden. In der fibrösen Kapsel verlaufen die Gefässe und die Nerven; die ersteren sind hier ebenso gelagert, wie in der Knochenliaut, die Nerven der fibrösen Kapsel aber tragen einen besonderen Character; die fibröse Kapsel wird nicht, wie die Hautoberfläche, durch unmittelbare Reizung ihrer Oberfläche, sondern ausschliesslich durch Erschütterung oder Spannung erregt. Die innere oder synoviale Kapsel hat eine glatte und feuchte Ober- fläche; sie nimmt stets an der Peripherie des Knorpelrandes der Gelenk- flächen ihren Anfang, kann einen Teil der Knochenhaut bedecken und geht darauf auf die Innenfläche der fibrösen Kapsel über; alles, was sich in dem von der synovialen Kapsel gebildeten Hohlraum befindet, ist in der Gelenkhöhle, das jedoch, was zwischen ihr und der fibrösen Kapsel liegt, gilt als ausserhalb der Gelenkhöhle befindlich. Die synoviale Kapsel besteht aus einer Stütze, welche elastische Fasern enthält, und einem Capillarnetz und ist mit einer Schicht Endothelium bedeckt. Sie zeichnet sich durch grossen Eeichtum an Gefässen, welche an der ganzen Oberfläche feine Netze bilden, aus. Diese Gefässe stehen mit den Gefässen der fibrösen Kapsel und jener Teile, welche von der synovialen Kapsel bedeckt werden, in Verbindung. Nach den Unter- suchungen von Sappey sind hier sehr wenige Nerven vorhanden. Die freie Oberfläche der synovialen Kapsel ist glatt und feucht, was von der dieselbe bedeckenden Synovia abhängt; letzteres besteht nach den Analysen von Frerichs ^) bei einem in Freiheit lebenden Stier aus 948,54 Teilen Wasser, 5,60 Teilen Muciu, 35,12 Teilen Albumin (Synovin), 0,76 Teilen Fett, 9,98 Teilen anorganischer Salze. Die Quantität der Synovia schwankt in verschiedenen Gelenken und bei! verschiedenen Individuen; die synoviale Flüssigkeit füllt alle zwischen den Gelenk- flächen frei bleibenden Zwischeni^äume aus. Wenn bei den Unter- suchungen dieser Flächen dieselben niclit ganz regelmässige geome- trische Formen zeigen, so hängt das davon ab, dass - die in den Gelenken lebender Individuen enthaltene synoviale Flüssigkeit, welche die geringen Differenzen zwischen den Gelenkflächen aufhebt, aus- geflossen ist. Für die normale Thätigkeit des Gelenkes ist es erforderlich, dass die Oberflächen der Gelenkenden der Knochen und der accessorischen Teile stets in gegenseitiger Berührung sind. Untersuchen wii' nun, 1) A. Gautier. Chimie appliquee ä la physiologie etc. Paris. 1874. T. II, pag. 128. — 150 — welche Kräfte sie aneinander lialten. Diese Frage ist bis jetzt noch in gewisser Beziehung nicht vollkommen gelöst. Die Gebrüder Weber ^) (im Jahre 1836) schrieben das Zusammen- halten der Gelenkflächen der Einwirkung des Luftdrucks zu. Zu einem solchen Schlüsse kamen sie auf Grund des folgenden Experimentes, welches man sehr leicht wiederholen kann. Man legt eine Leiche auf ein horizontales Brett, so dass beide unteren Extremitäten frei herabliängen, oder man hängt, was bequemer ist, die abgetrennte untere Körperhälfte an einen horizontalen Balken. Hierauf werden die den Rumpf mit dem Schenkel verbindenden Muskeln durchschnitten, wobei man bemerken kann, dass die Länge der Ex- tremität sich nicht verändert und dass der Gelenkkopf des Schenkel- beins mit der Gelenkpfanne in vollkommener Berührung bleibt; folglich werden die Gelenkflächen nicht, wie Weber meint, durch die Muskeln aneinander gehalten, denn, trotzdem sie hier durchschnitten sind, ändert die Extremität ihre Lage und ihre Länge nicht. Durchschneidet man darauf die Gelenkkapsel und die Haftbänder genau unter dem grössten Umfang des Kopfes, so ändern auch dann weder die Gelenkflächen, noch die ganze Extremität ihre Lage. Hieraus kann man schliessen, dass das Aneinanderhalten der Gelenkflächen nicht von der Kapsel und den Haftbändern abhängt. Hierauf muss man von der Seite des Beckens, dem Centrum der Gelenkpfanne entsprechend, ein kleines Loch bohren, wobei man trachten muss, das Ligamentum teres nicht anzugreifen. Würde die Extremität auf irgend welche Weise, z. B. von dem Rande der Gelenkpfanne, gestützt werden, so würde das Loch in der Mitte diese Stütze nicht zerstören, und die Extremität müsste ihre Lage bei- behalten. Es erweist sich jedoch, dass, sowie das Ende des Bohrers und also auch die Luft bis in die Gelenkhöhle eindringen, die Ex- tremität sofort aus dem Gelenk herausfällt und nur am Ligamentum teres hängen bleibt. Wenn man endlich den herausgefallenen Kopf mit Kraft wieder in die Gelenkpfanne hineinstösst, so dass alle Luft aus derselben durch das gebohrte Loch entweicht, und wenn man das- selbe darauf mit dem Finger fest schliesst, so bleibt die Extremität im Gelenk hängen; kaum hat man jedoch das Loch wieder geöffnet, so dringt die Luft in das Gelenk und die Extremität fällt wiederum sofort heraus. Folglich ist der Luftdruck die Kraft, welche die Gelenkflächen zusammenhält und welche zugleich die Extremität im Gleichgewicht hält. Die Gebrüder Weber versuchten auch die Grösse dieser Kraft zu bestimmen und erhielten dieselbe, indem sie das Gewicht einer Queck- silbersäule, deren Höhe = 750 mm ist (Höhe der Barometersäule), und 1) Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. 1836, pag. 147—160, — 151 — deren Quersclmittfläche dem Product der grössten (47 mm) und der kleinsten (25 mm) Sehne des Kugelsegments der Gelenkpfanne gleich- kommt, berechneten. Das Gewicht von 750 >< 47 < 25 cbmm Queck- silber ist = 11980 gr oder = 25 preuss. Pfund und 10 Lot; so gross ist der Luftdruck, der die Gelenkflächeu des Hüftgelenks aneinander- hält und der die untere Extremität ins Gleichgewicht setzt. Sie fanden, dass das Gewicht der unteren Extremität (25 Pfund) diesem Luftdruck entspricht oder nur um ein Geringes nicht an dasselbe heranreicht. Ein solches Imgleichgewichthalten der hängenden Extremität gab ihnen An- lass, sie mit einem frei schwingenden Pendel zu vergleichen, so dass nach ihrer Meinung die Thätigkeit der Muskeln nur in dem Falle er- forderlich ist, wenn die Extremität in dieser Lage irgend eine Last haben muss. Mit dieser Meinung kann man jedoch nicht vollkommen übereinstimmen, denn wenn im gegebenen Falle nur allein die Gleich- gewichtsbedingungen eines gewöhnlichen Pendels vorhanden wären, so könnte man die Bewegung ohne Ermüdung unendlich fortsetzen. Dem ist jedoch in der That nicht so, da man nach einiger Zeit eine gewisse Ermüdung empfindet, welche auf den Anteil auch der Muskeln an einer solchen Bewegung hindeutet. Bis zum Jalu'e 1865 nahm die Mehrzahl der Gelehrten augenschein- lich die Theorie der Gebrüder Weber an; einige von ihnen meinten jedoch, dass diese Theorie nur für das Hüftgelenk Bedeutung habe, und bestritten ihre Anwendbarkeit für die anderen Gelenke, ohne übrigens irgend welche Beweise zu liefern. Im betreffenden Jahr erschien die Abhandlung von Eose ^), in welcher er, die Einwirkung des Luftdrucks auf das Zusammenhalten der Gelenkflächen leugnend, dies'en Anschluss der Gelenkflächen durch die Adhäsion erklärt; hierbei fusst er auf seinen Experimenten mit parallelen mattgeschliffenen Platten, welche mit verschiedenen Flüssigkeiten benetzt worden waren. Ausserdem leugnet er den Anteil des Luftdrucks auch daher, weil ihm die Ex- perimente von Weber nicht an jeder Extremität gelungen sind. Die Meinung von Rose wurde von Schmidt^) widerlegt, welcher zeigte, dass die Adhäsion im gegebenen Falle unbedeutend sei und, sobald Luft in das Gelenk gedrungen ist, nicht einmal ein kleiner x4.bschnitt des Schenkelbeins, geschweige denn die ganze Extremität durch die Adhäsion festgehalten wird. Nach seinen Untersuchungen kann die Adhäsion nur einen geringen Teil des Schenkelbeinkopfes von 35 gr Gewicht aufhalten. 1) Archiv für Anat., Physiol. etc. Keichert und Du Bois-Reymond. 1865, pag. 521—527. 2) Über Form und Mechanik des Hüftgelenks. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. 1876. Bd. V. — 152 — Büchner^) endlich leugnet die Einwirkung des Luftdrucks und der Adhäsion und misst die Hauptrolle den das Gelenk umgebenden Muskeln zu; nach seiner Meinung kann der Luftdruck nur teilweise das Zu- sammenhalten der Gelenkfiächen beeinflussen. Zu einem solchen Schluss gelangte er, indem er die Kraft der Muskeln während einer tiefen Narcose mass; so bestimmte er z. B. bei einem Schenkelbruch das Ge- wicht, welches nötig war, um die kürzer gewordene Extremität (infolge longitudinaler Verschiebung der Bruchenden) zur Länge der gesunden zu bringen, d. h. um die Spannung der Muskeln zu überwältigen; es erwies sich, dass bei tiefer Narcose, also bei minimaler Contractions- fähigkeit der Schenkelmuskeln, dieses Gewicht 2000 gr betrug. Den Durchmesser und die Richtung der das Hüftgelenk umgebenden Muskeln in Betracht ziehend, berechnete er, dass die Kraft dieser Muskeln unter normalen Bedingungen 6300 gr beträgt, was vollkommen genügt, um die Gelenkflächen des Femur und der Hüftbeine aneinander zu halten. Die Haupteinwendung, welche er gegen die Brüder Weber vorbringt, ist folgende: wenn bei dem hängenden Bein die Gelenkflächen durch den Luftdruck zusammengehalten werden, was geschieht dann mit dieser Kraft, wenn man sich auf den Boden stützt, wenn folglich der Luft- druck keiner Kraft das Gleichgewicht zu halten hat? Es versteht sich von selbst, dass eine derartige Einwendung nicht stichhaltig ist. Oben war bereits gesagt worden, dass in den Gelenken alle Bedingungen für die Einwirkung des Luftdrucks vorhanden seien, und folglich muss der Luftdruck hier unbedingt eine Wirkung ausüben. Wenn überhaupt die zur Entwickelung einer Kraft notwendigen Be- dingungen vorhanden sind, so wird diese selbstverständlich stets wirken. Dies sieht man überall in der Natur. Die Adhäsion, welche nach Rose beim Anschluss der Gelenkflächen eine wichtige Rolle spielt, darf ebensowenig ausgeschlossen werden. Es ist bekannt, dass die Gelenk- flächen glatt sind und dass zwischen ihnen eine geringe Quantität Flüssigkeit vorhanden ist; folglich sind alle Bedingungen für die Wir- kung der Adhäsion gegeben, und deshalb muss natürlich diese Kraft auch hier ihre Rolle spielen, obgleich sie, wie man aus den Versuchen von Schmidt ersehen kann, sehr gering ist. Fassen wir die Entgegnung von Buchner wieder ins Auge und sehen wir, worin sich der Luftdruck verwandelt, wenn man sich auf das Gelenk stemmt. Wie bekannt, sind die Gelenkflächen der Knochen mit elastischen Platten bedeckt. Wenn man sich nun auf irgend ein Gelenk stemmt, so müssen natürlich die elastischen Platten unter diesem Druck zusammengepresst werden. Der Druck wird dann auf die 1) Archiv f. Anat. und Physiol. Leipzig. 1877, pag. 22. — 153 — zwischen den Platten befindliche Flüssigkeit und durch diese auch auf die das Gelenk umgebende Kapsel übertragen, welche sich infolge- dessen sogar nach aussen her vorstülpen könnte. Diesem Druck leistet jedoch der Luftdruck Widerstand, indem er hindert, dass die Teile des Gelenkes nach aussen hervortreten, und folglich auch der auf das Ge- lenk drückenden Last widersteht. Auf diese Weise dient im gegebenen Falle, wenn man sich auf das Gelenk stützt, der Luftdruck dazu, die die Einwirkung der Stösse und Erschütterungen vermindernden Knorpel- lagen in ihrer Dicke zu erhalten. Wenn man die Experimente von Weber in der Weise modificiert, dass man, nachdem die den Oberschenkel mit dem Becken verbinden- den Muskeln und die Gelenkkapsel durchschnitten worden sind, am unteren Ende der Extremität eine Last anhängt, deren Gewicht man so lange vergrössert, bis der Gelenkkopf aus der Hüftbeinpfanne heraus- fällt, so erweist sich, dass man dem Gewicht der Extremität noch un- gefähr 22 Pfund, zuweilen bis 30 oder sogar 35 Pfund (bei der Ex- tremität von einer Leiche mittleren Alters und von gutem Körperbau, wobei das Gewicht der Extremität ungefähr = 18 Pfund ist) hinzu- fügen muss, bis endlich die die Gelenkflächen zusammenhaltende Kraft überwunden ist und die Extremität aus dem Gelenk fällt. Die Ver- suche mit dem Anhängen von Gewichten an die Extremität zeigen, dass die Berechnungen von Weber nicht richtig sind, d. h. dass die von ihm erhaltenen Zahlen viel kleiner sind, als die wirklichen, und in dieser Hinsicht einer Correctur bedürfen. Den Druck der äusseren Luft auf das Gelenk kann man in Kilo- grammen nach folgender Formel ^^ — tkkk~ — berechnen, d. h. um denselben zu berechnen, muss man den Inhalt des Kreises (xr-), welcher beim Durchschneiden des Kopfes auf der Höhe des Pfannenrandes entsteht, mit der Höhe der Barometersäule (h) und mit der Dichtigkeit des Quecksilbers (d) multiplicieren und dieses Product durch 1000 divi- dieren. Hierbei ist bekanntlich tt = 3, 1415 d = 13,59 Untersuchungen ergeben, dass der Radius des Schenkelbeinkopfes im Mittel 26 mm misst, die Höhe der Barometersäule aber ist = 750 mm. Führt man nun die Berechnung aus, so findet man, dass der Luftdruck auf das Hüftgelenk 21,65 kg (52,82 Pfund) beträgt, und folglich über- trifft derselbe das Gewicht der Extremität, welches an der Leiche = 7—7,5 kg (17—18,3 Pfund) ist, bedeutend. Folglich giebt es zwei Kräfte, welche die Gelenkflächen zusammen- halten: die grössere Kraft, den Luftdruck, und die kleinere, die Ad- häsion. Aber vielleicht ist die Anzahl der Kräfte, welche in den Ge- lenken die Gelenkflächen aneinander halten, viel grösser ; jedenfalls sind Facta vorhanden, welche dieses voraussetzen lassen. So haben z. B. — 154 — die das Gelenk umgebenden Muskeln in dieser Beziehung auch eine nicht geringe Bedeutung; aus der Pathologie ist bekannt, dass bei Paralysen zuweilen spontane Verrenkungen vorkommen, was auf das veränderte Verhältnis der Muskeln untereinander und zu den Gelenken hindeutet. Was die Bedeutung der Muskeln beim Zusammenhalten der Ge- lenke, auf welche Buchner hinweist, anbetrifft, so ist die Muskelkraft zweifellos ein normaler und positiver Factor, solange eine vollkommene Harmonie zwischen den das Gelenk umgebenden Muskeln besteht. Wenn jedoch diese Harmonie (wenn irgend eine Veränderung der Innervation oder ein Leiden in einer bestimmten Muskelgruppe besteht, weswegen sich an der einen oder der anderen Stelle des Gelenkes die Bedingungen des Druckes auf die Kapsel verändern, oder wenn der Einfluss der Muskelkraft auf dieselbe ganz aufhört, und die Muskeln die betreffen- den Bänder nicht normalerweise spannen) gestört wird, so wird eine regelmässige Bewegung unmöglich, und das Kapselband kann sich mehr oder weniger ausdehnen. In solchen Fällen muss man schon a priori eine Veränderung der gegenseitigen Beziehungen der Gelenkteile er- warten, welche sich durch die Verdünnung und Zerstörung der Gelenk- knorpel, sowie durch die Verdickung der Kapsel und durch Ansamm- lung eines Exsudats im Gelenk ausdrücken wird. Die Versuche von A. Selitzki^) haben erwiesen, dass, wenn man den Luftdruck unter der Luftpumpe allmählich verringert, man das all- mähliche Herausgleiten des Schenkelbeinkopfes, welcher aus der Pfanne fällt, wenn der Luftdruck 130 bis 140 mm beträgt, beobachten kann. Diese Versuche wurden an Extremitäten Neugeborener angestellt, wobei die Extremität ungefähr 174 Pfund wog. Einer ebensolchen Extremität, deren Gelenkkapsel unter dem Äquator durchschnitten war, musste man ein Gewicht von 272 Pfund anhängen, um den Kopf aus der Pfanne zu ziehen (bei einem Luftdruck = 760 mm.) Wir haben also einerseits den Einfluss dreier Kräfte, und zwar: der Adhäsion, des Luftdrucks und der Spannung der das Gelenk um- gebenden Muskeln; andererseits leisten denselben die Reibung, welche bei der Bewegung zweifellos vorhanden sein muss, das Gewicht der Extremität, welches im Mittel 18 Pfund beträgt, und die Elasticität der Knorpel und der Flüssigkeit Widerstand. Die Elasticität der Knorpel kann man berechnen, da man nach den Untersuchungen von Rauber weiss, dass der Elasticitätscoefficient des Knochenknorpels = 3,888— 5,833 kg, der des Rippenknorpels = 0,875—1,071 kg ist. Die Dicke der Knorpelplatte an der Oberfläche der Pfanne beträgt gewöhnlich 1) Über die Kräfte, welche die Gelenkflächen aneinander halten. St. Petersburg. 1882, pag. 22—26 (russisch). — 155 — circa 2 mm, in der Mitte des Kopfes etwa 3 mm, an dessen Eändern aber 2 mm, wobei der Knorpel am Schenkelbeinkopf eine Fläche von annähernd 4 358 D mm, der der Pfanne aber eine Fläche von 2 429 □ mm einnimmt. Bei normalen Bedingungen müssen Kraft und Widerstand einander im Gleichgewicht halten; wenn daher beim Stehen z. B. das Gewicht der Extremität nicht in Betracht kommt, so werden die Knorpelplatten um so stärker gepresst und werden durch ihre Elasticität sowohl dem Gewicht des auf sie drückenden Körpers, als auch dem Luftdruck entgegenwirken. Wird das harmonische Verhältnis all dieser Kräfte zerstört, so muss unbedingt ein unnormaler Zustand, d. h. irgend ein Leiden, folgen. Nicht alle auf das Gelenk wirkenden activen Kräfte befinden sich unter unserem Einfluss. Den Einfluss der Adhäsion und des Luftdrucks zu verändern, ist nicht möglich; es bleibt nur die Muskelkraft, durch welche nun auch allen Veränderungen des Luftdrucks das Gleichgewicht gehalten werden muss. Je niedriger also der Luftdruck, desto mehr Muskelkraft muss man anwenden, um das Gelenk zusammenzuhalten, und umgekehrt. Der Mensch hat solche Höhen noch nicht erreicht, wo der Luftdruck dem Gewicht der Extremität gleichkäme oder gar ge- ringer wäre. Die Ermüdung, welche beim Besteigen hoher Berge ein- tritt, hängt in keinem Falle von einer Gewichtszunahme der Extremität, sondern von der hinzukommenden Muskelarbeit, um die Gelenkflächen auch bei niederem Drucke aneinander zu halten, ab. Die stärkere Arbeit ist mit einem neuen Muskelgefühl, das man leicht für Ermüdung hält, verbunden. Wie bei den activen Kräften die Muskelkraft als compen- sierende Kraft erscheint, so wird sich unter den ihnen entgegenwirken- den Kräften die Elasticität der Gelenkknorpel und der vorhandenen Flüssigkeit, da die Eeibung und das Gewicht der Extremität sich nicht verändern können, am meisten dem Widerstand anpassen. Ausserdem muss man noch bemerken, dass das Gewicht der toten Extremität (18 Pfund) stets geringer sein wird, als das Gewicht der lebenden, da das durch dieselbe fliessende Blut durch sein Gewicht, welches von dem Druck, unter dem das Blut hindurchfliesst, abhängt, das Gewicht der Extremität vergrössert; in der lebenden Extremität findet fortwährende Wiederherstellung durch Stoffwechsel statt, das tote Gewebe jedoch erleidet nur Verlust, welcher natürlich sein Gewicht verkleinert. Die Analyse der Kräfte, welche auf die Gelenke einwirken, musste hier länger behandelt werden, da das Kennenlernen der normalen Be- ziehungen zwischen den Gelenken, den sie umgebenden Teilen und den äusseren Einflüssen für die Frage von der Äthiologie der Gelenkkrank- heiten im allgemeinen und bei Kindern im besonderen eine sehr grosse Wichtigkeit hat. Unzweifelhaft spielt eine regelmässige physische Er- ziehung der Kinder beini Verhüten verschiedener Gelenkkrankheiteii — 156 — eine wichtige Rolle, und nur, wenn man das harmonische Verhältnis der verschiedenen Organe unseres Körpers studiert hat, kann man eine derartige physische Erziehung feststellen. Nachdem man die Kräfte, welche die Gelenkflächen aneinander halten, betrachtet hat, muss man seine Aufmerksamkeit auf die Form dieser Flächen, die Richtung und Lagerung der lateralen und acces- sorischen Bänder, endlich auf den Zusammenhang zwischen den hier vorkommenden Formen und der Art und Grösse der Bewegungen, welche in jedem einzelnen Gelenk möglich sind, richten. Überhaupt ist es, wenn man die Form der Gelenkflächen kennt, nicht schwer, die Richtung der accessorischen Bänder und der das Gelenk in Bewegung setzenden Muskeln zu bestimmen, d. h. es ist leicht a priori die im ge- gebenen Gelenk möglichen Bewegungen und die Lagerung der diese Bewegungen ins Werk setzenden Organe vorauszusagen. Der Einteilung der Gelenke kann man das genetische Princip, dass die Bewegung im Gelenk der Bewegung der Erzeugungslinie der gegebenen Gelenkfläche entsprechen muss, zu Grunde legen, um uns von der Richtigkeit dieses Satzes zu überzeugen, wollen wir ein beliebiges einfaches Gelenk mit Bewegung um eine Achse ins Auge fassen und verfolgen, wie die Gelenkflächen eines solchen Gelenkes entstehen. Ein geometrischer Körper mit einer um eine Achse gebildeten Rotationsfläche wird erhalten, wenn eine gerade oder krumme Linie (cd Fig. 35) so um eine Ge- rade (ab) rotiert, dass jeder Punct der ersteren sich längs der Peripherie eines Kreises, dessen Ebene zur unbeweg- lichen Linie (ab) perpendiculär ist, fortbewegt. Die sich fortbewegende Linie ist in einem solchen Falle die Er- zeugungslinie, die Gerade aber die Achse des erhaltenen Körpers. Wenn sich zwei Körper mit solchen einander entsprechenden Flächen, welche durch die Bewegung der Erzeugungslinie um eine Achse entstanden sind, berühren, so sind auch nur Bewegungen um diese eine Achse mög- lich. Man kann sich durch einen Versuch leicht über- zeugen, dass, wenn nur die Berührungsflächen einander genau entsprechen, nur eine Bewegung möglich ist. Wenn daher bekannt ist, dass eine bestimmte Fläche nur auf gewisse Weise, nur durch Rotation um eine Achse ent- steht, so können auch in dem Gelenk, dem diese Fläche zu Grunde liegt, nur Bewegungen um diese eine Achse möglich sein; hat aber das Gelenk eine Fläche, welche durch die Bewegung der Erzeugungslinie um irgend eine ihrer Achsen erhalten werden kann, so lässt es Be- wegungen gerade um diese Achsen zu. Kennt man also die Form der Gelenkflächen, so kann man sich durch dieselbe nicht nur bei der Be- Fig. 35. a — 157 — Stimmung der im gegebenen Gelenk möglichen Bewegungen, sondern auch bei Einteilung der Gelenke in einfache und complicierte leiten lassen. Der Unterschied zwischen den einfachen und complicierten Ge- lenken besteht in folgendem : im einfachen Gelenk berühren die Gelenk- flächeu einander vollkommen, geometrisch entsprechen sie einander ganz und gar, und zwischen ihnen befindet sich gar keine Zwischenschicht; in den complicierten Gelenken jedoch sind die Gelenkflächen durch irgend eine Lamelle oder Schicht fester oder flüssiger Substanz von einander getrennt. Die Zwischenschicht kann in Form von Flüssig- keit, Synovialzotten , Synovialfortsätzen und -falten, Bindegewebe, Zwischenbändern, Knorpel, eines Knochens, mehrerer Knochen u. s. w., mit einem Wort in Form von allen Substanzen oder Geweben, welche in unserem Organismus als Stütze oder Grundlage dienen, erscheinen. Von der Qualität des Gewebes, welches sich zwischen den Gelenk- flächen befindet, hängen die Varietäten der in den complicierten Ge- lenken beobachteten Functionen ab. Die einfachen Gelenke. Die Gelenkflächen der einfachen Ge- lenke können alle möglichen Formen haben; sie können als Abschnitte cylindrischer, kegelförmiger, elliptischer, hyperbolischer Flächen oder als beliebige complicierte Rotationsflächen erscheinen. Alle diese Flächen haben nur eins gemeinsam, dass nämlich eine jede derselben nur um eine Achse entstanden ist. Der Unterschied zwischen diesen Flächen wird hauptsächlich von der Form der Erzeuguugslinie ab- hängen, und zwar: je schräger die Erzeugungslinie zur Bewegungsachse ist, oder je mehr sie gekrümmt ist, um so grösser ist bei gleichem Vo- lumen und gleicher Achsenlänge die Oberfläche, je grösser aber diese ist, desto grösser ist auch die Stütze und folglich auch die Festigkeit des Gelenkes, und um so grössere Kraft kann man bei der Bewegung entwickeln. Die kleinste Eotationsfläche enthält man in dem Falle, wenn die Erzeugungslinie eine der Achse parallele Gerade ist. Dieses ist ein einfaches Gelenk mit cylindrischen Berührungsflächen; wenn daher keine accessorischen Teile vorhanden sind, wenn der Kopf der Pfanne genau entspricht, so ist nur Bewegung um eine Achse möglich, und man er- hält ein einfaches Gelenk mit der kleinsten Stützfläche und von mini- maler Festigkeit. Ist die Erzeugungslinie schräg geneigt, so ist die Stützfläche schon grösser; sie ist kegelförmig; bei der Rotation einer Halbellipse um die Achse erhält man eine elliptische Fläche, welche, bei gleicher Achsenlänge, im Vergleich zur vorhergehenden eine grössere Stütz- fläche darbietet; bei der Rotation einer concaven Linie, wobei eine hyperbolische Fläche entsteht, erhält man (cd Fig. 36) bei gleicher Achsenlänge und gleichem Volumen die grösstmögliche Stützfläche. — 158 — Die Grösse des Bewegung'sbogens wird aus der Differenz zwischen dem Gelenkkopf und der Gelenkpfanne bestimmt, wobei man Gelenk- kopf das convexe Gelenkende des einen Knochens, Gelenkpfanne aber das concave Gelenkende des anderen Knochens nennt. Um sich von der Richtigkeit des Angeführten zu überzeugen, braucht man blos vom Rande des Gelenkkopfes aus die ihn genau berührende '^' ' ■ Pfanne an denselben anzulegen; in diesem Falle wird die übriggebliebene Fläche, längs welcher ausschliesslich die Bewegung möglich sein wird, der Differenz der sich be- rührenden Teile gleich sein. In den einfachen Gelenken macht die Pfanne gewöhnlich -/o des Kopfes aus; wenn z. B. der Bewegungsbogen 70" misst, so beträgt die Pfanne 140'', der Kopf aber 210 '\ Ist der Bogen der Pfanne grösser als 90", so ist irgend eine die Einwirkung der Stösse und Erschütterungen vermindernde Einrichtung er- forderlich. Die Gelenktypen. Ein Winkelgelenk (ginglymus s. art. ginglymoides) wird am häufigsten durch hyper- bolische Berührungsflächen, deren Achse die Extremitäten oder Körperachse unter rechtem Winkel trifft, gebildet. Ausser hyperbolischen Flächen kommen auch Rotations- flächen, welche durch die Bewegung einer complicierten krummen Linie um eine Achse entstanden sind, vor. In den Winkelgelenken sind ausser der fibrösen und synovialen Kapsel stets noch fächerförmige Haftbänder vorhanden; sie gehen von den Seitenteilen der Pfanne zu den Achsenenden und halten die Gelenkflächen an einander. Solche Bänder bestehen aus einer Reihe radiär gelagerter gerader Fasern, so dass bei jeder Stellung des beweglichen Teiles sich beiderseits gleichsam ein gerades Band findet, das mit der Richtung des beweglichen Knochens zusammenfällt und die Teile in ihrer Lage hält. Als Beispiele solcher Gelenke können die Fingergelenke dienen. Wenn die Pfanne durch zwei Knochen, von denen einer um den anderen rotiert, gebildet wird, so ist das Band schleifen artig um das Ende des sich bewegenden Knochens geschlungen und am unbeweglichen Knochen befestigt. Das Winkelgelenk lässt eine Bewegung um eine Achse, welche Beugung und Streckung (flexio et extensio) heisst, zu. Die Beugung ist eine Bewegung, bei welcher der bewegliche Teil mit der Frontalebene des Körpers oder der Extremität einen Winkel bildet, die Streckung, die Bewegung zurück, in die ursprüngliche Lage. Die Beugung unterscheidet sich von den übrigen Bewegungen da- durch, dass man bei dieser Bewegung mehr Kraft entwickeln kann, und dass diese Bewegung leichter ist, als die anderen. An — 159 — dieser Bewegung nehmen am meisten Muskelgruppen, welche ihre Stütze an verhältnismässig grossen Flächen haben, teil, und da die Muskeln sich auf diese Weise dem Widerstände nähern, so entwickeln sie unter vorteilhafteren Bedingungen ihre Kraft. Die einfachen Winkel- gelenke haben ein paar Muskelgruppen, welche vor und hinter der Be- wegungsachse gelagert sind; jede Gruppe durchkreuzt ihrerseits mit ihrer Eesultiereuden die Achse unter rechtem Winkel. Da die Muskeln in solchen Gelenken gewöhnlich unter günstigen mechanischen Bedingungen wirken, so können sie ohne grosse Anstrengung wirken, und ihre Thätigkeit hat also nur geringen Stoifverlust zur Folge; sie enthalten daher weniger Gefässe und Nerven, was weiter unten durch Zahlen be- kräftigt werden soll. Die zweite Art einfacher Gelenke, mit einer um eine Achse gebilde- ten Rotationsfläche, sind die Rollgelenke (trochoides); in ihnen ist die Bewegungsachse der Körper- oder Extremitätenachse parallel oder fällt mit letzterer zusammen. Bei diesen Gelenken trifft man am häufigsten Abschnitte kegelförmiger Flächen, seltener Abschnitte C3'lind- rischer Flächen. Gewönlich kommen solche Rollgelenke da vor, wo ein langer Knochen um einen anderen neben ihm gelegenen rotiert. Die Be- wegung geht in zwei Gelenken an beiden Enden jedes Knochens vor sich, wobei die Gelenkköpfe und -pfannen kreuzweise gelagert sind, d. h. wenn die Pfanne des einen Gelenkes sich an dem einen Ende des unbeweglichen Knochens befindet, so ist die Pfanne des anderen am entgegengesetzten Ende der Knochen befindlichen Gelenks am be- weglichen Knochen. In beiden Gelenken sind die Flächen kegelförmig oder cylindrisch. Ist zwischen zwei sich berührenden Knochen nur ein solches Gelenk, so können die Berührungsflächen elliptisch sein. Als Beispiel für die erste Art Rollgelenke, mit kegelförmigen Gelenkflächen, können die Gelenke zwischen den Vorderarmknochen dienen. Wo der bewegliche Knochen die höher gelegene Stütze berührt, da müssen die Gelenkflächen durchaus sphärisch sein, denn sonst wäre die Bewegung zwischen den angrenzenden Knochen unmöglich. Der Abschnitt einer solchen Kugelfläche kann sich auch gegen eine knorpelige Pfanne stemmen, jedoch nur am peripherischen, nicht am centralen Ende des Knochens. Dies kann nur an der oberen Extremität der Fall sein, da eine solche Pfanne wenig Widerstandsfähigkeit und Festigkeit besitzt. Die Bänder des Rollgelenks können nur schleifenförmig oder trans- versal sein, wobei sie, wenn die Gelenkflächen kegelförmig sind, ge- wöhnlich schräg gelagert sind, indem sie mit einem Rande dem Knochen näher anliegen, damit der letztere nicht in longitudinaler Richtung gleiten könne. Die Bewegung der Rollgelenke sind die Vorwärts- und die Rück- wärtsrotation. Rückwärtsrotation (supinatio) heisst eine in einer Hori- — 160 — zontalebene ausgeführte Bewegung, wobei sich die Frontalfläche des Körpers oder der Extremität von der Mittellinie des Körpers seitwärts bewegt; bei der Vorwärtsrotation (pronatio) aber kehrt diese Fläche zu ihrer ursprünglichen Lage zurück. Die diese Gelenke umgebenden Muskeln sind so gelagert, dass ihre Resultierende die Gelenkachse unter rechtem Winkel trifft; sie greifen niemals parallel zur Oberfläche an dem Knochen an, sondern gehen stets über den Rand des beweglichen Knochens hin- aus, denn sonst könnten sie keine Kraft entwickeln. Als Stütze dient den Muskeln stets der feststehende Knochen. Die Rotation unterscheidet sich von der Beugung dadurch, dass man bei derselben weniger Kraft entwickeln kann; es nehmen weniger Muskeln daran teil: sie haben ge- wöhnlich eine geringere Stütz- und Angriffsfläche, wobei sie sich nahe beim Stützpunct des Hebels, an dem sie wirken, demselben anheften. Infolgedessen zeichnen sie sich durch grössere Gewandtheit, d. h. grössere Zweckmässigkeit und Schnelligkeit der Actionen aus, mit ihrer Hülfe kann man sich dem zu überwindenden Widerstand vorteilhafter an- passen. Die Thätigkeit der rotierenden Muskeln ist mit grösserer Anstrengung verbunden, deswegen enthalten sie mehr Gefässe und Nerven. Ausser den Gelenken, welche durch die Rotation um eine Achse ent- stehen, kann man zu den einfachen Gelenken auch die mit sphärischen Berührungsflächen zählen. Eine Kugelfläche entseht bekanntlich durch die Rotation eines Halbkreises um einen beliebigen Durchmesser; in allen Fällen wird die Oberfläche des erhaltenen Körpers sphärisch sein. Da sich die Oberfläche eines solchen Körpers um jede der drei gegen- seitig perpendiculären Achsen bilden kann, so sind auch die Bewegungen um dieselben Achsen und überhaupt in allen Richtungen möglich. Die sphärischen Gelenke können frei oder straff sein. Bei der ersten Art, den freien Gelenken (arthrodiae, enarthrose der französischen Autoren), ist der Bewegungsbogen gleich der Differenz der Oberflächengrössen der Pfanne und des Kopfes. In den sphärischen Gelenken ist die Knochenpfanne nie grösser, als 160", im entgegen- gesetzten Falle würden die Pfannenlippen die Bewegungen hemmen. Da in solchen Gelenken Bewegungen in allen Richtungen möglich sind, so würden die Fortsätze des Kopfes zu Ende der Bewegung sich sets gegen die Knochenränder der Pfanne stemmen und würden die Stösse und Erschütterungen auf dieselbe übertragen, deswegen müssen diese Ränder stets von einem Knorpelring umgeben sein. Letzterer besteht aus Bindegewebsknorpel und ist so gebaut, dass er Festigkeit mit Be- weglichkeit vorteilhaft vereinigt. Dieses wird dadurch erreicht, dass der Knochenrand der Pfanne stets wellenförmig ist, während der Knorpelring gleichmässig endet; wo sich ein Vorsprung des Knochen- randes befindet, da ist der Knorpelring niedriger und sitzt auf einer — 161 — breiten Basis, wo aber der Knochenrand concav ist, dort ist der Knorpel- ring höher und sitzt auf einer schmalen Basis. Ausserdem durchkreuzen sich die Fasern des Bindegewebsknorpels, so dass die Stösse durch schräge Fasern gehen, wodurch die Einwirkung der mit der Bewegung verbundenen Erschütterungen vorteilhaft verringert wird. Die Knorpel- ringe befinden sich gewöhnlich unter dem Einfluss von Muskeln, deren Sehnen in ihnen enden und sie anspannen. Bei grossen Pfannen, wo möglichst grosse Festigkeit erforderlich ist, kann der Knorpelring über den Äquator des Kopfes hinausgehen, jenseits des Äquators aber kann sich noch ein häutiger Ring befinden, der aus circulären Binde- gewebsfibrillen, welche von zwei entgegengesetzten Seiten am Knochen- rand befestigt sind, damit bei der Bewegung die Ringe nicht herab- gleiten und hemmend wirken, besteht. In den Gelenken mit kleinen Pfannen können ergänzende, membranöse Pfannen vorkommen, welche zwischen den Knochenstützen in Form von einem die Richtung des Sehnenbogens rechtwinklig durchkreuzenden Bogen ausgespannt sind; gegen ihren freien Rand stossen die Knochen zu Ende der Bewegung, und deshalb befindet sich dieser Rand unter dem Einfluss von Muskeln. Als Beispiel einer solchen Pfanne kann das Ligamentum coraco-acro- miale dienen. Die Bewegungen in den sphärischen Gelenken sind nach allen Seiten hin möglich, deshalb muss der Gelenkkopf nach allen Seiten hin eine Stütze haben, so dass, wenn die Pfanne perpendiculär stünde und direct nach aussen gerichtet wäre, vorn, hinten und aussen eine acces- sorische Stütze hinzukommen müsste; eine solche Stütze können ohne Hemmung der Bewegung nur die eine Fortsetzung der Muskeln bilden- den Sehnenbögen gewähren. Wären solche Bögen von drei Seiten gelagert, so w^äre das mit grossem Verlust verbunden; deswegen enthalten diese Gelenke nur einen solchen Bogen, dafür aber liegt die Pfanne in einer zur Resultierenden zweier Richtungen, der sagit- talen und frontalen, perpendiculären Ebene, indem sie auf solche Weise von hinten und innen Widerstand leistet; der Sehnenbogen aber ist in der Ebene des Knochens, an dem sich die Pfanne be- findet, über das Gelenk gespannt, so das er vorn und aussen Wider- stand leistet. Da in den Gelenken mit sphärischen Articulationsflächen nach allen Seiten Bewegungen möglich sind, so sind hier gewöhnlich keine accessorischen Bänder vorhanden, es kommen nur an den Stellen, wo der Gelenkkopf stärker auf die fibröse Kapsel drückt und wo die Schicht der das Gelenk umgebenden Muskeln dünner ist, Wülste in' der fibrösen Kapsel vor. Die Fibrillen dieser Wülste verlaufen gewöhnlich schräg oder sind spiralförmig gewunden. Die das Gelenk umgebenden Muskeln bestehen gewöhnlich nur aus zwei paar Gruppen, von denen 11 — 162 — ein Paar die Bewegungen um die transversale und die sagittale Achse, d. h. um die in der Horizontalebene liegenden Achsen besorgt. Die Fasern dieser Muskeln sind schräg, divergierend, man kann von vier Seiten eine Resultierende zu ihnen ziehen und deshalb sind sie imstande, um zwei Achsen zu wirken, und zwar bei der Beugung und Streckung um die transversale Achse, bei der Abduction und der Adduction um die sagittale Achse. Das zweite Paar Muskeln ist in longitudinaler Eichtung am beweglichen Knochen befestigt, besteht gleichfalls aus schrägen Fasern, deren Resultierende die Längenachse unter rechtem Winkel trifft, und greift gewöhnlich näher zur Stütze und weiter von dem Widerstand an. Diese Muskeln führen die Vor- wärts- und Rückwärtsrotation aus. Die in diesen Gelenken mögliche Abduction (abductio) ist eine Bewegung, bei welcher der Teil sich von der Mittellinie des Körpers oder der Extremität entfernt und dabei einen Winkel mit der Sagittalebene bildet; bei der Adduction (ad- ductio) kehren die Teile in ihre ursprüngliche Lage zurück. Ausser diesen Bewegungen sind in den sphärischen Gelenken noch Kreis- bewegungenoder peripherische Bewegungen (circumductio) vorhanden, welche durch schräge Fasern um zwischen den drei Hauptachsen liegende Zwischenachsen ausgeführt werden. Unter all' diesen Bewegungen kann man die grösste Gewandtheit bei den Kreisbewegungen und den Rotationen, die meiste Kraft aber bei der Beugung und Streckung, darauf der Abduction und der Adduction entwickeln. Die Gelenke mit sphärischen Articulationsflächen zeichnen sich durch maximale Verschiedenheit der Bewegungen, aber dafür durch verhältnismässig geringe Festigkeit und Leistungsfähigkeit aus; letztere wächst durch die Teilnahme von Muskeln, welche um so grösser sein muss, je mehr man seine Muskeln zu regieren versteht. Da die Muskeln in einem solchen Gelenk durch ihre einzelnen schrägen Bündel wirken können, was grosse Anstrengung und starken Materialaufwand hervorruft, so findet man in ihnen viele Gefässe und Nerven. Die zweite Art, die straffen Gelenke (amphiarthrosis, arthrodie der französischen Autoren) können gleichfalls sphärische Gelenkflächen, nur mit grossen Bogenradien, haben; die Oberflächen der Pfannen und des Kopfes sind in solchen Gelenken gleich, und deshalb ist der Be- wegungsbogen gleich Null. In den straffen Gelenken findet man gleich- falls Abschnitte elliptischer, parabolischer und hyperbolischer Flächen; die letzteren stellen in gleichem Volumen eine grössere Oberfläche dar, und sind daher fester, für den Widerstand gegen die Stösse und Erschütte- rungen aber weniger vortheilaft. Diese Gelenke lassen keine Bewegung zu, doch sie ersetzen einen continuierlichen Knochen, und da die Berührungs- flächen von einer mehr oder weniger dicken Schicht sich durch Elasticität — 163 — auszeichnenden Knorpel bedeckt sind, so leisten sie zugleich den Stössen und Erschütterungen Widerstand. Nachdem hier nun der Zusammenhang zwischen der Entwickelung einer bestimmten geometrischen Form der Gelenkflächen und den zwischen ihnen möglichen Bewegungen erklärt worden ist, wollen wir sehen, wie man die Form einer gegebenen Gelenkfläche bestimmt. Zu diesem Zwecke fertigt man sowohl am Gelenkkopf, als auch von der Pfanne Abgüsse (Negative); aus ihnen erhält man darauf Positive, und diese unterwirft man der Untersuchung. Um ein Negativ zu erhalten, nimmt man einen frisch präparierten und von Bändern gereinigten Knochen, trocknet die Knorpelfläche desselben mit einem weichen Lappen ab und bestreicht sie mit einer dünnen Ölschicht; man bedeckt den- selben erst von einer Seite mit Gypsmasse von der Consistenz von zähem Syrup; die Ränder der Gypsmasse werden geebnet, es werden ihnen einige Vertiefungen eingedrückt und sie darauf mit in Petroleum gelöstem Stearin bestrichen; hierauf bedeckt man die übrigen Seiten des Knochen mit Gypsmasse, je nachdem, aus wieviel Stücken man das Negativ zusammenstellen will. Der Gyps giebt, sich verhärtend, einen richtigen negativen Abdruck. Die Innenfläche des Negativs wird mit der Stearinlösung bestrichen, in diese Form wird Gypsmasse von der- selben Consistenz, wie früher, eingegossen- und man erhält das Positiv. Nach einem Negativ kann man die erforderliche Anzahl von Positiven herstellen. Genauere Abgüsse erhält man durch Leimnegative, welche folgendermassen hergestellt werden. In einen Papiercylinder setzt man ein cylindrisches Glasgefäss von kleinem Durchmesser und giesst da- rauf in den Raum zwischen beiden dicke Gypsmasse, so dass man eine krugartige Gypsform erhält, die man darauf in zwei Teile durchsägt. Ehe noch die Gypsmasse hart geworden ist, macht man an der Innen- fläche derselben Eindrücke, damit man später das Negativ leichter in seiner anfänglichen Lage hineinlegen kann und einer Formveränderung desselben vorbeugt. Die Gypsform wird zusammengebunden, der Knochen wird so in einem Stativ befestigt, dass er sich in dem Innern der Gyps- form befinde, und wird darauf mit aufgelöstem und darauf zum Erkalten gebrachten Leim (25 bis 30" C.) Übergossen. Nach ein bis zwei Stunden werden die Hälften der Gypsform auseinandergenommen, und man zer- schneidet darauf, der Grösse und Form des Knochens gemäss, das fest- gewordeue Leimnegativ in zwei oder mehr Stücke. Die erhaltene Form wird mit Alaunlösuug bestrichen und mit Talkpuder bestreut, wo- rauf man vorsichtig den Überschuss des letzteren entfernt; darauf be- streicht man sie mit in Terpentin gelöstem Stearin, legt die Teile des Negativs wieder in die Gypsform und giesst Gypsmasse hinein, um das Positiv zu erhalten. Diese Methode ist besonders dadurch vorteilhaft, dass sie die feinsten Abdrücke des Originals giebt, jedoch muss man 11* — 164 — nach, solcli; einem Negativ sogieicli die nötige Anzahl Positive fertigen, denn sonst verliert der Leim, wenn er trocknet, seine Elasticität und seine Form. Man verfertigt mehrere Abgüsse, um die für die Untersuchung nötige Anzahl von Schnitten erhalten zu können. Gewöhnlich werden die Schnitte in drei gegenseitig perpendiculären Richtungen ausgeführt, in einigen Richtungen verfertigt man sogar mehrere parallele Schnitte. Natürlich werden die Hauptschnitte am Knochen ausgeführt, und über- haupt vergleicht man nach Möglichkeit die Schnitte an den Abgüssen mit denen am Knochen. Um z. B. die Oberfläche eines Rollgelenks zu bestimmen, fertigt man in sagittaler Richtung dort, wo die hervortreten- den Teile und Vertiefungen sich befinden, oder einfach in bestimmten Entfernungen, z. B. nach je 5 mm., mehrere parallele Schnitte an. Der Bogen, der die Durchschnittsfläche begrenzt, wird aufs Papier über- tragen, wo dann der Radius und das Hauptcentrum desselben auf- gefunden und zugleich die Grösse des Bogens bestimmt wird. Der nächste frontale Durchschnitt wird gleichfalls auf Papier übertragen; die die Oberfläche des Durchschnitts begrenzende krumme Linie ist die Erzeugungslinie: von ihr aus trägt man an den Stellen der ersten Durchschnitte die dort erhaltenen Radien ab; die Verbindung der End- puncte derselben ergiebt eine Linie, welche der Achse entspricht. Die Gelenkenden mit sphärischen Gelenkflächen werden durch Schnitte in nicht weniger als drei gegenseitig perpendiculären Richtungen be- stimmt. Dieselbe Analyse nimmt man mit dem Pfannenpositiv vor, und aus der Differenz des Kopf- und des Pfannenbogens bestimmt man die Bewegungsbögen in allen drei Richtungen, in welchen die Schnitte ausgeführt wurden. Aus allem oben Gesagten erhellt der genetische Zusammenhang zwischen der Form der Gelenkflächen und den möglichen Bewegungen in den einfachen Gelenken und ebenso, wovon die Grösse dieser Be- wegung abhängt. Zugleich mit der Bestimmung der Bewegung ist es, wie sich erweist, nicht schwer, den Zusammenhang zwischen der Be- wegung und der Lagerung der accessorischen Bänder des gegebenen Gelenkes sich zu erklären. Wie man sich den Zusammenhang zwischen der Form der Gelenk- flächen, den Bewegungen und den accessorischen Bändern erklären konnte, ebenso war es möglich, die Lagerung der das Gelenk umgeben- den Muskeln zu verfolgen und mit diesen Factoren in Zusammenhang zu bringen. Unter den Gelenken ist es nicht schwer, solche zu unter- scheiden, in welchen die Festigkeit des Baues auf Kosten der Mannig- faltigkeit und der Grösse der Bewegungen vorwiegt, in anderen aber beobachtet man gerade das Umgekehrte; man sieht dieses z. B. beim Vergleichen der Gelenke der oberen und der unteren Extremität: an — 165 — der ersten findet man mehr Mannigfaltigkeit und Grösse der Be- wegungen, an der zweiten grössere Festigkeit des Baues; auch wenn man die Gelenke des Rumpfes und des Kopfes vergleicht, kann man dasselbe bemerken. Wenn aber ein Unterschied in dem Bau und der Grösse von Skelett und Gelenken vorhanden ist, so muss notwendiger- weise auch das Verhältnis der das Gelenk umgebenden Muskeln ver- schieden sein. In der That haben Untersuchungen, welche in dieser Richtung vorgenommen wurden und durch eine Reihe von Messungen und möglichst genauen Verificationen bestätigt worden sind, gezeigt, dass ein solcher Unterschied besteht, wie das bei der Behandlung der Muskeln auch erklärt werden wird. In den einfachen Gelenken mit einer Bewegungsachse durchkreuzen die die Bewegungen ins Werk setzenden Muskelgruppen mit ihren Fasern oder, was häufiger ist, mit ihrer Resultierenden die Bewegungs- achse unter rechtem Winkel, so dass diese Resultierende entweder in verticaler Richtung zu beiden Seiten der Horizontalachse, oder in hori- zontaler Richtung zu beiden Seiten der Verticalachse verläuft. Wenn die beiden Horizontalachsen zu einander perpendiculär sind, so genügen zwei Paar Muskeln, deren in verticaler Richtung verlaufende Resul- tierende sich zu beiden Seiten der Hauptachse (um welche der Be- wegungsbogen grösser ist) oder der Achse, wo die Stütze günstiger gelagert ist, befinden. Bei der Bewegung um die zweite Achse ver- ändert die Resultierende in der Weise ihre Lage, dass in diesem Falle jederseits die Hälfte der hier gelagerten Muskelgruppen gleichzeitig wirkt, und diese beiden Hälften haben ihre neue Resultierende. Selbst- verständlich müssen um ein sphärisches Gelenk sowohl Muskelgruppen, welche vertical gelagert sind und die Bewegungen um die in der Hori- zontalebene gelagerten Achsen ausführen, als auch Muskeln, die in horizontaler Richtung verlaufen und die Hebel um die Verticalachse in Bewegung setzen, vorhanden sein. Alle diese Muskeln wirken in der Richtung der Resultierenden und bilden daher Muskelgruppen, welche aus schrägen Bündeln bestehen und das Gelenk fächerförmig umgeben. Mit der Form der Gelenkflächen, der Lagerung der Bänder und der umgebenden Muskeln kann man, wie bereits gesagt, auch die Ver- teilung und den Entwickelungsgrad der Gefässe und Nerven in Zu- sammenhang bringen. Je reger die Thätigkeit eines Organs ist, um so grösser ist auch der Verlust in einer bestimmten Zeitdauer, je grösser aber der Verlust, desto mehr bedarf das verbrauchte Material der Wiederherstellung; deshalb befindet sich dort, wo eine Muskelgruppe mit grösserer Spannung wirkt, ein grösseres Gefässnetz, und das Blut fliesst in diesen Gefässen unter stärkerem Druck. Das Gefässsystem dieser Organe oder Körperteile muss diesen Bedingungen entsprechend — 166 — construiert sein. Eine derartige Meinung findet in der That ihre Be- stätigung, i) Dasselbe kann man auch in betreff des Nervensystems sagen: wenn die einen Muskelgruppen mit grösserer Spannung und mehr Nuancen der Bewegung wirken, so muss man in ihnen mehr die einzelnen Be- wegungen isolieren und sie mehr variieren, d. h. man muss sich der Überwindung der Hindernisse mehr und vorteilhafter anpassen. Um aber die einzelnen Bewegungen mehr zu isolieren, muss man eine grössere Anzahl zu den Organen, wo diese Bewegungen vor sich gehen, führender Leiter haben. Die Untersuchungen von Dr. Woischwillo -) haben erwiesen, dass die Augenmuskeln am reichlichsten mit Nerven- leitern ausgestattet sind (das Verhältnis der Nervenfasern zu den Muskelfasern ist hier == 1:14,9 — 1:18,9); die Augenmuskeln über- treffen in dieser Hinsicht die Muskeln der oberen Extremität 12,4 — 15,8 mal und die der unteren Extremität 19,8—25,1 mal. Solche Verhält- nisse, wie sie zwischen den Muskeln und Nerven in der unteren Ex- tremität bestehen, kommen an der oberen Extremität nicht vor; so ist z. B. dieses Verhältnis für den M. gastrocnemius und soleus zusammen mit dem sogenannten M. plantaris == 1:2273,0. Auf diese "Weise kann man also, wenn man die geometrische Form der Gelenkflächen kennt, die im gegebenen Gelenk möglichen Be- wegungen, die Grösse der Bewegungsbögen, die Bänder und Muskeln und sogar die Art der Lagerung und den Durchmesser der Gefässe und Nerven vorausbestimmen. Die complicierten Gelenke. Nach der Betrachtung der ein- fachen Gelenke wollen wir nun die complicierten untersuchen. Com- plicierte Gelenke sind solche, deren Gelenkflächen durch eine mehr oder minder vollständige Zwischenlage von einander getrennt sind. Eine solche Zwischenlage können, wie bereits gesagt, bilden: Flüssig- keit (Synovia), Synovialzotten, -fortsätze und -falten, Bindegewebs- oder Knorpelschichten, ein Knochen oder mehrere, die zu einem Menisk (Platte) verbunden sind. An solche Zwischenplatten oder Menisken heften sich keine Muskeln an oder nehmen von ihnen ihren Anfang, höchstens in dem Falle, wenn der Muskel als Bestandteil des Menisks erscheint. In allen übrigen Beziehungen kann man bei ihnen alles von den ein- fachen Gelenken Gesagte anwenden. In den complicierten Gelenken sind auch nur um die Achse Bewegungen möglich, um welche die ge- gebene Gelenkfläche gebildet worden ist. Schon H. Meyer ^) schlug 1) P. Lesshaft. Protocolle der Ges. russischer Ärzte. Jahrg. 1883—1884 (russisch). 2) Zur Frage über das Verhältnis des Nervencalibers zur Haut und zu den Muskeln beim Menschen. Dissertation. St. Petersburg. 1883 (russisch). 3) Lehrbuch d. phys. Anatomie. Leipzig. 1861, pag. 49 — 50. — 167 — vor, die einfachen Gelenke in einachsige, zweiachsige, dreiachsige und vielachsige einzuteilen. Wie mir früher schien, kann man damit über- einstimmen, weitere Untersuchungen jedoch haben bewiesen, dass die zweiachsigen Gelenke nicht einfach sein können, sondern unbedingt compliciert sein müssen. Früher sagte ich, dass die Gelenke mit ellip- tischen, parabolischen und hyperbolischen Oberflächen zu den einfachen Gelenken, in denen die Bewegungen um zwei Achsen, welche in ein und derselben oder in parallelen Ebenen liegen und gegenseitig per- pendiculär sind, vor sich gehen, gehören^). Hält man sich jedoch an den genetischen Zusammenhang zwischen der Bildung einer geome- trischen Form der Gelenkflächen und den zwischen ihnen möglichen Bewegungen, so überzeugt man sich von der Unmöglichkeit einer solchen Bewegung im einfachen Gelenk. In der That können Körper mit elliptischen, parabolischen und hyperbolischen Oberflächen nur durch die Bewegung der Erzeugungslinie um eine Achse gebildet werden, und folglich müssen alle Gelenke mit solchen Articulationsflächen zu den einfachen Gelenken mit einer um eine Achse entstandenen Rotations- fläche und also auch mit Bewegung um diese eine Achse gehören. Sind in ihnen aber noch Bewegungen um eine andere Achse vorhanden, so ist dieses nur in einem complicierten Gelenk möglich, dessen Gelenk- flächen durch irgend eine Zwischensubstanz oder Zwischenlamelle von einander getrennt sind. Wenn man die Gelenke mit Bewegungen um zwei Achsen, die in einer oder parallelen Ebenen liegen und gegenseitig perpendiculär sind, wie z. B. die Zehenmetatarsal-, Fingermetacarpal- Handgelenke oder andere untersucht, so kann man sich in der That überzeugen, dass es complicierte Gelenke sind, und dass zwischen ihren Gelenkflächen in den einen Synovial fortsätze und -falten, in den anderen ausserdem noch eine Reihe Knochen mit Zwischenknochenbändern ge- lagert sind. Die complicierten Gelenke sind hauptsächlich dadurch ausgezeichnet, 1) dass in einem verhältnismässig geringen Volumen bei der Bewegung die Stützfläche gross ist; 2) dass die Veränderung der Oberflächenform die Möglichkeit giebt, die Bewegungen mehr zu variieren; 3) dass die Vereinigung verschiedener Gewebe in denselben die Stösse und Er- schütterungen günstig mildern kann, und 4) dass ihre geringe Festig- keit und Widerstandsfähigkeit stets durch die Teilnahme der Muskeln compensiert wird. Betrachten wir nun diese Eigenschaften im Speciellen, vordem aber wollen wir ein wenig auf der Beschreibung und der Er- klärung der Bedeutung verschiedener synovialer Bildungen in den com- plicierten Gelenken stehen bleiben. 1) Die Verbindung der Knochen miteinander. Medic.'Bibl. 1882. April, pag. 12 und 13 (russisch). — 168 — In den complicierten Gelenken kommen Fortsätze der Innenfläche der Synovialkapsel als Synovialzotten, Synovialfortsätze und Synovial- falten vor. Unter dem Namen Synovialzotten beschreibt man faden- förmige Fortsätze der Synovialkapsel, welche sich zwischen den Gelenk- flächen ausbreiten; sie verästeln sich zuweilen oder bilden stellenweise blasenförmige Auswüchse, welche mit Flüssigkeit angefüllt sind (Henle); in diese Zotten, die von Endothelialelementen bedeckt sind, treten elastische Fasern ein. Die Synovialfortsätze sind in ihren Dimen- sionen grösser; sie sitzen stets an einer dünnen Basis, enthalten Züge von Bindegewebs- und elastischen Fibrillen, ebenso wie auch Fett und Gefässschleifen; man kann sie mit blossem Auge leicht unterscheiden; ihre Grösse variiert sehr. Die Synovial falten sitzen stets an einer breiten Basis, ihre Grundlage besteht gleichfalls aus Bindegewebe und elastischen Fasern, zuweilen aber kommen in ihnen festere Teile mit Knorpelelementen vor; sie enthalten auch Fett und Gefässschleifen. An Dimensionen sind sie die bedeutendsten und lagern sich oft zwischen den sich einander nähernden Knochenenden oder -rändern. Je mehr Gefässe in allen diesen Fortsätzen der Synovialkapsel enthalten sind, um so mehr können sie nicht nur ihre Form, indem sie sich den Ge- lenkflächen anpassen, sondern auch ihr Volumen verändern; letzteres findet statt, wenn sie von den Gelenkflächen enger zusammengepresst werden. Wenn die Gelenkpfanne mehr als 90" beträgt, so muss eine Zwischenlage in Form von Synovia, Synovialzotten, -fortsätzen und -falten, je nach der Grösse der Pfanne und des Bewegungsbogens, vorhanden sein; eine solche Zwischenlage wird die Einwirkung der mit den Bewegungen verbundenen Stösse und Erschütterungen vermindern. Solche Zotten, Fortsätze und Falten, letztere zuweilen mit Knorpel- elementen , kommen stets in den Gelenken mit Bewegungen um zwei Achsen, die zu einander perpendiculär sind und in ein und der- selben oder in parallelen Ebenen liegen, vor; zuweilen bildet aber auch noch Synovia eine Zwischenschicht, von deren Vorhandensein man sich durch Gefrierenmachen überzeugen kann. Die Fortsätze der Synovialkapsel schieben sich zwischen die Articulationsflächen ein und machen dadurch Bewegungen um zwei Achsen möglich, so dass die eine Oberfläche, die des Kopfes, um eine, die andere aber, die des Kopfes zusammen mit den Synovialfortsätzen, um die zweite Achse gebildet ist. Hierher gehören die Gelenke mit elliptischen und mit sattelförmigen Flächen. Die ersten Gelenke (condylarthrosis-Cruveilhier) werden gewöhnlich durch Abschnitte elliptischer (Ringflächen) oder parabolischer Flächen gebildet; in ihnen beflnden sich stets zwischen der Pfanne und dem Kopf synoviale Fortsätze und auch Synovia. Die Gelenke mit sattelförmigen Gelenkflächen (pedarthrodie) werden von Abschnitten hyperbolischer Flächen gebildet; in ihnen sind ebensolche — 169 — Zwischenlagen, wie in den vorhergehenden Gelenken^ vorhanden. Die Bewegungen in beiderlei Gelenken geschehen um zwei Achsen, als Beugung und Streckung, Abduction und Adduction, und auch als Kreis- bewegungen; nur ist im ersten Gelenk bei gleichem Volumen und bei gleicher Achse die Stützfläche kleiner, im zweiten aber grösser, so dass die erste Form dort auftritt, wo weniger Kraft, die zweite dort, wo mehr Kraft entwickelt wird. So findet man die erste Form in den Fingermetacarpalgelenken, die zweite im Daumencarpalgelenk. In solchen Gelenken kommen oft schräge Seitenbänder vor, welche bei gewisser Stellung die zweite Bewegung, die einen geringeren Bewegungsbogen hat, einschränken; bei einer solchen Einschränkung der Bewegung be- finden sich diese Bänder stets unter dem Einfluss von Muskeln. Die Bewegungen werden in einem solchen Gelenk gewöhnlich von einem Paar aus schrägen divergierenden Fasern bestehenden Muskeln aus- geführt. Es ist nicht schwer, jenen Hauptvorzug der complicierten Gelenke vor den einfachen, dass sie nämlich, worauf oben hingedeutet war, in verhältnismässig geringem Volumen bei sonst gleichen Bedingungen eine grössere Stützfläche besitzen, darzuthun. Es wurde bereits gesagt, dass der Bewegungsbogen von der Differenz zwischen Kopfbogen und Pfannenbogen abhängt. Je kleiner folglich die Pfanne, desto grösser ist der Bewegungsbogen, je kleiner aber andererseits die Pfanne, desto geringer ist die Stütze und um so geringere Kraft kann man entfalten. Stellen wir uns nun vor, dass im gegebenen Gelenk der Umfang der Bewegung 140*^ betrage; wenn in diesem Falle die Pfanne ^o des Kopfes ausmachen sollte, so müsste sie 140**, der Kopf aber 280 "^ messen. Ein so grosser Kopf vergrössert die ^^' * äusseren Dimensionen des Gelenkes bedeutend, wobei die verhältnismässig geringe Pfanne, da sie nur wenig Stütze bietet, grosse Kraftentfaltung nicht zulässt und die Festig- keit der ganzen Verbindung vermindert. Wenn man sich aber nun zwischen einer solchen Pfanne und einem solchen Kopf eine Lamelle (bc Fig. 37) denkt, deren zur Pfanne gerichtete Oberfläche b convex und deren andere den Kopf berührende Oberfläche c concav ist, so kann man leicht bemerken, dass der Kopf viel kleiner sein kann, während der Flächeninhalt der einander berühren- den convexen und concaven Flächen bei demselben Bewegungsbogen und geringerem Volumen der ganzen Verbindung grösser sein kann. Nehmen wir an, dass die eine Pfanne (a) 120*^ misst, die ihr ent- sprechende convexe Seite der Lamelle (b) = 190 "^ ist, die concave Seite der Lamelle (c) betrage 110" und der sie berührende Kopf (d) 180°; addiert man den Kopf mit der convexen und die Pfanne mit der — 170 — concaven Seite des Menisks (oder der Lamelle), so erhält man einen Kopf von 370" und eine Pfanne von 230" bei einem Umfang der Be- wegung von 140". Die Gelenkpfanne ist also um 90" grösser ge- worden, wodurch die Stütze und die Möglichkeit, mehr Kraft zu ent- wickeln, vergrössert wurde ; jetzt bleibt nicht an einer Stelle des Kopfes eine Fläche von 140" frei, sondern der grösste, keine Stütze habende Teil beträgt nur 70"; hierbei kann in einem Gelenk die convexe Fläche nach einer Seite (z. B. der Volarseite) hingerichtet sein, im anderen aber zur entgegengesetzten (der Dorsalseite) was ohne Zweifel die Verbindung fester machen kann. In den einfachen Gelenken sind solche grosse Bewegung sbögen unmöglich, die Fälle ausgenommen, wo nur eine Bewegungsachse vorhanden ist; sind mehr Bewegungen möglich, so erreichen die Bewegungsbögen im einfachen Gelenk diese Grösse nicht; so betragen z. B. in einem der freiesten Gelenke, dem Schulter- gelenke, die Bewegungsbögen höchstens 70—80"; da die Stütze in diesem Falle bei einem grossen Umfang der Bewegung zu gering wäre, so würde das hindern, die Bewegungen mit genügender Kraft und Spannung aus- zuführen. Infolgedessen müssen also das Hand-, das Knie- und das Knöchelgelenk und andere complicierte, nicht aber einfache Gelenke sein. Bei grösserer Stütze und Widerstandsfähigkeit machen die com- plicierten Gelenke oft das Vorhandensein mehrerer Bewegungen in einem Gelenk möglich, sie lassen also mehr Mannigfaltigkeit in den Bewegungen zu. In der oberen Extremität, z. B. im Ellenbogengelenk ist nur Beugung und Streckung, und zwar mit sehr grossem Umfang (am lebenden Menschen etwa 143") möglich, während Rotation nur zwischen Radius und Ulna und auch mit grossem Umfang (130") vorhanden ist. In der unteren Extremität, wo vor allem Festigkeit der Verbindung und Leistungsfähigkeit erforderlich sind, sind alle diese Bewegungen im Kniegelenk allein, wo ausser Beugung und Streckung mit einem Umfang von 145 bis 150" noch andere Bewegungen um eine zur ersten perpendiculären Achse vorhanden sind, concentriert. Solche Bewegungen sind nur in Gelenken mit sphärischen Articulationsflächen möglich, bei einem so grossen Bewegungsbögen aber wäre ihre Festigkeit und Leistungsfähigkeit zu gering, ein solches Gelenk könnte sich nicht an einem Körperteil, der dem ganzen übrigen Organismus als Stütze dient, befinden. Allen diesen Bedingungen kann jedoch im complicierten Ge- lenk Genüge geleistet werden. Und in der That trifft man hier trans- versale Knorpellamellen oder Menisken, welche das Gelenk in einen oberen und einen unteren Abschnitt teilen, und longitudinale membranöse Lamellen (lig. cruciata), die jeden Abschnitt vsdeder in eine äussere und eine innere Hälfte teilen. In mechanischer Beziehung bilden sich hier also vier Gelenke, welche durch Knorpel und membranöse Lamellen von einander geschieden sind. — 171 — Beugung und Streckung geht hauptsächlich in den oberen Ab- schnitten der Gelenke, zwischen der unteren Fläche des Femur und den Knorpellamellen vor sich. Bei dieser Bewegung werden die Gelenkflächen hauptsächlich durch die fast fächerförmigen Seitenbänder des inneren Gelenks, des Lig. laterale genu internum s. mediale und des Lig. crucia- tum posterius, an einander gehalten, wenn sich aber die Extremitäten der Stellung, welche sie einnehmen, um den Körper als Stütze zu dienen, nähern, so würde das Gelenk noch durch die Teilnahme der beiden übrigen Bänder, des Lig. laterale genu externum und des Lig. crnciatum anterius, fixiert. Selbstverständlich können diese Bänder bei normalen Bedingungen nie die Grenze ihrer Ausdehnbarkeit erreichen, da diesem die sie umgebenden Muskeln vorbeugen. Die Rotation ist hauptsächlich im äusseren Gelenk möglich, wenn die dasselbe umgebenden Bänder (das lig. laterale genu externum und das lig. cruciatum anterius) nach- lassen; die Rotation kann nur bei der Teilnahme der Semilunarknorpel, indem ihre unteren Flächen über die obere Fläche der Tibia gleiten, stattfinden. Diese Bew^egung ist dann möglich, wenn die Extremität nicht vom Körper belastet wird und wenn die Semilunarknorpel von verschiedener Dicke sind, wobei der Knorpel, unter dem die Bewegung vor sich geht, dicker sein muss. Die verschiedene Dicke der Knorpel lässt bei der Belastung von Seiten des Körpers das Vorhandensein einer gebrochenen Achse, welche ohne Compensation mit Hülfe des Knorpels die Bewegungen im Gelenk unmöglich macht und den ge- gebenen Körperteil in eine feste Säule verwandelt, zu. Ist der Druck auf das Gelenk beseitigt, so verwandelt der Knorpelmenisk, indem er an Dicke zunimmt, die gebrochene Achse in eine schräg gelagerte, und es tritt Beweglichkeit auf. Ein solcher Knorpel kann, seine Lage ver- ändernd, eine gebrochene Achse, welche einen nach vorn offenen Winkel bildet, ausgleichen, wie z. B. im Kiefergelenk. Bei einer solchen Achse kann sich der compensierende Knorpel, wie das in der Verbindung der Rippen mit den Wirbeln vorkommt, nicht in dem Gelenk selbst, sondern an der Peripherie des Bogens, welcher dank der Elasticität des Knorpels im- stande ist, sich zu erweitern und zu verengern, wobei der Bogen durch das Auseinandertreten seiner Teile an den Lagerungsorten des Knorpels sich in transversaler Richtung erweitert und seinen Sagittaldurchmesser ein wenig vergrössern kann, befinden. Endlich kann eine beweglichere Knorpellamelle bei vermindertem Druck eine sphärische Pfanne bilden und dadurch accessorische Bewegungen um die Verticalachse möglich machen. Wie begreiflich, muss der seine Form und Dicke verändernde Knorpel in dem beweglichsten Teil durch einen über denselben hinweg- gehenden Sehnenbogen befestigt werden, wie man das z. B. im äusseren Knorpel des Kniegelenks, der durch die Sehne des M. popliteus in seiner Lage gehalten wird, sehen kann. Im letzteren Falle macht die Knorpel — 172 — laraelle die Bewegungen im Kniegelenk mannigfaltiger, gestattet, sich der Überwindung der Hindernisse besser anzupassen, und fördert folglich die Gewandtheit der Bewegungen. Doch dienen die Knorpellamellen inr diesen Gelenken, abgesehen davon, dass sie die Bewegungen mannigfaltiger machen und die Berührungsfläche vergrössern, auch noch zu anderen Zwecken. Schon die Gebrüder Weber ^) fanden bei ihren Untersuchungen des Knie- gelenks, dass diese Knorpel, indem sie sich zwischen den Gelenkenden des Femur und der Tibia lagern, 1) den zwischen ihnen frei bleibenden Zwischenraum ausfüllen und auf diese Weise ebenso, wie ein Kranz, den man sich beim Tragen von Lasten auf den Kopf legt, den Druck auf eine grössere Fläche verteilen; 2) durch ihre Elasticität beim Gehen und bei Bewegungen die Stösse und Erschütterungen vermindern; 3) die Seitenbänder in einer gewissen Spannung erhalten, und zwar bei Ausdehnung ihre Spannung vermindern und bei Erschlaffung sie aus- dehnen: wenn nämlich die Bänder bei einer bestimmten Stellung der Gelenkenden gespannt sind, so werden die zwischen ihnen befindlichen Knorpellamellen comprimiert, sie verringern den zwischen den Enden befindlichen Raum und auch die Spannung der Bänder, indem sie deren Enden einander nähern; wenn jedoch die Seitenbänder schlaff sind, so werden die Knorpel nicht zusammengepresst ; in diesem Falle nehmen sie dank ihrer Elasticität an Dicke zu, schieben die Gelenkenden und also auch die Enden der Bänder auseinander und spannen folglich die letzteren. Ein derartiges Verhältnis der Knorpel zu den Bändern be- wirkt ein festeres Aneinanderliegen der Gelenkenden und lässt nicht zu, dass diese Enden bei Bewegungen schlottern. Die Verbindung aller dieser günstigen Bedingungen ist nur in einem complicierten Gelenk mit einem Knorpelmenisk oder einer Zwischenlage von Flüssig- keit möglich. Nach den Gelenken mit synovialen Zwischenlagen und mit Knorpel- menisken sind nur noch die complicierten Gelenke mit einem Knochen- menisk zu betrachten; letzterer kann, wie bereits oben erwähnt wurde, aus einem grösseren Knochen oder aus mehreren kleinen Knöchelchen bestehen. Als Beispiele eines Gelenkes mit einer Knochenlamelle kann das Fussgelenk (Crurotarsalgelenk) dienen. Dasselbe lässt Bewegungen um drei gegenseitig perpendiculäre Achsen zu; solche Bewegungen sind nur in einem Gelenk mit sphärischen Articulationsflächen möglich. Zieht man jedoch in Betracht, dass die Umfange der Bewegungen in diesem Gelenk dennoch verhältnismässig gross sind (Bewegung und Streckung = 74,4", Abduction und Adduction = 25", Rotationen mit dem äusseren und inneren Fussrand == 29,4"), und dass dieses Gelenk in dem Falle, wenn die Extremität als Stütze dient, die ganze Körperlast tragen muss, 1) Mechanik der menschUchea Gehwerkzeuge. Göttingen. 1836, pag. 193 — 194, — 173 — kann man ein einfaches Gelenk nicht zulassen ; hier muss ein complicier- tes Gelenk mit einem sehr festen Menisk, der jedoch, wenn man auf der Fusspitze steht, der Einwirkung der Stösse und Erschütterungen Widerstand leisten könnte, sein. Alles dieses beobachtet man in der That am Fussgelenk: das hier befindliche Sprungbein ist der grösste Knochenmenisk unseres Körpers; über, vor und unter ihm befinden sich Gelenke, und aus der Summe der Bewegungen in letzteren erhält man die angeführten Umfange der Bewegungen. Hierbei vermindert die grosse Quantität Synovia im Hinterteil des oberen Gelenks und die Lagerung der Bänder (das lig. talo-tibiale posticum und das lig. talo- fibulare posticum) die Einwirkung der Stösse und Erschütterungen, besonders beim Stehen auf den Fussspitzen. sehr vorteilhaft. Die Synovia erscheint hier als flüssiger Menisk, sie schafft hier dieselben Bedingungen, von denen die Rede war, als die Bedeutung der Semilunar- knorpel im Kniegelenk betrachtet wurde. Das Vorhandensein eines flüssigen Menisk kann man stets beweisen, wenn man das Gelenk in einer bestimmten Lage zum Gefrieren bringt. Um mit einem Gelenk mit einem complicierten Knochenmenisk be- kannt zu werden, kann man als Beispiel das Handgelenk nehmen. Es weist Bewegungen um eine transversale und eine sagittale Achse auf; der Umfang der ersteren Bewegung beträgt 135 •* bis 140", der der zweiten beinahe 75". Was kann das für ein Gelenk sein? Bewegungen um eine dritte, verticale Achse sind nicht vorhanden; dieser Umstand schliesst die Möglichkeit eines sphärischen Gelenks aus. Hier ein sphärisches Gelenk anzuehmen, ist auch noch aus dem Grunde unmöglich, weil bei einem so grossen Bewegungsbogen (135") der Kopf sehr gross sein müsste (bis 270"), wobei er eine zu kleine Stütze (90") hätte. Auf Grund all' dieser Daten muss man die Möglichkeit des Vorhandenseins eines sphärischen Gelenks hier ausschliessen und annehmen, dass man hier nur ein compliciertes Gelenk haben kann. Wie kann nun der Hauptmenisk dieses Gelenks beschaffen sein? Als Stütze des ganzen Gelenks dient das untere Ende des Vorderarms, und zwar das erweiterte untere Ende des Radius mit dem Knorpelfortsatz nach der ulnaren Seite hin. Im Gelenk beobachtet man grosse Bewegungen mit verschiedenen Nuancen und Variationen. Je grösser und rascher aber die Bewegung ist, um so stärker sind die dieselben begleitenden Stösse und Erschütte- rungen. Unter solchen Bedingungen kann man eine membranöse oder Knorpellamelle nicht zulassen, da dieselben sich zwar durch Biegsamkeit und Elasticität auszeichnen, aber nicht die im gegebenen Falle erforder- liche Stütze bieten. Man kann nur noch annehmen, das der Menisk aus Knochen bestehe ; ein einzelner Knochen würde jedoch grosse Beweg- lichkeit ausschliessen, die Stösse und Erschütterungen leicht fortpflanzen und keine Nüancierung der Bewegung zulassen. Alle diese Bedingungen — 174 — werden leichter durch einen kleinen Knochen oder richtiger durch die Vereinigung- mehrerer kleiner Knöchelchen, welche durch Zwischen- knochenbänder an einander gehalten werden, erreicht. Sowohl die Be- rührungsflächen, als auch die oben und unten befindlichen Gelenkflächcn müssen mit Knorpel bedeckt sein; zwischen die Gelenkflächen können von Seiten der Kapsel Sj^iovialfortsätze und -falten dringen; endlich können die Räume zwischen den einzelnen Knochen von Synovia ausgefüllt sein. Alles dass muss bei summiertem Kopf und Pfanne die Bewegungen mit verschiedenen Nuancen und Übergängen mannigfaltiger machen und rasche Bewegungen zulassen, da die hierbei entstehenden Stösse und Erschütterungen durch die Biegsamkeit und Elasticität aller dieses Gelenk bildenden Gewebe und Substanzen bedeutend abgeschwächt werden. Untersucht man dieses Gelenk mit einem zusammengesetzten Menisk, so erweist sich, dass sich die Gelenkpfanne am unteren Ende des Radius und an der Oberfläche des Knorpels, der eine unmittelbare Fortsetzung desselben bildet, befindet. Der Menisk wird von den drei Knochen, der ersten Carpusreihe, dem Kahnbein, dem Mondbein und dem Pyramidenbein (das Erbsenbein gehört zu den Sesambeinen und hat zur Bildung dieses Gelenks gar keine directe Beziehung) mit den sie ver- bindenden Zwischenknochenbändern, den Ligamenta interossea lunato- scaphoideum und lunato-pyramidale, gebildet. Den Kopf bildet die zweite Reihe der Carpalknochen, die mit den Basen der Metacarpal- knochen durch straflFe Gelenke und Zwischenknochenbänder fest ver- bunden sind. Muskeln heften sich nicht an den Menisk, und die Knochen desselben sind mit den höher und niedriger gelegenen Teilen nur durch schräge und gerade Bänder verbunden. Im oberen Gelenk (zwischen der Pfanne und der convexen Menisk- fläche) müssen diejenigen Bewegungen, bei denen man im gegeben Ge- lenk die meiste Kraft entfaltet, vor sich gehen, denn die Pfanne des oberen Gelenks wird durch den Knochen, in dem die Hauptstütze des Gelenks concentriert ist, gebildet. Im unteren Gelenk dient derselbe Knochen zu- sammen mit dem durch Bänder fixierten Menisk als Stütze; doch diese Stütze ist weniger gleichartig und fest, und deshalb kann man bei den hier ausgeführten Bewegungen weniger Kraft entfalten. Infolgedessen gehen die stärkeren Bewegungen, die volare Beugung und Adduction (flexio volaris et ulnaris) im oberen Gelenk, die weniger kräftigen, die dorsale Beugung und Abduction (flexio dorsalis et radialis) aber im unteren Gelenk vor sich. Diesen Bewegungen entsprechend befinden sich an der dorsalen Seite des oberen Gelenks, wo der Kopf bei volarer Beugung hervortritt, die schrägen Fasern des Ligamentum rhomboidale, von der volaren Seite aber die schrägen und geraden Fasern der Ligamenta accessoria rectum et obliquum, welche die Teile zusammenhalten und nicht — 175 — zulassen, dass der Kopf nach dieser Seite hin hervortrete (Günther ^), Pirogow ^) und Brande •^). Im unteren Gelenk trifft man im Gegenteil an der dorsalen Seite transversale Fasern, welche die Knochen der ersten Reihe miteinander verbinden, ihre nach unten gerichteten Yerti- calfortsätze aber hindern den Kopf sich dorsalwärts zu wenden (planum fibrosum dorsale transversum cum appendicibus longitudinalibus Barkow)- an der volaren Seite des Gelenks befinden sich die schrägen Fasern des Ligamentum carpi volare profundum radiatum, welche das Auseinander- weichen der Gelenkflächen verhindern. Natürlich können alle diese Verdickungen des Kapselbandes dank ihrer Elasticität nur die Teile zusammenhalten, aber nicht grossen Widerstand leisten; dieses wird in diesen Fällen hauptsächlich von den Sehnen der Muskeln, welche über diese Gelenke hinweglaufen und bis zur Basis der Metacarpalknochen gehen, besorgt. Im oberen Gelenk sind Bewegungen um zwei Achsen, die zu einander rechtwinklig stehen und in parallelen Ebenen liegen möglich. Bedingt wird die Möglichkeit dieser zwei Bewegungen dadurch, dass Synovialfalten und -fortsätze in diesem Gelenk vorhanden sind. In der Mitte des unteren Gelenks befindet sich der Kopf, der sich am meisten einem Kugelabschnitt (mit einem Radius von 7 mm) nähert; doch ist hier die Bewegung um die verticale Achse unmöglich, da sich zu beiden Seiten dieses Kopfes hervorspringende Höcker befinden, welche, indem sie in die entsprechenden Teile der Berührungsflächen eingreifen gar keine Rotation zulassen*); etwas ganz ähnliches findet man bei Uhrschlüsseln, mit einer Zahnteilung in der Mitte, welche Rotation nur nach einer Seite gestatten. In derartigen complicierten Gelenken sind Mannigfaltigkeit der Bewegungen und grosser Umfang mit möglichst grosser Festigkeit und den Bedingungen zum Widerstehen gegen Stösse 1) Das Handgelenk. Hamburg. 1850. 2) Vollstänrliger Cursus der angewandten Anatomie des menschlichen Körpers, pag. 162—21.8 (rassisch). 3) Über den Mechanismus des Handgelenks. St. Petersburg. 1883 (russisch). 4) Von solchen Hemmungen wird seinerzeit die Rede sein, da die Lehre von den Hemmungen sehr wenig ausgearbeitet ist. Hier genügt nur, darauf hinzuweisen, dass der erste, der sie untersuchte, Helmholtz war, als er den Bewegungsmechanismus der Ohrknöchelchen beschrieb (Archiv für die gesammte Physiologie von E. Pflüger. Bonn. 1868. I. Jahrgang, pag. 26—27). Dr. Jatschmonin fand (Über den Mechanismus des Fussgelenkes. St. Petersburg. 1883, russisch), als er das Fussgelenk studierte, in der Articulatio calcaneo - cuboidea und talo - calcanea ebensolche Hemmungen des vorderen und unteren Fussgelenkes. Ganz analoge Erscheinungen beobachtet man bei der Ana- lyse des Carpalgelenkes. Die Gelenkfläche des Kopf beines entspricht ihrer Form nach dem Kopf des Sprungbeins. Die Articulatio hämo -pyramidalis ist der Art. calcaneo- cuboidea, die Articulatio scapho-trapezoidea aber dem unteren Fussgelenk analog (art. talo calcanea). Doch von diesen Hemmungen und der erwähnten Analogie wird unten die Rede sein. — 176 — und Erschütterungen sehr vorteilhaft vereinigt. Das beweist wiederum alle Vorteile eines complicierten Gelenks. Das Hüftgelenk gehört scheinbar zu den einfachen Gelenken mit sphärischen Articulationsflächen und entsprechenden Bewegungen. Die unteren Extremitäten dienen uns jedoch als Stützen, und deshalb müssen dieselben möglichst fest sein. Damit die Kugelgelenke eine genügende Stütze bieten, ist eine grosse Pfanne erforderlich. In der That geht hier die Pfanne mit ihrem Knorpelrand über den Äquator des Kopfes hinaus. Eine so grosse Pfanne gewährt zweifellos eine grosse Stütze, kann jedoch zugleich sehr leicht die mit der Bewegung verbundenen Stösse und Erschütterungen auf die höher gelegenen Teile fortpflanzen. In der Gelenkhöhle befindet sich zwischen dem Kopf und der Pfanne das sogenannte Ligamentum teres femoris; betrachtet man dasselbe von der Höhle des kleinen Beckens aus (durch ein im Boden der Hüftbein- pfanne gebohrtes Loch), so findet man, dass es beinahe vertical steht, wobei sich sein oberes Ende in der Mitte des Kopfes, sein unteres Ende aber an dem inneren Unterteil der Pfanne befindet. Dieses Band ist eigentlich ein grosser Synovialfortsatz, der eine bindegewebige Grundlage, Fett und Gefässschleifen enthält und mit seinem freien Ende an der Mitte des Femurkopfes befestigt ist. Dank der Qualität seiner Bestandteile zeichnet es sich durch grosse Biegsamkeit und Elasticität aus. Es nimmt ungefähr ^/g der Pfanne ein und liegt ge- rade in dem Teil des Kopfes, wo der Druck von selten der Last am geringsten ist. Auf diese Weise bewirkt dieses Band, dass die Nach- teile einer grossen Pfanne weniger fühlbar werden, und wirkt den Stössen und Erschütterungen entgegen. Folglich erweist sich ein scheinbar einfaches Gelenk in der That auch als compliciertes, da sich zwischen Kopf und Pfanne ein Zwischenteil befindet, welcher hindert, dass die Folgen der Bewegungen die Functionen der anderen Organe, besonders der parenchymatösen Organe und der Nervencentren, stören. Derartige Vorrichtungen findet man gew^^öhnlich in den Gelenken mit grossen Berührungsflächen; solche Synovialbogen kommen z. B. in der Mitte der Pfanne des oberen Ulnarendes, im Kniegelenk (lig. alaria) u. s. w. vor. Die angeführten Beispiele müssen die ganze Bedeutung der com- plicierten Gelenke darthun und die Richtigkeit der oben gegebenen Characteristik derselben bestätigen. Die Analyse des Hinterhaupt- gelenkes und des Kiefergelenkes müsste dasselbe zeigen. Eine Ab- hängigkeit der Bewegung von der Form der Gelenkfläche besteht in den complicierten Gelenken ebenso, wie auch in den einfachen, und deshalb kann man bei ihnen denselben Grundsatz, wie bei letzterem anwenden , wovon bereits oben gesprochen wurde. Man muss auch hier am genetischen Zusammenhang zwischen der Bildung eines Körpers — 177 — von bestimmter geometrischer Form und den möglichen Bewegungen festhalten In jedem complicierten Gelenk muss man also die Pfanne ohne Menisk, als Oberfläche von einer Form, und die Pfanne mit dem Menisk (selbst wenn er aus flüssiger Synovia besteht), als Oberfläche von anderer Form, betrachten. Einfache Gelenke in ganz reiner Gestalt, wie z. B. Gelenke mit sphärischen Articulationsflächen, kommen gewöhnlich nur beim Embryo oder beim Neugeborenen vor. Sobald aber alle umgebenden Muskeln ungleichmässig geübt werden und infolge wiederholter einförmiger Be- wegungen, welche zur Gewohnheit werden, einzelne Muskelgruppen mehr entwickelt werden, so müssen sich die Form der Gelenkfläche, zugleich aber auch die Bewegungen verändern; auf diese Weise kann sich aus dem einfachen Gelenk ein compliciertes mit Synoviaschichten an den Stellen, wo die Radien des Kopfes und der Pfanne einander nicht entsprechen, entwickeln. Als Beweis für das Gesagte kann ein Versuch an einem jungen Hunde und der Fall einer Formveränderung der Gelenkfläche unter dem Einfluss einer Anomalie, des Fehlens des Musculus brachio- radia- lis seu supinator longus an einer Extremität, dienen. Im ersten Falle waren infolge des Durchschneidens des Nervus fibularis die Muskeln an der vorderen und äusseren Seite des Unter- schenkels und an der Rückenfläche des Fusses paralysiert, das Tier hielt bei der Bewegung die Extremität im Knöchelgelenk stets in ge- strecktem Zustande, im Hüftgelenk aber im Zustande der Abduction. Im letzteren Gelenk entwickelten sich denn auch die abducierenden Muskeln am allermeisten, während Adduction und Pronation fast gar nicht vorhanden waren. Der Schenkelbeinkopf änderte infolgedessen seine Gestalt so, dass er elliptische Form annahm und sich auf Kosten des Knochenhalses vergrösserte. Der grosse Rollhügel überragte den Kopf um 12 mm; hier war also das Kugelgelenk, das an der linken Extremität gut ausgeprägt war, an der rechten Extremität in ein ellip- tisches Gelenk übergegangen, indem sich die Bewegung in der in Ab- duction gehaltenen Extremität auf Beugung und Streckung beschränkte. Die hier künstlich vergrösserte Berührungsfläche gab die Möglichkeit, auf Kosten der Mannichfaltigkeit der Bewegungen grössere Kraft zu entwickeln ^). Ebenso veränderte sich der Kopf des Oberarmbeins, wenn ein Muskel des Vorderarms fehlte, denn bei allen Bewegungen des Vorderarms zur Mittellinie des Körpers hin musste das Oberarm- bein im Schultergelenk Aushilfspronationen ausführen. Unter dem Ein- fluss der stark entwickelten Musculi subscapulares, besonders des sub- 1) Das Präparat befindet sich in meinem anatomischen Museum. 12 — 178 — scapularis minor, veränderte sich der Kopf und nahm elliptische Form an. Der Querschnitt des Kopfes war ein wenig kleiner geworden, und es hatte sich hier eine grössere Quantität Synovia angesammelt. Aus dem einfachen Gelenk mit sphärischen Articulationsflächen hatte sich infolge oft wiederholter einförmiger Bewegungen ein compliciertes Ge- lenk mit elliptischen Articulationsflächen und einer flüssigen (aus Synovia bestehenden) Zwischenlage gebildet. Wie im ersten Falle, so waren auch hier die Gelenkflächen grösser geworden; zugleich hatte das Gelenk auf Kosten des Umfanges und der Mannichfaltigkeit der Bewegungen an Festigkeit zugenommen. Alles Angeführte ist für die Erklärung des Verhältnisses zwischen Form und Function sehr wichtig. Im complicierten Gelenk müssen zwischen der festen Lamelle und dem Gelenkende stets accessorische Bänder vorhanden sein, um sie zu- sammenzuhalten, was auch in der That beobachtet werden kann. Die Lagerung dieser Bänder aber entspricht allem von den Bändern der einfachen Gelenke Gesagten, was durch das angeführte Beispiel im complicierten Handgelenk auch bewiesen wird. Die Bänder dieser Ge- lenke können unter normalen Bedingungen ebensowenig die Grenze ihrer Spannfähigkeit erreichen und befinden sich unter dem Einfluss von Muskeln und Muskelantagonisten. Ein Gleiches kann man auch von den Muskeln, den Gefässen und Nerven und von ihrem gegenseitigen Verhältniss im complicierten Ge- lenk sagen. Aus allem über die Gelenke überhaupt Angeführten kann man folgende Schlüsse ziehen: 1) Die Bewegungen hängen in jedem Gelenk von der Form der Gelenkflächen ab und sind nur um die Achsen möglich, um welche die gegebene Gelenkflächenform gebildet werden kann. Der Umfang der Bewegung oder der Bewegungsbogen hängt hierbei von der Differenz zwischen dem Kopf- und dem Pfannenumfang ab. 2) Die Form und die Lagerung der Bänder hängt von der Rich- tung der Bewegungsachse ab; unter normalen Bedingungen können sie nicht stark gespannt werden, da sie sich unter dem directen oder in- directen Einfluss von Muskeln befinden und deshalb dank ihrer geringen Elasticität die Bewegung nicht hemmen können. 3) Ausser den Bändern sind auch noch die Muskeln, Gefässe und Nerven, welche das Gelenk umgeben, von der Form der Gelenkfläche abhängig. 4) Die einfachen Gelenke mit sich unmittelbar berührenden Arti- culationsflächen können zweiartig sein: mit einer um eine Achse ent- standenen Rotationsfläche und mit Kugelflächen. Die erste Art kann wieder in Winkel- und Rollgelenke eingeteilt werden; die letzte Art — 179 — ersclieint als freies Gelenk. Zu den einfachen Gelenken gehören ausser- dem auch noch die straffen Gelenke. 5) In den complicierten Gelenken sind die Gelenkflächen stets mehr oder weniger vollständig von einander getrennt. Hierzu können dienen: Flüssigkeit (Synovia), Synovialzotten , -fortsätze und -falten, mem- branöse, knorpelige oder Knochenlamellen, oder endlich aus mehreren verschiedenartigen Teilen zusammengesetzte Lamellen. Unter den com- plicierten Gelenken können Gelenke mit zwei Achsen, die sich unter rechtem Winkel kreuzen und in einer oder zwei parallelen Ebenen liegen, vorkommen. Diese Gelenke werden in solche mit elliptischen und solche mit sattelförmigen Flächen eingeteilt. 6) Die complicierten Gelenke zeichnen sich durch verhältnismässig grosse Berührungsflächen, mannichfaltigere Bewegungen und Vorrich- tungen zum Widerstand gegen Stösse und Erschütterungen aus. Sie sind weniger fest; ihre Festigkeit wird durch die Teilnahme von Muskeln vergrössert. Sie enthalten stets eine grosse Anzahl Bänder. Das Studium der Gelenke auf Grund der Entstehung ihrer Gelenk- flächenform und das Erfassen des Zusammenhanges zwischen diesen Geleukflächen und den sie umgebenden Bändern, Muskeln, Gefässen und Nerven ist in der Beziehung vorteilhaft, als man, wenn man bei dem lebenden Menschen die Bewegungen, ihre Umfange und Functionen untersucht, a priori auf den Bau und die Form sowohl des Gelenkes selbst, als auch der dasselbe umgebenden Teile schliessen kann. Mit der Lehre von den Gelenken ist die Lehre von den Bewegungs- hemmungen und von den Gewölben eng verbunden; deshalb muss man, ehe man zur Entwickelung der Gelenke übergeht, sich ein wenig mit diesen Fragen beschäftigen, und zwar um so mehr, als sie bis jetzt in der Litteratur wenig behandelt wurden. Die Hemmungsvorrichtungen. Gewöhnlich nimmt man an, dass hauptsächlich die Bänder in den Gelenken die Bewegung begrenzen. H. Meyer meint sogar, dass im lebenden Organismus zwischen den ein- zelnen Körperteilen und den diese Teile zusammenhaltenden gespannten Bändern Gleichgewichtsbedingungen geschaffen werden können. Man kann sich jedoch, und zwar auf Grund folgender Facta, leicht davon überzeugen, dass diese Meinung nicht richtig ist. 1) Bei der Be- stimmung der Bewegungsbögen in den Gelenken erweist sich, dass beim Lebenden die Bewegungsbögen stets kleiner sind, als an der Leiche, wo sie noch grösser werden, wenn man alle das Gelenk einhüllenden Teile (Haut, Muskeln u. s. w.) entfernt, und dass nur unter diesen letzten Bedingungen die Bänder sich spaunen und die Bewegung hindern können. 2) Alle Bänder, welche ihrer Lage nach grösseren Widerstand leisten müssten, befinden sich unter unmittelbarem Einfluss von Muskeln; die letzteren gehen entweder in diese Bänder über oder bedecken sie 12* — 180 — als Schicht; so enthält z. B. das Ligamentum tuberoso-sacrum eine dicke Schicht Fasern, welche eine Fortsetzung der Sehne des Musculus biceps femoris bilden, das Ligamentum spinoso-sacrum ist von den Fasern des Musculus coccygeus, welcher mit seinen tiefen Bündeln zwischen die Fibrillen des Bandes eindringt, bedeckt; die Sehnenfasern des Mus- culus coraco-brachialis gehen stets in den äusseren Rand des Liga- mentum coraco-acromiale, gegen den sich der Oberarmbeinkopf bei der Abduction stemmt, über; auf diese Weise hindern die hier gelagerten Muskeln, indem sie die Elasticität der Bänder vergrössern, dass sie bei der Spannung die Grenze ihrer Spannfähigkeit erreichen. 3) Alle Sehnenausbreitungen oder Aponeurosen, welche sich zwischen den Basal- teilen der Gewölbe befinden, wie z. B. an der Fusssohle und an der Volarfläche der Hand, befinden sich unbedingt unter dem unmittelbaren Einfluss von Muskeln. Alle Aponeurosen der Fusssohle werden von Muskeln beeinflusst, und wenn diese Muskeln nachlassen, so verliert damit zugleich der ganze Bau an Festigkeit, und es bildet sich ein so- genannter Plattfuss^). 4) Sobald die Muskeln von einer Seite des Ge- lenkes in ihrer Thätigkeit nachlassen, so drückt der Gelenkkopf unter dem Einfluss der Antagonisten gegen die den schlaffen Muskeln an- liegenden Bänder, dehnt sowohl das Kapselband, als auch die übrigen hier befindlichen Bänder aus und macht eine spontane Verrenkung möglich. 5) Sogar so starke Bänder oder, besser gesagt, Verdickung des Kapselbandes, wie das Ligamentum Bertini oder die Ligamenta alaria, können sich beim Lebenden nicht stark spannen; so ist die Streckung im Hüftgelenk an der Leiche oder an einem von den Weichteilen be- freiten Präparat viel umfangreicher, als beim Lebenden, da bei dem ge- ringsten Druck des Schenkelbeinkopfes auf diese Verdickung sich vor derselben der von der Sehne des Musculus rectus femoris gebildete Bogen spannt, was aus dem Grunde möglich ist, als die tiefen Pasern dieser Sehne stets mit diesem Bande verschmelzen; wenn der Kopf gegen das Band drückt, so contrahiert sich der Muskel und hindert eine Spannung des Bandes. 6) Das feste Bindegewebe, aus dem ein Band besteht, besitzt zwar grosse Festigkeit, ist aber wenig elastisch; der Elasticitätsmodul einer Sehne beträgt 166,93, weshalb ein der- artiges Gewebe verhältnismässig leicht dehnbar ist. Alle diese Facta 1) Die Untersuchungen von Dr. A. A. Kadjan haben diesen Grundsatz ganz und gar bewiesen; die von ihm ausgeführten Gewichts- und Volumenbestimmungen der Muskeln eines Plattfusses haben gezeigt, dass alle Zahlen für den Musculus peroneus longus, tibialis posticus, flexor hallucis longus, abductor et flexor hallucis brevis, ab- ductor hallucis, transversalis pedis, abductor digiti minimi und flexor digiti minimi und für alle Musculi interossei externi erhaltenen Zahlen kleiner sind, als das minimum oder die Mittelwerte der bei normalen Füssen erhaltenen Zahlen betragen. (Zur Archi- tectur des Fusses. St. Petersburg. 1884, pag. 77—80, russisch). — 181 — beweisen, dass die Bänder in den G-renzen ihrer Elasticität hauptsäch- lich dazu dienen können, die einzelnen Teile des Gelenkes in ihrer Lage zu halten; im lebenden Organismus können sie augenscheinlich keinen grossen Widerstand leisten und können auf keinen Fall eine Hemmung für die Bewegung sein. Als Haupthemmungsvorrichtung erscheint in den Gelenken des lebenden Organismus der Muskelantagonismus, d. h. der gegenseitige Widerstand der das Gelenk umgebenden Muskeln. Bei der Contraction irgend eines Muskels oder einer Muskel gruppe wird der ihm gegen- überliegende Muskel oder die gegenüberliegende Muskelgruppe aus- gedehnt, wird dadurch gereizt, zieht sich zusammen und widersetzt sich der Ausdehnung, was auch als eine, weitere Bewegung im Gelenk be- grenzende, Hemmung erscheint. Da an der Leiche ein solcher Anta- gonismus nicht thätig ist, so geht die Bewegung so lange fort, bis diesem die Spannung der Bänder in den Weg tritt; infolgedessen ist an der Leiche der Umfang der Bewegung stets grösser, als beim leben- den Menschen. Wenn H. Meyer ^) bei der Erklärung der von ihm so- genannten militärischen Haltung annimmt, dass der Rumpf sich solange zurückbeugen kann, bis die Spannung des Ligamentum ileo - femorale diese Bewegung hemmt und dadurch den Rumpf auf den unteren Ex- tremitäten fixiert, so kann man diese Meinung nicht teilen; es wider- spricht nämlich dem Begriff vom Muskelantagonismus, da jede Be- wegung im lebenden Organismus gewiss mit der Contraction der einen Muskeln und mit der Ausdehnung ihrer Antagonisten im Zusammen- hang steht. Dasselbe kann man von der von den Gebrüdern W. und Ed. Weber ■^) ausgesprochenen Annahme, dass die untere Extremität sich dank ihrer Schwere fortbewegen und ihre Bewegung nach dem Gesetz der Pendelschwingung, ohne Teilnahme der Muskelkräfte, fort- setzen kann, sagen. Eine ganz entgegengesetzte Meinung wurde in letzter Zeit von Masse ^) ausgesprochen, welcher ganz richtig beweist, dass keine Bewegung ohne Teilnahme von Muskeln gehemmt werden könne: „die Muskeln, sagt er, sind die activen Gelenkbänder, sie ge- stalten die Gelenke und halten sie zusammen" ^). 1) Müller's Archiv. 1854, pag. 478—511. 2) Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. Göttingen. 1836, pag. 249—251. 3) De l'influence de l'attitade des membres sur leurs articulations. Paris. 1880, pag. 5. 4) Les attitudes de la marche, de la course, de le niise en action de nos mem- bres pour le deploiement de la force ou de la vitesse, necessitent la mise en action des elements multiples de l'articulation, de ceux qui facilitent les mouvements, de ceux qui les limitent, de ceux qui les däterminent. Parmi tous ces elements, il n'en est pas de plus important que l'appareil muscu- laire, pour la solidite des os destinös ä se mouvoir, pour limiter les mouvements que — 182 — Ausser dem Muskelantagonismus können als Gelenkhemmungen fungieren: 1) unter gewissen Bedingungen eine einem Schraubengang ähnliche Gelenkfläche, 2) eine gebrochene Achse, 3) das Auseinander- gehen der Gelenkflächencentra und die Unmöglichkeit, durch diese Centra eine gemeinsame Achse zu ziehen, und endlich 4) die Begrenzung irgend einer Bewegung durch die benachbarten Gelenkflächen. 1) Bei einem Schraubengang ähnlichen Gelenkfläche bewegt sich der mobile Teil nicht in der Lagerungsebene des immobilen Teils, sondern bildet mit der longitudinaleri Achse des letzteren einen Winkel. Dieser Winkel hängt von der Neigung der gegebenen Gelenkflächenachse gegen die Horizontalebene ab. Wenn sich jedoch der bewegliche Teil von seiner Neigung wegwendet, so werden die Gelenkknorpel comprimiert, die verstärkte Reibung bewirkt das Feststellen des Teils, und jede weitere Bewegung wird unmöglich. In solchen Fällen wird durch die Neigung des beweglichen Teils nach der entgegengesetzten Seite die Bewegung gehemmt. 2) Bei gebrochener Achse sind natürlich gar keine Bewegungen möglich; daher würde das Vorhandensein einer gebrochenen Achse in zwei benachbarten Gelenkflächen, wie z. B. in den Condylen des Schenkel- beins im Kniegelenk, in den Gelenkflächen des Köpfchens und des Höckers zweier Rippen, welche in derselben Ebene mit der Wirbel- säule articulieren u. s. ^Y., eine vollkommene Unbeweglichkeit dieser Teile zur Folge haben, wenn nicht Vorrichtungen vorhanden wären, welche die gebrochene Achse compensieren. Die. Bewegung in solchen Gelenken ist nur mit Hilfe einer elastischen Zwischenlage in Form einer Knorpellamelle möglich. Gewöhnlich wird durch die Erweiterung, Ausstreckung oder das Fortgleiten der comprimierten Lamelle, die sich im Gelenk befindet, die gebrochene Achse compensiert und verwandelt sich in eine geneigte oder transversale; oder die beweglichen Teile zweier benachbarter Gelenke mit gemeinsamer gebrochener Achse nähern sich an der Peripherie einander oder entfernen sich von einander und verengern oder erweitern dadurch den zwischen ihnen befindlichen •Raum (der Mechanismus der Rippenbewegung). Bei comprimiertem Knorpel sind die Teile einander so sehr genähert, dass die gebrochene Achse jede Bewegung hemmt. 3) Das Auseinandergehen der Gelenkflächencentra und die Unmög- lichkeit, eine gemeinsame Achse durch dieselben zu ziehen, muss les articulations peuvent permettre sans danger, pour les rapports de contignite des leviers osseux. Les museles sont les ligaments actifs des articulations, ce sont eux qui les for- ment et qui les maintiennent. Ils jouent un role des plus importants dg la physio-^ logie pathologique des articulations. — 183 — zweifellos schon deswegen die Bewegung hindern, weil keine gemein- same Achse vorhanden ist; dieses kann man sehr gut verfolgen, wenn man die einzelnen Gelenke zwischen den Wirbeln untersucht, hei dem Übergange des beweglichen Teils der Wirbelsäule in den unbeweg- lichen. Derartige Gelenke sind nur dazu da, um die Einwirkung der Stösse und Erschütterungen zu verringern, ebenso wie z. B. auch die straffen Gelenke, 4) Endlich können noch Gelenkhemmungen vorkommen, welche darin bestehen, dass irgend eine Bewegung durch die benachbarten Gelenkflächen im Gelenk überhaupt oder nur nach einer Seite hin be- grenzt wird. Die letzte Art der Hemmung wurde von Helmholtz ^) bei der Beschreibung des Mechanismus der Gehörknöchelchenbewegung, und zwar in der Verbindung des Hammerköpfchens mit dem Amboskörper, constatiert. In solchen Fällen bemerkt man an einer Seite der Pfanne einen Vorsprung oder Zahn, der Bewegung nach einer Seite hin zu- lässt, nach der anderen aber hindert. Wenn an der Peripherie eines Kugelgelenkes sich mehrere derartige Vorsprünge befinden, so können die Rotationen begrenzt oder ganz und gar gehemmt sein, wie man das im unteren Carpalgelenk und im äusseren und unteren Abschnitt des Fussgelenkes sieht. Das Gewölbe. An den Stellen des menschlichen Organismus, wo die Stützfläche vergrössert werden muss, befindet sich gewöhnlich eine nach Art der Gewölbe gebaute Vorrichtung. Die das Gewölbe bilden- den Teile sind keilförmig; alle verjüngten Enden der einzelnen Keile sind durch feste Bänder miteinander verbunden, und deshalb spannen sich, w^enn die von oben auf das Gewölbe wirkende Kraft die Schenkel desselben auseinanderzurücken sucht, diese Bänder und halten die ein- zelnen Knochen zusammen. Hier kommen Bänder als gerade oder schräge Stränge oder in Form von durchflochtenen Fasern vor, die um so stärker entwickelt sind, eine je grössere Last das gegebene Ge- wölbe zu tragen hat. In festen sphärischen Gewölben können solche sich kreuzende Bänder sowohl über, als auch unter den einzelnen Teilen des Gewölbes sich befinden, nur sind alle unter dem Gewölbe gelagerten Bänder stets von einer Muskelschicht bedeckt, oder sie bilden die Sehnenfortsetzungen der Muskeln. Diese Muskeln hindern, dass die Bänder die Grenze ihrer Spannfähigkeit erreichen. Beobachtungen zeigen, wie bedeutend die Function dieser Muskeln z, B. in Bezug auf das Fussgewölbe ist. Sobald sie nur aus irgend einem Grunde, infolge einer Paralyse oder irgend einer mechanischen Action zu wirken auf- hören, so kommen die Bänder des Gewölbes bis zur Grenze ihrer 1) Archiv für die gesammte Physiologie von E. Pflüger. Bonn. 1868. I. Jahr- gang, pag. 26—27. — 184 — Spannung, dehnen sich aus, verlieren die Fähigkeit, das Gewölbe zu halten, und letzteres flacht sich ah: es entwickelt sich ein Plattfuss. Die Abhängigkeit der Gewölbe von den Muskeln wird durch die Unter- suchungen von Dr. Kadjan an Plattfüssen erwiesen ^). Die Bedeutung eines Gewölbes beschränkt sich jedoch nicht auf die Befestigung der Stütze. Bei derartiger Construction der Gewölbe, wie man es in der Hand und hauptsächlich am Fusse beobachtet, sind Vorrichtungen vor- handen, die die Einwirkung der Stösse und Erschütterungen vorteilhaft mildern. Ein Sprung von bedeutender Höhe auf die Zehen wird leicht ertragen, da die Kraft des Stosses durch die an den Berührungsflächen der einzelnen Knochen des Fussgewölbes befindlichen Knorpelpolster und durch verschiedenen Zwecken angepasste Zwischenknochenbänder abgeschwächt wird, während ein Sprung auf die Hacken durch die Er- schütterung ein unangenehmes Gefühl hervorruft. Fig. 38. q:) (^ Auf Grund nunmehr vorhandener Untersuchungen erweist sich, dass an den Stellen, wo grösste Festigkeit erforderlich ist, die aus ver- schiedenen Teilen construierten Gewölbe sphärische oder elliptische Ab- schnitte bilden, wie z. B. im Becken. Der Architectur des letzteren liegt ein bogenförmiges, aus mehreren Teilen bestehendes Gewölbe (Fig. 38) zu Grunde, dessen Schenkel sich bei aufrechter Haltung durch 1) Zur Architectur des Fusses. St. Petersburg. 1884, pag. 76—80 (russisch). — 185 — Vermittelung der Hüftbeinpfannen auf die Köpfe der Schenkelbeine, in sitzender Stellung- aber auf die Sitzhöcker stützön ; der obere, der Mitte der Kreuzbeinbasis entsprechende Teil des Gewölbes aber trägt die ganze Wirbelsäule. Nach angestellten Messungen beträgt der Bogen- radius dieses Gewölbes (bd) im Mittel 8,56 cm, steigt bis 9,1 cm und nimmt bis 7,8 cm ab. Das Centrum dieses Gewölbes (d) befindet sich gewöhnlich mit den Centren der Hüftgelenke in einer Frontalebene und liegt 0,76 cm über der Mitte der die Centren der beiden Hüftgelenke verbindenden Linie. Es kann bis auf 1,2 cm sich über diesem Mittel- punct erheben oder soweit hinabgehen, dass es mit diesem Mittelpunct zusammenfällt. Im ersteren Falle ist es ein elliptisches Gelenk, im zweiten ein sphärisches. Damit die Schenkel des Beckengewölbes dank dem Widerstände des Bodens nicht auseinandergehen, sind sie durch eine bogenförmige Verfestigung oder einen Schluss, in dessen Mitte sich als Schambeinsynchondrose ein die Elasticität der Construction vergrössernder und die Einwirkung der Stösse und Erschütterungen vermindernder Knorpel befindet, miteinander verbunden. Das Gewölbe aber besteht aus drei Teilen, welche durch die beiden Heo-sacral- gelenke und durch die dicken Ligamenta ileo-sacralia Bichat von einander getrennt sind. Die Gelenkflächen sind, um die Berührungsflächen zu vergrössern, sowohl in transversaler, als auch in sagittaler Eichtung schräg gelagert. Diese Gelenke sind nur zum Widerstände gegen Stösse und Erschütterungen da; sie sind durch unter ihnen befindliche und einander durchkreuzende Bänder (lig. tuberoso- et spinoso-sacrum) fixiert, welche ihrerseits sich unter dem unmittelbaren Einfluss von Muskeln befinden (in das lig. tuberoso-sacrum geht die Sehne des m. biceps femoris über, das lig. spinoso-sacrum aber ist von den Fasern des m. coccygeus bedeckt.) Die im tierischen Organismus vorkommenden Gewölbe sind ent- weder sphärisch oder elliptisch, wie das oben beschriebene, oder para- bolisch. Gewölbe, die sich in zwei oder mehr Richtungen durchkreuzen, bilden Knochenkuppeln oder hermetisch geschlossene Kapseln. Durch mög- lichst grosse Dauerhaftigkeit und Festigkeit zeichnen sich die sphärischen Gewölbe aus (Fig. 38), da in ihnen die Teile, auf welche sich das Gewölbe stützt, von dem Ort der grössten Belastung gleich weit entfernt sind. Solche Gewölbe können an ihrem Gipfel (a), wo die Last der höher liegenden Teile auf sie wirkt, nicht geteilt werden: eine derartige Teilung würde ihrer Festigkeit Abbruch thun; deshalb müssen sie wenigstens durch zwei Gelenke (f, e) in drei Teile geteilt sein. Da die Trennung der Verfestigung sich nie in derselben Ebene befinden darf, wie im Ge- wölbe, sondern stets der Mitte des Zwischenraums zwischen den Teilen des Gewölbes entspricht, so kann in einem Gewölbe mit zwei dasselbe teilenden Gelenken nur eine Teilung in der Mitte der Verfestigung 186 als Synchondrose sein. Wäre die Teilung des Gewölbes und der Ver- festigung in einer Ebene gelagert, so würde dadurch das Gewölbe an Festigkeit und Dauerhaftigkeit bedeutend einbüssen; eine derartige Lagerung trifft man in der That nie. Den Widerstand eines sphärischen Gewölbes kann man durch folgende Formel berechnen: P-=2Qsin2 9 worin P die belastende Kraft vorstellt, die auf den Gipfel des Gewölbes wirkt, Q die Widerstandskraft, die durch den Querschnitt des Fusses des Gewölbes und durch den Coefflcienten der Druckfestigkeit des Knochens gegeben sind. Der Winkel 9 wird durch die Fortsetzung der Richtung der Kraft P mit der Richtung der Fläche der Widerstände der beiden anliegenden Teile des Gewölbes gebildet; dieser Winkel ist = 30", folglich sin 9 = Vsj asin -9 = ^/V Der Querschnitt des Fusses des Ge- wölbes ist im Mittel für das Beckengewölbe durch 1555 Dmm bestimmt, der Coefficient des Knochens ist = 2 kg auf Dmm Schnittfläche anzu- nehmen, so dass die Formel so bezeichnet werden kann: P=2xl555x2x ^4 = 1555 kg Fig. 39. Die Versuche haben erwiesen, dass das Becken eine drückende Last von 578,51 kg bis 2396,6 kg aushalten kann und dass diese Ver- schiedenheit von dem Grade der Entwickelung der Musculatur abhängt ^). Die parabolischen Gewölbe (Fig. 39) bestehen aus einem kurzen Schenkel, dem sphärischen Abschnitt (c, b), auf den gewöhnlich die Last unmittelbar wirkt, und einem langen Schenkel, dem eigentlichen para- bolischen Abschnitt (c, e), welcher sich bei der Bewegung dem Boden 1) Siehe P. Lesshaft. Die Architectur des Fusses. Protocolle 4- Versamml. (J. ?,natomischen Gesellschaft in Wien 3.892. — 187 — vorteilhaft anpassen kann. Da der erste Schenkel sehr fest sein muss, so ist er am wenigsten durch Gelenke zerteilt, und zwar nur in der Mitte in zwei Teile. Der durch seine Beweglichkeit ausgezeichnete lange Schenkel muss seiner Länge nach proportional durch Gelenke ge- teilt sein; wenn sich also der kurze Schenkel zum langen wie 1:4 ver- hält und wenn der kürzere Schenkel ein Gelenk enthält, so muss der lange Schenkel deren vier enthalten. Derartige Gewölbe kommen folg- lich in den Teilen vor, wo die Beweglichkeit des einen Teils mit der Dauerhaftigkeit des anderen verbunden sein muss, wie z. B. im Fuss- gewölbe. Einen eben solchen Typus der Architectur findet man auch in Seitenwandungen des Rumpfes, in den Rippenbögen, deren hinterer Abschnitt, nach den Untersuchungen von Dr. Lawrentjew^), auch sphärisch ist und sich nach vorn verlängert, wo er gewöhnlich in einem parabolischen Abschnitt endet. Ein ähnliches Gewölbe bildet auch der Schultergürtel, welcher von der Spina scapulae, Acromion und den Mm. rhomboidei gebildet wird und die Claviculae und das Manu- brium sterni als Verfestigung hat. Nur ist hier ein Teil des Knochen- gewölbes durch Muskeln ersetzt, was infolge der Nähe der Nerven- centren bei den grossen Bewegungsumfängen an der oberen Extremität, da dadurch die Stösse und Erschütterungen gemildert werden, sehr vor- teilhaft ist. Die Kuppeln, welche von benachbarten durch sich kreuzende Zwischenknochenbänder mit einander verbundenen Gewölben gebildet werden, stellen gewöhnlich in transversaler Richtung hyperbolische Gewölbe mit nach oben oder dorsalwärts gerichteter Convexität und nach unten gerichteter Concavität vor. Ihre Zerteilung durch Gelenke ist gleichfalls von der Leistungsfähigkeit und der Beweglichkeit ab- hängig; je grösser die Beweglichkeit und je länger der Schenkel, desto mehr Gelenke, und umgekehrt. Die Verfestigung der Kuppel muss longitudinal und transversal sein, sie erscheint als Aponeurosen, Band, Muskelsehne oder Muskel selbst; je grösser die Last ist, die die ge- gebene Kuppel auszuhalten hat, um so grösser muss die Teilnahme der Muskeln sein und um so stärker sind sie entwickelt. Ein Beispiel da- für ist die Plantarfläche des Fusses. Die Knochenkapsel ist ein hermetisch geschlossener Behälter, welcher dem Druck von Seiten seines Inhalts widersteht und von aussen keinen Druck, ausser etwa von Seiten der atmosphärische Luft, er- fährt. Alle an einer solchen Kapsel vorkommende Zwischenräume, Spalten und Öffnungen sind durch Bindegewebemembranen, oder Binde- gewebeknorpel ausgefüllt; die Bindegewebemembranen enthalten elastische 1) Zur Frage von der Kraft und der Wirkung der die Bauchpresse bildenden Muskeln. St. Petersburg. 1884 (russisch), und Virchow's Archiv. Bd. 100. 1885, pag. 459-502. — 188 — Fasern oder sind mit glatten Muskelfasern bedeckt, und zwar enthalten sie um so mehr Muskelfasern, je grösser ihr Flächenraum ist. Die an den indifferenten Stellen gelagerten Öffnungen sind mit Bindegewebe- knorpel ausgefüllt, und zwar um so mehr, je näher zur Stütze der Kapsel sie sich befinden. Solche Kapseln sind durch Nähte zerteilt, welche in den Lagerungsebenen der Bewegungsachsen im gegebenen Teil liegen, so dass, wenn Bewegungen um drei gegenseitig peipen- diculäre Achsen möglich sind, auch die Nähte in drei gegenseitig per- pendiculären Ebenen liegen. Die Nähte am Scheitel solcher Kapseln sind gewöhnlich gezackt; sobald sie sich aber der Basis nähern, gehen sie in Schuppennähte über, wobei in benachbarten Teilen die Ränder in entgegengesetzten Richtungen abgeschnitten sind. In der Nähe der Basis werden die Nähte zu Spalten von grösseren oder kleineren Dimen- sionen, je nach der Bewegung. Wo der Umfang der Bewegung grösser ist, da ist die Teilung zahlreicher. Die Nähte am Scheitel der Kapsel liegen nie mit den Nähten der Basis in einer Ebene. Alle diese Teilungen sind nur zur Milderung der Stösse und Erschütterungen vor- handen; bei Volumenabnahme des Inhalts und bei künstlichem Druck von aussen verschwinden sie. Nach allem von den Gelenken und überhaupt von der Verbindung der Knochen Gesagten kommt man zu dem allgemeinen Gesetz, das schon zu Anfang dieses Kapitels angeführt wurde, d. h. dass die Knochen sich so verbinden, dass bei minimalem Umfang der Verbindungsstelle maximale Verschiedenheit und Grösse der Bewegungen bei möglichst grosser Festigkeit zum Ausdruck kommen; dabei können die die einzelnen Knochen verbindenden Teile nie die Grenze ihrer Spannfähigkeit er- reichen (da sie aus Bindegewebe bestehen, so würden sie sich aus- dehnen, denn sie sind trotz ihrer grossen Festigkeit wenig elastisch). Alle Bänder und Membranen befinden sich, wenn sie V^iderstand zu leisten gezwungen sind, unter dem Einfliuss von Muskeln, welche, sich contrahierend, ein Ausdehnen der Bänder hindern (das Grundgesetz der Syndosmologie). Die Entwickelung der Gelenke. Die Entwickelung der Ge- lenke bildet einen sehr interessanten Abschnitt der Entwickelungs- geschichte, da sie mit der Frage von den Bedingungen der Form- bildung oder Formation der einzelnen Teile des tierischen Organismus in Verbindung steht. Wie bei allen derartigen Fragen, so teilen sich auch im gegebenen Falle die Forscher in solche, welche diese Formen als vererbt betrachten, und in Anhänger der mechanischen Theorie, welche annehmen, dass die Form das Resultat der mechanischen und Ernährungsbedingungen, welche auf die Formation des gegebenen Teils gewirkt haben, sei. In frühen Entwickelungsperioden ist die Ver- bindung der Skelettteile stets eine membranöse und wird durch Bildungs- — 189 — elemente oder Gallertgewebe hergestellt. 0. Hertwig ^), ein Anhänger der ersten der oben angeführten Richtungen, beschreibt die Entwickelung der Gelenke folgendermassen: ,, Junge Knorpelanlagen, wie z. B. vom Ober- und Unterschenkel sind auf frühen Stadien an den Stellen, wo sich später die Gelenkhöhle ausbildet, durch ein sehr zellenreiches Zwischengewebe getrennt (Zwischenscheibe von Henke und Reyher^). Dasselbe verliert später an Ausdehnung, indem auf seine Kosten die Knorpel an ihren Enden wachsen. In vielen Fällen schwindet er voll- ständig, so dass dann die Endflächen der betreifenden Skelettteile sich unmittelbar eine Strecke weit berühren. Jetzt hat sich auch schon die specifische Krümmung der Gelenkflächen mehr oder minder gut aus- gebildet. Es ist dies zu einer Zeit geschehen, wo eine Gelenkhöhle noch nicht vorhanden ist, und wo auch Bewegungen der Skelettteile nicht ausgeführt werden können, da die Muskeln nicht functionsfähig sind. Hieraus folgt, dass während des embryonalen Lebens die Gelenkflächen ihre specifische Form nicht unter dem Einfluss der Muskelthätigkeit gewinnen können, und dass sie sich nicht gleichsam durch Abschleifung und Anpassung an einander infolge bestimmter wiederkehrender Ver- schiebungen auf einfach mechanischem Wege bilden, wie von manchen Seiten angenommen worden ist. Die frühzeitig eintretende typische Gestaltung der Gelenke erscheint daher als eine ererbte. Nur für Veränderungen auf späteren Stadien kann die Muskelthätig- keit in Frage kommen und wird dieselbe auf die weitere Ausbildung und Formung der Gelenkflächen nicht ohne Einfluss sein." Die Anhänger der mechanischen Theorien, wie z. B. Ludwig Fick ^), glauben im Gegenteil, dass die Form der Gelenkflächen mechanisch (unter dem Einfluss der Muskeln) geschliffen wird; hierzu kommt noch die eigene Wachstumsintensität der Knochenenden (Knorpel), d. h. die Verschiedenheit des Grades und des Zeitpunktes der an ihnen zu beob- achtenden Verlängerung, infolge dessen wird durch verschiedenes Wachstum der einzelnen Knochen die Convexität und Concavität der Gelenkenden bedingt. Weiter äussert Bernays *), dass die Gelenkhöhle durch die Trennung zweier sich berührender Flächen, infolge von Muskelcontraction, entsteht. Was die Ausbildung von Kopf und Pfanne betrifft, so suchen Henke und Reyher'^) nachzuweisen, dass an dem Gelenkende, wo sich die Pfanne bildet, sich die Muskeln gewöhnlich 1) Lehrbuch der Entwickelungsgeschichte des Menschen und der Wirbeltiere. 2. Abt. 1888, pag. 480—81. 2) Studien über die Entwickelung der Extremitäten des Menschen, insbesondere der Gelenkflächen. Sitzb. d. k. Acad. d. Wissensch. III. Abt. Juli 1874, pag. 13. 3) Archiv f. Anat. u. Phys. 1885, pag. 659. 4) Morpholog. Jahrb. 1878. Bd. IV, 3. Heft, pag. 432. 5) L. c, pag. 41—44. — 190 — näher zum Gelenk anheften, als am anderen Ende, und dass sich die Convexität des Gelenkkopfs deshalb entwickelt, dass an der Seite, wo die Muskeln näher beim Gelenk angeheftet sind, die Oberflächenränder zum Anfang- der Bewegung in das entgegengesetzte Ende hineingepresst werden, wo sich infolgedessen der Gelenkkopf formt, K. Schulin ^) kommt auf Grund seiner Untersuchungen über die Entwickelung der Gelenke zu folgenden Schlüssen: erstens wirkt hier zu Anfang der verschiedene Wachstumsgrad der Gelenkenden, welche sich einander zu nähern streben, hierzu kommt zweitens ein anderer Factor, die Muskeln, welche die Bildung der Gelenkspalte hervorrufen; drittens endlich ist auch der Ossificationsprocess, der -hauptsächlich auf die Entwickelung der Form der Gelenflächen wirkt, von Bedeutung. Ein besonderes Gewebe, das den Gelenken als Keim dient, giebt es nicht, liier ist Bildungsgewebe vorhanden, welches sogar zwischen den Knorpelenden benachbarter Skelettteile ein wenig hervortritt. In diesem Gewebe kann man nach 0. Hagen-Torn-) eine äussere (peri- pherische) Schicht, in der sehr früh Gefässe auftreten, und eine innere, gefässlose Schicht unterscheiden. Infolge des Wachstums der Gelenk- enden comprimieren diese, wie man annimmt (Hagen-Torn), die innere Schicht, wobei ein Teil der Bildungselemente, welche den Enden an- liegen, sich in spindelförmige Elemente verwandelt und an dem Wachs- tum des Gelenkknorpels teilnimmt, während die zwischen diesen ge- lagerten Elemente zerstört werden; auf diese Weise entsteht eine Spalte, in der sich eine synoviaartige Substanz ansammelt. Unter dem Einfluss der sich hier zeigenden Bewegungen wird die äussere gefäss- reiche Schicht compacter und nimmt den Character von fibrillärem Ge- webe an. Die Synovialhaut, die den entstandenen Hohlraum auskleidet, entsteht, nach den Aussagen von Hagen-Torn, aus dem intracapsulären Bindegewebe, welches bei der Bildung dieses Hohlraums übrig ge- blieben ist und nach den Wänden des Gelenkes hin verdrängt worden war. In solch einer Gestalt erscheint das Gelenk im vierten Monat des menschlichen Embryo. Hierauf verschwindet die Synovialhaut an den Stellen des grössten Drucks, und zwar an den Knorpelflächen der Gelenkenden, stellenweise aber wuchert es — unter dem Einfluss des bei den Bewegungen oft sich wiederholenden negativen Druckes (Hagen- Torn) in Synovialzotten, -fortsätze und sogar -falten. Die letzteren entwickeln sich secundär aus dem lockeren, gefäss- und zellenreichen jungen Gewebe der Synovialhaut. Beobachtet man das Hühnerembryo , so findet man, dass im Laufe 1) Archiv für Anatomie und Entwickelungsgescbichte. 1,879, K. 3 u. 4, pag. 271 bis 272. 2) Die Entwickelung und die Striictur der Synovialhäute. St. Petersburg. 1883, pag. 25. — 191 — des vierten Tag-es, wo in der Anlage der oberen und unteren Extremi- täten nur Bildungselemente vorhanden sind, man schon eine Gefäss- schleife in dieser Anlage beobachten kann. Nach der Ausbildung dieser Schleife bemerkt man, dass in der Mitte der Teile, aus denen sich die Extremitäten entwickeln, die Entwickelung der Knorpelgrundlage be- ginnt. Diese Grundlage bildet sich folglich aus den Elementen, welche am weitesten von den Gefässen entfernt sind, und an der Stelle, wo der Einfluss des Druckes von Seiten der anwachsenden Teile am stärksten ist. Öifnet man am sechsten Tage das Hühnerei, so kann man in den Extremitäten schon Bewegungen beobachten, während Muskelfasern sich noch nicht entwickelt haben. Diese Bewegungen hängen augenschein- lich von der Summe der amöboiden Bewegungen derjenigen Elemente, welche den Gefässen unmittelbar anliegen und sich deshalb durch die allergrösste Energie auszeichnen, ab. Aus ihnen entwickeln sich weiter die Bildungselemente des Muskelgewebes, darauf alle Entwickelungs- grade des quergestreiften Muskelgewebes. Also verliert die Meinung von 0. Hertwig u. A., dass die Gelenke sich entwickeln, wenn die Muskeln noch nicht entwickelt sind, an Bedeutung, denn die Bewegungen welche die zwischen den Knorpelteilen gelagerten Bildungselemente aus- führen, bestellen aus den summierten amöboiden Bewegungen der Bildungselemente, aus denen sich das Muskelgewebe entwickelt. Die hier zu beobachtenden Bewegungen ohne entwickeltes Gewebe gehören nicht zu den vereinzelten Erscheinungen. Um die 36. Stunde tritt beim Hühnerembryo Contraction des Primitivherzens auf, wenn Muskel- elemente hier noch nicht vorhanden sind, was gleichfalls durch die summierten amöboiden Bewegungen der Bildungselemente der Herz- röhre erklärt wird. Es entspricht dieses auch der Erklärung der Muskelcontraction, wie sie L. Ranvier ^) giebt: „Bei der Contraction suchen die dicken Disken der Muskelfaser sphärische Form anzunehmen, wie das auch die weissen amöboiden Körperchen thun, wenn sie electrisch gereizt werden; da sie aber zu Anfang die Form von der Länge der Bündel nach gelagerten Stäbchen besitzen, so muss ihre Contraction natürlich eine Verkürzung des Muskels hervorrufen. Letztere wird noch stärker sein, wenn die dicken Scheiben im Moment der Contraction an Volumen abnehmen, indem sie einen Teil des sie durchtränkenden Plasmas verlieren. Dieses trägt, indem es sich an der Peripherie der dicken Scheiben lagert, in bedeutendem Masse dazu bei, dass der trans- versale Durchmesser der Bündel grösser werde und dass die Muskeln während der Contraction sich verhärten." „Auf diese Weise, sagt Ran vier weiter, ist die Form- und Volumen- veränderung der dicken Scheibe ein Hauptmoment der Muskelcontraction. 1) Trait^ technique d'histologie. 1875, pag. 495. — 192 — Die Function dieses Elementes ist der aller übrigen contractilen Ele- mente des Organismus ganz gleich. Die Amöbe, die Lymphzelle, das glatte Muskelgewebe contrahieren ebenso, wie die dicke Scheibe, indem sie nämlich eine Form annehmen, die ihnen ein minimales Volumen gestattet." Als Belege für die mechanische Theorie der Gelenkentwickelung können Veränderungen der Gelenkflächen, welche mit Muskelanomalien in Verbindung stehen, dienen; so konnte man z. B. bei bereits oben erwähntem Präparat, wo der M. brachio-radialis fehlte ^), bei der Beugung den Vorderarm nicht nach innen richten, er wendete sich stets nach aussen. Die Rinne der Trochlea des Oberarmbeins war nach oben und aussen, also nach der der gewöhnlichen Richtung entgegengesetzten Seite gerichtet. Da diese Abweichung compensiert werden musste, so war auch der Gelenkkopf des Oberarmbeins verändert: er war in lon- gitudinaler Richtung ein wenig verlängert und in sagittaler Richtung verschmälert, seine Oberfläche wich von der Kugelfläche ab und wurde elliptisch. Im gegebenen Falle kann das Fehlen eines Muskels und die Veränderung der Gelenkkopfform unter dem Einfluss des übrigen veränderten Muskelapparates die oben angeführte Meinung bekräftigen. Über die Entwickelung des Kopfes und der Pfanne kann man folgendes sagen: sobald die Bewegungen beginnen, so werden die an der concaven Seite der Extremität befindlichen Gefässe zusammengedrückt und es entwickeln sich infolgedessen Collateralnetze, welche in der Ebene der Bewegungsachse gelagert sind; diese Gefässe nähren das gegebene Ende stärker, und hier entwickelt sich der Kopf. Man kann dieses in allen Gelenken verfolgen, am besten sieht man es jedoch am Schulter-, Ellenbogen-, Hüft-, Knie- und Fussgelenk. Man kann diese Netze gut verfolgen, wenn man sie an Gelenken Erwachsener injiciert. Aus allem Gesagten gelangt man zn folgenden Schlüssen: 1) Die Knorpelgrundlage der einzelnen Teile der Extremitäten be- ginnt ihre Entwicklung von den centralen Puncten dieser Teile, wo die Ernährung mittelbar ist, wo der Druck concentriert ist und wo die Stösse und Erschütterungen am stärksten wirken, 2) Infolge der Bewegung der energischeren Elemente, welche in der Nähe der Nutiitionsgefässe gelagert sind, dishescieren die Verbin- dungsstellen der Skelettteile, und es entwickelt sich hier ein Gelenk; durch die Bewegung werden auch die Gelenkflächen geformt. 3) In den beweglichen Teilen bilden sich Collateralnetze, welche in der Ebene der Bewegungsachse liegen, an dem Ende, wo sich diese Netze befinden, entwickelt sich der Kopf, am entgegengesetzten — die Pfanne. 1) P. Les8haft. Über die Veränderung der Gelenkflächen bei Muskelanomalien. ProtocoU der Ges. russ. Ärzte in St. Petersb. v. 24. Febr. 1883. (russisch). — 193 — 4) Im Allgemeinen kann man annehmen, dass die Entwickelung hier nach folgendem Grundsatz vor sich geht: bei der Entwickelung des Embryo wachsen die Gefässe nach der Seite des geringsten Widerstandes; wo sie auftreten, da beginnt starke Vermehrung der Elemente und Wachstum; unter dem Einfluss der von der Verschiedenheit im Wachstum geschaffenen mechanischen Be- dingungen aber werden die Teile geformt. In Bezug auf die Entwickelung einzelner Gelenke hat die Unter- suchung von Schoemaker^) über das Hüftgelenk specielle Bedeutung; er richtete hauptsächlich seine Aufmerksamkeit auf das Wachstum des oberen Femurendes und auf das Verhältnis der Diaphysengrenze zur Gelenkkapsel. Beim fünf Monate alten Embryo erweist sich, dass die obere Peripherie des Schenkelbeinkopfes sich mit der Spitze des grossen Eollhügels auf einer Höhe befindet. Der fast gerade nach innen ge- richtete Kopf ist durch eine Grube vom grossen Rollhügel getrennt. Der Hals des Schenkelbeins ist noch nicht entwickelt. Die Gelenk- kapsel, welche vom Rande der Gelenkgrube ausgeht, ist an dieser Grube und an der Peripherie des Kopfes befestigt. An einem Frontal- schnitt sieht man, dass die Grenze des ossiflcierten Knochens sich unter und ausserhalb der Anheftungsstelle der Kapsel befindet. Die Untersuchung dieses Gelenks beim Neugeborenen zeigt, dass auch hier der Hals noch nicht entwickelt ist. Die Ränder des Ausschnittes zwischen Rollhügel und Kopf setzen sich nach hinten, nicht aber zur vorderen und unteren Fläche, wo der Kopf unmerklich in den Schaft des Schenkelbeins übergeht, fort. Trennt man den Kopf von dem Körper, so ist die Schnittfläche der Knochenachse fast parallel, während sie sich beim Erwachsenen doch der Horizontalebene nähert. Der Schenkelbeinkopf sitzt daher beim Neugeborenen gleichsam am oberen Ende des Schenkelkopfes auf, während er beim Erwachsenen von dem Oberteil dieses Knochens getragen wird. Das Kapselband ist immer noch über der Ossificationsgrenze des oberen Schenkelbeinendes an dem- selben befestigt, nur bemerkt man im unteren und inneren Teile, namentlich auf einem Frontal schnitt, bereits, dass sich die Grenze unter der Anheftungsstelle des Bandes um 3 — 4 mm nach oben ver- schiebt. Bis zum achtjährigen Alter ist noch zwischen dem Kopf und dem grossen Rollhügel ein Knorpelstreifen vorhanden. Nur nach der Ossification dieses Streifens trennt sich die Epiphyse des Schenkelbeins in zwei Teile (den Kopf und den grossen Rollhügel), welche aus eigenen Knochenpuncten verknöchern. Hierauf bildet sich der Hals aus, welcher nach innen und oben hervortritt, und an dessen Basis, an der Vorder- 1) Nederl. Tijdschr. v. Geneesk. I. Afd. 14. 15. 1872. Schmidt's Jahrb. Bd. 160. 1873. Nr. 10, pag. 6-7. 13 — 194 — fläche derselben, das Kapselband befestigt ist; an der hinteren Fläche ist dieses Band einen Finger breit über der Linea intertrochanterica befestigt. Gegen das 17. oder 18. Jahr verschmilzt der Kopf mit dem Schaft, um diese Zeit ist der Hals schon vollkommen entwickelt, die Spitze des grossen Rollhügels entspricht jetzt dem Oentrum des Kopfes. Bis zu dieser Zeit befindet sich also die Grenze der Diaphyse stets an der Peripherie des Kopfes, d. h. der Befestigung der Gelenkkapsel ent- sprechend. Wenn infolge grossen Reichtums an Gefässen und ver- stärkten Stoffwechsels der Elemente des wachsenden Knochens, sagt Schoemaker, die physiologische Hyperplasie den Gharacter einer Ent- zündung annimmt, so kann sich in anderen Gelenken, wo die Grenze der Diaphyse sich ausserhalb der Anheftungsstelle des Kapselbandes befindet, eine Entzündung der Knochenhaut entwickeln, während im Hüftgelenk die angeführten Bedingungen eine Ausdehnung dieses Pro- cesses auf die Sjniovialkapsel und folglich auf das Gelenk selbst in hohem Grade begünstigen. Hierdurch erklärt er die im Hüftgelenk häufigen Leiden in frühem Alter. Endlich richtet Schoemaker die Auf- merksamkeit auf die unvollständige Entwickelung des Knie- und Ellen- bogengelenks bei Neugeborenen, bei welchen in folge dessen die Be- wegungen in diesen Gelenken unvollständig und ein Ausstrecken der Extremitäten unmöglich ist. Dieses ist in der Beziehung richtig, als jedes Ausstrecken der Extremität beim Wickeln der Kinder unbedingt eine Gewaltthat ist, welche auf das normale Wachstum der Extremität nur ungünstig einwirken kann. Um den allgemeinen Teil der Gelenklehre zu erläutern, kann man als Beispiel die Analyse eines den einfachen Gelenken am nächsten kommenden Gelenks, wie des Schultergelenks, und ebenso eines com- plicierten Gelenks, und zwar des Kniegelenks, nehmen. Um ein Gelenk zu untersuchen, muss man es zuerst nach den beim Lebenden beobachteten Functionen auf Grund des allgemeinen Teils construieren , darauf zur Verificierung dieses Baues durch Analyse derselben übergehen und mit der Erklärung der Function eines jeden dieser Gelenke auf Grund vor- hergehender Formanalysen und Versuche enden. Das Schultergelenk. Bei der Untersuchung des Schultergelenks beim lebenden Menschen erweist sich, dass hier Beugung und Streckung, Abduction und Adduc- tion, Pronation und Supination und kreisförmige Bewegungen möglich sind. Alle Bögen dieser Bewegungen sind sehr gross, sie können über 200*^ messen. Es fällt jedoch nicht schwer, sich zu überzeugen, dass alle diese Bewegungen nicht bloss im Schultergelenk ausgeführt werden, sondern sich noch zwischen Schulterblatt und Brustkasten fortsetzen. Um die Bewegungen im Schultergelenk von den Bewegungen des Schulter- — 195 — blattes selbst zu differenzieren, muss man irgend einen entfernten und der Untersuchung zugänglichen Teil des Schulterblattes, wie z. B. dessen unteren Winkel, feststellen. Bei einer derartigen Verificierung findet man in der That, dass die Bewegungen im Schultergelenk verhältniss- mässig klein sind, und dass beim lebenden Menschen Beugung und Streckung, Abduction und Adduction nur 66 oder 70° betragen. Ebenso kann man die Rotation in diesem Gelenk von derselben Bewegung zwischen den Vorderarmknochen trennen: man braucht nur die Ex- tremität im Ellenbogeugelenk unter rechtem Winkel zu beugen und zugleich den unteren Winkel des Schulterblattes zu fixieren. Unter solchen Bedingungen ist der Umfang der Bewegung im Schultergelenk ungefähr 85—88". Es fragt sich nun, was hier für ein Gelenk mög- lich ist? Beachtet man die in diesem Gelenk vorkommenden Bewegungen, so kann man ein Kugelgelenk oder ein compliciertes Gelenk voraus- setzen. Letzteres kann man aus dem Grunde ausschliessen, als sich hier die Hauptstütze des langen, von der Extremität gebildeten Hebels befindet; derselbe erfordert bei raschen Bewegungen mit verhältniss- mässig grossen Umfangen eine mehr unmittelbare Stütze, als sie der stets von Bändern fixierte Menisk gewähren kann. Man muss annehmen, dass sich hier ein sogenanntes freies Gelenk, d. h. ein Gelenk mit sphärischen Articulationsflächen, befinde. Die Umfange der Bewegungen sind nicht gleich: sie sind um die in der Horizontalebene gelagerten Achsen (Beugung und Streckung, Abduction und Adduction) geringer und um die verticale Achse (Rotation) grösser. Also wird der horizon- tale Durchmesser der Gelenkfläche kleiner sein, als der verticale. Die in der oberen Extremität vorhandenen Bewegungen sind ausserdem durch grosse Schnelligkeit characterisiert und werden daher unbedingt von Erschütterungen und Stössen, welche dank der Nähe der Gehirn- centren ungünstig sind, begleitet. Um nun ihre Einwirkung zu mildern, wie auch um die Oberfläche der Gelenkpfanne und folglich auch die Stütze zu vergrössern, können die Ränder der Pfanne von einem elas- tischen Knorpelring umgeben sein. Da der Bewegungsbogen, z. B. bei der Rotation, im lebenden Organismus beinahe 90*^ beträgt, so müssen die Stütze bei der Bewegung vergrössernde Vorrichtungen vorhanden sein, denn eine solche Bewegung ist nur bei verhältnissmässig kleiner Pfanne und grossem Kopf möglich. Zu diesem Zwecke kann nur ein Gewölbe, welches die Bewegung nicht hindert, sondern die Stütze ver- grössert, dienen. Ein Gewölbe kann aus Knochen, Knorpel oder Binde- gewebe (Sehnen) bestehen. Die ersten übertragen infolge ilirer Festig- keit und Härte die Stösse und Erschütterungen leicht, was unvorteilhaft ist; die zweiten sind, da Knorpel wenig Festigkeit besitzt, nicht fest genug; man kann nur noch annehmen, dass das Gewölbe hier aus Sehnen 13* — 196 — bestehe. Untersucht man beim lebenden Menschen die Lage des Schulter- blatts und die Richtung der Spina scapulae, so kann man sich leicht da- von überzeugen, dass dieser Knochen nicht in einer Frontalebene liegt, sondern mit seinem oberen Aussenwinkel, wo sich die Gelenkpfanne befindet, nach vorn und aussen gerichtet ist. Daher hat auch diese Pfanne dieselbe Richtung, und ihr hinterer Rand tritt mehr nach aussen vor, als der vordere. Die Stütze für den Kopf befindet sich haupt- sächlich innen und hinten, folglich ist vorn und aussen eine accessorische Stütze erforderlich. Um aber weniger Material zu verwenden, kann man statt dieser zwei Richtungen die mittlere Diagonale wählen, in welcher die Sehnenschlinge verlaufen kann. Diese Schlinge muss sich unter dem Einfluss von Muskeln befinden und leistet in diesem Falle um so mehr Widerstand, je stärker der Kopf sich gegen sie stemmt, also hauptsächlich bei der Adduction und Streckung, Abduction und Beugung können aber, wie gesagt, im lebenden Organismus etwa 65" betragen, darauf aber setzt sich die Bewegung zusammen mit dem Schulterblatt zwischen diesem und dem Brustkasten fort; hierbei muss sich folglich der Kopf des Oberarmbeins mit seinem vorderen und äusseren Teil gegen das Schulterblatt stemmen, um mit ihm ein Ganzes zu bilden, Dass sich hier Knochenvorsprünge gegen einander stemmen, kann man nicht annehmen, denn sonst würden die Stösse und .Er- schütterungen sich leicht fortpflanzen; also auch hier muss man einen biegsamen oder membranösen Bogen, der der Ebene des Schulterblatts perpendiculär ist, suchen. Sein Rand, gegen den sich das Oberarmbein mit seinem oberen Ende stemmen kann, muss sich wieder unter dem Einfluss von Muskeln befinden, da er sich sonst infolge seiner geringen Elasticität ausdehnen würde. Die fibröse und synoviale Kapsel dieses Gelenks müssen frei sein, sonst könnten sie die Bewegung hindern. Die fibröse Kapsel kann nur in ihrem unteren Vorderteil verdickt sein, da hier keine Muskelschicht vorhanden ist, und deshalb kann man hier am leichtesten das Gelenk erreichen und sogar die untere vordere Peripherie des Kopfes durch- fühlen. Die Sehnenschlinge muss den Kopf unmittelbar stützen und ihm folglich anliegen, dieses ist nur in dem Falle möglich, wenn sie zwischen der fibrösen und synovialen Kapsel, und zwar in einer Falte der letzteren, gelagert ist. An der Stelle, wo die Sehne an das Gelenk heran- tritt und sich zwischen der fibrösen und der synovialen Kapsel lagert, muss sie, da sie sich fortwährend hin und her bewegt, eine Synovial- ausstülpung bilden. Ausserdem kann man noch an der Basis des Raben- schnabelfortsatzes, wenn dieser Stelle eine Muskelsehne anliegt, eine Ausstülpung der Synovialkapsel erwarten. Nachdem man sich auf Grund der allgemeinen Anatomie der Knochen- verbindungen so erklärt hat, wie dieses Gelenk construiert sein kann^ — 197 — ist man auch imstande, über die dasselbe umgebenden Muskeln einige Vermutungen auszusprechen. Es ist begreiflich, das Beugung, Streckung? Abduction und Adduction von gemeinsamen Muskeln, welche nur mit ihren einzelnen Teilen, je nach der Richtung der bald die frontale, bald die sagittale Achse durchschneidenden Resultierenden, wirken, ausgeführt werden. Der Lagerung der Stütze am inneren (Rumpf) und äusseren (Oberarmstütze) Teile des Gelenkes gemäss, muss man annehmen, dass auch die Gruppen der Muskelantagonisten hier gelagert sind. Ausser- dem müssen sich auch noch andere Muskelgruppen, welche mit ihren Resultierenden die Verticalachse durchkreuzen, vorn und hinten als horizontaler Gürtel befinden. Zu welchem Typus sie gehören müssen, und wie die Gefässe und Nerven hier beschaffen sein müssen, wird sich bei der Behandlung des allgemeinen Teils des Muskelsystems aufklären. Jetzt wollen wir sehen, inwieweit unsere Voraussetzungen durch die Analyse des Gelenkes bestätigt werden, und was bei der Untersuchung des lebenden Menschen nicht bestimmt worden war. Bei der Analyse der Gelenkflächen des Kopfes und der Pfanne er- weist sich, dass der Kopf auf einem sagittalen Durchschnitt im Mittel einen Bogen von 153,5" (von 147—163°) mit einem Radius von 25,6 mm (von 21 — 26,5) vorstellt; in horizontaler Richtung beträgt der Bogen 151,1*' (von 134 -160"), der Radius aber 23,6 mm (von 19—25); der Kopf bildet mit dem Schaft des Oberarmbeins einen Winkel von 134,7*^ (von 120— 140*^). Untersucht man die Pfanne in denselben Ebenen, wie auch den Kopf, so findet man, dass ihr Bogen in sagittaler Richtung = 84,3« (von 76—95") mit einem Radius von 27,5 mm (von 24—29) ist, in horizontaler Richtung beträgt der Bogen 55,8" (von 47—69") bei einem Radius von 32,4 mm (von 27 — 37). An der Peripherie der Pfanne befindet sich ein Knorpelring, dessen Durchmesser 4 — 6 mm beträgt. Er ist in der horizontalen Richtung der Pfanne beweglicher, da er hier an einer schmalen Basis sitzt, während er am oberen und unteren Teil der Peri- pherie schmäler ist, aber mit einer breiten Basis beginnt und gleichsam eine Fortsetzung des Knochenrandes der Pfanne bildet. In seinen oberen Teil gehen die Sehnenfasern des langen Kopfes des Musculus biceps brachii, der sich hier hauptsächlich an den Knochen heftet, teilweise über. Infolge der Spannung dieser Sehne schmiegt sich der Knorpel- rand enger an den Kopf. In fünf Fällen aus fünfzehn waren die Radien des Kopfes in zwei verschiedenen Richtungen fast gleich; ihre Differenz beträgt nach Dr. J. Fomin '), dessen Zahlen wir hier benutzten, nicht mehr als einen Millimeter. Der Unterschied zwischen Pfanne und Kopf wird durch den Knorpelrand bedeutend vermindert; ist er jedoch gross? 1) Zur Frage von der Bestimmung der absoluten Muskelkraft. St. Petersburg. 1885, pag. 12—13. (russisch). — 198 — so befindet sich zwischen den Berührungsflächen Synovia, welche diesen Unterschied aufhebt; an Durchschnitten gefrorener Präparate erhält man dieselbe als Plättchen, welche den Raum zwischen den Gelenk- flächen ausfüllen. Diese Synovia macht durch ihre Beweglichkeit alle Bewegungen, welche in sphärischen Gelenken beobachtet werden, mög- lich, obgleich die Oberflächenform sich ein wenig verändert und elliptisch wird; sie bildet hier gleichsam eine flüssige Lamelle, welche zugleich die Einwirkung der Stösse und Erschütterungen mildert. Aus dem Gesagten ersieht man, dass man hier ein Gelenk mit fast sphärischen Articulationsflächen, welche durch eine grössere oder geringere Quantität, das Gelenk zu einem complicierten machender, Synovia ergänzt werden, vor sich hat. Über der Pfanne, zwischen dem Rabenschnabel- und dem Schulterfortsatz, befindet sich eine Bindegewebebogen, das Ligamen- tum coraco-acromiale; wo es am Knochen befestigt ist, geht es fächer- förmig auseinander. Es bildet eine nicht vollständig membranöse Fort- setzung der Pfanne, sein freier Rand hemmt bei der Abduction und Beugung die Bewegung der Extremität, weshalb dieser Rand die Fort- setzung einer Muskelsehne ist. Sein innerer oder hinterer Rand geht in die Aponeurosis supraspinata über; der äussere Rand setzt sich in die tiefe Lamelle der Scheide des M. deltoideus (semivagina art. humero-sca- pularis) fort. In denselben Rand gehen auch die Sehnenfasern des kurzen Kopfes des M. biceps, welcher den Rand spannt, sobald er dem kleinen Höcker des Oberarmbeins Widerstand leistet, unmittelbar über. Dieses Band dient hier als Gewölbebogen, gegen den sich der kleine und grosse Höcker des Oberarmbeins beim Aufhören der Bewegung im Schulter- gelenk und bei der Fortsetzung derselben zwischen Schulterblatt und Brustkasten stemmen. Über den Kopf des Humerus geht noch eine Schlinge hinweg, welche von dem Caput longum des M. biceps gebildet wird; letzterer verläuft in der Rinne zwischen dem grossen und kleinen Höcker, heftet sich, wie gesagt, an das Tub. supraglenoidale und geht in den Knorpelring der Gelenkpfanne über. Diese Sehne muss bei der Adduction und der Streckung sich spannen und Widerstand leisten, da sie die Diagonale zwischen der Frontal- und der Sagittalebene bildet, Der hintere schräg gelagerte Rand der Pfanne tritt in der That hervor, wie es früher vorausgesetzt wurde. Die Sehnenschlinge liegt in der Ebene des Schulterblatts, das Lig. coraco-acromiale aber ist recht- winklig zu derselben gelagert. Die Gelenkenden sind durch eine weite Kapsel, deren fibröser Teil an der Peripherie der Pfanne seinen x\nfang nimmt, über das Gelenk hinweggeht und am anatomischen Halse des Kopfes befestigt ist, mit- einander verbunden, wobei der untere und vordere Teil 4 — 10 mm vom Knorpelrande des Kopfes absteht. Der Synovialteil der Kapsel beginnt an der Peripherie des Pfaun^nrandes, bedeckt den Knorpelrand (labrum carti- — 199 — lagineiim) erreiclit die fibröse Kapsel, welche sie bis zu deren Befestigung an das Oberarmbein bedeckt; von hier aus wendet sich die Synovialkapsel zurück, bedeckt das Periost und endet an der Peripherie des Kopfknorpels. Zwischen der Befestigungsstelle der fibrösen Kapsel und dem Rande der Knorpeloberfläche befindet sich unter der Kapsel stellenweise Fett. Die Synovialkapsel bildet an zwei Stellen Ausstülpungen: vorn, unter der dem Gelenk eng anliegenden Sehne des M. subscapularis (bursa synovialis subscapularis). Diese Ausstülpung wendet sich zur vorderen, concaven Fläche des Rabenschnabelfortsatzes. Die zweite Ausstülpung (bursa synovialis intertubercularis s. bicipitalis) liegt in der Rinne zwischen den Oberarmbeinhöckern, indem sie sich nach unten bis zur Anheftungsstelle des grossen Brustmuskels und des breiten Rückenmuskels erstreckt. Diese Ausstülpung bildet sich infolge der Bewegungen des Caput longum des M. biceps bei verschiedenen Be- wegungen im Gelenk. Die Sehne dieses Muskels ist zwischen der fibrösen und der synovialen Kapsel, in einer Falte der letzteren gelagert. Bei den Bewegungen der Sehne wird die Basis dieser Falte ausgedehnt und zerstört. In der vorderen und unteren Wand der fibrösen Kapsel bemerkt man kleine Verdickungen, welche aus spiralförmig und schräg ver- laufenden Fasern bestehen; dies sind die sogenannten Ligamenta gle- noido-brachialia inferiora et interiora Schlemmii. Sie befinden sich zwischen den das Gelenk umgebenden Muskeln. An den oberen Teil der Kapsel tritt noch ein Faserbündel heran, das von dem äusseren Rande des Rabenschnabelfortsatzes ausgeht; dieses Band wird als Auf- hängeband des Gelenkes angesehen (lig. coraco-humerale). Es ist eigent- lich kein Band, sondern eine aponeurotische Scheidewand zwischen den Sehnen der Mus. supraspinatus und subscapularis. Aus der Analyse dieses Gelenkes ersieht man, dass ein aprioris- tischer Aufbau desselben möglich ist und sich später bei der Verifi- cierung als ganz richtig erweist. Bei der experimentellen Verificierung an der Leiche und bei der Untersuchung des lebenden Menschen fand man folgendes. Der Um- fang der Beugung und der Abduction am Gelenk der Leiche beträgt circa 70,7" (von 55 — 79"), der der Rotation 92,7" (von 65—105"). Zu Ende der Abduction stemmt sich die Spitze des grossen Höckers gegen den äusseren Teil des Lig. coraco-acromiale, und die Bewegung kann zwischen Schulterblatt und Brustkasten fortgesetzt werden. Bei der Adduction, ebenso auch bei der Streckung, leistet die gespannte und gewundene Sehne des M. biceps Widerstand. Gegen Ende der Beugung stemmt sich der kleine Höcker gegen den Rand des Lig. coraco-acro- miale, worauf die Bewegung der Extremität zusammen mit dem Schulter- blatt fortfährt. Bei der Vorwärtsrotation trifft der Innenrand des kleinen Höckers auf den Innenrand der Gelenkpfanne,, und dieses hemmt — 200 — die weitere Bewegung; ebenso trifft bei der Rückwärtsrotation der hintere Rand des grossen Höckers auf den Rand der Pfanne. In diesen Fällen schwächt der Knorpelring am Rande der Gelenkpfanne die Ein- wirkung der Stösse und Erschütterungen in vorteilhafter Weise; er ist augenscheinlich deswegen an diesen Rändern auch breiter und beweglicher. Beim lebenden Menschen sind, wie oben bereits erwähnt wui-de, alle Bewegungsbögen kleiner. Beugung und Abduction betragen etwa 66 ^\ die Rotation aber 85 — 88°. Hieraus ersieht man, dass der Muskel- antagonismus die Bewegung früher hemmt, als die Knochenvorsprünge. Die das Gelenk umgebenden Muskeln bilden innere und äussere Gruppen: von Abductoren, dem M. supraspinatus und deltoideus, und x4.dductoren: dem M. pectoralis major, teres major, latissimus dorsi, in- fraspinatus und teres minor, welche bei der Versetzung der Resultier- enden nach vorn und nach hinten auch als Beuger und Strecker dienen können. An der Beugung nehmen teil: die vordere Hälfte des M. del- toideus, der M. pectoralis major, der sogenannte M. coraco-brachialis, welcher eigentlich nur ein Kopf des M. biceps ist, der also in Wirk- lichkeit ein triceps ist ; dieser ganze M. triceps wirkt bei der Beugung mit. An der Streckung nehmen teil: die hintere Hälfte des M. deltoi- deus, der M. latissimus dorsi, teres major, infraspinatus, teres minor und das Caput longum des dreiköpfigen (triceps) oder richtiger vier- köpflgen M. extensor antibrachii ; die letzteren drei Muskeln wirken haupt- sächlich der Vorwärtsrotation der Extremität, welche infolge der longi- tudinalen Anheftung des M. lattissimus dorsi und teres major an die Spina des kleinen Höckers unbedingt stattfinden müsste, entgegen. Ausser diesen Muskelgruppen sind noch vordere und hintere Gruppen vorhanden, deren Resultierende die Längsachse unter rechtem Winkel durchkreuzen; man unterscheidet hier rückwärts rotierende: den M. supraspinatus, infraspinatus und teres minor zusammen mit dem Kopf des M. triceps, den man gewöhnlich M. coraco-brachialis nennt, und vorwärts rotierende: M. subscapularis, pectoralis major, latissimus -dorsi und teres major. Von den Typen dieser Muskeln und ihrer Be- ziehung zu den Gefässen und Nerven wird weiter unten gesprochen werden. Jetzt wollen wir uns zur Betrachtung eines complicierten Gelenks mit einem Menisk, und zwar des Kniegelenks, wenden. Das Kniegelenk. Bei der Untersuchung dieses Gelenks beim lebenden Menschen findet man, dass hier Beugung und Streckung mit einem Umfang von 145 ^ und Supination und Pronation mit einem Umfang von 39 ° möglich ist. Letztere Bewegung ist nur bei gebeugter Stellung der Extremität möglich, wobei die Supination grösser ist als die Pronation. Was kann das für ein Gelenk sein? Eine Bewegung um in der Horizontal- und — 201 — Verticalebene gelegene Achsen ist nur in einem einfachen Gelenk mit sphärischen Gelenkflächen oder in einem complicierten Gelenk möglich. Im ersten Falle dürfte zwischen den Bewegungsbögen ein so grosser Unterschied, wie hier, nicht bestehen; ausserdem müssten noch Be- wegungen um die sagittale Achse, d. h. Abduction und Adduction, möglich sein. Im sphärischen Gelenk wären die Rotationen nicht auf irgend einen Teil des Gelenks, wie hier den äusseren Teil, beschränkt, sondern wären um den Mittelpunct der Kugelfläche concentriert; endlich ist der Umfang der Beugung für ein einfaches Gelenk mit sphärischen Articulationsflächen, namentlich in der Mitte der dem Körper als Haupt- stütze dienenden Extremität, zu gross. Es bleibt also nichts anderes übrig, als hier ein compliciertes Gelenk, aber mit horizontalen und verticalen Menisken anzunehmen; denn nur in diesem Falle kann man sich Bewegungen um eine horizontale und eine verticale Achse, wobei die Bewegung um die verticale Achse augenscheinlich hauptsächlich im Aussenteil des Gelenks stattfindet, vorstellen. Von diesen Menisken kann der horizontale nur knorpelig sein, da ein Knochenmenisk durch- aus eine vollständige Platte vorstellen müsste und eine Berührung der oberen und unteren Teile der Extremitätenstütze und eine unmittelbare Stütze für die höher gelegenen Teile nicht zulassen würde. Daher wäre hier mit einem Knochenmenisk in aufrechter Stellung die Dauer- haftigkeit und Festigkeit nicht gross genug, da dieser Menisk haupt- sächlich mit Hülfe von Bändern fixiert werden müsste; ausserdem wäre das auch in Bezug auf die Fortpflanzung der Stösse und Erschütterungen unvorteilhaft. Alle diese Nachteile können durch unvollständige Knor- pelmenisken, welche sich zwischen den in Berührung stehenden Enden lagern können, beseitigt werden. Von ihnen muss der äussere Knorpel- menisk imstande sein, die Form einer sphärischen Grube anzunehmen, da nur in diesem Falle hier Bewegung um die verticale Achse möglich ist. Bei der Bewegung im äusseren Abschnitt aber muss der innere Ab- schnitt nach Möglichkeit befestigt sein, was am vorteilhaftesten durch kreuzweise verlaufende Bänder, welche in diesem Falle die Bedeutung eines membranösen Menisks haben, erreicht werden kann. Diese Bänder müssen, indem sie den inneren Abschnitt vom äusseren trennen, den ersteren fixieren, während im äusseren accessorische Bewegungen, d. h. Rotationen, ausgeführt werden ; da in gestreckter Haltung letztere Bewegungen un- möglich sind, so müssen bei dieser Haltung der Extremität die äusseren Teile des Gelenkes gleichfalls durch Bänder fixiert sein, und zwar müssen sie dort, wo die Beweglichkeit minimal ist, fast fächerförmig, und wo die Beweglichkeit maximal ist, gerade sein. Auf diese Weise wird das Gelenk durch den horizontalen Knorpelmenisk und durch die kreuz weisen Bänder in vier Abschnitte geteilt: einen inneren und einen äusseren oberen, einen inneren und einen äusseren unteren. Der innere — 202 — Abschnitt kann wiederum von innen durch ein nicht vollständiges Fächerband begrenzt sein; ihm wird der vordere Teil des Fächers fehlen, da die Rotation hauptsächlich im vorderen äusseren Abschnitt des Gelenks concentriert ist. Wie müssen nun im gegebenen Falle die Gelenkflächen beschaifen sein? Da die Hauptbewegung die Beugung und Streckung ist, für die vor- handene Rotation aber bereits das Vorhandensein eines Knorpelmenisks angenommen wurde, so muss der Kopf eine um eine Achse gebildete Rotationsfläche vorstellen; er muss aus zwei Teilen bestehen, wobei der hintere Teil des äusseren Abschnitts ein Kugelsegment sein muss, da, wie die Untersuchung ergiebt, die Rotation am grössten ist, wenn die Extremität unter rechtem Winkel gebogen ist und hauptsächlich im äusseren Abschnitt des Gelenkes concentriert ist. Beachtet man jedoch, dass der Umfang der Bewegung hier ziemlich gross ist, und dass man das Vorhandensein eines Knochenmenisks nicht zulassen darf, während die Extremität in gestreckter Haltung als gleichmässig feste Säule erscheinen muss, so ist man gezwungen anzunehmen, dass in diesem Gelenk entweder eine Schraubenfläche oder sogar eine gebrochene Achse sein muss. Am meisten muss man für das Vorhandensein der letzteren stimmen, denn nur in solch einem Falle wird die Extremität bei grosser Kraftentfaltung, welche von Seiten der Säule grosse Stütze erfordert, gleichsam ein Ganzes vorstellen. Wenn man jedoch das Vor- handensein einer gebrochenen Achse zulässt, so muss man zugleich an- nehmen, dass einer der Knorpelmenisken dicker und beweglicher ist, als der andere; es kann dieses nur der äussere sein, da in diesem Ab- schnitte eine accessorische Bewegung zu beobachten ist. Ein dicker beweglicher Knorpel, welcher unter gewissen Bedingungen die Form einer sphärischen Pfanne annimmt, wird jedoch die Festigkeit der ge- gebenen Verbindung vermindern und kann beim Druck leicht nach aussen hervortreten; deswegen muss hier im äusseren hinteren Teil ein Gewölbebogen gelagert sein, und zwar gerade hier, da die Supination grösser ist als die Pronation. Die fibröse Kapsel muss in diesem Gelenk sehr frei sein, sonst wäre Beugung mit einem so grossen Umfang unmöglich; die Synovial- kapsel aber wird, wie immer in einem solchen Falle, alle hier vorhan- denen Menisken bedecken. Bei der Untersuchung der vorderen Wandung des Kniegelenks findet man hier einen besonderen beweglichen Knochen, welcher ganz und gar in die Sehne der den Unterschenkel streckenden Muskeln eingesenkt ist. Dieses ist augenscheinlich ein Sesambein, welches ein Angreifen der Muskeln unter einem grösseren Winkel möglich macht. Ein solcher Knochen muss jedoch von den darunter befindlichen Teilen durch Synovialfalten, -Fortsätze oder Synovia ge- trennt sein, denn sonst wiirden die seine Bewegung begleitenden Stösse — 203 — und Erschütterungen leicht auf die benachbarten Knochen übertragen werden. Ausserdem müssen zwischen der Peripherie des äusseren Knorpels und dem hier anliegenden Sehnenbogen, und endlich zwischen der von oben an die Kniescheibe herantretenden Sehne und dem unteren Ende des Schenkelbeins Ausstülpungen der Synovialkapsel sein; diese Vorrichtungen sind für die Verminderung der Reibung zwischen den einander berührenden Teilen notwendig. Dieses Gelenk muss vorn und hinten von streckenden und beugen- den Muskeln umgeben sein, in der rechtwinkligen Flexionsstellung aber, in der die Pronation und Supination am grössten ist, müssen noch Muskeln vorhanden sein, welche mit ihrer Resultierenden die Vertical- achse des Unterschenkels unter rechtem Winkel durchschneiden und Pronation sowie Supination ausführen. Ausserdem müssen die hintei" der Bewegungsachse gelagerten Muskeln aus zwei Gruppen bestehen, von denen die einen bei oberer, die anderen bei unterer Stütze wirken ; von ihnen muss die untere Gruppe stärker entwickelt sein, da sie unter der Last des ganzen Körpergewichts functioniert. Vergleichen wir nun diese Annahmen mit den Daten der Analyse. Bei der Untersuchung des unteren Gelenkendes eines frischen Schenkel- beins kann man hier stets einen hervortretenden Knorpelkamm, der den vorderen unregelmässig geformten Teil, welcher die Kniescheibe berührt, von dem hinteren, eigentlichen Condylenteil, welcher aus- schliesslich an der Bewegung im Gelenk teilnimmt, trennt, beobachten. Betrachtet man die Condylen, so bemerkt man, dass die Oberfläche des inneren Condylus breiter, von regelmässigerer Form ist, während die Oberfläche des äusseren mehr abgerundet ist und in ihrem hinteren Teil die Form eines Kugelabschnitts annimmt. Bei einem sagittalen Durchschnitt durch die Mitte dieses Condylus erhält man einen Bogen, der bei Messung in Entfernungen von je 5 mm folgende Radien giebt. Nach den Untersuchungen Nach hier ausgeführten Untersuchungen: der Gebr. Weber ^): Rad. d. äuss. Cond. Rad. d. inn. Cond. Radien d. äuss. Condylus 18 mm 19 mm 16,85 mm 18 „ 19 „ 17,58 „ 18 „ 20 „ 16,37 „ 18 „ 20 „ 17,42 „ 22 „ 26 „ 19,76 „ 22 „ 28 „ 22,47 „ 47,36 „ 53,00 „ Sie kommen, wie man sieht, in der hinteren Hälfte des Condylus einander sehr nahe und wachsen nach vorn hin rasch an. Die beiden 1) L. c, pag. 174. — 204 — letzten Zahlen bei Weber gehören schon zu dem die Kniescheibe be- rührenden Teil und haben folglich für die Bewegung keine Bedeutung. An einem durch die Mitte des hinteren Abschnitts der Condylen gehen- den Horizontalschnitt erweist sich, dass der Radius des äusseren Con- dylus dem hier beim Sagittalschnitt erhaltenen Radius nahe kommt. Bei einem Horizontalschnitt durch den inneren Condylus aber erhält man eine Curve, deren Radien nicht in einem Punct convergieren, wie das am äusseren Condylus der Fall ist. Am Frontalschnitt, der durch die Mitte der Condylen geht, muss man über der so erhaltenen Curve der Condylen die Radien den früher ausgeführten Sagittalschnitten ent- sprechend errichten; hierbei erhält man eine Achse für den äusseren Condylus, und eine andere für den inneren; diese Achsen durchschneiden sich in der Mitte unter einem Winkel von 167'^, wobei die nach unten gerichtete äussere Achse mit der Horizontalebene einen Winkel von 13" bildet. An dem unteren Ende des Schenkelbeins stellt sich also eine Gelenkfläche heraus, bei welcher die Bewegungen um eine ge- brochene Achse stattfinden müssten, was natürlich unmöglich wäre, wenn nicht Compensation mit Hülfe der interarticulären Knorpel existierte. Dieses sind der sogenannte äussere und innere Semilunar- knorpel (cartilaginis falcatae s. semilunares — medialis et lateralis). Von ihnen ist der innere grösser, sichelförmig, mit auseinandergehen- den vorderem und hinterem Ende. Diese Enden sind mit Hülfe der Bänder der Semilunarknorpel (lig. cartilag. semilun. ant. et poster.) am vorderen und hinteren Randteil der Gelenkfläche der Tibia befestigt. Dieser Knorpel ist im hinteren Teil am breitesten, hier ist sein Durch- messer = 17 mm, während er vorn nur 8 oder 9 mm breit ist; seine Dicke beträgt in der Mitte 4—5 mm. Der äussere Knorpel ist mit seinen Enden vor und hinter der Eminentia intercondyloidea am oberen Ende des Schienbeins befestigt. Zusammen mit dieser Eminentia be- grenzt der Knorpel eine fast regelmässig sphärische Grube. Sein Quer- durchmesser ist fast überall gleich, ungefähr = 13 mm. In der Mitte ist er 6 oder 7 mm dick. Der innere Knorpel verschmilzt an seiner ganzen äusseren Peripherie mit der fibrösen Gelenkkapsel. Der äussere Knorpel ist im Gegenteil in der Mitte seines äusseren Randes frei und hier sogar von einer Ausstülpung der Synovialkapsel bedeckt; er ist deshalb viel beweglicher, als der innere Knorpel. Die untere Fläche dieser Knorpel ist eben und entspricht der Gelenkfläche der Tibia. Die oberen Flächen der Knorpel zusammen mit dem mittleren Teil der Tibiagelenkflächen entsprechen der unteren Fläche der Schenkelbein- condylen. Der äussere Knorpel passt sich infolge seiner Beweglichkeit und Dicke der Gelenkfläche des äusseren Condylus leicht an. Zusammen mit der Eminentia intercondyloidea tibiae berührt er, indem er eine sphärische Grube begrenzt, den hinteren Teil des äusseren Schenkel- — 205 — beincondylus. Infolge ihrer verschiedenen Dicke und Beweglichkeit haben die Semilunarknorpel die Bedeutung von elastischen Lamellen, welche sich der Form der Gelenkflächen in deren verschiedenen Teilen leicht anpassen, der äussere Knorpel aber macht noch accessorische Be- wegungen, nämlich Rotationen, und ebenso Bewegungen um die com- pensierte gebrochene Achse möglich. Letztere Bewegung ist nur des- halb möglich, weil der äussere Knorpel, je nach dem Grade des Drucks von Seiten des Körpergewichts, sich verdünnen und verdicken kann. Der äussere Semilunarknorpel wird in seiner Lage durch die Sehne des M. popliteus erhalten, welche am äusseren und hinteren Teil des Knorpels hier schräg anliegt und ein Ausweichen dieses Knorpels nach aussen und hinten hindert. Ausser all diesem haben die Semilunarknorpel aber noch folgende Bedeutung: sie sind an der Peripherie zweier sich in der Mitte be- rührender Knochen gelagert und verteilen daher die Last gleichmässig über die ganze Oberfläche, sonst würde der obere Knochen auf eine sehr begrenzte Stelle des unteren Knochens drücken und schmerzhafte Empflndungen hervorrufen; ebenso wird z. B. eine auf den Kopf gelegte Last, da sie hier nur auf eine Stelle ihren Druck ausüben wird, starke Schmerzempfindungen zur Folge haben; legt man sich jedoch einen elastischen oder festen Kranz unter die Last, so wird ihre Wirkung auf die ganze Fläche verteilt und jeder Schmerz beseitigt. Diese Knorpel können die Spannung der Lateralbänder vermindern oder ver- grössern. Die Radien des äusseren Condylus messen, wie oben bereits gesagt wurde, von 18 — 22 mm; je nachdem, mit welchem Teil sich nun der Condylus auf den Knorpel stützt, werden die Lateralbänder schlaff oder angespannt sein; im ersten Falle, wenn die Radien der Condylen- fläche kleiner sind, sind die Enden der Lateralbänder einander ge- nähert und dieselben folglich schlaff"; der Zwischengelenkknorpel aber nimmt, da er weniger comprimiert wird, dank seiner Elasticität an Dicke zu, rückt die einander berührenden Knochen auseinander und spannt dadurch die Bänder; im zweiten Fall, bei grösserem Radius der Gelenkfläche des Condylus, sind die Bänder gespannt, der Knorpel wird zwischen den beiden Knochen stärker zusammengedrückt, sein Längs- durchmesser und zugleich auch die Spannung der Lateralbänder wird kleiner. Die Semilunarknorpel mildern durch ihre Elasticität auch noch die Einwirkung der Stösse und Erschütterungen; bei unmittel- barer Berührung der Knochen werden die Bewegungen bestimmter, zugleich aber ist, namentlich bei grossen Knochenflächen, die Fort- pflanzung der Stösse und Erschütterungen stärker. Diese Eigenschaften der Semilunarknorpel sind schon von den Gebr. "Weber ^) beschrieben worden; eine genaue Erklärung ihrer Bedeutung 1) L. c, pag. 193-194. — 206 — ist für das Verständniss der Construction des ganzen Gelenks unbedingt notwendig. Ausser den Knorpelmenisken sind in diesem Gelenk noch mem- branöse Menisken, das Ligamentum cruciatum anterius und posterius, vorhanden. Von ihnen begrenzt das vordere Band den äusseren (lateralen) Teil des Gelenks von innen. Es besteht aus schrägen Fasern und nimmt von der Medianfläche des äusseren Condylus von einer bogen- förmigen Linie, deren convexe Seite nach hinten gerichtet ist, seinen Anfang. Die Fasern gehen schräg nach vorn und unten und enden in der Pfanne vor der Eminentia intercondyloidea tibiae. Bei äusserster Streckung ist dieses Band mit all seinen Pasern gespannt. Bei der Beugung wird es schlaff, und seine Fasern winden sich allmählich um- einander, wobei sein hinterer Rand sich nach vorn bewegt, sein Ur- sprung am Femur aber eine horizontale Lage einnimmt. Gegen Ende der Beugung ist dieses Band wiederum in allen seinen Teilen gespannt, und seine Fasern sind gewunden. Das Ligamentum cruciatum internum s. posterius ist viel stärker, es ist fächerförmig und besteht gleichsam aus zwei Dreiecken, einem vorderen, mit seiner Spitze nach unten ge- richteten, und einem hinteren, dessen Spitze nach oben gerichtet ist; es nimmt an der lateralen Fläche des inneren Condylus längs einer nach oben convexen Linie seinen Anfang. Dieses Band verläuft fast vertical nach unten und heftet sich in der Mitte des hinteren Randes an das obere Ende des Schienbeins. Bei voller Streckung der Extremität ist es in allen Teilen gespannt, bei der Beugung spannt es sich all- mählig von vorn nach hinten, seine Fasern winden sich dabei umeinander, ihre Anheftungsstelle am Femurcondylus aber nimmt eine verticale Lage an, wobei ihre convexe Seite nach vorn gerichtet ist, und zu Ende der Beugung ist es auch wieder gewunden und in allen Teilen gespannt. Zuweilen kommen hier auch noch accessorische Fasern, welche zum hinteren Ende des inneren Semilunarknorpels verlaufen, vor; es ist dies das sogenannte Ligamentum cruciatum tertium s. posticum. Von der Bedeutung dieser Bänder bei der Bewegung wird unten die Rede sein. Zu beiden Seiten des Gelenks befinden sich Lateralbänder, die Liga- menta lateralia genu— externum et internum. Von ihnen entspringt das äussere am Höcker des äusseren Schenkelbeincondylus und heftet sich an den Kopf der Fibula. Dieses Band hat das Aussehen eines glatten Stranges, dessen Fibrillen spiralförmig gewunden sind. Im unteren Teil wird es von den Sehnenfasern des M. biceps femoris umfasst; diese Fasern verschmelzen teilweise mit ihm. Bei äusserster Beugung und Streckung ist es gespannt und im ersteren Falle gewunden, in der Mitte zwischen diesen Stellungen aber schlaff. Dieses hängt davon ab, dass bei verticaler Stellung der Extremität der Anfang des Bandes — 207 — weiter vom Rande der Gelenkfläche, nämlich etwa 30 mm, absteht, als bei gebeugter Extremität, wo diese Entfernung nur 22 — 25 mm beträgt. Das innere Lateralband ist viel breiter als das äussere, bis zum vollständigen Fächer fehlt ihm der vordere Teil. Es besteht aus einem vorderen, langen Teil (lig. laterale genu internum longum) und einem hinteren divergierenden kurzen Teil (lig. laterale genu internum breve). Der vordere lange Teil entspringt am inneren Condylus des Schenkel- beins, seine Fasern verlaufen nach unten und heften sich 5-7,5 cm unter dem Rande des inneren Tibiacondylus an die Innenfläche desselben Knochens. Der hintere kurze Teil nimmt gleichfalls am inneren Femur- condylus seinen Anfang, seine Fasern divergieren nach hinten und unten und enden am hinteren Teil der Innenfläche des Schienbeins, unmittel- bar unter dessen oberem Rande; die tiefen Fasern aber verschmelzen mit dem inneren Semilunarknorpel am hinteren Teil seiner äusseren Peripherie. Dieses Band ist bei der Streckung in allen seinen Teilen gespannt; bei der Beugung verwindet es sich und spannt sich von vorn nach hinten, so dass es zu Ende der Beugung wieder vollständig ge- spannt und gewunden ist. Das äussere Lateralband begrenzt auf diese Weise zusammen mit dem Ligamentum cruciatum anterius den äusseren Abschnitt des Gelenks, das innere Lateralband aber zusammen mit dem Ligamentum cruciatum posterius den inneren Abschnitt desselben. Die fibröse Kapsel umgiebt das Gelenk wie ein Sack, in dessen vorderer Wandung in der Mitte die Patella eingelagert ist. Am unteren Ende des Schenkelbeins fängt diese Kapsel in verschiedener Höhe, 13 bis 73 mm über dem Kniescheibenrande, an. Von da an geht sie nach beiden Seiten schräg abwärts, indem sie bogenförmig unter der Mitte der Epicondj^len vorübergeht, von hier aus wendet sie sich, indem sie dem oberen Rand des Knorpels des Epicondylus folgt, nach hinten, wo sie in der Mitte des Schenkelbeins von der Linea intercondyloidea beginnt. Unten ist die Kapsel am oberen Ende der Tibia, sogleich unter ihrem Rande, angewachsen. In der Mitte des Knochens geht sie in das Lig. cartilaginum semilunarium internum anterius, hinten aber in das Lig. cru- ciatum posterius über. Über und zu beiden Seiten der Patella verwächst die Kapsel mit den Sehnenfasern des M. extensor cruris. An den Seiten verschmilzt sie mit der äusseren Peripherie der Semilunarknorpel, be- sonders mit der ganzen Peripherie des inneren Knorpels. Die Synovialkapsel entspricht nicht in allen Teilen der fibrösen. Sie bedeckt vorn und zu beiden Seiten die Ligamenta cruciata und die Semilunarknorpel und bildet im äusseren und im oberen, vorderen Teil des Gelenkes Ausstülpungen, die Bursa synovial ispoplitea und die Bursa synovialis subcruralis. Endlich bildet sie Falten und Fortsätze, welche den ganzen Raum zwischen dem Vorderteil des Schienbeins, der Knie- scheibe und den Condylen des Schenkelbeins ausfüllen; dies sind die — 208 — sogenannten Lig. alaria s. Plicae synoviales patellares, die in der Mitte an der Linea intercondyloidea anterior als Lig-. mucosum s. Lig. plicae synovialis patellaris anwachsen. Die Synovialkapsel nimmt am Knorpel- rande des unteren Endes des Schenkelbeins ihren Anfang, geht bis zur Anheftungsstelle der fibrösen Kapsel nach oben, an der entlang sie sich nach unten wendet, hinten aber geht sie auf die Lateralflächen der Ligamenta cruciata und auf die Vorderfläche des vorderen Bandes über. Zu beiden Seiten bis zu den Lig. cruciata setzt sie sich auf die Semi- lunarknorpel fort, bedeckt ihre obere und innere Fläche und endet schliesslich am Knorpelrande des oberen Tibiaendes. Infolgedessen befinden sich sowohl die Ligamenta cruciata, als auch die Semilunarknorpel ausser- halb der Gelenkhöhle. Sie sind alle von der Synovialhaut bedeckt, um die Reibung bei Bewegungen zu verringern. In der Mitte ist zwischen der hinteren Wand der Synovialkapsel und der fibrösen Kapsel ein Raum, dessen sagittaler Durchmesser etwa 30 mm misst. Hier liegen die Ligamenta cruciata, zwischen ihnen aber Fett und Gefäss Verästelungen. In der Mitte des äusseren Gelenkabschnittes, über dem äuseren Knorpel bildet die Synovialkapsel eine Ausstülpung, welche sich zwischen diesem Semilunarknorpel und der Sehne des M. popliteus nach hinten, unten und innen erstreckt und schliesslich blind endet; dieses ist die Bursa synovialis poplitea. Diese Ausstülpung bildet sich infolge der Bewegung des M. popliteus und dient dazu, die Reibung zwischen diesem Muskel und der Peripherie des äusseren Semilunarknorpels zu verringern. Die Sehne dieses Muskels entsendet stets eine Fortsetzung, die mit dem äusseren Lateralband des Gelenks verschmilzt und deshalb augenschein- lich dieses Band spannen kann und es bei Rotationen zurückzieht. Diese Kapsel communiciert unter dem Rand des äusseren Knorpels ge- wöhnlich mit dem unteren Teil des äusseren Gelenkabschnitts ; in seltenen Fällen (nach Gruber ^) in 11 von 80 Fällen) communiciert diese Aus- stülpung auch mit dem oberen Tibiofibulargelenk. Die vordere obere Ausstülpung der Synovialkapsel, die Bursa synovialis subcruralis, ist nicht so constant, sie kann auch nicht vorhanden sein, über ihr aber kann sich ein einzelner nicht mit ihr coramunicierender Schleimbeutel, die Bursa niucosa suprapatellaris profunda, befinden. Diese Ausstülpung kann sich hinter und unter dem unabhängig von ihr existierenden Schleim- beutel nach oben erstrecken. Endlich kann die Ausstülpung mit dem Schleimbeutel communicieren. Um das Einklemmen der Gelenkkapsel und ihrer Ausstülpungen zu verhindern, heften sich ihnen von oben, vom vorderen unteren Teil des Schenkels kommende Muskeln, die tiefen Bündel des M. extensor quadriceps cruris (M. subcrurales), an. Die Aus- stülpungen, ebenso wie auch die Schleimbeutel dienen zur Verminderung der Reibung zwischen den Sehnen des Unterschenkelstreckers und der vor- 1) Prager Vierteljahrschrift für pract. Heilkunde. 1845, Bd. I. pag. 96. — 209 — deren Fläche des unteren Femurendes; in Bezug auf ihre Entwickelung werden sie augenscheinlich von der Thätigkeit dieser Muskeln abhängen. Hinter dem inneren Condylus befindet sich ein Schleimbeutel, die Bursa mucosa semi - membranosa - gastrocnemialis s. retrocondyloidea interna, welche in 50 Fällen von 100 (Gruber) mit dem Gelenk in Verbindung steht. Zwischen der Kniescheibe und dem Höcker des Schienbeins liegt die starke Sehne des M. extensor cruris. Sie wird gewöhnlich unter dem Namen eigenes Band der Kniescheibe (lig. patellae proprium) be- schrieben. Zwischen dieser Sehne und dem Schienbeine trifft man stets einen Schleimbeutel, die Bursa mucosa subpatellaris , welche nie mit dem Gelenk communiciert. Am hinteren Teil der fibrösen Kapsel befindet sich eine Wulst von transversalen, von innen nach aussen verlaufenden Fasern, die Fort- setzung der Sehne des M. semimembranosus. Diese Fasern bilden das sogenannte Lig. popliteum obliquum; durch ihre Vermittelung wird die Kapselwandung bei der Beugung durch die Contraction des M. semimem- branosus nach hinten gezogen. An dem äusseren Epicondylus entspringen Fibrillenbündel, welche sich bogenförmig nach unten und innen wenden und neben dem Lig. popliteum obliquum in der hinteren Wand der fibrösen Kapsel enden; der untere convexe Teil entsendet zum Kopf der Fibula eine Fortsetzung; diese Bündel bilden das Ligamentum popliteum arcuatum, die Fortsetzung aber den verdickten Teil dieses Bandes (retinacu- lum lig. arcuati). In den unteren Teil dieser Bündel strahlen die Fasern der M. popliteus et plantaris aus, welche infolgedessen bei unterer Stütze die fibröse Kapsel bei der Beugung und Rotation nach hinten ziehen. Im Kniegelenk ist, wie schon bekannt, Beugung und Streckung, Supination und Pronation möglich; die Beugung findet zwischen dem unteren Ende des Schenkelbeins zusammen mit den Semilunarknorpeln und dem oberen Ende der Tibia statt. Diese Bewegung ist nur des- halb möglich, weil der äussere Knorpel höher (dicker) und beweglicher ist, als der innere, und deshalb die Abweichung der Achse im äusseren Condylus compensiert. An der Leiche beträgt der Bewegungswinkel bis 165*^, beim lebenden Menschen 144,8° (Weber). Schon dieser Unter- schied bei der Leiche und beim lebenden Menschen deutet auf die Bedeutung des Muskelantagonismus als Haupthemmung des Gelenks. Der Bewegungswinkel wird grösser, sobald diese Hemmung abgeschwächt oder nicht thätig ist, wie bei der Leiche. Beim maximum der Streckung sind die Lateralbänder und die Ligamenta cruciata, wie gesagt, ge- spannt, aber nicht gewunden. Bei der Beugung werden die Lateral- bänder und das Lig. cruciatum-anterius schlaff, wobei die Fasern des letzteren sich spiralförmig aufwinden; ein Teil des Lig. cruciatum pos- terius und des inneren Lateralbandes spannt und windet sich allmählich. Gegen Ende der Beugung sind alle diese Bänder gespannt, ihre Fasern 14 — 210 — aber gewunden, ein solcher Grad der Windung ist jedoch nur bei der Leiche, nicht aber beim lebenden Menschen möglich. Durchschneidet man die Lateralbänder, so kann man beim Maximum der Beugung und namentlich der Streckung den oberen Teil des Gelenks nicht anf dem unteren fixieren ; das Schenkelbein gleitet hin und her und rotiert stark nach aussen und innen. Beim Durchschneiden der Ligamenta cruciata werden die Teile des Gelenks bei vollständiger Streckung zusammen- gehalten, während der Beugung gehen die Teile auseinander und schlottern gleichsam aufeinander. Bei der Durchschneidung des Lig. cruciatum anterius verrenkt sich das Schenkelbein leicht nach hinten, bei der Durchschneidung des Lig. cruciatum posterius aber strebt es sich nach vorn zu verrenken. Hieraus ersieht man, dass die Lateral- bänder das Gelenk bei voller Beugung und Streckung, die Ligamenta cruciata aber beim Übergang von einer Stellung zur anderen feststellen. Ausser der Beugung und Streckung sind hier noch, und zwar haupt- sächlich im äusseren vorderen Teil des Gelenks, Supination und Pro- nation möglich. Nach den Untersuchungen von Hermann Meyer ^) ist diese Bewegung nur bei im Kniegelenk gebeugtem Unterschenkel mög- lich, und zwar fand er in verschiedenen Beugungsgraden folgende Winkelstellungen für die Rotation nach aussen: Beugungswinkel des Knies Rotationswinkel 150'^ 32« 120« 33« 90« 42« 60« 52« Bei der Untersuchung des Gelenks erweist sich jedoch, dass das nicht ganz richtig ist; den grössten Rotations winkel erhält man bei einer rechtwinklig gebeugten Extremität; in dieser Stellung beträgt der Ro- tationswinkel bei der Leiche bis 40«, beim lebenden Menschen aber bis 36« (nach Weber bis 39«). Diese Bewegung findet hauptsächlich zwischen dem äusseren Femurcondylus zusammen mit dem äusseren Semilunarknorpel und dem oberen Ende der Tibia statt; der Knorpel rutscht hierbei mit seiner unteren Fläche über die Oberfläche der Tibia. Die Achse dieser Bewegung geht ungefähr durch das Ligamentum cru- ciatum posterius. Die Rotation kann auch ein wenig zwischen dem vorderen Teil des inneren Semilunarknorpels und der Tibia fortgesetzt werden. Zur deutlicheren Vergegenwärtigung kann man diese Bewegung mit der Bewegung der Vorderräder eines um die Ecke biegenden Wagens vergleichen, wobei das äussere oder von der Ecke weiter entfernte Rad den äusseren Abschnitt des Kniegelenks vorstellt. Bei der Rotation gleitet hauptsächlich der Knorpel über das Schienbein und nur in ge- 1) Statik und Mechanik des menschlichen Knochengerüstes. Leipzig. 1873, pag. 359. — 211 — ringem Masse kommt die Rotation des liinteren, sphärischen Abschnitts des äusseren Coiidyliis in der ihm ertspreclienden Pfanne hinzu. An der Leiche ist diese Bewegung, wie gesagt, grösser, als beim lebenden Menschen, sie wird im ersteren Falle bei der Supination durch das Lig, cruciatum anterius begrenzt und nimmt nacli Durchschneidung des- selben um 4*^ (Weber) zu. Die Prouation wird bei der Leiclie durch das äussere Lateral band begrenzt und nimmt nach Durchschneidung des letzteren um 9 "^ zu. Aus dem Gresagten folgt, dass 1) das Verhältnis der das Gelenk bildenden Knochen und folglich auch die Form des Gelenks sich bei allen Verschiebungen und Veränderungen der Knorpel verändern muss; 2) bei Veränderungen in den Lateralbändern treten in verticaler Lage der Extremität, bei veränderter Ligamenta cruciata bei der Beugung und Streckung Schmerzempfindungen ein; 3) bei Leiden, welche um das äussere Lateralband concentriert sind, treten Schmerzempfindungen am leichtesten bei starken Rotationen, namentlich bei der Pronation, ein. Die dieses Gelenk umgebenden Muskeln sind vor und hinter der transversalen Achse gelagert; die ersten sind Strecker (m. extensor quadriceps cruris), die letzten aber Beuger; von diesen wirken die einen (m. semitendinosus , semimembranosus und biceps femoris) bei oberer Stütze, die anderen aber (m. gastrocnemii, soleus und plantaris) bei unterer Stütze. Die Rotation führen Muskeln, deren Resultierende die verticale Achse von aussen und von innen rechtwinklig durchkreuzt, aus. Zu den ersteren gehört der M. biceps femoris, zu den letzteren aber der M. sartorius, rectus internus s. gracilis und semitendinosus. Bei unterer Stütze erscheinen auch noch der innere und äussere Kopf des M. gastrocnemius und der M. popliteus als rotierende Muskeln. 14* Kapitel IV. AUgemeiiie Anatomie des Muskelsysteins. Das Muskelsystem besteht aus Organen, mit denen die activ physische Thätigkeit in Verbindung steht und welche so construiert sind, dass sie bei verhältnismässig geringem Volumen und verhältnismässig geringem Materialaufwand imstande sind, grosse Gewandtheit oder maximale Kraft zu entfalten und durch ihre Elasticität die Einwirkung der Stösse und Erschütterungen zu mildern. Die Bedeutung dieses Grundsatzes muss aus der Kenntnis des Baues und der Function dieser Organe erhellen. Die Organe, aus denen das Muskelsystem besteht, ziehen sich im thätigen Zustand zusammen und entwickeln dabei eine gewisse Kraft, die sowohl die einzelnen Skelettteile, als auch einzelne Weichteile in Bewegung setzt. Die Muskeln sind eigentlich Organe des animalen Lebens, aber sie kommen auch in den Organen des vege- tativen Lebens vor. Im ersten Falle sind sie willkürliche Muskel- organe oder sogenannte quergestreifte Muskeln, im zweiten aber glatte Muskeln. Das Gewebe der quergestreiften Muskeln besteht, einzeln genommen, aus Bündeln, in denen man mit blossem Auge Fasern unter- scheiden kann. Dieses Gewebe ist hellrotbraun, doch kann die Farbe vom mattrosa bis zum kirschroten mit leicht bräunlicher Nuance variieren. Diese Farbenvariationen des Muskelgewebes sind von ihrer Thätigkeit direct abhängig und zwar ist die Färbung um so intensiver, je mehr dasselbe thätig gewesen war. Die Färbung des Muskelgewebes hängt von dem Farbstoff des Blutes (dem Hämoglobin) ab. Sie ist um so intensiver, je mehr Blut durch das gegebene Organ gegangen ist, was seinerseits von dem Grad der Thätigkeit desselben abhängt. Natürlich kann die intensivere Färbung des Muskelgewebes auch vom fieberhaften Zustande und der damit verbundenen Erregung ab- 213 — hängen; in solchen Fällen miiss man das Volumen der Muskeln in Be- tracht ziehen: bei geringem Volumen, schwach entwickeltem Organ und intensiver Färbung ist stets auf fieberhaften Zustand vor dem Tode zu schliessen, und je länger die hohe Temperatur andauerte, um so stärker muss die Färbung sein. Will man die Bedeutung der Färbung be- stimmen, so muss dieses an einer frischen Leiche, nicht mehr als 24 Stunden nach dem Tode, geschehen. Bei starker Fettablagerung im Organismus erscheint das Fettgewebe zwischen den einzelnen Muskel- organen und sogar zwischen den Bündeln des Muskels; bei Verfettung des Muskels selbst wird dieser gelblich, seine Fasern werden zerstört und verwandeln sich in Fettsubstanz. Das Muskelgewebe kann auch eine faserige Veränderung erfahren; seine Färbung wird hierbei weiss- grau mit hellroter Nuance; das Gewebe wird fest und hebt sich von der umgebenden Scheide gar nicht ab. Die erste Veränderung kommt bei Verminderung der Thätigkeit vor, die zweite aber ist eine Folge acuter Leiden und Lähmungen. Nach Bibra^) enthalten 1000 Teile Muskelgewebe (m. pectoralis major) folgende Substanzen: Bestandteile Mann von 59 Jahren Frau von 36 Jahren Mittelwerte Muskelfasern, Gefässe und Nerven 168,3 155,4 161,8 Lösliches Eiweis und Farbstoff 17,5 19,3 18,4 Leimsubstanz aus der Cellulose 19,2 20,7 19,9 Fett 42,4 23,0 32,7 Extractivstoffe 1,0 1,0 1,0 Phosphorsaures Kalium 19,7 23,0 21,3 Chlornatron 2,8 4,9 3,8 Schwefelsaures Kalium 0,2 0,2 0,2 Phosphorsaurer Kalk und phosphorsaures Eisen 4,1 . 7,6 5.8 Wasser 725,6 744,5 735,1 Folgende Tabelle^) zeigt vergleichsmässig das Verhältnis der Be- standteile in 1000 Teilen Muskelgewebe des Menschen und verschiedener Tiere. Schlossberger Bibra Ochs Kalb Schwein Huhn Frosch Mensch Wasser 775,0 782,0 783,0 773 804,3 744,5 Muskelfaser mit einigon anderen un- löslichen Steifen 175,0 162,0 168.1 165 116,7 155,4 Lösbares Eiweiss und Farbstoff 22,ü 26,0 24,0 30 18,6 19.3 Leimsubstanz 13,0 16,0 8,0 12 24,8 20,7 Extractivstoffe und anorganische Salze 15,9 14,0 17,0 14 34,6 37,1 Fett — — — — 1.0 23,0 Aus der angeführten Zusammensetzung des Muskelgewebes ersieht man, dass es ausser Wasser noch geronnenes und im Wasser unlösliches 1) Jac. Moleschott. Physiologie der Nahrungsmittel. Giessen. 1859, Taf. XXIV. 2) A. Gautier. Chimie appliquee ä la Physiologie. T. I, pag. 284. — 214 — Eiweiss oder Myosin und Muskelfibrin (Syntonin) enthält. Ausserdem enthält es bei 45 ^ gerinnendes Kaliumalbuminat und einen Eiweiss- körper, der bei 70 — 75 " gerinnt. Weiter kommen auch noch Zersetzungs- produkte in Form von Stickstoffverbindungen, wie Creatin, Creatinin, Harnsäure, Xanthin, Hypoxanthin, Taurin und Harnstoff vor. Sie zeichnen sich alle durch ihre bestimmte crystallinische Form aus. End- lich sind auch noch stickstofffreie Substanzen vorhanden, wie Inosit (Muskelzucker), Glycogen, Dextrin, Milch-, Ameisen- und andere Säuren. A. Danilewski^) fand, dass „neben dem Myosin das Muskelgewebe einen Eiweisskörper enthält, welcher den zur Gruppe der Nucleine be- zogenen Substanzen analog ist. Dieser neue Bestandteil der Muskeln enthält gleich den übrigen Nucleinen Phosphor und wird von dem künst- lichen Magensaft nicht verdaut, nicht peptonisiert; er macht zusammen mit dem Myosin den grössten Teil der festen Substanzen des Muskel- gewebes aus. Das Myosin ist in den Muskeln als Inhalt des primitiven Muskelelements (Kästchen von Krause) enthalten, der neue Eiweiss- körper aber bildet das halbfeste Stroma dieses morphologischen Ele- mentes. Nach der Entfernung des Myosins bewirkt dieses Stroma die Erhaltung der Structur der Muskelfaser," daher nennt Danilewski diese Substanz Myostromin. „Myosin und Myostromin machen zusammen mehr als 75°/o des festen Muskelüberrestes aus. Die Summe ihrer Quantitäten schwankt im Fleisch verschiedener Tiere sehr wenig, jedes von ihnen einzeln aber ist sehr starken Schwankungen unterworfen." „Eine bedeutende Anzahl von Bestimmungen ihrer Quantität in einer langen Reihe von Tieren verschiedener Arten, Familien und Classen hat gezeigt, dass die Schwankung der Quantität dieser beiden Körper mit der Beweglichkeit des Tieres, mit der Schnelligkeit seiner Bewegungen im directen Zusammenhang steht, und zwar hat sich er- wiesen, dass, je schneller die Muskeln des Tieres oder die einzelnen Muskelgruppen sich zusammenziehen und nachlassen, sie um so mehr Myostromin und um so weniger Myosin enthalten. Folgende Tabelle, in welcher die Quantität des Myostromins auf die des als Einheit an- genommenen Myosins bezogen ist, giebt einige der gefundenen Daten." Myosin Frosch Myostromin 0,81 Kaninchen (erwachsen) Sperling (Fussmuskeln) Weisse Ratte 0,83 0,94 1,11 Fisch 1,15 1) Journal der russ. physico-chemisclien Gesellschaft an der St. Petersburger Univ. T. XV, Abt. I. St. Pet. 1883, pag. 356-361 (rixssisch.) Myosin Myostromin 1,19 1,22 1,23 1,40 2,40 3.22 ) 1 4,33 4,52 4,91 215 Hund Taube (Fussmuskeln) Kaninchen (jung) Wolf Pferd Mensch Kalb Sperling (Brustmuskeln) Taube (Brustmuskeln) Auf Grund dieser Tabelle kann man jedoch eher annehmen, dass die Quantität des Myostromins der Kraft proportional zunehme, denn die Brustmuskeln der Vögel sind, wie wir unten sehen werden," starke Muskeln, aber nicht solche, die sich durch die Schnelligkeit ihrer Action auszeichnen. Nach dem Tode tritt infolge der Gerinnung der Eiweissstoffe (Myo- sin) Muskelstarre ein. Beim Menschen tritt dieser Zustand zehn Mi- nuten bis sieben Stunden nach dem Tode ein und dauert zwei bis sechs Tage, und zwar um so länger, je später nach dem Tode er eingetreten ist, fort. Er nimmt gewöhnlich an den Nackenmuskeln seinen Anfang und setzt sich in die Rumpfmuskeln und dann in die der oberen und unteren Extremitäten fort. Die Erstarrung tritt mit dem Aufhören der Muskelreizung ein; am spätesten geschieht das im rechten Vorhof, und zwar in der rechten Auricula cordis, welche daher „ultimum moriens" heisst. Die Erstarrung findet um so schneller statt, je thätiger die Muskeln vor dem Tode waren, je mehr Kraft sie entwickelten, oder je höher die Temperatur war. Alles, was die Gerinnung der Eiw^eiss- körper und die Bildung von Muskelfibrin hervorruft, wie z. B. die Er- wärmung der Muskeln bis 40— 50'^, oder Injection von Wasser in die Gefässe u. s. w., fördert auf künstlichem Wege das Eintreten der Er- starrung. Beim Erstarren wird die Dehnbarkeit des Muskelgewebes geringer, weshalb es leicht reisst. Nach den Untersuchungen von E. Du Bois - Rejmiond ^) giebt das Muskelgewebe im lebenden Organismus neutrale oder schwach alkalische Reaction, nach dem Tode aber ist die Reaction infolge der Bildung von Milchsäure sauer. Die Erstarrung kann durch Injection von 0,6— l'^/o Kochsalzlösung in die Gefässe ver- hindert w^erden; sie hört mit der Zersetzung der Leiche auf. Dass die Erstarrung hauptsächlich von dem Gerinnen des Myosins abhänge, kann man aus folgendem Experimente von Kühne -) schliesseu: wenn man in 1) De fibrae muscularis reactione. Berolini, 1859. 2) Monatsber. d. kgl. preuss. Acad. d. Wiss. zu Berlin. 1859, pag. 493. — 216 — die Gefässe eben getöteter Tiere eine schwache Zucker- oder Kochsalz- lösung (nicht mehr als IVn) injiciert und das in ihnen enthaltene Blut zusammen mit der Flüssigkeit rasch und stark ausdrückt, so wird die so erhaltene trübe neutrale Flüssigkeit gallertartig, und es schlagen sich feste Flocken nieder, die Reaction der Flüssigkeit wird hierbei sauer. Der Bau des Muskelgewebes. Beim Studium des Baues des Muskelgewebes muss man die verschiedenen Arten dieses Gewebes, welche den einzelnen Entwickelungsstufen desselben entsprechen, und dem Grade ihrer Kraftentfaltung und dem mit ihrer Thätigkeit ver- bundenen Materialaufwand nach von einander verschieden sind, unter- scheiden. Man unterscheidet drei Haupttypen von Muskelgewebe: das glatte Muskelgewebe oder die contractilen Fasern, die quergestreiften Muskelfasern des Herzens und das quergestreifte Muskelgewebe der Bewegungsorgane. Die ersten zwei Arten von Muskelgewebe werden bei den vegetativen Organen behandelt werden; hier soll nur kurz, zum Vergleich, die Rede von ihnen sein. Der Bau des glatten Muskelgewebes. Dieses Gewebe besteht aus spindelförmigen, verschieden langen, zuweilen cylindrisch geformten und ein wenig abgeplatteten Fasern. Sie enthalten feinkörniges, zu- weilen ungeformtes Protoplasma und einen länglichen Kern, welcher meistenteils in der Mitte der Faser gelagert ist. Diese Fasern sind eng miteinander verbunden, nur die grossen Bündel werden durch Ge- fässe enthaltende Bindegewebeschichten von einander getrennt; die Ver- ästelungen der Capillargefässe dringen zwischen die Fasern, indem sie hier lange Netze bilden. Die Länge der glatten Muskelfasern beträgt 0,045—0,225 mm, in dem schwangeren Uterus aber erreichen sie eine Länge von 0,5 mm; der Durchmesser der Faser ist = 0,004—0,007 oder 0,013 mm. Glattes Muskelgewebe kommt in allen vegetativen Organen, in den Wandungen der Blut- und Lyraphgefässe, im Auge und in der Haut vor. Es zeichnet sich durch geringen Stoffverlust, verhältnismässig schwache und langsame Action aus. Der Bau des Herzmuskelgewebes. Dieses Gewebe besteht aus kurzen cylindrischen Fasern mit einem und nicht mehr als zwei Kernen. Die Fasern sind ein wenig abgeplattet und entsenden stellenweise schräge oder quere Fortsätze zur Verbindung mit den benachbarten. In dem Zellinhalte bemerkt man Querstreifen; er ist oft auch noch durch longitudinale Streifen geteilt. Stellenweise, besonders um die Kerne herum, erscheint der Faserinhalt einförmig. Eine äussere Membran oder Sarcolemma ist noch nicht vorhanden. Bei niedrigen Wirbeltieren sind diese Fasern spindelförmig, mit deutlich wahrnehmbarer Quer- streifung. Dieses Gewebe stellt eine Übergangsform vom glatten Muskel- gewebe zum quergestreiften des Bewegungsapparates dar. Der Bau des quergestreiften Muskelgewebes. Es wurde — 217 schon gesagt, dass man beim Betrachten des Muskelgewebes mit blossem Auge die Bündel der Muskelfasern sehen kann. Zerfasert man diese Bündel, so erhält man einzelne Fasern mit einem Durchmesser von 0,010 — 0,080 mm und von 5,3—12,3 cm und mehr Länge. Sie sind ge- wöhnlich cylindrisch mit abgestumpftem oder abgerundetem Ende. Die Gesichts- und Augenmuskeln bestehen aus feineren Fasern, als die Muskeln des Eumpfes und der unteren Extremitäten. Betrachtet man eine solche Faser unter dem Microscop (Fig. 40), so kann man die deutlich ausgeprägten gebogenen Qnerstreifen.(A) sehen; weniger deutlich sind hier die Längsstreifen. An der Oberfläche der Muskelsubstanz Fig. 40. A B Quergestreiftes Muskelgewebe (Sappey). befindet sich eine striicturlose äussere Membran oder Sarcolemma, welche die Faser wie ein unter gewissen Bedingungen deutlicher hervortretender Schlauch umgiebt. Endlich findet man hier auch noch Kerne (a), welche zwischen dem Sarcolemma und der Muskelsubstanz gelagert sind. Das Aussehen der Querstreifen ändert sich stark, je nachdem die Beobachtung an einem ausgedehnten oder zusammengezogenen Muskel ausgeführt wird. Im ersten Falle sind die dunklen Querstreifen durch deutlich wahrnehmbare helle Zwischenräume getrennt, im letzten Falle aber sind die Streifen einander so sehr genähert, dass man sie schwer unter- scheiden kann. Die Substanz der dunklen Streifen ist doppeltliclit- brechend und heisst deshalb anisotrop; die Substanz der hellen Zwischen- räume aber ist nur einfach lichtbrechend und heisst isotrope Substanz. Bei stärkeren Vergrösserungen bemerkt man in der Mitte des hellen Streifens noch einen schmalen dunklen Streifen, die sogenannte Zwischen- — 218 — Schicht; ebenso hat man in der Mitte des dunklen Streifens noch einen hellen oder die sogenannte Mittelscheibe; endlich findet man noch Neben- schichten über lind unter der Zwischenschicht der isotropen Substanz. Diese Nebenschichten sind sehr unbeständig, und man legt ihnen fürs erste keine besondere Bedeutung bei. Durch Einwirken mit bestimmten Reactiven auf den Muskelbündel kann man ihn in Längsfasern oder Primitivfasern (B) oder in Quer- platten oder Diske (C) teilen. Ersteres erreicht man, wenn man den Muskelbündel der Einwirkung von Alcohol, doppeltchromsaurem Kali oder Chromsäure unterwirft. Um die Muskelfasern in Querplatten oder Diske zu zerteilen, bearbeitet man sie mit Salz- oder Essigsäure oder reagiert mit Magensaft auf dieselben oder bringt sie zum Gefrieren (Ranvier). Aus der Wirkung dieser Reactive kann man schliessen, dass die Muskelsubstanz aus einzelnen Teilchen bestehe, welche sowohl p.^ ^. in longitudinaler, als auch in transversaler Richtung _ ,^^ mit einander verbunden sind. Diese Elementarteile ■'-'■'■'"''" "'\::'i^ nennt Bowman^) Muskelelemente (sarcous Clements). ;:; Teilt man die Muskelfasern durch die oben er- :;\ wähnten Reactive in Längsfibrillen, so erweist sich, ■A dass mehrere solche Fibrillen ein Bündelchen bilden, i ' in dem die Fibrillen durch körnige Zwischensub- 'Aß stanz oder das Sarcoplasma (Rollet), welche auch H ; die einzelnen Fibrillenbündelchen verbindet, zu- ül' sammengekittet werden. Sarcoplasma nennt man ||¥ ' den Rückstand des primitiven Protoplasmas der ili Elemente nach der Bildung der Primitivfasern , am besten kann man es an Querschnitten durch Muskel- fasern, wo es ein helles Netz, in dessen Maschen > sich die Fibrillenbündel befinden, bildet, studieren. Hl Das Sarcolemma bricht das Licht schwach, ist ge- ti;jwä«ii-%^ wohnlich hell und einförmig, erscheint nur stell en- I fiii weise körnig und enthält längliche, mit ihrem Längs- durchmesser den Muskelfasern parallele Kerne. Bei Säugetieren liegen diese Kerne an der Oberfläche der Faser unter dem Sarcolemma, bei den anderen Tieren aber liegen sie innerhalb der Faser (Fig. 41). Überhaupt lässt sich feststellen (Schiffer- decker'^), dass, je niedriger das Tier, die Muskeln um so mehr Sarco- plasma enthalten; je höher aber das Tier steht, um so mehr Fasern enthalten sie, weswegen bei den höheren Tieren die Kerne an der Oberfläche gelagert sind^ da sich zwischen den Fasern wenig oder fast 1) Philosophical Transact. of the Royal Society of London. Part. I. 1840, pag. 457. 2) Gewebelehre des menschlichen Körpers. Bd. IL Braunschweig. 1891, pag. 123. — 219 — gar kein Sarcoplasma vorfindet. Im Muskelgewebe des Herzens ist mehr Sarcoplasma enthalten, als in den Muskeln der Bewegungsorgane. Wie bereits gesagt, wird die Muskelfaser von einer structurlosen, durchsichtigen, dünnen Membran, welche Sarcolemma heisst, eng um- schlossen. Ist die Muskelfaser unversehrt, so kann man diese Mem- bran von dem darunter befindlichen Gewebe schwer unterscheiden; wenn bei der Zerfaserung der Bündel mit Nadeln die Muskelsubstanz zufällig zerrissen wird, so bleibt zwischen den von einander gerissenen Teilen ein Raum, der von dem eine dünne Membran mit doppelter Con- tur bildenden Sarcolemma, durch das man zuweilen die länglichen Kerne sehen kann, begrenzt wird. Man kann das Sarcolemma als dünne Linie auch bei der Bearbeitung des frischen Muskelgewebes mit Wasser sehen, da das Wasser, indem es zwischen Membran und Muskel- substanz eindringt, erstere abhebt. Unter normalen Bedingungen liegt das Sarcolemma infolge seiner bedeutenden Elasticität der Muskel- substanz eng an und folgt stets allen Formveränderungen derselben. Unter dem Sarcolemma, an der Oberfläche der Muskelsubstanz findet man die schon erwähnten ovalen Kerne (a), welche 0,0066 bis 0,010 mm messen. Sie kommen in verschiedener Anzahl an der Ober- fläche der Substanz vor. Diese Kerne haben das Aussehen von Bläs- chen mit einem oder zwei Nucleoli, an den äusseren Enden setzen sie sich zuweilen in körnige Sarcoplasmastreifen fort. Diese Kerne mit ihren Fortsätzen heissen auch Muskelkörper (M. Schnitze). Die Anzahl der primitiven Muskelfibrillen, welche eine Faser mit einer gemeinsamen Membran bilden, beträgt nach Sappey ') nicht weniger als 50 oder 60 und erreicht zuweilen mehrere Hunderte. Bei einigen Säugetieren, wie z. B. beim Kaninchen unterscheidet man zwei Arten von Muskeln: weisse und rote (Krause, Ranvier). In den weissen Muskeln sind die Querstreifen sehr deutlich ausgeprägt, sie enthalten verhältnismässig wenig Kerne, welche mehr an der Ober- fläche der Muskelfaser liegen, sind leicht erregbar, ziehen sich sehr rasch zusammen, ermüden aber auch leicht. In den roten Muskeln be- merkt man ausser den Querstreifen auch noch ziemlich deutlich wahr- nehmbare Längsstreifen; in ihnen findet man mehr Kerne, welche sich auch zuweilen in der Mitte der Faser befinden, und mehr Sarcoplasma; ihre Contractionen gehen langsamer vor sich, sind aber länger an- dauernd; diese Muskeln ermüden nicht so leicht. Die Untersuchungen von Rollet-) aber haben gezeigt, dass bei den Gliederfüssern (Arthro- poda) sich diejenigen Muskeln, bei denen die Kerne in der Mitte der Faser liegen, rasch zusammenziehen, und umgekehrt bei den Fasern, 1) Traite d'Anatomie descriptive. T. II. Paris, 1876, pag. 23. 2) Denkschr. d. kais. Academie der Wissenscb, Bd. LI, Math.-Natiirw. Classe, pag. 36. — 220 — deren Kerne sich an der Oberfläche lagern, die Contraction langsam vor sich geht. Hieraus ersieht man, dass die verschiedene Structur der Muskelfaser durchaus mit verschiedenen Functionen derselben in Verbindung steht, nur kann man die vorhandene Abhängigkeit zwischen Sarcoplasma und primitiven Muskelfasern noch nicht positiv beweisen. Alle eben beschriebenen Erscheinungen haben verschiedenen Er- klärungen der Muskelcontractionen als Grundlage gedient. So nimmt z. B. Krause an, dass der Raum zwischen zwei dünnen Scheiben einen Kasten darstellt, den er Muskelkasten nennt; dieses Kästchen ist seiner Meinung nach von einer Membran umgeben und von Flüssigkeit, in der eine von ihm Muskelprisma genannte Scheibe enthalten ist, ausgefüllt. Den Mechanismus der Muskel contraction selbst stellt Krause folgender- massen dar: die Flüssigkeit des Muskelkästchens befindet sich im Ruhe- zustande an beiden Enden des Prismas, wobei die Muskelfaser die grösste Länge besitzt. Bei der Contraction lagert sich die Flüssigkeit des Muskelkästchens zu den Seiten des Prismas; infolge eines solchen Lagerungswechsels der Flüssigkeit sind die in longitudinaler Richtung gelagerten Prismen nur durch die Wände des Kästchens von einander getrennt, und dieser Umstand hat eine Verkürzung des ganzen Muskel- bündels zur Folge. Ausser dieser Theorie der Muskelcontraction existiert noch eine ganze Reihe anderer Erklärungen dieser Erscheinung. Ranvier ^) weist darauf hin, dass im Muskelbündel nur die dicken Scheiben als con- tractile Teile fungieren, während die dünnen Scheiben und die hellen Streifen nur eine rein mechanische Bedeutung haben. Wie bereits er- wähnt, „streben, nach der Meinung von Ran vier, die dicken Scheiben bei der Contraction, wie die durch Electricität gereizten amöboiden Körperchen, eine sphärische Form anzunehmen; da sie aber zu Anfang die Form von, der Länge der Bündel entsprechend gelagerten, Stäbchen haben, so muss natürlich die Contraction eine gewisse Verkürzung der Muskeln zur Folge haben. Sie wird noch stärker, wenn die dicken Scheiben im Moment ihrer Contraction an Masse abnehmen, indem sie einen Teil des sie durchtränkenden Plasmas verlieren. Indem letzteres sich an der Peripherie der Scheibe lagert, vergrössert es den transver- salen Diameter der Bündel bedeutend und bewirkt das Hartwerden des Muskels während seiner Contraction." „Also, sagt Ranvier weiter, ist die Veränderung der Form und des Volumens der dicken Scheibe eine wesentliche Erscheinung der Muskel- contraction. Die Function dieses Elements ist der Function aller übrigen contractilen Elemente des Organismus vollständig gleich. Die 1) Legons d'Anatoraie generale sur le Systeme musculaire. Paris. 1880, pag. 429 )3is 454. — 221 — Amöbe, das Ljmiphkörperchen, das glatte Muskelgewebe ziehen sich ebenso zusammen, wie die dicke Scheibe, indem sie nämlich eine Form annehmen, welche ein minimales Volumen gestattet." Hier wird also die Muskelcontraction als der amöboiden Bewegung analog angesehen; eine derartige Verallgemeinerung der Contraction ist zweifellos be- merkenswert, nur verlangt sie zu ihrer Feststellung weitere Unter- suchungen und Beobachtungen. Hier muss man noch hinzufügen, dass die Muskelfaser bei der Contraction nie ihr Volumen verändert; so- viel, als sie an Länge abnimmt, nimmt ihr Durchmesser zu, und um- gekehrt. Die mechanischen Eigenschaften des Muskelgewebes. Das specifische Gewicht des Muskelgewebes nimmt man gewöhnlich = 1,041 bis 1,055—1,071 an; nach J. Zuran ') beträgt das specifische Gewicht der Muskeln aus dem amputierten Fuss eines 19jährigen Mannes 1,0573, bei einem eben getöteten Hunde aber 1,059. Das specifische Gewicht der Muskeln einer Leiche ist = 1,047 — 1,050. Die Zugfestigkeit des Muskelgewebes, welche von Valentin^) und Wertheim =^) durch Anhängen von Lasten bestimmt worden ist, beträgt 0,026—0,124 kg (nach Wertheim) und 0,129 kg (nach Valentin) auf 1 Dmm Querschnitt. Der Elasticitätscoefflcient des lebenden Froschmuskels ist = 0,094, der eines toten Muskels = 0,157 (Wundt). Nach Wertheim beträgt der Elasticitätscoefficient: bei einem einjährigen Kinde 1,271, bei einer 21jährigen Frau 0,857, bei einem 30jährigen Manne 0,352, bei einem 74iährigen Manne 0,261. Die Elasticität des lebenden Muskels muss sich unbedingt von der Elasticität des toten Muskels, der ge- wöhnlich auch nur der Untersuchung unterworfen wird, unterscheiden. Bei der Besprechung der mechanischen Eigenschaften der Muskeln als Organe werden wir noch zu dieser Frage zurückkehren müssen. Die Entwickeiung des quergestreiften Muskelgewebes. Nach Schwann entsteht die Muskelfaser durch die Verschmelzung einer Reihe von Bildungselementen, deren äussere Membranen in eins ver- schmelzen und das Sarcolemma der Muskeln bilden. Die Kerne der Elemente bleiben unverändert, ihr Inhalt aber verwandelt sich in das characteristische Muskelgewebe. Hiermit nicht übereinstimmend nehmen andere Forscher (Lebert und Remak, KöUiker, Zenker u. A.) an, dass die Muskelfasern nicht durch Verschmelzung einer Reihe von Zellen, sondern aus einem Element, dessen Kerne an Zahl zunehmen, wobei zugleich ihr Inhalt sich verändert und den Character des quergestreiften Gewebes annimmt, entstehen. Die Kerne lagern sich an der Oberfläche 1) Über die gegenseitige Beziehung der Muskelantagonisten der Extremitäten des menschlichen Körpers. St. Petersb. 1882, pag. 15 (russisch). 2) Lehrbuch d. Physiologie. Braunschweig. 1847, 2. Aufl. I, pag. 791. 3) Annal. de chim. et de phys. 1847. XXI, pag 385. — 222 — dieses Gewebes, unmittelbar unter der structurlosen Membran, welche, wie einige meinen, aus der äusseren oder peripherischen Schicht der Elemente entstanden ist, während andere annehmen, dass diese Scheide zu den Bindegewebegebilden gehöre, welche den von aussen auf- geschichteten elastischen Grenzschichten entsprechen. Endlich hat man noch beobachtet (Margo, Bremer), dass sich aus dem die Kerne ent- haltenden Bildungsmaterial Bildungselemente oder „Sarcoplasten" (Margo) entwickeln, welche rund, oval oder spindelförmig geformt sind. Der Inhalt dieser Elemente differenziert sich, verwandelt sich in die Muskel- substanz; durch nachfolgende Verschmelzung einer Menge solcher Ele- mente entsteht die Muskelfaser. Nach den Untersuchungen von Stricker ') an Muskeln eines Kaninchenembryo entsteht die Muskelfaser, mit den Angaben von Remak übereinstimmend, aus einem Element, welches bei seinem Wachstum spindelförmige Gestalt annimmt und dicker wird; zugleich vermehrt sich der Kern, und an der Oberfläche dieser Kerne bildet sich ein Mantel von Längsfasern. Die Membran oder das Sarco- lemma entwickelt sich aus feinen Bindegewebeelementen, welche sich an der Oberfläche der Muskelfaser ablagern. Bei der Untersuchung der Entwickelung des quergestreiften Muskel- gewebes kann man sich überzeugen, dass die Bildungselemente an Dimensionen zunehmen, die peripherische Protoplasmaschicht körniges Aussehen annimmt und man in ihnen mehr oder weniger deutlich aus- geprägte Längsstreifen beobachten kann. Die Protoplasmakörnchen bilden, einander adhärierend, die Querstreifen, welche allmälig immer deutlicher hervortreten. Diejenigen Teile des Protoplasma, welche sich an der Oberfläche der hier vorhandenen Kerne lagern, bilden das Sarco- plasma, das nach der Entwickelung der Primitivfasern stets in grösserer oder geringerer Quantität übrig bleibt. Ob sich nun das Sarcolemma aus diesem Protoplasma oder durch besondere Aufschichtung an der Oberfläche der Muskelfaser bildet, ist schwer zu entscheiden; augenschein- lich hat die erstere Meinung mehr für sich. Über das Wachstum des Muskelgewebes ist bekannt, dass die embryo- nale Muskelfaser bedeutend dünner ist, als diejenige eines Neugeborenen, die wieder ihrerseits um vieles kleiner ist, als die Muskelfaser des Er- wachsenen; beim letzteren ist sie, nach den Messungen von Harting, fünf und mehr Mal dicker, als beim Neugeborenen. Diese Vergrösserung findet infolge von Anwachsen der Muskelsubstanz statt. Nach den Unter- suchungen von Budge und Weismann wächst der Muskel nicht nur durch Dimensionenvergrösserung der einzelnen Fasern, sondern auch durch Vergrösserung ihrer Anzahl. Wie letzterer Forscher meint, geschieht dieses durch longitudinale Teilung, welche mit der Vermehrung der 1) Handbuch der Lehre von den Geweben. Leipzig, Bd. 2. 1872, pag. 1227. — 223 — Kerne oder sogenannten Muskelkörpeiclien anfängt. Sie lagern sich in Längsreihen, wobei die Fasern glatter und breiter werden und sich darauf in zwei Teile teilen, so dass auf diese Weise schliesslicli aus einer Faser eine ganze Gruppe neuer Fasern entsteht, deren Dimen- sionen dann durch Vermehrung des Inhalts allmälig zunehmen. Das Längenwachstum der j\Iuskelfaser findet an den Enden derselben statt, weswegen man hier auch stets eine grössere Anzahl Kerne bemerkt (Schitferdecker ^). Verletzungen von Muskeln verwachsen je nach den Di- mensionen der Wunde: ist der Verlust an Muskelsubstanz geringer, als ein Centimeter im Dm-chmesser, so wird die Substanz restituiert, im entgegen- gesetzten Falle wird das zerstörte Gewebe durch Narbengewebe ersetzt. Bei der Restitution der Muskelsubstanz findet erst Zerlegung derselben statt, gegenEndedesEntzündungsprocessesaberbeginntdieVermehrungderKerne an den Enden der Muskelfasern, welche in Form von kolbenartigen oder spitz zulaufenden protoplasmatischen Fortsätzen hervorw^achsen; hierauf tritt in letzteren Querstreifung auf, und sie zerfallen in einzelne Fibrillen. Die aufeinander stossenden Fortsätze verschmelzen und füllen hiermit die Lücken aus. Bildet sich eine Narbe, so gehen die benachbarten Muskelfasern in das Gewebe derselben über (Sokoloflf-), Rachmauinoff =^). Die Muskeln als Organe. Li dem Muskel als Organ muss man unterscheiden: 1) die Biudegewebehüllen welche den ganzen Muskel oder die einzelnen Teile oder Bündel desselben bedecken; im letzteren Falle heissen sie Perimysium; 2) die Sehne und die Sehnenausbreitung, in welche das Muskelgewebe übergeht und mit deren Hülfe es mit dem Knochen oder mit irgend einem anderen Teil oder Organ in Verbindung steht; 3) die Form der Muskeln, d. h. die Lagerung der Muskelfasern und die Bedeutung dieser Lagerung; 4) die Gefässe und Nerven; 5) die Bindegewebemembranen oder Aponeurosen, welche um den Muskel melir oder weniger geschlossene Scheiden bilden ; 6) die Synovial- und Schleim- b'eutel (bursae synoviales et mucosae) und die Synovialscheiden (vaginae synoviales), welche sich zwischen den Sehneu der Muskeln und den benachbarten Teilen an den Stellen, wo sie sich aneinder bewegen, befin- den; endlich 7) kommen hier auch noch Fett und Venengeflechte vor. Betrachten wir alle diese Teile einzeln. 1) Die Bindegewebehüllen (perimysium) bedecken die Muskeln als eine dünne Bindegewebeschicht und dringen zwischen deren einzelnen Bündeln ein, indem sie Gefässe und Nerven überall hinleiten. Sie be- stehen aus faserigem Bindegewebe und enthalten in geringer Anzahl elastische Fasern. Die den Muskel bedeckende Schicht dieses Gewebes 1) Gewebelehre. Bd. II. 1891, pag. 141. 2) Nachrichten der Kiewer Universität. 1881. October, pag. 147—182 (russisch). 3) Dissertation. Moskau. 1881 (russisch). — 224 — heisst äussere Hülle desselben (perimysium externum); die von dieser Schicht ausgehenden Fortsetzungen dringen zwischen die einzelnen Muskelbündel und erreichen als zarte, dünne Membran die Oberfläche der einzelnen Fasern, wo sie dem Sarcolemma derselben eng anliegt; dieses ist die innere Hülle der Muskeln (perimysium internum). 2) Die Sehne und die Sehnenausbreitung besteht aus faserigem Bindegewebe, dessen Faserbündel gewöhnlich spiralförmig gewunden sind und sich stellenweise sogar gleichsam untereinander verflechten. Nach Sappey ^) enthalten die Sehnen ziemlich viel Gefässe, sowohl Arte- rien, als auch Venen, welche aus den benachbarten Teilen hier eintreten. Die Nerven verlaufen nach seinen Untersuchungen zusammen mit den Gefässen und sind auch in ziemlich grosser Anzahl vorhanden. Die Sehnen rechnet man gewöhnlich zu den wenig empfindlichen Geweben, jetzt ist jedoch bekannt, dass eine Spannung oder Erschütterung der- selben Reflexerscheinungen hervorruft (Berger ^), Strümpell ^) Bernhardt ^). Was den Übergang der Muskelfasern in Sehnen anbetrifft, so erweist sich, nach den Untersuchungen von Weismann ^), dass, wenn man mit einer starken Aetzlaugenlösung (35"/„) einwirkt, die Sehne sich von den Muskelbündeln lostrennt, wobei die Muskelfasern in ein abgerundetes oder mehr oder weniger zugespitztes, vom Sarcolemma bedecktes Ende auslaufen. Durch dieses ßeactiv wird also die Substanz, welche die Sehne mit dem Muskel und ebenso die einzelnen Muskelteile unterein- ander verbindet, aufgelöst, d. h. es wird der Zusammenhang zwischen der Sehne und der sowohl äusseren, als auch inneren Muskelhülle zer- stört. Zwischen Sehne und Muskel ist also die Berührungsfläche sehr gross, folglich ist auch die Verbindung sehr fest. Bei der Verbindung mit dem Knochen verschmilzt die Sehne mit dem Periost, wobei sie sich um so mehr in das Gewebe des Knochens vertieft, je kleiner die Verbindungsfläche mit dem Knochen ist, und je grösser der Durchmesser des Muskelquerschnitts ist, d. h. mit je grösserer Spannung der Muskel zu wirken imstande ist. 3) Die Form des Muskels und deren Bedeutung. In jedem Muskel unterscheidet man den Körper oder Bauch (venter), den Kopf oder Ursprung (caput s. origo) und den Schwanz oder die Insertion (cauda s. insertio). Den Ursprung des Muskels nennt man auch noch fester Punct (punctum fixum), das Ende oder den Schwanz aber seinen beweglichen Punct (punctum mobile), doch ist diese Unter- 1) Traitä d' Anatomie descriptive. T. IL Paris. 1876, pag. 32 u. 33, u. Comptes rendues de rAcademie des sciences. 1866. T. LXII, pag. 1116. 2) Über Sehnenreflexe. Centralbl. f. Nervenheilk. 1879, Nr. 4. 3) Deutsch. Archiv f. klin. Med. Bd. 24, pag. 175. 4) Virchow's Archiv. Bd. 99, H. 3. 1885, pag. 393-410. 5) Henle und Pfeifer's Zeitschr. f. rat. Med. 3 ß. Bd. XII, pag. 126. — 225 — Scheidung sehr schwankend und sogar in den meisten Fällen willkürlich. Als fester Punct kann fast bei jedem Muskel bald das eine, bald das andere Ende dienen, je nachdem, welcher von den Puncten beweglich ist. So ist z. B., wenn man sich auf beide untere Extremitäten stützt, der Ursprung oder der feste Punct aller hier befindlichen Muskeln an deren unterem Ende, stützt man sich jedoch nur auf eine Extremität, während man die andere bewegt, so sind die Ursprünge oder festen Puncte in der beweglichen Extremität am oberen Ende der Muskeln. Der Muskel kann ausserdem noch bogenförmig zwischen zwei festen Puncten gelagert sein; bei der Contraction solcher Muskeln werden ihre Fasern gerade, wobei sie entweder die zwischen ihren freien Rändern befindliche Öffnung schliessen (diese sind die sogenannten Musculi sphincteres), oder mit ihrer ganzen Oberfläche Widerstand leisten und sogar den Inhalt, welchen sie umgeben, zusammenpressen, wie z. B. die Muskeldiaphragmen (diaphragma thoracis, diaphragma oris, diaphragma pelvis etc.) und sogar die Bauchmuskeln. Alle diese Bedingungen erschweren das Feststellen einer allgemeinen Grundlage zur Bestimmung des Ursprungs und der Insertion, des festen und des beweglichen Punctes des sich contrahierenden Muskels. Diese Unsicherheit führt zu den Meinungsverschiedenheiten, welche bei der Beschreibung verschiedener Muskeln und Bestimmung ihres Ursprungs und ihres Ansatzpunctes vorkommen. Gewöhnlich, wie z. B. F. W. Theile, bezeichnet man als Ursprung des Muskels sein centrales Ende, welches also zur Wirbelsäule oder zur Mittellinie des Körpers gerichtet ist. Eine solche Lösung dieses Widerspruchs kann man wohl kaum als stichhaltig und bequem annehmen; augenscheinlich ist es viel vorteil- hafter, eine bestimmte, z. B. die verticale Lage des Menschen als ur- sprüngliche anzunehmen und diejenigen Teile der Muskeln, welche in dieser Lage zum Boden gerichtet sind, als Ursprung, die entgegen- gesetzte aber als Insertion oder Schwanz gelten zu lassen. Eine der- artige Definition entspricht dem Grundsatz, dass die Muskeln, welche eine innere Kraft darstellen, wie wir bald sehen werden, nur unter Teilnahme einer äusseren widerstehenden Kraft, d. h. bei äusserer Stütze, in stehender oder sitzender Lage functionieren können. Nimmt man die stehende Lage als ursprüngliche an, so muss man notgedrungen die äussere Stütze als Ausgangspunct für die Bestimmung des Muskel- ursprungs annehmen. In diesem Falle sind in allen Muskeln der unteren Extremitäten und des Eumpfes die unteren, d. h. zum Boden gerichteten Enden die Ursprünge oder festen Puncte. Bei Rotationen des Oberschenkels z. B. ist der Ursprung der Muskeln an der Seite der feststehenden Extremität, die Insertion oder der bewegliche Punct aber an der der beweglichen Extremität. Am Kopf muss der Ursprung der Muskeln am zur Wirbelsäule gekehrten Ende sein. Die Ursprünge 15 Fig. 42. ] — 226 — der Muskeln des Schultergürtels befinden sich an der Wirbelsäule und am Thorax, an der oberen Extremität aber in den höher gelegenen Teilen. Ihrer Form nach werden die Muskeln in einfache und zusammen- gesetzte eingeteilt. Einfach heissen solche Muskeln, welche aus einem Muskelkörper mit bestimmtem einförmigem Verlauf der Muskelfasern bestehen. Die zusammengesetzten Muskeln bestehen aus zwei oder mehreren Muskelkörpern oder Teilen mit verschiedener Richtung ihrer Fasern oder dieser Teile. Die einfachen oder elementaren Muskelformen werden nach A. Borelli ^) in Muskeln: 1) mit geraden Fasern, 2) mit schrägen Fasern, 3) mit Fasern, welche unter gleichem Winkel zusammentreffen, eingeteilt; zu diesen muss man noch 4) Muskeln mit krummen oder bogenförmigen Fasern hinzufügen. 1) Die Muskeln mit geraden, parallelen Fasern haben stets linearen Ursprung und lineare Insertion; ihre Resultierende kann nur eine Achse unter rechtem Winkel durchschneiden, daher wirken sie stets nur in einer Richtung. Stellt man sich zwei Balken A und B (Fig. 42) vor, welche durch parallele elastische Fasern mit einander verbunden sind, und bezeichnet man die Kraft, mit der die Fasern sich zusammenziehen, durch c, ihre Anzahl aber durch n, so ist die Kraft der Resultierenden dieser Fasern gleich nc, ihre Wirkung aber ist der Richtung der Fasern parallel (ab). Wirken Muskeln mit solchen Fasern, so findet die Bewegung zum festen Balken statt, der Annäherung der Last an den festen Balken A des gegebenen Schemas ent- sprechend. „Wenn sich parallele Faserbündel, sagt ] Haughton^), vereinigen und einen ganzen Muskel bilden, so geht die Resultierende durch den Schwer- punct der Ursprungs- und Insertionsfiäche der Muskel- fasern am Knochen." Solche Muskeln sind infolge der Einförmigkeit ihrer Thätigkeit nicht vorteilhaft; sie werden sich jedoch durch bedeutende Genauigkeit und Bestimmt- heit der von ihnen ausgeführten Bewegungen auszeichnen und können um so mehr Kraft entwickeln, je mehr Fasern sie enthalten. Als Beispiel solcher Muskeln können der M. rectus oculi externus et internus, der M. quadratus femoris u. a. dienen. 1) De motu animalium. P. I. Lugduni Batavorum. 1710, pag. 8. 2) Principles of animal mechanics. London. 1873, pag. 165. — 227 — 2) Die Muskeln mit schrägen parallelen Fasern haben gewöhn- lich linearen Ursprung und lineare Insertion; ihre Resultierende kann gleichfalls nur eine Achse durchschneiden, aber ausser der Bewegung in der Eichtung der Resultierenden können sie den beweglichen Teil in seitlicher Richtung (dem festen Teil parallel) fortbewegen, wenn Ur- sprung und Insertion horizontal oder vertical gelagert sind. Wenn zwei parallele Balken (Fig. 43) durch schräge Fasern mit einander ver- bunden sind, so ist ihre Resultierende gleich nc, da sie jedoch zu den Fig. 43. Balken geneigt ist, so kann man sie in zwei Kräfte bc und bd zer- legen, von denen bc den beweg- lichen Balken in seitlicher Rich- tung fortbewegt, bd aber den be- weglichen Balken dem festen in gerader Richtung nähert, d. h. der bewegliche Balken wird sich dem unbeweglichen in der Richtung der Resultierenden (ab) nähern; findet nun aber die Bewegung in horizontaler Richtung einenWider- stand, so wird sich der Balken (b) dem festen Balken (a) in der Rich- tung bd nähern, ist jedoch die Bewegung in verticaler Richtung unmöglich, so verschiebt er sich in der horizontalen Richtung bc. Als Beispiel solcher Muskeln kön- nen die Zwischenrippenmuskeln dienen. Muskeln von diesem Typus kommen oft mit verticalem Ursprung und verticaler Insertion vor; hier können gleichfalls alle drei Fälle der Bewegung des mobilen Teils vorkommen: längs der Resultierenden, in verticaler und horizontaler Richtung. Als Beispiel solcher Muskeln können dienen: der M. semi- membranosus, rhomboideus, levator anguli scapulae u. a. Die Thätig- keit der Muskeln mit schrägen Fasern zeichnet sich durch geringere Bestimmtheit, als die der vorhergehenden, dafür aber durch grössere Verschiedenheit der Bewegungen aus; ausserdem können bei verticaler Stütze die Muskeln dieses Typus die Last auf eine verhältnismässig grössere Höhe, sogar bei kurzen Fasern erheben, da lange Sehnen- ausbreitungen, welche diesen Fasern als Ursprung dienen können, einen grösseren Winkel der Bewegung möglich machen. Die Muskeln mit unter gleichem Winkel zusammentreffen- d,en Fasern oder die sogenannten gefiederten Muskeln stellen ihren 15* — 228 Fig. 44. mechanischen Eigenschaften nach eine Verbindung zweier Muskeln des vorhergehenden Typus vor. deren Fasern an zwei verticalen unbeweg- lichen Teilen A und B (Fig. 44) ihren Ursprung haben und an dem verticalen mobilen Teil unter gleichem Winkel zusammentreffen, wo- durch sich dieser Teil längs der Eesultierenden bc vertical nach oben bewegt. In solchen Muskeln kann der bewegliche Teil sich nach der einen oder anderen Seite, in verticaler Rich- tung und um zwei oder eine Reihe schräger Achsen bewegen. Die Resul- tierende einer jeden Hälfte dieses Muskels kann in eine in verticaler und eine in horizontaler Richtung wirkende Kraft zerlegt werden ; die ersten Kräfte beider Hälften summieren sich, die zweiten aber sind einander entgegen- gesetzt und heben entweder einander auf, oder spannen den beweglichen Teil, wenn er biegsam ist. Infolgedessen geht bei solchen Muskeln ein Teil der Kraft verloren, dafür gewinnen sie aber soviel an Verschiedenheit der Function, wieviel sie an Kraft ver- lieren. In allen diesen Muskeln kann ein Knochen oder ein biegsamer Fort- satz desselben als Sehne, Sehnenaus- breitung oder Sehnenbogen als Ursprung und als Ansatz dienen. Als Beispiel eines solchen Muskels kann der M. au- ricularis superior, der M. mylo-hyoi- deus u. a. dienen. 4) Die Muskeln mit bogen- förmigen Fasern oder die soge- nannten Sphincteren (Fig. 45) entspringen gewöhnlich in ihrer ein- fachsten Form direct oder mit Hülfe von biegsamem Gewebe am Knochen. Die Knochenstütze kann von einem fixen Punct, welcher durch von drei Seiten unter gleichem Winkel an ihn herantretende Muskeln in seiner Lage aufgehalten wird, ersetzt werden; ein Beispiel dafür bilden z. B. die die Mundöffnung und den Anus umgebenden Muskeln u. a. Bei der Contraction dieser Muskeln (ab) werden sie kürzer, nehmen eine mehr gerade Richtung an und nähern oder pressen dadurch Fiff. 45. — 229 — die Ränder derjenigen Öffnungen, an deren Peripherie sie gelagert sind, aneinander. Diese Muskeln drücken, indem sie sich zusammenziehen, die zwischen ihnen gelegenen Teile zusammen, wobei sie fast parallel dem Widerstände angreifen ; deshalb können sie nur geringe Kraft ent- falten, dafür aber mit verschiedener Kraft auf die einzelnen Teile der Widerstand erzeugenden Körper wirken und sie längs dem Rande fort- bewegen. Als Beispiel solcher Muskeln kann der M. orbicularis oculi dienen. Die der Form nach zusammengesetzten Muskeln können: 1) mehr- köpflg, 2) mehrschwänzig, 3) mehrbäuchig, endlich 4) geteiltbäuchig sein. Um sich die zusammengesetzten Formen der Muskelkörper und die Bedingungen, unter denen sie wirken, erklären zu können, muss man sich zuerst mit den dynamischen Gesetzen bekannt machen. Und zwar muss man hier zuerst auf folgende Grundsätze der Dynamik i) hinweisen. 1) Das Trägheitsgesetz. Ein Teilchen der Substanz kann an und für sich nicht aus dem Ruhestand heraustreten und in den Zustand der Bewegung übergehen. Befindet es sich in Bewegung, so kann es wiederum diesen seinen Zustand nicht selbst ändern; wenn gar keine äussere Kraft auf dasselbe einwirkt, so bleibt die Schnelligkeit seiner Bewegung, dem Grade und der Richtung nach, stets dieselbe, das heisst, seine Bewegung ist gleichmässig und geradlinig. Der Grund der Be- wegung oder der Modification der Bewegung ist das, was man Kraft nennt. Dieses Gesetz von der Inerz der Substanz oder dem Gleichgewicht des mit dem Schwerpunct zusammenfallenden Trägheitscentrums muss in Bezug auf den Tierkörper folgendermassen formuliert werden^): „der Schwer- punct eines Körpers, welcher sich einmal in Ruhe befand, kann durch die Thätigkeit von inneren Kräften allein nicht in Bewegung gesetzt werden. Eine derartige Folgerung widerspricht scheinbar den gewöhn- lichsten Erscheinungen; so ist z. B. bekannt, dass wir, indem wir unsere Muskeln genügend anspannen, d. h. innere Kräfte entwickeln, unseren Körper, folglich auch seinen Schwerpunct, fortbewegen kön- nen. Der Widerspruch ist hier nur scheinbar, er entsteht aus der unrichtigen Voraussetzung, dass bei unserer Bewegung nur innere Kräfte wirken, während doch in Wirklichkeit die Stütze, auf der wir stehen, eine gewisse Kraft auf unseren Körper ausübt; letztere ist in Bezug auf unseren Körper eine äussere Kraft, sie bringt auch die Bewegung seines Schwerpunctes zustande. Wenn wir in horizontaler Richtung gehen, so üben wir mit den an der Fusssohle endenden Muskeln einen 1) Vgl. M. Ch. Delaunay. Traitö de mäcanique rationelle. Sixiöme Edition. Paris. 1878, pag. 104. 2) N. Wyschnegradsky. Elementare Mechanik. St. Petersburg. 1860, pag. 223 (russisch). — 230 — schiefen Druck von vorn nach hinten auf den Boden aus. Nach dem Gesetz des Widerstandes übt der Boden einen ebensolchen Druck, nur von hinten nach vorn, aus; diesen Druck kann man sich als aus zwei anderen bestehend denken, von denen der eine vertical, und dem Körper- gewicht gleich (oder grösser oder kleiner) ist, der andere aber horizontal ist; dieser letzte bewegt unseren Schwerpunct in horizontaler Richtung." Man darf folglich die Muskelkräfte nicht als innere Kräfte ansehen, die unter normalen Bedingungen ohne äussere Stütze fungieren könnten. Um bei verticaler Körperstellung irgend eine Arbeit, wie z. B. sogar mit dem Finger der Hand zu leisten, muss der gegebene Teil am Schwerpunct des Körpers sich in der Gleichgewichtslage befinden, und muss letzterer dem entsprechend fixiert sein; im gegebenen Falle muss die Hand am Vorderarm fixiert sein, der seinerseits sich auf den Oberarm stützen muss; letzterer aber stützt sich durch Vermittelung des Schultergürtels auf die Wirbelsäule, welche ihrerseits über dem Beckengürtel und den unteren Extremitäten, die ihre Stütze am Boden haben, fixiert ist. Es ist begreiflich, dass man auch dann mit den Fingern eine Arbeit ver- richten kann, wenn man unmittelbar den Vorderarm oder die Hand fixiert oder stützt; aber auch in diesem Falle wird eine äussere Stütze geschafi'en, ohne welche im tierischen Organismus unter den Bedingungen, in denen er sich gewöhnlich befindet, gar keine Thätigkeit möglich ist. Bei der Analyse der Thätigkeit der Muskeln muss man dieses stets im Auge behalten, denn sonst kann man leicht auf Fehler verfallen. Auf Grund dieses Gesetzes muss man bei der Bestimmung der Muskel- arbeit nicht nur die Anzahl der Muskelfasern und ihren Durchmesser, sondern auch die Oberfläche ihres Ursprungs oder die Stützfläche und die Oberfläche der Insertion in Betracht ziehen, denn je grösser die Stütze, d, h. je grösser der Einfluss der äusseren Widerstandskraft ist, desto mehr Arbeit ist der Muskel zu leisten imstande. Jede vom Menschen aus- geführte Bewegung, welche mit einer Verschiebung seines Schwerpunctes verbunden ist, ist durchaus von der Widerstandskraft abhängig. Alle Bewegungen und Evolutionen, welche ein Gymnastiker in der Luft macht, hängen ganz und gar von der Kraft des Stosses und der Richtung, die er sich giebt, wenn er sich vom Boden abstösst, ab. Beim Fallen aus einer Höhe ist der Mensch nicht imstande, die Richtung seines Falles willkürlich zu verändern oder irgend eine Last zu halten. Solches ist von dem Einfluss der äusseren Widerstandskraft abhängig, welche in letzteren Fällen für die notwendige Arbeitsleistung und Kraft- entfaltung zu gering ist. Wenn man sich die Bedeutung der Stütze erklärt hat, kann man sich leicht überzeugen, dass die Entwickelung von Muskelkräften von der Grösse der Stütze direct abängig ist. 2) Das Gesetz von der gleichen Wirkung und Gegen- — 231 — Wirkung. Das zweite Gesetz der Dynamik wird von Delaunay folgender- massen formuliert: „jede Kraft, welche an einem materiellen Punct A wirkt, geht von einem anderen materiellen Punct B, welcher sich in einiger Entfernung vom ersten Punct befindet, aus, zu gleicher Zeit wirkt auf B eine andere, von A aus- gehende Kraft. Diese beiden Kräfte (Action und Reaction) sind einander gleich; sie liegen in der Richtung der geraden AB und sind einander entgegengesetzt." Wendet man dieses Gesetz auf die Function der Muskeln an, so sind die Puncte A und B ihr Ursprung und ihr Ansatz-, wenn der erste Punct die Stützfläche ist, so ist der zweite die Insertionsfläche. Die Wirkung der Kraft ist folglich hier stets von der von der Stütze aus- geübten Gegenwirkung, welche ihr gleich und entgegengesetzt sein muss, abhängig. Also ist eine Arbeitsleistung an der Insertionsstelle nur bei dem entsprechender Fixierung der Stütze möglich. Sie wäre ganz un- möglich, wenn der Ursprung oder die Insertion des Muskels nicht fixiert wäre, denn dann fände die Wirkung keine Gegenwirkung, was nach dem angeführten Gesetz nicht möglich ist. Die von irgend einem Muskel entwickelte Kraft muss folglich stets ihrer Stütze entsprechen, denn bei gegebenem physiologischen Querschnitt kann der Muskel um so mehr Kraft entfalten, je grösser die Stützfläche ist, und umgekehrt Natürlich muss der Querschnitt des Muskels, um dieselbe Arbeit zu leisten, um so grösser sein, je kleiner die Stützfläche ist; hierbei müssen jedoch die Muskeln mit grösserer Spannung wirken und werden folglich schneller ermüden. Ebenso wie der Ursprung oder die Stütze der von dem Muskel ge- leisteten Arbeit entspricht, so muss auch zwischen den Insertionen der Muskeln und der Last, welche sie zu überwinden haben, ein gewisses Verhältnis bestehen, und diese beiden Verhältnisse sind einander gleich. Hier kann man gleichfalls sagen: je grösser der Widerstand, desto grösser muss die Insertionsfläche, also auch die Anzahl der Muskel- fasern sein. Wird die Anzahl der Muskelfasern verringert, so muss wiederum die Spannung, mit der der Muskel wirkt, grösser werden, weshalb er leichter ermüdet. 3) Das Gesetz von der Unabhängigkeit der Wirkung der Kraft von der bereits vorhandenen Bewegung, welche der materielle Punct, auf dem die Kraft wirkt, erhalten hat. Auf Grund dieses Gesetzes „hängt die von der Kraft auf den mate- riellen Punct ausgeübte Wirkung von der früher von ihm er- worbenen Bewegung nicht ab." 4) Das Gesetz von der Unabhängigkeit der Wirkung der Kräfte, welche gleichzeitig auf einen materiellen Punct ein- wirken, aus welchem folgt, dass, „wenn mehrere Kräfte zu gleicher — 232 — Zeit auf einen materiellen Punct wirken, jede Kraft einen ebensolchen Effect hervorruft, als wenn sie einzeln wirkte.'' Alle diese Grundsätze, die man in jedem Lehrbuch der Dynamik finden kann, haben für die Erklärung der mechanischen Bedingungen, unter denen die Muskeln wirken, vollkommene Gültigkeit. An jedem lebenden Muskel unterscheidet man den Ruhezustand und den thätigen Zustand. Im ersteren Zustand ist er stets ausgedehnt (E. Weber ^), wie eine aufgespannte Saite, und strebt infolge seiner Elasticität sich zu verkürzen. Auch in dem Ruhezustand befindet sich folglich der lebende Muskel, wie ein ausgedehnter elastischer Körper, in gewisser Spannung. Wenn man den Muskel oder seine Insertion in diesem Zustand durchschneidet, so zieht er sich ebenso zusammen und nimmt seine natürliche Grösse an, wie eine gespannte Kautschuklamelle, welche losgelassen wird. Der Grund dafür, dass die Muskeln sich in einem solchen gespannten Zustande befinden, ist das Streben ver- schiedener Muskeln, die Körperteile in entgegengesetzter Richtung fort- zubewegen und einander entgegen zu wirken, um sich gegenseitig im Gleichgewicht zu halten. Solche sich im Gleichgewicht haltende Muskeln heissen Antagonisten. Die Lage der Teile, bei welcher dieses Imgleich- gewichthalten der unthätigen Muskeln stattfindet, ist die halbgebeugte oder mittlere der Extremitäten oder der anderen Körperteile. Diese Lage der einzelnen Teile ist also für die Wiederherstellung des mit der Thätigkeit verbundenen Verlustes die vorteilhafteste. Bei der Erregung und Reizung zieht sich der Muskel zusammen und geht folglich in den thätigen Zustand über, wobei er active Kraft entfaltet. Die absolute Kraft eines Muskels ist um so grösser, je grösser die Anzahl seiner Fasern ist, und wird folglich durch die Summe der Querschnitte all seiner Fasern oder den sogenannten physiologischen Querschnitt bestimmt. Man erhält diesen Querschnitt, indem man das Volumen des Muskels durch die Mittellänge seiner Fasern dividiert. Das Verhältnis der absoluten Kraft verschiedener Muskeln wird durch das Verhältnis ihrer physiologischen Querschnitte bestimmt; wie man die Kraft, welche der Muskel bei gewissem Querschnitt entfalten kann, berechnet, davon wird weiter unten die Rede sein. Der Muskel ent- faltet durch seine Contraction Kraft, wobei sein Volumen sich nicht verändert; er nimmt ebensoviel an Dicke zu, als er an Länge abnimmt. Die absolute Muskelkraft hängt, wie bereits erwähnt, nur von dem Querschnitt, nicht aber von der Länge der Fasern ab ; von der letzteren Bedingung hängt die Höhe, auf die der Muskel eine Last heben kann, ab. Die Arbeit aber, welche der Muskel zu leisten imstande ist, wird 1) R. Wagner. Handwörterbuch der Physiologie. Bd. III. 2. Abt. 1. Lfg. Muskelbewegung. Braunschweig. 1846, pag. 105. — 233 — nicht nur durch seinen Querschnitt, sondern auch durch viele andere mechanische Bedingungen bestimmt: ausser von der Anzahl der Muskel- fasern hängt die Muskelarbeit auch von der Grösse der Stützfläche, von der Grösse der Insertionsfläche des Muskels, von der Beziehung des Muskels zum Hebel, auf den er wirkt, und endlich von dem Grad der Spannung, mit der er wirkt, ab. Worin besteht nun diese Spannung? Die Spannung besteht in der Verstärkung der Thätigkeit des Muskel- gewebes in Abhängigkeit von der Zunahme seiner chemischen Energie, welche infolge des vergrösserten Stoifwechsels in den Muskelteilen zu- nimmt. Die mit einer Verstärkung der Ernährung in Verbindung stehende Bewegung ist zweifellos den Gesetzen der Bewegung und des Gleichgewichts, d. h. dem oben angeführten Newtonschen Gesetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung unterworfen (Mendelejeif ^) Es ist begreiflich, dass jede Actiou, welche mit einer Verstärkung der Spannung verbunden ist, mehr Verlust an Nahrungsmaterial erfordert und daher leicht zur Ermüdung führt. Die Kraft, welche von den Muskeln bei ihrer Wirkung auf den der Extremität als Grundlage dienenden Hebel entwickelt wird, kann durch folgende Formel bestimmt werden: ^ R. CD. Sina — Q'. CS. ^~ AC Hierbei bezeichnet Q (Fig. 46) die Last, welcher der gegebene Muskel bei gewissen mechanischen Bedingungen seiner Action das Gleichgewicht halten kann, R die Resultierende der hier angreifenden Muskelfasern, Fig. 46. CD die Entfernung zwischen dem Stützpunct des Hebels und dem An- griffspunct der Faserresultierenden, a den Winkel, unter dem der Muskel am Hebel angreift, Q' das Gewicht der ganzen Extremität (z. B. das Gewicht des Armes), CS die Entfernung vom Stützpunct des Hebels bis zum Schwerpunct desselben, AC die Länge des Hebels. Folglich ist also die Kraft des Muskels gleich der Differenz des Pro- ductes aus der Resultierenden der Fasern, der Entfernung zwischen 1) Grundlagen der Chemie. 4. Aufl. St. Petersburg. 1881, pag. 353 (russisch). — 234 — Angriffspunct und Stützpunct und dem Sinus des Winkels , unter dem die Resultierende an den Hebel herantritt, und des Productes aus dem Gewicht des gegebenen Hebels und der Entfernung zwischen Schwer- punct und Stützpunct, dividiert durch die Länge des Hebels. Vergleicht man die Thätigkeit verschiedener Teile des Locomotions- apparates des menschlichen Körpers, so kann man leicht scharfe Unter- schiede bemerken; so findet man nach dem Vergleich der oberen und unteren Extremitäten, dass letztere als feste Säulen erscheinen; sie ermüden nicht leicht, bei der Bewegung passen sie sich jedoch dem Widerstand, den man zu bewältigen hat, schwerer an; es sind hier verhältnismässig weniger Bewegungsnüancen vorhanden, die Bewegungen sind beschränkter und weniger rasch, an der oberen Extremität be- obachtet man andere und teilweise sogar entgegengesetzte Erscheinungen: hier walten Verschiedenheit und Nuancen der Bewegungen auf Kosten der Kraft und der Festigkeit vor; die Bewegungen können mit grösserer Schnelligkeit und Bestimmtheit ausgeführt werden, bei ihrer Function ermüdet jedoch diese Extremität leichter, als die untere, und ist auch nicht imstande, so grosse Kraft zu entfalten; gebraucht man sie als Stütze, so ermüden ihre Muskeln schneller, da sie mit grosser Spannung wirken müssen. Diese Beobachtungen lassen sich bereits durch die Vergleichung der Verhältnisse der Muskel gewichte zu den Knochen erklären. Nach den Untersuchungen von Dr. J. J. Zuran^) erweist sich, dass an der unteren Extremität sich die Muskeln mit ihren Sehnen zu den Knochen mit den Bändern, wie 1000:519,8, die Muskeln ohne Sehnen aber zu den Knochen und Bändern, wie 1000:531,6 verhalten, an der oberen Extremität ist das erstere Verhältnis 1000:327,73, das letztere aber 1000:330,8. Hieraus ersieht man bereits, wie sehr die Gewichtsver- hältnisse der Muskeln an der oberen Extremität im Vergleich zur unteren, wo im Gegenteil mehr harte Stützteile sind, überwiegen. Die Functionsverschiedenheit der oberen und unteren Extremität wird ebenso durch das gegenseitige Verhältnis der Muskelgruppen der einen und der anderen Extremität bestätigt. So verhält sich, nach den Messungen der Brüder Weber ^) an zwei Extremitäten, das Gewicht der Streckmuskeln zum Gewicht der Beugemuskeln an der unteren Extremität, wie 2913,75: 1320,85 oder wie 1:0,574; nach den Messungen von Dr. Zuran (an zehn Extremitäten) aber ist dieses Verhältnis, wie 3293,88 : 1803,28 oder wie 2 : 1. Für die obere Extremität ergeben die Messungen von Zuran, dass die Streckmuskeln sich, wie 796,34:829,95 oder wie 1 : 1,042 zu den Beugemuskeln verhalten. An der oberen Ex- 1) Über das Verhältnis der Muskelanta2:onisteii der Extremitäten des mensch- lichen Körpers. St. Petersburg. 1882. (russisch). '3) Die Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. Göttingen.- 1836, pag. 218. — 235 — tremität sind folglich etwas mehr Beugemuskeln, als Streckmuskeln; es überwiegen also nicht die die Extremität streckenden und eine feste Stütze schaffenden Muskeln, dafür aber ist das Gewicht der Muskeln, welche accessorische Bewegungen, wie z. B. Rotationen, ausführen, an der oberen Extremität bedeutend grösser. Nach Dr. Zuran verhält sich das Gewicht der Rotatoren zum Gesaratgewicht der Muskeln der unteren Extremität, wie 177,10:5274,26 = 1:29,78; hier bilden also die Rota- toren nur annähernd ^so des Gesamtgewichts der Muskeln. Das Gewicht der Rotatoren der oberen Extremität aber verhält sich zum Gewicht aller übrigen Muskeln, wie 427,57:2053,80 oder wie 1:4,8, d. h. es bildet ungefähr Ve ^^^ Gesamtmuskel gewichts. Folglich enthält die obere Extremität fünfmal mehr Rotatoren, als die untere, weshalb sie bei ihrer Thätigkeit imstande ist, die Bewegungen zu variieren und sie mit mehr Gewandtheit auszuführen, d. h. ihre Kräfte für die Über- windung der vorkommenden Hindernisse vorteilhaft zu verwenden. Die angeführten Zahlendaten erklären jedoch die bei der beschriebenen Vergleichung beobachteten Erscheinungen noch nicht vollständig. Und in der That haben Untersuchungen^) ergeben, dass in der Structur der Muskeln selbst und in dem Verhältnis ihrer Stütze und ihrer In- sertion zu den Hebeln, auf welche sie wirken, ein characteristischer Unterschied besteht, und zwar, dass man zwei Muskeltypen, den Typus der starken Muskeln und den Typus der gewandten Muskeln, ihren wesentlichsten Functionen nach, welche sich nicht nur in der Thätigkeit der Extremitäten, sondern auch in den anderen Körperteilen äussern, unterscheiden kann. Die hauptsächlichsten characteristischen Merkmale der Structur und der Function eines jeden dieser Muskel- typen sind folgende: die hauptsächlich starken Muskeln haben grosse Ursprungs- und Insertionsflächen, wobei sie sich zugleich mit der Ver- grösserung der Insertionsfläche von der Stütze des Hebels, auf den sie wirken, entfernen ; der Querschnitt solcher Muskeln ist verhältnismässig klein; dessen ungeachtet können sie bei geringer Spannung ziemlich grosse Ki'aft entfalten, weshalb sie auch nicht so leicht ermüden. Sie wirken hauptsächlich mit ihrer ganzen Masse und sind nicht imstande, die Bewegungen fein zu nuancieren ; die Kraftentfaltung findet bei ihnen mit verhältnismässig geringer Schnelligkeit statt, und sie bestehen öfter aus kurzen Muskelfasern. Die Muskeln des zweiten Typus, welche sich durch Gewandtheit ihrer Action auszeichnen, entspringen und heften sich an kleinen Oberflächen, nahe am Stützpunct des Hebels, auf den 1) Über die Verschiedenheit der Kraftentfaltung der Muskeln der oberen und unteren Extremitäten. Protocoll der Ges. russ. Ärzte vom 6. Nov. 1880, und Des divers types müsculaires et de la fagon diiferente, dont s'exprime la force active des muscies. Memoires de l'Acad. Imp. des Sciences de St. Petersbourg. VII. S^rie- T. XXXII. Nr. 12. St. Petersbourg. 1884 — 236 — sie wirken, an; ihr Querschnitt ist verhältnismässig' gross; sie wirken mit grösserer Spannung, ermüden schneller, bestehen öfters aus langen Fasern und können mit ihren einzelnen Teilen wirken, wobei sie ver- schiedene Nuancen der Bewegung hervorbringen. Dieses sind die- jenigen Muskeln, welche hauptsächlich gewandte und schnelle Be- wegungen möglich machen. Wenn man von den das Schultergelenk umgebenden Muskeln auf diejenigen seine Aufmerksamkeit richtet, welche am langen Arm des Hebels, auf den sie wirken, angreifen, wie z. B. den M. deltoideus, so bemerkt man folgendes: dieser Muskel besteht ganz aus Muskelkegeln, welche mit ihrer Spitze abwechselnd nach oben und nach unten gerichtet sind. Solcher Kegel enthält der Muskel neun bis elf. In jungem Alter, vor der vollen Entwickelung, ist ihre mittlere Anzahl geringer (sechs bis acht); die grösste Anzahl und die stärkste Entwickelung derselben bemerkt man an Subjecten mit stark ent- wickeltem Muskelsystem der oberen Extremität. Diese Kegel, deren Grundflächen bald nach der einen, bald nach der anderen Seite gekehrt sind, ergeben in ihrer Summe einen grossen Querschnitt. Dieser Muskel hat, wie das in der Folge erklärt werden soll, bei verhältnismässig geringem Volumen, einen maximalen physiologischen Querschnitt. Der M. deltoideus entspringt am äusseren Drittel der Clavicula, am äusseren Rande des Schulterfortsatzes und des Schulterkamms, an einer Fläche von 14,56 □ cm ^) und greift ungefähr in der Mitte der äusseren Fläche des Oberarmbeins an der hier befindlichen Tuberositas deltoides, an einer Fläche von 10,51 Dem an. Das Gewicht dieses Muskels beträgt im Mittel (aus zehn Messungen) 249,8 gr, sein Volumen ist = 239,6 cbcm; die mittlere Faserlänge ist == 11,5 cm; der berechnete Querschnitt beträgt 21 D cm. Dieser Muskel wirkt also mit grosser absoluter Kraft, aber bei verhältnismässig geringer Stütze und bei ge- ringer Insertionsfläche. Wenn wir uns nun zum entsprechenden Teil der unteren Extremität wenden, so finden wir derartige Erscheinungen an entsprechender Stelle nicht, während doch die entwickelte Kraft augenscheinlich grösser sein muss, als an der oberen Extremität, da diese Muskeln bei unterer Stütze auch auf den Rumpf wirken. Nehmen wir z. B. den M. gluteus maxi- mus; er besteht ganz aus parallelen Muskelbündeln, und gewöhnlich findet man hier gar keine Kegel. Das Gewicht dieses Muskels beträgt im Mittel (aus zehn Messungen) 523,1 gr; sein Volumen ist = 515,3 cbcm, die mittlere Faserlänge ^= 19,5 cm, sein Querschnitt ist == 25,8 Dem. Zieht man das Knochengewicht der oberen Extremität (770,6 gr oder 1) Alle hier angeführten Zahlen sind der Abhandlung von Dr. W. S. VSTarawin entnommen. Zur Frage von der Verschiedenheit der Kraftentfaltung der Muskeln der oberen und unteren Extremitäten. St. Petersburg. 1882 (russisch). — 237 — ohne Schultergürtel 587,8 gr) und der unteren Extremität (2453,6 gr. oder ohne Beckengürtel, d. h. ohne Hüftbein und eine Kreuzbeinhälfte = 1792,6 gr) in Betracht, so kann man sich davon überzeugen, dass der relative Querschnitt des M. deltoideus sich zum relativen Querschnitt des M. gluteus maximus wie 3,5:1,4 verhält; vergleicht man auf diese Weise diese Zahlen, welche Dr. Warrawin ^) den relativen Querschnitt der Muskeln nennt, so erhält man, dass der relative Querschnitt des M. deltoideus den des M. gluteus maximus mehr als zweimal übertrifft. In Wirklichkeit kann letzterer Muskel ziemlich grosse Kraft entfalten, sogar mehr als der M. deltoideus, da er auf die untere Extremität oder auf den Rumpf, deren Dimensionen und Gewicht grösser sind, als die der oberen Extremität, wirkt. Die relative Kraft ist hier augenscheinlich kleiner, der Grad ihrer Entfaltung aber ist grösser. Wie kann man nun das erklären ? Betrachtet man die das Schulter- gelenk umgebenden Muskeln, so findet man, dass ihre Stützfläche ver- hältnismässig gering ist, die Insertionsstellen sind nahe bei der Stütze des Hebels, auf den sie wirken, und zugleich sind die Ansatzflächen klein. Vergleicht man sie aber mit dem M. gluteus maximus, so findet man in dem Verhältnis der Stütz- und Ansatzfläche einen grossen Unterschied. Der M. gluteus maximus zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass bei unterer Stütze seine Stützfläche die grösste aller Muskeln sowohl der oberen, als auch der unteren Extremität ist: sie beträgt 342,79 □ cm. Nimmt man nun eine untere Stütze dieses Muskels an, was ja in der Stehlage des Menschen der Fall ist, so muss man als Ursprung seines tiefen Teils die Anheftung des Muskels unter der Basis des grossen Rollhügels an die hier befindliche longitudinale rauhe Knochen- fläche gelten lassen; mit seinem oberflächlichen Teil entspringt er an dem ganzen äusseren, oberen Teil der Fascia lata; letztere erstreckt sich bis zum oberen Teil des Unterschenkels nach unten, am Ober- schenkel aber entsendet sie zum Knochen Fortsätze, das Ligamentum intermusculare externum et internum, und geht vorn und hinten in die Aponeurose über, welche den ganzen Oberschenkel wie ein Cylinder umgiebt. Alle diese Teile dienen dem Muskel als Stütze, der äussere Teil dieser Stütze aber, der sich unter dem Einfluss des M. tensor fasciae latae befindet, kann stark gespannt werden und um so mehr bei der Contraction des M. gluteus maximus als feste Grundlage dienen. Die Fasern des letzteren sind nach oben und innen gerichtet und ver- laufen parallel. Dieser Muskel greift zwischen der Linea glutea posterior und dem oberen, hinteren Rande des Hüftbeins und ebenso au der Binde- gewebemembran, welche hinter diesem Knochen am Seitenrande des 1) L. c, pag. 53. — 238 — Kreuzbeins bis zur Basis des Steissbeins und dem äusseren Teil des Lig. tuberoso - sacrum hinabsteigt , an einer Fläche von 47,77 Dem an. Betrachtet man die Muskeln der unteren Extremität weiter, so findet man hier im allgemeinen solche Muskelgruppen, welche sich durch sehr grosse Stütz- und Insertionsflächen und verhältnismässig geringen Querschnitt auszeichnen. So entspringt z. B. der M. extensor s. quadri- ceps cruris an der ganzen Vorderfläche des Schenkelbeins und an kleinen Teilen der Ligamenta intermuscularia, externum et internum, an einer Fläche von 274,61 Dem; die Insertion nimmt eine Fläche von 96,86 Dem ein. Das Gewicht dieses Muskels beträgt 914,3 gr, sein Volumen ist = 883,8 cbcm, die mittlere Länge der Fasern 11,2 cm, sein Querschnitt aber 81,7 D cm u. s. w. Ausserdem stossen wir bei der Analyse der Muskelthätigkeit auf Verhältnisse zwischen den Muskelkörpern, auf die man bis jetzt seine Aufmerksamkeit noch gar nicht gerichtet hat, weshalb sich auch die Bedeutung mehrerer dieser Muskelkörper und ihr gegenseitiges Ver- hältnis schwer erklären Hess. Welches Verhältnis besteht z. B. zwischen dem M. gastrocnemius und dem M. soleus? Warum verschmelzen sie gerade mit ihren Sehnen, und in welchem Falle sind sie imstande, mehr Kraft zu entfalten? Der M. gastrocnemius hat über den Condylen des Schenkelbeins seinen Ursprung, der M, soleus aber entspringt an der hinteren Peripherie des Kopfes und an der oberen Hälfte des hinteren Randes der Tibia, ausserdem an der Linea poplitea, an der flbrillären Membran zwischen Tibia und Fibula und am oberen Teil der hinteren Fläche und der inneren Kante der Tibia, unter der Insertion des M. popliteus bis zur Mitte des gegebenen Knochens. Jeder Kopf des M. gastrocnemius setzt sich in einen besonderen Bauch, der von den benachbarten durch eine Sehnenscheidewand, welche, wie auch die Fasern der Bäuche, nach unten in die gemeinsame Sehne übergeht^ geschieden ist, fort. In die- selbe Sehne gehen auch die Muskelbündel des M. soleus über. Diese sogenannte Achillessehne heftet sich an die untere, hintere Fläche des Fersenbeinhöckers. Wenn der M. gastrocnemius und soleus sich zu gleicher Zeit contrahieren, so wird durch ihre gemeinsamen Kräfte die Achillessehne angespannt, durch deren Vermittelung die Muskeln auf den von dem Fuss gebildeten Hebel wirken. Aus den oben angeführten dynamischen Gesetzen und aus der Be- trachtung der Bedeutung der Stütze konnten wir ersehen, dass unter sonst gleichen Bedingungen der Muskel um so mehr Kraft entfalten kann, je grösser die Stütze des gegebenen Muskels ist, je mehr Fasern er enthält. Als Stütze kann die Oberfläche eines Knochens, einer Sehne oder Sehnenausbreitung oder endlich ein Muskelsehnenbogen dienen. Es versteht sich, dass, je fester, stärker und unbeweglicher die Stütze — 239 ist, der Muskel um so mehr Kraft entfalten kann, und umj^ekehrt. Die Sehnenausbreitung kann als biegsame Fortsetzung der Knochenstütze nur dann Widerstand leisten, wenn sie durch irgend eine Kraft fest- gestellt ist. In solchen Fällen beobachtet man Muskelsehnenbögen, als Beispiel für welche der M. soleus mit der Achillessehne und der über diesem Bogen wirkende M. gastrocnemius dienen. Je stärker sich die Fasern des M. soleus zusammenziehen, desto mehr spannt sich seine Sehne; zugleich wird sie fester und bildet zusammen mit dem Muskel einen gespannten, festen Bogen, dessen Basis man als Stütze dieses Muskelgewölbes annehmen kann. Die Action dieses Muskels, wie auch Fig. 47. R- alle derartigen Verhältnisse, welche so oft in dem Muskelsystem vor- kommen, kann man sich folgendermassen erklären (M. Sturm ^): nehmen wir drei Kräfte P, Q, R (Fig. 47) an, welche durch Vermittelung dreier Fig. 48. in dem Punct A verbundener Stricke auf diesen Punct wirken; in der Gleichgewichts- lage ist jede von ihnen der Resultie- renden der beiden anderen Kräfte gleich und direct entgegengesetzt; hieraus kann man schliessen, dass alle drei Stricke sich in einer Ebene befinden und dass die Grösse einer jeden Kraft durch den Sinus des von den beiden anderen Kräften ge- bildeten Winkels bestimmt werden kann. Eine solche Construction kann auch auf Grund des sogenannten Strickpolygons (poly- gone funiculare ^) erklärt werden. Betrachten wir nun die Function des M. triceps surae ab und sein Verhältnis zur gemeinsamen Sehne c (Fig. 48). Im gegebenen Falle haben wir gleichsam zwei nach entgegengesetzten Seiten sich span- nende Stricke b und c, welche in gespann- tem Zustande die Stütze darbieten, wobei die sie spannenden Kräfte im Punct d concentriert sind und auf die Spannung des Stranges a, der am beweg- 1) Cours de mdcanique de l'eeole politechnique. Paris. 1861. T. 11, pag. 29. 2) Vgl. Delaunay. L. c, pag. 323. — 240 — liehen Punct am Femur angreift, ihren Einfluss ausüben. Kennt man nun die Kraft b und den Widerstand, den das am Fersenhöcker be- festigte c leistet, und ebenso den Winkel zwischen c und b, so kann man die Richtung ihrer der Kraft a, welche am Femur wirkt, gleichen und parallelen Resultierenden leicht berechnen. Eine derartige Con- struction ist auch noch in der Hinsicht vorteilhaft, als z. B. bei der Verlegung des beweglichen Punctes auf den Fersenhöcker die Kräfte a und b im Puncte d concentriert sind und den Strang c, der der Re- sultierenden dieser beiden Kräfte gleich und parallel ist und auf den Fersenhöcker wirkt, spannen; hierbei kann folglich der Stützpunct leicht und bequem bald nach der Peripherie, bald nach dem Centrum verlegt werden. Bei gleichzeitiger Wirkung des M. gastrocenmius und soleus (obere Stütze) also wird die Achillessehne angespannt, und der Angriffspunct der Kraft befindet sich am unteren Teil der hinteren Fersenhöckerfläche (an einer Fläche von 7,45 Dem), wobei diese Muskeln auf den von dem Fuss gebildeten Hebel wirken. In diesem Falle be- trägt die ganze Knochenstütze 146,98 Dem. Ist im Gegenteil die Stütze unten (an der Peripherie), so spannt der M. soleus, indem er sich zu- sammenzieht, die Achillessehne und bildet zusammen mit ihr einen Bogen (Gewölbe), der dem M. gastrocnemius als Stütze dient; letzterer greift an dem unteren Teil der hinteren Femurfläche über den Condylen an. Nimmt man nun die Oberfläche zwischen den Schenkeln des von dem M. soleus und der Achillessehne gebildeten Muskelsehnenbogens (welche 215,315 Dem beträgt), als Angriffsfläche aber die Insertions- fläche der Köpfe des M. gastrocnemius (= 35,87 ncm) an, so erweist sich, dass der Muskel jetzt auf einen längeren einarmigen Hebel bei Belastung des letzteren mit fast dem ganzen übrigen Körpergewicht wirkt. Als Beispiele solcher Bögen können noch dienen: der M. coraco- brachialis und der kurze Kopf des M. biceps brachii, der lange und der kurze Kopf des M. biceps femoris, die Muskeln, welche am inneren und äusseren Condylus des Oberarmbeins entspringen, die Köpfe des M. quadriceps cruris (niusculi vasti et recti femoris) u. a. Bis jetzt wurde hauptsächlich die Bedeutung der Stütze für die Kraftentfaltung der Muskeln betrachtet, ausser der Stütze ist aber, wie bereits gesagt, die Art, mit welcher die Muskeln angreifen, von Bedeutung. Die Hauptbedeutung wird hierbei natürlich die Beziehung der Angriffs- stelle zum Hebel, auf den der Muskel wirkt, haben. Je näher zum Stützpunct des Hebels und je weiter vom Widerstand der Muskel an- greift, mit desto grösserer Schnelligkeit kann er wirken und desto grössere Verschiedenheit der Bewegungen ist auf Kosten der Kraft möglich. Je weiter vom Stützpunct und je näher zum Widerstand dagegen der Muskel angreift, desto mehr Kraft kann ei auf Kosten der Schnelligkeit, Verschiedenheit und Feinheit der Bewegungen entfalten. 241 Es ist begreiflich, dass, je grösser die Insertionsfläche ist, desto eher der Fall eintreten kann, dass diese Fläche sich dem Widerstände nähert, und der Muskel mit um so grösserer Kraft wirken kann. An der unteren Extremität greifen die Muskeln hei oberer (centraler) Stütze bei der Beugung des Unterschenkels und des Fusses, durch Yermittelung einer den Hebel umfassenden Schleife an; so kann man z. B. die Sehnen- fasern des M. semitendinosus bis zur Tuberositas tibiae, wo sie sich an einer Fläche von 1,5 Dem anheften, verfolgen; an der anderen Seite der Tuberositas findet man die 3 Dem messende Insertionsfläche der Fasern des M. biceps femoris, welche sich bis hierher erstrecken. Diese beiden an der Tuberositas zusammentreffenden Sehnen bilden eine Schleife, welche vorn den oberen Teil der Tibia auf einer Fläche von 35,20 Dem umfasst. Ebenso entsendet die Sehne des M. peroneus longus gewöhn- lich einen kleinen Sehnenstrang zur Basis des Metatarsalknochens der fünften Zehe und erreicht dann mit seinen Fasern die Basis der ersten Phalange oder des sogenannten Metatarsalknochens der grossen Zehe und des grossen Keilbeins (an einer Fläche von 1,27 Dem); an diese beiden Knochen tritt von der anderen Seite die Sehne des M. tibialis anticus (In- sertionsfläche 1,28 Dem) heran. Die Sehnen dieser Muskeln bilden zusammen eine Schleife, welche dem Fuss unten an einer Fläche von 9,12 Dem anliegt. An der oberen Extremität fin- det man solche Schleifen nicht. Diese Schleifen sind bei der Verlegung der Stütze zur Peripherie (nach unten) sehr vorteilhaft, da sie bei der Contraction dieser Muskeln eine grosse Fig. 49. D < ">£ Stütze bieten. Wenn jedoch die Muskelkraft an einem langen Hebel nahe an seinem Stützpunct angreift, so muss man mit grosser Spannung wirken und viel Kraft anwenden. Bei linearer Insertion ist gewöhnlich auch der Ursprung des Muskels linear. Nehmen wir an, dass der Muskel eine kleine Insertionsfläche. aber eine grosse ürsprungsfläche hat; in solch einem Falle müssen die Fasern durchaus schräg, in der Richtung der Linien CA und CB (Fig. 49) verlaufen, indem sie vom Punct C aus divergieren. Eine jede dieser Kräfte kann man in zwei vom Punete C ausgehende 16 — 242 gegenseitig rechtwinkelige (CD und CF, CE und CF) zerlegen. Wir erhalten dann zwei in der Richtung CF wirkende Kräfte und zwei zu CF perpendiculäre vom Puncte C aus und in entgegengesetzten Richtungen wirkende Kräfte (CD und CE). Die letzteren Kräfte können nur den Punct C fixieren oder ihn sogar auseinanderreissen, wenn er nicht fest genug ist; die Annäherung des Punctes an die Stütze F werden sie jedoch durchaus nicht fördern, diese wird nur durch die in der Richtung CF wirkenden Kräfte bewirkt. Hieraus ersieht man, wie unvorteilhaft eine derartige Anordnung der Muskelfasern ist. Es erweist sich in der That, dass bei linearer Angriffsfläche die Muskeln gewöhnlich an linearen Flächen oder Sehnensträngen, welche einen Teil von benachbarten Muskeln gebildeter Bögen bilden und bei der Thätigkeit dieser Muskeln als Stütze dienen, entspringen und ge- wöhnlich aus geraden Fasern bestehen. Als deutliches Beispiel solcher Muskeln können die Augenmuskeln und der M. sterno — cleido— mastoi- deus (seine Stützfläche ist = 7,065 Dem, seineInsertionsfläche = 4,14 Dem, sein Querschnitt aber = 2,19 Dem), und ebenso an der oberen Ex- tremität der M. teres major dienen. Ein Beispiel von Muskeln, welche an Sehnenscheidewänden ihren Ursprung haben, sind an der oberen Extremität einige Muskeln des Vorderarms, deren Muskelfasern an einer sehr kleinen Knochenfläche entspringen (A Fig. 50) ; hauptsächlich aber nehmen sie an der Oberfläche der benachbarten, festen, flbrillären Scheide- wände AH, AD, AF und AE, welche eine Fortsetzung des Knochens bilden, ihren Anfang. Die von diesen Scheide- wänden ausgehenden Muskelfasern gehen in die Sehnen C, B, G, welche fast durch die ganze Länge des Muskel- körpers gehen und sich zur Angriffs- stelle wenden, über. Unter solchen Bedingungen sind in demselben Vo- lumen bedeutend mehr Muskelfasern enthalten, was einen möglichst grossen Muskelquersclmitt ergiebt; so hat z. B. der M. pronator teres bei einer Stützfläche = 20,12 Dem und einer Insertionsfläche = 3,66 Dem im Mittel ein Gewicht von 28,4 gr, ein Volumen von 27,3 cbcm, eine mittlere Faserlänge von 5,5 cm und einen Querschnitt von 4,8 Dem, der M. radialis internus hat bei einer Stützfläche = 13,42 Dem und einer Insertionsfläche == 0,35 Dem im Mittel ein Gewicht von 19,1 gr, ein Volumen von 18,3 cbcm, eine mittlere Faserlänge von 5,6 cm und einen Querschnitt von 3,4 Dem; beim M. ulnaris internus beträgt die Stützfläche 12,60 Dem, die Angriffsfläche 0,71 Dem, das mittlere Gewicht 27,3 gr, das Volumen 26 cbcm, die mittlere Faserlänge 4,8 cm, der — 243 — Querschnitt 5,5 Dem. Bei der Wirkung solcher Muskeln werden die festen flbrillären Membranen gewiss von den benachbarten Muskeln ge- spannt, und die Activität dieser Muskeln wird mit dem Abnehmen der Thätigkeit dieser benachbarten Muskeln geschwächt. Wenn folglich mehrere Muskeln, wie z. B. die vom Condylus in- ternus humeri ausgehenden, an einer kleinen Knochenfläche und haupt- sächlich an von diesem Condylus ausgehenden flbrillären Scheidewänden entspringen, so ruft eine Veränderung der Innervation eines dieser Muskeln unbedingt eine Abschwächung der Thätigkeit aller an diesen Scheidewänden anfangenden Muskeln hervor. So wird z. B. bei einer Affection des Nervus ulnaris nicht nur die Thätigkeit des M. ulnaris internus, sondern auch die aller vom Condylus internus ausgehender Muskeln, bis zum M, pronator teres inclusive, verändert, da sie alle an den vom Condylus internus ausgehenden Scheidewänden ihren Ursprung haben. Dieses Factum weist auf die ganze Wichtigkeit und Bedeutung der mechanischen Bedingungen der Muskeln bei der Analyse der Functionen des Nervensystems, wovon seinerzeit umständlich gehandelt werden wird. Als Beispiel des Typus der starken Muskeln können hauptsächlich die Muskeln der unteren Extremität und des Eumpfes dienen; so z. B. der M. glutaeus maximus: untere Stützfläche = 342,79 Dem, Angriffs- fläche = 47,77 Dem, Querschnitt = 25,8 ncm; M. triceps pedis s. gastrocnemius et soleus: untere Stützfläche des Muskelsehnenbogens = 215,315 Dem, Angriffsfläche = 35,87 Dem, Querschnitt =27,98 Dem; M. extensor trunci communis: untere Stützfläche = 271,66 ncm, An- griffsfläche = 234,04 ncm, Querschnitt = 30,1 Qcm u. s. w. Die hauptsächlichsten Vertreter des Typus der gewandten Muskeln sind die Muskeln des Auges, des Gesichts, die Muskeln, welche das Nackengelenk umgeben und teilweise die Muskeln der oberen Extremität ; für den M. deltoideus beträgt die obere Stützfläche 14,56 Dem, die In- sertionsfläche 10,51 Dem, der Querschnitt aber 21 Dem. Die hier beschriebeneu Muskeltypen kann man systematisch analy- sieren, folglich also alles von ihnen Gesagte durch Anwendung der ge- nauesten Methode verifleieren. In der Litteratur existieren bereits der- artige Abhandlungen, in ihnen wird jedoch hauptsächlich die Form der Muskelkörper in Betracht gezogen und die Bedeutung ihrer Stütze und ihr typisches Verhältnis zu den Hebeln, d. h. gerade das, was für das Verständnis der Muskelthätigkeit im lebenden Organismus notwendig ist, ganz ausser Acht gelassen. So teilt S. Haughton ^), der die Unter- suchungen von Borelli-) verifleierte und fortsetzte, die Muskeln nicht nach ihrem Verhältnis zu den Hebeln und nach ihrer Function im 1) Principles of animal mechanics. 2. edit. London. 1873, pag. 164. 2) De motu animalium. Lugduni Batavorum. 1710. 16* — 244 — lebenden Organismus, sondern nach ihrer Form und hauptsächlich nach der Richtung der Fasern ein. Er classificiert die Muskeln folgender- massen : I. Muskeln, deren Fasern in einer Ebene liegen. II. Muskeln, deren Fasern krumme Flächen bilden. 1. Geradlinige Fasern. a) krumme Flächen. 2. Krumme Fasern. a) ellipsoidale Flächen. 1. Parallele und geradlinige Fasern. a) gerade prismatisch, b) rhomboidal, c) gefiedert. 2. Sich durchkreuzende und geradlinige Fasern. a) dreieckig, b) deltoid. c) viereckig, 3) Krumme und parallele Fasern. a) Sphincteren. Auf Grund der Untersuchung der von ihm classificierten Muskeln und des Studiums des Hüft-, Schultergelenks und anderer Gelenke kommt Haughton zu folgenden Schlüssen^). 1. Jeder Muskel ist im Verhältnis zu seinem Gelenk so construiert, dass er eine Art Arbeit, und zwar mit maximalem Vorteil ausführt. 2. Die Anzahl der vorhandenen Muskeln wird durch den Typus der verschiedenen vom Gliede ausgeführten Thätigkeiten bedingt. 3. Die Art und die Form der vorhandenen Knochen ist eine not- wendige Folge der Art (Form) und Kraft der wirkenden Muskeln. 4. Der kleinste Muskel einer Combination ist ebenso sorgfältig seinen Bedingungen der mechanischen Arbeit angepasst, wie der grösste Muskel. Haughton meint, dass man aus diesen Grundsätzen folgende allge- meine Schlüsse inbetreff der Thätigkeit aller Muskeln und Gelenke ziehen kann. 1. Der Typus eines jeden Gliedes und seiner Function ist provi- dentiell vorausbestimmt. 2. Ist einmal die Idee des Gliedes und seine notwendige Thätigkeit gegeben, so kann die Anzahl, Form und Lagerung der nötigen Muskeln mit grösserer Genauigkeit berechnet und vorausgesagt werden, als der Astronom eine Finsternis vorhersagen kann. 3. Die Form und Lagerung der Knochen folgt notwendig aus der erforderlichen Lagerung der Muskeln. 4. Jede Veränderung in irgend einem Teil der Knochen - Muskel- und Gelenkverbindungen muss, wie gering sie auch sei, die Thätigkeit hereditär abschwächen und den Mechanismus weniger vollkommen machen. 5. Daher ist die Stabilität einer jeden Art (wenigstens in Bezug 1) L. c, pag. 387. — 245 — auf die Knochen, Muskeln und Gelenke) aus Gründen, welche Darwin so sonderbarer Weise bestreitet, absolut gesichert. 6. Ein gründliches Studium des Gelenkmechanismus macht ein Fest- halten an der Meinung, dass die zwischen den Knochen, Muskeln und Gelenken der Tiere gefundenen Ähnlichkeiten durch die Abstammung von einem vorausgesetzten gemeinsamen Stammvater sich erklären liesse, unmöglich. Alle diese Grundsätze sind jedoch nach den von Haughton an- geführten Beweisen lange nicht so augenscheinlich, und, wenn man sich nur auf sie stützt, kann man wohl kaum auf die absolute Stabilität der Formen schliessen. Die Ursachen der Knochenformen und die Ab- hängigkeit der Bewegung von der Form der Gelenkflächen waren bereits früher behandelt worden ^), und es war nach Möglichkeit so- wohl der hier vorhandene Zusammenhang zwischen Form und Function und die Lagerung der Bänder und Muskeln in Bezug auf die Bewegungs- achsen dargelegt worden, deshalb brauchen wir uns nicht dabei aufzu- halten. Seiner Classification der Muskeln legte Haughton die Form und Richtung der Fasern zu Grunde. Ohne die Bedeutung der Formen in Abrede zu stellen, kann man die Classification bedeutend vereinfachen, wenn man die Form in directer Verbindung mit der Function, und zwar mit der Entfaltung von Kraft einerseits und Gewandtheit andrer- seits, als Grundlage annimmt; hierbei vereinigt man alle Muskeln, welche hauptsächlich Kraft äussern, in eine Gruppe und diejenigen, welche sich durch Gewandtheit ihrer Actionen auszeichnen, in die andere. Dieser Unterschied ist natürlich functionell mit der Verschiedenheit ihrer Construction, ihres Verhältnisses zum Hebel, ihres Ursprungs und Ansatzes verbunden; er steht gleichfalls mit der Verschiedenheit im Materialaufwand und der Möglichkeit, die Thätigkeit zu isolieren, d. h. mit der Verschiedenheit der eintretenden Gefässe und Nerven in Ver- bindung. Ausser dieser Beweise für eine solche Classification kann man sich auch noch der Anwendung der mathematischen Analyse be- dienen. Hierzu muss man sich die Richtung der Muskelfasern des typischen Muskels, ihren Querschnitt, den Winkel, unter dem sie am Hebel angreifen, die Richtung der Stütz- und Angriffsfläche graphisch darstellen, ausserdem bestimmt man die Entfernung zwischen der An- griffsfläche und dem Stützpunct des Hebels, die Widerstandskraft, welche der Muskel zu bewältigen hat, und endlich den Schwerpunct und das Gewicht des ganzen Hebels, auf den der Muskel einwirkt. Die mathematischen Untersuchungsmethoden, welche zu diesem Zwecke von dem Academiker W. G. Imschenetzky vorgeschlagen wurden, 1) Über die Ursachen der Knochenformen. Protocolle der Ges. russ. Arzte. Über die Verbindung der Knochen mit einander. Medicinische Bibliothek, April. 1882 (russisch). — 246 — sind in der angeführten Abhandlung^) beschrieben, hier führen wir nur die aus ihrer Anwendung erlangten Folgerungen an. Wenn man das Schema der Faserrichtung in den einfachsten Muskel- formen ins Auge fasst, so genügen folgende drei Fälle. 1) Muskeln mit parallelen, zum Hebel perpendiculären oder schief geneigten Fasern. 2) Muskeln mit zu einem Puncte des Hebels convergierenden und von einer linearen Stütze ausgehenden Fasern. 3) Muskeln mit zum Hebel hin divergierenden und folglich aus einem Stützpuncte ausgehenden Fasern. Die in besagter Abhandlung gegebenen Formeln, welche zur Veri- fication der Muskelthätigkeit dienen, ergeben folgendes. I. Die erste Formel, dass für die Action der Muskeln mit parallelen Fasern an einem Hebel von bestimmter Länge und bestimmtem Gewicht seine Fasern mit um so grösserer Spannung wirken müssen, je kleiner die Entfernung zwischen dem Angriffspunct der Resultierenden der Muskelkräfte und dem Stützpuncte des Hebels, je geringer sein Muskel- querschnitt und je kleiner der Sinus des von der Resultierenden und der Richtung des Hebels gebildeten Winkels ist, und umgekehrt. II. Die zweite Formel, dass bei der Action von Muskeln, die aus zu einem Puncte des Hebels von bestimmter Länge und bestimmtem Gewicht convergierenden Fasern bestehen, die Fasern mit um so grösserer Spannung wirken müssen, je geringer die Entfernung zwischen dem An- griffspunct und dem Stützpunct des Hebels, je kleiner der Muskelquer- schnitt und je geringer der Sinus des Winkels ist, den die Resultierende mit der Richtung des Hebels bildet, und umgekehrt. III. Die dritte Formel, dass bei der Action von Muskeln, welche aus von einem Stützpunct ausgehenden und an einer grossen Fläche am Hebel, an dem der Muskel wirkt, angreifenden Fasern bestehen, die Fasern mit um so grösserer Spannung wirken müssen, je geringer der Muskelquerschnitt und je kleiner die Entfernung zwischen dem Stütz- punct des Hebels und dem Durchschnittspunct eines vom Stützpunct des Hebels auf die Resultierende der Muskelkräfte gefällten Perpen- dikels ist. Die eben angedeutete Verschiedenheit in der Stütze und der An- griifsfläche der verschiedenen Muskeltypen, welche bei verschiedenen physiologischen Querschnitten wirken, ist anfänglich auf rein anato- mischen Grundlagen und nach Beobachtungen an Kraftentfaltungen bei lebenden Subjecten constatiert worden. Um durch unmittelbare Messungen sowohl die Stützfläche und die Angriffsfläche, als auch den Muskel- 1) Des divers types musculaires etc. Mem. de l'Acad. 1884. Nr. 12. T. XXXII, pag. 11 — 17. — 247 querschnitt selbst zu verifi eieren, stellte Dr. Warawin Messungen an, indem er folgende Methode anwandte. Der absolute physiologische Querschnitt eines jeden Muskels wurde durch Division des Muskelvoluraens durch die mittlere Faserlänge be- rechnet; das Volumen wurde durch die Quantität des verdrängten Öls, in das der Muskel (um Aufquellen desselben zu verhüten) getaucht wurde, wobei die Sehnen nach Möglichkeit entfernt wurden, bestimmt. Die Faserlänge ergab sich, indem man an zehn oder mehr Stellen, je nach der Verschiedenheit der Faserlänge des gegebenen Muskels, mit gewichsten Faden mass und das arithmetische Mittel der erhaltenen Zahlen nahm. Die Stütz- und Angriifsflächen erhielt man, indem dünnes geöltes Papier an die Ursprungs- oder Inserstionsstelle des Muskels, deren Grenzen anfangs mit einem Anilin- (Tinten) Stift markiert worden waren und die dann erst gereinigt wurde, anlegte. Von diesem Papier wurde der Umriss auf ein anderes, in regelmässige Quadrate, d. h. Centimeter und Millimeter, eingeteiltes Papier übertragen. Ausser dem absoluten Querschnitt wurde auch noch der relative berechnet. Den relativen Querschnitt nennt Dr. Warawin die Zahl Quadratcentimeter des physiologischen Querschnitts einer bestimmten Muskelgruppe, welche auf lüO gr der Knochen, welche sie bewegen, kommen; so z. B. für die Muskeln des Schultergelenks auf 100 gr der Knochen der ganzen Ex- tremität (mit Ausnahme der Clavicula und Scapula); für die Muskeln des Ellenbogengelenks auf 100 gr der Vorderarm-, Hand- und Finger- knochen; für die Muskeln des Kniegelenks auf 100 gr des Unter- schenkels und Fusses bei oberer Stütze und des Femur bei unterer Stütze u. s. w. Wenn wir auf Grund der so angestellten Messungen alle Muskeln der oberen und unteren Extremität bei oberer oder centraler Stütze zusammenstellen, so erhalten wir folgende Daten in Quadratcentimetern. Die Muskeln der oberen Extremität Die Muskeln der unteren Extremität Absoluter Qaerscbnitt Relativer Stütz- Querschnitt Fläche Angrijffs- Fläche Absoluter Qaerscluitt Relativer Qaersctinitt Stütz- Fläche Angriffs- Fläche 218,6 36,7 670,75 121,64 1 493,9 27,5 1307,22 218,48 Hieraus ersieht man, dass die Muskeln der unteren Extremität einen grösseren absoluten Querschnitt (Verhältnis, wie 100:225), aber einen kleineren relativen Querschnitt (100:74) haben, ihre Stützfläche (100:195) und Angriffsfläche (100:179) aber ist grösser als dieselben an der oberen Extremität. Dr. Warawin ^) folgert aus seinen Messungen folgendes. 1) L. c, pag. 83 und 84. — 248 — 1) Bei der Stütze an der Peripherie, d. h. für den Arm an der Hand und den Fingern und für das Bein am Fiiss, haben alle Muskel- gruppen der unteren Extremität grössere Stütz- und Angriffsflächen, als die entsprechenden Gruppen der oberen Extremität. 2) Die Annäherung der Verhältnisse der Querschnitte, Stützen und Insertionen, welche bei centraler Stütze zu beobachten waren, sind bei peripherischer Stütze an den meisten Muskelgruppen nicht vorhanden; im Vergleich zur Vergrösserung des Querschnitts zeigt sich bedeutendes Überwiegen der Stützfläche (öfter) oder der Angriffsfläche (seltener) oder beider zusammen. 3) Das Vorwiegen der Stützflächen ist hauptsächlich in den Muskel- gruppen, welche die Hauptbewegungen (Beugung und Streckung) aus- führen, zu beobachten, wenn diese Bewegungen mit einer bedeutenden Verschiebung des Schwerpunctes in der Horizontalebene verbunden sind oder den verschobenen Schwerpunct in seine ursprüngliche Lage bringen. 4) Der relative Querschnitt ist fast in allen Muskelgruppen der oberen Extremitäten grösser, als in denen der untern Extremität. 5) Alle langsamen, starken, langandauernden Bewegungen werden von Muskeln mit grosser Stützfläche ausgeführt; alle schnellen, ge- wandten, aber kurzdauernden Bewegungen von Muskeln mit kleinen Stütz- und Angriffsflächen, aber mit grossem relativen Querschnitt. Aus allem Gesagten kann man folgende Schlüsse ziehen. 1) Die Muskeln können um so mehr Kraft äussern, je grösser ihr physiologischer Querschnitt und je grösser ihre Stütz- und Angriffs- fläche im Verhältnis zum Hebel, auf den sie wirken, ist. 2) Je kleiner die Stütz- oder Angriffsfläche ist, je näher zum Stütz- punct des Hebels der Muskel angreift, mit um so grösserer Gewandt- heit kann er wirken; unter umgekehrten Bedingungen kann er viel Kraft entfalten. 3) Die Muskeln ermüden um so leichter bei ihrer Thätigkeit, je grösser ihr physiologischer Querschnitt und je kleiner ihre Stütz- und Angriffsfläche ist, und umgekehrt. 4) Die Muskeln der oberen Extremität äussern ihre Kraft haupt- sächlich auf Grund eines grossen relativen Querschnitts bei kleiner Stütz- oder Angriffsfläche und ermüden deshalb bei ihrer Thätigkeit leichter. 5) Die Muskeln der unteren Extremität entwickeln, wenn sie sich auf den Boden stützen, ihre Kraft hauptsächlich auf Grund einer grossen Stütz- oder Angriffsfläche bei kleinem relativen Querschnitt und er- müden deshalb bei ihrer Thätigkeit nicht so leicht. 6) Die Functionen der Muskeln hängen von ihrem Verhältnis zur — 249 — Achse, um welche sie Beweg-imgen bewirken, und von ihrem Verhältnis zum Hebel, auf den sie wirken, ab. 7) Die ausgeprägtesten Repräsentanten derjenigen Muskeln, welche mit grosser Gewandtheit wirken, sind die Augen- und Gesichtsmuskeln, derjenigen Muskeln aber, welche grosse Kraft entfalten, die Streck- muskeln des Rumpfes, des Fusses, des Oberschenkels, besonders bei unterer Stütze. Die hier festgestellten zwei Muskeltypen lassen sich, wie oben bereits gesagt wurde, nach dem verschiedenen Grad der Spannung, mit der die Muskeln dieser Typen wirken, unterscheiden. Je grösser die Spannung ist, desto grösser muss auch der Material Verlust in einem bestimmten Zeitraum sein. Ein Verlust ist aber nur bei entsprechender Zufuhr sowohl in Bezug auf die Quantität der Nahrungsflüssigkeit, als auch in Bezug auf den Druck, unter dem letztere sich bei verstärkter Thätigkeit in den Geweben verbreitet, möglich. Bei der Behandlung der allgemeinen Anatomie des Gefässsystems werden wir sehen, dass den verschiedenen Muskeltypen zugleich ein verschiedenes Caliber und eine verschiedene Wanddicke der Gefässe entspricht. Dasselbe wird sich später auch bei der Behandlung der allgemeinen Anatomie des peripheren Nervensystems ergeben. Die Bestimmung der Muskelkraft. Oben wurde bereits ge- sagt, dass die absolute Muskelkraft von der Anzahl der im Muskel enthaltenen Fasern oder von seinem physiologischen Querschnitt ab- hänge. Jetzt muss man bestimmen, eine wie grosse Last der Muskel auf eine bestimmte Einheit seines Querschnitts heben kann. Nach den Untersuchungen von Ed. Weber ^) beträgt die Muskelkraft des lebenden Menschen 1087 gr auf 1 D cm im Querschnitt. In der Folge haben Henke und Knorz -) auf einen von Weber bei der Berechnung be- gangenen Fehler hingewiesen und gefunden, dass nach seinen Daten die Muskelkraft 4 kg auf 1 Dem betrage. Nach ihren eigenen Unter- suchungen ist diese Zahl zu klein; sie fanden, dass die Kraft der Muskeln der oberen Extremität = 8,167 kg, die der Rückenstreck- muskeln aber = 5,90 kg auf 1 ncm des Querschnitts sei. Die Kraft der letzteren Muskeln bestimmte Koster ■^) auf 9,5 kg. Endlich ist nach S. Haughton ^) die Kraft der Muskeln der oberen Extremität = 6,67 kg, die der unteren Extremität = 7,78 kg, auf 1 Dem des Quer- schnitts. Alle diese Unterschiede kann man sich durch individuelle 1) Handbuch d. Physiologie. III. Bd. 2. Abt. 1. Lfg. 1846, pag. 84 u. ff. 2) Ein Reitrag zur Bestimmung der absoluten Muskelkraft. 1865, und Zeitschrift f. rat. Med. XXIV. 1865, pag. 247. XXXIII. 1868, pag. 148. 3) Nederlandsch Archief voor Genees- en Natuurkunde. III. 1867, pag. 31, 4) Principles of animal mechanics. London, 1873, pag. 70. — 250 — Verschiedenheiten, welche von dem verschiedenen Grade der Energie des Muskelgewebes abhängen, erklären. Die Untersuchungen von Dr. J. J. Fomin^) an den Muskeln des Schultergelenks, und zwar an den Abductoren und Adductoren haben gezeigt, dass hier ziemlich grosse individuelle Schwankungen möglich sind: für die die Schulter abducierenden Muskeln fand er, dass die entwickelte Kraft 5,419 bis 13,039 kg, im Mittel 8,263 kg auf 1 D cm beträgt, für die adducieren- den Muskeln 8,345 kg, für die Beugemuskeln der Schulter 8,842 kg, für die Streckmuskeln aber 13,730 kg. Die Adductoren entwickeln mehr Kraft, obgleich ihr Volumen, Gewicht und physiologischer Quer- schnitt kleiner ist, was man sich teilweise durch die grössere Stütz- fläche dieser Muskeln, und zwar des M. pectoralis major und latissimus dorsi erklären kann. Bei seinen Untersuchungen bestimmte J. J. Fomin den Querschnitt der Muskeln, die Länge und den Schwerpunct des Hebels, auf den sie wirken, den Winkel, unter dem sie an den Knochen heran- treten, die Entfernung zwischen dem Stützpunct des Hebels und dem AngrifiPspunct der Kraft u. s. w., um dann nach der oben gegebenen Formel die Muskelkraft zu berechnen. An Schnitten durch zum Ge- frieren gebrachte Extremitäten fand er, dass der Winkel, unter dem die Muskeln am Hebel angreifen, bemerkenswert constant ist: so greift der M. teres major unter einem Winkel von 42", der M. latissimus dorsi unter einem Winkel von 44", der M. pectoralis major unter einem Winkel von 47" u. s. w. am Hebel an; diese Winkel veränderten sich in einer Anzahl hier vorgenommener Messungen sehr wenig, in Grenzen von ^/o Grad, was als Fehler bei der Untersuchung angenommen werden kann. Die Bedeutung der oben angeführten einfachen Muskelformen erhellt aus dem oben Gesagten, so dass man bei den Muskeln mit parallelen und schrägen Fasern nur noch über die Achse, um welche sie wirken, zu reden hat. In der allgemeinen x\natomie der Gelenke war bereits nach Möglichkeit erklärt worden, welcher Zusammenhang zwischen der geometrischen Form der Gelenkflächen, den Bewegungen und der Con- struction aller Teile des Gelenkes bestehe. Man kann diesen Zusammen- hang für die Muskeln auch leicht verfolgen; in Bezug auf sie erweist sich, dass die einzelnen Muskeln oder ganze Muskelgruppen mit ihren Fasern oder deren Resultierenden die Bewegungsachse, um welche sie sich lagern, stets rechtwinklig durchkreuzen. Die Stütz- und Angriff s- flächen, der Muskelquerschnitt, die Beziehung der Muskeln zum Hebel, auf den sie wirken, die Entfernung zwischen Angriffspunct der Kraft und dem Stützpunct des Hebels und der Winkel, unter dem die Muskeln 1) Zur Frage von der Bestimmung der absoluten Muskelkraft. St. Petersburg. 1885 (russisch). — 251 — am Hebel angreifen, — alles das sind Fragen, welche sich auf Grund des oben Gesagten erklären lassen. An einem Gelenk, in dem die Be- wegungsumfänge gross sind und wo grosse Verschiedenheit der Be- wegungen vorhanden ist, sind auch die Muskeln von entsprechendem Typus, d. h. sie zeichnen sich durch gewandte Bewegungen aus; ein Gelenk, welches grosse Berührungsflächen der Gelenkenden, überhaupt grosse Festigkeit zeigt, ist bestimmt von Muskeln, welche verhältniss- mässig grosse Kraft entfalten und dementsprechend gebaut sind, um- geben. Sind in einem Gelenk nur Bewegungen um eine Achse möglich, so durchkreuzen die daran wirkenden Muskeln mit ihren Fasern oder ihrer Resultierenden diese Achse unter rechtem Winkel. Je kleiner die Anzahl der Fasern ist, um so paralleler sind sie gelagert, und um so mehr kommt der Winkel, unter dem sie die Achse schneiden, einem rechten Winkel gleich; im entgegengesetzten Falle sind die Fasern schräg gelagert, und sie wirken in der Resultierenden. Als Beispiel solcher Verhältnisse der Fasern zur Bewegungsachse können die Augen- muskeln (erster Fall) und die Muskeln des Ellenbogengelenkes (zweiter Fall) dienen. Die Muskeln wirken auch dann in der Resultierenden, wenn in der Ebene der ersten Achse oder in einer zu dieser parallelen Ebene noch eine zweite Achse, welche die erste unter rechtem Winkel schneidet, liegt. Wie begreiflich, können dann zwei Muskelgruppen, welche z. B. Beugung und Streckung um eine transversale Achse aus- führen, auch um die sagittale Achse wirken, indem sie den beweg- lichen Teil des Körpers oder der Extremität abducieren und adducieren. Hier wird folglich nur die Resultierende zweier Muskelgruppen, welche in solchem Falle stets in der einen oder der anderen Resultierenden wirken, verlegt. Ein Beispiel solcher Muskelgruppen findet man in den Muskeln der Fingercarpal- und der Zehentarsalgelenke, im Handgelenk u. s. w. Im letzteren Gelenk durchkreuzen der M. flexor carpi radialis und M. fl. c. ulnaris einerseits und der M. extensor carpi radialis lon- gus, M. ext. c. rad. brevis und M. extensor ulnaris andererseits mit ihren Resultierenden die transversale Achse des Gelenkes und führen Beugung und Streckung des Handgelenkes aus, bei Verlegung der Re- sultierenden aber durchkreuzen der M. flexor c. radialis, M. extens. c. radialis longus und M. ext. c. rad. brevis die sagittale Achse des Ge- lenkes und abducieren die Hand, ebenso wie der M. flexor carpi ulnaris und M. extensor carpi ulnaris als Adductoren wirken. Dasselbe kann man in Bezug auf die Mm. interossei externi et interni und die Mm. lumbricales und die von ihnen in den Fingercarpalgelenken ausgeführten Bewegungen sagen: sie sind in Bezug auf diese Gelenke Beuge- und Streckmuskeln, Abductoren und Adductoren, ausserdem aber strecken sie auch noch die zweiten und dritten Phalangen, was gleichfalls aus ihrer Beziehung zu den Bewegungsachsen dieser Gelenke folgt. — 262 — In den Kugelgelenken, wie auch in einigen complicierten Gelenken, in denen ausser den Bewegungen um eine in einer Horizontalebene ge- lagerten Achse auch noch Bewegungen um eine verticale Achse möglich sind, wie z. B. im Kniegelenk, müssen ausser den beiden ersten Muskel- gruppen noch zwei Muskelgruppen vorhanden sein, welche mit ihrer Eesultierenden die Verticalachse unter rechtem Winkel durchkreuzen. Im Schultergelenk z. B. sind der M. supraspinatus und der M. deltoi- deus Abductoren, der M. pectoralis major, latissimus dorsi und teres major Adductoren; alle diese Muskeln greifen jedoch in perpen- diculärer Richtung am Hebel an und erscheinen daher hauptsächlich als Pronatoren; um dieser Pronation entgegenzuwirken, nehmen noch der M. infraspinatus und teres minor an der Adduction Teil; diese Muskeln sind einzeln genommen Supinatoren, nur mit den vorhergehen- den zusammen erscheinen sie als Adductoren; als Beuger fungieren: die vordere Hälfte des M. deltoideus und der M. pectoralis major; letzterer Muskel proniert jedoch auih; um dieser letzten Bewegung entgegenzuwirken, nehmen hier, indem sie eine gemeinsame Resultierende bilden, auch der sogenannte M. coraco-brachialis und der lange und kurze Kopf des M. biceps femoris, welche eigentlich einen ganzen drei- köpfigen Muskel bilden, dessen innerer Kopf oder der M. coraco-bra- chialis, indem er sich in longitudinaler Richtung am inneren Rand des Humerus anheftet, denselben supiniert, teil; alle diese Muskeln zu- sammen beugen die Extremität im Schultergelenk, da sie sowohl am oberen und mittleren Teil des Oberarmbeins, als auch am oberen Teil des Vorderarms angreifen; Streckmuskeln sind: die hintere Hälfte des M. deltoideus, der M. latissimus dorsi und M. teres major, letzterer führt hauptsächlich Pronation aus, welcher der M. infraspinatus und teres minor, die Supinatoren sind, vorbeugen; zur gemeinsamen Resul- tierenden tritt hier noch der lange Kopf des M. extensor triceps oder besser quadriceps hinzu. Die Extremitäten rotieren nach vorn (innen): der M, subscapularis, pectoralis major, latissimus dorsi und teres maojr ; und rückwärts (aussen): der M. supraspinatus, M. infraspinatus, M. teres minor und der innere Kopf des M. flexor brachii triceps (M. co- raco-brachialis). Die Gruppen der Abductoren und Adductoren wirken folglich im Schultergelenk auch noch als Beuger und Strecker, wenn die Resultierende verlegt wird, ausser ihnen sind noch zwei Muskel- gruppen vorhanden, welche mit ihren Resultierenden die Verticalachse unter rechtem Winkel durchkreuzen. Von letzteren Muskeln bilden der M. pectoralis major, M. latissimus dorsi und M. teres major keine Schlingen um das obere Ende des Oberarmbeins, wie das bei den Muskeln der unteren Extremität beobachtet werden kann, sondern greifen an dem langen Hebel nahe an seinem Stützpunct, am inneren und hinteren Teil, an, indem sie sich zum vorderen und äusseren Teil des Humerus — 253 — wenden; hierbei beträgt ihre Insertionsfläche nur 9,81 Dem (hiervon kommen auf den M. pectoralis major 4,06 Dem, auf den M. latissimus dorsi 2,92 Dem, auf den M. teres major 2,83 Dem); alles das ist in Hinsicht auf die Gewandtheit, nicht aber für grosse Kraftentfaltung' vorteilhaft. Eine derartige Lagerung der Muskeln macht ausserdem noch sogenannte Ki*eisbewegungen (circumductio), welche der Reihe nach von den einzelnen Bündeln aller angeführten Muskeln ausgeführt werden, möglieh. Im Kniegelenk kann man, wie bekannt, Beugung und Streckung, Rückwärts- und Vorwärtsrotation ausführen. Die ersten Bewegungen führen um eine in horizontaler Richtung gelagerte transversale Achse aus : die Streckung — der M. quadriceps cruris, der aus einem äusseren, mittleren, inneren und langen Kopf (M. vastus externus, medius et in- ternus et M. rectus femoris) besteht; damit er unter grösserem Winkel an den Hebel (Tibia), auf den er wirkt, herantrete, befindet sieh in der Sehne dieses Muskels ein Sesarabein (Patella); die Beugung bei oberer Stütze — der M. biceps femoris, M. semitendinosus und M, semi- membranosus; sie bilden eine Schlinge, welche das obere Ende der Tibia umfasst; die Beugung bei unterer Stütze — der M. triceps pedis, welcher aus dem M. gastrocnemius und dem M. soleus besteht. Bei oberer Stütze zieht der M. semimembranosus, bei unterer der M. plan- taris die fibröse Kapsel nach hinten, damit sie sich nicht einklemme. Ein den Unterschenkel (bei oberer Stütze) rückwärts (aussen) rotierender Muskel ist der M. biceps femoris, vorwärts (innen) rotierende Muskeln aber sind in diesem Falle der M. sartorius, M. gracilis s. rectus femoris internus und der M. semitendinosus. Bei unterer Stütze supiniereu: der M. popliteus und der äussere Kopf des M. gastrocnemius, und proniert der M. gastrocnemius internus. Die complicierten Muskelformen. Die complicierten Muskel- formen können jetzt auf Grund alles Gesagten leicht erklärt werden. Sie erscheinen meist als aus zwei oder mehr Teilen, welche durch tendinöse Scheidewände von einander geschieden sind, bestehend; bei descriptiver Behandlung des Gegenstandes werden die Teile gewöhnlich getrennt, wodurch die Einheit der Apparate, ebenso auch die Möglich- keit "sie zu erklären zerstört wird. Alle complicierten Muskelformen stellen in Wirklichkeit nichts anderes dar, als die besprochenen elemen- taren Formen der Muskelkörper, welche durch die erwähnten Scheide- wände und Stränge zu einem gemeinsamen Apparat verbunden sind. Sie können mit mehreren Köpfen ihren Anfang nehmen, wobei diese Köpfe, welche meist aus schrägen Fasern bestehen, bald als Stütze von verschiedener Form und Dimension, bald als Insertion des gegebenen complicierten Muskelkörpers oder Apparates erscheinen. Durch solche Formen kann grosse Verschiedenheit der Thätigkeit bei maximaler — 254 — Stütze erreicht werden. Ebenso kann ein complicierter Muskelkörper in mehrere Schwänze, welche zu verschiedenen Teilen hin verlaufen und die Wirkung sowohl einzelner Teile, als auch aller Teile gleich- zeitig gestatten, auslaufen. Es kann auch der Bauch durch Sehnen- streifen (Inscriptionen) , welche mit der diese Muskeln bedeckenden Hülle verschmelzen und die Kraft der Muskeln vergrössern, geteilt sein; «Diese Sehnenstreifen können auch durch Scheidewände, welche sich bei der Contraction der umgebenden Muskelbündel spannen und den Teilen, mit denen sie in Berührung stehen, Widerstand leisten, ersetzt sein. Endlich kann der Muskelkörper aus einem oder mehreren Kegeln, deren Gipfel im letzteren Falle abwechselnd nach entgegengesetzten Seiten hin gerichtet sind, bestehen; diese Muskeln haben bei verhältnissmässig geringem Volumen grossen physiologischen Querschnitt und sie sind imstande, mit grosser Spannung zu wirken. Betrachten wir diese ver- schiendenen Arten der complicierten Muskeln einzeln. 1) Die complicierten Muskelkörper mit zwei oder mehr Köpfen kommen sehr oft im tierischen Organismus vor. Sie vereinigen grosse Länge mit starker Stütze und nehmen an Bewegungen in zwei oder mehr Gelenken teil. Ein Beispiel von Muskeln dieses Typus ist der M. biceps brachii et M. coraco-brachialis , welcher mit drei Köpfen am Schulterblatt entspringt und am Oberarmbein, dem Radius und der Vorderarmaponeurose angreift. Am Schulterblatt entspringt der lange Kopf dieses Muskels an dem Höcker über der Mitte der Gelenkpfanne und am oberen Teil des Knorpelrandes dieser Pfanne; dieser Kopf geht von oben bogenförmig über das Schultergelenk, indem er dem Kopf des Oberarmbeines und der Rinne zwischen den Tubercula und Spinae dieses Knochens anliegt. Diese Sehne geht dann in den Muskelbauch über, welcher am unteren Drittel des Humerus durch Vermittelung eines Sehnenstieifens mit dem kurzen Kopf verschmilzt. Der kurze oder mittlere Kopf des M. triceps entspringt am äusseren Teil der Spitze des Rabenschnabelfortsatzes und an der Membran zwischen diesem und dem inneren Kopf; seine Muskelfasern verlaufen nach unten und ein wenig nach aussen, indem sie im unteren Drittel des Humerus mit dem langen Kopf verschmelzen. Der innere Kopf oder der sogenannte M, coraco-brachialis nimmt zusammen mit dem kurzen Kopf an der Spitze des Rabenschnabelfortsatzes und des von hier ausgehenden Sehnen- streifens seinen Anfang, setzt sich nach unten fort und heftet sich in longitudinaler Richtung an das mittlere Drittel des inneren Humerus- randes. Der lange und kurze Kopf verbinden sich in einer gemein- samen Sehne, gehen über das Ellenbogengelenk hinweg und teilen sich dann wieder nach der radialen und ulnaren Seite hin; der erste Schenkel heftet sich mit seiner Sehne in longitudinaler Richtung an den hinteren Rand des Tuberculum und die hintere Fläche des Radius; der zweite, — 255 — ulnare Schenkel, wendet sich als Sehnenausbreitung nach der ulnaren Seite des Vorderarms und geht hier in die Aponeurose des Vorderarms über. Wenn dieser Muskel am Vorderarm angreift, so wird seine Stütze durch die Entfernung zwischen dem oberen Teil der Schultergelenk- pfanne, der Spitze des Eabenschnabelfortsatzes und dem von hier aus zum mittleren Drittel des inneren Humerusrandes gehenden Muskel- bogen bestimmt. Als untere Stütze, welche bei der Fixierung der Ex- tremität auf der Hand wirken musste, dient der Raum zwischen der Anheftungsstelle der divergierenden Schenkel des M. triceps am Vorder- arm und der Anheftungsstelle des inneren Kopfes (m. coraco-brachialis) an der Mitte des Oberarmbeins; die Angriffsfläche ist in diesem Falle am oberen Teil der Gelenkpfanne des Schultergelenkes und an der Spitze des Rabenschnabelfortsatzes der Scapula. Der lange oder äussere Kopf dieses Muskels dient dem sphärischen Schultergelenk als Gewölbe- bogen und vergrössert hier bei der Streckung und der Adduction die Stütze. Alle Köpfe zusammen durchkreuzen mit ihren Resultierenden die transversale Achse des Schultergelenkes und nehmen daher an der Beugung in diesem Gelenk teil. Bei oberer Stütze bewirkt der innere Kopf, da er mit seiner Resultierenden die verticale Achse des Schulter- gelenkes schneidet, Supination. Bei der Pronation des Vorderarms ist die ulnare Sehne schlaff, die radiale aber ist gespannt und trifft die Längsachse des Radio-ulnargelenkes unter rechtem Winkel; bei der Con- traction in dieser Lage supiniert der Muskel den Vorderarm. Gegen Ende der Supination sind beide Sehnen gespannt, ihre Resultierende durchkreuzt die transversale Achse des Ellenbogengelenkes , infolge- dessen beugt der Muskel den Vorderarm. Aus der Analyse dieses Bei- spiels ersieht man, was für eine Bedeutung ein complicierter Muskel, der mit mehreren Köpfen anfängt, hat: eine grosse Stütze, ein langer Bauch, der grosse Umfange der Bewegungen möglich macht, Mannig- faltigkeit der Action — das sind die Hauptvorzüge solcher Muskeln. Im gegebenen Falle wird die Mannigfaltigkeit der Action durch die Teilung der Sehnen und ihr Verhältniss zu verschiedenen Achsen noch vermehrt. Als Beispiel solcher Muskeln in ihrer reinen Gestalt können dienen: der M. biceps femoris, der M. extensor pedis und der M. quadri- ceps cruris. 2) Die complicierten Muskeln mit zwei und mehr Schwänzen teilen sich bei ihrer Insertion in zwei oder mehr Teile, welche an zwei oder mehreren Knochen oder Körperteilen angreifen, und führen Be- wegungen mit allen Teilen zugleich oder einzeln aus. Indem sie nun an mehreren Teilen gleichzeitig wirken, verbinden sich solche Muskeln um so fester mit den benachbarten Teilen und mit den Sehnen, und vergrössern dadurch die Stütze, je mehr Kraft sie entfalten und je geringer die Möglichkeit ist, die Bewegung der Teile, auf die sie — 256 — wirken, zu isolieren. Umgekehrt ist ihr Anfang um so schwächer mit den umgebenden Teilen verbunden und ihre Schwänze sind um so mehr geteilt, je grösser die Möglichkeit ist, die Bewegung der Teile, an denen sie angreifen, zu isolieren, und durch je grössere Gewandtheit ihie Actionen sich auszeichnen. Als Beispiel solcher Muskeln können die gemeinsamen Beuger und Strecker der Finger dienen. In dem M. flexor digitorum sublimis kann man einen oberflächlichen und einen tiefen Abschnitt unterscheiden, von denen der eine zum dritten und vierten Finger, der andere aber zum zweiten und fünften verläuft; alle diese Abschnitte und Teile sind durch Sehnenscheidewände von einander ge- trennt, so dass jeder Schwanz einzeln functionieren kann, wobei er sich auf die übrigen gespannten Abschnitte stützt. 3) Die complicierten zwei- oder mehrbäuchigen Muskeln sind stets durch transversale Sehnenstreifen oder -schichten, welche mit den Wandungen der sie umgebenden Muskelscheiden verschmelzen, geteilt. Ihre Stütze haben derartige Muskeln sowohl an den Knochen, wo sie anfangen, als auch an den erwähnten Muskelscheiden, daher summieren sich die physiologischen Querschnitte der einzelnen Bäuche, und der Muskel entwickelt verhältnissmässig grosse Kraft. Solche Muskeln kommen in der Bauchwand als M. rectus abdominis vor; von demselben Typus sind der M. semitendinosus, der M. biventer colli und der M. digastricus mandibulae. Dank ihrer Länge können derartige Muskeln Bewegungen mit grossen Bögen ausführen. 4) Die complicierten geteiltbäuchigen Muskeln bestehen aus mehreren einzelnen longitudinalen Muskelkegeln, welche keilartig gegen einander gelagert sind; von den Spitzen dieser Kegel dringen Sehnen, von welchen die Muskelfasern allerseits ausgehen, in sie hinein; infolge dessen ergiebt sich bei geringer Stütz- und Angriffsfläche in einem verhältnissmässig geringen Volumen ein sehr grosser physio- logischer Querschnitt der Muskeln, welche deshalb sowohl mit allen ihren Teilen, als auch einzeln mit grosser Spannung wirken können. Solche Muskeln zeichnen sich durch grosse Gewandtheit aus und nehmen an verschiedenartigen Bewegungen teil. Beispiele solcher Muskeln sind der M. deltoideus, der M. subscapularis und der M. masseter. Über zwei Gelenke gehende Muskeln. In Hinsicht auf die über zwei Gelenke gehenden Muskeln sagt H, Meyer ^), dass sie stets oberflächlicher, als die nur über ein Gelenk gehenden Muskeln, liegen. Diesen Grundsatz darf man jedoch nicht nur auf die zwei- oder mehrgelenkigen Muskeln beschränken; man kann im allgemeinen sagen: je länger die Muskeln der gegebenen Region oder des gegebenen Teils sind, desto oberflächlicher liegen sie, und umgekehrt; hierbei ist 1) Lehrb/ d. physiol. Anatomie. Leipzig. 1861, pag. 17ö. — '257 — es ganz gleich, ob der Muskel über zwei oder ein Gelenk geht, denn es kann doch ein kurzer Muskel nicht oberflächlicher liegen, als ein langer, der letztere würde ihn vom Knochen entfernen, und würde eine Anheftung dieses Muskels an den Knochen hindern. Über diese Muskeln ist viel geschrieben worden, angefangen mit A. Borelli^) (1680) und den Brüdern W. und E. Weber ^j (1836); in letzter Zeit haben sich besonders Hüter ^), Henke ^), A. Fick^), Duchenne^) und A. E. Fick ') mit ihnen beschäftigt. Die meisten dieser Forscher finden, dass die Möglichkeit, einen langen zweigelenkigen Muskel stärker auszudehnen, eine stärkere Contraction desselben, also auch grössere Kraftentfaltung und Bewegungen mit grossem Umfang zur Folge hat. Hüter und nach ihm Henke meinten, ohne das irgendwie zu beweisen, dass die zwei- und mehrgelenkigen Muskeln die Bedeutung von Muskelhemmungen haben könnten; so sagt Hüter: „die Gastrocnemii sind zu kurz ent- wickelt, um bei vollendeter Streckung des Kniegelenkes eine ergiebige Dorsalflexion des Fusses zu gestatten; sie hemmen also bei gestrecktem Knie die Dorsalflexion des Fusses und zwar schon dann, wenn der Fuss die rechtwinklige Stellung zu dem Unterschenkel überschreiten will." Die specielle Bedeutung dieses Muskels als Muskelheramung fand von selten anderer Forscher keine Bestätigung: so meint A. E. Fick, ebenso wie auch A. Fick auf Grund seiner Untersuchungen, dass dieser Muskel einen Mechanismus, bei dessen Anwendung mit einer gewissen Stellung der Teile des einen Gelenkes stets eine bestimmte Stellung der Teile des anderen Gelenkes verbunden ist, vorstelle. Alle diese Autoren haben jedoch die Bedeutung der Stütze für diesen Muskel ganz ausser Acht gelassen: durch die vorteilhafte Benutzung derselben kann er nämlich oft nach einer Seite hin mehr Kraft entfalten, als nach der anderen, und im letzteren Falle mit grösserer Gewandtheit und Mannig- faltigkeit wirken. Ein Beispiel solcher Muskeln ist der M. triceps brachii (biceps brachii et coraco-brachialis). Die erwähnte complicierte Thätigkeit ist in Muskeln, welche über zwei und mehr Gelenke gehen, möglich; sie können ihre Thätigkeit mehr variieren und bei periphe- 1) De motu animalium. 1680. Prop. XXVIII et XXIX. 2) Mechanik der menschl. Gehwerkzeuge. Göttingen. 1836, pag. 220—222. 3) Anatomische Studien an den Extremitätengelenken Neugeborener und Er- wachsener. Virchow's Archiv. Bd. XXVIII. 1863, pag. 280—281, und Über Längen- insufiicienz der bi- und polyarthrodialen Muskeln. Ihre Bedeutung für die Muskelkraft. Virchow's Archiv. Bd. XLVl. 1869. H. 1, pag. 37—52. 4) Studien und Kritiken über Muskeln und Gelenke. Zeitschr. f. rat. Med. Bd. XXXIII, pag. 141—148. 5) Untersuchungen über Muskelarbeit. Basel. 1866, pag. 59. 6) Physiologie des mouvements. Paris. 1867, pag. 371—377 und 540. 7) Über zweigelenkige Muskeln. Arch. f. Anat. u. Phys. (anat. Abt.) 1879. H. 3 und 4, pag. 201—239. 17 — 258 — rischer und centraler Stütze, je nach der Grösse derselben, verschiedene Kraft entfalten. Natürlich macht die bedeutendere Länge ihrer Fasern auch grössere Umfange der Bewegung möglich. Das Ergehniss der Unterhuchungen von A. E. Fick, dass nämlich die zweigelenkigen Muskeln mit einer bestimmten Stellung des einen Gelenkes eine be- stimmte Stellung des anderen verbinden, hat für den M. triceps brachii zweifellos auch Bedeutung. Bei der Pronation der Extremität im Schultergelenk ist die Thätigkeit des M. triceps als Beugemuskel sehr unvorteilhaft, da hierbei sich auch der Vorderarm nach innen wendet, die Sehne des Muskels erschlafft, und die Action um die transversale Achse unmöglich wird. Bei der Supination und darauffolgender Beugung des Vorderarms ist zu Ende der Beugung eine Fortsetzung der Be- wegung um dieselbe Achse im Schultergelenk möglich, woran der M. triceps auch teilnimmt und die Kraft der Beugemuskeln dieses letzteren Gelenkes vergrössert; dieses ist möglich, da sich dieser Muskel an den Vorderarm und durch Vermittelung seines inneren Kopfes (des M. coraco- brachialis) auch an das Oberarmbein heftet. Den M. triceps als specielle Muskelhemmung, wie das Hüter und Henke thaten, anzusehen, ist un- möglich, da sie gar keine Beweise dafür gaben und alles oben Gesagte gar nicht beachtet haben. Diese Muskeln können nur ebenso, wie über- haupt alle übrigen Muskeln, und infolge ihrer Bedeutung als An- tagonisten der entgegengesetzten Muskelgruppe des gegebenen Gelenkes als Hemmung dienen. Dieses Beispiel deutet auf die wichtige Be- deutung der zwei- und mehrgelenkigen Muskeln und auf die com- plicierten Veränderungen, welche bei- Affectionen solcher Muskeln ein- treten müssen. Muskeln, welche nicht zu den Gelenken gehören. Bis jetzt wurde von dem Verhältniss der Muskeln zu den Gelenken und von dem Zusammenhang, welcher zwischen der Form der Gelenkflächen, den zwischen ihnen möglichen Bewegungen und den das Gelenk umgeben- den Muskeln besteht, gesprochen. Es kommen jedoch auch Muskel- verbindungen zwischen den Knochen vor, wenn nämlich die Knochen nur durch Muskelantagonisten fixiert werden. Der Hauptgrundsatz, der der Thätigkeit solcher Muskeln zu Grunde liegt, besteht darin, dass die Teile durch Kräfte, welche von drei Seiten unter gleichem Winkel an sie herantreten, in ihrer Lage aufgehalten werden. Solche Ver- bindungen sind am Zungenbein und am Schulterblatt zu beobachten. Das Zungenbein berührt gewöhnlich beim Menschen keinen anderen Knochen des Skeletts, dient aber unterdessen mehreren Muskeln der Zunge, des Schlundes und den Kaumuskeln, d. h. den Muskeln, welche an der Rede, dem Schlucken und Kauen teilnehmen, als Stütze. Es wird durch den gegenseitigen Widerstand von Muskeln, welche jeder- seits in drei verschiedenen Richtungen an dasselbe herantreten, fixiert. — 259 — Jederseits lieften sich ilim sechs Muskeln an, es wird also unter Teil- nahme von zwölf Muskeln fixiert. Von oben und aussen treten an das- selbe heran: der hintere Bauch des M. digastricus s. biventer mandi- bulae und der M. stylo-hyoideus; von unten und aussen der M. omo- hyoideus; von unten: der M. sterno-hyoideus, der M. sterno-thyreoideus und der M. hyo-thyroideus. Durch die gleichzeitige Action aller dieser Muskeln zu beiden Seiten wird das Zungenbein in seiner Lage erhalten; dabei ist es um so stabiler und fester, je stärker alle diese Muskeln gespannt sind und mit je grösserer Harmonie sie wirken. Es braucht jedoch nur einer dieser Muskeln in seiner Thätigkeit nachzulassen, da- mit die Festigkeit der Lage des Knochens erschüttert werde und damit die Function der Teile, welche hier ihre Stütze haben, verändert werde. Alle genannten Muskeln befestigen den Knochen bei unterer Stütze; bei oberer Stütze befestigen ihn dieselben lateralen (oder äusseren) Muskeln und ausserdem jederseits von oben: der vordere Bauch des M. biventer, der M. mylo-hyoideus und der M. genio-hyoideus; in diesem Falle dient der Knochen den Muskeln, welche die Lage des Kehlkopfes verändern (M. hyo-thyreoideus), und den am Schlucken teilnehmenden Muskeln als Stütze, Dieser ganze Apparat, welcher zur Befestigung des Zungenbeines dient, erhält seine Innervation aus vier Quellen; Äste hierher entsenden: das fünfte Paar des Nervus mylo-hyoideus, welcher sich im M. mylo-hyoideus und dem vorderen Bauch des M. bi- venter verzweigt, das siebente Paar zum M. stylo-hyoideus und dem hinteren Bauch des M. biventer, das zwölfte Paar zum M. genio-hyoideus und zum M. hyo-thyreoideus ; die übrigen Muskeln erhalten ihre Innervation von den Asten des Plexus cervicalis (die Äste des zweiten und dritten Paares). Bei der Affection irgend eines dieser Nerven treten infolge der Störung der harmonischen Thätigkeit des ganzen Apparates Lagen- veränderung der Zunge und des weichen Gaumens, Veränderung der Stimme und Sprache, des Schluckens und Kauens ein. Die Lagenver- änderung des weichen Gaumens findet infolge der Veränderung im An- tagonismus zwischen den Mm. constrictores pharyngis medii s. hyopha- ryngei und den Mm. transversi linguae einerseits, ihren Fortsetzungen, den Mm. palato-glossi, den Muskeln des weichen Gaumens andererseits statt. Die Veränderung der Sprache und ebenso der Lage der Zunge ist eine Folge der Lagenveränderung des Zungenbeins und seiner un- genügenden Festigkeit, hieraus aber folgt dann die Abschwächung der Thätigkeit des M. hyo-glossus und der Mm. linguales-superficialis et profundus und des M. transversus linguae, eine Veränderung der Stimme kann infolge der schwankenden Lage des Zungenbeins, welche eine Verminderung der Function des M. hyo-thyreoideus und der von diesem Knochen ausgehenden Zungenmuskeln zur Folge hat, stattfinden; ein Gleiches kann man auch über das Schlucken und Kauen sagen: im 17* — 260 — ersteren Falle vermindern der M. constrictor pharyngis medius, der am Zungenbein entspringt, im zweiten Falle die Kaumuskeln, der vordere Bauch des M. biventer, der M. mylohyoideus und der M. genio-hyoideus, welche beim Kauen den Unterkiefer nach unten ziehen, ihre Thätig- keit. Aus dem oben Gesagten folgt bereits, dass, je stärker die Stütze ist, um so grössere Kraft entfaltet werden kann; ist jedoch die Stütze weich, glatt und wenig stabil, so muss man mit um so grösserer Spannung wirken, um so schneller tritt Ermüdung ein und um so ge- ringere Arbeit kann man in demselben Zeitraum leisten. Dieses alles ist sehr wichtig und muss bei der Analyse der Nervenfunctionen und Nervenleiden in Betracht gezogen werden, während bis jetzt diese mechanischen Bedingungen ganz ausser Acht gelassen wurden. Alles hier vom Zungenbein Gesagte hat auch in Bezug auf das Schulterblatt seine volle Anwendung. Um das Schulterblatt in seiner Lage zu erhalten, heften sich ihm von oben und innen, von der Wirbel- säule her, von aussen, von den Rippen her, und von unten, vom Becken, den Rippen und der Wirbelsäule her kommende Muskeln an. In der Richtung von oben und innen verlaufen: der M. levator anguli scapulae, der M. rhomboideus minor s. superior et major s. inferior und der M. trapezius s. cucullaris; von aussen — der M. serratus anticus major, die Mm. pectorales major et minor; von unten — der untere Teil des M. trapezius, der untere Teil des M. serratus anticus major und der M. latissimus dorsi. Das Schulterblatt stützt sich nur mit dem vorderen Rande des Processus acromialis auf das äussere Fnde der Clavicula, durch deren Vermittelung es einzig und allein mit dem übrigen Skelett verbunden ist, hauptsächlich wird seine Verbindung mit Wirbelsäule und Brust- kasten, jedoch durch Muskeln hergestellt. Durch die Wirkung der letzteren kann das Schulterblatt und überhaupt der ganze Schulter- gürtel nach oben, nach unten, nach vorn und nach hinten gezogen werden, kann sich um eine durch seinen oberen inneren Winkel gehende Achse bewegen und Kreisbewegungen ausführen, indem es aus einer der ersten vier Bewegungen in die andere übergeht. Diese Bewegungen werden von folgenden Muskeln ausgeführt. 1) An der Bewegung des Schultergürtels nach oben nehmen teil: der M. levator anguli scapulae und die obere Hälfte des M. trapezius, hierbei wird jedoch der untere Winkel des Schulterblattes sich be- stimmt nach aussen wenden, da der letztere Muskel sich an den oberen Rand der Spina scapulae, den Schulterfortsatz und das äussere Drittel der Clavicula heftet; sie ziehen folglich den äusseren Teil des Gürtels nach oben und innen, den unteren Winkel des Schulterblattes aber nach aussen; der letzteren Bewegung wirken die Mm. rhomboidei superior et inferior, welche den unteren Winkel des Schulterblattes nach innen — 261 — ziehen, entgegen; zusammen mit den vorhergehenden Muskeln also und dem oberen und mittleren Teil des M. serratus anticus major führen sie das Schulterblatt gerade nach oben. 2) Dif. Senkung des Schultergürtels wird durch die gemeinsame Action folgender Muskeln bewirkt: der unteren Hälfte des M. trapezius, der unteren Bündel des M. serratus anticus major, welche unter dem unteren Winkel der Scapula liegen und denselben nach aussen ziehen. Eine derartige Abweichung nach aussen muss notwendig unter der Wirkung sowohl des M. trapezius, dessen Insertion sich am äusseren Rande der Spina scapulae befindet, als auch der Bündel des M. serratus anticus major, welche von aussen verlaufend sich in der Mitte an den unteren Winkel der Scapula heften, stattfinden. Um diese Abweichung zu hindern, dient der M. latissimus dorsi, der den unteren Winkel nach innen und unten richtet, zusammen mit allen vorhergehenden aber das ganze Schulterblatt nach unten zieht. 3) Vorwärts bewegt sich der Schultergürtel unter dem Einfluss aller Teile des M. serratus anticus major und des M. pectoralis minor. Ausserdem nehmen hieran auch der M. subclavius und der M. pec- toralis major durch Vermittelung des im Schultergelenk fixierten Ober- armbeins teil. 4) Die Rückwärtsbewegung des Schultergürtels wird von den Muskeln, welche von Seiten der Wirbelsäule an das Schulterblatt herantreten, ausgeführt, und zwar: von allen Teilen des M. trapezius mit den Mm. rhomboidei superior et inferior; der letztere Muskel wirkt zusammen mit dem M. latissimus dorsi wiederum der Abweichung des unteren Scapulawinkels nach aussen, welche unter dem Einfluss des M. trapezius stattfinden könnte, entgegen. 5) Um die sagittale Achse wird das Schulterblatt bei der Fort- setzung der Abduction der oberen Extremität, welche im Schultergelenk ihren Anfang nahm und einen gewissen Winkel erreichte, und bei dem Aufheben einer Last mit vertical herabgelassener Extremität rotiert. Dieses ist Auswärtsrotation, die entgegengesetzte Bewegung aber ist die Einwärtsrotation. Bei der ersten Bewegung wird der obere innere Winkel der Scapula durch drei Muskeln, welche von drei verschiedenen Seiten an diesem Winkel angreifen, nämlich den M. levator anguli sca- pulae, den M. rhomboideus superior und das obere Bündel des M. serratus anticus major, fixiert ; zu gleicher Zeit zieht der untere Teil des M. serratus anticus major (welcher von der dritten bis zur achten oder neunten Rippe ausgeht), den unteren Winkel nach aussen, der ganze M. trapezius aber wendet das Schulterblatt mit der ganzen Extremität nach innen und oben, indem er die Extremität abduciert. Bei der zweiten Bewegung bleibt der obere innere Winkel der Scapula durch die Tliätig- keit der erwähnten Muskeln fest; ausserdem contrahieren sich haupt- — 262 — sächlich der M. rhomboideus inferior und der M, latissimus dorsi, wobei auch der M. pectoralis minor und der M. subclavius zu Hülfe kommen. Durch die Wirkung all dieser Muskeln wird der Schultergürtel in seiner Lage aufgehalten und bietet bei den Bewegungen in allen Ge- lenken der Extremität die Hauptstütze. Wenn wiederum irgend einer dieser Muskeln in seiner Thätigkeit erschlafft, so verliert der Knochen seine normale Lage, weshalb die Stütze für die ganze Extremität, zu- gleich aber auch die Activität aller hier befindlichen Muskeln ver- ringert wird. Das Schulterblatt muss bei allen mit den einzelnen Teilen der Extremität ausgeführten Bewegungen festgestellt sein, und je grössere Kraft hier von irgend einem Teile entwickelt wird, um so fester muss die Stütze der ganzen Extremität, d. h. die Scapula, sein. Bei zu schnellen und schroffen Bewegungen mit der Hand und bei nicht angemessener Arbeit muss am frühesten der Stützteil, das Schulterblatt oder sogar die Wirbelsäule, afficiert werden. Wenn jedoch irgend ein Muskel in seiner Thätigkeit nachlässt, so ändert sich die Lage des Schulterblatts, die von ihm geleistete Stütze wird schwächer, und alle Muskeln der Extremität, angefangen von der Peripherie (den Fingern) bis zu den gerade am Centrum gelegenen Muskeln, vermindern ihre Thätigkeit und verändern sich. Die Bedeutung der Festigkeit der Stütze ersieht man aus folgendem Fall: bei einem elfjährigen Mädchen fiel die vordere Wandung des Brustkastens durch starke Asymmetrie, welche sich besonders bemerklich machte, als sich an der rechten Seite eine geringe Wölbung der Milch- drüse entwickelte, während sie an der linken Seite fehlte, auf. Bei genauer Untersuchung erwies sich an der linken Seite ein anomales, angeborenes Fehlen der Portio sternocostalis des M. pectoralis major. An der Beugung und Streckung im linken Schultergelenk nimmt das Schulterblatt von Anfang an teil. Die Clavicula, die Scapula und die ganze Extremität sind kürzer und kleiner, als die entsprechenden Teile der anderen Seite. Besonders stark ist der untere Teil des M. serratus anticus major, welcher augenscheinlich die fehlenden Teile des M. pec- toralis major ersetzt, entwickelt. Der claviculäre Teil des Muskels ist entwickelt; unter ihm befindet sich eine Grube, in der sich leicht die oberen Rippen durchfühlen lassen. Die erhaltenen Masse an der rechten und linken Seite sind folgende: Länge des Körpers = 145 cm; die Ent- fernung zwischen der Mitte des oberen Randes des Brustbeingriffes und dem äusseren Rande des Schulterfortsatzes rechts = 15 cm, links ^ 14,5 cm; vom Rande des Schulterfortsatzes bis zur Spitze des Ellenbogenfort- satzes (bei unter rechtem Winkel gebeugtem Vorderarm) rechts =: 28 cm, links ==^ 27,7 cm, von der Spitze des Ellenbogenfortsatzes bis zur Spitze des Processus styloideus ulnae rechts = 19,7 cm, links = 19 cm; von der Spitze des Fortsatzes bis zur Spitze des Mittelfingers (an der dor- — 263 — salen Fläche) rechts =17 cm, links = 16,8 cm, die ganze Länge rler rechten Extremität — 64,4 cm, die der linken = 62,5 cm, die Differenz = 1,9 cm. Der Umfang des Oberarms (unter der Insertion des M. del- toideus) ist rechts = 18,2 cm, links = 18 cm, der Umfang des Vorder- arms (beim Übergang vom oberen zum mittleren Drittel) rechts = 17.5 cm, links = 16,8 cm. Die linke Extremität ist in ihrer Thätigkeit schwächer, als die rechte. Die specielle Analyse dieses seltenen ^) Falles wird an anderer Stelle folgen, hier ist er nur angeführt, um zu zeigen, was für eine Bedeutung die Stütze für die Thätigkeit der ganzen Extremität habe. Der anomale Muskel nimmt, wie man das oben sehen konnte, an der Feststellung des Schulterblattes mehr mittelbar teil: dessen- ungeachtet sind die Folgen auch hier ziemlich ausgeprägt, was sich durch die verminderte Thätigkeit der Muskeln und durch das Verhält- nis der Muskelfunction zum Wachstum und zur Entwickelung des Knochens vollkommen erklären lässt. Die Muskeln des Schulterblattes erhalten ihre Nerven aus zwei Quellen: von dem elften Paar der Kopfnerven (N. accessorius Willisii) einen Ast, der sich im M. trapesius verzweigt, und von dem Plaxus cervicalis (fünftes, sechstes und teilweise siebentes Paar) die Nervi thoracici und scapulares. Es kann sich folglich unter dem Einfluss der veränderten Innervation, einer äusseren mechanischen Wirkung oder einer Muskelanomalie die Lage und die Feststellung des Schulterblattes verändern: dieses aber wird unbedingt die Veränderung der Function der ganzen Extremität, ihres Aussehens und ihrer Form beeinflussen. Endlich kommen noch Muskelgruppen vor, welche keine Beziehung zu Gelenken oder Knochen haben, sondern den Eingang und Ausgang zu den Organen der äusseren Sinne und des vegetativen Lebens öffnen und schliessen. Dieses sind die Muskeln des Gesichts und des Peri- naeum. Von ihnen bestehen die Muskeln, welche die zu diesen Organen führenden Öffnungen begrenzen, gewöhnlich aus bogenförmigen Fasern mit den Rändern der Öffnungen entsprechend befestigten Enden; ihre Antagonisten verlaufen unter rechtem Winkel oder radiär zu ihnen. Sie lassen sich alle unter folgende Gruppen bringen: 1) Augen-, 2) Nasen-, 3) Ohr-, 4) Mund-, 5) After- und 6) Urogenitalmuskeln. Man kann sie alle nur als vollkommene Apparate, deren Thätigkeit bei dem Fehlen oder der Functionsveränderung irgend eines ihrer Teile oder eines einzelnen Muskels derselben gestört wird, ansehen. Vorrichtungen, welche die Stütze, wie auch die Angriffs- winkel der Muskeln vergrössern. Stellenweise schlagen sich in 1) In der Litteratur sind, wie Seitz behauptet (Virchow's Archiv, Bd. XCVIII, H. 2. 1«84, pag. 335—337) zwei solche Fälle (Frickhöffen und Froriep) beschrieben worden; der seinige ist der dritte. Ich sah zweimal solche Fälle und beide auf der linken Seite. — 264 — den Muskeln, indem diese sich ihrer Angriffsstelle nähern, entweder die Muskelbündel, oder die Sehnen umeinander, und dann erst heften sich die Muskeln an den Knochen. Eine derartige Erscheinung bemerkt man stets in folgenden Muskeln: in den M. pectoralis major, in dem unteren Teil des M. serratus anticus major, in den Sehnen des M. biceps femoris und M. semimembranosus. Infolge einer solchen Yerwindung leisten die Bündel an diesen Stellen einander seitlichen Widerstand und fördern dadurch die Kraftentfaltung und Bewegung in bestimmterer Richtung. Hier entwickeln sich an den Stellen, wo die Bündel sich umeinander schlagen, zuweilen Wülste, welche aus festem Bindegewebe oder aus Bindegewebsknorpel bestehen, wie z. B. in der Sehne des M. peroneus longus. Endlich kann dieser Wulst auch aus Knochen be- stehen; es sind dieses dann die sogenannten Sesambeine, welche in den Sehnen der Muskeln in der Nähe von deren Anheftungsstelle gelagert sind; eine solche Verdickung findet man z. B. in der Sehne des M. flexor carpi ulnaris s. ulnaris internus als Os pisiforme, in der Sehne des M. quadriceps cruris als Os patellae, in den Sehnen der Muskeln, welche sich an die Basis des grossen Fingers und der grossen Zehe befestigen, u. s. w. Diese Knochen ragen über die Oberfläche des Hebels, an denen die Muskeln angreifen, empor, und deshalb wird den Muskeln an dieser Stelle ausser einem Stützpunct noch die Möglichkeit geboten, unter einem grösseren Winkel an den Knochen heranzutreten und daher mehr Kraft zu entfalten. An anderen Stellen, wo derartige Sesambeine fehlen, gehen die Muskeln oder ihre Sehnen über die er- weiterten Enden der Knochen (Knöchel, Knorren), oder sie verlaufen über der Sehne des tiefer liegenden Muskels, wobei die oberflächliche Sehne sich teilt und die tiefe Sehne durchgehen lässt, weshalb sie sich unter grösserem Winkel an den Knochen heftet; dieses flndet man z. B. an der Hand in den Mm. flexores digitorum sublimis et profundus und am Fusse in den Mm. flexores digitorum brevis et longus. Die Ver- dickungen der Knochenenden können noch durch über ihnen gelagerte Knorpelpolster (Sehnenrollen, trochleae^), welche mit dem vorderen Rande der Gelenkgrube verschmelzen und eine Fortsetzung der Knorpel- gelenkflächen bilden, verstärkt werden. Sie entfernen die Sehnen vom G-elenk, weshalb diese sich unter grösserem Winkel an den Knochen ansetzen und mehr Kraft zu entwickeln imstande sind; ausserdem ver- grössern diese Polster die Oberfläche der Gelenkgrube und zugleich auch die Stütze für den Kopf ; infolge ihrer Biegsamkeit und Elasticität hindern sie die Bewegung keineswegs. Solche Verdickungen kommen an der volaren und plantaren Fläche der Interphalangalgelenke vor. Die Gefässe der Muskeln. Die Muskelarterien sind stets ziem- 1) J. G. Ilg. Anatomische Monographie der Sehnenrollen. Prag. 1823. — 265 — lieh zahlreich, sie entsenden Aste, welche unter spitzem oder rechtem Winkel in das Gewebe der Muskeln eindringen. Die erste Art des Eintritts der Gefässe lässt sich nach Sappey^) in der Mehrzahl der breiten Muskeln und in den langen Muskeln der Schulter und des Ober- schenkels beobachten; die zweite Art kommt hauptsächlich in den Muskeln des Vorderarms und des Unterschenkels vor. Nach ihrem Eintritt in die Muskeln teilen sich die Arterien in mehr oder weniger dünne Äste und Astchen, welche zwischen den einzelnen Muskelbündeln und Fasern verlaufen und sich überall durch zahlreiche Queranasto- mosen verbinden. Von ihnen gehen die Capillargefässe, welche stets in verschiedenem Masse entwickelte, mit ihrem Längsdurchmesser der Richtung der Muskelfasern parallel verlaufende lange Schleifen bilden, aus. Diese Schleifen liegen zwischen den einzelnen Fasern und durch- setzen deren äussere Hülle oder das Sarcolemma nicht. An den Enden der Muskeln verbinden sich diese Gefässe mit den Gefässen der Sehnen, durch Vermittelung der letzteren aber mit den Gefässen des Periosts, mit dem diese Sehnen verschmelzen. Die Venen begleiten gewöhnlich die entsprechenden Arterien, wobei meist auf eine Arterie zwei Venen kommen, was man an den Muskeln der Extremitäten und des Rumpfes und teilweise auch an den Muskeln des Halses besonders gut sehen kann. Am Kopf werden die meisten Arterien nur von einer Vene begleitet. Zuweilen trennen sich hier die Venen vom Verlauf der Arterien, wie z. B. die Gesichts- und Augen- venen; die Lippenvenen sind ihrem Verlauf nach von den entsprechenden Arterien ganz unabhängig. Die Muskelvenen sind (nach Sappey) durch ihre Klappen, welche nicht nur in den intermuskulären Ästen, sondern auch in allen zwischen den verschiedenen Muskelbündeln verlaufenden Ästen und Ästchen vorhanden sind, bemerkenswert. Einige Venen, wie z. B. die Vena facialis und die V. ophthalmica, haben keine Klappen, dafür enthalten aber die aus den Augen- und Gesichtsmuskeln kommenden und in sie einmündenden Ästchen eine grosse Anzahl derselben. Aus diesem allen ersieht man, dass sich die Muskeln in sehr vorteilhaften Stoffwechselbedingungen befinden: die grosse Anzahl von Gefässeu, die Nähe der Capillargefässe zu den Muskelfasern, der grosse Klappen- reichtum der Venen, alles das fördert die Schnelligkeit des Stoff- wechsels und bewirkt die bedeutende Energie des Muskelgewebes. Ausserdem besteht noch ein Unterschied in der Anzahl und der Grösse der Gefässe in den Muskeln verschiedener Typen; die gewandten und energischen Muskeln, deren Thätigkeit grosse Spannung erfordert, ent- halten viel mehr Gefässe, als die Muskeln des entgegengesetzten Typus. Man kann dieses sogar an den Extremitäten, in denen Muskeln des einen 1) Traite d'Aaatomie descriptive. T. IL Paris. 1876, pag. 24-25. — 266 — oder des anderen Typus vorwiegen, beobachten; das Caliber der Ober- armarterien im Verhältniss zum Gewicht der oberen Extremitäten über- trifft das Caliber der Oberschenkelarterien im Verhältnis zu dem Ge- wicht der unteren Extremitäten zwei- oder dreimal (J. Nikiforow ^). Bei mittlerem Gewicht der oberen Extremität von 3594 gr beträgt der Gesamtumfang der Oberarmarterien 24,7 mm, in Procenten des Gewichts der oberen Extremität aber ist er -- 0,70, während bei mittlerem Gewicht der unteren Extremität von 10 482 gr der Gesamtumfang der Ober- schenkelarterien 32,4mm misst und in Procenten des Gewichtes der unteren Extremität = 0,31 ist. Diese Mittelzahlen sind an Leichen von 18- bis 35-jährigen Individuen erhalten worden. Dieser Unterschied ist zweifellos sowohl durch die grössere Mannigfaltigkeit der Thätigkeit, als auch durch die grössere Spannung (infolge eines grösseren physiologischen Querschnitts), mit der die Muskeln der oberen Extremität wirken, und durch den daraus folgenden im Verhältnis zu den unteren Extremitäten grösseren Bedarf an Blut bei den oberen Extremitäten bedingt. Die relative Dicke der Wandungen der Oberarmarterien ist, wie sich er- weist, oft grösser als die der Oberschenkelarterienwandungen, wenn man sie nach dem Gewicht eines Quadratcentimeters der Arterien- wandungen in Procenten des Umfanges vergleicht; im Mittel verhält sich im erwähnten Alter das absolute Gewicht der einen (Oberarm-) und der anderen (Oberschenkel-) Arterien zum Gewicht der von ihnen ge- nährten Extremitäten, wie 3,3 : 1,8. Die Lymphgefässe sind von Sappey an der Innenfläche des M. glu- teus maximus, an der Peripherie des M. adductor femoris magnus und an der tiefen Oberfläche des M. pectoralis major injiciert worden. Wenn es bis jetzt noch nicht gelungen ist, sie in Muskeln kleinerer Dimen- sionen zu injicieren, so hängt das seiner Meinung nach von der allzu- grossen Feinheit dieser Gefässe und von der Schwierigkeit der Aufgabe selbst ab. Trotzdem ist das Vorhandensein der Lymphgefässe in den Muskeln gar keinem Zweifel unterworfen, es ist nur noch unbekannt, wie sie hier anfangen. Sie begleiten entweder die Arterien, wie z. B. an den Extremitäten, dem Rumpfe und an der Oberfläche des Herzens, oder verlaufen unabhängig von diesen. Die Nerven der Muskeln. In Bezug auf den Durchmesser der zu den Muskeln verlaufenden Nerven meint Sappey^), dass die Anzahl der Nervenfasern der Quantität des Muskelgewebes, in dem sie sich verzweigen, umgekehrt proportional sei. So erhalten z. B. der M. glu- teus maximus und der M. adductor femoris magnus nur dünne Nerven- 1) Über das Verhältniss des Arteriencalibers zum Gewicht und Volumen der Organe. St. Petersburg. 1883, pag. 42 (russisch). 2) Traite d'Anatomie descriptive etc. 1876, pag. 26. — 267 — Stämme, während die Muskeln der Hand, des Gesichts und besonders der Augen verhältnissmässig sehr dicke Stämme erhalten. Das Volumen der Nervenstämme ist nicht nur mit der Quantität des Muskelgewebes, sondern hauptsächlich mit dem Typus der Function des Muskels in Correlation: mit je grösserer Gewandtheit und Verschiedenheit der Be- wegungen der Muskel wirken kann, je mehr er die einzelnen Nuancen der Bewegung isolieren kann, desto mehr Nervenfasern enthält er, und umgekehrt; Dr. J. Woischwillo ^) beweist in seiner Abhandlung, dass die Anzahl der Nervenfasern des Auges sich zu den Muskelfasern wie 1:14,9 oder wie 1:18,9 verhält; der N. ulnaris verhält sich zu den Muskeln, in denen er sich verzweigt, wie 1 : 235,9, der N. obturatorius aber zu den von ihm innervierten Muskeln wie 1:315,3. Hieraus er- sieht man, dass die Augenmuskeln 12,4 oder 15,8 mal mehr Nerven- fasern, als die Muskeln der oberen Extremitäten, die ihre Äste vom N. ulnaris erhalten, und 19,8 und sogar 25,1 mal mehr als die Muskeln der unteren Extremitäten, welche von den Ästen des N. obturatorius innerviert werden, erhalten. An der unteren Extremität versieht der N. tibialis die tiefen Muskeln an der hinteren Fläche des Unterschenkels im Verhältnis von 1 : 428,8 mit Ästen, der M. extensor pedis aber er- hält sie im Verhältnis zu 1 : 2273, d. h. die Augenmuskeln erhalten 22,6— 28, 7 mal mehr Nervenfasern als die tiefen Unterschenkelmuskeln, und 152,2 mal mehr als die den Fuss streckenden Muskeln. An der unteren Extremität erhält der an der Vorwärtsrotation des Unter- schenkels teilnehmende sogenannte M. sartorius sehr viel Nervenfasern; die letzteren verhalten sich hier zu den Muskelfasern wie 1:15,7. Aus diesem allem ersieht man, dass das Verhältnis des Nervencalibers zu den Muskeln hauptsächlich von dem Typus des Muskels, von seiner Function, nicht nur von der Quantität der Muskelsubstanz abhängt. In betreff der Eintrittsstelle der Nerven am Muskel gehen jetzt die Forscher ein wenig auseinander. Nach Chassaignac ''') befindet sich in den meisten Muskeln die Eintrittsstelle des Nerven im oberen Viertel derselben; nach Lantenois ^) ist sie im oberen Drittel gelagert, nach Malgaigne*) aber befindet sie sich im mittleren Drittel des Muskels. Der Nerv tritt stets an der Innenseite, d. h. an der zur Mittellinie der Extremität oder des Rumpfes gerichteten Seite, und näher zum Kopf- ende des Körpers oder der Extremität ein. G. Schwalbe ^) behauptet, 1) Zur Lehre von dem Verhältnis des Nervencalibers zur Haut und zu den Muskeln beim Menschen. St. Petersburg. 1883, pag. 52—53 (russisch). 2) Nerfs des muscles. Bull, de la Soc. anat. 1832, pag. 105. 3) These. Paris. 1826. 4) Anatomie chirurgicale. 2. edit. T. I, pag. 122. 5) Über das Gesetz des Muskelnerveneintritts. Archiv f. Anatomie u- Entwickelurgs- geschichte. Jahrg. 1879. H. 3 i]. 4. Leipzig, pag. 170, 268 — Fig. 51. dass der Nerv dem Centrum der geometrischen Figur des Muskels ent- sprechend eintrete, und weist hierbei auf den Vorteil einer derartigen Lagerung des Nervenstammes hin, da in solchem Falle der Reiz sich nach allen Teilen des Muskels gleichmässig fortpflanzen kann. Wie es scheint, tritt der Nerv in die Bäuche der einfachen Muskeln oder in die einzelnen Teile der complicierten Muskeln an der zur Mittellinie des Körpers oder der Extremität gerichteten Seite, dem Schwerpunct der Muskeln oder des Teils der complicierten Muskeln entsprechend ein. Bei seinem Eintritt in den Muskel bildet der Nerv einen nach oben offenen spitzen Winkel mit der Achse des Muskels; je näher zum Rande der Nerv in den Muskel eintritt, desto mehr ist er zu demselben perpendiculär (Sappey), wie man das z. B. an dem M. rectus abdominis und an dem M. sartorius beobachten kann. In seinem Verlauf begleitet der Nerv zuweilen die Blutgefässe, wie z. B. der N. axillaris, der N. subscapularis, der N. massetericus, überhaupt die Äste des N. crotaphitico- buccinatorius, der N. pectoralis anticus u. s. w. Oft ver- laufen die Nerven ganz unabhängig von den Gefässen. Die Nerven enden in den Muskeln mit protoplasmati- schen Scheiben (Fig. 51), welche mit mehr oder weniger Fortsätzen versehen sind und unmittelbar unter dem Sarcolemma der Muskelfaser liegen (Fig. 52). Von diesen Nervenendigungen wird in der allgemeinen Ana- tomie des Nervensystems ausführlicher die Rede sein. (Nach Sappey). Die Apoueuroseu stellen aus flbrillärem Ge- webe bestehende und verschiedenen Organen des Körpers und der Ex- tremitäten als biegsame Stütze dienende Lamellen vor. Als Hüllen oder Scheiden der Muskeln und Gelasse werden sie haupt- sächlich in der französischen Litteratur beschrieben. In der deutschen Litteratur beschreibt man sie wenig; sie sind dort unter dem Namen Fascie (fascia) be- kannt; gegen diese Benennung trat schon HyrtP) auf; er bewies, dass das Wort „Fascia" ein Band, einen langen und schmalen Streifen bedeute. Das Wort „Aponeurosis" bedeutet Nervenhülle; früher verwechselte man Nerven mit Sehnen und gab deshalb sowohl der Umhüllung der Nerven, als auch der der Sehnen den- selben Namen; gegenwärtig bezeichnen die französi- schen Autoren die faserigen Lamellen, welche die (Nach Sappey). Muskelu umhülleu und mit den Sehnen verschmelzen, als Aponeurosen. Deshalb ist es augenscheinlich richtiger, die Einteilung von Velpeau einzuhalten; er hält alle faserigen Hüllen für Aponeurosen 1) Onomatologia anatomica. Wien. 1880, pag. 209. — 269 — und unterscheidet unter ihnen: Bindegeweheschichten, welche unter der Haut liegen undöefässe und Nerven enthalten, oder oberflächliche Fascien (fascia superficialis), die Schicht, welche sich unter dem Peritoneum der Bauchwände lagert, oder die Querfascie (fascia transversa), die Schicht, welche die Drüsen (fascia propria), die Gefässe (deren Scheiden) u. s. w. umgiebt, und endlich die fibrillären Lamellen, mit deutlich wahrnehm- barem Verlauf der Fasern oder die Aponeurosen im engeren Sinne. Eine Fascie (fascia) kann man folglich eine Bindegewebslamelle, welche mit den benachbarten Teilen verschmilzt, nennen; bei der Los- lösung von letzteren nimmt sie das Aussehen einer Platte an, dennoch kann man mit blossem Auge Fasern mit bestimmter Richtung und mit bestimmtem Verlauf schwer unterscheiden. Fascien sind Hüllen ohne scharfe Grenzen und ohne klar ausgeprägten Verlauf der Fasern. Die Aponeurosen oder membranösen Stützen sind mehr oder weniger feste Platten mit bestimmtem Fasernverlauf, welche an der Oberfläche von den benachbarten Teilen oder Organen scharf abgegrenzt sind. Sie sind die biegsame Stütze der Teile, welche sie umgeben, ent- springen und endigen am Knochen und bilden daher dessen Fortsetzung. Die Structur, die Lagerung und der Verlauf der Aponeurosen können nach folgendem allgemeinen Gesetz genau bestimmt werden. Die Aponeurosen sind fibrilläre Lamellen, welche am Knochen entspringen und enden; sie sind um so fester, je stärker die unter ihnen befindlichen Muskeln sind und je weniger Widerstand den letzteren die sie umgebenden Teile leisten. Man kann in ihnen stets Fasern wahrnehmen, welche die darunter liegenden Muskelfasern unter rechtem Winkel durchkreuzen. Sie verschmelzen gewöhnlich mit den von ihnen um- hüllten Sehnen und mit den zwischen den Muskeln befindlichen Sehnen- scheidewänden. Wenn die Aponeurosen stark entwickelt sind, so be- merkt man in ihnen zwei Schichten silberglänzender, zu einander recht- winkeliger Fasern. Sie enthalten Öffnungen von verschiedenem Durch- messer, durch welche Gefässe und Nerven gehen; durch die grösseren dieser Öffnungen gehen die Venen, welche die oberflächlichen Venen mit den tiefen verbinden, durch die feineren aber die Gefässe und Nerven, welche sich in den Hüllen verzweigen. Die Fortsätze der Aponeurosen, welche vom Knochen aus zwischen den Muskeln verlaufen, heissen Zwischenmuskelbänder (ligamenta intermuscularia). Die Apo- neurosen verschmelzen gewöhnlich mit den fibrösen Kapseln der Ge- lenke und ebenso mit den zwischen den Muskeln hervortretenden Knochenvorsprüngen und -fortsätzen. Nach diesem allgemeinen Gesetz sind an der Oberfläche der Muskeln die Aponeurosen fester, vom darunter liegenden Knochen aber können dieselben nur durch lockeres Gewebe getrennt sein. Entsendet die — 270 — Aponeiirose Fortsätze zwischen die einzelnen Muskelbündel, so ist sie um so dünner, je mehr Fortsätze sie entsendet und je tiefer sie eindringen.; die Festigkeit und der Widerstand, den sie der Contraction des darunter befindlichen Muskels bietet, hängt in diesem Falle von der grösseren Berührungsfläche mit den einzelnen Muskelbündeln ab. Dieses sieht man z. B. an der Aponeurosis glutaea, an der Aponeurosis m. pectoralis majoris, teilweise auch an der Aponeurose des M. deltoideus u. s. w. Die Dicke der aponeurotischen Platten zwischen den einzelnen parallel gelagerten Muskeln ist von der Verschiedenheit der Durchmesser der in Berührung stehenden Muskeln abhängig: je grösser der Unterschied der Entwickelung dieser Muskeln ist, desto dicker ist die zwischen ihnen befindliche Lamelle, und umgekehrt. Wenn zwei benachbarte Muskeln sich mit ihren Fasern oder mit deren Resultierenden unter rechtem Winkel durchkreuzen, so verdünnt sich die Aponeurose in der Mitte der Kreuzungsstelle, wobei wiederum die Lamelle um so dünner ist, je breiter diese Stelle ist und je geringer die DiiFerenz der Durch- messer der einander berührenden Muskeln ist. Alle diese Verhältnisse deuten auf die Bedeutung der Aponeurosen, welche als biegsame Fortsetzung der Knochen eine Stütze für die Muskeln sind; wenn bei der Contraction die letzteren an Dicke zu- nehmen, so spannt sich die Aponeurose über ihnen und vergrössert dadurch den seitlichen Widerstand. Die Spannung der Aponeurose ver- grössert sich noch deshalb, weil sie gewöhnlich mit der Sehne oder dem Sehnenbogen des darunter befindlichen Muskels verschmilzt. Endlich ist auch die Richtung der Fasern der Aponeurose vorteilhaft, denn wenn sie dem Muskel parallel verlaufen würden, so würden bei der Contraction des letzteren die Fasern leicht auseinander geschoben werden können und keinen Widerstand leisten, während sie jetzt den Muskel wie Ringe umfassen und dem contrahierten Muskel unter rechtem Winkel widerstehen. So liegt z. B. an der Vorderfläche des Ober- schenkels der M. rectus femoris in einer besonderen Scheide, dessen Wand ihn von den tiefer liegenden Mm. vasti externus et medius und dem oberflächlicheren M. sartorius trennt; die ersteren Muskeln sind stärker als der M. rectus, die letzteren aber schwächer, und zudem sind ihre Richtungen nicht gleich, infolgedessen ist die hintere Wand der Scheide des M. rectus dünner, die vordere aber dicker. An der Vorderfläche des Vorderarms liegen der M. flexor carpi ulnaris, pal- maris longus, flexor carpi radialis und pronator teres, die radialen Ge- fässe und der M. brachio-radialis alle in besonderen Scheiden, deren tiefe Wandungen sie von den stärkeren darunter befindlichen Muskeln trennen. Die letzteren aber, nämlich die M. flexores digitorum sublimis et profundus und der M. flexor pollicis longus, liegen alle in einer gemeinsamen Scheide, da sie an den Berührungsstellen einander sowohl — 271 — in der Richtung ihrer Fasern, als auch in ihren Querschnitten, folglich also auch in der von ihnen entwickelten Kraft vollkommen entsprechen. Der M. pronator quadratus ist sowohl seiner Richtung-, als auch seiner Function nach von ihnen verschieden und hat deshalb eine eigene Scheide. Auf diese Weise erhält man hier acht Scheiden. Dasselbe sieht man auch an der Regio glutea: die Scheide des M. gluteus maximus ist durch ihre tiefe Wand von der verticalen Scheide des N. ischiadicus getrennt; tiefer von diesem folgen, wenn man von oben nach unten rechnet, die transversalen Scheiden des M. pyriformis, darauf des M. ob- turatorius internus mit seinen zwei accessorischen Köpfen, den Mm. gemelli-superior et inferior, und des M. quadratus femoris. Noch tiefer liegt der M. obturator externus, der schräg nach oben und aussen ver- läuft; er ist von den vorhergehenden durch die Wand seiner Scheide getrennt, welche um so stärker entwickelt ist, je mehr die Fasern der benachbarten Muskeln ihrer Richtung nach divergieren, und je grösser die Differenz der von ihnen entwickelten Kräfte ist. Die Fasern all dieser Scheiden durchkreuzen die darunter befindlichen Muskeln unter rechtem Winkel. Die Aponeurosen sind unverhältnismässig stark und verdickt, wenn an ihnen Bündel der von ihnen umhüllten Muskeln entspringen ; so sind z. B. die Aponeurosis cruris - anterior et externa, und zwar im oberen Drittel stark entwickelt, da von der Innenfläche der Aponeurosis anterior Bündel des M. tibialis anticus und des M. extensor digitorum longus, von der Aponeurosis externa aber der M peroneus longus ausgehen; ebenso ist auch die Aponeurose am oberen Drittel der hinteren Fläche des Vorderarms stark entwickelt, da auch hier an derselben Muskeln, nämlich die Mm. extensores carpi radiales longus et brevis und der M. extensor carpi ulnaris, dann der M. extensor digitorum communis und der M. extensor digiti minimi proprius, entspringen; ein Gleiches findet man auch an dem oberen, vorderen Drittel der Aponeurosis glutea, wo Bündel des M. gluteus medius ihren Anfang nehmen, und im hinteren Drittel der Aponeurosis supraspinata, an der Bündel des M. supra- spinatus entspringen. In allen diesen Fällen sind die Aponeurosen zwischen benachbarten Knochen ausgespannt und dienen als biegsame Fortsetzung derselben und als Stütze für die an ihnen entspringenden Muskeln. Endlich sind die Aponeurosen noch an den Stellen, wo die Muskeln mit allen oder mit einigen ihrer Sehnenfasern in die Aponeurosen über- gehen oder wo die letzteren die Schenkel der Gewölbe als sogenannter Schluss verbinden, sehr stark entwickelt und entsprechen der Ent- wickelung der darunter befindlichen Muskeln nicht; Beispiele dafür finden war in der Aponeurosis palmaris und der Ap. plantaris; in die erstere gehen die Sehne des M. palmaris longus und Fasern des M. — 272 — palmaris brevis über, an der oberen Fläche der letzteren aber entspringt der M. flexor digitorum brevis. Ein Beispiel für den Übergang der Sehne, eines Teils oder Fasciculus derselben in die Aponeurose kann man im äusseren Teil der Aponeurosis femoris anterior seu Fascia lata sehen; hier ist die Aponeurose stark verdickt, was daraus folgt, dass sie dem direct in sie übergehenden M. gluteus maximus als Hauptstütze dient und sich ausserdem unter dem Einfluss eines besonderen Muskels, des M. tensor fasciae latae, befindet. Dieser feste Teil der Aponeurose ist unter dem Namen des Maissiat'schen Streifens ^) oder Ligamentum ileo-trochantero-tibiale bekannt. Ahnliches bemerkt man an dem La- certus fibrosus des M. biceps brachii, welcher in die vordere Aponeurose des Vorderarms übergeht; im äusseren Teil der Sehne des M. quadri- ceps brachii, welcher sich in die Aponeurosis antibrachii posterior fortsetzt, und endlich in dem Teil der Sehne des M. biceps femoris, welcher in den oberen Teil der Aponeurosis cruris anterior übergeht. In allen diesen Fällen ist die Festigkeit und der von der Aponeurose geleistete Widerstand von dem Grade der Entwickelung des Muskels, unter dessen Einfluss sich die Aponeurose befindet, direct abhängig. Wenn der Muskel die Grenze seiner Thätigkeit überschreitet und sich darauf verändert, so dehnt sich allmählich auch die Aponeurose aus, weshalb die Festigkeit der ganzen Construction untergraben wird. Das kann man z. B. bei der Schwächung der Thätigkeit der Fussmuskeln und der Bildung eines Plattfusses beobachten. Die Untersuchungen von Dr. Kadjan ^) haben das vollkommen bewiesen. Die Aponeurosen bestehen hauptsächlich aus fibrillärem Binde- gewebe; oft enthalten sie auch elastische Fasern. Sappey^) sagt, dass die Aponeurosen um so mehr elastische Fasern enthalten, je dünner sie sind. Hiermit kann man nicht ganz einverstanden sein, da er ja selbst angiebt, dass die Aponeurosen des Oberarms und des Unterschenkels verhältnissmässig viel elastische Fasern enthalten, während sie doch ziemlich dick sind. Richtiger ist augenscheinlich, dass die Anzahl der elastischen Fasern dort grösser ist, wo die Aponeurosen mehr Wider- stand zu leisten haben, und wo an ihnen Muskeln entspringen, wie man das in den eben erwähnten Fällen sehen kann. An den Stellen, wo Gefässe, besonders Venen, durchgehen, wird die Aponeurose lockerer, zwischen den locker gelagerten Fasern und den Gefässwandungen lagert sich Fett, Avelches, indem es sich verschiebt, eine Veränderung der Dimensionen dieser Gefässe zulässt; dieses findet man z. B. in der so- genannten Fascia cribrosa externa profunda, welche die äussere 1) ^fitudes de physique animale. Paris. 1843, pag. 8. 2) Zur Architectur des Fusses. St. Petersburg. 1884, pag. 76—80 (russisch). 3) Traite d'Anatomie. 1876, pag. 57. — 273 — Öffnung des Schenkelkanals schliesst, und in dem sogenannten Diaphra- gma axillae, wo in dem lockeren Gewebe auch noch Lymphdrüsen ge- lagert sind. Die Gefässe der Aponeurosen. Die Aponeurosen enthalten feine Arterienäste und Capillargelässschleifen, welche sie von den aus dem Subcutanzellengewebe in das Gewebe der Aponeurosen eindringenden Gefässen erhalten. Ausserdem erhalten sie an den Stellen, wo sie vom Knochen abgehen, aus dem Periost Äste, an den Stellen aber, wo sie mit den Muskelsehnen verschmelzen, — aus diesen Sehnen. Die äussere Schicht der dicken Aponeurosen ist (nach Sappey) mit mehr Gefässen, als die innere, in der hauptsächlich die Schleifen der Capillargefässe gelagert sind, versehen. Überhaupt findet Sappey, dass in den Apo- neurosen die Gefässe zahlreich vorkommen, jedenfalls zahlreicher, als man früher glaubte. In den Aponeurosen sind die Schleifen der Capillar- gefässe länger und weiter, als die entsprechenden Schleifen im Periost. Die Capillargefässe sammeln sich in Venen, welche als feine Äste aus den Aponeurosen heraustreten und in die subcutanen Venenstämme münden. Die Nerven der Aponeurosen. Nerven kommen in den Apo- neurosen, nach den Untersuchungen von Sappey, in ebenso grosser An- zahl vor, wie in den Sehnen. Sie gehen gewöhnlich von den subcutanen Zweigen aus; von den Muskeln her erhalten die Aponeurosen augen- scheinlich keine Zweige; ob die Nerven der Knochen und der Sehnen an den Berührungsstellen Zweige zu ihnen entsenden, ist noch nicht festgestellt. Die fibrösen Sehnenscheiden. Die Aponeurosen werden, wo sie über das Hand- und das Fussgelenk gehen, durch Hinzukommen von circulären, schrägen oder transversalen Fasern verstärkt; an der dorsalen Fläche des Knöchelgelenkes bemerkt man das Ligamentum transversum über dem Gelenk am Unterschenkel und das Lig. cruciatum unter demselben am Fussrücken. Zwischen dem äusseren Knöchel und der Ferse befindet sich eine Fortsetzung der Aponeurosis externa cruris, welche Lig. annulare externum s. retinaculum tendinum peroneorum heisst, zwischen dem inneren Knöchel und der Ferse aber das Lig. annulare internum s. laciniatum tarsi. An der dorsalen Seite der Hand befindet sich das Lig. carpi commune. Diese sogenannten Bänder stellen fibröse Scheiden vor, welche an den Gelenken vorkommen und dazu dienen, die hier befindlichen Sehnen in ihrer Lage aufzuhalten, da diese sonst bei der Contraction der Muskeln sich von den Gelenken abheben könnten. Indem sie sich nun entfernten, würden die Sehnen das Volumen des- jenigen Teiles, wo sie sich befinden, vergrössern; ausserdem könnten sie sich bei der Bewegung nach den Seiten hin wenden, und dadurch würde ein Teil der Kraft verloren gehen und die Bestimmtheit der 18 — 274 — Richtungen der hier ausgeführten Bewegungen gestört werden. Diesem wird durch das Vorhandensein der Bänder vorgebeugt. Daher gehen von diesen Aponeurosen, von ihrer Innenseite, Fortsetzungen zu den Kapselbändern der Gelenke aus; die auf diese Weise erhaltenen Lumina heissen fibröse Sehnenscheiden. Diese Scheiden werden folglich von den durch accessorische Fasern verdickten Aponeurosen, von deren Fortsetzungen und von den fibrösen Kapseln der Gelenke gebildet. Sie halten die Sehnen in ihrer Lage auf, wobei sie ihre Bewegung gar nicht hindern. Solcher Scheiden befinden sich an der Dorsalfläche des Fusses acht, und zwar: unter dem Lig. annulare externum 1) die Scheide der Mm. peronei longus et brevis; unter dem Lig. cruciatum, von aussen nach innen gelagerte Scheiden: 2) der Sehnen des M. pero- neus tertius und des M. extensor digitorum pedis longus, 3) der Sehne des M. extensor hallucis longus, 4) der Sehne des M. tibialis anticus; zwischen der zweiten und dritten Scheide verläuft eine Scheidewand, welche sich vom Lig. cruciatum tarsi zum Sinus tarsi, wo sie auch endet, indem sie mit dem hier befindlichen Bänderapparat verschmilzt, wendet; diese Scheidewand ist von Retziusi) unter dem Namen Lig. fundiforme tarsi beschrieben worden; unter dem Lig. annulare internum befinden sich die Scheiden: 5) der Sehne des M. tibialis posticus, 6) der Sehne des M. flexor digitorum pedis longus, 7) der Vasa et Nervi plan- tares, 8) der Sehne des M. flexor hallucis longus. An der Dorsalfläche der Hand befinden sich sechs solche Scheiden; betrachtet man sie in der Richtung von der radialen Seite zur ulnaren, so findet man die Scheiden folgender Sehnen: 1) des M. abductor pollicis longus und des M. extensor pollicis brevis; 2) der M. extensores carpi radiales longus et brevis; 3) des M. extensor pollicis longus; 4) des M. ex- tensor digitorum communis und , des M. extensor digiti indicis pro- prius; 5) des M. extensor digiti quinti proprius; 6) des M. extensor carpi ulnaris, Ebensolche Scheiden mit gleicher Bedeutung sind auch an der volaren Handfläche, als Canalis carpalis, und an der plan- taren und volaren Fläche aller Phalangen, als Canales oetso-fibrosi, vorhanden. Die letzteren Scheiden bestehen aus circulären, transver- versalen, kreuz weisen und schrägen Fasern; von ihnen sind die circu- lären Fasern als Lig. annularia superiora, media et inferiora an der Peripherie des oberen, mittleren und unteren Phalangalgelenkes gelagert. Bei Bewegungen können die circulären Fasern elliptische Form an- nehmen; dadurch geben sie den Sehnen der Beugemuskeln die Mög- lichkeit, bei der Bewegung sich ein wenig von den Gelenken zu ent- fernen; die transversalen Fasern (lig. vaginalia superiora et inferiora) lagern sich in der Mitte der ersten und zweiten Phalange und ver- laufen von dem einen Rande der Phalange zum anderen; sie hindern die 1) MüUer's Archiv. 1841, pag. 497. Taf. XVII, Fig. 2. — 275 — Bewegung der Sehne nicht, beugen jedoch einer Faltenbildung an der- selben vor; die kreuz weisen, lambdoidalen und schrägen Fasern endlich befinden sich über dem Gelenk, sie halten die Sehnen in ihrer Lage auf, lassen jedoch, da sie sie nicht vollkommen umfassen, eine Falten- bildung, welche immerhin die Bewegung nicht hemmt, zu; dort, wo die Schicht der Sehnen dicker ist (an der ersten Phalange), erscheinen sie als kreuzweise Fasern, wo aber diese Schicht dünner ist (an der zweiten Phalange), bestehen sie aus lambdoidalen oder schrägen Fasern. Alle diese Fasern zusammen mit der volaren Fläche der Phalangen und der Gelenke begrenzen die an jedem Finger befindlichen Canales osteo- fibrosi, welche folglich so gebaut sind, dass sie die in ihnen liegenden Sehnen der Beugemuskeln in ihrer Lage aufhalten, ohne zugleich ihre Bewegungen zu verhindern oder zu beschränken. Die Synovialscheiden der Sehnen (vaginae tendinum syno- viales). Die fibrösen Scheiden halten, wie oben gesagt, die Sehnen in ilirer Lage, bei der Bewegung der letzteren muss jedoch zwischen ihnen und den Wandungen Reibung stattfinden, welche die Bewegung hindert und zu deren Überwindung accessorische Ej-äfte nötig wären. Um nun die Reibung zu vermindern, sind die langen Sehnen an den Stellen der stärksten Bewegung von Säcken, welche man Synovialscheiden nennt, umgeben. Jede derartige Scheide stellt eine ganz geschlossene Kapsel dar, von der ein Teil der Wand sich zusammen mit der eng mit ihr verschmolzenen Sehne hineinstülpt. Die äussere Oberfläche des übrigen Teils der Kapselwand vereinigt sich mit den benachbarten Teilen; die Innenfläche der Kapsel ist glatt und feucht, und zwischen den sich berührenden Flächen geht die Bewegung vor sich. Auf diese Weise erhält man an jeder Scheide drei Teile: 1) den äusseren Teil, welcher sich mit den benachbarten Teilen vereinigt (pars parietalis), 2) den inneren eingestülpten Teil, welcher mit der Oberfläche der Sehne ver- schmilzt (pars tendinosa s. visceralis), und 3) den mittleren Teil, welcher den ersten mit dem zweiten verbindet und als mehr oder weniger lange Falte erscheint ; dieses ist das sogenannte Sehnengekröse (Mesenterium tendinis); an den beweglicheren Stellen wird diese Falte ausgedehnt, zerreisst und verschwindet, so dass dann die Sehne ganz frei in der Höhle des Synovialsackes liegt. Die Länge einer solchen Scheide ist von der Grösse der Bewegung der in ihr enthaltenen Sehne voll- kommen abhängig; sie ist um so länger, je grösser die Strecke ist, welche die Sehne zurücklegt, und umgekehrt. Sie läuft an ihren beiden Enden stets blind aus und kann mit den benachbarten, eng anliegenden Synovialscheiden nur in dem Falle communicieren, wenn ihre in Berührung- stehenden Wandungen, durch Reibung oder Zerrung, zerstört werden. Die Structur der Synovialscheiden entspricht der Structur der Synovialkapseln vollständig. Sie bestehen aus einer bindegewebigen 18* — 276 — Grundlage mit einem Netz elastischer Fasern, welche hauptsächlich an der Seite der freien Kapseloberfläche gelagert sind, und mit einer Schicht Endothelzellen an dieser Oberfläche. Die mit der Sehne verschmelzende Wand der Scheide enthält gewöhnlich keine elastischen Fasern. Die glatten, einander berührenden und mit Endothel bedeckten Oberflächen sind ebenso feucht, wie die freien Oberflächen der Synovialkapseln; diese Feuchtigkeit rührt gleichfalls von ausgeschiedener Synovia her. In Bezug auf Gefässe und Nerven hat man hier nur alles von den Syno- vialkapseln der Gelenke Gesagte zu wiederholen. Die längsten Synovialscheiden befinden sich an der Plantarfläche des Fusses, sie sind 17— 20 cm lang; darauf folgen in Bezug auf die Länge die Synovialscheiden der Dorsalfläche des Fusses, der Volar- und der Dorsalfläche der Hand. Die längsten Scheiden sowohl der Plantar-, als auch der Dorsalfläche sind diejenigen, welche die zu der grossen und kleinen Zehe, namentlich zur ersteren, verlaufenden Sehnen enthalten. Die Länge der übrigen Scheiden beträgt 8 — 10 cm. Beginnt man an der Aussenfläche des Fersenbeins und geht man dann über die Dorsalfläche des Fusses bis zur Innenfläche dieses Knochens, so kann man acht Synovialscheiden zählen, welche den oben beschriebenen fibrösen Scheiden entsprechen; ein Unterschied besteht nur in der Hin- sicht, als in der ersten gemeinsamen fibrösen Scheide (unter dem Lig. annulare externum) sich zwei Synovialscheiden, welche die Sehnen der Mm. peronei brevis et longus umgaben und in der Mitte, auf der Höhe des Knöchels, mit einander communicieren, befinden; die dritte fibröse Scheide aber, welche unter dem Lig. cruciatum internum gelagert ist und Gefässe und Nerven umhüllt, enthält keine Synovialscheide. An der volaren Fläche der Hand liegen die Synovialscheiden in dem Canalis carpalis, unter dem Lig. carpi volare proprium s. transversum. Hier unterscheidet man eine radiale, eine ulnare und eine mittlere oder ober- flächliche (vagina synovialis radialis, ulnaris et media s. superficialis); von diesen enthält die radiale die Sehne des M. flexor pollicis longus, ihre Länge beträgt 11 — 12 cm; die ulnare enthält die Sehnen der Mm. flexores digit. profundi der zwei oder drei (des dritten, vierten und fünften) letzten Finger, und gleichfalls die Sehnen des M. flexor sublimis des vierten und fünften oder des dritten, vierten und fünften Fingers; dieses ist die tiefste und längste Scheide der Yolarfläche, sie misst 13 — 14 cm. Diese beiden Scheiden stehen gewöhnlich mit den Synovial- scheiden der Canales osteo-fibrosi des grossen und des kleinen Fingers in Verbindung; in der Tiefe des Canalis carpalis communicieren diese Scheiden zuweilen unter einander. Ausser diesen beiden beständigen Scheiden kommt noch eine unbeständige mittlere vor, welche nur die Sehne des M. flexor sublimis des Zeigefingers, zuweilen auch die des dritten Fingers enthält; sie kann mit einer ebensolchen Scheide, welche die — 277 -- Sehne des M. flexor profundus des Zeigefingers enthält, in Verbindung stehen, doch kommt das selten vor i). An der Dorsalfläche des Tarsus befinden sich in den beschriebenen sieben fibrösen Scheiden acht syno- viale, da die erste und zweite Sclieide je zwei synoviale, je eine für • jede hier befindliche Sehne enthalten; in der Mitte communicieren sie gewöhnlich mit einander, in der zweiten fibrösen Scheide aber gleich- falls mit der Synovialscheide der Sehne des M. extensor pollicis longus. Von allen hier befindlichen Scheiden sind wiederum die zu dem grossen und kleinen Finger verlaufenden am längsten; dies gilt besonders von der Synovialscheide, welche die Sehne des M. extensor pollicis longus enthält ^). Die Schleim- und Synovialbeutel (bursae mucosae et syno- viales). Schleimbeutel nennt man eine ganz geschlossene Kapsel mit sich berührenden glatten und feuchten Oberflächen; ihre Aussenflächen aber verschmelzen mit den benachbarten Teilen. Solche Schleimbeutel liegen entweder zwischen der beweglichen Haut und dem darunter befindlichen festen oder harten Gewebe, oder^ zwischen den Sehnen und den Knochen und fibrillären Teilen, wenn zwischen ihnen Bewegung besteht, und je grösser die Bewegung ist. desto stärker sind sie ent- wickelt. Die ersteren heissen subcutane Schleimbeutel (bursa mucosa subcutanea), die letzteren subaponeurotische oder subtendinöse Schleim- beutel (b. m. subaponeurotica et subtendinosa). Von dem Schleimbeutel muss man den Synovialbeutel, welcher stets eine Fortsetzung der Synovial- kapsel des Gelenkes bildet und daher immer mit der Gelenkhöhle coramu- niciert, unterscheiden. Er entwickelt sich an den Stellen, wo die Sehnen mit den Gelenkkapseln verschmelzen und wo sich infolge der fortwährenden Hin- und Herbewegung dieser Sehnen eine Ausstülpung der Synovialkapsel des Gelenkes bildet. Solche Ausstülpungen existieren z. B. vor dem Schultergelenk, die Bursa synovialis subscapularis, im vorderen Aussenteil desselben Gelenkes, der Synovialbeutel des M. biceps (bursa synovialis intertubercularis s. bicipitalis) , im Aussenteil des Kniegelenkes, die Bursa synovalis poplitea, und ebenso im vorderen Teil desselben, die Bursa synovialis subcruralis. Die Schleimbeutel aber entwickeln sich stets unabhängig von den Gelenkkapseln; sie 1) M. Kulajewsky. Über die Synovialkapseln der Hand. Kasan. 1867, pag. 33 (russisch). 2) Über diese Scheiden: 1) Leguey. Rech, sur les synoviales des temlons flechis- seurs des doigts. These. 1837, Paris. 2) Maslieurat-Lagemard. Anatomie descriptive et chirtirgicale des aponeuroses et des membranes synoviales de la main. Gaz. medi- cale de Paris. 1839. Nr. 18, pag. 276. 3) Gosselin. Rech, sur les kystes synoviaux de la main et du poigoet. Mem. de l'Acad. de m^d. 1850. T. XVI, pag. 367. 4) Michon. Des tumeurs synoviales de la partie Interieure de l'avant-bras, de la face palmaire du poignet et de la main. These. Paris. 1851. — 278 — können mit letzteren in Verbindung stehen, jedoch nur, wenn sie sehr nahe aneinander liegen und wenn die primär zwischen ihnen vorhandene Scheidewand, durch Zerrung, zerstört wird; dieses sind z. B. die Bursa mucosa suhcoracoidea, semimembranoso-gastrocnemialis s. retrocondy- loidea interna, suprapatellaris profunda, subiliaca u. s. w. Sowohl Schleim-, als auch Synovialbeutel sind stets dafür da, um die Reibung zwischen dem beweglichen Teil und dem darunter befindlichen Knochen- oder mehr oder weniger gespannten Fasergewebe zu vermindern. Ihrer Structur nach sind die Schleimbeutel den Synovialscheiden ganz analog '). Die Bedeutung und die Functionen des Muskelsystems. Mit dem Muskelsystem ist die activ-physische Thätigkeit des tierischen Organismus verbunden; ausserdem fungieren die Muskeln noch als Or- gane, welche die Teile in ihrer Lage aufhalten, die Elasticität der Verbindung einzelner Teile vergrössern, stellenweise aber, indem sie den Knochen ersetzen, in vollkommener Übereinstimmung mit der am gegebenen Ort entfalteten Kraft als Widerstand leistende Teile er- scheinen. Die Analyse der einfachen und complicierten Miiskelformen zeigt am deutlichsten, dass diese Organe in verhältnismässig geringem Volumen imstande sind, grosse Gewandtheit (d. h. Zweckmässigkeit und Schnelligkeit) oder maximale Kraft zu entwickeln. Da diese durch grosse Elasticität ausgezeichnet sind, so mildern sie die Einwirkung der Stösse und Erschütterungen. Indem sie entweder über einer grossen Stützfläche wirken, oder den Grad der Spannung, mit der sie wirken, dem zu überwindenden Hinderniss anpassen, functionieren die Muskeln bei verhältnismässig geringem Volumen mit verhältnismässig geringem Materialaufwand. Je andauernder der Muskel wirken kann, um so grösser ist seine Stützfläche bei verhältnismässig geringer Anzahl von Muskelfasern, und nur, wenn er sehr zweckmässig und rasch wirkt, ist sowohl Stütze, als auch Insertion linear und vergrössert sich die Quan- tität der Muskelfasern; obgleich hier der Aufwand anwächst, so gewinnt der Muskel doch an Anpassungsfähigkeit und an Schnelligkeit. Die vom Muskel geleistete Arbeit muss nicht nur, wie man das gewöhnlich thut, durch den physiologischen Querschnitt, sondern durchaus auch durch seine Stützfläche, seine Angriffsfläche und sein Verhältnis zu dem Hebel, auf den er wirkt, bestimmt werden. Über das Verhältnis 1) Über die Schleimbeutel : 1) W. Gruber. Die Knieschleimbeutel. Monographie. Prag. 1857. 2) W. Gruber. Die Oberschulterhakenschleimbeutel (b. m. supracoracoideae). M4n]. de l'Acad. Imp. des Sc. de St. Petersbourg. VIIl. Ser. T. III. Nr. 11. 1861. 3) W. Gruber. Monographie der Bursae mucosae cubitales. Mem. de PAcad. Imp. des Sc. de St. Petersbourg. T. X. Nr. 7. 1867. 4) W. Heineke. Die Anatomie nnd Patho- logie der Schleimbeutel und Sehnenscheiden. Erlangen. 1868. 5) A. S. D. Synnestvedt. En anatomisk beskrivelse af de paa Overog ünderextremiteterne forekommende bursae mucosae. Christiania. 1869. — 279 — der Muskeln zu den Bändern gehen die Meinungen der Forscher noch sehr auseinander, und ist dieses Verhältnis noch gar nicht genügend erklärt. So sagt H. Meyer ^): „Für die statischen Verhältnisse des Knochengerüstes gewinnen die Bänder dieselbe hohe Bedeutung wie für die mechanischen Verhältnisse (Bewegungen) die Muskeln," und „die Bänder sind durch ihre Widerstandsfähigkeit die wichtigsten Hemmungsmittel für die Bewegungen und dadurch auch Hülfsmittel für solche vorübergehende Vereinigung zweier sonst gegeneinander beweg- licher Knochen zu einem einheitlichen Ganzen, welches als Knochen- combination bezeichnet werden kann. Wenn irgend eine Kraft, sei es Muskelkraft oder Schwere, den einen von zwei gegeneinander beweg- lichen Knochen so lange bewegt, bis ein dieser Bewegung antagonistisch gegenüberstehendes Band in Spannung gerät, so wird damit einesteils die weitere Bewegung gehemmt, andernteils muss aber auch damit ein festes Aufeinanderdrücken der beiden Knochen gegeben sein; denn die einwirkende Gewalt muss als eine Componente mit dem Bandwiderstande als zweiter Componente eine Resultierende erzeugen, welche die beiden Knochen fest aufeinander drückt, und diese Wirkung der beiden Kräfte muss allein in die Erscheinung treten, weil die drehenden Wirkungen beider sich gegenseitig aufheben. Eine solche feste Verbindung der beiden Knochen muss demnach so lange bestehen bleiben, als die be- wegende Kraft, welche gemeinsam mit der Bandspannung die Fixierung hervorruft, in Thätigkeit bleibt." Die Frage von der Bedeutung der Muskeln bei den verschiedenen Stellungen des lebenden Organismus, wie auch von dem Verhältnis der Muskeln zur Knochenform, zur Thätigkeit der Gelenke und zur Lagerung der Eingeweide in verschiedenen Stellungen ist sowohl in theoretischer, als auch in practischer Beziehung sehr wichtig, so dass man sich mit ihr beschäftigen und sie nach den vorhandenen Untersuchungen beant- worten muss. Von dem Verhältnis der Muskeln zur Form der Knochen und zu den Gelenken war bereits oben die Rede. Dort waren auch die Ver- suche an einem jungen Hunde, welche die durch die Übung der umgeben- den Muskeln bedingte Veränderung der Gelenkflächenform, und ebenso eine Veränderung durch Muskelanomalie zeigten, erwähnt worden. Ebenso war nach Möglichkeit die Bedeutung des Muskeldrucks auf das Gelenk auseinandergesetzt worden. Von den die Gelenkteile zusammenhaltenden Kräften waren, wie sich erwies, die Muskelkräfte die einzigen, welche unserem Willen unterworfen werden können und welche den Luftdruck und die Adhäsion compensieren. Die Muskelkraft ist folglich ein unbe- 1) Die Statik und Mechanik des menschlichen Knochengerüstes. Leipzig. 1873, pag. 3—4. — 280 — dingt notwendiges Agens, welches bei jeder Stellung in jedem Gelenk thätig ist. Ausser dieser Teilnahme der Muskeln am Zusammenhalten der Gelenkflächen haben alle Muskeln in jedem Gelenk noch ihre Anta- gonisten. Man kann sich nicht die geringste Bewegung in irgend einem Gelenk ohne die Teilnahme dieser Antagonisten vorstellen; jede Be- wegung nach einer Seite wird unbedingt von der Ausdehnung der die entgegengesetzte Bewegung ausführenden Muskeln begleitet; je mehr sie sich ausdehnen, desto mehr werden sie gereizt und contrahieren sich infolgedessen, wodurch sie der gegebenen Bewegung zu widerstehen beginnen; die Bewegung wird durch die Summe dieser Widerstände begrenzt. An der Leiche ist, wie gesagt, der Bewegungsumfang stets grösser, als beim Lebenden, und zwar infolge des Fehlens dieses Wider- standes. Ein jeder Teil wird nur durch die Action der Antagonisten, welche sich um so stärker contrahieren, je grösseren Widerstand der gegebene Teil leistet und je mehr irgend ein Teil in einer bestimmten Stellung fixiert werden muss, in seiner Lage aufgehalten. Über das Hüftgelenk ist leicht bogenförmig die Sehne des M. rectus femoris, welche stets mit einigen seiner Fasern mit den Fasern des Lig. ileo- femorale verschmilzt, gespannt. Bevor noch dieses Band bei der Rück- wärtsbeugung des Rumpfes sich spannt, wird durch eine derartige Stellung der M. rectus femoris gespannt und zieht sich zusammen, so dass er Widerstand leistet. Wenn man die unteren Extremitäten einer ganzen Leiche im Knie- und Fussgelenk feststellt und darauf den Rumpf bis zur Spannung des Lig. ilio-femorale zurückbeugt, so entspricht die hierbei angenommene Stellung keineswegs der sogenannten „militärischen Haltung" des Körpers, sondern der Rumpf wird viel weiter zurück- gebeugt. Ebenso kann man sich im lebenden Organismus schwer eine Bewegung ohne Teilnahme von Muskelkräften vorstellen; eine nach einer Seite hin geführte Extremität bewegt sich durch die Contraction des Muskels bei gleichzeitigem Widerstände seiner Antagonisten dahin. Durch ihre Schwere kann sie nur im bewusstlosen Zustand, im Zustand der Narcose oder im Schlafe fallen; im wachen, bewussten Zustand ist diese Erscheinung ohne Teilnahme von Muskeln unmöglich. Alle einigen Widerstand leistenden Bänder befinden sich bestimmt unter dem Einfluss von Muskeln, so ist z. B. das Lig. spinoso-sacrum von dem M. coccy- geus lateralis s. ischio-coccygeus bedeckt; das Lig. tuberoso-sacrum ent- hält die Fortsetzung der Fasern des M. biceps femoris ; das Lig. annu- lare radii befindet sich unter dem Einfluss der Mm. tensores lig. annu- laris radii anterior et posterior (Gruber, Cruveilhier) u. s. w. In allen Fällen, wo die Bänder sich unter dem Einfluss von Muskeln befinden, die Fortsetzung von Muskelsehnen bilden oder von Muskeln bedeckt sind, vergrössern die letzteren die Elasticität und zugleich auch die Widerstandsfähigkeit der Bänder, so dass diese unter solchen Bedingungen — 281 — nicht ausgezogen werden können und imstande sind, grossen Widerstand zu leisten, ohne sich durch die Ausdehnung zu verändern. Diese Beziehung der Muskeln zu den Knochen, Gelenken und Bändern und überhaupt zu dem ganzen übrigen Teil des Locomotions- apparates hat eine grosse practische Bedeutung : eine Veränderung und Verminderung der Muskelthätigkeit muss unbedingt Veränderungen der erwähnten Teile zur Folge haben. Ausser ihrer unmittelbaren Be- ziehung zu der Lage der einzelnen Extremitäten- und Gelenkteile stehen sie auch noch zur Erhaltung der in den Rumpfhöhlen, z, B. in der Bauchhöhle gelagerten Organe in ihrer Lage in directer Beziehung ^). Hier bestehen wiederum dieselben Verhältnisse zwischen der Kraft und dem Widerstände, wie auch in den Gelenken; einerseits wirken auf die Erhaltung der Baucheingeweide in ihrer Lage ein: 1) der Luft- druck, 2) die Muskelkraft (die Bauchpresse) und 3) die Adhäsion; ihnen wirken entgegen: 1) das Gewicht der Eingeweide, 2) die Elasticität des Gewebes der Eingeweide und 3) die Reibung bei der Bewegung der Eingeweide. Die erste und dritte Ki^aft (Luftdruck und Adhäsion) können nicht willkürlich modiflciert werden, dieses ist nur für die Bauchpresse möglich ; ebenso kann sich der Widerstand nur infolge der grösseren oder geringeren Elasticität verändern. Nach Struther -) sind die Eingeweide der rechten Bauchhöhlenhälfte nicht weniger als um 15 Unzen schwerer, als die entsprechenden Organe der linken Seite; dem entsprechend erweist sich, dass die Muskeln der oberen Hälfte der Bauch wand rechts sowohl dem Gewicht, als auch dem Querschnitt nach grösser sind, als die linken. Nach Dr. A. Lawrentjew ") beträgt das Gewicht dieser Muskeln rechts 137,8 gr, links aber 125,5 gr; ihr phy- siologischer Querschnitt ist rechts ^ 12,3 Dem, links aber = 11,1 Dem, Die Bauchpresse ist ein Widerstand leistender, keineswegs aber aus- treibender Apparat; bei der Contraction widerstehen alle ihre Teile dem Höhleninhalt, welchen die Bauchpresse umgiebt, indem sie sich der von den verschiedenen Teilen dieses Inhalts geleisteten Arbeit voll- kommen anpasst. Eine Veränderung der Thätigkeit der Bauchpresse, eine Schwächung der Bauchmuskeln infolge ihrer Ausdehnung durch oft wiederkehrende Schwangerschaft, ungenügende Übung der Muskeln, Corsettragen u. dgl. m., muss unwiderruflich eine ungenügende Fixierung und Erhaltung in ihrer Lage der Baucheingeweide, eine unnormale Be- weglichkeit der letzteren, namentlich der parenchymatösen Organe, mit 1) P. Lesshaft. Über die Bedeutung der Bauchpresse für die Erhaltung der Baucbeingeweide in ihrer Lage. Anat. Anzeiger, IH. Jahrg. 1888. Nr. 27. u. 28. 2) Edinburgh raedical Journal. Juni. 1863. 3) Zur Frage von der Kraft und Thätigkeit der die Bauchpresse bildenden Muskeln. St. Petersburg. 1884, pag. 31 (russisch) und Virchow's Archiv. Band C. 1885, pag. 459 bis 502. — 282 — allen unangenelimen Folgen, wie Neuralgien, hysterische Anfälle und derartige Nervenleiden, nach sich ziehen. Oben war bereits auseinandergesetzt worden, welche Bedeutung der Muskelantagonismus für die Erhaltung der sich nicht unmittelbar auf den übrigen Teil des Skeletts stützenden Knochen (wie des Zungen- beins und des Schulterblattes) in ihrer Lage habe. Alle oben an- geführten Bedingungen der Muskelthätigkeit, welche sich auf positive mechanische Facta stützen, werden jedoch bei der Analyse der Nerven- functionen ganz ausser Acht gelassen. Davon kann man sich bei der Analyse der Thätigkeit der Vorderarmmuskeln z. B. leicht überzeugen. Der M. flexor carpi ulnaris entspringt, wie man es gewöhnlich beschreibt, an dem Condylus internus humeri und an der Ulna, ausserdem aber geht er auch noch von der zwischen diesem Muskel und dem M. flexor digitorum sublimis befindlichen Sehnenscheidewand aus. In der That kann man sich leicht überzeugen, dass von der am Condylus internus humeri (Fig. 50) entstehenden Sehnenausbreitung sowohl die Fasern des M. flexor carpi ulnaris und flexor digitorum sublimis, als auch die des M. palmaris longus ausgehen. Dieser letztere Muskel nimmt seiner- seits noch von einer anderen Sehnenausbreitung zusammen mit dem M. flexor carpi radialis seinen Anfang; letzterer wiederum entspringt auch noch von einer Sehnenausbreitung, die er mit dem M. pronator teres gemein hat. Von den Oberflächen dieser Sehnenausbreitungen oder fibrösen Scheidewände gehen also verschiedene Muskeln aus, so dass bei der Contraction eines dieser Muskeln, z. B. des M. flexor carpi ulnaris, auch die übrigen hier entspringenden Muskeln, wie z. B. der M. palmaris longus und der M. flexor digitorum sublimis, gereizt und gespannt werden. Hierdurch wird die Stütze des M. flexor ulnaris fester, und letzterer Muskel ist imstande, mehr Kraft zu entfalten oder mit grösserer Spannung mit seinen einzelnen Teilen zu wirken. Die mit den Actionen unter solchen Bedingungen verbundenen Empfindungen sind so gewöhnlich, dass jede kleinste Veränderung dieser Verhältnisse, in- dem sie ungewohnte Empfindungen hervorruft, durchaus eine Schwächung der Thätigkeit zur Folge haben muss, besonders wenn die Schwächung oder Veränderung der Stütze rasch, unter dem Einfluss von mechanischen Insulten oder eines acuten pathologischen Processes vor sich gegangen ist. Ebenso müssen sich der M. flexor carpi ulnaris mit dem M. pal- maris longus einerseits und dieser letztere Muskel mit dem M. flexor carpi radialis und dem M. flexor digitorum sublimis andererseits in Cor- relation beflnden ; dasselbe ist auch in Bezug auf diese beiden letzteren Muskeln und den M. pronator teres der Fall. Diese Analyse ist not- wendig, um die Bedeutung der einzelnen Nervenstämme für die Muskeln, in denen sie sich verzweigen, zu erklären. So drückt sich z. B. beim Durchschneiden des N. ulnaris die Paralyse des M. flexor carpi ulnaris — 283 — auch durch geschwächte Beugung der zweiten Phalangen (infolge ver- minderter Thätigkeit des M. flexor digitorum sublimis), durch ungenügende Spannung der Aponeurosis palmaris, was von einem Zusammendrücken der Nervenäste und des Arcus volaris sublimis bei voller Beugung der Finger oder beim Ergreifen eines Gegenstandes und Zusammenpressen desselben in der Hand begleitet werden muss, aus. Die Paralyse dieses Muskels äussert sich gleichfalls in einer Schwächung der Thätigkeit des M. Pronator teres infolge seiner Beziehung zu den von dem Con- dylus internus humeri ausgehenden Sehnenscheidewänden. Dasselbe kann man auch in betreff der das Zungenbein und Schulterblatt in ihrer Lage erhaltenden und sie fixierenden Muskeln sagen: diese Muskeln erhalten ihre Innervation aus verschiedenen Quellen, weshalb bei der Affection irgend eines der in ihnen endigenden Nerven die Harmonie des ganzen Apparates zerstört wird und die Functionen aller Muskeln, welche an diesen Knochen ihre Stütze haben, sich verändern. Wenn man die mechanische Bedeutung der einzelnen Muskelapparate und ihre Beziehung zur Stütze nicht beachtet, so begeht man sehr leicht Fehler und glaubt, dass eine Störung der Thätigkeit mehr oder weniger ent- fernter Teile der Extremitätenstütze von einer Veränderung der Gehirn- centren abhänge, während sich etwas derartiges durch den Kräften nicht entsprechende Arbeit und durch einförmige Thätigkeit, welche zu Ermüdung oder sogar zu Leiden führen, entwickeln kann. So hat z. B. mehrstündiges Klavierspielen Schmerzempfindungen im Rücken, dort, wo sich die Mm. rhomboidei anheften, zur Folge; ein Gleiches kann man auch bei langem Zeichnen u. s. w. beobachten. Zugleich mit dem Auftreten dieser Leiden sind auch Schmerzen in den Gelenken und Muskeln der Extremitäten und des Rumpfes zu verspüren, wenn die Muskeln die Grenzen ihrer Thätigkeit erreichen, worauf dann re- gressive Veränderung der Muskeln folgt. Bei der Section kann man dann auch Affectionen des Rückenmarkes finden, doch ist das eine secundäre, nicht primäre Erscheinung. Alle diese Verhältnisse hat man bis jetzt viel zu wenig beachtet, unterdessen sind sie aber sehr wichtig und wesentlich, und ohne dieselbe ist eine präcise Analyse der Functionen des Nervensystems unmöglich ^). Wir werden bei der Behandlung des Nervensystems noch darauf zurückkommen. Alle diese Fragen von dem Verhältnis der Muskeln zu der Form und der Function der übrigen Bewegungsorgane haben eine grosse practische Bedeutung. Von ihnen muss man sich leiten lassen, wenn man bestimmt, wie man bei Formveränderungen der Knochen und Ge- 1) P. Lesshaft. Über die Bedeutung der mechanischen Bedingungen der Muskeln beim Studium der Functionen des Nervensystems. ProtocoUe der Ges. russ. Arzte. April. 1882, und Internationale Monatsschrift für Anatomie und Histol. 1886. Bd. III, Heft 3. — 284 — lenke und überhaupt der einzelnen Teile der Stütze des menschlichen Körpers und ihrer Verbindungsstellen vorzugehen hat. Wenn, wie das oben bewiesen worden ist, die Muskeln activ auf die Knochenform ein- wirken und an der Erhaltung der Stützteile in ihrer Lage activ teil- nehmen, wenn alles das im lebenden Organismus nicht durch die Gleich- gewichtsbedingungen und die Spannung des festen Bindegewebes ins Werk gesetzt werden kann, so ist eine Wiederherstellung der normalen Bedingungen nur durch harmonische Entwickelung der Muskeln, nicht aber durch unbewegliches Aufhalten der Körperteile mit Hülfe ver- schiedener Vorrichtungen möglich. Beobachtungen an lebenden Indivi- duen 1), soviel sie mir zu Grebote standen, haben diejenigen allgemeinen Gesetze, welche auf die Ursachen der Knochenformen und der Erhaltung der Teile in ihrer Lage Bezug haben, ganz und gar bestätigt. Den Widerspruch mit der Meinung H. Meyer's, der hierbei entsteht, konnte man sich durch die Veränderung der Ansicht über die Eigenschaften des festen Bindegewebes erklären; erst die späteren Untersuchungen von A, Rauber haben gezeigt, dass der Elasticitätscoefficient dieses Gewebes = 166,93 kg auf in mm ist, d. h. dass dieses Gewebe sehr wenig elastisch ist, dass die Elasticität des Knorpels 43 mal, die der Gefässwandungen und namentlich der Arterien Wandungen sogar 2299 mal grösser ist, als die des flbrillären Bindegewebes. Je weniger elastisch ein Gewebe ist, desto weniger activen Widerstand vermag es zu leisten. Unter dem Einfluss einer fortwährenden Spannung zieht es sich all- mählig aus und ist dann nicht mehr imstande, die Teile in ihrer Lage zu erhalten. Alle Bänder, welche Widerstand zu leisten haben, müssen sich, wie gesagt, unter dem Einfluss von Muskeln befinden, wie z. B. das Ligamentum spinoso-sacrum vom M, coccygeus lateralis bedeckt ist, das Lig, tuberoso-sacrum eine Fortsetzung des M. biceps femoris vor- stellt, das Lig. calcaneo-cuboideum plantare sich unter dem Einfluss des X- adductor hallucis und des M. flexor brevis digiti quinti pedis be- findet u. s. w. In Bezug auf ihre Function gehören die Muskeln zu den Organen, welche durch Übung oder, wie Bichat '^) sagt, durch Erziehung entwickelt werden. Die gradationeile und stetige Vergrösserung der Thätigkeit der Muskeln fördert am meisten ihre Entwickelung. Die Thätigkeit wird mit der Zahl und der Schnelligkeit der Bewegungen, und ebenso bei gradatira und consequent sich vergrösserndem Widerstände erhöht. Die Untersuchungen von Ed. Weber •'') zeigen, dass die maximale Kraft- 1) P. Lesshaft. Über das Verhältnis der Muskeln zur Form und Function der übrigen Bewegungsorgane. Protocoll der Ges russ. Ärzte vom 26. April 1884. 2) Recherches physiologiques sur la vie et la mort. Paris, pag. 89 — 90. 3) Handwörterbuch der Physiologie. III. Bd. 2. Abt. 1. Lfg. Art. Muskelbewegung. Braunschweig. 1846, pag. 93 und 121. — 285 - entfaltung nur bei bestimmter Belastung vor sich geht, sie vermindert sich bei der Verringerung, wie bei der Vergrösserung der Belastung. Für die Froschnuiskeln fand er, dass sie bei Belastung von 450 gr auf einen Quadratcentimeter des Querschnitts maximale Thätigkeit zur Er- scheinung zu bringen imstande sind. Im Mittel konnten die Frosch- muskeln eine Last, welche ihr eigenes Gewicht 93 mal übertraf, 15 mm hoch heben. Je weniger Muskelorgane an irgend einer Thätigkeit teil- nehmen, desto schneller ermüdet der Muskel. Die Ermüdung macht ihn zur weiteren Thätigkeit untauglich, was von dem Verbrauch des notwendigen Materials und von der Anhäufung von Zersetzungsproducten, welche sich bei der Contraction des Muskels entwickeln, abhängt (Brücke '). Je mehr Muskelorgane folglich an einer Thätigkeit teilnehmen, um so andauernder kann sie sein und um so weniger ermüden die Muskeln. Der ermüdete Muskel zieht sich bei grösserer Belastung verhältnis- mässig viel weniger zusammen, als bei geringerer Belastung (Weber). Bei Übungen an irgend einem Apparat oder überhaupt bei Arbeiten an irgend einer Maschine ist die Teilnahme von möglichst viel Muskel- gruppen erforderlich, denn sonst ist eine langandauernde Ausübung der Thätigkeit unmöglich, weil im entgegengesetzten Falle die Muskeln leicht ermüden und bis zur vollständigen Erschöpfung gebracht werden können. Jede Muskelcontraction wird von einem bestimmten Gefühl begleitet, nach welchem der Mensch den Ort und den Grad der von ihm ausge- führten Action erkennt. Die Elemente der Bewegung ausführen, heisst das die einzelnen Bewegungen begleitende Muskelgetühl kennen lernen, wobei natürlich der Grad dieses Gefühls dem Grad der ausgeführten Contraction oder der Spannung, mit welcher die Muskelgruppe wirkt, entspricht. Einen einzigen Muskel zu contrahieren ist unmöglich, da in allen Fällen selbst die elementarste Bewegung von einer mehr oder weniger complicierten Muskelgruppe, welche aus mehreren Muskel- organen besteht, ins Werk gesetzt wird, wobei noch die die Stütze befestigenden Muskeln und die widerstehenden Muskeln oder Anta- gonisten teilnehmen. Beim Heben des Augenlides z. B. wirkt nicht hl OS der entsprechende Muskel, d. h. der M. levator palpebrae superioris, sondern auch ein aus glatten Fasern bestehender Muskel, der M. pal- pebralis sup. (W. Müller) nebst einigen Fasern des M. frontalis, welche sich im Rande des oberen Lides verlieren. Festgestellt wird das Augenlid durch den Antagonismus mit dem M. orbicularis oculi. Das gegebene Beispiel ist aber der Anzahl der Muskelorgane nach, welche an der gegebenen Bewegung teilnehmen, fast allein dastehend; die ein Gelenk umgebenden Muskelgruppen bestehen stets aus einer grösseren Anzahl von Muskel- 1) Vorlesungen über Physiologie. Bd. I. Wien. 1874, pag. 193 — 194. — 286 — Organen, welche alle in der Resultierenden wirken. Durch Übung kann man lernen, die Thätigkeit der einzelnen, die Gelenke umgehenden und um die Hauptachsen der hier möglichen Bewegungen gelagerten Muskel- gruppen zu isolieren. Diese Bewegungen sind eben die elementaren, denn weiter kann man sie nicht differenzieren. Indem man sich bei diesen Übungen mit den mit den Bewegungen verbundenen Gefühlen vertraut macht, lernt man sich bewusst zu ihnen zu verhalten, sie zu beherrschen. In allen Gelenken, wo zwei in einer oder in zwei parallelen Ebenen gelagerte Achsen möglich sind, findet man ausser den Haupt- bewegungen noch Kreisbewegungen, d. h. Übergänge von einer Be- wegung zur anderen. Diese Bewegungen sind eine Folge von allerver- schiedensten Combinationen der einzelnen Teile der Hauptmuskelgruppen. Auf diese Weise lernt man, indem man sich in den elementaren Be- wegungen übt, alle möglichen Nuancen der in den verschiedenen Gelenken vorhandenen Bewegungen auszuführen. Eine bewusste Ausführung aller dieser Bewegungen gestattet mit geringem Aufwand grössere Arbeit zu leisten und jedes vorkommende Hindernis vorteilhaft zu überwinden. Das Vertrautsein mit den Methoden, welche zur Controlle unserer Be- wegungen oder Eindrücke, die wir durch das Muskelgefühl, das Gehör, Gesicht und den Tastsinn empfangen, dienen, lehrt uns, unsere Hand- lungen nach Raum und Zeit einzurichten, d. h. bereitet uns zu bewusster physischer Arbeit vor. Bei allen derartigen Übungen muss man beachten, dass die ele- mentaren Bewegungen stets auf eine bestimmte Muskelgruppe beschränkt sind, dass folglich die Arbeit auf eine verhältnismässig geringe Anzahl von Muskelorganen verteilt ist, weshalb diese, besonders beim Kinde, rasch ermüden. Diese Ermüdung drückt sich in der Unzufriedenheit und im Widerwillen gegen ein Fortsetzen derartiger Übungen aus. Diese Erscheinung ist sehr wichtig, denn sie lässt sich beim Aneignen aller Elementarkenntnisse beobachten und muss in der Schule, wo ein Lehren ohne Differenzierung der Elementarerscheinungen unmöglich ist, in Betracht gezogen werden. Ausser der erwähnten Bedeutung und Function des Muskelsystems kann man nicht umhin, auch das Verhältnis der Muskelthätigkeit zur psychischen zu berühren: so lernt man zuerst die Bewegungen unter dem Einfluss eines unmittelbar, real wirkenden Reizes, später aber bei entsprechenden Empfindungen und psychischen Zuständen ausführen. Um dieses sehr wichtige Verhältnis der Muskelthätigkeit zum anfänglich äusseren, später inneren (psychischen) Einfluss zu beweisen, können am besten die Gesiehtsmuskeln, und zwar ihre Beziehung zu den Functionen der äusseren Sinnesorgane und zum Gesichtsausdruck dienen. Bei der ersten Begegnung mit einem Menschen bleibt man ge- wöhnlich bei äusseren Besonderheiten stehen und urteilt nach ihnen — 287 — über sein inneres Leben. Der Gesichtsausdrnck, die Intonation der Stimme, die Art der Rede, die Körperhaltung, der Gang, die ver- schiedenen Gesten und Gewohnheiten dienen gewöhnlich dem ersten Rindruck, den eine neue Erscheinung auf uns ausübt, als Grundlage. Es fällt nicht schwer sich zu überzeugen, dass alle diese Erscheinungen Züge gemein haben, welche sich den hier erwähnten allgemeinen Grund- sätzen entsprechend entwickelt haben. Betrachten wir eine dieser Er- scheinungen, und zwar die Entwickelung des Gesichtsausdruckes, und versuchen wir, sowohl seine Bedeutung, als auch den Zusammenhang zwischen ihm und der Contraction der Gesichtsmuskeln darzuthun. Erst Duchenne de Boulogne ^) (1862) ist es gelungen zu beweisen, dass der Gesichtsausdruck von der Contraction der Gesichtsmuskeln abhänge. Seine Untersuchungen führte er an Individuen aus, welche infolge einer Paralyse nicht imstande waren, ihre Gesichtsmuskeln will- kürlich in Thätigkeit zu setzen. Indem er die einzelnen Muskeln durcli Electricität reizte, rief er auf ihrem Gesicht, je nach den Muskelgruppen, auf die er wirkte, die widersprechendsten Ausdrücke hervor. Die Fähig- keit des Gesichts, sich unter dem Einfluss der verschiedenen, von Muskel- contractionen begleiteten Seeleuregungen zu verändern, erklärte er so- wohl durch die Besonderheit unserer Organisation, als auch dadurch, dass sie angeboren sei. Prüft man die Ergebnisse von Duchenne, so kann man sich überzeugen, dass seine Definitionen der Bedeutung einzelner Muskeln für den Ausdruck oft fehlerhaft sind: so drückt sich z. B. seiner Meinung nach -) die Freude durch eine massige Contraction des M. zygomaticus major und des M. palpebralis inferior (grand zygo- matique et orbiculaire palpebral inferieur — contraction moderee), heftiges Weinen durch die Contraction des M. levator labiae sup. alaeque nasi und der Mm. palpebrales (elevateur commun de l'aile du nez et de la levre superieure, palpebraux), die Ironie oder ironisches Lachen durch Contraction des M. buccinator und des M. quadratus menti u. s. w. aus. Analysiert man die Contraction dieser Muskeln, so kann man sich leicht davon überzeugen, dass sich hierbei die erwähnten Gesichts- ausdrücke nicht, oder wenigstens nicht in bestimmtem Masse ergeben. Es hängt wahrscheinlich davon ab, dass man bei electrischer Reizung die Wirkung sehr schwer auf einen einzelnen Muskel beschränken kann, und dass der Effect selbst nicht nur von der Contraction eines oder zweier Muskeln, sondern von der Contraction verschiedener um die Sinnesorgane gelagerter Muskeln abhängt. Zudem erklärt Duchenne den Zusammenhang zwischen der Muskelcontraction und dem erhaltenen Ausdruck gar nicht. 1) Mdcanisme de la Physionomie humaine. Paris. 1862, pag. 22. 2) L. c, pag. 45-47 — 288 — Gratiolet^) sucht in seinem höchst bemerkenswerten und interes- santen Werk die Bedeutung des Ausdruckes zu erklären und äussert seine Folgerung in folgenden Worten: „Aus allen von mir angeführten Facten folgt, dass weder das Gefühl, noch die Vorstellung, noch selbst der Gedanke, wie erhaben, wie abstract man ihn sich auch denkt, in Thätigkeit treten können, ohne eine correlative Empfindung hervor- zurufen, und dass sich diese Empfindung direct, sympathisch, symbolisch oder metaphorisch in allen Gegenden der äusseren Organe, welche sie alle je nach ihrer eigenen Actionsweise wiedergeben, als wenn ein jedes direct erregt worden wäre, ausdrückt^)." Gratiolet hat das Grund- princip des äusseren Ausdruckes eines Gemütszustandes genau bestimmt, nur hat er es im Speciellen nicht durchgeführt und hat den genetischen Zusammenhang zwischen der Function der um die Sinnesorgane ge- lagerten Muskeln und deren Verhältnis zum psychischen Zustand nicht auseinandergesetzt. Darwin^) meint, indem er dieses Grundprincip von Gratiolet anführt, dass letzterer die angeborenen und erworbenen Ge- wohnheiten nicht beachtet habe und dass er infolgedessen nicht immer den Gesichtsausdruck und andere äussere Erscheinungen richtig erkläre. Mit der Meinung von Darwin kann man aus dem Grunde nicht einver- standen sein, als, sobald das erwähnte Princip von Gratiolet für die einzelnen Actionen richtig ist, es zweifellos auch bei der Wiederholung, sei es, dass es ein Resultat der Nachahmung, oder der selbständigen Thätigkeit ist, anwendbar ist. Die falschen Erklärungen aber hingen bei ihm eher von der ungenauen speciellen Analyse der einzelnen Muskelfunctionen oder von der unrichtigen Auseinanderlegung der Cor- relation zwischen dem empfangenen directen Eindruck und dem ihm entsprechendem Gefühl, einfach infolge der zu ungenauen Anwendung des im Grunde ganz richtigen Princips ab. Überhaupt hat Gratiolet sein Princip nur in allgemeinen Zügen bewiesen und es nicht ganz im Speciellen durchgeführt. Darwin meint, indem er die allgemeinen Grundlagen des Gesichts- ausdrucks durchnimmt, dass man sie auf Grund folgender drei von ihm festgestellten Grundsätze erklären kann, und zwar: 1) des Princips der zweckmässig associierten Gewohnheiten; 2) des Princips des Gegen- satzes, und 3) des Princips des unmittelbaren Ei^iflusses des Nerven- 1) De la Physionomie et des mouvements d'expression. Paris. 1865, pag. 65. 2) II resulte de tous les faits que j'ai rappelös, que le sens, l'imagination et la pensee elle-meme, si ölevee, si abstraite qu'on la suppose, ne peuve s'exercer sans eveiller un sentiment correlatif et que ce sentiment se traduit directement, sympathique- ment, symboliquement ou metaphoriquemeat dans toutes les spheres des organes ex- terieurs, qui le racontent tous, suivant leur mode d'action propre, comme si chacun d'eux avait etö directement aifectö. 3) The Expressions of the emotions in Man and animals. London. 1872, pag. 6. — 289 — Systems unabhängig von dem Willen und teilweise sogar von der Ge- v^ohnheit. Der erste dieser Grundsätze ist in dem Gesetz von Gratiolet enthalten, und Darwin selbst findet, dass man die symbolischen Be- wegungen von Gratiolet durch gewohnte Handlungen erklären könne; die letzteren aber kann man genetisch auf die unmittelbar wirkenden Ursachen zurückführen. Um sein zweites Princip zu beweisen, führt Darwin folgendes Beispiel an: wenn ein Hund sich in wilder oder feindseliger Stimmung einem fremden Hunde oder Menschen nähert, wobei er das durch entsprechende äussere Kundgebungen ausdrückt, und wenn er plötzlich die Entdeckung macht, dass dieser Mensch nicht ein fremder, sondern sein Herr ist, so wandelt sich seine Haltung augenblicklich und vollständig um, und in allen Bewegungen äussert sich gerade Entgegengesetztes, d. h. Ausdruck von Freude und Zu- neigung. Alle Äusserungen des Anstandes und der gemachten Höflich- keit erklärt er auf Grund dieses Princips. nur sind diese falschen Aus- drücke bewusste Handlungen, während die beim Hunde beobachteten Erscheinungen in jedem Moment seinen Empfindungen entsprechen und nur rasche Übergänge von einer Äusserung zur anderen bilden. Alle diese Ausdrücke sind entweder reflectorisch-erfahrungsmässige, oder be- wusste, unmittelbar auf die Muskelcontractionen wirkende und bestimmte, erwünschte Ausdrücke hervorrufende Handlungen. Augenscheinlich können alle Grundsätze von Darwin durch den erwähnten Grundsatz von Gratiolet erklärt werden, man muss sich nur genauer an die ana- tomischen Grundlagen halten und die Bedeutung derjenigen psychischen Zustände, deren Ausdruck man beobachtet, sorgfältig analysieren. Bei der Behandlung der speciellen Erscheinungen verlässt Darwin oft seine Grundsätze und giebt ganz willkürliche Erklärungen; das Hervorbrechen von Thränen bei starkem Schreien erklärt er z. B. durch den mechanischen Druck der umgebenden Teile auf die Thränendrüse u. dergl. m. Alles von den Grundsätzen Darwins Gesagte muss man auch über die von Wundt^) festgestellten Principien wiederholen; derselbe sagt, dass man alle von Aifecten oder Trieben abhängenden Bewegungen durch: 1) das Princip der directen Innervationsveränderung, 2) die Association ana- loger Empfindungen und 3) die Beziehung der Bewegungen zu den Sinnesvorstellungen erklären könne. Wir können hier auch deshalb uns nicht mit dieser Erklärung aufhalten, weil Wundt nicht auf die specielle Analyse der einzelnen Ausdrücke eingeht. Alle Gesichtsmuskeln kann man in die höheren Sinnesorgane um- gebende Gruppen teilen; eigentliche mimische Muskeln sind hier nicht vorhanden. Man kann also am Gesicht unterscheiden: 1) die das Ge- sichtsorgan umgebenden Muskeln ; 2) die das Geruchsorgan umgebenden 1) Grundzüge der physiologischen Psychologie. Leipzig. 1874, pag. 840. 19 — 290 — Muskeln; 3) die Muskeln, welche die zum Geschmacks organ führende Öffnung umgeben und 4) die das Gehörorgan umgebenden Muskeln. Die letzteren Muskeln sind beim Menschen gewöhnlich verhältnismässig schwach entwickelt, und haben deshalb sehr wenig Beziehung zum Gesichtsausdruck. Die Kaumuskeln kann man ausser Acht lassen, da sie für den Gesichtsausdruck nur unwesentliche Bedeutung haben. Wenn man die Muskelgruppen so einteilt, so kann man sich über- zeugen, dass einerseits jede derselben auf denjenigen der Sinnesorgane, in dessen Umgebung sie gelagert ist, unmittelbar Bezug hat und dass andererseits keine dieser Gruppen Muskeln enthält, welche in diesem Falle keine direkte Beziehung zum Gesichtsausdruck hätten. Der so- genannte M. risorius Santorini spannt die die Parotis bedeckende Fascie und hat zur Function dieser Drüse unmittelbare Beziehung. Wird jedoch der Stützpunct nach der Fascie verlegt, so zieht er, sich contrahierend, den Mundwinkel nach aussen und hat in diesem Falle zur Mundöffnung directe Beziehung: er ist folglich kein rein mimischer Muskel. Beim Begegnen verschiedener Menschen unterscheidet man sie ge- wöhnlich nach ihrem Aussehen und ihrer äusseren Form, im Speciellen aber nach den einzelnen Zügen des Gesichtsausdrucks. Dieses sind die individuellen Verschiedenheiten des Gesichtsausdrucks. Ausserdem be- merkt man noch einen typischen Ausdruck, welcher bei der Mehrzahl von Menschen, welche eine gleiche physische oder geistige Beschäftigung haben, bei Leuten, welche unter gleichen Bedingungen leben, eine Sprache sprechen, gleiche Nahrung zu sich nehmen oder sich durch gemeinsame Sitten und Gebräuche auszeichnen, zu beobachten ist. Unter diesen Bedingungen kann man dem Gesichtsausdruck und dem Aussehen nach nationale Typen und Typen der verschiedenen Zweige der socialen Thätigkeit unterscheiden. Wovon hängt der Ausdruck dieser Typen ab? Wie kann man sich die Entwickelung eines so characteristischen oder typischen Ausdrucks erklären? Trifft man auf solche, zuweilen sehr markierte Erscheinungen, wie nationale Gesichtstypen, so könnte man voraussetzen, dass entsprechende Verschiedenheiten auch im Knochensystem bestehen. Soweit bekannt, ist es mit den bis jetzt angewandten Methoden nicht gelungen, am Schädel irgend welche nationale Verschiedenheiten zu finden. Obgleich reichhaltige craniologische Untersuchungen an Schädeln verschiedener Nationen vorgenommen wurden, so gelang es bei aller Mühe nicht, irgend ein Merkmal zu finden, nach welchem man die Nationalität be- stimmen könnte. Aus den oben erwähnten Untersuchungen von Duchenne aber ist bekannt, dass der zu beobachtende Gesichtsausdruck von den Gesichtsmuskeln abhängt; fügt man dem Ausdruck noch die Farbe und das Aussehen der Haut, der Haare u. s. w. hinzu, so wird dadurch der — 291 — Eindruck nationaler Verschiedenheit noch verstärkt. Die Hauptbedeutung wird natürlich den Muskeln beizumessen sein; auf Grund des bekannten Verhältnisses der Muskeln zu ihrer Stütze, d. h. zu dem Knochen, aber muss man principiell zugeben, dass hier in den dazu gehörigen Knochen auch entsprechende Verschiedenheiten bestehen müssen, nur kann man durch die Anwendung der vorhandenen Methoden der craniologischen Untersuchungen diese Verschiedenheiten noch nicht erfassen und be- stimmen. Die Verschiedenheit der Sprache und ihrer Bestandteile, welche durch Imitation erlernt werden, der Einfluss der umgebenden Mitte (z. B. der Gegend: Berge und Steppen wirken verschieden auf die Accomodation des Gesichtsorgans), der Nahrung und der nationalen Gebräuche — alles das wirkt auf die einzelnen Muskeln oder Muskel- gruppen des Gesichts, und zwar sowohl die die höheren Sinnesorgane umgebenden, als auch die Kaumuskeln. Ähnliche Bedingungen be- wirken die Entwickelung gerade derjenigen Muskeln, welche hierbei am meisten geübt werden, und zugleich die Ausbildung des Ausdruckes, welcher von den mehr entwickelten Muskeln abhängt. Bei harmonischer Entwickelung aller Muskeln und Muskelgruppen müsste eigentlich ein Gesicht ohne jeglichen bestimmten Ausdruck entstehen: Abstufungen oder bestimmte Züge sind eine Folge der stärkeren Entwickelung der ent- sprechenden Muskeln, welche durch öftere Übung derselben bewirkt wird. Diese Erscheinung wiederholt sich in allen Muskelgruppen des mensch- lichen Körpers nach dem allgemeinen Gesetz der Muskelentwickelung durch Übung. Sehen wir nun zu, welcher Zusammenhang zwischen der Thätigkeit der Muskeln und der Function der höheren Sinnesorgane einerseits und dem Gefühl und Gesichtsausdruck, welcher von der Contraction der entsprechenden Muskeln bedingt wird, andererseits besteht. Um diese Fragen zu lösen, wollen wir zuerst die Entwickelung der Muskelthätig- keit verfolgen und dann betrachten, wie diese Thätigkeit der Ausdruck des psychischen Zustandes wird. Bei der Geburt kann man beim Kinde nur unzweckmässige Reflex- bewegungen beobachten, und nur bei der Wiederholung derjenigen zu- fälligen Bewegungen, welche die erregten Gefühle befriedigen, werden sie allmählig zweckmässig. Dieses wird also nur durch Erfahrung er- langt, d. h. aus der Masse chaotischer Bewegungen werden unter Teil- nahme des Bewusstseins die zweckmässigen Handlungen herausgeschieden oder differenziert. Sowie sich die Erfahrung des Kindes vergrössert, so werden seine Handlungen immer complicierter , es lernt seine Em- pfindungen und Eindrücke zu beherrschen. Die darauf folgenden Hand- lungen könnte man äussere oder physische nennen. Sie werden durch die Reizung der höheren Sinnesorgane erzielt und werden unter Teil- nahme bestimmter Muskeln und Muskelgruppen ausgeführt. Hierauf 19* — 292 — erwachen die inneren (psychischen) Gefühle als Äusserungen des be- wussten psychischen Actes, welche ihrem Character (oder Ton) nach den äusseren Erscheinungen analog sein können; im letzteren Falle treten sie durch die Contraction der entsprechenden Muskeln oder Muskelgruppen in die Erscheinung. Eine derartige allmählige Com- plication der Function lässt sich auch hei anderen Organen beobachten. Die directe und unmittelbare Bedeutung der Function aller Körper- organe deutet auf jenes Grundgesetz ihres Aufbaues, dass „alle Organe des menschlichen Körpers so construiert sind, dass sie imstande sind, bei minimaler Compliciertheit ihrer Construction und bei minimalem Gewicht und Volumen die mannigfaltigsten und zusammengesetztesten Thätigkeiten auszuführen, welche um so mannigfaltiger und complicierter sind, mit je mehr Gradation und Consequenz sie sich entwickelten." Beim Studium der Anatomie muss man nach Möglichkeit die Bestätigung dieses Grundsatzes in den feinsten Details des Baues zu verfolgen und sich von seiner Richtigkeit zu überzeugen suchen. Es fällt nicht schwer, sich zu überzeugen, dass beim Neugeborenen keine instinctiven Actionen existieren. Betrachten wir z. B. den Saug- act. Wenn man das neugeborene Kind vor seiner ersten Fütterung mit dem Gesicht nach oben der Mutter auf die Arme legt, so setzt es sein Geschrei und seine Bewegungen fort, indem es sich bald nach der einen, bald nach der anderen Seite dreht, ohne dabei die entblösste Brust zu erfassen. Wenn es sich mehr zur Mutter hin wendet, so ist das begreiflich, da es von dieser Seite durch die vom Körper ausgeströmte Wärme stärker gereizt wird. Folgender Versuch beweist das deutlich: wenn man blinde junge Hunde in eine Ecke, — die Hündin aber in die andere Ecke eines grossen Kastens setzt, so wälzen sich die Jungen nach einiger Zeit zur Hündin hin. Setzt man die Hündin aus einer Ecke in die andere, so kann man beobachten, dass nach einiger Zeit die Jungen sich stets zu ihr bewegen. Wenn man den Versuch so modificiert, dass man anstatt der Hündin einen Krug mit warmem Wasser, den man mit Ausnahme des Griffes und des Halses mit einem Tuch umwickelt, in die Ecke setzt, so findet man nach einiger Zeit, ganz wie im ersten Falle, die Jungen alle beim Kruge, wobei sie die entblössten Stellen desselben am meisten zu berühren trachten. Bei der Versetzung des Kruges bewegen auch die Hunde sich wieder zu ihm. Im gegebenen Falle sieht man deutlich, dass bei diesen Be- wegungen der jungen Hunde gar keine instinctiven Handlungen im Spiele sind, sondern dass der Grund derselben die im ersten Falle vom Körper der Hündin, im zweiten aber vom Krug mit warmem Wasser ausgestrahlte Wärme ist. Damit das Kind saugen lerne, muss man es an die Brust legen und ihm die Brustwarze in den Mund stecken. Und selbst dann erweist sich, dass es nicht zu saugen versteht; die — 293 — Mutter muss ihrer Brust einige Tropfen Milch dem Kinde in den Mund entpressen. Diese Tropfen rufen, da sie die Wandungen der Mundhöhle reizen, Contractionen sowohl in diesen Wandungen, als auch in den die Brustwarze berührenden Lippen des Kindes hervor. Unter diesen Reiflex- bewegungen finden sich auch solche, welche die Milch nach dem Schlünde und dem Oesophagus weiter befördern; die Lippen und die Maxillar- ränder umfassen den zwischen ihnen befindlichen Körper fester, während in der Mundhöhle durch die Contraction und Erschlaffung ihrer Wan- dungen die Luft verdünnt wird; zusammen mit der ausgeatmeten Luft entweicht sie durch die Nasenhöhle. Von allen vorgekommenen Con- tractionen werden allmählig nur diejenigen Bewegungen, welche das Aussaugen und Fortbewegen der Milch am meisten befördern und da- durch das zum erstenmal erwachte Gefühl befriedigen, wiederholt. Die Befriedigung dieses Gefühls wird dem Kinde bald angenehm, die Nicht- befriedigung aber — unangenehm. Der erste Ausdruck der Zufrieden- heit, welcher beim Kinde auftritt, ist ein Lächeln, welches sich durch Öffnen des Mundes und darauffolgendes Ansaugen an verschiedene Teile des Gesichts oder des Körpers der Mutter ausdrückt. Ebenso besteht die erste gegen das Kind gewandte Liebkosung, deren es sich bewusst wird, im Spitzen der Lippen, wie beim Saugen, womit sich die Mutter an dasselbe wendet, um ihm das erste Lachen zu entlocken. Diese Liebkosungen bleiben auch in der Zukunft bestehen, indem sie sich als Kuss wiederholen. Weiter bemerken wir, dass das Kind, nachdem es saugen gelernt hat, ebenso lernt verschiedene Gegenstände zu erfassen. Anfangs führt es auch hier ganz zwecklose und unordentliche Bewegungen aus, wobei es zuweilen auch die es umgebenden Körper und Gegenstände berührt; diese zufälligen Bewegungen wiederholt es später willkürlich und lernt auf diese Weise die Gegenstände erfassen. Alle willkürlichen Bewegungen hängen von der Muskelcontraction, welche stets von einer bestimmten Empfindung oder dem sogenannten Muskelgefühl begleitet wird, ab. Je stärker die Contraction ist, desto schärfer wird natürlich das dieselbe begleitende Gefühl empfunden. Auf diese AVeise lernt das Kind die Entfernung und das Gewicht der Gegen- stände bestimmen, wobei es sich durch das Muskelgefühl leiten lässt und seine Empfindungen mit dem Gesicht- und dem Tastsinn prüft. In der Folge passt das Kind sein Gesichtsorgan dem Betrachten entfernter Gegenstände an und contrahiert dem entsprechend die sein Gesichts- organ umgebenden Muskeln, wodurch es lernt, nach dem Grade der Contraction die Entfernung, in der sich der Gegenstand befindet, zu bestimmen. Dieses lernt es auch durch Erfahrung, indem es sich un- mittelbar von der Grösse dieser Entfernung überzeugt. Nachdem sich der Mensch auf diese Weise mit der unmittelbaren — 294 — Einwirkung der Gegenstände auf die Sinnesorgane und mit den ent- sprechenden Muskelcontractionen vertraut gemacht hat, führt er später ebensolche Contractionen unter dem Einfluss von den unmittelbaren Eindrücken entsprechender Gefühle aus. So erhält man z. B. den Ausdruck des Hochmuts auf dem Gesicht, wenn die Augenlidmuskeln contrahiert werden, wobei das Auge wie zum Betrachten eines entfernten Gegenstandes gerichtet wird. Hierbei sieht man auf den vor uns stehenden Menschen, contrahiert aber unterdessen die das Gesichtsorgan umgebenden Muskeln, als ob man es der Betrachtung eines sehr weit stehenden Gegenstandes anpasst, und deutet durch den Grad der Con- traction die Entfernung an, die sich gleichsam zwischen dem Stand- punct der gegebenen Person und des von ihr betrachteten Menschen befindet. Wenn man die Stärke der Muskelcontraction bei bestimmter Entfernung durch Zahlen bestimmen könnte, so könnte man zugleich auch den Grad des Hochmuts in Zahlen ausdrücken. Dieser Ausdruck verstärkt sich noch, wenn man dabei alle Muskelcontractionen, an die man auf Grund seiner Erfahrung beim Betrachten weit stehender Gegen- stände gewöhnt ist, ausführt. Die Mm. recti oculi sind schon seit langer Zeit nach dem Ausdruck, der bei ihrer Contraction erscheint, bezeichnet worden. So wird der M. rectus oculi superior auch M. sublimis et superbus genannt, weil man bei seiner Contraction im Gesicht den Ausdruck des Hoch- muts, des Stolzes, der Verwunderung, Frömmigkeit, religiöser Extase fand. Den M. rectus inferior nennt man M. humilis, deprimens, indem man seiner Contraction den Ausdruck der Trauer, der deprimierten Stimmung, der Scham zuschreibt. Den M. rectus lateralis bezeichnet man als M. indignatorius, indignabundus, weil man bei seiner Con- traction den Ausdruck der Verachtung auf dem Gesicht findet, den M. rectus medialis nannte man, dem Ausdruck entsprechend, M. ama- torius, bibitorius, d. h. den tierische Sinnlichkeit ausdrückenden Muskel. Jetzt ist bekannt, dass die Bewegung des Augapfels nach einer dieser Seiten nicht nur von der Contraction eines dieser Muskeln abhängt, sondern eine viel compliciertere Erscheinung vorstellt, deshalb könnte man diese Namen den eine bestimmte Bewegung ausführenden Muskel- gruppen, nicht aber den einzelnen Muskeln geben. Aber selbst in diesem Falle sind diese Namen nicht ganz genau. So kann man z. B. leicht beobachten, dass beim Ausdruck des Stolzes das Auge nicht nach oben, sondern gerade nach vorn gerichtet wird, als wenn der Betreffende bereit sei, unmittelbare Eindrücke zu empfangen und auf seine Kräfte zur Bewahrung seiner persönlichen Unantastbarkeit und zum, dem Be- wusstsein seiner Persönlichkeit entsprechenden, Handeln vertraut. Wird das Auge nach oben gerichtet, so erhält man stets den Ausdruck der Abstraction : das Gesichtsorgan wendet sich von allem Irdischen ab und — 295 — richtet sich ins Unendliche, wo der Mensch gleichsam das sieht, was er sich in Gedanken vorstellt. Sind hierbei die Augen nach oben und innen gerichtet, so ergiebt sich der Ausdruck der Frömmigkeit, sind sie aber nach aussen und oben gewendet, so zeigt das Gesicht den Ausdruck des abstracten Denkens oder der poetischen Extase: im ersten Falle sind die Augen concentriert und gleichsam auf ein ab- stractes Wesen gerichtet, im zweiten aber richten sie sich in den un- endlichen Eaum, wo man gleichsam seine phantastische Idee oder Vor- stellung aufsucht. Der Ausdruck der Frömmigkeit verstärkt sich, wenn der Mund geöffnet wird, das Gesicht sich nach oben wendet, die Hände gefaltet werden, — alles das, um gleichsam das göttliche Wesen, zu dem man sich wendet und von dem man Errettung hofft, zu sehen, mit den Lippen und Händen zu ergreifen. Wenn Dichter abgebildet werden, so sieht man stets, dass die Augen nach oben und aussen ge- richtet sind, denn sonst würde der Ausdruck derlAbstraction, der Ex- tase und der Phantasie ausbleiben. Bei allen deprimierenden Seelenzuständen, bei der Trauer, der Schwermut, der Scham werden die Augen gesenkt und von den Augen- lidern bedeckt, man strebt gleichsam sich über der Ursache, welche derartige Gefühle hervorgerufen hat, zu concentrieren oder ihre Ein- wirkung auf das Auge zu beseitigen. Wenn die psychische Affection in der That stark ist, so werden die höheren Sinnesorgane von allen äusseren Einwirkungen abgeschlossen, sogar das Gesicht bedeckt, und endlich entfernt man sich ganz und gar und sucht die Einsamkeit auf, um über die Ursache und Folge seiner Trauer nachzudenken. Sobald die deprimierende Ursache keine geistige Thätigkeit, keine Analyse, kein Nachdenken hervorruft, so drückt sie sich in Reflexmuskel- bewegungen, welche um so stärker sind, je empfänglicher der" betreffende Mensch ist und je stärker diese Ursache auf ihn gewirkt hat, aus. Beim Ausdruck des Sinnens oder Nachdenkens richten sich die Augen nach unten und ein wenig nach aussen, die Augenbrauen werden über den Augen zusammengezogen, das Gesichtsorgan wird gleichsam auf einen bestimmten Punct gerichtet und der Analyse des betrachteten Gegenstandes angepasst; hierbei bemerkt man gewöhnlich, dass beim Nachdenken über reale Erscheinungen die Augen sich nach unten und aussen wenden, beim Nachdenken über eine abstracte Idee aber ge- wöhnlich nach oben — ins Unendliche und nicht nach unten — zum Irdischen. Wenn sich die Augen nach aussen wenden, so drückt sich im Ge- sicht Verachtung aus, wobei man ausserdem das Gesicht abwendet, den Nasenflügel erhebt, den Mundwinkel herabzieht und sich schliesslich mit dem ganzen Körper fortwendet. Alle diese Erscheinungen sind voll- kommen verständlich: man blickt seitwärts, um den Gegenstand oder — 296 — die Person aus seinem Gesichtsfelde zu entfernen; indem man den Nasenflügel erhebt, schliesst man den Eingang zum Geruchsteil der Nasenhöhle, da bei dem Heben des unteren Randes des dem Nasen- flügel zu Grunde liegenden Knorpels sich der obere Rand desselben nach innen und unten wendet und dadurch den Eingang zum Geruchs- organ vollkommen schliesst. Hierdurch wird gleichsam die Einwirkung eines üblen Geruchs auf das Geruchsorgan beseitigt. Man zieht den Mundwinkel herab, als wenn man den auf den Geschmack unangenehm wirkenden Inhalt der Mundhöhle entfernen wollte. Nachdem man die Einwirkung des verachteten Wesens auf das Gesichts-, Geruchs- und Geschmacksorgan beseitigt hat, wendet man sich schliesslich, bei ver- stärktem Gefühl, ganz von ihm ab, so dass durch den Grad der Con- traction aller Muskeln, welche diese Bewegungen ausführen, der Grad der Verachtung der gegebenen Person ausgedrückt wird; hierbei wird das Gesichtsorgan nur abgewendet, während man durch sein Geruchs- und Geschmacksorgan die Qualität der Beziehung zum Menschen bestimmt. Die stärksten Ausdrücke findet man beim Menschen an den das Gesichts- und Geschmacksorgan umgebenden Muskeln und Muskelgruppen. Dieses hängt davon ab, dass beim Menschen diese Organe früher und unmittelbarer am Empfangen äusserer realer Eindrücke teilnehmen, und deshalb gewöhnt er sich, mit den sie umgebenden Muskeln seine Gefühle schärfer auszudrücken. Was das Geschmacksorgan anbetrifft, so contrahiert man, wenn man irgend etwas in die Mundhöhle auf- nehmen will, hauptsächlich die über der Mundöffnung gelagerten Muskeln, nämlich die die Oberlippe und den Mundwinkel nach oben ziehenden, während die in der Unterlippe befindlichen Muskeln sie, ohne sie herab- zuziehen, in ihrer Lage aufhalten, so dass dieselbe gleichsam wie eine Schale, die durch die Bewegung der Oberlippe eingeführte Nahrung stützt, wirkt. Die Empfindung der Süssigkeit findet hauptsächlich an der Zungenspitze, die der Bitterkeit aber an der Zungenwurzel statt. Wenn man etwas aus der Mundhöhle entfernen will und seine Einwirkung auf das Geschmacksorgan beseitigen möchte, so zieht man mit Hülfe des M. depressor anguli oris den Mundwinkel nach unten und bildet dadurch eine Rinne oder sogar, durch Contraction beider Muskeln, eine geneigte Ebene an der oberen Fläche der Unterlippe. Von den oberen Mundmuskeln heisst der M. zygomaticus minor ^) auch Muskel des Neides; bei seiner Contraction wird der äussere Teil der Oberlippen- basis und teilweise auch die Wange vom Kiefer abgehoben, dadurch entsteht zwischen diesen Teilen und den Kiefern ein ziemlich grosser Zwischenraum. Der Neid lässt den Menschen dasjenige, was er bei 1) Samuel Thomas von Sömrfiering. Lehre von den Muskeln und Gefässen des menschlichen Körpers, von Fr. W. Theile umgearbeitet. Leipzig, 1841, pag. 55 — 56. — 297 -^ anderen sieht, wünschen, er führt daher die entsprechenden Contractionen aus, indem er damit gleichsam ein Behälter für das Erwünschte bildet. Der M. zygomaticus major heisst Muskel der Ironie: ei- zieht den Mund- winkel stark nach oben und aussen, indem er dadurch den Zugang zur Zungenwurzel,, d. h. zu dem Teile des Geschmacksorganes, wo die Bitter- keit am stärksten empfunden wird, eröffnet. Der M. levator labii su- perioris heisst Muskel des Geizes: durch seine Contraction wird die Lippenbasis ein wenig vom Kiefer abgehoben, hier werden anfangs kleine Speiseteilchen aufgehalten, später aber hebt man beim Gefühl des Geizes durch Contraction desselben Muskels die Lippenbasis ab, indem man dadurch gleichsam den im Munde befindlichen Gegenstand aufzubewahren sucht. Der M. depressor anguli oris drückt, indem er sich contrahiert, im Gesicht Abscheu aus ; dieses folgt daraus, dass man sich durch Contraction dieses Muskels anfangs gewöhnt, alles dasjenige aus der Mundhöhle zu entfernen, was auf den Geschmack unangenehm wirkt, und darauf die Contraction dieses Muskels beim Ausdruck der Unzufriedenheit und sogar des Absehens wiederholt. An allen erwähnten Ausdrücken nimmt natürlich nicht nur der ge- nannte Muskel allein, sondern eine ganze Muskelgruppe teil, nur giebt er durch seine starke Contraction für den Ausdruck den Ausschlag. Für die Erklärung dieser Erscheinungen ist das zweite Princip von Wundt, das der „analogen Empfindungen", wonach bei dem Auftauchen von Gefühlen oder Emotionen, welche den mit Geschmacks- und Ge- ruchsreizen verbundenen Empfindungen analog sind, von den Muskeln Bewegungen, die den bei diesen Empfindungen ausgeführten Bewegungen ähnlich sind, ausgeführt werden, vollkommen anwendbar. Hier sind nur die allgemeinen Grundlagen für die Erklärung des Gesichtsausdruckes behandelt worden, und deshalb kann man sich auf diese Beispiele beschränken, denn sonst müsste man alle um die höheren Sinnesorgane gelegenen Muskeln speciell analysieren und darauf erst zur Analyse der Beziehung ihrer Contraction zum Gesichtsausdruck übergehen. Aus allem Gesagten kann man augenscheinlich schliessen, dass, „indem man lernt, die Contractionen der die höheren Sinnes- organe umgebenden Muskeln mit den Empfindungen oder er- haltenen Eindrücken in Beziehung zu bringen, man dieselben Contractionen unter dem Einfluss von diesen Empfindungen entsprechenden Gefühlen ausführt, wobei die Anzahl der teil- nehmenden Muskelgruppen und der Grad der Contraction der Kraft des Eindruckes direct proportional ist." Die Grundidee dieses Princips ist, wie gesagt, schon von Gratiolet ausgesprochen worden, nur hat er es nicht analysiert und nicht im Einzelnen durch- geführt. Bei der Mimik des Gesichts kann man folglich den oben an- — 298 — geführten allgemeinen Grundsatz, welcher dem Aufbau des menschlichen Körpers zu Grunde liegt, anwenden. Mit einem scheinbar ganz ein- fachen Apparat ist der Mensch imstande, sehr complicierte Bewegungen auszuführen und kann sich seiner sowohl unmittelbar, als auch mittelbar, wie Gratiolet sagt, sympathisch, symbolisch oder metaphorisch bedienen. Auf Grund dieses Satzes, indem man ilm nur im weiten Sinne an- wendet, kann man sich nicht nur die Erscheinungen des Gesichtsaus- druckes, sondern augenscheinlich auch den Ausdruck der übrigen psy- chischen Functionen des Menschen erklären. Wenn mau die Bedingungen der Entwickelung des Gesichtsausdruckes studiert, so kann man sich überzeugen, dass das Kind anfangs lernt unmittelbare reale Actionen auszuführen und sie dann später bei entsprechenden Gefühlen wieder- holt, so dass die Form aller im menschlichen Organismus vorhandenen Organe sowohl mit allen ihren physiologischen Functionen, als auch mit den psychischen Functionen des Menschen in Correlation ist. Sowohl nationale, als auch sociale Typen entwickeln sich durch verhältnismässig ofte und beständige Wiederholung desselben Aus- druckes, wobei sich durch Übung der entsprechenden Muskelgruppen die einen Muskeln mehr entwickeln als die anderen und auf dem Gesicht ihren Eindruck zurücklassen. Man muss nur bemerken, dass solche Ausdrücke nur dann unwillkürlich hervorgerufen werden, wenn die ihnen entsprechenden Gefühle vorhanden sind, und je stärker die Emotion ist, desto stärker ist der Ausdruck und desto schärfer sind die Spuren, welche auf dem Gesicht zurückbleiben. Man kann nur vollständig be- wusst die Muskelcontraction regieren, wo bei äusserem Ausdruck der Indifferenz und Euhe alle empfangenen Eindrücke, alle Seelenregungen geistige Arbeit hervorrufen. Die Entwickelung des Muskelsystems. Das Muskelsystem entwickelt sich aus den sogenannten Muskelplatten (Remak), welche dem äusseren Teil der Ursegmentplatten angehören. Ob sich aus diesen Platten das ganze Muskelsystem (Kleinenberg, Balfour^), oder ob sich aus ihnen nur die Eumpfrauskeln entwickeln, während die Extremitäten- muskeln an ihren Lagerungsorten durch Differenzierung der hier be- findlichen Elemente entstehen (Kölliker '^), ist bis jetzt noch nicht ent- schieden. Kölliker schlägt folgende Einteilung der Muskeln vom Stand- punct ihrer Entwickelung vor und meint, — dass sie naturgemässer sei. I. Stammmuskeln oder Muskeln, die aus den Ur wirbeln oder, wie am Kopfe, aus den Ursegmentplatten, und zwar aus den Muskelplatten, hervorgehen. Sie werden eingeteilt in: 1) Dorsale Stammmuskeln: a) des Rumpfes (dorsale vertebrale Muskeln), Levatores costarum (?); b) des Kopfes. 1) Journ. f. Anat. Vol. XL 1877, pag. 415. 2) Eutwickelungsgeschichte. 1879, pag. 805. — 299 — 2) Ventrale Stammmuskeln : a) des Rumpfes (oberflächliche Hals- muskeln, viscerale Thoraxrauskeln, Bauchmuskeln, Diaphragma, ventrale Schwanzmuskeln); b) des Kopfes (Kaumuskeln, innere Ohrmuskeln, Zungenmuskeln, Zungenbeinmuskeln z. Th.) Die Muskeln an der Vorderfläche der Wii'belsäule gehören augen- scheinlich auch zu dieser Gruppe, widrigenfalls schlägt Kölliker vor, aus ihnen eine besondere Abteilung zu bilden. II. Parietalmuskeln, welche aus der Parietalzone der Embryonal- anlage sich bilden. Sie werden eingeteilt in: A) Muskeln, welche aus der Hautplatte (oder obere Muskelplatte nach His) entstehen, dieses sind: 1) die Extremitätengürtel- und Extremitätenmuskeln; 2) die Hautmuskeln (platisma myoides, Gesichtsmuskeln, M. epi- cranius, äussere Ohrmuskeln, Augenmuskeln) (?); 3) die Muskeln am Beckenausgang (m. ischio- cavernosus, transversi perinei, levator ani). B) Muskeln, welche sich aus der Darmfaserplatte (untere Muskel- platte nach His) entwickeln. Hierher gehören alle Muskeln der Ein- geweide und des Gefässsystems. 0. Hertwig ^) kommt in betreff der Entwickelung des Muskelsystems zu folgenden Schlüssen: 1) Die Rumpfmuskeln entwickeln sich nur aus den Ursegmenten (Teile der Ursegmentplatten) und zwar aus der Zellenschicht, welche an die Chorda und das Medullarrohr grenzt; von dieser Schicht lösen sich Muskelflbrillen, welche sich zu Muskelplatten umgestalten, los. 2) Die Muske] platten vergrössern sich dorsal und ventral; hier gehen sie in die äussere (laterale) Epithelschicht der Ursegmente über, wobei sie sich nach oben über das Medullarrohr, nach unten aber in die Bauchwandungen fortsetzen. 3) Die ursprüngliche Muskulatur besteht aus Segmenten von Längs- fasern (Myomeren), welche durch bindegewebige Scheidewände (Lig. in- termuscularia) von einander abgeteilt sind. 4) Die Muskulatur bewirkt die Gliederung des Körpers der Wirbel- tiere in gleichartige Folgestücke oder Metameren. 5) Von Seiten der Muskelplatten wachsen Zellenknospen in die An- lagen der Extremitäten, wo sie die Grundlage der ganzen Extremitäten- muskulatur bilden. 6) Am Kopfabschnitt der Wirbeltiere entwickelt sich die Muskulatur nicht nur aus den Ursegmenten, sondern auch aus dem Teil des mittleren Keimblattes, welcher den Seitenplatten des Rumpfes entspricht und 1) Lehrbuch der Entwickelungsgeschichte. 2. Abt. Jena. 1888, pag. 303. — 300 — welcher durcli die Entstehung der Schlundspalten in einzelne Schlund- bogenstränge zerfällt. 7) Aus den Ursegmenten des Kopfes entstehen die Augenmuskeln, aus den Schlundbogensträngen aber — die' Kaumuskeln, die Muskeln des Zungenbeinbogens und die Gehörknöchelchen (?). Aus dem Gesagten ersieht man, dass die Entwickelung des Muskel- systems noch so wenig ausgearbeitet ist, dass man sich gegenwärtig auf die augeführten Facta beschränken muss. Von der speciellen Ent- wickelungsgeschichte kann fürs erste gar nicht die Rede sein ; in dieser Beziehung kann man nur auf die Untersuchungen über die Entwicke- lung des Zwerchfells (Cadiat '), His -), N. Uskow =^), der Mm. interossei dorsi (Rüge *), über das Hineinwachsen der Sehne des M. biceps brachii in das Schultergelenk (Welcker-^) u. s. w. hinweisen. Sogar die sehr wichtige und wesentliche Frage von der Beziehung der Muskeln zur Entwickelung der Gelenke, und zwar von dem Zusammenhang zwischen der Entwickelung der Muskeln und der Entstehung der geometrischen Form der Gelenkfläche ist bis jetzt nicht berührt worden. Zweifellos üben die Muskeln einen unmittelbaren Einfluss auf die Form der Ge- lenkflächen aus, was durch das oben erwähnte Präparat, welches nach dem Versuch an einem jungen Hunde erhalten worden war, bewiesen wird: bei demselben veränderte sich nämlich infolge des Durchschneidens des N. flbularis die Stellung der ganzen Extremität in Bezug auf das Hüftgelenk und nahm zugleich der Schenkelbeinkopf eine ganz andere Form an; er wurde auf Kosten des Halses, der sich nicht entwickelt hatte, elliptisch, der grosse Rollhügel ragte 1,8 cm über den Kopf hinaus. Dieses alles war die Folge der starken Entwickelung der ab- ducierenden Muskeln auf Kosten der Beugemuskeln und hauptsächlich der Supinatoren ''). Die gleiche Bedeutung hat auch das Präparat einer oberen Extremität mit Muskelanomalie, wo nämlich der M. brachio- radialis fehlt ') ; in diesem Falle war nicht nur die rollenartige untere Gelenkfläche des Oberarmbeins, sondern auch der Kopf desselben ver- ändert. Bei der Beugung im Ellenbogengelenk konnte man den Vorder- arm mit der Volarfläche nur nach aussen, nicht aber, wie das gewöhnlich 1) Journal de l'Anatoinie et de la Physiol. par Robin. 1878, pag. 630—674 , mit 4 Taf. 2) Anatomie menschlicher Embryonen. I. Leipzig. 1880, pag. 125—134. 3) Archiv f. microscop. Anat. Bd. XX. 1883, pag. 143-219, 4 Taf. 4) Morphol. Jahrb. Bd. IV. Supplement, pag. 117. 5) Archiv f. Anat. u. Entwickel. 1878.' Bd. I, pag. 20. 6) Über die Bedeutung der mechanischen Bedingungen der Muskeln beim Studium der Functionen des Nervensystems. Prot. d. Ges. russ. Ärzte. April 1882. 7) Über die Veränderung der Gelenkflächen bei Muskelanomalien. Prot. d. Ges. russ. Ärzte. Februar 1883. — 301 — der Fall ist, nach innen wenden; infolgedessen mnsste der Betreffende, wenn er die ergriffenen Gegenstände zur Mittellinie des Körpers führen wollte, durchaus Compensationsbewegungen im Schultergelenk ausführen. Die oft wiederholten, einförmigen accessorischen Bewegungen bewirkten eine starke Entwickelung der pronierenden Muskeln, besonders des M. subscapularis minor. Zum M, biceps brachii verliefen zwei accessorische, anomale Köpfe. Diese Beispiele mögen darauf hinweisen, welche Be- deutung die Muskeln für die Gelenkflächenform haben, trotzdem be- weisen sie jedoch nicht, was sich zuerst entwickelt und primäre Be- deutung hat, die Muskeln oder die Gelenkflächenform; sie können nur zu Gunsten der erwähnten Bedeutung der Muskeln reden. Die Insertion der Muskeln kann sich bei ihrer weiteren Ent- wickelung verschieben, was man aus folgender Erscheinung beim Neu- geborenen ersehen kann. Der Ursprung des M. temporalis wird von dem Rande des Schläfenbeins begrenzt. Am hinteren Rande des Muskels verläuft ein Gefäss, die Arteria temporalis media. Beim Erwachsenen entspringt der M. temporalis mit seinen Fasern stets am Planum tem- porale sowohl des Stirn-, als auch der Scheitelbeine, das Gefäss aber liegt in der Furche an der Aussenfläche des Schläfenbeins, die Muskeln haben sich also über das Gefäss hinweg verschoben. Kölliker^) weist noch auf die Verschiebung der Insertion des M. mylo-hyoideus hin; dieser Muskel heftet sich in einer gewissen Entwickelnngsperiode an den Meckelschen Knorpel, nach dem Verschwinden desselben aber greift er an der unteren Fläche des Unterkiefers an. Bei der Behandlung der Entwickelung der Stützteile, wie auch der Gelenke, waren die hierbei beobachteten Erscheinungen auf Grund des folgenden allgemeinen Gesetzes erklärt worden ; verschiedene Ernährungs- bedingungen haben eine Verschiedenheit im Wachstum zur Folge, durch diese Verschiedenheit aber werden mechanische Bedingungen geschaffen, welche auf die Formierung der Teile unmittelbar einwirken. Dort war auch erwähnt worden, dass sich Bewegung in den Extremitäten (um den sechsten Tag des Hühnerembryo's) früher zeigt, als noch Gelenke und Gelenkflächen entwickelt sind, und dass die ersten Bewegungen, wie auch im Herzen, von der Summe der amöboiden Bewegungen der unmittelbar neben den hier befindlichen Gefässen gelagerten Elemente be- wirkt werden. Diese Bildungselemente erscheinen später als Sarcoplasten, und aus ihnen entwickeln sich die Muskelelemente und überhaupt das Muskelgewebe. So erweist sich, dass dort, wo die Gefässe den Bildungs- schichten anliegen, wie z. B. in den Anlagen der Extremitäten^ an der Innenfläche des Unterkieferfortsatzes des ersten Kiemenbogens, an dem zweiten und dritten Kiemenbogen, sich Muskelorgane entwickeln, — an 1) Entwickelungsgeschichte. 1879, pag. — 302 — den Kiemenbögen als Zungenmuskeln; an der Innenfläche des Ober- kieferfortsatzes des ersten Kiemenbogens , dem keine Gefässschleifen anliegen, entwickelt sich der Fortsatz, aus dem später der harte Gaumen wird. Augenscheinlich kann man mit der Lagenveränderung der An- lagen der Muskulatur, wie sie von den angeführten Forschern be- schrieben werden, kaum einverstanden sein. Eher kann man annehmen, dass sich das eine oder das andere Gewebe je nach den Ernährungs- bedingungen oder je nach den mechanischen Bedingungen an den ent- sprechenden Teilen entwickelt. Die auftretenden Gefässe fördern die Vermehrung der Elemente; aus denjenigen Elementen, welche den Ge- fässen am nächsten anliegen, d. h. welche sich unter dem geringsten Druck und den vorteilhaftesten Ernährungsbedingungen befinden, ent- steht bei der Entwickelung der Bewegungsorgane das Muskelgewebe. Überhaupt hängt von den Ernährungsbedingungen die Vermehrung und das Wachstum ab, durch die Verschiedenheit im Wachstum werden mechanische Bedingungen geschaffen, welche die Formierung der Teile bewirken. Beim menschlichen Embryo differenzieren sich und heben sich die Muskeln in der sechsten oder siebenten Woche deutlicher von den um- gebenden Organen ab (Kölliker). Bei einigen Säugetieren, wie z. B. bei den Kaninchenembryonen, deren Entwickelung vier Wochen dauert, differenzieren sie sich erst am neunten oder zehnten Tage (Kölliker). Die Muskelanomalien. Im Jahre 1884 erschien das Werk von S. Testut ') über die Muskelanomalien und ihre Bedeutung für die Anthropologie im Druck. In dieser bemerkenswerten Arbeit sammelt der Autor alle ihm bekannten Fälle von Muskelanomalien; er betrachtet nacheinander: 1) die Anomalien der Rumpfmuskeln, 2) die der Hals-, Kopf- und Wirbelsäulenmuskeln, 3) die der oberen Extremitätenmuskeln und 4) die der Muskeln der unteren Extremität, endlich 5) zieht er allgemeine Schlüsse, indem er die Muskelanomalien vom Standpuncte der allgemeinen Anatomie und der zoologischen Anthropologie betrachtet. Bei der Beschreibung eines jeden Muskels bringt der Autor die nor- malen Beziehungen des Muskels, die hauptsächlichsten in der Litteratur angeführten anomalen Modificationen desselben und bei jeder dieser Modificationen vergleichend -anatomische Data über das Vorhandensein einer derartigen Modiflcation bei Wirbeltieren und besonders bei Säuge- tieren als beständige Erscheinung. „Als Hauptergebnis meiner Unter- suchungen, sagt Testut, glaube ich im Princip annehmen zu können, dass alle beim Menschen beobachteten Muskelanomalien nichts weiter sind, als die Wiederholung eines in der Tierreihe normalen Typus" '^). 1) Les anomalis musculaires eher l'homme, expliquäes par l'anatomie comparäe. Paris, 1884. 2) Comme rösultat de mes recherches, je crois pouvoir admettre, en principe, qua — 303 — Alle bei Affen als cliaracteristiscli anerkannten Erscheinungen lassen sich, seiner Meinung nach, als Anomalien beim Menschen beobachten. Leider lässt Testut bei allen seinen Folgerungen das Verhältnis zwischen Form und Function, d, h. die Bedeutung, welche ein be- stimmter Bau für die Function liat, ganz ausser Acht. Man kann nicht umhin, das allgemeine Gesetz anzuerkennen, dass, wenn die gleiche Structur eines Organs vorhanden ist, auch die Function gleich sein muss; wenn folglich beim Menschen eine mit einer bestimmten Function verbundene Anomalie vorkommt, so muss bei dem Tiere, bei dem diese Anomalie eine normale Erscheinung ist, diese Function unbedingt auch vorhanden sein. Man muss im Auge behalten, dass alle Untersuchungen zum Studium des lebenden Menschen da sind, dass folglich jedes ana- tomische Factum, dessen Bedeutung für die Function nicht erklärt ist, ein totes, durch seine Bedeutung für die Function des lebenden Organis- mus nicht belebtes Factum bleibt. So führt z. B. Testut in Bezug auf die Häufigkeit der Anomalien die Meinung von Humphry an, dass Ano- malien am öftesten in den Muskeln vorkommen, ohne die man ohne grossen Schaden auskommen kann, und zwar letzteres darum, weil sie entweder leicht durch einen anderen Muskel ersetzt werden können, oder nur eine secundäre Bedeutung im Organismus haben; als Beispiel solcher Muskeln giebt Testut ^) den M. palmaris longus, den M. pyrami- dalis und den M. psoas minor an. Wenn man sich jedoch die Function dieser Muskeln vergegenwärtigt, so kann man sich leicht überzeugen, dass ihre Bedeutung nicht geringer ist, als die eines jeden anderen Muskels im Organismus; so wirkt der M. palmaris longus zusammen mit dem M. palmaris brevis, indem sie die Aponeurosis palmaris, welche an der unteren und radialen Seite der Hand befestigt ist, anspannen. Diese Muskeln greifen unter rechtem Winkel zu einander an; dadurch wird die Aponeurosis, welche in diesem Zustande den gebogenen Fingern und einem an die Volarfläche der Hand gedrückten Gegenstande Wider- stand leistet, gespannt; wenn die Aponeurosis durch die Thätigkeit der Muskeln nicht gespannt würde, so würden bei allen erwähnten Actionen die unter der Aponeurosis befindlichen Gefässe und Nerven zusammen- gedrückt werden, und dadurch würde die Ernährung und Innervation der peripherischen Teile der Hand eine Störung erleiden. Der M. pal- maris longus kann durch einen von der Sehne des M. flexor carpi ulnaris oder radialis ausgehenden Sehnenstrang ersetzt werden, die letzteren Muskeln sind jedoch in diesem Falle stärker entwickelt, was keineswegs auf geringe Bedeutung der Palmarmuskeln deutet. Dasselbe kann man über den M. pyramidalis, welcher die weisse Linie spannt les anomalies du systäme musculaire observees eher l'homme ne sont que la repro- duction d'un type qui est normal dans la Serie zoologique. L. c, pag. 4. 1) L. c, pag. 769. — 304 — und für die Thätigkeit der Bauchpresse Bedeutung hat, und den M. psoas minor, welcher die Aponeurosis iliaca, die in diesem Falle dem unter ihr befindlichen M. ilio-psoas mehr seitlichen Widerstand leisten kann, spannt, sagen; wenn diese Muskeln fehlen, so müssen im ersteren Falle Bündel der anderen Bauchmuskeln (M. rectus abdominis), im letzteren Falle aber der M. ilio-psoas mehr entwickelt sein, um die der gegebenen Function entsprechende Kraft entfalten zu können. Ein derartiges Hinzukommen der Function eines Muskels zur Function der anderen deutet wohl kaum auf die nebensächliche Bedeutung dieser Muskeln und bestätigt kaum die Annahme, dass diese Muskeln nui' Überbleibsel (Rudimente) einst vorhandener Organe seien. Diese Meinung trat nur deshalb auf, weil die Bedeutung und Function dieser Muskeln nicht genügend festgestellt worden war, und muss sich mit dem Feststellen derselben ändern. Den M. subcutaneus colli und den M. palmaris brevis (palmaire cutane der französischen Autoren) hält man gewöhnlich für Überreste gewesener Organe, während sie eine ebensolche bestimmte physiologische Bedeutung haben, wie alle übrigen Muskeln. Der erstere dient bei seiner Contraction den Hautfalten beim Beugen des Kopfes als Stütze und wirkt jedem Zusammendrücken der grossen Venenstämme am Halse entgegen, — eine Function, an der auch der M. omo-hyoideus teilnimmt. Dieser Muskel ist um so stärker entwickelt, je mehr man den Kopf nach vorn gebeugt halten muss, und umgekehrt. Dasselbe kann man auch von dem M. palmaris brevis, von dessen Thätigkeit bereits oben die Rede war, sagen. Dieses sind also Muskeln mit be- stimmter physiologischer Bedeutung, und sie entsprechen dem Grad ihrer Entwickelung nach ihrer Function. Testut führt Anomalien der Muskeln der Hand und des Fusses nicht an, während hier oft ein Muskel durch einen anderen, benachbarten, stärker entwickelten ersetzt wird; so fehlt z. B. sehr oft der M. flexor digiti quinti brevis, dessen Function dem M. abductor digiti quinti zusammen mit dem M. interos- seus internus tertius beigelegt wird. Dasselbe gilt von dem M. flexor digiti quinti pedis brevis und dem M. interosseus internus quartus, dem man noch den vierten M. lumbricalis hinzufügen kann. Dieses sind alles normale Muskeln, welche für die normale physiologische Function notwendig sind; wenn sie fehlen oder wenn ihre Function nicht den benachbarten Muskeln übertragen ist, so ist auch die mit ihnen ver- bundene Thätigkeit nicht vorhanden, die Harmonie der Functionen des Körpers ist aufgelöst, der Körper ist unnormal. Aus den allgemeinen Grundsätzen von Testut kann man noch folgende Resultate anführen. Anomalien kommen ebenso oft bei Männern, wie bei Frauen vor; sie sind gewöhnlich schon bei Neugeborenen vorhanden; sie sind zu- weilen, jedoch nicht immer, symmetrisch. Zweiseitige Anomalien können — 305 — einander gleich kommen, ähnlich sein oder verschiedene Modificationen desselben Typus vorstellen. In betreff der einseitigen Anomalien teilt Testut die Meinung Humphrys, dass sie ebenso oft rechts, wie links auftreten können ; dasselbe bezieht sich auf die entsprechenden Muskeln der oberen mid unteren Extremität und die um ein Gelenk gelagerten Antagonisten. Über den Einfluss der individuellen Entwickelung auf das Erscheinen der Anomalien entschliesst sich Testut nicht, eine be- stimmte Meinung zu äussern. Was die anatomischen Eegionen ihres Auftretens anbetrifft, so kommen sie nach Wood (in King's College) am häufigsten an den Extremitäten und namentlich an der oberen Ex- tremität vor (292 Anomalien an der oberen auf 119 an der unteren Extremität). In betreff der Vererbung entschliesst sich Testut nicht, seine Ansicht bestimmt auszusprechen, und weist nur auf die Beobachtung von Giacomini, welcher bei der Untersuchung der Leiche einer Abessinierin und ihrer Tochter mehrere ähnliche Anomalien fand, hin. Was die Häufigkeit der Anomalien bei verschiedenen Rassen anbetrifft, so kommt Testut zu folgenden Schlüssen^): 1) „Gegenwärtig sind durchaus keine anatomischen Besonderheiten, welche das Muskelsystem eines Negers hat, bekannt. 2) Bei Negern kommen Anomalien nicht öfter vor, als bei Weissen." Die Gewichtsverhältnisse der Muskeln, (myometria). Im Jahre 1884 erschien mit einer kurzen Vorrede von W. His das Werk von F. W. Theile ^) über die Gewichtsverhältnisse der Muskeln und des Skeletts beim Menschen ; die Untersuchungen wurden in den Jahren 1844 bis 1851 ausgeführt, von der Zeit an verarbeitete Theile das von ihm gesammelte Material und beendete seine Arbeit erst kurz vor seinem Tode (am 18. October 1879). Im Ganzen wurden 49 Leichen und Leichenteile zur Gewichtsbestimmung des Muskelsystems und 18 mehr oder weniger vollständige Skelette untersucht. Das Muskel- gewicht wurde an Cadavern erwachsener Männer von mittlerem Körper- bau im Alter von 24—57 Jahren (acht vollständige Untersuchungen und vier unvollständige an Leichenteilen), von erwachsenen Frauen im Alter von 22 — 44 Jahren (vier vollständig und drei unvollständig an Leichen- teilen) bestimmt, darauf am Cadaver eines siebenmonatlichen (männ- lichen) Embryo, an drei männlichen und einem weiblichen Neugeborenen, an vier Cadavern von Knaben im Alter von 3—15 und 18 Monaten und an drei Leichen von Mädchen im Alter von vier, sechs und sieben Monaten (bei allen Kinderleichen waren die Muskeln nur auf einer Seite bestimmt worden). Darauf folgen Ejnderleichen im Alter von 8—18 1) L. c, pag. 805. 2) Gewichtsbestimmungen zur Entwickelung des Muskelsystems und des Skelettes beim Menschen. Halle. 1884. Nova Acta d. Ksl. Leop. Carol. Deutschen Academie der Naturforscher. Bd. XLVI. Nr. 3. 20 — 306 — Jahren, im Ganzen fünf (drei Knaben und zwei Mädchen); eine voll- kommene Untersuchung wurde nur an einer Leiche (eines 15jährigen Knaben) vorgenommen; endlich wurde am Cadaver einer 20jährigen Frau die eine Seite untersucht. Nach allen Messungen wurden 38 Tabellen des Muskelsystemgewichtes vom siebenmonatlichen Embryo an bis zu erwachsenen Männern und Frauen zusammengestellt. Darauf folgten Gewichtsbestimmungen an Cadavern alter Leute, zweier Männer von 65 und 78 Jahren und zweier Frauen von 51 und 78 Jahren (drei Ca- daver wurden nur auf einer Seite gemessen, vom vierten aber wurden acht Muskeln der oberen und drei der unteren Extremität genommen). Endlich folgt die Bestimmung der Muskeln an zwei männlichen ab- gemagerten Cadavern (31 und 39 Jahre), wobei nur die Muskeln der oberen und unteren Extremität von einer Seite bestimmt wurden; an drei Kinderleichen (eine männliche von 26 Wochen, eine männliche von fünf Jahren und eine weibliche von S^/a Jahren) auf einer Seite; die oberen und unteren Extremitäten eines zweijährigen Knaben und der Cadaver eines 16jährigen Mädchens mit schwach entwickeltem Muskel- system (auf einer Seite). Das Gewicht wurde für die einzelnen Muskelgruppen bestimmt und zwar: die Wirbelsäulenmuskeln, die Thoraxmuskeln, die Bauchmuskeln, die Muskeln der oberen Extremität, die Muskeln der unteren Extremität, die Gesichts-, Kau- und Schluckmuskeln (Muskeln der Zunge, des weichen Gaumens und des Schlundes), die Muskeln des Zungenbeins, des Kehlkopfes, des Anus und des Perineum. Aus der Bestimmung der Muskeln von acht männlichen Cadavern erhielt man als Mittelzahl für das ganze Muskel- system = 24,442 kg. Die Cadaver waren alle von Männern von starkem Körperbau im Alter von 24—35 Jahren, nur einer war 54 Jahre alt; nimmt man im Mittel ihr Körpergewicht == 68 kg an, so erweist sich, dass das Gewicht des Muskelsystems 35,9 *'/o des ganzen Körpergewichtes ausmacht. In einem Falle war das Körpergewicht 64 kg, das Gewicht des ganzen Muskelsystems aber (der beiden Seiten) 28,9162 kg, so dass es 45,18 7o des ganzen Körpergewichtes ausmachte. (Theile lässt ausser Acht, dass das Körpergewicht des lebenden Menschen stets grösser ist als das Gewicht des Cadavers. Die Untersuchungen von J. Zuran ^) haben ergeben, dass bei einer Temperatur von 17— 18" C, bei einer Feuchtigkeit von 67— 72^0 der Cadaver eines 53jährigen Individuums im Laufe von 185 Stunden 537 gr seines Gewichtes verlor, der mittlere Verlust im Laufe eines Tages ist also = 69,6 gr oder 0,174*^/0). Nach den Gruppen verteilt sich das Muskelgewicht folgendermassen 1) Über das gegenseitige Verhältnis der Muskelaatagonisten der menschlichen Extremitäten. St. Petersburg. 1882, pag. 11 — 13 (rassisch). — 307 — (Mittelwerte aus den Gewiclitsbestimrauugen der Muskeln einer Körper- hälfte von acht männlichen Leichen): I. Muskeln der Wirbelsäule = 849,0 gr II. „ des Thorax = 334^4 ,, III. „ des Bauches = 707,2 „ IV. „ der oberen Extremität = 3467,0 ,. V. „ der unteren Extremität = 6632,5 „ VI. „ des Gesichts = 30,6 „ VII. Kaumuskeln = 94,8 „ VIII. Schlundmuskeln = 45,1 „ IX. Muskeln des Zungenbeins = 32,1 „ X. Afterdarmmuskeln = 28,3 „ im Ganzen an einer Körperhälfte = 12221,0 gr. Von allen diesen Gruppen schwankt das Gewicht der Thorax- muskeln (max. = 360,9, min. -: 319,8) am allerwenigsten; hier be- tragen die Schwankungen zwischen Maximum und Minimum ungefähr ^/g der Mittelzahl, während sie in den anderen Muskelgruppen ^/^ oder sogar Vs betragen. In einem Falle erhielt man einen sehr bedeutenden Unterschied, bei der Bestimmung der Muskeln der oberen und unteren Extremität am Cadaver eines Schuhmachers, der mehr sitzende Lebens- weise führte; auf 1000 Gewichtseinheiten des Gesamtmuskelgewichtes erhielt man bei ihm an der unteren Extremität die kleinste aller Zahlen (511,9, während die Mittelzahl = 541,6, die grösste aber = 567,0 war), an der oberen rechten Extremität aber war das Muskelgewicht das grösste aller beobachteten (303,6, Mittelwert = 283,4, Minimum = 266,0). Dieses war das Resultat seiner Lebensweise : er ging wenig, entwickelte jedoch durch seine Thätigkeit die Muskeln der oberen Extremität in hohem Grade. Für das Gewicht der Schulterblattmuskeln fand man, dass sie zuweilen bei verhältnismässig schwacher Entwickelung der Extremitätenmuskeln stark entwickelt waren, und umgekehrt. Dieses kann man augenscheinlich so erklären: wenn bei der Thätigkeit die oberen Extremitäten sich hauptsächlich auf einer äusseren Stütze (am Tisch, Knie u. s. w.), nicht aber an dem Schulterblatt und der Wirbel- säule befestigen, so können infolge der Übung der Extremitätenmuskeln dieselben relativ stärker entwickelt sein, während bei einer Arbeit, die eine Stütze am Schulterblatt und an der Wirbelsäule erfordert, die Muskeln dieser letzteren Teile stärker entwickelt sein müssen. Wesentlich ist auch eine Vergrösserung des Muskelgewichtes, welche beim Ver- gleich der Messungsresultate der einen und der anderen Seite an der rechten oberen und an der linken unteren Extremität constatiert wurde; auf 1000 Einheiten des Gesamtmuskelgewichtes bestimmte man in einem Falle für die rechte obere Extremität einen Überschuss von 84, für die 20* — 308 — linke untere Extremität einen von 13; im zweiten Falle für die rechte obere Extremität einen Überschuss von 49, für die linke untere einen von 10; im dritten Falle für die rechte obere von 26, für die linke untere von 27. Da diese Verhältnisse sich nicht in allen Fällen er- gaben, so kann das augenscheinlich wiederum von der Art der Be- schäftigung abhängen; wenn man mit der rechten oberen Extremität (mit einer Stütze an der Wirbelsäule) mehr Kraft zu entwickeln hat, so muss man, um den Schwerpunct vorteilhafter zu fixieren, den Körper hauptsächlich mit der linken unteren Extremität feststellen; bei sitzen- der Lebensweise und bei gleichmässigem Gebrauch sowohl der linken, als auch der rechten oberen Extremität kann es möglich sein, dass diese Erscheinung nicht zu beobachten ist. In der Mehrzahl der Fälle erweist sich nach hier ausgeführten Untersuchungen, dass die linke untere Extremität ein wenig stärker entwickelt ist, als die rechte, während an den oberen Extremitäten das Umgekehrte der Fall ist. Nach den Gewichtsbestimmungen der Muskeln an weiblichen Cada- vern beträgt das Gewicht des ganzen Muskelsystems 17,120 kg für beide Seiten und 8,560 kg für eine Seite. Die Cadaver waren von Individuen im Alter von 22 — 44 Jahren. Leider wurde das Gesamtkörpergewicht nicht bestimmt, deshalb kann man nur annähernd sagen, dass bei er- wachsenen Frauen das Gewicht des Muskelsystems weniger als Vs des Körpergewichtes, bei erwachsenen Männern aber mehr als Vs ^^^ Körpergewichtes beträgt. Sowohl bei Männern als auch bei Frauen bestätigt sich augenscheinlich die allgemeine Erscheinung, dass zugleich mit dem Anwachsen des Gewichtes des ganzen Muskelsystems auch das Gewicht der Extremitätenmuskeln zunimmt, so z. B. verhält sich das Gesamtmuskelgewicht zum Gewicht der Extremitätenmuskeln wie: = 9549,3 : 7690,3 = 1 : 0,8053 = 9261,6 : 7464,4 = 1 : 0,8059 = 8041,5 : 6413,8 = 1 : 0,7975 = 7388,1 : 5885,3 = 1 : 0,7965 In betreff des allmähligen Entwickelungsganges des Muskelsystems haben die Bestimmungen gezeigt, dass das Gewicht des Muskelsystems (= 379,74 gr) beim siebenmonatlichen männlichen Embryo nur um ein Geringes ^'5 des Körpergewichtes (= 1764,4 gr) übertraf. Bei Neu- geborenen betrug das ganze Muskelsystem 20 — 22^/o des Körper- gewichtes. Der Wachstumscoefficient des Muskelsystems ist, wie Theile sagt, =^ 32,8; so ist das Gewicht des Muskelsystems beim Neugeborenen = 745,22 gr, beim Erwachsenen aber =^ 24442,0 gr; der Wachstums- coefficient des ganzen Körpers, nach Quetelet aus dem Gewicht leben- der Menschen berechnet, ist = 20. Überhaupt ist beim Neugeborenen das Gewicht der Muskeln der oberen Körperhälfte grösser, als das Ge- wicht der Muskeln der unteren Körperhälfte, das Muskelgewicht des — 309 — Rumpfes aber ist bedeutend grösser, als das der Extremitäten. Das Gewicht der Rumpf- und oberen Extremitätenmuskeln ist beim Neu- geborenen und beim erwachsenen Manne verhältnismässig fast gleich; während aber das Gewicht der unteren Extremitätenmuskeln bei Er- wachsenen etwas mehr als V? des Gewichtes der ganzen Muskulatur ausmacht, beträgt es beim Neugeborenen nur um ein Geringes mehr als Vs desselben. Das Gewicht der Muskeln der rechten und der linken Seite war fast gleich, rechts betrug es 309,07 gr, links aber 308,16 gr; ein solcher Unterschied kann von der Verschiedenheit des Zeitpunctes der Untersuchung, da doch der Cadaver sich beim Liegen verändert, abhängen oder sich in den Grenzen des Fehlers befinden. Eigentlich kann man von solchen Verschiedenheiten schwerlich reden, da beide Seiten nur an einem Cadaver gewogen wurden, wobei man erhielt: das Gewicht der Muskeln der rechten oberen Extremität = 76.65 gr, der linken = 74,08 gr, der unteren rechten Extremität = 110,99 gr, das der linken = 110,28 gr; nach den Messungen an einer Leiche kann man schwer urteilen. Die Wägung der Muskeln eines 15jährigen Individuums ergab, dass zu dieser Zeit sich das Gewicht der Zungenmuskeln, der Muskeln des weichen Gaumens, des Schlundes und des Kauapparates bedeutend vergrössert, während die Muskeln des Gesichts und der oberen Extremitäten verhältnismässig schwach entwickelt sind. Im Alter nimmt das Gewicht der Muskulatur im Vergleich zum Körpergewicht ab; am Cadaver eines 78jährigen Greises war das Ge- wicht der ganzen Muskulatur beider Seiten = 9999,4 gr, das Körper- gewicht (vor dem Tode) aber ungefähr = 37 000 gr, so dass das Ge- wicht der Muskulatur 27 *'/o des Körpergewichtes ausmachte. An der Leiche einer 51jährigen Frau war die Muskulatur = 25.2 "/„ des Körper- gewichts. Die hauptsächlichsten Veränderungen ergaben sich im Ge- wicht der unteren Extremitäten, welches im ersten Falle 11^ Ig unter dem Mittelwert, w^elchen man bei erwachsenen Männern gefunden hatte, im zweiten Falle aber 18 % unter demselben Mittelwert bei Frauen betrug. Weniger deutlich waren die Veränderungen im Gewacht der Wirbelsäulen-, Gesichts-, Kehlkopfmuskeln u. s. w. Ausser dem Gewicht der Muskeln der unteren Extremitäten war das Gewicht der Muskeln der oberen Extremität, der Afterdammgegend sehr verändert. In Bezug auf die Abmagerung bei abzehrenden Krankheiten fand man, dass haupt- sächlich das Gewicht der Extremitäten- und Perinealmuskeln abnimmt; am Cadaver eines 39jährigen Lungenschwindsüchtigen (phthisis tuber- culosa) betrug das Gewicht dieser Muskeln im Vergleich zum mittleren Gewicht der entsprechenden Muskeln bei erwachsenen Männern: für die Muskeln der oberen Extremität = 421,9 : 979,1 = 1 : 2,3 für die Muskeln der unteren Extremität = 697,9:1731.8 = 1:2,4 für die Mm. bulbo- et ischio-cavernosi = 2,1 : 7,2 = 1 : 3,4 — 310 — Im Kindes- und Jünglingsalter äussert sich die Einwirkung dieser Krankheit besonders in einem starken Gewichtsverlust der Muskeln der oberen Extremitätn, sogar im Vergleich zu den unteren Extremi- täten.. Das Muskelgewicht der oberen Extremitäten hatte gegen das Ge- wicht der übrigen Muskelgruppen um ^jr,, gegen das Gewicht der Muskeln der unteren Extremität sogar um ^/^ abgenommen. Einen der- artigen Gewichtsverlust der Muskeln der oberen Extremität kann man augenscheinlich hauptsächlich durch die Veränderung der Stütze am Thorax und an der Wirbelsäule erklären. Ausser den Gewichtsbestimmungen an Muskeln bestimmte Theile auch noch das Gewicht des Skelettes im frischen Zustande mit dem Periost und den Bändern. An sieben Skeletten von Neugeborenen fand man, dass das Skelettgewicht 16^1^ des Körpergewichtes betrage. Auf 100 Teile des Skelettes betrug das Gewicht seiner einzelnen Teile oder Gruppen im Mittel: der Kopf = 34, die Wirbelsäule = 17, der Brust- kasten = 10, die oberen Extremitäten = 13, die unteren = 26 Teile. Für die beiden unpaarigen Gruppen (Kopf und Wirbelsäule) betrug das Gewicht also 51 ''/o, für die drei paarigen Gruppen aber 49 7o des ganzen Skelettgewichtes. Darauf folgen Gewichtsbestimmungen am Skelett bis zum siebenjährigen Alter; die Procentverhältnisse verändern sich hier wenig, es wächst nur verhältnismässig das Gewicht der Grund- lage der unteren Extremitäten und nimmt das Gewicht des Schädels ab. Wenn man in diesem Falle die Mittelzahlen nimmt, so kommen: auf die Schädelknochen 0,25, auf die Wirbelsäule 0,18, auf den Thorax 0,10, auf die Knochen der oberen Extremitäten 0,13 und auf die der un- teren Extremitäten 0,34. Darauf vergrössern sich die Gewichtsverhältnisse des unteren Teiles der Wirbelsäule im Vergleich zum oberen Teil derselben. Aus allem Gesagten ersieht man, welche Bedeutung derartige Unter- suchungen haben; über alle erwähnten Verhältnisse wurde viel ge- sprochen, jedoch stets ohne genügende Grundlage für derartige Schluss- folgerungen. Hier wurden unter meiner Leitung eine ganze Reihe solcher Untersuchungen von den Doctoren Zuran ^), Warawin ^), Syrski ^), Woischwillo *), Lawrentjew ^), Chomitzki^), Fomin '') vorgenommen; sie 1) Über das gegenseitige Verhältnis der Muskelantagonisten der menschlichen Extremitäten. St. Petersb. 1882 (russisch). 2) Zur Frage von der Verschiedenheit der Kraftentfaltung in den Muskeln der oberen und unteren Extremität. St. Petersb. 1882 (russisch). 3) Über den Mechanismus des Hinterhauptgelenkes und der Muskelantagonisten, welche an diesem Gelenke wirken. St. Petersb. 1883 (russisch). 4) Zur Lehre vom Verhältnis des Nervencalibers zur Haut und zu den Muskeln beim Menschen. St. Petersb. 1883 (russisch). 5) Zur Frage von der Kraft und der Wirkung der Muskeln, welche die Bauch- presse bilden. St. Petersb. 1884 (russisch). 6) Über den Bau und den Mechanismus des Ellenbogen- und Radio-ulnargelenkes. St. Petersb. 1884 (russisch). 7) Zur Frage von der Bestimmung der absoluten Muskelkraft. St. Petersb. 1885 (russ.) — 311 — bestimmten nicht nur das Gewicht der Muskeln, sondern wandten auch mehr Vorsicht und Correctionen, als Theile es that, an, bestimmten auch das Volumen der Muskeln, die Länge der Fasern, berechneten den physiologischen Querschnitt, einzelne von ihnen (Warawin, Law- rentjew, Chomitzki) sogar die Ursprungs- und Insertionsfläche der- jenigen Muskeln, welche untersucht wurden. Die Anzahl der von ihnen untersuchten Extremitäten ist grösser, als bei Theile; alle diese Unter- suchungen, besonders aber die der Muskelgruppen des Rumpfes und des Gesichts werden noch fortgesetzt, und darum muss man sich fürs erste aller Vergleiche und weiterer Folgerungen enthalten, indem man das auf die Zeit verlegt, wo mehr und mannigfaltigeres Material sich an- gesammelt haben wird. Kapitel V. Der Schwerpunct des menscliliclieii Körpers, seine Länge, sein Gewicht nnd seine Proportionalität. Der Schwerpunct des menschlichen Körpers. Die Bestimmung des Schwerpunctes oder Gleichgewichtscentriims des menschlichen Körpers wurde zuerst von dem Professor der Mathematik Alphons Borelli^) in Rom im Jahre 1680 vorgenommen. Da er sich mit der Analyse der Bewegungen des tierischen Organismus beschäftigte und die dem Gleich- gewicht desselben zu Grunde liegenden allgemeinen Grundsätze zu er- forschen suchte, so wandte er seine Aufmerksamkeit auch auf die Be- stimmung des Schwerpunctes im menschlichen Körper. Hierzu legte er einen nackten Menschen auf ein Brett, welches er zusammen mit demselben über einem prismatischen Querbalken ins Gleichgewicht brachte. Aus seinen Untersuchungen kam er zu der Überzeugung, dass der Schwerpunct des Menschen sich „inter nates et pubim" befinde. Ein schwerer und fester Körper, sagt er, befindet sich im stabilen Gleich- gewicht, wenn die von seinem Schwerpunct zur Stütze gezogene Linie zum Horizont perpendiculär ist; diese Linie nannte er Gleichgewichts- linie (linea propensionis). Wenn die Stützlinie (linea innixionis) geneigt ist, so befindet der von ihr gestützte Körper sich nur dann im Gleich- gewicht, wenn an der Seite des von Stützlinie und Boden gebildeten stumpfen Winkels ein anderer Körper so angebracht ist, dass, wenn man die die Schwerpuncte dieser beiden Körper verbindende Linie ihrem Gewicht umgekehrt proportional teilt, man von diesem Teilpuncte aus eine verticale Stützlinie ziehen kann. Dieser Satz dient, wie wir später sehen werden, als allgemeine Grundlage für das Aufsuchen des Schwer- punctes einer Figur, deren einzelne Teile als sphärische Körper dar- gestellt sind; das gegenseitige Verhältnis ihrer Gewichte entspricht 1) De motu animalium. Lugduni Batavorum. 1710. P. I, pag. 141—142. — 313 — dem Gewichtsverhältnis der Körperteile vollkommen. Diese Bestimmungs- methode des Schwerpunctes wird in der plastischen Anatomie, besonders von Künstlern angewandt. Die Bestimmungen von Borelli sind von den Brüdern Weber ^) ge- prüft worden. Sie suchten eine genauere Methode anzuwenden, indem sie anfangs nur das Brett über einem prismatischen Querbalken ins Gleichgewicht brachten und dann erst dasselbe mit dem Brett und dem Körper thaten. Bei einem Menschen, der 1669,2 mm mass, fanden sie, dass der Schwerpunct sich vom Scheitel in einer Entfernung von 721,5 mm, von der Fusssohle in einer Entfernung von 947,7 mm befand und von der die Centra der Hüftgelenke verbindenden Linie 87,7 mm abstand. Der Schwerpunct befand sich 8,7 mm über der Mitte des Promontorium. Später beschäftigte sich H. Meyer ^) mit der Bestimmung des Schwerpunctes im menschlichen Körper, er deutete darauf hin, dass die Lage eines Punctes durch drei sich durchschneidende Ebenen be- stimmt werde, er fand daher die Bestimmung der Frontalebene, welche den Schwerpunct enthalte, für notwendig. Diese Ebene bestimmte er folgendermassen : von der ursprünglichen verticalen Stellung aus wurden Bewegungen nach vorn um eine Achse, welche durch die Köpfe der ersten Phalangen der grossen Zehen beider Füsse bei vollkommen ge- streckter Haltung und Unbeweglichkeit in allen übrigen Körperteilen geht, ausgeführt; diese Bewegung wurde so lange fortgesetzt, bis sich ein Umkippen nach vorn geltend machte. Eine ebensolche Bewegung wurde auch rückwärts um eine durch die beiden Fussgelenke gehende Achse ausgeführt, bis sich ein Umkippen nach hinten bemerklich machte, wobei wiederum alle Körperteile gestreckt gehalten wurden. Auf diese Weise wurde die den Schwerpunct enthaltende Verticalebene bestimmt. Bei einem Menschen von mittlerer Grösse befand sich diese Ebene un- gefähr 3 cm vor der die beiden äusseren Knöchel verbindenden Linie und etwa 5 cm hinter der die Centra der beiden Hüftgelenke verbinden- den Linie. Aus allen Bestimmungen fand er, dass der Schwerpunct des ganzen Körpers sich in verticaler Haltung im Körper des zweiten Kreuzbeinwirbels oder etwas über demselben im Kreuzbeineanal befinde. Bei der Gewichtsbestimmung der einzelnen Körperteile und ihres Verhältnisses zum Längenmass erhielt E. Harless ^) folgende Zahlen: 1) Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. Göttingen. 1836, pag. 113—117. 2) Die wechselnde Lage des Schwerpunctes in dem menschlichen Körper. Leipzig, 1868, pag. 9. 3) Lehrbuch der plastischen Anatomie. Stuttgart. 1856. 3. Abt., pag.*16. 314 Gewicht Längenmasse Namen der Körperteile Gewicht der Körperlänge Länge der Hand = 1 = 1000 Hand = 1 Ganzer Körper 118,46 1000 8,50 Oberrumpf (bis zum Nabel) 42,7 225,82 1,9 Unterrumpf 12,145 81,1 0,69 Ganzer Rumpf 54.845 306,9 2,59 Oberschenkel 13,25 259,99 2,21 Unterschenkel 5,2 248,405 2.111 Fuss 2,17 34,74 0,29 Ganzes Bein 20,62 570,3 4,85 Oberarm 3,833 211,06 1,79 Unterarm 2,15 173,07 1,471 Hand 1 117,62 1 Ganze obere Extremität 6,983 501,75 4,261 Kopf 8,44 122,7 (mit Hals) 1,043 Diese Data ins Auge fassend, construierte Harless eine Figur, deren Teilen er eine sphärische Gestalt so gab, dass ihre Gewichts- verhältnisse den erwähnten Zahlen entsprechen. Die Künstler bedienen sich solcher Figuren, um, indem sie den einzelnen Teilen derselben verschiedene Stellungen geben, die Stabilität dieser Stellungen zu prüfen. Dieselben Zahlen benutzte auch H. Meyer, um die von ihm gefundene Lage des Schwerpunctes zu verificieren und um die Verschiebung des- selben bei den verschiedenen vom Körper angenommenen Stellungen zu bestimmen. H. Meyer giebt unter Benutzung der von Harless erhaltenen Zahlen noch folgende Gewichtsverhältnisse: der Rumpf verhält sich zum Kopf, wie 13 : 2 der Rumpf und Kopf zu beiden oberen Extremitäten 9 : 2 der Rumpf, Kopf und die oberen Extremitäten zu beiden unteren Extremitäten 2 : 1 die obere Rumpfhälfte zur unteren 10 : 3 der Oberarm zum Unterarm mit der Hand 6 : 5 der Oberarm zum Unterarm und zur Hand 4:2:1 der Oberschenkel zum Unterschenkel mit dem Fuss 2 : 1 Die widersprechenden Schwerpunctsbestimmungen der erwähnten Autoren sind zweifellos alle richtig und zeigen nur, dass von einem bestimmtem Schwerpunct im menschlichen Körper nicht die Rede sein kann. Zweifellos ändert sich die Lage des Schwerpunctes nicht nur bei verschiedenen Individuen, sondern fortwährend bei demselben Menschen je nach dem Inhalt der Eingeweide. Verschiedene Bein- länge, verschiedene Rumpflänge, Veränderungen der Kopfgrösse und der oberen Extremitäten — alles das hat eine Lagen Veränderung des — 315 — Scliwerpimctes zur Folge, so class man von einer normalen Lage des Schwerpunctes höchstens bei einer bestimmten Stellung eines ideal- normalen Organismus sprechen kann, in allen anderen Fällen aber wechselt die Lage des Schwerpunctes fortwährend; die erwähnten Be- stimmungen von Borelli und Weiber können also als Grenzen der Schwer- punctslage, die von H. Meyer aber als der mittleren Lage des Schwer- punctes näher kommend gelten, wobei letztere bei verticaler Haltung des Menschen bestimmt wurden. Eine bestimmte stabile Lage bei fixiertem Schwerpunct kann man sich nur in dem Falle vorstellen, wenn der Körper an den verbundenen und befestigten Händen hängt; aus dieser Lage kann der Körper nicht in eine labile gebracht werden, denn jedesmal wird er in diesem Falle, aus der Gleichgewichtslage ge- bracht, wieder in dieselbe zurückkehren. Die Körperlänge des Menschen. Die mittlere, von Quetelet') in Belgien erhaltene Körperlänge ist folgende: Anzahl Alter von Alter von Alter von der Messungen: 19 Jahr. 25 Jahr. 30 Jahr. 100 166,30 cm 168.22 cm 168,34 cm 100 166,95 „ 167,35 „ 168,73 „ 100 166,20 „ 166,92 „ 168,17 „ Mittelzahlen 166,48 ,-, 167,50 „ 168,41 „ Hieraus ersieht man, dass die Körperlänge bis zum Alter von 30 Jahren zunimmt und dass in Belgien in diesem Alter die mittlere Körperlänge =^ 168,41 cm ist. Tenon '-) bestimmte im Jahre 1783 die Körperlänge von 60 Männern und 60 Frauen des Dorfes Massy in der Umgegend von Paris. Sie waren 25—46 Jahre alt. Er erhielt folgende Zahlen: Männer Frauen Mittlere Körperlänge 165,5 cm 150,6 cm Grösste Körperlänge 185,4 „ 167,1 „ Kleinste Körperlänge 154,3 „ 138,0 „ Obgleich diese Zahlen aus sehr genauen Messungen erhalten wurden, so verlieren sie infolge ihrer geringen Anzahl teilweise an Bedeutung. Hargenvilliers ■^) kam nach Messungen an 100000 Rekruten im Alter von 20 Jahren zu dem Schluss, dass die mittlere Körperlänge der Franzosen in diesem Alter 161,5 cm betrage. Lelut^) bestimmte die 1) Sur Fhomme et le developpement de ses facultes, oder Essai de physique sociale. Paris. 1885, T. II. 2) Notes manuscrites relatives h la stature et au poids de l'homme, recueillies par Villerme. Annales d'hygiene. 1833. T. X, pag. 30—31. 3) Consideration sur la formation et le recrutement de l'armee en France. Siehe Sappey. L. c, pag. 16. 4) Physiologie de la pensee. Paris. 1862. T. II, pag. 109. 316 — Körperlänge von 2000 Gefangenen. Um die Veränderung der Körper- länge mit dem Alter zu bestimmen, teilte er sie in fünf Gruppen und erhielt für jede derselben folgende Zahlen: I. Gruppe IL Gruppe III. Gruppe IV. Gruppe V. Gruppe Alter: I6V2— IT'/a J. 20 J. 25 J. v. 30— 50 J. 50 J. u. älter Mittlere Körperlänge 156,7 cm 161,7 cm 164,7 cm 165,7 cm 165,2 cm Hieraus folgt, dass die Körperlänge bis 30 Jahre zunimmt und von 50 Jahren an sich verringert, als mittlere Körperlänge nimmt er in Frankreich bei einem Erwachsenen 165,7 cm an. Villerme ') sucht in einer sehr genauen Abhandlung zu beweisen, dass die Stadtbewohner grösser seien, als die Landbewohner, und dass ihre Körperlänge um so grösser sei, je grösser die betreffende Stadt und je wohlhabender sie ist. Der erste Platz gebührt in Frankreich natürlich Paris, wo die mittlere Körperlänge eines Erwachsenen 168 bis 169 cm beträgt. Dasselbe behauptet auch Quetelet für Belgien, in- dem er das durch folgende Zahlen bekräftigt. Kreise 1823 1824 1825 1826 1827 Mittel- werte T 1 Brüssel ■ t Landgemeinden 167,19 163,25 166,40 163,17 166,31 163.43 166,47 163,53 165,28 162,96 166,23 163,25 -,. f Löwen 1 Landgemeinden 162,24 162,96 163,49 162,29 163.99 160,90 164,60 161,45 163,35 161,27 163,93 161,77 TTT 1 Nivplles ■ \ Landgemeinden 163,98 1 162,26 | 165,81 [ 163,84 162,64 162,60 164,09 164,31 163,.30 162,53 164,28 163,23 Mittelwerte der Städte der Dörfer 165,14 162,95 164,79 162,69 165,.37 162,80 162,97 i 163,98 163,09 162,25 164,85 162,75 Die Mittelwerte für jede Stadt waren aus Messungen an 400 Menschen in Brüssel, je 150 in Löwen und Nivelles erhalten worden, in den Landgemeinden wurden je 400 Menschen in jedem Kreise, im Ganzen aber 3500 Stadtbewohner und 6000 Landbewohner gemessen. Die Gesamtmittelzahl war = 163,8 cm für das Alter von 20 Jahren, für 30 Jahre aber erhielt Quetelet 168,4 cm. Lelut beweist durch seine Messungen, dass die Bevölkerung des nördlichen Frankreich an Wuchs grösser ist, als die des südlichen Frankreich; so ist die mittlere Standlänge von 753 20jährigen jungen Leuten des Städtchens Gy im nördlichen Frankreich = 165,8 cm, während sie für einberufene Südfranzosen im Alter von 36—50 Jahren = 163 cm ist. Boudin -) sucht zu beweisen, dass die Bewohner der östlichen Pro- vinzen Frankreichs grösser sind als die der westlichen Provinzen. Aus 1) Memoire siir la taille de l'homme en France. Ann. d'hygiäae. T. I, pag. 351. 2) l^]tndes ethnologiques sur la taijle et le poids de l'homme chez ]es divers peuples. Paris. 1863, pag. 40, — 317 — den ersteren Provinzen kommen die meisten Rekruten in die Artillerie, für die eine Körperlänge von 170 cm erforderlich, und unter die Cara- biniers, deren Wuchs nicht weniger als 176 cm betragen muss. Zur grösseren Übersichtlichkeit und um die bei den Messungen er- haltenen Mittelzahlen, besonders aber die verschiedenen Abweichungen von einer bestimmten Norm darzuthun, trug Quetelet den Wuchs von 25878 Rekruten der Vereinigten Staaten in Abständen von 0 0255 m und die Zahl der Rekruten von diesem Wuchs in eine Tabelle ein. Körperlänge in Abständen von 0,0255 m: Anzahl der Rekruten: bis 1,397 m 4 1,397 )? 1,422 „ 1 1,422 ?i 1,448 „ 3 1,448 » 1,473 „ 7 1,473 ?r 1,499 „ 6 1,499 » 1,524 „ 10 1,524 )5 1,549 „ 15 1,549 55 1,575 „ 50 1,575 55 1,600 „ 526 1,600 55 1,626 „ 1237 1,626 55 1,651 „ 1947 1,651 57 1,676 „ 3019 1,676 5) 1,702 „ 3475 1,702 55 1,727 „ 4054 1,727 55 1,753 „ 3631 1,753 55 1,778 „ 3133 1,778 55 1,803 „ 2075 1,803 55 1,829 „ 1485 1,829 5J 1,854 „ 680 1,854 55 1,880 „ 343 1,880 55 1,905 „ 118 1,905 55 1,930 „ 42 1,930 55 1,956 „ 9 1,956 )5 1,981 „ 6 1,981 55 2,007 „ ii 2 n Ganzen 25878 Blickt man auf diese Tabelle, so sieht man sofort, dass eine Körper- länge von 1,702 — 1,727 m am häufigsten vorkommt, während grössere oder kleinere Körperlängen um so seltener vorkommen, je mehr sie von dieser normalen abweichen. Quetelet drückt auf G-rund der Wahr- scheinlichkeitstheorie das Verhältnis dieser Zahlen der zweiten Reihe durch die Binomformel aus, und zwar verhalten sich diese Zahlen wie die Glieder des Binoms Ta + bj — 318 — 2m _ 2m 2 m ^m-l 2m(2m— 1) 2m-2 2 , d. h. wie a + -y- a ^ H \ — - a b + . . . 2 wobei man für 2 m eine grosse Zahl wählen muss. Berechnet man die Glieder der Reihe, so überzeugt man sich allerdings von der Richtig- keit des Satzes von Quetelet. Ausserdem sucht er in einer Reihe von Abhandlungen i) zu beweisen, dass diese Formel ebenso auf die Zalilen- verhältnisse des Körpergewichtes, des Brustumfanges und verschiedener anderer Masse der äusseren Körperteile anwendbar ist. R. Thoma^) weist darauf hin, dass Quetelet die Bedeutung dieser Formel nicht auseinandergesetzt habe. Dieses will Thoma nach Mög- lichkeit thun, indem er dadurch eine allgemeine Theorie der individuellen Verschiedenheiten beim Menschen anzuregen sucht. Die Erfahrung lehrt, dass eine Reihe von Bedingungen auf den Wuchs und das Ge- wicht des Menschen einwirkt. Ausser den Vererbungsbedingungen, sagt Thoma, wirken hier auch noch die Nahrung, die Lebensweise, die Be- schäftigung und viele andere Bedingungen; einzelne von diesen Be- dingungen sind constant und unveränderlich und wirken in jedem ein- zelnen Falle, die übrigen aber sind veränderlich, und sie gerade sind die Hauptursachen der individuellen Verschiedenheiten. Wenn für jedes Alter und für jedes Geschlecht dieselben unveränderlichen Ursachen bestehen würden, so müsste man natürlich stets einen gleichen ana- tomischen Bau des menschlichen Organismus erhalten; unter dem Ein- fluss der variierenden Ursachen aber vergrössern sich die einen Körper- teile, während die anderen an Grösse abnehmen können. Danach meint Thoma, dass man die Einwirkung von positiven und negativen Ursachen anerkennen müsse. Die Anzahl der in jedem Falle wirkenden Ursachen kann durch 2 m ausgedrückt werden, wobei folgende Fälle möglich sind. 1) Alle 2 m Ursachenelemente sind positiv. 2) Unter den 2 m Ursachenelementen sind zwei negativ, die übrigen aber positiv. 3) Unter den 2 m Ursachenelementen sind drei negativ, die übrigen alle positiv u. s. w. Nach der Wahrscheinlichkeitstheorie kann man also folgende ab- solute Wahrscheinlichkeiten annehmen: 1) Die absolute Wahrscheinlichkeit des Zusammentreffens von 2 m 2m positiven Ursachenelementen = a . 1) Sur l'homme et le döveloppement de ses facultas. 2 Bde. Paris. 1835. Lettres sur la thäorie des probabilites, Bnixelles. 1846. Physique sociale. 2 Bde. Bruxelles. 1869. Anthropom^trie. Bruxelles. 1870. 2) Untersuchungen über die Grösse und das Gewicht der anatomischen Bestand- teile des menschlichen Körpers. Leipzig. 1882, pag. 9—24. — 319 — 2) Die absolute Wahrscheinlichkeit des Eintreffens von (2 m — 1) 2 lYl 2 ml positiven und einem negativen Ursachenelement = a b 3) Die absolute Wahrscheinlichkeit des Zusammentreffens von (2 m — 2) positiven und zwei negativen Elementen = 2m(2m — 1) 2in-2 2 ^-— =^a b u. s. w. Diese Wahrscheinlichkeiten bilden die Glieder des Binoms / \2m 2m 2^1 2m-l 2 m (2 m — 1) 2m-2 2 I a + b I --a +-^a bH ^^ ^a b + 2 m— 3 3 2 m(2m — 1) (2m — 2) 2m-3 3 Hierbei ist a + b = 1 . Die Anwendung dieser Formel erklärt sich am besten aus irgend einem Beispiel, wie für das Gewicht irgend eines Organs beim Er- wachsenen. Nehmen wir an, dass sein Gewicht 300 gr betrage, die Anzahl der zugleich wirkenden Ursachenelemente 16 sei, jedes Element aber das Gewicht des Organs um 10 gr vergrössert oder verringert, wobei a = Vi i^md folglich auch b = Va ist. Unter diesen Bedingungen erhält die Binomreihe folgende Gestalt: Hieraus folgt, dass die absolute Wahrscheinlichkeit des Zusammen- treffens von 16 positiven und 0 negativen Elementen der wirkenden Ursachen ^= 0,00001 „ „ « „ =0,00024 . =0,00183 „ „ „ » =0,00856 „ =0,02777 . =0,06665 « =0,12219 ,. =0,17456 „ = 0,19638 » =0,17456 . =0,12219 . =0,06665 . =0,02777 „ =0,00856 » =0,00183 . =0,00024 „ „ „ „ „ =0,00001 Die Summe aller Decimalbrüche ist wiederum = 1, was beweist, dass hierbei alle möglichen Fälle gegeben sind. Wie sich von selbst versteht, erhält man durch Anwendung einer solchen Methode nur eine logische und mathematische Combination 15 » » 1 14 11 n 2 13 •n 11 3 12 » n 4 11 » n 5 10 n » 6 9 11 11 7 8 11 11 8 7 Yl 11 9 6 11 11 10 5 » 11 11 4 )) 11 12 3 11 11 13 2 11 11 14 1 11 11 15 0 )) )) 16 — 320 — aller möglichen Varietäten der Dimensionen des gegebenen Körpers, Teils oder Organs und ist das keineswegs ein biologisches Gesetz, welches alle Veränderungen dieser Dimensionen umfasst. Wenn man die Massverhältnisse des Organs mit seinen einzelnen Organen vergleicht, so darf man keineswegs die Körperlänge als Grund- lage annehmen, besonders fehlerhaft ist die Verhältnisbestimmung der Länge zum Volumen der Organe, was man aus folgendem ersieht: die Körperlänge neugeborener Knaben misst im Mittel 50,0 cm, ihr Gewicht ist 3,1 kg, die Körperlänge eines 30jährigen Mannes aber ist 168,6 cm, sein Gewicht 66,1 kg. Nach E. Hermann'/) ist das specifische Gewicht eines Neugeborenen = 0,90, eines 30jährigen Individuums = 0,93; Hieraus kann man folgern, dass das Körpervolumen neugeborener Knaben 3,44 Liter, das der 30jährigen Männer 71,08 Liter beträgt. Die Körper- länge vergrössert sich also im Verlauf der ersten 30 Lebensjahre 1 ßft f\ 71 Oft --— ^:=r3 37mal, das Volumen aber--^- = 20,66 mal. 50,0 ' ' 3,44 Wenn eine Ähnlichkeit der Formen in verschiedenen Lebensperioden beim Menschen bestehen würde, so müsste die Vergrösserung des Körper- volumens der dritten Potenz der Vergrösserung der Körperlänge gleich- kommen, 3,37 ^ = 38,27 ist aber fast zweimal grösser, als die in der That beobachtete Vergrösserung des Körpervolumens. Die mittlere Körperlänge der Neugeborenen ist nach Untersuchungen von M. Snitkin-) an 1170 Kindern für Knaben = 48,5 cm, für Mäd- chen = 48 cm; Maximum = 60 cm, Minimum = 32 cm. Das Wachstum von der Geburt an bis zum Alter von 25 Jahren schreitet nach Quetelet in nebenstehender Tabelle oben (pag. 321) folgendermassen vor. Die Berechnungen des Wuchses in dieser Tabelle führte Quetelet nach folgender Formel aus: y __ w + X y+ 100 (W-y) ~^^+ (1 + ^/5x)' wo X die Coordinate des Alters, y die entsprechende Körperlänge ist: die constante Grösse w bezeichnet die Körperlänge des Neugeborenen (nach Quetelet 50 cm), die constante Grösse W aber die Körperlänge des Erwachsenen (168,4 cm); die constante Grösse a ist der jährliche Zuwachs von 4 — 15 Jahren (nach Quetelet 5,45 cm). 1) Über Gewicht und Volumen des Menschen, v. Buhl's Mitteilungen aus dem pathologischen Institute in München. Stuttgart. 1878. 2) Studien zur Körperlänge der Kinder im Laufe der ersten Lebenswochen. Med. Bericht des St. Petersburger Findelhauses von 1876. St. Petersburg. 1877, pag. 192 (russisch). — 321 — Männer Länge in Cent. Nach Be- obach- tung a Nach Berech- nung b Differenz zwischen a und b absolutes Wachs- tum (aus b) relatives Wachs- tum (aus b) Frauen Länge in Cent. Nach Be- obach- tung a Nach Berech- nung b Diiferenz zwischen a und b absolutes Wachs- tum (aus b) relatives Wachs- tum (aus b) 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 25 50,0 69,8 79,6 86,7 93,0 98,6 104,5 116,0 122,1 128,0 133,4 138,4 143,1 148,9 154,9 160,0 164,0 167,5 50,0 69,8 79,1 86,4 92,8 98,8 104,7 110,5 116,2 121,9 127,5 133,0 138,5 143,9 149,3 154,6 159,9 163,4 165,8 168,0 0 _ 49,0 49,0 0 19,8 0,396 — 69,0 — 20,0 + 0,5 9,3 0,133 78,0 78,1 -0,1 9,1 + 0,3 7,3 0,0922 85,3 85,2 + 0,1 7,1 + 0,2 64 0,0736 91,3 91,5 -0,2 6,3 -0,2 60 0,0646 97,8 97,4 + 0,4 5,9 - 0,2 5,9 0,0597 103,5 103,1 + 0,4 5,7 5,8 0,0554 109,1 108,6 + 0,5 5,5 -0,2 5,7 0,0516 115,4 114,1 + 1,3 5,5 - 0,2 5,7 0,0490 120,5 119,5 + 1,0 5,4 + 0,5 5,6 0,0459 125,6 124,8 + 0,8 5,3 + 0,4 5,5 0,0431 128,6 129,9 - 1,3 5,1 -0,1 5,5 0,0431 134,0 135,3 - 1,3 5,4 — 0,8 4,6 0,0332 141,7 140,3 + 1,4 5,0 -0,4 5,4 0,0382 147,5 145,3 + 2,2 5,0 + 0,3 5,3 0,0355 149,6 149,9 -0,3 4,6 + 0,6 5,8 0,0375 151,8 153,5 -i,v 3,6 + 0,6 4,0 0,0251 155,3 155,5 - 0,2 2,0 2,4 0,0147 156,4 156,4 0,0 0,9 — 0,5 — 157,9 157,9 — — 0,408 0,132 0,0909 0,0739 0,0644 0,0585 0,0533 0,0506 0,0473 0,0443 0,0408 0,0416 0,0370 0,0356 0,0316 0,0240 0,0130 0,0058 Die mittlere Körperlänge von Kindern im Schulalter, welche aus Messungen erhalten wurde, ist folgende: Brüssel (Quetelet^) Hamburg (Kotelmann^) P etersburg Alter Miiitär- Militär- Mädcben- gymnasien ^) gymnasien gymnasien 7 110,4 .^ __ — ' 110 8 116,2 — —^ — 116 9 121,8 128,6 — — 122 10 127,3 130,7 131,9 128,2 130 11 132,5 135,0 135,2 133,5 135 12 137,5 139,9 140,9 139,5 140 13 142,3 143,1 144,6 144,2 144 14 146,9 148,9 150,7 150,9 150 15 151,3 154,2 158,1 154,5 158 16 155,4 161,6 162,5 160,1 162 17 159,4 166,9 166,7 162,7 164 18 163,0 168,4 166,4 167,4 165 19 165,5 166,9 — — — 20 166,9 167,2 — — — Die Körperlänge des Neugeborenen macht jenigen des Erwachsenen aus, gegen Ende des Vi2 bis zum vollen Wuchs. Bei Knaben und 31/3—31/2 Teile der- 14, Jahres fehlt noch Mädchen schreitet die 1) Anthropometrie. 1870, pag. 204. 2) Die Körperverhältnisse d. Gelehrtenschüler des Johanneum in Hamburg. 3) P. Lesshaft. Journal „Gesundheit". 1880. Nr. 127—131 (russisch). 21 1879. 322 — Körperläng-e fast gleich bis zum 18. Jahre vor, gegen Ende des Wachstums i st der Unterschied zwischen Männern und Frauen ungefähr ^i 5 . des Wuchses zu Gunsten der Männer. Von 20 — 23 Jahren nimmt die Körperlänge im Mittel um 0,19 cm, von 23 — 27 Jahren aber um 0,05 cm jährlich zu. Das Wachstum hört gewöhnlich gegen das 27. oder 30. Jahr auf. Der jährliche Zuwachs beträgt bei Knaben und Mädchen bis zum Alter von 20 Jahren i): Knaben Mäd ihen Alter Erismann Bowditsch Kotelmann Roberts Erismann Pagliani Bowditsch Quetelet 9—10 3,90 4,90 2,17 6,6 6,49 5,0 5,3 10-11 3,63 5,10 4,31 5,1 1,45 3,1 5,3 5,2 11—12 4,51 4,10 4,85 3,4 4,51 5,9 6,2 5,1 12—13 3,33 4,60 3,18 4,0 4,40 7,0 5,8 4,8 13—14 3,48 5.30 5,79 5,4 3,56 7,5 4,6 4,6 14-15 5,45 6,80 5,31 5,1 4,72 2,0 2,9 4,2 15—16 6,53 6,10 7,46 5,6 2,81 1,2 1,2 3,3 16—17 5,38 6,90 5,25 6,7 1,47 0,8 2,5 17—18 3,19 2,10 1,49 3,9 0,40 — 0,1 1,9 18—19 1,80 1,60 — 1,9 — — 19—20 0,80 1,40 — 1,8 — — — — Die Körperlänge von erwachsenen Arbeitern von und Arbeiterinnen von 18 — 60 und mehr Jahren ist Erismann ^) : 20-80 Jahren folgende (nach Männer Frauen Alter Anzahl d. gemes- Körperlänge in Anzahl d. gemes- Körperlänge in senen Individuen Centimetern senen Individuen Centimetern 18—19 3784 153,00 20—21 4477 164,38 2854 153,04 22—23 3779 164,93 2247 153,20 24—25 3436 164,96 2096 153,13 26—27 3672 165,13 1803 153,12 28—29 3480 165,15 1281 153,20 30—39 13441 165,13 5633 153,44 40—49 7715 165,17 2878 153,07 50—59 3883 164,84 1072 152,81 60—69 1258 164,93 179 151,45 70—79 104 164,42 — — 80 u. mehr 7 163,57 — — Die Körperlänge von Stadt- und Landbewohnerinnen, Cigarren- arbeitern (343) und Fleischhauern (165) ist folgende^): 1) F. Erisman. Untersuchungen über die körperliche Eotwickelung der Fabrik- arbeiter in Centralrussland. Tübingen. 1889, pag. 15 u. 22. 2) L. c, pag. 11—12. 3) J. Muratow. Über den Gesundheitszustand der Fabrikarbeiter und der Fleisch- hauer. Petersburg. 1885 (russisch). — 323 — Alter Mittlere Körper- änge der Stadt- ewohner- innen Anzahl der [essungen Mittlere Körper- änge der Land- ewohner- innen Anzahl der [essungen Alter Mittlere Körper- änge der ügarren- irbeiter Mittlere Körper- änge der Fleisch- hauer ^ ^ 3 -. ^ ^ "^ '"' 21—22 155,8 54 153,7 129 19—20 162,2 168,8 23—25 154,1 51 154,1 248 21—24 165,1 169,3 26—30 156,2 39 153,9 345 25-30 163,7 166,2 31—35 156,1 17 153,7 180 31-40 164,8 168,6 36—40 151,8 12 153,5 154 41—50 164,4 167,0 41—50 152,2 6 153,9 53 51—60 164,4 160,2 51—60 151,1 4 155,8 9 — — — 61 u. mehr — — 142,7 2 — ~ — Auf Grund aller gegebenen Zahlen ist es schwer, die hauptsäch- lichsten auf das Wachstum des Menschen wirkenden Ursachen zu be- stimmen. Den Unterschied zwischen Stadt- und Landbewohnern kann man sich aus den Versuchen über die Entwickelung von Zwergbildungen bei Embryonen erklären. Diese Versuche (Dareste, Gerlach, Koch) zeigen, dass, wenn sich die Energie des Gewebes verstärkt, die Cor- relation zwischen Wachstum und Formung aufhört; die Formung schreitet so schnell vor, dass sie bei zwergenhaftem Wuchs aufhört. J. Geoffroy-Saint-Hilaire ^) wies bereits darauf hin, dass man Wachs- tum und Formung unterscheiden müsse. Die Untersuchungen von Dareste ^) haben erwiesen, dass eine beständige erhöhte Temperatur (42" C.) bei der Entwickelung des Hühnerembryos die Formung des ganzen Körpers, aller Organe und Körperteile bedeutend beschleunigt, und dass die Beschleunigung des Entwickelungsprocesses Zwergbildungen, welche er auch künstlich erhielt, zur Folge habe. Ebenso führt mehr unmittelbarer Einfluss der Luft auf irgend einen Teil des Embryo zu verstärkter Wucherung der Gefässe und verstärkter Thätigkeit dieses Teiles, während die Thätigkeit der übrigen Organe abnimmt und sie sogar in ihrer Entwickelung stehen bleiben. (Baudrimont und Martin Saint- Ange ^), A. Gerlach *), H. Koch ^). Ausserdem bestätigt der Ossi- ficationsprocess im Knochensystem die Resultate der erwähnten Ver- 1) Histoire generale et particulifere des anomalies de l'organisation. Paris. 1836. 2) Sur certaines conditions de la production du nanisme. Comptes rendus. T. LX. 1865, pag. 1214. 3) Recherches anatomiques et physiologiques sur le döveloppement du foetus et en particulier sur l'ävolution embryonaire des oiseaux et des batraciens. Recueil des Savants etrangers. 1851, T. XI. 4) Die Entstebungsweise der Doppelmissbildungen bei den böheren Wirbeltieren. Stuttgart. 1882. 5) Über die künstliche Herstellung von Zwergbildungen im Hühnerei. Stuttgart. 1884, pag. 31. 21* — 324 — suche. Es ist bekannt, dass diejenige Epiphyse, zu der sich das Haupt- nahrungsgefäss wendet, um 2 — 3 Jahre früher mit der Diaphyse ver- schmilzt, als die entgegengesetzte; sie verschmilzt früher, formt sich rascher und ist ihren Dimensionen nach verhältnismässig klein. Das entgegengesetzte Ende dagegen, welches seine Nahrung unter geringerem Druck erhält, formt sich langsamer, wächst länger, ist daher länger und verschmilzt später mit dem Knochenschaft. Alles das beweist, dass zugleich mit der Verstärkung der Energie der Gewebe die Formung beschleunigt wird, während das Wachstum aufgehalten wird. Das wird auch durch die Körperlänge der Stadt- und Landbewohner bestätigt; die günstigeren atmosphärischen Bedingungen auf dem Lande und die ungünstigen Bedingungen in der Stadt verstärkten die Energie der Ge- webe bei den Landbewohnern im Vergleich zu den Stadtbewohnern. Man darf jedoch die Ursachen der Formungsbeschleunigung nicht nur auf den Einfluss der Wärme und der Luft beschränken, sondern das hier Beobachtete auf alles, was den Stoffwechsel verstärken und die Energie der Gewebe erhöhen kann, besonders auf die Einwirkung der Übung der activen Organe, beziehen. Dareste weist noch darauf hin, dass die Entwickelungsdauer bei den Vögeln um so kürzer ist, je kleiner die Vogelrasse ist; ein Gleiches bemerkt man auch bei den Säugetieren, wo die Dauer des embryonalen Lebens ganz ihrer Körper- länge entspricht. Sehr interessant sind die von B. Gould^) an 1232256 Rekruten, welche während des Krieges zwischen den nördlichen und südlichen Staaten in die nordamerikanische Armee eintraten, angestellten Be- obachtungen. Die meisten von ihnen waren 17 — 35 Jahre alt. Ein und dasselbe Individuum nahm vom 21. bis zum 34. Jahre im Mittel um 12 mm zu. Die mittlere Körperlänge der amerikanischen Eekruten betrug 172 cm (67—68 Zoll), die geringste Körperlänge wurde bei den Franzosen, Belgiern und Schweizern, welche im Mittel 169,41 cm (66,697 Zoll) massen, beobachtet; hierauf folgten der Grösse nach die deutschen, deren mittlere Körperlänge = 169,51 cm (66,739 Zoll), — die Spanier — 169,58 cm (66,766 Zoll), die Engländer — 170,16 cm (66,993 Zoll), die Irländer — 170,53 cm (67,138 Zoll), die Skandinavier — 171,35 cm (67,461 Zoll), die Schottländer — 171,65 cm (67,879 Zoll) u. s. w. Von den Amerikanern hatten die Bewohner der westlichen Staaten den grössten Wuchs, im Mittel 175 — 176 cm, ein wenig kleiner waren die aus den östlichen Provinzen gebürtigen, im Mittel 173— 174cm. Die mittlere Körperlänge der Emigranten, welche aus einem Staate in den anderen übergesiedelt waren^ war um ein Geringes grösser, als der der 1) Investigations iu the military and anthropological Statistics of american Soldiers. New-York. 1869, pag. 126. 325 Ureinwohner. Sehr bemerkenswert war das Resultat der Messungen an Matrosen, welche im Mittel um 3.2 cm (1,3 Zoll) kleiner waren, als die Soldaten. Diese Erscheinung kann man sich nur durch ihre Lebens- weise und durch ihre Thätigkeit erklären: der Umstand, dass sie weniger zu marschieren haben, überhaupt die unteren Extremitäten weniger üben, dass sie meist nur Wachtdienst haben, hat zur Folge, dass ihre unteren Extremitäten nicht so gross sind und dass überhaupt ihre Körperlänge geringer ist. Beobachtungen an Pflanzen haben erwiesen, dass bei Lichtmangel die einzelnen Teile derselben an Dimensionen zunehmen, ihre Färbung blass wird und sie weniger widerstandsfähig werden. Dasselbe be- obachtet man auch beim Menschen: schnelles Wachstum, eine schwach entwickelte Muskulatur, bleiche Gesichtsfarbe, Apathie und Blutarmut treffen gewöhnlich zusammen und entsprechen einer Schwächung der Gewebeenergie und der Thätigkeit. Aus den Mitteilungen ^) über die Körperlänge der Rekruten von 1884 — 1£87 ersieht man, dass sie im Mittel 164,46 cm (2 Ar. 5 Wersch.) messen, dieses zeigt folgende Tabelle: nicht aufgenommen wegen unvoll- kommener Entwicke- lung zurück- gestellt im Ganzen Jabre im Ganzen Militär- pflicMige mussten einberufen werden zum Dienste bestimmt infolge unge- nügender Körper- länge infolge von Krankheit oder Körper- mängeln wurden in den Militär- dienst auf- l genommen von ihnen waren Bauern 1884 1885 1886 1887 806 522 859 022 843 989 837 423 801 050 853 080 835 580 825 985 224 000 230 000 235 000 237 .342 5486 4555 5376 4747 64 826 58 078 69 501 59 960 80 525 67 156 71417 76 558 221562 227 906 234 087 236 436 188 259 192 292 197 2,54 197 814 Jahre Anzahl der aufgenommenen Rekruten 158,35 cm. 155,57 cm. 160,02 cm. 164,46 cm. 168,91cm. 173,36 cm. m,8öcm. 182,25 cm. 186,70 cm. 191,14 cm. 195,58 cm. 1884 1885 1886 1887 6600 5965 6561 5174 28 26 27 27 083 673 952 761 54 46 54 28 5610 56 23 7 8 2 6 63 527 64 820 06 235 67 457 43 763 47 346 47 328 49 532 U 2( 2( 21 3 288 )731 )766 L198 479 592 577 590 7 9 0 5 733 1024 1049 972 248 103 118 90 2 6 3 6 1 In betreff des höchsten Wuchses, den Riesen erreichen, nimmt Langer-) an, dass dieser Wuchs 253 cm betrage. Das grösste Skelett, welches sich gegenwärtig im Trinity- College in Dublin befindet, hat 1) Stat. d. Russ. Reiches. I. 1887. Mitteilungen über Russland für d. Jahre 1884 bis 1887, pag. 72—103. Tab. XX— XXVII. Der Militärdienst der Reichsbevölkeruug in den Jahren 1884 und 1885. Stat. d. Russ. Reiches. X. 1890. Mitteilungen über Russland für d. Jahre 1886 bis 1887, pag. 270—301. Tab. CL-CLVII. Der Militärdienst der Reichsbevölkerung in den Jahren 1886 und 1887. 2) Wachstum des menschlichen Skeletts mit Bezug auf den Riesen. Wien. 1871, und Anatomie der äusseren Formen des menschlichen Körpers. Wien. 1884, pag. 82. — 326 — eine Länge von 8 Fuss, 6 Zoll (259,8 cm.) Die von Weisbach, Ecker, und Quetelet gemessenen Riesen waren 195,5 cm (Weisbach), 201,0 cm (Ecker) und 215,0 cm (Quetelet) lang. Über die Körpergrösse der Zwerge ist bekannt, dass sie nicht kleiner als 70 cm (ungefähr die Länge eines einjährigen Kindes) sind. Aus allem über die Körperlänge Gesagten kann man schliessen, dass augenscheinlich alle Bedingungen, welche im Laufe des Embryonal- lebens und der ersten Jahre nach der Geburt wirken und eine Energie- erhöhung der Gewebe zur Folge haben, die Formung beschleunigen und die Körperlänge verringern, und umgekehrt. Die bereits geformten Teile vergrössern sich nur unter dem Einfluss der allmählig verstärkten Thätigkeit, d. h. das Wachstum der bereits geformten Teile kann nur unter dem Einfluss sich verstärkender Übung und bei entsprechender Wiederherstellung des mit der Übung verbundenen Verlustes fortschreiten. Gewichtsverhältnisse des menschlichen Körpers. Im Mittel ist das Gewicht eines 25— 45jährigen Menschen bei einer Körperlänge von 166 cm nach Tenon und Quetelet bei Männern 62,049 kg (minim. 51,453 kg, maxim. 83,246 kg) und bei Frauen 54,877 kg (minim. 36,777 kg, maxim. 73,983 kg). Nebenstehende Tabelle (pag. 327) enthält die Beobachtungen von Quetelet am Körpergewicht von Individuen ver- schiedenen Alters (vom Neugeborenen bis zum Alter von 90 Jahren) und Geschlechts und das "Verhältnis der Körperlänge zum Gewicht. Hieraus macht Quetelet diese Folgerungen: 1) Das mittlere Gewicht der Männer übertrifft gewöhnlich das der Frauen, um das 12. Jahr gleicht sich dieser Unterschied aus, und dann wächst das Gewicht der Männer wieder relativ schneller an. 2) Die Männer erreichen ihren höchsten Wuchs um das 30. Jahr, ihr höchstes Gewicht um das 40. Jahr,, gegen das 50. Jahr nimmt das Gewicht bereits ab, so dass gegen das 80. Jahr die Körperlänge sich um 7 cm, das Gewicht aber um 6 kg verringert. 3) Die Frauen erreichen ihr höchstes Gewicht nicht vor dem 50. Jahr, es verringert sich gegen das 55. oder 60. Jahr; um das 80. Jahr nehmen sie um 8 cm an Länge und um 6—7 kg an Gewicht ab. 4) Wenn der Mann und die Frau sich vollständig entwickelt haben, so wiegen sie fast 20 mal mehr als bei ihrer Geburt, während sich ihre Körperlänge nur dreimal vergrössert. 5) Zu Ende des ersten Jahres vergrössert sich das Gewicht drei- mal, nach sechs Jahren verdoppelt es sich und 13 Jahre darauf wird es viermal grösser. 6) Unmittelbar vor der Pubertätsperiode ist das Gewicht der 1) Sappey. L. c, pag. 32 327 Männer Frauen Alter Körperlänge in m Gewicht in kg Körperlänge in m Gewicht in kg 0 0,500 3,20 0,490 2,91 1 0,698 9,45 0,690 8,79 2 0,791 11,34 0,781 10,67 3 0,864 12,47 0,852 11,79 4 0,928 14,23 0,915 13,00 5 0,988 15,77 0,974 14,36 6 1,047 17,24 1,031 16,00 7 1,106 19,10 1,086 17,54 8 1,162 20,76 1,141 19,08 9 1,219 22,65 1,195 21,36 10 1,275 24,52 1,248 23,52 11 1,330 27,10 1,299 26,55 12 1,385 29,82 1,353 29,82 13 1,439 34,38 1,403 32,94 14 1,493 38,76 1,453 36,70 15 1,546 43,62 1,499 40,37 16 1,594 49,67 1,535 43,57 17 1,634 52,85 1,555 47,31 18 1,658 57,85 1,564 51,03 20 1,674 60,06 1,572 52,28 25 1,680 62,93 1,577 53,28 30 1,684 63,65 1,579 54,23 40 1,684 63,67 . 1,579 55,23 50 1,674 63,46 1,536 56,16 60 1,639 61,94 1,516 54,30 70 1,623 59,52 1,514 51,51 80 1,613 57,83 1,506 49,37 90 1,613 57,83 1,505 49,34 männlichen und weiblichen Individuen gleich der Hälfte desselben bei vollständiger Entwickelung. 7) Wenn man das Gewicht und die Körperlänge, welche in allen Entwickelungsperioden einander entsprechen, kennt, so kann man mit Hülfe dieser Tabelle das Alter des Betreffenden bestimmen. Nehmen wir z. B. an, dass ein männliches Individuum 123 cm hoch sei, sein Gewicht aber 24 kg betrage; auf Grund der gegebenen Tabelle kann man sagen, dass derselbe der Körperlänge nach etwas älter wie neun Jahre sei, dem Gewicht nach aber — ungefähr 10 Jahre, folglich kann man mit grosser Wahrscheinlichkeit annehmen, dass der Betreffende 9—10 Jahre alt sei. Sowohl die erwähnte Tabelle, als auch die Folgerungen von Quetelet können der Erklärung des Zusammenhanges zwischen Körperläiige und Körpergewicht und der Entwickelung der vegetativen Organe, nament- lich der Blutcirculationsorgane, als Grundlage dienen. Untersuchungen ergaben, dass die Entwickelung des Gefässcalibers sich in directer Cor- — 328 — relation mit der Körperlänge befindet, während das Herzvolumen dem Körpergewicht direct proportional ist. Aus den angeführten Tabellen ersieht man, dass die Körperlänge des Erwachsenen mehr als dreimal grösser ist, als die des Neugeborenen, dasselbe kann man auch in Bezug auf das Caliber der Blutgefässe beobachten. In betreff des Körper- gewichtes erweist sich, dass es beim Erwachsenen beinahe 20 mal grösser als beim Neugeborenen, und ebenso vergrössert sich das Vo- lumen des Herzens 15— 16 mal. Folglich hängt also die Vergrösserung der Körperdimensionen vom Caliber der Gefässstämme, die Vergrösserung der Körpermasse aber im normalen Organismus vom Volumen des Herzens ab. Dieses sieht man aus folgenden Daten: Alfpr Körper- länge in cm. Umfang der Arterien- stämme in cm. Gewicht in kg. Volumen des Aorta Arteria pulmonalis Herzens in cbcm. Neugeborener Ende des ersten Jahres Ende des siebenten Jahres Ende des 13 — 14. Jahres Ende der Pubertätsperiode Erwachsener 50,0 69,8 110,6 149,3 165,8 168,4 20,0 32,0 43,0 50,0 61,5 68,0 23 36 46 52 61 65 3,20 9,45 19,10 38,76 57,85 63,67 22 42 90 130 260 280 Körperlänge und Gewicht sind der oben gegebenen Tabelle von Quetelet entnommen, der Umfang der Hauptarterienstämme und das Herzvolumen aus den Abhandlungen von Beneke '), sie entsprechen den von J. Nikiforow ^) erhaltenen Zahlen. Aus dem Vergleich dieser Tabelle ersieht man, wie sich Körper- länge und Umfang der Hauptgefässstämme ganz in gegenseitiger Cor- relation vergrössern, indem sie sich gegen das siebente Jahr verdoppeln und gegen das Ende der Pupertätsperiode verdreifachen. Die haupt- sächlichste Vergrösserung des Gewichtes, und ebenso des Herzvolumens findet gegen Ende des ersten Jahres, um das siebente Jahr und gegen Ende der Pupertätsperiode statt, wobei sich vom siebenten Jahre bis zum Ende der Pupertätsperiode sowohl das Gewicht, als auch das Herz- volumen verdreifachen. Das Herz verdoppelt sich gegen Ende des ersten Jahres und ebenso gegen Ende der Pupertätsperiode an Volumen, im Laufe des ersten Jahres verdreifacht sich das Körpergewicht, während es sich in der Zeit vom 12. Jahre (29,82 kg) bis zum 20. Jahr (60,06 kg) verdoppelt. Überhaupt bemerkt man, dass die Volumenvergrösserung des Herzens und die Vermehrung der Körpermasse in den Hauptent- 1) Die anatomischen Grundlagen der Constitutionsanomalien des Menschen. Mar- burg. 1878, pag. 42. 2) Über das Verhältnis des Arteriencalibers zum Gewicht und dem Volumen der Organe. St. Petersburg. 1883, pag. 44—45 (russisch). — 329 — wickelung-sperioden einander entsprechen. Sowohl das Herzvolumen, als auch das Körpergewicht sind in Wirklichkeit sehr veränderliche Factoren. Das Gewicht verändert sich leicht bei Fettablagerun g, was man in einem normalen Organismus nicht zulassen darf, ebenso ver- ändert sich auch das Herzvolumen bei allen Veränderungen in den Hindernissen der Blutcirculation , wodurch teilweise die nicht voll- kommene Übereinstimmung des Herzvoluraens und des Gewichtes in allen Entwickelungsperioden zu erklären ist; bei vollkommen normaler Entwickelung des menschlichen Körpers sind jedoch die beiden stets in Übereinstimmung, da jede Vergrösserung der Masse und die Resti- tution des Verlustes stets der Kraft, mit welcher das Nahrungsmaterial durch den Körper getrieben wird, vollkommen entspricht. Diese Cor- relationen werden bei den vegetativen Organen, und zwar beim Gefäss- system, genauer behandelt werden. Das Gewicht der Neugeborenen variiert überhaupt sehr, so nimmt Ritter ^) vier Gewichtskategorien an, indem er 1) sehr schwache = 2300 gr, 2) schwache =^ 2960 gr, 3) mittelstarke = 3390 gr und 4) kräftige Kinder = 4070 gr unterscheidet. Solche Verschiedenheiten zeigen, dass man zur genauen Prüfung des Verhältnisses zwischen Körpergewicht und Herzvolumen an ein und demselben Körper Untersuchungen an- stellen muss, und dass die nicht vollkommene Übereinstimmung der gegebenen Zahlenwerte für Körpergewicht und Herzvolumen teil- weise durch die Verschiedenheit des Materials, als auch dadurch, dass man das Gewicht an lebenden Menschen bestimmte, während das Herzvolumen nur an Cadavern bestimmt werden kann, zu er- klären ist. Das grösste Körpergewicht eines Erwachsenen, das in der Litteratur erwähnt wird, ist 317 kg; das Gewicht des Eduard Brigth, den Sappey") angiebt, ist 298 kg und das eines Engländers 317 kg. Das Körper- gewicht ging beim Zwerge Hopkins bis 6 kg und beim Zwerge Lucius bis 8 kg herab, obgleich gewöhnlich das Gewicht der Zwerge nicht weniger als 20 kg beträgt. Bei der Gewichtsbestimmung und bei der Berechnung der Mittel- werte für die verschiedenen Lebensalter wird nach Quetelet dieselbe mathematische Methode, welche bei den Massverhältnissen der Körper- länge erwähnt worden war, angewandt. Die Proportionalität der Körperteile. Obgleich man sich bis jetzt sehr viel mit der Frage von der Proportionalität des menschlichen Körpers beschäftigt hat und es wenige hervorragende Künstler und Philosophen giebt, welche sie nicht berührt hätten, so ist sie bis jetzt 1) L. FleischmanD. Klinik der Pädiatrik. P. I. Wien. 1875, pag. 158, 2) Traitö d' Anatomie etc. T. I, pag. 33—34. — 330 — • noch nicht vom wissenschaftlichen Standpuncte behandelt worden. Bis jetzt bestand alles nur darin, dass man auf practischem Wege nach einer Masseinheit suchte, welche in allen Körperteilen ohne Bruch ent- halten wäre. Hierbei blieb man bei der Länge des Fusses, der Hand, des Gesichts, des Fingers u. s. w. stehen. Man nahm an, dass, wie die Harmonie der Klänge bei gewissen Zahlen Verhältnissen der Schall- wellen zu einander entstehe, ebenso auch eine Harmonie der einzelnen Körperteile bestehen müsse. So suchte D. R. Hay ^) zu beweisen, dass die ästhetische Wirkung aller schönen Erscheinungen durch ein und dasselbe Grundgesetz erklärt werden müsse und dass die wahrhaft schönen Formen des menschlichen Körpers mit den Gesetzen der musikalischen Harmonie vollständig übereinstimmen müssen. Oft wurde die einfache Proportionalität der Form und des Baues mit ihrer ästheti- schen A¥irkung verwechselt. Alles das hatte natürlich nicht die Be- deutung der Gesetzmässigkeit und entsprach den wissenschaftlichen Anforderungen nicht. Gegenwärtig wird in der plastischen Anatomie die von A. Zeising-) vorgeschlagene Methode, welche augenscheinlich den practischen Anforderungen am meisten entspricht, jedoch nicht, wie der Autor meinte, auf einem morphologischen Gesetz gegründet ist, angewandt. Wenn, sagt Zeising, bei der Teilung eines Ganzen in ungleiche Teile die letzteren einander, proportional sein müssen, so muss sich der kleinere der Teile so zum grösseren verhalten, wie dieser sich zum Ganzen verhält, oder umgekehrt muss das Ganze sich zum grösseren Teil, wie dieser zum kleineren verhalten. Da man bei einer derartigen Teilung „im äusseren und mittleren Verhältnisse" einer Linie eine geometrische Proportion erhält, so muss man, wenn man die Körper- länge des gegebenen Menschen auf diese Weise teilt, eine Reihe von Zahlen erhalten, welche bei einer normalen Proportion den einzelnen Teilen des gegebenen Organismus sowohl in Bezug auf Länge, als auch in Bezug auf Durchmesser und Dicke vollkommen entsprechen. Wenn man die Körperlänge, welche z. B. ^= 1000 ist, auf diese Weise teilt, so erhält man den Teilpunct des ganzen Körpers, welcher dem Nabel entspricht und die Grenze zwischen dem Oberteil des Körpers (381,966) und dem Unterteil desselben (618,033) entspricht; ebenso erhält man am Oberkörper die Grenze zwischen Rumpfteil (236,667) und Kopfteil (145,898). Setzt man die Teilung auf dieselbe Weise fort, so teilt sich 1) The geometric beauty of the human figure defined; to shich is prefixert a System of aesthetic proportion applicable to architecture and the other formative arts. Edinburgh. 1851, und The natural principles of beauty, as developed in the human figure. 1852. 2) Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers. Leipzig. 1854. — 331 — der Kopf in einen oberen kleineren (55,728) und unteren grösseren (90; 169) Abschnitt; hierauf erhält man drei gleiche Abschnitte (34,441): von der Grenze des Haarwuchses bis zur Mitte der Augenbrauenbögen, von der Mitte der Augenbrauenbögen bis zum Rande des Nasenflügels und vom Rande des Nasenflügels bis zum unteren Teil des Kinns, und zwei gleiche Abschnitte (21,286): vom Scheitel bis zur Grenze des Haar- wuchses und vom unteren Kinnrand bis zur oberen Grenze des Kehl- kopfes. Wendet man dieselbe Methode auf die obere Extremität an, so erweist sich, dass die ganze Extremität (437,694) sich zum unteren grösseren Abschnitt (270,509), der vom Vorderarm und der Hand ge- bildet wird, wie letzterer zum oberen kleineren, aus dem Oberarm be- stehenden Abschnitt (167,184) verhält; ein ähnliches Verhältnis besteht zwischen Vorderarm und Hand, als Ganzes genommen, dem Vorderarm, als grösserer Abschnitt (167,184), und der Hand, als kleinerer Abschnitt (103,325). In Bezug auf die untere Extremität findet man, dass die ganze Extremität (618,033) sich zum oberen grösseren Abschnitt, dem Oberschenkel (381,966), wie letzterer zum unteren Abschnitt, dem Unter- schenkel (236,067). verhält. Der Abstand zwischen Nabel und Damm gleicht dem Fuss (145,898), der Oberschenkel aber ist dem Unterschenkel gleich (S36,067). Alle diese Verhältnisse sind jedoch nur annähernd und entsprechen den wissenschaftlichen Anforderungen nicht, können daher wohl in der plastischen, nicht aber in der theoretischen Anatomie angewandt werden und können einem morphologischen Gesetz keineswegs als Grundlage dienen, obgleich Zeising auch zu beweisen sucht, dass die von ihm vor- geschlagene Methode sowohl für die Proportionalität der Krystallkanten, der einzelnen Teile der Zweige, Blätter und Blüten der Pflanzen, der einzelnen Körperteile der Tiere u. s. w. anzuwenden ist. Nach vorhandenen Messungen wird das Verhältnis der einzelnen Körperteile, z. B. bei Sappey, durch folgende Mittelwerte, welche bei der Messung von 40 Männern im Alter von circa 48 Jahren (21 — 78 Jahre) erhalten wurden, bestimmt: mittlere Körperlänge 169.2 cm, Rumpflänge 83,3 cm, Länge der unteren Extremität 85,9 cm, Länge der oberen Extremität 75 cm, Kopflänge 22,1 cm, Gesichtslänge 18,7 cm. Bei der Messung von 30 Frauen, die im Mittel 39 Jahre alt waren, war die Körperlänge 158,9 cm, die Rumpflänge 79,5 cm, die Länge der unteren Extremität 79,3 cm, die Länge der oberen Extremität 68,6 cm, die Kopflänge 21,1 cm, die Gesichtslänge 17,7 cm. Hieraus ergiebt sich, dass bei Männern die untere Extremität 2,5 cm länger ist, als der Rumpf, und dass infolgedessen sich die Mitte des Körpers 1,3 cm unter dem oberen Rande der Symphysis pubis befindet. Bei den Frauen ist im Mittel die untere Extremität um 2 mm kürzer als der Rumpf, so dass die Mitte des Körpers bei ihnen dem oberen Rande der Symphysis — 332 - pubis entspricht, indem sie bald 5 cm über denselben hervorragt, bald 0,5 cm unter denselben herabsinkt, während sie sich bei Männern 6,5 cm unter dem Eande der Symphysis pubis befinden kann. Die verhältnis- mässig geringere Länge der unteren Extremitäten bei Frauen kann man durch die mehr sitzende Lebensweise und die fortwährende, ge- bräuchliche Einschränkung der Bewegungen bei Mädchen erklären. Vergleichende Messungen der einzelnen Extremitätenteile deuten auf folgende Zahlenverhältnisse derselben in Centime tern ^) : Ober- sehenkel Unter- schenkel Fuss Vorder- Oberarm armnebst Hand Hand Männer Frauen Mittellänge Minimale Länge Maximale Länge Mittellänge Minimale Länge Maximale Länge 41,0 38,0 48,0 38,0 35,0 41,0 39,4 35,0 45,0 36,3 34,0 39,0 24,5 22,0 27,0 21,4 20,0 25.0 31,7 26,0 36,0 31,2 26,0 33,0 41,4 37,0 48.0 37,4 34,0 40,0 19,7 17,0 22,5 17,6 16,0 19,0 Vergleicht man diese Masse bei Männern und Frauen, so findet man, dass im Mittel jeder einzelne Teil der unteren Extremität bei Männern um 3 cm länger ist. Die Länge des Oberarms ist fast gleich, während Unterarm nebst Hand wiederum bei Männern um 4 cm länger sind. Alle diese Massverschiedenheiten kann man, wie auch die oben erwähnte Körperlängenverschiedenheit der Matrosen und der Infan- teristen der amerikanischen Armee, hauptsächlich durch die Verschieden- heit der Lebensbedingungen und der Thätigkeit der Knaben und Mäd- chen, wie auch der Männer und Frauen erklären. Man muss einen solchen Schluss auf Grund alles oben über die Bedeutung der Muskel- übung und das Verhältnis der Muskeln zur Körperstütze Gesagten ziehen. Was das Verhältnis des Brustumfanges zur Körperlänge betrifft, so meint Toldt'-), dass der Brustumfang einer bestimmten Grösse der Atembewegungen entspreche; letztere kann seiner Meinung nach als Mass für den Stoffwechsel im Körper dienen, von diesem aber hängt die Arbeitsfähigkeit des Betreffenden ab. Dieses alles ist augenschein- lich mit der Function der vegetativen Organe so eng verbunden, dass man zur Lösung dieser Fragen erst nach dem Studium der vegetativen Organe schreiten kann. Über die Proportionalität folgt aus allem über die Organe der activ-physischen Thätigkeit Gesagten, dass das Verhältnis der ein- zelnen Teile nur aus dem Verhältnis der Länge und des Gewichtes 1) Sappey, L. c, pag. 26. 2) Studien über die Anatomie der menschlichen Brustgegend mit Bezug auf die Messungen derselben. Stuttgart. 1875, pag. 77. — 333 — der Hebel zu der von ihnen entwickelten physischen Kraft und zum Grade der Zweckmässigkeit und Schnelligkeit (Gewandtheit) mit der sie wirken, gefolgert werden kann. Wenn man ihre Function kennt, so kann man nach Formeln die Form und die Dimensionen der einzelnen Teile des menschlichen Körpers und, umgekehrt, aus der Form und den Dimensionen der einzelnen Teile der Locomations- organe die Qualität und den Grad ihrer Thätigkeit bestimmen. Dieses ist die einzige wissenschaftliche Methode, welche die Proportionalität des menschlichen und überhaupt des tierischen Organismus darthun kann. Den 4./16. Mai 1892. Bericiltiguiigen. S eit e 16: „Fundamentallamellen findet man erstens an der Oberfläche des Knochens unmittelbar unter dem Periost," Seite 186 unten, statt „Die Architektur des Fusses" lies j^Die Architektur des Beckeus." Druck von W. Hartmann in Leipzig. COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES This book is due on the date indicated below, or at the expiration of a definite period after the date of borrowing, as provided by the library rules or by special arrangement with the Librarian in Charge. DATE BORROWED DATE DUE DATE BORROWED DATE DUE ■ WR Z 5 im MAY 1 0 19 15 C2a(842)M50 \ COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES (hsl.slx) QIV123L56C.1 ^ , , ^^ ^,.,i„-„„H.,thonrptKf-hRn Anatomie. L56 t.l Druck von W. Hartmann in Leipzig.