.d u Ka FE 73 u aJde Bi vo “un ee Ze a HANDBUCH DER PHYSIOLOGIE DES MENSCHEN | IN VIER BÄNDEN BEARBEITET VON CHR. BOHR-KoreEnHaAGeEn, R. pu BOIS-REYMOND-Beruın, H. BORUTTAU-GörrımeeEen, 0. COHNHEIM-Heipengere, M. CREMER- München, 0. FRANK-Münchzen, M. von FREY-Würzpgure, A. GÜRBER- Würzsurg, F. B. HOFMANN-Leizie, J. von KRIES- FREIBURG 1. BR., 0. LANGENDORFF-Rosrock, R. METZNER-Baser, W. NAGEL-Berrm, E. OVERTON- Würzsurg, J. PAWLOW-ST. PETERSBURG, K. L. SCHAEFER- Beruin, FR. SCHENCK-MaArgurRrG, P. SCHULTZ-BerLıs, H. SELLHEIM- FREIBURG 1. BR, T. THUNBERG-Upsara, R. TIGERSTEDT-Heusiserors, A. TSCHERMAK-Harte, E WEINLAND-München, OÖ. WEISS-KÖNIGsSBERG, 0. ZOTH-Graz HERAUSGEGEBEN VON W. NAGEL IN BERLIN MIT ZAHLREICHEN EINGEDRUCKTEN ABBILDUNGEN DRITTER BAND PHYSIOLOGIE DER SINNE BRAUNSCHWEIG DRUCK UND VERLAG VON FRIEDRICH VIEWEG' UND SOHN 1905 HANDBUCH DER PHYSIOLOGIE DES MENSCHEN HERAUSGEGEBEN VON | W. NAGEL IN BERLIN DRITTER BAND PHYSIOLOGIE DER SINNE BEARBEITET VON J. von KRIES-FRreıBure 1. BR., W. NAGEL-Berım, K. L. SCHAEFER-BerLIm, FR. SCHENCK-Margurs, T. THUNBERG-Upsara, O0. WEISS-KönıssBerse, O0. ZOTH-Graz MIT 134 EINGEDRUCKTEN ABBILDUNGEN UND 2 TAFELN zeft BRAUNSCHWEIG DRUCK UND VERLAG VON FRIEDRICH VIEWEG UND SOHN 1905 Alle Rechte, namentlich. Ausjenige dor Ferse in IORWORE F ünfundzwanzig Jahre sind gerade verflossen, seit L. Hermann .sein großes Handbuch der Physiologie herausgab, das uns allen unent- behrlich geworden ist und es noch lange bleiben wird. Wenn ich es jetzt unternehme, ein neues Sammelwerk über Physiologie den Fach- genossen vorzulegen, so bin ich wenigstens darin der Zustimmung Vieler sicher, daß es keine überflüssige Arbeit war, wieder einmal unter Zusammenfassung der Kräfte mehrerer Forscher das jetzige Wissen auf physiologischem Gebiet festzulegen. Viel Neues haben die Jahre, die seit dem Erscheinen des Hermannschen Buches dahin- gingen, uns gebracht, die Anschauungen über manche Dinge haben sich von Grund aus geändert, auf manchen Gebieten ist die erregte Erörterung zur Ruhe gekommen und hat einer verhältnismäßigen Klar- heit Platz gemacht. Neue Forschungsmethoden und neue Forschungs- gebiete sind uns erschlossen worden; ein modernes Lehrbuch muß an- sehnliche Kapitel über Gegenstände enthalten, die man noch vor 20 bis 30 Jahren kaum mit einem Worte berührte. Fast noch wichtiger als für den Fachphysiologen erschien mir .die Schaffung eines neuen Handbuches der Physiologie für die Vertreter der Nachbargebiete. Der Zoologe, der Anatom, der Pathologe, Neu- rologe, Psychologe, Psychiater, der Ophthalmologe, sie alle kommen häufig genug in die Lage, sich über die Stellung der Physiologie zu dieser oder jener Frage genauer unterrichten zu wollen, als es aus den für Studierende geschriebenen Lehrbüchern geschehen kann. Die physiologischen Zeitschriften und die monographische Fachliteratur sind nicht leicht genug zugänglich; ein größeres Handbuch ist in solchem Fall das erwünschte Hilfsmittel. Diese Erwägungen veranlaßten mich, als die Verlagshandlung Friedr. Vieweg & Sohn an mich mit der Anregung zur Herausgabe eines Handbuches der Physiologie herantrat, diesem Plane lebhaftes Interesse entgegenzubringen und den Versuch zu machen, ob ich unter den Fachgenossen die entsprechende Unterstützung fände. Ein Sammel- VI Vorwort. werk mit Beteiligung nicht zu weniger Autoren konnte von vornherein ° nur in Betracht kommen, wenn die einigermaßen gleichwertige Durch- arbeitung der verschiedenen Gebiete gewährleistet sein sollte. Ich hatte das Glück, in Deutschland und im Auslande hervor- ragende Forscher zur Mitarbeit bereit zu finden, und so unternahm ich die Herausgabe des Werkes, dessen Veröffentlichung nun beginnt und, wenn kein unvorhergesehenes Hindernis eintritt, binnen Jahres- frist beendigt sein dürfte. Das ganze Werk soll aus vier Bänden zu je etwa 40 Bogen be- stehen. Es soll eine Zwischenstufe bilden zwischen unseren verschie- denen Lehrbüchern für Studierende und den umfangreichen Dar- stellungen der Physiologie, wie sie das französische Dictionnaire de physiologie gibt und wie sie sich aus dem verdienstvollen Werke von Asher und Spiro, den „Ergebnissen der Physiologie“, in gewissem Sinne entwickeln wird. Vollständigkeit der Literaturzitate muß Werken der letzteren Art vorbehalten bleiben, das Handbuch dagegen soll eine von zuständiger Seite getroffene Auswahl aus dem vorhandenen Material an veröffentlichten Untersuchungen bieten, die wichtigsten Werke zitieren und demjenigen, der tiefer in das Studium der Physio- logie eindringen will, die Wege ebnen. Inwieweit uns dies gelungen ist, werden die Fachgenossen zu entscheiden haben. So manches wird an einem derartigen Buche auszusetzen sein. In erster Linie wird die Anordnung des Stoffes nicht jedermanns Beifall finden. Doch ich getröste mich der Nachsicht der Fachgenossen, denen es allen bekannt sein wird, daß es eigentlich unmöglich ist, das Gesamtgebiet der Physiologie in einer wirklich befriedigenden Weise einzuteilen, und nun gar noch, wenn es sich um die Verteilung des Materials an eine größere Zahl von Mitarbeitern handelt. Mannigfache Gründe, deren Erörterung nicht hierher gehört, nötigten zuweilen, ein Gebiet der Physiologie zu teilen, den einen Teil diesem, den anderen jenem Autor zur Bearbeitung zu übergeben, während es am wünschens- wertesten gewesen wäre, das ganze Gebiet ungeteilt in einer Hand zu lassen. Auch Hermann hat ja seinerzeit die gleiche Schwierigkeit gefunden, wie er in seinem Vorwort erwähnt. Immerhin habe ich mich bemüht, das einzelne Arbeitsgebiet, wo irgend möglich, so abzu- grenzen, daß es sich zu einem abgeschlossenen Ganzen rundete. Dies schien mir wichtiger und für Autor wie Leser befriedigender, als wenn das Hauptaugenmerk darauf gerichtet worden wäre, zu vermeiden, daß ein und derselbe Gegenstand in verschiedenen Kapiteln, von verschie- denen Autoren besprochen und verschieden beurteilt wird. # 8 » ? E 3 " i Vorwort. vu ' Die Reihenfolge, in der die einzelnen Kapitel sich aneinander- schließen, war in vielen Fällen durch den sachlichen Zusammenhang ohne weiteres gegeben. In anderen Fällen, wo man über die zweck- mäßigste Art der Aneinanderreihung im Zweifel sein konnte, habe ich äußere Gründe entscheiden lassen, die Reihenfolge des Eingangs der Manuskripte, den Umfang der einzelnen Kapitel usw. Die beiden ersten Bände, die den Stoffwechsel und die Ernährung behandeln, bilden ‚eigentlich ein einheitliches Ganzes, und der Schnitt, der notwendig war, um einen zu voluminösen Band zu vermeiden, ist hier natürlich ganz bedeutungslos. Die Physiologie des Menschen sollte das Handbuch behandeln; die Untersuchungen an Tieren sollten nach unserer Verabredung nur insoweit herangezogen werden, als das Tier bei den Versuchen gewisser- maßen für den Menschen substituiert gedacht ist. Das geschieht nun bekanntlich in sehr vielen Fällen, große Abschnitte stützen sich fast ausschließlich auf Tierversuche. Nur die eigentliche vergleichende Phy- siologie, so interessante Ergänzungen sie vielfach geboten hätte, mußten wir, von einigen speziellen Fällen abgesehen, beiseite lassen, um das Werk nicht allzusehr anschwellen zu lassen. Das Prinzip, die Physio- logie des Menschen in den Vordergrund zu stellen; hat mich auch bei der Bemessung des relativen Umfanges der einzelnen Kapitel ge- leitet, die in einzelnen Punkten von der in vielen Lehrbüchern üblichen abweicht. Denjenigen Kapiteln wurde mehr Raum gegeben, die für die Kenntnis der Lebensvorgänge im menschlichen Organismus besondere Bedeutung haben und demnach den Arzt am nächsten be- rühren. Einzelne Kapitel freilich sind stark über meine Veran- schlagung hinaus angewachsen. Eine Eigentümlichkeit der durch Zusammenarbeit Vieler ent- standenen Werke ist und bleibt ja immer die Ungleichartigkeit in der Darstellung der einzelnen Gebiete. Daß diese Ungleichartigkeit sich auch auf rein Äußerliches erstreckt, ist in gewissem Sinne bedauerlich, aber wohl kaum zu vermeiden. Das Maß der Literaturangaben und der nötigen Abbildungen bemessen die einzelnen Autoren bekanntlich sehr verschieden. Der Herausgeber kann hier nur ungefähre Anhalts- punkte geben, nicht aber seine eigenen Grundsätze durchführen. Hin- sichtlich der Abbildungen habe ich im allgemeinen auf Sparsamkeit mit solchen Figuren hinzuwirken gesucht, die, ohne das Verständnis des Textes wesentlich zu fördern, mehr nur zur Dekoration gedient hätten. An wirklich instruktiven Abbildungen aber ist nicht gespart worden. Die Verlagshandlung hat in dieser wie in jeder anderen Hin- VII Vorwort. sicht ein weitgehendes Entgegenkommen bewiesen und dem Heraus- geber die nicht immer ganz leichte Aufgabe in verschiedener Richtung nach Möglichkeit erleichtert. Ich benutze gern diese Gelegenheit, der Verlagshandlung Friedr. Vieweg & Sohn auch an dieser Stelle meinen wärmsten Dank zu sagen. Herrn Dr. Piper habe ich für wirksame Unterstützung bei der umfangreichen Korrekturarbeit bestens zu danken. Zu herzlichem Dank bin ich den Herren Mitarbeitern verbunden, die sich bereit finden ließen, gemeinsam mit mir dieses neue Hand- buch der Physiologie zu verfassen. Möchte es uns gelungen sein, ein Werk zu schaffen, das Vielen gute Dienste leistet. Berlin, im Juli 1904. Wilibald Nagel. INHALTSVERZEICHNIS. Allgemeine Einleitung zur Physiologie der Sinne. we Seite 1. Die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien von W. Nagel .. 1 2. Zur Psychologie der Sinne von J. v. Kries . . . .: : 2: 2 2 m m ran 16 Räumliche und zeitliche Ordnung der Sinnesiindiichs N 16 Grenzen der Wahrnehmung und Unterscheidung. Schwellenwerte . . . 18 PORSRSGHRONGESWBIGHBBSEN - > + = 0 = nun 22 Theoretisches.. Messung der Bupändungsiätken. Fechners psycho- PIERRE = 0020 ee ee te RR 23 Theorie der spezifischen Vergleichungen. Psychologische Ahalys rat 25 Der Gesichtssinn. 1. Dioptrik und Accommodation des Auges von Fr. Schenck .... 30 2 Pnesiknlisohe Vorbemerkungen - . ...: 2% Ausace TER, 30 1. Maß der Konvergenz eines Strahlenbündels . . .» 2 2 2222 .. 30 x 2. Brechung an einer sphärischen Fläche . . . . . 2. 2 2 2 2 2 2 020% 30 3. Konjugierte Punkte, Knotenpunkt, Hauptpunkt und Hauptebene . . 32 4. Brennpunkte und ihre Beziehungen zur Brechkraft . ....... 32 PER BETOBE . =... = 2 02 0.2.00 ee Aa A 33 6. Brechung in einem zentrierten kt von mehreren sphärischen BIROHBDEN Eine ee ee era tan ee mn ae EEE NER 33 7. Berechnung der Kardinalpunkte eines "Systems Tee RE) le a 36 U. Die Lichtbrechung im normalen ruhenden Auge ..... . 38 A. Die optischen Konstanten des menschlichen Auges . . ...... 39 K)DierBfechungsindices der Medien... ..... “l-sle.e ae are. 39 Me Baien der Flächen . .... : . 2 0 oneksmeen ER 1: Der Radius der vorderen Hornhautfläche a ER RE ee 41 Der Radius der hinteren Hornhautfläcke . . .. 2.2.2... 42 Der Radius der vorderen Linsenfläche. . . ..... m Re Der Radius der hinteren Linsenfläche . . . . 2... 2 22... 44 3. Die Abstände der brechenden Flächen . . . 2.222 22.2.0. 44 sssDicke:’der Hornhaut..." 0." nesare we e 44 Me Tiefe der vorderen Kammer . .. 1. 2/00 0 ea a . 44 Die Linsendicke . . - Pe NEN SEN Se re 45 B. Die Kardinalpunkte des Augen ie ee 45 C. Emmetropie; Refraktionsanomalien . ». 22222220. ee BL Die Accommodation des Augas Wr. n0ls Ma see ER , A. Die bei der Accommodation tatsächlich nachweisbaren Veränderungen 50 1. Veränderung der Linsenkrümmung . » . » 222 2 22.0. .. 50: 2. Vorrücken des vorderen Linsenscheitels . . . . 2 2.2.2... at X Inhaltsverzeichnis. 3. Linsenschlottern 4. Vorrücken der Ciliarfortsätze Re 5. Konstanz des intraokularen Druckes . . . B. Der Mechanismus der Accommodation . . 2... C. Maß der Accommodation 8 2 Bestimmung des Nahepunktes und Pornpunkteh EL D. Innervation des Accommodationsmuskels. . » 2. 2 2 2 2 2 2. 1. Anhang. Aphakie 3 a 2. Anhang. Accommodation in der Tierreih6 RE RENNER RN IV. Unvollkommenheiten des dioptrischen Apparates des Auges A. Polychromatische Aberration . . » .... 6 BE N RE TE B. Monochromatische Aberration! . . u. sure u... 0a 1..Sphärische Aberration , WW... +... Er 3 2. Astigrmatismus.an. 7, ya a a RE Astigmatismus bei kenkiegkler Insidenz der Strahlen, aber bei nicht genau sphärisch gekrümmten Flächen ....... Astigmatismus bei schiefer Inzidenz eines Strahlenbündels . . Astigmatismus durch mangelhafte Zentrierung . . ..... 3. Mangelhafte Homogenität der Medien . . 2.222.200. Anhang. Die Menge des zur Netzhaut Sander Lichtes V. Kompensation der ungenauen Abbildung im Auge durch physiologische Einrichtungen . !. 2... 202.2 ne 00. VE Die Iris. =... ul cenwl2a2. was enter a RE TEE SE: A. Dioptrische Bedeutung ik Iris ee wahr Le asie a ER EEE See B. Mechanik. der Irisbewegung . . ....0 22%. note ae 0. Innervation der Irismuskeln- % 7.277 Ey 7.5 > Te lea Die Pupillarreflexbahn.. . .) 2. Hu A ST ea VD. Theorie des. Augenspiegels . “ung -nss nn ee ee 2. Die Wirkungen des Lichtes auf die Netzhaut von W. Nagel ... I. Die objektiven Erscheinungen der Netzhauterregung. ... 1. Veränderungen des tinktoriellen Verhaltens und der chemischen Re- aktion der Netzhautelemente unter dem Einfluß des Lichtreizes .. 2. Bewegungserscheinungen an den Netzhautelementen . .. 2... a) Die phototrope Reaktion des Pigmentepithels b) Die Kontraktion der Netzhautzapfen unter dem Einfluß de Liöhts . Der Sehpurpur . „-. 0 +. 10-0 20 Bernau Hemer lee 4. Die elektromotorischen Wirkungen der Netzhaut RE 3 a) Der Ruhestrom (Dunkelstrom) . .» » 2... Pe b) Die Stromesschwankungen bei Reizung durch Licht a a I. Der Ort der Reizwirkung des Lichtes beim Sehen & 3. Die Gesichtsempfindungen von J. v. Kries. . I. Die Gesetze der Lichtmischung Physikalische und technische Vorbemerkungen Die einfachen Lichter... . - SEE Begrenzung des sichtbaren ee a Allgemeine Gesetze der EEE ee Die Purpurtönen.....2 ee 2 a we er Mischung zweier \engweie ialer Schwerer uklion: Mischung beliebiger Lichter. Farbentafel Aichung eines Spektrums er Komplementärfarben. Rot-Grün- Mischiigei) MEBZTNBEN. , Individuelle Unterschiede der Mischungsgleichungen . 92 101 101 102 105 109 110 110 112 113 113 114 114 116 119 120 123 Inhaltsverzeichnis. xı Seite Jusmhie trichromatische Systeme ... EN N} Die Theorie der Gesichtsempfindungen von Th. "Young und Meimholtiz . . . . nun nein eo Bee 127 1I. Die Gesichtsempfindungen und ihre psychologische Ordnung 132 Benennungen objektiv definierter Lichter . . . . x 2: 2 222 2.0. 132 Aufgabe einer subjektiven Betrachtung der Gesichtsempfindung . . 133 Dreifache Bestimmtheit der optischen Empfindungen . . 2.2... 134 Gegenseitige Beziehungen der optischen Empfindungen . ..... 135 Die Prinzipalempfindungen. Auberts Vierfarbentheorie . ..... 137 Beziehung der Übergangsempfindungen zu den prinzipalen. Psycho- | IOPISCHBRAHBNNEO 2 en ee ee DEE 139 i Ergebnisse der Bschologischen Betrachtung in bezug auf die physio- | logischen Vorgänge . . ee an Er TE GE 142 | Herings Theorie der Begenkaban. ee arena Re Fe 144 IH. Die dicehromatischen Farbensysteme . . .. 2... Seo nlen 149 Angeborene partielle Farbenblindheit . . . .... 2: 2 m. 2 2.2. 149 Allgemeine Gesetze der Lichtmischung. Dichromatisches Sehen . . 151 Spezielle Verhältnisse der Lichtmischung. Das protanopische und das zsoaulmranopische:.Behörgan . . . 2. 2... Sonn a 2 . 152 Individuelle Unterschiede physikalischen Ursprungs . . .» 2 .... 156 Lage des neutralen Punktes im Spektrum. Rot-Grün-Verwechslung 157 e Beziehungen der dichromatischen zum normalen trichromatischen - EL RR WERE RN. 159 Ergebnisse für das normale Sehen . ..... 2222er ner. 161 Erklärung der Farbenblindheit aus der Helmholtzschen Theorie . 163 u .-- Empfindungen der Dichromaten . . .». seven... 164 Mlanbinabein 2,0... 0 0:0 a en joker wre ee ee 166 IV. Die Adaptation des Sehorgans.. Dämmerungs- und Tages- sehen. Die angeborene totale Farbenblindheit ....... 168 > 3 Die Adaptation des Sehorgans. Schwellenwerte und Empfindlichkeit 168 Örtliche Unterschiede der Empfindlichkeit im dunkeladaptierten Auge 170 Das Sehen des dunkeladaptierten Auges. Dämmerungssehen . . . . 172 Unterschiede des Dämmerungs- und Tagessehens. Purkinjesches RE. ee a ee Re ae 176 Isolierung des Be merungssehens. Schwellen des Tagessehens. . . 179 Isolierung des Tagessehens. Fehlen des Dämmerungssehens im Netz- BERRTDRBERRINEIN N 0 20a ae ee ca ae ee aeg et Absolute und Eezifische Schwellenwerte. Farbloses Tntarvail; 0,7183 Hypothese über die Funktion der Stäbchen. ie Be- ee ie DE BER 2 a Se nn uni deutung des Sehpurpurs . .». . 2:2... 0... EN Örtliche Unterschiede der Stäbehen- und Zeptentänktion Be 187 Großa,des stähchenfreien Bezirks. . . 2... sel elinat eis 187 " Qualität der durch die Stäbchen hervorgerufenen Empfindungen . . 188 E Die angeborene totale Farbenblindheit .. 2». 2.2.22... Pe. , Herings Lehre von der spezifischen Helligkeit der Farben‘. . . . 192 V. Das Sehen der exzentrischen Netzhautteile .. ....... 193 | Ausdehnung des Gesichtsfeldes . . ... .» 193 | Abweichung des Farbensystems der exzehtkinchient Teile vom Sibernlen 194 j Örtliche Ungleichheiten des Dämmerungssehens . . . » 2 2... 195 Örtliche Unterschiede des Tagessehens. Allgemeines ..... 196 Die Farbenblindheit der Peripherie; dichromatische und total aber. Dhside Zone. : S 2.22 2.0 00. 00 0 west ee ae rn he FAR, Barbengesichtsfelder . - . . - ehe sr uud we ae an 199 Exzentrisches Sehen der Dichrommiah EEE u ne .. 200 Muadretisches : : 2". 12. 070 u. NN SEE a RE XI Inhaltsverzeichnis. VI. Positive und negative Nachbilder. Lokale und Farben- umstimmungen des Sehorgans . ur Positive und negative Nachbilder . Fechner-Helmholtzsche Auffassung ER en Eh negativen Nachbilder Einfluß der‘ Stihraung‘ auf das Verhalten te ehe bei Ab- wesenheit von äußeren Reizen Einfluß der Stimmung des Sehorgans auf "die Auch: Lichtreize. Ker- vorgerufenen Erfolge. . . . Be ball: en re Persistenz der optischen Gleiehiiigen ENT Sonate ge Der Koeffizientensatz . . . . N ET Umstimmung durch farblose Liöhter ee Farben-Umstimmung h » Zeitliche Verhältnisse der osimmnng Theorien der Umstimmung VI. Zeitliche Verhältnisse der Lichtwirkung.. . Wirkung kurz dauernder Reize Theoretisches . . ; Das Ansteigen der Err BERN bs Kanaraler Behelkun. ı Das Abklingen positiver Nachbilder Wirkung periodischer Reize VII. Induzierte Licht- und bembenre Licht- und Farbeninduktion. Simultaner Kontrast Gleichsinnige ‚Induktion. A 1 N eye Successive Licht- und Forbenfnäüktion Bun Theorien der Licht- und Farbeninduktion Zur Kritik der Kontrasttheorien Farbeninduktion durch weißes Licht IX. Grenzen der Wahrnehmung und BER Spezifische Vergleichungen. ...»... a Einfache Schwellen . . ..... Unterschiedsschwellen . . . ER ET Zeitliche Unteschöidungsfhkigkeib; Verschmelzungsfrequenz Re Spezifische Vergleichungen. Helligkeit ungleichfarbiger Lichter . . Sogenannte Methoden der heterochromen Photometrie . r Andere spezifische Vergleichungen . . .... X. Krankhafte und PERETIRUNESE erzeugte Modifikationen des Farbensinnes .. . TE Hr Erworbene Störungen die Farbeikkinen ER Te Wirkung des Santonins auf den Farbensinn XI Wirkung nicht adäquater Reize auf das Sehorgan . .....- XI. Übersicht der Tatsachen. Ergebnisse für die theoretische Auffassung des Sehorgans . .. . 2.0. ne. ; Hauptgruppen der Tatsachen. S ER des Tages- un. Hände TUNDBSENena "sh a a een ee ee ne Trennung der farbigen TRETEN vom Arien Sehen Dreikomponentige Gliederung des ia Zonentheorie = vie au. on. v Andere Theorien der N Day en ind dus Gekarh". Abschließende Bemerkungen. Stand der theoretischen Probleme Seite 205 205 206 208 208 209 211 212 213 215 217 220 220 226 226 228 230 232 232 236 237 237 241 245 246 246 249 252 256 258 . 260 261 261 263 264 266 266 267 268 269 274 279 gen Inhaltsverzeichnis. 4. Augenbewegungen und Gesichtswahrnehmungen von O. Zoth En Die uumenbawegungen . . 0.00 u 0.2 0 0a ae A. Mechanik der Bewegungen des Augapfels . . . 2.2 2 2 2 2 2 0. . Lagerung des Augapfels . . .. 2... Rt. Bassmen:den Augepfels. . » «2» »e.0.. 0 un = u minos-Aupenmuskeln . . ... ..... ve a de re ET: ianmmends Mechanismen . . . 2.200 0 wu „Lage der beiden Augen zueinander. . . 2 2 22 2 0 nee. LEWERDUBRE GBE AURES . 2 0 re % Wirkungen Ger Augenmuskeln . . . . . “20 00 ln 8: Schemata, @phthalmöotröpe . . . » » 22. m Pr RI B. Physiologie der Augenbewegungen . . . 2 2 2 2 2 2 Kl nm 2 20. 1: Allgemeine Bgmimologie . . » 2. 03 u 2.0 0 vi ae SICHTOBUNEREEEEEE Serie =: nie ie cs ee aa aaa eur ge 3. Augenbewegungen bei Konvergenz der Blicklinien. ...... 4. Augenbewegungen und Kopfbewegungen . . .» 2.2.2 2 2.0. 5 6 oo» ovw . Assoziation der Augenbewegungen . -. . 2 2 2 2 2 2 2 22. . Ungewöhnliche Augenbewegungen . . . 2.222 2 2 2 le. . Prinzipien und Ursprung der Augenbewegungen. .. 2»... C. Innervation der Augenbewegungen . . . . 2. 2.2.2.0. Ba 1. Die Augenmuskelnerven und ihre Ursprünge . ... 2.2 .2.. 2. Gegenseitige Beziehungen der Ursprungskerne . . . . 2.2... SIEH za Behnerven ... » 2... 2 2 2.00 00 oe. Beziehungen: zur Großhirnrinde .. 2 s/eln.u ae 2 see SEERNBTIRRERERSBUND 2 «San area een are ee Re RE 1 Br Damuanasulare SOhen: ..2... 2. 200. 0. re re a BBSBmeIHEHIBERIE Behschärfe: 2.1. ne Wenn ea ne ee 3- Wahrnehmung einzelner Punkte . .. -. 2... u... ern Seren 2. Sehschärfe im direkten Sehen (zentrale Sehschärfe) ..... . SeBehschärfe im indirekten Sehen : .- . . . suo-eiihe ak. Dr ImemRe Projektion : . --: ».0:2 000.0 euere ed tete a Tepasmonnculare Gesichtsfeld - °. :. . Aue une ane ee ee 2%. Lokalisation mit unbewegtem Auge. . .». » 2... 0.0 .% 3. Das monoculare und das binoculare Blickfeld . .. 2». .2... 4. Lokalisation mit bewegtem Auge. . ». » . 2.220.000. 5. Wahrnehmung von Bewegungen . .. .. - EN Le ae C. Monoeulare Tiefenwahrnehmung . . » » » 2 2er een. 1. Erfahrungsmotive der Tiefenwahrnehmung . » 2»... re... 2% BintußB der: Accommodation =: ':... . “re... u ale ee 3. Einfluß von Bewegungen . ». » : x. ve. eeeer nee .D. Monoculare Größen- und Entfernungsschätzung . » » .: ».... 1. Das. Augenmaß . x. ...x PR Fa re 2. Täuschungen des Augenmaßes . » 2: cc... nennen Dee Bmocwlare Sehen : .. . :.. 2.00.00 Ara mue keilar ee A. Einfachsehen und Doppeltsehen . » ». » » » ve... 000. 1. Korrespondenz der Netzhäute ... .. 2... 2. Binoculare Projektion - - » » «ee... 00er en DOES ER EEE B. Binoculare Tiefenwahrnehmung.. . ..» » eu 2 85 0 le elnlereie 1. Einfluß der Konvergenz . ». » «er... 00 nenne 2. Binoculare Parallaxe. Tiefensehschärfe . . ». ». . 2 2.2.2... 3. Einfluß der Blickbewegungen . » ». ve nenne nee.ne 4. Täuschungen der binocularen Tiefenwahrnehmung . ..... O.Bkersoskopie - - - - » » . 0 0 el. a a er SEELE es 1. Grundzüge der Stereoskopie . “2 2 22 es. nee 2. Verschiedene Apparate und praktische Anwendungen . . . . .» 3. Wettstreit der Sehfelder . . +. wis era elta XIV Inhaltsverzeichnis. 5. Die Ernährung und die Zirkulation des Auges von O. Weiß IL. Die Ernährung des Auges : : mE HE, . i 1. Die Ernährung des N. opticus . »...... RAR . Die Ernährung der Netzhaut’ . . . ... U... . Ernährung der Chorioidea, des Corpus eiliare und a hs . Die Ernährung der Sklera . Die Ernährung der Cornea . Die Ernährung der Linse . Ernährung der Conjunctiva SO PO@OMN Der Einfluß von Nerven auf die Ernährung des Auges 108 1. Einfluß des Sehnerven . 2. Einfluß des Sympathicus Die Zirkulationsverhältnisse des Auges A. Die Blutzirkulation . . 1. Die Zirkulation in der NatchEnk. 1. Arterien 2. Venen ; 2. Die Zirkulation in u Adam 3. Die Zirkulation in den übrigen Teilen 8 Orbita, Die Innervyation der Retinagefäße . . . ...... Die Innervation der Gefäße des Aderhauttractus . Die Innervation der Conjunctivagefäße B. Die lymphatische Zirkulation des Auges . . . . I. Humor aqueus . . Gründe, welche für. eine Strömung in der vorleren“ Könner sprechen . : - Die Herkunft des Heinor Enuack Der Abfluß des Humor aqueus . Über den Einfluß des Sympathicus | Ads Trigeminus auf den Humor aqueus Veränderungen der Zusammensetzung abs en pet ver- schiedenen Eingriffen . . I: Humor vitreus. 3. 7 er a ee Der Flüssigkeitewechsel fi im "Msskörper h Die übrigen Lymphräume des Auges . II. Der intraoculare Druck . . Einfluß von Nerven auf die Höhe äss re inckes 6. Die Schutzapparate des Auges von O. Weiß .. . 1. Die Brauen und die Wimpern ... 2. Die Augenlider . 3. Der Tränenapparat . ar m Der Gehörssinn. Von K. L. Schäfer. I. Von den Tonempfindungen. a) Untere und obere Hörgrenze . . b) Die EEE: für Tonhühen c) Die Tonfarbe . . 5 d) Intensitätsschwelle and "Hörschärfeprüfung e) Die NEN für Tonstärken f) Kürzeste Töne Fe A g) Anklingen und Abklingen . h) Nachempfindungen i) Ermüdung De Er Sa Zi ENTER Be a ? 2 un Lu 2.22 ee ET ee: : Seite u vonder Klangwahrnehmung. 4 N EV ERITARER, 512 a) Die mathematische und graphische Klangzusammensetzung und -zer- he N Ta er Le Te ER TIERE 512 b) Die physikalische Klangzerlegung . . . 2... 2 2 2. Kerr 0. 514 ce) Die physiologische Klangzerlegung er te Be ern 515 En an an enle EEE N 516 HI. Von den sekundären Klangerscheinungen. . .» 2 2.2.2.0. 522 Veen. ERRLENT ER 522 DENE EHRE = <> <=» = 0 one: a seen mr are Mar 525 c) Die Variations- und sog. Unterbrechungstöne . ... » 2: 2 222.0. 532 IV. Von den Tonempfindungen in musikalischer Beziehung . . . . 536 ee EEE = ©... 40.2 0000: 0 a ae 537 b) Tonverwandtschaft und Leiterbildung.. - - ». 22.2.2000. 539 c) Intervallsinn und absolutes Tonbewußtsein . . » 2: 2: 2: 2 22200. 540 V. Spezielle Physiologie des Gehörorgans . . . .....n. na 0%. 542 a) Anatomische Vorbemerkungen ... .. - “.. 2.0. cl ald. 542 b): INA Enz Gen Anberen Ohres . .. . . 2.2.2... 2 we 547 0) Ds Penn 088 Maktelohres :- aus 0a. ee ae ae 550 d) Die Funktion der Schnecke. - Die wichtigeren Hörtheorien . ..... 562 e) Kopfknochenleitung. Diotisches Hören. Schallokalisation . . .... 573 EEREEREEEREBAN ee Tea ne aa Dre 579 a) Physikalisches und Physiologisches . . » » 2 2 22222000. 579 5: ene nase feneis are ee SEA 586 Der Geruehssinn. Von W. Nagel. = 1. Das Geruchsorgan. Die Riechnerven - ..... zuuneens na 589 H. Von den Eigenschaften der Riechstoffe. . . ..... we... 593 II. Der Weg des Luftstromes beim Riechen . ... 2... .. 596 IV. Die Reizung des Riechorganes . ..... 2.0. . nd... 600 a) Die Reizung des Riechorganes mit adäquaten Reizen. ....... 600 b) Die Reizung des Riechorganes mit inadäquaten Reizen... .... 602 V. Olfactometrie und Odorimetrie. ...:: 222er 82. 603 VI. Die Qualitäten der Geruchsempfindung. Klassifizierungs- N EEE Vo. Die Unterschiedsempfindlichkeit . ..»... 2. .... er MER VII. Die zeitlichen Verhältnisse der Geruchsempfindung. ... . 612 IX. Ermüdung des Geruchssinnes ... . cv... 613 X. Mischungs- und Kompensationserscheinungen auf dem Ge- biete des Geruchssinnes . ... ce eeeeeeen. 614 XI Umstimmungs- und Kontrasterscheinungen. ......... 616 XI. Lokalisation der Geruchsempfindungen. ..... 2.0... 617 XII. Geruchswahrnehmungen und Geruchsreflexe. ........ 617 XIV. Geruchssinn und Affekt .... ... .ou Wu. ne ee 619 Inhaltsverzeichnis. XV Der Geschmaeckssinn. Von W. Nagel. I. Das Geschmacksorgan; die Geschmacksnerven . . 2... 621 I. Von den Eigenschaften der schmeck.baren Stoffe ..... . 628 IH. Die Mechanik des Schmeckens. ..... ken re... 629 IV. Die inadäquaten Reize des Geschmacksorgans. Der elek- r80heö’ Geschmack . : » WW TARIERTER BE 2 Fa a A SR LEE 630 xXVI Inhaltsverzeichnis. V. Gustometrie und Saporimetrie.... . VI. Anomalien des Geschmackssinnes. Bkische Einflüsse VII Die Qualitäten der Geschmacksempfindung. . .. VII. Die spezifische Disposition der ‚einzelnen Gsiöhmankign. pillen. Die spezifische Energie der Geschmacksnerven .. IX. Umstimmungs- und Kontrasterscheinungen . X. Mischungs- und Kompensationserscheinungen FR} XI Die zeitlichen Verhältnisse der Geschmacksempfindung. XI. Die Unterschiedsempfindlichkeit ha a a XII. Gefühlsbetonung der Geschmacksempfindungen ...... Physiologie der Druck-, Temperatur- und Schmerzempfindungen. 4 Von T. Thunberg. I. Geschichtliche Übersicht RR I. Klassifikation der Hautempfindungen Er. IN. Sinnespunkte:’der Haus... 2.0... 7 1, en Die Methoden zur Aufsuchung der Brinöspunikee % Die Zahl und Anordnung der Sinnespunkte : Die anatomischen Bildungen, welche den Kiki smpihten ke : IV. Die Druckempfindungen ...... TEN ha Der adäquate Reiz der Drucknerven und seine Wirte Die Abhängigkeit der Druckempfindung, insbesondere ihres Estiwellen. wertes, von verschiedenen Faktoren . . . a AN & Der Meißnersche Versuch . ; RER Die Nervenkränze der Haarscheiden . . . ER Die Unterschiedsempfindlichkeit für Dindkreise" Der zeitliche Verlauf der Druckempfindungen V. Die Kälte- und Wärmeempfindungen Die ne ee Aa Fra Der adäquate Reiz . ” RT Die paradoxen Tahperalusehipiidungen HRSG LA DR NAHE Die Abhängigkeit der Dainpersturempfindungen ‚ besonders ihres Schwellenwertes, von verschiedenen Faktoren Die Eigenschaften des äußeren Reizes, welche auf den Reissrtalg:n von Einfluß sind: 0 sen ee Die Unterschiedsempfindlichkeit für Kälte- und Wärmeuden rer Der zeitliche Verlauf der Temperaturempfindungen . . » ...... VI. Die Hautschmerzempfindungen .... 2222. e rer.» Die Schmerapunkte ı: 1 He.» ua Won ara RE ei Summationserscheinungen bei der Kunllea des Schmerzes . . Die verschiedenen Schmerzqualitäten ... 2.2.2200. Die bei schwächster Erregung der Schmerznerven entstehenden Emp- Andungans a ve ge U a Rn ae a Die Schmerzempfindlichkeit verschiedener Hautstellen. Algesimetrie Schmerzempfindlichkeit der Mundhöhle . . »... 22.2.2220... VI. Die Schmerzempfindlichkeit innerer Teile .......... VOL Die Empfindungen von Kitzel und Jucken .......... IX. Zusammengesetzte Hautempfindungen und ihre Analyse X. Die Apperzeptionszeiten der Hautempfindungen. ...... XI Die Lokalisation der Hautempfindungen . x... r.. 0. Lokalzeichen. Orts- oder RBaumsinn . . .. . » Se tn > Die Untersuchungsmethoden . » » +» Frhr er en ne RR Die Abhängigkeit der Simultanschwellen von verschiedenen Faktoren , 647 649 651 652 653 654 656 658 659 663 663 664 667 669 670 673 678 679 685 685 688 688 690 693 693 695 696 699 699 703 706 708 7ı1 rı1 713 723 Inhaltsverzeichnis. XVo u Seite Wahrnehmung der Größe und der Gestalt der Objekte .. 2.... 726 Die Lokalisation der Temperaturempfindungen . . x» 2. 2.2.2.2... 727 Die Lokalisation der Schmerzempfindungen . » » 2.22.20. 728 Mitempfindungen und verwandte Erscheinungen . x» » . 2.2... 728 Verwechslungen durch fehlerhafte Lokalisation . .» 2»... 2... 729 XH. Die Subjektivierung und Objektivierung der Hautempfin- BURGOHEN ne ee a er Be 730 . XIH. Die Physiologie der Hautsinne und das Gesetz der spezifi- : BOHEWIBTRBEBBHRETrgIEeNn. . 2 2 2 0. a ee ER 731 Die Lage- „ Bewegungs- und Widerstandsempfindungen. Von W. Nagel. I. Die Dane in Re wel ier et cese ©) 1a RER 735 1. Die Empfindung der Orientierung des unbewegten Körpers gegen die ee ee 736 2. Die Beziehungen zwischen den Lageempfindungen und der optischen a a in 741 3. Die Orientierung des bewegten Körpers gegen die Vertikale . . . . 742 . 4. Die Empfindung der Lage der einzelnen Körperteile... ..... 743 IE Die Bewegungsempfindungen . . ... 2.2 ee, een nn..de 748 1. Die Empfindung der Bewegung des ganzen Körpers . .». . .»... 748 2. Die Empfindung der Bewegung einzelner Körperteile ....... 751 II. Die Widerstandsempfindungen . »... 2.2.2.0... 2.0. 755 IV. Theoretisches über die Bewegungs- und Bageempfindungen nicht-labyrinthären Ursprungs, sowie über die Wider- GERDGBEMDEIBBBREEN '. . . » oe inne ee 758 V. Der Schwindel und die Drehungsreflexe .... er... 762 1. Die Arten des Schwindels und die Bedingungen für seine Entstehung 762 2. Die Reflexe bei Schieflagen des Kopfes oder des ganzen Körpers . . 770 - 3. Die sog. objektiven Schwindelerscheinungen . ». » een... 774 a) Augen- und Kopfnystagmus bei Rotation . ». » » «re... 775 - b) Nachbewegungen des ganzen Körpers nach Rotation ..... 777 VI. Erfahrungen über die Funktionen des Labyrinths ......- 778 1. Historische und anatomische Vorbemerkungen . . ce... . + 778 2. Die Wirkung des Labyrinthverlustes bei Tieren ,„ . .» ».....- 782 Di DES ERDERISERBOBOZE 2. > : > 0 Fe 784 45 Der:-Labyrinthtonus . . . .» - = 2 een eienlelne a eela rer... 76 5. Die Wirkung der Ausschaltung und Reizung einzelner Bogengänge . 786 6. Störungen der Bewegungs- und Lageempfindungen als Folge von La- byrintherkrankımpen . . - - - - «vo: aan im. 788 VH. Theoretisches über die Funktionen des Labyrinths ..... 790 1. Die Mach-Breuersche Theorie . . » » » 2.2... 02.020. 790 2. Andere Auffassungen von der Funktion des Labyrinths ...... 801 VII. Anhang. Die Zentralorgane der Bewegungs- und Lageemp- BIRRBRBBBEBIE TE. 00 ee ee ee 804 ea A er EUR, Allgemeine Einleitung zur Physiologie der Sinne. 1. Die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien von W. Nagel. Monographien, in denen die ältere Literatur gesammelt ist: Goldscheider, Die Lehre von den spezifischen Energien der Siunesnerven, Berlin 1881. Weinmann, Die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien. Hamburg und Leipzig (Voß) 1895. Die landläufige Einteilung der Sinne nach der Fünfzahl — Gesichtssinn, Gehörssinn, Geruchssinn, Geschmackssinn und Gefühlssinn — ist von der Wissenschaft seit langem verlassen worden !). Man hat erkannt, daß unter dem Namen Gefühlssinn mehrere Sinnestätigkeiten zusammengefaßt wurden, deren wichtigste gemeinsame Eigenschaft darin liegt, daß der größte Teil der Haut ihr gemeinsames Organ ist, während die Empfindungen, die den einzelnen Hautsinnestätigkeiten entsprechen, sich deutlich genug als ungleich- artig erkennen lassen, um eine Spaltung des sogenannten Gefühlssinnes in mehrere Sinne einigermaßen zu rechtfertigen. So läßt sich von einem Tast- . oder Berührungssinn sicher der Temperatursinn abspalten, kaum weniger sicher der Schmerzsinn. Ob weitere Spaltungen angezeigt sind, soll an dieser Stelle zunächst nicht erörtert werden. Lange schon spricht man von einem Zeitsinn, einem Raumsinn, Orts- sinn, neuerdings auch von einem Orientierungssinn. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß in solehem Zusammenhange das Wort „Sinn“ in einer etwas anderen Bedeutung gebraucht wird, als wenn beispielsweise von Geruchs- oder Ge- sichtssinn gesprochen wird. Raumsinn bedeutet die Fähigkeit der räumlichen Vorstellung und Wahrnehmung, die Eigenschaft, unter geeigneten Umständen die Objekte der Wahrnehmung als im Raume, verschieden lokalisiert und !) In betreff der hier erörterten Fragen sei auch auf die interessante Arbeit von H. Öhrwall, „Über die Modalitäts- und Qualitätsbegriffe in der Sinnes- physiologie“* (Skandin. Arch. f. Physiol. 11 (1901) verwiesen. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 1 186} Einteilung der Sinne. voneinander getrennt vorzustellen und zu erkennen. Analog wäre der Begriff Zeitsinn zu umschreiben. (Vgl. hierüber unten $. 16.) / Geruchssinn, Gehörssinn usw. dagegen bedeutet zunächst nicht mehr als die Fähigkeit, eine bestimmte Kategorie von Empfindungen haben zu können. Auf dieser Grundlage erwächst eine Einteilung der Sinne nach psycho- : logischen Gesichtspunkten, nach der Qualität der Empfindungen. Wählt man also verschiedene Namen für die Sinne, teilt man sie überhaupt ein, so setzt man bei dieser Betrachtungsweise voraus, daß die Empfindungen in genügend scharf trennbare Kategorien zerfallen, um daraufhin die Sinne, mag man nun fünf oder mehr annehmen, begrifflich festzulegen und abzugrenzen. Viele glauben, daß unsere üblich gewordene Einteilung der Sinne auf diesem Prinzip beruhe; sie irren sich jedoch. Würden wir nach dem Grund- satz der scharf trennbaren Empfindungsqualitäten die Sinne trennen und ein- teilen, so würde unsere Einteilung der Sinne in mehrfacher Hinsicht. ganz anders ausfallen, als es üblich ist. Man könnte auch die Sinne nach der Art der ihnen entsprechenden Reize definieren und klassifizieren, was sich tatsächlich für die vergleichende Sinnesphysiologie empfehlen dürfte. Der üblichen Annahme von fünf Sinnen liegt eine Einteilung zugrunde, die an die ganz äußerlich betrachteten Sihnesorgane anknüpft: der Gesichts- sinn ist der Sinn des Auges, das Gehör der des Ohres, der Geruch der der Nase, der Geschmack der der Zunge, der Gefühlssinn der Sinn der Haut als Ganzes betrachtet. So urteilt im allgemeinen der Laie. Die Wissenschaft hat zunächst vom Gefühlssinn schon sehr früh ein Gebiet abgespalten, das im wesentlichen die Muskel- und Gelenkempfindungen umfaßt, im weiteren Sinne die Empfindungen, die überhaupt von den innerhalb der Haut liegenden Organen ausgelöst werden können („Organempfindungen*). Man sieht, es ist hier zunächst das Prinzip der räumlichen Teilung nach den empfindlichen Organen beibehalten. Von ganz anderem Gesichtspunkte aus hat man späterhin den Tempe- ratursinn vom Tastsinn abgespalten, trotzdem man zunächst die gesamten Hautnerven für gemeinsame Organe beider Sinne hielt. Man nimmt wohl meistens an, daß die Temperaturempfindungen von den Berührungsempfin- dungen scharf abtrennbar sind, und berücksichtigt ferner, daß auch die Reizqualitäten beider Sinnesgebiete begrifflich getrennt werden können und müssen, wie es ja auch in der allgemeinen Nervenphysiologıie üblich ist. Erst später kam dann durch Blix’ Entdeckung der Temperaturpunkte die Er- kenntnis hinzu, daß sogar die Organe des Temperatur- und des Tastsinnes wahrscheinlich räumlich getrennte sind. Also Gründe genug, das Zusammen- werfen von Tast- und Temperatursinn zu einem „Gefühlssinn“ aufzugeben. Eine Abspaltung, über die die Akten noch nicht geschlossen sind, ist die des Schmerzsinnes. Früher behandelte man den Schmerz unter dem recht unbestimmten Sammelbegriff „Gemeingefühle“ zusammen mit ‚Hunger, Durst usw. Die Trennung von diesen wie auch vom Tastsinn ist gewiß richtig. Daß zwischen schmerzhaften und nicht schmerzhaften Empfindungen unzweifelhaft kontinuierliche Übergänge bestehen, hindert nicht, die Schmerz- empfindung als eine eigene Empfindungsqualität anzuerkennen. In neuerer TER Einteilung der Sinne. 3 Zeit wird von v. Frey!) und anderen auch die Existenz besonderer Schmerznerven behauptet. Mir scheint die Frage, ob man von einem eigentlichen „Schmerzsinn* sprechen kann, von geringerem Interesse zu sein als die Entscheidung dar- über, ob die v. Freyschen „Schmerznerven“ wirklich auf jede Art von überhaupt wirksamem Reiz mit Schmerzempfindung antworten, oder ob sie auch andere Empfindungen nicht schmerzhaften Charakters zu vermitteln imstande sind, sehmerzhafte dagegen nur bei solchen Eingriffen, die an der Grenze des Verletzenden stehen, oder endlich, ob die sogenannten Schmerz- nerven bei normalen, nicht zu heftigen Reizen wohl auch zentripetale Er- regungen leiten, die aber nicht als Empfindungen ins Bewußtsein gelangen; starke Reize würden dann gleich schmerzhafte Empfindung erzeugen. Da ich die letzte Eventualität für die wahrscheinlichste halte, kann ich es nicht sonderlich glücklich finden, wenn man von Schmerznerven spricht. Noch in einem anderen Gebiete der Sinnesphysiologie kann man ernst- lich im Zweifel sein, ob die von der neueren Physiologie (allerdings nicht einstimmig) gewünschte Neuschaffung eines „Sinnes“ ganz einwandfrei ist. Ich meine den sogenannten statischen Sinn, der das Gebiet der Bewegungs- und. Lageempfindungen umfaßt. Es kann ja wohl keinem Zweifel unter- liegen, daß ein besonderes Organ, ein Teil des Labyrinths, innerviert vom N. vestibularis, seine normalen Reize durch Bewegungen des Körpers als eines Ganzen oder des Kopfes erhält; auch daß Veränderungen in der Lage des Labyrinths relativ zur Schwerlinie in jenen Teilen des Labyrinths besondere Erregungen setzen, kann nicht bezweifelt werden. Als fraglich muß aber bezeichnet werden, ob vom Labyrinth aus direkt bewußte Bewegungs- und Lage- empfindungen ausgelöst werden, ob es nicht vielmehr überwiegend oder aus- schließlich ein reflexauslösendes’Organ ist. Das jedenfalls ist ganz sicher, daß die Wahrnehmung von Bewegungen und bestimmten Lagen des Kopfes und des ganzen Körpers nicht allein vom Labyrinth besorgt wird, sondern an dem Zustandekommen dieser Wahrnehmungen vielerlei zentripetale Nerven beteiligt sind. Creieren wir also einen statischen Sinn oder einen Sinn der Bewegungs- und Lageempfindungen, so müssen wir uns darüber klar sein, daß wir damit einen von den übrigen Sinnen fundamental verschiedenen Sinn aufstellen, einen Sinn, der mit einer ganzen Anzahl verschiedenster, nach grundver- schiedenen Gesetzen wirkender Organe arbeitet. Das nur kann in Frage kommen, ob etwa aus dem Gesamtgebiete der Bewegungs- und Lageempfin- dungen sich ein engeres Gebiet herausnehmen läßt, das einen wirklichen Sinn in des Wortes engerer Bedeutung darstellt und in dem eigenartig ge- bauten Labyrinthorgan sein spezifisches Sinnesorgan besitzt. Ich glaube, diese Frage darf, allerdings mit einem gewissen Vorbehalt, im positiven Sinne beantwortet werden; das Nähere hierüber wird in dem speziellen Kapitel über Bewegungs- und Lageempfindungen abzuhandeln sein. In den vorstehenden Erörterungen über die Einteilung der Sinne könnte der eine oder andere vielleicht zunächst eine müßige oder unfruchtbare Arbeit erblicken. Ich habe jedoch nicht ohne bestimmte Absicht einleitend !) Beiträge zur Physiologie des Schmerzsinnes. Ber. d. mathemat.-physikal. Klasse d. Sächs. Akad. Leipzig, Dezember 1894. ey 4 J. Müllers Gesetz. auf einige der eigenartigen begrifflichen Schwierigkeiten hingewiesen, denen wir auf dem Gebiete der allgemeinen Sinnesphysiologie begegnen. Unklar- heiten in Fragen der allgemeinen Sinnesphysiologie äußern sich in unlieb- samer Weise bei der Behandlung speziell sinnesphysiologischer Fragen. Man ist, wie mir scheint, allzusehr an einen unheilvollen Schematismus in der Einteilung und Abgrenzung der Sinnestätigkeiten gewöhnt worden. Die Folge zeigt sich darin, daß in der üblichen Lehrbuchbehandlung der Sinnes- physiologie über wichtige Fragen falsche Vorstellungen erweckt werden. Die Quelle des Übels liegt in nicht ganz richtiger Auffassung des Ge- setzes der spezifischen Sinnesenergien, in dessen nähere Betrachtung wir hier eintreten müssen. Johannes Müller!) drückte die Grundtatsache, die mit diesem Gesetze bezeichnet werden soll, zuerst mit den Worten aus: „daß die Energien des Lichten, des Dunkeln, des Farbigen nicht den äußeren Dingen, den Ursachen der Erregung, sondern der Sehsinnsubstanz selbst immanent sind, daß die Sehsinnsubstanz nicht affiziert werden könne, ohne in ihren eingeborenen Energien des Lichten, Dunkeln, Farbigen tätig zu sein“. Späterhin formulierte dann Müller?) diesen Satz allgemein: „I. Zuerst wird dies festzuhalten sein, daß wir durch äußere Ursachen keine Arten des Empfindens haben können, die wir nicht auch ohne äußere Ursachen durch Empfindung der Zustände unserer Nerven haben. II. Dieselbe innere Ursache ruft in verschiedenen Sinnen verschiedene Emp- findungen nach der Natur jedes Sinnes, nämlich das Empfindbare dieses Sinnes, hervor. III. Dieselbe äußere Ursache erregt in den verschiedenen Sinnen verschiedene Empfindungen, nach der Natur jedes Sinnes, nämlich das Empfindbare des be- stimmten Sinnesnerven. IV. Die eigentümlichen Empfindungen jedes Sinnesnerven können durch mehrere .innere und äußere Einflüsse zugleich hervorgerufen werden. (Gemeint ist die Tatsache, daß die für einen Sinnesnerven spezifische Empfindung durch ver- schiedene Reizarten hervorgerufen werden kann.) V. Die Sinnesempfindung ist nicht die Leitung einer Qualität oder eines Zustandes der äußeren Körper zum Bewußtsein, sondern die Leitung einer Qualität, eines Zustandes eines Sinnesnerven zum Be- wußtsein, veranlaßt durch eine äußere Ursache, und diese Qualitäten sind in den verschiedenen Sinnesnerven verschieden, die Sinnes- energien. VI. Ein Sinnesnerv scheint nur einer bestimmten Art der Empfindung und nicht derjenigen der übrigen Sinnesorgane fähig zu sein und kann daher auch keine Vertretung eines Sinnesnerven durch einen anderen, davon verschiedenen stattfinden. VII. Ob die Ursachen der verschiedenen Energien der Sinnesnerven in ihnen selbst liegen oder in Hirn- oder Rückenmarksteilen, zu welchen sie hingehen, ist unbekannt, aber es ist gewiß, daß die Zentralteile der Sinnesnerven im Gehirn, un- abhängig von den Nervenleitern, der bestimmten Sinnesempfindungen fähig sind.“ Diese meisterhaft formulierten Sätze haben noch heute ihre volle Gültig- keit, und es sind im Verhältnis zur Bedeutung des Müllerschen Gesetzes nur _ unbedeutende Ergänzungen, die dem von Müller Gesagten hinzuzufügen sind. ') Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes usw. Leipzig 1826. Wider- spruch gegen Müllers Lehre ist namentlich von W. Wundt mit besonderem Nach- druck erhoben worden (Physiologische Psychologie, Leipzig 1893 (4. Aufl.)). — ”) Handb. d. Physiologie des Menschen für Vorlesungen 2 (1840). Spezifische Disposition. hi) Unglücklich ist ja der Ausdruck Energie, unter dem wir heute etwas ganz anderes verstehen, als was Müller meinte. Da indessen zu ernsten Mißverständnissen kein Anlaß gegeben ist, liegt kein Grund vor, den einmal gangbar gewordenen Ausdruck „spezifische Sinnesenergien“ fallen zu lassen. Natürlich ist das Material an tatsächlichen Beobachtungen seit Müllers Zeiten wesentlich vergrößert worden !). Es ist üblich geworden, die Reizarten, durch die ein Sinnesnerv zu seiner spezifischen Empfindung angeregt werden kann, in „adäquate“ und „inad- äquate“ Reize einzuteilen. Tatsächlich sind ja die Sinnesnerven und Organe des Menschen für ganz bestimmte Reizarten besonders angepaßt. Diese Reize heißen die adäquaten, alle übrigen Reizarten sind für das betreffende Sinnesorgan inadäquat. Während die adäquaten Reize zumeist durch Ver- mittelung des peripheren Nervenendorgans (Sinnesorgans), in vielen Fällen durch Vermittelung besonderer Sinneszellen zur Wirkung auf die Sinnesnerven gelangen, wirken die inadäquaten Reize, soweit hierüber etwas bekannt ist, vorzugsweise auf die Leitungsbahnen an irgend einer Stelle ihres Verlaufes. Ich habe schon früher gelegentlich betont, daß neben der Gruppe von Tatsachen, die mit mehr oder weniger Berechtigung als Stützen des Gesetzes ‚der spezifischen Energien genannt zu werden pflegen, eine Reihe anderer Tatsachen in der allgemeinen Sinnesphysiologie hervortritt, die ich unter der Bezeichnung des Prinzips der „spezifischen Disposition“ der Sinnesorgane zusammengefaßt habe?). Jedes Sinnesorgan ist für eine Reizart besonders disponiert, es ist für sie besonders empfänglich, für andere Reizqualitäten dagegen absolut oder relativ unempfindlich. Man findet die hierhergehörigen Erscheinungen zuweilen in einer Weise besprochen, als bildeten sie einen Teil des Prinzips der spezifischen Sinnesenergien, was evident unrichtig ist. Die Tatsache, daß die Geschmacks- und Geruchsorgane auf Licht und Druck gar nicht reagieren, hat mit dem Gesetz der spezifischen Sinnesenergien direkt eigentlich nichts zu tun; sie bedarf, wie eine ganze Reihe analoger Tatsachen, einer besonderen Erklärung, die wir freilich zurzeit nur in einer recht unbefriedigenden Form geben können. Die Empfindlichkeit oder Reiz- barkeit der peripheren Sinnesnervenendigungen ist ja im Grunde eine Eigen- schaft, die sie mit jedem Teilchen lebender Substanz, mit jeder Zelle teilen. !) Auf die zum Teil sehr ausgedehnten kritischen Erörterungen über die Lehre Müllers von seiten anderer Autoren (Lotze, Stumpf u.a.) kann hier nicht eingegangen werden. In den oben zitierten beiden Monographien von Goldscheider und Weinmann findet man die darauf bezügliche Literatur zusammengestellt und kritisch gewürdigt. — Nur kurz erwähnt sei an dieser Stelle, daß Stumpf (Ton- psychologie, Leipzig 1890) neben den qualitativen oder qualitätserzeugenden noch lokale oder ortserzeugende spezifische Energien annimmt. (Bei der Lehre vom statischen Sinn komme ich auf diesen Punkt zurück.) Ebenfalls nur kurz anführen kann ich die „Erweiterung des Prinzips der spezifischen Energien, die Hering (Lotos, Neue Folge 5 (1884)) ähnlich wie Rosenthal (Biolog. Zentralbl. 4 (1885)) vor- - genommen hat. Für Hering ist die Produktion der Galle durch die Leber, des Harns durch die Nieren ebensogut eine spezifische Energie dieser Organe, wie die Lichtempfindung die Energie des Sehorgans. Abgesehen davon, daß die Parallele ‚nicht einwandfrei ist, kann ich in dieser Verallgemeinerung des Begriffs keinen rechten Vorteil erklioken. — ?) W. Nagel, Vergleichend physiologische und ana- tomische Untersuchungen über den Gr uchs- und Geschmackssinn usw. Bd. 18 der Bibliotheca zoologiea von Leuckart und Chun, Stuttgart 1894. 6 Spezifische Disposition. Die Reize, die wir als Sinnesreize kennen, sind sämtlich auch für gewisse Zellen außerhalb des Nervensystems, auch für gewisse einzellige Organismen, als wirksame Reize bekannt. Wollte man sagen, sie seien alle allgemeine Nerven- und Muskelreize, überhaupt Reize für jegliche Art von Zellen, so dürfte man bezüglich des Lichtreizes vielleicht teilweise auf Widerspruch stoßen, und es ist unbedingt zuzugeben, daß manchen reizbaren Geweben gegenüber die Lichtreizintensität ins Kolossale gesteigert werden muß, um etwas zu erzielen, was man als eine Erregung bezeichnen könnte. Es wäre eine überaus wertvolle Erweiterung unserer Kenntnisse, wenn festgestellt würde, welchem Umstande gewisse Zellen ihre außerordentliche Empfänglichkeit für den Lichtreiz verdanken !), und wodurch andere für be- stimmte chemische Reize solche enorme Empfindlichkeit zeigen. Im Bereich des Möglichen liegen solche Untersuchungen ja sicherlich, doch bis jetzt fehlt meines Wissens jeder Anhalt. Hätte man solche Erfahrungen erst einmal an besonders geeigneten Objekten gewonnen, etwa an großen freilebenden Protisten, se eröffnete sich die Aussicht, auch zu erfahren, welchem Umstande (welcher „Sinnessubstanz“) z. B. ein Teil der Geschmacksknospen die Emp- findlichkeit für Süßstoffe, ein anderer für Bitterstoffe verdankt usw. Einstweilen ist unsere Kenntnis vom Wesen der spezifischen Disposition der Sinnesorgane überaus dürftig. Sie beschränkt sich darauf, daß in vielen Fällen die Einwirkung anderer als der adäquaten Reize durch die räumliche Anordnung der Sinnesorgane erschwert oder unmöglich gemacht ist, der Hör- nerv vor Licht, Berührung und differenten Dämpfen, der Sehnerv vor mecha- nischer und chemischer Reizung ziemlich geschützt ist usw. Anderseits sind die Sehzellen dem Licht, die Riechzellen der Atmungsluft frei dargeboten. Aber das alles ist unbefriedigend, es sind grobe Äußerlichkeiten; sie erklären nicht, warum ein so allgemein wirkender Reiz wie der mechanische die Schmeck- und Riechzellen und die peripheren Endigungen der zugehörigen Sinnesnerven nicht erregt, während doch von den Schmecknerven jedenfalls die Chorda tympani in ihrem Verlaufe in der Paukenhöhle durch den mechani- schen Reiz unzweifelhaft erregt wird und Geschmacksempfindung auslöst. Wäre es anders, hätte das Geschmacksorgan nicht die spezifische Disposition für den chemischen Reiz, reagierte es auch auf Druck oder gar auf Licht oder Wärme mit seiner spezifischen Energie, so käme eine große Verwirrung unserer Sinneswahrnehmungen heraus. So zweckmäßig also die Einrichtung ist, so bleibt sie darum nicht minder dunkel. Wohl als die seltsamste Er- scheinung auf diesem Gebiet darf es bezeichnet werden, daß die letzten Aus- läufer der Chordaschmeckfasern, die in den Papillen der Zungenoberfläche nahe kommen, allem Anschein nach schon unempfindlich für den mechani- schen Reiz sind, der den Chordastamm doch erregt. Es könnte angenommen werden, daß die Einbettung der Nervenfasern im Zungengewebe die Wirkungs- bedingungen eines Druckreizes sowohl für die Schmeckfasern wie für die ver- schiedenen zentrifugalen (motorischen und sekretorischen) Nerven so ungünstig ‘) Früher brachte man immer das Pigment mit der Lichtempfindlichkeit in Zusammenhang. Wie unzutreffend dies, jedenfalls in der Verallgemeinerung, ist, zeigt das Auge der Albinos und Engelmanns bekannter Versuch an Euglena, einem Geißelinfusorium, dessen Lichtempfindlichkeit in dem pigmentfreien Zellen- ende ihren Sitz hat. Spezifische Energie. 7 gestaltet, daß eine merkliche Erregung beim Drücken der Zunge nicht ein- tritt. Die Tastfasern der Zunge müssen anderseits für den mechanischen Reiz besonders disponiert sein, in einer uns unbekannten Weise. Im Gebiete der Physiologie des Auges knüpfen sich besonders schwierige Probleme an die Frage der spezifischen Disposition der Sehzellen. Wir finden bei den Netzhautstäbchen einerseits die Liehtempfindlichkeit enorm hoch, haben aber anderseits Grund zu der Annahme, daß der elektrische, sonst überall so wirksame Reiz gerade die Stäbchen nicht zu erregen scheint. Hierfür spricht die Entdeckung G. E. Müllers, daß Dunkelaufenthalt, der bekanntlich die Liehtempfindlichkeit der Netzhaut um mehr als das Tausend- fache steigert, die Empfindlichkeit für den galvanischen Reiz nicht merklich beeinflußt; dabei werden die Stäbchen von dem galvanischen Strome natür- lich ebensogut durchströmt wie die Ganglienzellen. Hier handelt es sich ebenso wie bei den Differenzen zwischen normalen und farbenblinden Seh- organen um verschiedene Erregbarkeitsverhältnisse. Spezifisch verschiedene Erregbarkeit gegenüber den einzelnen Reizarten und spezifisch verschiedene Zugänglichkeit für die verschiedenen Reizeinwir- kungen sind also die Umstände, welche die spezifische Disposition der Sinnes- organe bestimmen. Von den hier besprochenen Tatsachen Sat zu trennen !) ist diejenige, die J. Müller in seinem Gesetze der spezifischen Sinnesenergien festgelegt hat, die Tatsache, daß ein Sinnesnerv immer nur mit einer Empfindung des ihm eigentümlichen Qualitätenkreises auf Reizung antwortet, gleichviel ob der Reiz der dem Nerven adäquate oder ein beliebiger ihm inadäquater ist. Mit der strengen Beweisbarkeit dieses Satzes steht es nicht so günstig, ‘wie man es wohl zuweilen dargestellt findet?). Freilich liegt das zum Teil daran, daß gerade die höheren Sinnesnerven infolge ihrer geschützten Lage für inadäquate Reize schwer zugänglich sind. Meines Wissens fehlt zurzeit noch der Beweis, daß mechanische oder elek- trische Reizung des Sehnervenstammes Lichtempfindung erzeugen. Die bei foreierten Augenbewegungen und bei Durchschneidung des N. optieus auftretenden Licht- erscheinungen können sehr wohl von mechanischer Reizung der Netzhaut her- - rühren. Gerade die Sehnervendurchschneidung beim Menschen kann unmöglich ohne heftige Zerrung der Netzhaut erfolgen, wodurch der übereinstimmend von den Operierten angegebene Lichtblitz zur Genüge erklärt wäre. Daß inadäquate Reizung des Sehnerven keine Lichtempfindung erzeuge, will ich hiermit keines- wegs behaupten, sondern nur betonen, daß die Erregbarkeit dieses Nerven gegen inadäquate Reize offenbar auffallend gering ist, weil sonst auch die Operierten bei der Tamponade der Augenhöhle und bei der Verheilung des Opticusstumpfes An- gaben über starke subjektive Lichterscheinungen machen müßten, was meines Wissens in der Regel nicht der Fall ist. Die Angabe, die Durchschneidung des Opticus mache keinen Schmerz, ist un- zutreffend und wohl mehr der Theorie zuliebe gemacht worden. Tatsächlich geben die Patienten, die ohne allgemeine Narkose operiert werden, beim Schnitt durch den Opticusstamm starken Schmerz zu erkennen. Doch scheint dieser allerdings !) Diese Trennung nachdrücklich betont zu haben, ist ein besonderes Verdienst R. Weinmanns, dessen am Beginn dieses Abschnittes zitierte Monographie über- haupt in vorzüglicher, vorurteilsfreier Weise das Richtige und Falsche an der Lehre von den spezifischen Energien, wie sie sich allmählich entwickelt hat, sichtet. — *2) Das hat zuerst Lotze betont (Allgem. Pathol. u. Therapie, Leipzig 1848, 2. Aufl. Medizin. Psychologie, Leipzig 1852). 8 Spezifische Energie. lange nicht so heftig.zu sein, wie er etwa bei Durchschneidung eines ebenso dicken Hautnerven.auftreten würde, und rührt wohl nicht von der Durchschneidung der Sehfasern her, sondern von der Mitverletzung von sensiblen Nervenfasern, die im Sehnerven oder in seiner Nachbarschaft liegen. Intensive Reizung der Netzhaut, selbst solche, die bis zur Vernichtung der Gewebe führt (Blicken in die Sonne!) macht keinen Schmerz durch Opticusreizung. Wenn beim plötzlichen Blick in helles Licht Blendungsschmerz auftritt, was nicht bei allen Menschen der Fall ist, beruht dies offenbar auf mechanischer Reizung der sensiblen Ciliarnerven durch die heftige Iriskontraktion, denn bei Lähmung der Iris durch Homatropin bleibt der Blendungsschmerz aus (Nagel')). Bei den übrigen Sinnesnerven scheint ebenfalls, wie beim N. opticus, Schmerz durch heftige Reizung nicht erzielt werden zu können, sondern, wenn überhaupt eine Empfindung, dann die ihnen spezifische Sinnesempfindung, die unangenehm sein kann, ohne schmerzhaft zu sein. Die eleganteste, ja die einzige wirklich klare Bestätigung für das Müllersche Gesetz ergaben die schon erwähnten Versuche an der Chorda tympani in der eröffneten Paukenhöhle; mechanische, chemische und elek- trische Reizung des zentralen Stumpfes erzeugt Geschmacksempfindung. Schwierigkeiten bietet indessen wieder die Erklärung der bei elektrischer Reizung des Geschmacksorgans gefundenen Verhältnisse. Galvanische Reizung der Zungenschleimhaut bewirkt, wie bekannt, bei geeigneter Anordnung (an der Anode) leicht und sicher saure Empfindung, bei anderer Anordnung (an der Kathode) einen etwas unbestimmten, scharfen, zuweilen etwas bitterlichen Geschmack. Wie kommt es, daß bei elektrischer Reizung, wenigstens der Zungenspitze, niemals Süßempfindung oder Salzigempfindung auftritt? Meines Erachtens kann dies nur durch die Annahme erklärt werden, daß die peripheren Enden der Geschmacksnerven bei der Applikation des elek- trischen Reizes überhaupt nicht direkt erregt werden, sondern der „elek- trische Geschmack“ in chemischer Reizung der Nervenenden oder der Schmeck- zellen durch Elektrolyte begründet ist. Bei dieser Auffassung bleiben wir auf dem Boden des Gesetzes der spezifischen Energien und konstatieren nur wieder- um eine Besonderheit in der spezifischen Disposition der peripheren Schmeck- nervenendigungen, die geringe Zugänglichkeit für den elektrischen Reiz. Daß auch die für Süßempfindung spezifisch disponierten Geschmackspapillen auf den galvanischen Anodenreiz mit Sauerempfindung reagieren, wäre eine An- nahme, die das ursprüngliche Müllersche Gesetz der spezifischen Sinnesenergien zwar nicht umstoßen würde, wohl aber unvereinbar mit der Weiterbildung des Gesetzes wäre, die die neuere Physiologie erstrebt hat und auf die wir alsbald zu sprechen kommen werden. Eine solche Annahme muß bei dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse als nicht notwendig bezeichnet werden, und wir werden sie ver- meiden, solange es irgend möglich ist. Inadäquate Reizung des Nervenstammes ist bei keinem der höheren Sinnesnerven so leicht zu erzielen wie bei den Hautsinnesnerven. Darum erscheint es zunächst als eine nicht unbedenkliche Tatsache, daß gerade bei diesen sich der exakten Bestätigung des Müllerschen Gesetzes Schwierig- keiten in den Weg stellen. Es gelingt nicht, nach Belieben Kaltempfindung, Warmempfindung, Berührungs- oder Schmerzempfindung von Nervenstämmen aus auszulösen. Die Empfindungen tragen hier, wenn sie durch schwache Reize bewirkt sind, den Charakter der durch mechanische Hautreizung er- !) Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde 1902 u. 1904. Denn en 12 a a u a a 7 Theorie von Helmholtz. 9 zeugten „Berührungsempfindung“. Bei starker Reizung kommt Schmerz- empfindung hinzu. Temperaturempfindung aber bleibt meistens aus. Bei näherer Betrachtung erscheint dies indessen nicht so auffallend. Es ist ja eine Eigen- tümlichkeit des Temperatursinnes (wenn man diesen als einen Sinn be- zeichnen will, was nicht ganz einwandfrei ist, s. u.), daß zwischen Kälte- und Wärmereiz ein deutlich gegensätzliches Verhältnis besteht, das nach der Meinung mancher auch in den Empfindungen bis zu einem gewissen Grade zum Ausdruck kommt. Wenn die hypothetischen Kälte- und Wärmenerven im allgemeinen zusammen in einem Nervenstamm verlaufen, ist es nicht überraschend, wenn bei Reizung eines solchen Stammes die antagoni- stischen Empfindungen sich aufheben und keine deutliche Temperatur- empfindung entsteht. Die Labyrinthnerven, die wir als Vermittler der Bewegungsempfindungen betrachten, sind von inadäquaten Reizen wenigstens dem elektrischen zu- gänglich und reagieren auch mit ihrer spezifischen Empfindungsqualität: Galvanisierung der Ohrgegend bewirkt Bewegungsempfindung. J. Müller ließ es, wie der oben zitierte Satz aus seiner Formulierung des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergien zeigt, zunächst unentschieden, ob die spezifische Energie durch eine besondere Eigenschaft des einzelnen Sinnesnerven oder der zentralen Endorgane desselben bestimmt sei. Die letztere Auffassung, der auch Müller mehr zuneigte, kann heute wohl als die allgemein angenommene bezeichnet werden. Man wünscht die verschie- denen zentripetalen Nerven des Körpers als etwas funktionell Gleichartiges, Einheitliches, als lauter indifferente Leiter ansehen zu können, deren spe- zifische Erregbarkeit durch das periphere Endorgar bestimmt ist, während die spezifische auslösbare Wirkung auf Sensorium oder Reflexapparat durch die Natur des zentralen Endorgans-festgelegt ist. Gerade darin sieht man den Hauptvorteil des Müllerschen Gesetzes, daß es uns von der Notwendigkeit entbindet, anzunehmen, der Sehnerv leite eine andere Art von Erregungs- vorgang als der Hör- oder der Riechnerv. Nun bleibt freilich hiermit immer noch die Frage unentschieden, wie es der Sinnesnerv fertig bringt, die verschiedenartigen Empfindungen auszulösen, die den „Qualitätenkreis“ eines Sinnes (wie Fichte die Gesamtheit der in einem Sinne möglichen Erscheinungen bezeichnet hat) zusammensetzen. Hat der Hörnerv, je nach der ihn erregenden Tonhöhe, verschiedene Formen von Erregung zu leiten, so ist das Gesetz der spezifischen Energien eben doch nur in beschränktem Sinne gültig. Helmholtz versuchte diese Schwierigkeit zu beseitigen, indem er in seinen Theorien des Gehörs und des Farbensinnes eine Gliederung innerhalb des einzelnen Sinnesorganes voraussetzte, die der Gliederung unseres gesamten Sinnesapparates analog ist. Nach ihm reagiert jede Hörnervenfaser mit einer spezifischen Empfindung, einer Tonempfindung bestimmter Höhe, die sie von den übrigen Hörfasern unterscheidet. Jede hat also eigentlich eine eigene bestimmte spezifische Energie. Anders liegen die Verhältnisse beim Farbensinn. Helmholtz nahm wohl die Youngsche Theorie der Gliederung nach drei Komponenten auf und sagte auch, daß man sich diese Komponenten anatomisch durch drei Sorten von Sehnervenfasern repräsentiert denken könnte. 10 Öhrwalls Standpunkt. Hätte sich die Existenz solcher drei Arten von Fasern bestätigen lassen, so läge die Sache klar: Das Gesetz der spezifischen Energien hätte sich dann auch innerhalb des Gesichtssinnes durchführen lassen. Dies ist indessen nicht eingetroffen, die Existenz von dreierlei auf verschiedene Netzhautzapfen und Fasern verteilten Energien ist unerwiesen und unwahrscheinlich, und wenn auch jetzt noch häufig von einer „Dreifasertheorie“ gesprochen wird, so nimmt doch wohl die große Mehrzahl der Forscher an, daß die drei Komponenten durch dreierlei verschiedene Erregungsprozesse repräsentiert sind, die sich in einem und demselben Zapfen abspielen können. (Auch Helmholtz hatte sich übrigens keineswegs auf die Annahme von drei Faserarten festgelegt). Hierin liegt der Verzicht auf die Durchführung des Gesetzes der spezifi- schen Energien innerhalb des Farbensinnes, der Verzicht auf die Annahme, daß jede Faser des Sehnerven nur einerlei Erregung zu leiten habe. Der Anhänger der Gegenfarbentheorie befindet sich übrigens dieser Schwierigkeit gegenüber in der gleichen Lage. Wesentlich anders liegt das Verhältnis beim Geschmackssinn. Hier ist durch Öhrwalls Untersuchungen!) zum mindesten sehr wahrscheinlich ge- worden, daß den vier Geschmacksqualitäten viererlei perzipierende Endorgane entsprechen. Laufen die von diesen ausgehenden Nervenfasern zu getrennten und verschiedenen Teilen des Schmeckzentrums, deren Eigenart die Qualität der Geschmacksempfindung bestimmt, so ist das Prinzip der spezifischen Energie gewahrt, die Schmeckfasern sind indifferente Leiter, deren Beschaffen- heit für die Empfindungsqualität ohne Belang ist und deren Erregung ein immer gleichartiger, nur quantitativ wechselnder Prozeß ist. Als eine der seltsamsten. Tatsachen auf dem Gebiete der Sinnes- physiologie ist es mir immer erschienen, daß zwischen den in gewisser Hinsicht so nahe verwandten Sinnen Geruch und Geschmack ein so wesent- licher Unterschied hinsichtlich der Durchführbarkeit einer Gliederung nach Komponenten besteht. Auf der einen Seite der Geschmackssinn mit seinen wenigen scharf getrennten qualitativen Unterscheidungen, auf der anderen Seite der Geruchssinn mit seiner fast unendlichen Mannigfaltigkeit der Geruchsempfindungen. Wie ich im Anschluß an Aronsohn?) und Zwaar- demaker?) schon früher betont babe und in dem Abschnitt über Ge- ruchssinn näher ausführe, können wir auch für den Geruchssinn eine Komponentengliederung annehmen und dadurch die Hypothese vermeiden, daß die Geruchsnervenfasern in sehr viele verschiedene Formen der Erregung geraten können, je nach der Qualität des Reizes. Indessen die Qualitäten der Empfindung sind hier nicht wie beim Geschmackssinn übergangslos, sie bilden vielmehr infolge der Mischungsverhältnisse, die zwischen den einzelnen Empfindungsqualitäten bestehen, ein Continuum, sie gehen in- einander über. Hierin liegt eine Ähnlichkeit mit dem Farbensinn; nur kommt man sicherlich nicht mit so wenigen Komponenten der peripheren Reizbarkeit aus wie beim Farbensinn. Der bisher gründlichste Versuch, eine Komponentengliederung des Geruchssinns durchzuführen, der von Zwaarde- maker?) herrührt, führt auf mindestens neun Komponenten, unter denen ') Skandinav. Arch. f. Physiol. 2% (1890). — ?) Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt., 1886. — °) Physiologie des Geruchs. Leipzig 1895. N EN en > Öhrwalls Standpunkt. 14 aber noch weitere Teilungen sogleich für nötig befunden werden. Kritische Betrachtung der Zwaardemakerschen Hypothese führt zu dem Resultat, daß sie die Zahl der innerhalb des Geruchssinnes zu fordernden spezifischen Energien eher zu klein als zu groß annimmt. 30 bis 40 verschiedene Arten von Sinneszellen und Fasern im Geruchsorgan anzunehmen (so viele müßte man in konsequenter Durchführung der Zwaardemakerschen Ideen mindestens voraussetzen), erscheint gewiß unannehmbar, ehe nicht sehr starke Gründe dafür ins Feld geführt werden; solche fehlen aber bis jetzt. Da wäre es noch plausibler, anzunehmen, daß das Geruchsorgan eine kleinere Zahl von spezifisch verschiedenen Endapparaten enthielte, ähnlich dem Geschmacksorgan, daß diese Apparate aber, im Gegensatz zu den Geschmacks- organen, eine gewisse Variabilität der auslösbaren Empfindungsqualitäten auf- weisen, ähnlich wie wir es für die farbenperzipierenden Sinneszellen notwendig fanden, für die wir drei verschiedene Erregungsarten fordern mußten. Es dürfte hier der richtige Ort sein, die bemerkenswerten Überlegungen Hj. Öhrwalls!) zu erwähnen, durch die zum ersten Male seit Helmholtz’ Eingreifen wieder neue Gesichtspunkte in die Erörterungen über die spezifischen Energien gebracht wurden, nachdem in bedenklicher Weise sich die Tendenz geltend gemacht hatte, das Müllersche, durch die Helmholtzsche Hypothese ergänzte Gesetz als ein fertiges Dogma gelten zu lassen. Öhr- wall greift zurück auf die von Helmholtz?) geschaffene Unterscheidung zwischen Modalitäten und Qualitäten der Sinnesempfindungen. Als Qualitäten werden die verschiedenen Arten von Empfindungen innerhalb des Gebietes eines Sinnes bezeichnet, während die gesamten Empfindungs- kategorien, die je einen Sinn bilden, als Modalitäten der Empfindungen einander gegenübergestellt werden. Zwischen den einzelnen Qualitäten eines Sinnes sollen Übergänge bestehen (rot—blau, hohe—tiefe Töne usw.), zwischen den Modalitäten nicht (Lichtempfindung, Schallempfindung usw.) Öhr- wall will das von Fick °) gegen diese Betrachtungsweise geltend gemachte Be- denken nicht gelten lassen, daß z. B. zwischen der brennenden (also gewisser- maßen taktilen) Empfindung, die Pfeffer auf der Zunge erzeugt, und dem Geschmack des Salzes ein Übergang bestehe, obgleich die Empfindungen ver- schiedenen Sinnen angehören, also nach Helmholtz verschiedene Moda- litäten sind. Öhrwall wendet hiergegen ein, daß es sich hier nicht um einfache Sinnesempfindungen, sondern um Mischempfindungen handle, die natürlich in allen Übergängen zwischen den beiden Extremen denkbar sind. Mir scheint hier in Öhrwalls sonst vortrefflichen Ausführungen eine gewisse Inkonsequenz vorzuliegen. Er betont mit Recht, daß man die Sensationen, die zur Bildung des Begriffes „naß“ führen, oder die Eindrücke, die uns Senf oder Essigsäure und Gerbsäure machen, „oft als eine einzige Empfindung auffaßt“. Wir können sagen, man tut das immer, so lange man nicht bewußt analysiert. Gerade bei dem von Fick gewählten Beispiele, Pfeffer- und Salzmischung, hat man eben, wenn man unbefangen, von theoretischen Vor- stellungen unbeeinflußt, beobachtet, meines Erachtens einen einheitlichen !) Skandinav. Arch. f. Physiol. 2 (1890) u. 11 (1901). — °) Die Tatsachen in der Wahrnehmung. Berlin 1870. — °) Lehrbuch d. Anat. u. Physiol. d. Sinnesorg. Lahr 1864. 12 Energien des Geschmackssinnes. Sinneseindruck, keine Empfindung, die ohne weiteres als gemischt erkannt wird; darum stimme ich Fick darin bei, daß die Helmholtzsche Unter- scheidung der Modalitäten und der Qualitäten nicht streng durchführbar ist. Ich möchte diesen Satz näher dahin präzisieren, daß ich den Helmholtz- schen Gedanken durchführbar finde für die beiden sog. höheren Sinne Gesicht und Gehör in ihrem Verhältnis zueinander und zu den sog. niederen Sinnen, undurchführbar dagegen im Verhältnis dieserletzteren zueinander. _ Hiermit komme ich auf den Punkt zu sprechen, in dem meines Erachtens die heute noch übliche Behandlungsweise der Sinnesphysiologie eine zu sche- matische ist. Der Physiologe, welcher weiß, daß die „Schärfe“ des Senfs, Pfeffers und Essigs von anderen Nerven perzipiert wird als der reine Geschmack schwacher Chinin- oder Säurelösungen, bildet sich zuweilen schließ- lich ein, er könne die Empfindungen als verschiedenen Sinnen angehörig, als verschiedene Modalitäten direkt erkennen. Das ist ein Irrtum. Nicht nur darum (wie Öhrwall im übrigen treffend hervorhebt), weil diese verschie- denen Empfindungen erfahrungsgemäß häufig am gleichen Ort und unter den gleichen Bedingungen hervorgerufen werden, werden sie von uns zusammen- geworfen, sondern weil sie sich wirklich sehr viel ähnlicher sind als die Gesichts- und Gehörsempfindungen. Das klarste Beispiel haben wir in den Beziehungen zwischen Geruchs- und Geschmacksempfindungen. Wären das wirklich verschiedene Moda- litäten, wären die beiden Sinne durch verschiedene spezifische Energien scharf getrennt, wie wäre es dann möglich, daß nicht nur der Laie, sondern auch der geübte Beobachter erklären muß, daß er nicht imstande ist, aus der Beschaffenheit einer Empfindung zu erkennen, ob die Physiologie sie zum Geruch oder zum Geschmack rechnen wird? Man mag sich noch so oft durch den bekannten Versuch — Kosten bei. zugehaltener Nase — von der experimentellen Trennbarkeit der Geruchs- und Geschmacksempfindungen überzeugen, beim Kosten mit offener Nase kann man nie anders die Unterscheidung machen, als indem man sich klar macht: „was ich wahrnahm, war eine Empfindung, die ich auch beim bloßen Beriechen der betreffenden Substanz habe“. Der Physiologe weiß, daß diese Überlegung irreführen kann: man nennt den Chloroformgeruch süßlich, und doch ist es nur die Wirkung auf die Geschmacksnerven, die der Empfindung das Süßliche verleiht. Psycho- logisch, nach dem Empfindungscharakter betrachtet, stehen also die Geruchs- empfindungen den einzelnen Geschmacksempfindungen so nahe wie die ein- zelnen Geschmacksqualitäten einander. Nun hat ja allerdings Öhrwall die vier Geschmacksqualitäten als übergangslos bezeichnet und sie darum im Helmholtzschen Sinne als Moda- litäten bezeichnet. Erkennt man dies an, so müßte man den Geschmacks- sinn eigentlich in vier Sinne zerspalten. Indessen ist die tatsächliche Grund- lage für Öhrwalls Überlegungen nicht mehr unerschüttert, seit Kiesow!) Mischgeschmäcke, wenn auch nur von geringer Intensität, nachweisen konnte (eine Beobachtung, die ich bestätigen kann). .Hiernach würde Öhr- walls sehr anschaulicher Vergleich der Gesamtheit der Geschmacksempfin- dungen mit einem völlig diskontinuierlichen Spektrum, das aus vier Linien ') Philosoph. Studien, herausgeg. von Wundt 10 (1894). a ie ee Energien der niederen Sinne. 13 besteht, in der Weise zu modifizieren sein, daß man ein Spektrum als Ver- gleichsobjekt erwählt, in dem vier Streifen stark hervortreten und (wenigstens . teilweise) durch Zwischenzonen geringer Intensität verbunden erscheinen, so zwar, daß diese Zwischenzonen überhaupt nicht in hoher Intensität gezeigt werden können. Wie an anderer Stelle des näheren auszuführen sein wird, betrifft die Möglichkeit von Mischgeschmäcken nicht jedes beliebige Paar von Geschmacks- qualitäten, soweit bis jetzt bekannt. Weitere Untersuchungen auf diesem Gebiete sind sehr wünschenswert. Ich glaube, wir dürfen das hier Gesagte auf den größten Teil der- Empfindungen aus dem Gebiete der niederen Sinne verallgemeinern und be- haupten, daß zwischen den Geruchs-, den Geschmacks- und den sog. Tast- empfindungen Übergänge bestehen, die psychologische Trennung also zum mindesten keine scharfe ist. Die Schmerzempfindungen gliedern sich in der gleichen Weise an. Ob sich die Kälte- und Wärmeempfindungen präzis von den Tast- und Schmerzempfindungen abtrennen lassen, scheint mir ebenfalls recht fraglich; ist man doch nicht selten im Zweifel, ob einer Berührungs- empfindung oder einem Schmerz eine Temperaturempfindung beigemischt ist; ja sogar darüber kann man sich zuweilen nicht sicher Rechenschaft geben, ob man kalt oder warm empfindet. Es darf nicht vergessen werden, daß diejenigen Empfindungen, die man unter dem Namen Tastempfindungen zusammenfaßt, außerordentlich ver- schiedene Qualitäten aufweisen; das wird oft wegen der Einheitlichkeit des mechanischen Berührungsreizes übersehen. Tatsächlich ist indessen die gleiche mechanische Reizung an verschiedenen Körperstellen von sehr ungleichen Sensationen gefolgt. Man vergleiche nur die Empfindung, die durch Be- rührung mit einem Haarpinsel an der Zunge, Conjunctiva, Nasenschleimhaut, Fingerspitze, Stirn und Oberarm bewirkt wird. Nicht nur ein „Lokalzeichen* unterscheidet diese Empfindungen, sondern mit der gereizten Region wechselt die Qualität der Empfindung (offenbar in gewisser Abhängigkeit von der Epidermisbeschaffenheit). Noch viel auffälliger ist der Unterschied zwischen einer beliebigen Berührungsempfindung, die von der äußeren Haut ausgelöst wird, und denjenigen Empfindungen, die auf der Zunge durch sog. zusammen- - ziehende oder scharfe Stoffe ausgelöst werden. Diese letzteren Eindrücke stehen den eigentlichen Geschmacksempfindungen viel näher als den Tast- empfindungen sensu strictiori. Aus dieser Tatsache, die jeder unbefangeng Beobachter zugeben wird, soll nun keineswegs geschlossen werden, daß es unberechtigt sei, unter den Zungennerven eigentliche Geschmacksnerven und Nerven der allgemeinen Sensibilität zu unterscheiden. Ich möchte nur betonen, daß man den Tat- sachen Zwang antut, wenn man die Sachlage so darstellt, als ob das Prinzip der spezifischen Energien die sog. niederen Sinne in ebenso scharf: getrennte Gebiete teilte, wie es den Gesichtssinn vom Gehörssinn und der Gesamtheit ‘der niederen Sinne trennt. Ein anderer Umstand ist noch in diesem Zusammenhange zu beachten. Weinmann!) hat nachdrücklich darauf hingewiesen, daß die Ergänzung Y) Die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien. Hamburg u. Leipzig (Voß) 1895. LA Beschränkung des Müllerschen Gesetzes. des Müllerschen Gesetzes der spezifischen Sinnesenergien, die nach dem Vorgange mehrerer anderer Forscher Helmholtz in Aufnahme brachte und die eine Komponentengliederung innerhalb des einzelnen Sinnesgebietes nach dem gleichen Prinzip spezifischer Energien durchzuführen sucht, eine Weiterführung des Müllerschen Gedankens eben nur in einer einzigen bestimmten Richtung ist." Wenn die neuere Physiologie die einzelnen Quali- täten innerhalb eines Sinnes (Farben, Tonhöhen, Gerüche) durch spezifisch _ verschiedene Elemente innerhalb des betreffenden Sinnesorganes auslösen läßt, so wagt sie doch nicht zu behaupten, daß inadäquate Reizung dieser | einzelnen Elemente die betreffende Empfindungsqualität erzeuge.. Im Müllerschen Gesetz spielt aber gerade der Satz eine wichtige Rolle, daß jeder Sinnesnerv, wo und wie immer gereizt, stets mit seiner spezifischen Empfindungsenergie (Modalität) antworte. Dieser Satz ist, wie wir sahen, zwar nicht durchweg beweisbar, aber doch in manchen Fällen, und seine Gültigkeit innerhalb weiter Grenzen kann kaum bezweifelt werden. Für die Qualitäten innerhalb eines Sinnes aber ist Analoges nicht zu erweisen; die wenigen Anläufe dazu können nicht als geglückt bezeichnet werden. G. E. Müller!) glaubt in dem Erfolg elektrischer Reizung des Auges Gründe für die Gültigkeit der Komponentengliederung des Lichtsinnes, im Sinne der Gegen- farbentheorie, finden zu können. Der Erfolg inadäquater Reizung der Temperaturpunkte gehört nicht hierned weil Kälte- und Wärmesinn mit dem gleichen Rechte als zwei Sinne betrachtet werden müssen, mit dem man den Kältesinn vom Tastsinn abtrennt. Die neueren Farbentheorien (Herings Theorie und die aus der Young- Helmholtzschen Theorie entwickelten neueren Theorien) bedeuten eigentlich geradezu ein Verlassen des von Helmholtz in seiner Gehör- und Farben- theorie inaugurierten Prinzips, da sie nicht umhin können, einer und derselben Nerveneinheit verschiedene „Sehsubstanzen* und dementsprechend ver- schiedene Reaktionsarten zuzuschreiben. Seit man die Dreifasertheorie im engeren Sinne dieses Wortes verlassen hat, ist es jedenfalls unrichtig, zu behaupten, die neuere Sinnesphysiologie habe das Müllersche Prinzip der spezifischen Energien noch mehr ins einzelne ausgearbeitet und speziell in den Farbentheorien durchgeführt. Die Komponentengliederung des Geschmackssinnes könnte, wie unten näher zu besprechen sein wird, der des Farbensinnes ähnlich gedacht werden, indem man annimmt, daß die Geschmacksfasern an und für sich zwar imstande sind, vier verschiedene Arten von Erregungsprozessen zu leiten, an ihrem peripheren Ende aber mit Endorganen von verschiedenen spezifischen Dis- positionen ausgerüstet sind, derart, daß einzelne Geschmacksknospen nur auf süß, andere nur auf sauer, dritte auf süß und sauer usw. reagieren. Ich glaube, mit einer derartigen Annahme kommt man der Wahrheit näher als mit der Annahme von vier durch spezifische Energie geschiedenen Geschmacksfaserarten. Eine analoge Hypothese erscheint mir für den Geruchs- sinn am nächstliegenden. a Am radikalsten ist ja das Prinzip der spezifischen Energien in der Helmholtzschen Theorie des Gehörssinnes durchgeführt. Mir ist diese Hypo- these, die jeder einzelnen Hörnervenfaser eine eigene Energieart zuschreibt, !) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. der Sinnesorgane 14 (1897). a u Se et a a Beschränkung des Müllerschen Gesetzes. 15 immer etwas unwahrscheinlich und ungenügend fundiert erschienen. Es ist doch etwas anderes, im Farbensinn drei, im Geschmackssinn vier, sogar im Geruchssinn (nach Zwaardemaker) neun verschiedene Energien anzunehmen, als mehrere tausend für den Gehörssinn. Nun kommt aber dazu, daß wir, wie gesagt, die drei Energien des Farbensinnes gar nicht mehr gelten lassen können, und für Geschmack und Geruch wenigstens nicht gezwungen sind, die analoge Annahme aufrecht zu erhalten. Unter diesen Umständen muß man, wie mir scheint, wugsstehen, daß zwar das J. Müllersche Gesetz im großen und ganzen mit den oben gemachten Vorbehalten bezüglich der niederen Sinne als gültig zu Recht besteht, die von der neueren Sinnesphysiologie erstrebte, hauptsächlich an Helmholtz anknüpfende Weiterbildung des Gesetzes, der Versuch seiner Anwendung auf die Komponentengliederung innerhalb der einzelnen Sinne jedoch zum mindesten anfechtbar, sehr wahrscheinlich aber überhaupt miß- lungen genannt werden muß. Bei dem jetzigen Stande unseres Wissens dürfen wir die Möglichkeit nicht bestreiten, daß die einzelne Sinnesnervenfaser je nach der Art ihrer Erregung qualitativ verschiedene Empfindungen zur Auslösung im Zentralnervensystem bringen kann. Welche von den für den einzelnen Nerven möglichen Erregungsarten jeweils zustande kommt, könnte durch die Art des Reizes und die spezifische Disposition des Endorganes bestimmt werden. Es ist durchaus nicht zu verkennen, daß eine Hypothese, die uns gestattete, den einzelnen Nervenfasern eine einzige, qualitativ fest bestimmte, unveränderliche Erregungsart zuzuschreiben, bei weitem befrie- digender wäre und mit sonstigen Erfahrungen der Nervenphysiologie in besserem Einklang stände. Die speziellen Erfahrungen auf dem Gebiete der Sinnesphysiologie aber sind einer solchen Annahme zurzeit nicht günstig. a 2. Zur Psychologie der Sinne von J. v. Kries. Die Physiologie der Sinne beschäftigt sich im allgemeinen außer mit den Empfindungen im engsten Sinne des Wortes (den Bestimmungen der Hellig- keit und der Farbe beim Gesichtssinn, denjenigen der Stärke, der Tonhöhe und Klangfarbe beim Gehörssinn usw.) mit einer Reihe von Bewußtseins- erscheinungen, die jene zwar mit enthalten oder mit ihnen verknüpft sind, ihrem Inhalte nach aber über sie hinausgehen und noch weiteres aufweisen. Diese Erscheinungen (es sind zum Teil dieselben, in denen man wohl auch eine gewisse „psychische Verarbeitung des direkt gegebenen Empfindungsmaterials“ erblickt hat und die man bei den einzelnen Sinnen als Wahrnehmungen den Empfindungen gegenüberzustellen pflegt) sind vielfach für mehrere, selbst für alle Sinnesgebiete so gleichartig, daß sich eine der speziellen Sinnes- physiologie vorauszuschickende allgemeine Besprechung derselben empfiehlt. Allerdings werden wir uns dabei auf einen summarischen Überblick der wichtigsten Tatsachen und Probleme beschränken müssen, teils um der Detail- darstellung bei den einzelnen Sinnen nicht vorzugreifen, teils weil die hier in Betracht kommenden Gegenstände von der in den letzten Dezennien mehr und mehr zu einer selbständigen Disziplin gestalteten Psychophysik und experimentellen Psychologie zu ihren Hauptaufgaben gerechnet werden und daher in einem physiologischen Werke von dem Zuschnitt dieses Handbuches nur angedeutet zu werden brauchen. Räumliche und zeitliche Ordnung der Sinneseindrücke, An erster Stelle ist hier die räumliche Anordnung des Empfundenen zu erwähnen, eine Erscheinung, die, wie bekannt, mehreren unserer Sinne, wenn auch in sehr ungleicher Weise, zukommt. Der Gesichts- und Tastsinn können als unsere Raumsinne par excellence bezeichnet werden; weit weniger ausgeprägt ist das räumliche Element schon beim Gehörssinn; ob es anderen Sinnen, namentlich dem Geruchsgipn, ganz abgeht, wird verschieden beurteilt. Bei den beiden erstgenannten Sinnen bemerkt man (wenigstens beim normalen erwachsenen Menschen), daß jeder Sinneseindruck ebenso unmittel- bar wie mit seinen sonstigen Beschaffenheiten auch mit seiner räumlichen Bestimmung ins Bewußtsein tritt. Wir sehen nie anders als räumlich und können uns keine Gesichtsempfindung vorstellen, die etwas anderes wäre als das Sehen eines Gegenstandes an bestimmter Stelle, keine Berührung, die wir nicht als einer bestimmten Stelle unseres Körpers zugehörig empfänden. — Wenn der Druck, der eine bestimmte Stelle unserer Haut trifft, als Berührung 1722 ut 7a 8 a da Br u u a a ae in Exzentrische Lokalisation. — Raumsinn. 17 eben dieser Stelle empfunden wird, so kann nur eine oberflächliche Betrach- - tung hierin die einfache und direkte Folge eben des Umstandes erblicken, daß der Reiz gerade auf jene Stelle einwirkte. In der Tat lehren schon sehr bekannte Erfahrungen, daß eine Reizung derjenigen Nervenfasern, die eine solche Stelle versorgen, in der Kontinuität ihres Verlaufes ganz ebenso als ein Vorgang an jener peripheren Stelle empfunden wird. So bei der be- kannten mechanischen Reizung des N. ulnaris am Ellenbogen. Wer durch Amputation eine Extremität eingebüßt hat, empfindet nach langer Zeit noch durch Zerrung der in der Narbe verwachsenen Nervenfasern Schmerzen, die an einer bestimmten Stelle des (nicht mehr existierenden) Gliedes lokalisiert werden. Allgemein werden Reizungen, die in irgend welchen zentripetalen Bahnen erregt werden, an dem peripheren Endpunkte dieser Bahnen wahr- genommen, d. h. an derjenigen Stelle, von der aus diese Bahnen unter normalen Umständen ihre Erregungen erhalten. Man pflegt diese Tatsache als Gesetz der exzentrischen Lokalisation zu bezeichnen. Wir dürfen annehmen, daß ähnlich auch beim Gesichtssinn die Erregung einer Optikus- faser, an welcher Stelle des Verlaufs sie auch stattfinden mag, die gleiche räumliche Vorstellung auslöst wie die Belichtung derjenigen Netzhautstelle, mit der sie im Zusammenhange steht; auch hier wird also exzentrisch lokali- siert, wenn auch insofern anders, als das Gesehene nicht an einer Stelle der Netzhaut, sondern außerhalb des Körpers (in größerer oder geringerer Ent- fernung) wahrgenommen wird. — Eine.genauere Überlegung läßt in diesen Verhältnissen leicht das naturgemäße Ergebnis wohlgesicherter allgemeiner Anschauungen erkennen. Da unsere Empfindungen und räumlichen Vor- stellungen (gleich allen anderen Bewußtseinserscheinungen) auf Vorgängen des Zentralnervensystems, in erster Linie wohl der Hirnrinde beruhen, so wird auch, wenn ein empfindendes Subjekt etwas an einer bestimmten Stelle seiner Körperoberfläche oder des äußeren Raumes wahrnimmt, hierin immer das Korrelat gewisser Vorgänge zu erblicken sein, die (objektiv) im Gehirn des betreffenden Individuums ihren Ort haben. Daraus ergibt sich denn, daß, um uns eine Berührung an einer bestimmten Stelle des Körpers fühlen, einen Gegenstand an bestimmter Stelle des äußeren Raumes sehen zu lassen, nicht gerade ein Vorgang an jenem Punkt der betreffenden Sinnesfläche not- wendig ist. Da es nur auf einen bestimmten Vorgang im Gehirn ankommt, so wird der gleiche Eindruck immer entstehen, wenn dieser cerebrale Vorgang herbeigeführt wird, was in mancherlei Weise, insbesondere aber durch die Erregung der Sinnesbahnen an irgend einer Stelle ihres Verlaufes bewirkt werden kann. Der Raumsinn besteht zwar in erster Linie in einer relativen räumlichen Ordnung der demselben Sinnesgebiet angehörigen Eindrücke, doch stehen alle diese Bestimmungen schon insofern in einem gewissen Zusammenhang, als für sie alle die Vorstellung von unserem eigenen Körper in gewisser Weise in Betracht kommt. Freilich ist dies für die einzelnen in ungleicher Weise der Fall. Im Gebiete des Gesichtssinnes tritt die Vorstellung des eigenen Körpers am wenigsten hervor; immerhin ist sie doch dadurch gegeben, daß sich die Richtungen und Entfernungen, in denen wir die Gegenstände sehen, auf ein „optisches Zentrum“ beziehen, dem eine annähernd bestimmte Lage im Kopf zugeschrieben werden darf. Die Lokalisationen des Tastsinnes sind, Nagel, Physiologie des Menschen. III. 2 18 Zeitsinn. so wie wir sie kennen, von einer einigermaßen ausgebildeten Vorstellung von unserer Körpergestalt nicht ablösbar. In wiederum eigenartiger Weise sind die der sogenannten tiefen Sensibilität angehörigen Wahrnehmungen (über relative Lage und Bewegung der einzelnen Körperteile) sowie die des stati- schen Sinnes mit unserer Vorstellung vom eigenen Körper verknüpft. Es ist endlich hier hervorzuheben, daß auch unsere willkürlichen Bewegungen eine (zwar sehr verschieden veranschlagte), aber zweifellos nicht unwichtige Rolle in der Ausbildung unserer räumlichen Vorstellungen spielen. Man sieht daher, daß die Raumvorstellung ein über die Bedeutung der einzelnen Sinne weit hinausgehendes, für unser Seelenleben in der mannigfaltigsten Weise bestimmendes Bewußtseinselement ist. So sind es denn auch, wie bekannt, überaus zahlreiche, psychologisch wie erkenntnistheoretisch wiehtige Probleme, die sich. an die Raumvorstellung knüpfen. In gewissem Maße werden diese bei der Abhandlung der einzelnen Sinne berührt werden müssen. Eine ein- gehende und zusammenfassende Behandlung des ganzen Gegenstandes dürfte dagegen zurzeit auf physiologischer Basis kaum möglich, jedenfalls im Rahmen dieses Handbuches ausgeschlossen sein. In vieler Hinsicht ähnlich wie für die räumlichen Bestimmungen liegen die Dinge auch für die zeitliche Ordnung unserer Sinneseindrücke. Die Zeit bezeichnete Kant als die Form unseres „inneren Sinnes“; sie ist die- jenige Form, in der wir die Gesamtheit unserer inneren Erlebnisse auf- fassen und vorstellen. Wir nehmen also nicht nur die einem und demselben Sinnesgebiete angehörigen Eindrücke in zeitlicher Folge wahr, sondern auch die Eindrücke verschiedener Sinne; ja die verschiedensten psychischen Vor- gänge überhaupt sind uns in zeitlicher Ordnung gegeben. Die Erfahrung hat ferner gelehrt, daß die genauere Auffassung zeitlicher Verhältnisse selbst da, wo es sich um einfache Sinneseindrücke handelt, keineswegs schlechtweg als eine Leistung des betreffenden Sinnes betrachtet werden darf, sondern daß dabei cerebrale Vorgänge mannigfacher Art, so z. B. eine zeitlich präzi- sierte Einstellung der Aufmerksamkeit (indem wir einen bestimmten Sinnes- eindruck in einem zeitlich genau fixierten Zeitpunkt erwarten) und vielerlei anderes eine große Rolle spielen. Es geht hieraus hervor, daß, wenn wir in einer ganz allgemeinen Weise von Zeitsinn reden, damit noch weit weniger als dies beim Raumsinn der Fall ist, eine für die einzelnen Sinne unabhängig darzulegende Funktion bezeichnet ist, sondern eine Gesamtheit von Funktionen, an denen nicht bloß die einzelnen Sinne, sondern sehr mannigfache Leistungen, vor allem des Zentralnervensystems beteiligt sind. Auf eine einheitliche Darstellung des Zeitsinnes, wie sie danach wohl wünschenswert erscheinen könnte, wird aber aus den gleichen Gründen hier verzichtet werden müssen; einzelne Punkte werden teils bei der Physiologie des Großhirns, teils bei den einzelnen Sinnen zu berühren sein. Grenzen der Wahrnehmung und Unterscheidung. Schwellenwerte. Eine bei allen Sinnen ähnlich wiederkehrende Reihe von Untersuchungen beschäftigt sich mit einem Kreise von Aufgaben, der, allerdings nicht scharf abgrenzbar, etwa dahin bezeichnet werden kann, daß es sich um die Er- scheinungen handelt, die sich bei einer vergleichenden Prüfung und Beur- Schwellenwerte. 19 teilung von Sinneseindrücken ergeben, insbesondere auch um die Ermittelung der Grenzen, die der Leistungsfühigkeit unserer Sinneswerkzeuge im Wahr- nehmen überhaupt, im Erkennen und Unterscheiden gesteckt sind. Nachdem eine Reihe von Untersuchungen, als deren Ausgangspunkt die grundlegenden Arbeiten E. H. Webers zu bezeichnen sind, eine große Fülle hierhergehöriger Tatsachen bekannt gemacht haben, ist es nicht schwierig, über die Gesamt- heit der sich hier bietenden Probleme einen Überblick zu geben !). Als erste Hauptkategorie der Untersuchungen können wir diejenigen zusammenfassen, die sich mit der Ermittelung von Schwellenwerten im weitesten Sinne des Wortes befassen. Man spricht von einem Schwellenwert überall da, wo die von einem bestimmten Punkte ausgehende (qualitative oder quantitative) Veränderung in der Beschaffenheit des (oder der) auf ein Sinnesorgan einwirkenden Reize eine bestimmte Grenze überschreiten muß, um eine gewisse Art von psychischem Erfolg hervorzurufen, während unter- halb jener Grenze der Erfolg nicht etwa in geringerem Betrage, sondern überhaupt gar nicht eintritt. Im spezielleren haben wir hier zunächst zwei Hauptfälle zu sondern; wir können von einfachen Schwellen reden, wenn es sich um nur einen Reiz handelt, also z. B. die geringste Stärke eines solchen aufgesucht wird, die überhaupt bemerkt werden kann; wir stellen diesen die Unterschiedsschwellen gegenüber, bei denen dem betreffenden Sinnesorgan zwei Reize dargeboten werden, und zu prüfen ist, wie groß der objektive Unterschied der Reize gemacht werden muß, um eine Erkennung derselben als verschieden zu ermöglichen. In beiden Fällen übereinstimmend muß sodann eine weitere Unterschei- dung gemacht werden. Läßt man z. B. farbige Lichter in sehr geringen Stärken auf das Sehorgan einwirken, so findet man meist einen Stärkegrad, unterhalb dessen sie überhaupt nicht sichtbar sind. Wir bezeichnen diesen als generellen Schwellenwert. Erst bei einer höheren Stärke dagegen wird der Empfindungserfolg von der Art, daß die Farbe erkannt und angegeben werden kann; es ergibt sich hier also ein weiterer Wert, der als spezifischer Schwellenwert bezeichnet wird. Die Unterscheidung genereller und spezifischer Schwellenwerte ist prinzipiell überall erforderlich, wenngleich es natürlich nicht ausgeschlossen ist, daß beide gelegentlich auch zusammenfallen. Von besonderer Wichtigkeit ist es, hervorzuheben, daß sie auch für die Unterschiedsschwellen gilt. Bei der Aufgabe, zwei Lichtgemische einander gleich aussehend zu machen, findet man häufig, daß die zu ver- gleichenden Felder wohl mit Sicherheit als verschieden erkannt werden, ohne daß es jedoch gelänge zu sagen, von welcher Art der Unterschied ist (ob das eine Feld z. B. heller oder röter oder gesättigter im Vergleich zum anderen ist). Man kann demgemäß auch denjenigen größeren objektiven Unterschied suchen, der die Erkennung der Verschiedenheit ihrer Art nach gestattet, z. B. bei Variierung der Wellenlänge die Erkennung, welches von zwei gelben Feldern grünlicher und welches rötlicher ist. ‘Ebenso ist nach den Beobach- tungen von v. Frey und Metzner?) bei successiven Tastreizen die Erkennung einer räumlichen Verschiedenheit überhaupt schon bei erheblich kleineren !) Vgl. hierüber insbesondere die Zusammenstellung G. E. Müllers in den Ergebnissen der Physiologie II, 2, 8. 267. — *) Zeitschr. f. Psychologie 29, 161. 2* 20 Schwellenwerte. — Empfindlichkeiten. Abständen möglich als‘ die Erkennung, in welcher Richtung der zweite Be- rührungspunkt gegen den ersten verschoben ist. Auch hier also fällt gene-. relle und spezifische Schwelle auseinander. Der Begriff der spezifischen Schwelle bedarf insofern meist noch einer ge- naueren Präzisierung, als er noch keine feste Bestimmung darüber enthält, was oder wieviel an dem Reize erkannt werden soll. So kommt es z. B.‘ bei den Farbenschwellen darauf an, ob nur die Erkennung der Farbe (im Gegensatz zur Farblosigkeit) oder die Erkennung einer bestimmten Farbe (im Gegensatz zu einer kleineren oder größeren Zahl von anderen Farben) zum Kriterium gemacht wird. Man übersieht, daß die Versuchsbedingungen in dieser Beziehung sehr verschieden gestaltet werden können. Der Ausdruck der absoluten Schwelle ist in letzter Zeit in verschiedener Bedeutung benutzt worden; in der physiologischen Literatur der letzten Jahre nämlich als Gegensatz zur spezifischen Schwelle, also für das, was ich oben als generelle Schwelle bezeichnete; vielfach dagegen, so namentlich auch von G. E. Müller in seiner zusammenfassenden Darstellung im Gegensatz zur Unter- schiedsschwelle, also für das, was ich oben einfache Schwelle nannte (Fechners 'Reizschwelle). Zur Vermeidung von Mißverständnissen, die sich nach dem sonstigen Sinne des Wortes „absolut“ schwer ausschließen lassen, erscheint es mir am zweck- mäßigsten, an beiden Stellen andere Ausdrücke zu benutzen. Für die Schwellenwerte ergibt sich insofern eine große Mannigfaltigkeit, als Ausgangspunkt und Veränderungsart der Reize in sehr verschiedener Weise gewählt werden kann. Unter den einfachen Schwellen haben diejenigen eine gewisse dominierende Bedeutung erlangt, bei denen der Reiz, von einem Nullwert ausgehend, durch Vermehrung seiner Intensität oder seiner räum- lichen und zeitlichen Ausdehnung an die Grenze der Merkbarkeit gelangt. Man kann diese Schwellenwerte (für die eine einheitliche Bezeichnung wohl wünschenswert ist) Nullschwellen nennen. Man kann aber auch vielfach eine irgendwie ausgezeichnete Reizbeschaffenheit zum Ausgangspunkt nehmen, diese qualitativ verändern und so namentlich spezifische Schwellenwerte er- mitteln. Bei den Unterschiedsschwellen ist zwar stets die objektive Gleichheit beider Reize der gegebene Ausgangspunkt der Veränderungen, diese selbst aber können wiederum verschiedenartig gewählt werden. Eine besondere Erwähnung möge der Fall finden, daß das räumliche oder zeitliche Verhältnis zweier Reize variiert und so die Grenze einer räumlichen oder zeitlichen Unterscheidungsfähigkeit aufgesucht wird. Die nach den Schwellenwerten zu bemessenden Leistungsfähigkeiten eines Sinnes pflegt man als Empfindlichkeiten zu bezeichnen; sie sind natürlich um so größer, je geringer die Schwellenwerte sind. Die einfachen (absoluten) Empfindlichkeiten pflegt man den betreffenden Schwellenwerten umgekehrt proportional zu setzen; für Unterschiedsempfindlichkeiten ist eine ähnliche numerische Bezeichnung bis jetzt nicht üblich geworden. Die obige Übersicht lehrt, in wie verschiedenartiger Weise Schwellenwerte ermittelt werden können; die Unterscheidungen, die wir gemacht haben, sind, wie hier noch bemerkt werden muß, rein symptomatisch: sie suchen nicht an irgend welche theoretischen Gesichtspunkte anzuknüpfen; und dies ist auch 'bei dem gegen- wärtigen Stande unseres Wissens das einzig zulässige Prinzip der Darstellung. Daß zwischen den verschiedenen hier zu ermittelnden Leistungsfähigkeiten gewisse regel- mäßige Zusammenhänge bestehen, erscheint zwar sehr möglich, aber bis jetzt ist es kaum irgendwo gelungen, etwas derartiges mit Sicherheit festzustellen. Wir müssen daher auch das Wort Empfindlichkeit in einem rein symptomatischen Sinne nehmen und von einer Reihe spezieller Empfindlichkeiten reden (einfacher oder Webersches Gesetz. — Psychophysische Methoden. 21 absoluter und Unterschiedsempfindlichkeit, Unterschiedsempfindlichkeit für Intensi- tätsänderungen usw.), deren jede eben eine ganz bestimmte (unter bestimmten Be- dingungen geprüfte) Leistungsgrenze bezeichnet. Es ist wichtig, dies hervorzu- heben, weil die Gefahr besteht, sich durch verallgemeinernde Auffassungen ‘zu der Annahme von Zusammenhängen verführen zu lassen, die in Wirklichkeit gar nicht existieren. So ist es eine Quelle von Irrtümern und Mißverständnissen ge- worden, daß man sich gewöhnt hat, das Wort Lichtsinn in einer die einfache (absolute) Empfindlichkeit und die Unterschiedsempfindlichkeit zusammenfassenden Weise zu gebrauchen. Dies wäre nur dann gerechtfertigt, wenn die Erfahrung mit Sicherheit herausgestellt hätte, daß diese beiden Leistungen stets miteinander par- allel gehen, was ganz und gar nicht der Fall ist. Im Mittelpunkte des Interesses haben lange Zeit diejenigen Unterschieds- schwellen gestanden, die bei einer Veränderung der Reizintensität erhalten werden. Nach den Untersuchungen, die teils von E. H. Weber selbst, -teils dann in noch größerem Umfange von Fechner ausgeführt waren, schien es, daß hier ein ganz allgemeines, für alle Sinnesorgane zutreffendes Gesetz sich ‚herausstellte, demzufolge der eben merkliche Reizzuwachs immer einen be- stimmten Bruchteil des schon vorhandenen Reizes darstellte, oder zwei Reize, um eben noch (oder eben nicht mehr) als verschieden erkannt zu werden, immer in einem bestimmten (von der absoluten Intensität unabhängigen) Verhältnis stehen müßten. Dies ist es, was man gegenwärtig als Weber- sches Gesetz zu bezeichnen pflegt. Mit einer allerdings nicht ganz ein- wurfsfreien Erweiterung des Sinnes.hat man dann in die gleiche Gesetz- mäßigkeit die Unterscheidungsfähigkeiten auch für räumliche und zeitliche Erstreckungen, ja auch wohl die für Tonhöhen einbeziehen wollen. Wir wissen gegenwärtig, daß dieses Gesetz den Tatsachen zwar in erster An- näherung entspricht, aber überall nur eine eingeschränkte und keine strenge Gültigkeit besitzt. Genaueres hierüber wird bei den einzelnen Sinnen anzu- führen sein. Auf die theoretische Deutung, die Fechner an jenes Gesetz knüpfte, kommen wir sogleich zurück. Methodisches. Die Ermittelung von Schwellenwerten ist überall mit nicht geringen methodischen Schwierigkeiten verknüpft, die in letzter Instanz daher rühren, daß der in Betracht kommende psychophysische Mechanismus sich nicht dauernd konstant verhält, sondern in einer weder zu beherrschenden noch zu bereehnenden Weise wechselt. So kommt es, daß derselbe Unterschied jetzt wahr- nehmbar, gleich darauf unwahrnehmbar sein kann oder umgekehrt. Nur in sehr beschränktem Maße kann man in diesen Erscheinungen eine gewisse Regelmäßig- keit bemerken, so z. B. die, daß, wenn man von unterschwelligen Werten herauf- geht, meist eine höhere Schwelle gefunden wird, als wenn man von überschwelligen wieder heruntergeht. Der in dem einen Falle als eben merklich und der im anderen als eben nicht mehr merklich gefundene Wert fallen meist erheblich aus- einander und lassen zwischen sich ein Gebiet von Werten, die je nach Verfahrungs- weise entweder über- oder unmerklich sind. Daneben aber spielen rein zufällige Schwankungen eine meistens nicht unbeträchtliche Rolle, und es bedarf daher im allgemeinen sehr zahlreicher Versuche, um zu brauchbaren Ergebnissen zu gelangen. Im einzelnen kann nun hierbei sehr verschieden verfahren werden; die Psycho- physik hat zum Zwecke solcher Untersuchungen eine reichhaltige und eigenartige Methodik entwickelt und theoretisch durchgearbeitet. Besonders gilt dies von der- jenigen Klasse der Untersuchungen, die die Unterschiedsschwellen betreffen. Fech- ners in diesem Punkte grundlegende Untersuchungen führen bereits drei Haupt- verfahrungsweisen auf. Die erste ist die direkte Bestimmung der eben merklichen (oder eben nicht mehr merklichen) Unterschiede, die durch vorsichtige Abstufung des einen Reizes bei Konstanterhaltung des anderen bewirkt wird. Die zweite ist 223 Spezifische Vergleichungen. die Methode der mittleren Fehler; es wird die Aufgabe gestellt, den einen Reiz dem anderen gegebenen und unveränderlichen so genau als möglich gleich zu machen; die erforderlichen Einstellungen werden vielmals hintereinander aus- geführt und alsdann die Größe ihrer Abweichungen von dem wahren Werte ermittelt. Die dritte Methode ist die der richtigen und falschen Fälle. Es werden in einer sehr großen Zahl von Fällen Unterschiede wechselnden Betrages dem Beobachter dargeboten und ermittelt, in einem wie großen Bruchteil aller Fälle bei jedem Betrage des Unterschiedes richtig geurteilt, also z. B. erkannt wird, welches von zwei Feldern das hellere ist. Da natürlich der Prozentsatz der richtigen Urteile mit zunehmendem Betrage des Unterschiedes wächst, so erhält man in . diesem Falle nicht einen bestimmten Wert für die Unterschiedsschwelle, sondern einen über ein gewisses Gebiet von Beträgen sich erstreckenden funktionellen Zusammenhang. Jede dieser Methoden kann in zahlreichen Details verschieden gestaltet werden. Auf diese Verhältnisse des genaueren einzugehen, verbietet sich hier; es mag genügen, auf Fechners klassisches Werk, Elemente der Psycho- physik, ferner auf G. E. Müllers Grundlegung der Psychophysik, 1878, endlich auf desselben Autors oben schon erwähnte neuere Übersicht zu verweisen. Spezifische Vergleichungen. Den auf die Ermittelung von Schwellenwerten gerichteten Untersuchungen ist sodann eine Gruppe anderer anzureihen, die man als spezifische Ver- gleichungen bezeichnen kann. Hierher gehört es z. B., wenn wir im Gebiete des Gesichtssinnes Lichter von verschiedener Farbe hinsichtlich ihrer Hellig- keit vergleichen oder die Aufgabe stellen, zwei Lichter von ungleicher Farbe auf gleiche Helligkeit zu bringen. Allgemein gesprochen handelt es sich um die Aufsuchung von Empfindungen, die nicht vollkommen gleich sein sollen, zwischen denen aber neben einer bestimmten Differenz auch eine gewisse Übereinstimmung besteht, die wir entsprechend eine spezifische Überein- stimmung nennen können. Welche Empfindungen eine solche zeigen, ver- steht sich im allgemeinen nicht von selbst, und es ist daher eine selbst- ständige Aufgabe der. Untersuchung, dieses zu ermitteln. Auch hier handelt es sich um sehr mannigfaltige Aufgaben; jede derselben muß natur- gemäß an einen bestimmten Begriff, wie in dem obigen Beispiel denjenigen der Helligkeit, anknüpfen, hinsichtlich dessen eine Vergleichung verlangt. wird. Welche dies sind, oder wie viele es ihrer gibt, läßt sich im voraus nicht angeben. Die Erfahrung lehrt aber, daß diese Zahl jedenfalls keine geringe ist; vielmehr führt uns die Beurteilung der Empfindungen sehr häufig und in sehr mannigfaltiger Weise auf solche spezifischen Vergleichungen. Zwei Farbenempfindungen können wir z.B. auch hinsichtlich ihres Sättigungs- grades vergleichen und z. B. ein bestimmtes Gelb für ungesättigter erklären als ein bestimmtes Rot. Ferner sei hier an den ganz allgemeinen Begriff der Empfindungsstärke erinnert, demzufolge wir wohl auch Empfindungen verschiedener Sinnesgebiete vergleichen, und z. B. eine Geruchsempfindung für stärker als eine bestimmte Gehörsempfindung erklären können. Von besonderer Wichtigkeit ist es, daß spezifische Vergleichungen nicht bloß, wie eben vorausgesetzt, auf Empfindungen, sondern auch auf Empfin- dungsunterschiede erstreckt werden können. Wo die Empfindungen in so zahlreichen Richtungen veränderlich sind, wie das beim Gesichtssinn der Fall ist, kann gefragt werden, ob der Unterschied der Empfindungen E, und E, von gleicher Art (figürlich gesprochen von gleicher Richtung) ist mit dem der Empfindung E, und E,. Vor allem aber sind uns Empfindungsunter- ee ee Ka ee ea an ae u Fechners psychophysisches Gesetz. 23 schiede hinsichtlich ihrer Größe vergleichbar, namentlich dann, wenn sie von gleicher Art sind. Gehören die Empfindungen E,, Ey, E,, E, einer solchen einsinnigen Veränderungsreihe an, ist also der Unterschied zwischen E, und E, von gleicher Art wie derjenige zwischen E, und E,, so kann die Frage gestellt werden, welcher dieser beiden Unterschiede der größere ist, oder die Aufgabe, eine Empfindung E, zu ermitteln, deren Unterschied gegenüber E; ebenso groß ist, wie der Unterschied zwischen E, und E,. Da man im all- gemeinen davon ausgeht, daß Unterschiede, die gerade an der Grenze der Merklichkeit stehen, überall als gleich zu betrachten sind, diese also hier aus der Betrachtung ausscheiden, so pflegt man hier von einer Größenvergleichung übermerklicher Unterschiede zu reden. Sie bildet, wie man sieht, einen besonderen Fall der spezifischen Vergleichung; denn die Unterschiede zwischen zwei Tönen von 90 und 100 Schwingungen einerseits, von 900 und 1000 Schwingungen anderseits sind ja stets etwas in gewissem Betracht ver- schiedenes; wenn wir sie also hinsichtlich der Größe übereinstimmend finden, so konstatieren wir auch eine spezifische Übereinstimmung. Theoretisches. Messung der Empfindungsstärken. Fechners psychophysisches Gesetz. Ich habe mich in der bisherigen Darstellung gewisser allgemeiner Ver- hältnisse der Sinnesphysiologie auf rein Tatsächliches beschränkt. Es ist jedoch unerläßlich, hier noch einiges über die theoretische Auffassung jener Tatsachen und der mit ihnen zusammenhängenden Probleme hinzuzufügen. Fechner war es, der an das oben erwähnte Webersche Gesetz eine auf den ersten Blick überaus bedeutungsvolle Folgerung knüpfte. Er hielt es für gerechtfertigt anzunehmen, daß ein an der Grenze der Merklichkeit stehender Zuwachs der Empfindung auf jeder Intensitätsstufe eine Vermehrung von gleicher Größe darstelle. So ergab sich mit Rücksicht auf das Webersche Gesetz die Folgerung, daß die Stärke der Empfindung immer um den gleichen Betrag wächst, wenn der Reiz in einem bestimmten Verhältnis vermehrt wird, oder, mathematisch formuliert, daß die Stärke der Empfindung proportional dem Logarithmus des Reizes wachse. Fechner vermutete, daß hierin ein streng gültiges Gesetz der Wechselwirkung zwischen Physischem und Psychi- schem zu erblicken sei!) und bezeichnete es als psychophysisches Gesetz. Dieses Gesetz gehört nun, nicht sowohl bezüglich seiner tatsächlichen Be- gründung, als vielmehr der theoretischen Vorstellungen, von denen es aus- geht, zu den meist umstrittenen Gegenständen der Psychophysik. Fechner hielt es wohl für selbstverständlich (und auch gegenwärtig ist, wie es scheint, diese Auffassung, wenigstens in den Kreisen der Psychophysiker, noch die überwiegende), daß auf die einer Intensitätsreihe angehörigen Empfindungs- grade Maßbezeichnungen ohne weiteres anwendbar seien, daß es jedenfalls zulässig sei zu fragen, ein wie vielfaches die Empfindung E, von der Emp- findung E, sei, und für dieses Verhältnis einen bestimmten numerischen Aus- !) Die auch ihm nicht unbekannten Abweichungen von der Gültigkeit des Weberschen Gesetzes bezog er demgemäß darauf, daß die letzten der Empfindung zugrunde liegenden physischen Prozesse der Stärke des Reizes zwar annähernd, aber nicht immer genau proportional gingen. 24 Messung der Empfindungsstärke. druck zu suchen oder zu geben. Es scheint hiernach eine mehr oder minder sichere Annahme, daß die eben merklichen Empfindungszuwachse überall gleich große seien. Ebenso hat man die Größenvergleichung übermerklicher Unterschiede zunächst so aufgefaßt, daß wir eine zwar nicht überall sehr genaue, aber doch leidliche Vergleichung für die „wahre Größe“ der Empfindungs- unterschiede besäßen, für deren Ermittelung also diese unmittelbare Ver- gleichung ein zwar nicht sehr vollkommenes, aber doch brauchbares Hilfs- mittel (dem Augenmaß vergleichbar) sein würde. Jene Grundvoraussetzung ist nun später in einer großen Zahl erkenntnistheoretischer Untersuchungen in Zweifel gezogen, geprüft und in der mannigfaltigsten Weise erörtert worden. Eine ganz abweichende Anschauung ist zuerst von mir vor 24 Jahren entwickelt worden, und ich muß mich darauf beschränken, auf sie (als die wohl radikalste) hier kurz hinzuweisen !). Ihr zufolge hat die zahlenmäßige Bezeichnung irgend welcher Abstufungen nur dann einen Sinn, wenn jene Abstufungen durch eine bestimmte (zunächst willkürliche) Definition auf die Einheiten der Masse, des Raumes und der Zeit zurückgeführt werden (wie dies bei allen Begriffen der theoretischen Physik geschieht). So können wir als Maß der Temperatur nach Belieben die Ausdehnung des Quecksilbers oder diejenige der Luft, oder auch zahl- reiche andere mit der Temperaturänderung verknüpfte Begleiterscheinungen benutzen. Zwei Temperaturabstände, die wir in der Skala des Quecksilber- thermometers gleich setzen (z. B. von 10 zu 20 und von 90 zu 100°) können, in einer anderen Skala gemessen, ungleich genannt werden. Man kann also nicht ohne weiteres fragen, ob zwei Temperaturabstände gleich oder ungleich sind; die Frage gewinnt erst dadurch einen festen Sinn, daß man eine Festsetzung darüber trifft, wonach die Temperatur gemessen werden soll. Ganz ebenso ist nach meinem Dafürhalten auch die Frage nach den Größen- beziehungen zweier Empfindungen eine unrichtig gestellte und, nicht wegen einer praktischen Schwierigkeit der Messung, sondern wegen eines grund- sätzlichen Mangels in ihrem Sinne zunächst ganz unbeantwortbar. Sie bedarf zuvor einer Festsetzung darüber, nach welchem Prinzip und in welchem Sinne solche Maßangaben verlangt werden. Geht man von dieser Anschauung aus, so kann es dann nicht als eine Tatsache, sondern höchstens als eine zulässige Festsetzung gelten, daß die „eben merklichen“ Unterschiede als gleich be- trachtet werden sollen. Was ferner die Vergleichung übermerklicher Unter- schiede anlangt, so hat man mit der Möglichkeit zu rechnen, daß diese, da sie jedenfalls nicht einfach auf der „wahren Größe“ der Empfindungsunter- schiede beruht, in vielleicht sehr verwickelter Weise durch die mannigfaltigsten Umstände bestimmt wird. Wir haben auf diesen Punkt alsbald noch zurück- zukommen. Der Wert psychophysischer Maßformeln erscheint hiernach als ein sehr problematischer. Allerdings können sie unter gewissen (hier nicht genauer ‘) Vierteljahrsschrift f. wissenschaftl. Philosophie 6, 257. Aus der wie erwähnt sehr umfangreichen Literatur, die sich auf die erkenntnistheoretische Grundlage des psychophysischen Gesetzes bezieht, mag hier angeführt werden: Fechner, Revision der Hauptpunkte der Psychophysik, 1882; F. A. Müller, Das Axiom der Psychophysik, 1882; Elsas, Über Psychophysik, 1886; Meinong, Über die Be- deutung des Weberschen Gesetzes; Zeitschr. f. Psychologie, 1896. Psychologische Analyse. 95 zu verfolgenden) Voraussetzungen als willkürliche Darstellung einer größeren Gruppe von Tatsachen brauchbar sein; ob dies aber der Fall ist, hängt durch- aus von der besonderen Gestaltung der Tatsachen ab, es ist im voraus nicht zu übersehen und hier sehr zweifelhaft, schon deswegen, weil z.B. keineswegs übermerkliche Unterschiede, die sich aus einer gleichen Zahl eben merklicher Stufen zusammensetzen, durchweg für gleich erachtet werden. Für die physiologische Untersuchung dürfte es bei diesem Stande der theoretischen Anschauungen geraten sein, zunächst nicht die in ihrer Be- deutung bestrittene Frage aufzuwerfen, „wie die Empfindungsstärke von der Intensität des Reizes abhängt“, oder nach einer diese Abhängigkeit ausdrückenden psychophysischen Maßformel zu suchen, sondern die hier beobachteten Tatsachen in rein empirischer Weise zu ermitteln und darzu- stellen. In erster Linie würde es sich dabei um die Ermittelung der Unter- schiedsempfindlichkeiten handeln; was die Vergleichung übermerklicher Unterschiede anlangt, so wird uns die Besprechung derselben, der wir uns sogleich zuzuwenden haben, zu ganz dem nämlichen Ergebnis führen. Theorie der spezifischen Vergleichungen. Psychologische Analyse. Eine für die Sinnesphysiologie noch wichtigere Differenz theoretischer Auffassung knüpft sich an die spezifischen Vergleichungen. Einer verbreiteten Auffassung zufolge ist in einer spezifischen Übereinstimmung im allgemeinen die Übereinstimmung eines den beiden verglichenen Bewußtseinsinhalten ge- meinsamen Elementes (Teiles) zu erblicken. Nennen wir eine bestimmte Rot- und eine bestimmte Blauempfindung gleich hell, finden wir überhaupt optische Empfindungen hinsichtlich ihrer Helligkeit vergleichbar, was kann es anderes heißen, als daß in ihnen ein gewisses Element steckt, dessen Ab- stufungen den Helligkeitsgrad bestimmt und dessen Vorhandensein mit dem gleichen Betrage eben die Gleichheit der Helligkeit bedeutet? Man könnte demgemäß statt von einer spezifischen, überall auch von einer partiellen Übereinstimmung reden. Ist dies der Fall, so wird die Aufgabe einer spezi- fischen Vergleichung überall eine durchaus klar bestimmte und bedeutungs- volle (wenn auch vielleicht nur schwierig lösbar) sein. Außerdem aber würden, wenn alle solche Vergleichungen auf bestimmten psychischen Ele- menten beruhen, die Verfolgung derselben ein allgemeines und wichtiges Hülfsmittel der „psychologischen Analyse“ der Zerlegung komplizierter Be- wußtseinsinhalte in ihre Elemente darstellen. Dieses hauptsächlich von Mach ganz systematisch durchgeführte Prinzip ist sinnesphysiologisch von um so größerer Bedeutung geworden, als sich an dasselbe sogleich die Annahme knüpft, daß überall dem psychologischen Element auch ein physiologisches, dem psychisch einheitlichen auch ein physisch einheitliches entspreche. Es muß daher auf die ganze Anschauung hier etwas genauer eingegangen werden. Eine allgemeine Erwägung ergibt meines Erachtens, daß die Dinge zum mindesten nicht überall so liegen, und daß neben der hier angenommenen sicher auch eine andere psychologische Grundlage der spezifischen Verglei- chungen in Betracht gezogen werden muß. Wir können ja auch z. B. von zwei Tönen ungleicher Höhe den einen stärker als den anderen nennen oder beiden 36 Begriff der Ähnlichkeit. gleiche Stärke zuschreiben, ohne daß wir in der Tonstärke ein der einen und anderen Tonempfindung gemeinsames „Element“ erblicken dürften. Um zu einer zutreffenden Auffassung dieser Verhältnisse zu gelangen, müssen wir auf sehr allgemeine psychologische Tatsachen zurückgehen. In größtem Um- fange und in der mannigfaltigsten Weise begegnen wir der Erscheinung, daß zwei Bewußtseinsinhalte voneinander verschieden sind, doch aber ein gewisses Maß von Ähnlichkeit, Verwandtschaft, Gleichartigkeit aufweisen; und wir finden weiter, daß demzufolge ein allgemeiner Begriff entsteht, dem,ein ge- wisser Umfang solcher untereinander verwandter Bewußtseinsinhalte sub- sumiert wird. Auch in bezug auf dieses psychologische Geschehen sind ja nun die Ansichten lange auseinandergegangen und tun es wohl noch; nach der einen Anschauung soll jede Ähnlichkeit die Übereinstimmung eines Teiles sein!) und es bedeutet dann auch jene Begriffsbildung nur die Heraus- sonderung oder Heraushebung des einer größeren Anzahl von Bewußtseins- inhalten gemeinsamen Teiles. Nach der entgegenstehenden ist dagegen die Ähnlichkeit eine Beziehung, die eine weit verwickeltere und weit mannig- faltigere psychologische Grundlage hat und sind demgemäß auch jene Begriffe als psychologische Neubildungen anzusehen, für die wiederum viel weiter- gehende und mannigfaltigere Möglichkeiten existieren, als wenn es sich dabei immer nur um die Heraussonderung präformierter Teile handelte. Nach meiner (hier allerdings nicht genauer zu begründenden, sondern nur anzu- deutenden) Überzeugung ist gegenüber dem tatsächlichen Reichtum der Ähn- lichkeitsbeziehungen und der Begriffsbildung die letztere Auffassung die allein durchführbare. Auch bei den Tonempfindungen finden wir doch diejenigen, die sich in der Skala nahestehen, in höherem Grade, entferntere in geringerem einander ähnlich; gleichwohl sind sie als Empfindungen durchaus einfach und wir können jene Beziehungen jedenfalls nicht darauf zurückführen, daß in den Tonempfindungen in wechselndem Betrage ein als Höhe und ein als Tiefe zu bezeichnendes „Empfindungselement“ vorhanden wäre, für welches man ein einheitliches physiologisches Substrat fordern könnte. Wir müssen also ganz im allgemeinen mit der Existenz einer solchen nicht analysier- baren Gleichartigkeit und mit der Möglichkeit einer hierauf beruhenden Begriffsbildung rechnen ?). Dabei ist dann weiter beachtenswert, daß die in solcher Weise gebildeten Begriffe im allgemeinen mehr oder weniger unbestimmt sind. Wir können gewisse Töne tief, andere hoch, gewisse laut, andere leise nennen. Diese Begriffe sind für den Gebrauch des täglichen Lebens nicht ohne Wert; aber niemand wird im Zweifelfalle die Frage diskutierbar finden, ob ein gegebener Y) „Ähnlichkeit“, sagt z. B. Hering ganz allgemein, „besteht in teilweiser Gleichheit.“ Hermanns Handbuch der Physiologie 3, 568. — *) Hiermit soll natürlich nicht bestritten werden, daß jede Ähnlichkeitsbeziehung eine bestimmte physiologische Grundlage besitzt; gewiß wird eine eindringendere Kenntnis als wir sie gegenwärtig besitzen, diese überall nachweisen können. Aber sie wird nicht ausschließlich in der Gemeinsamkeit eines Bestandteils gefunden werden können, sondern es wird daneben die übereinstimmende Beziehung zweier Bestand- teile und wohl vieles andere in Betracht kommen. Jedenfalls ist es unmöglich, alle Bewußtseinserscheinungen derart in Elemente aufzuteilen, daß die Gesamtheit aller Ähnlichkeits- oder Verwandtschaftsbeziehungen sich überall auf die Gemein- samkeit solcher zurückführen ließe. ET Unbestimmte Vergleichungen. 237 Ton hoch oder tief sei, oder es für eine Aufgabe wissenschaftlicher Unter- suchung halten, zu ermitteln, wo die Grenze der hohen und tiefen Töne liegt. Wendet man diese Anschauung auf das uns hier beschäftigende Gebiet an, so zeigt sich, daß zunächst sehr verschiedene Empfindungen Abstufungen aufweisen können, die so weit gleichartig sind, daß sie unter einen gemein- samen Begriff, wie etwa den einer zu- oder abnehmenden Empfindungsstärke, vereinigt werden können. Sehr häufig finden wir nun aber auch, wenn wir Empfindungen vergleichen, die verschiedenen solchen Reihen angehören, ihr Verhältnis jenen Abstufungen noch so weit gleichartig, daß wir von einer Differenz entsprechender Art reden. So können wir von Tönen ungleicher Höhe den einen lauter, auch wohl von Empfindungen ganz verschiedener Sinnesgebiete die eine stärker als die andere nennen. Die Begriffe des „lauter“ und „leiser“, das „mehr“ oder „weniger“ sind also derart verall- gemeinert, daß ihnen die Beziehung zweier ungleich hoher Töne, in gewissen Fällen auch die zweier Empfindungen, die verschiedenen Sinnen zugehören, subsumiert werden kann. In allen diesen Fällen können wir: nun auch Paare aufweisen, deren Verhältnis weder in dem einen noch dem anderen Sinne als ein solcher Unterschied bezeichnet werden kann; also z. B. zwei Töne (ver- schiedener Höhe), von denen wir weder den einen noch den anderen mit Sicherheit den lauteren nennen können. In diesem Falle nun schreiben wir ihnen etwa gleiche Stärke zu, und was wir aussagen ist eben das, was wir eine spezifische Übereinstimmung nennen. Dieselbe besagt also im Grunde, daß das Verhältnis einer Empfindung E, zu einer anderen E, weder dem Begriff eines Mehr noch dem eines Weniger mit Entschiedenheit subsumiert werden kann usw. Auch hier aber ist zu beachten, daß diese Begriffe ihrer Natur nach sehr wohl unbestimmte sein können; erscheint es also zweifel- haft, ob die Beziehung von E, zu E, ein Mehr oder ein Weniger oder keines von beiden zu nennen ist, so dokumentiert sich darin lediglich die Unbe- stimmtheit dieser Begriffe, und es kann daher die Entscheidung jener Frage ebenso unmöglich, ihre Erörterung ebenso unfruchtbar sein, wie etwa die- jenige, ob ein gegebener Ton laut oder leise, hoch oder tief genannt werden müsse. — Die Richtigkeit dieser Anschauung dürfte auf vielen Gebieten wohl ohne weiteres einleuchten. Obwohl wir das Krachen des Donners eine stärkere Empfindung nennen können als den Duft eines Veilchens, so wird es doch kaum jemand für eine richtig gestellte Aufgabe halten, diejenige Gehörs- empfindung festzustellen, die einer gegebenen Geruchsempfindung gerade gleich stark ist. Es versteht sich, daß je mehr wir solche Beziehungs- begriffe verallgemeinern, je verschiedenartigeres Einzelne wir in sie zu- sammenfassen, um so weiter ihr Anwendungsgebiet, um so größer aber auch ihre Unbestimmtheit wird. Und man wird im allgemeinen wohl zu dem Schlusse gelangen, daß den auf solchen ganz allgemeinen und unbestimmten Begriffen beruhenden Vergleichungen auch nur ein beschränktes. Interesse zukommt. Jedenfalls sieht man, wie wenig. angängig es ist, jede spezi- fische Vergleichung im Sinne einer psychologischen Analyse zu deuten, und mit welchen Irrtumsgefahren das oben erwähnte methodische Prinzip behaftet ist. Anders liegen die Dinge selbstverständlich, wenn wir auf Grund einer ander- weit abgeleiteten psychologischen oder physiologischen Theorie von bestimmten 28 Vergleichung übermerklicher Unterschiede. Elementen zu reden berechtigt sind und daraufhin der spezifischen Vergleichung den festen Sinn geben können, daß sie die Übereinstimmung dieses Elementes bedeuten solle. Ob dies der Fall ist, ist natürlich jedesmal zu erwägen. Aber es ist nicht statthaft, aus der Möglichkeit einer spezifischen Vergleichung ohne weiteres auf ein ihr zugrunde liegendes psychisches (oder physiologisches) Element zu schließen, vielmehr auch im allgemeinen mit der Möglichkeit zu rechnen, daß sie lediglich auf gewissen nicht analysierbaren Gleichartigkeiten und einer entsprechen- den unbestimmten Begriffsbildung beruhen. Es mag nützlich sein, die eben dar- gelegte Anschauung noch auf ein bestimmtes, viel erörtertes Gebiet anzuwenden, nämlich die Helligkeitsvergleiehung verschiedener Farben. Man hat im allgemeinen nicht daran gezweifelt, daß diese eine völlig unzweideutige, nur mit technischen Schwierigkeiten verknüpfte Aufgabe sei, und daß jedenfalls z. B. eine ganz bestimmte Rotempfindung existieren müsse, die einer gegebenen Blauempfindung im strengen Sinne gleich hell zu nennen sei. ‘Meines Erachtens ist auch dies zum mindesten nicht selbstverständlich, vielmehr die Annahme, daß diese Vergleichungen der Natur der Sache nach mit einer gewissen Unbestimmtheit behaftet seien, keines- wegs abzuweisen. Führt uns eine physiologische oder psychologische Theorie dahin, in allen Empfindungen ein bestimmtes, für den Helligkeitseindruck maßgebendes Element anzunehmen, so können wir auf Grund der Theorie im strengen Sinne nach der Gleichheit oder Ungleichheit jenes Elementes fragen; aber wir können nicht umgekehrt die Existenz eines solehen Elementes aus der Möglichkeit einer Helligkeitsvergleichung folgern. Wir haben schließlich noch mit einigen Worten auf die Vergleichung übermerklicher Unterschiede zurückzukommen. Auch die Wahrneh- mung eines Unterschiedes zwischen zwei Empfindungen ist insoweit ein überall gleichartiger Vorgang, daß wir hier in allgemeinster Weise von einem Mehr oder Weniger, von großen und kleinen Unterschieden reden können. Aber es braucht sich auch hier keineswegs um wirklich feste Größenbeziehungen zu handeln; vielmehr scheint es möglich (und,. wie mich dünkt, machen es die tatsächlichen Erfahrungen auch sehr wahrscheinlich), daß hier die Be- griffe des Mehr oder Weniger durch eine ganze Reihe verschiedenartiger Momente beeinflußt und daher ganz vorzugsweise unbestimmt werden. Bei geringen Unterschieden wird offenbar ihre Deutlichkeit, Merkbarkeit, von wesentlicher Bedeutung sein, und man wird daher Unterschiede für gleich erachten, die in etwa gleichem Verhältnis zur Unterschiedsschwelle stehen. Bei größeren, wo dieses Moment zurücktritt, wird in vielen Fällen die durch Taxierungen von objektiver Bedeutung erworbene Gewohnheit, in anderen besondere Momente der Beziehung (wie z. B. die Gleichheit der Intervalle bei Unterschieden der Tonhöhe) mitwirken. Verlangt man von einem Beob- achter, daß er die Größe von Empfindungsunterschieden rein als solche, ohne einen Gedanken an objektive Taxierungen und dgl., vergleiche, so werden dem Beobachter selbst in der Regel Zweifel darüber kommen, ob eine solche Aufgabe lösbar ist, und er wird seine Angaben als mit einem erheblichen Maße von Willkür behaftet empfinden. Man sieht auch hier, daß es zunächst nicht geraten ist, die Erscheinungen durch Aufstellung einer psychophysischen Maßformel aufklären zu wollen; denn es scheint zunächst durchaus fraglich, ob sich die Vergleichungsurteile überhaupt aus bestimmten, den Empfindungen selbst und ihren Unterschieden zuzuschreibenden Größenwerten ableiten lassen, und ob nicht vielmehr ganz andere und verwickeltere Bedingungen dabei in Betracht kommen. Will man also die Ergebnisse solcher Vergleichungen zum Gegenstande eines spezielleren Studiums machen, so wird man die Psychologie derselben unter Psychophysische Maßformeln. 29 umfassender Berücksichtigung aller Momente rein empirisch studieren müssen, aber nicht den Ergebnissen dadurch vorgreifen dürfen, daß man die Form einer psychophysischen Maßbestimmung für sie verlangt. Meines Erachtens sind die Versuche, psychophysische Maßformeln zu gewinnen, zurzeit nicht nur überflüssig, sondern nicht unbedenklich; denn jede solche Formel geht in irgend einer Weise von den Tatsachen der Unterschiedsschwellen und der Vergleichung übermerklicher Unterschiede aus; sie läßt aber niemals klar erkennen, was sie in bezug auf diese der Beobachtung wirklich zugänglichen Tatsachen eigentlich besagt oder bedeutet; daher ist sie denn stets in gewissem Grade geeignet, Erwartungen zu ergeben, die nicht direkt geprüft sind und eventl. mit den Tat- sachen in Widerspruch stehen können. l Die gleiche Betrachtung, die wir hier für eine Intensitätsreihe durchgeführt haben, gilt auch für verwickeltere Fälle, so z. B. für das Problem einer den psy- chischen Größenbeziehungen entsprechenden geometrischen Darstellung der optischen Empfindungen, der Konstruktion eines „psychologischen Farbenkörpers“, wie sie jüngst von Meinong versucht worden ist (Zeitschr. f. Psychologie 33, 1). Von einem spezielleren Eingehen auf diesen Gegenstand muß hier abgesehen werden. Der Gesichtssinn. 1. Dioptrik und Accommodation des Auges von F. Schenck. Zusammenfassende Darstellungen mit ausführlichen Literaturangaben sind ent- halten in dem bekannten „Handbuch der Physiologischen Optik“ von Helmholtz (2. Auflage 1896), sowie in dem neueren ausgezeichneten Werke von C. Hess: „Die Refraktion und Accommodation des menschlichen Auges“ in Gräfe-Sämischs Handbuch der Augenheilkunde 8, 2. Abt. (2. Auflage 1902). Unter Hinweis auf diese Werke kann ich mir ausführliche Literaturzitate ersparen. I. Physikalische Vorbemerkungen. Grundlage für die folgenden Erörterungen ist die Abhandlung von Gull- strand: „Über die Bedeutung der Dioptrie“. Arch. für Ophthalm. 49, 46, 1900. 1. Maß der Konvergenz eines Strahlenbündels. Die Konvergenz eines Strahlenbündels in irgend einem Querschnitt wird gemessen durch den reziproken Wert des Abstandes des Vereinigungspunktes der Strahlen von jenem Querschnitt. Der Abstand wird positiv gerechnet, wenn er im Sinne des Strahlenganges vorwärts, negativ, wenn er rückwärts von dem Querschnitt liegt; im letzteren Falle sind die Strahlen in dem Quer- schnitt negativ konvergent, d. h. divergent. Reduzierter Abstand heißt der durch den zugehörigen Brechungsindex dividierte Abstand, reduzierte Konvergenz heißt mithin der mit dem zu- gehörigen Brechungsindex multiplizierte reziproke Wert des Abstandes. 2. Brechung an einer sphärischen Fläche. Bei der Brechung an einer sphärischen Trennungsfläche zwischen zwei Medien von verschiedener optischer Dichte ist, falls die Strahlen nahezu senkrecht auf die Fläche auffallen: B=A+tD we Sala ee und D= (mn) a worin A die reduzierte Konvergenz der einfallenden, B die der gebrochenen Strahlen auf der Fläche, n, der absolute Brechungsindex des ersten, n, der Brechung an einer sphärischen Fläche. 3l des zweiten Mediums, r der Radius der gekrümmten Fläche, und D ein Wert ist, den man die Brechkraft des Systems nennt. Mit Worten: Die reduzierte Konvergenz der einfallenden Strahlen wird bei der Brechung vermehrt um den Betrag der Brechkraft, d. i. die Differenz des zweiten minus dem ersten Brechungsindex divi- diert durch den Radius. Beweis: Sei FF (Fig. ı) die Fläche im Durchschnitt gezeichnet, C ihr Mittel- punkt, r ihr Radius, O der Objektpunkt, von dem die Strahlen ausgehen, P der Bildpunkt, in dem die Strahlen . Fig. 1. nach der Brechung zusammen- laufen, OS = a der Objekt- abstand, PS =b der Bildabstand. Ein Strahl, der in der Richtung OSC, also senkrecht zur Fläche einfällt, geht ungebrochen weiter. Ein zweiter Strahl falle bei @ unter dem Winkel « ein, er wird so gebrochen, daß er unter dem Brechungswinkel y weitergeht. Es ist nach einem bekannten Lehrsatze der Physik: sin@:siny — Ng:N, worin n, der absolute Brechungsindex des ersten, n, der des zweiten Mediums ist. Falls der Strahl OQ@ auch nahezu senkrecht auf die Fläche fällt, so ist die Vereinfachung zulässig: s 09-3; Po,==xb. - Bezeichnen wir noch X O0CQ mit &, dann ist in diesem Falle: On ee (a + r):a = sine:sine SR ge 2. Ar EEE (b — r):b = siny:sine Dividiert man die erste Gleichung durch die zweite und setzt man den Wert N,:n, = sin«:siny ein, so ergibt sich (tr).b _m, b—r)..a m Durch einfache Umformung entsteht daraus: Se je ji a . Ve . en Et 3a a 24 b r (32) oder re BETTEN nn RE EI E Beer wer (3b) Die letzte Gleichung ist aber identisch mit Gleichung (1), weil = — B die redu- zierte Konvergenz der gebrochenen Strahlen, — = A die der einfallenden Strahlen (welch letztere in unserem Falle wegen der Divergenz negativ sein muß), und u Marne. 16 D, entsprechend Gleichung (2), die Brechkraft des Systemes ist. Mithin = : ist die Richtigkeit der Gleichung (1) bewiesen. In Gleichung (2) ist r, wie die Abstände, positiv zu setzen, wenn der Mittelpunkt der gekrümmten Fläche im Sinne des Strahlenganges vorwärts, negativ, wenn er rückwärts von der Fläche liegt. D wird positiv bei einem ‘ Sammelsystem, negativ bei einem Zerstreuungssystem. 33 Brechung an einer sphärischen Fläche. 3. Konjugierte Punkte, Knotenpunkt, Hauptpunkt und Hauptebene. Mit Gleichung (1) läßt sich der Ort eines Bildpunktes zu einem gegebenen Objektpunkt berechnen, wenn die Brechungsindices und der Radius bekannt sind. Zwei Punkte, von denen der eine als Bildpunkt zu dem anderen als Öbjektpunkt zugehört, heißen konjugierte Punkte. . Eine vom Objektpunkte durch den Mittelpunkt der sphärischen Fläche gezogene Gerade gibt die Richtung an, in der der zugehörige Bildpunkt _ liegt; sie heißt Richtungsstrahl, der Mittelpunkt heißt Kreuzungspunkt an Bichtangastrahlen oder Knotenpunkt. Der Knotenpunkt stellt zugleich ein paar in einen einzigen Punkt zusammen- fallender konjugierter Punkte dar, weil die in der Richtung auf den Knotenpunkt. hin einfallenden Strahlen ungebrochen bleiben, mithin auch im zweiten Medium gegen den Knotenpunkt gerichtet sind. Als optische Achse nehmen wir den durch den Scheitelpunkt der Fläche gezogenen Richtungsstrahl an. Der Scheitelpunkt selbst, von dem die Ab- stände aus zu rechnen sind, heißt Hauptpunkt, eine im Scheitelpunkt auf der optischen Achse senkrechte Ebene, soweit sie noch nicht merklich von der gekrümmten Fläche selbst abweicht, heißt Hauptebene. Die Hauptebene stellt ein paar in eine einzige Ebene zusammenfallender konjugierter Ebenen dar, weil ein in der Hauptebene, d. h. in der Grenze der beiden Medien stehendes Objekt mit seinem Bilde zusammenfällt. 4. Brennpunkte undiihre Beziehungen zur Brechkraft. \ Strahlen, die parallel der optischen Achse, also mit der Konvergenz 0 einfallen, gehen nach der Brechung durch den zweiten Brennpunkt. Strahlen, die nach der Brechung der optischen Achse parallel verlaufen, gehen vor der Brechung durch den ersten Brennpunkt. Seien fj und fs die beiden Brenn- weiten, d. h. die Abstände der Brennpunkte von der Fläche, so ergibt sich durch Einsetzen der Werte A — 0, resp. B — 0 aus Gleichung (1): Ng D 7, und D 7, (4) Trotz des verschiedenen Vorzeichens der hier für D erhaltenen Werte sind die Werte gleich, weil im Sinne unserer Rechnung f, immer eine negative Größe ist, wenn f, positiv ist, und umgekehrt. Die Brechkraft ist dem- nach gleich der mit entsprechendem Vorzeichen versehenen reduzierten Konvergenz der durch einen der Brennpunkte gehen- den Strahlen. Als Maß der Brechkraft gilt die Dioptrie, d. i. die Brechkraft eines Systems, welches in einem Medium vom Brechungsindex 1 eine Brennweite von 1 mhat!!). Aus den Gleichungen (4) folgt ferner. h=-3 —: Se D’ RhR=7 r 6) ‘) Der Vorschlag, die Brechkraft von Linsen durch den reziproken Wert der in Metern gemessenen Brennweite anzugeben, ist zuerst von A. Nagel gemacht worden. Die Bezeichnung Dioptrie wurde von Monoyer eingeführt. Gullstrand a. a. Ö. hat die Dioptrierechnung verallgemeinert. Zentriertes System sphärischer Flächen. 33 Die Gleichung (1) sei jetzt so geschrieben: —A+B=D. Dividiere ich beide Seiten dieser Gleichung durch D, und setze ich für 4 den Wert 4, für B den Wert . (worin demnach a und b Objekt- und Bildabstand sind), so erhalte ich und durch Einsetzen der Werte /, und / für — 7 resp. 2 [aus Gleichung (5)]: fi a: ar rrTrineaag 5. Objekt- und Bildgröße. Sei & die Größe eines Objektes, ß die des zugehörigen Bildes, so ist: . e«:ßB=(A+D):A. a DE Beweis: In Fig. 2 sei @ ein geradliniges Objekt mit den Endpunkten O, und j O0, und dem Objektabstand a von dem Scheitel $ einer sphärischen Fläche. K ist | der Knotenpunkt des Systems, ; Fig. 2. E-, F, der zweite Brennpunkt, 5: dann findet man den zu O, 0, y rd 3 gehörigen Bildpunkt, wenn Ps man von O, aus eine Parallele F RN 5 2 — B zur optischen Achse O,H bis b zur Fläche zieht und von H a Pı eine Gerade durch F,. Diese 02 schneidet sich mit dem Rich- tungsstrahl O,K in P,, das ist der gesuchte Bildpunkt. Analog findet man den Bildpunkt P, für den Objektpunkt O0, und durch den Abstand P,P, ist die Bild- größe $# bestimmt. Sei der Bildabstand db, so ist aus der Figur zu entnehmen: «e:ß=(a-+ r):(b — r). Nun ergibt sich aber aus der an Fig. 1, 8. 31 angeschlossenen Betrachtung tn oder a+n:0 -9=2'7 Da aber ei —-Aud ?2—=-B- (A + D), so folgt: b ae:—$ß=(A-+ D):A. Hier hat $ ein negatives Vorzeichen, während « positiv ist. Das hat seinen Grund darin, daß im Sinne unserer Rechnung in dem vorliegenden Falle A negativ ist, während (A + D) positiv ist. «@ und f haben gleiche Vorzeichen, wenn das Bild ein aufrechtes ist, entgegen- gesetztes, wenn das Bild ein umgekehrtes ist. 6. Breehungin einem zentrierten System von mehreren sphärischen Flächen. Ein optisches System von mehreren sphärischen Trennungsflächen zwischen verschiedenen Medien heißt zentriert, wenn die Mittelpunkte sämtlicher Flächen auf einer Geraden liegen; diese Gerade dient als optische Achse. Zur Berechnung der Wirkung eines solchen Systems setzt man die Wirkung der einzelnen Flächen nacheinander in Rechnung. Die Rechnung wird aber bei mehr als zwei Flächen schon sehr verwickelt. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 3 34 Hauptpunkte eines zentrierten Systems. Einfacher würde sich die Rechnung gestalten, wenn man das kom- plizierte System hinsichtlich seiner brechenden Wirkung ersetzt denken könnte durch ein einfachstes, welches aus einer Trennungsfläche zwischen dem ersten und letzten Medium bestände, und in welchem die eine Tren- nungsfläche solche Lage und Krümmung hätte, daß ihr dieselbe brechende Wirkung zukäme, wie dem komplizierten System. Unter Anwendung der Gleichungen (1) und (7) würde man dann bei dem einfachen Systeme die Rechnungen leicht durchführen können. Eine solche Vereinfachung ist aber nicht in allen Fällen durchführbar, wohl aber ist es möglich, die einfachere Rechnung in allen Fällen anzuwenden, wenn man die der einen Hauptebene eines einfachsten Systems zukommen- den Eigenschaften auf zwei Hauptebenen verteilt denkt, derart, daß ein in der ersten Hauptebene stehendes Objekt ein gleich großes und gleich ge- richtetes Bild in der zweiten Hauptebene hat. Es sind dann alle Abstände nach rückwärts von der ersten Hauptebene, alle Abstände nach vorwärts von der zweiten Hauptebene ab zu rechnen. Unter Berücksichtigung dieser Besonderheiten läßt sich nun die Rechnung so durchführen, wie bei einem einfachsten System. Beweis: Sei AA (Fig. 3) die Achse eines Systems, F, und F, die beiden Brennpunkte, H, und H, die beiden Hauptpunkte, in denen die Hauptebenen senk- recht auf der Achse stehen. Ferner sei O ein beliebig gewählter Objektpunkt. Fig. 3. 0 a Qı 1% h h Ih A fi HE Kı K, Fr Teink N Fı hl L, h Ri IR, b P Unter den von O ausgehenden Strahlen geht einer, O0Q,, der Achse parallel, er schneidet die erste Hauptebene in Q,, ein anderer OR, geht durch den ersten Brennpunkt, er schneidet die erste Hauptebene in R.. Der Strahl O0@, kann auch aufgefaßt werden als Teil eines Bündels von Strahlen, die sich in dem Punkte @, vereinigen würden; der Strahl OR, kann auf- gefaßt werden als Teil eines Bündels von Strahlen, die sich in dem Punkte R, ver- einigen würden. OQ,, resp. OR, wären demnach Strahlen, die zu einem Objektpunkte Q,, resp. R, zugehörten, und die Objektpunkte @, und R, können aufgefaßt werden als Endpunkte eines geradlinigen Objekts, das in der ersten Hauptebene steht. Da aber, unserer Annahme entsprechend, ein in der ersten Hauptebene stehendes Objekt ein gleichgroßes und gleichgerichtetes Bild in der zweiten Hauptebene haben muß, so sind Q, und R, die zu den Objektpunkten @, und R, gehörigen Bildpunkte. Der Strahl 0Q,, der vor der Brechung gegen @, gerichtet ist, muß daher nach der Brechung durch @, gehen, und da er zugleich vor der Brechung achsenparallel war, so muß er nach der Brechung durch den zweiten Brennpunkt gehen, also die Richtung Q,F,P haben. Der Strahl OR,, der vor der Brechung gegen R, gerichtet ist, muß dagegen nach der Brechung durch R, gehen, und da er vor der Brechung zugleich durch den ersten Brennpunkt geht, so muß er nach der Brechung achsenparallel gehen, also die Richtung R,P haben. In P, wo die Strahlen nach der Brechung sich schneiden, liegt der Bildpunkt zu 0. Ich bezeichne die Geraden F,H, und F,H,, das sind die Hauptbrennweiten, mit /, und /„ O@, und PR,, das sind Objekt- und Bildabstand, mit « und b, ferner Du en A 1 Mer ee Knotenpünkte eines zentrierten Systems. 35 Q, H, und die dieser gleiche Q,H, mit Ah, R,H, und die dieser gleiche R,H, mit A, so ist, wegen der Ähnlichkeit der Dreiecke, in A RHrF und RQO..... fh: = h:(h-+h), ni EHER un QRP ... 0... ha:b=h:(h-+h). Durch Addition der beiden Gleichungen ergibt sich: ur a 5 BE n Diese Gleichung ist aber identisch mit Gleichung (6) und da letztere nur ‘durch Umformung von Gleichung (1) entstanden ist, so ergibt sich also, daß Glei- chung (1) gilt, falls wir die Abstände in der angegebenen Weise von den Haupt- ebenen rechnen. — Daß die Werte /, und a im Sinne unserer dioptrischen Rech- nungen negative Größen sein müssen, ändert, wie leicht ersichtlich, nichts an der Gültigkeit der Formel. Entsprechend den beiden Hauptpunkten, resp. Hauptebenen, gibt es auch zwei Knotenpunkte des Systems. Der Abstand des ersten Knotenpunktes vom ersten Hauptpunkte und der diesem gleiche Abstand des zweiten Knoten- punktes vom zweiten Hauptpunkte sind in optischer Hinsicht gleichwertig dem Radius eines einfachsten Systems. Dieser ist zu finden, wenn die Haupt- brennweiten des Systems bekannt sind; er ist gleich der algebraischen Summe der beiden Hauptbrennweiten. Letzteres ergibt sich durch Addition der beiden Gleichungen (5); man erhält: N RER, Was hthA= Een; ; Tas und durch Einsetzen des Wertes a— für D: Atrhk=r. Die beiden Knotenpunkte des Systems sind durch folgende Eigen- schaft charakterisiert: Ein Strahl, der vor der Brechung gegen den ersten Knotenpunkt hin gerichtet ist, geht nach der Brechung seiner früheren Rich- tung parallel durch den zweiten Knotenpunkt. Der Beweis dieses Satzes zerfällt in zwei Teile: 1. Beweis, daß der zweite Knotenpunkt als Bildpunkt zum ersten Knoten- punkt als Objektpunkt konjugiert ist, daß mithin ein auf den ersten Knotenpunkt hin einfallender Strahl nach der Brechung durch den zweiten Knotenpunkt geht: Wenn die beiden Knotenpunkte konjugierte Punkte sind, so muß der Abstand des ersten, resp. zweiten Knotenpunktes vom ersten, resp. zweiten Hauptpunkte in Gleichung (6) für a und b eingesetzt werden können, ohne daß diese Gleichung ihre Gültigkeit verliert. Dieser Abstand ist aber gleich fı + 7, d.i. die alge- braische Summe der Brennweiten. Man ersieht leicht, daß in Gleichung (6) a und b durch (f, + /) ersetzt werden können, ohne daß die Gleichung ungültig wird. 2. Beweis, daß ein gegen den ersten Knotenpunkt hin einfallender Strahl nach der Brechung seiner früheren Richtung parallel ist. In Fig. 3 trage ich die algebraische Summe (fı + /,) der Brennweiten, d. i. in diesem Falle die Differenz (F,H, — F,H,), die ich mit r bezeichnen will, von den Hauptpunkten in der dem Vorzeichen dieser Summe entsprechenden Richtung, d. i. in diesem Falle nach rechts, ab, so erhalte ich die Knotenpunkte K, und K,. Ferner ziehe ich die Geraden OK, und PK,, dann ist OK, ein vom Objektpunkt O ausgehender gegen den ersten Knotenpunkt hin einfallender Strahl, und PK, ist der zugehörige gebrochene Strahl, weil der gebrochene Strahl sowohl durch den zweiten Knotenpunkt als auch durch den zu O gehörigen Bildpunkt P gehen muß. Es ist also zu beweisen, daß OK, parallel zu PK, ist. 3* 36 . Berechnung der Kardinalpunkte eines Systems. . Ich ziehe noch von P und O aus, senkrecht zur Achse AA, die Geraden PT und OS, dann ist PT=h, und O8=h; ferner ist TR = (b — f); TR = (b—r); SF, = (a — fı); SK, = (r — a), letzteres, weil a, gerade so wie /,, als negative Größe zu denken ist, Wegen der Ähnlichkeit der Dreiecke ergibt sich nun: | nA Rund A PTR... hkı:h= f:(b— A), A inA 0SF, und ARMF....h:h=l(a—fı):f.- Nach einem bekannten Lehrsatze der Arithmetik folgt aus diesen Gleichungen hı = fa — (a— fı):(b—fg) — fi, oder durch Einsetzen von r für (+): h:hh =(r — a):(b — r). Demnach sind in den rechtwinkeligen Dreiecken OSK} und PTK, die Verhältnisse der Katheten einander gleich, die Dreiecke sind daher ähnlich, es folgt AOKS= APKT, und die Geraden OK, und K,P müssen also einander parallel sein. Wenn demnach die beiden Knotenpunkte eines Systems bekannt sind, so findet man die Richtung, in der ein zu einem gegebenen Objektpunkt gehöriger Bildpunkt liegt, wenn man durch den zweiten Knotenpunkt eine Gerade parallel zu der vom Objektpunkt zum ersten Knotenpunkt gezogenen Geraden zieht. Die Hauptpunkte, Knotenpunkte und Brennpunkte eines Systems heißen. die Kardinalpunkte des Systems. Mit ihrer Hilfe läßt sich der Strahlen- gang in dem System in einfachster Weise konstruieren und nach den an- gegebenen Formeln berechnen. 7. Berechnung der Kardinalpunkte eines Systems. Es werden zunächst nur für die ersten beiden Flächen zusammen die Kardinalpunkte berechnet. Man sucht zuerst die beiden konjugierten Punkte, resp. Ebenen auf, für welche das Objekt und das nach der Brechung durch die zweite Fläche entstan- dene Bild gleich groß und gleich gerichtet sind, das sind die Hauptpunkte, bzw.- Hauptebenen für die beiden ersten Flächen. Sei D, die Brechkraft der ersten, D, die der zweiten Fläche, d' der reduzierte, d. h. durch den zugehörigen Brechungsindex dividierte Abstand der Flächen von- einander. Sei ferner «, die Größe eines in der ersten der gesuchten Hauptebenen stehenden Objekts, f, die Größe des durch die Brechung ander ersten Fläche ent- stehenden Bildes, welches zugleich Objekt für die Brechung an der zweiten Fläche ist; das nach der zweiten Brechung entstehende Bild würde also in die zweite Hauptebene fallen und daher gleich «, sein. Schließlich seien noch A, und B,, sowie A, und B, die Konvergenzen der einfallenden und gebrochenen Strahlen für die erste resp. zweite Brechung. Es ist dann nach Gleichung (7) a:Pßı — B,:A15 : Pa = Bi: As mithin Ar: Bi, —= Be: As Durch Einsetzen von (A, + D,) für B, erhält man zunächst: F D, Aı — Bı D, - rn Se ee 7 4,22; + 5 oder 5, pr | und durch Einsetzung von (A, + D,) für B, in den Zähler links der letzten Glei- chung i La Dı =— Ds IE Te ER N (8a) .B, As h Für die Brechung an der zweiten Fläche ist aber der Objektabstand gleich dem Bildabstand für die erste Brechung, vermindert um den Abstand der Flächen. voneinander, also: 1 1 > a ee Te (Be Berechnung der Kardinalpunkte eines Systems. 37 mithin: N 8b = com A=aren ne Setze ich den Wert von A, aus Gleichung (8b) in Gleichung (8a) ein, so folgt: — D, = D,(1—dB,) oder -D= D,U— (4,4 D))], mithin: ı d.D, 6, 2 SEE SI, -)- BB N er “ 1 z 3 ist aber hier der reduzierte Abstand des ersten Hauptpunktes von der ersten \ v Fläche; er sei mit $ı1.2 bezeichnet. Setze ich ferner den Wert von B, aus Gleichung (8b) in Gleichung (8 ” ein, so folgt: —D,(1+04)=D, oder —D,[1 + d(B—D,] = D, . —d.D, F NED, =D, Zunareey 3 1 3 ist aber hier der ER Abstand des zweiten Hauptpunktes von der zweiten 2 Fläche; er sei mit 9.2 bezeichnet. mithin: Die Berechnung der Lage der Brennpunkte gestaltet sich folgendermaßen: Für die Berechnung des zweiten Brennpunktes ist A, = 0 zu setzen, dann ist B, = D,, und weil gemäß Gleichung (8b) B=4+D= + D. so folgt durch Einsetzen von D, für B, FD, En dDD) 1.2 - Rn er (9a) = ist aber hier der ER Abstand des zweiten Brennpunktes von der zweiten 2 Fläche, der mit %]., bezeichnet sei. Für die EEE des ersten Brennpunktes ist B, = 0 zu setzen, dann ist A, =— D, und weil gemäß Gleichung (8b) ae EP De Be area. so folgt durch Einsetzen von — D, für A, R — (1 —0D ’ — ( ») — %.a . . . . . . . (9b) =D, + D,— dD DD) Hier ist n der a Abstand des ersten Brennpunktes von der ersten Fläche, der mit ®,.9 bezeichnet sei. Um die Werte für die reduzierten Brennweiten 9, und 9, zu erhalten, hat man nun ©; , und 9 ., sowie 9) , und %,., zu addieren; dabei ist jedoch zu be- achten, daß man jetzt $, , und 9) ,„ mit anderen Vorzeichen zu versehen hat, weil sie jetzt in umgekehrter Richtung zu messen sind, als vorher. Es ist demnach: u | = ®.9 a 9.2 aE D, +D,—6DD, Pr Pr 1 »=u2 7 9. > D,+D,- dD,D, ‘Der reziproke, mit entsprechendem Vorzeichen versehene Wert von %,, resp. 9, ist aber die Gesamtbrechkraft des Systems. 38 Berechnung der Kardinalpunkte eines Systems. Nennen wir D,.a die Brechkraft des ganzen Systems, so ist demnach: Ds =D + 2322; - 2.2 2 2.09 und die Formel für die reduzierten Abstände des ersten, resp. zweiten Haupt- punktes von der ersten, resp. zweiten Fläche gestalten sich so: ' öD, „ _..—0D, ee A (11). Die Gleichungen (10) und (11) genügen zur Berechnung der Kardinal- punkte des Systems, weil man aus ihnen zunächst außer der Brechkraft noch die reduzierten Brennweiten und die reduzierten Abstände der Hauptpunkte von den Flächen entnimmt. Um die wirklichen Abstände zu erhalten, werden die reduzierten mit dem zugehörigen Brechungsindex multipliziert. Trägt man schließlich die algebraische Summe der wirklichen beiden Brennweiten (deren Vorzeichen ja immer entgegengesetzt sein müssen) in der dem Vor- zeichen der Summe entsprechenden Richtung von dem ersten, resp. zweiten Hauptpunkt aus auf der optischen Achse ab, so erhält man den ersten, resp. zweiten Knotenpunkt. Sind so für die beiden ersten Flächen die Kardinalpunkte des ersten vereinfachten Systems berechnet, so kombiniert man jetzt diese mit der dritten Fläche zu einem zweiten vereinfachten System. i Sei d, der reduzierte Abstand der dritten von der zweiten Fläche, d, , der reduzierte Abstand der dritten Fläche vom zweiten Hauptpunkte des ersten ver- einfachten Systems, D, die Brechkraft der dritten Fläche, so ist die Brechkraft des ganzen Systems der drei Flächen: Ds "Da tDd— NaD.ıd :-:-:.:::.) = RE a RE RE ie (13) 1.2 Ferner ist: a PD u TE ae ee (14) Fe De A“ D,.3 worin 9 ‚, der reduzierte Abstand des ersten Hauptpunktes des zweiten vereinfachten Systems von dem des ersten vereinfachten Systems, während 9,’ , der reduzierte Abstand des zweiten Hauptpunktes des zweiten vereinfachten Systems von der dritten Fläche ist. Auf diese Weise geht man von Fläche zu Fläche in der Rechnung fort. Das für das vereinfachte System von m Flächen zuletzt erhaltene 9, „, ist schließlich der reduzierte Abstand des zweiten Hauptpunktes des ganzen Systems von der letzten Fläche, der reduzierte Abstand des ersten Hauptpunktes von der ersten Fläche, beträgt aber schließlich: HatristMar re. - Dim II. Die Liehtbrechung im normalen ruhenden Auge. Damit ein Gegenstand deutlich gesehen werden kann, muß von ihm ein scharfes Bild auf der Stäbehen- und Zapfenschicht der Netzhaut entworfen werden. Das geschieht durch den lichtbrechenden Apparat des Auges. Brechungsindices der Augenmedien. 39 Der lichtbrechende Apparat des Auges besteht aus einem System von mehreren sphärisch gekrümmten zentrierten Trennungsflächen zwischen Medien von verschiedener optischer Dichte. Aus den physikalischen Vorbemerkungen geht hervor, daß die licht- brechende Wirkung eines solchen Apparates berechnet werden kann, wenn folgende Größen bekannt sind: 1. die Brechungsindices der Medien, 2. die Radien der gekrümmten Flächen, 3. die Entfernung der Flächen voneinander. Diese optischen Konstanten müssen also zunächst gesucht werden. Aus den optischen Konstanten wird die Lage der Kardinalpunkte des Auges be- rechnet und mit Hilfe der Kardinalpunkte läßt sich der Strahlengang im Auge in einfachster Weise konstruieren oder berechnen. Ist außerdem die Lage der lichtempfindlichen Netzhautschicht bekannt, so läßt sich angeben, welche Objekte der Außenwelt scharf auf dieser Schicht abgebildet, mithin auch deutlich gesehen werden. A. Die optischen Konstanten des menschlichen Auges. 1. DieBrechungsindices der Medien. Methodisches: Zur Bestimmung der Brechungsindices ist meist das Abb&sche Refraktometer angewendet worden; es besteht aus zwei rechtwinkeligen Glasprismen, zwischen deren Hypotenusenflächen die zu untersuchende Substanz gebracht wird. Der Winkel wird bestimmt, unter welchem ein in das erste Prisma gelangender Lichtstrahl auf die Grenze zwischen dem Prisma und der Substanz einfallen muß, um total reflektiert zu werden. Da der Sinus des Brechungswinkels in diesem Falle gleich 1 wird, so ist der Sinus des Einfallswinkels gleich n,:n,, worin n, der gesuchte Brechungsindex und n, der des Glases des Prismas ist. Lohnstein!) hat den Brechungsindex der Hornhaut berechnet aus ihrer chemischen Zusammensetzung und ist dabei zu einer Zahl gekommen, die mit der bei direkter Bestimmung erhaltenen übereinstimmt. Die mit zuverlässigen Methoden erhaltenen Werte für die Brechungs- indices zeigen bei den verschiedenen Autoren nur geringe Verschiedenheiten. Die folgende Zusammenstellung gibt Werte, die mit zuverlässiger Methode gefunden wurden: Substanz Brechungsindex Autor ie uni sen 1,3771 Matthiessen ’?) Kammerwasser ......... | 1,3374 Hirschberg’) N a a ER | 1,3599 | Außesste Länsensehicht ee, | 1,3880 Matihiessen® Mittlere Linsenschicht . . . . . - | 1,4060 2 Dos Se | 1,4107 a Er | 1,3360 Hirschberg) | Die Linse hat in verschiedenen Schichten verschiedenen Brechungsindex ; der Index nimmt nach dem Kern hin zu. Um die dioptrischen Rechnungen ») Pflügers Arch. 66 (1897). — *) Ebenda 19, 543, 1879 und 36 (1885). — ®) Zentralbl. f. d. mediz. Wissensch. 1874. 40 Totalindex der Augenlinse. zu ermöglichen, denkt man sich die geschichtete: Linse ersetzt durch eine homogene Linse, welche gleiche Form und gleiche Gesamtbrechkraft hat wie die wirkliche. Der Totalbrechungsindex einer solchen Linse ist in zweierlei Art bestimmt worden: 1. Durch direkte Bestimmung: Bei den aus den Augen von Leichen ausgeschnittenen Linsen, welche in Luft oder Glaskörper suspendiert sind, wird die Lage der Brennpunkte oder die Größe der von bekannten Objekten entworfenen Bilder bestimmt und daraus der Total- index berechnet). Auch an der in situ gelassenen Linse des lebenden Auges hat Berlin?) den Totalindex bestimmt, indem er den Ort des von der hinteren Linsenfläche gespiegelten Bildes einmal in gemischtem weißem Lichte und dann in homogenem rotem Lichte bestimmt und die Differenz beider Werte der Berechnung zugrunde legt. 2. Durch Berechnung aus den Indices der einzelnen Schichten. Für diese Berechnung muß die Zunahme des Brechungsindex von der Rinde nach dem Kern hin bekannt sein. Nach Matthiessen stellt die Kurve, welche die Ver- änderungen der Indices bezogen auf die Achse der Linse darstellt, einen Parabel- scheitel dar. Da. der Index in der Linse von Schicht zu Schicht kontinuierlich wechselt, und da für solche Systeme die von Gauß für diskontinuierlich wech- selnden Index entwickelten Abbildungsgleichungen nicht ausreichen, hat Mat- thiessen auf Grund dioptrischer Differentialgleichungen, die aus den bekannten dioptrischen Gesetzen hergeleitet werden, die Theorie des Strahlenganges in solch geschichteten Systemen entwickelt, und mit Hilfe seiner dioptrischen Integrale den Totalindex berechnet ?°). Matthiessen gibt den Totalindex der Linse auf Grund seiner Rech- nungen zu 1,4371 an, d. i. ein Wert, der gut übereinstimmt mit den zuver- lässigsten Angaben über die bei direkter Messung erhaltenen Werte). Treutler°) hat jüngst den Totalindex der Linse aus dem Refraktions- verluste nach Linsenentfernung berechnet, und kommt zu einem Werte von 1,4215. Der Totalindex der Linse ist also größer als der Brechungsindex des Linsenkernes, und zwar übertrifft der Totalindex den Index des Kernes un- gefähr um ebensoviel, wie letzterer den der Rindenschicht. Diese, auf den ersten Blick hin paradox erscheinende Tatsache wird verständ- lich, wenn man folgendes bedenkt: Infolge der konzentrischen Schichtung hat der ‘ Linsenkern, für sich allein betrachtet, eine sehr viel stärker gekrümmte Begrenzungs- fläche, als die ganze Linse, und würde daher auch viel stärker lichtbrechend wirken, wenn er in einer Schicht vom Brechungsindex des Glaskörpers und Kammer- wassers suspendiert wäre, als eine homogene, aus Kernsubstanz bestehende Linse von der gleichen Form, wie die ganze Linse. Je größer demnach .der Brechungs- index der den Linsenkern umgebenden Linsenschichten ist, desto mehr wird die große Brechkraft des Kernes aufgehoben, aber da der Brechungsindex der äußeren Schichten immer noch kleiner ist als der des Kernes, so muß die Gesamtbrechkraft der Linse immer noch größer sein, als wenn der Brechungsindex der äußeren Schichten gleich dem des Kernes wäre. Übrigens ist es, streng genommen, in dioptrischer Hinsicht nicht gleichgültig, ob eine homogene Linse mit großem Brechungsindex oder eine geschichtete Linse, wie die wirkliche, im Auge vorhanden ist. Helmholtz‘) hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Entfernung der Hauptpunkte voneinander in der geschichteten Linse kleiner ist, als in einer Linse, welche überall das Brechungsvermögen des ') Siehe die Literatur darüber bei Hess a. a. O0. — °) Arch. f. Ophthalmol. \ 43, 287, 1896. — °) A. a. O. Betreffs der Einzelheiten muß auf die Original- abhandlungen verwiesen werden, da die Ableitung der Formeln sich nicht gut im Auszuge wiedergeben läßt. — *) Helmholtz, Physiol. Optik, 2. Aufl., 8. 140. — °) Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 1902. — °) Physiol. Optik, 2. Aufl., 8. 95. Hornhautradius. 41 Kernes hätte. Matthiessen') zeigt ferner, daß der Grad der Aplanasie bei der geschichteten Linse ein größerer ist, als bei der homogenen. Schließlich hat die Schichtung der Linse auch Bedeutung für die Periskopie (s. 8. 74). 2. Die Radien der Flächen. a) Der Radius der vorderen Hornhautfläche. Methodisches: Zur Bestimmung des Radius der vorderen Hornhautfläche mißt man die Größe des Spiegelbildes von einem bekannten Objekt, das sich in der Hornhaut spiegelt. Es verhält sich in dem Falle Bildgröße zu Objektgröße, wie Bildabstand zu Objektabstand. Aus der Bildgröße kann man also den Bildabstand berechnen, und dieser ist, falls der Objektabstand hinreichend groß gewählt wird, nahezu gleich der Hälfte des Radius. Es ist also: vo aß [44 worin a der Objektabstand, « und $ Objekt- und Bildgröße sind. Als zu spiegelndes Objekt werden meist zwei Lichtpunkte benutzt. Zur Messung des Abstandes der Bildpunkte im Hornhautspiegelbild dient das von Helmholtz *) angegebene Ophthalmometer. Es wird das Spiegelbild mittels eines Fernrohres be- trachtet durch zwei übereinander gestellte Glasplatten hindurch, die man mit Zahn und Trieb gleichzeitig um gleichen Betrag, aber in entgegengesetzter Richtung, so drehen kann, daß sie schief zur Blickrichtung stehen und daß man, infolge der scheinbaren Verschiebung der durch die Platten betrachteten Bilder, zwei neben- einander stehende Bilder sieht. Dreht man die beiden Platten soweit, daß die inneren Bildpunkte der beiden scheinbaren Bildpunktpaare zusammenfallen, so ist die Größe der Verschiebung gleich der Hälfte der Entfernung der beiden wirklichen Bildpunkte voneinander. Die Größe der Verschiebung, also die halbe Bildgröße, ist in dem Falle aber: ’ ; amatn. cos Yy worin d die Dicke der Platten, « der Drehungswinkel, y der bei der Lichtbrechung in den Platten zu « als Einfallswinkel gehörige Brechungswinkel. Das Helmholtzsche Ophthalmometer ist von Aubert°®) verbessert worden. Ein Ophthalmometer, das für die augenärztliche Praxis geeignet ist, hat Javal‘) angegeben. Gullstrand°) hat die Spiegelbilder der Hornhaut photographiert, und die Ausmessung an den Photographien unter dem Mikroskop vorgenommen. Als Ob- jekte hat er konzentrische Ringe oder viereckige Figuren verwendet. Die. Ver- zerrung der Spiegelbilder lieferte in diesem Falle Anhaltspunkte zur Ermittelung von Ungleichmässigkeiten der Krümmung der Hornhaut. Nach einer ganz anderen Methode hat Blix°) den Hornhautradius bestimmt; er entwirft mit Hilfe eines mikroskopischen Objektivs das Bild eines feinen be- leuchteten Spaltes auf oder hinter der Hornhaut, und beobachtet das in der Horn- haut gespiegelte Licht durch ein neben dem Objektiv aufgestelltes Mikroskop. Er sieht ein scharfes Bild des Spaltes nur, wenn das entworfene Bild entweder genau auf der Hornhaut, oder im Mittelpunkte der Hornhautkrümmung steht. Die Ver- schiebung des Objektivs und des Mikroskopes zwischen den. beiden Einstellungen, -in denen man die Bilder scharf sieht, gibt die Größe des Radius an. Die Größe des Hornhautradius in der Nachbarschaft des Hornhautscheitels beträgt nach dem Durchschnitte aus Zahlreichen Messungen ?) 7,8 mm (Grenzen ) A.a.O. und Pflügers Arch. 21 (1880). — ?) Physiol. Optik, 2. Aufl., S. 10; daselbst auch Ableitung der Formel. — ?) Pflügers Arch. 35 (1885) und 49 (1891). — *) Ann. d’Oculiste 86 (1881). — °) Photograph.-ophthalmometr. u. klin. Unter- suchungen d. Hornhautrefraktion, Stockholm 1896. — °) M. Blix, Oftalmometriska Studier, Upsala 1880 (zitiert nach Tscherning, Zeitschr. f. Psych. u. Physiol. d. Sinn. 3, 438). — ”) Helmholtz a. a. O. 49 Hornhautradius. etwa 7 und 8,5mm). Bei Frauen und Kindern ist der Radius nach Donders etwas kleiner als bei Männern. Nach Auberts!) genauen Messungen läßt sich die Hornhautoberfläche in zwei Zonen teilen, eine ungefähr zentral gelegene, die angenähert sphärische Krümmung mit dem ‚oben angegebenen Radius zeigt, und eine peripher ge- legene abgeflachte Randzone. Die Grenze zwischen beiden wird ungefähr durch den Pupillenrand bestimmt; auch bei weiter Pupille gelangen nur die auf die zentrale Zone auffallenden Strahlen in das Auge; diese Zone, die allein für das Sehen in Betracht kommt, wird daher die optische Zone genannt. Ähnlich lauten die Angaben Sulzers?) und Gullstrands°). Letzterer gibt an, daß die optische Zone queroval ist. Sie erstreckt sich von der Ge- sichtslinie aus ungefähr 20° nasalwärts, 25° temporalwärts, 15° aufwärts, 20° abwärts. Die größere Abflachung des vertikalen Meridians bringt Gull- strand mit dem Liddruck in Zusammenhang. Fig. 4 gibt die graphische Darstellung einer Gullstrandschen Messung in Diagrammform für eine normale Hornhaut wieder und zwar A für den horizon- talen, B für den vertikalen Meridian. Die Zahlen rechts in jedem Diagramm geben A Fig. 4. B ER n5 v5 | 40 ” 25 2 j“ a2 30 25 4 25 x 20 17: 20 | 13 f - 15 I 77 1772 / i I 5 45 vo \s Io |» |o 5 lo is lo do ss 0 Is Io Is Io o I 5 \ 5 [ » { ’o \ 15 5 N s L 25 x 25 Den 30 7 N 35 35 ”o > 146 45 45 die Winkel an, welche die im Mittelpunkt des gemessenen Flächenelements errichtete Senkrechte mit der Gesichtslinie einschließt; die in der Mitte jeder Figur stehenden Zahlen geben die Refraktionswerte in Dioptrien. Die Unregelmäßigkeiten im Ver- laufe der Kurven rühren von den durch die Tränenflüssigkeit bedingten Uneben- heiten der Hornhautfläche her. b) Der Radius der hinteren Hornhautfläche. Methodisches: Eine Bestimmung des hinteren Hornhautradius hat Tscher- ning*) mit Hilfe seines Ophthalmophakometers gemacht. Dieser Apparat ermög- licht es, durch Beobachtung der Spiegelbilder von Objektpunkten mit Hilfe eines Fernrohres und durch passende Einstellung der Achse des Fernrohrs die Lage einer Senkrechten auf der spiegelnden Fläche in einem bestimmten Punkte zu be- stimmen, und ferner auch den Einfallswinkel zu messen, welchen ein Strahl mit. einer von zwei Flächen bildet, wenn derselbe auf der anderen senkrecht steht. Für die Messung des Radius der hinteren Hornhautfläche speziell werden folgende Bestimmungen ausgeführt: 1. Bestimmung der Lage einer auf der vorderen und der hinteren Hornhaut- fläche Senkrechten (die also bei genauer Zentrierung durch den Scheitel der Flächen geht und mit der optischen Achse des Auges zusammenfällt). 2. Bestim- mung einer Senkrechten auf der hinteren Hornhautfläche in irgend einem anderen !) A. a. O0. — ?) Arch. d’Ophthalm. 12 (1892). — ®) A.a.0.— ‘') 8. u.a. in Zeitschr. £. Psychol. u. Physiol. d. Sinn. 3, 429, 1892. u Milk ee) Vorderer Linsenradius. 43 Punkte, als dem Scheitelpunkt. 3. Messung des Winkels, unter dem die zuletzt genannte Senkrechte auf die vordere Hornhautfläche einfällt; die Bestimmung des Winkels ergibt zugleich die Lage der auf der vorderen Hornhautfläche in dem Einfallspunkte Senkrechten. Die Durchschnittspunkte der sub 2 und 3 gefundenen einzelnen Senkrechten mit der sub 1 bestimmten gemeinsamen Senkrechten sind die Mittelpunkte der beiden gekrümmten Flächen. Aus dem Einfallswinkel ist die Lage der Durchschnittspunkte zueinander zu berechnen, und wenn nun überdies durch ophthalmometrische Messung der Mittelpunkt der vorderen Hornhautfläche bestimmt wird, so wird mithin die Lage des Mittelpunktes der hinteren Hornhaut- fläche auch bekannt. Da sich übrigens nach dem Prinzipe des Ophthalmophako- meters (durch die Bestimmung des Einfallswinkels eines Strahles auf die hintere Hornhautfläche mit Hilfe der Beobachtung des von dieser Fläche gespiegelten Bildes) auch noch die Lage des hinteren Hornhautscheitels bestimmen läßt, so ergibt sich der Radius dieser Fläche. Der Apparat ist von Tscherning Ophthalmophakometer genannt worden, weil er vor allem auch noch zur Bestimmung der Krümmungen der Linsenflächen ge- dient hat. Für die Auswertung der direkten, mit dem Apparate gemachten Beobach- tungen muß übrigens noch die Brechung an der vorderen Hornhautfläche u.s.f. in Rechnung gesetzt werden. (Näheres darüber bei der Bestimmung der Linsenkrümmung.) Tscherning findet so den Radius der hinteren Hornhautfläche in einem Falle zu 6,22 mm. c)- Der Radius der vorderen Linsenfläche. Methodisches: Der vordere Linsenradius wird auch berechnet aus der Größe des Spiegelbildes zu einem bekannten Objekt, die Größe des Bildes wird ophthalmo- metrisch gemessen. — Oder man stellt zwei Objekte in gleichem Abstande vom | Auge auf und wählt die Größe der Objekte so verschieden, daß das Hornhaut- spiegelbild des einen gleich groß dem vorderen Linsenspiegelbilde des anderen ist. Bei hinreichend großem Abstande der Objekte verhalten sich in diesem Falle die Objekt- größen wie die Brennweiten, mithin auch wie die Radien der Spiegel; ist der Hornhautradius also schon bekannt, so läßt sich in dieser Weise der vordere Linsen- radius einfach berechnen. Man erhält so zunächst allerdings nur die scheinbare Brennweite der vorderen Linsenfläche. Um daraus die wirkliche zu berechnen, muß man berücksichtigen, daß die Lichtstrahlen beim Hin- und Hergang in der Hornhaut zweimal ge- brochen werden. Einfach gestaltet sich die Berechnung des wirklichen Radius nach der Dioptrierechnung in folgender Weise: Die Dioptriereehnung ist ohne weiteres auch anwendbar auf RER Flächen, nur sind dann alle Brechungsindices der Medien, die das Licht nach der Spiegelung durchläuft, negativ zu setzen. In unserem speziellen Falle entsprechen den drei Flächen, durch die das Licht bei seinem Hin- und Hergang gebrochen, resp. gespiegelt wird, die Dioptriewerte: n—|1 ’ — 31 HATZ 1 + Re D ed, DS D, = ‚ D-= ı r, $) 75 r, worin r, der vordere Hornhautradius, », der vordere Linsenradius, n der Brechungs- index des Kammerwassers (auf die Brechung an der hinteren Hornhautfläche braucht aus nachher zu erörternden Gründen keine Rücksicht genommen zu werden). D, und D, ist demnach die Brechkraft der Hornhaut für die hin-, resp. hergehenden Lichtstrahlen, D, der Dioptriewert des Linsenspiegels. Wenn d der Abstand des Hornhautspiegels vom vorderen Linsenscheitel ist (über seine Swznei. siehe d Dt unten), so sind die reduzierten Abstände d, = = und d, = - — d, in Rech- nung zu setzen. Wendet man nun die Formeln (12) an, so erhält man durch passende Umformung '): D,., = (2D, + De d,D,D,)(1— d,D,). !) Siehe Gullstrand, Arch. f. Ophthalm. 49, 54, 1900. 44 Hinterer Linsenradius. In dieser Formel bedeutet D,., den reziproken Wert der scheinbaren Brennweite des Linsenspiegels, der durch die ophthalmometrische Messung zu bestimmen ist. _ Setzt —:] 2 a und 25 . a . man für D, und D, die oben angegebenen Werte ein, so ist zu ’ rı 2 ersehen, daß alle Werte bestimmbar sind bis auf r,, welches demnach aus den be- stimmbaren Werten auf diese Weise berechnet werden kann. Tscherning') hat zur Messung des vorderen Linsenradius auch das Ophtalmo- phakometer verwendet. Auch an ausgeschnittenen Linsen von Leichenaugen sind die Linsenkrümmungen gemessen worden, doch sind die Resultate dieser Methode unsicher. Die Angaben über die Größe des Radius der vorderen Linsenfläche schwanken um einen Mittelwert von etwa 10mm?) (Grenzen 7,86 und 12,58 mm). d) Der Radius der hinteren Linsenfläche. Methodisches: Der hintere Linsenradius wird in analoger Weise bestimmt wie der vordere, nur ist bei der Berechnung der wirklichen Brennweite aus der scheinbaren in Rechnung zu setzen, daß beim Hin- und Hergang der gespiegelten Licht- strahlen an der Hornhaut und an der vorderen Linsenfläche Brechung stattfindet. Der Radius der hinteren Linsenfläche wird zu etwa 6mm im Mittel an- gegeben ?) (Grenzen 5,3 und 8,49). » 3. Die Abstände der brechenden Flächen. a) Die Dicke der Hornhaut. Methodisches: Die Dicke der Hornhaut ist zuerst an Durchschnitten unter dem Mikroskop gemessen worden. Später sind auch an lebenden Augen Bestim- mungen gemacht von Blix, sowie von Tscherning nach dem Prinzipe der schon vorher erwähnten Methoden unter Benutzung des von der hinteren Hornhautfläche durch Spiegelung entworfenen Bildes. Die Angaben über die Hornhautdicke lauten bei den verschiedenen Autoren allerdings sehr verschieden. Krause und Helmholtz) fanden bei mikroskopischen Messungen an Durchschnitten in der Mitte Werte von 0,45 bis 1,37 mm, am Rande von 0,54 bis 155mm. Blix°) fand in der Hornhautmitte einen Wert von 0,482 bis 0,668mm. Tscherning*) findet im Scheitel eine Hornhautdicke von 1,15 mm. b) Die Tiefe der vorderen Kammer. Methodisches: Zur Bestimmung des Abstandes der vorderen Linsenfläche von der Hornhaut wird die Lage der Pupillenebene gesucht. Es sind hierfür viele verschiedene Methoden angegeben. worden, von denen die wichtigsten in Kürze skizziert seien. 1. Verfahren von Donders’). Das Kornealmikroskop wird erst auf die durch Bepudern mit Kalomel sichtbar gemachte Hornhaut, dann auf den Pupillen- rand eingestellt. Aus den verschiedenen Stellungen des Mikroskops ergibt sich die scheinbare Tiefe der vorderen Kammer. Für die Berechnung der wirklichen Tiefe ist zu berücksichtigen, daß durch die Brechung an der Hornhaut ein auf- rechtes vergrößertes Bild der Pupille geliefert wird, dessen Lage zur Berechnung der wirklichen Lage der Pupille dienen kann (nach Gleichung (1) 8. 30). 2. Verfahren von Helmholtz®). Die scheinbare Lage der Iris wird be- rechnet aus der perspektivischen Verschiebung der Pupillenebene gegen das Horn- '!) A.a. 0. — ?) Helmholtz a. a. 0. — ®) Ebenda. — *) Helmholtz a. a. 0.— °) A. a. 0. — °) A. a. O. — 7) Monatsbl. f. Augenheilk. 1872. — °) Physiol. Optik, 2. Aufl., 8. 29. Tiefe der vorderen Kammer, Linsendicke. 45 hautspiegelbild eines weit entfernten Objektpunktes und daraus die wirkliche Lage berechnet. Einfacher gestaltet sich die Messung, wenn man die sich spiegelnden Lichtstrahlen so einfallen läßt, daß das Spiegelbild in die Pupillenebene fällt und nun den Abstand des Spiegelbildes von der Hornhaut bestimmt; letztere Methode ist verwendet worden von Schöler und Mandelstamm'), sowie von Reich ?). Andere Methoden, bei denen auch die Spiegelbilder zur Messung benutzt werden, sind noch angegeben von Tscherning®), sowie von Hegg*). 3. Im jüngster Zeit hat Grönholm’°) die Messung vorgenommen, indem er vor das Auge ein Orthoskop bringt, d. i. ein vor das Auge zu setzendes, der Ge- sichtshaut sich mit seinen Rändern anschmiegendes Glaskästchen, das mit physio- logischer Kochsalzlösung so gefüllt wird, daß das zu untersuchende Auge in die Kochsalzlösung eingetaucht ist. Man beobachtet das Auge von der Seite durch die Glaswand, und kann die perspektivische Entfernung der leicht zu erkennenden Hornhaut von dem Pupillenrande messen. Durch die Lage der Pupillenebene ist der vordere Linsenscheitel streng ge- nommen nicht ohne weiteres mitbestimmt, weil der Linsenscheitel in das Pupillen- loch etwas vorgewölbt ist. Um die Korrektion hierfür vorzunehmen, würde man in einem mit dem Radius der vorderen Linsenfläche als Radius beschriebenem Kreise eine Sehne, die gleich dem ‘Pupillendurchmesser ist, zu ziehen haben; die Höhe des Kreisbogens über der Sehne gibt dann den Betrag an, um den der Scheitel weiter nach vorn liegt. Die Korrektur ist aber so gering, daß sie gegen- über den Ungenauigkeiten, mit der die Messung an sich verknüpft ist, nicht in Betracht kommt. Die mit den verschiedenen Methoden von den Autoren erhaltenen Werte für den Abstand des Hornhautscheitels von der Pupillenebene schwanken zwischen 2,90 und 4,09mm. Helmholtz) gibt als Mittel 3,6 mm an. ec) Die Linsendicke. ee; Methodisches: Ein dünnes Lichtstrahlenbündel läßt man seitlich von be- stimmter Richtung her ins Auge einfallen :und bestimmt die Richtung, in der das Strahlenbündel nach der Spiegelung an der hinteren Linsenfläche wieder austritt. Der Durchschnitt beider Richtungen ist der scheinbare Ort der hinteren Linsen- fläche. _ Unter Berücksichtigung der Brechung an der Hornhaut und an der vorderen Linsenfläche läßt sich dann der wirkliche Ort der hinteren .Linsenfläche berechnen’). Auch an toten Augen ist die Linsendicke im Durchschnitt gemessen worden, doch sind die so-gewonnenen Resultate unsicher, weil wir kein Konservierungsverfahren kennen, daß die Erhaltung. der ursprünglichen Dimensionen der Linse sicher garantiert. Die Angaben über die Linsendicke schwanken zwischen 3,025 ‚und. 443mm. Helmholtz®) nimmt als Mittelzahl 3,6 mm an. B. Die Kardinalpunkte des Auges. Bei der Berechnung der Kardinalpunkte des Auges wird außer der Substitution der homogenen Linse an Stelle der wirklichen geschichteten noch die Vereinfachung angenommen, daß der Brechungsindex der Hornhaut- substanz gleich dem des: Kammerwassers gesetzt wird,. so daß die hintere Hornhautfläche in optischer Hinsicht als nicht vorhanden angesehen wird. Diese Vereinfachung ist zulässig aus folgendem Grunde: Unter zu Grunde- legung der Werte 1,3771 und 1,3374 als Brechungsindices für Hornhautsubstanz !) Arch. f. Ophthalm. 18 (1872). — *) Ebenda 20 (1874). — °?) A. a. 0. — *) Arch. f. Augenheilk. 44, Ergänzungsband 1901, $. 84. — °) Skandin. Arch. f. Physiol: 14 (1903). — °) A. a. O. — 7) Näheres bei Helmholtz, a. a. 0. — 8) ’A:>a: 0. ‚ f 46 Kardinalpunkte des Auges. und Kammerwasser, und 7,8 resp. 6,22 als Radien erhält man für die vordere Hornhautfläche eine Brechkraft von 48,3 und für die hintere Hornhautfläche von — 6,4 Dioptrien. Legt man ferner die Tscherningsche Zahl 1,15 mm für die Hornhautdicke der weiteren Berechnung zugrunde, so erhält man als reduzierten Abstand der beiden Hornhautflächen 0,00087 m, mithin nach Gleichung (10) für das System eine Brechkraft von 42,2 Dioptrien. Berechnet man aber die Brechkraft der vorderen Hornhautfläche unter ‘der Annahme, daß die Hornhautsubstanz gleichen Brechungsindex hat, wie das Kammerwasser, so erhält man für das System eine Brechkraft von 43,2 Dioptrien. Der Unterschied der Brechkraft beider Systeme ist so gering, und ebenso ist der Unterschied der Lage der Hauptpunkte in beiden Fällen so unerheblich, daß man, zumal bei der Unsicherheit, die wegen der Größe der Beobachtungsfehler den der Rechnung zugrunde liegenden Werten anhaften, die Vereinfachung zulassen kann, ohne einen wesentlichen Fehler zu machen. Mit dieser Vereinfachung läßt sich demnach das dioptrische System des Auges so definieren: Das dioptrische System des Auges ist ein annähernd zen- triertes Sammelsystem von drei sphärischen Flächen zwischen vier Medien. Die Medien sind Luft, Kammerwasser, Linsensubstanz und Glas- körper, die Flächen sind: vordere Hornhautfläche, vordere Linsenfläche, hintere Linsenfläche. Die- Brechungsindices sind in abgerundeten Zahlen: N, = 1; m = 18337; 9% = 1437, m, =: 1,337. Die Radien sind: r, = 78mm; , =10mm; 3 = —6mm. Die Abstände der Flächen sind: d, = 3,6mm; dy = 3,6 mm. Man nennt das so definierte System des Auges das schematische Auge !). Die Berechnung der Kardinalpunkte des schematischen Auges ergibt Folgendes: Es ist zunächst die Brechkraft der Hornhautfläche . . . . ...D, = 43,2 Dioptrien in Pr „ Linsenvorderfläche .....D, = 10,0 M + = Linsenhinterflächke .....D = 16,7 ö Die reduzierten Abstände sind: d, = 0,00269 m; d, = 0,00251 m. Mithin ist nach Gleichung (10) D,.. = (43,2 + 10 — 1,2) Dioptrien = 52,0 Dioptrien und nach Gleichung (11): 9)... = 9000518 m 7. = — 0,00224m. Ferner ist nach Gleichung (13) d\.. = (0,00251 + 0,00224) m = 0,00475 m und nach Gleichung (12): D,.s = (52.0 + 16,7 — 4,1) Dioptrien = 64,6 Dioptrien. Ferner nach Gleichung (14): 9.5, = 900123 m; 1., = — 1;003 82 m. !) Die Zahlen des schematischen Auges werden übrigens von verschiedenen Autoren verschieden angegeben. Siehe darüber bei Helmholtz und Hess a. a. O. % 7 1.3 ist der reduzierte Abstand des zweiten Hauptpunktes von der Linsenhinter- fläche. Der reduzierte Abstand des ersten Hauptpunktes von der Hornhautfläche beträgt: 9.2 + 91.3 = 9,00175 m. Durch Multiplikation mit den zugehörigen Brechungsindices erhält man die wirklichen Abstände, also: Der erste Hauptpunkt des ganzen Systems liegt 1,75mm hinter der Horn- hautfläche; „ Zweite = „ 5,l1lmm vor der Tiisse hinterfläche a 2,09 mm hinter der Hornhautfläche. Die Brechkraft des Systems beträgt 64,6 Dioptrien. Die Hauptbrennweiten sind: Emmetropie. 1 fı PER 64,6 m — — 15,5mm 1,337 fa = 646 m — 20,7 mm. Der erste Brennpunkt liegt demnach 13,75 mm vor der Hornhaut „ Zweite 3 $ » 22,79 mm hinter „ B Die Knotenpunkte liegen .(20,7 — 15,5)mm, d. s. 5,2mm hinter den Hauptpunkten, also liegt: der erste Knotenpunkt 6,95 mm hinter der Hornhaut „ Zweite = 729mm „ = = Die beiden Hauptpunkte des Auges liegen so dicht beieinander, daß man keinen großen Fehler begeht, wenn man sie in einem ERukR zusammenfallen denkt, und ebenso die beiden Knotenpunkte. Es ergibt sich daher, wenn man die Zahlen noch etwas abrundet: Die brechende Wirkung des komplizierten Systems des Auges ist nahezu dieselbe wie die eines einfachsten System von einer sphärischen Trennungs- fläche mit dem Radius von 5mm zwischen einem Medium vom Brechungs- index 1 vorn, und einem vom Brechungsindex 1,33 hinten. Der Knoten- punkt dieses einfachen Systems liegt etwa da, wo beim wirklichen Auge die hintere Linsenfläche liegt. Die erste Brennweite des Systems beträgt 15 mm, die zweite 20 mm. Die Brechkraft beträgt 66,67 Dioptrien. Das einfache System, welches man hinsichtlich seiner brechenden Wirkung dem Auge nahezu gleich setzen kann, nennt man reduziertes Auge. C. Emmetropie. Refraktionsanomalien. Beim normal gebauten, ruhenden Auge fällt der zweite Brennpunkt des dioptrischen Systems in die lichtempfindliche Schicht der Netzhaut, d. i. die Stäbchen- und Zapfenschicht. Es entstehen daher scharfe Bilder auf dieser Schicht von solchen Gegenständen, die unendlich weit vom Auge entfernt sind. Das normal gebaute Auge sieht daher unendlich weit entfernte Gegen- stände deutlich. Der Refraktionszustand des Auges, bei dem im Ruhezustande ein scharfes Bild von unendlich weit entfernten Objekten genau auf der lichtempfindlichen Schicht der Netzhaut entsteht, wird Emmetropie genannt. 48 Refraktionsanomalien. Emmetrope Refraktion kann selbstverständlich bei verschiedener Brech- kraft des dioptrischen Systems vorhanden sein, wenn nur die Achsenlänge des Auges der jeweiligen Brechkraft entspricht. Für Emmetropie maßgebend ist nur das richtige Verhältnis zwischen Achsenlänge und Brechkraft des Auges. F Die Achsenlänge des reduzierten Auges ist die Entfernung des Haupt- punktes von der Stäbchen- und Zapfenschicht. So ist z. B. im reduzierten Auge Emmetropie vorhanden: für eine Brechkraft von 60 D bei Achsenlänge von 22,17 mm „non 5 »„.8D „ B »„ 2,11 „ n n n ” 66 D n n n 20,15 ” Ametropien oder Refraktionsanomalien heißen die Refraktionszustände des Auges, bei denen jenes Verhältnis zwischen Brechkraft und Achsenlänge nicht besteht. Ametropie kann sowohl durch abnorme Achsenlänge, als auch durch abnorme Werte der optischen Konstanten bedingt sein. Man unter- scheidet dementsprechend Achsenametropie, Krümmungsametropie, Index- ametropie. Die weitaus häufigsten Ametropieformen sind Achsenametropien. Ist die Augenachse zu lang, liegt die Netzhaut zu weit nach hinten, so besteht Kurzsichtigkeit oder Myopie; ist die Augenachse zu kurz, liegt die Netzhaut zu weit nach vorn, so besteht Übersichtigkeit oder Hyper- metropie. Der Punkt, auf den das Auge im Ruhezustand eingestellt ist, d. h. dessen Bild auf die lichtempfindliche Schicht der Netzhaut fällt, heißt der Fern- punkt des Auges. Bei Myopie liegt der Fernpunkt in endlicher Ent- fernung vor dem Auge; auf der Netzhaut vereinigen sich in dem Falle Strahlen, die divergent in das Auge einfallen. Bei Hypermetropie liegt der Fernpunkt in endlicher Entfernung hinter dem Auge, auf der Netzhaut des ruhenden Auges vereinigen sich in dem Falle Strahlen, die konvergent in das Auge einfallen. Bei Myopie ist die Brechkraft des Auges relativ, d. h. bezogen auf die Lage der Netzhaut, zu groß, bei Hypermetropie zu klein. Der Grad der Ametropie ist anzugeben durch den Wert, um den die Brechkraft zu groß oder zu klein ist, und dieser Wert ergibt sich aus der Konvergenz der durch den Fernpunkt gehenden Strahlen. Die Konvergenz der Fernpunktstrahlen (die bei Myopie einen negativen, bei Hypermetropie einen positiven Wert hat) gibt nämlich den Betrag an, um den die Brechkraft des Auges vermehrt werden muß, um das für Emmetropie gültige Verhältnis zwischen Brechkraft und Achsenlänge zu erhalten. In derfolgenden Übersicht ist angegeben, welehe Ametropiegrade verschiedenen Achsenlängen des reduzierten Auges entsprechen: Achsenlänge Ametropiegrad | Achsenlänge Ametropiegrad 17 mm —+- 11,8 Dioptrien | 21mm — 3,2 Dioptrien 18 5 + 74 = 29 5 et » 1947, + 35 r 23 5 — 8,7 = ZUMES 0 n Zur Korrektion der Refraktionsanomalien setzt man Konkav- oder. Konvexlinsen vor das Auge. Der in der eben angegebenen Weise gemessene Ametropiegrad würde mit der Brechkraft des zur Korrektion nötigen Glases übereinstimmen, wenn wir dieses dem Auge so weit nähern könnten, daß sein zweiter Hauptpunkt mit dem ee u Su "a Zu Zn ki Accommodation des Auges. 49 ersten Hauptpunkte des Auges zusammenfiele; da dies nicht angängig ist, so ent- spricht die Stärke des Korrektionsglases nicht dem auf den ersten Hauptpunkt bezogenen Ametropiegrade').. Bei Myopie ist jene! größer, bei Hypermetropie kleiner als dieser; der Unterschied ist um so größer, je größer der Abstand des Glases vom Auge und je höher der Ametropiegrad ist. Die Brechkraft des korri- gierenden Glases wird der Korrektionswert der Ametropie genannt. Zur Ermittelung der Fernpunktlage wird in der Augenheilkunde die schwächste Konkay-, resp. Konvexlinse aufgesucht, mit der das Auge Leseproben in großer Entfernung am deutlichsten sieht. Es wird hier also gleichzeitig Fernpunkts- abstand und Sehschärfe ermittelt. Die erhaltene Linse stellt zugleich den Kor- rektionswert der Ametropie dar. Auch mit dem Optometer oder mit dem Augenspiegel kann die Refraktions- anomalie bestimmt werden (s. 8. 60 und 89). Neugeborene haben in der Regel eine leicht hypermetropische Refraktion. Die Hornhautkrümmung ist beim Neugeborenen etwas stärker als beim Er- wachsenen; der Radius der vorderen Hornhautfläche beträgt hier etwa 7,0 mm, die Linse hat bei einem Radius von 3,3 mm nahezu kugelige Gestalt; die vordere Kammer ist sehr flach. Der Hypermetropiegrad des Auges der Neugeborenen schwankt zwischen 1 und 6 Dioptrien. Der Hypermetropiegrad geht bis etwa zum zehnten Lebensjähre um einiges zurück, bleibt aber bei den meisten Augen während des ganzen Lebens in geringem Grade bestehen. Insbesondere bleibt bei Individuen, die nicht in die Schule gehen, und bei unzivilisierten Völkern Hypermetropie die weitaus vorherrschende Refraktion 2). Myopie fehlt im Kindesalter fast ganz, sie nimmt aber an Prozentsatz mit dem Lebensalter immer mehr zu, besonders bei Schulkindern. Über die Ursachen der Myopie siehe die Lehrbücher der Augenheilkunde. Im Greisenalter werden emmetrope Augen wieder etwas hypermetrop. Es hängt dies mit der Veränderung der Linse im Alter zusammen (s. $. 59). III. Accommodation des Auges. Beim emmetropen ruhenden Auge fällt der zweite Brennpunkt in die lichtempfindliche Schicht der Netzhaut; das Auge ist daher auf weit entfernte Gegenstände eingestellt. Bilder von nahen Gegenständen fallen hinter diese Netzhautschicht. Aus der folgenden Tabelle geht die Bildlage im reduzierten Auge für ver- schiedene Objektabstände hervor: Objektabstand Bildabstand Objektabstand Bildabstand © "20,00 mm 0,5m 20,62 mm 5m 20,06 „ 0,25 m ai.aT. ; im 20,30 „ | 0,125 m 23,57 , Bei der Annäherung des Objekts aus großer Entfernung bis zu 5m Ab- stand verschiebt sich demnach das Bild um nur 0,06 mm nach hinten. Da die lichtempfindliche Netzhautschicht etwa 0,06 mm dick ist, so könnte in dem Falle immer noch ein Bild in diese Schicht fallen. Wir sehen deshalb !) Es läßt sich das beweisen durch Anwendung der Gleichung (9a) auf den vorliegenden Fall. — ?) Die Statistik über die Refraktionsentwickelung findet sich in der augenärztlichen Literatur. Zusammenstellung bei Hess a. a. O., S. 284. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 4 50 Veränderung der Linsenspiegelbilder bei Accommodation. noch auf 5m Abstand die Gegenstände auch mit ruhendem Auge wenigstens noch nicht sehr undeutlich. Nähert sich das Objekt aber noch mehr, so wird das Bild in der Stäbchen- und Zapfenschicht zu sehr verschwommen ; damit die Objekte auch jetzt noch deutlich gesehen werden, muß der Refrak- tionszustand des Auges verändert werden. Es geschieht dies durch Ver- stärkung der Brechkraft des Auges, und zwar durch Verstärkung der Linsenkrümmungen. Diese Veränderung heißt Accommodation für die Nähe. A. Die bei der Accommodation tatsächlich nachweisbaren Veränderungen. 1. Veränderung der Linsenkrümmung. Der Nachweis dieser Veränderung wurde von Langenbeck !), Cramer?) und Helmholtz?) zuerst erbracht; er ergibt sich aus der Veränderung, welche die Spiegelbilder der Linse bei der Accommodation erfahren. Zur Beobachtung, die im Dunkelzimmer vorzunehmen ist, stellt man seitwärts von dem zu untersuchenden Auge das zu spiegelnde Objekt auf, blickt von der anderen Seite her in das Auge und erkennt dann die drei Spiegelbilder, nämlich: 1. vorn das aufrechte lichtstarke Hornhautbild, 2. in der Mitte’das aufrechte größere lichtschwache vordere Linsenbild, 3. hinten das umgekehrte kleine hintere Linsenbild. Das hintere Hornhautbild ist gewöhnlich nicht zu sehen, es wird nur be- merkbar bei Einhaltung besonderer Versuchsbedingungen. Siehe darüber bei Blix und bei Tscherning a. a. 0. Läßt man die Versuchsperson darauf einen nahen Gegenstand fixieren, so nimmt man wahr, daß das vordere Linsenbild kleiner wird und etwas nach vorn rückt. Dieses Vorrücken ist nicht allein auf die stärkere Wöl- bung, sondern auch auf das Vorrücken des Linsenscheitels selbst (siehe unten) zurückzuführen. Auch beim hinteren Linsenbildehen ist, wenn auch schwieriger, eine Verkleinerung festzustellen. Es ist vorteilhaft für die Beobachtung, statt eines einzigen Objektes zwei, Fig. 5. bestehend in zwei von hinten her er- A B leuchteten übereinanderstehenden qua- dratischen Öffnungen in einem Schirme zu verwenden. Im Auge sieht man dann drei Paar Bilder hintereinander (s. Fig. 5). Bei der Accommodation wird vor allem die Entfernung der Spiegelbilder der Hornlaut und der Linsen- beiden Bilder des mittleren Paares von- flächen, A bei Mumtellung für die Ferne, B für einander kleiner, in geringem Maße e Nähe. 2 x auch die des hinteren. Um die Beobachtung bequem zu machen, ist von Helmholtz eine besondere Vorrichtung, Phakoskop genannt, angegeben worden: ein Kasten mit vier Öffnungen in seinen Wänden, durch welche die Stellung des untersuchten Auges und seiner !) Klinische Beiträge zur Chirurgie und Ophthalmol. Göttingen 1849. — 2) Tijdschr. d. Matschappij vor Geneeskunde 1851. — °) Monatsber. d. Berliner Akad. 1853 und Arch. f. Ophthalmol. 1 (1853). Änderung der Linsenkrümmung bei Accommodation. 51 Blickrichtung, des Objektes und des beobachtenden Auges zueinander fixiert ge- halten werden. Für die Beobachtung der Bilder ist auch die Verwendung von binokularen Lupen empfohlen worden. Ophthalmometrische Messungen der Größenveränderungen der Linsen- bilder dienen zur Berechnung der Krümmungsveränderungen. Es ergibt sich, daß bei möglichst starker Accommodation die Veränderung der Krüm- mung abhängig ist vom Lebensalter. Bei Individuen zwischen 20 und 30 Jahren wurde bei möglichst starker Accommodation gefunden }): der Radius der vorderen Linsenfläche zu 6mm (Grenzen 4,8 und 8,8 mm) # 5 „ hinteren ä „ 55mm Fe ea mm) Knapp?) hat bei vier Augen die Lage des Fernpunktes und des Nahe- punktes, die Krümmung und Lage der Hornhaut und der Linsenflächen beim Sehen in die Ferne, wie bei Accommodation für die Nähe bestimmt und ge- funden, daß die aus der Krümmungsänderung der Linse berechnete Accommo- dation hinreichend gut mit der wirklich stattfindenden Accommodation über- einstimmte. Um die accommodative Zunahme der Brechkraft des Auges zu erklären, reicht also die Gestaltsänderung der Linse aus. Eine Berechnung der Größe des Radius der vorderen Linsenfläche bei ver- schiedenen Graden der Accommodation findet sich bei 0. Weiß?). Heine*) gibt an, daß allerdings ein kleiner Teil der Brechkraftzunahme auf einer Vergrößerung des Totalindex der Linse beruhe, indem bei Accommodation am vorderen Linsenpole sich eine weichere Masse von niedrigerem Index an- sammle, die von dem peripupillären Bezirke aus zum vorderen Linsenpole rückt. Dies wird jedoch von Suter’) bestritten, der die Beobachtungen Heines vielmehr darauf zurückführt, daß Kern und Peripherie der Linse ihre Krümmung in un- gleichem Betrage ändern. Die beschriebenen Krümmungsänderungen treffen für die zentralen Teile der Linsenflächen zu. In den peripheren Teilen kommt in manchen Fällen eine ge- ringere Krümmungszunahme, ja nach Tschernings‘) Angaben sogar eine Ab- flachung vor. Hess’) macht jedoch darauf aufmerksam, daß diese Abflachung nicht, wie Tscherning meint, bei allen Augen vorkommt und daher keine prin- zipielle Bedeutung haben kann. 2. Vorrücken des vorderen Linsenscheitels. Das Vorrücken des Linsenscheitels läßt sich ohne besondere Hilfsmittel beobachten, wenn man ein Auge während der Accommodation im Profil be- trachtet. Man beobachte ein Auge von der Seite und etwas von hinten, so daß bei Accommodationsruhe die Pupille des Auges nur wenig vor dem Hornhautrande hervorragend gesehen wird. Läßt man das Auge dann accommodieren, so sieht man die Pupille vorrücken. Auch von vorn mit Hilfe einer binokularen Lupe läßt sich das Vorrücken beobachten. Tscherning®) will in einem Falle den Ort des vorderen Linsenscheitels unverändert gefunden haben. Diese Angabe ist jedoch vereinzelt geblieben. Die peripheren Teile der vorderen Kammer werden bei dem Vorrücken des Linsenscheitels nicht merklich seichter; oft ist sogar im Gegenteil eine geringe Vertiefung derselben durch Zurückweichen der peripheren Iristeile zu beobachten. !) Helmholtz a. a. 0. — *) Arch. f. Ophthalm. 6 (1860). — °) Pflügers Arch. 88 (1901). — *) Arch. f. Ophthalmol. 46 (1898). — °) Arch. f. Augenheil- kunde 46 (1902). — °) Optique physiologique, Paris 1897. — 7) A. a. 0. — ®)A.a.0. 4* 593 Linsenschlottern bei Accommodation. Die Pupille wird überdies enger (siehe darüber unten mehr). Helmholtz!) hat die Verlagerung des Linsenscheitels gemessen und dafür 0,36 bis 0, 44mm gefunden. Da der hintere Linsenscheitel an seinem Orte bleibt, wird also die Linse 4 mm dick. 3. Linsenschlottern. Dieses für die Accommodationstheorie besonders wichtige Phänomen ist nicht schon bei mäßig großer Accommodation zu beobachten, sondern erst bei willkürlich möglichst angestrengter Accommodation. Einige der hierher ge- hörigen Beobachtungen sind zwar schon von früheren Autoren beobachtet worden, aber C. Hess?) hat das Phänomen zuerst eingehend untersucht und richtig gedeutet. Die Linse sinkt bei angestrengter Accommodation, ihrer Schwere fol- gend, nach unten, je nach der Kopfhaltung daher gegen den temporalen oder nasalen, frontalen oder infraorbitalen Teil des Ciliarkörpers; nur wenn der Kopf so steht, daß die Irisebene horizontal liegt, bleibt die Linse gegen den Pupillenrand nicht verschoben. Bei kleinen zuckenden Bewegungen des Auges schlottert die Linse hin und her, das Linsenschlottern tritt nicht auf, wenn das Auge unbewegt bleibt. Das Linsenschlottern läßt sich objektiv und subjektiv nachweisen. Objektiv an einem anderen Auge: Im Dunkelzimmer bringt man eine Licht- quelle so an, daß der durch eine mäßig starke Lupe blickende Beobachter das hintere Linsenbild des beobachteten Auges bequem sieht; bei maximaler Accommo- dationsanstrengung und kleinen zuckenden Augenbewegungen macht das Bildchen schleudernde Bewegungen; wird das Auge ruhig gehalten, so kommt auch das Bildchen zur Ruhe. 5 Zuweilen tritt mit dem Linsenschlottern zusammen auch Irisschlottern auf. Ohne Accommodation sieht man das Linsenschlottern nur selten und in geringem Maße im Vergleich zu dem Schlottern bei Accommodationsanstrengung. Subjektiv am eigenen Auge: In den vorderen Brennpunkt des Auges bringt man ein leuchtendes Objekt; die von da ins Auge eintretenden Strahlen entwerfen auf der Netzhaut Schatten von den kleinen, in der Linse enthaltenen Trübungen; diese Schatten, die als „Linsenspektrum“ subjektiv wahrzunehmen sind, verändern bei starker Accommodation ihre Lage entsprechend den Lageveränderungen der Linse. Das Spektrum rückt scheinbar nach oben, wenn die Linse nach unten sinkt; dies ist aus physiologisch-optischen Gründen leicht zu verstehen, weil bei Sinken der Linse der Schatten nach unten sinkt, mithin die Gesichtswahrnehmung, die von dem betroffenen Netzhautpunkte in der Richtung durch den Knotenpunkt des Auges nach außen verlegt wird, nach oben rücken muß. Die Größe der Linsenverschiebung ist nach beiden Methoden leicht zu messen, resp. zu berechnen. Hess hat die Größe der subjektiv wahrzuneh- menden Linsenverschiebung berechnet und bei sich eine Senkung der Linse von 0,28 bis 0,3 mm gefunden. Heine hat unter Leitung Hess’ die Orts- veränderung objektiv gemessen und 0,25 mm Verschiebung gefunden. Hess hat auch nachgewiesen, daß die accommodative Linsenverschiebung von Einfluß ist auf die scheinbare Lage von Objekten, die sich verschieden weit vom Auge befinden. Statt willkürlich accommodieren zu lassen, kann man bei dem zu unter- suchenden Auge auch durch Physostigmineinträufelung Accommodations- krampf hervorrufen, oder durch schwache Physostigminvergiftung die Wir- ') Physiol. Opt., 2. Aufl., S. 142. — ?) A. a. O.; daselbst auch die ältere Literatur. Vorrücken der Ciliarfortsätze bei Accommodation. 53 kung der willkürlichen Accommodation unterstützen und dadurch das Phä- nomen des Linsenschlotterns der Beobachtung zugängig machen. Es wird dadurch das Linsenschlottern sogar wesentlich ausgiebiger als bei gewöhn- licher Accommodation. Die Verschiebung der Linse kann dann bis Imm betragen. Für objektive Beobachtung wirkt freilich die Pupillenverengerung bei starker Physostigminvergiftung ungünstig, die subjektive Beobachtung wird dadurch aber nicht gestört. 4. Vorrücken der Ciliarfortsätze. Die Beobachtung dieses Vorganges ist freilich nur an Augen zu machen, bei denen ein Irisdefekt, der durch Operation oder Verletzungen verursacht sein kann, vorliegt. Nach den Angaben der Mehrzahl der Beobachter, ins- besondere nach den neueren sehr sorgfältigen Beobachtungen von Hess!) ist bei Accommodation oder nach Physostigmineinträufelung in solchen Augen ein Vorrücken der Ciliarfortsätze gegen die Linse hin zu sehen, ohne daß die Ciliarfortsätze anschwellen. Die Ciliarfortsätze schieben sich dabei vor die Ebene des Linsenäquators. Die Zonulafasern, die nach Atropinein- träufelung als feine dunkle Linien erscheinen, sehen nach Physostigmin- einträufelung undeutlich, verwaschen aus. Fig. 6. Durchschnitt durch den Ciliarkörper von Affenaugen (nach H eine), von denen das eine (A) im physostigminisierten, das andere (B) im atropinisierten Zustande fixiert worden ist. Der Linsenrand stellt im atropinisierten Auge eine wellenförmige, unregelmäßige Linie dar, im physostigminisierten dagegen eine mehr kreisförmige, regelmäßigere Linie. In der Gegend der Anheftungsstelle der Zonulafasern an der Linsenkapsel sieht man am atropinisierten Auge oft sehr deutlich seichte Hügel und zeltähnliche Erhebungen, die nach Physo- stigmineinträufelung flacher werden oder ganz verschwinden. Anatomische Untersuchungen von Heine?)an Affenaugen, die im physo- stigminisierten oder atropinisierten Zustande fixiert wurden, liefern eine Bestäti- gung dieser Beobachtungen. Der Ciliarmuskel ist im physostigminisierten Auge deutlich nach vorn und hornhautwärts verschoben (siehe Fig. 6). 1) A. a. O. — ?) Arch. f. Ophthalm. 49, 1, 1900. 54 Intraokularer Druck bei Accommodation. Hier ist schließlich noch zu erwähnen der Befund von Hensen und Völckers!), welche feine Nadeln in den Äquator eines frisch enukleierten menschlichen Auges einstachen und bei elektrischer Reizung der Ciliarkörper- gegend an diesen Nadeln Bewegungen feststellten, die eine Verschiebung der Chorioidea nach vorn hin anzeigten. Eine durch den Ciliarkörper oder durch die Gegend der Macula gestochene Nadel bewegte sich nicht. 5. Konstanz desintraokularen Druckes. Ältere Angaben über das Verhalten des intraokularen Druckes bei der Accommodation lauten widersprechend. Aus im neueren Untersuchungen von Hess?) geht folgendes hervor: Aus der Tatsache des Linsenschlotterns folgt zunächst, daß der Druck in der vorderen Kammer und im Glaskörper nicht verschieden sein kann. Hess und Heine haben nun bei Affen und Tauben nachgewiesen, daß der Druck in der vorderen Kammer, zu dessen Messung eine feine durch die Hornhaut gestochene Kanüle außen mit einem Quecksilbermanometer verbunden war, sich bei elektrischer Reizung des Ciliarkörpers nicht änderte, obwohl starke accommodative Veränderung der Brechkraft erhalten wurde. Mithin kann auch keine Steigerung des intraokularen Druckes überhaupt aufgetreten sein. Beim Auge des Menschen haben Hess und Heine den Nachweis erbracht, daß eine auf intraokulare Druckschwankung zurückzuführende Änderung der Blutfülle der Netzhautgefäße bei Accommodation nicht auftritt. Es wurde dazu die Pupille eines normalen Auges zunächst durch Homatropin erweitert, dann etwas Physostigmin eingeträufelt. In diesem Falle ist schon durch einen geringen Accommodationsimpuls maximale Kontraktion des Ciliarmuskels bei weiter Pupille und bei nur geringer Konvergenz zu erhalten, so daß die Beobachtung der Gefäße durch die weite Pupille leicht möglich ist und auch eine etwaige Druck- steigerung durch die Kontraktion äußerer Augenmuskeln ausgeschlossen ist. Zu beachten ist nämlich, daß die Konvergenz der Augen, welche bei der Accommodation auftritt, Ursache einer Druckzunahme durch Wirkung der äußeren Augenmuskeln sein kann. B. Mechanismus der Accommodation. Die Accommodation kommt zustande durch Kontraktion von Muskeln, die im Ciliarkörper liegen. Der Ciliarmuskel stellt im ganzen Umfang des Ciliar- körpers ein ringförmiges, im Querschnitt dreiseitiges Band dar. In ihm sind drei Züge von Muskelfasern zu unterscheiden: 1. Meridionale, die von dem Balkengewebe an der Innenwand des Schlemmschen Kanals aus bis zur Grenze der Chorioidea hinziehen (Brücke- scher Muskel). 2. Radiäre, die von jenem Balkengewebe: in mehr gerader radiärer Richtung gegen die Chorioidea hingehen. 3. Zirkuläre, die im inneren hinteren Teile des Ciliarkörpers liegen (Müllerscher Muskel). Die Funktion dieser Muskelfasern läßt sich aus ihrer anatomischen An- ordnung ableiten. Sie wirken derart, daß alle Teile des Ciliarkörpers horn- hautwärts, also nach vorn und gegen die Augenachse hin bewegt werden. ') Arch. f. Ophthalmol. 19, 156, 1873. — ?®) A. a. O. Mechanismus der Accommodation. 55 Ohne weiteres ist das verständlich bei den Meridional- und Radiärfasern, deren hintere Insertionen beweglich sind, weil die Chorioidea gegen die Sklera etwas verschiebbar ist. Durch den Muskelzug werden daher die hinteren Insertionspunkte gegen die vorderen festeren Insertionspunkte an der Hornhautgrenze bewegt. Aber auch der Müllersche Ringmuskel muß sich bei der Kontraktion nicht nur gegen die Augenachse zu, sondern auch nach vorn zu bewegen, aus folgendem Grunde: Wenn der Muskelring sich durch seine Kontraktion zu verkleinern und gegen die Augenachse hin zu bewegen sucht, so übt er einen Zug aus an der Ver- bindung, die durch den Ciliarkörper zwischen dem Muskelring einerseits, dem Hornhautrande und der Aderhaut anderseits gebildet wird. Die nach vorn gerichtete Verbindung mit dem Hornhautrande ist aber sehr viel kürzer und dicker, daher auch viel weniger nachgiebig als die nach hinten gerichtete Verbindung mit- der Aderhaut. Dem Muskelzug bietet daher die nach vorn gerichtete Verbindung einen stärkeren Widerstand als die nach hinten gerichtete; deshalb tritt eine Be- wegung des Muskels zugleich in der Richtung nach vorne auf. Die Richtigkeit der so aus den anatomischen Verhältnissen abgeleiteten Funktion der Muskeln ergibt sich aus den vorhin zitierten Befunden Heines (Siehe Fig. 6). Nach Iwanoff') ist der Ringmuskel besonders stark ausgebildet bei Über- sichtigen, weniger bei Kurzsichtigen. Dies dürfte in Zusammenhang stehen mit der Tatsache, daß der Übersichtige seinen Accommodationsapparat viel häufiger und stärker anstrengen muß als der Kurzsichtige. Die Linse ist aufgehängt und befestigt an der Zonula Zinnii, das sind Stränge, die meridional gerichtet an der Hinterseite des Ciliarkörpers und der Ciliarfortsätze einerseits, an der Linse anderseits angewachsen sind, und die in drei Gruppen einzuteilen sind: 1. vordere Stränge zur vorderen Linsenkapsel, 3 2. mittlere Stränge zum Linsenäquator, 3. hintere Stränge zur hinteren Linsenkapsel. Die an der vorderen Linsenkapsel inserierenden Zonulastränge kommen aus den Ciliartälern und von den hintersten Teilen des Ciliarkörpers her; die an der hinteren Linsenkapsel inserierenden Stränge entspringen dagegen weiter vorn vom Ciliarkörper und den Ciliarfortsätzen und kreuzen sich zum Teil mit den von hinten kommenden Faserbündeln. Die Theorien, welche zur Erklärung des Accommodalionsnndeikinigniine aufgestellt worden sind, sind in zwei Hauptgruppen einzuteilen: 1. Theorien, welche die Krümmungszunahme der Linse auf Entspannung der Zonula Zinnii zurückführen. 2. Theorien, welche die Krümmungszunahme der Linse auf Anspannung der Zonula Zinnii zurückführen. Die eepeEImgerhaarie stammt von Helmholtz?); sie sagt folgendes aus: „Die Kristalllinse ist ein elastischer Körper, der bei Entspannung der inneren Augenmuskeln durch den Zug der an ihrem Rande sich anheftenden Zonula in radialer Richtung gedehnt und daher in der Richtung ihrer Symmetrieachse etwas zusammengezogen ist .. . Die in der Richtung der Meridiane des Auges verlaufenden Radialfasern des Ciliarmuskels, welche am hinteren Ende der Ciliarfortsätze im Gewebe der Aderhaut endigen, werden bei ihrer Zusammenziehung das dort mit der Aderhaut und Glashaut fest verbundene hintere Ende der Zonula nach vorn ziehen und dadurch die ») Arch. f. Ophthalm. 15, 1, 1869. — ?) Physiol. Optik, 2 Aufl., 8. 136. 56 Accommodationstheorie. Spannung der Zonula und ihren Zug gegen die Peripherie der Linse aufheben müssen, so daß infolge davon die Linse in der Richtung ihrer Durchmesser sich zusammenziehen, in der Richtung ihrer Achse sich verdicken wird. Dadurch wird auch notwendig die Wölbung ihrer beiden Flächen vergrößert werden.“ Die Anspannungstheorie ist in neuerer Zeit hauptsächlich von Schön, sowie von Tscherning vertreten worden. Schön!) nimmt an, daß bei der Accommodation sich die Ringfasern und ein wenig die inneren Radiärfasern des Ciliarmuskels kontrahieren. Die Ciliarfortsätze sollen infolgedessen nach innen und hinten rücken; die vorderen Zonulafasern sollen dadurch etwas nach hinten gedrückt und gespannt werden, und diese Anspannung soll eine stärkere Krümmung der Linsenvorderfläche bewirken. — Nach Tscherning?) dagegen soll die tiefliegende Schicht des Brückeschen Muskels einen Zug an der Zonula nach hinten und außen ausüben; hierbei soll die Linse in ihrer Mitte mehr gewölbt werden unter gleichzeitiger Abflachung der Randpartien. Durch die oberflächlichen Schichten des Ciliarmuskels wird gleichzeitig die Aderhaut gespannt und etwas nach vorn gezogen, um ein Zurückweichen der Linse zu verhindern. . Der Entscheid zwischen beiden Theorien ist jetzt von Hess erbracht worden. Für die Entspannungstheorie und gegen die Anspannungstheorie sprechen folgende Tatsachen: 1. Das Phänomen des Linsenschlotterns und im Zusammenhang damit die Tatsache, daß der Glaskörperdruck bei der Accommodation nicht, wie die Anspannungstheorie verlangt, steigt. 2. Die am lebenden iridektomierten menschlichen Auge gemachte Beob- achtung, daß der Ciliarkörper bei Accommodation nach vorn rückt. Auch aus der anatomischen Anordnung der Ciliarmuskelfasern ergibt sich, daß der Ciliarkörper durch Kontraktion, sei es der inneren Radiärfasern, sei es der Ringfasern, nicht nach hinten, sondern nur nach vorn innen rücken kann, mithin die äußeren Insertionen der Zonulafasern den inneren genähert werden. Die Ansicht Schöns, daß der sich kontrahierende Ringmuskel nach hinten rückt, und ebenso die Ansicht Tsehernings, daß die inneren Teile des Ciliarkörpers nach hinten und außen rücken, muß als irrig bezeichnet werden, weil die Teile des Ciliarkörpers, die die Verbindung seines hinteren inneren Teiles mit dem Hornhautrande darstellen, nicht die für eine aus- giebige Rückwärtsbewegung notwendige Nachgiebigkeit haben können. Übrigens haben Nicolai®), sowie Suter?) auch die Richtigkeit der Angaben Tschernings nicht bestätigen können, daß durch vermehrte Anspannung der Zonula die Linsenvorderfläche ihre Krümmung in der Mitte verstärke, am Rande verkleinere°). Die Elastizität, die der Linse im Sinne der Entspannungstheorie zukommt, verdankt sie hauptsächlich ihrer Kapsel. Die Linsenschichten unter der 1) Pflügers Archiv 59 (1895). — ?) Optique physiologique, Paris 1897. Über die Geschichte der Accommodationstheorie siehe bei Helmholtz a. a. O0. — °) Ann. d’oculist. 124 (1900). — *) Arch. f. Augenheilk. 45 (1902). — °) Während der Korrektur des vorliegenden Aufsatzes erhalte ich durch die Güte des Herrn Pro- fessor ©. Hess Einsicht in eine demnächst in den „Monatsblätter für Augenheilk.“ erscheinende Abhandlung, in welcher er berichtet, daß er im Gegenteil beim Affen- auge die Linsenwölbung bei Zug an der Zonula abnehmen sah. Maß der Accommodation. 57 Kapsel haben eine schleimige Konsistenz und deshalb kein Bestreben, Eigen- form anzunehmen. Schweigger!) hat darauf aufmerksam gemacht, daß sogar Linsen mit verflüssigtem Inhalte der Kugelform zustreben, wenn keine äußere Kraft auf sie einwirkt. Die Spannung der Zonula im ruhenden Auge erfolgt nach der Ansicht Helmholtz’ so, daß Linse, Zonula und Aderhaut eine geschlossene, vom Glaskörper prall gefüllte Kapsel bilden und daß die Spannung dieser Teile durch den Druck im Augeninnern unterhalten werde. Dieser Teil der Helmholtzschen Theorie ist unhaltbar, erstens weil aus den Beobachtungen von Hess und Heine?) zu folgern ist, daß die Accommodation bei unverändertem Glaskörperdruck vor sich geht, während nach der Helmholtz- schen Theorie jener Druck abnehmen müßte, zweitens, weil Beer’) am enukleierten Affenauge und Heine am Menschenauge beobachtet haben, daß eine Accommodation durch Reizung des Ciliarmuskels noch möglich ist, wenn in die hintere Augenwand ein Loch eingeschnitten ist, mithin der Glaskörper- druck gleich Null geworden ist. Mithin muß die Spannung der Aderhaut und der Zonulafasern in der Art*der Entwickelung und Befestigung dieser Gebilde begründet sein. Daß an der Gestaltveränderung der Linse durch Anspannung oder Entspannung der Zonula fast nur die vordere Linsenfläche beteiligt ist, ist wohl darauf zurückzuführen, daß infolge der Art der Anordnung der Zonula- fasern die Aderhautspannung sich hauptsächlich auf die an der vorderen Linsenkapsel anheftenden Zonulafasern überträgt, welche am meisten in die Richtung fallen, in der die Aderhaut an der Zonula einen Zug ausübt. C. Maß der Accommodation. Durch die Accommodation ändert sich die Lage der Kardinalpunkte des ' Auges. Für die oben angegebene Änderung der Linsenkrümmung im normalen jugendlichen Auge bei stärkster Accommodation tritt eine Verlagerung der Hauptpunkte nach hinten von etwas über 0,1 mm, eine Verlagerung der Knotenpunkte nach vorn von etwas weniger als 0,5 mm ein, so daß nun ein reduziertes Auge resultiert, dessen Radius rund 4,5 mm beträgt und dessen Fläche nur wenig hinter der Fläche des reduzierten, nicht accommo- dierten Auges liegt. Der vordere Brennpunkt liegt 14mm vor, der hintere 18,5 mm hinter dem Hauptpunkt. Auf der Netzhaut entstehen in diesem Falle scharfe Bilder von Gegenständen, die in etwa 0,12 m Entfernung vor dem Auge stehen. Den auf der optischen Achse in dieser Entfernung gelegenen Punkt, auf den das Auge jetzt eingestellt ist, nennen wir Nahepunkt. Die Strecke zwischen Fernpunkt und Nahepunkt heißt Accommo- dationsgebiet, sie umfaßt alle Punkte, auf die das Auge sich ein- stellen kann. i Durch die Accommodation wird die Brechkraft des Auges verstärkt, so daß jetzt Strahlen, die divergent einfallen, doch noch so gebrochen werden, daß sie sich auf der Netzhaut zu einem Bilde vereinigen. Der Betrag, um !) Arch f. Augenheilk. 30, 276, 1895. — ?) A. a. O. — °) Wien. klin. Wochen- schrift 1898. 58 Accommodationskraft. den die Brechkraft des Auges verstärkt wird durch möglichst starke Accom- modation, heißt Accommodationskraft!). Die Accommodationskraft,- die eine der Brechkraft gleichartige Größe ist, muß in Dioptrien gemessen werden können; sie ist gleich der Brechkraft eines Systems, welches die Konvergenz der Nahepunktstrahlen um so viel vergrößert, daß sie gleich der Konvergenz der Fernpunktstrahlen wird. Weil nämlich wegen der gleichen Lage des Bildpunktes und der nahezu gleichen Lage des Hauptpunktes die Bildabstände, mithin auch die Konvergenzen der gebrochenen Strahlen im ruhenden und accommodierten Auge gleich sind, so "muß die Konvergenz der Fernpunktstrahlen, vermehrt um die Brechkraft des ruhenden Auges, gleich sein der Konvergenz der Nahepunktstrahlen, vermehrt um diese Brechkraft plus der Accommodationskraft. Bezeichnen wir die Accommodationskraft mit A, die Konvergenz der Fernpunktstrahlen mit F, die der Nahepunktstrahlen mit N, so ist: A=F-—N. F und N sind direkt gleich den reziproken Werten des Fernpunktes und Nahepunktes zu setzen, weil die beiden Punkte in einem Medium vom Brechungsindex 1 stehen. N ist ein negativer Wert für das emmetrope Auge; da hierfür F = BE und falls das Auge jugendlich ist, N — BB @ (—0,12) so folgt: 1 N i A= — o. — 8,5 Dioptrien. @ (—0,12) In analoger Weise wird die Accommodationskraft bei den Ametropien berechnet; hierbei ist zu beachten, daß bei Myopie sowohl N, wie auch F negativ sind; für Hypermetropie dagegen hat F immer einen positiven end- lichen Wert, bei starker Hypermetropie kann sogar N positiv werden. Beachtenswert ist, daß für verschiedene Refraktionszustände der ruhenden Augen bei gleich großer Acecommodationskraft das Accommodationsgebiet verschieden groß ist. Durch Vorsetzen von Korrektionsgläsern wird die so Ausgedrückte Accommo- dationskraft geändert, und zwar durch Konkavgläser vergrößert, durch Konvexgläser verkleinert. Es ist das bedingt durch denselben Umstand, der auch die Unterschiede zwischen dem Ametropiegrad und dem dazu gehörigen Korrektionswert bedingt. Nach den Beobachtungen von Hess über das Linsenschlottern bei starker Accommodation ergibt sich betreffis des Nahepunktes noch folgendes: Das Auge hat nicht maximale Ciliarmuskelkontraktion nötig, um der Linse die größtmögliche Wölbung zu geben; es entspricht daher der Ein- stellung auf den Nahepunkt nicht maximale Ciliarmuskelkontraktion. Die Begriffe „Accommodation“ und „Ciliarmuskelkontraktion“ sind daher streng zu scheiden. Zur Unterscheidung dieser Begriffe hat Hess besondere Bezeichnungen für die Accommodationsleistung bei Einstellung auf den Nahepunkt und für !) Von den meisten Autoren wird diese Größe sonst Accommodationsbreite genannt, da aber andere unter Accommodationsbreite das verstehen, was wir Accommodationsgebiet nennen, so ist der Ausdruck Accommodationsbreite vielleicht besser zu vermeiden, zumal da der Begriff der Accommodationskraft gleichartig ist mit dem Begriff der Brechkraft. Manifeste und latente Accommodationskraft. 59 maximale Ciliarmuskelkontraktion eingeführt. Physikalischen oder manifesten Nahepunkt nennt er den Punkt, auf den das Auge bei vollständig entspannter .„Zonula, also größtmöglicher Linsenwölbung eingestellt ist. Physiologischen oder latenten Nahepunkt nennt er den Punkt, auf den das Auge bei maximaler willkürlicher Ciliarmuskelkontraktion eingestellt sein würde, wenn das Be- streben der Linse, Kugelgestalt anzunehmen, unbegrenzt wäre. Eine Bestimmung des latenten Nahepunktes mit den bisher bekannten Methoden ist nicht möglich (siehe unten). Dementsprechend ist auch zwischen manifester und latenter Accommo- dationskraft zu unterscheiden; beide zusammen stellen die totale Accommo-. dationskraft dar. Mit zunehmendem Alter entfernt sich der manifeste Nahepunkt immer mehr von dem Auge, weil die äußeren Linsenschichten hart, die Linse daher starr wird und dadurch allmählich das Bestreben, bei Entspannung Kugelgestalt anzunehmen, verliert. Es ist nicht wahrscheinlich, daß zugleich und in gleichem Maße auch die kontraktile Kraft des Ciliarmuskels schwächer wird. Es wird daher die totale Accommodationskraft mit zunehmendem Alter nicht wesent- lich kleiner werden; entsprechend der Abnahme der manifesten Accommo- dationskraft wird daher die latente zunehmen. Die nachfolgende Übersicht gibt die Abnahme der manifesten Accommodations- kraft an: Im Alter von 10 Jahren beträgt die manifeste Accommodationskraft 14,0 Dioptrien n n » 20 n n n n n 10,0 ”» n 2 » 30 n ” n» n n 7,0 n ” > n n 40 n n n n n 4,5 n ”» n » 50 n n n n n 2,5 ” ” n n 60 n n n n n 1,0 n » » » 0 n n » n = 0,3 R n n n 80 n n n n n 0,0 n Die Beschwerden beim Nahesehen, die durch die Abnahme der mani- festen Accommodationskraft im Alter bedingt sind, nennt man Presbyopie. Eine kindliche Linse hat in entspanntem Zustande nahezu kugelige Gestalt, die Greisenlinse dagegen hat stark abgeplattete Form. Durch Zug von außen her ist die weiche Kinderlinse leicht zu deformieren, die starre Greisenlinse nicht. Beim Greise wird schon eine geringe Ciliarmuskelkontraktion völlige Entspannung der Zonula zur Folge haben; das Hervorrufen der überhaupt möglichen Wölbungsvermehrung der Linse erfordert daher beim Greise nicht mehr Muskelkraft, als dieselbe Wölbungsvermehrung auch schon in der Jugend erfordert. Mit der Veränderung der Linse im Alter hängt auch das Herausrücken des Fernpunktes zusammen (siehe S. 49). Die Ursache dieser Erscheinung liegt in der Zunahme des Brechungsindex der äußeren Linsenschichten. Bei angestrengter Accommodation wird infolge des Linsenschlotterns die Linse der Hornhaut näher liegen, wenn der Kopf vornüber nach unten geneigt wird, als wenn er rückwärts geneigt wird. Hess hat beobachtet, daß dementsprechend eine Verlagerung des Nahepunktes eintritt; messende Versuche ergaben, daß die Refraktion des accommodierten Auges bei gesenktem Kopfe um 0,34 bis 0,43 Dioptrien höher war als bei gehobenem Kopfe; daraus läßt sich berechnen, daß in ersterem Falle die Linse der Hornhaut um 0,15 mm näher liegt als in letzterem. 60 Innervation des Accommodationsmuskels. Bestimmung des Nahepunktes und Fernpunktes. Den Nahepunkt bestimmt man meist so, daß man feine Druckschrift dem Auge nähert, bis sie auch bei stärkster Accommodationsanstrengung eben anfängt un- deutlich zu erscheinen. Diese Methode ist jedoch ungenau, weil es nicht leicht ist anzugeben, wann ein Objekt gerade noch mit scharfen Konturen gesehen wird, und weil die Bestimmung auch abhängt von einer Reihe von Nebenumständen (relative Größe des Objekts, Helligkeitsunterschied zwischen Objekt und Grund, Pupillenweite). Genauere Bestimmungen lassen sich machen mittels der Optometer nach dem Prinzip des Scheinerschen Versuches, wobei ein kleines punkt- oder linienförmiges Objekt beobachtet wird durch zwei kleine Löcher oder Spalten in einem Schirm. Ist das Auge auf das Objekt eingestellt, so sieht es dasselbe einfach; ist das Auge nicht eingestellt, so wird das Objekt doppelt gesehen. Fernpunktsbestimmungen lassen sich auch bei Beobachtung eines nahen Ob- jektes mit dem Optometer machen dadurch, daß zwischen Objekt und Auge eine Sammellinse von solcher Stärke und in solcher Lage aufgestellt wird, daß durch die Brechung in der Sammellinse die Konvergenz der vom Objekt ausgehenden Strahlen der Konvergenz der Fernpunktsstrahlen gleich gemacht wird. Eine Lähmung des Accommodationsmuskels kommt erst dann optisch zum Ausdruck, wenn sie so groß ist, daß der Muskel die Zonula nicht mehr ganz zu entspannen imstande ist, wenn also die durch die Lähmung bedingte Herabsetzung der Accommodationskraft größer ist als die latente. Die Lähmung ist also um so weniger leicht nachzuweisen, je älter das Individuum ist. Bei Hypermetropie wird auch zum Sehen in die Ferne die Accommodation nicht entspannt; infolgedessen tritt eine solche Gewöhnung des Auges an die Accommodationsanstrengung ein, daß, selbst wenn Konvexgläser vorgesetzt werden, die ein deutliches Sehen in die Ferne ohne Accommodation ermöglichen, wenigstens im Anfang noch die Kontraktion des Accommodationsmuskels erfolgt. Das ist bei der Bestimmung des Fernpunktes der Hypermetropen zu berücksichtigen. Man nennt den Teil der Hypermetropie, der gefunden wird bei der üblichen Sehprüfung mit dem stärksten Konvexglase, das die beste Sehschärfe für die Ferne gibt, mani- feste Hypermetropie. Latente Hypermetropie heißt der Teil, der bei Prüfung mit Gläsern infolge mangelhafter Erschlaffung des Accommodationsmuskels nicht auf- gegeben wird. Totale Hypermetropie heißt die Summe der manifesten und latenten. Im Dunklen wird der Accommodationsmuskel ganz entspannt. Künstlich läßt sich die Entspannung herbeiführen durch Einträufelung mancher Gifte, z. B. Atropin. D. Innervation des Accommodationsmuskels. Der Accommodationsmuskel wird vom Nervus oculomotorius innerviert. Das Kerngebiet der zum Accommodationsmuskel hinziehenden Fasern wird. in den vorderen medialen Kern des Oculomotorius verlegt. Hensen und Völckers!) erhielten auf künstliche Reizung dieser Stelle bei Hunden Accommodation. Die Oculomotoriusfasern für den Accommodationsmuskel endigen zunächst in Zellen des Ciliarganglions, von da gehen die Bahnen in den kurzen Ciliarnerven weiter ins Augeninnere und zum Muskel. Der Nachweis, daß im Ciliarganglion Zellen in diese Bahnen eingeschaltet sind, ist von Langley und Anderson?) erbracht durch folgenden Versuch: Bei Katzen und Kaninchen blieb die nach künstlicher Reizung des Oculomotoriusstammes zu erhaltende Ciliarmuskelkontraktion aus, wenn die Tiere mit Nikotin vergiftet wurden, welches lähmend nur auf die Ganglienzellen, nicht auf Nervenfasern wirkt. Reizung der kurzen Ciliarnerven löste alsdann noch Kontraktion des Ciliarmuskels aus. ') Arch. f. Ophthalmol. 24 (1878). — °) Journ. of pbysiol. 13 (1892). Ve A Innervation des Accommodationsmuskels. 61 Daß man durch Reizung der kurzen Ciliarnerven künstlich Accommodation hervorrufen kann, haben Hensen und Völckers!) zuerst gezeigt. Die Innervation des Accommodationsmuskels geschieht derart, daß alle Teile des Muskels auf beiden Seiten immer gleichzeitig und gleich stark erregt werden. Der Nachweis des Vorkommens einer ungleich starken Kontraktion verschie- dener Ciliarmuskelpartien ein und desselben Auges würde für die praktische Augen- heilkunde von großem Interesse sein, weil partielle Ciliarmuskelkontraktion zur Korrektion des Hornhautastigmatismus dienen könnte. Deshalb ist von augen- ärztlicher Seite oft untersucht worden, ob dieselbe vorkommt. Ältere Autoren. welche mit fehlerhaften Methoden untersucht haben, haben geglaubt, partielle Ciliarmuskelkontraktion beobachtet zu haben... Doch ist auf Grund der Kritik, die in neuerer Zeit an den älteren Beobachtungen geübt wurde, und insbesondere auf Grund neuerer sorgfältiger Beobachtungen von Hess die ältere Lehre dahin zu be- richtigen, daß partielle Ciliarmuskelkontraktion zum Ausgleich des Astigmatismus nicht vorkommt. Hess”) ließ seine Versuchspersonen zwei sich rechtwinklig kreuzende Kokonfäden beobachten, von welchen jeder für sich dem Auge genähert oder von ihm entfernt werden konnte.. Durch Veränderungen des Abstandes der Fäden von- einander konnte die Deutlichkeit, in der ein jeder der beiden Fäden gesehen werden konnte, variiert werden. Es wurde nun bei Astigmatismus und bei künstlich astigmatisch gemachten Emmetropen ermittelt, innerhalb welcher Grenzen der eine Faden gegen den anderen verschoben werden konnte, ohne daß einer der beiden Fäden undeutlich erschien. Mit dieser Methode ließ sich keine merkliche partielle Ciliarmuskelkontraktion nachweisen, denn schon eine Abweichung von der scharfen Einstellung um 0,12 Dioptrien wurde bemerkt. Auch die Frage, ob ungleiche Accommodation auf beiden Augen möglich sei, ist von großem praktischen Interesse, weil durch solche ungleiche Accommodation ein _Ausgleich von verschiedenen Refraktionszuständen beider Augen herbeigeführt werden könnte. In neuerer Zeit ist die Ansicht, daß ungleiche Accommodation möglich sei, besonders von Schneller°) und A. E. Fick) vertreten worden, welche angeben, daß man beim Lesen von feiner Schrift durch Vorsetzen eines Konvex- oder Konkavglases von mehr als einer Dioptrie vor ein Auge doch noch mit beiden Augen deutlich sieht. Hess’) dagegen behauptet, daß in diesem Falle Sehen in Zerstreuungskreisen sowie Wettstreit der Sehfelder die Beobachtung unsicher mache; in messenden Versuchen, die er zusammen mit Neumann an dem Heringschen Spiegelhaploskop anstellte, fand er, daß Emmetrope nicht imstande sind, eine künstlich geschaffene Refraktionsdifferenz von auch nur 0,12 Dioptrien im Interesse des Deutlichsehens mit beiden Augen durch ungleiche Accommodation auszugleichen. In der neueren augenärztlichen Literatur finden sich von verschiedener Seite auch Angaben, daß bei Anisometropien, sowie sogar in Fällen, wo ein Auge schielt oder erblindet ist, die Accommodation beiderseits gleich groß ist. Nach Morat und Doyon‘) soll der Sympathicus Hemmungsnerv für die Accommodation sein und Einstellung für die Ferne bewirken, da bei Reizung desselben eine Vergrößerung des vorderen Linsenbildchens, nach Durchschneiden eine Verkleinerung auftrete. Langley und Anderson’), sowie Hess und Heine‘), später auch Römer und Dufour’) haben diese Angaben nicht bestätigen können. Terrien und Camus!®) wollen sogar eine Zunahme der Refraktion bei Sym- pathicusreizung gefunden haben. Begleiterscheinungen der Accommodation sind Konvergenzbewe- gungen beider Augen und Pupillenverengerung. Diese Bewegungen ») A. a. 0. — ?) Arch. f. Ophthalmol. 42 (1896). — *) Ebenda 16 (1870) und 38 (1892). — *) Arch. f. Augenheilk. 19 (1888) u. Arch. f. Ophthalmol. 38 (1892). — 5) Arch. f. Ophthalmol. 38 (1892). — °) Arch. de Physiol. 3, ser. V (1891). — 7) Journ. of. physiol. 13 (1892). — ®) A. a. O. — °) Arch. f. Ophthalmol. 54 (1902). — 1%) Arch. d’ophthalmol. 22 (1902). 62 Konvergenzbewegung bei Accommodation. werden also ausgelöst von einem Koordinationszentrum, von dem aus gleich- zeitig Ciliarmuskeln, Recti interni und Sphincteres pupillae der beiden Seiten innerviert werden. Der Zusammenhang zwischen Accommodation und Konvergenz ist kein unauflöslicher.. Man kann bei einem gegebenen Konvergenzgrade den Accommodationsgrad innerhalb gewisser Grenzen verändern; man kann anderseits bei gegebenem Accommodationsgrad auch den Konvergenzgrad innerhalb gewisser Grenzen verändern. Relative Accommodationskraft nennt man den Umfang der bei einem gegebenen Konvergenzgrad möglichen Veränderung der Accommodation des Auges, absolute Accommodationskraft heißt der Umfang der größten bei wechselnder Konvergenz möglichen Accommodation. Dementsprechend unter- scheiden wir auch zwischen relativem und absolutem Fern- und Nahepunkt. Die zur Fixation eines Gegenstandes notwendige Vermehrung oder Ver- minderung der Konvergenz erfolgt durch Augenbewegungen, die wir zu den Fusionsbewegungen rechnen. Konvergenznahepunkt ist der Punkt, in dem die Gesichtslinien bei möglichst starker Konvergenz, Konvergenzfernpunkt der . Punkt, in dem die Gesichtslinien bei möglichst geringer Konvergenz sich schneiden. Konvergenzgebiet ist der Abstand des Konvergenzfernpunktes vom Konvergenznahepunkt; das Konvergenzgebiet kann mehr oder weniger negativ sein, das ist der Fall, wenn die Gesichtslinien nach vorn divergieren, ihr Schnittpunkt also hinter den Augen liegt. Die Leistung des binokularen Konvergenzapparates bei Einstellung auf den Konvergenznahepunkt kann ausgedrückt werden durch die ablenkende Kraft eines Prismas, welches, dicht vor das Auge gehalten, das gleiche leistet wie der stärkste Konvergenzimpuls. Wir bezeichnen diese Kraft daher als Konvergenzkraft!). Als Maß für die Größe der Konvergenzbewegung des Auges können wir auch den Winkel benutzen, um den sich die Blicklinie, das ist die vom fixierten Punkt zum Drehpunkt des Auges gezogene Gerade, dreht bei Über- gang aus der Einstellung auf den Konvergenzfernpunkt in die Einstellung auf den zu fixierenden Punkt. In der augenärztlichen Literatur wird oft als Konvergenzmaß der Meterwinkel benutzt, das ist der Drehungswinkel, der zur Fixierung eines Im vom Auge ent- fernten Punktes notwendig ist. Für nicht zu große Drehungswinkel ist der Meter- winkel proportional dem reziproken Werte des Abstandes des fixierten Punktes vom Auge. Der Meterwinkel ist freilich keine absolute Maßeinheit; er hängt von dem Abstand der beiden Augen voneinander ab; er ist um so größer, je größer diese Augendistanz ist. Entsprechend der absoluten und relativen Accommodationskraft usw. unterscheiden wir auch eine absolute und relative Konvergenzkraft, einen absoluten und relativen Konvergenzfern- und -nahepunkt. !) Auch Konvergenzbreite genannt. In der augenärztlichen Literatur haben sich vielfach auch die Ausdrücke „Fusionsfernpunkt, Fusionsnahepunkt, Fusions- kraft“ statt der hier gebrauchten „Konvergenzfernpunkt“ usw. eingebürgert. Ich vermeide die ersteren Ausdrücke, weil die Konvergenzbewegungen nicht die einzigen Fusionsbewegungen sind, mithin der Begriff Fusionskraft nicht identisch ist mit Konvergenzkraft. Von einer Fusionskraft kann man auch bei den Hebungen, Senkungen und Rollungen des Auges sprechen. Konvergenzbewegung bei Accommodation. 63 Der Nachweis, daß der Grad der Accommodation und ‘der Konvergenz bis zu einem gewissen Grade unabhängig voneinander sind, und die Bestimmung der rela- tiven Accommodationskraft bzw. Konvergenzkraft ist in folgender Weise zu erhalten: Man fixiere einen in bestimmter Entfernung befindlichen Punkt und bringe dann vor beide Augen schwache Konvex- oder Konkavgläser: man kann dann auch durch die Gläser den fixierten Punkt noch scharf sehen. Das stärkste Konvex- bzw. Konkavglas, durch das dann der Punkt noch scharf gesehen wird, ergibt die Lage des relativen Fern- und Nahepunktes,. Aber man kann den Punkt auch noch einfach sehen, wenn man vor die Augen Prismen mit den brechenden Kanten nach innen oder außen setzt und so eine Mehrung oder Minderung der Konvergenz bei gleichbleibender Accommodation bewirkt. Die stärksten Prismen, mit denen noch. einfach und scharf gesehen wird, geben das Maß für den relativen Konvergenznahe- und -fernpunkt. ; Geübte Personen vermögen auch ohne Hilfsmittel die Konvergenz und Accom- modation bis zu einem gewissen Grade zu lösen. Genauere Untersuchungen sind anzustellen mit dem Spiegelhaploskop von Hering. Bei dem Apparate finden sich vor jeder Gesichtslinie kleine geneigte Spiegel, die die Strahlen von den seitlich stehenden beiden Sehobjekten in die Augen werfen. Jedem Auge wird so ein besonderes Gesichtsfeld dargeboten, der Inhalt der beiden Gesichtsfelder wird binokular vereinigt. Die Accommodation bei gleich- bleibender Konvergenz ist zu ändern durch Annähern oder Entfernen der Sehobjekte gegen die Spiegel. Die Konvergenz bei gleichbleibender Accommodation ist zu ändern durch Drehung jedes Spiegels zusammen mit seinem Sehobjekt um eine senkrechte Achse. Die Drehung erfolgt so, daß weder die Lage des Sehobjekts zum Spiegel, noch die Lage der Mitte des Spiegels zum Drehpunkte des Auges dabei sich ändert. Dieses Haploskop hat den Vorzug, daß die Accommodation, bzw. Konvergenz nicht sprungweise (wie.bei Vorsetzen von Gläsern) sich ändert, sondern allmählich. ’ “ Genaue Bestimmungen der in der Medianebene gelegenen relativen Nah- und Fernpunkte sind in neuester Zeit von Hess!) vorgenommen worden. Das Ergebnis derselben läßt sich in folgender Weise veranschaulichen: Man benutzt ein Fig. 7. rechtwinkliges Koordi- 187 Ya natensystem (Fig. 7), ge L dessen Abszissen Kon- y= HE vergenzgrade, in Dre- 14- A £ hungswinkel gemessen, al 7 e F dessen Ördinaten die ei 5 reziproken Werte der Ab- 10- / : va stände der Punkte, auf die sich die Augen ein- er stellen, bedeuten. Die Or- 6+- dinatenhöhen, gemessen il von der dem absoluten Fernpunkt entsprechen- 2- den Höhe aus, geben in diesem Falle auch u br a ohne weiteresden Accom- —2- moaemmegra m Dip _ | , , 0 1 trien an. In diesesKoor-- 20-10 0° 10° 20° 30° 0° 50° 60° 70° 80° 80° !) Siehe die Übersicht über dieses Gebiet bei Hess im Handb. d. Augenheilk. von Graefe-Saemisch, 2. Aufl. 64 Konvergenzbewegung bei Accommodation. dinatensystem werden nun zwei Kurven eingetragen, von denen die eine die Abhängigkeit der relativen Accommodationsnahepunkte, die andere die der relativen Accommodationsfernpunkte von dem Konvergenzgrade aus- drückt, oder auch von denen die eine die Abhängigkeit der relativen Kon- vergenznahepunkte, die andere die der relativen Konvergenzfernpunkte von dem Accommodationsgrade veranschaulicht. Da übrigens die Einstellung auf den relativen Nahepunkt nicht hinausgehen kann über die Einstellung auf den absoluten manifesten Nahepunkt, so geht die Nahepunktskurve, die zunächst geradlinig ansteigt, bei der Ordinatenhöhe, die dem absoluten Accommodationsnahepunkt entspricht, mit einem Knick in eine Horizontale über; diese Horizontale trifft mit der Kurve der Fernpunktseinstellungen zu- sammen, welch letztere in ihrem letzten Stück auch horizontal verläuft. Und da ferner die relative Fernpunktseinstellung nicht über die absolute hinaus- gehen kann, so beginnt die Kurve der Fernpunkte mit einer beim emmetropen Auge in die Abszissenachse fallenden Horizontalen, die nachher mit einem Knick geradlinig ansteigt. In Fig. 7 ist p pı rı P die Kurve der relativen Nahepunkte, p r r, P die der relativen Fernpunkte für ein emmetropes Auge. Die Nahepunktskurve beginnt schon links von dem Nullpunkt des Koordinatensystems. Das liegt daran, daß der Konvergenzfernpunkt des normalen Auges in endlicher Entfernung hinter dem Auge liegt: ein normales Augenpaar kann eine Divergenz der Gesichtslinien von etwa 5 bis 6° auf- bringen. Der senkrechte Abstand der beiden Kurven voneinander gibt die relative Accommodationskraft an für den dem zugehörigen Abszissenpunkt zu- kommenden Konvergenzwert. Es zeigt sich, daß die relative Accommodations- kraft mit zunehmender Konvergenz zunächst von Null an zunimmt bis zu neun Dioptrien (bei 22° Konvergenzwinkel), dann für ein kurzes Stück konstant bleibt und danach wieder bis Null abnimmt. Die horizontale Ent- fernung der Kurven voneinander gibt die relative Konvergenzkraft für die dem entsprechenden Ordinatenwert zukommende Accommodationsanstrengung an; die relative Konvergenzkraft hat für alle Accommodationsgrade innerhalb des Bereiches der manifesten Accommodation gleiche Größe. Der Spielraum, innerhalb dessen die Konvergenz von der zugehörigen Accommodation gelöst werden kann, ist im wesentlichen unabhängig von der absoluten Größe der Accommodation. In Fig. 7 hat die Linie cc, welche .Konvergenzlinie genannt wird, die Bedeutung, daß die ihr zugehörigen Abszissen und Ordinaten solche Werte von Konvergenz und Accommodation ausdrücken, welche beim ungestörten Sehen von Gegenständen in der Medianebene durch das emmetrope Auge geleistet werden. Den Teil der relativen Accommodationskraft, der oberhalb der Konver- genzlinie liegt, das ist die bei gegebener Konvergenz durch Steigerung der Ciliarmuskelkontraktion noch mögliche Refraktionserhöhung, nennen wir den positiven Teil; den unter der Konvergenzlinie liegenden Teil, das ist die unter gleichen Umständen durch Ciliarmuskelentspannung noch mögliche Refraktions- verminderung, nennen wir den negativen Teil der relativen Accommodations- kraft. Entsprechend bezeichnen wir auch die links und rechts von der Konvergenzlinie liegenden Teile der relativen Konvergenzkraft als negativen bzw. positiven Teil. 4 A Konvergenzbewegung bei Accommodation. 65 Die aufgestellte Gesetzmäßigkeit hat wahrscheinlich auch noch im Bereiche der latenten Accommodation Gültigkeit. In den Kurven wird dies dadurch zur Anschauung gebracht, daß die Linien pp, und rr, nach rechts oben über die Nahepunktshorizontale hinaus verlängert sind in Form der gestrichelten Linien, welche die latenten relativen Nahe- und Fernpunkte an- geben. Das Gebiet zwischen der Nahepunktshorizontalen und den gestrichelten Linien ist das der latenten Accommodation. Die Abnahme der absoluten Accommodationskraft im Alter kommt in solchen Kurven darin zum Ausdruck, daß erstens die Nahepunktshorizontale immer tiefer herabrückt, um schließlich mit der Fernpunktshorizontalen zu- sammenzufallen, welch letztere auch etwas tiefer rückt. Außerdem nähert sich im Alter sowohl die Linie der relativen Fern- punkte, als auch die der relativen Nahepunkte der Konvergenzlinie; das heißt die relative Konvergenzkraft ist im Alter kleiner als in der Jugend. Das Verhältnis des positiven zum negativen Teil der relativen Accommodations- kraft ändert sich im Alter nicht merklich. Bei Hypermetropie liegen die beiden Kurven mehr nach rechts unten als bei Emmetropie. Bei höheren Graden der Hypermetropie liegt sogar die Nahepunktskurve rechts unten von der Konvergenzlinie, d.h. die Augen sind in diesem Falle ohne Korrektion auch bei stärkster Accommodation nicht imstande, binokular scharf und einfach zu sehen. Bei Myopie dagegen liegen die beiden Kurven mehr nach links oben als bei Emmetropie. Bei höheren Graden der Myopie liegt sogar die Fernpunkts- kurve links oben von der Konvergenzlinie, d. h. die Augen sind in diesem Falle ohne Korrektion auch bei schwächster Accommodation nicht im- stande, binokular scharf und einfach zu sehen. Das bisher Gesagte gilt für Fixation eines Punktes in der Medianebene, d. h. für symmetrische Konvergenz. Bei Fixation eines seitwärts gelegenen Punktes, d. h. bei unsymmetrischer Konvergenz bleibt doch die Accommo- dation beiderseits gleich, so daß nur ein Auge ein deutliches Bild bekommen kann, das andere sieht in Zerstreuungskreisen. Hering hat gezeigt, daß gewöhnlich das Auge sich auf das Objekt einstellt, welches auf derselben Seite wie das Objekt liegt. Unokularen Nahepunkt nennt man den Punkt, der bei verdecktem einen Auge und möglichst starker Konvergenz und Accommodation noch deutlich ge- sehen wird. Binokularer Nahepunkt heißt der Punkt, der beim Binokularsehen, also im allgemeinen mit geringerer Konvergenz der Blicklinien noch deutlich ge- sehen wird. Während bisher angenommen wurde, daß der binokulare Nahe- punkt wegen der geringeren möglichen Konvergenz beim Binokularsehen weiter entfernt als der unokulare liege, hat Hess!) gezeigt, daß beide Punkte gleich weit vom Auge entfernt sind. Die frühere Anschauung basiert auf der nicht mehr haltbaren Voraussetzung, daß die Nahepunktseinstellung maximaler Ciliarmuskelkontraktion entspreche. Beim Sehen seitwärts liegt der binokular- Nahepunkt weiter von den Augen entfernt als bei symmetrischer Konvergenz 2). Die Tatsache, daß Accommodation und Konvergenz wenigstens bis zu einem gewissen Grade unabhängig voneinander sind, ist besonders beachtense ») A. a. O0. — ?) Koster, Arch. f. Ophthalmol. 42 (1896). Nagel, Physiologie des Menschen. II. , 5 66 Konvergenzbewegung bei Accommodation. wert, weil sie lehrt, daß in dem Koordinationszentrum der die Konvergenz- muskeln beherrschende Teil und der die Accommodationsmuskeln be- herrschende Teil bis zu einem gewissen Grade unabhängig voneinander erregt werden, daß also nicht die Erregung des einen Teiles primär erfolgt und von da aus erst der andere Teil sekundär erregt wird. Es müssen demnach vom Großhirn aus Erregungen den beiden Teilen gesondert zugeleitet werden können. Anderseits besteht aber doch eine solche funktionelle Verknüpfung dieser Teile, daß die Erregung des einen wenigstens bis zu einem gewissen Grade Erregung des anderen zur Folge hat und umgekehrt. Es fragt sich, ob diese funktionelle Verknüpfung im Laufe des Lebens des Individuums erworben oder schon angeboren ist. Diese Frage ist von verschiedenen Autoren verschieden beantwortet worden. Volcekmann, sowie Helmholtz halten diese Verknüpfung für ein im individuellen Leben erworbenes Ergebnis fortgesetzter Einübung, Hering dagegen hält sie für angeboren. Zur Stütze seiner Auffassung hat Hering!) darauf aufmerksam gemacht, daß schon bei Neugeborenen assoziierte Augenbewegungen zu beobachten sind. Dasselbe geben auch Rählmann und Witkowsky?2), sowie Donders und Engel- mann’) an. Außerdem führt Hering für seine Auffassung an, daß bei höherem Grade der Hypermetropie der Zusammenhang zwischen Accommodation und Konvergenz nicht mehr in dem Grade gelöst werden kann, wie es für ein scharfes binokulares Einfachsehen erforderlich ist; es ist nicht denkbar, wie sich beim Kinde diese unzweckmäßige Assoziation ausbilden kann, wenn es dem Kinde von vornherein frei gestanden hätte, den Accommodations- und Konvergenzapparat unabhängig voneinander zu gebrauchen. Das anatomische Substrat für die funktionelle Verknüpfung der Teile des Koordinationszentrums ist in zentralen Verbindungen der Kerne der Augenmuskel- nerven zu suchen. Die Erregung des Koordinationszentrums steht unter dem Einfluß des Willens, erfolgt also vom Großhirn aus. Freilich erfolgt die definitive genaue Einstellung bis zu einem gewissen Grade auch unwillkürlich; das läßt sich sowohl für die Accommodationseinstellung als für die Konvergenz- einstellung beobachten, welche beide durch einen gewissen Zwang zum bin- okularen Einfachsehen beherrscht werden. Aber auch in diesem Falle erfolgt die Erregung vom Großhirn aus, da es sich hier nicht um einen gewöhnlichen Reflex handelt, sondern um einen Psychoreflex, der unter Vermittelung von Gesichtswahrnehmungen sich abspielt. Weiß*) hat eine sehr schnell wieder abnehmende Zunahme der Accommo- dation beim stereoskopischen Sehen beobachtet, wenn der Blick von ferner zu näher erscheinenden Punkten des Bildes überging. Diese Accommodationszunahme wird durch Impulse ausgelöst, die aus der Vortäuschung des Körperlichen entspringen, oder die synergisch einer intendierten Konvergenzbewegung eintreten. 5 Über die physiologische Bedeutung der Ciliarganglionzellen, die in die periphere Accommodationsnervenbahn eingeschaltet sind, läßt sich noch nichts aussagen. Daß diese Zellen ein peripheres für die Accommodationseinstellung in Betracht ') Die Lehre vom binokularen Sehen, Leipzig 1868. — ?) Du Bois-Reymonds Arch. 1877. — °) Arch. f. Ophthalmol. 18 (1872) und Pflügers Arch. 13 (1876). — *) Pflügers Arch. 88 (1901). Eee a, Pupillenverengerung bei Accommodation. 67 kommendes Reflexzentrum darstellen, ist unwahrscheinlich, weil die Erregung des Accommodationsapparates, auch soweit sie unserer Willkür entzogen sein könnte, doch durch das Großhirn vermittelt wird. Die zweite Begleiterscheinung der Accommodation ist die Pupillen- verengerung. Es entsteht zunächst die Frage, ob diese der eigentlichen Accommodation oder der Konvergenz assoziiert ist. Während Donders und Herin g der Ansicht waren, daß die Pupillen- verengerung mit der Ciliarmuskelkontraktion assoziiert sei, geben E.H. Weber und in neuerer Zeit Vervoort‘) dagegen an, daß die Pupillenverengerung nur mit der Konvergenz assoziiert sei. Vervoort hat beobachtet, daß bei Anderung des. Accommodationsgrades um 1,6 Dioptrien ‘keine Pupillenänderung erfolgt, wenn Anderung der Konvergenz ausgeschlossen war, daß dagegen schon bei einer geringen Konvergenzzunahme (von etwa 23’) deutliche Pupillenverengerung eintritt. In der Literatur. finden sich Angaben, daß die Pupillenverengerung bei Accommodation sich anders gestalte als bei dem Pupillarreflex, daß die accommo- dative Pupillenverengerung durch mechanische Momente (Veränderung der Linsen- gestalt, Veränderung der Blutfülle der Iris) bedingt sei. Diese Angaben haben sich als unhaltbar erwiesen. Die Pupillenverengerung beim Sehen in die Nähe ist insofern zweck- mäßig, weil bei gleich großer Pupille von einem nahen Gegenstande relativ mehr Licht ins Auge gelangen würde als von einem entfernten, und weil der übermäßige Lichteinfall von nahen Gegenständen durch die Pupillenverenge- rung kompensiert werden kann. Freilich hat A. Fick?) darauf aufmerksam gemacht, daß die Pupillenverengerung bei Accommodation bedeutend größer ist, als jene Accommodation erfordert. Die Pupillenverengerung dient zu- gleich aber auch der Vergrößerung der Bildtiefe (siehe S. 80). Was die Geschwindigkeit der Accommodationseinstellung anbelangt, so bestehen Meinungsverschiedenheiten bei den Autoren darüber, ob die Fern- einstellung schneller erfolgt als die Naheeinstellung. Hensen und Völckers?) fanden bei ihren Reizversuchen, daß die Naheeinstellung langsamer geschah, als die Ferneinstellung. Vierordt‘) gibt an, daß der Übergang in die Naheeinstellung 1,18 Sekunden, der in die Ferneinstellung 0,87 Sekunden erforderte; Aeby°) fand Verschiedenheiten in demselben Sinne, ebenso Eilhard Schulze®), Coccius”) dagegen sah im Gegenteil die Naheeinstellung schneller vor sich gehen als die Ferneinstellung. Schmidt-Rimpler‘) hat für beide fast die gleichen Zeiten, 2,72 Sekunden für Naheeinstellung und 2,44 Sekunden für die Ferneinstellung gefunden, wenn dieselbe Konvergenz beibehalten wird. Wird nicht dieselbe Konvergenz beibehalten, so dauert die Naheeinstellung länger. Die Verengerung der Pupille tritt, wie Donders®) beobachtet hat, mit der Naheeinstellung nicht gleichzeitig ein, sondern folgt ihr erst nach. Über den Einfluß von Giften auf die Accommodationsmuskeln siehe $. 88 bei Irismuskeln. : %) Arch. f. Opthalmol. 49 (1900). In neuester Zeit tritt freilich Marina (Neurolog. Zentralbl. 1902) wieder für die Ansicht ein, daß die Pupillenverengerung der Accommodation assoziiert sei. — °) Hermanns Handbuch der Physiol. 3, 1. Teil, 97. — ?) A. a. O. — ) Arch. f. physiol. Heilk., N. F., 1 (1857). — °) Zeit- schrift £. rat. Med. 1861. — °) Arch. f. mikr. Anat. 3 (1867). — 7) Mechanis- mus der Accommod. 1868, 8. 151. — *) Eulenburgs Realenzyklopädie 1, 82, 1880. — ®) Nederl. Arch. vor Geneesk. etc., II, 1865. 5* 68 Aphakie. — Accommodation bei Tieren. Angestrengtes Accommodieren bewirkt bei manchen Menschen subjektive Lichterscheinungen. Es finden sich: 1. Der Purkinjesche Accommodatiönsfleck!), das ist ein in der Mitte des Gesichtsfeldes gelegener heller Kreis mit dunklerer Umgebung, den man sieht, wenn man vor einer weißen Fläche stehend starke Accommodationsanstrengungen macht. 2. Das Czermaksche Accommodationsphosphen *), das ist ein schmaler feuriger Ring an der Grenze des Gesichtsfeldes, den man im Dunkeln sieht, wenn man aus starker Accommodationsanstrengung schnell in die Ruhestellung übergeht. Nach Atropinisierung der Augen bleiben diese Phänomene aus; sie hängen also mit der Tätigkeit des Accommodationsapparates zusammen. Über ihre Deutung gehen die Ansichten der Autoren aber auseinander. 1. Anhang. Aphakie. Fehlen der Linse infolge von angeborener Mißbildung oder operativer Ent- fernung u. dgl. bedingt, daß das Auge eine geringere Brechkraft hat — es kommt nur die Hornhaut für die Brechung in Betracht —, mithin hypermetrop ist. Diese Hypermetropie kann erfahrungsgemäß durch ein Konvexglas von 10 bis 11 Diop- trien korrigiert werden. Dieser Korrektionswert ist auch benutzt worden, um den Totalindex der Linse zu berechnen); dabei hat sich ein niedrigerer Wert ergeben, als auf Grund anderer Messungen angegeben wurde. Es liegen in der neueren Literatur Angaben vor, wonach bei aphakischen Augen noch ein geringer Grad von Accommodationsvermögen vorhanden sein sollte®). Diese Angaben beruhen aber offenbar auf Irrtümern, die tatsächlichen Beobachtungen lassen sich auch ohne Annahme einer Accommodation bei Aphakie erklären. 2. Anhang. Accommodation in der Tierreihe, . Über die Accommodation bei Tieren sind in den letzten Jahren wichtige Be- obachtungen von Beer’) gemacht worden, die kurz folgendes ergeben haben: Im Wasser lebende Tiere (Kephalopoden, Fische) sind in Accommodationsruhe myop, sie accommodieren activ für die Ferne durch Annähern der kugeligen Linse gegen die Netzhaut. Dies wird bewirkt durch Muskeln, die die Linse nach hinten ziehen; bei den Kephalopoden geschieht das durch einen Muskel mit meridional gerichteten Fasern, der das Corpus ciliare nach hinten zieht, bei den Fischen geht ein kleiner kurzer, hinter der Iris gelegener, von der unteren Bulbuswand ent- springender Muskel zum unteren Linsenrand, dessen Kontraktion die Linse nach hinten zieht, und der deshalb Retraktor lentis genannt wird. Bei den in der Luft lebenden Wirbeltieren ist das Auge in Ruhe für die Ferne eingestellt und akkommodiert sich auf die Nähe. Dies geschieht bei Amphibien und Schlangen durch Entfernung der in der Form unverändert bleibenden Linse von der Netzhaut, indem ein in die Iriswurzel eingelagerter Ringmuskel die Linse unter Steigerung des intraokularen Druckes gegen die Hornhaut vordrängt. Bei den übrigen Wirbeltieren geschieht die Accommodation durch stärkere Linsenwölbung infolge Entspannung der Aufhängevorrichtung. Der Mechanismus dieses Vorganges zeigt in manchen Einzelheiten bei Vögeln und Säugern allerdings einige Verschiedenheiten. Die Accommodation fehlt ganz oder ist nur unvollkommen entwickelt bei Tieren mit nächtlicher Lebensweise, bei Raubtieren, überhaupt bei Tieren, bei denen genaues Formensehen für die Ernährung oder die Flucht vor Feinden keine so beträchtliche Rolle spielt als das Erkennen von Bewegungen (z. B. beiHunden, Katzen, Kaninchen). Die meisten Wasserbewohner werden in Luft hochgradig myop, die Lufttiere in Wasser hypermetrop. Nur wenige amphibiotisch lebende Tiere (Teichschildkröten) ') Beobachtungen und Versuche zur Physiol. d. Sinne 2, Berlin 1825. — ?) Wiener Sitzungsber. 27 (1857). — °) Siehe 8. 40. — *) Literaturzusammenstellung bei Hess a. a. O., 8. 283. — °) Wiener klin. Wochenschr. 1898, Nr. 12, daselbst weitere Literaturangaben. Chromatische Aberration des Auges. 69 haben ein so großes -Accommodationsvermögen, daß sie unter Wasser sogar ihr Auge noch für die Nähe einstellen können. Presbyop werden natürlich nicht die Tiere, die ohne Änderung‘ der Linsen- krümmung accommodieren. Betreffs des Strahlenganges in den Facettenaugen sei auf die Monographie Exners: Die Physiologie der facettierten Augen von Krebsen und Insekten (Leipzig und Wien 1891) hingewiesen. Die Augen der niedersten Tiere haben keinen lichtbrechenden Apparat. IV. Unvollkommenheiten des dioptrischen Apparates des Auges. Genau punktförmige Abbildung eines Objektpunktes durch einen diop- trischen Apparat kann nur erfolgen, wenn 1. die Strahlen nahezu der Achse parallel und nahezu senkrecht auf die Flächen einfallen, 2. die Flächen zentriert und regelmäßig gekrümmt, die Medien homogen sind, 3. die Strahlen alle von gleicher Wellenlänge sind. Beim gewöhnlichen Sehen trifft kaum eine der aufgezählten Bedingungen genau zu. Deshalb wird vom Auge ein Objektpunkt nicht punktförmig ab- gebildet. Die Ursachen der astigmatischen Vereinigung homozentrischer Strahlen sind folgende: A. Chromatische Aberration. Das Auge ist nicht achromatisch; der dioptrische Apparat des Auges hat verschiedene Brennweiten für Strahlen verschiedener Wellenlänge. Die chromatische Aberration ist nachzuweisen dadurch, daß man die Pupille eines Auges zur Hälfte durch einen vorgehaltenen Schirm verdeckt: man sieht dann an etwaigen leuchtenden Objekten farbige Ränder — oder dadurch, daß man durch ein violettes Glas (das nur rotes und blaues Licht durchläßt) einen leuchtenden Punkt betrachtet; je nachdem das Auge auf Rot oder Violett eingestellt ist, sieht es den Punkt rot mit blauem Rande oder blau mit rotem Rande. Bestimmungen der Chromasie des Auges werden vorgenommen, indem man einmal für rotes Licht, das andere Mal für violettes Licht den Nahepunkt mißt. Aus den Resultaten läßt sich die Lage der Brennpunkte für die verschiedenen Strahlen berechnen. Nach den neuesten Angaben von M. Wolf!) beträgt die Differenz der Brennweiten für die Fraunhoferschen Linien B und H 0,75 mm. Die Dispersion im wirklichen Auge ist etwas größer als die für das reduzierte Auge zu berechnende?). Der Zerstreuungskreis für das rote Licht eines Objektpunktes hat bei Ein- stellung des Auges auf das violette Licht und bei mittlerer Pupillenweite etwa 0,1 mm Durchmesser; der Zerstreuungskreis für das rote und violette Licht bei Einstellung auf Strahlen mittlerer Wellenlänge hat etwa 0,05 mm Durchmesser. Die chromatische Aberration bietet die Grundlage für manche dioptrisch wichtige Untersuchungsmethoden; sie kann zum Nachweis ungenauer Einstellung, z.B. bei Refraktionsanomalien, benutzt werden. Ferner kann: mit ihrer Hilfe fest- gestellt werden, inwieweit Astigmatismus auf schiefer Inzidenz und ungenauer ») Wiedemanns Ann. 32 (1888). — °) Siehe bei Einthoven, Pflügers Arch. 62 (1895) und Arch. Neerland 29 (1897). 70 Sphärische Aberration des Auges. Zentrierung der brechenden Flächen beruht, weil in diesen Fällen die erhaltenen roten und blauen Zerstreuungskreise nicht konzentrisch liegen. Hierher gehört auch die Erscheinung der Farbenstereoskopie: rote und blaue Flecke auf dunklem Grunde mit beiden Augen betrachtet erscheinen verschieden weit entfernt'). Auch Beugung des Lichtes am Pupillenrande trägt mit bei zur ungenauen Abbildung. Die Beugung bedingt, daß ein Objektpunkt nicht punktförmig, sondern als kleiner Lichtkreis abgebildet wird, dessen Durchmesser zu be- rechnen ist nach der Formel): 5 ve P worin Ö der Durchmesser des Lichtkreises, f der Abstand des Bildes von der Pupille, » der Pupillendurchmesser und A die Wellenlänge des Lichtes ist. Es beträgt demnach der Durchmesser des Kreises für A — 0,5 u und für einen Pupillendurchmesser von 2mm: 0,0122 mm einen Pupillendurchmesser von Amm: 0,0061 mm. Um den Lichtkreis bilden sich infolge der Lichtbeugung noch eine Anzahl konzentrischer Beugungsringe, deren Helligkeit aber so gering ist, daß sie für das Sehen nicht in Betracht kommen. B. Monochromatische Aberration. Aber auch homogene Strahlen, die von einem Objektpunkt ausgehen, werden nicht punktförmig abgebildet aus folgenden Ursachen: 1. Sphärische Aberration. Fällt auf eine sphärische Fläche ein Strahlenbündel so auf, daß die in der Mitte des Bündels gelegenen Strahlen nahezu senkrecht gegen die Fläche gerichtet sind, die Randstrahlen aber schief, so werden die Randstrahlen in einem näher der Fläche gelegenen Punkte vereinigt als die Zentralstrahlen. Der Querschnitt des gebrochenen Strahlenbündels stellt nirgends einen Punkt dar, sondern einen Lichtkreis, für welchen Durchmesser und Lichtverteilung in verschiedenen Entfernungen des Querschnitts von der Fläche verschieden sind. Der kleinste Querschnitt des gebrochenen Strahlenbündels ist um so größer und liegt der Fläche um so näher, je weiter entfernt vom Flächen- scheitel-die an der Brechung noch beteiligten Randstrahlen auf die Fläche auffallen. Diesseits des kleinsten Querschnittes (von der Fläche aus gerechnet) sind die Querschnitte des Bündels am Rande heller als die in der Mitte, jenseits in der Mitte heller als am Rande. Diese Art von Aberration tritt natürlich nicht auf bei Flächen, die nicht genau sphärisch sind, sondern am Rande weniger gekrümmt als im Scheitel. Es ist früher oft behauptet worden, daß durch die Abflachung der Hornhaut- peripherie beim Auge die sphärische Aberration mehr oder weniger korrigiert sei. Aus den früher erwähnten Untersuchungen von Aubert und Gullstrand geht aber hervor, daß in der optischen Zone der Hornhaut, die bei der ge- wöhnlichen Pupillenweite für das Sehen in Betracht kommt, die Hornhaut peripher nicht wesentlich schwächer gekrümmt ist als im Zentrum. Nur bei !) Näheres darüber, nebst Literaturangaben, bei Hess. — *) Siehe bei Helm- holtz'a:'a:.0.,.8..181. Sphärische Aberration des Auges. 71 künstlich erweiterter Pupille kommen die abgeflachten Randpartien für die Brechung mit in Betracht, nur in diesem Falle ist also die sphärische Aber- . ration um etwas geringer, als es bei genau sphärischer Krümmung der ganzen Hornhaut der Fall sein würde. Vermindert wird die störende Wirkung der sphärischen Aberration durch die Irisblende. Nimmt man den Ort des kleinsten Querschnittes als Ort des Bildes an, so ergibt sich z. B. für eine sphärische Hornhaut mit 7,8 mm Radius und für parallel einfallendes Licht ein Refraktionswert von: 43,27 Dioptrien für minimalen Pupillenradius 43,42 “ „ einen Pupillenradius von 1mm n 43,88 3 Fe 2 „ 2mm 44,64 . ser % „ 3mm. Gullstrand!) gibt an, daß beim Auge der Unterschied der Refraktion für die im Hornhautscheitel und die auf den Rand der optischen Zone auf- fallenden Strablen vier Dioptrien beträgt. Aus der Größe des Aberrations- wertes innerhalb der optischen Zone geht hervor; daß dieselbe nicht durch die Hornhaut allein bedingt sein kann, sondern zum Teil auch noch auf die Linse bezogen werden muß. Für nicht zu große Öffnung eines Bündels parallel einfallender Strahlen verhalten sich die Entfernungen des kleinsten Querschnittes von dem Vereinigungs- punkt der am stärksten gebrochenen Randstrahlen und dem der am schwächsten gebrochenen Zentralstrahlen wie 1: 3°). Der Durchmesser des kleinsten Quer- sehnittes verhält sich ferner zum Durchmesser der Pupille nahezu wie der Ab- stand des Vereinigungspunktes der Randstrahlen von dem kleinsten Querschnitt zu dem Abstand jenes Vereinigungspunktes von der Pupillenebene. Für eine Refraktionsdifferenz von vier Dioptrien und für parallel ein- fallende Strahlen beträgt beim Auge der Abstand des Vereinigungspunktes - der Randstrahlen von dem der Zentralstrahlen 1,2mm, der Abstand des kleinsten Querschnittes vom Vereinigungspunkt der Randstrahlen mithin 03mm. Für 4mm Pupillendurchmesser und rund 20mm Abstand der Pupille vom Vereinigungspunkt der Randstrahlen beträgt demnach der Durch- messer des kleinsten Querschnittes 0,06 mm. Wenn das Auge nicht auf den kleinsten Querschnitt, sondern auf den Vereinigungspunkt der Zentral- strahlen eingestellt wird, so hat der auf der Netzhaut entstehende Zazaktennnge: kreis einen viermal größeren Durchmesser, also 0,24 mm. Matthiessen?) hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Linsenschichtung ungünstig für sphärische Aberration ist. Leroy‘) gibt an, daß im Alter die sphärische Aberration größer wird, weil die Linse mehr homogene Beschaffenheit annimmt. In den bisher erörterten Fällen von astigmatischer Abbildung von Objekt- punkten, die nur auf chromatischer und sphärischer Aberration, ohne weitere Komplikation beruht, ist wenigstens der Querschnitt des gebrochenen Strahlen- bündels bei kreisförmiger Blende überall ein Kreis. Es gibt aber noch Unvoll- kommenheiten des dioptrischen Apparates, welche zur Folge haben, daß der Querschnitt eines homozentrischen Strahlenbündels nicht mehr überall kreis- förmig ist. Diese Unvollkommenheiten bewirken die Erscheinungen, die man gewöhnlich schlechthin als Astigmatismus bezeichnet. ») A. a. 0. — ?) Siehe bei Gullstrand, Untersuchungen über die Hornhaut- refraktion usw. — ®) A. a. 0. — *) Compt rend. Acad. d. sciences 116 (1893). 1 LS) Astigmatismus des Auges. 2. Astigmatismus. Es kommen hauptsächlich folgende Fälle in Betracht: a) Astigmatismus bei senkrechter Inzidenz der Strahlen, aber bei nicht genau sphärisch gekrümmten Flächen. Wenn wir absehen von dem irregulären Astigmatismus, bei welchem unregelmäßige Krümmungsverschiedenheiten an verschiedenen Stellen der brechenden Flächen bestehen, so kommt für die in Rede stehende Art des Astigmatismus Verschiedenheit der Krümmung in verschiedenen, vor allem in zwei aufeinander senkrechten Meridianen der brechenden Flächen in Betracht. Wenn z. B. eine brechende Fläche in einem Meridian etwas stärker ge- krümmt ist als in dem anderen, auf ersterem senkrechten, so werden von einem dünnen, nahezu senkrecht auf den Scheitel der Fläche auffallenden Strahlenbündel in dem einen Meridian die Strahlen stärker gebrochen und früher vereinigt als in dem anderen. Das System hat daher nicht einen Brennpunkt, sondern eine Brennstrecke zwischen zwei Brennlinien, in denen die gebrochenen Strahlen zusammenlaufen. Die erste, der Fläche zu- nächst stehende Brennlinie liegt in der Richtung des Meridians schwächster Krümmung, die zweite, von der Fläche weiter entfernte in der der stärksten Krümmung. Der Querschnitt eines Strahlenbündels, der vor der Brechung kreisförmig sein möge, ist nach der Brechung elliptisch, und zwar diesseits der ersten Brennlinie (von der Fläche aus betrachtet) so, daß die Längsachse der Ellipse parallel zur ersten Brennlinie, jenseits der zweiten Brennlinie so, daß die Längsachse der Ellipse parallel der zweiten Brennlinie liegt. Der Über- gang findet zwischen den Brennlinien, d.i. in der Brennstrecke, statt, und hier ist an einer Stelle der Querschnitt kreisförmig. Die hintere Brennlinie ist größer als die vordere, die Abstände des Brennkreismittelpunktes von den Brennlinien verhalten sich wie diese selbst. Das gebrochene Strahlenbündel hat zwei Symmetrieebenen, die durch die beiden Hauptkrümmungen der. brechenden Flächen gehen. Die Berechnung der brechenden Wirkung eines derart astigmatischen Systems geschieht, falls Brechungsindices und die Radien der beiden Haupt- krümmungen bekannt sind, nach den früher angegebenen Formeln, indem die Wirkung der beiden Krümmungen gesondert berechnet wird. Die Form des Strahlenganges in diesem Falle von Astigmatismus, die unter dem Namen des Sturmschen Conoids bekannt geworden ist, trifft nur für ein unendlich dünnes Strahlenbündel zu. Wegen der sphärischen Aberration entsprieht der Astigmatismus des menschlichen Auges aber nicht dieser Form, wie Gullstrand!) gezeigt hat, sondern es zeigt sich, daß bei Berücksichti- gung der Aberration die zwei Brennlinien des Conoids nicht bestehen. Man erhält die Form des Strahlenganges durch Kombination des Ganges tr sphärische Aberration mit dem Conoid. Diese Form des Astigmatismus kommt bei allen Augen vor, freilich meist in so geringem Grade, daß er beim Sehen nicht stört. Der normale ') Skandinavisches Arch. f. Physiologie 2 (1891). a 02 EEE Ewa eo Astigmatismus des Auges. 73 Astigmatismus ist vor allem durch Verschiedenheiten der Hornhautkrümmung in verschiedenen Meridianen bedingt. In der Mehrzahl der Fälle bei jugend- lichen Individuen ist der Vertikalmeridian der Hornhaut stärker gekrümmt als der horizontale; im Alter dagegen überwiegen die Fälle, in denen der horizontale Meridian stärker gekrümmt ist. Durch diesen Astigmatismus ist es bedingt, daß man von einer Anzahl geradliniger Striche, die sich alle in einem Punkte schneiden, nur einen scharf, die anderen, besonders die auf der ersten Senkrechten, weniger scharf sieht, oder daß man nicht alle Teile einer aus feinen konzentrischen Kreislinien gebildeten Figur gleichzeitig ganz scharf sieht. Betreffs der klinischen Bedeutung hochgradiger Formen des Astigmatismus, sowie seiner Bestimmung und Korrektion muß auf die augenärztliche Literatur verwiesen werden. b) Astigmatismus bei schiefer Inzidenz eines Strahlenbündels. Dieser Astigmatismus ist ein Phänomen, das wesensgleich ist der sphäri- schen Aberration. Verhältnismäßig leicht übersichtlich wird der Gang der Strahlen in dem Falle, wo ein unendlich dünnes Strahlenbündel mit kreisförmigem Querschnitt so einfällt, daß der zentrale Strahl des Bündels, den wir als Leitstrahl an- nehmen, in einer Meridianebene der gekrümmten Flächen liegt. _ Diese Meridianebene bildet dann eine Symmetrieebene für das gebrochene Strahlen- bündel. i Die in der Meridianebene des Leitstrahls einfallenden Strahlen fallen unter verschiedenen Winkeln auf die Fläche auf; sie schneiden sich daher nach der Brechung früher mit dem Leitstrahl als z. B. alle die Strahlen, die unter gleichem Winkel wie der Leitstrahl einfallen. Es geschieht dies aus demselben Grunde, aus welchem bei dem vorhin besprochenen Falle der sphärischen Aberration ein Randstrahl mit einem in der- selben Meridianebene, aber unter kleinerem Winkel einfallenden Zentralstrahl sich auch früher schneidet, als z. B. die unter gleichem Winkel einfallenden Rand- strahlen sich miteinander schneiden. | Die Folge ist also, daß das gebrochene Strahlenbündel astigmatisch wird. Der Querschnitt des Bündels ist nach der Brechung an zwei Stellen annähernd linienförmig, so daß man zwei brennlinienartige Querschnitte auf- finden kann. Die erste Brennlinie steht senkrecht auf der Meridianebene, die zweite fällt in die Meridianebene Fig. 8. des Leitstrahls; allerdings steht die A B zweite Brennlinie nicht genau senkrecht zum Leitstrahl, sondern etwas geneigt, so daß der Querschnitt in der Gegend der zweiten Brennlinie also nicht genau linienförmig sein kann. Der ‚Linienform nähern sich die Der erste (4) und zweite (B) dünnste Qner- Querschnitte allerdings nur bei un- schutt bei ginem Io sehisfer Inden ag endlich dünnem Strahlenbündel. Für Strahlenbündel mit größerem Querschnitt, wie sie z. B. auch gerade für die Lichtbrechung im Auge in Betracht kommen, haben die dünnsten Querschnitte nach der Brechung die Form, wie sie durch die Fig. 8 angegeben wird. 14 Periskopie des Auges. Betreffs der Formeln, die zur Berechnung der Lage der Brenulinien dienen, und ihrer Ableitung sei auf die Arbeiten von L. Hermann!) verwiesen. Daß die Einführung des Dioptriebegriffes die Rechnung in manchen Punkten vereinfacht, ist von Gullstrand?) gezeigt worden. Liegt der Leitstrahl nicht in einer Meridianebene, so hat das Strahlen- bündel nach der Brechung keine Symmetrieebene und auch keine geraden Brennlinien. Je größer der Abstand der Brennlinien voneinander, d. h. je größer die Brennstrecke ist, um so weniger ist das Bild brauchbar, da statt eines Bild- punktes eine verzerrt erscheinende Linie abgebildet wird; die Verzerrung ist um so größer, je größer die Brennstrecke ist. Hermann?) berechnet, daß die Astigmasie des Bildes dem Quadrate des Sinus der Inzidenzschiefe pro- portional ist. Hermann hat ferner gezeigt, daß im Vergleich mit anderen optischen Instrumenten die Periskopie, d. h. der Winkelbereich des brauch- baren Gesichtsfeldes (genauer das Verhältnis zwischen Sinusquadrat der Inzidenzschiefe und Astigmasie), beim Auge ungemein groß ist. Dieselbe Eigenschaft hat auch die Augenlinse allein für sich. Die Theorie ergibt, daß die Linsenschichtung die Wirkung hat, die Periskopie bedeutend zu ver- größern, d.h. für gegebene Inzidenzschiefe die Brennstrecke kürzer zu machen, als bei einer homogenen Linse von gleicher Brennweite. Hermann hat die Rechnung zunächst durchgeführt für ein dünnes Strahlenbündel, das so einfällt, daß es im Verlaufe der Brechung durch den optischen Mittelpunkt, also durch alle Schichten geht; die Linse nimmt er konzentrisch geschichtet an. Für nicht konzentrische Schichtung ist ver- mutlich die Begünstigung noch größer, sobald (wie bei der Augenlinse) die Krümmungen rascher zunehmen als bei konzentrischer Beschaffenheit; denn hierdurch werden die inneren Brechungen immer normaler. Fick) hat darauf aufmerksam gemacht, daß das Resultat der Rechnung sich noch günstiger gestalten wird, wenn man den Umstand berücksichtigt, daß nicht alle Strahlen eines Bündels die sämtlichen Schichten wirklich durchsetzen, sondern daß vielmehr die am schiefsten einfallenden Strahlen an einigen inneren Linsenschichten vorübergehen, während die weniger schief einfallenden jene Linsenschichten passieren; die Folge würde sein, daß jene Strahlen schließlich relativ weniger abgelenkt aus der Linse hervorgehen, und daß so ihr Vereinigungspunkt mit den anderen Strahlen, d. i. bei parallel einfallenden Strahlen die erste Brennlinie, der zweiten Brennlinie noch näher rückt. Fick) hat ferner für das schematische Auge den Ort der hinteren Brennlinien von Strahlenbündeln, die unter verschiedenem Inzidenzwinkel auf die Hornhaut einfallen, berechnet; er findet,. daß diese Brennlinien in eine gekrümmte Fläche fallen, die nahezu übereinstimmt mit der Krümmung der Netzhaut. Dies gilt aber nicht für das reduzierte Auge: hier fallen die hinteren Brennlinien vielmehr vor die Netzhaut. Zu einem ähnlichen Resultat sind Matthiessen®) sowie Schön’) durch Rechnung gekommen: sie geben !) Pogg. Ann. 1874, 8. 153 und Pflügers Areh. 18, 20 und 27. Vgl. auch Fick, Medizin. Physik., 3. Aufl., 1885. — ?) Arch. f. Ophthalmol. 49, 56, 1900. — ®) A.a.0. — *) Hermanns Handb. d. Physiol. 3, 81. — °) Pflügers Arch. 19 (1879). — °) Ebenda. — 7) Sitzungsber. der ophthalmol. Ges. 1877. Mangelhafte Zentrierung der Flächen des Auges. 75 freilich an, daß die Netzhaut innerhalb der Brennstrecke liegt. Berücksichtigt man alles dies, so kommt man zu dem Schlusse, daß unser Auge so gebaut ist, daß auch von weit seitlich gelegenen Objekten noch leidlich gute Bilder auf den Seitenteilen der Netzhaut entworfen werden. Dem entspricht auch die Beobachtung von Stammeshaus!), daß mit dem Augenspiegel im aufrechten Bilde die Netzhaut bis zum Äquator noch scharf zu sehen ist. | Die Stelle des deutlichsten Sehens in der Netzhaut, d. i. die Fovea cen- tralis, liegt nicht in der optischen Achse. Die Strahlen, die in der Fovea zur Vereinigung kommen, fallen daher schief ein. Der Winkel, den die Gesichts-. linie, d. i. die von der Fovea durch den Kriotenpunkt gezogene Richtungs- linie mit der optischen Achse bildet, beträgt in horizontaler Richtung 3,5 bis 7°, in vertikaler 3,50; er wird „/{ &“ genannt. Unter der Annahme, daß dieser Winkel gleich 5° sei, hat Gullstrand den Einfluß der schiefen Inzidenz für das schematische Auge berechnet und dabei gefunden, daß die Brennstrecke 0,03 mm beträgt, mithin der Grad des Astigmatismus durch schiefe Inzidenz, d. i. die Differenz der Brechkraft für die schief einfallenden Strahlen in den beiden den Brennlinien entsprechenden Ebenen 0,1 Dioptrien ist. Der erste dünnste Querschnitt eines homozentrischen Strahlenbündels ist an dieser Stelle bei 2 mm Pupillendurchmesser 0,0029 mm lang und 0,0022 mm breit; bei zunehmender Weite der Pupille wächst der erste proportional dem Pupillenradius, der letztere wie das Quadrat des Radius. Der Leitstrahl des auf die Hornhaut auffallenden Strahlenbündels wird übrigens nicht eigentlich durch die Gesichtslinie, d. i. die durch den Knotenpunkt und die Fovea gezogene Linie dargestellt, sondern vielmehr durch die Hauptvisierlinie, d. i. die Gerade, die vom fixierten Punkte zu dem von ihm aus scheinbaren Mittelpunkte der Pupille (also zur Mitte der Eintrittspupille) gebt; nach der Brechung in der Hornhaut geht die Hauptvisierlinie durch die Mitte der wirklichen Pupille, nach der Brechung in der Linse von der Mitte der Austrittspupille zur Fovea. Bei großem Objektabstand fallen Gesichtslinie und Hauptvisierlinie allerdings nahezu zusammen. Während bisher die Gesichtslinie für das Sehen hauptsächlich in Betracht gezogen wurde, haben in neuerer Zeit einige Autoren, besonders Gullstrand?), gezeigt, daß der Hauptvisierlinie eine viel größere Bedeutung zukommt. ec) Astigmatismus durch mangelhafte Zentrierung. Astigmatismus durch schiefe Inzidenz könnte auch beruhen auf mangel- hafter Zentrierung, weil in diesem Falle die auf die erste Fläche achsen- parallel und senkrecht auffallenden Strahlen auf die weiteren Flächen schief auffallen würden. Angaben, daß die Flächen des Auges mangelhaft zentriert seien, liegen in der Literatur vor?), ebenso daß auch in normalen Augen Dezentrationen der Pupille vorkommen. Doch sind die Angaben der Autoren hierüber noch vielfach widersprechend, so daß sich Bestimmtes noch nicht mit Sicherheit sagen läßt. Jedenfalls geht aber schon aus der vorliegenden Literatur hervor, daß der Grad der Dezentration ein sehr geringer ist, so daß man keinen großen Fehler begeht, wenn man das normale Auge als zentriert betrachtet. Von Bedeutung wird aber die Dezentration, die durch das Herabsinken der Linse bei angestrengter Accommodation bedingt ist (s. 8. 52). !) Arch. f. Ophthalm. 20 (1874). — ?) Nord. Med. Arkiv 1891. — ®) Vgl. bei Hess a. a. O. 76 Mangelhafte Homogenität der Augenmedien. 3. Mangelhafte Homogenität der Medien. Die Augenmedien sind zum Teil Gewebe, die aus Zellen aufgebaut sind; daraus ist es verständlich, daß mangelhafte Homogenität besteht. Beim Durchgang des Lichtes durch die Medien entsteht deshalb diffuses Licht, das zum Teil auch zur Netzhaut gelangt, aber nicht störend aufs Sehen wirkt, weil es zu schwach ist. Auch größere Trübungen kommen vor. Man kann sie entoptisch wahrnehmen, wenn man einen leuchtenden Punkt in den vorderen Brennpunkt bringt, so daß die Strahlen nach der Brechung par- allel gehen. Es werden dann durch die Trübungen Schatten auf die Netzhaut geworfen, die als dunkle Stellen im Gesichtsfeld wahrzunehmen sind. Verschiebt man die Lichtquelle, so verlagert sich auch der Ort der dunklen Stellen im Ge- sichtsfeld, und zwar um so mehr, je weiter entfernt die Trübungen von der Netz- haut liegen. Hierher gehört auch die entoptische Wahrnehmung des Schattens, den die Netzhautgefäße auf die lichtempfindliche Schicht der Netzhaut werfen; diese Wahr- nehmung kann benutzt werden, um den Abstand der lichtempfindlichen Schicht von der gefäßhaltigen Schicht zu berechnen. Ferner sind die durch die Kapillaren bewegten Blutkörperchen zu erkennen als kleine glänzende Gebilde, die sich in geschlängelten Bahnen durch das Gesichts- feld bewegen; dies Phänomen ist besonders gut bei Beleuchtung des Auges mit blauem, gar nicht im roten Licht zu sehen; das erklärt sich aus der verschiedenen Ansoraenn dieser Lichter durch das Hämoglohin N), Einzelheiten über die Gestalt der wahrzunehmenden Schatten anzugeben, hat hier kein großes Interesse. Die Trübungen stören beim Sehen nicht, falls das Auge genau auf die zu beobachtenden Objekte eingestellt ist; sie werfen dann keine Schatten auf die Netzhaut, sondern bewirken nur, daß das Bild auf der Netzhaut etwas lichtschwächer wird. 5 Daß wir beim gewöhnlichen Sehen die Gefäßschatten nicht wahrnehmen, erklärt sich wohl auch daraus, daß die Empfindlichkeit der beschatteten Stellen der Netzhaut größer, ihre Reizbarkeit weniger erschöpft ist als die der übrigen Netzhautteile. Diffuses Licht dringt auch zum Teil durch Aderhaut und Iris, die nicht ganz lichtundurchlässig sind, ins Auge, jedoch ist dieses Licht auch so schwach, daß es nicht beim Sehen stört. Wenn das Pigment in Aderhaut und Iris fehlt, d. i. beim Albino, so ist allerdings die Menge des eindringenden diffusen Lichtes so groß, daß es zu Störungen des Sehens kommt. Anhang. Die Menge des zur Netzhaut gelangenden Lichtes. Von dem einfallenden Liehte gehen nach Tscherning?) etwa 2,6 Proz., also nur wenig, durch Spiegelung an den brechenden Flächen verloren. Ein Teil des reflektierten Lichtes kann durch wiederholte Reflexion vor- und rückwärts und durch Brechung noch zur Netzhaut gelangen und dort Anlaß zum Entstehen von sogenannten katadioptrischen Nebenbildern geben. Unter geeigneten Versuchsbedingungen kann man zwei solcher Nebenbilder auch wahrnehmen, näm- lich erstens ein Bild, das zustande kommt, indem die an der Linsenhinterfläche ') Vgl. bei Abelsdorff u. Nagel, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinne 34 (1904). — °®) A. a. O. Ungenauigkeiten der Abbildung im Auge. 77 reflektierten Strahlen an der Hornhautvorderfläche wieder nach hinten reflektiert werden, und zweitens ein Bild, das durch Reflexion der von der Linsenvorderfläche gespiegelten Strahlen an der Hornhautvorderfläche zustande kommt. Diese Bilder, die von mehreren Autoren (Coccius, Becker, Geigel, Tscherning) wahr- genommen und untersucht worden sind, sind aber so lichtschwach, daß sie gewöhn- lich nicht wahrzunehmen sind und daher beim Sehen nicht stören. V. Kompensation der ungenauen Abbildung im Auge durch physiologische Einrichtungen. Aus dem Gesagten geht hervor, daß ungenaue Abbildung der Objekte auf der Fovea centralis hauptsächlich bedingt ist durch sphärische Aberration, in etwas geringerem Maße durch chromatische Aberration und Lichtbeugung am Irisrand, nur wenig durch die beiden Formen von Astigmatismus, sowie durch mangelhafte Zentrierung der Flächen. Es wird demnach immer ein Objektpunkt nicht als Bildpunkt, sondern als kleine Bildfläche auf der Netzhaut abgebildet. Da die Größe dieser Bild- fläche von wechselnden Faktoren abhängig ist, so lassen sich allgemeine Angaben über die Größe nicht machen. Doch ergeben sich aus Folgendem einige Anhaltspunkte über die Größe. Für 4mm Pupillenweite hat der kleinste Kreis, der auf sphärischer Aberration beruht, 0,06 mm Durchmesser. Durch die chromatische Aberration wird er noch um 0,04mm verbreitert. Für geringere Pupillenweite nimmt der Durchmesser infolge Abblendung der Randstrahlen zwar ab, aber infolge der Lichtbeugung wieder um etwas zu. Dazu kommt noch die allerdings geringfügige Verbreiterung und Verzerrung des Bildes infolge der astigmati- schen Abbildung. Ist das Auge nicht auf den kleinsten Kreis eingestellt, sondern auf den Vereinigungspunkt der Zentralstrahlen, so wird bei 4mm Pupillenweite der von einem Objektpunkt in großer Entfernung entworfene Bildkreis auf der Netzhaut sogar nahezu 0,3 mm breit. Allgemein ist nun zu erwarten, daß zwei Objektpunkte von dem Auge dann nicht mehr gesondert voneinander wahrzunehmen sind, wenn ihre Bild- kreise auf der Netzhaut sich berühren. Bei einem Durchmesser der Bild- kreise von etwa 0,lmm, wie er für 4mm Pupillenweite und Einstellung des Auges auf den kleinsten Kreis der sphärischen Aberration vorhanden sein würde, würde eine Berührung der Bildkreise zweier Objektpunkte stattfinden, wenn die Objektpunkte, sagen wir in 15m Abstand vom Auge, voneinander um 10cm entfernt sein würden. Man kann sich aber leicht davon über- zeugen, daß in solchem Falle zwei Objektpunkte noch sehr gut voneinander getrennt wahrzunehmen sind. Es wird sich daher fragen, wie es kommt, daß die Genauigkeit des Sehens größer ist, als bei der ungenauen Abbildung der Objekte erwartet werden dürfte. Dies hat seinen Grund darin, daß das Licht auf dem Bildkreise nicht gleichmäßig verteilt ist, sondern in der Mitte sehr viel stärker als am Rande ist und daß der Rand so lichtschwach ist, daß die von ihm betroffenen Netz- hautelemente nicht erregt werden. Erregt wird demnach nur eine kleine Netzhautstelle, der wahrgenommene Teil des Bildkreises ist daher auch viel kleiner als der ganze Bildkreis, daher können die Objektpunkte einander sehr viel näher stehen, ohne daß die getrennte Wahrnehmung schon gestört ist. 1 0 Lichtverteilung des Aberrationsgebietes im Auge. Über die Abhängigkeit der Lichtverteilung im Bildkreise von den ein- zelnen an der ungenauen Abbildung beteiligten Faktoren ist folgendes zu sagen: In welcher Weise die Helligkeit in einem durch chromatische Aberration erzeugten Bildkreise zu berechnen ist, hat Helmholtz!) ausgeführt. Die Rechnung ergibt, schon falls die Helligkeit der Spektralfarben durch die ganze Ausdehnung des Spektrums nahezu konstant wäre, bei Einstellung des Auges auf Strahlen mittlerer Wellenlänge, daß die Helligkeit in der Mitte des Bildkreises unendlich groß sein muß gegen alle anderen Punkte des Kreises. Dies hat seinen Grund darin, daß die schwächer und stärker brech- baren Strahlen ihr Licht über. größere Bildkreise verteilen als die mittleren. Auf die Randteile des Bildkreises fällt aber nur Licht von den stärker und schwächer brechbaren Strahlen. Der Unterschied der Helligkeit in der Mitte des Kreises einerseits, in den anderen Punkten anderseits wird aber noch vergrößert durch den Umstand, daß die äußersten Farben des Spektrums sehr viel lichtschwächer sind als die Strahlen in der Mitte. In einem durch sphärische Aberration bedingten Bildkreise ist die Licht- - verteilung überall gleich, wenn eingestellt wird auf den kleinsten Querschnitt des gebrochenen Strahlenbündels. Erfolgt aber die Einstellung nicht auf den kleinsten Querschnitt, sondern auf den Vereinigungspunkt der zentralen Strahlen, so ist auch in diesem Falle das Licht in der Mitte des Kreises sehr viel intensiver als am Rande. Auch in dem durch Beugung entstandenen Bildkreise ist das Licht in der Mitte intensiver als am Rande. Die Lichtverteilung im Querschnitt des gebrochenen Strahlenbündels bei Astigmatismus braucht hier weniger in Betracht gezogen zu werden, weil der Astigmatismus weniger beiträgt zur Vergrößerung der Bildfläche. Der wahrnehmbare Teil des von einem Objektpunkte entworfenen Bild- kreises ist nun wesentlich kleiner als der ganze Bildkreis, aus folgendem Grunde. Die Netzhaut ist aufgebaut aus einem Mosaik von Nervenelementen, deren jedes einer isolierten Erregung fähig ist. Jedes solche Element ist nicht punktförmig, sondern besitzt eine gewisse Ausdehnung in der Richtung der Netzhautfläche. Das von einem Element eingenommene Flächenstück heißt Empfindungskreis. Die innerhalb eines und desselben Empfindungs- kreises liegenden Punkte sind nicht isoliert gegeneinander erregbar. Inner- halb eines Empfindungskreises hängt also die Erregung nicht mehr ab von der Größe des beleuchteten Teiles, sondern nur noch von der Menge des im ganzen auffallenden Lichtes. Die einzelnen Empfindungskreise sind aber isoliert gegeneinander erregbar. Die Fläche, die bei Auffall einer Bildfläche tatsächlich wahrgenommen wird, würde größer sein, als der Bildfläche entspricht, wenn der betroffene Empfindungskreis eine größere Ausdehnung haben würde als die auffallende Bildfläche. Beim Sehen mit der Netzhautperipherie kommt das wohl auch vor, für das Sehen mit der Fovea centralis ist dagegen wegen der un- genauen Abbildung die von einem Objektpunkte aus entworfene Bildfläche immer größer als ein Empfindungskreis, so daß das Bild eines Objekt- punktes immer mehrere Empfindungskreise trifft. 2) A4.8..0,,.8.7 168, Dioptrische Bedeutung der Iris. 79 Die von den peripheren Teilen der Bildfläche getroffenen Empfindungs- kreise werden nicht mehr erregt, weil in diesen Teilen das Licht so schwach ist, daß es unter der Reizschwelle liegt. Aber auch die Empfindungskreise, die an die unerregten angrenzen und die schon von etwas stärkerem Lichte getroffen werden, werden an der Licht- wahrnehmung nicht wesentlich beteiligt sein infolge von Simultankontrast. Diese schwach erregten Empfindungskreise grenzen weiter nach innen zu an stärker erregte Kreise; der Simultankontrast bedingt, daß die Erregung der zentralen adningnkreiss viel stärker zur Wahrnehmung kommt, als der Lichtverteilung entspricht, die der peripheren dagegen überhaupt nicht, - und dadurch wird der wahrnehmbare Teil des Bildkreises noch mehr ein- geschränkt. Da also der für die Wahrnehmung i in Betracht Konin Teil des Bild- kreises sehr viel kleiner sein wird als der ganze Bildkreis, so ergibt sich die Möglichkeit, Objektpunkte in weit höherem Grade getrennt voneinander zu sehen, als der absoluten Größe ihrer Bildkreise entsprechen würde. Auf den Unterschied zwischen der absoluten Größe des Bildkreises und dem wahrnehmbaren Teil desselben haben Mach!) und später Hering?) besonders aufmerksam gemacht. Denken wir uns die Netzhaut als eine Ebene und auf jeden Punkt derselben eine Senkrechte aufgesetzt, deren Länge die Intensität der Bestrahlung des zugehörigen Netzhautpunktes darstellt, so gibt die Gesamtheit der oberen Endpunkte aller dieser Ordinaten eine Fläche, welche Mach als die Licht- intensitätsfläche oder kurz Lichtfläche bezeichnet hat, während er unter Empfin- dungsfläche die Fläche versteht, welche man erhält, wenn man die genannten Ordinaten denjenigen Helligkeiten proportional macht, in welchen die entsprechenden Helligkeiten dem Auge erscheinen. Inwiefern sich Lichtfläche und Empfindungs- fläche voneinander unterscheiden müssen, ist nach dem Gesagten klar. Hering bezeichnet das Gebiet, welches von dem durch die Unvollkommen- heiten des dioptrischen Apparates bedingten Bildkreise erfüllt wird, als Aberrations- gebiet und unterscheidet es von dem Zerstreuungsgebiete, welch letzteres sich bildet, wenn das Auge mangelhaft accommodiert ist. Über die Größe des wahrnehmbaren Teiles einer von einem Objektpunkte entworfenen Bildfläche einerseits, über die Größe der Empfindungskreise anderseits erhalten wir Aufschlüsse aus den Bestimmungen der Sehschärfe, über die an einer anderen Stelle des vorliegenden Handbuches nähere An- gaben gemacht werden. VI. Die Iris. A. Dioptrische Bedeutung der Iris. Die Iris dient als Blende zur Abblendung der Randstrahlen, d. h. zur Verschärfung des Bildes durch geringere sphärische Aberration resp. geringere Größe der durch ungenaue Einstellung bedingten Zerstreuungskreise, und zur Regulation des Lichteinfalles ins Auge. Maßgebend für die Größe des Querschnitts des in das System ein und aus- tretenden Strahlenbündels sind die Bilder der Blende, die von der wirklichen Blende durch das System nach der Objekt- resp. der Bildseite hin entworfen werden. Von der Irisentwirft die Hornhaut ein um !/; vergrößertes, um 0,57 mm ») Sitzungsber. d. Wien. Akad. 2. Abt., 54 (1866). — ?) Hermanns Handb. d. Physiol. 3 (2), 441. 80 Dioptrische Bedeutung der Iris. nach vorn verschobenes Bild; die nicht accommodierte Linse dagegen ein um 1/,s vergrößertes, 0,llmm nach hinten verschobenes Bild. Ersteres Bild heißt die Eintrittspupille, letzteres die Austrittspupille. Bei Accommodation auf einen 15cm vor dem Hauptpunkt des Auges liegenden Punkt liegt die Austrittspupille 0,092 mm hinter dem (0,4 mm nach vorn gerückten) vorderen Linsenscheitel. Die Austrittspupille ist auch zu definieren als das Bild der Ein- trittspupille, das durch den dioptrischen Apparat des Auges entworfen wird. Für die meisten Rechnungen kann man die geringen Differenzen zwischen den Pupillenbildern und der wirklichen Pupille vernachlässigen. Für das redu- zierte Auge nimmt man den Pupillenort im Scheitel der brechenden Fläche an. Alle Strahlen, die vor der Brechung durch die Hornhaut auf einen Punkt der Eintrittspupille gerichtet sind, kommen nach der Brechung vom ent- sprechenden Punkte der Austrittspupille.. Die Größe der Eintrittspupille ist daher maßgebend für den Querschnitt des bilderzeugenden Strahlenkegels. Der von einem Objektpunkte durch die Mitte der Eintrittspupille gezogene Strahl, der nach der Brechung durch die Mitte der Austrittspupille gehen würde, heißt Visierlinie.e Die Hauptvisierlinie ist ‚die durch die Fovea gehende Visierlinie (siehe auch 8. 75). Bei nicht genauer Einstellung des Auges fällt auf die Netzhaut von einem Objektpunkte ein Zerstreuungskreis, dessen Form jener der Pupille entspricht, in der Regel also kreisrund ist. Die Visierlinie des Objektpunktes geht durch den Mittelpunkt des Zerstreuungskreises. Der Durchmesser des Zerstreuungskreises verhält sich zum Durchmesser der Pupille wie der Abstand des Zerstreuungskreises zum Abstand der Pupille von dem Orte, wo der Bildpunkt entstehen muß. Näheres über die für die praktische Ophthalmologie wichtige Frage nach der Abhängigkeit der Größe der Zerstreuungskreise von’ dem Einstellungsfehler und von der Achsenlänge des Auges siehe bei Hess, a. a. O., 8. 98. Ist das Auge auf einen bestimmten Objektpunkt eingestellt, so werden näher und entfernter gelegene Objektpunkte auf der Netzhaut in Zerstreuungs- kreisen abgebildet. Diese lassen aber die zugehörigen Objektpunkte erst dann merklich undeutlich erscheinen, wenn sie eine bestimmte Größe überschreiten. Es gibt daher eine bestimmte Strecke im Raume, innerhalb deren Objekt- punkte, die in verschiedenem Abstand vom Auge stehen, doch noch gleichzeitig scharf gesehen werden. Wir nennen diese Strecke Focustiefe oder Bildtiefe, entsprechend einem in der photographischen Technik herrschenden Brauche). Man sieht daher einen langen dünnen, in die Gesichtslinie fallenden Faden nicht nur in dem fixierten Punkte scharf, sondern noch eine merkliche Strecke vor und hinter dem fixierten Punkte. Über die Größe der eben merklichen Zerstreuungskreise liegen noch keine sicheren Angaben vor. Hess?) schätzt auf Grund von Beobachtungen Auberts den der Bildtiefe des reduzierten Auges entsprechenden dioptrischen Wert auf 0,0666 Dioptrien für 4mm Pupillenweite. Die Bildtiefe wird daher um so kleiner, je näher der fixierte Punkt liegt; sie entspricht bei ruhendem emmetropen Auge einer Strecke zwischen © und 30m, bei Einstellung des ') Die Strecke wird von manchen auch Accommodationslinie genannt; dieses Wort ist aber besser zu vermeiden, weil die Accommodation nichts mit der Bild- tiefe zu tun hat. — ?) A. a. O., S. 102. BET y Mechanik der Irisbewegung. sl Auges auf 100cm zwischen 96,8 und 103,5cm, bei Einstellung des Auges auf 10cm zwischen 9,97 und 10,03cm Abstand vom Auge. Beim Sehen in der Nähe wird die Verkleinerung der Bildtiefe zum Teil kompensiert durch die Pupillenverengerung. B. Mechanik der Irisbewegung. Die Iris enthält zwei Muskeln: a) Musculus sphincter pupillae, ein platter, je nach dem Kon- traktionszustande 0,6 bis 1,2 mm breiter Ring von zirkulär gerichteten glatten - Muskelfasern, der im Irisstroma am Pupillarrande liegt. b) Musculus dilatator pupillae. Daß ein besonderer Dilatator der Pupille existiere, ist lange Zeit hindurch bestritten worden. Man glaubte die dilatierende Wirkung der Sympathicus- reizung auf Nachlaß des Sphinctertonus oder auf Veränderung des Tonus der Gefäßmuskeln zurückführen zu können. Erst in neuerer Zeit ist der Nach- weis eines Dilatators sowohl physiologisch als auch anatomisch erbracht worden. Langley und Anderson!) haben den physiologischen Nachweis eines Dilatators bei Säugetieren erbracht. Sie reizten eine Gruppe der zur Iris ziehenden Nerven (durch Aufsetzen von Elektroden auf eine entblößte Stelle der Lederhaut nahe dem Hornhautrande) und beobachteten danach eine lokale Ausbuchtung der Pupille; durch-mikroskopische Beobachtung des sich zusammenziehenden Irisstückes konnten sie feststellen, daß gleichzeitig eine Verkürzung der Iris in radiärer Richtung und eine Kontraktion des Sphincter stattfindet. Folglich kann die lokale Erweiterung der Pupille nicht auf Nachlaß des Sphinctertonus beruht haben. — Auch ein durch zwei Radiär- schnitte isolierter Keil der Iris zieht sich bei Reizung der zugehörigen Nerven zusammen; eine gleichzeitig vorgenommene mikroskopische Betrachtung er- gibt, daß die Gefäße in dem Keil sich biegen, aber nicht verkürzen oder ver- engern. Die Pupillenerweiterung kommt also auch unabhängig von. Ver- änderungen der Blutgefäße zustande. Die neueren anatomischen Untersuchungen von Grunert?), von Vialleton und Grynfeldt°), sowie von Heerfordt) haben ergeben, daß der Dilatator in den Fasern der hinteren Grenzschicht der Iris (Fortsetzung der äußeren Schicht der Pars iridica retinae) zu suchen ist; diese Fasern stimmen in allem mit den kontraktilen Fibrillen überein. Laqueur°) hat beobachtet, daß bei maximaler Pupillenerweiterung die Iris im Sphincterteil so eingefaltet wird, daß eine gegen die Pupillenmitte hin konkave Rinne entsteht. Die Exkursionen des Sphincter sind kolossal; die Sphincterfasern können sich auf '/, ihrer Länge verkürzen. Von allgemein-physiologischem Interesse ist die von Steinach‘) beob- achtete, später von Guth’) überzeugend nachgewiesene Tatsache, daß der Sphinetermuskel mancher Tiere direkt durch Licht .erregbar ist. — Der von allen nervösen Verbindungen losgelöste Dilatator anderseits wird, wie Lewandowsky®) angibt, bei Dyspnoe erregt. !) Journ. of Physiol. 13 (1892). — °) Arch. f. Augenheilk. 36 (1898). — °) Ann. d’oculist. 1899. — *) Anat. Hefte 14. — °) Arch, f. Augenheilk. 38 (1898). — *) Pflügers Arch. 52 (1892) (daselbst auch ältere Literatur). — 7) Ebenda 85 (1901). — ®) Sitzungsber. d. Berl. Akad. 52 (1900). Nagel, Physiologie des Menschen. III. 6 82 Innervation der Irismuskeln. C. Innervation der Irismuskeln. Die peripheren motorischen Bahnen: a) für die Sphinctermuskeln gehen durch den Nervus oculomotorius, Zellen des Ciliarganglions und die kurzen Ciliarnerven. Der Nachweis, daß in die motorische Bahn für den Sphincter im Ciliarganglion Zellen eingeschaltet sind, ist von Langley und Anderson') erbracht worden in analoger Weise wie für die motorische Bahn des Accommodationsmuskels. b) für die Dilatatormuskeln gehen aus dem Rückenmark durch die Rami communicantes hauptsächlich des 8. Hals- und 1. Brustnerven zum obersten Brustganglion des Sympathicus, von da zum untersten Halsganglion und schließlich zum obersten Halsganglion. Die von dort ausgehenden Pupillen- erweiterungsfasern gehen noch durch das Ganglion Gasseri, legen sich schließ- lich an den ersten Trigeminusast an und ziehen durch die langen Ciliarnerven ins Auge, ohne ins Ciliarganglion einzutreten und hier nochmals durch Zellen hindurchzugehen 2). Der Verlauf der Bahnen ist im physiologischen Experimente durch Reiz- und Durchschneidungsversuche festgestellt worden. Über die Abhängigkeit der Pupillen- erweiterung von Reizstärke und Reizfrequenz bei Sympathicusreizung hat Mulert°) Versuche angestellt, die ergeben haben, daß dabei in besonderem Maße das Phä- nomen der Reizsummation sich zeigt; Mulert schreibt dem Dilatator diese Eigen- schaft zu. — Dogiel?) behauptet, daß der Halssympathicus pupillenerweiternde Fasern für dieselbe Seite, pupillenverengernde für die entgegengesetzte enthalte, weil er bei einseitiger Halssympathicusreizung Pupillenverengerung der anderen Seite sah; diese Erscheinung beruht jedoch, wie ich’) gezeigt habe, auf konsen- suellem Pupillarreflex, der durch vermehrten Lichteinfall durch die erweiterte Pupille in das Auge der gereizten Seite bedingt ist. — Die Latenzzeit der Pupillen- erweiterung auf Sympathicusreizung geben Langendorff‘) und Albrecht’) zu 0,2 bis 0,4 Sek. an. Der Oculomotorius soll zugleich Hemmungsfasern für den Dilatator, der Sympathicus Hemmungsfasern für den Sphincter enthalten®). Angaben über pupillen- verengernde Fasern im Trigeminus oder Abducens sind unsicher. Ein Zentrum für die Pupillenverengerungsfasern wird angenommen im Oculomotoriuskern. Nach Reizversuchen von Hensen und Völckers’?) würde es beim Hunde dicht hinter dem Zentrum für die Accommodation liegen. Über die Lage des Zentrums beim Menschen gehen die Ansichten der Autoren noch auseinander. Das Pupillenerweiterungszentrum liegt in dem unteren Teile des Hals- marks. Diese Lehre wurde früher hauptsächlich auf den Befund gestützt, daß reflektorische Pupillenerweiterung auch nach hoher Halsmarkdurch- schneidung noch auftritt. Da aber der gleiche Effekt auch noch nach Sympathicusdurchschneidung zu erhalten ist, so kann, wie Steil!0) gezeigt ') A.a.O. Vgl. auch bei Langendorff, Pflügers Arch. 56 (1894). — ?) Siehe Nawrocki, F. u. Przybylski, Pflügers Arch. 50 (1891); Braunstein, E. T., Zur Lehre von der Innervation der Pupillenbewegung. Wiesbaden 1894. — ?) Pflügers Arch. 55 (1894). — *) Ebenda 56 (1894); siehe auch Tümanziew, Pflügers Arch. 69 (1897). — °) Pflügers Arch. 62 (1896) u. 75 (1899). — °) Rostocker Ztg. 1896, Nr. 602. — 7) Inaug.-Diss., Rostock 1897. — ®) Siehe bei Reid, Journ. of Physiol. 17 (1895). — °) Arch. f. Ophthalmol. 24 (1878). — !°) Steil, Pflügers Arch. 58 (1894); siehe auch Langendorffs Bemerkung im Anschluß an diese Arbeit. Innervation der Irismuskeln. 83 hat, jene Beobachtung nicht als beweisend angesehen werden. Dagegen muß ein spinales Zentrum angenommen werden, weil auch nach hoher Halsmark- durchschneidung immer noch Pupillenverengerung auf Sympathicusdurch- schneidung hin auftritt. _ Beide Zentren sind tonisch innerviert, denn nach Durchschneiden des Oculomotorius tritt Pupillenerweiterung, nach Durchschneiden des Sympathicus Pupillenverengerung auf. Der Tonus der Pupillenverengerer ist wesentlich reflektorischer Natur, weil er auch nach Durchschneiden des Opticus wegfällt!). Freilich weist die Pupillenverengerung im Schlafe auch auf einen automatischen Tonus hin.’ Der Tonus des Erweiterungszentrums dürfte vorwiegend automatisch sein; er wird verstärkt durch Dyspnoe. Der Tonus der Zentren ist in der Norm auf beiden Seiten immer gleich stark, so daß die Pupille auf beiden Seiten immer gleich weit ist. Was die Einschaltung von Nervenzellen in die peripheren motorischen Bahnen für eine physiologische Bedeutung hat, ist noch nicht genügend aufgeklärt. Es ist vermutet worden, daß die Ciliarganglionzellen periphere Reflexzentren für die Pupillenverengerung sein könnten, doch ist hierüber noch keine sichere Angabe zu machen. Für das oberste Halsganglion hat Langendorff?) nachgewiesen, daß es mitbeteiligt ist an dem Zustandekommen des Dilatatortonus, denn durch Exstirpation des Ganglions kann man die vorher schon durch Halssympathicusdurchschneidung erhaltene Pupillenverengerung noch verstärken. P. Schultz?) bestreitet freilich, daß das Ganglion einen Tonus besitzt. Bei den Veränderungen der Pupillenweite unter physiologischen Ver- hältnissen ist wahrscheinlich immer die Verstärkung der Erregung des Sphincterzentrums mit einer Hemmung des Dilatatorzentrums verknüpft und umgekehrt. Die physiologischen Änderungen der Pupillenweite, die im Interesse des deutlichen Sehens erfolgen, sind die Pupillenverengerung bei der Accommo- dation, sowie die Pupillenverengerung oder -erweiterung bei Vermehrung oder Verminderung des Lichteinfalles ins Auge. Über die Beteiligung des Nervensystems an der accommodativen Pupillen- verengerung ist schon früher das Erforderliche gesagt worden. Es erübrigt hier, die Pupillenverengerung nach vermehrtem Lichteinfall ins Auge zu be- sprechen. Dieser Vorgang erfolgt reflektorisch. Physiologische Pupillenweite heißt die Pupillenweite, die bei maximaler Adaptation eines Auges an das einwirkende Licht sich einstellt, bei ver- decktem anderen Auge unter Ausschluß aller durch Konvergenz, Accommo- dation und andere Einflüsse bedingten Wirkungen. Die physiologische Pupillenweite ist nach Schirmer‘) bei Helligkeiten des einwirkenden Lichtes zwischen 100 und 1000 Meterkerzen gleich groß; nach Lans’) nimmt sie bei einer Beleuchtung von O0 bis zu ‘1000 Meterkerzen mit der Beleuchtungs- Y) Knoll, Eckhardts Beiträge z. Anat. u. Physiol. 4 (1869). — ?) Rostocker Ztg. 1892. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 38. Jahrg. 1900. — °) Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt. 1898. Vgl. hierzu auch die Abhandlungen von Lodato, Archivio di ottalm. 10 (1902) u. Levinsohn, Arch. f. Augenheilk. 46 (1902). — *) Arch. f. Ophthalmol. 40 (1894). — °) Arch. f. Anat. u. Physiol, physiol. Abt., 1900. 6* 84 . Lichtreflex der Pupille. zunahme zuerst sehr schnell, dann nur noch langsam ab. Erst bei sehr geringer, sowie anderseits bei sehr intensiver Beleuchtung ist die physiolo- gische Pupillenweite von der bei mittlerer Beleuchtung wesentlich verschieden. Nach Silberkuhl') sowie nach Pfister?) nimmt die bei mittlerer Beleuchtung zu beobachtende physiologische Pupillenweite beim Kinde bis zum '6. Lebensjahre zunächst zu, beträgt dann bis etwa zum 20. Lebensjahre etwas über 44mm und nimmt schließlich mit zunehmendem Alter wieder ab (bis 3mm bei Personen über 50 Jahren). Tange*) findet die Pupille bei Frauen weiter als bei Männern, bei Hypermetropen enger, bei Myopen bis zum 20. Lebensjahre weiter als bei Emme- tropen; die Farbe der Iris findet er ohne Einfluß auf die Pupillenweite. Bei Ausschluß aller anderen Reize ist die Größe der Lichtreaktion der Pupille abhängig vom Verhältnis der einwirkenden Helligkeit zum Adap- tationszustand. Die Lichtreaktion wird ausgelöst durch Änderung des ein- wirkenden Lichtes bei gleichbleibendem Adaptationszustande oder durch Änderung der Adaptation bei gleichbleibendem einwirkenden Licht. Nach Sachs ®) sind Lichter, die dem Auge verschiedenfarbig, aber gleich hell erscheinen, äquivalent hinsichtlich der von ihnen hervorgerufenen Pupillar- reaktion. Abelsdorff5) bestätigt dies. Auch für Farbenblinde trifft dies zu; Lichter, die dem Farbentüchtigen und dem Farbenblinden verschieden hell erscheinen, bewirken daher auch dementsprechend verschiedene Pupillar- reaktion. Garten®), welcher den zeitlichen Ablauf der Pupillarreaktion mit Hilfe von photographischen Messungen untersucht hat, gibt darüber folgendes an: Nach Verdunkelung erweitert sich die Pupille anfangs (innerhalb der ersten 5 Sekunden) rasch, dann allmählich immer mehr und behält die gewonnene Weite viele Stunden hindurch bei, ohne also schließlich wieder enger zu werden. Positive und negative Nachbilder, Zunahme des Eigenlichtes des Auges, wie sie nach stundenlanger Verdunkelung des Auges eintreten, haben keinen Einfluß auf die Pupillenweite. Auf starke Momentanbeleuchtung des Auges, die nach etwa eine Minute dauerndem Aufenthalt im Dunkeln vorgenommen wird, erfolgt, wenn nach dem Blitz wieder Dunkelheit herrscht, eine einige Zeit anhaltende Kontraktion der Pupille, welche beginnt nach einer Latenzzeit von höchstens 0,5 Sek., die ihr Maximum in etwa 4 Sek. erreicht und dann durch 6 Sek. konstant bleibt, um nun zuerst schneller, nachher langsamer wieder zurückzugehen; diese nach Momentanbeleuchtung auftretende Pupillarkontraktion ist um so größer und dauert um so länger, je größer die Dunkeladaptation des Auges war. Garten bezieht beides, Zunahme der Pupillarreaktion und gesteigerte Lichtempfind- lichkeit des Auges, auf ein und dieselbe Zustandsänderung. Schirmer gibt an, daß bei Eintritt aus einem dunklen in ein helles Zimmer die Pupille sich zunächst verengt; auf diese anfängliche schnelle Verengerung folgt eine langsame Erweiterung, die sich in etwa zwei bis vier Minuten abspielt und zu der physiologischen Pupillenweite führt. Garten hat ferner noch beobachtet, daß eine langsame, auf viele Sekunden verteilte !) Arch. f. Ophthalmol. 42 (1896). — ?°) Arch. f. Kinderheilk. 26 (1898.) — °) Arch. f. Augenheilk. 46 (1902). — *) Pflügers Arch. 52 (1892) u. Arch. f£. Ophthalmol. 39 (1893). — °) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinne 22 (1899). — °) Pflügers Arch. 68 (1897). Pupillarreflexbahn. 85 Steigerung der Lichtintensität innerhalb gewisser Grenzen fast wirkungslos ist, während ein rasches Ansteigen auf die gleiche Intensität bedeutende Pupillenverengerung herbeiführt. Nach Henry!) nimmt die Pupillenverengerung nicht proportional der Beleuchtungsintensität bei gleichbleibender Größe des Netzhautbildes bzw. der Bildgröße bei gleicher Intensität zu, sondern langsamer. Vervoort?) gibt an, daß die Weite von der Quantität des einwirkenden Lichtes abhängig ist, gleich- gültig, ob diese über einen großen oder kleinen Bereich der Netzhaut verteilt ist. Der Lichtreflex ist zu erhalten sowohl bei Beleuchtung der Netzhautmitte als auch der seitlichen Netzhautteile. Der Lichtreflex erfolgt auf beiden Augen immer gleichzeitig und auch gleich stark, selbst wenn der Lichteinfall nur in ein Auge geändert wird. Vereinzelt finden sich in der Literatur Angaben, daß bei verschiedener Be- lepchtung beider Augen die jeweils beschattete Pupille weiter sei, als die belichtete, jedoch ist die Richtigkeit dieser Angaben noch in Zweifel gezogen worden. Die Pupillenweite eines Auges ist nach Silberkuhls®?) Beobachtungen bei verdecktem zweiten Auge im allgemeinen um 0,3 bis 0,7mm größer als bei unverdecktem zweiten Auge. Den nach Belichtung nur eines Auges auf dem anderen auftretenden Pupillarreflex nennt man indirekten oder konsensuellen Pupillarreflex. Konsensueller Pupillarreflex findet sich bei allen Tieren, welche partielle Kreuzung der Opticusfasern im Chiasma haben ‘). Die Pupillarreflexbahn. - Die Lehre von dem Verlauf der Pupillarreflexbahn ist hauptsächlich gegründet worden auf klinische Beobachtungen im Verein mit pathologisch-anatomischen Befunden’). Zentripetale Fasern für den Lichtreflex der Pupille sind diejenigen partiell gekreuzten Opticusfasern, welche in die vorderen Vierhügel eintreten. Klinische Erfahrungen über Ausfallerscheinungen bei Erkrankungen der zen- tralen Opticusendigungen berechtigen zu der Vermutung, daß die den Pupillarreflex vermittelnden Opticusfasern andere sind als die eigentlichen Sehfasern. Da bei Erkrankungen der äußersten Schichten der Netzhaut die Pupillarreaktion viel weniger gestört sein soll als bei Erkrankung der inneren Schichten, so ist ferner vermutet worden, daß der Reflex nicht von den Stäbchen und Zapfen, sondern von den amakrinen Zellen ausgelöst werde. Bemerkenswert ist, daß sowohl der direkte, wie der konsensuelle Pupillar- reflex nicht ausfällt, wenn das Chiasma in der Medianebene durchtrennt ist. Dies geht hervor sowohl aus klinischen Beobachtungen, wie aus Durch- schneidungsversuchen, die Bernheimer‘) bei Affen angestellt hat. Im Mittelhirn ist eine Verbindung zwischen den die Pupillarreaktion vermittelnden Opticusfasern und dem Oculomotorius vorhanden. In welcher Weise diese Verbindung hergestellt ist, ist gegenwärtig noch nicht sicher zu !) Compt. rend. 119 (1894). — ?) Arch. f. Ophthalmol. 49 (1900). — ?) A.a.O. ‘Vgl. auch bei Ovio, Annali di Ottalmolog. 28 (1898). — * Siehe bei Steinach, Pflügers Arch. 47 (1890). — °) Vgl. hierüber die Zusammenstellungen von Uhthoff, von Heddäus und von Bernheimer in Graefe-Saemischs Handb., 2. Aufl., sowie auch von Bach, Zeitschr. f. Augenheilk. 11; daselbst auch ausführliche Literaturzitate. — °) Sitzungsber. d. Akad. Wien. 107 (1898). 86 Pupillarreflexbahn. sagen. Von den meisten Autoren wird angenommen, daß die Opticusfasern zunächst in Zellen der vorderen Vierhügel endigen und daß diese Zellen mit dem Sphineterzentrum im Oculomotoriuskern verbunden sind. Bernheimer einerseits, Bach und Majano anderseits vertreten jedoch ab- weichende Ansichten. Bernheimer nimmt eine direkte Verbindung der Opticusfasern mit dem Oculomotoriuskern ohne zwischengeschaltete Zellen an. A priori ist die Möglich- keit einer direkten Verbindung des Opticus mit motorischen Kernen nicht zu leugnen, weil die Opticusfasern nicht eigentlich periphere zentripetale Nerven sind, sondern interzentrale. Der anatomische Befund, auf den sich Bernheimer stützt, konnte freilich von anderen Autoren nicht bestätigt werden. Bach und Majano dagegen nehmen, auch auf anatomische Beobachtungen gestützt, an, daß die Opticusfasern zwar zunächst in Zellen der vorderen Vierhügel endigen, daß von da aber Fasern direkt in den Oculomotorius übergehen, ohne die Zellen des Oculomotoriuskernes zu durchsetzen. Auch diese Auffassung erscheint a priori möglich; da aber jene anatomischen Beobachtungen nicht zu dieser Auf- fassung zwingen, so scheint mir immer noch die Annahme am nächsten zu liegen, daß die zentrifugalen Fasern für die Lichtreaktion nach Analogie der Fasern für die accommodative Pupillenverengerung entspringen, ja daß der Ursprungskern für beide gemeinsam ist. Auf die Lage dieses einen Sphincterzentrums weist folgendes hin: Die bei dem Accommodationsakt, auftretende Pupillenverengerung ist assoziiert mit der Konvergenz'). Als einfachsten anatomischen Ausdruck dieser Assoziation würde man erwarten dürfen, daß das Zentrum für die Konvergenz selbst dem Zentrum für die Konvergenzreaktion der Pupille benachbart ist, daß also beide im Oculo- motoriuskern liegen. Tatsächlich haben Hensen und Völckers bei ihren Reiz- versuchen beobachtet, daß im Oculomotoriuskern die Stelle, von der aus Pupillen- verengerung zu erhalten ist, dicht vor der Stelle liegt, von der aus die Konvergenz auszulösen ist. Daß das Sphincterzentrum für die Lichtreaktion und für die Konvergenz- reaktion der Pupille im Oculomotoriuskern zusammen liegt, wird auch aus klinischen Erfahrungen wahrscheinlich. Wenn die Pupillarreflexbahnen direkt von den vorderen Vierhügeln zum Oculomotorius ziehen, ohne im Oculomotoriuskern in Zellen einzu- treten, während die Fasern für die Konvergenzreaktion aus Zellen des Oculomotorius- kernes stammen, dann sollte man erwarten, daß bei nucleären Erkrankungen im Gebiete des Oculomotoriuskerns öfter einmal ein Ausfall der Konvergenzreaktion allein ohne Fehlen der Lichtreaktion zu beobachten wäre. Solche Fälle sind aber, soweit ich habe in Erfahrung bringen können), selten, in reiner Form vielleicht noch nie beobachtet; mit der Störung der Konvergenzreaktion ist da auch fast immer Störung der Lichtreaktion verknüpft; es ist also’ das Nächstliegende, anzunehmen, daß in dem Falle ein gemeinsames Zentrum für die beiden Reaktionen ‚erkrankt ist. In den seltenen Fällen, in denen Konvergenzstarre der Pupille ohne Licht- starre vorkommt, ist die Konvergenzstarre meist, vielleicht immer, verknüpft mit Störungen der Konvergenz bzw. der Accommodation selbst. Diese Beobachtungen - widersprechen nicht der Annahme eines einzigen Sphincterzentrums, weil in diesen Fällen der Sitz der Erkrankung da liegen könnte, wo die Bahnen für die gemein- same Innervation des Rectus internus, Sphincter pupillae und Ciliaris noch zusammenliegen, mithin das Sphincterzentrum noch intakt sein Könnte. Lichtstarre der Pupille ohne Konvergenzstarre kommt bekanntlich öfter vor, z. B. bei Tabes. In diesen Fällen wird die Störung auf eine Erkrankung im zentri- petalen Teile der Reflexbahnen zurückgeführt. In der Regel ist diese Lichtstarre doppelseitig, selten einseitig. Das Vorkommen einseitiger reflektorischer Pupillen- !) Siehe oben. — ?) Siehe bei Uhthoff, Graefe-Saemischs Handb,, 2. Aufl., II. TI., 11, XXI. Kap. Einige nähere Mitteilungen über diesen Punkt verdanke ich noch einer brieflichen Mitteilung des Herrn Professor Uhthoff. Pupillarreflexbahn. 87 starre haben Heddaeus!) sowie Schanz?) auf Erkrankung im zentrifugalen Teile des Reflexbogens zurückführen zu müssen geglaubt, und sie haben ferner gemeint, wegen des Vorkommens einseitiger Lichtstarre ohne Konvergenzstarre im Oculo- motoriuskern doch zwei verschiedene Zentren für Lichtreaktion und Konvergenz- reaktion annehmen zu müssen, jedoch ist von Seggel?) sowie von Uhthoff‘) darauf aufmerksam gemacht worden, daß auch in diesen Fällen die Erkrankung in zentripetalen Teilen sitzen könnte, daß also kein Grund vorliegt, die Auaalıpe eines einzigen Sphincterzentrums fallen zu lassen. Um den konsensuellen Pupillarreflex erklärlich zu machen, muß ange- nommen werden, daß die zentralen Teile der Pupillarreflexbahn in einem derartigen physiologischen Zusammenhange stehen, daß die eine Seite nicht ohne die andere erregt werden kann. Näheres darüber ist aber noch nicht sicher bekannt. Hierbei sind noch folgende Einzelheiten zu beachten: Wenn es richtig ist, daß im Chiasma der größte Teil der Pupillarreflexfasern gekreuzt ist, und daß bei konsensuellem Pupillarreflex die Pupillenverengerung in dem gereizten Auge doch etwas stärker ist als auf der anderen Seite, so scheint geschlossen werden zu müssen, daß auch im Verlaufe der zentrifugalen Bahnen noch eine Kreuzung vorkommt. Würde eine solche Kreuzung fehlen, würde eine Verbindung der Pupillenzentren nur durch Kommissuren vorhanden sein, so wäre es anscheinend nicht verständlich, wie die Erregung von dem zunächst gereizten Zentrum aus in stärkerem Maße auf das Zentrum und die Iris der anderen Seite als auf die gleich- seitige Iris übertragen werden könnte. Als anatomischen Ausdruck dieser Kreuzung in der zentrifugalen Bahn würde man vielleicht die Kreuzungen ansehen dürfen, die im Wurzelgebiet des Oculomotorius gefunden worden sind. Indes ist dieser Schluß doch nicht zwingend. Erstens besteht nämlich die Möglichkeit, daß das Licht direkt auf den Sphincter, auf den es auffällt, eine erregende Wirkung ausübt oder seine Erregbarkeit erhöht, so daß er sich nun stärker kontrahieren würde als der andere Sphincter, auf den kein Licht direkt wirkt. — Zweitens wäre es möglich, daß es sich da um Mitbeteiligung eines Reflexe$ handelte, der sich nur einseitig in den peripheren Teilen abspielt, sei es, daß er durch die Zellen der Retina oder des Ciliarganglions vermittelt wird. Aus neuester Zeit liegt sogar eine Angabe von Marenghi°) vor, daß nach intracranieller Durchschneidung der Optiei noch Pupillarreflex erfolgt. — Drittens aber ist es denkbar, daß von den beiden Opticusbahnen die ungekreuzte stärker reflektorisch wirksam wäre als- die gekreuzte, so daß jener Effekt ohne Annahme einer zweiten Kreuzung erklärlich wäre. Zwischen diesen Möglichkeiten einen sicheren Entscheid zu treffen, ist noch nicht angängig. Um die Koordination zwischen dem Sphincter- und Dilatatorzentrum erklärlich zu machen, ist ferner noch anzunehmen, daß aus dem zentralen Teile des soeben beschriebenen Reflexbogens irgendwo, sei es in den Vier- hügeln, sei es im Oculomotoriuskern, eine Bahn abzweigt, die zum Halsmark hinführt und die hemmend auf das Dilatatorzentrum wirkt. Wo und wie diese Bahn verläuft, ist auch noch nicht anzugeben. An der Pupillenverengerung nach Lichteinfall sind übrigens bis zu einem gewissen Grade auch Vorgänge beteiligt, die sich in der Großhirnrinde ab- ‚spielen. Haab‘) hat nämlich gefunden, daß, wenn man in einem dunklen Raume eine Kerzenflamme seitlich von einem Auge aufstellt, die Pupille enger wird, falls man die Aufmerksamkeit auf die Flamme lenkt. Haab nennt den Vorgang Hirnrindenreflex. !) Arch. f. Augenheilk. 27 (1893). — ?) Ebenda 31 (1895). — °) Ebenda. — 4) A. a. 0. — °) Arch. ital. de biol. 37 (1902). — °) Festschr. z. Feier d. 50 jährigen Doktorjubiläums Nägelis u. Köllickers. Zürich 1891. 88 Pupillarreflexbahn. — Wirkung von Giften auf innere Augenmuskeln. Die Bahnen für diesen Reflex ergeben sich aus den anatomischen Verknüp- fungen des Hinterhauptlappens mit dem Opticus und Oculomotorius. Die Angaben Haabs sind übrigens von anderen Autoren bestritten worden. Außer vom Opticus werden noch von manchen anderen zentripetalen Nerven reflektorisch Veränderungen der Pupillenweite ausgelöst, z. B. durch Reizung des Vagus, des Ischiadicus, des Trigeminus. Diese Veränderungen sind in der Regel Pupillenerweiterungen, seltener Pupillenverengerungen. Auch bei Reizung ver- schiedener Gehirnteile, z. B. der Großhirnrinde, des Streifenhügels, des Seh- hügels und anderer ist Pupillenerweiterung zu beobachten. — Die Bahnen für diesen Akt ergeben sich aus den anatomischen Verknüpfungen des Dilatator- zentrums mit jenen sensiblen Nerven oder Gehirnteilen. Zum Zwecke der Koor- dination der Zentren müssen in diesen Fällen auch noch Hemmungsbahnen für das Sphincterzentrum angenommen werden, über deren Verlauf im einzelnen aber auch niehts Sicheres auszusagen ist. Diese Pupillenveränderungen, welche unter normalen Verhältnissen wohl nur als Begleiterscheinungen anderer nervöser Vorgänge (also als eine Form der Mitbewegung) auftreten, haben in physiologisch-optischer Hinsicht kein großes Interesse. Von Bach und H. Meyer!) ist in vivisektorischen Versuchen bei Hunden und Katzen festgestellt worden, daß am spinalen Ende der Rautengrube eine Stelle liegt, deren Reizung (z. B. mechanisch durch Schnitt) Lichtstarre der Pupillen zur Folge hat. Reizt man die Stelle nur auf einer Seite, so erscheint die Starre auf der Pupille der anderen Seite. Durchschneidet man die Medulla oblongata weiter oberhalb, so ist die Starre wieder aufgehoben. Bach hält die Stelle für ein Hemmungszentrum des Lichtreflexes.. Da aber die Reizung der Stelle Pupillen- starre bei ausgesprochener Miosis zur Folge hat, so muß doch auch die Möglich- keit in Erwägung gezogen werden, daß es sich hier um eine Zellenanhäufung handelt, von der aus das Sphincterzentrum erregt wird, freilich so, daß dadurch der Lichtreflex unterdrückt wird ?). — Auch ein Hemmungszentrum für die Pupillen- erweiterung soll an dieser Stelle gelegen sein. Was diese Zentren in physiologisch-optischer Hinsicht zu bedeuten haben, ist .nicht klar. Vielleicht sind es nur Relais, die in die zwischen Sphincter- und Dila- tatorzentrum befindlichen Hemmungsbahnen, oder vielleicht auch in die von den peripheren zentripetalen Nerven zu den Zentren hinführenden Bahnen eingeschaltet sind; in letzterem Falle würde ihnen kein physiologisch - optisches Interesse zu- kommen. Anhangsweise seien einige kurze Angaben gemacht über die Wirkungs- weise der wichtigsten Gifte, die auf die inneren Augenmuskeln Einfluß haben 3). Atropin wirkt lähmend auf die Endigungen der Nervi ciliares breves im Sphincter pupillae und im Accommodationsmuksel, reizt aber nicht den Dilatator. Dem Atropin ähnlich, nur schwächer, wirkt Homatropin sowie Euphthalmin; durch letzteres wird der Ciliarmuskel weniger geschwächt als durch Hom- atropin, obwohl die Pupillenerweiterung bei beiden gleich ist ?). Cocain reizt die Endigungen des Sympathicus im Dilatator, in stärkeren Dosen lähmt es auch die Endigungen der kurzen Ciliarnerven. Physostigmin und Muscarin bewirken Reizung der Endigungen der kurzen Ciliarnerven, sie sind also echte Antagonisten des Atropins. !) Arch. f. Ophthalmol. 55 u. 56 (1908). — ?*) Daß zwei Innervationsvorgänge, die, jeder für sich allein, gleiche Wirkung in einem Muskel hervorbringen, sich bei ihrem Zusammenwirken gegenseitig hemmen können, ist ja bekannt. — °) Siehe bei Schultz, Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt., 1898 u. Arch. f. Augen- heilk. 40 (1899). — *) Treutler, Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 1897. Theorie des Augenspiegels. 89 VI. Theorie des Augenspiegels. Es können hier nur in Kürze die physikalisch -optischen Grundlagen des Augenspiegels erörtert werden. Näheres darüber bei Helmholtz a.a. 0. Betreffs der Verwendung desselben in der Praxis muß auf die Lehrbücher der Augen- heilkunde verwiesen werden. Wegen der Undurchsichtigkeit der Chorioidea und Iris kann nicht von der Seite her Licht in das Auge fallen, sondern nur von vorn. Das Auge ist eine Camera obscura. Im Auge wird nun zwar der größte Teil des auf den Augenhintergrund auffallenden Lichtes durch das Pigment der Pigment- schicht absorbiert, doch kann auch ein Teil von der Netzhaut reflektiert werden. Das von einem beleuchteten Punkte der Netzhaut reflektierte Licht geht aber auf demselben Wege, nämlich durch das dioptrische System des Auges hindurch nach außen, also in der Richtung nach der beleuchtenden Lichtquelle zurück. Wir sehen nun ohne besondere Hilfsmittel den Augenhintergrund eines anderen Auges nicht erleuchtet, weil unsere eigenen Augen kein Licht aus- senden, das jenes Auge erleuchten könnte und das nach Reflexion an der Netzhaut jenes Auges in unsere Augen zurückkehren könnte. Stellt man jedoch dicht neben einem seiner Augen ein Licht auf, und beobachtet man dann ein anderes Auge, so ist es möglich, jetzt das andere Auge erleuchtet zu sehen, weil das beobachtende Auge jetzt doch ungefähr in der Richtung liegt, in der das Licht aus dem beobachteten Auge herauskommt. _ Zur bequemen Ausführung der Beobachtung benutzt man einen Spiegel, der schräg vor das zu beobachtende Auge aufgestellt wird und der das von einer seitlich aufgestellten Lichtquelle herkommende Licht in dieses Auge hineinspiegel. Das von dem Auge reflektierte Licht fällt dann auf den Spiegel zurück und gelangt zum Teil durch ein kleines im Spiegel befind- liches Loch in das Auge des Beobachters, das hinter dem Spiegel aufzu- stellen ist. Ist das beobachtete Auge in Accommodationsruhe und emmetrop oder mäßig hypermetrop, so wird der Beobachter, dessen Auge wir uns immer emmetrop denken wollen, ohne weiteres ein Bild von dem Augenhintergrund sehen können, und zwar ein aufrechtes, weil die Strahlen, die von einem Punkte der Netzhaut des beobachteten Auges kommen, parallel oder mäßig divergent in das Auge des Beobachters einfallen. Ist das beobachtete Auge aber myop, so fallen jene Strahlen konvergent ein; in diesem Falle ist die Beobachtung nicht ohne weiteres möglich, wohl aber, wenn die Myopie sozu- . sagen korrigiert wird dadurch, daß der Beobachter durch eine Zerstreuungs- linse beobachtet. Die Brechkraft der zur Beobachtung notwendigen Zer- streuungslinse kann in diesem Falle benutzt werden, um den Grad der Myopie zu berechnen. Auch wenn das beobachtete Auge hypermetrop ist, kann der Grad der Refraktionsanomalie bestimmt werden, wenn der Beobachter durch Vorsetzen einer Sammellinse vor sein Auge die Hypermetropie sozusagen korrigiert; es wird für die Bestimmung die stärkste Sammellinse aufgesucht, durch welche der Augenhintergrund noch scharf zu sehen ist. In dieser Weise können Refraktionsanomalien objektiv festgestellt werden. Auch Astigmatismus kann in der Art untersucht werden. 90 Theorie des Augenspiegels. Zur Untersuchung der Beschaffenheit des Augenhintergrundes selbst ist die Beobachtung im aufrechten Bilde weniger geeignet, weil das beobachtete Netzhautfeld durch die Pupille des beobachteten Auges sehr eingeschränkt erscheint und daher ein größeres Feld des Augenhintergrundes nicht mit einem Blick übersehen werden kann. Um diesem Übelstande aus dem Wege zu gehen, wendet man die Beobachtung im umgekehrten Bilde an; sie besteht darin, daß vor das beobachtete Auge eine Sammellinse von hinreichender Stärke gesetzt wird, welche ein umgekehrtes reelles Bild des Augenhintergrundes in passen- der Lage zwischen dem beobachteten und beobachtenden Auge entwirft; letzteres kann sich dann auf dieses Bild einstellen und es übersehen. Das zu übersehende Feld der Netzhaut ist in diesem Falle größer; zugleich ist aber das Bild lichtstärker, so daß es sich auch aus diesem Grunde gut zur Beobachtung eignet. Daß übrigens auch im umgekehrten Bilde die Refrak- tionsanomalien objektiv bestimmbar sind, ist ohne weiteres klar. Bei höheren Graden von Myopie kann die Beobachtung im umgekehrten Bilde auch ohne Vorsetzen einer Sammellinse erfolgen. _ Über das Aussehen des Augenhintergrundes unter normalen und patho- logischen Bedingungen siehe die Lehrbücher der Augenheilkunde. Zur Untersuchung der Refraktionsanomalien mittels des Augenspiegels kann auch die Beobachtung des Schattens benutzt werden, den die Iris auf der Netzhaut entwirft. Wenn der Augenhintergrund mittels eines Lichtes beleuchtet wird, ohne daß das Auge auf das Licht eingestellt ist, so wird ein von der Pupillenweite ab- hängiges kreisförmiges Netzhautfeld beleuchtet. Bewegt man das Licht hin und her, so bewegt sich auch die Lichtfläche auf der Netzhaut, und zwar ist die Be- wegungsrichtung des Netzhautbildes umgekehrt wie die Bewegungsrichtung des Lichtes selbst. Wenn der Beobachter sein Augenmerk auf die Grenze des von der Iris entworfenen Schattens lenkt, so sieht er demnach bei der Beobachtung im aufrechten Bilde eine Verschiebung des Schattens entgegengesetzt der Verschiebung des Lichtes, bei der Beobachtung im umgekehrten Bilde eine Verschiebung des Schattens in gleicher Richtung wie die Verschiebung des Lichtes. Sucht der Beob- achter bei Beobachtung eines Myopen den Punkt auf, in dem sein Auge stehen muß, um die der Lichtbewegung gleichsinnige Bewegung des Schattens in die ent- gegengesetzte umkehren zu sehen, so befindet sich das beobachtende Auge im Fern- punkt des beobachteten Auges. Bei Emmetropen und Hypermetropen muß das beobachtete Auge durch eine Sammellinse künstlich myop gemacht werden. — Bei der Beobachtung des Schattens mit dem Augenspiegel wird nicht die Licht- quelle selbst bewegt, sondern der Spiegel um ein weniges hin und her gedreht. Dadurch ändert sich der Ort des Spiegelbildes, das von der Lichtquelle durch die Spiegelung entworfen wird. Diese Ortsveränderung ist für die Schattenverschiebung maßgebend; in welcher Weise sie erfolgt, ergibt eine einfache katoptrische Betrach- tung. Zu beachten ist, daß es für die Richtung der Ortsveränderung des Spiegel- bildes nicht einerlei ist, ob ein Plan- oder Hohlspiegel verwendet wird. — Man nennt das beschriebene Beobachtungsverfahren Skiaskopie. be dmarr 2. Die Wirkungen des Lichtes auf die Netzhaut von Wilibald Nagel. I. Die objektiven Erscheinungen der Netzhauterregung. Die Netzhaut bietet, makroskopisch und mikroskopisch betrachtet, ein verschiedenes Bild, je nach dem Tätigkeitszustande, in dem sie sich befindet; man kann daher einer Netzhaut, die einem frischen Auge soeben ent- nommen wurde, unter geeigneten Umständen ansehen, ob sie zuvor durch ihren adäquaten Reiz, das Licht, in Erregungszustand versetzt war oder nicht. Diese objektiven Merkmale der Erregung kommen zum Teil noch im mikro- skopischen Präparat zum Ausdruck, wenn das Gewebe in geeigneter Weise fixiert wurde. Ein Teil der mit der Funktion ‘verknüpften Veränderungen der Netz- haut ist dieser mit anderen Geweben gemein, nämlich gewisse Veränderungen . des tinktoriellen Verhaltens von Zellkernen und Plasma, ferner die elektro- motorischen Reaktionen, die sich den direkt sichtbaren Erregungswirkungen als weiteres objektives Kennzeichen stattfindender Reizung anschließen. Wieder andere Erscheinungen, die Farbenveränderung im Lichte, die Pigmentverschiebungen und die Kontraktionen gewisser Elemente der Netz- haut sind zwar auch nichts der Netzhaut ganz Eigentümliches, doch sind analoge Erscheinungen in anderen Geweben, wenn überhaupt nachweisbar, im allgemeinen weniger ausgeprägt. 1. Veränderungen des tinktoriellen Verhaltens und der chemischen Reaktion der Netzhautelemente unter dem Ein- fluß des Lichtreizes. Birnbacher!) hat an der Netzhaut besonders von Fischen Differenzen der Färbbarkeit gefunden, je nachdem sie zuvor belichtet oder dunkel gehalten war. Die Hellnetzhaut färbt sich mit sauren Farbstoffen schwächer; in der Dunkelnetzhaut nehmen namentlich die Zapfenellipsoide eine sehr intensive Färbung an (Fuchsin, Eosin, Aurantia usw.). Nach Biondi-Heidenhain gefärbt, werden die Zapfen im Hellauge grün, im Dunkelauge gelb. Daß die Netzhautreaktion bei Belichtung sauer wird (Angelucci), bestätigten Lodato?) und Maggio?°) neuerdings. Pergens*) konnte die Veränderung der Zapfenellipsoide hinsichtlich der Färbbarkeit nicht bestätigen. Ich habe sie bei Fröschen sehr inkonstant gefunden. !) Arch. f. Ophthalmol. 40 (1894). — ?) Arch. di Ottalmologia 7 (1900). — ®) Ebenda 9 (1902). — *) Ann. Soc. R. science. nat. Bruxelles 5 (1896). 99 Phototrope Pigmentreaktion. Pergens') sah dagegen tinktorielle Veränderungen, die auf Verminderung des Chromatins und Nucleins im Licht hinzuweisen scheinen. Sonnenlicht soll auch das Retinapigment vermindern. Blaues Licht, das am stärksten auf die Pigmentwanderung wirkt, beeinflußt am schwächsten den Nucleinverbrauch, Rot um- gekehrt. Nach Pergens wird die Netzhaut unter dem Einfluß der Belichtung dünner, in verschiedenem Maße bei verschiedenfarbigen Lichtern. Wegen der Unsicherheit der Vergleichung bei nichtspektralen Lichtern sind diese letzteren Resultate mit Vorsicht aufzunehmen. van Genderen Stort?) konnte die Pergens- schen Angaben nicht bestätigen. Veränderungen der Netzhautganglienzellen unter verschiedenen Einflüssen hat neuerdings Birch-Hirschfeld°) genau studiert (an Hunden, Katzen, Kaninchen). Bei Färbung nach Nissl zeigen sich keine erheblichen Differenzen zwischen Hell- und Dunkelauge. Die feinkörnigen, namentlich in der Zellperipherie angehäuften Nisslkörper des Dunkelauges werden im Hellauge spärlicher und verwaschener. Bei Blendung durch elektrisches Licht schwinden sie völlig, die Zellen schrumpfen und werden vakuolisiert. Der Chromatingehalt der Kerne geht durch starke Belichtung zurück, auch in der inneren Körnerschicht. Es bleibt übrigens unent- schieden, ob dies die Wirkung des Lichtes auf die Ganglienzellen selbst ist, oder ob die Stäbchen und Zapfen den Reiz vermitteln. Weitere Angaben (von geringem Interesse) über Lichtwirkungen an den Elementen der Netzhaut finden sich bei Heger und Pergens*®), Dor°’), Lodato°), Pergens’?). 2. Bewegungserscheinungen an den Netzhautelementen. a) Die phototrope Reaktion des Pigmentepithels. Das geformte Pigment des Netzhautepithels zieht sich bei längerem Lichtabschluß in die außerhalb der Stäbchen- und Zapfenschicht gelegenen Zellkörper zurück, wandert dagegen bei Einwirkung von Licht zwischen die Stäbchen hinein, deren Außenglieder mit einer dunklen Hülle umscheidend (Boll®). Direkter Lichtreiz ist indessen nicht der einzige Anstoß zu dieser Pigmentwanderung, sondern auch Nerveneinfluß, der sich im Sehnerven zentrifugal geltend macht, kann auf Grund verschiedener auslösender Momente die „phototrope Epithelreaktion* (Kühne) bewirken (Engelmann). Die eingehendsten Untersuchungen auf diesem Gebiet hat Kühne?) angestellt. An Einzelheiten sei folgendes erwähnt. Aus den Augen eines mehrere Stunden im Dunkel gehaltenen Frosches läßt sich die Netzhaut in der Regel leicht mit der Pinzette herausheben, ohne daß das Pigment des Augenhintergrundes in erheblicherer Menge daran haften bliebe. Sie ballt sich an der Pinzette zu einem fast durchsichtigen zart rosenroten Klümpchen zusammen. Anders ist die Netzhaut beschaffen, die etwa 10 bis 20 Minuten vom hellen Licht (Tageslicht) beleuchtet war; sie löst sich schon schwerer von der Aderhaut und erscheint stets als eine tief samtschwarze Membran. Daß diese Ver- änderung auf einer Wanderung des Pigments zwischen die Stäbchen beruhe, er- kannte schon Boll (l. e.), genauere Feststellungen erfolgten durch Czerny"”), Angelucci'') und Kühne (l. c.). Bei der Herausziehung der Netzhaut reißt in Y)].e. u. Zeitschr. f. Augenheilk. 2 (1899). — ?) Nederl. Tijdschr. f. Geneesk. 1899. — ®) Arch. f. Ophthalmol. 5V (1900). — *) Bull. Acad. roy. med. d. Belgique (4) 10 (1896). — °) Ann. d’oculistique 115 (1896). — °) Archivio di ottalmologia 3 (1895). — 7) Ann. Soc. R. sciene. nat. Bruxelles 6 und Travaux Institut Solvay 1896/97 und Klin. Monatsbl. f. Augenheilkunde 1897. — °) Sitzber. d. Akad. d. Wissensch. in Berlin 1876, Januar und Arch. f. Anat. u. Physiol. 1878. — °) Unters. a. d. physiol. Institut d. Universität Heidelberg 1 u. Hermanns Handb. d. Physiol. 3. — ) Sitzungsber. d. K. Akad. d. Wissensch. Wien 56. — '') Atti Accad. d. Lincei 1877/78 u. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1878. Phototrope Pigmentreaktion. 93 der Regel die Stäbchenschicht samt den Fortsätzen der Pigmentzellen von den Körpern der letzteren ab. Der Übergang aus der Lichtstellung des Pigments in die Dunkelstellung stellt sich bei mikroskopischer Musterung entsprechender Präparate als durch Wanderung der Fuscinnadeln bedingt dar, aus denen das Pigment besteht. Die Wanderung erfolgt innerhalb der langen Fortsätze der Epithelzellen; amöboide Ein- ziehung dieser Fortsätze in die Zellen hinein erfolgt also nicht, obgleich man dies wegen der leichteren Ablösbarkeit der Dunkelnetzhaut vermuten könnte. Das festere Haften der Netzhaut im Hellen beruht nach Kühne teils auf dem Dickerwerden der Fortsätze bei der Pigmenteinwanderung, teils auf einer Dickenzunahme der Stäbchen im Licht. j Um maximale Dunkelstellung des Pigments zu erzielen, muß man die Frösche ein bis zwei Stunden in absolutem Dunkel lassen. Die Lichtstellung wird bei weitem schneller erreicht, sie kann bei hellem Sonnenlicht in fünf bis zehn Minuten vollständig eingetreten sein. An einem im Dunkeln enucleierten Froschauge erfolgt der Eintritt der Lichtstellung noch ebenso vollständig wie beim unverletzten Auge in situ. Die Dunkelstellung wird dagegen beim enucleierten, zuvor belichteten Auge nicht mehr oder nur unvollständig erreicht. Bei Belichtung nur eines Teiles der Netzhaut beschränkt sich die Licht- stellung auf den belichteten Teil. Kühne konnte auf diese Weise eine Art roher „epithelialer Optogramme“ erzielen, indem er einzelne Teile der Netz- haut hell beleuchtete, den Rest unbeleuchtet ließ. Der letztere blieb durch- sichtig, die ersteren erschienen beim Abziehen der Netzhaut schwarz. Bei decrepiden Fröschen erfolgt die Reaktion verlangsamt oder gar nicht; namentlich erzielt man bei ihnen fast nie eine richtige Dunkelstellung. Nach Calvi') soll Holokaineinträufelung Lichtstellung des Pigments bewirken, während Eukain, Tropakokain, Chinidin und Cinchonin die Dunkelstellung bestehen lassen. Ahnliche Angaben, auch z. B. über Wirkung von Icterus auf die Pigment- epithelien liegen in größerer Zahl vor, können aber keineswegs als überzeugend gelten. Bei sehr intensiver Lichtwirkung wandert alles Pigment aus den Zell- körpern heraus und so weit in die Fortsätze hinein, daß das äußere Drittel der Stäbchen wieder sichtbar wird. Die Membrana limitans externa stellt die Grenze für die Pigmentverschiebung dar. Die brechbaren Teile des Spektrums wirken stärker „retinomotorisch“ (Angelucci?), Engelmann?) als die weniger brechbaren. Insbesondere wirkt rotes Licht sehr schwach auf die Pigmentzellen, schwächer, wie es scheint, als auf die Zapfenkontraktion. Engelmann) zeigte, daß auch ohne direkte Lichtwirkung auf die Netzhaut die Pigmentstellung geändert werden könne von seiten des Seh- nerven aus, der demnach zentrifugalleitende, retinomotorische Fasern ent- halten muß. Lichteinfall in eins der beiden Augen bewirkt Lichtstellung des Pigments (und der Zapfen, s. u.) in beiden Augen, während die Seh- purpurbleichung auf das direkt belichtete Auge beschränkt bleibt. Auch Belichtung des Rückens und der Schenkel genügt, um in den dunkel gehalte- nen Augen Lichtstellung zu erzeugen. V) Arch. di ottalmologia 6 (1899). — ?) Arch. f. Anat. u. Physiol. 1878. — ®) Arch. f. d. ges. Physiol. 35 (1885). — ')l. e. 94 Reaktion der Zapfen. Häufig findet man nur in einem Teil der Retina Dunkelstellung, in anderen Partien eine mittlere Lichtstellung (A. E. Fick!). Über die physiologische Bedeutung der phototropen Pigmentreaktion wissen wir gar nichts. Daß sie mit der Sehpurpurbildung direkt etwas zu tun habe, ist nicht wahrscheinlich. Daß sie durch Verhinderung seitlichen Licht- austritts aus den Stäbchen das distinkte Sehen fördern sollte, ist ebenfalls kaum glaublich, weil die Bedingungen für Übertritt von Lichtstrahlen aus einem Stäbchen in ein anderes ohnehin sehr ungünstig sind. Die geringere Sehschärfe _ des Dunkelauges erklärt sich bekanntlich auf ganz andere Weise. Bei Säuge- tieren hat sich die Pigmentreaktion bis jetzt nicht sicher nachweisen lassen. b) Die Kontraktion der Netzhautzapfen unter dem Ein- fluß des Lichts. Im Jahre 1883 entdeckte van Genderen Stort?) Wanderungen der Zapfen der Froschnetzhaut unter dem Einfluß des Lichtes; während die Zapfen bei Fröschen, die im Hellen gehalten waren, ganz nahe der Membrana limitans externa sitzen, rücken sie im Dunkel samt den ganzen Zapfenaußen- gliedern weit in die Stäbchenschicht hinein, bis nahe ans Pigmentepithel heran. Die letztere Stellung, bei der das Innenglied fadenförmig langgestreckt ist, kann als Ruhestellung betrachtet werden. Eingehende Untersuchungen von Engelmann?) haben gezeigt, daß das Licht als Kontraktionsreiz auf die Zapfen wirkt, und zwar höchstwahrscheinlich direkt auf das kontraktile Innenglied, nicht durch Vermittelung des Außengliedes, das bei der sensorischen Funktion die Hauptrolle spielt. Die Kontraktion geht nicht sehr schnell vor sich, bei mäßigen Licht- stärken dauert sie immer einige Minuten. Herzog!) fand, daß selbst bei Bestrahlung mit 1400 MK die maximale Verkürzung erst nach etwa zwei Minuten erreicht wurde. Alle Tierarten, die untersucht sind, zeigen diese Reaktion, auch in der menschlichen Netzhaut ist sie nachweisbar (van Genderen Stort5). Bei Fröschen kommen verschiedene Arten von Zapfen vor, von denen nur eine in der angegebenen Weise prompt reagiert (Engel- mann®). In den Abbildungen (Tafel I) erkennt man einige Zapfen, die unbeweglich an der limitans interna festsitzen. Das Maximum der Reizwirkung liegt in der kürzerwelligen Hälfte des Spektrums (Engelmann), doch scheint das rote Licht immerhin wirksamer zu sein als hinsichtlich der Pigmentepithelreaktion. Engelmann®) und Nahmacher’) fanden auch die Zapfenreaktion (wie die Pigmentreaktion) vom Nervensystem abhängig. Bestrahlung nur eines Auges, oder auch nur des Rückens erzeugt Lichtstellung, d. h. Zapfen- verkürzung, auch im dunkel gehaltenen Auge, falls nicht das Gehirn zerstört ist (Frosch, Taube). Diese „sympathische“ Reaktion erfolgt indessen nicht ganz so prompt wie die des Pigmentepithels. Nach Maggio (l. c.) soll übrigens auch die Säuerung der Netzhaut sich auf das Dunkelauge über- tragen, sowie die Bleichung des Sehpurpurs. Letzteres ist sicher falsch. !) Arch. f. Ophthalmol. 37. — ?) Onderzoek. Physiol. Lab. Utrecht (3) 9, 145. — °®) Arch. f. d. ges. Physiol. 35 (1885). — *) Ber. ü. d. 31. Vers. d. ophthalmol. Ges. Heidelberg 1903. — °) Onderzoek. Physiol. Labor. Utrecht (3) 10. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 35 (1885). — 7) Arch. f. d. ges. Physiol. 53 (1893). Zu Seite 94. Tafel 1. Fig. 1. oben unbewegliche Nebenzapfen Fig. 2. oben { RR i € ? A a MN N ER ua TIER ‚ iin UT rü Re s esse 4 ir / 18 Fig. 1. Verhalten von Pigment und Zapfen beim Dunkelfrosch mit zerstörtem Gehirn. — Fig. 2. Lichtstellung von Pigment und Zapfen der Froschnetzhaut. — Fig. 3. Dunkelstellung von Pigment und Zapfen der Froschnetzhaut. (Nach Präparaten von Dr. Herzog.) Nagel, Physiologie des Menschen. III. Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig. Sehpurpur. 95 Strychninvergiftung oder Faradisierung des Auges, beides im Dunkeln vorgenommen, erzeugen ebenfalls Lichtstellung. Curare ist ohne Einfluß. Herzog!) hat neuerdings ähnliche Versuche (an Fröschen) gemacht, bei denen sich unter anderem herausstellte, daß sowohl Erwärmung des Tieres auf Warmblütertemperatur wie Abkühlung durch Eis Lichtstellung bewirkt, ja daß sogar bloßes Aufbinden des Tieres in gleichem Sinne wirkt. Für Existenz eines gewissen tonischen Nerveneinflusses spricht, daß nach Zer- störung des Hirnes ungewöhnlich langgestreckte Zapfen gefunden werden (vgl. Fig. 1 auf Taf. I. Engelmanns Beobachtung der Zapfenverkürzung bei langsamem Absterben kann in gleichem Sinne gedeutet werden. ; A. E. Fick?) behauptet übrigens, die sympathische Reaktion des Dunkel- auges vollziehe sich auch nach Durchschneidung des Sehnerven, Lodato und Pirrone?) dagegen bestätigen Engelmanns Angaben und nehmen Fasern an, die beide Retinae verbinden. Werden beide Tractus durchschnitten oder das Gehirn über dem Chiasma abgetragen, so erfolgt die sympathische Reaktion noch, jedoch abgeschwächt. Der Sehpurpur. Im Jahre 1851 erwähnte Heinrich Müller *) zuerst, daß die Stäbchen des Froschauges zuweilen rot aussähen; Leydig erkannte 1857 das Vorkommen der von ihm treffend als rosenrot bezeichneten Farbe bei allen Amphibien ; Max Schultze fand die rote Farbe auch an den Stäbchen der Ratte und Eule. Boll5) entdeckte dann im Jahre 1876 die interessanteste Eigentümlich- keit dieser Stäbchenfarbe, ihre Vergänglichkeit im Licht. -Mit Unrecht reklamierte späterhin Kühne) diese Entdeckung für sich; Boll hat sie klar und deutlich beschrieben und in ihrer Bedeutung erkannt. Boll fand überdies, daß beim Frosch auch grüne Stäbchen vereinzelt vorkommen, was Kühne’) dann bei der Kröte ebenfalls sah. Kühne’) bewies ferner, daß die rote Färbung der Netzhaut gegen allerlei Einwirkungen, wie Absterben des Gewebes, Faulen, Eintrocknen, resistent sei, sofern nur das Licht ausgeschlossen bleibt. Zugleich gelang ihm der Nachweis, daß es sich nicht um eine Interferenzfarbe handle, sondern um ein wahres, lösliches Pigment von rosenroter Farbe. Die anfänglich vielfach gehegte Hoffnung, die Entdeckung des Seh- ‘purpurs werde viel zur Aufklärung über das Wesen des Sehaktes beitragen und die Entdeckung weiterer „Sehstoffe“ im Gefolge haben, hat sich nicht erfüllt”); man ist vielmehr auch jetzt noch völlig darüber im unklaren, welche Bedeutung der Sehpurpur hat. Man weiß wohl, daß mit seiner An- häufung in den Stäbchen eine enorme Steigerung der Lichtempfindlichkeit dieser Gebilde einhergeht; ob dabei die rote Farbe von irgend welcher Be- deutung ist, wissen wir jedoch nicht. !) Ber. ü. d. 31. Vers. d. ophthalmol. Ges., Heidelberg 1903. — ?) Vierteljahrs- schrift d. naturforsch. Ges. Zürich 40 (1894). — °) Archivio di Ottalmol. 8 (1901). — *) Zeitschr. wiss. Zool. 3, 234, 1851. — °) Ber. d. Akad. Berlin, 23. Nov. 1876. — 6) Unters. aus d. physiol. Institut Heidelberg 1, verschiedene Abhandlungen mit mehreren Schülern gemeinsam publiziert, 1879. Zusammenfassung in Hermanns Handb. 3, Chemische Vorgänge in der Netzhaut. — 7) Vgl. über diesen Punkt O. Weiß, Kritisches und Zusammenfassendes über Sehstoffe. Zeitschr. f. Augen- heilkunde 3 (1900). 96 Sehpurpur. Über die weiteren Eigenschaften des Sehpurpurs haben zunächst die sehr eingehenden Forschungen Kühnes Aufschluß gegeben. Der Sehpurpur ist ausschließlich in den Stäbchen, und zwar in deren Außengliedern enthalten und färbt diese so deutlich, daß sie, in frischem Zustande von der Endfläche aus betrachtet, eine markante Rotfärbung zeigen, während von der Seite gesehene Stäbchen nur einen schwachen roten Schimmer erkennen lassen. Er scheint bei allen Tieren vorzukommen, deren Netzhaut Stäbchen enthält, fehlt auch beim Menschen nicht. Auch Wirbellose haben Sehpurpur, Krohn fand die Rotfärbung der Netz- haut von Cephalopoden 1842. Die Netzhautzapfen entbehren stets des Purpurs, daher ist auch die Fovea centralis beim Menschen purpurfrei (Kühne). Wie schon oben erwähnt, behalten Netzhäute bei der Fäulnis und beim Eintrocknen ihre rosenrote Färbung bei, solange kein Licht auf sie ein- wirkt. Die Farbe ist ferner nach Kühne resistent gegen ClNa in beliebigen Konzentrationen, gegen kohlensaure Alkalien, Ammoniak, H,S, Eisen- und Zinkvitriol, Schwefelkohlenstoff, Fette und Balsame, Benzol, Harnstoff, Santon- säure und ihre Salze; auch der Trypsinverdauung widersteht sie. Ver- nichtet wird die Farbe dagegen durch die meisten Säuren und ätzenden Alkalien, Alkohol, Äther, Chloroform, Terpentinöl, Chlor, Jod, Brom usw. | Gallensäuren und ihre Salze lösen die Stäbchen blitzschnell auf und lassen, als einziges bekanntes Lösungsmittel, den Purpur anscheinend un- verändert in Lösung gehen. Auch diese Lösung behält, wenn sie vor Licht geschützt bleibt, ihre Farbe bei, im Vakuum trocknet sie zu einem roten Firnis ein, der mit Wasser wieder leicht in Lösung geht. Temperaturen von 50 bis 51°C verträgt der Sehpurpur stundenlang ohne Ver- änderung. Höhere Temperaturen entfärben ihn; bei 76° tritt augenblickliche Ent- färbung ein, bei 60° in einer Stunde. Wasserentziehung macht die Netzhautfarbe gegen Wärmeeinfluß widerstandsfähiger. Der Purpur der Säugetiere scheint etwas empfindlicher zu sein als der der Amphibien. Starke Oxydations- und Reduktionsmittel sind ohne nachweisbare Wirkung auf den Purpur. Die Stäbehen- und Zapfenschicht der Netzhaut fluoresziert in ultra- violettem Lichte deutlich (Helmholtz!), Setschenow?). Der Purpur als solcher ist nicht die Ursache dieser Fluoreszenz, denn gebleichte Netzhäute fluoreszieren stärker als rote (Kühne?). Offenbar ist es aber nicht die Substanz der Stäbchen selbst, welche stark fluoresziert, sondern das Bleichungs- produkt des Sehpurpurs. Bei meinen Beobachtungen mit Himstedt sahen wir®), daß Sehpurpurlösungen (in glykocholsaurem Natron) nach der Aus- bleichung wesentlich stärker fluoreszierten als die Lösung des gallensauren Salzes an und für sich. Bemerkt sei an dieser Stelle, daß wir übrigens auch die stets purpur- freie Netzhaut der Taube deutlich fluoreszieren sahen, noch stärker, wenn sie einige Minuten dem Tageslicht ausgesetzt war. Parinaud’), der das ganze „Dämmerungssehen* auf Fluoreszenz- ') Pogg. Ann. 94 (1855). — ?) Gräfes Archiv 5 (1859). — °) Unters. Physiol. Instit. Heidelberg 1877. — *) Festschr. d. Univ. Freiburg i. Br. 1902. — °) La Vision, Paris 1898, p. 54 f. Sehpurpur. 97 erregung im Stäbchenpurpur durch die kurzwelligen Lichter zurückführen wollte, hat Kühnes Angaben über die Netzhautfluoreszenz, wie es scheint, mißverstanden. Er verwertet die Angabe Kühnes, daß Netzhäute, die im lebenden Auge gebleicht sind, schwächer fluoreszieren als solche, die im isolierten Zustande entfärbt wurden, berücksichtigt dabei aber nicht, daß die ungebleichte, purpurhaltige Netzhaut noch schwächer fluoresziert als jede irgendwie gebleichte. Im lebenden Auge des Menschen und der meisten Tiere ist der Seh- purpur ophthalmoskopisch nicht zu sehen, weil der stark gefärbte Grund, auf welchem die glashelle Netzhaut aufliegt, ihre Farbe selbst unter günstig- sten Umständen verdeckt (Becker!), Coccius?). Bei Fischen, welche ein weißes Tapetum hinter der Stäbchenschicht haben (Abramis brama), ist dagegen der Sehpurpur und seine Ausbleichung mit Hilfe des Augenspiegels sichtbar zu machen (Abelsdorff?). A. Ewald) bestätigte in häufig wiederholten Versuchen die früher schon gelegentlich von Tait5) und Boll®) gemachte Beobachtung, daß das gut ausgeruhte Auge den Sehpurpur entoptisch wahrnehmen kann. Nach dem Erwachen des Morgens sah er erstens deutlich den gelben Fleck und um ihn herum einen rosenroten Hof auf die weiße Zimmerdecke projiziert. Haab’) sieht dieselbe Erscheinung, deutet aber den roten Hof wohl mit Recht nicht als Sehpurpur, sondern als äußere Zone des gelben Fleckes. Fig. 9. Säugetiere = Fische Amphibien 0% -03 ro ”0 | en 00 | = 50 5 [30 500 [#0 40 | +. a: » Kurven der Lichtabsorption im Sehpurpur verschiedener Tiere (nach E. Köttgen > : und G. Abelsdorff.) . Die Bezeichnung Sehpurpur gibt die Farbe für einen Teil der Tiere richtiger an als die auch zuweilen gebrauchte Benennung Sehrot, denn es ist ein etwas ins Bläuliche gehendes Rot. Bei manchen Tieren, namentlich den Fischen, Eulen, beim Schaf, geht die Farbe sogar deutlich ins Violette, !) Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 15 (1879). — ?) Über die Diagnose des Sehpurpurs im Leben. Programm d. Univers. Leipzig, 1877. — °) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 14, 77 und Sitzungsber. d. Akad. Berlin 1895. — “) Unters. Physiol. Instit. Heidelberg 2, 241. — °) Edinburgh Proceedings 7, 605 — 607, 1869/70. — °) Arch. f. Anat. u. Physiol. 1, 20, 1877, Anmerk. — 7) Kor- respondenzblatt £. schweiz. Ärzte 9 (1879). Nagel, Physiologie des Menschen. III. 7 98 Sehpurpur und Sehgelb. ebenso beim Menschen, beim Frosch könnte man ebensogut von Rot sprechen. Kühne!) hat schon spektroskopische Untersuchung der Lichtabsorption des Sehpurpurs unternommen. Er fand, daß Rot und Violett gut durchgelassen werden, die im Spektrum dazwischen liegenden Strahlen annähernd gleich- mäßig absorbiert werden, mit einem Maximum im Gelbgrün zwischen den Fraunhoferschen Linien D und E. Genauere Messungen haben Else Köttgen und Abelsdorff?2) im Königschen Laboratorium ausgeführt. Diese Untersuchungen ergaben eine deutliche Verschiedenheit im absorptiven Verhalten des Purpurs einerseits von Säugetieren, Vögeln und Amphibien und anderseits von Fischen. Die Verteilung der Absorptionswerte im Interferenzspektrum des Auerlichtes zeigt die Fig. 9, die deutlich zum Ausdruck bringt, daß die Absorptions- kurve des Fischpurpurs nach dem Gelb zu verschoben ist; ihr Maximum liegt bei A — 540 uu, das des Säugetierpurpurs bei 500, d. h. im Blaugrün. Das stimmt sehr gut mit der Angabe Kühnes überein, daß der Purpur der Fische mehr violettrot aussieht, der Amphibien- und Säugetierpurpur mehr rein purpurn. Nach Königs Messungen am menschlichen Sehpurpur würde dieser dem Säugetiertypus zugehören. Das würde einigermaßen im Widerspruch mit der Kühneschen Beobachtung stehen, wonach die Netzhaut des Men- schen wie die der Fische mehr violettrot ist. Weitere Untersuchungen am menschlichen Sehpurpur wären sehr wünschenswert. Kühne?) hatte angegeben, daß der Sehpurpur bei seiner Bleichung durch ein Stadium hindurchginge, in dem die Netzhaut oder die aus ihr extrahierte Substanz gelb aussähe, „Sehgelb“. Dieses sollte alsdann erst durch noch weitere Bleichung langsam farblos werden, „Sehweiß“. Auch König“) sprach noch von Sehgelb und verwertete es bei seinen theoretischen Überlegungen. Neuere sorgfältige Untersuchungen haben nun aber über- raschenderweise gezeigt, daß ein gelber Farbstoff bei der Purpurbleichung wenigstens in der Regel nicht entsteht. Sehr deutlich sieht man das z. B. an den stark purpurhaltigen Netzhäuten von Schleiereulen, die einem Rosenblatt in der Farbe gleichen und im Tageslicht zu reiner Farblosigkeit ausbleichen, ohne dabei ein gelbes oder auch nur gelbrotes Stadium zu durchlaufen. In einer sorgfältigen Untersuchungsreihe haben Abelsdorff und E. Köttgen?) ge- zeigt, daß auch beim Affen, Kaninchen, Frosch und beim Bley der Purpur ohne Bildung von Sehgelb ausbleicht. Das Absorptionsmaximum bleibt an derselben Stelle, während der Purpur gebleicht wird, die Absorption und damit die Farbe der Lösung bleibt qualitativ ungeändert. Wie Kühne zu der Annahme eines Sehgelb kommen konnte, das dann seinen Weg durch alle Lehrbücher gemacht hat, ohne doch tatsächlich zu existieren, ist nicht leicht festzustellen. Tatsächlich sehen die Lösungen von Froschsehpurpur in glykocholsaurem Natron nach dem Ausbleichen gelb aus, aber sie bleiben es auch bei beliebig langem Bleichen, und wenn man vollkommen (im stärksten Sonnenlicht) gebleichte Netzhäute mit dem gallensauren Salz extrahiert, wird die Lösung auch gelb. _Das beruht teilweise darauf, daß das glykocholsaure Natron sehr häufig einen gelben Ton annimmt, wenn es in Wasser gelöst wird; aber auch ‘) Hermanns Handb. d. Physiol. 3. — ?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane 12, 161. — °) Hermanns Handb. d. Physiol. 3, 1. — *) Sitzungsber. Akad. Berlin 1894, 21. Juni. — °) Zeitschr. £. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane 12. Bleichung. — Optogramm. 99 wenn es ganz rein ist und sich farblos löst, wird die Lösung nach der Berührung mit der Netzhaut gelb. Es gehen hier offenbar noch andere (lichtbeständige) Farb- stoffe in Lösung, die dem Pigmentepithel entstammen dürften. Wenn unter irgend welchen Umständen tatsächlich ein gelber, selbst noch lichtempfindlicher Farbstoff bei der Purpurbleiche entsteht, liegt jedenfalls kein Grund vor, ihn unter dem Namen „Sehgelb“ neben den Sehpurpur zu stellen, dessen Zersetzungsprodukt er doch sein müßte. Die Bleichungswirkung des Lichtes äußert sich nur an den direkt be- strahlten Partien der purpurhaltigen Netzhaut. Auf Grund dieser Tatsache vermochte Kühne am Kaninchenauge, weniger leicht am Froschauge sog. Optogramme zu erzeugen, indem er das Auge des eben getöteten und ° vorher im Dunkeln gehaltenen Tieres gegen ein Objekt richtete, welches starke Unterschiede zwischen hellen und dunkeln Partien aufwies (z. B. Fenster mit Fensterkreuz). An den Stellen der Netzhaut, auf welche ein dunkler Teil des Bildes fiel, blieb die rosenrote Farbe erhalten, an den übrigen bleichte sie mehr oder weniger stark aus. Durch Alaunlösung läßt sich ein solches Optogramm wenigstens für einige Zeit haltbar und wenig lichtempfindlich machen. Dient Tageslicht zur Bleichung, so genügen 2 bis 7 Minuten zur Her- stellung eines guten Optogrammes. Man bringt dieses nach Kühnes Vor- schlag am besten zur Anschauung, wenn man die Netzhaut auf die konvexe Seite eines kleinen Porzellanschälchens auflegt. Auch am lebenden Tiere kann man übrigens Optogramme erzeugen. Die Bleichung des Sehpurpurs durch monochromatisches Licht ist schon mehrfach studiert worden. Boll!) nahm zunächst an, daß völlige Bleichung des Purpurs nur durch weißes Licht möglich sei, erkannte dann indessen bald ?), daß die kurzwelligen Strahlen allein auch eine kräftige Bleichungswirkung entfalten. Kühne?) bestätigte dies. Rotes Licht sollte nach Boll*) den Purpur gegen Bräunlich hin ver- färben, blaues gegen Lila. Wesentlich dasselbe war es, was Kühne etwas später als seine Entdeckung beschrieb’). Je brechbarer ein Licht sei, desto schneller vernichte es das Sehgelb, so daß der Farbenton der unvollkommen gebleichten Netzhaut sich um so mehr dem Gelbrot nähere, je weniger brech- bar das Licht war. In Versuchen, die Piper kürzlich auf meine Veran- lassung ausführte, durchliefen Froschnetzhäute bei der Bleichung dieselbe Farbenskala, gleichviel, ob mit rotem oder blauem Lichte gebleicht wurde. Bei Sehpurpurlösungen fand Kühne die Bleichung am schnellsten im Gelbgrün, dann im Grün, Blau, Grüngelb, Gelb, Violett, Orange, Rot. Im gelben und roten Licht erfolgt die Bleichung sehr langsam, nach Kühne in zwei Stunden. Ich habe nach einstündiger Bestrahlung mit heller Natrium- flamme Froschnetzhäute noch nicht blasser gefunden als völlig dunkel gehaltene Kontrollpräparate. Einen exakten zahlenmäßigen Ausdruck "finden diese Tatsachen in neuerdings von W. Trendelenburg®) angestellten Versuchen, die zugleich !) Accad. d. Lincei 1877. — ?) Ber. Akad. Wissensch. Berlin 1877. — °) Sitzungs- bericht d. Naturhist. Ver. Heidelberg 1877. — *) Ber. Akad. Wissensch. Berlin 1877 und Arch. f. Anat. u. Physiol. 1877. — °) Hermanns Handb. d. Physiologie. — 6) Zentralbl. f. Physiol. 17, Nr. 24, 1904. 7%* 100 Bleichungswerte. — Regeneration. die Beziehung zwischen dem „Bleichungswert“ der verschiedenen spektralen Lichter und ihrem „Dämmerungswert“ für das dunkel adaptierte Menschen- auge sehr anschaulich machen. Trendelenburg ließ von je zwei Sehpurpurproben immer eine von dem Licht der Natriumlinie (A = 589uu) und eine zweite von einem anderen Licht desselben Dispersionsspektrums bestrahlen und verglich nach bestimmten Zeiten die Absorptionsverminderung im Spektrophotometer. Die folgende Tabelle gibt nach Trendelenburgs Untersuchungen die „Bleichungswerte“ für Froschsehpurpur, darunter die „Dämmerungs- werte “ für die menschliche Netzhaut. Die Werte für Natriumlicht (A—=589 uu) sind — 1 gesetzt. : Wellenlänge . . 589 542 530 519 509 ° 491 474 459 Bleichungswerte . 1 3,40 3,62 345 . 3,09 1,69 0,975 0,299 Dämmerungswerte 1 3,62 3,91 3,18 2,67 1,42 0,621 0,346 Die Fig. 10 gibt diese Ergebnisse in Kurvenform wieder und veranschau- licht die recht befriedigende Übereinstimmung. Fig. 10. BEERBESEREE 40 ispersionsspektrum des Nerastithen \ Yr N Dimmerungenorig /} x Bleichungswerte "4 N 3,0 Es F N N / NN I N 2,0 I \S /J N yA BEN N 1,0 ID, BD 03,8 ; NS u: Br = EEE 58 2 * e= Verteilung der Dämmerungs- und Bleichungswerte im Spektrum (nach Trendelenburg). Die lebende und „überlebende“ Netzhaut gewinnt auch nach völliger Aus- bleichung ihre rote Farbe wieder, der Sehpurpur wird regeneriert. Kühne hat die Regeneration sehr genau studiert. Sie spielt sich auch im enucleierten Auge noch ungestört ab, ja selbst in der isolierten Netzhaut (vom Frosch), sofern nur das Pigmentepithel ihr noch anhaftet; eine vom Pigmentepithel abgelöste Retina regeneriert den Purpur nicht mehr, wenn er einmal aus- gebleicht war, wohl aber, wenn sie mit der Stäbchenseite auf eine Schicht überlebenden Pigmentepithels gelegt wird. Dieses ist also offenbar die Quelle der Regeneration, es gibt entweder den fertigen Farbstoff an die Stäbchen ab, die sich damit imbibieren, oder (wahrscheinlicher) ist Berührung zwischen Epithel und Stäbchenschicht notwendig, damit überhaupt Purpur entsteht. Netzhautströme. 101 Was die zeitlichen Verhältnisse der Regeneration betrifft, so beginnt der erste rote Anflug beim Frosch nach etwa 20 Minuten, die maximale Färbung wird in 1 bis 2 Stunden erreicht (viel später, wenn das Tier abgekühlt wird). Beim Kaninchen geht der Prozeß schneller, er beginnt nach etwa 7 Mi- nuten, ist nach 33 bis 38 Minuten vollendet. Im Hinblick auf gewisse, an anderer Stelle zu besprechende theoretische An- schauungen sei daran erinnert, daß beim Menschen im Dunkeln in den ersten 7 bis 8 Minuten nach guter Helladaptation die adaptive Empfindlichkeitssteigerung deutlich einsetzt, bis zur 40. bis 45. Minute anhält und dann nur noch ganz lang- same Fortschritte macht (Piper!'). ; Filehne?), Siven und v. Wendt?) behaupten, Santonin habe eine ver- zögernde Wirkung auf die Purpurregeneration. Sie haben jedoch relativ enorme Dosen des Giftes verwendet, so daß eine spezifische Wirkung desselben jedenfalls nicht erwiesen ist. Knies*) vermißte übrigens.jede Wirkung des Santonins auf den Purpur. Die theoretischen Folgerungen, die Siven und v. Wendt über die Bedeutung des Sehpurpurs gezogen haben, entbehren aus den genannten und anderen Gründen jeglichen festen Anhalts. Angaben über Beeinflussung der Seh- purpurbildung durch andere Gifte liegen unter anderen vor von Ovio?°); den Einfluß der Temperatur behandelt Gatti‘) (Optimum bei 20°, Hemmung bei höherer und tieferer Temperatur). Daß Röntgenstrahlen den Purpur nicht bleichen, teilten Fuchs und Kreidl’), sowie Gatti°) mit. Die Aufstellung einer Farbenskala zur Bezeichnung irgend welcher Grade von Sehpurpurgehalt (Rhodopsimeter) hat Cavazzani°’) für notwendig gehalten. Blinde Augen (auch seit Jahren erblindete) enthalten Sehpurpur, falls die Retina nicht zugrunde gegangen ist. Bei Netzhautablösung ist die abgelöste Partie auch purpurhaltig gefunden worden. 3. Die elektromotorischen Wirkungen der Netzhaut. a) Der Ruhestrom (Dunkelstrom). Sowohl das ganze lebende Auge, wie die isolierte überlebende Netzhaut aller darauf untersuchten Wirbeltiere zeigt, in geeigneter Weise durch un- polarisierbare Elektroden mit einem empfindlichen Galvanometer verbunden, einen Ruhestrom (du Bois-Reymond!®) 1849). Die genauesten Unter- suchungen sind an Froschaugen angestellt. Wird hier von Hornhaut und Sehnervenstumpf abgeleitet, so zeigt sich dieser negativ gegen jene („starke Anordnung“ nach Holmgren!!). Dagegen ist der Sehnerv positiv gegen die hinteren‘, seitlichen Bulbusteile (schwache Anordnung). Auch an der isolierten Froschnetzhaut ist die Peripherie negativ gegen den Sehnerven- eintritt, sofern von der Außenseite (Stäbchenseite) der Netzhaut abgeleitet wird. Bei Ableitung von der Innenfläche (Faserseite) verläuft der Strom umgekehrt. Wird von Innen- und Außenfläche abgeleitet, die Netzhaut also zwischen die Elektroden genommen, so ergibt sich nach Kühne und Steiners Unter- !) Zeitschr. f. Psych. u. Physiol. d. Sinnesorg. 31 (1903). — ?*) Arch. f£. d. ges. Physiol. 80 (1900). — °) Skandinavisches Arch. f. Physiol. 14 (1903). — *) Arch. f. Augenheilk. 1898. — °) Annali di Ottalmol. 24 (1895). — °) Annali di Ottalmol. e Lavori Clin. Ocul. Napoli 30 (1901). — 7) Zentralbl. f. Physiol. 10, Nr. 9, 1896. — °) Arch. ital. Biologie 28 u. Annali di Ottalmologie 26, und Zentral- blatt f. Physiol. 11, Nr. 15, 1897. — °) Atti d. Acc. scienze med. Ferrara 1901. — 10) Untersuchungen über tierische Elektrizität 2, Abteil. 1. Berlin 1849. — '') Upsala Läkareförenings Förhandl. 1, 184, 1866 und 6, 419, 1871 und Unters. aus d. physiol. Instit. Heidelberg 2 u. 3. 102 Netzhautströme. suchungen!) ein einsteigender Strom, d. h. die Stäbchenseite ist negativ gegenüber der Faserseite. Die Intensität des Ruhestromes ist bei verschiedenen Präparaten außer- ordentlich wechselnd, sie sinkt bei isolierten Netzhäuten schnell (sehr schnell bei Warmblütern), viel langsamer an ausgeschnittenen Froschaugen, die noch nach vielen Stunden nicht stromlos sind. Nicht selten beobachtet man Umkehr der Stromrichtung. Die elektromotorische Kraft des Ruhestromes beträgt bei dem dunkel gehaltenen Froschauge 0,017 bis 0,056 Volt (Himstedt und Nagel?). Sehr stark und rasch verlaufend sind die „spontanen“ Stromesschwankungen bei Vögeln, z. B. Tauben, Hühnern, Eulen (Ableitung von Hornhaut und Augen- grund), auch bei Curarisierung. Nur ein kleiner Teil dieser Schwankungen ist durch die auch im Zustande der Curarelähmung fortbestehenden „spontanen“ Bewegungen der Iris erklärbar (Himstedt und Nagel?). Bei Hühnern und Eulen beobachteten dieselben Autoren ein oft viele Minuten anhaltendes Steigen der Stromstärke, das dann ohne ersichtlichen Grund einer eben solehen Strom- abnahme Platz machte. Mit den Verhältnissen am Nerven und Muskel lassen sich diese Beobachtungen am Auge nicht in einwandfreier Weise in Vergleich setzen, weil die Anordnung und Verbindung der in Betracht kommenden Elemente zu kompliziert ist, als daß man etwa von „Längsschnitt und Querschnitt“ reden könnte. Sicherlich ist der „Ruhestrom“ des Auges in situ kein Demarkationsstrom im Sinne Hermanns. Ob im absterbenden Auge ein solcher sich zu dem vorher vorhandenen hinzu- gesellt, scheint mir bis jetzt nicht zu entscheiden. Höchstwahrscheinlich ist es zu- treffender, wenn man den im lebenden Auge dauernd vorhandenen Strom als eine Art Aktionsstrom auffaßt, der sein Analogon im subjektiven Gebiete in dem „Eigen- licht“ der Netzhaut hat. b) Die Stromesschwankungen bei Reizung durch Licht. Holmgren hat gefunden, daß der vom Auge abgeleitete Ruhestrom eine Intensitätsschwankung zeigt, wenn die Netzhaut des vorher dunkel ge- haltenen Auges plötzlich belichtet wird oder umgekehrt an Stelle der Hellig- keit Dunkel tritt. Dewar und M’Kendrick®), Kühne und Steiner’), Fuchs), Waller’), Himstedt und Nagel°) u. a. haben diese Er- scheinung näher untersucht. Stärke, Richtung und zeitlicher Verlauf des Aktionsstromes ist je nach Tierart und Präparationsweise sehr wechselnd. Am eingehendsten erforscht sind auch hier die Verhältnisse beim Frosch, dessen Augen stundenlang wiederholte Reizversuche gestatten. Reptilien und Fische, besonders aber Warmblüter liefern weit vergänglichere Präparate; auch bei den letzteren ist es aber möglich, lange Zeit hindurch zu untersuchen, wenn das Tier cura- risiert und künstlich ventiliert wird, so daß das Auge in situ, unter nor- maler Durchblutung, mit dem Galvanometer verbunden werden kann. Der Typus der Reaktion am möglichst wenig verletzten Froschauge ist folgender: Bei Belichtung tritt nach einer gewissen Latenz (durchschnittlich ‘) Unters. aus d. physiol. Instit. Heidelberg 3 und 4. Auch wo im folgenden Kühne zitiert ist, finden sich die betreffenden Untersuchungen an der eben genannten Stelle. — ?) Festschrift d. Albert-Ludwigs- Universität Freiburg i. Br. zum 50jähr. Regierungsjub. d. Großherzogs Friedrich. Freiburg 1902. — °) Ann. d. Physik, 4. Folge, 4 (1901). — *) Transact. R. Soe. Edinburgh 27. — °’) 1. c. — °) Arch. f. d..ges. Physiol. 15 (1894). — ?) Phil. Transact. Roy. Soc. 193, 13. — ®) Ber. d. Naturforsch. Ges. Freiburg i. Br. 1901. ae 0 Netzhautströme. 103 0,0024 sec. nach Fuchs; nach meinen Erfahrungen mindestens das zehn- fache) eine positive Schwankung des Ruhestromes ein; der Galvanometer- ausschlag erreicht in einigen Sekunden sein Maximum, um bei anhaltender Belichtung dann ganz langsam wieder herabzugehen. Übergang zur Dunkel- heit hat eine erneute Zunahme des Ausschlags zur Folge (positiver Nach- schlag), die jedoch nur vorübergehend ist und von der (ziemlich langsamen) Rückkehr zur Ruhelage gefolgt ist. Jede hinreichend schnelle positive oder negative Helligkeitsschwankung hat eine positive Stromesschwankung zur Folge; diese ist aber von einiger Dauer nur bei Belichtung, bei Verdunkelung stets bloß vorübergehend. Absterbende Froschbulbi, isolierte Netzhäute, oder hintere Abschnitte des äquatorial durchschnittenen Bulbus („Hohlschale*) verhalten sich insofern anders, als nach einem kurzen positiven „Vor- schlag* die Schwankung negativ wird. Bei Verdunkelung tritt dann wiederum ein positiver „Nachschlag“ auf. Bei Fischen anderseits ist unter den gleichen Um- ständen der Vorschlag negativ, er wird von einer positiven Schwankung abgelöst (Fig. 11). Am möglichst unverletzten Bul- bus gestaltet sich der Verlauf der ge- samten Reaktion bei Fröschen und Fischen übereinstimmend, wie die oberste Kurve I der Fig. 11 zeigt. e Bei Säugetieren, Vögeln und Rep- tilien entspricht der Belichtung auch unter normalen Bedingungen, d. h. bei unversehrter Netzhaut eine nega- tive, der Verdunkelung eine posi- tive Schwankung (Holmgren |. ce.). Dieser Satz ist freilich nicht all- gemein und streng gültig. Bei meinen Untersuchungen mit Himstedt!) fanden wir beim Haushuhn auf Lichtreiz zwar stets nur einen kleinen positiven Vorschlag, danach ausgesprochene negative Schwan- kung, keinen deutlichen positiven Nach- schlag. Bei Eulen dagegen war die Verlauf der photoelektrischen Reaktion an dem Belichtungsreaktion stets eine starke posi- in verschiedener Weise präparierten Fisch- . & : . auge (nach Kühne aus Biedermann, tive Schwankung, die bis zu 10sec. bei Elektrophysiologie). anhaltender Belichtung immer noch zu- nahm. Erst bei noch längerer Belichtung kehrte die Reaktion um, die Schwankung wurde nun eine negative. Positiver Nachschlag fehlte auch hier. Die Größe der Zunahme, welche die elektromotorische Kraft des Ruhe- stromes bei Reizung durch Licht unter günstigen Umständen erfährt, haben Dewar und M’Kendrick (l.c.) zu 3 bis 10 Proz. angegeben, was mit meinen Erfahrungen gut übereinstimmt. ; Die Empfindlichkeit des Auges, an den Aktionsströmen gemessen, ist eine recht hohe. Schon Kühne fand, daß eine Froschretina auf das Licht einer glim- menden Zigarre mit Aktionsstrom reagierte. Himstedt und ich gelangten zu dem gleichen Ergebnis wie Kühne, daß nämlich die Schwelle der Reizwirkung Bulbus Hohlschale Netzhaut Netzhaut Y) 1. e. Festschrift der Universität Freiburg usw. 104 Verlauf des Aktionsstroms. für das Froschauge fast zusammenfallen dürfte mit der Schwelle der Lichtempfin- dung beim Menschen. Beim Frosch und der Eule ist eine sehr bedeutende Zu- nahme der Empfindlichkeit durch Dunkeladaptation zu konstatieren; nach halbstündigem Dunkelaufenthalt reagieren die Augen dieser Tiere durch deut- lichen Aktionsstrom auf die Einwirkung von Röntgenstrahlen, sowie von reinem ultravioletten Licht (letzteres infolge der Fluoreszenz, welche dieses Licht in Glaskörper und Linse hervorruft). Bei Hühnern, sowie bei Schildkröten ist die Empfindlichkeit wesentlich geringer und nimmt durch Dunkelaufenthalt lange nicht in dem Maße zu wie bei Fröschen und Eulen. Röntgenstrahlen bleiben bei ihnen ohne Wirkung. Himstedt und Nagel führen diese Differenzen auf den Mangel der Stäbchen und des Sehpurpurs in den Netzhäuten der Hühner und Schildkröten zurück. Die Strahlen des sichtbaren Spektrums wirken in verschiedenem Maße erregend. Nach den älteren Angaben von Dewar und M’Kendrick, sowie von Kühne liegt das Maximum der Reizwirkung im Gelb. Him- stedt und Nagel!) konnten zeigen, daß die Verteilung der Reizwerte im Spektrum, gemessen am Aktionsstrom des Froschauges, sich verschieden darstellt, je nachdem sich das Auge im Zustande der Hell- oder, der Dunkel- adaptation befindet; das Hellauge ist am empfindlichsten für gelbe, das Dunkelauge für grüne Strahlen, genau wie die Empfindlichkeit des mensch- lichen Auges sich beim Dunkelaufenthalt ändert 2). Engelmann?) konnte zeigen, daß Belichtung des einen Auges beim Frosch positive Schwankung des Ruhestromes auch im anderen, nicht belichteten Auge zur Folge hat. Der positive Nachschlag bei der Ver- dunkelung fehlte jedoch. Man kann auch, wie Kühne es tat, vom Längs- und Querschnitt des Sehnerven ableiten und erhält in diesem Falle eine einfache negative Schwankung, wie von anderen Nerven. Daß auch ganz kurz dauernde Reize schon Reaktion auslösen können, hatte schon Kühne beobachtet. 8. Fuchs?) hat die Stromschwankung bei instantaner Lichtreizung (durch elektrische Funken) mit dem Rheotom unter- sucht und dabei gefunden, daß die Gesamtdauer der durch einen Momen- tanreiz ausgelösten Stromesschwankung für eine bestimmte Reizintensität konstant ist, gleichgültig, wie im einzelnen der Verlauf der Schwankung ist. Fuchs hatte nämlich wie Kühne u. a. mit der isolierten Retina vom Frosch gearbeitet und infolgedessen Schwankungskurven von sehr wechselnder Form erhalten. Mir ist diese Vorliebe mancher Forscher für das Arbeiten mit der durch Herauspräparieren geschädigten Netzhaut nie recht verständlich ge- wesen. Die Ergebnisse sind dadurch nur unklarer geworden, und an Empfindlichkeit (gemessen am Schwellenwert) wird gegenüber einem sorg- fältig isolierten ganzen Bulbus so gut wie nichts gewonnen. Nach Fuchs sollte die photoelektrische Reaktion nach Momentbelichtung nur 0,023 bis 0,024 sec. dauern. Neuderings hat nun de Haas’) im Einthoven- schen Laboratorium Ergebnisse erhalten, die das Fuchssche Resultat als ‘) Ber. d. Naturf. Ges. Freiburg i. Br. 11 (1901). — *) Dasselbe fand Piper (Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abteil., 1904) in neueren Versuchen. — *) .Bei- träge zur Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg., H. v. Helmholtz zum 70. Geburts- tag gewidmet. — *) 1. ce. — °) Lichtprikkels en retinastroomen in hun quantitatief verband. Inaug.-Diss., Leiden 1903. Enthält eine gute Literaturzusammenstellung und geschicktes Referat über die älteren Arbeiten. Stärke des Aktionsstroms. 105 irrig erscheinen lassen. Tatsächlich erzeugt selbst ein ganz kurz dauernder Lichtreiz eine langsam (in mehreren Sekunden) ablaufende Stromschwankung. Hierin befindet sich de Haas in voller Übereinstimmung mit Waller?). Auch aus eigener Erfahrung kann ich diese Angabe bestätigen. Wodurch Fuchs zu der irrigen Annahme so schneller Stromschwankungen geführt wurde, ist nachträglich nicht zu erkennen. Über die quantitativen Beziehungen zwischen Lichtreiz und Aktions- strom liegen verschiedene Untersuchungen vor, denen zufolge diese Ab- hängigkeit den Weber-Fech-. Fig. 12. nerschen Gesetzen folgen soll r (Dewar und M’Kendrick (l. c.) und Waller?). Die offenbar sehr sorgfältigen Messungen von / 2,8 de Haas ergeben Resultate, die sich dem Fechnerschen Gesetze keineswegs fügen, solange es sich um mäßige Reizintensitäten han- delt. Nur bei starken Lichtreizen / 2,0 geht die Kurve der photoelek- trischen Reaktion in eine Gerade über, wie sie es Fechners Gesetz / entsprechend tun muß, wenn wie : h in der nebenstehenden Fig. 12 auf i 1,2 der Abszissenachse die Reizinten- F sität (logarithmiert), als Ordi- 1,6 Photoelektrische Reaktion in Millivolt naten die Größe der Reaktion A er aufgetragen wird. 7 ji | Photoelektrische Reaktionen ZH 4,0 von pflanzlichen Präparaten hat % Waller?) beschrieben, neuerdings 2 0,0 auch J. Ch. Bose), der noch die 1-7 ı 10 202 10° 10% seltsame Beobachtung hinzufügte, Reizintensitäten daß auch anorganische Präparate, Pie Altänsikst der physischen Resktion, von z. B. Silberplatten, bei Belichtung ganz ähnliche „Aktionsströme“ erkennen lassen wie die lebende Netzbaut. Aktionsströme von den Sehorganen wirbelloser Tiere untersuchten Dewar und M’Kendrick (l. c.), Chatin5), Beck‘) und Piper’). II. Der Ort der Reizwirkung des Lichtes beim Sehen. Als Mariotte®) 1668 den blinden Fleck im Auge entdeckt hatte, folgerte er selbst und eine Anzahl anderer Autoren, die lichtempfindliche Membran im Auge müsse die Aderhaut und nicht die Netzhaut sein, wie man nach Keplers !) Phil. Trans. Roy. Soc. London 193 (1900). — ?) Brain 18, 200, 1895. — 8) Proc. Roy. Soc. 67, 129, 1900 u. C. R. Soc. Biol. 1900, p. 342. — *) Response in the living and non-living,- London 1902. — °) C. R.. Acad. Science 90, 41, 1880 und €. R. Soc. Biol. 32, 1 u. 224, 1880. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 78, 129, 1899. — 7) Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abteil., 1904. — ®) M&m. ‚Acad. Paris 1669 u. Philos. Transact. 2, 668. 106 Ort der Reizwirkung des Lichts. und Scheiners Vorgang angenommen hatte. Der Irrtum blieb aber nicht lange bestehen, Haller, Porterfield u. a. traten wieder für die Netzhaut ein. J. Müller wollte Mariottes Beobachtung durch besonders starke Ermüdbarkeit der Stelle des Sehnerveneintrittes erklären. Treviranus erklärte 1835 die Stäb- chen und Zapfen („Nervenpapillen*) für die Endorgane des Sehnerven, während ‘Bidder und namentlich Hannover diesen. Zusammenhang leugneten. Die eigentliche Entscheidung brachte Heinrich Müller'), der im Jahre 1852 gleich- zeitig mit Kölliker*) den Zusammenhang der Nervenfasern mit den Stäbchen und Zapfen erkannte und die noch heute maßgebenden Gründe für die Auffassung dieser Gebilde als der lichtperzipierenden Elemente in der Netzhaut entwickelte. Helmholtz?) hatte schon ein Jahr früher treffende Gründe gegen die An- nahme angeführt, daß die Nervenfasern der Netzhaut die lichtempfindlichen Teile seien ; er meinte die „kugeligen Elemente“ der Netzhaut hierfür in Betracht ziehen zu müssen. Zweifel an der Bedeutung der Stäbchen- und Zapfenschicht als Per- zeptionsstelle sind übrigens immer wieder laut geworden; A. Fick*) neigte noch 1879 dazu, die Pigmentzellen eben wegen ihres Pigmentgehaltes zu bevorzugen. Bis in die neueste Zeit hat man die Pigmentzellen dann wenigstens als Ort der Erregungswirkung bestimmter Farben heranzuziehen versucht (so unter anderen in Königs Hypothese?). Daß die Substanz des Sehnerven selbst nicht für den Lichtreiz empfind- lich ist, geht aus der Existenz des blinden Fleckes hervor. Messungen der projizierten Winkelgröße der blinden Netzhautstelle (etwa 6°) stimmen gut mit der durchschnittlichen Größe der Eintrittsstelle des Sehnerven im Augen- hintergrund überein. Noch überzeugender ist der Versuch von Donders°): Mit dem Augenspiegel entwirft man ein kleines Flammenbildchen auf dem Augenhintergrund einer zweiten Person. Die Person sieht nur so lange Licht, als das Bildchen nicht auf den Sehnerven geworfen wird. Den Einwand, daß nur die markhaltigen Fasern des Sehnervenstammes unempfindlich seien, nicht aber deren Ausbreitung in der innersten Netz- hautschicht, entkräfteten Helmholtz (l. ec.) und H. Müller (l. c.) durch den Hinweis darauf, daß die distinkte Wahrnehmung der einzelnen Punkte des Bildes auf der Netzhaut durch solche Fasern, die flächenförmig die Netzhaut innen bekleiden, nicht möglich sei, sondern daß punktförmig (musivisch) ver- teilte Endorgane gefordert werden müßten, da sonst‘ nichts anderes als eine diffuse Lichtempfindung selbst beim detailliertesten Bilde herauskommen könnte. Unter den Elementen der Netzhaut scheiden ferner die Ganglien- zellen und die inneren Körner dadurch aus, daß sie in der Netzhautmitte, der Fovea centralis, fehlen und trotzdem diese Stelle nicht blind ist. Es bleiben somit die Zapfen und die Zapfenkörner, deren organischer Zusammen- hang indessen sichergestellt ist, so daß sie als ein einheitliches Gebilde auf- zufassen sind. Von besonderer Bedeutung war die Überlegung H. Müllers, daß die von Purkinje entdeckte Wahrnehmbarkeit einer Gefäßschattenfigur auf die Lage der perzipierenden Schicht hinter der Gefäßschicht (somit auch hinter der Ganglienschicht) hinweise. H. Müller bestimmte auch, um wieviel die beiden Schichten voneinander entfernt sein müssen. Entwirft man mittels ') Sitzungsber. u. Verhandl. d. physik.-med. Ges. Würzburg 1852 u. 1854. — ?) Verhandl. d. physik.-med. Ges. Würzburg 1852. — *) Beschreibung eines Augen- spiegels usw. Berlin (Förster) 1851. — *) Hermanns Handb. d. Physiologie 3, 160, 1879. — °) Sitzungsber. Akad. Wiss. Berlin 1894. — °) Onderzoek. Physiol. Laborat. Utrecht 6, 134, 1852. Purkinjes Aderfigur. 107 einer Sammellinse ein möglichst kleines, lichtstarkes Bild einer Lichtquelle auf der Sclera und erteilt diesem Bilde oszillatorische Verschiebungen von bekanntem Betrage, so kann man, wenn man die resultierenden Schein- bewegungen eines Teiles der Schattenfigur auf einen Maßstab projiziert, aus der Größe dieser Scheinbewegung Fig. 18. den. Abstand zwischen schatten- pp werfendem Objekt und lichtperzi- an ann mn m m mu muy mu m m m me pierender Schicht näherungsweise berechnen. Fig. 13 veranschaulicht diesen Ver- such. Wandert der Lichtpunkt auf der Sclera von L, nach L,, so wandert der Schatten von S, nach S, und dessen Projektion von ?, nach P;,. Die zur Rechnung nötigen Daten werden teils direkt geınessen, teils aus dem schema- tischen Auge übernommen. H. Müller fand auf diese Weise Werte für den Abstand zwischen Gefäßschicht und perzipierender Schicht, die zwischen 0,17 und 0,32 mm schwankten (für drei an- dere Beobachter 0,19, 0,26 und 0,33). Den Abstand zwischen Zapfenschicht und der Gäste as chie- des gelben Fleckes maß Müller mikroskopisch zu 0,2 bis 0,3mm. Diese Zahlen weisen demnach auf das äußere Drittel der Netzhaut als Perzeptionsort hin. Die bisher erwähnten Überlegungen ließen es noch als möglich erscheinen, die Fortsätze der Pigmentzellen, die sich zwischen Zapfen und Stäbchen ein- schieben, als Ort der Umsetzung der Lichtschwingungen in den Nervenprozeß an- zusehen, da überall, wo Zapfen sind, auch Epithelzellen sind (auch in der Fovea) und auch die Müllersche Rechnung auf deren Fortsätze noch passen würde. Daß die Pigmentzellenfortsätze am Erregungsprozeß irgendwie beteiligt sind, ist keines- wegs auszuschließen, ja eigentlich wahrscheinlich, doch bleibt die Art, wie diese Beteiligung etwa zu denken wäre, völlig ungewiß. Jedenfalls können die Epithel- zellen nicht als letzte Elemente der perzipierenden Fläche betrachtet werden, da ihre verhältnismäßig grobe Mosaik mit der Feinheit der räumlichen Unterscheidung durch die Netzhaut unvereinbar ist, man müßte denn die morphologische Einheit der Pigmentzelle in einen Komplex zahlreicher physiologischer Einheiten auflösbar denken, was sehr wenig für sich hat. Der Durchmesser der Zapfen dagegen steht, wie an anderer Stelle gezeigt wird, mit der Distinktionsfähigkeit der Netzhaut wohl im Einklang. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß die Erregung der Zapfenaußenglieder — an diese wird vorzugsweise zu denken sein — einen Stoffaustausch oder irgend eine sonstige ei der Zapfen von seiten der Epithelfortsätze zur Voraussetzung hat. Das bisher Gesagte spricht nur für die Zankn: nicht aber für die Stäbchen als lichtperzipierende Elemente, und es stände zunächst nichts der Annahme im Wege, daß diese beim eigentlichen Sehen unbeteiligt blieben (wie dies unter anderen Gad!) vermutet, der die Stäbchen als reflex- Y) Arch. f£. Anat. u. Physiol., physiol. Abteil., 1894, 8. 491. 108 Funktion der Stäbchen. auslösende Elemente auffaßt). Zweierlei deutlich verschieden gebaute End- apparate, die dennoch dieselbe Funktion haben sollten, durften auch Be- denken erregen. Diese können indessen wohl als beseitigt gelten, seitdem die von M. Schultze zuerst aufgestellte, von Parinaud und v. Kries zur höchsten Wahrscheinlichkeit gebrachte Theorie es ermöglicht hat, Stäbchen sowohl wie Zapfen als lichtperzipierende Elemente zu betrachten und doch dabei den Unterschieden im Bau der beiden Gebilde und in ihrem Zusammen- hang mit dem Sehnerven durch die Annahme wesentlicher funktioneller Ver- schiedenheiten Rechnung zu tragen. Anhangsweise sei erwähnt, daß A.König'!) (mit Zumft) nach einer anderen Methode die Lage der perzipierenden Schicht festzustellen suchte, nämlich indem er die Aderfigur durch ein vor dem Auge bewegtes enges Diaphragma beim Blick auf eine helle Fläche sichtbar machte. Nach Königs Angabe soll bei Verwendung von zwei nahe nebeneinander stehenden Diaphragmen jede Ader verdoppelt er- scheinen. Außerdem soll bei Verwendung monochromatischen Lichtes der Abstand der Doppelbilder je nach der Wellenlänge wechseln, woraus König folgerte, daß die Perzeption verschiedener Farben an verschiedenen Stellen erfolge (um so weiter außen in der Netzhaut, je größer die Wellenlänge des einfallenden Lichtes ist). Kritik dieser Angaben liegt vor von Gad (l. e.), Schapringer?) und Koster?). Abgesehen von sonstigen Bedenken scheint es noch niemand gelungen zu sein, die von König angegebene Verdoppelung der Netzhautgefäße wahrzunehmen. Auch mir gelang dies trotz eifrigen Bemühens nie. !) Sitzungsber. Akad. Wissensch. Berlin 1894, Mai. — ?) Arch. f. d. ges. Physiol. 60, 296, 1895. — °) Arch. f. Ophthalmol. 41, 1, 1895. 3. Die Gesichtsempfindungen von J. v. Kries. Im folgenden Abschnitt bedeutet die Verweisung „Helmholtz“ überall v. Helmholtz, Physiologische Optik, 2. Aufl. Die Aufgabe einer Lehre von den Gesichtsempfindungen könnte man nach Analogie anderer Sinnesgebiete etwa dahin zu bezeichnen geneigt sein, daß in systematischer Weise angegeben werden soll, welche Empfindungen durch alle möglichen Reize hervorgerufen werden, wobei in erster Linie die adäquaten Reize, hier also das Licht, in zweiter Linie auch nicht adäquate _ Reize zu berücksichtigen wären. Indessen liegen die Dinge für das Seh- organ in mancher Beziehung verwickelter. Ein gewisser Hinweis hierauf kann schon in dem gefunden werden, was wir beobachten, wenn gar keine äußeren Reize auf unser Auge einwirken. Die unter dem Namen des Eigenlichtes, der Nachbilder usw. bekannten Erscheinungen zeigen, daß auch hier sehr viel- fach Empfindungen stattfinden, die den durch Licht auszulösenden völlig gleich- artig sind. Anderseits zeigt sich auch, daß der Empfindungseffekt eines be- stimmten Lichtreizes je nach Umständen ein äußerst verschiedener sein kann. Es kommt, allgemein gesagt, nicht nur darauf an, was für ein Licht unsere Netzhaut trifft, sondern auch auf die Zustände, in welchen sich das Sehorgan in toto oder die belichtete Stelle gerade befindet, Zustände, die insbesondere durch Art, Dauer und Intensität der vorausgegangenen Belichtung in sehr mannig- faltiger Weise modifiziert werden können. Man pflegt demgemäß von Erreg- barkeitszuständen oder Stimmungen des Sehorganes zu reden. Die Voraus- setzungen, von denen die eingangs erwähnte Formulierung der Aufgabe stillschweigend ausging, daß jede Empfindung als der Erfolg eines äußeren Reizes betrachtet werden könne und daß jeder Reiz eine bestimmte Empfindung auslöse, treffen also beide nicht zu. ’ Dazu kommt noch, daß nach einer in den letzten Jahrzehnten immer mehr verbreiteten Anschauung eine Betrachtung der Empfindungen selbst, wesentlich auf direkte Selbstbeobachtung und psychologische Erwägungen gestützt, eine Reihe wichtiger, auch zu Rückschlüssen auf die physiologischen Vorgänge und Einrichtungen geeigneter Ergebnisse liefern soll. Auch diesen, hauptsächlich von psychologischen Gesichtspunkten ausgehenden Erörterungen, für die die gegenseitigen Beziehungen der Empfindungen an erster Stelle in Betracht kommen, deren Abhängigkeit von den Reizen aber von geringerer Bedeutung ist, wird hier Raum zu geben sein. Aus alledem ergibt sich, daß unsere Darstellung in einer wesentlich durch Zweckmäßigkeitsrücksichten 110 Gesetze der Lichtmischung. sich bestimmenden Art vorwärts gehen muß, wobei aber die Darlegungen der früheren Teile vielfach an Einschränkungen und Voraussetzungen geknüpft sind, die erst an späterer Stelle ganz verständlich gemacht werden können. I. Die Gesetze der Liehtmischung. An die Spitze unserer Darstellung sollen hier die Tatsachen gestellt werden, die den sogenannten Gesetzen der Lichtmischung zugrunde liegen. Die Erfahrung lehrt, daß objektiv verschiedene Lichter im allgemeinen zwar unser Sehorgan verschieden affiızieren, also ungleich aussehen, sehr häufig aber auch genau die gleiche Empfindung durch objektiv ganz ver- schiedene Lichter hervorgerufen werden kann. Die systematische Unter- suchung, unter welchen Bedingungen Lichter gleich, unter welchen sie ver- schieden aussehen, führt auf Sätze von allgemeiner Bedeutung und unzweifel- haft großer physiologischer Wichtigkeit. Sie sind es, die man gewöhnlich schlechtweg als „Gesetze der Lichtmischung“ zu bezeichnen pflegt. Sie sind bekanntlich in ihren Grundzügen von Newton dargelegt worden; eine genaue und strenge Formulieruug derselben wurde vonGraßmann gegeben; in systematischer Weise experimentell nachgeprüft und bestätigt wurden sie von Helmholtz. Untersuchungen neuerer Zeit haben gezeigt, daß sie nicht uneingeschränkt, sondern nur unter gewissen Bedingungen gültig sind !), wodurch jedoch ihre Bedeutung kaum vermindert erscheint. Vor allem erfahren wir durch sie in der einfachsten und strengsten Weise, wie vielfacher Veränderungen der Empfindungszustand des Sehorgans überhaupt fähig ist; überdies gewähren sie uns die Möglichkeit, die Be- schaffenheit verschiedener Sehorgane in einer durchaus präzisen Weise zu charakterisieren: sie bilden daher in mehr als einer Hinsicht die sicherste und bedeutungsvollste Grundlage unseres gesamten Wissens vom Sehorgan. Sie empfehlen sich endlich zum Ausgangspunkt der Darstellung um so mehr, als sie von keinem Begriffe abhängen, dessen Auffassung irgendwie schwankend oder zweifelhaft sein könnte. Bei allen hier vorkommenden Feststellungen handelt es sich nur darum, ob zwei Lichter (oder Lichtgemische) vollkommen gleich aussehen oder nicht, ein Ergebnis der Beobachtung, über dessen Sinn kein Zweifel möglich ist. Die hierhergehörigen Tatsachen können also auch dargelegt werden, ohne die besondere Beschaffenheit dieser oder jener Empfindungen überhaupt zu erwähnen. Wenn dies im folgenden nicht streng durchgeführt, vielmehr gelegentlich auf die aus der allgemeinen Erfahrung bekannten Empfindungsqualitäten Bezug genommen und von Rot, Blau, von Unterschieden der Sättigung usw. geredet wird, so ge- schieht dies, wie ausdrücklich bemerkt sei, lediglich zum Zwecke einer erleichterten Darstellung und einer gewissen Veranschaulichung. Für die zu schildernden Tat- sachen sind aber diese Begriffe und somit auch etwaige Verschiedenheiten ihrer Auffassung ohne Belang. Physikalische und technische Vorbemerkungen. Der physikalische Grundbegriff, dessen wir uns bei allen Bezeichnungen von Lichtarten bedienen, ist der des reinen (einfachen oder homogenen) Lichtes. Man versteht darunter bekanntlich ein solehes, bei dem ausschließlich Schwingungen ‘) Diese Bedingungen werden im IV. Kapitel dargelegt werden. Physikalisches über Lichtmischung. ER von einer bestimmten Wellenlänge oder Schwingungszahl vorkommen, und wir. be- sitzen vor allem in der spektralen Zerlegung des von unseren Lichtquellen aus- gesandten gemischten Lichtes das Hilfsmittel, die verschiedenen reinen Lichter räumlich zu sondern und zu isolieren. Ein reines Licht ist durch Angabe seiner Wellenlänge seiner Art nach genügend und in einfachster Weise definiert. Jedes reine Licht kann mit verschiedener Stärke (Intensität) objektiv vorhanden sein und auf unser Auge wirken. Leider besitzen wir für die Intensitäten der verschiedenen Lichter keine so einfach physikalisch fixierte Bestimmung, wie wir sie in der Wellenlänge für ihre qualitative Beschaffenheit haben. Auf die Maßeinheiten, nach denen wir die Stärke . gemischter Lichter berechnen können, wird bei einigen Gelegenheiten zurückzukommen. sein. Hier dürfte zu allgemeiner Orientierung die Bemerkung am Platze sein, daß in den Spektren, die man bei der Zerlegung des von irgend einer Lichtquelle aus- gesandten Lichtes durch Prismen oder Gitter erhält, die einzelnen Lichter mit Stärken vertreten sind, die einerseits von der Beschaffenheit der Lichtquelle, ander- seits von der Art der Zerlegung abhängen, davon nämlich, über eine wie große Fläche das ganze Licht von Wellenlängen eines bestimmten Bereiches verbreitet ist. Bekanntlich ist im Interferenzspektrum die Dispersion eine gleichmäßige, d. h. gleichen Abständen im Spektrum entsprechen überall gleiche Unterschiede der Wellenlänge; im prismatischen Spektrum dagegen nimmt die Dispersion vom roten zum kurzwelligen Ende beständig zu. Daher sind im prismatischen Spektrum die kurz- welligen Lichter mit relativ geringeren Stärken vertreten, lichtschwächer als in einem Gitterspektrum. Handelt es sich, wie sehr häufig, darum, ein bestimmtes Stärke- verhältnis aller einfachen Lichter zu fixieren, so genügt die Angabe der Lichtart und der Art, wie sie zerlegt ist. Im folgenden wird” vielfach die Stärke zugrunde gelegt werden, mit der die einfachen Lichter im prismatischen Spektrum des Gas- lichtes vorhanden sind. Diese Bezeichnung ist zwar keineswegs vollkommen genau; die Art des Lichtes ist nur annähernd, nicht ganz streng definiert; auch ist die Abhängigkeit der Dispersion von der Wellenlänge bei verschiedenen Prismen und Prismenkombinationen ein wenig verschieden, doch ist es die brauchbarste Be- stimmung, die wir zurzeit besitzen, und für unsere Zwecke im allgemeinen genügend. Unter Liehtmischung im physiologischen Sinne versteht man’ eine Anord- nung, durch die bewirkt wird, daß die nämliche Netzhautstelle gleichzeitig von zwei oder mehreren verschiedenen Lichtern getroffen wird. In gewisser Weise ge- schieht dies schon, wenn wir das schlechtweg sogenannte gemischte Licht, wie es unsere Lichtquellen aussenden, in unser Auge dringen lassen. Hierbei ist aber im allgemeinen Licht von allen Wellenlängen eines großen Bereiches, also unzählige verschiedene Lichter vorhanden. Der physiologische Zweck erfordert meist die Zusammenfügung einer kleinen Zahl ihrer Art und Stärke nach definierter Lichter, und zur Erreichung dieses Zweckes sind verwickelte Verfahrungsweisen unent- behrlich. Nicht brauchbar ist die Vermischung von Pigmenten, da man bei dieser keines- wegs die Lichter, die jedes für sich allein gibt, zusammengefügt erhält. Ein relativ einfaches und für viele Aufgaben ausreichendes Verfahren besteht in der Benutzung von Scheiben mit verschieden gefärbten Sektoren, die man in so schnelle Um- drehung versetzt, daß sie eine ganz stetige Empfindung hervorrufen. Nach dem später zu erörternden Talbotschen Satz ist der Erfolg für die Empfindung in diesem Falle der gleiche, wie wenn das von dem einen und dem andern Sektor zurückgeworfene Licht gleichzeitig einwirkte, und zwar in Mengen- verhältnissen, die der Winkelgröße der angewandten Sektoren entsprechen. Nach dem Vorgange von Maxwell werden die Scheiben in einem Radius aufgeschnitten und durcheinander gesteckt, wodurch die Größe der Sektoren bequem verändert werden kann. Die quantitativ abstufbare Mischung von zwei oder mehr reinen Lichtern erfordert verwickelte Einrichtungen, die von der Zerlegung des gemischten Lichtes durch Prismen oder Gitter ausgehen; sie werden um so verwickelter, wenn, was im allgemeinen notwendig ist, die Vergleichung verschiedener Lichtgemische ge- fordert und somit die Herstellung zweier aneinander stoßender Felder notwendig 112 Die einfachen Lichter. — Aussehen des Spektrums. wird, deren jedes eine beliebige Mischung reiner Lichter aussendet. Die voll- kommenste Vorrichtung dieser Art ist wohl der Helmholtzsche Lichtmisch- apparat (beschrieben bei König und Dieterici, Zeitschr. f. Psych. 4, 244), Von anderen Vorrichtungen für ähnliche Zwecke sei hier der Helmholtzsche Doppelspalt erwähnt (für objektive Darstellung, jedoch ohne Vergleichsfeld) (Physiol. Opt., 8. 353) ferner die von v. Frey und mir benutzte Einrichtung, Arch. f: Anat. u. Physiol., physiol. Abt. 1881, S. 336; noch andere sind be- schrieben von Zoth, Arch. f. d. ges. Physiol. 70, 8. 1, von Asher, Verlıand- lungen der Deutschen Physikal. Gesellschaft V, 1903 (letztere mit Benutzung eines Thorpeschen Gitters). Für manche Zwecke ist‘es besonders vorteilhaft, die zu vergleichenden Felder so anzuordnen, daß das eine von dem anderen ganz-umschlossen wird, wobei es dann als heller oder dunkler oder andersfarbiger Fleck in jenem erscheinen bzw. bei vollkommener Gleichheit ganz unsichtbar werden kann. Man erreicht dies z.B. durch Anwendung zweier hintereinander gestellter Schirme, von denen der hintere durch ein Loch im vorderen gesehen wird, ein Verfahren, das zuerst von Hering zur Untersuchung des exzentrischen Sehens mit Vorteil verwendet worden ist. In der Photometrie wird ähnliches durch den sog. Lummerschen Würfel erzielt. Ich werde das Verfahren im folgenden als Methode des Flecks bezeichnen. Die einfachen Lichter. Lassen wir auf unser Auge einfache Lichter einwirken, so finden wir, daß im allgemeinen Lichter verschiedener Wellenlänge ungleich aussehen. In dem die verschiedenen Wellenlängen nebeneinander geordnet enthaltenden Spektrum sehen wir (falls wir seine Intensität nicht übermäßig groß oder klein machen) die bekannte Reihe der Farben, die vom Rot durch Orange, Gelb, Grün, Blau zum Violett führt. Es zeigt sich also, daß alle homogenen Lichter verschiedene Empfindungen hervorrufen. Diese Regel bleibt gültig, auch wenn wir die einzelnen reinen Lichter in ihrer Stärke innerhalb weiter Grenzen verändern. Betrachten wir im Spektroskop ein mit einem bestimmten homogenen Licht erleuchtetes Feld und lassen wir dessen Intensität wechseln, so er- halten wir zwar auch Veränderungen der Empfindung. Dabei bleibt jedoch die Empfindung, die ein Licht von einer Wellenlänge erzeugt, im allgemeinen verschieden von derjenigen, die wir durch Lichter größerer oder kleinerer Wellenlänge erzielen können, sofern wir den Unterschied der Wellenlänge nicht gar zu klein machen. Anders verhält sich dies nur in den Endstrecken des Spektrums. Lassen wir am roten Ende die Wellenlänge von einem gewissen Betrage ab noch weiter wachsen oder im violetten von einem gewissen Wert ab noch weiter abnehmen, so ändert sich die physiologische Wirkung nicht anders, wie wenn wir das ursprüngliche Licht in seiner Stärke verändern. Da es wünschenswert ist, für die soeben erwähnten Beziehungen einen kurzen Ausdruck zu haben, so will ich zwei ihrer Qualität nach definierten Lichtern!) die gleiche Reizart zuschreiben, wenn sie bei irgend einem bestimmten Intensitäts- verhältnis gleich aussehen. Wir können dann sagen, daß die Reizart der einfachen Lichter in den Endstrecken des Spektrums dieselbe bleibt, hiervon abgesehen aber sich mit der Wellenlänge stetig ändert. !) Jedes einfache Licht ist hier nach seiner Wellenlänge, jedes gemischte durch das Verhältnis, in dem es verschiedene einfache enthält, definiert zu denken. A a ae a a a Sichtbares Spektrum. 113 Begrenzung des sichtbaren Spektrums. Das Spektrum des Sonnenlichtes, sowie der meisten von uns benutzten Lichtquellen erstreckt sich, wie bekannt, sowohl nach der Seite der lang- welligen, wie der kurzwelligen Lichter beträchtlich über den sichtbaren Teil hinaus. Man kann fragen, aus welchem Grunde Strahlen von größerer Wellen- länge als etwa 800 uu (ultrarot) oder von kleinerer als etwa 400 uu (ultra- violett) nicht mehr sichtbar sind, und man hat insbesondere daran gedacht, ob etwa eine starke Absorption der ultraroten und ultravioletten Strahlen in den Augenmedien hier eine Rolle spielt. Es hat sich indessen gezeigt, daß diese jedenfalls nur von untergeordneter Bedeutung ist. Die Absorption in den Wellenlängen bis 1000 uu ist allerdings beträchtlich, aber doch nicht so groß und von der Art, daß die rapide Abnahme der physiologischen Wirkung, die wir bei Überschreitung einer gewissen Wellenlänge eintreten sehen, darauf zurückgeführt werden könnte!). Ultraviolettes Licht wird bis zu Wellenlängen von etwa 324 uw nur wenig, von da ab allerdings in zunehmendem Maße ab- sorbiert?2). Der wesentliche Grund für die Begrenzung des sichtbaren Spek- trums liegt offenbar darin, daß ähnlich wie dies für die chemischen Wirkungen des Lichtes bekannt ist, auch die physiologischen Erfolge in einer besonderen Weise von der Wellenlänge abhängen und bei Überschreitung gewisser Grenzen stark abnehmen. — Wie sich hiernach von selbst versteht, findet man die Grenzen des Spektrums je nach den besonderen Bedingungen der Beobachtung sehr verschieden. Man kann sie am weitesten hinausrücken, wenn man die betreffenden Lichter in hoher Stärke und wenn man sie mög- lichst isoliert, ohne daß gleichzeitig andere hellere Lichter im Gesichtsfeld vorhanden sind, zur Einwirkung bringt. Unter günstigsten Bedingungen sah Helmholtz das Rot bis zu einem Punkte, der etwa um ebensoviel jenseit der A-Linie lag, wie deren Abstand von der B-Linie beträgt, was einer Wellen- länge von etwa 835 uu entsprechen würde. Im ultravioletten Licht ist die Begrenzung des sichtbaren Spektrums eine besonders unscharfe, weil Augenmedien und Netzhaut eine nicht unerheb- liche Fluoreszenz besitzen. Helmholtz konnte unter Anwendung geeigneter Vorsichtsmaßregeln das Sonnenspektrum bis zur Fraunhoferschen Linie R (318 wu) wahrnehmen; es bleibt indessen natürlich dahingestellt, ob es sich hier um eine direkte Wirkung der kurzwelligen Lichter handelte oder um eine indirekte, durch die Erzeugung eines längerwelligen Fluoreszenzlichtes vermittelte 3). Allgemeine Gesetze der Lichtmischung. Ehe wir uns einer speziellen Darstellung der bei der Einwirkung ge- mischter Lichter zu beobachtenden Erscheinungen zuwenden, können wir einige ganz allgemeine Sätze vorausschicken, deren präzise Formulierung wir Graßmann verdanken. !) Aschkinass, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 11, 44. — ?) Soret, Compt. rend. 88, 1012. Vgl. ferner Chardonnet, ibid. 96, 509; Mascart, ibid. 96, 571; Soret, ibid. 97, 314, 572, 642. — ®) Als geringste noch sichtbar gemachte Wellenlänge wird 210 uu (Mascart a. a. O.) angegeben. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 8 114 Gesetze der Lichtmischung. — Purpur. — Mischung langwelliger Lichter. Läßt man von zwei zu mischenden Lichtern das eine sich stetig ändern, so ändert sich auch das Aussehen der Mischung. (Ungleiche Lichter zu gleichen gemischt, geben ungleiche Mischungen.) Da- gegen ergeben gleich aussehende Lichter gemischt gleich aus- sehende Mischungen. Sätze, die eine physiologische Gleichwertigkeit verschiedener Lichter ausdrücken (sogenannte optische Gleichungen), sind demzufolge, ähnlich wie algebraische Gleichungen, additiv und subtraktiv verknüpfbar. Die ge- samten Regeln der Liehtmischungen gewinnen, wie später noch deutlicher hervortreten wird, durch diesen Satz eine große Vereinfachung. Als ein besonderes Ergebnis desselben kann hier hervorgehoben werden, daß, wenn zwei beliebige Lichter oder Lichtgemische gleich aussehen, auch durch Ver- doppelung, Verdreifachung usw. ihrer Intensitäten wieder gleich aussehende Paare erhalten werden, oder, wie man es allgemein ausdrücken kann, die op- tischen Gleichungen bei proportionaler Intensitätsveränderung aller Lichter stets gültig bleiben). Die Purpurtöne. Zu den speziellen Tatsachen der Lichtmischung übergehend, stellen wir an die Spitze die Erscheinungen, die sich durch Mischung eines lang- welligen und eines dem brechbareren Ende des Spektrums nahen kurz- welligen Lichtes ergeben. Es zeigt sich, daß wir hier Empfindungen erhalten, die von den durch irgend welche reine Lichter zu erzielenden wiederum verschieden sind; sie werden mit dem Namen des Purpurs bezeichnet. Je nach den Mengenverhältnissen, in denen das reine Rot und Violett zu- sammengefügt wird, läßt sich der Empfindungserfolg in einer stetigen Weise vom Rot zum Violett abstufen. Es ergibt sich also, daß, wenn man die physiologischen Reizarten der reinen Lichter durch diejenigen der Purpur- mischungen ergänzt, sich die Gesamtheit derselben in Form einer geschlos- senen Linie darstellen läßt: vom langwelligen zum kurzwelligen Ende kann der Übergang entweder durch die Purpurtöne oder durch die reinen Lichter (mit stetig abnehmender Wellenlänge) genommen werden. Mischung zweier langwelliger Lichter. Schwerpunktskonstruktion. Ganz anders gestalten sich die Erscheinungen, wenn wir Lichter mischen, die nicht den entgegengesetzten Enden des Spektrums angehören, deren Wellenlängen sich also nur um geringere Beträge unterscheiden. Der ein- fachste Fall ist gegeben durch die Mischung zweier Lichter, die beide dem langwelligen Teile des Spektrums, vom roten Ende bis etwa zur Wellenlänge 540 uu, angehören. Mischt man z. B. ein rotes Licht von der Wellenlänge 670 uu und ein gelbes von 580 uu, so erscheint dies Gemisch einem reinen Lichte irgend einer mittleren Wellenlänge vollkommen gleich. Welche dies ist, das hängt von dem Mengenverhältnis ab, in dem das Gemisch seine beiden ‘) Es ist, wie hier bemerkt sei, namentlich dieser Satz, dessen Gültigkeits- bedingungen später noch genauer zu besprechen sind. u Fe Th Schwerpunktskonstruktion. 115 Bestandteile enthält. Je mehr der langwellige Bestandteil überwiegt, um so größer wird die Wellenlänge des gleich erscheinenden homogenen Lichtes, und umgekehrt. Die tiefere Bedeutung dieser Tatsache tritt hervor, wenn wir uns der ganz anders- artigen Erscheinungen erinnern, die wir im Gebiete des Gehörsinnes beobachten. Lassen wir gleichzeitig c und e erklingen, so hören wir diese beiden Töne zusammen, und die Empfindung ist durchaus verschieden von der, ‘die wir durch einen Ton mittlerer Schwingungszahl, etwa d erzielen. Hier entspricht also jedem physika- lisch einfachen Vorgange einenur ihm zukommende Empfindung; die Empfindungen sind in so mannigfaltiger Weise kombinierbar, wie die Reize. Beim Gesichtssinn ' ist dies nicht der Fall; von einem langwelligen Lichte ausgehend, können wir die Empfindungen durch Verminderung der Wellenlänge oder durch Zumischung eines kurzwelligen Lichtes in ganz gleicher Weise abändern; jede Empfindung kann durch sehr zahlreiche objektiv verschiedene Vorgänge erzielt werden. Die Reaktion des Gehörorgans ist in ebenso mannigfaltiger, die des Auges in weit beschränkterer Weise veränderlich als die zur Reizung dienenden objektiven Vorgänge. Mit Rücksicht auf die oben aufgestellten allgemeinen Sätze können wir weiter hinzufügen, daß (innerhalb des hier in Rede stehenden Bereichs) jede ganz beliebige Mischung von Lichtern, deren Wellenlänge mehr als 540 uu beträgt, irgend einem Gemenge dieses Lichtes (540) mit äußerstem Rot, und auch irgend einem einfachen Licht einer Wellenlänge > 540 uu gleich erscheint. Alle einfachen Lichter von größerer Wellenlänge als 540 uu und alle beliebigen aus ihnen zu bildenden Gemische besitzen also eine nur in einem Sinne veränderliche Reizart; alle hier vorkommenden Reizarten sind als Funktionen einer Variabeln darstellbar. In zweckmäßiger Weise läßt sich diese Tatsache räumlich veranschau- lichen, indem man zwei Lichter etwa von 800 und 540 uu Wellenlänge durch zwei Punkte A und B darstellt; man kann dann die stetigen Abstufungen von der einen zur anderen Reizart durch die Fig. 14.' von A nach B gezogene Gerade versinnlichen, „ 0 D B wobei jeder Punkt derselben einem einfachen |! t + 2 Licht bestimmter Wellenlänge zwischen 540 Darstellung der Mischungen Tangwelliger und 800 uu oder auch einem bestimmten Gemisch der Endlichter entsprechen würde. Zu einer detaillierten Darstellung der Erscheinungen ist eine solche Zeichnung geeignet, wenn sie in der Weise ausgeführt wird, die man als Schwerpunktskonstruktion zu be- zeichnen pflegt. Der Sinn solcher Darstellungen ist, wie hier zunächst nochmals hervorgehoben sei, der, daß alle Lichter oder Liehtgemische, die von gleicher Reizart sind, durch denselben Punkt dargestellt werden; die Gesamtheit der in einer Geraden enthaltenen Punkte versinnlicht also eine Gesamtheit von Reizarten: jeder Punkt stellt eine Reizart dar. Die Schwerpunktskonstruktion besteht darin, daß, wenn zwei Lichter L, und L, in den Punkten A und B dargestellt sind, ein Gemisch, welches diese beiden Lichter in den Mengen m, und m, enthält, oder ein dieser Mischung gleich erscheinendes anderes Licht auf der diese Punkte” verbindenden Geraden an die Stelle C zu legen ist, die sich dadurch bestimmt, daß CA Me. (BB m Es ist dies derjenige Punkt, der der Schwerpunkt sein würde, wenn man in A und B den Mengen m, und m, proportionale Massen anbrächte. Die weitgehende Bedeutung dieser Konstruktion beruht darauf, daß, wenn z. B. jenem Prinzip gemäß C der Ort eines und D der eines anderen Lichtes ist, nun g* 116 Mischung beliebiger Lichter. auch der Ort eines Gemisches dieser beiden Lichter wieder nach der gleichen Regel gefunden werden kann usw., und daß alle Gemische, die bei diesem Verfahren auf denselben Punkt kommen, immer wieder von gleicher Reizart sein müssen. Eine spezielle Darstellung der homogenen Lichter von 800 bis 540 uu gestattet also, für jedes ganz beliebige Gemisch anzugeben, mit welchem einfachen Lichte (oder mit welcher Mischung der beiden Endlichter) es von gleicher Reizart ist. — Die Be- rechtigung des ganzen Verfahrens gründet sich, wie man sieht, auf die oben er- wähnte allgemeine Tatsache, daß jedes Licht in beliebigen Mischungen duıch ein ihm gleich aussehendes ohne Änderung des Erfolges ersetzt werden kann (ebenso wie bei der Ermittelung des Schwerpunktes jede Gruppe von Massen durch eine in ihrem Schwerpunkt angebrachte und ihrer Summe gleiche Masse ersetzt werden kann). Mischungen beliebiger Lichter. Farbentafel. Wie schon erwähnt, trifft die eben erwähnte Regel, nach der die Mischung zweier reiner Lichter einem einfachen Licht von irgend einer mittleren Wellenlänge gleich aussieht, nur in einem beschränkten Gebiet zu. Mischt man z. B. ein Blaugrün 510 uu mit einem Blau 460 uu, so bemerkt man, daß bei einem gewissen Verhältnis die Mischung einem einfachen Licht (z. B. 490 uu) zwar sehr ähnlich aussieht, aber doch nicht genau mit ihm überein- stimmt. Das Gemisch erscheint blasser, von einer „weniger gesättigten“ Farbe als das einfache Licht. Noch auffallender wird dieser Unterschied, wenn man die beiden einfachen Lichter so wählt, daß die Wellenlänge des einen größer, die des anderen kleiner ist als die eines gewissen mittleren, etwa auf 517 uw anzusetzenden Grün. Und wählt man das eine Licht lang- welliger als etwa 560 uw und läßt die Wellenlänge des anderen mehr und mehr abnehmen, so erhält man bei passendem Mengenverhältnis Gemische, die zunächst grünlich gelb aussehen, aber blasser und blasser werden, bis bei einer annähernd bestimmten Wellenlänge ein ganz farbloses Gemisch erhalten werden kann. Als wichtigste Tatsache ist dem aber nun hinzuzufügen, daß die Abweichungen von dem Aussehen der reinen Lichter überall von der gleichen Art sind und als Annäherung der Empfindung an eine ganz be- stimmte andere, die farblose, bezeichnet werden können. Demgemäß kann man denn auch sagen, daß jedes ganz beliebige Lichtgemisch gleich aussieht wie irgend ein bestimmtes einfaches Licht (oder ein be- stimmtesPurpurgemisch), das in bestimmtem Verhältnis mit einem farblosen Licht gemischtist. Es ist dies die Form, in die das uns hier interessierende Gesetz von Graßmann gebracht worden ist und noch jetzt in der Regel ausgesprochen wird. Man muß indessen beachten, daß für die Mischungstatsachen die Bezugnahme auf die Art der Empfindungen und auch die Heraushebung derjenigen Lichtgemische, die eine ganz be- stimmte (die farblose) Empfindung erzeugen, nicht wesentlich ist. Vielmehr kann man ganz allgemein sagen: Denken wir uns (wie dort das farblose) irgend ein ganz beliebiges, einfaches oder gemischtes Licht fixiert und dieses successive mit der ganzen Reihe der durch die Purpurtöne ergänzten reinen Lichter gemischt, dabei zugleich die Verhältnisse der Mischung von dem Nullwert des einen bis zu dem des anderen variiert, so erhalten wir die er- schöpfende Gesamtheit aller überhaupt vorkommenden Reizarten; d. h. jedes ganz beliebige Lichtgemisch findet in jener Gesamtheit ein ihm gleich aus- sehendes Element. Farbentafel. 117 Anschaulicher drückt sich auch dies in der schon oben benutzten geo- metrischen Darstellung aus. Hält man an dem Prinzip fest, daß jedes Licht- gemisch durch einen bestimmten Ort dargestellt werden und daß jede Mischung zweier Lichter auf der die Orte dieser beiden verbindenden Ge- raden ihren Platz finden soll, so ergibt sich, daß die sämtlichen Mischungen dreier Lichter in einer Ebene dargestellt werden können. Tatsächlich können wir nun, dem gleichen Prinzip folgend, die sämtlichen einfachen Lichter in einer ebenen Linie darstellen; ergänzen wir diese durch eine ihre Endpunkte verbindende Gerade, so erhalten wir eine geschlossene Figur, die man eine Farbentafel nennt. Da, wenn wir beliebige Punkte einer Ebene durch ge- rade Linien verbinden, diese immer vollständig in die Ebene fallen, so folgt, daß alle durch ganz beliebige Lichterkombinationen herzustellenden Gemische durch irgend einen der Farbentafel angehörenden Punkt darzustellen sind. Die Gesamtheit der der Tafel angehörenden Punkte veranschaulicht uns alle überhaupt durch irgend welche Lichtmischungen zu erzielenden Reizarten. Man sieht leicht, daß diese Darstellung ein Äquivalent der oben angeführten Sätze ist. In der Tat muß, wie direkt ersichtlich, jeder Punkt der Tafel irgendwo auf einer Geraden liegen, durch die wir einen bestimmten Punkt im Innern mit irgend einem. Punkte der Begrenzungslinie verbinden. Die Tafeldarstellung ver- anschaulicht also in einfachster Weise, daß jedes ganz beliebige Lichtgemisch der Kombination eines bestimmten Gemisches mit irgend einem einfachen Licht (ein- schließlich der Purpurtöne) gleichwertig sein muß. Die vorhin angeführten Tatsachen genügen schon, um die Gestalt einer solchen Farbentafel in ihren Grundzügen festzustellen, und wir können noch einiges Weitere an der Hand dieser Darstellung sehr übersichtlich erläutern. Die Farbentafel besteht, wie erwähnt, aus einer gekrümmten, die Orte der einfachen Lichter enthaltenden Kurve, die durch eine die Purpurtöne dar- stellende Gerade zu einer geschlos- Fig. 15, senen Figur ergänzt wird. Da, wie wir oben sahen, bis zur Wellen- länge 540 uw die Mischungen zweier Lichter einem einfachen von einer mittleren Wellenlänge gleich er- scheinen, so verläuft dieser Teil der Umrißlinie geradlinig. Sie muß sich dann in der Gegend des Grün stark krümmen und wieder mit schwacher Krümmung gegen das Luna Purpur violette Ende verlaufen, muß also Schematische Darstellung einer Farbentafel. etwa von der in Fig. 15 dargestellten Form sein. Erwägt man, daß ein bestimmter Punkt im Innern den farblosen Gemischen entspricht, so sieht man, daß die Punkte, in denen irgend eine durch diesen Punkt gezogene Gerade die Umrißlinie trifft, ein Lichterpaar ergibt, das (in passendem Mengenverhältnis gemischt) ein farbloses Gemisch ergibt. Man nennt bekanntlich solche Lichter einander komplementär; wir werden uns mit ihnen noch eingehender zu befassen haben. Hier genügt es, darauf hinzuweisen, daß, wie die Tafel direkt ersichtlich macht, das äußerste ‚Rot des Spektrums seine Ergänzungsfarbe im bläulichen Grün findet und Grün . v2 I Yiolett 118 Farbentafel. daß mit abnehmender Wellenlänge des einen Bestandteils auch der andere immer kurzwelliger wird. Da das äußerste Violett des Spektrums seine Komplementäre im grünlichen Gelb hat, so folgt, daß eine Reihe einfacher Lichter, die dem grünen Teile des Spektrums angehören, keine einfache Kom- plementäre besitzen, sondern durch Purpurtöne zu Weiß ergänzt werden. — Ferner sei daran erinnert, daß das gemischte Licht unserer gewöhnlichen Lichtquellen alle einfachen Lichtarten von der größten bis zur kleinsten Wellenlänge enthält. Es würde also durch eine bestimmte Massenverteilung längs der ganzen Linie RGV darzustellen sein. Je nach der spezielleren Art der Massenverteilung kann der Schwerpunkt an verschiedene Stellen fallen; und so ist auch das Aussehen solcher gemischten Lichter verschieden je nach dem Stärkenverhältnis, in dem die verschiedenen einfachen Lichter vertreten sind (Sonnenlicht anders als Gas- oder Petroleumlicht). Als wichtigstes Ergebnis dieser Darstellung erscheint wiederum, wie wir oben schon hervorhoben, daß das Sehorgan nur in sehr beschränktem Maße einer Verschiedenheit der Lichtreize mit einer Verschiedenheit der Emp- findungen entspricht, daß die Gesamtheit der physiologischen Wirkungen eine weit beschränktere Mannigfaltigkeit darstellt als die der Reize. Und zwar kann man sagen, daß die Reizarten aller möglichen Lichtgemische sich als Punkte einer Ebene, somit als Funktion von zwei Variabeln dar- stellen. Nehmen wir die bei der Betrachtung der Reizart ausgeschlossene Variierung der Lichtstärke hinzu, so ergibt sich, daß die gesamte physiolo- gische Valenz ganz beliebiger Lichter und Lichtgemische sich als Funktion von drei Variabeln erschöpfend darstellen läßt. Noch anschaulicher kommt das gleiche Verhalten darin zur Erscheinung, daß (innerhalb eines gewissen Bereiches) durch Mischung beliebig vieler Lichter keine anderen Reizerfolge erzielt werden können als sich durch Mischung von nur drei Lichtern er- halten lassen, mit anderen Worten, daß zu jedem ganz beliebigen Lichte oder Lichtgemisch ein ihm gleich aussehendes Gemisch dreier Lichter hergestellt werden kann. Da sich hierin eine sehr wichtige Eigentümlichkeit unseres Sehorgans ausdrückt, so ist es zweckmäßig, die eben geschilderte (normale) Art des Sehens durch einen kurzen Ausdruck zu bezeichnen; wir nennen sie eine trichromatische. In bezug auf Konstruktion und Bedeutung der Farbentafel sei hier noch folgendes hervorgehoben. Zunächst ist zu beachten, daß die Tafel die Gesamtheit aller überhaupt vorkommenden Reizarten darstellt. Jeder Punkt der Tafel ent- spricht einer Reihe qualitativ definierter Lichter, und in dem Zusammentreffen ver- schiedener Lichter an demselben Punkt der Tafel drückt sich die Tatsache aus, daß sie bei gewisser Wahl der absoluten Intensitäten gleich aussehen. Dagegen findet diejenige Veränderung der physiologischen Valenz, die der Variierung der absoluten Intensität entspricht, in der Tafel keinen Ausdruck. Zu beachten ist ferner, daß die Gestaltung der Tafel insofern eine willkür- liche ist, als man für drei Lichter den Ort auf der Tafel und die Intensitäts- einheiten willkürlich wählen kann. Die den andern Lichtern anzuweisenden Orte ergeben sich dann aus den durch die Beobachtung direkt ermittelten Tatsachen. Ebenso ist auch durch die Wahl der Mengeneinheiten für drei Lichter zugleich fixiert, welche Menge irgend eines anderen als Einheit zu nehmen ist; denn die- jenige Menge eines Lichtes Z,, die einem Gemisch z. B. der Einheiten von L, und L, gleich erscheint, muß, wenn wir uns dieser Quantitätsbezeichnungen für die Schwerpunktskonstruktion bedienen wollen, gleich 2 gesetzt werden. Nimmt man z. B. für drei Lichter diejenigen Werte, mit denen sie im Dispersionsspektrum des. Aichung des Spektrums. 119 Sonnenlichts vertreten sind, als Einheiten, so ist es Sache der empirischen Ermitte- lung, festzustellen, mit welchen Werten (in dem hierdurch fixierten Maße gemessen) alle übrigen Lichter im Sonnen- (oder irgend einem andern) Spektrum vor- handen sind. Endlich sei noch betont, daß die Farbentafel lediglich die direkt beobacht- baren physiologischen Gleichwertigkeiten objektiv verschiedener Lichter in syste- matischer Weise ausdrückt, also lediglich eine anschauliche Darstellung einer ge- wissen Gruppe von Tatsachen ist, in die irgend eine theoretische Erwägung oder Hypothese über die Natur der physiologischen Vorgänge nicht eingeht. Aichung eines Spektrums. Zu einer speziellen und namentlich auch quantitativen Darstellung der Mischungsverhältnisse bedient man sich gewöhnlich einer anderen hier noch kurz zu erläuternden Darstellung. Sind in der Farbentäfel A, B und c die Orte dreier einfacher Lichter, so kann durch Mischung von diesen drei Lichtern die Gesamtheit aller Reiz- arten dargestellt werden, die dem geradlinigen Dreieck ABC angehören. Wählt man für diese Lichter z. B. ein rotes, ein grünes und ein violettes, so umfaßt dieses Dreieck den größten Teil der Tafel; man kann also durch Mischung dieser drei Lichter alle überhaupt vorkommenden Reizarten nahezu vollständig erhalten. Ganz vollständig allerdings nicht, weil die Umrißlinie der Farbentafel gekrümmt ist (d. h. weil die Mischungen aus Grün und Violett an Sättigung hinter dem homogenen Cyanblau zurückbleiben usw.) Man kann nun aber diese Darstellung leicht zu einer ganz allgemeinen er- weitern, wenn man berücksichtigt, daß ein homogenes Grünblau mit einer gewissen Menge Rot einer bestimmten Mischung von Grün und Violett gleich aussieht. Auch dieses Licht läßt sich also mit jenen dreien durch eine Glei- chung in Verbindung bringen, die jedoch die Form haben würde aGbl +ßBR=yGr + ÖV. Man pflegt nun auch diese Art von Gleichungen in der Form eGbl—=yGr +H+8V— PR zu schreiben, und es sind daher alle vorkommenden Reizarten einer Kom- bination dreier Lichter gleichzusetzen, wenn man für diese Mengen auch nega- tive Werte zuläßt, wobei diejenigen Gleichungen, in denen negative Werte auf- treten, in der soeben am Cyanblau erläuterten Bedeutung zu nehmen sind. Um die Verhältnisse der Lichtmischung im speziellen darzustellen, muß man für jedes Licht eine objektiv feste Stärke zugrunde legen; man tut dies gewöhnlich in der-Weise, daß man von einem hinsichtlich der Lichtart und hinsichtlich der Entstehung bestimmten Spektrum, z. B. dem prisma- tischen Spektrum des Gaslichtes, ausgeht. Behufs einer detaillierten und er- schöpfenden Darstellung aller Erscheinungen der Lichtmischung wäre nun für. jedes Licht dieses Spektrums das ihm gleich zu setzende Gemisch dreier irgendwie gewählter Lichter anzugeben. Ich will eine solche Ermittelung die Aichung eines Spektrums nennen, die drei zu dem Zwecke benutzten Lichter mögen Aichlichter heißen; sind ferner diese mit A, B und C be- zeichnet, so will ich diejenige Menge von A (B oder C), die in dem einem bestimmten Lichte des Spektrums gleich zu setzenden Gemisch auftritt, dessen Aichwerte (A-, B- oder C-Wert) nennen; Kurven endlich, die in der 120 Zusammenhang verschiedener Aichungen. üblichen Weise graphischer Darstellung die Aichwerte als Funktion der Wellenlänge darstellen, mögen als Aichwertkurven (A-, B- und C-Kurve) bezeichnet werden. Ist eine solche Aichung eines Spektrums durchgeführt, so gestattet eine einfache Rechnung, alle zwischen beliebigen Lichtgemischen auftretenden Gleichheitsbeziehungen zu übersehen, da eben Gemische gleich aussehen, die in bezug auf alle drei Aichwerte übereinstimmen. Auch die Mischungen von Lichtern anderer Herkunft würden sich natürlich daraus ergeben, sofern nur die objektiven Verhältnisse ihrer Stärke zu den in dem geaichten Spektrum vorhandenen bekannt sind. Die wirkliche Ausführung einer solchen Aichung ist von König und Dieterici!) versucht worden; sie stößt jedoch auf sehr große technische Schwierigkeiten; auch sind die Ergebnisse jener Untersuchung aus später zu besprechenden Gründen nicht ganz einwandfrei; ich unterlasse daher hier eine Reproduktion derselben, um so mehr, als wir, wie sich später zeigen wird, auf einem Umwege leichter und sicherer zu Resultaten dieser Art gelangen können. Da, wenn M,, M, und M, eine, L,, ZL, und ZL, eine andere Trias von Aich- lichtern ist, auch ZL = «aM, + PM, + YM, usw., so sieht man, daß die der einen und der anderen Darstellung angehörigen Aichwerte so zusammenhängen wie Orts- werte in verschiedenen rechtwinkligen Koordinatensystemen: die einen sind lineare Funktionen der anderen. Die Wahl der Aichlichter ist natürlich durchaus willkürlich; man kann die- selben Tatsachen unter Benutzung der einen wie der anderen darstellen. Es sei hier aber gleich noch bemerkt, daß man nicht nur bestimmte Lichter, sondern auch andere gedachte Reizarten zu einer solchen Darstellung verwenden kann, was, wie wir sehen werden, zur Veranschaulichung gewisser theoretischer Verhält- nisse von Nutzen ist. Eine solche Reizart können wir uns z. B. durch die Glei- chung &.F + z@= yR definiert denken, d. h. dadurch, daß sie in Ver- bindung mit einer gewissen Menge gelben Lichtes ebenso auf das Sehorgan wirkt wie eine gewisse Menge Rot. Auch in so definierten Reizarten kann man die . Aichung eines Spektrums darstellen, und sie würde aus einer anderen durch jene die Reizart definierenden Gleichungen ohne weiteres erhalten werden. In der Farben- tafel würde der Ort einer solchen gedachten Reizart außerhalb der bisher allein betrachteten, von den Orten der spektralen Lichter umschlossenen Figur liegen; man spricht in diesem Sinne von einer ideellen Erweiterung der Tafel und be- zeichnet jenes (bisher allein betrachtete) Stück als den reellen (d. h. wirklichen Lichtern entsprechenden) Teil derselben. Komplementärfarben. Rot-Grün-Mischungen. Da, wie erwähnt, von einer ganz systematischen Darstellung der Licht- mischungserscheinungen hier zunächst abzusehen ist, so ergänze ich die oben schon gegebene allgemeine Darstellung nur durch einige Tatsachen von spezieller Bedeutung. Man nennt, wie schon erwähnt, komplementär solche Lichterpaare, die, in passenden Mengenverhältnissen zusammengefügt, farblose, bei geeigneter Intensität weiße Gemische ergeben. Die Aufgabe einer genauen Ermittelung der zueinander . komplementären Lichter ist keine ganz eindeutige. Man kann einerseits davon ausgehen, daß Weiß !) Zeitschr. f. Psychol. und Physiol. der Sinnesorgane 4, 241. Die hier „Aichung eines Spektrums“ genannte Untersuchung ist im wesentlichen die näm- liche, die König als die Ermittelung der Verteilung von „Elementarempfindungen“ im Spektrum bezeichnete, ein nicht glücklicher Ausdruck, der jedenfalls sehr oft zu Mißverständnissen geführt hat. Komplementärfarben. 121 oder Farblos einen an sich scharf definierten Empfindungszustand bezeichnet; man könnte in diesem Sinne von einem subjektiv definierten Weiß reden und unter- suchen, welche Lichtgemische denselben hervorzurufen geeignet sind. Man kann aber anderseits auch die Aufgabe stellen, diejenigen Lichterpaare zu ermitteln, die einem bestimmten objektiv definierten Gemisch gleich aussehen, dessen Bezeich- nung als (objektiv definierte) Weiß Sache der Übereinkunft wäre. Streng ge- nommen ist daher bei allen die Bestimmung von komplementären Farben betreffenden Untersuchungen wohl zu unterscheiden, ob sie (ohne Vergleichslicht angestellt) ein subjektiv definiertes Weiß betreffen, oder ob die Aufgabe gestellt war, die Mischungen einem bestimmten objektiv gegebenen Lichte (bzw. welchem) gleich zu machen. Die Erfahrung lehrt indessen, daß die hierdurch bedingten Unsicherheiten doch. keine sehr erheblichen sind. Die von Helmholtz (ohne Vergleichslicht) gefundenen komplementären Paare sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt !). Komplementärfarben nach Helmholtz. Langwelliger Bestandteil Kurzwelliger Bestandteil 656,2 uu 492,1 uu 607,7 „ 489,7 „ 585,3 „ 485,4 „ 573,7 „ 482,1 „ 567,1 „ 464,5 „ 564,4 „ | 461,8 „ 963,5 „ von 433 „ ab -Graphisch veranschaulicht diese Ergebnisse die Fig. 16. Man ersieht, daß die Komplementärfarbe des äußersten Rot im Grünblau (Wellenlänge etwa 492 uu) gefunden wird; Fig. 16. mit zunehmender Wellenlänge ü des weniger brechbaren Be- Violet standteiles ändert sich die zmdigoBlau Wellenlänge des brechbaren zyunBlau ‘ zunächst nur langsam, dann ee aber, wenn dieser in das Gelb gerückt ist, schneller und schneller, so daß schließlich das Verhältnis sich umkehrt . und sehr beträchtlichen Ver- änderungen des brechbareren Teiles (im Blauviolett) nur ge- Roth ringfügige Verschiebungen des | weniger brechbaren im Grün- BE lichgelb entsprechen. Zum R as 3 äußersten Violett-ist ein Grün- sn & _ lichgelb von 560 bis. 565 UU Die komplementären Farbenpaare nach Helmholtz (Physiol. komplementär. Die Farben, OP EEE PR IER die keine einfache Komplementärfarbe besitzen und nur durch gemischtes (purpurfarbenes) Licht zu Weiß ergänzt werden, erstrecken sich etwa von S g 3 I — E ww h Gelb Mi !) Helmholtz, 8. 317. 122 Komplementärfarben. 560 bis 492 uu. Die eigentümliche Gestalt der das Komplementärverhältnis darstellenden Kurven, ihre Zusammensetzung aus zwei annähernd horizontal und vertikal laufenden Endstrecken, die mit scharfer Krümmung ineinander Fig. 17. E D 6 Z =-L....] E D 6 Die komplementären Farbenpaare nach v. Frey und v. Kries. Die durchgezogenen Linien D, E, F, @, sind die Orte der mit diesen Buchstaben bezeichneten Fraun- hoferschen Linien. übergehen, hängt mit dem Um- stande zusammen, daß auch für die direkte Beobachtung in den Endpunkten des Spektrums der Farbenton sich nur sehr wenig ändert, während im Gelb, sowie im Blaugrün kleine Änderungen der Wellenlänge schon von sehr auffälligen Änderungen der Farbe begleitet sind. Die mit einem bestimmten. Vergleichsweiß (vom diffusen Tageslicht beleuchtetes weißes Papierblatt) erhaltenen Ergeb- nisse zweier anderer Beobachter!) enthält diefolgende Tabelle und in graphischer Darstellung Fig. 17. Sie stimmen mit den Helm- holtzschen Befunden nahezu überein; beachtenswert ist aber ein zwischen den beiden Beob- achtern hervortretender zwar kleiner, aber völlig regelmäßiger Unterschied, ein Punkt, auf den wir alsbald zurückkommen. Tabelle der komplementären Farbenpaare für zwei verschiedene Beobachter. Beobachter.von Kries Beobachter von Frey Langwelliges Licht | Kurzwelliges Licht) Langwelliges Licht | Kurzwelliges Licht in uu in uu 656,2 492,4 656,2 485,2 626 492,2 626 484,6 612,3 489,6 612,3 483,6 599,5 487,8 599,5 481,8 587,6 484,7 587,6 478,9 579,7 478,7 586,7 478,7 577,6 473,9 577,7 473,9 575,5 469,3 572,8 469,3 572,9 464,8 570,7 464,8 571,1 460,4 569,0 460,4 571,0 452,9 568,1 452,1 570,4 440,4 566,3 440,4 570,1 | 429,5 566,4 429,5 ') v. Frey und v. Kries, Arch. f. Anat. und Physiol., physiol. Abteil. 1878. Rot-Grün-Mischungen. — Individuelle Unterschiede der optischen Gleichungen. 123 Eine spezielle Darstellung der Mischungsverhältnisse im langwelligen Teile des Spektrums gibt die nachstehende Tabelle, die angibt, welche Mengen roten und grüngelben Lichtes ein Gemisch enthalten muß, um reinen Lichtern von verschiedener Wellenlänge gleich auszusehen. Einheiten sind hier die Mengen, mit denen die Lichter im prismatischen Spektrum des Gaslichts ent- halten sind !). Wellenlänge der Lichter Wellenlänge des homogenen | 670,8 und 552 uu in Gemischen Lichtes 670,8 | 552 670,8 1,00 _ 628 2,84 0,14 615 3,11 0,38 603 3,05 0,69 591 2,27 0,94 581 1,39 1,07 571 0,82 1,28 561 0,24 1,13 552 — 1,00 Individuelle Unterschiede der Mischungsgleichungen. Wie eben erwähnt, findet man bei der Vergleichung eines unzerlegten weißen Lichtes mit Gemischen zweier komplementärer Lichter individuelle Differenzen verschiedener Beobachter derart, daß die von dem einen eingestellte Gleichung für den anderen nicht ganz genau zutrifft und umgekehrt. Und zwar ist dies der Fall auch bei Personen, die sämtlich ein der oben an- geführten Regel entsprechendes, also als trichromatisch zu bezeichnendes Farbensystem besitzen. Diese Erscheinung ist nun keineswegs auf jenen Fall, die Vergleichung eines unzerlegten mit einem binären Weiß beschränkt, findet sich vielmehr ähnlich bei den mannigfaltigsten optischen Gleichungen. Sehr deutlich ist sie z. B. auch bei Gleichungen zwischen einem homogenen und einem aus Rot und Grün gemischten Gelb zu bemerken: das Gemisch, das dem einen Beobachter mit dem homogenen Gelb gleich erscheint, ist für den anderen zu rötlich oder grünlich und muß etwas abgeändert werden, um die Gleichung wieder genau zu machen. Schon von Maxwell?) wurde die Vermutung ausgesprochen, daß die durch die Gelbfärbung des Netzhaut- zentrums bedingte Lichtabsorption eine individuell ungleich starke sein und daß hierdurch solche Differenzen entstehen möchten. Absorbiert jenes gelbe Pigment das rote Licht nicht, wohl aber das grüne in merklichem Maße, so wird für denjenigen, der eine stärker pigmentierte Macula hat, das Grün des Gemisches mehr geschwächt; er muß also dem Gemisch mehr Grün geben, um eine Gleichheit der Empfindung mit dem bestimmten homogenen Gelb zu ı) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane 13, 281. Die obige Tabelle ist aus der dort gegebenen berechnet, in der die Bestandteile des Ge- misches in willkürlichen Einheiten angegeben sind. — ?) Philos. Transactions 150, 57, 1860, 124 Lichtabsorption im Pigment des gelben Flecks. erzielen. Da in diesem Falle die individuellen Verschiedenheiten nicht auf eine Ungleichheit derjenigen Bestandteile. des Sehorgans zu beziehen wären, die durch das Licht affiziert werden, sondern nur auf diejenigen Körper, die das Licht vor Ausübung seiner physiologischen Wirkung passiert, so kann man in diesem Sinne von einer Differenz physikalischen (nicht physiolo- gischen) Ursprungs reden. Daß die Unterschiede zwischen der überwiegen- den Mehrzahl der Personen so aufzufassen sind, ist durch die weiteren Unter- suchungen sehr wahrscheinlich geworden. v. Frey und ich haben später!) eine größere Anzahl von optischen Gleichungen (zwischen unzerlegtem Weiß und solchem, das aus zwei Komplementären gemischt war, zwischen Rot- Grün-Mischungen und einer Reihe homogener Lichter zwischen Orange und Gelbgrün, endlich zwischen Grün-Violett-Mischungen und einer Reihe homo- gener Lichter) für zwei Beobachter systematisch durchgeprüft. Dabei ergab sich, daß die sämtlichen so erhaltenen Differenzen derart zusammenstimmen, wie dies, wenn sie auf Absorption durch einen gelben Körper beruhen, zu erwarten ist. Auf der anderen Seite wurde auch zuerst von Hering, dann auf dessen Anlaß in systematischer Weise von Sachs?) das Pigment des gelben Flecks an herausgeschnittenen menschlichen Netzhäuten einer physi- kalischen Untersuchung unterworfen. Dabei zeigte sich die Lichtabsorption von der Art, daß sie für den langwelligen Teil des Spektrums unmerklich, schon im gelblichen Grün anfängt bemerkbar zu werden, um gegen das vio- lette Ende hin stetig zuzunehmen. Da überdies die Färbüng des ..gelben Fleckes tatsächlich individuell recht erheblich variiert, so kann in ihr mit größter Wahrscheinlichkeit der Grund für die individuellen Abweichungen der optischen Gleichungen gesucht werden. — Die Annahme bestätigt sich weiter noch darin, daß man ganz die nämlichen Differenzen beobachten kann, wenn man auf kleinem Felde hergestellte optische Gleichungen abwechselnd direkt fixiert und mit einem wenig abgewandten Auge betrachtet. Eine bei direkter Fixation reinem Gelb gleich erscheinende Rot-Grün -Mischung erscheint bei geringer Abwendung des Blickes (weil nun die makulare Schwächung des Grünbestandteiles fortfällt) zu grün. Ein aus Rot und Blau- grün bestehendes zentral weiß erscheinendes Gemisch wird, parazentral be- trachtet, deutlich blaugrün usw. Eine messende Bewertung der durch die Maculafärbung bewirkten indivi- duellen Verschiedenheiten kann man sich verschaffen, wenn man von einer größeren Zahl normaler Personen erst Gleichungen zwischen reinem Gelb und Rot-Grün- Gemischen, dann solche zwischen reinem Blaugrün und Grün-Blau-Gemischen her- stellen läßt. Eine solche Untersuchung führte mich zu dem Ergebnis, daß die Werte, auf die das blaue Licht bei Personen schwächster und stärkster Pigmen- tierung reduziert wird, sich etwa wie 1:0,31 verhalten; der entsprechende Wert für grünes Licht (517 uu) kann auf etwa 0,5 angegeben werden. Über das Detail einer solchen Untersuchung, sowie über den Einfluß der qualitativen Verschieden- heiten des Maculapigments vgl. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane 13, 284 f. Anomale trichromatische Systeme. Von den eben erörterten Verhältnissen sind aller Wahrscheinlichkeit nach gewisse relativ seltene Fälle wohl zu unterscheiden, in denen man !) Arch. f. Anat.u. Physiol., physiol. Abteil. 1878. — ?) Arch. £. d. ges. Physiol. 50. u Anomale Trichromaten. 125 zwar qualitativ in mancher Hinsicht ähnliche, aber quantitativ weit be- trächtlichere Abweichungen findet. Läßt man in der vorhin erwähnten Art von einer größeren Zahl von Personen Gleichungen zwischen einem homogenen Gelb und einer Rot-Grün-Mischung herstellen, so ergibt sich, daß die Einstellungen der überwiegenden Mehrzahl sich mit den vorhin erwähnten nur mäßigen Abweichungen um einen mittleren Wert grup- pieren. Daneben aber findet man ab und zu einzelne Personen, die das Gemisch völlig anders einstellen und somit einen ganz aus der Reihe fallen- den Wert liefern. Lord Rayleigh, der diese Tatsache entdeckte!), fand Personen, die das Gemisch weit grüner, und auch solche, die es weit röter machen mußten als die Mehrzahl. Fälle der ersten Art scheinen nicht gerade selten zu sein; König?) fand bei Prüfung von 70 Personen deren 3, Donders?) unter 60 deren 4. Es sind dann auch mehrere Fälle dieser Art systematisch untersucht worden ). Weit seltener scheint dagegen die zweite Art der Abweichung zu sein. Donders und König erwähnen keinen . solchen Fall; mir selbst ist erst in jüngster Zeit ein solcher zur Beobachtung gekommen und dies ist auch der erste, der in systematischer Weise unter- sucht worden ist). Die Untersuchung lehrt nun unzweideutig, daß die Abweichung solcher Personen von der Mehrzahl nicht auf Verhältnisse der Lichtabsorption zurückgeführt werden kann, sondern. daß es sich um Unterschiede in der Natur der vom Licht affızierbaren Gebilde handeln muß. Es ist daher geboten, hier besondere von der Norm abweichende Bildungen des Seh- organs anzunehmen und es erscheint gerechtfertigt, solche Personen mit König als anomale Trichromaten zu bezeichnen. Soweit wir bis jetzt unterrichtet sind, gibt es jedenfalls zwei Formen derselben. Da man nicht wissen kann, ob nicht noch weitere vorkommen, so ist es wohl am besten, einfach von erster und zweiter Form der anomalen trichromatischen Systeme zu sprechen; und zwar will ich die schon länger bekannte (die in den oben erwähnten Gleichungen im Gemisch mehr Grün einstellt (Lotze)) als erste, diejenige, die mehr Rot verlangt, als die zweite Form bezeichnen. Kürzer und bezeichnender können auch die ersteren grün-anomale, die zweiten rot-anomale genannt werden. Doch ist es freilich denkbar, daß diese Benennungen durch die Auffindungen weiterer Formen sich als ungeeignet herausstellen. Daß der Unterschied des normalen und anomalen Trichromaten nicht auf Absorptionsverhältnissen beruht, zeigt insbesondere das folgende einfache Verfahren. Man läßt von einem normalen und dem anomalen Trichromaten Gleichungen zwischen einem Gemisch aus spektralem Rot und Grün und verschiedenen homo- genen Lichtern (etwa zwischen 670 und 550 «u) herstellen. Beruhte der Unter- schied auf einer bei der einen Person vorhandenen relativ starken Absorption des grünen Lichtes, so müßte der anomale Trichromat bei allen diesen Gleichungen das Grün in demselben Verhältnis vermehren. Das’ist aber nicht der Fall. Viel- 1) Nature 25, 64f., 1881. — *) Zeitschr. für Psychol. und Physiol. der Sinnes- organe 4, 292. — °) Arch. für Anat. und Physiol., pbysiol. Abteil. 1884, 8. 520. — *) König und Dieterici, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. der Sinnesorgane 4, 317. Ferner H. Lotze, Dissertation, Freiburg 1898. v. Kries, Zeitschr. f. Psychol. und Physiol. der Sinnesorgane 19, 64. — °) M. Levy, Über einen zweiten Typus des anomalen trichromatischen Farbensystems. Dissertation, Freiburg 1903. 126 Grün- und Rot-Anomale. mehr hat dies Verhältnis, wie die nachstehende Tabelle zeigt, für die langwelligsten reinen Lichter den größten Wert, um mit abnehmender Wellenlänge ganz regel- mäßig zu sinken. Quotient der für den einen und den Homogenes Licht anderen Beobachter erforderlichen Verhältnisse roten und grünen Lichtes. 628 uu 4,51 615 „ 3,74 603 „ | 3,15 591 „ 3,14 581 „ 2,68 571, 2,48 561 „ 2,15 552 „ 2,12 Ganz ähnliches stellt sich bei der Vergleichung des Rotanomalen heraus, wie . die folgende,‘ der Dissertation von Levy entnommene Tabelle zeigt. Hier sind Quotient der für den einen und den Homogenes Licht anderen Beobachter erforderlichen Verhältnisse roten und grünen Lichtes. 625 uu 0,019 613 „ 0,123 601 „ 0,230 589 „ 0,278 579 „ 0,262 569 „ 0,249 559 „ 0,176 550 „ 0,080 die Abweichungen überhaupt noch beträchtlicher; die Quotienten zeigen sich wiederum sehr stark mit der Wellenlänge veränderlich, sie nehmen bis’ 589 uu zu, um dann wieder abzunehmen. Der Unterschied des anomalen vom normalen Trichromaten muß demgemäß, wie man kurz sagen darf, ein physiologischer sein; d.h. ein vom Licht affizier- barer Teil des Sehorgans muß von anderer Beschaffenheit sein, und demgemäß die Stärke der auf ihn ausgeübten Lichtwirkung in anderer Weise als.in der Norm von der Wellenlänge abhängen. — Daß hier nicht etwa exzessiv starke Maku- latingierungen vorliegen, bestätigt sich darin, daß der Unterschied des normalen und anomalen auch bei Beobachtung mit parazentralen Netzhautstellen in vollem Maß bestehen bleibt, sodann auch darin, daß bei Gleichungen zwischen Grün-Violett- Gemischen und homogenen Lichtern zwischenliegender Wellenlänge die Einstellungen des anomalen keine deutliche Abweichung von den normalen zeigen. Im Übrigen bedürfen die Verhältnisse der anomalen trichromatischen Systeme noch in mancher Hinsicht weiterer Aufklärung. Erst die detaillierte Untersuchung einer größeren Zahl von Fällen wird beurteilen lassen, wieweit sie untereinander übereinstimmen, und ob etwa noch mehr Typen anzunehmen sind. — Nach Donders sollen die anomalen Trichromaten im allgemeinen einen schwachen Farbensinn besitzen; ich habe in meinen Beobachtungen hierfür keinen Anhalt ge- funden; wenigstens stellten die von mir untersuchten Personen die Gleichungen zwischen Gelb und Rot-Grün-Mischungen zwar anders, aber durchschnittlich mit etwa derselben Genauigkeit ein, wie. die normalen Trichromaten. Doch gestatten die jetzt bekannten Tatsachen in dieser Beziehung wohl noch kein abschließendes Young-Helmholtzsche Theorie. | 127 Urteil. Auffällig ist die beträchtliche Steigerung gewisser in das Gebiet des Farben- kontrastes gehöriger Erscheinungen, die jüngst von Nagel beschrieben worden ist (Klin. Monatsblätter f. Augenheilk. 42): ein gelbes Feld neben einem roten wird schlechtweg grün genannt. Dieses Verhalten ist nach Nagel so vollkommen regelmäßig, daß es ein zuverlässiges diagnostisches Merkmal abgibt. Die Theorie der Gesichtsempfindungen von Th. Young und Helmholtz. Die oben mitgeteilten Tatsachen haben als Hauptergebnis die außer-. ordentliche Beschränktheit herausgestellt, die die Gesamtheit der in den Empfindungen zum Ausdruck kommenden physiologischen Erfolge im Ver- gleich zu der Gesamtheit aller möglichen Lichtreize zeigt; die physiologischen Valenzen sind, wie wir sagen durften, durch Angabe von nur drei Bestim- mungen erschöpfend darzustellen. Sucht man nach einer Erklärung dieser fundamentalen Tatsache, so bietet sich als nächstliegender der Gedanke, daß das Sehorgan seiner ganzen Einrichtung nach nur drei voneinander unab- hängige Bestimmungen zulassen, daß sein ganzer Zustand (soweit er über- haupt durch Reize bestimmbar und für die Empfindung bestimmend ist) durch drei Angaben erschöpfend dargestellt werden kann. Eine bestimmtere Ge- stalt gewinnt diese Hypothese, wenn man, an gewisse in der Physiologie ge- läufige Vorstellungen anknüpfend, annimmt, daß, wie die physikalischen Wirkungen des Lichtes in Veränderungen bestehen, die ihrem Grade nach abstufbar, somit zwischen Null und beliebig hohen Werten veränderlich sind (wobei der Grad dieser Wirkungen mit der steigenden Intensität des ein- wirkenden Lichtes zunehmen wird), ähnlich auch die physiologischen Zustände sich als ihrer Intensität nach variable, somit zwischen Null und beliebig hohen Intensitätsgraden abstufbare (als Tätigkeits- oder Erregungszustände zu bezeichnende) Verhaltungsweisen darstellen. Macht man diese Annahme, so gelangt man zu der allgemeinen Vorstellung, daß drei ihrer Natur nach nur positive Werte zulassende Bestimmungen genügen, um die gesamten Zu- stände des Sehorgans darzustellen. Bezeichnet man diese etwa als drei ver- schiedene Tätigkeiten, so würde die Empfindung jederzeit durch die im Augenblick vorhandenen Grade dieser drei Tätigkeiten bestimmt werden; das verschiedene Aussehen der verschiedenen Lichter würde darauf beruhen, daß sie jene Tätigkeiten in ungleichem Maße hervorrufen; beliebige Lichtgemische endlich würden gleich aussehen, wenn ihre Wirkungen auf jede jener drei Tätigkeiten gleich sind. Dies etwa ist das ‘wesentliche jener Anschauung, die in ihren Grund- zügen von Th. Young aufgestellt, später dann von Maxwell und Helm- holtz wieder aufgenommen, namentlich von letzterem spezieller entwickelt und in den verschiedensten Richtungen fruchtbar gemacht wurde, und die gegen- wärtig gewöhnlich als die Young-Helmholtzsche Theorie bezeichnet wird. Der eben erwähnte Gedanke ist, wie man sieht, sehr allgemeiner Natur; es konnte daher, auch wenn man ihn zur Grundlage nahm, die speziellere Art seiner Verwirklichung noch in vielen Beziehungen als offene Frage behandelt werden. Unbestimmt konnte zunächst bleiben, wie man sich des Genaueren die physiologischen Substrate dieser drei verschiedenen Prozesse zu denken habe. Man konnte an drei verschiedene durch Licht zersetzbare Substanzen, an drei 128 Rot-, Grün- und Violettkomponente. verschiedene Tätigkeitsarten innerhalb einer Nervenfaser oder an drei ver- schiedene Faserarten denken, ferner an drei Arten von Nervenfasern, die etwa, an sich gleichartig, nur durch ihre zentrale Verbindung zur Hervor- rufung verschiedener Wirkungen geeignet wären, endlich an drei Arten von Nervenzellen, deren jede wiederum nur einer bestimmten Tätigkeit fähig wäre, usw.; eine Anzahl solcher Möglichkeiten wurden von Helmholtz erwähnt, jedoch im Sinne einer spezielleren Ausgestaltung der Theorie, die, weit weniger sicher als ihr Grundgedanke, nur von sekundärer Bedeutung wäre und einstweilen in suspenso bleiben könnte. — Unbestimmt konnte ferner auch bleiben, in welchem zahlenmäßigen Verhältnis bestimmte Lichter jene drei Vorgänge veranlassen und, was damit zusammenhängt, welche Emp- findungen dem isolierten Bestehen jeder einzelnen jener Tätigkeiten entsprechen. Aus manchen Gründen ließ sich -indessen-erwarten,- daß rotes, grünes - und violettes Licht je eine jener Tätigkeiten, wenn auch nicht isoliert, doch in starkem Übergewicht über die anderen beiden hervorrufen, daß also in der Farbentafel die Orte der auf eine derselben isoliert wirkenden Reizarten nicht sehr weit von den Orten der roten, grünen und violetten Lichter liegen werden. Unter dieser Voraussetzung ergab sich dann auch zugleich, daß bei ganz isoliertem Bestehen die eine Tätigkeit jedenfalls eine dem Rot ähnliche, die zweite eine als Grün, die dritte eine als Blau oder Violett zu bezeichnende Empfindung liefern würde, und zwar Empfindungen von noch größerer Sätti- gung, als im allgemeinen die reinen Lichter des Spektrums sie hervorrufen. In diesem Sinne konnte dann also von einem Rot-, Grün- und Violettbestand- teil des Sehorgans oder auch, unter Heranziehung der oben erwähnten speziellen Vorstellung, von Nervenfasern, die eine Rot-, Grün- oder Violett- empfindung auslösen, kurz von rot-, grün- und violettempfindenden Fasern gesprochen werden. Es war dann weiter anzunehmen, daß die Empfindung des Gelb auf einer gleichzeitigen Tätigkeit des Rot- und des Grünbestandteils, eine farblose Empfindung auf einer gleichzeitigen Tätigkeit aller drei Bestand- teile beruhen werde u. s. w. Auch die Wirkung der einzelnen Lichter auf diese drei Elemente konnte, wie gesagt, im Detail noch unbestimmt bleiben. Wesentlich war nur, Fig. 18. daß diese Wirkung für jeden Ba 2 tl | be bezeichnen, die in der üb- drei Bestandteile durch die Fig. 18 dar, die ni nur die Bedeutung eines Bestandteil in anderer | | seinen, die in da BEE 1 Mi | Mn N N Deren ae vorläufigen Entwurfs haben sollte. Weise von der Wellenlänge abhängen, für jeden eine andere „Valenzkurve* gelten müsse, wenn wir mit m Darstellung die Abhängig- R Gr: Bl. keit einer physiologischen Schematische Darstellung der Valenzk für Rot-, Grün- i ” ; Sr eng de (nach Helmholt z). ä Wirkung von der Wellen länge darstellt. Zur Illu- diesem Namen eine Kurve stration der ganzen Theorie stellte Helmholtz die Valenzkurven für seine Die Komponenten der Young-Helmholtzschen Theorie. 129 Es ist nützlich,. die Art, wie die Beziehung der supponierten Bestandteile zu den objektiven Lichtern des Genaueren zu fixieren wäre, und den Spielraum, den hier die Theorie zunächst läßt, etwas eingehender darzulegen. Wir müssen zu diesem Zwecke von den empirisch konstatierten Gesetzen der Lichtmischung aus- gehen. Am einfachsten übersieht man, daß die Farbentafel, da sie alle überhaupt denkbaren Reizarten darzustellen gestattet, auch die Orte derjenigen Reizarten auf- weisen muß, die auf einen jener Bestandteile des Sehorgans (sie mögen X-, Y- und Z-Bestandteil heißen) allein einwirken, die Orte also eines reinen X-, Yund Z-Reizes. Wenn, wie hier ja stets angenommen wird, nur positive Reizwerte in Betracht zu ziehen sind, so umfaßt ein geradliniges Dreieck, das in den Orten der X-, Y- und Z-Reize seine Spitzen hat, die Gesamtheit aller denkbaren Reizarten. In ihm. muß also die uns bekannte Farbentafel eingeschlossen sein. Gehen wir daher von der empirisch ermittelten Farbentafel aus, so können die drei Bestandteile zunächst in sehr einfacher Weise durch die Orte charakterisiert werden, die den auf sie allein wirkenden Reizen in der Farbentafel zukommen. Die Lage dieser drei Punkte ist also zunächst durchaus unbestimmt; nur müssen sie alle außerhalb des realen Teiles der Tafel liegen, und das durch ihre Verbindungslinien gebildete Dreieck muß diese vollständig einschließen. Für viele Zwecke ist es bequemer, die drei von der Theorie angenommenen Bestandteile durch die für sie geltenden Valenzkurven zu charakterisieren. Auch diese Valenzkurven sind nun zunächst in gewissem Sinne unbestimmt, in gewissem Maße allerdings auch durch die tatsächlichen Gesetze der. Lichtmischung ein- geschränkt und fixiert. Es genügt, in dieser Beziehung folgendes hervorzuheben. Denken wir uns ein Licht Z, gleichaussehend mit einer Mischung dreier (gedachter) Reize Rx, Ry und R; von solcher Art, daß sie ausschließlich auf den X-, Y- und Z-Bestandteil wirken, so bedeuten die in diesem Gemisch anzunehmenden Mengen von Rz, Ry und Rz offenbar die Stärken, mit denen das Licht L auf den X-, Y- und Z-Bestandteil des Sehorgans einwirkt, seine X-, Y- und Z-Valenz. Die Valenzkurven sind also nichts anderes als Aichwertkurven, die sich auf drei (gedachte) Reize von der Beschaffenheit beziehen, daß sie ausschließlich auf den X-, Y- und Z-Bestandteil wirken. Nun sahen wir schon oben, daß jeder einer solchen Darstellung zugehörige Aichwert stets eine lineare Funktion von den drei irgend einer anderen Darstellung zugehörigen sein muß. Denken wir uns also die Mischungstatsachen in der Weise empirisch festgelegt, daß (unter Benutzung dreier beliebiger Aichlichter) die Aichwerte für ein bestimmtes Spektrum ermittelt sind, so müssen die X-, Y- und Z-Werte irgendwelche lineare Funktionen der drei empirisch festgestellten Aichwerte sein. Die Unbestimmtheit hin- sichtlich der Beschaffenheit unserer Bestandteile kommt hier darin zum Ausdruck, daß die hierbei auftretenden Koeffizienten verschiedene Werte besitzen können. Dabei besteht, dem Sinne der Theorie nach, nur die Beschränkung, daß, während ganz im allgemeinen hier auch negative Koeffizienten auftreten können, jedem wirklichen Licht für jeden unserer drei Bestandteile nur positive Reizwerte zu- kommen dürfen, eine Einschränkung, die auf dasselbe hinausläuft, wie die obige, daß die reale Farbentafel ganz ins Innere des Dreiecks XYZ fallen muß. Es ist klar, daß die-berühmte und vielumstrittene Theorie die Tatsachen, an deren Hand sie entwickelt worden ist, nämlich die der Lichtmischung, in sehr einfacher und ansprechender Weise erklärt; wir werden sehen, daß dies auch von einer großen Anzahl weiterer Tatsachen gilt. Natürlich wird ein abschließendes Urteil über ihren Wert (soweit das überhaupt zuzeit mög- lich erscheint) erst an einer späteren Stelle zu geben sein; doch dürften gleich hier einige Bemerkungen am Platze sein. Eine allgemeine Erwägung der Theorie hat vor allem mancherlei Verschiedenes sorgfältig zu trennen. Ihre eigentliche Basis ist der ganz allgemeine Grundgedanke, daß die Zustände des Sehorgans nur in drei Beziehungen veränderlich sind; und es läßt sich wohl kaum leugnen, daß der Gedanke in dieser ganz allgemeinen Formulierung Nagel, Physiologie des Menschen. III. 9 130 Beschränkung der Theorie auf die direkten Lichtwirkungen. eine sehr große Wahrscheinlichkeit besitzt. Wir werden sehen, daß er, in anderer Ausgestaltung, auch zahlreichen anderen Theorien zugrunde gelegt worden ist, ja, wie man wohl sagen darf, für die allermeisten immer wieder die feste Basis abgegeben hat. Viel größere Zurückhaltung erscheint dagegen geboten gegenüber der Frage, in welcher Weise wir uns des Genaueren diese dreifache Bestimmtheit physiologischer Vorgänge zu denken haben, und man wird nicht leugnen können, daß die Helmholtzsche Theorie sich hier auf Annahmen gestützt hat, die wenigstens teilweise sehr unsicher sind. Der für ihre ganze weitere Gestaltung bestimmende Gedanke ist der, daß es sich durchweg um Wirkungen und Vorgänge handelt, die ihrer Natur nach nur positive (einsinnige) Werte zulassen. Nach dem gegenwärtigen Stande unseres Wissens darf man nun wohl sagen, daß diese Annahme für die unmittelbaren Wirkungen des Lichtes immer noch eine große Wahrscheinlichkeit besitzt. Gegenüber einer Fülle von Wirkungen, die durch verschiedene Lichter zwar in ungleichem Maße, doch aber immer in demselben Sinne hervorgerufen werden, kennen wir kaum irgend welche Fälle, in denen eine Lichtart in einem, eine andere im ent- gegengesetzten Sinne wirkte. Anders liegen aber die Dinge wohl für die eigentlich nervösen Vorgänge. Helmholtz ging von der damals herrschenden Anschauung aus, daß die Nervenfaser und nervöse Gebilde überhaupt nur die einsinnige Zustands- änderung darböten, die von der Ruhe zu beliebig hohen Graden der Tätig- keit führen; ihm war also der Zustand der nervösen Gebilde eine nur intensiv abstufbare und nur ein Vorzeichen zulassende Bestimmung. Es ist hier nicht der Ort, diese Vorstellung in vollem Umfange zu prüfen oder gegen ab- weichende abzuwägen. Es mag genügen, darauf hinzuweisen, daß sie, selbst für die Nervenfaser wohl einigermaßen ins Wanken gekommen, in noch höherem Grade für die Zellen und für die die Empfindung unmittelbar be- stimmenden materiellen Prozesse zweifelhaft ist. Es erscheint hiernach (zum großen Teil freilich auch aus erst später zu berührenden Gründen) berechtigt, die ursprüngliche Meinung der Theorie dahin einzuschränken, daß man die von ihr angenommene Gliederung in drei Bestandteile bzw. Vorgänge den vom Licht zunächst affizierten Teilen und den nächsten unmittelbaren Wirkungen des Lichtes zuschreibt. Dabei kann es zunächst dahingestellt bleiben, von welcher Art die sich in den Nerven- fasern, Nervenzellen usw. abspielenden Vorgänge sein mögen, und in welcher Weise die unmittelbaren Wirkungen des Lichtes, ineinandergreifend, zusammen oder gegeneinander wirkend, sich in andersartige Erfolge umsetzen. Läßt man es zunächst auch dahingestellt, welcher Art die unmittelbaren Wirkungen des Lichtes sein mögen, so empfiehlt es sich, für jene Bestand- teile und Teilvorgänge einen allgemeinen und abstrakten Ausdruck zu be- nutzen. Man spricht in diesem Sinne von Komponenten des Sehorgans und kann die ganze eben skizzierte Anschauung als eine Drei-Kompo- nententheorie bezeichnen. Es ist klar, daß diese Modifikation den bisher in Erwägung gezogenen Tatsachen ebensogut gerecht wird, wie die ursprüng- liche Form der Helmholtzschen Theorie; denn, wenn das Licht in dem von ihm direkt affiızierten Abschnitt nur drei Wirkungen hervorzurufen ver- mag, so ist selbstverständlich, daß auch die entfernteren Erfolge nicht mehr 22 Zur Kritik der Young-Helmholtzschen Theorie. 131 als dreifach bestimmt sein können, sondern sich als Funktionen von drei Veränderlichen darstellen lassen. Wir werden sehen, daß die Theorie in dieser Einschränkung zahlreichen Schwierigkeiten entgeht, denen sie ursprünglich begegnete. Freilich ist sie so auch weit unvollständiger und läßt Fragen, die in der ursprünglichen Form beantwortet scheinen, zunächst unentschieden. Die ablehnende, oft geradezu wegwerfende Beurteilung, die die Helmholtzsche Theorie in neuerer Zeit vielfach erfahren hat, beruht meines Erachtens zum großen Teil auf einem Mißverständnis dessen, was mit ihr eigentlich gemeint und gewollt war,. einem Mißverständnis, das allerdings durch einen wirklich "vorhandenen und tief- greifenden Unterschied theoretischer Anschauung begünstigt worden ist. Man ist gegenwärtig, zwar nicht allgemein, aber doch sehr vielfach der Ansicht, daß, wie Bewußtseinsinhalte überhaupt, so auch namentlich die Empfindungen als Aggregate von Teilen aufzufassen seien, deren Herauserkennung einer aufmerksamen Selbst- beobachtung möglich sei, während sie selbst, eine weitere Analyse nicht zulassend, als etwas psychisch Einfaches, als Elemente in Anspruch zu nehmen seien. Wer in diesem Sinne von Empfindungselementen oder Grundempfindungen zu reden gewohnt ist, dem erscheint es natürlich als ein schwer begreiflicher Widerspruch gegen die psychologischen Tatsachen, wenn er erfährt, daß die Young-Helm- holtzsche Theorie Rot, Grün und Violett für die Grundempfindungen und Weiß für eine aus ihnen „gemischte“ erklärt. In Wirklichkeit wußte Helmholtz so gut wie irgend jemand, daß das Weiß, rein als Bewußtseinsinhalt genommen, etwas durchaus einheitliches sei. Er nahm also nicht Rot, Grün und Violett als Em- pfindungselemente in dem Sinne, wie man jetzt von solchen zu reden pflegt (wie schon daraus hervorgeht, daß er auch Schwarz als eine echte Empfindung bezeichnete), sondern er hielt dafür, daß die Möglichkeit einer derartigen subjektiven Analyse überhaupt gar nicht (wenigstens nicht überall und insbesondere nicht im Gebiete der Gesichtsempfindungen) bestände. Die Mannigfaltigkeit der Gesichtsempfindungen war ihm eine Gesamtheit, die (ähnlich wie etwa ein Raumstück) an sich für die Heraushebung bestimmter Punkte oder bestimmter Veränderungsrichtungen keinen Anlaß gibt und daher durch passend gewählte Bestimmungen auf, die mannig- faltigste Weise mit gleichem Recht darzustellen war. Diejenige Aufgabe, die jetzt des besonderen Interesses namentlich der Psycho- logen sich erfreut, hat er also nicht in einer unverzeihlich fehlerhaften Weise ge- löst, sondern er hat sie überhaupt gar nicht gelöst, auch nicht lösen wollen, weil sie für ihn gar nicht existierte. Die Frage, ob die Empfindung des Weißen eine einfache oder gemischte sei, würde er, so gefragt, sicher nicht im letzteren Sinne, sondern eher im ersteren beantwortet, vielleicht auch als eines greifbaren Sinnes ermangelnd überhaupt abgelehnt haben. Er würde aber — und damit berühren wir die wirklich vorhandene Differenz der Anschauungen — das gleiche auch z. B. für die Empfindung des Orange getan haben und er hätte es für eine Illusion erklärt, einen tiefgreifenden, zu Schlüssen auf die physiologischen Vorgänge be- rechtigenden Unterschied zwischen der Empfindung des Weiß und der des Orange zu statuieren. Die Gesichtsempfindungen in der jetzt angestrebten Weise durch eine rein subjektive Betrachtung zu analysieren und daran Schlüsse auf die zu- grunde liegenden physiologischen Prozesse zu knüpfen: das hielt er allerdings für durchaus unangängig. Auf diesen Gegenstand kommen wir alsbald zurück und werden sehen, daß man darüber doch wohl sehr verschiedener Meinung sein kann. Man muß, um Helmholtz richtig zu verstehen, stets im Auge behalten, daß die Hauptbegriffe der Theorie, z. B. der der Grundempfindung, nicht eine psycholo- gische, sondern eine physiologische Bedeutung besitzen. Daß seine Ausdrucks- weise dies nicht immer deutlich hervortreten läßt, kann man gegenwärtig beklagen. Indessen muß man bedenken, daß, als Helmholtz zuerst über diese Dinge schrieb, es noch nicht aufgekommen war, von Elementen der Gesichtsempfindungen im Sinne der neueren Psychologie zu reden. Er hatte daher wenig Anlaß, gegen ein Mißverständnis auf der Hut zu sein, welches nur auf Grund einer ihm ganz un- möglich dünkenden Auffassung zu befürchten war. Daß Helmholtz, wie oft 9%* 132 Benennung verschiedener Lichter. - gesagt worden ist, die für die Reize geltenden Tatsachen auf die Empfindungen übertragen habe, ist vollkommen unrichtig. Vielmehr hat er sich überhaupt nur ein Bild von den physiologischen Vorgängen gemacht; im Sinne der gegnerischen Auffassung kann man nur sagen, daß er unterlassen habe, diejenigen Schlüsse auf die physiologischen Vorgänge zu ziehen, die sich aus der psychischen Natur der Empfindungen ergeben. Ob solche Schlüsse möglich sind, darüber gehen eben die Meinungen auseinander. II. Die Gesichtsempfindungen und ihre psychologische Ordnung. Benennungen objektiv definierter Lichter. Indem wir uns einer spezielleren Betrachtung der optischen Empfin- dungen zuwenden, können wir zuerst, an die objektive Beschaffenheit der adäquaten Reize anknüpfend, diejenigen Empfindungen zu bezeichnen suchen, die durch bestimmte Reize ausgelöst werden. Bis zu einem gewissen Grade gelingt dies, indem wir dabei Bezeichnungen verwenden, von denen es zwar zweifelhaft sein kann, ob sie eine ganz scharf fixierte Bedeutung besitzen, die aber im allgemeinen als genügend bekannt vorausgesetzt werden dürfen, die übrigens natürlich, wie alle ähnlichen Begriffe, nicht durch eine Defini- tion, sondern nur durch Aufweisung erklärbar sind. Von der bekannten Benennung der einfachen Lichter wurde oben schon Gebrauch gemacht. Helmholtz gab, um den Sprachgebrauch einigermaßen zu fixieren, für die den Fraunhoferschen Linien entsprechenden Wellenlängen folgende Be- zeichnungen: Fraunhofersche Wellenlänge B EN a enennung DB ee RRBE 686,8 Rot EEE ER 656,3 Grenze des Rot und Orange 16 I RE 589 Goldgelb BE on Ei; 527 Grün Pre Beh ers 486 Cyanblau rer Tapı 431 Grenze des Indigo und Violett Auch daß wir ein unzerlegtes Licht von der Beschaffenheit des Sonnen- lichts, ebenso die ganze Reihe der komplementären Mischungen im allgemeinen Weiß nennen, wurde schon erwähnt. Es ließe sich dem eine ganze Anzahl. speziellerer Bezeichnungen anfügen (das Meergrün für ein ungesättigtes bläuliches Grün, das Rosa für einen ungesättigten Purpur, das Himmelblau für ein ungesättigtes Blau usw.). | Wir können, ohne die Betrachtung auf eine andere Grundlage zu stellen, dem sogleich noch einige nicht unwichtige Tatsachen anreihen. Das den einfachen Lichtern zugeschriebene farbige Aussehen kommt ihnen nur bei einem (allerdings sehr großen) Bereich mittlerer Lichtstärken zu. Bei sehr hoch gesteigerten Intensitäten sieht man alle Lichter weißlich, die meistens schließlich farblos werden. Am leichtesten ist dies (schon bei Helligkeiten, die noch nicht blenden) für blaues und violettes Licht zu bemerken, während Gelb erst bei blendender Helligkeit die Farbe einbüßt!),. Die meisten ') Helmholtz, Phys. Optik, 8. 285. Psychologische Betrachtung der Gesichtsempfindungen. 133 Farben zeigen dabei zugleich Änderungen des Farbentons, namentlich geht spektrales Rot und Orange in Gelb über, ebenso grüne Töne bis etwa zur Wellenlänge 517 uu; ein Grün noch etwas kleinerer Wellenlänge geht nach Hering!) ohne Änderung des Farbentons in Weiß über, während die noch kurzwelligeren Lichter, ebenso wie Violett, sich dem Blau annähern. Auf die Änderungen des Aussehens einfacher Lichter bei sehr geringen Stärken kommen wir an späterer Stelle zu sprechen. Aufgabe einer subjektiven Betrachtung der Gesichtsempfindung. Wir hatten, wie eingangs bemerkt, behufs einer Beschreibung der opti- schen Empfindungen zunächst den Weg eingeschlagen, daß wir bestimmte Bezeichnungen für die durch objektiv definierte Reize auszulösenden Empfin- dungen suchten. Schon die genauere Betrachtung der auf diesem Wege erhaltenen Resultate führt uns aber zu einer ganz anderen Fragestellung. Es zeigt sich nämlich zunächst, daß wir auf diese Weise nicht einmal zu einer Aufführung aller überhaupt vorkommenden optischen Empfindungen gelangen. In der Tat läßt sich kein Licht angeben, dem sich z. B. die Empfindung des Braun schlechtweg als die ihm entsprechende zuordnen ließe. Ebenso ist es nur in beschränktem Sinne richtig, daß die Empfindung des Schwarz der Abwesenheit alles Lichtes entspräche. Sodann aber bemerkt man, daß die Bezeichnungen bestimmter objektiver Lichter doch ungemein schwankend ausgefallen sind. Von dem lange Zeit schlechtweg als rot be- zeichneten langwelligsten Licht des Spektrums betonte Hering, daß es keineswegs rot, sondern stark gelblich aussehe. Aubert bezeichnete als reines Gelb ein Licht 550, das von den meisten andern schon grünlich, als reines Grün 500 uu, das von den meisten anderen schon bläulich genannt werden dürfte. Das gemischte Sonnen- oder Tageslicht ist nach Brücke und Hering nicht rein weiß, sondern stark ins gelbrote ziehend. Erwägt man, wie diesen Ungleichheiten, schon zur Vermeidung von Mißverständnissen und Zweideutigkeiten, etwa abgeholfen werden kann, so erhebt sich sogleich die Frage, ob die Begriffe, deren wir uns hier bedienen, wie Rot, Gelb usw., willkürlich und im Wege der Übereinkunft so oder anders festgesetzt werden können oder ob ihnen eine in der Natur der Empfindungen selbst begründete feste Bedeutung zuzuschreiben ist. Man ersieht aus dieser Frage die Notwendigkeit einer überhaupt ganz andersartigen und zwar nach wesentlich psychologischen Gesichtspunkten zu führenden Betrachtung der Gesichtsempfindungen; und versucht man, die sich hier bietende Aufgabe in möglichster Allgemeinheit und Vollständig- keit zu formulieren, so kann sie etwa dahin angegeben werden, daß erstlich eine erschöpfende Übersicht aller überhaupt vorkom- menden optischen Empfindungen gegeben werden soll und daß zweitens der Versuch zu machen ist, diese Gesamtheit in einer nach der Beschaffenheit der Empfindungen selbst, also nach rein subjektiven Gesichtspunkten geordneten Weise systema- tisch darzustellen. !) Hering, Lotos 1. 134 Darstellbarkeit nach drei Veränderlichen. Dreifache Bestimmtheit der optischen Empfindungen. Für die eben bezeichnete Aufgabe ist die Frage, unter welchen physi- kalischen oder physiologischen Bedingungen jede Empfindung entsteht, nur von sekundärer Bedeutung und könnte sogar, streng genommen, ganz bei- seite bleiben. Trotzdem können wir an die Spitze auch dieser, den Empfin- dungen selbst geltenden Betrachtung eine Einsicht stellen, die wir in erster Linie unserer Kenntnis der Lichtreize und der allgemeinen Gesetze ihrer Wirkung verdanken. Wir sahen oben, daß die physiologischen Valenzen aller Lichter und Lichtgemische sich als Funktion dreier Variablen erschöpfend darstellen lassen. Die Erfahrung lehrt nun, daß, wenn irgend ein Empfindungs- zustand durch Einwirkung eines Lichtgemisches auf eine Netz- hautstelle erhalten wird, dann auch (von Grenzfällen abgesehen) jede überhaupt vorkommende stetige Änderung jenes Empfindungs- zustandes durch eine bestimmte stetige Veränderung jenes Licht- reizes erhalten werden kann. Es gibt also keine Bestimmungen des Empfindungszustandes, die etwa von ganz anderer Art, als die den Licht- 'wirkungen entsprechenden wären. Demgemäß ist denn die Mannigfaltigkeit der Empfindungen, gegenüber derjenigen der optischen Valenzen der Lichter, nur insofern eine umfangreichere, als die Empfindungen, ganz im allgemeinen gesprochen, in verschiedenen Richtungen noch ausgiebiger variiert werden können, als dies durch bloße Variierung des Lichtreizes (bei gegebenem Zu- stande des Sehorgans und gegebener Belichtung der Nachbarstellen) erzielt werden kann; aber sie ist nicht (um es in der Sprache der Mathematik aus- zudrücken) von größerer Mächtigkeit, sie ist nicht in einer größeren Zahl von Beziehungen, als jene, veränderlich. Wir können daher auch die Gesamtheit der optischen Empfindungen eine dreifach bestimmte, eine als Funktion von drei Veränderlichen darzustellende nennen. Innerhalb eines gewissen Bereiches erhalten wir daher in der Tat alle Empfindungen, wenn wir z. B. einerseits die Wellenlänge eines einfachen Lichtes, zweitens das Verhältnis seiner Mischung mit einem farblosen Ge- misch und drittens die Intensität des so erhaltenen Gemisches variieren: Die hierdurch gegebene Möglichkeit, die Empfindungen nach Maßgabe objektiv definierter Reizvariierungen darzustellen, darf natürlich nicht dazu verleiten, eine solche Darstellung mit der hier geforderten, an subjektiv definierte Variable sich anschließenden zu verwechseln. Diese Auseinanderhaltung ist um so wichtiger, wenn jene objektiven Variabeln gerade mit Rücksicht darauf gewählt sind, daß ihnen auch gewisse subjektive annähernd entsprechen. Dies ist in der Tat der Fall bei der vorzugsweise gebräuchlichen und auch oben erwähnten Darstellung der Reizgesamtheiten. Man pflegt, wie dort angeführt, zu sagen, jedes beliebige Licht sei gleichwertig einer Mischung, die ein einfaches Licht von bestimmter Wellenlänge (oder einen bestimmten Purpur) und farbloses Licht in betimmtem Mengenverhältnis erhält. Die Bevorzugung dieser Darstellung beruht auf der Annahme, daß man hier an wohlbekannte Modalitäten der Empfindung an- knüpft, daß nämlich einer Änderung der Wellenlänge eine Änderung der Empfin- dung entspreche, die man als Modifikation des Farbentons bezeichnet, ebenso einer Änderung des Mengenverhältnisses der Mischung mit Weiß eine Abstufung der Sättigung, einem Wechsel der Intensität endlich ein Wechsel der Hellig- keits- oder Dunkelheitsgr ade. Es ist indessen unerläßlich, die direkt (sub- jektiv) definierten Änderungen der Empfindungen von denjenigen zu unterscheiden, a a GE EEE Ähnlichkeit und Gegensatz der Farben. 135 die bestimmten (objektiv definierten) Reizänderungen entsprechen, um so mehr, da in Wirklichkeit jener Parallelismus keineswegs ein ganz strenger und genauer ist. Sagt man hiernach, daß die Empfindungen in dreierlei Weise (nämlich hin- sichtlich des Farbentons, der Sättigung und der Helligkeit) veränderlich sind, so ist es wichtig, im Auge zu behalten, daß diese Darstellung in doppeltem Sinne ge- nommen werden kann. Ebenso ist, wenn im Einzelfall z. B. von einer Änderung der Helligkeit gesprochen wird, wohl zu unterscheiden, ob eine objektive Ver- mehrung der Lichtstärke oder eine subjektiv definierte Änderung der Empfindung gemeint ist. Gegenseitige Beziehungen der optischen Empfindungen. Bei der weiteren Aufgabe, die Gesichtsempfindungen in einer bestimmten Weise nach psychologischen Gesichtspunkten zu ordnen, können wir an Gedankengänge anknüpfen, die zum Teil alt, in neuerer Zeit hauptsächlich von Aubert und von Hering vertreten und ausgestaltet worden sind. Wir werden später sehen, daß man über Wert und Bedeutung der auf diesem Wege überhaupt zu erhaltenden Ergebnisse verschiedener Meinung sein kann. Dagegen kann es wohl als sicher gelten, daß, wenn man diesen Weg überhaupt einschlägt, eine unbefangene und vorurteilslose Betrachtung im wesentlichen zu den von diesen beiden Autoren festgelegten Resultaten führen muß. Ihnen schließen sich daher auch die nachfolgenden Dar- legungen in der Hauptsache an. Ich beginne mit einigen Bemerkungen, die sich aus einer genaueren Betrachtung’ der bekannten Begriffe des Farben- tons, der Sättigung und der Helligkeit ergeben. -Was zunächst die Farbentöne anlangt, so sind sie durch die Gesamtheit der einfachen Lichter unter Zuziehung der Purpurtöne dargestellt und bilden somit eine geschlossene, in sich zurücklaufende Reihe. Sie zeigen nach Maßgabe der Ordnung in dieser Reihe bestimmte Beziehungen der Ähnlich- keit oder Verwandtschaft. Die Empfindung des Orange, zwischen dem Rot und Gelb stehend, erscheint mit diesen beiden verwandt, ihnen beiden ähn- lich. Auch Rot und Gelb andererseits erscheinen noch derart einander nahe- stehend, daß man in einer direkt verständlichen Weise von einem Rotgelb oder Gelbrot reden darf. Das Gleiche gilt für Rot und Blau, für Blau und Grün, für Gelb und Grün, wie die geläufigen und verständlichen Bezeich- nungen Blaugrün, Blaurot usw. erkennen lassen. Dagegen zeigt sich, daß, wenn wir (immer jener Reihe der Farbentöne folgend) die Unterschiede größer machen, der Eindruck der Verwandtschaft allmählich schwindet und der der Gegensätzlichkeit,‘ besser gesagt der Unvereinbarkeit, an die Stelle tritt. Die Forderung, eine Empfindung zu bezeichnen, die das Gegen- teil des Gelb darstellt, würde von dem Unbefangenen schwerlich mit dem Hinweis auf das Blau erfüllt werden. Unbedingt richtig ist dagegen, daß wir eine Empfindung, die etwa ein gelbliches Blau oder ein grünliches Rot genannt werden könnte, nicht gibt; wir haben .eine solche nie gehabt und können uns auch keine Vorstellung davon machen!). Denken wir uns also die sämtlichen Farbentöne in eine geschlossene Linie, etwa einen Kreis !) Diese Gegensätzlichkeit wurde bekanntlich zuerst von Schopenhauer betont, der die Schale seines Spottes über Melloni und Humboldt ausgoß, die von einem grünlichen Rot gesprochen hatten. Besondere Bedeutung wurde ihr dann namentlich von Hering beigelegt, für dessen alsbald zu besprechende Theorie der Begriff der „Gegenfarben“ einen der wichtigsten Ausgangspunkte bildete. 136 Sättigung. — Helligkeitsabstufungen. — Schwarzempfindung. geordnet, so können wir sagen, daß, wenn wir von einem beliebigen Punkte in einer Richtung weiter schreiten, wir eine Beziehung finden, die durch eine abnehmende Verwandtschaft allmählich in eine gewisse Gegensätzlichkeit übergeht, um dann bei noch weiterem Fortschreiten mit immer zunehmender Ähnlichkeit wieder zum Ausgangspunkt zurückzuführen. Durch die Änderung der Sättigung kann jede Farbe von völliger Farb- losigkeit bis zu irgend einem zunächst nicht genau zu bezeichnenden Höchst- maß der Sättigung abgestuft werden. Die Reihen, mit denen wir es hier zu tun haben, sind also einseitig durch einen (wie es scheint) annähernd fixierten Ausgangspunkt, den man als Nullwert der Sättigung bezeichnen kann, be- grenzt. Faßt man die Sättigungsverminderung einer Farbe bis zu diesem Nullpunkt und die von diesem Punkt wieder zunehmende Sättigung einer entgegengesetzten Farbe als gleichsinnige Änderungen zusammen, so erhält man Reihen, die nach beiden Seiten ohne scharf angegebene Endpunkte sich ins Unbestimmte erstrecken, in ihrem Verlauf aber den der Farblosigkeit entsprechenden Punkt als einen jedenfalls durch eine besondere Benennung hervorgehobenen besitzen. Die Abstufungen der Helligkeit und der Dunkelheit sind im Gebiete der farblosen Empfindungen durch besondere Namen ausgezeichnet; sie führen hier vom tiefsten Schwarz zum hellsten (blendenden) Weiß, die wir uns durch zahllose verschiedene, als Grau zu bezeichnende Stufen ineinander übergehend denken. Die Erwägung des psychologischen Verhältnisses zwischen Schwarz und Weiß führt vor allem auf die Frage, ob das Schwarz als eine wirkliche Empfindung im selben Sinne wie Weiß, Rot u. dgl. aufzufassen sei, oder als die Abwesenheit aller Empfindung, wie etwa die „Stille* im Gebiete des Gehörs. Früher oft verschieden beurteilt, ist diese Frage in neuerer Zeit ganz überwiegend (in gewissem Sinne auch zweifellos mit vollem Recht) im ersteren Sinne beantwortet worden, so von Helmholtz, Aubert, und mit besonderem Nachdruck von Hering. Es unterliegt in der Tat wohl keinem Zweifel, daß derjenige, der schwarze Gegenstände unter weißen, grauen, farbigen usw. sieht, und von der physikalischen Beschaffenheit der betreffenden Körper gar keine Kenntnis besitzt, nicht auf den Gedanken kommen würde, dem Schwarz jenen anderen gegenüber irgend eine Sonderstellung zuzuweisen oder seine Subsumierbar- keit unter einen, jene anderen umfassenden Begriff der Empfindung zu be- streiten. Wir unterscheiden auch, wie Helmholtz mit Recht betont, den Zustand des „Schwarzempfindens“ sehr wohl von dem Nichtempfinden, z. B. jenseits der Grenzen unseres Gesichtsfeldes. Von Bedeutung ist ferner, daß, wie Hering hervorhob, die Beziehung eines tiefen Schwarz zu einem hellen Weiß nicht wohl mit derjenigen vergleichbar erscheint, die wir zwischen einem sehr leisen und einem lauten Tone konstatieren, und daß daher die unbefangene Selbstbeobachtung niemals das Schwarz als einen geringen Intensitätsgrad der Weißempfindung gelten lassen wird. Vielmehr erscheint das Schwarz als eine Empfindung anderer Art, die auch ihrerseits ganz ähn- lich wie das Weiß einer zunehmend reineren Ausprägung fähig ist, bei der daher auch mit demselben Rechte wie bei Weiß von einer Intensitäts- steigerung gesprochen werden kann. [4 Prinzipalempfindungen. 137 Meines Erachtens ist die Richtigkeit dieser Auffassung, sofern man den ganzen, unserer Beobachtung zugänglichen psychologischen Tatbestand ins Auge faßt, durchaus unbestreitbar. Dagegen glaube ich, daß man allerdings darüber recht wohl verschiedener Meinung sein kann, worauf dieser Eindruck des Schwarz als einer wirklichen Empfindung sich gründet, ob wirklich rein die Natur dessen, was wir eben Schwarz nennen, hier maßgebend ist, oder ob daneben Momente anderer Art in Betracht kommen. Auf die hier bleibenden Zweifel wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Die Ansicht, daß Schwarz ein Nichtempfinden (der Stille vergleichbar) be- deute, ‚ist in neuerer Zeit noch von Fick vertreten worden. (Hermanns Hand- buch der Physiologie 3, 205.) Folgt man dieser Anschauung, so kann man im Einklang mit ge- wohnten Auffassungen auch Schwarz und Weiß als Gegensätze bezeichnen. Jedoch sind sie es nicht ganz im gleichen Sinne wie die entgegengesetzten (unvereinbaren) Farben. In der Empfindung des Grau erscheint der un- befangenen Betrachtung nicht die Schwarz- und Weißbestimmung in eben dem Sinne zu fehlen, wie wir ihr das Gelb und Blau absprechen; vielmehr scheint uns das Grau als ein Übergang, der von beiden noch etwas erkennen läßt, zu beiden noch eine gewisse Verwandtschaft besitzt. Damit hängt dann auch zusammen, daß, während wir mit ziemlicher Sicherheit eine Empfindung zu bezeichnen vermögen, die weder Rot noch Grün, weder Gelb noch Blau, sondern eben farblos ist, wir einen solchen Indifferenzpunkt zwischen Schwarz und Weiß nicht kennen. Der Aufgabe, ein mittleres, von reinem Weiß und Schwarz gleich weit abstehendes Grau anzugeben oder sich vor- zustellen, kann niemand entsprechen. Die Prinzipalempfindungen Auberts. Vierfarbentheorie. Für die Möglichkeit einer psychologischen Ordnung der Gesichtsempfin- dungen ist nun die wichtigste Frage die, ob es unter ihnen bestimmte gibt, _ denen, auf Grund der direkten Selbstbeobachtung, eine feste und aus- gezeichnete Bedeutung zuzuschreiben ist, die im ganzen System eine, wie ich im Anschluß an Aubert sagen will, prinzipale Stellung einnehmen. Eine unbefangene Betrachtung wird wohl dazu führen, dies in erster Linie für die Reihe der farblosen Empfindungen zu bejahen. Das reine Weiß vor allem erscheint uns als eine so wohl und scharf charakterisierte Empfindung, daß man sich schwer des Eindrucks erwehren wird, es hier mit einer solchen, ihrer psychologischen Natur zufolge scharf charakterisierten Prinzipalempfin- dung zu tun zu haben. Man kann demgegenüber die Anschauung vertreten, daß das Weiß die- jenige Empfindung sei, die durch das Sonnen- oder Tageslicht in uns hervor- gerufen wird, somit auch durch diejenigen Körper, die dieses Licht nahezu vollständig zurückwerfen und daß daher (bei gewöhnlichen Beleuchtungsverhält- nissen) das reine Weiß mit dem höchsten Maße der Helligkeit zusammenfalle. Man kann auch der Farblosigkeit eine insofern physiologisch ausgezeichnete Stellung zubilligen, als alle farbigen Lichter bei dauernder Einwirkung ab- blassen, die farblose Empfindung also vielleicht die einzige ist, die dauernd bestehen kann, oder diejenige, die sich bei dauernder Einwirkung desselben Objektes am wenigsten verändert; und man könnte schließlich eine An- passung des Organismus an seine Lebensumstände darin erblicken, daß bei 138 Bedeutung der prinzipalen Farben. — Vierfarbentheorie. ausgeruhtem Organ das ganze Tageslicht annähernd diese Empfindung hervor- bringt. Die unbefangene Betrachtung wird sich aber von einer solchen sekundär- empirischen Auffassung des Weiß im allgemeinen nicht befriedigt fühlen und darauf bestehen, daß dies in der Empfindung selbst direkt charakterisiert sei. Einigermaßen ähnlich liegen die Dinge für gewisse Farbenempfindungen. Wie bekannt, sind von alters her (so schon von Lionardo da Vinci, in neuerer Zeit besonders von Aubert) Rot und Grün, Gelb und Blau als solche psychologisch ausgezeichnete, prinzipale Farben genommen worden. Gewiß wird, wenn wir einmal aus der Gesamtheit der Farbenempfindungen diejenigen heraussuchen sollen, die uns als die bestcharakterisierten, ein- fachsten, geläufigsten und zu einer Beschreibung der übrigen geeignetsten erscheinen, die Wahl auf jene vier erwähnten fallen. Aber ob wir uns dabei lediglich auf eine in der Natur der betreffenden Empfindung selbst gegebene Eigentümlichkeit stützen oder wie weit es sich dabei um die Mit- wirkung zahlreicher und mannigfaltiger Momente von empirischer Be- deutung handelt, ob insbesondere die Fixierung bestimmter sprachlicher Bezeichnungen die Folge einer ursprünglich gegebenen Beschaffenheit der Empfindungen ist oder, durch mehr zufällige Momente entwickelt, nun ihrer- seits dazu beiträgt, gewissen Empfindungen den Anschein von etwas physio- logisch Ausgezeichnetem zu verleihen, darüber dürfte eine ganz sichere Ent- scheidung zurzeit kaum möglich sein. Ich bin von jeher geneigt gewesen, die erwähnten Empfindungen mit Aubert als physiologisch direkt charakterisierte Prinzipalfarben anzusehen (vgl. Gesichts- empfind. 8. 45), muß aber gestehen, daß die Sicherheit meiner Überzeugung in dieser Hinsicht eher ab- als zugenommen hat. Zu einer gewissen Vorsicht dürfen hier die Tatsachen der Akustik mahnen. Auf Grund rein psychologischer Beob- achtung würde ich ohne Zweifel in höchstem Maße versucht sein, auch den reinen Vokalklängen eine in der Empfindung fixierte Sonderstellung zuzuschreiben. Ist uns das reine A nicht eine ebenso scharf charakterisierte und einheitliche Empfindung, wie das reine Weiß? — Nicht ohne Bedeutung wäre es zu wissen, mit welcher Genauigkeit die betreffenden Empfindungen fixiert sind. Ein gewisses Urteil hierüber würde sich ergeben, wenn wir ermittelten, mit welchem Grade der Genauigkeit und der Übereinstimmung diejenigen objektiven Lichter angegeben werden können, die die Empfindung eines reinen Weiß, Gelb, Grün usw. erzeugen. Versuche dieser Art stoßen allerdings auf gewisse Schwierigkeiten, teils wegen der wechselnden Stimmung des Sehorgans, teils auch wegen der Lichtabsorption im Pigment des gelben Flecks. Indessen sind die ersteren durch ein gewisses Maß von Dunkeladaptation zu vermeiden; die letzteren fallen bei Benutzung homogener Lichter fort. Man kann es daher nur bedauern, daß diejenigen Autoren, die auf eine direkte subjektive Fixierung der Prinzipalempfindungen Wert legen, niemals genauere Angaben in dieser Richtung gemacht haben. Das sogenannte weiße Tageslicht soll nach Hering im physiologischen Sinne erheblich gelbrot sein. Dies müßte sich darin kundgeben, daß man bei Benutzung eines solchen Vergleichs- lichtes zu Rot eine langwelligere Komplementärfarbe einstellte, als bei der Auf- suchung eines im subjektiven Sinne reinen Weiß. Versuche, die die Aufsuchung eines als reines Grün zu bezeichnenden homogenen Lichtes betreffen, werden von Hering erwähnt (Lotos 6, 163, 1885); nach dem dort Gesagten scheinen die Schwan- kungen nicht ganz unerheblich zu sein; genauere Angaben sind leider nicht gemacht. Die allgemeine Anschauung, daß die Empfindungen des Schwarz und Weiß, des Rot und Grün, Gelb und Blau in der Gesamtheit der Gesichts- empfindungen eine ausgezeichnete Stellung einnehmen, will ich im folgenden als Vierfarbentheorie bezeichnen. Können, wie wir sahen, auch Zweifel Übersicht der optischen Empfindungen. 139 darüber bestehen, worin eigentlich die ihnen zugebilligte Sonderstellung be- stehen soll, so kann man jedenfalls sagen, daß sie sich für eine geordnete und erschöpfende Darstellung der Gesichtsempfindung am besten eignen und eine solche kann denn auch unter Benutzung der Prinzipalempfindungen ohne Schwierigkeit entworfen werden. Am einfachsten liegen die Dinge hinsichtlich der Farbentöne. In der Tat ergibt sich aus den vorhin bereits erwähnten Verhältnissen der Verwandt- schaft und Gegensätzlichkeit, daß die Empfindungen ein gewisses Maß von Rot- (oder Grün-), von Gelb- (oder Blau-)wert aufweisen können. Wir dürfen. hinzufügen, daß alles, was wir an Farbentönen kennen, sich als eine Zwischen- stufe zwischen je einer dem einen und einer dem anderen Paare angehörigen prinzipalen, also als Übergang entweder des Rot oder des Grün in Gelb oder Blau darstellt und in dieser Form anschaulich und verständlich zu beschreiben ist. Ebenso gewinnen die Abstufungen der Sättigung durch die als farblos bezeichnete Prinzipalempfindung eine feste Grundlage. Wir können uns bei jeder Farbe den Sättigungsgrad von dem der völligen Farblosigkeit ent- sprechenden Nullwert bis zu irgend einem äußersten Maße gesteigert denken und in dieser Reihe wird jede Empfindung, die diesen Farbenton besitzt, irgendwo ihre Stelle finden müssen. Endlich wären die Hell-Dunkelabstufungen zunächst für die farb- losen Empfindungen als eine hier zu immer tieferem Schwarz, dort zu immer hellerem Weiß, beiderseits ohne eine bestimmt angebbare Grenze sich er- streckende Reihe zu beschreiben. Berücksichtigen wir, daß jedes dieser Reihe angehörende Element in der vorhin schon erwähnten Weise farbige Bestimmungen erhalten kann, so können wir schließlich die Gesamtheit der optischen Empfindungen als eine Mannigfaltigkeit beschreiben, die erst- lich eine vom Dunkel zum Hell, vom tiefsten Schwarz zum hellsten Weiß führende Abstufung aufweist, außerdem aber zwei Modi- fikationen zuläßt, deren jede von der farblosen Beschaffenheit ausgehend, in entgegengesetzten Richtungen statthaben kann, gegen Rot oder Grün, gegen Gelb oder Blau. Wir haben damit in der Tat einen geordneten Überblick über die Gesamtheit der Empfindungen gewonnen. Jede einzelne Empfindung würde sich hiernach durch ihren Helligkeits- oder Dunkelheitsgrad, durch ihren Rot- (oder Grün-), endlich ihren Gelb- (oder Blau-) wert beschreiben lassen. Auch die sogenannten dunkeln Empfindungen, wie die des Braun, würden hier (als Kombination eines Rot, Orange oder Gelb mit einem gewissen Maß von Schwarz ihre Stelle finden. Es ist nur eine leichte Modifikation der Darstellung, wenn wir die Empfindungen durch Helligkeit, Farbenton und Sättigung bestimmt sein lassen. In allen Fällen kommt, wie sich von selbst versteht, die dreifache Bestimmtheit der Empfindungen, ihre Darstellbarkeit durch drei Veränderliche in klarster Weise zum Ausdruck. Beziehung der Übergangsempfindungen zu den prinzipalen. Psychologische Analyse. Hat uns die obige Betrachtung zu einem systematischen und geordneten Überblick der Empfindungen geführt, so kann man nun weiter die Frage aufwerfen, ob es nicht gelingt, die Beziehungen der verschiedenen optischen 140 Sogenannte Analyse der Gesichtsempfindungen. Empfindungen, sei es untereinander, sei es zu den prinzipalen, unter An- wendung allgemeiner psychologischer Kategorien schärfer zu bezeichnen. Wo haben wir qualitative, wo intensive Abstufungen anzunehmen? Wie ist das Verhältnis der Übergangsempfindungen zu den prinzipalen des genaueren zu bezeichnen usw.? Ich glaube, daß die Erwägungen dieser Art uns zu keinen wesentlich fördernden Resultaten führen; sie spielen indessen in der neueren Literatur eine so bedeutende Rolle, daß es unerläßlich ist, sie hier in gewissem Maße zu berücksichtigen. Wir begegnen hier vor allem der Anschauung, daß in dem, was wir hier zunächst Prinzipalempfindungen nannten, zugleich die einfachen Empfindungen, die psychologischen „Ele- mente“ zu erblicken sind, aus denen sich die Gesichtsempfindungen zusammen- setzen. Bei dieser Anschauung wird wohl zum Teil überhaupt als selbst- verständlich vorausgesetzt, daß eine Mannigfaltigkeit, wie die der Gesichts- empfindungen, sich aus einfachen Elementen zusammensetze, deren Aufsuchung als eine Aufgabe „psychologischer Analyse“ gefordert werden kann; teils wird angenommen, daß die zwischen den verschiedenen optischen Empfin- dungen zu bemerkenden Beziehungen der Ähnlichkeit und Verwandtschaft, in noch deutlicherer Weise die Möglichkeit spezifischer Vergleichungen (die Erkennung z. B., daß zwei Farben gleiche Helligkeit besitzen) uns zu der Annahme eines Aufbaues aus fest bestimmten einfachen Elementen zwingen. Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint denn, was wir oben mehr oder weniger ungewiß lassen mußten, nämlich ob überhaupt gewissen Empfin- dungen eine prinzipale Stellung zukäme, als selbstverständlich: eben die ein- . fachen Elemente sind es, die sich als etwas besonderes herausheben müssen. Den obigen Betrachtungen folgend würden wir hiernach die farbigen Be- stimmungen als besondere Elemente ausscheiden, an ihnen wieder, zufolge ‘der schon besprochenen Gegensätzlichkeiten Rot- (oder Grün-) Bestimmung und Gelb- (oder Blau-) Bestimmung unterscheiden. Was bei Abwesenheit jeder Farbenbestimmung übrig bliebe, die Reihe der farblosen Empfindungen vom tiefsten Schwarz zum hellsten Weiß, wäre dann wiederum als etwas einheitliches aufzufassen, wobei allerdings das Verhältnis des Weiß zum Schwarz oder des Grau zu beiden noch als ungewiß erscheinen könnte. Es ist klar, daß man hierauf die Beziehungen der Ähnlichkeit und Verwandt- schaft, insbesondere auch die Möglichkeit der spezifischen Vergleichungen, die Erkennung z. B., daß zwei Empfindungen von gleicher Farbe (bei un- gleicher Helligkeit) oder von gleicher Helligkeit (bei ungleicher Farbe) sind in einleuchtender Weise zurückführen könnte. So befriedigend indessen dies auf den ersten Blick erscheinen mag, so zwingt doch die genauere Erwägung, diese ganze Darstellung, mindestens hinsichtlich ihrer Bedeutung und ihrer Evidenz mit großer Vorsicht auf- zufassen. Wer zunächst seinen Empfindungszustand, z. B. bei Betrachtung eines orangefarbigen Gegenstandes, genau und unbefangen betrachtet, wird immer inne werden, daß er darin nicht das Nebeneinander einer bestimmten . Rot- und einer bestimmten Gelbempfindung hat, etwa wie wir im Dreiklang die drei einzelnen Töne zusammen hören. Man kann vielmehr immer nur sagen, daß die Empfindung einerseits an Rot und andererseits an Gelb er- innere. Aber ein bestimmtes Rot und ein bestimmtes Gelb als Teile heraus- zuempfinden ist durchaus unmöglich. Ähnlichkeit und spezifische Vergleichungen. 141 Nennen wir ferner ein bestimmtes Grün heller als ein Blau, so ist damit zunächst nur gesagt, daß der Unterschied der beiden Empfindungen z. B. dem eines helleren und eines dunkleren Grau gleichartig genug ist, um mit ihm unter den gemeinsamen Begriff einer Helligkeitsdifferenz subsumiert zu werden; keineswegs aber können wir das in der einen und anderen steckende Maß von Helligkeit für sich als Teilempfindung aufweisen und das eine nun etwa größer als das andere nennen. Wir müssen uns demgemäß denn auch erinnern, daß, wie dies an anderer Stelle dieses Handbuchs dargelegt ist (s. o. S. 25), in einer Mannig- faltigkeit von Empfindungen sehr wohl Beziehungen der Ähnlichkeit bestehen und spezifische Vergleichungen möglich sein können, ohne daß sie in der hier versuchten Weise auf die Übereinstimmung von Elementen zurück- zuführen wären. In den Beziehungen der Ähnlichkeit und in den spezifischen Ver- gleichungen liegt daher nichts, was uns hindern könnte, auch die Reihe der Farbentöne als eine in sich zurücklaufende Qualitätenreihe anzusehen, die für die Heraushebung irgend welcher besonderer Punkte keinen Anlaß böte, ebenso die Abstufungen der Helligkeit als bei jeder Empfindung mögliche Änderungen, die überall genügend gleichartig sind, um unter den einheit- lichen Begriff der Helligkeitsänderung zusammengefaßt zu werden, ohne doch auf einem bestimmten, für die Helligkeit maßgebenden Element zu beruhen. Ich kann hiernach nur zu dem Schluß gelangen, daß weder die direkte Betrachtung der sogenannten gemischten Empfindungen, noch auch die spezi- fischen Vergleichungen eine Nötigung ergeben, fest bestimmte Elemente der Gesichtsempfindungen anzunehmen, und daß wir daher von dieser Seite die ganze Theorie der Prinzipalempfindungen weder fester begründen, noch auch genauer ausführen können. Sind wir durch die direkte Betrachtung der Empfindungen veranlaßt, gewissen derselben eine irgendwie ausgezeichnete Stellung zuzuschreiben, so mögen wir, mit einer Erweiterung des Sinnes, über deren Berechtigung zu streiten vielleicht nutzlos wäre, die zwischen ihnen bestehenden Übergänge als Mischungen und sie selbst als Teilinhalte be- bezeichnen; aber ich glaube nicht, daß durch diese Bezeichnung unsere Ein- sicht irgendwie gefördert wird; und jedenfalls kann man nicht umgekehrt aus diesen Verhältnissen die Nötigung ableiten, bestimmten Empfindungen als den einfachen eine ausgezeichnete Stellung zuzuweisen. Zu einem ganz ähnlichen Resultat führt die Betrachtung der vom Schwarz zum Weiß führenden Empfindungsreihe, deren Einrangierung unter die üblichen ‚psychologischen Kategorien ja eine ganz besondere crux der Empfindungspsycho- logie ist. Man glaubt fragen zu müssen, welcher Art diese Reihe eigentlich sei; ist es eine intensive oder qualitative Abstufung, entspricht sie der Mischung zweier verschiedener Empfindungen in wechselnden Verhältnissen, oder wie ist sie zu- treffend zu bezeichnen? Geht man davon aus, daß das Schwarz jedenfalls nicht als eine geringe Intensitätsstufe des Weiß bezeichnet werden dürfe, vielmehr sowohl Schwarz als Weiß einer Steigerung fähig scheinen, die man einer Intensitäts- vermehrung vergleichen kann, so gelangt man zu dem Schluß, daß zwei einfache, einer Abstufung fähige Empfindungen vorlägen und daß im Grau eine Mischung der Schwarz- und Weißempfindung zu erblicken sei. Allein schon der unmittel- bare Eindruck widerspricht dem. Denn zweifellos ist das Grau ein Übergang, eine Zwischenstufe zwischen dem Weiß und dem Schwarz; es erinnert auch in ge- wissem Maße an dieses wie an jenes; daß wir aber im Grau eine Mischung, ein 142. Die Schwarz-Weiß-Reihe. — Die materiellen Substrate der Empfindungen. Zusammenbestehen von Weiß- und Schwarzempfindung haben, die man etwa dem Zusammenhören zweier Töne vergleichen könnte, wird eine aufmerksame und vorurteilslose Selbstbeobachtung nicht ergeben. Ferner läßt sich die vom Schwarz zum Weiß führende Reihe einer Kombination zweier Empfindungen, deren jede dem Grade nach variierbar ist, schon insofern nicht gleichstellen, als sie in erster Linie doch nur eine einfach abstufbare ist. Beim Zusammenhören eines hohen und tiefen Tones kann jeder unabhängig stark oder schwach sein und sie können daher auch untereinander gleich, dabei aber beide stark oder schwach gehört werden; eine Änderung des Grau, bei der Schwarz und Weiß im gleichen Ver- hältnis blieben, und beide gleichmäßig stärker oder schwächer würden, gibt es nicht. Überblickt man den psychologischen Tatbestand ganz ohne theoretisches Vor- urteil, so sieht man, daß die vom Schwarz zum Weiß führenden Empfindungen eine Reihe darstellen; deren innere Beziehungen eben eigenartig sind und daher durch Heranziehung anderer Empfindungsreihen ebensowenig wie durch allgemeine Begriffe fruchtbringend erläutert werden können. Das Besondere besteht darin, daß in der ganzen Reihe die sich näher liegenden Stufen immer als gleichsinnige erscheinen, gleichwohl aber die den Enden der Reihe angehörigen Stufen (Hellig- keitssteigerung des Weiß, Vertiefung des Schwarz) mehr den Eindruck eines stär- keren Hervortretens hier einer, dort einer ganz anderen Empfindungsart machen, und insofern dem vergleichbar sind, was wir sonst als Intensitätssteigerung einer Empfindung bezeichnen. Nur der wird hierin etwas besonders Rätselhaftes erblicken, der gewohnt ist, den Begriffen der intensiven und qualitativen Abstufungen, des Ein- fachen und Zusammengesetzten, der gleichsinnigen Änderung usw. im rein Psycho- ‚logischen eine Bedeutung zuzuschreiben, die sie meines Erachtens nicht besitzen. Wer sich von dem ganzen Reichtum der zwischen unsern Bewußtseinsinhalten vorkommenden Verwandtschafts- und Ähnlichkeitsbeziehungen ein zutreffendes Bild gemacht hat, der wird auch diese eigentümliche Gestaltung derselben ledig- lich als eine Tatsache hinnehmen, die wir zwar vorderhand nicht nach allgemeinen Prinzipien erklären können, der aber auch nichts besonders Auffälliges oder Para- doxes anhaftet. Das Verhältnis des Grau zum Weiß und Schwarz noch durch einen spezielleren psychologischen Begriff als den eines zwischen ihnen vermittelnden Übergangs be- zeichnen zu wollen, erscheint mir daher als eine ebenso überflüssige wie notwendig ergebnislose Bemühung des analytischen Scharfsinns. Ergebnisse der psychologischen Betrachtung in bezug auf die physiologischen Vorgänge, Es bleibt uns übrig, uns mit der Frage zu beschäftigen, ob und wie weit aus den Ergebnissen einer psychologischen Empfindungsbetrachtung Schlüsse auf die der Empfindung zu grunde liegenden physiologischen Pro- zesse gezogen werden können. Hält man sich, den zunächst sich wohl am meisten empfehlenden heuristischen Grundsätzen gemäß, berechtigt, hier einen gewissen Parallelismus anzunehmen, so wird man zu der Annahme geführt, - daß den als Funktion dreier Variabeln darzustellenden Empfindungen ein gleichfalls als Funktion dreier Variabeln darzustellender materieller Vorgang entsprechen werde. Ist man ferner geneigt, für die den Prinzipalempfindungen zugeschriebene ausgezeichnete Stellung eine physiologische Grundlage anzunehmen, so wird man vermuten dürfen, daß eine gewisse einsinnige Änderungsart den vom Schwarz zum Weiß führenden Abstufungen entspricht, daß die Bestimmungen des Rot und des Grün, ebenso des Gelb und Blau auf irgendwie entgegen- gesetzten, sich ausschließenden Modifikationen jenes Vorganges beruhen, endlich, daß sowohl der reinen Farblosigkeit wie auch den reinen oder Die Schlüsse vom Psychischen aufs Physische. 143 Prinzipalfarben eine irgendwie ausgezeichnete Beschaffenheit des physio- logischen Vorganges entspreche. Ob einem in so unbestimmten und all- gemeinen Begriffen formulierten Ergebnis eine große Bedeutung zukommt, kann man bezweifeln; ich glaube aber, daß es nur dann möglich ist, weiter zu gelangen, wenn wir den Vorstellungen durch irgend eine spezielle Hypothese über die Natur jener Vorgänge eine bestimmte Grundlage geben. In Er- mangelung einer solchen aber wird es uns für jede genauere Angabe dar- über, worin diese ausgezeichneten Stellungen, worin jene Gegensätzlichkeit besteht, wie wir uns die Koexistenz oder Kombination jener Prinzipal- bestimmungen zu denken haben, an einer Handhabe fehlen. Die Literatur der letzten Jahrzehnte ist reich an Versuchen nach streng methodischen Grundsätzen „vom Psychischen aufs Physische zu schließen“, wobei sich die Charakterisierung des letzteren in den oben schon erwähnten allgemeinen Begriffen des Einfachen und Zusammengesetzten, der qualitativen und intensiven Abstufung usw. bewegt. Meines Erachtens sind diese Versuche von sehr pro- blematischem Wert, ja sie bringen uns in Gefahr, uns in Erörterungen zu ver- lieren, die sich einer eindringenderen Kenntnis gegenüber als ganz gegenstandslos darstellen, und zwar deswegen, weil auch auf verwickelte materielle Vorgänge diese Begriffe keineswegs so unverfänglich angewendet werden können, wie man das vielfach anzunehmen scheint. Man muß berücksichtigen, daß das, was wir gemeinhin als einen bestimmten Vorgang zu nehmen und als ein Element des materiellen Geschehens aufzufassen geneigt sind, niemals etwas (objektiv) schlecht- hin einfaches ist. Vielmehr ist darin stets das Verhalten zahlreicher Massenteile, meist auch ein über gewisse Zeiten erstrecktes Verhalten des einzelnen zusammen- gefaßt. Diese Zusammenfassungen sind aber durchaus subjektiv, von unserer Betrachtung abhängig und können daher auch mit bezug auf dasselbe mate- rielle Geschehen durch andere ersetzt werden. Die Schwingung einer Saite, einmal als ganzes, einmal mit einem Knotenpunkt in der Mitte, sind wir gewohnt als zwei gesonderte Vorgänge aufzufassen; wir beschreiben demgemäß den kombinierten Vorgang als die Zusammensetzung zweier Teilvorgänge. Allein es ist klar, daß darin eine durchaus willkürliche Zusammenfassung der ganzen tatsächlich vor- handenen Bewegungen liegt. Nichts würde hindern, den ganzen Schwingungs- vorgang etwa nach Maßgabe seines Energiewertes als etwas Einheitliches zusammen- zufassen, daneben das Beteiligungsverhältnis der einen und anderen Schwingung als eine qualitative Bestimmung hinzuzunehmen. Wenn ein dreiachsiges Ellipsoid sich ausdehnt oder zusammenzieht, so können wir den Vorgang durch die Längen- änderungen der drei Hauptachsen beschreiben oder auch die bloße Volum- veränderung (bei konstantem Verhältnis der Achsen) als eine Veränderliche benutzen und die etwaigen Änderungen der Exzentrizitäten als etwas weiter hinzu- kommendes betrachten. Haben wir nun die Änderung nur einer Hauptachse oder die bloße Volumänderung (d. h. die gleichmäßige Zunahme in allen drei Achsen) als einen „einfachen Vorgang“ anzusehen ? Die vollständige Verbrennung eines selbst hoch zusammengesetzten Moleküls pflegt man als einen einheitlichen Vorgang zu betrachten; sobald jedoch auch unvollständige Oxydationen, Abspaltungen u. dgl. in Frage kommen, können wir Anlaß haben, das Schicksal einzelner Atomgruppen für sich ins Auge zu fassen, event. Unsymmetrien des Vorgangs oder der Produkte als etwas besonderes heraus- zuheben usw. Man sieht aus diesen Beispielen, die sich leicht vermehren ließen, 'in welchem Maße es Sache der Auffassung und Darstellung ist, ob man ein kom- pliziertes Geschehen als einen einheitlichen, jedoch qualitativer Modifikationen fähigen Vorgang oder als Kombination mehrerer Teilvorgänge bezeichnen, im letz- teren Falle wieder, in welcher Weise man die Zerlegung in einfache Teile vor- nehmen will. ; Auf ebenso unsicherem Boden bewegen wir uns auch, wenn wir von quali- tativer oder intensiver Änderung reden, wenn wir fragen, ob ein bestimmtes Ver- ‘halten einen Nullpunkt darstelle usw. Wenn Wasser durch ein Rohr oder Fluß- 144 Ergebnisse der psychologischen Betrachtung. — Herings Theorie. bett fließt, so werden wir, von einer gegebenen Gestaltung dieses Vorganges aus- gehend, eine intensive Steigerung desselben dann annehmen, wenn die in der Zeit- einheit den Querschnitt passierende Wassermenge vermehrt wird. Haben wir aber von einer reinen Intensitätssteigerung dann zu sprechen, wenn die Strömung breiter wird (sich über einen größeren Querschnitt ausbreitet) oder wenn sich im gleichen Querschnitt die Teilchen mit größerer Geschwindigkeit bewegen? Man wird eher: vielleicht das letztere bejahen. Im Gebiete chemischen Geschehens aber spricht doch jedermann unbefangen von der Intensitätssteigerung eines Vorganges, wenn dasselbe Geschehen sich gleichzeitig an einer größeren Zahl von Molekülen abspielt. — Ebenso kann, was bei einer Wahl der Bestimmungsstücke durch den Nullwert des einen oder anderen charakterisiert ist, bei anderer Darstellung z. B. der Gleichheit zweier Werte entsprechen. Behält man diese Verhältnisse im Auge, so wird man es, wie ich glaube, berechtigt finden, wenn ich die ganz allgemeinen Spekulationen der erwähnten Art über die der Empfindung zu grunde liegenden Vorgänge als wenig ersprießlich hier übergehe. Es ist vielleicht nicht überflüssig, hier die Bemerkung anzufügen, daß eine ganz strenge und einfache Durchführung der zumeist gehörten Grundsätze für psychologische Analyse und für den Rückschluß vom Psychischen aufs Physische sich wegen eines sehr einfachen Widerspruchs mit der Erfahrung unangängig er- weist. Beruhte nämlich z. B. der gleiche Gelbwert, den wir einer helleren und einer dunkleren Empfindung zuschreiben, auf der Übereinstimmung eines bestimmten Elementes und entspräche dieses den Gelbwert bestimmende Element auch einem physiologisch vollkommen unabhängigen Bestandteile des Sehorgans, so müßte ein bestimmter Reiz für diesen Bestandteil, d. h. eine bestimmte Menge gelben Lichtes der Empfindung immer den gleichen Gelbwert erteilen, unabhängig von der Menge des damit verbundenen Weißreizes. Dies ist aber keineswegs der Fall; viel- mehr muß, damit die Empfindung uns den Eindruck macht, in gleichem Maße gelb zu bleiben, die Menge des gelben Lichts annähernd in demselben Verhältnis wie die des weißen vermehrt werden. Diesem Widerspruch entgeht, wie wir sehen werden, die Heringsche Theorie dadurch, daß sie nur das Verhältnis zweier Vorgänge für die Empfindung bestimmend sein läßt; aber sie weicht, indem sie eine spezifische Übereinstimmung nicht an die Gleichheit eines Elementes, sondern an das übereinstimmende Verhältnis zweier knüpft, von den obigen Grundsätzen ab. Herings Theorie der Gegenfarben. Die Ansicht, daß der in ganz allgemeinen Begriffen sich bewegende Rückschluß von den Empfindungen auf die physiologischen Vorgänge wenig fruchtbar ist und daß wir nur mit Hilfe anderweit begründeter spezieller Anschauungen zu wertvolleren Ergebnissen gelangen können, diese Ansicht findet, wie mir scheint, darin eine Bestätigung, daß unter den zahlreichen von subjektiven Gesichtspunkten ausgehenden Theorien gerade diejenige, die am meisten Beachtung gefunden hat, die Theorie E. Herings!), in sehr ent- schiedener Weise neben der analysierenden Betrachtung der Gesichts- empfindung sich auf allgemein biologische Vorstellungen stützt und in ihrer speziellen Gestaltung durch diese bestimmt worden ist. Da aber doch bei der Entwickelung der Theorie auf den engen Anschluß an die psychologischen Tatsachen besonderes Gewicht gelegt worden ist, so ist es zweckmäßig, sie sogleich an dieser Stelle zu besprechen und wenigstens unter diesem spe- ziellen Gesichtspunkt etwas eingehender zu erörtern. Als Ausgangspunkt der Heringschen Lehre darf die Vorstellung bezeichnet werden, daß, wie in der lebenden Substanz überhaupt, so auch in den den Bewußtseinsvorgängen !) Sitzungsber. Wien. Akad. math. naturw. Kl. 69 (3), 1874. Assimilatorische und dissimilatorische Vorgänge. 145 dienenden nervösen Gebilden andauernd Vorgänge entgegengesetzter Art sich abspielen, einerseits die Zertrümmerung hoch zusammengesetzter Sub- ' stanzen, andererseits deren Wiederherstellung oder Ersatz, die man als dissi- milatorische und assimilatorische, kurz als D- und A-Prozesse be- zeichnet. Es wird nun angenommen, daß in der erwähnten Nervensubstanz diese beiden Vorgänge mit Empfindungen verknüpft seien und demgemäß (wenig- stens im Gebiete des Gesichtssinnes !) die Empfindung überhaupt entgegen- gesetzte Bestimmungen aufweise. Diese allgemeine Anschauung wurde nun einerseits auf die Reihe der farblosen Empfindungen angewandt, die im Weiß die der Dissimilation, im Schwarz die der Assimilation entsprechende Empfindung erkennen ließ, in den dazwischen bestehenden Übergängen die Koexistenz beider in wechselnden Verhältnissen. Ähnlich konnten dann die Hauptfarben (Rot-Grün und Gelb-Blau) aufgefaßt und als D- und A-Prozesse in anderen „Sehsubstanzen“ gedeutet werden; hier würde das Überwiegen des D-Prozesses einer, das des A-Prozesses der entgegengesetzten Farbe entsprechen, während eine rein farblose Empfindung auf dem Gleichgewicht beider beruhte. So ergab sich der Aufbau des Sehorgans überhaupt aus drei mehr oder weniger voneinander unabhängigen Substanzen, die später gewöhnlich kurz- weg als die „schwarz-weiße, rot-grüne und gelb-blaue“ Sehsubstanz bezeichnet wurden. Während es für die erstgenannte sogleich als feststehend erschien, daß das Weiß dem D-, das Schwarz dem A-Vorgang entspräche, blieb es für die farbigen Substanzen zunächst dahingestellt, welchem Element des Empfindungspaares der D- und welchem der A-Prozeß zugrunde läge. Erst später wurde in dieser Hinsicht eine Festsetzung getroffen und zwar dahin, daß Rot und Gelb (analog dem Weiß) den dissimilatorischen, Grün und Blau den assimilatorischen Vorgängen zugeordnet wurden?). Fügen wir sogleich noch hinzu, daß hiernach die Wechsel der Erregbarkeitszustände oder, wie man nun besser sagen mußte, der Stimmung des Sehorgans in einer ganz einfachen Weise mit den Empfindungen in Verbindung gebracht werden konnten. Zunächst nämlich mußte die Disposition des Sehorgans (oder der einzelnen Sehsubstanzen) zum D- und zum A-Prozeß, D- und A-Erreg- barkeit unterschieden werden; ihr Verhältnis ist maßgebend für die „Stim- mung des Sehorgans“, die bei Gleichheit beider eine neutrale genannt wird. Überwiegen des D-Prozesses vermindert den Vorrat der zersetzbaren Substanz und somit die D-Erregbarkeit, Überwiegen des A-Prozesses ver- mehrt ihn und steigert die D-Erregbarkeit; die „Stimmung“ der Sehsubstanz wird also im einen Fall.in der einen, im andern im entgegengesetzten Sinne modifiziert. Naturgemäß ist jedoch ein Übergewicht des einen über den entgegengesetzten Vorgang zwar zeitweilig, nicht aber auf die Dauer möglich; unter dauernd gleichen Bedingungen muß sich also stets ein bestimmter, als Gleichgewicht der Assimilation und Dissimilation charakterisierter Zustand herstellen (Aufhören der Farbenempfindung in den farbigen Substanzen, ein bestimmtes, zwischen Schwarz und Weiß die Mitte haltendes Grau in der schwarzweißen Sehsubstanz). !) Die gleiche Vorstellung wurde bald danach auf den Temperatursinn aus- gedehnt. Grundzüge einer Theorie des Temperatursinns, Sitzungsber. Wiener Akad. Math. naturw. Kl. 75 (3), 1877. — ?) Ebenda 98 (3), 70, 1889. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 10 146 Gegenfarben. Erwägen wir noch einen Augenblick, worin eigentlich das Neue und von den bisher geläufigen Anschauungen abweichende dieser Theorie bestand. Auch vorher hatte man sich ja wohl allgemein den tierischen Chemismus so gedacht, daß. einerseits Abbauprozesse (Dissimilation im Heringschen Sinne) stattfänden, denen dann andererseits die Ergänzung des verbrauchten Mate- rials durch eine Zufuhr gegenüberzustellen war. Dabei ging aber wohl früher die allgemeine Anschauung dahin, daß die wichtigsten Lebensprozesse wenigstens im tierischen Organismus, und namentlich alles, was man als eine Tätigkeit zu betrachten gewohnt war, dissimilatorischer Natur seien und daß auch nur solche durch Reize hervorgerufen werden könnten. Als neu ist also der Gedanke zu bezeichnen, daß, wie die dissimilatorischen, so auch die assimilatorischen Vorgänge die Träger von Empfindungen seien und durch Reize angeregt werden können. Dagegen muß, wie mir scheint, betont werden, daß irgend eine spezielle Auf- fassung der assimilatorischen Vorgänge in den verschiedenen, von der neueren physiologischen Chemie erwogenen Beziehungen für die Theorie nicht wesentlich ist. Haben sich auch diese Anschauungen zum großen Teil unter dem Einfluß und im Hinblick auf die Heringsche Theorie entwickelt, so gehen doch alle diese Versuche nicht auf Hering zurück und sind auch, soviel ich sehe, dem Grund- gedanken seiner Theorie fremd, wie denn auch bei der ersten Darstellung seiner Lehre nicht auf eine neue Auffassung der Assimilation hingewiesen, sondern ganz in der hergebrachten Weise von einem Ersatz des verbrauchten durch das im Blutstrom zugeführte Material gesprochen wurde. Die eben skizzierte Theorie ist von Hering selbst mit dem sehr be- zeichnenden Namen einer Theorie der Gegenfarben belegt worden und soll im folgenden mit diesem oder auch als „Heringsche Theorie* benannt werden. Es ist, um Mißverständnisse zu vermeiden, wichtig, sie auseinander zu halten von der weit allgemeineren, oben als Vierfarben- theorie bezeichneten Anschauung, welche letztere, wenn sie mit dem Namen eines bestimmten Autors in Verbindung gebracht werden soll, wohl am ehesten an den Auberts zu knüpfen wäre. Die Theorie Herings ist eine auf gewisse allgemein biologische Vorstellungen gestützte Ausgestaltung der Vierfarbentheorie. Erwägt man, wie die vorhin behandelten, einer psychologischen Be- trachtung der Gesichtsempfindungen gestellten Aufgaben hier gelöst sind, so wird man auf den ersten Blick sagen, daß dies in überaus befriedigender Weise geleistet zu sein scheint. Die Theorie gibt einerseits für die besondere Bedeutung der prinzipalen Empfindungen, sodann auch für die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen der Vereinbarkeit und des Gegensatzes eine feste und wohl verständliche physiologische Begründung. Für die Gesamt- heit der vorkommenden Empfindungszustände ist eine geordnete und er- schöpfende Übersicht gegeben; ihre wechselseitigen Beziehungen scheinen im Anschluß an relativ einfache physiologische Vorstellungen durchsichtig und verständlich gemacht. Die genauere Prüfung führt nun aber doch auf eine Reihe von Punkten, die keineswegs so einfach und klar liegen. Erstlich kann es schon mit Bezug auf die farblosen Empfindungen Bedenken erwecken, daß die Empfin- dung nur von dem Verhältnis abhängen soll, in dem die beiden Pro- zesse (D und A) jeweils verwirklicht sind, während es auf die absolute Verdoppelung der Variabeln. — Das neutrale Grau. 147 Intensität beider nicht ankommen soll. Daß ein Zustand des Sehorgans, in dem beide Vorgänge sich mit großer Lebhaftigkeit abspielen, für die Empfin- dung dasselbe bedeutet, wie ein sehr geringer Betrag beider, das ist zum mindesten keine ansprechende Vorstellung. Ja, man kann wohl mit einigem Recht sagen, daß diese von Hering gewissermaßen als selbstverständlich betrachtete Annahme demjenigen Grundsatze direkt zuwiderläuft, der, wenn wir einmal auf Grund der Empfindungen uns ein Bild von den sie ergebenden materiellen Vorgängen machen sollen, jedenfalls der einfachste und einleuch- tendste ist, nämlich dem einer vollständigen Korrespondenz, demzufolge dem gleichen Physischen gleiches Psychisches, Ungleichem aber auch psychisch Ungleiches zuzuordnen wäre. Es ist eine fundamentale und ohne Zweifel sehr bedenkliche Eigentümlichkeit der Theorie, dem psychophysischen Prozeß doppelt soviel Variable zuzuschreiben, als die Mannigfaltigkeit der Empfin- dungen tatsächlich aufweist. Sodann erheben sich Zweifel etwas anderer Art, wenn man die Schwarz- weißreihe einerseits und die vom Rot zum Grün resp. Gelb zum Blau führende andererseits ins Auge faßt. Wie man auch das psychologische Verhältnis des Grau zum Schwarz und Weiß auffassen mag: sicher berechtigt ist ja die (von Hering selbst nachdrücklichst betonte) Statuierung, daß die Grau- empfindung sowohl dem Schwarz wie dem Weiß verwandt sei, an beide in gewissem Maße erinnere. Dagegen kann man nicht in gleichem Sinne sagen, daß eine farblose Empfindung zugleich an Grün und Rot erinnere; vielmehr sind die Gegenfarben vor allem im psychologischen Sinne sich ausschließende Bestimmungen: die Empfindung, wie betont wurde, kann entweder Rot oder Grün, nicht aber beides gleichzeitig enthalten. Sollen nun aber stets D- und A-Prozesse nebeneinander sich abspielen, so versteht man nicht, weshalb nicht Rot und Grün zusammen empfunden werden oder wenigstens in ähnlichem Sinne, wie Schwarz und Weiß im Grau, kombinierbar erscheinen. Damit hängt der auffälligste und greifbarste Unterschied zusammen, der nämlich, daß in der Rot-Grünabstufung ein ausgeprägter Indifferenz- oder Nullpunkt aufgewiesen werden kann, während in der Hell-Dunkelreihe nie- mand ein bestimmtes Grau als dasjenige zu bezeichnen vermag, welches zwischen Weiß und Schwarz in der Mitte steht und daher einem Gleich- gewicht zwischen A- und D-Prozessen zu entsprechen hätte. — Dazu kommt dann noch ein spezieller Punkt. Das Postulat der Theorie, daß als Dauer- zustand nur ein bestimmter (der dem Gleichgewicht zwischen D und A ent- sprechende) möglich sei, scheint sich für die farbigen Bestimmungen viel- leicht, schwerlich aber für die Helligkeit mit der Erfahrung im Einklang zu befinden. Ob wir an einer bestimmten Stelle des Gesichtsfeldes andauernd Rot oder Grün empfinden können, ist zweifelhaft; es ist wohl möglich, daß sich hier wirklich unter konstanten Bedingungen der Empfindungszustand allmählich immer dem farblosen nähert. Dagegen wird man sich kaum zu dem Zugeständnis entschließen, daß das, was wir nach vielstündiger Ver- dunkelung des Auges sehen, ein zwischen Schwarz und Weiß die Mitte haltendes neutrales Grau sei, und noch weniger wird man diese Empfindung derjenigen gleich setzen mögen, die wir nach langem Verweilen in gleich- bleibend heller Umgebung als durchschnittliche Helligkeit des Gesichtsfeldes wahrnehmen. Eine vorsichtige Interpretation dürfte hiernach wohl zu dem 10* 148 Der Grad der Farbigkeit. Schluß gelangen, daß der zwischen Rot und Grün (oder Gelb und Blau) be- stehende Gegensatz von wesentlich anderer Natur ist als der zwischen Schwarz und Weiß zu konstatierende, und die Zurückführung beider auf dieselbe materielle Beziehung wird Bedenken erwecken. Endlich erwägen wir noch etwas genauer, wie die Art des Zusammen- wirkens des schwarzweißen und der farbigen Sehsubstanzen gedacht ist. Acceptiert man nämlich auch das Prinzip, daß die psychophysischen Vor- gänge für die Empfindungen nicht mit ihren absoluten Werten, sondern nur durch ihre Verhältnisse maßgebend seien, so ist doch die Anwendung des- selben nur auf zwei Vorgänge ohne weiteres klar und einleuchtend. Zwischen den sechs hier angenommenen Prozessen bestehen fünf unabhängige Ver- hältniswerte. Da aber die Empfindung nur drei Bestimmungen aufweist, so erhebt sich die Frage, in welcher Weise denn nun die Empfindung durch die Werte jener sechs Prozesse sich bestimmt. Die einzige ganz einfache und formell befriedigende Annahme wäre offenbar die, daß es auf die drei zwischen je zwei Gegenprozessen bestehenden Verhältnisse ankomme, die 3° - und 4 bestimmt werde, wobei man sich denken würde, daß der erste die Helligkeit, der zweite den Rot- (Grün-), der dritte den Gelb- (Blau-) wert bestimmen würde. Diese nach den Grundsätzen psychophysischer Korrespondenz befriedigende An- nahme wird aber durch die sehr einfache Tatsache ausgeschlossen, daß, wenn wir einem bestimmten gelben Licht mehr und mehr weißes Licht zumischen, sein Gelbwert nicht der gleiche bleibt, sondern es mehr und mehr abblaßt. Hiernach erscheint es unmöglich, den empfundenen Farbenwert lediglich von dem Zustande der betreffenden farbigen Sehsubstanz abhängen zu lassen; vielmehr scheint hier das Verhältnis der farbigen Prozesse zu den in der schwarzweißen Sehsubstanz sich abspielenden maßgebend in Betracht zu kommen. Wie dies nun des genaueren sich verhalte, mathematisch gesprochen, welche Funktionen der sechs Werte W, 8, R, Gr, @ und Bl eigentlich für die Empfindung bestimmend seien, erscheint zunächst problematisch. Man kann etwa annehmen, daß es auf die drei Verhältnisse ankomme, die zwischen den vier Werten W, 8, (R—Gr) und (G@—Bl) bestehen; aber man wird doch fragen müssen, weshalb zwei Zustände des Sehorgans, wenn die sechs ein- zelnen Prozesse ganz verschieden sind, sobald nur diese Beziehungen statt- finden, genau den gleichen Empfindungszustand ergeben sollen. Und es läßt sich nicht bestreiten, daß jeder Formulierung, auf die man hier kommen kann, etwas Unbefriedigendes und Willkürliches anhaften bleibt. Für die Gleichheit der Helligkeit lägen die Dinge einfacher, wenn man annähme, daß diese ausschließlich von dem Zustande der schwarzweißen Seh- Empfindung also durch die drei Quotienten substanz abhingen, also durch die Quotienten Has sich bestimme. Hering 8 nahm jedoch zuerst an, daß in dem die Helligkeit bestimmenden Quotienten der Wert des farbigen Prozesses je zur Hälfte dem Schwarz und dem Weiß- prozeß hinzuzufügen sei, eine Formulierung, die man kaum eine sehr be- friedigende und einleuchtende wird nennen können. In der später ent- wickelten Lehre von der spezifischen Helligkeit der Farben wurden die Dinge dann aber wesentlich anders aufgefaßt; hiernach sind Rot und Gelb Spezifische Helligkeit der Farben. 149 (den D-Prozessen entsprechend) spezifisch helle, Grün und Blau (durch die A-Prozesse bedingt) dunkle, dem Schwarz verwandte Farben. Dem- gemäß wird die empfundene Helligkeit durch Rot und Gelb gesteigert, durch Grün und Blau vermindert. Werden zwei Empfindungen gleich hell ge- nannt, so kann die Helligkeit der einen überwiegend auf dem in ihr stecken- den Rotanteil, die der anderen auf dem in ihr enthaltenen Weiß beruhen. Der Eindruck der gleichen Helligkeit wäre demnach nicht (der Forderung einer psychologischen Analyse gemäß) auf ein gemeinsames Element, son- dern auf die nicht weiter analysierbare Gleichartigkeit der drei Dissimilations- prozesse zurückgeführt. Man kann, die obigen Erwägungen zusammenfassend, wohl sagen, daß der von vornherein am höchsten veranschlagte Vorzug der Theorie, der enge Anschluß an die psychologischen Tatsachen, unzweifelhaft den allgemeinen Grundgedanken zukommt, von denen die Theorie ausgeht. Dies ist erstlich die (der Aubertschen Vierfarbentheorie sich anschließende) Heraushebung der prinzipalen Empfindungen, sodann aber die Vorstellung, daß die, zwar auch früher wohl bemerkte, aber von Hering mit besonderem Nachdruck betonte Gegensätzlichkeit zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Rot und Grün, Gelb und Blau auf einem sozusagen diametralen Gegensatz des mate- riellen Geschehens beruhen werde. Dagegen muß man zugeben, daß dieser Vorzug in dem eigentlichen Kerngedanken der Theorie, der Anknüpfung der Empfindungen an gleichzeitig ablaüfende assimilatorische und dissimilato- rische Vorgänge, zum großen Teil wieder verloren gegangen ist. Die Theorie trägt in dieser Form dem Umstande keine Rechnung, daß der Gegensatz zwischen Schwarz und Weiß von psychologisch wesentlich anderer Natur zu sein scheint, als der der Gegenfarben. Sodann ergeben sich eine Reihe von Schwierigkeiten daraus, daß der psychophysische Prozeß sechs unabhängige Variable aufweist, während doch die Empfindung nur in drei Richtungen veränderlich erscheint. — Es versteht sich, daß man versuchen kann, diesen Bedenken durch naheliegende Änderungen der Theorie zu ent- gehen. Auf einige Versuche dieser Art wird an späterer Stelle zurück- zukommen sein, wie denn überhaupt eine eingehendere Würdigung der ganzen Theorie erst am Schlusse dieses Abschnittes, unter Berücksichtigung einer großen Reihe in den folgenden Kapiteln zu behandelnder Tatsachen ge- geben werden kann. III. Die dichromatischen Farbensysteme. Angeborene partielle Farbenblindheit. Schon im ersten Kapitel hatten wir zu erwähnen, daß das Sehen einer gewissen Anzahl von Personen von der in der großen Mehrzahl der Fälle gegebenen in bestimmter Weise abweicht, und demgemäß von anomalen (trichromatischen) Farbensystemen gesprochen. Im folgenden Kapitel haben wir uns mit Arten des Sehens zu beschäftigen, die von der normalen noch weit stärker abweichen, aber schon, weil sie sich in gewisse, wohl charak- terisierte Typen zusammenordnen und ganz bestimmte Beziehungen zu der normalen Sehweise erkennen lassen, ein großes physiologisches Interesse besitzen. 150 Farbenblindheit. — Vorkommen. — Untersuchung. Die hier in Rede stehenden Fälle besitzen die ihnen zukommende Art des Sehens als eine angeborene und, soweit man weiß, niemals im Laufe des Lebens irgendwie veränderliche Eigentümlichkeit; da bei ihnen die -» Wahrnehmung und Unterscheidung der Farben zwar im Vergleich zur Norm beschränkt, aber keineswegs ganz aufgehoben ist, so wird die hier vorliegende Anomalie als angeborene partielle Farbenblindheit bezeichnet. Die folgende Darstellung muß sich auf diejenigen Punkte beschränken, die für die Physiologie der Gesichtsempfindungen das größte Interesse besitzen, nämlich die spezielle Beschreibung der bei diesen Personen gegebenen Art des Sehens und ihrer Beziehungen zum normalen. Dagegen mag es genügen, in bezug auf die allgemeinen biologischen Verhältnisse hier anzuführen, daß die Farben- blindheit eine familienweise auftretende, in der Regel springend sich vererbende Eigentümlichkeit darstellt, die nach ausgedehnten statistischen Ermittelungen bei etwa 3 Proz. aller männlichen Personen vorzukommen, beim weiblichen Geschlecht dagegen überaus selten zu sein scheint. Man pflegt mit Recht diese Anomalien wegen ihres durchaus stabilen Verhaltens, des Fehlens irgendwelcher sonstigen Störungen, der durchaus normalen Sehschärfe usw., nicht als etwas im eigentlichen Sinne Pathologisches anzusehen (im Gegensatz zu den erworbenen Störungen des Farbensinns); es scheint sich nicht um eine krankhafte Schädigung des normalen Sehorgans, sondern um eine von vornherein abweichende Bildung desselben zu handeln. : In bezug auf die allgemeinen biologischen Eigentümlichkeiten der Farben- blindheit, statistische Verhältnisse, sowie ihre praktische Bedeutung namentlich im Eisenbahn- und Marinedienst sei hier in erster Linie auf das klassische Werk Holmgrens, Die Farbenblindheit in ihrer Beziehung zum Eisenbahn- und Marine- dienst, deutsche Ausgabe, Leipzig 1878, verwiesen. Ebenso muß ich mich bezüglich der Untersuchungsmethoden hier auf einige orientierende Bemerkungen beschränken. Zunächst ist daran zu erinnern, daß es im allgemeinen unmöglich ist, mit Sicherheit zu ermitteln, was oder wie andere Personen empfinden; es ist daher von geringem Nutzen, festzustellen, wie eine zu prüfende Person diese oder jene gefärbten Gegenstände benennt. Von maßgebender Bedeutung ist es dagegen, wenn wir feststellen können, daß Jemandem zwei Objekte genau oder annähernd gleich erscheinen, die dem Normalen durch- aus verschieden sind. Auf diese Beschränkungen des Unterscheidungsvermögens gründen sich daher auch die meisten Untersuchungsmethoden. Sodann ist zu be- achten, daß es unmöglich ist (teils wegen technischer Schwierigkeiten, teils wegen der individuellen Verschiedenheiten der farbenblinden Personen) gefärbte Objekte irgend welcher Art herzustellen, die den farbenblinden Personen genau gleich erscheinen. Diese Schwierigkeit kann man nur dadurch unschädlich machen, daß zum Kriterium der Untersuchung nicht das genaue, sondern nur ein annäherndes Gleicherscheinen gemacht wird (Holmgrens Verfahren, Nagels Farbentäfelchen) oder daß man die zu vergleichenden Farben stetig veränderlich macht (wie es bei Nagels diagnostischem Farbenapparat, ferner auch bei den zu wissenschaft- lichen Zwecken benutzten komplizierteren Verfahrungsweisen, rotierenden Scheiben und spektralen Farbenmischapparaten der Fall ist). Dagegen werden Methoden, bei denen es schlechtweg auf die Wahrnehmbarkeit oder Unwahrnehmbarkeit eines Unterschiedes ankommt, wie in den sogenannten isochromatischen Tafeln von Stilling u. a., immer mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben und wohl kaum ganz zuverlässig zu gestalten sein. Im übrigen versteht es sich von selbst, daß je nach dem besonderen Zweck der Untersuchung verschiedene Verfahren zu bevorzugen sind. Die zu praktischen Zwecken erforderlichen Massenuntersuchungen verlangen ein Verfahren, das einiger- maßen schnell ausführbar ist und die Sicherheit gewährt, daß kein Fall unbemerkt bleibt, der irgend eine Anomalie darbietet, während die Unterscheidung ver- schiedener Anomalien von geringerer Bedeutung ist. Die Untersuchung des ein- zelnen Falles im wissenschaftlichen Interesse stellt dagegen ganz andere Anforde- rungen, von denen im folgenden genauer zu reden ist. - RE Dichromatisches Sehen. 151 Vergleiche hinsichtlich der Methoden zur Prüfung des Farbensinns ins- besondere Nagel, Die Diagnose der praktisch wichtigen angeborenen Störungen des Farbensinns. Wiesbaden 1899. Derselbe, Ärztliche Sachverständigen-Zeitung 1904. Allgemeine Gesetze der Lichtmischung. Dichromatisches Sehen. Für die genauere Prüfung des Sehens der Farbenblinden ist im all- gemeinen derselbe Weg vorgezeichnet, den wir bezüglich des normalen Sehens eingeschlagen haben. Auch hier geben die Gesetze der Lichtmischung die sicherste Grundlage für das Verständnis ab. Wenn, wie als vorzugsweise wichtig hervorgehoben werden kann, diese Personen Lichter oder Licht- gemische gleich sehen, die für den Normalen verschieden sind, so besagt dies schon, daß die Gesetze der Lichtmischung für sie nicht die oben im ersten Kapitel auseinander gesetzten, sondern irgend welche andere sind. Es zeigt sich nun, daß man bei der systematischen Prüfung der Mischungserscheinungen . in der Tat zu anderen Ergebnissen gelangt, daß aber auch hier Gesetze von ähnlicher Schärfe und sogar noch größerer Einfachheit sich aufstellen lassen. Die Hauptsache läßt sich kurz folgendermaßen angeben: Zu jedem beliebigen homogenen Licht ist eine ihm gleichwertige Mischung eines lang- und eines kurzwelligen Lichtes herzustellen. Hieraus folgt sogleich, daß über- haupt jedes beliebige Lichtgemisch mit einem bestimmten Blau-Rot- gemisch und auch mit einem bestimmten einfachen Licht gleiche Reizart besitzt. Ein bestimmter Punkt im Spektrum erscheint daher auch dem unzerlegten weißen Licht gleich; dieser, bei einer Wellenlänge 490 bis 499 uu gelegen, wird der neutrale Punkt des Spektrums genannt, weil die Farbenblinden ihn, wie das gemischte weiße Licht, farblos zu nennen pflegen. Nimmt man ihn zum Ausgangspunkt, so kann man sagen, daß die Reizart sich mit abnehmender Wellenlänge (oder Vermehrung des Blau- anteils in dem äquivalenten Blau-Rotgemisch) in einem Sinne oder mit zunehmender Wellenlänge (Vermehrung des Rotanteils in dem gleich- aussehenden Blau-Rotgemisch) in dem entgegengesetzten Sinne ändern kann, Die Reizart ist also nur in einem Sinne veränderlich; die sämtlichen Reiz- arten können, wie für das normale Auge in einer Ebene, so hier in einer geraden Linie dargestellt werden; die Gesamtheit der optischen Valenzen ist also, wenn wir neben der Reizart auch die Intensität berücksichtigen, als Funktion von zwei Variablen erschöpfend darstellbar: jedes beliebige Licht sieht gleich aus wie die Mischung bestimmter Mengen roten und blauen Lichtes. — Die schon dem normalen Sehorgan zukommende Eigen- tümlichkeit, den Verschiedenheiten der einwirkenden Lichter nur in sehr beschränkter Weise mit Verschiedenheiten der Empfindung zu entsprechen, ist hier noch weiter getrieben. Die Mannigfaltigkeit der Empfindungen, die das normale Sehorgan besitzt, erscheint nochmals reduziert, ähnlich etwa wie ein körperliches Gebilde durch die Projektion auf eine Ebene zusammen- geschrumpft. Wir nennen das Sehen dieser Personen daher im Gegensatz zu dem normalen trichromatischen ein dichromatisches. Nimmt man an, daß die Ausdrücke der Farblosigkeit und der Sättigung auf das Sehen dieser Personen in ähnlichem Sinne, wie für das normale Empfindungssystem anwendbar sind, und daß auch sie das unzerlegte Licht, 152 Protanopen und Deuteranopen. ähnlich wie wir, farblos sehen, so kann man sagen, daß die farblose Empfin- dung nur gegen zwei sich ausschließende Farben in zunehmender Sättigung abgestuft werden kann, eine Darstellung, von der später genauer zu reden ist, die aber hier als eine nützliche Veranschaulichung erwähnt werden mag. | Spezielle Verhältnisse der Lichtmischung. ‘ Das protanopische und das deuteranopische Sehorgan. Die spezielle Ermittelung der für die Dichromaten bestehenden Mischungs- verhältnisse, insbesondere die Aufsuchung bestimmter „Verwechslungs- gleichungen“, ist eine technisch nicht schwierige und in mannigfaltiger Weise lösbare Aufgabe. Sie ist denn auch sehr vielfach in mehr oder weniger systematischer Weise durchgeführt worden. Die Untersuchungen dieser Art lehren uns vor allem, daß, wie es schon Seebeck!) gefunden und die Mehr- zahl der späteren Beobachter bestätigt hatte, die Gesamtheit der Diehromaten in zwei scharf getrennte Gruppen zerfällt. Bei älteren Untersuchern stützte sich diese Unterscheidung vor allem auf die auffällig geringe Empfindlichkeit der einen Gruppe gegenüber sehr langwelligem Licht, demzufolge z. B. das äußerste Rot des Spektrums im allgemeinen gar nicht wahrgenommen wird, das Spektrum am roten Ende verkürzt gesehen wird. Man hat auf Grund dieser Tatsache und gewisser an die Helmholtzsche Theorie an- knüpfender Erwägungen die Personen der einen Gruppe als Rotblinde, die der anderen als Grünblinde bezeichnet. Wegen der Fülle der Mißverständ- nisse, die sich an diese Benennungen knüpften, habe ich später vorgeschlagen, sie durch die der Protanopen und Deuteranopen zu ersetzen ?). Aber auch eine systematische messende Darstellung der Verhältnisse an streng definierten Lichtern ist für den Dichromaten naturgemäß viel leichter als für die Farbentüchtigen zu gewinnen. In der Tat geht aus dem oben Angeführten schon hervor, daß die Aichung eines bestimmten Spektrums (wie normalerweise mit drei) so hier mit zwei Aichlichtern ausgeführt werden kann. Läßt man von einem Dichromaten für eine mit passenden Intervallen sich über das Spektrum erstreckende Reihe einfacher Lichter die ihm gleich aussehenden Gemische zweier Aichlichter eines bestimmten Rot und eines be- stimmten Blau herstellen, so sind die Gesetze der Lichtmischung dadurch erschöpfend festgelegt. Wir können auf Grund einer solchen Untersuchung für jedes Licht des Spektrums seine beiden Aichwerte angeben, die ich als W- und K-Werte bezeichnen will?). Für zwei Personen der einen und zwei !) Pogg. Ann. 42, 177. — *) Vgl. hierüber insbesondere von Kries, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 13, 316. — °) Diese Untersuchungen sind mit Hilfe des Helmholtzschen Farbenmischapparates in befriedigender Weise aus- führbar. König war der erste, der systematische Beobachtungen dieser Art an- gestellt und mitgeteilt hat. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 4, 241. Wie im vierten Kapitel dargelegt ist, waren aber die Königschen Befunde mit einer nicht unbeträchtlichen Fehlerquelle behaftet, auf die es z. B. zurückzuführen ist, daß von Null verschiedene K-Werte bis zu erheblich größeren Wellenlängen hinauf gefunden wurden, als in meinen späteren Untersuchungen. Ich unterlasse daher hier eine Heranziehung der Königschen Ergebnisse und beschränke mich auf die Anführung meiner Resultate. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 13, 251. Aichung eines Spektrums für Dichromaten. 153 Personen der anderen Klasse enthält die folgende Tabelle die Ergebnisse einer solchen Untersuchung. Trägt man als Abszisse die Orte der Lichter in einem bestimmten Spektrum, als Ordinaten die für die Gleichheit erforderlichen Rot- und Blaumengen, d. h. die W- und K-Werte auf, so erhält man Aichwertkurven, die die Verhältnisse der Lichtmischung sehr übersichtlich veranschaulichen. Spektraler Ort Beobachter Beobachter || Beobachter || Beobachter” und Wellenlänge Deuteranop N.|DeuteranopS8.|| Protanop 8. | Protanop M. des homogenen Rot- | Blau- || Rot- | Blau- || Rot- | Blau- | Rot- | Blau- Lichtes werte | werte || werte | werte | werte | werte || werte | werte 0 (670,8 uu) 33 — 3414| — 5,5 |. u 1 (656 wu) 48 _ 5641| — 91 1.E-- Sal m 2 (642 wu) 79 — 95,01 — 19 — 18 — 3 (628 wu) 107 — jı1 | — a) — 851. 4 (615 wu) 147 — |jıs | — 68:1 = 63 us 5 (608 wu) 151 — |ı5 | — so | — 84 > 6 (591 wu) 137 — |I14 | — |ıo | — |ı0 ne 7 (581 wu) 124 = 18 | 1 —. [113 ne 8 (571 wu) 103 — |ı8 | — Iı20 | — | 126 ;.ä 9 (561 wu) 82 _ | — |jı08_|i — 1106 Er 10 (552 wu) 64 —_ u 2 | — Ja = 11 (544 wuu) 52 Z— 56 u 78 u 85 _ 12 (536 wu) 41 6,3 37,4| 6,0| 65 — 67,51: 13,5 (525 wu) 26 | 12- 2ı | 10,3 || 38,3| 11,0| 468) — "15 (515 wu) 15 | 28 13,7) 21,6 | 20,6) 34 32,8| 13 16,5 (505 wu) 7,7 36 75| 323,2| 98| 35 17,21 29 18 (496 wu) 3,7 | 48 41| 46,3 | 48| 47 84! 33 19,5 (488 wu) 1,6 | 62 1,9| 58 2,2| 57 5,3| 49 21 (480 wu) 0,9 | 64 09| 67,0| 09| 66 2917 23 (469 wu) 0,3 | 70 0,3| 65,6 03| 67 1,0 69 24,7 (460,8 wu) | 67 — | 68 | — I > 66 Fig. 19 (a. f. S.) zeigt die W-Kurven, Fig. 20 (s. S. 155) die K-Kurven für unsere vier Beobachter. Man sieht sogleich, daß die W-Werte für die Vertreter der einen und der anderen Gruppe einen ganz verschiedenen Verlauf zeigen. Im Folgenden will ich daher die Kurven der Protanopen und Deuteranopen als W, und W; unterscheiden. Dagegen sind die K-Kurven alle vier nahezu, wenn auch nicht sehr genau, übereinstimmend. Es ist nun wahrscheinlich, daß diese Diffe- renzen nur von sekundärer Bedeutung sind; wahrscheinlich spielen hier im kurz- welligen Teile des Spektrums die Absorptionen im Makula-Pigment eine nicht unerhebliche Rolle; auch stößt aus später erst (im vierten Kap.) zu erörternden Gründen die Gewinnung genauer Gleichungen gerade bei den Lichtern von etwa 540 uu auf besondere Schwierigkeiten, so daß die bei den beiden Deuter- anopen etwas weiter gegen das rote Ende gehende Erstreckung der K-Werte kaum als ganz sicher betrachtet werden kann. Es soll daher im Folgen- den angenommen werden, daß die wahren K-Werte für beide Gruppen über- einstimmend verlaufen; sie werden daher als K (ohne Index) bezeichnet. Natürlich ist der ganze Unterschied des Sehens, der sich in diesen Er- gebnissen ausdrückt, nicht mit einem Wort erschöpfend zu bezeichnen; doch 154 W- und K-Kurven der Dichromaten. können wir nützlich denjenigen Punkt herausheben, der in dieser Beziehung am bemerkenswertesten ist. Wie man sieht, finden sich bei allen Dichromaten positive K-Werte erst bei Lichtern von einer Wellenlänge von etwa 530 uu ab. Alle Lichter von größerer Wellenlänge besitzen dagegen die gleiche Reizart: sie erscheinen bei passenden Stärkeverhältnissen gleich. Vorzugsweise charakteristisch sind nun aber die hier erforderlichen Stärkeverhältnisse, wie sie in dem Verlauf der W-Kurven (in demjenigen Stücke, wo die K-Werte Fig. 19. 200 190 180 L- 0 70 ££ HL 160 150 140 ATTES® Kit 130 er Ar N > Ke „ L- 100 : j w x F k \ 3 N st, L “ \ 50 fi N ‚AN Ä \ R . x 40 |. t . 3 \ or | \ 3 \. Br N N 20 Z SQ . 10,54 Bi >: 1. se 2 [6] 2 3 4 5 € 4 ) m.: 12 13,5 45 16.5 18 195 ” 21 BB ENEN: E ie ner hr on un u u > a ESTER IR RB ? > Verteilung gear er W-)Werte im Dispersionsspektrum des Gaslichtes für 2 Protanopen S. » ++» ++ - aM. —.—.—. ‚„ und für 2 Deuteranopen N. und St. — — — —. noch durchweg gleich Null sind) zum Ausdruck kommen. Beim Protanopen zeigt uns das steile Abfallen dieser Kurve jenseits des bei etwa 571 uu gelegenen Gipfels den relativ sehr geringen Reizwert der langwelligen Lichter an. Beim Deuteranopen hat die Kurve ihren Gipfel etwa bei 603 uu, um beträchtlich weniger gegen das rote Ende abzusinken. Das protanopische Sehorgan ist also (innerhalb dieses Spektralbereiches) gegenüber den kurz- welligen, das deuteranopische gegenüber den längerwelligen Lichtern relativ erregbarer. Läßt man Gleichungen zwischen zwei solchen Lichtern, etwa Rot und Gelb, herstellen, so muß der Protanop dem Rot eine beträchtlich größere Lichtstärke geben als der Deuteranop. Diese Tatsache ist insofern besonders Wirkung langwelliger Lichter. 155 beachtenswert, als der Unterschied der beiden Sehorgane hier charakteristisch hervortritt bei ausschließlicher Verwendung von Lichtern, die in den gelben Pigmenten der Augenmedien nicht merklich absorbiert werden, wodurch eine physikalische Erklärung desselben ausgeschlossen wird. Sodann ist es wertvoll, daß man auf diese Weise zu einem verhältnismäßig einfach zu gewinnenden und doch scharfen Unterscheidungsmerkmal gelangt. Da man die immerhin umständlichen Versuche, die zur Bestimmung der ganzen Aichkurven führen, nicht leicht für eine größere Zahl von Personen wird durchführen können, so ist es nützlich, lediglich das Verhältnis der Reizwerte zweier bestimmter Lichter (deren Wahl einigermaßen willkürlich ist) zum Gegenstand aus- gedehnter Beobachtungen zu machen. Ich habe hierfür die auch schon von Donders benutzten Lichter, Rot von der Wellenlänge der Lithiumlinie und Gelb von derjenigen der Natriumlinie gewählt. Diese Probegleichung ist in Fig. 20. 70 BEN EN o. >> a ee Be 6o HA | ., Wi RE 7 T 7 50 A PA a ou gr _— 40 4 P S. hs: T anne Ba = 7 Pi 30 a 4°" PN. +1 „ r A 20 f Br „7 + - 10 15 16,3 18 19,5 aı 23 24.7 o o > > > > 7 Ki $ & 3 & g z 7 53 x = = o Verteilung: der Blau-(K-)Werte im Dispersionsspektrum des Gaslichtes für 8. -+»+ ++» MM, — m am (Protanopen) N. und St. — — — — (Deuteranopen). der Tat vorzugsweise empfehlenswert, teils wegen der scharfen und leichten Fixierung der beiden Wellenlängen, teils weil das längerwellige Licht zwar schon auffällig schwach auf das protanopische Auge wirkt, aber doch immer noch mit Stärken, die eine Gewinnung vollkommen sicherer Einstellungen gestatten. Die Äquivalenzverhältnisse dieser beiden Lichte im Dispersions- spektrum des Gaslichts sind von mir für elf Personen der protanopischen und neun der deuteranopischen Gruppe ermittelt worden und iin der nachstehenden Tabelle zusammengestellt!). %) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 13, 259. 156 Lithium-Natrium-Gleichungen. 1, W,.: Nagel al Ta an BR TEN N RER En oo u Re 36,3 10. 8. A . 36,3 IUIN ar 213 B: 36,5 12. M. M. 211 * 38,4 13: 1.. 0:3 205 2.1. V 37,3 14. H. 196 3. A. V. 37,0 15.0.1... 198 4. Schn 37,0 16. B.:4T, 2: 210 BORN 37,8 178 200 6. K. St 37,0 18. W. 210 7. H. St 36,9 19.:B. .. 203 8. OÖ. St 38,0 20. Th.. 225 Die Mengen des roten Lichtes, die Protanopen und Deuteranopen erfordern, um Gleichheit mit einem gegebenen gelben zu erzielen, verhalten sich etwa wie 5:1. Bedenkt man, daß die Versuchspersonen fast durchweg keine sehr geübten Beobachter waren und zieht man die in einigen Beziehungen immer bleibenden Unvollkommenheiten der Methode in Rechnung, so darf man sagen, daß der Unterschied der Gruppen ungemein scharf hervortritt, während die Abweichungen innerhalb der einzelnen Gruppe nicht über die der: methodischen Unsicherheit entsprechenden Grenzen hinausgehen. Auch die früher von Donders!) enthaltenen Zahlen sind sehr ähnlich. In der vorhin erwähnten Verkürzung des Spektrums am roten Ende kommt natürlich der relativ geringe Reizwert der langwelligen Lichter für das protanopische Sehorgan auch, wenngleich in viel weniger scharfer Weise, zur Erscheinung. Läßt man unter den gleichen Bedingungen den Protanopen und den Farbentüchtigen ein Spektrum betrachten, so pflegt der letztere dasselbe überhaupt nach der Seite der langwelligen Lichter etwas weiter erstreckt zu sehen, als der Protanop; für diesen ist das Spektrum „am roten Ende verkürzt“. Wiewohl nun dies, wie gesagt, in der Regel sich so verhält und demgemäß manche Untersucher gerade hierdurch auf die wichtige Unterscheidung der beiden Typen der Dichromaten geführt worden sind, so muß doch betont werden, daß diese Untersuchung eine überaus unsichere ist. Weder für das normale noch für das protanopische Sehorgan besitzt das Spektrum am roten Ende eine scharfe Grenze. Bis zu welcher Wellenlänge hinauf es sichtbar ist, hängt von der absoluten Intensität der angewandten Lichter, ins- besondere aber auch davon ab, ob das ganze Spektrum oder die einzelnen Lichter isoliert der Betrachtung dargeboten werden. Die vollkommene Unsichtbarkeit eines Lichtes ist aber auch schon deswegen. sehr schwer erweisbar, weil dazu seine Dar- stellung in sehr hohen Stärken, dabei aber absoluter Reinheit, erforderlich ist. Erwägt man ferner, daß für die physiologisch interessierende Charakterisierung eines Sehorgans in erster Linie die Äquivalenzverhältnisse verschiedener Lichter, nicht aber die etwa in den Schwellenwerten sich ausdrückenden absoluten Empfindlich- keiten in Betracht kommen, so ist es klar, daß die Frage, ob „Verkürzung des Spektrums am roten Ende“ besteht, eine nicht glücklich gestellte ist. Individuelle Unterschiede physikalischen Ursprungs. Ehe wir uns zu der Besprechung einiger weiterer spezieller Punkte wenden, müssen wir die individuellen Unterschiede kurz berühren, die sich innerhalb derselben Gruppe von Dichromaten finden. -Bei den einfachen Verhältnissen der Dichromaten läßt sich die Annahme, daß diese Unterschiede auf der individuell ungleichen Färbung der Makula beruhen, noch strenger als beim Trichromaten begründen, und es gelingt auch leichter, hierfür eine ‘) Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abteil. 1884, 8. 528. Individuelle Unterschiede. 157 zahlenmäßige Bewertung zu erhalten. Schon in den Befunden der beiden oben erwähnten Protanopen prägt sich ein solcher Unterschied deutlich aus. In den den einfachen Lichtern gleichzumachenden Rot-Blaugemischen verlangt von der Wellenlänge 552 uu an der eine im zunehmenden Verhältnis weniger Rot als der andere; offenbar ist dies derjenige, der die stärker gefärbteMakula besitzt; in seinem Auge wird das einfache Licht in zunehmendem Betrage geschwächt. Berechnet man für die ganze Reihe der einfachen Lichter das Verhältnis der vom einen und vom anderen Beobachter ermittelten Rotwerte, so erhält man die folgende Tabelle, die die (auf Absorption zu beziehende)- Schwächung der verschiedenen einfachen Lichter zeigt. Wellenlänge. . . . 670,8 656 692 628 615 603 591 581 571 uu Berechnetes Verhältnis 1,1 1,1 1,05 1,00 1,00 1,07 1,07 0,98 0,96 Wellenlänge. . . . 561 552 544 536 525 515 505 496 488 480 469 uu Berechnetes Verhältnis 1,02 9,91 0,91 0,97 0,91 0,63 0,63 0,57 0,42 0,41 0,3 Die Abhängigkeit der Absorption von der Wellenlänge stimmt mit den oben erwähnten direkten Bestimmungen von Sachs sehr gut überein. Will man sich von dem Grade der Schwächung eines bestimmten blauen Lichtes eine Vorstellung verschaffen, so kann man von den Gleichungen ausgehen, die zwischen einem Gemische dieses Lichtes mit Rot und einem bestimmten ein- fachen Lichte eingestellt werden. Da das einfache Licht durch die Absorption qualitativ nicht verändert wird, so muß in diesen Gemischen das Blau in demselben Verhältnis vermehrt werden, wie es durch Absorption geschwächt wird. Der Quotient der von zwei Personen gefundenen Verhältnisse blau/rot ergibt daher das Verhältnis der Beträge, auf welche das blaue Licht bei der einen und anderen abgeschwächt wird. Bei zwei Personen, die unter den von mir untersuchten die stärkste und schwächste Pigmentierung besitzen dürften, ergab sich dies Ver- hältnis = 0,3, ziemlich übereinstimmend mit dem, was die Veranschlagung der makularen Absorption bei Farbentüchtigen ergeben hat. Die Prüfung ist bei den Dichromaten weit einfacher und sicherer als bei den Farbentüchtigen; freilich kann sie nicht so leicht auf eine sehr große Zahl von Personen erstreckt werden. Lage des neutralen Punktesim Spektrum. Rot-Grün-Verwechslung. Unter den naturgemäß sehr mannigfaltigen Erscheinungen, die das Sehen der Dichromaten darbietet, mögen hier noch einige erwähnt werden, die in dieser oder jener Richtung besonderes Interesse besitzen. Wie oben schon erwähnt, nennt man denjenigen Punkt des Spektrums den neutralen, der ebenso aussieht, wie ein unzerlegtes weißes Licht und gleich diesem farblos oder weiß genannt wird. Mit der Ermittelung der Lage dieses neutralen Punktes haben sich zahlreiche Untersuchungen beschäftigt. Ganz ähnlich, wie es oben anläßlich des Begriffs der Komplementärfarben auseinandergesetzt wurde, muß auch hier unterschieden werden, ob’der Punkt angegeben werden soll, der (in subjektivem Sinne) weiß genannt wird, oder derjenige, der mit einem bestimmt gegebenen Vergleichslicht (objektivem Weiß) übereinstimmend aussieht. Wir haben es hier nur mit den Untersuchungen der letzteren Art zu tun. Aus den sogleich zu besprechenden Beziehungen des dichromatischen zum normalen Sehen ergibt sich, daß der neutrale Punkt für die Protanopen 158 Einfluß des Makulapigments auf die Lage des neutralen Punktes. bei einer etwas kleineren Wellenlänge als für den Deuteranopen liegen muß. Es ist jedoch auch hier zu berücksichtigen, daß durch die individuellen Ver- schiedenheiten der Makulafärbung die Lage des neutralen Punktes sich nicht unbeträchtlich ändern muß. Wird das gemischte Licht durch starke Ab- sorption im kurzwelligen Teil gelblich gefärbt, so wird es einem reinen Licht von größerer Wellenlänge gleich erscheinen; bei Personen mit stark gefärbter Makula liegt also der neutrale Punkt dem roten Ende des Spektrums näher. Die hierdurch bedingten Unterschiede sind nun von dem Betrage, daß sie den ersterwähnten zwischen Protanopen und Deuteranopen ausgleichen, ja gelegentlich wohl auch in sein Gegenteil verkehren können. So fand ich bei zwei Protanopen mit sehr starker und sehr geringer Pigmentierung und einem Deuteranopen, dessen Pigmentierung als eine mittlere gelten konnte, die in der nachstehenden Tabelle zusammengestellten Neutralpunkte. Wellenlänge des als gleich eingestellten homogenen Lichts in uu Art des gemischten Lichts N S | M Deuteranop Protanopen | Magnesium Oxyd-Fläche in Tageslicht 499 498 490 Gespiegeltes WOERnDehr durch Mattglas 499 497 489 abgeschwächt Gespiegeltes Wolkenlicht durch Rauchglas 495 494 486 abgeschwächt Es ist hiernach verständlich, weshalb die bloße Ermittelung der Lage des neutralen Punktes sich zur Unterscheidung der beiden Gruppen wenig eignet. Auch von den Dichromaten wird, wie schon erwähnt, das unzerlegte weiße Licht als weiß oder farblos bezeichnet, und es spielt in ihrem Sehen jedenfalls eine ähnlich ausgezeichnete Rolle, wie dies beim Farbentüchtigen der Fall ist. Geht man von der Annahme aus, daß sie dieses Licht auch farblos, in dem von uns mit diesem Wort verbundenen Sinne sehen, so tritt der Defekt ihres Sinnesorganes vorzugsweise anschaulich darin zu Tage, daß sie gewisse, uns farbig erscheinende Lichter farblos wahrnehmen. Und am auffälligsten ist dies wieder bei denjenigen, die für uns den höchsten Sättigungs- grad besitzen. Diese sind das dem neutralen Punkt des Spektrums ent- sprechende einfache Licht (etwa zwischen 490 und 499 uw) und das ihm gleich erscheinende Rot-Blau-Gemisch. Bei beiden Arten Dichromaten sind nun diese Lichter von der Art, daß sie dem Farbentüchtigen annähernd (wenn auch wohl nicht genau; es ist darauf sogleich noch zurückzukommen) Rot und Grün erscheinen. Hält man es für zulässig, die betreffenden Farben schlecht- weg Rot und Grün zu nennen, so kann man in einem rein symptomatischen- Sinne beide Arten der Dichromaten Rot-Grün-Verwechsler nennen. Ob dieser Bezeichnung eine tiefere theoretische Bedeutung zukommt, bleibt dabei zunächst dahingestellt. Jedenfalls ist sie insofern keine ausreichende, als Die dichromatischen Systeme Reduktionsformen des normalen. 159 sie den großen Unterschied der beiden Gruppen außer acht läßt, der gerade auch bei diesen Gleichungen bemerkbar ist. Wie sich aus den obigen Mischungstatsachen schon entnehmen läßt, und wie die Beobachtung direkt lehrt, muß der Protanop, um ein dem Blaugrün gleich erscheinendes Gemisch herzustellen, einem sehr lichtstarken Rot einen relativ geringen Blauzusatz geben. Der Deuteranop erfordert etwa die gleiche Blaumenge mit weit weniger Rot. Der Protanop verwechselt also ein leicht bläuliches Rot (im physika- lischen Sinne) mit einem dem normalen Auge viel dunkler erscheinenden Grün (Scharlachrot mit Olivgrün), der Deuteranop ein erheblich bläulicheres’ Rot und ein Grün, die auf das normale Auge etwa den Eindruck gleicher Helligkeit machen. Lassen sich also auch alle Dichromaten in etwas summa- rischer Weise als Rot-Grün-Verwechsler bezeichnen, so ist doch das Rot, das einem bestimmten Grün gleich erscheint, sowohl an Farbenton wie an Inten- sität beim Protanopen und Deuteranopen ungemein verschieden. Beziehungen der dichromatischen zum normalen trichroma- tischen Farbensystem. Als ein Punkt von besonderer physiologischer Bedeutung bleibt die Frage nach dem Verhältnis der dicehromatischen Sehorgane zu dem normalen trichroma- tischen zu besprechen. Schon Seebeck!) sprach auf Grund seiner (in diesem Punkte allerdings nicht sehr ausgedehriten) Beobachtungen die Vermutung aus, es käme nicht vor, daß Farbenblinde zwei Lichter oder Lichtgemische ungleich sähen, die dem normalen Auge gleich erscheinen, mit anderen Worten, alle für das normale Sehorgan gültigen Gleichungen träfen auch für die Dichro- maten und zwar für beide Gruppen derselben zu. Ein derartiges Verhältnis ist von besonderer physiologischer Bedeutung; ich habe daher eine kurze Bezeichnung dafür eingeführt, und nenne ein Farbensystem eine Reduktions- form eines anderen, wenn es lediglich gewisser Unterscheidungen ermangelt, die dieses besitzt, nicht aber etwa anderer fähig ist, die diesem abgehen. Die Farbenunterscheidung des einen stellt sich, wie man sagen kann, gegen- über der des anderen lediglich als ein Minus, eine Einbuße, nicht aber als eine Änderung dar. In der Tat zeigt sich nun, daß in diesem Sinne die beiden dichromati- schen Farbensysteme Reduktionsformen des normalen sind. Legt man irgend. eine für einen normalen Trichromaten geltende Gleichung einem Dichromaten (sei es Protanop, sei es Deuteranop) zur Prüfung vor, so wird sie ausnahmslos mit größter Annäherung als auch für ihn gültig anerkannt, und die geringen Modifikationen, die es in der Einstellung etwa gibt, sind von der Art und von dem geringen Betrage, wie die auch innerhalb desselben Systems vor- kommenden, auf die Makulafärbung oder die Unsicherheit der Beobachtung zu beziehenden Unterschiede. Ich habe mich von der Richtigkeit dieses Satzes durch sehr zahlreiche, mit den verschiedensten optischen Gleichungen angestellte Versuche überzeugt. Speziell für den weniger brechbaren Teil, der von besonderer Wichtigkeit ist (da hier individuell wechselnde Makula- färbung nicht stört, der Typenunterschied der Dichromaten aber besonders stark hervortritt), kann man diese Beobachtung in der folgenden sehr 4 Prüfung mit Rot-Grün-Gemischen. 160 anschaulichen Form machen. Man benutzt wiederum die schon öfter an- geführten Gleichungen zwischen einem reinen Gelb und einem Gemisch aus Rot und Gelbgrün (670,8 und 550 uu). Da alle hier überhaupt vorkommen- den Lichter für die Farbenblinden von gleicher Reizart sind, so kann, wie man auch immer das Verhältnis zwischen Rot und Gelbgrün wählen mag, stets sowohl der Protanop wie der Deuteranop dem reinen Gelb eine solche Intensität geben, daß er eine genaue Gleichung erhält. Im allgemeinen aber sind die Gleichungen des einen für den anderen nicht gültig. Wie zu er- warten, ist ein stark rötliches Gemisch für den Prötanopen einem relativ licht- schwachen Gelb gleich; prüft also der Deuteranop eine solche vom Protanopen eingestellte Gleichung, so findet er das Gemisch zu hell, das reine Gelb zu dunkel. Umgekehrt bei stark grünlichen Gemischen. Mit überraschender Genauigkeit zeigt sich aber, daß bei demjenigen Verhältnis von Rot und Gelbgrün, das für den Trichromaten gleichen Farbenton mit dem ein- fachen Gelb ergibt, auch die Einstellungen der beiden Farbenblinden über- einstimmen: die Gleichung des Trichromaten trifft für den Protanopen und Deuteranopen zu. Und andererseits: suchen wir eine für beide Dichromaten gültige Gleichung, so gelangen wir genau zu der für den Farbentüchtigen geltenden, wie es die nachstehende, einen solchen Versuch darstellende Tabelle erkennen läßt. Verhältnisse der Mischung, bei denen das Gemisch aus 670,8 und 550 uw Wellenlänge Aus wenn dem Grünblinden gleich, für | für den Trichro- homogenen Lichtes ER RRIE maten en homo- zu dunkel | zu hell genen Licht PEN, gleichfarbig ist 639 uu 0,012 0,026 0,016 625 „ 0,038 0,062 0,044 sis, 0,07 0,12 0,09 589 „ 0,22 0,49 0,33 569 „ 1,0 3,00 1,34 „Das normale Sehorgan vereinigt in sich zwei Gleichheits- bedingungen, von denen je eine dem Sehorgan des einen und an- deren Dichromaten zukommt.“ Man kann diesen Satz noch schärfer in rechnerischer Weise aus systema- tischen Mischungsbeobachtungen ableiten. Zu einer Prüfung dieser Art eignen sich sehr gut die oben (Kap. I, 8. 123) erwähnten, auf den weniger brechbaren Teil des Spektrums bezüglichen Beobachtungen. Die dort angeführte Tabelle zeigt, welche Mengen roten und grüngelben Lichtes (670,8 und 550 vu) zusammen- gefügt werden müssen, um für den Farbentüchtigen einem jeden einfachen Lichte gleich zu erscheinen. Berücksichtigt man nun, daß für den Protanopen das grün- gelbe Licht etwa den zwanzigfachen Reizwert von dem des roten hat, so kann man aus diesen vom Farbentüchtigen eingestellten Gleichungen die Verteilung der Reiz- werte im ganzen langwelligen Teil des Spektrums berechnen; ebenso für den Deu- teranopen, für den das kurzwellige Licht etwa den doppelten Reizwert wie das rote Geometrische Darstellung der Farbenblindheit. 161 besitzt. Es zeigt sich nun, daß diese berechneten Reizwerte mit der direkt ge- fundenen Verteilung durchaus übereinstimmen, woraus hervorgeht, daß die Glei- chungen des Farbentüchtigen in der Tat sowohl für den Protanopen wie für den Deuteranopen zutreffen. (Siehe die Tabellen und Kurven in meiner Abhandlung Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 13, 8. 281 u. 282.) Die geometrische Darstellung, die der Konstruktion der Farbentafel zu- grunde liegt, gewährt auch für das Verhältnis der diehromatischen zu dem normalen Farbensystem eine einfache und instruktive Veranschaulichung. Ist ein dichromatisches System eine Reduktionsform des normalen, so müssen . die in der Farbentafel dargestellten Gleichheitsbeziehungen auch für den Dichromaten zutreffen. Wenn nun eine bestimmte Menge a des Lichtes L, einer Menge b des Lichtes L, gleich aussieht, so muß nach den allgemeinen Gesetzen der Lichtmischung auch die Mischung jedes anderen Lichtes, einer- seits mit naL, und andererseits nb_L,, wieder gleich aussehende Mischungen ergeben. Alle diese Mischungen liegen aber auf Geraden, die durch den Punkt der Tafel gehen, der der Ort eines Gemisches von der Zusammensetzung a_L, —bL, sein würde. Es ergibt sich also, daß die Verwechslungsfarben des Dichromaten auf geraden Linien liegen, die sich alle in einem Punkt schneiden. Dieser Punkt der Tafel ist der Ort einer Reizart (im allgemeinen einer gedachten, nicht aber eines realen Lichtes), deren Hinzufügung in beliebigen Mengen das Aussehen eines Lichtes für das dichromatische Sehorgan nicht verändert, d. h. der Ort einer für dieses unwirksamen Reizart. Dieser Punkt mag der Fehlpunkt des Dichromaten genannt werden. Seine Lage in der Farbentafel ist ein kurzer Ausdruck dafür, welche Lichter oder Lichtgemische dem betreffenden Dichromaten gleich erscheinen. Ergebnisse für das normale Sehen. Wie oben angeführt wurde, ist es bis jetzt wegen der großen technischen Schwierigkeiten, mit denen die Mischung von mehr als zwei Lichtern verknüpft ist, nicht gelungen, die für ein normales trichromatisches Sehorgan geltenden _ Mischungsbeziehungen in der Form einer Aichung durch direkte Beobachtung systematisch zu ermitteln. Die eben dargelegte Beziehung des normalen zu den dichromatischen Farbensystemen gestattet uns, unter Benutzung der Be- obachtungen der Dichromaten zu einer solchen Darstellung zu gelangen. Wir dürfen annehmen, daß allgemein zwei Lichter dem normalen Auge gleich er- scheinen, wenn sie für beide Diehromaten übereinstimmen, d. h. wenn ihre Wy-, Wa- und K-Werte gleich sind. Diese Werte sind nun durch die Beobachtungen der Dichromaten für eine genügende Zahl einfacher Lichter ermittelt; indem wir ihre Beobachtungen zu- sammenfassen, besitzen wir also die Darstellung, dreier Aichwertkurven für das zu grunde gelegte Spektrum, und die obige Tabelle stellt ohne weiteres, in diesem Sinne genommen, die verlangte Aichung des Spektrums für das normale Sehorgan dar. Die Aichung bezieht sich auf drei gedachte Reizarten, wäre aber für jede beliebige Trias von Aichlichtern durch einfache Umrechnung zu erhalten. Auch die Darstellung der Mischungsverhältnisse in der Form einer im Detail ausgeführten Farbentafel ist hierdurch ermöglicht. Eine solche Farbentafel, auf Nagel, Physiologie des Menschen, III. 11 162 Farbentafel für das normale Sehorgan. Grund der obigen Dichromatenbeobachtungen gezeichnet, ist in Fig. 21 wieder- gegeben. A und B sind in ihr die Fehlpunkte des Protanopen und Deuteranopen. Gemäß der Tatsache, daß die einen wie die anderen alle Lichter des langwelligen Spek- tralteiles verwechseln, jedoch in verschiedenen Stärkeverhältnissen, liegen ihre Fehl- punkte beide auf den Verlängerungen der diese Lichter enthaltenden Geraden, für die einen jenseits des Rot, für die anderen auf der entgegengessetzten Seite. Ein „rein weißes“ Licht würde seinen Ort etwa in W haben. Man übersieht hier also in sehr einfacher Weise, daß der neutrale Punkt des Spektrums für den Protanopen bei einer etwas kleineren Wellenlänge als für den Deuteranopen liegen muß. Fig. 21. Bx Ax ; Farbentafel für das normale Sehorgan, auf Grund der Beobachtungen der Dichromaten gezeichnet. A Fehlpunkt der Protanopen, B Fehlpunkt der Deuteranopen. Der Weißpunkt liegt hier, weil die Maßeinheiten für das grüne und blaue Licht relativ klein gewählt sind (wodurch die Anordnung der verschiedenen spek- tralen Lichter übersichtlicher wird), verhältnismäßig nahe bei den kurzwelligen Liehtern. Aus der Lage des Weißpunktes einerseits und der Fehlpunkte der beiden Dichromaten andererseits wird übrigens auch ersichtlich, daß der neutrale Punkt des Protanopen und der des Deuteranopen nur ziemlich wenig auseinanderfallen. Bei dieser Konstruktion ist von den in der erwähnten Tabelle enthaltenen Be- obachtungsergebnissen nur in einem Punkte ein wenig abgewichen worden. Die sehr kleinen W-Werte der Lichter von Wellenlängen < 505 uu sind nicht genau W genug, um das Verhältnis a mit genügender Sicherheit zu ergeben. Aus diesem d Grunde würde der'von Bl nach Gr führende Teil der Umrißlinie einigermaßen unglatt verlaufen, während die Beobachtungen des Farbentüchtigen zeigen, daß er eine stetige Krümmung besitzen muß, da durchweg die Mischungen zweier Lichter ein wenig ungesättigter erscheinen als die reinen. Ich habe aus diesem Grunde die Ww Umrißlinie mit einer stetigen Krümmung gezeichnet, so daß das Verhältnis = ad von demjenigen Werte, der den Lichtern 515 bis 525 uw entspricht, allmählich zu jenem übergeht, der für die Lichter 469 bis 480 uw gefunden ist. Diese beiden Helmholtzsche Theorie der Farbenblindheit. 163 Werte sind in der Zeichnung durch die von ( ausgehenden gestrichelten Linien angedeutet; zwischen diesen würde also eine im genauen Anschluß an die Be- obachtungen gezeichnete Kurve in einigermaßen unregelmäßigem Verlauf sich ein- fügen. Übrigens ist zu bemerken, daß eine Konstruktion dieser Art auch insofern nicht ganz einwurfsfrei ist, als sie die Ergebnisse mehrerer Beobachter mit sicher ungleicher Makulafärbung vereinigt. Erklärung der Farbenblindheit aus der Helmholtzschen Theorie. Die oben dargelegten Beziehungen des dichromatischen zum normalen Farbensystem erklären sich in einer ebenso einfachen wie befriedigenden Weise an der Hand der Helmholtzschen Theorie. Diese gestattet nämlich die Farbenblindheit in der wohl einfachsten Weise als Ausfallerscheinung aufzufassen: ein trichromatisches Sehorgan wird beim Ausfall eines seiner Bestandteile notwendig in ein dichromatisches verwandelt. Dem Dichromaten, dem die Rotkomponente fehlt, werden alle Lichter gleich erscheinen, die sich für den Farbentüchtigen nur bezüglich ihrer Wirkung auf diese Komponente unterscheiden. Ohne weiteres läßt sich auch übersehen, daß der Mangel der Rotkomponente eine Anomalie etwa von der protanopischen, der der Grün- komponente von der deuteranopischen Form zur Folge haben muß. Geht man von dieser Annahme aus, so gewährt uns die Beobachtung der Dichromaten die Möglichkeit, jene zunächst in vieler Beziehung unbestimmt gebliebenen Komponenten des genaueren festzulegen. Eine Reizart, die auf das Sehorgan des Dichromaten gar nicht wirkt, ist offenbar eben die, die beim normalen Sehorgan ausschließlich auf einen (eben den dem dichromatischen abgehenden) Bestandteil wirkt. Die Kenntnis eines Fehlpunktes gestattet also, einen solchen Bestandteil in der oben be- sprochenen Weise (durch Angabe seines Ortes in der Farbentafel) zu charak- terisieren, und zwar ist dies, da wir zunächst zwei dichromatische Systeme mit der hier erforderlichen Genauigkeit kennen, für die X- und Y- (Rot und Grün-) Komponente möglich. In die nach unseren Ergebnissen berechnete Tafel (Fig. 13) sind jene Orte, wie schon erwähnt, eingetragen und mit A und B bezeichnet; diese Punkte wären also die einer ersten und zweiten Komponente im Sins der Helmholtzschen oder einer Dreikomponententheorie zuzuweisenden Orte, während der Ort der dritten zunächst noch unbestimmbar bliebe. Zu ähnlichen Ergebnissen führt die Betrachtung der Aichwertkurven. Bezeichnet man die für die drei Komponenten geltenden Reizwerte mit X, Y und Z, so kann man, wie oben gezeigt, auf Grund der allgemeinen Gesetze der Lichtmischung sagen, daß sie zu irgendwelchen empirisch ermittelten Aichwerten in der Beziehung stehen müssen, daß sie als lineare Funktionen derselben darstellbar sind. Da wir solche in unsern W,; W; und K-Werten haben, so muß also X = aW, +bW,-+ cK sein usw. Fehlt nun dem Protanopen die X-, dem Deuteranopen die Y-Komponente, so würden die Gleichungen des Protanopen von der Gleichheit der Y- und Z-Werte, die des Deuteranopen von der der X- und Z-Werte abhängen. Es muß daher w=uY+hZ Key Fr 2 und sein, ebenso w=X+%2 KB=nX+% 2. und 31* 164 Bestimmung der Komponenten aus den Beobachtungen der Dichromaten. Da nun aber die K-Kurve für Protanopen und Deuteranopen übereinstimmt, so folgt, daß die Koeffizienten Y, und Y = 0 sind. Die Z-Werte. müssen also mit den direkt ermittelten K-Werten übereinstimmen. Dagegen bleibt (ähnlich wie wir nur für zwei Komponenten den Ort in der Farbentafel angeben konnten, nicht aber für die dritte) so auch hier die Bestimmung insofern unvollständig, als die X- und Y-Kurven durch beliebige lineare Funktionen von W, und K bzw. w, und K dargestellt werden können. Diejenigen Kurven, die den Verlauf der Reiz- werte für die X- und Y-Komponente ausdrücken, sind daher nur bis zu dem Punkte bestimmbar, wo die K-Werte auftreten. Von da ab können wir nur sagen, daß sie gegeben sind durch diese Werte, vermehrt um einen kleineren oder größeren, den K-Werten proportionalen Betrag. Die Möglichkeit, die Komponenten in de eben dargelegten Weise festzustellen, beruht, wie noch besonders hervorgehoben werden mag, auf der Annahme, daß die dichromatischen Systeme durch den Ausfall einer Komponente entstehen. Rein formell genommen ist dies nur ein spezieller Fall einer sehr viel allgemeiner dar- zustellenden Beziehung. Sind X, Y, Z die Valenzkurven für die drei Komponenten des normalen Sehorgans, so wird ein dichromatisches zu jenem in der Beziehung einer Reduktionsform immer dann stehen, wenn die Valenzen für seine beiden Komponenten zwei ganz. beliebige lineare Funktionen der X-, Y-, Z-Werte sind. Selbstverständlich ist es aber nicht ohne weiteres möglich, derartigen Beziehungen eine so einfache physiologische Unterlage zu geben, wie sie bei jener anderen Auf- fassung in dem Fehlen eines Bestandteiles zu erblicken ist. Bei dieser allgemeineren Auffassung würde natürlich aus der Kenntnis der dichromatischen Systeme irgend ein bestimmter Schluß auf die Komponenten des normalen Sehorgans sich nicht ergeben. Empfindungen der Dichromaten. Unsere bisherige Darstellung hat die dem naiven Bewußtsein’ als die wichtigste erscheinende Frage ganz außer acht gelassen, was oder wie die Dichromaten eigentlich sehen. Es versteht sich von selbst, daß es unmöglich ist, sich durch direkte Mitteilung-oder Beschreibung die Empfindungen ver- anschaulichen zu lassen, die irgend ein anderer beim Betrachten eines be- stimmten Objektes erhält. Auch gegenüber den Versuchen der Dichromaten, die Gesamtheit ihrer Empfindungen in einer subjektiv geordneten Weise dar- zustellen (ähnlich wie wir es im 2.Kap. taten), wird deswegen eine besondere Vorsicht geboten sein, weil sie gezwungen sind, eine Reihe sprachlicher Be- zeichnungen zu verwenden, die für ihre Art des Sehens im Grunde nicht passen. . Im allgemeinen nennen die Dichromaten das gemischte Tageslicht bzw. diejenigen Körper, die dasselbe in nahezu unveränderter Mischung zurück- werfen, ebenso wie wir, weiß oder farblos, die kurzwelligen Lichter blau, die längerwelligen gelb. Auch die Vorstellung einer Sättigungszunahme der einen oder anderen Farbe ist ihnen geläufig. In der Regel aber machen sie doch zwischen Rot und Gelb einen Unterschied; erst der Versuch lehrt, in welchem Umfange sie die beiden Farben verwechseln. Daß, wo der Dichromat von Rot spricht, nur die eine seiner Farbenempfindungen in großer Sättigung vorliege, erscheint wohl denkbar, läßt sich aber aus den Angaben der Dichro- maten selbst nicht so ohne weiteres entnehmen. Eine Vorstellung über das Sehen der Diehromaten ergibt sich daher nur auf Grund irgend einer theoreti- schen Annahme. Ob man an die ursprüngliche Form der Helmholtzschen Theorie die Folgerung knüpfen dürfte oder müßte, daß z. B. der Protanop gemischtes Licht blau-grün sehe, mag dahingestellt bleiben. Eine Drei- komponententheorie in dem .ingeschränkteren Sinne, wie er oben dargelegt Empfindungen der Dichromaten. — Herings Theorie der Farbenblindheit. 165 wurde, führt dagegen in dieser Hinsicht zu keinen bestimmten Folgerungen ; denn es versteht sich nicht von selbst, daß das Fehlen einer Komponente ebenso wirken müsse, wie ihre Nichterregung. Schließen sich an den die Komponenten aufweisenden Abschnitt des Sehorgans anders geartete Teile an, so läßt sich nur vermuten, daß beim Fehlen einer Komponente auch diese und die Art, wie sich ihre Zustände bestimmen, irgend eine tiefergreifende Modifi- kation erfahren haben werden. ‘Welches aber diese sind, wie sich also die in solchen Fällen vorkommenden Empfindungen zu den uns bekannten verhalten, darüber gestattet die Theorie uns keine Vermutung. Dagegen erscheint die Vierfarbentheorie und insbesondere auch die Aus- gestaltung derselben in Herings Theorie der Gegenfarben geeignet, die uns hier interessierenden Fragen direkt zu beantworten. In der Tat ergibt sich aus den Grundvorstellungen ganz naturgemäß die Folgerung, daß den Dichro- maten das eine Paar prinzipaler Farbenbestimmungen, nämlich Rot und Grün, abgehen. Demgemäß wurde dann auch von Hering die Anomalie schlechtweg als Rot-Grünblindheit bezeichnet und als ein Fehlen der rotgrünen Seh- substanz aufgefaßt, wonach die Dichromaten eine mit der unsrigen überein- stimmende Empfindung des Farblosen, daneben Gelb- und Blauempfindung besitzen würden. Wir werden später noch Tatsachen kennen lernen, die es “ wahrscheinlich machen, daß die von den Dichromaten als Weiß bezeichnete Empfindung mit unserm Weiß übereinstimmt. Ist dies der Fall, so kann man es auch wahrscheinlich finden, daß die beiden Farben, die die Dichro- maten sehen, in einer ebenso entgegengesetzten Beziehung zueinander stehen werden wie zwei unserer Gegenfarben und daß sie vielleicht mit unserm Gelb und Blau zu identifizieren sind. Dabei muß dann aber betont werden, daß diese Theorie den Tatsachen insofern nicht gerecht wird, als sie uns den, wie wir sahen, völlig scharfen Unterschied der Protanopen und Deuteranopen nicht verständlich macht. Handelte es sich lediglich um den Ausfall des Rot-Grün-Sinnes, so müßten die Erscheinungen in allen Fällen die gleichen sein. Man würde also gezwungen sein, mindestens bei dem einen Typus der Dichromaten auch in den ihm zukommenden Sehsubstanzen noch eine tief- greifende Änderung gegenüber der Norm anzunehmen, wobei dann wieder schwer begreiflich ist, daß beide Typen sich als Reduktionsformen des nor- malen Farbensystems herausstellen. Die genauere Verfolgung dieser theoreti- schen Probleme bleibt einer späteren Stelle vorbehalten. Hering war ursprünglich der Meinung, daß der Unterschied der beiden Diehromatenarten physikalisch, durch die mehrerwähnte Absorption des kurz- welligen Lichtes in den gelblichen Medien des Auges zu erklären sei. Die Tatsache, daß die einen einem spektralen Rot weit mehr Blau zumischen müssen, als die anderen, um das Gemisch farblos zu sehen, läßt sich hiermit vereinbaren, wenn auch unter der Annahme von Beträgen für jene Absorption, die über das wirklich vorkommende weit hinausgehen dürften. Die oben erwähnte Tatsache, daß der Unterschied der Protanopen und Deuteranopen vor allem gegenüber langwelligen Lichtern sehr beträchtlich und vollkommen scharf und typisch ist, macht diese Er- klärung definitiv unmöglich. Eine direkte Beantwortung der Frage, was ein dichromatisches Auge sieht, würde möglich erscheinen, wenn in derselben Person ein dichromatisches und ein normales farbentüchtiges Auge sich vereinigt findet. Solche Fälle von einseitiger Farbenblindheit sind, wenn sie überhaupt vorkommen, 166 Einseitige Farbenblindheit. — Blaublindheit. überaus selten. In einem von Hippel und von Holmgren!) beobachteten Falle war das eine Auge normal, während das andere rotgrünblind war und sich, wie es scheint, den protanopischen übereinstimmend verhielt. Hier zeigte sich nun, daß in der Tat gemischtes Licht von dem normalen und dem dichromatischen Auge gleich gesehen wurde. Auch das dichromatische liefert also die Empfindung des farblosen Weiß. Ferner entsprach die Empfindung des dichromatischen Auges bei Einwirkung langwelliger Lichter etwa der, in welcher dem normalen Auge ein etwas grünliches Gelb erschien. Hält man es für zulässig sich über diesen letzteren Umstand hin- wegzusetzen, so kann man in dem Verhalten dieses Falles wohl eine Be- stätigung der Anschauung erblicken, daß die Dichromaten die farblose, daneben Gelb- und Blauempfindung besitzen, eine Bestätigung, die freilich sehr an Wert gewinnen würde, wenn wir eine entsprechende Beobachtung auch von einem Fall einseitiger Deuteranopie besäßen und wüßten, ob die dem einen und anderen dichromatischen Auge eigenen Empfindungen wirklich mit demselben Gelb des trichromatischen übereinstimmen. Im ganzen darf man daher wohl sagen, daß die tatsächliche Begründung der mehrerwähnten Annahme, nach der die Diehromaten rot-grün-blind und gelb-blau-sehend sind, eine recht dürftige ist. Im wesentlichen ist sie das Ergebnis einer theore- tischen Anschauung, und ihr Wert läßt sich daher nur im Zusammenhang "mit der ganzen Beurteilung jener Theorie abschätzen. Blaublindheit. Es ist hier der geeignete Ort, um die leider nur spärlichen Tatsachen anzureihen, die zurzeit in bezug auf eine dritte, als Blaublindheit oder Gelb-Blaublindheit bezeichnete Anomalie des Farbensinnes bekannt sind. Eine Anzahl untereinander sehr nahe übereinstimmender, also wohl als typisch zu betrachtender Fälle sind von König untersucht und beschrieben worden ?). Es handelte sich hier durchweg um erworbene, durch verschiedene Netzhaut- erkrankungen bedingte Störungen, die meist einseitig waren und auch nur einen Teil des Gesichtsfeldes betrafen. Die Beobachtung dieser Fälle zeigte erstlich, daß auch hier eine Mischung zweier passend gewählter Lichter ausreichend war, um alle über- haupt vorkommenden Reizarten herzustellen, das Sehen also ein typisch dichromatisches war; ferner daß alle für das farbentüchtige Sehorgan geltenden Gleichheitsbeziehungen auch für die pathologisch affizierten Stellen Gültigkeit besaßen, somit auch das hier vorliegende Farbensystem eine Reduktionsform des normalen trichromatischen genannt werden darf. Gemischtem (unzerlegtem), weißem Lichte gleich wurde ein reimes Gelb etwa von der Wellenläge 566 bis 570 uu gesehen, welche Stelle demnach in ähn- lichem Sinne wie für die wohlbekannten Arten der Dichromaten als neutraler Punkt des Spektrums bezeichnet werden kann. Es geht hieraus hervor, daß die auf das Sehorgan gar nicht wirkende Reizart in der Farbentafel ihren Ort nahe demjenigen des blauen Lichtes haben wird oder, wie wir gleich !) v. Hippel, Arch. f. Ophthalmol. 18 (1880). Ob das farbenblinde Auge typisch protanopisch, insbesondere ob die Anomalie wirklich eine angeborene war, kann auf Grund der damaligen Beobachtungen wohl kaum mit voller Sicherheit beurteilt werden. — ?) Sitzungsber. Akad. Wissenschaft., Berlin 1897, 8. 718. Blaublindheit. 167 hinzufügen können, daß die Erscheinungen, soweit es sich um die Verhält- nisse der Lichtmischung handelt, im Sinne der Helmholtzschen Theorie als Ausfall der dritten Komponente aufzufassen sind und sich in dieser Weise verstehen lassen. Wir können demgemäß von einer Tritanopie sprechen. Der in diesen Fällen mögliche Vergleich mit den Empfindungen des gesunden Auges lehrte, daß, wie in dem erwähnten Fall von einseitiger Protanopie, so auch hier unzerlegtes Licht an den erkrankten Stellen in un- veränderter Weise farblos gesehen wird, demgemäß denn das erwähnte, ihm gleich erscheinende gelbe seine Farbe eingebüßt hat. Lichter von größerer Wellenlänge wurden im allgemeinen rot, die von kleinerer grün oder auch blau genannt. Aus den von König an diesen Personen gewonnenen Mischungsgleichungen kann man auch in rechnerischer Weise entnehmen, daß das hier vorliegende Farben- system eine Reduktionsform des normalen darstellt. Rein theoretisch genommen gestattet die Kenntnis dieses dritten Typus nun auch den Ort der dritten Kompo- nente in der Farbentafel festzulegen und alle drei Valenzkurven genau anzugeben. Von einem Eingehen hierauf möchte ich jedoch mit Rücksicht auf die doch nur beschränkte Genauigkeit der Beobachtungen (es handelt sich eben um mehr oder weniger schwer erkrankte Organe) absehen. Es mag genügen anzuführen, daß ver- mutlich der Ort der dritten Komponente nicht sehr weit von den reinen blauen Lichtern entfernt gelegen sein dürfte, diese also auf die Rot- und Grünkomponente jedenfalls nur schwach einwirken würden. Ob die einer isolierten Tätigkeit dieser Komponente entsprechende Empfindung den Eindruck eines reinen Blau machen oder schon als Violett bezeichnet werden würde, entzieht sich der Beurteilung. Von wesentlich anderer Beschaffenheit war ein anderer Fall, der als ein relativ vollständig beobachteter hier erwähnt werden mag!). Es handelte sich hier um eine beiderseitige Anomalie; gelbes und blaues Licht wurden dem unzerlegten Lichte gleich gesehen und als farblos bezeichnet. Es wurden jedoch auch ziemlich erhebliche Abweichungen gegen Grün oder Rot nicht bemerkt; die Erscheinungen stellen also eine gewisse Annäherung an die totale Farbenblindheit dar. Das Spektrum zeigte dem Gesagten zufolge eine neutrale Zone (im Gelb), andererseits aber erschien auch der ganze brechbarere Teil desselben farblos, dabei in seiner Helligkeit nicht auffällig herabgesetzt, so daß auch keine Ver- kürzung des Spektrums am blauen Ende festzustellen war. Die Literatur enthält außer den angeführten noch eine nicht unbeträchtliche Zahl weiterer als Blaublindheit bzw. Gelb-Blaublindheit beschriebener Fälle. (So z. B. Stilling, Klinische Monatsblätter f. Augenheilk. Beilagehefte zu Jahrg. 13, 1875. Donders, Annales d’oculistique 34, 212. Ein Fall einseitiger Violettblindheit bei Holmgren, Mediz. Zentralblatt 18.) Manche von diesen lassen nach den gemachten Angaben mit Wahrscheinlichkeit vermuten, daß es sich um nichts anderes als die oben beschriebenen Fälle von Rot-Grün- blindheit handelte (so Goethes Akyanoblepsie, wie König gezeigt hat; Verhand- lungen der physiol. Gesellschaft in Berlin 1883, Nr. 15); andere gestatten nach der Art der Beobachtung eine solche Beurteilung überhaupt nicht und lassen es zum mindesten zweifelhaft erscheinen, ob sie zutreffend mit dem erwähnten Namen zu bezeichnen sind. So ist es z. B. schwer ersichtlich, mit welchem Rechte nach der Anweisung Stillings aus der Nichtentzifferung seiner Tafel X (die rote und rotgelbe Flecken enthält) ein Schluß auf Blaublindheit gezogen werden soll. Um was es sich in den nach dieser und ähnlichen Methoden diagnostizierten Fällen gehandelt hat, wage ich nicht zu entscheiden. Von einem Eingehen auf diese Fälle, das sich auch nur in !) v. Vintschgau, Arch. f. d. ges. Physiol. 57, 191 und Hering, ebenda, $. 308. 168 Adaptation des Sehorgans. ziemlich ungewissen Mutmaßungen bewegen könnte, muß hier um so mehr abgesehen werden, da eine Besprechung der Anomalien des Farbensinnes hier überhaupt nur insoweit möglich ist, als sich ein erhebliches physiologisches Interesse daran knüpft. IV. Die Adaptation des Sehorgans. Dämmerungs- und Tages- sehen. Die angeborene totale Farbenblindheit. Die Adaptation des Sehorgans. Schwellenwerte und Empfindlichkeit. Wie schon zu Anfang bemerkt wurde, hängt die Empfindung, die irgend ein Licht hervorruft, nicht bloß von dessen objektiver Beschaffenheit, sondern auch von dem jeweiligen Zustande des perzipierenden Sinnesapparats in sehr ausgiebiger Weise ab. Man kann demgemäß von „Stimmungen“ des Seh- organs sprechen und man findet leicht, daß diese vor allem durch die Tätig- keit des Organs selbst beeinflußt werden. Von den mannigfaltigen Erschei- nungen, die hierher gehören, soll im folgenden Abschnitt zunächst nur eine bestimmte Gruppe behandelt werden, diejenigen nämlich, die eintreten, wenn wir einmal in hell, das andere Mal in sehr schwach oder gar nicht erleuch- teten Räumen verweilen. Man kann dabei annehmen, daß durchschnittlich alle Teile der Netzhaut annähernd übereinstimmend das eine Mal viel, das andere Mal wenig Licht erhalten; wir sehen also von lokalen Unterschieden der Belichtung hier ab. Außerdem kann und soll im folgenden angenommen werden, daß die das Auge treffenden Lichter wenigstens durchschnittlich als annähernd farblos betrachtet werden können. Auch von den erst im sechsten Kapitel zu behandelnden Farbenumstimmungen wird also hier abgesehen. — Schon die tägliche Erfahrung lehrt, daß, wenn wir nach Ver- weilen in hellen Räumen plötzlich in sehr schwach erleuchtete eintreten, wir zunächst gar nichts sehen und wohl meinen können, uns in absoluter Finsternis zu befinden. Allmählich aber „gewöhnt man sich an das Dunkel“; nach einer Reihe von Minuten kann man sich in dem dunkeln Raum leidlich zurecht finden und Objekte, die nicht gar zu fein sind, sehr wohl erkennen. Man nennt diesen Vorgang die Adaptation des Auges, und den durch längeres Verweilen im Dunkel herbeigeführten Zustand den der Dunkel- adaptation. Der entgegengesetzte Vorgang läßt sich ebenso gut beobachten, wenn wir nach längerem Verweilen im Dunkel plötzlich ins Helle treten; die anfängliche Blendung läßt sehr schnell nach, das dunkeladaptierte Auge ist wieder in den Zustand der Helladaptation übergegangen. Diejenige Leistung, die sich zu einer genaueren Verfolgung der Adap- tationswechsel am besten eignet, ist die Wahrnehmung sehr lichtschwacher Objekte. Die geringste Lichtstärke, die man einem Objekte geben muß, damit es überhaupt wahrgenommen werden kann, nennt man, wie bekannt, den Schwellenwert. Diese Werte sind nun zwar, wie an späterer Stelle zu besprechen ist, von mancherlei besonderen Umständen abhängig. Lassen wir in bezug auf diese Nebenbedingungen (Größe des Objektes, Lage im Gesichtsfeld usw.) keine Änderungen eintreten, so zeigt sich leicht und mit großer Regelmäßigkeit, daß mit fortschreitender Dunkeladaptation die Schwellenwerte beständig abnehmen, also immer lichtschwächere Objekte in den Kreis des Wahrnehmbaren fallen. Steigerung der Empfindlichkeit durch Dunkeladaptation. 169 Allerdings ist zu beachten, daß für das, wonach eigentlich die Adaptation ge- messen werden sollte, nämlich die zunehmende Wirksamkeit der Lichtreize, die ab- nehmenden Schwellenwerte keineswegs ohne weiteres quantitativ maßgebend sind. Schwelle ist hier wohl schwerlich derjenige Wert, unterhalb dessen der Reiz auf das ganze Sehorgan gar keine Wirkung ausübt, sondern derjenige Lichtreiz, der einen eben merklichen Unterschied gegenüber dem ohne Reizung bestehenden Verhalten des Seh- organs hervorbringt. Nun ist dieser Zustand selbst in hohem Grade veränderlich und es kommen dabei, namentlich unmittelbar nach dem Aufhören stärkerer Lichtreize, auch die allmählich abklingenden Nachwirkungen der Reize in Betracht (die nicht gerade als lokale positive Nachbilder kenntlich zu sein brauchen). Es ist hiernach möglich, ja sogar sehr wahrscheinlich, daß die Steigerung der Empfindlichkeit auf mehr als ein physiologisches Moment zurückzuführen ist, besonders im ersten Beginn der Verdun- kelung. Aus diesem Grunde sind denn die Angaben, die man für die Änderung der Schwellenwerte erhält, zwar einwandsfrei für die „Empfindlichkeit“ im symptoma- tischen Sinne dieses Wortes zu nehmen, aber nicht ohne weiteres als Maß für die Adaptation. Auch wäre es sehr erwünscht, wenn man Angaben über die Helligkeitsvermehrung überschwelliger Lichter durch die Adaptation erhalten könnte, was freilich auf große Schwierigkeiten stoßen wird. 120000} Fig. 22. 100000} 60000} 40000: 200007 Fr ande, 6 10 RO TEE: ©) 30 WE Steigerung der Empfindlichkeit bei Dunkelaufenthalt (Adaptationskurven) nach Piper für acht ver- schiedene Personen. Den Gang dieser Veränderungen deutlich darzustellen, ist vor Jahren schon mit noch sehr unzuverlässigen Hilfsmitteln von Aubert versucht worden, in jüngster Zeit dann in vollkommenerer Weise von Piper!). Diesem zufolge legt man am besten die den Schwellenwerten umgekehrt proportional zu setzende „Empfindlichkeit“ des Sehorgans der Darstellung zugrunde. Die der Arbeit Pipers entnommenen, in Fig. 22 dargestellten Kurven zeigen die allmählich zunehmende Empfindlichkeit für acht ver- schiedene Personen. Man erkennt, daß sie vom Beginn des Dunkelaufent- !) Zeitschr. £. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 31, 161. 80 170 Verlauf der Adaptation. — Adaptationskurven. haltes an zuerst nur langsam, dann etwa von der zehnten bis zwölften Minute an sehr viel schneller, dann allmählich wieder langsamer zunimmt. In der Regel ist nach einer halben, selbst nach einer ganzen Stunde noch eine weitere, wenn auch nur geringfügige Steigerung zu bemerken. Je nach den spezielleren Bedingungen können solche Adaptationskurven zwar mehr oder weniger verschieden aussehen; die eben hervorgehobenen Eigentümlichkeiten zeigen sie aber in immer gleicher Weise. Ebenso ist auch der Gang der Adap- tation bei allen Personen ein ganz ähnlicher. Erheblich verschieden sind jedoch die Empfindlichkeitswerte, die von verschiedenen Personen als äußerste erreicht werden. Es spricht sich darin die aus der täglichen Erfahrung bekannte Tat- sache aus, daß die Fähigkeit des Sehens in sehr schwachem Lichte verschie- denen Personen in sehr ungleichem Maße zukommt (auch unter Ausschluß aller derjenigen, bei denen man etwa von einer pathologischen Hemeralopie reden könnte). — Die Steigerung, die die Leistungsfähigkeit des Sehorgans durch die Adaptation erfährt, ist jedenfalls eine ganz gewaltige; sie durch einen be- stimmten Zahlenwert zu fixieren, ist freilich nicht ohne weiteres möglich. Piper fand eine Vermehrung der absoluten Empfindlichkeit auf das 1400- bis 8000- fache. Doch ist zu berücksichtigen, daß diese Werte, wie oben schon erwähnt, von der Objektgröße und Lichtart in hohem Maße abhängen (die erwähnten Zahlen beziehen sich auf Quadrate von 18° Seite und elektrisches Glühlicht) ; sodann auch, daß es sehr schwierig ist, ein Mindestmaß der Empfindlichkeit für äußerste Helladaptation zu fixieren, und endlich, daß die oben erwähnte Unsicherheit der physiologischen Deutung um so mehr ins Gewicht fällt, je kürzere Zeit seit dem Aufhören der die Helladaptation bewirkenden Lichtreize verstrichen ist. Übrigens ergeben Pipers Zahlen eine Steigerung auf mehr als das Tausendfache auch dann, wenn man die nach etwa drei Minuten Dunkel-. aufenthalt bestehenden Empfindlichkeiten zum Ausgang nimmt. Über die um- gekehrte Veränderung, die Helladaptation, sind Beobachtungen ähnlicher Art nicht wohl anzustellen; es versteht sich von selbst, daß sie je nach der Stärke der einwirkenden Lichter sehr verschieden ausfallen wird. Leicht ist aber zu bemerken, daß sie auch bei Lichtern mäßiger Stärke viel schneller ab- läuft, als die Dunkeladaptation und daß das Sehorgan meist schon nach wenigen Minuten einen annähernd definitiven Zustand erreicht. Über die Abhängigkeit des Ganges der Dunkeladaptation von einer Reihe von Umständen (Stärke der vorausgegangenen Belichtung, Wiederholung der Adaptationswechsel usw.) sind eine Anzahl von Angaben früher gemacht worden, während Piper von derartigen Einflüssen nichts bemerken konnte. Ihm zufolge kann allerdings (wie selbstverständlich) in dem Augenblick, wo die Verdunkelung beginnt, das Auge sich in sehr verschiedenen Zuständen befinden, je nach der Helligkeit, der es vorher ausgesetzt war; der Gang der bei Lichtabschluß eintretenden Veränderung ist aber von jedem bestimmten Adaptationsgrade ab immer der gleiche; man erhält also immer ‚ dieselben Adaptationskurven, nur je nach Um- ständen unter Fortfall kleinerer oder größerer Anfangsstücke. Örtliche Unterschiede der Empfindlichkeit im dunkel- adaptierten Auge. Neben dem zeitlichen Gang der Adaptation müssen wir an zweiter Stelle die großen lokalen Unterschiede beachten, die die Erscheinung dar- bietet. Am leichtesten ist bemerkbar, daß im gut dunkeladaptierten Örtliche Unterschiede. — Hemeralopie des Netzhautzentrums. 171 Auge die Empfindlichkeit des Netzhautzentrums eine weit gerin- gere ist als die der mehr oder weniger exzentrischen Partien, Man kann sich hiervon durch einfache, in vieler Hinsicht besonders merk- würdige Versuche leicht überzeugen. Man betrachte im Dunkelzimmer und bei gut dunkeladaptiertem Auge eine Anzahl (am besten weißer oder blauer) Papierschnitzel, die man auf einem Grunde von schwarzem Samt befestigt hat, und die mittels eines regulierbaren Gasflämmchens oder dergleichen be- leuchtet werden. Richtet man die Beleuchtung so ein, daß die Papier- schnitzel bei gewöhnlicher Betrachtung mit wanderndem Blick eben deutlich _ erkennbar sind, so bemerkt man, daß, sobald man einem derselben den Blick direkt zuwendet, es überhaupt unsichtbar wird. Bei einiger Übung gelingt es, das eine oder andere der Objekte in dieser Weise durch direkte Fixation zum Verschwinden zu bringen. Man gibt hier zweckmäßig den Objekten eine Winkelgröße von etwa 0,25 bis 0,5%. Je besser das. Auge dunkeladap- tiert ist, um so heller erscheinen die Objekte exzentrisch bei Beleuchtungen, in denen sie zentral noch sicher unsichtbar sind. Die Erscheinung ist um so beachtenswerter, als die Stelle des deutlichsten Sehens, die in allen son- stigen Beziehungen den exzentrischen Teilen so weit überlegen ist, hier eine starke Unterwertigkeit erkennen läßt; man kann in der Tat sagen, daß das Netzhautzentrum eine physiologische Hemeralopie darbietet. Einen genaueren Einblick erhält man, wenn man die Schwellenwerte für direkt fixierte und für zunehmend exzentrisch gelegene Objekte ermittelt. - Wenn man auf Grund solcher Beobachtungen die vom Zentrum gegen die Peripherie hin zunehmende Empfindlichkeit darstellen will, so muß man frei- lich berücksichtigen, daß die Schwellenwerte zentral und peripher in ver- schiedener Weise von der Objektgröße abhängen. Jeder solchen Darstellung haftet also wegen der Wahl einer bestimmten Objektgröße eine gewisse Will- kürlichkeit an. Indessen wird durch diese Umstände nur das Maß, nicht aber die Art der Erscheinung beeinflußt, so daß sie zunächst außer Betracht bleiben dürfen. Ebenso wird erst an späterer Stelle zu berühren sein, wie sich diese Verhältnisse für verschiedene Lichter gestalten. Hier genügt die Darstellung für Objekte einer bestimmten Größe und Lichtart. Die Ergeb- nisse derartiger Versuche!) für bläulich-weiße Objekte von 0,350 Durchmesser sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt 2). Sie führt im ersten Stabe | | Breite des Ver- Empfindlichkeit Temporaler Abstand | Nasaler Abstand schwindungsbezirks in Graden | in Graden in Graden 1 1,07 | 0,85 1,92 1,78 1,22 | 1,06 2,28 7,12 1,70 | 1,38 3,08 16,02 2,3 | 1,92 4,22 28,48 3,0 | 2,58 5,58 44,50 3,75 3,33 7,08 64,08 4,04 4,04 8,08 !) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 15, 327. Hinsichtlich der Methodik und einiger Vorsichtsmaßregeln, die namentlich die Ermittelung der Schwellenwerte für das Zentrum erfordert, sei auf diese Abhandlung verwiesen. — 2) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 15, 335. 172 Empfindlichkeit verschiedener Netzhautstellen. — Dämmerungssehen. die Empfindlichkeiten, im zweiten und dritten die (nasalen und temporalen) Abstände an, in welchen dieselben gefunden werden, im vierten die Größe des ganzen unterhalb der betr. Empfindlichkeit bleibenden Bezirks. In graphischer Darstellung veranschaulicht die Fig. 23 die gleichen Zahlen. Man sieht, daß die Empfindlichkeit mit zunehmender Exzentrizität Fig. 28. bis zu 40 jederseits rapide ansteigt; mit noch größeren a n Exzentrizitäten nimmt, wie Sn durch andere Versuche ge- Pr / zeigt wurde, die Empfind- x 7 lichkeit nur noch langsam 40 \ 7 zu und dann wieder ab; in R \ Bl FiER: den von mir mitgeteilten Ver- Bo a suchen der Herren Breuer Pr JA und Pertz scheint sie ihre \ 7 höchsten Werte bei etwa 10 . \ y bis 20° zu besitzen. F Um die lokalen Unter- 4° 62 &4 7 o 7 54 3 %? schiede in B Empfindlichkeit für gemischtes (bläulich-weißes) Licht in der ; 2 der edeutung der Fovea centralis und ihrer näheren Umgebung. Links tem- Adaptation zu beurteilen, porales, rechts nasales Gesichtsfeld, “ muß man zu diesen Tat- sachen die andere hinzufügen, daß im Zustande der Helladaptation die Schwellenwerte zentral und peripher nahezu- übereinstimmend gefunden - werden, eher wohl das Zentrum die höhere Empfindlichkeit zeigt. Daraus folgt also, daß die durch Dunkeladaptation bewirkte Steigerung der Empfindlichkeit in den exzentrischen Teilen von sehr hohem Betrage ist, gegen das Zentrum hin aber immer kleiner wird, und in diesem selbst auf einen relativ geringen Betrag redu- ziert wird!). Das Sehen des dunkeladaptierten Auges. Dämmerungssehen. Eine Reihe wichtiger Tatsachen finden wir, wenn wir die Sehweise eines dunkeladaptierten Auges des genaueren prüfen und zwar unter den- selben Gesichtspunkten, denen wir in den früheren Abschnitten bei der Dar- stellung der Gesetze der Lichtmischung gefolgt waren. Daß jene Gesetze nur unter gewissen besonderen Voraussetzungen streng gültig sind, wurde oben schon angedeutet. Es zeigt sich nun, daß Abweichungen von ihnen vor allem durch die Einmischung der Adaptationsveränderungen bedingt werden, Abweichungen, die keineswegs unerheblich sind und unter Um- ständen, so z. B. beim Dichromaten, sogar so groß werden können, daß jene Gesetze auf den ersten Blick vollkommen wert- und bedeutungslos erscheinen können. Um in die auf den ersten Blick verwirrende Mannigfaltigkeit dieser Erscheinungen eine gewisse Ordnung zu bringen, empfiehlt es sich am mei- sten, zunächst eine Art des Sehens ins Auge zu fassen, die sich in mehrfacher Weise als eine besondere und wohl charakterisierte herausstellt. Am besten !) Auf die Frage der Empfindlichkeitszunahme im zentralen Bezirk wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Dämmerungs- und Tagessehen. — Das lichtschwache Spektrum. 173 ist diese Art des Sehens zu beobachten, wenn man seit längerer Zeit in sehr schwach erleuchteten Räumen verweilt. Unter diesen Umständen ist einer- seits das Auge in einem Zustande, wenn nicht äußerster, doch hochgradiger Dunkeladaptation. Andererseits sind die auf dasselbe einwirkenden Lichter durchweg von nur geringer Stärke. Die Erfahrung lehrt nun zunächst, daß unter solchen Umständen keine Farben unterschieden werden; alle Gegen- stände, sie mögen sonst aussehen, wie sie wollen, erscheinen uns nur heller oder dunkler grau. Das Sehorgan funktioniert als ein total farben- blindes. Wir können diese Art des Sehens ein Dämmerungssehen . nennen, und ich will im Gegensatze dazu dasjenige Sehen, welches in gut erleuchteten Räumen stattfindet, als Tagessehen bezeichnen. Entsprechend sollen im folgenden Lichter und Lichtgemische, die unter den einen oder anderen Bedingungen gleich erscheinen, kurz tages- resp. dämmerungs- gleich genannt, ebenso auch von Tages- oder Dämmerungsgleichungen gesprochen werden. Die Gründe, die es rechtfertigen, hier zwei wesentlich verschiedene Arten des Sehens anzunehmen, ebenso auch die genauere Fest- stellung der Bedingungen, an die die eine und die andere Funktion des Seh- organs geknüpft ist, können natürlich erst im folgenden klargelegt werden. Einstweilen genügt es, festzuhalten, daß das Tagessehen eine Art des Sehens darstellt, die bei helladaptiertem Auge und relativ hohen Intensitäten der einwirkenden Lichter stattfindet, während das Dämmerungssehen bei Dunkel- adaptation und geringen Lichtstärken (genauer gesagt, solchen, die noch keine Farbenunterscheidung möglich machen) zu beobachten ist. Die ganze Darstellung des ersten Kapitels gilt, wie wir hier ergänzend hinzufügen müssen, eigentlich den Erscheinungen des Tagessehens. Über sie ist daher hier etwas weiteres nicht hinzuzufügen. Dagegen müssen wir das Däm- merungssehen hier des genaueren beschreiben. Der demselben eigentümliche Mangel der Farbenunterscheidung- findet seinen prägnantesten Ausdruck in der Erscheinung eines unter den geeigneten Bedingungen betrachteten Spektrums. Ein solches, in geringer absoluter Lichtstärke dargestellt, und mit gut dunkeladaptiertem Auge betrachtet, erscheint als heller, aber farb- loser Streifen. Andererseits bestätigen die Versuche im einzelnen, daß zwi- schen zwei ganz beliebigen homogenen Lichtern oder Lichtgemischen stets vollkommene Gleichungen erzielt werden können, indem man lediglich ihre Stärke in passender Weise abstuft. Es existiert daher nur eine einzige Reizart. Die Aufgabe einer detaillierten Ermittelung darüber, unter welchen Bedingungen zwei Lichter gleich erscheinen, reduziert sich auf die Fest- stellung derjenigen Reizwerte, die in einem bestimmten Spektrum den ver- schiedenen Lichtern zukommen, oder, wie man es kurz ausdrücken kann, auf die Helligkeitsverteilung in dem (unter den Bedingungen des Dämmerungs- sehens farblosen) Spektrum. Ich habe diese Helligkeiten als die Däm- merungswerte der verschiedenen Lichter bezeichnet. Eine Bestimmung derselben ist zuerst von Hering und Hillebrand!) für das Dispersions- spektrum des Tageslichts gegeben worden (allerdings noch unter ganz anderen Voraussetzungen). Schon in ihren Ergebnissen trat eine auffällige, durch alle späteren Untersuchungen vollkommen bestätigte Eigentümlichkeit !) Sitzungsber. d. Wiener Akad., math.-naturw. Kl. 98, 70, 1889. 174 Verteilung der Dämmerungswerte im Spektrum. der Dämmerungswerte hervor, daß nämlich ihr Maximum, das die hellste Stelle im Spektrum anzeigt, überraschend gegen das kurzwellige Ende ge- schoben ist und jedenfalls merklich blauwärts von demjenigen Punkte liegt, an dem bei gewöhnlicher Betrachtung das Spektrum seine größte Helligkeit ‘zu haben scheint. In der Tat kann dieser, wie später noch genauer zu besprechen ist, etwa auf die Wellenlänge 580 uu gesetzt werden; hier liegt das Maximum der Dämmerungswerte etwa bei 529 uu. Aus den zahlreichen Bestimmungen ähnlicher Art, die in späterer Zeit teils im Königschen, teils in meinem Institut gemacht worden sind, teile ich die nachstehenden Tabellen mit: Prismatisches Spektrum. Spektraler Ort der Dämmerungs- Spektraler Ort der Dämmerungs- homogenen Lichter werte. homogenen Lichter werte. Li, = 0 Gaslicht Li, = Gaslicht 0 (670,8 uu) 18,0 11 (529,3 au) 2736,0 1 (651,8) 36,5 12 (522,3) 2532,3 2 (684,3) 83,3 13 (515,4) 2219,3 3 (618,1) 2169 14 (508,7) - .1944,0 4 (603,1) 423,2 15 (502,2) 1475,8 5 (589,3) 881,7 17 (490,0) 1016,0 8. (877,0) 1424,9 19 (478,6) 633,0 7 (566,4) 2110,7 21 (468,0) 364,5 8 (556,0) 2609,7 23 (458,7) 208,8 9 (546,0) 2899,0 25 (451,1) 111,2 10 (537,2) 3000,0 27 (443,9) 69,6 Spektraler Ort der Dämmerungs- Spektraler Ort der Dämmerungs- homogenen Lichter werte. homogenen Lichter werte. L,=0 Sonnenlicht L,= 0 Sonnenlicht 0 (670,8 uu) 5. 12 (522,3 uu) 3067,0 1 (651,8) 10,5 13 (515,4) 2833,0 2 (634,3) 33,3 15 (502,2) 2460,0 3 (618,1) 86,3 17 (490,0) 1935,0 4 (603,1) 214,4 19 (478,6) 1205,0 5 (589,3) 459,0 21 (468,0) 945,0 6 (577,1) 752,0 23 _ (458,7) 658,0 7 (566,4) 1535,0 25 (451,1) 399,0 8 (556,0) 1933,0 27 (443,8) 212,0 9 (546,0) 2546,0 29 (437,0) 112,0 10 (537,2) 3000,0 31 _ (430,4) 46,0 11 (529,3) 3358,0 Sie zeigen die Verteilung der Dämmerungswerte im prismatischen Spek- trum des Gas- und des Sonnenlichtes, und zwar nach den Beobachtungen von Verschiebung des Helligkeitsmaximums. 175 Dr. Schaternikoff, die ich für die genauesten halten möchte!). Fig. 24 zeigt die auf das Gaslicht bezüglichen Ergebnisse in der gebräuchlichen gra- phischen Darstellung. Es muß dabei bemerkt werden, daß die Genauigkeit der Beobachtungen hier keine so große sein kann wie bei gewöhnlichen photometrischen Untersuchungen, weil einerseits die sehr weitgehende Schwächung der Lichter, die hier erforderlich wird, eine gewisse methodische Unsicherheit involviert, anderseits auch die Herstellung der Gleichheit zweier Felder bei den geringen Helligkeitsstufen, die hier meist eingehalten werden müssen, eine nur beschränkte Genauigkeit erreicht?2). Wie man sieht, haben Fig. 24. 300, 280, 2607 2407 220} 2007 J80r 160, 1407 220} 2007 307 cr 40 - 207 en REIT IHEE EIS HARD E TüRtereatereirt Verteilung der Dämmerungswerte im prismatischen Spektrum des Gaslichtes [6 Schaternikoff). die Dämmerungswerte im prismatischen Spektrum des Gaslichtes ihren höchsten Wert etwa bei 537 uu; in dem des Sonnen- oder Tageslichtes liegt der Gipfel bei 529uu. Die Kurve der Dämmerungswerte fällt dann gegen das blaue Spektralende relativ langsam, gegen das rote sehr steil ab. Der außerordentlich geringe Dämmerungswert der roten Lichter kommt direkt auch darin zur Erscheinung, daß bei der oben erwähnten Beobachtung des lichtschwachen Spektrums die langwelligen Lichter gar nicht wahrgenommen, das Spektrum am roten Ende verkürzt gesehen wird. — Die Abhängigkeit der Dämmerungswerte von der Wellenlänge ist, wie wir hinzufügen können, so- weit bekannt, für alle Personen mit größter Annäherung dieselbe. Aus- gedehnte Untersuchungen an normalen und anomalen Trichromaten, Prota- nopen und Deuteranopen, sowie total Farbenblinden haben stets fast genau die gleichen Ergebnisse geliefert. Wir kennen, wie vorhin schon erwähnt, Fälle von sogenannter Hemeralopie, in denen die Fähigkeit, in schwachem Licht zu sehen, überhaupt infolge einer angeborenen oder erworbenen Ano- !) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 29, 255. — ?) Vgl. über die hier angewandte Methodik und die in Betracht zu ziehenden Fehlerquellen außer der angeführten Abhandlung von Schaternikoff auch Zeitschr. f. Psychol. 12, 33 £. 176 Kombinierte Sehweisen. — Purkinjesches Phänomen. malie mangelt; dagegen ist bis jetzt kein Fall bekannt geworden, in dem jemand ein normales Vermögen, in schwachem Licht zu sehen, besessen, dabei aber die verschiedenen Lichter in anderen Helligkeitsverhältnissen als den oben geschilderten wahrgenommen hätte !). Unterschiede des Dämmerungs- und Tagessehens. Purkinjesches Phänomen. Eine große Zahl zum Teil sehr eigenartiger und merkwürdiger Erschei- nungen beruht nun auf den großen Unterschieden, die das Dämmerungssehen gegenüber dem unter gewöhnlichen Bedingungen stattfindenden darbietet, und auf dem Umstande, daß zwischen beiden, ganz allgemein gesprochen, die mannigfaltigsten Kombinationen und Übergänge stattfinden können. Ich will diese Erscheinungen zunächst für einen besonderen Fall schildern, an dem sie seit langer Zeit bekannt sind. Es wurde schon oben auf die relativ sehr geringen Dämmerungswerte der langwelligen Lichter hingewiesen. Nun besitzen wir unter gewöhnlichen Bedingungen eine zwar nur ziemlich un- genaue, aber doch approximative Vergleichung für die Helligkeit verschieden- farbiger Lichter. Im Dispersionsspektrum des Gaslichtes erscheint das rote Licht (670 uu) viel heller als das blaue (480 uu) (etwa 10fach). Der Dämmerungswert des roten Lichtes ist dagegen weniger als !/,; von dem des blauen; Lichter verschiedener Wellenlänge, die uns, farbig gesehen, den Eindruck gleicher Helligkeit machen, sind also im allgemeinen nicht von gleichem Dämmerungswert; vielmehr ist dieser für das kurzwellige Licht größer. Auf diesem Umstande beruht nun die bekannteste Erscheinung, die beim Übergang vom Tages- zum Dämmerungssehen beobachtet werden kann. Sie besteht darin, daß bei sinkender Beleuchtung das Helligkeitsverhältnis verschiedenfarbiger Objekte sich allmählich zugunsten der kurzwelligen und zuungunsten der langwelligen Farben verschiebt, bei sehr schwach gewor- denem Licht schließlich die blauen Objekte noch relativ hell, die roten fast schwarz erscheinen. Diese Tatsache ist zuerst von Purkinje beobachtet, dann von Dove und Helmholtz bestätigt, in neuerer Zeit unter dem Namen des Purkinjeschen Phänomens sehr vielfach und eingehend untersucht worden. Für eine richtige Auffassung desselben ist wichtig, daß, wie Hering?) zeigte, mit der Verschiebung der Helligkeitsverhältnisse stets auch eine qualitative Veränderung des Aussehens einhergeht, so nämlich, daß die blauen Farben sehr stark, die roten viel weniger abblassen. Bei sinkender Beleuchtung und entsprechender Dunkeladaptation geht also die dem Tages- sehen entsprechende Empfindung in diejenige über, die dem Dämmerungs- sehen charakteristisch ist (Mangel der Farbe, Übergewicht der Helligkeit in den kurzwelligen Lichtern). Noch bemerkenswerter als der ungleiche Dämmerungswert verschieden- farbiger, im Tagessehen für etwa gleich hell erachteter Lichter ist es nun aber, daß auch Lichter, die, unter gewöhnlichen Umständen gesehen, voll- kommen gleich erscheinen, mehr oder weniger ungleiche Dämmerungs- !) Auszunehmen ist hier vielleicht nur ein in den verschiedensten Beziehungen rätselhafter Fall, den Rählmann beschrieben hat. Zeitschr. f. Augenheilk. 2, 315 u. 403. — ?) Arch. f. d. ges. Physiol. 60, 516, 1895. Purkinjesches Phänomen bei gleichfarbigen Lichtern. 177 werte besitzen können. Da diese Ercheinungen zu den eben geschilderten in der nächsten Beziehung stehen, so habe ich auch sie (mit einer Erweite- rung des Begriffs) unter den Namen des Purkinjeschen Phänomens ein- bezogen; man kann somit von einem Purkinjeschen Phänomen bei gleich- farbigen (ev. auch bei farblosen) Lichtern reden und darunter die Tatsache verstehen, daß Lichter, die unter den Bedingungen des Tagessehens gleich erscheinen, ungleiche Dämmerungswerte besitzen und demgemäß ihre Gleich- heit mehr und mehr einbüßen, wenn von jenen zu diesen Verhältnissen all- mählich übergegangen wird. Die ersten!) Beobachtungen, in denen ein- solches, wie wir sehen werden, theoretisch überaus wichtiges Verhalten bemerkt wurde, rühren von Ebbinghaus?) und Chr. Ladd-Franklin 3) her, die unabhängig und nahezu gleichzeitig fanden, daß ein aus Rot und Blaugrün, ein aus Gelb und Blau, endlich ein aus Grüngelb und Violett gemischtes Weiß bei proportionaler Abschwächung sich in ungleichem Maße verdunkeln, das erstgenannte Gemisch am wenigsten, das zweite stärker, das dritte am stärksten. Die Richtigkeit dieser Angaben konnte ich (unter Ein- haltung gewisser noch zu berührender Vorsichtsmaßregeln) bestätigen, ebenso wie auch (im Anschluß an die früheren Mitteilungen Alberts®) feststellen, daß ein aus Rot und Grün gemischtes Gelb, welches einem homogenen Gelb tagesgleich ist, unter den Bedingungen des Dämmerungs- sehens blasser und heller erscheint als dieses. Die Dämmerungswerte von tagesgleichen binären Weißgemischen wurden später für eine größere Reihe komplementärer Kombinationen von König’) systematisch geprüft, wobei die erwähnten Ergebnisse sich gleichfalls in vollem Maße bestätigten. — In ähnlicher Weise, jedoch quantitativ viel beträchtlicher, kommen die gleichen Erscheinungen bei den dichromatischen Farbensystemen zur Beobachtung. Schon bei den ersten systematischen Bestimmungen, die unter der Leitung von König) ausgeführt wurden, stellte sich heraus, daß die Aichungen bei verschiedenen absoluten Intensitäten in auffälligster Weise ungleich aus- fielen. In den von Nagel und mir angestellten Versuchen’) wurden dann die Beobachtungen (auch unter Berücksichtigung des Adaptationszustandes)- einmal unter den Bedingungen des Tagessehens, sodann unter den Bedin- gungen des Dämmerungssehens ausgeführt, und der Vergleich lehrte direkt, in welchem Maße „tagesgleiche“ Lichtgemische sich in bezug auf ihre Dämmerungswerte unterscheiden können. Die nachstehende Tabelle enthält die Ergebnisse. Man findet, daß ein etwa farblos erscheinendes homogenes Blaugrün etwa einen sechs- bis siebenfach höheren Dämmerungswert besitzt als das ihm tagesgleiche Gemisch aus Rot und Blau. Den größten Unterschied zeigen homogene rote Lichter gegenüber grüngelben. Die letzteren geben bis zu Wellenlängen von 544 uu herab mit langwelligem Rot noch voll- !) Als ein vereinzelter hierher gehörender Befund ist übrigens im Grunde schon die Angabe Alberts anzuführen (Wiedemanns Ann. 16, 129, 1882), daß ein homogenes Gelb einerseits, ein aus rotem und grünem Licht, gemischtes anderseits bei Abschwächung ihr Aussehen nicht übereinstimmend verändern, was in der Tat ganz richtig ist. — ?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 5 (1893). — *) Nature 48, 517. — *) A. a. 0. — °) Sitzungsber. Akad. Wissensch. Berlin 1896, S. 945 £. — °) Ebenda 1887, 8. 311; Brodhun, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 5, 323; Tonn, ebenda 7, 279. — ?) Ebenda 12, 1 £. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 12 178 Purkinjesches Phänomen bei Dichromaten. kommen genaue Tagesgleichungen; dabei ist der Dämmerungswert des Grün- gelb mehr als 100fach größer als der des tagesgleichen Rot (642 uu). Vergleich der Dämmerungswerte der homogenen Lichter und der helläquivalenten Mischungen aus Rot (642) und Blau (460,8 uu) für einen Deuteranopen. Spektraler | Dämme- Dämme- Dämme- Ganzer Dose Ort der rungswert | fFungswert | rungswert Dämme- |wertes des homo- aa dis genen Lichtes homogenen des rungswert |zu dem des hell- Lichter. homogenen Rotanteiles | Blauanteiles des Ge- argene 5 A Lichtes d,, im-Demakdoh misches d, Gemisches 7, 1 (656) 19,3 22,2 _ 22,2 0,9 2 (642) 36 36 _ 36 1 3 (628) 110 53 = 53 2,1 4 (615) 254 63 = 63 4,0 5 (603) 276 70 _ 70 3,9 6 (591) 599 64 _ 64 9,2 7 (581) 1276 57 _ 57 22 8 (571) 2061 47 — 47 ++ 9 (561) 2477 38 —_ 38 65 10 (552) 2930 30 _ 30 98 11 (544) 3027 24 — 24 126 12 (536) 2820 19 14 33 85 13,5 (525) 2055 12 26 38 54 15 (515) 1576 7, 61 68 23 16,5 (505) 1015 3,6 78 82 12 18 (496) 697 1,7 104 106 6,6 19,5 (488) 486 0,8 134 135 3,6 21 (480) 318 0,4 139 139 2,3 23 (469) 263 0,1 152 152 17 24,7 (460,8) 146 _ 146 146 1,0 28 (448) 46 Ze 91 91 0,5 31 (4836) 17 — 37 37 0,46 Ähnlich, wenn auch nicht ganz so gewaltig sind die Erscheinungen für das protanopische Sehorgan !). In nicht minder prägnanter Weise wie für die dichromatischen Seh- organe tritt endlich die Dämmerungsungleichheit tagesgleicher Lichter für die äußersten Peripherieteile, sei es trichromatischer, sei es diehromatischer Augen hervor. Wie wir hier vorgreifend erwähnen müssen, werden unter gewissen Bedingungen an den Randteilen namentlich des nasalen Gesichts- feldes alle Lichter farblos gesehen; die Helligkeitswerte, die hier verschie- denen Lichtern zukommen, lassen sich in der unten geschilderten Weise gut bestimmen. Ermittelt man nun diese bei gut hell adaptiertem Auge, so erhält man Werte, die ich als Peripheriewerte bezeichnet habe; und es zeigt sich, daß deren Abhängigkeit von der Wellenlänge oder ihre Ver- ') Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 13, 296. Purkinjesches Phänomen auf der Netzhautperipherie. 179 teilung im Spektrum eine völlig andere ist als diejenige der Dämmerungs- werte; sie entspricht vielmehr annähernd den auch unter gewöhnlichen Um- ständen, bei Wahrnehmung der Farben, empfundenen Helligkeiten. Es zeigt sich somit, daß auch auf der Netzhautperipherie Lichterpaare, die bei hoher Intensität und Helladaptation vollkommen gleich erscheinen, sehr ungleiche Dämmerungswerte besitzen können. Auch von dieser wichtigen Tatsache kann man sich mit sehr einfachen Hilfs- mitteln eine recht gute Anschauung verschaffen. „Man befestige Schnitzel eines roten Papieres auf grauen Papieren, die man zunehmend dunkler wählt, und wird alsbald eines finden, auf dem das Rot, wenn man es in voller Tagesbeleuchtung vor- sichtig von der nasalen Seite ins Gesichtsfeld schiebt (natürlich bei genügend auswärts gewandtem Blick) hell, dabei zunächst vollkommen farblos erscheint. Betrachtet man das gleiche Papier bei sehr schwachem Licht und guter Dunkeladaptation, so erscheint das rote Schnitzel als dunkler Fleck“ (Physiol. Zentralblatt 10, 748). Da beim Tagessehen vorzugsweise mit der gelb gefärbten Stelle des deut- lichsten Sehens, beim Dämmerungssehen dagegen mit parazentralen Stellen beobachtet wird, so kann die Frage entstehen, ob die Unterschiede der Tages- und Dämmerungsgleichheit etwa auf die Absorption in jenem Pigment zurückgeführt werden kann. In der Tat hat Hering (Arch. f. d. ges. Physiol. 54, 177) eine Zeit- lang die Meinung vertreten, daß alle Unterschiede jener Art lediglich durch den erwähnten Umstand vorgetäuscht seien. Gegenüber den jetzt bekannten Tat- sachen kann diese Anschauung nicht mehr in Frage kommen, da z. B. die Peri- pheriebeobachtungen hiervon naturgemäß ganz unabhängig sind; auch die Dämme- rungsungleichheit eines tagesgleichen roten und grüngelben Lichtes (beim Dichro- maten) schließt eine derartige Erklärung aus. Isolierung des Dämmerungssehens. Schwellen des Tagessehen». Wir können die obigen Tatsachen dahin zusammenfassen, daß tages- gleiche Lichter ungemein verschiedene Dämmerungswerte besitzen können, oder daß die Funktionsweise des Sehorgans in bezug auf die Äquivalenz- verhältnisse verschiedener Lichter eine sehr wechselnde ist, da wir durch passende Wahl des Adaptationszustandes und der Lichtstärken zwischen beiden Arten des Sehens alle möglichen Übergänge herstellen können. Für die genauere Auffassung der Verhältnisse ist es nun von Bedeutung, daß und unter welchen Bedingungen wir zwei extreme Verhaltungsweisen, die man als typisches Dämmerungs- und typisches Tagessehen bezeichnen darf, in reiner Isolierung herstellen können. Das Dämmerungssehen kann, wie oben erwähnt, am besten bei dunkeladaptiertem Auge und geringen Licht- stärken beobachtet werden. Die Bedeutung dieser beiden Bedingungen ist nun aber eine sehr verschiedene. Man überzeugt sich nämlich leicht, daß die charakteristische Eigentümlichkeit des Dämmerungssehens (farbloses Sehen in der bestimmten, die kurzwelligen Lichter bevorzugenden Helligkeitsvertei- lung) keineswegs etwa an eine besonders hochgradige Dunkeladaptation gebunden ist. Vielmehr lehren schon flüchtige Bestimmungen der Dämme- rungswerte, daß man bei geringer und bei ‘hochgradiger Dunkeladaptation immer dieselben Werte für das Verhältnis verschiedener Lichter erhält, so- bald nur die Lichtstärken so niedrig gehalten werden, daß alle Farbenunterschiede verschwinden und demgemäß zwischen verschie- denen Lichtern vollkommene Gleichungen erhalten werden können. Genauer geprüft wurde dies Verhalten von Stegmann (Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 25, 226); er verglich die Dämmerungswerte eines lang- 12* 180 Bedingungen des reinen Dämmerungssehens. — Schwellen des Tagessehens. und eines kurzwelligen Lichtes einerseits bei hochgradigster und anderseits bei der geringsten Dunkeladaptation, die eine solche Bestimmung noch gestattete. Es zeigte sich, daß das Verhältnis sich ein wenig ändert; doch sind die Änderungen relativ geringfügig und sie sind überdies in dem Sinne, daß das Übergewicht der kurz- welligen Lichter nicht etwa zu-, sondern ein wenig abnimmt (also nicht im Sinne des Purkinjeschen Phänomens, sondern im entgegengesetzten). Hieraus geht hervor, daß es nicht angängig ist, in dem Übergang vom Tages- zum Dümmerungssehen den Ausdruck einer bestimmten mit der Adaptation verknüpften Änderung des Sehorgans zu erblicken. Vielmehr kann bei den verschiedensten Adaptationszuständen das Dämmerungssehen in seiner typischen Form beobachtet werden. Maßgebend hierfür ist, daß die Lichtreize unter einer gewissen Stärke bleiben, die wir demgemäß als den Schwellenwert des Tagessehens bezeichnen können. Die Adapta- tion ist aber insofern von großer Bedeutung, als es von ihr abhängt, wie starke Erfolge von den unter jener Grenze bleibenden Lichtern erzielt werden können. Bei guter Dunkeladaptation sind sie sehr beträchtlich, und hier erreicht also das Dämmerungssehen relativ große Helligkeitswerte; bei geringer Dunkeladaptation beschränkt es sich auf geringe subjektive Hellig- keiten, und bei stärkerer Helladaptation sehen wir die unter jener Grenze bleibenden Lichter überhaupt nicht. Nicht hinsichtlich seiner Art, wohl aber bezüglich der Stärken, in denen es überhaupt beobachtet werden kann, ist also das Dämmerungssehen von der Adaptation abhängig. — Anderseits zeigt sich nun, daß Lichter, die oberhalb jener Intensitätsgrenze liegen, wie es besonders das Purkinjesche Phänomen in seiner ursprünglichen Form lehrt, sich mit zunehmender Dunkeladaptation fortschreitend ändern, und zwar der Erscheinung, die sie im Dämmerungssehen darbieten, mehr und mehr annähern. Das rote wie das blaue Licht gewinnen an farbloser Hellig- keit; doch das erstere sehr wenig, das letztere weit mehr, entsprechend ihren sehr ungleichen Dämmerungswerten. Hier mischt sich also der Erscheinung des Tagessehens diejenige des Dämmerungssehens in zunehmendem Betrage bei. Man sieht hiernach, daß unser gesamtes Sehen sich als eine Kombination zweier Sehweisen darstellt, deren eine, das Tagessehen, verhältnismäßig hohe Schwellenwerte besitzt und wenig von der Adaptation beeinflußt wird, wäh- rend die andere, das Dämmerungssehen, in sehr hohem Maße von der Adap- tation abhängt. Hiermit beantwortet sich auch. die viel diskutierte Frage, inwieweit bei den erwähnten Erscheinungen die Abschwächung der einwirkenden Lichter, inwieweit die Dunkeladaptation des Sehorgans von Bedeutung ist. Bei dem Purkinjeschen Phänomen mit ungleichfarbigen Lichtern hatten die älteren Autoren (Dove, Helmholtz) vorzugsweise auf das erstere Moment Gewicht gelegt, Hering da- gegen die maßgebende Bedeutung der Adaptation betont. Ebenso hatte König das Purkinjesche Phänomen ohne Farbendifferenz (die Unterschiede der bei hohen und niedrigen Lichtstärken eingestellten Gleichungen, wie er sie namentlich bei Dichromaten fand) wesentlich auf die Abschwächung bezogen und demgemäß als „Abweichungen vom Newtonschen Farbenmischungsgesetz“ bezeichnet, wäh- rend Tschermak (Arch. £. d. ges. Phys. 70, 297) die Abhängigkeit optischer Gleichungen vom Adaptationszustande, nicht aber von der Intensität der einwirken- den Lichter anerkannte. Wir können gegenwärtig sagen, daß es, ganz allgemein gesprochen, in der Tat auf beides ankommt, und können leicht Umstände angeben, in denen die Bedeutung des einen und anderen Moments anschaulich wird. Lichter, die oberhalb der Schwelle des Tagessehens liegen, verändern, wie eben gesagt, ihr Mangel des Dämmerungssehens im Netzhautzentrum. 181 Aussehen mit der Adaptation sehr erheblich; hier sind also die optischen Gleichungen von der Adaptation abhängig. Sie sind es aber auch von der absoluten Intensität der Lichter jedenfalls z. B. dann, wenn wir zwei Intensitätsgrade vergleichen, von denen der eine ober-, der andere unterhalb jener Grenze liegt. Isolierung des Tagessehens. Fehlen des Dämmerungssehens im Netzhautzentrum, Daß die Befähigung zum Dämmerungssehen den verschiedenen Teilen der Netzhaut in sehr ungleichem Maße zukommt, geht schon aus den oben hinsichtlich der Schwellenwerte angeführten Tatsachen hervor. Die soeben beschriebenen Erscheinungen zeigen nun ebenfalls lokal große Unter- schiede.e Der Farbentüchtige kann dies schon sehr deutlich an der am längsten bekannten Form des Purkinjeschen Phänomens beobachten. Man befestige auf schwarzem Samt zwei aneinander stoßende Halbkreise von rotem und blauem Papier, die in voller Tagesbeleuchtung den Eindruck etwa gleicher Helligkeit machen; setzt man die Beleuchtung so weit herab, daß die rote Farbe eben noch erkennbar ist, so wird im allgemeinen, sobald das Auge einigermaßen dunkeladaptiert ist, das Blau weit heller erscheinen. Sind die Felder nicht groß, so bemerkt man, daß das Phänomen weit stärker hervortritt, wenn man das Auge abwendet, als wenn man direkt auf sie hin- sieht; richtet man es ein, daß der Durchmesser des ganzen Kreises unter 2° beträgt, und bringt man im Mittelpunkt desselben ein kleines Lichtpünktchen als Fixiermarke an, so kann man sich überzeugen, daß bei genauer Fixation das Phänomen überhaupt nicht mehr mit Sicherkeit konstatiert werden kann. Die, wie wir sehen werden, besonders wichtige Frage, ob die Erscheinung des Dämmerungssehens im Netzhautzentrum auf ein sehr geringes Maß be- schränkt sei oder wirklich fehle, läßt sich natürlich so nicht sicher be- antworten, schon wegen der großen Ungenauigkeit, mit der wir die Helligkeit verschieden gefärbter Lichter vergleichen. Eine schärfere Prüfung gestatten solche Lichterpaare, die, unter den Bedingungen des Tagessehens vollkom- men gleich aussehend, verschiedene Dämmerungswerte besitzen. Optische Gleichungen dieser Art (reines Gelb und ein ihm tagesgleiches Rot-Grün- gemisch, Weißmischungen aus Gelb und Blau einerseits, aus Rot und Blau- grün anderseits) habe ich vielfach für die Stelle des deutlichsten Sehens bei helladaptiertem Auge hergestellt und bei maximaler Dunkeladaptation nach- geprüft, ohne jemals eine Abweichung im Sinne des Dämmerungssehens kon- statieren zu können. — Weit geeigneter als ein normales farbentüchtiges Seh- organ ist aber für die Untersuchung dieser Verhältnisse ein farbenblindes, besonders das deuteranopische. Wie oben erwähnt, hat ein grünlichgelbes Licht den 100- und noch mehrfachen Dämmerungswert eines ihm tages- gleichen roten. Bei der Beobachtung solcher Lichterpaare ist also der Deuteranop viel besser in der Lage, geringe Spuren einer Einmischung des Dämmerungssehens zu entdecken als der Farbentüchtige, bei dessen oben- erwähnten tagesgleichen Lichtern sich die Dämmerungswerte höchstens etwa wie 1:6 verhalten. Trotz der gewaltigen Differenz der Dämmerungswerte konnte Nagel!) eine Beeinflussung der Gleichheitsbeziehungen für kleine !) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 23, 162. 182 Der des Dämmerungssehens ermangelnde zentrale Bezirk. zentrale Felder durch die Adaptation nicht konstatieren; der grünlichgelbe Fleck im roten Grunde erschien, wie für das hell-adaptierte, so auch für das dunkel-adaptierte Auge seiner Umgebung vollkommen gleich, wenn er direkt fixiert wurde, um bei geringer Abwendung des Blickes förmlich aufzuleuchten. Schwieriger als die Feststellung dieser Tatsache ist die messende Bestimmung des zentralen Netzhautbezirks, für den sie gilt; nach den Ermittelungen Nagels kann ihre Ausdehnung auf etwa 1,5° veranschlagt werden. Man darf hiernach sagen, daß die Erscheinungen des Dämmerungssehens und die damit zusammenhängenden (Purkinjesches Phänomen, sogenannte Abweichungen vom Newtonschen Farbenmischungsgesetz) in einem zentralen, auf 1,50 Durchmesser zu veranschlagenden Bezirk selbst unter den günstigsten Bedingungen, die wir dafür herstellen können, nicht bemerkbar sind. Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß gerade über diesen Punkt auch zahl- reiche abweichende Beobachtungen vorliegen. So fand Koster (Arch. f. Ophthalmol. 41, IV, 1) und Sherman (Wundts philosophische Studien 13, 434) das Pur- kinjesche Phänomen (mit verschiedenfarbigen Lichtern) auch an der Stelle des deutlichsten Sehens beobachtbar; Tschermak (a. a. O.) konstatierte eine Ände- rung der Gleichheitsverhältnisse für binäre Weißgemische gleichfalls auch im Netz- hautzentrum. Indessen haftet all diesen Versuchen der Fehler an, daß sie mit Feldern angestellt sind, deren Ausdehnung die ganze Größe des des Dämmerungs- sehens ermangelnden Bezirks nahezu erreicht oder sogar übertroffen haben dürfte. Selbst ersterenfalls ist der Zweifel berechtigt, ob die unter diesen Umständen besonders schwierige zentrale Fixation absolut streng eingehalten worden ist. Die Beobachtungen dieser Art erfordern unter allen Umständen große Übung und Sorg- falt, sind aber, wie oben erwähnt, für die Dichromaten mit ungemein viel größerer Sicherheit und Schärfe auszuführen als für die Farbentüchtigen. Nach den Er- gebnissen solcher Beobachter, die übrigens meine eigenen Erfahrungen bestätigen, kann ich nur daran festhalten, daß in einem kleinen zentralen Bezirk eine Ein- mischung des Dämmerungssehens vorläufig nicht erweisbar ist. Selbstverständlich ist hiermit nicht gesagt, daß die des Dämmerungssehens ermangelnde Stelle keine Adaptationsveränderungen besitze. Daß auch sie sehr ‚ deutlicher Umstimmungen fähig ist, werden wir in Kapitel VI sehen. — Über die Änderung der absoluten Schwellenwerte bei Dunkelaufenthalt liegen nur wenige Erfahrungen vor. Einige in meinem Institut arbeitende Untersucher konnten bei ihren (diesen Punkt allerdings nur gelegentlich berührenden) Untersuchungen eine Steigerung der Empfindlichkeit im Zentrum durch Adaptation gar nicht finden; doch muß bemerkt werden, daß hier die ersten Minuten des Dunkelaufenthaltes von der Beobachtung ausgeschlossen waren. Nach den neuesten Beobachtungen von Nagel und Schäfer (Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 34, 271) ist gerade während dieser Zeit ein nicht unbeträchtliches Ansteigen auch der fovealen Emp- findlichkeit bemerkbar, doch kommen hier die oben (S. 169) erwähnten Schwierigkeiten der physiologischen Deutung sehr in Betracht. Im ganzen wird man sagen dürfen, daß die fovealen Stimmungsänderungen etwas wesentlich anderes (schon nach dem zeitlichen Verlauf) und quantitativ weit Geringeres darstellen als die exzentrischen. Das Wesentliche aber für die Sonderstellung der Fovea liegt, um dies nochmals hervorzuheben, nicht in dem geringen Betrage der Stimmungsänderung, sondern darin, daß diese nicht mit einer qualitativen Änderung der Sehweise einhergeht, oder, kurz gesagt, im Fehlen des Purkinjeschen Phänomens. Das zentrale Fehlen des Dämmerungssehens ist insofern von Bedeutung, als dadurch der im obigen benutzte Begriff des Tagessehens eine festere Basis gewinnt. In der Tat, könnten wir das Dämmerungssehen nur durch eine möglichst hochgradige Helladaptatiom ausschließen, so würden wir im Zweifel bleiben, ob hier überhaupt eine bestimmte Grenze erreicht wird und ob vom Tagessehen als einer festbestimmten Art des Sehens gesprochen Gültigkeitsbereich der allgemeinen Gesetze der Lichtmischung. 183 werden darf. Findet dagegen im Netzhautzentrum eine Einmischung des . Dämmerungssehens überhaupt nicht statt, so haben wir in der Funktion dieses Teiles eine Sehweise, die ebenso scharf und typisch bestimmt ist wie die des Dämmerungssehens. Wir sind hiermit denn auch in der Lage, die Bedingungen anzugeben, unter denen die im ersten Kapitel dargelegten Ge- setze der Farbenmischung strenge Gültigkeit haben. Man findet, da tages- gleiche Lichter ungleiche Dämmerungswerte besitzen können, mannigfache, zum Teil sehr erhebliche Abweichungen von ihnen, sobald Tages- und Däm- merungssehen sich in wechselnden Verhältnissen kombinieren können, also. wenn mit parazentralen oder exzentrischen Netzhautstellen und mit wech- selnden Adaptationszuständen beobachtet wird. Streng gültig sind sie aber für einen kleinen zentralen Netzhautbezirk; für diesen bleiben insbesondere optische Gleichungen auch bei proportionaler Veränderung aller Lichtstärken gültig; und, wie wir hinzufügen können, sie erfahren auch durch die Dunkel- oder Helladaptation keine Veränderung. Ebenso scheinen auch innerhalb des reinen Dämmerungssehens keine Abweichungen von den Graßmann- schen Sätzen vorzukommen, vielmehr gleich helle Lichter zusammengefügt auch gleich helle Mischungen zu geben). Auch für die Schwellenwerte des Tagessehens ergibt sich so eine schär- fere Bestimmung als die oben benutzte der Farbenerkennung. Es zeigt sich nämlich, daß an der Stelle des deutlichsten Sehens die auf den ersten Blick vielleicht zu erwartende Regel, daß hier alle Lichter sogleich „farbig über die Schwelle treten“, zwar in gewissem Umfange, aber doch nicht ausnahmslos zutrifft, ein Punkt, auf den im neunten Kapitel eingehender zurückzukommen ist. Ein schärferes Kriterium erhalten wir in Anknüpfung an die eben erwähnten Tatsachen. Steigert man die Intensität zweier dämmerungs- gleicher und tagesungleicher Lichter, so wird der Schwellenwert des Tages- sehens (für dasjenige, das die größere Tageshelligkeit besitzt) da anzunehmen sein, wo eine Differenz der beiden Lichter bemerkbar wird. In der Regel ist dann allerdings auch sogleich die Farbendifferenz erkennbar, wenn es sich um ungleichfarbige Lichter handelt. Absolute und spezifische Schwellenwerte. Farbloses Intervall. Es dürfte nicht überflüssig sein, das Ineinandergreifen von Tages- und Däm- merungssehen noch an einigen besonders häufig untersuchten und ein gewisses Interesse darbietenden Erscheinungen zu erläutern. Ich erwähne zuerst diejenigen, die man findet, wenn man verschiedene reine Lichter auf geringen Intensitätsstufen und mit wechselnden Adaptationszuständen beobachtet. In der Regel zeigt sich, daß relativ geringe Lichtstärken schon genügen, um farblose Helligkeitsempfin- dungen auszulösen, während erst bei höheren eine Farbenempfindung erzielt wird. Man sagt demgemäß, das Licht trete farblos über die Schwelle, und spricht von einem Auseinanderfallen. der generellen (absoluten) Schwellenwerte (bei denen ein Licht überhaupt sichtbar wird) und der spezifischen oder Farbenschwelle, von einem farblosen Intervall. Die ganze Erscheinung beruht auf der Dämmerungssichtbarkeit des betreffenden Lichtes unterhalb der Schwelle des Tagessehens und ist danach in ihren verschiedenen Modalitäten, namentlich der Abhängigkeit von Adaptation und Lichtart leicht zu beurteilen. Sie ist für alle kurzwelligen Lichter selbst bei mäßiger Dunkeladaptation schon deutlich aus- !) König, Sitzungsber. Akad. Wissenschaft. Berlin 1896, 8. 945. 184 Farbloses Intervall. — Empfindlichkeitszunahme für verschiedene Lichter. geprägt. Mit zunehmender Dunkeladaptation wird das farblose Intervall größer und größer, weil die generelle Schwelle sehr beträchtlich, die spezifische aber nur wenig oder gar nicht heruntergeht. Je besser das Auge dunkeladaptiert ist, um so höhere Grade farbloser Helligkeit können erzielt werden, ohne daß die Schwelle des Tagessehens überschritten wird, d. h. die Empfindung einen farbigen Charakter erhält. Die Erscheinung des farblosen Intervalls hängt nun aber auch von der Art des Lichtes sehr ab; sie muß um so ausgeprägter sein, je höher, um so un- beträchtlicher, je niedriger die Dämmerungswerte im Vergleich zu den das Tages- sehen auslösenden Valenzen sind. Nun sahen wir, daß dieses Verhältnis mit zunehmender Wellenlänge sich beständig -zuungunsten der Dämmerungswerte ändert. Schon im Orange ist daher das farblose Intervall nur bei guter Dunkel- adaptation zu beobachten und selbst da gering. Je mehr man sich dem roten Ende des Spektrums nähert, um so kleiner wird dieser Spielraum, und bei sehr langwelligen Lichtern, wie man sie kurz als spektrales Rot zu bezeichnen pflegt (Wellenlänge von mehr als 670 uu), scheint er nahezu oder ganz zu verschwinden. In der Tat kann man in der Regel sehen, daß solche Lichter (und zwar auch bei guter Dunkeladaptation) sogleich farbig über die Schwelle treten. Der geringe Dämmerungswert, den sie besitzen, macht sich dabei immer noch darin bemerklich, daß auch sie mit fortschreitender Dunkeladaptation deutlich abblassen und heller werden, und es soll daher auch nicht bestritten werden, daß auch sie unter geeigneten Umständen ein farbloses Intervall erkennen lassen, wie es namentlich Charpentier behauptet. Da es hier auf zahlreiche besondere Bedingungen (Grad der Dunkeladaptation, Feldgröße, parazentrale oder stärker exzentrische Betrachtung) sehr ankommt, anderseits die geringste Verunreinigung eines roten Lichtes eine schwer zu vermeidende Fehlerquelle darstellt, so möchte ich ein bestimmtes Urteil in dieser Hinsicht nicht abgeben, am wenigsten eine bestimmte Wellenlänge fixieren, von der ab das farblose Intervall fehlt. Ferner mögen gewisse Erscheinungen hier angeführt werden, die sich auf die absoluten Schwellenwerte verschiedener reiner Lichter unter wechselnden Um- ständen beziehen. Ermittelt man solche unter Bedingungen, die das Dämmerungs- sehen möglichst vollständig ausschließen (also im Netzhautzentrum oder bei hoch- gradiger Helladaptation), so erhält man für die verschiedenen Lichter Werte, die, bei proportionaler Verstärkung auf hohe Intensitätsstufen, auch etwa den Eindruck gleicher Helligkeit machen. Beim dunkel-adaptierten Auge dagegen findet man natürlich die absoluten Schwellen bei solchen Beträgen der verschiedenen Lichter, die gleiche Dämmerungswerte haben. Wenn man daher eine Reihe von Bestim- mungen der absoluten Schwellenwerte ausführt, in der vom reinen Tagessehen zum Dämmerungssehen übergegangen wird, so erhält man eine Abnahme der Schwellen- werte oder Steigerungen der Empfindlichkeit, die je nach der angewandten Licht- art sehr verschieden, und zwar um so größer ausfallen, je größer für das betreffende Licht das Verhältnis des Dämmerungswertes zur Tageshelligkeit ist, d. h. mit abnehmender Wellenlänge immer größere. Ergebnisse dieser Art erhält man, wenn man für dunkeladaptiertes Auge die Schwellenwerte im Zentrum und in wachsenden Abständen ermittelt; ähnlich, wenn man (wie insbesondere Parinaud tat; Ann. d’oeulistique 112, 228) für exzentrische Stellen (oder auch ganz ohne Berück- sichtigung der Stelle) die Änderung der absoluten Schwellenwerte verfolgt, die mit dem Übergang von guter Hell- zu höchster Dunkeladaptation eintritt. In beiden Fällen steigt die Empfindlichkeit für blaue Lichter enorm, für längerwellige immer weniger an. Für rein rote Lichter erhält man im ersteren Falle sogar überhaupt gar keine Zunahme; für dieses ist die Empfindlichkeit (selbst bei hoher Dunkel- adaptation) im Zentrum am höchsten. Hypothese über die Funktion der Stäbchen. Duplizitäts- theorie. Bedeutung des Sehpurpurs. Die Differenz, die zwischen Tages- und Dämmerungssehen in bezug auf die Äquivalenzverhältnisse verschiedener Lichter sich herausstellt, macht es ohne Zweifel wahrscheinlich, daß in beiden Fällen zwei verschiedene Bestand- Hypothese über die Funktion der Stäbchen. 185 teile des Sehapparates ins Spiel kommen. In der Tat wird man sich nicht leicht zu der Annahme entschließen, daß ein einheitlicher Bestandteil des Organs bei den wechselnden Zuständen desselben (Hell- und Dunkeladap- tation) seine Beschaffenheit derart verändere, daß er von zwei verschiedenen Lichtern jetzt in gleichem Betrage, in einem veränderten Zustande aber von dem einen mehr als 100fach stärker als von dem anderen affiıziert werde. Verständlicher werden die Erscheinungen, wenn man zwei Bestandteile an- nimmt, von denen einer in bezug auf seine Leistungsfähigkeit starken, jedoch nur quantitativen Wechseln unterworfen ist, so daß beim Sehen eine Betei- ligung beider in sehr wechselnden Verhältnissen stattfinden würde. Wenn diese beiden Bestandteile in bezug auf die Äquivalenzverhältnisse der ver- schiedenen Lichter sich ungleich verhalten, so werden die zur Beobachtung kommenden großen Änderungen in der Funktionsweise des ganzen Sehorgans verständlich, ohne daß man erhebliche qualitative Veränderungen des ein- zelnen Bestandteiles anzunehmen brauchte. Dieser zunächst sehr mannig- faltiger speziellerer Ausgestaltung fähige Gedanke!) gewinnt in hohem Maße an Wahrscheinlichkeit durch den Umstand, daß die Anatomie der Netzhaut in der Tat zwei verschiedene Endapparate unseres Sinnesnerven aufweist. Noch viel bedeutungsvoller aber wird dies Moment dadurch, daß die örtlichen Besonderheiten, mit denen wir die eine jener Funktionen auf- treten sehen, ein Abnehmen gegen das Zentrum hin und Fehlen in diesem selbst, sich bei dem einen jener histologischen Elemente, den Stäbchen, in einer mindestens sehr ähnlichen Weise wiederfinden. Die Tatsachen legen es daher nahe, die zentral fehlende Funktionsweise des Dämmerungssehens dem zentral fehlenden Apparate, den Stäbchen, zuzuschreiben, die Zapfen aber als die Träger des Tagessehens aufzufassen. Ich will diese Annahme als Duplizitätstheorie bezeichnen, weil meines Erachtens das Hauptgewicht auf den allgemeinen Gedanken zu legen ist, daß das Dämmerungs- und das Tagessehen zwei verschiedene, an gesonderte Substrate gebundene Sehweisen sind, ein Gedanke, der hier zwar sogleich in einer anatomisch bestimmten Form dargelegt worden ist, an diese aber doch nicht gerade unauflöslich geknüpft ist. Wir würden hiernach (um die Haupt- sache sogleich zusammenzufassen) den Stäbchen die Eigenschaft zuschreiben, sehr starke Adaptationsveränderungen durchlaufen zu können, dabei nur farblose Helligkeitsempfindungen hervorzurufen, end- lich von den verschiedenen Lichtern in eben denjenigen Verhält- nissen affiziert zu werden, wie es der beim Dämmerungssehen stattfindenden Helligkeitsverteilung im Spektrum entspricht. Da- gegen hätten wir uns die Zapfen als relativ wenig adaptationsfähig, im Zentrum und seiner näheren Umgebung farbentüchtig, durchweg aber von solcher Beschaffenheit zu denken, daß auch die langwelligen Lichter relativ stark auf sie einwirken und somit bei ihrer Tätigkeit die dem Tagessehen eigentümlichen, die langwelligen Lichter begünstigenden Hellig- keitsverhältnisse Platz greifen. Wenn wir uns denken, daß die Dämmerungs- organe schon bei mäßiger Dunkeladaptation eine relativ hohe Lichtempfind- !) Er könnte z. B. auch in der Weise verwirklicht sein, daß in demselben Endapparate zwei verschiedene lichtempfindliche Stoffe vorkämen. 186 Funktion des Sehpurpurs. lichkeit erreichen, daß sie daher durch Lichter nicht unbeträchtlich erregt werden, die unter der Schwelle des farbentüchtigen Apparates bleiben, so gewinnen wir für die eigentümliche, oben geschilderte Art, wie Dämmerungs- und Tagessehen ineinandergreifen, ein befriedigendes Verständnis. Für die Hypothese, daß in den Stäbchen die Organe des Dämmerungs- sehens zu erblicken sind, ist sodann von großer Bedeutung der Umstand, daß eine der auffälligsten, mit der Adaptation verknüpften Veränderungen, die wir objektiv feststellen können, die Zerstörung und Ansammlung des Seh- purpurs, gerade in den Stäbchen ihren Sitz hat. Wird es hierdurch schon wahrscheinlich, daß die Stäbchen hochgradige Adaptationsveränderungen auch in funktionellem Sinne aufweisen, so kommt in den speziellen Eigen- schaften des Sehpurpurs wiederum noch ein neues, der Hypothese günstiges Moment ins Spiel. Die Untersuchung des Sehpurpurs hat nämlich gelehrt, daß die auf ihn ausgeübte objektiv verfolgbare chemische Wirkung des Lichtes in einer jedenfalls ähnlichen Weise von der Re des Lichtes abhängt wie die Dämmerungswerte. Schon Kühne fand die relativ geringe Wirkung der langwelligen Lichter auf den Sehpurpur und zeigte, daß in einem bestimmten Spektrum das Maximum dieser Wirkung nicht an der unter gewöhnlichen Umständen hellsten Stelle, sondern mehr im Grün gelegen ist. Auf die weitere Prüfung dieser Annahme namentlich durch die Untersuchung der Lichtabsorption in Sehpurpurlösungen ist an dieser Stelle nicht einzugehen. Doch darf angeführt werden, daß nach neuesten Untersuchungen von Dr. Trendelenburg!) die Abhängigkeit der „Bleichungswerte* von der Wellenlänge in der Tat sehr nahezu dieselbe zu sein scheint wie die der Dämmerungswerte. Man wird hiernach vermuten dürfen, daß die physiologische Wirkung des Lichtes auf die Stäbchen in irgend einer Weise mit der chemischen Zersetzung des Seh- purpurs zusammenhängt, und daß die enorme Steigerung der Erregbarkeit, die wir den Stäbchen je nach den Adaptationszuständen zuschreiben müssen, auf ihrem wechselnden Purpurgehalt beruht. Der eben skizzierte Gedanke knüpft an eine bereits von M. Schultze aus- gesprochene Vermutung an, der im Jahre 1866 zum Teil auf Grund der ungleichen Verteilung von Stäbchen und Zapfen über die Netzhaut, zum Teil auf Grund ver- gleichend physiologischer Tatsachen die Stäbchen als Organe in Anspruch nahm, die für das Sehen in schwachem Licht bestimmt seien, dabei aber der Farben- unterscheidung ermangelten. Die gleiche Annahme ist dann später einige Male erwähnt und erwogen worden (Haab, Habilitationsschrift, Zürich 1879; Kühne, Untersuchungen aus dem physiologischen Institut zu Heidelberg 1, 15 u. 119), ohne aber mit den speziellen Tatsachen der physiologischen Optik in Verbindung gebracht zu werden. Die wesentliche Bedeutung dessen, was man jetzt Duplizitäts- theorie nennen kann, liegt jedoch durchaus in dieser Verbindung und in der ergänzen- den Annahme, daß die Funktion der Stäbchen eine auch hinsichtlich der farblosen Helligkeitsempfindung andere als die der Zapfen sei (durch andere Helligkeits- verhältnisse der verschiedenen Lichter charakterisiert), eine Annahme, deren Inhalt vor der tatsächlichen Kenntnis einer Reihe funktioneller Eigentümlichkeiten des Seh- organs gar nicht in Frage kommen konnte. Eine hierher gehörige Tatsache, nämlich die ungleiche Steigerung der Empfindlichkeit für verschiedene Lichter bei Dunkel- adaptation, hat zuerst Parinaud gefunden und in diesem Sinne gedeutet (Compt. rend. 99, 937, 1884), leider in einer sehr kurzen Notiz, der eine ausführlichere Mitteilung erst zehn Jahre später folgte (Ann. d’oculistique 112 (1894). Auf Grund !) Zentralblatt f. Physiol. 17, 720. A Duplizitätstheorie. — Lokale Verhältnisse. 187 einer großen Zahl von König, mir, sowie seinen und meinen Arbeitsgenossen gefundener Tatsachen habe ich dann die Theorie in ihrer obigen Form entwickelt und ausgeführt (Ber. d. Freiburger Naturf. Ges. 9. Aug. 1894; Zeitschr. f. Physiol. 9, 82; 12, 1; 13, 242 usw.). Die Bedeutung des Sehpurpurs für das Sehen in schwachem’ Licht war ferner auch von Ebbinghaus und König schon kurz zuvor, wenn auch wiederum in wesentlich anderem Sinne, für wahrscheinlich er- klärt worden. Die Bezeichnung einer Theorie, an deren Inhalt so zahlreiche Autoren in nicht trennbarer Weise beteiligt sind, an den Namen eines einzelnen zu knüpfen, dürfte kaum angängig sein; ich werde sie daher nach demjenigen Punkt, der mir inhaltlich als der wesentlichste erscheint, Duplizitätstheorie nennen. Von den spezielleren Anschauungen über die Natur der Organe des Tages- sehens ist sie selbstverständlich durchaus unabhängig und daher insbesondere mit einer Auffassung derselben, die der Helmholtzschen oder der Vierfarbentheorie folgt, vollkommen und gleich gut vereinbar. Örtliche Unterschiede der Stäbchen- und Zapfenfunktion. In einigen Beziehungen können wir den eben skizzierten Grundgedanken der Duplizitätstheorie noch ergänzen. Erstens ist es selbstverständlich, daß (abgesehen von dem zentralen Fehlen der Dämmerungsorgane) auch noch weitere lokale Unterschiede in dem Auftreten und der Funktionsweise beider Bestandteile anzunehmen sind. Für die Dämmerungsorgane lehren schon die oben angeführten, die Schwellenwerte betreffenden Tatsachen, daß sie sehr große lokale Unterschiede aufweisen. Erst in beträchtlichen Abständen besitzen sie (bei guter Dunkeladaptation) das Maximum der Lichtempfindlich- keit; mit der Annäherung an das Zentrum nimmt diese stetig ab. Wie weit hierbei die lokale Häufigkeit der Stäbchen (ihre Zahl in der Flächeneinheit), wie weit die ebenfalls gegen das Zentrum hin abnehmende Bildung des Seh- purpurs, wie weit endlich noch andere Momente, namentlich die etwa wechseln- den Verhältnisse der Erregungsleitung, in Betracht kommen, entzieht sich vorläufig der Entscheidung. Auch für den dem Tagessehen dienenden Be- standteil des Sehorgans bestehen unzweifelhaft solche lokale Verschiedenheiten. So zeigen die absoluten Schwellenwerte sich (wenn auch nicht in dem Maße wie beim Dämmerungssehen) doch auch unter solchen Bedingungen örtlich ungleich, wo das Dämmerungssehen ausgeschlossen ist (bei rotem Licht; viel- leicht auch innerhalb des Netzhautzentrums). Vor allem ist hier hervorzu- heben, daß keineswegs, wie wohl früher zuweilen gemeint wurde, die Farben- blindheit der Netzhautperipherie auf ein Fehlen der Zapfen und alleiniges Vorkommen der Stäbchen zurückzuführen ist. In der Tat erklärt sich ja die ungeheure Verschiedenheit der Helligkeitsverhältnisse, in denen die Peripherie (trotz durchweg farbloser Erscheinung) die verschiedenen Lichter wahrnimmt, nur aus dem Vorkommen von Stäbchen und Zapfen auf diesen Stellen, wie dies durch die anatomischen Untersuchungen auch als festgestellt gelten kann. Auch die Zapfen der äußersten Peripherie müssen farbenblind sein, und nur die wechselnden Helligkeitsverhältnisse lang- und kurzwelliger Lichter (je nach Stärke und Adaptation) können auf die Duplizität der End- apparate zurückgeführt werden. Größe des stäbchenfreien Bezirkes. Für die Beurteilung der Duplizitätstheorie kommen neben den eben ange- führten noch eine Reihe weiterer Tatsachen in Betracht; es wird daher bei zahl- 188 Größe des stäbchenfreien Bezirkes. — Bläulichkeit der Stäbchenempfindung. reichen Gelegenheiten auf sie zurückzukommen und an späterer Stelle erst zu- sammenfassend über sie zu urteilen sein. Doch scheint es angemessen, einige speziellere Punkte gleich hier zur Sprache zu bringen. Eine genauere Prüfung der Hypothese scheint auf den ersten Blick namentlich in einer Richtung erforder- lich und möglich; ist derjenige zentrale Bezirk, in dem die Ffüınktion des Dämmerungssehens fehlt, wirklich mit dem zu identifizieren, in dem die histolo- gische Untersuchung das Fehlen der Stäbchen erweist? Leider stößt diese Prüfung auf weit größere Schwierigkeiten, als man zunächst meinen sollte. Wie oben gezeigt, ist das zentrale Fehlen des Dämmerungssehens überhaupt nur für den Dichromaten mit genügender Schärfe zu erweisen; die messende Bestimmung des betreffenden Bezirkes ist eine Aufgabe, die vor allem wegen der ganz genauen Fixation, die sie erfordert, recht schwierig ist. Anderseits gehört, wie bekannt, auch die Fovea centralis der menschlichen Netzhaut zu den diffizilsten Objekten der histologischen Technik. Die Stäbchen hören nicht an einer bestimmten Stelle mit scharfer Grenze auf, sondern es tritt an die Stelle der regelmäßigen Anordnung eine ziemlich unregelmäßige; die einzelnen versprengten Stäbchen werden seltener und seltener, um schließlich ganz aufzuhören. Die Angabe eines absolut stäbchen- freien Bezirkes ist daher auch schwierig. Dazu kommt noch, daß aller Wahrschein- lichkeit nach gerade in bezug auf-das Vordringen der Stäbchen gegen die Fovea individuell sehr große Unterschiede bestehen. Wenn daher Koster (Arch. f. Ophthalmol. 41 (4), 10) eine Ausdehnung des ganz stäbchenfreien Bezirkes von etwa 2° Durchmesser fand, während Nagel den des Dämmerungssehens ermangelnden auf 81 bis 107’ (1,35 bis 1,8°) bestimmte, so wird man auf die Abweichung wohl kaum großen Wert legen, anderseits aber auch von weiteren Prüfungen der gleichen Art kaum ein sehr entscheidendes Ergebnis erwarten dürfen. Eine Messung, die Prof. Fritsch jüngst an einem seiner vorzüglichen Foveapräparate (vön einem Neger) ausführte, ergab, wie ich durch gütige mündliche Mitteilung erfahre, einen ganz stäbchenfreien Bezirk von nur 0,2mm, was weniger als 1° entsprechen würde. Qualität der durch die Stäbchen hervorgerufenen Empfindungen. Wir haben bisher den Stäbchen die Eigenschaft zugeschrieben, farblose Hellig- keitsempfindungen hervorzurufen. Streng genommen lehrt uns die Beobachtung des Dämmerungssehens nur, daß das Sehen ein monochromatisches ist, d. h. alle Lichter gleich aussehen; es kann aber wohl die Frage aufgeworfen werden, ob diese Empfindungen wirklich im strengen Sinne farblos zu nennen sind. In der Tat sprechen einige Tatsachen dafür, daß die „Stäbchenempfindung“ (wenn wir uns kurz so ausdrücken dürfen) im Vergleich zu dem, was für gewöhnlich. farblos genannt wird, etwas bläulich ist. Dichromaten können, wie bekannt, Gleichungen zwischen einem homogenen Licht und einem Rot-Blau-Gemisch herstellen, die ihnen beide farblos erscheinen. Das homogene Licht besitzt hier einen beträcht- lich größeren Dämmerungswert. Ist eine solche Gleichung zunächst für ein hell- adaptiertes Auge richtig hergestellt und wird dann mit fortschreitender Dunkel- adaptation wiederholt geprüft, so kommt das homogene Licht ins Übergewicht, das Gemisch muß, um die Felder gleich zu erhalten, verstärkt werden. Regelmäßig zeigt sich nun aber, daß die Gleichung mit zunehmender Dunkeladaptation nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ unrichtig wird; das homogene Licht erscheint gegenüber dem anderen bläulich und muß, um die Gleichheit wieder her- zustellen, langwelliger gewählt werden, eine Erscheinung, die früher als „Wandern des neutralen Punktes“ beschrieben worden ist. Sie lehrt, daß die vermehrte Beteili- gung des Dämmerungssehens das ursprünglich farblose Licht nicht nur heller macht, sondern auch in der Farbe etwas ändert, und zwar bläulicher erscheinen läßt. Bezüglich der Details dieser Beobachtung und der genaueren Bestimmung der Stäbehenempfindung muß hier auf die Originalarbeit verwiesen werden (Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 12, 28f.). Für den Trichromaten lassen sich ähnliche Bestimmungen kaum ausführen. Doch ist das gleiche Verhältnis schon aus dem Grunde wahrscheinlich, weil viele Personen die mit dunkeladaptiertem Auge wahrgenommenen lichtschwachen Objekte direkt für leicht bläulich erklären. Die angeborene totale Farbenblindheit. 189 E) Die angeborene totale Farbenblindheit. Wir schließen an dieser Stelle die Besprechung der angeborenen totalen Farbenblindheit an, weil diese Anomalie für die Hypothese von der Funktion der Stäbchen von besonderem Interesse ist und auch ihrerseits wieder durch diese Hypothese in wertvoller Weise dem Verständnis näher gebracht wird. Weit seltener als die angeborene partielle Farbenblindheit, ist doch auch diese Anomalie, nachdem sich ihr die Aufmerksamkeit zugewandt hat, in einer ganzen Anzahl von Fällen beobachtet, neuerdings auch vielfach mit. großer Gründlichkeit untersucht worden !). Wie durch den Namen bereits be- sagt wird, fehlt den Personen dieser Art überhaupt jegliche Farbenunter- scheidung. In der Tat existiert für sie, wie wir in unserer früheren Termi- nologie sagen können, nur eine Reizart; jedes Licht erscheint jedem beliebigen anderen vollkommen gleich, sobald ihre Intensitäten in ein gewisses Verhältnis gebracht werden. Man kann das Farbensystem dieser Personen ein mono- chromatisches nennen; die die Reizarten darstellende Farbentafel des Farbentüchtigen, die Linie des partiell Farbenblinden ist hier in einen Punkt zusammengezogen. Die Gesichtsempfindungen sind daher nur in einem Sinne variabel; und nehmen wir an, daß durchweg (in unserem Sinne) farblos ge- sehen wird, so können wir uns denken, daß diese Personen alles so sehen, wie es uns in einem Kupferstich od. dgl. dargestellt wird. Für eine ge- nauere Prüfung der Sehweise dieser Personen ergibt sich somit nur die Auf- gabe, die Abhängigkeit der Reizwerte von der Art des Lichtes oder die Ver- teilung der Helligkeit in einem bestimmten Spektrum zu ermitteln. Bei einer derartigen, ohne große Schwierigkeit ausführbaren Prüfung zeigt sich nun, daß die Reizwerte für das farbenblinde Sehorgan mit größter An- näherung dieselbe Abhängigkeit von der Wellenlänge zeigen wie die Dämmerungswerte. ‘ Diese sehr merkwürdige Tatsache ist in einer zwar nicht messenden, aber die Messung sehr sinnreich ersetzenden Weise zuerst von Landolt (a. a. 0.) gefunden worden. Er ließ eine große Anzahl farbiger Papiere von einem total Farbenblinden (bei voller Tagesbeleuchtung) nach der Helligkeit ordnen. Die so hergestellte Reihe entsprach keineswegs der Reihenfolge der Helligkeiten, wie sie das normale Auge unter ähnlichen Bedingungen wahrnahm, wohl aber mit großer Genauigkeit der, die der Farbentüchtige herstellt, wenn er die Papiere bei sehr herabgesetzter Be- leuchtung und dunkeladaptiertem Auge zu ordnen hatte. Auf Grund messender Beobachtungen am Spektrum ist diese Beziehung zuerst von Hering?) erwiesen worden, später vielfach mit vollkommeneren Hilfsmitteln geprüft und immer wieder bestätigt worden. Die Verteilung !) Eine sehr dankenswerte Zusammenstellung der wichtigsten unseren Gegen- stand betreffenden Tatsachen enthält die Arbeit von Grunert, Arch. f. Ophthalmol. 56 (1), 132, wo auch die ältere Literatur vollständig angeführt ist. Es seien von Arbeiten, die in physiologischer Richtung von besonderem Interesse sind, erwähnt: Hering, Arch. f. d. ges. Physiol. 49, 563; Hess, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 29, 99; Hess u. Hering, Arch. f. d. ges. Physiol. 71, 105; König, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 20, 425; v. Kries, ebenda 13, 292 u. 19, 176; Ladd-Franklin, Psychol. Review 2 (1895); Landolt, Arch. d’ophthalmol. 1, 114; 11, 202; Nagel, Arch. f. Augenheilk. 44, 153. Uhthoff, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 20, 326; 27, 344. — *) Arch. f. d. ges. Physiol. 49, 563. Helligkeitsverteilung im Spektrum. 190 einerseits der Dämmerungswerte, anderseits der Helligkeit für eine total Farbenblinde, wie sie im prismatischen Spektrum des Gaslichtes in meinem Institut gefunden wurde, zeigt die folgende Tabelle, in graphischer Dar- stellung die Fig. 25. Spektraler Helligkeit | Dämme- Spektraler Helligkeit Dämme- Ort der R rungswerte Ort der a rungswerte für 2 für EZ homogenen £ für homogenen { für Lichter M. Binder | p,. Nagel Liehter M. Binder | pr, Nagel 3 (628 uu) 124 110 12 (536 au) 3050 2820 6 (591 „) 720 600 15 (515 „) 2280 1580 8 (571, ) 1810 2060 19 (491 „) 850 556 10 (552 „) 2650 2930 23 (469 „) 325 260 11 (544 „) 3020 3030 Die Übereinstimmung mit den oben angeführten Schaternikoffschen Bestimmungen der Dämmerungswerte würde eine noch etwas bessere sein. Auch für die total Farbenblinden ist also das Helligkeitsmaximum auffällig gegen die kurzen Wellenlängen verschoben; es liegt im prismatischen Spek- trum des Gaslichtes etwa bei 536 uw, in dem des Sonnenlichtes bei etwa 527 uu; auch hier finden wir (wie im Dämmerungssehen) die sehr geringe Empfindlichkeit gegen langwelliges Licht, und das Spektrum erscheint daher auch am roten Ende verkürzt. Fig. 25. 300 >” 230 J£ /f 250 - * 240 /r \ & er /; 200 [% \ m 180 vr 160 ji x 140 I N 7120 N wu RN " 80 a IN 3 NL 60 n N Ss A: N N 40 a a - 20 GR Dr a Bü I 0% 123456789 10m 12 35 16 163 18 195 21 2223 27 2627 28 29 30 97 STIESSSTRETETIRTSBR RB KR LT FE SS 38 23 Sa. = 88.5.0 3 B =. & 9 2 & S2 SETTETRESS ERS ER g tlktitkititg ie hist nic Helligkeiten für eine total Farbenblinde — — — — — und Dämmerungswerte im prisma- tischen Spektrum des Gaslichtes (aus v. Kries, Farbensysteme, Zeitschr. f. Psychol. usw. 13, 293). Wir müssen hier sogleich hinzufügen, daß diese Helligkeitsverhält- nisse für das total farbenblinde Sehorgan, soweit sich bis jetzt hat ermitteln lassen, konstante sind; mögen wir mit großen oder geringen absoluten Lichtstärken, mögen wir bei Hell- oder bei Dunkeladaptation unter- f £% u. EEE Theorie der totalen Farbenblindheit. 191 suchen: die Helligkeitsverhältnisse sind stets, wenigstens mit größter An- _ näherung, dieselben !). Auf Grund dieser Tatsache ergibt sich nun die Vermutung, daß die totale Farbenblindheit nicht auf einem bloßen Mangel des Farbensinnes, sondern daß sie auf einem vollständigen Funktionsausfall des farbentüchtigen Bestandteiles beruht, daß die mit dieser Anomalie behafteten Personen auf das Sehen mit den Dämmerungsorganen beschränkt sind. Diese durch die Stäbchenhypothese an die Hand gegebene Annahme gewinnt an Wahr- scheinlichkeit, da sie auch für eine Anzahl weiterer, den Mangel des Farben- sinnes stets begleitender Anomalien ein überraschendes Verständnis gewährt. Die total Farbenblinden besitzen nämlich, wie seit lange bekannt, eine räum- liche Unterscheidungsfähigkeit, die hinter der normalen erheblich zurück- bleibt (S. etwa !/, bis 1/,0), ebenso, wie neuerdings?) durch die Beobachtung des Flimmerns rotierender Scheiben gezeigt wurde, eine erheblich geringere ‚Empfindlichkeit für zeitliche Schwankungen. Weshalb diese Anomalien den Mangel des Farbensinnes stets begleiten, erscheint zunächst rätselhaft; es wird aber verständlich, wenn man annimmt, daß beim total Farbenblinden ausschließlich die Dämmerungsorgane funktionieren. Denn es zeigt sich, daß der Farbentüchtige, wenn er unter den Bedingungen des Dämmerungssehens beobachtet, räumliche und zeitliche Unterscheidungsfähigkeiten besitzt, die denjenigen des Monochromaten nahezu gleich kommen; und wir haben, wie wir später sehen werden, auch Grund zu der Annahme, daß die Leistungs- fähigkeit unserer Dämmerungsorgane auch bei höheren Lichtstärken wohl noch ein wenig, aber nicht erheblich steigen würde. Ganz allgemein läßt sich sagen, daß alle Unterschiede des total farbenblinden und des normalen Sehorgans ausgelöscht erscheinen, sobald beide unter den Bedin- gungen des Dämmerungssehens beobachten. Helligkeitsverhältnisse der Farben, räumliche und zeitliche Unterscheidungsfähigkeit, alles stimmt überein. Erst mit der Überschreitung derjenigen Grenze, die wir als Schwellen- wert des Tagessehens bezeichneten, beginnt der Unterschied und die Über- legenheit des normalen Sehorgans. Auch auf einige weitere Besonderheiten, die, wie man weiß, die angeborene totale Farbenblindheit stets begleiten, wirft unsere Auffassung ein gewisses Licht. So erklärt sich vor allem unschwer der Mangel einer sicheren Fixation ; die wesent- liche Bedingung einer solchen unter normalen Bedingungen ist offenbar die, daß die Sehschärfe in einem sehr kleinen Bezirk ihren höchsten Wert erreicht und mit der Entfernung von diesem Zentrum rapide absinkt. Eben diese Bedingung ist im Sehorgan des total Farbenblinden nicht erfüllt; darüber besteht, auch wenn wir das Verhalten des Netzhautzentrums noch nicht als völlig geklärt erachten, kein Zweifel. In der Regel zeigen die total Farbenblinden ferner einen ausgesprochenen Nystagmus und eine gewisse Lichtscheu; sie sehen in mäßig hellem Licht besser als bei hohen, dem normalen Auge noch nicht lästigen Beleuchtungen. Man darf wohl vermuten, daß hier die größere Trägheit der Dämmerungsorgane (die sich auch in ihrer geringeren zeitlichen Unterscheidungsfähigkeit kund gibt) eine Rolle spielt; vielleicht wird auch daran zu denken sein, daß bei dauernder Fixation in !) Allerdings muß man bemerken, daß die hierauf gerichteten Beobachtungen der total Farbenblinden hinsichtlich ihrer Genauigkeit z. B. mit den oben an- geführten von Stegmann nicht verglichen werden ‚können. Anderungen der Verteilung der Reizwerte von der Größenordnung dieser können wir also vorderhand nicht ausschließen. — ?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 32, 113. 192 Frage des zentralen Skotoms. der später zu besprechenden (von Hering als lokale Adaptation bezeichneten) Weise die Gegenstände verschwimmen, eine Erscheinung, die wohl bei der großen Adaptationsfähigkeit der Dämmerungsorgane eine größere Rolle als beim normalen Tagessehen spielen könnte. Da wir die Dämmerungsorgane des normalen Auges nicht bei hohen Lichtstärken prüfen können, so sind wir hier natürlich nur auf Vermutungen angewiesen. Die eben entwickelte Theorie der -totalen Farbenblindheit führt zu der Er- wartung, daß in diesen Fällen, entsprechend dem stäbchenfreien Bezirk des normalen Auges, ein kleiner überhaupt funktionsunfähiger Bezirk, ein zentrales Skotom, ge- funden werden würde. Ein solches ist in der Tat in einer Anzahl von Fällen konstatiert (König, Ladd-Franklin, Uhthoff, Nagel), in anderen auch vermißt worden (Hess, v. Hippel). Man muß jedoch berücksichtigen, daß der Nachweis so kleiner blinder Stellen bei Mangel einer sicheren Fixation ungemein schwierig ist. So werden selbst die überaus sorgfältigen Untersuchungen Uhthoffs kein sicheres Urteil darüber gestatten, ein wie großer Bezirk in denjenigen Fällen, in denen er von einem Skotom spricht, der lichtempfindlichen Apparate ganz ermangeln mag. Es versteht sich aber auch nicht ohne weiteres von selbst, daß die anatomische Verbreitung der Stäbchen in unseren Fällen genau die nämliche sein muß wie beim Farbentüchtigen. Besonders wenn es sich nicht um eine pathologische Zer- störung des farbentüchtigen Bestandteils, sondern um eine Bildungsanomalie handelte, könnte sich dies ganz wohl auch anders verhalten. Schließlich muß man bedenken, daß, wie eine einfache Erwägung der quantitativen Verhältnisse zeigt, Spuren einer Sehfunktion, die sich selbst bei den günstigsten Bedingungen (den oben er- wähnten beim Deuteranopen) neben normaler Zapfenfunktion nicht mehr erkennen lassen, doch genügen werden, um beim gänzlichen Mangel dieser letzteren es nicht zu einem nachweisbaren absoluten Skotom kommen zu lassen. Hierfür würde die Einstreuung einer sehr kleinen Zahl von Stäbchen unter die fovealen Zapfen schon hinreichend sein (50 nach einer Überschlagsberechnung Grunerts). Ob die Sicher- heit der histologischen Untersuchung ausreicht, um dies auszuschließen, wage ich nicht zu beurteilen. Mit Recht hat daher Grunert neuerdings betont, daß die Be- deutung der ganzen Frage des zentralen Skotoms nicht überschätzt werden darf. Darüber besteht kein Zweifel, daß die hochgradige Steigerung des räumlichen Unter- scheidungsvermögens im Zentrum, wie sie normalerweise besteht, dem total Farben- blinden abgeht. Erwägt man, daß der Ausfall des Farbensinnes an sich hierfür keinerlei Erklärung darbietet, so wird man nicht leugnen können, daß auch diese Tatsache durch die Stäbehenhypothese dem Verständnis näher gebracht wird. Maßgebend ist wohl, daß das Sehorgan des total Farbenblinden mit größter Ge- nauigkeit die Eigenschaften darbietet, die wir auf Grund der Hypothese den Dämmerungsorganen zuschreiben müssen (Abhängigkeit der Reizwerte von der Art des Lichtes, Sehschärfe, zeitliche Unterscheidungsfähigkeit). Ob die Übereinstimmung auf die feinsten Details anatomischer Anordnung im oder am Netzhautzentrum sich erstreckt, darf einstweilen dahingestellt bleiben. Herings Lehre von der spezifischen Helligkeit der Farben. Es muß hier endlich noch kurz der Art gedacht werden, wie Hering einen Teil der oben geschilderten Erscheinungen theoretisch gedeutet hat. Wie oben schon erwähnt, bestimmte er (und zwar zuerst) diejenigen Werte, die man jetzt als Dämmerungswerte bezeichnet (Verteilung der Helligkeit in dem lichtschwachen und mit dunkeladaptiertem Auge gesehenen, also farblos erscheinenden Spektrum). Da nach den Grundvorstellungen seiner Lehre in der Dunkeladaptation die allmäh- lich steigende D-Erregbarkeit der schwarz-weißen Sehsubstanz zu erblicken war, so glaubte er im Dämmerungssehen einfach die isolierte Tätigkeit der schwarz- weißen Sehsubstanz vor sich zu haben, während die schwachen Reize für die farbigen Sehsubstanzen unterschwellig wären. Er glaubte demgemäß denn auch die den verschiedenen Lichtern unter diesen Umständen zukommenden Helligkeiten, nicht, wie wir oben getan, als Dämmerungswerte, sondern schlechtweg als die- Weißvalenzen (Stärke der dissimilierenden Wirkung auf die schwarz-weiße Sehsub- stanz) in Anspruch nehmen zu müssen. Hierdurch erhob sich nun das Problem, Herings Lehre von der spezifischen Helligkeit der Farben. 193 weshalb zwei Lichter von gleicher Weißvalenz unter den Bedingungen des Tages- sehens in ungleicher Helligkeit erscheinen. Um zu verstehen, wie Hering sich mit dieser Frage abfand, muß man berücksichtigen, daß, als er zu ihr Stellung nahm, es sich zunächst nur um die altbekannte Form des Purkinjeschen Phänomens zu handeln schien, welche die Helligkeitsverhältnisse ungleichfarbiger Lichter betrifft. Wenn ein Rot mit sehr geringem „Weißwert“ und ein Blau mit weit höherem bei hell-adaptiertem Auge und hoher Lichtstärke für etwa gleich hell gehalten werden, so konnte dies auf die Mitwirkung der farbigen Empfindungs- bestandteile für den Helligkeitseindruck bezogen werden. So entstand die Lehre von der spezifischen Helligkeit der Farben; es war anzunehmen, daß Rot und Gelb (als dissimilatorische Vorgänge) helle Farben, Grün und Blau dagegen assi- milatorischer Natur und dunkle Farben seien, so daß der Helligkeitseindruck des Weiß durch Rot und Gelb vermehrt, durch Grün und Blau dagegen vermindert würde. Die Helligkeit insbesondere roter Lichter müßte bei ihrem sehr geringen Weißwert vorzugsweise auf den farbigen Bestandteil bezogen werden. Es ist nicht notwendig, hier auf die Bedenken hinzuweisen, die diese Anschauung mit Rück- sicht auf die allgemeinen Grundsätze der Theorie erwecken konnte; vielmehr ge- nügt es hier, daran zu erinnern, daß sie, an einem ganz beschränkten Kreise von Erscheinungen entwickelt, sich den anderen Fällen gegenüber durchaus unangängig erweist; denn unter keinen Umständen ist es denkbar, daß zwei Lichter voll- kommen gleich erscheinen, deren eines eine 100fach stärkere Weißvalenz besitzt als das andere. In der deutlichsten Weise sehen wir aber beim Dichromaten und auf der normalen Netzhautperipherie Lichter von ganz verschiedenem Dämme- rungswert tagesgleich erscheinen, und zwar nicht bloß gleich hell, sondern voll- kommen gleich, ohne daß irgend eine Farbendifferenz sich einmischt. In den Dämmerungswerten die „Weißvalenzen“ im ursprünglichen Sinne erblicken zu wollen, ist hiernach völlig ausgeschlossen. — Auch die auf den ersten Blick noch denkbar erscheinende Annahme, daß die Abhängigkeit der Weißvalenzen von der Wellen- länge mit dem Adaptationszustande der schwarz-weißen Sehsubstanz enorme Ver- änderungen erführe, ist mit den Tatsachen nicht vereinbar; denn, wie oben gezeigt, ändern sich die Helligkeitsverhältnisse verschiedener Lichter gar nicht in stetiger Weise mit der Adaptation, sondern sie werden immer nahezu gleich gefunden, sobald nur die Lichter unter der Schwelle des Tagessehens bleiben. Die Identi- fizierung der Dämmerungswerte mit den Weißvalenzen ist also schlechterdings un- haltbar; auch vom. Standpunkte der Theorie der Gegenfarben muß- man dem Dämmerungssehen irgend eine Sonderbedeutung einräumen, womit man im wesent- lichen auf den Grundgedanken der Duplizitätstheorie geführt wird. In welcher anderen Weise hiernach eine Bestimmung der „Weißwerte“ für das Tagessehen angestrebt werden kann, ist an späterer Stelle darzulegen. — Der Frage übrigens, ob überhaupt von einer „spezifischen Helligkeit der Farben“ gesprochen werden darf, soll hiermit nicht vorgegriffen werden; sie ist, so allgemein gestellt, eine überaus vieldeutige, und es kann in eine Erörterung derselben in allen möglichen Richtungen hier nicht eingetreten werden. V. Das Sehen der exzentrischen Netzhautteile. Ausdehnung des Gesichtsfeldes. Die lichtempfindlichen Endapparate des Sehnerven sind, wie bekannt, über eine ausgedehntere Fläche der Netzhaut verbreitet, die sich von der Stelle des deutlichsten Sehens nach allen Seiten hin, jedoch ungleich weit erstreckt. Die Gesamtheit aller äußeren Punkte, die auf dieser Fläche ab- gebildet und somit gleichzeitig wahrgenommen werden, bezeichnet man als Gesichtsfeld. Mit einem neuerlich von Hering eingeführten und im folgenden auch öfter verwendeten Ausdruck nennt man wohl auch die Gesamtheit der entsprechenden Nagel, Physiologie des Menschen. III. 13 194 Grenzen des Gesichtsfeldes. — Blinder Fleck. Teile des Sehorgans das somatische Gesichtsfeld und spricht z. B. von örtlichen Unterschieden des somatischen Gesichtsfeldes und dergleichen. Die Ausdehnung des Gesichtsfeldes wird mittels der bei den Ophthal- mologen gebräuchlichen, als Perimeter bezeichneten Instrumente bestimmt. Während der Blick auf eine feste Marke gerichtet bleibt, wird ein Objekt (in diesem Fall am besten ein helles auf dunklem Grunde) auf einem Meridian allmählich angenähert und diejenige Stelle ermittelt, an der es sichtbar wird. Es empfiehlt sich, die Sichtbarkeit des Objektes durch leichte Hin- und Her- bewegungen zu begünstigen, ferner, den Versuch auch in der umgekehrten Weise auszuführen und zu ermitteln, bei welchem Abstand der Gegenstand, vom Fixationspunkt sich allmählich entfernend, unsichtbar wird. Die Ver- suche dieser Art ergeben, daß das Gesichtsfeld mit ziemlich scharfen Grenzen abschließt. Seine Erstreckung beträgt etwa 90 bis 100° nach außen, 45 bis 50° nach innen, 60° nach oben und unten!). Zu den örtlichen Verschiedenheiten innerhalb des Gesichts- feldes übergehend haben wir zunächst anzuführen, daß die Eintrittsstelle des Sehnerven der Lichtempfindlichkeit ermangelt; sie wird als der blinde Fleck (Mariottescher Fleck) bezeichnet, und es ist leicht, sich zu überzeugen, daß die auf ihm abgebildeten Objekte nicht gesehen werden. Man fixiert mit einem Auge (während das andere bedeckt ist) einen Punkt auf einem gleichmäßigen Grunde und schiebt ein Schnitzel andersfarbigen Papiers etwa mit einem feinen Draht vorsichtig lateralwärts; sobald es einen Abstand von etwa 15° vom fixierten Punkt erreicht hat, ist es vollkommen verschwunden. Bei guter Fixation des Blickes ist es leicht, mittels kleiner Objekte Aus- dehnung und Lage des blindes Fleckes genauer zu bestimmen. Die Gestalt ist meist nicht genau kreisrund, sondern unregelmäßig elliptisch und läßt bei genauem Verfahren die Anfänge der größeren Gefäßstämme erkennen. Be- züglich der Ausdehnung liegen zahlreiche Messungen vor; ich verweise dieser- halb auf die Zusammenstellungen bei Helmholtz?). Durchschnittlich kann man annehmen, daß der horizontale Durchmesser eine Ausdehnung von rund 6° besitzt und sich von etwa 12 bis 18° Abstand vom Fixationspunkt erstreckt. Abweichung des Farbensystems der exzentrischen Teile vom zentralen. Schwierige und umfangreiche Probleme knüpfen sich an den leicht zu beobachtenden Umstand, daß zwischen den verschiedenen Stellen des soma- tischen Gesichtsfeldes große funktionelle Unterschiede bestehen. Befestigt man auf einem grauen Kartenblatt ein Schnitzel farbigen Papiers und bewegt das Blatt bei etwas auswärts gewandtem Auge so, daß es von der nasalen Seite her ins Gesichtsfeld eintritt, so bemerkt man, daß das farbige Schnitzel zuerst farblos (sei es als heller, sei es als dunkler Fleck) gesehen wird. Nähert man es dem fixierten Punkte, so fängt es an farbig auszusehen, erscheint aber häufig zunächst noch mehr oder weniger verschieden von der- jenigen Farbe, die es bei direkter Fixation hat. Man kann hieraus ent- ') Genauere Angaben siehe bei Schön, Die Lehre vom Gesichtsfeld 1874; Baas, Das Gesichtsfeld 1896. — *) Helmholtz, 8. 253. Unterschiede des zentralen und exzentrischen Sehens. — Dämmerungssehen. 195 nehmen, daß die peripheren Teile der Netzhaut sich in bezug auf die Emp- findung der Farben vielfach anders verhalten als die Stelle des deutlichsten Sehens und ihre nächste Umgebung, daß ihr Farbensystem in dem früher erläuterten Sinn ein abweichendes ist. — Die hieraus resultierenden Aufgaben sind nun den früher behandelten zum Teil ganz ähnlich. Auch hier ist es zunächst erforderlich, die Gesetze der Lichtmischung zu ermitteln und sich darüber zu unterrichten, welche Lichter (auf bestimmten Netzhautstellen) gleich oder ungleich aussehen. Diese Aufgabe ist zwar durch die in jeder Beziehung geringeren Unterscheidungsfähigkeiten der peripheren Teile in gewissem Maße erschwert; jedoch gestattet namentlich die Methode des Fleckes (s. oben 8.112), in großem Umfange hinreichend sichere und wichtige Ergebnisse zu gewinnen. Außerdem aber sind wir in der Lage, die Empfindung, die an irgend einer peripheren Stelle des Gesichtsfeldes stattfindet, mit einer zentral oder parazentral ausgelösten leidlich genau zu vergleichen, und wir gewinnen hierdurch die Möglichkeit, die funktionellen Unterschiede der Peripherie und des Zentrums in einer ganz direkten und greifbaren Weise anzugeben, eine Möglichkeit, deren Fehlen ja bei der angeborenen partiellen Farbenblindheit eine ganz besondere Erschwerung gebildet hatte. Örtliche Ungleichheiten des Dämmerungssehens. Um mit dem Einfachsten zu beginnen, haben wir hier zunächst an die- jenigen lokalen Funktionsunterschiede zu erinnern, die wir im vorigen Ab- schnitt behandelt haben. Wir sahen dort, daß die Entwickelung des Dämme- rungssehens örtlich große Unterschiede aufweist, die vor allem in der vom Zentrum bis zu ziemlich großen Abständen zunehmenden Empfindlichkeit ihren Ausdruck finden. Diese Unterschiede sind quantitativer, aber nicht qualitativer Natur. Die Art des Dämmerungssehens, soweit sie in den Helligkeitswerten verschiedener Lichter zum Ausdruck kommt, ist an allen Stellen des Gesichtsfeldes, die überhaupt ein typisches Dämmerungssehen zeigen, wenigstens mit größter Annäherung dieselbe !). Die großen quantitativen Unterschiede des Dämmerungssehens machen sich sehr häufig in den Unterschieden zentralen, parazentralen und noch stärker exzentrischen Sehens bemerklich, um so mehr natürlich, je stärker das Auge dunkeladaptiert ist, und am auffälligsten bei der Betrachtung von Lichterpaaren, die, tagesgleich, stark ungleiche Dämmerungswerte besitzen. Hierher gehört die schon oben angeführte Tatsache, daß das Purkinjesche Phänomen, auf kleinem, direkt fixiertem Felde ganz unmerklich, mit zu- nehmender Abwendung des Blickes immer stärker hervortritt; ähnlich kann dem Dichromaten ein grüngelber Fleck auf rotem Grunde bei direkter Fixation !) Prüft man Dämmerungsgleichungen mit verschiedenen Stellen des Gesichts- feldes, so findet man zwar auch nicht selten kleine Unterschiede; dieselben sind jedoch stets von äußerst geringem Betrage und wohl nicht anders aufzufassen als die, die auch an derselben Stelle bei wechselndem Adaptationsgrad beobachtet werden. Gelegentlich mag auch die Maculafärbung, die sich wohl öfter nicht unerheblich über den des Dämmerungssehens ganz ermangelnden Bezirk hinaus erstreckt, eine Modifikation parazentral beobachteter Dämmerungsgleichungen ver- anlassen. Mit diesen Einschränkungen kann aber wohl das Dämmerungssehen in der Tat als ein überall qualitativ gleiches betrachtet werden. 13* 196 Tagessehen der Peripherie. — Allgemeine Sätze. ganz verschwinden, d. h. der Umgebung genau gleich erscheinen, dagegen ein um so größeres Übergewicht an Helligkeit erhalten, je mehr exzentrisch er gesehen wird. Da sich diese Verhältnisse nach den oben dargelegten Be- ziehungen des Tagessehens zum Dämmerungssehen und aus den örtlichen Verschiedenheiten des letzteren vollkommen übersehen lassen, so ist es nicht notwendig, weiter dabei zu verweilen. Örtliche Unterschiede des Tagessehens. Allgemeines. Als weitere Frage erhebt sich dann die, ob und welche örtlichen Unter- schiede in der Funktion des Tagessehens bestehen, und es wird, um dies zu ermitteln, geboten sein, die Funktionsvergleichung unter solchen Bedingungen durchzuführen, die eine möglichst vollständige Ausschließung des Dämme- rungssehens gewährleisten, d. h. bei möglichst guter Helladaptation. Sehr leicht zeigt sich nun, daß auch unter solchen Umständen große funktionelle Unter- schiede bestehen. Kleine farbige Objekte erscheinen auch in voller Tages- beleuchtung bei stark exzentrischer Betrachtung farblos, bei geringerer Exzentrizität vielfach auch in anderer Farbe als bei direkter Fixation. Dem Detail dieser Erscheinungen können wir zunächst einige allgemeine Be- merkungen vorausschicken. Die genauere Prüfung würde eine sehr wichtige Vereinfachung erfahren, wenn wir annehmen dürften (was. man wohl meistens als selbstverständlich betrachtet hat), daß Lichter oder Lichtgemische, die bei zentraler Betrachtung gleich erscheinen, auch im indirekten Sehen gleich sind, oder daß die Farbensysteme der exzentrischen Teile Reduktionen des zen- tralen Sehens darstellen. Wie nochmals betont sei, gilt dieser Satz ja nicht, sobald die lokalen Unterschiede des Dämmerungssehens ins Spiel kommen ; dagegen ist es allerdings sehr wahrscheinlich, daß er genau gelten würde, wenn wir das Dämmerungssehen vollständig ausschließen könnten. Eine ganz systematische Prüfung der Lichtmischungsverhältnisse für Gesichtsfeldstellen verschiedener Exzentrizitäten ist allerdings mit so großen technischen Schwierigkeiten verknüpft, daß der in Rede stehende Satz in dieser Form vorläufig nicht wohl erweisbar ist. Dagegen habe ich in großem Umfang parazentral hergestellte Gleichungen der verschiedensten Art bei mehr oder weniger exzentrischer Betrachtung nachgeprüft und (bei guter Helladaptation) stets mit größter Annäherung gültig gefunden. Es dürfte hiernach gerecht- fertigt sein, den obigen Satz (dem wohl auch aus allgemeinen theoretischen Gründen eine gewisse innere Wahrscheinlichkeit zukommt) als Basis der weiteren Erörterung zugrunde zu legen. Noch wichtiger ist eine andere allgemeine Regel, die für die Beziehungen des zentralen und exzentrischen Aussehens irgend welcher Lichter zu gelten scheint. Alle Lichtgemische, die bei zentraler Betrachtung farb- los erscheinen, sehen auch bei beliebig exzentrischer Betrachtung farblos aus. Wenn man die Gültigkeit dieses Satzes prüft, so müssen die Verhältnisse der Maculapigmentierung in Rücksicht gezogen werden; diese können es (wie schon an früherer Stelle erwähnt) bewirken, daß Lichtgemische, die bei direkter Fixation farblos erscheinen, bei leichter Abwendung des Blickes mehr oder weniger gefärbt erscheinen und umgekehrt. Man be- schränkt daher die Beobachtung besser auf den Vergleich parazentraler und Relative Grenzen der Farbengesichtsfelder. 197 stärker exzentrischer Stellen. Eine weitere Bedingung ist die, daß das Seh- organ nicht durch die längere Einwirkung farbiger Lichter ganz oder teil- weise umgestimmt ist, vielmehr der Zustand der Helladaptation, der hier überhaupt vorausgesetzt ist, durch ein annähernd farbloses Licht erzielt worden ist. Eine ganz systematische experimentelle Prüfung des obigen Satzes besitzen wir allerdings noch nicht, und insbesondere können wir weder darüber, wie weit überhaupt die farblose Empfindung als etwas Fixiertes gelten darf, noch darüber, mit welcher Genauigkeit eine exzentrische Empfindung mit einer zentralen verglichen werden kann, eine quantitative Angabe machen. Trotzdem darf wohl unbedenklich unser Satz als ein jedenfalls sehr annähernd richtiger betrachtet und somit für die folgende speziellere Betrachtung auch als gültig vorausgesetzt werden. . Die Farbenblindheit der Peripherie; diehromatische und total- farbenblinde Zone. Gehen wir von den eben dargelegten allgemeinen Annahmen aus, so ge- nügen wenige fundamentale Beobachtungen, um das ganze Sehen einer exzentrischen Netzhautstelle in genügender Weise zu charakterisieren. Ehe wir jedoch dies tun, ist noch einer Komplikation zu gedenken, durch die es in gewissem Maße erschwert wird, hier ganz bestimmte Angaben zu machen. Wie eingangs erwähnt, erscheint ein farbiges Objekt im allgemeinen nicht mehr farbig, wenn es stark exzentrisch im Gesichtsfelde lieg. Man kann durch Perimeterbeobachtungen die Zentralabstände in verschiedenen Rich- tungen ermitteln, bei deren Überschreitung die Farbe verschwindet, und erhält so das, was man ein Farbengesichtsfeld zu nennen pflegt. Es zeigt sich nun aber sogleich, daß diese Farbengrenzen ungemein verschieden aus- fallen je nach der Lichtstärke, der Sättigung und vor allem auch der Aus- dehnung des benutzten Farbenobjekts. So fand z.B. Hess!) für ein bestimmtes Rot auf grauem Grunde die Grenze der Wahrnehmbarkeit im horizontalen . äußeren Meridian bei 20°, wenn der Durchmesser des rot erscheinenden Loches 7mm betrug ” 24°, ” n ” ” ” n 10 ” n n 27°, ” ” ” ” ” ” 14 ” N ” 320, n ” ” B2) n n 30 n n Über die Bedeutung dieser Momente gehen allerdings die Erfahrungen der Autoren einigermaßen auseinander. Nach Landolt?) sollen selbst auf der äußersten Peripherie alle Farben gesehen werden, sofern die Lichter mit hinreichender Intensität und in genügender Ausdehnung einwirken. Die meisten Autoren haben durch Vermehrung der Lichtstärke und Objektgröße die Grenze der Farbenerkennung nur mehr oder weniger hinausrücken sehen. Nach Beobachtungen Nagels (noch nicht publiziert) schränkt sich der Be- reich reiner Lichter, die auf der äußersten nasalen Peripherie des Gesichts- feldes farblos erscheinen, bei Anwendung höchster Lichtstärken allerdings sehr ein, ohne jedoch ganz zu verschwinden. Wie dem nun auch sein mag, V) Arch. f. Ophthalmol. 35 (4), 1. — ?) Graefe und Saemisch, Handbuch der Augenheilkunde 3, 70. s 198 Die invariabeln Farben nach Hess. so ist jedenfalls zu beachten, daß, wenn wir das exzentrische Sehen mit Ob- jekten von bestimmter Größe, Lichtstärke usw. prüfen, dasselbe unter speziellen, einigermaßen willkürlich gewählten Bedingungen dargestellt wird. Die Er- fahrung lehrt indessen, daß dies insofern von geringem Belang ist, als die vorzugsweise bedeutsamen Ergebnisse sich von jener Wahl nicht oder doch nur in untergeordneten Beziehungen abhängig erweisen. Ich folge in der Darstellung der Tatsachen zunächst den Untersuchungen von Hess (a. a. O.), der zu einer Anzahl einfacher und wohlverständlicher Regeln gelangte. Ihm zufolge zeigt sich, wenn man farbige Objekte mäßiger Größe (sei es spektrale Lichter, sei es Pigmentpapiere) in zunehmender Ex- zentrizität betrachtet, daß in relativ geringen Exzentrizitäten zwei bestimmte Farbentöne ihre farbige Erscheinung ganz einbüßen und rein grau erscheinen; sie werden, als Fleck auf einem rein grauen Grunde dargestellt, ihrer Um- gebung so vollkommen gleich, daß der Fleck gänzlich verschwindet. Diese Farben sind ein „Grün“ von 495 uu und ein „Rot“, welches aus spektralem Rot und einem mäßigen Zusatz von Blau gemischt ist. Nach den obigen allgemeinen Sätzen müssen wir erwarten, daß, wenn eine exzentrische Stelle ein bestimmtes Licht farblos sieht, sie auch dessen Komplementärfarbe farb- los wahrnimmt; dies bestätigt sich in der Tat, da die erwähnten beiden Farben wenigstens sehr annähernd komplementäre sind. — Es zeigt sich so- dann weiter, daß ein bestimmtes Gelb und ein bestimmtes Blau (574,5 uu und 47luu) in dieser Zone in demselben Farbenton wie zentral erscheinen. Hieraus geht nun schon hervor, daß wir das Sehen dieser Netzhautstellen (unter den vorausgesetzten Bedingungen) ein dichromatisches nennen dürfen. In der Tat ergibt sich aus dem Gesagten direkt, daß alle überhaupt vorkommenden Reizarten durch Mischungen eines gelben und eines blauen Lichtes erhalten werden können. Auch zeigt die Beobachtung der Empfin- dungen, daß alle Lichter von größerer Wellenlänge als 495 uu gelb, alle von kleinerer Wellenlänge blau gesehen werden. Ferner ergibt sich hieraus auch, daß farbige Objekte beim Übergang von zentraler zu exzentrischer Betrachtung im allgemeinen nicht bloß an Farbe verlieren, sondern auch Änderungen des Farbentones erfahren. Die Gesamtheit dieser Erscheinungen wird übersicht- lich, wenn man sich klar macht, daß alle Lichter von größerer Wellenlänge als 495 uu sich einer bestimmten Farbe, einem Gelb, alle von kleinerer Wellenlänge einem anderen, einem Blau, annähern. Grüngelb und Orange (auch das spektrale Rot) werden gelb; Blaugrün und Violett, sowie Purpur werden Blau. Man kann ferner hieran die Folgerung knüpfen, daß es vier und nur vier Farbentöne gibt, die beim Übergang vom direkten zum in- direkten Sehen keine Änderung ihres Farbentons erfahren, sondern ohne eine solche die Farbe einbüßen und farblos werden. Sie sind daher von Hess als ein invariables Rot, Gelb usw. bezeichnet worden. Geht man zu noch größeren Exzentrizitäten über, so hört auch die Empfindung des Gelb und Blau auf, und wir finden Netzhautbezirke, die (wiederum unter den vorausgesetzten Bedingungen) als total farbenblind (monochromatisch) bezeichnet werden können. Am leichtesten überzeugt man sich am nasalen Gesichtsfeldrande, daß alle Objekte, welcher Art ihr Licht auch sei, farblos erscheinen, jedes farbige Papierschnitzel auf grauem Grunde u Monochromatisches Sehen am Gesichtsfeldrande. — Peripheriewerte. 199 somit nur als heller oder dunkler Fleck gesehen wird. Auch am oberen und unteren Rande ist das gleiche leicht zu konstatieren, während am äußeren die Objekte schon sehr klein gewählt werden müssen, wenn dies Verhalten deutlich sein soll. Eine genauere Prüfung des unter solchen Umständen stattfindenden Sehens hat demnach nur die Aufgabe, die Helligkeitswerte der verschiedenen Lichter festzustellen, und diese Aufgabe ist ohne große tech- nische Schwierigkeit lösbar. Bestimmungen dieser Art sind zuerst von mir für homogene Lichter ausgeführt worden, gleichfalls unter Benutzung der Fleckmethode. h Die damals erhaltenen Werte zeigt die folgende Tabelle, in der auch zu- gleich die Dämmerungswerte aufgeführt sind (für beide ist der dem Natriumlicht entsprechende Wert — 100 gesetzt'). Wellenlänge. . . . 680 651 629 608 589 573 558 530 513 per Oo Bu 4X BU pp BE U BE O3 BR OR Peripheriewert . . . 9,6 37,5 77,5 101 100 79,6 52,2 28,5. 14,6 Dämmerungswertt . . ? 34 14,0 35,5 100 256 351 321 198 In der üblichen graphischen Darstellung zeigt Fig. 26 die Verteilung dieser Helligkeiten, zum Vergleich dazu diejenige der Dämmerungswerte im prismatischen Spektrum des Fig. 26. Gaslichtes. Das normale Auge sieht also (unter den mehr er- wähnten Bedingungen) an z, der äußersten Peripherie des ss + x Gesichtsfeldes alle Objekte + 7 > farblos, dabei die verschie- *” 7 T denenFarbenin Helligkeits- „,, Ä N verhältnissen, welche (wie z Mi - schon im vorigen Abschnitt 73 hervorgehoben wurde) von denen der Dämmerungs- werte vollständig verschie- » eaü - Pz 3 Bin den sind. m ir ne — = u Ich habe diese Werte ® In er, rn BEEumB Purınheriöwerte em mr m me MR Er We _ 6, z . Verteilung der Peripheriewerte (Helligkeiten für die total farben- der verschiedenen Lichter blinde Netzhautzone im helladaptierten Zustande) und bezeichnet; sie entsprechen der Dämmerungswerte — — — — — im prismatischen Spektrum des Gaslichtes. (worauf später noch zurück- zukommen ist) wenigstens annähernd denjenigen, die auch bei farbiger Wahrnehmung der Lichter im Wege direkter Vergleichung ermittelt werden. Farbengesichtsfelder. Was die Begrenzung der partiell und der total farbenblinden Netzhaut- zone anlangt, so geht aus dem oben angeführten schon hervor, daß jede An- gabe darüber nur von relativer Bedeutung sein kann. Zur Orientierung !) Zeitschr. f. Psychol. und Physiol. d. Sinnesorg. 15, 247. 200 ‚ . Farbengesichtsfelder. möge jedoch hier angeführt werden, daß nach Hess das Gesichtsfeld für sein invariables Rot und Grün (gesättigte Pigmentfarben) bei einer Objektgröße von etwa 3° sich nach innen etwa 21°, nach außen 43°, unten und oben bzw. 14 und 17° vom Zentrum!) erstreckte. Wichtiger ist, daß, wie Hess angibt, einerseits für Rot und Grün, anderseits für ein invariables Gelb und Blau stets übereinstimmende Grenzen gefunden wurden, wenn man die Farben so einrichtet, daß sie erstens gleiche physiologische Sättigung haben, d. h. in gleichen Mengen zusammengefügt eine farblose Mischung geben, und zweitens, wie es Hess ausdrückte, „gleiche Weißvalenz“ besitzen. Auch dieses Ergebnis kann nicht überraschen; man wird es vielmehr einigermaßen selbstverständ- lich finden können, daß gleich starke und entgegengesetzte Abweichung von der farblosen Erscheinung unter gleichen Bedingungen auch übereinstimmend an der Grenze der Wahrnehmbarkeit liegen. Als die eigentlich wichtige und nicht selbstverständliche Tatsache wird man aber das betrachten müssen, daß gerade die farblosen Lichtgemische überall unverändert wahrgenommen werden, und daß es die Abweichungen von dieser bestimmten Art der Emp- findung sind, die nach Maßgabe gewisser Schwellenwerte verschwinden. Die Untersuchungen von Hess sind übrigens gerade in diesem Punkte infolge der neueren Ermittelungen mit einer gewissen. Unsicherheit behaftet. Denn wenn Hess für seine zu vergleichenden Farben gleichen „Weißwert“ forderte und der Meinung war, daß sie alsdann sowohl im Dämmerungssehen, wie im exzen- trischen Tagessehen gleich erscheinen müssen, so wissen wir nun, daß diese beiden Forderungen überhaupt im allgemeinen nicht zugleich erfüllt werden können. Ein rotes und ein grünes Licht können wohl dämmerungsgleich oder peripheriegleich, aber nicht beides zusammen sein. Nach den gegenwärtigen Anschauungen wird es sich empfehlen, in der Untersuchung der exzentrischen Netzhautfunktion (auch z. B. in pathologischen Fällen) das Dämmerungssehen für sich, den Farbensinn aber unter den Bedingungen des Tagessehens zu prüfen. Man sollte hiernach auch gegenfarbige Muster verwenden, die gleichen Farben- und Peripheriewert be- sitzen (nicht aber gleichen Dämmerungswert). Eine Wiederholung der Hessschen Untersuchungen in dieser Weise wäre wohl nicht überflüssig. Exzentrisches Sehen der Dichromaten. Die der Netzhautperipherie eigenen Beschränkungen des Farbensinnes gewinnen noch an Interesse, wenn wir neben dem bisher allein berücksichtigten normalen Sehorgan auch andere, insbesondere die dichromatischen in Betracht ziehen. Und zwar wird sich zunächst fragen, wie sich das hier eben kennen gelernte dichromatische Sehen zu dem zentralen oder parazentralen solcher Personen verhält; außerdem wird auch das exzentrische Sehen der Dichromaten selbst zu prüfen sein. Die Angaben, die wir oben über das dichromatische Sehen der Peripherie machten, gestatten, da sie nicht quantitativ sind, eine direkte Vergleichung mit den für Protanopen oder Deuteranopen geltenden Verhältnissen nicht ohne weiteres. Indessen lehrt der direkte Vergleich mit großer Sicherheit, daß die Verwechslungsgleichungen einer normalen Peripherie annähernd mit denen der Deuteranopen überein- stimmen, von denen der Protanopen dagegen durchaus ver- schieden sind. Vorzugsweise charakteristisch treten diese Dinge an den ') A. a. 0.8. 45 und 46. Die obigen Zahlen sind aus den dort aufgeführten auf Grund der Versuchsdaten umgerechnet. Exzentrisches Sehen der Dichromaten. 201 farblos erscheinenden Rot-Blau-Gemischen zutage. Ein solches, für die Peripherie eines normalen Auges richtig hergestellt, wird von dem Deuter- ' anopen bei zentraler und, wie hinzugefügt werden kann, auch bei ähnlich exzentrischer Beobachtung für farblos und dem umgebenden grauen Grunde auch an Helligkeit gleich erachtet, oder die Abweichungen überschreiten doch kaum die Grenze der unvermeidlichen zufälligen Fehler. Ob hier wirklich eine genaue Übereinstimmung besteht, muß allerdings bei der nur be- schränkten Genauigkeit, die diese Beobachtungen erreichen, besonders wegen der nie absolut auszuschließenden Einmischung der Dunkeladaptation, dahin- gestellt bleiben. Ich komme auf diese Frage sogleich wieder zurück. Dem Protanopen erscheint ein solches Gemisch unter den gleichen Bedingungen dagegen lebhaft blau und viel zu dunkel; dieser muß also, um eine Gleichung mit dem gemischten Grau der Umgebung zu erhalten, das Rot sehr viel licht- stärker machen und ihm einen weit kleineren Blauzusatz geben. Man sieht also, daß der Unterschied des protanopischen und des deuteranopischen Sehorgans auch für solche stark exzentrischen, jedoch noch diehromatisch sehenden Netzhautstellen in vollem Maße und in ren derselben Weise wie zentral oder parazentral besteht. Ähnlich liegen die Dinge für das monochromatische Sehen der äußersten Peripherie. Wie zu erwarten und leicht zu konstatieren, findet sich dieses auch bei den Dichromaten; und die methodisch nicht schwierige Unter- suchung führt hier zu Er- Fig. 27. gebnissen, die zum Teil wenigstens ebenso einfach als sicher sind. Es zeigt sich nämlich, daß für das pro- tanopische Sehorgan auch hier (bei durchweg farblosem = 7 H rS Sehen) die Helligkeitsver- pr hältnisse der verschiedenen Lichter vollkommen andere “= sind als für dasnormaleund sul I I 15 r es deuteranopische Auge. Auch Verteilung der Peripheriewerte im prismatischen Spektrum hier zeigt sich die Unemp- des Gaslichtes ee en = und für das findlichkeit des Protanopen für die langwelligen Lichter in ganz charakteristischer Weise. Ich führe als Beleg für dieses (seitdem noch vielfach konstatierte Verhalten?!) die folgende kleine Tabelle an, deren Inhalt in Fig. 27 veranschaulicht wird. Wellenlänge . . . . 680 651 629 608 589 573 558 530 513 un uu u gu Mu u u um uk 2 573 Peripheriewerte f. die Rotblinden . . . 41? 107 34,0 —- 10 — 10 — 36,4 Peripheriewerte f. die Farbentüchtigen . . 9,6 37,5 77,5 101 100 79,6 52,2 28,5 14,6. Was das deuteranopische Sehorgan anlangt, so überzeugt man sich leicht, daß es mit dem normalen annähernd übereinstimmt. !) So z. B. von v. d. Wejde, Onderzoekingen, Utrecht, 4, III, 2. 2023 Das exzentrische Sehen nach der Vierfarbentheorie. Für eine Entscheidung darüber, ob diese Übereinstimmung wirklich eine ge- naue ist, scheinen die exakteren Untersuchungsbedingungen des monochromatischen Sehens zwar bessere Chancen zu bieten, als sie bei dem dichromatischen Sehen gegeben waren. Trotzdem ist es mir bei den hierauf gerichteten Untersuchungen nicht gelungen, zu einem ganz sicheren Ergebnis zu gelangen. Es erscheint nicht unwahrscheinlich, daß in dem deuteranopischen Auge gegenüber dem normalen die langwelligen Lichter etwas bevorzugt sind und das Helligkeitsmaximum dem roten Ende etwas näher liegt; doch sind die Unterschiede so gering, daß über ihre Be- deutung vorderhand jedenfalls Zweifel bestehen können. Über die Art der Untersuchung und über die Unsicherheit, die den Ergeb- nissen namentlich mit Rücksicht auf die Adaptationsverhältnisse anhaftet, vergleiche meine Abhandlung: Zeitschr. f. Psychol. und Physiol. der Sinnesorg. 15, 268. Theoretisches. Die Beschränkung des Farbensinnes in der Netzhautperipherie läßt sich, wie man auf den ersten Blick sieht, mit den Grundgedanken der Vierfarben- theorie in der ansprechendsten Weise in Verbindung bringen. Auch hat Hering gerade in dieser Gruppe von Tatsachen eine besonders wichtige Stütze seiner Theorie erblickt. In der Tat kann man sagen, daß aus der Gesamtheit der Empfindungen sich zunächst die der farblosen Helligkeit herausheben als diejenigen, die bis in die äußerste Peripherie bestehen bleiben; von ihnen sondert sich die Gesamtheit der Farbenempfindungen ab als unter relativ weniger günstigen Bedingungen stehend und daher durch starke Exzentrizität, Kleinheit des farbigen Feldes usw. jedenfalls zum Ver- schwinden zu bringen. Innerhalb der farbigen Bestimmungen aber scheinen dann wieder zwei Reihen sich in ungleicher Weise zu verhalten, indem bei wachsender Exzentrizität die eine am schnellsten, die andere am langsamsten abnimmt. Die eine würde die Farben umfassen, die von einem etwas bläu- lichen Rot zu einem (durch ein homogenes Licht der Wellenlänge 495 uu bezeichneten) Grün führen, die andere die Gelb-Blau-Reihe. Also nicht nur die Ablösung der farbigen Empfindungen von den farblosen Helligkeits- empfindungen, sondern auch ihre Zerspaltung in den Rot-Grün- und den Gelb-Blau-Sinn konnte hier direkt ad oculos demonstriert erscheinen. Und man kann sich, wie es scheint, die Dinge in einer vollkommen befriedigenden Weise zurechtlegen, wenn man annimmt, daß mit wachsendem Abstand vom Netzhautzentrum einerseits der Rot-Grün-Sinn, anderseits der Gelb-Blau- Sinn abnehme, der erste aber weit schneller als der andere. In den Erscheinungen des exzentrischen Sehens bietet sich ferner die Möglichkeit für eine Bestimmung der Weißvalenzen, die, wie oben gezeigt, jedenfalls nicht mit den Dämmerungswerten identifiziert werden können. Wir dürfen hier ganz direkt an die ursprüngliche Darstellung Herings an- knüpfen; nach ihr sollte es zur Ermittelung der Weißwerte zwei Wege geben, beide darin übereinstimmend, daß unter Fortfall der Farbenempfindungen die Tätigkeit der schwarz-weißen Sehsubstanz allein bemerkbar wäre: einerseits die Beobachtung bei geringen Lichtstärken und mit dunkel adaptiertem Auge, anderseits die Beobachtung auf stark exzentrischen Netzhautstellen. Die Erfahrung lehrt ja nun, daß diese beiden Methoden absolut ver- schiedene Resultate ergeben; und gerade hierin liegt, wie oben gezeigt, die Notwendigkeit, den Dämmerungswerten eine andere Bedeutung zuzuschreiben. Dem ursprünglichen, wie mir scheint, vollkommen einleuchtenden und ein- Ficks Theorie der peripheren Farbenblindheit. 203 wurfsfreien Gedanken folgend wird man auf die damals angegebene zweite Methode rekurrieren müssen und die Weißwerte aus den Helligkeiten ent- . nehmen, in denen die verschiedenen Lichter wahrgenommen werden, wenn sie auf der helladaptierten äußersten Peripherie des Gesichtsfeldes (farblos) gesehen werden. Eine im Sinne der Duplizitätstheorie ergänzte Vierfarben- lehre würde also in den von mir als Peripheriewerte bezeichneten Beträgen ihre Weißvalenzen erblicken müssen, d. h. die Stärke der Wirkung auf den Schwarz-Weiß-Bestandteil der farbentüchtigen beim Tagessehen funktio- nierenden Organe. Die speziellere Betrachtung führt aber doch auch hier auf mancherlei Schwierigkeiten. Zunächst muß die Frage erhoben werden, ob die Lichter, die durch ihr Farbloserscheinen in der dichromatischen Zone eine ausgezeich- nete Stellung einnehmen, wirklich dieselben sind, die bei zentraler oder para- zentraler Betrachtung „rein rot“ oder „rein grün“ erscheinen. Hess fand, wie erwähnt, das reine oder invariable Grün, dasjenige Licht, welches exzen- trisch weder Gelb noch Blau wird, bei 495 uu. Lichter von dieser, selbst noch etwas größerer Wellenlänge werden aber im allgemeinen schon entschieden bläulich genannt. Daß dieser Unterschied, wie Hess angibt, auf der durch die gelbrote Valenz des Tageslichtes bewirkten Umstimmung des Sehorgans beruhe, erscheint zwar denkbar, aber jedenfalls (in Ermangelung ausgedehn- terer Angaben über die Aufsuchung eines subjektiv reinen Grün bei neutral gestimmtem Auge) nicht mit der Sicherheit erwiesen, die man wohl wünschen könnte. Von noch größerer Bedeutung ist der uns auch hier wieder be- gegnende Unterschied des protanopischen und deuteranopischen Sehorgans und insbesondere das eigenartige und charakteristische Verhalten des ersteren bei dem durchweg farblosen Sehen der äußersten Peripherie. Wie die Vier- farbentheorie überhaupt von dem Unterschied der beiden Dichromatenarten keine Rechenschaft gibt, so erweist sie sich auch hier als unzulänglich. Und nehmen wir, wie oben als notwendig gezeigt wurde, die Helligkeiten der ver- schiedenen Lichter bei exzentrischem farblosen Sehen als Maß für ihre „Weißvalenz“, so werden wir zu der Annahme gezwungen, daß im protano- pischen Sehorgan mit dem Mangel des Substrates des Rot-Grün-Sinnes regel- mäßig auch eine ganz bestimmte tiefgreifende Modifikation der schwarz- weißen Sehsubstanz vorliegt. Es versteht sich von selbst, daß die uns hier beschäftigenden Tatsachen auf dem Boden einer Dreikomponententheorie nicht so einfach erklärt werden können. In der Tat sieht man ohne weiteres, daß die Erscheinungen sich durch eine verminderte Tätigkeit oder durch einen gänzlichen Ausfall der einen oder anderen Komponente nicht verständlich machen lassen. Allerdings hat Fick!) auf die Möglichkeit hingewiesen, daß die Valenzkurven der von der Young-Helmholtzschen Theorie angenommenen Bestandteile nicht an allen Stellen der Netzhaut die gleichen sein, sondern gegen die Peripherie hin sich allmählich ändern möchten. Nimmt man an, daß sie sich einander annähern, so wird eine allmähliche Reduktion der Farbenerscheinungen resultieren; haben alle drei Komponenten die gleiche Valenzkurve, so werden stets alle drei in demselben Verhältnis in Tätigkeit gebracht werden, das Sehen also ein mono- !) Fick, Verhandl. d. Phys.-med. Ges. zu Würzburg 5, 129, 1873, und Arch. f. d. ges. Physiol. 47, 274. 204 Kombination der Helmholtzschen und der Vierfarbentheorie. chromatisches sein; besitzen zwei die gleiche, eine aber eine noch abweichende Valenzkurve, so wird ein dichromatisches Sehen resultieren. Auch kann man, wie Fick gezeigt hat, auf Grund gewisser weiterer Annahmen eine Erklärung dafür finden, daß zentral gleich erscheinende Licht- gemische auch exzentrisch gleich gesehen werden (was sich hier zunächst nicht von selbst versteht, sondern eine bestimmte Beziehung der exzentrischen zu den zentral geltenden Valenzkurven voraussetzt). Ich unterlasse die Erörterung mancher Schwierigkeiten, die sich bei dieser Vorstellung ergeben, um auf einen Punkt hinzuweisen, der mir von entscheidender Bedeutung zu sein scheint. Dies ist die Relativität der Farbengrenzen und die Abhängig- keit der Farbenerkennung insbesondere von der Ausdehnung der gesehenen Objekte. Diese Tatsache (es ist darauf an späterer Stelle noch zurück- zukommen) beweist meines Erachtens ganz unzweideutig die ausgezeichnete Stellung, die gerade den farblosen Empfindungen zukommt. Für die Farben gibt es Schwellenwerte; auf die Farblosigkeit wird die Empfindung immer reduziert, wenn die Felder verkleinert werden. Will man hiervon Rechen- schaft geben, so muß man sich zu der weiteren Annahme verstehen, daß das Stärkeverhältnis der Tätigkeit in den drei Komponenten nicht ohne weiteres für die Empfindung bestimmend sei, sondern daß gerade die Abweichung von einem bestimmten Verhältnis noch besonderer Bedingungen bedarf, um wirksam zu werden, und daß sie bei kleinen Feldern unwirksam bleiben kann. Nimmt man aber dies an, so erscheint es wohl viel näher liegend, das Zu- rücktreten der Farbenempfindung im exzentrischen Sehen ganz auf jene anderen Bedingungen zurückzuführen und eine Änderung der Valenzkurven überhaupt nicht anzunehmen. Man gelangt so zu der Vorstellung, die bereits oben bei Besprechung der Helmholtzschen Theorie erwähnt wurde, daß die hier angenommene Komponentengliederung die Bildung zwar eines Teiles, aber nicht des ganzen Sehorgans bezeichne, vielmehr ihre Tätigkeiten zentral- wärts sich in Vorgänge anderer Art umsetzen. Geht man davon aus, daß eine Anzahl von Erscheinungen, unter denen zunächst die Sehweise der Di- chromaten zu nennen wäre, eine Bildung des Sehorgans in der von Helm- holtz angenommenen Weise wahrscheinlich macht, anderseits das Sehen der exzentrischen Netzhautstellen hieraus nicht erklärt werden kann, sondern auf eine der Vierfarbentheorie entsprechende Gestaltung mit Notwendigkeit hin- weist, so wird man auf die Vermutung geführt, daß in irgend einer Weise eine Aneinanderschließung der einen und der anderen Bildung gegeben sei und aus diesem Grunde Modifikationen der ganzen Funktion sowohl in der einen, wie in der anderen Weise stattfinden können. Dies ist der Grund- gedanke derjenigen theoretischen Auffassung, die, wie wir sehen werden, in der Tat wohl dem ganzen gegenwärtigen Stande unseres Wissens am besten entsprechen dürfte, auch derjenigen übrigens, zu der ich schon vor 22 Jahren gelangt bin!), sowie der von Donders?) vertretenen. Eine genauere Prüfung und Erörterung derselben bleibt einer späteren Stelle vorbehalten; es genügt hier, auf sie als das Ergebnis eines Vergleiches zwischen den an- geborenen Anomalien des Farbensinnes und der Farbenblindheit der Netz- hautperipherie kurz hinzuweisen. ') v. Kries, Die Gesichtsempfindungen usw., Leipzig 1882. — *) Arch. f. Oph- thalmole 2:6 1.175. | Allgemeines über Nachbilder. 205 VI. Positive und negative Nachbilder. Lokale und Farben- umstimmungen des Sehorgans. Positive und negative Nachbilder. Im vierten Kapitel sind nur diejenigen Zustandsänderungen des Seh- organs behandelt worden, die zur Beobachtung kommen, wenn wir in stark oder schwach (ev. gar nicht) erleuchteter Umgebung uns aufhalten, das Auge in toto also das eine Mal hohen, das andere Mal geringen oder gar keinen Lichtreizen für längere Zeit ausgesetzt wird. Eine Fülle andersartiger Tat- sachen wird bemerkbar, wenn wir verschiedene Teile der Netzhaut ver- schieden belichten und auf diese Weise örtliche Unterschiede des Verhaltens herbeiführen. Fixiert man einen Punkt irgend eines äußeren Objektes, so daß dessen Bild für nicht gar zu kurze Zeit auf derselben Netzhautstelle liegt, so erhält man eine Differenzierung der Netzhautteile, die mit großer Genauigkeit der im Netzhautbilde stattgefundenen Lichtverteilung entspricht. Dies macht sich in der Weise bemerklich, daß, sobald wir die ganze Netz- hautpartie unter gleiche Bedingungen bringen, nunmehr die Empfindung in einer Weise differenziert erscheint, die dem vorher zur Einwirkung ge- langten Netzhautbilde, somit auch dem vorher fixierten Gegenstande entspricht; es wird jetzt subjektiv eine Erscheinung gesehen, die man als Nachbild des betreffenden Gegenstandes bezeichnet. Schon sehr einfache Beobachtungen zeigen, daß diese Nachbilder von verschiedener Natur sind. Hat man ein recht lichtstarkes Objekt für einige Sekunden betrachtet und verdunkelt dann die Augen vollständig, so sieht man in dem sonst dunkeln Gesichts- felde ein helles Nachbild jenes Gegenstandes; es gleicht dem Vorbild, sofern in diesem verschiedene Teile von ungleicher Helligkeit vorhanden sind, in bezug auf die Verteilung der Helligkeit und wird aus diesem Grunde als positives Nachbild bezeichnet. Nach Einwirkung starker farbiger Lichter zeigen sich diese Nachbilder im allgemeinen dem Vorbilde gleich oder wenig- stens ähnlich gefärbt, und man spricht daher von positiven gleich- gefärbten Nachbildern. — Wenn man anderseits nach einer etwas länger dauernden Fixation eines hellen Gegenstandes die Augen gegen eine gleich- mäßig und nicht zu schwach erleuchtete Fläche richtet, so sieht man dem vorher gesehenen Gegenstande entsprechend einen dunklen Fleck; enthielt jener Gegenstand Teile von ungleicher Helligkeit, so sieht man diese hier nun auch wieder, jedoch in verkehrter Verteilung: den helleren Teilen des Vorbildes entsprechen die dunkleren des Nachbildes .und umgekehrt; dieses kann also, ähnlich wie die durch Schwärzung der photographischen Platte erzeugten Bilder, ein negatives genannt werden. War der fixierte Gegenstand farbig oder enthielt er farbige Teile, so erscheinen die ent- sprechenden Partien im negativen Nachbilde farbig, und zwar (wenigstens annähernd) in der komplementären Färbung des Vorbildes; man spricht dem- gemäß von negativen komplementär gefärbten Nachbildern. Zur Beobachtung der wichtigsten hierher gehörenden Erscheinungen sind sehr einfache Verfahrungsweisen genügend. Läßt man ein recht helles Objekt (Auer- strumpf, die Bogenlampe, die Sonne, einen durch Himmelslicht erleuchteten Aus- schnitt im Fensterladen usw.) für kurze Zelt auf das Auge einwirken, indem man die Lider öffnet und sofort wieder schließt, so kann man die positiven Nach- 206 Fechners Theorie der Nachbilder. bilder ohne Schwierigkeit beobachten; man erkennt Form und Details des Vor- bildes um so genauer wieder, je weniger das Auge während der Exposition ge- schwankt hat. Zur Beobachtung der negativen Nachbilder lege man ein weißes oder farbiges Schnitzel auf ein größeres Stück grauen Papieres und fixiere eine auf diesem angebrachte Marke 10 bis 30 Sekunden lang. Zieht man dann, ohne die Blickrichtung zu ändern, das Schnitzel fort oder wendet man den Blick auf eine andere Stelle des grauen Grundes, so erblickt man das negative Nachbild des Schnitzels. — Die Nachbilder werden, da sie bestimmten Teilen der Netzhaut ent- sprechen, selbstverständlich immer an derselben Stelle des Gesichtsfeldes wahr- genommen und erscheinen daher mit dem Auge beweglich. Sie teilen demgemäß auch die eigentümlichen Schwierigkeiten der Sichtbarkeit, die man bei den ent- optischen Erscheinungen bemerkt. Lassen wir, nachdem ein Nachbild entwickelt worden ist, das Auge in gewöhnlicher Weise über die äußeren Gegenstände hin- gleiten, so ist es in der Regel gar nicht bemerkbar. Erst wenn wir den Blick fixieren, wird es deutlich, und man hat oft den Eindruck, als ob es sich erst in einiger Zeit zu seinem vollen Retrage entwickele. Fechner-Helmholtzsche Auffassung der positiven und negativen Nachbilder. Bei einigermaßen stark entwickelten Nachbildern kann man sich häufig überzeugen, daß ein bestimmter Zustand einer Netzhautstelle sowohl als positives wie als negatives Nachbild zur Erscheinung kommen kann. Wenn man einen hellen Gegenstand fixiert hat, so sieht man nach einiger Zeit, sobald man das Auge verdunkelt, das Nachbild hell auf dunklem Grunde, also als positives; betrachtet man dagegen eine gleichmäßig helle Fläche von nicht zu geringer Lichtstärke, so erscheint das Nachbild dunkel auf heller Umgebung, also als negatives. Zwischen diesen beiden Erscheinungsweisen kann man bei stark entwickelten Nachbildern nach Belieben vielmals ab- wechseln. Nach der von Fechner zuerst entwickelten, dann auch von Helmholtz acceptierten Anschauung haben wir dies so aufzufassen, daß an der betreffenden (vorher belichteten) Stelle eine verminderte Empfänglichkeit gegenüber einem neu einwirkenden Lichtreiz besteht; diese verursacht (bei Betrachtung einer hellen Fläche) das negative Nachbild. Zugleich besteht aber eine gewisse Nachwirkung des vorher bestandenen Reizes (den auf anderen Gebieten der Physiologie vielfach bekannten Nachwirkungen ver- gleichbar), der zufolge bei Fehlen äußerer Reize an der vorher belichteten Stelle noch längere Zeit hinterher eine gewisse Helligkeit gesehen wird. Die erwähnte Kombination des positiven und negativen Nachbildes ist hiernach leicht verständlich, und man kann (unter gewissen Voraussetzungen) die Stärke der Belichtung berechnen, bei der eine solche Netzhautstelle gar kein Nachbild zeigt. Diese Auffassung vermag auch einer weiteren hier sogleich anzu- schließenden Gruppe von Erscheinungen ohne Schwierigkeit gerecht zu werden. Unter manchen, später noch etwas genauer darzustellenden Be- dingungen sieht man nämlich auch bei vollständiger Verdunkelung des Auges negative Nachbilder.. Hieraus folgt, daß der Empfindungszustand des Sehorgans auch bei Abwesenheit aller äußeren Reize ein sehr verschiedener sein kann, und zwar verschieden in eben denjenigen Beziehungen, in denen er auch durch die Einwirkung von Lichtreizen veränderlich ist. Es ergibt sich also, daß eben diejenigen Prozesse, die durch den Lichtreiz Nachdauer der Erregung und Umstimmung. 207 hervorgerufen werden, sich stets, aber in einem nach dem jewei- ligen Zustande sehr veränderlichen Maße abspielen. Man pflegt dies so aufzufassen, daß im Sehorgan stets gewisse, in ihrer Wirkung der- jenigen des Lichtes vergleichbare innere Reize vorhanden sind, deren Effekt aber ebenfalls durch die Erregbarkeitszustände mitbestimmt werden würde. Man kann sich dann vorstellen, daß eine längere Zeit von weißem Licht getroffene Netzhautstelle ihre veränderte Empfänglichkeit gegen Reize wesentlich länger behält, als die eigentliche Nachwirkung des Lichtes dauert. Ist die letztere nahezu oder ganz geschwunden, so wird die betreffende Stelle auch im ganz verdunkelten Auge wegen der veränderten Wirkung der inneren Reize mit einer anderen Empfindung, z. B. der eines tieferen Schwarz, sich von der Umgebung abheben. Wir schließen uns dieser Auffassung im resp auch an und sondern hiernach die Lehre von der wechselnden Reizempfänglichkeit des Sehorgans, die ich im Anschluß an Hering als seine „Stimmung“!) bezeichnen will, von der Darstellung der zeitlichen Verhältnisse der durch einen Reiz aus- gelösten Erregungsvorgänge. Der folgenden Besprechung der Umstimmungs- erscheinungen haben wir dann nur noch den Hinweis vorauszuschicken, daß ihnen auch die früher bereits behandelten Vorgänge der Adaptation zuzu- rechnen sind. Es war aus Gründen der Darstellung notwendig, diese zuerst herauszugreifen ; naturgemäß aber werden im folgenden auch sie wieder viel- fach berührt und herangezogen werden müssen. _ Die Fechner-Helmholtzsche Auffassung würde ein relativ einfaches Ver- ständnis der gesamten Nachbilderscheinungen vor allem unter der weiteren Voraus- setzung ergeben, daß die Wirkung eines Reizes nach dessen objektivem Aufhören allmählich nachläßt (abklingt) und daß auch die Modifikation der Erregbarkeit, die ein Reiz herbeiführt, sich während seiner Einwirkungszeit entwickelt, um nach Aufhören des Reizes wieder zu schwinden, mit anderen Worten, daß für die beiden hier angenommenen Momente einfache zeitliche Verhältnisse bestehen. Nun ist allerdings schon den erwähnten älteren Autoren bekannt gewesen, daß dies nicht in strenger Weise der Fall ist, sondern hier mancherlei Abweichungen und Kom- plikationen stattfinden. Die Untersuchungen des letzten Jahrzehnts haben in dieser Hinsicht noch eine große Menge weiterer Tatsachen ans Licht gebracht. Trotzdem ist meines Erachtens durch den erwähnten Fechnerschen Grundgedanken (ganz abgesehen von jeder theoretischen Deutung) der Weg vorgezeichnet, auf den wir auch schon für die Gewinnung einer rein empirischen Übersicht angewiesen sind. Denn da der durch Lichtwirkung modifizierte Zustand einer Netzhautstelle jedenfalls nicht durch einen einheitlichen Wert erschöpfend bezeichnet werden kann, so wird es sich immer empfehlen, einerseits zu prüfen, wie seine Reaktionsweise gegen einwirkende Lichter geändert ist und anderseits, wie er sich ohne Belichtung ver- hält. Ob es auch für den letzteren Fall gerechtfertigt ist, die veränderte Empfäng- lichkeit gegenüber inneren Reizen von einer in bestimmter Weise abklingenden Nach- dauer der durch die Lichtreize hervorgerufenen Erregungszustände zu trennen, kann allerdings zweifelhaft erscheinen; und ich möchte dies namentlich hinsichtlich der (im folgenden Kapitel zu besprechenden) komplizierten Vorgänge, die sich in der unmittelbaren Folge kurz dauernder Reize abspielen, dahingestellt lassen. Da- gegen ist es meines Erachtens namentlich für die negativen Nachbilder, die einige Zeit nach Aufhören der Reize bei verdunkeltem Auge gesehen werden, die ein- !) Ich bevorzuge diesen ganz allgemeinen Ausdruck vor dem ursprünglich von Helmholtz benutzten der Ermüdungen, weil dieser von einer bestimmten nicht unbestrittenen theoretischen Auffassung ausgeht, und es sich jedenfalls empfiehlt, in der Beschreibung der Erscheinung der theoretischen Deutung nicht vorzugreifen. 208 Eigenlicht. — Negative Nachbilder bei verdunkeltem Auge. fachste und nächstliegende Auffassung, in ihnen den durch die Umstimmung ver- änderten Erfolg der inneren Reize zu erblicken; und es erscheint aus diesem Grunde angemessen, auch diese Erscheinungen in dem gegenwärtigen den Umstimmungs- erscheinungen gewidmeten Kapitel zu behandeln. Einfluß der Stimmung auf das Verhalten des Sehorgans bei Abwesenheit von äußeren Reizen. Wird das Auge, sei es durch Bedeckung, sei es, daß man in einem ganz verdunkelten Raum verweilt, vor Lichteinfall vollkommen geschützt, so sieht man im allgemeinen gleichwohl eine Reihe eigenartiger Erscheinungen, die man als das Eigenlicht der Netzhaut (nach Helmholtz), auch wohl als Lichtchaos, Lichtstaub, Nebelwallen usw. bezeichnet. Helmholtz beschreibt sie als „mannigfach sich wandelnde Lichtflecke, die häufig Gefäßveräste- lungen oder ausgestreuten Moosstielchen und Blättern ähnlich sind“. Ferner geben die Erscheinungen oft den Eindruck langsam im Gesichtsfelde fort- schreitender Wellenzüge, z. B. von „Systemen kreisförmiger Wellen, die lang- sam gegen ihre Mittelpunkte zu beiden Seiten des Gesichtspunktes zu- sammenlaufen“. (Helmholtz). Die Zustände des Sehorgans sind also bei Abwesenheit aller äußeren Reize mannigfaltigen, einer bestimmten Regel nicht unterzuordnenden Schwankungen (wenn auch wohl immer nur von geringem Betrage) unter- worfen. Viel umfangreichere Veränderungen dieser Zustände können durch vorherige lokale Belichtungen der Netzhaut hervorgerufen werden, und wir kommen hiermit auf die vorhin schon berührte Erscheinung der negativen Nachbilder bei verdunkeltem Auge. Um diese Erscheinungen gut zu beob- achten, tut man gut, nicht gar zu helle Vorbilder zu benutzen (nicht Kerzen- oder Lampenflammen oder noch hellere Lichtquellen, sondern etwa weiße Objekte in gewöhnlicher Tagesbeleuchtung auf dunklem Grunde), diese aber etwas länger, 20 bis 60 Sekunden zu fixieren. In diesem Falle ist nach Ver- dunkelung des Auges das positive Nachbild nur von geringem Betrage und schwindet bald ganz, um dem dann während längerer Zeit beobachtbaren negativen Platz zumachen. An der vorher hellen Stelle des Gesichtsfeldes sieht man nunmehr ein tiefes Schwarz, welches viel dunkler erscheint als die anderen Teile des Gesichtsfeldes. Das dunkle Nachbild ist von einem hellen Saume, dem sogenannten Lichthofe, umgeben, eine Erscheinung, auf die an späterer Stelle zurückzukommen ist. Macht man den gleichen Versuch mit einem farbigen Objekt auf schwarzem Grunde, so erscheint das Nachbild dunkel und zugleich gegenfarbig. Im ganzen läßt sich daher sagen, daß die Erscheinungen von der gleichen Art sind, wie sie oben bereits für den Fall geschildert wurden, daß das negative Nachbild durch Betrachtung einer mäßig hellen farblosen Fläche erzeugt wird; sie lassen sich also so auffassen, als ob die Wirkung der inneren Reize etwa der eines schwachen farblosen Lichtes vergleichbar wäre. Einfluß der Stimmung des Sehorgans auf die durch Licht- reize hervorgerufenen Erfolge. Die Modifikation der Liehtwirkungen durch die Stimmung des Sehorgans umfaßt naturgemäß ein sehr großes Gebiet von Tatsachen, da sowohl die die Umstimmung bewirkenden Lichter ganz beliebig gewählt, als Prüfung der Umstimmungen. — Allgemeine Sätze. 209 auch der so erzeugte Zustand mit den mannigfaltigsten Lichtern geprüft werden kann. Im Anschluß an die von Helmholtz eingeführten Bezeich- nungen kann dasjenige Licht, durch dessen Einwirkung die Stimmung einer Netzhautpartie modifiziert worden ist, das „umstimmende“ genannt werden. Ferner nennen wir dasjenige Licht, das wir auf die vorher belichtete Netz- hautstelle fallen lassen, das „reagierende“. Soll der Erfolg der Umstim- mung genau dargestellt werden, so kann dies so geschehen, daß man ein anderes Licht herzustellen sucht, das, auf die benachbarte (vorher nicht belichtete) Stelle wirkend, die gleiche Empfindung erzeugt wie das reagie- rende. Dieses Licht wird Vergleichslicht genannt. Das Verhältnis des reagierenden zum Vergleichslicht läßt uns also erkennen, in welcher Weise die Lichtwirkung durch die lokale Umstimmung verändert worden ist. Die Brauchbarkeit dieser Bezeichnungen ist, wie ich betonen möchte, nicht an die Annahme geknüpft, daß durch Belichtung gerade nur die-Stimmung der vom Lichte getroffenen Netzhautstelle geändert, die der Nachbarteile aber unver- ändert gelassen wird. Ob dies der Fall ist oder ob (in der namentlich von Hering angenommenen Weise) durch Belichtung einer Partie auch die Stimmung der Nachbarteile modifiziert wird (wovon im Kapitel VIII zu reden ist), bleibt hier ganz dahingestellt. Das Verhältnis des reagierenden zum Vergleichslicht gibt uns, allgemein gesagt, eine Anschauung nicht von der Umstimmung des belichteten Teiles, wohl aber von dem zwischen den belichteten und den Nachbarteilen her- vorgebrachten Stimmungsunterschied. Persistenz der optischen Gleichungen. Eine erschöpfende Darstellung der uns hier beschäftigenden Erschei- nungen würde für beliebige umstimmende und beliebige reagierende Lichter die Vergleichslichter anzugeben haben; sie würde dann erkennen lassen, wie das Aussehen jedes Lichtes durch irgendwelche Stimmungs- änderungen beeinflußt wird. Ganz im allgemeinen nun kann man die hier geltenden Regeln leicht angeben. Nach der schon oben gegebenen Beschrei- bung der negativen Nachbilder kann man sagen, daß die Reizung einer Netz- hautstelle mit beliebigem Licht stets ihre Disposition für die Wirkung eben dieses Lichtes herabzusetzen und die Disposition für einen gegensätzlichen Vorgang zu erhöhen scheint. In der Tat sehen wir ja, daß bei Betrachtung eines gleichmäßig hellen Grundes die vorher weiß belichtete Stelle dunkel, die vorher rot belichtete grün empfindet usw. Eine genauere, namentlich auch messende Verfolgung der Erscheinungen stößt indessen schon durch die große Mannigfaltigkeit der Fälle (jede Umstimmung kann mit sehr zahl- reichen reagierenden Lichtern geprüft werden) auf große Schwierigkeiten; man kann daher zweckmäßig versuchen, in die Fülle der Erscheinungen zu- nächst durch die Prüfung einiger ganz allgemeiner Fragen eine gewisse Vereinfachung zu bringen. Die wichtigste der hierher gehörenden Fragen ist die, ob die Gesetze der Lichtmischung durch die Stimmungen des Seh- organs beeinflußt werden. Offenbar vereinfachen sich die Tatsachen in einer sehr bedeutungsvollen Weise, wenn wir annehmen dürfen, daß Lichter oder Lichtgemische, die bei irgend einer Stimmung gleich erscheinen, dies auch bei jeder anderen tun oder daß die Stimmungen des Sehorgans auf die optischen Gleichungen ohne Einfluß sind. Ist nun dies der Fall? Schon aus den im vierten Kapitel besprochenen Tatsachen geht hervor, daß, ganz all- Nagel, Physiologie des Menschen. III. 14 210, Persistenz der optischen Gleichungen. gemein gesprochen, dies jedenfalls zu verneinen ist. Wir sahen dort, daß- Lichter, die mit hoher absoluter Intensität und bei hell-adaptiertem Auge einwirkend gleich gesehen werden, sehr ungleiche Dimmerungswerte besitzen können. Die wechselnde Adaptation bedingt also zweifellos Änderungen der optischen Gleichungen, Änderungen jedoch, die wir in eine einfache Ordnung bringen und durch eine einfache Annahme verständlich machen konnten: die optischen Gleichungen sind veränderlich, weil beim Wechsel der Adaptationszustände der Stäbchenapparat in wechselndem Verhältnis sich an der Erzeugung der Empfindungen beteiligt. Ist dies der Fall, so wird als wesentlich interessierende Frage sich die ergeben, ob die Unab- hängigkeit der optischen Gleichungen von der Stimmung für jeden einzelnen der angenommenen Bestandteile des Sehorgans, für die dem Tages- und die dem Dämmerungssehen dienenden Organe, angenommen werden darf. Diese Frage ist für .den Stäbchenapparat oben bereits erledigt worden. Für den Zapfenapparat liegen die Dinge schon wegen der viel größeren Mannigfaltig- keit der hier in Betracht kommenden Umstimmungen viel verwickelter. Die Möglichkeit einer Prüfung ist jedoch durch die Stäbchenfreiheit des zentralen Netzhautbezirks gegeben; daß in diesem die optischen Gleichungen durch Hell- und Dunkeladaptation nicht erkennbar beeinflußt werden, wurde oben schon angeführt. Neben der hier gegebenen lange dauernden Einwirkung farbloser Lichter erscheint es von Interesse, auch die kürzeren Einwirkungen farbloser und vor allem farbiger Lichter und die so herbeigeführten Um- stimmungen zu prüfen. Es zeigt sich nun, daß auf kleinen und direkt fixierten Feldern die optischen Gleichungen keine Änderung erfahren, wenn man die Stimmung dieses Netzhautteiles durch beliebige Belichtungen verändert. Ein homogenes Gelb z. B. und ein aus Rot und Grün gemischtes, die unter gewöhnlichen Umständen zentral gleich erscheinen, sehen nach vorhergehender Gelbbelichtung beide blasser, nach Blaubelichtung beide gesättigter gelb aus, erscheinen aber untereinander wiederum genau gleich. Ebenso wird die Gleichheit eines unzerlegten und eines aus zwei Komplementären gemischten Weiß nicht aufgehoben, wenn beide zufolge einer vorausgegangenen farbigen Belichtung stark (in der Gegen- farbe des umstimmenden Lichtes) gefärbt erscheinen. Die Gültigkeit dieser Regeln ist in jüngster Zeit in systematischer Weise von Herrn Bühler (Beiträge zur Lehre von der Umstimmung des Sehorgans. Diss., Freiburg 1903) geprüft worden, ohne daß sich jemals eine die Unsicherheit der Beobachtungen übersteigende Abweichung gefunden hätte. Man darf daher die Unabhängigkeit der optischen Gleichungen zwar nicht von der Stimmung des Seh- organs ganz allgemein, wohl aber für den zentralen Netzhautbezirk oder, theoretisch gesprochen, für den isoliert funktionierenden trichromatischen Bestandteil des Seh- organs behaupten. Zur Geschichte des nicht unwichtigen Problems, ob. die optischen Gleichungen von den Stimmungen abhängig seien oder nicht, sei hier mit Rücksicht auf die etwas verwickelte Literatur des Gegenstandes folgendes bemerkt. Die ganze Frage ist in dieser Form, soviel ich sehe, von mir zuerst ausdrücklich aufgeworfen und systematisch geprüft worden (Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abteil., 1878, 8.503); ich war damals aus technischen Gründen auf die Benutzung kleiner Felder be- schränkt; für eine andere Beobachtung als die direkte Fixation war damals kein Anlaß bekannt, und so wurde ich zu der (für diese Bedingungen richtigen) Auf- stellung des mehrerwähnten Satzes geführt, ohne jedoch die Einschränkungen zu kennen, unter denen er gültig ist. Nachdem die Untersuchungen Königs die Änderung des Aussehens reagierender Lichter. 411 namentlich bei Dichromaten enorme Abhängigkeit der Gleichungen von der-Adap- tation herausgestellt hatten, war klar, daß der Satz jedenfalls nicht allgemein richtig war. Die Beobachtungen von Nagel und mir (Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 12, 1 u. 23, 161) zeigten aber dann, daß diese Abhängigkeit für das Netzhautzentrum nicht nachweisbar ist. Auf Grund dieser Beobachtung sowie der soeben erwähnten von Bühler kann meines Erachtens für das Netzhautzentrum oder für den isoliert funktionierenden trichromatischen Apparat die Unabhängig- keit der optischen Gleichungen von jeder hier vorkommenden Stimmungsänderung behauptet werden. Hering hat lange Zeit die Unabhängigkeit der optischen Gleichungen von der Stimmung mit besonderem Nachdruck und ganz allgemein behauptet (Arch. f. d. ges. Physiol. 54, 309, 1893). Später aber hat Tschermak (Arch. f.d. ges. Physiol. 70, 297), wie bereits oben angeführt wurde, in einer unter Herings Leitung ausgeführten Arbeit eine Abhängigkeit gewisser: optischer Gleichungen von der Adaptation angegeben und diese Angabe (meines Erachtens mit Unrecht) auch auf das Netzhautzentrum ausgedehnt. Unser Satz ist also zu wiederholten Malen und von verschiedenen Seiten bejaht und verneint worden, ehe sich die speziellen Bedingungen, unter denen er gültig ist, herausgestellt haben. Der Koeffizientensatz. Zwischen den Änderungen des Aussehens, die verschiedene reagierende Lichter durch eine bestimmte Umstimmung erfahren, läßt sich sodann noch ein weiterer vereinfachender Zusammenhang vermuten. Es liegt nämlich nahe, anzunehmen, daß, soweit die Wirkung äußerer Reize in Frage kommt, die Stimmung, sei es des Sehorgans in toto, sei es einzelner Bestandteile, sich als eine größere oder geringere Erregbarkeit gegenüber jenen Reizen geltend machen wird, und zwar so, daß der Erfolg sich immer etwa nach einem Produkt & R richtet, wo R den Reizwert, & aber die für diesen Erfolg bestehende Disposition oder die für diese Reizart vorhandene Erregbarkeit bezeichnen würde. Die Vereinfachung liegt, wie man sieht, in der Annahme, daß die Modifikation, die ein Reizerfolg durch die jeweilige Erregbarkeit erfährt, sich für alle Reizarten und Reizgrößen zusammenfassend durch die Angabe eines Koeffizienten darstellen läßt. Ist dies der Fall, so ergeben sich einige sehr einfache Gesetzmäßigkeiten, die auch für die experimentelle Prüfung vorzugsweise geeignet erscheinen. Es müßte nämlich dann, wenn L, auf einer Netzhautstelle den gleichen Erfolg auslöst wie L,, an einer anderen, und ebenso M,, auf die erstere wirkend, den gleichen Effekt wie M, an der anderen, jedesmal auch L, + M, hier die gleiche Wirkung haben müssen wie L, + M, dort. Insbesondere müßte die Gleichheit der Reiz- erfolge zweier auf verschieden gestimmte Netzhautstellen wirkender Lichter immer bei proportionaler Vermehrung oder Verminderung derselben erhalten bleiben. Ich will diese Annahme kurz als Koeffizientensatz be- zeichnen }). Was nun die tatsächliche Begründung dieser Regel angeht, so ist es wahrscheinlich, daß auch sie nicht ganz allgemein gültig ist, auch hier viel- mehr sich Abweichungen aus dem mit der Adaptation wechselnden Zu- sammenwirken des Tages- und des Dämmerungsapparates ergeben. Nach !) Es ist die nämliche, die Wirth den Fechner-Helmholtzschen Satz nennt, da in der Tat diese Autoren sie als eine, wenn auch vielleicht nicht streng gültige, wenigstens zur vorläufigen Orientierung geeignete benutzt haben. (Wundts philosophische Studien 16, 4; 17, 3 u. 18, 4.) 14* 912 Koeffizientensatz. Versuchen Bühlers (a.a. 0.) scheint es, daß durch Dunkeladaptation schwache Lichter eine weit beträchtlichere Verstärkung ihrer Wirkung erfahren als intensive, ein Ergebnis, das ohne weiteres verständlich erscheint, wenn man erwägt, daß durch die Dunkeladaptation wesentlich der Stäbchenapparat an Empfindlichkeit gewonnen hat, die Empfindlichkeitssteigerung also um so geringer sich darstellen muß, je mehr (durch die Benutzung höherer Licht- stärken) der trichromatische neben ihm ins Spiel kommt. Eine strenge Gültigkeit des Satzes kann hiernach nur in Frage kommen, wo der trichro- matische Apparat isoliert funktioniert, und die experimentelle Prüfung sollte sich zweckmäßig auf kleine direkt fixierte Felder beschränken. Auch unter Einhaltung dieser Vorsichtsmaßregeln stößt aber die Prüfung hauptsächlich insofern auf Schwierigkeiten, als die in Frage stehende Formulierung ja immer nur den Erfolg der äußeren Reize zutreffend angeben kann; für das, was an verschiedenen Stellen des Gesichtsfeldes empfunden wird, kommt es aber außerdem auch noch auf diejenigen Unterschiede an, die ohne Einwirkung äußerer Reize vorhanden sind. Ist eine Netzhautstelle durch Einwirkung eines Lichtes umgestimmt worden, so zeigt sie auch bei ganz verdunkeltem Auge ein, sei es positives, sei es negatives Nachbild. Es versteht sich hiernach von selbst, daß, wenn wir durch ein reagierendes Licht R und ein Vergleichslicht V etwa gleiche Empfin- dungen erzeugen, diese Gleichheit jedenfalls nicht mehr vorhanden ist, wenn man beide Lichter in gleichem Verhältnis erheblich abschwächt. Eine Prüfung des Koeffizientensatzes müßte demnach auf diese Verhältnisse durch einigermaßen ver- wickelte Rechnung Rücksicht nehmen oder sich auf reagierende Lichter von ziem- lich erheblicher Stärke beschränken. Die ausgedehnten Versuche von Wirth (a. a. O.) zeigen, daß der Satz bei nicht zu schwachen reagierenden Lichtern wohl als annähernd gültig angesehen werden darf. Ist dies der Fall, so kann man sagen, daß jede Stimmung des Sehorganes (genauer gesagt des farbentüchtigen Apparates) im Vergleich mit einer bestimmten, etwa als Norm gewählten vollständig charakterisiert wäre, wenn für drei verschiedene Lichter (oder Lichtgemische) angegeben wäre, welche Veränderung ihres Aussehens sie durch die Um- stimmung erfahren haben. Denn es würde sich daraus die Veränderung jedes beliebigen anderen Lichtgemisches ableiten lassen }). Umstimmung durch farblose Lichter. Zu einer Reihe speziellerer Tatsachen übergehend, erwähne ich zuerst diejenigen, die sich bei der Umstimmung durch farblose Lichter zeigen. Vorzugsweise einfach gestalten sich die Dinge, wenn man lediglich die all- mähliche Änderung des Aussehens verfolgt, die ein Gegenstand mit ver- schiedenen ungleich hellen Teilen bei längerer Fixation erfährt, wobei also !) Eine genauere Verfolgung des alle diese Umwandlungen verknüpfenden Zusammenhanges darf hier unterbleiben. Vgl. darüber v. Kries, Theoretische Studien über die Umstimmung des Sehorgans. Festschrift der Universität Frei- burg 1902. Die angenäherte Gültigkeit des Koeffizientensatzes zeigt übrigens auch, daß die ganze Auffassung des Nachbildes als einer veränderten Empfänglichkeit gegen- über den einwirkenden Reizen zum mindesten die für die Darstellung der Erschei- nungen geeignetste ist. Insbesondere vermag ich mich nicht zu überzeugen, daß der neuerdings von Martius gemachte Versuch, die Nachbilder als etwas Selbstän- diges, der gewöhnlichen Sehweise sich Hinzufügendes zu betrachten‘, ihr gegen- über einen Vorzug besitzt. Weiß-Ermüdung. 213 das reagierende Licht durchweg mit dem umstimmenden identisch ist. Man bemerkt, daß bei solcher andauernden Fixation alle Unterschiede der Helligkeit geringer und geringer werden, oft ganz verschwinden. Hering hat diese Erscheinung als lokale Adaptation bezeichnet. Sie zeigt offenbar an, daß die Stimmungsänderungen der einzelnen Netzhautteile in einfacher und regelmäßiger Weise von der Stärke der Belichtung abhängen. Die vom stärksten Licht getroffenen verlieren am meisten, die weniger stark belich- teten in geringerem Betrage die Fähigkeit zur Hellempfindung, und so gleichen sich alle Unterschiede allmählich aus. Eine Reihe nicht unwichtiger Tatsachen ergibt sich, wenn man das Verhalten der mit weißem Licht bestrahlten Netzhautstellen mit farbigen Lichtern prüft, das umstimmende Licht also weiß, das reagierende farbig wählt. Führt man Versuche dieser Art mit hell-adaptiertem Auge aus, so findet man, daß das Vergleichslicht von geringerer Stärke wie das reagie- rende Licht genommen werden muß, aber von annähernd derselben quali- tativen Zusammensetzung. Zur Änkteleni solcher Versuche eignen sich die Maxwellschen Scheiben sehr gut. So fand ich z. B., daß eine gute Gleichheit erhalten wurde, wenn die auf die weißermüdete und die auf die benach- barte Stelle einwirkenden Mengen weißen Lichtes sich etwa wie 3:1 bis 4:1 verhielten, dabei die erstere 270°, die letztere 97° blauen Lichtes enthielt (in einem anderen Versuche die erstere 270°, die letztere 84° Rot; endlich die erstere 270°, die letztere 970 Gelb. Macht man dagegen den farbigen Sektor für beide Stellen gleich groß, so erhält man niemals eine auch nur annähernde Übereinstimmung; und wenn man bei gleichen farbigen Sek- toren die weißen Sektoren so wählt, daß die Helligkeiten etwa gleich werden, so sieht die weißermüdete Stelle die Farbe viel zu ungesättigt!). Es scheint daraus hervorzugehen, daß durch die Weißbelichtung die Befähigung des Auges für die einer Farbenempfindung dienenden Vorgänge gleichfalls, und zwar annähernd in demselben Verhältnis geschwächt wird wie die Be- fähigung für die der Weißempfindung zugrunde liegenden Vorgänge. Dies ist, wie man hervorheben muß, das Gegenteil von dem, was für die andere Art der durch farbloses Licht zu erzielenden Umstimmung, für den Über- gang von der Dunkel- zur Helladaptation gilt. Denn hier, wie schon oben erörtert, gewinnen die Farben ungemein an Sättigung. Und wollen wir für ein hell- und ein dunkel-adaptiertes Auge etwa gleich erscheinende blaue Felder herstellen, so können wir dies nur erzielen, wenn wir dem ersteren ein weit ungesättigteres Licht als dem zweiten darbieten. Der Weißanteil muß sehr erheblich, der Anteil farbigen Lichtes dagegen viel weniger verschieden sein. Farben-Umstimmung. Was die Umstimmung durch farbige Lichter anlangt, so. ist auch hier mit dem einfachsten Fall zu beginnen, daß die allmähliche Veränderung der Empfindung bei dauernder Einwirkung desselben farbigen Lichtes beobachtet wird, also das umstimmende Licht zugleich das reagierende ist. Auch ohne die Anwendung von Vergleichslichtern bemerkt man, daß jedes !) Versuche dieser Art sind in jüngster Zeit auch von Wirth angestellt worden, der angibt, die obigen Resultate „in weitestem Umfange bestätigen zu können“ (Arch. f. Psychol. 1, 49). 214 Erfolge der Farben-Umstimmung. farbige Licht bei längerer Fixation sowohl an Helligkeit wie an Sättigung einbüßt. Eine genauere Prüfung unter Anwendung von Vergleichslichtern läßt erkennen, daß in der Regel auch merkliche Veränderungen des Farben- tones eintreten. An homogenen Lichtern sind diese Verhältnisse in neuerer Zeit von Voestel) eingehend untersucht worden. Er fand (in sehr guter Übereinstimmung mit meinen eigenen älteren Befunden), daß ein Gelb von der Wellenlänge u 0 560 uu, ein Grün (500 uu) und ein Blau (460 uw) ai ** keine Veränderung des Farbentones erleiden; die anderen Lichter verändern sich, und zwar in der Richtung zu jenem Gelb und Blau hin, dagegen von dem Grün fort. Nach andauernder Fixation De aan re en; re erscheinen somit langwellige Lichter (bis 560 uw), tion ne era ’ ebenso die von Wellenlängen zwischen 500 und 460 uu mit einem Vergleichslicht von kleinerer Wellenlänge, die zwischen 560 und 500 uw dagegen mit einem Vergleichs- licht von größerer Wellenlänge übereinstimmend, wie es Fig. 28 erläutert, in der die Pfeile den Sinn der durch längere Einwirkung eintretenden Ver- änderung des Aussehens darstellen. Prüft man die durch farbige Lichter erzeugten Umstimmungen mit anderen reagierenden Lichtern, so findet man als bekannteste Tatsache die, daß farblose (d. h.. unter gewöhnlichen Umständen farblos erscheinende) Lichter durch die Farbenumstimmung eine etwa der Komplementärfarbe des umstimmenden Lichtes entsprechende Färbung erhalten. Es ist diese Tat- sache, die in der oben schon erwähnten Weise der Bezeichnung der nega- tiven komplementär gefärbten Nachbilder zugrunde liegt. An der Stelle des vorher gesehenen roten (gelben, grünen, blauen) Objektes sehen wir bei Be- trachtung eines gleichmäßig grauen Feldes ein blaugrünes (blaues, purpur- farbenes, gelbes) Nachbild. Sucht man sich ein auf der Nachbarstelle genau die gleiche Empfindung lieferndes Vergleichslicht, so kann man konstatieren, daß hierzu oft Lichter von annähernd, selbst vollkommen spektraler Sättigung erforderlich sind, auch wenn die umstimmenden Lichter von keineswegs exzessiver Stärke waren und nur mäßige Zeiten (30 bis 40 Sekunden) ein- gewirkt haben. Auch kann man nach dem unmittelbaren Eindruck wohl sagen, daß die Lichter (reagierendes wie Vergleichslicht) mit einer Lebhaftig- keit der Färbung gesehen werden, die der gewöhnlichen Erscheinung spek- traler Lichter nicht nennenswert nachsteht; die durch die Umstimmung bewirkte Änderung des Aussehens ist also eine sehr beträchtliche 2). Es ist besonders beachtenswert, daß die Verfärbung eines reagierenden weißen Lichtes nicht einfach als Zumischung desjenigen Maßes an Farben- empfindung betrachtet werden kann, das auch bei verdunkeltem Auge ge- sehen wird. Wäre dies der Fall, so müßte z. B. nach Blauermüdung das Fig. 28. 500 u !) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 18, 257. — *) Eine ganz genaue und allgemeine Übereinstimmung der Nachbildfarbe mit der komplemen- tären des umstimmenden Lichtes ist nicht zu erwarten und scheint auch nicht stattzufinden. Über die hier zu bemerkenden Abweichungen und ihre Erklärung vgl. Tschermak, Ergebnisse der Physiologie % (2), 763. Sättigungszunahme und Farbenänderung reiner Lichter. 215 subjektive Gelb durch eine bestimmte Menge blauen Lichtes kompensiert werden, und es müßten weiße Lichter ganz verschiedener Stärke immer den- selben Blauzusatz erfordern, um (nicht gelb, sondern) farblos zu erscheinen. Dies ist aber keineswegs der Fall. Vielmehr muß innerhalb weiter Grenzen mit zunehmender Stärke des weißen Lichtes auch der Blauzusatz annähernd proportional gesteigert werden, wie dies dem Koeffizientensatz entspricht. Der Erfolg der Farbenumstimmung ist also nicht der Zusetzung einer be- stimmten Menge gegenfarbigen Lichtes vergleichbar, sondern einer quali- tativen Veränderung der einwirkenden weißen Lichter, welches auch deren Stärke sein mag. — Von besonderem Interesse ist ferner die beträcht- liche Zunahme an Sättigung, die solche reagierende Lichter erfahren, die den umstimmenden etwa komplementär gefärbt sind. Wie vorhin schon angeführt, kann z. B. auf der gelbermüdeten Stelle ein farbloses Licht so gesättigt blau erscheinen wie auf der nicht belichteten Nachbarstelle ein spektrales Blau. Betrachtet man mit der gelbermüdeten Stelle ein homo- genes Blau, so erscheint dies nun noch erheblich gesättigter, und es gibt überhaupt kein Vergleichslicht, das auf der nicht belichteten Stelle eine ihm gleich kommende Empfindung auszulösen vermöchte. Diese Tatsache, die für alle umstimmenden Lichter in ähnlicher Weise zutrifft, ist insofern von Bedeutung, als sie zeigt, in welcher Richtung und in welchem Maße (wie es oben ausgedrückt wurde) die Mannigfaltigkeit unserer Empfindungen über diejenigen der Lichtreize hinausgeht. Bei einem bestimmten Zustande des Sehorgans können wir durch die Einwirkung aller möglichen Lichtreize weit- aus nicht alle überhaupt vorkommenden Empfindungen erzielen; die durch homogene (im objektiven Sinne maximal gesättigte) Lichter bei gewöhnlichem Zustande des Auges hervorgerufenen Farbenempfindungen sind nicht die gesättigtesten Empfindungen, die es überhaupt gibt, sondern durch die um- stimmende Wirkung des komplementär gefärbten Lichtes sind erheblich höhere Sättigungsgrade zu erreichen. Läßt man auf eine Netzhautstelle, die eine Farbenumstimmung erfahren hat, farbige reagierende Lichter einwirken, jedoch von anderer Farbe als derjenigen des umstimmenden Lichtes oder ihrer Komplementären, so erhält man sehr mannigfaltige Erscheinungen, die sich jedoch alle der allgemeinen Regel unterordnen lassen, daß ihr Aussehen der Komplementärfarbe des umstimmenden Lichtes angenähert wird. Auf der eine Zeitlang von grünem Licht bestrahlten Stelle erscheint gelbes Licht rötlichorange, blaues purpur- farben usw. Auch diese Änderungen sind sehr beträchtlich. Ein reagierendes gelbes Licht (589 uw) sah ich nach Rotermüdung einem Grüngelb (556 wu), nach Grünermüdung einem Orange (605 uu) gleich erscheinen. Hess!) fand nach starker Blauermüdung für ein reagierendes Licht von 517 uu ein Ver- gleichslicht von 565 uu usw. Zeitliche Verhältnisse der Umstimmung. Untersuchungen über den zeitlichen Gang der Umstimmungserschei- nungen sind mehrfach angestellt worden und lassen sich unter einfachen Bedingungen ohne große Schwierigkeit ausführen. Man fixiert ein weißes !) Arch. f. Ophthalmol. 39 (2), 45. 216 Zeitlicher Verlauf der Ermüdung und Erholung. Objekt auf schwarzem Grunde und bestimmt (nach längerer oder kürzerer Ermüdungszeit) dasjenige Vergleichslicht, das, in der Umgebung jenes Ob- jektes plötzlich dargeboten, im ersten Moment ihm gleich erscheint. Das reagierende Licht ist hier mit dem umstimmenden identisch; das Vergleichs- licht ist natürlich stets schwächer als jenes und wird als Bruchteil desselben ausgedrückt. Stellt man solche Versuche systematisch mit einer Reihe ver- schiedener Fixationszeiten an, so erhält man in den allmählich abnehmen- den Zahlenwerten ein Bild von dem Fortschreiten der Umstimmung mit der Belichtungsdauer. Einen Versuch dieser Art (mit verschiedenen Lichtstärken) stellt nachstehende Tabelle dar, die ich einer älteren Arbeit von mir!) ent- nehme: Scheinbare Abschwächung. nach Lichtstärke 3 6 10 el 52 rk 0.1 80 160 Sek. 1 0,91 0,81 0,66 058 | 0,48 0,23 0,15 1,95 0,86 0,74 0,62 0,52 0,32 | 0,18 0,09 3,9 0,82 0,71 0,62 0,34 0,21 0,14 0,08 34,7 0,74 °| 0,57 0,42 0,25 | 0,16 0,08 0,08 Es muß dabei allerdings bemerkt werden, daß diese Versuche, mit mäßig dunkel-adaptiertem Auge und ziemlich großen Feldern angestellt, gegenwärtig kaum beurteilen lassen, welche Veränderung des Sehorgans sich eigentlich in ihnen aus- drückt. Die Umstimmungen werden jedenfalls im Netzhautzentrum wesentlich anders als in den Nachbarteilen vor sich gegangen und die Einstellungen eines Vergleichslichtes mehr oder weniger Kompromißeinstellungen gewesen sein. Eine Wiederholung der Versuche mit sorgfältiger Auseinanderhaltung der Bedingungen (einerseits helladaptiertes Auge, kleine direkt fixierte Felder, anderseits dunkel- adaptiertes Auge, größere exzentrisch gesehene Felder und schwache reagierende Lichter) wäre also recht wünschenswert. — Für farbige Lichter sind Versuche ähnlicher Art von Schön?) ausgeführt worden. Man kann in entsprechender Weise auch das Schwinden einer lokalen Umstimmung verfolgen, indem man nach Herbeiführung einer solchen das Auge für kürzere oder längere Zeit verdunkelt und danach prüft, welcher Grad der Umstimmung nun noch besteht. Diesen Gang der „Erholung“ in einem der gleichen Arbeit entnommenen Versuche stellt die folgende Tabelle dar: Zeit der Erholung in Sekunden ....... 0 5 10 20 40 80 160 Verhältnis des Vergleichslichts zum reagierenden 0,09 0,17 0,32 -0,50 0,71 0,85 1,00. Die Frage, ob das Schwinden einer lokalen Umstimmung sich über- haupt in dieser Form eines allmählichen Abklingens vollziehe, ist (ohne messende Versuche) viel diskutiert und mehrfach in verschiedenem Sinne be- antwortet worden. So glaubte insbesondere Plateau aus einem mehr oder weniger regelmäßigen Wechseln zwischen positiven und negativen Nachbildern auf einen oszillatorischen Wechsel der inneren Zustände des Auges schließen zu können. Nach Fechner und Helmholtz, denen ich mich in diesem Punkte anschließen muß, beruht ein solches Wechseln stets auf Verände- ') Arch. f. Ophthalmol. 23 (2), 1. — ?) Ebenda 20 (2), 273. Theorien der Umstimmung. 217 rungen des reagierenden Lichtes und kommt nicht vor, wenn solche aus- . geschlossen sind. Sehr vielfach können allerdings bestehende Nachbilder vorübergehend (insbesondere durch Augenbewegungen) unsichtbar werden, um dann wieder aufzutauchen. Dieses hängt indessen ohne Zweifel nur von den oben bereits kurz berührten Bedingungen der Bemerkbarkeit solcher subjektiven Erscheinungen ab. Auch darüber, ob lokale Einwirkung auf das Auge (insbesondere Bewegungen des Bulbüs) den Ablauf der Nachbilder beeinflussen, gehen die Erfahrungen auseinander. Von E. Fick ist ein solcher erholender Einfluß angegeben worden, Beobachtungen, gegen die dann von Hering wieder eine Reihe hier nicht zu verfolgender Einwände erhoben wurde !). Über die Zeit, die zur vollständigen Erholung erforderlich ist, oder die ganze Dauer der negativen Nachbilder läßt sich naturgemäß keine sehr bestimmte. Angabe machen, da sie von der Stärke und Einwirkungszeit der umstimmenden Lichter in hohem Maße abhängt. Unter den zumeist bei diesen Versuchen eingehaltenen Bedingungen, bei denen stärkere Dunkel- adaptationen überhaupt nicht ins Spiel kommen, pflegen negative Nachbilder in wenigen Minuten zu schwinden. Theorien der Umstimmung. Die Änderungen des Aussehens beliebiger Lichter zufolge der Um- stimmungen des Sehorgans können, wenn man sich mit einer etwas sum- marischen Darstellung begnügen will, unter die allgemeine Regel gebracht werden, daß die Wirkung gegen jenen Zustand verschoben erscheint, der dem durch das umstimmende Licht hervorgerufenen entgegengesetzt ist, wobei Schwarz dem Weiß und jede Farbe ihrer komplementären als entgegen- gesetzt zu gelten hat. Wir können durch eine ähnliche Regel auch die Er- scheinungen darstellen, die sich nach längerer Einwirkung eines Lichtes bei ganz verdunkeltem Auge beobachten lassen. Es hat schon vor Aufstellung einer Theorie im heutigen Sinne nicht an Versuchen gefehlt, diese Erschei- nungen auf gewisse allgemeine Eigenschaften des Sehorgans zurückzuführen. Sehopenhauer, der in der Weißempfindung die volle, in den komplemen- tären Farbenpaaren die „qualitativ geteilte“ Tätigkeit des Sehorgans erblickte, knüpfte hieran die Folgerung, daß jede partielle Tätigkeit gewissermaßen den übrig gebliebenen Rest als Ergänzung fordere, das Sehen jeder Farbe somit die Empfindung der komplementären als notwendige Folge hervorrufe. In vieler Hinsicht ähnlich waren auch die Vorstellungen Plateaus, dem- zufolge das Sehorgan nach dem: Bestehen eines Zustandes nach Art einer Oszillation in den entgegengesetzten übergehen sollte. Zu etwas greifbareren Vorstellungen haben dann die mehrerwähnten und auch hier wieder hervor- zuhebenden Theorien des Sehorgans geführt. Helmholtz sowohl wie Hering haben die Erscheinungen im Anschluß an ihre Theorien verständlich zu machen gesucht; in der Theorie der Gegenfarben ist sogar auf die Erklä- !) Vgl. hierüber: A. E. Fick und Gürber, Über Erholung der Netzhaut (Arch. f. Ophthalmol. 36 (2), 245); A.E. Fick, Uber Ermüdung und Erholung der Netzhaut (ebenda 38 (1), 118, 1892); E. Hering, Bemerkungen zu E. Ficks Entgegnung usw. (ebenda 38 (2), 252); Fick, ebenda 38 (4), 300. 318 Deutung der Umstimmungen nach Helmholtz und Hering. rungen der Umstimmungserscheinungen besonderes Gewicht gelegt worden. Im großen und ganzen kann man in der Tat wohl nach beiden Auffassungen sich von den wichtigsten Tatsachen Rechenschaft geben. Nach Helmholtz würde es sich um Ermüdungen handeln, die in jedem einzelnen der drei angenommenen Bestandteile des Sehorgans sich im wesentlichen nach Maß- gabe seiner Tätigkeit entwickeln müssen. Durch Weißermüdung wäre die Erregbarkeit aller drei Komponenten in etwa gleichem Maße herabgesetzt, nach der Einwirkung farbiger Lichter würden dagegen die drei Komponenten in mehr oder weniger ungleichem Maße ermüdet sein, infolgedessen farblose Lichter nunmehr gefärbt erscheinen, und zwar, sofern der Grad der Ermü- dung der Stärke der vorausgegangenen Tätigkeit entspricht, etwa zum um- stimmenden Lichte komplementär. Hierbei muß übrigens die Annahme, daß sich die Stimmungen des Sehorgans als Erregbarkeiten dreier Komponenten darstellen lassen, von der anderen sorg- fältig gesondert werden, daß die Erregbarkeit der einzelnen Komponente sich aus- schließlich nach Maßgabe ihrer Tätigkeit in der Art einer Ermüdung und Erholung modifiziert. Als das Wesentliche der Helmholtzschen Theorie wird man wohl das erstere auffassen müssen, während in bezug auf den zweiten Punkt sehr wohl auch verwickeltere Verhaltungsweisen in Betracht gezogen werden können (so z. B., daß die Tätigkeit einer Komponente durch vermehrten Zufluß von Ernährungs- material die Erregbarkeit der anderen vermehrte u. dgl.). Nach Hering ist in jeder Sehsubstanz ein antagonistisches Verhältnis der D- und A-Prozesse anzunehmen; da die D-Erregbarkeit durch das längere Bestehen des D-Prozesses sich vermindern, durch längeres Über- wiegen des A-Prozesses aber steigen muß, so scheint hier die angenommene Gegensätzlichkeit der Vorgänge in besonders ansprechender Weise zu er- klären, wie im Sehorgan jedesmal die Andauer eines Verhaltens mehr und mehr die Disposition für das entgegengesetzte hervorruft. Auch mit den negativen Nachbildern bei verdunkeltem Auge können sich beide Theorien gleich gut abfinden. Tatsache ist, daß auch ohne Einwirkungen von Licht Vorgänge der gleichen Art, wie das Licht sie her- vorruft, in gewissem Betrage stets sich abspielen. Beide Theorien denken sich diese bestimmt durch beständig wirksame innere Reize, die, vielleicht selbst wechselnd, jedenfalls nach Maßgabe der Disposition des Sehorgans ver- ' schiedene Erfolge haben. Man kann vielleicht im Zweifel sein, ob diese ganze Darstellung eine reale Bedeutung hat oder nur figürlich zu nehmen und als eine bequeme Darstellung aufzufassen ist. Legt man sie aber zu- grunde, so wird es ebenso berechtigt erscheinen, von drei Arten wirk- samer Reize und der ihnen gegenüber bestehenden Erregbarkeit als von Paaren entgegengesetzter Reize und entgegengesetzter Erregbarkeiten zu sprechen. Die genauere Prüfung lehrt, daß beide Auffassungen den Erscheinungen zwar in ihren Grundzügen gerecht werden, gegenüber dem Detail dagegen auf mancherlei Schwierigkeiten stoßen. Zunächst gibt die Theorie der Gegen- farben, indem sie fünf verschiedene physiologische Valenzen annimmt, keine Erklärung für die Tatsache, daß die optischen Gleichungen (im Netzhaut- zentrum) von der Stimmung des Sehorgans unabhängig sind; vielmehr muß sie, um mit dieser Tatsache sich in Einklang zu setzen, annehmen, daß Lichter im allgemeinen für eine Sehsubstanz sowohl A- als D-Valenz besitzen ann En ee Bus ch Sa. Be Me Schwierigkeiten der Heringschen Theorie. 219 können und daß zwischen den fünf Valenzen gewisse feste, für alle Lichter . erfüllte quantitative Beziehungen stattfinden. Es ist dies ein Umstand, auf den ich zuerst hingewiesen habe, und Hering ist später, wiewohl in scheinbarer Opposition gegen meine Ausführungen, zu genau dem gleichen Ergebnis gelangt (vgl. v. Kries, Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abteil., 1887, 8. 113; Hering, Arch. f. ges. Physiol. 42, 497; sowie v. Kries, a. a. O., 1888, S. 381). In neuerer Zeit haben Hering und vor ihm bereits Hess die Dinge in anderer Formulierung dargestellt, indem gesagt wird, daß durch die Farbenumstimmung jedes Licht einen gewissen Betrag ‘der gegenfarbigen Valenz erhalte. (Hess, Arch. f. Ophthalmol. 39, 2). Doch wird man es über-- haupt zunächst nicht verständlich finden, wie ein Licht, das ursprünglich auf die rotgrüne Sehsubstanz gar nicht wirkt, durch deren Umstimmung eine Rot- oder Grünvalenz akdquirieren soll; ja man darf wohl mit einigem Recht sagen, daß so, indem die Anknüpfung an den Begriff der Erregbarkeit fallen gelassen wird, auf eine wirkliche Erklärung der Umstimmungserscheinungen Verzicht geleistet wird. Vor allem aber ist zu beachten, daß die Wirkung, die irgendwelche Reize auf die Träger der farbigen Bestimmungen durch deren Umstimmung erwerben, genau ihrer (bei neutraler Stimmung zu beobachtenden) Helligkeit oder ihren Weißwerten entspricht (weil alle gleich hell erscheinenden weißen Lichter nach einer Farben- umstimmung wiederum gleich erscheinen). Hält man sich dies gegenwärtig, so wird man sich der Schlußfolgerung nicht entziehen, daß sich hier ein von der Theorie noch nicht erfaßter Zusammenhang zwischen den Substraten der farblosen und der farbigen Empfindungen ausspricht. Außerdem führt aber auch die oben erwähnte Tatsache, daß durch Weißermüdung die Befähigung des Sehorgans für die den farbigen Bestim- mungen dienenden Prozesse vermindert ist, jedenfalls zunächst zu Schluß- folgerungen, die der Heringschen Auffassung des Sehorgans entgegen- gesetzt sind. Besitzt das Sehorgan gesonderte Bestandteile, deren einer den farblosen Empfindungen dient, während die anderen Träger der farbigen Bestimmungen sein sollen, so ist anzunehmen, daß diese letzteren, da sie bei der Reizung mit farblosem Licht nicht in Tätigkeit kommen, auch in ihrer Reizempfänglichkeit nicht modifiziert werden. Es würde also zu erwarten sein, daß auf der weißermüdeten und auf der nichtbelichteten Stelle gleiche Mengen des farbigen Lichtes erforderlich wären, um Empfindungen von gleichem Farbenwerte zu erzielen, während in Wirklichkeit das Gegen- . teil der Fall ist!). Was die Helmholtzsche Ermüdungstheorie anlangt, so ist der am meisten gehörte Einwand gegen sie der, daß ihr zufolge die Empfindung des tiefsten Schwarz dem Nullwert der Tätigkeit in allen drei Komponenten zu- geordnet wird. Auf diese an anderen Stellen schon berührten und unten noch weiter zu erörternden Erwägungen brauchen wir hier nicht zurückzukommen; von entscheidender Bedeutung werden sie jedenfalls dann nicht sein, wenn wir (in dem oben angedeuteten Sinne) die Drei- Komponentengliederung nur für einen peripheren Teil des Sehorgans in Anspruch nehmen und die Frage offen lassen, welche zentraleren Zustände mit deren Tätigkeit oder Ruhe verknüpft sind. Auf weit erheblichere Bedenken führt dagegen die Tatsache, daß auch spektrale Lichter durch eine vorgängige Ermüdung mit der Gegenfarbe eine sehr beträchtliche Zunahme ihrer Sättigung erfahren. Ganz im allgemeinen. !) Auch diese Bedenken kann ich durch die von Hering dagegen erhobenen Einwände (Arch. f. d. ges. Physiol. 94, 533) nicht für beseitigt erachten. 3930 Schwierigkeiten der Ermüdungstheorie. kann man zwar diese Erscheinungen, wie es Helmholtz tat, daraus erklären, daß jedes spektrale Licht auf alle drei Komponenten wirkt. Ob indessen diese Erklärung gegenüber messenden Versuchen sich als stichhaltig erweist, kann sehr bezweifelt werden. Sie ist es, was hier betont werden muß, jedenfalls dann nicht, wenn wir hinsichtlich der Komponenten diejenigen Annahmen zugrunde legen, die sich aus der Vergleichung der dichromatischen mit dem normalen Farbensystem er- geben. In der Tat nämlich wurden wir dort zu der Vorstellung geführt, daß langwellige Lichter, mindestens bis zur Wellenlänge (550 wu) auf die Blaukompo- nente noch gar nicht merklich wirken. Gleichwohl lehrt der Versuch, daß auch homogenes Gelb (589 uu) durch vorausgegangene Blauermüdung beträchtlich an Sättigung zunimmt. Ich habe mich auch durch besondere Versuche mit reagie- renden Lichtern verschiedener Intensität davon überzeugt, daß es sich hierbei nicht etwa bloß um Modifikationen des Eigenlichtes handelt, sondern um eine qualitative Änderung in dem Reizerfolge des reagierenden Lichtes. Wirkt aber das gelbe Licht nur auf Rot- und Grünkomponente, so können wir eine Sättigungs- zunahme desselben aus einer Ermüdung der Blaukomponente nicht verständlich machen. — Ob sich die Theorie bei anderen Annahmen. hinsichtlich der Kompo- nenten mit den Erfahrungen würde in Einklang bringen lassen, diese Frage möchte ich auf Grund der bisherigen Beobachtungen nicht zu entscheiden wagen. Hess hat sie auf Grund seiner Beobachtungen ganz allgemein verneint und ge- langt zu dem Ergebnis, daß man, um die Erscheinungen zu verstehen, sich immer die spektralen Lichter als ermüdende sehr gesättigt, als reagierende dagegen sehr ungesättigt vorstellen müsse. (A. a. O.) VI. Zeitliche Verhältnisse der Lichtwirkung. Wirkung kurz dauernder Reize. Daß der zeitliche Verlauf der optischen Empfindungen dem der ein- wirkenden Reize wenn auch annähernd, so doch nicht mit absoluter Genauig- keit entsprechen werde, kann nach Analogie aller bekannten physiologischen Vorgänge erwartet werden; die genaue Untersuchung hat herausgestellt, daß sich dies in der Tat so verhält und daß die zeitlichen Verhältnisse der Reiz- erfolge sogar recht verwickelte sind. Ich beginne mit der Darstellung des im Grunde theoretisch einfachsten Falles, nämlich derjenigen Vorgänge, die sich bei der Einwirkung sehr kurz dauernder Lichtreize beobachten lassen. Zur Beobachtung der hierzu gehörigen Erscheinungen stehen im allgemeinen zwei Versuchsweisen zur Verfügung. Entweder kann man durch irgend welche mechanischen Hilfsmittel (Momentverschlüsse der Photographen, aneinander vorbeigleitende Spalten u. dgl.) für die gewünschte sehr kurze Zeit einen bestimmten Teil des Gesichtsfeldes erhellen, die betreffenden Netzhautpartien belichten, oder man kann ein lichtaussendendes Objekt bei fixiertem Auge durch das Gesichtsfeld hingleiten lassen. Man erzielt dies z. B. durch Ein- schaltung eines rotierenden Spiegels in eine Projektionseinrichtung oder auch so, daß man eine mit einer passenden Öffnung versehene Scheibe vor einer von hinten her erleuchteten Milchglasscheibe umlaufen läßt. Ist 1 die Ausdehnung des Objektes in der Bewegungsrichtung, ® die Geschwindigkeit, so ist //v die Zeit, während der jede Netzhautstelle belichtet wird, eine Zeit, die leicht hinreichend klein gemacht und bequem variiert werden kann. Bei diesem Verfahren sind in einem bestimmten Zeitpunkt Zeitliche Verhältnisse. — Wirkung kurzdauernder Reize. 2321 die verschiedenen Phasen des Erregungsvorganges räumlich nebeneinander geordnet sichtbar. Bewirkt man das Gleiten des Objektes durch rotierende Vorrichtungen, so muß allerdings berücksichtigt werden, daß alsdann im allgemeinen eine regelmäßige periodische Wiederholung der Reize an jeder Netzhautstelle stattfindet. Durch ein- fache Hilfsvorrichtungen ist es jedoch (wo dies wünschenswert erscheint) leicht zu erreichen, daß nur ein Umlauf oder auch nur ein Teil eines Umlaufs zur Beobachtung kommt. Ein greifbarer Unterschied hat sich zwischen den beiden Verfahrungs- weisen (des ruhenden und des bewegten Objektes) nicht herausgestellt; doch sind die meisten Erscheinungen bei dem letzteren leichter und deutlicher zu beobachten; ich lege dies daher den folgenden Darstellungen in erster Linie zugrunde). Wenn man ein helles Objekt in dem sonst ganz dunkeln Gesichtsfelde umlaufen läßt, so kann man unter geeigneten Umständen die folgenden Stadien des ganzen an die kurze Reizung sich anschließenden Prozesses unter- scheiden. 1. Das primäre Bild, die voranlaufende Lichterscheinung, den zeitlich ersten und stärksten Erfolg des einwirkenden Lichtes darstellend. Es erscheint an Farbe im allgemeinen übereinstimmend mit derjenigen, die das betreffende Licht auch bei dauernder Einwirkung zeigt; gegenüber dem ruhenden ist es, je nach der Geschwindigkeit der Bewegung, mehr oder weniger in die Länge gezogen. 2. Dem primären Bilde folgt eine dunkle Strecke. 3. An diese schließt sich ein zweites, ein wiederholtes Aufleuchten anzeigendes Bild, welches ich das sekundäre nenne. Es ist bei Benutzung farbiger Lichter schwach, und zwar im allgemeinen zum Vorbilde komple- mentär gefärbt. Es stellt das dar, was von Purkinje?) zuerst beobachtet und von späteren Autoren als positiv komplementäres oder Purkinjesches Nachbild bezeichnet worden ist. Sehr scharf einsetzend und in der Regel nicht von sehr langer Erstreckung bildet dies die eigenartigste und frap- pierendste Erscheinung des ganzen Gebietes. Denn es bewirkt bei mäßig schnellem Umaluf den Eindruck eines hinter dem leuchtenden Objekt in be- stimmtem Abstande herlaufenden zweiten Objektes von oft recht beträcht- licher Lichtstärke und (wie erwähnt) zum Vorbild etwa komplementärer !) Ausder sehr umfangreichen Literatur dieses Gegenstandes sei hier angeführt: S. Exner, Der Erregungsvorgang im Sehnervenapparate. Sitzungsber. d. Wien. Akad. Math.-naturw. Kl. 3. Abt. 65 (1872). Young, Note on recurrent vision. Philos. Magazine 1872, p. 343. Davis, On recurrent vision. Idid. 1872, p. 526. Snellen, Über Nachbilder. Verhandl. d. ophthalmol. Ges. zu Heidelberg. 1893. Bosscha, Primäre, sekundäre und tertiäre Netzhautbilder nach momentanen Lichteindrücken. Arch. f. Ophthalmol. 40 (2), 22. Charpentier, Arch. de Physiol. 1892, p. 541; 1896, p. 677. Bidwell, On the recurrent images following visual impressions. Proc. of the Roy. Soc. June 1894. Hess, Arch. f. d. ges. Physiol. 49, 190; Arch. f. Ophthalmol. 44 (3), 445 u. 51 (2), 225. v. Kries, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 12, 81 u. 29, 81. Hamaker, Over Nabeelden. Utrecht 1899 u. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 21, 1. MeDougall, British Journ. of Psychol. 1, 78, 1904. 2) Purkinje, Zur Physiol. d. Sinne 2, 110. 333 Primäre, sekundäre und tertiäre Erregung. Färbung. Diese Form der Beobachtung hat dann den Anlaß gegeben, die Erscheinung als recurrent vision (Young, Davis), nachlaufendes Bild (v. Kries), als ghost (Bidwell), Satellit (Hamaker) zu benennen. 4. Das sekundäre Bild schließt hinten unscharf begrenzt ab und wird von einem zweiten Dunkelintervall gefolgt. Diesem schließt sich 5. eine nochmalige Erhellung an, die ich mit Snellen und Bosscha das tertiäre Bild neüne. Es ist farblos oder dem primären schwach gleich gefärbt. Es setzt nicht scharf ein, sondern stellt ein allmähliches Anschwellen und Wiederabsinken der Helligkeit dar, das sich über einige Sekunden erstreckt. Ist dieser Teil der Erscheinung gut ausgebildet, so stellt er bei denjenigen Umlaufsgeschwin- digkeiten, die für die Beobachtung des sekundären Bildes die günstigsten sind (ein Umlauf in 1,5 bis 3 Sekunden), einen die ganze Kreisbahn aus- füllenden Lichtnebel dar. Es ist dann besser, um den ganzen Ablauf der Er- scheinung beobachten zu können, das Objekt nur einen oder nur einen Teil eines Umlaufs machen zu lassen. 6. Als letzte Phase schließt sich dann der vorigen (wiederum ohne scharfe Abgrenzung) eine Verdunkelung an, die die vom hellen Objekte durchlaufene Bahn als tiefschwarzen Streifen kenntlich macht. Da das primäre Bild weitaus am hellsten; das sekundäre erheblich schwächer als dieses, aber dem tertiären wieder beträchtlich überlegen er- scheint, so ergibt sich, daß, wenn gewisse Stärken der einwirkenden Lichter geeignet sind, die Erscheinungen in der eben geschilderten Weise zu zeigen, bei geringerer Stärke nur primäres und sekundäres Bild sichtbar sind, bei noch geringerer auch das letztere noch schwindet. Ferner ist zu bemerken, daß bei der je nach Umständen wechselnden Erstreckung der einzelnen Bilder das primäre bis an das sekundäre, dieses wieder bis an das tertiäre heran- reichen kann, so daß die Dunkelintervalle fehlen; die Erscheinung erhält dann einen wesentlich anderen Charakter und läßt insbesondere die relative Selbständigkeit der hier angenommenen Erregungen nicht mehr deutlich hervortreten !). : Die genauere Untersuchung der angeführten Erscheinungen läßt eine Fülle beachtenswerter Details, namentlich auch hinsichtlich der Abhängigkeit von Art und Stärke des einwirkenden Lichtes, Adaptation usw. erkennen. Ich muß mich hier auf die Anführung einiger der wichtigsten Tatsachen be- schränken. Hinsichtlich des primären Bildes ist zunächst zu erwähnen, daß dasselbe häufig noch eine regelmäßige Streifung erkennen läßt, die auf ein Oszillieren des Erregungsvorganges in einem sehr schnellen Rhythmus von etwa 20 bis 30 in der Sekunde hindeutet 2). Abgesehen hiervon erscheint !) Berücksichtigt man diese Variabilität der Erscheinungen, so kann man sich auf der obigen Grundlage in der zunächst sehr widersprüchsvoll erscheinenden Literatur ganz wohl zurechtfinden. Mir waren bei meinen ersten Untersuchungen gerade in bezug auf das Verhältnis der sekundären zu den tertiären Bildern Zweifel geblieben, und ich trug daher Bedenken, mich den Darstellungen von Bidwell, Bosscha usw. in diesem Punkte ohne weiteres anzuschließen, während ich auch anderseits nicht in der Lage war, ihnen zu widersprechen. Dies ist der’ Grund, weshalb ich in jener sich mit dem sekundären Bilde beschäftigenden Arbeit die tertiären Bilder nicht als solche erwähnt habe, eine Unterlassung, die leider zu einer Reihe von Mißverständnissen geführt hat. — *) Diese Erscheinung ist von Charpentier, Bidwell,-in jüngster Zeit besonders eingehend von Mc Dougall beschrieben und studiert worden. Verspätung der primären Stäbchenerregung. — Farbe des sekundären Bildes. 293 das Objekt in seiner ganzen Erstreckung wenigstens annähernd gleichmäßig, sofern das Auge gut hell-adaptiert ist!). Bei fortschreitender Dunkeladaptation aber bemerkt man, daß das primäre Bild nicht nur an Helligkeit und Länge zunimmt, sondern zugleich, bei Verwendung farbiger Lichter, nicht mehr gleichmäßig erscheint. Vor allem bei dem mit einem relativ hohen Dämmerungs- werte begabten blauen Licht erscheint bei gut dunkel-adaptiertem Auge nur der vorauslaufende Rand tiefblau gefärbt; an ihn schließt sich ein weißliches Stück an, und das Bild läuft in einen glänzenden, rein weißen Schweif aus. Bei den anderen farbigen Lichtern, mit Ausnahme des roten, ist die Er-- scheinung gleichfalls, wenn auch weniger schön, zu sehen. Sie lehrt offen- bar, daß die primäre Erregung der Stäbchen um ein weniges später einsetzt als die des farbentüchtigen Apparates und diese um einen mit fortschreitender Adaptation zunehmenden, schließlich recht beträchtlichen Wert überdauert 2). Diese Annahme bestätigt sich darin, daß jener weiße Schweif an der Stelle (des deutlichsten Sehens tatsächlich fehlt, wovon man sich bei umlaufenden Ob- jJekten, die über den Fixationspunkt hingleiten, überzeugen kann, wenn man einige Vorsichtsmaßregeln beobachtet (v. Kries, a.a.O., 8.93). — Das hier zu bemerkende zeitliche Auseinanderfallen der Zapfen- und Stäbchenerregung bildet auch das Wesen derjenigen Erscheinung, die seit lange unter dem Namen der „flatternden Herzen“ bekannt ist. Befestigt man auf roten Papierstücken blaue Schnitzel (oder umgekehrt) und betrachtet diese in schwacher Beleuchtung, so hat man beim Hin- und Herbewegen der Papiere den Eindruck, daß die Schnitzel hinter der Bewegung ihrer Unterlage zurückbleiben bzw. ihr vorauseilen; sie scheinen auf ihr hin und her zu flattern. Das sekundäre Bild setzt in einem Intervall von etwa !/, bis !/;, Sekunde nach dem Beginn des primären ein, wie sich bei umlaufendem Objekt aus dem mit leidlicher Genauigkeit zu schätzenden Winkelabstand ergibt. Da die Erstreckung des primären Bildes sehr verschieden sein und sich (bei hohen Lichtstärken) bis auf die gleichen Beträge steigern kann, so kann das erste Dunkelintervall sehr klein werden oder auch ganz fehlen. Die Farbe des sekundären Bildes ist, wie schon angeführt, im allgemeinen zu der des primären komplementär. Diese Regel ist nur insofern einer Modifikation bedürftig, als bei rein weißem Licht das sekundäre Bild meist leicht bläulich gefärbt erscheint. Man kann auch für alle anderen Farben sagen, daß die komplementäre Färbung durch eine Verschiebung gegen Blau hin modifiziert erscheint. Daraus geht insbesondere hervor, daß das sekun- däre Bild auch bei schwach blauen Vorbildern noch farblos, ja wohl gar bläulich gesehen werden kann. Erst bei Anwendung gesättigt blauer Lichter erhält man mit Sicherheit die der allgemeinen Regel folgende Gelbfärbung des sekundären Bildes. Wichtig ist sodann, daß die Helligkeit, in der das nachlaufende Bild gesehen wird, von der Qualität des einwirkenden Lichtes ungefähr in gleicher Weise abhängt wie die Dämmerungswerte. Zwei Lichter verschiedener Farbe, !) Vgl. jedoch über gewisse Abweichungen von dieser Regel, namentlich das Auftreten von Farbenerscheinungen bei weißen Objekten, das weiter unten bei den Erscheinungen des Flimmerns rotierender Scheiben Mitgeteilte. — ?) v. Kries, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 12, 22. Me Dougall, der die obige Beobachtung bestätigt und in gleichem Sinne deutet, bestimmt die Verspätung der Stäbchenerregung gegenüber der der Zapfen auf '/,, Sekunde. 224 Abhängigkeit des sekundären Bildes von Lichtart und Adaptation. die an Dämmerungswert etwa gleich sind, liefern nachlaufende Bilder von etwa gleicher Helligkeit. Es ergibt sich daraus denn auch, daß, wie von Bidwell zuerst mitgeteilt und von mir bestätigt wurde, bei Anwendung eines rein ‚roten Lichtes die Erscheinung im allgemeinen nicht beobachtet werden kann !). Ferner ergibt sich aus dieser Regel eine eigentümliche und theoretisch nicht unwichtige Konsequenz für den Diechromaten. Läßt man einen solchen zwei aneinanderstoßende im Gesichtsfeld umlaufende Felder beobachten, von denen das eine mit spektralem (ihm farblosem) Blaugrün, das andere mit einem gleich erscheinenden Rot-Blau-Gemisch erleuchtet ist, so zeigt sich, daß bei einer Abgleichung der Lichter, die die primären Bilder gleich er- scheinen läßt, die sekundären sehr deutlich verschieden sind, und zwar gibt das homogene blaugrüne Licht das weit stärkere sekundäre Bild. Auch hier gilt also die Regel, daß die sekundären Bilder sich in ihrer Stärke nach den Dämmerungswerten der einwirkenden Lichter richten, und es folgt daraus, daß zwei Lichter, die den gleichen primären Eindruck hervorrufen, dabei (ebenso wie hinsichtlich der Dämmerungswerte) in bezug auf diejenige Ein- wirkung, die dem sekundären Bilde zugrunde liegt, sich ungleich verhalten können ?). | Eine etwas genauere Besprechung erfordert noch die Abhängigkeit der sekundären Erregung vom Adaptationszustand. Beobachtet man, wie hier immer vorausgesetzt wird, im verdunkelten Raum, beginnt aber die Beob- achtung mit gut helladaptiertem Auge, so konstatiert man sehr leicht, daß bei passender Lichtstärke die Erscheinung in den ersten Augenblicken noch gar nicht sichtbar ist. Sie tritt dann zuerst als ein unbestimmter Schimmer auf, der dem voranlaufenden Bilde in dem richtigen Abstande des Trabanten folgt; dieser gewinnt alsbald an Deutlichkeit und nimmt die charakteristische oben beschriebene Erscheinung an. Bei weiter zunehmender Dunkeladap- tation gewinnt das nachlaufende Bild an Helligkeit und streckt sich in die Länge, wobei seine Abgrenzung nach hinten unscharf wird, während sein vorauslaufender Rand meist ganz scharf bleibt, ein sehr promptes Einsetzen des sekundären Aufleuchtens anzeigend. Bei noch längerem Dunkelaufent- halt büßt nun aber das sekundäre Bild an Deutlichkeit ein, und nach einem Dunkelaufenthalt von zwei Stunden oder mehr ist es mir (trotz ausgiebiger Variierung der Lichtstärke) nicht gelungen, es zu beobachten). Schon die den Dämmerungswerten parallel gehende Abhängigkeit von der Art des einwirkenden Lichtes, insbesondere das Fehlen bei rein roten Lichtern, ferner auch die Abhängigkeit von der Adaptation macht es sehr wahrscheinlich, daß das die Erscheinung wesentlich charakterisierende sekun- !) Daß es, wie Mc Dougall neuerdings mitteilte, bei Anwendung sehr großer Lichtstärken gelingt, auch in rotem Licht einen ghost sichtbar zu machen, steht hiermit wohl nicht in Widerspruch. — ?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 19, 188. — ?) Auch Me Dougall gibt an, daß nach sehr langer Dunkel- adaptation der ghost sehr schwierig zu beobachten sei, doch habe er es bei be- stimmter Gestaltung der Versuchsbedingungen dahin bringen können, einen typischen ghost zu sehen. Ich ..möchte dem nicht ohne weiteres auf Grund meiner alten Versuche widersprechen. Daß, wie Hess angibt, die Erscheinung nach sehr langem Dunkelaufenthalt sich nicht wesentlich anders als bei kürzerer Adaptation verhält, trifft für mich und meine Arbeitsgenossen zweifellos nicht zu. TE Details der sekundären und tertiären Bilder. 235 däre Aufleuchten auf einer nochmaligen Erregung der Stäbchen bzw. einer Wirkung auf den Sehpurpur beruhen. Die (zum primären Bilde komple- mentäre) Färbung des nachlaufenden wird man dann ganz im allgemeinen auf die Mitbeteiligung des Zapfenapparates beziehen dürfen, der in der gleichen Phase ein negatives und komplementär gefärbtes Nachbild darbieten würde. Auch diese Annahme findet eine Bestätigung in der eigentümlichen Tatsache, daß das sekundäre Bild im Netzhautzentrum ganz fehlt. Beob- achtet man es (bei bewegtem Objekt) in der Form des nachlaufenden Bildes und fixiert sorgfältig ein in der Babn des Objekts gelegenes Lichtpünktchen, so sieht man sehr deutlich, daß der Trabant einen kleinen zentralen Bezirk überspringt, während er über ähnliche, parazentral gelegene Lichtpünkt- chen ohne Unterbrechung hingleitet. Ebenso kann man auch bei ruhenden, momentan aufleuchtenden Objekten von passender Form und Größe die analoge Erscheinung konstatieren. Kleine Objekte, die ganz in das foveale Gebiet fallen, zeigen das charakteristische sekundäre Aufleuchten gar nicht; schmale, durch den Fixierpunkt gehende Linien zeigen im sekundären Bilde eine deutliche Unterbrechung !). Die tertiären Bilder erscheinen, wie erwähnt, entweder farblos oder dem primären Bilde gleich gefärbt. Man sieht die Färbung am besten bei der Anwendung roten Lichtes, bei welchem sie unter geeigneten Bedingungen recht deutlich ist. Bei anderen Lichtern ist sie schwerer zu sehen; doch kann man sich von der Gleichfarbigkeit auch überzeugen, wenn man die, Vorsicht beobachtet, mit nur geringer Dunkeladaptation zu arbeiten. Mit zunehmender Dunkdladaptation nämlich gewinnen die tertiären Bilder sehr erheblich an Helligkeit; aber, wie zu erwarten, gewinnt dabei nur die farb- lose Helligkeit, so daß die Farbe mehr und mehr zurücktritt. Bei den hohen Dämmerungswerten der blauen und grünen Lichter ist es daher überhaupt nicht leicht und (bei mäßigen Intensitäten) nur anfangs möglich, ihre Farbig- keit mit Sicherheit zu konstatieren. Die Frage, ob die tertiären Bilder auf allen Teilen der Netzhaut in überein- stimmender Weise sich entwickeln, speziell, ob sie auch im Netzhautzentrum sicht- bar sind, ist von Heß und von Hamaker in etwas verschiedenem Sinne beant- wortet worden. Während ersterer keine wesentlichen Unterschiede zwischen Zentrum und parazentralen Teilen findet, schienen Hamaker zuweilen die tertiären ebenso wie die sekundären Bilder im Zentrum unterbrochen zu sein. Da die tertiären Bilder ungemein stark durch die Adaptation gewinnen, so ist es wohl sehr wahr- scheinlich, daß sie, wenigstens bei Dunkeladaptation, im Zentrum hinter der- jenigen Stärke, die sie peripher erreichen, zurückbleiben. Anderseits wird ihr völliges Fehlen im Zentrum schon durch den Umstand unwahrscheinlich, daß sie auch im roten Lichte, und zwar gleichfarbig, zu sehen sind. Hiernach würde anzunehmen sein, daß in den tertiären Bildern eine zweite, der primären Erregung gleichsinnige Tätigkeit des Zapfenapparates vorliegt, mit der sich aber eine nochmalige (dritte), durch die Dämmerungs- organe vermittelte Helligkeitsempfindung verbindet. !) Ih muß an dieser Angabe, die übrigens auch von Hamaker und Mc Dougall (a. a. O.) bestätigt wird, auf Grund sehr zahlreicher von mir selbst wie von anderen Beobachtern angestellter Versuche trotz des von Heß wiederholt erhobenen Widerspruches festhalten. Vgl. über die ungeeigneten Verfahrungsweisen, durch die Heß sich hat täuschen lassen, v. Kries, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 29, 84 f. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 15 2236 Sonderung der Stäbchen- und Zapfenreaktion. Theoretisches. Wie im obigen bereits angedeutet, haben wir Anlaß, in den angeführten Erscheinungen Reaktionen des Dämmerungsapparates von denen des Tages- apparates zu sondern. Versucht man, diesem Gedanken folgend, sich von den gesamten Erscheinungen Rechenschaft zu geben, so wird man etwa zu der folgenden (teilweise schon von mir, vollständiger dann von Hamaker dargelegten) Auffassung geführt. Auf eine kurz dauernde Reizung würde der Zapfenapparat mit zwei gleichsinnigen Erregungen antworten, die im primären und tertiären Bilde zum Ausdruck kämen und durch eine Phase eines gegensinnigen Zustandes getrennt wären. Dagegen scheinen die Sub- strate des Dämmerungssehens mit einer dreimaligen Helligkeitsempfindung zu reagieren. Es ist ersichtlich, daß eine Reihe von Besonderheiten der ganzen Erscheinung so in befriedigender Weise verständlich werden, so die Abhängigkeit der sekundären Bilder von den Dämmerungswerten, die Un- gleichheit der sekundären Bilder bei Gleichheit der primären, das Über- springen der Fovea durch den Trabanten usw., Erscheinungen, die bei einer unitarischen Auffassung der schwarz-weißen Sehsubstanz völlig rätselhaft sein würden. Auf der anderen Seite versteht sich freilich von selbst, daß die hier vorliegenden Probleme durch diese Anschauung zwar vereinfacht, aber keineswegs gelöst sind. Denn es fragt sich eben, wie es kommt, daß der eine wie der andere der Bestandteile des Sehorgans auf den einmaligen kurzen Reiz in so eigentümlicher und verwickelter Form reagiert, eine Frage, die zurzeit ganz unbeantwortbar ist. Eine Erörterung mancher sich hier bietender Möglichkeiten, insbesondere auch die Erwägung, welche Bedeutung regelmäßig periodischen Oszillationen zukommen mag, führt meines Erachtens noch zu sehr auf hypothetisches Gebiet, als daß ihr hier Raum gegeben werden könnte. Dies ist um so mehr der Fall, als vorläufig die Erscheinungen noch nicht einmal mit derjenigen Vollständigkeit bekannt sind, die man wünschen könnte. So wird es unerläßlich sein, auch bei den Zuständen des Sehorgans, die sich nach sehr kurzen Reizungen abspielen, die Empfänglichkeit gegen neu einwirkende Reize in Betracht zu ziehen, d. h. sie mit reagierenden Lichtern zu prüfen. — Auch in bezug auf die Art des Zusammenwirkens des Dämme- rungs- und Tagesapparates erheben sich interessante, aber vorläufig nicht mit Sicherheit zu beantwortende Fragen. Die komplementäre Färbung der sekundären Bilder kann man im allgemeinen als eine Kombination der sekundären Stäbchen- erregung mit dem gleichzeitig im trichromatischen Apparat bestehenden negativen und komplementären Nachbild betrachten. Merkwürdig aber bleibt dabei, daß dieses letztere gerade durch die Stäbchenerregung erst deutlich sichtbar zu werden scheint, wie daraus hervorgeht, daß komplementäre Farbe und Helligkeit genau zusammen, eben als ein ganz scharf einsetzendes sekundäres Bild, zur Erscheinung kommen, und daß die komplementäre Phase in der Fovea und bei rotem Licht ungemein schwer beobachtbar ist. Wir müssen uns darauf beschränken, auf die hieran sich knüpfenden Fragen als erst durch weitere Untersuchungen zu lösende hinzuweisen. Das Ansteigen der Erregungsvorgänge bei dauernder Belichtung. Eine zweite hier anzureihende Gruppe von Untersuchungen hat sich mit der Aufgabe beschäftigt, den zeitlichen Verlauf der Erregungsvorgänge bzw. der Empfindung zu ermitteln, wenn auf das Sehorgan von einem be- Ansteigen der Empfindung. 227 stimmten Zeitpunkt an ein konstanter Lichtreiz einwirkt. Da die Empfin- dung jedenfalls nicht mit absoluter Genauigkeit im Moment des Reizanfangs auf einen bestimmten und definitiven Wert sich einstellen oder im Moment der Reizunterbrechung wieder auf einen anderen momentan zurückgehen wird, so muß man sich die Einwirkung des Reizes als ein die nervösen Vor- gänge in einem Sinne veränderndes Moment denken, während anderseits . nach Unterbrechung des Reizes in irgend einer durch die Natur des Sinnes- organs bestimmten Weise jener Vorgang nachläßt und zu Ende geht. Hier- aus folgt, was von allgemeiner Wichtigkeit ist, daß wir uns den bei einer gleichmäßigen Belichtung stattfindenden Zustand einer (annähernd) konstanten Empfindung als das Gleichgewicht entgegengesetzter Einflüsse denken müssen, des die Empfindung steigernden, welches in der Einwirkung des Reizes gegeben ist, und eines entgegengesetzten (seiner Natur nach uns nicht genauer bekannten), welcher das Absinken bei Unterbrechung des Reizes herbeiführt und in seinem Verlauf bestimmt. Die Verhältnisse des Ansteigens der Empfindung vom Augenblick des Reizanfangs an hat Exner!) untersucht. Er machte dabei noch von dem weiteren Umstande Gebrauch, daß (bei konstanter Belichtung) die Empfin- dung in einer gewissen kurzen Zeit ihren maximalen Wert erreicht, dann aber nicht genau konstant bleibt, sondern sogleich zufolge der Ermüdung (Umstimmung) abzusinken anfängt. Des genaueren wurde so verfahren, daß in einem bestimmten Zeitpunkt ein helles Objekt (in Form eines Halbkreises) in dem (im übrigen dunkeln) Gesichtsfelde erschien, sodann in einem sehr kleinen und variierbaren Intervall danach der ganze Kreis mit der gleichen Lichtstärke sichtbar wurde, endlich wieder- Fig. 29. um in kurzem Intervall danach das ganze Gesichtsfeld verdunkelt wurde. Es werden also benachbarte Netzhautstellen von den gleichen Reizen getroffen, so jedoch, daß die Einwirkung auf die eine um ein weniges (in Aus Exners Versuchen etwa !/;, bis !/,, Sekunde) früher beginnt als auf die andere. In Fig. 29 mögen die beiden Kurven den Anstieg der Empfindung für die früher und die später belichtete Partie darstellen; wird die ganze Schema der Exnerschen Versuche 3 R 5 F über das Ansteigen des Erregungs- Belichtung bei a unterbrochen, so ist, wie vorgangs bei konstanter Belichtung. man sieht, die früher gereizte Stelle im Über- gewicht, dagegen die später gereizte, wenn die Reizung bei b abbricht. Exner ging nun von der Annahme aus, daß das „Abklingen der Erregung“ sich in einfacher Weise nach demjenigen Betrage derselben richten werde, der im Moment der Reizunterbrechung stattfindet, und daß somit der zuerst er- leuchtete Halbkreis im einen Fall heller, im anderen dunkler als der später erleuchtete erscheinen werde. In der Tat ließen sich nun durch Variierung jenes Zeitpunktes Grenzen für die Sichtbarkeit des „positiven und des nega- tiven Nachbildes“, d. h. für das Heller- oder Dunklererscheinen des zuerst a b % !) Exner, Sitzungsber. Wiener Akad., math.-naturw. Kl. II, 58, 601. Helm- holtz, 8. 514. 15* 228 Exners Versuche. erleuchteten Halbkreises ermitteln und so die Lage des Kurvengipfels mit Annäherung feststellen. Es wurde so gefunden, daß die zur Erreichung des Maximums nötige Zeit in erheblichem Maße von der Intensität des an- gewandten Lichtes abhängt. Exner fand in einer Versuchsreihe: Intensität Zeit Intensität Zeit 1. .2.2...0,2873 Sekunde 4 ....... 0,2000 Sekunde 0: DE UV °. 5, di 8. 2 TED . sehr ähnlich in einem zweiten Versuch. Nach einem zwar in gewissen Beziehungen modifizierten, jedoch im Prinzip gleichartigen Verfahren hat später Kunkel!) Beobanlrknin mit farbigen (spektralen) Lichtern angestellt. Gegen die von Exner und von Kunkel benutzten Versuchsweisen und die Zulässigkeit der von ihnen gemachten Voraussetzungen sind in neuerer Zeit eine Reihe von Einwendungen gemacht worden, die in gewissem Umfange ohne Zweifel berechtigt sind. In der Tat wurde damals, wie erwähnt, von der Annahme aus- gegangen, daß bei Gleichheit der Erregung im Augenblick der Reizunterbrechung ° auch das „Abklingen“ in gleicher Weise geschehen werde. Diese Annahme ist nun nach allem, was die Erfahrungen mit kurzen Lichtreizen gelehrt haben, nichts weniger als selbstverständlich, ja nicht einmal wahrscheinlich. Die „abklingende Erregung“ dürfte im allgemeinen dem entsprechen, was wir vorhin als tertiäres Bild kennen gelernt haben; von diesem aber kann man schon wegen seines ganz abweichenden zeitlichen Verlaufes wohl vermuten, daß seine Helligkeit von der Stärke und Dauer der Belichtung ganz anders als die des primären abhängt, daß daher Gleichheit der Erregung im Moment der Reizunterbrechung und gleiche Stärke des tertiären Bildes schwerlich durchweg zusammenfallen. Unter diesen Umständen gewinnt aber die Frage, ob die Vergleichung auf den Moment. der Reizunterbrechung oder auf das Stadium des Abklingens sich beziehen soll, eine ganz andere Bedeutung, als damals angenommen werden konnte. Es wäre wohl verfehlt, darüber, wie tatsächlich beobachtet worden ist, eine Hypothese aufstellen und so den Ergebnissen hinterher eine speziellere Deutung geben zu wollen. Eine Wiederholung ähnlicher Versuche unter Berücksichtigung der neueren Erfahrungen über die Wirkung kurz dauernder Reize wäre ohne Zweifel erwünscht; freilich läßt sich voraussehen, daß man dabei immer auf gewisse, kaum ganz zu beseitigende Unsicherheiten stoßen wird; denn es wird sich eben nicht umgehen lassen, die Helligkeit auf zwei Feldern zu vergleichen, deren Erleuchtungen zeitlich ungleich sind, eine Aufgabe, die sich wohl niemals in einer jeden Zweifel aus- schließenden Weise lösen läßt. Das von Martius (Beitr. z. Psychol. u. Phlkisorhilk 1, 3) benutzte Verfahren, ein für verschiedene sehr kurze Zeiten aufleuchtendes Feld mit einem benachbarten dauernd erhellten vergleichen zu lassen, stößt jedenfalls schon wegen der bei Dauerbeleuchtung sich stetig ändernden Erregungsstärke auf noch erheblichere Bedenken. Und ebensowenig können meines Erachtens die Versuche von Dürr (Wundts philosoph. Studien 18) einen Vorzug beanspruchen, bei denen ein kurzer (und in seiner Dauer variierender) „Vergleichsreiz* neben einem erheblich länger dauernden (1,6 bis 1,9 Sekunden) Normalreiz dargeboten wurde, und zwar so, daß beide Reize ungefähr, aber keineswegs genau, gleichzeitig zu Ende gingen. Das Abklingen positiver Nachbilder. Auch bezüglich derjenigen Vorgänge, die eintreten, wenn ein Reiz, der eine gewisse Zeit auf das Sehorgan eingewirkt hat, plötzlich unterbrochen wird, das sogenannte „Abklingen der Erregung“, liegen eine Reihe älterer 1) Arch. f. d. ges. Physiol. 9, 197. Farbiges Abklingen der Nachbilder. 229 Erfahrungen vor, deren Bedeutung durch die neueren Untersuchungen über die Wirkung momentaner Reize einigermaßen zweifelhaft geworden ist. Was man hier beobachtet und im allgemeinen schlechtweg als positives Nachbild bezeichnet hat, glaubte man früher einfach als das allmähliche Absinken der ‚Erregung auffassen zu dürfen. Nach dem, was wir jetzt über die Wirkung sehr kurz dauernder Reize wissen, ist es wahrscheinlich, daß auch jene Vor- gänge durchweg, also auch die über lange Zeiten sich erstreckenden Nachbilder sehr intensiver und etwas länger einwirkender Reize den tertiären Bildern zu parallelisieren sind. In bezug auf sie mögen hier noch einige Details angereiht werden. Was ihre Dauer anlangt, so finden sie ihr Ende durch den auch bei ganz verdunkeltem Auge stattfindenden Über- gang in das negative Nachbild. Bei den oben geschilderten Versuchen über momentane Reize sieht man diesen im allgemeinen nach einigen Sekunden eintreten. Helmholtz gibt an, daß, wenn man helle Wolken etwa l/; Sekunde lang betrachte, das positive Nachbild in etwa 12 Sekunden schwindet, d. h. dem negativen Platz mache. An anderer Stelle gibt er die helle Nachdauer bei direktem (sehr kurzem) Sehen in die Sonne auf mehrere Minuten an. Sodann ist hier anzuführen, daß bei stärkeren Reizungen die vorher angegebene Regel hinsichtlich der Färbung nicht mehr durchgängig zutrifft. Vielmehr begegnet man hier der vielgestaltigen Fülle von Erscheinungen, die mit dem Namen des farbigen Abklingens der Nachbilder benannt sind. Bei Anwendung eines farblosen Vorbildes (von genügender Lichtstärke) sieht man das Nachbild oft sehr lebhafte Farbenerscheinungen darbieten, die in einer Reihe von Phasen aufeinander folgen. Nach nicht zu kurzer Ein- wirkung starker farbloser Lichter zeigt das Nachbild auf ganz dunklem Grunde folgende Farbenreihe: Weiß, Rot, Grün, Rot, Blau, auf weißem Grunde schließ- lich noch Blaugrün und Gelb (Helmholtz, S. 524). Auch bei Anwendung in- tensiver farbiger Lichter sind die Erscheinungen nicht ganz einfach. Zwar ist regelmäßig zuerst im positiven Nachbilde die Farbe des Vorbildes sichtbar, während das spätere negative die komplementäre zeigt. Aber im allgemeinen gehen diese Phasen nicht einfach durch ein Stadium völligen Erlöschens in- einander über, sondern meist durch Übergänge, in denen das Nachbild als ein farbloses helles oder rötlich weißes sichtbar ist (ähnlich wie nach Ein- wirkung von weißem Licht). Bezüglich der sehr mannigfaltigen Details sei hier auf die Beschreibungen von Fechner (Pogg. Ann. 50, 220, 1840), Seguin (Annales de chimie et de physique, 3me ser., XLI) und Helmholtz (Physiol. Optik, 8. 521f.) verwiesen. In theoreti- scher Beziehung ist klar, daß die Komplikation der Erscheinungen ganz im all- gemeinen darauf hinweist, daß das Abklingen der nachdauernden Reizung und wohl auch die Wiederherstellung der verminderten Erregbarkeit (Umstimmung) sich in verschiedenen Anteilen des Sehorgans zeitlich mehr oder weniger verschieden abspielen. So wurde Helmholtz zu der Annahme geführt, daß die Abnahme im Rot im Anfang die schnellste, später die langsamste, die des Grün anfangs die langsamste, nachher die schnellste ist. Bei Deuteranopen scheint nach starker farb- loser Belichtung für längere Zeit ein lebhaft blau gefärbtes positives Nachbild zu bestehen (Nagel, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 27, 271). Als eine exzessiv lange Nacherregung eines Teiles des Sehorgans ist vielleicht auch die als „Erythropsie“ beschriebene Erscheinung aufzufassen (Fuchs, Arch. f. Ophthal- mologie 42, 4). 230 Periodische Reize. — Talbotsches Gesetz. Wirkung periodischer Reize. Wir wenden uns einer besonders vielfach untersuchten Gruppe von Erscheinungen zu, denjenigen nämlich, die bei der Einwirkung verschiedener Lichter in schnellem periodischem Wechsel zur Beobachtung kommen. Man. bedient sich für diese Untersuchungen in der Regel rotierender Scheiben, sei es, daß man diesen weiße und schwarze oder überhaupt verschieden gefärbte Sektoren gibt, sei es, daß man in ihnen sektorförmige Ausschnitte anbringt, durch welche ein dahinter aufgestelltes Objekt intermittierend sichtbar ge- macht wird. Unterschiede der Methode, von denen später noch zu reden sein wird, können es auch mit sich bringen, daß der Lichtwechsel in einem größeren Teile des Gesichtsfeldes gleichzeitig stattfindet oder so, daß die Grenze zweier ungleich aussehender Felder durch das Gesichtsfeld hinläuft. In allen Fällen kann ınan übereinstimmend sehr leicht die Tatsache beob- achten, daß, wenn man die Periode des Lichtwechsels unter einen gewissen Wert verkleinert, von den Wechseln des Reizes nichts mehr wahrgenommen wird, sondern die Empfindung vollkommen stetig erscheint. Vergrößert man die Periode allmählich, so tritt die Diskontinuität der Empfindung zuerst in der sehr charakteristischen Form des Flimmerns auf, das je nach der Be- schaffenheit der einwirkenden Lichter eine Fülle verschiedenartiger und inter- essanter Details darbietet, bis es endlich bei relativ langsamen Lichtwechseln gelingt, die einzelnen Phasen in ihrer gewöhnlichen Erscheinungsweise auf- zufassen. Ich will diejenige Frequenz des Lichtwechsels, die erforderlich ist, um eine „ganz stetige“ Empfindung zu liefern, die Verschmelzungsfrequenz nennen. Da die Frage nach dem Werte dieser kritischen Frequenz und ihrer Abhängigkeit von einer Reihe der verschiedensten Umstände an späterer Stelle behandelt werden soll, so haben wir hier den Reizerfolg periodisch wechselnder Lichter nur für den Fall zu besprechen, daß die Frequenz des Reizwechsels jenen Wert übertrifft, und für den entgegengesetzten Fall einiges wenige über die Erscheinung des Flimmerns selbst hinzuzufügen. — Das Aussehen periodisch wechselnder Lichter, die wegen hinreichend hoher Frequenz des Wechsels stetig erscheinen, wird durch die vielerörtete, unter dem Namen des Talbotschen Gesetzes bekannte Regel angegeben. Ihr zufolge entspricht der Reizerfolg periodisch wechselnder Lichter ihrem durch- schnittlichen Wert, d. h. der kontinuierliche Eindruck ist dem gleich, welcher entstehen würde, wenn das während einer jeden Periode eintreffende Licht gleichmäßig über die ganze Dauer der Periode verteilt würde!). Plateau und Helmholtz bestätigten die Gültigkeit dieses Gesetzen; später ist seine genaue Richtigkeit vielfach bezweifelt worden, so namentlich von Fick, der fand, daß in einem gewissen Bereich mittlerer Helligkeiten die intermittierenden Lichter im Vergleich zu dauernden zu hell erscheinen ?), In neuerer Zeit ist das Talbotsche Gesetz in sehr sorgfältiger und technisch vollkommener Weise in der Physikalisch-technischen Reichsanstalt geprüft !) Helmholtz, 8. 483. — *®) Arch. f. Anat. u. Physiol. 1863, Ähnlich gibt Grünbaum an, daß das Gesetz nur für schwächere Lichter zutrifft, bei hohen Intensitäten aber das intermittierende Licht zu hell erscheine (Journ. of Physiol. 22). Theorie des Talbotschen Gesetzes. 231 worden !), wobei sich keine Abweichungen fanden, die den Betrag der auf Beugungserscheinungen u. dgl. zurückzuführenden äußerst geringen Un- genauigkeiten übertroffen hätten. Über den Grund des Talbotschen Gesetzes sind in neuerer Zeit zahlreiche Betrachtungen angestellt worden. Meines Erachtens liegt die einfache und vollkommen genügende 2) Erklärung desselben in den schon von Helmholtz dargelegten Verhältnissen. Für periodisch wech- selnde Einwirkungen beliebiger Art wird ein Gesetz von der Form des Talbot- schen immer gelten müssen, wenn der nächste Erfolg für jedes sehr kleine ‚Zeitteilchen dem Wert idt, d. h. dem Produkt aus Intensität und Zeit, pro- portional gesetzt werden kann. So ist die Einstellung eines Bussolmagneten bei periodisch schnell wechselnden Strömen durch die durchschnittliche Strom- stärke bestimmt, weil die durch den Strom dem Magneten erteilten Geschwin- digkeiten in jedem sehr kleinen Zeitteilchen dem Wert ödt proportional sind. Lassen wir Wasser im Strahl in ein Gefäß laufen, das unten eine Abfluß- öffnung hat, so stellt sich das Niveau für jede Einströmung auf eine gewisse Höhe ein, die dadurch bestimmt wird, daß der durch sie gegebene Druck durch die Ausflußöffnung so viel Kubikzentimeter in der Zeiteinheit heraustreibt, wie zufließen. Machen wir die Einströmung periodisch wechselnd, und zwar so schnell, daß das Niveau nicht merklich schwankt, so wird die Einstellung des Niveaus sich in der Art des Talbotschen Gesetzes nach dem durchschnittlichen Wert der Strömung richten. Nehmen wir für das Auge an, daß der durch die Belichtung der Netzhaut hervorgerufene unmittelbare Erfolg z. B. chemischer Natur und die Menge des gebildeten Zersetzungsproduktes in jedem Zeit- teilchen der auftreffenden Liehtmenge proportional sei, so ergibt sich die Gültigkeit des Talbotschen Satzes, der, unter diesem Gesichtspunkt be- trachtet, jedenfalls nichts Rätselhaftes hat. Wenn Fick darauf hinwies, daß die Gültigkeit des Talbotschen Gesetzes eine ganz bestimmte Beziehung des An- und Abklingens voraussetze, so ist dabei, wie mir scheint, unbemerkt geblieben, daß gerade diese Beziehung sich naturgemäß überall herstellen muß, wo für periodische Antriebe in der soeben erwähnten Weise die Werte idt maßgebend sind und unter ihrem Einfluß zufolge einer Gegenwirkung sich ein Gleichgewichtszustand mit sehr kleinen Oszillationen herstellt. Steigen und Sinken des Niveaus, die Bewegung des Magneten in den angeführten Beispielen vollziehen sich (in sehr kleinen Zeitteilchen) nach dem von Fick postulierten Gesetz. — Ganz unberechtigt ist es, wenn man gegen die Richtigkeit der ganzen Darstellung einwendet, daß die Untersuchungen über Momentreize weit kompli- ziertere Verhältnisse des „Abklingens“ herausstellten. Dies ist durchaus damit ver- einbar, daß bei hoher Frequenz des Reizwechsels der die Empfindung bestimmende Zustand sehr kleine periodische Wechsel durchläuft, die der durch das Talbotsche Gesetz postulierten quantitativen Beziehung folgen, wie denn dies auch z. B. für den Bussolmagneten zutreffen muß, ganz ohne Rücksicht darauf, in welcher Form bei Unterbrechung des ablenkenden Stromes sich sein Rückgang in die Gleich- gewichtslage vollzieht. — Auf einige andere mit dem Problem zusammenhängende !) Lummer u. Brodhun, Zeitschr. f. Instrumentenkunde 16, 299, 1896. — 2) Das allerdings bedarf, wie schon oben erwähnt, einer Erklärung, daß überhaupt unter dem Einfluß konstanter Belichtung die Empfindung nicht ins Unbegrenzte wächst, sondern sich auf einen bestimmten, von der Reizstärke abhängenden Wert einstellt. Wie wir uns des genaueren das hierbei anzunehmende Gleichgewicht zu denken haben, ist vorderhand nicht angebbar. Davon aber, daß überhaupt ein solches (bei konstanter Belichtung) sich herstellt, wird jede Erwägung über die Wirkung periodischer Reize als von einer gegebenen Tatsache ausgehen dürfen. 2323 Erscheinungen des Flimmerns. Fragen, wie z. B. die, ob die Empfindung überhaupt als eine oszillierende oder als eine in strengem Sinne stetige anzusehen ist, wird im IX. Kapitel einzugehen sein. Was die Erscheinungen des Flimmerns- anlangt, die bei einer unter der Verschmelzungsgrenze bleibenden Frequenz der Reize eintreten, so sind sie überaus mannigfaltig. Bei relativ langsam umlaufenden Scheiben, die schwarze und weiße Sektoren führen, erhält man Erscheinungen, die natur- gemäß zu den oben geschilderten in der genauesten Beziehung stehen und sich zum Teil aus den zeitlichen Verhältnissen der Wirkung einzelner Reize direkt ergeben. Es ist nicht notwendig, auf diese, die unter den früher er- wähnten Bedingungen besser zu studieren sind, hier zurückzukommen. Da- gegen ist hier anzuführen, daß gerade bei rotierenden Scheiben eine (wohl den primären Bildern zuzuschreibende) Farbendifferenzierung angegeben wird. Nach Helmholtz sieht man bei passenden Rotationsgeschwindigkeiten den vorauslaufenden Rand des weißen Sektors rötlich, den hinteren bläulich ge- färbt. Steigert man die Geschwindigkeit der Umdrehung, so scheinen in den Scheiben örtliche Ungleichheiten aufzutreten, die wie eine bewegliche Muste- rung aussehen; man erhält den Eindruck eines mannigfaltigen durcheinander- strömenden Maschen- oder Gitterwerkes, Erscheinungen, bezüglich deren feinerer Details auf Helmholtz und Purkinje verwiesen sei. Beachtenswert ist, daß, wie namentlich Brücke!) beschrieb, flimmernde Scheiben mit schwarzen und weißen Sektoren bei gewissen Umlaufsgeschwindigkeiten einen farbigen (je nach der Geschwindigkeit verschiedenen, namentlich gelben oder blauen) Gesamteindruck machen. Ebenso erhält man auch einen ziemlich bestimmten Eindruck einer Gesamthelligkeit. Hat man auf einer rotie- renden Scheibe Ringe mit verschiedenen Zahlen schwarzer und weißer Sek- toren, so bemerkt man bei passenden Rotationsgeschwindigkeiten, daß ein stark flimmernder Ring im ganzen beträchtlich heller erscheint als ein voll- kommen stetig gesehener. Brücke gab an, daß bei einer Frequenz der Reizanstöße von etwa 17,5 in der Sekunde die Helligkeit am größten erscheine ?). Im Anschluß hieran mag endlich noch eine sehr eigenartige, unlängst von Bidwell beschriebene Erscheinung angeführt werden (Proc. of the R. Soc. 68). Läßt man (mittels einer rotierenden Scheibe mit sektorförmigem Ausschnitt) auf das Auge abwechselnd farbiges und weißes Licht einwirken, so kann man es leicht dahin bringen, daß das weiße Licht im negativen Nachbilde komplementär gefärbt erscheint. Bei gewissen Rotationsgeschwindigkeiten entwickelt sich auch ein Ge- samteindruck, und in ihm kann merkwürdigerweise das komplementär gefärbte Weiß das Übergewicht gewinnen; man hat daher z. B. bei abwechselnder Ein- wirkung weißen und roten Lichtes nicht, wie man erwarten sollte, eine ungesättigt rot, sondern, paradoxerweise, eine zwar flimmernde, aber im ganzen blaugrün er- scheinende Empfindung. VIII. Induzierte Licht- und Farbenempfindungen. Licht- und Farbeninduktion. Simultaner Kontrast. Daß das Licht, welches eine bestimmte Netzhautstelle trifft, in erster Linie auf diese Stelle selbst und die mit ihr verbundenen Sehnervenfasern wirkt, dies ist die Grundlage jeder geordneten räumlichen Wahrnehmung, R !) Sitzungsber. Wiener Akad., math.-naturw. Kl., 49 (1864). — ?) A. a. 0. Ahnlich Burch, Journ. of Physiol. 23, 7. — Pe a a DU m, Induzierte Empfindungen. — Simultaner Helligkeitskontrast. 233 und daß es sich so verhalte, ist wohl nie bezweifelt worden. Daneben gibt es eine Reihe von Tatsachen, die darauf hinweisen, daß irgend eine Wirkung nicht nur auf die belichteten, sondern auch auf benachbarte Teile, vielleicht das ganze Sehorgan, stattfinde.e Man nennt diese indirekten Modifikationen des Eindrucks im allgemeinen Induktionen (Brücke), und man bezeichnet dasjenige Licht, welches nicht an der von ihm getroffenen Stelle, sondern in der näheren oder entfernteren Umgebung eine bestimmte Modifikation hervor- ruft, als das induzierende, die in solcher Weise hervorgerufene Licht- oder 'Farbenempfindung als eine induzierte. In der Mehrzahl der Fälle folgen diese Induktionen einer einfach an- zugebenden Regel. Man findet nämlich, daß die Belichtung einer Netzhaut- stelle den Empfindungszustand benachbarter Teile in einem Sinne modifiziert (oder zu modifizieren scheint), der dem der belichteten Stelle entgegengesetzt ist. Die Gegensätzlichkeiten, um die es sich dabei handelt, sind die näm- lichen, denen wir schon bei den Umstimmungen begegnet sind: die von hell zu dunkel, einer jeden Farbe zu ihrer komplementären. So erscheint denn also unter geeigneten Umständen der farblose Gegenstand mittlerer Hellig- keit auf hellem Grunde dunkler, auf dunklerem heller, auf rotem grün, auf gelbem blau usw. Jede Empfindung scheint also ähnlich wie als Nach- wirkung an der gleichen Stelle, so auch gleichzeitig an den benachbarten Stellen ihr Gegenstück hervorzurufen. So sind es denn in der Tat in vieler Hinsicht sehr ähnliche Erscheinungen, die dort und hier zur Beobachtung kommen; man kann sie unter den allgemeinen Begriff des Kontrastes zusammenfassen und diesen in dem einen Fall, wo er auf der zeitlichen Folge der verschiedenen Lichter beruht, einen successiven, hier dagegen, wo er von dem (gleichzeitigen) räumlichen Nebeneinander abhängt, einen simultanen nennen (Chevreul). In der oben angeführten Bezeichnungs- weise ist der Simultankonstrast eine gegensinnige Induktion zu nennen. Für die speziellere Darstellung sondert man zweckmäßig die Erscheinungen, die bei ausschließlicher Anwendung farbloser Lichter als Modifikationen der Helligkeit zu bemerken sind, den Helligkeitskontrast, von den die farbigen Bestimmungen treffenden, dem Farbenkontrast. Die Methoden zur Beobachtung des Helligkeitskontrastes sind überaus zahlreich. Ich darf mich hier auf die Anführung einiger besonders beachtenswerter um so mehr beschränken, als eine sehr vollständige Über- sicht derselben erst jüngst von anderer Seite gegeben worden ist !). Man lege einen 6 bis 8mm breiten Streifen dunkelgrauen Papieres auf eine Unterlage von schwarzem Samt, so jedoch, daß er, etwa durch zwei kleine Klötzchen an den Enden getragen, ein wenig über ihr schwebt. Schiebt man nun einen 2 bis 4cm breiten Streifen weißen Papiers quer unter jenem durch und bewegt ihn hin und her, so scheint das graue Papier sich jedesmal da zu verdunkeln, wo das weiße darunter kommt, sich auf- zuhellen, wo man das weiße fortzieht und der schwarze Samt wieder zum Vorschein kommt; und zwar ist dies auch dann zu beobachten, wenn man mit dem Blick nicht wandert, sondern eine bestimmte Stelle des grauen Streifens fixiert, die Einmischung des successiven Kontrastes !) Tehermak, Kontrast und Irradiation. Ergebnisse d. Physiol. 2, 2. 234 Beobachtungsmethoden und Messung. also ausschließt. — Die Methode der Schatten besteht darin, daß eine objektiv gleichmäßige Fläche unter Benutzung zweier oder mehrerer Licht- quellen und schattenwerfender Körper ungleich beleuchtet wird. Wenn man einer größeren weißen oder grauen Tafel (Wand) gegenüber in einer horizontalen Reihe eine Anzahl von Kerzen aufstellt und zwischen die Wand und die Kerzen einen Schirm bringt, so erhält man bei passender Anordnung auf der Wand zwischen dem voll und dem gar nicht beleuchteten Feld eine Reihe. von Streifen; der erste erhält Licht von einer Kerze, der zweite von zwei usw. Jeder Streifen ist in sich von gleicher Helligkeit, stößt aber einer- seits an einen helleren und anderseits an einen dunkleren Nachbar. In höchst frappanter Weise sieht man nun aber jeden einzelnen Streifen in sich ungleich, heller da, wo er an den objektiv dunk- leren stößt, und umgekehrt. Eine weitere hier anzuführende Methode bedient sich Scheibe zur Beobachtung des Helligkeite do» rotierenden Scheiben. Wenn man eine Scheibe von der Zeichnung der Fig. 30 in so schnelle Umdrehung versetzt, daß kein Flimmern mehr gesehen wird, so erhält man eine Reihe konzentrischer Ringe, deren jeder an sich gleichmäßig hell ist, während die Helligkeit der einzelnen von innen nach außen zunimmt. Wiederum erscheint mit überraschender Deutlichkeit jeder Ring in sich ungleich, außen (wo er an den nächst helleren grenzt) dunkler, innen (wo er an den nächst dunkleren stößt) heller. Als vorzugsweise geeignet für eine Reihe von Kontrastversuchen, ins- besondere die messenden, ist sodann hier noch des Heringschen Verfahrens zu gedenken, bei dem man durch die in einem vorderen Schirm angebrachte - Öffnung auf einen hinteren Schirm bliekt. Die Beleuchtung beider Schirme läßt sich dann vollkommen unabhängig herstellen, namentlich wenn man den vorderen Schirm mit der Öffnung in einer zwei gesonderte Räume trennen- den Scheidewand, etwa in der Tür zwischen zwei Dunkelzimmern, anbringt. Über den allgemeinen Charakter der hierhergehörigen Erscheinungen ist, da sie durch die Regel des Kontrastes qualitativ genügend bestimmt sind, kaum etwas hinzuzufügen. Eine genauere, insbesondere messende Verfolgung ist in neuerer Zeit mehrfach versucht worden. So prüften Heß und Pretori!), wie die Helligkeit eines kleinen Feldes bei wechselnder Helligkeit der Um- gebung geändert werden muß, wenn dasselbe dauernd einem Vergleichsfelde von fixierter Helligkeit und in derselben Umgebung gleich erscheinen soll. Es zeigte sich, daß für jeden Zuwachs der Umgebungshelligkeit das Feld selbst einen innerhalb ziemlich weiter Grenzen proportionalen Helligkeits- zuwachs erhalten muß?). Fig. 30. ‘) Arch. £. Ophthalmol. 40 (4), 1.— ?) Schon früher sind Kontrastgesetze in diesem Sinne von Ebbinghaus aufgestellt worden (Sitzungsber. d. Berliner Akademie 1887, S. 994). Dieser unterschied Kontrasterhellung und Kontrastverdunkelung und gab für Simultaner Farbenkontrast. 235 Die Methodik zur Beobachtung desFarbenkontrastes ist nicht minder reichhaltige. Als „Florversuch“ wird das folgende Verfahren bezeichnet: Man legt auf ein Blatt lebhaft gefärbten Papieres ein Schnitzelchen rein grauen Papieres von etwa gleicher Helligkeit; dann bedeckt man beide mit einem Blatt durchscheinenden weißen Papieres (etwas stärkeres Seidenpapier oder sehr dünnes Schreibpapier). Das von dem weißen Papier reflektierte Licht addiert sich zu dem von der Unterlage zurückgeworfenen und durch das weiße Blatt hindurchgegangenen; der Grund ist demgemäß nunmehr schwach gefärbt, von dem Schnitzel erhält das Auge ein objektiv ungefärbtes Licht. Man sieht aber sehr deutlich das Schnitzel gefärbt, und zwar in der zu der Färbung des Grundes komplementären Farbe. Noch eleganter sind auch hier die Verfahrungsweisen, die sich der Schatten und der rotierenden Scheiben bedienen. Man beleuchtet eine größere weiße oder graue Fläche mittels zweier circumscripter Lichtquellen, deren eine am besten weiß gewählt wird, während die andere durch vorgesetzte Gläser in beliebiger Weise gefärbt werden kann. Bringt man vor den Schirm einen undurchsich- tigen Stab, so erhält man zwei Schatten desselben; objektiv ist die Fläche in ihrer ganzen Ausdehnung mit einer Mischung des farblosen und des farbigen Lichtes erleuchtet, während in dem einen Schatten das weiße Licht fehlt, dieser also die Farbe in größerer Sättigung besitzt, in dem anderen dagegen das farbige Licht fehlt, dieser also objektiv ungefärbt ist. Wählt man die Stärken der Beleuchtung so, daß beide Schatten etwa gleich dunkel erscheinen, was durch Regulierung des Abstandes der beiden Lichtquellen leicht zu er- zielen ist, so sieht man in frappierender Weise den objektiv ungefärbten Schatten in der komplementären Färbung, so zwar, daß oft die beiden Schatten in den zueinander komple- Fig. 31. mentären Färbungen mit gleicher Leb- haftigkeit wahrgenommen werden und man im Zweifel sein kann, welches die objektiv vorhandene, welches die sub- jektiv entstandene Farbe ist!). Die aus der täglichen Erfahrung bekannten „blauen Schatten“, die eine gelbliche künstliche Lichtquelle auf einem noch von schwachem Tageslicht oder von Mondlicht beleuchteten weißen Papierblatt entwirft, sind eine Erschei- nung der gleichen Art. Kaum minder schön sind die Er- scheinungen auch bei Benutzung rotie- render Scheiben zu sehen; man ver- wendet am besten eine Scheibe von der Einrichtung der Fig. 31, worin die schraffierten Teile in irgend einer Weise gefärbt sind. Bei hinreichend Il | | m TI! in! in! I Scheibe zur Beobachtung des Farbenkontrastes. die erstere eine Regel, die mit derjenigen von Heß und Pretori gleichbedeutend ist, für den letzteren Fall, dagegen eine abweichende und etwas verwickeltere. !) Eine sehr zweckmäßige Vorrichtung dieser Art hat Hering angegeben, bei ‘ der zwei in den Fensterläden angebrachte Schlitze von variabler Höhe als Licht- quellen dienen. Arch. f. d. ges. Physiol. 42, 119. 236 Messung des Farbenkontrastes. — Gleichsinnige Induktion. schneller Umdrehung erscheint die Scheibe in ungesättigter Färbung, unter- brochen durch eine Anzahl konzentrischer Ringe, die objektiv ungefärbt sind, aber sehr deutlich in der komplementären Färbung des Grundes ge- sehen werden. Auch hier ist endlich die vorher schon erwähnte Heringsche Methode anzuführen, bei der man durch die in einem vorderen Schirm angebrachte Öffnung auf einen hinteren, unabhängig zu beleuchtenden Schirm blickt. In ähnlicher Weise wie für den simultanen Helligkeitskontrast sind auch für den Farbenkontrast messende Ermittelungen gemacht worden. Nach. Hering „wächst die Deutlichkeit der Kontrastfarbe bis zu einer ge- wissen Grenze mit der Sättigung der induzierenden Farbe; über diese Grenze hinaus ist eine Zunahme der Kontrastfarbe nicht mehr deutlich, speziell dann, wenn man keine besondere Rücksicht auf den zeitlichen Verlauf des Simultankontrastes nimmt“ !). In systematischer Weise sind ferner diese Verhältnisse von Pretori und Sachs?) untersucht worden; auch nach ihnen steigt unter gewissen Voraussetzungen die Farbeninduktion mie der Sättigung der induzierenden Farbe. Im übrigen fanden diese Untersucher einen ver- wickelten Zusammenhang des Farbenkontrastes mit den Helligkeitsverhält- nissen. So ist namentlich für eine deutliche Wahrnehmbarkeit der Kontrast- farbe eine gewisse nicht zu stark, aber auch nicht zu gering zu wählende (farblose) Helligkeit des „kontrastleidenden“ Feldes wesentlich. Auf die beim Farbenkontrast sehr heuchieiiewerien zeitlichen Verhältnisse ist sogleich noch zurückzukommen. Gleichsinnige Induktion. Wenn man eine zur Hervorrufung von Kontrasterscheinungen geeignete Lichtverteilung auf der Netzhaut längere Zeit in ganz gleichmäßiger Weise bestehen läßt, also einen Punkt eines entsprechenden Objekts dauernd genau fixiert, so beobachtet man, daß der anfängliche Kontrast nach längerer oder kürzerer Zeit aufhört und einer gleichsinnigen Beeinflussung der Nachbar- teile Platz zu machen scheint. So bemerkt man bei Betrachtung eines hellen Objektes auf dunklem Grunde, daß allmählich die Umgebung desselben sich mit einem Lichtschein überzieht, der, an der Grenzlinie am hellsten und von da ausstrahlend, einem sogenannten Hof vergleichbar ist. Ähnlich überzieht sich bei längerer Fixation die dunkle Umgebung eines hellen, farbigen Gegenstandes allmählich mit einem Lichtschein der gleichen Farbe. Man nennt diese Erscheinung eine gleichsinnige, speziell bei Farben eine isochromatische Induktion. Über den Umschlag der gegensinnigen in die gleichsinnige Induktion sind von Hering und seinen Schülern eine Reihe speziellerer Untersuchungen gemacht worden. Es hat sich dabei herausgestellt, daß, wenn man durch strenge Fixation die Einmischung des successiven Kontrastes sorgfältig ausschließt, dieser Umschlag, namentlich bei der Farbeninduktion, sehr schnell erfolgt. Kuhn?) fand die Kontrastfärbung bei Rot und Grün „meh- rere Sekunden“ andauernd, bei Gelb und Blau dagegen nur unmeßbare Zeit und daher überhaupt kaum wahrnehmbar. \) Arch. f. d. ges. Physiol. 41, 23. — ?) Ebendas. 60, 71. — °) Arch. f. Oph- ° thalmol. 27 (3), 1. u Successive Induktion. 237 Successive Licht- und Farbeninduktion. Die letzte hier zu erwähnende Gruppe von Erscheinungen erhält man endlich, wenn man eine lokal ungleiche Belichtung längere Zeit bestehen läßt, dann aber den herbeigeführten Zustand des Sehorgans in der Weise prüft, daß man die ganze Netzhaut unter gleiche Bedingungen bringt, also entweder das Auge ganz verdunkelt oder eine größere gleichmäßige Fläche betrachtet. Was man hier sieht, sind zunächst die bereits im sechsten Kapitel besprochenen negativen Nachbilder, an denen nun aber hier noch weitere, auf die gegen- seitige Beeinflussung benachbarter Netzhautstellen hindeutende Besonder- heiten anzuführen sind. Die Beobachtungen sind natürlich sehr mannig- faltig zu gestalten; man kann ein schmales weißes Objekt auf dunklem Grunde oder ein schwarzes auf weißem betrachten und die so erzeugten Nachbilder durch Betrachtung einer gleichmäßigen hellen oder dunklen Fläche beobachten (Herings vier Kardinalversuche!); man kann ähnlich kleinere farbige Objekte auf dunklem Grunde oder die umgekehrte Anord- nung zur Entwickelung der Nachbilder benutzen. In allen Fällen zeigt sich, daß die längere Inanspruchnahme einer Netzhautstelle in bestimmtem Sinne, wie sie an dieser Stelle selbst die gegensinnigen Zustände her- vorruft, geeignet scheint, in der Nachbarschaft die gleichsinnige Tätig- keit hervorzurufen oder zu begünstigen. So erscheint‘ z. B. das Nach- bild eines auf hellem Grunde befindlichen kleinen schwarzen Objektes bei verdunkeltem Auge hell, oft sogar, wie Hering hervorhebt, förmlich leuchtend. Das Nachbild eines grauen Flecks in roter Umgebung erscheint (wiederum bei verdunkeltem Auge) lebhaft rot. Die Nachbilder kleinerer heller oder farbiger Objekte erscheinen mit hellen bzw. farbigen „Höfen“ umgeben. Hering hat diese Erscheinungen als successive Licht- (bzw. Farben-) induktion bezeichnet. . Theorien der Licht- und Farbeninduktion. Eine Erwägung über den Grund der beschriebenen Erscheinungen wird in erster Linie auf die Annahme als die nächstliegende führen, daß ver- schiedene Stellen des somatischen Gesichtsfeldes, vor allem nahe benachbarte, sich in ihren Zuständen in bestimmter Weise wechselseitig beeinflussen und daß demgemäß auch die Belichtung einer Netzhautstelle nicht ausschließlich auf diese selbst und ihre zentralen Korrelate, sondern auch auf die Um- gebung, eventuell das ganze Sehorgan einwirkt. Erinnert man sich der dominierenden Bedeutung, die der gegensinnigen Induktion, dem simultanen Kontrast zukommt, so gelangt man zu der Annahme, daß die benachbarten Teile immer in der entgegengesetzten Weise, wie die direkt betroffenen, be- einflußt werden. So würde die Weißreizung in der Umgebung die Empfin- dung gegen Schwarz hin, der Grünreiz gegen Rot hin verschieben usw. Vorstellungen dieser Art sind in der Tat sehr vielfach, wenn auch mit mancherlei Verschiedenheiten im einzelnen entwickelt und vertreten worden, so von Fechner, Aubert und insbesondere Mach. Zu einer durch- !) Sitzungsber. Wien. Akad. math. naturw. Kl. III, 69, $ 33, 1874. 238 Herings Kontrast-Theorie. gearbeiteten Theorie wurden sie von Hering im Anschluß an seine schon oben besprochene Theorie der Gegenfarben ausgebildet; es wird auch genügen, auf diese hier des genaueren einzugehen. Wir haben nach Hering an- zunehmen, daß zwischen den einzelnen Elementen des somatischen Gesichts- feldes durchweg ein genauer Zusammenhang von der Art besteht, daß eine durch Belichtung hervorgerufene Zustandsänderung des. einen zugleich eine Zustandsänderung aller anderen im entgegengesetzten Sinne bedingt, und zwar würde dieser Einfluß am stärksten auf die nächst benachbarten Teile sich geltend machen, um mit wachsendem Abstande in bestimmter Weise abzunehmen. Es ergibt sich so die Folgerung, daß bei gleichsinniger Inanspruchnahme ausgedehnterer Netzhautteile eine gewisse gegenseitige Be- einträchtigung und eine Einschränkung des Eiffektes stattfindet; eine große Fläche wird z. B. weit weniger hell gesehen als eine kleine von objektiv gleicher Helligkeit inmitten einer dunkleren Umgebung, ein Verhältnis, einigermaßen vergleichbar der älteren Vorstellung Machs, daß vom ganzen Gesichtsfelde zusammen nur ein gewisses Maximalmaß ‚von Erregung dem Sensorium zufließen könne. Ferner betont Hering, daß durch diesen funk- tionellen Zusammenhang der Belichtungsgegensatz nahe benachbarter Stellen verstärkt und so die Nachteile der physikalischen Lichtzerstreuung ver- ‚mindert werden, die Grenzlinien heller und dunkler Felder an Schärfe ge- winnen. Für den Grundgedanken der Theorie, den funktionellen Zusammen- hang zwischen benachbarten Partien des somatischen Gesichtsfeldes wurde eine weitere Erklärung nicht versucht, dieser Zusammenhang war „einfach als Tatsache hinzunehmen“. ; Die gleichsinnige Induktion stellt sich als eine Wirkung dar, die sich bei konstanter und lokal ungleicher Belichtung aus der zu Anfang stets ge- gebenen Kontrastwirkung nach längerer oder kürzerer Zeit entwickelt. Hering deutet dies folgendermaßen: „Durch die Reizung und gesteigerte Dissimilierung in den beleuchteten Teilen wird in den übrigen die Assimilierung gesteigert, was sich durch die subjektive Verdunkelung derselben verrät. Diese Steigerung der Assimi- lierung hat nun an den dunkeln Stellen eine Zunahme der erregbaren Sub- stanz und also auch der D-Erregbarkeit zur Folge. Die fortwirkenden inneren Reize und das schwache, von dem dunkeln Grunde zurückgeworfene oder von den hellen Teilen zerstreute Licht bewirken daher eine immer mehr zunehmende Dissimilierung, während die Assimilierung nicht zu-, sondern allmählich wieder abnimmt. Hieraus folgt nach meiner Theorie eine Wieder- zunahme der scheinbaren Helligkeit an den vorher durch Kontrast ver- dunkelten Stellen !)*. Die gleiche Betrachtung läßt sich auch auf die Farben anwenden. All- gemein würde also die anfangs gegensinnige Induktion in eine gleichsinnige früher oder später umschlagen. Auch die Erscheinungen der „successiven Induktion“ endlich lassen sich aus der Theorie in leicht ersichtlicher Weise ableiten. Zu einer ganz anderen Auffassung der Kontrasterscheinungen gelangte Helmholtz. Weniger wohl, weil ihm etwa eine Wirkung des Lichtes auf !) Sitzungsber. Wiener Akad. math.-naturw. Kl. III, 69, $ 33, 1874. Helmholtzsche Theorie des Kontrastes. 239 ‚die benachbarten Teile oder eine Wechselwirkung der Netzhautteile an sich unglaublich ‘erschienen wäre, als vielmehr auf Grund einer Reihe noch zu erwähnender besonderer Eigentümlichkeiten, die er an den Kontrast- erscheinungen beobachtete, nahm er an, daß die Modifikation der Empfindung durch die Belichtung benachbarter Partien nur scheinbar seien, daß es sich dabei um „Täuschungen des Urteils“ handele. Die Urteile, die solchen Täu- schungen unterliegen müßten, sind, wie man sieht, die sog. Rekognitions- 'urteile, durch welche wir der üblichen Auffassung zufolge eine gegenwärtige Empfindung als übereinstimmend mit einem durch einen bestimmten Begriff bezeichneten Erinnerungsbild erkennen, somit das jetzt Gesehene als rot, blau, hellgrau usw. benennen. Helmholtz konnte zur Begründung dieser Annahme darauf hinweisen, daß für die Rekognition der Empfindungs- zustände die Verhältnisse gerade beim Gesichtssinn eigenartig liegen. Weniger als bei irgend einem anderen Sinnesgebiet kann man hier sagen, daß einer bestimmten Empfindung eine bestimmte objektive Beschaffenheit des sie hervorrufenden Gegenstandes entspricht, schon deswegen, weil die überwiegende Mehrzahl der von uns gesehenen Gegenstände nur das sie treffende Licht reflektiert und demnach in überaus wechselnder Weise Licht aussendet, je nach der, quantitativ enorm, aber auch qualitativ nicht unerheblich wechseln- ‚den Beleuchtung. Nun dient aber die ganze psychologische Verarbeitung unserer Sinneseindrücke dem Zweck, die uns umgebenden Gegenstände ihrer objektiven Beschaffenheit nach zu erkennen und eindeutig zu be- zeichnen, nicht aber unsere Empfindungszustände; und demgemäß entwickeln ‚wir hier Begriffe, die nicht einfach Erinnerungsbilder bestimmter Empfin- dungen sind, sondern eine gewisse Beschaffenheit von Gegenständen be- deuten. Weiß, grau, rot usw. sind Begriffe von objektivem, nicht aber unsere Empfindungen bezeichnendem Sinn, und wie weit wir diese letzteren überhaupt im Gedächtnis festzuhalten und zu vergleichen vermögen, ist zu- _ nächst einigermaßen zweifelhaft. Geht man hiervon aus, so kann man es verständlich finden, daß der Eindruck eines Gegenstandes als weiß, hell- grau usw. sich nicht allein durch die Helligkeit derjenigen Empfindung bestimmt, die sein Netzhautbild hervorruft, sondern daneben sehr maßgebend der Eindruck in Betracht kommt, den wir von der Beleuchtung erhalten, in der der Gegenstand sich befindet; dieser aber bestimmt sich im allgemeinen durch die Helligkeit, in der andere benachbarte Gegenstände gleichzeitig gesehen werden. Ein Gegenstand erscheint also als weiß, hellgrau usw. nicht, oder wenigstens nicht allein nach Maßgabe der von ihm hervorgerufenen Empfindung, sondern auch nach Maßgabe des Verhältnisses dieser Helligkeit zu den im Gesichtsfeld überhaupt, speziell in seiner näheren Umgebung vor- handenen Helligkeiten. — Ähnliches gilt in gewissem Betrage auch von den Farben. Da nämlich die Beleuchtungen, bei denen wir sehen, auch qualitativ ‘ in gewissem Betrage wechseln, so läßt sich erwarten, daß auch die Wahr- nehmung eines Gegenstandes als von einer bestimmten Farbe durch den Eindruck mitbestimmt werden wird, den wir von der Qualität der Be- leuchtung erhalten, d. h. durch das Aussehen benachbarter und namentlich als weiß bekannter Körper. Auch ob ein Gegenstand rötlich erscheint, wird also nicht allein von der Empfindung abhängen, die er gerade hervorruft, sondern in gewissem Maße auch von der Differenz seiner Aussehens gegen- 340 Physiologische Auffassung der Helmholtzschen Theorie. über demjenigen, das wir im Augenblick für (objektives) Weiß nehmen. Hier werden allerdings Verschiebungen nur innerhalb engerer Grenzen zu erwarten sein, da die Beleuchtungen ja, wie erwähnt, qualitativ doch meist nur in mäßigem Betrage wechseln. Auch die gleichsinnige Induktion hat Helmholtz im Sinne seiner ganzen Theorie als Urteilstäuschung gedeutet. Bei andauernder Fixation vermindert sich z. B. fortdauernd der Unterschied im Aussehen des hellen Feldes und der dunkeln Umgebung; obgleich in Wirklichkeit nur das erstere sich verändert, ist man doch geneigt, die Ausgleichung des Unterschiedes teilweise auf die Umgebung zu beziehen und hat den Eindruck, daß dies heller wird. Ebenso kann das allmähliche Grauwerden eines ursprünglich gesehenen lebhaften Rot dazu führen, die in Wirklichkeit ungefärbte Um- gebung für rötlich zu halten, eben weil ihr Unterschied gegen das vorher gesehene Rot allmählich gering geworden ist. Will man gegenwärtig die Helmholtzsche Kontrasttheorie zutreffend beurteilen, so muß man, wie ich glaube, vor allem das Wesentliche derselben in einer etwas modifizierten und den gegenwärtigen allgemeinen Anschauungen mehr entsprechenden Form herausheben. Im allgemeinen wird jetzt nicht daran gezweifelt, daß alle, auch die verwickeltsten psychischen Vorgänge in einem physiologischen Geschehen ihre Unterlage finden. Diese Anschauung hat Helm- holtz wohl kaum verneinen wollen; er hatte überhaupt gar keinen Anlaß, zu der Frage, ob dies so sei oder nicht, Stellung zu nehmen. Das Wesentliche lag vielmehr für ihn in der Vorstellung, daß die psychischen Erscheinungen eine zwar auch vollkommen strenge, aber eigenartige und verwickelte Gesetzmäßigkeit dar- bieten; in diesen Eigentümlichkeiten lag ja, wie bekannt, und wie sogleich noch zu erörtern sein wird, der Grund, der Helmholtz veranlaßte, eine psychologische Grund- lage der Kontrasterscheinungen anzunehmen. Was damals vom Psychischen gesagt wurde, können wir ohne weiteres auf die ihm zugrunde liegenden Gehirnprozesse anwenden, die in Ermangelung eines besseren Ausdruckes einmal als inter- corticale bezeichnet werden mögen. Denn auch gegenwärtig erscheint die An- nahme durchaus berechtigt, daß dieses intercorticale Geschehen wesentlich andern Gesetzen folge, als wir sie in peripheren Organen kennen, und wir dürfen wohl gewisse Besonderheiten des Geschehens geradezu als ein Kriterium der inter- corticalen Zusammenhänge und Wechselwirkungen in Anspruch nehmen. Welche dies sind, können wir’ freilich zurzeit nur unvollkommen angeben. Erinnern wir uns indessen z. B. der Art, wie der Eindruck einer Bewegung unser selbst durch optische Wahrnehmungen hervorgerufen wird (etwa wenn wir in einem still- stehenden Eisenbahnzuge sitzen und der Nachbarzug sich in Bewegung setzt), so finden wir in der zwangsmäßigen Entstehung des Bewegungseindrucks (der zufolge der „sinnliche Schein“ durch das bessere Wissen nicht aufgehoben wird), der Möglichkeit, den ganzen Effekt durch einen geringfügigen Nebenumstand plötzlich aufhören zu sehen, der Nachdauer eines so hervorgerufenen Umschlages, auch wenn seine Ursache fortgefallen ist, usw., eine Reihe sehr charakteristischer Er- scheinungen, die uns als Kriterium solchen intercorticalen Geschehens dienen können. Das Wesentliche der Helmholtzschen Kontrasttheorie möchte ich dem- gemäß darin erblicken, daß die Verknüpfung aktueller Empfindungen mit den empirischen Begriffen, durch die wir sie zu bezeichnen pflegen, also die Entstehung derjenigen psychischen Gebilde, die man in der Regel Rekognitionsurteile nennt, auf verwickelten intercorticalen Vorgängen beruht, daß sie in der diesen Vor- gängen eigenen Art von verschiedenen Momenten beeinflußt und modifiziert werden kann, und daß eben hier auch der Angriffspunkt der Kontrastwirkungen zu suchen ist. Im Grunde wäre es daher viel richtiger, die hergebrachten Bezeichnungen einer physiologischen bzw. psychologischen Deutung des Kontrastes durch andere (einen greifbaren anatomischen Gegensatz bedeutende) zu ersetzen; leider ist dies aus verschiedenen Gründen nicht wohl ausführbar. Änderung von Schwellenwerten durch Belichtung benachbarter Teile. 241 Zur Kritik der Kontrasttheorien. Versucht man sich über die Gesamtheit der hierhergehörigen Tat- sachen und über die aus ihnen zu ziehenden Schlüsse ein Urteil zu bilden, so wird man wohl als die in physiologischer Beziehung am meisten interes- sierende Frage die vorausstellen dürfen, ob überhaupt eine direkte Wirkung des Lichtes auf die nicht von ihm getroffenen, sondern den belichteten nur mehr oder weniger benachbarten Stellen in der allgemeinen Art. des von Hering angenommenen Zusammenhanges anzunehmen ist. Es scheint mir zweifellos, daß diese Frage, so allgemein gestellt, bejaht werden muß. Hierfür einen wirklichen Beweis zu bringen, erscheint zwar auf den ersten Blick kaum möglich, solange man die den intercorticalen Vorgängen zuzuschreibende Bedeutung nicht übersehen und abgrenzen kann. Es gibt indessen doch eine besondere (oben noch nicht erwähnte) Klasse von Er- scheinungen, die man in dieser Hinsicht wohl als entscheidend ansehen darf. Es zeigt sich nämlich, daß vielfach die für eine Gesichtsfeldstelle zu ermittelnden Schwellenwerte durch starke Belichtung der Umgebung er- heblich verschoben werden können. So ist vor allem leicht zu bemerken, daß kleine farbige Objekte ihre Farbe einbüßen, wenn man sie vor einem sehr hellen Hintergrund betrachtet, während die Farbe deutlich hervortritt, wenn man den Hintergrund durch einen dunkleren ersetzt. Auch geringe Helligkeits- oder Farbendifferenzen zweier aneinanderstoßender kleiner Felder kann man durch starke Belichtung der Umgebung unmerklich machen. Da man annehmen darf, daß der psychologische Kontrast sich vor allem auf die Beziehung aktueller Empfindungen zu Erinnerungsbildern oder empirisch ausgebildeten Begriffen von objektiver Bedeutung erstreckt, so wird man die Auslöschung eines Unterschiedes als etwas ganz andersartiges wohl auf eine Wechselwirkung in den mehr peripherwärts gelegenen Zonen BUEHCR- zuführen berechtigt sein. Im gleichen Sinne kann die Beobachtung Sherringtons!) geltend gemacht werden, daß die Frequenz des Lichtwechsels, bei der ein rotie- render, aus schwarzen und weißen Sektoren bestehender Ring zu flimmern aufhört (die Verschmelzungsfrequenz), sich modifiziert, je nachdem der (objektiv gleiche) Ring inmitten einer hellen oder einer dunkeln Umgebung gesehen wird. Es darf, wie mir scheint, auf Grund dieser Tatsachen als sicher gelten, daß wenigstens in bezug auf die Helligkeit der von Hering angenommene Zusammenhang in der Tat besteht, daß die Empfindung an einer bestimmten Stelle des Gesichtsfeldes durch starke Belichtung der Umgebung gegen Schwarz hin verschoben wird und daß dabei geringe Unterschiede aus- gelöscht, Farben unmerkbar gemacht werden. Betrachtet man dies als sicher- gestellt, so ist damit freilich noch keineswegs gesagt, daß hierin die alleinige und erschöpfende Erklärung aller hierhergehörigen Erscheinungen zu finden ist. Vielmehr erscheint es von vornherein sehr denkbar, daß neben jenen Momenten auch Verhältnisse des psychischen (intercorticalen) Geschehens und zwar auch gerade inder von Helmholtz angenommenen Weise sich einmischen. !) Sherrington, Journal of Physiology 21, 33. Nagel, Physiologie des Menschen. IT. 16 242 Objektive Bedeutung der Farbenbenennungen. In der Tat kann man meines Erachtens nicht bestreiten, daß der Grund- gedanke dieser Auffassung insofern vollkommen richtig ist, als wirklich die Verknüpfung gegenwärtiger optischer Eindrücke mit unseren empirischen Begriffen trotz der zwangsmäßigen Sicherheit, mit der sie geschieht, von sehr verwickelten Bedingungen abhängt. Besonders für die Helligkeitsverhält- nisse, die Wahrnehmung eines Gegenstandes als Schwarz oder Weiß, ist dies, wie ich glaube, ganz unleugbar. Man kann sich davon leicht überzeugen, wenn man im Gesichtsfelde in naher Benachbarung Gegenstände hat, die sehr verschieden beleuchtet sind, so z. B. wenn man aus dem Innern eines mäßig hellen Zimmers herausschauend, im Freien und im Zimmer befindliche Gegenstände gleichzeitig wahrnimmt. Man sieht unter diesen Umständen z. B. ein von der Sonne beschienenes Schieferdach und ein im Innern des Zimmers befindliches weißes Papierblatt, ohne daß einem etwas Besonderes dabei auffiele, selbst dann, wenn die beiden Gegenstände im Gesichtsfelde aneinanderstoßen, und der unbefangene Beobachter wird den Tatbestand nicht anders beschreiben, als daß er dort Schwarz, hier Weiß „sehe“. Ver- sucht man jedoch, sich über die wahrgenommenen Helligkeiten direkt ein Urteil zu bilden, so wird man zunächst davon überrascht sein, wie ungemein schwierig diese zu vergleichen sind. Man kann sich das Urteil erleichtern, indem man so durch ein enges Papprohr schaut, daß im sonst ganz dunkeln Gesichtsfelde nur ein kleines Stück des Schieferdaches und des Papieres sichtbar ist. In dem Maße, wie der Eindruck von der körperlichen Bedeutung und Lage der jetzt noch gesehenen kleinen Felder zurücktritt, wird die Be- urteilung sicherer, und oft wird man finden (oder es leicht herbeiführen können), daß der schwarze Gegenstand heller, der weiße dunkler ist. Ent- fernt man das Papprohr, so sieht man gleichwohl wieder unzweideutig hier Schwarz, dort Weiß; nach einiger Wiederholung aber gelingt es, bei der Betrachtung der Grenzlinie auch die etwa gleiche Helligkeit beider Felder zu bemerken, ohne daß darum jener Eindruck aufhört; er erscheint höchstens mit einer gewissen schwer zu beschreibenden Unsicherheit behaftet. Diese Beobachtungen lehren, daß der zwingende Eindruck: „hier ist Weiß“ oder „dort ist Schwarz“ keineswegs ausschließlich durch den Helligkeitsgrad der Empfindung bestimmt wird, sondern daß daneben in entscheidender Weise noch andere Umstände in Betracht kommen, die wir vorderhand physiologisch nicht greifbar machen, von denen wir vielmehr nur sagen können, daß sie mit dem Gesamteindruck von der Beleuchtung zusammenhängen, in der das betreffende Objekt sich befindet!). Und man sieht hieraus, welchen enormen Täuschungen man sich aussetzt, wenn man aus dem empirischen Begriff, unter den ein optischer Eindruck sich zwingend unterordnet, schlechtweg auf die Beschaffenheit der Empfindung schließen zu können glaubt. Hiernach erscheinen denn gerade die Beurteilungen, auf die es bei den Kontrasterschei- !) Diese Verhältnisse sind, wie bemerkt werden muß, auch von Hering weder übersehen, noch in Abrede gestellt worden; vielmehr hat auch er mehrfach auf den großen Unterschied des Eindrucks hingewiesen, der einerseits durch einen beschatteten weißen und anderseits durch den (objektiv) grauen oder schwarzen Körper hervorgebracht wird, ferner auf die Erschwerung des Vergleichs durch ungleiche Entfernung und ungleiche Beleuchtung zweier Objekte, sowie durch andere Nebenumstände. Aber er hat, wie mir scheint, in der Kontrasttheorie diesen Verhältnissen nur sehr einseitig Rechnung getragen. Psychologische Momente in den Kontrasterscheinungen. 243 ‚nungen ankommt, in der Tat überaus unsicher und die Entscheidung, wie weit „psychologische“, wie weit im engeren Sinne „physiologische“ Momente dabei mitspielen, sehr schwierig. Es wird darauf ankommen, ob man durch eine Anzahl von Helmholtz beschriebener Versuche den Nachweis der eigen- artigen, für psychische (intercorticale) Vorgänge charakteristischen Abhängig- keit der Kontrasterscheinungen erbracht ansehen darf, oder ob anderseits gezeigt werden kann, daß die Gesamtheit der Erscheinungen sich aus be- stimmten Regeln von der Form physiologischer Gesetze erschöpfend erklägen läßt. Meines Erachtens’ist eine sichere Entscheidung in dieser Hinsicht vor- läufig ganz unmöglich; ich halte es daher insbesondere an dieser Stelle auch nicht für meine Aufgabe, die eine oder die andere Anschauung mit Bestimmt- heit zu vertreten, sondern beschränke mich auf die folgenden Bemerkungen, die genügen werden, um diese Suspendierung des Urteils zu rechtfertigen. Die Erscheinungen, in denen Helmholtz den Grund für seine psychologische Auffassung fand, sind hauptsächlich dreierlei Art. Erstlich zeigte er, wie sehr die Kontrasterscheinungen dadurch begünstigt werden, daß induzierendes und in- duziertes Feld ohne sichtbare Grenzlinie aneinanderstoßen, herabgesetzt und be- einträchtigt dagegen durch alle Momente, die das eine als etwas körperlich Selb- ständiges, namentlich in verschiedener Entfernung Gelegenes erscheinen lassen. Hierauf zum großen Teile beruht die besondere Deutlichkeit der Kontrasterschei- nungen gerade bei den vorhin erwähnten Verfahrungsweisen, derjenigen der Schatten und der rotierenden Scheiben, wo in der Tat die verschiedenen Felder durch keine sichtbare Umrißlinie getrennt sind. Wie Helmholtz angab und man leicht bestätigen kann, vermindert sich bei den rotierenden Scheiben der Kontrast sehr erheblich, wenn man jeden Ring mit einer feinen, schwarzen Konturlinie um- zieht. Hält man ein Schnitzel weißen Papiers an einem dünnen Draht vor die schwach gefärbte Scheibe, so erscheint dieses im allgemeinen nicht oder doch viel weniger deutlich gefärbt als die grauen Ringe. Der zweite und wichtigste Punkt ist der, daß die Stärke und Deutlichkeit der Kontrastwirkungen zu der Intensität bzw. Farbensättigung der kontrast- erzeugenden Lichter, wenigstens sehr häufig, nicht in dem einfachen Verhältnis stehen, wie man dies bei einem physiologischen Zusammenhang im engeren Sinne des Wortes erwarten müßte. So betonte Helmholtz, daß der Farbenkontrast - gerade bei schwacher Färbung der Umgebung besonders deutlich zur Anschauung komme, wo wir die sehr ungesättigte Farbe noch für weiß halten können, weit weniger dagegen bei lebhafter Färbung. Betrachtet man einfach ein Stückchen grauen oder weißen Papiers, welches man auf ein gesättigt farbiges Papierblatt gelegt hat, so wird man mit Überraschung konstatieren, wie wenig unter diesen Umständen von Kontrastfärbung zu sehen ist Deckt man dann das weiße Florblatt über, so tritt trotz der gewaltigen Sättigungsverminderung die Kontiäastfarbe sogleich aufs deutlichste hervor. Bei den rotierenden Scheiben ist die Kontrastfarbe gleich- falls durch eine sehr ungesättigte Färbung des Grundes bedingt. Der dritte Punkt endlich ist die in gewissen Fällen zu machende Beobachtung, daß der Kontrast die tatsächliche Einwirkung des kontrasterzeugenden Lichtes zeitlich zu überdauern scheint. Der viel umstrittene, zuerst von Osann an- gegebene Versuch besteht darin, daß man, nachdem in der oben angegebenen Weise ein durch Kontrast farbiger Schatten erzeugt worden ist, ein innen ge- schwärztes Papprohr vor das Auge bringt, so daß der Schatten nunmehr allein, unter völliger Abblendung der Umgebung gesehen wird. Es zeigt sich, daß unter diesen Umständen die Färbung 'des Schattens keineswegs verschwindet, sondern in unverminderter Stärke einige Zeit fortbesteht. Hering!) hat gegen diese Beobachtungen eine Reihe von Einwänden er- hoben, die aber, wie beächtenswert auch immer, doch wohl kaum ausreichen, um !) Arch. f. d. ges. Physiol. 40, 172; 41, 1.u. 358. 16* 944 Unvollständigkeit der physiologischen Erklärungen. diese Fragen endgültig zu erledigen. So zeigte er, daß bei geeigneter Verfahrungs- weise Konträsterscheinungen sehr wohl auch beobachtet werden können, wenn kontrasterregendes und kontrastleidendes Feld in verschiedener Entfernung gesehen werden. Hiermit ist aber nicht ausgeschlossen, daß sie bei körperlicher Kontinuität _ beträchtlicher sind. Ebenso wird es kaum befriedigen können, wenn der kontrast- mindernde Einfluß der feinen schwarzen Zwischenlinie auf die schnelle Abnabae der Kontrastwirkung mit der Entfernung zurückgeführt wird. Die Tatsache, daß der Farbenkontrast gerade bei schwach gefärbten Hinter- gründen besonders deutlich gesehen werde, erklärte Hering daraus, daß bei lebhaften Farben der Umschlag in die gleichsinnige Induktion sehr schnell ein- trete. Aber gerade in diesem Punkte ist, wie mir scheint, die Theorie keineswegs eine so vollkommen befriedigende, wie dies wohl vielfach angenommen wird. Die Weißbelichtung einer Netzhautstelle wirkt verdunkelnd (assimilationssteigernd oder dissimilationshemmend) auf die Nachbarteile. Zufolge der gesteigerten Assimilation ändert sich (s. 0. 8.238) die Stimmung dieser Teile zugunsten der Weiß- und ungunsten der Schwarzempfindung, und dieses Moment kommt: nach einiger Zeit derart ins Übergewicht, daß die Nachbarteile der belichteten Stelle trotz des Weiterbestehens jenes verdunkelnden Einflusses nunmehr heller empfinden als zuvor und heller als die von dem Einfluß der Belichtung nicht mehr merklich getroffenen entfernteren Teile. Ohne Zweifel erscheint dies denkbar; aber man muß doch sagen, daß dieser eigentümliche Umschlag eines Erfolges in sein Gegenteil keineswegs ein einfaches und direktes Ergebnis der Theorie ist, sondern daß seine Ableitung auf gewissen, schwer zu übersehenden Voraussetzungen über die quantitativen Verhältnisse ent- gegengesetzt wirkender Momente beruht. Demgemäß würde denn auch die Theorie das direkte Gegenteil der beobachteten Tatsachen nicht weniger gut als diese selbst zu erklären vermögen, wie das eben mit der großen Zahl der von ihr an- genommenen Variabeln zusammenhängt. Mir scheint daher, daß sie uns doch erst dann einigermaßen befriedigen könnte, wenn auf Grund irgend welcher quantitativer Veranschlagungen begreiflich gemacht wäre, daß das Ergebnis der gegeneinander wirkenden Momente sich in so eigentümlicher Weise gestaltet. In dieser Hinsicht ist bis jetzt kaum ein Versuch gemacht worden, ja es sind sogar gewisse, ganz funda- mentale Fragen, die sich bei jeder quantitativen Erwägung sogleich aufdrängen (soweit ich wenigstens finden und verstehen kann), niemals in klarer Weise beantwortet oder auch nur aufgewörfen worden. So fragt es sich z. B., ob der Einfluß, den ein Licht auf eine nicht von ihm getroffene, sondern der getroffenen benachbarte Stelle ausübt, direkt von dem Werte des Lichtes oder von dem an der belichteten Stelle aus- gelösten Prozeß abhängt; in dem einen Falle würde der Erfolg von der Stimmung der belichteten Stelle abhängig sein, in dem anderen nicht. Ferner können wir uns den auf die Nachbarstelle ausgeübten Einfluß als einen Reiz denken, der sich zu den anderen dort einwirkenden hinzuaddiert, oder als eine Modifikation ihrer Stimmung. Mir würde die erstere Annahme zunächst als die näherliegende er- scheinen; es scheint jedoch, daß Hering selbst der letzteren zuneigt. Solange die Theorie in so fundamentalen Beziehungen unbestimmt bleibt, wird man es meines Erachtens nur als eine durchaus offene Frage bezeichnen können, ob sie den Um- schlag der gegensinnigen in die gleichsinnige Induktion überhaupt, und noch mehr ob sie ein sehr schnelles, fast momentanes Eintreten dieses Umschlags bei ge- sättigten Farben, ein weit langsameres bei ungesättigten Farben verständlich zu machen vermag. Hering hat endlich einem Teil der von Helmholtz angeführten Versuche (so auch namentlich dem letzterwähnten Osannschen) den Einwurf entgegengestellt, daß in ihnen eine Einmischung des Successivkontrastes nicht ausgeschlossen sei. Dieser Einwurf ist unzweifelhaft berechtigt. Auf der anderen Seite aber haben die Heringschen Versuche mit vollkommener Ausschließung des successiven Kontrastes (also ganz strenger Fixation) für den Farbenkontrast so eigenartige Gesetze er- geben, sie stellen ihn als eine meist so geringe und flüchtige Erscheinung dar, und es genügen wiederum so schnelle Blickbewegungen, um den Kontrast in ganz andersartiger und bedeutenderer Weise zur Erscheinung kommen zu lassen, daß man sich doch die Frage vorlegen muß, ob in diesen Fällen wirklich der successive ‚Farbenerscheinungen bei besonderen Einwirkungsweisen farbloser Lichter. 245 Kontrast eine erhebliche Rolle spielt, oder ob nicht vielleicht gerade auch ein psychologischer Kontrast erst in vollem Maße bei bewegtem Blick zur Entwicke- lung kommen kann. Die Beantwortung dieser Frage würde erfordern, daß man . die Versuche mit sehr schnellen Blickbewegungen nicht ausschließt, sondern eine, wenn auch nur approximative, Veranschlagung versuchte, was in diesen Fällen der einfach lokalen Umstimmung zugeschrieben werden kann. So sind denn wohl auch über den Osannschen Versuch die Akten noch nicht als geschlossen anzusehen. Eine gewisse Vorsicht in der Deutung der Kontrasterscheinungen ist endlich dadurch geboten, daß dieselben auf den verschiedensten Gebieten in so ähnlicher Weise sich wiederholen , gerade aber auch an solchen psychischen Gebilden, die eine so einfache Auffassung, wie sie hier für die optischen Empfindungen ver- sucht ist, wohl ausschließen dürften. Es sei hier an die von Exner untersuchten Bewegungsnachbilder erinnert, ferner auch an eine Reihe spezieller Gestaltungen des Helligkeitskontrastes, in denen, wie es scheint, nicht Hell mit Dunkel, sondern die in einer Richtung stetig ansteigende mit der in derselben Richtung kon- stant bleibenden Helligkeit kontrastiert (Kontrast ohne Helligkeitssprung). Solche Erscheinungen sind schon vor beinahe 40 Jahren von Mach beschrieben (Sitzungsber. Wiener Akad., math.-naturw. Kl. III, 52), in jüngster Zeit wieder von Mae Dougall studiert worden (Brain 102, 183). Farbeninduktion durch weißes Licht. Es ist endlich hier der Ort, einiger sehr eigenartiger und einer Er- klärung vorläufig nicht zugänglicher Erscheinungen zu gedenken, die sich auch als Erfolge einer Belichtung an den nicht vom Licht getroffenen (sondern den benachbarten) Stellen darstellen, jedoch von ganz anderer Art als die im obigen behandelten sind. Versetzt man eine Scheibe von der Einrichtung der nebenstehenden Fig. 32 in der Richtung des Pfeiles in ziemlich langsame Um- drehung, so bemerkt man, daß die inneren Ringe deut- lich gelbrot, die äußeren weniger deutlich bläulich erscheinen, während die beiden mittleren Gruppen nur geringe Färbung erkennen lassen!). Es mag genügen, die Bedingung für die erstere, wie gesagt, weit auf- 5.4 Benhamsche Scheibe, fälligere Erscheinung etwas genauer darzulegen. ent Be To er Ich finde die Erscheinung am schönsten sichtbar, erscheinen. zugleich auch hinsichtlich ihrer Bedingungen am meisten vereinfacht, wenn ich eine halb weiße, halb schwarze Scheibe benutze, in deren weißer Hälfte nur ein schwarzes Ringstück (1 bis 2mm breit) von der Anordnung der in der obigen Figur zu innerst stehenden angebracht ist, und wenn ich die Scheibe nicht dauernd umlaufen, sondern mit der Hand einzelne Drehungen von etwa 180°, ausführen lasse. Unter diesen Umständen sind die zeitlichen Verhältnisse der Belichtung ganz einfach: Die Belichtung des Ringes beginnt etwas später als in der Umgebung. In diesem Falle sieht man nun überaus frappant hinter dem schwarzen Ringstück einen eigentümlich metallisch leuchtenden, gelbroten Schweif hin- laufen. Bei Benutzung einer gelben Scheibe statt der weißen oder bei Betrachtung durch ein gelbes Glas sehe ich den Schweif tiefrot. Bei Fig. 32. !) Bidwell, Proc. of the Royal Society London 61, 268—272. 246 Einfache generelle Schwellenwerte. dauernder, nicht zu schneller Rotation verbreitet sich das Gelbrot bezw. Rot über den ganzen Kreis, wobei eine Art von Periodizität sichtbar wird, indem hellere und dunklere Stücke in dem Ringe zu alternieren scheinen. Von einer Verfolgung des, wie gesagt, vorderhand nicht erklärbaren Phäno- mens darf hier abgesehen werden. Beachtenswert scheint es mir vorzugs- weise insofern, als bei ausschließlicher Verwendung farbloser Lichter so auffällige Farbenerscheinungen durch die besonderen Verhältnisse der räum- lichen und zeitlichen Verteilung hervorgerufen werden. Die nämliche Erscheinung, in etwas anderer Form, liegt auch einem anderen, von Bidwell angegebenen hübschen Versuch zugrunde (Proc. of the Royal Society 61). _ Man setzt eine Scheibe, die einen Sektorausschnitt von 45°, diesem vorauslaufend 180° Schwarz und nachfolgend 135° Weiß hat, in mäßig schnelle Umdrehung. Durch eine solche Scheibe betrachtet und demgemäß intermittierend sichtbar gemacht, erscheinen schwarze Buchstaben auf weißem Grunde rot. Auch eine eigentümliche, von Heß beschriebene Nachbilderscheinung dürfte vielleicht der obigen verwandt sein (Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 27, 1). IX. Grenzen der Wahrnehmung und Unterscheidung. Spezifische Vergleichungen '). Einfache Schwellen. Als einfache generelle Schwellenwerte bezeichnet man die ge- ringsten Lichtstärken, die eben noch hinreichen, um eine merkliche Empfin- dung hervorzurufen. Ein großer Teil der Tatsachen, die sich auf diesen Gegenstand beziehen, ist bereits oben in dem’ die Adaptation betreffenden Kapitel behandelt worden. Insbesondere ist dort angeführt, wie diese Schwellenwerte und ihre mit der Adaptation fortschreitende Verminderung von der Art des zur Prüfung verwendeten Lichtes und von dem getroffenen Ort der Netzhaut abhängen. Die Gesamtheit der dort angeführten Tatsachen führte zu dem Schluß, daß wir die für den Dämmerungs- und die für den Tagesapparat geltenden Schwellen unterscheiden müssen, von denen die ersteren ungemein stark, die letzteren weit weniger mit der Adaptation veränderlich sind. Zur Orientierung über die absoluten Werte, die hier ge- funden werden, sei angeführt, daß Pertz bei Objekten von 0,3° die Helligkeit einer Magnesiumoxydfläche, die von einem Hefnerlicht aus einer Entfernung von 5,5 m bestrahlt wurde, an der Grenze der fovealen Sichtbarkeit, bei Be- strahlung aus 46,8 m Entfernung an der Grenze exzentrischer Sichtbar- keit bei guter Dunkeladaptation fand 2). Nimmt man, was annähernd zulässig sein wird, die foveale Schwelle über- haupt als die für den Zapfenapparat geltende, so erscheint hier die Empfindlich- keitssteigerung durch Dunkeladaptation weit geringer, als nach den oben erwähnten Angaben Pipers. Dies hat seinen Grund hauptsächlich darin, daß die Pertzschen Zahlen sich auf sehr kleine Objekte beziehen, die Objektgröße aber, wie sogleich noch zu besprechen, gerade beim dunkel adaptierten Auge von sehr großem Ein- fluß auf die Schwellenwerte ist. !) Über die Einteilung der in diesem Kapitel zu behandelnden Gegenstände vel. o. 8. 18 f. Die räumliche Unterscheidungsfähigkeit (Sehschärfe) wird bei den Gesichtswahrnehmungen besprochen. — ?) Pertz, Photometrische Untersuchungen über die Schwellenwerte der Lichter. Dissert., Freiburg 1896. Abhängigkeit der Schwellen von räumlicher und zeitlicher Ausdehnung. 247 Eine Berechnung der zu einer merkbaren Erregung des Sehorgans erforder- lichen Energiemengen in absolutem Maße ist von Wien versucht worden (Über die Messung von Tonstärken, Dissert., Berlin 1888). Er gelangt zu dem Resultate, daß die lichtschwächsten noch sichtbaren Sterne an Energie der sichtbaren Strahlung an unser Auge etwa 4. 10-8 Erg pro Sek. abgeben. Eine Wiederholung dieser Ermittelungen unter Berücksichtigung der Lichtart, sowie der erforderlichen Ein- wirkungszeit wäre recht erwünscht. Ebenso wie durch Verminderung seiner Intensität kann ein Licht auch (bei konstanter Intensität) durch Verminderung seiner Einwirkungszeit oder seiner räumlichen Ausdehnung (des Gesichtswirkels, unter dem es gesehen wird) unmerklich gemacht werden. In beiden Fällen genügt dann eine Steigerung der Lichtstärke, um das Licht wieder bemerkbar zu machen; es gibt also kein zeitliches oder räumliches Minimum, das unter allen Umständen als Schwelle gelten könnte; vielmehr findet hier ein gewisses Wechselverhältnis zwischen Lichtstärke und (räumlicher oder zeitlicher) Aus- ‘ dehnung statt. Man kann vermuten, daß bei sehr kurzer Einwirkungszeit der Erfolg eines Lichtreizes sich nach dem Produkt aus Intensität und Ein- wirkungsdauer richten werde. Dies bestätigen die Versuche in der Tat. So fand Bloch!) bei Einwirkungszeiten von 0,00173 bis 0,0518 die zur Erzielung einer merklichen Empfindung erforderliche Lichtstärke den Einwirkungs- zeiten umgekehrt proportional; Charpentier?) bestätigt die Gültigkeit des gleichen Gesetzes für Zeiten von 2 bis 1256. Vermehrung der Einwirkungs- zeiten auf mehr als !/, Sek. soll nach Charpentier die Schwellenintensität nicht mehr weiter vermindern; doch dürfte wohl zwischen das Gebiet der umgekehrten Proportionalität und das der vollen Unabhängigkeit ein Spatium einer verwickelteren Abhängigkeit eingeschoben sein. — Was die räumliche Ausdehnung anlangt, so. wird man einen ähnlichen Zusammenhang jedenfalls dann erwarten können, wenn die (berechneten) Netzhautbilder kleiner sind als die perzipierenden Elemente. Asher fand für den Schwellenwert das Produkt aus Fläche und Lichtstärke maßgebend bis zu einer Ausdehnung (Durchmesser kreisrunder Objekte) von etwa zwei Bogenminuten®). Sobald ‘ die Ausdehnung der gesehenen Lichter diese kleinsten Werte übersteigt, tritt jedenfalls auch an die Stelle der umgekehrten Proportionalität ein kompli- zierterer und vermutlich je nach Umständen sehr verschiedener Zusammen- hang. Die Beobachtungen Pipers*) zeigen, daß auf exzentrischen Netz- hautstellen im dunkel adaptierten Zustande innerhalb ziemlich weiter Grenzen (für quadratische Felder von etwa 2 bis 20° Seite) die Schwellenwerte um- gekehrt proportional der Quadratwurzel der gesehenen Flächen, d. h. der Seitenlänge, sich verhalten. Dagegen war für das gut hell adaptierte Auge nur eine sehr geringe Abhängigkeit der Schwellenintensität von der Flächen- größe zu konstatieren. Hieraus ergibt sich denn, daß für größere Objekte weit niedrigere Schwellenwerte als die oben angeführten Pertzschen gefunden werden, und ferner, daß die Änderung der Schwellenwerte durch die Dunkel- adaptation sich um so stärker herausstellt, je größere Objekte beobachtet werden. Läßt man farbige Lichter mit geringsten und dann allmählich höheren Intensitäten auf das Sehorgan einwirken, so findet man, daß die Lichter bei !) Compt. rend. de la Soc. de Biologie 2 (1885). — ?) Arch. d’Ophtalmol. 10, 110, 1890. — ®) Asher, Zeitschr. f. Biol. 17. — *) Piper, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane 32, 98. 248 Spezifische Schwelle. — Farbloses Intervall. den geringsten noch wahrnehmbaren Intensitäten eine farblose Empfindung auslösen, erst bei einem höheren Wert aber die Empfindung ihren farbigen Charakter erhält; dieser Wert wird als spezifische Schwelle bezeichnet. Auch diese Erscheinung, das Auseinanderfallen der generellen und spezifischen Schwelle, ist oben (S. 183) bereits eingehend, als farbloses Intervall, be- sprochen worden. Die dort angeführten Tatsachen finden in den Anschauungen über die Funktionsweise des Dämmerungs- und des Tagesapparates ohne weiteres eine befriedigende Erklärung. Indessen war die Frage offen gelassen, ob bei isolierter oder stark überwiegender Tätigkeit des Hellapparates ein solches farbloses Intervall gar nicht existiert oder ob es auch, eventuell unter welchen Umständen es gefunden werden kann. König!) gab zuerst an, daß im Gebiet der Fovea, mit Ausnahme eines Gelb von etwa 580 uu, alle spektralen Farben sogleich mit ihrem farbigen Charakter „über die Schwelle treten“. Ich kann dies nach einigen Beobachtungen, außer für Rot, nament- lich für homogenes Blau bestätigen?). Doch wäre es verkehrt, daraufhin die Existenz eines farblosen Intervalls für das Netzhautzentrum ganz in Abrede zu stellen. Daß ein solches sich zeigt, wenn man nicht die Intensität des Lichtes, sondern die räumliche Ausdehnung variiert, wird schon durch zahl- reiche ältere Beobachtungen wahrscheinlich gemacht, die sich, wenn auch nicht besonders Wert darauf gelegt wurde, doch auf foveales Sehen bezogen haben dürften. Intensiv farbige Objekte (Blumenpapiere) auf dunkelm Grunde in voller Tagesbeleuchtung fand Donders°) unter Gesichtswinkeln von 0,7 Bogenminuten erkennbar (Quadrate von 1 mm Seite in Abständen von 5m gesehen), ein Ergebnis, das natürlich nur für die speziellen hier gewählten Versuchsbedingungen Geltung haben wird). Sehr leicht ist die Abhängigkeit der Farbenerkennung vom Gesichtswinkel bei relativ ungesättigten Farben zu bemerken. Man darf hiernach wohl vermuten, daß vielfach auch bei der Steigerung der Intensität ein farbloses Intervall sich finden wird, wenn man die räumliche Ausdehnung gering und die Farben relativ ungesättigt macht; das Zusammenwirken der verschiedenen Momente bedarf aber wohl noch genauerer Verfolgung. — Daß schon für mäßig exzentrische Netzhautstellen (und zwar auch bei guter Helladaptation) die Erkennung der Farben von Lichtstärke und Objektgröße in hohem Maße abhängt, somit hier auch in ausgesprochener Weise farblose Intervalle existieren, wurde oben schon angeführt (Kap. V). Auf weißem Grunde erscheinen farbige Objekte bei kleinstem Gesichtswinkel zuerst dunkel, dann erst farbig. Gleicht man die Helligkeit eines grauen Grundes für ein bestimmtes farbiges Objekt passend ab, so kann man es dahin bringen, daß es, sobald es bei zunehmendem Gesichtswinkel überhaupt bemerkbar wird, sogleich andersfarbig als der Grund erscheint. Die in vieler Hinsicht eigenartigen Erscheinungen der hier zuerst auftretenden Farbenempfindungen bedürfen auch noch genauerer Prüfung. Man kann schließlich spezifische Sehwellenwerte auch in dem Sinne er- mitteln, daß man prüft, bei welcher qualitativen Zusammensetzung Lichter mittlerer Intensität in ihrer Farbe erkannt werden, oder welche Menge farbigen Lichtes einem farblosen beizumischen ist, damit ein Erkennen der !) Sitzungsber. Akad. Wissensch. Berlin 1894, 8. 577. — ?) Zeitschr. £. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 15, 348. — °) Donders, Annales d’oculistique 79 (1878). — *) Ausgedehnte Versuche dieser Art sind auch von Wittich angestellt worden. Königsberger Medizin. Jahrbücher 4 (1864). Unterschiedsempfindlichkeiten. — Webersches Gesetz. 249 Farbe möglich ist. Diese Frage hängt genau mit der früher erwähnten zusammen, mit welcher Genauigkeit die reine Farblosigkeit in der Empfindung charakterisiert sei. Auch sind dort schon die Schwierigkeiten berührt, auf die ihre Beantwortung stößt. Sehr leicht indessen kann man sich wenigstens von der prinzipiell wichtigen Tatsache überzeugen, daß im allgemeinen nicht eine bestimmte Menge des farbigen Lichtes für die Erkennbarkeit der Farbe maßgebend ist, sondern sein Verhältnis zum weißen Licht. 10° Rot z. B. sind, vermischt mit 350° Weiß, nicht sicher erkennbar, treten aber als Rot sehr deutlich hervor, wenn man das Weiß auf 50° reduziert, die Scheibe also 10° Rot und 50° Weiß und 300° Schwarz enthält. Unterschiedsschwellen. Was die Unterschiedsempfindlichkeiten anlangt, so ist die ein- fachste und am meisten untersuchte Frage die, um welchen Betrag sich zwei qualitativ gleiche, nur in ihrer Intensität verschiedene Lichter unter- scheiden müssen, damit sie als ungleich erkannt werden können. Fechner schloß aus seinen Beobachtungen, daß ein „eben merklicher Unterschied“ immer dann vorliege, wenn das stärkere Licht das schwächere um einen bestimmten Bruchteil des Wertes (etwa !/,.0) überträfe, unabhängig vom absoluten Wert beider. Der demzufolge durch einen bestimmten Bruch auszudrückende Wert der Unterschiedsempfindlichkeit ist nach Umständen (Feldgröße usw.) veränderlich, worauf später zurückzukommen ist. Was zunächst die Gültigkeit der ganzen, wie bekannt, auch auf anderen Sinnes- gebieten gefundenen und allgemein mit dem Namen des Weberschen Gesetzes bezeichneten Gesetzmäßigkeit anlangt, so zeigte schon Helm- holtz, daß sie jedenfalls keine ganz uneingeschränkte ist. Sehr zarte, an der Grenze der Sichtbarkeit stehende Schatten auf Glasphotographien fand er nur in einem ziemlich eng begrenzten Gebiet von Beleuchtungen wahr- nehmbar, während sie unmerklich wurden, wenn die Helligkeit höher oder geringer gemacht wurde!). Es ist also zu schließen, daß die Unterschieds- empfindlichkeit innerhalb eines gewissen Bereiches der Helligkeiten einen annähernd konstanten größten Wert besitzt, um jenseit einer oberen sowohl wie unteren Grenze abzunehmen. Beobachtungen hierüber mit einer sehr weit gehenden Variierung der absoluten Helligkeiten sind von König?) aus- geführt worden. Seine Ergebnisse für weißes Licht zeigt die folgende Tabelle (a. S. 250). Die Unterschiedsempfindlichkeit erreicht, wie man sieht, ihren höchsten Wert bei den zwischen 1000 und 50000 liegenden Intensitäten. Die Frage, ob die Unterschiedsempfindlichkeit (für Intensitätsdifferenzen) bei verschiedenen Lichtern eine verschiedene sei, ist früher mehrfach in be- jahendem Sinne beantwortet worden. So fand Lamansky?) die höchsten Werte für Gelb und Grün, Dobrowolskyt) für Blau und Violett... Nach den erwähnten Beobachtungen Königs scheint es jedoch, daß diese Unter- schiede verschwinden, wenn man die farbigen Lichter auf solchen Intensitäts- stufen vergleicht, bei denen sie etwa gleich hell erscheinen. !) Helmholtz, S. 314. — ?) Sitzungsber. Akad. Wissensch. Berlin 1889, 8. 641. — °?) Arch. f. Ophthalmol. 17 (1), 123, 1871. — *) Ebenda 18 (1), 74, 1872. 350 Unterschiedsempfindlichkeit und Photometrie. | Unterschieds- Unterschieds- Unterschieds- Intensität empfind- Intensität empfind- Intensität empfind- lichkeit lichkeit lichkeit 1.000 000 0,0358 2000 0,0181 5 0,0593 * 500 000 0,0273 1000 0,0178 2 0,0939 200 000 0,0267 500 0,0192 1 i 0,123 100 000 0,0195 200 0,0222 0,5 0,188 50 000 0,0173 100 0,0298 0,2 0,283 20 000 0,0175 50 0,0324 0,1 0,377 10 000 0,0176 20 0,0396 0,05 0,484 5 000 0,0179 10 0,0477 0,02 0,695 Wie schon erwähnt, hängt der Wert, den man für die Unterschieds- empfindlichkeit findet, von einer Reihe von Nebenumständen ab, so vor allem von der Größe der zu vergleichenden Felder und ihrer örtlichen Anordnung zueinander. Die Unterscheidung wird sehr erschwert, wenn die Felder unter ein gewisses Maß verkleinert werden; Objekte von etwa 1’ (Durchmesser des Netzhautbildes 3,5 u) fand Guillery!) wahrnehmbar, wenn ihre Helligkeit von der des umgebenden Grundes um 15 Proz. abwich. — Von großer Be- deutung ist es, ob die zu vergleichenden Felder sich unmittelbar berühren; nicht nur ein größerer Abstand erschwert die Vergleichung, sondern schon das Vorhandensein einer nur sehr feinen Trennungslinie. Hierauf beruht es, daß man vorzugsweise hohe Unterschiedsempfindlichkeiten erhält, wenn man sich der rotierenden Scheiben oder der Schattenmethode bedient. Auf diese Verfahrungsweisen beziehen sich die in der Literatur meist angeführten Werte von: Arago !/ı3g0o, Masson !/jo0, Volkmann !/;oo, Helmholtz !/ıer, Aubert !/jss u. a., während z. B. bei den vorhin angeführten Beobachtungen Königs nur eine erheblich geringere Genauigkeit (im günstigsten Falle !/,-) erzielt wurde. Die praktischen Aufgaben der Photometrie verlangen im allgemeinen die Ver- gleichung zweier Felder, von denen das eine nur von der einen, das andere von der anderen Lichtquelle erleuchtet ist. Hier ähnlich günstige Bedingungen für die Vergleichung, wie z. B. bei der Schattenmethode zu schaffen, ist durch den Lummerschen Würfel ermöglicht. Lummer und Brodhun fanden bei diesem Verfahren Unterschiede von 1,5 Proz. noch leicht wahrnehmbar (Zeitschr. £. Instrumentenkunde 1889). Der mittlere Fehler bei Einstellungen auf Gleichheit belief sich auf nicht ganz 0,5 Proz., woraus nach der Theorie der eben merk- liche Unterschied auf 0,9 Proz. veranschlagt werden darf. Noch günstiger ist die Anwendung des dem Kontrastphotometer zugrunde liegenden Prinzips. Hier wird nicht auf Gleichheit zweier Felder bzw. Verschwinden eines Unter- schiedes eingestellt, sondern auf gleiche Deutlichkeit zweier (sehr geringer) Unter- schiede. Sind L und Z’ die zu vergleichenden Lichter, so zeigt das Instrument ein Feld von der Helligkeit L, das einen Fleck von der Helligkeit @L’ einschließt, und ein Feld mit der Helligkeit L', das einen Fleck von der Helligkeit @L einschließt. It L=L, so erscheinen beide Unterschiede gleich. Dagegen wird, wenn @ > 1 ist, der Unter- schied in dem erstgenannten Felde deutlicher als der andere, sobald L' größer als L wird. Für geübte Beobachter ist es am günstigsten, « nur wenig von 1 ver- schieden (etwa 1,03) zu nehmen. Der mittlere Fehler der Einstellung konnte hierbei bis auf 0,22 Proz. heruntergebracht werden. ') Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnorg. 13, 195. 2; u a une Empfindlichkeit für Farbenunterschiede. 251 Es ist mehrfach, neuerdings namentlich von König, versucht worden, die Be- funde hinsichtlich der einfachen und der Unterschiedsschwellen unter Annahme be- stimmter Werte für die „inneren Reize“ (oder das Eigenlicht der Netzhaut) in eine einheitliche Gesetzmäßigkeit zusammenzufassen. In der Tat kann man ja mit Recht sagen, daß die einfache Schwelle dasjenige Licht darstellt, das als Zusatz zum Eigenlicht eben merklich ist, daß es sich also auch hier um eine Unterschieds- schwelle handelt. König hat demgemäß, wie früher schon Fechner, eine solche Zusammenfassung in der Weise versucht, daß er dem Eigenlicht einen festen, einer bestimmten Intensität äußeren Lichtes gleich zu setzenden Wert zuschreiben zu können meinte und diesen aus den Beobachtungser gebnissen ermitteln wollte; ich glaube indessen, daß diese Berechnung, teils weil sie den mit dem Wechsel der Belichtung einhergehenden Änderungen in der Stimmung des Sehorgans nicht Rechnung trägt, teils auch noch aus manchen anderen Gründen auf große Be- denken stößt. Um die Unterschiedsempfindlichkeit des Sehorgans für Farbentöne zu prüfen, legt man als objektive Reizveränderung die Zu- oder Abnahme der Wellenlänge zugrunde. Hierbei ist jedoch zu beachten, daß vielfach, besonders in den Endstrecken des Spektrums, zwei Lichter der Wellenlänge A und A + ÖA zwar verschieden erscheinen, wenn beide mit der Intensität einwirken, mit der sie im Spektrum vorhanden sind, der Unterschied aber durch Variierung der Intensitäten zum Verschwinden gebracht oder wenig- stens vermindert werden kann. Man muß daher die Versuche in der Weise vornehmen lassen, daß man die zu vergleichenden Lichter durch eine be- liebige Intensitätsvariierung so ähnlich wie möglich machen läßt. Schon ältere, diesen Gegenstand betreffende Untersuchungen !) stellten heraus, daß die Feinheit, mit der Änderungen der Wellenlänge als Farbenunterschiede wahrgenommen werden, an zwei Stellen des Spektrums, im Gelb und im Blaugrün, ein Maximum besitzt. Dies stimmt mit der auch ganz direkt konstatierbaren Tatsache überein, daß die stetige Farbenänderung im Spek- trum an dieser Stelle bei weitem am stärksten ist, wie denn ja das noch deutlich rötliche Gelb in ein schon grünliches fast plötzlich umzuschlagen scheint. Die folgende Tabelle enthält die von Uhthoff?) gefundenen eben merklichen Unterschiede. Eben Eben | Eben N merklicher j merklicher 4 ı merklicher Unterschied Unterschied |. Unterschied uu uu uu uu uu uu 650 4,70 590 0,91 490 0,72 640 3 2,97 580 0,88 480 0,95 630 1.68 570 1,10 470 1,57 620 1,24 550 1,66 460 1,95 610 1,08 530 1,88 450 2,15 600 1,02 510 1,29 Zu sehr ähnlichen Ergebnissen gelangte auch König?) bei der Methode der mittleren Fehler. !) Mandelstamm, Arch. f. Ophthalmol. 13 (2), 399; Dobrowolski, ebenda 18 (1), 66 u. 98. — ?) Uhthoff, Arch. f. Ophthalmol. 34 (4), 1. — ®) Brodhun, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 3, 105. 252 Empfindlichkeit für Unterschiede der Sättigung. — Zeitliche Unterscheidung. Streng genommen sind die Ergebnisse beider Verfahrungsweisen nicht ohne weiteres vergleichbar. Die mittleren Fehler nämlich, die man bei der Aufgabe erhält, das variierbare Licht eines Feldes demjenigen eines gegebenen Vergleichs- feldes übereinstimmend zu machen, hängen offenbar von der kleinsten Wellenlängen- differenz ab, die noch unter allen Umständen einen merkbaren Unterschied der beiden Lichter bedingt, also von einer generellen Unterschiedsschwelle. Bei den Versuchen mit eben merklichen Unterschieden wird dagegen so verfahren, daß die kleinste Differenz der Wellenlänge gesucht wird, die z. B. im Gelb zu erkennen gestattet, welches Licht das grünlichere und welches Licht das rötlichere ist, der so erhaltene Schwellenwert ist also ein spezifischer (s. oben 8. 19). Helmholtz (Physiol. Optik, 8. 451 f.) hat versucht, die Unterschiedsempfind- lichkeit für Änderungen der Wellenlänge auf Unterschiedsempfindlichkeit für Intensitätsdifferenzen zurückzuführen. Er nahm an, daß allgemein der Unterschied zweier Empfindungen sich in bestimmter Weise aus den (nach dem Weberschen Gesetz zu bemessenden) Unterschieden ergebe, die für den Tätigkeitsgrad jeder einzelnen der drei von ihm angenommenen Komponenten in der einen und anderen Empfindung bestehen. Unter Zugrundelegung bestimmter Valenzkurven für die drei Komponenten erhält man so Werte für den Gesamtunterschied zweier Lichter bei irgend einer beliebigen Differenz der Wellenlänge, und es kann geprüft werden, ob dieser Unterschied bei derjenigen Änderung der Wellenlänge, die eine scheinbare Gleichheit der Lichter gerade noch (oder gerade nicht mehr) gestattet, immer den selben Wert besitzt. Helmholtz gelangte zu dem Resultat, daß dies in der Tat der Fall sei, sofern man die Komponenten wesentlich anders wählt, als sie oben (aus den dichromatischen Systemen) abgeleitet wurden. Leider stützt sich die Berechnung auf ein in mehreren Beziehungen nicht einwandfreies Beobachtungsmaterial, und es muß daher schon aus diesem Grunde von einer eingehenderen Berücksichtigung des ganzen Versuches Abstand genommen werden. Eine Bestimmung der Unterschiedsempfindlichkeit des Auges gegenüber Differenzen der Sättigung ist vorzugsweise in der Art versucht worden, daß man das von reinem Weiß (oder Grau) eben unterscheidbare Mindest- maß von Sättigung, d. h. den eben erkennbaren Farbenzusatz aufgesucht hat. Bei weißen rotierenden Scheiben fand Aubert!), daß farbige Sek- toren von 2 bis 3° eine merkliche Farbendifferenz ergaben, während als Zusatz zu Grau oder Schwarz schon erheblich kleinere Sektoren erkenn- bar waren. Zeitliche Unterscheidungsfähigkeit. ne frequenz. Die zeitliche Unterscheidungsfähigkeit des Sehorgans ist fast ausschließlich 2) in der oben schon berührten Weise geprüft worden, daß man periodisch wechselnde Reize, namentlich intermittierende Lichter einwirken ließ und die Verschmelzungsfrequenz, d. h. die zur Erzielung eines ganz stetigen Eindrucks oder zum Aufhören des Flimmerns erforderliche Frequenz des Lichtwechsels ermittelte®). Es bedarf einer genaueren Erwägung, was hier eigentlich festgestellt wird. Auf den ersten Blick scheint die Ver- schmelzung bei intermittierenden Lichtern zu ergeben, wie lange eine Reiz- ') Aubert, Physiologie der Netzhaut, S: 138 f.; siehe auch Woinow, Arch. f. Ophthalmol. 16, 1, 1870. — ?°) Über die Wahrnehmbarkeit von Helligkeits- schwankungen, die einerseits ihrem Umfange, anderseits ihrer Geschwindigkeit nach variiert wurden, sind von Stern Versuche angestellt worden. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 7, 249 bis 395. — *) Ich verstehe unter dieser Frequenz immer die Zahl der ganzen Perioden in der Sekunde. Theorie der Verschmelzung. 253 unterbrechung dauern kann, ohne daß eine Schwankung der Empfindung eintritt. Man hat demgemäß die erhaltenen Werte schlechtweg als Be- stimmungen für die „Nachdauer der Empfindungen“ genommen. Die genauere Prüfung zeigt indessen, daß diese Folgerung nicht berechtigt ist. Vielmehr versteht sich von selbst, daß Empfindungsschwankungen unmerklich werden müssen, wenn ihr Betrag unter einen gewissen Wert sinkt. Rufen wir durch kurzdauernde Schwankungen des einwirkenden Lichtes Schwankungen des physiologischen Vorgangs von ähnlichem Betrage hervor, wie sie (bei dauernder Einwirkung) Unterschieden der Lichtstärke von 1 Proz. oder weniger ent- sprechen, so ist es selbstverständlich, daß diese zu gering sind, um noch wahr- genommen zu werden. Außerdem muß wenigstens mit der Möglichkeit ge- rechnet werden, daß auch Schwankungen der Empfindung bzw. des ihr zu grunde liegenden physiologischen Vorgangs von höherem Betrage unmerklich werden können, wenn ihre Dauer unter einen gewissen Wert sinkt, und daß somit innerhalb eines gewissen Gebietes Umfang (Betrag) und Dauer der Schwankungen ir einer a priori nicht übersehbaren Weise für die Erkennbar- keit zusammenwirken. Mag also auch die Nachdauer der Empfindung, oder die besondere zeitliche Gestaltung des physiologischen Prozesses dafür maßgebend sein, bei welchen Frequenzen die ÖOszillationen sehr klein werden, so geht in die Bestimmungen doch immer ein besonderes (allen sonstigen Schwellen- werten vergleichbares) Moment der Erkennbarkeitsgrenze ein. Daß die Em- pfindung bei einer bestimmten Frequenz in strengem Sinne stetig wird, haben wir keinen Anlaß anzunehmen, und wäre es der Fall, so könnten wir diesen Punkt nicht bestimmen da die beobachtbare Verschmelzungsfrequenz sicher unterhalb dieses Wertes liegen würde. Daß unter dem Einfluß periodisch wechselnder Lichter auch die Erregungs- prozesse bzw. die Empfindung einen oszillierenden Verlauf haben müssen, ist, zuerst von Fick dargelegt worden (Arch. f. Anat. u. Physiol. 1863), dessen Anschauungen mir in diesem Punkte auch gegenwärtig noch absolut einwandfrei zu sein scheinen. Die Vorstellung, daß man ermitteln könne, wie lange (nach Unterbrechung des Reizes) die Empfindung ganz ohne Absinken nachdauere, ist neuerdings nament- lich von Martius vertreten worden (Beitr. z. Psychol. u. Philos. 1 (3), 336), während die älteren Autoren (namentlich auch Helmholtz) diesen Ausdruck wohl mehr in einem deskriptiven Sinne benutzt haben dürften, ohne dabei eine bestimmte theoretische Auffassung im Auge zu haben. Meines Erachtens ist es ganz unleugbar, daß diese Vorstellung mit dem Talbotschen Gesetz unvereinbar ist. In der Tat geht aus diesem ohne weiteres hervor, daß es niemals ohne Einfluß auf den Empfindungseffekt sein kann, ob (bei periodischer Reizung) während irgend welcher Zeiten der Reiz R oder ein stärkerer bzw. schwächerer einwirkt. Die Empfindung kann sich also, wenn der Reiz unterbrochen wird, niemals genau so verhalten, wie wenn er weiterwirkte. Da nun ja jedenfalls bei konstanter Belichtung in kürzester Zeit Erregungsprozesse und Empfindung einen konstanten Wert erreichen, so versteht sich unmittelbar von selbst, daß sie bei Unterbrechung des Reizes, wenn auch noch so wenig, absinken müssen. N Auch die Beobachtungen über das Verhalten der Verschmelzungsfrequenzen unter gewissen besonderen Umständen (siehe unten), aus denen Schenck Bedenken gegen die Ficksche Theorie der sehr kleinen Oszillationen hergeleitet hat, scheinen mir doch nur zu lehren, daß de Wahrnehmbarkeit der Schwankungen von Umfang und Dauer derselben, sowie (unter Umständen) von ihrer Zahl in der Zeit- einheit in nicht ganz einfacher Weise abhängt, während die Gültigkeit der Fick- schen Theorie dadurch meines Erachtens nicht. erschüttert wird. Das ganze Ver- halten wird immer im Sinne der theoretischen Physik einer „erzwungenen Schwingung“ zu vergleichen sein. 254 Verschmelzungsfrequenz. — Lichtstärke und Adaptation. Ein periodischer Lichtwechsel kann selbstverständlich in der aller- mannigfaltigsten Weise gestaltet werden; auch ist der Einfluß der ver- schiedensten Faktoren auf die Verschmelzungsfrequenz untersucht worden; nur die wichtigsten der in dieser Beziehung geprüften Abhängigkeiten können hier genauer besprochen werden. Die einfachste und am meisten untersuchte Art des Lichtwechsels besteht darin, daß irgend ein Licht periodisch unterbrochen einwirkt, und zwar Ein- wirkungszeit und Unterbrechung immer gleich lange dauern. In diesem Falle bietet sich als wichtigste Variierung der Versuchsbedingungen die Änderung der Intensität des intermittierend einwirkenden Lichtes. Es zeigt sich leicht, daß die Verschmelzungsfrequenz mit zunehmender Stärke des Lichtes steigt!). Aus den Versuchen von Baader sei die folgende Tabelle hier angeführt: Lichtstärke Verschmelzungsfrequenz 1 18,96 pro Sekunde 4 24,38 „ a 18 29,84 „ 193 dit 00 1800 50,24 „ @ Die geringsten überhaupt beobachteten Werte können auf etwa 10 bis 12 pro Sekunde, die höchsten auf etwa 60 bis 70 angegeben werden?). Auf den Versuch, die hier bestehende Abhängigkeit des Genaueren darzustellen, komme ich sogleich zurück. In erheblicher und eigenartiger Weise werden die Erscheinungen des Flimmerns bzw. der Verschmelzung durch den Adaptationszustand des Auges beeinflußt. Schaternikoff?) sah, solange die Beobachtung auf so schwache Lichter beschränkt blieb, daß keine Farbe an ihnen erkannt werden konnte, die Verschmelzungsfrequenzen mit zunehmender Dunkeladaptation heraufgehen; die wachsende Empfindlichkeit des Sehorgans wirkt hier also ähnlich wie die Steigerung des einwirkenden Lichtreizes. Die Zahlen bewegen sich hier etwa zwischen 10 und 17 pro Sekunde®). Ganz anders gestalten sich die Dinge dagegen bei höheren Lichtstärken. Hier geht, wie durch Parallelversuche mit einem hell und einem dunkel adaptierten Auge gezeigt werden konnte, die Verschmelzungsfrequenz durch die Dunkeladaptation eher herunter. Macht man insbesondere die objektive Lichtstärke für das Dunkelauge etwa in dem Verhältnis geringer, daß rechts und links etwa die gleiche Helligkeit empfunden wird, so findet sich regelmäßig !) Helmholtz 8. 488. Porter, Proceed. Roy. Soc. 70, 313. Haycraft, Journ. of Physiol. 21, 139. Baader, Über die Empfindlichkeit des Auges gegen Lichtwechsel. Dissertation, Freiburg 1891. — *) Dagegen dürften die noch weit höheren Zahlen, die Filehne unter besonderen Bedingungen fand, wohl sicher auf Versuchsfehler zurückzuführen sein (Schenck, Arch. f. d. ges. Physiol. 64, 165 u. 82, 192). — °) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 29, 241. — *) Die gleiche Angabe ist auch bereits von Charpentier gemacht worden (Arch. d’ophtalmol. 10, 8342), jedoch ohne die von Sehenck gefundene Einschränkung ihrer Gültigkeit auf geringe Lichtstärken; doch scheint es, daß die Beobachtungen Charpentiers sich tatsächlich auch nur auf schwache Lichter erstrecken, wie aus den geringen Frequenzzahlen, die er angibt, geschlossen werden kann. Verschiedenheit der Verschmelzung beim Tages- und Dämmerungssehen. 255 für das Dunkelauge die geringere Verschmelzungsfrequenz. Alle diese Erschei- nungen weisen darauf hin, daß dem Dämmerungsapparat eine größere Trägheit oder geringere zeitliche Unterscheidungsfähigkeit zu- kommt als dem beim Tagessehen funktionierenden Bestandteil. Eine Bestätigung findet diese Annahme darin, daß bei angeborener totaler Farbenblindheit die zeitliche Unterscheidungsfähigkeit stark vermindert ist; die Verschmelzungsfrequenzen gehen hier nicht über einige 20 pro Sekunde hinauf. (v. Kries, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgan. 32, 113.) Porter (Proceed. of the Roy. Soc. 70, 313) hat die Abhängigkeit der Verschmelzungsfrequenz von der Lichtstärke mathematisch formuliert; ihm zufolge wächst jene dem Logarithmus der angewandten Lichtstärke proportional, so jedoch, daß diese Abhängigkeit durch zwei Gleichungen analoger Form ausgedrückt wird, deren eine, für einen gewissen Spielraum geringster Intensitäten geltend, eine andere Konstante enthält als die andere, welche für die über diesen Punkt hinausgehenden Intensitäten gilt. In graphischer Darstellung setzt sich demgemäß eine jenen Zu- sammenhang veranschaulichende Kurve aus zwei mit einem ziemlich scharfen Knick aneinanderstoßenden Stücken zusammen. Man darf wohl auch hierin eine interessante Bestätigung der Annahme erblicken, daß die zeitliche Unterscheidungsfähigkeit des Dunkelapparates eine erheblich geringere als die des Zapfenapparates ist; diejenige Helligkeit, bei der die erwähnte Kurve ihren Knick hat, dürfte eben die sein, bei dem dieser letztere in Funktion zu treten beginnt, wie denn bei etwa der gleichen Helligkeit auch die Abhängigkeit der räumlichen Unterscheidung von der Helligkeit eine Diskontinuität ähnlicher Art aufweist. (Siehe v. Kries a.a. 0.) In den eben behandelten Versuchen ändert sich mit der Stärke des intermittierenden Lichtes die mittlere (resultierende) Helligkeit und zugleich auch der Betrag der Schwankung. Läßt man bei Konstanterhaltung dieses Betrages die mittlere Intensität steigen (also z..B. erst Lichter von den Stärken 0 und 100, dann 400 und 500, dann 900 und 1000 wechseln), so nimmt die Verschmelzungsfrequenz ab '). Variiert man bei konstanter mittlerer Lichtintensität den Umfang der Schwankung (läßt man also einmal Lichter von der Stärke 0 und 200, dann 50 und 150, 80 und 120 usw. abwechseln), so wird, wie zu erwarten, die Verschmelzung durch den abnehmenden Betrag der Schwankung be- günstigt (Baader a. a. O.). Eine Änderung des Verhältnisses der Einwirkungs- zur Unterbrechungs- zeit ist nach Helmholtz und Plateau ohne merklichen Einfluß auf die Verschmelzungsfrequenz. (Hier ist die Stärke des einwirkenden Lichtes als konstant vorausgesetzt, so daß bei der Änderung jenes Verhältnisses die resultierende Helligkeit mit geändert wird.) Auf verwickeltere zeitliche Verhältnisse des Lichtwechsels hat neuer- dings Schenck?) die Beobachtungen erstreckt. Dieser unterbrach den perio- dischen Lichtwechsel Fig. 33. durch eingeschaltete ee a Strecken konstanter Ran: El mittlerer Belichtung Schema der von Schenck untersuchten Art doppelt periodischeu _. . Lichtwechsels; Einschaltung von Grauperioden in die Abwechselung z. B. durch Benut i von Schwarz und Weiß, zung einer zur Hälfte grauen, zur Hälfte schwarze und weiße Sektoren enthaltenden Scheibe, wobei dann die Grauperiode in der Weise der unterbrochenen Linie der vorstehenden Figur !) Sehenck, Arch. f.d. ges. Physiol. 68, 32. — ?) Arch. f. d. ges. Physiol. 68, 32; 77, 44; 82, 192. 356 Abhängigkeit der Verschmelzung von anderen Modalitäten. in den durch die ausgezogene Linie dargestellten Lichtwechsel sich einfügte. Es ergab sich hierbei überraschenderweise, daß die Verschmelzungsfrequenz durch die Einschaltung der Grauperioden nicht vermindert, sondern erhöht wird. Ähnlich fand Schenck bei etwas anderem Verfahren, daß gewisse Schwan- kungen „um so besser wahrgenommen werden, durch je längere Perioden der Reizstetigkeit sie unterbrochen sind“!), Man kann allerdings auch Schwankungsmodalitäten herstellen, bei denen sich dies anders verhält (Samojloff?). Jedenfalls aber zeigt sich, daß die Verhältnisse der Wahr- nehmbarkeit einerseits für einzelne und anderseits für die zu einer perio- dischen ÖOszillation zusammengeschlossenen Schwankungen eigentümliche sind und wohl noch genauerer Aufklärung bedürfen. Ob der Lichtwechsel in dem ganzen beobachteten Felde gleichzeitig erfolgt oder (wie bei der direkten Betrachtung rotierender Scheiben) die Grenze zwischen Hell und Dunkel über die Netzhaut hinläuft, macht für die Verschmelzung keinen (Mega FnR keinen erheblichen) Unterschied (Baader). Man kann ferner das ganze intermittierend zu erleuchtende Feld in eine kleinere oder größere Zahl von Teilen zerlegen und es dann so einrichten, daß der Lichtwechsel in allen gleichzeitig oder mit Phasenverschiebungen, z. B. in benachbarten Teilen alternierend, eintritt; es ist dabei von Interesse zu erfahren, ob im letzteren Falle die Steigerung der Schwankungen durch Kontrast die Verschmelzung erschwert. Unterschiede dieser Art sind in der That von Sherrington?) gefunden worden, während Baader bei den von ihm untersuchten Fällen sie nicht bemerkbar fand. Daß nach Sherrington die Verschmelzung durch Kontrastverdunkelung des ganzen flimmernden Feldes begünstigt wird, wurde schon oben?) in anderem Zusammenhange angeführt. Wenn man ein weißes und ein farbiges Licht abwechselnd (und gleich lange) einwirken läßt und die Intensität des einen variiert, so findet man einen bestimmten Intensitätsgrad, für welchen die Verschmelzungsfrequenz ein Minimum wird. So läßt sich insbesondere für jedes farbige Licht eine bestimmte Intensität farblosen Lichtes, für jedes farbige Papier ein bestimmtes Grau auffinden, mit dem es „am leichtesten verschmilzt“. Diese von Rood’) gefundene Tatsache ist von ihm und einer Anzahl späterer Autoren als ein Verfahren für die Helligkeitsvergleichung verschiedenfarbiger Lichter ge- nommen worden. Wir kommen unter diesem Gesichtspunkt alsbald auf sie zurück. \ Spezifische Vergleichungen. Helligkeit ungleichfarbiger Lichter. Von den auf den Gesichtssinn bezüglichen spezifischen Ver- gleichungen ist diejenige am meisten untersucht worden, die sich auf die Helligkeit bezieht. Die Erfahrung lehrt, daß wir von zwei "Lichtern verschiedener Farbe häufig mit Sicherheit das eine heller als das andere nennen, somit auch der !) Arch. f. d. ges. Physiol. 90, 270. — ?) Ebenda 85, 90. — °) Sherrington, Journ. of Physiol. 21, 33. — *) 8. 0. 8. 241. — °) American. Journ. of Science 46, 173. Helligkeitsverteilung im Spektrum. 257 Anforderung, eins dem anderen gleich hell zu machen, in gewissem Maße entsprechen können. Man hat zunächst, auf diese Fähigkeit gestützt, für die Helligkeit ver- schiedenfarbiger Lichter von objektiv definierter Intensität bestimmte Werte zu fixieren gesucht. Da man auch hier am zweckmäßigsten von einem be- stimmten Spektrum ausgeht, so ergibt sich als Aufgabe die Ermittelung „der Helligkeitsverteilung“ in einem solchen. Dem hier Mitzuteilenden müssen wir vorausschicken, daß die Helligkeits- verhältnisse verschiedener Lichter in gewaltigem Betrage von dem Adaptations- zustande des Sehorgans und von der absoluten Intensitätsstufe abhängen, eine Tat- sache, die ja oben ‚als Purkinjesches Phänomen eingehend behandelt worden ist (Kap.4). Da bei Dunkeladaptation und geringer Intensität die Besonderheit der spezifischen Vergleichungen ganz fortfällt und die festen und bekannten Verhält- nisse der Dämmerungswerte Platz greifen, so empfiehlt es sich, die Helligkeits- vergleichung der Farben anderseits für solche Bedingungen vorzunehmen, unter denen das Dämmerungssehen möglichst ausgeschlossen ist (helladaptiertes Auge, hohe Lichtstärken, eventuell kleine direkt fixierte Felder). Diese Bedingungen sind in den älteren Beobachtungen nicht mit besonderer Absicht eingehalten worden; doch scheint es nach den Beobachtungen Königs, daß die Wahl relativ hoher Inten- sitätsstufen allein ausreicht um annähernd feste Werte zu erhalten. Bestimmungen dieser Art sind zuerst von Fraunhofer für das Sonnen- spektrum ausgeführt worden; ein weißes Vergleichsfeld wurde neben ver- schiedene Teile des Spektrums gebracht und seine Helligkeit in einer objektiv meßbaren Weise so reguliert, daß es dem betreffenden spektralen Lichte gleich hell erschien. Ausgedehntere Versuche, die sich in ähnlicher Weise auf den unmittel- baren Helligkeitseindruck stützen, hat in neuerer Zeit König!) mitgeteilt. Die Ergebnisse für fünf Beobachter (lauter normale Trichromaten) ‚zeigt die folgende Tabelle, die sich auf das prismatische Spektrum des Gaslichtes bezieht. Wellenlänge Helligkeit für Beobachter uu I IE III IV W 670 0,855 | 1,120 | 650 2,381 - | 2,137 1,15 0,64 625 8460 . | 8413 | 2,06 1,10 1,24 605 3,650 3,247 2,56 1,66 1,56 590 3,030 | 2,65 | 2,38 2,05 1,58 575 2,358 1,923 2,00 2,08 1,56 555. 1,695 1,389 1,50 1,65 1,36 535 1 | 1 1 1 1 520 | 0,554 | 0,558 505 | 0924 | 0250 | | | 490 | oo | 0092 | | | I | | Das Maximum der Helligkeit liegt hier noch deutlich rotwärts von der Na Linie, durchschnittlich etwa bei 605 uu. !) König, Helmholtz-Festschrift 1891, S. 350. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 17 2358 Helligkeitsvergleichung verschiedenfarbiger Lichter. — Methoden. Sogenannte Methoden der heterochromen Photometrie. Die Ermittelungen dieser Art stoßen auf große Schwierigkeiten, da der geforderte Vergleich doch ein sehr unsicherer ist. Viele Beobachter haben, wenn ihnen die Aufgabe gestellt wird, z.B. ein rotes Feld auf gleiche Hellig- keit mit einem benachbarten blauen einzustellen, sehr deutlich den Eindruck, daß das in strengem Sinne gar nicht möglich und die Einstellung in erheb- lichem Betrage willkürlich ist. Allerdings scheint es, daß diese Schwierigkeit individuell ziemlich verschieden beurteilt wird; auch wird angegeben, daß man sich auf eine solche Vergleichung einüben könne und allmählich eine größere Sicherheit darin gewinne (wobei freilich die Frage aufgeworfen werden kann, ob sich nicht lediglich die ersten, vielleicht durch rein zufällige Umstände stark beeinflußten Einstellungen gewohnheits- mäßig fixieren). Die Unsicherheit der direkten Vergleichungen hat nun dazu geführt, nach Methoden zu suchen, die eine Helligkeitsvergleichung bei Verschieden- heit der Farbe mit größerer Exaktheit gestatten sollten. In erster Linie sind hier Verfahrungsweisen anzuführen, die auf Grund besonderer physiologi- scher Verhältnisse ein Fortfallen der Farben herbeiführen. Dahin gehört die Beobachtung mit stark exzentrischen Gesichtsfeldstellen, von der in anderem Zusammenhang schon oben die Rede war. In ähnlicher Weise könnten wohl auch Bestimmungen ausgeführt werden, bei denen die farbigen Objekte auf geringste Dimensionen "beschränkt sind. ' Diesen Verfahrungsweisen können wir eine Reihe anderer gegenüber- stellen, die durch eine Gleichartigkeit des Prinzips zusammengehörig sind, nämlich in gewisser Weise auf die Unterscheidungsfähigkeiten sich stützen. 1. Man betrachtet als gleich hell alle diejenigen Lichter, denen hinzu- gefügt die gleiche Menge eines bestimmten Zusatzlichtes gerade an der Grenze der Merklichkeit steht; dies ist das von Vierordt!) benutzte Verfahren, der sich hierbei eines weißen Zusatzlichtes bediente. 2. Man betrachtet als gleich hell solche farbige und farblose Lichter, die in bestimmter Weise unterbrochen, d.h. mit Schwarz abwechselnd, die gleiche räumliche oder zeitliche Unterscheidung ergeben. In dieser Form sind die Flimmer- erscheinungen z. B. von Haycraft?) und Rivers?) herangezogen worden. 3. Man läßt ein farbiges Licht mit farblosen von verschiedener Stärke in (räumlicher oder zeitlicher) Abwechslung einwirken und setzt es demjenigen gleich hell, mit dem es „am leichtesten verschmilzt“, d. h. bei dem die (räumliche oder zeitliche) Unterscheidungsfähigkeit ein Minimum besitzt. Daß ein solches Minimum bei den Verschmelzungsfreguenzen in der Tat vorhanden ist, wurde oben erwähnt. Eine Vergleichung verschieden- farbiger Lichter ist auf diese Weise zuerst von Rood, dann von Poli- manti®) u.a. ausgeführt worden. Die analoge Tatsache bezüglich der räum- lichen Unterscheidung wurde von Brücke) beobachtet und für die Helligkeits- vergleichung vorgeschlagen. Bringt man auf einer farbigen Tafel Punkte !) Vierordt, Pogg. Ann. 137, sowie „Die Anwendung des Spektralapparates usw.“, Tübingen 1871. — ?) Haycraft, Journ. of Physiol. 21, 126. — °) Rivers, ebenda 22, 137. — *) Polimanti, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 19, 263. — °) Brücke, Sitzungsber. d. Wiener Akad., math.-naturw. Kl. III, 84, 425. Helligkeit und Peripheriewert. 259 oder Streifen von verschiedenem Grau an, so bemerkt man, daß die Erkennung derselben bei einem bestimmten Grau am schwierigsten ist, d. h. den größten Gesichtswinkel erfordert. Dies wäre als das dem farbigen Grunde gleich helle zu betrachten. In systematischer Weise ist das Verfahren bisher meines Wissens nicht angewendet worden }). Um diese mannigfaltigen Methoden und die Bedeutung ihrer Ergebnisse richtig zu beurteilen, muß man meines Erachtens vor allem im Auge behalten, daß es über- haupt nicht als selbstverständlich angesehen werden darf, daß z. B. eine ganz be- stimmte Blau- mit einer ganz bestimmten Rotempfindung in strengem Sinne gleich hell sein muß. Nur dann könnten wir dies ohne weiteres behaupten, wenn wir sicher wären, daß die Gleichheit des Helligkeitseindrucks auf der Übereinstimmung eines bestimmten physiologischen Elementes beruht und wir daraufhin dem subjektiven Begriffe der Helligkeit einen physiologisch fest definierten substituieren könnten (vgl. hierüber die Ausführungen oben S$. 28); dies ist aber keineswegs der Fall. Käme z. B. in der von Hering angenommenen Weise den Farben eine spezifische Helligkeit zu, so würde die Helligkeit einer Gelb- und einer Grünempfindung sich aus den in beiden enthaltenen Weißwerten unter Mitwirkung des dem Gelb zukommenden erhellenden und des dem Grün eigenen verdunkelnden Einflusses ergeben. Danach wäre dann der Eindruck gleicher Helligkeit zwischen einem Gelb und einem Grün gar nicht auf die Übereinstimmung eines bestimmten physiologischen Elementes zurück- zuführen und es könnte daher sehr wohl der Natur der Sache nach die Ver- gleichung bis zu einem gewissen Grade unbestimmt sein. Was ferner die oben zusammengestellten Methoden angeht, so ist es zwar klar, daß für jedes bei einer derselben als „gleich hell“ ermittelte Lichterpaar irgend eine be- stimmte physiologische Beziehung stattfinden wird; welche aber dies ist, ist uns auch nicht mit Sicherheit bekannt. Es erscheint hiernach überhaupt nicht zutreffend, wenn man hier schlechtweg von „Methoden für die Helligkeitsvergleichung verschieden- farbiger Lichter“ spricht. Im Grunde handelt es sich um eine Reihe ganz ver- schiedenartiger, aber wohl definierter funktioneller Beziehungen; erst die Beob- achtungsergebnisse selbst aber können ein Urteil darüber gestatten, welche physiologische Grundlage für eine jede derselben, ev. welcher Zusammenhang zwischen ihnen besteht, und ob somit das, was bei diesen Verfahren ermittelt wird, eine Helligkeitsvergleichung genannt werden darf oder irgend etwas anderes ist. Überblickt man nun die mit den verschiedenen Verfahrungsweisen gewonnenen Ergebnisse, so darf wohl als die bemerkenswerteste Tatsache die bezeichnet werden, daß die bei der direkten Vergleichung sich ergebenden Helligkeitsverhältnisse (Fraunhofer, König) wenigstens annähernd mit denjenigen übereinstimmen, in denen die verschiedenen Lichter dann gesehen werden,‘ wenn, bei sehr stark exzentrischem Sehen, die Farben fortfallen, also alle Lichter weiß gesehen werden. Die Helligkeit der (farbig gesehenen) Lichter entspricht annähernd ihren Peripheriewerten. Das Hinzu- kommen der farbigen Bestimmungen ändert also den Helligkeitseindruck nur unerheblich. Nimmt man daher an, daß das physiologische Substrat des exzentrischen farblosen Sehens auch zentral vorhanden sei und hier nur die Träger der farbigen Bestimmungen hinzukommen, so würde zu folgern sein, daß der Eindruck der Helligkeit in erster Linie durch jenen Bestandteil bestimmt und durch das Hinzukommen der Farben nur unerheblich modi- fiziert wird. Was die Ergebnisse der anderen Verfahrungsweisen betrifft, so zeigt sich, daß auch sie wenigstens annähernd ähnliche Ergebnisse liefern. - So stimmt die von i !) Noch andere Methoden wurden Harnzlanieh \ von Martius (Beiträge zur Psychol. u. Philos. 1, 1) und von Brückner, Arch. f. d. ges. Physiol. 98, 90. 17% 260 Änderung der Farbe bei Wechsel der Lichtstärke. Vierordt gefundene Helligkeitsverteilung nahezu mit der Fraunhoferschen; diesen Werten schließen sich, wie Haycraft zeigte, auch die von ihm nach der ersten der oben erwähnten Flimmermethoden gefundenen Werte nahezu an. Polimanti fand eine annähernde Übereinstimmung zwischen den nach der anderen (Roodschen) Flimmermethode gefundenen Werten und den Peripheriehelligkeiten. In allen Fällen erhält man ein Helligkeitsmaximum, das für das prismatische Spektrum des Gaslichtes etwa bei 600 bis 590 uu, für das des Sonnenlichtes etwas grünwärts von der Na-Linie liegen würde. Ohne Zweifel ist die Übereinstimmung dieser Ergebnisse sehr bemerkenswert; und dürften wir annehmen, daß sie eine genaue und strenge sei, so wäre es ver- lockend und nicht schwierig, z.B. für die Minima räumlicher und zeitlicher Unter- scheidungsfähigkeit bestimmte theoretische Erklärungen zu suchen. Die !genauere Betrachtung lehrt nun aber doch, daß jene’Übereinstimmungen zum großen Teil nur sehr rohe sind. Schon die oben angeführten Bestimmungen Königs zeigen recht erhebliche individuelle Unterschiede der einzelnen Beobachter; Vierordts Bestimmungen weichen von den Fraunhoferschen im Blau erheblich ab; auch die Bestimmungen der Peripherie- und der Flimmerwerte weisen nicht ganz geringe individuelle Verschiedenheiten auf, und die ersteren sind schon wegen der Einmischung der Adaptation mit einer gewissen Unsicherheit behaftet. Endlich sind einige jener Methoden zwar vorgeschlagen, aber überhaupt noch ‘nicht zu systematischen Versuchen benutzt worden. Bei dieser Sachlage würden eingehende theoretische Erwägungen, die von jener Übereinstimmung als einer allgemeinen und genauen ausgingen, doch sehr verfrüht sein. Es wird also erst auf Grund weiterer Untersuchungen sich herausstellen, ob wirklich bei allen jenen Verfahrungs- weisen die nämliche physiologische Beziehung maßgebend ist; ebenso entzieht sich auch meines Erachtens die Frage, ob wir überhaupt, ev. auf welchem Wege wir zu einem physiologisch definierten Begriff gelangen können, der geeignet wäre, den subjektiv unbestimmten der Helligkeit zu ersetzen, vorderhand einer sicheren Beantwortung. Als eine vielfach untersuchte Frage sei hier noch die erwähnt, ob die Hellig- keit eines Lichtgemisches gleich der Summe der Helligkeiten seiner (farbigen) Bestand- teile ist. Im Gegensatz zu zahlreichen Angaben früherer Autoren fand Brückner, (a. a. O.), daß dies nicht allgemein der Fall ist, sondern Gemische, besonders blauer und gelber Lichter eine von jener Regel abweichende und zwar größere Helligkeit zeigen. Andere spezifische Vergleichungen. Ähnlich wie bei den eben besprochenen Untersuchungen gefragt wird, welche Lichter (bei ungleicher Farbe) den Eindruck gleicher Helligkeit machen, kann geprüft werden, in welcher Beziehung (objektiv) Lichter stehen müssen, damit man den Eindruck gleicher Farbe bekommt. Die hierher gehörigen Beobachtungen sind in ihrem spezielleren Gange meist dadurch bestimmt worden, daß man eine im physikalischen Sinne bestimmte Änderung des Lichtes zum Ausgangspunkt nahm. Da nämlich eine reine Variierung der Intensität der einwirkenden Lichter wenigstens innerhalb eines gewissen Be- reiches überwiegend die Helligkeit, die Farbe aber wenig beeinflußt, so kann man die Abweichungen von diesem, nur eingeschränkt verwirklichten Zu- sammenhange zum Gegenstand der Untersuchung machen. Ermittelt man, welche Änderungen der Farbe bei ausgiebiger Variierung der Intensität der einwirkenden Lichter stattfinden, so erfährt man dadurch zugleich, welche Änderungen wir neben der Variierung der Intensität den Lichtern geben müssen, damit sie als gleichfarbig erscheinen. Es ist also dasselbe Gebiet von Tatsachen, das bei der meist geübten Art der Untersuchung nur unter einem anderen Gesichtspunkt dargestellt wird. Von den Änderungen aller Änderung der Farbe bei Mischung mit Weiß. 261 Farben bei hochgradiger Steigerung der Lichtstärke ist schon oben die Rede gewesen. Nach einer zuerst von Brücke!) gemachten Angabe finden Änderungen des Farbentons auch bei starker Herabsetzung der Lichtstärke statt, und zwar so, daß alle Farben sich dem Rot, Grün oder Violett annähern; bei geringen Intensitäten zerfällt nach ihm das Spektrum in drei diese Farben zeigende Streifen, deren jeder in seiner ganzen Breite nahezu gleich erscheint, während alle Zwischentöne geschwunden sind. Ich kann diese Angabe für kleine Gesichtsfelder und bei möglichstem Ausschluß der Dunkeladaptation be- stätigen. Tritt bei den abnehmenden Lichtstärken zugleich ein größeres Maß von Dunkeladaptation auf, so sind die Erscheinungen ganz andere, wie dies an früherer Stelle behandelt worden ist. In ähnlicher Weise ist vielfach geprüft worden, wie sich Farben ver- halten müssen, damit sie bei ungleicher Sättigung an Farbenton gleich erscheinen. Man kann hier von der Erwartung ausgehen, daß, wenn man ein bestimmtes farbiges Licht mit reinem Weiß in verschiedenen Verhältnissen mischt, eine Reihe von Lichtern erhalten werden sollte, die durchweg als von gleichem Farbenton und nur der Sättigung nach verschieden erscheinen. Auch diese Regel erweist sich nicht als allgemein zutreffend. Sehr auffällig und lange bekannt ist namentlich das Rötlichwerden, das reine blaue Farben durch Zumischung von Weiß erfahren, wie man das am Farbenkreisel leicht sehen kann. Brücke hat die Erscheinung daraus erklärt, daß das Tageslicht nicht rein weiß, sondern rötlich sei, während Helmholtz sie darauf zurückführen wollte, daß die uns geläufigsten Sättigungsänderungen einer blauen Farbe, nämlich die des Himmels, stets mit einer objektiven Verschiebung gegen das Grünliche ver- knüpft sind. Die Erkennung gleicher Sättigungsgrade bei konstantem Farbenton und wechselnder Helligkeit dürfte wohl besonders schwierig und unsicher sein. Dies geht schon daraus hervor, daß der allgemeine Sprachgebrauch als hell- blau, hellgrün usw. vorzugsweise die Abstufungen dieser Farben gegen Weiß hin bezeichnet, also solche, die man bei genauerer Betrachtung gegenüber dem Dunkelblau usw. sowohl heller, als auch weniger gesättigt findet, während wir für reine Helligkeitsunterschiede (bei gleichbleibender Sättigung) keine einfache Bezeichnung besitzen. Genauere Ermittelungen liegen in dieser Richtung nicht vor. X. Krankhafte und experimentell erzeugte Modifikationen des Farbensinnes. Erworbene Störungen des Farbensinnes. Störungen des Farbensinnes begleiten eine große Anzahl Erkrankungen des Sehorgans. Eine eingehendere oder systematische Behandlung derselben gehört hier nicht zu unserer Aufgabe; doch dürfte es angezeigt sein, wenigstens. auf einige Punkte kurz einzugehen, die beim gegenwärtigen Stande unseres Wissens von physiologischem Interesse sind, — Von einer Verfolgung patho- logischer Farbensinnsstörungen kann man sich zunächst insofern physiologisch !) Brücke, Sitzungsber. Wiener Akad., math.-naturw. Kl., 77, III, 1878. F. Exner, ebenda 111, IIa, 857, 1902. 262 Erworbene Anomalien des Farbensinnes. bedeutungsvolle Ergebnisse versprechen, als es natürlich von Interesse sein wird, zu erfahren, durch welche Art von Erkrankungen überhaupt solche Anomalien herbeigeführt werden. Diese Erwartung bestätigt sich aber aus dem Grunde nur in sehr geringem Maße, weil die Erfahrung lehrt, daß die allerverschiedensten Erkrankungen der Netzhaut, des Sehnerven und des Zentralnervensystems zu Farbensinnsstörungen führen können. Ich sehe aus diesem Grunde von eimer Besprechung der pathologischen Tatsachen unter diesem Gesichtspunkte ganz ab. Es mag genügen, anzuführen, daß in ge- wissen Fällen die Störungen -sich als eine fortschreitende Einengung der Farbengesichtsfelder darstellen (so daß dauernd der Farbensinn an der Stelle des deutlichsten Sehens am besten bleibt und, ähnlich der Norm, gegen die Peripherie hin abnimmt), während in anderen (Tabaks- und Alkohol- amblyopie) die Erkrankung in erster Linie die Stelle des deutlichsten Sehens ergreift und somit jene Ordnung durchbrochen und teilweise um- gekehrt erscheint. — Der andere Gesichtspunkt, aus dem eine Betrachtung der patholo- gischen Tatsachen geboten wäre, ist dann der einer genaueren Prüfung der auftretenden Anomalien und insbesondere des Zusammenhanges bzw. der Isolierung verschiedener Funktionsstörungen. Auch diese Prüfung erweist sich leider nicht so ergiebig, wie man es im voraus wohl erwarten könnte !). Als beachtenswert (wenn auch in anderen als den uns hier beschäftigenden Beziehungen) ist hier zuerst anzuführen, daß eine weitgehende Störung des Farbensinnes ohne eine Beeinträchtigung der räumlichen Unterscheidung möglich ist, wie es z. B. der jüngst von Pergens?) beschriebene Fall zeigt. Daß Störungen des „Lichtsinnes“ (wenn man darunter die Fähigkeit der Wahrnehmung für schwache Lichter versteht) erworben und angeboren ohne Mangel des Farbensinnes vorkommen, wurde schon oben erwähnt; diese als Hemeralopie zu bezeichnenden Störungen dokumentieren wohl vor allem eine gewisse Unabhängigkeit der Dämmerungsorgane. Was die spezielleren Verhältnisse des Tagessehens anlangt, so würde in erster Linie von Interesse sein, zu erfahren, ob auch pathologisch in ähn- licher Weise wie in der normalen Peripherie ein am. stärksten und ein am wenigsten beeinträchtigtes Farbenpaar sich heraushebt, und ob dies dieselben wie die dort gefundenen sind, so daß man die Erscheinungen stets zutreffend und erschöpfend als eine Störung gewissen Grades im ‚Rot-Grünsinn‘ und anderen Grades im Gelb-Blausinn bezeichnen könnte. Auch diese Frage kann meines Erachtens auf Grund des jetzt vorliegenden Materials weder sicher bejaht noch verneint werden). Eine Anzahl sicherer und physiologisch bemerkenswerter Tatsachen finden wir dagegen da, wo das Sehen zufolge eines krankhaften Prozesses ein monochromatisches geworden ist, da die in diesem Falle nun weit ein- fachere Prüfung der Sehweise auch an erkrankten Sehorganen und mit !) Von gewissen Fällen, die sich als Blaublindheit qualifizieren, ist oben schon die Rede gewesen. — ?) Pergens, Klinische Monatsblätter £. Augenheilkunde 2, 46, 1902. — ®) Die Literatur ist ebenso reich an Fällen, in denen die Grenzen für Rot und Grün übereinstimmend, wie an solchen, in denen sie verschieden gefunden wurden. Da aber die Prüfungen fast durchgängig mit nicht hinlänglich definierten Objekten ausgeführt sind, so gestatten sie keine sicheren Schlußfolgerungen. RE VER Erworbene totale Farbenblindheit. — Santonin. 263 relativ einfachen Hilfsmitteln ausführbar ist. Solche Fälle von erworbener totaler Farbenblindheit sind schon in nicht ganz unerheblicher Zahl be- schrieben worden !. Das Sehen ist hier auf ein farbloses reduziert, wie in einigen Fällen schon durch die noch vorhandene deutliche Erinnerung an die Farben, in anderen (bei lokalem Auftreten der Störung) durch den Vergleich mit den gleichzeitig noch vorhandenen Empfindungen festzustellen ist. Hier zeigt sich also in sehr bemerkenswerter Weise der Ausfall der farbigen Bestimmungen beı Erhaltung der farblosen Hell-Dunkelreihe. Außer- dem scheint sich hier durchgängig herauszustellen, daß die Helligkeits- verhältnisse, in denen die verschiedenen Lichter gesehen werden, wenigstens annähernd dieselben sind, in denen sie auch (bei voller Tagesbeleuchtung) vom normalen Sehorgan an der äußersten Peripherie wahrgenommen werden, keineswegs aber den Dämmerungswerten entsprechen. Insbesondere steht außer Zweifel, daß die starke Unterwertigkeit der langwelligen Lichter, wie sie für das Dämmerungssehen charakteristisch ist, hier vollkommen fehlt. Der Ausfall der farbigen Bestimmungen ändert also die Helligkeitsverhält- nisse der verschiedenen Lichter nur unerheblich; sie werden (farblos) in "einer Helligkeitsverteilung gesehen, die wie die normalen Peripheriewerte mit derjenigen nahezu übereinstimmt, die bei voller Wahrnehmung der Farben besteht. Wir haben hier also eine weitere Gruppe von Fällen, in denen (ebenso wie beim normalen exzentrischen Sehen) der Ausfall der Farben- empfindung eine Sehweise erzeugt, die von dem. Dämmerungssehen völlig verschieden ist. Wirkung des Santonins auf den Farbensinn. ‚Eigenartige Modifikationen des Farbensinnes werden durch das San- tonin hervorgerufen. Nach Einnahme von etwa 0,5g Natrium santonicum bemerkt man eine Reihe von Erscheinungen, die sich, ganz allgemein gesprochen, zuerst als ein Violett-, dann als ein Gelbsehen charakterisieren. Es ist indessen zu bemerken, daß das erstere vorzugsweise im Dunkeln oder an dunkeln Gegenständen, das letztere aber an hellen (sonst farblos erschei- nenden) zu beobachten ist. Helmholtz hat daher die Wirkung des Santonins so gedeutet, daß die Violettkomponente erst gereizt, dann aber gelähmt würde. Wie mir scheint, entspricht diese Annahme auch den Er- gebnissen der zahlreichen neueren Untersuchungen ganz gut, nur mit der Modifikation, daß wohl auch in den späteren Stadien die Lähmung keine vollständige sein, die Reizung aber immer noch in gewissem Maße weiter bestehen wird. So fand insbesondere Nagel?), daß sein (diehromatisches) Farbensystem unter dem Einfluß des Santonins keineswegs in ein mono- chromatisches verwandelt wird. Vielmehr erschienen kurzwellige Lichter in gewöhnlicher Weise blau, während helle Flächen gelb gesehen wurden. 1) Becker, Arch. f. Ophthalmol. 25 (2), 205; Magnus, Zentralbl. f. prakt. Augenheilk. 4, 373, 1880; Schöler u. Uhthoff, Beiträge zur Pathologie des Sehnerven, 1884; Slemerling, Arch. f. Psychiatrie 21, 284, 1889; König, Bei- träge zur Psy chologie u. Physiologie, Helmholtz gewidmet, 1891 (woselbst auch die obigen vier Fälle eingehend bee: sind). Endlich ein der jüngsten Zeit angehöriger Fall von Pergens, a. a. O. ?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 27, 267. 2964 Mechanische Reizung des Sehorgans. Man muß bedenken,. daß die Dauerreizung eines Bestandteils im Sehorgan sehr wohl mit stark herabgesetzter Empfänglichkeit gegenüber äußeren (Licht-) Reizen zusammen bestehen kann, wie dies schon die Ver- hältnisse der positiven und negativen Nachbilder zeigen. In der Tat scheint die Santoninwirkung große Ähnlichkeit mit dem Zustande zu haben, der (vorübergehend) nach Einwirkung starker blauer Lichter beobachtet wird. Es ist mehrfach versucht worden, die Wirkung des Santonins anders zu deuten, namentlich auch, sie mit dem Sehpurpur in Verbindung zu bringen. Vgl. darüber Rählmann, Zeitschr. £. Augenheilk. 2. Knies, Arch. f. Augenheilk. 37. Filehne, Arch. f. d. ges. Physiol. 80. Siven, Skandin. Arch. f. Physiol. 14, 196. XI. Wirkung nicht adäquater Reize auf das Sehorgan. Empfindungserfolge von gleicher Art, wie durch Licht, können durch die Einwirkung zahlreicher anderer Vorgänge auf das Sehorgan hervorgerufen werden; man pflegt diese als inadäquate Reize zu bezeichnen. Am bekanntesten und am leichtesten zu beobachten ist die Wirkung mechani-. scher Reize. Ein das Auge treffender Stoß oder Schlag ruft meist lebhafte Lichterscheinungen hervor; das Gleiche wird bei mechanischer Reizung der Opticusfasern (Durchschneidung bei chirurgischer Entfernung des Bulbus) beobachtet. Deutliche und zu einer genaueren Beobachtung geeignete Licht- erscheinungen erhält man, indem man mit einer abgerundeten Spitze einen mäßigen Druck auf die Selera ausübt. Dieses sogenannte Druckphosphen wird von Helmholtz!) als ein „helles Zentrum, umgeben von einem dunkeln und einem hellen Kreise“, beschrieben. Es liegt, wie begreiflich, an derjenigen Stelle des Gesichtsfeldes, die (den Abbildungsverhältnissen gemäß) der gereizten Netzhautstelle zugehört. Auch eine Zerrung der Bulbuswand nach außen scheint mechanisch reizend wirken zu können; denn auf eine solche wird man wohl die gleich- falls leicht zu beobachtenden Phosphene zurückführen dürfen, die bei schnellen heftigen Bewegungen der Augen im Dunkeln eintreten. Das von Purkinje und Czermak beschriebene Accommodations- phosphen stellt einen hellen Ring an der Peripherie des Gesichtsfeldes dar, der ‘beim plötzlichen Nachlassen starker Accommodationsanstrengung beobachtet wird. Die elektrischen Reizungen des Sehorgans sind nach sehr zahlreichen älteren Untersuchungen neuerdings besonders eingehend von G. E. Müller?) studiert worden. Ich darf mich hier auf seine Ergebnisse um so mehr stützen, als er die zahlreichen Fehlerquellen älterer Beobachtungen in sehr gründlicher Weise dargelegt hat. Nach Müller bewirkt ein „auf- steigender“ (d. h. in der Netzhaut von den Nervenfasern zur musivischen Schicht gerichteter) Strom Erhellung, der entgegengesetzte Verdunklung des Gesichtsfeldes; dabei ist der erstere von einer violetten oder rötlich- blauen, der letztere von einer grünlichgelben Farbenempfindung begleitet. !) Physiol. Optik, 8. 236. — *?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnes- organe 14, 329. Elektrische Reize. — Röntgenstrahlen. — Radioaktive Substanzen. 2365 Im Moment der Schließung gibt ein Strom eine kurzdauernde Wirkung in demselben Sinne wie seine Dauer, nur beträchtlich intensiver („Schließungs- blitz*); die Öffnung dagegen gibt eine entgegengesetzte (also mit dem Dauer- erfolg der umgekehrten Stromrichtung übereinstimmende) Reizung. Allerdings komplizieren sich die Erscheinungen dadurch, daß unter Um- ständen (namentlich bei starken Strömen) die chromatischen Wirkungen ins Übergewicht kommen iund nunmehr die Blauwirkung des aufsteigenden Stromes die ihm sonst eigene Erhellung in Verdunkelung umkehrt, ebenso bei absteigendem Strom die Verdunkelung durch das stärker hervortretende Gelb- grün in Erhellung umgewandelt wird. Was die im Laufe des letzten Jahrzehnts entdeckten OR SERIEN an- langt, so kann es zunächst von den Röntgenstrahlen (entgegen einigen zuerst gemachten Angaben) jetzt als sicher gelten, daß sie das Sehorgan zu reizen, Lichtempfindungen hervorzurufen imstande sind. Das’ gleiche gilt von den Strahlen der radioaktiven Substanzen. Nach den Untersuchungen von Himstedt und Nagel!) ist durch die’ Radiumstrahlen im allgemeinen nur eine diffuse Erhellung des ganzen Gesichtsfeldes zu erzielen, und es scheint daher, daß sie (Ähnliches gilt nach Himstedt und Nagel auch für die äußersten ultravioletten Lichter) vorzugsweise durch eine Fluoreszenzerregung in Linse und Glaskörper sichtbar werden. Dagegen können durch Röntgenstrahlen umschriebene Lichterscheinungen erzielt werden, deren ’Ort im Gesichtsfeld eine Wirkung jener Strahlen auf die Netzhaut anzeigt. Ob diese eine durch Fluoreszenz vermittelte oder eine anderweitige ist, entzieht sich vorderhand der Feststellung. Von Interesse ist die Abhängigkeit der Wirkungen inadäquater Reize vom Adaptationszustand. Eine Steigerung der Empfindlichkeit nämlich, die das ganze Sehorgan oder seine cerebralen Abschnitte beträfe, müßte wohl die Entstehung von Lichtempfindungen durch alle Arten von Reizen gleichmäßig begünstigen. Bei einem peripheren Sitz der Adaptations- veränderungen muß dagegen der Effekt derjenigen Reize begünstigt werden, die unter Beteiligung der adaptationsfähigen Zone wirken (d. h. in ihr selbst oder peripherwärts ihren Angriffspunkt haben), nicht dagegen diejenigen, deren Angriffspunkt zentralwärts von jener liegt. Die Erscheinungen geben also eine gewisse Handhabe zur Ermittelung des Sitzes der Adaptations- veränderung. Tatsächlich wird nun (wie Müller fand und Nagel neuerdings bestätigte?) die Empfänglichkeit des Auges für elektrische Reize durch die Adaptation nicht merklich gesteigert. Die Erscheinung findet jedenfalls ihre einfachste Erklärung in der Annahme, daß die Adaptation auf der An- sammlung des Sehpurpurs in den Stäbchen beruht, die elektrischen Reize aber (was ja ohnehin am wahrscheinlichsten ist) nicht durch Vermittelung dieses Körpers, sondern in irgend einer Weise direkt wirken 3). Die Druckphosphene fand Nagel zwar ein wenig, aber doch nur in geringem Betrage durch die Adaptation beeinflußbar. !) Ber. d. Freiburger Naturf. Gesellsch. 1901 u. Ann. d. Physik 4, 537, 1901. — ?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 34, 285. — °) Hierdurch ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß der Angriffspunkt der elektrischen Reize gleich- wohl in der Netzhaut, ja sogar in deren musivischer Schicht zu suchen sein könnte, wofür Müller beachtenswerte Gründe beibringt. 266 Grundlagen der Duplizitätstheorie. Die Wirkung der Röntgen- und Becquerelstrahlen ist dagegen in höchstem Maße von der Adaptation abhängig; sie sind überhaupt nur bei guter Dunkel- adaptation wahrnehmbar. Hinsichtlich der ersteren war dies als selbstverständ- lich zu erwarten, wenn sie (wie oben erwähnt) durch Fluoreszenz der Augen- medien, also durch Vermittelung von Licht sichtbar werden. In bezug auf die letzteren wırd man aus dieser Tatsache schließen dürfen, daß ihre Wirkung an den Sehpurpur geknüpft ist, woraus freilich (wie Nagel und Himstedt mit Recht hervorheben) nicht ohne weiteres folgt, daß die Wirkung eine durch Fluoreszenz vermittelte sein muß. XII. Übersicht der Tatsachen. Ergebnisse für die theoretische Auffassung des Sehorgans. Hauptgruppen der Tatsachen. Sonderung des Tages- und Dämmerungssehens. Schon ein flüchtiger Überblick der Tatsachen macht wahrscheinlich, daß es nicht gelingen wird, die Gesamtheit derselben aus einer einheitlichen theoretischen Auffassung heraus befriedigend zu deuten. Es empfiehlt sich also jedenfalls, nicht in erster Linie nach einer solchen umfassenden und erschöpfenden „Theorie des Sehorgans“ zu streben; vielmehr dürfen wir uns vorerst damit begnügen, die zahlreichen tatsächlichen Befunde unter all-: gemeine Gesichtspunkte zu bringen und in, solcher Weise ordnend zusammen- zufassen. Versucht man dies, so lassen sich zwanglos drei Gruppen von Tatsachen unterscheiden, deren jede eine größere Zahl offenbar untereinander zusammenhängender und auf eine gemeinsame Grundlage hinweisender Er- scheinungen umfaßt. Die erste dieser Gruppen ist diejenige, die die Sonderung des Tages- und Dämmerungssehens betrifft. Der größere Teil der hierher gehörigen Tat- sachen (die Dämmerungsungleichheit tagesgleicher Lichter und umgekehrt, die Isolierung der einen Sehweise im normalen Netzhautzentrum, der anderen im total farbenblinden Sehorgan usw.) wurde oben bereits im Zusammenhang behandelt, und es wurde gezeigt, daß die Tatsachen mit großer Wahrschein- lichkeit dahin führen, in den Stäbchen und dem Sehpurpur die Substrate des Dämmerungssehens, in den Zapfen die des Tagessehens zu erblicken (Duplizi- tätstheorie, s. oben S. 184). Eine Reihe weiterer hier anzuschließender Erscheinungen betrifft die zeitlichen Verhältnisse der Lichtwirkungen (VII. Kap.). Entziehen sich auch diese noch einer detaillierten Deutung, so weisen doch gewisse Eigentümlich- keiten des primären Bildes unverkennbar auf die Beteiligung zweier zeitlich ungleich arbeitender Apparate hin, und ebenso kann die Erscheinung des‘ sekundären Bildes in den verschiedensten Beziehungen nur unter der gleichen Annahme begreiflich gemacht werden. Ferner findet die Hypothese in den Verhältnissen der räumlichen und zeitlichen Unterscheidungsfähigkeit eine beachtenswerte Bestätigung (S. 255). Erinnern wir uns schließlich noch an die oben gleichfalls schon erwähnten Tatsachen der vergleichenden Physio- logie, so darf man wohl sagen, daß eine überaus große Menge den ver- schiedensten Gebieten angehöriger Tatsachen auf die Duplizitätstheorie hin- weist, und in ihr eine befriedigende Erklärung findet. Isolierung des farblosen Sehens. 267° Es wird hier der Ort sein, darauf hinzuweisen, daß die Duplizitätstheorie zu- nächst in gewissen Punkten unbestimmt bleibt. Bezeichnen wir als Träger des Dämmerungssehens die purpurhaltigen Stäbchen, so knüpfen wir die Funktion an zwei Substrate, die allerdings ja in erster Linie miteinander verknüpft sind, an deren etwaige Trennung aber doch auch zu denken ist. Es erhebt sich also einer- seits die Frage, ob die Stäbchen ganz ohne Sehpurpur funktionieren können (even- tuell in welcher Weise), anderseits ob etwa Spuren des Purpurs auch außerhalb der Stäbchen vorkommen. Beide Fragen können meines Erachtens zurzeit nicht mit absoluter Sicherheit verneint werden; doch sind vorderhand keine Tatsachen bekannt, die uns veranlassen könnten, sie in bejahendem Sinne zu beantworten. Vgl. hierüber Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 9, 117; 12, 98; 19, 190; 23, 183, sowie auch Arch. f. Ophthalmol. 42 (3), 132. In bezug auf die erstere Frage ist neuerlich von Mrs. Franklin sehr ent- schieden die Ansicht vertreten worden, daß die Stäbehen ohne Purpur in der für das Tagessehen charakteristischen Helligkeitsverteilung stehen. _ Ich habe diese Frage von vornherein als eine diskutierbare betrachtet; soviel ich sehe, stößt in- dessen jene Annahme doch auf einige Schwierigkeiten angesichts der Tatsache, daß die total Farbenblinden stets (auch bei Helladaptation und hohen Lichtstärken) mit der gleichen Helligkeitsverteilung sehen. Man hat gegenüber der ganzen Anschauung öfter das Bedenken betont, daß danach die Empfindung farbloser Helligkeit auf zwei verschiedene Weisen erzeug- bar erscheine. Allein, was man hier verwunderlich findet, das ist überhaupt nicht Theorie, sondern Tatsache; die Erfahrung lehrt direkt, daß unter gewissen Um- ständen das farblose Sehen in der Weise stattfindet, daß die Helligkeit kurzwelliger, "in anderen Fällen so, daß die Helligkeit langwelliger Lichter bevorzugt erscheint. Wer nun (wie z. B. Mrs. Franklin) es für zulässig hält, aus der Gleichheit der Empfindung auf die Übereinstimmung der sie auslösenden Vorgänge schon in den perzipierenden Endapparaten zu schließen, der wird jene Verschiedenheiten auf die den eigentlich nervösen Gebilden noch vorgeschalteten Teile zurückführen müssen, z. B. den Sehpurpur als einen die Valenzkurven modifizierenden Sensibilisator betrachten u. dgl. Auch eine solche Anschauung entspricht durchaus dem, was ich Duplizitätstheorie nennen möchte; es ist nur hier behauptet, daß die Dupli- zität ausschließlich auf die direkt vom Licht affizierbaren Substanzen eingeschränkt sei, worin ich keinen Widerspruch gegen meine Anschauungen, sondern nur eine (allerdings ziemlich gewagte) Spezialisierung derselben erblicken würde. Trennung der farbigen Bestimmungen vom farblosen Sehen. Die beiden anderen Gruppen von Tatsachen betreffen nun die spezielleren Verhältnisse des Tagessehens; ich möchte hier diejenigen an die Spitze stellen, die eine Isolierbarkeit des farblosen Sehens von den farbigen Be- stimmungen dartun. Können über die Bedeutung der in dieser Richtung zumeist verwerteten rein psychologischen Tatsachen Zweifel bestehen, so sind dagegen die Erscheinungen der Farbenblindheit in der Netzhautperipherie derartigen Bedenken nicht ausgesetzt. Diese lehren in unzweideutiger Weise, wie mit der wachsenden Exzentrizität gerade die farbigen Qualitäten zurück- treten, die farblose Empfindungsreihe übrig bleibt. Sie gestatten zugleich, zwei Paare entgegengesetzter Farben hervorzuheben, für die diese Änderung am schnellsten bzw. am langsamsten vor sich geht, die also in der Gesamt- heit eine irgendwie ausgezeichnete Stellung besitzen müssen. Ferner sind hier die Erscheinungen der erworbenen Farbenblindheit anzuschließen, bei denen gleichfalls und in einer wohl vielfach sehr ähnlichen Weise die farbigen Bestimmungen ausfallen, unter Zurücklassung eines farb- losen Sehens, das vom Dämmerungssehen durchaus verschieden ist. Darüber 268 Grundlagen der Dreikomponententheorie. erscheinen allerdings vorläufig noch Zweifel möglich, ob dasjenige Farben- paar, das im kleinsten Zentralabstande ausfällt und durch diese Minimum- stellung ausgezeichnet ist, mit dem im rein psychologischen Sinne ausgezeich- neten reinen Rot und Grün zu identifizieren ist. (Vgl. hierüber die Be- merkungen oben S. 138 und 203, sowie das weiter unten bei Besprechung der Franklinschen Theorie Gesagte.) Dreikomponentige Gliederung des Sehorgans. Als dritte Gruppe hier zu erwähnender Tatsachen dürfen dann diejenigen angeschlossen werden, die auf eine Gliederung des Sehorgans im Sinne der Dreikomponententheorie hinweisen. Hier sind vor allem die dichromatischen Farbensysteme und ihre Beziehungen zu den normalen trichromatischen an- zuführen. Wie wir sahen, sind jene beiden als Reduktionsformen des letz- teren anzusehen. Zeigt schon ihre Verschiedenheit, daß sie nicht beide aus dem normalen durch einfachen Ausfall des Rot-Grünsinnes entstanden ge- dacht werden können, so lehrt insbesondere die veränderte Helligkeit, in der der Protanop die verschiedenen Lichter exzentrisch (farblos) sieht, daß in diesem Sehorgan gegenüber dem normalen eine Modifikation vorliegt, deren Bedeutung sich auf das farblose Sehen sowohl wie auf die Farben erstreckt. Auch die Umstimmungserscheinungen sind in gewissem Sinne hier an- zuschließen. Die Unabhängigkeit der optischen Gleichungen von der Stim-' mung, die wir für den trichromatischen Bestandteil als sicher gestellt ansehen dürfen, nötigt zu der Annahme, daß die optischen Valenzen sich durch drei Variable erschöpfend darstellen lassen, und eine z. B. der Heringschen Theorie sich anschließende Annahme von fünf Valenzen erwies sich irgend einer ergänzenden Vorstellung bedürftig, durch die die fünffach auf eine dreifach bestimmte Mannigfaltigkeit reduziert wird. Sind wir also hier auch nicht in der Lage (wie es die dichromatischen Systeme gestatten), jene Kom- ponenten des genaueren zu charakterisieren, so findet doch der allgemeine Gedanke der drei Komponenten und drei Valenzarten auch von dieser Seite eine Begründung. Auch die anomalen trichromatischen Systeme dürfen, wie ich glaube, hier angereiht werden. Wie nämlich schon König angab und ich auf Grund noch nicht publizierter Beobachtungen bestätigen kann, ist es wahrscheinlich, daß das deuteranopische Sehen sich als Reduktionsform sowohl des normalen wie auch des anomalen vom ersten Typus darstellt, ebenso das protano- pische als Reduktionsform auch des zweiten Typus. Hieraus würde sich er- geben, daß die Anomalen des ersten Typus eine abweichende Grünkomponente, die des zweiten eine abweichende Rotkomponente besitzen, beide aber hinsichtlich der beiden anderen Bestandteile mit dem normalen übereinstimmen. Die Be- ziehungen aller dieser Farbensysteme sind hiernach relativ einfach verständlich. Geht man dagegen ausschließlich von einer der Vierfarbentheorie ent- sprechenden Bildung des Sehorgans aus, so müßte man z. B. dem Rotanomalen eine abweichende Beschaffenheit mindestens zweier (wahrscheinlich aller- dreier) Sehsubstanzen zuschreiben, und es bliebe dann wieder die Beziehung zu den dichro- matischen Systemen unaufgeklärt. Daß Herings Erklärung von dem Unterschiede der beiden Dichromaten- arten mit den Tatsachen durchaus unvereinbar ist, wurde schon oben erwähnt. Tschermak hat neuerdings (Ergebnisse der Physiol. 1, 2) diese physikalische Er- BEE: Zonen des Sehorgans. — Detailfragen der Zonentheorie. 269 klärung fallen gelassen, jedoch daran festgehalten, den Unterschied des Protanopen und Deuteranopen demjenigen des normalen und anomalen Trichromaten zu par- allelisieren und demgemäß von gelb- bzw. blausichtigen Tri- und Dichromaten zu sprechen. Allein während der Begriff der Blau- und Gelbsichtigkeit in der ursprüng- lichen Heringschen Fassung ein durchaus klarer und in gewissem Umfange auch vollkommen berechtigter ist (wenn ihm auch freilich die von Hering angenom- mene Bedeutung sicher nicht zukommt), so ist er in der neueren Wendung, die ihm Tschermak gegeben hat, ein völlig unbestimmter geworden. Er soll eine relativ bessere Ausnutzung der brechbareren bzw. der weniger brechbaren Strahlen bedeuten, wobei aber sowohl der Grund, wie auch die genauere Erscheinungsweise dieser Differenz sich jeder weiteren Fixierung entzieht. Meines Erachtens zeigt gerade die 'Unbestimmtheit jener Formulierung, daß es eben nicht gelingt, das Detail der Verhältnisse durch die Annahme einer und derselben, bei normalen wie bei dichro- matischen Sehorganen vorkommenden Modifikation befriedigend aufzuklären, wie denn auch Tschermak die Tatsache, daß die diehromatischen Systeme Reduktions- formen des normalen sind, ganz unerwähnt läßt. Zusammenfassungen unter so weite Begriffe werden, wo man sie aus irgend einem Grunde erstrebt, immer möglich sein; ich glaube aber nicht, daß sie einer wirklichen Einsicht förderlich sind. In der Tat ist die obige Formulierung nicht einmal treffend; denn eine für alle physiologischen Erfolge gleichmäßig verminderte Ausnutzung gewisser Lichtarten würde ja genau auf dasselbe herauskommen wie eine Schwächung derselben durch Absorption. Das Wesentliche liegt also darin, daß die „Ausnutzung“ für verschiedene Erfolge in ungleichem Maße herabgesetzt ist. Zonentheorie. Versucht man, sich auf Grund eines solchen Überblicks von der Ein- richtung des Sehorgans, und zwar in erster Linie des farbentüchtigen Anteils, ein Bild zu machen, so wird man wohl auf die Vorstellung als die wahr- scheinlichste geführt werden, daß die Bildung desselben in den verschiedenen hintereinander geschalteten Abschnitten eine verschiedene sei, und daß dem- gemäß die Grundvorstellungen sowohl einer Dreikomponenten-, wie der Vier- farbentheorie in einem gewissen, wenn auch nur beschränkten Umfange wirk- lich zutreffend sind. Erwägt man weiter, daß aus schon oben berührten Gründen die erstere gerade hinsichtlich der unmittelbaren Lichtwirkungen eine gewisse Wahrscheinlichkeit in Anspruch nehmen kann, die letztere schon wegen ihres direkten Anschlusses an die psychischen Erscheinungen eher auf cerebrale Vorgänge und die unmittelbaren Substrate der Empfindung anwend- bar erscheint, so gelangt man zu der Annahme, daß die peripheren Vorgänge, insbesondere die nächsten Erfolge der Belichtung in einer dreikomponentigen Weise, die zentralen dagegen in einer der Vierfarbentheorie entsprechenden Form gegliedert sein dürften. Ich möchte diese von mir ähnlich schon vor 22 Jahren entwickelte Anschauung, für die eine kurze Bezeichnung wünschens- wert erscheint, eine Zonentheorie nennen. R Natürlich drängt sich die Frage auf, ob es nicht gelingt, diese allgemeinen Vorstellungen in etwas bestimmterer Weise zu gestalten, und es ist wohl unerläßlich, den sich hier bietenden Möglichkeiten noch etwas nachzugehen, wenn auch, wie vorausgeschickt sei, das Ergebnis ein wesentlich negatives sein wird. Dies gilt schon für denjenigen Abschnitt des Sehorgans, in dem wir eine Dreikomponentengliederung für wahrscheinlich erachten, ja sogar für die unmittelbaren Wirkungen des Lichtes. Daß es sich überall um chemische Wirkungen handle, und daß daher in den Zapfen eine Mischung dreier ver- schiedener lichtempfindlicher Substanzen. anzunehmen sei, dies ist vielleicht 2370 Abstrakte Bedeutung der Komponenten. nach unserem gegenwärtigen Wissen die plausibelste der hierher gehörigen Vorstellungen. ‘Aber schon die Frage, ob es sich nicht vielmehr um drei Zersetzungsmodalitäten desselben Körpers handle, kann nicht ohne weiteres verneint werden; und wenn man erwägt, wie wenig uns überall von der Um- setzung der Reize in die nervösen Vorgänge bekannt ist, so wird selbst die Frage berechtigt erscheinen, ob es sich überhaupt um chemisch zu definie- rende Wirkungen handelt und ob nicht gerade (im Gegensatz zu den Stäb- chen) die Farbenunterscheidung dadurch ermöglicht ist, daß an Stelle der chemischen Wirkungen ganz andersartige getreten sind. Man darf daher auch, wie ich wiederholt betont habe!), niemals außer acht lassen, daß der- Begriff „Komponente“, mit dem man hier operiert, ein abstrakter ist und daß die Unterscheidung der drei Komponenten sich vielleicht gegenüber einer wirklichen Kenntnis als eine zwar zulässige, aber einigermaßen willkürliche darstellen wird. Als die Hauptsache wird man eben immer die rein tatsäch- liche Feststellung betrachten müssen, daß das protanopische und deuterano- pische Farbensystem Reduktionsformen des normalen sind. Hinsichtlich der drei Komponenten aber kann man in allgemeinster Formulierung nur sagen, daß sie irgend welche Besonderheiten des physiologischen Geschehens bedeuten, bezüglich deren Hervorrufung die verschiedenen Lichter in der durch unsere Valenzkurven gegebenen Weise gleichwertig sind, und die jedenfalls insoweit eine gewisse Selbständigkeit besitzen müssen, daß ihr Fehlen (die Aus- gleichung der auf ihnen beruhenden Unterschiede) ein zufolge der allgemeinen biologischen Verhältnisse ermöglichtes Vorkommnis ist. Jede speziellere Formulierung wird den Charakter einer ziemlich unsicheren Hypothese haben; jenes Verhalten aber wird man zugeben müssen, wenn man nicht den mehr- erörterten Zusammenhang der verschiedenen Farbensysteme als einen be- deutungslosen Zufall abtun will. Auch für die Art des Zusammenwirkens der drei Komponenten können meines Erachtens die verschiedensten Möglichkeiten ins Auge gefaßt werden. Insbesondere möchte ich betonen, daß die gewöhnlich allein berücksichtigte Annahme, daß alle drei in formell gleicher Weise an der Hervorbringung der Weißempfindung beteiligt seien und einen Beitrag zur Helligkeit liefern, keineswegs die einzig mögliche ist. Schon König hat bemerkt, daß die Helligkeit verschiedener Lichter (bei farbigem Sehen) annähernd ihren Rot- valenzen zu entsprechen scheine. Die späteren Untersuchungen lehren, daß auch die Abhängigkeit der Peripheriewerte von der Wellenlänge sich zum mindesten sehr ähnlich zeigt. Ob hier eine genaue Übereinstimmung statt- findet, ist im Augenblick nicht mit Sicherheit zu sagen; die ganze Frage also, wie sich die drei Komponenten an der Erzeugung der farblosen Hellig- keitsempfindung beteiligen, ist zurzeit noch nicht spruchreif, sondern wird erst auf Grund weiterer Untersuchungen eine Beantwortung finden können. Denken wir uns drei Bestandteile des Sehorgans, von denen der eine (ähnlich wie nach der Theorie der Gegenfarben) der farblosen Empfindungsreihe, der zweite den Rot-Grün-, ein dritter den Gelb-Blau-Bestimmungen diente, jedoch in allen dreien die Weiß-, Rot- und Gelbwerte an die Zersetzung der gleichen Sub- stanz geknüpft, so daß für diese die gleichen Valenzkurven gelten würden, wäh- rend die Zersetzung zweier weiterer Körper in den farbigen Sehsubstanzen eine !) Siehe z. B. Zeitschr. f. Psychol.:u. Physiol. d. Sinnesorg. 13, 176 f£. Ze en ee ee ne dis Li El U and Du au un dl Bi ml n A nn ou m ans. 2 Physiologische Ausführung der Vierfarbentheorie. 971 entgegengesetzte Wirkung hervorriefe, diese somit als Substrate der Grün- und Blau- wirkung zu bezeichnen wären. Auch in dieser Weise würde eine Wirkung auf alle drei Komponenten eine farblose Empfindung liefern, jedoch in einem ganz anderen Modus des Zusammenwirkens. Beim Zurücktreten der Substrate des far- bigen Sehens in der Netzhautperipherie wird alsdann ein farbloses Sehen resul- tieren müssen, das hinsichtlich seiner Helligkeitsverteilung mit der Valenzkurve für jene erste Komponente übereinstimmt; für die nach der hergebrachten Form der Youngschen Theorie nicht ganz leicht verständliche Gestaltung der Peripherie- werte böte sich so eine einfache Erklärung. Auch das Verhalten des protanopischen und deuteranopischen Sehorgans würde sich als Ausfall des ersten bzw. zweiten Bestandteils unter Hinzunahme relativ einfacher Hilfsannahmen in nicht uninter- essanter Weise deuten lassen. Ich unterlasse die Verfolgung dieser Vorstellung (deren Zulässigkeit noch von einer Reihe der experimentellen Prüfung erst harrender Ver- hältnisse abhängt); ich habe es nur richtig gefunden, sie zu erwähnen, um gegen- über einer viel zu engen Auffassung des Begriffes an einem greifbaren Beispiel zu zeigen, was unter einer Dreikomponententheorie von denjenigen, die eine solche vertreten, eigentlich verstanden wird. Auch bezüglich derjenigen Vorgänge endlich, die wir uns in einer der Vierfarbentheorie entsprechenden Weise geordnet denken können, liegen meines Erachtens die Verhältnisse nicht günstiger. Vor allem muß hier betont werden, daß bei unserer völligen Unkenntnis über die Natur der die Empfindung bestimmenden Prozesse wir nicht in der Lage sind, eine mäßige Zahl von Möglichkeiten aufzustellen, zwischen denen auf Grund bestimmter Tatsachen abzuwägen wäre, sondern daß wir vor einer überhaupt ganz. unabsehbaren Fülle von Möglichkeiten stehen. Für die Gegensätzlichkeit der Farben hat die Heringsche Theorie den Gegensatz dissimilatorischen und assimilatorischen Geschehens herangezogen. . Man kann daneben wohl auch in einer vor Jahren schon von Donders!) dargelegten Weise an dis- soziative Vorgänge denken, bei denen hoch zusammengesetzte Moleküle teil- weise, symmetrisch oder unsymmetrisch, zerspalten werden usw. Außerdem aber muß, wie mir scheint, doch vor allem die Möglichkeit im Auge behalten werden, daß die Natur des die Empfindung bestimmenden materiellen Sub- strates überhaupt gar nicht durch einen solchen chemischen Begriff zu be- zeichnen ist, sondern daß es dabei auf Verhältnisse räumlicher Anordnung, histologische Beziehungen usw. in einer uns vorläufig unübersehbaren Weise ankommt. ‘Man wird nun fragen müssen, ob nicht die zahlreichen spezielleren Tat- sachen, die uns in der Physiologie des Sehens bekannt geworden sind, für eine weitere Ausführung der theoretischen Anschauungen Anhaltspunkte gewähren. In erster Linie wird man hier an die Umstimmungserscheinungen zu denken geneigt sein. Meines Erachtens sind aber solche Versuche gerade hier ver- früht, weil wir das Tatsächliche noch keineswegs erschöpfend kennen. Ob durch Farbenumstimmung auch die durch Erregung der Stäbchen hervor- zurufenden Empfindungen modifiziert werden (worauf die komplementäre Färbung des nachlaufenden Bildes vielleicht hindeutet), ob für die total farbenblinde Peripherie die Helligkeitsverhältnisse verschiedener Lichter kon- stant oder durch Ermüdung variierbar sind, ist zurzeit nicht angebbar. Diese und manche andere Fragen sind der experimentellen Prüfung wohl zugäng- lich, und es scheint mir bei der Männigfaltigkeit der sich bietenden Möglich- !) Arch. f. Ophthalmol. 27 (1), 175. 212 Die Farbenschwellen. keiten verfrüht, Spezialtheorien aufzustellen, ehe hier die tatsächlichen Unter- lagen so vollständig als nur möglich gewonnen sind. Ähnliches gilt von den Kontrasterscheinungen; sie müßten, wie mir scheint, um einen einigermaßen sicheren Anhalt für die Zerlegung in. Einzelvorgänge zu geben, mit einer ganz anderen Sicherheit quantitativ durchgearbeitet sein, als dies der. Fall ist. Dagegen ist auf eine andere Gruppe von Tatsachen hier noch hin- zuweisen, die in ihrer theoretischen Bedeutung von uns noch nicht und, wie ich glaube, überhaupt bis jetzt zu wenig gewürdigt worden ist. Es sind die Tatsachen der Farbenschwellen, die ich hier im Auge habe. Die Erschei- nungen des exzentrischen Sehens lehren, wie schon mehrfach hervorgehoben, daß solche Schwellenwerte existieren, d. h. bei Einschränkung insbesondere der räumlichen Ausdehnung die Farbigkeit schwindet. Dies kann man (in der üblichen Weise der Vierfarbentheorie) dadurch erklären, daß der ge- samte Reizwert für den farbenempfindenden Bestandteil des Sehorgans unter die Schwelle sinkt. Fassen wir aber in dieser Weise den Träger der Farben- empfindung als einen selbständigen Bestandteil auf, so bleibt es unverständ- lich und im Widerspruch mit allen unseren sonstigen physiologischen Er- fahrungen, daß, wenn wir die einwirkenden Lichtarten (bei mittleren Stärken) qualitativ variieren, der Schwellenwert nicht durch eine absolute Menge farbigen Lichtes, sondern durch ein bestimmtes Mengenverhältnis des farbigen zum weißen gegeben ist. Da wir uns einen peripheren Sinnesapparat, für den dieses Verhältnis den Reizwert darstellt, wohl kaum denken können, so gelangen wir mit einiger Notwendigkeit zu der Vorstellung, daß die F arben- schwelle von anderer Art ist als die meisten sonst bekannten sensibeln Schwellen, die in den auch für motorische Reizwerte geläufigen Tatsachen ihre einfache Analogie finden. Wie mir scheint, darf man daraufhin unter Benutzung eines neuerdings von Goldscheider!) ausgesprochenen Gedankens vermuten, daß die Entstehung der Farbenempfindung an eine Schwelle ge- knüpft ist, die nicht hinsichtlich der Wirkung eines Reizes auf die Sinnes- zelle, sondern hinsichtlich der Wirkung eines Neurons auf ein folgendes besteht. Es sind wesentlich diese Tatsachen, die mich schon im Jahre 1882 veranlaßten, die Entstehung der Farbenempfindungen an eine solche, wie man jetzt sagen darf, interneuronale Umsetzung geknüpft zu denken. In mancher Beziehung nun haben sich die Dinge durch die Entwickelung der Stäbchentheorie wesentlich geändert, und ich möchte die damals entwickelten Anschauungen heute weder im Detail vertreten, noch durch andere spezielle ersetzen; das allgemeine Ergebnis aber, daß gerade für das Erkennen der Abweichung von der Farblosigkeit eine Schwelle existiert, und insofern die Farbigkeit der Empfindung auf besonderen Bedingungen beruht, scheint mir auch gegenwärtig unbestreitbar und von Bedeutung zu sein. Die Schwierigkeiten einer Konstruktion der psychophysischen Erscheinungen rein nach psychologischen Tatsachen sind bereits oben im allgemeinen besprochen worden; ich glaube, daß auf Grund der spezielleren Verhältnisse der Gesichts- empfindungen die Unsicherheit solcher Versuche sich nicht geringer, sondern eher noch bedeutender darstellen wird. Eine vollständige Überlegung läßt meines Erachtens vor allem auch das zweifelhaft erscheinen (was meist stillschweigend als ganz \) Arch. f. Physiol. 1898, 8. 148. ee u Are ee ee Mn a An en Pormiehiah Verwertung psychologischer Tatsachen. 273 selbstverständlich vorausgesetzt wird), ob wir überhaupt als Substrat dessen, was wir Gesichtsempfindung nennen, einen auch nur räumlich einheitlichen (auf eine Gruppe von Nervenzellen beschränkten) Vorgang annehmen dürfen, aus dessen Natur sich ohne weiteres ergeben muß, was uns (bei genügender Aufmerksamkeit) den Eindruck des Einfachen oder Zusammengesetzten, des Vereinbaren oder des Gegensätzlichen, des positiven Empfindens oder des Nichtempfindens usw. macht. Bekannte Erfahrungen lehren, daß die bloße Tatsache der Zusammengesetzt- heit eines psychophysischen Vorganges nicht genügt, um einen entsprechenden Eindruck hervorzubringen, vielmehr die Zerlegung eines Komplexes in Elemente erlernt werden kann, d. h. auf der Mitwirkung anderer Hirnteile beruht, deren Verhalten in gewissem Umfange variabel, entwiekelungsfähig ist. Ähnlich wird man auch fragen dürfen, ob nicht dadurch, daß gewisse Empfindungen eine aus- gezeichnete und typische Stellung acquirieren, für andere, zwischenliegende der Eindruck des Gemischten, aus jenen Zusammengesetzten, entstehen kann. Was die Unterscheidung von positivem Empfinden und Nichtempfinden anlangt, so kann es nicht überraschen, daß wir im Gebiete z. B. des Gehörs und des Ge- ruchs einen ganz bestimmten Zustand anstandslos als Nichtempfinden bezeichnen. Für den Gesichtssinn ist zunächst zu bedenken, daß der Abwesenheit äußerer Reize kein fest bestimmter Zustand korrespondiert, vor allem aber, daß beim gewöhn- lichen Sehen alle Teile des somatischen Gesichtsfeldes bestimmten äußeren Gegen- ständen entsprechen, somit durch ihren Zustand, welcher Art dieser auch sei, eine bestimmte objektive Beschaffenheit derselben dokumentieren; daher ja auch unsere Farbenbezeichnungen, wie oben schon ausgeführt, nicht bestimmte Empfindungen, sondern Gegenstandsbeschaffenheiten bedeuten. Sollten diese Verhältnisse nicht genügen, um zu bewirken, daß uns alle Zustände gleichwertig und insofern auch alle mit gleichem Recht als ein positives Empfinden bezeichenbar erscheinen? In der Tat wird ja, wenn z. B. beim Schließen der Augen oder in absoluter Dunkelheit alle Unterschiede ausgelöscht sind und das Sehen von Gegenständen aufgehört hat, der nunmehr vorhandene Bewußtseinszustand zwar dahin angegeben, daß überall gleichmäßiges Dunkel empfunden wird; der Unbefangene wird aber stets geneigt sein, hier auch von einem Aufhören des Sehens, einem Nichtempfinden zu sprechen, und die Behauptung, daß das Sehorgan andauernd und unter allen Umständen empfinde, wird immer einigermaßen paradox erscheinen (vgl. hierüber Fick, Hermanns Handbuch f. Physiol. 3, 206). Jedenfalls also ist es wohl kaum selbstverständlich, daß der geringe Inten- sitätsgrad oder der Nullwert des physiologischen Prozesses unserem Bewußtsein ohne weiteres als ein „Nichtempfinden“ kenntlich sein müsse: Vielmehr könnte doch wohl die Empfindung des Schwarz und Weiß selbst in Teilen, deren Tätig- keit schon mit Empfindung verknüpft ist, auf den geringeren und höheren Graden eines physiologischen Geschehens beruhen, die gleichwertige Einreihung des Schwarz unter die übrigen Farbenbegriffe aber auf die Mitwirkung weiterer Gebilde (in anderer Ausdrucksweise auf eine gewisse psychische Verarbeitung) zurückzuführen sein, und es könnten daher wohl die Begriffe des „positiven Empfindens“ und „Nichtempfindens“ gerade zufolge der eigentümlichen Verhältnisse des Gesichts- sinnes mit einer gewissen Unsicherheit behaftet erscheinen. Für die Richtigkeit dieser Anschauung irgendwie eintreten zu wollen, liegt mir fern; es ist mir nur nützlich erschienen, gegenüber der einigermaßen naiven Zuversichtlichkeit, mit der man aus dem „Empfindungscharakter* des Schwarz Schlüsse auf die psychophysischen Vorgänge (womöglich bis zur Netzhaut) zu ziehen liebt, nochmals darauf hinzuweisen, in wie vielen Beziehungen alle derartigen . Schlüsse schwerwiegenden Bedenken ausgesetzt sind. Ich kann nach alledem nur zu dem Resultat gelangen, daß auch für eine speziellere physiologische Deutung derjenigen Vorgänge, die wir uns allgemein im Sinne der Vierfarbentheorie denken dürfen, vorläufig keine genügenden Anhaltspunkte gegeben sind. Nichtsdestoweniger wird es auch hier in einem gewissen Interesse der Veranschaulichung gerechtfertigt er- scheinen, sich der aus den Ausfallserscheinungen ergebenden funktionellen Nagel, Physiologie des Menschen. III: 18 274 Die Theorie der Gegenfarben. Hauptbegriffe als physiologischer Realitäten zu bedienen. Es dürfte in der Tat dem gegenwärtigen Stande unseres Wissens am besten entsprechen, von einem Farbensinn in funktioneller Bedeutung zu reden, und an diesem den Rot-Grün- vom Gelb-Blausinn zu unterscheiden. So würde anzunehmen sein, daß in den exzentrischen Netzhautstellen beide, der eine in höherem Maße als der andere, zurücktreten. Dabei wäre zu beachten, daß bei diesem Ausfall der Farben die Helligkeitsverhältnisse wenigstens annähernd die gleichen bleiben; und im übrigen wird man sich gegenwärtig halten müssen, daß es sich hier um funktionelle Verhältnisse handelt, deren physiologische Grundlage spezieller zu bezeichnen wir vorläufig nicht in der Lage sind. Andere Theorien der Gesichtsempfindungen und des Sehorgans. Die Zahl der im Laufe der Zeit aufgestellten Theorien der Gesichts- empfindungen bzw. des Sehorgans ist eine so große, daß eine Besprechung auch nur der Mehrzahl derselben hier weder möglich noch wünschenswert erscheint. Ich beschränke mich daher auf die Erwähnung einiger, die unter irgend einem Gesichtspunkt besonderes Interesse bieten. — Wie weit und in welchem Sinne den Grundgedanken der Young-Helmholtzschen Theorie einerseits, der Vierfarbentheorie anderseits auch gegenwärtig noch zu- gestimmt werden kann, ist im obigen bereits genügend dargelegt worden. Dagegen wird hier vor allem der Ort sein, im Zusammenhang zu erwägen, was die Gesamtheit der Tatsachen in bezug auf Herings spezielle Deutung der Vierfarbentheorie, die Anknüpfung der Empfindungen an assimilatorische und dissimilatorische Vorgänge ergibt. Man wird hierbei, abgesehen von den schon im zweiten Kapitel be- handelten rein psychologischen Tatsachen, vor allem von denjenigen der Um- stimmung ausgehen müssen. Aus den im sechsten Kapitel geschilderten Er- scheinungen, insbesondere den negativen Nachbildern bei ganz verdunkeltem Auge geht hervor, daß die Abwesenheit äußerer Reize im Sehorgan (sei es dem ganzen, sei es einzelnen Teilen) weder einen extremen noch überhaupt einen fest fixierten Zustand ergibt; vielmehr ist dieser innerhalb weiter Grenzen variabel; er hängt von dem Zustande, der Stimmung des Organs in hohem Maße ab, und er kann hierdurch von einem mittleren Verhalten nach der einen wie der anderen Seite weit entfernt werden. Unzweifelhaft ist dies eine äußerst bemerkenswerte Tatsache; sie ist es, die von Hering zwar gewiß nicht entdeckt, aber in ihrer Bedeutung weit höher als vordem veranschlagt und zum Angelpunkt seiner theoretischen Vorstellungen gemacht wurde. Sie läßt ein andauerndes Geschehen vermuten, das von einem mittleren Verhalten nach entgegengesetzten Seiten abweichen kann. Unzweifelhaft hat auch der Gedanke, jene Tatsache auf ein Verhältnis entgegengesetzter Vor- gänge zu beziehen, und diese in den den allgemeinen Lebensprozeß überhaupt bestimmenden Abbau- und Aufbauprozessen, etwas Einleuchtendes. Nichts- destoweniger glaube ich doch, daß diesem Gedanken auch wichtige Bedenken schon ganz allgemeiner Natur entgegenstehen. So wird man bei der Deutung jenes Verhaltens vor allem den Umstand im Auge behalten müssen, daß es ein exzeptionelles, nur beim Gesichtssinn verwirklichtes a re ee Schwierigkeiten in der Theorie der Umstimmung. 275 ‚ist. Sind die D- und A-Prozesse die allgemeinen Grundlagen des Lebens und in den Sinnessubstanzen beide mit Empfindungen verknüpft, weshalb können wir dann bei keinem anderen Sinne, dem Tastsinn so wenig wie dem Gehör, dem Geschmack so wenig wie dem Geruchssinn, Empfindungen auf- weisen, die sich assimilatorischen Vorgängen zuordnen lassen? Sollte es nicht richtiger sein, dieses Verhalten mit den besonderen Bedingungen in Verbindung zu bringen, die gerade hier für die Bildung und Heranschaffung der lichtempfindlichen Körper bestehen und die es wohl mit sich. bringen könnten, daß einer andauernden Bildung auch eine andauernde Zerstörung gegenüberstände? — Daß, wie es nach der Theorie der Fall sein müßte, die Empfindung unter dauernd gleichen Bedingungen sich immer auf denselben Punkt, das neutrale Grau, einstelle, erscheint schwer glaublich. Vielmehr macht die Beobachtung wahrscheinlicher, daß, wie andere Organe, so auch das Sehorgan dauernd in verschiedenen Tätigkeitszuständen sich befinden kann. Dies setzt voraus, daß in dem einen Fall ein stärkerer, in dem anderen ein geringerer Ersatz herangezogen wird, daß aber der Tätigkeitsgrad (hier die Empfindung) auch bei Gleichheit von Zerstörung und Ersatz ein ver- schiedener sein kann, eben weil sie nur durch die Größe der Zerstörung, nicht aber durch eine Differenz oder einen Verhältniswert sich bestimmt!). Auch die sonstigen Verhältnisse der Umstimmungserscheinungen können der Theorie kaum zur Stütze dienen. Die wichtigste Stimmungsänderung des Sehorgans, die Adaptation, müssen wir mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auf einen peripheren Vorgang, die Bildung des Sehpurpurs, zurückführen, also völlig abweichend auffassen. Daß gegenüber den. speziellen Erscheinungen die Theorie auf eine Reihe von Schwierigkeiten stößt, wurde oben (S. 219) schon erwähnt. — Ähnlich liegen die Dinge auch für die Kontrasterscheinungen. So- lange die angenommenen Wechselwirkungen benachbarter Teile einfach als Tat- sache hinzunehmen sind, und solange das Detail der Erscheinungen nur in so summarischer Weise an die Theorie angeknüpft werden kann, wie wir es oben gesehen haben (ich erinnere insbesondere an den Umschlag der gegensinnigen in die gleichsinnige Induktion), solange kann meines Erachtens von einer Bewährung der Theorie auf diesem Gebiete wohl kaum gesprochen werden. _ Vielmehr zeigt eine leichte Überlegung, daß man Hypothesen ähnlicher Art bei jeder Annahme über die Substrate der Empfindung aufstellen und durchführen kann. — Anderseits muß betont werden, daß die Erscheinungen, in denen man eine frappante Bestätigung der Heringschen Lehre erblickt hat (wie z. B. die des exzentrischen Sehens, der einseitigen Farbenblindheit u. a.), zwar für das Zutreffen der Vierfarbentheorie bedeutungsvolle Argumente bilden, zu den spezielleren Gedanken der Heringschen Theorie aber (der Anknüpfung der Empfindungen an assimilatorische und dissimilatorische Vorgänge) keinerlei Beziehung haben. Daß diese sich irgendwo für-die Erklärung der Erscheinung besonders fruchtbar erwiesen habe oder durch irgendwelche Tatsachen in ent- scheidender Weise gestützt werde, kann man meines Erachtens nicht sagen. Die ganze Vorstellung erscheint zurzeit als eine neben anderen mögliche; aber es fehlt nicht an Tatsachen, die große Bedenken gegen sie erwecken können. *) Über den allgemeinen Gedanken einer Verknüpfung der assimilatorischen Vorgänge mit Empfindungen vergleiche die feinsinnigen Bemerkungen von Fick, Sitzungsber. Physiol. med. Gesellsch. Würzburg 1900. 18* 276 Die Theorie G. E. Müllers. Ein endgültiges Urteil über Wert und Bedeutung der Heringschen Vor- stellungen erscheint im gegenwärtigen Augenblick und an dieser Stelle um so weniger möglich, als ein solches sich zum großen Teil auf Erwägungen ganz allgemeiner Natur, sowie auch auf Fragen anderer Gebiete (die Bedeutung ana- bolischer Prozesse in der Nerventätigkeit überhaupt, in der Muskeltätigkeit u. a.) würde stützen müssen, Fragen, die wohl auch größerenteils noch keineswegs spruch- reif sind, jedenfalls hier nicht verfolgt werden können. Auch wäre es unerläßlich, dabei auf die speziellere Auffassung des Verhältnisses der assimilatorischen zu den dissimilatorischen Vorgängen und, was damit zusammenhängt, auf die Beziehung von Herings Theorie zu gewissen Anschauungen der modernen physikalischen Chemie einzugehen, Punkte, die, wie ich glaube, vielfach durchaus unzutreffend aufgefaßt werden, für deren Behandlung aber hier noch weniger der Ort wäre. Von anderen der Vierfarbenlehre sich anschließenden Theorien möchte ich hier die von G. E. Müller!) herrührende erwähnen. Sie ist insofern von besonderem Interesse, als sie einen mit ebensoviel Konsequenz wie Scharfsinn durchgeführten Versuch darstellt, von den Grundgedanken der Vierfarben- theorie ausgehend die Schwierigkeiten und Widersprüche zu vermeiden, in die sich die Theorie Herings verwickelt hatte. So acceptiert Müller ins- besondere die Anschauung Herings nicht, daß die Empfindungen nur von dem Verhältnis der verschiedenen psychophysischen Prozesse abhängen sollen, woraus dann eine wesentlich andere Auffassung des „Antagonismus“ zwischen Schwarz und Weiß, Rot und Grün usw. sich ergibt. Vor allem aber nimmt Müller an, daß die Wirkung des Lichtes nicht direkt auf die Träger der Empfindung stattfindet; vielmehr stellt er sich als Angriffspunkt dieser Wir- kung gewisse Materialien (Weiß-Rot-Grünmaterial usw.) vor, deren Ver- änderungen erst ihrerseits in‘mehr oder weniger verwickelter Weise auf die Substrate der Empfindung einwirken. Hierdurch ergeben sich für die Modi- fikationen des Farbensinnes andere und mannigfaltigere Möglichkeiten als bei Hering. So kommt z. B. nach Müller auch dem Rotmaterial eine „indirekte Gelbvalenz“ zu; die gesamte Gelbvalenz setzt sich daher aus einem direkten und diesem indirekten Anteil zusammen. Eine Rot-Grünblindheit ist hiernach möglich durch den Mangel des Rot-Grünmaterials, oder aber durch eine Störung seiner zentraleren Wirkungen; im ersteren Falle erweisen sich auch die Gelb- valenzen (durch Ausfall ihres indirekten Anteils) modifiziert, im letzteren nicht. — Wenn nun aber, wie hier angenommen wird, die direkten Wir- . kungen des Lichtes sich aus einer Anzahl von Teilerfolgen zusammensetzen, die mit den psychologisch ausgezeichneten Bestimmungen nicht zusammen- fallen, so heißt dies ja gar nichts anderes, als daß das Sehorgan in den verschiedenen hintereinander geschalteten Abschnitten eine ungleiche Glie- derung aufweist; wir haben es auch hier mit einer Zonentheorie zu tun. Es ist mir daher immer beachtenswert erschienen, daß Müller bei der vorurteilsfreien Würdigung einer Anzahl von Hering verkannter Tatsachen auch von seinem Ausgangspunkt zu Ergebnissen gelangt, die den von mir vertretenen Anschauungen weit näher stehen, als es den Anschein hat. Man darf aber wohl mit einigem Recht fragen, ob es, wenn man einmal zu diesem allgemeinen Ergebnis gelangt ist, nicht näher liegt, sich die direkten Erfolge nach der Art der Helmholtzschen Komponenten zu denken, wobei eine große Reihe von Tatsachen in der einfachsten und befriedigendsten !) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 10, 1 u. 321; 14, 1 uw. 161. / Theorie von Chr. Ladd Franklin. 277 Weise verständlich werden und wobei hinsichtlich deren Umsetzung in Weiß-, Gelb-Blau- und Rot-Grünwerte ja auch die mannigfaltigsten Möglichkeiten offen bleiben. | Auf eine detaillierte Kritik der Müllerschen Theorie unter diesem Gesichts- punkt darf ich hier um so mehr verzichten, als dieselbe in Hinblick auf später bekannt gewordene Tatsachen jedenfalls noch weiterer Ergänzungen bedürfen würde. So wird die Ungleichheit der Peripheriewerte für Protanopen und Deuter- anopen wohl dazu führen, auch direkte und indirekte Weißwerte anzunehmen und dem roten Licht außer dem direkten einen sehr beträchtlichen indirekten, durch das Rotmaterial vermittelten Weißwert zuzuschreiben, der dann bei dem Mangel des Rot-Grünmaterials auch ausfällt. Ob die Theorie sich so mit den Erscheinungen der verschiedenen Farbensysteme in Einklang bringen läßt, mag dahingestellt bleiben ; jedenfalls wird sie recht künstlich, und man darf wohl bezweifeln, ob die Ent- wickelung so detaillierter Vorstellungen ohne irgendwelche objektive Anhalts- punkte empfehlenswert ist. Von einer Erörterung der Art, wie die Müllersche Theorie die Umstimmungserscheinungen erklärt, möchte ich schon mit Rücksicht auf unsere noch keineswegs erschöpfende Kenntnis der hierhergehörigen Tatsachen absehen. Eine neuerdings, wie es scheint, in Amerika viel beachtete Theorie von Mrs. Ladd Franklin!) sucht vornehmlich zwischen der farblosen und den farbigen Empfindungen eine bestimmte Beziehung herzustellen und nimmt an, daß die vollständige Zerstörung gewisser Moleküle eine farblose, eine partielle aber farbige Empfindungen hervorrufe. Nur die „differenzierten“ Moleküle der Zapfen aber sollen dieses letzteren Zerfallmodus fähig sein, während die Stäbchen „undifferenzierte“ Moleküle führen, die nur in toto ‘zerfallen können und also nur farblose Empfindungen ergeben. ' Das Dämmerungssehen ist eine Funktion der Stäbchen; aber die besondere ihm eigene Helligkeitsverteilung beruht nur auf der Zumischung des Seh- purpurs; bei Abwesenheit desselben sollen die Stäbchen (eben hierin macht sich die Gleichartigkeit der differenzierten und undifferenzierten Moleküle geltend) in einer dem Tagessehen entsprechenden Helligkeitsverteilung sehen). Meines Erachtens sind die chemischen Begriffe, in denen sich die Theorie bewegt, so wenig geklärte, daß man ihr wohl höchstens die Bedeutung einer provisorischen Veranschaulichung zuschreiben kann. So bedürfte es zunächst einer genaueren Erläuterung, was unter der Differenzierung eines Moleküls zu verstehen ist (es müßte, wie es scheint, immer eine unsymmetrische sein); in jedem Falle wird man fragen dürfen, weshalb die vollständige Zersetzung des differenzierten Moleküls genau die nämliche Empfindung geben soll wie die des undifferenzierten. Beachtenswerter als diese Konstruktionen ist vielleicht eine der Franklin- schen Theorie eigene eingreifende Modifikation der Vierfarbentheorie. Es sollen nämlich Gelb und Blau einer Zerspaltung oder Differenzierung des Weißprozesses entsprechen, Rot und Grün dagegen nicht ebenso; diese werden vielmehr auf eine nochmalige Spaltung des Gelbprozesses zurückgeführt. Dies stützt sich darauf, daß „reines Rot“ und „reines Grün“ zusammen- wirkend in der Tat keine farblose, sondern eine Gelbempfindung erzeugen; die entgegengesetzte Annahme Herings beruhe darauf, daß nicht reines, !) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 4, 211, 1893. Ferner „Vision“ in Baldwins Dictionary of Phylosophy and Psychology. — ?) Auf gewisse dieser Annahme entgegenstehende Bedenken wurde schon oben hingewiesen. (8. 267.) 278 Wundts Stufentheorie. — Hypothese über das Sehgelb. sondern bläuliches Grün und Rot verwendet werde. — Betrachtet man über- haupt die Prinzipalempfindungen als direkt psychologisch fixierte, so wird man in der hier angenommenen Beziehung des Rot und Grün zum Gelb (ganz abgesehen von ihrer physiologischen oder chemischen Deutung) jedenfalls einen interessanten und näherer Prüfung werten, freilich wohl kaum aus- reichend bewiesenen Gedanken erblicken müssen. Man kann es nur bedauern, daß Mrs. Franklin die fundamentale Frage, welche Lichter (bei neutraler Stimmung des Sehorgans und parazentral) rein rot, rein grün usw. erscheinen, ebensowenig durch direkte und ausgedehnte Versuche zu beantworten versucht hat, wie die Vertreter der Vierfarbentheorie in ihrer ursprünglichen Form. Vgl. hierzu oben 8. 138. Fast alle neueren Theorien haben, wie schon oben bemerkt, an die fundamentale Tatsache sich angeschlossen, daß die physiologischen Valenzen des Lichtes und die Gesamtheit der optischen Empfindungen dreifach bestimmt sind. Als Beispiel einer Theorie, die auf diese Grundlage, damit aber wohl auch auf eine befriedigende Erklärung jener Tatsache verzichtet, mag hier die von Wundt entwickelte Stufen- oder Periodizitätstheorie angeführt werden. Ihr zufolge besteht „die chromatische Erregung in einem polyformen chemischen Vorgang, der mit der Wellenlänge stufenweise. veränderlich ist, indem er zugleich eine annähernd periodische Funktion der Wellenlänge darstellt, da die äußersten Unterschiede der letzteren einander ähnliche Wirkungen hervor- bringen, während die Wirkungen gewisser zwischenliegender Unterschiede in der Weise entgegengesetzt sind, daß sie sich analog wie entgegengesetzte Phasen eines Bewegungsvorgangs vollständig kompensieren können“. (Physiol. Psychol. 1, 404). Als ein mehrfach erwogener Gedanke mag hier endlich noch der erwähnt werden, daß gewissen Substanzen eine doppelte Funktion zukommen möchte, so nämlich, daß die Wirkung des Lichtes auf eine chemische Ausgangsform von einer Art physiologischen Erfolges begleitet wäre, ein hierbei gebildetes Zersetzungsprodukt aber nochmals lichtempfindlich und seine weitere Um- wandlung die Grundlage eines anderen Empfindungserfolges sein würde. So haben Ebbinghaus!) und König?) das aus dem Sehpurpur gebildete Sehgelb als das Substrat der Blauempfindung betrachtet, während dem ur- sprünglichen Purpur andere (von den beiden Autoren verschiedene) Funktionen zugeschrieben wurden. Die Erfahrung lehrt indessen, daß jede Art von Emp- findung, selbst nach sehr langer Verdunkelung des Auges sofort hervor- gerufen werden kann, wo doch die Anwesenheit merklicher Mengen eines Zersetzungsproduktes kaum anzunehmen ist. Eine Bedeutung des Sehpurpurs für die Blauempfindung ist überdies um so weniger wahrscheinlich, als dieser Körper, soweit wir wissen, im Netzhautzentrum fehlt. Auch ist die Existenz eines als Sehgelb zu bezeichnenden Körpers durch die neueren Untersuchungen überhaupt mindestens problematisch geworden. Auch die neuerdings von Wirth?) erörterte Vorstellung wäre hier an- zureihen, nach der die Farbenumstimmung darauf beruhen soll, daß gewisse bei der Einwirkung farbiger Lichter gebildete Umwandlungsprodukte den ursprünglichen Sehsubstanzen beigemischt sind und dadurch der Erfolg der \) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 5, 145. — ?) Sitzungsber. der Berliner Akademie 1899, 8. 577. — °?) Arch. £. Psychol. 1, 54. Positive Ergebnisse der theoretischen Erwägungen. 279 nunmehr einwirkenden Lichter modifiziert wird („Beimischungshypothese*)- Die Persistenz der optischen Gleichung wird jedoch immer nötigen, zwischen der Wirkungsweise des Lichtes auf diese Umwandlungsprodukte und der auf die ursprünglichen Sehsubstanzen ganz feste Beziehungen anzunehmen, und man gelangt so eigentlich naturgemäß dazu, in diesen nicht eigentlich chemische Neubildungen, sondern präformierte und bei einer partiellen Zer- störung der ursprünglichen Substanzen übrig gebliebene Teile zu erblicken, womit man dann im wesentlichen wieder auf dem Standpunkt der -Kom- ponententheorie steht. Abschließende Bemerkungen. Stand der theoretischen Probleme. Der Überblick über die theoretischen Versuche (auch die hier nicht speziell: berücksichtigten) führt meines Erachtens zu dem Ergebnis, daß trotz allen Aufwandes an Scharfsinn und Phantasie ein Hinausgehen über die oben skizzierten allgemeinen Anschauungen mit einiger Sicherheit zurzeit nicht möglich ist. Wenn wir zum Abschluß dieser Betrachtungen zusammenfassen, wie weit eine Aufklärung und Deutung der Erscheinungen durch theoretische Vorstellungen gelingt und welches im ganzen der Stand unserer Probleme ist, so darf wohl in erster Linie gesagt werden, daß die als Duplizitäts- theorie bezeichnete Anschauung, die die purpurhaltigen Stäbchen als Organe des „Dämmerungssehens“, die Zapfen als Träger eines in den verschiedensten Hinsichten abweichenden „Tagessehens“ auffaßt, eine große Reihe funktioneller Verhältnisse in vollkommen befriedigender Weise aufklärt. Denkt man sich ferner den dem Tagessehen dienenden Bestandteil im Sinne der Zonentheorie zunächst in seinen peripheren Abschnitten aus Rot-, Grün- und Violettkompo- nente zusammengesetzt und denkt man sich die Beschaffenheit der Empfin- dungen einerseits von dem Tätigkeitsverhältnis jener Komponenten, anderseits aber noch von weiteren Bedingungen abhängig, denen zufolge wir besondere Bedingungen der Farbigkeit anzunehmen haben und einen Rot-Grünsinn einerseits, einen Gelb-Blausinn anderseits unterscheiden können, so kann man zwar nicht von allen, aber doch von einem sehr großen Teile der be- kannten Tatsachen Rechenschaft geben. In der Tat: betrachtet man das protanopische und deuteranopische Sehorgan als durch einen Ausfall, das rot- anomale und grünanomale durch eine abweichende Beschaffenheit der Rot- bzw. Grünkomponente entstanden, und führt man die Farbenblindheit der exzentrischen Netzhautteile, sowie die erworbene Farbenblindheit auf einen Mangel des zentraler begründeten Rot-Grünsinnes und Gelb-Blausinnes zurück, so ist man in der Lage, die große Menge von Tatsachen, die sich in der Seh- weise dieser verschiedenen Individuen bzw. der verschiedenen Teile des Seh- organs kundgibt, einfach darzustellen und aus einfachen Voraussetzungen in einer mit der Erfahrung (soweit wir sagen können) durchweg und genau übereinstimmenden Weise abzuleiten. Dagegen ist hervorzuheben, daß eine Reihe von Detailfragen vorläufig einer befriedigenden Lösung nicht zugänglich ist. So können wir hinsichtlich der Umstimmung des trichromatischen Apparates zwar in ganz allgemeiner Formulierung sagen, daß jeder Zustand des Sehorgans die ‘Disposition für die Andauer dieses Verhaltens vermindert und die für ein entgegengesetztes 280 Begrenztheit der theoretischen Einsicht. steigert; aber es ist zurzeit unmöglich, diese Zustandsänderungen in detaillierter Weise zu deuten und eine diesen Namen verdienende Theorie der Um- stimmung zu geben. Ähnliches gilt für die Kontrasterscheinungen. Bedeutungsvoller als diese Unvollständigkeit wird man vielleicht die Un- bestimmtheit finden, die den in der Zonentheorie benutzten Begriffen überhaupt anhaftet; und man wird vielfach wohl sagen, die hier entwickelte Anschauung sei gar keine Theorie, sondern nur eine zusammenfassende Darstellung der Tat- sachen. Dies ist vollkommen richtig, entspricht aber meines Erachtens durchaus der gegenwärtigen Aufgabe. Die Mannigfaltigkeit der optischen Empfindungen überhaupt, ihre Abhängigkeit von der Beschaffenheit der Reize und von den Zuständen des Organs übersehen und in allgemeinen Sätzen darzustellen, ist jedenfalls die erste Aufgabe; und daß wir dies in der doch annähernden Voll- . ständigkeit können, wie es der Fall ist, ist ein Ergebnis, dessen Wert man nicht unterschätzen wird, wenn man sich der ungelösten Probleme z. B. im Gebiet des Geruchssinnes erinnert. Auch darf betont werden, daß es gerade diese Verhältnisse sind, die für die Erkennung und praktische Bedeutung aller Anomalien maßgebend in Betracht kommen. Dagegen ist die Entwickelung bestimmter Vorstellungen über die Natur der Vorgänge im Sehorgan ein Unternehmen, das meines Erachtens in Er- mangelung sicherer Anhaltspunkte in der Histologie und Chemie der Netzhaut sowie der allgemeinen Physiologie des Zentralnervensystems vorderhand noch wenig Aussicht auf zuverlässige Erfolge bietet. Nachdem es eine Zeitlang geschienen hatte, als ob durch einen einzigen relativ einfachen Gedanken die ganze Bildung des Sehorgans aufgeklärt werden könnte, wird man sich an eine unbefangene Würdigung der Schwierigkeiten, die uns von der Erreichung eines solchen Zieles zurzeit trennen, erst wieder gewöhnen müssen. Und man wird dann wohl zu der Anschauung gelangen, daß detaillierte T’heorien, wie sie die Literatur der letzten Jahre zahlreich aufweist, einigermaßen verfrüht genannt werden dürfen. Meines Erachtens liegen die Dinge hier ganz anders als hinsichtlich der Duplizitätstheorie; bei dieser handelt es sich um eine sehr einfache Annahme über die Funktion gewisser anatomisch wohlbekannter Gebilde; die ganze Hypothese bewegt sich also in anatomisch und funktionell durchaus fest- stehenden Begriffen, sie bietet aus diesem Grunde auch der experimentellen Prüfung die mannigfaltigsten Angriffspunkte. Im ganzen ist, glaube ich, der Stand unserer Probleme ein weniger un- günstiger, als es bei einem flüchtigen Blick auf die Literatur der letzten Jahre erscheinen mag. In der Tat ist ja diese immer noch reich an großen und mannigfaltigen Gegensätzen. Doch haben sich die Dinge insoweit geklärt und dürften es wohl bald noch weiter tun, daß sich jene Gegensätze zum großen Teil nicht als Widerstreit direkt entgegengesetzter Ansichten, sondern als Unterschiede der Ziele und Bestrebungen herausstellen. Eine Gruppe von Untersuchern hat sich die Aufgabe gestellt, das Verhalten des Sehorgans gegenüber seinen adäquaten Reizen in einer rein empirischen, auch von psychologischen Voraussetzungen möglichst befreiten Weise zu ermitteln. Daß auf diesem durch die Entdeckungen Newtons inaugurierten Wege eine Anzahl bedeutungsvoller Ergebnisse gefunden worden sind, ist wohl un- bestreitbar. Insbesondere hat die systematische Durchführung messender Beobachtungen dieser Art, wie sie A. König zuerst gelungen ist, zu einer scharfen und einwandfreien Charakterisierung der verschiedenen Sehweisen 4 0 2 ann al Verschiedene Ziele der theoretischen Bestrebungen. 281 (Farbensysteme) geführt, und die Ergebnisse seiner Beobachtungen sind der _ Ausgangspunkt für die wichtigsten Erweiterungen unserer Einsicht im letzten Jahrzehnt geworden. Die Hoffnung, daß auf diesem Wege noch weitere be- deutungsvolle Resultate zu erhalten sein werden, erscheint um so mehr berechtigt, wenn versucht werden kann, jene Tatsachen mit den objektiv verfolgbaren Eigenschaften der Netzhaut, namentlich ihrer lichtempfindlichen Substanzen, in Beziehung zu bringen, wie dies auch zuerst von König geschehen ist. Die Vertreter dieser Richtung sind aber schon seit lange nicht im Zweifel. darüber, daß auf diesem Wege die Erscheinungen des Sehens schwerlich er- schöpfend aufzuklären sein werden und daß die auf diesem Boden erwachsenen Vorstellungen zunächst den peripheren Teilen des Sehorgans, nicht aber den letzten Substraten der Empfindung gelten können !). Wenn im Gegensatz hierzu eine andere Gruppe von Untersuchern wesentlich mit Hilfe der von den Engländern als Introspection bezeichneten Methode in das Wesen der Empfindungen selbst und der ihnen zugrunde liegenden Prozesse einzudringen versucht, so können über die Aussichten und den Nutzen dieser Versuche ja wohl eher Zweifel bestehen; es versteht sich in- dessen, daß die Vertreter der ersteren Richtung gegen diese Bestrebungen um so weniger einzuwenden haben, als sie selbst sich diesen Problemen zunächst noch fern fühlen und jenen Bestrebungen wenn auch einigermaßen skeptisch, doch in keiner Weise feindlich gegenüberstehen. Auf entschiedenen Widerspruch sind die auf diesem Boden entstandenen Hypothesen erst da gestoßen, wo sie zu bestimmten Anschauungen und Angaben auch in bezug auf jene anderen Gruppen von direkt beobachtbaren Tatsachen führten, und zwar zu solchen, die sich mit der Erfahrung nicht im Einklang befanden. Dies ist bei der Entwickelung und Durchführung der Heringschen Theorie in großem |Umfange geschehen. Wer gegenwärtig die Tatsachen kennt und sich anderseits erinnert, was Herin g über die Gelb- und Blausichtigkeit, über die Konstanz der optischen Valenzen und über die Methoden zur Bestimmung der Weißwerte gelehrt hat, der kann nicht bestreiten, daß Hering mit seiner physi- kalischen Theorie des Unterschiedes zwischen Protanopen und Deuteranopen, normalen und anomalen Trichromaten, ebenso bei der Deutung der Dämmerungs- werte als „Weißvalenzen“ in sehr bedauerlicher Weise} irregeführt worden ist. Dieser j Umstand ist es, der einem großen Teil der Experimentalarbeit des letzten Jahrzehnts den Stempel einer Bekämpfung der Heringschen Theorie aufgedrückt hat. Hypothesen über die unmittelbaren Substrate der Empfindung sind aber weder Ziel noch Ergebnis dieser Arbeiten gewesen, und zu eingeschränkteren und vor- sichtigeren Anwendungen der Vierfarbentheorie stehen |sie keineswegs in dem Gegensatz, in den eine etwas oberflächliche und schematisierende Auffassung der Literatur sie zu bringen liebt. Als das sicherste allgemeine Ergebnis kann wohl den Untersuchungen . und Diskussionen des letzten Jahrzehnts das entnommen werden, daß es nicht geraten ist, aus den rein subjektiv beobachtbaren Verhältnissen der Gesichts- empfindungen Schlüsse auf das Detail der Funktionsweise, insbesondere die speziellen Verhältnisse der Lichtwirkungen und ihre Änderungen durch Ano- malien, Umstimmung usw. zu ziehen. Wo man dies versucht hat, hat sich in der Regel herausgestellt, daß die Dinge völlig anders liegen, als man erwartet hatte. !) Ich darf hier darauf hinweisen, daß ich diese Anschauung schon in meinen ersten Publikationen vertreten habe. Auch König hat sich wenigstens später (auf Grund seiner Beobachtungen über Blaublindheit) auf den gleichen Standpunkt gestellt. 2382 Trennung der psychologischen und physiologischen Probleme. Je mehr man also überhaupt den Schluß vom Psychischen aufs Physische für berechtigt hält, um so mehr muß man anerkennen, daß jene Details nicht durch die unmittelbaren Substrate der Empfindung, sondern durch andere Teile des Sehorgans bestimmt werden, deren Bildung und Einrichtung sich aus der Empfindung nicht erraten, ja nicht einmal verständlich machen läßt. Man wird also im Auge behalten müssen, daß die Physiologie des Sehorgans und die Psychologie der Gesichtsempfindungen zwei sehr verschiedene Dinge sind, selbstverständlich nicht ohne mannigfaltige Beziehungen zueinander, aber doch keineswegs sich so vollständig deckend, wie man es vielfach geglaubt hat annehmen zu dürfen, und daß es daher im gegenwärtigen Stadium der Forschung unerläßlich ist, die Probleme und Tatsachen, die dem einen und dem anderen Gebiete angehören, sorgfältig auseinander zu halten. 4. Augenbewegungen und Gesichtswahrnehmungen von O. Zoth. Zusammenfassende Darstellungen, die in dem folgenden Abschnitte größtenteils nur mit dem Namen des Autors zitiert sind: H. v. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, 2. Auflage. Hamburg und Leipzig, L. Voss, 1896. E. Hering, Der Raumsinn und die Bewegungen des Auges. In Hermanns Hand- buch der Physiologie, III. Bd., 1. Teil. Leipzig, F. C. W. Vogel, 1879. ‘ H. Aubert, Physiologische Optik. In Graefe-Saemischs Handbuch der Augen- heilkunde, II. Bd., 2. Teil. Leipzig, W. Engelmann, 1876. I. Die Augenbewegungen. -. Die Analyse der Augenbewegungen erfordert zunächst eine genauere Betrachtung des vorliegenden anatomischen Mechanismus, namentlich zahlen- mäßige Feststellung der Lage- und Größenverhältnisse seiner einzelnen Be- standteile, auf welcher sich dann die Mechanik dieser Bewegungen aufbauen läßt. Die Lagerung des Augapfels in seiner Gelenkhöhle, die ver- schiedenen Formen desselben, Verlauf, Ursprung, Ansatz und Querschnitt der Augenmuskeln, Vorkommen und Anordnung hemmender Mechanismen, endlich die Lage beider Augen zueinander werden hierbei zu berücksichtigen sein. Hierauf ist festzustellen, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Drehpunkt für die verschiedenen Bewegungen des Augapfels angenommen werden kann und wie die Drehungen unter der Wirkung der einzelnen Muskeln erfolgen, deren Muskelebenen, Drehungsachsen und relative Dreh- momente zu bestimmen sind. Darauf kann der Versuch gemacht werden, den Anteil der einzelnen Muskeln bei bestimmten Bewegungen des Aug- apfels in angenommenen Hauptbewegungsrichtungen theoretisch zu erörtern. Bei dieser Gelegenheit wird die Nomenklatur der Augenbewegungen fest- zustellen, beziehungsweise einer Durchsicht zu unterziehen sein. Nachdem so eine Theorie der Augenbewegungen auf rein mechanischer Grundlage abgeleitet worden ist, muß zweitens festgestellt werden, in welcher Weise diese Bewegungen unter dem Einflusse der dabei wirksamen nervösen Mechanismen in Wirklichkeit ausgeführt werden und zwar sowohl zunächst für das Einzelauge, als auch weiterhin für das Augenpaar. Es wird sich die Physiologie der Augenbewegungen mit der Bestimmung der Bewegungs- richtungen und -achsen, des Umfanges und der Geschwindigkeit, sowie der sonstigen Eigenschaften der wirklich ausgeführten Bewegungen der Augen zu beschäftigen haben, um daraus die Gesetze dieser abzuleiten und schließlich zur Feststellung der Prinzipien der Augenbewegungen zu gelangen. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 18** 284 . Lagerung (des Augapfels. Drittens soll endlich der Innervationsmechanismus der Augen- bewegungen einer näheren Betrachtung unterworfen werden? um vorhandene Beziehungen zwischen seiner anatomischen Anlage und der im vorhergehenden festgestellten physiologischen Wirkungsweise desselben nachzuweisen, A. Mechanik der Bewegungen des Augapfels. 1. Lagerung des Augapfels. Die Wände des pyramidenförmigen‘ Raumes der knöchernen Augen- höhle bilden nur die feste Stütze für das von ihnen umschlossene eigentliche Lager des Augapfels, welcher der knöchernen Wand nirgends näher anliegt. Die nasalen Wände beider Augenhöhlen sind einander nahezu parallel (vgl. Fig. 34), während die lateralen nach vorn divergieren, so daß auch die Achsen der beiden Augenhöhlen nach vorn um 24 bis 30° divergieren. Die. vordere Fig. 34. g Lagerung und Bewegungsapparat der Augen, halbschematisch in natürlicher Größe. Links haupt- sächlich Verlauf und Ansatz der Muskeln, rechts Verhältnisse der orbitalen Aponeurose dargestellt. Mündung des knöchernen Trichters ist durch die leichte Einwölbung des ‘oberen und lateralen Randes etwas verengt; der laterale Rand tritt weit zurück, so daß die Schläfenseite der vorderen Bulbushälfte beinahe ganz ungedeckt und leicht zugänglich vorliegt. Der horizontale Durchmesser des Orbitaleinganges durchsetzt den Augapfel etwa 8Smm hinter dem Horn- hautpole, während der vertikale diesen gerade berührt (Langer!). Der laterale Rand liegt durchschnittlich 22 mm hinter der Nasenwurzel, 12 mm hinter der Crista laerimalis anterior und 7mm hinter der Fovea trochlearis ‘) Lehrbuch der Anatomie, 3. Aufl., 8. 540. Tenonsche Kapsel. — Formen des Augapfels, 285 '(Maddox!). Bei normaler Größe der Bulbi geht die Verbindungslinie der beiden äußeren Orbitalränder vielfach zugleich durch die Drehpunkte der beiden Augen. — Das eigentliche Lager des Augapfels ist der aponeurotische Trichter der Tenonschen Kapsel, mit dem um sie und in ihr abgelagerten periokulären und retrobulbären Fettpolster, nach vorn die Höhlung der hinteren Lidflächen. Auf den Sehnerven .„wie auf einen Stiel aufgepflanzt“ (Langer?) und von den geraden Augenmuskeln an vier, den Orbitalwänden entsprechenden Seiten umgriffen, wird der Bulbus in diesem Lager drehbar, ' aber wenig verschiebbar festgehalten. Es ist also ein dreifacher, nach vorn offener Trichter, welchem er eingelagert erscheint, zu äußerst von der knöchernen Orbitalwand, dann von der Tenonschen Kapsel, zu innerst von den geraden Augenmuskeln gebildet. Der aponeurotische Trichter der Tenonschen Kapsel, welcher neuerlich von Motais?) genau beschrieben worden ist, entspringt am Periost des Foramen opticum, setzt sich vorn an dem Umfange des Orbitalrandes fest und gibt Scheiden an .die Gebilde der Orbita ab: die äußere und innere Kapsel des Augapfels, Muskel-, Nerven- und Gefäßscheiden. In Fig. 34 rechts ist das Verhalten der orbitalen Apo- neurose am Horizontalschnitte dargestellt. Auf die Bedeutung der verdickten Partien in der Gegend der Muskelansätze soll weiter unten zurückgekommen werden (4.). Bezüglich der genaueren anatomischen Verhältnisse der einzelnen Scheiden und Blätter der gemeinsamen orbitalen Aponeurose muß auf Motais verwiesen werden. Aus dem angeführten ist aber schon hinläng- lich ersichtlich, daß die Bewegungen des Bulbus nicht mit den Bewegungen einer Gelenkkugel in ihrer Pfanne in Parallele gestellt werden können: denn die vorderen Anteile der dehnbaren und elastischen, den Augenbewegungen zweckmäßig angepaßten Tenonschen Kapsel, welche sich in Form der „äußeren Kapsel“ nahe dem Hornhautrande an den Bulbus, sowie anderseits an den Sehnerven locker befestigt, begleiten den Augapfel bei seinen Be- wegungen in ausgiebiger Weise; und wie Motais) festgestellt hat, bewegt sich selbst das den Augapfel umgebende Fettgewebe in der Weise mit, daß die nächstgelegenen Partien in größerem, die entfernteren in kleinerem Um- fange den Bewegungen der nächstbenachbarten Bulbusteile folgen. Wenn man schon von einer „Pfanne“ reden will, so kann man mit Motais die Innenfläche der Augenlider als solche ansprechen; da jedoch auch ohne diese die Ausführung der Augenbewegungen möglich ist, wird es zweckmäßiger sein, die Analogisierung mit einem Knochengelenke überhaupt fallen zu lassen und die Lagerung des Augapfels als eine besondere, eigenartige Einrichtung eines arthrodischen Bewegungsmechanismus aufzufassen. 2. Formen des Augapfels. Die Gestalt des Augapfels muß von Einfluß nicht nur auf dessen Be- weglichkeit im allgemeinen, sondern auch im besonderen auf die Veränder- lichkeit der Drehmomente der einzelnen Muskeln bei verschiedenen Blick- richtungen sein, sobald die Form von der angenäherten Kugelgestalt des emmetropen Bulbus wesentlich abweicht; ja selbst die Ruhestellung des Aug- !) Die Motilitätsstörungen des Auges. Deutsch von W. Asher, 1902, 8. 4. — 2) 1. c.. — ®)' Anatomie de l’appareil moteur de l’oeil, Paris 1887. Auch bei Maddox (I. ce.) ausführlich erörtert. — *) 1. ce. 2386 Lageverhältnisse verschieden langer. Bulbi. apfels kann unter solchen Umständen verändert sein. An die durch Neu- bildungen verursachten Deformitäten des Bulbus und der Orbita, durch welche die Beweglichkeit des Auges in der mannigfachsten Weise und in den ver- schiedensten Graden beeinflußt werden kann, sei hier nur nebenbei erinnert. Dagegen muß die Deformation des Bulbus bei höheren Graden von Myopie an dieser Stelle berücksichtigt werden. Das emmetrope und hypermetrope Auge weicht nicht wesentlich von der Kugelform ab, und wenn es auch emmetrope Bulbi mit etwas längselliptischem und hypermetrope mit etwas querelliptischem Durchschnitte gibt, so können diese Abweichungen doch naturgemäß über eine bestimmte niedrige Grenze nicht hinausgehen. Immerhin ist zu bedenken, daß aus rein mechanischen Gründen die Beweglichkeit eines kleinen, mehr quer- elliptischen hypermetropen und eines größeren, mehr längselliptischen emme- tropen Bulbus in der Nähe der Ruhelage und in größeren Exkursionen aus derselben, sonst gleiche Verhältnisse vorausgesetzt, entgegengesetzt beeinflußt werden müssen. Am ungünstigsten liegen die mechanischen Verhältnisse offenbar für den in der sagittalen Achse mehr oder weniger verlängerten myopen Bulbus, namentlich wenn die Entwickelung eines stärkeren Staphy- loma posticum bis zur walzenförmigen Umgestaltung des Bulbus geführt hat, wobei der sagittale Durchmesser auf mehr als 30 mm verlängert sein kann. Die halbschematische Fig. 35 soll diese Verhältnisse erläutern. In den Hori- zontalschnitt einer Augenhöhle von mittlerer Größe sind die Horizontalschnitte Fig. 35. vierer Bulbi nach Elschnig') eingezeichnet, ey A und zwar eines hypermetropen (12 D)H, eines ! emmetropen E, eines myopen (10 D)M, und eines 1 hochgradig myopen (20D) Auges M,°). Die Achse der vier Bulbi yy’ ist sagittal gestellt. Es ist nun ohne weiteres ersichtlich, daß die mehr längselliptischen Bulbi M offenbar schon in der Ruhelage aus rein mechanischen Gründen das Bestreben haben, sich mit der Längsachse in die Achse des Muskel- und aponeurotischen Trichters (vgl. Fig. 34) zu stellen, also zu divergieren. Für den Bulbus M, ist eine solche Divergenz- stellung mit der Achsenrichtung dd’ in der Figur ersichtlich gemacht. Dieser rein mechanische, durch die eiförmige Gestalt des myopen Bulbus bedingte Divergenzimpuls ist nicht mit dem- jenigen zu verwechseln, auf dem die Divergenz- stellung auch des emmetropen ruhenden Auges beruht und von dem noch später die Rede sein wird. Auf den ersteren ist wohl in der Haupt- “ sache die laterale Ablenkung zurückzuführen, die an den meisten höhergradig myopischen Augen festzustellen ist. Unser mechanisches, durch die Gestalt des myopen Bulbus bedingtes Schematischer Horizontalschnitt einer Divergenzmoment muß nun desto wirksamer rechten Orbita, von oben. Lageverhält- werden, je stärkere Anforderungen an die Kon- nisse verschieden langer Bulbi. & . vergenz gestellt werden. In Fig. 35 ist auch die Stellung verzeichnet, welche der Bulbus M, bei Konvergenz auf einen 20cm entfernten, in der Sagittalebene liegenden Punkt einnehmen müßte; ihr entspricht mr # i !) Stereoskopisch-photogr. Atlas der path. Anatomie des Auges 1901. — ?) Alle vier sind gleich prominent gezeichnet. In Wirklichkeit prominieren die myopen Bulbi gewöhnlich stärker. Die Augenmuskeln. 287 die Achsenrichtung ec’; der ‘Kontur des Bulbus in der neuen Lage ist durch die gestrichelte Linie angedeutet. Es ist ersichtlich, welche Widerstände der Aug- apfel bei dieser Verlagerung an dem M. rectus externus, der lateralen Wand des aponeurotischen Trichters und schließlich sogar an der knöchernen Wand der Augenhöhle fände: das Zustandekommen dieses Konvergenzgrades ist für den vor- liegenden Fall selbst mit denkbarer Deformation des Bulbus ausgeschlossen. Die Konvergenz höhergradig myoper Augen ist also jedenfalls rein mechanisch durch ihre Form wesentlich behindert. In entsprechend geringerem Grade kommt dieser Umstand für jeden längselliptischen Bulbus und, wie für die Konvergenz, so auch für die Hebung und Senkung des Blickes in Betracht. In welchem Maße die- erörterte Störung in Wirklichkeit bei verschiedenen Graden von Myopie wirksam wird, und welche Momente eine Kompensation derselben bedingen können, ist meines Wissens noch nicht genauer untersucht worden. 3. Die Augenmuskeln. Die vier geraden Augenmuskeln entspringen im Umkreise des Foramen opticum, indem sich ihre Ursprungssehnen zu einem fibrösen Ringe vereinigen, der den Innenrand des Foramen umgibt und noch ein wenig auf das nahe - Ende der Fissura orbitalis superior übergreift. Von da entlang den vier Wänden der Orbita nach vorn ziehend — der Rectus superior unterhalb des Levator palpebrae superioris — schließen sie einen pyramidalen Raum ein, in dessen Achse der Sehnerv verläuft und in dessen Basis der Bulbus lagert. Sie umgreifen nach dem Durchtritte durch die Tenonsche Kapsel (genauer s. Fig. 34 und bei Motais) den Augapfel am Äquator und setzen sich mit flachen band- oder fächerartigen Endsehnen von 4 bis 8mm Länge nasal, unterhalb, temporal und oberhalb vom Hornhautrande an die Sklera an. Ihre Ansätze liegen nach Tillaux oft in spiraliger Linie und zwar für den R. internus etwa 5mm, für den R. inferior 6, für den R. externus 7 und für den R. superior 8mm vom Hornhautrande entfernt. Die Ansatzlinien aller Augenmuskelsehnen am PBulbus, verlaufen sehr angenähert parallel den Drehungsachsen der betreffenden Muskeln, die des äußeren und des inneren Rectus sind zwei senkrechte Gerade, die Ansatzlinien des oberen und unteren Rectus verlaufen schräg: das abgerundete temporale Ende derselben liegt weiter rückwärts als das nasale. Der M. obliquus superior entspringt gleichfalls am Foramen opticum, zwischen R. superior und R. externus, und läuft im medialen oberen Winkel der Orbita über dem R. internus, nach vorn, wo sich seine anfänglich stiel- runde Sehne in der faserknorpligen Trochlea nach rückwärts und temporalwärts wendet, um sich dann flacher werdend unter der Insertionsstelle des R. superior im oberen temporalen Quadranten der hinteren Bulbushälfte mit schräg nach vorn temporalwärts ziehender Ansatzlinie zu inserieren. Der M. obliquus inferior entspringt am inneren Ende des unteren Augen- höhlenrandes gerade unter der Tränensackgrube, verläuft unterhalb der orbi- talen Fläche des R. inferior nach rückwärts und aufwärts und krümmt sich zwischen R. inferior und R. externus um.den Bulbus, um am horizontalen Meridian oder etwas höher gegenüber und parallel dem Ansatze des Obliquus superior breit und ohne Sehnenbildung zu inserieren (vgl. zu allem Fig. 34, links). Genauere zahlenmäßige Bestimmungen der Ursprungs- und Insertions- orte der Augenmuskeln, die auch späteren Berechnungen zugrunde gelegt worden sind, rühren von Fick, Ruete und Volkmann her. Es wurden 288 Koordinatenbestimmungen. von ihnen die räumlichen Koordinaten der Mitten der einzelnen Ursprünge und Ansätze für ein im Drehpunkte oder Mittelpunkte des Auges errichtetes rechtwinkliges Koordinatensystem ermittelt, wobei zunächst die „Ausgangs- stellung“ (Blickrichtung horizontal geradeaus, y4’ der Fig. 34) zugrunde gelegt wurde. Die ersten solchen Bestimmungen rühren von Fick!) her. Dieser injizierte den von oben her freipräparierten Augapfel vom Sehnerven aus mit Wachs und fixierte ihn hierauf in der Ausgangsstellung vermittelst durchgestochener Drähte. Dann wurden die Entfernungen der Mitten der Ursprungs- und Ansatzstellen der Muskeln von drei außerhalb des Augapfels gelegenen Punkten, beziehungsweise Ebenen bestimmt und hieraus die Ko- ordinaten für ein rechtwinkliges, im Mittelpunkt des Augapfels errichtetes Koordinatensystem mit einer sagittalen, mit der Blicklinie in der Ausgangs- stellung zusammenfallenden (horizontalen), einer frontalen oder transversalen und einer vertikalen Achse berechnet. Der Halbmesser des annähernd kugel- förmig gedachten Augapfels wurde zu 12mm bestimmt. Ruete?2) nahm seine Messungen in Gemeinschaft mit Breyter und Th. Weber an vier ganz frischen Köpfen männlicher Selbstmörder unter eingehenden Vorsichts- maßregeln gegen etwaige Dislokationen des Augapfels und der Muskeln vor. Von jedem zu messenden Punkte wurden von den drei Beobachtern zusammen 24 Maße abgenommen. Der Halbmesser des als Kugel angenommenen Aug- apfels wird wie bei Fick mit 12mm angesetzt, der Drehpunkt mit dem Mittelpunkte der Kugel zusammenfallend angenommen. Volkmann?) be- stimmte seine Koordinaten aus mindestens 30 Beobachtungen an 30 Schädeln mittels ziemlich einwandfreier Methoden. Der Augapfel wurde nach Mes- sungen von 30 größtenteils männlichen Augen in Übereinstimmung mit Krause; Brücke, Huschke als Kugel von 12,25 mm Halbmesser angenom- men, der Drehpunkt in Übereinstimmung mit Donders 1,29 mm hinter dem Mittelpunkte der Kugel gelegen festgestellt. Es wurden zunächst die Lagen der Fickschen Koordinatenachsen, ausgehend von der sagittalen Achse und dem Drehpunkte, in Beziehung zur Augenhöhle ermittelt und hierauf die Koordinaten des Foramen opticum bestimmt. Aus diesen ergaben sich die Koordinaten der Ursprungspunkte der vier geraden Augenmuskeln durch entsprechende Korrektionen. Die Entfernungen der Muskelansätze vom Rande der Hornhaut und weiter die Sehne der Hornhautkrümmung wurden mit dem Zirkel gemessen und hieraus die Koordinaten der Ansatzpunkte berechnet. In besonderer Weise wurden an eigens hergestellten Präparaten die Koordi- naten für die beiden schiefen Muskeln bestimmt. Als Ursprungskoordinaten für den Obliguus superior wurden zweckmäßigerweise von allen drei Beob- achtern die Koordinaten der Trochlea anstatt des eigentlichen Ursprunges eingesetzt. In der nachstehenden Tabelle sind die von Fick, Ruete und Volk- mann ermittelten, von mir #) revidierten und richtig gestellten Koordinaten der Ursprünge und Ansätze der sechs Augenmuskeln für das im Mittelpunkte oder Drehpunkte (Volkmann) des Augapfels errichtete rechtwinklige Koor- !) Zeitschr. f. rat. Med., N. F., 4, 1854. — °) Ein neues Ophthalmotrop 1857. — ?) Ber. der königl. sächs. Ges. d. Wiss. zu Leipzig, math.-phys. Kl. 21, 1869. — *) Sitzungsber. d. Wiener Akad., math.-naturw. Kl. 109 (3), 1900. Daselbst auch eine Erörterung und Kritik der Abweichungen der einzelnen Zahlenwerte. Koordinaten der Ursprungs- und Ansatzpunkte. 289 dinatensystem zusammengestellt). Die Angaben bedeuten Millimeter. Die &- und Y-Achse sind in Fig. 34 verzeichnet, die z-Achse steht auf der Ebene dieser beiden im Mittelpunkte (Drehpunkt) senkrecht. Die x-Achse ist temporalwärts, die y-Achse nach vorn, die 2-Achse nach oben positiv gerechnet. Koordinaten der Ursprungs- und Ansatzpunkte der Augenmuskeln für die Ausgangsstellung. [= e Ursprünge Ansätze Muskeln | 3 S Fick Ruete |Volkmann| Fick | Ruete | Volkmann 1 x || —16 — 1067 | —16 0 +2 0 Reet. sup. yı—3l — 32 — 31,76 + 79 |+ 5,667 | + 7,63. z2\ +65 | +4 + 3,6 + 91 +10 —- 10,48 x —17 — 10,8 — 16 0 |+ 22 0 Reet. inf. y|ı-—30° | —32 — 31,76 + 79 |+ 5,767| + 8,02 z2| + 2 —_ 4 — 24 — 91 |—10 — 10,24 cl —15 — 54 — 13 + 91 )+10,8 —- 10,08 Rect. ext. y\ı—3 — 32 — 34 + 79.|+5 ‘+ 65 2| + 2 0 + 0,6 0 0 0 zei 8 I-14,#07 | —ı7 _ 9er — 9,65 Rect. int. y| —30 — 32 — 30 + 79 |+ % + 8,84 z| +4 0 + 0,86 0 0 0 z| —196 | —141 — 15,27 + 46 |+ 2 + 29 ©Obl. sup. y\ +109 | +10 + 8,24 — 271-3 — 4,41 z|ı +1238 | +12 + 12,25 +99 +1 —+ 11,05 z| —18° | — 81 — 11,1 +104 I+ 8 + 8,71 Obl. inf. y\|—-30]°%)) + 6 + 11,34 — — 7,18 z\ + 6)9)| —15 — 15,46 0 0 0 Bezüglich der Dimensionen der Augenmuskeln ist leicht der Vorrang des Rectus internus festzustellen, dem sich der Rectus externus nahe an- schließt. Hierauf folgen dem Gewichte noch R. inferior und R. superior, während die Masse der beiden schiefen Muskeln nur etwa halb so groß ist. Die Längen der vier geraden Muskeln sind nahezu gleich, rund 40 mm, die der beiden schiefen kleiner, 32 bis 35 mm. Die größte Dicke haben wieder der äußere und innere Rectus, dann folgt der untere und der obere. Die mittleren Querschnitte der Obliqui betragen nur ungefähr die Hälfte des Querschnittes des R. internus. Genauere Zahlenangaben über die Ausmaße der Augenmuskeln verdanken wir Volkmann’), der die Mittelwerte aus 12 Bestimmungen berechnet hat. Die Muskeln wurden rein präpariert, nach Entfernung der Sehnen gemessen und dann gewogen. Der Querschnitt !) Will man- sie miteinander vergleichen, so muß entsprechend der Lage des Drehpunktes an den y-Werten von Fick und Ruete eine positive Korrektur von 1,29 mm angebracht werden. — *) Offenbar fehlerhaft. — °) 1. c. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 19 2390 Maße der Augenmuskeln. — Hemmende Mechanismen. wurde aus dem Quotienten des Gewichtes in die Länge und das spezifische Gewicht (1,058) gerechnet. Die so erhaltenen Zahlen sind, teilweise etwas rektifiziert !), in der nachstehenden Tabelle zusammengestellt: Maße der Augenmuskeln nach Volkmann. Muskeln Rect. sup. | Rect. inf. | Rect. ext. | Rect. int. | Obl. sup. | Obl. inf. Gewicht, Gramm . . 0,514 0,671 0,715 0,747 0,285 0,288 Länge, Millimeter. . | 41,8 | 400 | 40,6 40,8 32,2 34,5 Querschnitt, Quadrat- millimeter . . . . | 11,62 15,85 16,64 17,30 8,36 7,89 Relativer Querschnitt 1,47 2 2,11 2,19 1,06 1 Die Augenmuskeln sind also lange, schlanke Muskeln von geringer Masse, deren mittlerer Querdurchmesser sich zur Länge etwa wie 1:10 verhält. Sie gehören demnach zu der Kategorie von Muskeln, welche verhältnismäßig geringe Widerstände bei größerer Geschwindigkeit zu überwinden haben. Die Geschwindigkeit der Einstellbewegungen des Bulbus, der „Augenblick“, und die Feinheit derselben sind mit Funktionen der Muskellängen. — Da die Sehnen der Augenmuskeln oder die Muskeln selbst (Obliquus inferior) auf dem Bulbus eine Strecke „aufgewickelt“ sind und über demselben gleiten, wird die „Abwickelungsstrecke“, vom Berührungspunkte der Sehne mit dem Bulbus (Tangentialpunkt) bis zur Insertion (Insertionspunkt, bzw. -linie) bei den Augenbewegungen sowohl in ihrer Länge als auch in ihrer Richtung fortwährendem Wechsel unterliegen. Indessen wird die freie Abrollung durch die Tenonsche Aponeurose und die intrakapsulären Ligamente (Lock- wood?) an den Sehnen, der Wechsel der Zugrichtung durch den breiten Sehnenansatz (Helmholtz) eingeschränkt sein. 4. Hemmende Mechanismen. Für alle Bewegungen und von der Ruhestellung abweichenden Lagen des Augapfels kommt eine Anzahl hemmender Mechanismen zur Wirkung, von deren wechselnden Widerständen die Beanspruchung der einzelnen Muskeln in jedem einzelnen Augenblicke wesentlich abhängt. Als solche müssen für eine rein mechanische Betrachtung in erster Linie die Spannungen und Entspannungen der einzelnen Muskeln in den verschiedenen Augen- stellungen, zweitens die Widerstände einzelner Teile der aponeurotischen Hülle des Bulbus, drittens der etwaige Widerstand des Opticusstieles und viertens die durch die Form des Augapfels bedingten Widerstände ins Auge gefaßt werden.- Von diesen letztgenannten ist schon in Absatz 2 die Rede gewesen. Der Widerstand des Opticusstieles kann nach Wundt) vernach- lässigt werden. Von wesentlichem Einflusse werden aber offenbar die mit der Kontraktion bestimmter Muskeln zunehmenden Spannungen ihrer Antagonisten sein, derart, daß die schon in der Ruhestellung neben der tonischen vorhandene elastische !) Zoth, l.c. — ?) 8. d. folg. S. — °) Arch. f. Ophthalmol. 8 (2), 47, 1862. m nn — es „ ee Me ee u u Au x Minen Hemmungsbänder. — Lage beider Augen zueinander. 291 Spannung jedes einzelnen bei der Dehnung entsprechend seinem Querschnitte und seiner Dehnungskurve mit steigender Abweichung von der Ruhelänge erst langsamer, dann rascher zunimmt. — Endlich kommen als hemmende Mechanismen die bandartigen Verstärkungen des aponeurotischen Trichters der Tenonschen Kapsel an den Insertionsstellen der Muskeln am Bulbus in Betracht, welche nach Tenon als Hemmungsbänder (Adminieula) bezeichnet worden sind und von denen außer dem schon bekannten medialen und late- ralen Hemmungsbande, in denen von Sappey auch glatte Muskelfasern nach- gewiesen worden sind, von Motais!) noch zwei obere und zwei untere und ein besonderes für den Obliquus inferior beschrieben worden sind. In Fig. 34 (S. 284) sind rechts das mediale und laterale Hemmungsband a und a’ an- gedeutet, welche sich, am Orbitalrande entspringend, am äußeren Blatte der Muskelscheiden und am Muskelbauche selbst, dann aber den Muskel schleifen- artig umgreifend (in der Figur gestrichelt) an einer halbmondförmigen Ver- dickung c (intrakapsuläres Ligament, Collarrette nach Motais) der hinteren Hälfte der aponeurotischen Umhüllung des Augapfels ansetzen. Diese nach Tenon „ausnehmend nachgiebigen und elastischen Bänder“ wirken offenbar dem Zuge der Muskeln entgegen und helfen so, entgegen den vier Rectis, den Bulbus nach vorn fixieren. Ihre zunehmende Dehnung bei der Verkürzung der Muskeln bewirkt, daß diese Bewegungen, so rasch sie ablaufen, doch völlig gedämpft erfolgen können, selbst wenn von der Wirkung der Antago- nisten abgesehen wird. So sind die Hemmungsbänder „Regulatoren der Be- wegungen des Augapfels während der ganzen Dauer der Muskelkontraktion“ (Motais). Endlich werden die Hemmungsbänder gemäß ihrer Insertion auch den Bulbus vor Zug und Zerrungen bei kräftigeren Muskelaktionen schützen können. Nach Merkel?) und Motais kann: der Augapfel nach Durch- schneidung eines Hemmungsbandes ausgiebigere Exkursionen mit geringerem Kraftaufwande nach der betreffenden Seite ausführen. Die Dehnungsfähigkeit der Hemmungsbänder beträgt 10 bis 12mm, so viel, wie die Verkürzungs- größe der Augenmuskeln (ein Viertel von deren Ruhelänge bei maximalen Exkursionen des Bulbus von etwa 45 bis 50°) (Motais). Wie leicht ersichtlich, nehmen die Widerstände aller aufgezählten hem- menden Mechanismen mit zunehmenden Abweichungen der Lage des Bulbus von der Ruhestellung zu. Für die unter gewöhnlichen Verhältnissen im allgemeinen geringen Exkursionen um die Ruhelage, die das Auge ausführt, werden also die hemmenden Momente nur von geringer Bedeutung, in vielen Fällen vollständig zu vernachlässigen sein. 5. Lage der beiden Augen zueinander. Für gerade Kopfhaltung und parallele Blickrichtungen horizontal geradeaus wird gewöhnlich angenommen, daß die Mitten beider Pupillen in einer Horizontalen liegen. Dies ist jedoch vielfach nicht der Fall, es kommen Abweichungen in der Höhenlage bis zu einigen Millimetern vor, welche durch die Asymmetrie des knöchernen Schädels, vielleicht auch der Weichteile be- dingt sind.- Noch größere Unterschiede finden sich in bezug auf die Sym- metrieebene des Schädels, und zwar liegt gewöhnlich das linke Auge der !) lc. — ?) Graefe-Saemisch, Handb. d. Augenheilk., 1. Aufl., 1, 59. 19* 292 Augendistanz. — Drehpunkt des Auges. Mitte einige Millimeter näher als das rechte (Hasse !). — Die Augendistanz bei der gegebenen genannten Blickrichtung, von Mitte zu Mitte der Pupillen gemessen, hängt natürlich von der Größe des Schädels und damit bis zu be- endetem Wachstum vom Lebensalter ab. Sie wird am einfachsten mittels des gewöhnlichen Scharnierzirkels oder mit stangenzirkelartigen Vorrichtungen (Ludwig) ermittelt; eine einfache indirekte Methode mit Benutzung der Doppelbilder zweier Zirkelspitzen (oder Fäden) hat Le Conte?) angegeben. E. Pflüger?) bestimmte den Augenabstand für das Alter von 7 bis 14 Jahren zu 54 bis 59mm 15 ” 19 ” ” 59 ” 62 b)] 20 ” 22 ” N 61 ” 63 ” Aus Messungen von Holmgren*) an männlichen Erwachsenen von 17 bis 54 Jahren ergeben sich als Grenzwerte 58 bis 66 mm, als Mittelwert 62,64 mm. Für gewöhnliche Ermittelungen wird die Augendistanz vielfach zu 64 oder 65 mm, für stereoskopische Zwecke oft noch größer angenommen. — Die gegenseitige Lage der beiden Augen zueinander ist endlich, von gröberen pathologischen Störungen, Exophthalmus und Enophthalmus abgesehen, auch noch durch ihre Form bedingt (vgl. Absatz 2). Es kommt hier namentlich die schon erwähnte seitliche Abweichung stark myoper Augen und die ver- schiedene Prominenz der Bulbi bei Anisometropie in Betracht. 6. Drehpunkt des Auges. Die Frage nach dem Drehpunkte des Auges läßt sich so fassen: Schneiden sich alle Achsen, um welche Bewegungen des Bulbus möglich sind, in einem Punkte? Sie läßt sich in die zwei besonderen Fragen auflösen: Hat dieser Punkt eine unveränderliche Lage im Bulbus? Und hat er ebenso eine unver- änderliche Lage in der Augenhöhle? Es ist vorauszusehen, daß beides für das annähernd kugelförmige emmetrope Auge und für mäßige Abweichungen von der Ruhestellung ziemlich genau zutreffen wird. ‚Dagegen werden be- deutendere Abweichungen von der normalen Form des Bulbus 5) nicht nur auf die Lage, sondern auch auf die Beweglichkeit, die allfällige Lageverände- rung des Drehpunktes von Einfluß sein. Daß aber auch der Drehpunkt des emmetropen Auges in der Orbita kein ganz festliegender ist, zeigen die Ver- schiebungen, welchen der Bulbus gelegentlich ausgesetzt ist. So kann nach J. J. Müller 6) die Prominenz des Bulbus bei intendiertem weitem Öffnen der Lidspalte bis über lmm zunehmen; umgekehrt findet, wie Donders’) gezeigt hat, ein Zurücktreten des Augapfels bei Verengerung der Lidspalte statt. Seitliche und Höhenverschiebungen hat Berlin ®) sowohl bei ver- schiedener Weite der Lidspalte (bis etwa 0,15 und 0,6mm), als auch bei den verschiedenen Blickbewegungen des Auges gefunden (bis etwa 0,5 mm). Tuyl°) hat die Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen des Auges vermittelst ») Arch. f. Anat. u. Ph., anat. Abt. 1887, 8. 119. — ?) Sight, 3. Aufl. 1895, 8. 230. — °) Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 13, 451, 1875. — *) Arch. f. Ophthal- mologie 25 (1), 154 u. 157, 1879. — ®) Vgl. Absatz 2. — °) Arch. f. Ophthalmol. 14 (3), 205, 1868. — 7) Ebenda 17 (1), 99, 1871. — °) Ebenda 17 (2), 181, 1871. — ?) Ebenda 52 (2), 233, 1901. D a \ = Aue Methoden zur Bestimmung des Drehpunktes. 293 eines von der cocainisierten Hornhaut aus bewegten Hebelwerkes graphisch registriert und so die sehr kleinen pulsatorischen und respiratorischen Schwankungen in der Prominenz des Bulbus (0,01 bis 0,02 mm), das Vor- treten bei Anstrengung der Bauchpresse (bis 0,3 mm), das Zurücktreten bei Kontraktion des R. externus und internus um 0,15 bis 0,2 mm und das Vor- treten bei Erweiterung der Lidspalte um 0,5 bis 0,8 mm feststellen können. Die Kontraktion des Levator palp. sup. drückt den Bulbus auch etwas nach unten. Durch die Lage des Drehpunktes hinter !) dem geometrischen Mittel- punkte des Auges ist an und für sich schon eine Verschiebung des Augapfels in der Richtung jeder ausgeführten Bewegung bedingt, welche bei maximalen Exkursionen je nach der Länge des Bulbus 1 bis 2mm und darüber be- tragen kann. Methoden zur Bestimmung des Drehpunktes des Auges sind von Junge, Donders und Doijer, J. J. Müller, Volkmann, Woinow, Berlin, Weiß, Mauthner teils ausgearbeitet, teils zu Ermittelungen verwendet worden. Junge?) hat zuerst die Annäherung der Lichtreflexe beider Hornhäute bei Konvergenz zur Bestimmung des Drehpunktes zu verwenden gesucht. Die An- wendung der Methode war jedoch durch die erforderliche Ermittelung der ellipti- schen Hornhautkrümmung erschwert. Ähnliches gilt von einer älteren Methode von Donders®). Bei der Methode, welche Donders und Doijer‘*) später ver- wendet haben, wird zuerst mit dem Ophthalmometer der horizontale Hornhaut- durchmesser 2r und die Lage der Gesichtslinie gegen die Hornhautachse bestimmt. Dann wird ermittelt, um wie viel Grade das Auge nach rechts und links blicken muß, damit der eine und der andere Hornhautrand sich mit einem knapp vor dem Auge gespannten Faden deckt. Dieser Winkel «@ betrug für das emmetrope Auge ungefähr 56°. Es ist dann der Abstand des Drehpunktes vom Hornhautpole = r.cotg + nh, wobei Ah, die Hornhauthöhe, zu 2,6 mm angenommen wurde. Diese Bestimmungen gingen allerdings von der Voraussetzung aus, daß es einen unveränderlichen Dreh- punkt im Auge gäbe. Da sie aber bei horizontaler Blickbewegung ausgeführt wurden, für welche nach J. J. Müller und. Berlin (s. unten) der Drehpunkt in der Tat nahezu unveränderlich ist, sind sie für diese vollkommen verwendbar. Nach derselben Methode hat später auch Mauthner°) eine Reihe von Bestim- mungen an Augen verschiedener Refraktion durchgeführt. J. J. Müller‘) hat zuerst überhaupt die Frage nach der Existenz eines fixen Drehpunktes im Auge aufgeworfen und mittels einer von Fick herrührenden Methode zu lösen gesucht. Vermittelst eines Doppelspiegels, durch welchen das Auge sein eigenes Profilbild und die Koinzidenz des Hornhautscheitels in demselben mit zwei auf den Spiegeln angebrachten Marken beobachten konnte, wurde bei verschiedenen Neigungen des Kopfes der Durchschnittspunkt der Hauptvisierlinie mit der vorderen Hornhautfläche auf eine der (horizontalen) Bahnebene jener parallelen Ebene projiziert; diese Projektion ist der Form der wirklichen Bahn kongruent. Aus dieser Projektion und den Richtungen der Projektionslinien wurde deren Schnittpunkt und seine Entfernung vom Hornhautpole bestimmt. Müller ging dabei von der Voraussetzung aus, daß kreisförmige Bahnen eines Hornhaut- punktes bei den Bewegungen des Augapfels nur bei fixer Lage des Drehpunktes möglich sind. Daß diese Voraussetzung nicht allgemein zutrifft, jedoch den Wert von Müllers Beobachtungen nicht beeinträchtigt, hat Hering gezeigt. !) Vgl. unten, $. 296. — *?) Angeführt von Helmholtz, Physiol. Optik. — ®) 8. in: Die Anomalien der Refraktion und Accommodation 1866, 8. 156. — *) Derde Jaalijksch Verslag betr. het Nederlandsch Gasthuis voor Ooglijders 1862, S. 209 und 1. ce. 8. 156. — °) Vorlesungen über die opt. Fehler des Auges 1876, S. 640. — °) Arch. f. Ophthalmol. 14 (3), 183, 1868. 2394 Methoden zur Bestimmung des Drehpunktes. Volkmann!) benutzte auf Radien eines Kreises hintereinander aufgestellte Nadelpaare zur Drehpunktsbestimmung. In den Mittelpunkt der Radienstrahlung wurde das Auge gebracht und durch Vor- und Rückwärtsbewegung der Punkt gefunden, von dem aus bei Blickbewegungen entlang den Radien alle Nadelpaare zur Deckung kommen. Für zehn Beobachter wurde nun je eine vertikale und eine horizontale Stellung des die Zeichnung tragenden Brettes zum Auge gefunden, in der jene Deckung vollkommen erschien. Volkmann schloß hieraus auf die Unveränderlich- keit der Drehpunktslage für vertikale und horizontale Blickbewegungen. Hering und Berlin”) haben darauf hingewiesen, daß dieser Schluß nicht ganz gerecht- fertigt ist. Eine ähnliche Methode wie Volkmann hat Woinow°) benutzt; dieselbe rührt von Helmholtz her. An die Stelle der Volkmannschen Nadeln traten die Teilstriche zweier Lineale oder schließlich quadratische Teilungen, welche parallel gegeneinander bis zur bestimmten Deckung verschoben wurden. Woinow schloß aus seinen Versuchen auf einen gemeinsamen Drehpunkt für alle Ebenen der Blickbewegung, dessen Lage sowohl in bezug auf den Bulbus, als auch in bezug auf die Orbita unveränderlich sei. Nach Hering kann jedoch aus den Versuchen von Volkmann und Woinow, so weit die Fehlergrenzen es gestatten, nur ge- schlossen werden, daß der Augapfel sich um einen in der ÖOrbita festliegenden Punkt dreht, und daß die Hauptvisierlinie bei allen Stellungen des Auges durch diesen Punkt geht. Inwieweit dieser Drehpunkt auch im Auge festliegt, geht aus den Versuchen nicht hervor. ; Berlin *) vervollkommnete die Volkmannsche Methode durch einige Ver- besserungen der Versuchsanordnung und durch die Einführung je einer zweiten Visierlinie im indirekten Sehen, wodurch die Er- mittelung des Zentrums der Visierlinien ermöglicht wurde. Als entferntere Punkte wurden zwei Flämm- chen F und F’ (Fig. 36), als nähere Objekte zwei feine Nadeln N und N’, oder, für das indirekte Sehen, statt einer Nadel der Rand eines undurch- sichtigen Schirmes verwendet, der von der Seite her bis zur Deckung mit dem Flämmchen vor- geschoben wurde. Visiert das Auge in der Richtung CF nach F, so wird F’ indirekt gesehen und es decken sich N mit F, N’ mit F’, der Kreuzungs- punkt der beiden Visierlinien liegt in ©. Visiert nun zweitens das Auge in der Richtung C’F’ nach F', so wird F’ direkt, F indirekt gesehen. Die beiden Visierlinien sind in der Figur für diese zweite Strahlung gestrichelt (dick und dünn) ein- gezeichnet. Der Kreuzungspunkt der Visierlinien liegt nun in C’. Behufs Deckung müssen jetzt N nach n und N’ nach „’ verschoben werden. Aus den gemessenen und bekannten Größen kann dann leicht die Entfernung CD und somit die Lage des Ermittelung der Lage des Dreh- Prehpunktes D des Auges für die bestimmte Be- punktes des Auges nach Berlin. wegung gerechnet werden. Dadurch, daß Berlin der Kontrolle wegen gelegentlich auch die Längen der Radien C’D für verschiedene Visierlinien bestimmte und gleich CD fand, wurde sein Schluß erst gerechtfertigt, daß sämtliche Lagen der Hauptvisierlinie sich in D als festem Drehpunkte durchkreuzen (Hering). Während die Methoden von J. J. Müller und Berlin unmittelbar die Be- stimmungen des Ortes des Drehpunktes gestatten, mußten Volkmann und Woinow nach erfolgter Feststellung eines nach ihren Ermittelungen fixen Drehpunktes Fig. 36. !) Ber. d. k. sächs. Ges. d. Wiss., math.-phys. Kl., 1869, 8. 28. Vor ihm vielleicht Schljachtin (Woinow, 1. c.). — ?) 1. c. — °?) Arch. f. Ophthalmol. 16 (1), 247, 1870. — *) Arch. f. Ophthalmol. 17 (2), 150, 1871. u a Fl Lage des Drehpunktes. 295 seine Ortsbestimmung erst in besonderer Weise vornehmen. Volkmann beob- achtete zu diesem Zwecke mit Fernrohr und Okularmikrometer die Länge der Sehne ! zwischen zwei verschiedenen Stellungen der Pupillenzentren für einen be- stimmten Drehungswinkel «@ des Auges. Es ist dabei der Abstand des Drehpunktes vom Hornhautpole l —_ +nh, ; 2 sin 2 wobei wieder‘) AR, die Hornhauthöhe, als positive Korrektion dazukommt; Volk- mann setzte sie mit dem Werte von 2,36 mm ein. Woinow ließ den Hornhautpol des untersuchten Auges im Profile mit dem Fadenkreuze eines Fernrohres ein- stellen und brachte bei gewechselter Visierlinie des untersuchten Auges eine Nadel- spitze an die frühere Stelle des Poles. Aus der Entfernung derselben von den an- visierten Strichen der beiden Lineale wurde der Abstand des Drehpunktes ermittelt. Weiß?) benutzte zu derselben Bestimmung eine der Jungeschen ?) nachgebildete Methode, indem er die Lage eines Hornhaut-Spiegelbildchens bei verschiedenen Augenstellungen mit dem Ophthalmometer feststellte; der durch .die ellipsoidische Form der Hornhaut bedingte Fehler liegt bei dieser Methode innerhalb der Fehler- grenzen der Messung. In bezug auf den Ort des Drehpunktes im Auge haben nun die vor- stehend angeführten Bestimmungen zu den in der folgenden Tabelle zusammen- gestellten Ergebnissen geführt. Dabei wird von der Veränderlichkeit dieses Ortes vorläufig abgesehen. Entfernung des Drehpunktes des Auges vom Hornhautpole. Re Mittel- Länge Beobachter fraktion werte |d. Sehachse |, Bemerkungen mm mm 13,61 — Horizontalbewegung. 51 Beob. Volkmann ? 13,37 == Vertikalbewegung. 43 Beob. 13,45 — Gesamt-Mittel. (10 Personen). E 1 14,1 21,83 N : 7 Woinow { = H? 14,0 21,83 Horizontalbewegungen " IR 14,56 er \ Horizontalbewegungen. Mittel EN BARS! \r ER 13,19 — J aus 100 Einzelbestimmungen gli —%D| 1441 _ FERRROR N, r| —3D 14,66 — Horizontalbewegungen Weiß E 12,9 — | Krane f a 13,22 22,10 = Mares E 13,45 23,53 Horizontalbewegungen hei | M 14,52 25,55 H 13,01 23,08 | Mauthner E 13,73 24,98 Horizontalbewegungen M 15,44 27,23 j | Nach Müller und Berlin verschiebt sich beim Erheben des Blickes der Drehpunkt für Horizontalbewegungen nach rückwärts, beim Senken des Blickes nach vorn. Die gefundenen Verschiebungen für Erhebungen und Senkun- gen der Blickebene um etwa 20° gegen die Horizontale waren im Mittel folgende: 2) Vgl. 8.293. — ?) Arch. f. Ophthalmol. 17 (2), 233, 1871. — °?) S. oben 8. 293. 926 Lage des Drehpunktes. — Wirkungen der Augenmuskeln. Erhebung Senkung Insgesamt - san mm mm Müller - J — 06 +02 ° 0,82 r 01 + 0,32 0,42 ee Se — 0,4 + 0,09 0,49 « 94 +0,47 0,81 Außerdem verschob sich der nach Berlin für die horizontale Blickebene 0,541 mm medial von der Hauptvisierlinie liegende Drehpunkt seines linken (schwächer myopen) Auges bei erhobenem Blicke um 0,1lmm medial-, beim Senken des Blickes um 0,26 mm temporalwärts. Für vertikale Bewegungen fand Berlin den Drehpunkt im Mittel 1,56 mm weiter nach vorn liegend als für horizontale. Sowohl bei vertikalen als auch bei schiefen Blickbewegungen finden nach ihm Bewegungen des ganzen Augapfels nach vorn und rückwärts statt. Die gefundenen Verschiebungen des Augapfels werden von Müller wuf die stärkere Öffnung der Lidspalte beim Erheben des Blickes, von Berlin auf Wirkungen des M. levator palpebrae und der beiden Obliqui zurück- geführt. " Fassen wir das über den Drehpunkt des Auges Ermittelte zusammen und berücksichtigen besonders die Kleinheit der Verschiebungen des Dreh- punktes, welche Müller und Berlin trotz ihrer myopen Augen feststellten, so können wir wohl mit Aubert für die große Mehrzahl unserer Ermittelungen einen fixen Drehpunkt des Auges annehmen, welcher nach Donders und Doijer für das emmetrope Auge rund 13,5mm hinter dem Hornhautpole und nach Donders und Volkmann rund 1,3mm hinter dem Mittelpunkte des Augapfels liegt. 7. Wirkungen der Augenmuskeln. Die sechs Augenmuskeln (vgl. Fig. 34, S. 284) bewirken die Drehungen des Augapfels um seinen Drehpunkt. Außerdem wirkt eine Komponente der vier geraden Muskeln nach rückwärts und medialwärts, eine Komponente der beiden schiefen Muskeln nach vorwärts und medialwärts ziehend auf den ganzen Bulbus. Diese beiden Zugrichtungen sind in der Fig. 34 links durch die beiden Pfeile angedeutet. Sie bilden miteinander einen medialwärts offenen Winkel von 100 bis 110%. Es wird somit im ganzen durch die elastisch und tonisch gespannten Muskeln ein Zug nasalwärts auf den Bulbus ausgeübt, welchem durch die Spannung der temporalen Anteile der Tenon- schen Aponeurose, sowie durch den Widerstand der nasal gelegenen Weich- teile das Gleichgewicht gehalten werden muß. Der Zug nach rückwärts, welcher durch die vier Recti ausgeübt wird, wird nur zum Teil durch die entgegengesetzte Komponente der beiden Obliqui kompensiert, und zwar für die Ruhestellung des Auges, wenn man die Querschnittsverhältnisse der beiden Muskelgruppen in Betracht zieht und gleichmäßige Innervation voraussetzt, in bezug auf die Achse yy’ (Fig. 34) etwa im Verhältnis 1:5,5, in bezug auf die Achse der Orbita oder di& Zugrichtung der vier Recti nur im Verhältnis 1:12. Dem verbleibenden Zuge nach rückwärts muß wiederum die Spannung des am Orbitalrande befestigten aponeurotischen Trichters und der Wider- Winkel der Halbachse der Drehung. 297 stand der retrobulbären Gewebe das Gleichgewicht halten. — Je ein Paar der Augenmuskeln wird gewöhnlich als antagonistisch bezeichnet: der äußere und innere, der obere und untere gerade und die beiden schiefen Muskeln, indem ‘ dieselbe Drehungsachse für je ein Paar angenommen wird. Dies ist jedoch in Wirklichkeit nur mit einiger Annäherung der Fall. In Absatz 3 sind die vorliegenden Koordinatenbestimmungen für die angenommenen Ursprungs- und Insertionspunkte der Augenmuskeln angeführt worden. Die gerade Ver- bindungslinie eines Ursprungspunktes mit dem Insertionspunkte ergibt die Zugrichtung, eine durch diese Gerade und den Drehpunkt des Auges gelegte Ebene die Muskelebene, die im Drehpunkte auf der Muskelebene errichtete senkrechte Gerade die Drehungsachse des betreffenden Muskels. Als Halb- achse der Drehung wird endlich. die Drehungsachse auf der Seite des Dreh- punktes bezeichnet, von welcher aus gesehen die Drehung in der Richtung des Uhrzeigers erfolgt. Aus den Koordinaten der Ursprungs- und Insertions- punkte haben nun Fick, Ruete und Volkmann!) die Lage der Drehungs- achsen für die sechs Muskeln berechnet, indem sie die Winkel bestimmten, welche dieselben mit den Achsen des im Drehpunkte errichteten rechtwinkeligen Koordinatensystems bilden. In der nachstehenden Tabelle sind 2) nach Ruete und Volkmann die Winkel verzeichnet, welche die Halbachsen der Drehung für die einzelnen Muskeln in der Ausgangsstellung des Auges (Blickrichtung horizontal geradeaus) mit den positiven Halbachsen des Koordinatensystems (vgl. S. 289) bilden. Winkel der Halbachse der Drehung. Mit der positiven |@-Achse Fe y-Achse (vorn) z-Achse (oben) Volk-: Volk- Volk- für den Ruete : Ruete r Ruete ” mann mann mann R. externus 90° 90° 52’ 90° 88° 40’ 180° 178° 35’ RB: internus. . -.... 90 89° 19’ 90° 90° 45’ 0° 1° 01’ R. superior... . . 161° 30° | 150°05’ | 109°30’ | 113047’ | 90° 72° 55’ BE, mELAFIOT » » 2:0 19° 31.53. El 66° 90° 108° 34’ Woperior. . 1 Bl” 530 46’ 141° 146°42’ | 84°30’ | 100° 45’ WE -IBEBLIOT ges ur 1272 129° 19’ 87° 390 54’ 90° 830 46’ Ruetes Bestimmungen, die er auch seinem Ophthalmotrope (s. unten, Ab- satz 8) zugrundegelegt hat, nähern sich, wie aus der Tabelle hervorgeht, insofern einem Schema, als die Drehungsachsen für den R.externus und internus in der z-Achse zusammenfallen, die der anderen beiden Recti und des Obl. in- ferior in der £y-Ebene liegen und nur die Achse des Obliquus superior um 51/50 gegen diese Ebene geneigt erscheint. Hingegen fällt nach Volkmanns Be- stimmungen keine einzige der Achsen genau in eine der Koordinatenebenen und keine mit der des „Antagonisten“ genau zusammen. Am geringsten sind die Abweichungen für den R. externus und internus, für welche mit großer Annäherung die Ruetesche Drehungsachse substituiert werden kann. %) 1. c. — ?) Rektifiziert und übereinstimmend bezeichnet. 2398 Breiter Sehnenansatz. — Exkursionsfähigkeit des Auges. Schon viel willkürlicher ist nach Volkmanns Zahlen die Annahme einer gemeinsamen Drehungsachse für den oberen und unteren geraden Muskel (RR', Fig. 34), welche mit der y-Achse einen Winkel & (Fig. 34, rechts) von ungefähr 66 bis 70° bildete und in der &y-Ebene läge. Kaum zulässig er- scheint auf Grund der Volkmannschen Ermittelungen die Vereinigung der Drehungsachsen der beiden Obliqui und ihre Verlegung in die xy-Ebene. Eine solche mittlere Achse würde mit der y-Achse einen Winkel ß (Fig. 34, rechts) von etwa 37° einschließen, jedoch um etwa 8° gegen die &y-Ebene geneigt von vorn oben temporal- nach hinten unten nasalwärts verlaufen. Wären Ursprungs- und Insertionsorte der Muskeln in der Tat punkt- förmig, wie bei den Berechnungen der Drehungsachsen für die Ausgangs- stellung des Auges der Einfachheit halber vorausgesetzt worden ist, so müßten sich die Lagen der Achsen in der Orbita bei den verschiedenen Bewegungen des Bulbus aus der Ausgangsstellung vielfach verändern. Durch den breiten, fächerförmigen Ansatz der Sehnen-am Augapfel wird jedoch diese Veränder- lichkeit der Drehungsachsen einigermaßen eingeschränkt, indem nach Helm- holtz bei Drehungen des Bulbus, wie man sich am Präparate leicht über- zeugen kann, vorwiegend die Sehnenanteile an der der Drehung entgegen- gesetzten Seite des breiten Ansatzes beansprucht werden und so die Richtung des Muskelzuges, somit auch die darauf senkrechte Drehungsachse weniger verlagert wird, als es entsprechend der Annahme punktförmiger Ansätze geschähe. Für die Exkursionsfähigkeit des Auges unter der Wirkung der einzelnen Muskeln kommt das theoretische Verkürzungsmaximum dieser in Betracht, welches durch die „Abrollungsstrecke“ der am Bulbus ein Stück weit auf- gewickelten !) Muskeln und deren Sehnen gegeben erscheint. Bestimmungen der Längen der auf dem Bulbus aufgewickelten Strecken der einzelnen Muskeln, vom Insertionspunkte bis zum Tangentialpunkte gerechnet, sowie der Maxima der durch jeden einzelnen ermöglichten Drehungen hat Volkmann?) gelegentlich seiner Messungen an Leichenaugen ausgeführt, indem er dabei den Augapfel kugelförmig und den Drehpunkt im Mittelpunkte der Kugel annahm. Das Verhältnis der Abrollungsstrecke ! zur Muskellänge ZL (mit Ausschluß der Sehne) gibt dann die theoretische Verkürzungsgröße des Muskels. Der zum Bogen von der Länge ! gehörige Winkel @ ergibt das Maß der durch die alleinige Wirkung des betreffenden Muskels theoretisch möglich erscheinenden Augenbewegung in Winkelgraden. Volkmanns Werte sind in der nachstehenden Tabelle zusammengestellt; die Muskellängen L sind der Tabelle S. 290 entnommen. Die Augenmuskeln könnten sich also nach den von Volkmann ge- fundenen Zahlen maximal um !/, bis !/, (R. internus und O. superior) bis fast um !/, ihrer Länge (O. inferior) verkürzen, im Mittel kann die mögliche Ver- kürzung danach zu !/, der Länge angenommen werden. Die kleinsten Abrollungs- strecken haben naturgemäß ®) der Rectus internus und der Obliquus superior, die größte hat auffällig der Obliquus inferior. Vergleicht man die Werte der hieraus abgeleiteten Winkel @ mit den vom normalen Auge in Wirklich- keit erreichbaren Exkursionen nach oben, unten, nasal und temporal, @’ im 1) vgl. 8. 290. — ®) 1. c. — °) Vgl. Fig. 34. Abrollungsstrecken und Exkursionen. — Terminologie. 299 letzten Stabe der nachstehenden Tabelle (den entsprechenden geraden Muskeln beigesetzt), so ergibt sich, daß diese letzteren durchschnittlich, zum Teil sogar (R. internus) beträchtlich größer sind, als jene Berechnung ergeben hat. Man kann dies zum Teil darauf zurückführen, daß die Ausgangsstellung, auf die die Bewegungen des lebenden Auges bezogen werden, nicht mit der Ruhestellung des Auges in der Leiche zusammenfällt, und daß in Wirklichkeit der Drehpunkt des Auges hinter den Mittelpunkt zu liegen kommt!), wodurch . die Werte für @ wachsen müssen. Weiter macht Maddox) auf die „intra- kapsulären Ligamente“ 3) aufmerksam, welche die Sehnen mit dem Augapfel in Berührung halten und ihre freie Abrollung behindern. Endlich darf nicht vergessen werden, daß bei etwas größeren Abweichungen des Augapfels von der Ausgangsstellung auch noch Muskeln im Sinne der ausgeführten Be- wegung wirksam werden, welche in der Ausgangsstellung in bezug auf diese Bewegung unwirksam oder sogar entgegengesetzt wirksam sein können ?). Abrollungsstrecken und Exkursionen des Augapfels. Muskel - a ı/L n Y mm mm : etwa Bu aaBerlor ne, 8,92 ° 41,8 0,21 41° 48’ 45° ne 11, LE, FRECHE 9,83 40,0 0,24 41° 43’ 45 a 1 BR RP eREER 13,25 40,6 0,32 60° 43’ 50° REN SER EA ARE 6,33 40,8 0,15 29%. 31’ 50° BE BUDBrIOE a ee 5;28 32,2 0,16 26° 55’ — 2 EEE ST ERRAE AR FERERR 16,74 34,5 0,48 78° 18’ — Für die weitere Betrachtung der Wirkungsweise der Augenmuskeln soll folgende Terminologie 5) eingehalten werden: Blickpunkt: der beim Blicken (Sehen mit bewegtem Auge) fixierte Punkt. Blieklinie (Bliekrichtung): die gerade Verbindungslinie des Blick- punktes mit dem Drehpunkte des Auges. Da dieser letztere in der Augenachse, also nasal von der „Gesichtslinie“ liegt, die dem ungebrochenen Richtungs- strahle entspricht, so muß die Blicklinie etwas nasal von der Gesichtslinie liegend mit dieser unter sehr spitzem Winkel gegen den Blickpunkt konver- gieren. In den meisten Fällen wird diese geringe Abweichung völlig zu vernachlässigen sein. Blickebene: eine durch die Blicklinien der beiden Augen gelegte Ebene. Ihr Durchschnitt mit der Medianebene des Kopfes wird als Median- linie der Blickebene bezeichnet. ; Blickfeld: die Fläche, welche die Blicklinie bei unbewegtem Kopfe durchlaufen kann. Ausgangsstellung: die Stellung der beiden Augen bei aufrechter gerader Kopfhaltung und horizontalen, parallelen, sagittal gerichteten Blick- linien (Blickpunkt geradeaus vorn in unendlicher Entfernung). Y) Vgl. 8.296. — ?) 1. ec. 8. 40. — °) Vgl. 8. 291. — *) Siehe unten $. 301. — ®) Vorwiegend nach Helmholtz. 300 Terminologie der Augenbewegungen. Erhebung des Blickes (der Blicklinie, Blickebene): Bewegungen des Hornhautpoles, bzw. beider, stirnwärts (aufwärts). Erhebungswinkel: der Winkel der neuen Blickebene mit derjenigen der Anfangsstellung. Senkung des Blickes (der Blicklinie, Blickebene), auch negative Er- hebung: Bewegungen des Hornhautpoles, bzw. beider, kinnwärts (abwärts). Negativer Erhebungswinkel: der Winkel der neuen Blickebene mit der- ‘ jenigen der Anfangsstellung. Seitenwendungen des Blickes de Blicklinie): Bewegungen des Hornhautpoles (der Blicklinie) in einer Blickebene nasalwärts (medial) oder temporalwärts (lateral. Die erstere, mediale Seitenwendung wird auch als positiv oder als Adduktion, die letztere, laterale Seitenwendung auch als negativ oder Abduktion bezeichnet. Seitenwendungswinkel: der Winkel der Blicklinie mit der Medianlmie der betreffenden Blickebene (s. oben). Während nach der Helmholtzschen Terminologie der Seitenwendungs- und Erhebungswinkel, durch welche die Richtung der Blicklinie bestimmt ist, unabhängig von der Anfangslage der Blicklinie oder leicht auf jede neue solche zurückzuführen sind, ist dies nach der von Fick eingeführten Be- zeichnungsweise, der sich auch Meißner und Wundt angeschlossen haben, nicht der Fall. Fick läßt die Blicklinie sich zuerst in der horizontalen Blickebene um einen bestimmten Winkel drehen und bezeichnet diesen als „Longitudo“; hierauf wird die Blicklinie zur neuen Stellung erhoben (gesenkt), und dieser Winkel wird als „Latitudo“ bezeichnet!). Beide Größen sind hier wesentlich von der Anfangslage der Blickebene abhängig. Raddrehungen im allgemeinen: Drehungen des Bulbus um die sagittale Achse. Es sind jedoch ersichtlich zwei solche sagittale Achsen zu unterscheiden, die nur in der Ausgangsstellung zusammenfallen: die eine, in der Orbita festliegende, die y- Achse des im Mittelpunkte des Bulbus (oder im Drehpunkte, Volkmann) errichteten rechtwinkligen (Fiekschen) Koordi- natensystems, und die andere, mit dem Bulbus bewegliche, mit der jeweiligen Blicklinie zusammenfallende Achse. Die letztere, bewegliche, meint Helm- holtz, wenn er definiert: „Drehungen des Augapfels um die Blicklinie als Achse pflegt man Raddrehungen zu nennen, weil die Iris sich dabei dreht wie ein Rad“. — Solche Drehungen um die Blicklinie werden jedoch, um Verwirrungen zu vermeiden, wie sie namentlich aus den Begriffsbestimmungen des Raddrehungs-Winkels hervorgegangen sind ?), zweckmäßiger nach Hering?) als Rollungen bezeichnet. Rollungswinkel wäre dann der Winkel, um den sich der ursprünglich, in der Ausgangsstellung, vertikale Hornhautmeridian mit seinem oberen Ende temporalwärts oder nasalwärts geneigt hat; er wird im ersten Falle positiv, im zweiten negativ gerechnet. Bei meinen Berechnungen der relativen Drehmomente der Augenmuskeln habe ich Drehungen um die y-Achse des in der Orbita festliegenden Koordi- natensystems allgemein als Raddrehungen bezeichnet ®). Fassen wir nun die Wirkungsweise der einzelnen Muskeln in bezug auf die Drehungen des Bulbus allgemein ins Auge, so ergibt die anatomische ‘) In Analogie der Längen- und Breitengradteilung einer Kugel. — ?) Vgl. S. 309. — °?) Lehre vom binokularen Sehen, 1868, 8. 72. — *) Die weitere Termino- logie der Augenbewegungen siehe im 2. Abschnitte dieses Kapitels. Haupt- und Nebenleistungen. — Relative Drehmomente. 301 Betrachtung zunächst für die Ausgangsstellung !) folgendes: Bei jedem der sechs Muskeln können wir in bezug auf die drei Hauptbewegungen des Blickes, Erhebung, Seitenwendung und Rollung, eine Hauptleistung unter- scheiden, welche die ausgiebigste Einwirkung im Sinne einer dieser drei Be- wegungen darstellt, und Nebenleistungen in bezug auf die beiden anderen Bewegungsrichtungen. Am einfachsten können diese Haupt- und Neben- leistungen durch Zerlegung der im Insertionspunkte jedes Muskels in dessen Muskelebene ?) tangential angreifenden Kraft in drei aufeinander senkrechte _ und den drei Achsen des im Drehpunkte errichteten rechtwinkligen -Koordi- natensystems parallele Komponenten dargestellt gedacht werden. So ergibt die bloße Anschauung, daß der äußere und innere gerade Muskel in der Aus- gangsstellung als Gesamtleistung reine Seitenwendungen hervorbringen werden, indem sie den Bulbus um die z2-Achse des in der Orbita festliegen- den Fiekschen Koordinatensystems drehen. Der obere und untere gerade . Muskel werden positive und negative Erhebung des Blickes als Haupt- leistung, dabei aber wegen der schiefen Lage ihrer Drehungsachsen (RR', Fig. 34) auch negative und positive Rollung und in geringem Grade nega- tive oder positive Seitenwendung als Nebenleistung aufweisen. _ Die beiden schiefen Muskeln endlich müssen entsprechend der geneigten Lage ihrer Drehungsachsen (00', Fig. 343) als Hauptleistung negative und positive Rollung, als ziemlich beträchtliche Nebenleistung negative und positive Erhebung, in viel geringerem Maße positive oder negative Seitenwendung darbieten. — Wesentliche Veränderungen können aber in dem Verhältnisse dieser Leistungen infolge der Verlagerungen der Insertionspunkte und der Drehungsachsen bei den Bewegungen des Auges eintreten. So ist ohne weiteres klar, daß der äußere und der innere gerade Muskel bei erhobenem Blicke auch im Sinne der Hebung, bei gesenktem Blicke im Sinne der Senkung wirksam werden, ebenso die Nebenleistungen des oberen und unteren Rectus bei Seitenwendungen im Sinne der ausgeführten Wen- dungen wesentlich gesteigert werden *) und Ähnliches auch für die beiden Obliqui der Fall sein muß. Setzt man die Zugkräfte der Muskeln in der ler pro- portional ihren von Volkmann) bestimmten mittleren Querschnitten und zerlegt diese Kräfte, wie oben angegeben, in je drei aufeinander senkrechte Komponenten, welche den Bulbus um die drei Achsen des Fickschen Ko- ordinatensystems drehen, so können die Verhältniszahlen der Drehmomente in bezug auf diese drei Achsen oder in bezug auf Erhebung, Seitenwendung und Rollung (Raddrehung) bestimmt werden. Solche Bestimmungen der relativen Drehmomente der Augenmuskeln habe ich auf Grund der Ruete- schen und der Volkmannschen Koordinaten ®) für die Ausgangsstellung und der Ruete-Wundtschen Koordinaten 7) für die-hauptsächlichsten sekundären Blickrichtungen ausgeführt ®). In der nachstehenden Tabelle sind die für die Ausgangsstellung ermittelten Werte zusammengestellt. Y) Vgl. Fig. 34, S. 284. — ?) Siehe 8. 297. — ?) Vgl. auch 8. 297. — *) Vgl. 8. 299. — °) Siehe 8. 290. — °) Siehe $. 289. — 7’) Wundt, Arch. f. Ophthalmol. $, 2. Abteil., 1f., 1862. — °) Sitzungsber. der Wiener Akad., math.-naturw. Klasse, 109, 3. Abteil., 1900. — °) R = Raddrehung, $S = Seitenwendung, E = Eır- hebung. 302 Relative Drehmomente der Augenmuskeln. Relative Drehmomente der Augenmuskeln für die Ausgangsstellung. nach Ruete nach Volkmann Muskeln R®) s E R s E Rectus externus . . . . 0 + 25,08 0 — 0,6 | +25,25 |+ 0,39 Rectus internus . ... 0 — 25,35 0 + 0,9| — 28,71 + 0,35 Rectus superior » » » » | —442 | + 0,78 |+ 16,44 |— 7,65 | — 5,57 |+ 16,51 Reetus inferior.» .. +85 | + 121 |— 22,55|+ 10,55 | — 8,26 |— 22,33 Obliquus superior... 1—856 | + 0,76 1— 8,866|— 1025| + 2,2 |— 7,22 Obliquus inferior . ».. , +7,92 | + 018 |+ 89114 8862| — 1,2 + 7,11 Gegen solche Ermittelungen kann nun freilich leicht der Einwand der Bei- läufigkeit gemacht werden, sobald ihre Ergebnisse verallgemeinert werden, schon wegen der individuellen Schwankungen im Verlaufe der einzelnen Muskeln, die sich bei den Koordinatenbestimmungen auch eines und desselben Beobachters er- geben haben, dann wegen der wahrscheinlich ebenso individuellen Schwankungen unterliegenden Querschnittsverhältnisse und wohl auch wegen des breiten, nicht punktförmigen Ansatzes der Sehnen am Bulbus'). Diesem berechtigten Einwande muß insofern Rechnung getragen werden, als die obigen Verhältniszahlen allgemein nur als ganz runde Werte verwendet werden dürfen. Tut man dies aber, so er- geben sich immerhin bemerkenswerte Daten für die Verhältnisse der Drehmomente der einzelnen Muskeln zueinander. Nachstehend sind solche auf Grund der obigen Tabelle gewonnene runde Verhältniszahlen zusammengestellt, und zwar die auf Grund der Rueteschen Koordinatenbestimmungen gewonnenen offen, die Volk- mannschen, insofern sie stärker abweichen, daneben in Klammern angeführt. Runde Werte der relativen Drehmomente für die Ausgangsstellung. R Ss E Beaetusoxternus . sn... — +6 — Rectus internus.. : „2... —_ — 6 (7) - Bertus auperler.ns te — 1 (2) — (—1) +4 Beotus inferior +. “2. „ru. + 1,5 (2,5) — (— 2) —5 Vblguls Superior. s. era 28 — 2 (2,5) — (+ 0,5) —2 Obliquus inferior... Hi... 5 | +2 —_ +2 Es ergibt sich hieraus, daß die ungefähr gleich großen Seitenwendungs- momente des R. externus und internus ungefähr um !/, größer sind als die Drehmomente des R. superior und inferior für ihre Hauptleistung (Erhebung); daß das Drehmoment dieser beiden für die Raddrehung etwa 1/, des Dreh- momentes für die Hauptleistung ausmacht und nur wenig kleiner ist als das Raddrehungsmoment der Obliqui. Raddrehungs- und Erhebungsmoment dieser sind ungefähr gleich groß. Die Momente für die Hauptleistungen der drei Muskelpaare: Obliqui, R. sup. und inf., R. ext. und int., verhalten sich un- gefähr wie 1:2:3. Nach Volkmann fällt dem R. sup. und inf. auch schon in der Ausgangsstellung ein in Betracht kommendes Seitenwendungsmoment zu. 1) Vgl. S. 298. nu ee Summen der Drehmomente in verschiedenen Blickrichtungen. 303 Ebenso wie für die Ausgangsstellung können die relativen Drehmomente der Augenmuskeln für die acht hauptsächlichsten sekundären Stellungen des Auges: gerade aufwärts, abwärts, lateral, medial; schief aufwärts medial und lateral; schief abwärts medial und lateral auf Grund der Koordinatenbestimmungen be- rechnet werden'), welche Wundt°) für Erhebungs- und Seitenwendungswinkel von je 20°, die Rueteschen Koordinaten der Ausgangsstellung zu Grunde legend, aus- geführt hat. Besondere Schlüsse gestatten die daraus zu gewinnenden Summen der Drehmomente sämtlicher Muskeln &s, 35 und Zr, bezogen auf die drei Achsen des Fickschen Koordinatensystems, bzw. auf die drei Hauptbewegungsrichtungen: Seitenwendung, Erhebung und Raddrehung, wie sie in der nachstehenden Tabelle gegeben sind. Summen der Drehmomente, 1. Seitenwendung, 2s in den neun Blickrichtungen. Aufwärts 0 11,6 + 5,15 + 16,81 u S SHSTERER] 5 a — 4 14286) +12, 8 Bo 11,3 + 1,51 + 12,45 ei Abwärts 2. Erhebung, 22in den neun Blickrichtungen. _ Aufwärts 2..—.79 — 0,47 — 26 a E ag 3 3.89 Bet — 38 8 R 2 BRE 18.49 . — 921 — 8,96 - ; Abwärts 3. Raddrehung, ZRin den neun Blickrichtungen. Aufwärts Er +9 +40 | — 3,34 5 E + 0,56 | + 1,44 | — 6,57 5 + 5,36 — 2,73 +01 er Abwärts Die Betrachtung dieser Zahlen führt zu folgenden Schlüssen: In der Ausgangsstellung ist die Summe der Drehmomente nicht gleich Null, sondern es verbleibt ein negatives Erhebungs- und ein positives Seitenwendungs- und Raddrehungsmoment. Bei Seitenwendungen des Blickes wachsen die Dreh- momente im Sinne der ausgeführten Bewegungen, ähnlich auch bei der Fr- hebung des Blickes. Die Blickrichtung medial und abwärts erscheint durch das große Gesamtmoment in diesen Richtungen besonders begünstigt. Das Anwachsen der Drehmomente, welches bei Seitenwendungen um 20° bis zum Vierfachen des Drehmomentes der Ausgangsstellung und darüber gehen kann, ist weniger auf Zu- und Abnahme der schon in der Ausgangsstellung vor- handenen Momente der einzelnen Muskeln, als vielmehr auf das Hinzukommen neuer Momente, namentlich bei Seitenwendungen vom oberen und unteren Rectus, bei Erhebungen von den beiden seitlichen Rectis zurückzuführen *). !) Zoth, 1.c. — ?) 1. ec. — °) Die Ausgangsstellung ist durch die Einrahmung hervorgehoben. — *) Vgl. auch 8. 301. 304 Folgerungen. — Schemata, Ophthalmotrope. Ohne vorläufige Rücksichtnahme auf die physiologischen Gesetze der Augenbewegungen geht aus der Untersuchung der Wirkungsweise der einzelnen Augenmuskeln leicht hervor, daß von den drei Hauptbewegungen des Auges, als welche wir jene um die drei Achsen des Fickschen Koordinatensystems aus- geführten: Seitenwendung, Erhebung und Raddrehung angenommen haben, nur Seitenwendungen von der Ausgangsstellung aus unter der positiven Ein- wirkung eines einzelnen Muskels denkbar wären, da die Drehungsachse der beiden seitlichen Recti nahezu mit der z-Achse zusammenfällt. Hingegen wären reine Erhebungen und ebenso reine Raddrehungen nur durch entsprechend kombinierte Wirkung mindestens zweier Muskeln möglich, da keine der Drehungsachse der übrigen zwei Paare auch nur annähernd mit einer der ent- sprechenden Achsen (xx, yy') zusammenfällt. Ziemlich reine Hebung könnte durch Zusammenwirken des R. superior und 0. inferior, Senkung durch R. in- ferior und O. superior erzielt werden; annähernd reine Raddrehungen würden sich aus dem Zusammenwirken der gleich benannten Recti und Obliqui ergeben. Wenn es erlaubt ist, das oben aus den Ruete-Wundtschen Koordinaten abgeleitete Ergebnis zu verallgemeinern, daß für die Ausgangsstellung ein negatives Erhebungs- und ein positives Seitenwendungs- und Raddrehungs- moment übrig bleibt, so müßte gefolgert werden, daß schon diese Ausgangs- stellung nicht ohne positive Muskelaktion zustande kommen kann, und daß die Ruhestellung, Kadaverstellung oder Stellung des Auges bei Paralyse sämt- licher Augenmuskeln nicht mit der Ausgangsstellung!) zusammenfällt. In der Tat wird eine leichte Divergenz der Blicklinien für die Ruhestellung von mehreren Seiten angenommen); wie es sich mit der Erhebung und Rad- drehung verhält, ist noch nicht genau untersucht worden. 8. Schemata, Ophthalmotrope. Zur übersichtlichen Darstellung der Wirkungen der Augenmuskeln ist eine Reihe von Diagrammen, schematischen Darstellungen und mechanischen Fig. 37. Vorrichtungen angegeben worden, R.s. welche letzteren unter dem Namen der Ophthalmotrope bekannt sind. Von den Diagrammen ist das am meisten verbreitete das von He- ring angegebene, welches an- nähernd die Bahnen darstellt, Ri. welche die Blicklinie (des linken Auges) auf einer frontalen Ebene bei isolierter Tätigkeit jedes ein- zelnen der sechs Muskeln be- schreiben würde. Es ist in Fig. 37 auf die halbe Größe des Originals R.inf. reduziert dargestellt, die Ebene Diagramm der Bahnen der Blicklinie bei Wirkung der . einzelnen Augenmuskeln, nach Hering. ist 2cm vor dem Drehpunkte ge- 40 50 !) Vgl. 8. 299. — °) Vgl. Graefe, Symptomenlehre der Augenmuskel- lähmungen 1867, 8. 169. Reddingius, Das sensumotorische Sehwerkzeug 1898, 8.12. Zoth, Le. 8.-%. Schemata der Ba ehe el 305 legen gedacht. Am Ende jeder Blickbahn ist die scheinbare Lage des Nach- bildes eines in der Ausgangsstellung (Primärstellung 1) fixierten horizontalen Streifens angegeben. Die Zahlen bedeuten Winkelgrade. Schnabel und nach ihm Winternitz?) und in etwas abgeänderter Form ich) haben die Wirkungen der einzelnen Muskeln auf die Bewegungen des Hornhautpoles in einem Diagramm nach Art der Fig. 38 dargestellt. Fig. 38. Blickrichtung. Geradeaus Lateral abwärts” rat > tif: REN mau 23 Se TOLL OST EDE x N E r.s.|loi. Sr re. EL Eon, 08. r.if. a b. \ \ Rechtes Auge des Beschauers. Diagramme der Drehmomente der Augenmuskeln für die Blickrichtungen geradeaus und lateral abwärts, nach Zoth. Die Längen der Pfeile in unserer Figur entsprechen der Größe der „relativen Drehmomente“ (auf Grund der Rueteschen Koordinaten) in bezug auf die drei Achsen des Fickschen Koordinatensystems. Der Kreis stellt die Hornhaut des rechten Auges des Beschauers dar, die Pfeile am oberen Ende des ver- tikalen Meridians geben die Raddrehungsmomente an. Je ein solches Diagramm kann auf Grund der vorliegenden ermittelten relativen Drehmomente für jede der neun Hauptblickrichtungen entworfen werden. So ist z. B. in Fig. 38b das Diagramm für die Blickrichtung lateral abwärts dargestellt. Es erhellt aus demselben besonders auf den ersten Blick die Vergrößerung des Gesamtseitenwendungsmomentes durch die sekundären Seitenwendungsmomente des R. superior, R. inferior und O. inferior. — Bei- läufig kann die Zu- oder Abnahme der einzelnen Drehmomente für die sekun- dären Blickrichtungen durch eingezeichnete kleine Pfeile oder Pfeilspitzen auch schon an dem Diagramm für die Ausgangsstellung angedeutet werden. Elschnigs*) einfaches, für die praktische Verwendung sehr geeignetes, leicht zu behaltendes Diagramm ist in Fig. 39 (a.f. S.) dargestellt. v stellt den ) Vgl. S. 308. — ?) Wiener klin. Wochenschr. 1889, Nr. 11. — °) l. ec. und „Die Wirkungen der Augenmuskeln usw.“ Wien, Deuticke, 1897. — *) In Enzy- klopädie der Augenheilk., Artikel: Augenmuskellähmungen, und Wiener klin. Wochenschr. 1902, Nr. 35. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 20 306 Ophthalmotrope. vertikalen Hornhautmeridian dar, die Neigung der Pfeile gegen die Vertikale deutet die Raddrehungskomponente der betreffenden Muskeln an. Der Ansatz der Fig. 39 geneigten Pfeiletem- Rs hp poral oder nasal gibt Rechtes Auge Linkes Auge zugleich die Stellung 4 des Hornhautpoles 2 N Y | N . für den größten Er- temporal KU: Ti. - nasal Eu ze temporal hebungseffekt des Nu „e x | PN betreffenden Mus- kels an; damit fällt v . jeweilig der kleinste Einfaches Diagramm der Augenmuskelwirkungen von Elschnig. Raddrehungseffekt zusammen. Als Ophthalmotrope werden vergrößerte, bewegliche körperliche Modelle eines oder beider Augäpfel bezeichnet, an denen die Zugrichtungen der Muskeln durch Schnüre dargestellt sind, welche entsprechend den Muskel- ursprüngen über Rollen laufend mit kleinen Gewichtchen belastet (Ruete, Knapp) oder durch Federn gespannt (Wundt, Anderson Stuart) sind. Gibt man dem Bulbus irgend eine von der Ausgangsstellung verschiedene Lage, so -sinken die Gewichtchen entsprechend den dabei: beanspruchten Fig. 40. Muskeln herab, während die den gedehnten Antagonisten ent- sprechenden emporsteigen. Aus der Größe der Verschiebungen der einzelnen Gewichte, die an Skalen abgelesen werden kann, läßt sich leicht ein Bild von der Beanspruchung und den Widerständen der einzelnen Mus- keln für jede Augenstellung er- halten. Das erste Ophthalmotrop hat Ruete gebaut und später verbessert!. Es ist in einer Modifikation von Ludwig in Fig. 40 abgebildet. Vielfach ist es in der vereinfachten Form in Gebrauch, die ihm Knapp?) gegeben hat. | Bei Wundts3) Ophthalmo- a pet De trop sind die Schnüre mit Spiral- : federn von annähernder rela- tiver Stärke und Länge der Augenmuskeln verbunden. Er benutzte dieses Modell hauptsächlich zur Erläuterung seines „Prinzipes der geringsten An- strengung“ bei den Augenbewegungen?). Eine Reihe weiterer Ophthalmotrope ‘) Das Ophthalmotrop, Göttingen 1846 und: Ein neues ÖOphthalmotrop, Leipzig 1857. — ?) Beschrieben in Helmholtz physiol. Optik. — °) Arch. £. Ophthalmol. 8 (1862). — *) Vgl. Abschn. B, 7. Schnelligkeit der Augenbewegungen. 307 ist‘ von Landolt)), Andersgn Stuart?), dann von Donders?), Browning*#), Aubert5), Bowditch®) u. a. angegeben worden. B. Physiologie der Augenbewegungen. 1. Allgemeines, Terminologie. Von den nach den Ableitungen des vorigen Abschnittes möglichen Augen- bewegungen wird unter dem Einflusse bestimmter koordinierter Innervationen nur eine verhältnismäßig kleine Zahl und unter gewöhnlichen Verhältnissen nur in mäßigem Umfange, dazu noch beschränkt durch die Assoziation der Bewegungen beider Augen, in Wirklichkeit ausgeführt. Die solcherart unter normalen Bedingungen zustande kommenden Augenbewegungen zeichnen sich durch Schnelligkeit und Genauigkeit aus. Die Schnelligkeit der Augenbewegungen, des „Augenblickes“, ist zwar durchaus nicht bedeutend, etwa im Vergleiche zur Schnelligkeit der Finger- oder Armbewegungen. Geschwindigkeitsbestimmungen haben Lamansky’), Brückner) und Guillery?) ausgeführt. Die beiden ersten benutzten die Zahl, bzw. den Abstand der Nachbilder einer intermittierenden Lichtquelle bei bewegtem Auge, Guillery beobachtete die Verschiebung des oberen Endes einer Linie gegen das untere während der Zeit, in welcher die Linie durch einen Episkotisterspalt erleuchtet war und das Auge einen bestimmten Weg zurücklegte. Die Geschwindigkeit der Bewegungen stellte sich in diesen Versuchen in verschiedenen Richtungen und auch für die gleiche Richtung bei beiden Augen etwas verschieden heraus. So wurden als (maximale) Ge- schwindigkeiten für die Bewegungen eines Punktes der Netzhaut pro Sekunde gefunden: für das rechte Auge Drehung nach: rund mm BEER NL 2 he N Te 2 GER Z 75,4 EEE RT N Te 83,1 oben a: Pa ar BEE u RR TER OR 79,2 RB 2 a nn an a an 72 für das linke Auge Drehung nach 1 N a RR nr 68 a a a DT ER 88,2 Am meisten bevorzugt erscheint demnach die Adduktion; die Aufwärts- bewegung ist schneller als die Abwärtsbewegung, für jede Bewegungsrichtung nimmt die Geschwindigkeit der Bewegung gegen die Endstellung bedeutend ab. Die Anfangsgeschwindigkeit ist etwas geringer als die Geschwindigkeit !) Transact. of the Ophth. Soc. 12 (1894). Auch der Landoltsche Gummiball (Archives d’ Ophthalmol., 1893) ist ein sehr zweckmäßiger, leicht herstellbarer Behelf. — ?) Beschrieben in Maddox, Motilitätsstörungen des Auges (vgl. 8. 284), 8. 47. — ®) Phänophthalmotrop, Arch. f. Ophthalmol. 16 (1870). — *) Arch. f. Augenheil- kunde 11 (1881). — °) Zeitsch. f. Instrkde. 7 (1887). — °) Journ. of the Boston Soc. of med. sc. 2 (1898). — 7) Pflügers Arch. 2, 418, 1869. — *) Ebenda 90, 73, 1902. — °) Ebenda 73, 87, 1898. 20* 308 Genauigkeit — Muskelgeräusche. — Terminologie. in der Mitte der Bahn. Nach Brückner Yächst die Anfangsgeschwindigkeit, wenn die Größe der beabsichtigten Blickbewegung zunimmt, und zwar an- scheinend proportional dem scheinbaren Abstande des Zielpunktes vom Ausgangspunkte der Bewegung. Die Genauigkeit der Einstellbewegungen der Augen vermittelst der Augen- muskeln, die „feine Einstellung“ des Blickes, ist nicht nur für Fixation mit einem Auge, sondern auch für die binokulare Fixation und die Fixation be- wegter Blickpunkte eine höchst vollkommene; dazu kommt in zweiter Linie die in dem Sehreflexmechanismus begründete Beharrlichkeit des Fixations- vermögens. Ob diese jedoch bis zur absoluten Feststellung des Aug- apfels geht, ist zweifelhaft. Die Annahme feinster Blickschwankungen dürfte für die Erklärung der Sehschärfe z. B. kaum zu umgehen sein. Sie hat übrigens auch von vornherein die größere Wahrscheinlichkeit für sich. Wird dagegen nicht fixiert, so steht das Auge nicht still, und bei geschlossenen Lidern wechselt die Stellung der Bulbi fast beständig, wovon man sich durch Auflegen der Finger auf die geschlossenen Lider oder durch das Fliehen der Nachbilder bei geschlossenen Augen leicht überzeugen kann. Selbst wenn ein Auge fixiert, das andere geschlossen ist, bewegt sich letzteres langsam hin und her!). Bei den Bewegungen der Augen werden gewöhnlich keine Muskel- oder sonstigen Geräusche wahrgenommen. Daß jedoch immer, selbst für die Ruhe- stellung, besonders aber bei intensiveren Bewegungen aus der Ruhelage Muskelgeräusche vorhanden sind, die auch auskultiert werden können, hat Hering?) gezeigt. Bei der Nähe des Gehörorganes und der guten Kopf- knochenschalleitung werden sie dem Gehörorgan leicht zugeführt, jedoch, wohl auch infolge ihrer Kontinuität, gewöhnlich von der bewußten Wahr- nehmung ausgeschlossen. Die gelegentlich hervorgehobene „Geräuschlosig- keit“ der Augenbewegungen ist demnach nur eine subjektive. — aan Bevor in die Erörterung der physiologischen Drehungsgesetze der Augen eingegangen werden kann, erübrigt noch eine Ergänzung der im vorigen Abschnitte eingeführten Terminologie?) durch einige weitere in der Folge zu verwendende Bezeichnungen. Primärstellung des Auges und der Blicklinie ist diejenige bestimmte Lage, von welcher aus der Blick gerade nach oben oder gerade nach unten, gerade nach rechts oder gerade nach links gewendet werden kann, ohne daß dabei Rollung auftritt. Die genannten vier Bewegungen aus der Primär- stellung werden auch als Kardinalbewegungen bezeichnet. Primär- stellung der Blickebene ist diejenige Lage dieser Ebene, welche durch die Primärstellung der beiden Blicklinien bestimmt ist. Die Primärstellung ent- spricht annähernd unserer „Ausgangsstellung“ *), die entsprechende Kopf- stellung wird auch als Primärstellung des Kopfes bezeichnet. Die Primär- stellung des Auges ist nach llelmholtz nicht ganz konstant, kann sich sogar innerhalb einer Versuchsreihe ändern; sie entspricht etwa der Mitte des Blickfeldes, für Herings myopes Auge einer mehr erhobenen Lage der Blicklinie. ') Maddox, l.e. 8. 2. — ?) Sitzungsber. d. Wiener Akad., math.-naturw. Kl., 79, III. Abt., 137, 1879. — ®) Vgl. 8. 299. — *) Vgl. 8. 299. Terminologie. — Drehungsgesetze. 309 Sekundärstellungen werden alle von der Primärstellung ab- weichenden Lagen des Auges und der Blicklinie genannt. Listings Ebene (nach Maddox) oder primäre Achsenebene (Hering): die durch die &- und z-Achse des Fick schen Koordinatensystems bestimmte (auf der Y-Achse senkrecht stehende und durch den Drehpunkt gehende), in der Orbita festliegende frontale Ebene. Dieselbe fällt in der Primärstellung mit der Äquatorialebene des Bulbus zusammen. Netzhauthorizont (mittlerer Querschnitt der Netzhaut nach Hering): die im Auge feste Ebene, welche in der Primärstellung mit der Blickebene zusammenfällt. Diese Bestimmung fand Helmholtz unzweideutig bei seinen eigenen und einer Anzahl emmetroper Augen. Für myope Augen schlägt er!) diejenige Lage der Blickebene vor, bei welcher in ihr liegende Gerade sich auf korrespondierenden Stellen beider Netzhäute abbilden. Mittlerer Längsschnitt (nach Hering): die im Auge feste Ebene, welche in der Primärstellung auf der Blickebene senkrecht steht und sie in der Blicklinie schneidet. Die Begriffe dr Raddrehung (Helmholtz) und Rollung (Hering, primäre Raddrehung nach Maddox) sind bereits oben?) definiert worden, ebenso der Rollungswinkel. Raddrehungswinkel nach Helmholtz (sekundäre Raddrehung nach Maddox, Helmholtzsche Raddrehungen nach Schön und Graefe): der Winkel zwischen Netzhauthorizont und der jeweiligen Blickebene oder der Winkel, um welchen der bei der Primärstellung vertikale Meridian von der zur Blickebene vertikalen Lage abweicht. Er wird positiv gerechnet, wenn das obere Ende des vertikalen Netzhautmeridians nach rechts (des betreffenden Auges) abgewichen ist, das Auge also im Sinne eines von ihm betrachteten Uhrzeigers gedreht erscheint. Einige Verwirrung hat es angerichtet, daß Helmholtz mit dem Namen „Raddrehung“ auch die Rollung des Auges um die Blicklinie bezeichnet hat?), obwohl Raddrehungswinkel oder sekundäre Raddrehungen, also „Winkelstellungen zwischen Netzhauthorizont und Blick- ebene“ ohne Rollung auftreten können und auch auftreten (siehe unten). Aberration hat Meinong*) die Abweichung des vertikalen Netzhaut- meridians von der absoluten Vertikalen genannt. Primäre Bahnebenen des Blickes heißen sämtliche radiär durch die Blicklinie in der Primärstellung gelegten Ebenen. Sekundäre Bahnebenen des Blickes heißen irgendwelche durch die Blicklinie in einer Sekundärstellung gelegten Ebenen. 2. Drehungsgesetze. Zur Ermittelung der physiologischen Drehungsgesetze der Augen ist eine Reihe von indirekten Methoden in Anwendung gezogen worden, die auf der Beobachtung von Netzhautprojektionen gegenüber festen Punkten im Raume beruhen. Die direkte Beobachtung der Verschiebung bestimmter Punkte der Iris oder Conjunctiva, wie sie Hueck5) und Donders®) angewendet hatten, !) Physiol. Optik, 2. Aufl., S. 618. — ?) 8. 300. — °) Vgl. S. 300. — *) Zeitschr. f£. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 17, 161, 1898. — °) Programm. Dorpat 1838. — °) Arch. f. Ophthalmol. 16, 1,.1870. 310 Methoden zur Ermittelung der Drehungsgesetze. hat keine weitere Verbreitung gefunden. Von den indirekten Methoden hat die größte Verbreitung die Untersuchung mit Hilfe von Nachbildern linearer Objekte gefunden; sie ist namentlich von Ruete!), Donders?), Helmholtz, Hering?) benutzt worden. Methode der Nachbilder. Es werden dabei lebhaft gefärbte (rote oder grüne) Papierstreifen oder. Bandstücke oder die Grenzlinie zweier farbiger Felder in der Mitte einer größeren, mindestens 6 m vom Beobachter entfernten lichtgrauen und mit einer Quadratteilung ver- sehenen Wand befestigt und mit dem Auge eine Zeitlang fixiert. Sodann wird die Lage des Nachbildes bei entsprechend veränderter Blickrichtung mittels der Quadratteilung der Wand genau beobachtet. Dabei muß Fig. 41. der Kopf und die Richtung der Primär- stellung der Blickebene in bezug auf den Kopf genau festgelegt werden. Zu letzterem Zwecke hat Helmholtz das in Fig. 41 in ein Viertel der natürlichen Größe abge- bildete Visierzeichen angegeben. Bei Z wird das Grundbrettchen oben und unten mit Wulsten von erweichtem Schellack bedeckt, in welche dann das Gebiß des Beobachters abgedrückt wird, so daß die Lage des Appa- rates zum Kopfe ein- für allemal sichergestellt ist. Die Länge des nur mit Klebwachs be- festigten Kartonstreifens CC wird so gewählt, daß bei parallelen Blicklinien die Spitzen der Doppelbilder des Streifens eben miteinander zusammenfallen und sich mit dem fixierten Punkte decken; es ist dann die Länge des Streifens CC gleich dem Abstande der Drehpunkte (eigentlich der Zentra der Visierlinien) beider Augen. Durch Verschieben des Streifens und Ausführung der Kardinalbewegungen kann dann die Primärstellung ausfindig gemacht und fixiert werden. Hering hat anstatt des Visierzeichens einen gleichfalls mit Zahnbrettchen versehenen Kopfhalter verwendet, der weiter von Donders®) für verschiedene Zwecke modifiziert und eingerichtet worden ist. Die Genauigkeit der Nachbildmethode geht nach Helmholtz bis zu 1/,°, nach Hering für dessen myopes Kaps bei nahe befindlichem Fixa- tionsobjekt nur bis zu etwa 5°. Meißner?) und Fick®) haben zur Untersuchung der Augenbewegungen die Projektion der Purkinjeschen Aderfigur und des blinden Fleckes vor- geschlagen und benutzt. — DBinokulare Methoden sind von Meißner’), Hering®) und Volkmann?) angegeben, zu Messungen verwendet und weiter ausgebildet worden. Die von Hering benutzte Methode sei hier kurz in ihren Grundzügen erläutert. Methode der binokularen Bilder (Substitutionsmethode von Visierzeichen nach Helmholtz. !) Lehrbuch d. Ophthalmol., 1845. — ?*) Holländ. Beiträge z. d. anat. u. physiol. Wissensch. 1 (1848). — °) Die Lehre vom binokul. Sehen. Leipzig 1868. — *) Arch. f. Ophthalmol. 21 (1875). — °) Beitr. z. Physiol. d. Sehorg., 1854. — °%) Moleschotts Untersuchungen 5 (1859). — 7) 1. ce. — °) Die Lehre vom binok. Sehen, Leipzig 1868. — °) Physiol. Untersuchungen 2 (1864). Ze A Te a Substitutionsmethode. — Isoskop. 3ll Hering). Dieselbe ergibt im allgemeinen nur die Lage der beiden Netzhäute gegeneinander, bei der Medianebene parallelen Blicklinien auch die relative Lage zu den Hauptebenen des Kopfes oder zum Fickschen Koordinatensystem. Ihre Genauigkeit ist jedoch nach Helmholtz etwa fünfmal so groß als die der Nachbildmethode. Die beiden Augen fixieren dabei die Mitten anfänglich vertikaler (oder horizontaler) Linien, die im Abstande der Drehpunkte der Augen (oder für Konvergenzstellungen entsprechend genähert) angebracht sind und deren Neigung gegeneinander fein verändert werden kann, bis die‘ Doppelbilder der Linien parallel erscheinen oder sich zu einem Sammelbilde vereinigen. Hering benutzte für das eine Auge zwei schwarze Roßhaare, für das andere ein weißes Haar, welche gegeneinander geneigt werden konnten, so daß das weiße Haar genau in der Mitte der beiden schwarzen und den- selben parallel erschien. Ähnlich dieser Einrichtung ist Donders Isoskop!). Dasselbe ist sche- matisch in Fig. 42 Fig. 42. dargestellt. Der feststehende Rah- men RR trägt einen vertikal (oder horizontal) gespannten Draht D und eine Grad- teilung T. An dem Rahmen ist um die Achsen « und a’ drehbar das Parallelo- gramm PP an- gebracht, welches die für die Fixie- rung durch das andere Auge be- stimmten Drähte Isoskop nach Donders. D, trägt, deren Neigung gegen die Vertikale vermittelst des Nonius N an der Teilung 7' ab- gelesen werden kann. Die Einstellung des Apparates, der in Verbindung mit dem Hering-Dondersschen Kopfhalter benutzt wird, erfolgt sehr leicht und rasch, und die Bestimmungen sind fast bis auf eine Minute genau. Von den drei Graden der Freiheit der Bewegung, die dem Augapfel ver- möge der Mechanik seiner Lagerung und seines Muskelapparates zukommen, nämlich Freiheit der Drehungen um die x-, y- und z-Achse des Fickschen Koordinatensystems entfällt für die von der Primärstellung ausgehenden will- kürlichen Augenbewegungen eine, nämlich die Freiheit der Bewegung um die y-Achse oder um die Blicklinie als Achse, die Rollung. Bewegungen (aus der Primärstellung) in irgend einer primären Bahnebene erfolgen ohne Rollung. Dieser von Listing theoretisch abgeleitete, ı) EN 312 Listings Gesetz. zuerst von Helmholtz vermittelst der Nachbildmethode als richtig erwiesene und jederzeit mittels der angeführten Methoden zu bestätigende Satz wird als das Listingsche Gesetz bezeichnet.. Es ist von Listing selbst in folgender Form ausgesprochen worden!): „Aus der Primärstellung wird das Auge in irgend eine andere, sekundäre, durch die Kooperation der sechs Muskeln in der Weise versetzt, daß man sich diese Versetzung als das Resultat einer Drehung um eine bestimmte Drehungsachse vorstellen kann, welche, jederzeit durch das Augenzentrum gehend, auf der primären und der sekundären Richtung der optischen Achse senkrecht steht, so daß also jede Fig. 43. sekundäre Stellung des Auges zur primären in der Relation steht, ver- möge welcher die auf die optische Achse projizierte Drehung gleich Null wird.* Wenn bei allen gerad- linigen Bewegungen aus der Primär- stellung keine Rollungen (um die y-Achse in der Primärstellung) ein- treten, so müssen die sämtlichen Drehungsachsen dieser Bewegungen in der Ebene der beiden anderen (x<- und z-)Achsen liegen, welche wir als primäre Achsenebene oder Listingsche Ebene bezeichnet haben. Sei beispielsweise XZ (Fig.43) die Listingsche Ebene und x2.«'z’ Lage der Äquatorialebene zurListingschen Ebene bei ' Jje Äquatorialebene eines von vorn einer Blickrichtung schief aufwärts. Die Drehung er- 3 folgte um die Achse aa’. Raddrehungswinkel zwischen gesehenen rechten Auges in der Netzhauthorizont (Bx,x,') und Blickebene (Bxx’). Primärstellung, so ie ie richtung OB lateral aufwärts durch Drehung des Auges um die Achse da’ erreicht. Die Äquatorialebene tritt unterhalb von aa’ vor, oberhalb von aa’ hinter die Achsenebene XZ. Senkrecht auf diese gesehen erscheint der horizontale Durchmesser der Äquatorialebene nun in der Lage x, x; und der vertikale in der Lage 2,21, ohne daß eine Rollung um die Blicklinie aufgetreten ist. Hingegen besteht nun ein „Raddrehungswinkel“ (sekun- däre Raddrehung) zwischen Netzhauthorizont und Blickebene, indem der erstere durch eine Ebene Bx,x, die letztere durch eine Ebene. Bxx’ bestimmt ist. Aus Listings Gesetz folgt, wie von ihm selbst bereits bemerkt worden ist, weiter, daß bei Bewegungen des Blickes in sekundären Bahnebenen immer Rollungen um die Blicklinie erfolgen. Folge dieser Rollungen ist die Neigung der Nachbilder eines vertikalen Streifens in schiefen Blickrichtungen. Diese Neigung wächst mit der Größe der Abweichung aus der Primärstellung und strebt der Radiärstellung zur primären Fixationsstellung zu; sie ist in Fig. 44 nach Hering für 35 Blickrichtungen dargestellt. pp entspricht der Primär- stellung. — Die scheinbare Drehung des Nachbildes kann aber auch durch die in sekundären Blickrichtungen veränderte Abbildung des Außenobjektes !) Ruete, Lehrbuch d. Ophthalmol., 2. Aufl., S. 37, 1854. Neigung der Nachbilder in schiefen Blickrichtungen. 313 beeinflußt werden, auf welches das Nachbild projiziert wird. So erscheinen die Nachbilder der vertikalen und horizontalen Schenkel eines rechtwink- ligen Kreuzes nach Helmholtz bei Projektion an eine mit Quadratteilung versehene Wand in schiefen Blickrich- Fig. 44. tungen, wie in Fig. 45 A (1 bis 4), ge- neigt, während ein in der Richtung \ der Diagonalen der Figur angeordnetes i% \ \ / / Kreuz ungedreht erscheint und somit anzeigt, daß gemäß dem Listing- \ \ \ | | schen Gesetze keine Rollung statt- gefunden hat. Daß übrigens Rollung nicht die Ursache der Erscheinung sein | | | kann, zeigt die entgegengesetzte Drehung, welche der vertikale und der horizontale Schenkel des Kreuzes dabei / | | \ \ erleiden. Diese Drehung beruht viel- mehr auf unrichtiger Projektion des Nachbildes.. Die vertikalen und hori- / I / \ \ \ zontalen Linien der Quadratteilung |l.u. u. r.u. bilden sich beispielsweise beim Blicke Neigung der Nachbilder eines vertikalen Streifens ich sächie cha (2) ie die Linie in schiefen Blickrichtungen, nach Hering. vv' und hh’ der Figur 45B, während das Nachbild rechtwinklig bleibt. Da aber das Quadratnetz der Wand doch rechtwinklig wahrgenommen wird, ° müssen die um je einen kleinen Winkel von vv’ und hh’ abstehenden Schen- kel des Nachbildes zwischen ® und A, v' und # gegen- einander geneigt, 1 sich unter spitzem Winkel kreuzend erscheinen, wie in Fig. 45C. Her- mann!) hat die Be- ziehungen zwischen den schiefen Win- keln dieser Projek- tion und dem Rad- drehungswinkel 4 3 y h abgeleitet und fest- gestellt: 1. Der Winkel, den der vertikale Schenkel ni . ? u s Projektion des Nachbildes eines rechtwinkligen Kreuzes in neun Blick- in seiner Pr ojektion richtungen nach Helmholtz. auf eine Frontal- ebene mit der absolut Vertikalen bildet, ist gleich dem Raddrehungswinkel (Winkel zwischen der Ebene des Horizontalmeridianes und der Visierebene). Fig. 45. v i_ m !) Pflügers Arch. 78, 88, 1899. 314 . Donderssches Gesetz. 2. Der Winkel, den der horizontale Kreuzschenkel in seiner Projektion auf die Frontalebene mit der absolut Horizontalen bildet, ist gleich dem Winkel zwischen der Ebene des Vertikalmeridianes und der Standebene (Vertikal- ebene durch die Blicklinie. Mit Donders Phänophthalmotrop!) und Hermanns Blemmatotrop?) können diese Drehungen für verschiedene Augenstellungen dargestellt und ermittelt werden. Wie aus der Primärstellung kann man sich das Auge auch aus irgend einer Sekundärstellung in jede beliebige andere Stellung gedreht denken, wobei wiederum alle Drehungsachsen in einer Ebene liegen, welche jetzt als sekundäre Achsenebene bezeichnet wird und gegen die primäre Achsenebene um dieselbe Achse wie das Auge, jedoch nur um den halben Winkelbetrag gedreht erscheint. Schon bevor Listing sein Gesetz ausgesprochen hatte, war von Donders?) mittels der Nachbildmethode festgestellt worden, daß bei Seitenwendungen der Augen die vertikalen Meridiane eine auf der primären Blickrichtung senk- rechte Ebene überall in parallelen Linien schneiden und daß für jede bestimmte Bliekrichtung die Stellung des vertikalen Meridians stets dieselbe sei. Er drückt das Gesetz, welches von Helmholtz als das Donderssche Gesetz bezeichnet worden ist, mit den Worten aus: „Wenn die Lage der Blicklinie in Beziehung zum Kopfe gegeben ist, so gehört ein bestimmter und unveränderlicher Raddrehungswinkel dazu, dessen Wert unabhängig von der Willkür des Beobachters und unabhängig von dem Wege ist, auf welchem die Blicklinie in die betreffende Stellung gebracht ist.“ In der Helmholtz- schen Fassung lautet der Satz: „Der Raddrehungswinkel (y) jedes Auges ist bei parallelen Blicklinien nur eine Funktion von dem Erhebungswinkel («) und dem Seitenwendungswinkel (ß).“ Auf Grund des Listingschen Gesetzes berechnet ihn Helmholtz nach der Formel: sin & sin B c08% + cos ß In der nachstehenden Tabelle sind die Werte des Winkels y von 10 zu 10° nach Helmholtz verzeichnet. — tangy — Erhebung Seitenwendung 10° 20° 30° 40° 10° 0° 53’ 1° 46’ 2041’ 30 39’ 20° 1° 46’ 30 34! 595! 79.318 30° 2° 41’ 5° 25’ 8° 13’ 11° 08’ 40° 3? 39’ a 11° 08’ 15° 05’ Für die räumliche Orientierung vermittelst der Netzhautbilder ist der zweite Teil des Dondersschen Gesetzes von besonderer Bedeutung; er ist von Hering*) auch so ausgedrückt worden: „Bei gleicher Blicklage ist auch die Netzhautlage die gleiche“, gleichviel wie und auf welchem !) Arch. f. Ophthalmol. 16 (2), 165, 1870. — ?°) Pflügers Archiv 8, 305, 1873. — °) Holländ. Beiträge z. d. anat. u. physiol. Wissensch. 1 (1848). — *) Lehre vom binok. Sehen, 8. 56. ee Diskussion. 315 Wege diese Blicklage zustande gekommen sein mag. Zwar geschieht diese Einstellung bei ausgiebigeren Bewegungen nicht immer sofort, stellt sich jedoch in einer bis zwei Sekunden leicht her. Das Donderssche Gesetz hat wie das Listingsche zunächst nur für parallele Blicklinien und Augenbewegungen, welche ohne stärkere Muskel- anstrengung bewerkstelligt werden, Gültigkeit!). Drehungen der Augen nach dem Listingschen Gesetze entsprechen offenbar dem Prinzip der kleinsten Wirkung, insofern solche Bewegungen auf dem kürzesten Wege, mit der kleinsten Bewegung des Bulbus und, abgesehen von dem vom Nerven- system abhängigen Ablaufe der Muskelkontraktion, in der kürzesten Zeit erfolgen. Als optische Vorteile der Drehungen nach dem Listingschen Gesetze hat Hering die vermiedene Scheindrehung bei der Wahrnehmung der Außenobjekte durch den Entfall von Rollungen in mittleren Blicklagen und die Erreichung der größtmöglichen Korrespondenz der Netzhäute beider Augen (Prinzip des größten Horopters) hervorgehoben. Genauere Untersuchungen mit der Methode der binokularen Bilder haben nun freilich ergeben, daß das Listingsche Gesetz auch für parallele Blick- linien nicht ganz genau zutrifft, sondern daß .bei den meisten Beobachtern kleine Abweichungen von etwa !/,° auch bei mittleren Blicklagen vorkommen; bei extremeren Blicklagen und myopen Augen können die Abweichungen auf mehrere Grade anwachsen. Es ist ferner nicht ausgemacht, ob in Wirklich- keit Listingsche Drehungen des Auges ausgeführt werden, wenn dessen Be- wegungen ohne Führung, zwanglos erfolgen (Hering). Aus Versuchen von Lamansky?) und Wundt’) scheint vielmehr hervorzugehen, daß bei schiefen Blickbewegungen krummlinige Bahnen beschrieben werden, welche bei schrägen Aufwärtsbewegungen nach oben, bei schrägen Abwärtsbewegungen nach unten konkav und bei Blickbahnen, die um 45° gegen die Horizontale geneigt sind, am stärksten gekrümmt sind (Wundt), während einfache Er- hebungen und Seitenwendungen geradlinig erfolgen. Herz‘) benutzte zur Bestimmung der Bahnen, welche die einzelnen Punkte der Bulbusoberfläche bei den Bewegungen des Auges durchlaufen, das streifenförmige Nachbild einer annähernd punktförmigen Lichtquelle, welches dann in einen Kreis eingezeichnet wurde, der die Fixationsmarken der Anfangs- und Endstellung ent- hielt. Die mannigfachen derart erhaltenen Bahnen der „Bulbuswege“ lassen sich auf drei Grundformen zurückführen: die Gerade, den mehr oder weniger stark gekrümmten, gegen die Ausgangsstellung konkaven Bogen und die S-Figur. Zwischen den drei Grundformen lassen sich Übergangsformen feststellen. Herz untersuchte genauer die Verteilung der drei Grundformen der Bulbuswege und ihrer Modifikationen in acht um je 45° gegeneinander geneigten Meridianen. Da beide untersuchten Augen, das eine sogar ziemlich stark, myopisch waren, kommt den Ergebnissen dieser Untersuchung in den Einzelheiten vorläufig nur individuelle Be- deutung zu. — Eine objektive Methode, die Augenbewegungen direkt zu unter- suchen, welche Orschansky’°) angegeben hat (Ophthalmographie), dürfte für weitere Untersuchungen in dieser Richtung gleichfalls Verwendung finden können. Im allgemeinen muß aber schließlich hervorgehoben werden, daß sich die Einflüsse der im vorstehenden Absatze besprochenen Rollungen und Rad- !) Hering, l. ec. 8. 58. — ?) Pflügers Arch. 2, 418, 1869. — °) Zeitschr. f. rat. Med., 3. Reihe, 7, 355, 1859. — *) Pflügers Arch. 48, 385, 1891. — ®) Centralbl. f. Physiol. 12, 785, 1898. 316 Augenbewegungen bei Konvergenz der Blicklinien. drehungen bei den kleinen Exkursionen in mittleren parallelen Blick- lagen, die die Augen gewöhnlich ausführen, nur ganz wenig bemerkbar machen können; größere Exkursionen der Augen werden unter gewöhnlichen Ver- hältnissen durch begleitende Kopfbewegungen vermieden. 3. Augenbewegungen bei Konvergenz der Blicklinien. Bei reinen Konvergenzbewegungen und bei allen Bewegungen aus Kon- vergenzstellungen verliert das Listingsche Gesetz seine Gültigkeit, d. h. solche Bewegungen sind immer mit Rollungen verbunden; und zwar sind nach Hering die mittleren Längsschnitte!) bei symmetrischen Konvergenz- stellungen mit dem oberen Ende weiter nach außen, bzw. weiter nach innen geneigt, als das Listingsche Gesetz fordert, und diese Abweichung wächst einerseits mit der Zunahme des Konvergenzwinkels, anderseits mit der Senkung der Blickebene. Bei un symmetrischer Konvergenz ist die relative Lage beider Netzhäute zueinander nicht erheblich anders als bei gleich starker symmetrischer Konvergenz. Schon Meißner?) und Reckling- hausen °), später Volkmann), hatten hierher gehörige Beobachtungen mit- geteilt. Helmholtz hat für seine Augen viel geringeren, Dastich’) gar keinen Einfluß der Konvergenz gefunden. Indessen wurden Herings Er- mittelungen von Landolt‘) und Donders’) bestätigt. Die Methoden der Untersuchung sind im wesentlichen dieselben wie für parallele Blicklinien (vgl. den vorigen Absatz). In der nachstehenden Tabelle sind die Winkel, die die mittleren Längsschnitte beider Augen bei verschiedenen Graden von Konvergenz und verschiedener Neigung der Blickebene miteinander ein- schließen, nach Landolt verzeichnet. Erhebung Senkung, Konvergenz 25° | 20° | 10 oo | 100 | 200 «| 300 | 4 0° 1° 30’ 50’ 40' | [30”] 10’ 5’I — 10 | —1°5' 6° 20 30’ | 2° 175° | as 7 1030 1° 1° 10’ 1° 30’ g g0 2° 90° 2%90' | 20.5’ 1° 30’ 17307.],51%30° 138 10° 4° 20’ | 3% 30’ g° 2° 30’ || 2° 1° 40’ | 1950’ 1° 40’ 120 5° .1..8%40° | 3°10t | 2955’ || 2910 | 29 90 1° 30" 14 7° 30'.| 4° 3040’ | 3% g0' || 20.40! 920 5’ 29.20" 1° 30' 16° g° 5030 | a5 | || 0 2° 10’ | 2° 30’ „9 18° 9° 50 30’ 5 4°50' || 4° 3° 2° 50’ 2° 30" 20° 112 7° 30’ 6° 5°40’ || 4° 30’ 3030’ | 3010’ 29 45’ 25 15° 8° 7° 5052’ || 49 50' 4° 30 30’ 9 30° 16° 30’ | 10° g° 6° 50* 50 50’ 4 4° 1° Danach besteht schon in der Primärstellung [|] eine geringe (positive) Neigung der mittleren Längsschnitte (mit dem oberen Teile lateral) von etwa 1/,0, wie sie auch zwischen O0 und 1,50 liegend von einer Reihe anderer Be- !) Vgl. 8. 309. — *) Beitr. z. Physiol. d. Sehorg., Leipzig 1854. — °) Arch. f. Ophthalmol. 5 (2), 173, 1859. — *) Siehe Helmholtz, Physiol. Optik, 2. Aufl., Ss. 625f. — °) Ebenda. — °) Handb. d. ges. Augenheilk. 2 (2), 660, 1876. — 7”) Pflügers Arch. 13, 419, 1876. Augenbewegungen und Kopfbewegungen. his, obachter (Hering, Helmholtz, Donders u. a.) festgestellt worden ist. Diese Neigung nimmt bei Konvergenz und bei Erhebung des Blickes zu, am stärksten bei Konvergenz mit Erhebung, wobei die Neigung der mittleren Längsschnitte gegeneinander bis über 16° anwachsen kann. Bei Senkung der Blickebene nimmt die Neigung der mittleren Längsschnitte ab und wird schließlich negativ. In geringen Graden der Senkung mit Konvergenz kann die positive Neigung wieder auftreten, nimmt aber bei höheren Graden der Senkung wieder ab. Die Betrachtung des erörterten Verhaltens der Augenbewegungen bei Konvergenz der Blicklinien ergibt zwar keine mechanische Analogie mit dem Listingschen Gesetze, indessen bleiben die optischen Vorteile jenes insofern auch hier erhalten, als auch diese Bewegungen das Prinzip des größten Horopters erfüllen, das heißt, die größtmögliche Korrespondenz der beiden Netzhäute gewährleisten. 4. AugenbewegungenundKopfbewegungen. Beim gewöhnlichen zwanglosen Blicken werden die Ortsveränderungen des Blickpunktes nicht allein durch die Bewegungen der Augen, sondern auch durch begleitende Kopfbewegungen hervorgebracht, und zwar in ähnlicher Weise wie an anderen muskulären Apparaten (Fingermuskulatur, äußere und innere Kehlkopfmuskulatur), hier vielleicht in der vollkommensten Weise, nach einem Prinzip, das als Prinzip der groben und feinen Einstellung bezeichnet werden kann. Die grobe Einstellung, das heißt die beiläufige Einstellung der Augen auf das zu fixierende Objekt wird gewöhnlich unter Vermittelung größerer Muskeln durch Bewegungen des Kopfes, unter Umständen des ganzen Rumpfes oder Körpers besorgt, die feine Einstellung unter Vermittelung der kleinen Augenmuskeln durch feinste Einstellbewegungen, die in der Regel nur in der nächsten Umgebung der Primärstellung (Ausgangsstellung, Ruhestellung) aus- geführt werden. Das Fixieren mit stärker von diesen Stellungen abweichenden Blicklagen bildet — abgesehen von den Konvergenzbewegungen — nicht die Regel. Die Einstellbewegungen des Kopfes können den Augenbewegungen ganz oder teilweise vorausgehen oder, was weit häufiger geschieht, sie begleiten; im letzteren Falle eilt nicht selten die Augenbewegung etwas voraus. Nach Helmholtz erfolgen die Bewegungen des Kopfes im allgemeinen nach demselben Prinzip wie die der Augen, wenn auch freier veränderlich; die Achsen der Kopfdrehungen sind den Achsen der jeweiligen gleichzeitigen Augenbewegungen annähernd parallel. Indessen besteht nach Hering!) zwischen dem Blicken mit fixiertem und mit frei beweglichem Kopfe doch insofern ein wesentlicher Unterschied, als die Drehung des Kopfes, wie Nachbildversuche lehren, die Rollung der Augen gerade bei den für die räumliche Wahrnehmung wichtigsten Bewegungen kompensieren kann. Eine besondere Art der Augenbewegungen sind die Rollungen, welche sowohl in Parallelstellung, als auch bei Konvergenz (Woinow ?) beim Neigen des Kopfes gegen die Schulter (und umgekehrt), sowie bei Neigungen des !) Die Lehre vom binok. Sehen, $. 106, 1868. — ?) Arch. f. Ophthalmol. 17 (2), 233, 1871. SiSSeH Rollungen beim Neigen des Kopfes. Kopfes gegen die Vertikale überhaupt auftreten. Diese Rollungen sind der Kopfneigung entgegengesetzt und in beiden Augen gleich stark (Donders). Von dem Vorhandensein derselben kann man sich leicht mittels der Nachbild- methode überzeugen. Nach Donders!) bringt man an dem Visierzeichen von Helmholtz 2) einen breiten grauen Kartonstreifen und auf diesem ein rotes Band mit zwei Fixationsmarken an, die bei parallelen Blicklinien zu einem Sammelbilde vereinigt werden: beim Neigen des Kopfes sieht man das gegen das Band gedrehte Nachbild.. — Nach Breuer?) muß eine stärkere, schon in einer bis zwei Sekunden vorübergehende Rollung, die unmittelbar mit der Kopfbewegung einhergeht, von der schließlich verbleibenden Roll- abweichung unterschieden werden. Bei raschen Neigungen des Kopfes fand Mulder*) vorübergehende .Rollungen bis zu 20%. Die bleibende Roll- abweichung wächst nach Versuchen von Mulder und Küster anfangs rascher, späterhin langsamer mit der Kopfneigung, um schließlich nicht mehr wesentlich zuzunehmen. Nachstehend sind einige von Mulder an sich und Küster, und von Skrebitzky’) gefundene Werte angeführt. Kopfneigung: 15° 25° 35° 45° 55° 65° Rollung (rund) nach: ; Mulder: 30 40 50 5,5% 5,5° 6° Küster: 4° 6° 6,5° © 8° 90 Skrebitzky: 2, 2,6 4,20 5,59 6,80 7,79 Die bleibende Rollabweichung besteht so lange, als der Kopf in der von der Vertikalen abweichenden Lage verharrt$). Sie kommt, wie Nagel’) fand, auch bei passiven Bewegungen des Kopfes oder des Körpers samt dem Kopfe in der gleichen Weise zustande. Schon Hueck °), der sich zuerst eingehender mit den Rollbewegungen der Augen bei Kopfneigungen beschäftigt hatte, meinte, daß durch die Rollung die Neigung des Kopfes, und zwar vollständig (was nicht der Fall ist) kom- pensiert werde; und Donders?°) erklärt sie für eine mit der Neigung des Kopfes assoziierte Bewegung, die für die gewöhnlichen Bewegungen des Kopfes ein genügendes Hilfsmittel der Kompensation ist. Dabei kann die Beziehung zu dem Bogengangsapparat, auf welche Breuer und Mach?) hin- gewiesen haben, durchaus aufrecht erhalten werden. Für alle Versuche mit Fixation könnten diese Rollungen auf die Tendenz des Bewegungsmechanismus der Augen zurückgeführt werden, die Ausgangsstellung oder die einmal vor- handene Fixation nach Möglichkeit zu erhalten, wie sie sich ähnlich auch bei Seitenwendungen und Erhebungen des Kopfes geltend macht!!), Allein die Versuche von Mulder, dann die Erfahrungen an Blinden und Blindgeborenen, bei denen solche Rollbewegungen gleichfalls gelegentlich beobachtet werden können, sprechen dafür, daß auch unabhängig von der Fixation jeder Kopf- lage eine bestimmte Rollung der Augen entspricht. !) Vgl. auch Pflügers Arch. 13, 408, 1896. — ?) Vgl. S. 310. — °?) Med. Jahr- bücher, 1. Heft, 1874 u. 1875. — *) Arch. f. Ophthalmol. 21 (1), 68, 1875. — °) Ebenda 17 (1), 107, 1871. — ®) Mulder, l.c. Donders, l.c. — 7) Arch. f. ÖOphthalmol. 17 (1), 237, 1871. — ®) Die Achsendrehung des Auges, Dorpat 1838. — °) 1. ec. 8. 411. — !%) Mach, Grundlinien d. Lehre v. d. Bewegungsempfindungen, Leipzig 1875. — '') Vgl. Donders,l.e. 8. 411. Assoziation der Augenbewegungen. 319 5. Assoziationder Augenbewegungen. Die Stellungen und Bewegungen beider Augen sind durch deren Inner- vationsmechanismus derart miteinander verknüpft, daß sie niemals unab- hängig, sondern nur in bestimmten Kombinationen oder Assoziationen mit- einander und zum Teil auch mit gewissen anderen Bewegungen ausgeführt werden können. „Beide Augen werden, was ihre Bewegungen im Dienste des Gesichtssinnes betrifft, wie ein einfaches Organ gehandhabt. Dem bewegenden Willen gegenüber ist es gleichgültig, daß dieses Organ in Wirklichkeit aus zwei gesonderten Gliedern besteht, weil er nicht nötig hat, jedes der beiden Glieder für sich zu bewegen und zu lenken, vielmehr ein und derselbe Willensimpuls beide Augen gleichzeitig beherrscht, wie man ein Zwiegespann mit einfachen Zügeln leiten kann“ (Herings Gesetz der gleichmäßigen Innervation). Fünf Arten solcher einfacher assoziierter Be- wegungen beider Augen sind schon lange bekannt: es sind die beiderseitige Erhebung und Senkung, die beiderseitige Seitenwendung nach rechts und nach links (sowie die Kombinationen von Seitenwendungen und Erhebungen in schiefen Blicklagen) und fünftens die Konvergenzbewegungen der Augen. Dazu kommen noch assoziierte Innervationen, welche die Rollungen be- herrschen !), und auch wohl assoziierte Divergenzinnervationen, endlich die Assoziation der Konvergenzbewegungen mit der Accommodation und der Pupillenweite und die zum Teil weniger fixen Assoziationen der Augen- bewegungen mit Bewegungen der Lider und des Kopfes. Die assoziierten Bewegungen sind unter gewöhnlichen Verhältnissen in ihrem Ausmaße gegenseitig durch einander vollkommen genau, und zwar in der für den praktischen Erfolg des Einfach- und Deutlichsehens passend- sten Weise bestimmt, so daß einer gegebenen Stellung oder Bewegung des einen Auges stets eine ganz bestimmte Stellung oder Bewegung des anderen Auges entspricht. Unter künstlich gesetzten Bedingungen ist jedoch eine gewisse begrenzte Breite des Bereiches jeder dieser Assoziationen nachweisbar. Die dabei auftretenden von der Norm abweichenden Einstellungen geschehen gewöhnlich anfangs langsam, unter deutlichem Widerstande und mit einer gewissen Anstrengung, jedoch stets wieder im Sinne des Einfach- und Deutlich- sehens; ihr Zustandekommen kann durch Einübung wesentlich erleichtert werden. Assoziierte Innervationen sind aber oft auch vorhanden, wo sie das Sehen nicht fördern, ja sogar stören. So folgt ein verdecktes Auge gleichwohl den Bewegungen des anderen beim Blicken, ebenso ein erblindetes Auge. Ja auch bei Blindgeborenen wurden parallele Augenbewegungen in allen Richtungen festgestellt?2). Bei Augenmuskellähmungen sind die Kranken unfähig, gewisse Doppelbilder zu vermeiden, obwohl sie jedes Auge für sich leicht auf die be- treffenden Punkte einstellen können. Bei Erhebungen und Senkungen des Blickes sind die Erhebungswinkel für beide Augen unter gewöhnlichen Verhältnissen stets die gleichen, ebenso bei Seitenwendungen in parallelen Blickrichtungen die Seitenwendungswinkel. !) Siehe den vorigen Absatz. — ?) Siehe Donders, Pflügers Arch. 13, 383, 1876. 3230 Assoziierte Rollbewegungen. — Accommodation und Konvergenz. Seitenwendung und Konvergenz können aber unter Umständen, nämlich bei Seitenwendungen mit Konvergenz, an einem Auge gleichsinnig, an dem anderen einander entgegen wirken, ja in einem bestimmten Falle einander gerade das Gleichgewicht halten, wie bei Annäherung eines Fixationspunktes auf der Blicklinie des einen in Primärstellung befindlichen Auges. Dieser Fall ist in Fig. 46 verdeutlicht. Das Auge A braucht seine Stellung bei Annäherung des Fixationspunktes von F, nach F, \ oder beim Wiederhinausrücken nach F, nicht zu ver- Por, ändern, während die Blicklinie des Auges B der Reihe nach in die Richtungen BF, bis BF, geführt werden muß. Indes gerät bei dieser Einstellung das Auge A meist in deutliche Unruhe, die sich durch kleine Blick- schwankungen kundgibt (Hering). Die veränderte Einstellung desselben ist schließlich durch die ihr ent- sprechenden assoziierten Veränderungen der Accommo- dation und Pupillenweite sowie die entsprechende aufgetretene Rollung gekennzeichnet. ' Reine assoziierte Rollbewegungen von gleicher Größe finden, wie im vorigen Absatz erörtert wurde, bei seit- lichen Neigungen des Kopfes oder des Körpers statt, mit Erhebungen oder Seitenwendungen assoziierte bei Bewegungen des Blickes aus Sekundärstellungen, end- lich ebenso assoziierte Rollbewegungen bei Konvergenz- Annäherung des Fixa- stellungen!). Was die von vielen?) angenommene asso- tionspunktes auf der ers 5 S h . $ z Blicklivie eines Auges. Ziierte symmetrische Divergenzinnervation betrifft, so ist diese Annahme sozusagen ein Postulat für das Zustande- kommen koordinierter Konvergenzbewegungen und fügt sich zwanglos dem Sherringtonschen Prinzip der „reziproken Innervation“ (Hofmann). Es sprechen aber auch gewisse Symptomenkomplexe bei Augenmuskelläh- - mungen für das Bestehen symmetrischer Divergenzinnervation, und Pari- naud?), in neuerer Zeit Bielschowsky und F. B. Hofmann*) vertreten die Existenz einer besonderen „Divergenzlähmung“ in der Pathologie. Wie die Accommodation beider Augen für sich schon dem Gesetze der gleichmäßigen Innervation folgt, so daß wir nicht in der Lage sind, selbst eine geringe Differenz in der Refraktion durch verschiedene Accommodation auszugleichen (Donders°), ebenso assoziiert sich die Accommodation mit der Konvergenz und mit der Pupillenweite derart, „daß, wenigstens bei Emme- tropen, der Refraktionszustand der Augen immer der Entfernung des bin- okularen Blickpunktes entspricht“ (Hering). Daß sich dieser Zusammenhang zwischen Konvergenz und Accommodation innerhalb gewisser Grenzen ver- ändern läßt, hat schon Plateau6®) festgestellt, und Donders’”) zeigte, daß jeder bestimmten Konvergenz eines Augenpaares eine bestimmte „relative Fig. 46. Fr, !) Vgl. die Absätze 2 und 3. — ?) Vgl. Reddingius, Das sensumotorische Sehwerkzeug, 8. 11. Leipzig 1898. — ?) Berger, Les maladies des yeux, p.51, 1892. — *) Ber. über d. 28. Vers. d. ophthalmol. Gesellsch. z. Heidelberg 1900, 8. 110, 117. — 5) Die Anomalien d. Refraktion u. Accommodation, 8. 471, 1866. — °) L’Institut 1835, p. 108. — ”) 1. c. 8. 98. a u a Pupillenweite und Konvergenz. — Ungewöhnliche Augenbewegungen. 321 Accommodationsbreite“ zukommt, innerhalb welcher mit Hilfe positiver oder negativer Linsen die Accommodation im Verhältnis zur Konvergenz vermehrt oder vermindert werden kann. Die Neueinstellung der Augen erfolgt dabei langsam und mit deutlicher Anstrengung. Verändert man nach Donders bei gleichbleibender Entfernung des Fixationsobjektes durch schwache Prismen die Konvergenz, so ändert sich mit ihr zuerst auch die Accommodation, so daß das Objekt zwar einfach, aber undeutlich gesehen wird; bald aber erfolgt darauf die Neueinstellung der Accommodation wie bei den Versuchen mit Linsen. Auch haploskopische Vereinigung verschieden weit voneinander und von den Augen angebrachter Objekte kann zum Nachweise der relativen Accommodationsbreite benutzt werden. Durch Einübung gelingt es schließlich auch ohne besondere Vorrichtungen bei unveränderter Fixation die Accommo- dation in mäßigem Grade zu verändern. Als relative Konvergenzbreite wird von einigen das Bereich der Konvergenzgrade bezeichnet, innerhalb welcher ein bestimmter Grad der Accommodation möglich ist. Hess!) hat neuerlich gezeigt, daß es möglich ist, eine größere Ciliar- muskelkontraktion aufzubringen, als zur Einstellung auf den Nahepunkt nötig ist; die früher gemachte Unterscheidung zwischen binokularem und monoku- larem Nahepunkte entspricht nicht den Tatsachen. Das Gesetz der Ver- knüpfung zwischen Accommodation und Konvergenz läßt sich heute in fol- gender Form aussprechen: Der Spielraum, innerhalb dessen die Konvergenz von der zugehörigen mittleren Accommodation oder die Accommodation von der zugehörigen mittleren Konvergenz gelöst werden kann, ist unabhängig von der absoluten Accommodations- bzw. Konvergenzgröße.. Hess nimmt dieses Gesetz zunächst nur für das manifeste Accommodationsgebiet als erwiesen an; wahrscheinlich bestehen aber die gleichen Beziehungen auch zwischen Konvergenz und Ciliarmuskelkontraktion, so daß das Gesetz all- gemeine Gültigkeit hätte. Was endlich den Zusammenhang der Pupillenweite mit Konvergenz und Accommodation betrifft, so zeigt sich die Veränderung der Pupillenweite mit beiden Vorgängen assoziiert und nicht im besonderen an den einen der- selben gebunden. Bei Versuchen über relative Accommodationsbreite bemerkt man jedoch, daß die Veränderung der Pupillenweite der Accommodation folgt. Olbers?2) hat bei Annäherung eines Objektes von ®/;,m auf lIlcm Ab- nahme des Pupillendurchmessers von 6,16 auf 4,04 mm gefunden. 6. Ungewöhnliche Augenbewegungen. Wenn es das Interesse des Einfachsehens unter besonderen, künstlich gesetzten Bedingungen erfordert, können sowohl in der Erhebung und Senkung als auch in den Seitenwendungen und Rollungen der Augen kleine Ab- weichungen von der Norm der „gleichmäßigen Innervation“ eintreten, d. h. es besteht auch hier eine gewisse Breite der Abhängigkeit der beiderseitigen Bewegungen voneinander. Am einfachsten können solche Verschiedenheiten in der Erhebung oder Seitenwendung der Augen durch einseitig vorgesetzte Prismen (Donders?°) oder horizontal und vertikal gegeneinander ver- !) Arch. f. Ophthalmol. 52, 143, 1901. — ?°) De mutationibus oculi internis. Diss., Göttingen 1780. — ®?) Holländische Beiträge 1, 382, 1846. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 2 322 Fusion und Fusionsbreite. schobene haploskopisch betrachtete Bilder erzielt werden. Der Augenapparat ist bestrebt, die dadurch hervorgebrachten Doppelbilder zu vereinigen (Fusion). Diese Fusionstendenz ist desto stärker, je weniger die beiden Bilder vonein- ander entfernt erscheinen. Die zur Hervorbringung der Fusion erforderlichen Bewegungen des betreffenden Auges werden als Fusionsbewegungen bezeichnet. Das Bereich der Prismen, der Winkel, welcher von dem Auge behufs Fusion noch „überwunden“ werden kann, wird als Fusionsbreite bezeichnet. Wird ein Prisma mit der brechenden Kante nasalwärts vor ein Auge gesetzt, so muß dieses eine Adduktions- (Konvergenz-) Bewegung ausführen, um wieder Einfachsehen zu ermöglichen; das stärkste so zu überwindende Prisma ergibt die positive Fusionsbreite. Wird ein Prisma mit der brechenden Kante temporalwärts vorgesetzt, so ist zum Einfachsehen eine Abduktions- (Diver- genz-) Bewegung erforderlich; die Ablenkung des stärksten so zu über- windenden Prismas ergibt die negative Fusionsbreite. Die Ablenkung beider Prismen zusammen ergibt die totale Amplitude der horizontalen Fusions- breite. In ähnlicher Weise wird durch Prismen, die mit der brechenden Kante nach oben und nach unten vorgesetzt, oder besser aus der darauf senkrechten Stellung (für die horizontale Fusion) in diese gedreht werden, die vertikale Fusionsbreite ermittelt. Im allgemeinen können durch Abduktion Prismen von mehr als 4° Ab- lenkung (also etwa 8° brechendem Winkel) ohne Übung kaum mehr über- wunden werden; H. Meyer und Hering!) haben es allerdings bis zur Über- windung von Divergenzen der Blicklinien von 10° gebracht. Differenzen in der Erhebung der Blicklinien konnten von Helmholtz?) ohne Schwierig- keit bis zu 6°, von Hering bis 8° überwunden werden. Nach Schmiedt?) ist die Lage des Fusionsgebietes bei gehobener Blickebene meist im Sinne einer größeren Divergenz- und geringeren Konvergenzfähigkeit im Ver- gleiche zur gesenkten Blickebene verschoben. Das Fusionsgebiet bleibt bei erhobener Blickebene entweder gleich groß wie bei gesenkter oder ist auf Kosten der Konvergenzfähigkeit verkleinert, indem diese beim Erheben des Blickes rascher abnimmt als die Divergenzfähigkeit zunimmt. Entfernt man nach solchen Versuchen die Prismen oder geht überhaupt zum normalen Sehen über, so bleibt das betreffende Auge noch einige Zeit in seiner Ab- weichung stehen, was natürlich Veranlassung zu Doppelbildern gibt, die sich dann allmählich vereinigen. Hat man zwei identische und gleich gerichtete Zeichnungen haploskopisch zur Deckung gebracht und dreht nun die eine in ihrer Ebene ganz langsam und mit Unterbrechungen um den Fixationspunkt, so werden beide Augen symmetrisch (das unmittelbar beteiligte vielleicht etwas mehr) um ihre Blick- linien gerollt, so daß die Zeichnungen bis zu einer gewissen Grenze wieder einfach gesehen werden (Nagelt). Ebenso können beide Zeichnungen in entgegengesetzter Richtung gedreht werden. Die so erzielbaren Röllungen erreichen nach Nagel im besten Falle 5° für jedes Auge, entsprechend einer Verdrehung der Bilder gegeneinander um 10%. Helmholtz ist durch Drehen zweier hintereinander gelegter rechtwinkliger Prismen gegeneinander !) Ann. d. Physik u. Chemie 85, 208f., 1852. — °*) Physiol. Optik, 2. Aufl., S. 633. — °) Arch. f. Ophthalmol. 39 (4), 233, 1893. — *) Das Sehen mit zwei Augen, 8. 51, 1861 u. Arch. f. Ophthalmol. 14 (2), 235, 1868. Geschwindigkeit der Fusionsbewegungen. 323 zu ähnlichen Ergebnissen gelangt. Auch bei so erzielten Rollungen findet man die künstlich hergestellte abweichende Augenstellung erst allmählich nach Beendigung des Versuchs zurückgehen. Neuerlich haben Hofmann und Bielschowsky !) die Fusionsbewegungen näher untersucht, welche sich als ungleiche Höheneinstellung (Vertikaldivergenz), als wahre gegensinnige Rollungen um die Gesichtslinie und als absolute Divergenzstellungen der Gesichtslinien erzielen lassen. Nach diesen Unter- 'suchern ergibt längere Übung wohl rascheren Verlauf, doch kaum größeren Umfang der Fusionsbewegungen. Diese bleiben stets etwas hinter den durch die Verschiebungen oder Verdrehungen der Objekte geforderten zurück, um so mehr, je näher dem Maximum der Vertikaldivergenz oder der Rollung gekommen wird. Die Divergenzbewegung nimmt eine gewisse Sonderstellung ein; sie läßt'sich ohne weiteres willkürlich beeinflussen (durch Konvergenz- innervation) und erfolgt viel rascher als die Vertikaldivergenz und die gegen- sinnige Rollung, welche der willkürlichen Beeinflussung nicht unterworfen sind. Ist einmal Fusion eingetreten, so wird dieselbe, solange ihr Anlaß anhält, während aller willkürlichen Augenbewegungen beibehalten; die Augen haben unter dem Zwange des binokularen Sehens gewissermaßen eine neue Ausgangs- stellung für ihre Bewegungen angenommen. — Wie schon Helmholtz und Nagel?) gefunden hatten, beteiligen sich an den Fusionsbewegungen, auch bei nur einseitiger Verschiebung des Fixationsobjektes, stets beide Augen, und zwar in gleichem Maße (Hofmann und Bielschowsky). Die Geschwindigkeit der Fusionsbewegungen, welche für die Divergenzbewegung von Hause aus viel größer ist, als für die Vertikaldivergenz und die gegensinnige Rollung, ist ähnlich wie auch das Ausmaß dieser Bewegungen in hohem Grade von der den Sehobjekten. zugewendeten Aufmerksamkeit (Hering°), dann von der psychischen Ermüdung, endlich auch von der Beeinflussung durch hypnotisch wirkende Gifte abhängig (Guillery*). Schmidt-Rimpler’) fand große indivi- duelle Verschiedenheiten. Als Mittelwert für adduzierende und abduzierende Prismen bis 22° ergab sich aus 242 Versuchen rund 2'/, bis 2'/, Sekunden. Doch wurden gelegentlich auch Werte unter 1 und gegen 4 bis 6 Sekunden festgestellt. Bei Wiederholung der Versuche zeigte sich bald Ermüdung und Verringerung der Fusionskraft. Mit der Wirkung von Alkohol, Chloralhydrat, Trional, Chloroform u. a. ist deutliche „Fusionsträgheit“ verbunden, während Paraldehyd keine solche hervor- ruft und kleine Morphindosen mit der Erregung des Großhirns Steigerung des Fusionsvermögens herbeiführen (Guillery). Beim Sehen ohne Fusionszwang findet man an einer großen Zahl von Augen kleine Verschiedenheiten in der Richtung der Gesichtslinien, welche nach Stevens‘) als Heterophorie der vollständigen Kon- gruenz (Orthophorie) gegenübergestellt werden. Abweichung der Gesichtslinie nach außen (beim Blicke in die Ferne) wird als Exophorie, nach innen als Esophorie, nach oben als Hyperphorie bezeichnet. Die Divergenz der mittleren Längsschnitte, welche bei den meisten normalen Augen vorkommt, ist demgemäß auch als Zyklo- phorie bezeichnet worden. 7. Prinzipien und Ursprung der Augenbewegungen. In den vorausgegangenen Absätzen ist eine Anzahl von „Gesetzen“ und „Prinzipien“ erörtert worden, welche beim Zustandekommen der wirklich ausgeführten Augenbewegungen unter gewöhnlichen Verhältnissen mehr oder ») Pflügers Arch. 80, 1, 1900. — ?) 1. c. — °) Lehre vom binok. Sehen, 8. 17, 1868. — *) Pflügers Arch. 79, 597, 1900. — °) Arch. f. Ophthalmol. 26 (1), 115, 880. — °) Arch. f. Augenheilk. 18, 445, 1888. 21* 324 "Prinzipien der Augenbewegungen. weniger vollkommen erfüllt erscheinen: So die Gesetze von Listing und von Donders, die Heringschen Prinzipe der gleichmäßigen Innervation, des größten Horopters und der vermiedenen Scheindrehung. Für alle diese gilt nun wohl, was Donders im besonderen vom Listingschen Gesetze ausgesprochen hat: „Wir konstruieren Apparate nach einem mathematischen Prinzip, und Abweichungen von diesem Prinzip sind hier Unvollkommen- heiten, die wir zu vermeiden trachten. Aber lebende Apparate, welche nicht konstruiert, sondern unter fortdauernder Anpassung geworden sind, spotten der mathematischen Prinzipien und finden gerade ihre Vollkommenheit in scheinbaren Abweichungen, die um ihres Verbandes mit den genetischen Faktoren willen unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen“!), — Es drängt sich nun die Frage auf, ob es nicht möglich ist, ein gemeinschaft- liches Prinzip der Augenbewegungen zu finden, sei es mit, sei es ohne Be- rücksichtigung des Zusammenhanges mit den Wahrnehmungen, welche unter Vermittelung dieser Bewegungen zustandekommen. In der Tat ist ein Prinzip der ersteren Art schon von Meißner?) ausgesprochen und später von Helm- holtz®) als „Prinzip der leichtesten Orientierung“ unter Zugrundelegung des Listingschen Gesetzes im besonderen abgeleitet und begründet worden. Auch Hering*) hat sich demselben im wesentlichen angeschlossen. Es beruht nach Meißner darin, „daß das ganze Auge bei jeder Stellung eine und dieselbe Orientierung zu seinem Gesichtsfelde behält“, wodurch in der Tat den Interessen des Sehens in der vollkommensten Weise gedient ist. Es wird nach Hering die räumliche Wahrnehmung des bewegten Auges in möglichsten Einklang mit den Wahrnehmungen des unbewegten gebracht, indem Rollungen um die Blicklinie nach Möglichkeit vermieden sind; das bewegte Auge kann in diesem Sinne „wie ein ruhendes mit erweitertem Ge- sichtskreise und erweiterter Wahrnehmungsfähigkeit*“ angesehen werden (Aubert). Fick) und Wundt#) haben ohne Rücksichtnahme auf einen Zusammen- hang mit den Wahrnehmungen, zu denen sie in Beziehung stehen, für die Augenbewegungen das „Prinzip der geringsten Muskelanstrengung“ aus der anatomischen Anordnung und mechanischen Betrachtung der Augenmuskel- wirkungen herzuleiten versucht. Es ist nun sehr wahrscheinlich, daß dieses allgemeine Prinzip, von dem schon Donders bemerkt, daß es, wie das Prinzip der einfachsten Innervation „bei jedem lebenden Mechanismus notwendig ist“ 7), auch am Augenmuskelapparat verwirklicht ist. Es schließt jedoch das früher angeführte Meißner-Helmholtzsche Prinzip keineswegs aus. Und daß es diesem letzteren gegenüber nicht das herrschende ist, zeigt der Umstand, „daß die leichtesten Augenbewegungen für die Dauer dann nicht gewählt werden, wenn sie nicht auch gleichzeitig die vorteil- haftesten für das Sehen sind“ (Helmholtz). Gegen Helmholtz’ Versuch einer genetischen Erklärung der Drehungs- gesetze°) aus dem Prinzip der leichtesten Orientierung hat Donders’) !) Pflügers Arch. 13, 389, 1876. — ?) Beiträge zur Physiologie des Sehorgans, S. 93, 1854. — °) Arch. f. Ophthalmol. 9 (2), 158, 1863. — *) Die Lehre vom binok. Sehen, 8. 106, 1868. — °) Zeitschr. f. rat. Medizin, N. F., 4, 101, 1854. — °) Arch. f. Ophthalmol. 8 (2), 46, 1862. — ")1l.e. 8.386. — )L.e. — le. 8. 883 £. Ursprung der Augenbewegungen. — Innervation. 335 namentlich eingewendet, daß Raddrehung im allgemeinen die Orientierung wenig beeinträchtigt und für den von Helmholtz supponierten Zweck der genetische Grund nicht wirksam gedacht werden kann. Donders’ eigene genetische Erklärung abstrahiert vollkommen von der Form der Bewegungs- . organe und leitet sich nur von den Bewegungen selbst her. Sie fußt auf der Tendenz, das Netzhautzentrum peripheren Eindrücken zuzuwenden, und der allmählichen natürlichen Auswahl der zweckmäßigsten Bewegung zur Erreichung dieses Zieles !). \ Die Frage, ob die Assoziation der Augenbewegungen angeboren ist, wie schon J. Müller angenommen hat?), und auf organischen Einrichtungen beruht, oder „die Verbindung, welche zwischen den Bewegungen beider Augen besteht, nicht durch einen anatomischen Mechanismus erzwungen ist“, wie Helmholtz?) hauptsächlich aus den im vorigen Absatze angeführten Versuchen geschlossen hatte, muß heute auf Grund aller vorliegenden anato- mischen und physiologischen Erfahrungen im ersteren Sinne entschieden werden. Eine gewisse, durch besondere Versuchsbedingungen festzustellende Breite kommt allen angeborenen Assoziationen im Gebiete der willkürlichen Muskelinnervationen zu (Hering). Nach Untersuchungen von Hering®), Raehlmann und Witkowsky’) sind die meisten Augenbewegungen neugeborener Kinder schon assoziiert, inzwischen laufen anfangs allerdings auch nicht koordinierte Bewegungen unter, die namentlich bei schläfrigen oder im Halbschlaf befindlichen Kin- dern, ähnlich wie bei Erwachsenen (Helmholtz), beobachtet werden können. Selbst binokulare Fixation, die gewöhnlich erst mehrere Tage bis einige Wochen nach der Geburt auftritt, ist gelegentlich schon ganz kurz nach der Geburt beobachtet worden ®). Die anatomische Grundlage für die Assoziation der Augenbewegungen bildet ebenso wie die Grundlage der Korrespondenz der beiden Netzhäute ?) die Anordnung der nervösen Mechanismen, welche den sensorischen und motorischen, in innigster gegenseitiger Beziehung stehenden Funktionen des Augenapparates vorstehen ®): „Die sensorische Korrespondenz der Netzhäute hat ihr motorisches Korrelat in der durch die Assoziation bedingten Korres- pondenz der Bewegungen“ (Hering). C. Imnervation der Augenbewegungen. 1. Die Augenmuskelnerven und ihre Ursprünge. Von den drei Hirnnervenpaaren, welche die sechs den Augapfel be- wegenden Muskeln nebst dem Lidheber und zwei Binnenmuskeln des Auges innervieren, steht der N. oculomotorius den assoziierten symmetrischen Bewegungen der Augen, des Sphincter pupillae, des Ciliarmuskels, sowie des Levator palpebrae vor, während der N. abducens den Rectis externis Divergenzinnervationen zuführt und der N. trochlearis allein die Innervation !) 1. c. 8. 386 £. — ?°) Handb. d. Physiol. 2, 103, 1840. — °) 1. ce. 8. 633. — *) Die Lehre vom binokularen Sehen, $ 6. — °) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1877, S. 454. — °) Siehe Donders, 1. c. $S. 383 und Arch. f. Ophthalmol. 17 (2), 34, 1871. — 7) Vgl. Kap. II, A, Abschn. 1. — °) Siehe den nächsten Abschnitt. 326 Die Augenmuskelnerven und ihr Kerngebiet. des Obligquus superior besorgt. Im Verhältnis zum Querschnitt der Augen- muskeln ist der Fasergehalt und damit der Querschnitt ihrer Nerven auf- fallend groß. So betragen in runden Zahlen für den der Querschnitt!) die Faserzahl N. oculomotorius . . . - » 3 mm? 15 000 dicke (Krause) * f 3600 (Tergast) N, abdnceme . yon au. 2 mm? 2000 bis 2500 dieke und mittlere | (Rosenthal) N. trochlearis u. »0. | 0,4 mm? 2150 (Merkel) Nach Levinsohn?) endigen die Augenmuskelnerven teils in der gewöhn- lichen Weise, nach der Muskelfaser sich zuspitzend, in Endplatten, teils löst sich die Nervenfaser vor dem Übergange in die Endplatte in mannigfacher Weise in eine Reihe von Endästen auf, welche, häufig durcheinander- geschlungen und die Muskelfaser umfassend, mehr oder weniger spitzwinkelig zur Endplatte ziehen. Die Ursprungskerne der Augenmuskelnerven liegen für den Oculomoto- rius und Trochlearis symmetrisch unterhalb des Aquaeductus Sylvii im Be- reiche des vorderen und des vordersten Abschnittes des hinteren Vierhügels in einer Hohlrinne des dorsalen Längsbündels, für den .Abducens in der Mitte der Rautengrube, dorsal und seitlich vom Knie des N. facialis umfaßt. Sie sind anatomisch und physiologisch schon. wiederholt), neuestens auf das genaueste, insbesondere beim Menschen und beim Affen, von Bernheimert) untersucht worden. Die beiden „Seitenhauptkerne* des Oculomotorius liegen in einer Längenausdehnung von 5 bis 6mm beiderseits von der Medianlinie in einer Hohlrinne des dorsalen Längsbündels in medialwärts konvexem Bogen an- geordnet (vgl. Fig. 47 SHK). Eine Gliederung in anatomisch nachweis- bare Teilkerne besteht nicht (Bernheimer). Ungefähr in der Mitte zwischen den beiden Hauptkernen liegt "der „unpaarige großzellige Mediankern“ (M, Fig. 47), und dorsal davor liegen symmetrisch die „paarigen kleinzelligen Medialkerne“ (m, Fig. 47°). Diese drei Kerne werden auch als Neben- kerne des Oculomotorius bezeichnet. Daß der Ursprung der Oculomotorius- fasern teilweise gekreuzt erfolgt, hat zuerst Gudden) für das Kaninchen, Perlia’) für den Menschen sichergestellt. Später wurde die partielle Kreu- zung vielfach bestätigt®). Nach Bernheimers Untersuchungen entspringen aus der vorderen Hälfte der Seitenhauptkerne nur ungekreuzte, aus dem hinteren Anteile fast nur gekreuzte Fasern (vgl. Fig. 47). Die aus den Nebenkernen entspringenden Fasern schließen sich medial den ungekreuzten Oculomotoriusfasern an. Gekreuzte und ungekreuzte Wurzelbündel bleiben ) Nach Krause. — ?) Arch. f. Ophthalmol. 53 (2), 295, 1902. — °) So von Gudden, Edinger, Kölliker, Perlia, Bechterew u. a. — *) Siehe: Die Wurzelgebiete der Augennerven, in Gräfe-Saemischs Handb. d. Augenheilk., 2. Aufl., I. Bd., Kap. 6, 1899. — °) Namenbezeichnungen nach Bernheimer. — °) 1887. Ges. Abhandlungen, Wiesbaden 1889. — 7) Arch. f. Ophthalmol: 35 (4), 287, 1889. — ®) So von van Gehuchten, Edinger, Obersteiner, Bechterew u. a. u Be Kerngebiet des Oculomotorius. 327 auf ihrem extranukleären Wege noch getrennt und vereinigen sich erst kurz vor Verlassen des Gehirns zum gemeinschaftlichen Oculomotoriusstamme. Über die Verteilung der Wurzelgebiete für die einzelnen vom Oculomotorius versorgten Muskeln liegt eine Reihe von pathologisch- anatomischen Unter- suchungen, betreffend Kernlähmungen am Menschen, vor!), die jedoch zu keinen einheitlichen Ergebnissen geführt haben. Bessere Ergebnisse lieferten Tierversuche und namentlich die Anwendung der Methode Nissls. Die eingehendsten systematischen Studien in dieser Richtung hat Bernheimer?) an Affen gemacht; bei diesem Tiere sind die anatomischen und physio- logischen Verhältnisse der Augen- und Pupillenbewegungen jenen beim Menschen außerordentlich ähnlich. Bernheimer bestimmte die zentrale Lokalisation durch successive vollständige Ausschneidung der vom Oculo- motorius versorgten äußeren Augenmuskeln, bzw. Zerstörung der inneren Augenwuskeln und darauffolgende Untersuchung des Oculomotoriuskern- gebietes nach Nissl. Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist kurz folgendes: Die Seitenhauptkerne gehören den äußeren Augenmuskeln, die Nebenkerne den Binnenmuskeln der Augen zu, und zwar von diesen der klein- zellige Medialkern Bin- nenmuskeln des gleich- sevato, seitigen Auges, der großzellige Mediankern Fig. 47. ! ‚=Su] \ versorgt beide Augen. i \ Die nähere Verteilung | int Em; \ der Wurzelzellen für die en = SHK einzelnen Augenmus- ; f keln des gleichseitigen \ =n ni % und gekreuzten Auges in den Seitenhaupt- / kernen ist aus der = schematischen Fig. 47 (nach Bernheimer) ersichtlich, in welcher wo „ die dem rechten Oculo- motorius entsprechen- & H ER den Bahnen eingezeich- n Er net und die betreffenden Kernanteile dunkel an- gelegt sind. Die einzelnen Wurzelgebiete sind in der Figur schematisch begrenzt, in Wirklichkeit gehen die einzelnen Zellgruppen in ihren Grenzbezirken inein- ander über (durch die Deckung der Felder in der Figur angedeutet). Das unterste Feld (IV) entspricht dem an den Oculomotoriuskern rückwärts an- schließenden Trochleariskern. Bernheimers Schema zeigt in den meisten und zwar den wichtigsten Punkten eine gute Übereinstimmung mit älteren schema- Schema des Oculomotoriuskerngebietes, nach Bernheimer. !) 8. Bernheimer, L ce. 8. 57. — ?) Arch. f. Ophthalmol. 44 (3), 1897 und Ber. d. 26. Vers. d. ophthalmol. Ges. zu Heidelberg, 1897. 328 Ursprung des Trochlearis und des Abducens. tischen Darstellungen, wie sie auf Grund von physiologischen Experimenten, pathologisch-anatomischen und klinischen Untersuchungen aufgestellt worden sind (Hensen und Völckers, Kahler und Pick), Stuelp?) u. a.). Die Bedeutung der Kerngebiete des Oculomotorius hat Bernheimer weiter durch elektrische Reizversuche an den Schnittflächen nach medianer Spaltung der Kernregion bestätigt 3). Dabei konnte auch festgestellt werden, daß bei schwachen Reizen isolierte Kontraktion der gleichseitigen Pupille nur dann auftrat, wenn mit der Elektrode innerhalb des Medianschnittes, unter dem Aquaeductus, im vorderen Drittel der vorderen Nierhügelgegend gereizt wurde: es ist dies genau die Gegend, in der beim Affen und Menschen der kleinzellige Medialkern liegt. Bestätigt wurde dieser Befund durch isolierte Zerstörung des kleinzelligen Medialkernes am Affen, wonach sich als einziges Ausfallssymptom andauernde, gleichseitige, vollständige Lichtstarre der maximal erweiterten Pupille einstellte*). Die Pupille des zweiten Auges reagierte auf Belichtung beider Augen prompt in der gewöhnlichen Weise. Es besteht nach diesen Versuchen kein Zweifel, daß der kleinzellige paarige Medialkern das Sphincterzentrum derselben Seite darstellt. Es ist nun nach Bernheimer sehr wahrscheinlich zu vermuten, daß der unpaare Median- kern in Beziehung zu der Accommodation der beiden Augen steht. Der direkte experimentelle Nachweis war bis jetzt noch nicht möglich. Der Kern des N. trochlearis schließt mit einer zellenarmen Zone un- mittelbar an das hintere Ende des Oculomotoriuskernes an (Bernheimer, vgl. Fig. 47). Schon Kausch’) hat ihn anatomisch als den caudalsten Teil des Oculomotoriuskernes angesehen. Die dicht hinter dem hinteren Vierhügelpaare austretenden Trochlearisfasern gehen nach den überein- stimmenden Befunden von Edinger, Gudden, Kölliker, Bechterew, Obersteiner, Bernheimer u. a. im Velum medullare anterius eine voll- ständige Kreuzung ein. Die Ursprungsfasern des N. abducens verlaufen sämtlich ungekreuzt bis zu ihrer Austrittsstellee Aus der lateralen und ventralen Partie des Kernes tritt eine Anzahl zarter Fäserchen aus, welche als „Stiel der kleinen Olive“ zu dieser hin zu verfolgen sind und über deren Bedeutung ver- schiedene Vermutungen ausgesprochen worden sind). Bernheimer meint hierüber: „Wenn man bedenkt, daß der Kern des Acusticus mit dem Corpus trapezoides in direkte Beziehung tritt und dieses wiederum die kleine Olive beeinflußt, so kann man wohl mit einiger Berechtigung annehmen, daß der Stiel der kleinen Olive zum Abducens indirekt die Beziehungen des Acusticus zum Abducens und weiter durch das dorsale Längsbündel zu den übrigen motorischen Nervenkernen des Auges bewerkstellige. Es könnten auf diesem Wege sehr gut die bekannten reflektorischen Augenbewegungen nach Schall- eindrücken ausgelöst werden, um so mehr, als wir sonst keine andere anato- mische Grundlage für diese physiologisch und klinisch mehrfach nachgewiesene Reflexerscheinung kennen“ 7). !) Arch. f. Psych. 10 (1881). — ?) Arch. f. Ophthalmol. 41 (2), 1895. — °) Arch. f. Ophthalmol. 48 (2), 1899. — *) Ebenda 52 (2), 1901. — °) Neurolog. Centralbl. 1894, 8. 518. — °) Vgl. Köllikers Handb. d. Gewebelehre, 6. Aufl., 2 (1), 293, 1893. — ’) l. e. in Gräfe-Sämischs Handb,, 8. 82 d. 8.-A. en Beziehungen der Ursprungskerne. 329 2. Gegenseitige Beziehungen der Ursprungskerne. Die anatomische Grundlage für die Assoziation der Augenbewegungen ist außer durch den im vorigen Absatz erörterten gemischten Ursprung des Oceulomotorius aus den beiderseitigen Kernen noch in querer Richtung durch nervöse Verbindungen zwischen den gleichnamigen paarigen Kernen und in der Längsrichtung zwischen den drei verschiedenen Kernen jeder Seite vorzugsweise durch das dorsale Längsbündel gegeben. Aus diesem biegen nach Kölliker, van Gehuchten, Bernheimer u. a. zahlreiche Fasern dorsalwärts um und endigen zwischen den Ganglienzellen der betreffenden gleichseitigen Kerne, be- sonders zahlreich im Oculomotoriuskern, mit feinen, marklosen Verästelungen. Gekreuzte solche Bahnen oder gar gekreuzte Ursprungsbündel des Oculomotorius und Trochlearis aus dem Abducenskern, wie sie von Duval und Laborde!) angenommen worden sind, bestehen nach Kölliker und Bernheimer nicht. Die Ansichten über die Leitungsrichtung des hinteren Längsbündels sind noch geteilt. Wahrscheinlich verlaufen in demselben sowohl aufsteigende als auch absteigende lange und kurze Bahnen?). Es ist auch daran zu denken, daß durch solche Bahnen entferntere Assoziationen mit den Augen- bewegungen vermittelt werden könnten. Die Querverbindungen zwischen den gleichnamigen Augenmuskelkernen werden allem Anscheine nach nicht durch eigentliche Kommissurenfasern, sondern nur durch Dendriten der Nervenwurzelzellen hergestellt, welche weit über die Mittellinie in den Kern der Gegenseite eindringen und sich zwischen dessen Ganglienzellen verästeln. Der physiologische Beweis für das Vor- handensein solcher Verbindungen wurde sowohl für die paarigen kleinzelligen Medialkerne), als auch für die Kerne der äußeren Augenmuskeln von Bern- heimer®) geliefert. Wird nämlich beim Affen die paarige Kernregion der Augenmuskeln durch einen glatten Medianschnitt durchtrennt, so werden keine synergischen Augenbewegungen mehr ausgeführt; die Tiere bewegen die Augen regellos, jedes für sich, ganz unabhängig voneinander: „Die Ganglienzellen der Nervenkerne jeder Seite beherrschen nunmehr, nach medianer Spaltung, nur die von eben dieser Seite innervierten Augen- muskeln“ 5). 3. Beziehungen zum Sehnerven. Bezüglich der direkten oder indirekten Verbindung des Sehnerven mit den Kernen der Augenmuskeln einschließlich des Sphincterzentrums ist eine Reihe verschiedener Ansichten in der Literatur vertreten, so von Stilling, Meynert, Kölliker, Bechterew u. a. — Bernheimer®) hat mittels der Marchischen Metliode nach Exenteration des einen Augapfels oder Durch- schneidung des Sehnerven beim Affen einen Faserzug nachweisen können, welcher vom Sehnerven in den vorderen Vierhügel und von da an das late- rale Kopfende des paarigen Medialkernes gelangt. Da nach den angegebenen ") Journ. de l’anat. et de la physiol. 16 (1880). — ?) Vgl. Spitzer, Arbeiten aus Obersteiners Institut, 6. Heft, 1899. — °) S. auch den nächsten Abschnitt. — *) Sitzungsber. d. Wiener Akademie 107 u. 108, Abt. III, 1898, 1899. — °’) 1. c. Gräfe-Sämischs Handb., 8. 88. d. S.-A. — °) Arch. f. Ophthalmol. 47 (1), 1898, 330 FIIR Beziehungen zum Sehnerven. Zerstörungen beiderseitig degenerierte und nicht degenerierte Fasern in an- scheinend gleicher Menge verfolgt werden können, ist damit der anatomische Beweis erbracht, „daß dies Sehnervenfasern sind, daß sie sich im Chiasma partiell kreuzen, und daß diese gekreuzten und ungekreuzten Fasern in an- nähernd derselben Zahl, beiderseits, zum vorderen Vierhügel, bzw. zur Gegend des Oculomotoriuszentrums verlaufen“ !). Mittels der Golgischen Methode können die büschelförmigen Endverzweigungen dieser Fasern an jungen Affenhirnen dargestellt werden. Ihr Konnex mit den kleinen Ganglienzellen des paarigen Medialkernes wird nach Bernheimer wahrscheinlich durch die kleinen rundlichen Zellen mit ihren Dendriten vermittelt, welche zahl- . reich um den Oculomotoriuskern verstreut liegen und im ganzen zentralen Höhlengrau angetroffen werden; er faßt sie als „Schaltzellen“ im SinneMona- kows auf. r Sowohl nach vollständiger medianer Durchschneidung des Chiasmas, als auch eines Tractus bleibt die Pupillarreaktion beider Augen reflektorisch und konsensuell erhalten. Damit ist der Beweis erbracht, „daß nicht nur mit jedem Sphincterkern ungekreuzte Pupillarfasern (des N. optieus) in Beziehung treten, sondern daß außerdem eine zentrale Verbindung der beiden Kerne untereinander bestehen muß“ 2). Es seien schließlich noch die Anschauungen Meynerts und Köllikers über die Verbindung des N. opticus mit den Augenmuskelkernen kurz an- geführt. Der erstere äußert sich hierüber: „Der Bau des Vierhügels zeigt, daß die ihm aus der äußeren Hauptendigungsmasse des Tractus optieus, dem Corpus geniculatum externum durch den hinteren Rand des oberen Vierhügel- armes zugeführten Bahnen im Mittelhirn zunächst einen longitudinalen Ver- lauf nehmen, durch welchen sie sich an der Schleifenbildung nicht beteiligen. Diese longitudinalen Bündel vereinigen sich aber mittels eines radiären Ver- laufes, den sie nach Einschaltung von Vierhügelzellen annehmen, die Schleifen- schicht durchsetzend, mit dem Grau des Aquaeductus Sylvii, in welches die Zentren der Augenmuskelursprünge eingebettet sind. Dies läßt auf Er- regungen der Augenmuskulatur durch die retinalen Eindrücke schließen, und es fällt dieser Mechanismus noch in die einfache Gestaltung eines Reflex- apparates“®). Kölliker vermutet nach Erfahrungen, an Golgischen Präparaten, „daß die Opticusfasern, die im cerebralen Vierhügelpaare enden, auf die Zellen dieses Hügels einwirken, und daß diese mit ihren nervösen Fortsätzen, die nachweislich die Bogenfasern am Rande des zentralen Höhlen- graues bilden helfen, teils direkt, teils durch zahlreiche in das zentrale Grau eindringende Kollateralen auf die betreffenden motorischen Kerne einwirken“ %). Es macht sich in der Tat mit Rücksicht auf die innigen Beziehungen, welche zwischen der Abbildung auf der Netzhaut und den Bewegungen des Augapfels bestehen, das Bedürfnis selbständigerer Verbindungen des Seh- nerven mit den Augenmuskelkernen geltend, als sie durch die Bern- heimersche Pupillarbahn gegeben ’sind, welche erst durch Vermittelung des kleinzelligen Medialkernes und des hinteren Längsbündels mit jenen in Ver- bindung tritt. !) l. ce. Gräfe-Saemischs Handb., 8. 85 d. S.-A. — ?) Bernheimer, I. c. 8. 86. — °) Psychiatrie, 8. 189 bis 190, Wien 1884. — *) I. c. 8. 300. Beziehungen zur Großhirnrinde. 331 4. Beziehungen zur Großhirnrinde, Die Beziehungen der Augenmuskelkerne zur Großhirnrinde sind haupt- sächlich durch physiologische Experimente, namentlich Reizungen der Rinde, festzustellen gesucht worden. Erst in der letzten Zeit ist es Bern- heimer!) gelungen, mittels der Marchischen Methode nach Exstirpation des Gyrus angularis beim Affen einen genau verfolgbaren mächtigen Faserzug festzustellen, welcher von dieser Rindenregion in bogenförmigem Verlaufe bis unter die Vierhügel verfolgt werden kann, wo er sich, in verschiedenen Höhen in: den Hirnstamm einstrahlend, nach hinten wendet und in das hintere Längsbündel, vorzugsweise der gekreuzten Seite, wo es mit den Augenmuskelkernen innig verfilzt ist, verfolgt werden kann; die Kreuzung scheint im ventralsten Teile des Längsbündels stattzufinden. Die Verbindung dieser Fasern mit den Augenmuskelkernen wird höchst wahrscheinlich, sowie die der Pupillenfasern ?), vielfach durch Schaltzellen hergestellt, die im zen- tralen Höhlengrau eingebettet sind. Für die elektrischen Reizversuche an der Hirnrinde kommen natürlich auch hier nur diejenigen Reizerfolge in Betracht, die bei den schwächsten Induktionsreizen von einer Rindenpartie aus erhalten werden können; bei stärkeren Reizungen werden leicht, wie schon Knoll), Lueiani und Sep- pilli®) festgestellt haben, von sehr zahlreichen Stellen der Rinde aus, offenbar unter Vermittelung kortikaler Assoziationsbahnen Augenbewegungen, zum Teile mit anderen Bewegungen vergesellschaftet, hervorgerufen. Ferrier’), Horsley und Schäfer) stellten bei Reizung des Gyrus angularis am Affen Bewegungen der Augäpfel nach der entgegengesetzten Seite fest, bei Rei- zungen des vorderen und hinteren Schenkels der Windung kamen noch Bewegungen nach oben und nach unten hinzu. Diese letzteren sind, unter Ausschaltung der seitlichen Augenbewegungen, von Risien Russell”) mittels lokalisierter Rindenreizung an Affen und Hunden genauer untersucht worden. Ähnliche Augenbewegungen, jedoch minder konstant und erst auf stärkere Reize, können nach Ferrier°®), Luciani und Tamburini°’) auch durch Reizungen der Sehsphäre ausgelöst werden. Dabei handelt es sich vermutlich entweder um Reizung der kurzen Assoziationsbahnen zwischen Sehsphäre und Gyrus angularis oder um Reizung der von den großen Pyramidenzellen der Oceipitalrinde entspringenden Projektionsfasern, die nach Monakow zu den Augenmuskelkernen herabziehen (Bernheimer).- R. Russell!P) hat durch Reiz- und Exstirpationsversuche auch den Ein- fluß des Kleinhirns, des N. octavus und des Ohrlabyrinths auf die Augen- bewegungen festgestellt und genauer untersucht. Bernheimers Reizversuche!!), bei denen unter Anwendung ganz schwacher Induktionsströme darauf geachtet wurde, daß nur reine Augen- bewegungen ohne Mitbewegung der Gesichtsmuskulatur oder des Kopfes !) Arch. f. Ophthalmol. 57 (2), 363, 1903. — ?) Vgl. d. v.8. — ®) Sitzungsber. d. Wiener Akad., math.-naturw. Kl., 94, Abt. 3, 1886. — *) Die Funktionslokali- sation an der Großhirnrinde, 1886. — °)"Vorlesungen über Hirnlokalisation 1892, S. 35. — °) Brain, April 1888. — 7) Journ. of Physiol. 17, 1, 1895. — ®) l.c. S. 36. — °) Rendicont. d. R. Inst. Lomb., Milano, Ser. II, 12 (1879). — !) l. ec. — 4) Sitzungsber. d. Wiener Akad., math.-naturw. Kl., 108, Abt. III, 1899. 332 “ Beziehungen zum Vierhügel. zustandekamen, erwiesen mit großer Deutlichkeit, daß der Gyrus angu- laris und besonders das mittlere Drittel seiner beiden Schenkel das aus- gesprochene Rindenfeld für die synergischen Augenbewegungen darstellt, und zwar derart, daß der rechte Gyrus angularis die Bewegungen beider Augen nach links, links oben und unten, der linke die Bewegungen beider Augen nach rechts, rechts oben und unten beeinflußt. Nach vollständiger einseitiger Zerstörung des Gyrus angularis werden Bewegungen der Augen nach der operierten Seite tadellos ausgeführt, während in den ersten Tagen nach der Operation deutliche Lähmung der Augenbewegungen nach der nicht operierten Seite besteht; es treten für die Augenbewegungen vikariierende Bewegungen des Kopfes und des Körpers ein. Schon in der zweiten Woche nach der Operation sind jedoch diese Lähmungserscheinungen fast vollständig kom- pensiert. Deutliche Ablenkung der Augen nach der operierten Seite in der ersten Zeit nach der Operation war nur gelegentlich zu bemerken. Wichtig sind endlich noch die Ergebnisse von Bernheimers Experi- menten in bezug auf die Rolle der vorderen Vierhügel bei der Innervation der Augenbewegungen. Seit Adamück!) seine Reizversuche an den Vier- hügeln ausgeführt hat, wurden die vorderen Vierhügel ziemlich allgemein als Reflexzentren für die Augenbewegungen angesehen. Bernheimer hat nun gezeigt, daß Affen mit beiderseitig oder einseitig zerstörtem vorderen Vierhügel noch tadellose synergische Augenbewegungen ausführen und keine Störung des normalen Spieles der Augenmuskeln aufweisen. Zu analogen Ergebnissen ist Topolanski?) beim Kaninchen gelangt. Es können auch keine zu den Augenbewegungen in nachweislicher Beziehung stehenden Bahnen zur Hirnrinde durch die vorderen Vierhügel ziehen, denn nach Ab- tragung dieser bis ins Niveau des Aquaeductus hat Bernheimer durch Reizung der Gyri angulares beider Seiten die normalen synergischen Be- wegungen beider Augen erzielen können, wie zuvor. Hingegen lassen sich nach medianer Durchschneidung des Hirnstammes zwischen Aquaeductus und Kernregion der Augenmuskelnerven 3) durch Reizung eines Gyrus angularis keine Augenbewegungen mehr auslösen: es müssen also „die Verbindungs- neurone von den Augenmuskelkernen zur Rinde des Gyrus angularis sämt- lich gekreuzt verlaufen. Die Kreuzung der Verbindungsneurone (Stab- kranzfasern) muß in der Medianlinie, jedoch unter dem Niveau des Aquaeductus Sylvii, zwischen diesem und den Augenmuskelkernen statt- finden“ ). 5. Zusammenfassung. Auf Grund der erörterten Ergebnisse physiologischer Versuche, nament- lich der systematischen Untersuchungen Bernheimers an Affen, bestätigt zum Teil durch die entwickelungsgeschichtliche und die Golgische, zum Teil durch die Degenerationsmethode, läßt sich derzeit schon ein einiger- maßen befriedigender Überblick über die zentrale Innervation der Augen- muskeln gewinnen. Bernheimer selbst hat neuerlich ein Schema angegeben, in welchem insbesondere die Verhältnisse der Innervation für die Seiten- und !) Centralbl. f. d. med. Wissensch. 1870, 8. 65. — °) Arch. f. Ophthalmol. 46 (2), 452, 1898. — °®) Vgl. 8. 329. — *)1.c. Gräfe-Sämisch, 8. 105 d. 8.-A. Zusammenfassung. 333 Konvergenzbewegungen der Augen zum Ausdrucke kommen). Dasselbe ist in der nachstehenden Fig. 48 wiedergegeben und mit Rücksicht auf das in den Absätzen 2 bis 4 Erörterte ohne weiteres verständlich. Danach kommen für willkürliche synergische Seitenwendungen der Augen z. B. nach rechts die Bahnen 1—2—3 und 1—2—4—5, für Seitenwendungen nach links die Fig. 48. Linkes Auge Rechtes Auge R. intern. R. extern. Oculomotorjaskern- Zentrum des R. intern. 3 Dora Längsbündel = Abducenskern Sehsphäre Schema der Innervation für die Seiten- und Konvergenzbewegungen der Augen, nach Bernheimer. entsprechenden symmetrischen Bahnen in Betracht. Synergische Seiten- wendungen werden also nur von der gegenüberliegenden Hemisphäre be- einflußt. Hingegen können Konvergenzbewegungen auf den Bahnen 1—2 —4—5 und 1—2—4—6 oder den symmetrisch gelegenen, also von beiden Hemisphären aus hervorgebracht werden. Daraus ergibt es sich, daß bei einseitiger Zerstörung der Bahn 1 seitliche Ablenkung beider Augen nach der Seite der Läsion (d&viation conjuguee), im Sinne der nicht gelähmten Antagonisten, eintritt, oder, wie es Prevost?) treffend bezeichnet, der !) Gräfe-Sämisch, Handb. d. Augenheilkunde, 2. Aufl., 8, Kap. 11, Nach- trag 2, 1902. — *) Cinquantenaire de la Soc. de Biol., Vol. jubilaire 1899. 334 ‚Corticale Impulse. — Reflexe. — Assoziation. Kranke „seinen Herd ansieht“ !), während das Konvergenzvermögen erhalten bleibt. Die anfängliche konjugierte Ablenkung der Augen nach der Seite des Herdes geht bald mehr oder weniger vollkommen zurück, dagegen bleibt bei dauernden und hinreichend ausgedehnten Läsionen das Unvermögen be- stehen, die Augen willkürlich nach der Gegenseite des Herdes zu bewegen. Corticale Impulse im allgemeinen können den Kernen der Augen- muskelnerven direkt durch die Bahn (1) vom Gyrus angularis der anderen Seite, vielleicht auch durch — wenig zahlreiche — direkte Bahnen aus der gekreuzten Sehsphäre zukommen; indirekt, durch Vermittelung des Gyrus angularis und seiner Assoziationsfasersysteme wiederum in erster Linie von der Sehsphäre, in zweiter Linie auch von verschiedenen anderen Bezirken der Hirnrinde?). Reflexe des Augenmuskelapparates kommen vor allem vom Sehnerven aus zustande. In erster Linie wird hier freilich an den Pupillar- und Accommodationsreflex gedacht, für welchen ersteren Bernheimer gekreuzte und ungekreuzte Pupillarbahnen des Sehnerven nachgewiesen hat, deren Kontiguität mit den paarigen Medialkernen vermutlich durch Schaltzellen her- gestellt wird. Über dieselbe Bahn würden nach Bernheimer Reflexe der äußeren Augenmuskeln ausgelöst werden können, während Meynert und Kölliker für diese besondere, im Vierhügel unterbrochene und vermittelst des zentralen Höhlengraues auf die Augenmuskelkerne wirkende Verbindungen annehmen. Gegen eine Station in den vorderen Vierhügeln sprechen freilich Bernheimers Versuche mit Abtragung derselben ?). — Für Reflexe vom N. octavus her kann der zum Abducenskern ziehende Stiel der kleinen Olive in Anspruch genommen werden®). Reflexe und Mitbewegungen, die von entfernteren Teilen des Zentralorgans aus hervorgerufen werden, können endlich durch die langen Bahnen des hinteren Längsbündels vermittelt ge- dacht werden, die wahrscheinlich Leitungsvorgänge zum Teil in aufsteigender, zum Teil in absteigender Richtung vermitteln ’). Die Assoziation der Augenbewegungen im besonderen beruht nach unseren derzeitigen Erfahrungen auf einer ganzen Anzahl anatomischer Ein- richtungen: zunächst schon den besonderen corticalen Verbindungen ver- mittelst der gekreuzten- Stabkranzfasern (vgl. das Schema Fig. 48), zweitens den Längsverbindungen der gleichseitigen Kerne hauptsächlich durch Ver- mittelung des dorsalen. Längsbündels, dann den Querverbindungen der paarigen Kerne, welche zum Teil unmittelbar durch die Dendriten der Wurzel- zellen, zum Teil auch wohl durch Schaltzellen hergestellt werden; endlich ist auch noch die partielle Kreuzung des Oculomotorius und die totale des Trochlearis in Betracht zu ziehen. Die Vielfältigkeit der Verbindungen in jedem einzelnen dieser Systeme läßt die nachgewiesene Breite, d. h. die begrenzte Veränderlichkeit gewisser Assoziationen unter bestimmten, künst- lich gesetzten Bedingungen ®) ebenso verständlich erscheinen, wie die be- stimmten Ursprungs- und Endigungsverhältnisse der Fasersysteme die Möglichkeit ausschließen, daß andere als die ganz bestimmten bekannten Haupttypen der assoziierten Augenbewegungen zustande kommen. In welcher Weise die außerordentlich feine, rasche und sichere Koordi- ') Bernheimer, 1. c. 8. 41. — ?) Vgl. S. 331. — °) Vgl. 8. 332. — *) Vgl. 8. 328. — °) Vgl. 8. 329. — °) Vgl. Abschnitt B, Absatz 6. 2 Se a nd re FE Innervationsgefühle? — Das monokulare Sehen. 335 nation und Regulierung der Augenbewegungen, sowie die verhältnismäßig rasche Anpassung des Augenmuskelapparates an besondere Verhältnisse er- folgt, kann, wie die Frage der Koordination’ und Regulierung der Muskel- bewegungen überhaupt, auf Grund des derzeit vorliegenden Tatsachen- materiales kaum mit einiger Sicherheit entschieden werden. Insbesondere die Frage, welche Rolle „Innervationsgefühle* (Meynert, Bain, Wundt, Helmholtz) und „Muskelgefühle* oder kinästhetische Empfindungen nach James und Münsterberg bei der Innervation der Augenmuskeln spielen, ist vielfach erörtert worden. Nach Helmholtz!) besteht kein Zweifel dar- über, „daß wir die Richtung der Gesichtslinie nur beurteilen nach der Willensanstrengung, mittels der wir die Stellung der Augen zu ändern suchen“. „Die einzige Wirkung des Willensimpulses, die wir im Auge direkt und hinreichend deutlich wahrnehmen, ist die veränderte Lagerung der Objekte im Sehfelde bei der neuen Stellung des Auges. Es läßt sich zeigen 2), daß wir in der Tat diese Veränderungen des Bildes fortdauernd als Kontrolle für das richtige Verhältnis der Willensimpulse zu ihrem Effekte benutzen“. Dieser zweite Satz erscheint von viel größerer Realität und Bedeutung als der erste; in der Tat macht diese mit den Blickbewegungen des sehenden Auges einhergehende Kontrolle durch die Netzhautbilder selbst, die feinste Kon- trolle von Muskelbewegungen überhaupt, deren vollendetste Ausbildung und Verwendung gerade für die Augenbewegungen als das naturgemäßeste erscheint, die Annahme von die Augenbewegungen begleitenden besonderen kinästhe- tischen Empfindungen, jedoch wohl auch von zentralen Innervationsgefühlen einigermaßen überflüssig, wenn sie auch beide durchaus nicht ausschließt. Hering?) hat, sowohl gegen die Rolle von Innervations-, als auch von kinästhetischen Empfindungen bei den Augenbewegungen Stellung nehmend, das Hauptgewicht darauf gelegt, daß die Augenstellungen von der Lokali- sation der Aufmerksamkeit abhängig sind, „welche letztere zugleich auch die Lokalisierung des Kernpunktes und damit den scheinbaren Ort des fixierten Objektes bestimmt“. „Denkt man sich, daß der jeweilige Ort der Aufmerk- samkeit bedingt ist durch einen bestimmten psychophysischen Prozeß, so kann man diesen Prozeß auch zugleich als das physische Moment gelten lassen, welches die entsprechende Innervation der Augenmuskeln auslöst“ t). Es steht nun anscheinend nichts im Wege, die Heringsche Annahme der Auslösung der Augenbewegungen mit der Helmholtzschen der Kon- trolle derselben zu vereinigen: Die Augenbewegungen werden durch den psychophysischen Prozeß der Aufmerksamkeitszuwendung ausgelöst und unter der Kontrolle der Netzhautbilder durchgeführt. II. Das monokulare Sehen. Bezeichnen wir als Wahrnehmungen die Empfindungen, insofern sie in das Spiel der Assoziationen eintreten (Ziehen), also die Empfindungen in Be- ziehungen zu Vorstellungen, so kommt für die Gesichtswahrnehmungen in allererster Linie, da sie konsequent und fast ausnahmslos mit den Gesichts- empfindungen in Assoziation treten, die Raumvorstellung in Betracht. Der !) Physiol. Optik, 2. Aufl., $. 744 u. 745. — ?) Versuche von Czermak und von Helmholtz, 1. c. — °) Beiträge zur Physiologie I, $ 11, 1861. — ®) 1. e. 336 'Lokalzeichen. — Raumsinn und Sehschärfe. Raum wird nach unendlich vielen Richtungen gleichmäßig ausgedehnt und kontinuierlich vorgestellt. Die Reduktion auf drei Dimensionen ist eine Art mathematischer Abstraktion und aus Verstandestätigkeit resultierend (Kant), vielleicht auch beeinflußt von gewissen Empfindungskomplexen (Cyon). Zur Begrenzung der Empfindungen nach den Dimensionen des Raumes setzt die Verstandestätigkeit die Vorstellungen allgemeiner, zunächst . mathematischer Formen: Punkt, Linie, Dreieck, Kreis usw. fest (Schema- tismus des reinen Verstandes nach Kant!). Auf solche im Raume vor- gestellte Schemata werden die Empfindungen bezogen, indem sie in den Raum projiziert werden. Derart werden die Gesichtsempfindungen benutzt, „um aus ihnen Vorstellungen über die Existenz, die Form und die Lage äußerer Objekte zu bilden“. Die Physiologie hat nun auf diesem Grenzgebiete gegen die Psychologie lediglich die Aufgabe, „das Empfindungsmaterial, welches zur Bildung von Vorstellungen Veranlassung gibt, in denjenigen Be- ziehungen zu untersuchen, welche für die daraus hergeleiteten Wahr- nehmungen wichtig sind“ (Helmholtz). Jedes räumliche Objekt kann man sich durch eine kleinere oder größere Anzahl von allgemeinen Formen (s. oben), in letzter Linie von Punkten, so bestimmt denken, daß dadurch seine Form und Lage im vorgestellten Raume gegeben erscheint. Zur Wahrnehmung des Objektes mittels des Gesichts- sinnes ist nun jedenfalls erforderlich, daß diesen verschiedenen Punkten ent- sprechend verschiedene Empfindungen erzeugt werden, was wiederum als einfachste Voraussetzung die hat, daß verschiedenen Punkten des Raumes verschiedene Orte an einer die Empfindungen vermittelnden Sinnesfläche ent- sprechen. Die vom Orte der Erregung‘ abhängigen Verschiedenheiten der Empfindungen werden nach Lotze Lokalzeichen benannt. Das Element der räumlichen Wahrnehmung mittels des Gesichtssinnes bildet somit die Fähigkeit der Unterscheidung der von verschiedenen Orten der Sinnesfläche der Netzhaut aus hervorgebrachten Empfindungen oder, vermittelst der Assoziation mit der Raumvorstellung, der Unterscheidung von Punkten des vorgestellten Raumes, der Raumsinn des Auges. Im vorliegenden Abschnitte sollen zunächst die Leistungen des mon- okularen Sehens für die Gesichtswahrnehmungen erörtert werden. Es wird. von dem Raumsinne des Auges und dem Maße der Feinheit desselben, der Sehschärfe, ausgegangen, sodann die Projektion der monokularen Gesichts- empfindungen nach außen, zunächst im flächenhaften Gesichtsfelde, dann die monokulare. Tiefenwahrnehmung, endlich die monokulare Größen- und Ent- fernungsschätzung erörtert werden. Dabei wird auf das direkte und in- direkte Sehen, sowie auf das Sehen mit unbewegtem und mit bewegtem Auge (oder auch Kopfe) Rücksicht genommen werden müssen. A. Raumsinn und Sehschärfe. 1. Wahrnehmung einzelner Punkte. Man hat sich vielfach die Frage nach der Größe des kleinsten, mittels der Netzhaut wahrnehmbaren Flächenelementes oder „Punktes“ vorgelegt und in Zusammenhang damit die Größe der anatomischen Elemente der !) Vgl. Aubert, 8. 572f. Wahrnehmung einzelner Punkte. 337 Netzhaut in Betracht gezogen. In der nachstehenden Tabelle sind nach Aubert einige Bestimmungen kleinster Gesichtswinkel zusammengestellt, unter denen verschieden helle Objekte von verschiedenen Beobachtern als eben noch sichtbar angegeben worden sind. Gesichts- Objekt Beleuchtung winkel Beobachter Sekunden Gaußscher Heliotrop . . . Sonnenlicht 0,43" A. Humboldt!) (reflektiert!) Weißer Punkt auf schwarzem ch GE ae Sonne 10” Hueck?) Weißes Quadrat auf schwar- zem Grunde ...... Sonne 17 Plateau?) R Diffuses Tageslicht 18". Plateau,Aubert‘) Schwarzer Punkt auf weißem N £ r 25— 29’ Aubert = i . 30— 36” T. Mayer?) In allen diesen Versuchen waren verhältnismäßig starke Kontraste zwischen Grund. und Objekt vorhanden. Welchen Einfluß der Kontrast gegen den Grund auf die zur Wahrnehmung erforderliche Größe des Gesichtswinkels hat, hat Aubert durch besonders angestellte Versuche gezeigt, in denen ein weißes oder schwarzes Quadrat vor einem in seiner Helligkeit veränderlich einzustellenden grauen Grunde (Maxwellsche Scheibe) beobachtet wurde. Die Versuche ergaben eine Zunahme des erforderlichen Gesichtswinkels bei Abnahme des Kontrastes, die jedoch nur bei sehr großen und sehr kleinen Kontrasten stärker ins Gewicht fällt. So wurden an einem hellen Tage erhalten: Grund dunkler Weißes Objekt Grund heller Schwarzes Objekt als Objekt Gesichtswinkel als Objekt Gesichtswinkel 57mal 15” 57 mal 35" 17mal 37" 43 mal 35 10mal 34'' 29 mal 35" 7mal 36'' 15mal 357 3,8 mal 39" 8mal 37.7 2mal 2.46" 3,3mal 39 Aubert hat auch gezeigt, daß bei solchen Versuchen außer der rela- tiven auch die absolute Helligkeit von Objekt und Grund von deutlichem Ein- flusse sind, was, wie die aus beiden vorstehenden Tabellen hervorgehende notwendige Vergrößerung des Gesichtswinkels für schwarze Objekte auf hellem Grunde, zum Teil auf die verschiedene Größe der wahrnehmbaren Zerstreuungskreise bei verschiedener Helligkeit (s. unten), zum Teil wohl auch auf physiologische Irradiationsvorgänge zurückzuführen sein dürfte ®). 1) Kosmos 3, 70. — ?) Müllers Archiv 1870, 8. 86. — °) Pogg. Ann. 20, 328, 1830. — *) Physiologie der Netzhaut, $. 197, 1865. — °) Commentarii Societatis Göttingensis 1754, p. 100. — °) Vgl. Volkmann, Physiol. Untersuchungen 1863, 8. 21f. Nagel, Physiologie des Menschen. III, 29 338 Physiologischer Punkt. — Sterngrößen. Aubert nimmt an, daß bei den mittleren Helligkeitsdifferenzen seiner Versuche „der wahrnehmbare Teil der Zerstreuungskreise nur sehr klein, vielleicht verschwindend klein gewesen ist und das sensible Netzhautbild dem Gesichtswinkel der Objekte fast genau entsprochen hat“. Aus dem ge- fundenen Gesichtswinkel von im Mittel 35 Sekunden ergibt sich der Durch- - messer des zugehörigen Netzhautbildes zu rund 2,5 u, „also eine Größe, welche ungefähr dem Durchmesser eines Zapfens in der Fovea centralis entspricht“. Aubert bezeichnete „diese wahrscheinlich geringste Größe des wahrnehmbaren Netzhautbildes als physiologischen Punkt“ („empfind- licher Punkt“ nach Smith!). Theoretisch wäre allerdings die Wahr- nehmung noch viel kleinerer „Punkte“ auf der Netzhaut denkbar, da ja das einzelne optische Element derselben, z. B. ein Zapfen der Fovea, wohl nicht in seinem ganzen Querschnitte beleuchtet zu werden brauchte, wenn nur das Bild des „Punktes“ genügend lichtstark ist. In Wirklichkeit nimmt jedoch mit der Zunahme der Lichtstärke auch wieder die Größe des wahrnehmbaren Teiles der durch die Unvollkommenheit des dioptrischen Apparates bedingten Zerstreuungskreise zu, so daß gemeinhin der Aubertsche „physiologische Punkt“ von rund 6u? wirklich ungefähr dem kleinsten auf der Netzhaut wahrnehmbaren Flächenelement eines optischen Bildes entsprechen dürfte. Unter günstigen Bedingungen können freilich Wahrnehmungen „punkt- förmiger“ Objekte unter noch viel kleineren Gesichtswinkeln ‘erfolgen, wie in dem . bekannten Beispiele, welches Humboldt anführt, dessen Gefährte Bonpland bei der Besteigung des Vulkans Pichincha von den Indianern auf eine Entfernung von 27/,km noch als ein weißer, vor den schwarzen Basaltfelsen sich fortbewegender Punkt bemerkt und dann auch von Humboldt selbst und dessen Gastfreunde gesehen wurde. Jener war dabei in den landesüblichen weißen Poncho gehüllt, und 2 Humboldt berechnet den Gesichts- b Fig. 49, winkel, unter dem der flatternde Mantel gesehen werden konnte, auf 12 bis 7 Se- kunden. Wieviel indessen in diesem Falle, wie auch bei der Wahrnehmung von Fixsternen, von Flammen und Feuern bei Nacht auf Rechnung der Lichtzerstreuung im Auge (der wahr- nehmbaren Zerstreuungskreise) zu setzen ist, läßt sich nicht näher feststellen. ° Bei der Wahrnehmung von Sternen und deren scheinbarer Größe . da, fällt bekanntlich die Helligkeit der- ‘selben und damit die Helligkeit der 1753 wahrnehmbaren Zerstreuungskreise wesentlich ins Gewicht, „und die soge- nannten Sterngrößen sind nur Stern- ee en Zee. helligkeiten“ 2), selbst im Teleskop ?). Volkmann®) unterscheidet die physikalische und die sensible Grenze der Zerstreuungskreise. Sei a (Fig. 49) der Mittelpunkt und aa, der Radius eines Zerstreuungskreises, dessen Hellig- a %] a2 ag !) Smith-Kästner, Lehrbegriff der Optik, 1755, 8. 29. — ?) Aubert. — ®) W. Herschel, Philos. Transact. 1803, 8. 224. — *) Physiol. Untersuchungen im Gebiete der Optik 1863, I, 8. 38 £. Zentrale Sehschärfe. 339 keitswerte von der Mitte zum Rande durch die Kurve bd,a, dargestellt seien. Für einen zweiten, gleich großen Zerstreuungskreis eines anderen, weniger hell leuchtenden Punktes seien die Helligkeitswerte durch die Kurve cd,@; bestimmt. Bezeichnet ad eine eben noch wahrnehmbare Helligkeit, so herrscht dieselbe ersichtlich für den ersten Zerstreuungskreis in a,, für den zweiten in a,, es wird somit der erstere von größerem Radius (44,) erscheinen als der letztere (Radius @a,). Nachdem schon Riccö!) für die Wahrnehmbarkeits grenze festgestellt hatte, daß das Produkt aus Lichtstärke und Flächengröße des wahr- genommenen kleinen Objektes eine konstante Größe ergibt, hat später Asher?) gefunden, daß die scheinbare Größe kleiner Objekte bis zu Gesichtswinkeln von 2 bis 3 Minuten lediglich von der Menge der von ihnen ins Auge ge- langenden Lichtmenge abhänge. Sein Schluß, diese Leistung statt dem Raum- sinne dem Lichtsinne des Auges zuzuschreiben, ist nach Guillery?) nicht gerechtfertigt. Auch nach Schoute*) kommt bei kleinen Bildern, die auf einen Zapfen zu liegen kommen, nur das Produkt aus Oberfläche und Licht- stärke für den Größeneindruck in Betracht. 2. Sehschärfe im direkten Sehen (zentrale Sehschärfe). Die zweite für das monokulare Sehen in Betracht kommende Frage ist die nach dem Winkelabstande, welchen zwei Punkte voneinander haben müssen, um gesondert wahrgenommen werden zu können, oder die Frage nach dem Abstande der Bilder zweier Punkte auf der Netzhaut, welche noch als getrennt erkannt werden. Diese Frage wird gewöhnlich in Verbindung mit der Anordnung, Größe und Zahl der Netzhautelemente erörtert, die bei solcher Abbildung beteiligt sind; für das direkte Sehen kommen hierbei also die Zapfen der Fovea centralis in Betracht. Als Sehschärfe wird gemeinig- lich die Feinheit des Vermögens bezeichnet, getrennte Punkte oder Linien mittels des Auges gesondert wahrzunehmen. Als Maß der Sehschärfe in diesem Sinne dient im allgemeinen der Gesichtswinkel des kleinsten gegenseitigen Abstandes zweier feiner Punkte oder Linien, die noch gesondert zur Wahr- nehmung gelangen können. Es hat jedoch Hering’) darauf aufmerksam gemacht, daß auf solche Weise nicht die eigentliche Feinheit des optischen Raumsinnes bestimmt wird, „d.h. man mißt nicht die kleinste Verschiedenheit der Lage, bzw. Größe, welche das Auge noch zu erkennen vermag“. Es ist ferner noch in Betracht zu ziehen, ob die beiden zu unterscheidenden Punkte oder Linien gleiche Helligkeit (und Farbe) haben oder nicht. Bei der ge- wöhnlichen Beobachtung zweier heller Linien oder Punkte (z.B. eines Doppel- sternes) muß außer diesen noch die — im Mittel um die Hälfte kleinere — Lageverschiedenheit zwischen dunklem Zwischenraum und je einer hellen Linie (Punkt) wahrgenommen werden. „Somit entspricht der Gesichtswinkel des kleinsten hier wahrgenommenen Lagenunterschieds nicht dem Abstande der beiden hellen Linien, sondern dem Lagenunterschiede des dunklen !) Annal. d’Ottalmol. 6, 3, 1877. — ?) Zeitschr. f. Biol. 35, 394, 1897. — ®) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 16, 264, 1898. — *) Ebenda 19, 251, 1899. — °) Ber. d. math.-phys. Kl. d. königl. sächs. Ges. d. Wiss. zu Leipzig, naturw. T., 1899, S. 16 £. 22* 340 Ältere Bestimmungen der Sehschärfe. Zwischenraumes und je einer hellen Linie. Für letzteren Gesichtswinkel dürfte man aber höchstens die Hälfte des ersteren annehmen“ !), In der nachstehenden Tabelle ist eine kleine Zahl älterer Bestimmungen der Sehschärfe an Sternen und terrestrischen Objekten zusammengestellt. Die- selben sind Aubert und Helmholtz entnommen. Die Zahlen der Tabelle sind auf ganze Sekunden abgerundet. Objekt Gesichtswinkel Beobachter 1: Parallele. Drake... u. 2: ... „% 5 Hirschmann 2. Weiße Scheiben (auf schwarzem Grunde) ws. Sa, ra aa“ 51? Struve 3. Parallele schwarze Linien mit gleich breiten weißen abwechselnd?) . . 52”’—1’ 15" Bergmann 4. Weiße Quadrate (auf schwarzem Grande) I DER 55" Aubert 5: Fixstemen.% 2. ae es % N ‚ Hooket) 8.-Btubgiktan I Fe 1’ 4" Helmholtz 7. Schwarze Punkte (auf weißem Geunda?) 5. m re ee 1’ 4" Hueck 8. Schwarze Quadrate (auf weißem e Grunde”) sn aus. wie Rs 118" Aubert 9. Parallele Linien wie 3. . .... 118° E. H. Weber 10. Deagleichen: 3% 422. a. 0 Ira 1’ 34'' Tob. Mayer 11. Jupitertrabanten . . ...°.. über 2’ A. Humboldt 12. Schachbrettmuster?) . . .... 2’ a Tob. Mayer 18; Spinuwehlldan . ..: WE ar ao" - Volkmann 14. Doppelstern & der Leier . . . . . ES 7 44 A. Humboldt u. Galle Die große Verschiedenheit der mit Hilfe verschiedener Objekte unter verschiedenen Umständen von den einzelnen Beobachtern ermittelten Werte weist schon darauf hin, daß derartige Bestimmungen durch die besonderen Verhältnisse der einzelnen Beobachtungen wesentlich beeinflußt werden können. In der Tat hängt, wie von vornherein zu vermuten war und wie Aubert zuerst genauer festgestellt hat, die Sehschärfe wesentlich von der Deutlichkeit ab, mit welcher die Objekte selbst wahrgenommen werden. Die Deutlichkeit der Objekte ist aber wiederum von drei Bedingungen abhängig, und zwar von dem Gesichtswinkel, unter dem sie selbst gesehen werden, von ihrer absoluten Helligkeit und von dem Kontraste gegen den Grund. In der nachstehenden Fig. 50 ist dieses Verhalten nach einer von Aubert ermittelten Tabelle für einige Kombinationen dieser drei Faktoren bildlich dargestellt. Es wurden weiße Quadrate auf 57 mal dunklerem (schwarzem) Grunde einmal bei sehr heller Tagesbeleuchtung (A), das andere Mal an einem weniger hellen Tage (B), dann dieselben Quadrate an dem weniger hellen Tage auf (2,5 mal dunklerem) grauem Grunde beobachtet (CO). Aus der Figur sind die Größen der Quadrate und ihre Abstände ersichtlich, bei denen sie aus einer !) Hering, 1. c. 8. 17. — ?) Von Mitte zu Mitte gemessen. — °) Von Rand zu Rand gemessen. — *) Nach Aubert in höchstem Grade zweifelhaft. Abhängigkeit von Helligkeit und Kontrast. 341 Entfernung von etwa 20 m getrennt wahrgenommen würden. Die Zahlen links geben den Gesichtswinkel, unter dem die Quadrate gesehen wurden, die Zahlen rechts von A, B und C die Gesichtswinkel für die Abstände der Quadrate voneinander an. Es ergibt sich aus Auberts Versuchen, daß im Fig. 50. INN NNNNNIN 17 54" 29" ag” 3a” INNNNTNNNJNNNN 1716" 1 139" 17397 Fl Lil 57” 137" 240" 3307 40" 1’ 50" 3’ 50" B. C. Abhängigkeit der Sehschärfe von Gesichtswinkel, Helligkeit und Kontrast, nach Aubert. allgemeinen die Sehschärfe desto besser wird, d. h. zwei Objekte unter desto kleinerem Gesichtswinkel getrennt wahrgenommen werden, je größer die Objekte sind, je größer die absolute Helligkeit und je größer der Kontrast gegen den Grund ist. Für schwarze Quadrate auf weißem oder grauem Grunde sind noch größere Distanzen als für weiße erforderlich. Volkmann!) hat auf die bei Verwendung verschiedener Objekte oft sehr verschiedene Größe der Irradiation durch die Lichtzerstreuung im Auge aufmerksam gemacht, wodurch der Abstand zwischen je zwei wahrnehm- baren Einzelbildern auf der Netzhaut mehr oder weniger verkleinert werden muß. Hingegen bleibt die Unterscheidbarkeit z. B. von parallelen dunklen und hellen Streifen dieselbe, wenn auch die Breite derselben wechselt, sobald nur die Abstände der Mittellinien der Streifen gleich bleiben (Tob. Mayer?), daher zweckmäßig die Gesichtswinkel für diese anstatt für den Abstand der Objekte angegeben werden (Helmholtz; vgl. die Tabelle S. 340). Volkmann und Aubert haben gefunden, daß die wahrnehmbaren Bilder von weißen oder schwarzen Linien, die eben getrennt wahrgenommen werden, unabhängig von dem Gesichtswinkel derselben nahezu gleich breit erscheinen, woraus Volkmann den Schluß zog, daß die Größe des Netzhaut- bildes und der Irradiation sich in entgegengesetzter Richtung verändern. Endlich hat Aubert?) auf die durch die Irradiation notwendigerweise her- vorgebrachten Veränderungen in dem Kontraste zum Grunde hingewiesen und hebt als wesentliche Umstände hervor, daß von der Irradiationszone der Objekte mehr oder weniger dem Zwischenraume hinzugefügt wird, je nach- dem ihre Helligkeit mehr der des Objektes oder der des Zwischenraumes gleicht; und daß bei verminderter Helligkeitsdifferenz zwischen Objekten und !) Physiol. Unters. im Gebiete der Optik, 1863/64. — ?) Siehe $. 337, Fußnote. — ®) Physiol. d. Netzhaut, 8. 216 f£. 342 Sehschärfe und Beleuchtungsintensität. Grund der Gesichtswinkel für beide zunehmen muß, soll noch eine getrennte Wahrnehmung möglich sein. Seit T. Mayer!) zuerst ein Gesetz für die Abhängigkeit der Sehschärte S von der Beleuchtungsintensität B des gesehenen Objektes aufzustellen ver- sucht hatte, nach welchem sich die Sehschärfe wie die sechsten Wurzeln aus den Beleuchtungsintensitäten verhalten sollten, sind ähnliche Versuche viel- fach wiederholt worden, so von Posch?), Albertotti®), Sous®), Carp°), Cohnt) u. a. Die von verschiedenen Beobachtern angegebenen Zahlen diffe- rieren zum Teil sehr bedeutend, wie z. B. die nachstehende kleine, von Cohn zusammengestellte Übersicht zeigt. Snellen Nr. 607) gelesen auf Meter: Diez Mayer Posch Albertotti Sous Carp Cohn 1 60 60 60 60 60 60 Y, 47 36 ER. ı 39 40 55 Y, 42 24 28 30 34 52 Yo 38 12 24 a 49 Cohn schloß hieraus, „daß enorme individuelle Unterschiede der S$ bei Abnahme von B auftreten und daß wir noch weit von der Aufstellung eines Gesetzes über den Zusammenhang von B und $ entfernt sind“. Uhthoff und König®) veränderten die Beleuchtungsstärke in den weiten Grenzen von 1: 3,600000. Als Lichtquelle diente eine Petroleumlampe, die Beob- achtungen wurden binokular ausgeführt. Als unterste Grenze wurde S = 0,0015 7) bestimmt. Bei einer Beleuchtungsintensität von 33 Meterkerzen war der Höhepunkt der Sehschärfe erreicht. Es konnte jedoch damals auch noch kein mathematisches Gesetz für die Beziehungen zwischen Sehschärfe und Beleuchtungsstärke abgeleitet werden. Cohn stellte seine Versuche mit dem Weberschen Polarisations-Episkotister an. Dieselben ergaben nebenbei die Wertlosigkeit derartiger bei Tageslicht angestellter Versuche: „Unser Auge selbst ahnt gar nicht die Differenzen im Tageslicht, welche das Photometer auf- deckt.“ Es wurden im Verlaufe eines Versuches Schwankungen der Beleuch- tungsstärke bis über 25 Proz. festgestellt. Eine Anzahl von Messungen bei konstantem künstlichen Lichte ergab zunächst mit großer Deutlichkeit die schon erwähnten bedeutenden individuellen Unterschiede: so schwankten die Beleuchtungsintensitäten für S —= 1 bis um das 10fache, für $S = 0,75 um das 12fache, für S = 0,5 bis um das 7fache des Minimalwertes. Neu und bemerkenswert ist das Ergebnis Cohns, daß es Augen gibt, die bei der schlechten Beleuchtung von nur 1!/, Meterkerzen noch volle, bei 0,6 Meter- kerze noch halbe Sehschärfe besitzen. Bei allen untersuchten Augen er- forderte die volle Sehschärfe nicht mehr als 16, die halbe nicht mehr als !) Comm. soc. reg. Götting. IV, P. physica, p. 97, 1754. — ?) Arch. f. Augen- heilk. 5 (1), 14, 1876. — °) Ann. di Ottalmol. 7, 7, 1878. — *) Le Bordeaux medi- cal, No. 28, 1878. — °) Diss., Marburg 1876. — °) Arch. f. Ophthalmol. 17 (2), 305, 1871; Arch. f. Augenheilk. 8, 408, 1879; 13, Heft 2, 1884; Beitr. z. Augen- heilk. (Festschr. f. R. Förster), Wiesbaden: 1895, 8. 197. — 7) Vgl. 8. 348. — ®) Arch. f. Ophthalmol. 32 (1), 171, 1886. or Königs Untersuchungen. 343 4 Meterkerzen Beleuchtungsintensität. Auch auf Grund dieser Versuche lehnte es Cohn mit Rücksicht auf die gefundenen großen individuellen Verschieden- heiten ab, eine mathematische Beziehung zwischen Sehschärfe und Beleuchtungs- intensität herzuleiten, stellte vielmehr die Aufgabe, an einer großen Reihe normaler Augen die Versuche zu wiederholen und aus den gefundenen Zahlen die Mittel zu nehmen. Das Mittel aus seinen wenigen 1895 publizierten Versuchen würde für S—1 bei B = 100 it 9=075 per B=77; S = 0,5 bei B = 33. Schon im Jahre 1876 hatte Posch!) angegeben, daß bei zunehmender Beleuchtungsstärke (B) die Sehschärfe (S) ungefähr (etwas rascher) mit dem log B wächst, also in arithmetischer Progression, wenn die Beleuchtungs- intensität in geometrischer Progression zunimmt. Das Gesetz sollte nur gelten, wenn B nicht stärker als im Verhältnis von 1:16 verändert wurde. Neue genauere Untersuchungen, die König?) an seinem eigenen farbentüchtigen Auge bei Beleuchtungen mit weißem und mit farbigem Lichte ausgeführtshatte, führten ihn zu dem Ergebnis, daß die Sehschärfe S eine lineare Funktion. des Logarithmus der Beleuchtungsintensität B des gesehenen Objektes sei. König drückte diese Beziehung durch die Formel aus: \ S = allog B— log C), worin die Konstante © dem Helligkeitswerte des benutzten Lichtes um- gekehrt proportional ist. Der Faktor a ist hingegen von der Natur des benutzten Lichtes unabhängig. a und C seien jedoch wesentlich verschieden, je nachdem Zapfen oder Stäbchen zur Aufnahme des Lichtreizes dienten. Im ersten Falle sei a ungefähr zehnmal so groß als im zweiten. König vermutet auf Grund des Verhaltens der Sehschärfe bei zunehmender Be- leuchtungsintensität, wobei sich innerhalb niedriger Intensitäten ein lang- sames, innerhalb der höheren ein rascheres Ansteigen der Sehschärfe mit dem log B kundgibt, „daß bei der Sehschärfe zwei verschiedenartige Elemente der perzipierenden Schicht in der Netzhaut beteiligt sind: die erste Art bei den niederen Intensitäten, die, noch ehe sie bei der Steigerung der Be- leuchtung an die obere Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gelangt ist, von der zweiten Art abgelöst wird, die dann ebenfalls in ihrer Leistungsfähigkeit sich steigert, bis sie ein Maximum erreicht hat“. König gibt an, daß bei seinen Bestimmungen, die der schwächer ansteigenden Strecke seiner Kurven der Seh- schärfe angehören, tatsächlich die Fixation nicht mit der Fovea, sondern etwas exzentrisch erfolgt sei; bei steigender Intensität der Beleuchtung, entsprechend dem steiler ansteigenden Teile der Sehschärfenkurve, trete dann Fixation mit der Fovea ein. Bei einem total farbenblinden Auge, das König auch unter- sucht hatte, entsprach der ganze Verlauf der Kurve der ersten, schwach an- steigenden Strecke des farbentüchtigen Auges, und König schließt daraus, daß die Funktionsunfähigkeit der Zapfen eines solchen Auges auch die Ur- sache der mit dieser Anomalie stets verbundenen geringen Sehschärfe ist. Hummelsheim®) hat den bei allen Untersuchungen über den Einfluß der Beleuchtungsintensität in Betracht zu ziehenden Einfluß der Pupillenweite auf die !) 1. e. — ?) Sitzungsber. d. Berliner Akad., 13. Mai 1897, 8. 559. — ®) Arch. f. Ophthalmol. 45 (2), 357, 1898. 344 Gesichtswinkel und Größe des Netzhautbildes. Sehschärfe genauer untersucht. . Er fand, daß erst bei Beleuchtüngsstärken von einer Meterkerze aufwärts die Sehschärfe, mit derSnellenschen Tafel bestimmt, bei enger Pupille die bei weiter Pupille bestimmte bedeutend übertraf. Von 50 Meter- kerzen, aufwärts nimmt die Differenz zwischen. beiden nur noch wenig zu. — Broca.und Sulzer!) haben messende Versuche über die Abhängigkeit der Seh- schärfe von der Zeitdauer der Belichtung angestellt. Es ergaben sich dabei für das Zentrum der Fovea etwa viermal so kurze Zeiten als für nur etwa '/,’ davon entfernte Netzhautpartien.. Die Reaktionsträgheit machte sich besonders bei Be- leuchtungsstärken unter 80 Meterkerzen geltend; bei höheren Beleuchtungsinten- sitäten kommt dagegen die Netzhautermüdung wesentlich in Betracht. Unter Be- rücksichtigung dieser kann das Optimum der Beleuchtung für rasche Formen- unterscheidung, z. B. beim Lesen, zwischen 40 und 80 Meterkerzen liegend an- genommen werden. Die Erörterung der Beziehungen zwischen zentraler Sehschärfe und Zapfenapparat der Fovea erfordert einerseits die Betrachtung des Zusammen- hanges zwischen Gesichtswinkel und Größe der Netzhautbilder, anderseits die Bestimmung der Verteilung und der Größenverhältnisse der Zapfen der Fig. 51. 6 Gesichtswinkel und Größe des Netzhautbildes. Fovea und ihrer Teile. Das Verhältnis des Gesichtswinkels zur Größe des Netzhautbildes läßt sich leicht ermitteln: Sei AB (Fig. 51) ein beliebig vom Auge entferntes Objekt, das unter dem Gesichtswinkel & gesehen wird und auf der Netzhaut des Auges O in ab zur Abbildung kommt, und seien K, und Ä, die Knotenpunkte des optischen Systemes dieses Auges, so ist ab = K,a.tga. Setzt man K,b im Mittel gleich 15 mm, so ergibt sich hieraus: Größe “ Gesichtswinkel Größe Gesichtswinkel des Netzhautbildes rund des Netzhautbildes rund in Mikren Sekunden in Mikren Sekunden 0,5 7% 2 2! 0,75 10,5” 55 IH" 1 14! 3 ar 1;5 31 4 56’ Die meist etwas querelliptische Fovea centralis des Menschen hat einen Querdurchmesser von etwa Y,, einen Höhendurchmesser von etwa '/,mm, somit eine Fläche von etwa 0,5 bis 0,6 mm?. Die schmächtigen Innenglieder der Fovea- zapfen haben einen mittleren Durchmesser von rund 34, so daß auf den großen Durchmesser etwa 100, auf den kleinen etwa 60 Zapfen kommen. Gegen den Rand der Fovea nehmen sie an Durchmesser bereits etwas zu. Auf 0,1mm? rechnet man !) Journ. de Physiol. 5, 293, 1903. Zentrale Sehschärfe und Zapfenapparat. 345 etwa 1300 bis 1400 Zapfen. Der Durchmesser der Zapfenaußenglieder beträgt nur etwa ein Viertel des Durchmessers der Innenglieder, 0,6 bis 0,75 u. In der Fläche sind die Zapfen der Fovea nach M. Schultze nicht in geraden Reihen, sondern in Bogenlinien angeordnet, ähnlich einer Guil- lochierung, nach Fritsch sind es spiralig an- geordnete Reihen, die sich unter Winkeln von 45° kreuzen und am Rande der Fovea in meridionale Richtungen übergehen'!). Die Zapfen liegen nach M. Schultze nicht ganz vollkommen regelmäßig, vorwiegend in der Anordnung A oder B der neben- stehenden Fig. 52 in der Fläche der Fovea verteilt. Dabei bleiben notwendigerweise kleine Lücken he era Perla net PBer zwischen den Zapfen frei, deren Fläche je 0,27 Vgr. etwa 2000. (Anordnung A) bis 0,05 (Anordnung B) des Quer- schnittes eines Zapfeninnengliedes betragen kann. Die Annahme, daß sich die Zapfeninnenglieder mit sechseckig facettierten Körpern aneinanderschließen, wodurch diese Lücken wegfielen, dürfte für die lebende Netzhaut nicht zutreffen. Wenn durch zwei getrennte Lichtpunkte zwei unmittelbar nebeneinander befindliche lichtempfindliche Elemente der Fovea gleichzeitig gleich stark erregt werden, kann keine gesonderte Wahrnehmung jener erfolgen. Diese ist unter solchen Bedingungen offenbar erst möglich, wenn mindestens ein Element zwischen jenen beiden gleichzeitig unerregt bleibt oder in anderem Grade erregt wird. Als lichtempfindliche Elemente der Fovea werden nun allgemein die Zapfen betrachtet; jedoch sind die Meinungen darüber geteilt, ob die Zapfeninnenglieder oder die Außenglieder oder beide durch Licht erregbar sind, oder ob endlich die primären, durch Lichtwirkung hervorgerufenen Veränderungen im Pigmentepithel erfolgen und von hier aus die Erregung der Zapfenaußenglieder stattfindet. Für unsere Frage reduzieren sich, wie ersichtlich, diese vier Fragen auf zwei, nämlich: kommen für die Sehschärfe die Innen- oder Außenglieder in Betracht? Sind die Zapfeninnenglieder (mit oder ohne Außenglieder) direkt erregbar, so muß der Abstand zweier Punkte oder Zerstreuungskreise, die noch gesondert wahrgenommen werden sollen, offenbar mindestens so groß sein, daß unter günstigen Bedingungen ein unerregter (oder anders erregter) Zapfen zwischen zwei erregten (gleich erregten) Platz findet, also größer als ungefähr 3u. Beträgt dieser Abstand z. B. für zwei Punkte A und B (oder der Grenzen zweier Bildfelder) 4u und sei ZZ’ (Fig. 53) die Aufsicht auf ein Stück einer Zapfenreihe der Fovea Fig. 58. bei 5000 facher Vergrößerung, so können die beiden Punkte in der Lage 1 und 3 nicht gesondert wahrgenommen werden, da hierbei jedesmal zwei unmittelbar nebeneinander liegende Zapfen gleich erregt werden. Wird hingegen durch Abbildungen en drei Zapfen. eine feine Bewegung des Auges die Lage 2 der Punkte zu den drei Zapfen hergestellt, so liegt nun zwischen zwei erregten ein unerregter Zapfen und die beiden Punkte können gesondert wahrgenommen werden. Einem Abstande der beiden Punkte des Netzhaut- bildes von 4u entspricht aber nach der Tabelle auf S. 344 ein Gresichtswinkel Fig. 52. !) Vgl. Kölliker, Handbuch d. Gewebelehre, 6. Aufl., 3 (2), 825 £. 1899. 346 Erregung der Zapfenaußenglieder ? von 56” oder rund einer Minute, unter welchem in der Tat, wie die Tabelle S. 340 ergibt, unter bestimmten Umständen getrennte Wahrnehmung zweier Punkte oder Linien erfolgen kann. Hieraus muß aber wiederum geschlossen werden, daß, wenn die Annahme der Erregbarkeit der Zapfeninnenglieder richtig ist, das Auge wirklich derartige zweckdienliche Bewegungen ausführt, die man sich übrigens durchaus nicht als eine Art mikrometrischer Ein- stellung vorstellen braucht, sondern die sich aus den kleinsten, stets vor- handenen Blickschwankungen um den Fixationspunkt von selbst ergeben. Setzt man voraus, daß die Zapfenaußenglieder (direkt oder indirekt) erregbar sind, die Innenglieder hingegen nicht, so sind mehrere Erklärungs- möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Nimmt man an, daß die Zapfenaußen- glieder (Zapfenspitzen) parallel und je in der Achse der Innenglieder, also mit ihren Achsen gleichfalls in Abständen von 3 u voneinander stehen, so Fig. 5%; werden, wie unter der früheren An- 1 3 nahme, bei nicht zu kleinen Dimen- sionen der Bilder der beiden zu unterscheidenden Objekte!) als Folge kleinster Blickschwankungen des Auges wieder die beiden oben angenomme- nen Fälle eintreten können, also ge- legentlich gesonderte Wahrnehmung B der beiden Bilder erfolgen, indem ein u unerregtes (oder anders erregtes) Zapfenaußenglied zwischen zwei er- regte (gleich erregte) zu liegen kommt. Der erforderliche Abstand der beiden Objekte würde wiederum einem Ge- sichtswinkel von ungefähr einer Minute entsprechen. Auch hier müssen also feine Einstellbewegungen oder Blick- B schwankungen angenommen werden, welche die gesonderte Wahrnehmung kleinster Distanzen ermöglichen. Nimmt man aber einmal solche feine Einstell- B bewegungen an, so ergibt sich leicht eine Erklärungsmöglichkeit für die etwaige Wahrnehmung noch viel kleinerer Distanzen als der bisher an- genommenen, nämlich von Distanzen, > \ 1 2 : 5 ; % £ ” die nur ein wenig größer sein würden Verschiebung zweier Zapfen A und B über zwei . Bildpunkte 1 u. 2. Vgr. etwa 5000. als der Durchmesser eines Zapfen- außengliedes oder einer Zapfenspitze, ja möglicherweise auch kleiner als diese sein könnten. Stellen die auf den Linien 1—1 und 2—2 (Fig. 54) liegenden schwarzen Punkte je ein auf der Netzhaut abgebildetes Punktpaar 1,2 (oder die Ränder zweier in den Linien 1—1 und 2—2 begrenzter Bilder) dar, so kann zunächst die Lage eines !) Vgl. 8. 338, Versuch einer Erklärung hoher Sehschärfen. 347 Zapfens A dazu derartig sein, daß der Punkt 2 dessen Außenglied erregt (l der Figur); durch eine kleine Verschiebung nach links (der Figur) gelangt der Zapfen A in die Lage II, sein Außenglied liegt unerregt ' zwischen 1 und 2. Durch eine weitere kleine Verschiebung in derselben Richtung gelangt der Zapfen in die Lage III, in welcher dessen Außenglied nun durch den Punkt 1 erregt wird. Bei einer weiteren Verschiebung nach links um die gleiche Strecke erlischt auch diese Erregung wieder, hingegen wird nun bereits das Außenglied des Zapfens B durch den Punkt 2 erregt (Lage IV) und so fort (Lage V usw.). Bei diesem Erklärungsversuche spielt also das — freilich sehr kleine — Ausmaß der Bewegung, welche zur Ein- stellung der einzelnen Punkte nacheinander erforderlich ist, mit eine wesentliche Rolle. Bei dem innigen Zusammenhange, welcher zwischen den Einstellbewegungen der Augen und der Abbildung auf der Netzhaut besteht, wäre wohl an eine solche (dynamische) Erklärung einer die gewöhnlich angenommene etwa bedeutend übersteigenden Sehschärfe zu denken. Der Abstand der beiden gesondert wahrzunehmenden Punkte oder Bildgrenzen brauchte hier nur etwas größer als der Durchmesser eines Zapfenaußen- gliedes (Zapfenspitze) zu sein, d. h. einem Gesichtswinkel von etwa 10 Se- kunden oder etwas darüber entsprechen. In der Tat sprechen nun neuere Erfahrungen !) dafür, daß sich unter geeigneten Bedingungen solche Grade der Sehschärfe erzielen lassen, wie sie durch die früher erörterten beiden Annahmen nicht erklärt werden können. Allerdings bleibt hier noch eine andere Möglichkeit der Erklärung offen, nämlich die Annahme, daß die Zapfenaußenglieder am Grunde der Fovea in der lebenden Netzhaut enger aneinander lägen, als es dem mittleren Abstande der Innenglieder entspricht, also mit ihren Spitzen im besten Falle bis zur Berührung konvergierten. Eine solche Konvergenz der Außenglieder in der Mitte der Fovea wurde wirklich von M. Schultze beschrieben. Unter dieser Voraussetzung wäre die Wahrnehmung von Distanzen, die nur wenig größer sind, als dem Durch- messer eines Außengliedes entspricht, durch die einfachen Annahmen zu erklären, wie sie früher für Distanzen von mehr als 3w gemacht worden sind. Andere Möglichkeiten der Erklärung für die gesonderte Wahrnehmung zweier Punkte oder Objektgrenzen scheinen derzeit nicht vorzuliegen. Dabei sei hervorgehoben, daß die für den Fall der Erregbarkeit der Außenglieder gegebenen Erklärungen im wesentlichen auch für den Fall zutreffen würden, daß die primären Veränderungen durch das Licht nicht im Zapfenapparate, sondern in der Pigmentschicht der Netzhaut hervorgerufen würden. Es hat nun bereits Hensen?) eine Reihe von Erwägungen und Be- legen dafür vorgebracht, daß nicht die Zapfeninnenglieder, sondern die Außenglieder zunächst durch die Lichtwirkung betroffen werden. Er führte den Nachweis, daß das Gesichtsfeld der Fovea lückenhaft ist, indem er Reihen von Punkten mehr und mehr verkleinerte und dabei das merkwürdige Phäno- men des „Tauchens* der Punkte beobachtete, das ihm von Panum, Kupffer und Völkers bestätigt wurde und leicht festzustellen ist. Hensen beschreibt die Erscheinung folgendermaßen: „Zuerst werden die Punkte !) Siehe unten 8. 350f. — ?) Virchows Archiv 34, 401, 1865 und 39, 475, 1867. 348 Hensens Punkttauchen. — Praxis der Sehschärfebestimmung. zackig, etwa wie die Figur eines fern fliegenden Vogels; bei etwas stärkerer Verkleinerung beginnt ein höchst merkwürdiges Spiel, die einzelnen Punkte verschwinden, tauchen gleichsam unter und erscheinen von neuem in höchst wechselnder Weise. Die einen gehen, während andere hervortreten, und bei günstigster Einstellung sind wohl ein Drittel so viele fort wie vorhanden. Den günstigsten Grad der Bewegung der Punkte kann ich nur mit dem Bilde vergleichen, welches ein Mückenschwarm, wenn wir mitten darin stehen, uns darbietet.*“ „Verkleinert man noch weiter, so treten Linien auf, welche bleibend sind und den Punktreihen entsprechen.“ Hensen macht ausdrück- lich darauf aufmerksam, daß die Punkte nicht so klein gemacht werden konnten, daß ihre Bilder etwa ausschließlich auf die Lücken zwischen den Zapfen!) fallen konnten. Volkmann?) hat unter anderem gegen Hensen die Konstanz eines Sternbildes bei umherirrenden, nur nicht zu stark ab- schweifenden Augenbewegungen hervorgehoben, wogegen Hensen darauf hinwies, daß den Astronomen schon lange bekannt ist, daß wir lichtschwache Sterne besser indirekt aufsuchen können als im direkten Sehen. Sucht man Orte auf, wo die Sterne sparsamer stehen, so kann man sich durch indirektes Sehen leicht überzeugen, daß für die Fovea viele Sterne ver- schwinden. Sieht man mit genauester Einstellung in ein dichtes Sternbild, so hat man „auf das brillanteste dieselbe Erscheinung des Punkttauchens, wie sie oben beschrieben ward. Ich wüßte dafür kein besseres Objekt zu empfehlen“. So scheint in der Tat die Lückenhaftigkeit der Fovea und damit die Erregung der Zapfenaußenglieder durch das Licht, sowie das Vorhandensein feinster unwillkürlicher Augenbewegungen erwiesen. Auch die eigentümliche Verwandlung von feinen parallelen geraden Linien in wellenförmige oder buchtige Linien, welche schon von Purkinje?) beobachtet worden war, führt Hensen zum Teil auf die Lücken zwischen den perzipierenden Außengliedern, zum Teil auf die Anordnung dieser zurück, während Helmholtz unter der Annahme der Erregbarkeit der Zapfeninnen- glieder zur Erklärung der Erscheinung die stellenweise verschiedene Er- regung von Zapfen einer und zweier nebeneinander liegender Reihen herbei- zieht. — Für praktische Zwecke wird die Bestimmung der Sehschärfe fast aus- schließlich mit Hilfe der zuerst von E. Jäger (1854) eingeführten Schrift- proben vorgenommen, welche in der Ausbildung, die die Methode durch Giraud-Teulon und Snellen erfahren hat, auch leicht zahlenmäßige An- gaben für die Sehschärfe zu erhalten gestattet. Snellen ging von der Ansicht aus, daß normalsichtige Augen durchschnittlich bei gutem Kontraste (schwarz auf weiß) und mittlerer Beleuchtung (heller Zimmerbeleuchtung) unter Gesichtswinkeln von 1 Minute erscheinende Einzelheiten eines Objektes bereits differenzieren können, und konstruierte seine „Optotypi**) als Zeichen-, Buchstaben- und Leseproben so, daß der ganze Buchstabe in quadra- tischen Blocklettern in den dabei angegebenen Entfernungen (in Metern) unter einem Gesichtswinkel von 5 Minuten, seine Einzelheiten unter einem !) Vgl. Fig. 52, 8. 345. — °) Reicherts und Du Bois’ Arch. 1866, 8. 649. — ®) Beobachtungen und Versuche 1, 122, 1819. — *) Bei H. Peters, 16. Aufl, Berlin 1902. Snellensche Schriftproben. 349 solchen von 1 Minute gesehen werden. Als Beispiel diene die nachstehende Fig. 55, an deren Buchstaben Z und L die Unterabteilung des Quadratfeldes von 5’ ersichtlich gemacht ist. Die Sehschärfe V (Visus) wird durch einen Bruch ausgedrückt, dessen Zähler die Entfernung Fig. 55. d angibt, in der der betreffende Buchstabe erkannt et wird, dessen Nenner die Entfernung D angibt, in der derselbe unter einem Gesichtswinkel von 5’ erscheint: 7 B a 5 X oder, was auf dasselbe herauskommt, jedoch in der Praxis öfter vorgezogen wird, durch einen Bruch, dessen Zähler die Entfernung angibt, in welcher Ö HE: N sich der Untersuchte vor der Schrift befindet, dessen Nenner die Entfernung angibt, in welcher die kleinste dabei erkannte Schrift unter einem Ge- D=3 sichtswinkel von 5’ erscheint. Gewöhnlich wird von einer Entfernung von 6m ausgegangen. Jede D rF MH 124 Sehschärfebestimmung muß mit der Fernpunkts- bestimmung einhergehen ; Anomalien der Refraktion ee a een beeinflussen das Ergebnis natürlich wesentlich, und nach Korrektion derselben ist die damit verbundene Verkleinerung oder Vergrößerung der Netzhautbilder mit in Betracht zu ziehen. Der dem Snellenschen System zugrunde liegende Satz, daß die Er- kennbarkeit eines Schriftzeichens proportional dem Sehwinkel in jeder Rich- tung sei (Donders), ist von Guillery!) und Stettler?) bestritten worden. Nach Guillerys messenden Untersuchungen über den Formensinn 3) besteht schon für ganz einfache Formen kein gleichmäßiges Verhältnis zwischen Erkennbarkeit und Größe des Netzhautbildes. Um so weniger kann ein solches für kompliziertere Objekte angenommen werden, wie es die Probe- buchstaben sind, deren Bilder sich aus dem Zusammenwirken verschieden- artiger Einzelerregungen zusammensetzen. — Die Unterscheidungsfähigkeit für die Snellenschen Buchstaben ist anscheinend besser als zum Beispiel für Schachbrettmuster von demselben Kontraste und dem gleichen Gesichtswinkel von 1’ für das einzelne Feld; solche können vielfach von Augen noch nicht aufgelöst werden, die die ent- sprechenden Buchstaben auf dieselbe Entfernung ohne Mühe lesen. Bei Buch- staben genügt schon vielfach, am meisten beim fortlaufenden Lesen, ein beiläufiges Erkennen der Form, um dieselben richtig zu erfassen, namentlich bei solchen einfacherer Form (Cohnsche Haken). Immerhin hat sich das Snellensche Maß als Maß für das Minimum der normalen Sehschärfe im allgemeinen bewährt. Für die Untersuchung namentlich von des Lesens Unkundigen, Kindern, Naturvölkern hat H. Cohn eine kleine Drehscheibe 5) mit acht hakenförmigen !) Arch. f. Augenheilkde. 28, 263, 1894 u. f. — ?) Beiträge z. Augenheilkde., Heft 18. — °?) Pflügers Arch. 75, 466, 1899. — *) Siehe d. folg. 8. — °) Tafel zur Prüfung d. Sehleistung und Sehschärfe. Breslau, Priebatsch. 350 H. Cohns Sehschärfebestimmungen. (E-förmigen) Zeichen angegeben, ähnlich wie sie in Fig. 56 verkleinert dargestellt ist. Vor dieser Scheibe von 9cm Durchmesser kann eine zweite Kartenscheibe mit einem kreisrunden Auschnitte (abcd) gedreht werden, so daß immer nur eine der Hakenfiguren sichtbar wird. Diese: letzteren entsprechen der Snellenschen Probe- schrift 6, d. h. sie werden aus einer Entfernung von 6m unter einem Gesichtswinkel von 5 Minuten, ihre einzelnen Teile unter einem Gesichtswinkel von 1 Minute gesehen; die Haken haben dabei 8,5 mm Seite. Der Untersuchte hat mit einem größeren aus Pappe ge- schnittenen und mit Handgriff versehenen ähnlichen Haken („Pecusgabel*) die jeweilige Lage des gesehenen Hakens anzugeben. Auf diese Art haben Cohn!) und eine Reihe anderer Untersucher eine große Anzahl neuerer Bestimmungen der Sehschärfe vorgenommen, und zwar an Kindern und Erwachsenen, Soldaten und Naturvölkern. Alle diese Untersuchungen wurden jedoch, wesentlich abweichend von den älteren vorliegenden Bestimmungen, unter freiem Himmel bei voller Tages- beleuchtung, ja gelegentlich unter außerordentlich günstigen Beleuchtungs- verhältnissen vorgenommen. Dabei konnte vielfach das Zwei- bis Dreifache der früher als normal angenommenen Sehschärfe festgestellt werden. Einige Fälle der größten Sehschärfe, die bis jetzt überhaupt beobachtet wurde, seien hier angeführt: Schema der Cohnschen Drehscheibe zur Sehschärfe- bestimmung. Entspr. Untersuchte V= |Gesichts--| Beobachtung Anmerkungen winkel?) Kalmücke 8. 22%, ..% 6,71 gM Kotelmann, Erkannte d. Schrift- Hamburg 1884 probe 6,5 auf 42m Entfernung Beduine D., 18 Jahre alt | 6 10’ Cohn?), Gizeh Erkannte d. Haken 1898 bis 36m richtig. Äußerst klarer, ; heller Tag Äsypter R.N.,25Jahrealt | 41% 131)" | Cohn, Kairo 1898 | Ägypt. Rekrut Ägypter M.G...... 5 19" Derselbe ; a Ägypt. Mädchen Asmah, 11 Jahre alt 61/5! 9,5 = Ägypt. Knabe Achmed Helmi, 16 Jahre alt . |. 81! 7,5’1|Cohn und Erkannte d. Haken Dr. Eloui-Bey| bis auf 48m Di- stanz!! Äußerst klarer, heller Tag !) Gräfes Arch. f. Ophthalmol. 17 (2), 305, 1871; Centralbl. f. Augenheilk., Juli 1879; Deutsche med. Wochenschr. Nr. 43, 1896; Wochenschr. f. Therap. u. Hyg. d. Auges 1898, Nr. 13; 1900, Nr. 44. — ?) Für die Abstände der Einzel- teile des Hakens. — °) Berl. klin. Wochenschr. 1898, Nr. 20—22. Sehschärfe Unzivilisierter. — Einfluß des Alters. 351 H. Cohn meint nun zwar, indem er die Ergebnisse der Untersuchungen an etwa 3000 Personen, darunter etwa 10 Proz. „unzivilisierten* Völkern angehörigen, zusammenfaßt, daß die Naturvölker den Kulturvölkern in der Sehleistung nicht voraus sind, wie vielfach angenommen worden ist. Er findet bei 238 unzivili- | bei 2620 zivili- Sehschärfe | sierten Personen |sierten Personen | Proz. Proz. II ein- bis zweifache I 48 62 zwei- bis dreifache | 40 23 drei- bis achtfache | 1,8 3,9 Indessen ist doch wohl auf die um 14 Proz. größere Zahl mit ein- bis zweifacher, hingegen die um 17 Proz. kleinere Zahl mit zwei- bis dreifacher Sehschärfe der „Zivilisierten* und endlich darauf zu achten, daß die sämtlichen Sehschärfen, welche in dieser Beobachtungsreihe über dem Vierfachen der normalen lagen, bei den sogenannten „Unzivilisierten“ ge- funden worden sind. Das Vorkommen von Sehschärfen nun, wie sie oben als außerordentliche Leistungen zusammengestellt worden sind, die Gesichtswinkeln von 10” und darunter entsprechen, aber auch schon solcher von über ein- bis dreifacher Größe, wie sie unter freiem Himmel so oft beobachtet wurden, kann unter der Annahme der primären Erregung der Zapfeninnenglieder nicht erklärt werden. Es bleibt daher nur übrig, sich einer der $S. 346f. ausgeführten Erklärungsmöglichkeiten zuzuwenden, die auf der Hensenschen Annahme der Erregung der Zapfenaußenglieder fußen. Nach Untersuchungen von Donders und Vroesom de Haan!) an 28 älteren Personen sinkt die Sehschärfe vom 40. bis zum 80. Jahre im Mittel bis auf die Hälfte H. Cohn prüfte in Schreiberhau im Riesengebirge 100 Greise von 60 bis 85 Jahren, von denen nur wenige lesen konnten oder sonst mit Naharbeit beschäftigt gewesen waren, nach seiner Methode unter freiem Himmel und fand nur bei 30 Proz. unter ®/, herabgesetzte Sehschärfe. 70 Augen hatten ein- bis eineinhalbfache, 17 eineinhalb- bis zweifache, ein Auge sogar über doppelte Sehschärfe?). Bereits im Jahre 1871 hatte Cohn 244 Augen von Schulkindern unter freiem Himmel geprüft und gefunden ®): Sehschärfe Anzahl — Prozent 1—1,5 38 15,61 504 1,5—2 85 34,8 2—2,5 ; 104! 42,6! 2,5—3 10 4,1 !) Onderzoek. naar den invloed van den leeftijd op de gezigtsscherpte. Utrecht 1862. — ?) Vgl. auch Gräfes Arch. f. Ophthalmol. 40 (1), 326, 1894. — ®) Ebenda 17 (2), 305, 1871. 352 Erkennen von Lageverschiedenheiten. Im Jahre 1899 berichtete er über die Sehleistungen von 50000 Breslauer Schulkindern !), welche im ganzen ergaben: Sehschärfe Prozent 1—2 50 2—3 32 3—4 5 Die Sehschärfe von Kindern scheint im allgemeinen etwas über, die der Greise etwas unter der der Erwachsenen zu liegen, jedoch ist namentlich der letztere Unterschied nicht so bedeutend, wie nach den Ermittelungen von Donders und Vroesom de Haan eine Zeitlang angenommen worden ist. — Handelt es sich nicht um die Auflösung von Doppelobjekten oder die Erkennung des Abstandes zweier Objektgrenzen, wie dies in der ganzen vor- liegenden Betrachtung der Sehschärfe bis jetzt geschehen ist, sondern um die Bestimmung „der kleinsten Verschiedenheit der Lage, bzw. Größe, welche das Auge noch zu erkennen vermag“, also um die Bestimmung der eigentlichen - Feinheit des optischen Raumsinnes nach Hering?), so gibt die Größe der Sehfeldelemente keine unüberschreitbare Grenze mehr für dieses Vermögen. Schon Volkmann?) war bei seinen Untersuchungen über die Grenzen der erkennbaren und der verkennbaren Unterschiede mittels der Methode der Streckenvergleichung zu Gesichtswinkeln gelangt, die weit unter einer Minute, bis zu zehn Sekunden herab, gelegen waren. Hering) erläutert unter der allgemeinen Annahme sechseckiger, nach Art der Fig. 57 angeordneter Sehfeldelemente den Vorgang unter Zugrundelegung der Noniusmethode ungefähr in folgender Weise: Eine zur einen seitlichen Hälfte schwarze, zur anderen weiße Fläche sei durch einen horizontalen Schnitt (ab im Bilde Fig. 57) in eine obere und eine untere Hälfte geteilt, und die untere Hälfte sei gegen die obere mittels Mikrometerschraube ver- schiebbar. Nach einer kleinen solchen Verschiebung kann nun unter Vermittelung feiner Einstellbewe- gungen oder Blickschwankungen des Auges der Fall ee eg a pen hergestellt werden, welchen die Fig. 57 ersichtlich macht: in der unteren Hälfte gehören die letzten durch den weißen Anteil erregten Elemente der Reihe mm an, während in der oberen Hälfte auch schon Elemente der Reihe nn getroffen werden. „Sobald nun die Erregung der letztgenannten Elemente groß genug wird, um merklich zu werden, wird auch die Lageverschiedenheit der beiden Linien- hälften merklich werden können, insoweit unsere Annahme richtig ist, daß je zwei benachbarten Sehfeldelementen eben merklich verschiedene Ortswerte zukommen.“ In ähnlicher Weise läßt sich der Vorgang auch für andere An- ordnungen der Sehfeldelemente und mit Hilfe unserer für die Erklärung der Fig. 57. !) Breslau, bei Schottländer. — ?) Vgl. 8. 339. — °®) Physiol. Unters. im Gebiete der Optik. 1. Heft, Leipzig 1863. — *) Ber. d. math.-phys. Kl. d. königl. Sächs. Ges. d. Wissensch. 1899, 8. 19 £. Sehschärfe im indirekten Sehen. 353 Sehschärfe gemachten Annahmen auch für den Fall der primären Erregbarkeit der Zapfenaußenglieder erörtern. Natürlich kommen auch für derartige Be- stimmungen der Feinheit des optischen Raumsinnes alle die Momente mit in Betracht, welche für die Deutlichkeit der Abbildung maßgebend sind, die Helligkeit, der Kontrast, die Irradiation und auch der Adaptationszustand des Auges (Hering). In innigem Zusammenhange mit der Wahrnehmung distinkter Punkte und im . besondern von Lageverschiedenheiten in einer Ebene (Flächensehschärfe) steht offenbar die binokulare Funktion der Wahrnehmung von Tiefenunterschieden (Tiefen- sehschärfe), welcher neuerlich größere Aufmerksamkeit zugewendet worden ist. Von derselben wird im dritten Kapitel (Abschnitt B, 2) gehandelt werden. 3. Sehschärfe im indirekten Sehen. Von der Fovea gegen die Peripherie der Netzhaut nimmt die Sehschärfe sehr rasch ab, wie schon Purkinje!) hervorgehoben hatte, indem er jedoch zugleich auf die Wichtigkeit des indirekten Sehens für die Orientierung im Sehraum hinwies. Wird das indirekte Sehen ausgeschlossen, so wird die Orientierung und damit auch die Bewegung der Körperteile im Raume sehr unsicher. Untersuchungen der Sehschärfe im indirekten Sehen sind von Hueck?), Volkmann?®), E. H. Weber), Aubert und Förster, Dor und Jeanneret, Hirschberg?) u. a. ausgeführt worden. Bei der Wertschätzung der Ergebnisse derselben ist es gut, sich die Worte Purkinjes gegenwärtig zu halten, daß „es kaum auszusprechen sei, wie schwierig es bei diesen Ver- suchen erscheint, die Umrisse des Gegenstandes bei größerer Entfernung vom Zentrum desdirek- Fi Re. ig..98: = ten Sehens genau zu fassen.“-H.Dor fand bei Anwen- dung Snellen- scher Probebuch- staben eine Ab- nahme der Seh- schärfe gegen die Peripherie, wie sie durch die neben- stehende Kurve dargestellt ist. Die Abszisse sei ein Durchmesser der flach ausgebreite- e r . Abnahme der Sehschärfe von der Fovea gegen die Peripherie der Netzhaut ten Netzhaut, in F en » ı 1 0 140 1%0 10 1400 1/900 40° 30° 200 1 9.2 89 ..1@ 20° 300 40° läge die Fovea der- selben. Die Ordinaten entsprechen den Sehschärfen in den auf der Abszisse angegebenen Winkelabständen von der Fovea; die Sehschärfe der Fovea V) Beobachtungen und Vers. z. Physiol. der Sinne II, 1825. — ?) Müllers Arch. 1840, S. 93. — °) Handwörterbuch d. Physiol. 3 (1), 334, 1846. — *) Verhandl. d. Königl. Sächs. Gesellsch. d. Wissensch. 1852, 8. 145. — °) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1878, S. 324. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 23 354 Abnahme der Sehschärfe gegen die Peripherie. ist gleich 1 gesetz. — Förster und Aubert!) untersuchten mittels des Perimeters die Abnahme der Sehschärfe im indirekten Sehen, indem sie in den Läufer des Apparates Kärtchen mit Punkt- oder Quadratpaaren ver- schiedener Durchmesser und Abstände einsetzten. Außerdem wurde auch die von Volkmann vorgeschlagene Methode der momentanen Beleuchtung von Zahlen- oder Buchstabengruppen mittels des elektrischen Funkens in An- wendung gezogen, wobei bestimmt wurde, wie weit gegen die Peripherie hin “die Objekte noch deutlich erkannt werden. Immer zeigte sich, wie später auch Landolt und Ito2) hervorgehoben haben, ein gewisses Grenzgebiet, innerhalb dessen man im Zweifel ist, ob man einen oder zwei Punkte sieht. Aubert und Förster haben festgestellt, daß die Fähigkeit, zwei Fig. 59. Punkte gesondert wahrzunehmen, in verschie- a b denen Meridianen der Netzhaut gegen die ® ® Peripherie ungleich rasch abnimmt. und für die einzelnen Augen verschieden ist. Je weiter von der Fovea ein Punktpaar ab- gebildet wird, desto größer muß der Abstand, sowie der Durchmesser der Punkte sein, damit gesonderte Wahrnehmung erfolgt. In der nebenstehenden Fig. 59 sind nach Aubert für 16 Radien der Netzhaut die Entfernungen Unterscheidbarkeit zweier Punkte a, b in 2 Fixationspunkte F ‚in fünffacher Ver- verschiedenen Netshautmeridianen, nach kleinerung aufgetragen, in denen die Unter- scheidbarkeit zweier Punkte a und b (Fig. 59, oben) in einer Entfernung von 20 cm vom Auge eben erlosch. Die dicke Umgrenzungslinie bezieht sich auf Auberts, die dünne auf Försters linksäugiges Gesichtsfeld. Guillery °) bestimmte die Größe der „physiologischen Punkte“ (Aubert) für die Parallelkreise und Meridiane der Netzhaut, sodann die Abstände, welche je zwei solcher Punkte an den entsprechenden Netzhautstellen haben mußten, um noch gesondert wahrgenommen werden zu können, und bestätigte im wesentlichen die obigen Ergebnisse. Es ergab sich besonders eine unverkenn- bare Bevorzugung des inneren Netzhautmeridians. Nach oben und unten nimmt die Sehschärfe etwa von 30° schneller ab als nach innen und außen. Für den Durchmesser der — eben wahrnehmbaren — „physiologischen Punkte“ 5) auf der Netzhaut wurden die Seite 355 verzeichneten Werte (in Mikren) gefunden. nasal Aubert°) hat weiter die merkwürdige Erscheinung näher untersucht, daß kleinere Ziffern und Buchstaben weiter gegen die Peripherie hin erkannt werden als unter gleichem Gesichtswinkel gesehene größere und macht zur Erklärung dieser Erscheinung, die nicht auf Verschiedenheiten der Accommodation bezogen werden konnte, die Annahme, daß durch eine mit der Accommodation verbundene Ver- schiebung der Chorioidea und damit der Stäbchen-Zapfenschicht der Netzhaut günstigere Lagerung der lichtempfindlichen Elemente für die peripherischen Richtungslinien bewirkt würde. — !) Arch. f. Ophthalmol. 8 (2), 1, 1857. —”) Gräfe u. Saemisch, Handb. d. Augenheilk., 1. Aufl, 3 (1), 64. — ?) Pflügers Arch. 68, 120, 1897. — *) Vgl. 8. 338. — °) Als Objekte dienten schwarze Punkte auf 53 mal hellerem weißen Grunde. — °) Moleschott, Untersuchungen 4, 16, 1857. . Abnahme der Zapfen gegen die Netzhautperipherie. 355 ep Haupt-Meridiane Parallelkreise innen außen oben unten 10° 18 190, 22 18 20° zum 35 37 37 25° “837 = — Te 30° —. 50 49 46 35° 42 — _ nt 40° .- 70 57 62 50° 65 95 — — 60° 80 Si — = Es scheint sehr nahe zu liegen, die Abnahme der Sehschärfe gegen die Netzhautperipherie mit der allmählichen Verminderung der Zapfenanzahl von der Fovea gegen den Äquator in unmittelbaren Zusammenhang zu bringen. Fig. 60. Diese Abnahme der Zapfenzahl gegen die Peripherie erfolgt im allgemeinen nach dem Schema der Fig. 60, indem sich mit zunehmender Entfernung ‘von der Fovea zunächst Reihen von je einem, dann von zwei, drei und vier Stäbchen zwischen die gegen den Äquator immer dicker werdenden Zapfen einschieben !). Allein nach den vorliegenden Messungen erfolgt die Abnahme der Sehschärfe viel rascher, als der Verteilung der Zapfen entsprechen würde. Man muß sich daher vor- läufig für die Netzhautperipherie mit der allgemeinen Annahme der Weberschen Empfindungskreise be- jee(jepi u jim (®) °s ( N gnügen, innerhalb welcher eine gesonderte Wahr- nehmung nicht mehr stattfindet, und muß ein Größerwerden dieser Empfindungskreise gegen die Netzhautperipherie im Verhältnis der Abnahme der Sehschärfe annehmen. In der Fovea würde einem solchen Empfindungskreise das Gebiet eines Zapfens Schema der Abnahme der Zapfen gegen die Netzhaut- peripherie. Vgr. etwa 1000. I. Zapfenreihe der Fovea. II. Zapfen und Stäbchen vom Rande der Macula. III. Zapfen und Stäbchen entfernter von der Macula. IV. Zapfen und Stäbchen gegen den Aquator hin. V. Zapfen und Stäbchen aus der Gegend des Aquators. entsprechen, und gegen die Peripherie könnte man sich die Empfindungskreise oder -felder immerhin um die Zapfen als physio- logische Mittelpunkte angeordnet denken, da ja nicht notwendig nur ein unerregtes zwischen zwei erregten Feldern zu liegen braucht, um zwei Erregungen eben gesondert zur Wahrnehmung kommen zu lassen. Wenn in der Fovea centralis in der Tat nur die Zapfenaußenglieder lichtempfindlich sind, die Innenglieder nicht, so ist dies insofern eine besonders bemerkenswerte Einrichtung, als durch sie „die Distinktionsfähigkeit auf Kosten der Konti- nuität der empfindenden Fläche vergrößert worden ist“ (Aubert). Vergleichende Untersuchungen über die Sehschärfe des hell- und des dunkel- adaptierten Auges haben zuerst v. Kries in Gemeinschaft mit Buttmann, später Koester, Bloom und Garten u. a. angestellt. v. Kries?) fand die „Dunkelsehschärfe“ zwischen Netzhautmitte und blindem Flecke von 4 bis 12° !) Vgl. Kölliker, Handb. d. Gewebelehre 3 (2), 825. 2) Centralbl. f. Physiol. 8, 694, 1894. 6. Aufl, 1899. — 23* 356 Hell- und Dunkelsehschärfe. — Monokulare Projektion. Abstand von der Fovea nahezu konstant, während sie in der Netzhautmitte selbst in gewissem Sinne, da die lichtschwachen Objekte dort unsichtbar waren, auf Null sank: „Die mit Stäbchen und Zapfen ausgerüstete Peripherie funktioniert also (bezüglich räumlicher Unterscheidung) innerhalb enorm weiter Grenzen noch gleich gut; die nur mit dem Hellapparat versehene Fovea hat einen nach unten hin weit beschränkteren Bereich der Lichtstärke, ‚innerhalb dessen sie ihre volle Leistung entwickeln kann.“ Vom blinden Flecke weiter bis zur Netzhautperipherie stimmen nach v. Kries Hell- und Dunkel- sehschärfe überein. — Koester!) konstruierte die Kurven für die Hell- und Dunkelsehschärfe seiner Augen und fand die letztere („Stäbchensehschärfe“) in Übereinstimmung mit v. Kries in der Netzhautmittegleich Null, von 5 bis 10° rasch ansteigend und von da gegen die Peripherie annähernd gleichbleibend. Bei 30 bis 40° Abstand vom Zentrum sinkt die Kurve der Hellsehschärfe unter die der Dunkelsehschärfe herab, das heißt, weit seitlich auf der Netz- haut werden lichtschwache Objekte vom dunkeladaptierten Auge besser erkannt, als gleich große helle Objekte vom helladaptierten Auge. Bloom und Garten?) prüften die Sehschärfe eines dunkel- und eines helladaptierten Auges einmal bei objektiv gleicher, das andere Mal bei sub- jektiv gleicher Lichtintensität. Weder Zentrum noch Peripherie der dunkel- adaptierten Netzhaut erreichten je die Sehschärfe, die sich bei Helladaptation mit passender Beleuchtung erzielen ließ. Zentrale und periphere Sehschärfe werden durch die Dunkeladaptation gleichsinnig, aber in ungleichem Ausmaße verändert. Nur bei ganz schwacher Beleuchtung überwiegt die Sehschärfe der dunkeladaptierten Netzhaut, bei etwas stärkerer überwiegt bereits die periphere, bei noch stärkerer auch die zentrale Sehschärfe des helladaptierten Auges. Was die Wahrnehmung einzelner Punkte vermittelst des hell- und des dunkeladaptierten Auges betrifft, so hat Piper?) festgestellt, daß der Reizwert eines Objektes für die dunkeladaptierte Netzhautperipherie sowohl mit der Flächengröße des Netzhautbildes als auch mit der ausgestrahlten Licht- intensität zu- und abnimmt, während er in der helladaptierten Netzhaut- peripherie fast ausschließlich von der letzteren bedingt ist. B. Monokulare Projektion. 1. Das monokulare Gesichtsfeld. Das Gesichtsfeld ist der Inbegriff aller Punkte des Raumes, welche bei einer bestimmten Lage des Auges gleichzeitig auf der Netzhaut abgebildet werden können. Seine Ausdehnung wird vermittelst der verschiedenen peri- metrischen Methoden *) ermittelt und für die verschiedenen Meridianen der Netzhaut entsprechenden Richtungen des Raumes in Winkelgraden angegeben. Im Sinne der Ophthalmologen werden wohl auch die Ausdehnung des Gesichts- feldes und der entsprechenden lichtempfindlichen Netzhautfläche identifiziert (Aubert). Die Ermittelung der Gesichtsfeldgrenzen, welche in der Praxis 1) Centralbl. f. Physiol. 10, 433, 1896 u. Arch. f. Ophthalmol. 45 (2), 336, 1898. — ?) Pflügers Arch: 72, 372, 1898. — °) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 32, 98, 1903. — *) Vgl. 8. 193. Das monokulare Gesichtsfeld. "8857 eine wichtige Rolle spielt, ward schon von Ptolemaeus versucht, Th. Young!) und Purkinje?) haben die ersten messenden Beobachtungen ausgeführt, Förster®), Landolt*), Aubert und zahlreiche spätere Untersucher haben endlich unter Anwendung der Perimeter zahlreiche genaue messende Versuche angestellt, so daß gegenwärtig eine große Reihe genauester Zahlenangaben zur Verfügung steht. Danach beträgt die Ausdehnung des Gesichtsfeldes für die Blickrichtung geradeaus nach vorn, individuellen Schwankungen unterliegend: Nach suBunweworal) :. . ... 2: »-:8)202.000- 80. bis 90° Ma Dr 2: nee ers een - A5 . .5859 SH DE». 2:0 000,006 ee ae DO m OP Nach srenelie. ua. 2. rer 700 In der nachstehenden Fig. 61 sind die mittleren Gesichtsfeldgrenzen für das rechte Auge (in der Ausgangsstellung) nach Hirschberg’) eingetragen. Die römischen Zahlen bezeichnen 12 um je 30° gegeneinander geneigten Netzhautmeridianen entsprechende Richtungen des Raumes, die konzentrischen Kreise Winkelabstände in diesen einzelnen Richtungen (Ebenen), vom Fixations- punkte aus gerech- Fig. 61. i net. m entspricht u dem Mariotte- _ schen Flecke, L der lateralen, M der medialen Seite des Gesichtsfeldes. Die ausgezogene Linie entspricht den Ge- sichtsfeldgrenzen für Weiß (oder Lichtempfindung überhaupt, b,r, g für Blau, Rot, Grün 6). Aus den vorliegen- den Bestimmungen und obigen Zahlen ergibt sich, daß das monokulare Ge- sichtsfeld die größte Ausdehnung im ho- rizontalen Meridian Gesichtsfeläschema nach.Hirschberg (verkleinert). besitzt (130 bis 150°), am weitesten lateralwärts reicht, weniger weit nach unten, am meisten eingeschränkt oben und innen erscheint. Diese Einschränkungen, sowie die individuellen Verschiedenheiten in der Gesamtausdehnung des Gesichtsfeldes !) Philos. Transact. 1801, p. 44. — *) Beobacht. u. Vers. 2, 6, 1825. — ®) Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 1867}u. 1869. — *) Annal. d. Ottalmol. 1, 1, 1871. Gräfe-Saemischs Handb. d. Augenheilk., 1. Aufl., 3 (1), 58 u. 71. — °) Vgl. Arch. f. Augen- u. Ohrenheilk. 4 (2), 268, 1875. — ®) Vgl. 8. 193. 358 | Gesichtsfeldgrenzen. — Blinder Fleck. rühren zum Teil von den im Wege stehenden prominenten Teilen der Augen- umgebung her (Young), vor allem der Nase, dem oberen Lide und dem Augenbrauenbogen, und sind durch das geringere oder stärkere Vortreten des Bulbus und die Öffnung der Lidspalte mit bedingt. Der Einfluß der Nasenspitze macht sich fast regelmäßig durch eine deutliche Abflachung oder Einkerbung der Gesichtsfeldgrenze an der inneren unteren Peripherie (Meri- _ diane VII und VIII der Figur) bemerkbar. Durch stärkeres Öffnen der Lidspalte, durch Auseinander- und Zurückziehen des äußeren Augenwinkels kann das Gesichtsfeld entsprechend erweitert werden (Dobrowolsky!}). Wendet man das Auge um etwa 20 bis 30° aus der Ausgangsstellung, so ent- fällt die durch die umgebenden Teile des Auges bedingte Einschränkung des Gesichts- feldes nach der der.Wendung entgegengesetzten Richtung, und man erhält so am Perimeter die totale wahre Ausdehnung des Gesichtsfeldes angegeben. Die so zu erhaltende Vergrößerung des Gesichtsfeldes beträgt nach vorliegenden Bestimmungen: Nach außen: (temporal) 7. u u arena nr 0 bis 4° Nach Außen" Oben. .... u SE RR a 10. 39° Nach oben. ET A EEE ne Naeh innen oben : nen u BAER ER 5° u:98 Nach innen (nasel) 2-4 5 25% 0 ei Kae b* Nach Innen unten”. 2 Te Bi Nach unten a ZN ee ee ER, >, Nach. unten ‚außen cm rn en ee Laer ae B; re Die totale wahre Ausdehnung des Gesichtsfeldes ist also nach jeder Seite im Mittel um etwa 8° größer, als für die Ausgangsstellung gefunden wird. Am geringsten ist der Gewinn nach außen und oben, am größten in den geneigten Meridianen. Im allgemeinen ist ein Gesichtsfeld als normal anzusehen, das sich absolut erstreckt: ‚Nach. außen’ etwa... 02. 5. 0000 se u 90° Nach oben etwa 1. 0 Se re ee N ee 60° Nach innen) etwa... 1... de A na ER NE Ten, 60° Nach süunten etwa. 00 2er vn ae 70° Gelegentlich kann das Bereich des Gesichtsfeldes temporalwärts bis über 90, ja über 100° reichend gefunden werden (Purkinje, Donders). — Bezieht man die Ergebnisse der Gesichtsfeldmessungen auf die Ausdehnung der lichtempfindlichen Netzhautfläche, so ergibt sich, daß die nachweisbare Lichtempfindlichkeit nicht bis an die Ora serrata reicht. Entsprechend der Sehnervenpapille weist das normale Gesichtsfeld eine Lücke auf, den Mariotteschen Fleck, „welche für gewöhnlich durch die Wahrnehmungen des anderen Auges und durch die Bewegungen des Blickes genügend ausgefüllt und daher nicht als Mangel fühlbar wird“ (Helmholtz). Die Ausdehnung des blinden Fleckes im Gesichtsfelde beträgt nach den vor- liegenden Messungen im Mittel 6°, also etwa das Zwölffache der Winkelgröße des Vollmondes, der Abstand vom Fixationspunkte 121/, bis 13°; doch sind die individuellen Differenzen ziemlich. erheblich (Aubert3). Der Grund dafür, daß auch beim monokularen Sehen mit unbewegtem Auge die Lücke im Gesichtsfelde als solche direkt überhaupt nie wahrgenommen wird, liegt nach Aubert einfach darin, „daß wir eben nichts mit dieser Stelle sehen !) Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 1872, 8. 159. — °) Bis 9° bei Heben des oberen Lides mit dem Finger. — *) Physiol. d. Netzhaut, S. 256, 1865. Flächenhafte Anordnung. — Lokalisation mit unbewegtem Auge. 359 und, um es kurz zu sagen, eben nicht wissen, wie nichts aussieht.“ „Was auf die Stelle des blinden Fleckes fällt, sieht man nicht, aber etwas anderes sieht man auch nicht.“ Sein Vorhandensein wird durch den Mariotteschen Versuch und alle anderen der Art nur indirekt, eben durch das Verschwinden des Bildes im Gebiete des Fleckes erwiesen. „Daß man überhaupt erwarten konnte, etwas (vom blinden Flecke) zu sehen, kann seinen Grund nur in der falschen Auffassung haben, daß man den Mangel an objektivem Lichte gleich- bedeutend mit dem Mangel an Empfindung nahm und etwa erwartete, ein Loch oder eine dunkle Stelle zu sehen“ (Aubert). — Coccius!), Förster und Aubert?) haben übrigens außer dem Mariotteschen Flecke noch zahl- reiehe kleinere Lücken im Gesichtsfelde nachgewiesen; Coccius führt dieselben auf die Hauptstämme der Netzhautgefäße zurück. Die Objekte erscheinen im Gesichtsfelde nach Helmholtz im allgemeinen in flächenhafter Anordnung. Schließt man alle Erfahrungsmomente über Form, Größe und Entfernung einer Gruppe von Objekten aus, wie dies bei der Betrachtung des gestirnten oder bewölkten Himmels der Fall ist, so „erscheinen uns die Objekte, welche in der Tat im Raume nach drei Dimen- sionen verteilt sind, nur noch nach zwei Dimensionen ausgebreitet“, „wie an einer Fläche verteilt* (Helmholtz). Die Form dieser Fläche ist ganz unbestimmt, was wohl hauptsächlich auf die Unbestimmtheit des indirekten Sehens zurückzuführen ist (Aubert). Aber auch wo durch Erfahrungs- momente oder durch unmittelbare Tätigkeit des Gesichtssinnes richtige An- schauungen über die räumliche Verteilung der Objekte vorhanden sind, muß die Anschauung einer flächenhaften Verteilung im Gesichtsfelde dennoch er- halten bleiben; denn auch unter solchen Verhältnissen bleibt das Charakte- ristikum einer einfachen zusammenhängenden Fläche bestehen, daß, „wenn ich mit dem Blicke eine geschlossene Linie im Gesichtsfelde durchlaufen habe, ich von einem inneren zu einem äußeren Punkte den Blick nicht überführen kann, ohne jene geschlossene Linie zu durchschneiden“. Aus diesem Grunde ist es auch möglich, den Anblick einer räumlichen Gruppe von Objekten dem Auge durch flächenhafte Darstellungen, Zeichnungen oder Gemälde, wiederzugeben. 2. Lokalisation mit unbewegtem Auge, Mit anderen Sinnesempfindungen teilen die Gesichtsempfindungen die Eigentümlichkeit, daß sie nach bestimmten Gesetzen in den vorgestellten Raum verlegt oder projiziert werden 3). Auch die entoptischen Wahrnehmungen, wie die Purkinjesche Aderfigur oder die durch Druck auf das Auge hervor- gerufenen subjektiven Gesichtsempfindungen, werden in den Raum projiziert. Die Richtung der Projektion fällt für entferntere Objekte ziemlich genau mit den Richtungslinien, das heißt mit den von den einzelnen Objektpunkten durch den vereinigten Knotenpunkt zur Netzhaut gezogenen Geraden zu- sammen. Beim Fixieren näherer Objekte wird jedoch der Unterschied zwischen Richtungslinie und „Sehrichtung“ (Hering) immer deutlicher und größer, je näher das Objekt an das Auge heranrückt, und es erweist sich, daß in Wirklich- keit die Projektion in der Sehrichtung eines mitten zwischen beiden Augen !) Über Glaukom, Entzündung und die Autopsie mit dem Augenspiegel. Leipzig 1859, 8. 42. — ?) Arch. f. Ophthalmol. 3 (2), 32, 1857. — °) Vgl. S. 336. 360 Untersuchung der Lokalisation im ebenen Sehfelde. gelegen gedachten Doppelauges (Zyklopenauges nach Helmholtz) erfolgt). Die Entfernung, in welche monokular projiziert wird, ist äußerst unbestimmt, sobald Erfahrungsmomente und die Accommodation ausgeschlossen sind. Zur Untersuchung der Lokalisation im ebenen Sehfelde hat Hering als Objektfeld eine zur Blicklinie des untersuchten Auges in der Primärstellung senkrechte Ebene benutzt, auf der die entsprechenden als Objekte dienenden Marken angebracht wurden. Vor dem unbenutzten Auge wurde ein Spiegel "unter 45° geneigt aufgestellt, mittels dessen eine seitlich angebrachte Punkt- marke fixiert wurde, so daß auch die Stellung dieses zweiten Auges gesichert war. Unter solchen Bedingungen, also bei gerader aufrechter Kopfhaltung, erscheint allgemein jede durch den Fixationspunkt verlaufende Gerade auch im Gesichtsfelde als Gerade, und zwar dann vertikal, wenn sie auf dem mittleren Längsschnitte2), horizontal, wenn sie auf dem mittleren Quer- schnitte3) der Netzhaut abgebildet wird (Volkmann®). Im ersten Falle muß die wirkliche Gerade entsprechend der Neigung des mittleren Längs- schnittes bei den meisten Personen 5) mit dem oberen Ende etwas temporal- wärts geneigt sein; eine horizontal erscheinende Gerade wird meistens genau horizontal, höchstens temporal ein wenig abwärts geneigt angebracht sein müssen. Ähnlich verhalten sich mit der scheinbar geraden Vertikalen und Horizontalen parallele Gerade in der Umgebung des Fixationspunktes. Reichen solche jedoch weiter über das Objektfeld, so erscheinen sie sämtlich gegen den Fixationspunkt konkav gekrümmt, und zwar desto stärker, je weiter sie von diesem entfernt sind. Soll daher umgekehrt ein Muster von parallelen Linien, z. B. ein Schach- brettmuster, als wirkliches Qua- dratmuster erscheinen, so müssen den Linien die ent- sprechenden entgegengesetzten Krümmungen gegeben werden. In Fig. 62 ist ein solches Muster nach Helmholtz dargestellt, welches etwa siebenmal vergrößert zwei Dezimeter vom Auge als Qua- dratmuster erscheint. Die hyper- bolischen Linien stellen sich nach seiner Annahme als Projektionen seiner „Richtkreise* des Blick- feldes auf die Objektebene dar ®). Schachbrettmuster nach Helmholtz. Aus der Figur ergibt sich auch ohne weiteres, daß eine begrenzte Fläche um so kleiner erscheinen muß, je weiter sie vom Fixationspunkte ent- fernt ist, und daß die scheinbare Verkleinerung in der radiären Richtung stärker als in der tangentialen ist: denn die hauptsächlich radiär vergrößerten Vierecke an der Peripherie der Figur erscheinen gleich groß wie die Quadrate !) Vgl. Kap. 3, Abschn. A, 2.:— ?°) Vgl. 8. 309. — °?) Ebenda. — *) Phy- siol. Untersuchungen im Geb. d. Optik 2 (1864). — °) Vgl. 8. 316. — °) Physiol. Optik, 2. Aufl., 8. 694f. Aubertsches Phänomen. — Nativistische und empiristische Theorie. 361 im Zentrum. Hering hat die beschriebenen Erscheinungen im ebenen Seh- felde in folgende Regel zusammengefaßt: „Die scheinbare Anordnung des im ebenen Gesichtsfelde Liegenden ist derart, als ob das Objektfeld sich aller- seits in radiärer Richtung zusammengezogen hätte, jedoch so, daß die Größe dieser Zusammenziehung auf dem peripheren Teile des Objektfeldes stärker wäre als auf dem mehr zentralen.“ Über die genauere Art und Weise der Lokalisation der Bilder in der Umgebung des blinden Fleckes sind die Meinungen im einzelnen noch geteilt!), jedoch wird die Abhängigkeit der scheinbaren Ausfüllung des Fleckes von den Abbildungen in der nächsten Umgebung desselben übereinstimmend zugegeben. Die von Aubert?) zuerst festgestellte und später von W. A. Nagel?) studierte und als Aubertsches Phänomen bezeichnete Erscheinung, welche darin besteht, daß bei seitlicher Neigung des Kopfes gegen eine Schulter eine vertikale Linie im dunklen Raume. schief zu liegen scheint, ist neuerlich wiederholt genauer unter- sucht worden (Sachs und Meller‘), Feilchenfeld’). Der Versuch gelingt nach Nagel auch im hellen Raume, wenn keine anderen Objekte im Gesichtsfelde vorhanden sind, die ein Urteil über die wahre Lage der Vertikalen ermöglichen können. Nach Sachs und Meller erscheint die vertikale Linie bei geringeren Kopfneigungen mit dem oberen Ende gleichsinnig, bei stärkeren Kopfneigungen entgegengesetzt geneigt. - Bei Lähmungen eines Muskels der Heber- oder Senker- gruppe und entsprechender schwächerer Gegenrollung der Augen fand Feilchen- feld die Täuschung vermindert. Bei Taubstummen mit Labyrinthstörungen konnte weder ein Fehlen der reflektorischen Gegenrollung noch ein Unterschied in der Auffassung der Täuschung nachgewiesen werden. Von der in ruhiger Seitenlage des Kopfes auftretenden Täuschung sind die Scheinbewegungen der Vertikalen während der Bewegung des Kopfes in der Frontalebene zu unterscheiden, welche bei einigen der Kopfbewegung gleich, bei anderen entgegengesetzt gerichtet sind. — Erklärungsversuche für das Aubertsche Phänomen stützen sich teils auf die Augenrollungen (Sachs und Meller), teils auf die Möglichkeit des Auftretens von Erregungen des Ohrlabyrinthes (Nagel, Cyon°®). — Sachs und Meller’) haben die optische Lokalisation bei Kopf- und Körperneigungen mit der räumlichen Lokalisierung durch den Tastsinn (haptische Lokalisation) verglichen und gefunden, daß optisch und haptisch Kopfneigungen die Vertikale in entgegengesetztem, Körperneigungen in gleichem Sinne verlagert erscheinen lassen. Die Beurteilung der Anordnungsweise der einzelnen Punkte in der scheinbaren Fläche des Gesichtsfeldes findet zwar in der Regel unter Ver- mittelung der Augenbewegungen statt, indem der Blick über das Gesichtsfeld schweift und die verschiedenen Bildpunkte in bestimmter Reihenfolge die Fovea passieren. Doch geben auch Objekte und Erregungen, die ihren Ort in bezug auf die Netzhaut nicht verändern können (Nachbilder, die Purkinje- sche Aderfigur und die meisten subjektiven Erscheinungen) oder unter gegebenen Bedingungen eben nicht verändern, bestimmt flächenhaft an- geordnete Bilder. Zur Erklärung dieses Verhaltens macht die nativistische Theorie (Joh. Müller, Hering u. a.) die Annahme einer angeborenen Kenntnis der Ordnung der Netzhautpunkte, während die empiristische Theorie (Helmholtz, Nagel, Wundt, Classen) diese Fähigkeit als (mit Hilfe der !) Vgl. E. H. Weber, Ber. d. königl. Sächs. Gesellsch. d. Wissensch. 1852, S. 149; Fick, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1853, 8.396; Volkmann, Helmholtz u.a. — ?) Virchows Arch. 20, 381, 1860. — °) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 16, 373, 1898. — *) Arch. f. Ophthalmol. 52 (3), 387, 1901. — °) Zeit- schrift £. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 31, 127, 1903. — °) Pflügers Arch. 94, 239 £., 1903. — 7) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 31, 89, 1903. 362 Monokulares Blickfeld. Augenbewegungen) erworben ansieht. Als „erworben“ im allgemeinen Sinne muß sie ja heute angesehen werden: es handelt sich nur darum, ob sie als vererbt oder als individuell erworben anzusehen sei!). 3. Das monokulare und das binokulare Blickfeld. Das Bereich der sichtbaren Objekte der Außenwelt, welches bei ruhendem Auge durch die Gesichtsfeldgrenzen umschrieben ist, wird durch die Be- wegungen des Auges allseitig erweitert, und zwar sowohl in der Richtung der jeweilig ausgeführten Bewegung, als auch in der dieser entgegengesetzten Richtung?). Durch die weiter hinzutretenden Kopfbewegungen erfährt jenes Bereich eine noch weitere Ausdehnung auf einen sehr großen Teil des um- gebenden Raumes, bis endlich mit Zuhilfenahme von Rumpf- und Körper- bewegungen der ganze dem Sehorgan überhaupt zugängliche Raum auch monokular im direkten und indirekten Sehen beherrscht wird. — Läßt man die Blicklinie bei unbewegtem Kopfe aus der Primärstellung der Reihe nach in allen Richtungen in die größtmögliche Exkursion übergehen, so begrenzen diese Grenzlagen der Blicklinie insgesamt die Oberfläche einer unregelmäßigen Kegelfigur, deren Spitze im Drehpunkte des Auges liegt. Der von dieser Kegelfläche umschlossene Raum ist der „Bewegungsraum der Blicklinie* (Gesichtslinie, Hering). Der Durchschnitt einer so erhaltenen Kegelfläche mit einer zur Primärstellung der Blicklinie senkrechten Ebene begrenzt das Blickfeld des betreffenden Auges (Bewegungsfeld der Gesichtslinie, Hering). In der nachstehenden Tabelle sind die maximalen Winkelablenkungen der Blicklinie verzeichnet, welche einige Untersucher für die Hauptblickrichtungen gefunden haben, wobei jedoch nicht immer von der Primärstellung aus- gegangen worden ist. .|| Nach Nach Nach Nach Beobachter R Bemerkungen oben unten innen außen Schuurmann’) 34° 5 45° 42° Helmholtz 45° 45° 50° 50° Hering 20° 1.62°,r.59°|1.44°,r.46° 43° Aus der Primärstellung Volkmann‘) 85° 50° 42 38° |Mittel von drei Personen Aubert?) . 30° 570 44°. 380 Küster‘) - 38° 43—44° 45° 43° Aus der Primärstellung Es erweist sich somit die. Exkursion nach oben durchschnittlich am kleinsten, nach unten am größten, nach außen kleiner als nach innen. Es ist ersichtlich, daß mit den angeführten Zahlen nur der Umfang des Fixationsbereiches angegeben ist. Hierzu kommt für das Gesamtbereich des auch dem indirekten Sehen zugänglichen Raumes noch in jeder extremen Lage die Aus- dehnung des Gesichtsfeldes nach der entsprechenden Seite, welche jedoch durch’ die Umgebung des Auges namentlich nach innen und unten, aber auch nach oben und außen zum Teil sehr bedeutende Einschränkungen erfährt. 1) Vgl. auch Kap. 3, Abschn. 1. — ?) Siehe 8. 358. — °?) Vergelijkend onder- zoek. d.' bewegingen van het oog. Utrecht 1863. — +*) Ber. d. königl. Sächs. Gesellsch. d. Wissensch., math.-phys. Kl. 1869, 8. 62. — °) Gräfe-Saemisch, Handb. d. Augenheilk., 1. Aufl., 2 (2), 663, 1876. — ®) Arch. f. Ophthalmol. 22 (1), 174, 1876. Monokulares und binokulares Blickfeld. 363 Die Form des monokularen Blickfeldes bestimmte Hering in der Weise, daß er ein in der Primärstellung erzeugtes Nachbild auf grauem Hintergrunde bis an die äußerste Blickgrenze wandern ließ. Auf einer der Frontal- ebene parallel vor dem Auge auf- gestellten Glastafel wurden die einzelnen Durchschnittspunkte der Blicklinie mit der Ebene der Glas- tafel durch Farbe markiert. In Fig. 63 ist das derart erhaltene Blickfeld von Herings rechtem Auge (verkleinert) dargestellt. Pent- spricht der Lage der Blicklinie in der Primärstellung, ab wäre die gedachte Entfernung der Glastafel vom Drehpunkte des Auges für die - gegebene Größe der Figur. . Die starke Einbuchtung des Blickfeldes bei » rührt von der Nasenspitze her. Die Formen der Blickfelder beider Fig. 63. Blickfeld des rechten Auges, nach Hering. Augen sind wie ihre Lagen normalerweise ziemlich vollkommen symmetrisch. Bei Anisometropie und stärkeren Graden von -Myopie wird natürlich die Symmetrie gestört und die Form und Ausdehnung des Blickfeldes verändert sein müssen !). Das binokulare Blickfeld ist stets viel beschränkter, als dem sich decken- den Teile der beiden monokularen Blickfelder entspricht. Stelle in Fig. 63a die ausgezogene äußere Umgrenzungs- linie die Grenze des Blickfeldes des rechten, die gestrichelte Linie die Grenze des Blickfeldes des linken Auges, aus- gehend von einem weit entfernten, in der Primärstellung fixierten Punkte m dar, projiziert auf eine in der Ent- fernung d vor dem Drehpunkte der Augen befindliche Ebene ?), so sind aus der Figur die Teile der beiden Be- wegungsfelder ersichtlich, welche nur dem rechten (r,r) und welche nur dem linken Auge (1,7) zugänglich sind. Von dem beiden Augen gemeinsamen, sich Au, Monokulares und binokulares Blickfeld nach Hering. Ausgezogen die Grenze des rechten, gestrichelt die Grenze des linken Blickfeldes, schraffiert das binokulare Blickfeld für eine fron- tale {ferne Ebene. deckenden Teile der beiden monokularen Blickfelder @@ @ -entspricht Nee nur der verhältnismäßig kleine um m gelegene. (schraffierte) Teil dem wirklichen binokularen Blickfelde, das heißt: demjenigen Felde, innerhalb !) vgl. S. 286 f. — ?) Siehe oben. 364 Lokalisation mit bewegtem Auge. welches binokular fixiert werden kann. Auch beim Nahesehen besteht eine solche Einschränkung des binokularen Blickfeldes. Hering führt dieselbe teils auf mechanische, in der Anordnung der Augenmuskeln begründete Momente, teils auf die Unmöglichkeit zurück, die entsprechenden ungewohnten Innervationen aufzubringen. 4. Lokalisation mit bewegtem Auge. Auf dem Wege der Augenbewegungen gelangen wir in erster Linie zur Kenntnis der Anordnung'sweise der einzelnen Objektpunkte in der schein- baren Fläche des Gesichts- und Blickfeldes!). „Indem wir den Blick über das Gesichtsfeld schweifen lassen, finden wir unmittelbar in der Wahrnehmung, in welcher Ordnung die Objektpunkte im Gesichtsfelde aufeinanderfolgen, so daß zunächst wenigstens die Ordnung der Punkte im Gesichtsfelde durch solches Herumblieken unmittelbar bestimmt werden kann“ (Helmholtz). Für die Lokalisation mit bewegtem Auge stellt Hering zuvörderst den Satz auf, „daß durch die Bewegung an sich, und wenn nicht durch dieselbe ander- weite Erfahrungsmotive der Lokalisierung in Wirksamkeit gesetzt werden, die relativen Raumwerte der Netzhautstellen und der zugehörigen Empfin- dungen nicht geändert werden, daß aber die absoluten, d. h. die auf den wirklichen Raum bezogenen Raumwerte sich ändern, und zwar alle in gleichem Sinne und Maße“. Dies ergibt sich daraus, daß trotz der Verschiebung der Bilder auf der Netzhaut bei jeder Blickbewegung doch die Außendinge im allgemeinen in Ruhe gesehen werden: die durch die Bildverschiebung bedingte Änderung der relativen Raumwerte wird „durch die bei der Blickbewegung stattfindende Änderung des absoluten Raumwertes des ganzen Empfindungs- komplexes“ kompensiert. Es sind also normalerweise beide Änderungen gleich groß, aber entgegengesetzt (Hering). Anderenfalls müßten Schein- bewegungen und scheinbare Gestaltsveränderungen an den gesehenen Objekten auftreten, wie dies bei ungenauer oder mangelnder Kompensation in der Tat zu beobachten ist. Ist die Kompensation aber wirklich vollständig, so wird die Lokalisation bei bewegtem Blicke oder in sekundären Blicklagen dieselbe sein müssen wie in der Primärstellung?). Die Erfahrung bestätigt, daß im allgemeinen bei bewegtem Blicke und in sekundären Blicklagen annähernd richtig lokalisiert wird. Die Änderung der absoluten Raumwerte der Netzhaut bei Bewegungen des Blickes sind allein durch den Ortswechsel der Aufmerksamkeit, nicht erst durch die dadurch ausgelösten Blickbewegungen bedingt (Hering), denn diese Änderung tritt auch bei Ausbleiben der entsprechenden Blickbewegungen ein, wie z. B. bei Augenmuskellähmungen. Sowohl in diesem Falle, als auch in dem umgekehrten: Bewegung des Auges ohne Veränderung des Auf- merksamkeitsortes (Drehschwindelversuche) treten die Erscheinungen des Gesichtsschwindels in Form von Scheinbewegungen der Außendinge auf. Auch alle passiven Augenbewegungen führen hierzu. „Abgesehen also davon, daß durch die jeweilige Augenstellung die Lage der Bilder auf der Netzhaut mit bestimmt wird, haben die Stellungen und Bewegungen der Augen an sich keinen Einfluß auf die Lokalisierung, und nur insoweit, als sie Ausdruck der '!) Vgl. 8. 359 £. — ?) Ebenda. Wahrnehmung von Bewegungen. 365 jeweiligen Lokalisierung der Aufmerksamkeit und des dadurch bedingten absoluten Raumwertes der Netzhautstellen sind, beeinflussen sie scheinbar die Lokalisierung“ (Hering). Hierher gehört auch die zuerst von Helmholtz beobachtete scheinbare Konkavität gerader Linien gegen den primären Blickpunkt, welche in sekundären Bliekbahnen durchlaufen werden. Die dabei notwendig eintretenden Rollungen des Auges bedingen scheinbare Richtungsänderungen der Geraden beim raschen Wandern des Blickes über dieselben, woraus dann im ganzen das Bild der konkaven Linie . resultiert. Es ist daher wiederum!) zu erwarten, daß gegen den primären Blick- punkt konvexe Linien von entsprechenden Krümmungen unter den gleichen Umständen gerade erscheinen. Bei Betrachtung der hyperbolisch gekrümmten Linien der Fig. 29 an dem vergrößerten Original erschienen diese Helmholtz in der Tat nach den im Sehfelde gelegenen Richtungen nicht gekrümmt, jedoch das ganze Sehfeld selbst erschien als kugelig-konkave Fläche. 5. Wahrnehmung von Bewegungen. Die Wahrnehmung einer Bewegung mittels des Gesichtssinnes beruht auf der Anschauung derselben, also auf dem unmittelbaren Erfassen des Bewegungsvorganges in dessen räumlich -zeitlichem Ablaufe (Bewegungs- empfindung nach Exner) und ist daher wohl von der Wahrnehmung des Erfolges einer Bewegung zu unterscheiden, von welchem Erfolge erst auf die stattgehabte Bewegung rückgeschlossen wird. Die Bewegung des Sekunden- zeigers einer Uhr wird unmittelbar wahrgenommen, die Bewegung des Stunden- zeigers nur erschlossen. Das Beispiel zeigt zugleich, daß die Geschwindig- keit eines bewegten Objektes eine gewisse untere Grenze erreichen muß, um wahrgenommen zu werden; anderseits darf sie aber offenbar eine gewisse obere Grenze nicht überschreiten, wenn das Objekt noch als bewegt, d.h. nacheinander an den einzelnen Orten seiner Bahn erkannt werden soll. Diese obere Grenze wird zu der Fortdauer des Lichteindruckes auf der Netzhaut in Beziehung stehen müssen. Die untere Geschwindigkeitsgrenze für die Wahrnehmung der Bewegungen eines fixierten Objektes hat zuerst Porterfield) festzustellen versucht, und seine Ermittelungen führen zu .einem Werte für die Winkel- geschwindigkeit von 2’ 27”. Später sind gelegentliche Beobachtungen, nament- lich über die Bewegung der Uhrzeiger, von G. G. Schmidt?), Muncke®) und Valentin) mitgeteilt worden. Genauere Versuche hat erst Aubert®) wieder angestellt, indem er auf einem rotierenden Zylinder angebrachte Tei- lungen, Linien und Streifen beobachtete. Die leicht veränderliche, dem Beob- . achter unbekannte Geschwindigkeit des Zylinders konnte mittels der an- gebrachten Zeitmarkierung für jeden Versuch nachträglich genau ausgemessen werden. Bei freiem Gesichtsfelde, in welchem- also alle ruhenden Objekte in der Umgebung des Apparates sichtbar waren, erhielt Aubert bei Fixation des bewegten Objektes Zahlen, welche mit den von Porterfield, Schmidt und Valentin angegebenen gut übereinstimmten: ein Objekt muß eine Winkelgeschwindigkeit von etwa einer bis zwei Mintuten in der Sekunde !) Vgl. S. 360. — ?) Treatise on the eye 2, 416, Edinburgh 1759. — ?) Hand- u. Lehrbuch der Naturlehre, 8. 472, Gießen 1825. — *) Artikel „Gesicht“ in Gehlers Wörterbuch, 8. 1457. — °) Lehrb. d. Physiol. 2 (2), 184, 1848. — °) Pflügers Arch. 39, 347, 1886 u. 40, 459, 1887. j 366 Kleinste wahrnehmbare Bewegungen. haben, um sofort bewegt zu erscheinen, bei geringerer Winkelgeschwindigkeit erscheint es erst nach Verlauf einiger Sekunden in Bewegung, bei noch ge- ringerer Geschwindigkeit kann die Bewegung .als solche nicht mehr wahr- genommen werden. Die niedrigsten Werte von 50 bis 60” wurden für scharf markierte und stark kontrastierende Objekte (z. B. breite schwarze Streifen auf weißem Grunde) festgestellt. Wurde das Gesichtsfeld durch ein vor das Auge BEN schwarzes, mit einem Schlitze versehenes Kästchen so beschränkt, daß nur mehr die Trommel gesehen wurde, so mußte die Geschwindigkeit des Objektes un- gefähr zehnmal größer als bei freiem Gesichtsfelde gemacht werden, wenn die Bewegung wahrgenommen werden sollte. Allein auch in diesen Ver- suchen waren die Schlitzränder noch als ruhende Objekte im Gesichtsfelde vorhanden. Noch vollkommenere Versuche in dieser Richtung mit einem bewegten schwach glühenden Platindrahte in vollkommen finsterem Raume ergaben Aubert, daß unter solchen Verhältnissen die Wahrnehmung der Bewegung höchst unsicher war, „daß man einerseits bisweilen fest überzeugt ist, Bewegung zu sehen, wenn keine objektive Bewegung vorhanden ist, anderseits eine recht lebhafte objektive Bewegung nicht empfindet und über- haupt nicht bemerkt“. Das Vorhandensein einer zweiten ruhenden Linie im dunklen Gesichtsfelde änderte an den Versuchsergebnissen fast gar nichts. Aubert schließt aus seinen Versuchen, daß das Vorhandensein ruhender und bekannter Objekte für die Wahrnehmung von Bewegungen und unsere Orien- tierung im Raume von fundamentaler Bedeutung ist. Bourdon!) meint, daß Auberts Schlußfolgerung etwas zu weit gehe: aus seinen eigenen und Auberts Versuchen ergebe sich vielmehr, daß Bewegungen eines leuchtenden Punktes oder einer Linie im sonst dunklen Raume unter günstigen 'Bedin- gungen bei Winkelgeschwindigkeiten von 14 bis 21’ noch in der Mehrzahl der Fälle richtig wahrgenommen werden. Im indirekten Sehen muß die Winkelgeschwindigkeit bewegter Objekte größer als im direkten sein, damit die Bewegung eben wahrgenommen werde, und zwar desto größer, je weiter gegen die Peripherie die be- anspruchten Netzhautstellen liegen. So fand Aubert?) als kleinste wahr- nehmbare Winkelgeschwindigkeit für verschieden weit temporal von der Fovea entfernte Netzhautpunkte die nachstehend verzeichneten (abgerundeten) Werte. Kleinst hr- 3 i - Winkelabstand ee bie si Winkelabstand Kletuste habgges) nehmbare Winkel- nehmbare Winkel- von der Fovea Sr ; von der Fovea SER, “ geschwindigkeit geschwindigkeit 15’ 54" 5° 10’ 5’ 30" pis 6’ 1° 15’ 1’ 45" 70 Bat ar 2° 15 ar gr ge g „18 a PL 3’ bis 5’ 9° LINZER Die Wahrnehmung von Bewegungen an der Netzhautperipherie ist nach Exner?) und Aubert®) viel feiner als das Distinktionsvermögen daselbst, und Exner schreibt. den peripheren Netzhautpartien geradezu die Rolle zu, ‘) La perception visuelle de l’espace. p. 178, Paris- 1902. — )Le. — ®) Sitzungsber. d. Wiener Akad., mathem.-naturw. Kl., 72 (8), (1875). — ‚Le. Größte noch wahrnehmbare Geschwindigkeiten. 367 Wahrnehmungen von Bewegungen zu vermitteln, welche dann weiter ver- anlassen, daß der Blick nach dem Orte der wahrgenommenen Bewegung gerichtet wird. — Fleischl!) hat gezeigt, daß die Geschwindigkeit eines bewegten Punktes für größer gehalten wird, wenn das Auge ihm nicht nach- folgt, als wenn es ihm folgt, und zwar erscheint die Bewegung nach seinen von Aubert bestätigten Erfahrungen ungefähr doppelt so schnell, als wenn die Augen dem Objekte folgen. Über die Unterschiedsempfindlichkeit für Bewegungen hat gleich- falls Aubert zuerst Versuche angestellt?), indem er an zwei verschieden schnell rotierenden Trommeln angebrachte Objekte abwechselnd betrachtete. Dabei traten jedoch subjektive Störungen verschiedener Art auf, welche die Ergebnisse etwas unsicher machen. Aubert gibt die zur Wahrnehmung eines Geschwindigkeitsunterschiedes erforderliche Differenz der Winkelgeschwindig- keiten zu ungefähr einer Minute an, also etwa so groß, als sie zur Unter- scheidung zwischen Ruhe und Bewegung erforderlich ist. Bourdon?) fand in seinen Versuchen für mittlere Geschwindigkeiten einen Unterschied von rund 1/9, für geringe Geschwindigkeiten einen solchen von rund !/; erforderlich. Gleichfalls mit rotierenden Zylindern hat Bourdon*) Messungen der größten noch als Bewegung wahrnehmbaren Geschwindigkeiten vor- genommen, indem er auf schwarzem Grunde unter 45° geneigte weiße Streifen vor einem horizontalen Schlitze vorüberführte und die Bewegungsrichtung des im Schlitze wandernden Streifens zu erkennen suchte. Die Augen be- fanden sich in 25 cm Entfernung vom Zylinder. Die Versuche ergaben die nach- stehenden (stark abgerundeten) Werte für das Wahrnehmbarwerden der Be- wegung, wenn die Geschwindigkeit des Zylinders allmählich vermindert wurde. Zeitdauer vom Auftauchen bis zum A. Breite des Streifens 1 mm, | ; Verschwinden im Schlitze en der Bewegung 46 mm | Direktes Sehen Indirektes Sehen | 0,079 Sek. 0,061 Sek. Entsprechende lineare Geschwindigkeit | Bes Bekunde a... . | 6mm 7,5 mm Entsprechende Winkelgeschwindigkeit | für Yo Sekunde etwa... .. . | 1/8 1%? | Zeitdauer vom Auftauchen bis zum I 5 : 2 B. Breite des Streifens 4 mm, | Verschwinden im Schlitze Amplitude der Bewegung 40 mm Direktes Sehen Indirektes Sehen 0,027 Sek. 0,023 Sek. Entsprechende lineare Geschwindigkeit | | Br Bokunde- u en eir | 15 mm 17,5 mm Entsprechende Winkelgeschwindigkeit | für Yo Sekunde etwa... ... | un 4 !) Sitzungsber. d. Wiener Akad., mathem.-naturw. Kl., 86 (3), ie — ?)1.e. L8.362.—)Lc.—)le. 368 Bewegungstäuschungen. — Scheinbewegungen. Für die Fortdauer des Lichteindruckes auf der Netzhaut hat Bourdon in analogen Versuchen bei Fixation 0,029 bis 0,032 Sekunden gefunden. Es ist ersichtlich, daß die erste Wahrnehmung einer Bewegung eben dann statt- finden muß, wenn die Fortdauer des Lichteindruckes nieht mehr hinreicht, die Bahn, in welcher die Bewegung stattfindet, vom Anfange bis ans Ende gleichzeitig gleich hell erscheinen zu lassen, daß somit der Maximalwert für die Fortdauer des Lichteindruckes auf der Netzhaut und der Minimalwert für die Zeit zwischen Auftauchen und Verschwinden eines bewegt gesehenen Objektes aneinandergrenzen müssen. — Es zeigt sich nach den eben an- geführten Zahlen, daß unter günstigen Verhältnissen die größten noch wahrnehmbaren Geschwindigkeiten etwa 24000 mal so groß sind als die klein- sten eben wahrnehmbaren. Die Frage nach der Wahrnehmbarkeit von Bewegungen bei großen Ge- schwindigkeiten steht in engem Zusammenhange mit der Frage nach der Wahr- nehmung rasch aufeinander folgender Lichteindrücke. Nach Exner!) soll die Aufeinanderfolge zweier isolierter leuchtender Punkte schwieriger erkannt werden, als wenn solche den Anfang und das Ende einer Bewegung dar- stellen; für den ersten Fall ergab sich ihm eine erforderliche Zeitdifferenz von 0,045 Sek., für den zweiten eine solche von nur 0,014 Sek. Dagegen scheinen jedoch Versuche von Charpentier?) und Bourdon®) dafür zu sprechen, daß kein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Arten der Wahrnehmung des Auf- einanderfolgens zweier Punkte besteht. Die bisher beschriebenen Bewegungswahrnehmungen finden zum aller- größten Teile mit Hilfe oder unter ausschließlicher Verwendung retinaler Eindrücke statt, und es kommen für sie daher, abgesehen von dem zeitlichen Verlaufe der Vorgänge, alle diejenigen Momente in Betracht, welche sonst bei der monokularen und binokularen Projektion überhaupt mitspielen. Die Rolle von „Bewegungsempfindungen* und taktilen Empfindungen der Um- gebung des Auges dabei ist, wie beim gewöhnlichen Sehen von Bewegungen, jedenfalls sehr untergeordnet. Für die Erklärung der Wahrnehmung von Bewegungen isolierter fixierter Objekte im dunklen Raume glaubt jedoch Bourdon®) solcher Sensationen nicht entraten zu können und weist auf die nachweislichen, von ihm graphisch registrierten PEEIRES der Augenlider bei den Augenbewegungen hin. — Im Gebiete der De aiseeahrechannzen ist eine Anzahl von Täu- schungen sehr bekannt. In erster Linie sind ‚hier die Scheinbewegungen anzuführen, welche infolge von Bewegungen benachbarter Objekte auftreten: das scheinbare Wandern des Mondes hinter den vorüberziehenden Wolken, die scheinbare Fortbewegung eines angeketteten Kahnes, einer Brücke oder des Ufers im Anblicke der vorüberziehenden oder heranrollenden Wellen, die scheinbare Bewegung eines haltenden Eisenbahnzuges beim Vor- überfahren eines anderen u. dgl. Dabei erscheint das wirklich bewegte Objekt in Ruhe, das wirklich ruhige Objekt in Bewegung, und zwar entgegengesetzt der gesehenen wirklichen Bewegung. Trotz der leicht erkennbaren und an- fänglich meist überwiegenden Tendenz, das fixierte Objekt für unbeweglich zu nehmen, können diese Täuschungen unter Umständen äußerst zwingend zur Geltung kommen. Eine Folge der weiteren Tendenz, Objekte, welche ') l. ec. — ?) Compt. rend. Soc. de Biol. 4, 8. Ser., p. 373, 447, 1887. — °®) l.c. 8. 190. — 4) 1. c. 8. 184. 1 Scheinbewegungen, Gesichtsschwindel. 369 als unbeweglich bekannt sind, selbst wenn sie nur in entsprechender Weise bildlich dargestellt sind, für unbeweglich zu halten, sind die Täuschungen, denen der Neuling in der Schiffskajüte ausgesetzt ist, dann die Täuschungen in den letzter Zeit öfter gesehenen Schaustellungen nach dem Prinzipe des Mareoramas, des verkehrten Zimmers u. dgl. Einen sehr einfachen Versuch zum Nachweise einer Scheinbewegung in- folge der Bewegung eines benachbarten Objektes hat Helmholtz angegeben: Zieht man auf einem Papiere eine Gerade und bewegt darauf eine Zirkel- spitze so über sie hin und her, daß der beschriebene Kreisbogen sie etwa im ersten und im zweiten Drittel schneidet, so scheint sich die Gerade, wenn man der Zirkelspitze mit dem Blicke folgt, symmetrisch zum Kreisbogen zu biegen. — Öffnet man eine Schere, indem man nur den einen Arm derselben bewegt, so scheint sich gleichwohl auch die andere Schneide nach der ent- gegengesetzten Seite zu bewegen. Betrachtet man einen Turm oder eine hohe Stange vor rasch ziehenden Wolken, so tritt leicht scheinbare Neigung entgegen dem Wolkenzuge auf usf. Anschließend an die oben erwähnten Täuschungen wäre hier auch einiger Erscheinungen des Gesichtsschwindels zu gedenken. Bemüht man sich einige Zeit hindurch, vor den Augen rasch vorüberbewegte Objekte zu fixie- ren, so scheinen sich danach eine Zeitlang ruhende Objekte in der entgegen- gesetzten Richtung zu bewegen. Dasselbe geschieht, wenn der Beobachter sich an den am Platze bleibenden Objekten vorüberbewegt, sei es geradlinig oder im Kreise. Blickt man aus dem fahrenden Zuge längere Zeit auf die rasch vorübereilende nächste Umgebung des Bahnkörpers und darauf rasch gegen den Boden des Wagens, so scheint sich nun dieser in der Richtung des Zuges zu bewegen. Noch schöner tritt die Erscheinung nach längerer rascher Fahrt auf dem Zweirade auf, wenn plötzlich gehalten wird: die Landschaft samt Straße und Wolkenhimmel scheinen konzentrisch vom Beob- achter weg nach vorn gegen den fernen Horizont zusammenzufließen. Helmholtz erklärt diese Erscheinungen daraus, daß bei der Fahrt die äuße- ren Objekte eine scheinbare, der Fahrtrichtung entgegengesetzte Bewegung haben. So oft der Fahrende eines derselben zu fixieren sucht, muß er seine | Augen schnell entgegengesetzt der Richtung der Fahrt bewegen. „Nachdem er sich gewöhnt hat, die unter diesen Umständen ausgeübten Willensimpulse als die für die Fixation seines Objektes geeigneten zu betrachten, versucht er in derselben Weise auch ruhende Objekte zu fixieren. Die genannten Willensimpulse bringen aber Bewegungen der Augen hervor, und da der Beobachter seine Augen für festgestellt hält, so scheinen sich ihm nun die Objekte, und zwar der vorher angeschauten objektiven Bewegung entgegen- gesetzt zu bewegen.“ In gutem Einklange mit dieser Erklärung steht die Erfahrung, daß bei dauernder Fixation eines mitbewegten Punktes der be- schriebene Gesichtsschwindel nicht zustandekommt (Helmholtz). — Ähnliches wie von der erörterten Form des Gesichtsschwindels gilt von der nach Drehen des Körpers um die Längsachse auftretenden Form (Drehschwindel). Werden die Körperdrehungen mit offenen Augen ausgeführt, so scheinen sich nach dem Stillhalten die Objekte eine Zeitlang in der früheren Drehungsrichtung des Körpers fortzubewegen. Nach Drehung mit geschlossenen Augen tritt diese Scheinbewegung nicht auf, wenn die Augen erst nach völligem Still- Nagel, Physiologie des Menschen. III. 94 370 Bewegungsnachbilder. stande der Drehbewegung geöffnet werden. Geschieht dies früher, so tritt eine Scheinbewegung der umgebenden Objekte auf, welche der früheren Drehungsrichtung des Körpers entgegengesetzt ist). Genauere Beobachtungen und Untersuchungen über Bewegungs- nachbilder sind vonS.Exner?) und Schülern desselben ausgeführt worden. Wird ein Speichenrad oder eine entsprechende Sektorenscheibe etwa zehnmal in der Sekunde um die Achse gedreht und ‘die Mitte in der Richtung der Achse etwa eine Minute fixiert, so scheint sich das Rad oder die Scheibe bei plötzlichem Anhalten der Bewegung einige Zeit in der entgegengesetzten Richtung zu drehen (negatives Bewegungsnachbild). Blinzelt man rasch beim Betrachten der Scheibe, so scheint sie bei jeder Blinzelbewegung ruckartig zurückgedreht, so daß sie anscheinend im ganzen nicht recht vorwärts kommt. Fixiert man die Mitte der Scheibe mit einem Auge direkt, während das andere Auge durch ein Reversionsprisma hinblickt, so erhält man im ganzen infolge des Wettstreites der entgegengesetzt erscheinenden Bewegungen einen recht unruhigen Eindruck. Nach dem Anhalten der Scheibe erkennt man kein deutliches Bewegungsnachbild. Schon früher hatte Dvoräk?®) ge- zeigt, daß das Bewegungsnachbild ausfällt, wenn einer Netzhaut zwei entgegengesetzte Bewegungen zur Ansicht geboten werden. Es beeinflussen sich also die Bewegungsnächbilder beider Augen gegenseitig ähnlich wie entgegengesetzte Bewegungsnachbilder eines Auges. Nach Exner handelt es sich bei den Bewegungsnachbildern um eine Umstimmung der physiolo- gischen Beziehungen benachbarter Netzhautstellen oder ihrer zentralen Pro- jektionen, welche zu Bewegungsempfindungen — zum Unterschiede von Bewegungswahrnehmungen 2) — Anlaß geben. Die der Tiefenwahrnehmung zugrunde liegenden Empfindungen beteiligen sich nach Exner nicht am Zustandekommen von Bewegungsnachbildern. — Borschke und Hescheles’) benutzten zwei Stabsysteme, die senkrecht zueinander und zu den Stab- richtungen aneinander vorüberbewegt wurden. Die beiden Bewegungsnach- bilder kombinieren sich so zu einem neuen, dessen Bewegungsrichtung in der Diagonale des Geschwindigkeitsparallelogrammes beider Komponenten gelegen ist. Aus dieser Richtung läßt sich bei gleichbleibender Geschwindig- keit der einen Komponente die relative Geschwindigkeit der anderen ermitteln. Die Geschwindigkeit des Bewegungsnachbildes ergab sich hierbei im all- gemeinen der des Vorbildes proportional. Sie nimmt mit der Reizfrequenz, mit der Deutlichkeit des Vorbildes und mit der Beobachtungsdauer der wirk- lichen Bewegung zu. — Eine Gruppe von neuerlich sehr allgemein bekannt gewordenen Be- wegungstäuschungen sind die stroboskopischen oder kinematoskopi- schen Täuschungen. Erscheinen Objekte von gleichem Aussehen rasch hintereinander an nicht zu weit voneinander entfernten Punkten, so tritt, oft !) Über die bei Drehungen des Körpers auftretenden Bewegungen der Augen (Nystagmus), welche am Menschen neuerlich besonders von Stein (s. Centralbl. f. Physiol. 14, 222, 1900) genauer untersucht worden sind, vgl. das Kapitel „Funk- tionen des Ohrlabyrinthes“ in diesem Handbuche. — *) Centralbl. f. Physiol. 1, 135, 1887 u. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 21, 388, 1899. — °) Sitzungsber. d. Wiener Akad. 61, math.-naturw. Kl., 2. Abt., 257, 1870. — *) Nach Exner, vgl. Sitzungsber. d. Wiener Akad. 72, math.-naturw. Kl., 3. Abt., 1875. — °) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 27, 387, 1902. En 0 TV Stroboskopische Täuschungen. 371 geradezu zwingend, die Täuschung auf, eine Bewegung des einen Objektes von dem einen zu dem anderen Punkte wahrgenommenzu haben. Läßt man zwei elektrische Funken in weniger als einer halben Sekunde nacheinander an zwei mehrere Centimenter voneinander entfernten Orten im Finstern überschlagen, so glaubt man (aus etwa 1m Entfernung oder mehr) deutlich eine Bewegung des Funkens von dem einen zum anderen Orte gesehen zu haben. Während Fischer!) zu dem Ergebnisse gelangt ist, daß die. Zeit zwischen zwei aufeinander folgenden Lichteindrücken, um eine solche Schein- bewegung wahrzunehmen, nicht größer sein darf als die Zeit der Fortdauer des Lichteindruckes auf der Netzhaut, schließt Bourdon?) aus seinen Ver- suchen, daß diese Zeit- unter Umständen auch überschritten werden kann; zur Erklärung der Täuschung zieht er dabei eine Assoziation des zweiten Eindruckes mit dem „Erinnerungsnachbilde* (Fechner) des ersten heran. Bietet man dem Auge in zeitlichen Intervallen zwischen etwa 3 und 50 Hundertelsekunden Ansichten eines Objektes in verschiedenen auf- einander folgenden Bewegungszuständen, so erscheint das Objekt bewegt, und zwar je nach der Darstellung entweder von seinem Orte fortbewegt, oder in der gegenseitigen Lage seiner Teile verändert, oder sowohl als ganzes, als auch in seinen Teilen in Bewegung. Die stroboskopische Methode, die heute in vielfachen Modifikationen in den verschiedensten Gebieten der experimentellen Forschung Anwendung findet (Plateau, Doppler, Savart, -Mach u. a. m.), ist zuerst von Plateau?) auf Grund einer Idee Faradays) ausgearbeitet und eingeführt worden. Fast gleichzeitig mit Plateau hat Stampfer’) seine stroboskopischen Scheiben beschrieben. Die strobo- skopische Methode dient sowohl zur Analyse als auch zur Synthese von Be- wegungen; in beiden Fällen kommt es zur Darstellung oder Wahrnehmung von Scheinbewegungen nach den oben erörterten Grundsätzen. Am häufig- sten kommen dabei schmale Spalten in Verwendung, welche entweder in den Radien einer um ihren Mittelpunkt rotierenden kreisförmigen Scheibe oder in der Wand eines um seine Achse drehbaren Hohlzylinders parallel der Achse angebracht sind. Indem diese Spalten rasch nacheinander am Auge vorüberbewegt werden, gelingt es, einzelne Stadien eines kontinuierlichen Bewegungsvorganges zu isolieren, und wenn die Periode des Vorüberganges der Spalten vor dem Auge der Periode des Bewegungsvorganges genau gleich gemacht wird, können einzelne Phasen dieses in Ruhe dargestellt werden. Ist die Periode des Spaltwechsels nur wenig von der Periode der Bewegung verschieden, so erscheint diese in entsprechend verlangsamtem Ablaufe, vor- oder rückläufig, je nachdem die erstere Periode länger oder kürzer ist als die letztere. Bringt man anderseits die aufeinander folgenden Stadien eines bildlich, am besten vermittelst der Serienmomentphotographie (Marey, Anschütz) dargestellten Bewegungsvorganges mittels ähnlicher, vor dem Auge passierender Spaltreihen zur Darstellung, so daß beim Vorübergehen jedes Spaltes ein neues Bild der Reihe dem Auge gerade gegenübersteht, so erscheint der Bewegungsvorgang mit großer Naturtreue wiedergegeben. ») Philos. Studien 3, 128, 1886. — ?) l. ec. 8. 195. — °) Corr. math. et phys. de l’observ. de Bruxelles 7, 365, 1833; Ann. de chim. et de phys. 53, 304, 1833; Pogg. Ann. 32, 647, 1833. — *) Journ. of the Royal Inst.1, 205, 1831. — °) Pogg. Ann. 29, 189, 1833; 32, 636, 1833. 24* 372 Stroboskopische Vorrichtungen. Eine große Anzahl von verschiedenartig bezeichneten Apparaten ist zur Erreichung des vorstehenden Zweckes angegeben worden; es sind größten- teils scheibenförmige oder zylindrische Vorrichtungen, welche mit den Namen Phänakistoskop, Stroboskop, Zootrop, Phantasmoskop, Daedaleum, Wunder- scheibe usw. belegt worden sind. Bei den scheibenförmigen Vorrich- tungen (stroboskopische Scheiben, Phänakistoskop) sind die Figuren auf der Vorderseite der gewöhnlich 25 bis 30 cm im Durchmesser haltenden Pappscheiben angebracht, gegen deren Rand hin sich die Spalten befinden, über jeder Figurein Spalt, oder wenn die Figuren im Sinne der Drehungsrichtung in fortschreitender Bewegung erscheinen sollen, ein Spalt mehr, wenn sie in rückschreitender Bewegung erscheinen sollen, ein Spalt weniger, als Figuren vorhanden sind. Man blickt mit dem Auge von der Rückseite der an einem passenden Halter in Rotation versetzten Scheibe durch die vorübergehenden Spalten gegen Fig. 63b. Anschütz’ Schnellseher. einen Spiegel, in welchem die Figuren der Vorderseite gesehen werden. Bei den zylindrischen Apparaten (Zootrop, Horners Daedaleum, Anschützs’ Schnellseher) befinden sich die Bilder an der Innenseite des in Drehung ver- setzten Hohlzylinders, zwischen oder über ihnen die Spalten, durch welche eine oder mehrere Personen zugleich von außen her gegen die gegenüber- liegende Innenseite des Zylinders blicken können. In Fig. 63b ist der Anschützsche „Schnellseher“ dargestellt, und zwar links der kleine Hand- apparat, rechts der große Apparat auf Stativ, welcher in vertikaler und, durch Umklappen bei A, auch in horizontaler Anordnung verwendet werden kann. Die Bilderreihen von Anschütz zu diesem Apparate sind ausgezeichnet durchgearbeitete Serien-Momentaufnahmen. Die Schärfe der Bilder in allen stroboskopischen Apparaten hängt wesentlich von der Spaltenbreite ab, die freilich, um die erforderliche Lichtstärke der Netzhautbilder zu ergeben, auch nicht zu klein genommen werden darf (2 bis 3mm). Ebenso darf bei den zylindrischen Apparaten der Durchmesser, um Verzerrungen der Bilder zu vermeiden, nicht zu klein genommen werden (50 bis 60cm). Auch für die Projektion sind stroboskopische Apparate eingerichtet worden, so von Uchatius, Reynaud (Praxinoskop), Wheatstone, Grützner u.a. ') Vgl. d. folg. 8. Anorthoskopische Täuschungen. 373 Es ist leicht ersichtlich, daß nach dem einfachen stroboskopischen Prin- zip, wie es in den bisher angeführten Apparaten zur Durchführung gelangte, nur kurzdauernde oder periodische Bewegungsvorgänge reproduziert werden können. Um langdauernde, nicht periodische Bewegungsvorgänge darzustellen, ist das stroboskopische Prinzip in neuerer Zeit durch die Verwendung von Bildbändern, welche nacheinander Tausende mittels Serien-Momentaufnahmen hergestellte Einzelaufnahmen fortlaufender Bewegungsvorgänge enthälten, für die direkte Beobachtung (Kinematoskop) oder besonders auch für die Projektion (Kinematograph, Bioskop) verwertet und technisch zu hoher Voll- endung gebracht worden. In zylindrischen Stroboskopen von kleinem Durchmesser tritt sehr leicht eine Verzerrung der Bilder auf, welche sich in einer Verkürzung derselben in der Bewegungsrichtung äußert; die Ursache der Verzerrung liegt in der entgegengesetzten Bewegung der Spalten und der ihnen gegenüberliegenden Bilder. Derartige Erscheinungen hat zuerst Plateau!) beschrieben, und sie sind später als anorthoskopische Täuschungen bezeichnet worden. Plateau verwendete zwei hintereinander liegende und in entgegengesetzter Richtung gedrehte Scheiben, deren vordere einen radialen Spalt besaß, während an der hinteren die Bilder angebracht waren, welche beobachtet werden sollten. Derartige Vorrichtungen werden als Anorthoskope be- zeichnet. Schiebt man nach Zöllner?) eine einfache geometrische Figur, z. B. eine Kreisfigur, hinter einem Spalte senkrecht zu dessen Richtung rasch hin und her, so erscheint die Figur in der Richtung der Bewegung verkürzt, der Kreis also als Ellipse mit der Spaltrichtung paralleler großer Achse. Ein zweiter Beobachter kann leicht feststellen, daß die Augen bei der Aus- führung dieses Versuches kleine hin und her gehende Bewegungen ausführen. Wird der Kreis langsam hinter dem Spalte verschoben, so erscheint er als Ellipse mit senkrecht zur Spaltrichtung orientierter großer Achse, was Helmholtz auf das Falschsehen schiefer Winkel3) bezieht. Doch soll nach Gertz*) die Täuschung auch eintreten, wenn die Spaltränder unsichtbar sind. Bei fester Fixierung eines Punktes am Spaltrande gelingt das Hervor- rufen dieser zweiten Art der Verzerrung gleichfalls, der ersteren jedoch nur selten. Dieselben Ergebnisse wie bei Verschieben der Figur hinter dem Spalte erhält man beim entsprechenden Verschieben des Spaltes über der am Platze bleibenden Figur. Die anorthoskopischen Täuschungen, welche bei entgegengesetzter Bewegung von Objekt und Spalt auftreten, sind nach Zöllner dadurch zu erklären, daß die einzelnen Punkte des Objektes je nach der Größe der gegenseitigen Bewegung von Objekt und Spalt not- wendigerweise mehr oder weniger näher aneinander gerückt erscheinen müssen, als sie wirklich sind. Für die vorher angeführten Versuche Zöll- ners, in denen nur die Figur bewegt wurde, nimmt Helmholtz an, daß die Bewegungen des Spaltes dabei einigermaßen durch Augenbewegungen ersetzt werden: „Der optische Eindruck ist hierbei derselbe, als ob der Spalt sich in entgegengesetzter Richtung wie das Auge bewegte, also auch entgegengesetzt dem bewegten Bilde“. !) Pogg. Ann. 37, 464, 1836. — *) Ebenda 117, 477, 1862. — °) Vgl. 8. 384. — *) Skand. Arch. f. Physiol. 10, 53, 1900. 374 Autokinetische Empfindungen. — Monokulare Tiefenwahrnehmung. Nach Gertz'!) werden Augenbewegungen nur ausgeführt, wenn sie, bei größerer Dauer der Nachbilder, zum Erkennen der Figur notwendig sind, sonst nicht- Werden die Augenbewegungen infolge von falscher Schätzung der Geschwindig- keit dieser nicht richtig angepaßt, so entsteht ein verzerrtes Netzhautbild. Entfallen jedoch die Augenbewegungen, so kann nach Gertz der Gesamteindruck der Figur nur psychisch aus der Kombination der Veränderung des Bildes mit der Vorstellung von der Bewegung der Figur an dem Spalte vorüber entstehen. Dazu kommt noch bei langsamer Bewegung die Tendenz, kleine Kreisbogenstücke gegen die Tangente abweichend zu ergänzen und so für Stücke von Ellipsen zu halten. Als „autokinetische Empfindungen“ hat zuerst Aubert?) die schon vorher von Charpentier?) beobachteten scheinbaren Schwankungen eines Lichtpunktes oder einer Lichtlinie bezeichnet, welche bei minuten- langem Fixieren derselben in, sonst völlig dunklem Raume auftreten. Ähnliche Bewegungen können übrigens gelegentlich auch ohne Fixation und, wenn auch in geringerem Maße, auch an gewöhnlichen, im freien Tageslichte gesehenen Objekten wahrgenommen werden, wenn man diese längere Zeit mit un- bewegtem Auge zu fixieren bemüht ist: entfernte Türme, Masten u. dgl. be- ginnen leicht nach einiger Zeit scheinbar zu wanken oder sich zu bewegen. Retinale und muskuläre Ermüdung der Augen, geistige und allgemeine körper- liche Ermüdung, Tabak- und Alkoholwirkung fördern nach Charpentier und Bourdon) das Auftreten solcher Täuschungen. Exner) fand die Schwan- kungen eines Lichtpunktes gegen die Ausgangsstellung in dunklem Raume bis zu 30 Winkelgraden gehend. Er erklärt sie aus den unvollkommenen Lokal- eindrücken, welche kleine oder lichtschwache Objekte auf der Netzhaut geben, derart, daß auch dem Bilde benachbarte Netzhautstellen mit affıziert werden (Aktionskreise der Netzhauteindrücke). Werde ein solches Bild durch längere Zeit fixiert, so zeige sich diese Fernwirkung, indem der Eindruck entsteht, als würde das Bild successive an verschiedene Orte dieser Nachbarschaft hin- wandern, so daß man glaubt, das Objekt mache schwankende Bewegungen. Charpentier war geneigt, die autokinetischen Empfindungen auf be- ‚wußte cerebrale, mit Vorstellungen kombinierte Bewegungsinnervationen zurückzuführen. Er hatte gefunden, daß es möglich ist, die scheinbare Orts- veränderung des Objektes willkürlich zu beeinflussen, was Aubert nicht gelang. Nach Hoppe®) liegen den besprochenen Täuschungen wirkliche, aber unbewußte Augenbewegungen zugrunde, die daher auf das Objekt übertragen würden. Auch Bourdon nimmt teils wirklich ausgeführte, teils intendierte Augenbewegungen an, bestätigt und berücksichtigt dabei auch die von Charpentier festgestellte willkürliche Beeinflussung der Bewegungen, sowie die erwähnten Einflüsse der Ermüdung. C. Monokulare Tiefenwahrnehmung. 1. Erfahrungsmotive der Tiefenwahrnehmung. Das monokulare Sehen gibt zunächst nur die Wahrnehmung der Rich- tung, in welcher jeder einzelne gesehene Punkt liegt. Die Kenntnis des Abstandes vom Auge, der Tiefendimension, wird im monokularen Sehen zum ) l.c. — ?) Pflügers Arch. 40, 477 u. 623, 1887. — °) Compt. rend. 102, 1155 u. 1462, 1886. — *) 1. c. 8. 334. — °) Zeitschr. f. Psych. u. Physiol. d. Sinnesorg. 12, 313, 1897. — °) Die Scheinbewegungen, Würzburg 1879. Erfahrungsmotive der Tiefenwahrnehmung. 375 allergrößten Teile durch Erfahrungsmotive bestritten. „Diesen. gehört alles an, was wir zu unterscheiden wissen in bezug auf die Tiefendimensionen des Gesichtsfeldes mit einem Auge, bei unbewegtem Kopfe, an Gegenständen, die weit genug entfernt oder so verwaschen gezeichnet sind, daß keine deutlich fühlbare Accommodationsanstrengung für ihre Betrachtung stattfindet (Helm- holtz!). In Betracht kommen dabei Erfahrungen über Größen und Formen der gesehenen Objekte, die Verteilung der Schatten und die Luftperspektive. Menschen, Haustiere, weniger sicher Häuser, Bäume u. dgl., Objekte von bekannter mittlerer Größe geben je nach ihrer Entfernung verschieden große Bilder auf der Netzhaut, woraus auf ihren Abstand geschlossen werden kann. Diese Beziehung zwischen Entfernung und Größe wird erst durch lange Erfahrung erlernt, und Kinder und ungeübte Erwachsene verfallen oft großen Irrtümern. Die Kenntnis der Form ist namentlich von Bedeutung, wo Objekte sich teilweise decken und aus der bekannten Form derselben geschlossen werden kann, welches näher, welches weiter entfernt liegt. Selbst bei unbekannten Formen kann das Fortlaufen der Begrenzungslinie des deckenden Objektes über das ungedeckte die relative Entfernungs- bestimmung ermöglichen. Jedoch auch hier sind zahlreiche Täuschungen Fig. 64. $ /\ are w’ B A A Schrödersche Treppe. B Neckersches Parallelepiped. möglich. Eine der stärksten Täuschungen dieser Art ist die Verlegung vor spiegelnden oder brechenden Flächen entworfener reeller Bilder hinter die Flächen durch die meisten Personen. Auch die Projektion der Nachbilder auf die Flächen der jeweilig gesehenen Objekte gehört hierher. Von Gegen- ständen bekannter oder regelmäßiger Formen oder Zeichnungen solcher werden leicht auch monokular perspektivische Wahrnehmungen erhalten; sehr schwer, höchst unsicher oder gar nicht gelingt dies hingegen monokular bei unregelmäßigen und unbekannten Objekten. Im ersten Falle wird die perspektivische Wahrnehmung wesentlich durch die verschieden große Ab- bildung der dem Auge näheren und entfernteren Teile des Objektes gefördert. Fällt jedoch dieser Unterschied durch die größere Entfernung der Objekte weg, so kann die bekannte Umkehr der körperlichen Projektion eintreten, wie sie zuerst von Sinsteden?) an einer entfernten Windmühle beobachtet worden ist, deren Flügel sich bald nach der einen, bald nach der anderen Seite zu drehen schienen, je nachdem der Beobachter sich die Mühle von !) Vgl. auch Storch, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 29, 22, 1902. — ?) Pogg. Ann. 111, 336, 1860. 376 Luftperspektive. — Einfluß der Accommodation. vorn oder von hinten. gesehen vorstellte. Hierher gehört auch die ver- schiedene Auslegung von Figuren von der Art, wie zwei solche in Fig. 64 wiedergegeben sind, deren räumliche Auffassung sich: willkürlich und bei einiger Übung in raschem Wechsel verändern läßt. Die Schrödersche Treppe!) (Fig. 64.A) kann entweder als vor der Wand W nach links aufsteigend, oder aber als vor der Wand W’ verkehrt nach rechts abfallend aufgefaßt werden. Am leichtesten gelingt die Umkehr bei abwechselnder Fixierung der Punkte a und b, welche jedesmal als vorn gelegen vorzustellen sind. In ähnlicher Weise kann .man das Neckersche Parallelepiped 2) (Fig. 64.B) mit der oberen Begrenzungsfläche F nach hinten oder nach vorn geneigt sehen, am besten, indem man einmal das Ende b, einmal das Ende a der Diagonale ab fixiert und sich vorn gelegen vorstellt. — Hieran schließen sich weiter Beobachtungen über die scheinbare Umkehrung. des Reliefs von Medaillonmatrizen, wobei jedoch auch die Schattenverteilung ‘mitspielt, und andere Beobachtungen von Brewster, Schröder u. a.3). — Von großer Bedeutung unter den-Erfahrungsmomenten sowohl für die monokulare, als auch für die binokulare Tiefenwahrnehmung ist die Verteilung der Schatten, namentlich der Schlagschatten. Es möge hier nur an die feine Modellierung der Formen entfernterer Berge und Täler, namentlich in schnee- bedeckter Landschaft bei tiefstehender Sonne ‘oder tiefstehendem Monde er- innert werden. — Unter der Luftperspektive versteht man nach Helm- holtz die Trübung und Farbenveränderung der Bilder ferner Objekte, welche durch die unvollkommene Durchsichtigkeit der vor ihnen liegenden, haupt- sächlich durch Wasserdünste mehr oder weniger getrübten Luftschicht bewirkt wird. Bei klarer Luft erscheinen ferne Berge näher und niedriger, bei trüber Luft ferner und höher. Namentlich der Bewohner der Ebene unterliegt der ersteren Täuschung in hohem Grade in der äußerst klaren und durchsichtigen Luft des Hochgebirge. Daß die Luftperspektive auch von Einfluß auf die scheinbare Größe der Gestirne (Sternbilder, Sonne, Mond) ist, wird allgemein zugegeben. Helmholtz schreibt ihr eine größere Be- deutung unter den Umständen zu, welche das Größererscheinen der Gestirne am Horizonte bedingen %). 2. Einfluß der Accommodation. Über den Einfluß der Accommodation auf die monokulare Tiefen- wahrnehmung äußert sich Helmholtz: „Es ist kein Zweifel, daß jemand, der seine Accommodationsänderungen viel beobachtet hat und das Muskel- gefühl der dazu gehörigen Anstrengung kennt, imstande ist anzugeben, ob er bei der Fixierung eines Gegenstandes oder eines optischen Bildes für große oder kleine Sehweiten accommodiert. Aber die Beurteilung der Ent- fernung mittels dieses Hilfsmittels ist äußerst unvollkommen.“ Dieser letzte Satz hat durch alle vorliegenden Untersuchungen die vollste Bestätigung ge- funden. Für etwas entferntere Objekte, schon etwa über 2m hinaus, kann die Accommodation wohl von vornherein als kaum mehr in Betracht kom- mend angesehen werden. Die ersten genaueren Bestimmungen des Einflusses !) Pogg. Ann. 105, 298, 1858. — *) Ebenda 27, 502, 1833. — ®) Siehe Helm- holtz, Physiol. Optik, 2. Aufl, 8. 772 f. — ') Vgl. Abschn. D, 2. Accommodation und Tiefenwahrnehmung. 377 der Accommodation auf die Tiefenwahrnehmung hat Wundt!) vorgenommen. Der Untersuchte blickte durch die Öffnung eines Schirmes nach einem schwarzen Faden, welcher vor einer weißen Fläche nacheinander in ver- schiedene Entfernungen vom Auge gebracht werden konnte, oder nach zwei Fäden, die in verschiedener Entfernung vom Auge gleichzeitig gesehen wurden. Es ergab sich dabei, daß über die absoluten Entfernungen der Fäden gar keine bestimmten Angaben gemacht: werden konnten. Jedoch konnte innerhalb gewisser Grenzen erkannt werden, ob der Faden angenähert oder entfernt worden sei oder welcher von zwei Fäden der nähere, welcher der entferntere war. Wundts Bestimmungen erstreckten sich auf das Be- reich von 40cm bis 2,5m Abstand des Fadens vom Auge. Die Ergebnisse sind in der nachstehenden Tabelle zusammengefaßt: Entfernung Unterscheidungsgrenze Entfernung Unterscheidungsgrenze des Fadens z FR des Fadens Y % vom Auge er em vom Auge A = Annäherung | Entfernung Annäherung | Entfernung 2,5m 12cm 12cm 1m 8 cm 1l cm 22, 16., ta 0,8, BIER REN g: - 8, 12 „ 0,5 „ 45, 6,5, 1,8 „ Be 13 „ 0,4, 45, 45, Danach wurde Annäherung besser erkannt als Entfernung des Fadens. Die wahrnehmbaren Distanzen zweier gleichzeitig gesehener Fäden ent- sprechen den obigen für die Annäherung gefundenen Werten. Mit zu- nehmender Ermüdung nahm die Sicherheit der Wahrnehmung merklich ab. Zu ähnlichen Ergebnissen ist später mittels eines im wesentlichen analogen, jedoch verfeinerten Versuchsverfahrens Arrer?) gelangt. Allein in seinen wie in Wundts Versuchen waren Erfahrungsmotive doch nicht sicher aus- geschlossen, da die Fäden in verschiedenen Stellungen verschiedene Deutlich- keit, Dicke und Helligkeit zeigen konnten. Hillebrand?) vermied diesen Fehler, indem er auf weißem Grunde den scharfen, geraden Rand eines die ganze Gesichtsfeldhälfte ausfüllenden schwarzen Feldes als Objekt beob- achtete; er untersuchte in Entfernungen von 25 bis 100cm. Langsame Ver- schiebungen des Objektes wurden bis zu starken Accommodationsanstren- gungen nicht wahrgenommen. Rasche Auswechselung des Objektes gegen ein gleiches in anderer Entfernung erlaubte hingegen eine gewisse beschränkte Tiefenlokalisation. Auf Seite 378 sind die Ergebnisse von Hillebrands Beobachtungen an drei Versuchspersonen zusammengestellt. Hillebrands Versuchsergebnisse sind im wesentlichen von Dixon), Arrer°) und Bourdon®) bestätigt worden. Dieselben stellen sich ersicht- lich noch viel ungünstiger als die von Wundt und Arrer mit der Faden- !) Beiträge z. Theorie d. Sinneswahrnehmung. Leipzig u. Heidelberg 1862, S. 105£. — ?) Wundts philos. Studien 1896, 8. 116 u. 222. — °) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 7, 97, 1894; s. auch 16, 71, 1898. — *) Mind 1895, p. 195. — °) 1. ec. — °) La perception visuelle de Pespace, Paris 1902, p. 282 und Revue philosoph. 46, 124, 1898. 378 Geringer Wert der Accommodation für die Tiefenwahrnehmung. methode gewonnenen. Nimmt man aber selbst die günstigsten Zahlen von Wundt zur Grundlage einer Betrachtung des Wertes, den die Accommoda- tion für die Tiefenwahrnehmung besitzt, so ergibt sich leicht, daß für Er- kennung der Tiefendimensionen von Objekten in 40 cm Entfernung vom Auge eine Unterschiedsgrenze von 4,5 cm und bis zu Objekten in 2,5 m Entfernung eine Grenze von 12cm selbst bescheidenen Anforderungen an eine Tiefen- lokalisation nicht genügen. Über die absolute Entfernung der Gegenstände im Raume gibt die Accommodation überhaupt keine Auskunft und von der rela- tiven Lage der Objekte also nur eine äußerst oberflächliche Kenntnis (W undt). Varktöhe Fehlerlos wurden angegeben DEE Entfernung | = cm |==Dioptr.| Annäherung cm |=Dioptr. I. Emmetrop, 25—50 cm 25 2 66—29 cm 37 2 normale sn! 29—66 „ 37 2 bei 25>—50 cm überwiegen bereits schärfe die falschen Angaben II. Emmetrop, selbst beim Interv. 20—100 em 50—29 cm 21 1,5 normale se | rt ungefähr een | 33—25 „ 8 1 schärfe falsche wie richtige Angaben 29—20 „ 9 1,5 en 2 20—25 cm 5 66—50 „ 16 (%) Tr 25—33 „ 8 1 50—33 „ 17 Sehschärfe. Nach 14täg 83—80 5 17 33—25 „ 8 1 3 nr u = Einübung ! 20—66 ., 16 ('/) 25—20 „ b) Nach Hillebrand!) ist nun aber wegen des Zusammenhanges zwischen Accommodation und Konvergenz die Frage, ob und in welcher Weise die Accommodation den Tiefenwert des fixierten Punktes bestimmt, von der Frage, welchen Einfluß die Konvergenz der Gesichtslinien auf die Tiefen- lokalisation hat, in praxi nicht trennbar. Mit der Untersuchung der Leistungen der Accommodation in allen vorliegenden Versuchen ist implizite auch die Leistung der Konvergenz mitbetroffen: „Die allmähliche Anspannung der Accommodation beim Heranrücken eines monokular fixierten Punktes ist von einer Vergrößerung des Konvergenzwinkels begleitet, auch wenn das andere Auge vom Sehakte ausgeschlossen ist. Dies ist für unsere Frage von Bedeutung: Sind nämlich Entfernungsunterschiede beim Accommodations- wechsel erkennbar, so kann der Grund sowohl in der Accommodation selbst, wie auch in der gleichzeitigen Konvergenz liegen“ ?). Anhangsweise sei erwähnt, daß, nachdem Berlin®) darauf hingewiesen hatte, daß der von ihm bei Säugetieren festgestellte hochgradige Linsenastigmatismus für die Wahrnehmung kleiner Bewegungen von Vorteil sein könne, Loeb*) den Astigmatismus als Hilfsmittel der monokularen Tiefenwahrnehmung in Betracht gezogen hat; die Verschiedenheiten der Zerstreuungsbilder bei Annäherung und Entfernung des Objektes setzen Reize, nach denen sich die Einstellung des Auges reflexartig regulieren könne. )1.e.— le. 8. 101. — ?) Zeitschr. f. vergl. Augenheilk. 5, 1, 1887. — *) Pflügers Arch. 41, 371, 1887. a re A na a U m 0. Einfluß von Bewegungen auf die Tiefenwahrnehmung. 379 3. Einfluß von Bewegungen. Wird der Standpunkt des beobachtenden Auges gegenüber verschieden entfernten Objekten verändert, so verbessert sich die Tiefenwahrnehmung sogleich bedeutend. Der Fall ist dann von dem Falle der binokularen Wahr- nehmung nur dadurch unterschieden, daß nicht je zwei gleichzeitig, sondern zwei oder mehrere nacheinander entstandene Netzhautbilder miteinander ver- glichen werden, und daß die zentralen Assoziationen zwischen den beiden oder mehreren Empfindungskomplexen in beiden Fällen verschieden sein werden. Die Veränderung des Standpunktes des beobachtenden Auges gegen- über den äußeren Objekten kann nun durch Bewegungen des Kopfes und des Körpers an einem Standplatze, sowie durch ÖOrtsveränderung des ganzen Körpers, aber ebenso auch durch verschiedenartige Bewegungen der Objekte bei unverändertem Standpunkte des beobachtenden Auges herbeigeführt werden. Bewegt man sich in einer Richtung vorwärts oder dreht man den Kopf in einer Richtung, so gleiten die Gegenstände durch das Gesichtsfeld scheinbar in der entgegengesetzten Richtung hin, und zwar ist die schein- bare Geschwindigkeit der Winkelverschiebung im Gesichtsfelde ihrer wahren Entfernung umgekehrt proportional, so daß aus der Geschwindigkeit der scheinbaren Bewegung sichere Schlüsse auf die wahre Entfernung ge- zogen werden können (Helmholtz). Nahe Gegenstände gleiten scheinbar sehr rasch vorüber, entferntere langsamer, ganz ferne, wie die Gestirne, scheinen „mitzugehen“, da sie ihren Platz im Gesichtsfelde behalten, solange die Bewegungsrichtung des beobachtenden Auges nicht geändert wird. Dabei müssen sich notwendigerweise die Bilder der gesehenen Objekte gegen- einander verschieben, wodurch eine sehr deutliche Anschauung ihrer ver- schiedenen Entfernung hervorgebracht wird. Helmholtz meint, daß die Veränderungen des Retinalbildes bei Bewegungen es hauptsächlich sind, wodurch einäugige Personen sich richtige Anschauungen von neuen körper- lichen Formen der Umgebung verschaffen. Betrachtet man monokular mit unbewegtem Blicke ein gänzlich unbekanntes Objekt, so gewinnt man viel- fach falsche oder mindestens nur unbestimmte Vorstellungen von dessen räumlicher Anordnung. Bewegt man jedoch den Kopf oder das Objekt, so tritt alsbald die richtige Anschauung ein. Genauere Versuche über den Einfluß der Kopfbewegung auf die mono- kulare Tiefenwahrnehmung rühren von Bourdon!) her. Es wurden zwei in etwas verschiedener Höhe angebrachte, 5 und 6m vom Auge entfernte Punkte betrachtet, deren Winkelabstand in einer Versuchsreihe 6°, in der anderen nur etwa 1° betrug. Die Bewegungen des Kopfes waren völlig frei- gestellt, der übrige Körper blieb unbewegt. ‘Die beiden Versuchspersonen machten unwillkürlich vorwiegend seitliche Kopfbewegungen, um die Lage der beiden Punkte gegeneinander festzustellen. Es stellten sich Unterschiede heraus, je nachdem der entferntere Punkt der höher gelegene oder der tiefer gelegene war. Im ersten Falle wurde bei 1° und 6° Winkelabstand von beiden Beobachtern stets richtig angegeben, daß der höher gelegene Punkt der entferntere war; im zweiten Falle waren die Angaben viel unsicherer, 1) La perception visuelle de l’espace. Paris 1902, p. 286. 380 Monokulare Größen- und Entfernungsschätzung. für den kleineren Winkelabstand jedoch im Durchschnitte besser als für den größeren. Es wurde nur nach dem unmittelbaren Eindruck entschieden und keine Überlegung angestellt, welcher Art die Verschiebung in diesem oder jenem Falle hätte sein müssen, wobei natürlich stets richtige Angaben zu er- ‚halten gewesen wären. | Die Vergleichung mittels der Erinnerung, wie sie bei der monokularen Tiefenwahrnehmung mit Hilfe von Bewegungen stattfindet, ist viel unsicherer als die Vergleichung zweier gleichzeitig gegenwärtiger Eindrücke „So ist nun auch die Beurteilung der Entfernungen mittels der gleichzeitigen Bilder beider Augen viel vollkommener, sicherer und genauer, als sie durch Be- wegungen wenigstens innerhalb so geringer Distanzen, wie die Entfernung der Augen voneinander ist, gewonnen werden kann“ (Helmholtz). Es ist jedoch zu beachten, daß die „Vergrößerung der Basis“ durch seitliche Kopf- bewegungen und Veränderungen des Standortes des Beobachters ein nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel der genauen Tiefenlokalisation überhaupt bildet, von dem freilich gemeinhin nur wenig Anwendung gemacht wird. D. Monokulare Größen- und Entfernungsschätzung. 1. Das Augenmaß. Die Fähigkeit, mittels des Gesichtssinnes Größenverhältnisse im Gesichts- felde zu beurteilen, wird als Augenmaß bezeichnet. Insofern es sich dabei nur um Größen in ebener Ausdehnung senkrecht zur Blickrichtung handelt, sind die wesentlichen Elemente für die Betätigung des Augenmaßes schon im monokularen Sehen gegeben, sofern es sich aber um direkte Beurteilung oder Vergleichung von Größenverhältnissen in der Tiefendimension handelt, kann bei der Unvollkommenheit der monokularen Tiefenwahrnehmung, welche im vorigen Abschnitte erörtert worden ist, das einäugige Sehen nur Unter- geordnetes leisten. Hingegen können die ebendort auch in Betracht ge- zogenen Erfahrungsmotive der Tiefenwahrnehmung indirekte Entfernungs- schätzungen auf monokularem Wege mit größerer oder geringerer Genauig- keit ermöglichen, wenn aus den geschätzten Größenverhältnissen bekannter Objekte Schlüsse auf die Entfernung dieser gezogen werden. Unter gewöhnlichen Verhältnissen wird jede Vergleichung zweier Raum- größen mit bewegtem Blicke (und zumeist binokular) fausgeführt, und zwar bei gleichzeitig im ebenen Sehfelde vorhandenen, gleich gerichteten und ähn- lich dimensionierten Objekten derart, daß die zu vergleichenden Raumgrößen abwechselnd nacheinander auf denselben Stellen der Fovea abgebildet werden. „Dabei brauchen wir offenbar von der Form und Länge des Bildes auf der Netzhaut nichts zu wissen. Die Netzhaut ist wie ein Zirkel, dessen Spitzen wir nacheinander an die Enden verschiedener Linien ansetzen, um zu sehen, ob sie gleich lang sind oder nicht, wobei wir über die Entfernung der Zirkel- spitzen und die Form des Zirkels nichts weiter zu wissen brauchen, als daß sie unverändert geblieben sind“ (Helmholtz). An den oben angenommenen einfachsten Fall schließt sich zunächst der an, daß sich die zu vergleichenden Raumgrößen nicht gleichzeitig im Sehfelde befinden, sondern die eine kürzere. oder längere Zeit nach der anderen in das Sehfeld gelangt. Es tritt dann Das Augenmaß. | 381 wiederum !) die mehr oder weniger ungenaue Vergleichung nach der Er- innerung an die Stelle der unmittelbaren, und die Schätzung wird bei un- gewohnten Raumgrößen im allgemeinen desto ungenauer ausfallen, je längere Zeit zwischen den beiden Beobachtungen liegt. Daß sich aber hier durch Einübung auf bestimmte fixe Maße ebenfalls große Sicherheit erzielen läßt, beweist die Genauigkeit dieses „Augenmaßes“ im engeren Sinne bei Per- sonen, welche Längen-, Querschnitts-, Flächenmaße RRINNE messen und schätzen. Sind zwei zu vergleichende Raumgrößen nicht gleich gerichtet und ähn- lich dimensioniert, sondern wie beispielsweise zwei einen Winkel miteinander bildende Gerade verschieden gerichtet oder zwei verschieden begrenzte Flächen unähnlich dimensioniert, so ist eine successive Abbildung auf genau den- selben Stellen der Netzhaut bei der‘ bestimmt begrenzten Bewegungsfähigkeit des Auges meist nicht mehr möglich: in solchen Fällen wird auch die Ver- gleichung mittels des Augenmaßes wesentlich erschwert und unsicherer. ‚ Versuche über die Genauigkeit des Augenmaßes bei der Vergleichung gerader Strecken im ebenen Sehfelde hat zuerst E. H. Weber?) nach der Methode der eben merklichen Unterschiede angestellt, welche ihn zu dem Ergebnisse führten, daß zwei nacheinander betrachtete parallele Linien im günstigsten Falle noch unterschieden werden können, deren Längen sich wie 100:101 verhalten; auf die absolute Längenverschiedenheit komme es dabei nicht an. Dieser Satz hat jedoch nach späteren Versuchen von Chodin?) keine strenge allgemeine Gültigkeit. In Zirkel- und Faden- versuchen von Fechner?) und Volkmann’) betrug die Größe des mittleren Fehlers in Bruchteilen der ganzen verglichenen Längen (1 bis 24cm bei Volkmann, in 80cm Entfernung vom Auge) rund für Fechner . . . De N ee EN er Neth Volkmann, ältere ee a a a a Pe Re 5 spätere „ ED rs real ar ak RR A TE EN Innerhalb der verwendeten Abstände blieb dieser Bruchteil ziemlich konstant. Bei ganz kleinen Distanzen, bis zu 0,2mm herab, wie sie von Volkmann auch zur Prüfung herangezogen worden sind, nimmt der Fehler nicht mehr proportional den Strecken ab, sondern nähert sich einer unteren Grenze. Die Vergleichung vertikaler Distanzen ist viel unvollkommener als die horizontaler, daher auch der Fehler in der Halbierung vertikaler Linien viel größer ausfällt als in der Halbierung horizontaler. Noch viel schwieriger ist die Vergleichung horizontaler mit vertikalen Distanzen, und zwar werden die letzteren gewöhnlich für länger gehalten. Will man auf einer senkrecht zur Blicklinie liegenden Ebene ein Quadrat nach dem Augenmaße zeichnen, so werden die vertikalen Seiten !/,, bis Y3o (Helmholtz) bis !/);, (Wundt) kürzer gezogen als die horizontalen. Feilchenfeld®) fand bei zunehmender Annäherung eines rechtwinkligen Kreuzes, dessen Mitte monokular fixiert wurde, zunehmende Überschätzung 1) 8. d. vor. 8. — ?) Wagners Handwörterb. d. Physiol. 3 (2), 559, 1851. — ®) Arch. f. Ophthalmol. 23 (1), 92, 1877. — *) Psychophysik 1, 211. — °) Physiol. Unters. im Geb. d. Optik 1, 117, 1863. — °) Arch. f. Ophthalmol. 53 (3), 401, 1902. 382 Größenverhältnisse, Parallelismus u. a. des nasalen, in geringerem Grade auch des oberen Schenkels.. Er führt die Täuschung auf die größere Ausdehnung des Gesichtsfeldes temporalwärts und nach unten!) zurück. Bei freier Wahl des monokularen Fixationspunktes wird die temporale Hälfte einer zu teilenden Strecke überschätzt, indem der in der Richtungslinie des Auges gelegene Punkt fälschlich für median ge- halten, der Fixationspunkt also zu weit temporal verlegt wird. Die Über- schätzung der oberen Hälfte vertikaler Strecken bleibt auch bei freier. Wahl des Fixationspunktes bestehen. Feilchenfeld nimmt an, daß sich hier die Bevorzugung der Blickbewegung nach unten bemerkbar mache, und schreibt der Vergleichung von Netzhautbildern bei ruhendem Blicke größere Be- deutung zu als Wundt und Helmholtz. Bei Schätzungen des Größenverhältnisses zweier ungleicher Distanzen unterscheidet Volkmann?) einen konstanten Fehler, welchen das Mittel aller Einstellungen für ein gegebenes Größenverhältnis gegenüber der wirklich richtigen Einstellung ergibt, und einen variabeln Fehler als mittlere Ab- weichung der Einzeleinstellungen von dem Mittel. Durch den konstanten Fehler wurde in Volkmanns Versuchen bei Abteilung horizontaler Strecken in Verhältnissen von 1:10 bis 5 : 10 die links liegende Distanz immer etwas zu grob. | Gerade Linien werden nach den Ausführungen des vorigen Abschnittes ®) nur in der Primärstellung als wirklich gerade erkannt. Diese Stellung wird auch, wenn tunlich, unwillkürlich für die Mitte einer Linie gewählt, welche daraufhin untersucht werden soll. Jedoch ist die Sicherheit, mit der sie eingehalten wird, nach Helmholtz nicht sehr groß. Mit bewegtem Blicke konnte Helmholtz, wenn er ein 20cm langes Lineal abwechselnd von den beiden Flächen her betrachtete, noch konvexe oder konkave Krüm- mungen der Kante bis zu 14m Krümmungsradius erkennen. Um den Parallelismus gerader Linien zu untersuchen, läßt man den Blick an oder zwischen denselben entlang schweifen und entscheidet so mit großer Genauigkeit, ob der Abstand der Linien überall gleich oder gegen welche Seite er größer oder kleiner ist. Nach Mach) ist die Beurteilung des Parallelismus für horizontale und vertikale Linien genauer als für ge- neigte. Zwei Winkel, deren Schenkel einander parallel sind, werden leicht als. genau gleich und Abweichungen der Winkelgröße daher gut erkannt. Liegen die Schenkel zweier Winkel hingegen nicht annähernd parallel, sondern gegen- einander geneigt, so wird die Vergleichung sehr unsicher und fehlerhaft. Schneiden sich zwei Gerade unter rechtem Winkel, so erscheinen bei Fixation des Schnittpunktes in der senkrecht zur Blickrichtung liegenden Ebene der beiden. Geraden den meisten Beobachtern für das rechte Auge der rechte. obere und der linke untere rechte Winkel etwas stumpfer, der linke obere und rechte untere Winkel etwas spitzer als ein rechter, umgekehrt für das. linke Auge. Zieht man daher zu einer gegebenen Horizontalen die Vertikale nach dem Augenmaße, so wird bei Verwendung des rechten Auges das obere Ende der gezogenen Geraden nach rechts, bei Verwendung des linken Auges. nach links abweichen. Die Größe des Fehlers bei solchen Winkelschätzüungen !) Vgl. 8. 3857. — °) Ber. d. königl. Sächs. Ges. d. Wiss. zu Leipzig 1858, 8. 173. — °) Vgl. 8. 365. — *) Sitzungsber. d. Wien. Akad., math.-naturw. Kl., Abt. 2, 1861, 8. 215. Formensinn. — Augenmaß im indirekten Sehen. 383 hängt auch von der Neigung der Schenkel gegen den Netzhauthorizont ab; so verschwand für Helmholtz der Fehler, wenn das obere Ende des verti- kalen Schenkels eines rechtwinkligen Kreuzes um 18° nach links von der Vertikalen abwich; standen die Schenkel des Kreuzes genau vertikal und horizontal, so betrug der Fehler 1,2°. Er wuchs auf 2°, wenn das obere Ende des vertikalen Schenkels um 45 — 18 —= 27° nach rechts von der Verti- kalen abwich. Hierher gehört auch die Beobachtung, daß bei beabsichtigter Ergänzung eines Winkels von 30 bis 45° — mit einem horizontalen und einem aufsteigenden Schenkel — auf das Doppelte nach aufwärts der Ergänzungs- winkel immer bedeutend (10 bis 15 Proz.) größer ausfällt als der ursprüng- liche Winkel. In Zusammenhang hiermit steht auch die Erfahrung, daß der Winkel an-der oberen Spitze eines gleichseitigen Dreieckes spitzer erscheint als die beiden Winkel an. der gegenüberliegenden Basis. Aus den wenigen angeführten Tatsachen ergibt sich, daß das Augenmaß wohl nicht auf Muskel- empfindungen oder Innervationsgefühlen beruht, welche uns über die Größe des vom Blicke zurückgelegten Weges unterrichten könnten, sondern daß die Ver- gleichung offenbar mit Hilfe des Raumsinnes der Netzhaut erfolgt (Hering). Als Formensinn definiert Guillery!) die Fähigkeit, die Formen von Objekten zu erkennen und richtig zu beurteilen, und unterscheidet diese Fähigkeit scharf von der Sehschärfe. Der Formensinn des Sehorgans liegt offenbar nur zum Teil auf optischem Gebiete und ist wesentlich auch von der Erfahrung und Schulung des Urteiles abhängig. Für seine messenden Versuche über den .Formensinn hat Guillery die Tiefendimension nicht in Berücksichtigung gezogen. Er verwendete als einfachste Formen einfache und parallele gerade Linien, gleichmäßig und ungleichmäßig gekrümmte Kreislinien. Als kleinste erkennbare Abweichung einer einfach geknickten Linie von einer Geraden wurde der Wert von 23 Winkelminuten gefunden. Zwischen dem erkennbaren Grade der Knickung und der Größe des ent- sprechenden Netzhautbildes zeigte sich kein bestimmtes Verhältnis. Größere Werte der Netzhautbilder ergaben sich in schrägen Lagen der Linien. Bei der Beurteilung des Parallelismus zweier Geraden?) kommt nach Guillery nicht lediglich das Augenmaß in Betracht. Aus seinen Versuchen geht her- vor, daß die Möglichkeit, einfachere oder kompliziertere Formen zu erkennen, sich nicht nach deren linearen Ausdehnungen richtet, mit anderen Worten, daß der für den optischen Formensinn bestimmende Eindruck nicht lediglich von der Summe der Einzelerregungen auf der Netzhaut abhängt ?). Weitaus ungenauer als im direkten Sehen ist das Augenmaß im in- direkten Sehen. Aber selbst bei unbewegtem Auge ist auch noch im indirekten Sehen eine gewisse, freilich unbestimmte Beurteilung von Größenverhältnissen im Sehfelde möglich. Hierfür spricht am besten die flächenhafte Wahr- nehmung der Anordnung in der Purkinjeschen Aderfigur, deren Bild ja bei Bewegungen des Auges im wesentlichen dieselbe Lage beibehält. Auch bei momentaner Beleuchtung des Gesichtsfeldes durch den elektrischen Funken oder den Blitz können Gestalten und Lage der Objekte im Gesichtsfelde an- nähernd richtig erkannt werden, trotzdem die Zeit zu kurz ist, um die Orien- tierung durch Augenbewegungen zu gestatten. - !) Pflügers Arch. 75, 466, 1899. — ?) S. oben 8. 382. — °) Vgl. auch $. 349. 384 ; Täuschung des Augenmaßes. 2. Täuschungen des Augenmaßes. Eine Anzahl von Täuschungen in der Lokalisation und Täuschungen des Augenmaßes hat schon in den vorausgegangenen Abschnitten Erwähnung gefunden. Die große Gruppe der geometrisch-optischen Täuschungen gehört zunächst in dieses Gebiet. Aus derselben seien hier nur einige Beispiele der auffälligsten und bekanntesten Erscheinungen hervorgehoben. a) Eingeteilte Strecken erscheinen größer als uneingeteilte (Hering!). Das einfachste Beispiel hierfür bietet die Punktreihe Fig. 65: Der Abstand Fig. 65. des linken Punktes von R e 2 5 ee 8 s . », der Mitte der Figur er- scheint kleiner als der Abstand des äußersten rechten Punktes. Qua- drate, aus parallelen Linien hergestellt, wie in Fig. 65, erscheinen als Rechtecke, senkrecht zur Linienrichtung verlän- Größererscheinen geteilter Strecken. gert, wie die zwei gleich großen Quadrate der Figur. Ein Quadrat mit Netzteilung erscheint größer als ohne solche, geteilte Winkel erscheinen größer als ungeteilte. Den Betrag der Größe der Täuschung haben Kundt?), Aubert?) u. a. zu ermitteln versucht. Nach Kundt erscheint dem rechten Auge die rechte, dem linken die linke Hälfte einer genau halbierten Distanz kleiner. b) Spitze Winkel werden überschätzt, stumpfe unterschätzt; zugleich erscheint die Richtung ihrer Schenkel dementsprechend etwas verändert. Hierauf beruht eine Reihe von Täuschungen; so die in Fig. 66 nach Hering dargestellte, in welcher die beiden horizontalen, parallelen Geraden durch die Fig. 66. EEE ‘ Täuschung von Hering. unter spitzem Winkel angesetzte Schraffierung in der Mitte geknickt er- scheinen. Wird die Schraffierung entgegengesetzt laufend angebracht, so erscheinen die Geraden nach innen geknickt. In der bekannten Figur von Poggendorff (Fig. 67, links) erscheint infolge der Überschätzung der spitzen Winkel die obere Hälfte der geraden Linie ac links von dem breiten vertikalen Balken nach oben verschoben. Ähnlich scheint die von d ausgehende geneigte Ge- rade gegen den Schnittpunkt der ab rechts am Balken zu zielen, während die wirklich dahin zielende von e aus gezogene Gerade in ihrer Verlängerung an- Y) Beitr. z. Physiol., Heft 1, Leipzig 1861. — ?) Ann. d. Physik u. Chemie 120, 118, 1863. — °?) Physiol. d. Netzhaut, 1865. Täuschungen von Poggendorff, Zöllner u. a. 3835 scheinend unterhalb jenes Schnittpunktes hinzielt (Täuschung von Delboeuf). Sehr deutlich tritt die Täuschung und namentlich die scheinbare Vergrößerung der spitzen Winkel in der Zweibalkenfigur (Fig. 67 rechts) hervor, wo das Mittelstück der geneigten ‚Geraden im Sinne einer Vergrößerung der spitzen Winkel abgelenkt erscheint. Zwingend ist die Täuschung in der bekannten Zöllnerschen Figur, Fig. 68. namentlich wenn, wie in Fig. 68, die parallelen langen Geraden unter 45° gegen die Sagittal- ebene geneigt angebracht . werden, in welcher Lage a Täuschung von Poggendorff und Delboeuf. ; Figur von Zöllner. Fig. 67. \n Ann L_ . L die Lokalisation viel unsicherer ist als bei vertikaler oder horizontaler Anord- nung!). Auch hier ist die Täuschung, wie Hering?) gezeigt hat, im wesentlichen auf ein Falschsehen der Winkel zurückzuführen. Bei Bewegungen des Auges fand Helmholtz die Täuschung zunehmend, allein da sie auch im Nachbilde fortbesteht, kann sie in der Hauptsache nicht auf Augen- bewegungen zurückgeführt werden (Hering). c) Benachbarte größere Dimensionen bewirken scheinbare Verkleinerung einer gegebenen Dimension und umgekehrt (Kontrastwirkung). So erscheinen nach Müller-Lyer zwei gleich lange Strecken Fig. 69. auf einer Geraden, zwischen zwei kleinen und zwischen zwei größeren Abschnitten ab- gesteckt, ungleich lang: die erstere länger, die letztere kürzer. In Fig. 69 scheint der R a mitten zwischen den beiden Kreisperipherien liegende kleine Punkt näher dem großen Kreise zu liegen (Täuschung nach Baldwin) u. dgl. Täuschung nach Baldwin. d) Eine Richtung oder Dimension wird durch benachbarte Richtungen oder Dimensionen im Sinne dieser beeinflußt. So erscheint beispielsweise die ı) Vgl. S. 382. — ®) 1. c. Nagel, Physiologie des Menschen. III. DD Qi 386 Täuschungen durch „Induktion“. — Erklärungsversuche. geradlinige obere Begrenzung der Fig. 70 (nach Bourdon) ebenfalls nach oben stumpfwinklig abgeknickt, wie es die untere ist, am deutlichsten bei Fixation der Mitte der Figur. Eine bekannte und sehr auffällige in diese Gruppe zu rechnende Täuschung ist die von Müller-Lyer (Fig. 71): Die rechte Hälfte der Fig. 70. , horizontalen Ge- raden, welche zwi- m EEE schen divergierende Täuschung nach Bourdon. Klammern einge- schlossen ist, erscheint Eig. 71. beträchtlich länger als die linke zwischen kon- vergierende Klammern | eingeschlossene. Nach 8 EN 2: Heymans')istdabeidie Größe der Täuschung dem Kosinus des Schen-. kelwinkels proportional. Eine ganze Anzahl geometrisch-optischer Täuschungen ist auf ähnliche Verhältnisse zurückzuführen. Auch die Loebsche Täuschung rechnet Bourdon?) in diese Gruppe. In derselben findet scheinbare Ver- schiebung eines geraden Streifens durch einen daneben gelegten oder ge- zogenen zweiten im Sinne einer Abstoßung statt, so daß beispielsweise in Fig. 72 der obere Strich links höher als der untere Strich rechts zu liegen scheint. Loeb spricht den Satz so aus: „Zwei Punkte oder ‚Linien mit verschiedenen Raumwerten, die gleichzeitig der Aufmerksamkeit unter- liegen, beeinflussen sich so, als ob sie sich gegenseitig abstießen, wodurch ihr scheinbarer Abstand vergrößert wird“ 3). Die Täuschung ist übrigens nicht sehr stark und verschwindet leicht, wenn sich die Aufmerksamkeit von den „induzierenden“ Streifen oder Linien abwendet. Täuschung von Müller-Lyer. Fig. :72. Täuschung nach Loeb und Mellinghoff. Über die Natur der verschiedenen geometrisch-optischen Täuschungen ist seit dem ersten psychologischen Erklärungsversuche von Oppel (1854) eine große Reihe verschiedener Vermutungen ausgesprochen und teils psycho- logischer, teils physiologischer Erklärungen von mehr oder weniger allgemeiner Bedeutung versucht worden. Anstatt der Unterscheidung psychologischer und physiologischer Hypothesen werden nach Witasek*) zweckmäßiger und richtiger als einander beigeordnete Gruppen Urteilshypothesen und Empfindungs- hypothesen (Wahrnehmungsvorstellungshypothesen) unterschieden. Zu den ersteren können die Erklärungsversuche von Zöllner (1872), Guye (1873), Classen (1876), Müller-Lyer (1889), Läska (1890), Brentano (1892), Auerbach (1894), Lipps (1897), Schumann (1903), zu den letzteren unter anderen die von Hering (1861) und Kundt (1863), Mach (1861), Scheffer (1866), Sandford (1894), Einthoven, Stöhr, Wundt, Witasek (1898) ge- !) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 9, 221f., 1894. — ?)l. c. — ®) Pflügers Arch. 60, 515, 1895. — *) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnes- organe 19 (1898). Daselbst siehe auch die Literatur. u Be Lo m US nz Natur der geometrisch-optischen Täuschungen. 387 rechnet werden. Eine Anzahl von Hypothesen läßt sich nicht sicher in die eine oder andere der beiden Gruppen einreihen, wie die von Volkmann (1863), Delboeuf (1865), Helmholtz (1866), Höfler (1894), Binet, Thiery (1895), Biervliet (1896), Heymans (1897) u. a. m. Helmholtz hatte zur Erklärung einer Anzahl geometrisch- optischer Täuschungen das „Gesetz des Kontrastes* herangezogen, nach welchem bei allen ‚Sinneswahrnehmungen deutlich zu erkennende Unterschiede größer erscheinen als undeutlich zu erkennende; eine Folge davon ist, daß wir geteilte Raumgrößen für größer halten. als ungeteilte, „weil die direkte Wahrnehmung der Teile uns deutlicher erkennen läßt, daß die betreffende Größe so viel und so große Teile enthalte, als wenn die Teile nicht erkennbar abgezeichnet sind“. Andere Täuschungen werden von ihm als durch Irradiation!) oder durch den Einfluß der Augenbewegungen auf die scheinbaren Richtungen gesehener Linien bedingt betrachtet. — Hering*) erklärte eine Anzahl geometrisch-optischer Täuschungen dadurch, daß die Entfernung zweier Punkte nach der geradlinigen Entfernung ihrer Netzhaut- bilder beurteilt werde; kleine Entfernungen würden relativ größer geschätzt als große ungeteilte, weil bei kleinen Bogen die Unterschiede zwischen Bogen und Sehne kleiner seien als bei großen. Kundts?) Messungen an ungeteilten Linien, die nach dem Augenmaße geteilten Linien gleich gemacht werden sollten, stimmen für gewisse Längen mit dieser Vermutung ziemlich gut über- ein, aber bei kleinen Strecken ergeben sich beträchtliche Abweichungen. — Wundt®) erklärt die geometrisch-optischen Täuschungen in der Hauptsache aus dem Prinzip, „daß bei der Bildung irgendwelcher räumlicher Größen- vorstellungen die Intensität der an die Blickbewegung gebundenen Empfin- dungen auf die Auffassung der räumlichen Größen von Einfluß ist“. Einthoven’) geht davon aus, daß bei der Betrachtung einer Figur in einem Augenblicke nur derjenige Teil ganz deutlich wahrgenommen wird, der eben im Zentrum der Netzhaut zur Abbildung gelangt. Die übrigen Teile der Figur fallen auf die. Netzhautperipherie und werden undeutlich gesehen. „Und weil man sich bei der Ortsbestimmung einer undeutlich wahrgenommenen Figur durch den Schwerpunkt ihres Netzhautbildes führen läßt, wird es möglich, daß Figuren oder Figurenteile von bestimmter Form beim indirekten Sehen verschoben erscheinen.“ Die Möglichkeit solcher Verschiebungen bei undeutlicher Abbildung läßt sich leicht durch die Photographie von Täuschungs- figuren in Zerstreuungsbildern erweisen. Eine Anzahl von Täuschungen, wie die von Müller-Lyer, von Poggendorff und von Zöllner läßt sich an- scheinend leicht durch Einthovens Annahme erklären, und auch die durch Messung ermittelten Größen der Täuschungen stimmen ziemlich gut mit denen überein, die im Sinne dieser Hypothese auf Grund der Werte der peripheren Sehschärfe berechnet wurden. Jedoch ist eine Reihe von geome- trisch-optischen Täuschungen durch die Verminderung der Sehschärfe gegen die Netzhautperipherie nicht oder nicht allein zu erklären. Sehr richtig bemerkt Einthoven, daß es wohl schwer sein wird zu beweisen, welche der schon Y) Vgl. unten $. 388. — ?) 1. ce. — °) Poggendorffs Ann. 120, 118f., 1863. — *) Abhandl. d. königl. Sächs. Gesellsch. d. Wissensch., math.-phys. Kl., 24 (2), 1898 u. Philos. Studien 14, 1f£., 1898. — °) Pflügers Arch. 71, 1, 1898. 25* 388 „Empfindungshypothese‘. — Täuschungen durch Irradiation. vorliegenden Erklärungsprinzipien richtig sind oder nicht. „Man darf sich - jedoch fragen, inwiefern die in den. Vordergrund gerückten Momente ge- nügen, den vollen Betrag der optischen Täuschungen zu erzeugen, oder in welchem Maße sie dazu beitragen.. Und dann dürfte die von uns entwickelte Hypothese, wie es scheint, nicht ohne Wichtigkeit sein. Sie ist nicht weniger einfach, deutlich und zulässig als die anderen Hypothesen und Theorien“ !). — Neuerlich hat jedoch Witasek?)in einer ausführlichen analytischen und experi- mentellen Untersuchung über die Natur der geometrisch-optischen Täuschungen auch gegen die Einthovensche Hypothese beachtenswerte Einwendungen er- hoben, namentlich mit Rücksicht auf die Täuschungstatsachen selbst (Zöllner- sche, Loebsche Täuschung). Witasek zeigte zuerst durch messende Ver- suche die Herabsetzung der Linienverschiebung im Zöllnerschen Muster bei haploskopischer Vereinigung der Haupt- und Schrägstreifen, was ebenso. wie die von ihm an sich selbst beobachtete Verschiedenheit der Täuschungsgröße für beide Augen gegen die Urteils- und für die Empfindungshypothese im allgemeinen spricht. Auch die in Spiegelversuchen gewonnenen Erfahrungen über untermerkliche Zöllnersche Verschiebungen sind nur vom Standpunkte der Empfindungshypothese aus zu verstehen. Die experimentelle Arbeit Witaseks erstreckte sich nur auf die Zöllnersche Täuschung; die Er- klärung dieser als einer Empfindungstäuschung betrifft aber mittelbar ge- radezu das Zentralgebiet der geometrisch -optischen Täuschungen, in welches unter anderen die Täuschungen von Hering, Loeb, Müller-Lyer und. Poggendorff zu rechnen sind. „Es bleibt also nicht mehr viel übrig, so daß man jedenfalls gut daran tut, dasjenige, was für das Zentralgebiet gilt, auch für den Rest wenigstens als heuristisches Prinzip im Auge zu behalten.“ Nächst den geometrisch-optischen Täuschungen sind nun an zweiter Stelle die durch Irradiation bedingten Täuschungen des Augenmaßes zu erwähnen. Schon im ersten Abschnitte dieses Kapitels ?) ist erörtert worden, wie die scheinbaren Sterngrößen nur Sternhelligkeiten darstellen. Daß Helmholtz eine Anzahl geometrisch-optischer Täuschungen auf Irradiation zurückführt, ist gleichfalls schon oben #) erwähnt worden, so die Poggendorff- sche Täuschung und ihr verwandte. Im allgemeinen erscheinen durch die Irradiation stärker beleuchtete Flächen größer, weniger beleuchtete kleiner, als der wirklichen Größe entspricht; ein schwarzes Quadrat auf hellem, weißem Grunde erscheint kleiner als ein gleich großes weißes auf schwarzem Grunde. Nahe benachbarte, durch dunkle Zwischenräume getrennte Flächen scheinen zusammenzufließen; gerade Linien können durch Irradiation unterbrochen er- scheinen, wie die-Kante eines Lineals, über die man gegen eine Flamme blickt (Helmholtz). Nach Helmholtz gibt es auch etwas der Irradiation Ähnliches ‚für schwarze Streifen auf hellem Grunde: „Schwarze Streifen von erkenn- barer Breite, welche bei so ungenügender Accommodation betrachtet werden, daß die Zerstreuungskreise viel breiter sind als die Streifen, erscheinen breiter, als sie sind.“ Er führt die Erscheinung auf die Verteilung des Lichtes in den Zerstreuungskreisen zurück und schlägt mit +Recht vor, für solche Phänomene, die einfach auf Zerstreuungsbilder zurückzuführen sind und un- )1.0e.8.3. — ®)1l ce — ?°) 8. 338. — *) 8. 387. Mikropsie und Makropsie. 389 abhängig von der Beleuchtungsstärke auftreten, den Namen der Irradiation nicht anzuwenden. Eine weitere Gruppe von Er auffälligen Täuschungen des Augenmaßes bilden die Erscheinungen der Mikropsie und Makropsie, die unter ver- schiedenen Bedingungen zu beobachten sind und zum Teile vielleicht auf mono- kular, zum Teile bestimmt auf binokular !) wirkende Momente zurückzuführen sind. Die bekannteste dieser Erscheinungen ist die Parese-Mikropsie, welche bei unvollkommener Accommodationslähmung zu beobachten ist, wie sie künstlich durch Atropin hervorgerufen werden kann. Ihrer Größe nach unbekannte Dinge erscheinen kleiner und werden in größere Nähe pro- jiziert, bekannte Objekte erscheinen infolge einer Komplikation mit sekun- därer Urteilstäuschung nach Aubert?) kleiner‘ und werden in entsprechend weitere Entfernung projiziert. Aubert?®) beschreibt eine derartige sehr frappante Erscheinung: „Ein Mensch in zwei bis drei Fuß Entfernung, für ‘ den ich accommodierte, erschien an der Wand des Zimmers etwa wie eine Photographie.“ Auch Donders*) hat Ähnliches beboachtet. Sehr gut tritt nach Javal die einseitige Mikropsie .hervor, wenn bei binokularem Lesen zwischen. Augen und Schrift ein Stab gehalten wird, wodurch bestimmte Teile der Zeilen für das eine und das andere Auge verdeckt werden. Die Mikropsie verschwindet, sobald nicht scharf accommodiert wird, und ebenso vollständig bei kompletter Lähmung der Accommodation (Koster’). Bei beidseitiger Accommodationsparese tritt im binokularen Sehen entweder gar keine oder doch nur geringgradige Mikropsie auf. Entgegengesetzt der Mikropsie bei ‘Atropinwirkung tritt nach Eserineinträufelung gelegentlich deutliche Makropsie auf. Der Paresemikropsie nahe verwandt ist allem Anscheine nach die Mikropsie, welche bei maximaler Anstrengung der Accommodation, namentlich leicht bei Presbyopen (Schirmer) zu beobachten ist. Nach Panum’) wird von einzelnen Menschen vor dem Einschlafen, dann unter dem Einflusse von Äther, .Haschisch u. a. Mikropsie beobachtet. Auch Reddingius‘) führt solche Beobachtungen an. — Anschließend wären hier weiter die durch Linsenwirkung hervorgebrachte Mikropsie und Makropsie zu erwähnen. Die Mikropsie durch Konkav- und die Makropsie durch Konvexlinsen lassen sich nur teilweise durch die Verkleinerung und Vergrößerung der Netzhaut- bilder erklären, wie folgender Versuch von Reddingius?) ergibt: „Wenn ich vor beide Augen konvexe Gläser von 6 D stelle, so ist es mir möglich, eine Distanz zu finden, in welcher sowohl monokulares als binokulares ein- faches und scharfes Sehen durch die Zentra der Gläser möglich ist. Es zeigt sich mir da, daß beim Abschließen von einem der Augen die bestehende Ma- kropsie sehr deutlich vermehrt wird, welche Vermehrung natürlich nicht durch eine Netzhautbildvergrößerung zu erklären ist.“ Für die Erklärung der angeführten Erscheinungen der Mikropsie und Makropsie wird vielfach die vermehrte oder verminderte Accommodations- ') Vgl. auch Kap. III, Abschn. B, 4. — *) Physiol. d. Netzhaut, $. 329. — ®) Siehe Förster, Ophthalmol. Beitr. 8.80, 18 6 — *) Arch. f. Ophthalmol. 17 (2), 27, 1871. — °) Ebenda 42 (3), 134f., -1896. — °) Realenzyklop. d. ges. Heilk. 12, 486. — 7) Arch. f. Ophthalmol. 5 a), 1 . — °) Das sensumotorische Sehwerkzeug, Leipzig 1898, 8. 122. — ®) 1. e. 8. 124—125. 390 Erklärung der. Mikropsie- und. Makropsieerscheinungen. anstrengung direkt herangezogen (Donders, Förster, Aubert u. a.). Ver- mehrte Accommodationsanstrengung lasse unmittelbar im allgemeinen Objekte näher und daher kleiner erscheinen. verminderte Accommodationsanstrengung ferner und daher größer. Bei der Ungenauigkeit und untergeordneten Be- deutung der Entfernungsschätzung durch die Accommodation, auf welche im vorigen Abschnitte hingewiesen worden ist, stößt auch die unmittelbare Be- ziehung der Erscheinungen der Mikropsie und Makropsie auf die Accommo- dation auf Schwierigkeiten. Wahrscheinlicher erscheint die Annahme, daß durch Assoziation des vermehrten und verminderten Konvergenzimpulses mit der vermehrten und verminderten Accommodation indirekt die Entfernungs- und Größenschätzung beeinflußt wird. Schon Aubert hat übrigens die Be- merkung gemacht, daß es ihm und den meisten Beobachtern nicht möglich ist, bei der Accommodation des offenen Auges für die Nähe die entsprechende Konvergenzbewegung des geschlossenen Auges auszuschließen-— „inwiefern die Projektion von der Konvergenzanstrengung beeinflußt wird, bleibt daher fraglich.“ Die Versuche, in denen ein Auge schwach atropinisiert worden war, deutet er als die Konvergenz ausschließend. Für die Mitwirkung der Konvergenz sprechen jedoch auch einige unmittelbare Erfahrungen. So be- beschreibt Burow!) folgenden Versuch: „Bewaffnet man seine Augen mit einem Konvexglase (etwa + 10), verdeckt oder schließt das eine Auge, be- obachtet ein an der äußersten Grenze des scharfen Sehens angebrachtes Objekt und öffnet nun das früher geschlossene Auge, so treten folgende Erscheinungen ein: 1. Es kommen gekreuzte Doppelbilder zur Wahrnehmung. 2. Man wird sich deutlich einer energischen Kontraktion der Interni bewußt, sobald die Doppelbilder zusammenfließen. 3. Das Objekt erscheint in diesem Augenblicke kleiner als zuvor.“ Burow fügt dann hinzu: „Das Kleinerwerden des Bildes ist eine natürliche Folge der Muskelkontraktion. Die Interni sind unsere Distanzmesser, ihre Spannung gibt uns den Ort an, nach dem wir das Objekt projizieren.“ Und Bourdon?) hat bei Versuchen über Linsenmikropsie die starke Konvergenzstellung des verdeckten Auges nachweisen können. Auch Schweiggers:) Fall von Mikropsie bei Abducensparalyse wäre hier anzu- "führen. Endlich sei noch kurz der Mikropsie und Makropsie bei Anwendung enger Diaphragmen gedacht. Nahe vor dem Auge befindliche Gegenstände erscheinen durch eine feine Öffnung deutlich und vergrößert, und zwar desto größer, je weiter das Diaphragma vom Auge entfernt wird. Entfernte Gegen- stände erscheinen durch dieselbe Öffnung, wenn das’ Auge dabei für die Nähe accommodiert, kleiner, und zwar desto kleiner, je weiter man die Öffnung vom Auge entfernt. Die von Helmholtz für diese Verhältnisse ausgeführte Konstruktion des Strahlenganges führt das Phänomen in der Hauptsache auf Veränderungen der Größe des Netzhautbildes zurück #). Indes gibt Reddingius5) an, daß auch nach Lähmung des Ciliarmuskels durch Skopolamin bei willkürlicher starker Konvergenz anscheinend ebenso starke Mikropsie zu beobachten ist wie beim Sehen durch die feine Öffnung mit dem ) Arch. f. Ophthalmol. 13 , 327. — ?) La perception visuelle de l’espace, Paris 1902, p. 133. — ?) Gräfe-Saemisch, Handb. d. Augenheilk., 1. Aufl., 1873. — *) Siehe auch Einthoven, Arch. f. Ophthalmol. 31, 3. — °) 1. c. 8. 127. DE a nn u ee I u Scheinbare Größe und Entfernung. 391 normalen Auge. Die Helmholtzsche Verkleinerung der Netzhautbilder sei im Vergleiche mit der durch die Innervation des Augenmuskelapparates be- dingten von untergeordneter Bedeutung. Die scheinbare Größe und Entfernung irdischer und himmlischer Objekte, für deren Entfernungs- und Größenschätzung nur sehr wenige und unbestimmte oder auch gar keine besonderen Anhaltspunkte vorliegen, z. B. nicht zu naher unbekannter Berge, dann hauptsächlich der Gestirne, der Sternbilder und im besonderen des Mondes und der Sonne, unterliegt bekanntlich mannig- fachen Veränderungen. Für irdische Objekte kommt dabei wohl in erster Linie der von Helmholtz besonders hervorgehobene Einfluß der Luft- perspektive in Betracht. Wenn die Luft ungewöhnlich klar und durchsichtig ist, wie im Hochgebirge, erscheinen nicht zu nahe Objekte der obigen Art näher und kleiner, bei trüber, dunstiger Luft entfernter und größer. Dabei spielen jedenfalls die Trübung und Farbenveränderung der Bilder jener Ob- jekte die Hauptrolle. An den Sternbildern, am besten gekannt an Sonne und. Mond, lassen sich zwei wohl zu unterscheidende Beeinflussungen von deren scheinbarer Größe feststellen: die eine, welche die wechselnde scheinbare Größe der Gestirne in einer und derselben Höhe über dem Horizonte, die andere, welche die verschiedene scheinbare Größe bei verschieden hohem Stande der Gestirne vom Horizonte bis zum Zenit bedingt. Der erstere, vielfach zu wenig beachtete Einfluß, welcher übrigens schon von Berkeley!) und Euler?) gewürdigt worden war und auch von Smith 3) zugegeben werden mußte, macht sich namentlich bei niedrigem Stande der Gestirne vielfach geltend und ist offenbar wieder wesentlich auf die Luftperspektive zurück- zuführen. Auch zwei andere Motive sind hierbei gelegentlich in Betracht gezogen worden, die kurz als das Vergleichungs- und das Abteilungsmotiv bezeichnet werden können. Zum ersteren führt Helmholtz das bekannte Beispiel an: „Wenn der Mond neben oder hinter einer etwa 2000 Fuß ent- fernten Baumkrone untergeht, welche selbst 20 Fuß Durchmesser hat, so erscheint er unter demselben Gesichtswinkel t), aber viel weiter entfernt, also auch viel größer als der Baum, während er hinter flachem Horizonte unter- gehend keinen Gegenstand zur Vergleichung findet, an dem wir erkennen könnten, daß seine geringe scheinbare Größe einer sehr bedeutenden abso- luten Größe entspricht.“ — Das zweite erwähnte Motiv, dessen Aufstellung bis auf Alhazen und Ptolemaeus zurückzuverfolgen ist, soll bewirken, daß durch Gegenstände, welche sich zwischen Beobachter und beobachtetem Objekte befinden, die Entfernung und damit auch die Dimensionen des Objektes (Gestirnes) vergrößert erscheinen. Was die verschiedene scheinbare Größe der Gestirne in verschiedener Höhe über dem Horizonte betrifft — gewöhnlich wird der Mond als Beispiel gewählt —, so ist darüber seit den ältesten Zeiten eine große Reihe von Ver- mutungen ausgesprochen worden. Die Literatur über diesen Gegenstand ist neuerlich in sorgfältiger und ausführlicher Weise von Reimann?) zusammengestellt worden. Eine der geläufigsten und am meisten verbreiteten Anschauungen geht von dem !) Essai toward a new theory of vision. Dublin 1709, p. 30. — ?) Briefe an eine deutsche Prinzessin 3 (1772), Nr. 225 f. — °) Smith-Kästner, Lehr- begriff der Optik, 1755. — *) Von etwa eh °%, — °) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 30 (1902). 393 Scheinbare Größe der Gestirne. schon von Ptolemaeus und den arabischen Astronomen aufgestellten Satze aus, daß uns der Mond (und die Gestirne) nahe dem Horizonte größer erscheinen, weil sie uns dort weiter entfernt erscheinen. Dies geben freilich viele unbefangene Be- obachter nicht zu, denen der große aufgehende Mond näher erscheint als der hoch- stehende kleine. Weiter entfernt erscheine uns nun der Mond (das Gestirn) am Horizonte, weil wir ihn an die scheinbare Fläche des im Zenit abgeflachten, im Horizonte weiter herausgerückten Himmelsgewölbes verlegen (Smith'). Auch das geben unbefangene Beobachter nicht zu, denen der große aufgehende Mond mehr oder weniger weit vor dem Hintergrunde des Himmelsgewölbes im .Raume schwebend erscheint. Für die Anhänger dieser Erklärung bleibt demnach nur die abgeflachte Form des scheinbaren Himmelsgewölbes zu erklären übrig; auch das ist in mannigfacher Weise versucht worden. Helmholtz führt die Anschauung im wesentlichen auf den Anblick des Wolkenhimmels zurück. „Da wir nun kein Mittel der sinnlichen Anschauung haben, um die Entfernung des Wolkenhimmels von der des Sternenhimmels zu trennen, so erscheint es nur natürlich, daß wir dem letzteren die wirkliche Form des ersteren, soweit wir sie unterscheiden können, mit zuschreiben, und daß auf diese Weise die doch immer sehr vage, unbestimmte und veränderliche Vorstellung von der flach kuppelförmigen Wölbung des Himmels entsteht.“ Eine andere Erklärung führt das Kleinererscheinen der Gestirne mit ihrer Er- hebung über den Horizont auf den Einfluß der Blickrichtung-zurück. Der erste, der diese Ansicht klar ausgesprochen hat, war Gauss. Er schrieb in einem Briefe an Bessel?): „Die gewöhnlichen Erklärungen -des Phänomens, daß der Mond am Horizont uns größer erscheint als in beträchtlicher Eleyation, haben mich niemals befriedigt.“ „Man sollte hier allerlei Experimente anstellen, z. B. den Vollmond am Horizont in einem Planspiegel sehen, so daß er aus großer Höhe herabreflektiert wird, ohne daß man den Spiegel mit Zubehör gewahr wird, und umgekehrt den Vollmond aus großer Höhe durch Reflexion horizontal sehen.“ Auch „ist es mir vorgekommen, als ob ein anderes Experiment auf eine physiologische Erklärung des Phänomens hinwiese; betrachte ich den hochstehenden Vollmond in einer rück- wärts sehr geneigten Körperlage, wobei der Kopf gegen den übrigen Körper die gewöhnliche Lage hat, so daß der Mond etwa senkrecht gegen das Gesicht scheint, so sehe ich ihn viel größer, und umgekehrt sehe ich den am Horizont stehenden Vollmond bei vorwärts geneigtem Körper merklich kleiner“. Stroobants?) Ver- suche über den Einfluß der Blickrichtung haben zu keinen überzeugenden Ergebnissen geführt. Im Jahre 1894 hat Filehne*) zum ersten Male mit Erfolg durchgeführte Spiegelversuche beschrieben, wie sie sich Gauss gedacht hatte und wie sie Helm- holtz nur unvollkommen gelungen waren. Später habe ich’) solche und eine Anzahl anderer Versuche mit Abblendung des Himmelsgewölbes durch dunkle Gläser ausgeführt und daraus den Schluß gezogen, daß der hochstehende Mond kleiner erscheint, weil er mit erhobener, der tiefstehende größer, weil er mit an- nähernd horizontaler oder gerader Blickrichtung gesehen wird; und daß im all- gemeinen „Dimensionen, für deren Entfernungs- und Größenschätzung keine Anhaltspunkte vorliegen, bei erhobener Blickrichtung kleiner erscheinen als bei gerader.“ Nach dieser Anschauung, der sich auch Pernter‘) anschließt, käme also die Größentäuschung primär, unabhängig von der. scheinbaren Form des Himmelsgewölbes, zustande. Dabei wird die Wirksamkeit aller der Momente aus- drücklich anerkannt, welche die verschiedene Größe der Gestirne in einer und der- selben Höhe über dem Horizonte beeinflussen. Die vorliegenden Berechnungen’) und Messungen der scheinbaren Größe der Gestirne durch Vergleichung mit irdischen Objekten, wie solche von Reimann°) ausgeführt worden sind, sind im ganzen wenig einwandfrei und übereinstimmend, daher hier nur auf sie verwiesen wird. Ich habe a. a. O. zu zeigen versucht, daß auch die scheinbare Form des Himmels- Y) 1. c. — ?) Vom 9. April 1830. Briefwechsel zwischen Gauss und Bessel, herausgeg. 1880, 8. 498. — °) Bull. de l’Acad. Roy. de Belg., 3. ser., 8 (1884) und 10 (1885). — *) Pflügers Arch. 59, 279. — °) Ebenda 78, 363, 1899 u. 88 201, 1902. — °) Meteorolog. Optik, Wien 1902, 8. 41 f. — 7) Vgl. Pernter, .c. — ®)l.c. Blickrichtungshypothese. — Das binokulare Sehen. 393 gewölbes Y), sowie hauptsächlich Entfernungs-, weniger Größentäuschungen an näheren irdischen Objekten durch den Einfluß der Blickrichtung zustande kommen. An ganz nahen Objekten hat neuerdings Guttmann?) messende Versuche angestellt, die ergaben, daß für solche Entfernungen (25 bis 36cm) „Objekte, die unter sonst völlig gleichen Bedingungen gesehen und als Größen beurteilt werden, bei um 40° erhobener Blickrichtung .... um rund 3'/, bis 3°%/, Proz. kleiner erscheinen als bei gerader Blickrichtung“. — Was die Erklärung der Blickrichtungshypothese betrifft, so läßt sie sich ungezwungen auf das maßgebende Moment zurückführen, das vielfach Größen- und Entfernungsschätzungen zugrunde liegt, nämlich auf die Beanspruchung des Konvergenzmechanismus der Augen. Dabei wird?) von dem neuerlich durch die Berechnung der Drehmomente der Augenmuskeln bestätigten Satze*) ausgegangen, daß Senkung der Blickebene eine Vergrößerung, Hebung eine Verkleinerung des Konvergenzwinkels der Gesichtslinien begünstigt, und die schein- bare Verkleinerung der fixierten Objekte bei erhobenem Blicke auf den dabei erforderlichen Konvergenzimpuls zurückgeführt’). III. Das binokulare Sehen. Das System, welches aus den beiden Augen; den Sehnerven und den- jenigen Hirnteilen besteht, welche am Zustandekommen der in das Bereich des Gesichtssinnes gehörenden Empfindungen, Wahrnehmungen und Vor- stellungen beteiligt sind, bezeichnet Hering als das Doppelauge. Vergleicht man die Leistungen dieses Apparates mit denen des einfachen Auges, so ergibt sich als wesentliche Leistung desselben die Vermittelung der Wahr- nehmungen der Tiefendimension, deren Unvollkommenheit im monokularen Sehen im vorigen Kapitel erörtert worden ist. Es stellt somit das Doppel- auge in der Hauptsache einen Entfernungsmesser dar, der uns vermittelst seiner Einrichtung das Sehen der Tiefendimension, somit das körperliche Sehen in besonderer Weise vermittelt. Es werden die Eigenschaften, die Leistungsfähigkeit und Genauigkeit des Apparates näher zu untersuchen sein. Seine Einrichtung ist derart, daß er nach beiden heute in der praktischen Geometrie hauptsächlich in Betracht kommenden Methoden verwendet werden kann, sowohl nach der älteren Meßtischmethode (sog. „Vorwärtseinschneiden“) als auch nach der neuerlich mehr und mehr hervortretenden Methode der stereoskopischen Distanzmessung, deren physiologisches Urbild durch ihn gegeben ist. Für beide Methoden -dient als Standlinie oder Basis der Augen- abstand, wie schon Kepler für die erstere hervorgehoben hat. Die erst- erwähnte Verwendung des Doppelauges erfordert bei der gegebenen kleinen Basis von 60 bis 70 mm eine überaus feine, tatsächlich nur bis zu einer nicht sehr hohen Grenze reichende Kontrolle der Winkeleinstellung beider Blick- linien und steht in ihrer Leistung und Bedeutung für die binokulare Ent- fernungsschätzung hinter der zweiten zurück, welche auf der durch die bestimmte Basis und die verschiedene Entfernung der Objekte gegebenen Ver- schiedenheit der beiden Netzhautbilder, der binokularen Parallaxe, beruht. . — Es werden in diesem Abschnitte zunächst die Bedingungen für die Leistungen des Doppelauges, das Einfachsehen und Doppeltsehen besprochen, !) Vgl. auch Filehne, l. ce. — ?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnes- org. 32, 333, 1903. — °) Zoth, 1. e. 8. 392 f. — *) Vgl. 8. 303. — °) Weiteres über den Gegenstand siehe auch bei Bourdon, La perception visuelle de l’espace, Paris 1902, Kap. 14, p. 392 £. 394 Korrespondenz der Netzhäute. sodann der Einfluß der Konvergenz, der binokularen Parallaxe und endlich der Blickbewegungen auf die binokulare Tiefenwahrnehmung untersucht und schließlich das Kapitel der Stereoskopie kurz behandelt werden. A. Einfachsehen und Doppeltsehen. 1. Korrespondenz der Netzhäute. Zwei Stellen beider Netzhäute, deren Erregungen nach einem und dem- selben Orte im vorgestellten Raume projiziert werden, werden als korre- spondierende Stellen (Punkte) oder Deckpunkte (Helmholtz), auch identische Punkte (Joh. Müller) bezeichnet!). Hingegen werden Punkte beider Netzhäute, deren Erregungen nach verschiedenen Orten im Raume projiziert werden, als disparate Punkte bezeichnet. Das mit beiden Augen durch Abbildung auf korrespondierenden Stellen einfach gesehene Bild eines Objektes wird als „Ganzbild* (Helmholtz) von den Doppelbildern unter- schieden, die bei Abbildung auf disparaten Stellen nach zwei verschiedenen Orten im Raume projiziert werden und aus den zwei „Halbbildern“ (Helm- holtz) bestehen. Erscheint bei solehen dem Beobachter das Bild jedes Auges auf der ihm zugehörigen Seite in den Raum projiziert, so heißen die Doppel- bilder gleichnamig, im anderen Falle ungleichnamig oder gekreuzt. Zur Ermittelung der Lagen der korrespondierenden Punkte ist seit Purkinje?) eine Anzahl von Methoden verwendet worden, so von Pr&vost, Meissner, Recklinghausen, Hering, Volkmann u.a. — Hering arbeitete die sehr verwendbare Substitutionsmethode, „Methode der gegenseitigen Sub- stitution der Netzhautstellen“, aus), welche für Konvergenzstellungen schon von Recklinghausen®) in Anwendung gezogen worden war. Dieselbe beruht auf der Feststellung derjenigen Punkte beider Netzhäute, welche für- einander eintreten können, „ohne daß dadurch der Ort der zugehörigen Emp- findung im gegebenen Sehfelde geändert wird“. Die Untersuchung geschieht vermittelst haploskopischer Vorrichtungen 5), welche jedem Auge ein besonderes Gesichtsfeld darbieten, während der Inhalt beider Gesichtsfelder vereint im Sehfelde zur Erscheinung kommt. Dies kann in einfacher Weise z. B. dadurch erreicht werden, daß jedes Auge durch eine zylindrische Röhre blickt, deren Achse mit der Blickrichtung zusammenfällt. Fixiert man derart in der Primär- stellung #) der Augen zwei markierte Punkte, die auf einer vertikalen Tafel im Abstande der Pupillenmitten beider Augen angebracht sind, so läßt sich leicht beobachten, ob gerade Linien, welche von den beiden Punkten aus nach entgegengesetzten Richtungen gezogen worden sind, im vereinigten Bilde in geradliniger Fortsetzung oder aber im Fixationspunkte geknickt erscheinen. Erscheinen sie geknickt, so kann ermittelt werden, nach welcher Richtung und um wieviel die Halblinien. gegeneinander und gegen die wirkliche Horizontale und Vertikale geneigt werden müssen, damit die scheinbare Knickung verschwindet. Hering benutzte außer vertikalen und horizontalen !) Diese Ausdrücke werden gelegentlich auch für die Projektionen dieser Punkte ins Sehfeld verwendet (Helmholtz). — *) Beobachtungen u. Vers. z. Physiol. d. Sinne 1, 142f., 1819. — °) Beiträge z. Physiol. 3, 177, 1863. — *) Arch. f. Ophthalmol. 5 (2), 127, 1859. — °) Vgl. auch Kap. 1, 8. 310. — °) Vgl. 8. 308. Methoden zur Bestimmung der Deckpunkte. 395 Halblinien auch schräg gestellte Halblinien, dann verschieden große Halbkreise, um sowohl die korrespondierenden Meridiane, als auch die korrespondierenden Parallelkreise und somit die korrespondierenden Punkte in den verschiedenen Teilen der Netzhäute festzustellen. Zu demselben Zwecke ist die Substitutions- methode noch in verschiedener Weise von Hering selbst, von Helmholtz, Volkmann u. a. modifiziert worden. Johannes Müller war vermittelst der schon von Purkinje verwendeten, nicht sehr genauen Methode, von einzelnen Punkten der Sklera aus subjektive Druckbilder auf beiden Netzhäuten zu erzeugen und deren Projektion in den Raum zu beobachten, zur Aufstellung des Gesetzes gelangt, daß im all- gemeinen korrespondierende oder „identische“ Punkte beider Netzhäute solche sind, welche sich decken würden, wenn die eine Netzhaut parallel zu sich selbst verschoben über die andere gelegt würde, so daß also ihre Pole, die vertikalen und die horizontalen Meridiane zusammenfielen. Deckpunkte wären dann die beiden Foveae und alle Punkte, die von dieser Mitte, in gleicher Richtung gleich weit entfernt“ !) sind. Nach späteren genaueren Untersuchungen, namentlich nach der Substitutionsmethode, von Hering, Helmholtz, Volk- mann?2), van Moll), Donders®) u. a. decken sich jedoch in der Primär- stellung die wirklichen vertikalen Netzhautmeridiane meist nicht genau, sondern divergieren um etwa 2° im Mittel nach oben (physiologische Inkongruenz der Netzhäute). Auch die horizontalen Meridiane zeigen öfter kleine Diver- genzen bis zu etwa 0,5°, die aber leicht zum Verschwinden gebracht werden können 5). Es decken sich ein mit dem oberen Ende etwas nach links geneigter Netzhautmeridian des linken Auges mit einem mit dem oberen Ende gleichviel. nach rechts geneigten Meridian des rechten Auges. „Ein Linienbild, welches auf diesen symmetrisch zur Medianebene geneigten korrespondierenden Meridianen liegt, erscheint, wie der Versuch lehrt, in der Längsmittellinie des Sehfeldes und teilt dasselbe in eine rechte und eine linke Hälfte“ (Hering). Meissner, Volkmann, Hering bezeichnen diese sich deckenden Linien als „vertikale Trennungslinien“*, Helmholtz nennt sie „scheinbar vertikale Me- ridiane.* In demselben Sinne wird von horizontalen Trennungslinien und scheinbar horizontalem Meridian gesprochen. Van Moll und Donders®) haben festgestellt, daß der Winkel zwischen wirklichem und scheinbar ver- tikalem Meridian bei verschiedenen Individuen verschieden groß ist; es wurden Werte von etwa 0,1% bis über 3° gefunden. Donders’ Unter- suchungen mit dem Isoskope’?) haben auch ergeben, daß die Lage der scheinbar vertikalen Meridiane bei einem und demselben Individuum Schwankungen unterliegt; diese rühren von kleinen Rollungen oder, besser gesagt, ver- schiedener Rolleinstellung der Augen in den einzelnen Versuchen her und können durch passende Zwangseinstellung zum Verschwinden gebracht werden, worauf sich der Winkel der scheinbar vertikalen Meridiane konstant einstellt. Auf Grund der gemachten Erfahrungen hat nun Helmholtz das Gesetz der Korrespondenz oder Identität der Netzhäute von J. Müller in folgender Weise modifiziert: „Deckpunkte sind diejenigen Punkte beider Sehfelder, ») Handb. d. Physiol. 2 (2), 378, 1838. — ?) Physiol. Untersuchungen 2, 119f., 1864. — ®) Onderzoekingen, g. i. h. Physiol. Laborat. te Utrecht 3 (1), 39, 1874. — 4) Ebenda 3 (2), 45, 1875. — °) Siehe unten. — °) 1. c. — 7) Vgl. 8. 311. - 396 Lage der Deckpunkte. — Nativistische und empiristische Theorie. welche gleiche und gleich gerichtete Abstände von den scheinbar horizontalen und scheinbar vertikalen Decklinien haben.“ Im besonderen führt Helm- holtz als Deckpunkte und -linien an: 1. Die Blickpunkte der beiden Sehfelder normaler Augen, bzw. die Mitten der beiden Foveae centrales. 2. Die Netzhauthorizonte !) beider Augen. 3. Die zu den Netzhauthorizonten scheinbar vertikalen Meridiane. 4. In den scheinbar vertikalen Decklinien Punkte, welche gleichweit von den Netzhauthorizonten abliegen. 5. In den Netzhauthorizonten ee: welche gleichweit vom Fixations- punkte abliegen. 6. Punkte beider Gesichtsfelder, Ben gleiche Hekenisnlei und gleiche Breitenwinkel haben. Als Höhenwinkel bezeichnet Helmholtz den Winkel zwischen dem Netz- hauthorizont und einer durch die „Äquatorialachse“ desselben und den betreffenden Netzhautpunkt (oder Punkt des Sehfeldes) bestimmten Ebene, als Breitenwinkel den Winkel zwischen der Ebene des scheinbar vertikalen Meridians und einer durch die Äquatorialachse desselben und den betreffenden Netzhautpunkt bestimmten Ebene. Als Äquatorialachse werden dabei die in den betreffenden Ebenen durch den Knotenpunkt zur Blicklinie errichteten Senkrechten bezeichnet. Punkte der Netzhaut von gleichem Höhen-, aber ungleichem Breitenwinkel werden als quer- disparat, Punkte von gleichem Breiten-, aber ungleichem Höhenwinkel als längs- disparat, Punkte von ungleichem Breiten- und Höhenwinkel als schrägdisparate Punktpaare bezeichnet. Als gleichseitige oder ungekreuzte (quere) Disparation wird eine solche bezeichnet, welche zu gleichnamigen (gleichseitigen) oder un- .gekreuzten Doppelbildern führt, sobald sie eine gewisse Größe überschritten hat, als ungleichseitige oder gekreuzte Disparation eine solche, welche zu ungleich- namigen (ungleichseitigen) oder gekreuzten Doppelbildern führt ?). Gegen die Peripherie der Netzhaut wird die Bestimmung der korre- spondierenden Punkte immer unsicherer, und zwar nach Mandelstamm?°) und Schöler*) nicht nach allen Richtungen gleich rasch, sondern nach oben am langsamsten, in beiden seitlichen Richtungen nach Schöler am raschesten. Auf die Kontroversen zwischen nativistischer (Hering) und empiristischer (Helmholtz) Theorie der Sinnesempfindungen in bezug auf die Korrespondenz der Netzhäute soll hier nicht näher eingegangen werden. Zugunsten der empiristischen Theorie führt Helmholtz insbesondere auch die Erfahrung an, daß viele Schielende binokular und doch einfach sehen (Pickford’), A. v. Gräfe®), Donders’) u. a.), sowie daß in Prismenversuchen mit solchen Schielenden und in der ersten Zeit nach Schieloperationen Doppelt- sehen auftritt, welches allmählich schwinden kann. In vielen Fällen der Be- obachtungen an Schielenden scheint jedoch nur ein rasches Alternieren der Aufmerksamkeit und abwechselndes Vernachlässigen des einen oder des anderen Bildes vorzuliegen. JavalS) glaubt alle Fälle von Einfachsehen der Schielenden hierauf und auf Unvollkommenheit der Beobachtungen zurückführen zu können. !) Vgl. 8. 309. — °) Vgl. 8. 398. u, Fig. 73. — ®) Arch. f. Ophthalmol. 18 (2), 133, 1872. — *) Ebenda 19 (1), 1, 1873. — °) Arch. f. physiol. Heilk. 1842, 8. 590. — °) Arch. f. Ophthalmol. 1 (1), 234 u. 11 (2), -1. — 7) Holl. Beitr. z. Natur- u Heilkunde 3, 357 u. 358. — °) Manuel theorique ‚et pratique du strabisme 1896, p. 277. Untersuchungen an Schielenden. — Binokulare Projektion. 397 Nach den Ergebnissen einer Anzahl neuerer Untersuchungen namentlich von Bielschowsky!), Sachs?), Hering’), Tschermak®), Schlodt- mann’) u. a.) sind die Schielenden nach der Art, wie sie die Netzhaut- bilder lokalisieren, in zwei Hauptgruppen zu trennen: 1. Schielende mit un- gestörter normaler Korrespondenz der Netzhäute. Besteht bei solchen kein Doppeltsehen, so wird nur das Sehfeld des einen, jeweilig führenden Auges verwertet; die Bilder des jeweilig schielenden Auges werden durch „innere Hemmung“ (Tschermak) unterdrückt. 2. Schielende, bei denen sich außer der normalen Lokalisationsweise, die nie ganz beseitigt ist, noch eine anomale Sehrichtungsgemeinschaft ausgebildet hat. Hierbei kann die Anomalie der Sehrichtung entweder mit dem Schielwinkel übereinstimmen oder nicht. Die anomale Netzhautbeziehung wird im Leben des Einzelindividuums erworben und unterscheidet sich hauptsächlich durch folgende Eigentümlichkeiten von der normalen Korrespondenz: Sie stellt keine feste Beziehung zwischen be- stimmten Netzhautelementen dar wie die normale Korrespondenz und vermag diese nie ganz zu verdrängen, sondern beide machen sich abwechselnd, ja sogar gleichzeitig geltend (Doppeltsehen mit einem Auge, Dreifachsehen mit beiden Augen). Die Eindrücke des Schielauges werden durch regionär ver- schiedene „innere Hemmung“ entwertet. DBinokulare Tiefenwahrnehmung findet auf Grund der erworbenen Netzhautbeziehung nur selten und unvoll- kommen statt. Fusionsbewegungen können zwar veranlaßt werden, erlahmen jedoch meist schon vor der Verschmelzung der Doppelbilder. Für den Erwerb einer trotz der Schielablenkung richtigen Lokalisation jedes Auges für sich nimmt Hering eine Lösung der normalen Korrespondenz und eine der veränderten willkürlichen Innervation entsprechende Verschiebung der absoluten Lokalisation an. Für die Ausbildung der anomalen Netzhaut- beziehungen bei wirklicher Verschmelzung der anomal: lokalisierten Bilder kommt vielleicht die stets gleichartige Reizung der entsprechenden Netzhaut- partien als ursächliches Moment in Betracht. Die Erfahrungen über anomale Netzhautbeziehungen sprechen durchaus nicht gegen die Auffassung der nor- malen Korrespondenz im Sinne der nativistischen Theorie (Gräfe), sondern im Gegenteil in vielen Beziehungen dafür (F. B. Hofmann’). Der Gegensatz zwischen nativistischer und empiristischer Theorie erscheint im übrigen weniger scharf, wenn man die im Gebiete der zentralen nervösen Mechanismen unter dem Einflusse veränderter äußerer Umstände vielfach hervortretende physiologische Breite und Verschiebbarkeit oder Veränderlich- keit in der Verknüpfung der einzelnen Funktionen in Betracht zieht. 2. Binokulare Projektion. Sind a, b und c drei leuchtende Punkte in der Medianebene des Doppel- auges RL (Fig. 73 a. f. S.) das den Punkt b fixiert, so wird dieser fixierte Punkt, beidseitig in der Fovea centralis abgebildet, scharf und einfach gesehen. Die Punkte a und c jedoch bilden sich auf den disparaten Netzhautstellen !) Arch. f. Ophthalmol. 46 (1), 143, 1898; 50 (2), 406, 1900. — ?) Ebenda 43 (3), 597, 1897; 48 (2), 443, 1899. — °) Deutsches Arch. f. klin. Med. 44, 15, 1899. — *) Arch. f. Ophthalmol. 47 (3), 508, 1899. — °) Ebenda 51 (2), 256, 1901. — °) Vgl. d. krit. Zusammenfassung von F. B. Hofmann in Asher- Spiro, Ergebnisse d. Physiol., 1. Jahrg., Abt. 2, S. 801, 1902. — ’)L. ce. 398 Binokulare Projektion. A, 0, und b,, by, ab und werden bei einer gewissen Größe dieser „Querdispara- tion“ doppelt (und, da nicht darauf äccommodiert ist, unscharf) gesehen ; für den entfernteren Punkt a ist das Doppelbild gleichnamig oder ungekreuzt, für den näheren Punkt c ungleichnamig oder gekreuzt. Wird das Auge R ge- schlossen, so verschwinden die Halbbilder a, und c,, wird L geschlossen, so verschwinden a, und c,, während das Ganzbild von c unverrückt bestehen bleibt. In der Regel werden nun von den Projektionen in den vorgestellten Raum zunächst die deutlichsten ausgewählt, während die übrigen entweder Fig. 73. Abbildung verschieden weit entfernter Punkte auf identischen und disparaten Netzhautstellen. vernachlässigt oder für die Tiefenwahrnehmung ausgenutzt werden. Als Gründe für die Auswahl der einen bestimmten Projektion aus der Masse der verschiedenen bei Betrachtung eines Raumkomplexes meistenteils vorliegenden sind nach Volkmann und Aubert hervorzuheben: „l. daß nur mit einer sehr kleinen Stelle unserer Netzhaut am schärfsten gesehen wird, 2. daß die Empfindungen an dieser Stelle nur ein gemeinschaftliches Lokalzeichen in unserem Sensorium haben, oder wie man sagt, diese Netzhautpunkte der beiden Augen identische sind, 3. daß unsere Augen für den fixierten Punkt accom- modiert sind.“ i Ein Grundgesetz der binokularen Projektion, welches zuerst von Hering!) _ genau festgestellt worden ist, ist das „Gesetz der identischen Sehrichtungen“. Es besagt, daß wir nicht nach den Richtungslinien der Objekte (von den Objektpunkten durch den . Knotenpunkt zur Netzhaut gezogene Gerade), sondern in einer Richtung projizieren, die von der Mitte zwischen beiden Augen (von der Nasenwurzel aus) durch den Kreuzungspunkt der beiden Gesichtslinien geht. Diese Richtung wird als Sehrichtungslinie, Sehrichtung der Netzhautzentren oder Hauptsehrichtung bezeichnet. Die Projektion erfolgt also so, wie es den Richtungslinien eines zwischen beiden wirklichen Augen gelegenen imaginären Auges („Zyklopenauge“ nach Helmholtz) entsprechen würde. Hering drückt das Gesetz auch allgemein so aus: „Je zwei be- stimmten korrespondierenden Richtungslinien entspricht im Sehraume eine einfache Sehrichtungslinie derart, daß auf letzterer alles das erscheint, was auf den ersteren wirklich liegt.“ — Der Versuch, welcher das Gesetz erweist, kann nach Hering in folgender Weise ausgeführt werden. Sei ff’ in Fig. 74 eine Fensterscheibe, p ein auf ihr angebrachter schwarzer Punkt, welcher binokular fixiert wird. In größerer Entfernung liege in der Richtungs- ') Beiträge z. Physiol. 1, 26, 1861. Gesetz der identischen Sehrichtungen. 399 linie!) des linken Auges Lb z. B. ein Baum, in der des rechten Auges Re z. B. eine Esse. Man sieht nun bei unveränderter Fixation des Punktes p „gerade hinter demselben, von ihm teilweise gedeckt, zugleich den fernen Baum und die ferne Esse ... ., bald deutlicher den Baum, bald die Esse, bald beide, je nachdem im Wettstreite das Bild des einen oder des anderen Auges siegt. Man sieht also den Punkt auf der Scheibe, den Baum und die Esse in derselben Richtung, der Sehrichtung SS, der Figur. „Befindet sich der Punkt p in der Medianebene des Kopfes und kon- vergieren daher die Augen symmetrisch, so scheinen Punkt, Baum und Esse in der Medianebene zu liegen, obwohl letztere beide sich in Wirklichkeit ganz wo anders befinden.“ Liegt auf der Fenster- scheibe ff’ neben dem Punkte p ein zweiter schwarzer Punkt p’, der ebenfalls sehr angenähert gleichzeitig auf korrespondierenden Netzhautstellen abgebildet wird, so erscheinen ebenso Objekte, welche auf den beiden zugehörigen Richtungslinien, z. B. La und Rc?), liegen, in derselben Richtung wie der Punkt p', in der Sehrichtung des „Zyklopenauges“ SS,. Die Versuche können auch umgekehrt mit Fixation der entfernteren Objekte angestellt werden. Daß auch beim einäugigen Sehen die Sehrichtungen dieselben bleiben, zeigte Hering durch folgenden Versuch: versuch über die identischen Seh- Fixiert man wieder den Punkt p auf der Fenster- "tungen nach Hering. scheibe ff’ (Fig. 74), bringt jedoch in einige Entfernung vor das eine, z. B. das rechte Auge ein feines Diaphragma, durch das nur noch gerade der Punkt p (im Zerstreuungskreise des Loches) gesehen wird, so sieht man das Objekt b dennoch gerade hinter dem Punkte p in der Richtung SS,, und ebenso erscheinen alle anderen durch das Fenster sichtbaren Dinge auf den ihnen zukommenden Sehrichtungslinien. „Verdeckt man das rechte Auge vollständig, so ändert sich zunächst nichts. Nur wenn man über die wirkliche Lage der Dinge reflektiert und das verdeckte Auge seine Stellung ändert, kann eine Änderung in der scheinbaren Richtung der Dinge eintreten.“ Nur bei Einäugigen, dann bei solchen, die häufig oder vorwiegend nur das eine Auge benutzen, auch bei Menschen mit habituell falscher Kopfhaltung kann sich die Lage der Sehrichtungen vorübergehend oder dauernd ändern. — Helmholtz hat gezeigt, daß auch unsere Körperbewegungen beim unbe- fangenen Sehen den Sehrichtungen entsprechend ausgeführt werden. Hering hat weiter genauer untersucht, ‘wie sich die räumlichen Eigen- schaften der von einem Netzhautstellenpaare ausgelösten Empfindung ver- halten, je nachdem dies ein korrespondierendes oder disparates ist. Man kann zu dem Zwecke entweder direkt äußere Objekte benutzen, die man in ‚verschiedene Stellungen gegen einen Fixationspunkt bringt, um ihre schein- bare Lage mit der des Punktes zu vergleichen, oder man verwendet die Fig. 74. j e 8,6 bs a !) Die dick ausgezogenen beiden Linien der Figur. — ?) Die dünn ausgezogenen Linien der Figur. 400 Spiegelhaploskop. _ haploskopische Methode. Hering benutzte eine Modifikation des Haploskopes, ähnlich dem Wheatstoneschen Spiegelstereoskop!). Die Einrichtung ist in Fig. 75 schematisch dargestellt. S und S’ sind zwei Spiegel, die sich vor den beiden Augen L und R befinden, B und B'.die beiden haploskopisch zu ver- einigenden Bildflächen. Die Spiegel sind gegen die Blicklinie und die Bild- fläche um je 45° geneigt. O und 0’ sind die Projektionen der senkrechten Drehungsachsen der beiden Hälften des Apparates, welche durch die Dreh- punkte des linken und des rechten Auges gehen. In der rechten Hälfte der Figur ist schematisch das Gestell eingezeichnet, welches den Spiegel und die Bildfläche gleichzeitig um die Achse in 0’ zu drehen gestattet. Es ist Fig. 75. HEHE, 100 0% | UN Schema des Heringschen Spiegel-Haploskopes. ohne weiteres ersichtlich, wie durch Drehung der beiden Gestelle um die Achsen O und O’ die Konvergenz der Augenachsen geändert werden kann (siehe die Figur), ohne daß sich an den Bildern auf beiden Netzhäuten etwas ändert. Als Objekte müssen in beiden angeführten Methoden solche gewählt werden, „für deren scheinbare Anordnung im Raume keine anderen Um- stände, als allein die Stellung des Kopfes und der Augen und die Lage der Bilder auf der Netzhaut bestimmend werden können“. Am besten werden dazu feine Fäden oder Drähte oder Linien verwendet, deren Enden verdeckt sind, oder, wenn es sich um die Lage von Punkten handelt, auf Kokonfäden in Abständen aufgereihte kleine Kügelchen (Perlen) oder Punktsysteme an den haploskopischen Bildflächen. Durch solche, mannigfach variierte Versuche hat Hering die Verhältnisse des Längshoropters2), der Querdisparation und Längsdisparation der Netzhaut- | bilder für gegebene Augenstellungen empirisch genauer bestimmen ‚können. Aus den Versuchen ergibt sich zunächst, daß, wenn keine anderweitigen | Motive für die Tiefenlokalisation wirksam sind, bei einer gegebenen Lage des Blickpunktes alle auf korrespondierenden Längsschnitten der Netzhaut ab- gebildeten (also im Längshoropter gelegenen 5) Linien oder Punkte mit großer !) Vgl. Abschn. ©. — ?) Vgl. den folgenden Absatz. — °) Vgl. 8. 405 f. Kernfläche und Kernpunkt. — Richtigkeit der Lokalisierung. 401 Bestimmtheit in einer Fläche erscheinen, welche entweder eine Ebene oder eine sehr schwach gekrümmte Zylinderfläche ist, und daß zweitens „alle dies- seits der Längshoropterfläche gelegenen Punkte oder Linien, deren Netzhaut- bilder eine gekreuzte quere Disparation haben, vor jener Fläche erscheinen, alles jenseits des Längshoropters Gelegene und deshalb mit ungekreuzter Disparation Abgebildete aber hinter jener Fläche erscheint, in der das im Längshoropter selbst Gelegene abgebildet wird“. Diese Fläche wird von Hering als „Kernfläche des Sehraumes“ bezeichnet; in ihr liegt der Kern- punkt des Sehraumes als scheinbarer Ort des binokular fixierten wirklichen Punktes. Die Kernfläche ist nach Hering immer eine Ebene, sofern nicht “ anderweitige Motive für die Tiefenlokalisation ins Spiel kommen; nach Helm- holtz eine Zylinderfläche, deren Krümmungsradius mit der scheinbaren Ent- fernung der Fläche zunimmt. — Aus seinen Versuchen hat Hering ferner folgende Sätze abgeleitet: l. Außenpunkte, welche entweder ein korrespondierendes, auf den mittleren Längsschnitten !) liegendes oder ein zu diesen symmetrisch dispa- rates Doppelnetzhautbild geben, aber gleichwohl noch nicht als Doppelbilder gesehen werden, erscheinen in einer Ebene, welche bei symmetrischer Kopf- haltung ünd Lage der Punkte in der Medianebene mit der scheinbaren Medianebene zusammenfällt. (Mittlere Längsebene des Sehraumes.) 2. Es liegen somit auch die Sehrichtungslinien aller mit absolut sym- metrischer Querdisparation abgebildeten und einfach gesehenen Außenpunkte in dieser Ebene. 3. Außenpunkte, deren korrespondierende oder auch disparate Doppel- netzhautbilder auf den mittleren Querschnitten?2) liegen oder eine absolut symmetrische Längsdisparation aufweisen, erscheinen in einer Ebene, welche den Sehraum in eine obere und untere Hälfte teilt (mittlere Querebene des Sehraumes); diese fällt bei horizontaler symmetrischer Konvergenz mit der horizontalen Blickebene zusammen. 4. Es liegen somit auch die Sehrichtungslinien disparater Stellenpaare der mittleren Querschnitte, sowie absolut symmetrisch längsdisparater Stellen- paare in dieser Ebene. Was die Richtigkeit und Bestimmtheit der Lokalisierung im Seh- raume anlangt, so kann diese auch ohne vorliegende messende Versuche als ziemlich groß bezeichnet werden. Hering faßte das Ergebnis seiner Unter- suchungen darüber folgendermaßen zusammen: ' Bei primärer Kopfstellung und symmetrischer horizontaler Konvergenz werden einzelne Punkte oder Linien mit Merkpunkten ziemlich richtig lokalisiert; um so richtiger, je näher sie dem Blickpunkte bzw. der Längshoropterfläche liegen. Hingegen kommen gröbere Fehler bei Linien ohne Merkpunkte vor, die auf korrespondierenden Netzhautlinien oder wenigstens ohne quere Disparation abgebildet werden. Der Kernpunkt fällt mit dem Blickpunkte, die mittlere Längsebene des Seh- raumes mit der wirklichen Medianebene, die mittlere Querebene mit der wirk- lichen horizontalen Hauptebene ziemlich genau zusammen. In der Kernfläche erscheint im allgemeinen, was in der Fläche des Längshoropters liegt, und diese liegt, wenigstens beim Nahesehen, nahezu da, wo sie als Kernfläche er- 1) Vgl. 8. 309. — °) Vgl. ebenda. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 96 402 Einfachsehen und Doppeltsehen. scheint. Trotz vieler möglicher Täuschungen entspricht also beim Nahesehen der scheinbare Ort der Dinge im allgemeinen wenigstens annähernd ihrem wirklichen, selbst wenn jedes anderweitige Hilfsmittel für die Lokalisierung, insbesondere die Mithilfe der Augenbewegungen, ausgeschlossen ist. Überschreitet die Disparation zweier Netzhautbilder eine gewisse Grenze, so tritt, wie schon mehrfach erwähnt, Doppeltsehen ein. Die Richtungen, Fig. 76. in welche die Doppelbilder pro- jiziert werden, sind durch das Gesetz der identischen Sehrich- tungen bestimmt: überträgt man beide Netzhautbilder auf die Netz- ' haut des zwischen beiden Augen gedachten imaginären Auges, so geben die Richtungslinien dieses unmittelbar die Sehrichtungen der Doppelbilder an, wie dies aus nebenstehender Fig. 76 ersicht- lich ist. Die Tiefenlokalisation Lage der Doppelbilder zweier Punkte a und c bei Fixation der Doppelbilder ist ziemlich un- des Punktes db. R u. L rechtes und linkes Auge, C das S : . = imaginäre Cyklopenauge. bj b, korrespondierende Punkte, sicher ; stimmt jedoch annähernd "1, Pelcheitg, cs unglleheii Ahpers Bunkte' mit der wirklichen Entfernung des betreffenden Objektes. Keines- falls werden die Doppelbilder in die TRWERUUBE des fixierten Ob- jektes verlegt. Viel seltener als Doppeltsehen von Einfachem kommt Einfachsehen von Doppeltem vor, abgesehen von haploskopischen oder stereoskopischen Versuchen, in denen die Vereinigung der Bilder zweier Objekte absichtlich herbeigeführt wird. Bringt man, während ein entfernteres Objekt fixiert wird, in die beiden Blicklinien vor jedes Auge einen vertikal gehaltenen Draht, so verschmelzen die Bilder der beiden Drähte, sowie sie auf den korrespondierenden mittleren Längsschnitten abgebildet werden, zu einem einzigen Bilde, das in die Medianebene verlegt wird. Dieses wird nach Um- ständen entweder richtig in die Entfernung der Drähte oder aber in die Ent- fernung des Blickpunktes lokalisiert; im letzteren Falle erscheint es mit der Entfernung vergrößert, so daß der Draht wie eine dicke Stange erscheinen kann u. dgl. Volkmann!) hat mittels der. haploskopischen Methode und seines Tachistoskopes die Grenzen des Einfachsehens zu ermitteln gesucht, indem er die größte Disparation bestimmte, bei welcher zwei Netzhautbilder noch einfach gesehen wurden. Die Größe der zum Doppeltsehen erforder- lichen Disparation hängt wesentlich von der Übung im beharrlichen Fixieren und im indirekten Sehen ab. Längsdisparate Bilder werden nach Volkmann leichter doppelt gesehen als querdisparate. Donders?) verwendete zu ähn- lichen Versuchen die Beleuchtung durch den elektrischen Funken; je kürzer nämlich die Sichtbarkeit oder je flüchtiger die Beobachtung disparater Bilder ist, desto leichter tritt noch Einfachsehen auf. Die maximale Querdisparation, !) Arch. f. Ophthalmol. 5, 2, 1859. — *) Ebenda 13 (1), 12, 1867. Unterscheidbarkeit der Bilder beider Augen. 403 die noch Einfachsehen zuließ, betrug bei Volkmann nur’ etwa 0,2 mm, in Versuchen von Schöler!) mit stereoskopischen Figuren bis 2mm. — Nicht ganz gleiche Bilder, welche haploskopisch zur Deckung gebracht werden sollen, werden leichter getrennt gesehen als vollständig gleiche (Panum?), Volk- mann). — Hering hat die Anschauung ausführlich vertreten, daß auf korrespondierenden Stellen liegende Bilder und Nachbilder unter keinen Um- ständen doppelt gesehen werden können. Dagegen haben Wundt®), Nagel’), Helmholtz dem schon von Wheatstone®) ausgesprochenen Satze zu- gestimmt, daß unter Umständen Bilder korrespondierender Stellen neben- einander projiziert erscheinen können. Der hierfür hauptsächlich als beweisend angeführte Versuch ?) läßt jedoch nach Hering auch eine andere Deutung zu. Welche der beiden Auffassungen die richtige ist, ist unentschieden. Schließlich wäre an dieser Stelle noch die Frage nach der Unter- scheidbarkeit der Bilder beider Augen beim binokularen Sehen zu er- örtern. Daß sie miteinander nicht verwechselt werden, zeigt die Erfahrung, daß stereoskopische Tiefenunterschiede auch bei momentaner Beleuchtung richtig erkannt werden, ebenso, daß eine Umkehrung des Reliefs (von Medaillen u. dgl.), ‘wie sie bei monokularer Betrachtung unschwer zu erreichen ist®), bei binokularer Betrachtung nicht gelingt (Helmholtz, Aubert). Dagegen fällt es gewöhnlich schwer, ohne weiteres wahrzunehmen und anzugeben, welches Halbbild eines Doppelbildes dem rechten und welches dem linken Auge angehört; erst durch abwechselndes Schließen der Augen wird dies sicher ermöglicht. Unter Umständen scheint eine mehr oder weniger sichere bewußte Unterscheidung der Bilder beider Augen eintreten zu können, wie gelegentlich bei Betrachtung stereoskopischer Bilder mit nicht vereinbaren Verschiedenheiten (Helmholtz). Auch scheint die Übung, namentlich im . Wechsel der Aufmerksamkeit für die Bilder beider Augen hierbei von Einfluß zu sein. e Genauere Untersuchungen über die Frage der Unterscheidbarkeit rechts- und linksäugiger Eindrücke haben Schön), Bourdon !P), Heine !!), Brückner und Brücke!?) angestellt. Bei gleicher Beleuchtung und gleicher Deutlich- keit der Bilder beider Augen ist es unmöglich, zu entscheiden, welche Gesichts- eindrücke dem rechten und welche dem linken Auge angehören. Ist jedoch ein Auge ganz vom Sehakte ausgeschlossen oder ist sein Bild wesentlich un- deutlicher, so wird die Seite meist richtig erkannt. Heine nimmt an, daß dem sinnlichen (zentripetalen) Eindruck als solchem die Eigenschaft der Unter- scheidbarkeit anhaftet. Dagegen haben Brückner und Brücke festgestellt, daß das Urteil nur indirekt durch Nebenumstände ermöglicht wird. Vor allem wirke hier ein Örgangefühl des Auges in dem vom Sehakte aus- geschlossenen oder undeutlicher sehenden Auge mit, das als „Abblendungs- gefühl“ bezeichnet wird; ferner spielen bei Versuchen mit kleinen, monokular Y) Arch. f. Ophthalmol. 19 (1), 20, 1873. — ?) Das Sehen mit zwei Augen, 1858, 8. 64. — °®)l.ce. — *) Zeitschr. f. rat. Med. 12 (3), 227, 1861. — °) Das Sehen mit zwei Augen, 1861, 8. 78. — °) Philos. Transact. 2 (1838). — 7) Helm- holtz, 8. 885 f. — ®) Vgl. S. 376. — °) Arch. f. Ophthalmol. 22 (4), 31, 1876; 24 (1), 27; (4), 47, 1878. — !°) Bull. de la Soc. seient. et med. de l’ouest 9, 1, 1900; siehe auch La perception visuelle de l’espace, Paris 1902, p. 227. — '') Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 39, 615, 1901. — !?) Pflügers Arch. 90, 290; 91, 360, 1902. 26 * 404 Horopter. gesehenen Lichtpunkten die diffuse Erhellung des Gesichtsfeldes infolge der Lichtzerstreuung im Auge und die scheinbare Rechts- und Linkslage der ‘monokular gesehenen Objekte mit. 3. Horopter. Horopter ist der Inbegriff derjenigen Raumpunkte, deren Bilder in den beiden Augen bei einer gegebenen Stellung derselben auf korrespondierende Netzhautpunkte fallen (Punkthoropter nach Helmholtz, Totalhoropter nach Hering). Der Horopter kann aus der Lage der korrespondierenden Punkte beider Netzhäute mathematisch bestimmt (mathematischer Horopter) oder aber durch Versuche nach Art der im vorigen Absatze erwähnten für die verschiedenen Augenstellungen ermittelt werden (empirischer Horopter). Die mathematische Lösung des Horopterproblems ist von Hering!), Helm- holtz2) und Hankel?) geliefert worden. — Nach Helmholtz ist der Punkt- horopter im allgemeinen eine Kurve doppelter Krümmung, welche als die Schnittlinie zweier Flächen zweiten Grades (Hyperboloide, Kegel oder Zylinder) angesehen werden kann, die außer dieser Schnittlinie noch eine Gerade gemein haben. Sie stellt danach eine Kurve dritten Grades dar, das heißt eine solche, welche von einer beliebigen Ebene nur in drei Punkten geschnitten werden kann. Sie hat die bemerkenswerte Eigenschaft, daß, wenn man durch irgend einen festen Punkt derselben einerseits und durch alle anderen Punkte der Kurve anderseits + =) gerade Linien legt, diese Linien einen Kegel zweiten =: Grades bilden. Wählt man als Spitze des Kegels DE Se einen unendlich entfernten Punkt der Kurve, welche b| In! mit mindestens zwei Ästen in das Unendliche hinaus- 21] ''W läuft, so wird der Kegel ein Zylinder, dessen Basis I | L-ll eine Kurve zweiten Grades ist. Eine Anschauung I |f von der Gestalt einer solchen Kurve dritten Grades 14 soll die nebenstehende Fig. 77 geben. Die dicke | (auf der Hinterseite der Zylinderfläche gestrichelt j gezeichnete), in der Mitte ungefähr schraubenförmig I yhtıt verlaufende Linie heabh’ sei eine Horopterkurve, cl | IM welche über % und A’ hinaus in die Unendlichkeit Nu Il I ausläuft, indem sie sich der Geraden yy’ (an der rei Hinterseite der Zylinderfläche) asymptotisch nähert. RULES LE EEE ER eine durch den Zylinder gelegte Schnittebene; diese schneidet die Kurve in den drei Punkten a, b und c. Da die Horopterkurve durch die Mittelpunkte der Visierlinien beider Augen geht, seien z. B. a und b die Orte der beiden Augen, c der Fixations- punkt, VV wäre dann die Visierebene. Das Stück der Kurve zwischen den beiden Augen kann für den wirklichen Horopter nicht in Betracht kommen; dieser zerfällt also in zwei voneinander getrennte Teile ah und bh’ mit der Fort- tl 1) Beiträge z. Physiol. 3 (1863). — ?) Arch. f. Ophthalmol. 10 (1), 1, 1864. — *) Poggendorffs Ann. 122, 575, 1864. Punkthoropter und Linienhoropter. 405 setzung jederseits in die Unendlichkeit. — Unter Umständen kann sich die Horopterkurve einerseits ihrer geraden Asymptotenlinie yy', anderseits der Durchschnittslinie einer Ebene VV mit der Zylinderfläche so weit nähern, daß sie mit ihnen zusammenfällt. Dies ist in Fig. 78 Fig. 78. dargestellt, in welcher der Übergang der vertikalen g Schenkel der Kurve in den horizontalen kreis- 2 förmigen Teil durch die kleinen Pfeile bei e an- gedeutet ist (vgl. die Fig. 77). In diesem Falle hat sich die Horopterkurve in eine vertikale Gerade gg’ und eine ebene Kurve zweiten Grades (in der Figur, perspektivisch, einen Kreis, J. Müllers Horopter- kreis!) aufgelöst, die sich bei e berühren. Dieses Verhältnis tritt ein, wenn der Fixationspunkt in endlicher Entfernung entweder in der Medianebene des Kopfes (Punkt c der Figur) oder in der Primär- lage der Visierebene liegt (Punkte d, e, / der Figur). In einem einzigen Falle ist der Punkthoropter eine ebene Fläche, wenn nämlich der Fixationspunkt in der Medianebene in unendlicher Entfernung und die Netzhauthorizonte in der Visierebene liegen. Die Horopterebene ist dann entweder unendlich entfernt und senkrecht zu den Gesichtslinien gelegen oder der Visierebene parallel und in diesem Falle & durch die Schnittlinie der Ebenen der beiden schein- Umwandlung der Horopterkurve bar vertikalen Meridiane gehend. Diese Schnittlinie " Fra Verena Kae und damit die genannte Horopterebene fällt für (M!1ers Horopterkreis). emmetrope Augen, die geradeaus gegen den Horizont gerichtet sind, nahezu mit der Fußbodenebene des aufrecht stehenden Beobachters zusammen (Helmholtz), für myope Augen liegt sie tiefer. Wenn nicht Punkte, sondern Linien, welche keine Merkpunkte besitzen, einfach gesehen werden sollen, so kann offenbar für je zwei solcher Deck- linien in deren Längsrichtung Disparation bestehen, nur senkrecht dazu darf keine solche vorhanden sein. Man bezeichnet die Fläche, in welcher gerade Linien bestimmter Richtung liegen müssen, um in solcher Weise korrespon- dierende Bilder zu liefern und einfach gesehen zu werden, als Linienhoropter (Helmholtz, Partialhoropter nach Hering), und zwar als Vertikalhoropter (Längshoropter) für Linien, die in Längsschnitten, als Horizontalhoropter (Querhoropter) für Linien, die in Querschnitten der Netzhaut abgebildet werden, also den Netzhauthorizonten parallel erscheinen. Der Punkthoropter ist nichts anderes als die Durchschnittslinie des Vertikal- und Horizontal- horopters für die betreffende Stellung der Gesichtslinien. Nachstehend sind für zwei der einfachsten und häufigsten Augenstellungen der Quer-, Längs- und Punkthoropter verzeichnet. A. Symmetrische Parallelstellung der Gesichtslinien. Querhoropter: Der ganze binokulare Blickraum. !) Siehe unten. 406 Meridianhoropter, Fallhoropter. Längshoropter und Punkthoropter: a) In Augen mit senkrecht angeordneten mittleren Längs- und Querschnitten eine unendlich entfernte, zu den Gesichts- linien senkrechte Ebene; praktisch genommen der ganze über eine gewisse Entfernung hinaus gelegene Raum. b) In Augen mit Divergenz der mittleren Längsschnitte nach oben eine in endlicher Entfernung unterhalb der Blick- ebene gelegene und dieser parallele Ebene (Fußboden- fläche nach Helmholtz). B. Symmetrische Konvergenz der Gesichtslinien. Querhoropter: Die Medianebene und die Blickebene. Längshoropter: a1) Ein zur Blickebene senkrechter Zylinder, welcher durch den Blickpunkt und die Knotenpunkte der Richtungslinien in den beiden Augen gelegt ist. b2) Eine Kegelfläche, welche durch den Blickpunkt und die Knotenpunkte der Richtungslinien in den beiden Augen gelegt ist und deren Spitze unterhalb der Blickebene liegt. Punkthoropter: Der sogenannte Müllersche Horopterkreis, als Schnittlinie der Zylinder- oder Kegelfläche (a oder b) mit der Blickebene, und eine zur Blickebene senkrechte (a) oder ge- neigte (b) Gerade, welche in der Medianebene liegt und durch den Blickpunkt geht. Als Meridianhoropter bezeichnet Hering eine Fläche zweiten Grades, welche dadurch ausgezeichnet ist, daß jede in ihr gelegene Gerade sich auf korrespondierenden Meridianen abbildet. Diese Fläche ist bei symmetrischer Konvergenz der Gesichtslinien im allgemeinen eine Kegelfläche (Doppel- kegelmantel), deren Spitze (Mittelpunkt) im Blickpunkte liegt. Fallen korrespondierende Meridiane in die Blickebene, so geht diese Fläche in zwei Ebenen über, deren eine (für Augen ohne Netzhautinkongruenz) die Blick- ebene, die andere die im Blickpunkte senkrecht zur Blickebene und zur Medianebene stehende Ebene ist. Tsehermak®) hat in gemeinsam mit Kiribuchi angestellten Versuchen gefunden, daß der empirische Längshoropter für Fallbahnen („Fallhoropter“), also die Fläche, in welcher kleine Kugeln fallen mußten, um mit dem Fixationspunkte in derselben Frontalebene zu erscheinen, stärker konkav gegen den Beobachter sein müsse als der Längshoropter für vertikale Linien oder Fäden („Lothoropter“). Der Fallhoropter liegt durchschnittlich zwischen dem Lothoropter und der Krümmung des Müllerschen Horopterkreises. Die Ursache der Verschiedenheit liegt in der Dauer des optischen Reizes. Der Längshoropter für Momentanreize ist sogar noch etwas stärker gekrümmt als der Müllersche Horopterkreis. Das Maximum der Unterschiedsempfindlichkeit für Tiefenwahrnehmung kommt dem empirischen Längshoropter für Dauerreize zu. Schließlich muß jedoch in bezug auf die Lehre vom Horopter erwähnt werden, daß bei dem kleinen Bereiche des deutlichen und scharfen Sehens, der schnellen Abnahme des Unterscheidungsvermögens von der Fovea !) Wie oben. — ?) Wie oben. — °) Pflügers Arch. 81, 328, 1900. Binokulare Tiefenwahrnehmung. — Einfluß der Konvergenz. 407 gegen die Peripherie der Netzhaut, bei der gewohnheitsmäßigen unbewußten Vernachlässigung der Doppelbilder und dem fortwährenden Wechsel des Horopters mit den Augen- und Kopfbewegungen dem Horopter als Inbegriff der einfach wahrgenommenen Punkte des Raumes für das praktische Sehen nur eine unwesentliche Bedeutung zugeschrieben werden kann (Reckling- hausen), Aubert). B. Binokulare Tiefenwahrnehmung. 1. Einfluß der Konvergenz. In der Einleitung zu diesem Kapitel ist bereits darauf hingewiesen worden, daß die Bedeutung der Konvergenz für die binokulare Entfernungs- schätzung hinter der der binokularen Parallaxe zurücksteht, indem die dazu erforderliche Kontrolle der Winkeleinstellung der Augen bald ihre Grenze erreicht. Helmholtz äußert sich hierüber: „Die Beurteilung der absoluten Entfernung eines zweiäugig gesehenen Objektes würde, wenn alle anderen Mittel der Schätzung fehlen, vollzogen werden können mittels des Gefühls für den Grad der Konvergenz, in die unsere auf das Objekt gerichteten Blicklinien sich stellen. Doch ist dieses Gefühl ziemlich unsicher und ungenau. und wir sind in dieser Beziehung unter Umständen ziemlich bedeutenden Täuschungen ausgesetzt.“ Immerhin stellt die Wahr- nehmung absoluter und relativer Entfernungen vermittelst des binokularen Konvergenzmechanismus einen wesentlichen Fortschritt gegenüber der mon- okularen Wahrnehmung der Tiefendimension dar. Nachdem schon Wheatstone?) mit dem Spiegelstereoskop°) gezeigt hatte, daß bei Zunahme der Konvergenz und gleichbleibender Größe der Netzhautbilder die scheinbare Entfernung (und Größe) des stereoskopisch gesehenen Objektes abnimmt, hat später zuerst Wundtt) messende Versuche über Entfernungsschätzungen nach dem Konvergenzgrade angestellt, indem er einen vertikalen, in der Medianebene des Beobachters verschiebbaren schwarzen Faden vor einer entfernten weißen Fläche durch einen queren Schlitz betrachtete, dessen Rahmen die Enden des Fadens und anderweitige seitliche Objekte verdeckte. Die geschätzten absoluten Entfernungen wurden mit Längen eines in der Hand gehaltenen Maßstabes verglichen. Bei Entfernungen von 40 bis 180cm vom Auge wurden die Abstände so um 1/, bis 1/, ihrer wirklichen Größe unterschätzt. In einer ähnlich angestellten Versuchsreihe hat hingegen Helmholtz die Entfernungen immer überschätzt. Donders?°) ließ in dunklem Raume kleine Induktionsfunken verschiedener Intensität überspringen und den Beobachter mit der Zeigefingerspitze den Ort des Funkens bezeichnen. Die Entfernung der Funken von den Augen wurde von 6,5 bis 61cm verändert. In der größten Zahl der Fälle wurde der Abstand des Funkens zu groß angezeigt, der mittlere Fehler betrug etwa drei Prozent. Ähnliche Versuche stellte Bourdon®) in dunklem Raume mit verschieden breiten und hellen leuchtenden Linien an. Der Untersuchte ’) Arch. f. Ophthalmol. 5 (2), 146, 1859. — ?) Philos. Transact. 2, 371 £., 1838. — °) Vgl. Abschn. C. — *) Beitr. z. Theorie d. Sinneswahrnehmung, 1862, S. 195. — °) Arch. f. Ophthalmol. 17 (2), 16, 1871. — °) La perception visuelle de Vespace, 1902, p. 236 f. 408 Absolute Entfernungsschätzung. hatte sich im Dunklen gegen die Linie zu bewegen und mit der Spitze des Mittelfingers den Ort zu bezeichnen, wo ihm die Linie erschien. Der Fehler betrug bei einem Abstande von 65 bis 66cm von den Augen des Beobachters im Mittel etwa 3cm, die meisten Fehler blieben unter 6 cm (einer Drehung jedes Auges um etwa 16’ entsprechend). Einer der beiden von Bourdon angeführten Beobachter überschätzte größerenteils die Entfernungen, der andere unterschätzte sie meist. Bei derartigen Versuchen, wie sie Donders und Bourdon ausgeführt haben, ist jedoch zu bedenken, daß ein Teil des Fehlers, und zwar wahrscheinlich ein ziemlich beträchtlicher !), offenbar auch auf Rechnung der ungenügenden Orientierung der Handbewegungen zu setzen ist. Für größere Entfernungen, schon über 3 bis 4m, nimmt die Sicherheit der absoluten Entfernungsschätzung, wenn Erfahrungsmotive nach Möglichkeit ausgeschlossen werden, ab, und zwar besteht deutlich die Neigung zur Über- schätzung der Entfernungen. In einer Versuchsreihe mit leuchtenden Punkten in Entfernungen von 10 bis 50 m vom Beobachter erhielt Bourdon Angaben, die im allgemeinen 100 m überschritten und mehrere Male bis 500 m stiegen. Die Angaben über die scheinbaren Entfernungen unterliegen in den Einzel- beobachtungen einer Versuchsreihe ganz bedeutenden Schwankungen; bei Fortsetzung der Beobachtungen geht die anfängliche starke Überschätzung größerer Entfernungen zurück. Wenn die Versuchspersonen mit den Aus- maßen des Versuchsraumes vertrauter sind, namentlich denselben durchmessen haben, werden die Fehler zwar kleiner und verteilen sich gleichmäßiger nach aufwärts und nach abwärts, aber die Unsicherheit in der Entfernungsschätzung bleibt trotzdem bestehen, wie der folgende Auszug aus einer Versuchsreihe Bourdons zeigt: Wirkliche Entfernungen IOSDUBRERR EHE N LEHE en Beobachter A. Beobachter B. 5m 12m 10 m 7m 10—12 m 7—8m 7m 12—25 m?) 19—20 m?) 22m 12—-13m — 25m en 20m 35m — 50m 47m über 25m — 47m 13—14m — 48 m — 25m 50m az 45—50 m 50m — 25m 50m = 18m Genauer als die absolute Entfernungsschätzung findet die Wahrnehmung von Entfernungsänderungen oder der relativen Entfernung vermittelst der Konvergenz statt. Wundt?) fand in seinen Fadenversuchen die nachstehenden Werte: ') Vgl. Donders 1. c. — ?) Sehr heller Punkt. — °) 1. c. Relative Entfernungsschätzung. | 409 Entfernung des Fadens | Unterscheidungsgrenze ER für Annäherung | für Entfernung 1,3 m 3,5 cm Sem 1,7 m . 3cm 4cm 1,6 m 3cm 3cm 1,5 m 33cm 3em 1,3 m 2cm 3em 1,1m 2cm ; 2cm 0,3 m | 2cm 2cm 0,7 m | 1,5 cm 1,5 cm 0,5 m | lcm lem Der Drehungswinkel jedes Auges für die Annäherung von 3,5cm bei einer Entfernung des Fadens von 180 cm beträgt 1’12”, für die Annäherung von lcm bei einer Entfernung des Fadens von 50 cm schon 4’23”; da gleichen Winkeldrehungen der Augen bei stärkerer Konvergenz kleinere Entfernungs- unterschiede entsprechen müssen als bei schwächerer, ergibt sich trotz des anscheinend verminderten Unterscheidungsvermögens für Konvergenzgrade bei stärkerer Konvergenz dennoch erhöhtes Unterscheidungsvermögen für relative Entfernungen. Vergleicht man die in obiger Tabelle verzeichneten Unterscheidungs- grenzen mit den von Wundt in ähnlichen Versuchen über die Tiefen- wahrnehmung mittels Accommodation gefundenen !), so fällt die größere Übereinstimmung der Werte für Annäherung und Entfernung und die größere Feinheit des Unterscheidungsvermögens mit Hilfe der Konvergenz auf, welche ‘ das Zwei- his Vierfache des durch Accommodation Erreichbaren beträgt. Zu Wundts Versuchen hat schon Helmholtz die Bemerkung gemacht, „daß es dabei wohl noch zweifelhaft ist, ob die beiden Augen dem Faden gefolgt und das Netzhautbild auf der Netzhaut ruhend geblieben ist, oder ob die Augen festgehalten wurden und die Verschiebung des Netzhautbildes bemerkt wurde“. Ferner läßt sich dagegen, wie schon gegen die Versuche über den Einfluß der Accommodation ?2) einwenden, daß dabei Tiefenwahr- nehmung durch rein retinale Eindrücke nicht ausgeschlossen war, daß der Rand des Sehschlitzes und der Grund, auf dem der Faden erschien, die ver- schiedene scheinbare Dicke und Helligkeit des Fadens in verschiedenen Entfernungen bei der Tiefenlokalisation mitspielen konnten. Bourdon?) verwendete in seinen Versuchen zwei im dunklen Raume nacheinander auf- leuchtende Punkte, einen in unveränderlicher, einen anderen in veränderlicher Entfernung vom Beobachter. -Zwischen je zwei zusammengehörige Be- obachtungen wurden unregelmäßige Augenbewegungen eingeschaltet. Es mußte in den einzelnen Versuchen jedesmal angegeben werden, ob der zweit- erschienene Punkt näher oder entfernter geschätzt wurde als der erst- erschienene, und wurden die zutreffenden, zweifelhaften und unzutreffenden Angaben verzeichnet. Ein Beispiel eines solchen Versuches gibt die nach- stehende kleine Tabelle: Y) Siehe die Tabelle S. 377. — ?) Vgl. 8. 377. — ®) l. ec: 8. 236 f. 410 f Relative Entfernungsschätzung. Fixer Punkt in 1m Entfernung. Beobachter Bourdon, Augendistanz 66 mm. Entfernungen des Antworten beweglichen Punktes Winkel y') ; ; - Mi Richtig Zweifelhaft Falsch 1,08 8 5 | 14 hs 1,12 12’ 12 4 4 1,16 16’. 10 7 3 1,20 s 19' 17 3 _ 1,24 22' 19 1 er 1,28 25’ 20 _ _ 1,32 27’ 20 _ _ Bei solchen Versuchen ist eine bemerkenswerte, jedoch nicht beträcht- liche und durch zweckmäßige Versuchsanordnungen auszuschließende Fehler- quelle die scheinbar größere Helligkeit des zweiterscheinenden leuchtenden Punktes, der infolge dessen näher geschätzt wird. — Bei einer Entfernung des fixen Punktes von 2m wurden + 25cm schlecht, erst + 1m mit fast ausschließlich richtigen Antworten angegeben; diese letztere Einstellung von 2 auf 3m oder umgekehrt entspricht einem Drehungswinkel jedes Auges von 19’. Bei Entfernungen der beiden Punkte von 25 und 10m von den Augen des Beobachters, entsprechend Drehungswinkeln von 7’ für jedes Auge, wurden unter gleichen Versuchsbedingungen in 40 Beobachtungen nur 23 richtige Antworten erhalten, 15 waren zweifelhaft, 2 falsch. Viel günstiger stellte sich das Ergebnis, wenn die beiden Punkte nicht nur je einmal, sondern ab- wechselnd wiederholt (unter sonst gleichen Versuchsbedingungen) eingestellt ' werden durften; es wurden hierbei folgende Ergebnisse erhalten: Distanzen Antworten in Metern Richtig Zweifelhaft Falsch l 25—15 = Er | > 25—14 5 & ; 25—13 10 7 ; 25—12 12 8 : 25—11 15 9 : 25—10° 17 » ; Aus Bourdons Versuchen scheint in Übereinstimmung mit Wundts angeführten Ergebnissen im allgemeinen hervorzugehen, daß die relative Tiefenwahrnehmung durch Konvergenz, sofern man die Veränderung des Konvergenzwinkels in Betracht zieht, für größere absolute Entfernungen feiner ist als für kleinere, während dennoch die Feinheit des Unterscheidungs- ') Der Drehungswinkel jedes Auges zwischen den Fixationen der beiden Punkte. : Konvergenz und Querdisparation. — „Muskelgefühl‘“. 411 vermögens für Strecken mit zunehmender absoluter Entfernung rasch abnimmt!). Es würden sich aus Bourdons Versuchen ergeben: Für Entfernungen des Erforderlicher Strecken- |, Erforderlicher Drehungs- fixen Punktes von unterschied winkel jedes Auges lm + 0,28 m 25’ 2m + im 19’ 10m + 15m! 7’ (oder darüber) Hillebrand?) hat, wie schon indirekt Helmholtz°), gegen Wundts Versuche eingewendet, daß dabei Tiefenwahrnehmung durch Querdisparation der Netzhautbilder nicht ausgeschlossen war; Bourdons Versuche entgehen diesem Einwande infolge ihrer Anordnung: Nacheinanderauftauchen der beiden Punkte und Einschaltung unregelmäßiger Augenbewegungen zwischen beiden Beobachtungen eines Versuches. Freilich erscheint auch in ihnen das Moment der Konvergenz nicht vollständig isoliert, da die Accommodation nicht ausgeschlossen wurde*®), und ist dabei die Unvollkommenheit des Ver- gleiches zweier zeitlich getrennter Empfindungen zu berücksichtigen. Für die gewöhnliche Art der Tiefenwahrnehmung unter Konvergenz dürfte aber, wie für die meisten über den Einfluß der Konvergenz auf die Tiefenwahrnehmung bisher angestellten Versuche, gelten, was Hillebrand’) in bezug auf die letzteren besonders ausführt, daß dabei nämlich „immer das höchst empfind- liche Reagens der Disparation zur Wirkung gelangt und somit der zu untersuchende Faktor (die Konvergenz) prinzipiell nicht isoliert werden kann“. Wenn nun aber doch, unter gewissen Versuchsbedingungen, wie in den Versuchen Bourdons und in den monokularen Versuchen Hillebrands®), ein unmittelbarer Einfluß der Konvergenz auf die Tiefenlokalisation mehr oder weniger sicher nachgewiesen werden kann, oder wenn ein solcher auch sonst wenigstens nicht ausgeschlossen werden kann, so entsteht sofort die Frage, wie die genaue Kenntnis von der für die einzelne bestimmte Tiefen- wahrnehmung erforderlichen Konvergenz vermittelt wird. Man hat in dieser Be- ziehung dem „Muskelgefühl“ oder den „Muskelempfindungen“ mehrfach eine sehr bedeutende Rolle zugeschrieben. So meinte Wundt?): „Die Feinheit der Muskelempfindungen geht so weit, daß die Muskeln in dieser Hinsicht unsern schärfsten objektiven Sinnesorganen, dem Gesicht und Gehör, an die Seite gestellt werden können.“ Helmholtz unterscheidet am „Muskelgefühl“ drei wesent- lich voneinander verschiedene Empfindungen, die Empfindungen der Inten- sität der Willensanstrengung, der Muskelspannung und die Empfindungen des Erfolges der Anstrengung. Nach ihm beurteilen wir die Richtung der Gesichtslinien nur nach der Willensanstrengung, mittels welcher wir die Stellung der Augen zu ändern suchen). „Die Richtung, in der die gesehenen Objekte sich zu unserem Körper befinden, wird beurteilt mit Hilfe der Innervationsgefühle der Augenmuskelnerven, aber fortdauernd kon- trolliert nach dem Erfolge, d. h. nach der Verschiebung der Bilder, welche ') Vgl. Seite 408 u. 409. — ?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 7, 106, 1893. — °) Siehe oben $. 409. — *) Vgl. 8. 378. — °) l.e. 8. 107. — °) Vgl. 8. 378. — 7) Zeitschr. f. rat. Med. 15 (3), 143, 1862. — ®) Vgl. auch 8. 335. 412 Binokulare Parallaxe. die Innervationen hervorbringen“. Donders bezeichnet die Bewegungs- innervation der Augenmuskeln in bezug auf die Wahrnehmung der Ent- fernung direkt als Entfernungsinnervation !), deren Regelung hinwiederum nach dem Urteil über die Entfernung erfolge. Die Ursachen der Bewegungs- innervationen müssen in Empfindungen und Vorstellungen zu suchen sein, welche Konvergenz- oder Divergenzbewegungen veranlassen ?2), und Hering meint, daß man diesen psychophysischen Prozeß unmittelbar als das physio- logische Moment gelten lassen könne, welches die entsprechenden Inner- vationen der Augenmuskeln auslöst®). Es sei von vornherein nicht einzu- sehen, „was durch die hypothetische Einschiebung eines weiteren physischen oder psychischen Vorganges, welcher den Innervationsgefühlen zu entsprechen hätte, irgend gewonnen werden kann“. Aubert wendet sich sowohl gegen die unklare Bezeichnung „Bewegungsinnervation“, welche höchstens als vorläufige Bezeichnung der Richtung für weitere Untersuchungen gelten gelassen werden könne, als auch, im Anschlusse an Donders#), gegen Herings den ein- zelnen Netzhautstellen beigelegte Raumgefühle für Höhen-, Breiten- und Tiefen- werte, was nur eine Umschreibung der Tatsachen, aber keine Erklärung sei. Nach Hillebrand’) erweist sich bei Ausschluß aller empirischen Motive der Lokalisation der bewußte Willensimpuls als das für das Erkennen der relativen Entfernung Entscheidende. Aber dieses Erkennen ist nicht anschaulich in der Empfindung, wie beim Sehen mit disparaten Netzhautstellen, sondern die Versuchspersonen geben übereinstimmend an „sie „wüßten“ zwar, daß das zweite Objekt näher, bzw. ferner liege als das erste, könnten aber nicht be- haupten, daß sie dies eigentlich „sähen“, Aussagen, die psychologisch von hoher Bedeutung sind“ ®). Der Grund für das zähe Festhalten an den Muskel- gefühlen liegt hauptsächlich in der angenommenen Notwendigkeit dieses Be- helfes für die empiristischen Theorien der räumlichen Wahrnehmung’). 92. Binokulare Parallaxe Tiefensehschärfe. Wheatstone°) hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, daß nicht zu weit entfernte räumliche Objekte mit dem einen Auge gesehen etwas anders erscheinen als mit dem anderen Auge: es bietet sich dem rechten Auge die perspektivische Ansicht des Körpers von einem mehr rechts gelegenen, dem linken Auge von einem mehr links gelegenen Standpunkte aus; die Ent- fernung dieser beiden Standpunkte voneinander entspricht dem Abstande der Drehpunkte der beiden Augen. Hält man ein Kartenblatt in der Medianebene zwischen beide Augen, so sieht das linke Auge die linke, das rechte Auge die rechte Seite des Blattes. Von zwei Punkten in der Medianebene, die in verschiedener Entfernung von den Augen gelegen sind, erscheint der nähere dem rechten Auge links, dem linken Auge rechts von dem entfernteren zu liegen. Liegen zwei Punkte oder Linien so, daß sie sich für das eine Auge decken, so ist dies für das andere Auge nicht der Fall usw. Je größer der Abstand körperlicher Objekte von den Augen ist, desto kleiner werden die Unterschiede der beiden perspektivischen Bilder, und sie verschwinden endlich !) Arch. f. Ophthalmol. 17 (2), 16, 1871. — °) Hering, Beitr. z. Physiol. 5, 344, 1864. — ®) Vgl. 8. 335. — *) Arch. f. Ophthalmol. 13 (1), 42, 1867. — )1l.c. — ®)l.ce. 8. 147. — ?) Vgl. Hillebrand, 1. c. S. 148. — ®) Philosophical Transact. 2, 371, 1838. Stereoskopische Projektion. 413 für größere Entfernungen vollständig. Denkt man-sich zwei Zeichnungen entworfen, welche den Ansichten eines räumlichen Objektes mit dem rechten und mit dem linken Auge entsprechen, und diese beiden Zeichnungen so auf- einander gelegt, daß in einer bestimmten Entfernung, z. B. in unendlicher oder auch in einer endlichen Entfernung gelegene Punkte sich decken, so zeigen die Bilder sowohl der näheren, als auch der entfernteren Punkte-in den beiden Zeichnungen seitliche Verschiebungen gegeneinander, welche desto größer sind, je weiter die betreffenden Fig. 79. Punkte von dem Ausgangspunkte oder der durch ihn senkrecht zur Blickebene gelegten Ebene abstehen. Der Abstand zweier zusammengehöriger Punkte in zwei derart aufeinander gelegten Zeich- nungen wird nach Helmholtz als stereoskopische Parallaxe bezeichnet. Allgemeiner kann als „binokulare Par- allaxe“ eines Punktes der Abstand der A Schnittpunkte seiner Visierlinien mit einer senkrecht zur Visierebene durch d den Fixationspunkt gelegten Ebene be- zeichnet werden. Seien AB in der neben- stehenden Fig. 79 der. horizontale Durchschnitt dieser Ebene mit der in N die Bildfläche fallenden Visierebene, Sein beliebiger Danktisnßlerhalb:- der- Stereoskopische Projektion, nach Helmholtz. selben, P und @ die Mittelpunkte der Visierlinien beider Augen, so liegen die Projektionen des Punktes $S auf die Ebene AB für die beiden Augen in R und T. Sei ferner 24 der Augenabstand PQ, ce der Abstand RT, b der Abstand der Ebene AB und 0 der Abstand des Punktes S von PQ, endlich d dessen Abstand von AB, so ergibt sich leicht 2 ad = _. P Die Größe 24—c=e hat Helmholtz als stereoskopische Differenz be- zeichnet; für dieselbe ..erhält man DD » > Dass ann nn an a [=] _ 2ab o Sowohl die Größe c als auch die Größe e nehmen, wie ersichtlich, mit zu- nehmender Entfernung @ ab und werden für unendlich entfernte Objekte gleich Null, das heißt für solche besteht keine binokulare Parallaxe oder stereoskopische Differenz. c und e wachsen mit Vergrößerung des Augenabstandes, ce mit der Entfernung des Objektpunktes von der Projektionsebene, e mit dem Ab- stande der Projektionsebene von den Augen. Aus dem obigen Ausdrucke für die stereoskopische Differenz hat Helmholtz weiter den Satz abgeleitet, daß die binokular unterscheidbaren Entfernungsunterschiede mit dem Quadrate der mittleren Entfernungen wachsen. Fassen wir nun die Abbildung von Punkten mit stereoskopischer Parallaxe auf den beiden Netzhäuten ins Auge, so ergibt sich nach den Aus- e 414 Tiefensehschärfe. . führungen des vorigen. Abschnittes ohne weiteres, daß dieselben mit Quer- disparation zur Abbildung kommen müssen. Jeder stereoskopischen Differenz entspricht eine bestimmte Querdisparation und jeder solchen eine bestimmte Tiefenlokalisation, insolange die Disparation im allgemeinen unter der Grenze bleibt, über welche hinaus Doppelbilder auftreten). Übrigens kann auch auf Grund schon deutlicher Doppelbilder Tiefenwahrnehmung erfolgen, wie schon Hering?), Volkmann®), Helmholtz gezeigt und neuerlich Tschermak und Hoefer*) durch messende Versuche bestätigt haben. Um die Tiefensehschärfe oder die Feinheit der Tiefenwahrnehmung zu prüfen, hat zuerst Helmholtz Versuche in der Weise angestellt, daß er bestimmte, um wieviel die mittlere von drei nebeneinander in einer Ebene aufgestellten Nadeln aus dieser Ebene herausgerückt werden mußte, um deutlich als davor oder dahinter liegend erkannt zu werden. Wenn eine Nadel in einer Entfernung von 34cm von den Augen um ihre eigene Dicke von !/, mm vor oder hinter die Ebene der anderen getreten war, wurde dies mit voller Sicherheit erkannt. Bei einem Augenabstande von 68mm ent- spricht dies, auf die Ebene der beiden anderen Nadeln projiziert, einer seit- lichen Verschiebung von 0,lmm. Helmholtz bemerkt hierzu: „Eine Breite von !/,,mm auf 340 mm Distanz liegt schon an der Grenze der kleinsten sichtbaren Abstände. Sie entspricht einem Winkel von 601/, Winkelsekunden oder 0,0044 mın Distanz auf der Netzhaut. Daraus folgt also, daß die Ver- gleichung der Netzhautbilder beider Augen zum Zweck des stereoskopischen Sehens mit derselben Genauigkeit geschieht, mit welcher die kleinsten Ab- stände von einem und demselben Auge gesehen werden.“ Neuere Unter- suchungen und Erfahrungen von Bourdon, Pulfrich, Heine u. a. haben indes ergeben, daß die Tiefensehschärfe beträchtlich größer ist, als sie Abstand zwischen je zwei Nadeln 35 mm (= 1°) Lage der mittleren Nadel Von 20 Schätzungen (Antworten): mm „näher“ | „gleich weit“ | „entfernter“ 3 20 0 0 2,5 20 ) ) Vor 2 19 1 0 der 1,5 18 2 0 Ebene 1 17 3 0 0,5 11 9 f) 0 2 18 0 0,5 3 15 2 Hinter z R > E 1,5 0 11 9 Ebene 2,5 0) 20 3 0 | 19 '!) Vgl. 8. 402. — ?) Beitr. z. Physiol. 5, 335, 1864. — °) Physiol. Unters. im Geb. d. Optik, 2. Heft, 1864. — *) Pflügers Arch. 98, 299, 1903. Feinheit der Tiefensehschärfe. 415 Helmholtz angenommen hatte. Bourdon!) hat die Helmholtzschen Versuche mit verfeinerten Hilfsmitteln wieder aufgenommen. Die Ebene der beiden fixen Nadeln lag 2m von den Augen entfernt. Das Ergebnis einer solchen Versuchsreihe ist in der vorstehenden Tabelle wiedergegeben. Aus Bourdons Versuchen ergibt sich, daß namentlich bei enger anein- ander stehenden Nadeln (Abstand 3 mm, — 5’) schon Tiefenunterschiede von 1,5 mm in der größten Mehrzahl der Beobachtungen richtig erkannt werden, was bei der gewählten Entfernung einem Lageunterschiede der beiden Netzhautbilder von nur 5” entspricht. Zu ähnlichen Ergebnissen ist Pulfrich?) gelangt; er stellte fest, daß normalsichtige Personen im all- gemeinen ein sehr feines Tiefenunterscheidungsvermögen besitzen „und daß insonderheit solche Personen, welche recht scharfe Augen haben und diese bei ihrer täglichen Beschäftigung in gleichmäßiger Übung haben erhalten können, noch sicher Tiefenunterschiede bis zu zehn Sekunden im freien Sehen und noch weniger als solche erkennen“. Heine?) stellte den frag- lichen Winkel für Personen mit normaler Sehschärfe zu 12 bis 13”, für solche mit doppelter Sehschärfe*) zu rund 6” fest. Pulfrich weist darauf hin, daß diese Ergebnisse für die Grenze der Tiefenunterscheidung mit den Untersuchungen von Cohn und Wülfing°) über die Sehschärfe des einzelnen Auges, bzw. der kleinsten noch sichtbaren Winkel in gutem Einklange stehen. „Der Unterschied ist hier aber der: Während bei dem Sehen mit einem Auge die angegebene äußerste Grenze der Sehschärfe im Betrage von rund zehn Sekunden nur unter ganz besonders günstigen Versuchsbedingungen . . . . erreicht wird, in allen anderen Fällen aber weit hinter derselben zurückbleibt, ist beim stereoskopischen Sehen die für je einen Beobachter erzielte äußerste Grenze der Genauigkeit der Messung so gut wie unabhängig von der Art und dem Aussehen der anvisierten Objekte.“ — Nimmt man den von Bourdon gefundenen Wert von 5” als unter den günstigsten Bedingungen zu erzielende Höchstleistung der Tiefensehschärfe an, so ergeben sich (nach einer Zusammenstellung von Bourdon) die nachstehend verzeichneten Werte (s. Tab. S. 416) wahrnehmbarer Tiefenunterschiede in Längenmaß. Ein Vergleich der Leistungen der auf der binokularen Parallaxe be- ruhenden Tiefensehschärfe mit den im vorigen Abschnitt‘) erörterten Leistungen des Konvergenzapparates für die Tiefenwahrnehmung ergibt die gewaltige Überlegenheit der ersteren: die Leistung der binokularen Par- allaxe für die Wahrnehmung relativer Entfernungsunterschiede übertrifft die des Konvergenzapparates, gleiche absolute Entfernungen vorausgesetzt, 500fach und mehr. Es erklärt sich hieraus wohl in einfachster Weise, daß unter normalen Verhältnissen der Konvergenzmechanismus für die Tiefen- wahrnehmung und das körperliche Sehen nur eine untergeordnete Rolle spielt. Nagel’) hat bei Dunkeladaptation und unter Bedingungen des reinen Dämmerungssehens, also bei Helligkeiten, die unter der fovealen Schwelle lagen, noch Tiefenwahrnehmungen in deutlicher Weise erhalten. Die so er- mittelte Tiefensehschärfe stimmte gut mit derjenigen überein, welche bei Hell- ") Rev. philosoph. (Ribot) 25, 74, 1900. — ?) Physikal. Zeitschr. 1899, Nr. 9 und Zeitschr. f. Instrumentenkunde 1901, 8. 258. — °) Arch. f. Ophthalmol. 51, 146, 1900. — *) Vgl. 8. 350 f. — °?) Vgl. ebenda. — °) 8.407f. — ?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 27, 264, 1901. 416 Hillebrands „Alleekurven*“. Entfernung der Ebene Entfernung des Punktes Tiefenunterschied [6 e) 2642 m je) 2000 m 1138 m 862m 1000 m 726 m 274m 500 m 421m 79m 200 m 186 m 14m 100 m 96,3 m 3,7m 50m 49 m lim 20m 19,85 m 15 cm 10m 9,96 m 4cm 5m 4,987 m 3mm 2m 1,9985 m 1,5 mm im 0,9996 m 0,4 mm 50cm 49,99 cm 0,1mm 20 cm 19,9983 cm 17 u! adaptation gefunden wurde, wenn die Sehschärfe (durch vollkommene Kor- rektion der Myopie des Beobachters) auf den Betrag herabgedrückt wurde, der dem Sehen mit der parazentralen Zone des dunkeladaptierten Auges ent- spricht. Durch messende Versuche und mathematische Analyse hat Hillebrand !) ermittelt, wie sich bei binokularer Beobachtung der Gesichtswinkel mit der Entfernung ändern muß, damit die scheinbare Größe (Lateralabstand von Loten) konstant bleibe. Er verwendete dazu eine Doppelreihe in der Quere verstellbarer Fadenpaare, welche wie eine Allee vom Beobachter ausgehend angeordnet war; die Fäden mußten so eingestellt werden, daß ihre Fußpunkte in zwei parallelen Geraden zu liegen schienen. Es ergaben sich dabei gegen die Medianebene schwach konkave Linien („Alleekurven“), die gegen den Beobachter konvergierten. Bei Beobachtung mit Fixation einer fernen medianen Marke waren Divergenz und Krümmung der Kurven merklich größer als bei wanderndem Blicke. Aus den Versuchsergebnissen leitet Hillebrand folgenden Hauptsatz ab: „Damit eine Reihe von verschieden weit entfernten Objekten bei binokularer Betrachtung gleich groß erscheinen, müssen ihre wirklichen (lateralen) Größen mit wachsender Entfernung so zu- nehmen, daß die Gesichtswinkel umgekehrt proportional mit der scheinbaren, durch die Disparation gemessenen Entfernung abnehmen. Oder kürzer: mehrere verschieden entfernte Objekte erscheinen dann gleich groß, wenn die Unterschiede ihrer Gesichtswinkel den Unterschieden ihrer scheinbaren Ent- fernungen proportional sind, wobei die scheinbaren Entfernungsunterschiede durch die Disparation gemessen werden.“ — Nach v. Kries?) wäre dieses Gesetz unmittelbar nur ein Ausdruck für die gesetzmäßige Beziehung zwischen Quer- disparation und Gesichtswinkeln, während die wirklichen Werte der gesehenen Entfernungen unbestimmt blieben. — Aus dem Verfolge des Verlaufes der „Alleekurve“ über die stereoskopische Grenze hinaus ergibt sich nach Hille- !) Denkschr. d. Wiener Akad., mathemat.-naturw.: Klasse, 72 (1902). — ?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 33, 366, 1903. ee ee ee Einfluß der Blickbewegungen. 417 brand weiter der Satz: „Jenseits der stereoskopischen Grenze ist zur Er- zielung gleicher scheinbarer Größe nur nötig, daß der Gesichtswinkel gleich bleibe oder sich bloß in physiologisch unwirksamer Weise ändere; mit anderen Worten: jenseits der stereoskopischen Grenze gilt für den binokular Sehenden dasjenige Gesetz der scheinbaren Größe, welches für den monokular Sehenden überall gilt; die scheinbare Größe ist dem Gesichtswinkel direkt proportional: Sobald keine variable Tiefenempfindung mehr vorhanden ist, hat der bin- okulare Sehakt vor dem monokularen überhaupt nichts mehr voraus.“ 3. Einfluß der Blickbewegungen. Bei der gewöhnlichen Art der Abschätzung eines räumlichen Objektes nach der Dimension der Tiefe spielen immer Blickbewegungen mit, derart daß, wie übrigens bei jeder genaueren Betrachtung auch eines nur nach zwei Dimensionen ausgedehnten Objektes, eine kleinere oder größere Anzahl von Punkten desselben einzeln nacheinander fixiert werden oder wenigstens vor- übergehend in der Fovea zur Abbildung gelangen. Der schließliche Gesamt- eindruck ist somit die Kombinationswirkung einer ganzen Reihe von Bildern, in welchen nacheinander und in gewisser Reihenfolge die einzelnen Punkte des Objektes ohne Querdisparation und mit nach der einen und der anderen Richtung immer mehr zunehmender Querdisparation abgebildet wurden. Diesen Augenbewegungen haben Brücke!), Pre&vost?), Brewster?) u. a. eine große, ja ausschlaggebende Bedeutung für die Wahrnehmung der Tiefen- dimension zugeschrieben, indem sie das Zustandekommen dieser Wahrnehmung auf die Veränderung zurückzuführen suchten, welche der Konvergenzwinkel bei solchen Bewegungen fortwährend erleiden muß. Es läßt sich jedoch leicht zeigen, daß, so sehr auch Blickbewegungen unter gewöhnlichen Ver- hältnissen zur Abschätzung der Tiefendimension mit verwendet werden und die Tiefenwahrnehmung bestimmter, anschaulicher und genauer machen, doch auch ohne Augenbewegungen binokulare Tiefenwahrnehmungen in qua- litativer und quantitativer Richtung erfolgen. Zahlreiche Versuche von Dove), Volkmann’), Aubert®), Donders’), Helmholtz, Hering u. a. haben gezeigt, daß auch bei momentanen Eindrücken, während welcher keine Augenbewegung eintreten kann, richtige Tiefenwahrnehmungen erhalten werden können. 'Zu den Versuchen ist am häufigsten das Überspringen elektrischer Funken benutzt worden (Dove, Helmholtz u. a.), welche ent- weder direkt beobachtet wurden oder zur Erleuchtung körperlicher Objekte ‚oder stereoskopischer Bilder dienten. Herings°) Methode, eine Nadelspitze zu fixieren, während vor oder hinter ihr ein Kügelchen fallen gelassen wird, wurde später in vervollkommneter Form von van der Meulen°?) und Greeff10) in Anwendung gebracht. Javal!!) schloß sich zum Teil wieder Brücke an, indem er das Erkennen und das Maß des Reliefs oder der Tiefen- !) Müllers Arch. f. Anat. u. Physiol. 1841, 8. 459. — *) Poggendorffs Ann. ‘62, 548, 1843. — °) The stereoscope 1857, Kap. 5. — *) Farbenlehre u. Opt. Studien 1853, 8. 163. — °) Handwörterb. d. Physiol. 3 (1), 349. — °) Physiol. d. Netzhaut 1864, 8. 315. — 7) Arch. f. Ophthalmol. 13 (1), 36, 1867. — °) Arch. f. Anat. u. Physiol. 1865, 8. 79. — °) Arch. f. Ophthalmol. 19 (1), 113, 1873. — !) Zeitschr. £. Psychol. 3, 21, 1891. — !') Manuel theorique et pratique du strabisme, p. 34 f. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 97 418 Täuschungen der binokularen Tiefenwahrnehmung. dimension unterschied. Das qualitative Erkennen eines Tiefenunterschiedes wird durch die binokulare Parallaxe auch bei momentaner Belichtung er- möglicht, das Maß oder die quantitative Tiefenwahrnehmung nach Javal erst durch die Augenbewegungen. Es haben jedoch schon die Versuche von Donders!) und neuerlich solche von Bourdon?) ergeben, daß auch quan- titative Schätzungen der Tiefendimension bei momentaner Beleuchtung er- folgen; freilich erreichen diese anscheinend bei weitem nicht die Genauigkeit der gewöhnlichen freien binokularen Tiefenwahrnehmung. „So wenig zu- gegeben werden kan, daß die Lokalisierung der Netzhautbilder in ver- schiedene Entfernung lediglich durch Konvergenzänderungen bedingt sei, so sehr muß im Sinne Brückes betont werden, daß uns erst durch die Kon- vergenzänderungen die volle Ausnutzung und Verwertung unseres auf der Disparation der Netzhautbilder beruhenden Vermögens der Tiefen- wahrnehmung möglich wird.“ 4. Täuschungen der binokularen Tiefenwahrnehmung. Im vierten Abschnitte des vorigen Kapitels) ist bereits eine Reihe von Erscheinungen beschrieben worden, bei welchen Größentäuschungen mit Ent- fernungstäuschungen einhergehen und die, wenn auch monokular zur Beob- achtung kommend, zum Teil auf binokular wirkende Momente, nämlich die Wirksamkeit des Konvergenzmechanismus, zurückgeführt worden sind. Eine Anzahl von Entfernungstäuschungen beim binokularen Sehen läßt sich weiter auf dieses Moment zurückführen, und zwar derart, daß vermehrte Konvergenz oder auch vermehrter Konvergenzimpuls scheinbare Annäherung, verminderte Konvergenz oder verminderter Konvergenzimpuls scheinbare größere Ent- fernung des gesehenen Objektes bedingen. Mit der scheinbaren Veränderung der Entfernung geht gewöhnlich eine Größentäuschung Hand in Hand, meist derart, daß bei vermehrter Konvergenz scheinbare Verkleinerung, bei ver- minderter Konvergenz scheinbare Vergrößerung des gesehenen Objektes auf- tritt. Daß unter Umständen aber auch der umgekehrte Zusammenhang auf- treten kann, ist gleichfalls schon erwähnt worden *). Bringt man vor ein oder vor beide Augen schwach brechende Prismen von 3 bis 6°, deren brechende Kanten nasal oder temporal gerichtet sind, so ist es möglich, die anfangs auftretenden Doppelbilder durch veränderte Kon- vergenzinnervation zum Schwinden zu bringen; allein nun erscheint das Objekt angenähert und kleiner oder entfernter und größer, je nachdem die Konvergenz vermehrt oder vermindert werden mußte. Bei einfachen spitz- winkligen Prismen fällt in solchen Versuchen die Verzerrung der Bilder durch die Brechung des Lichtes an den Prismenflächen vielfach störend auf, weshalb schon Helmholtz an Stelle jener Kombinationen zweier gegeneinander verstellbarer rechtwinkliger Prismen in Anwendung brachte. Rollett) be- nutzte, um die Rolle der Konvergenz zu erweisen, ein Paar dicker plan- paralleler Glasplatten, PP’ der Fig. 80 im Horizontaldurchschnitt, die unter rechtem Winkel u aneinander gesetzt sind. Dieses Plattenpaar ist in einem Gestell um eine vertikale Achse drehbar angebracht, so daß das Augen- ') 1. e. — ?) La perception visuelle de l’espace 1902, p. 254. — °) 8. 389. — *) 8. 389. — ) Sitzungsber. d. Wiener Akad., mathemat.-naturw. Kl., 42, 488, 1860. Rolletts Konvergenzplattenversuch. 419 paar RL einmal von der Innenseite (I), einmal von der Außenseite (II) des rechten Winkels u her gegen ein Objekt ‘A blicken kann. Als solches wurde ein vertikaler Draht mit zwei übereinander angebrachten gleich großen queren Holzleistchen verwendet, deren eines durch die Platten, das andere über die Platten hinweg angeblickt wurde. Ohne die Platten würde ein Punkt A des Objektes unter dem Konvergenzwinkel & gesehen werden; ‘durch die Platten Fig. 80. Konverg pl ttenversuch nach Rollett. gesehen erscheint er in der Stellung I unter dem größeren Konvergenzwinkel ß, also näher (in B) und kleiner, in der Stellung II unter dem kleineren Kon- _ vergenzwinkel Y, also entfernter (in C) und größer. Auch auf katoptrischem Wege, z. B. mittels der S. 400 beschriebenen haploskopischen Vorrichtung, mittels des Spiegelstereoskopes und Telestereoskopes!) lassen sich ähnliche Täuschungen hervorbringen. Blickt man nach Hering gegen drei in einer frontalen Ebene neben- einander senkrecht herabhängende Fäden, so scheint der mittlere desto mehr vor dieser Ebene zu liegen, je näher man die Augen den Fäden bringt. Schiebt man den mittleren Faden etwas zurück, so daß die drei also in einer gegen den Beschauer konkaven Zylinderfläche liegen, so erhält man aus größerer Entfernung annähernd den richtigen Eindruck; bei Annäherung er- scheint die Fläche in einem bestimmten Momente eben, bei noch größerer Annäherung scheint der mittlere Faden vor die Ebene der beiden anderen zu treten. Dabei zeigen sich individuelle Versehiedenheiten, sowie der Einfluß der Ermüdung der Augen, dieser darin, daß bei andauernder Konvergenz der mittlere Faden weiter vorzutreten scheint. Die Täuschung in diesen Ver- suchen ist nach Helmholtz darauf zurückzuführen, daß bei Konvergenz der Gesichtslinien Entfernungen gewöhnlich für kleiner gehalten werden, als sie wirklich sind, und zwar für desto kleiner, je größer der Konvergenzgrad ist. Nach Heine?) wird ein mit der einen vertikalen Längskante nach vorne gerichtetes gleichseitiges Prisma nur in einer gewissen Entfernung (für Heine !) Vgl. 8. 428. — ?) Arch. f. Ophthalmol. 51 (3), 563, 1900. 27* 420 Überplastischsehen. 1/, bis 1m) richtig gleichseitig (orthoskopisch) gesehen; bei Annäherung er- schien der Abstand der Vorderkante von der Hinterfläche zu groß, bei Ent- fernung zu klein. Die Ursache der Erscheinung sucht Heine in der ver- schiedenen Ausnutzung der durch die Querdisparation gegebenen Tiefenwerte, welche von der Vorstellung der absoluten Entfernung des Objektes abhängig sei. Auch Elschnig!) fand, von Erfahrungen bei stereoskopischen Aufnahmen in natürlicher Größe ausgehend, daß nahe Gegenstände binokular überplastisch gesehen werden. Betrachtet man eine Kugel von 4 cm Durchmesser in 25 cm Entfernung, so erscheint dieselbe in der Richtung der Gesichtslinie verlängert, eiförmig. In 4m Entfernung wird die Plastik normal, darüber hinaus tritt bereits Abflachung ein. Elschnigs Erklärung führt die Überplastizität auf die Unregelmäßigkeit (perspektivische Verzeichnung) der in beiden Augen ent- worfenen Bilder infolge der relativen Vergrößerung der näheren Teile des Ob- jektes zurück; zu der durch die Querdisparation der beiden Halbbilder gegebenen Tiefenwahrnehmung trete die zeichnerische Unregelmäßigkeit jedes Halbbildes urteilstäuschend hinzu. Für Elschnigs Auffassung spricht besonders auch der Umstand, daß die Täuschung unter geeigneten Bedingungen bei mon- okularer Betrachtung ebenfalls deutlich hervortritt. Sucht man die beiden Hälften eines Stereoskopbildes ohne weitere Hilfs- mittel zu vereinigen, indem man die linke Hälfte mit dem linken, die rechte mit dem rechten Auge fixiert, so erscheint das Sammelbild in der Regel ungefähr in der Entfernung des Stereoskopbildes, während sein scheinbarer Ort bei parallelen oder annähernd parallelen Blicklinien in großer Entfernung von den Augen liegen sollte. Vereinigt man dagegen die vertauscht neben- einander gelegten Hälften eines Stereoskopbildes mit gekreuzten konvergenten Blickrichtungen, so rückt das Sammelbild aus der Ebene des Stereoskopbildes heraus gegen den Beobachter, und zwar desto näher, je weiter man die beiden Bildflächen auseinanderrückt, je größer also der Konvergenzwinkel wird. Münzen, welche auf dem Tische um den doppelten Augenabstand voneinander entfernt liegen, scheinen nach Donders?) förmlich in die Höhe zu springen, sowie sie durch Konvergenz der Gesichtslinien zum Sammelbilde vereinigt werden. Einen ähnlichen hierher gehörigen Versuch beschreibt Aubert: Vereinigt man zwei 20cm voneinander auf homogenem Grunde aufgeklebte Briefmarken aus !/;,m Entfernung durch Konvergenz zu einem Sammelbilde, so erscheint dieses in der. Luft schwebend vor dem Grunde und erheblich kleiner; es scheint nachzuschweben, wenn man sich von den Objekten entfernt, und von dem Beobachter fortzuschweben, wenn man sich wieder nähert. — Rollett und Becker?) haben gezeigt, wie man stereoskopische Bilder in größerem als dem Augenabstande mit divergenten Blickrichtungen zu Sammelbildern zu vereinigen lernen kann. Für solche Sammelbilder schneiden sich nun die Blicklinien in gar keinem Punkte des vor den Augen gelegenen Raumes, und dennoch tritt der Eindruck eines stereoskopischen Raumbildes auf. Solche durch Divergenz erzeugte stereoskopische Raumbilder können jedoch nicht mehr wie andere mit endlich oder unendlich weit entfernten reellen Objekten zur Deckung gebracht werden; sie erscheinen, wie Rollett !) Wiener klin. Wochenschr., Jahrg. 1899, 30. XI.; Arch. £f.. Ophthalmol. 52 (2), 294, 1901; 54 (3), 411, 1902. — *) Arch. f. Ophthalmol. 17 (2), 1 £., 1871. — °) Sitzungsber. d. Wiener Akad., mathemat.-naturw. Kl., 43, 667, 1861. u a ee ee Tapetenbilder. — Grundzüge der Stereoskopie. 421 bildlich meint, „weiter entfernt als unendlich weit“, d. h. weiter als die ent- ferntesten reellen Objekte. Schließlich wäre hier noch der sogenannten Tapetenbilder Erwähnung zu tun (H. Meyer!), Brewster?) Helmholtz). Blickt man mit konvergenten Blicklinien gegen eine Tapete, so kann man leicht zwei kongruente Teile des sich wiederholenden Musters zur Deckung bringen; es erscheint dann ein ver- kleinertes Bild der Tapete vor der wirklichen im Raume schwebend, desto näher und kleiner, je stärker die Konvergenz gewählt worden ist. Bei Be- wegungen des Kopfes treten Scheinbewegungen dieser Bilder auf, und zwar bei Konvergenz auf einen hinter der Tapete gelegenen Punkt entgegengesetzt der Kopfbewegung, bei Konvergenz auf einen näheren Punkt gleichsinnig. Auf die besprochenen Einflüsse der Konvergenz führt Helmholtz die Möglichkeit zurück, durch Reliefbilder bei geringerer Entfernung und geringerer Tiefendimension, als sie der Betrachtung und den Eigenschaften des Originals entsprechen, doch den Eindruck des letzteren nach seinen wirklichen Formen und Dimensionen nachzuahmen; solche Reliefs stellen, wenigstens annähernd, dieselben Unterschiede beider Netzhautbilder her, wie sie die Betrachtung des Originales selbst ergeben würde, und sind daher, „aus dem richtigen Stand- punkte angesehen, eine sehr viel vollkommenere Art der Nachahmung, wenigstens der Form des Objektes, als es das vollkommenste ebene Bild je sein kann“. C. Stereoskopie. 1. Grundzüge der Stereoskopie. Wird jedem Auge das Bild oder die Projektion eines körperlichen Ob- jektes geboten, wie sie sich ihm in Wirklichkeit von seinem Standpunkte aus darbieten würde), und in passender Weise dafür gesorgt, daß die beiden Bilder zu einem Sammelbilde vereinigt werden, so entsteht, wie Wheatstone*) zuerst gezeigt hat, ein körperliches Bild des Objektes mit einer der Wirklich- keit nahe entsprechenden räumlichen Tiefenanschauung, das stereoskopische Sammelbild. Die beiden Bilder, welche dem rechten und linken Auge dar- geboten werden, müssen vergrößerte Umkehrungen der beiden Netzhautbilder des wirklichen Objektes sein. Die Projektionen eines körperlichen Objektes auf die Ebene des Stereoskopbildes für das rechte und linke Auge werden erhalten, indem man bei Fixation eines bestimmten Objektpunktes die Durchschnittspunkte aller von den verschiedenen Objektpunkten zum be- treffenden Auge gezogenen Richtungslinien mit der Bildebene bestimmt. Solche Projektionen werden am zweckmäßigsten mehr oder weniger richtig ’) mittels der Photographie erzielt, indem ein und dasselbe Objekt von zwei Standpunkten aus, die um den Augenabstand (oder auch weiter) voneinander entfernt sind, oder vermittelst der Stereoskopcamera mit zwei vollkommen gleichen Objektiven aufgenommen wird. Während auf solche Art den Augen zwei Bilder dargeboten werden können, deren einzelne Doppelpunkte zur Fixierung genau dieselbe Konvergenz erfordern wie die entsprechenden !) Rosers u. Wunderlichs Arch. 1 (1842). — ?) Philosophical Magazin 30, 305, 1866. — ®) Vgl. d. vor. Abschn. 8. 412. — *) Philosophie. Transact. 2, 371, 1838. — ®) Siehe unten. 422 Herstellung von Stereoskopbildern. Punkte des dargestellten körperlichen Objektes, und deren jeweilig nicht fixierte Punkte je nach ihrem Tiefenabstande am körperlichen Objekt in entsprechend kleinerer oder größerer Querdisparation erscheinen, geht wegen des Zusammenhanges zwischen Konvergenz und Accommodation, wie bei der Betrachtung des wirklichen Objektes, mit der Fixierung jedes Punktes des stereoskopischen Bildes auch der entsprechende Accommodationszustand einher, der jedoch in diesem Falle zu der immer gleichen Entfernung der Bildpunkte des stereoskopischen Bildes nicht paßt; dies fällt besonders bei der stereo- skopischen Darstellung näherer Objekte ins Gewicht. Weiss!) beobachtete in stereoskopischen Versuchen beim Übergange des Blickes von einem ferner erscheinenden zu einem näher erscheinenden Punkte deutliche vorübergehende Accommodationszunahme mit Pupillen- verengerung, die zu groß waren, als daß sie allein auf die gleichzeitig erforder- liche geringe Konvergenzbewegung hätten bezogen werden können. Zur Herstellung von Stereoskopbildern mittels der Photographie wird vielfach bei der Aufnahme ein größerer Objektivabstand gewählt, als dem mittleren Augenabstande entspricht, z. B. 70 bis 75 anstatt 60 bis 65 mm und mehr. Die beiden so erhaltenen Bilder entsprechen dann Ansichten, wie sie bei normalem Augen- (oder Objektiv-)abstande nur von näheren Objekten erhalten werden könnten, also Ansichten mit vermehrter Tiefenwirkung. Um zwei richtige, „ortho“-stereoskopische Aufnahmen zu erhalten, d. h. Projektionen, wie sie sich auf der in deutlicher Sehweite (etwa 25cm) vor den Augen aufgestellten Leonardo-da-Vineischen Glastafel bei parallelen Sehrichtungen ergeben würden, kann man zwei parallel gestellte Lochcameras benutzen, deren Löcher Augenabstand (65 mm) besitzen und deren Negativ- platten 25cm von den Löchern abstehen (Grützner?). Ebenso könnte natürlich auch eine entsprechende Linsenstereoskopcamera benutzt werden. Wird der Plattenabstand verkleinert, wie bei Verwendung von Objektiven kür- zerer Brennweiten, so werden die Bilder verkleinert, und ihre Tiefenwirkung bei der stereoskopischen Vereinigung steigt. Da jedoch durch Prismenkombinationen nach dem Typus des Brewsterschen Stereoskops) das Relief im allgemeinen verhältnismäßig vermindert wird, so erscheint für Stereoskopaufnahmen, die mit diesem Instrumente betrachtet werden sollen, die Anwendung von Linsen kürzerer Brennweite und größeren gegenseitigen Abstandes nicht ungerechtfertigt. Doch meint Grützner, wie Stolze®), der Linsenabstand solle nicht viel über 65mm vermehrt werden: „Denn das, was jedem stereoskopischen Bilde seinen wesentlichen Wert und Reiz verleiht, ist der Vordergrund. Dieser aber wird, wie Stolze treffend ausführt, zer- stört durch zu großen Objektivabstand“ ’). Für die stereoskopische Photo- graphie von Objekten in natürlicher Größe hat Elschnig®) gezeigt, daß die Plastik erst dann natürlich erschien, wenn (bei Objektiven von 21cm Brennweite) der Seitenabstand der Objektive bis auf 47 mm verringert wurde. Wurden die Objektive bei der Aufnahme in Augendistanz gebracht, so er- schienen die so erhaltenen Bilder bei der stereoskopischen Vereinigung be- !) Pflügers Arch. 88, 79, 1901. — *) Ebenda 90, 525, 1902. — °?) Vgl. 8. 424. — ) Die Stereoskopie und das Stereoskop, 1894. — °) Grützner, I. ce. 8. 563. — °) 1. ec. 8. 420; siehe auch Eders Jahrb. f. Photogr., 14. Jahrg., 8. 284, 1900 u. Photograph. Korrespondenz 1902. Stereoskope. 423 deutend überplastisch. Elschnig führt die Erscheinung, ähnlich wie das unmittelbare Überplastischsehen naher Objekte!), auf die verschiedene Größe der Bilder verschieden weit vom Objektiv entfernter gleich großer Teile des Objektes zurück. Heine?) nimmt für seine Erklärung wieder?) die Vor- stellung von der Entfernung des stereoskopisch gesehenen Bildes in Anspruch. Zur Vereinigung zweier stereoskopischer Bilder zu einem Sammelbilde kann irgendeine der schon in früheren Abschnitten dieses Kapitels erwähnten haploskopischen Methoden oder Vorrichtungen. verwendet werden. Die Ver- einigung mit freien Augen gelingt ziemlich leicht bei einiger Übung, wenn die zusammengehörigen stereoskopischen Bilder so vor die beiden Augen gebracht werden, daß unendlich weit entfernte dargestellte Punkte beiden Augen in derselben Richtung erscheinen; solche zusammengehörige Punkte müssen also annähernd im Augenabstande nebeneinandef liegen. Neben dem Sammelbilde erscheinen bei dieser Art der Vereinigung rechts und links die monokular gesehenen Hälften des Stereoskopbildes, die linke vom rechten und die rechte vom linken Auge gesehen. Dies wirkt anfänglich ziemlich störend, ebenso wie die Accommodation für die Nähe des Stereoskopbildes bei an- nähernd parallelen Blicklinien Schwierigkeiten bereitet. Beide Schwierig- keiten können mit einfachen Hilfsmitteln beseitigt werden, indem man die beiden Bilder durch kurze geschwärzte Röhren betrachtet und die Accommo- dation durch vor die Augen gebrachte Konvexlinsen ersetzt. Anstatt mit parallelen Blicklinien kann man die Vereinigung stereoskopischer Bilder auch mit gekreuzten Blicklinien herbeiführen, indem man auf einen davor liegenden Punkt konvergiert*); dabei müssen natürlich die beiden Bilder, um kein ver- kehrtes Relief zu erhalten, vertauscht werden, da ja nun das rechte Bild mit dem linken und das linke mit dem rechten Auge betrachtet wird. Um das Auffinden und die Erhaltung der richtigen Augenstellung zu erleichtern und die störenden Nebenumstände bei der Betrachtung stereo- skopischer Bilder auszuschließen, ist eine Reihe von besonderen Instrumenten zur Vereinigung stereoskopischer Bilder angegeben worden, welche als Stereo- skope bezeichnet werden. Die bekanntesten derselben sind das Spiegel- stereoskop von Wheat- stone’) und das Prismen- stereoskop von Brewster. Ersteres ist in seiner ein- fachsten Form in Fig. 81 dargestellt. Die beiden Augen A und A’ blicken von oben her vermittelst zweier unter 45° gegen die Medianebene geneigter Spiegel S und S’ gegen die beiden an den Seitenwänden angebrachten stereoskopischen Zeichnungen oder Bilder B und B’. Bei dem beweglichen Spiegelstereoskop sind die beiden Spiegel samt den zu- Fig. 81. Ba DV 7 D IN Spiegelstereoskop nach Wheatstone. !) Siehe oben $. 420. — ?) Arch. f. Ophthalmol. 53 (2), 306, 1901. — °) Vgl. 8. 420. — *) Vgl. S. 420. — °) 1. c. und Poggendorffs Ann. 47, 625, 1839. 424 Brewster sches Stereoskop. - gehörigen Bildebenen um eine zwischen den beiden Spiegeln gelegene vertikale Achse drehbar angebracht, so daß die Konvergenz der Sehachsen beliebig - geändert werden kann. Das Brewstersche Stereoskop!) ist wegen seiner größeren Handlichkeit am meisten verbreitet und wird in sehr verschiedenen Formen und Ausführungen hergestellt. Zu wissenschaftlichen Untersuchungen werden jedoch im allgemeinen die haploskopischen Methoden und Apparate vorgezogen. Die Einrichtung und Wirkung des Prismenstereoskopes ist in Fig. 82 schematisch dargestellt. Vor die beiden Augen A und A’ werden zwei gleiche, mit der brechenden STATT Kante nasal gerichtete Prismen P und P’ mit konvexen FR Oberflächen (die Hälften einer dicken Konvexlinse von RR, etwa 20 cm Brennweite) gebracht, so daß bei der beim B / 0.8 ° Blicke in den Apparat zumeist eingehaltenen Kon- ; 5 vergenz der Blicklinien die beiden in B und B’ liegen- 1 \ den stereoskopischen Bilder zu einem Sammelbilde FE Sn in S vereinigt werden. Durch die Scheidewand W wird das gegenseitige Bild abgeblendet; dieKrümmung „, ' der Prismenflächen korrigiert die Augen für die Fig. 82. R: Entfernung der Bilder. Die älteren Prismenstereo- skope haben die bekannte Kastenform; die Beleuchtung y der in einen Schlitz am Grunde des Kastens ein- zuführenden Bilder erfolgt durch eine Öffnung in der Vorderwand, oder es werden Diapositive verwendet, die durch eine matte Glasplatte im Boden des Kastens erleuchtet werden. Ein Nachteil des Brewsterschen Stereoskopes ist die erforderliche Kleinheit der Bilder, welche im Querdurchmesser den Augenabstand nicht wesentlich überschreiten können. In den käuflichen Stereoskopbildern sind die Aufnahmen vielfach in zu großem Abstande von- einander angebracht. Veränderungen und Verbesserungen des einfachen Prismenstereoskopes sind in vielfacher Weise vorgenommen worden. So wurden die Prismen gegen das Bild und in der Querrichtung verschiebbar, zuweilen auch drehbar angeordnet, um individuellen Verschiedenheiten der einzelnen Beobachter Rechnung tragen zu können. Neuerlich wird anstatt des Kastenstereoskopes vielfach das noch handlichere und für die meisten Zwecke ausreichende Handstereoskop mit frei auf einer Schiene gegen die Prismen verschiebbarem Bildhalter angewendet. Das neue, sehr zweck- mäßig und vollkommen eingerichtete Stereoskop der Zeiss-Werke ist in Fig. 83 dar- gestellt. Es ist sowohl für aufgezogene Bilder als auch für Diapositive verwendbar, die auf die matte Glastafel @ aufgelegt und vermittelst des aufklappbaren weißen Schirmes P beleuchtet werden. Die Einstellung der Okulare O,, O0, in der Höhe erfolgt an der Führungsstange S vermittelst der Klemmschraube X, in der Breite, entsprechend dem Augen- und Bildabstande, vermittelst der Walze W. Nach Lösen der Klemmschraube K kann der ganze Oberteil mit den beiden Okularlinsen vom Apparat abgenommen und zur Betrachtung von in Büchern abgedruckten Stereo- skopbildern verwendet werden. — Das Helmholtzsche Linsenstereoskop enthält anstatt der Prismen nur zentrierte Konvexlinsenpaare, welche entsprechend dem Augen- und Bildabstande eingestellt und vermittelst derer bedeutendere Ver- größerungen erzielt werden können als mit dem gewöhnlichen Stereoskop; es eignet sich besonders zur Betrachtung von Landschaftsbildern. Schema des Brewster- schen Prismenstereoskopes. !) Report of the Brit. Assoc. 1849 (2), p.5 u. a.; The stereoscope, London 1856. Feinheit der stereoskopischen Tiefenunterscheidung. 425 Die Feinheit der stereoskopischen Tiefenunterscheidung ist wie die der Ausnutzung der binokularen Parallaxe im freien Sehen bei verschiedenen Personen verschieden | entwickelt). Hierüber sind besonders in den Zeiss-Werken ge- legentlich der Erpro- bung ihrer Telemeter eingehendere Unter- suchungen ausgeführt worden. Bei älteren Personen, dann na- mentlich bei solchen, die in ihrem Leben sehr viel mit einem Auge beobachtet, z. B. mikroskopiert und eine gewisse Übung in der Unterdrückung des Eindruckes eines Auges’ gewonnen haben, ist die Feinheit der ste- reoskopischen Tiefen- unterscheidung oft be- trächtlich herabgesetzt, kann aber durch zweckmäßige Einübung wieder ver- bessert werden (Pulfrich?). Sowohl zum Zwecke der Untersuchung, als auch zum Zwecke der Übung hat Pulfrich?) seine Prüfungstafel für stereoskopisches Sehen berechnet und kon- Fig. 84. Fig. 83. Stereoskop von Zeiss. „ar! Zeiss, Sonn. Prüfungstafel IN Wil Prütungstafel u 11 I slersaskopisabes Sehen. ofsrenskapisches Behen. Pulfrichs Prüfungstafel für stereoskopisches Sehen. struiert, welche in Fig. 84*) wiedergegeben ist. In derselben sind absichtlich alle „quasi-stereoskopischen“ Effekte der Perspektive, der teilweisen Bedeckung hinter- ı) vgl. 8. 4ı5f. — °) Physikal. Zeitschr. 1899, Nr. 9. — °) Zeitschr. f. In- strumentenkunde 21, 249, 1901. — *) Mit Erlaubnis der Zeiss-Werke. 426 i . Pulfrichs Prüfungstafel. einander liegender Teile u. dgl. gänzlich vermieden. „Niemand wird aus dem bloßen Anblick der Tafel, d.h. ohne Überlegung und ohne Ausmessen der Abstände der Komponenten eines jeden Raumbildes über die Art ihrer Verteilung im Raum ein zutreffendes Urteil abgeben können.“ Die Teile der Inschrift und die acht Gruppen der Prüfungstafel, sowie die in den einzelnen Gruppen ‘angebrachten Figuren erscheinen bei stereoskopischer Vereinigung verschieden tief; verschiedene Figurenpaare dieser Gruppen werden von Personen verschiedener Tiefensehschärfe noch mehr oder weniger deutlich als vor- oder hintereinander liegend erkannt. So erscheint z. B. der Ring 7 ganz vorn, dann folgen der Reihe nach die Ringe 6, 5, 1, 4, 2, 3, 8. In der Gruppe 1 erscheint beispielsweise der Umrandungsring ganz vorn, dahinter erscheint das Quadrat, dann das Dreieck, endlich der Punkt. In Gruppe 7 ist die Reihenfolge von vorn nach rückwärts und die Entfernungsäifferenz zwischen je zwei aufeinanderfolgenden Figuren '): Entfernungsdifferenz Objekte mm Winkelmaß 1. Bine 77.2.7 = 0,82 18’ 47" 2.. Doppelkreuz und Pfeilspitze Hua, BR Ne 0,50 11%:09% 3. Kleines schwarzes Dreieck (Komma) rechts . . . . 0,11 Ben 1, 4. Kleiner schwarzer Kreis rechts . . ... 2... 0,07 1.4384 5. Fahne rechts . .. . EN En - 0,19 4’ 21". 6. Kleines schwarzes Rechteck ER Ee Duke 0,43 9’ 51" 7. Turm mit Kreuz und kleinem Kreise links Ka 0,08 1’ 50” 8. Kleines Dreieck über dem Turmkreuze . . . .. . 0,02 0.98" 9. Kleines Rechteck über dem Turmkreuze . .... . — —_ Die Inschrift inmitten der Tafel steht ganz im Vordergrunde, mit Ausnahme der ersten Zeile, welche ganz zurücktritt. In der.ersten Zeile tritt das Mittelwort vor, der Schlußpunkt zurück, in der zweiten treten die Buchstaben r, t und das zweite f verschieden weit vor, g, ! und das erste f verschieden weit hinter die Hauptebene der Zeile usw. 2. Verschiedene Apparate und praktische Anwendungen. Dove erzielte stereoskopische Wirkungen, indem er annähernd symme- trische Zeichnungen mit einem freien und dem anderen mit einem recht- winkligen Prisma bewaffneten Auge anblickte; dieses sah parallel der Hypo- tenusenfläche durch das Prisma und erhielt so ein durch totale Reflexion ?) entworfenes Spiegelbild der Zeichnung). — Rollmann*) zeichnete die zwei Projektionen eines Objektes mit blauer und roter Farbe auf weißem Grund und betrachtete sie durch eine Brille mit einem roten und einem blauen Glase (Rollmanns Farbenstereoskop °), Stereograph, Anaglyph). Neuerlich kommen als plastographische Bildert) Drucke in den Handel, welche mit roter und blaugrüner Farbe auf hellem Grunde die übereinander gedruckten An- sichten von Architekturen, Landschaften u. dgl. für das rechte und linke Auge darstellen. Sie sind durch eine rechts rote, links blaugrüne Brille zu be- trachten. Dabei verschwinden die blaugrünen Teile der Drucke für das linke ‘) Den Berechnungen Pulfrichs ist ein Augenabstand des Beobachters von 60 mm zugrundegelegt. — ?) Siehe 8. 427. — °) Poggendorffs Ann. 83, 183, 1850. — *) Ebenda 90, 186, 1853. — ®) Vgl. Grützner, Pflügers Arch. 90, 525, 1902. — °) M. Skladanowsky, Plastische Weltbilder, Berlin 1903. Pseudoskope. 427 Auge, während die roten schwarz oder dunkel erscheinen, umgekehrt für das rechte Auge. Ähnliche Methoden sind auch für die Projektion stereoskopi- scher Bilder angegeben worden (d’Almeida!), Hering?). Bietet man dem rechten Auge das Bild, welches das linke von einem körperlichen Objekt erhalten würde, dem linken das entsprechende Bild des rechten Auges, so muß der Erfolg eine Umkehr Fig. 85. - des Reliefs sein, wie sie in Wirklichkeit diesen A Ansichten des Objektes entspräche. Solche „pseu- doskopische“ Effekte können, wie schon im vorigen Absatze erwähnt, im Stereoskop durch Vertauschen der beiden Hälften des stereoskopischen Bildes erzielt werden. Zur Umkehrung des Reliefs der körperlichen Objekte selbst dienen die Pseudo- skope. In Fig. 85 ist die Wirkung des von Wheatstone?) angegebenen Instrumentes dar- gestellt. Es besteht aus zwei rechtwinkligen Prismen P und P', durch welche die Augen des Beobachters O und 0’ parallel den Hypotenusen- flächen gegen das Objekt blicken. Sind A und B zwei verschieden weit entfernte Punkte des Objektes, so werden die davon ausgehenden in die beiden Augen gelangenden Strahlen durch die Spiegelung an den Hypotenusenflächen der beiden Prismen symmetrisch umgelagert, wie es in der Figur (übertrieben) dargestellt ist. Der Punkt B wird.bei der angenommenen Augenstellung anstatt Schema des Pseudoskopes von . n r « » . Wheatstone. in b mit entgegengesetzter Querdisparation in b, und b, abgebildet und erscheint daher dem linken Auge nicht rechts, sondern links, dem rechten Auge nicht links, sondern rechts vom Punkte A, wie es dem umgekehrten Relief entspräche. Stratton®) verwendete bei seinem Pseu- doskop (Fig. 86) zwei in der Anfangs- stellung unter 45° gegen die Medianebene des Beobachters geneigte Spiegel S und S’. Das eine Auge L blickt: direkt gegen das Objekt, während das andere R vermittelst der zwei Spiegel dessen Ansicht von der entgegengesetzten Seite (von links der Figur) erhält: es erfolgt Umkehr des Reliefs. Bringt man das Auge L nach R, R nach R’, so kann man mit demselben Instrument telestereoskopische Effekte erzielen >). (D (D Von ganz besonderer praktischer Be- L R deutung sind die Methoden und Apparate schema des Pseudoskopes von Stratton. Fig. 86. N x ’ ‘ ’ u we: - ’ !) Compt. rend. 47, 61, 1858. — ?) Pflügers Arch. 87, 229, 1901. — ®) Philoso- phic. Transaect. 1852, p. 11. — *) Psycholog. Review 5, 632, 1898. — °) Siehe unten. 428: Telestereoskop und Relieffernrohre. geworden, welche eine Vergrößerung der „Basis“ des binokularen Sehens oder im übertragenen Sinne des Augenabstandes, somit eine Erhöhung des stereoskopischen Eindruckes bezwecken. Das erste solche Instrument war das Telestereoskop von Helm- holtz. Es besteht in seiner ein- fachsten Form aus vier Spiegeln (Fig. 87), zwei kleineren s und 3’ im Augenabstande, unter 45° gegen die Medianebene des Beobachters geneigt, gegenüber dessen Augen ER $ O und O', und zwei größeren den ersteren parallelen Spiegeln $ und i S’ in größerem seitlichen Abstande 0 \ beiderseits. Mittels dieser Spiegel | erhalten die beiden Augen An- en sichten in kleinerer oder größerer. ö, Entfernung befindlicher Objekte von weiter voneinander entfernten Standpunkten, etwa so, als ob sich das Auge O in O, und O’ in O, befände. Helmholtz selbst hat das einfache Telestereoskop durch Kombination mit einem Doppelfernrohr bereits für die Beobachtung entfernterer Objekte in ihren körperlichen Formen eingerichtet. In sehr vollkommener Weise ist die Vergrößerung des Augenabstandes in Fig. 88. neuerer Zeit unter Verwendung a Re ! der Porroschen bildaufrichten- den Prismensysteme in den Feld- stechern und in den Relief- fernrohren der Zeiss-Werke verwirklicht worden!). In Fig. 88a und b ist der Strahlengang und die „Vergrößerung des Augen- i abstandes“, wie wir es kurz in here. @) nennen wollen, in diesen Instru- menten dargestellt. Es ist nur die Optik der einen Hälfte beider Instrumenttypen gezeichnet, in a der rechten, in b der linken Hälfte. Als „spezifische Plastik“ wird das Verhältnis des Objektivabstandes zum Okularabstand, also die Ver- größerung „des Augenabstandes“ bezeichnet, die durch die Instrumente erreicht wird. Sie beträgt maximal für die Feldstecher 1°/, bis 2, für die Relieffernrohre mit ihrem großen Objektivabstande 5 bis 7. Fig.. 87. a Ä \ se Na a, ae Of Pe: Schema des Telestereoskopes von Helmholtz. Setzt man in die Bildfeldebenen eines Doppelfernrohres zwei Glasplättehen mit passend durch Zeichnung hergestellten und photographisch verkleinerten Marken, so kann ein Raumbild hiervon über dem Raumbilde der Landschaft im Gesichts- felde schwebend erhalten und die gesuchte Entfernung eines Landschaftspunktes unmittelbar an der mit entsprechenden Zahlen versehenen Skala der Marken ab- gelesen werden. „Die stereoskopisch in die Tiefe führende Reihe, bzw. Reihen von ') Czapski, Über neue Arten von Fernrohren, Berlin 1895. Stereotelemeter. 429 Marken sind somit direkt vergleichbar mit einem wirklichen Maßstab, den man zur Messung der Entfernung in die Landschaft hineinlegt“ (Pulfrich!). Dieser von H. de Grousilliers stammende Gedanke liegt den Stereotelemetern oder stereoskopischen Entfernungsmessern der Zeiss-Werke zugrunde. Die Instrumente Fig. 89. Kleines (sog. Jagd-) Telemeter von Zeiss. werden in verschiedener Größe mit einer „Basis“ von 32, 51, 87 und 144cm an- gefertigt. In Fig. 89 ist das kleine, frei in der Hand zu haltende, sog. Jagdtelemeter dargestellt; O, und O, sind die beiden einstellbaren Okulare, R, und R, die Eintritts- "öffnungen für das Licht. Der Strahlengang (im Halbapparat) ist in Fig. 90 sche- matisch verzeichnet. mm’ ist Fir. 90 i n b g. 90. die Medianebene des Beob- achters, ab die erreichte ein- seitige Vergrößerung des Augenabstandes, O stellt das Objektiv, Oc das Okular des Instrumentes dar, bei S ist N die photographierte Skala ein- gelegt; P und U sind die 1 reflektierenden und bildum- 0 kehrenden Prismen. Das telestereoskopische Land- schaftsbild sieht etwa wie das stereoskopische Bild von Strahlengang im Telemeter. Fig. 91?) (a.f.8.):aus. Der Beobachter handhabt das Instrument so, daß die Markenreihe frei in der Luft über dem zu bestimmenden Objekt dahinstreicht, und achtet darauf, an welcher Stelle der Markenreihe sich das Objekt räumlich einordnet. Die erreichbare Genauigkeit der Entfernungsbestimmung geht bei dem kleinen Instrument von 5cm bei 20m bis 31,3m bei 500m Entfernung und’ beträgt bei: den großen Standtelemetern noch 2,5 m. in °/,km und 440m in 10km Entfernung. a i ’ i ı ’ N je) o Es ist schon im vorigen Absatze erwähnt worden, daß bei den meisten stereophotographischen Aufnahmen: der Objektivabstand größer als der Augen- abstand genommen wird, wodurch dann telestereoskopische Effekte erzielt werden, d. h. Erhöhung der Plastik des stereoskopischen Sammelbildes eintritt. Auf solche Weise können, wenn nur die Basis der beiden Aufnahmen groß genug gewählt wird, stereoskopische Ansichten von Objekten gewonnen werden, an denen direkt keine Tiefenunterschiede mehr erkenntlich wären. So sind selbst von Himmelskörpern, namentlich schön vom Monde, dann vom Saturn mit seinen Monden u. a. stereoskopische Bilder hergestellt worden, indem zwei zu verschiedenen Zeiten aufgenommene Bilder kombiniert wurden. -Aufnahmen von Landschaften mit vergrößerter Basis. können anderseits !) Physikal. Zeitschr. 1899, Nr. 9. — ?) Stereoskopbild der Zeiss-Werke. 430 Mikrostereoskopie. zu photogrammetrischen Zwecken verwendet werden, wovon noch weiter unten !) kurz die Rede sein soll. Bei den sog. stereoskopischen Mikroskopen (Nachet) und stereo- skopischen Mikroskopokularen (Abbe) älterer Konstruktionen?) kommt die stereoskopische Wirkung in etwas anderer Weise zustande als in sonstigen stereoskopischen Einrichtungen. Das Objekt wird hier nur von einem Stand- punkte aus durch das Objektiv abgebildet; die Tiefenanschauung ist Folge der Halbierung der Strahlenbündel, welche von den oberhalb und unterhalb der Einstellebene liegenden Punkten herkommen; diese geben kleine Zer- streuungskreise, deren eine Häfte in das rechte, die andere in das linke Auge fällt. Durch die ungleiche Lage der beiden Hälften dieser Zerstreuungskreise kommt das stereoskopische Bild zustande. Fig. 91. Telestereoskopisches Landschaftsbild mit über der Landschaft schwebender Meßskala. Das binokulare Perimikroskop von Westien?®), die binokularen stereo- skopischen Lupen (Berger), Westien u. a.Jund das Greenoughsche bin- okulare Mikroskop) (Zeiss) besitzen dagegen wieder wirkliche stereoskopische Wirkung, teils mit natürlichem, teils auch mit erhöhtem stereoskopischen Effekt. Auf photographischem Wege lassen sich unter Verwendung passender Wippen, auf welche die Objektträger ber den Aufnahmen gelegt werden, durch zwei Aufnahmen des Präparates bei zwei verschiedenen Neigungen des Objektträgers echte stereoskopische Aufnahmen herstellen (Babo6). Bei den binokularen Augenspiegeln (Giraud-Teulon, Nachet) und Ohren- spiegeln (Böttcher) ist der stereoskopische Eindruck die Folge der Halbierung der von den einzelnen Punkten des Objektes herkommenden Strahlenbüschel durch die Wirkung zweier nebeneinander angeordneter Prismen von rhomboidischem !) Siehe unter Stereokomparator 8. 431 f. — ?) Vgl. Dippel, Handb. der Mi- kroskopie, 2. Aufl., 1882, 8. 558 u. 591. — °) Siehe Aubert, Pflügers Arch. 47, 341, 1890. — *) Arch. £."Augenheilk. 41 (3), 235, 1900; Zeitschr. £. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 25, 50, 1901. — °) Vgl. Czapski u. Gebhardt, Zeitschr. f. Mikroskopie 14, 289, 1897. — °) Ber. d. Freiburger Ges. 2, 312, 1861. ie Pulfrichs Stereokomparator. 431 Längsschnitt, wobei zugleich das links gespiegelte Bild etwas von der linken, das rechts gespiegelte etwas von der rechten Seite gesehen wird und beide Augen somit etwas querdisparate Netzhautbilder erhalten (Hering). Die Feinheit des stereoskopischen Unterscheidungsvermögens, infolge welcher sich die kleinsten Differenzen zwischen zwei anscheinend identischen Flächenobjekten sogleich als Tiefenunterschiede präsentieren, die aus der Bildebene der zwei zu vergleichenden Objekte heraustreten, hat schon lange, wenn auch nicht gebührend ausgedehnte, praktische Verwertung gefunden. Dove!) hatte schon gezeigt, daß zwei mit demselben Stempel geprägte Me- daillen aus verschiedenen Metallen bei stereoskopischer Vereinigung ein schräg liegendes und gewölbtes Sammelbild geben. Solche Medaillen dehnen sich infolge der verschiedenen Elastizität verschiedener Metalle und Legierungen beim Verlassen des Prägstockes verschieden stark aus und auch ihre Durch- messer werden, freilich für das bloße Auge und den Tastsinn meist nicht er- kenntlich, verschieden groß. Im Stereoskop äußern sich diese Verschieden- heiten in der erwähnten Weise. — Wird in einer Druckerei derselbe Buchstabensatz zweimal gesetzt, so ist es unmöglich, die Abstände aller Buch- staben im ersten und im zweiten Satze ganz genau gleich zu machen. Bei 'stereoskopischer Vereinigung derselben Stelle beider Drucke äußert sich dies sofort durch das Hervor- oder Zurücktreten einzelner Teile der Schrift. Auch ein und derselbe Druck auf zwei verschiedenen Papiergattungen, die nach Be- feuchten verschieden schrumpfen, kann im Sammelbilde infolge davon im ganzen gewölbt oder schräg liegend erscheinen. Wie zur Unterscheidung der Auflagen eines Druckwerkes kann die stereoskopische Methode auch zur Er- kennung der Falsifikate von Geldnoten, sehr zweckmäßig zur Vergleichung und Kontrolle von Maßstäben u. dgl. Verwendung finden. Zur vollen Ausnutzung gelangt die Methode der stereoskopischen Ver- gleichung durch die Umwandlung in eine messende Methode?), wie dies in vollkommener Weise erst durch die Einführung des Stereokompara- tors von Pulfrich ?) ermöglicht Fig. 92. wurde. Die Wirkungsweise dieses Präzisionsmeßapparates, der wie- der von den Zeiss-Werken her- gestellt wird, soll durch Fig. 92 erläutert werden. Die beiden zu vergleichenden Bilder P und P', photographische Negative oder Glaspositive, Maßstäbe, astrono- mische oder Landschaftsdoppel- aufnahmen von großer Basis u. dgl., sind in einer Ebene auf einem mit Schlittenführungen versehenen pultförmigen Rahmen gelagert; alle Verschiebungen und Drehungen der Bilder können an Maßstäben abgelesen werden. Das rechte Schema des Stereokomparators von Pulfrich. “ ») Optische Studien, Berlin 1859, 8. 62. — ?).Vgl. auch Heine, Arch. f. Ophthalmol. 55 (2), 285, 1903. — °) Zeitschr. f. Instrumentenk. 22, 65, 133, 178, 229, 1902; 23, 43, 133, 1903. — Neue stereoskopische Methoden, Berlin 1903. 432 Stereokomparator. Bild P’ kann außerdem noch mittels der Mikrometerschraube S nach rechts und links verschoben werden. Die Platten werden vermittelst des Reflexionsstereoskopes 7’ 7’M betrachtet, welches zwei Mikroskope von drei- bis sechsfacher Vergrößerung enthält und mit Porroschen Prismensystemen zur Aufhebung der Bildumkehrung versehen ist!). In den Bildebenen der beiden Mikroskope befinden sich zwei Glasplättehen e und e’ mit einer Marke, die durch Verschieben des einen Glasplättehens e’ mit der Mikrometerschraube s in verschiedener Entfernung im Gesichtsfelde schwebend eingestellt werden kann (Prinzip der „wandernden Marke“). Es gelingt leicht, die wandernde Fig. 92a. Stereokomparator nach Pulfrich. Marke durch Handhaben der Schrauben S und s mit bestimmten Punkten des stereoskopischen Sammelbildes zur räumlichen Deckung zu bringen; hieraus kannjbei bekannter, genau gemessener Basis der Originalaufnahme die wirk- liche Entfernung der. einzelnen Punkte des Aufnahmeobjektes vom Stand- punkte des Aufnahmeortes ermittelt werden. Der Stereokomparator hat sich in der kurzen Zeit seines Bestehens bereits ein ausgedehntes Anwendungs- gebiet in der Astronomie, Metronomie, Meteorologie, Photogrammetrie und in vielen anderen Richtungen gesichert. — Eine Gesamtansicht des In- strumentes ist in Fig. 92a wiedergegeben. 3. Wettstreit der Sehfelder. Befinden sich in den Gesichtsfeldern beider Augen inkongruente Objekte, welche keine Vereinigung zum Sammelbilde eines körperlichen Dinges zulassen, ') Dieses Mikroskopstereoskop läßt sich leicht gegen ein einfaches mit größeren Spiegeln auswechseln. ee ee Wettstreit der Sehfelder. 433 so erblickt man den Inhalt beider Gesichtsfelder gleichzeitig, sich deckend und durchdringend, jedoch ist der Charakter des Bildes nicht gleichartig, be- harrlich, sondern unruhig und wechselnd; in den verschiedenen Teilen des gemeinsamen Gesichtsfeldes herrscht in langsamem, unregelmäßigem Wechsel bald das eine, bald das andere Bild vor. Dieses Wechselspiel wird im all- gemeinen als Wettstreit der Sehfelder bezeichnet. Es kann sieh in ver- schiedenen Richtungen bemerkbar machen. Wird in haploskopischen Versuchen dem einen Auge eine scharfe Grenze zwischen zwei verschieden hellen oder verschiedenfarbigen Flächen geboten, während sich an der korrespondierenden Stelle im Gesichtsfelde des anderen Auges nur ein gleichförmiger Grund ausdehnt, so tritt die Grenzlinie, der Kontur, mit den ihm anliegenden Teilen ihres Grundes deutlich hervor (Prä- valenz der Konturen). Enthalten beide Gesichtsfelder Konturen, die teilweise zur Deckung gebracht werden können, so tritt im Bilde doch auch an den entsprechenden Vereinigungsstellen bald der eine, bald der andere Kontur mehr hervor (Wettstreit der Konturen). Das deutlichere Hervortreten des einen oder des anderen Feldes ist nach H. Meyer!), Helmholtz, Fechner?) hauptsächlich durch Aufmerksamkeitsschwankungen bedingt; es gelingt, wenn die Aufmerksamkeit ganz auf den Inhalt des einen Sehfeldes konzentriert wird, diesen für sich wahrzunehmen. Daraus schließt Helmholtz, „daß der Inhalt jedes einzelnen Sehfeldes, ohne durch organische Einrichtungen mit dem des anderen verschmolzen zu sein, zum Bewußtsein gelangt, und daß die Verschmelzung beider Sehfelder in ein gemeinsames Bild, wo sie vor- kommt, also ein psychischer Akt ist“. Panum?) hat für die Erklärung der Prävalenz der Konturen eine andere, physiologische, Erklärung gegeben, indem er meinte, „daß die Konturen die Retina besonders stark reizen, und daß die Nervenerregung, die durch sie hervorgebracht wird, eine andere und weit kräftiger ist als diejenige, welche durch eine gleichmäßig erleuchtete Fläche gesetzt wird“. f Blickt man durch eine zweifarbige Brille, z. B. mit einem roten und einem grünen Glase nach äußeren Objekten, so erscheint das Gesichtsfeld an- fänglich fleckig und unruhig, derart, daß rote und grüne größere Flecke unscharf und unbestimmt, in fortdauerndem langsamen Wechsel der. Erschei- nung ineinander übergehen (Wettstreit der Farben). Wenn sich allmählich die Empfindlichkeit gegen die Farben abstumpft, wird das Aussehen des Bildes ruhiger, mehr einem unbestimmten grauen Farbenton entsprechend. Wendet man die Aufmerksamkeit, was allerdings vielfach Schwierigkeiten begegnet, möglichst ausschließlich nur der Farbe des einen oder. der des anderen .Gesichtsfeldes zu, so erscheint das Objekt gelegentlich nur in dieser Farbe (Funke), Volkmann‘), Welcker®) u. a.). Über die Frage des Zustandekommens einer resultierenden einheitlichen Empfindung oder einer wirklichen binocularen Farbenmischung bei solchen Versuchen sind die Meinungen sehr geteilt. Während Dove, Brücke’), !) Arch. f. Ophthalmol. 2 (2), 77, 1856. — ?) Ber. d. königl. Sächs. Gesellsch. d. Wissensch. zu Leipzig 7, 392, 1860. — °) Physiol. Unters. über das Sehen mit zwei Augen 1858, 8. 47. — *) Lehrb. d. Physiol., 1. Aufl., 2, 875. — °) Neue Beitr. z. Physiol. d. Gesichts 1836, 8. 97, 99. — °) Über Irradiation, 1852, 8. 107. — 7) Poggendorffs Ann. 90, 606, 1853. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 98 434 Binoculare Farbenmischung. Ludwig, Panum!), Hering u. a. eine solche annehmen, sprechen sich H. Meyer?), Volkmann), Funke, Helmholtz u. a. dagegen aus. Von beiden Seiten muß jedoch zugegeben werden, daß hier vielleicht große indi- viduelle Verschiedenheiten, und auch wohl solche der Versuchsbedingungen in Betracht kommen, und „daß man unter binocularer Farbenmischung nicht immer dasselbe verstand und an diese Mischung sehr verschiedene An- forderungen stellte* (Hering). Von den verschiedenartigen Versuchen über binoculare Farbenmischung sei hier als Beispiel’ der folgende, zuerst von Helmholtz ausgeführte, später von Hering zweckmäßig abgeänderte Versuch angeführt: Drei rote (r) und drei blaue (b) kleine Quadrate werden in der Anordnung der Fig. 931 durch zwei achromatisierte Doppelspatprismen bin- ocular betrachtet, und zwar die mit 2. A. bezeichnete Vertikalreihe mit dem Fig. 93, L.A. S-B. R.A. zZ B hinsoulins >= MH Mi RA. A, RA. M et Mischung Versuch über binoculare Farbenmischung, nach Hering. linken, die mit R. A. bezeichnete mit dem rechten Auge; die beiden Prismen werden so gehalten, daß jedes senkrecht übereinander liegende Doppelbilder gibt. Bei passender Wahl der Abstände der Quadrate kann der Abstand der vom Doppelspat gelieferten Doppelbilder gerade dem Abstande je zweier Quadrate in der Vertikalen gleich gemacht werden, und es erscheinen nun den beiden Augen die in Fig. 93 II gezeichneten beiden. Vertikalreihen von je vier Quadraten, von denen die obersten und untersten zwei (in der Figur durchstrichen) nur Halbbilder darstellen und nicht weiter in Betracht kommen. In der zweiten Reihe decken sich für das linke Auge zwei rote, für das rechte zwei blaue Quadrate, in der dritten Reihe je ein rotes mit einem blauen Quadrat; hier tritt jederseits monoculare Farbenmischung auf. Bringt man nun diese beiden mittleren Quadratpaare binocular zur Deckung, so ergibt sich die in Fig. 93 III dargestellte Kombination: in B erscheint die binoculare Mischung aus links rot und rechts blau, in M zum Vergleich die schon vorher entstandene monoculare Mischung derselben Bestandteile im Sammel- bilde. Hering bemerkt über den Eindruck, der dabei auftritt, folgendes: „Sind die zu mischenden Farben nicht zu hell und zu gesättigt, so gleicht bisweilen die unoculare Mischfarbe der binocularen in betreff des Tones voll- kommen. Immerhin ist dies, wie sich nach dem oben Gesagten von selbst ') Reicherts u. du Bois-Reymonds Arch. 1861, 8. 63 £. — ?) 1. c. — °) Müllers Arch. 1838, 8. 378 f. Stereoskopischer Glanz. 435 versteht!), nur ein besonders glücklicher Fall.“ Hering wendet gegen Helmholtz hauptsächlich ein, daß in dessen Versuchen Konturen und Ungleichartigkeiten der Felder nicht möglichst ausgeschlossen waren, und daß die Forderung nicht berechtigt sei, daß die binoculare Mischung durch- aus derjenigen gleiche, die durch monoculare Mischung zu gleichen Teilen erhalten werde. — Nach Schenck?) und Stirling?) verwendet man neuer- lich mit gutem Erfolge zur Demonstration der binocularen Farbenmischung verschiedenfarbige Briefmarken, deren kongruente Details durch den starken Zwang zum Einfachsehen den Wettstreit der Farben zurückdrängen. Auch die von Dove®), Brewster°), Oppel‘), Helmholtz, Brücke’), Rood°), Wundt?) u. a. genauer studierte Erscheinung des stereoskopi- schen Glanzes ist an dieser Stelle kurz zu besprechen, wenngleich ihre Wahrnehmbarkeit auch bei momentaner Beleuchtung durch den elektrischen Funken zeigt, daß sie keine Folge von Wechsel der Helligkeit oder Färbung ist, der als Wettstreit der Sehfelder eigentlich bezeichnet wird. Bietet man dem einen Auge in einem Stereoskopbilde eine Fläche eines dargestellten Objektes hell, dem anderen Auge dieselbe Fläche dunkel dar, so erscheint die- selbe im Sammelbilde deutlich glänzend. Wird eine einfache stereoskopische Linienzeichnung derart ausgeführt, daß in dem einen Bilde die Linien schwarz auf weißem Grunde, in dem anderen weiß auf schwarzem Grunde erscheinen, so gibt das Sammelbild für Objekt und Grund den Eindruck einer dunklen, mattglänzenden Masse, wie Graphit (Helmholtz). Der Grund für die Er- scheinung des Glanzes im Stereoskop ist derselbe, wie bei der unmittelbaren Betrachtung glänzender Objekte mit beiden Augen; von solchen erhält viel- fach das eine Auge orientierte Spiegelreflexe, während bei der gegebenen Stellung des Objektes zu den Augen dieselbe Stelle dem zweiten Auge mehr oder weniger dunkel erscheint. Auch die verschiedene Farbe des von einer glänzenden Fläche in das eine und in das andere Auge reflektierten Lichtes kann bei der unmittelbaren Beobachtung wie auch im Stereoskopsammel- bilde Erscheinungen des Glanzes bedingen. Aus den Versuchen über stereo- skopischen Glanz geht nach Helmholtz deutlich hervor, „daß zwei heterogene Lichtwirkungen auf korrespondierende Netzhautstellen stets einen durchaus anderen sinnlichen Eindruck machen als zwei gleichartige Einwirkungen auf dieselben Stellen“. Es ist leicht zu zeigen, daß die Erscheinung des Glanzes auch mon- ocular wahrgenommen werden kann. Diese Wahrnehmung kommt dadurch zustande, daß die Helligkeit einzelner Punkte und Flächen des Objektes bei Bewegungen desselben oder bei Bewegungen der Augen des Beobachters rasch aufeinanderfolgende Veränderungen zeigt; der monoculare Glanz beruht also auf denselben Ursachen wie der stereoskopische, nur kommen hier die !) Hauptsächlich wegen des Wettstreites. — °) Sitzungsber. d. phys.-med. Gesellsch. z. Würzburg, Jahrg. 1898. — °) Journ. of Physiol. 27 (*,), 73 (Proc. Physiol. Soc.), 1901. — *) Poggendorffs Ann. 83, 169, 1850; Berliner Monats- bericht 1855, 8. 691; 1861, 8. 522. — °) Athenäum 1852, 8. 1041; 1861, 8. 411. — °) Jahresber. d. Frankf. Ver. 1853/54, 8. 52; 1854/55, 8. 33; 1856/57, 8. 56; Poggen- dorffs Ann. 100, 462, 1857. — 7) Sitzungsber. d. Wiener Akad. 43 (2), 177. — ®) Americ. Journ. of science (2), 31, 339, 1861; (2), 39, 254, 1865. — °) Poggendorffs Ann. 116, 627, 1862. 28* 436 Binocularer Kontrast. Helligkeitsdifferenzen nicht gleichzeitig, sondern rasch nacheinander zur Wahrnehmung. Eine Reihe von Erscheinungen, die als binoculare Kontrasterscheinungen aufgefaßt werden können, haben namentlich Fechner!), dann Brücke, Meyer, Panum, Helmholtz u. a. eingehender untersucht. Schließt man ein Auge und blickt mit dem anderen nach einer farbigen: Fläche, öffnet dann das geschlossene Auge und erzeugt sich ein Doppelbild eines weißen Streifens auf schwarzem Grunde, so erscheint das Halbbild des ermüdeten Auges in der Komplementärfarbe, das des geschlossen gewesenen Aüges da- gegen, im Kontraste hierzu, in der Farbe des früher vom anderen Auge be- trachteten Grundes. Mit Hilfe des binocularen Kontrastes lassen sich kleine Unterschiede in der „Farbenstimmung“ beider Augen (Fechner) leicht er- kennen. Die Vergleichung zwischen den Farbenempfindungen nahehin korrespondierender Netzhautstellen beider Augen geht scheinbar sogar mit größerer Genauigkeit vor sich als die Vergleichung mit den entsprechenden Stellen einer Netzhaut (Helmholtz). Helmholtz hat übrigens unter anderen auch einen Versuch angegeben, welcher zeigt, daß auch von wirklich korrespondierenden Stellen Kontrastwirkungen erhalten werden können ?). Den binocularen Kontrast erklärt Fechner als Folge einer physiologi- schen Wechselwirkung der Erregungen beider Netzhäute, während Helmholtz auch für die Erklärung dieser Kontrasterscheinüngen psychische Momente (Urteilstäuschung) heranzieht. Ein Versuch, welcher zeigt, daß die Wirkung monocularen Kontrastes durch binoculare Vergleichung mit dem entgegengesetzten Kontraste ge- steigert werden kann, ist folgender: Man blickt durch eine geschwärzte Röhre z. B. mit dem rechten Auge gegen einen weißen Streifen auf rosarotem, mit dem linken Auge ebenso gegen einen gleichen Streifen auf blaßgrünem Grunde, ohne die Streifen zur Deckung zu bringen. Die monocular kaum erkennbar gewesenen Kontrastfarben der Streifen treten nun mit großer Deutlichkeit hervor. Schließt man jedoch in solchen Versuchen die Augenbewegungen aus, so daß also kein successiver, sondern nur simultaner Kontrast wirksam wird, so zeigt sich dieser bei der binocularen Vergleichung sogar herabgesetzt (Helmholtz). In das Gebiet des binocularen Kontrastes gehört auch Fechners sog. paradoxer Versuch. Blickt man gegen eine weiße Fläche und schließt und öffnet abwechselnd das eine Auge, so erscheint im Moment des Schlusses die Fläche etwas weniger hell. Hält man jedoch vor dieses Auge ein nicht zu dunkles Rauchglas, so erscheint die weiße Fläche im Moment des Schlusses des einen Auges deutlich heller. Die Bewegungen der Pupille sind dabei ohne Einfluß. — In dem von Fechner so genannten „seitlichen Fensterversuch“ von Smith und Brücke?) kommen ähnliche Verhältnisse monocular zur Geltung. Fällt Licht seitlich durch ein Fenster des Zimmers auf die Augen, so wird das dem Fenster zugewendete Auge durch die Sklera hindurch stärker erhellt als das abgewendete.e Die Folge davon ist verschiedene Helligkeit und !) Ber. d. königl. Sächs. Gesellsch. d. Wissensch. 1860, S. 337; 1862, 8. 27. — *) Physiol. Optik, 2. Aufl., 8. 988. — *) Poggendorffs Ann. 27, 494, 1832; 84, 418, 1851. Monoculare und binoculare Helligkeitsempfindung. 437 Färbung der beiden Netzhautbilder und zugleich verschiedene „Stimmung“ !) beider Augen. Das Doppelbild eines hellen Streifens auf dunklem Grunde er- scheint infolgedessen verschieden hell und verschieden gefärbt. Sherrington ?) untersuchte vermittelst der Methode der Flimmerphotometrie die Änderungen, welche die Lichtempfindungen eines Auges an denen des anderen hervor- bringen. Aus seinen Beobachtungen geht hervor, daß das Talbotsche Gesetz für das binoculare Sehen keine Gültigkeit hat. Der physiologische Gesamt- wert zweier von zwei korrespondierenden Netzhautstellen ausgelösten Hellig- keitsempfindungen liegt anscheinend in der Mitte zwischen den Werten der beiden Komponenten. — Piper?) fand, daß für helladaptierte Augen bei Gleichheit der monocular und binocular beobachteten Lichtintensitäten in der Regel auch Gleichheit der Helligkeitsempfindungen eintritt, daß dagegen bei Dunkeladaptation die monocular beobachtete Lichtintensität die binocular beobachtete erheblich übertreffen mußte, um ihr gleich zu erscheinen. Man sieht also bei Helladaptation mit beiden Augen nicht oder nur ganz außerordentlich weniger hell als mit einem, während bei Dunkeladaptation die Helligkeits- empfindung beider Augen die eines Auges erheblich an Intensität übertrifft. — ') Siehe w. $S. — ?) Proc. of the Royal Soc. 71, 468, 1902. — °) Zeitschr. £. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 31, 161; 32, 161, 1903. 5. Die Ernährung und die Zirkulation des Auges von Otto Weiß. I. Die Ernährung des Auges. Die Ernährung des Inhaltes der Orbita ist abhängig von zwei Faktoren: von der Blutzirkulation in derselben und, wenigstens bei einem Teile ihrer Organe, von dem Zusammenhange mit nervösen Gebilden. Die Einflüsse dieser beiden Faktoren sollen im folgenden behandelt werden. (Bezüglich der anatomischen Verteilung der Gefäße im Auge sei auf die Darstellung von Leber!) verwiesen.) 1. Die Ernährung des N. opticus. Der intraorbitale Teil des Sehnerven wird teils durch selbständige Äste der A. Ophthalmic. ernährt, teils von Zweigen der Art. centr. retin. An seiner Eintrittsstelle in den Bulbus strömt ihm Nährmaterial auch aus Zweigen der Ciliararterien zu. Diese umgeben ihn als Circulus art. n. optiei. Endlich erhält der Sehnerv noch Arterien, welche von den Chorioideagefäßen ab- stammen. Die von den Ciliar- und Chorioidealarterien stammenden Äste haben sehr feine Anastomosen mit den Retinagefäßen. Über den Stoffwechsel des Sehnerven wissen wir nichts. 2. Die Ernährung der Netzhaut. Die ernährenden Gefäße der Retina hat man beim Menschen durch Störungen der Zirkulation in denselben genauer kennen gelernt. Es hat sich gezeigt, daß zwei vollkommen voneinander unabhängige Gefäßsysteme die Retina mit Blut versorgen: 1. das System der Zentralarterie, 2. das System der Chorioideagefäße. Stockt die Zirkulation auch nur in einem der beiden Systeme, so wird die Retina funktionsunfähig. Wie im folgenden näher erörtert wird, versorgt die Zentralarterie die inneren Netzhautschichten bis zur äußeren Faserschicht einschließlich, die Gefäße der Chorioidea dagegen ernähren das Sinnesepithel. Hört die Zirkulation in der Zentralarterie auf, so ist die Folge davon plötzliche Erblindung. Dies wird am Menschen?) sehr häufig beobachtet !) Gräfe-Saemisch, Handb. d. ges. Augenheilk., 2. Aufl., 52. bis 58. Lie- ferung. — °?) A. v. Gräfe, Arch. f. Ophthalmol. 5 (1), 1386; Pagenstecher, Ebenda, 15 (1), 223; Mauthner, Wiener med. Jahrb. 1873; Meyhöfer, Dissert. Königsberg 1873 (und Andere). Ernährung des Opticus, der Netzhaut. 439 infolge von Embolien. Vorübergehend kann man diese Erscheinung an sich selbst leicht konstatieren. Wenn man nämlich so stark auf das Auge drückt, daß der intraoculare Druck stärker als der intraarterielle wird, so stockt die Blutzufuhr vollkommen und das Sehvermögen erlischt, so lange der Druck anhält. Auch Schwächung der Herzkraft kann Erblindung hervorrufen, wenn dabei die Abnahme des intraarteriellen Druckes so weit geht, daß der intraoculare überwiegt. Wenn die Unterbrechung der Zirkulation nur kurze Zeit andauert, so stellt sich nach Wiederkehr des Blutzuflusses auch das Sehvermögen wieder her. Dagegen hat länger andauernde Blutleere den Tod der Netzhaut zur Folge. t Diese Empfindlichkeit gegenüber Zirkulationsstörungen weist auf einen äußerst regen Stoffwechsel hin. Ob etwa das Aufhören des Gaswechsels die Schnelligkeit der Lähmung bedingt oder der Mangel der übrigen Nähr- stoffe des Blutes, ist nicht entschieden. Die sichtbaren Folgen der Zirkulationsunterbrechung äußern sich zuerst in.einer Trübung der Netzhaut. Diese hat ihren Sitz wahrscheinlich in den Ganglienzellen und Nervenfasern. Sie fehlt nämlich in der Macula, kann also nicht vom Sinnesepithel herrühren; am stärksten ist sie am Rände der Netzhautgrube (Ganglienzellen) und am Rande der Papille (Nervenfasern). Die anatomischen Veränderungen, welche der Trübung zugrunde liegen, sind beim Menschen nieht untersucht. Vermutlich bestehen sie in Gerinnungen innerhalb der genannten Gewebselemente und gleichen so Erscheinungen in anderen absterbenden Geweben, z. B. im Muskel. Später verschwindet die Trübung wieder. Die anatomische!) Untersuchung zeigt, daß alle nervösen Elemente zugrunde gegangen sind. An ihre Stelle sind mit Flüssigkeit ge- füllte Räume getreten. Unversehrt sind nur die Stützsubstanz und das Sinnes- epithel. Die geschilderten Folgen haben ihren Grund darin, daß die collateralen Blutzuflüsse der Retinaarterie zu winzig sind, um den Kreislauf erhalten zu können. Wie das ganze Gefäß verhalten sich auch die einzelnen Zweige der Zentral- arterie. Wird in einem derselben die Zirkulation unterbrochen, so zeigen sich an dem zugehörigen Netzhautbezirk die besprochenen Folgeerscheinungen. Die Zentral- arterie und ihre Aste sind also Endarterien im Sinne Cohnheims. — Zu der Aus- bildung eines hämorrhagischen Infarktes kommt es nach Verschluß der Zentralarterie niemals, weil der intraoculare Druck das Einströmen des Blutes durch die Venen verhindert. Nach Verstopfung einzelner Äste derselben kann ein Infarkt entstehen. Die Versuche an Tieren?) über den ernährenden Einfluß der Zentral- arterie sind mit den klinischen Beobachtungen am Menschen nicht vergleichbar. Einmal ist die Gefäßverteilung — wenigstens bei den untersuchten Tieren — anders als beim Menschen; ferner bestanden die in den Versuchen erzeugten Schädigungen nicht nur in Kreislaufsunterbrechungen der Zentralarterie. !) Elschnig, Arch. f. Augenheilk. 24, 65; Manz, Festschr. z. 70. Geburts- tage v. Helmholtz 8.9; Wagenmann, Arch. f. Ophthalmol. 40 (3), 221; Nuel, Arch. d’Ophtalmol. 16, 166. — ?) Wagenmann, Arch. f. Ophthalmol. 36 (4), 1; Marckwort, Arch. f.. Augenheilk. 10, 269; Birch-Hirschfeld, Arch. f. Ophthalmol. 50, 206; Herrnheiser, Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 33, 315; Lotos 1902, Nr. 3. 440 Ernährung der Chorioidea, der Sklera. — Chemie der Cornea. Die Bedeutung der Chorioideagefäße für die Netzhaut ist bis jetzt beim Menschen durch direkte Beobachtungen nicht festgestellt. Man kann aber aus den Folgen des Zentralarterienverschlusses folgern, daß die Erhal- tung des Sinnesepithels durch den Chorioideakreislauf geschieht. Hierfür sprechen auch die anatomischen Verhältnisse. Das unmittelbar unter der Retina sich ausbreitende Capillarnetz der Chorioidea ist da am engmaschigsten, wo das Sinnesepithel am meisten zu leisten hat, im Bereich der Macula. Nach der Peripherie hin werden die Maschen weiter. Die Ausgiebigkeit der Blutversorgung nimmt also zu mit den Leistungen des Epithels: Alleinige Verletzungen der Ciliargefäße sind, wie erwähnt, nicht bekannt. Dagegen 'hat man solche beobachtet bei gleichzeitiger Zerstörung des Seh- nerven. Nach Zerreißung desselben fand Pagenstecher!) die ganze Netz- haut zerfallen. In den Resten derselben fanden sich Pigmentanhäufungen. Dieser anatomische Befund weist darauf hin, daß außer dem Sehnerven auch die Ciliargefäße verletzt waren; denn er ist verschieden sowohl von dem nach Embolie der Zentralarterie wie auch von dem nach Durchsehneidung des N. opticus. Auf die Versuche an Tieren?) kann hier nicht eingegangen werden. 3. Ernährung der Chorioidea, des Corpus ciliare und der Iris. Über die Ernährung der Chorioidea liegen beim Menschen keine Beob- achtungen vor. Die an Tieren) gesammelten Erfahrungen kann man nicht auf den Menschen übertragen, weil die Zirkulationsverhältnisse hier wesent- lich anders sind. 4. Die Ernährung der Sklera. Die Sklera wird durch Äste der Ciliararterien ernährt. Über ihren Stoffwechsel haben wir keine Kenntnisse. 5. Die Ernährung der Cornea. Die chemische Zusammensetzung der von den Deckschichten befreiten Membran ist am eingehendsten von Mörner untersucht. Die Cornea enthält 76,6 Proz. (His?) bis 78,9 Proz. (Leber?) Wasser. Aus dem von Epithel befreiten Gewebe läßt sich bei hohem Druck (bis 350 Atm.) ein Serum auspressen, dessen spezifisches Gewicht (1,0074 bis 1,0100) kaum von dem des Kammerwassers (1,0076 bis 1,0086°) abweicht. Die Menge dieses Serums beträgt 16,41 Proz. des Hornhautgewichtes. Aus dem Serum läßt sich ein bei 68 bis 70° C koagulierendes Albumin und ein bei 75° koagulierendes Globulin gewinnen. Letzteres stammt nach C. Th. Mörner’) aus dem Epithel. Aus dem Hornhautgewebe läßt sich ein Kollagen darstellen?) in einer Menge von 20 Proz. des Ausgangsmaterials®) und ein Mukoid°’), welches durch Sieden mit verdünnten Mineralsäuren einen redu- %) Arch. f. Ophthalmol. 15 (1), 223. — ?) Wagenmann, Ebenda 36, 1; Capauner, Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 31, Beiheft 8. 45; Elschnig, Arch. £. Ophthalmol. 39 (4), 176. — ?) Wagenmann, a.a. O.; Herrnheiser, a. a. O.; Leber, Arch. f. Ophthalmol. 19 (2), 141; Koster, Ebenda 41 (1), 30; van Geuns, Ebenda 47 (2), 249. — *) Beitr. z. norm. u. pathol. Histol. d. Cornea, 1856. — ?) Die Zirkulations- u. Ernährungsverhältnisse des Auges 1903, 8. 362. — %) Michel und Wagner, Arch. f. Ophthalmol. 32 (2), 155. — ?) Zeitschr. f£. physiol. Chemie 18, 213. — °) His, a. a. O. — °) Leber, a. a. O. Cornea: Stoffwechsel. — Bedeutung der Deckschichten. 441 zierenden Körper liefert. Die Salze der Cornea sind nicht näher untersucht. Die Membrana Descemetii besteht nach Mörner') aus einem Membranin. Der Stoffwechsel der Hornhaut kann nicht groß sein; dafür bürgt die Gefäßlosigkeit der Membran. Unsere Kenntnisse über denselben sind sehr gering. Über die Natur des festen und flüssigen Nährmateriales wissen wir nichts, ebensowenig über die Umsatzprodukte. Dagegen ist von Bullot und Lor?) darauf hingewiesen, daß die Aufnahme von Sauerstoff zur Erhaltung des Organes nötig ist. Sie fanden eine Trübung des Endothels, wenn sie Augen in eine Wasserstoffatmosphäre brachten oder in die Bauchhöhle eines anderen Tieres transplantierten. Die Cornea blieb klar in feuchter Luft oder nach Transplantation mit vorhergegangener Abschabung des Epithels. Aus diesen Befunden schließen sie, daß ohne Sauerstoff das Endothel zugrunde gehen müsse. Leider sind diese Versuche nicht kontrolliert durch gleich- zeitiges Einbringen von Sauerstoff oder Luft in die vordere Kammer’). Dieser Eingriff schädigt die Cornea nicht. Ohne Bedeutung für das Leben der Hornhaut ist die Erhaltung der Zirkulation in dem „Randschlingennetz*“, wie Ranvier*) bewies, indem er die Gefäße desselben durchschnitt. Aus diesen Beobachtungen geht hervor, daß das Nährmaterial für die Cornea nur aus den Gewebssäften am Limbus oder aus den ihr Endothel und Epithel befeuchtenden Flüssigkeiten stammen kann. Welche dieser Quellen oder ob alle drei in Betracht kommen, ist unbekannt. Ebensowenig kennen wir den Ort, wohin die Endprodukte des Stoffwechsels ausgeschieden werden. Das Endothel und das Epithel schützen die Cornea gegen Quellung in den sie umgebenden Flüssigkeiten. Auch das ausgeschnittene, in indifferente wässerige Salzlösungen eingelegte Organ ändert sein optisches Verhalten nicht, so lange die Deckschichten intakt sind. Schabt man dieselben ab, so quillt die Hornhautgrundsubstanz an den verletzten Stellen auf und wird undurch- sichtig (Laqueur5). Auch im lebenden Auge spielen die Deckschichten . diese Schutzrolle. Geht man z. B., ohne dabei Humor aqueus zu vergießen, mit einem Häkchen in die vordere Kammer ein und zerstört das Endothel, so quillt die Cornea im Bereich des erzeugten Defektes auf unter gleich- zeitigem Trübewerden (Leber®). Die Grundsubstanz der Hornhaut vermag das Vierfache ihres eigenen Ge- wichtes an Wasser aufzunehmen’). Sie quillt sogar noch in einer Kochsalzlösung von 10 Proz.°). Die Quellung kann also nicht durch osmotische Prozesse bewirkt sein. Hier ist auch zu erwähnen, daß die Cornea bei Druck auf den Bulbus trübe wird, solange der Druck anhält?). ') Zeitschr. f. physiol. Chemie 18, 213. — ?) Bulletin d. l’acad. d. med. d. Belgique, 4. Ser., 13 (5), 421. — ®) Coceius, Die Ernährungsweise der Hornhaut und die serumführenden Gefäße im menschlichen Körper 1852. — *) Compt. rend. d. lacad. des sciences 88, 1087. — °) Zentralbl. f. d. mediz. Wissensch. 1872, Nr. 37. — °) Arch. f. Ophthalmol. 19 (2), 125. — 7) Chevreuil in Liebig, Unter- suchungen über einige Ursachen der Säftebewegung im tierischen Organismus 1848; Coceius, a. a. O.; Meyr, Über Trübungen der. Hornhaut infolge mechanischen Druckes und der "Quellung 1856; Dönders, Arch. f. Ophthalmol. 3 (1), 166; His, Beiträge zur normalen und pathologischen Histologie der Cornea 1856; Leber, a. a. O0. — ®) Schweigger-Seydel, Ber. d. Sächs. Ges. d. Wissensch., math.-phys. Klasse, 22, 322. — °) Mauchart, Corn. ocul. tunic. exam. anat.- physiol. 1743; Bowman, Lect. on the parts conc. in the oper. on the eye 1849; Meyr, a.a.0.; v. Fleischl, Sitzungsberichte der Wiener Akad. d. Wiss. 82, 3. Abt.; His, a. a. O. 449 Cornea: Ernährungswege. Das Endothel schützt auch dann gegen das Eindringen von Wasser in die Hornhautgrundsubstanz, wenn dieses unter Druck einwirkt!). Erst wenn das Endothel infolge starker Dehnung der Cornea rissig wird, dringt Wasser in dieselbe ein und in Tröpfchen hindurch?). Die Membrana Descemetii kann dabei vollkommen intakt sein; denn sie setzt dem Durchtreten von Flüssigkeit kein Hindernis entgegen (v. Wittich°), Leber?) und andere’). Ob die Deckschichten der Cornea aus dem Grundgewebe Flüssigkeit und gelöste Stoffe aufnehmen und an das Kammerwasser oder nach außen abgeben, ist nicht bekannt. Die Ernährungswege der Öornea. Wenn man die Ernährungs- wege eines Örganes aufsuchen will, muß man zunächst wissen, welche Elemente desselben der Ernährung bedürfen. Wir haben also zu fragen: Welche Gewebselemente der Cornea haben einen selbständigen Stoffwechsel ? Sicheres wissen wir hierüber nicht, dürfen aber annehmen, daß alle zelligen Elemente der Nahrungszufuhr benötigen. Den Hornhautfibrillen einen aktiven Stoffwechsel zuzuschreiben, liegt kein Grund vor. Demnach hätten wir zu suchen nach den Ernährungswegen für das Epithel, das Endothel und die Hornhautkörper. Auf welche Weise die normale Beschaffenheit der Fibrillen erhalten wird, ist eine weitere Frage. Die Vorstellung v. Recklinghausens*), daß die Hornhautkörper von einem capillaren Raum — Saftkanälchen genannt — umgeben seien, der anderseits von der Grundsubstanz begrenzt wird, ist nicht ohne Wider- spruch geblieben. Leber’) wies zuerst darauf hin, daß die anatomische Untersuchung mit Hilfe der Silberimprägnationsmethode niemals Kanälchen erkennen läßt. Es werden entweder die Zellen geschwärzt oder die Grund- substanz. Jedenfalls besteht also eine Grenze zwischen beiden. In diese Grenze dringt Injektionsflüssigkeit leicht ein, wenn man eine Kanüle in die Hornhaut einsticht und geeignete Flüssigkeiten (Ölfarben 8), Terpentinöl ?), Asphaltlack !°) einspritzt. Auf diese Weise kann man einen Raum erfüllen, welcher überall die Hornhautkörper umgibt. Von hier aus dringt die Injektionsmasse in die Intercellularräume des Epithels ein, von dessen Zellen sie sogar aufgenommen werden kann. " Daß diese circumcellulären Räume von lymphatischer Flüssigkeit erfüllt sind, welche in toto in Strömung ist oder in den Diffusionsströmungen stattfinden, ist nicht beobachtet. Gegen diese Annahme lassen sich kaum Gründe anführen; die Wandungslosigkeit dieser Räume ist eine allen An- fängen von Lymphgefäßen gemeinsame Eigentümlichkeit; der Mangel des Lumens ebenfalls. Um über die Ernährungswege der Hornhaut sich Klarheit zu verschaffen, hat man auch die folgende Eigenschaft des Organes benutzt. Die intakte Cornea vermag gewisse auf sie gebrachte Substanzen zu resorbieren und an !) Leber, a.a.O. — ?) Derselbe, a.a. 0. — °) Arch. £. pathol. Anat. 10, 337. — *) A. a. 0. — °) Preiss, Arch. f. path. Anat. 87, 157; 89, 17; Koster, Arch. f. Ophthalmol. 51 (2), 295. — °) Die Lymphgefäße und ihre Beziehungen zum Bindegewebe 1862; Anat. Anzeiger 3, 19. — ?) Arch. £. Ophthalmol. 14 (3), 300. — ®) v. Recklinghausen, a. a. OÖ. — °) Leber, Klin. Monatsbl. f. Augen- heilkunde 4, 17. — !P) Gutmann, Arch. f. mikr. Anat. 32, 593. Cornea: Ernährungswege. — Linse: Chemie. Ernährung. 443 das Kammerwasser abzugeben, wie de Ruiter!) entdeckte. Die Stoffe treten schneller durch, wenn das Epithel zerstört ist (A. v. Gräfe?). Diese Eigenschaft der Cornea wurde an vielen Stoffen 3) festgestellt, von denen nur einige genannt seien: Atropinsulfat, Kalabarbohnenextrakt, Strychninnitrat, Natriumsalieylat, Caleiumhydrat, Kaliumjodid, Kaliumferrieyanid, Fluoreszein. Die Wege, auf welchen die Stoffe in das Kammerwasser gelangen, sind, solange die Zellen leben, die Intercellularsubstanzen des Epithels, des Hornhautgewebes (bier die Fibrillen) und des Endothels (J. Arnold®), Krükow und Leber’). Manche Stoffe werden auch von den lebenden Hornhautkörpern auf- - genommen, so z. B. Stärke®) und Indigokarmin’). Dann findet man aber diese Substanzen in den Zellen in größerer Menge als in der Grundsubstanz. Die Zellen zeigen also, solange sie leben, Selbständigkeit den Stoffen gegenüber. Man geht daher wohl nicht fehl in der Annahme, daß von ihnen die Erhaltung der Grundsubstanz ausgeht. Daß man keinen sicheren Aufschluß über die Bewegung des Ernährungsmaterials erhält, wenn man nur die Resorption fremder Stoffe verfolgt, ist wohl klar. Es bleibt also un- entschieden, ob die Nährstoffe nur in den injektionsfähigen Räumen oder diffus im Grundgewebe sich verbreiten. 6. Die Ernährung der Linse. Die chemische Zusammensetzung der Linsensubstanz ist am Menschen nicht genügend quantitativ bestimmt. Beim Rind ist dieselbe nach Laptschinsky°): Wasser 63,57, Eiweißstoffe 34,93, Lecithin 0,23, Cholesterin 0,22, Fett 0,29, lös- liche Salze 0,53, unlösliche Salze 0,23. Von den Eiweißstoffen sind nach Mörner’) zu unterscheiden: 1. ein unlöslicher, besonders im Kern vorhandener: Albumoid; 2. lösliche: zwei Globuline, «- und f-Kristallin genannt, und ein in geringer Menge vorkommender Albuminstoff. Quantitativ verteilt sich die Menge der einzelnen Eiweißkörper auf die 34,93 Proz.: Albumoid 17,0, «-Kristallin 6,8, $-Kristallin 11,0, Albumin 0,2. Die Linsenkapsel besteht aus einem Membranin. Von dem Ernährungsbedürfnis der Linse können wir uns bislang keine Vorstellung machen. Wir wissen nicht, in welcher Quantität Nährstoffe von ihr aufgenommen werden, und wir kennen nicht die Endprodukte ihres Stoff- wechsels.. Auch ist nicht bekannt, ob alle aus Zellen entstandenen Linsen- elemente einen selbständigen Stoffwechsel haben. Nur so viel ist ganz sicher, daß in die Linse nur die Stoffe gelangen können, welche im Glaskörper und im Kammerwasser enthalten sind. Wenn man versuchen wollte, den Stoffaustausch der Linse gegen diese beiden Medien zu bestimmen, so müßte man wie bei jedem Stoffwechselversuch !) Dissertatio phys.-med. de actione belladonnae in irid., Traj. ad. Rhen. 1853. — *) Arch. f. Ophthalmol. 1 (1), 462. — °) Ruete, Arch. f. Heilk. 5, 174; Lilienfeld, Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 11; Ulry et Frezals, Arch. d’ophtalmol. 19, 90; Gosselin, Gaz. hebd. 1855, No. 36, 39; Knies, Arch. f. pathol. Anat. 62; Pflüger, Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 20, 69; v. Hippel, Sitzungsber. d. ophthalmol. Gesellsch. 27, 67; Bihler, Münch. med. Wochenschr. 1899, Nr. 32; Memorsky, Arch. f. Ophthalmol. 11 (2), 112; Laqueur, Zentralbl. £. d. med. Wissensch. 1872, Nr. 37. — *) Arch. f. pathol. Anat. 64, 203; 66, 77; 68, 465; Zentralbl. f. d. med. Wissenschaften 1875, Nr. 51. — °) Arch. f. Oph- thalmol. 20 (2), 205. — °) Knies, a..a. O. — ’) Arnold, a. a. 0. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 13, 631. — °) Zeitschr. f. physiol. Chem. 18, 213, 233. 4.44 Linse: Verhalten gegen fremde Stoffe. die Einnahmen und Ausgaben an gasförmiger, flüssiger und fester Substanz ermitteln. Hierzu ist bis jetzt nicht einmal der Versuch gemacht worden. Vielmehr bewegen sich alle Untersuchungen in dem Sinne, daß sie auf indirekte Weise Aufschluß über die Ernährungsverhältnisse der Linse erlangen wollen. So beobachtete man den Übergang von im Kammerwasser und Glaskörper nicht vorkommenden Substanzen in die Linse, bestimmte die Wege, auf denen sie sich verbreiten, und. suchte die Kräfte zu erkennen, welche diese Verbreitung bewirken. Natürlich kann man auf diese Weise keine sicheren Aufschlüsse über die Ernährungsvorgänge erhalten. Diese Versuche geben uns aber Fingerzeige, wie jene Vorgänge sich abspielen könnten. Wir wollen sie daher im folgenden zunächst betrachten. Verhalten der ganzen Linse gegen fremde Substanzen. Bence Jones!) fand in Versuchen an Meerschweinchen, daß in den Magen der Tiere eingeführtes Lithiumchlorid nach einer halben Stunde in der Linse nach- weisbar war, während es in den übrigen Geweben, sogar auch im Knorpel, schon nach 15 Minuten gefunden wurde. Analoge Beobachtungen mächte derselbe Autor auch bei Menschen nach Darreichung von Lithiumcarbonat teils an kataraktösen, teils an normalen Linsen. Für eine Reihe anderer Stoffe gilt dasselbe: Rubidium-, Cäsium- und Thalliumchlorid (Bence Jones), Kaliumferroeyanid (Ulrich?), Jodkalium (Deutschmann?) und (Oviot), Fluoreszein (Schöler und Uhthoff°). Die Ausscheidung der Substanzen aus der Linse erfolgt ungemein langsam. Bence Jones®) fand bei seinen Meer- schweinchen noch nach 33 Tagen Spuren von Lithium in dem Organ, und Schöler und Uhthoff’?) sahen die Fluoreszeinfärbung monatelang bestehen, ehe sie sich verlor. Es zeigt sich, daß die Verbreitung der Substanzen zunächst zwischen den Fasern erfolgt, erst später dringen die Stoffe in die Zellen ein, (Knies®), Weiß°), Ulrich!%), Arnold!!) und Leber!2). Das Verhalten der Linse gegenüber gasförmigen Stoffen ist bis jetzt nicht untersucht worden. Aus den soeben geschilderten Versuchen geht bereits hervor, daß die genannten Stoffe durch die auf beiden Seiten von Flüssigkeit bespülte Kapsel der Linse hindurchtreten können. Man hatte diese Eigenschaft schon vorher für die isolierte Kapsel nachgewiesen 12). Nicht durchgängig ist diese für Ferriferrocyanid, Lackmus!*) und für Goldsol!5). Dagegen können Eiweiß- stoffe durch die Kapsel hindurchdiffundieren 19). !) Proc. of the Royal Soc. 14, 220. — ?°) Arch. f. Ophthalmol. 26 (3) 35. — ®) Arch. f. Ophthalmol. 23 (3), 112; Arch. f. d. ges. Physiol. 22, 41. — *) Ann. d’oeulistique 124, 97. — °) Schöler und Uhthoff, Jahresbericht über d. Wirksam- keit der Augenklinik 1881, S. 52; Panas, Arch. d’Opht. 7, 97; Ehrenthal, Kritisches und Experimentelles über den Flüssigkeitswechsel im Auge. Dissert., Königsberg 1887; Ovio, a. a. 0. — °) A. a.0. — ”’) A. a. 0. — °) Arch. £. pathol. Anat. 65, 401. — °) Verhandl. d. naturh.-med. Vereins zu Heidelberg 1877, 2, 1. — 10) Arch. f. Ophthalmol. 26 (8), 35. — "') Arch. f. pathol. Anat. 66, 77. — '*) Die Zirkulations- und Ernährungsverhältnisse des Auges 1903, 8. 434. — '®) Meißner, Bericht über d. Fortschr. d. Anat. u. Physiol. 1868, 8.-269; Ulrich, Arch. f, Augenheilkunde 36, 206; van Geuns, Arch. f. Ophthalmol. 47 (2) 249; Leber, Sitzungsber. d. 9. Ophthalmol. Kongr. 1899, 8. 33. — '*) Mays, Verhandl. d. naturh.- med. Vereins Heidelberg 1885, 3. — '’) Zsigmondy, Ann. der Chem. 301. — ‘%) van Geuns, a.a.0.; Leber, Die Zirkulations- und Ernährungsverhältnisse des Auges 1903, 8. 428; Ruete, Lehrbuch der Ophthalmol. 2, 665, 1854. Linse: Bedingungen für die Durchsichtigkeit. 445 Auf die im vorhergehenden geschilderten Erscheinungen hat das Epithel der vorderen Kapsel einen hemmenden Einfluß, wie aus einem Versuch von Meißner!) hervorgeht. Er fand, daß Kaliumferrocyanid und Ferrichlorid sich durch die Linsenkapsel hindurch erst vereinigten, wenn das Epithel entfernt war. Dagegen sah Ulrich Fluoreszein auch durch die Kapsel bei erhaltenem Epithel hindurch- gehen. Weitere Beobachtungen über diesen Gegenstand liegen nicht vor. Vermutlich treten die erwähnten Substanzen durch osmotische Kräfte in die Linse ein. Nach Deutschmann?) quillt die Linse in Chlornatriumlösungen von weniger als 1 Proz. und schrumpft in solchen von mehr als 2 Proz. Nach Manca und Ovio?) ist die osmotische Kraft der Linse beim Rind gleich der einer Kochsalzlösung von 1,2 Proz., beim Frosch von 0,8 Proz. Bestimmungen der osmotischen Spannung der Linse mit exakten Methoden liegen nicht vor. Bedingungen für die Erhaltung der Durchsichtigkeit der Linse. Die Integrität, der Kapsel der Linse ist notwendig, wenn die Linse durchsichtig bleiben soll. Die soeben beschriebene Trübung der Linse zeigt sich nämlich auch im lebenden Auge nach Verletzung der Kapsel‘) analog dem Verhalten der Cornea nach Läsion des Endothels. Die Ursache liegt in der Quellung der Linsenfasern. Ob die durch Massage der vorderen Linsenfläche zu erzeugende Linsentrübung’°), welche auch ohne Verletzung der Kapsel eintritt, ihren Grund in Quellung der Fasern hat, ist unbekannt. Jedenfalls lassen sich Verletzungen des Epithels nach- weisen‘), so daß auch der Grund in dem Wegfall eines anderen unbekannten Einflusses des Epithels liegen könnte. Nach Einverleibung verschiedener Stoffe — Salze des Natriums, Kaliums, Ammoniums, Magnesiums, Caleiums, Kaliumferrocyanid, Trauben-, Rohr- und Milchzucker (Kunde’). — kann man Linsentrübungen erzeugen. Die Trübungen sollen nach Kunde ihren Grund in einer Abgabe von Wasser durch Osmose aus der Linse haben. Diese Möglichkeit liegt infolge der höheren Konzentration des Humor aqueus nach der Injektion vor, und von Heubel und Deutschmann ist in der Tat eine Gewichtsabnahme der Linse unter den ge- nannten Bedingungen beobachtet worden. Gegen die Kundesche Erklärung sprechen Versuche von Mitchell?) und Michel?’), welcher keine Trübung entstehen sah, wenn er die Linse an der Luft trocknete. Auch beobachtete er keine Trübung, wenn er die Linse in konzentrierte Zuckerlösung einlegte. Auch Guttmann') konnte in Glycerin keine Trübung beobachten, ebensowenig Langendorff"), wenn er diese Substanz injizierte. In den Langendorffschen Versuchen ging der Wasserverlust so weit, daß die vordere Kammer vollständig trocken wurde, die Hornhaut also der Linse anlag. Trotzdem blieb die Linse klar. Die Wasser- entziehung allein kann also sicher nicht der Grund der Trübung sein. Man hat nun auch auf die zweite Veränderung der Linse zu achten, welche sie bei der Injektion diffusionsfähiger Substanzen erfährt: auf den Übertritt dieser Substanzen in die Linse selbst. Bei den Salzen ist es möglich, daß sie mit Eiweiß- körpern Fällungen erzeugen. Die nicht salzartigen wasserentziehenden Stoffe, von !) A. a.0. — ?) Arch. f. Ophthalmol. 23 (3), 112. — °) Arch. ital. d. biologie 29, 23; Manca und Deganello, Arch. ital. de biologie 30, 172. — *) v. Jaeger, a. a. O.; Boe, Arch. d’ophtalm. 6, 308, 323; 7, 193; Knapp, Zeitschr. f. Augenheilk. 3 (3), 5; Schlösser, Exp. Stud. über traumat. Katarakt. 1887. — °) Schirmer, Arch. f. Ophthalm. 34 (1), 131; Hess, Sitzungsber. d. oph- thalmol. Ges. 19, 54. — °) Leber, Die Zirk.- u. Ernährungsverhältn. d. Auges, S. 444. — 7) Kunde, Zeitschr. f. wissensch. Zoologie 8, 466; Heubel, Arch. f. d. ges. Physiol. 20, 114; Richardson, Österr. Zeitschr. f. prakt. Heilk. 1860, Nr. 39; Deutschmann, Arch. f. Ophthalmol. 23 (3), 112. — ®) Österr. Zeitschr. f. Heilk. 1860, Nr. 39. — °) Festschr. z. 3. Säkularf. d. Univ. Würzburg 1, 53. — '°) Berl. klin. Wochenschr. 1865, 8. 370. — !!) Arch. f. Physiol. 1891. : 446 Linse: Trübungen. — Conjunctiva: Ernährung. denen solche Fällungen mit Eiweiß nicht bekannt sind, könnten indirekt durch die Verminderung des Wassergehaltes des ganzen Organismus und damit des Kammer- wassers ebenso wirken. Es würde dieses dann salzreicher als in der Norm, und dieser Salzreichtum könnte durch Osmose den der Linse vermehren. Auf diese Weise könnten die bei Austrocknung eines ganzen Frosches im Exsiccator von Köhnhorn!) und Deutschmann?) beobachteten Trübungen zu erklären sein. Indessen läßt sich gegenwärtig hierüber nichts Bestimmtes sagen. Nach dem Tode trübt sich die Linse ebenfalls, wenn man nicht das Auge vor Verdunstung schützt. Ewald°) fand, daß diese Trübung durch Erschütterung des Kopfes oder durch Druck auf die Linse wieder aufgehoben werden kann. Auch diese Erscheinung bedarf noch der Erklärung. Die durch Abkühlung der Linse*), durch Bestrahlung mit kurzwelligem Licht von großer Intensität’), durch elektrische Entladungen‘) hervorgerufenen Linsen- trübungen können hier nur erwähnt werden; ebenso die durch Einverleibung von Giften, von denen die durch «- und $-Naphthol’) erzeugten näher untersucht sind, freilich ohne erklärt zu werden. 7. Ernährung der Conjunctiva. Die Conjunctiva wird von den Gefäßen des Lides ernährt, nur in der Umgebung des Hornhautrandes von den Ciliararterien. Für die übrigen Organe der Orbita müssen die in der Einleitung ge- machten Angaben über die Ernährungswege genügen. Der Einfluß von Nerven auf die Ernährung des Auges. 1. Einfluß des Sehnerven. Außer der Erhaltung der Blutzirkulation bedürfen der Sehnerv und die Netzhaut zu ihrem Leben noch des gegenseitigen Zusammenhanges. Eingriffe in denselben haben den Tod des Opticus und des nervösen Teiles der Retina zur Folge. Wenn die Kontinuität des Opticus an irgend einer Stelle unterbrochen ist, so tritt niemals eine Wiederherstellung derselben ein. Hierin gleicht der Sehnerv den Nervenfasern der Zentralorgane. Bei ihm fallen nach Durch- trennung beide Nervenenden der Degeneration anheim. - Diese erfolgt am zentralen Ende am schnellsten. Die Degeneration des peripheren Teiles ist zunächst am Menschen bei Zerstörungen des Sehnerven durch Erkrankungen desselben beobachtet). Der Schwund der Nervenfasern geht Hand in Hand mit einer vollständigen !) Dissert. Gryph. 1858. — ?) A. a. 0. — °) Arch. £. d. ges. Physiol. 72, 1.— *) Kunde, Arch. f. Ophthalmol. 3 (2), 275; de Crecchio, Il Morgagni, No. 7, 9, 10; Michel, a. a. O.; Abelsdorff, Zentralbl. f. Physiol. 13, 81; Werneck, v. Ammons Zeitschr. f. Ophthalmol. 4 (2), 14; Langenbeck, zit. nach. Leber, Die Zirk.- u. Ernährungsverhältn. d. Auges, 8. 525. — °) Czerny, Sitzungsber. d. Wiener Akad. d. Wissensch., 3. Abt, 56 (2); Wildmark, Beitr. z. Ophthalmol. 1891, 8. 353; 461; Ogneff, Arch. f. d. ges. Physiol. 63, 209. — °) Hess, Ber. d. 7. int. Ophthalmol.-Kongr. 1888, 8. 308. — 7) Bouchard, Rev. g6n. d’Opht. 1886, p. 376; Bouchard et Charrin, ebenda p. 559; Panas, Arch. d’Opht. 1:08 Kolinski, Arch. f. Ophthalmol. 35 (2), 29; Magnus, ebenda 36 (4), 150; Ulry, Rech. sur la nutrit. de l’oeil et la catar. naphtal. 1897; van der Hoeve, Arch. f. Ophthalmol. 53, 74. — ®) H. Müller, Arch. f. Ophthalmol. 3 (1), 92; 4 (2), 16 (und viele Andere). u Nerveneinfluß auf die Ernährung des Auges. 447 ‘ Degeneration der Ganglienzellen der Retina. Von den Schichten derselben bleibt nur das Sinnesepithel intakt. In Übereinstimmung hiermit steht die Tatsache, daß diese letztere Schicht an den Retinen hirnloser Mißgeburten allein normal entwickelt!) ist. Mit den in großer Zahl vorliegenden Beobachtungen am Menschen stimmen die Resultate von ÖOpticusdurchschneidungen an Tieren 2) überein. Die Tatsache, daß auch eine Degeneration des zentralen Opticus- stumpfes nach Durchschneidung eintritt, ist für den Menschen schon seit langem konstatiert. Bei Kaninchen und Hunden hat v. Gudden?) das gleiche Verhalten beobachtet, bei Vögeln fand v. Michel?) ebenfalls eine un- vollständige Atrophie. Die Atrophie der Sehnervenfasern erfolgt im zentralen Stumpf bedeutend schneller, wie Tepliachin’) beim Kaninchen konstatierte, Nach Durchschneidung des Opticus treten auch an den mit ihm in Be- ziehung stehenden Zentren des Gehirnes degenerative Veränderungen auf, wie umgekehrt Zerstörungen dieser Zentren Degenerationen zur Folge haben, die sich bis zur Retina erstrecken. Hierauf kann jedoch an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 2. Einfluß des Sympathicus. Auch dem -Sympathicus wird von einigen ein Einfluß auf die Ernährung des Auges zugeschrieben, während andere denselben leugnen. So wollen Pourfour du Petit‘) und Cl. Bernard’) einige Zeit nach der Durch- schneidung des Halssympathicus bei Hunden eine Verkleinerung des Bulbus der- operierten Seite beobachtet haben. Dieses konnte Vulpian°) nicht bestätigen. Dagegen fand er infolge von Resektion des Sympathicus bei 8 bis 14 Tage alten Meerschweinchen nach 2!/, Jahren die Verkleinerung auf der operierten Seite. Angelucci?) sah dasselbe nach Exstirpation des . oberen Halsganglion. Diese Folgen konnten jedoch nicht beobachtet werden von Hertel!P), von Roerboeck!!) und Levinsohn!?) am Kaninchen, von Moussu und Charrin!3) auch an Ziegen und Hunden, von Levinson an Affen, endlich von Jonnesco und Floresco!#) beim Menschen. !) v. Wahl, De retin. text. in monstro anencephal. disquis. microscop. Dissert., Dorpat 1859; Manz, Arch. f. pathol. Anat. 51, 313. — *) Birch-Hirschfeld, Arch. f. Ophthalmol. 50, 202; Krause, a. a. O.; Tepliachin, Arch. f. Augen- heilkunde 28, 354; Michel, XII. Congrös internat. de med. d. Moscou 1898, Bd. 6, Sektion 11, 8. 139; Kosow, Sitzungsber. d. Wiener Akad. d. Wissensch., 3. Abt., 49 (2); 50 (2); Wagenmann, Arch. f. Ophthalmol. 36 (4), 63; Hertel, ebenda 46 (2), 277; Lehmann, Exper. quaed. d. nerv. opt. disseet. ad ret. text. vi et effeetu. Dissert., Dorpat 1857; Marckwort, Arch. f. Augenheilk. 10, 296; Krause, Die Membrana fenestrata der Retina 1868; Krenchel, Arch. f. Oph- thalmol. 20 (1), 127; Hamburger, Festschr. z. 70. Geburtstage von Donders 1888, 8. 285; Griffini et Marchio, Arch. ital. de biol. 12, 82. — °) Arch. f. Oph- thalmol. 20 (2), 249; 21 (3), 199. — *) Sitzungsber. der ophthalmol. Gesell- schaft 22, 69. — °) Zitiert nach Leber, Zirk.- u. Ernährungsverhältnisse d. Auges 1903, S. 491. — °) Lecons sur la phys. et la path. du systeme nerveux 2, 473. — ?) Lecons sur appar. vasomoteur. 1, 91; 2, 397. — ®) Arch. ital. de biol. 20, 67. — ®) Arch. f. Ophthalmol. 49, 430. — '°) Het ganglion supr. colli u. symp. Utrecht 1895. — "') Arch. f. Ophthalmol. 55, 144; Zeitschr. f. Augenheilk. 5, 359. — 12) Compt. rend. d. l’acad. des sc. 135, 1008. — '?) Journ. de phys. et de path. gen. 4, 845. 448 Netzhautzirkulation : Arterien. II. Die Zirkulationsverhältnisse des Auges. A. Die Blutzirkulation. 1. Die Zirkulation in (der Netzhaut. Wenn man die Mechanik der Blutbewegung in den Retinagefäßen ver- stehen will, hat man zu beachten, daß die Gefäßwände unter der Wirkung von zwei Druckkräften stehen. Auf die Innenseite der Wand wirkt der intravasculäre und auf die Außenseite der intraoculare Druck. Beide Fak- toren müssen die Zirkulation beeinflussen. Es ist klar, daß eine Entfaltung des Gefäßlumens durch das Blut nur stattfinden kann, wenn der Druck im Gefäß größer ist als der außen auf der Gefäßwand lastende. Daher ist die erste Bedingung für den Kreislauf in der Netzhaut, daß in allen Teilen des Gefäßsystems der Blut- druck höher ist als der intraoculare!). Diese Bedingung ist nicht immer erfüllt. Es kommt vor, daß der intra- oculare Druck größer ist als der Blutdruck. Da der letztere rhythmischen Schwankungen unterworfen ist, kann der intraoculare Druck dauernd oder periodisch den Blutdruck übertreffen. Es sollen im folgenden zunächst die Erscheinungen an den Arterien betrachtet werden. "1. Arterien. Normalerweise sind die Arterien der Retina dauernd mit Blut gefüllt. Hieraus geht hervor, daß auch während der Diastole des Herzens der Blutdruck höher ist als der intraoculare. : Man kann aber leicht rhythmische Entleerung und Füllung der Arterien erzeugen, wenn man auf den Bulbus drückt?2). Hierdurch wird der intra- oculare Druck vermehrt; durch geeignete Abstufung des äußeren Druckes kann man leicht bewirken, daß der Blutdruck während der Systole den intraocularen übertrifft, während der Diastole aber geringer ist. Offenbar muß eine rhythmische Füllung der Arterien die Folge sein. Diese Er- scheinung sieht man auch bei herannahendem Tode), wenn die Herzkraft zu schwinden beginnt. Auch so kann der intraoculare Druck während der Diastole die Oberhand gewinnen. Bei Ohnmachten*) und bei Glaukom- anfällen beobachtet man häufig dasselbe. Wenn man den Druck auf den Bulbus sehr stark macht, so wird der intraoculare Druck auch während der Systole höher als der Blutdruck; die Arterien bleiben dauernd leer. Dieses Leerwerden tritt nach Schöler’) ein, wenn der intraoculare Druck 75mm Hg beträgt, nach Schulten®) erst bei 90 bis 120 mm Hg. ‘) Dieser Satz gilt natürlich nur für den Fall, daß die Gefäßwände keine wesentliche Steifigkeit besitzen. — *) v. Jaeger, Wiener med. Wochenschr. 1859, Nr. 3bis5; Mauthner, Lehrb. d. Ophthalmoskopie 1868. — °) v. Schulten, Arch. f. Ophthalmol. 30 (8), 39; v. Gräfe, ebenda 12 (1), 207. — *) Wordsworth, Ophthalmol. Hosp. Rep. 1863, 2. — °) Arch. f. Ophthalmol. 25 (4), 63. — °) Ebenda 30 (3), 39. Netzhautzirkulation: Venen. 449 Das rhythmische Einströmen des Blutes in die Netzhautarterien, wenn man auf das Auge drückt, ist zuerst von A. v. Gräfe!) richtig in dem oben angegebenen Sinne erklärt worden. Man hat diese Pulsationserscheinung auch als „Druckpuls“ der Zentral- arterie bezeichnet. Durch diesen Namen wollte man sie von den Volum- schwankungen der Arterien in der normalen Netzhaut unterscheiden, von den „echten Arterienpulsen“. Diese Unterscheidung ist nicht berechtigt; denn die Ursache der beiden Pulsphänomene ist dieselbe: die Blutdruck- schwankungen. Der Netzhautarterienpuls ist unter normalen Bedingungen nicht an jedem Auge zu beobachten; zuerst wurde er von Donders2) gesehen, später häufig auch von anderen®). Wenn durch Erkrankungen die pulsatorischen Blut- druckschwankungen vergrößert sind, so ist auch dieser Puls leicht zu kon- statieren, z. B. bei Insuffizienz der Aortenklappen *), bei Basedowscher Krankheit’). 2. Venen. Während bei den Arterien die Pulsationen mechanisch leicht zu erklären sind, ist ihre Ursache an den Venen noch nicht befriedigend erkannt. Der Puls der Venen äußert sich in einem Anschwellen und Kollabieren derselben, welches im Rhythmus des Herzschlages erfolgt. Er zeigt sich nur an dem Venenabschnitt, welcher im Bereich der Papille liegt, während die Venen in der Netzhaut keine Kaliberschwankungen zeigen. Entdeckt wurden diese Pulsationen durch van Trigt®) und Coccius’”). Sie sind nicht bei jedem Auge zu beobachten; am häufigsten finden sie sich bei Kindern. Über den zeitlichen Zusammenhang zwischen den Venenpulsationen im Auge.und den Arterienpulsen sind die Ansichten der Autoren geteilt. Coccius°) gibt an, daß die Verengerung der Venen gleichzeitig mit dem Druckanstieg in den Arterien erfolge. Dasselbe behaupten Eppler’) und Leber!P), Nach Donders!!) und Türk!2) hingegen zeigt sich die Ver- engerung bereits vorher, während die Erweiterung der Venen unmittelbar nach dem Arterienpulse zu beobachten ist. Analoge Angaben macht Helfreich'?). Alle diese Beobachtungen sind durch gleichzeitige Wahrnehmung des Venenpulses im Auge und des Arterienpulses an anderen Körperstellen ge- macht. Der letztere ist an Arterien (Carotis, Radialis) oder am Herzen (Palpation des Spitzenstoßes, Auskultation der Herztöne) festgestellt. Es vergeht bekanntlich eine gewisse Zeit, bis die Pulswelle vom Herzen zu peripheren Arterien gelangt. Diese Zeit ist für die Carotis, Radialis, Centralis retinae nicht gleich. Man kann also die Beobachtungen im Auge !) Arch. f. Ophthalmol. 1 (1), 332. — ?*) Ebenda 1 (2), 75. — °) Becker, ebenda 18 (1), 206; Türk, ebenda 48, 513. — *) Quincke, Berl. klin. Wochenschr. 1868. Nr. 34; Becker, Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 9, 380. — °) Becker, Wiener med. W öchenschr. 1873, Nr. 24, 25; Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 18, 1. — °) Der Augenspiegel und seine Anwendung 1853. — 7) Über die Anwendung des Augen- spiegels 1853. — °) A. a. O0. — °) Mitteil. d. ophthalmol. Klin. Tübingen 2 (1), 83. — !°) Zirkulat.- u. Ernährungsverhältn. d. Auges 1903, 8. 126. — '') Arch. f. Ophthalmol. 1 (2), 75. '*) Ebenda 48, 513. — '”) Ebenda 28 (3), 1 Nagel, Physiologie des Menschen. III. 99 450 Netzhautzirkulation: Venen. und an anderen Körperteilen zeitlich nicht ohne weiteres miteinander ver- gleichen. Hierzu kommt noch, daß die Wahrnehmungszeit für den Gesichts- eindruck und den Tast- oder Gehörseindruck des Beobachters wohl niemals gleich lang ist, und daß bei verschiedenen Beobachtern die Zeiten gewiß verschiedene absolute Werte haben. Solange also keine exakten Beob- achtungen über das zeitliche Verhältnis zwischen Arterien- und Venenpuls vorliegen, ist es unmöglich, über das Wesen der Venenpulsation sichere An- gaben zu machen. Zuverlässiger als die angeführten sind Beobachtungen, die sich auf die Koinzidenzen der Pulse der Retinaarterien und -venen beziehen. Solche Versuche sind leicht anzustellen, indem man auf den Bulbus drückt. Hierbei haben A. v. Gräfe!) und Donders?) zuerst gesehen, daß die Füllung der Arterien und die Entleerung der Venen gleichzeitig erfolgt. Theoretische Anschauungen über den Venenpuls. Für diese zuletzt erwähnte Erscheinung ist vermutlich die von Cocceius?) gegebene Erklärung richtig. Er nahm an, daß die Füllung der Arterien den intra- ocularen Druck steigere und hierdurch das Venenblut ausgepreßt werde. Die Tatsache, daß die Verengerung der Venen nur im Bereich der Pa- pille erfolgt, leitete Donders daraus ab, daß hier der intravasculäre Druck am geringsten sei, die Kompression also am leichtesten erfolgen könne. Zu- gleich nahm er an, daß die Papille durch die Drucksteigerung etwas nach hinten ausgebuchtet werde und dadurch eine Knickung der Venen am Papillenrande erfolge. Dieses letztere Moment wurde später von Jacobi) besonders betont. Wenn diese Vorstellung richtig ist, so muß im nicht der Papille an- gehörenden Venengebiete eine Stauung des Blutes stattfinden. Diese ist be- obachtet von Becker) und Schön®), während Berthold?) und Helfreich°) dieselbe nicht sehen konnten. Jacobi und Eppler konstatierten sie in einigen Fällen, in anderen nicht. Die übrigen Anschauungen über die Natur des Venenpulses sollen nur ganz kurz erwähnt werden. Nach v. Jaeger und Schön soll der Puls des Hauptstammes der Zentralarterie dem Venenstamm mitgeteilt werden; nach Helfreich sollen die Blutdruckschwankungen in den Hirnsinus den Venen- puls bewirken; nach Holz?) soll er vom sog. negativen Jugularvenenpuls herzuleiten sein; nach Türk!) pflanzt sich die arterielle Pulswelle durch die Capillaren auf die Venen fort. Der Netzhautvenenpuls fehlt bei Kaninchen; dagegen ist er bei Schafen !!) und Schweinen '?), bei Hunden '?) und Katzen'*) beobachtet worden. Beim Hunde konnte man ihn besonders gut sehen nach der Blutdrucksteigerung, welche durch Splanchnicusreizung erzeugt wurde '°). Die Bewegung der Blutkörper in den Gefäßen der menschlichen Retina ent- zieht sich unter normalen Verhältnissen der Wahrnehmung mit Hilfe des Augen- ) Arch. f. Ophthalmol. 1 (1), 382. — °?) A. a. 0. — °) A. a. O0. — *) Arch. f. Ophthalmol. 22 (1), 111. — °) Ebenda 18 (1), 206. — °) Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 19, 345. — 7) Ebenda 8, Beilageheft. — °) Arch. f. Ophthalmol. 28 (3), 1. — °) Berl. klin. Wochenschr. 1889, Nr. 50. — !P) Arch. f. Ophthalmol. 48, 513. — MW) v. Gräfe, a. a. O0. — N) Helfreich, a. a. 0.‘— °®) v. Michel, Festschr. f. Horner 1, 1, 1881. — *) Howe, Journ. of ophthalmol. 2, 139. — '») v. Basch, Arb. physiol. Inst., Leipzig 1875. Aderhautzirkulation. 451 spiegels. Bei Tieren jedoch, mit stark vergrößerndem dioptrischem Apparat, ist die Blutbewegung direkt zu beobachten, z. B. beim Frosch'), bei der Ringelnatter?) und bei Fischen®). Messungen der Geschwindigkeit der Zirkulation sind auf diesem Wege bisher nicht vorgenommen worden. 2. Die Zirkulation in der Aderhaut. Wie in der Retina kann auch in der Chorioidea die Zirkulation nur dann Bestand haben, wenn der Druck im ganzen Gefäßsystem der Aderhaut höher ist als der intraoculare. Wohl wegen der Schwierigkeiten, welche die Untersuchung der Chorio- idea mit dem Augenspiegel hat, sind die Beobachtungen über die Zirkulations- verhältnisse hier viel spärlicher als bei der Netzhaut. Gleichwie an dieser und aus denselben mechanischen Ursachen hat man auch an den Aderhautarterien bei Druck auf das Auge Pulsationen beobachtet *). Dieselbe Erscheinung läßt sich an den Venen bei Druck auf den Bulbus nicht immer wahrnehmen; so konnten Becker und Türk’) keine Pul- sationen erzeugen, während es Laqueur6), Ulrich’) und Thorner’°) gelang. Der Grund für die Schwierigkeit, Venenpuls hervorzurufen, liegt ver- mutlich darin, daß die Aderhautvenen, solange sie im Bulbusinnern verlaufen, sehr weit sind — sie sind vor dem Eintritt in die Sklera sinusartig erweitert — und erst beim Durchtritt durch die Sklera eng werden. Hierdurch wird bewirkt, daß der Druckabfall hauptsächlich im engen Teile erfolgt. Daher ist der Druck in dem weiten noch relativ hoch. Vielleicht ist deshalb eine Kom- pression schwieriger zu erzielen als bei den Retinavenen, für welche analoge Druckverhältnisse nicht in Frage kommen. An der Iris hat Weber?) spontane Pulsationen des Üirc. arter. major bei Hundenebeobachtet. Auch rhythmische Erweiterungen und Verengerungen in Intervallen von !/, bis !/, Minute fand: Wegner!) an den Irisarterien des Kaninchens. Der Grund dieses Phänomens, welches Schiff zuerst an den Öhrarterien desselben Tieres sah, ist unbekannt. Ob der Blutgehalt der Iris unter normalen Verhältnissen mit der Weite der Pupille wechselt, ist nicht entschieden. Nur für den Cürc. art. irid. ma). liegt eine Beobachtung Schölers!!) an Katzen vor, welcher denselben bei der Erweiterung der Pupille abschwellen sah. Hensen und Völkers!?2) beobachteten größere Schwankungen der Pupillenweite im Rhythmus der Atmung und kleinere im Rhythmus des Herz- schlages.. Beide führen sie auf Schwankungen des Blutgehaltes der Iris zurück. Die ersteren, bestehend in einer Erweiterung der Pupille bei der In- spiration und einer Verengerung bei der Exspiration, sollen durch die Ent- leerung der Venen bei der Inspiration bedingt sein. Die Erweiterung der !) Cuignet, Ann. d’oculist 55, 128; Czerny, Sitzungsber. d. Wiener Akad., 3. Abt, 56 (und viele andere). — ?) Beer, Arch. f. d. ges. Physiol. 69, 548. — °) Beer, ebenda 58, 543, 551. — *) Becker, Arch. f. Ophthalmol. 18 (1), 287; Helfreich, ebenda 28 (8), 1; Jacobi, ebenda 22 (1), 128. — 5) Ebenda 48 (3), 513. — *°) Ebenda 23 (3), 155. — 7) Ebenda 26 (3), 66. — ®) Arch. f. Augenheilk. 45, 36. — °) Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 6, 395. — 20) Arch. f. Ophthalmol. 12 (2), 1. — '') Schöler, Exper. Beitr. z. Kenntnis d. Irisbew., Dissert. Dorpat. 1869. — '?) Experimentalunters. über den Mechanismus der Accommod. 1868. 29 * 452 Aderhautzirkulation. Pupille kann bis zu !/, mm betragen. Die zweiten bestehen in einer schnellen, dem Pulse synchronen Verengerung der Pupille mit nachfolgender langsamerer Erweiterung. Sie sollen bewirkt werden durch die.stärkere Gefäßfüllung bei der pulsatorischen Drucksteigerung. Die erste Erscheinung ist häufig bestätigt !); die zweite dagegen scheint nicht bei allen Menschen nachweisbar zu sein?). Ob die Erklärung der soeben geschilderten Erscheinungen richtig ist, oder ob dieselben durch nervöse Einflüsse bedingt sind, könnte auf Grund von Injektionsversuchen zweifelhaft erscheinen. Sofanden Brown Söquard?) und Heine) bei Injektionen der Iris von der Carotis aus keine Veränderung der Pupillenweite. Dagegen behaupten Gaddi5) und Rouget®), in gleichen Versuchen Pupillenverengerung gesehen zu haben. Neue Untersuchungen über diese Frage sind erwünscht. Die nach Abfluß : des Kammerwassers zu beobachtende Verengerung der Pupille?) ist von dem Blutgehalte der Iris unabhängig, da sie auch an toten Augen®) beobachtet werden kann. Der Grund derselben ist unbekannt. Über die Zirkulation im ruhenden Ciliarkörper liegen keine Beobach- tungen vor. Bei der Accommodation dagegen sollen nach Coccius?) die Ciliarfortsätze anschwellen. Er erklärt dies aus einer Behinderung des Venenblutabflusses, welche durch die Kontraktion des Ciliarmuskels bewirkt werden soll. Da die Angabe von Coccius nicht obne Widerspruch ge- blieben ist !0), müssen weitere Versuche abgewartet werden. Man hat hierbei die Möglichkeit einer Gefäßdilatation bei der Kontraktion zu berücksichtigen, wie sie ja im Aktionszustande bei den quergestreiften Muskeln beobachtet ist. 3. Die Zirkulation in den übrigen Teilen der Orbita. Die Kreislaufverhältnisse der Conjunctiva bieten keine Besonderheiten. Bei mikroskopischer Betrachtung der Bindehaut kann man am menschlichen und an Tieraugen die Bewegung der Blutkörper in den kleinen Gefäßen be- obachten !}). } Über die Zirkulation in den übrigen Teilen der Orbita nähere Angaben zu machen, überschreitet den Rahmen dieses Werkes. Erwähnt sei nur, daß die pulsatorischen Volumschwankungen des Inhaltes der Augenhöhle denen des Schädelinhaltes analog sind (Ellis 2). Die Innervation der Retinagefäße. Die Innervation der Retinagefäße ist bei Tieren vielfach untersucht worden ; beim Menschen beschränken sich unsere Erfahrungen auf die Folgen, welche die Exstirpation des Ganglion cervicale superius mit sich bringt. !) Coccius, Ophthalmometrie und Spannungsmessung am kranken Auge 1872; Drouin, De la pupille 1876. — *) Leber, Zirkul.- u. Ernährungsverhältn. d. Auges, S. 194. — ®) Hensen und Völkers, a.a.0. — *) Manz, Virchow-Hirsch Jahresber. 1873, 2, 500. — ) Ann. d’ocul. 22, 163. — °) Compt. rend. et m&m. de la soc. de biol. 1856, p. 130. — 7) Ann. d’ocul. 22, 163. — °) Compt. rend. et m&m. d. 1. soc. de biol. 1856, p. 130. — °) Der Mechan. d. Accommod. 1868. — !’)Becker, Wiener med. Jahrb. 1863/64. — !!) Coceius, Die Ernährungsweise der Hornhaut usw. 1852; Donders, Sitzungsber. d. ophthalmol. Gesellsch. 2, 128; Balser, Deutsche Zeitschr. f. Chir. 7, 115; Preiss, Virch. Arch. 89, 17; Schleich, Klin. Monatsbl. f. Augen- heilkunde 40, 177; Augstein, Zeitschr. f. Augenheilk. 8, 317, 454. — !?) Boston med. and surg. Journal, 21. April 1887. Innervation der Retinagefäße. 453 Man hat in den Tierversuchen den zentralen Ursprung und die Wege der vasomotorischen Nerven durch Reizung oder Durchschneidung des Zentralnerven- systemes, des Sympathicus und peripherer Nerven zu ergründen versucht. Die nach ein und derselben Operation sich zeigenden Änderungen der Gefäßweite sind nicht immer gleich: bald Verengerung, bald Erweiterung. Bei den Reizungen der Zentren hat dies vielleicht seinen Grund darin, daß man den Reiz nicht auf ein- zelne Elemente beschränken kann. Somit liegt die Möglichkeit vor, daß man zugleich mit den Ganglienzellen am Reizort aus anderen Niveaus stammende Nervenfasern erregt. Die Effekte der Nervenreizungen, welche bald in Erweiterung, bald in Verengerung der Gefäße, bald in keiner Veränderung bestehen, können deshalb so verschieden sein, ‚weil die Nervenstämme sowohl vasodilatierende wie vasoconstringierende Fasern enthalten. Verschieden oder gleich starke Erre- gung dieser beiden Fasergattungen könnte wohl die genannten Effekte bewirken. Systematisch geprüft ist indes diese Möglichkeit bisher nicht. Aus den folgenden Angaben wird hervorgehen, daß neue Versuche über den Gegenstand not- wendig sind. 1. Versuche an Kaninchen. Nach der übereinstimmenden Angabe aller Autoren!) bewirkt die Reizung des Halssympathicus Verengerung der Retinagefäße. Die so erregten verengenden Fasern treten durch Vermittlung des Trigeminus in die Retina. Dies wurde durch Morat und Doyon bewiesen, welche fanden, daß der Reizeffekt nach intraeranieller Durchschneidung des Trigeminus ver- schwunden war. Auch gefäßerweiternde Fasern für die Retina müssen im Sympatbicus ver- laufen, wie Morat und Doyon durch Reizung im Brustteil desselben nachwiesen. Ob der Sympathicus einen Tonus auf die Netzhautgefäße ausübt, ist nicht sicher. Ein Teil der Autoren konnte nach Durchschneidung desselben geringe Er- weiterungen ?) oder gar keine Veränderungen?) an den Gefäßen finden, während andere Erweiterung‘) derselben beobachteten. Auch nach Exstirpation des Gangliou cervicale superius wurde von einigen*) eine vorübergehende Erweiterung, von anderen *) nichts derartiges, wieder von anderen?) eine Erweiterung, die erst nach Tagen auftrat, beobachtet. Die Lage der Niveauzentra für die Vasomotoren ist nicht bekannt. Ob die Zentren in der Dyspnoe erregt werden, ist zweifelhaft. v. Schulten‘) konnte bei intaktem Sympathicus keine Veränderung beobachten, während Morat und Doyon’) (nach Durchschneidung des Sympathicus) Erweiterung der Retinagefäße sahen. 2. Versuche an Hunden. Beim Hunde widersprechen die Angaben ein- ander noch mehr. Poncet®) und Doyon°) beobachteten bei Reizung des Vagosympathicus am Halse Erweiterung der Retinagefäße, Jegorow dagegen Verengerung. Über den Verlauf der verengernden Fasern macht Jegorow'®) nur negative Angaben. Inden langen Ciliarnerven verlaufen sienicht, da ihre Reizung wirkungslos ist und ihre Durchschneidung am Effekt der Sympathicusreizung nichts ändert. Die erweiternden Fasern verlaufen nach Morat und Doyon!!) durch den Ramus cervicogasserianus zum Ganglion Gasseri. Von hier gelangen sie in den ersten !) Wegner, Arch. f. Ophthalmol. 12 (2), 1; Raynaud, Arch. gen. de med., 6.Ser., 23; Leber, Handb.d. Augenheilk. 2, 345 (1. Aufl.); Rieger u. v. Forster, Arch. f. Ophthalmol. 27 (3), 109; v. Schult&n, ebenda 30 (3), 39; Jegorow, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1886, 8.147; Morat et Doyon, Arch. de physiol. norm. et. path., 5. Ser. 4, 60; Neuschüler, Ann. d. ottalmol. 28, 314. — *) Becker, Wiener med. Wochenschr.' 1873, Nr. 24, 25; Raynaud, a.a. OÖ. — °) Klein u. Svetlin, Psychiatr. Studien a. d. Klin. v. Leidesdorf, 1877; v. Schulten, a.a.0. — *) Vulpian, Lecons sur l’appareil vasomot. 1875, 1; Jegorow, a. a. O.; Neuschüler, a. a. O.; Hertel, Arch. f. Ophthalmol. 49, 430; Angelucci, Arch. ital. de biol. 20, 67; Morat et Doyon, a. a. 0. — °’) A.a. 0. — ®)A.a.0. — ”T)A.a. 0. — °) Bullet. d. 1. soc. d. biol. 1881, 2 avril. — °) Doyon, Arch. d. physiol. norm. et. path., 5. Ser., 2, 774; 3, 154. — !%) A.a. 0. — MY A 454 Innervation der Retinagefäße. Ast des Trigeminus. Aus diesem treten sie durch die sensible Wurzel in das Ciliarganglion und von da zur Retina. Nach Durchschneidung des Trigeminus fanden Morat und Doyon die Reizung des Sympathicus ohne Wirkung für die Retinagefäße. Die gefäßerweiternden Fasern des Trigeminus stammen nach Doyon!') nicht alle aus dem Sympathicus; ein Teil soll aus der Medulla oblongata direkt her- rühren. Als Beweis hierfür wird angeführt, daß 14 Tage nach der Durch- schneidung des Sympathicus die Reizung des Trigeminus noch afäßer weitergum bewirkt. Tonische Einflüsse des Sympathicus auf die Retinagefäße ind nicht sicher nachgewiesen. Die Durchschneidung kann ohne Wirkung bleiben (Druault?); sie kann gefäßerweiternd wirken (Jegorow°), Poncet*) und Doyon°). Auch Gefäß- verengerung ist beobachtet (Poncet‘), Doyon’) Das Rückenmark sollen im zweiten bis fünften Brustnerven gefäßverengernde Fasern‘) verlassen, im achten Cervical- und ersten Brustnerven gefäßerweiternde. 3. Versuche an Katzen. Die Reizung des Vagosympathicus am. Halse wirkt nach Doyon’) erweiternd auf die Netzhautgefäße, nach Schöler?) dagegen verengernd. Durchschneidung des genannten Nerven gleiehwie Exstirpation des Ganglion cervicale superius wirkt ebenfalls erweiternd ’°). Die Lage der Zentra für die Vasomotoren der Netzhaut wird verschieden an- gegeben. Nach v. Hippel und Grünhagen') wirkt Reizung der Medulla oblongata erweiternd auf die Netzhautgefäße. Rieger und v. Forster") fanden dieselbe Wirkung nach Reizung des Brustmarks im Bereich des vierten bis sechsten Brustwirbels. Den entgegengesetzten Erfolg hat nach Adamük’”) Reizung des Halsmarks in der Höhe des sechsten bis siebenten Halswirbels. Morat und Doyon') endlich sahen bei Reizung des Marks in der Gegend des vierten bis fünften Halswirbels oder tiefer unten bald Verengerung, bald Erweiterung der Retinagefäße. ; 4. Beobachtungen an Menschen. Nach der Exstirpation des Ganglion cervicale superius beobachtete Schmidt-Rimpler'*) stärkere Rötung der Papille der operierten Seite. Jonnesco und. Floresco') sahen in einer Reihe von Fällen stärkere Füllung und Schlängelung der Gefäße. Diese verlor sich wieder, oft erst im Verlaufe von Jahren. Resektion des Trigeminus beim Menschen oder Exstirpation des Gasserschen Ganglions'®) ist ohne Einfluß auf die Retinagefäße. Die Innervation der Gefäße des Aderhauttractus. Die Gefäße des Aderhautgebietes werden vom Sympathicus innerviert. Reizung des Halssympathicus bewirkt bei Kaninchen, Katzen und Hunden Verengerung der Ciliargefäße und ihrer Verzweigungen; Durchschneidung des Nerven hat Erweiterung derselben zur Folge. Diese Beobachtungen wurden von der Mehrzahl der Autoren '”) übereinstimmend gemacht; nur Schiff’) konnte sich von einem Einfluß des Sympathicus auf die genannten Gefäße nicht überzeugen. !) Doyon, a. a. O. — ?) Recherch. sur 1. pathogen. d. l’amaur. chin. 1900. — 3) A.2.0. — !)A.a.0. — °) A. a. 0. — °) Dastre et Morat, Compt. rend. d. Pacäd. d. sc. 91, 393, 491; Arch. de physiol. norm. et path., 2. Ser., 9, 177. — 7) A. a. 0. — ®) Exp. Beitr. z. Kenntn. d. Irisbew. Dorpat 1869. — °) Neuschüler, a. a. O.; Schöler, a. a. ©. — !°) Arch. f. Ophthalmol. 14 (3), 234; 15 (1), 265. — 1) A. 2.0. — '?) Ann. d’ocul. 58, 5, 8 — ') A. a. O. — '*) Sitzungsber. der ophthalmol. Gesellsch. 28, 29. — '°) Journ. d. phys. et de path. gen. 4, 485. — 1%) Krause, Münch. med. Wochenschr. 1895, Nr. 25. — '”) Kuyper, Onderz. betr. de Kunstmat. verw. v. d. oogappel. Dissert. 1859; Hamer, Nederl. Tijdschr. v. Geneesk. 1863; Dmitrowsky, Petersb. med. Zeitschr. 7, 251; Wegner, Arch. f. Ophthalmol. 12 (2); Salkowski, Zeitschr. f. rat. Med. 3.R., 24, 167; Grünhagen, ebenda 8.33; Morat et Doyon, Arch. d. physiol. n. e. p., 5. Ser., 4, 60; v. Schulten, Arch. f. Ophthalm. 30 (3), 47. — "®) Unters. z. Physiol. d. Nervensystems 1853. BE ON VE OR en le aaa a un U LLLU u RT ir Innervation der Aderhautgefäße, der Conjunctivagefäße. 455 Auch nach Exstirpation des Ganglion cervicale superius tritt eine Erweiterung der Gefäße ein. Dieselbe ist anfangs ausgesprochener als nach Durchschneidung des Halssympathicus, bildet sich aber nach einiger Zeit vollkommen zurück'). Die Rückbildung erklärt Langendorff durch eine Kontraktur der Gefäßmuskulatur infolge des Innervationsausfalles. Die Gefäßnerven gelangen auf der Bahn des Trigeminus ins Auge. Nach Resektion desselben wird die Reizung des Sympathicus unwirksam’). Die Durchschneidung des Trigeminus wirkt wie die Ausrottung des oberen Hals- ganglions °). Die Existenz gefäßerweiternder Nerven für den Chorioidealtractus wird be- hauptet *), ist aber nicht durch direkte Beobachtungen bewiesen. E Die Lage der Zentra für die Gefäßnerven ist nicht genau bekannt. Nach Salkowski°) bewirkt einseitige Durchschneidung des Rückenmarkes beim Kanin- chen, nach Schiff°) ein Halbschnitt im Kopfmark beim Hunde Erweiterung der Chorioidealgefäße. Die Innervation der Conjunctivagefäße. Auch für die Conjunctiva ist der Sympathicus der Gefäßnerv. Reizung und Durchschneidung desselben haben den gleichen Erfolg wie bei den Chorioidea- gefäßen °). Die Gefäßerweiterung nach Durchschneidung des Nerven geht nach einigen Stunden wieder zurück ’), die nach Exstirpation des oberen Halsganglions ein- tretende aber erst nach Tagen oder Wochen®). Nach Beobachtungen von Jon- nesco und Floresco°) verschwindet sie beim Menschen selbst nach 6'/, Jahren noch nicht. Bei jungen Kaninchen fand Hertel!?) nach dieser Operation überhaupt keine Gefäßerweiterung. “Die Vasomotoren für die Conjunctiva können nur zum Teil im Trigeminus verlaufen, denn auch nach Resektion desselben ist die Reizung des Sympathicus noch wirksam ''). Doch scheint auch der Trigeminus gefäßverengende Fasern zu führen, denn seine Durchschneidung hat eine kurz dauernde Hyperämie der Binde- haut zur Folge'?). Nach Schiff'*) stellt sich nach der Operation eine zwei bis drei Wochen dauernde Gefäßerweiterung ein, nach dieser Zeit zeigt sich dieselbe nur noch periodisch. Letzteres Verhalten konnte noch nach sechs Monaten kon- statiert werden. Nach Beobachtungen von F. Krause '*) undLexer'?) an Menschen, denen das Gassersche Ganglion exstirpiert war, ist die Conjunctiva 18 Tage nach der Operation normal. Vor dieser Zeit konnte sie nicht beobachtet werden. Auch gefäßerweiternde Nerven für die Conjunctiva konnten im Trigeminus durch Reizung desselben zentral vom Ganglion Gasseri nachgewiesen werden, !) Langendorff, Klin. Monatsbl. f. Augenhk. 38, 129; Sinitzin, Zentral- blatt f. d. med. Wissensch. 1871, Nr. 11; Hertel, Arch. f. Ophthalm. 49 (2), 430. — ?) Wegner .a.a. 0. — °) Schiff, a. a. O.; Snellen, Arch. f. d. holl. Beitr. z. naturw. Heilk. 1,206; Wegner, a.a.0.; v. Hippel und Grünhagen, Arch. f. Ophthalm. 16 (1), 27; Decker, Contr..ä P’etude d. 1. ceratit. neuroparal. Dissert. 1876; Leber, Zirk.- u. Ern.-Verh. d. A., 8. 200. — *) v. Hippel u. Grün- hagen, a.a. 0.; Cl. Bernard, Compt. rend. d. 1. soc. de biol. 1873, p. 150; Panas, Lecons sur les keratites 1876; v. Schulten, a. a. O0. — °) Salkowski, a.:a. 0. — °) Pourfour du Petit, Mem. de l’Acad. d. sciences 1727; Waller, ‚Compt. rend. d. l’acad. d. sc. 36, 378; Schiff, a. a. O.; Cl. Bernard, Lecons sur la phys. et path. du syst. nerv. 1858; Salkowski, a. a. O.; Vulpian, Lecons sur l’app. vasomot. 1875; Morat et Doyon, a. a. OÖ. — 7’) Schiff, Ges. Beitr. 1, 438. — %) Vulpian, a. a. 0. — °) Journ. d. phys. et d. path. gen. 4, 845. — !') A.a. 0. — "ı) Morat et Doyon, a. a. O. — '?) Büttner, Zeitschr. f. rat. Med. 3. R., 15, 254; v. Hippel und Grünhagen, a. a. O.; v. Hippel, Arch. f. Ophth. 35 (3), 217; Ollendorff, ebenda 49, 455. — '?) A. a. O.; Ges. Beitr. 1, 419, 429. — '*) Münch. med. Wochenschr. 1895, Nr. 25. — '?) Arch. f. klin. Chir. 65, 843. 456 Humor aqueus: Chemie. während die Reizung des Ramus ophthalmicus dieses Nerven ohne Wirkung war (Vulpian!). Über die Lage der Niveauzentra für die Vasomotoren fehlen genaue Angaben. Halbschnitte des Kopfmarkes haben denselben Erfolg wie Durchschneidung des Trigeminus ?). B. Die Iymphatische Zirkulation des Auges. In diesem Kapitel sollen unsere Kenntnisse über die Absonderung und Aufsaugung der intraocularen Flüssigkeiten zusammengefaßt werden. Ob man ein Recht hat, das unter diesem Titel zu tun, bleibe dahingestellt. Vor- läufig wissen wir von den Kräften, welche die Bildung der Lymphe bewirken, ebensowenig wie von den hier in Frage kommenden. Daher wollen wir dem alten Brauche folgen. I. Humor aqueus. Chemische Zusammensetzung. Der Humor aqueus ist eine klare, farb- lose Flüssigkeit. Seine Menge beträgt beim Menschen ?) 0,23 bis 0,4cm® (beim Kaninchen *) 0,28 cm®). Die Reaktion ist alkalisch. Die Angaben über das spezi- fische Gewicht schwanken für den Menschen’) zwischen 1,0034 und 1,0060 (für Tiere zwischen 1,0076 und 1,0088). An festen Substanzen enthält er beim Menschen 0,86 Proz. (beim Rind 1,17 bis 1,313). Im Humor betragen beim Menschen die Eiweißstoffe 0,045 Proz. Dieselben bestehen aus Globulin und Albumin. Nach Michel und Wagner‘) soll der Humor auch Fibrinferment enthalten, nach Jessner’) dagegen nicht. Fibrinogen findet sich in der normalen Flüssigkeit nicht, dagegen ist sie zuckerhaltig®) (0,03 bis 0,05 Proz.). Von organischen Stoffen ist noch zu erwähnen Paramilchsäure®), Harnstoff!') und ein amylolytisches Enzym"). An Säuren '?) sind nachgewiesen Salzsäure, Kohlensäure, Schwefelsäure und Phosphorsäure. Diese sind gebunden '?”) an Kalium, Natrium, Caleium und Magnesium. Der Humor enthält auch freie Kohlensäure und freien Sauerstoff '?). Seine osmotische Spannung'*) soll beim Rinde gleich dem einer 0,959- bis 1,026 proz. Chlornatriumlösung sein. Sie soll nach Hamburger und Manca u. Deganello_ höher sein als die des Blutserums. Nach Entleerung der vorderen Kammer füllt diese sich sehr schnell wieder. Der neugebildete Humor enthält viel Eiweiß, auch Fibrin, denn er gerinnt spontan. Sechs Stunden nach der Entleerung zeigt der Inhalt der vorderen Kammer wieder normale Beschaffenheit. Die Veränderung des Humor nach Punktion der vorderen Kammer bleibt aus, wenn man Suprarenin subconjunctival injiziert hat (Wessely’°). Dasselbe Verhalten zeigt sich, wenn man den Sympathicus reizt, während sich die vor- dere Kammer wieder füllt. Beide Eingriffe verengern die Gefäße des Ciliarkörpers, so daß in diesem Umstande der Grund für die Erscheinung zu suchen ist. !) Compt. rend. d. V’acad. d. sc. 101, 981. — ?) Schiff a. a. O.; Ges. Bei- träge 1, 442; Laborde, Bullet. d. !’acad. 20, 447. — °) Krause, Handbuch der menschl. Anatomie v. C. Krause 2, 955, 1879; v. Jäger, Kletzinsky, Über die Einstell. d. dioptr. Apparates 1861. — *) Bellarminoff, Arch. f. Ophthalm. 39 (3), 38. — °) Chenevix in Berzelius Lehrb. d. Chemie 1832; v. Jäger, Klet- zinsky, a. a. O.; Golowin, Arch. f. Ophthalm. 49, 27; Troncoso, Uribe, Annal. d’oculist 126, 101. — °) Arch. f. Ophthalm. 32 (2), 155. — 7) Arch. f. d. ges. Physiol. 23, 14. — °) Bernard, Lecons s. ]. proprietes physiol. et les alt. path. des liquides de l’org. 1859. — °) Grünhagen, a. a. O. — '°) Wöhler, Liebigs Ann. 66, 128. — !!) Leber, Die Entstehung der Entzündung 1891. — '?) Cahn, Ztschr. f. physiol. Chem. 5, 214. — !?) Leber, Zirk.- u. Ern.-Verh. d. Aug., S. 214. — 1) Kunst, Beitr. z. Farbenzerstr. u. d. osm. Druckes einiger brechender Med. d. Auges, Dissert. 1895; Hamburger, Virchows Arch. 140, 517; Manca und Deganello, Arch. di ottalm. 1898; Manca, ebenda. — '°) Sitzungsber. d. ophthalm. Ges. 28, 69. Humor aqueus: Strömung. 457 Gründe, welche für eine Strömung in der vorderen Kammer sprechen. Gegenwärtig nimmt man allgemein an, daß in der vorderen Kammer eine kontinuierliche Strömung des Humor aqueus stattfinde. Direkt beob- achtet hat man dieselbe nicht. Unter normalen Verhältnissen ist dies wegen’ der wasserklaren Beschaffenheit des Humor nicht möglich; aber auch die Einführung von Indikatoren für Strömungsvorgänge hat keine Anhaltspunkte ergeben. So zeigen feine Partikel von Blattgold !) oder Wolken von Fluores- zein keine ausgesprochen gerichtete Bewegung in der vorderen Augen- kammer; ebensowenig war dies bei Cholesterinkristallen ?2) der Fall, welche einmal bei sonst normalem Auge in der vorderen Kammer sich fanden. Trotzdem hat sich die erwähnte Anschauung erhalten. Die Gründe hierfür sollen zunächst ausgeführt werden. Es ist seit langer Zeit bekannt, daß sich nach Eröffnung der vorderen Kammer ein kontinuierliches Absickern von Flüssigkeit aus der Wunde zeigt. Die abgesonderte Menge beträgt nach Jessner ’) etwa 48 mm? in der Minute. Da der Inbalt der vorderen Kammer etwa 300mm’ beträgt, so würde der- selbe sich in sechs Minuten vollkommen erneuern. Hierbei ist vorausgesetzt, daß unter normalen Verhältnissen dieselbe Neubildung von Humor stattfindet. Das ist aber sicher nicht der Fall. Schon die Tatsache, daß der nach Ver- wundung der Cornea abfließende Humor in seiner Zusammensetzung (s. oben) vollkommen anders ist als der normale, weist darauf hin, daß man aus dieser Beobachtung nicht auf normale Verhältnisse schließen kann. Weiter zeigen Versuche von Hering), daß der Abfluß aus der vorderen Kammer langsamer wird, wenn die abfließende Flüssigkeit Druck zu über- winden hat, daß er gleich Null wird, wenn dieser Gegendruck die Höhe des intraocularen erreicht. Diese Beobachtungen wurden von Adamük°) und Jessner®) bestätigt, welche fanden, daß die Quantität der absickernden Flüssigkeit umgekehrt proportional dem Druck ist, gegen welchen sie strömt. Nach dem Gesagten sollte man zunächst annehmen, daß bei normalem Augendruck überhaupt kein Humor abgesondert werde. Schwalbe’) und Leber °) haben nachgewiesen, daß an toten Augen in die vordere Kammer unter Druck injizierte Flüssigkeit durch die vorderen Ciliarvenen abfließt. Die Menge dieser abfließenden Flüssigkeit ist pro- portional der treibenden Kraft. Für normalen Augendruck beträgt sie nach Versuchen von Bentzen und Leber°) und Niesnamoff!°) in der Minute: mm RI SNEERGEE TE ee Er i 5,5 N; ne a eo 1 N ee er Er 18 N !) Leber, Über d. Ernährungsverh. d. Auges. Ber. d. IX. intern. Ophthalm. Kongr. — *) Ders., Über d. Flüssigkeitswechsel i. d. vorderen Augenkammer. 24. Sitzungsber. d. ophthalmol. Gesellschaft 1895. — °) Pflügers Arch. 23, 14. — *) eit. nach Leber. — °) Sitzungsber. d. Wien. Akad. 59 (2), 1869. — °) A.a.0. — 7) Arch. f. mikr. Anatomie 6, 1, 261. — °) Arch. f. Ophthalm. 19 (2), 87. — ®) Ebenda 41 (3), 208. — '!°) Ebenda 42 (4), 1. \ 458 Humor aqueus: Strömung. mm beitaar Katze. U UT A a 24 N. bein Bammiel ee ae 28 N. BIT ET ee 62 N. 5’. :Kantnchen ar WIR NEN TE „Kaninchen. se Ede BB. Aus solchen Beobachtungen wurde geschlossen, daß auch im Leben die genannte Quantität Humor abfließe. Da der intraoculare Druck trotz dieses Abfließens konstant bleibt, so wurde weiter daraus gefolgert, daß dieselbe Menge Humor in der Minute neu gebildet werde. Für eine solche Neubildung hat sich auch Leplat!) auf Grund eines Versuches ausgesprochen. Um den Abfluß des Humor aufzuheben, füllte er die vordere Kammer eines lebenden Kaninchens mit flüssigem Paraffin. Der Glaskörper war mit einem Manometer in Verbindung, ' welches unmittelbar nach der Paraffininfusion normalen intraocularen Druck anzeigte. Das Mano- meter begann nun zu steigen. Es zeigte sich, daß etwa 4 mm? Flüssigkeit in einer Minute in das Manometer eintraten. Leplat schließt aus diesem Versuch, daß dieses die normalerweise neugebildete Humormenge sei. Wenn es erlaubt wäre, aus diesen und den übrigen genannten Beob- achtungen einen derartigen Schluß zu ziehen, so würde der Inhalt der vor- deren Kammer beim Kaninchen in etwa 75 Minuten erneuert werden. Beim Menschen, dessen vordere Kammer etwa 240 mm? fassen soll, würde unter Zugrundelegung der obigen Angabe der Inhalt sich in etwa 50 Minuten erneuern. Bei solchen Erwägungen darf man jedoch nicht vergessen, daß durch die erwähnten Versuche nicht. bewiesen ist, daß in den Augenkammern eine kontinuierliche, durch Druckdifferenz bewirkte Flüssigkeitsströmung herrscht. Vielmehr muß man die Möglichkeit im Auge haben, daß der Wechsel des Humor durch molekulare Kräfte, deren Natur wir einstweilen nicht kennen, bewirkt wird. Die Notwendigkeit einer Zirkulation des Humor von der genannten Geschwindigkeit für die Ernährung von Linse und Cornea besteht angesichts des geringen Stoffwechsels dieser Organe wohl nicht. Im folgenden sollen die Beobachtungen mitgeteilt werden, welche über den Ursprung und den Abfluß des Humor aqueus gemacht sind. Die Herkunft des Humor aqueus. Über die Herkunft des Humor sind die Ansichten geteilt. Die einen (Leber und seine Schüler) nebmen als ausschließliche Bildungsstätte die Processus ciliares an; nach anderen (Ehrlich) wird er lediglich von der Vorderfläche der Iris gebildet; wieder andere (Hamburger) schreiben beiden Organen einen Anteil an der Bildung des Humor zu. Für die Humorbildung durch die Ciliarfortsätze werden folgende Gründe angeführt ?): 1. Bei Verwachsungen des Pupillarrandes der Iris mit der Linsenkapsel wird die Iris nach vorn gewölbt °). !) Annales d’oculistique 101, 123. — °?) Leber, Die Zirk.- u. Ern.-Verh. d. Aug. 8. 234. — °?) M&ry, Mem. de l’acad. d. sciences 1707, p. 498; Beers An- sichten der staphylomat. Metamorph. d. Auges 1806. Humor aqueus:. Bildung. 459 2. Wenn man die hintere Augenkammer durch Vermittelung der Pupillar- öffnung mit einem Manometer verbindet, welches auf die Höhe des intra- ocularen Druckes eingestellt ist, so beginnt dieses Manometer zu steigen. Leber!) erklärt die Druckzunahme durch Vermehrung der intraocularen Flüssigkeit vermittelst der Absonderung der Ciliarfortsätze. 3. Die Exstirpation des Ciliarkörpers samt der Iris hat ein völliges Ver- siegen der intraocularen Flüssigkeiten zur Folge ( UNE): Deutsch- mann). Nach diesen Versuchen könnte auch die Iris an der Kammerwasser- - bildung beteiligt sein. Hiergegen werden folgende Argumente angeführt: l. Bei angeborenem oder durch Verletzungen entstandenem völligen Mangel der Iris sind die Augenkammern wie in der Norm mit Humor gefüllt. 2. Wenn bei Perforationen der Hornhaut der Humor vollkommen ent- leert wird und außerdem die Iris sich der Hornhaut vollkommen anlegt, so bleibt dieser letztere Zustand dauernd bestehen (Beer), Leber’). 3. Bei völligem Abschluß der Pupille zeigt die bloßgelegte Irig keine Sekretion (Leber). Gegen die Ansicht von der Humorbildung durch die Ciliarfortsätze hat Ehrlich ?) Bedenken erhoben. Er fand nach Injektion von Fluoreszein bei Kaninchen, daß sich einige Zeit nach der Einspritzung eine vertikal gerichtete grün fluoreszierende Linie im Auge zeigt. Diese nimmt ihren Ursprung vom höchsten Punkte der Iris und verläuft zum tiefsten. Niemals zeigt sich vor dem Auftreten dieser Linie ein Austritt von Fluoreszein durch die Pupille. Aus diesen Beobachtungen zieht Ehrlich den Schluß, daß nicht der Ciliarkörper, sondern die Irisvorderfläche den Humor aqueus absondere. Auf Einzelheiten, welche diese Schlußfolgerung illustrieren, kann hier nicht eingegangen werden. Dieses erscheint um so mehr überflüssig, als Ehrenthal°®) nachwies, daß auch an toten Tieren die erwähnte grüne Linie auftritt, wenn man intravenös Fluoreszein injiziert. Ferner wird an- gegeben, daß unter Umständen, welche zu einer Hyperämie des Ciliarkörpers führen, der Austritt von Fluoreszein aus der Pupille schon vor dem Auf- treten der grünen Linie zu beobachten ist). Zwischen der Leberschen und Ehrlichschen Anschauung sucht - Hamburger !P) zu vermitteln. Er nimmt gleich Ehrlich an, daß unter nor- malen Verhältnissen der Humor von der Vorderfläche der Iris gebildet werde, nur bei größeren Verlusten von Kammerwasser sollen auch die Ciliarfortsätze sich an der Bildung beteiligen. Zum Beweis für seine Anschauung Sans ihm folgender Versuch. Nach Injektion von Fluoreszeinlösung in die hintere Augenkammer vergeht eine lange Zeit — 15 Minuten und mehr —, bis aus der Pupille Fluoreszein aus- !) Üb. d. Ernährungsverh. d. Auges. Vortr. d. 9. intern. Ophthalm. Kongreß 1899. — ?) A. a. O. — ®) Arch. f. Ophthalm. 26 (3), 117. — *) A. a. 0. — °) Die Zirk.- u. Ern.-Verh. d. Auges 8. 235. — °) A. a. O. — 7) Deutsche med. Wochen- schr. 1882, Nr. 2. — °) Kritisches und Experiment. zur Lehre vom Flüssigkeits- wechsel im Auge. Dissert., Königsberg 1887. — °) Nicati, Arch. d’Ophtalm. 10, 481, 11, 24, 152; Schöler und Uhthoff, Jahresber. üb. d. Wirksamk. d. Augenkl. 1881, S. 52; Hamburger, Centralbl. f. prakt. Augenheilk. 1898; Wessely, Arch. £. Ophthalm. 50, 123. — '°) A. a. O.; Deutsche med. Wochenschr. 1899, Nr. 22; Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 38, 801; Sitzungsber. d. ophthalm. Ges. 30, 246. 460 Humor aqueus: Bildung. tritt. Hat dieser Austritt erst seinen Anfang genommen, so erfolgt er weiterhin gleichmäßig. Nach den auf S. 457 und 458 gemachten Be- merkungen über die Geschwindigkeit der Absonderung und des Abflusses des Humors sollte man einen wesentlich schnelleren Übertritt des Fluores- zeins in die vordere Kammer erwarten. Man ist also genötigt anzunehmen, daß entweder die Ciliarfortsätze nicht das hauptsächliche Absonderungs- organ der Augenflüssigkeit sind oder daß diese Absonderung sehr viel langsamer erfolgt, als angenommen wird. Die Richtigkeit der Hamburgerschen Beobachtung wird allgemein an- erkannt; für die Existenz einer kontinuierlichen Strömung aus der hinteren in die vordere Kammer wird von Leber!) angeführt, daß auch feste Farb- stoffpartikelchen, wie chinesische Tusche, erst längere Zeit nach Einbringung in die hintere Kammer durch die Pupille austreten. Nach ihm sind „neben- sächliche Umstände“ die Ursache des späten Austrittes. Die Frage ist wichtig und bedarf noch der Aufklärung. Wenn man die S. 457 und 458 erwähnten Anschauungen über a Geschwindigkeit der Strömung in den Augenkammern als richtig hinnimmt, so erscheint die Annahme Hamburgers verständlich, daß die Vorderfläche der Iris das wesentliche Absonderungsorgan ist. Zur weiteren Stütze für seine Anschauung führt er an, daß im fötalen Auge sich bereits Humor agueus in der vorderen Kammer befindet, während die Pupillarmembran- noch vorhanden ist. Leber?) hält dagegen in diesem Falle die gefäßreiche Pupillarmembran selbst für die Absonderungsstelle des Humors. Ulrich?) glaubt, der Humor werde von den Ciliarfortsätzen gebildet, gelange dann durch die Iris im sog. Iriswinkel hindurch in die vordere Kammer. Er kommt zu dieser Vorstellung auf Grund der Annahme, daß Iris und Linse durch den intraocularen Druck (!) so fest aneinander gedrückt werden, daß die Pupille undurchgängig für Flüssigkeiten ist. Wie spätere Betrachtungen zeigen werden (S. 466), kann dies nicht so sein. Da- gegen ist zuzugeben, daß durch den Sphincter pupillae ein Druck gegen die Linse) ausgeübt werden könnte. Näheres wissen wir hierüber nicht. Jeden- falls beweisen die Versuche von Hamburger und Leber, daß sogar kleine feste Partikel durch die Pupille hindurchtreten können. Von Nuel und Benoit?°) ist dies auch für den Menschen bewiesen. Vollkommen widerlegt wird die Anschauung Ulrichs durch Versuche von Koster®). Dieser fand, daß die Iris für Flüssigkeiten undurchgängig ist, selbst wenn sie unter einem Druck von 20 mm Quecksilber auf ihr lasten. Auf Einzelheiten, welche von den verschiedenen Autoren 7) zur Stütze ihrer Ansichten angeführt werden, kann hier nicht eingegangen werden, hierfür muß der unten gemachte Literaturnachweis genügen. !) Die Zirk.- u. Ern.- Verhältn. d. Auges, $. 243. — ?) Ebenda, 8. 247. — *) Arch. f. Ophthalm. 26 (3), 35. — *) Ulrich, Sitzungsber. d. ophthalm. Ges. 1896, S. 279; Arch. f. Augenheilk. 20, 270; Hamburger, a. a. 0. — ?) Arch. d’Ophtalm. 20, 161. — °) Arch. f. Ophthalm. 41 (2), 98; Arch. f. Augenheilk. 38, 27. —” ) Schöler und Uhthoff, a. a. O.; Nicati, a. a. O.; Ovio, Atti del XI. Congr, ° med. intern. 6, 85, 1895; Ulrich, Sitzungsber. d. ophthalm. Ges. 1896, 8. 279; Wessely, a. a. O. Humor aqueus: Abfluß. 461 Auch eine Beteiligung der Chorioidea an der Bildung des Humor aqueus!) ist behauptet worden. Beweise hierfür liegen jedoch nicht vor. Aus den vorangehenden Betrachtungen geht hervor, daß die Entstehung des Humor aqueus keineswegs befriedigend aufgeklärt ist. Über die Natur des Absonderungsvorganges sind die Meinungen geteilt. Nach den einen soll es sich um einen den Drüsensekretionen analogen Prozeß handeln (Boucheron 2), Treacher Collins), Nicati®). Die absondernde Drüse soll der Ciliarkörper sein. Nach der Ansicht Lebers geschieht die Humorbildung durch Filtration aus den Blutgefäßen. Hiergegen ist von Hamburger eingewendet worden, daß die osmotische Spannung des‘ Kammerwassers höher ist als die des Blutplasmas (S. 456). Ein abschließendes Urteil läßt sich also zurzeit nicht fällen. Der Abfluß des Humor aqueus. Die Anschauung der alten Anatomen und Physiologen, daß der Humor aqueus durch die Hornhaut nach außen in Tröpfchen abfließe, soll bier nur erwähnt werden. Sie ist durch die Versuche Lebers (S. 442) definitiv wider- legt worden. Schwalbeö) und Leber®) haben gezeigt, daß man an toten Augen von der vorderen Kammer aus Flüssigkeit (physiologische Kochsalzlösung) in die vorderen Ciliarvenen und die Wirbelvenen eintreiben kann. Lymph- gefäße füllen sich dabei nicht. Die Annahme Schwalbes, daß die genannten Gefäße in direkter Kommunikation mit der Kammer ständen, wurde von Leber widerlegt. Er stellte fest, daß solche Verbindungen nicht mikroskopisch nachweisbar sind. Auch läßt sich die Kammer nicht von den Gefäßen aus „injizieren, und der Inhalt der Gefäße geht nach dem Abflusse des Humor nicht in die Kammer über. Wie schon erwähnt (S. 457), fanden Hering, Leber, Adamük und Jessner, daß die Abflußgeschwindigkeit der Kochsalzlösung aus der Kammer proportional dem Druck ist, unter welchem sie injiziert wird. Leber schließt äus diesen Tatsachen, daß der Abfluß des Humor im Leben durch Filtration in die Blutgefäße erfolgt. Lymphgefäße sollen gar nicht bei dem Abfluß beteiligt sein. Diese Filtration soll stattfinden: 1. Im Winkel, wo Iris und ÜCornea zusammenstoßen, 2. an der vorderen Fläche der Iris. Die Hauptmenge des Humor soll im Kammerwinkel durch die Maschen des Ligamentum pectinatum iridis abfließen. Dies wird durch eine Reihe von Beobachtungen wahrscheinlich gemacht. Einmal gelingt es am leichtesten, - Flüssigkeit aus der vorderen Kammer in die vorderen Ciliarvenen zu treiben, während die Wirbelvenen sich erst später füllen. Ferner fließt aus der Kammer, wesentlich weniger Flüssigkeit ab, wenn die Gegend des Fontana- schen Raumes nicht von der F lüssigkeit benetzt wird. Dies kann man durch - Injektion vom Glaskörper her’) erreichen. Hierbei legen sich im Kammer- -. *) Nicati, a. a. O. — ?) Bullet. et M&m. de la soc. frang. d’Opht. 1, 81. — ®) Ophthalm. transaet. 11, 53. — *) Arch. d’Ophtalm. 10, 481; 11, 24, 152. — ®) Arch. f. mikr. Anat. 6, 1, 261. — °) Arch. f. Ophthalmol. 19 (2), 87. — ?) Leber, a. a. O.; Priestley- Smith, Glaucoma etc. London 1879; Derselbe, Ophthalmol. Rev. 1888, p. 193. 462 Humor aqueus: Abfluß. winkel Iris und Cornea aneinander, so daß der Balkenraum verschwindet, Die Abflußgeschwindigkeit des Humor ist dann verringert. Auch durch Ver- wachsungen im Bereich des Winkels, wie sie teils bei Erkrankungen !), teils infolge von experimentellen Eingriffen 2) beobachtet wurden, zeigt sich die- selbe Erscheinung. Man hat auch durch Experimente die Abflußwege zu erkennen versucht, indem man teils Farbstofflösungen ?), teils feinkörnige Emulsionen unlöslicher Stoffe *) (chinesische Tusche) in die vordere Kammer einführte. Solche Versuche wurden an lebenden Augen durch Einspritzen in die normal gefüllte vordere Kammer oder in den Glaskörper angestellt. Zum Teil geschah die Einführung auch in tote Augen unter Anwendung eines konstanten Injektionsdruckes. Die mikroskopische Untersuchung solcher Augen zeigte dann, daß die Farbstoffe die Lücken des Fontanaschen Raumes erfüllen. Bei Anwendung von Emulsionen konnte man die Körnchen auf ihrem Wege zum (irculus venosus verfolgen. Sie bewegen sich sich durch die Kittsubstanz seiner En- dothelzellen hindurch. Durch analoge Versuche ist festgestellt worden, daß die Farbstoffkörnchen auch in die Iris 5) von der Vorderfläche auseindringen. Vorzugsweise fanden sich die Körnchen in den Krypten der Iris ®), Stellen, an denen der Endothelüberzug unterbrochen ist. Aber auch an den übrigen Teilen der Iris fanden sie sich. In den Ciliarkörper gelangen die Körnchen vom Kammerwinkel aus nach Durchsetzung der Iris. Zunächst erfüllen die Farbstoffe die genannten Gewebe diffus, dann gelangen sie in die Umgebung der Venen und Capillargefäße, nicht in die der Arterien. Hieraus hat man geschlossen, daß durch die Wände der beiden ersten Gefäßarten Flüssigkeit wie durch ein Filter hindurchgepreßt werde, während die festen Partikel zurückgehalten werden. Erst später sollen dann die Körnchen auf dem erwähnten Wege auch in die Gefäße gelangen. Eine Möglichkeit, zu entscheiden, ob wirklich Flüssigkeit in die vorderen Ciliarvenen gelangt, wäre der Nachweis einer Verdünnung des Blutes derselben. Lauber’) hat diesen Weg. eingeschlagen, indem er die Blutkörperzahl in diesen Venen mit der in einer Ohrvene verglich. Er fand im Kubikmillimeter Blut, welches aus den Ciliarvenen stammte, 2,9 Millionen rote Blutkörper, im Öhrvenenblut 3,2 Millionen. Da nur diese eine Zählung vorliegt, außerdem die Möglichkeit der Ver- dünnung des Ciliarvenenblutes durch die Feuchtigkeit der Conjunetiva nicht aus- geschlossen erscheint, so wäre eine systematische Untersuchung erwünscht. Ob man berechtigt ist, aus den erwähnten Begbachtungen den Schluß zu ziehen, daß der Humor durch Filtration das Auge verläßt, ist mindestens zweifelhaft. Jedenfalls übersieht man gegenwärtig die mechanischen Ver- !) Knies, Arch. f. Ophthalmol. 22 (3), 163; 23 (2), 62; Weber, ebenda 23 (1), 1; Wagemann, ebenda 34 (1), 244. — *) Heisrath, Zentralbl. f. d. med. Wissensch. 1879, Nr. 43; Bentzen, Arch. f. Ophthalmol. 41 (4), 42. — ®) Pagen- stecher, Sitzungsber. d. ophthalmol. Ges. 1878, 8. 92; Heisrath, Arch» f. Ophthalmol. 26 (1), 202; Leber, ebenda 14 (1), 235. — *) Gutmann, Arch. £. Ophthalmol. 41 (1), 28; Leber, a. a. O.; Bentzen u. Leber, ebenda, 41 (3), 208; Nuel u. Benoit, Arch. d’Opht. 20, 161; Asayamia, Arch. f. Ophthalmol. 51, 98. — ®) Bentzen u. Leber, a. a. O.; Nuel u. Benoit, a. a. O.; Asayama, 4.2.0. — °) Fuchs, Arch. f. Ophthalmol. 31 (3), 39; Nuel u. Cornil, Arch. d’Opht. 10, 309. — 7) Anat. Hefte Nr. 59. Humor aqueus: Nerveneinfluß auf seine Bildung. 463 hältnisse nicht vollkommen. So ist nicht aufgeklärt, wie unter der — für eine Filtration in die Gefäße unbedingt nötigen — Voraussetzung, daß außerhalb der Wände der Venen und Capillaren ein höherer Druck als in denselben herrscht, das Lumen der Gefäße erhalten bleibt. Man sollte vermuten, daß die Wände derselben aufeinandergepreßt würden, wenn nicht besondere Ein- richtungen dies verhindern. Ferner ist es sehr unwahrscheinlich, daß in den Gefäßen des Ciliarkörpers Bedingungen für eine Filtration in das Augeninnere gegeben sind, in denen der zuletzt genannten Gewebe aber für eine Filtration nach außen. Solange die mechanischen Bedingungen für die Bildung und den Abfluß des Humor aqueus durch Filtration nicht vollkommen klar sind, muß man ver- muten, daß andereKräfte als die Druckkraft den Wechsel des Humor bewirken. Über den Einfluß des Sympathicus und des Trigeminus auf den Humor aqueus. Weder bei Reizung noch nach Durchschneidung dieser beiden Nerven sollen sich Änderungen in der Bildung oder im Abfluß des Humor aqueus zeigen!). Man hat dies daraus geschlossen, daß ein Manometer, welches den intraocularen Druck anzeigt, seinen Stand nicht ändert, wenn dafür Sorge getragen wird, daß während der Versuche Humor aqueus aus dem Auge nicht austreten kann. Wie Leber?) richtig bemerkt, kann man aus solchen Versuchen den obigen Schluß nicht ziehen, da eine vermehrte Humorbildung durch vermehrten Abfluß kompensiert sein könnte. Wenn man bei herabgesetztem intraocularen Druck den Sympathicus reizt, so ist die Humorbildung vermindert nach vorangehender Vermehrung im Beginn des Reizes. Durchschneidung des Sympathicus dagegen und Reizung des Trigeminus vermehren die Humorbildung’). Man hat diese Erscheinungen aus dem Verhalten der Gefäße zu erklären ver- sucht. Erweiterung derselben soll Vermehrung, Verengerung Verminderung der Humorbildung bewirken. v. Hippel und Grünhagen nehmen auch eine ver- mehrte „Sekretion“ von Humor durch die Nervenreizung an. Die Zusammensetzung des Humor wird durch die Resektion des Trigeminus oder durch Halbschnitte am Kopfmark oberhalb des Calamus scriptorius verändert. Es zeigt sich eine Zunahme des Eiweißgehaltes und Auftreten von Fibrin. Diese Veränderungen finden sich auch im Humor der nicht operierten Seite (Grün- hagen und Jessner?). Die Veränderung des Humor der operierten Seite hat man durch vasomotorische Störungen erklärt, die des Humor der anderen Seite ist nicht befriedigend erklärt. Exstirpation des Ganglion cervicale sup. hat für die operierte Seite denselben Effekt wie Resektion des Trigeminus®). Veränderungen der Zusammensetzung des Humor nach ver- schiedenen Eingriffen. Auch durch Reizungen der Conjunetiva oder der Cornea’) mit Chemikalien, auf mechanische Weise oder durch Induktionsströme kann man Zunahme des Ei- weißgehaltes und Auftreten von Fibrin im Humor erzeugen, ebenso nach sub- 1) Adamük, Sitzungsber. d. Wiener Akad. 59. — °) Die Zirk.- u. Ernäh- rungsverh. d. Auges, $. 263. — °) Adamük, a. a. 0. — *) v. Hippel u. Grün- hagen, Arch. f. Ophthalmol. 14 (3), 219; 15 (1), 265; 16 (1), 27. — °?) Zentralbl. f. prakt. Augenheilk. 4, 181; Arch. f. d. ges. Physiol. 23, 14; Nicati, Arch. d@’Opht. 10, 481; 11, 24, 152; Ollendorff, Arch. f. Ophthalmol. 49, 455. — 6) Lodato, Arch. di. ottalm. 9, 105. — 7) Adamük, a. a. O.; Grünhagen u. Jessner, a.a.0.; Bach, Arch. f. Ophthalmol. 42 (1), 266; Wessely, ebenda 50, 123. .. » r 464 Humor aqueus: Anderung seiner Zusammensetzung. — Humor vitreus. conjunctivalen Injektionen von 5proz. Natriumchloridlösung. Die Veränderung tritt nach Grünhagen und Jessner') auch im nichtgereizten Auge auf, was von Bach?) bestätigt ist, jedoch mehrfach) bestritten wird. II. Humor vitreus. Chemische Zusammensetzung. Der Glaskörper besteht aus einem fibrillären Gerüst von collagener Substanz‘) und in dieses Gerüst eingeschlossener Flüssigkeit. Das spezifische Gewicht derselben schwankt bei Menschen und Tieren zwischen 1,005 und 1,009. Die Flüssigkeit enthält im wesentlichen dieselben Stoffe wie der Humor aqueus, nur findet sich in ihr noch ein Mukoid’°). Der Flüssigkeitswechsel im Glaskörper. Auch im Glaskörper hat man eine Flüssigkeitsströmung angenommen. Diese soll von den Ciliarfortsätzen nach der Papilla nervi optici hin ge- richtet sein. Wie für den Humor aqueus sollen die Ciliarfortsätze auch für die Bildung des Humor vitreus sorgen. Zum Beweise hierfür wird angeführt, daß nach Ausrottung des Ciliarkörpers der Glaskörper schwindet. Denselben Schluß hat man aus folgenden Versuchen gezogen. Es wurde Jodkalium®) oder Fluoreszein ’) in den Kreislauf gebracht. Danach zeigte zuerst der im Bereich der Ciliarfortsätze gelegene Glaskörperanteil Gehalt an diesen Stoffen. Später waren sie im ganzen Glaskörper nachweisbar, und endlich fanden sie sich nur noch um die Papille herum. Hieraus wurde gefolgert, daß vom Ciliarkörper nach der Papille zu eine Flüssigkeitsströmung statthabe. Wie Leber) richtig bemerkt, ist dieser Schluß nicht gerechtfertigt. Vielmehr können die Substanzen durch Diffusion aus dem Ciliarkörper in den Glaskörper gelangt sein und diesen ebenso wieder verlassen. Auch so könnte das ge- ‚schilderte Verhalten resultieren. Ebensowenig wie die Bildung von Glaskörperflüssigkeit klar erkannt ist, weiß man Sicheres über einen Abfluß derselben. Von Schwalbe?) ist nachgewiesen worden, daß die perivasculären Räume der Zentralgefäße des Opticus mit dem Canalis hyaloideus kommuni- zieren. Man kann durch Injektion des Intervaginalraumes des Sehnerven auch die genannten Räume injizieren. Um zu entscheiden, ob etwa im Leben Glaskörperflüssigkeit durch die perivasculären Räume abfließt, hat man Tuschepartikel!P) in den Glaskörper gebracht und konstatiert, daß in der Tat die genannten Räume sich mit Tusche füllen. Bei direkter Injektion in den Canalis hyaloideus konnte Leber!) die Tusche schon nach fünf Minuten in den perivasculären Räumen nachweisen. ») A. a. 0. — °?) A.a. 0.— °) Wessely, a. a. O.; Leber, Transact. of the 7. int. med. Congr. 3, 45. — *) Bo&, Soc. frang. d’Opht. 1886, Avril; Mörner Zeitsch. f. physiol. Chem. 18, 244. — °) Mörner, ebenda. — °) Leplat, Ann. d’oculist. 98, 89. — 7) Ovio, Atti del 9. Congr. Med. int. 6, 85. — ®) Leber, Zirk.- u. Ernährungsverhältn. d. Auges, 8. 291. — °) Berichte d. sächs. Akad. d. Wissensch. 1872. — !°) Ulrich, Arch. f. Ophthalmol. 26 (1), 202; Arch. f. Augenheilk. 20, 270; Deutschmann, Über d. Ophthalmol. migr. 1889; Grifford, Arch. f. Augen- De 16, 421; Nuel et Benoit, Arch d’Opht. 20, 161. — !!) Leber, 9. int. Oph- thalmol.-Kongr. 1899. * Humor vitreus. — Lymphgefäße des Auges. — Intraocularer Druck. 465 Ob man berechtigt ist, aus solchen Beobachtungen auf eine Strömung im Glaskörper zu schließen, sei dahingestellt. ‚Mit dem schnellen Übergange der Tuschekörner in die perivasculären Räume steht nicht recht im Einklang die große Langsamkeit der Strömung. Man hat nämlich beobachtet, daß in den Glaskörper injizierte gelöste Substanzen noch nach mehreren Wochen in demselben nachweisbar sind }). Diese Tatsache sowie das Resultat von hier nicht näher zu erörternden Ver- suchen über den Abfluß durch die Papille (derselbe soll beim Schweinsauge 0,2 mm?in der Minute betragen ?), würden auf eine äußerst langsame Strömung im Glaskörper hinweisen. Die Frage nach Strömungsvorgängen im Glaskörper harrt daher noch der Aufklärung. Die übrigen Lymphräume des Auges. Die Lymphräume der Netzhaut sind um die Venen und Capillargefäße gelegen’). Die Lymphgefäße des Nervus opt. sind außer den S. 464 erwähnten der Sub- arachnoidealraum und der Subduralraum. Beide stehen in Verbindung mit den entsprechenden Räumen des Gehirnes und mit den Lymphspalten der Orbita, sowie mit der zwischen Bulbus und Tenonscher Kapsel gelegenen Lymphspalte. Ob die Chorioidea Lymphgefäße besitzt, ist streitig‘). Eine Reihe von Autoren sieht die Grenze von Sklera und Chorioidea, welche sich durch Injektion füllen läßt und mit dem perivasculären Räumen der Wirbelvenen kommunizieren soll, als Lymphraum an. Nach anderen Autoren ist die Gewebstrennung zwischen Sklera und Chorioidea künstlich. Diese Frage ist nicht entschieden. Mechanisch ist es wohl begreiflich, daß der perichorioideale „Raum“ stets leer gefunden wird, da der Augendruck die Chorioidea fest an die Bulbuswand andrücken muß: Über even- tuelle Strömungen in diesem Raum ist nichts bekannt. Die perivasculären Räume der Wirbelvenen kommunizieren mit-dem Tenon- schen Raum. Betreffs der Lymphräume der Conjunctiva kann hier nur angeführt werden, daß sie ein oberflächliehes und ein tiefes Netz bilden, welche miteinander zusammen- hängen. III. Der intraoceulare Druck. Der im Innern des Bulbus herrschende Druck ist abhängig von der Ela- stizität5) der Wand des Augapfels und von der Füllung desselben. Die letztere ist durch zwei Momente bedingt, durch die Menge der intraocularen Flüssigkeiten (Humor aqueus und vitreus) und durch den Füllungszustand der Blutgefäße. Die Höhe des intraocularen Druckes beträgt unter normalen Verhält- nissen bei Menschen und bei Tieren zwischen 20 und 30 mm Quecksilber $). !) Schöler u. Uhthoff, Jahresbericht über d. Wirksamkeit d. Augenkl. 1882. — 2)Priestley Smith, Ophth. rev.'1888, p. 193; Ulrich, Wiener klin. Wochensch. 1896, Nr. 53; Niesnamoff, Arch. f. Ophthalmol. 42 (4), 1. — °) His, Verhandlungen der naturforsch. Gesellschaft in Basel 4 (2), 256; Arch. f. Anat. (u. Physiol.) 1880, S. 230. — *) Schwalbe, Zentralbl. f. d. med. Wissensch. 1869, Nr. 30; Arch. f. mikr. Anat. 6, 1, 261; Key u. Retzius, Nord. med. Ark. 4, Nr. 21; Arch. £. mikr. Anat. 11, 188. — °) Auf die zahlreichen Arbeiten über die Elastizität der Bulbushülle kann hier nieht eingegangen werden. — °) Bestimmungen am Menschen: Wahlfors, Ber. v. d. 7. intern. Ophthalmol.-Kongr. 1888, 8. 268; Maklakoff, Arch. d’Opht. 12, 321. Kaninchen: Wegner, Arch. f. Ophthalmol. 12 (2), 1; Leber, Handb. d. ges. Augenheilk., 1. Aufl., 2, 371; Niesnamoff, Arch. f. Ophthalmol. 42 (4), 1. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 30 466 Intraocularer Druck. Man muß erwarten, daß entsprechend dem wechselnden Füllungszustande der Gefäße, wie er durch Herz- und Atembewegungen erzeugt wird, auch der intraoculare Druck wechselt. In der Tat hat man häufig rhythmische Schwankungen des Innendruckes beobachtet: kleine im Tempo des Herz- schlages und größere mit den respiratorischen Bewegungen synchronische !). Solche Pulsationen sind besonders gut bei hohem intraocularen Druck wahr- zunehmen 2), bei niedrigem können sie ganz fehlen °). 5 Durch sehr zahlreiche Untersuchungen, auf welche hier nicht näher ein- gegangen werden kann, ist nachgewiesen, daß Steigerungen des Blutdruckes in den intraocularen Gefäßen und Senkungen desselben gleichartige Ver- änderungen des intraocularen Druckes zur Folge haben. Der intraoculare Druck hat in der ganzen Bulbuskapsel die gleiche Höhe®). Nur wenn man unter sehr hohem Druck Wasser in den Glaskörper einpreßt, zeigt sich eine Druckdifferenz von 1 bis 3 mm Quecksilber zugunsten des Glaskörperraumes. Dieser Überdruck wird von dem System der Zonula und Linse getragen °). Wenn man den Bulbus durch lokalen Druck von außen komprimiert, so steigt der intraoculare Druck. Denselben Effekt hat die Kompression des Augapfels durch den Schluß der Lider und die Kontraktion der Bewegungs- muskeln des Bulbus ®). : Dagegen hat die Kontraktion der intraocularen Muskeln keinen Einfluß auf den Innendruck des Auges’). Dauernde Steigerungen des intraocularen Druckes lassen sich durch anhaltende Kompression des Bulbus nicht erzeugen. Man nimmt an, daß durch den anhaltenden Druck ein Teil der intraocularen Flüssigkeit zur „Resorption“ gebracht wird. Hierfür spricht auch die Tatsache, daß nach dem Aufheben des äußeren Druckes der intraoculare zunächst gegen die Norm herabgesetzt ist °). Die Messung des intraocularen Druckes hat man auf zwei Arten vor- genommen, teils durch Manometer ®), welche mit dem Augeninnern in Verbindung gebracht werden, teils durch sogenannte Tonometer'°). Diese letzteren sind Apparate !) Weber, Nonnullae disquis. quae a. facult. oceul. reb. longique etc. Dissert., 1850; Donders, Arch. f. Ophthalmol. 17 (1), 89. — °) v. Hippel u. Grün- hagen, ebenda 15 (1), 265; Bellarminoff, Arch. f. d. ges. Physiol. 39, 449; Hess u. Heine, Arch. f. Ophthalmol. 46 (2), 243. — °) Höltzke, ebenda 29 (2), 1; v. Schulten, ebenda 30 (3), 1; Stocker, ebenda 33 (1), 104; Bellar- minoff, a.a.0.— *) Adamük, Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 6, 386 ; Schöler, Arch. f. Ophthalmol. 25 (4), 63; v. Schulten, a. a. O.; Höltzke, a. a. O.; Bödeker, Vgl. Unt. i. vord. Kammer u. Glask. d. Aug., Dissert., 1886. — °) Monnik, Arch. f. Ophthalmol. 16 (1), 49; Koster, ebenda 41 (2), 30; Hamburger, Zentralbl. f. prakt. Augenheilk. 1898, 8. 257. — °) Adamük, a. a. 0. — ?) Helmholtz, Arch. f. Ophthalmol. 1 (2), 16; Grünhagen, Berl. klin. Wochenschr. 1866, Nr. 24; Völkers u. Hensen, Zentralbl. f. d. med. Wissensch. 1866, Nr. 46; Experimental- untersuchungen über d. Mechan. d. Accommod. 1868; Adamük, Zentralbl. f. d. med. Wissensch. 1867, Nr. 28; Hess, Arch. f. Ophthalmol. 42 (1), 288; Hess u. Heine, ebenda 46 (2), 243. — °) Adamük, a.a. 0. — °) Adamük, Sitzungsber. d. Wiener Akad. 59; Höltzke, Arch. f. Ophthalmol. 29 (2), 1; v. Schulten, ebenda 30 (8), 1; Rindfleisch, ebenda 38 (2), 221; ‚Niesnamoff, ebenda 42 (4), 1. — !°) Weber, Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 6, 395; Maklakoff, Arch. d’Opht. 5, 358; A. Fick, Arch. f. d. ges. Physiol. 42, 86; R. A. Fick, Sitzungsber. d. physikal.-med. Gesellsch. Würzburg, N. F., 22. Intraocularer Druck: Nerveneinfluß. 467 mit Hilfe dereh durch eine ebene Platte ein Druck auf die Bulbuswand aus- geübt wird. Infolgedessen plattet sich die Wand an der gedrückten Stelle ab. Die zur Erzeugung einer Abplattung von bestimmter Größe nötige Kraft wird gemessen und hieraus auf die Höhe des Innendruckes geschlossen. Die manometrischen Vor- richtungen werden mit Hilfe passend geformter Einstichkanülen mit dem Innern des Auges verbunden. Einfluß von Nerven auf die Höhe des intraocularen Druckes. Sowohl Reizung wie Durchschneidung des Sympathicus wie auch des Trige- minus haben Änderungen des Augendruckes zur Folge. Man hat sie teils durch die Kaliberänderungen der Blutgefäße, welche infolge des Eingriffes entstehen, teils durch die Änderung des allgemeinen Blutdruckes erklären wollen. Doch kann man gegenwärtig bei den sehr widersprechenden Erklärungsversuchen sich kein deutliches Bild machen; besonders deshalb, weil es an genauen, gleichzeitigen Beobachtungen der einzelnen Momente fehlt, welche den intraocularen Druck beeinflussen. Es sollen daher im folgenden nur die tatsächlichen Beobachtungen erwähnt werden. Einfluß des Sympathicus. Bei Katzen bewirkt Reizung des Sympathicus Steigerung des intraocularen Druckes mit nachfolgendem Sinken desselben noch während der Reizung'). Zuweilen bewirkt dieselbe auch sofortiges Sinken, was bei Reizung des oberen Halsganglions die Regel bildet”). Durchschneidung des Sympathicus bewirkt Sinken des Druckes“) oder keine Änderung desselben °). Beim Hunde sind die Erscheinungen nach den beiden Eingriffen?) im wesent- lichen dieselben. Bei Kaninchen zeigt sich infolge von Reizung des Sympathicus bald vorüber- gehende Drucksteigerung‘), bald keine Veränderung’), bald Sinken des Druckes?). Reizung des oberen Halsganglions bewirkt Druckerniedrigung’). Durchschneidung des Sympathicus hat nach v. Hippel und Grünhagen keinen Effekt, nach anderen!’) bewirkt sie eine nach etwa 20 Minuten eintretende Herabsetzung des Druckes. Exstirpation des Ganglions soll Druckerhöhung bewirken’). Die geschilderten Erscheinungen sind in der Regel auf die operierte Seite be- schränkt!!); zuweilen soll der Augendruck auch auf dem Auge der Gegenseite mit erhöht sein '?). Die vom Sympathicus versorgten Muskeln der Orbita sollen an der Druck- steigerung nicht beteiligt sein, denn ihre Zerstörung ändert das Verhalten des- selben nicht '°). Am menschlichen Auge beobachteten nach Abadie'*) verschiedene Chirurgen keine wesentliche Änderung des intraocularen Druckes infolge von Resektion des Halssympathicus, während Jonnesco und Floresco') hiernach eine Herabsetzung sahen. Dieselbe ging nach Monaten wieder vorüber. Schmidt- Rimpler'‘) konnte fünf Monate nach der Exstirpation des Ganglion cervi- !) Adamük, Zentralbl. f. d. med. Wissensch. 1866, Nr. 36; ebenda 1867, Nr. 28; Sitzungsber. d. Wiener Akad. 59; v. Hippel u. Grünhagen, Arch. f. Ophthalmol. 14 (3), 219; 15 (1), 265; 16 (1), 27; Höltzke u. Graser, ebenda 29 (2), 1; Bellarminoff, Arch. f. d. ges. Physiol. 39, 449. — ®) v. Hippel u. Grünhagen, a. a. 0. — °) Siehe unter ') Adamük, Höltzke u. Graser, Bellarminoff. — *) v. Hippel u.Grünhagen, a.a. 0. —5 v. Schulten, Arch, f. Ophthalmol. 30 (3), 1, außerdem siehe!) bis*); Lagrange u. Pachon, Compt. rend. d. 1. soc. d. biol. 1900, p. 990. — °) Wegner, Arch. f. Ophthalmol. 12 '@), 1; Neu- schüler, Ann. di ottalm. 28, 314. — 7) Wegner, a. a. O.; v. Hippel u. Grün- hagen, a. a. 0. — °) v. Schulten, a. a. 0. — °) v. Hippel u. Grünhagen, a. a. O0. — !) Wegner, a. a. O.; Neuschüler, a. a. O.; Hertel, Arch. f£. Opthalmol. 49 (2), 430. — '') Panas, Lecons sur 1. keratites 1876; Höltzke, a. a.0. — "?) Neuschüler, a. a.0.; Höltzke, a. a. O0. — ") Adamük, a. a.0.; Bellarminoff, a.a.0. — '*) Arch. d’Opht. 19, 94. — "°) Journ. d. phys. et path. gen. 4, 845. — !*) Sitzungsber. d. ophthalmol. Ges. 28, 29. 30* 468 Intraoeularer Druck: Nerveneinfluß. cale supremum noch eine Herabsetzung des Druckes auf der Öperierten Seite feststellen. Einfluß des Trigeminus. Reizung dieses Nerven vom Kopfmark!) aus bewirkt bei Katzen eine hochgradige Steigerung, ebenso Reizung des Gasserschen Ganglions?”) an der Ursprungsstelle des ersten Trigeminusastes und Reizung des peripheren Trigeminusendes in der Schädelhöhle®). Reizt man das Ganglion zwischen den Ursprüngen des ersten und zweiten Astes, so sinkt der Druck zunächst, um.dann zu steigen *). Diese Erscheinungen erklären v. Hippel und Grünhagen teils durch Erregung gefäßerweiternder Nerven, teils durch die Einleitung einer „Sekretion“ von Humor aqueus, während die übrigen Autoren dieses letztere Moment nicht gelten lassen wollen. Durchschneidungen des Trigeminus können, wie es scheint, verschiedenen Effekt haben. Sowohl dauernde?) wie vorübergehende®) Erhöhung des Druckes als auch Sinken’) desselben wurde bei Tieren beobachtet. Andere Autoren®) sahen keine Änderung. } Am Menschen beobachtete F. Krause nach Resektion des Gasserschen Ganglions keine Änderungen des intraocularen Druckes. i ») Weber, Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 6, 395; v. Hippel u. Grünhagen, a. a.0. — ?) Bellarminoff, a. a. ©. — ?) Adamük, a..a. O.; Panas, a. a. O.; v. Schult£n, a. a. ©. — *) v. Hippel u. Grünhagen, a. a. 0. — °) Donders, Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 2, 139. — °) Ollendorff, Arch. f. Ophthalmol. 49, 455; Wallenberg, Neurol. Zentralbl. 1896, Nr. 19. — 7) v. Schult6n, a. a. O.; Ollendorff, a. a. Ö. — ®) Münch. med. Wochenschr. 1895, Nr. 25. 6. Die Schutzapparate des Auges Otto Weiß. Durch seine Lage im Innern der Augenhöhle ist der Bulbus gegen manche Insulte geschützt. Dazu findet sich noch eine Reihe von Vorrich- tungen, welche geeignet sind, das Auge gegen mechanische und chemische Einwirkungen und gegen übermäßigen Lichteinfall zu sichern. Diese Schutz- apparate sind: Brauen, Wimpern, Lider, Tränenapparat. | Die Anatomie dieser Gebilde kann hier nicht erörtert werden, es sei auf die vorzügliche Darstellung von Merkel und Kallius!) verwiesen. 1. Die Brauen und die Wimpern. Brauen und Wimpern schützen vor dem Eindringen von Staubpartikeln in den Conjunctivalsack. Sie sind Tastapparate; die Wimpern sollen nach Exner?) alle übrigen Tastorgane des Körpers an Empfindlichkeit über- treffen. Die Bedeutung dieser Eigenschaft für den Schutz des Auges bedarf keiner Erörterung. Brauen- und Wimperhaare werden durch besondere Haarbalgdrüsen ein- gefettet. Die Brauenhaare verhindern durch diesen Fettüberzug das Über- laufen von Schweiß von der Stirn ins Auge. Vielmehr rinnt derselbe den Bogen der Brauen entlang an der Schläfe oder über die Glabella an der Nase herab. Die Lebensdauer eines Wimperhaares beträgt nach Donders?°) 100 bis 150 Tage. 2. Die Augenlider. Die Lider können durch ihren Schluß den Bulbus vollkommen nach außen abschließen. Dauernd geschieht dies während des Schlafes. Durch die Schließbewegung kehren die Lidränder den freien Teil des Augapfels gleichsam ab und entfernen so kleine Partikel von demselben. Der Lidschluß erfolgt gewöhnlich reflektorisch, 'wenn Reize das Auge treffen. Dieser Reflex kann durch Erregung des Opticus) oder des Trigeminus ausgelöst werden. Beim Menschen erfolgt der Lidschlag bei Reizung auch nur eines Auges stets auf beiden Seiten. Ebenso verhalten sich in der Regel Hunde und Katzen. Bei Kaninchen und Meerschweinchen, !) Gräfe-Saemisch, Handb. d. ges. Augenheilk., 2. Aufl., 29. bis 31. Lief., 1901. — ?) Sitzungsber. d. K. K. Ges. d. Ärzte in Wien 1896, Nr. 14. — °) Zit. nach Wilbrand und Saenger, Die Syererr or des Auges. — *) Eckhard, Zentralbl. f. Physiol. 9, 353. 470 Augenlider. Vögeln und Fröschen schließen sich dagegen nur die Lider oder . die Nickhaut des gereizten Auges (Langendorff!). Von Eckhard?) wird an- gegeben, daß auf einseitige optische Reize hin beim Kaninchen beiderseits Lidschlag erfolgt. Der reflektorische Lidschluß erfolgt bei plötzlichen Änderungen der Be- lichtung, z. B. wenn grelles Licht in das Auge fällt oder wenn Gegenstände sich dem Auge nähern. Durch mechanische oder chemische Reizung der Trigeminusendigungen wird ebenfalls Lidschlag ausgelöst, z. B. durch Be- rührung der Wimpern, der Conjunctiva, der Cornea, durch Einwirkung von reizenden Gasen auf die beiden letzteren. Reizung der Nervenstämme des ÖOpticus und des Trigeminus löst ebenfalls den Lidschlag aus. Von der Conjunctiva und Cornea werden Empfindungen?) von Schmerz und Kälte vermittelt, nach Nagel auch Druckempfindung, was v. Frey bestreitet. Die Empfindlichkeit der verschiedenen Stellen ist verschieden, einige sind ganz un- empfindlich (bestritten von Möbius*). Mit der Intensität des Reizes wächst der Effekt desselben. Schwache Insulte bewirken einfaches Schließen der Lider (durch Aktion des M. orbieu- laris palpebralis), stärkere setzen auch den M. orbicularis orbitalis in Tätigkeit. Auch ohne augenfällige Reize zeigen die Lider periodische Schließ- und Öffnungsbewegungen, Blinzeln genannt. Auch dieser „normale“ Lidschlag wird durch Erregung der genannten Nerven reflektorisch ausgelöst, wie Ver- suche von Lans5) beweisen. Die wirksamen Reize sind: Belichtung des Auges, Abkühlung und Eintrocknung der freien Bulbusfläche. Wenn diese drei Reize ausgeschaltet werden, so hört das Blinzeln auf. Wirkt nur einer derselben, so tritt es wieder ein. 5 Die Folgen der Trigeminuslähmung für das Auge können hier nicht ab- gehandelt werden; es muß auf die spezielle Nervenphysiologie verwiesen werden. Über die Lage des Zentrums für den Lidreflex wissen wir gegen- wärtig nichts Bestimmtes. Das sog. Rindenfeld des Orbicularis hat beim Hunde keinen Einfluß auf den Lidreflex. Derselbe tritt auch nach Exstir- pation dieses Feldes noch ein (Eckhard). Eine exakte mechanische Analyse der Lidbewegungen liegt nicht vor. Man hat die Lidmuskulatur anatomisch präpariert und aus dem Faser- verlauf Schlüsse auf die Wirkungsweise der Muskeln gezogen’). Daß man mit solcher Methodik keinen Aufschluß über das Zusammenwirken der einzelnen Muskelabschnitte erhalten kann, ist klar. Wir wissen daher nicht, wie die einzelnen Abschnitte des M. orbicularis sich beim Lidschlag verhalten. Es soll deshalb auf die hierher gehörigen Untersuchungen nicht eingegangen Y) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1887, 8. 144. — ?) Zentralbl. f. Physiol. 12, 1. — ®) v. Frey, Ber. d. math.-phys. Klasse d. Königl. Sächs. Akad. d. Wissensch., März, Juli, 1895; Nagel, Arch. f. d. ges. Physiol. 59, 568, 595; Krückmann, Arch. £. Ophthalmol. 41 (4), 21. — *) Neurol. Beitr. 4, 108. — °) Onderzoek. physiol. Labor. Utrecht. Vijfde Reeks 3 (2), 306. Über den Lidreflex bei Tieren siehe Bönsel: Die Lidbewegungen des Hundes, Gießen 1897. — ®) Zentralbl. £. Physiol. 12, 1. — ?) Henke, Arch. f. Ophthalmol. 4 (2), 70; Gad, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1883, Suppl. 8. 69. Augenlider. — Tränenapparat. 471 | werden. Der Lidschluß wird durch den Orbicularis bewirkt, beider Öffnung hebt ein besonderer Muskel, Levator palp. sup., das obere Lid, während das untere, der Schwere nachgebend, sinken soll. Die von H. Müller!) entdeckten glatten Muskeln der Lider sind ge- wöhnlich tonisch kontrahiert. Sie werden vom Sympathicus innerviert, dessen Reizung den Tonus vermehrt (Weiterwerden der Lidspalte 2), dessen Durch- schneidung ihn aufhebt (Engerwerden der Lidspalte). Der zeitliche Verlauf des Lidschlages ist von Garten?) näher untersucht. Die Dauer desselben beträgt 0,3 bis 0,4 Sekunden. Hiervon entfallen auf die Lid- senkung 0,09, auf die Hebung des oberen Lides 0,14 bis 0,18 Sekunden. Geschlossen sind die Lider 0,2 Sekunden. Die Zeit, welche vom Beisioment bis zur Lidbewegung vergeht, beträgt nach Garten bei Trigeminusreizung 0,04, bei Opticusreizung 0,06 bis 0,13 Sekunden. Nach Zwaardemaker und Lans‘) hat der Lidreflex eine Art refraktäre Periode. Für optische Reize ist der Reflexapparat 0,5 bis 1 Sekunde nach dem letzten Lid- schlag ganz unerregbar; drei Sekunden ist die Erregbarkeit herabgesetzt. Bei An- _ wendung mechanischer Reize ist die Dauer der Unerregbarkeit 0,25 Sekunden. Die refraktäre Phase zeigt sich nur, wenn die folgenden Reize gleich stark oder schwächer als die vorhergehenden sind. Von Mitbewegungen des Lides bei Bewegungen des Blutes ist zu er- wähnen: Gleichzeitiges Heben der Gesichtslinie und des oberen Lides, gleichzeitiges Sinken der Gesichtslinie und des unteren Lides. Beim Lidschluß zeigt sich eine Bewegung des Bulbus erst nach oben innen, dann nach oben außen: Bellsches®) Phänomen. Dieser Bewegungskomplex soll nach v. Michel‘®) von der Hirnrinde ausgelöst werden. Nagel’) hält die Bulbusbewe- gung für einen Reflex, welcher durch den Druck des Lidrandes auf die Cornea ausgelöst wird. Man hat zu bedenken, daß der Bulbus bei geschlossenen Lidern dieselbe Stellung hat wie bei Lähmung aller seiner Muskeln (in der Narkose, im Tode). Wahrscheinlich wird die Bulbusbewegung in einer Erschlaffung der Augen- muskeln beim Lidschluß ihren Grund haben. Die Zweckmäßigkeit dieser Ent- spannung liegt auf der Hand. . 3. Der Tränenapparat. Die freie Bulbusfläche muß dauernd feucht gehalten werden, wenn die Cornea durchsichtig bleiben soll. Die Anfeuchtung geschieht durch den Lidschlag, durch welchen die Feuchtigkeit des Conjunctivalsackes dem freien Bulbusteil mitgeteilt wird. Diese Flüssigkeit wird von verschiedenen Drüsen abgesondert, von denen die obere und untere Tränendrüse an Masse über- wiegen. Außer diesen findet man noch kleinere Tränendrüsen im Fornix der Bindehaut, 30 bis 40 am oberen, 6 bis 8 am unteren Lide. Auch im Tarsus findet man sie. Dazu. zeigt die „Sammetgegend“ der Conjunctiva tubulöse Drüsen (Henlesche), und in der ganzen Conjunctiva sind zahlreiche Becher- zellen vorhanden. Chemische Zusammensetzung der Tränen. — Das Gemisch der Sekrete dieser Drüsen, die Tränen, ist zuerst von Fourcroy und Vau- quelin®) untersucht worden. Die Tränen enthalten Wasser, globulinartige !) Sitzungsber. d. phys.-med. Gesellsch. Würzburg 9. — ?) R. Wagner, Zeitschr. £. rat. Med., IH. Reihe 5. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 71, 477. — *) Zentralbl. £. Physiol. 13, 325. — °) Philos. Transaet. of the Royal Soc. 1823, p. 166, 289. — %) Beitr. z. Physiol. Festschr. f. Fick, 1899, 8. 159. — 7) Arch. f. Augenheilk. 43, 199. — °) Zit. nach Frerichs im Handwörterbuch der Physiol. 3 (1846). 472 Tränen: Chemie. — Bildung. Eiweißkörper, Spuren von Schleim, Kochsalz, Spuren von Natriumcarbonat, Alkaliphosphat, Salze alkalischer Erden. Die Reaktion ist alkalisch, der Geschmack salzig. Von geformten Substanzen finden sich Epithelien und Fetttröpfchen, welche aus den Meibomschen Drüsen stammen. Die Tränen sollen bakterientötende Eigenschaften haben). Über ihre quantitative Zu- sammensetzung gibt die folgende Tabelle?) Auskunft. Die tägliche Menge ist für jedes Auge gleich drei Gramm 3). In 1000 Teilen Frerichs Lerch Magaard Arlt Wasser en ne 991 987 982 981 982 Feste Stoffe: . : . » 9 13 18 19 = Epithelien 4... %.% 1 3 KIweliß 2. ne Ar 1 1 5 15%: % 5 Schleim. Fett . . 3 3 Kochsalz 2 aa ae 6 13 4 13 Phosphate 2.1, nah | Die Tränenbildung. — Die morphologischen Vorgänge bei der Bildung der Tränen in den Drüsen sind von Kolossow*) und später von No115) näher untersucht. Sie fanden, daß das Sekret in den Zellen in Gestalt tropfenartiger Einlagerungen entsteht, welche die ganze Zelle ausfüllen können. Von den mikroskopisch erkennbaren Teilen der Drüsenzellen werden nur die Granula zur Sekretbildung verwendet. Die normale Absonderung der Tränen ist wahrscheinlich ein Reflexakt. Ganz sicher trifft dies zu, wenn die Tränenbildung auf besondere Reize hin erfolgt. Hier sind zu nennen Erregungen des Opticus (durch grelles Licht) und des Trigeminus (Vertrocknung der freien Bulbusfläche durch Luft- strömungen, chemische Reizungen derselben, z. B. durch ätzende Gase, mecha- nische durch Berührung mit Fremdkörpern). Auch durch Reizung der Tri- geminusendigungen in der Nase wird Tränensekretion ausgelöst (Fremdkörper, reizende Gase). Letzteres zeigt sich besonders beim Niesen. — Einseitige Erregungen des Opticus haben beim Menschen Tränensekretion in beiden Augen zur Folge, während einseitige Trigeminusreizungen nur auf die Tränen- absonderung der zugehörigen Seite wirken sollen®). Dies trifft jedoch nicht allgemein zu. So tränen beim Verfasser beide Augen nach mechanischer Reizung eines, ebenso bei einseitiger Reizung der Nasenschleimhaut. Außer der Absonderung, welche durch periphere Reize ausgelöst wird, zeigt sich Tränensekretion auch auf zentrale Impulse hin, so beim Gähnen und beim Weinen. Über die Ursachen dieser Absonderungen ist nichts Näheres bekannt. Der Nervenapparat der Tränendrüse. Über die Herkunft der Nervenfasern, welche die Tränendrüse sekretorisch versorgen, kann man !) Bach, Verh. d.-Ges. deutsch. Naturf. u. Ärzte, Nürnberg, % (2), 231; Bernheimer, Deutschmanns Beitr. 8, 61 und viele andere. — ?) Wilbrand u. Saenger, Die Neurol. d. Auges. — °) Magaard, Arch. £.. pathol. Anat.. 89, 258. — *) Zit. nach Noll. — °) Arch. f. mikr. Anat. 58, 487. — °) Wilbrand und Saenger, a.a. O. Tränen: Nerveneinfluß. — Abführung. 473 gegenwärtig kein sicheres Urteil fällen. Deshalb sollen die Angaben der Autoren nur kurz erwähnt werden. Tränensekretion erfolgt auf Reizung des N. lacrimalis'), des N. subeutaneus malae*), des Halssympathicus®). Bei Reizung der peripheren Enden der Trige- minuswurzeln sahen Herzenstein und Tepliachin‘) Sekretion, Reich’) und Köster‘) dagegen nicht. — Die Exstirpation des Gasserschen Ganglions beeinflußt beim Menschen die Tränenabsonderung nicht (Krause’). — Bei totalen Lähmungen des Facialis fehlt die Tränenabsonderung beim Weinen auf der gelähmten Seite (Goldzieher, Uhthoff und viele andere®). Faradisation der Wand des Cavum tympani bewirkt Tränenabsonderung (Vulpian und Journac?), Reizung des Facialisstammes nicht (Tepliachin). — Nach Campos'’) enthält der N. lacrimalis sekretorische Fasern, welche nicht vom Facialis stammen, der N. subeutaneus malae dagegen Fasern dieser Herkunft. Die Lage des Zentrums für die reflektorische Tränensekretion ist nicht genauer festgestellt. Nach Eckhard!!) liegt es nicht peripherer als im zen- tralen Teil des Halsmarks.. Seek!?) verlegt es zwischen den sechsten Hals- wirbel und das vordere Ende des Trigeminusursprunges, v. Bechterew und Mislawsky'?) in die Sehhügel. Die Tränenabführung. — Die Tränen laufen unter normalen Be- dingungen nicht über den Lidrand nach außen. Das Überlaufen wird durch den Fettüberzug des Lidrandes verhindert. Für die Einfettung sind besondere Drüsen da, Glandulae tarsales (Meibomi), welche die Augenbutter, Sebum palpebrale, liefern. — Wahrscheinlich genügt normalerweise die Verdunstung an der freien Bulbusfläche zur Abführung des Wassers, die Resorption durch die-Conjunctiva zur Abführung der Salze der Tränen. Hierauf weisen Be- obachtungen von Schirmer?) hin, welche an 50 Menschen gemacht wurden, denen der Tränensack exstirpiert war. Unter normalen Bedingungen tränten die Augen nicht, höchstens perlte in Intervallen von Stunden eine Träne über den Lidrand. Wurde aber die Tränenabsonderung künstlich vermehrt (Auf- enthalt im Winde), so liefen reichlich Tränen über die Lidränder. Die Versuche Schirmers beweisen zugleich, daß die Ausrottung des Tränen- sackes keine Atrophie der Tränendrüse zur Folge hat. Letzteres ist mehrfach”) behauptet worden. — Für die Befeuchtung des Bulbus sind die Sekrete der beiden großen Tränendrüsen nicht unbedingt nötig. Auch nach Exstirpation derselben bleibt die Bulbusoberfläche feucht !®). Aus den Versuchen von Schirmer folgt, daß bei vermehrter Tränen- absonderung der genannte Abführungsweg nicht ausreicht. Normalerweise !) Herzenstein, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1867, S. 561; Wolferz, Exp. Unters. über d. Innerv. d. Tränendr. Dissert., Dorpat 1871; Demtschenko, n. Jahresber. d. Ophth. 2. — *) Dieselben; betritten v. Köster, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 68, 343, 505; 72, 327, 518. — ®) Wolferz, Demtschenko, a.a. O,; Reich, Arch. f. Ophthalmol. 19, 38. — *) Arch. d’ophtalmol. 14, 401. — °) A. a. 0. — 6) A. a.0. — 7) Münch. med. Wochenschrift 1895, Nr. 25. — °) Goldzieher, Arch. f. Augenheilk. 28; Zentralbl. f. Augenheilk. 1895; Uhthoff, Deutsch. med. Wochenschr. 1886, Nr. 7; Schüssler, Berl. klin. Wochenschr. 1879; Moll, Zentralbl. f. prakt. Augenheilk. 1895. — °) Compt. rend. d’ l’acad. d. sc. 89, 393. — 10) Arch. d’ophtalmol. 1877. — "') Experimentalphysiologie des Nervensystems 1867. — 12) Eckhards Beitr. 9, 1. — "°) Neurol. Zentralbl. 10, 481. — *) Ber. d. ophthalmol. Gesellsch. 1902, 8. 128. — ") Tscherno-Schwartz, Zeitschr. f. Augenheilk. 5, 364, 443. — !°) Holmes, Arch f. Augenheilk. 39, 175. 474 Tränenabführung. werden die Tränen in diesem Falle in die Nase geleitet. Sie gelangen aus dem oberen lateralen Teil des Conjunctivalsackes über die Bulbus- oberfläche in den Tränensee. Dann werden sie durch die Tränen- kanälchen in den Tränensack und von hier durch den Tränengang in die Nase geführt. Die Frage, durch welche Kräfte die Tränen aus dem See in die Nase gelangen, hat die Forscher seit lange beschäftigt, ohne vollkommen beant- wortet zu werden. y Die Annahme von Petit!), daß die Tränen nur durch Heberwirkung in die Nase gelangen, wurde schon von Haller?) abgelehnt. Dieser zeigte, daß auch bei verschlossenem nasalen Ende des Tränenganges Tränen in den Tränensack gelangten. Haller selbst glaubte, die Füllung des Sackes ge- schehe durch Capillarität. Nähere Angaben macht er nicht. Hounauld?), E. H. Weber), v. Hasner’) vertraten die Ansicht, daß durch den In- spirationsstrom die Tränen aus dem See angesaugt würden. Daß dies nicht richtig ist, zeigte A. Weber‘). Er führte ein Manometer in ein Tränen- kanälchen und demonstrierte, daß dieses bei der Inspiration seinen Stand nicht änderte. Später wurde die Füllung des Sackes von Richter’), Schmidt?°) und durch die Wirkung von Muskeln erklärt, während Arlt?) und Moll!) die Entleerung desselben durch Muskelaktion entstanden wissen wollten. . Beide Anschauungen vereinigte Henke!!), Nach ihm wird beim Lidschluß der Tränensack durch die Kontraktion der Pars palpebralis m. orbic., soweit sie nicht dem tarsalen Lidteil angehört, dilatiert. Hierdurch werden durch die Kanälchen aus dem See Tränen angesaugt. Bei der Öffnung der Lider soll der Sack durch Kontraktion der Pars lacrimalis (Horneri)‘ des genannten Muskels komprimiert und hierdurch die Tränen in die Nase gepreßt werden. Fasern des genannten Muskels sollen zugleich die Kanälchen komprimieren und so ein Regurgitieren der Tränen in den See verhindern. Dem zweiten Teil der Henkeschen Anschauung wird von Gad!?) widersprochen. Nach ihm ist eine Kompression des Tränensackes durch Muskelaktion unmöglich, vielmehr nimmt er elastische Kräfte der Sack- wand und den intraorbitalen Druck als Ursache für die Entleerung des Sackes an. Ein Regurgitieren der Tränen nach der Lidöffnung scheint er für möglich zu halten. Scimeni!?) hatte Gelegenheit, bei einem Mädchen in eine Tränensackfistel ein mit Flüssigkeit gefülltes Röhrchen einzulegen und zu be- obachten, daß dieses sich beim Lidschluß in den Sack rasch entleerte, sich aber bei der Lidöffnung langsam wieder füllte. Ein vollkommen klares Bild geben die angeführten Beobachtungen über die Bewegung der Tränen nicht. So ist z. B. nicht recht verständlich, warum bei der Dilatation des Sackes die Tränen nicht aus dem weiten Gang zurück in den Sack, sondern durch die engen Kanälchen in denselben ein- ) Trait. d. malad. chir. 1734, p. 1. — °) Elem. Physiol. 5, 339. — ®) Zit. nach Henke, Arch. f. Ophthalmol. 4 (2), 70. — *) Ebenda. — °) Ebenda. — °) Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 1. — ?) Anfangsgründe d. Wundarzneik. 1802, 2. — °) Krankh. d. Tränenorg. 1803, 8. 184. — °) Krankh. d. Augen 3. — !) Byar. t. d. Anat. en Physiol. d. oogl. Utrecht 1857”. — ") A. a. 0. — '*) Arch. f. Anat. u. Physiol. 1883, Suppl. 8. 69. — Beitr. zur Physiologie. Festschr. f. A. Fick, S. 31. — ") Ebenda, 1892, Suppl. 8. 291. Tränenabführung. 475 treten. Ohne die Annahme eines Ventils im Gange, welches sich nur nach der Nase hin öffuen kann, kann man die Tränenbewegung nicht verstehen. Es ist möglich, daß die sogenannte von Hasnersche Klappe, der häutige untere Teil des Tränennasenganges, ein solches Ventil bildet. Für die Ent- leerung des Sackes in den Gang und weiter in die Nase könnten elastische Kräfte völlig genügen, da die Tränen unter solchem Antrieb auf dem Wege mit geringem Widerstand in die Nase und nicht durch die engen Kanälchen fließen würden. Eine experimentelle Lösung der Frage nach der Tränenabführung wäre dem Gesagten zufolge erwünscht. Der Gehörssinn von K. L. Schaefer. Frühere zusammenfassende Darstellungen des Gegenstandes: E. Chladni, Die Akustik. 4. Teil. Leipzig 1802 u. 1830. Joh. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen. 2.Band. Coblenz 1840. E.Harless, Artikel „Hören“ in Wagners Handwörterbuch der Physiologie. 4. Band. Braunschweig 1853. ; H.v.Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen. 5. Ausgabe. Braunschweig 1896. V.Hensen, Physiologie des Gehörs, in Hermanns Handbuch der Physiologie, 3. Band. Leipzig 1880. C. Stumpf, Tonpsychologie. 2 Bände. Leipzig 1883 und 1890. I. Von den Tonempfindungen. Vom physikalischen Standpunkt aus betrachtet sind die Töne pendel- oder sinusförmige Schwingungsvorgänge, die sich durch die Anzahl der Schwingungen pro Sekunde, die Schwingungszahl, oder durch ihre Sehwingungsweite, die Amplitude, unterscheiden. Von der Schwingungs- zahl hängt das ab, was wir in der Empfindung als die Tonhöhe bezeichnen, von der Amplitude die Tonstärke. Aber nicht alle Arten von Sinus- schwingungen lösen eine Tonempfindung aus, und nicht jede beliebige Ver- änderung eines physikalischen Tones wird als Wechsel der Höhe oder Stärke wahrgenommen. Damit ein Ton überhaupt hörbar sei, muß seine Schwingungs- zahl zwischen einer unteren und einer oberen Grenze liegen, muß seine In- tensität ein bestimmtes Minimum, den Schwellenwert, überschreiten und darf seine Dauer nicht zu kurz sein; damit andererseits zwei bezüglich ihrer Höhe oder ihrer Stärke differente Töne auch als verschieden erkannt werden, ist es erforderlich, daß der Unterschied nicht unter ein gewisses Maß sinkt. Unsere Tonwahrnehmungen sind also in mehrfacher Hinsicht beschränkt. a) Untere und obere Hörgrenze. Wieviel Pendelschwingungen müssen mindestens in der Sekunde das Ohr treffen, damit eine Tonempfindung zustande kommt? Diese Frage nach der Höhe des tiefsten wahrnehmbaren Tones hat schon die älteren Akustiker beschäftigt. Preyer, dem wir eine viel zitierte Untersuchung!) über die untere Hörgrenze verdanken, hat auch die wichtigeren, früheren Arbeiten !) Grenzen der Tonwahrnehmung. Jena 1876, Untere Hörgrenze. 477 über diesen Gegenstand zusammengestellt. Danach war Sauveur (1700) der erste, der mittels einer Orgelpfeife den tiefsten Ton bestimmte; er fand die Schwingungszahl 12!/,. Chladni (1802) und Biot (1829) benutzten Saiten und erhielten als Grenze 16 Schwingungen. Savart kam 1831 mit seinem bekannten Zahnrade und einem rotierenden Stabe zu dem Resultat, daß noch sieben bis acht Schläge als Ton gehört würden, während ihm eine andere Versuchsanordnung die Zahl 32 ergab. Despretz (1845) ver- legte die untere Hörgrenze noch weiter hinauf, indem er das Contra-G als tiefsten Ton bezeichnete. Helmholtz vermochte den Ton B, einer Saite, deren Oberschwingungen gedämpft waren, kaum noch zu hören, fand aber den Ton einer Stimmgabel, die 28 Schwingungen ‘machte, eben noch wahr- nehmbar, worin Wolf (1871) ihm beistimmte. Preyer wählte als Schall- quellen Metallzungen von 8 bis 40 Schwingungen. Die Tonempfindung begann bei seinen am besten hörenden Versuchspersonen mit 16 Schwingungen; den Ton 23 hörte jeder mit normalem Ohr Begabte. Von den Angaben der neueren Forscher mögen hier die folgenden erwähnt sein. Es fanden: Appunn (1887/88) 9 bis 12 Schwingungen; Cuperus (1893) mit der Appunnschen Lamelle 10 bis 13; van Schaik (1895) und Batelli (1897) 24; Bezold mit Laufgewichtgabeln 11 bis 12. Die Mehrzahl dieser Untersuchungen ist deswegen ziemlich wertlos, weil ‘dabei eine wichtige Fehlerquelle, nämlich die Mitwirkung von Öbertönen, nicht genügend berücksichtigt worden ist. Man darf mit Bestimmtheit be- haupten, daß keine der gegenwärtig üblichen Tonquellen absolut reine, ein- fache Töne hervorbringt. Von den Saiten und Zungen ist es allgemein bekannt, daß ihre Grundtöne Obertöne haben. Ebenso kann kein Zweifel mehr darüber herrschen, daß die Orgelpfeifen Obertöne geben, obschon dieselben bei zweckmäßiger Mensur und Intonation schwach und an Zahl gering sind. Bezüglich der Stimmgabeln meinte man früher, sie seien ohne Obertöne, bis Quincke, Stefan, Preyer u. a. das Irrtümliche dieser Ansicht nach- wiesen!). Auch Helmholtz hat dieselbe ursprünglich vertreten, hörte aber später bei einer stark schwingenden Gabel von 64 Schwingungen mit geeig- neten Resonatoren die Obertöne bis zum fünften. Ich selbst habe noch beim Zusammenklingen zweier Edelmannscher Laufgewichtgabeln, von denen die eine 24, die andere 26 Schwingungen machte, gleichzeitig Schwebungen von verschiedener Frequenz beobachtet, was nur auf der Mitwirkung von Obertönen beruhen konnte. Die dem Grundton der Gabeln zunächst liegenden Obertöne werden nicht unmittelbar durch die Schwingungen der Gabelzinken hervorgerufen 2), sondern entstehen erst in der umgebenden Luft durch gewisse physikalische Vorgänge, die wiederholt, neuerdings besonders eingehend von Lindig?), untersucht sind. Von der Appunnschen Lamelle gilt Ähnliches wie von den Gabeln. Auch ihr Klang ist nicht obertonrein, wie van Schaik*) !) vgl. C. Stumpf, Wiedemanns Ann. 57, 673; 1896. — °) Mit Rücksicht hierauf darf man weder, wie Bezold (Zeitschr. f. Psychol. u.’ Physiol. der Sinnes- organe 13, 162, 1897) wollte, aus der von der Gabelzinke aufgezeichneten Kurve auf die Abwesenheit aller Obertöne schließen, noch glauben, daß der Gabelton durch Überstreifen von Gummiringen über die Zinken gänzlich obertonfrei werde. — ®) Ann. d. Phys. u. Chem. 11 (4), 31 ff., 1903. (Daselbst auch die ältere Literatur.) — *) Arch. Neerlandaises 29, 87; Katar. Rundsch. 10, 93—94, 1895. 478 Hindernisse der exakten Bestimmung. gezeigt hat. Wird aber der Grundton von Obertönen begleitet, so ist man bei der Ermittelung des tiefsten hörbaren Tones ganz auf die Fähigkeit des Ohres angewiesen, den Grundton aus dem Gesamtklange herauszuhören und so seine isolierte Beobachtung zu ermöglichen. Nun sind wir ja allerdings imstande, im allgemeinen die Teiltöne eines Klanges gesondert wahrzunehmen. Aber diese Analyse gelingt nicht jedem und nicht immer mit gleicher Leichtig- keit, und gerade im vorliegenden Falle ist sie besonders schwierig. Die relativ hohen und hellen Obertöne, die beispielsweise beim unzweckmäßigen An- schlagen der Stimmgabeln entstehen, wird man wohl regelmäßig bemerken (und dann durch Dämpfung beseitigen können), nicht jedoch die Oktave, Duo- dezime und Doppeloktave des Grundtones, auf die es hier in erster Linie ankommt. Töne, die wie Grundton und Oktave im Verhältnis 1:2 oder wie erster und zweiter Oberton im Verhältnis 2:3 zueinander stehen, unterliegen nämlich einer beträchtlichen Verschmelzung, wie Stumpf!) experimentell festgestellt hat. Dabei bezogen sich seine Beobachtungen auf die mittleren Oktaven der Tonreihe, also eine dem Öhre vertraute Region, und man wird wohl nicht irren, wenn man annimmt, daß die Urteilsfähigkeit des Gehörs in dieser Hinsicht gegenüber den ungewohnten und schwachen tiefsten Tönen noch viel unzuverlässiger ist; lassen uns doch auch Intervall- sinn und Tonhöhenunterschiedsempfindlichkeit um so mehr im Stich, je mehr sich die Töne der Hörgrenze nähern. Hierzu kommt noch ein Zweites. In Klängen von mittlerer und hoher Tonlage überwiegt der Grundton die Ober- töne bei weitem an Stärke, was das Heraushören desselben wesentlich er- leichtert. Bei Klängen von großer Tiefe dagegen findet sich, wie Helmholtz?) durch Versuche mit seiner bekannten Doppelsirene nachwies, das umgekehrte Verhältnis, so daß hier die Obertöne den Grundton mehr oder weniger ver- decken. Beide Umstände, Verschmelzung und Verdeckung, erschweren die richtige Beurteilung der tiefsten Klänge in solchem Grade, daß man keine sichere Gewähr dafür hat, ob die jeweils tiefste Tonempfindung wirklich von dem Grundton herrührt oder von einem Oberton oder von dem unanalysier- baren Zusammenklang mehrerer Obertöne des an sich unhörbaren Grundtones. Eine Beseitigung der Obertöne wäre also mehr als wünschenswert. Hat man es mit höheren Tönen zu tun, so kann man bekanntlich dieses Ziel durch das relativ einfache Mittel der Interferenz erreichen. Den tiefen Tönen gegenüber läßt sich aber diese Methode nicht anwenden, weil dadurch die ohnehin so leisen Grundtöne mit ausgelöscht werden würden. Preyer hat es versucht, die Intensität der tiefsten Töne durch Resonatoren zu steigern, aber man wird nicht daran denken dürfen, etwa auf diese Weise die Grund- töne von den Obertönen zu trennen, denn die letzteren werden ebenfalls von allen Resonatoren mehr oder weniger erheblich verstärkt. Der einzige mir bekannte sachgemäße Versuch, einen möglichst tiefen Ton ohne harmonische Obertöne zu erzeugen, ist von Helmholtz) bei seinen Beobachtungen über die untere Hörgrenze angestellt worden. Er belastete Saiten mit Metall- stücken, so daß sie beim Anschlagen nur hohe unharmonische Obertöne gaben, die mit dem Grundton nicht verwechselt werden konnten. Aber dieses !) Beiträge z. Akustik u. Musikwiss. 1, 36, 1898. (Daselbst auch d. ältere Lite- ratur.) — ?) Lehre v. d. Tonempf. (5), 8. 291, 1896. — °) Ebenda, 8. 294. Hindernisse der exakten Bestimmung. 479 Verfahren hatte wieder den Übelstand, daß die Grundtöne für den beab- sichtigten Zweck zu schwach waren. Es scheint also einstweilen nicht möglich, bei der Bestimmung des tiefsten hörbaren Tones die Obertöne ganz unschädlich zu machen. Unter diesen Umständen ist die folgende Beobachtung von A. J. Ellis!) von großer Wichtigkeit. Derselbe konstatierte, an einem ebensolchen Zungen- apparat experimentierend, wie ihn Preyer für seine eigenen Versuche hatte verfertigen lassen, daß die Zungen 21 und 25 — die Ziffern bedeuten die Schwingungszahlen — vier Schwebungen pro Sekunde gaben und ebenso alle nach unten folgenden Paare um je vier Schwingungen differierender Zungen bis hinab zu 15 und 19. Der Befund, daß die 15 Schwingungen mit den 19 Schwingungen vier Schwebungen machten, beweist, seine Richtigkeit in allen Stücken vorausgesetzt, daß wirklich die Grundtöne perzipiert wurden, daß also 15 Pendelschwingungen pro Sekunde noch eine physiologische Wirkung im Ohre hervorrufen können. Wie es sich in dieser Beziehung mit noch langsameren Schwingungen verhält, bleibt unentschieden. Schwebungen sind unterhalb 15 Schwingungen bisher nicht gehört worden. Es ist aber möglich, daß noch tiefere Töne den Hörnerven zu erregen vermögen, wenn nur ihre Schwingungsweite groß genug ist. Die tiefsten Töne haben nämlich eine um so geringere subjektive In- tensität, je näher man der Grenze kommt, und damit sie überhaupt wahr- nehmbar werden, muß ihre Amplitude mit abnehmender Schwingungszahl in immer stärkerem Grade wachsen. Es läßt sich also keine ganz bestimmte Tonhöhe als untere Grenze an- geben. Überdies kommen nicht unerhebliche individuelle Unterschiede in bezug auf die Perzeptionsfähigkeit für tiefste Töne vor. Auf diese Tatsache hat schon Preyer ausdrücklich aufmerksam gemacht, und sie ist seitdem öfter bestätigt. Auch mit dem momentanen Grade der Aufmerksamkeit des Hörenden und mit dessen Übung variiert die untere Hörgrenze, wovon ich mich gelegentlich in Gemeinschaft mit 0. Abraham beim Heraushören von tiefsten objektiven Tönen aus einem Klanggemisch überzeugen konnte. Vor allem aber muß hervorgehoben werden, daß es auch für den Geübten nicht leicht ist, einen markanten Punkt anzugeben, bei dem die Tonempfindung aufhört, wenn ihm nacheinander tiefer und tiefer werdende Töne vorgeführt werden. Unterhalb 40 Schwingungen verlieren die Töne ihren musikalischen Charakter, sie werden immer leiser, dumpfer und zunehmend rauher, dis- kontinuierlicher. In der Nähe der Hörgrenze findet sich eine Region, wo neben deutlich getrennten Tonstößen die eigentliche Tonempfindung nur noch schwach, gleichsam verschwimmend vorhanden ist, und schließlich lösen sich die Töne für die meisten ganz in einzelne sehr tiefe, weiche, hauchende Stöße auf, die zuweilen von Nebengeräuschen und sehr häufig von flatternden Tast- empfindungen begleitet sind. Letztere können so lebhaft auftreten, daß es zweifelhaft wird, ob man die einzelnen Tonstöäße mehr hört oder mehr fühlt. Jene älteren Autoren, die sich um die Feststellung des physiologisch tiefsten Tones bemüht haben, versuchten auch schon die obere Hörgrenze zu ermitteln. So haben Sauveur, Chladni, Biot und Wollaston Angaben ‘ %) W. Preyer, Akust. Untersuch., Jena 1879, 8. 6 ff. 480 Obere Hörgrenze. über die Höhe des höchsten noch wahrzunehmenden Tones gemacht. Ihre Zahlen schwanken jedoch zwischen 6400 und etwa 20000 und beruhen auf so ungenauen Berechnungen, daß sie keinen positiven Wert besitzen. Erst Savart (1830) verdanken wir exaktere Bestimmungen. Mit seinem Zahnrade, dessen Zähne gegen ein Kartenblatt schlugen, erhielt er Töne - von etwa 24000 Schwingungen, die er deutlich hörte. Preyer!) benutzte statt der Zahnradsirene eine Löchersirene nach Art der Seebeckschen, längs deren Peripherie in immer gleichem Abstande voneinander 1024 Löcher gebohrt waren. Geschah die Umdrehung so rasch, daß etwa 16000 Löcher in der Sekunde den anblasenden Luftstrom passierten, so entstand ein noch vollkommen klarer Ton. Preyer selbst konnte sogar gleich Savart noch bei 24000 Luftstößen einen ganz leisen, sehr hohen Ton aus dem Blase- geräusch heraushören. Die Schwingungszahl des Grundtones ist bei derartigen Sirenenversuchen einfach gleich dem Produkt aus der Zahl der Zähne oder Löcher und der Anzahl der Umdrehungen in einer Sekunde; die Obertöne der höchsten Grundtöne kommen natürlich, als jenseits der Grenze liegend, überhaupt nicht in Betracht. Pauchon?) benutzte eine kräftige Dampf- sirene nach Cagniard de la Tour. Wechselte der Dampfdruck im Wind- kessel von 0,5 bis 1,5 Atmosphären, so lag die Grenze zwischen 24000 und 30000 Schwingungen, während bei Anwendung einer Gegenplatte die Ton- höhe unter einem Druck von 2,5 Atmosphären auf 36000 stieg, ohne daß damit die Hörgrenze erreicht war. Außer dem Zahnrade verwendete Savart auch Glas- und Stahlstäbe, die 16000 Schwingungen als mittleren Grenzwert ergaben. Preyer wieder- holte diese Versuche mit den bekannten Klangstäben von R. Koenig. Die Töne der Stäbe mi® (e$), sol® (g%) und ut? (c’) wurden als unangenehm schneidend empfunden. Das Anschlagen des nächst höheren Stabes mi? (e’) rief aber nur noch eine kurze, schwache Tonwahrnehmung hervor, und jenseits mi?, bei sol? und ut!% war überhaupt kein Ton mehr zu hören; doch meint Preyer, daß bei genügender Steigerung der Intensität c® wohl noch ver- nehmbar sein würde. Seitdem sind, namentlich in neuester Zeit, die Klang- stäbe wiederholt zu Beobachtungen über die obere Hörgrenze benutzt worden, wobei man in Übereinstimmung mit Preyer als durchschnittlich höchsten Ton mi? gefunden hat. Hinsichtlich der physikalischen Tonhöhenbestimmung bieten die trans- versal schwingenden Klangstäbe den Vorteil, daß ihre Schwingungszahlen sich theoretisch leicht berechnen lassen. Indessen hat Koenig?) vor einigen Jahren auf Grund von Kontrollversuchen, zu denen er die Differenztöne der Klangstäbe benutzte, angegeben, daß die wirkliche Tonhöhe hinter der berech- neten um so mehr zurückbleibe, je höher der Ton werde, und daß die Töne der von ihm seither verfertigten Stäbe zwischen c’ und g? reichlich einen Halbton zu tief sein dürften. Dem entspricht die Mitteilung Schwendts#), der die Schwingungszahlen der Koenigschen Klangstäbe nach der Kundt- schen Staubfigurenmethode prüfte, daß sein Exemplar des Klangstabes mi? !) Grenzen der Tonwahrnehmung, 8.18 ff., Jena 1876. (Ebenda auch die ältere Literatur.) — ?°) Compt. rend. 96, 1041; Philos. Mag. 15 (5), 371. — *) Wiedemanns Ann. 69, 721 ff., 1899. — *) Pflügers Archiv 75, 356. Zu 0 Obere Hörgrenze. — Galtonpfeife. 481 mehr ein d’ als ein e’ sei, während die Stimmung der Stäbe bis zum c? hinauf sich als richtig erwiesen habe. Preyer benutzte auch Stimmgabeln zur Ermittelung der oberen Hör- grenze, wie vor ihm (1845) schon Despretz. Allein die Resultate, die damit erzielt wurden, sind nicht brauchbar. Denn sowohl Despretz’ Mechaniker Marloye als auch Appunn, von dem Preyer sein Instrumentarium bezog, haben die Tonhöhen ihrer Gabeln nur nach dem musikalischen Gehör abgeschätzt, welches, wie man jetzt weiß, den höchsten wie den tiefsten Oktaven gegen- über ganz versagt. In richtiger Erkenntnis dieser Tatsache hat R. Koenig!) seine Serien von Gabeln für höchste Töne, welche die diatonische Leiter von c5 bis f? darstellen, stets mittels der Differenztöne gestimmt, und zwar mit tadelloser Genauigkeit, während die wahren Tonhöhen der Appunnschen höchsten Gabeln und Pfeifen von den angeblichen erheblich, ja teilweise um viele Tausende von Schwingungen abweichen. Die nach verschiedenen Methoden angestellten Untersuchungen von Melde, Stumpf und Meyer, Schulze und Schwendt haben dies übereinstimmend gezeigt?2.. Nach Koenigs eigenen mannigfachen Beobachtungen liegt der Ton der Gabel f’ für die meisten Ohren bereits jenseits der Hörgrenze, „die für bejahrte Leute gewöhnlich bis unter c’ sinkt“. Zu einem ähnlichen Ergebnis sind Schwendt und Wagner?) gekommen, die zugleich darauf aufmerksam gemacht haben, daß die Wahrnehmbarkeit der höchsten Gabeltöne auch wesentlich von der Intensität abhängt: damit die betreffenden Gabeln in hörbare Schwingungen geraten, ist ein geschicktes Anstreichen mittels des Bogens erforderlich. Die Ohrenärzte bedienen sich gegenwärtig zu ihren Untersuchungen über die Perzeption höchster Töne mit Vorliebe einer Pfeife, die, zuerst von Francis Galton*) (1876) beschrieben und bald darauf durch Burckhardt- Merian in die otiatrische Praxis eingeführt, neuerdings in wesentlich vervoll- kommneter Form aus Prof. Edelmanns physikalisch-mechanischem Institut in München als Bestandteil der Bezold-Edelmannschen Kontinuier- lichen Tonreihe in den Handel gelangt. Die Konstruktion der Galtonpfeife entspricht dem Zweck, mit einem einzigen Instrument möglichst viele ver- schieden hohe Töne hervorbringen zu können. Im Innern des zylindrischen Pfeifenkörpers befindet sich ein Stempel, der sich längs einer außen sichtbaren Skala hin und her schrauben läßt, je nachdem man durch Verkürzung des Pfeifenlumens höhere oder durch Verlängerung tiefere Töne erzielen will. Das Anblaserohr, aus welchem der Wind durch einen kreisförmigen Schlitz zum Pfeifenkörper gelangt, steht letzterem konaxial gegenüber. Die Ent- fernung zwischen beiden, die Maulweite, ist variabel, da sie für verschiedene Tonhöhen verschieden groß sein muß. Um das Anblasen der Pfeife möglichst bequem zu machen, wird jedem Exemplar ein kleiner Gummiballon beigegeben, der durch einen kurzen Schlauch mit dem Anblaserohr verbunden und dann mit der Hand komprimiert wird. Der Tonumfang der Galtonpfeife beginnt in der oberen Hälfte der viergestrichenen Oktave und reicht über die mensch- liche Hörgrenze hinaus. !) Wiedemanns Ann. 69, 626 ff. — ?) Vgl. meine Sammelreferate, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 21, 141 u. 22, 229. — ®) Untersuchungen von Taubstummen. Basel 1899. — *) Siehe das Nähere in Francis Galton, Inquiries into Human Faculty and its Development. London .1883. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 31 482 Grenztöne der Galtonpfeife. Bis vor wenigen Jahren konnte man die einzelnen Tonhöhen der Pfeife nur nach mehr oder minder unzuverlässigen Berechnungen und Schätzungen beurteilen, weshalb die aus früherer Zeit stammenden Grenzbestimmungen, wie sie insbesondere von Zwaardemaker und Bezold ausgeführt sind, hier übergangen werden dürfen. Ein wesentlicher Fortschritt wurde erst gemacht, als Stumpf und Meyer mittels ihrer „Differenztonmethode“ eine Aichung der Pfeife ermöglichten!) und später von Schwendt sowie gleich darauf von F. A. Schulze gezeigt ward, daß sich die Kundtsche Staubfiguren- nıethode 2) mit bestem Erfolge auch auf die Galtonpfeife anwenden läßt. Auf Grund seiner nach diesem Verfahren angestellten Versuche hat Schwendt angegeben, daß die obere Hörgrenze für die Galtonpfeife noch ungefähr eine Oktave höher liege als für die Koenigschen Gabeln. Stumpf und Meyer fanden die Grenze bei etwa 20000 Schwingungen für die von ihnen benutzten Pfeifen, während Edelmann (im Jahre 1900) behauptet hat, mit ° verbesserten Pfeifen ließen sich noch hörbare Töne von 50000 Schwingungen erzielen. Es wäre wünschenswert, daß die Untersuchungen über die höchsten hör- baren Galtontöne in größerem Umfange wiederholt würden, wobei dann folgende Punkte berücksichtigt werden müßten. Der vorhin erwähnte Gummi- ballon ist durchaus unbrauchbar, insofern er nicht nur einen von Fall zu Fall in unberechenbarer Weise wechselnden Winddruck liefert, sondern auch, wie Stumpf und Meyer fanden, einen Ton gibt, dessen Höhe sich trotz seiner kurzen Dauer fortwährend und beträchtlich ändert. Für exakte physio- logische Bestimmungen muß man sich also eines möglichst gleichmäßig funktionierenden Gebläses bedienen. Da sich aber auch mit einem solchen kaum zu allen Zeiten genau der gleiche Druck erzielen läßt und die Ton- höhe außer von der Stellung des Stempels im Pfeifenrohr und der Maulweite auch von der Beschaffenheit der Luft und von der Windstärke abhängt, so erscheint es nötig, jedesmal während der Beobachtung eines Galtontones seitens der Versuchsperson gleichzeitig die Staubfigur herzustellen. Schließlich ist noch hervorzuheben, daß die Galtonpfeifen häufig in der Nähe der Grenz- lage neben den höchsten auch wieder tiefere Töne hören lassen. Inwieweit durch diesen Umstand Irrtümer in der Bestimmung des höchsten wahrnehm- baren Tones entstehen und wie dieselben etwa vermieden werden können, wird erst durch weitere Untersuchungen über die betreffenden Eigentümlich- keiten der Pfeifen und das Verhalten der Kundtschen Röhren gegenüber Tongemischen zu entscheiden sein °). Jedenfalls ist die physikalische Reihe der verschieden hohen Töne weit länger als die physiologische. So hat R. Koenig Stimmgabeln von 90000 Schwingungen verfertigt und Edelmann ist mit Galtonpfeifchen von sehr kleinen Dimensionen sogar bis zu 170000 Schwingungen gelangt, wobei beide die Existenz dieser nicht mehr hörbaren Töne mit Hilte der Staub- figurenmethode nachwiesen. !) Wiedemanns Ann. 61, 1897. — ?) Genauere Informationen über die Technik derselben nebst weiteren Literaturangaben enthalten die Arbeiten von F. A. Schulze und R.Koenigin Wiedemanns Ann. 68 u. 69 (1899). — °) Vgl. hierzu Ch. 8. Myers, Journ. of Physiol. 28, 417 ff., 1902. Unterschiedsempfindlichkeit für Tonhöhen. — Preyers Versuche. 483 b) Die Unterschiedsempfindlichkeit für Tonhöhen. Physikalisch bedeutet jede beliebig kleine Veränderung der Schwingungs- zabl eine Erhöhung oder Vertiefung des Tones, nicht jedoch für das Ohr. Solange nicht die Differenz der Schwingungszahlen zweier Töne ein gewisses Minimum überschreitet, erscheinen beide Töne in der Empfindung gleich. Die Unterschiedsempfindlichkeit für Tonhöhen hat also eine Grenze. Wie Preyer!) berichtet, war Delezenne (1826) der erste, der die kleinste noch wahrnehmbare Differenz zweier Tonhöhen zu bestimmen suchte. Er bediente sich hierzu einer metallenen Saite, die 120 Doppelschwingungen in der Sekunde machte. Wurde dieselbe durch einen Steg so in zwei Teile geteilt, daß der Steg lmm von der genauen Mitte entfernt war, so erschien für sehr geübte Ohren der Ton der einen Saitenhälfte bereits merklich ver- schieden von dem der anderen. Bei dieser Beobachtung, die Preyer (gleich anderen) irrtümlich interpretierte, betrug nach Stumpf£fs?) Berechnung der Tonhöhenunterschied 0,8 Schwingungen. Seebeck (1846) bemerkte im Verein mit zwei anderen musikalischen Personen jedesmal den Unterschied zwischen zwei Stimmgabeln, von denen die eine 439,636 und die andere 440 Schwingungen in der Sekunde vollführte.. Abgesehen von diesen beiden und einigen weiteren, zum Teil nicht eindeutigen, Angaben ist seitens der älteren Forscher kein Material zur Beantwortung der Frage nach der Ton- höhenunterschiedsempfindlichkeit gesammelt worden. Erst Preyer selbst hat systematische Versuche angestellt. Der speziell hierfür von Appunn in Hanau gebaute Tondifferenzapparat war einer jener Zungenkasten, welche die genannte Instrumentenfirma zu verschiedenen Zwecken für mehrere Akustiker verfertigt hat und deren Konstruktions- prinzip das folgende ist. Eine Reihe von Metallzungen sind in horizontaler Lage nebeneinander im Innern eines Kastens angebracht, dessen oberer hohler Teil von einem Blasebalge aus mit Druckluft gefüllt wird. Zu jeder Zunge gehört ein Ventilschieber. Wird derselbe herausgezogen, so kann die Preß- luft an der Zunge vorbeistreichen und setzt sie in Bewegung; wird er zurück- geschoben, so erlischt der Ton momentan. Dank der Wahl dieser Einrichtung erhielt Preyer Töne, die einander an Intensität und Klangfarbe genügend gleich waren. Es war nur nötig, die von der Versuchsperson zu vergleichenden zwei Töne hinsichtlich ihrer Dauer und der Zwischenpause genau zu regu- lieren sowie von Zeit zu Zeit die Schwingungszahlen durch Zählung der Schwebungen einer Kontrolle zu unterziehen. Durch mehr als 1000 Einzel- versuche überzeugte sich Preyer davon, daß musikalische und äußerst geübte Beobachter zwei Zungentöne von 500,0 bzw. 500,3 Schwingungen wie . auch die Tonhöhen 1000,0 und 1000,5 stets als verschieden beurteilten, während eine Differenz von 0,2 nie sicher erkennbar war. Mit Hinzunahme der Bestimmungen von Delezenne und Seebeck ergab sich hieraus, daß innerhalb der drei Oktaven von c? bis c? die eben merkliche Differenz zweier Schwingungszahlen n,—n = d und also auch die absolute Unterschieds- !) Grenzen der Tonwahrnehmung, 8. 26ff. Jena 1876. (Daselbst auch die Zitate der älteren Arbeiten.) — ?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 18, 373, 1898. 81* 484 Beobachtungen von Luft, Meyer und Stumpf. 1 empfindlichkeit z gut wie konstant ist, die relative Unterschiedsempfind- lichkeit n: d aber nicht. Die Verwendung von Stimmgabeln zur Ermittelung der Tonhöhenunter- schiedsempfindlichkeit hat den Nachteil, daß es nicht leicht ist, Stärke- unterschiede der Klänge zu verhüten. Trotzdem erhielt Luft!) mit Gabeln auf Resonanzkasten Ergebnisse, die mit denen Preyers im wesentlichen übereinstimmen. Er fand als Unterschiedsschwelle für C 0,149; für c’ 0,159; für c! 0,232; für c?2 0,251; für c3 0,218 und für c* 0,362. Daß seine Zahlen kleiner sind als die der früheren Autoren, hat wohl in dem relativ bequemen Versuchsmodus seinen Grund. Es wurde nämlich dem Urteilenden jedesmal vorher mitgeteilt, in welcher Richtung die Tonveränderung stattfinden würde, und er hatte nur anzugeben, bei welchem Versuche er einen Unterschied bemerkte. So ließ Luft, wie übrigens auch Preyer, seine Versuchspersonen nur über Gleichheit oder Ungleichheit der Tonhöhen entscheiden. Da diese Methode nicht ganz einwandfrei ist, so hat M. Meyer?) die Aufgabe schärfer dahin formuliert, daß nicht bloß die Existenz, sondern auch die Art des Unter- schiedes von dem Beobachter festzustellen sei. Dabei erhielt er etwas größere, aber auch zuverlässigere Werte. Von der Hauptversuchsperson, C. Stumpf, wurde nachstehende Tabelle gewonnen, deren oberste Horizontalreihe die Ton- höhen der Versuchsgabeln angibt und die im übrigen in Prozentzahlen die richtigen Urteile über die Frage, welcher Ton der höhere war, enthält. Verstimmung 100 200 400 600 1200 0,35 71 83 80 84 67 0,65 74 91 92 90 70 Sehr hohen und sehr tiefen Tönen gegenüber ist die Unterschieds- empfindlichkeit geringer und nimmt mit wachsender Annäherung an die Enden der Tonreihe immer mehr ab; namentlich gilt dies von der oberen Hör- grenze. An genaueren, zahlenmäßigen Feststellungen hierüber fehlt es in- dessen noch fast ganz. Erwähnenswert ist die Bemerkung Preyers, daß auch Geübte sich bei den Tönen unterhalb 40 Schwingungen um eine ganze Schwingung irren, und die Angabe Lufts, daß sich für ihn selbst bei Benutzung einer Gabel von 32 Schwingungen die Differenz 0,44 als Schwelle ergeben habe. Ungeübte, mögen sie auch musikalisch sein, pflegen in dieser tiefen Region Fehler von mehreren Schwingungen zu begehen, zumal wenn man Gabeln als Schallquellen wählt. Klaviertöne sind hinsichtlich der Höhen- unterschiede der Intervalle leichter zu beurteilen, wahrscheinlich weil sie obertonreicher sind und ihre Klangfarbe uns vertrauter ist. Jedenfalls spielen Übung und Beobachtungsgabe immer eine wichtige Rolle, wo es sich um die Erkennung von minimalen Tonhöhendifferenzen handelt. Eine Unterschieds- empfindlichkeit von solcher Feinheit, daß eine Veränderung des Tones um ‘) Wundts Philos. Stud. 4, 511 ff., 1888. — °) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 16, 352 ff., 1898. Die Tonfarbe. 485 weniger als eine halbe Schwingung bemerkt wird, ist keineswegs jedem an und für sich eigen, sondern ein Optimum, das manche durch längere Beschäf- tigung mit Tönen zu erreichen vermögen, hinter dem aber die durchscbnitt- ‘ liche Leistungsfähigkeit des menschlichen Ohres nicht unbeträchtlich zurück- bleibt. Findet man doch, wie Stumpf!) mitteilt, nicht so selten Personen, die die Frage, welcher von zwei Tönen der höhere sei, selbst dann unrichtig- beantworten, wenn das Intervall eine Terz, eine Quarte oder gar eine Quinte beträgt. Stumpf erhielt bei mehreren Versuchsreihen dieser Art im Mittel auf je vier Urteile nur drei. zutreffende. Eine Dame erklärte sogar 9? für höher als f*. ; c) Die Tonfarbe. Wir pflegen uns die Tonempfindungen in Form einer Reihe zu vergegen- wärtigen, die mit der tiefsten beginnt und mit der höchsten endet, während dazwischen die übrigen nach wachsender Schwingungszahl eingeordnet sind. Das stetige Zunehmen der Tonhöhe mit der Frequenz der Schwingungen ist wohl die wesentlichste Veranlassung hierzu, aber nicht die einzige. Es gibt noch andere Merkmale der Tonempfindungen, die sich zugleich mit der Höhe kontinuierlich verändern. In dieser Beziehung sei zunächst der größeren oder geringeren Helligkeit gedacht, die wir den Toneindrücken zuschreiben. Die tieferen Töne haben einen dumpfen, dunkeln Charakter, die höheren erscheinen hell. Der Unterschied tritt besonders klar hervor, wenn man Töne der tiefsten Oktave mit solchen aus der höchsten Region vergleicht, weniger deutlich bei mittleren Tönen. Er beruht zum Teil auf naheliegenden Assoziationen; zum Teil ist er aber auch in der Qualität der Empfindungen selbst begründet, wie daraus hervorgeht, daß kleine Kinder, die weder die Ausdrücke „hoch“ und „tief“ kennen, noch sonst musikalische Anlagen besitzen, zuweilen von selbst auf die Bezeichnungen „dumpf“, „dunkel“ oder „hell“ zur Unterscheidung von Tönen verfallen 2). Neben seiner Dunkelheit oder Helligkeit ist dem empfundenen Tone eine gewisse Größe eigen. - Die tiefen Töne haben etwas Massiges, Gewaltiges, Kopf und Körper des Hörers Umflutendes, während man den höchsten Prä- dikate wie „dünn“, „fadenförmig“, „spitzig“, „winzig“ beizulegen pflegt. Von den Griechen wurde dieses Verhältnis geradezu zur Klassifizierung der Töne benutzt, indem sie nicht wie wir von hohen und tiefen, sondern von scharfen (spitzen) und schweren Tönen sprachen. Die von jedem leicht zu machende Beobachtung, daß die tiefen Töne von umfangreichen Instrumenten ausgehen, deren Schwingungen oft nicht nur gehört, sondern auch als Erzitte- rungen gefühlt werden und lange nachhallen, daß die großen Tiere eine tiefe, die kleinen eine hohe Stimme haben, und ähnliche Erfahrungen tragen gewiß dazu bei, die Vorstellung einer Ausdehnung mit den Tönen zu verknüpfen. Aber abgesehen hiervon kommt, wie Stumpf in seiner Tonpsychologie überzeugend nachgewiesen hat, der Tonempfindung eine gewisse Größe als immanente Eigentümlichkeit zu, obgleich sich diese Größe mit dem Begriff einer räumlichen Eigenschaft im gewöhnlichen optischen oder haptischen Sinne nicht vollkommen deckt. !) Tonpsychologie 1, $ 14, 1883. — ?) Stumpf, Tonpsychologie 2, 531. 486 Beziehungen zwischen Tonhöhe und Empfindungsstärke. Wenn wir die tiefen Töne als weich, die hohen als scharf bezeichnen, so hängt auch dies teilweise mit der Extensität der Töne zusammen. Alles Weiche hat eine gewisse Breite, während die „Schärfe“ an die längliche, dünn geschliffene Messerklinge erinnert. Der ausschlaggebende Grund für die Wahl dieser Prädikate dürfte aber der sein, daß die höheren Töne eine relativ ‘größere Empfindungsintensität besitzen als die tieferen. Diese Tatsache ist schon Descartes und Chladni aufgefallen. Später hat dann Helmholtz!) im Gegensatz zu der von anderen Akustikern ausgesprochenen Voraussetzung, die Stärke der Töne verschiedener Höhe sei unter übrigens gleichen Um- ständen der lebendigen Kraft der Luftbewegung direkt proportional, durch einen einfachen Versuch mit seiner Doppelsirene gezeigt, daß, wenn die gleiche mechanische Arbeit aufgewendet wird, um tiefe oder hohe Töne bei sonst identischen Bedingungen zu erzeugen, letztere die ersteren hinsichtlich ihrer subjektiven Stärke außerordentlich übertreffen. Die Zunahme der Tonstärke mit der Tonhöhe erwies sich besonders bedeutend in der tiefsten Region der Skala und ließ sich bis zum a? verfolgen. Da die lebendige Energie oder, was dasselbe bedeutet, die mechanische Arbeit proportional (an)? ist, wenn a die Amplitude und n die Schwingungszahl bezeichnet, so nimmt bei gleich bleibender Energie und wachsender Tonhöhe a in demselben Maße ab, wie n zunimmt. Die Helmholtzsche Beobachtung beweist also, daß von zwei verschiedenen Tönen, die die gleiche Amplitude haben, der höhere der lautere ist, und daß die Amplitude des höheren bis zu einem mit der Höhe variieren- den Grade kleiner werden kann als die des anderen, ehe ersterer sein Übergewicht an Empfindungsstärke einbüßt. Die von Bosanquet?) experi- mentell begründete Theorie, daß zwei verschieden hohe Töne der mittleren ÖOktaven gleich laut erscheinen, wenn die Arbeit der Wellenlänge proportional ist, kommt auf dasselbe hinaus und desgleichen das Resultat einer Unter- suchung von Charpentier°), der, wie vor ihm gelegentlich schon R. Koenig, konstatierte, daß Töne zwischen f? und f?, denen man bei ihrer Erregung gleiche Schwingungsweiten gibt, in um so größerem Abstande hörbar sind, je höher die Schwingungszahl ist. Auch Max Wien hat Versuche über die Beziehungen zwischen Tonhöhe und Empfindlichkeit des Ohres angestellt, wozu er Telephone benutzte. Er fand), daß die Telephonströme für die tiefen Töne verhältnismäßig stark sein müssen, damit ein eben noch merklicher Ton entsteht. Die Empfindlichkeit ‘steigt dann rasch mit der Tonhöhe, er- reicht in der Gegend von 1000 bis 5000 Schwingungen ein Maximum und nimmt weiter aufwärts wieder ab. Zwischen diesen Beobachtungen und gewissen Erfahrungen des täglichen Lebens, wie der, daß man Donner und Kanonenschüsse noch in sehr großen Entfernungen hört, daß tiefe Glocken- töne weiter dringen als hohe, selbst wenn sie in der Nähe für gleich laut gehalten werden, oder daß Pauke bzw. Kontrabaß die ersten Instrumente sind, die bei der Annäherung an ein fernes Orchester vernehmbar werden, besteht zwar dem Anscheine nach ein Widerspruch, aber derselbe dürfte sich wohl bei genaueren Untersuchungen eben als ein nur scheinbarer herausstellen. !) Lehre von den Tonempfindungen (5), 290. — ?) Philos. Mag. (4), 44, 381, 1872. — °) Arch. de Physiol. norm. et path. 1890, p. 496. — *) Pflügers Arch. 97 (1903). Stumpfs Definition der Tonfarbe. 487 Die großen Stimmgabeln für die tiefsten Töne müssen unmittelbar ans Ohr gehalten werden, sonst bleibt der akustische Effekt trotz der beträcht- lichen, mehrere Millimeter betragenden Amplitude gleich Null, während bei den Gabeln für sehr hohe Töne ein verhältnismäßig schwacher Anstoß genügt, um einen im ganzen Zimmer hörbaren Ton hervorzurufen. Die Perzeption der sehr hohen Töne ist sogar, wenn die Gabeln stark gestrichen werden, geradezu schmerzhaft und mit mancherlei unangenehmen Neben- empfindungen verknüpft. Preyer!) hat einige interessante Beobachtungen hierüber mitgeteilt, deren Richtigkeit ich an verschiedenen Personen be- stätigt gefunden habe. Es stellt sich bei vielen ein Gefühl ein, als würden die Trommelfelle nach innen gezogen oder mit einer feinen Nadel gestochen. Einige haben eine Empfindung, wie wenn ihnen ein dünner Faden durch den Kopf gezogen würde; auch treten zuweilen eigentümliche Sensationen in der Haut des Rückens auf. Den der Grenze nahen höchsten Tönen der Galtonpfeife ist wieder eine geringere Stärke eigen, ob aus physiologischen oder physikalischen Gründen, muß einstweilen dahingestellt bleiben. Sie erregen kaum Schmerz, aber häufig Unlustgefühle. Der musikalische Charakter geht ihnen völlig ab, man ist vielmehr eher geneigt, sie mit Geräuschen zu vergleichen. Bei zunehmender Verkürzung des Pfeifenrohres werden sie merklich leiser, winziger und spitzer, schließlich gleichsam punktförmig, während der Eindruck eines entsprechenden Höherwerdens fehlt. Die Ver- änderung des Intensiven und Extensiven in der Empfindung überwiegt hier also die des rein Qualitativen. Die drei mit der Höhe stetig sich verändernden Merkmale der Ton- empfindung, Helligkeit, Größe und Stärke, hat Stumpf in den Begriff Ton- farbe zusammengefaßt?). Die Tonfarbe ist für den einfachen Ton das, was wir beim Zusammenklingen eines Grundtones mit seinen Öbertönen als Klangfarbe bezeichnen. Freilich existiert, wie schon hervorgehoben wurde, kein Instrument, das ganz reine Grundtöne gibt, aber die Fähigkeit unseres Ohres, Klänge in ihre Bestandteile, die Teiltöne, zu zerlegen, setzt uns in den Stand, jederzeit aus einem Tongemenge den einen oder anderen einfachen Ton zu isolieren und seine Farbe zu beurteilen. Übrigens treten in den Klängen der Stimmgabeln und gewisser Orgelpfeifen die Obertöne nach Zahl und Stärke so sehr in den Hintergrund, daß diese Klänge wenigstens für die musikalische Auffassung als einfache Töne gelten und zu Beobachtungen über die Tonfarbe benutzt werden können. Den Ton einer mäßig stark angeschlagenen Gabel aus der mittleren Region der Skala charakterisieren wir durch den Ausdruck „weich* oder „milde“, wozu die Schwäche der Empfindung Veranlassung gibt. Handelt es sich um einen tiefen Ton, dessen Dunkelheit sich besonders dem Bewußtsein aufdrängt, so nennt man ihn „dumpf“. Die höchsten Töne der Galtonpfeife wird dagegen niemand als dumpf oder weich bezeichnen. Sie erscheinen. „hell“ und namentlich, weil das extensive Moment der Empfindung hervortritt, „dünn“. Sind sehr hohe Töne zugleich kräftig, so erhalten sie Prädikate wie „gellend“, „schrill“, „stechend“, „durchdringend“, bei deren Wahl wohl das Auftreten der vorhin beschriebenen unangenehmen Nebenempfindungen mitspricht. ®) Grenzen d. Tonwahrnehmung 8. 21 u. 22. — ?) Tonpsychol. 2, $ 28. 488 Tonstärke. — Schwellenbeobachtungen. d) Intensitätsschwelle und Hörschärfeprüfung. Eine Tonempfindung ist etwas durchaus Einheitliches, nicht weiter in Teile Zerlegbares.. Wollen wir indessen zwei Tonempfindungen miteinander vergleichen, so kann es in doppelter Beziehung geschehen, nämlich sowohl hinsichtlich der Qualität (Höhe, Farbe) als auch hinsichtlich der Stärke. Anders ausgedrückt: wir können einen Ton so verändern, daß wir sagen, er habe eine andere Höhe bekommen, aber die Stärke sei dieselbe geblieben, oder so, daß wir sagen, er sei lauter oder leiser, jedoch weder höher noch tiefer geworden. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn wir an einer Ton- empfindung ihre Höhe und ihre Stärke unterscheiden. Die Stärke der Empfindung eines Tones von bestimmter Schwingungs- zahl hängt in erster Linie von der Intensität ab, mit welcher der Schallreiz das Ohr trifft, ferner von dem Vorhandensein oder Fehlen anderer gleich- zeitiger Gehörseindrücke, von der psychischen Disposition des Hörenden und. den funktionellen Verhältnissen des Ohres. Unter der physikalischen Stärke eines Tones verstehen wir bei fortschreitenden Wellen dasjenige Quantum Arbeit, welches in der Zeiteinheit durch die Flächeneinheit geht. Es ist diese 1 Größe J — 5 0,0 (2 ran)?, wenn @, die Dichtigkeit des leitenden Mediums, c die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Schalles, a die Amplitude und n die 2 Schwingungszahl bedeutet!). Der Physiologie des Hörens fällt die Aufgabe zu, unter normalen Bedingungen festzustellen, bei welchem Werte von .J bzw. a der Ton von der Höhe n eben hörbar ist und in welcher Weise sich anderer- seits die Empfindungsstärke dieses Tones mit stetig wachsendem J ändert. Da die Empfindlichkeit des Ohres für verschieden hohe Töne verschieden ist, müssen beide Probleme für die einzelnen Tonhöhen gesondert gelöst werden. Wenn die Art der Luftbewegung in einer tönenden Pfeife bekannt ist, so läßt sich auf Grund gewisser theoretischer Untersuchungen von Helmholtz auch die Schwingungsweite in demjenigen Abstande von der Schallquelle finden, in welchem das Ohr den Ton eben noch vernimmt. Toepler und Boltzmann?) haben eine solche Bestimmung ausgeführt, zu der sie eine gedackte Pfeife von 181 Schwingungen (fis") benutzten. Aus Beobachtungen der stroboskopisch verlangsamten Bewegung eines schwingenden Interferenz- streifens, der dadurch zustande kam, daß ein unterhalb der Decke durch die Pfeife geleiteter Lichtstrahl mit einem außen an der Pfeife vorbeigehenden vereinigt wurde, berechneten sie den Dichtigkeitswechsel der Luft im Knoten der Pfeife und konnten daraus das Schwingungsgesetz für jede beliebige andere Stelle ableiten. Die Pfeife war auf einem freien Platze für ein gutes Ohr unter Berücksichtigung des herrschenden Windes im Mittel 115m weit hörbar. Die Amplitude betrug in dieser Entfernung 0,00004 mm oder 40 uu; das ist etwa !/,, der Wellenlänge des grünen Lichtes. Da jedoch das Tages- geräusch der nahen Stadt nicht ganz ausgeschlossen werden konnte, so meinten die Autoren, daß ein feines Ohr zur Nachtzeit gewiß noch viel kleinere Ampli- tuden wahrnehmen würde. In der Tat erhielt Rayleigh ®), mit einer Pfeife von !) Rayleigh, Theorie des Schalles, Braunschweig 1880, $ 245. — ?) Pogg. Ann. 1870, 8. 321 ff. — °) Proc. Roy. Soc. 26, 248, 1878. er" Intensitätsschwellenbeobachtungen. 489 der Tonhöhe f* experimentierend, aus der der Schallquelle zugeführten Energie und der Distanz, in welcher der Ton eben noch ohne Anstrengung zu hören war, als Schwellenamplitude nur 8,1.10®cm — 0,81uu. Später!) hat er derartige Untersuchungen auch noch mit Stimmgabeln angestellt, wobei das Prinzip des Verfahrens das folgende war. Zunächst wurde die Amplitude der Gabel mikroskopisch beobachtet und, wenn sie bis auf eine gewisse Größe gesunken war, dem in einem bestimmten Abstande befindlichen Mitarbeiter ein Zeichen gegeben, worauf derselbe nach der Uhr die Zeit feststellte, während welcher er den allmählich verklingenden Ton noch hören konnte. Aus dieser Zeitangabe wurde dann theoretisch die Amplitude ermittelt, welche die Gabel in dem Momente, wo der Ton unhörbar ward, besaß, und hieraus wieder die Amplitude, mit der der Ton im Augenblicke des Verschwindens am Trommelfell des Hörers anlangte. Auf diese Weise bekam Rayleigh für die Note ce! 1,27.1077cm —= 1,27 uu; für g! ergibt die Berechnung seiner Daten 0,65.10 "cm — 0,65 uu, für c2 0,49.107cm — 0,49 uu. Auch Rayleigh betont jedoch, daß alle seine Werte infolge der Vernachlässigung der Energieverluste noch zu groß seien. Den eben erwähnten ganz ähnliche Versuche machte C. K. Wead?) mit sechs Stimmgabeln, deren Tonhöhen c°, c!, g!, c2, 9? und c? waren. Die Ergebnisse wichen, von c® und 9? abgesehen, ‘relativ wenig voneinander ab. Die kleinste Schwellenamplitude, nämlich 7.107®cm (nicht 70.1073 cm, wie a. a. O. irrtümlich angeben ist) oder 0,7 uu, erhielt Wead für den Ton c?. Diese Resultate — diejenigen anderer Autoren, wie Allard, Stefanini, Zwaardemaker und Quix, können hier ganz übergangen werden — sind insofern nicht völlig einwandfrei, als sie zum Teil auf Annahmen beruhen, deren Berechtigung nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Eine Methode, die Minimalamplitude unmittelbar am Ohre zu messen, anstatt sie zu berechnen, wäre daher prinzipiell vorzuziehen. Eine Untersuchung in dieser Richtung hat Max Wien?) unternommen. Wird auf die sonst zur Einführung in das Ohr bestimmte Öffnung eines Helmholtzschen Resonators nach passender Erweiterung eine dünne, elastische Metallplatte aufgelötet, deren Eigenton mit dem des Resonators übereinstimmt, so gerät sie bei Erregung des letzteren in relativ beträchtliche Schwingungen. Man kann dieselben meßbar machen, indem man sie in geeigneter Weise von der Platte auf einen Spiegel über- tragen läßt. Das Bild eines Spaltes, das der Spiegel in ein Fernrohr wirft, erscheint, durch dieses betrachtet, sobald das System schwingt, nicht als . Lichtlinie, sondern als helles Band, und die Breite des Bandes ist der Druck- differenz bzw. der Amplitude des Tones proportional. Wien konstruierte drei solche „empfindliche“ Resonatoren, entsprechend den Tönen a, e!, a!. Aus der an dem Lichtbande gemessenen Druckdifferenz im Resonator ließ sich diejenige außen an der Öffnung desselben rechnerisch und experimentell ermitteln, und dann durch Reduktion der Ausschläge des empfindlichen Reso- nators auf die eines „absoluten“ direkt in Quecksilberdruck angeben. So fand Wien, daß für «a! die größte Druckänderung in jenem Abstande von der !) Philos. Mag. (5) 38, 365 ff., 1894. — ?) Amer. Journ. of Seience (3) 26, 177 #f., 1883. — °) Über die Messung der Tonstärke, Berliner Dissert. 1888 und Wiedemanns Ann. 36, 834, 1889. 490 Versuche von Wien. — Hyperästhesie, Hyperacusis. Schallquelle (einem Telephon), in welchem sein Ohr den Ton eben noch wahr- nahm, 0,59 uw Quecksilber betrug und somit die Schwellenamplitude gleich 0,066 uu war. Vor kurzem!) hat er noch weitere Beobachtungen mitgeteilt, - die mittels intermittierender Telephontöne gewonnen wurden und unter an- derem folgende Tabelle ergaben, in welcher N die Schwingungszahl und J, in Erg ausgedrückt, die zugehörige Schwellenintensität am Ohre bedeutet. N B N F N 4; 50 a BT nass 400 1,6 . 10-10 3200 2,5100 100 1 800 8,0. 10-1? 6400 8,0..10-1? 200 112,107 1600 2.5.10? 12800 9,0. 10-11 | Die hier mitgeteilten Schwellenwerte geben uns ungefähr ein Bild von der durchschnittlichen Empfindlichkeit gut hörender Ohren. Die normale Hörschärfe zeigt gewisse individuelle Schwankungen, was leicht verständlich wird, wenn man bedenkt, daß nicht alle gleich befähigt sind, äußerst schwache Sinneseindrücke zu bemerken, und daß schon kleine Unterschiede in der Struktur oder dem Zusammenhang der einzelnen Teile des Gehörorganes Differenzen in der Wahrnehmung bedingen können. Gibt es doch genug Personen, die mit dem einen Ohr schärfer hören als mit dem anderen, ohne daß sich hierfür ein besonderer Grund, etwa eine frühere Erkrankung oder eine störende Ansammlung von Cerumen, nachweisen ließe; gleichwie ja auch die meisten Menschen eine Verschiedenheit der Tonhöhe wahrnehmen, wenn der nämliche objektive Ton erst dem einen und dann dem anderen Ohre dargeboten wird. Die Ohrenärzte haben zuweilen Gelegenheit, eine Steigerung der Hör- schärfe über die Norm zu konstatieren. So hören Patienten mit Faeialis- lähmung, wenn der den Steigbügelmuskel versorgende Zweig mit ergriffen ist, tiefe Töne auf eine größere Distanz als Gesunde. Auch bei Erkrankungen des Labyrinthes, des Nervus acusticus und des Zentralorganes, z. B. nach Sonnenstich oder im Verlaufe meningitischer Reizzustände, kommt es vor, daß Töne und’ Geräusche außerordentlich verstärkt vernommen werden. In der Regel sind dabei die Schallempfindungen zugleich unangenehm, peinigend oder direkt schmerzhaft. Beide Symptome, die Steigerung der Hörschärfe und die Schmerzempfindlichkeit, werden in der otiatrischen Literatur meistens in den Begriff der Hyperästhesie zusammengefaßt. Vom physiologischen Standpunkte aus dürfte es sich aber empfehlen, die erstere als Hyper- acusis von der letzteren als eigentlicher Hyperaesthesia acustica zu unter- scheiden. Die Hyperakusie kann ihren Grund entweder in der Insuffizienz der normalen Dämpfungsvorrichtungen im Ohre haben oder in einer patho- logisch erhöhten Erregbarkeit der schallleitenden Nervenbahnen. Die Hyper- ästhesie ihrerseits ist keineswegs an eine Steigerung der Hörschärfe gebunden. Sie ist vielmehr wiederholt bei Schwerhörigkeit und totaler Taubheit beob- achtet worden, wodurch die Auffassung nahe gelegt wird, daß sie — wenig- stens in Fällen dieser Art — auf einer Reizung von Tast- oder Schmerz- nervenendigungen beruht. !) Pflügers Arch. 97, 1 ff., 1903. Hypakusie. — Hörprüfung. 491 Ganz außerordentlich viel häufiger als die Hyperakusie sind die ver- schiedenen Formen und Grade der Hypakusie, der Herabsetzung der Hör- schärfe. Ihre Ursachen sind teils angeboren, teils erworben und bestehen in Funktionsanomalien des Mittelohres, des inneren Ohres oder des Nervensystems Wie mannigfache otiatrische Erfahrungen lehren, kann die Schwächung des Gehörs für Töne und für Geräusche ungleich sein. Bald sind erstere, bald letztere mehr benachteiligt. Mangelhaftes Hören des Uhrtickens kommt neben normaler Wahrnehmung der Flüstersprache und vermindertes Sprachgehör neben intakter Perzeption einzelner Töne vor. In vielen Fällen beschränkt sich die Schwerhörigkeit bzw. Taubheit für Töne auf einen bestimmten Ab- schnitt der Tonskala und dann in der Regel auf das obere oder untere Ende derselben. Es wird jedoch auch der Ausfall des einen oder anderen Teiles der mittleren Region beobachtet; namentlich bei Taubstummen sind in neuerer Zeit derartige Tonlücken und von Tonlücken begrenzte Toninseln gefunden worden, seit Bezold das ohrenärztliche Instrumentarium durch die Kon- tinuierliche Tonreihe, die mittels einiger Laufgewichtgabeln und Pfeifen die Erzeugung aller Töne vom tiefsten bis zum Bereich der Galton- pfeife ermöglicht, vervollkommnet und auf die Wichtigkeit der genauen Unter- suchung des Hörvermögens der Taubstummen aufmerksam gemacht hat. Im ganzen zeigen also die pathologischen Beobachtungen gleichwie die Fähigkeit unseres Gehörs, Klänge in ihre Teiltöne zu zerlegen, und andere physiologische Tatsachen, daß den einzelnen Tonempfindungen eine gewisse Unabhängigkeit voneinander zukommt, und eben diese Selbständigkeit, die ja auch in der Helmholtzschen Theorie des Hörens ihre anatomische Begründung findet, macht es dem Öhrenarzt zur Aufgabe, seine Hörprüfung auf um so mehr Töne auszudehnen, je größere Ansprüche er an ihre Exaktheit stellt. Da die Vokale kompliziert zusammengesetzte Klänge sind und auch die Konsonanten gleich anderen Geräuschen, wenn nicht ausschließlich, so doch wenigstens zum größten Teil aus verschiedenen Tönen bestehen, kann die Fest- stellung der Hörschärfe mittels der Sprache, der Taschenuhr, des Politzerschen Hörmessers oder aus variabler Höhe fallender Kugeln keine Resultate von streng wissenschaftlicher Brauchbarkeit liefern. Falls es auf Genauigkeit ankommt, muß man vielmehr Schallquellen wählen, die möglichst einfache Töne geben, wie die Stimmgabeln oder die weit mensurierten gedackten hölzernen Orgel- pfeifen, welche letztere vor den Gabeln den Vorzug der größeren Tonstärke haben, so daß sie gelegentlich noch hörbar sind, wo für jene bereits Taubheit eingetreten ist. Die Hörschärfe des Ohres für einen (einfachen) Ton ist umgekehrt pro- portional derjenigen physikalischen Intensität desselben zu setzen, bei welcher eben noch eine Wahrnehmung möglich ist. Bezeichnen wir mit H„ die nor- male, mit H, die zu prüfende über- oder unternormale Hörschärfe und mit I„ bezw. I, die zugehörigen Schwellenintensitäten, so ist H,: H„ ae : en oder H, — -":H,„. Für die Messung der Hörschärfe ist also die Ta Fa Fe I, FEER der absoluten Werte von ]„ und J, an sich nicht nötig, es genügt die des Verhältnisses I„:I,. Das Bestreben, eine präzise und zugleich bequeme Methode zur Bestimmung dieses Bruches zu finden, hat eine große Zahl zum Teil an Unklarheiten und Mißgriffen in bezug auf die physikalischen Vor- 492 Definition der Hörschärfe. — Abnehme des Schalles mit der Entfernung. fragen reicher otiatrischer Abhendlungen gezeitigt. Eine ins einzelne gehende historisch-kritische Würdigung derselben liegt nicht im Plane meiner Darstellung. Dagegen sollen im folgenden die hier in Betracht kommenden Prinzipien erörtert werden; allerdings nur mit Beziehung auf solche Töne, die durch Luftleitung zum Öhre gelangen. Zunächst kann man daran denken, die Abnahme der Tonstärke mit der Entfernung zur Feststellung der Hörschärfe zu benutzen. Nehmen wir an, wir hätten es mit einer punktförmigen, überall von gleichartiger Luft umgebenen Tonquelle zu tun, so wird deren Energie E sich nach allen Richtungen des Raumes gleichmäßig fortpflanzen und daher in sämtlichen Punkten einer die Tonquelle als Mittelpunkt umgebenden Kugeloberfläche vom Radius r gleiche Intensität herrschen, so daß im Abstande r von dem Tonzentrum auf den Quadratmillimeter — das ist etwa der dreißigste Teil vom Querschnitte des ; E Gehörganges — die Intensität I = RR entfällt. Hört also das normale Ohr den Ton eben noch in der Entfernung r„, das zu prüfende in der Ent- fernung r,, so verhalten sich die Schwellenintensitäten ], : I, — ry? : Im 2 Durch den Bruch (2) wäre mithin die Hörschärfe bestimmt. Es ist aber n der Einwand erhoben worden, daß der Schall gar nicht mit dem Quadrat des Abstandes, sondern im linearen Verhältnis zu demselben abnehme, ein Einwand, der sich namentlich auf gewisse Versuche von Vierordt!) stützt. Derselbe ließ Kugeln von verschiedener Schwere aus wechselnder Höhe auf Platten fallen und fand als Maß der Intensität des so erzeugten Schalles die Größe p-h‘, wobei p das Gewicht, h die Fallhöhe und & ungefähr gleich 0,6 ist. Mit Hilfe dieses Schallmaßes kam er dann zu dem Resultat, daß die Schallstärke sich proportional der Distanz verringere. Ich selbst 2) habe nach einer besonders zu diesem Zweck erdachten psychophysischen Methode Versuche mit Telephongeräuschen angestellt, bei denen die Abnahme der Intensität zwar in der Nähe der Schallquelle langsamer stattfand als mit dem Quadrat der Entfernung, mit wachsendem Abstande aber immer rascher vor sich ging. Der Gegenstand bedarf, wie man sieht, noch der weiteren Klärung. Was dieselbe aber auch ergeben möge, jedenfalls wird es kaum berechtigt sein, aus Beobachtungen, welche die physikalisch schwer definier- baren und teilweise von Versuch zu Versuch in ihrer Qualität schwankenden Geräusche betreffen, ohne weiteres Schlüsse auf das Verhalten von Tönen zu ziehen. Wie die Stärke eines einfachen Tones mit der Entfernung abnimmt, muß eben an Tönen studiert werden. Eine Untersuchung dieser Art ver- danken wir Max Wien). Sie wurde mit einer kräftigen gedackten Pfeife als Tonquelle in der Charlottenburger Rennbahn unternommen, und zwar nach der früher besprochenen Wienschen Methode der direkten Amplituden- messung. Das Resultat war die sichere Bestätigung des Gesetzes von der Abnahme der Intensität mit dem Quadrat der Entfernung; denn obwohl die Verminderung in Wirklichkeit eine etwas schnellere war, als die Theorie es verlangt, so ließ sich dies doch vollkommen aus der Unruhe-der Luft und ') Die Schall- und Tonstärke und das Schallleitungsvermögen der Körper, Tübingen 1885. — ?) Wiedemanns Ann. 57, 785, 1896. — °) Ebenda, 36, 853 ff., 1889. Abnahme des Schalles mit der Entfernung und beim Verklingen. 493 der Reibung am Boden erklären. Auch Hesehus!), der die Distanz er- mittelte, in welcher mehrere (4, 9, 16) gleichartige und gleichzeitig klingende Glocken ebenso laut gehört werden wie eine einzige in bestimmtem Abstande vom Öhre befindliche, überzeugte sich, daß die Schallstärke umgekehrt pro- portional dem Quadrat der Entfernung ist, wenn letztere mehr als 10 Schritt beträgt. Indessen darf nicht übersehen werden, daß diese Versuche mit größeren Distanzen und im Freien ausgeführt sind. In geschlossenen, selbst größeren Räumen bilden sich infolge der Reflexion an den Wänden und Gegenständen stehende Wellen mit Maximis und Minimis der Intensität, also ganz komplizierte Beziehungen zwischen der Hörstärke des Tones und dem Abstand der Schallquelle vom Ohre, die sich nicht von vornherein in eine ein- fache Regel fassen lassen. Physiologen und Ohrenärzte sind aber meist auf Beobachtungen im Zimmer angewiesen. Dazu kommt ferner, daß unsere Tonmittel nicht als punktförmige Zentra anzusehen sind und daher den Schall nicht nach allen Richtungen mit gleicher Stärke in die Umgebung entsenden. Ganz besonders gilt dies von den Stimmgabeln, die gerade am häufigsten zur Hörschärfeprüfung Verwendung finden. Somit gelangen wir zu dem Schluß, daß die Hörweite, vor der Hand wenigstens, als Maß für die Feinheit des Gehörs nicht zu gebrauchen ist. Der verklingende Ton einer Stimmgabel entschwindet dem Ohre um so eher, je schlechter es hört. Es ist das Verdienst v. Contas?), diese Tat- sache zuerst zur Bestimmung der Perzeptionsfähigkeit des Ohres benutzt zu haben. Seitdem ist die Feststellung der Hördauer ein wichtiges Hilfsmittel der otiatrischen Diagnostik geworden. Sie kann indessen nur dann ein richtiges Bild der wirklichen Hörschärfe geben, wenn sich aus ihr die Inten- sität /, berechnen läßt, mit welcher der Ton im Augenblick des Erlöschens das zu prüfende Ohr trifft, oder wenigstens das Verhältnis von ], zur nor- malen Schwellenintensität J,.. Zu diesem Zwecke muß man wissen, in welcher Weise die physikalische Intensität mit wachsender Klangdauer der Gabel abnimmt. Wead?) hat für die Energie V einer tönenden Gabel die Formel v—_ bd>E 8B Zinken, a die Amplitude und E der Youngsche Modulus für Stahl ist. Die Verminderung der Energie beim Verklingen hängt hiernach nur von der zu- nehmenden Verkleinerung der Amplitude ab. Letztere verläuft aber theore- tisch nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit, nämlich so, daß die Amplitude, wenn sie in irgend einem gegebenen Moment die Größe a, hat, t Sekunden a? abgeleitet, worin ! die Länge, d die Dicke, b die Breite der 1 5 später auf ay "m gesunken ist, wobei e — 2,718 die Basis der natürlichen Logarithmen und h die für jede Gabel besonders zu bestimmende Dämpfung bedeutet. Stellen wir also eine Reihe zu äquidistanten aufeinanderfolgenden Zeitpunkten gehöriger Amplitudenwerte einer Gabel zusammen, so erhalten wir 5 t 2t 3t 4t \ L 1 1 1 Amplituden . . . . Ag e ein Gy . geth Ag . PEJ2, 77} . gith . !) Journ. d. russisch. physikal. chem. Gesellsch. (7), 18, 268, 1886; Beiblätter z. Wiedemanns Ann. 1887, 8. 512. — ?) Arch. f. Ohrenheilk. 1, 107, 1864. — | ®) Amer. Journ. of Science (3), 26, 177. 494 Beobachtungen über das Ausschwingen von Stimmgabeln. Die obere Reihe ist eine arithmetische, weil die Differenz, und. die untere eine geometrische, weil der Quotient je zweier benachbarter Glieder konstant ist. In der Amplitudenreihe bilden die Exponenten untereinander wieder eine arithmetische Progression: das logarithmische Dekrement bleibt gleich. Die Richtigkeit dieses Satzes ist wiederholt experimentell nach- geprüft worden. Hensen!) gibt an, gestützt auf „genaue Messungen an drei Stimmgabeln von 256 v. d., daß das logarithmische Dekrement hier keine Konstante ist, sondern bis zu einer Elongation von 0,07 mm an und bei einer schweren Stimmgabel von 0,8mm an abnimmt (Log. des Dekrements: 0,000028 bzw. 0,000285), um dann wieder recht merklich, und zwar min- destens auf Log. des Dekrements: 0,000047 bzw. 0,00069, zu wachsen“. Jacobson?) fand, wenn er eine c-Gabel mittels einer Schreibspitze ihre Ab- schwingungskurve auf einen mit berußtem Papier überzogenen rotierenden Zylinder aufschreiben ließ, daß das logarithmische Dekrement wegen der Reibung beim Ausklingen allmählich immer größer wurde, gelangte aber nach möglichster Beseitigung der Reibung zu Resultaten, die bei genügend kleinen Amplituden mit der Theorie hinreichend übereinstimmten und deren Richtig- keit nachträglich von Thiry und Koch?) für eine C-, eine c’- und eine c!-Gabel bestätigt wurde, während eine c?-Gabel wegen der Kleinheit der Schwingungsweiten und der Raschheit des Abschwingens zu derartigen Ver- suchen bereits unbrauchbar war. Barth) hat ungefähr zu derselben Zeit wie Jacobson die Abschwingungskurve einer Gabel untersucht, indem’ er die schwingende Bewegung eines hell beleuchteten, an die eine Zinke ge- kitteten Quecksilberkügelchens mikrophotographisch fixierte. Mit Berücksich- tigung der mancherlei Mängel seines Verfahrens kam er zu der Überzeugung, „daß das Dekrement abklingender Stimmgabeln unter konstanten Bedingungen konstant ist“. Bezold und Edelmann’) konstruierten einen besonderen Apparat zur graphischen Registrierung von Stimmgabelschwingungen und prüften damit die Art des Abschwingens sehr tiefer Gabeln von D, bis Fis. Da sie jedoch nur eine aus den einzelnen Aufzeichnungen nach willkür- lichen Gesichtspunkten kombinierte Kurve veröffentlicht haben, so lassen sich aus ihren Angaben keine physikalisch präzisen Schlüsse ziehen. Vor kurzem hat Jacobson in Gemeinschaft mit Cowl$) ein photographisches Verfahren zur Messung von Stimmgabelamplituden ausgearbeitet, während einer bald danach erschienenen Studie von Ostmann’) wiederum die mikroskopische Beobachtungsmethode zu Grunde liegt. Letzterer Autor experimentierte in der Weise, daß er die Elongationen eines an der Zinke klebenden, Licht reflektierenden Mehlstaubkörnchens während des Ausklingens mikroskopisch verfolgte und von Zeit zu Zeit die gefundenen Werte einem Assistenten zurief, der dann die zugehörigen Zeitpunkte am Chronometer ablas. Die Untersuchung erstreckte sich auf die Gabeln 0, @, c, g, ce, gl, c2, c® und c*. Eine kontrollierende Durchmusterung der Kurventafeln ergibt mir eine im Y) Physiol. d. Gehörs; Hermanns Handb. d. Physiol. 3 (2), 120, 1880. — ?) Verh. d. Physiol. Gesellsch. z. Berlin, 1886/87, Nr. 16 u. 17; Du Bois-Reymonds Arch. f. Physiol., 1887, 8. 476. — °?) Zeitschr. f. Ohrenheilkunde 20, 72, 1889. — *) Zeit- schrift f. Ohrenheilk. 18, 30, 1887. — °) Ebenda 33, 174, 1898. — °) Engelmanns Arch. £. Physiol., 1903, 8. 1ff. — 7) Ein objektives Hörmaß und seine Anwendung. "Wiesbaden, Bergmann, 1903. Messung der Hörschärfe durch die Hördauer. 495 Verhältnis zu den Fehlerquellen, die in der Natur der Methode liegen, ganz gute Übereinstimmung mit den Befunden von Jacobson und Thiry, dahin- gehend, daß das Abschwingen im Anfang bei den größeren Amplituden zu rasch und erst später mit merklicher Konstanz geometrisch erfolgt, wie dies übrigens in ähnlicher Weise auch Braun!) für gespannte und nicht ge- spannte Stäbe gefunden hat. Hiernach wird man, sofern es nicht gerade auf die ersten Momente nach dem Anschlagen ankommt, die Gleichung a; —= a,e””** als hinreichend gültig zur praktischen Hörschärfeprüfung mittels der Stimmgabel benutzen dürfen. Man stelle zunächst die Zeit t, fest, während welcher das schwerhörige Ohr die Gabel vernimmt, und bringe dann das normale Ohr genau an dieselbe Stelle des Raumes und in dieselbe relative Lage zur Gabel, an der inzwischen nichts verändert wird, um auch für dieses den Zeitpunkt t,„, in welchem der Ton eben unhörbar wird, zu bestimmen. Schreiben wir jetzt die oben an- geführte Weadsche Gleichung in der einfachen Form Y — F.a?, so ist V zur Zeit t, gleich F.(a,e”*tp)2. Von dieser Energiemenge gelangt jedoch nur —hty)2 ein Bruchteil, sagen wir u, an das Trommelfell des Hörenden. Die Schwellenintensität für das schwerhörige Ohr ist also J, = 4 (a, e *!p)2. Analog ergibt sich für die normale Schwellenintensität ]„ der Wert — . (ae *!n)2. Wennjnun beide Ohren unterjgenau den nämlichen äußeren Be- 1 dingungen beobachten, wie hier vorausgesetzt ist, so werden Nund N, alsgleich anzusehen sein, und wir erhalten die Proportion I, : I, = (aye*!n)? : (a,e”*!p)2. ae tn\ 2, Le Phty “os Der Bruch Ban ist aber gleich —,,; — e?"(n!p) und mithin die ge- Me tp e-?htp suchte Hörschärfe H, = e?"(n-!p). H,.. Diese schon von Jacobson?) er- örterte Methode erfordert allerdings, daß die Dämpfung h für jede einzelne Stimmgabel ermittelt und von Versuch zu Versuch sorgfältig konstant erhalten wird. Dafür liefert sie indessen auch brauchbare Resultate, während z. B. das von A. Hartmann) trotz mehrfacher Zurückweisungen noch immer emp- t fohlene Verfahren, einfach H, — =.Hn zu setzen, auf Wissenschaftlichkeit n keinen Anspruch erheben kann, wie aus dem Vorstehenden ohne weiteres hervorgeht. Gegen die Benutzung der Hördauer als Maß der Hörschärfe wird zuweilen eingewendet, daß es sehr schwierig für das gesunde Ohr sei, den Moment, wo der Ton gerade verschwindet, präzise anzugeben. Allein etwaige Schwankungen, die mehrere Sekunden betragen können, verlieren hier deswegen an Gewicht, weil in der Nähe der normalen Schwelle die Amplituden sehr langsam abnehmen, was eben auch der Grund für das subjektiv unscharfe Verklingen ist. Ein Schwerhöriger kann das Minimum percep- tibile sicherer fixieren, weil es bei ihm in den steileren Anfangsteil der Abschwingungskurve fällt. Manche Ohrenärzte, wie Panse, Bezold und Ostmann, streben danach, Y) Pogg. Ann. 47, 64, 1872. — ?) Arch. f. Ohrenheilk. 25, 40ff., 1887, — ®) Die Krankheiten des Ohres und deren Behandlung. Berlin 1902. 496 Messung der Hörschärfe durch:die Hördauer. direkt die Amplitude a, zu finden, mit welcher die Gabel zur Zeit t, schwingt. Selbstverständlich darf man a, nicht unmittelbar als Maß der Hörschärfe be- trachten, denn dieses ist und bleibt I,, die Schwellenintensität des Tones am Trommelfell. I, hängt aber von verschiedenen Umständen ab: erstens, da es sich um Töne handelt, nach fundamentalen Prinzipien der Physik von dem Quadrat der Amplitude, nicht von deren erster Potenz; zweitens, wie die Weadsche Formel lehrt, von der speziellen Beschaffenheit der benutzten Gabel; drittens von dem Verlust, den die Energie der Gabel erleidet, ehe sie als Schall das Ohr trifft. Dieser Verlust ist dadurch bedingt, daß ein Teil der Energie durch innere Reibung in Wärme verwandelt, ein anderer Teil durch den Stiel an die Umgebung abgegeben wird, wobei — was besonders betont zu werden verdient — die Art der Einklemmung von wesentlichem Einfluß ist. Wieviel akustische Energie aber in einem gegebenen Falle übrig bleibt, läßt sich schwerlich feststellen und ebensowenig, wieviel davon gerade an das Trommelfell gelangt, da die Verteilung der Tonintensität in ge- schlossenen Räumen und in der Nähe reflektierender Gegenstände so gut wie unkontrollierbar ist. Somit kann man aus qa, allein nicht einmal einen 3 Schluß auf den Wert von I, ziehen, da eben I, gleich a dividiert durch die unbekannte Größe N, ist. Anders verhält es sich dagegen, wenn außer a, auch zugleich a„, die Schwellenamplitude des normalen Ohres, mit derselben Gabel in demselben Raum und überhaupt unter absolut gleichen bd3Ea} 83 N 2 H, -(%) H„ gegeben. Eine hierauf basierende Hörschärfeprüfung würde Bedingungen bestimmt wird. Dann ist J„ — zu setzen und damit etwa in folgender Weise vorzunehmen sein. Zuerst wird die Abschwingungs- kurve der zu verwendenden Gabel konstruiert, wobei die auf den Anschlag folgenden Zeiten die Abszisse, die zugehörigen Amplituden die Ordinaten bilden. Dann wird der Ton der Gabel, die mit derselben Anfangsamplitude wie vorher in Schwingungen versetzt ist und an deren Montierung wegen des Einflusses der Einklemmung auf die Dämpfung nichts geändert sein darf, von dem zu prüfenden und dem normalen Ohre beobachtet und nach der Uhr die Zeit i, bzw. t„ gemessen, worauf sich die diesen Zeitpunkten ent- sprechenden Amplituden a, und a, unmittelbar aus der Kurve oder einer Tabelle entnehmen lassen. Die Herstellung einer exakten Abschwingungs- kurve ist jedoch nichts weniger als einfach. Besser ist es schon, während des Versuches die Amplituden der Gabel direkt an ihr abzulesen, wofür Grade- nigo!) ein besonderes Verfahren empfohlen hat. Nach reiflicher Überlegung aller in Betracht kommenden Punkte wird man indessen sagen müssen, daß die Stimmgabel überhaupt kein ideales Instrument für die Hörschärfe- bestimmung ist. Es ist darum auch wiederholt in Vorschlag gebracht worden, elektrische Apparate zu benutzen ?). ') Siehe Arch. f. Ohrenheilk. 50, 285, 1900 und Struycken, Zeitschr. f. Öhrenheilk. 46, 378, 1904. — *) Z. B. durch Hartmann, Du Bois-Reymonds Arch. £. Physiol. 1878, 8. 155; Wodtke, Über Hörprüfung usw., Dissertation, Rostock 1878; Hughes, Nature, 1879, p. 77 u. 102; W. Preyer, Jenaische Gesellsch. f. Med. u. Naturw. Sitzung v. 21. Februar 1879; Jacobson, Du Bois-Reymonds Arch. 1888, Elektrische Hörprüfungsapparate. 497 Dieselben beruhen fast alle auf dem Prinzip, daß durch Stromschwan- kungen die Platte eines Telephons zum Tönen gebracht und die Tonintensität durch Schwächung der Stromstärke bis zur Schwelle erniedrigt wird. Die. älteren Autoren suchten dieses Ziel entweder auf dem Wege zu erreichen, daß in den Stromkreis eines möglichst konstanten Elementes eine elektro- magnetische Unterbrechungsgabel oder ein Neefscher Hammer als Erreger des Telephons eingeschaltet und die Stromstärke durch einen Rheostaten reguliert wurde, oder sie ließen den Strom des Elementes außer durch den Unterbrecher durch eine primäre Rolle gehen, mit deren sekundärer das. Telephon verbunden war, und die Abschwächung des Telephontones geschah .. mittels Entfernung der Rollen voneinander. Beide Anordnungen haben den Übelstand, daß die Tonhöhe sich nur schwierig oder wenig variieren läßt und daß die Telephonplatte keine einfachen Töne gibt. Das Audiometer oder Sonometer von Hughes, bei dem übrigens die Telephonrolle auf einem Schlitten zwischen zwei entgegengesetzt induzierenden Spulen angebracht ‚ist, enthält im primären Stromkreis ein Mikrophon. Von diesem könnte man den Ton einer mit verschieblichem Stempel versehenen und daher in der Tonhöhe variablen Pfeife aufnehmen lassen; aber dann müßte wieder für die präzise Konstanz des Mikrophons und des Pfeifentones gesorgt werden. Jacobson hat in der angeführten Untersuchung sein Augenmerk besonders darauf ge- richtet, die Unreinheit der Plattentöne zu beseitigen, und sich zur Telephon- erregung einer immer gleich stark angeschlagenen und dann ausschwingenden Gabel bedient. Indessen ist hierbei wieder für einen genügenden Wechsel der Tonhöhe ein sehr umfangreiches Gabelmaterial nötig. Von einem wirklich tadellosen Hörschärfemesser wird man verlangen müssen, daß er leicht Töne von jeder gewünschten Höhe liefert, daß die Töne rein sind, daß ihre Intensität exakt meßbar ist und daß sie dem Ohre zur bequemen Beobachtung beliebig lange in gleichmäßiger Stärke dargeboten werden können. Am besten scheint mir allen diesen Anforderungen das von Wien angegebene Instrumen- tarium zu entsprechen. Auch dieser Autor benutzte als Tonquelle ein Telephon, das fest an das Ohr gedrückt wurde oder mit einem Deckel nebst Ansatzrohr zum Einführen in den Gehörgang versehen war; wobei freilich zugleich durch Luft- und Knochenleitung gehört wird. Die Ströme, die möglichst sinusförmige Wechselströme sein mußten, um einfache Töne zu erzeugen, wurden für die tieferen Töne von einem Sinusinduktor, für die höheren von einer Wechselstromsirene, deren Bau und Wirkungsweise a. a. O. genau beschrieben ist, geliefert. Bei schwachem Strom ist der Ausschlag der Telephonplatte dem Strome proportional, die Tonintensität also proportional dem Quadrat der Stromamplitude und die Empfindlichkeit des Ohres für die jeweilige Schwingungszahl umgekehrt proportional dem Quadrat des Minimal- stromes, der den Schwellenton erzeugt. _ Vorausgesetzt ist hierbei, daß der gehörte Ton tiefer ist als der erste Eigenton der Platte und daß die Länge des Gehörganges gegen die Wellenlänge zu vernachlässigen ist. Was nun die äußeren Umstände bei der Bestimmung des geringsten, eben noch wahrnehmbaren Stärkegrades eines Tones betrifft, so muß in erster 8.189; Gradenigo, Arch. f. Ohrenheilk. 30, 240, 1890; Max Wien, Pflügers Arch. f. Physiol. 97, 1 ff, 1903; vgl. ferner N. Vaschide, De l’audiometrie, Bulletin de Laryngol. etc. t. IV, 1901, chap. 5. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 39 498 Verdeekung eines Tones durch einen anderen. — Die Stille. Linie für möglichste Stille der Umgebung Sorge getragen werden. Es ist eine alltägliche Erfahrung, daß die Perzeption eines Tones oder Geräusches _ durch das gleichzeitige Vorhandensein eines anderen Schalles beeinträchtigt, ja sogar völlig unmöglich gemacht werden kann. Wissenschaftliche Beob- achtungen hierüber sind zuerst von A. M. Mayer!) angestellt worden, welcher angibt, daß ein tieferer Ton einen höheren: zu verdrängen vermöge, nicht aber umgekehrt. Stumpf?) bestreitet die Richtigkeit dieser Behauptung, wenigstens in so extremer Form; das Summen einer tiefen Gabel ist neben hohen Zungenpfeifen unhörbar, und der Ton einer vor dem Ohre klingenden C-Gabel verschwindet, wenn eine F-Gabel von einer gewissen Tonstärke genähert wird. Soviel erscheint ihm jedoch richtig, daß der höhere Ton ein größeres Übergewicht an Empfindungsstärke besitzen muß, um den tieferen auszulöschen, als umgekehrt. In bezug auf die Unterdrückung von Tönen durch Geräusche bemerkt Kessel), daß die drei untersten Oktaven, 0, bis c, relativ leichter überdeckt werden als die folgenden und daß von c bis _ c2 die Geräusche die Töne noch sehr beträchtlich beeinflussen, während dies von c? aufwärts schon weit weniger der Fall ist; die geringere Empfindungs- stärke der tiefen Töne reiche aber nicht zur Erklärung dieses Unterschiedes aus. Benachteiligen sich somit schon übermerkliche akustische Nervenprozesse gegenseitig in der Intensität der Empfindung, so wird dieses Verhältnis ganz besonders bei eben merklichen Schalleindrücken zu beachten sein. Es gehört allerdings zu den schwierigsten Aufgaben, zum Zwecke akustischer Beob- achtungen völlige äußere Ruhe herzustellen. Selbst wenn man in einer wind- stillen Nacht dieses Ziel erreicht zu haben glaubt, wird man immer noch mittels Resonatoren die Existenz irgend welcher Geräusche konstatieren können. Dazu kommt, daß im Ohre selbst durch die Blutbewegung, durch gelegentliche Kontraktionen der Binnenohrmuskeln oder Erschütterungen der Gehör- knöchelchenkette, vielleicht auch infolge von Stoffwechselprozessen fortwährend gewisse, wenn auch sehr schwache, Gehörsreize ausgelöst werden. Das Be- merken derselben (beim Fehlen von Schall in der Umgebung) hat Preyer®) als die Empfindung der Stille bezeichnet, die er im Gegensatz zu Fechner in Parallele zur Wahrnehmung des Augenschwarz bringt. Gerade wie das Sehen des letzteren eine positive Empfindung und verschieden von dem Nichtsehen sei, so wäre auch die Perzeption der Lautlosigkeit verschieden von dem Nichtshören schlechthin, und die entotischen Geräusche und Klänge verhielten sich zu dieser Empfindung wie die mannigfachen entoptischen Erscheinungen zur Wahrnehmung des Augenschwarz. Hiergegen läßt sich einwenden, daß die Summe der inneren Empfindungen des Ohres für sich unzweifelhaft dem gänzlichen Empfindungsmangel viel näher kommt als die der Eigenempfindungen der Retina, sofern man von vorübergehenden oder abnormen Intensitätssteigerungen absieht. Eine absolute Stille im Ohre scheint es indessen nach aller Erfahrung in der Tat nicht zu geben. In dieser Hinsicht könnte man die Frage nach der Größe der eben merklichen Tonstärke auch als ein Problem der Unterschiedsempfindlichkeit auffassen. ') Nature, Vol. XIV, No. 354; Amer. Journ. of Science and Arts 12, 329, 1876. — ?) Tonpsychologie 2, 227, 1890. — °) Arch. f. Ohrenheilk. 18, 140. — “) Grenzen der Tonwahrnehmung, Jena 1876, 8. 67. Stärkeschwankungen minimaler Tonempfindungen. 499 Denn ein von außen das Gehörorgan treffender minimaler Schall wird erst dann imstande sein, ins Bewußtsein vorzudringen, wenn er sich von den innerlichen Erregungen in genügendem Grade abhebt. Für eine exakte Bestimmung der Intensitätsschwelle ist neben der mög- lichst vollständigen Isolierung des betreffenden Tones auch noch die Kon- zentration der Aufmerksamkeit auf denselben erforderlich, also alles das nützlich, was einer Ablenkung entgegenwirkt. Wien hat daher mit Recht zu seinen früher erwähnten Versuchen intermittierende Töne benutzt. Denn eine gleichmäßig anhaltende Wahrnehmung entschwindet leicht dem Bewußt- sein, während das Schwankende, überhaupt das Bewegte, auf allen Sinnes- gebieten den inneren Blick, wenn man so sagen darf, auf sich zieht und fesselt. So werden bekanntlich Töne, welche schweben, aus einem Klange vielfach besser herausgehört, als wenn keine Stöße vorhanden sind. Ist aber die Aufmerksamkeit gespannt auf einen Ton gerichtet, so wird dieser dadurch geradezu verstärkt, wenn er nicht schon an sich sehr kräftig ist), was zum Teil jedenfalls in der Abstraktion von den begleitenden Schall- wahrnehmungen seinen Grund hat, zum Teil wohl auf noch unbekannten psychophysischen Prozessen beruht. Es ist vielfach behauptet worden, daß die subjektive Intensität RER Gehörsempfindungen fortwährenden Schwankungen unterliege. Für Geräusche trifft dies unzweifelhaft zu. Entfernt man sich beispielsweise von einer gleich- mäßig gehenden Taschenuhr bis fast ans Ende ihrer Hörweite, so kommt man an einen Punkt, wo die einzelnen Schläge bald lauter, bald leiser - erscheinen und vorübergehend ganz*ausfallen. Eine sichere Erklärung hierfür läßt sich zurzeit noch nicht geben; nur so viel steht fest, daß die Pausen nicht auf einem Versagen der Aufmerksamkeit beruhen, da sie auch bei an- gestrengtem Lauschen eintreten. Ob auch Tonempfindungen in der Nähe der Schwelle intermittieren, darüber sind die Ansichten geteilt. Politzer?), dem andere Ohrenärzte hierin beistimmen, spricht direkt von der schwankenden Perzeptionsfähigkeit des Hörnerven für schwache Schallvibrationen, wenn er auch den Einfluß äußerer Umstände, wie störende Geräusche, Kopfbewegungen, Ortswechsel der Schallquelle u. dgl., nicht ganz ausschließt. Hessler?) fand, daß die Töne von Stimmgabeln kurz vor dem völligen Ausklingen wellen- förmig an- und abschwollen und daß der Rhythmus, in dem dies geschah, stets mit dem Herzschlag isochron war. Er beruft sich dabei auf Mach) als Gewährsmann, der gleichfalls mit den Pulsstößen koinzidierende Ton- schwankungen konstatiert habe. Diese Schwankungen betrafen aber über- schwellige Töne und waren besonders deutlich bei kräftigem Pulse. Dagegen stimmt eine gelegentliche Angabe Preyers, die sehr hohe und sehr leise subjektive Töne betrifft, mit Hesslers Beobachtungen überein. Conta°), der die Hörzeit ausklingender Töne untersuchte, hat nichts von Ton- schwankungen an der Schwelle mitgeteilt. Urbantschitsch6) gibt an, die Tonstärke steige und sinke abwechselnd beim Verklingen, der Ton pausiere auch zeitweilig ganz; jedoch sei dieses Verhalten von Herztätigkeit und !) Vgl. hierzu Stumpf, Tonpsychologie 1, 373 u. $ 22. — ?) Arch. f. Ohren- heilkunde 12, 109. — °) Ebenda 18, 233. — *) Wiener Ber., mathem.-naturw. Kl., 50, (2), 348. — °) Arch. f. Ohrenheilk. 1, 111. — °) Zentralbl. f. d. mediz. Winsen; schaften 1875, 8. 625 f. 32* 500 Die Unterschiedsempfindlichkeit für Tonstärken. — Kürzeste Töne. Respirationsbewegungen durchaus unabhängig. W. Heinrich!) ist wiederholt mit Nachdruck dafür eingetreten, daß eben noch hörbare Töne keinerlei Intensitätsschwankungen zeigten ?), daß vielmehr, wo dies scheinbar der Fall sei, die Mitwirkung von Geräuschen schuld wäre. Ich selbst kann beim Horchen auf erlöschende Stimmgabeltöne, mögen dieselben durch Luftleitung oder durch Knochenleitung zum Ohre gelangen, ebenfalls keine Schwankungen konstatieren, oder wenigstens keine, die sich mit der Unregelmäßigkeit des eben merklichen Uhrentickens auch nur entfernt an Deutlichkeit messen könnten, und neige der Ansicht zu, daß es sich, wo solche auftreten, um momentane Störungen des Aufmerkens handelt. Bezüglich der Intensitäts- änderungen mit dem Pulse ist wohl in erster Linie an individuelle Unter- schiede zu denken). e) Die Unterschiedsempfindlichkeit für Tonstärken. Es bleibt nun noch die Frage, wie sich die Empfindungsstärke eines Tones mit dem stetigen Wachsen oder Fallen der physikalischen Intensität verändert, mit anderen Worten die Unterschiedsempfindlichkeit für Tonstärken zu erörtern. Auf dem Gebiete der Geräusche liegen mehrere entsprechende Untersuchungen vor, wovon später noch weiter die Rede sein wird; in betreff der Töne, die uns an dieser Stelle allein interessieren, ist dagegen nur eine Abhandlung zu erwähnen, nämlich die schon oben angeführte Dissertation von Max Wien über die Messung der Tonstärke *). Derselbe benutzte kurz aufein- anderfolgende Telephontöne, deren Stärkeverhältnisse bis auf Bruchteile von Prozenten meßbar waren. Die Versuche wurden meist nach der Methode der Minimaländerungen angestellt. Die Tonhöhen, welche zur Verwendung kamen, waren a, al und el, jedoch betrifft die überwiegende Zahl der Beobachtungen den Kammerton. Es wurde zunächst als Ausgangsreiz ein sehr geringer Intensitätsgrad dieses Tones gewählt und dazu der eben merklich in der Stärke verschiedene Vergleichsreiz aufgesucht. Dann wurde der Ausgangs- reiz auf das Zehnfache gesteigert und so fortgefahren bis zu sehr beträcht- lichen Intensitätswerten. Trotzdem bei den Versuchen nach möglichster Ver- meidung der verschiedenen Fehlerquellen gestrebt wurde, betrug der wahr- scheinliche Fehler der einzelnen Einstellung doch etwa 15 bis 20 Prozent. Immerhin ergab sich aber im ganzen ein annäherndes Zutreffen des Weber- schen Gesetzes von der Konstanz der relativen Unterschiedsschwelle. f) Kürzeste Töne. Wenn die Dauer eines physikalischen Tones ein gewisses Minimum nicht überschreitet, tritt keine Empfindung ein. Man kann also auch von einer Dauer- schwelle reden. Savart) dürfte der erste gewesen sein, welcher sich mit derselben beschäftigt hat. Mit Hilfe eines an einer Metall- oder Pappscheibe schleifenden Zahnrades fand er, daß schon zwei Impulse von dem Ohre als !) Siehe Bulletin internat. de l’acad. des sciences de Cracovie 1900 (Jan.), S. 37 bis 45. — ?) Zu demselben Resultat gelangte auch Wodtke bei Benutzung von Telephontönen. (Über Hörprüfung usw., Diss., Rostock 1878, 8. 34.) — °) Vgl. hierzu noch C. Stumpf, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 21, 115 ff. — *) Auch Ann. d. Phys. u. Chem, N. F., 36, 843 ff., 1889. — °) Ann. de chim et phy.s. 44, 348, 1830. Kürzeste Töne. — Versuche zur Bestimmung der Dauerschwelle. 501 ein der Höhe nach bestimmbarer Ton aufgefaßt werden könnten. Villari und Marangoni!) knüpften an seine Versuche an. Sie meinten, daß bei denselben Nachschwingungen nicht ausgeschlossen wären, und benutzten daher Gabeln, deren Töne durch einen verschließbaren Kautschukschlauch be- obachtet wurden. Der Verschluß des Schlauches wurde so lange gehoben, bis der Ton eben hörbar war, wobei die Zeit der Öffnung sich durch eine Registriervorrichtung genau bestimmen ließ. Als Tonquellen dienten die Gabeln d!, e® und e®. Die gefundenen Dauerminima waren für d! 3,3, für e? 5,0, für e? 6,8 Schwingungen, wenn die Töne etwas leiser waren; bei größerer Stärke sanken die Zahlen auf bzw. 2,7, 4,1, 5,8. Da die Distanz der Gabeln je eine bzw. fast eine Oktave bildete und die Differenz der Dauer- minima nahezu konstant war, so folgerten die Autoren, daß das gleiche Ver- halten auch wohl für die übrigen Oktaven des Tonreiches zutreffen dürfe. Mach?) versuchte, die Ermittelung der kleinsten zur Tonwahrnehmung nötigen Anzahl von Schwingungen in folgender Weise zu erreichen. Eine elektrische Gabel, eine Zungenpfeife oder sonst ein passendes Instrument wurde in einen schalldichten Kasten gebracht. Aus diesem trat der Ton durch ein gegabeltes Rohr heraus, dessen einer Zweig zu einem Koenigschen Brenner führte. Der andere Zweig ging hart bis an eine Pappscheibe und auf deren anderer Seite weiter bis zum Ohre des Beobachters. Die Scheibe hatte einen radialen Ausschnitt und trug einen gegen die Achse geneigten Spiegel, in den man durch den Ausschnitt hineinsehen konnte. Wurde sie in Rotation versetzt, so hörte man den Ton nur, während der Ausschnitt das Rohr passierte, und konnte dabei zugleich die Schwingungen, die vernommen wurden, an den Flammenbildern im Spiegel zählen. Erhielt das Ohr zu wenig Schwingungen, so resultierte nur ein trockener Schlag, an dem keine Tonhöhe mehr zu unterscheiden war. Das c! war als solches erst bei vier bis fünf Schwingungen erkennbar. Bei tiefen Tönen traten die Obertöne noch deutlich hervor, wenn der Grundton wegen zu großer Kürze bereits ver- schwunden war. Eine wesentlich höhere Dauerschwelle fand S. Exner?°). Er ließ, um möglichst reine Töne zu bekommen, den Ton einer elektrischen Gabel durch einen Resonator in einen Kautschukschlauch und aus diesem ins Ohr des Beobachters treten. Der Schlauch war vor dem Versuch abgeklemmt und konnte durch eine Fallvorrichtung für eine sehr kurze, übrigens variable und meßbare Zeit geöffnet werden. Es ergab sich, daß der Ton von 128 Schwin- gungen dann die erste Spur einer Tonempfindung von spezifischer Höhe er- zeugte, wenn rund 17 Wellen das Ohr trafen. Die tiefere Oktave, C, er- forderte ebensoviel Schwingungen, also die doppelte Zeit der Einwirkung auf das Gehör. J. v. Kries und F. Auerbach) gelangten auf Grund ihrer psycho- physischen Reaktionsversuche zu der Anschauung, daß zunächst neun bis zehn Schwingungen stattfinden müßten, bis die Bewegung in den Endapparaten des Acusticus ausreichend geworden sei, um überhaupt einen psychischen ») II nuovo Cimento 28, (2), I, 382—398, 1868/69. — ?) Lotos 23, 146, 1873. — ®) Pflügers Arch. 13, 232 f., 1876. — *) Du Bois-Reymonds Arch. f. Physiol. 1877, 8. 297; vgl. auch F. Auerbach, Wiedemanns Ann. 6, 591, 1879. 502 Versuche von Pfaundler und Exner. Effekt auszulösen. ' Dabei sei diese Zahl unabhängig von der Tonhöhe, aber abhängig von der Intensität der Erregung zu denken. Für die Auffassung der Empfindung als einer solchen von bestimmter, von anderen unterscheid- barer Tonhöhe wären dann aber noch weitere 10 Schwingungen notwendig. Im ganzen stimmen also diese Autoren mit Exner dahin überein, daß un- gefähr 20 Schwingungen zur Erkennung eines Tones erforderlich seien. Demgegenüber sind sämtliche späteren Forscher auf verschiedenen Wegen der Untersuchung zu dem gleichen Resultate gekommen, daß zwei Schwin- . gungen bereits zur Tonperzeption genügen. Zunächst ist hier Pfaundler‘:) zu nennen, dem sich Oppel?) vollständig anschloß. Pfaundler konstruierte eine Seebecksche Sirene mit neun konzentrischen Löcherreihen. Die äußerste enthielt 72 gleich weit abstehende Löcher, die zweite war ebenso beschaffen, nur fehlte je das neunte Loch, die dritte desgleichen, nur fehlte je das achte und neunte Loch und so fort. Blies man die Reihen nacheinander an, so hörte man den Ton 72 der ersten Reihe auch noch aus dem Klange der fol- genden, bis zur siebenten einschließlich, obwohl mit abnehmender Deutlich- keit, heraus. Bei der achten, in welcher der Ton 72 nur noch durch eine achtmalige Wiederkehr von je zwei Impulsen pro Umdrehung repräsentiert war, wurde seine Wahrnehmung unsicher. Durch eine Nachahmung der be- kannten Baumgartenschen Reflexionstöne an der Sirene überzeugte sich Pfaundler aber schließlich davon, „daß im Minimum zwei Schallimpulse auf die mitschwingenden Teile des Ohres genügen können, um die Empfindung eines Tones hervorzurufen, und daß diese Empfindung durch rasche Wieder- holung zum Bewußtsein gebracht werden kann“. Läßt man wiederholt zwei gleichartige Geräusche sehr schnell, aber ungleich schnell, aufeinander folgen, so verbindet sich mit der Wahrnehmung der Succession immer eine Tonhöhenempfindung. und zwar jedesmal eine andere. Hierauf ist von verschiedenen Autoren aufmerksam gemacht worden. Exner?) benutzte zur Feststellung der kleinsten noch wahrnehmbaren Zeit- differenz zwischen zwei gleichen Gehörsreizen unter anderem überspringende elektrische Funken. Ein Intervall von 0,002 Sekunden zwischen je zweien war eben noch merklich. Wuchs die Zeitdistanz, so hatte man den Eindruck, daß das Geräusch des Doppelschlages tiefer wurde. Beobachtungen dieser Art, wozu auch die Tonempfindungen zu zählen sind, welche z. B. entstehen, wenn man mit einem Bleistift oder dem Fingernagel über kurze Strecken gerippten Papiers fährt, legen schon an sich den Schluß nahe, daß zwei Im- pulse zu einer Tonwahrnehmäng ausreichen. Exner selbst scheint freilich diesem Schlusse nicht recht zustimmen zu wollen, aber, wie ich glaube, mit Unrecht. Denn, wenn er sagt*), man habe beiden Doppelfunkenversuchen zwar eine Höhenempfindung, aber keine eigentliche Tonempfindung, so beruht dies6s. Urteil wohl nur darauf, daß sich ein enorm kurzer Ton eben anders anhört als ein gewöhnlicher; und wenn er weiter anführt, daß zwei auf- einanderfolgende Funken keinen Ton erzeugen könnten, da nach seinen Er- fahrungen auch 32 bzw. 64 pro Sekunde aufeinanderfolgende Funken keinen !) Wiener Sitzungsber., mathem.-naturw. Kl., 76, (2), 561, 1878; über ähnliche Versuche von Seebeck und kritische Bemerkungen dazu siehe Ohm, Pogg. Ann. 59, 554£. — *) Jahresber. d. Physikal. Vereins zu Frankfurt a. M. 1879/80, S. 380. — ®) Pflügers Arch. 11, 417 £., 1875. — *) Ebenda 13, 240. Versuche von Kohlrausch, Abraham und Brühl u. A. 503 Ton von 32 bzw. 64 Schwingungen lieferten, so ist dagegen zu bemerken, daß die Töne 32 und 64 in den fraglichen Versuchen offenbar nur zu leise waren, um herausgehört zu werden. Kohlrausch!) hat denn auch in einer kurzen Publikation über das Hervorbringen von Tönen durch Doppelschläge, die mit den Fingern gegen eine feste Masse geführt werden, direkt ausgesprochen, daß Töne schon durch zwei Impulse entstehen könnten. Er bestätigte dies bald darauf durch eine sorgfältige experimentelle Untersuchung ?), bei welcher eine Vorrichtung nach dem Muster des Savartschen Verfahrens die Grundlage der Versuchs- anordnung bildete und die den zwei Impulsen entsprechenden Tonhöhen durch Vergleichen mit Saitentönen bestimmt wurden. Die Untersuchung ergab außerdem, daß für ein Ohr von mittlerer Feinheit die mögliche Schärfe in der Definition der Höhe eines Tones von 2 bis zu 16 Schwingungen, darüber . hinaus aber nicht mehr zunimmt. Hiernach könnte der Umstand, daß ein- zelne Beobachter mehr als zwei Schwingungen zur Erkennung der Tonhöhe nötig gefunden haben, vielleicht auf einen gewissen Mangel an Übung in der raschen und genauen Bestimmung von Tonhöhen zurückzuführen sein. Cross und M. Maltby°) verbanden zwei Telephone zu einem Strom- kreise. Auf die Platte des einen wurde eine tönende Gabel, c! oder c?, auf- gesetzt, an dem anderen wurde gehört. Ein Unterbrecherrad bewirkte, daß der Strom immer nur für eine kurze Zeit, die sich aus der Rotationsperiode des Rades berechnen ließ, zum Hörtelephon gelangte. Störende Neben- geräusche waren beseitigt. Es wurde gefunden, daß für c! 0,88 und für c? 1,76 Schwingungen hinreichten, um den betreffenden Ton in 70 bis 80 Proz. . der Fälle richtig zu erkennen. Der wichtigen Frage, ob nicht etwa Nach- schwingungen der Telephonplatte stattfanden, haben die Autoren besondere Aufmerksamkeit zugewendet. Mittels eines die Lissajousschen Figuren zu Hilfe nehmenden Verfahrens ließ sich zeigen, daß es nicht der Fall war. Die Dauerschwellen sind auffallend niedrig, doch meint auch R. Schulze), daß ein Ton bei 1,8 Schwingungen bereits in seiner Höhe charakterisiert sei, während andererseits Herroun und Yeo’) wieder zwei Tonschwingungen als Minimum perceptibile angegeben haben. Im Anschluß an gelegentliche Versuche von Max Meyer®), der für die Bestimmung des Tones von 176 Schwingungen fünf Impulse, für 352 Schwin- gungen dagegen nur drei und für den Ton 704 nur noch zwei nötig fand, hierbei aber wie Kohlrausch konstatierte, daß die Töne mit zunehmender Zahl der Impulse an Deutlichkeit gewinnen, haben Abraham und Brühl’) mit Hilfe der Löchersirene eine den größten Teil des Tongebietes umfassende Untersuchung über unseren Gegenstand ausgeführt, wobei das absolute Ton- bewußtsein des ersteren die Feststellung der in Frage kommenden Tonhöhen ganz wesentlich erleichterte. Die Ergebnisse waren.die folgenden. Von der Kontraoktave bis zur Mitte der viergestrichenen genügten zwei Schwingungen für eine Tonempfindung und die (immer exakt kontrollierte) Beurteilung ihrer Höhe. Eine mehrfache Wiederholung der zwei Luftstöße war nicht, wie !) Wiedemanns Ann. 7, 335, 1879. — *) Ebenda 10, 1, 1880. — °) Proceed. Amer. Acad. Boston 19, 222—235, 1891. — *) Wundts Philos. Stud. 14, 487, 1898. — °) Proc. Roy. Soc. 50, 318—323, 1892. — °) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 11, 207 ff. — 7) Ebenda 18, 177, 1898. 504 Stärke und Klangfarbe sehr kurzer Töne. — Anklingen. Pfaundler meinte, erforderlich, obwohl die Urteilszeit dadurch allerdings geringer wurde. Von der Mitte der viergestrichenen Oktave an stieg die Minimalzahl der Schwingungen stetig. Die sehr kurzen Töne waren schwächer als länger dauernde von gleicher Höhe und erschienen hinsichtlich der Klang- farbe milder und weniger spitz. Nachschwingungen und Reflexionswellen erwiesen sich als belanglos für die Tonempfindung. Ein Überblick über alle hier erwähnten Arbeiten wird uns zu dem Schlusse veranlassen, daß zwei Schwingungen zur Erkennung eines Tones im allgemeinen hinreichen. Wenn einige Forscher eine größere Anzahl an- gegeben haben, so mag dies, wie schon angedeutet, auf individuellen Schwan- kungen in der Fähigkeit, Tonhöhen schnell aufzufassen, beruhen, vielleicht auch auf erschwerenden Eigentümlichkeiten ihrer Versuchstechnik. Was . speziell die komplizierte Methode von Auerbach und v. Kries anlangt, so hat Götz Martius!) auf Grund ähnlicher Versuche sich dahin ausgesprochen, daß deren Resultate in betreff der Dauerschwelle der Tonwahrnehmung hin- fällig seien, und hält auch seinerseits, obschon mit einer gewissen Unsicher- heit, drei Schwingungen für ausreichend. g) Anklingen und Abklingen. Als sicher festgestellt ist die Tatsache zu betrachten, daß eine Ton- empfindung in den ersten Momenten ihres Bestehens mit jeder folgenden Schwingung sowohl an Klarheit bezüglich der Tonhöhe als auch an Stärke zunimmt. Es findet also wie bei den Gesichtswahrnehmungen ein Anklingen der Empfindung statt. Bei seinen Versuchen über die minimale zur Ton- perzeption nötige Anzahl Wellen konstatierte Exner zugleich, daß der Ton (, allmählich lauter und lauter werdend, erst bei ungefähr 44 Schwingungen das Maximum der subjektiven Intensität erreichte; bei der Oktave c’ waren hierfür nahezu ebensoviel Impulse, nämlich etwa 48, erforderlich. Dabei hatte er den Eindruck, als wachse die Stärke anfangs sehr schnell, später recht langsam, weshalb es auch schwierig war, das Maximum präzise zu fixieren. Für das qualitative Deutlicherwerden der Tonempfindungen mit der Zunahme der Tondauer ist die folgende, von Max Meyer am angeführten Orte unter ähnlichen mitgeteilte Beobachtung besonders bezeichnend. Bestand bei einem, den Ton f! betreffenden Sirenenversuche die Periode aus zwei Löchern, „so hatten die Stöße keine Spur von Toncharakter; bei drei Löchern . machte sich etwas Tonähnliches in dem Geräusch geltend; bei vier Löchern begannen die Stöße die verlangte Tonhöhe anzunehmen, aber noch schwach und undeutlich; bei fünf Löchern... war die Höhe der Tonstöße klar er- kennbar“. Auf die Schwäche einer eben beginnenden Tonempfindung machen ja auch Abraham und Brühl aufmerksam und erblicken in ihr eine wesent- liche Ursache für die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen einem äußerst kurzen Tone und einem Geräusche. Urbantschitsch?) studierte die Erscheinung des Anklingens an Ge- sunden und an Ohrenkranken mit Stimmgabeltönen von verschiedener Stärke. Dabei zeigte sich, daß ein sehr leiser Ton erst nach ein bis zwei Sekunden !) Wundts Philos. Stud. 6, (3), 394 und 7, (3), 469, 1891. — ?) Pflügers Arch. 25, 323 bis 342, 1881. Anklingen. — Abklingen. — Versuche von Mayer. 505 in seiner vollen Intensität wahrgenommen wurde. Kam die physikalische Stärke dem Schwellenwerte nahe, so hörte man den Ton im Beginne seiner Zuleitung überhaupt nicht, und erst nach einer von dem Grade der Schwäche abhängigen Zeit erklang derselbe zunächst leise und bald darauf deutlich. Übrigens traten hierbei individuelle Unterschiede zutage. Noch viel auf- fälliger als an normalen Personen erschien ein verspätetes Anklingen bei Schwerhörigen, die an Erkrankungen des Mittelohres litten. Manche von diesen hörten eine kräftig tönende Gabel oder eine laut tickende Uhr erst nach 5, 8 oder gar 10 Sekunden; dabei entstand die Empfindung zuweilen an dem einen Ohre auffallend früher als am anderen, so daß bei binotischer Schall- perzeption eine Art’Echo oder ein Doppelschall beobachtet wurde. Auch ein anderer, durch seine Beiträge zur physiologischen Akustik bekannter Öhren- arzt, Dennert, hat Versuche über die Tondauer oder, wie er es nennt, das Schallquantum angestellt und die Bedeutung desselben für die Hörprüfung erörtert!). Er führte die Tonquelle, eine klingende Gabel, vor dem Öhre des Patienten hin und her, so daß sie nur stoßweise vernommen wurde. War sie bei dem betreffenden Rhythmus der Intermissionen für den Hörer abgeklungen, so erschien der Ton immer noch wieder eine längere oder kürzere Zeit von neuem, wenn die Gabel langsamer bewegt wurde und daher jedesmal eine größere Zahl von Schwingungen in den Gehörgang gelangte. Je geringer also die Hörschärfe. und je leiser der Ton ist, um so mehr Schwingungsimpulse müssen sich zum Zwecke des Anklingens summieren. Dem Anklingen steht nun ein Abklingen gegenüber, .d. h., wenn der physikalische Ton plötzlich aufhört, so ist damit nicht auch zugleich die Empfindung zu Ende, sondern sie überdauert den Reiz noch eine gewisse Zeit. Helmholtz weist in seiner „Lehre von den Tonempfindungen“ darauf hin, daß die maximale Geschwindigkeit, mit der zwei Töne im Triller ab- wechseln können, ohne dabei für das Ohr ineinander zu verschwimmen, als eine Art Maßstab für die Dauer des Abklingens anzusehen ist. Denn je kürzer die letztere, um so rascher dürfen offenbar die Töne alternieren. Triller von je zehn Schlägen in der Sekunde seien im größten Teile der Skala scharf und klar auszuführen, aber von A abwärts in der großen und Kontraoktave klängen sie schlecht und rauh und beginne die Vermischung. Hieran wäre nicht der Mechanismus der Instrumente schuld, da sowohl beim Triller auf dem Harmonium wie auf dem Violoncell die Töne momentan ein- setzen und aufhören; der Grund sei vielmehr in einer Eigentümlichkeit des Ohres zu suchen, der zufolge den tieferen Tönen eine längere Abklingezeit zukäme als den höheren. Genauere Versuche hat erst Alfred M. Mayer angestellt, und zwar über die Frage, ein wie schnelles Tremolo man in den verschiedenen Oktaven mit dem Ohre noch erfassen kann. Unterbricht man einen Ton durch eine Reihe von Pausen, die in gleichen und nicht zu kleinen Intervallen einander folgen, so hört man ihn, in einzelne Stöße zerlegt, schwebend. Steigert sich die Zahl der Intermissionen in der Zeiteinheit mehr und mehr, so gehen die anfangs distinkten Stöße zunächst in eine scharfe Rauhigkeit über, dann wird diese milder und zuletzt verschwindet sie, so daß der !) Arch. f. Ohrenheilk. 34, 161, 1893. 506 Versuche von Mayer und Urbantschitsch. Ton wieder glatt erscheint. Mayer suchte nun stets die Grenze der Rauhig- keit gegen die Glätte auf. Die dabei benutzte Versuchsanordnung ähnelt im Prinzip der von Mach zur Bestimmung der Dauerschwelle verwendeten Methode; eine Gabel tönte vor einem Resonator, von dem eine Rohrleitung zum Ohre des Beobachters führte, und eine zwischengeschaltete, mit Aus- schnitten versehene, rotierende Scheibe bewirkte, daß der Ton bald durch- gelassen, bald abgesperrt wurde. Die letzte!) der mehrfachen Publikationen enthält folgendes Resultat. Bezeichnet D (Duration of the residual sensation) die Dauer der Pause zwischen je zwei aufeinanderfolgenden Tonstößen, die eben kurz genug ist, um nicht mehr als Intermission empfunden zu werden, so ergab sich } für C von 64 Schwingungen D gleich r 5 Sekunde 1 ” c n 128 ” ” ” 43,2 N ei 256 = N ” ” ” ” 74,4 ” 1 ” e! n 320 ” ” ” 87,5 ” 1 N g! ” 384 ” ” $2] 105,6 ” ” c? ” 512 ” 7 N i ” 130 ee 151,2 { g2 768 ee n n ” ” ” 171,6 ” c3 1024 an N ” ” ” ” 204 ” Aus diesen empirischen Werten ließ sich die allgemeine Formel D= 5 E= ıs| - 0,0001 ableiten, worin N die Schwingungszahl be- deutet. Doch fügt Mayer hinzu, daß andere vielleicht zu etwas abweichenden Zahlen gelangen möchten. In der Tat trifft dies für Urbantschitsch?) zu, der aber auch nicht die Frage stellte, wann bei stetiger Verringerung der Pause aus zwei Ton- stößen einer wird, sondern wann umgekehrt bei kontinuierlicher Vergrößerung der zunächst einheitliche Ton sich in zwei spaltet, was immerhin einen Unter- schied macht. Urbantschitsch verfuhr so. Zwei Röhrchen wurden durch einen gegabelten Schlauch gleichzeitig mit dem Ohre eines Beobachters ver- bunden (oder auch jedes mit je einem der Ohren). Vor ihren freien Mün- dungen ward mit Hilfe eines Pendels die Öffnung eines anderen Rohres vor- übergeführt, aus welcher der Ton der Schallquelle herausdrang. Der Hörer vernahm den Ton erst durch das eine, dann durch das andere Erngiuges- !) Philos. Magaz. (5), 37, 259 u. 411, 1894 ; Amer. Journ. of Science (3), 47, 1 und 283, 1894. — ?) Pflügers Arch. 25, 326 ff., 1881. Kritik der bisherigen Versuche über das Abklingen. 507 röhrchen, und zwar je nach der leicht zu bereehnenden Geschwindigkeit der Suc- cession entweder als Doppelschlag oder als einzelnen Tonstoß ohne Wahr- nehmung der Pause. Die Versuche betrafen freilich nur die Töne C, Dis, c und dis, doch zeigte sich in Übereinstimmung mit der Formel Mayers auch hier, daß die oben mit D bezeichnete Größe mit wachsender Tonhöhe abnimmt. Wurde der eine Tonstoß dem einen, der zweite dem anderen OÖhre zugeleitet, so ergaben sich durchweg höhere Zahlen. Bei monotischem Hören wird also die Spaltung viel eher bemerkt als bei diotischem, womit eine frühere analoge Beobachtung Exners, die Geräusche zum Gegenstande hatte, in Einklang steht. Man pflegt die Versuche von Mayer und Urbantschitsch dahin aus- zulegen, daß die höheren Töne rascher abklingen und eben deswegen, wenn keine Pause hörbar werden soll, einander schneller folgen müssen als die tieferen. Indessen erscheint mir diese Folgerung nicht ganz einwandfrei. Stellen wir uns den Vorgang des Anklingens einer Tonempfindung, ihres _Verweilens auf der Höhe der Intensität und des darauf folgenden Abklingens graphisch vor, wobei die Zeiten die Abszisse bilden und die Intensitäten durch die Ordinaten dargestellt werden, so bekommen wir eine Kurve, die zunächst ansteigt, dann eine Weile der Abszisse parallel läuft und zuletzt wieder zu ihr heruntersinkt. Nur wenn man in jedem Falle Form und Länge dieses absteigenden Schenkels genau kennt, hat man ein klares Bild von der Art des Abklingens. Bei den Beobachtungen Mayers folgt aber eine Reihe von Tonstößen so rasch aufeinander, daß immer die anklingenden Ordinaten des folgenden mit abklingenden des vorhergehenden zusammen- fallen und sich summieren, und die Geschwindigkeit der Succession ist gerade so abgepaßt, daß diese Summierung eine Tonempfindung von gleichmäßiger Intensität ergibt, also eine Kurve, die fortwährend der Abszisse parallel ist oder doch wenigstens keine merklichen Senkungen aufzuweisen hat. Über die Gestalt der Kurvenkomponenten erfährt man auf diese Weise nichts Ge- naueres. Allenfalls könnte man aus den Angaben von Mayer und Urban- tschitsch den Schluß ziehen, daß bei höheren Tönen die Kurve der Empfindungsstärke nach dem Aufhören des Reizes steiler abfalle und des Ausgleiches halber die einzelnen Tonstöße einander zeitlich näher gerückt werden müßten. Allein bei derartigen Versuchen folgen sich die Tonstöße so schnell, daß die Empfindung überhaupt nur mehr oder weniger unvoll- kommen anklingt. Die doch in erster Linie zu beantwortende Frage, wie eine Tonempfindung abklingt, die eine Zeitlang in der vollen, der Reizgröße entsprechenden Intensität perzipiert worden ist, wird also durch die Mayer- Urbantschitschsche Technik gar nicht berührt. Dazu kommt noch, daß bei Mayers Anordnung neben dem intermittierenden Tone physikalisch die beiden sogenannten Variationstöne entstehen, die den Primärton zwischen sich fassen und mit ihm bzw. miteinander unter geeigneten Bedingungen schweben, wodurch die ganze Beobachtung noch erheblich kompliziert wird. Beiläufig bemerkt, war Mayer sich übrigens durchaus bewußt, daß seine Methode nicht geeignet sei, das Abklingen der Tonempfindungen vollständig ustellen. braham und ich !) haben mit Hilfe von Löchersirenen untersucht, wie ») Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 20, 408, 1899. 508 Kritik der bisherigen Versuche über das Abklingen. — Nachbilder. rasche Triller man in den verschiedenen Oktaven hören kann. Die Beob- achtungen erstreckten sich von der Kontraoktave bis in die viergestrichene und betrafen alle Intervalle von der kleinen Sekunde bis zur Quinte. Sie wurden in der Weise ausgeführt, daß gleichzeitig zwei Löcherkreise angeblasen wurden, in deren jedem Gruppen von offenen mit Gruppen von verschlossenen Löchern alternierten. War eine Serie von Öffnungen des einen Kreises vor dem zugehörigen Anblaserohr vorübergegangen, so folgte in diesem Kreise eine Pause, dafür begann aber sofort im anderen Kreise das Anblasen einer Gruppe von Öffnungen, und so immer abwechselnd. Es ergab sich, daß jeder der beiden Trillertöne eine physikalische Dauer von mindestens 30 6 haben mußte, wenn eine getrennte Wahrnehmung möglich sein sollte. Bei kürzerer Dauer verschmolzen die Töne zu einem rauhen Akkorde. Der Wert von 30 6 gilt für alle geprüften Intervalle und für alle Tonhöhen mit Ausnahme der höchsten und tiefsten, für welche letzteren wir rund 406 erhielten. Man kann hiernach in der mittleren Region des Tonreiches überall gleich schnell trillern. Auf den ersten Blick scheint dieses Resultat den Versuchen von Mayer, die Abraham übrigens kontrolliert und bestätigt hat, zu wider- sprechen. Indessen bleibt zu bedenken, daß wir auch unter anderen Be- dingungen experimentierten als jener. Wir ließen nicht Töne von derselben, sondern von verschiedener Höhe aufeinander folgen, und es fanden zwischen den einzelnen Tonstößen keine Unterbrechungen statt. Vor allem aber wurde nicht gefragt, wann bei wachsender Geschwindigkeit der Succession der Ein- druck ein einheitlicher wird, sondern wie lange die Töne neben den aus der Vermengung der abklingenden mit den anklingenden Empfindungen ent- stehenden Akkorden gesondert hörbar bleiben. Immerhin bedürfen die Erscheinungen, die bei raschen Folgen von Tonstößen auftreten, und der Vorgang des Abklingens von Tonempfindungen noch sehr der weiteren Untersuchung !. Wenn Abraham?) aus unseren gemeinschaftlichen Ver- suchen die Konsequenz’ gezogen hat, daß alle Töne, unabhängig von ihrer Höhe, dieselbe Abklingezeit haben, so vermag ich vorderhand diesen Schluß nicht als zwingend anzuerkennen. h) Nachempfindungen. Bei einzelnen, hierzu disponierten Personen kommt es nach Urban- tschitsch?) vor, daß das Abklingen sich erheblich verzögert, und zwar betrifft diese Erscheinung manchmal nur gewisse Töne, in der Regel aber sämtliche. Die Dauer des Nachklingens oder, wie Urbantschitsch es auch nennt, der primären Nachbilder, beläuft sich dabei zuweilen auf 1 bis 2 Sekunden, gelegentlich sogar auf 10 bis 15; ja in einem Falle klang ein hoher Stimmgabelton erst nach 19 Sekunden ab. Häufiger als die pri- mären Nachbilder beobachtete Urbantschitsch*) sekundäre, inter- mittierende. Sie sind dadurch charakterisiert, daß eine abgeklungene Ton- empfindung nach einiger Zeit nochmals oder mehrere Male wieder auftaucht. Das Nachbild hat dann meist dieselbe Tonhöhe wie das Vorbild, es kann aber ') 8. hierzu Marbe, Pfügers Arch. 100, 551, 1903. — *) Zeitschr. f. Psychol. g u. Physiol. d. Sinnesorg. 20, 417, 1899. — °) Pflügers Arch. 25, 335 f., 1881. — ‘) Ebenda 24, 585, 1881. Eigentümlichkeiten der akustischen Nachempfindungen. — Ermüdung. 509 auch höher oder tiefer sein. Die Stärke ist gewöhnlich bedeutend geringer als die des anfänglichen Tones, und folgen mehrere Nachbilder aufeinander, so pflegen sie verschiedene Intensität zu besitzen. Die Nachempfindung tritt in der Regel leise auf und steigt schnell an, wie wenn ein Ton aus weiter Ferne rasch näher käme, worauf sie sich allmählich oder auch plötzlich wieder verliert. Die Dauer der ganzen Erregung vom Verschwinden des objektiven Tones bis zum Ende des letzten Nachbildes beträgt im Durch- schnitt 1 bis 2 Minuten, die Dauer des einzelnen Nachbildes 5 bis 10 Sekunden. Die erste Nachempfindung stellt sich gewöhnlich innerhalb der ersten 15 Sekunden nach Entfernung der Tonquelle ein, die zweite nach weiteren 10 bis 20 Sekunden. Indessen kommen in jeder Beziehung beträchtliche individuelle Unterschiede vor. Dies gilt besonders auch von der Zahl der Nachbilder, von denen meist zwei oder drei, unter Umständen aber sogar mehr als acht auftreten. Neben den detaillierten Angaben von eekiisch finden sich in der Literatur eigentlich nur gelegentliche Notizen über akustische Nach- empfindungen. So teilt Stumpf in seiner Tonpsychologie mit, daß er bei langer und starker Einwirkung einer Stimmgabel auf das eine Ohr regel- mäßig eine Nachempfindung im anderen Ohre habe, die eine ganze Minute dauern könne, und Preyer erwähnt, daß Schwebungen, namentlich hoher Töne, bei ihm noch am Tage nach den Versuchen entotisch wiederkehrten. Ich selbst kann von mir berichten, daß ich einmal nach anhaltenden bin- aurealen Beobachtungen, die das durch Telephone auf die Ohren übertragene Geräusch des Neefschen Hammers betrafen, in der folgenden Nacht längere Zeit mit peinlicher Deutlichkeit das charakteristische Telephonsummen im Hinterkopfe hörte. Man kann im Zweifel sein, ob man solche Vorkommnisse noch zu den akustischen Nachbildern rechnen oder als Halluzinationen auf- fassen soll. Daß aber die ersteren von den Personen, die sie an sich beobachten, etwa mit lebhaften Tonvorstellungen verwechselt würden, weist Urban- tschitsch auf Grund positiver Erfahrungen ausdrücklich zurück. Mit Nachschwingungen des Cortischen Organes können andererseits die Nach- empfindungen schon deswegen nicht erklärt werden, weil, wenn mehrere Töne gleichzeitig als Nachbild auftreten, Schwebungen und Kombinationstöne dabei vollständig fehlen, eine auch sonst theoretisch interessante Tatsache, die Urbantschitsch wiederholt konstatiert hat. Am wahrscheinlichsten wird die Ursache der akustischen Nachempfindungen in einer erhöhten Erreg- ‚barkeit der Neuronen der Hörbahn zu suchen sein, die entweder die Folge einer peripheren Erkränkung oder einer allgemeinen nervösen Reizbarkeit ist, offenbar aber einen Ausnahmezustand bildet, da sonst die akustischen Nachbilder ebenso häufig vorkommen müßten wie die optischen. i) Ermüdung. Ein kontinuierlich oder gleichmäßig intermittierend das Ohr treffender Schallreiz von längerer Dauer pflegt nach einiger Zeit nicht mehr perzipiert zu werden. Man hat diese Erscheinung vielfach mit einer Ermüdung des Nerven identifiziert, aber im allgemeinen mit Unrecht. Es handelt sich zu- meist’ lediglich um ein Schwinden der Aufmerksamkeit, das konstanten Emp- findungen aller Sinnesgebiete gegenüber leicht eintritt. Wir überhören die 510 Zweifelhafte Angaben über Ermüdung des Hörnerven. unausgesetzt neben uns tickende Uhr, weil andere Dinge uns beschäftigen, aber wir merken es trotzdem, wenn sie stehen bleibt, was natürlich bei einer wirklichen Betäubung des Ohres ausgeschlossen wäre. Man kann einen Ton, sofern man nur fortwährend oder immer wieder auf ihn achtet, eine halbe Stunde und länger hören, ohne daß er zuletzt schwächer erscheint als am Anfange. Falls dabei tatsächlich eine Herabsetzung der subjektiven Inten- sität durch Ermüdung des Nerven stattfinden sollte, so ist sie doch zu gering oder geht zu allmählich vor sich, um wahrnehmbar zu sein. J.J. Müller !) gibt an, daß eine Stimmgabel weicher, leerer und schwächer klinge, nachdem das Ohr vorher durch das Hören der Oktave und Duodezime erschöpft sei, und Mach hat mehrfach ?2) darauf hingewiesen, daß bei längerer Per- zeption eines Tones die Obertöne nach und nach in voller Klarheit hervor- träten, weil das Ohr der Beachtung eines einzigen Tones müde würde. Es scheint mir jedoch fraglich, ob man es hierbei wirklich mit einer peripheren und nicht vielmehr mit einer zentralen Ermüdung zu tun hat, und das gleiche muß ich von dem folgenden Versuche Machs?°) sagen. „Ein Gehilfe schlägt mit dem Hammer auf den Tisch, während wir mit dem Finger beide Gehörgänge zudrücken. Öffnen wir die Gehörgänge 0,5 bis 1 Sekunde nach dem Aufschlagen, so hören wir den Schall neu entstehen. Wir können nach dem Aufschlagen einige Male die Gehörgänge rasch öffnen und schließen und hören bei jedem Öffnen einen Schlag, der natürlich desto schwächer ausfällt, je später das Öffnen nach dem Aufschlagen erfolgt. Dies erklärt sich aus dem im Zimmer fortbestehenden allmählich abnehmenden Schallvorgang, der nur von dem nicht ermüdeten Organ bemerkt wird, oder wenn das Organ kurze Zeit Gelegenheit hatte, sich zu erholen.“ Ich möchte doch meinen, daß der objektive Nachhall im Zimmer, solange er eine überschwellige Stärke be- sitzt, auch für gewöhnlich gehört wird und nur im Bewußtsein gegen den ersten stärksten Eindruck zurücktritt. Ebenso erscheint es mir wenig wahrscheinlich, daß das Gehörorgan durch so kurze und schwache Erregungen, wie verklingende Stimmgabeln sie hervorrufen, zu ermüden sein sollte. In dieser Beziehung ist in der otia- trischen Literatur wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden, daß, wenn eine auf den Warzenfortsatz aufgesetzte Stimmgabel für das betreffende Ohr verklungen ist, der Ton nach Abnehmen und Wiederaufsetzen der Gabel auf dieselbe Stelle von der Versuchsperson aufs neue und so eventuell noch mehrmals deutlich gehört wird. Corradi*), der sich besonders mit diesem Gegenstande beschäftigt und die eigentümliche Erscheinung nicht nur bei Öhrenkranken, sondern auch bei Gesunden nicht selten gefunden hat, sucht dieselbe damit zu begründen, daß der Hörnerv sich eben von Zeit zu Zeit ausruhen müsse und daß die Ursache ohne Zweifel in den anatomischen und physiologischen Verhältnissen liege. Bei einigen an mir und von mir an zwei gutgeschulten Beobachtern angestellten Versuchen ergab sich, daß die (sabel meistens schon nach dem ersten Erlöschen definitiv unhörbar war; nur zuweilen wurde beim zweiten Aufsetzen wieder eine schwache Spur des Tones !) Ber. d.K. sächs. Ges. d. Wiss., math.-phys. Kl., 1871, II bis III, 115 bis 124. — ”) 8. z. B. seine Einleitung in die Helmholtzsche Musiktheorie, 1867, 8. 29. — ®) Lehre von den Bewegungsempfindungen, 1873, 8. 58. — *) Arch. f. Ohrenheilk. 30, 175, 1890. : Zweifelhafte Angaben über Ermüdung des Hörnerven. 511 vernommen. Eine bestimmte Regel ließ sich nicht finden. Doch habe ich den Eindruck gewonnen, als käme das Wiederauftauchen der Empfindung nur dann vor, wenn beim ersten Male das Urteil „verklungen“ aus irgend welchen Gründen, wie Abschweifen der Aufmerksamkeit, Störung durch anderen Schall, Lockerung des Gabelstieles od. dgl., vorschnell abgegeben ist. Die tieferen Gabeln — hohe verklingen für das in Rede stehende Expe- riment überhaupt zu schnell — schwingen relativ lange, und die Abnahme der Amplitude geht um so langsamer vor sich, je mehr die Vibration sich ihrem Ende nähert. So kommt es, daß der Übergang von der für ein nor- males Ohr eben noch übermerklichen Amplitude zu der eben schon unter- merklichen eine gewisse Weile dauer. Wenn nun schon im Anfang dieser Zeitspanne der Ton für erloschen erklärt wird und das Wiederaufsetzen des Gabelstieles vor dem Ablauf derselben erfolgt, so ist es, zumal bei maximaler Anstrengung der Aufmerksamkeit, begreiflich, daß die Empfindung wieder auftritt. Man braucht darum nicht gleich an Ermüdung und Erholung des Nerven zu denken. Ob und inwieweit diese beiden Faktoren etwa bei patho- logischen Zuständen in Betracht kommen, muß hier dahingestellt bleiben. Wie rasch manche Autoren bereit gewesen sind, in Ermangelung anderer Erklärungen die Ermüdung des Gehörs heranzuziehen, dafür ist auch Dove!) ein Beispiel. Er brachte von zwei unisonen Gabeln die eine vor das rechte, die andere vor das linke Ohr und drehte die letztere um ihre Achse, wobei der Ton bekanntlich abwechselnd an Stärke zu- und abnimmt. Das Resultat war nicht bloß ein An- und Abschwellen der Empfindung, sondern der Ton wurde auch alternierend auf der einen und auf der anderen Seite gehört. Dove meinte, daß es sich hierbei um ein Überwiegen des inter- mittierenden Tones infolge einer gewissen Ermüdung des kontinuierlich gereizten Ohres handle. Die richtige Auslegung ist aber die, daß die ge- drehte Gabel zufällig die lautere war und ein diotisch gehörter Ton stets auf die Seite des gerade stärker erregten Ohres verlegt wird. Richtet man den Versuch so ein, daß die rotierende Gabel die leisere ist, so bleibt der schwebende Ton dauernd auf der Seite der ruhenden Gabel. Rayleigh) fand, daß sein Ohr gegen Töne, die der oberen Hörgrenze nahe kamen, bald ermüdete. Der anfangs laute Ton verschwand mach fünf Sekunden, kehrte aber wieder, wenn das Ohr nur einen Moment mit der Hand verdeckt ward. Ich kann diese Angabe nicht bestätigen. Die, freilich nicht unerträglich lauten, sehr hohen Töne der Galtonpfeife bleiben für mich während der ganzen Beobachtungsdauer deutlich. Allerdings bemerke ich dabei unregelmäßige Intensitätsschwankungen und auch einen gelegentlichen Wechsel der Lokalisation, insofern der Ton manchmal rechts, manchmal links erscheint oder auch durch den Kopf zieht. Ich glaube aber hierfür Druck- schwankungen des anblasenden Luftstromes in erster Linie verantwortlich machen zu sollen. Selbst wenn dieselben nur gering sind, können sie schon gewisse qualitative und quantitative Veränderungen der Galtontöne hervor- rufen, von denen die ersteren mit einem Lagewechsel der im Beobachtungs- raume sich bildenden Knoten und Bäuche verknüpft sind, was eben das Urteil über Richtung und Entfernung der Schallquelle beeinflußt. Auch Scripture !) Pogg. Ann. 101, 492, 1857 u. 107, 652, 1859. — °?) Nature 56, 285.. 512 Betäubende Wirkung sehr .starker Töne. — Klangwahrnehmung. und Smith!) vermochten sich nicht davon zu überzeugen, daß Ermüdungs- zustände bei der Beobachtung höchster Töne eine Rolle spielen. Existieren somit keine durchschlagenden Argumente für die Ermüd- barkeit des Hörnerven einschließlich seiner Endausbreitung durch anhaltende Reize von geringer oder mäßiger Stärke, so liegt andererseits eine Reihe von Mitteilungen vor, welche darin übereinstimmen, daß die Einwirkung eines sehr intensiven Tones zu einer Art Betäubung des Ohres führt. Dieselbe äußert sich in einer Herabsetzung der Hörschärfe für den betreffenden Ton, aber auch nur für diesen, nicht zugleich für andere oder gar alle, was aus- drücklich festgestellt ist und betont zu werden verdient als ein neuer Beweis für die Selbständigkeit, welche den einzelnen Tönen in unserem Gehör eigen ist. Silvanus P. Thompson?) fand nach langem Anhören eines sehr lauten Tones, daß das Ohr ermüdete und die Stärke der Empfindung nach- ließ. Auch wurde derselbe Ton, wenn er gleich nach der Abstumpfung des Ohres schwach angegeben ward, falsch lokalisiert, nämlich zu weit nach der Seite des unermüdeten Ohres. Zu ganz ähnlichen Resultaten ist auch Urbantschitsch3) bei einer systematischen Untersuchung des Gegenstandes gelangt. Sein Verfahren wär das folgende. Ein starker Stimmgabelton _ wurde durch einen Schlauch dem einen Ohre 10 bis 15 Sekunden lang zu- geleitet und hierauf rasch abgedämpft. Nach dem völligen Verklungensein der Empfindung ward die Gabel vor das andere Ohr gebracht, welches den Ton dann regelmäßig noch mehrere Sekunden hörte. Dabei ist stets darauf ge- achtet worden, daß nicht etwa eine von vornherein bestehende ungleiche ‘ Perzeptionsfähigkeit der Öhren für den betreffenden Ton das Ergebnis fälschte. Hinsichtlich der Dauer der Ermüdung zeigte sich, daß das erschöpfte Ohr nach einigen, meist 2 bis 5, Sekunden sich wieder erholt und dann ebenso fein empfindet wie das nicht überreizte.e Bei diotischer Zuleitung eines Tones pflegen viele denselben median im Kopfe zu lokalisieren. Wurde bei solchen Versuchspersonen das eine Ohr vorher in der oben beschriebenen Weise ermüdet, so erschien der Ton im Anfang der binauralen Wahrnehmung auf der Seite des unermüdeten Ohres, um erst allmählich mit zunehmender Erholung des anderen ins Innere des Kopfes zu rücken. Schließlich mag noch erwähnt werden, daß auch Jacobson) bei seinen Patienten für einen und denselben Ton eine geringere Hördauer nach sehr starkem als nach schwachem Anschlag der als Tonquelle dienenden Gabel fand. II. Von der Klangwahrnehmung. a) Die mathematische und graphische Klangzusammen- setzung und -zerlegung. j Der Ton, oder, wie man im Gegensatz zum Klange, der eine Mehr- heit gleichzeitiger Töne ist, auch sagt, der einfache Ton ist physikalisch betrachtet ein Schwingungsvorgang, bei welchem jeder Massenpunkt pendel- förmig um seine Gleichgewichtslage oszilliert. Ist n die Anzahl der Schwin- !) Stud. from the Yale Psychol. Lab. 2, 112, 1894. — ?) Philos. Mag. (5), 12, 354 f., 1881. — °) Pflügers Arch. 24, 574, 1881. — *) Arch. f. Ohrenheilk. 19, 45, 1883, le 1 le en re ee a A in m u Graphische Zusammensetzung und Zerlegung von Klangkurven. 513 gungen in der Sekunde und « die Amplitude, so ist zu der beliebigen Zeit t nach dem Beginn der Vibration der Abstand von der Gleichgewichtslage y = a-sin2ant"!). Die Art, wie y sich mit wachsendem t periodisch ändert, kann man in der Weise anschaulich machen, daß man eine schwingende Stimmgabel mittels eines an einem Zinkenende befestigten Schreibstiftes ihre Bewegungsform auf einem unter ihr. gleichmäßig vorrückenden Streifen berußten Papieres aufzeichnen läßt. Man kann aber eine entsprechende Kurve, die mit Rücksicht auf obige Gleichung eine Sinuskurve genannt wird, auch ohne jedes physikalische Hilfsmittel rein zeichnerisch konstruieren. Man teilt eine Gerade, welche die Wellenlänge einer Schwingung repräsentiert, in beliebig viele, sagen wir 12, gleiche Teile, errichtet im Endpunkt des Ä 1 { ersten Teiles eine Ordinate y, = a-sin2r- T5' im Endpunkt des zweiten eine Ordinate 9, — a-sin2rT- a usw. und verbindet schließlich alle Ordi- natenköpfe durch eine Linie, welche eben die gesuchte Sinuskurve ist, wie etwa die gestrichelte Welle in der nachstehenden Fig. 94. Fig. 94. * ‘ L H ° H ! H * ’ ‘ . ’ FH ’ ’ f H H i ‘ . ’ L} GEN. 5 f ' IE s. . fs 2 ‘ 2 94 4 2 . [3 “ ’ Pr Fa h ı D ; Fe SE h ’ ‘ e 7 g2 F 1 ' x £ 5: “ ' ; . % £ I. ar ‘ ' ’ 5 ? = . N ’ * FR, FT ‘ ' ‘ vun? .. h ‘ h H ' ‘ ' ‘ # . f ' i ‘ h ; 1 ı ' b Die graphische Darstellung eines Klanges geschieht folgendermaßen. Nehmen wir z. B. an, wir hätten es mit einem solchen zu tun, der sich aus zwei Tönen zusammensetzt, und die Schwingungszahlen dieser Töne ständen im Verhältnis 4:5. Man macht dann eine horizontale Gerade gleich der !) Diese Definition des Tones ist nicht erst, wie man öfter angegeben findet, von G. S. Ohm aufgestellt, sondern schon viel älter. Vgl. Ohms Streit mit Seebeck, welcher die Ansicht vertrat, daß auch die Obertöne zur Empfindung des Grundtones beitrügen, in Pogg. Ann. 53 (1841), 59 (1843), 60 (1843), 62 (1844), 63 (1844). Nagel, Physiologie des Menschen. III. 33 514 Graphische Zusammensetzung und Zerlegung von Klangkurven. angenommenen Länge der Klangwelle (Klangperiode) und beschreibt über ihr als Abszisse erst vier aufeinanderfolgende Sinuswellen entsprechend dem tieferen Tone und darauf die fünf Sinuswellen des höheren. Alsdann wird für jeden Punkt der Abszisse die algebraische Summe der in ihm zu- sammenfallenden beiden Tonordinaten aufgesucht und als Lot aufgetragen. Die durch die freien Endpunkte aller dieser Lote gezogene krumme Linie ist die Klangkurve. Dieselbe wird demnach durch eine algchEA ER Addi- tion, durch Superposition der Tonkurven gewonnen. Bei dieser Konstruktion ist nun vorausgesetzt, daß einerseits die Anfangspunkte der beiden Tonschwingungen, andererseits der Endpunkt der vierten Welle des tieferen und der der fünften des höheren Tones zusammen- fallen, daß also Phasengleichheit besteht. Dies ist aber ein spezieller Fall und der allgemeinere der, daß ein Phasenunterschied, eine Phasen- verschiebung stattfindet, indem der eine Ton um irgend einen Bruchteil einer Schwingungsdauer früher oder später einsetzt als der andere. Fig. 94 zeigt die Komposition zweier Töne gleicher Amplitude, deren a zahlen sich verhalten wie 1:2, für die Gangunterschiede O, !/,, 1/g, 3/4 der Länge der kürzeren Welle dargestellt. Für die Zusammensetzung ist immer das Prinzip der Superposition in gleicher Weise maßgebend. Man sieht aber, daß die resultierende Wellenform sehr von der Phasendifferenz abhängig ist, und wenn man bedenkt, . daß außerdem die Anzahl der Partialtöne eines Klanges und die Wahl der einzelnen Amplituden beliebig ist, so wird ver- ständlich, daß unendlich viele verschiedene Klangkurven möglich sind. Der Mathematiker Fourier!) hat nun gezeigt, daß jede Kurve von der Abszissenlänge !, welche Gestalt sie auch im übrigen haben möge, in einer ganz bestimmten und nur in dieser einzigen Weise zerlegbar ist in eine Reihe von Sinuskurven, deren Wellenlängen gleich I, !/,!, 1/,1 usw. sind und deren Amplituden und Gangunterschiede sich von Fall zu Fall nach der Methode der unbestimmten Koeffizienten berechnen lassen (wobei einzelne dieser Größen natürlich auch gleich Null sein können). Wie man also jederzeit aus einer ge- gebenen Anzahl einfacher Teiltöne auf dem Papier eine Klangwelle zu bilden ver- mag, so ist man mittels der Fourierschen Analyse, auf deren Einzelheiten hier nicht eingegangen werden soll, auch imstande, aus der gegebenen Klangwelle deren Komponenten wieder zu ermitteln. b) Die physikalische Klangzerlegung. Das Theorem von Fourier ist für verschiedene physikalische Probleme von Wichtigkeit, und gerade für die Akustik hat es nicht etwa bloß die Bedeutung einer mathematischen Fiktion, sondern einen sehr wesentlichen reellen Sinn. In einem unser Ohr treffenden Klangwellenzuge sind nämlich faktisch alle die- jenigen Teiltöne und nur diese als pendelförmige Komponenten enthalten, welche auch die mathematische Analyse ergibt. Man kann sich hiervon unter Benutzung diverser physikalischer Hilfsmittel überzeugen, bei denen die Erscheinung des Mitschwingens oder der Resonanz zur Wirkung kommt. Man hebe etwa die Dämpfung eines Klaviers auf und singe mit kräftiger Stimme auf eine nicht zu hohe Note einen Vokal gegen das Instrument, so ') Theorie analytique de la chaleur, Paris 1822. Die physikalische Klangzerlegung. 515 gibt dasselbe ihn deutlich zurück. Der von dem Sänger erzeugte Klang, denn ein solcher ist ein Vokal in jedem Falle, wird von dem Saitensystem des Klaviers in seine Teiltöne zerlegt, indem jede Saite durch die ihrer Schwingungszahl entsprechende pendelförmige Komponente der Klangwelle in Mitschwingungen versetzt wird, und da die Saiten ihre Töne wieder auf die Luft übertragen, so entsteht aus der Kombination der Vokalklang aufs neue. Auch Stimmgabeln auf Resonanzkasten werden durch gleichgestimmte Töne zu hörbarem Schwingen gebracht und können noch eine ganze Weile nach dem Erlöschen des erregenden Tones nachklingen. Der Nutzen der Resonanz- kasten ist ebenfalls auf das Prinzip des Mittönens zurückzuführen, insofern abgegrenzte Lufträume je nach ihrer Größe durch die Einwirkung gewisser Töne in Schwingungen von fast reiner Pendelform geraten und damit jene Töne verstärken. Helmholtz konstruierte eylindrische oder konische Röhren und Hohlkugeln !), die mit einer äußeren Mündung und einer zweiten zur Einführung in den Gehörgang bestimmten Öffnung versehen waren und die, unter dem Namen Resonatoren bekannt, seither dem Fortschritte der Akustik die wesentlichsten Dienste geleistet haben. Jeder solche Resonator hat eine Reihe von Eigentönen, von denen der tiefste ganz besonders intensiv mit einem in seiner Nähe hervorgebrachten Tone von gleicher Höhe mitklingt. - Verschließt man das eine Ohr und steckt in das andere einen Helmholtz- schen Resonator, so hört man die meisten in der Umgebung vorhandenen - Töne sehr gedämpft. Sobald aber der Grundton des Resonators angegeben wird, dringt er mit großer Stärke ins Ohr. Es läßt sich übrigens auch, ohne daß das Gehör zu Hilfe genommen wird, die Zusammensetzung eines Klanges aus seinen Teiltönen physikalisch demonstrieren. So kann man die eine Öffnung eines Resonanzraumes mit einer Membran überspannen und deren Mitschwingen mit einem von außen kommenden Tone durch aufgestreuten Sand, der in Bewegung gerät, sichtbar machen. Oder man verbindet einen Resonator mit einer manometrischen Kapsel nach R. Koenig?), zündet deren Gasbrenner an und beobachtet in einem rotierenden Planspiegel das Bild der Flamme, die im Tempo der Verdichtungen und Verdünnungen der Luft im Resonator auf und nieder zuckt. ec) Die physiologische Klangzerlegung. Für die ganz tiefen Töne pflegt man keine Resonatoren zu verfertigen, da sie wegen ihrer gewaltigen Dimensionen allzu unhandlich wären. Anderer- seits reichen die Resonatoren infolge der raschen Verkleinerung ihrer Maße mit wachsender Tonhöhe nur etwa bis zur fünfgestrichenen Oktave. Inner- halb dieser Grenzen kann man aber mittels der Resonatoren alle Klänge in ihre sämtlichen Teiltöne, sofern deren Intensität nicht exzessiv gering ist, zerlegen. Streng theoretisch genommen, bedarf man indessen überhaupt keines Apparates zum Zwecke der Klanganalyse, da das normale Ohr be- fähigt ist, dieselbe selbständig auszuführen, eine Tatsache, die zu den wich- tigsten der.physiologischen Akustik gehört. Die praktische Beobachtung lehrt freilich, daß nicht jedes Ohr jeden beliebigen Klang vollständig in seine Partial- *) Lehre von den Tonempfindungen (5), 8. 73. — ?) Vgl. R. Koenig, Quelques experiences d’acoustique, 7, 47 ff., Paris 1882. 33* 516 Die physiologische Klangzerlegung. töne aufzulösen vermag, aber wo es mißlingt, handelt es sich entweder seitens des Beobachters um einen Mangel an Fähigkeit bzw. Übung, die physiologisch getrennten Empfindungen auch im Bewußtsein auseinander zu halten, oder um besondere in der Aufgabe liegende Schwierigkeiten. Manche Klänge sind bequem zu analysieren, wie beispielsweise ein Zweiklang, der aus einem sehr tiefen und einem sehr hohen einfachen Ton besteht, andere schwer. In letzterer Hinsicht kommt zunächst in Betracht, daß die lauteren Teiltöne sich meistens der Aufmerksamkeit mehr aufdrängen als die leiseren, falls diese nicht etwa völlig unterdrückt werden. Zweitens macht das Schwingungs- verhältnis gleichzeitiger Töne einen wesentlichen Unterschied für das Heraus- hören aus einem Klange. Nach Stumpf geht der Grad der „Verschmelzung“ zweier Töne dem Grade ihrer Konsonanz parallel. Demgemäß sind Partialtöne, die im Oktaven- oder Quintenverhältnis stehen, nicht so leicht voneinander zu trennen wie die dissonanten selbst bei größerer Stärke. Endlich verdient noch hervorgehoben zu werden, daß das Gehör bei der Klangzerlegung versagt, wo die Höhendifferenz der Teiltöne unter eine gewisse Grenze sinkt. Die Unter- schiedsempfindlichkeit für zwei gleichzeitige Töne ist durchweg erheblich weniger entwickelt als diejenige für aufeinanderfolgende. Im An- schluß an vereinzelte Angaben früherer Autoren habe ich mit A. Guttmann!) diesen Gegenstand einer eingehenderen Prüfung unterzogen, welche die Ton- region zwischen @, und d® betraf. Es ergab sich für bestens geübte, mit Tönen in jeder Beziehung vertraute Beobachter, daß im mittleren Teile der musikalischen Skala zwei Töne nur dann als zwei und nicht mehr als ein einziger aufgefaßt werden, wenn ihr Abstand mehr als 10 bis 20 Schwingungen beträgt. In der eingestrichenen Oktave scheint die Unterschiedsempfindlichkeit am größten zu sein. Nach der Tiefe zu findet jedenfalls ein deutliches Steigen der Schwelle statt, und in der zweigestrichenen Oktave zeigt die Unterschiedsempfindlichkeit wenigstens eine gewisse Tendenz zur Abnahme. Jenseits des d? muß diese sich dann rasch vergrößern, denn Stimmgabel- zweiklänge aus der oberen Hälfte der vier- und dem Anfange der fünf- gestrichenen Oktave, wie 3200 + 3840, 3840 + 4000, 4000 + 4800 und ähnliche, erscheinen durchaus als ein Ton. Detaillierte Beobachtungen bezüg-- lich dieser höheren und der ganz hohen Töne fehlen indessen noch. Unsere Versuche wurden mit möglichst obertonfreien Klangquellen angestellt. Ex- perimentiert man mit tiefen Zungentönen, so erweist sich die Unterschieds- empfindlichkeit als größer, weil offenbar die Unterscheidung der beiderseitigen benachbarten höheren Obertöne die Beurteilung erleichtert. d) Die Klangfarbe. Durch die physiologische Klangzerlegung, eventuell unter Zuhilfenahme von Resonatoren, kann sich jeder ohne große Mühe davon überzeugen, daß der sog. „Ton“, welchen man hört, wenn eine Stimmgabel oder eine Klavier- saite angeschlagen, eine Violinsaite gestrichen oder eine Taste des Harmo- niums niedergedrückt wird, kein einfacher Ton, sondern ein Klang ist. Es gibt meines Wissens zurzeit überhaupt kein musikalisches Instrument, das !) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 32, 87, 1903. Klangfarbe. — Die Untersuchungen von Helmholtz. 317 imstande wäre, Wellen von reiner Pendelform auszusenden; immer wird ein mehr oder weniger zusammengesetzter Klang produziert. Ein solcher Klang besteht nun aus dem Grundtone, welcher der tiefste sowie meist der lauteste Teilton ist, weshalb er auch zur Bezeichnung der Tonhöhe des Ganzen benutzt wird, und dessen Obertönen. Letztere zer- fallen in harmonische und unharmonische, von denen uns hier nur die _ erstgenannten interessieren. Dieselben haben die Eigenschaft, daß ihre Schwingungszahlen Vielfache von der Schwingungszahl des Grundtones sind, und zwar derart, daß der erste Öberton oder zweite Partialton die Schwingungs- zahl 2n hat, wenn n die Schwingungszahl des Grundtones ist, der zweite Oberton oder dritte Partialton die Schwingungszahl 3rn und so fort. Der erste Oberton ist also die Oktave des Grundtones, der zweite die Duodezime, der dritte die Doppeloktave, der vierte die zu dieser gehörige Durterz usw. Bei den Zungenpfeifen ist die Reihe der Obertöne relativ sehr lang, bei den Klängen der Stimmgabeln, der angeblasenen Flaschen und der weiten ge- dackten Pfeifen nur kurz. Bei den meisten Instrumenten folgen die Ober- töne lückenlos nach der Ordnungszahl aufeinander, in anderen Fällen dagegen enthält der Klang nur die ungeradzahligen Teiltöne. So ist die Zahl, die Reihenfolge und auch die Stärke, in welcher die Obertöne den Grundton begleiten, bei den verschiedenen Tonmitteln ver- schieden. Jede Klangquelle hat in dieser Beziehung ihre spezifische Eigen- tümlichkeit, und gerade hierauf sind von Helmholtz die Unterschiede der Klangfarben zurückgeführt worden. Er hat die Klänge der wichtigsten Instrumente hinsichtlich ihrer Zusammensetzung eingehend untersucht und aus seinen Resultaten die folgenden Regeln !) als im allgemeinen gültig ab- geleitet. 1. Einfache Töne — nach unseren heutigen Kenntnissen würden wir richtiger sagen: möglichst obertonfreie Klänge — wie die der Stimmgabeln mit Resonanzröhren und der weiten gedackten Orgelpfeifen, klingen sehr weich. Sie sind ohne alle Rauhigkeit, aber unkräftig und, wenn sie tief sind, dumpf. 2. Klänge, welche von einer Reihe ihrer niederen Obertöne bis etwa zum sechsten in mäßiger Stärke begleitet werden, sind klangvoller, musi- kalischer, reicher, prächtiger, aber durchaus wohllautend und weich. Hierher gehören die Klänge des Klaviers und der offenen Orgelpfeifen sowie die weicheren Pianotöne der menschlichen Stimme und des Horns, welche letzteren den Übergang zu den Klängen mit hohen Obertönen bilden, während die Flöten sich den einfachen Tönen nähern. 3. Wenn nur die ungeradzahligen Obertöne vorhanden sind; wie bei det engen, gedackten Orgelpfeifen, den in der Mitte angeschlagenen Klaviersaiten und der Klarinette, so bekommt der Klang einen hohlen oder bei einer größeren Zahl von Obertönen einen näselnden Charakter. Überwiegt der Grundton an Stärke, so ist der Klang voll; leer dagegen, wenn jener an Stärke den Ober- tönen nieht hinreichend überlegen ist. So ist der Klang weiter, offener Orgelpfeifen voller als derjenige von engeren, der Klang der Saiten voller, - wenn sie mit Klavierhämmern angeschlagen, als wenn sie gerissen werden, !) Lehre v. d. Tonempf. (5), 8. 192. 518 Die Erweiterung der Helmholtzschen Lehre durch Stumpf. der Ton der Zungenpfeifen mit passendem Aufsatz voller als ohne einen solchen. 4. Wenn die höheren Obertöne jenseits des sechsten oder siebenten sehr deutlich sind, so wird der Klang rauh und scharf. Der Grad der Schärfe kann verschieden sein; bei geringerer Stärke beeinträchtigen die hohen Öbertöne die musikalische Brauchbarkeit nicht wesentlich, sind im Gegenteil günstig für die Charakteristik und Ausdrucksfühigkeit der Musik. Von dieser Art sind besonders wichtig die Klänge der Streichinstrumente, ferner die meisten Zungenpfeifen, Oboe, Fagott, Harmonium und menschliche Stimme. Die rauheren, schmetternden Klänge der Blechinstrumente sind außerordentlich durchdringend und machen deshalb mehr den Eindruck großer Kraft als ähnliche Klänge von weicherer Klangfarbe, weshalb sie zwar an sich weniger zur künstlerischen Musik geeignet, aber sehr wirkungsvoll im Orchester sind. Den klassischen Untersuchungen von Helmhoitz verdanken wir somit die Einsicht in die physikalischen Bedingungen für die Unterschiede der .Klangfarben. Wir sind jetzt imstande, schon aus der mathematischen Zer- legung einer Klangkurve mit ziemlicher Sicherheit zu ersehen, ob wir es mit einem weichen oder scharfen, einem vollen oder hohlen Klange zu tun haben würden, falls das Ohr ihn vernähme. Warum aber eine bestimmte Art der Zusammensetzung dem Klange gerade den Charakter des. Vollen, eine andere den des Leeren verleiht, warum allein der Mangel der gerad- zahligen Teiltöne einen näselnden Eindruck hervorruft: diese und ähnliche Fragen sind von Helmholtz nicht in den Kreis seiner Betrachtungen ge- zogen worden. Dagegen hat Stumpf!) die Wichtigkeit der hier sich dar- bietenden psychologischen Probleme hervorgehoben und dieselben einer gründlichen Erörterung unterzogen. Die zur Bezeichnung von Klangfarben üblichen Ausdrücke sind sehr zahlreich und mannigfaltig. Man spricht von milden, weichen, schmelzenden, von harten und rauhen Klängen, von vollen, breiten, dicken, spitzen, dünnen und leeren. Man unterscheidet glänzende, markige, dröhnende, prächtige, feurige, majestätische Klänge von trüben, hölzernen, trockenen, düsteren, idyllischen usw. Vielfach handelt es sich bei derartigen Benennungen um) assoziierte Vorstellungen und Gefühle, und alles hierher Gehörige trennt Stumpf unter dem zusammenfassenden Begriff des Klangcharakters von der eigentlichen Klangfarbe ab. Die letztere kann man dann wieder in einem engeren-und im weiteren Sinne auffassen. Was Stumpf unter der Klangfarbe im engeren Sinne versteht, deckt sich mit dem, was Helmholtz die musikalische Klangfarbe nannte und auf die Zusammen- setzung des Klanges aus Teiltönen zurückführte.e Die Klangfarbe im weiteren Sinne umfaßt nach Stumpf außer der Klangfarbe im engeren Sinne noch eine Reihe charakteristischer Merkmale der Instrumente, die auch Helmholtz bereits annähernd vollständig angegeben hat, nämlich die spezi- fische Art und Dauer des An- und Ausklingens, die begleitenden blasenden, zischenden, sausenden, kratzenden Geräusche, welche sehr wesentlich zur Er- kennung der Instrumente beitragen, gewisse eigentümliche Unterschiede der ') Tonpsychologie 2, 514 bis 549, 1890. Zt u a A A En nn a m Die Wurzeln des Begriffes der Klangfarbe. 519 Höhenlage und Klangstärke, Höhe- und Stärkeschwankungen und endlich besondere melodische, „Thythmische, auch wohl harmonische oder modu- latorische Wendungen. Was die Klangfarbe im engeren Sinne betrifft, so greift Stumpf zum Zweck der psychologischen Erklärung auf die Tonfarben zurück. Der Klang besteht aus Teiltönen; jeder Teilton hat seine eigene Tonfarbe, und der Komplex aller dieser Tonfarben macht eben das aus, was wir die Klangfarbe zu nennen pflegen. Erinnern wir uns hier des früher über die Tonfarben Mitgeteilten, so begreift sich die erste Helmholtz- sche Regel ohne weiteres; nur ist hinzuzufügen, daß sie für die einfachen Töne der höchsten Oktaven nicht gilt und überhaupt die Farbe einfacher Töne sich mit der Höhe stetig ändert. Bezüglich der übrigen Regeln ist so- fort klar, daß durch Hinzufügung immer zahlreicherer Obertöne ein Klang immer kräftiger, markiger und mit zunehmender Höhe der Teiltöne immer heller werden muß. Je stärker ferner der Grundton und je tiefer seine Lage, um so mehr wird er dem Klange eine gewisse Breite und Fülle verleihen. Hohe Grundtöne mit ihren noch höheren Obertönen müssen dagegen immer helle und spitze Klänge geben bzw. bei genügender Stärke einen gellenden Eindruck machen, weil eben jeder einzelne Teilton schon an sich in dieser Richtung wirkt. Wird von verschiedenen Instrumenten ein und derselbe Grundton pro- duziert und ist er so hoch, daß sämtliche oder die meisten Obertöne über die obere Hörgrenze hinaus fallen oder ihr wenigstens nahe kommen, so ist zu erwarten, daß die Klangfarbenunterschiede verschwinden, weil die Differenzen in-den Verhältnissen der Partialtöne sich unter diesen Umständen ausgleichen. In der Tat hat Preyer!) gefunden, daß von vielen guten Beobachtern keiner imstande war, die Zungentöne c* und c’ von den gleichen Gabeltönen zu unterscheiden, solange die Stärke nicht sehr bedeutend war. Wurde aber das c! mit großer Intensität angegeben, so war der Unterschied eben merklich; offenbar weil dann der zweite Teilton bei der Zunge deutlicher wurde als bei der Gabel. Im Anschlusse an Stumpfs psychologische Zergliederung des so kom- plizierten Begriffes der Klangfarbe, die auf lange Zeit hinaus maßgebend bleiben wird, können wir uns den Zusammenhang der hier in Betracht kommenden Dinge durch ein einfaches Schema, wie folgt, übersichtlich machen. Instrumentenklänge Nebenumstände Teiltöne psychische physikalische u. musikalische Zahl Höhe Stärke Phase | \ fr “ fi - nn. | I a | / St | Klangfarbe im engeren Sinne Wellenform | Klangcharakter Klangfarbe im weiteren Sinne Klangfarbe im allgemeinen !) Akustische Untersuchungen, Jena 1879, S. 21. 520 Unabhängigkeit der Klangfarbe von den Phasenverhältnissen. Im ganzen wird keine weitere Erläuterung nötig sein. Nur auf einen Punkt ist besonders aufmerksam zu machen, nämlich auf den Umstand, daß keine Beziehung zwischen der Klangfarbe und den Phasenverhältnissen der Teiltöne besteht, während letztere ja die Wellenform des Klanges sehr wesentlich beeizflussen. Die Abhängigkeit der Klangwellenform von den Phasenverhältnissen ist nur eine Folge der algebraischen Summierung der Partialtonwellen. Diese wird aber bei der Klangzerlegung durch das Gehör, wie ja die Beobachtung lehrt, wieder rückgängig gemacht, und die Teiltöne fließen selbständig neben- einander her. Damit hört die gegenseitige Beeinflussung hinsichtlich der Phasen auf, und da es auch für. die Empfindung des einzelnen einfachen Tones irrelevant ist, ob zuerst eine Verdichtung oder eine Verdünnung der Luft das Trommelfell trifft, so drängt sich a priori der Schluß auf, daß der Klangeindruck schlechthin unabhängig von den Phasenverhältnissen ist und daß Klänge von verschiedener Wellenform, sofern diese Verschiedenheit nur auf Phasenverschiebungen beruht, identische Wahrnehmungen ergeben. Helmholtz!) hat indessen noch einen besonderen experimentellen Beweis hierfür beigebracht, wohl hauptsächlich mit Rücksicht auf die entscheidende Bedeutung des Gegenstandes für seine später zu erörternde Theorie des Hörens.. Er kombinierte zum Zweck der Zusammensetzung von Klängen aus möglichst einfachen Tönen eine Anzahl elektrisch angetriebener Stimm- gabeln mit verschließbaren Resonanzröhren. Waren alle Gabeln in Gang und alle Röhren geschlossen, so ließ sich höchstens ein leises Summen vernehmen; wurden aber diese oder jene Resonatoren geöffnet, so konnte man dadurch Klänge von verschiedener Färbung hervorbringen. Helmholtz benutzte den Apparat in erster Linie zur Synthese künstlicher Vokale. Er überzeugte sich aber mit Hilfe desselben auch davon, daß es für die Klangfarbe gleich- gültig war, ob man eine bestimmte Schwächung einzelner Teiltöne durch Entfernung der Resonanzröhren oder durch entsprechenden Verschluß der- selben bewirkte. In ersterem Falle fand nur eine Intensitätsverminderung, im zweiten zugleich eine Phasenverschiebung statt, die mithin zur Klang- veränderung nicht merklich beitrug. Hiergegen ist, vielleicht nicht ganz mit Unrecht, eingewendet, daß mit der Verengerung der Resonatormündung eine kleine Tonhöhenverstimmung eintritt und daß, wenn diese nicht als Änderung der Klangfarbe empfunden wurde, auch ein Einfluß der Phasen- verschiebung überhört sein könne, zumal ja zwischen je zwei Beobachtungen wegen der Umstellungen einige Zeit verging. Es war darum sehr erwünscht, daß Hermann?) Versuche gleicher Tendenz auf ganz andere Weise anstellte. Er bediente sich des Edisonschen Phonographen und ließ mit Vokalen oder Musikstücken bedeckte Cylinder mit gleicher Geschwindigkeit wie bei der Aufnahme, aber in entgegengesetzter Richtung rotieren, wodurch die zeitliche Folge des akustischen Vorganges sich umkehrte und die Phasen „vollständig durcheinandergeworfen wurden“. Die Klangfarbe erwies sich trotzdem als absolut unverändert. Außer diesem Abszissenumkehrungsversuch wurde auch noch eine Ordinatenumkehrungsprobe gemacht, die das gleiche Resultat !) Lehre von den Tonempfindungen (5), 8. 194 ff. — ?) Pflügers Arch. 56, 467, 1894. a VD NEN VIE Unabhängigkeit der Klangfarbe von den Phasenverhältnissen. 521 hatte. Hieraus und aus einigen anderen Beobachtungen folgert Hermann mit der. größten Bestimmtheit, daß die Phasenverhältnisse an sich keinen Einfluß auf das Gehör haben, ein Schluß, den neuerdings Lindig!) voll- kommen bestätigt hat. Dieser Autor arbeitete mit einer passend abgeänderten Weber-Karstenschen Telephonsirene, welche es gestattete, alle in den Klängen enthaltenen Obertöne hinsichtlich ihrer Zahl und Phase genau fest- zustellen, sowie die verschiedensten Intensitäts- und Phasenverhältnisse zu erzielen. Es ergab sich, daß Phasenverschiebungen nur dann Klangfarben- unterschiede zur Folge haben, wenn gewisse Obertöne, die in genügender Stärke vorhanden sein müssen, sich dabei durch Interferenz gegenseitig ver- stärken oder vernichten. Der Phasenwechsel bedingt also in diesen Fällen zunächst eine Intensitätsänderung von Teiltönen und diese erst die Ver- änderung der Klangfarbe. Auf Interferenz ist auch die periodische Färbungsschwankung mancher schwebender Klänge zurückzuführen. Erklingen zwei nahezu gleich hohe Grundtöne zusammen, so treten immer während des Minimunis der Schwebung die Obertöne relativ hervor, wobei der Klang heller wird. Bilden die Grund- töne eine verstimmte Oktave, so schwebt der höhere mit dem ersten Obertone des tieferen. Der tiefere überwiegt dann im Gesamteindruck zur Zeit des Schwebungsminimums, der Zusammenklang seiner Oktave mit dem höheren Primärton aber zur Zeit des Maximums. Im ersteren Falle erscheint der Klang etwas dumpfer, im letzteren etwas schärfer. Die Einflußlosigkeit der Phasenverhältnisse als solcher auf die Klangfarbe ist meines Frachtens derart sichergestellt, daß es mir überflüssig erscheint, auf die dagegen geltend gemachten Einwendungen ausführlich einzugehen. Nur gewisse Versuche von R. Koenig?) mögen hier ihres historischen Inter- esses wegen erwähnt werden. Derselbe zeichnete eine Anzahl Klangkurven, die sich nur durch die Phasenverhältnisse unterschieden, schnitt sie in Blech aus, brachte die in Cylinderform über die Fläche gebogenen Blechstreifen auf eine gemeinsame rotierende Achse und blies die Kurven durch einen läng- lichen Spalt an. Den aus dieser Konstruktion sich ergebenden Apparat nannte er Wellensirene. Er fand die Klangfarbe der Kurven verschieden und führte dies auf die Phasenunterschiede zurück. Seine Beobachtung ist nun zwar richtig, nicht aber die Begründung. Denn nachdem schon Hermann’) darauf hingewiesen hatte, daß für die Zusammensetzung der beim Anblasen der Wellensirene in der Luft entstehenden Klänge nicht nur die graphische Form der Kurve, sondern auch das Richtungsverhältnis zwischen Blechkante und Spalt maßgebend sei, erbrachte Stumpf*) in einer Untersuchung über die Ermittelung von Obertönen den experimentellen Beweis, daß die einzelnen Klänge der Wellensirene sich in bezug auf die Intensität der Teiltöne wesent- lich: unterscheiden und eben dadurch die Klangfarbendifferenzen veranlaßt werden. Koenig hat seine Sirene noch in der Weise modifiziert, daß eine Reihe in Blech ausgeschnittener Sinuskurven gleichzeitig mit beliebigem Phasenverhältnis angeblasen werden konnten. Dem Phasenwechsel entsprach !) Über den Einfluß der Phasen auf die Klangfarbe. Dissert. Kiel 1902. — ?) Wiedemanns Ann. 57, 339, 1896 (woselbst auch die ältere Literatur); ferner ebenda 8. 555. — °) Pflügers Arch. 56, 468ff., 1894. Vgl. auch Wiedemanns Ann, 58, 391, 1896. — *) Wiedemanns Ann. 57, 678, 1896. 522 Die Schwebungen. dabei auch eine Klangfarbenveränderung. Dieselbe ist indessen offenbar im Sinne der von Lindig gegebenen Erklärung aufzufassen, da die sinus- förmigen Blechkurven, wie Stumpf in der eben erwähnten Arbeit kon- statierte, keineswegs einfache Grundtöne, sondern auch diverse Obertöne hören lassen. III. Von den sekundären Klangerscheinungen. Wenn zwei Töne zugleich erklingen, so treten unter geeigneten Um- ständen infolge ihres Zusammenwirkens außer den ihnen selbst entsprechenden Empfindungen noch andere Gehörswahrnehmungen auf. Das gleiche ist der Fall, wenn nur ein einziger Ton angegeben wird, seine Amplitude aber nicht konstant bleibt oder wie beim Verklingen stetig abnimmt, sondern periodischen Schwankungen unterliegt. Wir wollen derartige Nebenwahrnehmungen als sekundäre Klangerscheinungen und die dieselben veranlassenden Töne, wie üblich, als Primärtöne bezeichnen. a) Die Schwebungen. Haben zwei dem Ohre zusammen dargebotene Töne genau die gleiche Schwingungszahl, so unterscheidet sich die Gesamtempfindung von der des einzelnen Tones nur durch die je nach den Phasenverhältnissen größere oder geringere Stärke. Wird aber der eine Ton gegen den anderen verstimmt, so resultiert ein eigentümliches und sehr eindringliches Phänomen. Die Gleichmäßigkeit der Empfindung hört auf, und an ihre Stelle tritt ein rhyth- mischer Intensitätswechsel. Ist die Tonhöhendifferenz sehr gering, so erscheint derselbe als ein langsames An- und Abschwellen; der Ton wogt oder schwebt gleichsam auf und nieder. Daher die Bezeichnung Schwebungen, statt deren übrigens auch die Ausdrücke Schläge und Stöße benutzt werden, was darauf zurückzuführen ist, daß raschere Schwebungen eher an Hammer- schläge als an eine Wellenbewegung erinnern. Die Anzahl der Schwebungen in der Sekunde ist gleich der Schwingungs- zahlendifferenz der Primärtöne Wenn man also zwei Töne zunächst genau unison stimmt und dann den einen schrittweise erhöht oder vertieft, so wächst auch die Frequenz der Schwebungen entsprechend, und es läßt sich die Ver- änderung studieren, welche der psychische Eindruck der Schwebungen mit zunehmender Schnelligkeit derselben erfährt. Man kann zu solchen Ver- suchen Stimmgabeln benutzen, in deren eine Zinke ein Stift mittels eines Schraubengewindes so eingesetzt ist, daß er einwärts oder auswärts geschroben und dadurch die Gabel erhöht oder vertieft werden kann. Oder man bedient sich eines der bekannten Appunnschen Tonmesser, die eine große Reihe von Zungen enthalten, deren 'Tonhöhen um je 2 oder 3. beziehungsweise 5 Schwingungen differieren. Auch Pfeifen mit verschieblichem Stempel sind zu dem in Rede stehenden Zwecke sehr nützlich!)- Die zunächst sich er- hebende Frage nach der längsten noch hörbaren Schwebung ist verschieden beantwortet worden. A. Mayer hat noch eine Schwebung von 8, Rayleigh !) L.W.Stern hat kürzlich einen aus solchen kombinierten, zu vielen Beob- achtungen sehr brauchbaren Apparat unter dem Namen „Tonvariator“ beschrieben (Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 30, 422, 1902). Charakter und Grenzen der Wahrnehmbarkeit von Schwebungen. 523 sogar solche von 24 Sekunden Dauer wahrgenommen, und letzterer meinte, daß man noch langsamere hören könne. In der Tat fand denn auch Lindig im Verlaufe gewisser Versuche mit verstimmten Oktaven!), daß die Schwe- bungen bis zu einer Dauer von drei Minuten merklich waren. So langsame Schwebungen noch als solche zu erkennen, ist natürlich im allgemeinen äußerst schwierig. Dagegen sind die Stöße sehr deutlich und leicht mit dem Ohre zu verfolgen, wenn etwa einer bis sechs auf die Sekunde kommen. Sie lassen sich dann ohne Mühe zählen. Steigt ihre Zahl auf 20 oder 30, so ist letzteres freilich nicht mehr möglich, aber man hat immerhin noch den Eindruck einer Folge von Tonstößen. Dabei ist jedoch der Klang wirr und rauh. Bei weiterer Zunahme der Frequenz der Schwebungen bleibt diese Rauhigkeit charakteristisch, nimmt indessen allmählich mehr und mehr ab und verschwindet schließlich gänzlich, womit dann die andere Grenze für die Wahrnehmbarkeit von Schwebungen hinsichtlich ihrer Zahl erreicht ist. Der Charakter der Rauhigkeit richtet sich nach der Geschwindigkeit der Stöße. Langsamere Schwebungen geben eine gröbere Art von Rauhigkeit, ein Rollen, Knarren, Rasseln; raschere geben eine feinere und schärfere Rauhigkeit, ein Schwirren oder Zwitschern. Der letztere Ausdruck ist nament- lich für die Stöße sehr hoher Töne bezeichnend. Helmholtz hebt in seiner Beschreibung der Schwebungen?) hervor, daß dieselben ganz den gleichen Eindruck machen wie ein dem Öhre mit entsprechender Frequenz inter- mittierend zugeleiteter Ton und bezieht die Unterschiede in der Empfindung lediglich auf die Unterschiede der Schnelligkeit. Dagegen äußert Stumpf?), daß ihm in den Fällen von stärkeren oder schnelleren Schwebungen noch gewisse Nebenerscheinungen hinzuzutreten schienen, nämlich hauptsächlich Geräusche, welche nach seiner Meinung nicht völlig auf Tonempfindungen oder Modi- fikationen solcher zurückführbar seien, dann aber auch äußerst hohe Töne, die vor allem an dem Schwirren und Zwitschern beteiligt wären. Besonders deutlich fand er dies bei der Beobachtung des von Zungen erzeugten Zwei- klangs c?d?. Es war dabei ein so unangenehmes Zwitschern in den Ohren lokalisiert *), wie es bei derselben Zahl der Schwebungen und beliebiger Stärke in den tieferen Regionen nicht zustande kommt. Daß die nämliche Anzahl Stöße um so rauher klingt, je höher die Lage des Tonpaares ist, hat übrigens schon Helmholtz hervorgehoben. Er macht darauf aufmerksam, daß der Halbton Ah!c2, die Ganztöne c!d! und d!el, die kleine Terz eg, die große Terz ce, die Quarte G@c und die Quinte C@ je 33 Schwebungen geben, daß aber diese Intervalle mit zunehmender Tiefe immer mehr und mehr von . Rauhigkeit frei werden. Die obere Frequenzgrenze für die Wahrnehmbarkeit der Schwebungen ist in den einzelnen Oktaven verschieden, und zwar kann man um so raschere Schwebungen hören, je höher die Primärtöne sind. Stumpf?) vermochte in der großen Oktave, wenn ( als tieferer Ton genommen wurde, mit ans Ohr gehaltenen Gabeln direkte Schwebungen noch bis über die Quinte hinaus zu vernehmen. Hier liegt also die Grenze bei etwa 40 !) Ann. der Physik (4), 11, 43, 1903. — *) Tonempfindungen (5), 8. 280 ff. — ®) Tonpsychologie 2, 452, 1890. — *) Sehr starke Schwebungen erregen infolge der heftigen Bewegung des Trommelfelles geradezu Tastempfindungen im ÖOhre. — °) Tonpsychologie 2 (1890). 524 Schwebungen der Obertöne. — Physikalisches. Stößen in der Sekunde. Ich selbst habe gelegentlich in dieser Beziehung die kleine und die eingestrichene Oktave einer von Ton zu Ton fortschreitenden Prüfung unterworfen, wobei ich Edelmannsche Gabeln benutzte. Ich fand in der ersteren durchschnittlich etwa 60, in der letzteren 100 bis 130 Schwebungen noch eben als Rauhigkeit merklich. Die Terzen c? e? und e? 9°, die beide 264 Schwebungen geben, sind noch deutlich rauh : und ebenso nach der Angabe von Stumpf die Intervalle ‚f* g*, gt at, edf5 mit 341 sowie ath* mit 427 Schwebungen; h5 cs mit der Differenz 512 und /?g° mit dem Schwingungszahlen- unterschied 683 sind durchaus glatt. Je höher also die Ton- region, um so größer das Maximum hörbarer Stöße, um so kleiner aber andererseits das Intervall, welches eben noch rauh klingt: in der großen Oktave ist es ungefähr die übermäßige Quinte, in der eingestrichenen der. Tritonus, in der drei- gestrichenen die große Terz, in der viergestrichenen die große Sekunde und in der fünfgestrichenen die kleine Sekunde. Haben zwei schwebende Primärtöne hinreichend kräftige Obertöne, so hört man auch deren Schwebungen. Das erste Obertonpaar gibt doppelt so viel Stöße wie die beiden Grund- töne, das zweite Obertonpaar dreimal so viel und so fort. Auch die Obertöne eines einzigen Grundtones können zusammen Schwebungen erzeugen, welche dann dem Klange eine größere oder geringere Rauhigkeit und Schärfe verleihen. Als Beispiel i sei nur das Ü des Harmoniums erwähnt, bei dem die Teiltöne vom siebten (b!) aufwärts einander genügend nahe liegen und stark genug sind, um merklich zu schweben. Soviel von den Empfindungstatsachen. Betrachten wir nun noch kurz die physikalischen Verhältnisse und nehmen wir, um ein leicht übersichtliches Paradigma zu wählen, an, zwei Töne, von denen der eine 200, der andere 201 Schwin- gungen mache, begännen in gleicher Phase mit einer Verdichtung. Dann ist infolge der Addition dieser beiden Verdichtungen die Amplitude der Klangwelle im Anfang relativ beträchtlich. Nach einer halben Sekunde aber hat der tiefere Ton eben eine ganze, nämlich die hundertste, der höhere eine halbe Schwingung absolviert, und beide befinden sich in entgegengesetzten Phasen, so daß sie einander schwächen. Die Klangamplitude gesunken, steigt dann indessen bis zum Ende der ganzen Sekunde, zu welcher Zeit beide Töne wieder gleiche Phasen bekommen, abermals zum Maximum an. Somit erfährt der Klang ein einmaliges Ab- und Anschwellen seiner Stärke in jeder Sekunde, es findet eine Schwebung pro Sekunde statt). Die vorstehende Figur, die die Sinuswellen und die Klangwelle zweier Töne vom Schwingungszahlenverhältnis 8:9 darstellt, möge die Form einer, !) Diese Deduktion läßt zugleich erkennen, warum die Zahl der Schwebungen mit der Differenz der Schwingungszahlen der Primärtöne übereinstimmt. ist also nach einer halben Sekunde auf ein relatives Minimum . DH Zwischentöne. — Kombinationstöne. 525 „Schwebungskurve“ veranschaulichen. Die Buchstaben a bis h kenn- zeichnen das Maximum, M das Minimum der Schwebung. Die Betrachtung einer solchen Kurve könnte einen mit der Physiologie des Hörens weniger Vertrauten auf die Vermutung bringen, die Wahrnehmung der Schwebungen käme in der Weise zustande, daß eben das Ansteigen der physikalischen Klangamplitude unmittelbar als Zunahme, das Absinken als Abnahme der Stärke empfunden würde. Allein so einfach liegt die Sache. in Wirklichkeit nicht. Es darf nicht übersehen werden, daß beim Hören eine Auflösung des Klanges in seine Teiltöne stattfindet. Beobachtet man z.B. den schwebenden Zweiklang gis!a! oder g!a!, so werden die Primärtöne nebeneinander getrennt vernommen. Wenn aber eine Klangzerlegung ein- tritt, wird man der lediglich bei und aus der Zusammensetzung resultierenden Gestalt der physikalischen Klangwelle einen Einfluß auf die Wahrnehmung absprechen müssen. Es wäre zu erwarten, daß die Primärtöne rein und glatt ohne Intensitätsschwankungen gehört würden. In der Tat verhält es sich auch speziell mit den Tönen gis! und a! und in analogen Fällen so, jedoch treten daneben Schwebungen auf, die als solche eines zwischen den Primär- tönen gelegenen, von Stumpf!) als Zwischenton bezeichneten, Tones auf- gefaßt werden, und bei anderen Zweiklängen erscheinen die Primärtöne selbst schwebend. Man wird daher zu der Annahme gedrängt, daß trotz der Zerlegung eine gegenseitige Beeinflussung der Primärtöne im Sinne des Schwebens statt- findet. Die Lösung dieses Problems ist eine Aufgabe der Theorie des Hörens und wird im Abschnitte V d weiter erörtert werden. b) Die Kombinationstöne. Der Autor, welcher die Schwebungen zuerst erwähnt hat, dürfte Mer- senne (1588 bis 1648) gewesen sein. Ungefähr 100 Jahre nach ihm wurde von dem Violinisten Tartini (1714) und dem deutschen Organisten Sorge?) eine andere sekundäre Klangerscheinung entdeckt, auf die wir heutigentags die Bezeichnung Differenztöne anwenden, weil es sich dabei um Töne handelt, deren Schwingungszahl gleich der Differenz der Schwingungszahlen der beiden Primärtöne ist. Tärtini und Sorge hörten zwar solche Töne, haben aber größtenteils irrtümliche Angaben über ihre Höhe gemacht. Die englischen Physiker Young und Gough stritten später darüber, ob der „tiefe harmonische Ton“ — so sagte man damals statt Differenzton, während in der neueren englischen Literatur die Benennung „Resultierender Ton“ viel gebraucht wird — mechanisch in der Luft entstehe, wie ersterer behauptete, oder ob er durch die Einbildungskraft der Seele erzeugt werde. Vieth?°) hat diese Kontroverse summarisch dargestellt, aber erst Hällström®), der von Vieth den Ausdruck „Kombinationston“ übernahm, erkannte die Schwingungszahlenverhältnisse richtig. Der erste, der nach Hällström den Gegenstand wieder einer fundamentalen Bearbeitung unterzog, war Helm- holtz). Er fand (1856), daß zwei primäre Töne von den Schwingungs- !) Tonpsychologie 2, 480 ff., 1890. — ?) Vorgemach der musikalischen Kom- position usw., Lobenstein 1745. — °) Gilberts Ann. 21 (1805). — *) De tonis com- binationis; Diss., Aboae 1819 u. Pogg. Ann. 24, 438, 1832. — °) Lehre von den Tonempfindungen (5), S.253 ff. (Daselbst auch weitere Literaturangaben.) 526 ’ Differenztöne. zahlen h und t (wobei h>>t) unter passenden Umständen nicht nur einen - Ton h—t, sondern auch einen Ton h +t ergeben, und faßte diese beiden Klassen von sekundären Tönen, die er als Differenz- und Summations- töne unterschied, unter dem Namen Kombinationstöne zusammen. Seit- dem haben die deutschen Akustiker diese Nomenklatur allgemein acceptiert. Hällström hatte zunächst rein theoretisch den Satz abgeleitet, daß zwei Primärtöne h und t einen Kombinationston h—t erzeugen. Die gleiche Überlegung führte ihn dann aber dazu, neben diesem ersten Tone einen zweiten von der Form t — [h—t] = 2t—h, einen dritten h — [2t—h] — 2 (h—t), einen vierten [2{—hk] — [h—t] = 3t—2h usw. zu postulieren. Behandelt man so jeden durch bloße Subtraktion gewonnenen Differenzton — die Summationstöne wollen wir vorerst beiseite lassen — als neuen Primär- ton, der mit allen schon vorhandenen wieder Differenztöne hervorbringt, und berücksichtigt dabei, was von seiten Hällströms noch nicht geschah, auch die Obertöne der Primärtöne!), so ergibt sich eine endlose Menge von Diffe- renztönen, wobei allerdings mehr oder weniger zahlreiche Koinzidenzen vor- kommen. In Wirklichkeit werden nun immer nur einer oder einige von den durch die Rechnung zu erhaltenden Differenztönen wahrgenommen, wie auch schon Hällström ausdrücklich hervorhob. Wieviele ihrer aber in einem gegebenen Falle sind und welches Intensitätsverhältnis zwischen ihnen ob- waltet, darüber läßt sich zurzeit noch keine endgültige Regel aufstellen. Was bisher an empirisch gefundenen Tatsachen bezüglich der Hörbarkeit und der sonstigen Eigenschaften der Differenztöne vorliegt, ist im wesentlichen das Folgende. Die subjektive Deutlichkeit der Differenztöne und ihre Hörweite wächst im allgemeinen mit der Höhenlage der Primärtöne. Sind die letzteren selbst tief, so sind die noch tieferen Differenztöne oft recht schwer aus dem Klange herauszuhören. Koenigsche Gabeln mit Resonanzkasten, deren Tonhöhen der zweigestrichenen Oktave angehören, lassen, mit dem Bogen kräftig ge- strichen, ihre Differenztöne bis auf 50 cm Abstand hören; in der dreigestrichenen Oktave wächst die Entfernung auf 7 bzw. 13 und 15m. Den Differenzton 800 zweier leicht gegeneinander geschlagener Appunnscher Gabeln von 4000 und 4800 Schwingungen höre ich etwa 18m weit. Auch die Differenz- töne der Galtonpfeifen sind sehr leicht und weit vernehmlich; Stumpf und Meyer haben solche noch bei Primärtönen aus der oberen Hälfte der sechs- gestrichenen Oktave gehört. Es werden aber sogar Differenztöne wahr- genommen, wenn die Primärtöne jenseits der oberen Hörgrenze des Beob- achters liegen, also an sich unhörbar sind. A. M. Mayer?) fand diese Tat- sache bei Versuchen mit Lockpfeifen und Gabeln, und auch Koenig?) hat hierüber einige tatsächliche Angaben gemacht, die ihn selbst und mehrere andere zuverlässige Versuchspersonen betrafen und keinen Zweifel übrig lassen. Erhöht oder vertieft man kontinuierlich den einen von zwei anfangs unisonen sehr hohen Tönen — ich *) habe derartige Versuche an Galtonpfeifen bis zu 12000 Schwingungen hinauf ausgeführt — so treten erst langsame, !) Vgl. Ohm, Pogg. Ann. 47, 465, 1839. — ?) Report of the Meeting of the British Assoeiation for the Advancement of Science. Oxford 1894, p. 573. — °) Wiede- manns Ann. 69, 636, 1899. — *) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. der Sinnesorg. 21, 166 ff., 1899. Physikalische und physiologische Eigenschaften. 527 dann rascher und rascher werdende Schwebungen auf. Wenn ihre Zahl ungefähr 30 pro Sekunde beträgt, gesellt sich die erste Spur eines sehr tiefen, brummenden Differenztones hinzu, der dann mit wachsender Frequenz der Schwebungen klarer und höher wird. Verlegte ich das Primärtonpaar suc- cessive in immer tiefere Regionen der Skala, so fand bei einer ungefähr 30 Schwingungen betragenden Differenz der Tonhöhen stets eine Differenzton- wahrnehmung statt, in der Regel schon viel früher. In den mittleren Oktaven kann man bereits bei 16, 14, auch 10 Schwebungen einen äußerst tiefen Differenzton hören; allerdings besteht hier die Möglichkeit, um nicht zu sagen Wahrscheinlichkeit, daß derselbe von Obertönen herstammt, die ja unter- einander ebensogut Schwebungen und Differenztöne erzeugen wie die Primär- töne, wenn auch meist entsprechend schwächere. Bei Primärtönen unterhalb der kleinen Oktave wird es mir schwierig, allertiefste Differenztöne aus dem Klange herauszuhören, während es bei den ganz hohen Oktaven sehr leicht ist. Vergrößert man also, vom Unisono ausgehend, das Intervall der beiden Primärtöne allmählich, so hört man, von den untersten Oktaven abgesehen, anfangs nur Schwebungen, dann während eines kürzeren oder längeren Spatiums Schwebungen und Differenzton zugleich und schließlich nur noch den letzteren allein. Dieser Ton h—t ist in seiner größten Tiefe an sich rauh wie alle tiefsten Töne, aber auch mit zunehmender Höhe haftet ihm noch ein gewisser Mangel an Glätte an, vermutlich, weil man geneigt ist, die Rauhigkeit der Primärtonschwebungen als eine solche des Differenztones auf- zufassen. Liegen die Primärtöne hoch, so bewirken relativ kleine Intervallände- rungen verhältnismäßig beträchtliche Höhenschwankungen des ersten Diffe- renztones (h—t). Nehmen wir beispielsweise an, die Primärtöne hätten die Schwingungszahlen 1000 und 1032, so hören wir als Differenzton das Kontra-(. Erhöhen wir nun kontinuierlich die Differenz auf weitere 32 Schwingungen, so durchläuft der Differenzton eine ganze ÖOktave, und rund vier Oktaven, wenn wir das Primärtonintervall bis zur Quinte erweitern. Dabei verändert sich der Differenzton aber stetig, nicht, wie früher gelegentlich von ver- schiedenen Seiten behauptet ist, sprungweise. Analog verhält es sich mit dem zweiten Differenzton 2{—h, welcher herabsteigt, wenn der erste auf- steigt — beide kreuzen sich in dem Augenblick, wo das Primärtonintervall die Quinte erreicht — und mit den Differenztönen noch höherer Ordnung. Große Stärke der Primärtöne ist für die Wahrnehmung der Differenz- töne zwar nützlich, aber lange nicht so wichtig, wie Helmholtz ursprünglich glaubte. Man kann dieselben unter Umständen auch mit verstopften Ohren oder bei sonst irgendwie erzeugter Schwächung der Primärtöne wohl ver- nehmen. Stumpf teilt sogar in der Tonpsychologie mit, er habe zu Zeiten, wo er viel darauf achtete, Differenztöne an der Violine, am Klavier und bei gedackten Pfeifen hundertfach selbst dann gehört, und zwar gerade besonders deutlich, wenn die Tongebung die schwächste war, die sich überhaupt her- stellen ließ. Dahingegen gibt es in allen Fällen ein Optimum des Stärken- verhältnisses der Primärtöne, welches oft, aber nicht notwendig mit der Gleichheit der Intensitäten zusammenfällt. So pflegt der zweite Differenzton hervorzutreten, wenn der tiefere Primärton überwiegt, offenbar weil dessen Oktave 2t dadurch stark genug zur Bildung des Tones 2t1—h wird. Ferner 528 Zwischenliegende Differenztöne. finde ich, daß das Intervall, und bei gleichem Intervall die Höhenlage der Primärtöne von Bedeutung ist. Bevorzugt scheinen hinsichtlich ihrer Stärke die Differenztöne von der Schwingungszahl n, welche gehört werden, wenn die Schwingungszahlen der Primärtöne im Verhältnis mn:(m +1)n stehen. Töne vom Verhältnis 3% :5n ergeben 2» in tiefer Lage wenig deutlich, in höherer Lage besser. Beim Intervall 4:7 höre ich, wenn Gabeln und Flaschentöne benutzt werden, den ersten Differenzton 3 so gut wie gar nicht, wohl aber den zweiten 2.4—7 — 1. Auch bei der kleinen Sexte (5:8) ist der Differenzton 2 (= 2t—h) gewöhnlich stärker als 3 (— h—t). Der erste Differenzton 4 des Verhält- nisses 5:9 ist ebenfalls durchweg bedeutend schwächer als 1. Ähnlich steht es mit 7:12 und überhaupt mit solchen Intervallen, die zwischen Quinte und Oktave und näher der letzteren liegen. Versuche hierüber stellt man am besten in der Weise an, daß man zwei möglichst obertonfreie Töne anfänglich unison stimmt und dann mit dem einen die Tonleiter hinauf geht. Es zeigt sich dabei!); daß der erste Differenzton bis über die Quinte hinaus gut und laut zu hören ist, weiterhin aber schwächer wird und bei der großen Septime erlischt. Er taucht auch bei fortgesetzter Vergrößerung des Intervalls über die Oktave hinaus, wobei er der Rechnung nach zwischen die Primärtöne fällt, nicht wieder auf. Sog. zwischenliegende Differenztöne sind also, sofern sie nicht etwa durch gleich hohe, von Obertönen herstammende Differenz- töne höherer Ordnung vorgetäuscht werden, nicht hörbar, wenigstens nicht bei der gewöhnlichen Art der Beobachtung. Unter Anwendung besonderer Versuchsbedingungen sind sie nach Krueger?) allerdings zu vernehmen, aber jedenfalls „erheblich leiser und undeutlicher als Differenztöne derselben Ordnung bei Klängen innerhalb der Oktave“. Max Meyer), der sich viel mit. Differenztönen-beschäftigt hat, unter- suchte Klänge von Stimmgabeln auf Resonanzkasten. Es wurden beim Inter- vall 4:5 die Differenztöne 1, 3 und gelegentlich 6 gehört. 5:6 ergab 1, 3, 4, (7). 4:7 ließ die Töne 6, 5, 3, 1 und 6:7 die Töne 5, 4, 1 hören. Bei 7:8 wurden 6, 5, (4), 1 und bei 8:9 außer 1 noch 7, 6, 5 vernommen. Bei 9:10 war 7, 6 und 1 stark, 8 zuweilen deutlich. Das Verhältnis 16:17 ergab außer 1 nur 10 und 12, der Dreiklang 5:6:16 lediglich, aber sehr stark 1. Dagegen wurden beim Molldreiklang 10:12:15 neben den Primär- tönen die den Zahlen 1, 2, 3, 5, 6, 7, 8, (9) entsprechenden Kombinations- töne gehört. Meyer betont zwar, daß Obertöne der Gabeln mit bloßem Ohre nicht hörbar gewesen seien; dennoch glaube ich, daß seine Ergebnisse, die übrigens zum Teil mit der Stärke der Primärtöne variierten und die ich nicht durchweg bestätigen kann, der Hauptsache nach auf die Mitwirkung von Obertönen zurückzuführen sind. Wenn Meyer zu dem Schlusse kommt, man könne nur durch das Experiment ermitteln, welche Differenztöne einen gegebenen Zweiklang begleiten, und dürfe sich nie auf irgend eine Regel verlassen, so möchte ich für meine Person hierin ihm beistimmen. Krueger !) Vgl. meine Abhandlungen in Pflügers Arch. 78, 517 ff. und 83, 76, 1900. — 2) Wundts Philos. Stud. 17, 208 ff., 1901. — °) Über Kombinationstöne usw. Ber- liner Diss. 1896; auch Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 11, 177 und ebenda 16, 1, 1898. Summationstöne. 529 dagegen hat in der eben erwähnten Abhandlung auf Grund seiner systema- tischen Beobachtungen über Zweiklänge als im allgemeinen gültig den Satz aufgestellt, daß zwei annähernd gleich starke Primärtöne von mittlerer Lage einen Summationston nebst vier bis fünf Differenztönen erzeugen und daß diese Kombinationstöne nicht an das Dasein von Obertönen gebunden sind; die Tonhöhen der Differenztöne seien dabei derart zu berechnen, daß man zunächst die Schwingungszahlen der Primärtöne und dann fortgesetzt die beiden kleinsten Schwingungszahlen voneinander subtrahiere. Wie man sieht, sind die Ansichten über die Zahl und die Stärke der Kombinationstöne, welche irgend ein bestimmtes Intervall erwarten bzw. hören läßt, recht different, was offenbar in der Verschiedenheit der jeweiligen objektiven und subjektiven Beobachtungsbedingungen seine Ursache hat. Um so weniger Zweifel herrscht dafür bezüglich eines anderen, hier noch zu er- wähnenden, weil theoretisch wichtigen, Punktes; ich meine die Tatsache, daß die Kombinationstöne sich in Zusammenklängen ganz wie primäre Töne ver- halten. Ein Differenzton, der einem anderen Differenzton oder einem primären der Höhe nach hinreichend nahe kommt, schwebt mit demselben, und bei geeigneter Höhendistanz verschmelzen, wie wenigstens Krueger!) behauptet, zwei Differenztöne (oder ein Differenzton und ein Primärton) zu einem Zwischenton, gerade wie zwei Primärtöne es unter den gleichen Umständen tun würden. Krueger weist zugleich darauf hin, daß die mit der Ver- schmelzung zweier Differenztöne zu einem Zwischenton verbundene Höhen- änderung als Erklärung dienen könne für die von einzelnen Autoren gemachte merkwürdige Angabe, sie hörten Differenztöne zuweilen bis um einen halben Ton zuhoch. Ein dem Musiker bekanntes Beispiel für Differenztonschwebungen sind die Stöße der Töne A—t und 2t—h, welche auftreten, wenn h und t eine verstimmte Quinte bilden. Bei genügend großem und sonst passendem Inter- vall erzeugen zwei Kombinationstöne oder ein Kombinations- und ein primärer Ton auch einen neuen Kombinationston. Die Summationstöne sind bei weitem weniger leicht zu vernehmen als die Differenztöne. Helmholtz hörte sie bei Benutzung von Stimm- gabeln mit Resonanzröhren nur mit großer Mühe. Besser gelang es ihm mit Orgelpfeifen, zumal wenn das Ohr den Mundöffnungen derselben genähert wurde. Sehr deutlich waren sie am Harmonium, und als ganz besonders geeignet zu ihrer Erzeugung erwies sich die Helmholtzsche Doppel- sirene?), die sogar Summationstöne zweiter Ordnung hören ließ. Von den späteren Forschern haben manche überhaupt niemals Summationstöne bemerken können, wovon verschiedene in der Literatur sich vorfindende Mitteilungen Zeugnis ablegen. Am deutlichsten spricht sich in diesem Sinne Hermann ) aus, indem er sagt, die Summationstöne würden von vielen auch unter den günstigen Bedingungen, welche die Doppelsirene darbiete, nicht wahr- genommen, und speziell ihm selbst sei es nie geglückt, sie zu hören oder jemand zu finden, der es vermocht hätte. Andere Autoren haben betont, daß die Summationstöne nur durch Instrumente mit scharfer Klangfarbe, also mit !) Vgl. Wundts Philos. Stud. 17, 187 und 207. — ?) Über Bau und Verwendung derselben vgl. Lehre v. d. Tonempf. (5), 8. 269. und Beilage 13. — ?) Pflügers Arch. 49, 500, 1891. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 34 530 Summationstöne als Differenztöne höherer Ordnung. vielen Obertönen, und nicht in hohen Lagen hervorgebracht würden. So G. Appunn, den Preyer!) zitiert. Preyer selbst stimmt ihm zu, ab- gesehen von einem Ausnahmefall, der darin bestand, daß auch Gabeln mit Kautschukringen, welche die harmonischen Obertöne abdämpfen sollten, bei starkem Tönen Summationstöne ergaben; aber diese Ausnahme ist insofern zweifelhaft, als, wie man jetzt weiß, die Kautschukringe den erwähnten Effekt nur in sehr beschränktem Maße haben. Stumpf?) konnte ebenfalls die Summationstöne, die er am Harmonium, an der Sirene und an Zungenpfeifen, nicht aber bei Flötenpfeifen beobachtete, von den Obertönen herleiten und sie somit für Differenztöne höherer Ordnung erklären. Daß dies rechnungsmäßig angängig ist, darauf haben schon Röber (1856), R.Fabri (1860), G. Appunn?) u.a. aufmerksam gemacht mit dem Hinweis, daß 2 — (h—t) =h-+t sei. Auch R. Koenig) ist dafür ein- getreten, daß die Summationstöne im allgemeinen von Obertönen herrührten, verfuhr aber ungenau hinsichtlich der Bestimmung der betreffenden Obertöne. Da ein jüngerer Autor ihm hierin gefolgt ist, dürfte es nützlich sein, an dieser Stelle einige Formeln zur Ableitung der Summationstöne mitzuteilen, nämlich: (1) . .. h+t=h+t+ah—ahodrh+t=ah—[(a — 1)h—1t] 2) . .». h+t=h+t+at—at oder h+t=at— [(a— 1)t—h] (3) . .. kh+t=h+tt+ah—ah+at—atoderh+t — [ah — (a — 1)1] — [(a— 1)h— at] (4)... h+t=h+t+ah—ah-+bt—bioderh+t = [ah — bt] — (a—1)h— (b+1)1] 65) ah—bt;ht+t—=h+t+tah—bt ode Att—= (a+ 1)h— b— Vi (6) h—bt; h+t—=h+t+bt — ah oder h+t —(b-+1)t— (a—1)h Diese Formeln, die übrigens zum Teil auf zwischenliegende Differenz- töne führen, sind nur anwendbar, sofern die vorkommenden Differenzen positiv sind. Außerdem müssen a und b selbstverständlich ganze Zahlen sein. Eine Entscheidung darüber, ob wirklich zwei Primärtöne ohne Mit- wirkung von Obertönen einen Summationston hervorzubringen vermögen, wäre etwa in der Weise zu versuchen, daß man von sämtlichen Tonpaaren, welche rechnungsmäßig einen Summationston als Differenzton höherer Ordnung ergeben würden, je einen Ton durch Interferenz beseitigte.e Krueger’) be- richtet über einige hierauf bezügliche Experimente. Allein dieselben sind alle deswegen unzureichend, weil dabei immer nur ein einzelner Oberton berücksichtigt worden ist. Bis auf weiteres wird man daher mit der übrigens keineswegs unwahrscheinlichen Möglichkeit zu rechnen haben, daß es sowohl echte wie unechte Summationstöne gibt. Wenn man eine aus zwei Grundtönen h und { nebst diversen Obertönen durch einfache Superposition zusammengesetzte Klangwelle nach Fourier Y) Wiedemanns Ann. 38, 131, 1889. — ?) Tonpsychol. 2, 255, 1890. — °) Ant. Appunn hat später der Auffassung seines Vaters G. Appunn, daß die Summa- tionstöne Differenztöne höherer Ordnung seien, in einer übrigens nicht ganz ein- wandfreien Untersuchung (Wiedemanns Ann. 42, 338 bis 343, 1891) direkt wider- sprochen. — *) Pogg. Ann. 157, 217 ff., 1876. Experiences d’acoustique, Paris 1882, p- 124 ff. — °) Wundts Phil. Stud. 17, 278 #., 1901. Objektive und subjektive Kombinationstöne. 531 zerlegt, so erhält man weder einen Differenz- noch einen Summationston. Da das Ohr ebenso analysiert und doch Kombinationstöne hört, so müssen für diese besondere, gleichsam eine Tonquelle für sich bildende Existenzbedingungen vorhanden sein. Bei der Helmholtzschen Doppelsirene, dem Harmonium, den Appunnschen Zungenkasten und — wie ich kürzlich in einer noch un- veröffentlichten Untersuchung fand — auch bei laut tönenden Telephon- sowie gewissen anderen Membranen bestehen dieselben in physikalischen Verhält- nissen. Denn die Kombinationstöne der genannten Instrumente bringen gleich- gestimmte Resonatoren zum Mitschwingen. Für Harmoniüm und Doppel- sirene hat Helmholtz!) dies zuerst gezeigt und folgendermaßen erklärt. Das Wesentliche ist, daß beide Primärtöne durch Anblasen aus einem gemeinsamen Windraume erzeugt werden. Die in demselben enthaltene Preßluft wird durch die Töne stark erschüttert und durch jede Öffnung Luft geblasen, die schon durch den anderen Ton in schwingende Bewegung versetzt ist, also nicht mit gleichmäßiger, sondern mit periodisch zu- und abnehmender Stärke austritt. Wenn aber die Amplitude einer Tonbewegung in solcher Weise schwankt, so geht der einfache Ausdruck für die Bewegung mit konstanter Amplitude: q=B [1 — sin 2rnt] “ über in: q= B, [1 — sin 2amt] [1 — sin 2unt] —= B, [1 — sin 2umt — sin 2runt + os 27 (m — n)t — 5 02. (m + n)i] und es werden somit außer den primären Tönen m und n auch die Kom- binationstöne m + n und m — n gehört werden; genauer genommen entstehen sogar noch mehr Töne, da der Vorgang in Wirklichkeit viel komplizierter ist, als die vorstehende Gleichung zum Ausdruck bringt. (Dieselbe entspricht überdies auch insofern nicht ganz den Tatsachen, als nach ihr auch zwischen- liegende Differenztöne hörbar und die Summationstöne ebenso laut sein müßten. wie die Differenztöne.) Doppelsirene, Harmonium, Zungenkasten und die erwähnten Membranen sind nun aber bis jetzt die einzigen Instrumente, welche außerhalb des Ohres nachweisbare, also objektive, Kombinationstöne geben. Die Differenz- und Summationstöne anderer Tonquellen sind als ausschließlich im Ohre ent- stehende, also subjektive, Töne anzusehen, da es verschiedenen Forschern ?) trotz Anwendung feiner Reaktionsmethoden nicht gelungen ist, ihre Existenz in der Luft zu konstatieren. !) Lehre v. d. Tonempfindungen (5), 8. 259 f. u. Beilage 16. Weitere Abhand- lungen über den physikalischen Nachweis der Kombinationstöne sind: O. Lummer, Verhandl. d. Berl. physik. Gesellsch. 1866 (7. Juli), S. 66. Rücker u. Edser, Philos. Magaz. 39, 341 bis 357, 1895. (Diese Autoren sind auch für die Existenz echter, nicht als Differenztöne zu betrachtender objektiver Summationstöne ein- getreten.) Forsyth and Sowter, Proceedings of the Roy. Soc. of London 63, 396, 1898. K. L. Schaefer,. Pflügers Arch. 78, 519, 1900. — *) R. Koenig, Pogg. Ann. 157, 221, 1876; W. Preyer, Akustische Untersuchungen, Jena 1879, 8. 13 ff.; M. Wien, Wiedemanns Ann. 36, 853, 1889; Hermann, Pflügers Arch. 49, 516, 1891; Rücker u. Edser, Philos. Mag. 39 (1895); Forsyth and Sowter, Proc. Roy. Soc. London 63 (1898); Krueger, Wundts Philos. Stud. 17, 218, 1901. 34* 532 Objektive und subjektive Kombinationstöne. — Variationstöne. Besitzen wir somit im Ohre einen Mechanismus, durch welchen Kom- binationstöne den von außen kommenden Primärtönen gewissermaßen hinzu- gefügt werden, so ist zu erwarten, daß beim Angeben eines Primärtonpaares auf dem Harmonium oder etwa der Doppelsirene neben den objektiven Differenz- und Summationstönen auch subjektive gehört werden. Das ist denn auch in der Tat der Fall und es ist besonders bemerkenswert, daß die objektiven Töne dabei dieselben sind wie die subjektiven. An und für sich wäre es ja möglich, vielleicht gar wahrscheinlicher, daß der physikalische Prozeß im Harmonium Kombinationstöne von anderer Zahl und Höhe her- vorriefe als die entsprechende physiologische Einrichtung. Indessen trifft dies, wie gesagt, nicht zu, wenigstens nicht nach den bisherigen, freilich noch keineswegs erschöpfenden, Erfahrungen. Soviel wir wissen, wird jeder gehörte Kombinationston des Harmoniums (und der anderen analog funk- .tionierenden Apparate), falls er nicht überhaupt zu schwach ist, um einen Resonator zu erregen, auch durch einen solchen verstärkt, und wenn man während der Beobachtung des Kombinationstones im Resonator den Versuch derart modifiziert, daß jeder der beiden Primärtöne von einem gesonderten Windraum aus angeblasen wird !), so verstummt der Resonator alsbald, der betreffende Kombinationston, klingt aber, nunmehr subjektiv und übrigens nur wenig geschwächt, weiter. Speziell in der früher erwähnten Beziehung, daß der erste Differenzton zweier Primärtöne, wenn deren Höhendistanz sich der großen Septime nähert, sehr schwach wird und bei weiterer Vergrößerung des Intervalls unter den gewöhnlichen Bedingungen für das Ohr ver- schwindet, fand ich ?) eine so gut wie vollkommene Übereinstimmung zwischen den objektiven und den subjektiven Differenztönen. . Dieses Verhalten spricht von den vorneherein dafür, daß die entotischen Kombinationstöne auf ähnliche Weise physikalisch zu Stande kommen wie die objektiven außer- halb des Ohres.. Auf ihre Entstehung wird im Abschnitte V zurück- zukommen sein. c) Die Variations- und sog. Unterbrechungstöne. Schon im Jahre 1844 ist von Seebeck in seiner Abhandlung über die Definition des Tones°) eine Überlegung darüber angestellt worden, was ge- schieht, wenn die Amplitude eines einfachen Tones von der Schwingungs- zahl n nicht konstant bleibt bzw. in gleichmäßigem Abklingen sinkt, sondern m mal pro Sekunde pendelperiodisch auf und ab schwankt. Er kam zu dem Ergebnis, daß dann neben dem Tone n noch die Töne n + m und n — m auftreten müßten, verfolgte aber den Gegenstand nicht experimentell. Dies hat erst Helmholtz) getan, der darüber Nachstehendes mitteilt: „Der untere Kasten meiner Doppelsirene klingt stark mit, wenn die Gabel «! vor seine untere Öffnung gehalten wird und die Löcher alle gedeckt sind, nicht aber, wenn die Löcher einer Reihe offen sind. Läßt man nun die Sirenen- scheibe rotieren, so daß die Löcher abwechselnd offen und gedeckt sind, so erhält man eine Resonanz der Stimmgabel von periodisch wechselnder Stärke. !) Vgl. Lehre v. d. Tonempf. (5), 8.261 u. meine Abhandlung in Pflügers Arch. 83, 74. — ?) Pflügers Arch. 78, 521 u. 83, 76, 1900. — °) Pogg. Ann. 63, 365 f. — *) Lehre von den Tonempfindungen (1), 8. 597, 1863. u EM Variationstöne. — Theorie und Versuche. 533 Ist n die Schwingungszahl der Gabel, m die Zahl, welche angibt, wie oft ein einzelnes Loch des Kastens geöffnet wird, so ist die Stärke der Resonanz eine periodische Funktion der Zeit, also im einfachsten Falle zu setzen gleich 1 — sin 2 mt. Die Schwingungsbewegung der Luft erhält also dann die Form!) : i : 1 (1 — sin 2rmt) sin Annt = sin 2nnt + Fr cos 2a (m + n)t 1 ar Ylası 2u (n — m)t und man hört deshalb außer dem Tone n auch noch die Töne m + n und n — m. Dreht sich die Sirenenscheibe langsam, so ist m sehr klein, und die genannten Töne sind einander sehr nahe, so daß sie Schwebungen geben. Bei rascher Drehung dagegen trennt sie das Ohr.“ Solche Töne von der Form n + m und n — m pflegt man gegenwärtig als Variationstöne zu bezeichnen. Dieser Ausdruck stammt von Radau?), welcher in ähnlicher Weise wie Seebeck und Helmholtz berechnete, daß der Ton einer rotierenden Klangplatte sich unter gewissen Bedingungen in einen höheren und einen tieferen spalten müsse. Stefan?) bestätigte Radaus rein theoretische Deduktion durch Versuche folgender Art. Dreht man eine tönende Scheibe vor dem Ohre, so daß nacheinander ihre vier Ab- teilungen demselben gegenüber zu stehen kommen, so hört man den Ton bei jeder Umdrehung viermal anschwellen und verlöschen. Bei langsamer Drehung schwebt der Ton, bei schnellerer tritt allmählich die Spaltung ein. Dieselbe Erscheinung zeigt sich, wenn man eine Stimmgabel in eine Zentri- fugalmaschine oder Drehbank einspannt, anstreicht und vor dem Öhre rotieren läßt. Desgleichen kann auch eine Glocke zu diesem Zwecke benutzt werden. Die bequemste Methode zur Erzielung von Variationstönen ist aber ein ziemlich gleichzeitig von Mach und Stefan?) gefundenes und benutztes Verfahren, welches darin besteht, daß man vor einer klingenden Gabel eine Scheibe mit kreisförmig angeordneten, gleich großen und gleich weit vonein- ander abstehenden Löchern rotieren läßt. Jedesmal, wenn eine der Öffnungen die Gabel passiert, wird der Ton wie durch einen Resonator verstärkt; man erhält also in der Sekunde so viel Tonstöße, wie Löcher an der Gabel vorüber- kommen, und kann die Anzahl derselben durch Wechsel der Umdrehungs- geschwindigkeit leicht beliebig variieren. Wenn die eben erwähnte mathematische Ableitung der Variationstöne richtig, ist, woran kaum zu zweifeln sein dürfte, so sind dieselben physikalisch bedingte, objektive Töne. In der Tat bringen sie denn auch Resonatoren zum Mittönen, wie schon von Stefan und Beetz in vereinzelten Fällen und neuerdings in größerem Umfange von mir und Abraham) gezeigt worden ist. Unter diesen Umständen haben die Variationstöne an sich keine beson- dere theoretische Bedeutung für die Physiologie des Hörens; wohl aber gilt dies von gewissen Tönen, welche die Variationstöne unter geeigneten Be- - !) Im Original steht irrtümlicherweise am Schlusse der Formel: (m + n)t. — 2) Moniteur scientifigue 1865, p. 430 und 1866, p. 792. — °) Sitzungsber. d. k. k. Akad. d. Wissensch. z. Wien., mathem.-naturw. Kl., 53 (2), 696 und 54 (2), 598, 1866. — *) Pflügers Arch. 88, 482, 1901. 534 Die sog. Unterbrechungstöne und ihre richtige Deutung. dingungen begleiten, und denen nach unserer oben gewählten Bezeichnung die Schwingungszahl m zukommt. Woher kommen diese Töne? Am nächsten liegt es meines Erachtens, sie als Kombinationstöne anzusehen. Sowohl der höhere Variationston und der primäre Ton als auch der Primärton und der tiefere Variationston ergeben m als Differenz ihrer Schwingungszahlen, und der Höhenunterschied der beiden Variationstöne ist gleich 2m. Wenn daher ein Primärton mit seinen Varia- tionstönen zusammen erklingt, so wird man, der Differenztonbildung günstige Verhältnisse selbstverständlich vorausgesetzt, geradezu mit Bestimmtheit er- warten müssen, daß der zweifach bedingte und eventuell durch seine Oktave 2 m verstärkte Differenzton m hörbar sei. Demgemäß hat auch A.M. Mayer!), als er den intermittierenden Klang einer c?-Gabel beobachtete und dabei außer dem Primärtone c? und den Variationstönen e? und g! noch ein c® hörte, diesen letzteren Ton (den er übrigens in der beigefügten Notenübersicht falsch angibt) als Differenzton der Variationstöne und des Gabeltones aufgefaßt. Dagegen haben viele andere Akustiker und Psychophysiker, namentlich R. Koenig, diese sozusagen natürlichste Erklärungsmöglichkeit übersehend oder ignorierend, Gewicht darauf gelegt, daß m gleich der Anzahl der Stöße pro Sekunde ist, in welche der Primärton durch die Versuchsanordnung zerlegt wird, und den Ton m dahin interpretiert, daß er ein Unter- brechungston sei. Diese Autoren sind nämlich der Ansicht?), daß das Ohr einen Ton von der Schwingungszahl x nicht nur dann vernimmt, wenn es von %& Pendelschwingungen pro Sekunde getroffen wird, sondern auch, wenn ein anderer Ton von der Schwingungszahl y durch & innerhalb der Sekunde in gleichen Zeitabständen aufeinanderfolgende Pausen oder Intensitätsremissionen unterbrochen wird, und bezeichnen einen solchen Ton x eben als Unter- brechungston. Koenig?) konstatierte, als er nacheinander verschieden hohe Gabeln vor eine rotierende Löcherscheibe hielt, daß der „Intermittenzton“ bei den tieferen Gabeln schwach war und neben den Variationstönen sehr zurücktrat, bei den höchsten und sehr starken Gabeln (c* und c°) aber eine große Intensität hatte, während hier die Variationstöne kaum oder gar nicht hörbar waren. Abraham und ich?) konnten die Richtigkeit dieser Beobachtung bestätigen. Dieselbe widerspricht auf den ersten Blick scheinbar, aber auch nur scheinbar, der Auffassung des 'Tones m als eines Kombinationstones. Tiefe Gabeln geben entsprechend tiefe Variationstöne, und die Differenztöne tiefer Töne sind, wie schon hervorgehoben wurde, viel schwächer als solche hoher Primärtöne. Wenn also m bei der Anwendung tieferer Gabeln nur leise neben den relativ lauten Variationstönen gehört wird, so ist das gewiß kein Beweis gegen seine !) Americ. Journ. of Science and Arts 9, April 1875. — ?°) Die wichtigsten Arbeiten, in welchen dieselbe vertreten worden ist, sind: R. Koenig, Pogg. Ann. 157, 177#£., 1876 und Quelques experiences d’acoustique 9, Paris 1882, Dennert, Arch. f. Ohrenheilk. 24, 171 ff. L. Hermann, Pflügers Arch. 56, 485 ff., 1894. (Siehe auch Hermanns verschiedene Abhandlungen zur Vokalfrage in Pflügers Arch.) W. Wundt, Philos. Stud. 8, 641 ff., 1893. [Neuerdings hat aber Wundt diesen Standpunkt zugunsten der von mir und Abraham gegebenen Erklärung der Unterbrechungstöne verlassen. (Grundzüge der Physiolog. Psychol. (5), 2, 1902.)]| Ebbinghaus, Grundzüge der Psychol. 1, 312, 1902. — *) Pflügers Arch. 88, 475, 1901. Die sog. Unterbrechungstöne und ihre richtige Deutung. 535 Differenztonnatur. Wenn andererseits die Gabeln c* und c? bei mäßiger Um- drehungsgeschwindigkeit der Scheibe keine Variationstöne hören lassen, so kommt dies einfach daher, daß die Variationstöne dem Gabelton zu nahe liegen, um durch das Ohr analytisch von ihm getrennt zu werden. Vorhanden sind sie darum doch, und dann liegt kein Grund vor, den hier kräftigen Ton m nicht als ihren Differenzton zu betrachten. Machen doch auch zwei zugleich klingende Gabeln von den Schwingungszahlen 3200 und 3840 oder ähnliche Tonpaare durchaus den Eindruck eines einzigen Tones, während man daneben sehr laut den Differenzton hört. Wäre m tatsächlich ein „Inter- mittenzton“*, wirkte also mit anderen Worten jeder der m Tonstöße, in welche der Ton » durch die periodischen Intensitätsschwankungen verwandelt wird, wie eine einzelne, das Ohr treffende Luftverdichtung, so sollte man erwarten, daß diejenigen Gabeln, welche die lautesten Tonstöße geben, auch die stärksten „Unterbrechungstöne“ produzierten. In Wirklichkeit ist indessen eher das Gegenteil der Fall. Gerade die tieferen Gabeln erfahren durch die vorüber- passierenden Löcher der rotierenden Scheibe die kräftigste Resonanz, und gerade sie liefern die schwächsten „Intermittenztöne“. Demnach dürfte die Ansicht, daß die hier in Rede stehenden sog. Unterbrechungstöne faktisch nichts anderes als Differenztöne sind, wohl das Richtige treffen. Nun existieren aber in der akustischen Literatur noch andere Arten von „Unterbrechungstönen“. Wird nach Koenig der Löcherkreis einer Seebeckschen Sirene so eingerichtet, daß die Öffnungen nicht wie üblich gleichen Durchmesser haben, sondern periodisch an Größe zu- und wieder abnehmen, so gelangt ein Ton von periodisch wechselnder Stärke ins Ohr des Beobachters, wenn man den Kreis mit einer Röhre von der Weite der größten Löcher anbläst. Dieser Ton ist der Hauptton, dessen Höhe bekanntlich der Anzahl der pro Sekunde angeblasenen Öffnungen entspricht. Neben ihm hört man aber noch einen Ton, dessen Schwingungszahl der Zahl der Intensitätsmaxima gleichkommt und der von Koenig und seinen Anhängern wiederum als ein „Unterbrechungs- ton“ aufgefaßt worden ist, welcher nur dadurch erklärbar sei, daß das Ohr eben jede Art von Periodik als Ton perzipiere. Demgegenüber habe ich!) in Gemeinschaft mit O0. Abraham gezeigt, daß die „Unterbrechungstöne“ dieser Form Resonatoren zum Mitschwingen bringen. Sie sind also physi- kalischen Ursprungs, und es ist nichts unmotivierter, als ihretwegen dem Öhre die Fähigkeit der Wahrnehmung von Tönen zuzuschreiben, denen keine pendelförmigen Schwingungen zugrunde liegen. Zu dem gleichen Resultate führten unsere Versuche?) mit solchen „Unterbrechungstönen“, welche ent- stehen, wenn man eine Sirenenscheibe anbläst, deren Löcherkreis aus alter- nierenden gleich großen Gruppen von offenen und verstopften Löchern besteht, oder wenn man auf einem rotierenden Zahnrade, an welchem in gleichen Ab- ständen einzelne Zähne fehlen, ein Kartenblatt schleifen läßt. Bei dieser Untersuchung ergab sich ferner, daß die von Hermann?) beobachteten Phasenwechseltöne ebenfalls objektive Töne sind und mit den zuletzt er- wähnten „Unterbrechungstönen“ auf einer Stufe stehen. ») Pflügers Arch. 83, 209, 1901. — ?) Ebenda 83, 207 u. 85, 536 ff., 1901. — g ®) Ebenda 56, 489 ff., 1894. 536 Die sog. Unterbrechungstöne und ihre richtige Deutung. Auch auf elektro-akustischem Wege hat man versucht, Tonunter- brechungen zu erzielen; so Zwaardemaker in seiner Arbeit über Inter- mittenztöne!). Derselbe verband ein Blakesches Mikrophon mit einem oder zwei Leclanche-Elementen und der primären Spirale einer kleinen In- duktionsspule zu einem Stromkreise, während die sekundäre Spirale zu einem Telephon führte. Diese sekundäre Kette konnte durch eine elektrisch getriebene Stimmgabel 64 mal in der Sekunde geöffnet und geschlossen werden. War sie dauernd geschlossen, während durch das Mikrophon ein Ton auf das Telephon übertragen wurde, so hörte man nur diesen Hauptton. Funktionierte aber während seiner Beobachtung die Unterbrechungsvorrichtung, so vernahm man „ungemein schön einen kräftigen Unterbrechungston“ von 64 Schwin- gungen. War die Unterbrechungsvorrichtung im Gange, ohne daß das Mikrophon erregt wurde, so war von dem Tone 64 so gut wie nichts zu hören. Zwaardemaker ist nicht zu voller Klarheit darüber gelangt, ob sein „Intermittenzton“ physikalisch oder physiologisch bedingt war. Abraham und ich?) haben seine Versuche in größerem Umfange und teilweise in etwas veränderter Form wieder aufgenommen, wobei vor allem dafür gesorgt ward, daß die Schwingungszahlen der Haupttöne und die Frequenz der Unter- brechungen in möglichst weiten Grenzen variiert werden konnten. Es ergab sich, daß die Angaben Zwaardemakers ungenau sind und die Verhältnisse in Wirklichkeit folgendermaßen liegen. Der Hauptton wird durch die Inter- mittenzen im allgemeinen geschwächt oder ganz zum Verschwinden gebracht und an seiner Stelle ein mehr oder weniger komplizierter Klang im Telephon gehört. Dieser Klang enthält einen oder zwei charakteristische Teiltöne, deren Schwingungszahlen in gesetzmäßiger Weise von der Höhe des Haupt- tones und der Anzahl der Unterbrechungen pro Sekunde abhängen und unter ganz speziellen Bedingungen, also gewissermaßen nur ausnahmsweise, der Anzahl der Unterbrechungen gleich werden. Unter allen Umständen handelt es sich dabei um objektive Töne, deren physikalische Herkunft sich leicht und evident durch Resonanzversuche erweisen läßt und deren Erklärung also kein physiologisches Problem ist. IV. Von den Tonempfindungen in musikalischer Beziehung. Wenn wir von irgend einem Ton mittlerer Höhe, z.B. vom a' mit 435 Schwin- gungen®), ausgehend den nächst höheren und nächst tieferen, von a! eben unter- scheidbaren Ton aufsuchen, so gelangen wir nach dem früher über die Unterschieds- empfindlichkeit in dieser Region Mitgeteilten etwa zu den Schwingungszahlen 434,6 und 435,4 und schreitet man in gleicher Weise einerseits abwärts, andererseits aufwärts weiter, so erhält man schließlich die ganze Reihe der physiologisch nebeneinander möglichen Töne, bezogen auf den Ausgangston 435. Eine derartige Serie von Tönen, deren jeder von seinen beiden Nachbarn eben merklich verschieden ist, !) Arch. f. Anat. u. Physiol., physiolog. Abteil., Supplementband 1900, 8. 60. — ?) Drudes Ann. d. Physik 13, 996, 1904. — °) Das eingestrichene « ist der sogenannte Kammerton, die Normaltonhöhe, nach der die Instrumente des Orchesters gemeinsam gestimmt werden. Die Schwingungszahl des Kammertones ist im Laufe der Zeit öfter gewechselt worden. Nach der Pariser Stimmung von 1788 war sie 409, nach der älteren Mozartstimmung etwa 421 usw. Gegenwärtig wird das a! meist zu 435 Schwingungen genommen. N. Wu un Physiologische und musikalische Tonreihen. — Konsonanz; Dissonanz. 537 besteht aus einer sehr großen Menge von Gliedern. Allein die eingestrichene Oktave würde mehr als 1200 einzelne arg umfassen. Bilden wir dagegen von a!’ aus nach oben und unten die Reihe der musi- kalisch in Betracht kommenden Töne, so ergibt sich eine viel geringere Anzahl. Die tiefsten und höchsten physiologischen Töne benutzt die Musik überhaupt nicht und von den übrigen nur solche, deren Schwingungszahlen zueinander in bestimmten Verhältnissen stehen. Eine Oktave des temperierten Klaviers enthält nur 12, nicht 1200, verschiedene Töne. Die wichtigsten Schwingungszahlenverhältnisse oder Intervalle sind: Prime (1:1), Sekunde (8:9), kleine Terz (5:6), große Terz (4:5), Quarte (3:4), Quinte (2:3), kleine Sexte (5:8), große Sexte (3:5), kleine Septime (5:9), große Septime (8:15). Jeder einigermaßen musikalische Hörer wird diese und andere Intervalle voneinander unterscheiden und ein und dasselbe Intervall, sagen wir die große Terz, als solche erkennen, mag sie in der kleinen oder zwei- gestrichenen Oktave angegeben werden, mag sie aus den Tönen e und e oder g und %h bestehen. Es kommt eben nur auf das Verhältnis der Tonhöhen, nicht auf die absoluten Werte, d. h. auf die Lage der Töne in der Tonskala, an, sofern es sich nicht gerade um obertonarme tiefste oder ganz hohe Töne handelt, denen gegenüber unser Intervallurteil ebenso versagt wie die Unterschiedsempfindlichkeit. a) Konsonanz und Dissonanz. Unsere musikalische Auffassung teilt die Intervalle in zwei Gruppen ein, inkon- sonante und dissonante. Schon in der griechischen Musiklehre, welche auf die Pythagoreer, vielleicht gar auf ägyptische Einflüsse zurückgeht, wurden die „sym- phonischen“ von den „diaphonischen“ Intervallen gesondert und zu den ersteren Oktave, Quinte und Quarte, zu den letzteren die anderen einschließlich der Terzen gezählt. Die Oktave wurde von jeher als die vollkommenste Konsonanz bezeichnet, während sich im übrigen die Anschauungen über die Grade der Konsonanz in der historischen Entwickelung der Musik wiederholt verschoben haben. Die heutigen- tags dem allgemeinen Geschmack am besten gerecht werdende Reihenfolge der . Konsonanzen dürfte folgende sein: Oktave, Quinte und Quarte, große Terz und große Sexte, kleine Terz und kleine Sexte. Als Ursache der Konsonanz ist vielfach die relative Einfachheit der Schwin- gungszahlenverhältnisse der konsonanten Intervalle angesehen worden; so von Descartes, Leibniz und Euler. Leibniz nannte die Musik geradezu ein ver- borgenes Rechnen des Geistes, welcher zwar nichts von der Zählung wisse, aber doch das Ergebnis als ein Vergnügen bei den Konsonanzen und als Mißvergnügen bei den Dissonanzen fühle. Daß derartige Hypothesen das Verlangen nach einer positiven Erklärung nicht zu befriedigen vermögen, liegt auf der Hand. Außerdem erheben sich sofort Einwände. Warum bleiben z.B. ganz schwache Verstimmungen von Konsonanzen unbemerkt, während die Zahlenverhältnisse dabei am kompli- ziertesten sind? Weshalb spricht man nicht auch von Konsonanz und Dissonanz auf dem Gebiete der Farbenempfindungen, wo es doch ebensogut zählbare Schwingungs- verhältnisse gibt? Ähnliche Bedenken stehen der Lehre von der unbewußten Wahr- nehmung des Schwingungsrhythmus, der periodischen Koinzidenz der Tonimpulse, entgegen, wie sie neuerdings von Opelt, Engel, Polak und am präzisesten formuliert von Th. Lipps!) entwickelt worden ist. Eine exakt wissenschaftliche Begründung der Konsonanz und Dissonanz hat Helmholtz in seiner Lehre’ von den Tonempfindungen zu’ geben versucht. Nach ihm beruht die Dissonanz auf einer durch merkbare Schwebungen verursachten Störung im glatten Flusse des Klangeindruckes. „Dissonanz ist eine intermittierende Tonempfindung“, und jede „intermittierende Erregung greift unsere Nervenapparate heftiger an als eine gleichmäßig andauernde‘. Je weniger rauh und unangenehm ein Zweiklang durch Schwebungen von Partial- oder auch Kombinationstönen gemacht wird, um so mehr nähert er sich der Konsonanz, die „eine kontinuierliche ‘) Psychol. Studien, 1885. 538 Konsonanztheorien von Helmholtz, Stumpf u. A. Tonempfindung“ ist. Die Konsonanz hängt aber bei Helmholtz auch mit der Klangverwandtschaft zusammen. Zwei Grundtöne sind um so verwandter, je mehr gemeinschaftliche Obertöne sie haben. Im höchsten Maße gilt dies von Grundtönen, die im Oktavenverhältnisse stehen, da in diesem Falle die Teiltöne beider Klänge sich decken. Hierbei sind Obertonschwebungen ganz ausgeschlossen und ist die Konsonanz die größtmögliche. Schreitet man in der Reihe der ab- nehmenden Konsonanzen, Quinte, Quarte, Terz, fort, so nimmt auch von Stufe zu Stufe die Zahl der koinzidierenden Öbertöne ab, während die Möglichkeit von Teiltonschwebungen mehrfach vorhanden ist. Die Verringerung der Konsonanz geht also mit der Verringerung der Verwandtschaft parallel. Wie die Helmholtzsche Theorie Vorläufer gehabt hat, so ist sie auch nicht ohne Kritiker geblieben. Der hervorragendste und sorgfältigste unter den letzteren ist C.Stump£f'). Gegen die Definition, Konsonanz sei eine kontinuierliche, Dissonanz eine intermittierende Tonempfindung, macht er in erster Linie geltend, daß ein Tremolo mit Oktaven oder mit Quinten diese Intervalle in intermittierende, aber nicht in dissonante verwandle. Es gibt also Intermittenzen ohne Dissonanz, ebenso aber auch Dissonanz ohne Schwebungen. So liefert eine Stimmgabel von 500 Schwingungen mit einer von 700 oder diese mit einer von 1000 eine Dissonanz, ohne daß von Schwebungen oder Rauhigkeit etwas zu bemerken wäre. Ein sehr bequemes Mittel, Dissonanz ohne Schwebungen herzustellen, und zwar auch schon bei Ganzton- und Halbtonintervallen, bietet ferner die Verteilung zweier Stimm- gabeln an beide Ohren, bei welcher, passende Wahl der Gabeln und des Anschlages vorausgesetzt, die Rauhigkeit verschwindet, die Dissonanz aber bleibt. Endlich ist zu erwähnen, daß Schwebungen auch bei konsonanten Intervallen vorkommen, die trotzdem nicht dissonant werden, und daß wohl die Art der ein und dasselbe Intervall begleitenden Schwebungen, nicht aber der Dissonanzgrad mit der Höhen- lage des Intervalles wechselt. Die Schwebungen haben wohl einen Einfluß auf den Grad der Annehmlichkeit, auf die Gefühlswirkung eines Klanges, nicht aber auf die Dissonanz. Auch dem zweiten Merkmal der Konsonanz bei Helmholtz, dem Zusammenfallen der Teiltöne, das überdies nur für gleichzeitige Klänge, nicht für aufeinanderfolgende, in Betracht kommt, muß nach den Darlegungen Stumpfs eine entscheidende Bedeutung abgesprochen werden. Denn hiernach wäre der Kon- sonanzgrad irgend eines bestimmten Intervalles von der Klangfarbe abhängig, was mit den musikalischen Beobachtungstatsachen nicht vereinbar ist. Nach der Theorie von A. v. Oettingen?) sind verwandt (im ersten Grade) Klänge, welche entweder gleiche Teiltöne haben oder welche Teiltöne eines und desselben Grundtones sind. Im letzteren Falle spricht Oettingen von Tonizität und nennt den gemeinsamen Grundton Tonika; im ersteren Falle spricht er analog von Phonizität und Phonika. Seine Theorie gelangt dann vom Verwandtschafts- begriff zum Begriff der Konsonanz, die entweder eine tonische oder eine phonische sein kann. Allein auch hier führt die Verwendung der Obertöne zu Widersprüchen mit gewissen Tatsachen, ebenso wie die von H. Riemann aufgestellte und zur Er- klärung der Konsonanz herangezogene Untertonlehre sich nicht als stichhaltig erwiesen hat?). Eine wirklich fruchtbare Theorie der Konsonanz und Dissonanz wird definitiv von dem Zurückgreifen auf die Obertöne Abstand nehmen müssen. Während F. Krueger in einer noch nicht vollständig erschienenen Abhandlung*), worin er zum Teil an einen älteren Beitrag Preyers’) zur Theorie der Konsonanz anknüpft, wenigstens den Differenztönen, welche nach ihm unabhängig von den Obertönen sind, einen wichtigen: Einfluß auf die Konsonanz‘ oder Dissonanz eines Inter- valles zuschreibt, sucht die Theorie von Stumpf?) die Ursache der Konsonanz bzw. Dissonanz in den Empfindungseigentümlichkeiten der Grundtöne selbst ') Beiträge zur Akustik u. Musikwissenschaft 1 (1898). (Daselbst zahlreiche weitere, auch auf das Folgende bezügliche Literaturangaben.) — ?) Harmoniesystem in dualer Entwickelung, 1866. — °) Vgl. hierzu Stumpf, Beitr. z. Akustik und Musikwissensch. 1. — *) Differenztöne und Konsonanz, Arch. f. d. ges. Psycho- logie 1 u. £. — °) Akust. Untersuch., 8. 44, Jena 1879. Tonverwandtschaft und Tonleiterbildung. und findet sie in deren größerer oder. geringerer Ver- schmelzung. Unter Verschmelzung versteht Stumpf den eigen- tümlichen, graduell abgestuften Charakter der Einheit- lichkeit, welcher dem Eindruck zweier gleichzeitiger Tonempfindungen anhaftet. Auch auf dem Gebiete anderer Empfindungen, z. B. des Geruchs und Geschmacks, finde sich ähnliches, am deutlichsten aber innerhalb des Ton- sinnes. Die Folge dieses Verhältnisses ist, daß die stärker verschmelzenden Intervalle unter sonst gleichen Umständen immer schwerer analysiert werden, wofür besonders Ver- suchsreihen an Unmusikalischen Belege bieten. Der Verschmelzungsgrad eines Intervalles geht demjenigen der Konsonanz parallel. Er ist innerhalb des musikalisch in Betracht kommenden Teiles der Tonskala unabhängig von Höhenlage und Stärke der Teiltöne des Intervalles und kommt auch bloß vorgestellten Tönen zu. Die Erklärung der Verschmelzung muß nach Stumpf auf physiologischem Gebiete liegen. Man wird anzunehmen haben, daß beim gleichzeitigen Erklingen oder Vorstellen zweier Töne, deren Schwingungszahlenverhältnis relativ einfach ist, im Gehirn zwei Prozesse stattfinden, die in einer engeren Ver- knüpfung (einer spezifischen Synergie) zueinander stehen, als wenn weniger einfache Intervallverhältnisse gegeben sind. Worin das Wesen dieser spezifischen Synergie besteht, darüber läßt sich zurzeit freilich noch nichts Näheres sagen. b) Tonverwandtschaft und Leiterbildung. Im Gegensatz zu v. Oettingen leitet Stumpf die Verwandtschaft der Töne aus der Konsonanz ab. Direkt verwandt oder verwandt im ersten Grade sind zwei Töne, welche miteinander konsonieren, also in höheren Graden verschmelzen. Indirekt verwandt, und zwar verwandt im zweiten Grade, nennt Stumpf zwei Töne, deren jeder mit einem und demselben dritten Tone kon- soniert, z. B. c und % (durch g verwandt) oder e und eis (durch a oder e verwandt). Überhaupt sind immer je zwei Töne indirekt verwandt, wenn sie durch einen oder mehrere Töne untereinander derartig verbunden werden können, daß jeder Ton der Reihe mit seinen Nachbarn konsoniert, und zwar ist die Verwandtschaft dabei sovielten Grades, als konsonante Intervalle zwischen dem ersten und letzten Gliede der Reihe liegen. Wie schon oben hervorgehoben wurde, wird aus der unendlichen Zahl an sich möglicher Tonkombinationen für den musikalischen Gebrauch eine relativ kleine Anzahl fester Stufen als allein verwendbar ausgeschieden. Die Veranlassung hierzu ist die Tonverwandtschaft; sie-ist die psychologische Grundlage für die Existenz und den Aufbau der Tonleitern. In der diatonischen C-Dur-Leiter edefgahce! sind, wie man leicht sieht, alle Töne ent- weder direkt oder indirekt mit der Tonika e verwandt. So gelangt man beispielsweise von ce zu c' oder g direkt, zu ddurch einen Quintenschritt aufwärts und einen Quart- schritt abwärts oder durch zwei Quintenschritte (bis d') aufwärts und einen Oktavenschritt abwärts. In beiden Fällen erhalten wir für d dieselbe Tonhöhe, da das eine 539 no N _S 18 |& n - & S % 3 [7] > >50 5 als|x [>;} Rn rg Ss ı= wre a FL. sla>|1s ai “ un > 9 12 S ” ee 2| Ss o & 5 2 = & © Pr an Fr" on Er} Br NS 3 ti al A et IR .n © a|l»|. 2 IS & I I BT»P3 2 a Ss | SI» ag Re IE> tt = » 72 35 up S ISIS Eee ar, Ma Sg ESSEN 55 >} S al» | $ Tampere = Br a a 2 ” D | _ 540 Tonleiterbildung. Mal (ec gleich 132 Schwingungen gesetzt, was dem Kammerton 440 entsprechen 3 3 9 3. würde) d ee Fe: 132, das andere Mal d er ar |. Zug 132 ist. Gehen wir dagegen von c eine Quarte aufwärts und eine kleine Terz abwärts, so bekommen wir ein anderes d = u . 2. 1322 R - c. Ebenso resultiert ein anderes e durch den natürlichen Terzschritt 5:4, als wenn wir von € aus vier Quinten aufwärts und zwei Oktaven abwärts schreiten (pythagoreische Terz). Zwei große Terzschritte von c aus führen uns zu einem zwischen g und a gelegenen Tone gis; ein großer Terzschritt aufwärts, ein kleiner Terzschritt wieder abwärts zu cis; ein Quartschritt vorwärts und ein großer Terzschritt zurück zu des; ein kleiner Terzschritt vorwärts zu es. So entwickelt sich schließlich die auf voriger Seite stehende Leiter'). Man kann sie, um dem Bedürfnis nach einem kurzen Ausdruck zu genügen, als enharmonische Leiter bezeichnen. Sie enthält vor allem (fettgedruckt) die Töne der diatonischen Dur- und Mollleiter, wie sie aus den Dreiklängen mit großen und mit kleinen Terzen auf C, F und @ resultieren. Von Alterationen (Erhöhungen und Vertiefungen) sind nur solche aufgenommen, welche in der Musik durch ein einfaches pi oder D ausgedrückt werden. Die Wahl der Töne gründet sich auf bestimmte in der Praxis wurzelnde Überlegungen. Natürlich wären an sich noch mehr und andere Töne innerhalb der Oktave von e aus zu gewinnen gewesen, und man kommt jedenfalls zu solchen, wenn man einen anderen Ton der Leiter als ce zur Tonika und zum Ausgangston einer neuen Leiter wählt. Den zahlreichen musikalischen Intervallen, in welche sich die Oktave theore- tisch nach diesem oder einem anderen Prinzip einteilen läßt, kann man praktisch wohl bis zu einem gewissen Grade bei Benutzung solcher Instrumente gerecht werden, welche, wie die menschliche Stimme oder die Geige, keine konstanten Tonhöhen haben. Bei dem Klavier, dem Harmonium, der Orgel, überhaupt bei allen Instrumenten mit festen Tönen würde man aber zu diesem Zwecke eine verwirrende Menge einzelner Töne nötig haben. Um diesem Übelstande zu entgehen, hat man seit lange zu dem Auskunftsmittel gegriffen, alle nur wenig verschiedenen Töne, wie beispielsweise cis und des, zusammenzulegen und sog. temperierte Leitern zu bilden. So ist die Oktavenskala unseres Klaviers eine zwölfstufige gleichschwebend tempe- rierte. Sie heißt gleichschwebend, weil alle Intervalle zwischen je zwei aufein- IR. anderfolgenden Tönen gleich groß, nämlich 1: V 2, sind. Unter ungleichschweben- den Temperaturen versteht man solche, bei denen einige besonders wichtige Intervalle mathematisch rein und nur die übrigen gegeneinander abgeglichen sind. Bei diesen ist aber dafür die Abweichung von der Reinheit um so größer und störender. An den Grenzen der Wahrnehmbarkeit liegen die Unreinheiten bei der von Mercator vorgeschlagenen, von Bosanquet°) an seinem Harmonium praktisch ausgeführten 53stufigen gleichschwebenden Temperatur. c) Intervallsinn und absolutes Tonbewußtsein. Die zwölfstufige gleichschwebende Temperatur ist gegenwärtig allgemein üblich. In dieser Stimmung sind freilich die großen Terzen etwas zu groß, die kleinen zu klein; auch die Quinten sind ein wenig zu klein, obgleich die Differenz hier geringer ist. Aber es trifft sich günstig, daß eine gewisse psychologische Eigentümlichkeit hinsichtlich des Intervallurteils besteht, die uns die Abweichung der Terzen weniger fühlbar macht. Beobachtungen über die Empfindlichkeit des Ohres gegen die Unreinheit von Intervallen sind seit Delezenne (1827) von Cornu und Mercadier, von Preyer, ') Vgl. C. Stumpf und K.L. Schaefer, Tontabellen; Stumpfs Beiträge zur Akustik und Musikwissensch. 3 (1901). — ®) An Elementary Treatise on Musical Intervalls and Temperament, London, Macmillan, 1875. En ae Intervallsinn und absolutes Tonbewußtsein. 541 Schischmänow u. a. veröffentlicht worden. Die Ergebnisse weichen indes zum Teil sehr voneinander ab, zum Teil beruhen sie auf unzuverlässiger Basis, wie aus den kritischen Erwägungen von Stumpf und Meyer!) hervorgeht. Die Letzt- genannten haben den Gegenstand aufs neue untersucht und sind dabei zu folgenden Resultaten gelangt. Die früher so gut wie allgemein angenommene Regel, Ab- weichungen von der Reinheit eines Intervalles seien um so merklicher, je vollkom- mener die Konsonanz, ist nicht richtig. Der kleinen Terz gegenüber zeigte sich die Neigung, das physikalisch reine Intervall etwas zu hoch zu schätzen; subjektiv rein erschien die kleine Terz erst bei einer Verkleinerung der Tondistanz von etwa 1'/), Schwingungen. Dagegen trat bei der großen Terz, noch mehr bei der Quinte und am meisten bei der Oktave die Tendenz zu einer Vergrößerung zutage, Die, subjektiv reine große Terz übertraf die objektive um 0,43 Schwingungen im Mittel, und für Quinte und Oktave ergaben sich als entsprechende Werte + 0,81 und + 0,95. Gleich große Abweichungen von der subjektiven Reinheit wurden bei diesen drei Intervallen mit gleicher Sicherheit beurteilt. Alle diese Angaben be- ziehen sich auf mittlere Tonlagen und aufeinanderfolgende Töne. Die Intervalle gleichzeitiger Töne werden viel schlechter geschätzt. Als das Kriterium für die Beurteilung eines Intervalles bezüglich seiner Reinheit oder Unreinheit betrachtet Stumpf ein angeborenes und der individuellen Entwickelung fähiges eigenes Reinheitsgefühl, das sich bei Vergrößerungen als eine Art Spannung, Schärfe, Überreizung, bei Verkleinerungen als Mattigkeit oder Schalheit äußert. Die Fähigkeit, ein gegebenes Intervall richtig zu benennen oder ein verlangtes zu singen, ist ziemlich verbreitet und jedem musikalisch Veranlagten eigen. Seltener dagegen ist jene Begabung, welche man mit dem Ausdruck absolutes Gehör oder absolutes Tonbewußtsein bezeichnet und welche erst in neuerer Zeit bei den Autoren das wohlverdiente Interesse in größerem Maße gefunden hat?). Sie besteht in dem Vermögen, einen ohne Verbindung mit anderen gehörten Ton mit dem für ihn "gebräuchlichen Buchstaben zu benennen, und anderseits einen Ton, dessen Huclistabenbestichhnng angegeben wird, aus dem Gedächtnis durch Singen oder Pfeifen zu produzieren‘ Manchen Personen sind beide Fähigkeiten zugleich eigen. Viele aber besitzen nur die erstere, andere nur die zweite. In dem einen Falle handelt es sich um die Reproduktion der Wortvorstellung durch die Ton- empfindung, und zwar taucht die Wortvorstellung unmittelbar auf, nicht etwa erst infolge einer wissentlichen Vergleichung mit irgend einem Tonerinnerungsbilde. In dem anderen Falle löst die Wortvorstellung die Tonvorstellung aus, jedoch nach den Angaben von Abraham nicht direkt, sondern auf einem Umwege über ver- mittelnde Vorstellungen. Die Erkennbarkeit der absoluten Tonhöhe erstreckt sich bei einigen über die ganze musikalische Region des Tonreiches, wobei allerdings Täuschungen bezüglich der Oktave, welcher der richtig benannte Ton angehört, vorkommen. Bei anderen beschränkt sich das absolute Tonbewußtsein auf wenige Oktaven oder gar auf einzelne Töne, worunter dann häufig der Kammerton ist. In- dividuen der letzteren Gattung erkennen die Höhe eines gehörten Tones oft von dem ihnen geläufigen aus mit Hilfe des Intervallsinnes.. Was den Einfluß der Ton- intensität auf die absolute Tonbeurteilung anlangt, so hat Abraham gefunden, daß es ein Stärkeoptimum gibt, welches zwischen dem Stärkemaximum und -minimum, aber diesem beträchtlich. näher liegt; eine besondere Dauer des Tones erwies sich als nicht erforderlich für das Höhenurteil, die Dauerschwelle ist vielmehr dieselbe wie für die Tonwahrnehmung überhaupt. Von ganz hervorragendem Einfluß ist die Klangfarbe, wie schon-v. Kries betonte. Viele Musiker können nur die Töne bestimmter Instrumente mit voller Sicherheit sofort benennen, während ihr abso- lutes Tongedächtnis anderen gegenüber völlig versagt. Das am leichtesten zu be- urteilende Instrument scheint das Klavier zu sein; Stimmgabeln, gesungene Töne, !) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 18, 321, 1898. — ?) Literatur: Stumpf, Tonpsychologie; v. Kries, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 3, 257, 1892; Naubert, Das absolute Tonbewußtsein, Der Klavierlehrer 1898; M. Meyer, Psychol. Review 6, 1899; O. Abraham, Das absolute Tonbewußtsein, Sammelbände d. Internat. Musikgesellsch. 3, 1901/02. 542 Anatomie des Gehörorganes. Glocken und Gläser bieten am meisten Schwierigkeiten. Offenbar hängt dies mit der Zahl und der Stärke der Teiltöne des jeweils zu erkennenden Klanges zusammen, wenn auch die Beziehungen im einzelnen noch nicht ganz klar sind. Möglicher- weise beurteilt man nicht den Grundton für sich, sondern in. Gemeinschaft mit seinen nächsten, mit ihm ein Ganzes bildenden, Obertönen. — Das absolute Ton- bewußtsein wird zumeist von seinem Besitzer schon in der Kindheit als vorhanden erkannt. Seine Erlernbarkeit scheint nur gering zu sein. V. Spezielle Physiologie des Gehörorgans. a) Anatomische Vorbemerkungen. Das Gehörorgan zerfällt in drei Teile, das äußere Ohr, welches die Ohr- muschel und den äußeren Gehörgang umfaßt, das Mittelohr, das auch Trommelhöhle oder Paukenhöhle (Cavum tympani) genannt wird, und das im Felsenbein gelegene innere Ohr oder Labyrinth. Das Mittelohr ist gegen das äußere durch das trichterförmig eingezogene Trommelfell, gegen das innere durch die knöcherne Wandung des letzteren, bzw. die darin gelegenen Fenster abgegrenzt; es ist eine lufthaltige, mit dem Nasen-Rachenraum durch die Ohr- trompete (Tuba Eustachii) kommunizierende Höhle, durch die sich quer hin- Fig. 96. durch vom Trommelfell zum ovalen Fenster die Gehörknöchelchenkette spannt. Das Labyrinth ist ein mit Flüssigkeit, Lymphe, gefüllter Raum, dessen mittlerer Teil der Vorhof (Vestibulum) heißt. Aus diesem gehen nach hinten gerichtet die drei sogenannten Bogengänge hervor, nach vorn der Schneckenkanal, der in 2°, Spiralwindungen um seine Achse gewickelt ist. Fig. 96 gibt eine schematische Darstellung dieser Verhältnisse. Darin ist 1 der Hörnerv, welcher durch den inneren Gehörgang (2) zum Labyrinth tritt, 3 der Dtriculus, welcher mit dem Saceulus (5) zusammen im Vorhof liegt, 4 ln u a u ®_ an u Zn a dr m Anatomie des Gehörorganes. 543 einer der drei Bogengänge, 6 die häutige Schnecke (Ductus cochlearis), 7 der Ductus endolymphaticus, 8 der Saceus endolymphaticus, 9 der perilymphati- sche Raum, 10 das knöcherne Labyrinth, 11 das Felsenbein, 12 die Fenestra ovalis, in der mittels seines Ringbandes der Steigbügel beweglich befestigt ist, 13 die durch eine Membrana tympani secundaria geschlossene Fenestra rotunda, 14 die Ohrmuschel, 15 und 16 .der knorpelige (24) und knöcherne Teil des äußeren Gehörganges, 17 das Trommelfell, 18 der Hammer (Malleus), 19 der Amboß (Incus), 20 der Steigbügel (Stapes), 21 bis 23 die Pauke nebst Tube. Fig. 97 zeigt die Ohrmuschel und ihre einzelnen Teile im Profil gesehen. Die mit dem Stern versehene Fossa triangul. —— Stelle ist das Tuberculum supra- tragicum. Fig. 98 gibt den Zusammen- hang der drei Gehörknöchelehen Helix untereinander wieder. Der Stiel * des Hammers (das Manubrium) ist mit dem Trommelfell ver- Tragus wachsen. Sein langer Fort- satz (Proc. longus s. anterior s. Ineisur. auris folianus) ist beim Erwachsenen meist in ein Ligament verwandelt und dient zur Befestigung des Knöchelehens (Lig. anterius). Außer diesem vorderen Ligament Fossa conchae besitzt der Hammer noch ein nach hinten gerichtetes (Lig. posterius), das mit ersterem zu- sammen einen mäßig gespannten, Antitragus Anthelix Fig. 98. Incus Fig. 99. Corpus Crus brev. inc. Spin. tymp. post. Capit. mall. Pr. ant. mallei Pr. lentiec, inc. Manubr. am Hals des Hammers inserierenden Sehnenstrang bildet, um den sich der Hammer wie um eine Achse drehen kann (Achsenband.), ferner ein gerade nach außen gegen den oberen knöchernen Rand des Trommelfells ziehendes Lig. externum und ein Lig. superius, dessen Fasern sich nach Helmholtz vom langen Fortsatz aus nach oben in eine schmale Spalte begeben, die, wie Fig. 99 erkennen läßt, zwischen Hammerkopf und Paukenhöhlenwand bleibt. Der kurze Fortsatz des durch ein eigentümliches Gelenk mit dem Hammerkopfe verbundenen Amboßkörpers stützt sich mit seiner überknorpelten Spitze auf eine Hervorrag®ng der hinteren Wand der Paukenhöhle. Dieses Amboß-Paukengelenk ist eine Amphiarthrose und wird von manchen nur als Bandverbindung angesehen. Der Steigbügel fügt sich 544 Anatomie des Gehörorganes. mit seinem Capitulum mittels einer Gelenkverbindung an den Processus lenti- eularis (Ossiculum Sylwii) des Amboßstieles an. Fig. 99 (a. v. 8.) zeigt das Trommelfell nebst Hammer von innen betrachtet. 1 ist die durch die Paukenhöhle gehende Chorda tympani, ein den Nervus facialis mit dem Nervus lingualis verbindender Nervenstrang, 2 ist die Tube. An der durch einen Stern gekennzeichneten Stelle setzt sich die Sehne des Trommelfellspanners an den Hammer an. Der Verlauf des Trommelfellspanners, Muse. tens. tymp., geht aus Fig. 100 hervor. Der Muskelbauch ist durch das Septum (2) von der Tube (3) getrennt; seine Sehne durchsetzt die Paukenhöhle. Im übrigen sieht man in der Figur 100 wieder die Chorda (1), den Hammer, den Amboß und das Trommelfell (4), dessen nach innen gerichtete Trichterspitze, der Nabel, dem unteren Ende des Hammers entspricht (siehe die gesternte Stelle). ‘ Fig. 100. Caput mall. 1 Orus brev. inc. Tens. tymp. (tendo) Tens. tymp. NIYRNNNNY NN \ \ . 3 \ N ui \\ NN" " Crus long. inc. 4 $ * Pr. lentic. Fig. 101. Die Tensorsehne ist (ab- geschnitten) auch in Fig. 101 sichtbar, die hauptsächlich den Steigbügelmuskel, den Stapedius , darstellen soll. Derselbe entspringt im Grunde der (geöffnet abgebildeten) Eminentia stapedii und sendet durch die Öffnung an der Spitze derselben seine dünne Sehne zum Köpfchen des Stapes bzw. zum Amboß- Steigbügel-Gelenk. Ferner ist in der Figur der Steigbügel selbst, der Stumpf des Nervus faeialis (1), der Facialis- kanal (2), das sog. Promontorium (3), eine Vorwölbung der Paukenhöhlenwand, und die Tube (4) zu sehen. Der dem Mittelohr zunächst gelegene Teil der Tube ist knöchern, die Fort- setzung bis zur Rachenmündung knorpelig. Die eigentümlich rinnenförmige bzw. auf dem Querschnitt hakenförmige Gestalt des nur eine Wand der Tube bildenden Knorpels veranschaulichen die Fig. 102 und 103. In ersterer, einer Abbildung der Schädelbasis, ist der Knorpel durch einen Stern markiert. Er beginnt in der Gegend der Spina angularis und setzt, wie die Betrachtung der Lage des äußeren Gehöreinganges zeigt, im ganzen die Richtung des Paukenhöhlenlumens fort. Fig. 103 A ist ein Tubtnquerschnitt dicht vor der Verbindung des knorpeligen Teiles mit dem knöchernen, B ein Querschnitt am vorderen Rande der Spina angu- laris, C ein solcher in der Gegend des Foramen ovale. Die Sterne bedeuten den Capit. stap. Anatomie des Gehörorganes. 545 Fig. 102. Lamin. lat. Pr. pteryg. : L Lamin. med. Foram. oval. For. spinos. Spin. angul. Proe. styloid. Meat. acust. ext. _— For. stylomast. Can. carot. Foss. jugul. Fig. 103. M. pteryg. ext. M. levator vel. pal. M. pteryg. int. M. tensor vel.-pal. Nagel, Physiologie des Menschen. III 35 546 Anatomie des Gehörorganes. Durchschnitt der Arteria carotis, 1 ist der Nervus inframazillarıs, 2 die Arteria me- ningea media. Das spaltförmige Lumen der Tube kann erweitert, die Tube geöffnet werden, wenn der Musculus tensor veli palatini s. sphenostaphylinus, dessen Fasern sich an die äußere Fläche des umgebogenen Teiles anheften, eine Kontraktion voll- führt, wie das beim Schlingen der Fall ist. Politzer ist auf Grund von Trigeminus- reizungen, Tröltsch auf Grund anatomischer Studien für diese Wirkung des Tensor veli eingetreten. Hensen!) findet dagegen in Übereinstimmung mit älteren Angaben von Henle und Rüdinger die Funktion des Muskels als Tubeneröffner fraglich und macht darauf aufmerksam, daß bei den kaltblütigen Wirbeltieren die Tuben weit offen ständen und daher ein ausgeprägter Muskelmechanismus aus phylogenetischen Gründen nicht zu erwarten sei. Einen Durchschnitt durch den Schneckenkanal und seine Achse (Spindel, Modiolus) zeigt in dreifacher Vergrößerung Fig. 104. Von der Basis her tritt der Nervus cochlearis — der andere Teil des Nervus acusticus geht als Ramus vestibularis zu Vorhof und Bogengängen — in die Spindel und weiter in die Scheidewand, die durch die ganze Länge des Kanals diesen in zwei Treppen, Scala vestibuli und Scala tympani, teilt. Der der Spindel zugekehrte Teil dieser Scheidewand ist knöchern (Lamina spiralis). Die Lamina erhebt sich nur bis etwa zur Mitte des Kanals. Von ihrer freien Kante aus gehen divergierend zwei Membranen, von denen die eine die direkte Fortsetzung der Lamina bildet. Es ist dies die Basilar- membran, auf der die Endausbreitung des Fig. 104. Scal. vestib. Modiol. Nerv. vestib. Fig. 105. x Membr. tector. Lam. spir. * Vas spir. * 4° Membr. basil. Kißsit \ # ll, Hörnerven, das Cortische Organ, aufgelagert ist. Die andere Membran heißt die Reissnersche oder Vestibularmembran. Beide umschließen zusammen mit einem, Teil der Kuppel des Kanals einen im Querschnitt dreiseitigen, durch die Schnecke sich hinwindenden Raum, den Dwuctus cochlearis. Das ovale Fenster sieht in die Seala vestibuli, das runde ist das untere Ende der Scala tympani. Beide Treppen sind in der ganzen Länge des Schneckenkanals durch den Duectus cochlearis getrennt. Nur in der Schneckenspitze, wo die Lamina spiralis in Form eines freien, scharfen Hakens (Hamulus) endigt, findet eine Kommunikation statt (Helicotrema). Fig. 105 zeigt einen senkrecht zur Basilarmembran geführten Querschnitt des akustischen Endapparates. Oben ist die Scala vestibuk, unterhalb der Basilar- ') Vgl. hierzu Hermanns Handb. d. Physiol. 3 (2), 58 u. 59, 1880. re > T Funktion des äußeren Ohres. 547 membran die Scala tympani ergänzt zu denken. Bei 1 stoßen die beiden Corti- sehen Pfeiler aneinander, die zusammen den, einen Tunnelraum umschließenden, Cortischen Bogen bilden. Am Grunde desselben liegen (bei 2) die Bodenzellen. 3 und 4 sind die mit Haaren versehenen Hörzellen (Haarzellen, Deckzellen), deren äußere (4) auch Cortische Zellen heißen. Unter ihnen liegen (5) Stütz- zellen, auch Deitersche Zellen genannt. Außer letzteren dient zur Fixierung der Hörzellen die Membrana reticularis (6), die von den oberen Enden der Pfeiler ausgeht und in kreisrunden Öffnungen die Cilien tragenden Enden der Hörzellen aufnimmt. Über die Oberfläche des ganzen Zellkomplexes legt sich die Mem- brana tectoria (Cortische Membran). Bei f befinden sich wulstartig erhobene Epithelzellen (Hensensche Zellen). Links ziehen (schwarz dargestellt) durch die Lamina die Nervenfasern heran und zu den Hörzellen hin; an den mit Sternen gekennzeichneten Stellen sind Querschnitte der spiralig verlaufenden Nervenfasern zu sehen. b) Die Funktion des äußeren Ohres. Die Ohrmuschel und der äußere Gehörgang des Menschen sind Organe, denen eine umfassende und fundamentale Bedeutung für das Hören jedenfalls nicht zukommt.. Dafür sprechen zunächst physiologische und pathologische Beobachtungen. Verstopft man die Gehörgangsöffnung mög- lichst fest, so werden freilich die durch die Luft geleiteten tieferen Töne stark geschwächt oder unhörbar gemacht, die höheren jedoch in um so ge- ringerem Grade beeinträchtigt, je größer ihre Schwingungszahl ist. Für die Perzeption sehr hoher Töne ist es ziemlich gleich, ob das Ohr offen oder ge- schlossen ist, und für die tieferen ebenfalls, insoweit sie durch die Kopfknochen direkt dem Labyrinth zugeführt werden. Ist bei sonst intaktem Gehör die Ohrmuschel vollständig verloren gegangen, so ist anfangs das Hören merk- lich verschlechtert, der Mangel wird aber bald durch die Erlernyng zweck- mäßiger Kopfdrehungen ausgeglichen. Die bei angeborenem Fehlen des äußeren Ohres zu beobachtende Taubheit wird meist durch gleichzeitige innere Krankheitsprozesse bedingt. Die Fische, die Amphibien und vor allem die Vögel, welche letztere doch unbestreitbar hören, haben überhaupt keine Ohrmuschel, wenn man von vereinzelten Ausnahmen absieht. Dagegen besitzen die Säugetiere bis auf gewisse im Wasser oder in der Erde lebende Arten, wie Walroß, Schnabeltier, Maulwurf und einige andere, im allgemeinen eine Ohrmuschel und zwar vielfach eine solche von tütenähnlicher Gestalt und elliptischer Form, die sich mit Hilfe zahlreicher Muskeln nach den verschiedensten Richtungen wenden, erweitern, verengern, verlängern und verkürzen läßt. Betrachtet man beispielsweise beim Pferde, dem 17 Muskeln zur Bewegung der Ohrmuschel zur Verfügung stehen, das lebhafte Spielen der letzteren, so wird man kaum zweifeln können, daß dieselbe geeignet ist, wie eine Art Hörrohr den Schall zu sammeln und auch zur Bestimmung der Schallricehtung zu dienen, indem sie so lange gedreht wird, bis ihre Öffnung der Schallquelle zugewendet und damit das Maximum der Hörstärke erreicht ist. Die menschliche Ohrmuschel werden wir aber wohl mit Darwin als ein im Verlaufe der phylogenetischen Entwickelung verkümmertes Organ auf- zufassen haben. Ihre Bildung erscheint zum Auffangen und Hineinleiten des Schalles in den Gehörgang nicht sonderlich zweckmäßig und die Beweg- lichkeit ist fast ganz verloren gegangen. Nur wenige Personen sind imstande, das Ohr sichtbar und ohne Mitbewegung der Kopfhaut nach vorn, oben oder 35* 548 Funktion des äußeren Ohres. hinten zu richten, und noch viel seltener ist die Fähigkeit, beide Ohren zu- gleich und auf verschiedene Weise zu bewegen. In dem Spannungsgefühl, das die meisten ‘in der Gegend des äußeren Ohres beim Lauschen empfinden, verrät sich dem Anschein nach noch eine gewisse Tendenz zu Ohrmuschel- bewegungen; im allgemeinen indessen ist der Mensch darauf angewiesen, durch eine entsprechende Wendung des Kopfes gegen die Schallquelle das Optimum der Perzeption* aufzusuchen, wenn eine Verstärkung der Schall- wahrnehmung oder die genauere Richtungsbestimmung wünschenswert ist. Unter diesen Umständen fragt es sich, ob.unsere Ohrmuschel denn über- haupt einen irgendwie erheblichen Nutzen für das Hören hat. Viele, nament- lich ältere, Autoren haben den äußeren Ohrknorpel als Reflektor aufgefaßt. So meinte Johannes Müller!), als solcher käme vorzüglich die Concha in Betracht, indem sie die aus der Luft auftreffenden Schallwellen gegen den Tragus werfe, der sie seinerseits in den Gehörgang reflektiere.e Mach?) hat aber (zum Teil in Gemeinschaft mit A. Fischer?) Beweise dafür erbracht, daß hier von einer regelmäßigen Reflexion keine Rede sein’ kann. Eine reguläre Reflexion oder Brechung einer Wellenbewegung findet nur dann an einer Fläche statt, wenn die linearen Dimensionen der letzteren enorm groß gegenüber der Wellenlänge sind. Bei den Ätherschwingungen des Lichtes ist diese Bedingung jederzeit leicht erfüllbar; zwischen dem Flächeninhalte der Ohrmuschel und den Schallwellen, zumal der tieferen Töne, besteht aber vielmehr das umgekehrte Verhältnis. Wenn wir während der Beobachtung eines von vorn kommenden leisen Schalles die leicht gekrümmten Hände von hinten gegen die Ohrmuscheln legen, so daß diese dadurch gleichsam vergrößert werden, wird der Schall alsbald merklich lauter. Ist nun auch diese. Erscheinung nach den Unter- suchungen Machs nicht durch Reflexion zu erklären, so steht doch ihre Tat- sächlichkeit fest. Die eben beschriebene Wirkung der Hände müssen dann aber auch schon die Ohrmuscheln allein haben, obwohl freilich in verhältnis- mäßig geringerem Grade. In der Tat ist von mehreren Seiten *) angegeben, daß sich bei einzelnen Schwerhörigen eine deutliche Besserung der Hörweite nachweisen lasse, wenn die Muschel durch den hinten andrückenden Finger vorwärts geschoben würde, und daß überhaupt ihr Anheftungswinkel nicht ganz gleichgültig sei. In demselben Sinne sprechen die folgenden physio- logischen Versuche. Schneider) füllte seine linke Ohrmuschel mit einer Mischung von Wachs und Öl aus, so daß nur eine der Weite des äußeren Gehörgangs entsprechende Öffnung blieb. Dann würden gerade von vorn oder hinten kommende Töne links schwächer gehört und demgemäß etwas nach rechts lokalisiert. Waren beide Ohren in der genannten Weise be- handelt, so zeigte sich das Schlechterhören noch ausgesprochener, und am auf- fallendsten ward es, wenn auch noch der Raum zwischen Ohr und Hinterkopf beiderseits ausgefüllt wurde Küpper) fand bei völliger Verklebung der Muschel und Einführung eines Glas- oder Hörrohres in den Gehörgang !) Handbuch d. Physiol. d. Menschen 2, 452, Koblenz 1840. — ?) Arch. £. Ohrenheilk. 9, 72, 1875. — °®) Pogg. Ann. 149, 421, 1873. — *) Vgl. O. Wolf, Sprache und Ohr, 8. 185, Braunschweig 1871; Buchanan, Meckels Arch. f. Anat. u. Physiol. 1828. — °) Die Ohrmuschel und ihre Bedeutung beim Gehör, Dissert. Marburg 1855. — °) Arch. f. Ohrenheilk. 8, 158, 1874. Funktion des äußeren Ohres. — Resonanz des Gehörganges. 549 ebenfalls eine Verringerung der Hörschärfe, während Harless!) eine solche bei einer ähnlichen, allerdings wenig zweckmäßigen Anordnung vermißt hatte. In der von Rinne?) ausgeführten Versuchsreihe, wobei eine Uhr als Schallquelle diente und der Ohrknorpel mit Brotteig bedeckt war, erwies sich der Einfluß der Muschel auf die Präzision des Gehörs ganz deutlich, und auch Kessel?) tritt für einen solchen ein, nachdem er sich überzeugt, daß die Hörweite in der Medianebene nach vorn ab- und nach hinten zunimmt, wenn man die Ohrmuschel an den Kopf preßt, also’ ihre Schirmwirkung ver- ringert, daß die Hörweite dagegen bei normalem Abstehen der Ohren vom Kopfe nach vorn größer ist als nach hinten und daß endlich dieser Unter- schied völlig verschwindet, wenn man den Eingang ins Ohr durch Einstecken einer Röhre in den Gehörgang aus dem Bereich der Muschel hinaus in den Raum verlegt. Müller, Harless, Schneider u. a. haben die Auffassung vertreten, daß der Ohrknorpel zwar einen Teil der aus der Luft auftreffenden Schall- wellen zurückwerfe, einen nennenswerten Teil aber auch aufnehme und zum Trommelfell weiter leite. Wieweit diese Ansicht zutrifft, wird sich kaum bestimmen lassen. So viel ist allerdings sicher, daß der Knorpel direkt auf ihn übertragene Schallwellen besser leitet als der Schädel. J. Müller machte diese Beobachtung mit Hilfe einer Pfeife, und ich kann dieselbe nach Stimm- gabelversuchen nur bestätigen. Wenn eine fest gegen den Warzenfortsatz . gedrückte a!-Gabel an dieser Stelle abgeklungen ist, wird sie meist noch wieder hörbar beim Aufsetzen auf irgend einen Punkt der Ohrmuschel; be- sonders bevorzugt ist in dieser Beziehung der Tragus und namentlich dessen Vorderfläche: hier kann man die Gabel oft noch mehrmals abheben und wieder aufsetzen, ehe sie im letzteren Falle tonlos gefunden wird. Einige Autoren haben Wert- darauf gelegt, daß gewisse Partien der Ohr- muschel gewissen Tönen gegenüber als Resonätoren wirken. So fand Ch. H. Burnett in Philadelphia *), daß Helix und Fossa helicis am meisten auf tiefe Töne reagierten, Anthelix und Foss« anthelicis auf mittlere und die Concha auf hohe. Ich meine, daß es sich hierbei um accidentelle Verhältnisse handelt, denen keinerlei erhebliche physiologische Bedeutung zukommt. Wenn Burnett, wie es nach dem mir allein zugänglichen Referat seiner Arbeit scheint, diesen Dingen einen wesentlichen Einfluß auf die Klanganalyse zuschreibt, so ist das jedenfalls übertrieben. Wichtiger ist, daß der Gehörgang bestimmte Töne durch Resonanz zu verstärken vermag. Bei der relativen Kürze desselben kommen natürlich nur höhere Töne in Betracht. Nach Rinne liegt der Eigenton des Gehör- ganges in der Gegend des ft. Helmholtz fand für sein rechtes Ohr eben- falls f*, für das linke ct; Hensen bei sich selbst rechts d*, links a* und bei einer Frau rechts f*, links g*; Kiesselbach’) links a®, rechts ht. Durch Eintreiben von Luft in die Paukenhöhle oder auch durch Anspannung des Trommelfelles kann der Resonanzton um eine große Terz bis Sexte vertieft werden. !) Wagners Handwörterbuch d. Physiol. 4, 350, 1853. — ?) Zeitschr. f. rationelle Medizin (3), 24, 12, 1865. — °) Arch. f. Ohrenheilk. 18, 123, 1882. — *) Referat seiner Publikation im Arch. f. Ohrenheilk. 9, 127, 1875. — °) Pflügers Arch. 31, 95 und 377. 550 Ältere Anschauungen über die Mittelohrmechanik. c) Die Funktion des Mittelohres. Die Physiologie des Mittelohres hat die Mechanik des Trommelfells und der Gehörknöchelchen, die Funktion der Binnenohrmuskeln und die Bedeutung der Paukenhöhle nebst Tube für das Hören zu behandeln. Das Studium der Schallübertragung durch das Mittelohr bietet nicht geringe Schwierigkeiten, da es sich hier um Gebilde von recht kompliziertem Bau und um ganz eigenartige physikalische Verhältnisse handelt. Das meiste verdanken wir in bezug auf die Erkenntnis der Gehörknöchelchen- mechanik Helmholtzens, Physik und Physiologie in gleichem Grade be- herrschender, Genialität, während vor ihm und leider auch noch nach ihm !) über diesen Gegenstand manches Verwirrte und Verwirrende publiziert worden ist. Während wir jetzt wissen, daß Trommelfell und Knöchelchenkette bei der Schallfortpflanzung aus der Luft auf das innere Ohr als Ganzes schwingen, daß der Steigbügel sich nach Art eines Stempels im ovalen Fenster hin und her bewegt und daß er die Labyrinthflüssigkeit gegen das ausweichende runde Fenster vor sich herschiebt, bzw. zurücksaugt, glaubten bis über die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinaus maßgebende Physiologen und Öhrenärzte, wie Johannes Müller und Toynbee2), daß der Schall durch die Knöchel- chenkette ebenso in Form von Verdichtungs- und Verdünnungswellen hin- durchginge wie durch die übrigen Kopfknochen, und daß transversale Schwingungen des Trommelfelles allenfalls ausnahmsweise, etwa bei exces- siver Stärke des Schalles, vorkämen. Hinsichtlich der Massenbewegung der Labyrinthlymphe erklärte Harless °) noch 1853 ausdrücklich, daß eine solche aller Wahrscheinlichkeit nach viel zu schwach oder zu langsam und nicht kongruent mit den Schallwellen sein würde. Unter den Physikern dagegen betrachteten schon Savart und Seebeck das Trommelfell als eine Membran, _ die wie andere in der Akustik verwendete Membranen transversaler Schwin- gungen fähig sei, und erörterten seine auffallende Eigenschaft, mit so vielen Tönen von verschiedener Höhe annähernd gleich gut mitschwingen zu können. Der erstere) nahm an, der Eigenton des Trommelfells liege sehr hoch im Verhältnis zu allen überhaupt vernehmbaren Tönen, wodurch allerdings eine ziemlich gleichmäßige Hörstärke für die tieferen Töne bedingt sein würde. Seebeck’) zeigte dann durch mathematisch - physikalische Deduktionen, daß Membranen, die wie das Trommelfell im Verhältnis zu ihrem Areal wenig Masse haben, geeignet sind, auch mit Tönen mitzuschwingen, die von dem Eigenton beträchtlich differieren, und daß die einseitige Belastung des Trommelfells durch die Kette der Gehörknöchelchen und das an diese direkt angrenzende Labyrinthwasser in demselben Sinne wirke, ja geradezu das Hauptmittel sei, durch welches das Ohr in den Stand gesetzt würde, eine so große Anzahl von Tönen mit ungefähr übereinstimmender Intensität auf- !) Z.B. von G. Zimmermann, Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abteil., Supplementbd. 1899 (u. a. a. O.; vgl. die letzten Bände d. Zeitschr. u. d. Arch. £. Ohrenheilk.); von Boenninghaus, Zoolog. Jahrbücher, Abteilung f. Anat. u. Ontogenie 19, 1903 u. A. — ?) Krankheiten des Gehörorgans, übersetzt von Moos, Heidelberg 1863. — °) Wagners Handwörterbuch d. Physiol. 4, 384. — *) Ann. de chim. et phys. 26, 24. — ?) Pogg. Ann. 62, 289 ff., 1844 u. 68, 458 ff., 1846. Versuche von Helmholtz. 551 zunehmen. Während ’/aber Seebeck sich auf Betrachtungen über das Trommelfell beschränkte, hat Ed. Weber!) wohl als erster die heute geltende Auffassung von der Mittelohrmechanik in ihren Grundzügen klar und voll- ständig ausgesprochen und nur darin einen abweichenden Standpunkt ein- genommen, daß er Hammer und Amboß zusammen als einen festen Winkel- hebel betrachtete; eine Ansicht, die schon Hermann Meyer in seinem Lehrbuch der physiologischen Anatomie?) richtig stellte, indem er die Gelenk- verbindung zwischen dem Kopfe des Hammers und der Basis des Amboß als einen Ginglymus kennzeichnete und darauf hinwies, daß weder nach vorn noch nach hinten, wohl aber von außen nach innen gerichtete Bewegungen des Hammers den Amboß nach innen schöben. Dabei bewegen sich nach Meyer Hammer und Amboß als Ganzes um eine ungefähr horizontale Achse, die durch den Processus folianus und den kurzen Fortsatz des Amboß geht, und die Übertragung auf den Stapes geschieht, indem das Ossiculum Sylviü eine Bewegung nach oben macht, der Steigbügel selbst aber vermöge des Kugelgelenkes zwischen seinem Capitulum und dem Össiculum und infolge seiner Anheftung an gewisse Schleimhautbänder eine gerade nach innen ge- richtete. Auch Mach?) hat sich, wiederum an Seebecks Arbeiten an- knüpfend, theoretisch-deduktiv mit der Mittelohrmechanik beschäftigt. Er prüfte genauer die Umstände, die unser Ohr befähigen, das Trommelfell treffende Töne von verschiedener Höhe mit gleichmäßiger Stärke aufzunehmen sowie auch einem raschen Wechsel der Tonhöhe zu folgen, und kam dabei zu dem Resultat, daß die Labyrinthflüssigkeit um so nachgiebiger den Schwingungen der Luft folgen müsse, je größer der Widerstand, je größer die Fläche des Trommelfells, je kleiner das ovale Fenster, je kleiner die Masse des ganzen Apparates und je beträchtlicher die Hebelwirkung sei. Helmholtz hat in seiner berühmten Studie über die Mechanik der Gehörknöchelehen und des Trommelfells *) der Gestalt des letzteren besondere Beachtung geschenkt. Die Spannung desselben ist durch den Handgriff des Hammers bedingt, der es nach innen zieht und selbst in dieser Lage durch seine Bänder und den Tensor tympani erhalten wird. Wären die Radial- fasern, aus denen die äußere Schicht der Propria des Trommelfells besteht, allein vorhanden, so würden sie sich zu geraden Linien strecken; durch die die innere Schicht des Trommelfells bildenden konzentrischen Ringfasern und deren Spannung bekommen sie indessen eine gekrümmte, gegen den Gehör- gang konvexe Form, wenn auch die Wölbung nur ziemlich flach ist. Helmholtz hat zuerst die akustischen Wirkungen einer analog beschaffenen Membran untersucht, die er aus einem Stück Schweinsblase herstellte.. Um möglichst ähnliche Verhältnisse, wie sie das Trommelfell darbietet, zu schaffen, wurde diese Membran über einen Glascylinder gespannt und auf ihren Nabel ein Stift aufgesetzt, dessen anderes Ende als Steg für eine Saite diente. Die Saite lief in einiger Entfernung von dem Cylinder noch über einen zweiten Steg und war an ihren Enden durch zwei Wirbel gespannt. Wurde sie mit dem Bogen angestrichen, so resonierte die Membran sehr laut, und zwar !) Ber. d. Kgl. Sächs. Gesellsch. d. Wiss., math.-physikal. Kl., 1851, 8. 29. — ®2) Leipzig 1856. — °) Ber. d. Wiener Akad., math.-physikal. Kl., 48 (2), 283, 1863. — *) Pflügers Arch. f. Physiol. 1, 34 bis 43, 1869. (Wiss. Abhandl. 2, 515.) 559 Funktion des Mittelohres nach Helmholtz. erstreckte sich die Resonanz, wie sich durch successive Verkürzung der Saite zeigen ließ, auf einen sehr großen Teil der Skala; namentlich waren die Töne aus der Mitte der viergestrichenen Oktave, wie beim Gehörgang, begünstigt. Die Übertragung von Tonschwingungen aus der Luft auf die Saite gelang gerade so gut. Mithin trägt die eigentümliche Form des Trommelfells offenbar ebenfalls zu dessen, Befähigung, verschieden hohe Töne mit gleicher Stärke aus der Luft aufzunehmen, bei !). Abgesehen hiervon aber ist die Gestalt des Trommelfells und überhaupt die Konstruktion der Knöchelchenkette zu dem mechanischen Effekt geeignet, die Bewegung von relativ großer Amplitude und geringer Kraft, mit welcher die schwingenden Luftteilchen das Trommelfell treffen, in eine solche von geringerer Amplitude und größerer Kraft zu verwandeln. Die größere Kraft ist nötig, um das im Verhältnis zur Luft dichte und schwere Labyrinthwasser schnell hin und her zu treiben, während die geringere Amplitude immer noch zu einer genügenden Bewegung der Nervenendigungen in der Schnecke aus- reicht. Eine solche mechanische Aufgabe läßt sich in der Technik auf mancherlei Weise, durch Flaschenzüge, Krähne, Hebel usw. lösen. Die Art aber, wie dies in der Trommelhöhle geschieht, ist ganz eigentümlich. Eine regelrechte Hebelwirkung findet zwar auch statt, insofern eben Hammer- und Amboßstiel einen Winkelhebel darstellen und der vom Hammer gebildete Arm etwa anderthalbmal so lang ist als der andere, so daß der Druck auf den Steigbügel ungefähr anderthalbmal so groß sein wird als die Kraft, welche die Spitze des Hammerstieles einwärts treibt. Die Hauptverstärkung wird jedoch durch die flache Wölbung der Trommelfellfläche gegen den Gehörgang bedingt. Denn dadurch, daß die Radiärfasern die Form schwach gekrümmter Bögen haben, entsteht unter dem Druck einer Luftverdichtung im Gehörgang eine mechanische Wirkung, als ob der Luftdruck am Ende eines sehr langen Hebelarmes angriffe und die Spitze des Hammerstieles das Ende eines sehr kurzen Hebelarmes bildete. Mit anderen Worten, eine relativ bedeutende Verschiebung der Trommelfellfläche hat nur eine verhältnismäßig kleine Be- wegung der Hammerspitze zur Folge; es findet also eine Reduktion der Elon- gationen -statt, wofür in entsprechendem Maße Kraft gewonnen werden muß. Daß es sich in der Tat so verhält, hat Helmholtz nicht nur mathematisch bewiesen, sondern auch experimentell. Er füllte den Gehörgang eines anato- mischen Präparates vollständig mit Wasser und setzte mittels einer passenden Vorrichtung ein Manometerröhrchen auf, das sehr genau die Verschiebungen des Trommelfelles anzeigte, wenn dieses zu Bewegungen veranlaßt wurde. Letzteres geschah in der Weise, daß die in einem, in den Vorhof des Laby- rinthes eingefügten Röhrchen befindliche Flüssigkeit angesogen oder einwärts gedrückt wurde, wobei Zug und Druck sich durch die Knöchelchenkette auf das Trommelfell fortpflanzten. Die Exkursionen des Hammers wurden an den Bewegungen eines aufgekitteten Glasfadens gemessen, und es ergab sich aus der Vergleichung der Ausschläge des Hammers und des Trommeltfelles, daß die mittlere Verschiebung dieser Membran etwa dreimal so groß war als die gleichzeitige Bewegung der Hammerstielspitze. !) Vgl. die bestätigenden Versuche von Politzer, Archiv f. Ohrenheilk. 6, 36, 1874. Funktion des Mittelohres nach Helmholtz. 553 Im einzelnen ist über den Bewegungsmodus der Gehörknöchelchenkette bei der Übertragung von Tonschwingungen auf das innere Ohr nachstehendes zu sagen, allerdings mit der Einschränkung, daß kleine anatomische und physiologische individuelle Differenzen häufig sind. Das im ganzen sattel- förmige Gelenk zwischen Hammer und Amboß ist nach Helmholtz in seiner Wirkung den Gelenken der bekannten mit Sperrzähnen versehenen Uhr- schlüssel vergleichbar. Solche Sperrzähne hat das Hammer - Amboßgelenk namentlich an seiner unteren Seite, und zwar liegt der des Hammers außen, dem Trommelfell zugekehrt, der des Amboß innen, während umgekehrt gegen das obere Ende der Gelenkgrube hin der Amboß mehr nach außen, der Hammer nach innen übergreift. Infolge hiervon packt der Hammer, wenn sein Stiel einwärts schwingt, den Amboß ganz fest und nimmt ihn mit. Geht aber das Trommelfell mit dem Hammerstiel nach außen, so braucht der Amboß bei excessiver Elongation nicht zu folgen, da dann die Sperrzähne auseinanderweichen und die Gelenkflächen aneinander gleiten. Nach den Versuchen von Helmholtz ist die freie Exkursion, welche der Hammer mit dem Stiel nach außen machen kann, indem er sich gegen den Amboß im Gelenk verschiebt, mindestens neunmal so groß als die, welche er mit Amboß und Stapes zusammen auszuführen imstande ist. Die gemeinsame Drehung von Hammer und Amboß vollzieht sich um eine Achse, welche, wie Helm- holtz in Übereinstimmung mit Politzer gefunden hat, eine gewisse Be- weglichkeit besitzt. Beim Einwärtsschwingen des Hammergriffes wird der Hammerkopf durch den Amboß nach hinten gezogen, so daß der Stiel etwas nach vorwärts rückt. Dadurch wird eine Verschiebung des Trommelfellnabels nach hinten, die sich sonst aus der schrägen Richtung des Hammerachsen- bandes gegen die Ansatzebene des Trommelfells ergeben würde, ausgeglichen. Anderseits wird eine Hebung des Nabels bei der Einwärtsbewegung des Hammerstieles durch eine ebenfalls vom Amboß bewirkte Senkung des ganzen Hammers kompensiert, so daß durch diese Einrichtungen die geradlinige Bewegung des Nabels nach innen garantiert wird. Bei der Übertragung der Einwärtsbewegung des Hammerstieles auf den Steigbügel kommt in Betracht, daß die Spitze des langen Amboßfortsatzes noch etwas mehr in die Höhe steigt, als durch die eben erwähnte Senkung des Hammers rückgängig ge- macht wird. Dadurch wird auch, wie Helmholtz, Henke und andere Autoren im Gegensatz zu der vorhin angeführten Darstellung Hermann Meyers beobachtet haben, das Köpfchen des Steigbügels gehoben, so daß der obere Rand der Fußplatte beim Eindringen in den Vorhof weiter vorgeschoben wird als der untere. Zugleich rückt das Ossiculum Sylvii etwas nach vorn, weshalb auch das vordere Ende des Steigbügeltrittes ein wenig tiefer ins Labyrinth dringt als das hintere. Die Beweglichkeit der Stapesbasis ist übrigens gering. Die größten Werte, die Helmholtz für die Exkursionen derselben erhielt, betrugen nur !/,, bzw. !/,s nım. Der Vorgang der Schallübertragung durch das Mittelohr ist also, mit wenig Worten nochmals beschrieben, der folgende. Das Trommelfell schwingt mit dem fortzuleitenden Tone oder Klange als resonierende Membran mit. Bei seiner Einwärtsbewegung geht die Hammergriffspitze mit nach innen und, da die Bewegung des Hammers im wesentlichen eine Drehung um das Achsenband ist, der Hammerkopf nach außen. Dabei nimmt letzterer den 554 Versuche über die Schwingungen der Knöchelchenkette. Kopf des Amboß, der sich seinerseits um seinen kurzen Fortsatz als Achse dreht, mit und veranlaßt so eine Hebung und Einwärtsbewegung des langen Amboßfortsatzes, durch welche der Steigbügel in den Vorhof gedrückt wird. Beim Auswärtsschwingen des Trommelfells verlaufen die Bewegungen der Knöchelchen umgekehrt. Daß die Knöchelchenkette samt dem Labyrinthwasser nicht nur bei gewaltsamen Druckveränderungen, sondern auch unter der Einwirkung von Tonwellen als Ganzes hin und her oszilliert und der Schall nicht etwa durch die unbewegliche Kette in Form von Molekularschwingungen zur Basilar- membran dringt, ergibt sich erstens als theoretisch notwendige Konsequenz aus dem Umstande, daß die Dimensionen der in Frage kommenden Teile des mittleren und inneren Ohres verschwindend gering gegen die Wellenlängen der Töne sind !), zum mindesten gegen die Wellenlängen der tieferen Töne. Je mehr die Tonhöhe steigt, um so weniger wird freilich diese Bedingung erfüllt, um so weniger sind wir aber auch anderseits auf die kraftvolle Über- tragung der Schallschwingungen aus der Luft auf das innere Ohr seitens der Knöchelchenkette angewiesen. Denn mit zunehmender Schwingungszahl gehen die Tonwellen immer leichter unmittelbar von der Luft auf die Kopf- knochen über, durch die sie dann direkt zum Labyrinth gelangen, und verliert, wie namentlich aus den reichen Erfahrungen Bezolds?) hervorgeht, die durch Funktionsstörungen im Mittelohr bedingte Schädigung des Gehörs für Luft- leitung immer mehr an Bedeutung, weshalb Bezold es auch direkt ausspricht, „daß in der Aufnahme der tiefen Töne aus der Luft... die Haupt-, ja wahr- scheinlich die einzige Funktion des Schallleitungsapparates besteht“. Zweitens lassen sich die Schwingungen der Gehörknöchelchenkette bei der Leitung von Tonwellen direkt beobachten. Versuche hierüber hat meines Wissens zuerst Politzer°) angestellt. An dem Kopfe einer möglichst frischen menschlichen Leiche wurde das Tegmen iympani, das Dach der Paukenhöhle, der einen Seite entfernt und auf der höchsten Spitze des frei- gelegten Hammers ein an seinem Ende mit einer Federfahne versehener dünner Glasfaden oder Strohhalm aufgekittet. Der Gehörgang des Präparates stand durch einen Schlauch mit einem Helmholtzschen Resonator in Ver- bindung, welcher auf eine in seiner Nähe aufgestellte Orgelpfeife abgestimmt war. Tönte die Pfeife, so geriet der Fühlhebel in Schwingungen, die mittels der Federfahne auf einen rotierenden berußten Öylinder aufgezeichnet werden konnten. Auf diese Weise gewann Politzer auch vom menschlichen Amboß und von der Columellaplatte *) einer Ente sehr klare Kurven, und zwar nicht nur von einfachen Tönen, sondern auch: von Schwebungen und von einem aus Grundton und Oktave bestehenden Klange, aus deren Beschaffenheit zu entnehmen ist, daß die Gehörknöchelchenkette zusammengesetzte Ton- bewegungen nach dem Superpositionsprinzip überträgt. Lucae’) erhielt die gleichen Resultate, indem er die Töne dem Trommelfelle nicht durch die Luft im äußeren Gehörgang, sondern auf dem Wege der Knochenleitung zu- führte, womit zugleich der Beweis erbracht wurde, daß wir den Ton einer ') Vgl. Helmholtz, Mechanik der Gehörknöchelchen, Pflügers Arch. 1. — ”) Münch. mediz. Wochenschr. 19 u, 20 (1900). — °) Arch. f. Ohrenheilk. 1, 59, 1864. — *) Die Columella ist das Analogon der Gehörknöchelchenkette des Menschen. — °) Arch. £. Ohrenheilk. 1, 303, 1864. Versuche über die Schwingungen der Knöchelchenkette. 555 aul unseren Kopf gesetzten Stimmgabel nicht allein durch direktes Übergehen der Wellen aus dem Knochen auf das Labyrinth, sondern auch durch Ver- mittelung des Paukenapparates hören. Politzer!) hat diesen Beweis noch durch folgendes Experiment gestützt. Das Labyrinth eines Präparates, dessen Amboß-Steigbügelgelenk getrennt war, wurde mit Luft gefüllt und durch den Porus acusticus internus auskultiert, während eine auf den Knochen gesetzte Gabel tönte; beim Abheben des Amboß vom Steigbügel wurde der Ton jedesmal schwächer, beim Wiederanlegen stärker. Die Fühlhebel bilden indessen, wie Buck ?) gezeigt hat, eine störende Be- lastung der Knöchelchen. Auf Anregung und unter Leitung von Helmholtz beobachtete daher dieser Autor die unter der Wirkung eines kräftigen, direkt in den Gehörgang dringenden Pfeifentones schwingenden Knöchelchen von oben her mikroskopisch und maß die Schwingungsamplituden einzelner Punkte ihrer Oberfläche, die, von einer hellen Lampe beleuchtet, entweder in- folge ihrer Feuchtigkeit oder infolge Bestäubens mit Amylum hell glänzten. Auch das Mitschwingen des runden Fensters ließ sich auf diese Weise an- schaulich machen. Erwähnenswert ist, daß die Exkursionen der Knöchelchen durch Zerstörung der Fenestra rotunda oder Durchschneidung der Tensor- und Stapediussehne nicht verändert wurden. Mikroskopische Beobachtungen der schwingenden Gehörknöchelchen sind später noch von Burnett?), von Politzer*) und von Mach in Gemeinschaft mit Kessel’) ausgeführt worden. Die zuletzt Genannten brachten eine stroboskopische Verlangsamung der Bewegungen zur Anwendung, was ein sehr genaues Studium der Details ermöglichte. So konnten sie sich durch diesen Kunstgriff davon überzeugen, daß das runde Fenster sich jedesmal nach außen wölbte, wenn der Steig- bügel in den Vorhof eindrang. Wurden zu hohe Töne benutzt, so wurden die Elongationen zu klein, um sichtbar zu sein. Mach und Kessel) haben auch beim Lebenden die Schwingungen des mit Goldbronze bestäubten Trommelfells mittels einer sinnreichen Vorrichtung während der Zuleitung eines Tones durch den Gehörgang mikroskopisch beobachtet. Desgleichen experimentierte Berthold’) am lebenden Menschen. Das Prinzip der manometrischen Flamme benutzend, machte er den äußeren Gehörgang zur Gaskammer und erhielt im rotierenden Spiegel schöne Flammenkurven, wenn auf den Schädel eine tönende Gabel gesetzt wurde. Nagel und Samojloff®) konnten dieses Resultat bestätigen. Sie stellten außerdem ähnliche Versuche an einem Tierkopfe an, wobei die Paukenhöhle als Gaskammer diente. . Daß bei solchen Experimenten wirklich die Schwin- gungen des Trommelfelles es sind, die die Vibrationen der Flamme hervorrufen, folgt daraus, daß die letzteren aufhören oder geringer werden, wenn man die Trommelfellbewegungen während der Beobachtung durch geeignete Maß- nahmen hindert oder erschwert. Die Autoren bekamen übrigens eine Reaktion des Trommelfelles nicht nur dann, wenn vor der in den Gehörgang des Präpa- rates führenden Röhre mit gewöhnlicher Intensität gesungen, gesprochen !) Arch. f. Ohrenheilk. 1, 330, 1864. — *) Arch. f. Augen- und Ohrenheilkunde 1 (2), 121, 1870. — °) Ebenda, 2 (2), 64, 1872. — *) Arch. f. Ohrenheilk. 6, 41f., 1873. — °) Ber. d. Kais. Akad. z. Wien, math.-physikal. Kl., 69 (3), 221 ff., 1874. — °) Ebenda 66 (3), 1872. — ”) Monatsschr. f. Ohrenheilk. 1872 (3). — °) Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abteil., 1898, S. 505. 556 Funktion des Tensor tympani. oder gepfiffen wurde, in welchem Falle die Flamme sehr starke Schwingungen machte, sondern auch noch, wenn leise geflüstert ward. Schon damit erledigt sich ohne weiteres der von Zimmermann gegen die Massenschwingungen des Mittelohrapparates ins Feld geführte Einwand, daß dieselben nur bei über- trieben starker Schallerregung gleichsam als eine Art Kunstprodukt in die Erscheinung träten. Wenn nun aber durch die Schwingungen der Gehörknöchelchenkette die Tonwellen der Luft in zwar kleinere, jedoch dafür kräftigere Oszillationen umgewandelt werden, so fragt es sich, ob und wodurch ein das Labyrinth schädigender Effekt allzu lauter Töne oder Geräusche verhütet werden kann. In dieser Beziehung machte Helmholtz darauf aufmerksam, daß unter dem Druck einer übermäßigen Luftverdichtung im Gehörgang das Trommelfell durchgebogen und dadurch der Hammerstiel wieder nach auswärts gezogen werden würde, falls die Membran nicht schon vorher platzen sollte. Einer excessiven Bewegung nach dem Gehörgang zu, welche die Folge einer hoch- gradigen Verdichtung der Paukenhöhlenluft oder Verdünnung der äußeren Luft sein könnte, widersteht anderseits das Ligamentum externum und das Ligamentum superius mallei; außerdem wirkt der Umstand, daß der Hammer mit dem Handgriff auswärts schwingen kann, ohne den Amboß mitzunehmen, in dem gleichen Sinne, und schließlich dürfte auch das Gelenk zwischen Amboß und Steigbügel noch eher zerreißen als das Ringband, mittels dessen die Stapesplatte im ovalen Fenster befestigt ist. Als ein Schutzorgan des Ohres ist vielfach auch der Tensor tympani bezeichnet worden. Helmholtz betrachtete denselben als ein mäßig straffes, elastisches Band, dessen Spannung zeitweilig durch aktive Zusammenziehung beträchtlich erhöht werden könne und dessen Zweck hauptsächlich im An- spannen des Hammerachsenbandes bestehe, welches dadurch zugleich mit dem Stiele des Hammers und dem Trommelfelle nach innen gezogen werde. Das Resultat einer Tensorkontraktion würde hiernach das sein, daß erstens die Schwingungen der Knöchelchenkette verringert werden und zweitens in der Ruhe der Steigbügel weiter labyrinthwärts als gewöhnlich im ovalen Fenster steht. Die Dämpfung würde ihrerseits eine Schwächung namentlich der tieferen aus der Luft zum Ohre gelangenden Töne zur Folge haben müssen und die Einpressung des Steigbügels in den Vorhof eine Steigerung des Laby- rinthdruckes. Daß es sich wirklich so verhält, ist durch zahlreiche Beob- achtungen und Versuche!) an gesunden und kranken Menschen, an anato- mischen Präparaten und an Modellen festgestellt. Zunächst ist in dieser Beziehung zu erwähnen, daß die Durchschneidung der Tensorsehne bei Patienten eine Vergrößerung der Schwingungsweite des Mittelohrapparates hervorruft, die nach Bezold namentlich die Auswärts- bewegung betrifft. Kessel beobachtete im Anschluß an die Tenotomie ge- legentlich eine mehrtägige Hyperästhesie gegenüber den höheren Tönen bei !) Die seit 1864 erschienenen Publikationen über die normale und pathologische Funktion der Binnenohrmuskeln sind im Archiv für Ohrenheilkunde zum Teil als Originalartikel enthalten, zum anderen Teil referiert, so daß die Durchsicht dieser Zeitschrift dem Interessenten einen wohl als vollständig zu bezeichnenden Über- blick über die einschlägige Literatur ergeben dürfte. Dasselbe gilt übrigens bezüg- lich der Tubenwirkung und der Druckverhältnisse in Pauke und Labyrinth. Funktion des Tensor tympani. 557 normaler Hörschärfe. Was die Versuche an Gesunden anlangt, so handelt es sich dabei zumeist um Personen, die imstande sind, ihren Tensor will- kürlich zu kontrahieren. Ich gehöre selbst zu denen, die diese Fähigkeit be- sitzen. Zum Zwecke der Tensorzusammenziehung hebe ich das Gaumensegel. Dabei entsteht in der Regel ein knackendes Geräusch in beiden Ohren, das von der Öffnung der Tuben herrührt. Neben diesem Knacken und noch deutlicher, wenn dasselbe einmal ausbleibt, ‘habe ich eine sehr weiche, sehr kurz dauernde, flatternde Gehörsempfindung, die zweifellos von einer Mit- bewegung des Trommelfells verursacht wird, da der Eindruck ganz derselbe ist wie derjenige, den das rasche Vorüberführen eines Fingers vor der, Gehör- gangsöffnung erzeugt. Während der Tensorkontraktion werden, wie ich, die Angaben verschiedener Autoren bestätigend, aussagen kann, aus der Luft zugeleitete tiefere und mittlere Töne merklich gedämpft. Am besten gelingt ein solcher Versuch, wenn der Ton ziemlich kräftig ist. Beob- achtungen an Präparaten des Gehörorganes von Menschen und Tieren sind namentlich von Politzer!) und Lucae?) angestellt. Die Resultate der- selben sind dahin zusammenzufassen: Wenn während der Zuleitung eines Tones durch den Gehörgang oder vom Knochen aus das Trommelfell durch Ziehen an einem an der Tensorsehne befestigten Faden oder durch elek- trische Reizung der motorischen Nervenbahn des Tensors angespannt wird, so läßt sich beim Auskultieren der Paukenhöhle durch den Gehörgang oder durch die Tube eine Abschwächung des Grundtones neben einem Hervor- treten der Obertöne konstatieren und zeigen anderseits irgendwo auf die Knöchelchenkette aufgesetzte Fühlhebel eine Verminderung der Exkursionen an. Die Versuche an Modellen haben im wesentlichen das Gleiche ergeben, sind aber natürlich weniger beweiskräftig. - Die Zahl derjenigen, deren Trommelfellspanner dem Willen unterworfen ist, scheint nur gering zu sein. Die Bewegungen dieses Muskels sind im allgemeinen reflektorische. Den sensiblen Teil der vor einigen Jahren von V. Hammerschlag) genauer untersuchten Reflexbahn bildet der Acusticus, den motorischen der Trigeminus, wie zuerst von Politzer*) experimentell gezeigt wurde, der im Verlaufe seiner hierauf bezüglichen Untersuchung sich auch mittels verschiedener Methoden davon überzeugte, daß eine Tensor- kontraktion den intralabyrinthären Druck steigert. Demnach wäre die Schutzfunktion des Tensors so zu denken, daß der Muskel sich auf reflektorischem Wege unter der Einwirkung eines überlauten Schalles während der ganzen Dauer desselben, also unter Umständen tetanisch, zusammenzieht und damit die Schwingungen des Mittelohrapparates hemmt. Es soll nun gewiß nicht geleugnet werden, daß ein solcher Vorgang möglich ist. Aber anderseits muß auch als Einschränkung hervorgehoben werden, daß gerade die am leichtesten unerträglich werdenden hohen Töne durch die Paukenfellspannung wenig 'oder gar nicht gedämpft werden und daß das Ohr in jedem Falle während der, freilich ja nur kurzen, Reaktionszeit ungeschützt bleibt. Außerdem ist es noch nicht entschieden, ob überhaupt unter nor- ') Arch. f. Ohrenheilk. 1, 68 ff. u. 326, 1864. — ?) Ebenda 1, 311. — °?) Ber. d. Wiener Akad., math.-naturw. Kl., 108 (3), 1899 u. Arch. f. Ohrenheilk. 47, 251, 1899. — *) Ber. d. Wiener Akad., math.-naturw. Kl., 43 (2), 1861. 558 Accommodationshypothese. malen Verhältnissen tetanische Kontraktionen des Tensors vorkommen. Bockendahl!), ein Schüler Hensens, beobachtete zwar den Tetanus, befindet sich aber damit in direktem Gegensatz zu älteren Versuchen von Hensen selbst, in denen kein Tetanus erzeugt werden konnte. Auch Ost- mann?), der bei Ohrenkranken durch intensive hohe Töne und unangenehm laute Geräusche ausgelöste reflektorische Trommelfelleinziehungen otoskopisch beobachtete ?), spricht immer nur von „Zuckungen“ des Tensors, und ich selbst muß sagen, daß ich bei plötzlich einsetzenden gellenden Geräuschen ein schwirrendes Gefühl in der Gegend des Trommelfells habe, das eher den Ein- druck einer rasohen Aufeinanderfolge mehrerer Zusammenziehungen als den einer Dauerkontraktion macht. Im übrigen ist gewiß bemerkenswert, daß es beim Menschen vorwiegend oder allein gerade die hohen, nicht dämpfbaren Töne zu sein scheinen, die den Tensor erregen. Somit ist die Schutzfunktion des Trommelfellspanners doch in mancher Beziehung recht fraglich. Von verschiedenen Autoren ist denn auch dem Tensor eine andere Leistung zugeschrieben worden, nämlich eine Accommodation des Trommel- felles. Wiederholt und sehr eingehend hat sich Mach) mit diesem Gegen- stande beschäftigt. Er stellte die Hypothese auf, daß der Muskel durch seine veränderliche Spannung eine Verschiebung des Maximums der Mitschwingungs- fähigkeit des Trommelfells von einer Tonhöhe zur anderen herbeiführe, daß jeder Tonhöhe ein bestimmter Kontraktionsgrad des Tensors entspräche und daß die Unterschiede der Spannungsempfindungen zur Erkennung der Ton- höhe verwertet würden. Er hat jedoch später selbst diese Idee wieder fallen gelassen, da es ihm auf keine Weise gelingen wollte, experimentelle Stützen für dieselbe zu gewinnen. Weder durch Auskultation noch durch Inspektion des Trommelfelles einer auf verschiedene Tonhöhen nacheinander horchenden Versuchsperson konnte irgend eine Veränderung der Paukenfellspannung wahrgenommen werden. Auch Schapringer’), der die bei willkürlicher Zusammenziehung seines Tensors erfolgende Einwärtsbewegung des Trommel- felles mittels eines in den Gehörgang eingesetzten Manometers demonstrieren konnte, vermochte keinerlei Accommodationsvorgänge zu konstatieren, und ebensowenig ist dies trotz vieler Bemühungen W. Heinrich‘) am lebenden Menschen gelungen. Hensen’) hat, gestützt auf Beobachtungen an curari- sierten Tieren, die Meinung vertreten, der Tensor zucke zu Anfang jedes Schalleindruckes und dämpfe beim Sprechenhören die Konsonanten zugunsten der Perzeption der wichtigeren Vokale. Seine Angabe, daß der Tensor des »Hundes auf Schall reagiere, und zwar auf hohe Töne stärker als auf tiefe, ist durch die schon erwähnte Arbeit von Bockendahl bestätigt worden, desgleichen von Pollak°). Aber ‘eine eigentliche Accommodation des 1) Üb. d. Beweg. d. M. tensor tympani usw., Kieler Diss., 1880, 8. 16. — ?) Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abteil., 1898, 8.75 ff. — .?) Daß die durch den Tensor bewirkte Trommelfellanspannung beim Lebenden sichtbar sein kann, war übrigens schon vorher bekannt... — *) Ber. d. Wiener Akad., math.-naturw. Kl., 48 (2), 1863; 50 (2), 1864; 51 (2), 1865; (mit Kessel) 66 (3), 1872. — 5) Ebenda, 62 (2), 1870. — °) Zentralbl. f. Physiol., 1896 (7). Heinrichs neueste Versuche am Tierpräparat (Bull. de l’Acad. d. sciences de Cracovie, Cl. math. et nat., 1903) beweisen zum min- desten nichts für den Menschen. — 7) Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abteil., 1878, S. 312. Siehe auch Pflügers Arch. 87, 355, 1901. — ®) Med. Jahrbücher 1886, 8. 555 ff. Vgl. auch Hammerschlag, Arch. f. Ohrenheilk. 46, 1, 1899. Funktion des Stapedius. 559 Trommelfelles scheint mir durch diese Versuche keineswegs bewiesen. Ich finde vielmehr, daß dieselbe um so unwahrscheinlicher wird, je genauer man alle dabei in Betracht kommenden Punkte durchdenkt. Alles in allem genommen hat sich also bis jetzt eine bestimmte Tensor- funktion nicht feststellen lassen, und ähnlich verhält es sich mit dem Mus- culus stapedius. Derselbe wird vom Facialis innerviert und gelegentlich bei der Tätigkeit anderer von dem gleichen Nerven versorgter Muskeln mit kontrahiert. So bemerkte Gottstein!) an sich selbst beim Lauschen ein eigentümliches Spannungsgefühl im Ohre, das er auf den Stapedius bezog. In neuerer Zeit hat wiederum Ostmann?) darauf hingewiesen, daß der Stapedius besonders dazu geeignet scheine, beim Horchen in Aktion zu treten. Einerseits sei es wahrscheinlich, weil dabei ohnehin verschiedene vom Facialis abhängige Muskeln kontrahiert würden; anderseits müsse eine Innervation des Steigbügelmuskels die Schallwahrnehmung günstig beeinflussen, was ja beim Lauschen erstrebt.werde. In der Tat macht der Steigbügel nach den Angaben von Politzer?), von Eysell®), von Mach und Kessel’) infolge einer Verkürzung des Stapedius mit dem vorderen Teile seiner Fußplatte eine nach der Pauke gerichtete Bewegung, so daß unter gleichzeitiger Verminderung des Labyrinthdruckes der stumpfe Winkel zwischen Incus und Stapes gestreckter wird, die Knöchelchenkette auswärts rückt und das Trommelfell sich ein wenig entspannt, wodurch nach den Ausführungen von Helmholtz u. a. die Mit- schwingungen des Mittelohrapparates vergrößert werden. Indessen erheben sich doch auch Bedenken gegen die Ansicht Ostmanns. Beim anhaltenden Lauschen auf einen sehr leisen kontinuierlichen Schalleindruck müßte der Stapedius tetanisch kontrahiert sein, und dadurch würde, abgesehen von dem störenden Muskelton, wieder eine Schwächung des Gehörs eintreten. Denn der Muskel zieht das Köpfchen des Steigbügels, das bei den Inkursionen der Kette nach vorn und oben geht, nach der entgegengesetzten Richtung. Er wirkt daher bei der Dauerkontraktion offenbar hemmend auf die Schwingungen der Knöchelchen, und zwar in einer Weise, die ihn als Antagonisten des Tensors erscheinen läßt, insofern er vorwiegend die Einwärtsbewegungen hindert, während jener mehr die Exkursionen verringert. Politzer hat das Verdienst, auf den Antagonismus zwischen Tensor und Stapedius besonders aufmerksam gemacht zu haben. Er®) hat auch die Meinung ausgesprochen, daß die wichtigste Funktion der beiden Muskeln darin bestehe, die durch die Luftdruckschwankungen bedingten Änderungen in der Spannung der Gehörknöchelchen und des Labyrinthinhaltes zu be- seitigen, also den Spannungsgrad des Gehörapparates zu regulieren. Diese Ansicht ist freilich durchaus nicht ganz von der Hand zu weisen. Das Hauptmittel zum Ausgleich von Störungen und namentlich von anhaltenderen Störungen des Labyrinthdruckes ist aber wohl in den Zirkulationsverhältnissen im inneren Öhre zu suchen, während anderseits Unterschiede des Luftdruckes im Gehör- gange und in der Pauke in erster Linie durch die von Zeit zu Zeit erfolgende Öffnung der Tube redressiert werden dürften. !) Arch. f. Ohrenheilk. 16, 60. — ?) Arch. £.- Anat. u. Physiol., physiol. Abteil., 1899, S. 546. — °) Ber. d. Wiener Akad., math.-nat. Kl., 43 (2), 431, 1861 u. Arch. f. Ohrenheilk. 9, 162 £., 1875. — *) Arch. f. Ohrenheilk. 5, 245 ff., 1870. — °) Ber. d. Wiener Akad., math.-nat. Kl., 69 (2), 221 ff., 1874. — °) Arch. f. Ohrenheilk. 4, 23, 1869. 560 Physiologie der Eustachischen Röhre. — Valsalvascher Versuch. Die meisten maßgebenden Autoren stimmen darin überein, daß die Eustachische Röhre nicht fortwährend offen ist und also keine ständige Ausgleichung des Luftdruckes innerhalb und außerhalb der Trommelhöhle stattfindet, sondern daß die Wandungen der Ohrtrompete in der Ruhe an- einander liegen unddie Eröffnung!) nur bei gewissen Muskelaktionen, be- sonders bei der Schlingbewegung eintritt. Freilich ist der normale Tuben- verschluß offenbar bei verschiedenen Personen verschieden kräftig. Damit erklären sich unter anderem die gelegentlich von Ohrenärzten beobachteten respiratorischen Trommelfellbewegungen, die auf eine Durchgängigkeit der Tube für den Respirationsstrom schließen lassen, wenn man sie nicht mit Lucae?) auf Druckschwankungen der Paukenluft infolge von Gaumensegel- bewegungen zurückführen will. Die Regel ist aber jedenfalls, daß die Tube dem Durchtritt der Luft einen mehr oder weniger beträchtlichen Widerstand entgegensetzt. Wie oft festgestellt ist, tritt beim Besteigen höherer Berge in der verdünnten Atmosphäre ein eigentümliches, auf dem Überdruck der Trommel- höhlenluft beruhendes Gefühl von Spannung im Ohre ein, das beim Schlucken sofort zu weichen pflegt. Anderseits wird beim Aufenthalt in stark kompri- mierter Luft?) das Trommelfell nach innen gedrückt, so daß Rötung und Schmerzen neben der Empfindung der Völle auftreten. Auch hier erfolgt der Ausgleich durch eine die Tube eröffnende Schlingbewegung, wenn nicht gar das gewaltsame Einpressen von Luft durch forcierte Exspiration bei geschlos- senem Munde und zugehaltener Nase nötig wird. Letzteres Experiment, bekannt unter dem Namen des Valsalvaschen Versuches, liefert übrigens, unter gewöhnlichen Verhältnissen ausgeführt, schon an sich den Beweis, daß in den meisten Fällen eine gewisse Kraft nötig ist, um den Tubenverschluß von außen zu sprengen, ebenso wie das umgekehrte, auch der negative Valsalvasche Versuch genannte, Experiment, das darin besteht, daß während des Zuhaltens von Mund und Nase tief inspiriert wird, und das eine Luftverdünnung in der Pauke mit Einziehung des Trommelfelles zur Folge hat*). Bei diesem Experiment dringt nach Politzer’) gewöhnlich erst infolge einer Schluckbewegung wieder Luft in die Pauke, während der Über- druck beim positiven Valsalvaversuch sich von selbst ausgleichen kann®). Mach und Kessel’) konstatierten im pneumatischen Kabinett, daß das Trommelfell auf positive und negative Druckschwankungen mit entsprechenden Ein- und Auswärtsbewegungen reagierte, und folgerten auch ihrerseits hieraus, daß die Tuben in der Regel geschlossen seien: Der akustische Nutzeffekt dieser Einrichtung zeigt sich, wie die beiden Autoren mit Recht hervorheben, darin, daß die Schalliätensität eine größere ist. Bei den tieferen Tönen ist der ganze Kopf gleichsam in die Schallwelle getaucht, und alle Teile des Ohres !) Über den Mechanismus derselben vgl. den Abschnitt „Anatomische Vor- bemerkungen“. — ?) Arch. f. Ohrenheilk. 1, 96, 1864. — *) Vgl. Magnus, Ebenda 1, 269, 1864. — *) Statt der Inspiration kann man auch den Schlingakt benutzen (sog. Toynbeescher Versuch). — °) Ber. d. Wiener Akad., math.-nat. Kl., 43 (2), 434, 1861. — °) Vgl. Hartmann (Experimentelle Studien über die Funktion der Eustachischen Röhre, Leipzig, Veit & Co., 1879, 8. 11), nach dessen Beobachtungen im pneumatischen Kabinett die Tuben in der Ruhestellung ihrer Muskulatur sich wie Klappen verhalten, die nach dem Nasenrachenraum sich auf Druck in der Pauke öffnen, bei erhöhtem Druck im Nasen-Rachenraum aber geschlossen bleiben. — 7) Ber. d. Wiener Akad., math.-nat. Kl., 66 (3), 1872. Diotische Schwebungen und Differenztöne. 577 beantwortet werden. Ich befinde mich hierbei in Übereinstimmung mit Stumpf und Fechner, welcher letztere darauf aufmerksam gemacht hat, daß ein Schall, der auf irgend einem Wege durch die Kopfknochen von einem " Ohre zum anderen dringe, nicht an sich hörbar zu sein, nicht selbst die Schwelle zu übersteigen brauche, wenn er nur ausreicht, einem wenig unter- halb der Schwelle befindlichen Schalle den zum Überschreiten derselben eben hinreichenden Zuwachs zu erteilen !). Die diotischen Schwebungen unterscheiden sich von den gewöhnlichen monotischen, welche durch die Zuleitung beider Primärtöne zu einem und demselben Ohre erzeugt werden, dadurch, daß sie einen anderen, milderen Charakter haben und die Grenze, an der sie infolge zu großer Frequenz unhörbar werden, erheblich niedriger liegt. So fand Stumpf), mit Stimmgabeln der großen Oktave experimentierend, daß diotisch nicht mehr als 16 bis 20 Schwe- bungen in der Sekunde hörbar waren; in der kleinen Oktavelag das Maximum bei 32 bis 40, in der eingestrichenen ungefähr bei 50, in der nächsthöheren etwa bei 70. In der dreigestrichenen Oktave sind die Schwebungen zweier an beide Ohren verteilter Gabeln in allen Fällen nur sehr undeutlich. Die diotisch getrennte Zuleitung zweier Primärtöne ist ein gutes Hilfs- mittel, um die Dissonanz des so gehörten Zweiklanges. unabhängig von der Raubigkeit der Schwebungen zu studieren. Mit der letzteren zugleich fallen nun aber gewöhnlich auch die Kombinationstöne weg, weshalb manche mit Dove?) geglaubt haben, Differenztöne kämen überhaupt nie zustande, wenn der eine Primärton vor dem rechten, der andere vor dem linken Ohre klingt. Daß diese Behauptung in so extremer Form nicht zutrifft, davon habe ich mich im Laufe einer Untersuchung: „Über die Wahrnehmung und Lokali- sation von Schwebungen und Differenztönen“ *) überzeugt. Sind beide Primärtöne gleich laut, so hört man freilich keinen Differenzton, weil dann jederseits der durch oder um den Kopf herum zum anderen Ohre übergeleitete Ton auf diesem Wege zu viel an Intensität eingebüßt hat, als daß er mit dem direkt von außen kommenden, relativ lauteren noch einen vernehmlichen Kombinationston erzeugen könnte. Überwiegt aber der eine Primärton in solchem Grade an Stärke, daß er in dem anderen Ohre mit dem dortigen Primärtone in passendem Intensitätsverhältnis zusammentrifft, so hört man hier, also auf der Seite des leiseren Primärtones, den Differenzton. Befinden sich beide Primärtonquellen in der Medianebene, so. verlegt man auch den Differenzton in diese. Treffen die Primärtöne den Beobachter von derselben Seite, so wird der Kombinationston in oder unmittelbar vor dem Ohre, auch wohl ein wenig von hinten und unten kommend, gehört, wo- bei sein Ort alle Bewegungen des Kopfes mitmacht, als ob er an demselben fixiert wäre. Hierin zeigen die Differenztöne ein Verhalten, das von dem der Schwebungen durchaus abweicht. Bei diesen wechselt nämlich die Richtung und Entfernung wesentlich mit derjenigen der Primärtöne, und zwar lassen sich meine mannigfachen Beobachtungen hierüber in folgende Sätze zusammenfassen: Für die Lokalisation der Schwebungen zweier Töne !) Vgl. hierzu meine Abhandlung in Pflügers Archiv 61, 544, 1895. — ?) Ton- psychol. 2, 470, 1890. — ®) Pogg. Ann. 107, 652, 1859. — *) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 1, 81, 1890. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 37 578 Beurteilung der Schallrichtung und -entfernung. ist bei ungleicher Intensität der letzteren unter allen Umständen die Richtung und Entfernung, aus der uns der stärker erregende Ton trifft, maßgebend. Ist die relative Intensität der Primärtöne gleich, so gehen die Schwebungen _ aus der Region zwischen den beiden Tonquellen hervor. Ein spezieller Fall hiervon ist es, daß die Stöße bei Aufstellung der Schallquellen rechts und links von der Medianebene in diese projiziert werden. Hören wir durch Luftleitung einen in der Medianebene erzeugten Schall, so findet bei gleicher Hörschärfe beider Ohren auch mediane Lokalisation statt. Abweichungen pflegen bei aufmerksamen Versuchspersonen nicht vorzukommen. Um so schwieriger ist hierbei die genauere Beurteilung der Richtung, aus welcher der Schall kommt. Ich habe nur vereinzelte und dann in der Regel jugendliche Personen gefunden, die in dieser Beziehung keine Fehler bei einer größeren Anzahl von Versuchen machten. Im allgemeinen werden Oben, Unten, Vorn und Hinten in verschiedener Weise miteinander verwechselt, und die objektive Unrichtigkeit der irrtümlichen Angaben steht dabei gewöhnlich in einem eigentümlichen Gegensatz zu der subjektiven Sicherheit des Urteils. Die Medianlokalisation ist die Folge der gleich starken Erregung beider Gehörorgane. Sie tritt daher — wieder beiderseits gleiche Hörschärfe vorausgesetzt — auch ein, wenn von zwei unisonen und gleich lauten Ton- quellen, etwa Stimmgabeln, die eine vor das rechte, die andere vor das linke Ohr gehalten wird, falls nicht etwa, was zuweilen vorkommt, die beiden Empfindungen räumlich getrennt bleiben. Bezüglich des scheinbaren Ab- standes einer median lokalisierten Schallquelle vom Kopfe lassen sich, von sonstigen Einzelheiten abgesehen, zwei Gruppen von Fällen, nämlich intra- eranielle und extracranielle Lokalisation, unterscheiden. Der Ton einer vor der Nase in der Luft klingenden Gabel wird nie ins Innere des Schädels verlegt. Steckt man aber die beiden Enden eines Kautschuk- schlauches in die Ohren und setzt auf die Mitte desselben eine sehr stark tönende Gabel, so hört man sie median im Kopfe, und zwar meist im Hinter- haupt. Dasselbe Resultat erhält man, wenn man zwei durchaus conform schwingende Telephone fest an die Ohrmuscheln preßt!). In einer Reihe speziell diesen Unterschied zwischen intra- und extracranieller Lokalisation betreffender Beobachtungen konnte ich ?) feststellen, daß der scheinbar ein- fache und mediane Ursprungsort des Doppelschalles dem Kopfe um so näher liegt, je näher die Schallquellen, einzeln vernommen, geschätzt werden, und daß er in den Kopf hineinrückt, sobald man jede der beiden Schallquellen, für sich geprüft, direkt im Ohr ihrer Seite hört. Ein von rechts kommender Schall wird von normal Hörenden niemals nach links verlegt und umgekehrt; wohl aber finden auch hier Verwechselungen zwischen Oben, Unten, Vorn und Hinten statt, wobei, wahrscheinlich im Zusammenhang mit Form und Lage der Ohrmuschel, im allgemeinen eine Tendenz zu bestehen scheint, die Richtungen Oben und Vorn-Oben zu bevor- !) Ähnliche Versuche sind zuerst von Purkyn& (Ber. d. Kgl. Böhm. Gesellsch. d. Wiss. z. Prag, 1860) angestellt. Urbantschitsch (Pflügers Arch. 24, 579 ff., 1881) fand später, daß der Schall statt ins Hinterhaupt auch öfter in die Stirn oder an zwei symmetrische Punkte seitlich von der Mittelebene verlegt wird. — ?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 1, 300 ff., 1890. Beurteilung der Schallrichtung und -entfernung. — Geräusche. 579 zugen. Die Unterscheidung von Rechts und Links ist stets richtig, weil wir hinreichend empfindlich sind, um zu unterscheiden, daß das eine Ohr stärker erregt wird als das andere; dem ersteren liegt erfahrungsmäßig die Schall- quelle näher. Die Intensitätsunterschiedsempfindlichkeit an sich zeigt uns freilich nur an, daß eines der Ohren überwiegend gereizt wird. Die Er- kenntnis, um welches von beiden es sich dabei handelt, knüpft sich jedenfalls an eine Art von Lokalzeichen, welches als eine für das rechte und linke Ohr verschiedene Qualität zu den übrigen Qualitäten des Schallreizes auf dessen Wege längs der nervösen Hörbahn hinzutritt!). Ob für die Unterscheidung der Richtungen Oben, Unten, Vorn, Hinten besondere physiologische Ein- richtungen existieren, oder ob die hierauf bezüglichen Urteile sich nur auf mittelbare Kriterien stützen, ist noch unsicher, das letztere aber wahrschein- licher. Die im verflossenen Jahrhundert mehrfach, zuletzt von Preyer?) und in anderer Form von Münsterberg?°) vertretene Auffassung, die Bogengänge ständen mit der Schalllokalisation in Beziehung, haben sich wenigstens nicht als stichhaltig erwiesen *). Die Beurteilung der Entfernung einer Schallquelle ist noch schwerer und unsicherer als diejenige der Richtung. Hier. spielen Unterschiede der Stärke und Klangfarbe ‘offenbar eine gewisse Rolle, wenn auch keineswegs immer eine Intensitätsverminderung als eine Vergrößerung oder eine Inten- sitätssteigerung als Verkleinerung des Abstandes aufgefaßt wird. Es fehlt noch sehr an genaueren Untersuchungen. VI. Von den Geräuschen. a) Physikalisches und Physiologisches. Eine präzise psychophysiologische Definition des Begriffes Geräusch zu geben, ist nicht ganz leicht. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch pflegt man als Geräusch im allgemeinen einen solchen Schalleindruck zu bezeichnen, dem weder das Einheitliche, Klare, Glatte, Andauernde eines einfachen Tones, noch das Melodische, Harmonische, Rhythmische einer musikalischen Klang- masse eigen ist. Indessen bestehen doch zwischen Geräuschen und Tönen verwandtschaftliche Beziehungen in der Empfindung. Den Geräuschen kommen ebenso wie den Tönen Unterschiede hinsichtlich der Dauer, der Stärke, der Gleichmäßigkeit und vor allen Dingen der Höhe zu. Die Sprache bringt letzteres onomatopoetisch dadurch zum Ausdruck, daß in der Benennung eines Geräusches als charakteristischer Vokal ein um so dunklerer gewählt wird, je tiefer das Geräusch, ein um so hellerer, je höher es ist. Eine von der Tiefe zur Höhe fortschreitende Reihe von Geräuschen wird z. B. gekennzeichnet durch die Wörter: Brummen, Murmeln, Schnurren, Knurren, Poltern, Rollen, Sausen, Rauschen, Hauchen, Rasseln, Knarren, Klappern, Knattern, Schmettern, Wehen, Kreischen, Knistern, Klirren, Ticken, Knipsen, Zischen, Zwitschern. Daß man den Geräuschen eine mehr oder weniger bestimmte Tonhöhe zuschreibt, hängt mindestens zum Teil damit zusammen, daß die meisten, !) Vgl. Stumpf, Tonpsychol. 2, 52ff., 1890. — ?) Pflügers Arch. 40, 5886, 1887. — °?) Beiträge z. experim. Psychol. 2 (1889). — *) Vgl. v. Kries, Zeitschr, f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 1, 235, 1890. 37* 580 Geräusche. — Physikalische Versuche. wenn nicht alle, einen oder mehrere Töne enthalten. Handelt es sich um ein nicht zu leises und zu kurzes Geräusch, so wird man oft genug ohne Mühe solche Töne heraushören. In anderen Fällen ist die Analyse nicht selten sehr schwierig. Stumpf, welcher in seiner Tonpsychologie !) den Geräuschen ein besonderes Kapitel gewidmet hat, berichtet, er habe einmal im Plätschern eines Gebirgsbachs besonders scharf und beständig fis! gehört, immer umspielt von benachbarten Tönen; dazu ein Glucksen und Gurgeln, aus momentanen tieferen Tönen bestehend, und außerdem noch das eigentliche, gar nicht analysierbare Rauschen. Subjektive Geräusche scheinen ihm weniger deutlich Töne zu enthalten als objektive. Wenigstens konnte er in einem anhaltenden Geräusche dieser Art während einer Entzündung des Mittelohres bloß zu- weilen mit einiger Bestimmtheit einen Ton (gis?) entdecken und im übrigen höchstens verschiedene Töne, alle jenseits c?, zu hören glauben; der Schall- eindruck war eigentlich fast rein geräuschartig. Nach meinen Erfahrungen kann man sich durch Übung bis zu einem gewissen Grade im Heraushören von Tönen aus Geräuschen vervollkommnen. Ein äußerliches Hilfsmittel besteht darin, mehrere Geräusche ähnlicher Art rasch aufeinander folgen zu lassen. So kann man, wenn man eine Anzahl entsprechend abgestimmter hölzerner Klangstäbe der Reihe nach auf einen Tisch wirft, deutlich die Ton- leiter hören, während die Töne der einzelnen Hölzer nur mühsam wahr- _ zunehmen sind 2). Um also das Wesen irgend eines Geräusches und der zugehörigen Empfindung zu ergründen, wird man zunächst die darin enthaltenen ein- fachen Töne analytisch abzuscheiden, ihre Höhe, Stärke und Dauer zu be- stimmen und schließlich den rein geräuschigen Rest weiter zu prüfen haben — falls nämlich dann ein solcher übrig bleiben sollte. Indessen sind wir mit unseren gegenwärtigen Kenntnissen und Methoden noch nicht entfernt in der Lage, alle Geräusche in solcher Vollständigkeit zu zerlegen. Findet die physikalische und physiologische Analyse schon den Klängen gegenüber Schwierigkeiten und Grenzen, so gilt dies in noch höherem Grade von den Geräuschen. Um Aufklärung über die physikalische Beschaffenheit wenigstens einiger derselben zu erhalten, hat man versucht, die zugrunde liegende Luft- bewegung sichtbar zu machen. So stellte Töpler?) mit seinem Schlieren- apparat Untersuchungen über den elektrischen Funken an, denen zufolge dieser nur eine einzige Luftwelle erzeugen soll, ein Ergebnis, das von ver- schiedenen späteren Autoren ernstlich in Zweifel gezogen ist. Hensen‘) beobachtete durch Knall verursachte Lufterschütterungen mittels einer Koenigschen manometrischen Flamme, wobei eine nicht sehr stark gedämpfte, schwach gespannte Kautschukmembran verwendet wurde. Die- selbe reagierte immer mit mehreren, oft bis zu 10, Schwingungen, und eine ähnliche Bewegung knüpfte sich an die Laute p, b, k, t. Brücke?) wandte gegen die Versuche mit Kautschukmembranen ein, daß die letzteren störende 1) 2, 497 ff., 1890. — ®) Vgl. auch R. Koenig, Wiedemanns Ann. 14, 375, 1881. — °®) Beobachtungen nach einer neuen optischen Methode, Bonn 1864. Über neuere Versuche in dieser Richtung vgl. Fortschritte d. Physik, Jahrgang 1899 u.f.— - ‘) Hermanns Handbuch d. Physiol. 3 (2), 19, 1880. — °) Sitzungsber. d. Wiener Akad. 90 (3), Oktober 1884. Physikalische Versuche zur Geräuschanalyse.' 581 Nachschwingungen machten, und benutzte statt ihrer eine gedämpfte Glimmer- platte. Auf diese Weise erhielt er beim Händeklatschen und beim Explo- dieren von Seifenblasen, die mit einem Luft-Wasserstoff- Gemenge gefüllt waren, in der Regel nur eine Zacke. Beim Herausschießen von Pfropfen aus Bleiröhren ergaben sich dagegen stets mehrere Zacken; hierbei hatte das Geräusch auch einen mit der Länge der Röhre an Tiefe zunehmenden Bei- klang,. welcher sich aus stehenden Luftschwingungen in der wie ein an- geblasener Resonator wirkenden Röhre erklärte. Gegen die Brückeschen Versuche kann man wieder geltend machen, daß die Glimmerplatte möglicher- weise schwächere Wellenbewegungen wegen ihrer Beschaffenheit nicht oder ‚nicht kräftig genug zur Darstellung bringt. Im ganzen ist also die optische Methode der Geräuschanalyse als ziemlich unvollkommen zu bezeichnen. Insbesondere ist es zurzeit noch fraglich, ob es wirklich irgend einen Knall gibt, dem nur eine einzige Luftwelle zugrunde lieg. Wenn Hensen und Schmidekam!) darauf hinweisen, daß schon die möglichst einfache Be- - wegung des Trommelfelles, welche entsteht, wenn man dasselbe mit einer Sonde berührt oder wenn man die Sonde zurückzieht, eine Knallempfindung liefert, so ist dem gegenüber daran zu erinnern, daß auch bei diesem Versuch Nach- schwingungen der Luftim Gehörgang zum mindesten nicht ausgeschlossen sind. Auch das Verfahren, die in einem Geräusche enthaltenen Töne durch Resonanz nachzuweisen, ist mehrfach angewendet. Hensen?) benutzte das Fortepiano zur Analyse des Händeklatschens. Bald hier, bald dort „regte sich eine Anzahl Saiten“, und das Instrument „gab eine weit bestimmtere Antwort über den Wechsel der Knallhöhe als es das Ohr direkt vermochte“. Ähnliche Beobachtungen kann man übrigens mit beliebigen nicht zu leisen Geräuschen in der Nähe des Klavieres anstellen. Mach ?) untersuchte speziell die Geräusche explodierender Knallgasblasen auf diese Weise und fand, daß große vorzugsweise die tiefen, kleine 'die hohen Saiten zum Mit- schwingen bringen. Einer systematischen Analyse aller möglichen Geräusche steht freilich die Schwierigkeit entgegen, daß dazu sehr viele Saiten oder. Resonatoren nötig sind und daß beide Hilfsmittel versagen, wenn die Stärke der betreffenden Teiltöne ein bestimmtes Minimum nicht überschreitet. Über- dies ist hier wohl der Ort, eine gewisse Vorsicht bei der Verwendung von Resonanzmitteln gegenüber solchen Geräuschen zu empfehlen, welche mit verhältnismäßig starken Erschütterungen oder Luftströmungen verbunden sind. Gut gearbeitete Stimmgabeln auf Resonanzkasten sind derart empfind- lich, daß sie schon durch leises Anstoßen oder schwaches Anblasen zum Tönen gebracht werden und so gelegentlich die Existenz eines faktisch in dem zu prüfenden Geräusch gar nicht enthaltenen Tones vortäuschen können. Von ‚Saiten dürfte Analoges gelten. Kommt doch die Äolsharfe offenbar nicht dadurch zum Klingen, daß sie auf Töne im Winde resoniert, sondern weil der Luftstrom die Saiten ähnlich wie der Violinbogen aus ihrer Gleich- gewichtslage bringt. Was schließlich die Resonatoren anlangt, so ist be- kannt, daß schon ein leises Hinwegblasen über die Schallöffnung dieselben zum Tönen veranlaßt. 1) Arbeiten d. Kieler Physiol. Inst. 1868, 8. 49. — °) Arch. £f. Ohrenheilk. 23, 80, 1886. — °) Analyse der Empfindungen usw. (2), Jena 1900, 8. 173. 582 Physiologische Versuche über Geräusche. Ein Beobachter, welcher ein scharfes und geübtes Ohr besitzt, verfügt damit über ein ganz vortreffliches Mittel zur Geräuschanalyse, aber für alle Fälle reicht es doch auch nicht aus. Diejenigen Teiltöne eines Geräusches, welche, absolut genommen, unter der Schwelle bleiben, kommen freilich über- haupt nicht für das Geräusch als physiologische Erscheinung in Betracht. Dafür wird es indes bei Geräuschen sehr viel öfter als bei musikalischen Klängen vorkommen, daß einzelne darin enthaltene Töne neben der gesamten Schallmasse relativ unterschwellig sind, oder eine sehr kurze Dauer haben, oder hinsichtlich der Tonhöhe sehr nahe zusammen liegen. Alle diese Momente bilden aber, wie früher schon ausführlicher erörtert worden ist, beträchtliche und unter Umständen unüberwindliche Hindernisse der physiologischen Schallzerlegung. Immerhin verdanken wir dem physiologischen Experiment das Wichtigste von dem, was wir bis jetzt über die Beziehungen zwischen Tonempfindungen und Geräuschempfindungen wissen. Zunächst steht fest, daß ein allmählicher Übergang zwischen Ton und Geräusch möglich ist, insofern ein Ton bei exzessiver Verkürzung seiner Dauer zuletzt, für den einen Hörer eher als für den anderen, einen geräusch- artigen Charakter annimmt, wovon bereits in dem Abschnitt über die kürzesten Töne die Rede war. So hat Mach!) es ja direkt ausgesprochen, daß das c’ „zu einem kurzen, trockenen Schlag oder schwachen Knall von sehr undeutlicher Tonhöhe zusammenschrumpfe“, wenn die Zahl der Schwin- gungen auf zwei bis drei reduziert würde. Dennert?) gibt an, daß das Anschlagen eines auf c* abgestimmten Pappresonators mit einem Hämmer- chen den Ton sehr ähnlich dem Uhrticken erscheinen läßt und daß der Klang, den ein zwischen die Zähne geklemmtes, dünnes, schmales Holzstäbchen her- vorruft, wenn es angestoßen wird, mit zunehmender Verkürzung des Stäb- chens sich erst successive erhöht, dann in ein tickendes und zuletzt in ein knipsendes Geräusch übergeht. Versuche mit dem gleichen Resultat der Verwandlung eines Tones in ein Geräusch hat Kessel?) mit Pfeifen aus- geführt. Man kann dazu aber auch Glocken oder Weingläser benutzen, in- dem man sie anfänglich frei aufgehängt und darauf bei wachsender durch Auflegen der Finger bewirkter Dämpfung anschlägt. Wie schon Helmholtz in seiner Lehre von den Tonempfindungen an- gegeben hat, kann man anderseits ein Geräusch aus Tönen kombinieren, wenn man hierzu nahe benachbarte wählt, z. B. sämtliche Tasten des Klaviers in der Breite von einer oder zwei Oktaven zugleich anschlägt. Der geräusch- artige Charakter wird in diesem Falle wohl durch das Zusammenwirken der Dissonanz, der Unanalysierbarkeit und des wirren Durcheinanderwogens der Schwebungen bedingt. Stumpf) erklärt, daß der Versuch nur in der tiefen Region wirklich zu einem beinahe reinen Geräusche führe; in den mittleren Oktaven bleibe der Eindruck im wesentlichen ein Klang, aus dem auch eine größere oder geringere Anzahl Teiltöne herauszuhören sei. Da- nach scheint es fast, als ob ein Geräusch um so eher als Klang beurteilt würde, je mehr dem Beobachter durch Übung oder andere Umstände: die !) Lotos, Aug. 1873. — ?) Arch. f. Ohrenheilk. 29, 82, 1890 und 41, ı11, 1896. — ®) Arch. f. Ohrenheilk. 18, 138, 1882. — *) Tonpsychologie 2, 504 ff., 1890. Physiologisches über Geräusche. 583 Zerlegung in Teiltöne erleichtert ist, und als ob ein und dasselbe Geräusch für verschiedene Hörer einen verschieden hohen Grad von Geräuschigkeit im Gegensatz zum Klange besitzen könne. Ein Geräusch kann auch entstehen, wenn eine Anzahl Töne von ver- schiedener Höhe sehr schnell aufeinander folgen. Allerdings darf die Suc- cession nicht durchweg in derselben Richtung verlaufen. „Wir können“, sagt Stumpf hiervon mit Recht, „den schnellsten Wechsel von Tönen her- stellen, wenn wir mit dem Finger über die Tasten streichen (gute Dämpfung des Klaviers vorausgesetzt) oder auf einer Violinsaite stetig hinaufrutschen oder den eine gedackte Pfeife verschließenden Pfropfen hin und her schieben ...aber wir hören kein Geräusch, sondern eben eine rasche Tonveränderung.“ Indessen verhält sich die Sache anders, wenn höhere und tiefere Töne in buntem Durcheinander abwechseln. Versuche dieser Art kann man freilich am Klavier nicht gut anstellen, wohl aber mit Hilfe einer Seebeckschen Sirenenscheibe. Konstruiert man nämlich den Löcherkreis einer solchen derart, daß die Entfernungen sämtlicher Öffnungen voneinander verschieden, und zwar regellos bald größer, bald kleiner sind, so geben je zwei aufein- ander folgende Löcher beim Anblasen während der Rotation einen äußerst kurzen Ton, und alle diese Töne sind ungleich hoch. Als Gesamteindruck resultiert ein Schall, der mit der Umdrehungsgeschwindigkeit an Höhe zu- oder abnimmt, im übrigen aber vollständig den Charakter eines Geräusches hat. Oder man verfährt so, daß man den Löcherkreis aus diversen Gruppen von mehr als zwei Öffnungen zusammensetzt und den Löchern innerhalb der einzelnen Gruppe den gleichen, aber für jede Gruppe einen anderen Abstand erteilt. Auch diese Anordnung ergibt für das Ohr ein Geräusch, das physi- kalisch aus kurzen, rasch einander folgenden Tönen von wechselnder Höhe besteht. Beide Formen des Experimentes sind bereits von Dennert!) aus- geführt und ich kann die Richtigkeit der Beobachtung nur bestätigen. Aus dem Mitgeteilten geht hervor, daß Geräuschempfindungen möglich sind, die sich aus Tonempfindungen zusammensetzen, allerdings in einer Weise, welche bei: musikalischen Klängen im allgemeinen nicht recht vor- zukommen pflegt, insofern es sich eben um Töne von großer Kürze, irregulärem, schnellem Wechsel der Tonhöhe, sehr geringem Unterschiede der Schwingungs- zahlen bei großer Menge handelt. Wenn wir daher bei der Untersuchung irgend eines Geräusches nach der analytischen Abscheidung aller deutlich darin enthaltenen Töne einen rein geräuschhaften, nicht weiter analysierbaren Rest übrig behalten, so kann derselbe sehr wohl noch eine Kombination aus Tönen von der eben erwähnten Art sein. Es liegt also, wenigstens bei dem gegenwärtigen Stande unseres Wissens, kein zwingender Grund vor, die Existenz von Geräuschen, welche mit Tönen nichts zu tun haben und ein akustisches Phänomen von eigener Art sind, anzunehmen. Wohl aber läßt sich vom Standpunkte der Helmholtzschen Resonanztheorie aus ein Argument dagegen anführen, nämlich dieses, daß für die Perzeption der Geräusche, falls dieselben eine spezifische Klasse von Sinnesempfindungen wären, auch ein besonderes Organ vorhanden sein müßte, was aber nicht der Fall ist. Das Cortische Organ in der Schnecke wird ja !) Arch. f. Ohrenheilk. 24, 184, 1887. 584 Ansichten von Helmholtz, Exner, Brücke, Mach und Stumpf. von der Resonanzhypothese gänzlich für die Töne in Anspruch genommen, und die Endorgane des Nervus acusticus in den Otolithenorganen und den Ampullen der Bogengänge dienen nach der Anschauung der meisten Physiologen der Gegenwart zur Wahrnehmung von Lage- und Bewegungsempfindungen. Helmholtz selbst hat in den früheren Ausgaben seiner Lehre von den Tonempfindungen die Vermutung ausgesprochen, daß die zur Resonanz an- scheinend wenig zweckmäßigen Hörhärchen in den Ampullen der Bogengänge und den Säckchen vorzugsweise bei der Perzeption der Geräusche beteiligt sein möchten. Später trat er der Auffassung bei, daß die Ampullenhärchen uns die Empfindung der drehenden Bewegungen des Kopfes vermitteln, ist aber dabei geblieben, daß die Hörhärchen der Otolithensäckchen zur Auf- nahme der quiekenden, zischenden, schrillenden, knipsenden Hörempfindungen geeignet seien und die Art ihrer Reaktion nur gradweise von der der Schneckenfasern verschieden wäre. Exner!) verlegt die Empfindung der Geräusche ausschließlich in die Schnecke. Die Nerven des Cortischen Organes erfahren nach ihm nicht nur dann eine Erregung, wenn die Schwin- gungen der zugehörigen Fasern in der Basilarmembran eine gewisse Elon- gation erreicht haben, sondern auch dann, wenn die Bewegung der Schnecken- fasern selbst bei geringem Ausschlag sehr schnell erfolgt ist. „Während die Empfindung des Tones entsteht, indem wenige Fasern in relativ lang- sames Mitschwingen geraten, entsteht die Empfindung des objektiven Ge- räusches, indem sämtliche Fasern der Membrana basilaris mit relativ großer Geschwindigkeit aus ihrer Lage geschnellt werden.“ Brücke hat sich in der oben erwähnten Abhandlung der Auffassung Exners im wesentlichen angeschlossen. Bezüglich der Momentangeräusche, der Explosionen und Schläge kam er zu dem Resultat, daß sie die tonhörenden Nerven zu erregen vermöchten, und die kontinuierlichen Geräusche des Zischens, Wehens, Rauschens hält er für nicht prinzipiell verschieden von den erstgenannten. Denn im Rauschen des Meeres wie des Windes kämen viele kleine, unter günstigen Umständen einzeln hörbare Explosivgeräusche und Schläge vor; daneben enthalte das Rauschen offenbar noch Reibungsgeräusche, die sich zu den Tonwellen verhielten wie die unregelmäßigen Kräuselungen einer Wasseroberfläche zu gleichmäßig fortschreitenden Wogen. Das Zischen unterscheide sich vom Rauschen hauptsächlich durch die Höhe der Einzel- geräusche und die Schnelligkeit ihrer Aufeinanderfolge. Das Hauchen und Wehen repräsentiere die schwächsten durch Reibung verursachten unregel- mäßigen Luftbewegungen, welche noch durch das Gehör wahrgenommen würden. Auch Mach?) steht auf dem Standpunkte, daß das Geräusch eine Kombination von Tönen ist, „deren Zahl, Höhe und Intensität mit der Zeit variiert“, und weist zur Begründung dieser Ansicht namentlich auf den stetigen Übergang hin, der zwischen Tönen und Geräuschen möglich ist. Dahingegen tritt Stumpf in der Tonpsychologie für die Existenz reiner Geräusche als einer eigenen Klasse von Empfindungen und für ein speziell Geräusche perzipierendes Sinnesorgan im Ohre ein. Er hebt an mehreren Stellen des Werkes besonders hervor, daß ihm die Schwebungen zu dem. !) Pflügers Arch. 13, 228, 1876. — ?) Analyse der Empfindungen (2), 172 ff., 1900. Beobachtungen von Dennert, Schwendt und Wagner. 585 Gesamteindruck des Klanges noch Geräusche hinzuzubringen schienen. Ent- scheidende Beobachtungen über diesen interessanten Punkt liegen allerdings bis jetzt weder von seiten Stumpfs noch von seiten eines anderen Forschers vor, und ich für meine Person möchte vorläufig glauben, daß der geräuschige Charakter der Schwebungen durch die Unanalysierbarkeit des Komplexes der vielen wenig verschiedenen Tonempfindungen und durch die an manche be- kannte Geräusche erinnernde rauhe oder rollende Unstetigkeit des Ganzen hinreichend erklärt sei. Brächte der schwebende Zusammenklang zweier Töne als Nebeneffekt noch ein Geräusch durch Erregung eines gesonderten Geräuschempfindungsapparates zustande, so dürfte man wohl erwarten, ge- legentlich einem Ohrenkranken zu begegnen, der entweder nur den Klang oder nur das Geräusch bzw. wenigstens eines von beiden überwiegend deut- lich hört. Dennert!) hat hierauf in seiner ohrenärztlichen Praxis besonders geachtet, aber niemals etwas derartiges beobachtet. Überhaupt gehört Dennert zu denjenigen Autoren, welche keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Klängen und Geräuschen anerkennen und keine getrennten Perzeptionsorgane für beide Schallarten annehmen. Er?) erklärt die häufig zugunsten eines spezifischen Geräuschapparates ins Feld geführte Beobachtung, daß Personen mit sehr herabgesetztem Hörvermögen bisweilen noch einzelne Geräusche, wie Ticken, Knipsen, Klopfen, leidlich hören, mit dem verschiedenen Grade des Ergriffenseins der Teile des Gehör- organs, welche die Wahrnehmung hoher und tiefer Töne vermitteln. Je nachdem hohe Töne relativ besser gehört werden als tiefe oder umgekehrt, können auch hohe oder tiefe Geräusche noch verhältnismäßig gut perzipiert werden, während das Hörvermögen im ganzen herabgesetzt ist. In vielen Fällen werden auch einzelne Laute des Alphabets oder einzelne Geräusche von solchen schwerhörigen Individuen noch relativ leicht vernommen, welche im allgemeinen ein schlechtes Sprachgehör besitzen. Die bevorzugten Laute sind dann nach Dennert solche, deren charakteristische Teiltöne hin- reichend lange auf das Ohr einwirken, während mit der Verkürzung der Tondauer die Perzeptionsfähigkeit um so rascher abnimmt, je weiter die Schwerhörigkeit vorgeschritten ist. Schwendt und Wagner haben bei ihren „Untersuchungen von Taub- stummen“ ?) auch Hörprüfungen mit Geräuschen vorgenommen. - In Berück- sichtigung des Umstandes, daß die echten Taubstummen sehr intensive Ge- räusche, wie Donnern, Schießen und auch wohl zuweilen Händeklatschen, im Trommelfell fühlen oder als Erschütterungen des Bodens wahrnehmen, ver- wendeten sie als Schallquelle die Taschenuhr, den Hörmesser von Politzer, das Blasen des Galtonpfeifenballons, das Streichen des Violinbogens auf Stimmgabeln, das Klopfen gegen die Koenigschen Klangstäbe, das Cri-eri, gesprochene Konsonanten, Nägelknipsen und Fingerschnalzen. Das Gesamt- resultat der ihrer Natur nach freilich ziemlich unvollkommenen Versuche war, daß diejenigen Patienten, welche keine Töne hörten, für Geräusche ebenfalls taub waren, weshalb denn auch diese-beiden Beobachter die Geräusch- .perzeption in die Schnecke verlegt wissen möchten. !) Arch. f. Ohrenheilk. 29, 72, 1890.—?) Ebenda 41, 109 ff., 1896. — °) Basel 1899, 8. 82 ff. 586 Beobachtung von Steinbrügge. — Psychophysisches. Steinbrügge!) hat über einen eigentümlichen Fall von Hysterie bei einem 45 jährigen Landmanne berichtet, welcher regelmäßig Krampfanfälle bekam, wenn er Instrumentalmusik oder auch nur das Blasen auf einer Kindertrompete hörte, während er gegen Geräusche, Knallerschütterungen, Trommeln, Straßen- und Eisenbahnlärm ganz unempfindlich war. Der Autor bezeichnet selbst diesen Fall ausdrücklich als ein seltenes und für die Frage nach den Beziehungen zwischen Tönen und Geräuschen wichtiges Natur- experiment. Um so mehr ist die Mangelhaftigkeit der psychophysischen Untersuchung des später geheilten Kranken zu bedauern. Dieselbe be- schränkte sich auf die Prüfung mit einer Stimmgabel, deren Ton einen Anfall auslöste, und mit dem Geräusch eines Induktionsapparates, das keine Reak- tion hervorrief. Nicht einmal der so einfach anzustellende Versuch über die Wirkung des beim gleichzeitigen Niederdrücken vieler benachbarter Tasten des Klaviers entstehenden Geräusches ist gemacht worden. Unter diesen Umständen läßt sich der Fall in keiner Weise physiologisch für die Lehre von den Geräuschen verwerten. Aus seiner Beschreibung muß man schließen, daß die in jedem Geräusche, auch in dem der Feder eines Induktoriums, bald mehr bald weniger zahlreich enthaltenen deutlichen Töne keinen Krampf zuwege brachten. Alsdann aber ist es nicht weiter verwunderlich, daß auch die weniger deutlichen Teiltöne es nicht taten, und das Krankheitsbild bleibt mit jener Anschauung, wonach die eigentlichen Geräusche aus lauter unanalysierbaren Tönen bestehen, ebensogut vereinbar wie mit der gegen- teiligen. b) Psychophysisches. Wie schon bei der Besprechung der Hörprüfungsmethoden erwähnt ist, hat man zur Bestimmung der Hörschwelle ebenso wie zu den Beobachtungen über die Unterschiedsempfindlichkeit für Schallstärken immer mit Vorliebe Geräusche benutzt, weil mit ihnen in verschiedenen Beziehungen bequemer zu operieren ist, wenn sie auch sonst wegen ihrer komplizierten Zusammen- setzung und qualitativen Unkontrollierbarkeit keine idealen Untersuchungs- mittel sind. Der Versuchsmodus ist im Prinzip sehr einfach. Man läßt entweder eine Kugel aus genau bestimmbarer Höhe auf eine horizontale Platte oder .ein Pendel längs einer zur Bestimmung des Fallwinkels dienenden Gradteilung gegen einen festen Klotz fallen. Der erste, welcher ein Schall- pendel konstruierte, dürfte Wolke?) gewesen sein. Sein Apparat bestand aus einem Schallbrett von Tannenholz, auf das ein eichener Schlägel (an einem Gradbogen entlang) fiel. Itard3) benutzte später als Akumeter einen frei hängenden Kupferring, gegen den ein Stäbchen mit einer Kugel am Ende schlug. Schafhäutl®) ließ exakt gewogene Kugeln aus Kork, Elfenbein oder Blei auf den Mittelpunkt einer Glasplatte fallen, welcher vom Ohre 91mm entfernt war. Er fand dabei, daß der Schall einer aus 1 mm Höhe fallenden. Korkkugel von 1mg Gewicht für ihn bei voller Ruhe der Umgebung !) Zeitschr. f. Ohrenheilk. 19, 328, 1889. — °) Nachricht von den zu Jever durch die Galvani-Voltasche Gehörgebekunst beglückten Taubstummen. Oldenburg 1802. — °) Trait& des maladies de l’oreille et l’audition, Paris 1821 u. 1842. — *) Abhandl. d. math.-physikal. Kl. d. Münchener Akad. d. Wiss. 7, 501, 1855. Schwellenversuche über Geräusche. — Schallmaß. 587 25mal von 30 Versuchen mit aller Sicherheit noch hörbar war. Ein ähn- liches Resultat erhielt er mit anderen jüngeren Beobachtern; für ältere war das Geräusch meist schon unterschwellig. Nörr!) bediente sich zu seinen Versuchen über das Unterscheidungsvermögen für Schallstärken bleierner Kugeln von sehr verschiedenem Kaliber und einer unmittelbar auf einem Tisch liegenden Eisenplatte. Die Schwellenintensität lieferte für sein Ohr ein Gewicht von 6,7 mg bei einer Fallhöhe von 1,2 bis 2,2mm und einer Distanz des Ohres gleich 50cm. Andere Autoren haben als Fallkörper Wassertropfen verwendet; so Lewy?), der 1dg schwere Tropfen auf eine Blechplatte mit Filzunterlage fallen ließ. Nach dem mir allein zugänglichen, leider allzu kurzen Bericht des Archivs für Ohrenheilkunde fand Lewy als Resultat von 6000 Beobachtungen, daß das Ohr bis zum 15. Lebensjahr den Schall eben noch bei einer Fallhöhe von 50 bis 60 mm vernimmt, während der Erwachsene dazu eines Fallraumes von 60 bis 80 mm und der Greis eines solchen von 100 bis 120 mım bedarf, immer den nämlichen Abstand des Öhres von der Schallquelle gleich 25 cm vorausgesetzt. Diese Angaben lassen sich nicht direkt miteinander vergleichen. Denn einerseits ist die Distanz zwischen Ohr und Platte von den einzelnen Autoren verschieden gewählt und das Gesetz von der Abnahme des Schalles mit der Entfernung gerade für Bedingungen wie die hier vorliegenden noch nicht sicher genug erkannt; anderseits besitzen wir noch kein eindeutiges und einwandfreies Maß für die Intensität eines durch den Fall einer Kugel auf eine Platte erzeugten Schalles. Die lebendige Kraft, mit der die Kugel auf- trifft, ist proportional dem Produkt m.h bzw. mv?, wenn h die Fallhöhe ist und ® die Geschwindigkeit, mit welcher die Kugel auf der Platte anlangt. Wird nun die lebendige Kraft vollständig an die Platte und durch deren Schwingungen wieder an die Luft abgegeben, so wird man die Schallintensität proportional mh oder mv? setzen können. Es ist aber keineswegs an sich _ selbstverständlich, daß es sich so verhält. Ein Teil der Kraft kann außer in Schallschwingungen noch in andere Bewegungsformen übergehen, worunter die bleibende Deformation der Kugel und der Platte eine wichtige Rolle spielt, und nur wenn diese Energieverluste sehr geringe sind, wird in Wirk- lichkeit Proportionalität mit m.h zu erwarten sein. Dieselbe ist in der Tat innerhalb der anzuwendenden Grenzen von Starke?), einem Schüler Wundts, annähernd bestätigt. Zu einem anderen Resultat ist dagegen, wie schon früher erwähnt, K. v. Vierordt) gelangt. Er fand in seinen Beob- achtungen, daß zwei Schalle gleich stark gehört wurden, wenn die Produkte aus Gewicht und Geschwindigkeit (oder Quadratwurzel der Fallhöhe) gleich waren, und stellte daher als Schallmaß die Größe p.h‘ auf, worin & nach seinen und Oberbecks’) genaueren Versuchen annähernd gleich 0,6 zu setzen ist. Ein zweiter Schüler Wundts, E. Tischer®), kam zu dem Ergebnis, daß & auch mit Fallhöhe und Gewicht stark variiere und daß ein allgemeines Maß für Schallstärken gar nicht zu formulieren sei; man ") Zeitschr. f. Biol. 15, 297 ff., 1879. — ?*) Arch. f. Ohrenheilk. 37, 269, 1894. — ) Philos. Stud. 3, 264ff., 1886. — *) Die Schall- und Tonstärke und das Schall- leitungsvermögen der Körper, Tübingen 1885. Vgl. W. Preyer, Wissensch. Briefe v. 6. Th.Feehner u. W. Preyer, Hamburg u. Leipzig 1890, 8. 169 ff. — ?) Wiede- manns Ann.13, 222, 1881. — °) Philos. Stud. 1, 543, 1883. (Auch Leipziger Dissert. 1882.) 588 Unterschiedsempfindlichkeit für Geräuschintensitäten. müsse es für jede einzelne Versuchsreihe besonders ermitteln. Ebenso ist Fechner!) der Ansicht, daß & wesentlich von dem Material der Kugeln und der Platte abhängig se. Mit Rücksicht auf diese Unsicherheit in der Messung der objektiven Schallstärke wird man die Angabe Schafhäutls, der Schwellenwert der Intensität betrage für sein Ohr 140,07 Milligramm- millimeter, und Nörrs Berechnung seiner Schwelle zu rund 1500 Milligramm- millimeter vorsichtig aufzunehmen haben. Die einer exakten Messung der Schallstärke, mit welcher ein bestimmtes Geräusch unter bestimmten Umständen das Ohr erregt, entgegenstehenden Schwierigkeiten haben sich auch von jeher bei den Untersuchungen über die Unterschiedsempfindlichkeit für Geräuschintensitäten geltend gemacht und deren Ergebnisse zum Teil in Frage gestellt. So ist die von Renz und Wolf?), welche nach der Methode der richtigen und falschen Fälle arbeiteten, und von Volkmann?°), der die Methode der Minimal- änderungen wählte, übereinstimmend gemachte Angabe, zwei Schalle seien dann eben mit Sicherheit als verschieden laut zu erkennen, wenn ihre In- tensitäten sich gerade wie 4:3 verhielten, unvereinbar mit Vierordts Be- hauptung, daß & — 0,6 sei und die Schallstärke mit der ersten Potenz statt mit dem Quadrat der Entfernung abnehme. Die von den genannten Autoren gefundene. Gültigkeit des Weberschen Gesetzes ist dagegen in der unter Vierordts Leitung verfaßten, oben schon angeführten, Abhandlung von Nörr bestätigt worden. Seitdem sind mehrere weitere Publikationen von Schülern Wundts erschienen #). Es ergaben darunter diejenigen Methoden, die auf der Vergleichung kleinster Unterschiede beruhen, in sehr weiten Grenzen ebenfalls eine Übereinstimmung mit dem Weberschen Gesetze, während bei den mittleren Abstufungen je nach dem Versuchsverfahren die Resultate zwischen der geometrischen und arithmetischen Teilung der zwischen den beiden Grenzreizen gelegenen Strecke schwankten. !) Revision d. Hauptpunkte d. Psychophysik, Leipzig 1882, S. 375. — ?) Arch. f. physiol. Heilkunde 1856, 8.185. — °®) Vgl. Fechner, Elemente der Psychophysik 1, 176, 1859/60. — *) 8. d. Nähere (namentlich in bezug auf die vervollkommnete Technik des Fallphonometers) bei Wundt, Grundzüge d. Physiol. Psychologie (5) 1, 509 ff, 1902. Der Geruchssinn von W. Nagel. Zusammenfassende Darstellungen, in denen die ältere Literatur gesammelt ist: Bidder, Artikel „Riechen“ in Wagners Handwörterbuch der Physiologie. Bd. II, 1844. Cloquet, Osphrösiologie. 2. Aufl. Paris 1821. Deutsch: Weimar 1824. v. Vintschgau, Geruchssinn, in Hermanns Handbuch der Physiologie. Bd. II. Leipzig 1879. Zwaardemaker, Physiologie des Geruches. Leipzig 1895. Diese Arbeiten sind im folgenden Abschnitte stets nur mit dem Namen des Autors zitiert. I. Das Geruchsorgan. Die Riechnerven. Die dem Geruchssinn dienenden Nervenendigungen liegen in dem als Regio olfactoria bezeichneten Teil der Nasenschleimhaut, der sich beim Menschen und vielen Tieren schon makroskopisch durch eine braungelbe Färbung von der übrigen Nasenschleimhaut, der Regio respiratoria (Schneidersche Membran), unterscheidet. n beiden Regionen verbreiten sich die peripheren Endigungen des Nervus trigeminus, auf deren Gegenwart und Tätigkeit die allgemeine Sensibilität der Nasenschleimhaut, ihre Empfindlichkeit für. Berührung, für Temperaturreize, wie auch für die Reizwirkung gewisser gasförmiger Substanzen (Ammoniak, Essigsäure u. a.) beruht. Die Fasern gehören größtenteils dem zweiten Aste des Trigeminus an und endigen, wie die sensiblen Fasern in Schleimhäuten überhaupt, in feinen Aufsplitterungen, ohne besondere Endkörperchen und ohne Übergang in Zellen. Die Trige- minusfasern des obersten Teiles entstammen dem Ramus ophthalmicus des ersten Trigeminusastes. Über die Frage, ob die Trigeminusfasern am Riech- akt beteiligt sind, s. unten, S. 592. Die eigentlichen Riechnerven sind unzweifelhaft jene kleinen Nerven- stämmchen, welche, von den obersten Partien der Nasenschleimhaut aus- gehend, in wechselnder Zahl die Lamina cribrosa des Siebbeines durch- setzen (Nervi olfactorii), oberhalb deren sie sich in die kolbenförmige Anschwellung des Tractus olfactorius, den Bulbus olfactorius, einsenken. Die Gesamtheit dieser Nervenstämmchen wird für gewöhnlich begrifilich in eins zusammengefaßt und als Nervus olfactorius kurzweg bezeichnet. 590 Nervus olfactorius. Das vom Olfactorius innervierte Gebiet der Nasenschleimhaut ist beim Men- schen verhältnismäßig kleiner als bei den meisten Wirbeltieren, kleiner auch als Fig. 106. Die Verbreitung des Riechepithels in der Nase nach v. Brunn (aus Zwaardemaker, Physiologie des Geruchs). Am halbierten Kopf ist die Nasenscheidewand nach oben ge- klappt gedacht; das Riechepithel auf der Nasenscheidewand und der lateralen Wand der Nase ist durch schwarze Farbe markiert. man es früher (in den älte- ren Lehrbüchern) angenom- men und gezeichnet hatte, irregeführt wohl durch die Braunfärbung, die einen größeren Bezirk der Nasen- schleimhaut einnimmt. Der größte Teil der oberen Muschel und der ihr gegenüberliegende Teil des Septums trägt das eigent- liche Riechepithel. Mittlere . und untere Muschel gehören nicht mit zur Riechregion. Zwischen oberer und mittlerer Muschel und Nasenscheidewand klafft nur eine enge Spalte, die Riechspalte (Fig. 107), die durch ihre Lage hinten oben in der Nasenhöhle deren un- zugänglichsten und gegen Berührung sowie gegen starken Luftzug geschütz- testen Teil darstellt. In der respiratorischen sowohl wie in der olfactorischen Region münden zahl- reiche Drüsen, die speziell in der letzteren eine Übergangsform zwischen aeinösen und tubulösen Drüsen darstellen. Ob ihr Sekret irgend eine spezifische Bedeutung für das N Drei Nasengänge Äußere Wand Spongiosa des Alveolarfortsatzes Frontalschnitt durch die Nasenhöhle nach E. Zuckerkandl (aus Heitzmann, Anatomischer Atlas). Riechepithel. 591 Riechen hat, oder nur zur Feuchterhaltung der Membran dient, ist unbekannt. Man weiß zwar, daß bei abnormer Trockenheit der Nasenschleimhaut und bei pro- fusem Nasenkatarrh das Riechvermögen abgeschwächt bis aufgehoben ist; man weiß auch anderseits, daß. starke Sekretion der Schleimhaut. auf Grund nervöser Reizzustände bestehen kann, ohne daß der Geruchssinn merklich alteriert wäre; in- dessen liegt in allen diesen Fällen kein sicherer Beweis dafür vor, daß gerade die Regio olfactoria von der Sekretionsanomalie mit betroffen wäre. Beim Nasenkatarrh muß auch die Behinderung der Luftströmung in der Nase durch Schwellung der unteren und mittleren Muschel als gewichtige Ursache für die Geruchsstörung mit in Betracht gezogen werden. Das Epithel der Riechschleimhaut besteht aus cylindrischen Epithelzellen, „Stützzellen“, zwischen denen die Ursprungszellen der Olfactoriusfasern, die‘ eigentlichen „Riechzellen“, eingebettet liegen (Fig. 108). Schon Max Schultze beschrieb die Riechzellen als an ihrem basalen Ende direkt in die Fasern des Olfactorius übergehend. Gleiches Verhalten hatte man auch für die Sinneszellen und Nervenfasern in den anderen Sinnesorganen teils vorausgesetzt, teils _, u. direkt zu sehen geglaubt. Die neueren Untersuchungen olfact. \7\ | mittels der Golgischen Nervenfärbung haben diese \ Auffassung bezüglich der-übrigen Sinnesepithelien als unzutreffend, für das Riechepithel aber als richtig er- scheinen lassen. Fig. 108. Während also in den anderen Sinnesepithelien die Sinneszelle gewissermaßen einen Neuron für sich darstellt, an den sich die Endaufsplitterung des zweiten Neurons anlegt, sind im Riechorgan Sinneszelle und Nervenfaser organische Bestandteile eines und desselben Neurons. Eine solche Sonderstellung eines einzelnen Organs ist in hohem Grade überraschend und es wird eine gewisse Zurück- haltung in den Aussagen über diesen Punkt zunächst noch angezeigt sein. Es bedarf stärkerer Gründe, als die Demonstration mit der im Prinzip für die Ermittelung feinster Details irrationellen und tatsächlich nicht selten irreführenden Chromsilberfärbung, um jenen Unterschied als unumstößlich sicher bestehend hinzustellen. Gerade im gegenwärtigen Zeitpunkte, wo die Anschauungen über die gegenseitigen Beziehungen unter den Elementen des Nervensystems in fortwährender Wandlung begriffen sind, und die Möglichkeit intercellulärer Verbindungen durch Riech- und Stützzellen aus feinste Fibrillen auf Grund neuer Färbmethoden wieder der Riechschleimhaut des 2 = F £ x Menschen, schematisch (nach mehr in den Vordergrund gerückt ist, ist es nicht Henle-Merkel). möglich, sich für die eine oder die andere Eventualität, Kontinuität oder Kontiguität, zwischen Nervenzellen und Nervenfasern allgemein zu entscheiden. Bei dem jetzigen Stande des physiologischen Wissens über das Wesen der Nervenerregung und ihre Weiterleitung von Neuron zu Neuron ist überdies die Entscheidung jener Frage ohne besonderes Interesse für die spezielle Physiologie der Sinnesorgane, sie bietet zunächst ein rein morphologisches Interesse. Ku Nr SIT Eigentümlich ist der weitere Verlauf der Riechnervenbahn. Die Nerven- fasern, die nach der Durchdringung der Siebbeinplatte in den Bulbus olfac- torius eingetreten sind, treten hier unter dendritischer Aufsplitterung mit einem neuen Neuron in Beziehung. Die Berührungsstelle der beiden End- bäumchen ist anders als an anderen Stellen des Zentralnervensystems ge- staltet, sie bildet einen kugeligen Körper, den Glomerulus. Der hier 592 Trigeminus und Geruchssinn. beginnende neue Neuron heißt Mitralzelle. (Weiteres s. Abschn. über Gehirn, Bd. 1V dieses Handbuchs. Ob der Trigeminus am eigentlichen Riechakt beteiligt ist, dürfte zurzeit auf Grund der vorliegenden Beobachtungen schwer zu entscheiden sein. Einige ältere Sektionsbefunde französischer Autoren sprechen dafür. Cl. Bernard!) hat bei der Sektion einer im Leben mit angeblich normalem | Riechvermögen begabten Person die Olfac- torii ganz atrophisch gefunden. Ma- gendie?) konstatierte bei einem Hunde, dessen beide Tractus olfactorii durch- schnitten waren, Zeichen von Riech- vermögen. Weitere Notizen über ähnliche, übrigens stark umstrittene Befunde aus älterer Zeit vgl. u. a. bei v. Vintsch- gau. Neue Beobachtungen dieser Art an 2 Menschen und Tieren, namentlich die Er- V hebung von Sektionsbefunden über den Zu- stand der Riechlappen, sind wünschenswert. Von neueren Erfahrungen sind die in- teressanten Beobachtungen F. Krauses?) wichtig, der nach einseitiger Totalexstir- pation des Ganglion Gasseri den Geruchs- A) sinn auf der operierten Seite geschwächt, z Ten Z—— funktion den Greeruchssinn indirekt ? schwächen sollte, muß doch als möglich IN Ä zugegeben werden, daß ein Teil der Riech- 3 fasern auf Trigeminuswegen zum Gehirn 5 geleitet wird. Nachdem wir durch mannig- Schema des centralen Riechnervenverlaufes. faltige Erfahrungen gezwungen worden 1. Riechzellen der Nasenschleimhaut. 2. Glo- sind, anzuerkennen, daß die Geschmacks- merulus im Bulbus olfactorius. 3. Mitralzelle. 4. Zelle der Körnerschichte. 5. Zelle mit viel- fasern auf ihrem Wege zum Hirn ganz fach verzweigtem Achsencylinderfortsatz (aus Ar Henle-Merkels Grundriß der Anatomie Seltsam komplizierte Bahnen durchlaufen des M hen. . . ee und unter anderen auch Trigeminus- bahnen benutzen, kann eine analoge Annahme für die Riechfasern nicht ohne weiteres abgewiesen werden. Man könnte ja an anomale Sekretionsverhältnisse in der Nasenschleimhaut als Folge der Trigeminusexstirpation denken, die das Riechen störten, doch erscheint diese Deutung, die dem Olfactorius die Alleinherrschaft im Gebiete des Geruchs sicherte, schon deshalb nicht recht plausibel, weil doch die Geschmacksstörung nach Trigeminusverlust entschieden nicht auf diesem Wege zu erklären ist. Daß die Trigeminusendigungen durch gas- und dampfförmige Stoffe überhaupt gereizt werden, zeigen mit Bestimmtheit die nicht seltenen Fälle, !) Lecons sur. le systeme nerveux 2, 232, 1858. — °) Ebenda 8. 224. — ®) Münchener med. Wochenschr. 1895, Nr. 55 ff. und: Die Neuralgie des Trigeminus, Leipzig (Vogel) 1896. Tubenwirkung. — Autophonie. 561 befinden sich fast in derselben Druckphase. Würden nun die Tuben offene Röhren sein,-so würde das Trommelfell gleichzeitig auf beiden Seiten von einer Verdichtung bzw. Verdünnung getroffen werden und daher nicht hin- reichend ausgiebig schwingen können. Mach und Kessel ahmten dieses Verhältnis in der Art nach, daß sie einen Ton durch einen gegabelten Schlauch zugleich in den Gehörgang und in die Pauke leiteten. Die Knöchelchen- kette blieb dabei, wie die mikroskopische Betrachtung ergab, in Ruhe, geriet aber in starke Schwingungen, sobald ein Arm des Schlauches abgeklemmt ward. Für die möglichst große Ausnutzung der Schallstärke ist demnach eine möglichst einseitige Zuleitung zum Trommelfell erforderlich und der Verschluß der Tuben sehr nützlich. Immerhin darf aber dieser Verschluß kein dauernder sein, denn sonst würde die Luft in der Pauke allmählich ver- schwinden, das Trommelfell samt der Knöchelchenkette durch den äußeren Luftdruck labyrinthwärts gepreßt und die Schwingungsfähigkeit entsprechend reduziert werden. Bau und Form der Pauke sind also, wie man sieht, akustisch durchaus zweckmäßig. Hinter dem Trommelfell befindet sich eine mit Luft gefüllte Höhle, deren Größe genügt, um der Membran bei ihren Schwingungen keine Widerstände zu bieten, und die dabei doch nicht so geräumig und glatt- wandig ist, daß sie durch Resonanz schädlich wirken könnte. Diese Höhle ist für gewöhnlich geschlossen, so daß keine störenden Schallwellen in sie hineinzudringen vermögen; sie läßt sich aber von Zeit zu Zeit durch den Schluckakt öffnen und somit ventilieren. Von mehreren Autoren wird angegeben, daß ein in die Nase geleiteter oder durch die eigene Stimme erzeugter Ton bei der Öffnung der Tuben durch eine Schlingbewegung oder durch den Valsalvaschen Versuch ver- stärkt gehört werde. Stehen die Tuben infolge von Muskelkontraktionen oder anderen pathologischen Zuständen anhaltend offen oder hindert man den Verschluß durch Einführung eines Katheters!), so tritt Tympanophonie (Autophonie) ein. Die Patienten haben die Empfindung, als ob ihre Stimme statt aus dem Munde direkt von innen ins Ohr dringe; die Stimme klingt dabei peinlich schmetternd und abnorm laut; auch wird die Atmung zuweilen als lästiges Rauschen gehört. Zum Glück pflegt die Autophonie meist nur anfallsweise aufzutreten und sich durch geeignete Maßregeln für kürzere . oder längere Zeit beseitigen bzw. dauernd heilen zu lassen. Daß die Tube nicht etwa normalerweise zur Wahrnehmung der Stimme dient, wie früher von einigen behauptet worden ist, geht schon aus der alten, von Joh. Müller auf Schellhammer zurückgeführten Erfahrung hervor, daß eine in den Mund geführte tönende Stimmgabel nicht gehört wird. Wenn Schwerhörige es für die Verbesserung der Schallperzeption nützlich finden, den Mund zu Öffnen, so ist als Erklärung dafür wohl in erster Linie die Sistierung der Atmungsgeräusche heranzuziehen. Die Einwärtspressung der Gehörknöchelchenkette durch eine Luft- verdichtung im äußeren Gehörgang schwächt. die aus der Luft zugeleiteten Töne, namentlich die tiefen, trotzdem an sich Preßluft. den Schall besser leitet als gewöhnliche. Hiervon hat man sich schon vor längerer Zeit wieder- !) Poorten, Monatsschr. f. Ohrenheilk. 1874, 8. 27. Nagel, Physiologie des Menschen. III. R 36 562 Die Wirkung von Luftdruckänderungen auf das Mittelohr. holt in Taucherglocken überzeugt. Derselbe Effekt läßt sich in sehr einfacher Form erzielen, wenn man einen Gummiballon durch einen Schlauch mit dem Ohre luftdicht verbindet und, während eine tönende Gabel auf den Schlauch gesetzt wird, den Ballon komprimiert. Diese Versuchsanordnung ist von Gell& in die otiatrische Diagnostik eingeführt worden!). Kessel?) konnte durch ein ganz ähnliches Verfahren die tiefen Töne bis in die große Oktave hinein und die Töne sehr hoher Klangstäbe völlig auslöschen; bei einer Druck- verminderung im Gehörgang fand er die tiefen Töne bis c* geschwächt, die höheren von c* aufwärts aber verstärkt. Daß auch die Anspannung des Trommelfells beim negativen Valsalvaschen Versüch gegen tiefere Töne schwerhörig macht, ist schon von Wollaston3) beobachtet worden. Po- litzer*) erhielt das gleiche Resultat beim positiven Valsalvaexperiment und konstatierte mittels der Fühlhebelmethode, daß bei demselben eine Ver- ringerung der Gehörknöchelchenschwingungen eintritt; nur im ersten Moment findet, entsprechend der anfänglichen Entspannung des Paukenfells, eine merkliche Vergrößerung der Exkursionen statt. Eine Luftverdichtung im äußeren Gehörgang ist notwendig mit einer Erhöhung des Labyrinthdruckes verbunden. Beim negativen Valsalva versuch jedoch wird zwar auch der Steigbügel ins Labyrinth gedrückt, dafür aber anderseits das runde Fenster entlastet. Wie Bezold’) fand, überwiegt hierbei der letztere Faktor. Beim positiven Valsalvaversuch erfahren ovales und rundes Fenster einen labyrinthwärts, das Paukenfell einen nach außen gerichteten Druck, und letzterer setzt sich wieder auf den Steigbügel als Zug fort, soweit nicht etwa die Fähigkeit des Hammers, mit dem’ Trommelfell ohne Mitnahme von Amboß und Stapes auswärts zu gehen, in Betracht zu ziehen ist; nach den Untersuchungen von Bezold und seinen Vorgängern gleichen sich in der Regel diese einzelnen Wirkungen so untereinander aus, daß eine Druckzunahme *) im Labyrinth resultiert. d) Die Funktion der Schnecke. Die wichtigeren Hörtheorien. Die Umsetzung der physikalischen Schallbewegung in den physiologischen Prozeß der Nervenerregung geschieht in der Schnecke, indem die Massen- bewegungen des Labyrinthwassers auf das Cortische Organ und damit auf die Endausbreitung des Acusticus übertragen werden. Für die Schwingungen der Labyrinthlymphe sind unter normalen Verhältnissen lediglich die Bewe- gungen des Steigbügels maßgebend. Es werden zwar auch durch die Oszil- lationen des Trommelfelles in der Paukenhöhlenluft Verdichtungen und Ver- dünnungen erzeugt, und diese treffen das runde Fenster, aber die Schallwellen, welche durch letzteres ins Labyrinth gelangen könnten, werden im gesunden !) Näheres hierüber s. unter anderem bei E.Bloch, Zeitschr. f. Ohrenheilk. 25, 113 ff., 1894. — *) Arch. f. Ohrenheilk. 18, 145 f., 1882. — ®) Philos. Transact. 1820. — *) Arch. f. Ohrenheilk. 1, 71, 1864. — °) Ebenda, 16, 1ff., 1880. — °) Abnorme Druckverhältnisse im inneren Ohre werden immer nach kürzerer oder längerer Zeit teils durch Regulierung seitens der Gefäße, teils durch den Aquaeductus cochleae, einen engen Gang in der Scala tympani dicht vor dem runden Fenster, der eine Kommunikation zwischen der Scala tympani und dem Subarachnoidealraum herstellt, beseitigt werden. nun e ae Da ri a Funktion der Schnecke. — Die Resonanzhypothese. 563 Öhre von der bedeutend größeren Kraft der PP NORSREEEN unwirksam gemacht }). Was die Art der Erregung des Hörnerven durch die Schwingungen des Cortischen Organes betrifft, so wird man sich vorzustellen haben, daß die Härchen der Hörzellen hierbei eine vermittelnde Rolle spielen. Helmholtz und Hensen haben die Vermutung ausgesprochen, die Härchen stießen bei den Vibrationen der Basilarmembran gegen die Deckmembran, und eben dieses Anstoßen gäbe den eigentlichen Nervenreiz ab. Da es aber aus anatomischen Gründen und auch wohl physikalisch wahrscheinlicher ist, daß die Cortische Membran mit den darunter gelegenen Teilen immer gleichzeitig und gleich- sinnig schwingt, so dürfte die neuerdings von E. ter Kuile?) geäußerte An- sicht der Wahrheit noch näher kommen. Danach können die inneren Corti- schen Pfeiler an den Bewegungen der Basilarmembran so gut wie gar nicht teilnehmen, wohl aber tun dies die äußeren Pfeiler. Es findet also eine Rotation der Cortischen Bögen um den Fuß des inneren Pfeilers als Zen- trum statt, womit ein seitliches Hin- und Hergleiten der Cortischen Membran auf deren Unterlage und entsprechende Beugungen der Härchen verknüpft sind, welche ihrerseits als Reiz auf die Nerven wirken. Eine weitere Frage ist die nach dem Modus der Schallübertragung auf ‚das Cortische Organ. Sie ist von besonderer Wichtigkeit und sozusagen der Angelpunkt aller Theorien des Hörens. Es wäre an sich denkbar, daß die Labyrinthflüssigkeit, vor dem Druck des Steigbügels ausweichend, von der Vorhofstreppe durch das Helicotrema in die Paukentreppe hinüberflösse und umgekehrt bei einer Luftverdünnung im Gehörgang. Aber hierzu würde während der raschen Schallschwingungen keine Zeit sein und es ist viel wahrscheinlicher, daß die membranöse Scheide- wand der Schnecke beim Eindringen des Steigbügels gegen die Scala tym- pani hingedrängt wird. Ihre Ausbuchtung könnte dabei ein längeres oder kürzeres Stück der Basilarmembran vom unteren Ende an betreffen oder auch an verschiedenen und mit der Art der erregenden Klangwelle wechselnden Stellen stattfinden. Die letztere Annahme vertritt die Helmholtzsche Theorie, die auch unter dem Namen Resonanzhypothese bekannt ist, da ihr zufolge die: Basilarmembran ein System von Saiten darstellt, deren jede auf einen be- stimmten Ton abgestimmt ist und in Mitschwingungen gerät, wenn dieser Ton das Ohr trifft. ÄhnlicheGedanken sind freilich schon öfter und lange vor Helm- holtz ausgesprochen worden. Bereits Cotugno?°) — um nur einen Namen zu nennen — meinte, die Schnecke sei mit einer Laute zu vergleichen, indem die hohen Töne mit der Basis, die tiefen mit der Kuppe perzipiert würden. Aber Helmholtz hat das Verdienst, die Hypothese am prägnantesten zum Ausdruck gebracht und wissenschaftlich am besten gestützt zu haben. !) Bei Verknöcherung des ovalen Fensters kann das Hörvermögen teilweise erhalten sein. Inwiefern das runde Fenster in solchen Fällen an der Schall- bewegung im Labyrinth beteiligt ist, ist noch durchaus nicht klargestellt. Vgl. die Übersicht über die einschlägige Literatur in der Dissertation von A. Frutiger, Über d. funkt. Bedeutung d. Fenestra rotunda, Wiesbaden, Bergmann, 1900. — 2) Pflügers Arch. 79, 146, 1900. — *) De aquaeductibus auris humanae internae;, Anatomica dissertatio, Neapel 1760. 36 * 564 Die Resonanzhypothese. Daß die Membrana basilaris sich annähernd so verhalte, als wären ihre Radialfasern eine Reihe von nebeneinander liegenden gespannten Saiten, deren membranöse Querverbindung nur dazu diene, dem Drucke der Flüssig- keit eine Handhabe zu geben, leitete er mit Hilfe einer mathematischen De- duktion!) aus dem Umstande ab, daß die Grundmembran nicht nach allen Richtungen hin homogen beschaffen ist, sondern in der Längsrichtung leicht zerreißt, während die radialen Fasern einen ziemlich hohen Grad von Festig- keit haben. Sollen nun diese Fasern nach Analogie der Klaviersaiten so abgestimmt sein, daß ihre Eigentöne eine regelmäßige Stufenfolge durch die ganze musi- kalische Skala bilden, so müssen für die tieferen Töne längere, für die hohen Töne kürzere Fasern vorhanden sein. In der Tat-ist die Breite der Basilar- membran, also die Länge der Radialfasern, verschieden. An ihrem Anfange, dem ovalen Fenster gegenüber, ist die Membran relativ schmal. Die Breite beträgt hier nach Hensen beim Neugeborenen in 0,2625 mm Entfernung von der Wurzel 0,04125 mm und wächst bis zum Hamulus auf mehr als das Zwölffache, nämlich 0,495 mm. Es würden demnach der Helmholtzschen Theorie gemäß die höchsten Töne in der Nähe des Steigbügels, die tiefsten in der Schneckenkuppel ihren Angriffspunkt im Cortischen Organe finden. Indessen ist die außerordentliche absolute Kürze der Fasern ein bedenk- licher Punkt. Helmholtz hat zwar, um die Reaktion so kleiner Gebilde auf tiefe und tiefste Töne zu erklären, darauf hingewiesen, daß die Basilarmembran mit allerlei festen Massen, insbesondere mit dem Wasser der beiden Schnecken- treppen beschwert sei, und wirklich werden ja auch schwingende Gabeln und Saiten, unter Wasser oder in eine andere Flüssigkeit gebracht, um mehrere Tonstufen bis zu einer Oktave vertieft, aber es ist zum mindesten noch unbewiesen, daß Saiten, deren Längen nur Bruchteile eines Millimeters betragen, durch irgend eine Belastung auf so tiefe Töne, wie wir sie noch zu hören vermögen, abgestimmt werden können. Hensen?) beobachtete, während er den Schall eines Klapphorns durch einen dem Trommelfell und den Gehör- knöchelchen nachgebildeten Apparat in das Wasser eines Kastens leitete, in welchem ein Exemplar von Mysis befestigt war, daß einzelne der sog. Hör- haare am Schwanze dieses Tieres durch gewisse Töne des Horns zum Mit- schwingen gebracht wurden. Ähnliche Resultate erhielt Alfred M.Mayer?) bei Versuchen, die die Fühler von Öulex Mosquito betrafen. Aber aus dem Verhalten solcher haarartigen Organe lassen sich keine zwingenden Schlüsse auf dasjenige der Basilarmembran ziehen, zumal es durchaus fraglich ist, ob die Vibrationen der erwähnten Haare irgend etwas mit Schallempfindung zu tun haben. Munk®) und Baginsky5) entfernten beim Hunde Teile der einen Schnecke, während die der anderen Seite völlig zerstört wurde. Die Hörprü- fungen ließen sich zugunsten der Resonanzhypothese dahin deuten, daß die Exstirpation der Schneckenspitze Taubheit für tiefe Töne, die Verletzung der Basis Taubheit für hohe zur Folge habe. Gegen diese Versuche könnte ‘) Lehre v. d. Tonempf. (5), Beilage 11. — ?) Zeitschr. f. wiss. Zool. 13 (1863) u. Hermanns Handbuch der Physiologie 3 (2), 99 f. u. 107 ff., 1880. — °) Amer. Journ. of Science and Arts 8, Aug. 1874. — *) Monatsber. d. Berl. Akad., Mai 1881. — °) Virchows Arch. 94, 65 ff., 1883. Die Resonanzhypothese. 565 man freilich verschiedene Einwände erheben, doch sind sie immerhin noch erheblich zuverlässiger als die gleichartigen Experimente an Meerschweinchen von Stepanow!), der sich gegen, und Corradi2), der sich wieder für die Helmholtzsche Theorie entschied. Auch pathologisch-anatomische Befunde sind mehrfach zur Entscheidung über die Resonanzhypothese herangezogen worden. So fanden Moos und Steinbrügge?°) bei der Sektion eines Patienten, der an Taubheit für hohe Töne gelitten hatte, eine Atrophie der Nervenäste der ersten Windung vor. Andere, darunter wieder Stepanow, zweifeln auf Grund ihrer Beobach- tungen über Ausstoßung von Schneckenteilen an der Richtigkeit der Helm- holtzschen Theorie; doch ist es fraglich, ob diese Fälle immer mit der namentlich in bezug auf die Miterregung des zweiten Ohres durch die Kopf- knochenleitung nötigen Vorsicht beurteilt worden sind. Was die Zahl der Radiärfasern in der Grundmembran anlangt, so ist sie als genügend groß für die Menge der verschieden hohen hörbaren Töne anzusehen. Sie ist beim Menschen von Retzius auf 24000, von Hensen auf 13400 geschätzt worden. Zwar würde das nach Maßgabe der Unter- schiedsempfindlichkeit in der mittleren Tonregion nicht ganz ausreichen, um für jede einzelne unterscheidbare Tonhöhe eine besondere Faser verfügbar zu machen, aber es ist auch zu bedenken, daß die Unterschiedsempfindlichkeit nach den Enden der Skala, zumal nach den oberen hin sehr viel geringer ist. Der Kernpunkt der Helmholtzschen Theorie ist also der, daß jeder einfache Ton von bestimmter Höhe nur eine ganz bestimmte Partie der Basilarmembran in Mitschwingungen versetzt und nur von den mit ihr in Verbindung stehenden Nervenfasern als Reiz aufgenommen wird. Wird ein zusammengesetzter Klang oder ein Akkord dem Öhre zugeleitet, so werden die- jenigen elastischen Gebilde sämtlich erregt, deren Abstimmung den ein- zelnen Teiltönen entspricht, und bei genügender Aufmerksamkeit werden alle so entstehenden einzelnen Empfindungen nebeneinander wahrgenommen werden können. So erklärt die Resonanzhypothese die wichtige und be- deutungsvolle Befähigung unseres Ohres zur Klanganalyse in ebenso einfacher wie eleganter Weise, und dies darf als ihr Hauptvorzug betrachtet werden. Außerdem hat die Helmholtzsche Begründung der physiologischen Klang- zerlegung den Vorteil, mit noch einigen anderen physiologischen und patho- logischen Beobachtungstatsachen bestens im Einklang zu stehen. Ich möchte in dieser Beziehung zunächst auf gewisse neuere Versuche von Exner und Pollak*) hinweisen. Diese. Autoren gingen davon aus, daß, falls das Hören durch Resonatoren vermittelt wird, eine in dem Sinus- wellenzuge eines einfachen Tones periodisch wiederkehrende Phasenverschie- bung um eine halbe Wellenlänge eine schwebungsartige Empfindung erzeugen und daß die Intensität eines derartigen Gehöreindruckes mit der Häufung der Verschiebungen mehr und mehr bis zur schließlichen Unmerklichkeit sinken müsse. Beide Annahmen wurden durch die sorgfältigen Experimente als richtig erwiesen. Auch Hensen’) hat kürzlich dem Sinne nach ähnliche, in der Form !) Monatsschr. f. Ohrenheilk. 1888 (4). — ?) Arch. f. Ohrenheilk. 32 (1891). — 8) Zeitschr. f. Ohrenheilk. 10, 1, 1880. — *) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 32, 305 ff., 1903. — °) Ber. d. Berl. Akad. d. Wissensch., Gesamtsitz. v. 24. Juli 1902. 566 Erklärung pathologischer Erscheinungen durch die Resonanzhypothese. allerdings von den eben erwähnten abweichende Versuche publiziert, die zu der Resonanzhypothese passen. Ferner ist hier an die mannigfachen, vorwiegend Taubstumme betreffenden, otiatrischen Beobachtungen über sogenannte Ton- lücken und Toninseln zu erinnern. Wie aus der Bezeichnung hervorgeht, handelt es sich dabei um Patienten, welche bestimmte einzelne Töne oder Gruppen benachbarter Töne nicht hören,. während die Perzeption für die übrigen Teile der Skala erhalten ist. Daß in dieser Weise scharf begrenzte Stücke der Tonreihe einfach ausfallen und anderseits Hörreste gleichsam wie Inseln zwischen solchen Tonlücken stehen bleiben, ist nach der Helmholtz- schen Hypothese, etwa unter der Annahme circumscripter Funktionsstörungen in dem Cortischen Organe, leicht verständlich, gar nicht dagegen nach der Mehrzahl der anderen bisher bekannt gewordenen Hörtheorien, sofern dieselben nicht bloße Modifikationen der ersteren sind!). Das gleiche gilt von vielen Fällen subjektiver Töne?) und von jenen pathologischen Vorkommnissen, die unter dem Namen Diplacusis binauralis dysharmonica bekannt sind. Die letztere Affektion besteht darin, daß die Patienten auf dem erkrankten Ohre einzelne Töne bzw. einen kleineren oder größeren Abschnitt-der musikalischen Skala falsch, nämlich höher oder tiefer als auf dem gesunden Öhre hören, so daß unter Umständen abscheuliche Dissonanzen zustande kommen. Dieses Doppelthören kann nach Jacobson?°), dem ich hierin beipflichten möchte, seine Ursache nur in pathologischen Prozessen innerhalb des Labyrinthes haben und dürfte am einfachsten im Sinne der Helmholtzschen Theorie nach Art des folgenden schematischen Beispiels zu erklären sein. An- genommen, in dem linken Cortischen Organe sei die auf c’ abgestimmte Faser durch Schwellung so verlängert, daß sie nunmehr auf H mitschwingt. Dann wird links ein Ton von der Schwingungszahl des H auch die c'-Faser und deren Nerven, dessen spezifische Energie es ist, die c’-Empfindung zu vermitteln, erregen. Links wird also c® gehört, rechts dagegen, wo normale Verhältnisse bestehen, nur H, so daß der faktisch einfache Ton vom Patienten als Sekunde wahrgenommen wird. Wie steht es nun mit der Erklärung der sekundären Klangerscheinungen seitens der Helmholtzschen Resonanzhypothese ? Wenn zwei dem Öhre gleichzeitig zugeleitete Töne zusammen schweben, so ist auch die Schwingungskurve der Gehörknöchelchenkette eine Schwe- bungskurve. Findet aber in der Basilarmembran eine Zerlegung der Klang- welle in die beiden Teiltöne statt, die an sich ohne Amplitudenschwankungen schwingen, so könnte man erwarten, daß die beiden Primärtöne glatt neben- einander hinfließend gehört würden. Allein eine solche Erwartung wäre nur gerechtfertigt unter der Voraussetzung, daß die in Frage kommenden beiden Resonatoren im Ohre völlig isoliert wirkten. Diese Annahme macht jedoch Helmholtz nicht. Er betont vielmehr ausdrücklich, daß nach seiner Auf- fassung ein Ton nicht nur eine einzelne Faser errege, sondern daß auch deren Nachbarn beiderseits, allerdings in rasch mit ihrem wachsenden Abstande ab- nehmender Stärke, zum Mitschwingen kämen. Jeder von außen anlangende !) Vgl. hierzu unter anderen Bezold, Münchener med. Wochenschr. 19 u. 20 (1900). — ?) Vgl. Stumpf, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 21, 100 ff., 1899. — ®) Jacobson u. Blau, Lehrb. d. Ohrenheilk., Leipzig 1902. ee A u Erklärung der Schwebungen durch die Resonanzhypothese. 567 Ton versetzt.hiernach innerhalb der Basilarmembran eine Zone von gewisser ' Breite in Öszillationen, und beim Zusammenklange zweier einander nahe genug liegender Töne fallen die beiden Zonen zum Teil übereinander. In der gemeinschaftlichen Mittelzone schwingen die Basilarfasern gleichzeitig in dem Rhythmus beider Primärtöne, beschreiben also keine Sinuskurve sondern eine Klangkurve, eine Schwebungskurve; die zugehörigen Nerven werden ab- wechselnd stärker: und schwächer erschüttert, und eben dies gibt die Ver- anlassung zu jenem Schwanken der Empfindungsintensität, welches mit dem Ausdruck „Schweben“ bezeichnet wird. Sind die Primärtöne der Höhe nach nur sehr wenig verschieden, so decken sich die Zonen fast ganz. Man vernimmt dann wirklich auch nur eine einzige Tonhöhe und diese schwebend. Rücken die Primärtöne weiter auseinander, so müssen der Theorie nach die Schwe- bungen auf eine mehr oder weniger schmale Zwischenzone beschränkt sein und die von den Primärtönen maximal erregten Fasern mit gleichförmiger Amplitude schwingen. Daß die Beobachtungstatsachen hier mit der Helm- holtzschen Hypothese übereinstimmen, hat Stumpf in seiner Tonpsychologie !) gezeigt. Man hört die Primärtöne ruhend und einen dritten, zwischen ihnen gelegenen, innerhalb des Ohres lokalisierten, weichen Ton, den Stumpf Zwischenton?) nennt, schwebend. Erreicht das Intervall der Primärtöne (in der ein- bis dreigestrichenen Oktave) ungefähr eine große Sekunde, so wird der Zwischenton meist undeutlich oder unhörbar. In diesem Falle und bei weiterer Zunahme der Höhendifferenz der Primärtöne wird auch der Resonanzhypothese gemäß die gemeinschaftliche Mittelzone so schmal, daß sie zur Wahrnehmung. eines selbständigen Zwischentones nicht mehr ausreicht. Die Intensitätsschwankungen werden zwar noch empfunden, aber in der Be- urteilung‘ des Klangganzen an die Primärtöne selbst geknüpft bzw.,- wie Stumpf fand, an denjenigen von ihnen, auf welchen sich gerade die Auf- merksamkeit richtet. Daß jenseits einer gewissen Distanzgrenze der Primär- töne die Schwebungen wieder verschwinden, erklärt sich nach Helmholtz einfach daraus, daß dann die beiden Zonen keine Gemeinschaft mehr mitein- ander haben. Der Umstand, daß in der viergestrichenen Oktave noch Töne zusammen schweben, deren Höhenunterschied mehr als 400 Schwingungen beträgt, zwingt zu der Annahme, daß hohe Töne die Basilarmembran in verhältnis- mäßig auffallender Breite erregen. Eine prinzipielle Schwierigkeit für die Helm - holtzsche Theorie dürfte hierin aber kaum zu erblicken sein. Schlimmer wäre es, wenn R. Koenigs?°) Behauptung, die Schwebungen tiefer Töne seien bis zum Intervall 1:10 bzw. 1:14 zu verfolgen, sich als richtig er- wiesen hätte. Sie beruht jedoch auf einem Irrtum, der auf die Nichtbeachtung der Mitwirkung von Obertönen zurückzuführen ist. Schaltet man die in Frage kommenden Obertöne durch Interferenz aus, so fallen auch die be- treffenden Schwebungen weg ?). R. Koenig ist überhaupt mehrfach als ein scharfer, obschon nicht glücklicher Gegner der Resonanzhypothese aufgetreten. Es war bereits früher 1) 2, 480 ff., 1890. — ?) Melde hat später diese Töne als resultierende Töne bezeichnet. (Sitzungsber. d. Marburger Naturw. Gesellsch., Nov. 1893; Pflügers Arch. 60.) — °) Pogg. Ann. 157, 177 ff., 1876 und Wiedemanns Ann. 12, 335, 1881. — *) C. Stumpf, Wiedemanns Ann. 57, 680, 1896. 568 Erklärung der subjektiven Kombinationstöne. davon die Rede, daß er vergeblich versucht hat, die Einflußlosigkeit der Phasenverhältnisse der Teiltöne eines Klanges auf die Qualität seines Ein- druckes, die eine notwendige Konsequenz der Helmholtzschen Theorie ist, zu widerlegen. Auch gehörte er!) zu denjenigen Autoren, die mit Nachdruck dafür eingetreten sind, daß das Ohr die Fähigkeit besitze, Schwebungen und regelmäßige Unterbrechungen eines Tones bei genügender Frequenz als einen Ton von entsprechender Schwingungszahl aufzufassen; eine Fähigkeit, die in direktem Widerspruche mit der Resonanzhypothese stehen würde, da dieser zufolge nur solche Töne aus einem Klange herausgehört werden können, die darin als pendelförmige Komponenten enthalten sind. Was die sog. Unterbrechungstöne betrifft, so ist weiter oben?) gezeigt worden, daß sie entweder physikalischen Ursprungs oder Differenztöne sind. Sie bieten daher an sich keinerlei Veranlassung zu Einwänden gegen die Helmholtzsche Theorie und würden wohl nie als Grundlage zu solchen benutzt worden sein, wenn schon die ersten Beobachter sich die Mühe gemacht hätten, ihre Natur exakt aufzuklären. Ebenso steht es mit den Kombinationstönen. Es ist eine alte Ansicht, daß die Schwebungen bei zunehmender Schnelligkeit in den Differenzton über- gingen. Schon Lagrange und Young haben dieselbe vertreten, und R. Koenig hat sie in seinen eben erwähnten Untersuchungen wieder auf- genommen, indem er behauptete, die Schwebungen erzeugten bei einer ge- wissen Geschwindigkeit ebenso einen Ton wie die einzelnen Schläge eines Kartenblattes oder eines Holzbrettchens gegen ein rotierendes Zahnrad. Aber dieser Analogiebeweis ist völlig hinfällig. Der Ton, den die auf dem Zahnrade schleifende Karte hervorruft, entsteht gar nicht aus jenen Schlägen, sondern aus der mehr oder weniger pendelähnlichen Schwingungsbewegung, welche das vibrierende Kartenblatt der umgebenden Luft erteilt. Das Zahn für Zahn sich wiederholende Anschlagegeräusch ist eine für die Tonbildung ganz unwesentliche Nebenerscheinung, wie schon daraus hervorgeht, daß der Ton um so deutlicher wird, je leiser das Anstoßen der Karte an die Zähne vor sich geht. Betrachtet man ferner eine größere Anzahl Zweiklangkurven, so zeigen wohl Zweiklänge vom Intervall n:n + 1 schöne regelmäßige Schwebungswellen, die einen Augenblick zu der Annahme verleiten könnten, jede Schwebungskuppe wirke gleichsam wie ein einzelner Stoß auf den Steig- bügel; die meisten Kurven von anderen Intervallen lassen uns jedoch im Zweifel, ob und welche Differenztöne man aus ihrer Form herauslesen soll, und das etwaige Ergebnis steht nicht immer im Einklang mit der Beob- achtung®). Helmholtz hat denn auch die Entstehung von Differenztönen aus Schwebungen ausdrücklich abgelehnt und auf Grund einer mathematischen Deduktion *) die Hypothese aufgestellt, daß das Trommelfell und seine Adnexa als der Ursprungsort der subjektiven Kombinationstöne anzusehen seien. Daß diese Hypothese das Richtige trifft, davon habe ich mich durch eine dem- nächst) zu veröffentlichende experimentelle Untersuchung überzeugt, welche, wie schon erwähnt, ergeben hat, daß Telephonmembranen und Membranen ') Pogg. Ann. 157 (1876). — ?) Siehe Abschnitt IIIc. — °?) Vgl. hierzu meine Abhandlung in Pflügers Arch. 78, 505, 1900. — *) Lehre von den Tonempfindungen, Beilage 12. — °) Voraussichtlich in Pflügers Arch. f. Physiol. 1905. Die Hörtheorie von Wundt. 569 von der Form des Trommelfelles, wenn sie von zwei Primärtönen zugleich in Schwingungen versetzt werden, auch objektive, Resonatoren erregende, Kombinationstöne hervorbringen. Die physikalische Begründung dieser Kombinationstöne muß freilich eine andere als die von Helmholtz für das Trommelfell versuchte sein. Denn letztere setzt, von anderen Schwierigkeiten abgesehen, eine Amplitude der Primärtöne als nötig voraus, welche so groß ist, daß auch noch das Quadrat der Verschiebungen auf die Bewegungen Einfluß erhält, während in Wirklichkeit selbst verklingende Primärtöne gut hörbare Differenztöne hervorzurufen vermögen. Dennert!) hat angegeben, daß auch Personen ohne Trommelfell und solche, bei denen von der ganzen Gehör- knöchelchenkette nur der Steigbügel erhalten ist, Kombinationstöne hören können, und von anderer Seite sind mir dies bestätigende, allerdings bisher nicht publizierte, Beobachtungen mitgeteilt. Diese Fälle dürften damit zu erklären sein, daß bei den betreffenden Individuen eben die Membran des runden Fensters ausreicht, um, nach Analogie der Telephonmembranen wirkend, Kombinationstöne zu erzeugen. Wundt?) hat, um die Differenztöne zu erklären, unter Aufgabe des Prinzips von der spezifischen Energie der einzelnen Acusticusfasern die Hypo- these aufgestellt, daß jeder Ton auf einem doppelten Wege ins Zentralorgan und damit zum Bewußtsein gelange. Erstens soll derselbe der Helmholtz- schen Resonanzhypothese gemäß vom Cortischen Organe aufgenommen und zweitens durch die Kopfknochen direkt auf den Stamm des Acusticus übertragen werden, wöbei jede Faser des letzteren jeden Ton leiten kann. Treffen nun zwei Primärtöne innerhalb einer und derselben Nervenbahn zu- sammen, so interferieren sie und dadurch kommt es zur Wahrnehmung der Schwebungen bzw. Kombinationstöne. Diese Annahme setzt zunächst voraus, daß der Acusticusstamm durch Schall erregbar sei. In der Tat ist das schon von Joh. Müller wie etwas Selbstverständliches ausgesprochen und neuer- dings wieder von J. R. Ewald (1890) behauptet worden auf Grund der Beobachtung, daß labyrinthlose Tauben unter Umständen auf Schall mit Be- wegungen reagieren. Die Nachprüfung seiner Befunde durch ändere Phy- siologen 3) hat aber ergeben, daß diese Reaktionen selbst dann noch statt- finden, wenn der Acusticus längst degeneriert ist, und daß sie auf taktiler Empfindung des Schalles, wie sie auch bei absolut tauben und taubstummen Menschen vorkommt, beruhen. Was ferner die cerebrale Entstehung von Schwebungen und Differenztönen betrifft, so ist sie mehr als unwahrscheinlich. Daß wir die Schwebungen zweier, selbst sehr leiser Töne auch dann noch hören, wenn der eine nur das rechte, der andere nur das linke Ohr von außen erregt, erklärt sich genügend daraus, daß jeder der Töne durch die Kopf- knochen auch auf das zweite Ohr übertragen wird®). Hierfür brauchen wir eine Interferenz von Tonerregungen im Zentralorgan nicht zu postulieren. Wenn es anderseits eine solche wirklich gäbe, wäre nicht zu begreifen, warum bei diotischer Verteilung zweier Primärtöne raschere Schwebungen !) Arch. f. Ohrenheilk. 24 (1887). — ?) Philos. Stud. 8, 641, 1893; vgl. aber auch die modifizierte Darstellung in Wundts Grundz. d. Physiolog. Psycholog. (5), 2, 137, 1902. — °?) Vgl. die Darstellung der interessanten Polemik bei M. Kamm, Klin. Vortr. a. d. G. d. Otologie u. Pharyngo-Rhinologie 3, 91, Jena 1899. — *) Vgl. meine Abhandlung in Pflügers Arch. 61, 544, 1895. 570 Die Theorien von Hermann und von Ebbinghaus. und Differenztöne nur unter ganz besonderen Versuchsbedingungen gehört | werden!); auch müßte man dann erwarten, daß zwei subjektive Töne oder ein subjektiver und ein objektiver bei passendem Verhältnis der Schwingungs- zahlen zusammen schweben. Das ist aber nach den Beobachtungen von Stumpf?) und Urbantschitsch?) nicht der Fall, und die vereinzelten Aus- nahmen dieser Regel, die Wundt*) anführt, können ihre Ursache in einer Interferenz innerhalb des Cortischen Organes haben. Die Wundtsche Er- weiterung der Resonanzhypothese entbehrt also der tatsächlichen Stützen. L. Hermann war zeitweilig’) der Meinung, es wäre nötig, die Helm- holtzsche Theorie, so elegant sie sei, fallen zu lassen und dem Ohre die Eigenschaft zuzuschreiben, jede Periodik als Ton zu empfinden. Später €) kehrte er im Prinzip zur Resonanztheorie zurück, fügte aber als Ergänzung die Hypothese hinzu, daß jeder Resonator des Cortischen Organes auf seine Acusticusfaser nur durch Vermittelung einer besonders gearteten Nervenzelle, einer „Zählzelle“, wirke. Diese Annahme hatte den speziellen Zweck, die „Intermittenztöne* zu erklären. Seit aber gezeigt ist, daß die letzteren ent- weder physikalisch entstehen oder Differenztöne sind, ist die „Zählzellen“- hypothese überflüssig geworden. Die Kombinationstöne wollte Hermann darauf zurückführen, daß die Schwingungsformen der Primärtöne zu einer Resultierenden verschmelzen, welche einer Pendelschwingungsform genügend ähnlich sei, um einen selbständigen „Mittelton* zu geben. Dieser Versuch ist jedoch schon insofern mißglückt, als es Hermann selbst nicht recht und anderen gar nicht gelungen ist, die Existenz solcher Mitteltöne zu veri- fizieren. Ebbinghaus’”) hält den allgemeinen Grundgedanken der Helmholtz- schen Theorie, die Auffassung der Basilarmembran als eines Resonatoren- apparates, für durchaus unanfechtbar, sieht aber die spezifischen Energien der nervösen Elemente für nicht so weitgehend gesondert an, wie es bei Helmholtz geschieht. Ein Ton von der Schwingungszahl n vermag nach ihm auch die auf die Untertöne e n, ; n n usw. abgestimmten Fasern in Mitschwingungen zu versetzen, wobei dieselben unter Bildung von Knoten- punkten Teilschwingungen vollführen, und die zugehörigen Nerven tragen dann alle mit zu der Empfindung des Tones n bei. Erklingt nun beispiels- weise eine große Terz, also zwei Töne vom Intervall 4:5, so wird auch das auf 1 abgestimmte Gebiet der Basilarmembran von beiden Rhythmen zugleich zu Teilschwingungen veranlaßt. Dabei aber kommt die objektive Bewegung in jeder Schwingungsperiode einmal durch Interferenz nahezu zum Stillstand, und die beteiligten nervösen Elemente erleiden somit gerade in dem ihnen bestgeläufigen Rhythmus 1 starke Gegensätze von Reizung und Ruhe: sie reagieren mit dem Differenztone 1. Ebbinghaus bringt außer diesem Paradigma noch einige andere zur Erläuterung seiner Auffassung von der Entstehung der sekundären Klangerscheinungen bei. Dieselbe ist allerdings ') Vgl. meine Abhandlung in Pflügers Arch. 61, 544, 1895. — ?) Zeitschr. f£. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 21, 117 ff., 1899. — °) Pflügers Arch. 24, 22, 1881. — *) Grundz. d. Physiol. Psychol. (5), 2, 108, 1902. — °) Pflügers Arch. 49, 499 ff. — °) Ebenda 56, 467, 1894. — 7) Grundzüge d. Psychol. 1, 317 ff., Leipzig 1902. Die Theorien von Meyer, ter Kuile und Ewald. 571 nieht frei von prinzipiellen Schwierigkeiten, weshalb denn auch Ebbinghau s selbst es für nötig gefunden hat, gewisse Hilfshypothesen zu machen. Ich gehe aber darauf nicht näher ein, weil die Ebbinghaussche ebenso wie die Hermannsche Theorie der Kombinationstöne durch meinen oben erwähnten Nachweis der physikalischen Entstehung dieser Töne im Mittelohre inzwischen gegenstandslos geworden ist. - Von denjenigen Akustikern, welche dieHelmholtzsche Resonanzhypothese völlig über Bord werfen wollen, sei hier zuerst Max Meyer!) genannt. Nach ihm vollzieht sich die Klanganalyse im Ohre in der Weise, daß, vom unteren Ende der Schneckentreppe angefangen, je nach der objektiven Klangstärke ein kürzeres oder längeres Stück der Basilarmembran in Schwingungen gerät, wobei es sich in mehrere verschieden schnell oszillierende Abteilungen teilt. Jede Abteilung entspricht einem Tone. Ihre Länge bedingt die Intensität ihre Schwingungsfrequenz die Tonhöhe der Empfindung. Diese Theorie stimmt in einigen Fällen vortrefflich mit der Beobachtung überein, in anderen nicht. Sie hat das Verdienst, auf manche interessante Fragen zu führen, ist aber, abgesehen von ihrer skizzenhaften Form, zu einseitig auf die Erklärung der Klanganalyse sowie der Differenztöne berechnet und nimmt zu wenig auf andere wichtige Dinge Rücksicht, als daß sie irgendwie wirksam mit der Resonanzhypothese konkurrieren könnte. Ähnliches ist von der Theorie E. ter Kuiles?) zu sagen. Sie geht davon aus, daß der Steigbügel bei der Vorwärtsbewegung ein gewisses Quantum Lymphe vor sich herschiebt und dabei eine gewisse Strecke der Basilarmembran ausbuchtet. Diese Strecke ist um so länger, je größer die Schwingungsdauer, also je tiefer der Ton ist: die Länge der Vorwölbungsstrecke der Basilarmembran ist für die Tonhöhe der Empfindung maßgebend. Ist neben einem tieferen Tone noch ein höherer vorhanden, dem ein kürzeres Stück der Basilarmembran entspricht, so ändert sich der Modus der Gesamterregung des Nervenendapparates und damit die Wahrnehmung die Klangfarbe. Wie aber bei solcher Überlagerung der Töne in der Basilarmembran eine präzise Klanganalye möglich ist, dies ge- rade geht aus ter Kuiles Ausführungen nicht mit der wünschenswerten Klarheit hervor. Die übrigen Probleme des Hörens werden darin höchstens flüchtig gestreift. Während Meyer und ter Kuile vorwiegend den Anfangsteil der Basilar- membran für die Schallbewegung im Labyrinth in Anspruch nehmen, ver- tritt J. Rich. Ewald?) die Anschauung, daß ein Ton, der das Ohr trifft, die ganze Basilarmembran in Mitschwingungen versetzt, indem sie in eine Reihe stehender Wellen zerlegt wird. Die Gesamtheit dieser Wellen, das Schall- bild, wie Ewald es nennt, löst durch Vermittelung der Acusticusfasern im Gehirn die Tonperzeption aus. Jedem Tone entspricht ein für ihn charakte- ristisches Schallbild, und die einzelnen Schallbilder unterscheiden sich von- einander durch die größere oder geringere Wellenlänge der stehenden Schwingungen. Sind mehrere gleichzeitig vorhanden, so findet zwar eine Superposition, aber keine Änderung der Wellenlängen statt, so daß jedes Schall- !) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 16, 1 und 17, 1, 1898; auch Pflügers Arch. 78, 346, 1899 und 81, 61, 1900. — ?) Pflügers Arch. 79, 484, 1900. — ) Ebenda 76, 147, 1899 und 93, 485, 1903. 572 Die Hörtheorie von Ewald. bild für sich genügend kenntlich bleibt. Auf diese Weise wird die Klang- zerlegung möglich. Alle Schallerregungen, bei denen irgendwie die Bildung stehender Wellen verhindert wird, nehmen den Charakter des Geräusches an. Diese Theorie ist eine Konsequenz der Tatsache, daß es Ewald gelungen ist, ihr entsprechende Schallbilder und Schallzerlegungsbilder auf schlaff gespann- ten, mit Öl bestrichenen Gummimembranen, die teils durch Stimmgabeln, teils durch einen besonderen Schwingungsapparat in Vibrationen versetzt wurden, sichtbar zu, machen. Auch in Wasser befindliche Membranen sind dazu ge- eignet und die Spannungsverhältnisse der Basilarmembran für die Theorie günstige. Um die Eigentümlichkeiten des Ohres möglichst getreu nachzubilden, hat Ewald neuerdings eine Membran von nur 0,55 mm Breite und 8,5 mm Länge hergestellt. Auf ihr ließen sich Töne beobachten im Umfange von sechs Oktaven. Der mittelste Ton, von dessen Wellen Ewald seiner zweiten Publikation ein Photogramm beigegeben hat, war a*, der tiefste sichtbare hl. Theoretisch hätte die Membran indessen noch F zeigen können. Immerhin liegt selbst diese Grenze reichlich zwei Oktaven über dem unteren Ende der menschlichen Tonperzeption, und es bleibt noch zu beweisen, daß die Schall- bildertheorie imstande ist, auch die tiefsten Tonempfindungen zu erklären. Die Erregung der Membran gelingt ebensowohl in der Luft — es genügt, eine tönende Galtonpfeife in ihre Nähe zu bringen — wie in der vonEwald konstruierten Camera acustica. Letzterer Apparat, ein Ohrmodell, ist ein ganz mit Wasser gefüllter Kasten, der zum Zweck der Beleuchtung und mikroskopischen Betrachtung der Membran Glaswände hat. Der Innenraum ist durch eine passend gebogene, die Schallbildermembran aufnehmende Scheidewand in zwei Teile, die die Scala vestibuli und die Scala tympani repräsentieren, zerlegt. In der einen Hälfte ist eine Fenestra rotunda an- gebracht, in der anderen eine das ovale Fenster vertretende Membran, die durch eine „Columella*“ mit der Membran eines Schalltrichters („Trommel- fell und Gehörgang“) verbunden ist. Bringt man eine Tonquelle vor den Schalltrichter, so gerät die Schallbildermembran alsbald in Schwingungen; ebenso wenn man, um die direkte Knochenleitung nachzuahmen, den Stiel einer klingenden Gabel unmittelbar auf eine Wand der Camera aufsetzt. Die elegante Demonstrierbarkeit der Schallbilder gibt der Ewaldschen Theorie unzweifelhaft insofern ein Übergewicht über die Helmholtzsche, als es bisher nie gelungen ist und vielleicht nie gelingen wird, an einer Membran von der Art der Basilarmembran solche Schwingungen zu be- obachten, wie sie von der Resonanzhypothese gefordert werden. Auch ist der Umstand für Ewalds Hörtheorie entschieden günstig, daß dieselbe die wichtige Tatsache des Vorkommens von Toninseln und Tonlücken in sehr einfacher Weise erklären würde. Ewald teilt in dieser Hinsicht mit, daß er öfter Membranen gefunden habe, die infolge kleiner Unregelmäßigkeiten in ihrem Bau auf gewisse Schwingungszahlen nicht ansprachen, während die nächst höheren und nächst tieferen Töne tadellose Wellenbilder lieferten. Aber ein abschließendes Urteil über die Theorie ist nicht möglich, bevor sie nicht eine weitere Ausgestaltung erfahren hat. Sie muß unter anderem noch an vielen einzelnen Tatsachen aus der Lehre von der Klanganalyse und den Schwebungen, die Ewald bis jetzt noch gar nicht in Beziehung zu seiner Hypothese gebracht oder nur kurz berührt hat, eingehend erprobt werden. Knochenleitung. — Rinnescher Versuch. 573 e) Kopfknochenleitung. Diotisches Hören. Schalllokalisation. Die Kette der Gehörknöchelchen bildet nicht den einzigen Weg, auf dem Schall zum inneren Ohre gelangen kann. Wir hören nicht bloß durch Luftleitung, wie man kurzweg die durch den Paukenhöhlenapparat ver- mittelte Übertragung von Schallschwingungen aus der Luft auf das Labyrinth nennt, sondern auch durch Knochenleitung (ceranio- oder osteotym- panale Leitung), und zwar kann die letztere entweder eine direkte oder indirekte sein. Von einer direkten Kopfknochenleitung spricht man, wenn die Schallquelle unmittelbar ihre Schwingungen an den Schädel abgibt, wenn also beispielsweise bei der Untersuchung eines Ohrenkranken eine Stimmgabel. auf den Scheitel oder auf den Warzenfortsatz hinter der Ohrmuschel auf- gesetzt wird. Um indirekte Knochenleitung handelt es sich dagegen, wenn in der Luft vorhandene Tonwellen den Kopf treffen, in ihn eintreten und so zur Basilarmembran dringen. Theoretisch betrachtet ist die gewöhnliche Luftleitung stets mit indirekter Knochenleitung verbunden. Denn die Schall- wellen werden außer der Gehörgangsöffnung immer auch die diese um- gebenden Partien des Schädels erreichen oder aus der Luft im Gehörgang auf dessen Wandungen übergehen können. Setzt man den Stiel einer nicht allzu leise tönenden Stimmgabel auf irgend einen Punkt des Kopfes, so pflanzt ihr Ton sich mit größerer oder geringerer Stärke zu beiden Felsenbeinen fort und wird diotisch vernommen, wobei die Empfindung des rechten Ohres mit der des linken in der Wahr- nehmung zu einer einzigen verschmilzt, wie es immer bei gleichzeitigen quali- tativ identischen Gehörseindrücken der Fallist. Gewisse Partien des Schädels, wie die Wangenmuskulatur und die Nasenspitze, leiten den Schall schlecht. Auf dem Warzenfortsatz tönt die Gabel länger. Ist der Ton auch hier ver- klungen, so wird er wieder hörbar, wenn man die Gabel vor das Ohr bringt, also Luftleitung anwendet. Diese Tatsache ist in der Ohrenheilkunde als Rinnescher Versuch bekannt und diagnostisch wichtig. Hensen!) gibt an, daß eine ziemlich dicht an’das Ohr gehaltene und eben nicht mehr ge- hörte Gabel wieder vernehmlich wird, wenn man ihren Stiel gegen die Zähne drückt. Dies ist richtig, sofern man den Ausdruck „ziemlich“ beachtet. Da- gegen finde ich bei Benutzung meiner a!-Gabel, daß dieselbe, nachdem sie bei geöffneten Lippen und geschlossenen Kiefern von den oberen Schneidezähnen aus abgeklungen ist, noch deutlich und relativ andauernd tönt, wenn ich die Zinkenspitzen dem Ohreingange so weit, als es irgend möglich ist, nähere. Stelle ich dasselbe Experiment mit geöffneter Mundhöhle an, so ist das Über- wiegen der Luftleitung über die Knochenleitung unsicher, was damit zu- sammenhängt, daß die auf die oberen Schneidezähne gesetzte a!-Gabel lauter und länger klingt, wenn der Mund offen ist, als wenn die Zähne zusammen- gebissen werden. Ist der Ton einer auf dem Scheitel stehenden oder mit den Zähnen gefaßten Gabel unhörbar geworden, so tritt er wieder auf, wenn die Ohren verstopft werden, und ist er dann abermals verklungen, so kann’man !) Physiologie des Gehörs in Hermanns Handbuch der Physiologie 3 (2), 26, 1880. 574 Schalllokalisation. — Weberscher Versuch. ihn noch vernehmen, wenn der Stiel der Gabel in den Gehörgang hinein- geschoben wird !). ° Für die Lokalisation des Tones einer mit dem Ende ihres Stieles irgendwo auf dem Schädel ruhenden Gabel ist der Satz maßgebend, daß wir einen diotisch vernommenen Schall nach der Seite des stärker erregten Ohres ver- legen. Es ist dies durchaus nicht immer die Seite, auf welcher sich die Gabel befindet. Vielmehr wird eine auf die oberen Partien der rechten Kopfseite aufgesetzte Gabel, soweit die bisherigen Beobachtungen der Autoren einen Schluß gestatten, in der Regel links gehört und umgekehrt. Liegt die An- satzstelle der Gabel in der den Kopf vertikal von vorn nach hinten halbierend gedachten Medianebene, so wird der beide Hörnerven gleich stark er- regende Ton nach Kessel?) von jugendlichen Personen in die Ohren proji- ziert, im mittleren Lebensalter in die Medianebene und zugleich in die Ohren, von älteren Leuten in die Medianebene bzw. an die Ansatzstelle; doch kommen hierbei viele individuelle Verschiedenheiten vor. Setzt man eine klingende Gabel median auf den Kopf einer Versuchs- person und läßt dieselbe das eine Ohr mit dem Finger oder durch Andrücken der Hohlhand verschließen, so rückt der Ton unter Zunahme seiner Intensität in dieses hinein. Werden beide Ohren in gleicher Weise geschlossen, so er- scheint der Ton in der Medianebene im Innern des Schädels. In Ermangelung einer anderen Tonquelle kann man sich hiervon überzeugen, indem man einen Vokal, am besten «, singend die Ohren abwechselnd lose verstopft und wieder öffnet. Auch der Ton einer mit dem Stiel gegen die rechte Schläfe gedrück- ten Gabel, der für gewöhnlich, wie eben erwähnt, links gehört wird, springt sofort in das rechte Ohr, wenn man die Hand auf dessen Muschel legt. E..H. Weber?) hat zuerst ausdrücklich auf das Hineinwandern eines durch die Kopfknochen zugeführten Tones in das verschlossene Ohr aufmerk- sam gemacht, weshalb diese Beobachtung auch der Webersche Versuch genannt wird. Für das Verständnis desselben ist es nötig, sich daran zu erinnern, daß die Gehörknöchelchenkette auch bei der direkten Kopfknochen- leitung in Schwingungen versetzt wird. Die Oszillationen des Trommelfells werden dabei ebenso wie diejenigen der Gehörgangswände auf die Luft im Meatus übertragen, und so fließt der Ton einer auf den Schädel gesetzten Gabel aus den Ohren nach außen ab, wovon man sich durch geeignete Aus- kultationsmethoden ohne Mühe überzeugen kann. Nach Mach) wird nun durch einen leichten Verschluß des Gehörganges dieser Schallaustritt gehindert und daher das durch die Differenz von Zu- und Abfluß bestimmte Quantum Schall- energie in dem verstopften Ohre größer als in dem offenen, was eben in einer Verstärkung des Tones auf der Seite des ersteren zum Ausdruck kommt. Ver- schiedene andere Forscher haben den Weberschen Versuch auf eine Inten- sitätszunahme infolge von Reflexion der Tonwellen an der den Ohreingang obturierenden Fläche zurückzuführen versucht. Machs Erklärung scheint !) Vgl. hierzu Rinne, Prager Vierteljahrsschrift f. prakt. Heilkunde 1, 71, 1855 und Zeitschr. f. rationelle Medizin, 3. Reihe, 24, 26, 1865, sowie Hensen a. a.O., der eine Gabel von 1000 Schwingungen an den Zähnen 4”, bei Schluß des Ohres weitere 4” und nach Einführung in den Gehörgang noch 1” bis 3" hörte. — ?) Arch. f£. Ohrenheilk. 18, 130, 1882. — °) De pulsu, auditu et tactu, Lips. 1834, p. 41. — *) Berichte d. Wiener Akad., math.-nat. Kl., 48 (2), 283, 18683. Weberscher Versuch. — Metotische Knochenleitung. 575 mir indessen, von theoretischen Erwägungen abgesehen, schon aus experi- mentellen Gründen den Vorzug zu verdienen. Es ist nämlich von mehreren Seiten festgestellt und leicht zu bestätigen, daß die Tonverstärkung beim Weberschen Versuch besonders deutlich ist, wenn das Ohr nur lose ver- schlossen wird, dagegen merklich nachläßt, wenn man den Finger tief und fest einführt. Nach der Reflexionstheorie ist dies nicht recht verständlich, wohl aber nach der Machschen Auffassung, insofern der feste Verschluß den Schallabfluß durch den Finger hindurch wieder begünstigt. Zweitens tritt die Verlegung eines median und osteo-tympanal zugeleiteten Tones in eines der Ohren auch ohne jede Veranlassung zu einer Reflexion bei solchen Mittel- ohrkrankheiten auf, welche die Schwingungen der Knöchelchenkette oder des Trommelfells und damit die Abgabe von Schall nach außen beeinträchtigen; weshalb denn auch der Webersche Versuch in der otiatrischen Diagnostik eine wichtige Rolle spielt. Übrigens bedürfen die bei demselben in Betracht kommenden Verhältnisse im einzelnen noch der genaueren Untersuchung und gewisse Widersprüche der Aufklärung. So finde ich in Übereinstimmung mit einer gelegentlichen Angabe von Politzer, daß der Ton meiner auf die Schneidezähne gesetzten a'-Gabel jedesmal lauter wird, sobald ich durch Tensoranspannung die Schwingungen des Paukenapparates verringere. Bei dem oben schon erwähnten Gell&schen Versuch dagegen, bei dem statt des Zuges von innen ein Druck von außen auf das Paukenfell wirkt, tritt das Gegenteil ein, während wiederum das negative ebenso wie das positive Valsalvasche Experiment bei vielen, aber nicht bei allen Personen das Webersche Phänomen hervorruft. Hält eine Versuchsperson eine tönende Gabel, ohne irgendwie den Kopf damit zu berühren, vor ihr eines Ohr, so kann man, mittels Stethoskops verschiedene Partien des Schädels auskultierend, an der ganzen Oberfläche des Kopfes den Ton hören. Versuche dieser Art sind schon von Harleß!) angestellt und später unter anderen von Mader?) mittels seines sehr fein reagierenden Otomikroph ons bestätigt, ja sogar für sehr leise Schallquellen gültig gefunden worden. Die Auskultation ergibt ferner, daß der aus der Luft von dem einen Ohre aufgenommene Ton auch zum anderen gelangt und aus demselben mit merklicher Stärke herausklingt. Für diese Hinüberleitung sind zwei Wege vorhanden. Einerseits können die Tonwellen aus der Luft direkt auf die Kopfknochen übergehen und von ihnen an alle Teile beider Ohren abgegeben werden; anderseits können das Trommelfell, das ovale Fenster, das runde Fenster sowie das Labyrinthwasser des zuerst erregten Ohres durch ihre Vibrationen die Kopfknochen in Mitschwingungen versetzen, und alle gleichnamigen Stücke des anderen Ohres können diese von Felsen- bein zu Felsenbein geleiteten Oszillationen aufnehmen. Ich möchte die letztere Art der intrakraniellen Schallfortpflanzung kurz als metotische Knochen- leitung bezeichnen. Nach Harleß darf man derselben freilich keinen allzu- großen Anteil an der Schallübertragung zuschreiben. Denn wenn er an der Leiche das eine Ohr auskultierte, während in der Luft vor dem anderen eine Gabel klang, so war die Intensität nach der’ Zerstörung beider Trommelfelle !) Wagners Handwörterbuch der Physiologie 4, 361 f., 1853. — ?) 13. Intern. med. Kongreß, Paris 1900 und Ber. d. Wiener Akad., math.-nat. Kl., 109 (3), 1900. 576 Diotische Schwebungen. nicht auffallend geringer als vorher. Dagegen fand er bei anderen Versuchen, daß die Schädelknochen überraschend leicht Schall aus der Luft aufnehmen und weiter leiten. (Leider fehlt die nicht unwichtige Angabe über die Höhe der benutzten Töne.) Jedenfalls ist sicher, daß durch die indirekte Kopfknochenleitung selbst sehr schwache Töne auch zu dem von der Schallquelle entfernteren Gehör- organ gelangen. Man nähere eine Stimmgabel dem einen Ohre so weit, daß ihr Abstand noch etwas geringer ist als die Distanz der Ohren, warte, bis sie verklungen, und führe sie hierauf möglichst dicht an die Gehörgangsöffnung. Sie wird dann wieder hörbar, aber ihr Ton kann das andere Ohr nicht mehr auf dem Wege durch die Luft außen um den Kopf herum erregen, was natür- lich bei Experimenten dieser Art immer sorgfältig vermieden werden muß. Wenn man nun das zweite Ohr lose mit dem Finger schließt, so wird der Ton alsbald lauter und scheint dem Kopfe näher zu kommen. Wird der Finger wieder entfernt, so wird der Ton wieder leiser und rückt scheinbar vom Ohre weg. Diese Beobachtung, welche sich mit allerdings allmählich abnehmender Deutlichkeit bis nahe zum völligen Erlöschen des Klanges ver- folgen läßt, ist nichts anderes als eine Modifikation des Weberschen Versuchs, und beweist, daß auch das zweite-Ohr durch den Kopf!) hindurch erregt wird. Sie ist früher von mir?) in etävras anderer Form angestellt und in- zwischen von verschiedenen Seiten sr worden, so von E. Bloch 3), der zugleich ihre Bedeutung für die Ermittelung einseitiger kompletter Taubheit anerkannt hat. Leitet man von zwei der Höhe nach wenig verschiedenen Tönen den einen dem rechten, den anderen dem linken Ohre unter solchen Kautelen zu, daß jeder zu dem entfernteren Gehörorgan nur durch die Kopfknochen gelangen kann, so hört man dennoch die Stöße. Ich habe derartige diotische Schwebungen noch mit Stimmgabel-Primärtönen aus der Mitte der Kontraoktave hervorrufen können *) und möchte mit Rücksicht auf gewisse pathologische Beobachtungen glauben, daß die metotische Knochenleitung sich um so mehr an der Schall- übertragung durch den Kopf beteiligt, je tiefer die Primärtöne sind. Diotische Schwebungen sind unter geeigneten Umständen selbst dann noch zu hören, wenn die Primärtöne eine so geringe Stärke haben, daß sie einzeln nicht wahrgenommen werden), wie denn überhaupt nach den Beobachtungen mehrerer Forscher zwei Schallreize, deren jeder für sich unterschwellig ist, einander bei diotischem Zusammenwirken gleichsam über die Schwelle zu heben vermögen. Die Frage, ob die diotischen Schwebungen auch in diesem Falle so zu erklären sind, daß eben infolge der Kopfknochenleitung jedes der Cortischen Organe beide Töne empfängt, oder ob man mit Wundt und anderen annehmen soll, daß der von rechts und der von links kommende Ton sich erst im Zentralorgan begegnen und dort miteinander interferieren, muß meines Erachtens mit Rücksicht auf die gegen die zweite Auffassung sprechen- den theoretischen und experimentellen Gründe in dem zuerst genannten Sinne ') Daß hierbei die Schallübertragung von Ohr zu Ohr durch die Tuben statt- finde, darf als in der Regel ausgeschlossen betrachtet werden. — ?) Zeitschrift £. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 2, 111, 1891. — °) Zeitschr. f. Ohrenheilk. 27, 267 ff. — *) Arch. f. Ohrenheilk. 52, 151, 1901. — °) Silvanus P. Thompson, Philos. Magaz. (5), 4, 274, 1877. k N Trigeminus und Geruchssinn. 593 in denen dauernd oder vorübergehend eine absolute Anosmie (Unfähigkeit zu riechen) vorhanden ist. Solche Personen empfinden das Eindringen von Ammoniak oder Chlorgas, von Dämpfen der Essigsäure oder des Formaldehyds in ihre Nase ganz deutlich, ohne indessen feinere Unterschiede machen zu können. Die Qualität verschiedener Zigarrensorten freilich unterscheiden solche Patienten zuweilen, trotz ‚völligen Verlustes des Geruchssinnes, doch noch an der Beschaffenheit des Rauches, der ihre Nasenschleimhaut reizt. b Die bei der Anosmie erhalten bleibenden Empfindungen, die der Trige- minus vermittelt, sind brennend und stechend, bei Einwirkung gewisser Stoffe (Menthol, Chloroform) auch Temperaturempfindungen. Für den Normal- sinnigen gehören diese Empfindungen mit zum Gesamteindruck, den das Riechen an jenen Substanzen wachruft, man ist aber nicht imstande, zu sagen, was an dem Gesamteindruck eine reine Geruchsempfindung ist, und was jenen accessorischen Empfindungen der Trigeminussphäre zugehört. Daher kommt es denn, daß total anosmatische Personen beim „Riechen“ an gewissen Stoffen doch noch eine leicht brennende oder stechende Empfindung haben, während der Vollsinnige geneigt ist, jene Stoffe als „reine“ Riechstoffe zu bezeichnen. In anderen Fällen, z. B. bei den oben genannten Stoffen (Formaldehyd u. a.), ist freilich der begleitende Effekt der Trigeminusreizung so stark, daß er sich deutlich von dem Geruchseindruck als etwas verschiedenes abhebt. Die oben auf Grund der Krauseschen Erfahrungen gemachte Annahme einer Mitbeteiligung des Trigeminus am Riechen widerstreitet nicht der Tatsache, daß bei völliger Anosmie diejenigen sensiblen Funktionen der Nasenschleimhaut intakt geblieben sind, die die eigentliche Domäne des Trigeminus darstellen, die stechenden, brennenden Empfindungen, die z. B. auch in der Conjunctiva ausgelöst werden können. Daß die Trigeminus-Endorgane, die dieser Funktion dienen, mit den etwa dem Riechen dienenden identisch seien, muß ja ohnehin als höchst unwahr- scheinlich gelten. Man kann sehr wohl annehmen, die Ursachen, welche eine Auf- hebung des Geruchssinnes bewirken, zerstörten in der Nasenschleimhaut gerade nur diejenigen Endorgane, vermittelst deren wir riechen, gleichgültig, ob die in ihnen entspringenden centripetalen Fasern nun weiterhin auf Trigeminus- oder Olfactorius- bahnen verlaufen. II. Von den Eigenschaften der Riechstoffe. Welche chemischen oder physikalischen Eigenschaften eine Substanz haben muß, damit sie Geruch erzeugend wirken kann, darüber vermögen wir zurzeit nur sehr wenig auszusagen. Zwaardemaker hat dem Gegen- stande ein besonderes Kapitel, „Geruch und Chemismus“, in seiner Mono- graphie über den Geruchssinn gewidmet. Diese Zusammenstellung eigener und fremder Beobachtungen und Vermutungen demonstriert deutlich genug unsere klägliche Unkenntnis auf diesem Gebiet. Wohl finden manche Autoren allerlei „geruchgebende Atomgruppen“ bei den Riechstoffen heraus, aber (wie auch Zwaardemaker mit Recht hervorhebt) die Fälle, in denen Substanzen total verschiedener chemischer Konstitution gleichen Geruch haben (ich er- innere an Nitrobenzol—Benzaldehyd), oder wo chemisch aufs nächste verwandte Stoffe ganz verschieden riechen, stellen allen Klärungsversuchen bisher un- überwindliche Schwierigkeiten in den Weg. Zwaardemaker ist wohl etwas optimistischer als ich, denn er findet doch in einer Reihe von Fällen bestimmte Gerüche durch bestimmte Atomgruppen vertreten. Ich finde die Ausnahmen Nagel, Physiologie des Menschen. III. 38 594 Riechstoffe. zu zahlreich, die Erscheinungen zu regellos, als daß ich auch nur vermutungs- weise angeben möchte, wovon die Riechbarkeit der Stoffe abhängen könnte. Einige interessante Tatsachen, die aber immer noch wenig Aufklärung geben, verdanken wir den Untersuchungen von Haycraft!) und Passy?). Zwaardemakers Beobachtungen ergänzen sie in manchen Punkten. In dem periodischen System der chemischen Elemente, das Lothar Meyer und Mendelejeff aufgestellt haben, finden wir diejenigen Elemente, die in riechenden Verbindungen vorkommen, fast ausschließlich in der fünften, sechsten und siebenten Gruppe; freilich kommt dann die große Gruppe der Kohlen- wasserstoffe noch außerdem hinzu. Die fünfte Gruppe enthält folgende Elemente: Stickstoff, Phosphor, Vanadium, Arsen, Niobium, Antimon, Didymium, Tantalium und Wismut. Die sechste Gruppe besteht aus Sauerstoff, Schwefel, Chrom, Selen, Molybdän, Tellur, Wolfram und Uran. Die siebente Gruppe enthält: Fluor, Chlor, Mangan, Brom und Jod. Daß unter diesen Elementen zahlreiche von denen enthalten sind, die bei Verbindungen mit Geruch stets wiederkehren, ist unverkennbar, ebenso, daß ‘innerhalb der einzelnen Reihe eine gewisse Periodizität besteht, einzelne Glieder selten oder gar nicht, andere, in regelmäßigen Distanzen auftretende, besonders häufig in riechenden Stoffen zu finden sind. In der achten Gruppe kommt Osmium vor, dessen riechende Oxydationsstufe, Überosmiumsäure, ja bekannt ist. Eine zweite unbestrittene Tatsache ist die, daß in homologen Reihen, wie etwa in denen der Fettsäuren oder Alkohole, der Geruch im allgemeinen eine allmähliche, stetige Änderung zeigt, freilich immer in kleineren Strecken der Reihen. Plötzliche Unstetigkeiten fehlen nicht ganz. Gerade bei den ge- nannten homologen Reihen ist bemerkenswert, daß die niedersten Glieder einen sehr schwachen Geruch haben, der bei den höheren Gliedern unter stetiger Qualitätsänderung zunächst an Intensität zunimmt (Ameisensäure, Essigsäure, Propionsäure, Buttersäure, Valeriansäure, Capronsäure usw. und die zugehörigen Alkohole). Bei den höheren Gliedern bricht die Reihe der Gerüche dann ziemlich plötzlich ab, sie werden geruchlos (Stearinsäure usw.), Eine andere Reihe sich stetig ändernder Gerüche finden wir in Benzol, Toluol, Xylol usw. Recht wenig, begründet scheint mir die Behauptung Aronsohns?), daß alle chemischen Elemente geruchlos seien, ein Satz, dem auch Zwaardemaker zu- stimmt. Daß ‚Chlor, Brom, Jod nicht geruchlos sind, ist allbekannt, und die Behaup- tung, ihre Riechbarkeit beruhe auf dem Eingehen chemischer Verbindungen (mit Wasserstoff) in der Luft der Nasenhöhle, ist erstens unbewiesen und zweitens des- halb belanglos, weil wir ja von keinem einzigen Stoffe wissen, welchem Umstande er seine Riechbarkeit verdankt. Ohne chemische Umsetzungen wird es bei dem Erregungsvorgang überhaupt nicht abgehen, und wieviel davon schon vor dem eigentlichen Erregungsprozeß sich abspielt, wissen wir zurzeit noch nicht. Es liegt hier ein ganz ähnlicher Fall vor, wie bezüglich der Sichtbarkeit oder Unsichtbar- keit ultravioletten Lichtes. Daraus, daß wir dieses nur durch Vermittelung der Fluorescenz im Auge wahrnehmen, darf noch nicht geschlossen werden (wie es zuweilen irrtümlich geschieht), das ultraviolette Licht als solches vermöge die Retina nicht zu erregen. ‘) Brain 1888, 8. 166. — *) Compt. rend. 1892, Mai. — °) Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt., 1886. Bedingungen der Riechbarkeit. 595 Von den physikalischen Eigenschaften der Riechstoffe ist die wichtigste und allgemeinste die Flüchtigkeit, die allerdings ganz außerordentlich große Differenzen aufweist. Übrigens können auch in feinste Tröpichen oder feste Partikelchen zerstäubte Substanzen den Geruchssinn erregen. Es kommt eben nur darauf an, daß die Substanz, die einen chemischen Reiz auf die Riechzellen ausüben kann, irgendwie zu ihnen hingelangt. Sehr bemerkenswert ist die Beobachtung Erdmanns!), daß einige Riech- stoffe, wie Rosenöl, Jonon und Citral in flüssiger Luft leicht löslich sind. Es wäre interessant, wenn sich ähnliche Erfahrungen bei Riechstoffen in größerer Anzahl machen ließen. Recht wenig vermögen wir mit der alten, viel diskutierten Beobachtung anzufangen, daß manche riechende Substanzen, z. B. Campher, in Pulverform auf reines Wasser gebracht, dort rasche tanzende und wirbelnde Bewegungen ausführen (Romieu 1756, von Pr&vost und Li&geois?) eingehend untersucht). Dieses „odoroskopische Phänomen“, wie es Pr&vost nannte, gibt für die Eigenschaften der Riechstoffe schon deshalb keine Aufklärung, weil es auch an nicht riechenden Körpern zu beobachten ist und nicht bei allen riechenden Stoffen auftritt. Erwähnt sei endlich, daß nach Tyndalls3) Untersuchungen die Dämpfe riechender Stoffe ein besonders hohes Absorptionsvermögen für strahlende Wärme aufweisen. Es ist aber nicht, erwiesen, daß die Eigenschaft der Riechbarkeit hiermit in irgend welchem Zusammenhange steht. Über Fortbewegung der Riechstoffteilchen durch Diffusion hat Zwaardemaker Messungen angestellt. Bemerkenswerterweise macht sich der Einfluß der Weite eines Rohres, in dem die Diffusion erfolgt, für ver- schiedene Stoffe in ganz ungleichem Maße geltend. Ich gebe nachstehende Tabelle nach Zwaardemaker wieder, welche die Zeiten enthält, in denen sich die verschiedenen Gerüche durch Röhren von 40 cm Länge hindurch ver- breiteten (s. Tabelle). Die Unterschiede zwischen der Fortbewegung in engen und in weiten Röhren sind nach Zwaardemaker am größten bei den Stoffen, welche leicht an den Glaswänden haften und daran zum Teil hängen bleiben. Dauer der Fortbewegung um 40cm . ker in weiten Röhren | in engen Röhren Sekunden Sekunden Schwetaläther! N 3. ms En re hate 9 9 Hammeltalg - :. 2. zei lei auei“ 243 © 10 31 Parafünı 2. 0.0 ae een 18 18 WACHS a N ana 20 65 Terpentin u v0 arte are ri 22 : 80 Nelkenöl.. una e rel a ie 30 75 Kautschuk... 2.2 am sea a Ei . 45 45 !) Zeitschr. f. angew. Chemie 1900 und Journ. f. prakt. Chemie 61. — ?) Der Acad. des seiene. 1799 vorgelegt. — °*) Die Wärme betrachtet als eine Art der Bewegung (Übersetzung), Braunschweig 1875. 38* 596 Diffusion der Riechstoffe. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Gerüche, in der Nähe der Riech- quelle pro Sekunde berechnet, ergibt beispielsweise folgende Werte: cm pro Sek. ET a Er Br 10,0 BREBECHeTEH: sr te ee 4,4 EN ne een a ee 2,1 RT Ve ee 1,8 ISO EEE a tan ar ea Seh rende % 1,3 BERUISCHUR DR Re een nee ee 0,9 Im allgemeinen also Werte zwischen 1 und 10cm pro Sekunde. Die Weiterverbreitung von Gerüchen durch Luftströmungen von be- stimmter Richtung wird sich bei denjenigen Riechstoffen am deutlichsten bemerken lassen, bei denen die Diffusionsgeschwindigkeit eine geringe ist, die Duftwolke also nicht so schnell verfliegt, wie es beispielsweise beim Äther der Fall sein muß. Manche Substanzen riechen wesentlich stärker, wenn sie mit Wasser be- feuchtet sind (getrocknete Kräuter, manche Mineralstoffe). Es handelt sich aber hier um komplizierte Stoffgemische oder Körper mit organischer Struktur, und das Wasser wirkt wohl nur dadurch, daß es rein mechanisch die -Ver- flüchtigung der riechenden Bestandteile erleichtert. Eine eigentliche Bedingung für die Riechbarkeit letzterer ist es also nicht. III. Der Weg des Luftstromes beim Riechen. Die Riechstoffe können in die Nasenhöhle und die Riechspalte auf zwei Wegen hineingelangen, durch die Nasenlöcher und durch die Choanen. Bisher hat der Mechanismus des Riechens bei der Einatmung, wobei der Luftstrom durch die Nasenlöcher einstreicht, auffallenderweise viel mehr Beachtung ge- funden, als der zweite Modus des Riechens, der beim Menschen meines Er- achtens die biologisch entschieden wichtigere Rolle spielt. Wir betrachten die beiden Arten der Zuleitung der Riechreize getrennt. Leicht ist festzustellen, daß vor die Nasenlöcher gehaltene selbst sehr flüchtige Riechstoffe so lange keine Geruchsempfindung erzeugen, als die Atmung angehalten wird. Es genügt aber, einen kräftigen Riechstoff nur während einer Atempause vor die Nase zu halten, um dann beim nachherigen Einatmen die inzwischen ins Nasenloch emporgestiegenen Dämpfe zu riechen. A. Fick!) hat gezeigt, daß der für das Riechen wichtigste Teil des Atmungsstromes durch die vordere Hälfte des Nasenloches geht. Atmet man riechende Dämpfe durch ein Röhrchen ein, das durch den vorderen Teil des Nasenloches in die Nase gesteckt ist und die Gerüche nach oben gegen das Dach der Rachenhöhle leitet, so werden die Gerüche wahrgenommen, nicht aber, wenn das Röhrchen im hinteren Teile des Nasenloches liegt und die Dämpfe gegen die mittlere und untere Muschel leitet. Auch schädigt Ver- schluß der vorderen Hälfte der Nasenlöcher den Geruch wesentlich mehr, als ‘) Lehrbuch der Anat. und Physiol. d. Sinnesorgane. Lahr 1864, 8. 100. Luftströmung in der Nase. 597 _ Verstopfung der hinteren Hälfte. Bidder weist darauf hin, daß beim willkür- lichen Riechen (Schnüffeln) sich die vordere Hälfte der Nasenlöcher stärker erweitert als die hintere. Ein von dem vorderen Ende der mittleren Muschel bogenförmig nach vorne unten ziehender Wulst in der Nasenwand (Meyers Agger nasi) mag in gewissem Maße darauf hinwirken, daß sich der Einatmungs- strom in einen starken Zweig, der flach ansteigend zwischen unterer und mittlerer Muschel passiert, den Atmungsstrom, und einen schwächeren Zweig teilt, der über dem Wulst steil ansteigend das Nasendach erreicht. Der letztere Strom ist sicher der bei weitem schwächere, aber auch sicher nicht der einzige und wichtigste Weg, auf welchem Riechstoffe zur oberen Muschel und der Riechschleimhaut hinaufgelangen, wie die gleich zu erwähnenden Experimentaluntersuchungen über den Weg des Luftstromes gezeigt haben. Daß die Richtung des Luftstromes für das Riechen nicht gleichgültig ist, zeigt unter anderem auch die öfters gemachte Erfahrung, daß Verlust der äußeren Nase den Geruchssinn schädigt. Es fehlt dann die Ablenkung nach oben durch den Agger nasi. Unzutreffend in ihrer allgemeinen Fassung ist die Angabe Bidders, daß durch eine Spritze in die Nase geblasene Dämpfe keine Geruchsempfindung aus- lösten: - Der Irrtum mag auf ungünstiger Richtung des Luftstromes in Bidders Versuchsanordnung beruhen. Um den Weg des Luftstromes in der Nase bei der Einatmung zu be- stimmen, hat Paulsen!) interessante Versuche an menschlichen Leichen- köpfen angestellt. Er belegte an einem median durchsägten Kopf die Wan- dungen der Nasenhöhle mit Stückchen feuchten Lackmuspapiers, legte dann die beiden Kopfhälften wieder aneinander und sog mit Hilfe eines Blasebalgs ammoniakgeschwängerte Luft durch die Nasenlöcher ein. Die mehr oder weniger starke Bläuung des Lackmus ließ dann erkennen, welche Partien der Nasenhöhlenwand und des Septums von der eingesogenen Luft am reich- lichsten bestrichen wurden. Der Weg der Luft war im wesentlichen bogen- förmig (Fig. 110 a.f. S.) und lief mehr am Septum als an den Muscheln ent- lang, in der Höhe des mittleren Nasenganges (zwischen unterer und mittlerer Muschel). Bemerkenswert war namentlich, daß die Regio olfactoria von dem eigentlichen Atmungsstrom unberührt blieb, der unter ihr vorbeiging. Es können also nur kleinere Abzweigungen des Hauptstromes und Luftwirbel sein, die die Riechstoffe zur Regio olfactoria hinaufbefördern. Wir werden darin eine zweckmäßige Einrichtung zu erblicken haben, durch welche die Ablagerung von eingeatmetem Staub auf der Riechschleimhaut sowie die Ein- wirkung starken Temperaturwechsels in der Riechspalte vermieden wird. Paulsens Versuchsergebnisse werden im wesentlichen bestätigt und ergänzt durch Versuche, die Zwaardemaker an einem Pferdekopf, Franke?) an einem menschlichen Kopfe anstellte. Die beiden Autoren markierten den Weg des Luftstromes durch Rauch, den sie der Luft beimischten. Es zeigte sich wiederum der bogenförmige Verlauf des Luftstromes durch den mittleren Nasengang. Während untere und mittlere Muschel stark beräuchert wurden, blieb die Riechschleimhaut frei. Bei Nachahmung schnüffelnder Atmung sah Franke am Schlusse jeder In- und Exspiration starke Luftwirbel in der Nasenhöhle einsetzen. Ähnliche Versuche, wie diejenigen Paulsens !) Sitzungsber. d. K. Akad. d. Wissenschaft., III. Abteil., 85, 348, 1882, — 2) Arch. f. Laryng. u. Rhinol. 1, 236, 1893. 598 Paulsens Atmungsversuch. und Frankes, sind kürzlich von Danziger!) und Rethi?) beschrieben worden. Auch die Beobachtungen von Kayser’) an Lebenden, bei denen feines Magnesiapulver aspiriert und rhinoskopisch der Ort des hauptsächlichsten Niederschlages festgestellt wurde, stimmen gut zu den bisher erwähnten. Bei manchen Tieren ist in leicht erkennbarer Weise die Riechschleim- haut so placiert, daß der eigentliche Atmungsluftstrom sie vermeidet und die Riechstoffe nur durch Luftwirbel und durch Diffusion zu ihr gelangen können. Fig. 110. B NND ya 2A A Weg des Einatmungsstromes nach Paulsen (aus Zwaardemaker, Physiologie des Geruchs), In der rechten Hälfte der Figur ist der Atmungsstrom entlang der Nasenscheidewand, in der linken Hälfte entlang der äußeren (rechten) Nasenwand durch die Pfeile markiert. Zur Orientierung über die Lage des Riechepithels vergl. Fig. 106; im übrigen siehe die Beschreibung der Versuchsanwendung im Text. Zwaardemaker hat mit Recht hervorgehoben, daß diese Momente auch durchaus zureichend sind, um den Mechanismus des Riechens beim Menschen zu erklären. Bidder hatte angegeben, nur bei Inspiration könne deutlich gerochen werden, exspiratorisch nicht: von einem in den Mund genommenen Stück Campher hat man nur einen höchst unbedeutenden Geruchseindruck beim Ausatmen. Nachdem von verschiedenen Seiten darauf hingewiesen worden war, daß Flüssigkeiten und Gase, die aus dem Magen emporsteigen, im exspira- torischen Riechen wahrnehmbar seien, zeigte Aronsohn (Citat oben $. 594) durch Versuche, daß Bidders dem Wortlaut nach richtige Angabe doch nur mit Vorbehalt aufzunehmen ist. Atmet man durch den Mund mit Riech- stoffen geschwängerte Luft ein und durch die Nase wieder aus, so ist deut- lich der Geruch der Substanz zu erkennen. Daß der Geruch schwächer ist als bei Einatmung durch die Nase, erklärt sich meines Erachtens zur Genüge !) Monatsschr. f. Ohrenheilk. 1896, 8. 331. — ?) Sitzungsber. K. Akad. Wien, 109, 17, 1900. — °?) Zeitschr. £. Ohrenkeilk. 20, 96, 1889. Riechen beim Schluckakt. 599 dadurch, daß die Riechstoffe in Mund, Schlund, Trachea und Bronchien großenteils von den feuchten Wänden absorbiert werden und somit in viel kleinerer Menge zur Reizwirkung in der Nase gelangen. Genießen wir irgend welche Speisen, so gelangen vielleicht schon während des Kauens ab und zu die flüchtigen Dämpfe, die von ihnen etwa ausgehen, um das gesenkte Gaumensegel herum in die Nase. Am ausgiebigsten aber geschieht das während des eigentlichen Schluckaktes, wobei auch von Getränken die flüchtigen Reizstoffe in die Nase von hinten her einströmen und jene Empfindungen erzeugen, die der Unkundige für Geschmacks- empfindungen erklärt. Ein sehr bekannter einfacher Versuch (den Chevreul!) zuerst beschrieben zu haben scheint) gestattet den Nachweis, daß es sich um Geruchsempfindungen handelt, die in der Nase zustande kommen: bei zu- gehaltener Nase kaue man abwechselnd kleine Apfel- und Zwiebelstückchen; man wird die Unterscheidung der beiden Substanzen nicht eher machen können, als bis man die Nase öffnet. Bei diesem Versuche ersetzt das Zuhalten der Nasenlöcher in leicht ersichtlicher Weise den nicht leicht durchführbaren Verschluß der Choanen. Solange die Nase vorn verschlossen ist, ist das Eindringen von riechenden Dämpfen selbst im Anschluß an den Schluckakt fast völlig verhindert. Ich habe oben erwähnt, daß ich den Zutritt der Riechstoffe durch die Choanen, das Riechen vom Nasenrachenraum aus für biologisch wichtiger halte, als das Riechen durch die Nasenlöcher; allerdings gilt das in erster Linie für den Menschen. Tiere beriechen sehr vielfach die Gegenstände aus nächster Nähe, indem sie die Nase bis fast zur Berührung annähern. Man denke an den Hund, der eine Fährte verfolgt, oder an das Schwein, das schnüffelnd seine Nahrung sucht. Dieses Beriechen und Beschnüffeln der Gegenstände tritt jedoch beim Menschen (und nicht nur beim Kulturmenschen) sehr zurück. Führen wir die Speisen zum Munde, so gelangt vom Löffel wohl leicht etwas Duft in die Nase und kann wahrgenommen werden. Mehr wird das der Fall sein, wenn wir das Weinglas an die Lippen setzen; hier prüfen wir auch wohl absichtlich und bewußt den Duft. Aber das sind, vom Standpunkte der biologischen Bedeutung der Sinne aus betrachtet, Nebensächlichkeiten. Daß der Geruchssinn der „Wächter unseres Atmungsapparates“ sei, wie der Geschmackssinn derjenige des Verdauungsapparates, wie es wohl in manchen populären Schriften und im „anthropologischen“ Unterricht für die liebe Jugend gelehrt wird, das werden wir doch auch nur sehr mit Vorbehalt an- erkennen. Vor den irrespirablen Gasen schützt uns nicht der Olfactorius, sondern der Trigeminus. Nein, die Hauptbedeutung des Geruchssinnes für den Menschen liegt darin, daß dieser Sinn mit dem Geschmack wie zu einem einheitlichen Ganzen verbunden, die von den Speisen ausgehenden chemischen Reize percipiert und verwertet, teils zur Kontrolle des Genossenen, teils, wie weiter unten noch näher zu erörtern sein wird, zur Anregung und Förderung des Appetits, des Triebes zur Nahrungsaufnahme. Verliert ein Mensch seinen Geruchssinn, so ist er nicht darum in erster Linie zu bedauern, weil ihm nun die Rosen nicht mehr duften, noch auch darum, weil er nun nicht mehr einen mit übelriechenden, vielleicht giftigen Gasen erfüllten Raum vermeiden wird, | !) Journ. d. physiol. experim. 4, Paris 1824. | 600 Reizung des Riechorganes sondern deshalb, weil ihm jetzt ein Hauptreiz zum Essen und damit zu der Ernährung seines Organismus fehlt. Die Nebenhöhlen der Nase im Stirnbein, Keilbein und Oberkiefer sind für die Geruchsperception ‘ohne Bedeutung. An solchen Höhlen, die bei Operationen er- öffnet waren, ist ihre Unempfindlichkeit für Gerüche direkt erprobt worden. Selbst eine sekundäre Bedeutung durch Beeinflussung der Richtung des Atmungsstromes erscheint ausgeschlossen. Einige phantastische Versuche, den Nebenhöhlen doch eine Funktion in diesem Sinne zuzuteilen (Hilton, B&erard!), haben keine Über- zeugungskraft. Braune und Clasen?) vermuten, daß die durch den Druckaus- gleich am Schlusse jeder In- und Exspiration zwischen Nasenhöhle. und Neben- höhlen eintretende Luftströmung die riechenden Stoffe zur Riechspalte führe. Um die Wirkung dieses Druckausgleiches und der davon abhängigen Strömung irgendwie erheblich zu machen, dazu sind die Nebenhöhlen erstens viel zu klein, zweitens ist die Kommunikationsstelle zwischen der Nasenhöhle und namentlich der Oberkiefer- höhle so ungünstig für diesen Zweck gelegen, daß die Ansicht von Braune und Clasen entschieden abzulehnen ist. IV. Die Reizung des Riechorganes. a) Die Reizung des Riechorganes mit adäquaten Reizen. Der adäquate Reiz des Geruchsorganes ist der chemische; die Sub- stanzen, die für die Riechnerven einen Reiz bilden, müssen mit diesen Nerven- endigungen in direkten Kontakt kommen. Die außerordentliche Kleinheit der Substanzmengen, die zur Erzielung einer Reizung notwendig sind, haben manche Autoren auf die Vermutung geführt, daß es sich bei der Reizung des Riechorganes um eine Art Fernwirkung, vermittelt durch Bewegungsvorgänge im Äther, handle, daß also die substanzielle Verbreitung der Riechstoffmolekeln bis an und in die Riechschleimhaut gar nicht nötig sei. Für derartige An- schauungen fehlt aber jede tatsächliche Grundlage und in der Kleinheit der riechbaren Substanzmengen liegt jedenfalls kein Grund, die bisherige Auf- fassung zu verlassen. Zwaardemaker weist mit Recht darauf hin, daß die Verbreitung der Riechstoffe durch den Wind sehr für die substanzielle Natur des Reizes spricht. Da die Oberfläche der Riechschleimhaut durch die Drüsen stets feucht gehalten wird, muß die Wirkung der auf die Riechschleimhaut auftreffenden Riechstoffpartikelchen sich ‚durch das dünne Flüssigkeitshäutchen an der Oberfläche der Schleimhaut hindurch geltend machen können. Die einfachste Annahme über die Art, wie eine derartige Durchdringung jener Flüssigkeits- schicht erfolgen kann, ist zweifellos die, daß sich die Riechstoffteilchen in der Flüssigkeit lösen. Daß sich sehr viele Riechstoffe in Wasser nur sehr wenig lösen, ja manche in der Arzneimittelbeschreibung als „unlöslich in Wasser“ bezeichnet werden, widerspricht dem nicht. Die sehr geringe Wasserlöslich- keit wird hier eben praktisch der Unlöslichkeit gleichgesetzt. Da aber für die Erregung des Geruchsorgans nur äußerst kleine Mengen Substanz nötig sind, steht nichts der Annahme’im Wege, daß die geringe Löslichkeit vieler Riechstoffe, beispielsweise der ätherischen Öle, in der wässerigen Flüssigkeit der Nasenschleimhaut ausreicht, um die Molekeln des Riechstoffs zu den Nervenendigungen gelangen zu lassen. !) Citiert nach v. Vintschgau. — ?) Zeitschrift f. Anat. u. Entwickelungsgesch. 2 (1870). durch adäquate Reize. 601 Übrigens ist daran zu erinnern, daß viele riechende Substanzen, in die Nähe einer Wasserfläche oder auf diese gebracht, in dieser Wirbelbewegungen erzeugen, bei denen Partikelchen des Riechstoffes unter die Oberfläche hinab- gerissen werden, ohne daß zunächst von Auflösung der Substanz im Wasser zu sprechen wäre. Die Auflösung folgt jenem Vermischungsvorgang aller- dings in vielen Fällen sogleich nach, z. B. wenn .es sich um Alkohol oder Äther handelt. Ein gutes Reagens auf Riechstoffe, die Wasserschichten irgendwie „durch- dringen“, obgleich ihre Löslichkeit sehr gering ist, sind manche Wassertiere!), z. B. Teichschnecken (Limnaeus) und Blutegel. Nähert man, während ein solches Tier sein Kopfende dem Wasserspiegel auf einige Millimeter nahe gebracht hat, diesem eine mit einem ätherischen Ol befeuchtete Nadel, so ist die Reizwirkung durch die Wasserschicht hindurch unverkennbar (Graber, Nagel). Damit rasche und deut- liche Wirkung erzielt werde, darf die Wasserschicht freilich nicht dicker als etwa 2 mm sein. Riechstoffe, die sich im Wasser, von diesem allseitig bespült, befinden, entfalten ihre Reizwirkung nur bei direktem Kontakt mit dem reizbaren Organ, oder höchstens auf kleine Bruchteile eines Millimeters. Dies gilt z. B. für ein Stück Campher in Wasser, oder einen Tropfen Chloroform. Jene Wirbelbewegungen, die die reizende Substanz auf 'etwas größere Distanzen durchs Wasser verbreiten, treten also offenbar nur an der Trennungsschicht zwischen Luft und Wasser auf. Über die Art, wie die Riechstoffe die Endigungen des Riechnerven er- regen, läßt sich zur Zeit noch gar nichts aussagen, da wir das Wesen des Erregungsprozesses im Nerven überhaupt noch nicht kennen. Auf Grund eines von E. H. Weber?) beschriebenen Versuches hat sich längere Zeit die Meinung erhalten, die zu riechenden Substanzen müßten, um vom Riechorgan wahrgenommen werden zu können, in gas- oder dampf- förmiger Gestalt in die Nase gelangen, Flüssigkeiten dagegen, als solche .in die Nase gebracht, röchen nicht. Man hat das namentlich im. Hinblick auf die Tatsache überraschend gefunden, daß bei den Fischen das ea des ersten Hirnnerven direkt vom Wasser bespült wird. Der Beweis, daß dieses Sinnesepithel der Perception chemischer Reize diene, fehlt übrigens noch; die Versuche in dieser Hinsicht sind als fehlgeschlagen zu be- zeichnen. Webers Versuch bestand in der Einführung einer Mischung von „Köl- nischem Wasser“ mit Wasser in die Nase, bei hintenüber gebeugtem Kopfe. Weber empfand bei diesem Versuch keinen Geruchseindruck. Ein in diesem Zusammenhang oft eitierter Versuch von Tourtual aus dem Jahre 1827 bestand in der Einspritzung eines seltsam komplizierten Flüssigkeits- gemisches in die Nase, wobei Tourtual keinen Geruch wahrnahm. Aronsohn?) hat wahrscheinlich gemacht, daß an dem negativen Aus- fall des Weberschen Versuchs zum Teil die ungünstigen Versuchsbedingungen schuld waren, unter günstigeren Bedingungen dagegen auch mittels der Th. Weberschen Nasendouche eingebrachte Flüssigkeiten gerochen werden. Wasser, zumal kaltes Wasser, erzeugt in der Nase sofort einen heftigen Reiz- zustand mit profuser Schleimabsonderung und Beeinträchtigung des Geruchs- vermögens, die bis zu stundenlanger völliger Aufhebung des Riechens gehen kann. !) Vergl. W. A. Nagel, Vergleichende physiol. u. anat. Untersuchungen über den Geruchs- und Geschmackssinn. Bibliotheca Zoolog. 18 (1894). — *) Arch. f. Anat. u. Physiol. 1847. — °) Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abteil., 1886. 602 Versuche von Weber und Aronsohn. Ob die Beeinträchtigung des Riechvermögens eine direkte Wirkung des Wassers auf die Riechzellen ist, oder sekundär durch die heftige Schleim- sekretion bedingt ist, läßt sich zurzeit noch nicht angeben. Körperwarmes Wasser schädigt wohl auch den Geruchssinn, reizt aber lange nicht so heftig, wie kaltes, Das Riechvermögen bleibt fast intakt, wenn körperwarme (besser "noch 40 bis 44% warme) Kochsalzlösung von 0,73 Proz. durch die Nase geleitet wird. Wenn man nun einer solchen indifferenten Flüssigkeit eine kleine Menge eines Riechstoffes zusetzt, etwa eine Spur Nelkenöl, so wird dies deutlich durch den Geruch erkannt. Zwaardemaker hebt mit Recht hervor und Veress!) zeigt durch sorgfältige Versuche, daß das Experiment nicht rein ist; selbst wenn die Flüssigkeit in kontinuierlichem Strom in das eine Nasen- loch eingeleitet wird und aus dem anderen wieder ausfließt, ist man keines- wegs sicher, daß die Nasenhöhle bis oben hin voll Flüssigkeit ist. Man kann im Gegenteil sicher sein, daß gerade in den obersten Teilen der Nase, die Riechepithel tragen, eine Portion Luft durch die Flüssigkeit abgesperrt ge-. halten wird, die bei der von Aronsohn angegebenen Haltung (vorn über- gebeugter Kopf) auf keine Weise von der Flüssigkeit ausgetrieben ‘werden kann, was bei der Weberschen Anordnung, Einfüllung von Flüssigkeit in die Nase des hintenüber gebeugten Kopfes, wohl sicher erreicht werden dürfte. So könnte also immer noch diese abgesperrte Luft die Rolle des Geruchsträgers übernehmen. Es darf indessen doch als im höchsten Grade wahrscheinlich bezeichnet werden, daß auch bei völliger Ausfüllung der Nase mit Flüssigkeit im Wasser gelöste oder suspendierte Stoffe Geruchsempfindung erzeugen können. Dafür spricht vor allem Aronsohns leicht zu bestätigende Beob- achtung der Einwirkung verschiedener, im gewöhnlichen Sinne als geruchlos zu bezeichnender Salzlösungen auf das Geruchsorgan. Magnesiumsulfat, Natriumphosphat, Kaliumpermanganat und andere erzeugen, in wässeriger Lösung in die Nase gebracht, eine deutliche Geruchs- empfindung, die nur durch den direkten Kontakt der Flüssigkeit mit der Riechschleimhaut zu erklären ist. Die Reizwirkung dieser Salze scheint auf Schrumpfungs- oder Quellungsvor- gängen zu "beruhen, die sie in der benetzten Nasenschleimhaut herbeiführen. Aronsohn konnte zeigen, daß eine Chlornatriumlösung, die zu wenig konzentriert ist, um für die Nasenschleimhaut indifferent zu sein und den Geruchssinn intakt zu lassen (0,3 bis 0,6 Proz.), durch Zusatz von Natriumsulfat, Natriumbikarbonat, Magnesiumsulfat usw. in geeigneten Mengen indifferent gemacht werden kann. Die Mengenverhältnisse, in denen sich diese Salze vertreten, bezeichnet Aronsohn als „osmoteretische Äquivalente“ (osmoteretisch = gerucherhaltend). Das kleinste osmoteretische Äquivalent hat das Chlornatrium; wird dieses = 1 gesetzt, so ist dasjenige des Natriumbikarbonats 2, N atriumsulfat 4, Natriumphosphat 4, Mag- nesiumsulfat 6. Die Salze des Blutserums, in normalen Mengenverhättäliser gemischt, geben ebenfalls eine für die Nasenschleimhaut indifferente Lösung. b) Die Reizung des Riechorganes mit inadäquaten Reizen. Von inadäquaten Reizen hat man für das Geruchsorgan bis jetzt nur den elektrischen Strom wirksam gefunden. Die ersten Beobachtungen rühren !) Arch. f. d. ges. Physiol. 95, 368 bis 408, 1903. Inadäquate Reize des Riechorganes. 603 von Ritter!) her, dessen Angaben indessen nicht ganz klar sind. Unter Umständen sollte der negative Pol eine Andeutung von Ammoniakgeruch, der positive von Säuregeruch bewirken. Da andere Autoren diese Beobach- tungen nie haben bestätigen können, liegt wohl ein Irrtum vor, vielleicht bedingt durch Stromschleifen zum Geschmacksorgan („saurer* Geruch!). Wichtiger ist wohl der Befund von Althaus?), der bei einem Falle von doppelseitiger Trigeminuslähmung einen „phosphorartigen“ Geruch auslösen konnte, wenn er von der Schleimhaut. oder Gesichtshaut aus mit starken Strömen galvanisierte. Systematische Versuche hat Aronsohn?°) hierüber gemacht, der bei sich und anderen die Auslösung eines eigenartigen Geruchs nachweisen konnte, wenn ein Strom durch die mit indifferenter Flüssigkeit (Kochsalz- lösung von 0,73 Proz., 38° warm) angefüllte Nase geleitet wurde. Je nach- dem sich die Anode oder die Kathode in der Nase befand, waren die Gesetz- mäßigkeiten der Erregung verschieden. „Kathodengeruch“ entstand bei Schließung der Kette, „Anodengeruch“ bei Öffnung. Die indifferente Elek- trode konnte an der Stirn oder an der Nase anliegen; bei Applikation an der Hand traten Geschmacksempfindungen störend hinzu. Die Qualität der Empfindung vermochte Aronsohn nicht zu beschreiben, sie soll der Ge- schmacksempfindung „ähnlich“ sein. Bei gleichzeitiger Einwirkung objek- tiver Riechreize (in Lösung) trät ein Mischgeruch auf, d. h. die jenen Riech- stoffen entsprechenden Empfindungen waren modifiziert. Die thermischen und mechanischen Reize hat man bis jetzt ohne Wir- kung auf das Riechorgan gefunden. V. Olfactometrie und Odorimetrie. Den sorgsamen Untersuchungen Zwaardemakers (l. c.) haben wir es zu danken, daß wir nunmehr auch brauchbare Methoden zu quantitativen Untersuchungen auf dem Gebiete des Geruchssinnes haben. Unter Olfacto- metrie versteht Zwaardemaker die messende Untersuchung der Empfindlich- keit des Geruchsorgans für seinen adäquaten Reiz, unter Odorimetrie die ver- gleichenden Messungen über die Fio. 111 . ” ” oO’ R Reizwirkung verschiedener Stoffe. Das zu diesen Untersuchungen 2 R ERELFFFRZEEN dienende Instrument, das Olfac- Olfaßtien. tometer, wird in seiner einfach- Kautschuk-Olfactometer (schematisch) nach sten Form durch die schematische shchsnun Fig. 111 veranschaulicht. Ein Glasrohr von 5 mm Innendurch- [" 250 "20, 230,) 100 75.50 3 ] messer wird mit seinem etwas auf- — s . . Olfactometer für stärkere Reize. wärts gebogenen Ende in ein Nasenloch eingeführt. Über das andere offene Ende wird ein cylindrisches Rohr übergeschoben, das aus einem riechenden Stoff, z. B. Kautschuk oder Wachs, be- steht, und von außen durch eine Glashülse umschlossen ist. Atmet man nun !) Gilberts Ann. d. Physik 7, 448, 1801. — *) Deutsch. Arch. f. klin. Medizin 7 (1870). — °?) Arch. f. Anat. u. Physiol., phys. Abteil., 1884. 604 Olfactometrie. durch das Innenrohr ein, so wird die Luft, falls das Kautschukrohr nicht ganz über das Glasrohr übergeschoben ist, erst eine Strecke weit an der Innenfläche des Kautschukrohres entlang streichen müssen, ehe sie in das Glasrohr und die Nase eintritt. Eine Holzplatte verdeckt die Einstellung des Riechrohres für den Untersuchten. Zwaardemaker hat nun gezeigt, daß die Intensität des von einem Objekt ausgehenden Geruches ceteris paribus der ausdünstenden Oberfläche proportional ist. Somit kann auch im Olfactometer die Intensität des Riechreizes auf einfache Weise reguliert werden, je nachdem man das Kautschukrohr mehr oder weniger weit über das Glasrohr überschiebt, die geruchgebende Fläche also variiert. Zur Verwendung von flüssigen Riechstoffen können auch poröse Ton- zylinder über das gläserne Riechrohr übergeschoben werden, die man zuvor mit der betreffenden Flüssigkeit durchtränkt hat. Als Einheit für quantitative Untersuchungen schlägt Zwaardemaker den Reiz vor, der von einem mit Kautschuk armierten Riechmesser geliefert wird, in welchem ein 1cm langes Stück des Kautschukrohres als Duftiläche zur Wirkung kommt. Ein solcher Reiz entspricht ungefähr dem Minimum perceptibile für ein normales Riechorgan. Diese Einheit wird als Olfactie bezeichnet; ein Riechorgan, das diesen Reiz eben wahrnimmt, hat die Riech- schärfe 1. Sind 7 em Kautschukrohr — 7 Olfactien nötig, um einen eben wahrnehmbaren Reiz zu erzeugen, so ist die Riechschärfe 1/, usw. Ein Kautschukolfactometer kann also nach Olfactien graduiert werden. Mit anderen Riechstoffen armiert, ist natürlich auch der Reizwert von lcm Ausdünstungsfläche ein anderer. So empfiehlt Zwaardemaker für Appli- kation stärkerer Riechreize (25 bis 250 Olfactien) eine Röhre von „Kunst- horn“ (Ammoniacum-Guttapercha). Hier entspricht 1cm 30 Olfactien. Obgleich die von Zwaardemaker gewählte Einheit willkürlich und nicht genau reproduzierbar ist, muß ihre Aufstellung unter den gegebenen Verhältnissen - doch immerhin als ein großer Fortschritt betrachtet werden. Das Olfactometer ermöglicht messende Versuche an Gesunden wie an Kranken mit alterierter Geruchsschärfe. Odorimetrische Untersuchungen über die „Riechkraft“ ver- schiedener Stoffe lassen sich mit dem Olfactometer anstellen, indem aus festen Stoffen Zylinder von gleichen Dimensionen wie das erwähnte Kautschukrohr geformt werden, flüssige Stoffe dagegen zur Durchtränkung der porösen Ton- zylinder benutzt werden. Statt der letzteren können auch aus Filtrierpapier gerollte Zylinder (mit einem Drahtgeflecht als Stütze) dienen, die sich schneller durchtränken. Für die praktischen Bedürfnisse des Nasenarztes und Nervenarztes dürfte Zwaardemakers olfactometrische Methode alle anderen bisher an- gegebenen überflüssig machen. Wenige Worte seien indessen noch über diese wegen des theoretischen Interesses einiger Punkte gesagt. Valentin!) brachte kleine Mengen einer riechenden Substanz in einen großen Glasballon und stellte so annäherungsweise fest, ein wie großes Quan- tum Luft durch eine bestimmte Substanzmenge noch riechend gemacht werden kann. Auch tropfte er riechende Flüssigkeiten in große Portionen Wasser !) Lehrbuch der Physiologie, 4. Aufl., 1855, 8. 667. Riechschärfe. 605 und prüfte dieses dann durch den Geruch. So stellte er die kleinsten, abso- luten, zur Geruchsempfindung eben noch notwendigen Mengen einiger Riech- stoffe fest. Es ergab sich z. B. für Rosenöl 1/0000 mg, für Moschustinktur 1/g000000 mg als minimale wahrnehmbare Menge. Fröhlich!) verglich die Riechschärfe verschiedener Personen, indem er die Entfernung des Riechstoffes von der Nase bestimmte, in der noch ge- rochen werden konnte. Die Riechstoffe waren mit Stärkemehl so gemischt, daß alle Mischungen aus der Nähe ungefähr gleich stark rochen. Diese unvollkommene Methode wird auch jetzt noch von Einigen angewandt. Die Bestimmung der absoluten Menge eines Riechstofles, die zur Erzeu- gung eines Geruches eben hinreicht, nahmen Fischer und Penzoldt?) nach dem Valentinschen Verfahren wieder auf. 0,01mg Mercaptan erfüll- ten einen Luftraum von 230 cbm mit dem charakteristischen Geruch. Auf den Cubikdecimeter Luft kommt nach dieser Feststellung Y/3; 000000 mg Mer- captan, wovon natürlich zur Erzeugung der Geruchsempfindung wiederum nur ein kleiner Bruchteil nötig ist. Chlorphenol hat den hundertsten Teil der Riechkraft des Mercaptans. Eingehende systematische Versuche in gleicher Richtung hat Passy °) veröffentlicht. Er löst Riechstoffe in Alkohol und bringt durch suctessive Verdünnung mit Alkohol Lösungen von sehr geringen und dabei genau be- kannten Konzentrationen zustande. Von diesen Lösungen bringt er einen kleinen Tropfen in eine reine leere Literflasche und läßt dann durch Riechen an der Flaschenmündung feststellen, ob noch ein Geruchseindruck auftritt. Alle Fehlerquellen wirken dabei in gleichem Sinne und lassen den Wert des Minimum perceptibile etwas zu hoch erscheinen. Einige seiner Schwellen- werte, in Milligramm pro Liter Luft ausgedrückt, seien im folgenden auf- geführt. WIE EORRDDN En a NETT 0,0005 bis 0,001 DNImbErDTEROBSEnZE EEE ren nie 0,0005 „ 0,001 TE EN a AP 1 RE ER TREE >... 0,00005 bis 0,002 Ra Pe EEE 0,0005 „ 0,005 RE NE a a ER ea RE Fr Ri REF ER 5 UL Le ee ee Te EL a Se SE Ne nn Re 0,5 bis 0,1 BEOROLIOIE FE ete te 051° , 1005 Kane Er ae ae anwenden ae er ee 0,05 „ 0,01 a eh 0,05 „ 0,0005 NatuEHeHen Mosennmear Bere ee tee 0,01 ISGNSDITCH OR EC ee ee ae 0,00001 bis 0,000005 Vergleichende Untersuchungen über die Riechschärfe verschiedener Per- sonen haben zunächst ergeben, daß zwischen Männern und Weibern ein durchgreifender Unterschied nicht zu bestehen scheint. Die Angaben von Toulouse und Vaschide‘) und Ottolenghi°’) wider- sprechen sich hier direkt. Derartige Statistiken können nicht skeptisch genug auf- genommen werden. Meinen eigenen Erfahrungen nach halte ich den Geruchssinn der Frauen-im allgemeinen für den schärferen. !) Sitzungsber. d. k. Akad. Wien, 1851. — ?°) Liebigs Annal. d. Chemie 239, 131, 1887. — °) Compt. rend. Soc. de biolog. 1892. — *) Compt. rend. Soc. de pP biolog. 1899. — °) Riv. di Psicol., Psichiatr. e Nevropat. 2 (1898). 606 Geruchsqualitäten. Kinder sollen nach Toulouse und Vaschide die höchste Riechschärfe be- sitzen; die Vergleichszahlen für das Minimum perceptibile geben die Autoren folgendermaßen an: Kinder : Weiber : Männer = 5:70:900. Doch möchte ich, wie gesagt, vor Verallgemeinerung warnen. Die häufig gehörte Behauptung, Frauen hätten infolge des Parfümmiß- brauches abgestumpften Geruchssinn, entbehrt jeglicher tatsächlichen Grund- lage. Richtig scheint zu sein, daß Raucher etwas abgestumpften Geruch haben, nach Griesbach!) im Mittel zwei Fünftel der Norm. Derselbe Autor hat die Irrlehre widerlegt, daß bei Blinden wegen des fehlenden Sehvermögens die übrigen Sinne eine „kompensatorische“ Verfeinerung zeigten; den Geruchssinn Blinder fand Griesbach im Durchschnitt von geringerer Schärfe als bei Sehenden. Wie beim Geschmackssinn findet man auch beim Geruchssinn die eben überschwelligen Reize ihrer Qualität nach häufig unbestimmt. Erst bei etwas intensiverem Reiz folgt auf die generelle ?2) Schwelle die spezifische. In den Untersuchungen von Toulouse und Vaschide kommt dieser schon von Nieque?) erkannte Unterschied deutlich zum Ausdruck. VI. Die Qualitäten der Geruchsempfindung. Klassifizierungs- versuche. Die Zahl der unterscheidbaren Geruchsqualitäten ist außerordentlich groß, aber auch nicht in der entferntesten Annäherung angebbar. Der Geruchssinn nimmt darin eine Sonderstellung unter den Sinnen ein, daß jeder Mensch täglich in die Lage kommen kann, neue Qualitäten dieses Sinnes zu empfinden, d. h. neue Gerüche kennen zu lernen, die er bisher nie empfunden hat. Daraus ergibt sich schon, daß im Geruchsorgan die Bedin- gungen für das Zustandekommen fast unendlich mannigfaltiger Empfindungen gegeben sind, die tatsächlich bei sehr vielen Menschen nur zu einem kleinen Teil wirklich einmal ausgelöst werden. Nehmen wir beispielsweise so charakteristische Geruchsempfindungen, wie sie durch die Osmiumsäure oder das Formalin ausgelöst werden: wie viele Menschen gibt es, deren Geruchs- organ diese Gerüche nie empfunden hat! Kommt ein im Beobachten geübter Mensch in die Lage, zum ersten Mal den Geruch der Osmiumsäure zu riechen, so wird er sofort erkennen, daß es sich hier um eine für ihn völlig neue, mit allen ihm bekannten unvergleichbare Empfindungsqualität handelt. Unter diesen Umständen wird man nie behaupten können, die Zahl der überhaupt möglichen Gerüche sei bekannt. Ein Grund für die Existenz so zahlreicher Geruchsqualitäten liegt in der Art, wie sich Geruchsempfindungen mischen (s. u. S. 614). Sie tun das, wie weiter unten noch näher auszuführen sein wird, mit einer gewissen An- näherung an die Mischungsweise der Gesichtsempfindungen; in der Mischung sind die Komponenten wenigstens unter gewissen Bedingungen nicht unter- scheidbar und es gibt überhaupt Mischempfindungen im Gebiete des Geruchs- sinnes, deren Empfindungsqualität das Gemischte gar nicht direkt erkennen !) Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 5. — °) Bezüglich dieser Bezeichnung vergl. oben 3, 19. — °?) These, Lyon 1897. tm 0 m De m Geruchsqualitäten. 607 läßt. Infolge hiervon sind zwischen den verschiedensten Paaren von Gerüchen Übergänge möglich, die die Zahl der unterscheidbaren Qualitäten ins Un- endliche vermehren. Besonders auffällig ist dieses Verhalten des Geruchssinnes im Gegensatz zum Geschmackssinn mit seiner geringen Zahl von scharf unterschiedenen Empfindungsqualitäten, zwischen denen Mischungen und Übergänge doch eigentlich nur andeutungsweise vorkommen. Dieser Unterschied prägt sich in den Namen aus, die wir für die Empfindungsqualitäten im Gebiet der beiden Sinne haben: Von den Geschmacksqualitäten haben wenigstens drei eigene Namen (süß, bitter, sauer); die Geruchsqualitäten werden sämtlich nach bestimmten Gegenständen benannt, die die betreffende Geruchsempfin- dung erfahrungsgemäß bewirken oder nach Vorgängen, bei denen erfahrungs- gemäß der betreffende Geruch sich entwickelt (faulig, brenzlig usw.). Selbst die Namen, mit denen man größere Gruppen von unter sich ähnlichen Ge- rüchen zusammenfaßt, zeigen größtenteils die Anlehnung an die Benennung gewisser Substanzen (balsamisch, würzig usw.). Hinsichtlich der Verschiedenheit der Mischungserscheinungen beim Geruch und beim Geschmack ist übrigens zu bedenken, daß erstens die geringe Zahl der „einfachen“ Geschmacksarten die Analyse von Mischungen durch den Geschmacks- sinn sehr erleichtert, zweitens aber auch die sehr deutlichen Verschiedenheiten der einzelnen Partien der Mundschleimhaut in ihrer Empfänglichkeit für die einzelnen Geschmackseindrücke ebenfalls ein Auseinanderfallen des Mischeindrucks in seine Komponenten begünstigen muß. Eine zugleich sauer und bitter schmeckende Flüs- sigkeit z. B. wird an der Zungenspitze sauer, am Zungengrunde mehr bitter schmecken und schon dadurch viel deutlicher den Geschmack als Mischgeschmack erkennen lassen, als es bei einer Mischung verschiedener Gerüche der Fall ist. Bei diesen scheint, soweit unsere Erfahrungen reichen, eine qualitative Verschiedenheit der ausgelösten Empfindungen beim Auftreffen auf verschiedene Teile der Riech- schleimhaut nicht vorzukommen. | Unter diesen Umständen müssen alle Versuche zu einer ins einzelne gehenden Klassifikation der Gerüche nach ihrer Qualität von vornherein aus- sichtslos erscheinen. Es lassen sich wohl einzelne Gruppen von Gerüchen herausheben, in der Art, daß in je einer solchen Gruppe Gerüche vereinigt werden, die unter sich ähnlich sind, denen der anderen Gruppen dagegen entschieden unähnlich. Bei dem Versuch, irgend welche bekannte Geruchs- qualität dieser oder jener Gruppe einzuordnen, mit anderen Worten, die be- kannten Qualitäten in ein System zu bringen, stößt man jedoch alsbald auf Schwierigkeiten. Man müßte jedenfalls sehr zahlreiche Gruppen von zusammen- gehörigen Geruchsqualitäten aufstellen, viel zahlreicher, als es bei den bis- herigen Klassifizierungsversuchen geschehen ist. Werfen wir einen Blick auf diese, so können wir einige Versuche, die Gerüche vom psychologischen Standpunkt aus zu klassifizieren, als für die Physiologie kaum bedeutungsvoll kurz erledigen. A. v. Haller teilte die Gerüche, je nachdem sie Lust oder Unlust erregen, ein in Odores suaveolentes, Odores intermediae und - Foetores. : ’ Schon die erheblichen Unterschiede in der Beurteilung dessen, was Wohlgeruch und was Gestank ist, lassen eine solche Einteilung als unfrucht- bar erkennen. 608 Einteilung der Gerüche. Komplizierter und für die Physiologie ebenfalls unfruchtbar ist eine Einteilung nach der psychologischen der Gerüche, die Giessler!!). gegeben hat. Als irrationell muß die auch von "Zwaardemaker adoptierte Ein- teilung Fröhlichs?) in „reine“ und „scharfe“ Riechstoffe bezeichnet werden, da hierbei. ein sekundäres, nebensächliches Moment als Grundlage für die Einteilung verwendet wird und außerdem, wie bekannt, die Beimischung stechender usw. Empfindungen zu der eigentlichen Geruchsempfindung sehr von der Intensität des Reizes abhängt. Es gibt nicht sehr viele Riechstoffe, die bei intensiver Einwirkung nicht derartige „Schärfe“ erkennen ließen, die also, wenn sie in Dampfform in die Nase eines total Anosmatischen ge- langen, bei diesem keinerlei Empfindung erzeugten. In der Empfindungs- qualität selbst aber liegt nichts, was eine auch nur annähernd präzise Durch- führung der Teilung im Sinne Fröhlichs ermöglichte. So sind denn auch zahlreiche von den Stoffen, die Zwaardemaker unter den „rein olfactiven“ Riechstoffen aufzählt, genau genommen ganz entschieden zu den „scharfen“ zu rechnen. Oleum juniperi und bergamottae z. B. reizen die Schleimhäute der Nase und ebenso der Conjunctiva sehr intensiv. Selbst den Campher müßte man zu den scharfen Stoffen rechnen. Die Konsequenzen der Trennung in scharfe und reine olfactive Riech- stoffe zeigen sich nun auch z.B. bei Zwaardemakers Klassifizierung darin, daß ein großer Teil der bekannten Gerüche, die eine deutliche „scharfe“ Komponente aufweisen, aus seiner Klassifizierung ausgeschlossen sind und man nicht recht weiß, wohin sie zu rechnen wären. Der Gedanke von Zwaardemaker ist ja wohl der, daß unter den scharfen Gerüchen eine analoge Teilung in neun Klassen zu erfolgen hätte, wie unter den olfactiven Stoffen. Die neun Klassen, die Zwaardemaker, sich im wesentlichen an Linn& anlehnend, aufstellt, sind die folgenden: fer . Odores aetherei (ätherische Gerüche), Lorry. . Odores aromatici (aromatische Gerüche), Linne. . Odores fragrantes (balsamische Gerüche), Linne. . Odores ambrosiaci (Amber-Moschus-Gerüche), Linn. . Odores alliacei (Allyl-Kakodyl-Gerüche), Linn&. . Odores empyreumatici (brenzlige Gerüche), Haller. . Odores hireini (Capryl-Gerüche), Linne. . Odores tetri (widerliche Gerüche), Linne. . Odores nauseosi (Erbrechen erregende oder ekelhafte Gerüche), Linn&. EEE, soo wmDN Wie man sieht, ist hier in den Klassen 8 und 9 das affektive Moment bgstiihrt, das die Klasse 8 äußerst unbestimmt, und die Klasse 9 insofern unzutreffend charakterisiert, als man von E brachen erregenden Gerüchen gar nicht allgemein sprechen kann. Wohin würde nun der Geruch der Osmiumsäure, der Essigsäure, des Ammoniaks, der schwefligen Säure zu rechnen sein? Und mit welchem Rechte kann man den Geruch des Chlors, des. Formaldehyds, so exquisit !) Wegweiser zu einer Psychologie des Geruch. Hamburg und Leipzig (Voss), 1894. — *) Sitzungsber. d. k. Akad. Wien, 1851. Partielle Ermüdung des Geruchssinnes. 609 „scharfe“ Gerüche, in das System einreihen, jene aber beiseite lassen, wie es .Zwaardemaker tut? Auch über die subjektive Ähnlichkeit der von Zwaardemaker in eine Klasse zusammengestellten Gerüche kann man so verschiedener Meinung sein, daß man geneigt sein könnte, einem solchen Klassifikationsversuche jeg- lichen wissenschaftlichen Wert abzusprechen, wenn nicht durch die Unter- suchungen der letzten Jahre ein neues Moment in dieser Frage aufgetreten wäre, das ernste Beachtung verdient und von Zwaardemaker zur Stütze seiner Klassifikation verwandt worden ist. Zwaardemaker findet nämlich, daß sowohl die Aronsohnschen Versuche über partielle Ermüdung des Riechorganes, wie die Erfahrungen über partielle Anosmien und über Par- osmien geeignet sind, jene Gruppierung der Gerüche experimentell zu begrün- den. Es ist unbedingt zuzugeben, daß hiermit erst der Weg zu einer wissen- schaftlichen Einteilung der Gerüche gewiesen zu werden scheint. Das Material zu ihrer Durchführung freilich ist noch überaus dürftig und mit seiner Verwertung durch Zwaardemaker kann ich mich, wie sich aus dem Folgenden ergeben wird, nicht in allen Punkten einver- standen erklären. Wir müssen uns darüber klar sein, daß die Einteilung in die neun Klassen unter allen Umständen nur eine vorläufige Bedeutung haben kann, und daß es unzweckmäßig wäre, wollten wir uns bei ihr beruhigen. Es scheint mir übrigens, als ob auch Zwaardemaker selbst seine Klassifi- kation zunächst mehr als eine provisorische gedacht hat, und sie namentlich nicht in allen Einzelheiten aufrecht halten würde. Es erscheint daher drin- gend wünschenswert, daß vor allen Dingen neue tatsächliche Erfahrungen auf den Gebieten gesammelt. werden, aus denen Zwaardemaker die experimen- tellen Grundlagen’ einer Geruchsklassifikation herzuleiten sich bemüht hat; es-würde damit das Verdienst Zwaardemakers um die Geruchsphysiologie besser gewürdigt werden, als wenn man sich kritiklos ohne weiteres an die von ihm skizzierte Hypothese über die Komponentengliederung des Geruchs- sinnes binden wollte, wozu ich eine gewisse Geneigtheit in manchen neueren Publikationen bemerke. Partielle Ermüdung des Riechorganes zeigt sich nach längerer Einwirkung von Geruchsreizen. Ist das Riechorgan für einen bestimmten Geruch ermüdet, so daß es ihn nicht mehr oder fast nicht mehr wahrnimmt, so ist die Empfindlichkeit für gewisse andere Gerüche (die mit jenem ermüden- den eine subjektive Ähnlichkeit haben) ebenfalls mehr oder weniger deutlich herabgesetzt, während gewisse andere Gerüche anscheinend mit unvermin- derter Deutlichkeit wahrgenommen werden. So konnten nach vollkommener Ermüdung für Jodtinkturgeruch einige ätherische Öle und Äther ungeschwächt gerochen werden, für andere ätherische Öle war der Geruch geschwächt, für Alkohol und Copaivabalsam völlig abgestumpft. Bei Ermüdung für Schwefel- ammonium bestand völlige Unempfindlichkeit auch für Schwefelwasserstof, Chlorwasserstoff und Brom, während ätherische Öle und Cumarin ungeschwächt gerochen werden (Aronsohn). Auch Zwaardemaker!) und ich?) haben über ähnliche Versuche berichtet. Besonders überzeugend ist die folgende !) „Physiol. d. Geruches“ u. Arch. f. Anat. u. Physiol., phys. Abteil., 1900. — 2) Zeitschr. f. Psych. und f. Physiol. d. Sinnesorgane 15. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 39 610 Partielle Anosmie. Versuchsanordnung: Man mischt zwei Riechstoffe, die sich chemisch nicht beeinflussen, z. B. Cumarin und Vanillin, in wässerigen Lösungen in solchem Verhältnis, daß nur der Vanillegeruch wahrnehmbar ist. Nun ermüdet man durch längeres Riechen an reiner Vanillinlösung das Riechorgan bis zur Un- empfindlichkeit für diese Qualität und riecht nun wieder an der erwähnten Mischung. Diese, die vorhin nur nach Vanillin roch, riecht jetzt nur nach Cumarin. Zu bemerken ist übrigens hierbei, daß Cumarin und Vanillin nach Zwaardemaker nicht nur zur gleichen Geruchsklasse, sondern auch zu derselben Unterabteilung gehören, die Ermüdung für den einen Geruch also eigentlich auch Ermüdung für den anderen zur Folge haben sollte. Die Sachlage ist bezüglich der partiellen Ermüdbarkeit des Riechorganes noch nichts weniger als klar; es harrt noch mancher Punkt der Aufklärung und es bedarf namentlich noch einer großen Reihe von tatsächlichen Beob- achtungen. Dasselbe gilt nun auch für die partiellen Geruchsdefekte, deren teils erworbenes, teils congenitales Vorkommen allerdings unbestreitbar ist. Zwaardemaker hat in einem bestimmten Stadium der (unvollständigen) Cocain-Anosmie die Empfindlichkeit für verschiedene Gerüche geprüft und sehr ungleich gefunden. Überraschen muß es auch hier wieder, Gerüche einer und derselben Zwaardemakerschen Klasse teils als solche genannt zu sehen, die ungeschwächt gerochen werden, teils auch als solche, für welche die Empfindlichkeit aufgehoben ist. Rollett !) fand nach einer unabsicht- lich durch Eingießung von Gymnemasäure erzeugten totalen Anosmie eine langsame, durch Monate sich hinziehende Restituierung des Geruchssinnes, bei der die einzelnen Geruchsqualitäten nach sehr ungleicher Zeit wiederkehrten. Als sichergestellt kann es gelten, daß partielle Anosmien durch längere Zeit oder dauernd bestehen können. Zwaardemaker berichtet von solchen als postdiphtheritische Erscheinung. Mir erzählte ein guter Beobachter, der englische Chemiker D. H. Nagel, daß für ihn der spezifische Geruch der Blausäure nicht wahrnehmbar ist, er also auch nicht verstehen kann, wie man zwischen dem Blausäuregeruch und dem Geruch des Bittermandelöls eine Ähnlichkeit finden kann. Dieselbe Anomalie hat Nagel bei einer An- zahl seiner Schüler bemerkt, die im übrigen, wie er selbst, für andere Gerüche. vollkommen gute Riechschärfe haben. Öfters findet man eine angebliche partielle Anosmie erwähnt, an der Johannes Müller gelitten haben soll; tatsächlich gab Müller nur an, daß Reseda „ihm nicht sehr sublim, sondern mehr krautartig* roch. Daraus dürfte aber jene Anomalie noch kaum zu diagnostizieren sein. Alles in allem genommen, scheinen mir die Erfahrungen sowohl über partielle Ermüdung wie über partielle Defekte des Riechorganes zu dem Schlusse zu berechtigen, daß eine Komponentengliederung im Geruchsorgan angenommen werden kann und muß, in der Art, daß sich die Empfindlichkeit für die verschiedenen Geruchsreize auf verschiedene percipierende Apparate (Riechsinnessubstanzen) verteilt, ganz ähnlich wie dies ja für den Geschmacks- sinn anzunehmen ist. Eine Stütze der Komponententheorie, wie sie speziell Zwaardemaker ausgearbeitet hat, kann ich, wie oben bemerkt, in den bis jetzt bekannten Tatsachen nicht finden. Wir werden jedenfalls gedrängt, !) Archiv f. d. ges. Physiol. 74. Gustatorisches Riechen. 611 wesentlich zahlreichere, durch „spezifische Energie“ geschiedene Sinnessub- stanzen im Riechorgane anzunehmen als beim Geschmackssinn. Selbst mit den neun Klassen Zwaardemakers und ihren Unterabteilungen kämen wir, wie schon das oben erwähnte Beispiel (Cumarin-Vanillin-Ermüdung) zeigt, nicht aus. Bei dem Mangel an hinreichenden positiven Beobachtungen erscheinen weitergehende Spekulationen zur Zeit unfruchtbar. Insbesondere fehlt jeder Hinweis darauf, ob man die verschiedenen spezifischen Energien des Geruchs- organes an getrennte morphologische Elemente gebunden denken soll, wie es beim Geschmackssinn wenigstens als möglich erscheint. Die Perceptions- organe gar in der Weise verteilt zu denken, daß eine bestimmte Zone der Riechschleimhaut für die ätherischen Gerüche, eine andere für die Capryl- gerüche usw. reserviert wäre, — eine an sich schon sehr wenig plausible Annahme, — dazu fehlt jeder tatsächliche Anhalt. Das Unternehmen Zwaardemakers, eine Anordnung der Riechelemente in neun senkrechten Reihen von vorn nach hinten, entsprechend den neun Geruchsklassen, und in den einzelnen Reihen von oben nach unten wieder eine „skalenbildende Schattierung“ wahrscheinlich zu machen, muß um so mehr ais geradezu phan- tastisch bezeichnet werden, als nicht einmal für die Annahme ein zureichen- der Grund vorliegt, daß die Riechelemente verschiedener spezifischer Energie überhaupt eine getrennte räumliche Anordnung aufweisen. Als sicher kann jedoch gelten, daß die sog. „scharfe“ Komponente vieler, sowie die Geschmackskomponente mancher Gerüche durch besondere, vom Olfactorius getrennte Nervenelemente pereipiert wird. Für erstere sind die Trigeminusendigungen in der Nase, für letztere die Glossopharyngeus- und Vagusendigungen im Mund und Rachen als Perceptionsorgane anzusehen. Die Anschauung von Zwaardemaker!), die Geschmackskomponente (z. B. von Chloroform und Äther) würde in den von Disse entdeckten knospenartigen Gebilden der Regio olfactoria pereipiert, hat wenig für sich, ganz abgesehen davon, daß jene Knospen jetzt von den Anatomen gar nicht für Sinnesorgane gehalten, sondern als drüsige Gebilde aufgefaßt werden. Zwaardemaker zog den erwähnten Schluß daraus, daß der Ficksche Versuch (s. o. S. 597) auch für das „gustatorische Riechen“, wie Zwaardemaker es nennt, zutrifit, d. h., daß auch Chloroformdämpfe in den vorderen Teil des Nasenloches geleitet werden müssen, um süßen Geschmack beim Einatmen zu erzeugen. Ich kann diese Angabe nicht bestätigen; wichtiger noch scheint mir die leicht zu konstatierende Tatsache, daß Chloroformdämpfe, die bei gehobenem Gaumensegel (man nimmt z. B. die Mundstellung für den Vokal iein) mittels ' eines Gummiballons in die Nase geblasen werden, dort zwar intensiven Geruch nach Chloroform und auch die bekannten sensiblen Reizungen erzeugen, während der Empfindung nicht das mindeste Süßliche mehr anhaftet. Der Geruch des Chloroforms ist nicht süßlich, er wird es erst durch die Ge- schmackskomponente. Dieser von mir häufig ausgeführte Versuch ?) steht in Widerspruch mit der Auffassung Zwaardemakers, läßt sich dagegen mit der Hypothese Rolletts®) wohl vereinigen, die dahin geht, daß die obere (hintere) Seite des !) Arch. f. Anat. u. Physiol., phys. Abt., 1903. — ?) Vgl. hierzu die Mitteilungen von Beyer und von mir in Zeitschr. f. Psych. u. Physiol. der Sinnesorg. 35 (1904). — ®) Archiv f. d. ges. Physiol. 74. 39* 612 Unterschiedsempfindlichkeit des Geruchssinnes. Gaumensegels der Ort des gustatorischen Riechens sei. Daß diese Partie des Gaumensegels zum Schmecken befähigt sei, ist auch mir auf Grund eigener Beobachtungen wahrscheinlich, und wenn man annimmt, daß die hypothe- tischen Geschmacksorgane nur ganz nahe dem freien Rande des Gaumensegels plaziert sind, auf der freien oberen Fläche aber fehlen, so wäre erklärt, warum bei dem von mir beschriebenen Versuch der Einblasung von Chloroform- dämpfen die Süßempfindung ausbleibt, wenn das Gaumensegel gehoben ist: der geschmacksempfindliche Teil desselben ist dann fest an die hintere Pharynx- wand angedrückt und für den Reiz des Chloroformdampfes unzugänglich. Auch Gradenigos Versuch !): Aufhebung der Süßempfindung im Mund und Rachen durch Bespülung mit Gymnemasäure hebt die Süßempfindung beim Einatmen von Chloroform nicht auf — steht hiermit wohl im Einklang. Sehr wahrscheinlich ist übrigens auch eine Beteiligung der Geschmacks- knospen im Kehlkopf an dem gustatorischen Riechen (Zwaardemaker). Über die theoretische Bedeutung der Ähnlichkeit von Geruchs- und Ge- schmacksempfindungen vgl. oben 8, 10 ff. VH. Die Unterschiedsempfindlichkeit. Die Unterschiedsempfindlichkeit des Riechorganes ist wegen der Schwierigkeit und der für diese Zwecke doch kaum ausreichenden Genauigkeit quantitativer Ver- gleiche zwischen verschiedenen Geruchsempfindungen schwer exakt zu bestimmen. Zwaardemaker konnte zeigen, daß wenigstens eine Annäherung an das nach dem Weberschen Gesetz zu erwartende Verhalten erkennbar ist; bei schwachen Reizen in der Nähe der einfachen Schwelle ist ein geringerer Reizzuwachs bemerklich als bei deutlich überschwelligen Reizen. Die Untersuchungen von Gamble?) Tou- louse und Vaschide°) über die Unterschiedsschwellen beim Geruchssinne führen zu ganz ähnlichen Resultaten. Durch Übung kann die Leistung des Geruchssinnes ganz außerordentlich verfeinert werden, wie die überraschende Feinheit der Unterscheidung bei Personen beweist, die von Berufs wegen häufig Tee- oder Tabakssorten prüfen. Natürlich handelt es sich hier um Erhöhung der Unterschiedsempfindlichkeit für Quali- täten, nicht etwa um eine durch Übung bedingte Verschiebung der einfachen Schwelle. Ob solche überhaupt vorkommt, ist mir nicht bekannt. VIII. Die zeitlichen Verhältnisse der Geruchsempfindung. Bestimmungen der Reaktionszeit der Geruchseindrücke, die mehrfach vor- genommen worden sind (Moldenhauer®), Buccolad), Beaunis‘), Zwaarde- maker),bieten dem Physiologen wenig Interesse, da die Präzision in der Applikation des Reizes beim Riechorgan bei allen bisher angewandten Verfahrungsweisen doch immer eine so geringe ist, daß den gewonnenen Zahlen keine größere Bedeutung zu- erkannt werden känn. Es handelt sich um Reaktionszeiten von 0,2 bis 0,8 Sekunden. Beim „schnüffelnden“ Einatmen erfolgte die Reaktion schneller als beim gewöhn- lichen ruhigen Einatmen. Ob Nachdauer der Gerüche über die eigentliche Reizung hinaus vorkommt, ist nicht bekannt. Daß man manche Gerüche noch stundenlang nach der Einwir- kung des objektiven Geruches wahrnimmt, dürfte zum größten Teil auf einem ob- jektiven Haften der Riechstoffe in irgend einem Teile der Nase beruhen. Solche Nachgerüche treten oft nach langer Pause plötzlich wieder deutlicher auf. !) Ann. di Laryng. ed Otol. ete. 1900. — *) Amer. Journ. Psychol. 10 (1898). — ®) Compt. rend. Soc. biolog. 1899. — *) Philosoph. Studien von W. Wundt, 1, 816, 1883. — °) Arch. ital. Biolog. 5 (1884). — °) Compt. rend. Acad. Science. Paris, 96, 387, 1883. ' Ermüdung des Geruchssinnes. 613 IX. Ermüdung des Geruchssinnes. Auch die über Ermüdung des Riechorganes bis jetzt vorliegenden Untersuchungen können nur den Wert vorläufiger Orientierungsversuche haben. Führt man die Gerüche bei der Atmung ein, so ist die Reizung der Riechschleimhaut eine intermittierende; in jeder Atempause erholt sich das Organ wieder, um so mehr, je langsamer die einzelnen Atemzüge sich folgen. Selbst in einer mit einem Geruch gleichmäßig erfüllten Luft werden, wenn wir der Annahme Ficks!) von einer schnellen Absorption der Gerüche durch die Nasenschleimhaut zustimmen, in jeder Atmungsperiode Zeiten eintreten, in denen der Riechreiz zum mindesten stark vermindert wird. Solange also keine Versuche mit kontinuierlicher Zuleitung des Riechreizes zum Riechorgane vorliegen, haftet den Angaben über Ermüdung des Geruches viel Unsicherheit an. Bei stärkeren Gerüchen ist es mir in der Tat unmög- lich, sie selbst bei beliebig langer Einatmung ganz zum Erlöschen durch Er- müdung zu bringen. Bei schwächeren gelingt es wohl, allein ein etwas tieferer Atemzug läßt auch in dem ermüdeten Riechorgan die Empfindung alsbald wieder über die Schwelle treten. Olfactien Fig. 112. Nr 107 i 1 1 1 1 1 1 1 1 2 o 70 20 30 40 so 60 70 80 9” Sec Geruchs-Ermüdungskurven nach Zwaardemaker. Die Ordinaten der Kurven geben an, wie der Geruchs-Schwellenwert zeitlich ansteigt, wenn der Geruch eine bestimmte Zahl von Sekunden hindurch mit einem Geruchsreiz von 10 bzw. 14 Olfactien Kautschuk oder 3,5 bzw. 9 Olfactien Benzoe ermüdet worden war. Aronsohn bestimmte die „Geruchsdauer“ für Jodtinktur zu 4 Minuten, Copaivabalsam 3 bis 4 Minuten, Campher 5 bis 7 Minuten, Schwefelammonium 4 bis 5 Minuten usw. 4) Lehrbuch der Anat. u. Physiol. d. Sinnesorgane. Lahr 1864. S. 102. 614 Mischgerüche Präziser und zuverlässiger sind die Resultate, die Zwaardemaker gewann, indem er durch sein Olfactometer abgestufte konstante Reize an- wandte, alle zwei Sekunden einatmete und nach je 15, 30 usw. Sekunden mittels eines anderen Olfactometers schnell die Reizschwelle für die betreffende Ge- ruchsqualität bestimmte. Auf diese Weise wurden „Ermüdungskurven* ge- wonnen, wie sie die Fig. 112 (a. v. S.) zeigt. Bei häufig wiederholten Ermüdungsversuchen mit eingeschobener Er- holungspause fand Aronsohn die Geruchsdauer immer kürzer werdend. Auf die Ermüdbarkeit des Riechorganes ist es zum Teil zurückzuführen, daß Kranke, die einen übelriechenden Atem haben, dies häufig selbst nicht bemerken. Der Tatsache, daß das Geruchsorgan partiell, d.h. nur in einzelnen seiner Komponenten ermüdet werden kann, wurde schon oben in anderem Zusammenhange gedacht (S. 609). X. Mischungs- und Kompensationserscheinungen auf dem Gebiete des Geruchssinnes. Über diese Frage hat Zwaardemaker zuerst umfassendere Unter- suchungen mitgeteilt, nachdem Aronsohn einige darauf bezügliche Versuche kurz erwähnt hatte. In der Medizin und Pharmazeutik, sowie in der Praxis des täglichen Lebens macht man häufig von der Tatsache Gebrauch, daß ein Geruch den anderen verdecken, ja ganz aufheben kann. Dabei sind nun allerdings sehr verschiedenartige Fälle möglich. Einmal können riechende Gase oder Dämpfe durch den Zutritt anderer gasförmiger Stoffe in geruch- lose Verbindungen übergeführt und dadurch die Geruchseindrücke zerstört werden. Das ist z. B. wahrscheinlich der Fall, wenn man den Geruch des Formaldehyds durch Ammoniak beseitigt. Ich schließe das daraus, daß der Ammoniakgeruch sehr schnell verschwindet, Formaldehyd dagegen einen sehr lange haftenden Geruch besitzt. In anderen Fällen wird zu einem unliebsamen Geruch einfach ein anderer stärkerer, aufdringlicherer hinzugefügt, und jener dadurch unter die Schwelle des Bewußtseins gebracht, ohne daß von einer eigentlichen Kompensation die Rede sein könnte. Dies ist einer der Hauptgründe für die Verwendung von Parfüms. Auf diese Art mag auch wenigstens teilweise in öffentlichen Bedürfnisanstalten die Geruchsverbesserung durch Creolinpräparate und der- gleichen erfolgen. Hierher gehören ferner viele der pharmazeutischen Geruchs- korrektionen. So wird das Ricinusöl und der Lebertran durch stark riechende Zusätze genießbarer gemacht. Es ist bemerkenswert, daß hierbei die drei Sinne Geruch, Geschmack und Tastsinn vielfach ineinander greifen: Orangen- schalenessenz, die nur auf den Geruchssinn wirkt, dient als Korrigens für das bittere Chinin, das nur auf den Geschmackssinn wirkt; reichlicher Sirup- zusatz läßt namentlich das Kind nicht nur unangenehmen (sauern, bitteren) Geschmack, sondern auch widerlichen Geruch vergessen, und das Prickelnde der Brausearzneien ist ein beliebtes Mittel geworden, allerlei unangenehme Gerüche und Geschmäcke zu verdecken. Das Ricinusöl als Typus einer geschmacklosen, widerlich riechenden Arznei, nimmt der Berliner ohne Schwierigkeit in Weißbier; Brauselimonade leistet denselben Dienst als Korri- und Geruchskompensationen. 615 gens. Es ist nicht zu verkennen, daß in den meisten dieser Fälle die Ab- lenkung der Aufmerksamkeit auf den intensiveren und nicht unangenehmen Reiz die Hauptrolle spielt. Geruchskompensationen im strengen Sinne lehrte Zwaardemaker kennen, indem er mit seinem Doppelolfactometer jedem Nasenloch in der Intensität genau abstufbare Gerüche zuführte. Kautschukgeruch, in richtig abgestufter Intensität ins eine Nasenloch geleitet, BA 113. läßt den dem anderen Nasenloch zugeführten - Geruch von Wachs, Paraffin oder Tolubalsam ver- schwinden. Bei sehr intensiven Reizen tritt Wett- streit der Gerüche ein (übrigens auch, wenn beide Gerüche in dasselbe Nasenloch geleitet werden), bei schwächeren die völlige Aufhebung der Geruchsempfindung. Von Interesse ist, daß die Gerüche von Ammoniak und Essigsäure sich ebenfalls aufheben können, auch wenn die Vermengung der Dämpfe durch Verwendung des Doppelriechmessers ver- hindert, wird. Zwaardemaker findet Geruchskompensation nur zwischen solchen Gerüchen möglich, die in seiner Klassifikation den Gerüchen verschiedener Dibseee a Klassen angehören. rhala gu rerkarasice Mischgerüche dagegen treten nach Zwaardemaker dann auf (und nur dann), wenn Gerüche aus einer und derselben oder aus nahe verwandten Klassen gleichzeitig einwirken. Ich kann dem nicht beipflichten, wie sich aus dem Folgenden ergeben wird. Unter einem Mischgeruch verstehe ich!) eine Geruchsqualität, die durch gleichzeitige Einwirkung von zwei oder mehreren Gerüchen entsteht, mit keinem derselben der Qualität nach identisch erscheint, vielmehr den Ein- druck einer neuen Qualität macht, deren Ursprung aus einer Mischung, mit anderen Worten deren Zusammengesetztheit sich jedoch nicht direkt er- kennen läßt. An und für sich könnte man unter einem Mischgeruch auch eine zu- sammengesetzte Empfindung verstehen, in welcher die beiden Komponenten gleichzeitig empfunden werden können. Für die Existenz von Mischgerüchen in diesem Sinne kenne ich keine Beweise, wohl aber gibt es Mischgerüche in dem oben definierten Sinne. Im Gegensatz zu Zwaardemaker finde ich Mischgerüche auch zwischen durchaus unähnlichen Gerüchen erzielbar; ich mischte die Dämpfe vor dem Eintritt in die Nase. Prägnante Mischgerüche ergaben sich z. B. zwischen Vanillin und Brom, Amylacetat und Jod, Terpentin und Xylol usw. Wegen der ungleichen Flüchtigkeit der Riechstoffe, wie auch wegen der ungleichen Ermüdbarkeit des Geruchsorganes für die verschiedenen Reize löst sich aller- dings ein solcher Mischgeruch leicht in seine Komponenten auf und es entsteht dann Wettstreit der Gerüche. Theoretisch wichtig ist aber schon das vor- !) Zeitschr. f. Psych. u. Physiol. d. Sinnesorgane 15. 616 Umstimmungserscheinungen übergehende Zustandekommen neuer Geruchsqualitäten durch Mischung (Addition) der Reize. Bei Mischung von mehr als zwei Komponenten sind die Bedingungen für die Entstehung eines dauerhaften und prägnanten Mischgeruches günstiger als bei Mischung von nur zwei Komponenten. Ist eine der Komponenten dem .Beobachter ihrer Qualität nach gut bekannt, so erkennt er unschwer ihr Vorhandensein in der Mischung. Die gesamten Mischungsverhältnisse im Gebiete des Geruchssinnes zeigen somit eine gewisse Analogie mit den Mischungserscheinungen im Gebiete des Farbensinnes, nur sind die Mischempfindungen labiler; die Empfindungskom- ponenten fallen leichter auseinander und geben Wettstreit, etwa wie bei der binokularen Farbenmischung. Bei manchen Riechstoffen ist leicht zu konstatieren, daß sie qualitativ ver- schieden riechen, je nachdem sie in großer oder kleiner Menge vor die Nase ge- bracht werden. Schon Fick hat diese Eigenschaft der Buttersäure erwähnt, deren charakteristischer, unangenehmer Geruch nur bei schwacher Einwirkung (kleiner Menge des Riechstoffes oder Verteilung des Dampfes in großer Luftmenge) prägnant und rein hervortritt, während beim Riechen an einer Flasche mit Buttersäure der Säuregeruch, ähnlich dem der Essigsäure, sich stark in den Vordergrund drängt. Ähnliches gilt von der Propionsäure und manchen Alkoholen. Daß die meisten Parfüms in der Flasche ganz anders riechen als wenn sie auf Kleiderstoffen ver- dampfen, ist bekannt, beruht hier aber großenteils darauf, daß es komplizierte Mischungen sind, deren einzelne Bestandteile ungleich schnell verdunsten. In anderen Fällen dürfte die Qualitätsänderung bei großer Verdünnung auf Dissoziationsvorgängen beruhen. XI. Umstimmungs- und Kontrasterscheinungen. Kontrasterscheinungen sind im Gebiete des Geruchssinnes nicht be- kannt, Umstimmungen dagegen sind wohl zu beobachten. Sie äußern sich freilich meist nur in einfach quantitativer Veränderung der Erregbarkeit. Strychnin erhöht bei subkutaner Einspritzung oder Einblasung in die Nase in Pulverform die Erregbarkeit (Fröhlich). Bei mancherlei allgemeinen und lokalen Erkrankungen tritt Herabsetzung oder Erhöhung der Erregbarkeit ein, soweit bekannt und feststellbar am häufigsten für alle Geruchsqualitäten in gleichem Maße. Ab und zu treten aber auch die erwähnten partiellen Anosmien und Hyperosmien auf, auch Parosmien nicht selten. Eine klare Gresetzmäßigkeit ist in diesen Erscheinungen bis jetzt noch nicht zu erkennen. Von Interesse ist die Wirkung des Santonins bzw. des Natrium san- tonicum. Bei manchen Menschen, z. B. beim Verfasser, erzeugt dieses Mittel, per os genommen, als erste Erscheinung das Auftreten eines subjektiven, unangenehm brenzlichen Geruchs von sonst unbekannter Qualität. Bei anderen Personen mit ebenfalls gutem Geruchssinn bleibt diese Reizung selbst bei großen Dosen, die schon starke Gesichtssinnesstörungen und Allgemein- erscheinungen machen, gänzlich aus. Bei mir ist eine deutliche Nachwirkung in der Art zu bemerken, daß jener subjektive Geruch teils spontan, teils beim Einwirken anderer Gerüche (Zigarrenrauch) noch tagelang nach einer sehr mäßigen Vergiftung auftritt. Man kann hier geradezu von einer quali- tativen Umstimmung reden, da mir z. B. Zigarren nach Santoningenuß wesentlich anders riechen („schmecken“) als im normalen Zustande. und Lokalisation. beim Geruchssinn. 617 XH. Lokalisation der Geruchsempfindungen. Eine Lokalisation der Geruchsempfindungen als solcher gibt es genau genommen nicht. Ich für meine Person wenigstens vermag meine schwachen Geruchsempfindungen überhaupt gar nicht zu lokalisieren. Sie sind da, ohne daß ich sagen könnte, wo der Ort der Perception ist. Anders liegt die Sache, wenn die Geruchsempfindung von irgend welchen, wenn auch noch so schwachen Empfindungen aus der Empfindungssphäre des Trigeminus begleitet sind (Brennen oder Stechen in der Nase, oder auch nur das leise Gefühl des Vorbeistreichens der Luft an den Prominenzen der Nasenhöhlen- wand). Alsdann wird unfehlbar die Geruchsempfindung dahin lokalisiert, wo man jene Trigeminusreize spürt, für die es zwar auch keine sehr scharfe, aber doch eine unzweifelhaft nachweisbare Lokalisation gibt. Die Lokalisation der Gerüche auf dieser Basis ist natürlich eine ganz falsche: man glaubt sie vorn in der Nase in der Gegend des Agger nasi, des Vorderendes der unteren Muschel, oder (bei heftigem Einatmen) hinten im Pharynx wahrzunehmen. Beim Riechen an scharfen Riechstoffen, wie Chloroform, ätherischen Ölen oder gar Senfgeist oder Essigsäure ist dies sehr deutlich zu konstatieren. Bei Substanzen, die weniger reizend auf die respiratorische Nasenschleimhaut wirken, fühlt man sich auch leicht veranlaßt, die Empfindung excentrisch zu projizieren und gewissermaßen vor das Nasenloch zu verlegen. Eine besonders wichtige und interessante Folge dieses Mangels an Lokali- sationsvermögen beim Geruchssinn ist die, daß Gerüche, die von Speisen im Munde ausgehen und durch die Choanen in die Nase dringen, an die Stelle lokalisiert werden, an der die begleitenden Tasteindrücke empfunden werden, also in den Mund oder Schlund. Man mag es noch so genau wissen, daß man den spezifischen Eindruck des Vanillins (in wässeriger Lösung) nur in der Nase, nicht im Munde wahrnimmt: bringt man eine solche Lösung in den Mund und verschluckt sie, so kann man sich nicht von der Vorstellung losmachen, die Perceptionsstelle des Vanille„geschmacks“ sei im Munde oder Schlunde. Auf- merksamkeit ändert hieran nichts. Anders beim umgekehrten Versuch: Ein- atmen von riechenden Dämpfen, die auch den Geschmackssinn erregen. Atmet man Chloroformdampf ein, so gelingt es bei einiger Aufmerksamkeit und Übung unschwer, zu erkennen, daß die Geschmackskomponente überwiegend (wo nicht ausschließlich) hinten im Pharynx zur Wirkung kommt. Das lokalisierende Vermögen des Geschmackssinnes ist eben, obgleich gegenüber dem Tastsinn recht minderwertig, dem Geruchssinn gegenüber bedeutend im Übergewicht, denn bei diesem ist es gleich Null. XIII. Geruchswahrnehmungen und Geruchsreflexe. Geruchs- und Geschmackssinn nehmen dadurch unter den Sinnen eine gewisse Sonderstellung ein, daß sie auch bei den höchsten Wirbeltieren noch hinsichtlich ihrer biologischen Bedeutung für den Organismus viel mehr als die anderen Sinne auf jenem Niveau stehen. geblieben sind, auf dem bei den niederen Tieren alle Sinne stehen: sie dienen weit weniger wie der Gehör- und Tastsinn zur Gewinnung bewußter Wahrnehmungen als vielmehr zur Auslösung biologisch wichtiger Triebe. Die Funktion der Riech- und 618 Geruchswahrnehmungen. Schmecknerven nähert sich also mehr derjenigen der rein reflektorisch wirksamen, centripetalen Nerven. Die Bedeutung der Riech- und Schmeck- nerven beim Essen und Trinken liegt meines Erachtens nicht so sehr darin, daß sie die Qualität des Genossenen beurteilen lassen, als darin, daß ihre Erregung den Trieb zur Nahrungszufuhr erregt und erhält und reflektorisch die Absonderung der Verdauungssäfte auslöst. Pawlow!) hat dies für den Hund direkt nachgewiesen; die Magensaftsekretion kann durch die bloße Ein- wirkung des Geruchs von Fleisch ausgelöst werden. Für den Menschen ist meines Wissens etwas derartiges nicht nachzuweisen, wenngleich die bekannte Redensart, daß einem beim Anblick oder Geruch einer Speise „das Wasser im Munde zusammenlaufe“, auf die Annahme einer reflektorischen Speichel- sekretion hinweist. Unzweifelhaft kann durch Geruchsreize ein latenter Appetit, d.h. ein Bedürfnis nach Nahrungszufuhr, plötzlich über die Schwelle des Bewußtseins gebracht und sehr merkbar gemacht werden. Noch viel ausgeprägter ist diese triebauslösende Wirkung der Geruchs- reize in der Geschlechtssphäre. Bei sehr vielen Tieren ist der Geruch ge- radezu das wichtigste, wo nicht das einzig wirksame Moment zur Ent- fachung des Begattungstriebes. Beim Menschen durchkreuzen sich hier zu vielerlei Wege, auf denen die Natur das Individuum, halb unbewußt, leitet, um den Begattungszweck zu erreichen, und es kommt infolgedessen die Be- deutung des Geruchssinnes für das Sexualleben lange nicht so klar zum Ausdruck wie bei Tieren. An unserer ungenügenden Kenntnis dieses Ge- bietes trägt neben vielen anderen leicht ersichtlichen Gründen der Umstand die Schuld, daß es sich hier eben nicht sowohl um bewußte Geruchs- wahrnehmungen handelt als vielmehr um unbewußte, fast reflektorische Tätigkeit des Riechorganes, die nur durch besondere Aufmerksamkeit bewußt werden kann (näheres s. im Abschnitt über Geschlechtstrieb). Ob beim Menschen wirkliche Reflexe vom Riechnerven aus ausgelöst werden können, erscheint mir nicht ganz sicher. Bei Tieren konnten Aronsohn (l. ec.) und Beyer?) Beeinflussung des Atmungsrhythmus event. Atmungsstili- stand durch Riechreize demonstrieren. Beyer konnte auch den bis dahin fehlenden Beweis liefern, daß der Olfactorius (bei durchschnittenem Trigeminus) die Atmung sowohl im Sinne der Beschleunigung als der Verlangsamung reflek- torisch beeinflussen kann (Kaninchen). Beim Menschen sind entsprechende Versuche nicht leicht, weil die schwankende Aufmerksamkeit den Atmungs- vorgang modifiziert. Immerhin dürfte eventuell an Schlafenden die Ausführung solcher Versuche möglich sein. Ob die Anschwellung der cavernösen Gewebe in der Nase im Zustande sexueller Erregung auf direktem Reflex von seiten des ÖOlfactorius beruht, muß zum mindesten als zweifelhaft bezeichnet werden. Daß viele Riechstoffe, die nicht zu den eigentlichen Narcotieis gehören, außer der Beeinflussung der Atmung auch eine Art narkotischer Wirkung (bei Tieren) entfalten können, hat Beyer?) gezeigt. Es steht das in gutem Einklang mit der Tatsache, daß auch auf den Menschen gewisse Riechstoffe eine „betäubende“ Wirkung ausüben. ‘) Die Arbeit der Verdauungsdrüsen. Wiesbaden 1898. — ?) Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt. 1901. — °?) Ebenda 1902. Geruchsreflexe. 619 Einzelne Gerüche lösen den Reflex des Würgens oder Brechens aus, wenn sie in wesentlicher Intensität einwirken. Ich könnte das übrigens von keinem der „Odores nauseosi* Linn&s und Zwaardemakers behaupten, wohl aber von anderen, z. B. Schwefelwasserstoff. Bekanntermaßen ist diese Wirkung für manche Menschen beim Chloroform sehr ausgeprägt, für andere beim Äther. XIV. Geruehssinn und Affekt. Aus dem oben Gesagten ergiebt sich schon, daß sehr viele Geruchs- empfindungen einen affektiven Charakter haben; löst ein Riechreiz den Trieb zur Nahrungsaufnahme oder zum Begattungsakt aus, so verknüpft sich mit der betreffenden Empfindung in der Regel ein Affekt. Die in Aussicht stehende oder beginnende Befriedigung jenes Triebes erzeugt Lust. Indessen ist die Eigentümlichkeit der Geruchsreize, Lust und Unlust erregen zu können, keineswegs auf solche biologisch leicht verständliche Fälle ‘ beschränkt, sondern es gibt zahllose entschieden angenehme Gerüche, denen wir keinen Wert für uns zuschreiben können. Zahlreich sind auf der anderen Seite auch die unlusterregenden Gerüche, die „Gestänke“. Zwar ist über manche Gerüche die Meinung geteilt, der eine nennt Gestank, was dem andern angenehm riecht. Doch ist das immerhin der seltenere Fall, wenigstens unter Menschen gleicher Rasse und Kulturstufe. Viele Gerüche sind direkt widerlich, ekelerregend. Suchen wir dieser Reak- tionsweise unseres Centralnervensystems eine biologische Bedeutung abzu- gewinnen, so kann diese einmal in einem instinktiven Schutz vor der Auf- nahme schädlicher, namentlich in fauliger Zersetzung befindlicher Substanzen gesucht werden. Manche in diese Gruppe gehörige Gerüche flieht jedoch der Mensch, und zwar auch der Wilde, nicht; es werden faulige Stoffe als Lecker- bissen verzehrt („haut goüt“!). Der Ekel des Menschen vor den Gerüchen tierischer und menschlicher Exkremente hat unzweifelhaft den Wert, daß die Tendenz entsteht, solche Stoffe zu beseitigen, also die für den Organismus förderliche Reinlichkeit zu pflegen. Es wäre eine nicht uninteressante Auf- gabe, den Versuch zu einer teleologischen Erklärung der lust- bzw. unlust- erregenden Wirkung der verschiedenen Gerüche zu machen. Bis jetzt haben wir kaum die vagsten Anhaltspunkte !). Sehr bekannt ist es, daß die Geruchseindrücke mehr wie andere Sinnes- reize imstande sind, die „Stimmung“ des Menschen zu beeinflussen. Ganz unbestimmte, undefinierbare Stimmungen sind es zumeist, die durch einen Geruch momentan hervorgezaubert werden können. Man wird vielleicht nicht fehl gehen, wenn man annimmt, daß hier ein Anklang an die erotische Bedeutung des Geruchssinnes vorliegt. Sehr charakteristisch für die Geruchs- empfindung ist übrigens auch ihre assoziative Bedeutung. Ein Geruch kann uns mit zwingender Gewalt in die Vorstellung eines längst verflossenen Ereig- nisses hineinversetzen; Teergeruch versetzt uns in die Vorstellung eines See- hafens, den wir einst gesehen, der Geruch heißen Maschinenöles reproduziert uns die Erinnerung an eine Dampferfahrt. Das affektive Moment fehlt dabei nicht: Lorbeergeruch kann dem einen die Erinnerung an stolze Freude, dem !) Vergl. übrigens Gießlers oben 8. 608 zitierte Arbeit. 620 Geruchssinn und Affekt. anderen an tieftraurige Augenblicke des Lebens wachrufen. Kein anderer Sinn kommt hierin dem Geruchssinn gleich. Kann man sich Geruchsempfindungen aus der Erinnerung reproduzieren ? Manche behaupten es, ohne daß ich mich für überzeugt erklären könnte. Für mich ist es unbedingt nicht der Fall. So leicht es mir ist, das mit einer Geruchsempfindung verbundene Lust- oder Unlustgefühl zu reproduzieren, so unmöglich ist es bezüglich der eigentlichen Geruchsqualität, ganz im Gegen- satz etwa zur Reproduktion einer Farbenempfindung. Das Vorkommen von Geruchsträumen, d. h. Träumen, in denen ein be- stimmter Geruch vorkommt, ist geleugnet worden, sehr mit Unrecht; in der Literatur liegen mehrfache positive Angaben vor, und ich erinnere mich aus- gesprochener Geruchsträume. Bemerkenswerterweise handelte es sich jedoch häufig um Gerüche, die objektiv vorhanden sein konnten, wobei es als fraglich bezeichnet werden mag, ob in solchem Falle von wirklichen Geruchsträumen zu reden ist. Es scheinen aber auch echte Geruchsträume vorzukommen, bei denen man Gerüche träumt, die objektiv nicht zugegen sein können. Der Geschmackssinn von W. Nagel. Zusammenfassende Darstellungen, in denen die ältere Literatur gesammelt ist: v. Vintschgau, Geschmackssinn in Hermanns Handbuch der Physiologie 3, Leipzig 1879. Marchand, Le goüt. Bibl. internat. de psychol. exper. Paris 1903. I. Das Geschmacksorgan; die Geschmacksnerven. Die der Geschmacksempfindung dienenden Nervenendigungen sind über eine ziemlich große Fläche verbreitet. Die Schleimhautauskleidung der Mund- höhle trägt den wichtigsten Teil des Geschmacksorgans, doch greift dieses auch über die Grenzen der Mundhöhle nach zwei Richtungen über. Die ge- naueren Angaben über die Verteilung der Geschmacksorgane gehen bei den verschiedenen Autoren nicht unerheblich auseinander; das Folgende läßt sich indessen jetzt als fast allgemein anerkannt hinstellen. Geschmacksempfindlich sind von der Zunge die Spitze, die Ränder und die hinteren Partien des Rückens, nicht aber die vordere Partie des Zungenrückens und die vorderen unteren Regionen der Zunge (Gegend des Frenulum). Geschmacksempfindlich ist ferner der weiche Gaumen, jedoch in sehr wechselnder Ausdehnung; speziell scheint das Schmeckvermögen des Zäpfchens und der Tonsillen nicht konstant zu sein. Kiesow und Hahn!) vermissen am Zäpfchen das Schmeckvermögen völlig. Unempfindlich für Geschmacksreize ist im allgemeinen der harte Gaumen, ferner die gesamte Wangen- und Lippenschleimhaut, sowie das Zahnfleisch. Außerhalb der Mundhöhle findet sich Schmeckvermögen auf der Rück- seite des Gaumensegels und im Schlunde in wechselnder Erstreckung. Das Vorkommen von Schmeckvermögen an der Epiglottis und im Innern des Kehlkopfes ist besonders überraschend. Daß so lange Zeit hindurch keine Einheitlichkeit i in den Angaben über die Ausdehnung des Geschmacksorgans erzielt wurde, beruht, wie man nunmehr weiß, nicht oder mindestens nicht ausschließlich auf der Untersuchungs- methode, sondern auf den großen tatsächlichen Unterschieden, die das Ge- schmacksorgan verschiedener Individuen aufweist. ') Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 26, 412f. Kiesow (ebenda 35) fand auch in der Uvula selbst bei Kindern keine Geschmacksknospen. 622 Verbreitung der Geschmacksorgane. r s Hervorzuheben ist vor allem die, wie es scheint, konstante Differenz zwischen dem kindlichen Geschmacksorgan und dem des Erwachsenen. Beim Kinde ist noch Schmeckvermögen des Zungenrückens in seiner ganzen Aus- dehnung nachweisbar, beim Erwachsenen in der Regel nicht (Urbantschitsch). Nach einigen Angaben scheint auch die Wangenschleimhaut des Kindes zu . schmecken. Die für Geschmack unempfindliche Zone des Zungenrückens ist bei verschiedenen Personen verschieden groß, wie leicht begreiflich, da es sich ja um eine im extrauterinen Leben erworbene Unempfindlichkeit handelt. Genauere Angaben und Abbildungen liegen aus neuerer Zeit vor vonHänig!), Schreiber), Shore). Die unempfindliche Zone wird etwas verschieden groß gefunden, je nachdem man mit süßen, sauren, bitteren oder salzigen Stoffen reizt. Am kleinsten ist der für Säure unempfindliche Teil, am größten der zur Perception von Bitterem unfähige. Fig. 114 De pee zeigt die Darstellung dieser Bezirke, die Schreiber bestimmt bei Reizung mit gibt. Man sieht, daß der für sauer unempfindliche be SB ee Teil zugleich für alle anderen Geschmacksarten Der tl pille Ken hai unempfindlich ist, dung. (Nach Schreiber.) Die Verhältnisse sind übrigens in dieser Hinsicht individuell ebenfalls sehr wechselnd, und man wird sich hüten müssen, eine Darstellung wie die Schreibersche als Ausdruck des normalen Verhaltens zu betrachten. Unter den Erwachsenen findet man nicht selten solche, deren Gaumen- segel keine Schmeckfähigkeit hat, auch an der Zungenspitze wird dieser Defekt bei sonst gutem Schmeckvermögen beobachtet. Schmeckvermögen des harten Gaumens ist, wenn überhaupt bei Erwachsenen vorkommend, eine Seltenheit. Ganz seltsam ist die Angabe von Toulouse und Vaschide‘), daß für den sauren Geschmack die ganze Mundschleimhaut (einschließlich Zahnfleisch, Wangen, harter Gaumen) empfindlich sei, ja sogar die Zähne (!). Diese Autoren haben mit Acidum aceticum purum gereizt. Die Geschmacksknospen. An allen Stellen der Schleimhaut, an welchen Geschmacksempfindlichkeit nach- weisbar ist, hat man die von Loven’) und Schwalbe ®) entdeckten Geschmacksknospen gefunden. Jedes dieser eh isolierte Organe, etwa 80u lang und 40 u dick, besteht aus einer eine Stützzelle aus Gruppe von langgestreckten Zellen, zwischen welche sich einer Geschmacks- & . ® knospe. Dazwischen die letzten feinen Verästelungen der Schmecknerven ver- (Sosh Arartele) folgen lassen (Fig. 115). Die Mehrzahl der Autoren nimmt Fig. 114. Fig. 115. !) Zur Psychophysik des Geschmackssinnes. Inaug.-Diss., Leipzig 1901 und Philos. Studien von Wundt 17, 576. — *) Rec. de m&moires sur la philosophie offert aMorochowetzen 1892. Moskau 1893 (zitiert nach Marchand). — ?) Journ. of Physiol. 13, 191, 1892. — *) Compt. rend. de l’Acad&mie des sciences 130 (1901). — °) Arch. f. mikr. Anat. 4 (1867). — °) Ebenda 3 (1867). Bee} 1 EL ERIE rer Verbreitung der Geschmacksorgane. 623 zwei Arten von Zellen an, Stützzellen und Schmeckzellen. Ob dieser auf Grund der äußeren Gestaltung geschehenen Teilung eine Berechtigung von physio- logischen Gesichtspunkten aus zukommt, läßt sich zurzeit nicht beurteilen. Die „Schmeckzellen“ sind von wechselnder Form, doch stets nach dem äußeren Ende der Knospe hin zugespitzt und hier mit einem Stiftchen besetzt. "Die spitzen Enden konvergieren gegen die Spitze der Knospe hin. Diese ist vom gewöhnlichen Epithel der Schleimhaut so umgeben und großenteils be- deckt, daß nur die grübchenartige, vertiefte Knospenendigung durch den Porus gustatorius zugänglich bleibt. Von der Schleimhautfläche gesehen erscheint jeder dieser Geschmackspori als eine kleine Lücke zwischen den platten Epithelzellen. Die Nervenfasern treten marklos zwischen die Zellen der Knospe hinein, von deren Basis aus, und dringen bis hart an den Geschmacksporus vor, ein Umstand, der es etwas zweifelhaft machen könnte, ob die „Schmeckzellen“ für die Schmeckfunktion entscheidende Bedeutung haben!). Eine Zeitlang hielt man die Knospen wegen des Porus für hohle Gebilde und nannte sie Schmeckbecher (M. Schultze). Über die Einzelheiten des feineren Baues der Knospen vergleiche die histiologischen Werke. Das Vorkommen der Geschmacksknospen (Hoffmann?) am weichen Gaumen ist nieht unbestritten (Schaffer°). Überraschend war die Auffindung gleicher Knospen an Stellen, denen man zunächst keine Schmeckfunktion zutrauen mochte, nämlich an der Epiglottis (Verson*) und im Innern des Kehlkopfes (Davis’). Wie bei den Knospen der Papillae fungiformes ist bei diesen letztgenannten der Porus in einen kleinen Kanal verlängert, in dem die eigentlichen Knospen ziemlich tief im Epithel sitzen. Das Vorkommen der Knospen an Epiglottis und Kehlkopfschleimhaut gestaltete sich in der Folgezeit zu einem besonders interessanten Beweis für die Schmeck- funktion dieser Gebilde, indem es mehreren Forschern gelang‘), den experimen- tellen Beweis zu führen, daß Betupfen mit Chinin, Zucker u. dgl. an jenen Stellen in der Tat Geschmacksempfindung auslöst. Die biologische Bedeutung der Ge- schmacksorgane an Stellen, die normalerweise nicht von Speisen und Getränken berührt werden, ist unklar. Sehr wahrscheinlich richtig ist die von Zwaarde- maker’) gelegentlich geäußerte Vermutung, daß die Schmeckbarkeit gewisser Gase und Dämpfe. (s. oben 8. 611) zum Teil auf jene Organe zurückzuführen" ist. Sicher unzutreffend ist dagegen Zwaardemakers Hypothese, daß auch die Riech- schleimhaut spezifische Geschmacksorgane enthalte; die von Disse®) entdeckten und von Zwaardemaker als Geschmacksknospen bezeichneten Organe in der Regio olfactoria sind unterdessen als drüsige Gebilde erkannt worden. Die Hauptmasse der Geschmacksknospen befindet sich auf den Papillen der Zunge, und zwar am reichlichsten auf den Papillae eircumvallatae des hinteren Zungenrückens, deren jede mehrere hundert Knospen auf ihren Seitenwänden trägt, von der eigentlichen Zungenoberfläche also ein Stück weit abgerückt. In ähnlicher Weise vor Berührung geschützt liegen die !) Vgl. hierzu Retzius, Biolog. Untersuch. 4, Stockholm 1892; v. Len- hossek, Anat. Anz. 1893; Arnstein, Arch. f. mikr. Anat. 41 (1893). — ?) Virchows Archiv 62 (1875). — °?) Sitzungsber. Akad. Wien, math.-naturw. Kl., 106 (1897). — *) Sitzungsber. d. k. Akad. Wien 57 (1868) u. Strickers Handbuch d. Lehre v. d. Geweben, 1871. — °) Arch. f. mikr. Anat. 14 (1877). — °) Vgl. Gottschau, Würzb. Verhandl. N. F. 15; Michelson, Virchows Arch. 123 (1891); Kiesow und Hahn, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 33 (1900). — 7) Ned. Tijdschr. v. Geneesk. 1 (1899) u. Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abteil. — ®) Göttinger Nachrichten 2 (1894). 624 Geschmacksnerven. Knospen der Regio foliata, seitlich vom Zungengrunde; bei manchen Tieren, namentlich den Nagern, entspricht dieser Region eine deutlich abgegrenzte Papilla foliata jederseits, die massenhafte Geschmacksknospen trägt. Auf der Vorderzunge sind die Träger der Knospen die Papillae fungiformes. Auf manchen von diesen vermißt man übrigens, wie stets auf den ‚Papillae fili- formes, die Knospen, und es kann heutzutage keineswegs als sicher hingestellt werden, daß nur da geschmeckt wird, wo Knospen sind. Daß der Geschmackssinn am besten an den umwallten und blätterförmigen Papillen ausgebildet sei, konstatierte schon 1834 Elsässer'), der die betreffenden Spalten auch schon Schmeckspalten nannte. Freie Nervenendigungen im Zungen- epithel, die möglicherweise dem Geschmackssinn dienen könnten, beschrieben zuerst Sertoli”) und Krohn). Im Alter gehen nach Hoffmann (l. c.) viele Knospen zugrunde, was die Einschränkung der Schmeckfläche gegenüber den kindlichen Schmeckorganen erklärt. Nach Durchschneidung des Glossopharyngeus entarten die Geschmacks- knospen des betreffenden Gebietes und verschwinden schließlich ganz (v. Vintschgau und Hönigsschmied), von Ranvier’’) bestätigt). Die Geschmacksnerven. Die Geschmacksnerven verlaufen in auf- fallend komplizierten Bahnen. Drei Nerven teilen sich in die Schmeckfunktion, der Nervus lingualis (ein Ast der dritten Trigeminusportion), der Nervus glossopharyngeus und der Vagus. Ersterer versorgt die vordere Partie (etwa 2/;) der Zunge, der Glossopharyngeus die hinteren Teile, den Zungengrund und weichen Gaumen mit Geschmacksfasern. Die Geschmacksknospen des Kehldeckels und Kehlkopfes scheinen vom Vagus innerviert zu sein. Die älteren Forscher bis nach Haller nahmen ohne weiteres mit Galenus den Lingualis als einzigen Schmecknerven an, dann wurde eine Zeit- lang der Glossopharyngeus als alleiniger Vermittler der Geschmacksempfin- dungen angesehen, bis sich allmählich die oben erwähnte vermittelnde An- sicht Bahn brach. Die Tierexperimente haben sich in diesem Punkte als wenig förderlich erwiesen; die Beobachtung von Stannius, Panizza, Valentin u.a., daß Hunde und Katzen nach Durchschneidung der Glossopharyngei keine Ge- schmacksunterscheidungen mehr machten, können vielleicht so gedeutet werden, daß bei diesen Tieren der Lingualis nicht beim Schmecken beteiligt ist. Die Übertragung auf den Menschen war irrig, wie sich aus den späteren klinischen Beobachtungen ergab. Die Geschmacksfasern des Lingualis verlaufen teilweise mit dem Tri- geminusstamm zum Kopfmark, zum anderen Teil verlassen sie den Lingualis in der Chorda tympani und treten aus ihr wiederum teils in den Glossopha- ryngeus hinüber, teils erreichen sie das Kopfmark in der .Portio intermedia Wrisbergii des Facialis. Man wird nicht behaupten dürfen, daß über den Verlauf der ec bahnen eine einheitliche Auffassung der Autoren herrsche. Während das oben Gesagte wohl die jetzt allgemein geteilte Anschauung wiedergibt, be- !) Anmerkung in der von Elsässer gelieferten deutschen Übersetzung von Magendies Lehrbuch der Physiologie, 3. Aufl., Tübingen 1834. — ?*) Gazetta med. veter. 4, 2, 1873. — ®) Dissert., Kopenhagen 1875. — *) Arch. £. d. ges. Physiol. 14 (1877)’u. 23 (1880). — °) Trait& technique d’histologie. 1. Aufl. 8. 949. TE ee ae Geschmacksnerven. 625 stehen bezüglich der Einzelheiten noch mannigfache Differenzen, die im wesent- lichen darauf beruhen dürften, daß die Geschmacksfasern ihren Bestimmungs- ort auf mehreren verschiedenen Wegen erreichen, die sogar wahrscheinlich nicht unerheblichen individuellen Schwankungen unterworfen sind. Wir werden nicht fehl gehen, wenn wir annehmen, daß alle die zarten, zum Teil wenigstens variablen Anastomosen zwischen Glossopharyngeus, Facialis und Trigeminus in der Gegend der Paukenhöhle Geschmacksfasern führen können, aber nicht müssen. Die Erfahrungen der Neuropathologie, die auf den ersten Blick widerspruchsvoll erscheinen, erklären sich ungezwungen nur unter jener Annahme: Benutzung verschiedener Verbindungswege und Vorkommen indi- vidueller Schwankungen in der Bedeutung und Mächtigkeit der einzelnen Kommunikationen. Zum gleichen Schlusse sind schon Oppenheim, F. Krause u. a. gekommen. Die Erörterungen über diesen Gegenstand wurden kompliziert einmal durch unzutreffende Verallgemeinerungen einzelner Befunde — was, wie gesagt, wegen der wechselnden Anlage der Bahnen unrichtig erscheint — sodann aber durch die eigentümliche Nachwirkung einer Vorstellung, die aus einer irrigen Auf- fassung des Gesetzes von den spezifischen Sinnesenergien erwuchs. Man hatte eine Zeitlang unter dem Einfluß der von J. Müller selbst gegebenen Formulierung jenes Gesetzes geglaubt, ein Nerv müsse „der“ Geschmacksnerv sein. Wir nehmen jetzt ja an, daß entscheidend für die Qualität der durch einen Nervenreiz erzeugten Empfindung der Ort im Zentralnervensystem (speziell der Hirnrinde) ist, in den die betreffende Nervenbahn einmündet. Wenn also die Autoren sich bemühten, fest- zustellen, „welchem Nerven die Geschmacksfasern der Chorda zugehören“, bzw. wenn gesagt wurde (wie noch in neueren Lehrbüchern, z. B. Landois u. a.), die Geschmacksfasern der Chorda hätten „ihren Ursprung im Glossopharyngeus“, so konnte das schließlich doch nur den Sinn haben, daß diese Fasern im Kopfmark mit den Glossopharyngeusfasern zusammentreffen und gemeinsame Verbindungen mit den höheren Zentren ‚besitzen. Unter „Zugehörigkeit“ von Nervenfasern zu diesen oder jenen Nerven können wir uns nichts anderes vorstellen als den Besitz gemeinsamer Anschlüsse an die corticalen Sinneszentren; hierdurch ist die spezi- fische Energie bestimmt, nicht durch den Verlauf in diesem oder jenem Nerven- stamm, der aus der Hirnbasis heraustritt. Wir wissen längst, daß die „Hirnnerven“, wie sie sich uns beim Verlassen des Gehirns präsentieren, ebensowenig wie die fertigen Spinalnerven etwas funktionell Einheitliches sind. Den älteren Forschern, die mit diesem Gedanken noch nicht vertraut waren, konnte es Schwierigkeiten machen, anzunehmen, daß auch der Trigeminus und der Facialis Geschmacksnerven sein sollten, und es mußte für sie die befriedigendste Lösung sein, wenn sie be- weisen zu können glaubten, daß entweder nur der Lingualis oder nur der Glosso- pharyngeus „der Geschmacksnerv“ sei. Das Unzutreffende dieser antiquierten Vorstellung wird durch nichts besser beleuchtet als durch die neueren Erfahrungen, die F. Krause!) über Beeinträch- tigung des Geschmackssinns bei intracranieller Durchschneidung des Trigeminus und Exstirpation des Ggl. Gasseri (beim Menschen) gemacht hat. Nach dieser Operation war im Lingualisgebiet das Schmeckvermögen zwar nicht aufgehoben, aber deutlich herabgesetzt. Damit ist der Verlauf von Geschmacksfasern durch den Trigeminusstamm so gut wie erwiesen, da Nebenverletzungen als Ursache dieser Störung nicht wahrscheinlich sind. Niemand wird heutzutage darin eine mit dem Gesetz der spezifischen Energien unvereinbare Tatsache sehen. Darum wäre es sehr zu wünschen, daß nun auch aus den Lehrbüchern und sonstigen Publikationen die zumeist nur im Ausdruck liegenden Reminiscenzen an jene Zeiten verschwinden möchten, in denen der einzelne Nervenstamm seine einheitlich be- stimmte Funktion zugeteilt erhalten mußte. !) Münchener mediz. Wochenschr., Jahrg. 42, 1895. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 40 626 Geschmacksnerven. Die anatomischen und physiologischen Forschungen über die Verteilung des Wirkungsgebietes von Lingualis und Glossopharyngeus auf der Zunge stehen insofern im guten Einklang, als sorgfältige Präparationen der Zungen- Fig. 116. nerven, wie sie neuerdings namentlich Zander!) beschrieben hat, den beiden Nerven gerade das Verbreitungsgebiet zuweisen, auf welches auch die Beob- achtungen über Funktionsstörungen hindeuten; der Lingualis geht zur Schleimhaut der Zungenspitze und des Zungenrandes, nicht aber zum Zungen- grund und der Regio foliata, wohin anderseits der Glossopharyngeus sich verfolgen läßt. Sogar das Hinüber- greifen des jederseitigen Lingualis in seinen Endausbreitungen auf die andere Zungenhälfte, das Zander konstatieren konnte, findet in den experimentellen Befunden sein Gegenstück. Kiesow ?) fand bei einseitiger Chordalähmung in einem an die Mitte der Zungenspitze angrenzenden Schleimhautstück den Geschmack nicht aufgehoben, sondern nur geschwächt. Die Ieraion der Zungepechlighut durch Für die Funktion der Chorda tym- geus (schräg schraffiert) und Vagus (punktiert) pani als Geschmacksnerv der Vorder- (nach Zander). s # zunge spricht neben den mannigfachen Beobachtungen über Geschmackslähmung bei Chordazerstörung namentlich auch die Möglichkeit, durch Reizung der in der Paukenhöhle bloßliegenden Chorda Geschmacksempfindungen auszulösen (Duchenne), v. Tröltsch ®), Urbantschitsch),Politzer®),Moo0s’),Kiesow und Nadoleczny?) u.a.). Die Reizung kann in der Kontinuität oder am zentralen Stumpf der durch- trennten Chorda erfolgen. Duchenne (I. c.) reizte elektrisch, indem er eine Elektrode in dem mit Wasser gefüllten Gehörgang, die andere am Nacken anbrachte. Stromschleifen kann man hierbei nicht sicher aus- schließen, darum bieten die Erfolge mechanischer und chemischer Reizung bei eröffneter Paukenhöhle (Mittelohreiterungen mit Trommelfellverlust) mehr Interesse. Am häufigsten wird ein saurer oder metallischer Geschmack angegeben, der bei Berührung des Chordastumpfes mit der Sonde auftritt, meist von prickelnden oder stechenden Empfindungen begleitet. In einigen wenigen !) Anatom. Anz. 14 (1898), vgl. auch Rautenberg, Beitrag z. Kenntnis d. Empfindungs- u. Geschmacksnerven d. Zunge. Inaug.- Diss. Königsberg 1898. — ®) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 23 (1900). — ®) Arch. gener. de medecine 24 (1850). — *) Lehrbuch d. Ohrenheilk., 6. Aufl. — °) Arch. f. Ohren- heilk. 19 u. 20 und Beobachtungen über Anomalien des Geschmacks usw. Stutt- gart 1876. — °) Lehrbuch d. Ohrenheilk. 1893. — 7) Arch. f. Augen- u. Ohren- heilk. 1. eh De Geschmacksnerven. ; 627 Fällen, die Urbantschitsch (l. c.) und Blau!) beschrieben haben, traten auch süße und bittere Empfindungen auf, während der salzige Geschmack nicht beobachtet wurde. Cl. Bernard, Vulpian und Schiff hatten die Bedeutung der Chorda für den Geschmackssinn geleugnet und sie als einen nur zentrifugal leitenden Nerven betrachtet. Schiff ließ die Vorderzunge vom zweiten Trigeminusast innerviert sein. Da F. Krause?) u. a., die nach Totalexstirpationen des Gasserschen Ganglions Geschmacksprüfungen ausgeführt haben (Mac Lane, Tiffany, Blüher, Mitchell, Thomas), in einigen Fällen die vordere Zungenhälfte auf der operierten Seite ganz ohne Geschmackssinn, in anderen Fällen mit herabgesetzter und verlangsamter Schmeckfähigkeit gefunden haben, ander- seits in den beobachteten Fällen von Zerstörung der Chorda in der Pauken- höhle das Schmeckvermögen im gleichen Gebiete aufgehoben ist, ergibt sich, daß jedenfalls häufig die Geschmacksfasern der Chorda in den Tri- geminus hinübertreten, sei es durch den N. petrosus superficialis major und das @gl. sphenopalatinum zum zweiten Ast, oder durch den N. petrosus superficialis minor, den Plexus tympanicus und das @gl. oticum zum dritten Ast3),*). Verlauf der Chordaschmeckfasern in der Wrisbergschen Facialis- wurzel (Lussana u. a.) oder Übertritt in das @gl. petrosum des Glossopha- ryngeus muß für diese Fälle ganz ausgeschlossen sein, bzw. nur für einen kleinen Teil der Chordafasern zutreffen. Eine Regel ohne Ausnahme aber kann in diesem Verhalten nicht ge- funden werden; denn wo, wie es Hitzig und einige der oben zitierten Autoren fanden, nach Trigeminusresektion der Geschmack intakt bleibt, wird man nicht umhin können, einen anderen Weg, unter Vermeidung des Trigeminusstammes, anzunehmen, also entweder den erwähnten durch die Portio intermedia Wrisbergii oder durch den Glossopharyngeus. Individuelle Unterschiede scheinen übrigens auch hinsichtlich der taktilen Funktion der Chorda zu bestehen; so berichtet O0. Wolf°) über einen Fall von Chordalähmung, bei dem außer dem Geschmack auch die Empfindlichkeit für Tast- und Temperaturreize auf der gelähmten Seite aufgehoben war. Kiesow und Nadoleczny (l. ce.) dagegen fanden diese Empfindlichkeit unverändert. Carl®), der die Geschmacksfunktion auf der Vorderzunge als durch den Glossopharyngeus vermittelt betrachtete, und verschiedene andere Autoren fanden bei Chordareizung taktile Empfindungen in der Zunge. Kälteempfindungen beobachteten in ähnlichen Fällen Urbantschitsch’), Toynbee®°) u. a. Die Geschmacksfasern für den weichen Gaumen sollen nach Dixon’) durch den Wrisbergschen Nerv gehen. Die Umgebung des Foramen coecum der Zunge und der Kehldeckel erhalten ihre sensiblen Fasern und vielleicht auch ihre Ge- schmacksfasern aus dem Nervus laryngeus superior, also in letzter Linie aus dem Vagus. Wegen weiterer Literaturangaben, namentlich aus älterer Zeit, muß auf die sehr eingehende Behandlung dieses Gebietes durch v. Vintschgau verwiesen werden. !) Berliner klin. Wochenschr. 45 (1879). — *) Münchener med. Wochenschrift. Jahrg. 42, 1895. — °) Vgl. hierzu Schlichting, Zeitschr. f. Ohrenheilk. 32 (1894). — *) Vgl. Cassirer, Arch.f. Anat. u. Physiol., physiol. Abteil., 1899, Suppl. — °) O. Wolf, Über Geschmacksstörung bei gewissen Facialislähmungen. Inaug.-Diss. Tübingen 1891. — °) Arch. f. Ohrenheilk. 10 (1876). — 7) Ebenda 19 (1883). — ®) Die Krank- heiten d. Ohres. 1863. — °) Journ. of Anat. and Physiol. 33 (1899). 40* 628 Geschmack und chemische Konstitution. II. Von den Eigenschaften der schmeckbaren Stoffe. Um als Geschmacksreiz zu wirken, muß ein Stoff in der Mundflüssigkeit mindestens spurenweise löslich sein. Eine nur scheinbare Ausnahme können Zusammensetzungen verschiedener Metallstücke bilden, an deren Oberfläche elektrische Spannungsdifferenzen bestehen und deren Berührung mit der Zunge somit galvanische Erregungen der Schmeckorgane bewirkt. Anderseits gibt es Stoffe, die sich in der Mundflüssigkeit lösen oder doch von ihr absorbiert werden und die doch nie Geschmacksempfindung zu bewirken scheinen, so manche Gase, O, H, N; destilliertes Wasser bewirkt bei manchen Personen eine als bitter bezeichnete Geschmacksempfindung, möglicherweise aber nur dadurch, daß schmeckbare Stoffe von der Zunge,. den Zähnen usw. aufgeschwemmt werden und nun an anderen Partien zur Wirkung kommen. Unzweifelhaft können gewisse Dämpfe und Gase „geschmeckt“ werden, und nicht nur solche, die auch Geruchsempfindungen auslösen. Kohlensäure z. B. löst, gasförmig auf die Zunge strömend, deutliche Geschmacksempfindung aus. Die Empfindung des Sauren herrscht vor, darunter sind aber auch Anklänge an süßlich und schwache Empfindungen von anderer Art vorhanden, die einigermaßen an das Prickeln der Kohlensäure im Sauerbrunnen erinnern. Chloroformdampf, der auf die Zunge oder gegen den weichen Gaumen geleitet wird, schmeckt intensiv süß, Aldehyd- und Ätherdampf etwas bitter- lich, Essigsäuredampf stark sauer, ununterscheidbar von irgend einer Mineral- säure, sofern der Zutritt zur Nase verhindert wird. Daß dieses „gustatorische Riechen“ (wie es nicht ganz zutreffend genannt worden ist) nicht durch die Riechorgane, sondern teils durch die Geschmacksorgane im Munde, teils durch diejenigen auf der Rückseite des Gaumensegels vermittelt wir®, wurde schon oben beim Geruchssinn erwähnt (S. 612f.),. - £ Graham!) weist darauf hin, daß alle schmeckbaren Stoffe zu den „cristal- loiden“ Körpern gehörten, während die „colloiden“ nicht schmeckbar seien. Ob dieser Satz in voller Strenge Gültigkeit hat, wird nicht ganz leicht festzustellen sein, weil mänche Colloide schwer ganz rein darzustellen sind und zudem bei der Be- rührung mit dem Mundspeichel Veränderungen und Spaltungen erleiden mögen. Bemerkenswert ist die auch von Sternberg”) erwähnte und anerkannte An- gabe, daß Quecksilberchlorid (Sublimat), obgleich es eine für alle Gewebe nichts weniger als indifferente Substanz ist, geschmacklos sein soll. Über die chemischen oder physikalischen Eigenschaften, auf denen der süße, bittere, saure und salzige Geschmack beruht, wissen wir so gut wie nichts. Höber?) und Kiesow?°) haben eigentlich schon zu viel behauptet, wenn sie sagen, „man weiß, daß die Säuren sauer, daß viele Salze salzig schmecken, man weiß, daß die Alkaloide zumeist bitter, und daß viele Kohlehydrate süß schmecken“, denn lange nicht alle Säuren schmecken sauer und nicht alle sauer schmeckenden Stoffe sind im chemischen Sinne Säuren. Höchst auffallend ist die beträchtliche Verschiedenheit der chemischen Konstitution bei den Stoffen, die süß schmecken. Neben sehr vielen Zucker- !) Zitiert nach Marchand op. eit. 8. 62. — ?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 35, 1904. — °) Zeitschr. £. physikal. Chemie 27 (1898). EN 2 Geschmack und chemische Konstitution. 629 arten und sonstigen organischen Stoffen aus verschiedenen Gruppen (wie Glykoside, Chloroform u. a.) schmecken auch manche anorganische Substanzen süß, wie der Bleizucker, manche Berylliumverbindungen; auch in den Misch- geschmäcken mancher Alkalien und Schwermetallverbindungen ist eine süße Komponente unverkennbar. Sternberg hat in einer ganzen Reihe von Arbeiten!) interessante Feststellungen zu dieser Frage geliefert, ohne daß man jedoch behaupten könnte, daß dadurch mehr Klarheit gewonnen wäre. Von Interesse ist, daß eine reine Zuckerart, die d-Mannose, nach den meisten Angaben?) bitter schmeckt. Sternberg?) gibt allerdings an, der Geschmack sei zuerst süß und gehe erst allmählich in einen bitteren über, der als Nachgeschmack bestehen bleibt. Bei demselben Autor findet man genaue Angaben über die seltsamen Geschmacksdifferenzen zwischen chemisch-iso- meren Körpern, auf die ich hier nicht eingehe, da sie physiologische Bedeu- tung zunächst noch nicht gewonnen haben. Besonders häufig ist der Um- schlag zwischen süß und bitter bei einander verwandten Stoffen; überhaupt ist die Konstitution der bitter schmeckenden Stoffe fast ebenso schwankend wie die der süßen. Sternberg gegenüber muß übrigens mit Bestimmtheit hervorgehoben werden, daß für solche Geschmacksppüfungen keineswegs, wie er glaubt, die Konzentration gleichgültig ist, ebensowenig wie die gereizte Zungenpartie. Haycraft®) hat die salzig und bitter schmeckenden Metallsalze syste- matisch zu ordnen gesucht, ohne daß dabei etwas Befriedigendes zutage gekommen wäre. Über den Geschmack von Salzen und Laugen haben Höber und Kiesow (l. c.) Untersuchungen angestellt, auf die in anderem Zusammenhang noch zurückzukommen sein wird. = III. Die Mechanik des Schmeckens. Abgesefen Won dem Spezialfall des Schmeckens von Gasen ist die Bedin- gung für das Schmecken einer Substanz einfach dadurch gegeben, daß diese | die Zunge oder einen anderen, mit Geschmacksorganen ausgerüsteten Teil der Mundschleimhaut berühren müssen, wie dies bei jeder Art von normaler Nahrungsaufnahme geschieht. Die in den Mund gebrachte Speise oder Flüssigkeit berührt für gewöhnlich successive fast die gesamte schmeckende Oberfläche mit - Ausnahme der Kehlkopfschleimhaut. Eine vorübergehende Stagnation der mit Schmeckstoffen beladenen Mundflüssigkeit wird leicht zu ‚beiden Seiten des Zungengrundes eintreten, wo eine Häufung von Ge- schmacksorganen in Gestalt der Regio bzw. Papilla foliata erkennbar ist. Es ist nicht ohne Interesse, daß auch bei Insekten, deren Geschmacksorgane ja ganz anders eingerichtet sind wie bei Wirbeltieren, doch in den 'Fällen, wo eine Art Zunge vorhanden ist, sich eine besondere Häufung der Schmeckpapillen zu beiden Seiten der Zungenwurzel findet, wo sich die Mundflüssigkeit sammeln muß. - Eine weitere Begünstigung für das Stagnieren von Flüssigkeit in un- mittelbarer Nähe der Knospen ist.durch die Gräben gegeben, welche die Y) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1898 u. 1903; Sitzungsber. Physiol. Ges. Berlin 1898 u. 1902; Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 22 (1899). — ?) Vgl z.B.von Ekenstein, Rec. trav. chimiques Pays-Bas 14 u.15 (1896). — °) Zeitschr. f. Psychol. u.‘ Physiol. d. Sinnesorg. 35 (1904). — *) Brain, 10 (1887). 630 Inadäquate Reize des Geschmackssinnes. Papillae circumvallatae umgeben, und ebenso durch die Furchen zwischen den Blättern der Papilla foliata. Bei den pilzförmigen Papillen der Vorderzunge fehlen solche Vorrichtungen, womit es wahrscheinlich zusammenhängt, daß, wie bekannt, Geschmackseindrücke im hinteren Teile der Mundhöhle viel länger haften als vorn. Bewegungen der Zunge sind zum Schmecken nicht notwendig, und es kann nicht als erwiesen gelten, daß die Bewegungen der Zunge beim aktiven Schmecken oder „Kosten“ die Empfindlichkeit für Geschmacksreize direkt erhöhen. Wie Fick!) beobachtete, werden allerdings schmeckbare Flüssig- keiten, die auf den hinteren Teil des Zungenrückens gebracht werden, bei ruhig gehaltener Zunge oft gar nicht oder nur ganz schwach geschmeckt, sehr deutlich dagegen, wenn die Zunge bewegt und an den Gaumen an- ‘gedrückt wird. | ee TR Für Erregbarkeitssteigerung durch den gleichzeitigen mechanischen Reiz spricht, wie Öhrwall2) mit Recht hervorhebt, nichts; Öhrwall versuchte auch vergebens, durch mechanische Reize experimentell die Geschmacksempfindlich- keit zu steigern. Die Ficksche Beobachtung erklärt sich aus der durch die Reibung und Bewegung bewirkten Verbreitung der schmeckenden Substanz auf dem Geschmacksorgan und vielleicht auch dadurch, daß das Eindringen. der Substanzen in die Gräben der Schmeckpapillen durch Druck von oben erleichtert wird. Bei festen und halbweichen Substanzen kommt natürlich auch die Ein- ' speichelung bei dem Herumwälzen im Munde in Betracht. Kaubewegungen begünstigen ja die Bildung und Ergießung des Speichels und somit auch in- direkt das Schmecken. Erektion der Geschmackspapillen oder. Anschwellung, welche Haller gesehen haben wollte, konnte weder von Bidder?), noch von Öhrwall (l. ec.) bestätigt werden. Raspail*) hatte behauptet, Eintauchen der Zungenspitze in Zuckerlösung ohne Berührung der Gefäßwände bewirke nur Kälteempfindung, keinen Geschmack; v. Vintschgau, der die Beobachtung anzuerkennen scheint, vermutet, die Berüh- rung mit der Gefäßwand sei nötig, um die Lösung in die Geschmackspori zu pressen. Öhrwall kann die tatsächliche Beobachtung nicht bestätigen (ich ebenfalls nicht). Die genannten Autoren mögen an der Zungenspitze keinen oder nur un- vollkommenen Geschmack gehabt haben. ; IV. Die inadäquaten Reize des Geschmacksorganes. Der elektrische Geschmack. Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß auf die Geschmacksorgane und im speziellen auf die Endausläufer der Geschmacksnerven in der Zunge, soweit bis jetzt bekannt, mechanische und thermische Reize überhaupt nicht wirken, während die Endigungen der Tastnerven der Zunge, die für die feinsten Berührungsreize empfindlich sind, und ebenso die Wärme- und Kältenerven !) Lehrbuch der Anat.u. Physiol. d. Sinnesorg., 1864, 8.83. — ?) Skandin. Arch, f. Physiol. 2, 60, 1891. — °) Artikel „Schmecken“ in Wagners Handwörterbuch der Physiol. 3, 9, 1846. — *) Frorieps neue Not. Nr. 98 (V, Nr. 10), 1838. u EEE ie ca u 2 ut Elektrischer Geschmack. 631 der Mundschleimhaut allem Anscheine nach in sehr ähnlicher Weise wie die Schmecknerven in der Zunge endigen. Auf die Bedeutung dieser Tatsache für-Fragen der allgemeinen Sinnesphysiologie wurde schon oben hingewiesen; sie hat mit der spezifischen Energie der Sinnesorgane nichts zu tun, fällt vielmehr unter das Prinzip der spezifischen Disposition der Sinnesorgane. Zu erwägen bleibt, ob auch die eigentümlichen Erscheinungen bei elek- trischer Reizung des Geschmacksorgans unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten sind. | Der galvanische Strom erzeugt beim Durchströmen der Zungengegend "Geschmacksempfindungen, die zuerst von Sulzer (1752) beobachtet zu sein scheinen, von Volta (1792) neu entdeckt wurden. "Bie Literatur über diesen Gegenstand ist eine sehr umfangreiche. Ältere ‘ Arbeiten findet man bei v. Vintschgau in Hermanns Handbuch der Physiologie, Bd. 3, zitiert, neuere bei Hermann und Laserstein!). Als wichtigste Arbeiten seien außer den eben erwähnten die folgenden genannt: Ritter2), Rosenthal), v. Vintschgau®), Shore’), Hofmann und Bunzel®). Übereinstimmend wird von fast allen Autoren der Geschmack an der Stelle, wo die Anode der Zunge anliegt, als sauer bezeichnet’), während die Bezeichnung des Kathodengeschmacks sehr wechselnd ist (scharf, laugenhaft, bitter usw.). Der elektrische Geschmack, namentlich der saure Geschmack, tritt auch sehr deutlich und in noch größerer Reinheit auf, wenn die Elek- troden der Zunge nicht direkt anliegen, sondern irgendwo am Kopfe in solcher Weise angebracht sind, daß noch merkliche Stromschleifen durch die Zunge gehen. Das Hauptinteresse bei der Untersuchung des elektrischen Geschmacks könzentrierte sich schon sehr früh auf die wohl von A. v. Humboldt) zuerst berührte Frage, ob der elektrische Geschmack von direkter Reizwirkung der Elektrizität der von chemischen Umsetzungen herrühre, die durch den Strom in den Geweben herbeigeführt werden. Da salzhaltige Flüssigkeiten durch Elektrolyse in der Tat so zerlegt werden, daß an der Anode saure, an der Kathode alkalische Reaktion auftritt, lag es in der Tat sehr nahe, anzunehmen, daß bei der Durchströmung der Zunge im Speichel oder in den Gewebssäften der Zunge selbst sich saure bzw. alkalische Schmeckstoffe bildeten. Gegen diese „elektrolytische Theorie des elektrischen Geschmacks“ führte zuerst schon Volta den später vielfach (auch von Rosenthal) bestätigten Versuch ins Feld, bei welchem als Anode eine alkalische Flüssigkeit dient, in die man die Zunge eintaucht, ohne daß dadurch das Auftreten sauren Geschmacks verhindert wird. Rosenthal (l. c.) ließ zwei Personen, die mit ‘je einer Hand einen Pol einer Batterie faßten, sich mit den Zungenspitzen berühren, und obwohl nun die dünne Flüssigkeitsschicht zwischen den beiden !) Arch. f. d. ges. Physiol. 49, 1891. — ?) Gilberts Ann. d. Physik. 7, 1801 und 19, 185. — °) Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abteil., 1866. — *) Arch. f. d. ges. Physiol. 20, 111, 1879. — °) Journ. of.Physiol. 13 (1892). — °) Arch. f.d. ges. Physiol. 66 (1894). — 7) Ritter gibt an, daß bei sehr starken Strömen die Ver- teilung der beiden Geschmacksarten sich umkehre. Andere Forscher konnten dies nicht bestätigen. — °) Versuche über die gereizten Muskel- u. Nervenfasern usw. I, Posen u. Berlin 1797. 632 Elektrischer Geschmack. feuchten Zungen nicht gleichzeitig sauer und alkalisch schmecken konnte, hatte die eine Person sauren, die andere alkalischen Geschmack, je nach der Stromes- richtung in ihren Zungen. Rosenthal brachte ferner auf die Zunge schwach blaues Lackmuspapier und setzte auf dieses die Anode: saurer Geschmack wurde wahrgenommen, obgleich das Papier sich nicht rötete. In Wahrheit beweisen diese Versuche nichts gegen die elektrolytische Theorie. Valentin!) hob schon hervor,.daß der letzterwähnte Rosen- thalsche Versuch nur beweise, daß das Geschmacksorgan empfindlicher reagiert als das Reagenzpapier. Hermann?) betonte späterhin mit vollem Rechte, daß es sich keineswegs nur um Elektrolyse des Speichels handeln müsse, sondern daß auch innerhalb des Gewebes selbst, wo Substanzen ver- schiedener Leitungsfähigkeit aneinander grenzen, Elektrolyse eintreten kann und muß, demnach auch sehr wohl innerhalb der Geschmacksknospen. Bemerkenswert ist vor allem ja auch die von Valentin in diesem Zu- sammenhang hervorgehobene Tatsache, daß gerade solche Sensationen bei der Galvanisierung der Zunge auftreten, die den hypothetischen Elektrolyten entsprechen würden. Das ist nun allerdings nur mit Vorbehalt zu behaupten, denn die Empfindung am negativen Pol hat einen recht komplizierten, schwer definierbaren Charakter. Unzweifelhaft werden an der Kathode neben Geschmackseindrücken stechende und brennende Empfindungen ausgelöst, deren schwierige Abgrenzung gegenüber dem Geschmack sich hier wieder einmal eklatant zeigt. Mir erscheint die Kathodenreizung an der Zungenspitze sehr ähnlich der Reizwirkung bei punktförmiger Betupfung mit einer etwas starken Lauge. Der charakteristische laugige Geschmack im letzteren Falle tritt offenbar erst bei Diffusion und Abschwächung des Reizes auf. Bei der gal- vanischen Reizung fällt dieses Moment natürlich weg, und so könnte man nach der Qualität der Empfindung bei den beiden Reizungsarten sehr wohl die elektrolytische Theorie befriedigend finden. Es muß aber bedacht werden, daß die Empfindung bei der Laugenreizung, solange sie punktförmig ist, sehr wenig charakteristisch gerade für das Alkali ist und alle möglichen anderen Arten von „scharfen“ Stoffen eine sehr ähnliche Empfindung erzeugen. Hermann und Laserstein nennen den Kathodengeschmack „deutlich laugenhaft, etwas bitterlich“, Hofmann und Bunzel vergleichen ihn zwar auch mit demjenigen der bitterlich schmeckenden, verdünnten Kalilaugen, finden aber hier wie dort das eigentlich Laugenhafte nicht so deutlich aus- geprägt wie beispielsweise bei Sodalösung. Shore hinwiederum findet in der 10proz. Sodalösung den passenden Vergleich. Von Hofmanns und Bunzels Untersuchngen möge hier noch erwähnt ‚werden, daß die Autoren am Zungengrunde die bittere Empfindung (an der Kathode) reiner fanden als an der Spitze, und zwar auch bei großer Strom- dichte, die an der Zungenspitze stechende Empfindungen bewirkt. Der Anodengeschmack bekommt am Zungengrunde metallischen Beigeschmack, bei stärkerer Reizung mit Ekel verknüpft. Seit langem weiß man, daß der galvanische Strom auf das Geschmacks- organ als Dauerreiz wirkt und Stromschwankungen die Empfindung nur !) Versuch einer physiol. Pathol. der Nerven, 1864. — *) Grundriß der Physiol., 4. Aufl. 1872, 8. 337. Elektrischer Geschmack. 633 ‘unerheblich, wenn überhaupt, verstärken; bei der Stromöffnung hatte Ritter Umkehr des Geschmacks gefunden. Die Richtigkeit dieser Beobachtung wurde von Rosenthal bestritten, von v. Vintschgau mit gewissen Einschränkungen wieder bestätigt. Für Hofmann und Bunzel ist, wie auch für mich, der Kathodenöffnungsgeschmack deutlich sauer, dabei stärker als der Kathoden- schließungsgeschmack (Shore). Er tritt schon bei Strömen auf, die bei der ‘ Schließung überhaupt keine Empfindung erzeugen (von v. Vintschgau schon gelegentlich beobachtet). Am Zungengrunde finden Hofmann und Bunzel im Ka 0e-Geschmack eine deutliche Süßkomponente. Süßer Geschmack tritt an dieser Stelle auch als Nachgeschmack nach Alkali-Reizung auf. Auch Öhrwall!) fand an der Kathode süßen und bitteren Geschmack. Die für Geschmack unempfind- lichen Partien ergeben auch keinen elektrischen Geschmack. Wohl aber tritt, wie Hermann fand (I. c.), bei Aufsetzung der Kathode auf die un- empfindliche Region an den Rändern der Zunge der saure „Gegen- geschmack“ auf, infolge der Bildung sekundärer Elektroden. Bitterer oder laugenhafter Gegengeschmack bei Anodenapplikation existiert nicht. Cocainisierung der Zungenschleimhaut, die den Geschmack (bei Hermann) völlig aufhebt, vernichtet auch den elektrischen Geschmack. Hofmann und Bunzel bestätigten dieses, fanden aber außerdem ein weiteres Stadium der Cocainwirkung, in welchem nur der bittere Geschmack aufgehoben ist; in diesem Stadium erzeugte ein Strom, der deutlichen Ka Oe-Geschmack machte, keine Spur einer KaS-Empfindung. Die Cocainversuche ergaben im KaS- Geschmack hiernach das Vorhandensein einer bitteren Komponente, ent- sprechende Versuche mit Gymnema-Anästhesie eine süße Komponente im Ka Oe-Geschmack. Die Folgerungen für die Theorie des elektrischen Geschmacks, die aus den erwähnten Tatsachen gezogen werden können, sind bis jetzt noch unbefrie- digend.. Hermann hat sich auf Grund der Lasersteinschen Versuche für die elektrolytische Theorie entschieden, muß also den Ka Oe-Geschmack als eine Art Kontrasterscheinung auffassen, Hofmann und Bunzel finden in dem Vorhandensein eines Ka0e-Geschmacks bei fehlendem KaS- Geschmack ein starkes Bedenken und wollen neben der adäquaten Er- regung durch Elektrolyte die direkte Erregung der Nervenfasern durch den Strom zur Erklärung der komplizierten Erscheinungen heranziehen, betonen übrigens, meines Erachtens sehr mit Recht, daß die vorliegenden Daten eine völlig befriedigende Erklärung noch nicht ergeben. Sicher ist, daß man in dem Nachweis der Bitterkomponente im KaS-Geschmack ein Argument gegen die elektrolytische Theorie nicht finden kann, da reines Alkali unter Umständen auch nur rein bitteren Geschmack erzeugt. Eben- sowenig kann das Auffinden einer Süßkomponente im Ka 0e-Geschmack für direkte Erregung von „Süßfasern* gedeutet werden. Auch Alkaligeschmack ‚enthält unter Umständen eine Süßkomponente, ich erinnere an die Kiesowsche Beobachtung?) des laugenhaften Mischgeschmacks bei Mischung von Süß und Salzig; ob der süße Nachgeschmack nach Kalilauge eine Kontrasterschei- }) Skandin. Arch. f. Physiol. 2, 63, 1891. — °) Philos. Studien von W. Wundt, 12 (196). 634 Elektrischer Geschmack. nung ist, muß zum mindesten zweifelhaft genannt werden, wahrscheinlicher ist es, daß in der Nachwirkung eine Komponente zum Vorschein kommt, die vorher durch die bittere übertönt war (bitterer Geschmack bleibt als lange haftender Nachgeschmack nur bei gewissen Stoffen, nicht nach Reizung mit _Bittersalz!). ® Die Angaben von Öhrwall!) über Reizungen von einzelnen Papillen sind zu unbestimmt, um irgend welche Schlüsse für die hier interessierenden Fragen zu gestatten; auch Kiesow ?) scheint bei seinen Reizungen einzelner Papillen nichts Klares gefunden zu haben. Jedenfalls liegt in den bisher erwähnten Beobachtungen nichts, was die elektrolytische Theorie ausschlösse. Direkt für diese sprechen Versuche, die v. Zeynek?) neuerdings angestellt hat; sie ergaben, daß der elektrische Geschmack sich mit zunehmender Stromspannung in der Art ändert, wie es bei Voraussetzung elektrolytischer Wirkung erwartet werden konnte. Lag die Kathode an der Schmeckfläche, so entstand bei der Spannung 0,7 Volt eine unbestimmte, bei 1,5 Volt eine „herbe, wenig alkalische“, bei 2 Volt eine deutlich laugenhafte Empfindung. Etwa bei 1,08 Volt lag der Zersetzungspunkt der Hydroxylionen, bei 1,45 derjenige der Kaliumionen. Analog waren die Verhältnisse bei Anodenreizung. Erwiesen scheint mir, daß die Nervenfasern in der Zunge nicht auf jeden wirksamen Reiz mit einer spezifischen Geschmacksqualität reagieren, sondern die Qualität, in der sie reagieren, durch die Beschaffenheit des End- organs (der Geschmacksknospen) und in gewissem Maße natürlich auch des Reizes bestimmt ist. Wahrscheinlich funktionieren die „Schmeckzellen* als Überträger für den adäquaten wie auch für den inadäquaten (elektrischen) Reiz, indem letzterer durch elektrolytische Vorgänge in den adäquaten über- geführt wird. Weiter unten (S. 641f) komme ich in anderem Zusammenhange auf die spezifische Energie und Disposition der Geschmacksorgane zurück. Mechanische Reize scheinen die Geschmacksorgane nicht erregen zu können. Nach verschiedenen älteren Angaben (Valentin, Wagner, v. Vintschgau) soll allerdings Druck auf die Zunge oder leises Klopfen auf die Zungenspitze (Baly*) Geschmacksempfindungen auslösen. Ob es sich hier um wirkliche mechanische Reizung der Geschmacksnerven handelt, ist mir sehr zweifelhaft. Ich habe übrigens, wenn ich die Zunge aus dem Munde herausgestreckt halte, fast regelmäßig verschiedenartige Geschmacks- sensationen. Kiesow°) fand bei mechanischer Reizung einzelner Papillen mit Holzstäbehen keine Wirkung auf den Geschmackssinn. V. Gustometrie und Saporimetrie. Die Messung der Empfindlichkeit des Geschmacksorgans für seinen ad- äquaten Reiz möge in Analogie zur Bezeichnung Olfactometrie als Gusto- metrie bezeichnet werden, die vergleichende Messung der Reizwirkung ver- schiedener Schmeckstoffe als Saporimetrie (entsprechend der Odorimetrie). ') Skandin. Arch. f. Physiol. 2 (1891). — *) Philos. Studien von W. Wundt 14 (1898). — ®) Zentralbl. f. Physiol. 13 (1898). — *) Übersetzung von Müllers Physiol. Anm. $. 1062 (zitiert nach v. Vintschgau). — °) Philos. Stud. von W. Wundt 14, 614, 1898. Gustometrie, Saporimetrie. 635 Bei der Gustometrie wird die Reizintensität des verwendeten Schmeckstoffes als bekannt und konstant vorausgesetzt und die Empfindlichkeit des Sinnes- organs für denselben geprüft; bei der Saporimetrie nehmen wir die Empfind- lichkeit des normalen Geschmacksorgans als etwas fest Gegebenes und prüfen vergleichend die Reizwirkung verschiedener Substanzen. Die Prüfung ge- schieht hier wie bei anderen Sinnesorganen nach dem Prinzip der Schwellen- bestimmung, d. h. wir bestimmen den eben merklichen Reiz, in dem speziellen Fall des Geschmackes die eben merkliche Konzentration eines Stoffes in einem bestimmten Flüssigkeitsguantum, das in den Mund gebracht wird, oder die absolute Gewichtsmenge einer Substanz, die mit dem Geschmacks- organ in Berührung gebracht werden muß, damit Geschmacksempfindung zustande kommt. Rationelle Saporimetrie sowohl wie Gustometrie hat zur Voraussetzung genaue Kenntnis der Wirkungsbedingungen des adäquaten Geschmacksreizes. Abgesehen von der Menge der reizenden Substanz bestimmt den Reiz- erfolg: 1. die Größe der gereizten Schleimhautfläche, 2. die Dauer der Ein- wirkung des Reizes, 3. die Temperatur der Schleimhaut und der reizenden Substanz, 4. der Erregbarkeitszustand des Sinnesorgans bzw. des gesamten Nervensystems. Die Angaben über die zur Erregung des Geschmackssinnes nötigen Sub- stanzmengen und Konzentrationen sind sehr schwankend, hauptsächlich wohl weil die verschiedenen Untersucher verschiedene Prüfungsmethoden an- wandten, außerdem aber wahrscheinlich wegen der erheblichen individuellen Differenzen der Erregbarkeit. Die älteren Angaben findet man bei v. Vintschgau zitiert, die neueren recht vollständig bei Zwaardemaker!) und Marchand?). Die neueren Untersuchungen bestätigen eigentlich nur, was Valentin) 1.J.1848 schon gefunden hatte. Ich gebe einige Zahlen nach Valentin (den Gehalt in Prozent umgerechnet). Gesamtmenge | Absoluter d.geschmeckten| Gehalt der B Gehalt Flüssigkeit Lösig emerkungen Proz. ccm g Zucker. 1,2 20 0,240 eben erkennbar Kochsalz: .....1 : 0,4 | 45 0,007 deutlich, aber schwach Schwefelsäure . . 0,2 12 0,027 äußerst schwach (wasserfrei) . - 0,001 _ — eben erkennbar, | nicht deutlich | 90001 _ _ Chininsulfat . . . | 0,003 — = deutlich | 0,0001 — — höchstens eine Spur u Man erhält also verschiedene Schwellen, wenn man eine bestimmte Substanzmenge in verschiedenen Mengen Wasser löst. Eine kleine Menge !) Zusammöänfassendes Referat in Ergebn. d. Physiol. 2, 2, 1903. — ?) Le goüt. Paris 1903. — °) Lehrbuch d. Physiol. d. Menschen 2, (2), 301, 1848. 636 Schwellenwerte des Geschmacks. konzentrierter Lösung ergibt niedrigere Schwellenwerte als Lösung derselben Menge in einer größeren Portion Wasser. Demgemäß schwanken auch die Angaben der neueren Autoren je nach der Menge des Lösungsmittels, die sie verwandten. Ich gebe noch einige Zahlen über die absoluten Mengen der Schmeckstoffe, die nach neueren Autoren eben zur Erregung der Ge- schmacksempfindung hinreichen. Zucker: 3mg (Venables!), 58 (Heymans?). Kochsalz: img (Venables!),, 3 (Höber und Kiesow?°), 25 (Heymans?2), 36 (Kahlenberg). Schwefelsäure: 0,4mg (Öhrwall,]. c.). Chinin. hydrochlor.: 0,04 (Heymans?). Bei diesen Schwankungen haben die absoluten Zahlen begreiflicherweise geringen Wert. Die Autoren, die hohen Schwellenwert angeben, haben meistens größere Flüssigkeitsmengen angewandt. Besonders hochgradig ist die Empfindlichkeit für den bitteren Geschmack des Strychninsulfats. Lombroso und Ottolenghi’) fanden, wenn sie 0,5 ccm einer 0,001 proz. Lösung an- wandten, noch Geschmacksempfindung. Das wäre 0,005 mg als wirksame Menge. Besonders eingehende Untersuchungen hat Camerer) über die Grenzen der Schmeckbarkeit des Chlornatriums unter verschiedenen Bedingungen angestellt; er reizte auch schon einzelne Papillen und fand eine Lösung mit 0,0062g NaCl wirksam, mit 0,0021 schon unwirksam. Die minimale Menge C1Na, die bei Betupfen einer pilzförmigen Papille mit einem Kristall ausreicht, um die Empfindung des Salzigen hervorzurufen, schätzt Camerer auf weniger als 0,0024 mg. Der Einfluß der Größe der gereizten Zungenoberfläche ergibt sich eben- falls aus Versuchen von Camerer. Die Zahl der richtigen Urteile beim Vergleich einer salzhaltigen und einer salzfreien Flüssigkeit nahm merklich zu, je mehr Papillen gereizt wurden. Bezüglich des Einflusses der Temperatur der Lösungen auf die Feinheit des Geschmacks hatte Camerer gefunden, daß ein Optimum bei Tempe- \/ raturen zwischen 10 und 20° zu finden sei. Kiesow’) findet dagegen, daß £ Fa bei allen Temperaturen, ®&f”‘denen kein Wärme- oder Kälteschmerz auftritt, die Empfindlichkeit dieselbe bleibt; andererseits bestätigte Kiesow, wie auch schon früher Guyot°), den alten E. H. Weberschen Versuch ?), der beweist, daß nach starker Abkühlung oder Erwärmung die Zunge zunächst unempfind- lich für Geschmackseindrücke ist. Nach Behandlung mit Eis oder Wasser von 50 bis 51° ist für etwa 10 Sekunden die Zunge selbst für starke Geschmacksreize unempfindlich. Nur der saure Geschmack wird durch Wärme gar nicht, durch Kälte fast gar nicht beeinträchtigt. Kochsalz schmeckt bei dieser künstlich erzeugten Geschmacksstörung zuerst sauer, erst allmählich kommt der spezifische Geschmack zum Vorschein. !) Chem. News, 1887. — °?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 21 (1899). — ®) Zeitschr. f. physik. Chem. 27 (1898). — *) Bull. ofthe Univ. of Wisconsin, 1898. — °) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 2 (1891). — °) Anz. f.d. ges. Physiol. 2 u. Zeitschr. f. Biol. 6 (1870). — 7) Philosoph. Studien v. W. Wundt 12 (1896). — ®) Compt. rend. 42 (1856). —°) J. Müllers Arch. £. Anat., Physiol. u. wissensch. Med. 1849. Schwellenwerte des Geschmacks. 637 Eine Trennung der generellen Schwelle (s. o. 3, 19) von der spezifischen Schwelle, bei welcher. erst die Qualität des Geschmacks erkannt wird, ist entschieden zu konstatieren, wenn auch die beiden Schwellen in der Regel nicht weit auseinanderliegen; immerhin ist die Erscheinung wesentlich deut- licher als beim Geruchssinn, wo sie nur eben angedeutet ist. Mit steigender Reizintensität ändern sich alle Geschmacksarten, was zum Teil darauf beruhen wird, daß sich die Reizwirkung auf Tast- und Tempe- ratursinn allmählich einstellt, die nahe der spezifischen Geschmacksschwelle noch fehlt. Genügende Grundlagen für die Aufstellung einer Norm der Ge- schmacksschärfe und für gustometrische Untersuchungen an Kranken scheinen mir in den bisher veröffentlichten Versuchen nicht gegeben zu sein. Die Beobachtungen an pathologischen Fällen können daher bis jetzt nur eine geringe Genauigkeit erreichen. Größere Untersuchungsreihen an zahlreichen gesunden Personen wären zur Ausbildung einer gustometrischen Methodik sehr zu wünschen. Toulouse und Vaschide!) haben eine Boite gustato- metrique, d. h. eine Kollektion von Schmeckstoffen, angegeben, mit der aber noch nichts für unsere Zwecke Brauchbares erreicht worden ist. Zwaardemaker?) hat versucht, genau dosierte Geschmacksreize bequem zu applizieren, indem er Keile von Holundermark oder später von Gelatine (durch Formalindämpfe unlöslich gemacht) mit Schmeckstoffen tränkte und mit Doppelmesser verschieden große Scheiben ausschnitt, die im Munde dann ihren Schmeckstoff abgeben sollten; doch eignet sich die Methode nicht für lokalisierte Reizung. Neuerdings hat man die „Schmeckkraft“ verschiedener Substanzen von ähnlicher oder gleicher Geschmacksqualität verglichen, indem man von ihnen äquimolekulare Lösungen herstellte und deren Geschmacksintensität verglich. Richet und Gley°) haben für die Halogenverbindungen der Metalle Lithium, Kalium, Natrium, Rubidium die Schmeckbarkeitsschwellen unter gleichen Bedingungen festgestellt und gefunden, daß die Reizwirkung dieser Salze auf den Geschmack ungefähr dem Molekulargewicht proportional ist; gleiche Gewichtsmengen wirken sehr verschieden. Ähnliche Versuche hat, anschließend an Beobachtungen über die chemische Reizung der sensiblen und motorischen Nerven, Grützner) angestellt, der zunächst äquiprozen- tuale Lösungen der Haloidsalze verglich und hierbei das NaCl sehr viel wirksamer fand als NaBr und NaJ mit der kleineren Zahl von Molekeln. Äquimolekulare Lösungen von nahe verwandten Stoffen aber schmecken nahezu gleichartig, wenn auch nicht gleich. Bei stärkeren Verdünnungen bleibt das NaCl stets im Übergewicht. Chlorkalium, Chlorrubidium und | Chlorcäsium zeigen keinen erheblichen Unterschied. Äquimolekulare Lösungen von Mineralsäuren wirken deutlich verschieden, am sauersten ist die Schwefelsäure, dann folgen Salz- und Salpetersäure, zuletzt die Phosphor- säure. Mit Säuren hatte übrigens Corin’) schon in ähnlicher Weise !) Compt. rend. 130 (1901). Vgl. auch Marchand, Le goüt. — ?) Ned. Oto- laryng. Verein 1897. — °) Compt. rend. Soc. de biol. 1885, p. 742. — *) Arch. £ d. ges. Physiol. 53 (1892) und 58 (1894). — °) Arch. d. biolog. 8 (1888). 638 Anomalien des Geschmackssinnes. . experimentiert und dabei gefunden, daß bei dem gleichen Gehalt an Normal- säure (äquimolekulare Lösungen) die Säuren mit niedrigem Molekulargewicht am sauersten schmeckten. Seitdem man angefangen hat, die Dissoziation der Molekeln in den Lösungen zu berücksichtigen, sind auch verschiedene saporimetrische Unter- suchungen unter diesem Gesichtspunkte angestellt worden (Richards!), Kahlenberg 2), Höber und Kiesow°), Kastle*). Bei den Säuren sollen die H-Ionen, bei den Alkalien die Hydroxylionen für den Geschmack ver- antwortlich sein. Bei den Haloiden soll nach Höber und Kiesow die Kon- zentration der Anionen für die Schmeckbarkeitsgrenze maßgebend sein, ebenso bei Alkalilösungen. Die Geschmacksgrenze liegt für die Kalium-, Natrium- und Magnesiumsalze bei 0,020 bis 0,025 g-Ion pro Kilogramm Lösung. Für die Berylisalze fanden die genannten Autoren dagegen die Konzentration der Kationen entscheidend für das Auftreten des süßen Geschmacks. VI. Anomalien des Geschmackssinnes. Toxische Einflüsse. Angeborenes Fehlen des Geschmackssinnes ist meines Wissens nicht be- obachtet; auch kenne ich keine sicheren Fälle von angeborenen partiellen Defekten des Geschmackssinnes, bei denen das System der Geschmacks- empfindungen vereinfacht sein müßte. Unscharfe Trennung der Begriffe „salzig“ und „sauer“ ist nicht selten, scheint aber mehr auf einem Sprach- gebrauch zu beruhen als auf Sinnesstörung. Eine gewisse, eben angedeutete Ähnlichkeit zwischen den Empfindungen sauer und salzig bemerke übrigens auch ich. Pathologisch kommt Fehlen des Geschmackssinnes (Ageusie) häufig vor, auf Grund peripherer oder zentraler Erkrankungen, jenach deren Sitz einseitig oder doppelseitig, im ganzen Munde oder nur in einem Teil der sonst Geschmacksorgane tragenden Schleimhäute. Die Lähmung kann das Emp- findungsvermögen für die verschiedenen Qualitäten in ungleichem Maße be- treffen. Parageusie, Geschmacksempfindungen, die der Qualität des applizierten Reizes nicht entsprechen, treten besonders häufig bei zentralen Erkrankungen auf, als Einleitung zum Eintritt einer mehr oder weniger vollständigen Geschmackslähmung. In einem mir bekannten Falle ging der (einseitigen) Geschmackslähmung ein Zustand voraus, in dem auf der kranken Seite alles salzig schmeckte. Das Vorkommen wirklicher Geschmackshalluzinationen bei Geistes- ‚gesunden scheint nicht nachweisbar zu sein. Bei Hysterischen ist partielle oder totale Aufhebung des Geschmacks sehr häufig 5). Experimentell läßt sich das System der Geschmacksempfindungen durch _ verschiedene toxische Einflüsse reduzieren, so vor allem durch die Gymnema- säure, einen Stoff, der in den Blättern der indischen Asclepiade® Gymnema' silvöstre enthalten ist. Kaut man diese Blätter, so wird, wie Edgeworth !) Americ. ehem. Journ. 20 (1898) und Journ. Phys. Chem. 4 (1900) nach Sternberg zit. — ?) Bull. Univers. Wisconsin 2 (1898). — °) Zeitschr. f. physik. Chem. 27 (1898). — *) Americ. chem. Journ. 20 (1898). — °) Vgl. Binswanger, Die Hysterie. Wien 1903. Qualitäten des Geschmacks. 639 fand und Hooper!) zuerst genauer feststellte, der süße und der bittere Geschmack völlig aufgehoben. Shore?) erzeugte die gleiche Wirkung durch Bepinselung der Zunge mit 2proz. Lösung von Natrium gymnemicum. Die Wirkung dauert stundenlang; Zucker und Chinin erscheinen völlig geschmack- los, saure und salzige Geschmäcke werden unverändert wahrgenommen. Cocain?) und Eucain B,t) heben zwar bei intensiver Einwirkung den Geschmack in allen Qualitäten gänzlich auf (v. Anrep), bei schwächerer Einwirkung zeigen indessen auch sie eine elektive Wirkung, indem sie den bitteren Geschmack zuerst und am stärksten beeinträchtigen. Nach Lewin) enthalten die Blätter von Eriodietyon glutinosum in der Eriodietyoninsäure ebenfalls einen Stoff, der die Bitterempfindung aufhebt. Vo. Die Qualitäten der &eschmacksempfindung. Von Geschmacksqualitäten lassen sich vier mit Sicherheit unterscheiden: süß, sauer, bitter und salzig. Das Ölige, Aromatische, Brennende, Zu- sammenziehende und ähnliche Empfindungsqualitäten gehören anderen Sinnen zu, teils dem Geruchssinn, teils dem Tast- und dem Temperatursinn. Unentschieden ist es zurzeit noch, ob das Laugenhafte (Alkalische) und das Metallische besondere Geschmacksqualitäten darstellen. Beide sind allerdings von den oben genannten Qualitäten leicht zu unterscheiden und beruhen sicher wenigstens teilweise auf Reizung des Greschmackssinnes. Unsicher bleibt aber zunächst, ob das Metallische und Laugige nicht Misch- empfindungen sind. Die Beobachtung Kiesows’), daß Mischungen von Süß und Salzig in geringer Intensität die Empfindung des „Faden“ geben, ähnlich einer stark verdünnten Lauge, beweist weder etwas für noch gegen die Existenz des Laugenhaften als einer besonderen Geschmacksqualität. Die bis jetzt ermittelten Tatsachen scheinen mir ein sicheres Urteil über die Frage, ob außer den bekannten vier Geschmacksqualitäten noch weitere anzunehmen sind, nicht zu ermöglichen. Unzweifelhaft sind in den Empfindungen des Metalli- schen und des Laugenhaften einzelne der sicher festgestellten Qualitäten ent- halten, im Metallischen das Saure und Süße, im Laugenhaften das Bittere und vielleicht ebenfalls das Süße; in beiden Fällen mischen sich Sensationen bei, die dem eigentlichen Geschmackssinn nicht zugehören, z. B. dem metallischen Geschmack das Zusammenziehende, dem Laugenhaften das Brennende oder das Schlüpfrige, oder beides zusammen. Manche Alkalien, wie reine, stark verdünnte Kalilauge, er- zeugen auf der unbewegten Zunge wenigstens vorübergehend einen rein bitteren Geschmack. Zu beachten ist, daß sowohl Alkalien wie metallische Substanzen auch charakteristische Geruchsempfindungen auslösen, allerdings, wie ich glaube, nicht diereinen Alkalien und Schwermetallsalze. Sicherlich gibt es einen „metallischen Geruch“, der allerdings keine einheitliche Qualität darstellt, sondern z. B. für Kupfer- und Eisenverbindungen deutlich verschieden ist. Inwieweit solche Geruchseindrücke und die gleichfalls recht wechselnden Tastempfindungen für die Eigenartigkeit der Empfindungen des Metallischen und Laugenhaften bestimmend ‚sind, muß weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. ») Nature 35, 565, 1887. — ?) Journ. of Physiol. 13 (1892). — ®) Knapp, Arch. f. Augenheilk. 15 (1885) und Deutsche med. Wochenschr.' 1886, ferner Addueco und Mosso, Giorn. R. Accad. med. 1886. — *) Fontana, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 28 (1902). — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 21 (1880). — 6) Berliner klin. Wochenschr. 1894, Nr. 28. — 7) Philosoph. Studien von W. Wundt. 640 ; Qualitäten des Geschmacks. Die älteren Forscher rechneten das Ekelhafte meistens als besondere Geschmacksqualität. Dieser Begriff ist allerdings recht unbestimmt; meistens wird jetzt das Wort ekelhaft in einem übertragenen Sinne verwandt, in welchem es zum Geschmack entschieden keine Beziehung mehr hat. Richtig ist, daß mechanische und auch starke elektrische Reizung des Zungengrundes eine eigentümliche Wirkung hat. Neben der Neigung zu Würgbewegungen treten ungewöhnliche, unangenehme Empfindungen auf. Ich glaube, man sollte eher von einem Ekelgefühl als von einer Ekelempfindung reden. Die Teilung der Geschmacksarten in „reine“ und solche, denen Empfin- dungen aus dem Gebiete anderer Sinne beigefügt sind, entbehrt jeder Be- deutung, ebenso wie die entsprechende Einteilung der Gerüche. Keinerlei Geschmacksart hat stets etwas Scharfes oder Brennendes an sich; darum er- scheint es nicht hinreichend motiviert, wenn manche Autoren (Zenfieck, Valentin, Duval u. a.) das Salzige oder das Saure oder alle beide Geschmacksarten als nicht zum eigentlichen Geschmackssinn gehörig rechnen wollten. Ebenso unrichtig ist es z. B., wenn man den Eindruck, den das Ammoniak macht, nicht als Geruch gelten lassen will. Süßer Geschmack ist sehr häufig von verschiedenartigen Nebenempfindungen begleitet (brennende, scharfe, schlüpfrige. Es macht sich bei dieser Frage die oben (S. 631) hervorgehobene Tatsache sehr bemerklich, daß wir keineswegs durch die . „spezifischen Energien“ der Geschmacksnerven einerseits, der Tastnerven anderseits in den Stand gesetzt werden, echte Geschmacksempfindungen und deren verschiedenartige Begleitempfindungen aus dem Gebiet des Tast- (und Temperatur-)sinnes und des Schmerzes reinlich zu trennen. Nach der Empfindungsqualität gehen die Geschmacksempfindungen und die sonstigen auf der Zunge auslösbaren Empfindungen ohne scharf erkennbare Grenze in- einander über, und nur das besonders angeordnete physiologische Experiment vermag eine Sonderung dieser Sinne einigermaßen überzeugend aufzudecken und damit dem Gesetz der spezifischen Energien auch für die hier in Betracht kommenden sog. niederen Sinne wenigstens eine relative Geltung zu ver- schaffen. Von Interesse ist, daß, wie oben schon erwähnt, die Begriffe sauer und salzig nicht von allen Menschen scharf auseinandergehalten werden. In manchen Ge- genden Deutschlands nennt die Landbevölkerung das Salz sauer. Auch Kinder verwechseln oft sauer und salzig. Man beachte, daß das Eigenschaftswort salzig anders gebildet ist wie süß, sauer und bitter, ähnlich wie die vom Ungebildeten und vom Kind nicht besonders benannten Farbentöne Orange und Violett an- dersartige Namen haben als die „Prinzipalfarben“ Rot, Gelb, Grün, Blau. Altere Autoren rechneten verschiedene Mischempfindungen von Geruch und " Geschmack oder auch reine Gerüche zu den Geschmacks-Arten und sprachen von aromatischem, fauligem Geschmack usw. Den Versuch, durch den man die Geruchskomponente leicht ausschließt — Zuhalten der Nase beim Schmecken — gab Chevreul 1824 an!). Als „faden“ Geschmack bezeichnete Henle?) den Eindruck, den Lösungen bewirken, die ärmer an Salz sind als der Speichel. Öhrwall (l. e.) meint, den Eindruck des „Faden“ habe man, wo man Geschmack erwartet und keinen findet. So schmecke destilliertes Wasser fade wegen des Mangels !) Journ. de physiol. experim. 4, Paris 1824. — *) Anthropolog. Vorträge 2, 18, 1880. die 2 a Ale — ua a ee Se Zu a ee Spezifische Energien des Geschmacks. 641 an CO,. Der Vergleich Öhrwalls mit der Schwarzempfindung, die ebenfalls wegen des Fehlens einer erwarteten Empfindung unangenehm sein soll, ist gewiß kein glücklicher. VIII. Die spezifische Disposition der einzelnen Geschmacks- papillen. Die spezifische Energie der Geschmacksnerven. Oben wurde schon erwähnt, daß die Zone des Zungenrückens, die zum Schmecken nicht befähigt ist, verschieden groß gefunden wird, je nach der Art des Schmeckstoffs, mit der man reizt. Weiter geht aus Untersuchungen, die zuerst von Horn!) und von Picht?) systematisch angestellt wurden, hervor, daß die Empfindlichkeit für Bitterstoffe am größten am Zungengrunde, für andere Stoffe größer an der Zungenspitze und den Rändern ist, ferner daß ein und derselbe Stoff an verschiedenen Zungenstellen verschieden schmecken kann, z. B. an der Spitze süß, am Grunde bitter. Diese letztere Erfahrung ist durch neuere Erfahrungen (vgl. z. B. Sternberg, Arch. £. Physiol. 1898 und 1903) so erweitert worden, daß man fast sagen kann, alle Substanzen erzeugen je nach der Applikationsstelle verschiedenen Ge- schmack. Öhrwall?) hat die interessante, von Goldscheider und Schmidt), sowie von Kiesow°) bestätigte Beobachtung gemacht, daß die einzelnen Zungenpapillen sich verschieden gegen die verschiedenen Geschmacksarten verhalten. Von 125 Papillen besaßen 27 überhaupt kein Schmeckvermögen; von den übrigen 98°; reagierten 91 auf” Weinsäure, 79 auf Zucker, 7L,auf Chinin. 12 reagierten nur auf Weinsäure, 3 nur auf Zucker, keine nur auf Chinm. Ganz ähnlıch fand Kiesow die Verhältnisse. Wenn man auf Grund dieser Befunde nun auch bestimmt sagen kann, daß nicht jede Papille für je eine Geschmacksreizart spezifisch disponiert ist, so geht doch daraus hervor, daß die Papillen in funktioneller Hinsicht große Verschiedenheiten zeigen. Es ist keine unwahrscheinliche Annahme (die Öhrwall aus diesen Versuchen herleitet), daß die einzelnen Geschmacksknospen spezifisch verschiedene Emp- ‚fänglichkeit für die Geschmacksreize haben, so daß beispielsweise einzelne Knospen nur auf Reizung mit Zucker, andere nur auf Chinin ansprechen usw. Um die Öhrwallschen Befunde zu erklären, muß dann die Hilfsannahme gemacht werden, daß eine Papille bald süßempfindliche und sauerempfind- liche, bald sauer- und bitterempfindliche Knospen enthalte usf., und daß es gewissermaßen zufällig nur dahin kommt, daß einmal die Knospen in einer Papille alle von einer spezifischen Disposition sind. Wie ich schon oben (3, 10 ff.) auseinandergesetzt habe, folgt aus dieser an und für sich plausiblen Hypothese nicht, daß den viererlei spezifisch verschieden dispo- nierten Geschmacksknospenarten nun auch viererlei Geschmacksfaserarten mit ver- schiedener spezifischer Energie entsprechen (wie man in mißverständlicher Durch- führung des Gesetzes der spezifischen Energien annehmen zu sollen geglaubt hat), sondern im Hinblick auf die Verhältnisse bei anderen Sinnen, namentlich dem Ge- sichtssinn, erscheint es richtiger, anzunehmen, daß die Geschmacksnervenfasern je © A ‘») Über den Geschmackssinn des Menschen. Heidelberg 1825. —-*).De gustus et olfactus nexu etc. Berlin 1829. — °) Skandinav. Arch. f.- Physiol. 2 (1891). — *) Zentralbl. £. Physiol. 4. — °) Philosoph. Studien von W. Wundt 14 (1898). Nagel, Physiologie des Menschen. III. | 4 642 Geschmackskontrast. nach der Art ihrer peripheren Erregung Süß- oder Bitterempfindung usw. auslösen. Daß eine Lingualisfaser Geschmacksempfindung im allgemeinen vermittelt, rührte nach dieser Auffassung davon her, daß ihre zentrale Endigung in dem Geschmacks- zentrum liegt; welche von den verschiedenen Geschmacksqualitäten sie dagegen vermittelt, hinge davon ab, welche spezifische Disposition die Geschmacksknospe hat, die das periphere Endorgan jener Faser darstellt. Man kann fragen, was für eine Bedeutung bei einer solchen Annahme die verschiedene spezifische Disposition der Endorgane noch haben sollte. Ich denke mir, neben den Eigenschaften, die ein Endorgan (hier wäre an die Schmeckzellen zu denken) haben muß, damit es auf die Einwirkung bitterer Stoffe sicher anspricht, werden nicht leicht auch die ° für die Wirkung saurer und süßer Stoffe günstigen Eigenschaften in gleicher Vollkommenheit entwickelt sein können'). Die Arbeitsteilung unter den Endorganen (Sinnessubstanzen) wird also immerhin begreiflich, auch wenn der Sinnesnerv, wie ich es annehme, mancherlei verschiedene Erregungsformen leiten kann. Es ist hier noch daran zu erinnern, daß in den Tatsachen der elektrischen Geschmacksreizung kein Beweis für die Annahme von viererlei mit verschiedenen spezifischen Energien begabten Geschmacksfaserarten zu finden ist, sondern diese Tatsachen mit der hier vertretenen Anschauung besser im Einklang stehen. IX. Umstimmungs- und Kontrasterscheinungen. In gewissem Sinne können schon die Wirkungen des Cocains auf das Geschmacksorgan als Umstimmungserscheinungen aufgefaßt werden; das bitter schmeckende Alkaloid hebt die Fähigkeit, Bitteres zu schmecken, für einige Zeit auf. Andere Bitterstoffe haben diese Wirkung aber lange nicht in diesem Maße, darum muß in der Cocainwirkung eine spezifische Lähmung der Nerven- endorgane gesehen werden, die mit dem bittern Geschmack des Stoffes an sich vielleicht nichts zu tum hat. Man kennt indessen auch echte Umstimmungserscheinungen. Eine der ausgeprägtesten beobachtet man nach Ausspülung des Mundes mit Kalium- chlorat, das selbst nur einen schwachen Geschmack von komplizierter Be- schaffenheit besitzt, aber das Geschmacksorgan so umstimmt, daß danach genommenes reines Wasser süß schmeckt (Nagel?). Frentzel?) fand, daß Ausspülen des Mundes mit Kupfersulfat den Zigarrenrauch süß schmeckend macht. Das gleiche fand ich bei Ausspülung mit Kaliumpermanganat. Sehr interessant ist eine Beobachtung, die Zuntz*) mitteilt. Kochsalz- lösung von 0,1 Proz. kann nicht mehr sicher von reinem Wasser unter- schieden werden, macht aber den süßen Geschmack des Zuckers (in 12 proz. Lösung) deutlich intensiver. Auch Chinin in einer eben überschwelligen Konzentration wirkt so. Ähnliche Wirkungen beobachtete Heymans)). Kontrasterscheinungen im Gebiete des Geschmackssinns sind mehrfach beschrieben worden. Zum Teil würden die betreffenden Beob- achtungen aber besser unter der Bezeichnung „Umstimmungserscheinungen* registriert. Die Beobachtung von Adducco und Mosso6®) z. B., daß die !) Ich nehme dabei an, daß keine Notwendigkeit für die Voraussetzung einer ganz exklusiven Disposition der Knospen für eine Reizart besteht, sondern vielleicht alle Knospen auf alle Geschmacksreize, aber in sehr ungleichem Maße, reagieren. Dies wäre mit Öhrwalls Ergebnissen nicht unvereinbar. — ?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 10 (1896). — °) Zentralbl. f. Physiol.10 (1897). — *) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1892. — °) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 21 (1899). — °) Giorn. R. Accad. med. 1886. rd Geschmackskompensation. 643 Zunge nach Eintauchen in verdünnte Schwefelsäure Wasser als süß schmeckend empfindet, reiht sich wohl eher der oben beschriebenen Wirkung des Kali chloricum an; die genannten Autoren geben selbst an, daß’ andere Säuren nicht dieselbe Wirkung haben. Nicht leicht zu beurteilen ist die allbekannte Erfahrung, daß säuerliche Getränke viel saurer als gewöhnlich schmecken, wenn zuvor Süßes genossen wurde, was schon J. Müller!) als Beispiel eines Geschmackskontrastes anführt. Öhrwall?) denkt hierbei wohl nicht mit Unrecht mehr an eine Umstimmung des Gefühlstones, d. h. er nimmt an, daß nach dem Süßen das Saure unangenehmer empfunden wird als ohne diese vorherige Einwirkung. Im Experiment mit successiver Einwirkung von starker Zuckerlösung und verschiedenen schwachen Lösungen von Schwefelsäure konnte Öhrwall nicht nur kein Sinken der Schwelle für Sauer feststellen, sondern sogar eine merkliche Erhöhung. Dies stimmt auch mit meinen Erfahrungen überein. X. Mischungs- und Kompensationserscheinungen. Wie beim Geruchssinn wird den Mischungs- und Kompensationserschei- nungen auch beim Geschmackssinn eine gewisse theoretische Bedeutung zu- geschrieben, weil die Hypothesen über die Komponentengliederung der Sinne mehrfach gerade durch Erfahrungen über Effekte mehrerer gleichzeitiger Reizwirkungen bestimmt worden sind. Dies prägt sich z. B. auch darin aus, daß Öhrwall°), der am entschiedensten für die Zerlegung des Geschmacks- sinns in vier, durch spezifische Energien geschiedene „Sinne“ eintritt, das Zustandekommen von Kompensationen zwischen verschiedenen Geschmacks- arten bestreitet. Für die Möglichkeit einer Kompensation von Geschmacks- eindrücken ist schon Brücke) eingetreten, den tatsächlichen Nachweis der gegenseitigen Abschwächung von Geschmacksreizen bis fast zum Erlöschen einer Empfindung hat Kiesow) geliefert. Mischungen von, Zucker und. Kochsalz in schwachen Lösungen ergaben ihm bei einem bestimmten Mischungs- v is sehr schwachen, laugig faden Geschmack, der weder an süß noch an salzig erinnerte. Es tritt also eine neue Mischempfindung auf, unter Abschwächung der gesamten Empfindungsintensität. Die Verhältnisse liegen hier also ähnlich wie beim Geruchssinn. Stärkere Geschmacksreize geben gemischt einen „Wettstreit“ der Ge- schmackseindrücke. Die Richtigkeit der Kiesowschen Beobachtungen steht für mich fest, und jede Theorie des Geschmackssinns wird sich mit ihnen abfinden müssen. Freilich ist damit keineswegs bewiesen, daß jedes beliebige Paar von Ge- schmacksreizen sich zu einer einheitlichen Mischempfindung vereinigen könnte. Für höhere Reizintensitäten ist dies sogar recht unwahrscheinlich. Sichere Resultate in dieser Richtung sind schwer zu gewinnen, weil sie nur bei streng lokalisierter Reizung gewonnen werden können; nimmt man einige Gramm einer Flüssigkeit in den Mund, die süße und bittere Substanzen enthält, so ») Handb. d. Physiologie d. Menschen 2, 493, 1840. — )l.c.— le. — *) Vorlesungen über Physiologie 2, 265, 1885. — °) Philosoph. Studien, herausgeg. von W. Wundt, 12 (1896). 41* 644 Reaktionszeiten des Geschmacks. erzeugt dieses Gemenge an verschiedenen Zungenpartien verschiedenen Ge- schmack, und außerdem fallen die beiden Geschmackseindrücke zeitlich aus- einander (s. unten $. 644). Dadurch werden die Bedingungen für das Auf- treten eines einheitlichen Mischgeschmacks ungünstig, ungünstiger noch als beim Geruchssinn, bei welchem das wichtigste Hindernis für das Entstehen einheitlicher Mischempfindung durch die ungleiche Geschwindigkeit der Er- müdung für verschiedene Geruchsqualitäten gegeben ist, ein Moment, das beim Geschmack entschieden zurücktritt. Eine eigentliche Ermüdung des Geschmackssinnes ist überhaupt nicht nachgewiesen. Eine für die Praxis der Pharmakologie wichtige und theoretisch in- teressante Tatsache ist die Einwirkung starker Geruchs- und sog. Gefühls- reize auf Geschmacksempfindungen. Wie gewisse unangenehme Geruchs- empfindungen durch intensive Geschmacksreize zurückgedrängt werden können, so auch umgekehrt: Das Prinzip der sog. Geschmackskorrektionen in der Pharmazeutik beruht zum großen Teil auf der Unterdrückung eines unangenehmen bitteren oder sauren Geschmacks durch stark riechende Zu- sätze (Orangenschalenessenz, Zimt, Pfefferminz usw.). Es handelt sich hierbei, zum Teil wenigstens, um Kompensation des „Unangenehmen“ in dem Gesamteindruck, doch kann man sich der Tatsache nicht verschließen, daß starke Reize auf dem Gebiet der Nachbarsinne gewisse Geschmacksreize un- merkbar machen, die ohne jene Einwirkung stark überschwellig wären. Zu prüfen wäre noch, inwieweit Übung hieran etwas ändert. XI. Die zeitlichen Verhältnisse der Geschmacksempfindung. Die Zeit, welche zwischen der Einwirkung eines Geschmacksreizes und der Erkennung der Qualität verfließt, ist an verschiedenen Zungenstellen verschieden; sie ist am kürzesten für den salzigen Geschmack, dann folgen: süß, sauer, bitter (v. Wittich!), v. Vintschgau und Hönigschmied?). Bei letztgenanntem Autor liegen die Reaktionszeiten zwischen 0,16 und 0,21 Sek. Während der Einwirkung des Reizes kann sich die Qualität der Empfin- dung ändern. Was als „Nachgeschmack“ bezeichnet zu werden pflegt, beruht wohl zum größten Teil auf dem Zurückbleiben schmeckbarer Stoffe auf der Zunge und in den Spalten der umwallten Papillen. Für Über- dauern der Empfindung über den Reiz liegt kein Beweis vor. Zungenspitze Minimum Maximum Balaie at ar un + 0,25 sec. 0,72 SE a REN 0,30 0,85 Bauer . min Wear. a 0,64 0,70 Bitter "a War en, 2 N 7 !) Zeitschr. £. rat. Mediz. (3), 31. — ?) Arch. £. ges. Physiol. 10, 12 u. 14. ut All 2a Ada mann u aba u Ge 2 ze Geschmack und Affekt. 645 Weitere Bestimmungen der Reaktionszeit wurden neuerdings von Beaunis!) und von Henry?) gemacht und haben zu ganz ähnlichen Resul- taten geführt. Beaunis erhielt vorstehende Zahlen (s. Tabelle a. v. S.). Die Reihenfolge ist hier dieselbe wie bei v. Vintschgau und Hönig- sehmied, dagegen die Zahl für die Reaktionszeit des bitteren Geschmackes auffallend hoch. Die- neuesten Bestimmungen von Kiesow°) stimmen mit den Zahlen von Beaunis besser wie mit den auch nach meinen Erfah- rungen zu niedrigen Zahlen Hönigschmieds. Henry hat, wie v. Wittich, die saure elektrische Geschmacksempfindung für diese Versuche verwendet und bei verschiedenen Personen Werte zwischen 1 und 5 Sekunden gefunden, die für die einzelne Person ziemlich konstant waren. XII. Die Unterschiedsempfindlichkeit. Über die Unterschiedsschwelle der Geschmackseindrücke ist wenig be- kannt. Die lange Nachdauer des Geschmackes erschwert hierauf bezügliche Versuche ebenso wie solche über die Ermüdung des Geschmackes ungemein. Camerert) fand das Webersche Gesetz in einiger Annäherung gültig (Ver- suche mit Chlornatrium und Chinin), ebenso Corin’), wenigstens in der Nähe der (einfachen) Reizschwelle.. Kepler‘) sah bei Sauer und Süß die Unterschiedsempfindlickeit mit wachsender Konzentration der Lösungen ab- nehmen, bei Salzig und Bitter aber im Gegenteil zunehmen, was natürlich nur in engeren Grenzen zutreffen kann. XII. Gefühlsbetonung der Geschmacksempfindungen. Beim kleinen Kinde ist ein deutlicher Unterschied der verschiedenen Geschmacksarten zu bemerken: Das Süße wird im allgemeinen selbst bei hoher Intensität als angenehm empfunden, die übrigen Geschmacksarten bei hoher Intensität stets als unangenehm, während sie bei niedriger Inten- sität höchstens als indifferent gelten können. Schon ganz kleine Kinder bringen zuweilen durch den Gesichtsausdruck und andere Reaktionen diesen Unterschied deutlich zum Ausdruck. Der süße Geschmack löst hier, ähnlich wie bei vielen Tieren, die Neigung zu Saugbewegungen aus. DBitterer, saurer oder salziger Geschmack dagegen hemmt das Saugen. Später ändert sich das bald. - Beim Erwachsenen sind diese Unterschiede mehr oder weniger ver- wischt, an Stelle der einseitigen Bevorzugung des Süßen tritt je nach den Umständen die Neigung auf, Saures, Bitteres oder Salziges zu genießen oder mehr oder weniger zusammengesetzte Geschmacksreize zur Anwendung zu bringen. Immerhin bleibt in der Sprache „süß“ ein Ausdruck für etwas Angenehmes, Lusterregendes, während bitter und sauer etwas Unerfreuliches !) Recherches exper. sur les conditions de l’activit& cer&brale ete. Paris 1884 (zitiert auch Marchand). — *) Compt. rend. Soc. de biolog. 1894, p. 682. — ' ®) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 33, 453, 1903. — *) Arch. f. d. ges. Physiol. 2, 322 u. Zeitschr. f. Biolog. 21, 570. — °) Arch. de biol. Gand 8, 121, 1888. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 2, 449. 646 Geschmack und Affekt. bezeichnen, mit etwas verschiedener Schattierung. Eine entsprechend über- tragene Verwendung des Wortes „salzig“ in der Sprache fehlt. Mit dem „Faden“ bezeichnen wir stets etwas Unangenehmes, das zu- gleich nur in geringer Intensität empfunden wird. Die erwähnten Veränderungen des Gesichtsausdruckes bei Einwirkung von Geschmäcken können als eine Art Reflex aufgefaßt werden. Sternberg!) sah sie bei einem Anencephalus. Ob es noch andere Geschmacksreflexe gibt, namentlich solche, die im Munde lokalisiert sind, ist schwer zu sagen. In Betracht kommen kann die Salivation beim Genuß gewisser scharfer Speisen, doch ist es zum mindesten zweifelhaft, ob hierbei die eigentlichen Geschmacks- nerven in Funktion treten, da es sich zumeist um Stoffe handelt, die scharf brennend wirken. !) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 27, 77, 1902. Physiologie der Druck-, Temperatur- und Schmerzempfindungen von Torsten Thunberg'). „Eine genaue, durch Messungen unterstützte Untersuchung über den Tastsinn und das Gemeingefühl der Haut bietet deswegen ein besonderes Interesse dar, weil wir bei keinem anderen Sinnesorgan Gelegenheit haben, ohne uns zu schaden, die _ mannigfaltigsten Experimente anzustellen und in verschiedener Hinsicht Messungen auszuführen, und weil manches von dem, was wir auf diese Weise an der Haut beobachten, sich nachher auch auf den Gesichtssinn und auf andere Sinne, sowie auch auf das Gemeingefühl anwenden läßt.“ E. H. Weber. I. Geschichtliche Übersicht. Vielleicht das älteste psychologische Experiment, das wir kennen, gehört der Physiologie der Hautempfindungen an; es handelt sich um die Hervorrufung der Doppelempfindung, welche entsteht, wenn man eine kleine Kugel zwischen dem gekreuzten Mittel- und Zeigefinger einer Hand hält — ein Versuch, den schon Aristoteles?) beschrieben hat. Trotz ihrer alten Ahnen blieb doch die Physiologie der Hautsinne länger als die anderen Kapitel der Sinnes- physiologie ein relativ vernachlässigtes Gebiet; in allen älteren Darstellungen der Physiologie bis zu den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde sie sehr stiefmütterlich behandelt, und erst mit Webers Untersuchungen beginnt die vollständigere und systematische Bearbeitung dieser Funktionen. Die verwandte Frage über das Vermögen der verschiedenen Körperteile, Schmerz- empfindungen auszulösen, war dagegen weit eingehender behandelt worden, und schon beiHaller°) sind mehrere diese Frage berührende Beobachtungen mitgeteilt. Zugleich ein Beweis und eine Ursache für diesen lange Zeit rückstän- digen Standpunkt der Physiologie der Hautsinne liegt darin, daß man seit alters her im allgemeinen alle die verschiedenen Empfindungen, welche von der Haut ausgelöst werden können, unter dem einzigen Begriff: „Tastempfin- !) Der Verf. ist Herrn Dr. H. Piper, Berlin, zu großem Danke verpflichtet, der das Manuskript in sprachlicher Hinsicht revidiert und verbessert hat. — 2) Metaphysik (Buch III, Kap. 6 und Buch X, Kap. 6). Problemata 35, 10. (Henri: Raumwahrnehmungen, Berlin 1898, 8. 67). — °) Elementa physiol. cor- poris humani, Tomus V, Sensus externi, intern. Lausannae 1763. 648 Geschichtliche Übersicht. dungen“ zusammenfaßte, ohne dabei die Unterschiede der verschiedenen Sinnesqualitäten zu analysieren. Als erfreuliche Ausnahme hiervon muß der Versuch Pechlins!) gelten, welcher zwischen einem Temperatursinn (Galoris et frigoris sensus) und einem Gefühlssinn- (tactus) unterschied, wenn auch seine Gründe für diese Trennung jetzt veraltet scheinen. Ende des 18. Jahr- hunderts hat auch Erasmus Darwin?) für die Scheidung des Temperatur- sinnes (Sens de la chaleur) vom Gefühlssinn (Sens du toucher) plädiert und zur Stütze seiner Ansicht neben anderen Gründen die Beobachtung geltend gemacht, daß ein Patient, der den Gefühlssinn verloren hatte, doch die An- näherung eines glühenden Eisens wahrnehmen konnte. Aber diese Versuche, die verschiedenen Hautempfindungen gegeneinander abzugrenzen, welche wir jetzt als eine notwendige Voraussetzung für eine fruchtbringende Behandlung dieses Gebietes anzusehen gewohnt sind, blieben lange unbeachtet und wurden weder fortgesetzt noch erweitert. Erst E. H. Weber?) unternahm eine systematische Bearbeitung der Physiologie der Hautempfindungen, eine Bearbeitung, die als bahnbrechend angesehen \ werden muß. Weber stellte ausgedehnte neue Versuche und Beobachtungen über alle Sinnesqualitäten der Haut an; besonders möge hier erwähnt werden, über die kleinsten wahrnehmbaren Gewichtsunterschiede durchführte, welche zur Aufstellung des nach ihm genannten Weberschen Gesetzes Anlaß gaben. Bei seinen Versuchen über das Lokalisationsvermögen der Haut hat er unter anderem auch die Methode der kleinsten wahrnehmbaren Spitzendistanz an- gegeben und den großen Unterschied, welchen verschiedene Hautstellen in dieser Hinsicht zeigen, zuerst festgestellt. Fernerhin führte er den Begriff der „Empfindungskreise“ ein und wurde des weiteren durch seine Versuche über die Kälte- und Wärmeempfindungen zu der nach ihm genannten Tem- peratursinnestheorie geleitet — eine Theorie, welche auf Grund der neueren Untersuchungen als die zurzeit wahrscheinlichste angesehen werden. kann. Er gab dann eine interessante Erklärung der Objektivierung und Nicht- objektivierung unserer Hautempfindungen, kurzum, er überschüttete die Wissenschaft mit einer Fülle von neuen Tatsachen und theoretischen An- regungen, und nichts verschafft einen besseren Eindruck von der Experi- mentierkunst und Gedankenfruchtbarkeit dieses Forschers, als wenn man die Darstellung der Physiologie der Hautsinne in einem Lehrbuch vor und . nach der Zeit Webers vergleichsweise studiert. Für lange Zeit haben die bahnbrechenden Untersuchungen Webers die Forschungsrichtung auf dem Gebiete der Hautempfindungen bestimmt. Das größte Interesse haben dabei lange die Studien über die kleinste wahrnehm- 23 Jo. Nicol.Bechlini„Observationum physico-medicarum libri tres. Hamburgi 1691. Liber tertius, Observat. 9, 410. Zitiert nach Hermann Hoffmann, Stereo- gnöstische Versuche. Dissertation. Straßburg 1883. Mehrere geschichtliche Notizen sind da zu finden. —?) Erasmus Darwins Zoonomia or the laws of organic life, London 1794. Übersetzung durch J. F. Kluyshens, Tome premier, Gand 1810. Sect. XIV, 2, 183; 6, 202; 7, 206, zitiert nach Hoffmann. Siehe auch Pflüger; Pflügers Arch. 18, 375, 1878. — ®) Annotationes anatomicae et physiologicae, Lipsiae 1834; Wagners Handwörterbuch der Physiol. 3, 2, Braunschweig 1846. daß er in dem Gebiete der Druckempfindungen die wichtigen Versuchsreihen 2 ee ee ee Be re N u A ee DE nn > a ee ee ee ee eh .ur Klassifikation der Hautempfindungen. 649 bare Spitzendistanz absorbiert, während die übrigen Gebiete der Hautsinne fast durchweg stark vernachlässigt blieben. Eine neue Ära für die Hautsinnesphysiologie ist erst durch die Ent- deckung der Kälte-, Wärme- und Druckpunkte durch Blix!) (1882) an- gebrochen, welche nicht nur für die Physiologie der Hautsinne durch die Sicherstellung der Existenz verschiedener Kälte-, Wärme- und Drucknerven, sondern auch für die allgemeine Sinnesphysiologie, besonders für die Müllersche Lehre der spezifischen Sinnesenergien von der größten Bedeutung war. Etwas später als Blix haben Goldscheider (1884)2) und Donaldson (1885) ) dieselbe Beobachtung gemacht. Das letzte theoretisch wichtige Entwickelungsstadium der Hautsinnes- physiologie, das gegenwärtige, ist durch die Controverse über die Existenz besonderer Schmerzpunkte und Schmerznerven charakterisiert. Vor allem sind hier die Untersuchungen von v. Frey) zu nennen, welche sichere Beweise für die Existenz der Schmerznerven geliefert zu haben scheinen. Dieses letzte Stadium zeitigte unter anderem sehr wesentliche Fortschritte in der Methodik und ist durch anerkennenswerte Kritik und Zurückhaltung in der theoreti- schen Verwertung der Resultate ausgezeichnet, ein Punkt, in dem die bezüg- lichen Untersuchungen der früheren Zeit leider oft sehr zu wünschen übrig ließen. II. Klassifikation der Hautempfindungen. Jedermann weiß, daß eine große Anzahl verschiedener Empfindungen von der Haut ausgelöst werden können und auch häufig ausgelöst werden. Schon die äußeren Einflüsse, welchen unsere Haut im täglichen Leben ständig ausgesetzt ist, verursachen mehr oder weniger intensive Empfindungen von Berührung, Druck, Kälte, Wärme, und auch von der Haut ausgelöste Schmerz- empfindungen und Empfindungen von Kitzel und Jucken liegen innerhalb der alltäglichen Erfahrung. Wenn man die Haut in systematischen Ver- suchen der Einwirkung verschiedenartiger und verschieden intensiver Reize — sie mögen mechanischer, thermischer, chemischer oder elektrischer Art sein — aussetzt, so werden dabei ebenfalls Empfindungen ausgelöst. Man kann nun feststellen, wenn man die verschiedenen Reizmittel hinsichtlich ihrer Fähigkeit, Hautempfindungen auszulösen, systematisch durchprüft, daß zwar Empfindungen in anderen Intensitäten und anderen Kombinationen als unter gewöhnlichen Verhältnissen erhalten werden, daß aber qualitativ neue Empfindungen dabei nicht entstehen — auch dann nicht, wenn man Reize anwendet, welche, wie die elektrischen, kaum unter den natürlichen Lebens- bedingungen des Individuums vorkommen. Dieses Ergebnis steht in bester Übereinstimmung mit dem Gesetze der spezifischen Sinnesenergien, nach wel- chem alle Empfindungen, die von einem und demselben Sinnesnerv ausgelöst !) Upsala Läkareförenings förh. 18 (1882/83); die ersten Mitteilungen dar- über 28./4. und 20,/10. 1882 gemacht. Zeitschr. f. Biol. 20 (1884) u. 21 (1885). — 2) Monatsh. f. prakt. Dermatol. 3 (1884). Nachher inG@oldscheiders Gesammelten Abhandlungen, Leipzig 1898. Als Ges.-Abh. zitiert. —®) Mind 10 (1885). — *) Berichte‘ der math.-phys. Klasse d. Königl. Sächs. Gesellsch. d. Wissensch. zu Leipzig 1894, 1895. Abhandlungen derselben Gesellschaft 1896. Nachher als Leipziger Ber. resp. Leipziger Abh. zitiert. 650 Klassifikation der Hautempfindungen. werden, bezüglich ihrer Qualität von der Art des Reizes absolut unab- hängig sind. Wenn man nun alle die verschiedenen Hautempfindungen einer psycho- logischen Analyse unterwirft, sie genau beobachtet und sie mit Hinsicht auf Ähnlichheit oder Unähnlichkeit miteinander vergleicht, findet man, daß man einfache und zusammengesetzte Empfindungen !) unterscheiden muß. Die Qualität der ersteren ist für die psychologische Analyse nicht mehr zer- legbar; die Qualität der zusammengesetzten Empfindungen dagegen läßt Be- standteile unterscheiden, deren jeder selbständig für sich noch wieder variiert werden kann. Diese verschiedenen selbständig variablen Elemente sind zwar in der zusammengesetzten Hautempfindung mehr oder weniger schwierig zu beobachten, können aber für sich, ungemischt, also als einfache Empfindungen auftreten. Es leuchtet ein, daß die Darstellung der Physiologie der Haut- sinne von diesen einfachen Elementen ausgehen muß. Von solchen einfachen Empfindungsqualitäten sind mindestens vier zu’ unterscheiden, nämlich die Qualitäten der Druckempfindung, der Kälteemp- findung, der Wärmeempfindung und der Schmerzempfindung Es muß indessen die Frage offen gelassen werden, ob sämtliche verschiedene Haut- empfindungen zu ihrer Qualität allein aus diesen Qualitätselementen auf- gebaut werden können, oder ob nicht außerdem noch andere selbständige Empfindungsqualitäten in sie eingehen und angenommen werden müssen. Vielleicht gibt es mehrere Schmerzqualitäten, vielleicht sind auch die Empfin- dungen von Kitzel und Jucken als selbständige Empfindungselemente auf- zufassen. Übrigens sei schon hier darauf hingewiesen, daß zweifellos auch zusammengesetzte Empfindungen vorkommen, welche nicht nur Hautempfin- dungsqualitäten, sondern auch von anderen Sinnesnerven ausgelöste Empfin- dungen als Bestandteile enthalten, z. B. sog. Muskelsinnesempfindungen. (Siehe unten z. B. die Empfindung von Glätte.) Als Ergebnis der psychologischen Analyse der Hautempfindungen ist, wie gesagt, sichergestellt, daß mindestens vier verschiedene, selbständig variable Empfindungsqualitäten in der Haut ausgelöst werden können. Wenn auch bei jeder Klassifikation der Empfindungen die psychologische Analyse aus- schlaggebend sein muß, ist es doch bei den großen Schwierigkeiten, mit welchen eine solche Analyse, die ja auf ganz subjektiven Gründen baut, kämpfen muß, eine Tatsache von größtem Wert, daß die mehr anatomisch- «physiologische Forschung zu denselben Resultaten und Folgerungen geführt hat und somit als bedeutsame Stütze für die Richtigkeit jener Schlüsse herangezogen werden kann. Durch die grundlegende Entdeckung der Druck-, Kälte- und Wärmepunkte durch Blix ist nämlich die Existenz besonderer Drucknerven, besonderer Kältenerven und besonderer Wärmenerven sicher- gestellt, und ferner konnte v. Frey es in hohem Grade wahrscheinlich machen, daß es außerdem noch besondere Schmerznerven gibt. Auch andere Beobachtungen weisen mit Sicherheit darauf hin, daß es in der Haut mehrere selbständige Sinnesqualitäten mit entsprechenden End- organen geben muß. Dies zeigen z. B. die Untersuchungen Herzens?) und ') Siehe hierüber Öhrwall, Skand. Arch. f. Physiol. 11, 245, 1901. — ?) Pflügers Arch. 38, 93, 1886. u 2 te ne Fe 2 FR ERREGT TE Sinnespunkte der Haut. 651 Goldscheiders!) über die bei Nervenkompression entstehenden partiellen Empfindungslähmungen: die Kälte- und Druckempfindlichkeit schien dabei mehr herabgesetzt zu werden als die Wärme- und Schmerzempfindlichkeit. Auch die vielen an Nervenkranken beobachteten partiellen Empfindungs- lähmungen wie auch die Untersuchungen Stranskys?) über die Entwickelung der verschiedenen Empfindungsqualitäten in transplantierten Hautstücken geben sehr bestimmte Fingerzeige: die taktile Empfindung tritt meist zuerst und am ausgebreitetsten hervor, während Schmerz- und Temperaturempfin- dung, namentlich letztere, erst später nachfolgen. III. Die Sinnespunkte der Haut. Wenn man über die Haut ohne Druck eine abgekühlte Metallspitze hin- führt und die dabei entstehenden Empfindungen analysiert, so findet man, daß sich je nach dem Temperaturgrade der Spitze. voneinander abweichende Resultate ergeben. Wenn man eine nicht zu niedrige Temperatur wählt, zeigt sich, daß Kälteempfindungen nur an gewissen, einen oder mehrere Milli- meter voneinander liegenden, sehr kleinen, beinahe punktförmigen Hautstellen erhalten werden, während sie an den dazwischenliegenden Partien nicht aus- gelöst werden können. Diese kleinen Stellen der Haut, welche bei nicht zu starker Reizung einzig imstande sind, Kälteempfindungen zu geben, sind ganz unverrückbar auf oder in der Haut, an stets wieder auffindbaren Orten gelegen. Wenn man ihre Lage mit Farbe dauernd kennzeichnet, kann man sie nach beliebig langer Zeit stets leicht wieder identifizieren. Untersucht man die Haut mit einer stärker abgekühlten Spitze, so können zwar Kälte- empfindungen auch an den zwischenliegenden Partien ausgelöst werden, doch ist die Empfindlichkeit hier geringer als an den früher markierten Orten; je größer der Abstand zwischen diesen, bei schwacher Reizung allein empfindlichen Punkten und der gereizten Hautstelle ist, desto geringer erweist sich die Empfindlichkeit dieser letzteren. Man bezeichnet diese für Kältereize maximal empfindlichen Punkte, um die die Empfindlichkeit mit der Entfernung abnimmt, als „Kältepunkte“ (Blix). Untersucht man die Haut in gleicher Weise mit einer warmen Spitze, so findet man ebenso Punkte, welche eine maximale Empfindlichkeit für Wärmereize besitzen und mit Wärmeempfindungen antworten — Wärme- punkte (Blix). Man findet weiter bei Reizung mit Druckreizen maximal empfindliche, mit Druckempfindungen antwortende Druckpunkte (Blix) und endlich Schmerzpunkte, die Schmerzempfindungen (Stichempfindungen) auslösen und mit dieser Empfindungsqualität am promptesten auf thermische, mechanische und elektrische Reize reagieren (v. Frey°). Alle diese Sinnes- punkte, die Druck-, Kälte-, Wärme- und Schmerzpunkte, fallen nicht mitein- ander zusammen, sondern nehmen verschiedene Orte in der Haut ein. ®) Ges. Abh. 1, 275. — ?) Wien. klin. Wochenschr. 1899, 8. 833. — ?) Schon Blix hatte die Existenz solcher für mechanische Reizung (Nadelstiche) besonders empfindlicher Punkte, welche Schmerzempfindungen auslösen, festgestellt, aber erst v. Frey fand, daß die Verhältnisse hier ganz analog denjenigen der anderen Sinnes- punkte liegen. 652 Sinnespunkte der Haut. Die einzig plausible Deutung dieser Verhältnisse ist die, daß die Haut verschiedene Sinnesnerven — Drucknerven, Kältenerven, Wärmenerven und Schmerznerven — besitzt, daß diese Nerven unmittelbar unter der Hautoberfläche, eventuell mit besonderen Endorganen endigen, und daß die Sinnespunkte die an die Hautoberfläche hinaus projizierten Nervenenden oder Endapparate darstellen. Daß auch von den zwischenliegenden Haut-- partien bei kräftigerem Reiz Empfindungen ausgelöst werden können, ist mit dieser Annahme ganz wohl vereinbar, da ja die Reize zu dem Endorgan nicht nur von einem senkrecht darüberliegenden Punkt, sondern auch von mehr zur Seite liegenden Punkten’ dringen können, wobei dann natürlich der Reizeffekt mit dem Abstand vermindert wird; diese Befunde fordern also keineswegs die Annahme, daß empfindliche Endorgane auch unter diesen Zwischenfeldern liegen. Obgleich durch einen flächenförmigen Reiz nur zerstreut liegende End- organe in der Haut gereizt werden, hat man doch den Eindruck einer kon- tinuierlichen Berührungsfläche. Dies ist nur ein Spezialfall des allgemeinen Gesetzes, daß wir Lücken in der räumlichen Anordnung der Sinnesnerven ausfüllen, ein Gesetz, welches bekanntlich besonders gern und elegant durch Versuche begründet und illustriert wird, durch welche die Vollständigkeit des Sehfeldes trotz Vorhandensein des blinden Fleckes im Auge dargetan wird, Als Ursache für dieses Zusammenfließen der von den verschiedenen Haut- punkten ausgelösten Empfindungen ist auch der Umstand hervorgehoben worden, daß jeder Sinnespunkt, einzeln gereizt, nicht eine punktförmige, son- dern eine „scheibenartige* Empfindung geben soll (Goldscheider!). Wenigstens soll dies von den Kälte- und Wärmepunkten gelten, während man von der durch einen Druckpunkt ausgelösten Empfindung vielleicht besser sagen kann, daß sie zwar durch ein dem punktförmigen nahe kommen- des, aber breiteres und volleres Gefühl charakterisiert ist (Goldscheider!). Als Erklärungsgrund für den kontinuierlichen Flächeneindruck wäre ein solches Verhalten nur dann zu verwerten, wenn die Reizung jedes besonderen Sinnes- punktes den Eindruck mindestens einer so großen Fläche gäbe, daß sie den nächstliegenden Sinnespunkt halbwegs erreichte, was indessen nichts weniger als wahrscheinlich ist. Bedenkt man, daß auch die hier und da zwischen den Sinnespunkten befindlichen, bis zentimetergroßen Lakunen bei Flächenreizen gar nicht als Lücken empfunden werden, so scheint es, daß es die psychische Tendenz, Lücken in der räumlichen Anordnung unserer Sinnesnervenenden auszufüllen, selbst ist, welche als bestimmender Faktor den kontinuierlichen Flächeneindruck ohne weiteres erklärt. Wäre diese Neigung nicht da, so würden wir, auch wenn die Reizung eines Sinnespunktes eine scheibenartige Empfin- dung gibt, meistens nur disparate Scheiben statt disparater Punkte wahr- nehmen, nicht aber ein Kontinuum. Die Methoden zur Aufsuchung der Sinnespunkte. Die Apparate zur Aufsuchung der Kälte- und Wärmepunkte können sehr einfach sein. Am besten wendet man wie Blix hohle Metallspitzen an, welche durch inwendig strömendes Wasser auf einer konstanten Temperatur gehalten werden. Modi- !) Ges. Abh. 1, 116 u. 191. Sinnespunkte der Haut. 653 fikationen für verschiedene Zwecke sind u. a. von Alrutz!) und Kiesow) angegeben worden. Für eine genaue Bestimmung der Druckpunkte genügte zwar schon der von Blix konstruierte Apparat allen Forderungen an wissen- schaftliche Exaktheit, derselbe war aber etwas unbequem zu handhaben. In dieser Beziehung haben dagegen die von v. Frey?) angegebenen Reizhaare wesentliche Vorzüge, zu denen noch der hinzukommt, daß sie auch zum Auf- suchen der Schmerzpunkte geeignet sind. An das eine Ende eines leichten, etwa 8cm langen Holzstäbchens wird ein möglichst wenig gekrümmtes Haar oder ein Stück eines solchen senkrecht zur Achse des Stäbchens festgeklebt, so daß es nach einer Seite ungefähr 20 bis 30 mm, unter Umständen auch noch weiter vorsteht. Man braucht eine größere Anzahl solcher Stäbchen, für welche man -Haare verschiedener Stärke auswählt. Jedes solches Stäbchen stellt bei richtigem Gebrauch ein Reizwerkzeug von bestimmter, innerhalb enger Grenzen liegender Wertigkeit dar. Setzt man nämlich das Haar möglichst senkrecht zur Hautfläche auf und drückt, bis es sich schwach biegt, so übt jedes einzelne Haar einen bestimmten Druck aus, und der Wert dieses Druckes ist auf der Wage bestimmbar. — An Stelle von Haaren kann man auch feine Glasfäden oder Lamettadrähte anwenden). — Es ist nun bei Auswahl und Benutzung eines angemessenen Reizhaares nicht schwer, die verschiedenen Druckpunkte herauszufinden, und auch die Schmerzpunkte lassen sich mit diesen Apparaten bestimmen. (Über die zur Bestimmung des Reizwertes jedes Haares nötigen Konstanten siehe unten, S. 661 f.) Die Zahl und Anordnung der Sinnespunkte. Dieältesten, allerdings sehr spärlichen Angaben hierüber rühren von Blix her. Er fand, daß die Kältepunkte zahlreicher als die Wärmepunkte sind, daß sie unregelmäßig angeordnet in hier und da dichteren Anhäufungen liegen und daß an den behaarten Stellen der Haut die Druckpunkte im allgemeinen mit den Haar- papillen zusammenfallen; hier und da können einzelne Druckpunkte zwischen den Haarpapillen gefunden werden (rudimentäre Haarpapillen?). Blix sieht weiter als wahrscheinlich an, daß alle Haare der Haut in dieser Weise als Tasthaare angesehen werden können, und neuere eingehende Untersuchungen haben in der Tat diese Ansichten als zutreffend bestätigt und erweitert. So hat Sommer’) die von Blix angegebene Relation der Zahl der Kälte- und Wärme- punkte näher bestimmt. Hierbei wurden auf l1gem Haut beim Erwachsenen zwischen 6 und 23 Kältepunkte und zwischen 0 und 3 Wärmepunkte ge- funden, im Mittel also pro Quadratzentimeter 12 bis 13 Kälte- und 1 bis 2 Wärmepunkte. Sommer berechnete daraus die Zahlen für die ganze Haut- oberfläche zu etwa !/, Million Kälte- und 30000 Wärmepunkten. Die Zahl der Tastnervenenden schätzt v. Frey‘) in ähnlicher Weise für die Oberfläche des Körpers mit Ausschluß des Kopfes auf ungefähr 500000, und dem ent- spricht eine Mittelzahl von 25 Druckpunkten auf den Quadratzentimeter bei einer Körperfläche von 2qm. Die Zahl der Schmerzpunkte ist bisher nicht !) Skand. Arch. f. Physiol. 10, 341, 1900. — ?) Wundts philos. Stud. 14, 589, 1899. — °) Leipz. Abh. 1896, 8. 208. — *) Siehe Hensen, Arch. f. Ohren- heilkunde 35, 173, 1893. Thunberg, Upsala Läkaref. förh. 1, 294, 1895/96. — ®) Sitzungsber. d. phys.-med. Gesellsch. zu Würzb. 1901 (weiterhin als Würzburger Ber. zitiert). — °) Würzburger Ber. 1899. Über den Ortssinn d. Haut, 8. 4. 654 Sinnespunkte der Haut. genauer geschätzt worden. Nach den Angaben v. Freys!), daß im Quadrat- zentimeter 100 bis 200 Schmerzpunkte auf einer Stelle des Handrückens zu finden sind, würde sich die ganze Zahl etwa auf 2000000 bis 4000000 be- laufen. Auch die Angaben Blix’ über das Verhältnis der Druckpunkte zu den Haaren wurde von v. Frey bestätigt. Was die behaarten Stellen der Körperoberfläche betrifft (also etwa 95 Proz. der gesamten Oberfläche), so finden sich die Druckpunkte auch nach seinen Versuchen in einem sehr charakteristischen Lageverhältnis zu den Haarpapillen. Jedes Haar hat einen Druckpunkt nahe seiner Austrittsstelle und in der Projektion des schiefstehenden Balges auf die Oberfläche. Möglich bleibt immerhin nach den Untersuchungen von v. Frey, daß sich doch auch innerhalb der be- haarten Flächen zerstreute Druckpunkte finden, denen kein Haar entspricht. Die in den Lehrbüchern der Physiologie im allgemeinen wiedergegebenen Angaben Goldscheiders stehen in auffälligem Gegensatz zu den ersten Angaben Blix’ und zu denen von v. Frey und seinen Mitarbeitern, ebenso wie auch zu den Ergebnissen der von anderen (Alrutz, Kiesow) ge- machten Untersuchungen. Goldscheider?) zeichnet z. B. den Raum zwi- schen den Haaren mit Druckpunkten dicht erfüllt und hat auch die Kälte- und Wärmepunkte sehr dicht ausgezeichnet. (So fand er in einem Hautfelde des linken Handrückens 68 Kälte- und 56 Wärmepunkte pro Quadratzenti- meter; Sommer konnte dagegen nur 13 bzw. 2 pro Quadratzentimeter finden.) Es scheint demnach fraglich, ob Goldscheider nur die wirklichen Sinnespunkte aufgesucht hat. Sicher ist, daß die Angaben und Zeichnungen Goldscheiders ganz auffallend von den Darstellungen aller anderen Forscher abweichen. Auch die Goldscheiderschen) sehr detaillierten Angaben, daß die Kälte-, Wärme- und Druckpunkte sich zu meist leicht gekrümmt verlaufen- den linearen Ketten aneinander reihen, welche von gewissen Punkten der Haut radien- oder büschelartig nach verschiedenen Richtungen hin ausstrahlen, müssen als noch nicht genügend begründet angesehen werden, da ja diese Behauptungen wahrscheinlich auf teilweise unrichtigen Bestimmungen von Sinnespunkten basieren. Zurzeit scheint die alte Angabe Blix’, daß die Punkte unregelmäßig verstreut sind, mit Anhäufungen hier und da, noch Gültigkeit beanspruchen zu dürfen. Man hat wohl übersehen, daß bei einer solchen Unregelmäßigkeit stellenweise der Anschein einer kettenartigen An- einanderreihung entstehen kann, und daß wir unter Umständen geneigt sind, “ auch ganz unregelmäßig verteilte Punkte als zu besonderen Linien und Figuren zusammengeordnet aufzufassen. Was endlich die in Goldscheiders ersten Mitteilungen gegebenen Abbildungen der Schmerzpunkte betrifft, so werden sie von ihm selbst nicht mehr anerkannt *). Die anatomischen Bildungen, welche den Sinnespunkten ent- sprechen. Betreffend die sensiblen Nervenendigungen der Haut muß auf die Lehrbücher der Histologie verwiesen werden 5). Nur sei hier darauf auf- ‘) Leipz. Abh. 1896, 8.245. — ?) Ges. Abh.1, Tafeln am Ende. — °) Ebenda, S. 223. — *) Über den Schmerz, Berlin 1894, 8. 12. — °) Besonders mag Hans Rabls Histologie der normalen Haut des Menschen im Handbuch der Hautkrank- heiten von Mraßek, Wien 1901, empfohlen werden. Siehe auch Kiesow, Wundts philos. Stud. 19, 260, 1902, wo mehrere geschichtliche Notizen zu finden sind. Sinnespunkte der Haut. 655 merksam gemacht, daß die Entscheidung, ob ein Hautnerv zentripetal- oder zentrifugalleitend ist, nicht immer ganz einfach ist. Zwar hat man sich daran gewöhnt, alle die Hautnerven, welche nicht in den glatten Muskeln der Gefüße oder der Haare oder in den Hautdrüsen enden, ohne weiteres als sensibel anzusehen und insbesondere die Nerven- enden im Stratum germinativum der Haut als ohne Zweifel zentripetalleitend in Anspruch zu nehmen. Jedoch die Berechtigung dieser Anschauung ist nicht bewiesen und die Möglichkeit keineswegs ausgeschlossen, daß zentri- fugale Nerven zu den Zellen des Stratum germinativum gehen und in irgend einer Weise ihre Funktion — die vielleicht komplizierter ist, als jetzt still- schweigend vorausgesetzt wird — regulieren. Man muß sich darüber klar sein, daß unter solchen Verhältnissen etwas Unsicheres in den Versuchen liegt, die anatomischen Substrate der Sinnespunkte ausfindig zu machen. Solange freilich nichts Bestimmtes über die Existenz zentrifugaler Hautzell- nerven vorliegt, können und müssen diese wohl bei unseren Erörterungen beiseite gelassen werden. Betreffs der vielen von der Histologie beschriebenen Nervenenden entsteht nun die Frage, welches im speziellen ihre Funktion sei, und da müssen wir eingestehen, daß wir auf diese Frage zurzeit eine nur sehr unvollständige Antwort zu geben vermögen. Als sicher kann angesehen werden, daß den Druckpunkten das Nerven- geflecht an der Wurzelscheide der Haare entspricht. Doch ist es zurzeit nicht entschieden, ob in dieses Nervengeflecht nur Drucknerven eingehen oder ob. dort zugleich auch Schmerznerven endigen. Der Beweis für die Korre- spondenz zwischen den Druckpunkten und dem Nervengeflecht in der Wurzelscheide der Haare liegt in der schon von Blix!) nachgewiesenen und später besonders von v. Frey?) bestätigten Tatsache, daß jedes Haar einen Druckpunkt nahe seiner Austrittsstelle und in der Projektion des schief stehenden Balges auf die Oberfläche hat. Es ist weiter sehr wahrscheinlich, daß auch die Meißnerschen Körper- chen als Druckendorgane zu betrachten sind (Blix?), v. Frey®) und daß sie an den nicht behaarten Stellen gewissermaßen die Stelle der Haare vertreten, wofür ihre räumliche Ausbreitung besonders an den nicht behaarten Haut- partien entschieden spricht. £ Daß gewisse sehr oberflächlich liegende Nervenenden im Dienste des Schmerzsinnes stehen, muß als sicher betrachtet werden, und die von v. Frey) ausgesprochene Meinung, daß die freien intraepithelialen Nerven- enden die oberflächlichen Schmerzempfindungen vermitteln, hat viel für sich. Wenn man aber die histologischen Bilder mit den von v. Frey gegebenen Abbildungen der Lage der Schmerzpunkte vergleicht, kann man doch einige . Bedenken nicht unterdrücken. Die histologischen Bilder wenigstens von einigen Hautstellen scheinen dichter liegende Schmerzpunkte oder auch Schmerzlinien und Schmerzflächen zu fordern und stimmen kaum mit den von v. Frey gegebenen Zeichnungen überein, nach welchen alle Schmerzpunkte gleichgroß und punktförmig und voneinander durch große Zwischenräume getrennt sind.- Zwar ist es nicht unmöglich, daß der Gegensatz nur scheinbar ist und sich 5 !) Zeitschr. £. Biol. 21, 157, 1885. — ?) Leipz. Ber. 1894, 8. 287. — °) A. a. O,., S. 156. — *) A. a. O., 8. 296. — °) Ebenda 1895, 8. 180. 656 Druckempfindungen. dadurch löst, daß jeder Schmerzpunkt einem Büschel von freien Nervenenden ‘entspricht. Doch sind auch andere Möglichkeiten zu berücksichtigen. Mög- licherweise dürfte die räumliche Ausbreitung der Schmerzpunkte bei genauerer Untersuchung an verschiedenen Orten verschieden gefunden werden; vielleicht sind ja auch nicht alle intraepithelialen Nervenenden Schmerznerven. End- lich ist auch die von v. Frey diskutierte Vermutung im Auge zu be- halten, daß die Merkelschen Tastzellen mindestens an gewissen Haut- stellen im Dienste des Schmerzsinnes stehen. Die lange Reaktionszeit der Schmerzempfindungen und die niedrige Schmerzschwelle können als Gründe für die Annahme angeführt werden, daß die Schmerzempfindungen von mehr differenzierten Bildungen ausgelöst werden, als es die freien Nervenendi- gungen sind. Noch unsicherer wird der Boden, wenn es gilt, die Endorgane der Kälte- und Wärmenerven zu bestimmen. v. Frey!) hat aber auch hier einige An- haltspunkte zu geben versucht. Da die Endkolben Krauses in der Con- junctiva und in der Glans penis vorkommen, wo die Druckempfindung fehlt, wohl aber Kälteempfindung vorhanden ist, und da sie besonders dicht in dem Randteile der Bindehaut des Auges zu finden sind, wo auch die Wärmeemp- findung fehlt, aber deutliche Kälteempfindungen ausgelöst werden, so sind sie nach v. Frey wahrscheinlich die Organe der Kälteempfindung. Das sind aber bis jetzt auch die einzigen brauchbaren Anhaltspunkte, und weitere Untersuchungen sind zur Entscheidung der Frage sehr erwünscht, ob die Krauseschen Endkolben in der Haut in der nötigen Zahl vorkommen, um die dort nachweisbaren Kältepunkte zu decken. Wegen der Schwierigkeit, genau die Lage und die Begrenzung der Wärmepunkte zu bestimmen, wie auch wegen der langen Reaktionszeit der Wärmeempfindungen, ist es wahrscheinlich, daß die Wärmepunkte den tief- liegenden anatomischen Bildungen entsprechen ?). v. Frey hat dabei die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, daß die Ruffinischen Endigungen den Forderungen am besten gerecht werden. Dieser Versuch, anatomische und sinnesphysiologische Erfahrungen nach statistischer Methode miteinander in Beziehung zu setzen, kann aber, wie v. Frey hervorhebt, nur Wahrscheinlichkeiten, keine sicheren Schlüsse zutage fördern. Die Forschungsergebnisse des einen wie des andern Gebietes sind “ ohne Rücksicht aufeinander gewonnen worden und zeigen bei großer Genauig- keit in gewisser Richtung oft Lücken gerade dort, wo Bezugnahme auf Er- fahrungen des andern Gebietes möglich wäre. IV. Die Druckempfindungen. Unter Druckempfindungen werden hier alle die Empfindungen zusammen- gefaßt, welche eine zwar nicht durch Worte beschreibbare, aber doch für alle mit diesen Empfindungen Begabten eine wohlbekannte, von den anderen Empfindungen verschiedene Qualität haben und welche normalerweise bei schwächerer oder mittelstarker mechanischer Hautreizung entstehen. \) Leipz. Ber."1895, 8. 181. — ®) v. Frey, Leipz. Ber. 1895, 8. 183. Thun«- berg, Upsala Läkaref. förh. 30, 545, 1894/95. Druckempfindungen. 657 Unter den Druckempfindungen werden hier also auch die sog. Berührungs- empfindungen („einfache Tastempfindungen“) einbegriffen. Die von Meißner!) herrührende Auffassung, daß diese letzteren Empfindungen sui generis seien, ist seit langem widerlegt. Es handelt sich hier nur um schwache Druck- empfindungen, welche wie diese nur durch Deformationen der Haut ausgelöst werden. Ein Gegenstand, der die Haut berührt, ohne irgend welchen Druck gegen die Haut auszuüben, ist überhaupt nicht imstande, eine Berührungs- empfindung hervorzurufen. Druckempfindungen können nicht nur von der äußeren Haut ausgelöst werden, sondern auch von der Mundhöhle, den Zähnen (Steiner?), der Zunge, dem Nasen- eingang. Dagegen besitzt nach v. Frey) Glans penis keine Druckempfindlichkeit. Hinsichtlich der Cornea sind die Angaben widersprechend; von einigen Autoren wird angegeben, daß die Cornea auch auf Berührung mit der entsprechenden Emp- findung reagiert‘), von anderen wird das bestritten’). Vielleicht gibt es in dieser Hinsicht individuelle Unterschiede, vielleicht auch sind für die wechselnden Ver- suchsresultate die nicht oder kaum schmerzenden Merkmale schwächster Stech- empfindungen verantwortlich zu machen (s. unten). Übrigens wäre es denk- bar, daß eine nähere Analyse zeigen könnte, daß der Cornealempfindung ihre eigene, zwischen denjenigen der gewöhnlichen Druck- und Schmerzempfindungen liegende Qualität zukommt und sie einen nicht differenzierten Druckschmerzsinn repräsentierte. Auch von tieferen Teilen, den Fascien, Sehnen, Muskeln, dem Periost, werden nach Strümpell®) Druckempfindungen ausgelöst. Unter pathologischen Verhältnissen können diese unabhängig: von den oberflächlichen Druckempfindungen wegfallen. Strümpell glaubt, daß sie von größter Bedeutung bei Abschätzung von Druckunterschieden sind und will für sie den Namen „Drucksinn“ vorbehalten, da die richtige Perzeption größeren Druckes durch sie vermittelt werden soll. Um die gewöhnliche Nomenklatur nicht ändern zu müssen, dürfte es doch ange- messener sein, diese Empfindungen als den. Drucksinn der tieferen Teile zu bezeichnen, zum Unterschied von dem Drucksinn der Haut. Übrigens ist es fraglieh, inwieweit von tieferen Teilen ausgelöste, dumpfe Schmerzempfindungen hier mitspielen. Die teleologische Bedeutung der Druckempfindungen besteht darin, daß sie Nachricht von schwächeren mechanischen Einwirkungen geben, welche die Haut und einige Schleimhäute treffen. Da solche schwache Einwirkungen im allgemeinen dem Körper weder nützlich noch schädlich sind, ist auch der Gefühlston der Druckempfindungen indifferent. Da der mechanische Reiz zu den allgemeinen Nervenreizen gehört, könnte man denken, daß es sich auch bei der Erregung der peripheren Drucknerven nur um eine entsprechende allgemeine Nervenreizung handle. Einer solchen Auffassung widersprechen indessen folgende Tatsachen: 1. Die Druckempfin- dungen entstehen bei einem so schwachen mechanischen Reiz, daß er bei weitem nicht den Schwellenwert des allgemeinen Nervenreizes erreicht. Tigerstedt?) z. B. hat gefunden, daß der Schwellenwert für mechanische !) Beitr. z. Anat. u. Physiol. der Haut, Leipzig 1853. Siehe auch: Vaschide et Rousseau, Sur une nouvelle forme de sensibilite tactile: la trichesthesie, Compt. rend. 135 (4), 259. — ?) Zentralbl. f. Physiol. 1901, 8.585. — *) Leipz. Ber. 1895, 8.179. — *) W. A. Nagel, Pflügers Arch. 59, 563, 1895; A. Molter, Über die Sensi- bilitätsverhältnisse der menschlichen Cornea, Diss., Erlangen 1878; H. H. Donald- son, Mind 10, 399, 1885; M. Dessoir, du Bois-Reymonds Arch. 1892, 8. 145. — ) Hoggan, Linnean Soe. Journ. Zoology 16, 82; v. Frey, Leipziger Ber. 1895, 8. 166. — °) Deutsche medizinische Wochenschrift 1904, 8. 1411 u. 1460. — ?) Studien über mechan. Nervenreizung, S. 66, Helsingfors 1880. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 42 658 Adäquater Reiz der Drucknerven. Nervenreizung durch ein Gewicht von 0,2g repräsentiert würde, welches aus lmm Höhe fiel und demnach den Nerven mit einer Geschwindigkeit von 140 mm/sec erreicht. Die dadurch geleistete Arbeit ist mehrere hundertmal, vielleicht viel tausendmal größer als die zur Erregung der peripheren Druck- nerven erforderliche Deformationsarbeit. Diese Tatsache nötigt zu der Annahme, daß in den Enden der Drucknerven oder um dieselben herum Vorrichtungen existieren müssen, die imstande sind, den schwachen mechani- schen Reiz in Nervenreiz zu transformieren, mit anderen Worten, daß die Drucknerven mit Endorganen versehen sind. Für diese Annahme spricht auch, 2. daß andauernder Druck erregend auf das Tastorgan wirkt, nicht aber auf den peripheren Nerv. 3. Nach stärkeren und namentlich nicht zu kurz dauernden Belastungen der Haut überdauert die Empfindung den äußeren Reiz. Die Wirkungsweise der Endorgane kann entweder darin bestehen, dab der äußere Reiz auslösend auf in dem Endorgan aufgespeicherte Energie wirkt; in diesem Falle entsteht also die dem Erregungsvorgang in der Nervenfaser eigentümliche Energieform nicht aus der Arbeit des Reizes, son- dern auf Kosten von chemischen Umsetzungen im Endorgan, für welche der Reiz nur den Anstoß darstellt. Das Endorgan könnte aber auch vielleicht als ein Transformator wirken, welcher ohne Zuschuß von neuer Energie den mechanischen Reiz in eine Energieform umzuwandeln hätte, für welche die Nervenenden empfindlicher sind als für mechanischen Reiz. Welche von diesen Möglichkeiten in der Tat verwirklicht ist, ist zurzeit nicht ent- schieden. Der adäquate Reiz der Drucknerven und seine Wirkungsweise. In dem Ausdruck „adäquater Reiz“ ist der Begriff adäquat gebraucht worden, um den nahen Zusammenhang auszudrücken, welcher tatsächlich zwischen jedem einzelnen Sinnesnerv und einem bestimmten, in der Natur primär vor- kommenden und unter normalen Verhältnissen den Nerv treffenden Reiz be- steht, und in Übereinstimmung hiermit wird in dieser Darstellung der Haut- sinnesphysiologie unter dem adäquaten Reiz für einen gewissen Nerven der Reiz verstanden, welchem seine Endorgane angepaßt sind. Wenn man von der gewöhnlichen Klassifikation der Reize in mechani- sche; thermische, chemische usw. ausgeht, ist es ja ohne weiteres ein- leuchtend, daß die Endorgane der Drucknerven für die Haut treffende mechanische Reize angepaßt sind. Indessen wirkt der mechanische Reiz nicht direkt auf die Enorgane, sondern trifft nur die Hautoberfläche, und da ja die Endorgane in der Haut eingeschlossen liegen, kann der Reiz nur mittelbar dadurch wirksam werden, daß die Endorgane durch die Verände- rung der Hautbeschaffenheit affıziert werden, welche sich beim Auftreffen des mechanischen Reizes vollzieht. Es erhebt sich also die Frage, durch welche in ihrer nächsten Umgebung und in ihnen selbst hervorgebrachte Veränderung die Endorgane unmittelbar reizbar sind. Diese Frage ist durch Untersuchungen von v. Frey und Kiesow!) an Druckpunkten der unbehaarten Hautstellen in der Weise beantwortet, daß es das Druck- gefälle ist, welches die Druckendorgane in Erregungszustand bringt. !) Zeitschr. f. Psychol. und Physiol. der Sinnesorg. 20, 126, 1899. ee / | | Schwellenwerte der Druckempfindungen. 659 Wenn eine Spitze gegen die Haut drückt, ist der Druck an der der Spitze anliegenden Hautoberfläche am größten, nimmt aber sowohl nach den tieferen, wie nach den seitlich umliegenden Hautpartien mehr und mehr ab. Es existiert also hierbei ein von der Oberfläche nach der Tiefe negatives Druckgefälle. In derselben Weise entsteht ein Druckgefälle, wenn man eine kleine Lamelle an der Haut festklebt und nachher einen Zug daran ausübt. Es wird eine Druckentlastung zur Ausbildung gelangen, welche an der an- klebenden Stelle am größten ist, aber tiefer in der Haut oder seitwärts kleiner wird, d. h. also ein von der Oberfläche nach der Tiefe positives Druck- gefälle. Nur wenn die Endorgane unter der Einwirkung eines solchen Druck- gefälles von genügender Stärke stehen, werden sie gereizt. Die Erregung der Druckendorgane ist eine Funktion des an seinem Orte herr- schenden Druckgefälles, und dabei ist die Größe, nicht die Richtung des Druckgefälles maßgebend. Die Empfindung tritt bei merklich derselben Reiz- stärke sowohl bei Zug wie Druck auf die Haut hervor und hat bei diesen beiderlei Reizungsweisen denselben Charakter. Die Erregung des Druckend- organes hängt des weiteren von dem zeitlichen Ablauf des Druckgefälles ab derart, daß nur dann das Endorgan gereizt wird, wenn das Druckgefälle hin- reichend schnell zur Ausbildung gelangt. Die Abhängigkeit der Druckempfindung, insbesondere ihres Schwellenwertes, von verschiedenen Faktoren. Die mechanischen Reize, welche Druckempfindungen auslösen, können in mannigfacher Weise variiert werden, und es ist jetzt zu untersuchen, wie die Drwckempfindungen von den verschiedenen Variablen abhängen. Hat man z. B. .als Reizmittel ein fallendes Gewicht gewählt, so fragt es sich, in welcher Weise seine Größe, seine Geschwindigkeit, seine Berührungsfläche, die von ihm an der Haut ge- leistete Arbeit für den Reizerfolg bedeutsam sind. Da indessen die Reize die Endorgane selbst nicht treffen, sondern mittelbar durch eine in der Haut ge- setzte Deformation einwirken, kann die Aufgabe zunächst dahin vereinfacht werden, daß die Abhängigkeit der Druckempfindungen von den Merkmalen der Hautdeformation zu bestimmen ist, wobei als wesentliche Faktoren nach den Untersuchungen von v. Frey und Kiesow!) die Geschwindigkeit, der Ort, die Größe und die Tiefe der Deformation in erster Linie in Betracht kommen. Die Geschwindigkeit der durch einen mechanischen Reiz hervor- gebrachten Deformation der Haut wirkt in der Weise, daß langsam an- wachsende Deformationen viel tiefer in die Haut eindringen müssen, um fühlbar zu werden, als rasche, was ja mit dem Verhalten, welches alle anderen daraufhin untersuchten schnell reagierenden Gebilde gegenüber den zeit- lichen Änderungen der Reizmittel an den Tag legen, übereinstimmt. Bei einer Belastungszunahme von 0,75g in einer Sekunde betrug z.B. in einem von v. Freys Versuchen die Belastungsschwelle für eine Oberfläche von 21,2qmm (auf dem Daumenballen) 2,5g, und sank bei einer Belastungs- geschwindigkeit von 4,4g in einer Sekunde auf 0,33g, bei einer von mehr als 5g in einer Sekunde auf 0,25 g herab. Belastungsgeschwindigkeiten, !) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane 20 (1899). 49* Schwellenwerte der Druckempfindungen. 660 welche den Wert von 5g in einer Sekunde (5 g/sec.) übersteigen, gewinnen nur wenig an Wirksamkeit. Die von v. Frey gewonnenen Werte hat Hoor- weg!) als mit seinem Erregungsgesetz übereinstimmend gedeutet. Die Schwierigkeiten, die sich einer solehen Deutung entgegenstellen, können viel- leicht daraus erklärt werden, daß zwischen dem Orte der Reizapplikation und dem Endorgan ein elastisches und Nachwirkungen zeigendes Gebilde, die oberflächlichen Hautschichten, eingeschaltet ist. Aus der Bedeutung des zeitlichen Ablaufes folgt, daß die im Tastorgan gesetzte Erregung durch die lebendige Kraft des deformierenden Reizes nicht eindeutig bestimmt ist. Wenn also zwei verschiedene Gewichte aus Höhen herabfallen, welche den Massen umgekehrt proportional sind, so kommen sie zwar mit gleicher leben- diger Kraft auf der Haut an, aber das von größerer Höhe kommende Gewicht muß doch stärker erregen wegen des schnelleren Eintretens der Deformation. Der Ort der Deformation ist auch bei gleichbleibender Flächengröße des Reizes von Bedeutung, so zwar, daß ein und derselbe Reiz an verschiedenen Orten verschiedenen Effekt hervorbringen kann, teils weil die Empfindlichkeit der Endapparate wechselt, teils weil sie ungleich dicht stehen, so daß unter gleich großen Flächen die Endapparate in verschiedener Anzahl vorhanden sein können. Besondere Versuche haben gezeigt, daß die Erregung benach- barter Tastpunkte sich summiert, daß also Proportionalität zwischen Erregungs- effekt und Zahl der gereizten Tastpunkte besteht. Was die Differenzen der Empfindlichkeit verschiedener Druckpunkte betrifft, so hat v. Frey?) mit seinen Reizhaaren als mittleren Schwellenwert von 303 untersuchten Punkten 1,28 g/mm (siehe unten über die Berechnung des Reizwertes der Reizhaare) als Minimum 0,5 g/mm, als Maximum 4g/mm gefunden; ferner zeigte sich, _ daß die Druckpunkte aller Hautflächen merklich dieselbe, innerhalb der Es - "1 © o © = » REIF EI SERIE ® a &D Hautstelle = 2 2 BB s= E as f Ö „j® >: a0” a)& 90 ls fa 5 m Ber jun] od = . Ay” Handgelenk, Beugefläche . . ...: 28,53 1,12 1 0,3 2,5 5 Dorsalfläche (Mitte) 28 1,2 1 0,3 3,5 r Proe..styl. üulnae...... . 20,5 1,42 ! 0,4 3,5 = radiale Fläche... . . 25,75 1,44 1 0,5 3,5 Unterarm, Mitte der Beugefläche 16,08 1,24 1 0,5 3 5 oberer Teil der Beugefläche 9,33 1,42 1 0,75 4 Ellenbeugel,ne. zeku Tu d 4 12,16 1,33 1 0,4 8 Oberarm, Mitte der Beugefläche . . { a 1,44 1 0,4 3 u Poßräckan.. Re tar stehn 23,75 1,27 1 0,4 2,5 Unterschenkel, Mitte d. Vorderfläche . 5-5,6 2,16 2 0,75 5 = Wade une a 5,8 1,45 1 0,4 3 Kniescheibe, Mitte + ra A ui u 1,93 1,5 0,5 4 Oberschenkel, Vorderfläche üb. d. Knie 14,38 1,35 1 0,5 3 Brust aa, ET 21,75 2,7 3 ı 4 BUskon. ae a ER ER 26,25 4,3 4 2 7 ') Pflügers Arch. 82, 399, 1900. — °) Leipz. Abh. 1896, 8. 285. Schwellenwerte der Druckempfindungen. 661 angegebenen Grenzen schwankende Empfindlichkeit besitzen. Kiesow!), der sehr ausgedehnte Untersuchungen über diese Sache anstellte, stellt seine Resultate in der vorstehenden Tabelle zusammen. Die Bedeutung der Fläche. Man könnte vielleicht erwarten, daß ‚bei sonst gleichen Verhältnissen der Reizerfolg einer mechanischen Ein- wirkung durch die auf die Flächeneinheit wirkende Kraft oder den Druck bestimmt würde, so daß z. B. mechanische Reize verschiedener Kraft, aber gleichen Druckes gleich empfunden würden. Dem ist indessen nicht so2), wenigstens nicht ohne Einschränkung. Nähere Untersuchungen haben ergeben, daß die zur eben merklichen Erregung der Druckpunkte der haarfreien Hautstellen nötigen Drücke (— auf der Flächeneinheit wirkende Belastung) je nach der Flächengröße des gereizten Hautareales andere Werte zeigen. Die Art der Abhängigkeit wird ersichtlich aus der Kurve (Fig. 1173) a. £. S.), auf deren Abszissenachse die Flächengrößen in Quadratmillimetern abzulesen sind und deren Ordinaten die Drücke in Einheiten von 0,1 Atm. (eine Atm. = 10g/mm?) bedeuten. Der kleinste Druckwert findet sich danach bei einer Reizfläche von etwa 0,5 mm? (nur 0,036 Atm.). Bei kleinerer Fläche steigt der erforderliche Druck sehr schnell; nachdem also die Reizflächengröße diese Grenze passiert hat, darf man nicht etwa bei weiterer Verkleinerung derselben die darauf wirkende, zur eben merklichen Erregung des Druck- punktes nötige Belastung proportional vermindern, wie die folgende Tabelle, welche v. Frey und Kiesow) durch Reizhaarversuche gewonnen, zeigt: Kraft des Reizhaares Fläche Terhokwart (in g) 0,125 0,05 mm? 0,25 Atm. 0,1023 0,033 „ 081. 0,09 0,025 „ 0,386 „ 0,08 0,02 , Ber 0,056 BE 7 0,56 „ 0,04 0,005 „ 08:°. 0,0356 0,004 „ | 0,89 „ 0,0309 0,008 „ | 1,08°:=, 0,0252 0,002 „ 126 , 0,0178 0,001 „ 230,0, In der Nähe des Minimums ist der Schwellendruck nahezu konstant. Bei größerer Fläche steigt er langsam und liegt für Flächen von ungefähr 2000 mm? höher als 1 Atm. Das Verhalten der Kurve läßt sich, wie eine Analyse von v. Frey und Kiesow gezeigt hat, sehr wohl aus der Annahme erklären, daß die Erregung des Tastorgans eine Funktion des an seinem Orte herrschenden Druckgefälles ist. Bei Vergrößerung der Fläche wird nämlich trotz gleich bleibenden Druckes das Druckgefälle um die Endorgane herum vermindert. Dasselbe erfolgt bei Verkleinerung der Fläche von einer gewissen Größe an, weil in ») Wundts philos. Stud. 19, 307, 1902. — ?) Hierauf hat zuerst Nagel (Arch, f. d. ges. Physiol. 59) gegenüber v. Frey hingewiesen. — ®) v. Frey und Kiesow: a. a. O., 8. 147. — *) A. a. O., 8. 146. Die Ausrechnung der Kraft des Reiz- haares fehlt jedoch in ihrer Tabelle. 662 Schwellenwerte der Druckempfindungen. diesem Falle das eigentliche Druckgefälle zwar steiler, aber oberflächlicher als die Endorgane abläuft. Die Tatsache, daß eine weitere Flächenverminde- rung unter die bezeichnete Minimalgrenze die zur eben merklichen Tast- reizung nötige Belastung nicht proportional herabdrückt, hat auch, von einem von Nagel!) hervorgehobenen Gesichtspunkte aus betrachtet, Interesse. Wenn eine Spitze gegen die Haut gerichtet wird, trifft sie das Stratum cor- At Fig. 117. neum, welches sich ein- 0,4 buchtet. Man kann sich vorstellen, daß die jetzt gleichsam mit einem Über- zug von Stratum corneum und noch tieferen Haut- schichten versehene Spitze auf die umliegenden Schich- ten drückt. Dieser Überzug bewirkt dann, daß die Fläche, womit die Spitze auf die tieferen Partien drückt, größer als die wirk- liche Spitzenfläche ist, und je spitziger die Nadel ist, r desto größer ist die relative 0,2 Flächenvermehrung, die von der Einbuchtung der oberflächlichsten Schichten abhängt, und desto kleiner wird die Bedeutung einer weiteren Verminderung der Spitzenfläche. Liegt die Spitzenfläche unter einer gewissen unteren Größe, so \ übt eine weitere Vermin- } ER ET, derung keinen Einfluß mehr \ "14 auf die Größe der Fläche x aus, über welche sich in den tieferen Hautschichten der Druck verteilt, da ja die 0,0 | Druckfalte der oberfläch- 1 2qmm ]jchsten Hautschichten nicht unter ein bestimmtes Minimalmaß, welches von ihrer Dünnheit und Schmieg- samkeit abhängt, vermindert werden kann. Erst durch Anwendung dieser minimalen Spitzenflächen wäre es übrigens möglich, die kleinste Belastung festzustellen, welche überhaupt genügt, um eine minimale Druckempfindung auszulösen. Nach den v. Frey mitgeteilten Werten zu urteilen, scheint dieser Grenzwert der Spitzenfläche unter 0,001 mm? zu liegen. Wahrscheinlich wechselt er sehr, je nach der Hautbeschaffenheit. 0,3 0,1 ‘) Pflügers Arch. 59, 601 (1895). u Ze a Meißners Versuch. 663 Da also bei verschiedener Flächengröße Änderungen derselben nicht denselben Einfluß auf den Schwellendruck oder das Schwellengewicht aus- üben, ist ein einfaches einheitliches Maß für den Reizwert verschiedener Flächen nicht möglich. Innerhalb gewisser Grenzen der Flächengröße ist immerhin nach v. Frey ein solches wohl anzunehmen, und zwar würde man dasselbe für Flächengrößen von 500 bis !/,, mm? dadurch erhalten, daß man die Kraft mit dem Diameter dividiert. Er nennt die so erhaltenen Einheiten (= 1 g/mm) Spannungseinheiten. Sein Haarästhesiometer und seine Reizhaare sind in dieser Weise zu eichen, sofern man sie zu Schwellenbestimmungen im Gebiete des Tastsinns benutzen will. In intimem Zusammenhang mit der Bedeutung der Fläche bei Druck- reizung steht die Deutung des sogenannten Meißnerschen Versuches. Der Meißnersche Versuch. Meißner!) hat gefunden, daß, wenn wir unsere Hand in eine Flüssigkeit — Wasser oder Quecksilber von der Temperatur der Hand — eintauchen, an keinem Teile der untergetauchten Hautfläche eine Tastempfindung entsteht, wenn auch der Druck der auf ihr lastenden Flüssigkeitssäule sehr hoch gesteigert wird. Durch Änderungen des Meißnerschen Versuches haben v. Frey und Kiesow?) gezeigt, daß der Versuch nicht nur bei andauernd gleichem Druck der Flüssigkeit, sondern auch bei steilem Druckanstieg ebenso ausfällt. Die Erscheinung ist wahrscheinlich auf das Ausbleiben jeder Deformation der Tastfläche bei diesem Versuch zurückzuführen und kann vielleicht aus dem bei sehr großer, gleich- förmig drückender Fläche wahrscheinlich nur kleinen Druckgefälle am Orte der Endorgane erklärt werden. Fraglich scheint indessen, ob nicht Queck- silber doch eine Deformation der Haut verursachen muß. Es schmiegt sich ja nicht nach der Hautfläche, muß also mehr an die Leisten der Haut als an die Furchen drücken, also doch Deformationen hervorrufen. Vielleicht werden die so entstehenden Druckempfindungen durch die weit intensivere, welche an der Grenzlinie entsteht, übertäubt. Wie oben hervorgehoben, ist es nach v. Frey und Kiesow wahrschein- lich, daß die Erregung der Tastkörperchen eine Funktion des an ihrem Orte herrschenden Druckgefälles und dessen Änderungsgeschwindigkeit ist. Für die Vergleichung verschiedener Reize wäre es also sehr bequem, wenn man das Druckgefälle, welches sie hervorbringen, berechnen könnte. Das Druck- gefälle im Inneren der Haut wird aber weiter in so verwickelter Weise von dem deformierenden Gewicht, der getroffenen Fläche, der Gestalt der Ober- fläche, von der Dicke und Beschaffenheit der Haut, sowie der unterliegenden Gewebe beeinflußt, daß eine solche allgemeine Berechnung nicht möglich ist. Was oben über die Abhängigkeit der Druckempfindungen von ver- schiedenen Faktoren gesagt wurde, bezieht sich, wo nicht anderes hervorge- hoben, auf die Druckendorgane der haarfreien Hautpartien, also die Meißner- schen Tastkörperchen. . Die Nervenkränze der Haarscheiden — der andere zur Reaktion auf Tasteindrücke oder, genauer gesagt, auf Deformationen bestimmte !) Zeitschr. f. rat. Med., 3. Reihe, 7, 99ff. — *) Zeitschr. f. Psychol. und Physiol. d. Sinnesorg. 20, 144, 1899. 664 Die Unterschiedsempfindlichkeit für Druckreize. Apparat — zeigen indessen große Übereinstimmung mit den Meißnerschen Tastkörperchen. Auch sie werden durch ein in der Haut erzeugtes Druckgefälle erregt, und auch ihre Erregung nimmt innerhalb gewisser Grenzen mit diesem Gefälle zu. Einen gewissen Unterschied zeigen jedoch die funktionell gleich- wertigen Apparate insofern, als die mit Tastkörperchen ausgestatteten Flächen bei etwas geringerer Empfindlichkeit sich durch große Ausdauer auszeichnen. Die Tastapparate der behaarten Hautflächen sind leichter ermüdbar,: haben aber eine größere Empfindlichkeit. Namentlich werden gleitende Reize, Streichen mit einem weichen Pinsel oder einem Watteflöckchen, das Kriechen einer Fliege, ein Windhauch usw., welche an den eigentlichen Tastflächen wirkungslos sind, an den behaarten Körperstellen oft noch über- raschend deutlich gefühlt. Die Haare wirken dabei, wie zuerst Aubert und Kammler!) festgestellt haben, in zweifacher Weise erniedrigend auf die Reizschwelle.. Wenn ein Gewicht auf die Hand niedergesetzt wird, bewirken die Haare eine Ver- minderung der Fläche, mit welcher das Gewicht die Haut berührt, wodurch der Druck des Gewichtes pro Flächeneinheit also vergrößert wird. Ander- seits müssen sie auch, da sie meistens schief stehen, gegenüber aufgelegten Gewichten wie Hebel wirken. Nach dem Rasieren der Haare werden die Schwellen ausnahmslos höher.. v. Frey?) hat eine Bestimmung des Schwellen- wertes des Reizes bei Belastung eines Haares mit kleinen Gewichten gemacht und fand, daß an einem 83mm langen Haar über dem Metacarpus indicis eine Belastung durch 0,4mg meistens bemerkt wurde, wenn das Gewicht auf die Spitze des Haares gesetzt wurde. Da das Haar hierbei als Hebel funktioniert, ist die zur Nervenerregung eben genügende Einwirkung als ein Drehungsmoment auszudrücken, wobei der Durchtrittspunkt durch die Haut als Hypomochlion anzusehen ist. In dem erwähnten Falle betrug also die Reizschwelle 3,2 mg/mm. Die Unterschiedsempfindlichkeit für Druckreize. Die ersten Untersuchungen über die Fähigkeit, Druckreize zu unterscheiden, rühren von E. H. Weber) her, der auch sogleich die Bedingungen angegeben hat, deren Innehaltung notwendig ist, wenn man reine Versuchsergebnisse erhalten wil. Man muß die Einmischung anderer Empfindungen, welche Belehrungen über die Größe der angewendeten Druckreize verschaffen können, ausschließen, also besonders die sogenannten Muskelempfindungen und in gewissen Fällen auch die Gesichtsempfindungen. Es ist um so wichtiger, daß bei Prüfung der Druckempfindungen die Muskelempfindungen ausgeschlossen sind, weil sie eine außerordentlich feine Unterschiedsempfindlichkeit besitzen und weil infolgedessen. bei gleichzeitigem Funktionieren der Muskel- und Druck- empfindungen die gefundene optimale Unterschiedsempfindlichkeit wahr- scheinlich auf die Muskelempfindungen zu beziehen ist. Eine solche isolierte Prüfung der Unterscheidungsschärfe von Druckgrößen durch Druckempfin- dungen ist übrigens leicht erreichbar. Man muß ja-nur die untersuchten !) Untersuchungen über den Druck- und Raumsinn der Haut. Moleschotts Untersuchungen 5, 145. — ?) Leipzig. Abh. 1896, 8. 238. — °®) Wagners Handwb. 3 (2), 544. r f uuche A PCC TE“ a u Drucksinn und Webers Gesetz. 665 Körperteile völlig und sicher unterstützen. Auch Temperaturempfindungen sind auszuschließen durch geeignete Wahl der die Haut berührenden Stoffe. Die Versuchsbedingungen können übrigens vielfach variiert werden. Weber hat zuerst die Untersuchungen in zweifacher Weise angestellt. Teils hat er verschiedene Gewichte bei gleichzeitiger oder nacheinander ausgeführter Belastung der beiden Hände, also verschiedene Hautstellen, verglichen. Teils hat er an einer und derselben Hautstelle nacheinander die zu vergleichenden Gewichte aufgesetzt. Es zeigte sich, daß bei diesem letzten Verfahren sicherere und feinere Resultate gewonnen wurden, daß wir also die Intensitäten zweier gleichzeitiger Druckempfindungen weniger genau vergleichend zu beurteilen vermögen als die Intensität einer reellen gegenwärtigen Empfindung mit derjenigen des Erinnerungsbildes einer voraufgegangenen Empfindung. Das. Ausschlaggebende ist dabei nicht in dem Umstande zu suchen, daß in dem letzten Falle eine und dieselbe Hautstelle bei der Vergleichung angewendet wird, denn nach den Angaben Webers ist es auch bei Reizung verschiedener Hautstellen leichter, Gewichtsunterschiede bei nacheinander ausgeführter Be- lastung als bei gleichzeitiger wahrzunehmen. Bei dieser Vergleichung der Intensitäten nacheinander folgender Em- pfindungen ist die Größe des Zeitintervalls zwischen beiden von wesentlichem Einfluß auf die Genauigkeit des Resultates, so zwar, daß mit der Zunahme desselben die Vergleichungsfähigkeit schwächer wird, verschieden bei ver- schiedenen Personen. Bei manchen wird die Vergleichung schon nach 10 Sekunden sehr unvollkommen. Um vergleichbare Resultate zu erhalten, muß also die Größe des Zeitintervalls in den verschiedenen Versuchen die- selbe sein. Dasselbe gilt natürlich auch für die Oberflächengrößen, mit denen die Gewichte die Haut berühren. Die von Weber ausgeführten Beobachtungen über die eben merklichen Druckunterschiede sind wenig zahlreich. Er beschränkte sich darauf, die kleinsten Gewichtsdifferenzen zu bestimmen, welche einmal bei Belastung der Haut mit Loten!), das andere Mal mit Unzen !) erkannt werden konnten. Er fand in beiden Fällen dieselbe relative Differenz als Grenze der ‚Unterschiedsempfindlichkeit. Dieses Resultat ergab sich aus Ver- suchen, in denen die Volarseite der letzten Fingerglieder als Tastfläche be- nutzt wurde, wobei sich die verglichenen Gewichte wie 29 : 30 ver- hielten; es wurden im günstigsten Falle eben noch die Gewichtsdifferenzen zwischen 14!1/, Lot von 15 Lot und 14!/, Unzen von 15 Unzen erkannt. Dieser Wert ist als ein optimaler anzusehen, welcher nur von gewissen Personen an einzelnen bestimmten Hautstellen bei gespannter Aufmerksamkeit, also unter besonders günstigen Umständen erreicht wird. Dies sind die Bestimmungen, welche die erste experimentelle Grundlage des sogenannten W eberschen Gesetzes bilden, welches hier nach G.E.Müller in der Weise formuliert werden mag, daß die relative Unterschieds- empfindlichkeit von der absoluten Reizstärke unabhängig ist. Die folgenden Untersuchungen auf diesem Gebiete haben im allgemeinen den Zweck verfolgt, zu prüfen, ob und in welchem Grade und Umfange dem Weber- Y) Welche Werte in Gramm diese von Weber angewandten Gewichte repräsen- tieren, hat der Verf. nicht finden können. 666 Drucksinn und Webers Gesetz. schen Gesetz eine Gültigkeit zuzuerkennen ist. Die ersten diesbezüglichen Unter- suchungen waren dem Weberschen Satze nicht günstig. Durch Dohrn!) wurde dessen Ungültigkeit für niedrige absolute Druckgrade behauptet; und auch die Untersuchungen von Biedermann und Löwit?) zeigten keine Übereinstimmung mit dem Weberschen Gesetze. Doch waren diese Untersuchungen wenig um- fassend; Dohrn untersuchte nur bei einem Anfangsdruck von 1g, von dem aus- gehend der Druck so weit erniedrigt oder erhöht wurde, daß die Veränderung empfunden wurde. Bei den sonst sehr umfassenden Untersuchungen Biedermanns und Löwits fehlen gerade über die Versuche, in denen die Druckempfindungen von einer Einmischung von Muskelempfindungen isoliert wurden, die speziellen Mitteilungen; es wird nur kurz gesagt, daß sie dem Weberschen Gesetze ungünstig ausgefallen sind. Sehr eingehende Untersuchungen, in denen der Einfluß der Geschwindig- | keit der Druckänderungen berücksichtigt wurde, hat Stratton?) über die Unterschiedsempfindlichkeit für Druckreize veröffentlicht. Er suchte festzustellen, wie groß eine Intensitätsänderung sein mußte, um während des Verlaufs eines kontinuierlich einwirkenden Druckes überhaupt bemerkbar zu sein; das ist also eine Fragestellung ähnlich derjenigen Dohrns. Seine Methode erlaubte sowohl, dem ursprünglichen ein beliebiges Druckquantum plötzlich hinzuzufügen und davon zu entfernen, wie auch eine allmähliche Druckänderung mit jeder beliebigen Geschwindigkeit herbeizuführen. Unter- sucht wurde stets an der Volarfläche der kleinen Fingerbeere. Bei momen- tanen Druckänderungen wurden folgende Resultate erzielt: Die Schwelle für die Wahrnehmung momentaner Druckänderungen zeigt vier unterscheidbare Werte, je nachdem die Veränderung eine Zunahme oder eine Abnahme ist, und je nachdem nur die Veränderung oder auch die Richtung der Verände- rung, also die Zu- oder Abnahme, wahrgenommen werden sollte. Unter sonst gleichen Bedingungen ist die Zunahme leichter wahrnehmbar als die Abnahme, ebenso die Erkennung der Veränderung überhaupt leichter als die Bestimmung der Richtung der Veränderung. Bei einem Anfangsdruck von 75 bis zu 200g war für jede von diesen vier Schwellenarten die relative Unterschiedsschwelle annähernd konstant, also der Forderung des Weber- schen Gesetzes entsprechend (die Zunahmeschwellen 0,024 und 0,034, die Ab- nahmeschwellen 0,039 und 0,055). Wenn dagegen der Anfangsdruck 10 bis. 50g war, wurde die relative Unterschiedsschwelle um so größer gefunden, je niedriger der Anfangsdruck war. Wenn die Druckänderung nicht momentan, sondern mit meßbarer Geschwindigkeit erfolgte, wirkt diese, wie schon Dohrn gefunden hatte, auf die Unterschiedsschwelle erhöhend, und je langsamer die Druckänderung war, desto größer wurde im allgemeinen die Unterschieds- schwelle, wobei jedoch die Schwellen bei sehr allmählich zunehmender Be- lastung für verschiedene Personen etwas differieren. Wenn verschiedene Anfangsdrucke, jeder von seiner ursprünglichen Größe ausgehend, in der Zeiteinheit um den gleichen Bruchteil der ursprünglichen Größe verändert werden, weichen die Schwellenwerte wenig von einem konstanten Werte ab. Wenn also bei einem Anfangsdruck von 10g die Zunahme der Geschwindig- keit in einer Sekunde 0,1 dieses Wertes ist, also lg, und bei einem An- fangsdruck von 200g die Geschwindigkeitsänderung in der Sekunde ebenso !) Zeitschr. f. rat. Medizin 10, 339, 1861. — ?) Sitzungsber. d. Wien. Akad. 72, 342, 1875. — °?) Wundts Philos. Stud. 12, 525, 1896. er ia er a 1 ur — Zeitlicher Ablauf der Druckempfindungen. 667 ein Zehntel dieses Wertes, also 20g ist, wurde die Veränderung merkbar, wenn das Verhältnis der Druckerhöhung zum Anfangswerte ungefähr 0,09 war. Das Webersche Gesetz scheint also hierbei annähernd gültig zu sein. Übrigens sind die Resultate sehr von den Versuchsbedingungen ab- hängig, besonders wenn psychologische Faktoren in wechselnder Weise mit- Spielen, wie aus den Untersuchungen Seashores!), Halls und Motoras?) ersichtlich ist. In keinem der hier erwähnten Versuche ist es übrigens sicher, daß immer nur dieselben Druckpunkte erregt worden sind, weshalb die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes eine noch offene Frage ist (v. Frey?). Der zeitliche Ablauf der Druckempfindungen. Die Frage, wie. eine Druckempfindung sich verhält von dem Augenblicke an, in dem der momentane oder andauernde Reiz die Haut trifft, bis zu ihrem endgültigen Verschwinden, wie sich also die Intensität der Empfindungen während ihres Bestehens ändert, ist noch nicht Gegenstand systematischer Untersuchungen gewesen. Einige Einzelheiten sind jedoch bekannt. Über die vom Eintreffen des Reizes bis zum Entstehen der Empfindung verfließende Zeit soll weiter unten in dem Kapitel über „Die Apperzeptionszeit der Hautempfindungen“ gehandelt werden. Hier sei jedoch besonders hervorgehoben, daß die Druck- empfindungen nach momentanem Reiz von äußerst kurzer Dauer sind. Die Reize können deshalb in sehr schneller Wiederholung appliziert werden, ohne daß die entsprechenden Empfindungen im Bewußtsein verschmelzen. In der Tat sollen in dieser Richtung die Druckempfindungen das kleinste wahrnehmbare Intervall unter allen Empfindungen zeigen. Doch wechseln hierüber die Zahlenangaben nur zu sehr. Schwaner*) hat schwingende Stimmgabeln auf die Haut gesetzt und die Schwingungszahl bestimmt, bei welcher die Stimmgabel noch ein Gefühl des Schwirrens verursachte. Die benutzten Stimmgabeln hatten die Schwingungszahlen 13, 35, 66, 92, 122, 180, 246, 300, 375, 480, 570, 660, 800 und 1000. Wie die Ver- suche ergaben, zeigen die einzelnen Körperregionen ein verschiedenes Verhalten. So gelangten z. B. an der Dorsalfläche des Oberarmes schon 92 bis 480, in der Gegend der langen Rückenmuskeln schon 92 bis 375, aff den Fingerspitzen aber erst 800 bis 1000 Schwingungen zur Verschmelzung, und die verschiedenen anderen Körper- stellen schwankten zwischen diesen Extremen. Die Angaben von Sergi °) stehen mit diesen Werten in Übereinstimmung. Auch einige ältere Autoren haben bereits die außerordentlich entwickelte Fähigkeit der Drucknervenenden, kurze Intervalle zu perzipieren, beobachtet. So soll ein rotierendes Zahnrad, dessen Zacken gegen die Haut schlagen, noch keine einheitliche Empfindung geben, wenn die Zahl der Be- rührungen 480 bis 640 in der Sekunde beträgt, und die Vibrationen einer Saite sollen noch bei einer Frequenz von 1552 in der Sekunde einzeln wahrgenommen werden. Es scheint demnach sicher zu sein, daß sehr häufig wiederkehrende Stöße (bis 1000 in der Sekunde) noch eine Empfindung des Schwirrens geben. Bei der Deutung dieser Tatsache wäre daran zu denken, daß ebenso viele, einander ganz ähnliche Erregungsprozesse sowohl in den Endorganen, als in den Nerven und in den Zentren pro Zeiteinheit ablaufen, daß also jeder !) Stud. from the Yale Psychol. Laborat. 4 (1896). — *) Amer. Journ. of Psychol. 1, 72, 1887. — ?) Vorlesungen über Physiologie 1904, 8. 319. — *) Die Prüfung der Hautsensibilität vermittelst Stimmgabeln, Diss., Marburg 1890. — 5) Zeitschr. f. Psychol. und Physiol. der Sinnesorgane 3, 179. 668 Zeitlicher Ablauf der Druckempfindungen. Reiz für sich empfunden wird. Eine solche Annahme ist zwar einfach, scheint aber allzu große Forderungen an die Reaktionsschnelligkeit der be- treffenden Teile zu stellen und steht im Widerspruche mit dem einwandfreien Ergebnisse von v. Kries und Auerbach!), v. Vintschgau und Durig?), nach welchen die für die Unterscheidung zweier, an verschiedenen Hautstellen applizierter, sonst möglichst gleicher Reize erforderliche Zeit zwischen 0,021 und 0,036 Sekunden beträgt. Es liegen in der Literatur auch andere An- gaben über ebenso niedrige Werte vor; so soll nach Bloch?) schon bei 40 bis 70 Schwingungen pro Sekunde eine Verschmelzung der Empfindungen erfolgen. Übrigens ist bei allen Versuchen an der Haut mit Stimmgabeln oder ähnlichen Apparaten die Möglichkeit zu berücksichtigen, daß das Gefühl von Zittern nicht durch die Haut, sondern durch tiefere Gewebe ausgelöst zu werden scheint. Nach Egger *) scheinen die Knochen (oder das Periost), durch Stimmgabelschwingungen erregt, mit deutlichen Empfindungen von Schwirren zu antworten. Jedenfalls ist die ganze Frage noch nicht voll- ständig spruchreif und ist einer weiteren Untersuchung wohl wert. Während die Nervenfasern nur für schnelle Druckänderungen reizbar sind, zeigen die Endapparate des Drucksinnes die Eigentümlichkeit, daß sie von den auf der Körperhaut langsam anwachsenden, beziehungsweise an- dauernden Drucken wohl Empfindungen geben. Dabei sind jedoch die Größen der Reize von Bedeutung. An haarlosen Hautstellen haben v. Frey und Kiesow 5) gefunden, daß Belastungen, welche nahe der Schwelle liegen, auch bei einer Dauer von 20 und mehr Sekunden nur vorübergehend empfunden werden. Bei allmählicher Reizverstärkung wird mit stets wachsen- der Deutlichkeit auch die Dauer der Belastung wahrgenommen, bei noch größerer Belastung auch die Entlastung. Bei sehr großen Belastungen wurde sodann eine weitere Schwelle erreicht, bei der die Entlastungen wiederum nicht erkannt wurden, indem die, Druckempfindung trotz Wegnahme des Reizes noch eine gewisse Zeit andauerte. Die eigentlichen Tastflächen zeigen jedoch dieses Verhalten nicht oder. nur spurenweise, während es an anderen Hautstellen wie auf der Dorsalseite der Hand und an den Fingern, auf dem . Unterarm und auf der Stirn wohlausgeprägt gefunden wird. Auf dieser Tatsache beruht ein beliebter Vexierversuch. Drückt man einen harten flachen Gegenstand eine Zeitlang gegen die Stirn, so wird er, behutsam weg- genommen, noch einige Zeit gefühlt, und man läßt sich leicht zu dem Versuch verleiten, den scheinbar anklebenden Gegenstand durch Stirnrunzeln zum Abfallen bringen zu wollen. Häufig spielen in solchen Versuchen auch nach- dauernde Kälteempfindungen eine Rolle. Diese nachdauernden Druckempfindungen werden von v. Frey auf die nach Druckreiz häufig nachdauernde Deformation der Haut, auf das sog. Druckbild bezogen, welches nur langsam ausgeglichen wird. Anderseits werden Gegenstände, welche sehr lange eine druckempfind- liche Stelle berührt haben, nicht dauernd gefühlt. Man merkt z. B. beinahe gar nicht die Kleider, welche der Haut anliegen, die Platte der falschen Zähne !) du Bois-Reymonds Arch. 1877. — ?) Pflügers Arch. 69, 377, 1898. — °) Travaux de Laboratoire de Marcy 3 (1876/77); & (1878/79). — *) Journ.‘ de Physiol. et de Pathol. 1899, p. 511. — °) v. Frey, Leipziger Abh. 1896, 8. 183. Kiesow, Arch. ital. de Biol. 26, 417, 1896. D an Verbreitung der Temperaturempfindlichkeit. 669 und die Anwesenheit von Brillen oder Ringen. Die Ursache dieser Erschei- nungen dürfte psychologischer Natur sein. Es ist ein Phänomen psychischer Adaptation, wenn andauernde Empfindungen, welche für das Individuum keine Bedeutung haben, aus dem Bewußtsein verdrängt werden. Mit dieser Erklärung steht die Beobachtung gut im Einklang, daß, wenn die Gegen- stände, an deren Berührung eine Stelle gewöhnt ist, weggenommen werden, man häufig sehr lange eine deutliche Vorstellung des Nichtdaseins, des Fehlens des betreffenden Gegenstandes hat. V. Die Kälte- und Wärmeempfindungen. Obgleich die psychologische Analyse ohne weiteres zeigt, daß die Wärme- ° und Kälteempfindungen zwei ganz verschiedene Empfindungsarten sind, hat man doch erst spät erkannt, daß das Vermögen unserer Haut, Kälte- empfindungen auszulösen, und ihre Fähigkeit, Wärmeempfindungen zu er- zeugen, voneinander unabhängig variieren können und daß demnach die Existenz besonderer Kälte- und besonderer Wärmenerven angenommen werden muß. age Es wäre in der Tat nach der Entdeckung der gegenseitig unabhängigen Stellung der Wärme- und Kälteempfindungen möglich und in systematischer Hinsicht sicher richtig, der Physiologie der Kälte- und Wärmeempfindungen je ein besonderes Kapitel zu widmen; vielleicht wäre ein solches Verfahren auch nützlich, weil man nicht so leicht dazu verleitet wird, wie bei gemeinsamer Behandlung die Eigenschaften und Eigentümlichkeiten, welche für die Nerven und Empfindungen der einen Art gelten,. ohne weiteres auf die der anderen zu beziehen. Da indessen .die meisten Versuche auf diesem Gebiete ver- mehrtes Interesse durch den Vergleich gewinnen, sollen hier doch die Kälte- und Wärmeempfindungen untereinander vermischt behandelt werden. Die Verbreitung der Kälte- und Wärmeempfindlichkeit. Kälte- und Wärmeempfindungen lassen sich an folgenden Körperteilen auslösen: an der ganzen äußeren Haut, an der Haut des äußeren Gehörganges, an den Schleimhäuten der Mund- und Rachenhöhle, des vorderen Einganges und des Bodens der Nasenhöhle und der oberen Fläche des Gaumenvorhanges, an der Schleimhaut des Afters (Weber, Hering!). Die Temperaturempfindlichkeit der äußeren Haut ist ja durch die alltägliche Erfahrung über jeden Zweifel erhaben. Über die anderen Körperteile mögen die vorhandenen Angaben näher mitgeteilt werden. Die ersten rühren von Weber her. Über die inneren Teile der Nase be- merkt Weber): Zieht man bei großer Winterkälte mit Kraft sehr kalte Luft ein, so empfindet man die Kälte am Eingang der Nase, auf dem Boden derselben und auf der oberen Fläche des Gaumenvorhanges, nicht aber in den höheren Regionen. Ebenso empfindet man die Kälte eines kalten, runden, glatten Eisenstäbchens, das man in die Nase einbringt, nur am Eingange, nicht in den höheren Regionen. Auch nach Dessoir?) verursacht eine stark erwärmte, bzw. abgekühlte Sonde weder am Septum noch an der unteren Muschel Temperaturempfindungen. Sehr warme oder sehr kalte Getränke lösen nach Weber an der Zunge, dem !) Weber in Wagners Handwb. 3, 481; Heringin Hermanns Hand. 3 (2), 415. — ?) Wagners Handwb. 3 (2), 8. 515. — °) du Bois-Reymonds Arch. 1892, 8. 276. 670 Adaptationserscheinungen. Gaumen .und im Schlunde die entsprechenden Empfindungen aus, weiter unten aber nicht. Bei Nachprüfung fand Dessoir, daß im Schlunde und dem Oesophagus Temperaturempfindungen bis etwa zur Stelle des Ringknorpels ausgelöst werden können. Was die Larynxschleimhaut betrifft, so vermitteln nach Pieniaczek!) und Dessoir die Epiglottis am Rande und an der vorderen und hinteren Fläche, der Sinus pyriformis, die Schleimhaut der Aryknorpel, der Stimm- und Taschenbänder und diejenige unterhalb der Glottis ausgeprägte Temperaturempfin- dungen. Das Zahnfleisch, aber nicht die Zahnpulpa, gibt auch Temperaturempfin- dungen (Dessoir u. v. Frey?). Die Cornea und Conjunctiva bulbi entbehren nach mehreren Beobachtern (v. Frey°), Nagel*) der Wärmeempfindungen, von Donaldson°) sind jedoch solche konstatiert (individuelle Verschiedenheiten ?). Sicher dürfte das Vermögen, Wärmeempfindungen hier auszulösen, wenn überhaupt vorhanden, sehr selten sein, Kälteempfindungen können dagegen, wenigstens in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle, von der Conjunctiva bulbi und dem Randteil der Cornea ausgelöst werden, wenn nur angemessene Temperaturreize angewandt werden. Die Conjunetiva des unteren Lides verhält sich wie die Conjunctiva bulbi, ebenso die Plica semilunaris und die Caruncula. Die Umschlagsfalte zeigt eine auffallend hochgradige Kälteempfindlichkeit. Die Conjunctiva des oberen Lides scheint keine Temperaturempfindung zu geben (Nagel). Die Glans penis entbehrt nach einigen Angaben (Dessoir, Herzen‘) der Temperaturempfindungen. Nach v. Frey kommt ihr jedoch eine ausgeprägte Kälteempfindlichkeit zu (individuelle Verschiedenheiten?). Die inneren Teile des Körpers, mit Ausnahme der hier er- wähnten Schleimhäute, entbehren der Kälte- und Wärmeempfindlichkeit. Im be- sonderen ist dies durch Weber und in letzterer Zeit durch Lennander’) für die Bauchhöhle nachgewiesen. Die teleologische Bedeutung der Temperaturempfindungen scheint darin zu liegen, daß sie Nachricht darüber geben, ob die Temperatur des äußeren Mediums angemessen ist oder nicht, und daß sie dadurch das Auf- suchen eines Aufenthaltsortes veranlassen, an dem die Temperaturverhältnisse günstige sind, oder überhaupt Maßregeln bewirken, durch welche in irgend einer Weise eine Anpassung an die bestehenden Temperaturverhältnisse erzielt wird. Sie sind auch vielleicht von Bedeutung für die Wärmeregulierung des Körpers. - Doch liegen bisher keine Untersuchungen vor, ob sie reflektorisch Variationen in der Intensität der Verbrennungsprozesse, in der Blutverteilung und in der Tätigkeit der Schweißdrüsen hervorrufen können. Der Gefühlston der Temperaturempfindungen ist wechselnd. Doch ist beinahe immer kräftige und ausgedehnte Kälteempfindung sehr unan- genehm, während nicht zu intensive Wärmeempfindungen Wohlgefühl erregen. War der Körper zuvor hochgradiger Wärme ausgesetzt, so wirkt im all- gemeinen eine nachherige Kälteempfindung angenehm, und umgekehrt scheint Wärme besonders wünschenswert, wenn die Körperoberfläche der Kälte lange ausgesetzt war. Die Adaptationserscheinungen. Wenn ein die Haut berührender Gegenstand, dessen Temperatur an der Berührungsfläche während der Berührung konstant bleibt, keine Empfindungen von Kälte oder Wärme verursacht, ist die Hautstelle für diese Temperatur adaptiert. Um die Bedingung ') Jahrb. d. Gesellsch. Wiener Ärzte 1878, 8. 481 (zit. nach Dessoir a.a. O., 8. 277). — ?) Sächs. Ber. 1895, 8. 179. — °?) A. a. O., 8. 166. — *) Pflügers Arch. 59, 563. — °) Mind 10, 399, 1885, zit. nach v. Frey, a. a. 0. — °) Pflügers Arch. 38, 102. — 7) Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie 10, 38, 1902. Lage der Indifferenztemperatur. 671 zu erfüllen, daß die Oberflächentemperatur während der Berührungszeit kon- stant bleibt, muß der Gegenstand gut wärmeleitend sein und eine große Wärmekapazität haben, was am besten dadurch erreicht wird, daß man ein Gefäß mit dünnem Metallboden anwendet und im Innern desselben einen genügend kräftigen Wasserstrom von konstanter Temperatur zirkulieren läßt. Die konstante Berührungstemperatur, welche weder kalt noch warm empfunden wird, mag als die Indifferenztemperatur bezeichnet werden. Man könnte auch anstatt dieses Ausdruckes von einer thermischen Indifferenz- breite (Leegaard!) sprechen, da die fragliche Temperatur — was ja eigentlich selbstverständlich ist — auch für eine und dieselbe Hautstelle in derselben Zeit nicht durch einen ganz bestimmten Punkt an der Thermometerskala repräsen- tiert wird, sondern in einer kleinen Strecke, welche in der Regel, wie Lee- gaard gezeigt hat, 0,5% C nicht übersteigt. Diese Indifferenztemperatur ist zu einer und derselben Zeit für verschiedene Hautstellen, aber auch für eine, und dieselbe Hautstelle zu verschiedenen Zeiten verschieden. Diese Tatsachen sind schon mit großer Wahrscheinlichkeit aus der all- täglichen Erfahrung zu erschließen. Obgleich die entblößten Teile der äußeren Haut einer niedrigeren Temperatur ausgesetzt sind als die bedeckten, fühlen wir meist in einem wohltemperierten Zimmer an keiner Stelle des Körpers Wärme oder Kälte. Und wenn wir einen Raum, in welchem wir keinerlei Temperaturempfindungen haben, mit einem etwas wärmeren ver- tauschen, so empfinden wir anfangs Wärme, nach längerem Aufenthalte aber im zweiten Raume kann jede Temperaturempfindung wieder verschwinden. Noch besser ist die Verschiedenheit der Indifferenztemperaturen an verschiedenen Hautstellen und zu verschiedenen Zeiten durch besondere darauf gerichtete einwandfreie Versuche dargetan worden — Versuche, bei welchen zur Berührung Gegenstände von konstanter Berührungstemperatur angewendet wurden. Hinsichtlich der Lage der Indifferenztemperatur hat Leegaard ge- funden, daß sie gewöhnlich zwischen 28 bis 29° zu suchen ist. (Vielleicht sind jedoch diese Werte etwas zu niedrig.) Die Indifferenztemperaturen aller Teile der Hautoberfläche nähern sich diesem Mittelwert. Nichtsdestoweniger findet man deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Körperteilen. Es zeigt sich nämlich, daß die Indifferenztemperaturen auf den bedeckten und zentralen Teilen des Körpers ziemlich konstant sind, auf den unbedeckten und peripheren dagegen größere Schwankungen zeigen. Während die In- differenztemperatur des Schenkels unter normalen Verhältnissen nicht niedriger ‚als 28 und nicht höher als 30° gefunden wurde, ergab sich aus den Versuchen Leegaards, daß sie am Handrücken beinahe bis 23° herunter und bis über 33° hinaufgehen konnte. Sie umfaßte also hier einen Bereich von mehr als 10°. Diese Werte Leegaards sind jedoch noch keineswegs als Extreme anzusehen. Man kann z. B. die Finger für eine Temperatur von ungefähr 11°C adaptieren, so daß man eine deutliche Wärmeempfindung von einer konstanten Temperatur von 12°C erhält, und man kann sie für eine Temperatur von 39° adaptieren, so daß nur eine unbedeutende Erniedrigung eine Kälteempfindung verursacht (Thunberg?). !) Deutsch. Arch. f. klin. Med. 48 (1891). — ?) Upsala Läkaref. förh. 30 (1894/95). 672 Hauttemperatur und Temperatur der Endorgane. Diese Angaben beziehen sich auf die Temperatur des die Haut berühren- den Gegenstandes. Wie verhält sich aber dabei die Temperatur der End- organe? Gehen deren Temperaturschwankungen mit denen der äußeren Temperatur parallel, so daß also auch für die Endorgane die Temperatur ver- schieden ist, bei welcher keine Temperaturempfindung ausgelöst wird? — (Diese Indifferenztemperatur der Endorgane mag nach Hering!) als der physio- logische Nullpunkt bezeichnet werden.) — Die Frage ist noch nicht durch direkte Messungen der Temperatur der Endorgane gelöst worden, und es mögen deshalb zuerst die verschiedenen Möglichkeiten diskutiert werden. Entweder bleibt der physiologische Nullpunkt der Endorgane konstant bei wachsender Außentemperatur oder erfährt parallelgehende Änderungen. Gegen die erste Möglichkeit könnte man den Einwand erheben, daß man durch direkte Messungen der Temperatur einer gewissen Hautstelle gefunden hat, daß diese bei wechselnden äußeren Temperaturbedingungen, wenn keine "Temperaturempfindung ausgelöst wird, doch verschieden temperiert ist, und daß also der physiologische Nullpunkt, in der hier angewandten Fassung also die Indifferenztemperatur der Endorgane, nicht konstant sein kann. In dieser Beweisführung fehlt jedoch ein notwendiges Glied, nämlich der Nachweis, daß die Temperatur der Endapparate wirklich die gleiche ist wie die, welche durch Messung der Temperatur der freien Hautfläche gefunden ist, oder daß sie wenigstens in derselben Richtung wie diese sich ändert. Daß dieses nicht sicher der Fall ist, geht aus folgender Überlegung hervor: Da die Haut gewöhnlich von innen erwärmt und nach außen abgekühlt wird, müssen die verschiedenen Schichten eine um so niedrigere Temperatur haben, je näher der Oberfläche sie liegen. „Hauttemperatur“ ist also ein nicht ganz korrekter Ausdruck; er kann jedoch angewendet werden, um den Wert zu bezeichnen, welchen man bei Messung der Temperatur der Hautoberfläche bekommt. Da indessen bei einer solchen Temperaturmessung meistens ein Temperaturausgleich stattfindet, ist der erhaltene Wert ein Durchschnitts- wert für die Hautschichten, welche an dem Temperaturausgleich teilnehmen. Die Annahme, daß man die Temperatur der thermischen Endorgane durch die eben erwähnte Temperaturmessung der Hautoberfläche bestimmt, wäre nur berechtigt, wenn ihre Temperatur in derselben Weise wie die so erhaltenen Werte geändert wurde, was nicht erwiesen ist. Wenn z. B. die Temperatur der Oberfläche durch die Berührung eines kalten Körpers gesunken ist, die tiefsten Hautschichten dagegen durch einen vermehrten Blutzufluß eine erhöhte Temperatur angenommen haben, so ist ein steileres Temperaturgefälle von innen nach außen eingetreten. Die tieferen Hautschichten haben also eine höhere Temperatur, die oberflächlicheren eine niedrigere angenommen, und dazwischen gibt es eine Schicht, die ihre Temperatur behalten hat. Da indessen die Lage der temperaturempfindlichen Endorgane zu dieser neu- tralen Schicht nicht bekannt ist, kann man nicht ohne weiteres schließen, daß die Temperatur der Endorgane niedriger ist, wenn man bei Messung der Oberflächentemperatur einen niedrigeren Wert abliest. Es wäre ja möglich, daß sie dieselbe Temperatur wie vorher haben, ja vielleicht eine noch höhere. Da übrigens die Kälte- und die Wärmeendorgane verschieden tief !) Sitzungsber. d. Wien. Ak., 3. Abt., 75, 108, 1877. Webers Theorie. 673 liegen dürften, können sie vielleicht ihre Temperatur in verschiedener Weise ändern. Man könnte zwar gegen diese Überlegungen den Einwand geltend machen, daß die Gefäße der Haut bei niederer Lufttemperatur verengert werden, ein Vorgang, der bekanntlich für die Regulierung des Wärmever- lustes von großer Bedeutung ist. Dieser Satz dürfte nicht allgemein gültig sein. Es ist leicht zu beobachten, daß, wenn ein Finger in Wasser von z.B. 10° gehalten wird, eine deutliche Gefäßerweiterung entsteht. Die teleo- logische Erklärung dazu kann man darin sehen, daß die Hautgefäße auch die Aufgabe haben, die Haut gegen solche Temperaturänderungen zu schützen, welche ihrer Integrität schaden können. Unter solchen Umständen wäre es also möglich, daß durch Variationen der Blutzufuhr zu der Haut dafür gesorgt wird, daß die Endapparate der Temperaturnerven trotz der Schwankungen der äußeren Temperatur inner- halb gewisser Grenzen, den Grenzen der Adaptation, allmählich zu der- selben Temperatur zurückkehrten, so daß dadurch sich das allmähliche Ver- schwinden der Temperaturempfindungen erklären würde. Man kann indessen durch Versuche an anämischen Fingern leicht zeigen, daß sie trotzdem die Verschiebung des physiologischen Nullpunktes sehr deutlich zeigen (Thun- berg); da also die Anpassung auch bei künstlicher Blutleere zu beob- achten ist, kann sie nicht durch Änderung der Blutzufuhr zu der Haut erklärt werden und muß durch die Eigenschaften der temperaturempfindlichen Endorgane bedingt sein. Der adäquate Reiz. Die Frage, welches das adäquate Reizmittel für die Kälte- und Wärmeendorgane ist, ist zurzeit Gegenstand zweier Theorien, der von Weber?) und der von Hering) (diejenige von Vierordt‘) kann nicht mehr in Frage kommen). E.H. Weber hat die Ansicht ausgesprochen, daß die Empfindungen der Wärme oder Kälte nur dann eintreten, wenn sich die. Temperatur unserer Haut ändert, nicht aber dann, wenn sie auf einem bestimmten Grade verharrt. „Wenn“, sagte er, „die unsere Haut umgebenden und berührenden Körper eine solche Temperatur haben, daß die Temperatur unserer Haut, ungeachtet wir selbst eine Wärmequelle in uns haben, weder steigt noch sinkt, so scheinen uns dieselben weder warm noch kalt, bringen sie die Temperatur der Haut zum Steigen, so scheinen sie uns warm zu sein, für kalt dagegen erklären wir sie, wenn durch ihren Einfluß die Temperatur unserer Haut sinkt.“ „Es scheint, als ob wir viel mehr den Akt des Steigens oder Sinkens der Tem- peratur unserer Haut als den Grad wahrnehmen konnten, bis zu welchem die Temperatur gestiegen oder gesunken ist.“ Nachdem das Vorhandensein besonderer Endapparate für Wärme- und für Kälteempfindungen entdeckt worden ist, ließe sich die Webersche Theorie dahin formulieren, daß die Wärmeendorgane durch Erhöhung ihrer Eigentemperatur, die Kälteendorgane durch Erniedrigung der ihrigen erregt werden. !) Upsala Läkaref. förh. 30 (1894/35). — °) Wagners Handwb. 3, 2. Abteil.; 549. — °) Sitzungsber. d. Wiener Akad., 3. Abteil., 75, 101, 1877. — *) Grundriß d. Physiol., 5. Aufl., 1877, S. 355. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 43 674 Webers Theorie. Es gibt eine Menge hierhergehöriger Erscheinungen, welche sich unter diesen Gesichtspunkten zusammenfassen lassen. Da ja die Haut normalerweise von innen her erwärmt und nach außen ab- gekühlt wird, müssen die Temperaturen der verschiedenen Schichten und also auch der in ihnen liegenden Endorgane durch die jeweilige Größe dieser zwei Faktoren, der Erwärmung von innen und der Abkühlung nach außen be- bestimmt sein. Eine Änderung der Eigentemperatur der Endorgane wird eintreten müssen, sobald eine Störung des bis dahin vorhanden gewesenen Gleichgewichtes zwischen Zufuhr und Abfuhr der Wärme eintritt, und zwar wird eine Steigerung jener Eigentemperatur erfolgen, wenn sich die Abfuhr mindert, während die Zufuhr konstant bleibt, oder wenn sich die Zufuhr steigert, während die Abfuhr unverändert bleibt, oder wenn beide sich steigern, aber die Zufuhr mehr als die Abfuhr, oder endlich, wenn sich beide ver- ringern, aber die Abfuhr weniger als die Zufuhr. In ganz analoger Weise sind vier verschiedene Ursachen für ein Sinken der Eigentemperatur der Endorgane denkbar. Wie die Erfahrung und das Experiment gezeigt hat, entsteht nun eine Wärmeempfindung, in welcher Weise auch die Eigentemperatur der Wärme- endorgane erhöht wird, eine Kälteempfindung, in welcher Weise auch die Tem- peratur der Kälteendorgane zum Sinken gebracht wird. Unter diesen Um- ständen ist die Vierordtsche Ansicht, daß die Richtung des Wärmestromes die Art der Empfindung bestimmt, nicht haltbar, wie Hering hervorgehoben hat. Dagegen steht dies Auftreten der Temperaturempfindungen in bester Über- einstimmung mit der Weberschen Theorie. Auch die Tatsache, daß innerhalb gewisser Grenzen der äußeren Temperatur die zuerst vorhandenen Temperatur- empfindungen allmählich verschwinden, läßt sich nach Webers Theorie deuten. Für jede konstant bleibende Größe der Wärmeaufnahme und -abgabe der Haut bildet sich allmählich ein neuer Gleichgewichtszustand für die Endorgane aus; ist dieser eingetreten, die Temperatur also konstant, so ist auch die Temperaturempfindung verschwunden. ‚Es erhob sich aber bald die Frage, ob die Theorie Webers zureichend ist. Weber führt selbst einen Versuch an, welcher dieser Ansicht zu wider- sprechen scheint. „Wenn man“, sagt er, „einen Teil der Haut des Gesichts, z. B. der Stirn, mit einem +2°R kalten Metall einige Zeit, z. B. 30 Sekunden, in Be- rührung bringt und denselben dann entfernt, so fühlt man ur.gefähr 21 Sekunden lang die Kälte an jenem Teile der Haut.“ Nach dem, was soeben mitgeteilt worden, hätte man glauben sollen, wir würden das Gefühl der Wärme haben, während ein erkalteter Teil der Haut wieder. erwärmt wird. Weber vermutet daher, daß in diesem letzteren Falle das Gefühl der Kälte nicht dadurch entsteht, daß die Nerven des gekühlten Hautstückes, sondern daß die Nerven der angrenzenden Haut, der nun von der Haut Kälte mitgeteilt wird, die Empfindung der Kälte hervorbringen. Hering hat indessen hervorgehoben, daß, wenn Webers Theorie richtig wäre, infolge der relativ bedeutenden Temperatursteigerung des mit dem Metalle in Berührung gewesenen Hautstückes eine Wärmeempfindung an diesem entstehen müßte. Aber eine solche bemerkt man nicht. Bei dieser Sachlage und im Hinblick auf die Tatsache, daß wir, wie schon Fechner!) und Vierordt bemerkt haben, anhaltende Temperatur- ‘) Elemente der Psychophysik, Leipzig 1860, 8. 201. Dial 2 en an et nn u ne Webers und Herings Theorien. 675 empfindungen haben können, hat Hering die Ansicht ausgesprochen, daß nicht nur die im Endorgan vor sich gehende Temperaturänderung reizend wirkt, sondern auch die absolute Temperatur. Seine Theorie hat Hering in folgender Weise ausgeführt. Wenn ich an irgend einer Hautstelle weder Wärme noch Kälte empfinde, kann man die Eigentemperatur der nervösen Apparate als die physiologische Nullpunktstemperatur bezeichnen. Jede Eigentemperatur des nervösen Apparates, welche über der physiologischen Nullpunktstemperatur liegt, wird als Wärme, jede unter der Nullpunktstemperatur liegende als Kühle oder Kälte empfunden. Die Deutlichkeit der Wärme- oder Kälteempfindung wächst unter sonst gleichen Umständen mit dem Abstande der jeweiligen Eigentemperatur von der Nullpunktstemperatur. Die physiologische Nullpunktstemperatur ist an ‘derselben Hautstelle innerhalb gewisser Grenzen variabel, und verschiedene Hautstellen haben überdies verschiedene mittlere Nullpunktstemperaturen. Jede als warm empfundene Eigentemperatur des nervösen Apparates bedingt eine Verschiebung des Nullpunkts nach oben, jede als kalt empfundene eine Verschiebung nach unten. Bei sehr langer Konstanz einer als warm oder kalt empfundenen und von der ursprünglichen Nullpunktstemperatur nicht zu stark abweichenden Eigentemperatur kann schließlich die Verschiebung des Nullpunktes so erheblich werden, daß er mit jener Eigentemperatur zu- sammenfällt. Hering nahm bei der Aufstellung seiner Theorie an, daß die Wärme- und Kälteempfindungen von demselben nervösen Apparate vermittelt werden. Nach der Entdeckung der Kälte- und Wärmepunkte muß ja dieser Teil der Heringschen Theorie fallen. Der wesentliche Inhalt derselben, nämlich die Ansicht, daß Temperaturempfindungen auch bei konstanter Temperatur der Endorgane ausgelöst werden, und daß der physiologische Nullpunkt sich all- mählich in der Richtung der einwirkenden Temperatur verschiebt, ist jedoch mit diesem Teil nicht so fest verbunden, daß sie nicht trotzdem beibehalten werden könnte; die Theorie ist denn auch von den meisten Forschern mit Vorbehalt der nötigen Modifikationen als wahrscheinlich richtig angenommen. Eine Analyse der beiden Temperatursinnestheorien und ihrer Konsequenzen und ein Vergleich mit den Tatsachen zeigt indessen, daß diese allgemein verbreiteten theoretischen Ansichten nicht genügend begründet sind. Nach Weber soll eine Temperaturempfindung nur so lange dauern, als die Temperaturänderung in der Schicht der Endorgane vor sich geht, nach Hering nicht nur während dieser Zeit, sondern auch nachdem die Endorgane in das neue stationäre Temperaturstadium eingetreten sind, und zwar so lange, bis der physio- logische Nullpunkt durch eine langsam sich vollziehende Verschiebung die neue Temperatur der Endorgane erreicht hat. — Nach Hering hätten also die Tem- peraturempfindungen bei konstantem Reiz bedeutend längere Dauer als nach Weber. Durch eine Untersuchung dieser Dauer hat Holm!) zu entscheiden ver-_ sucht, welche der beiden Theorien die richtige ist. Es zeigte sich dabei, daß die Dauer der Temperaturempfindungen recht kurz ist, wenn man nur eine Verbreitung des Reizes zu immer neuen Endorganen verhindert. Die Dauer der von der Bauch- haut ausgelösten Kälteempfindungen bei Reizung mit einer konstant temperierten Metallfläche ist aus folgender Tabelle ersichtlich. Unter A ist die applizierte Temperatur angegeben, unter B die Durchschnitte aus den erhaltenen Einzelwerten der Zeitdauer in Sekunden: !) Skand. Arch. f. Physiol. 14, 242, 1903. 43* 676 Webers und Herings Theorien. A | B A B A B 30° BR, 20° 72 10° 165 250 47 15° 112 5° 210 Die Dauer der Wärmeempfindungen zeigt die folgende Tabelle: Holm deutet diese Ergebnisse zugunsten der Weber- A B schen Theorie... Es ist zwar nicht direkt bewiesen worden, daß die Temperaturempfindungen nur so lange 40° 126 andauern wie die Temperaturänderung, aber die 45 152 Zahlen zeigen doch, daß die Dauer der Empfindung in einer Größenordnung gefunden wird, die eine Über- einstimmung mit der Zeitdauer der Temperaturänderung wahrscheinlich macht. Diese letztere darf jedenfalls nicht allzu gering veranschlagt werden, da ja die Epidermis ein besonders schlechter Wärmeleiter ist und die Temperaturausgleichung durch sie hindurch sehr langsam ablaufen muß. Übrigens wird die Richtigkeit der Weber- schen Theorie nicht dadurch widerlegt, daß bisweilen besonders lange dauernde Temperaturempfindungen erhalten werden können. Webers Theorie verlangt im Gegenteil, daß, wenn die Temperaturänderung in der Schicht der Endorgane längere Zeit andauert, die Sensation ebenso lange andauern muß. Endlich hat Holm!) die nach Wegnehmen des Reizmittels zurückbleibenden Temperaturempfindungen einer Analyse unterworfen;. war doch das Fortdauern der Kälteempfindung nach Aufhören des Reizes als entscheidender Beweis zugunsten der Heringschen Theorie herangezogen worden. Zwar zeigte sich die Webersche Erklärung unge- nügend, da zurückbleibende Temperaturempfindungen auch dann beobachtet wurden, wenn eine Verbreitung des Reizes auf die umliegenden Hautteile verhindert war. Die Temperaturempfindungen blieben aber doch nur unter zwei Umständen zurück: Erstens wenn ein starker Temperaturreiz sehr kurz eingewirkt hatte. In diesem Falle kann das Überdauern der Temperaturempfindung, wie schon Hering hervor- gehoben hat, sehr wohl nach Webers Theorie erklärt werden. Während der schnellen Berührung mit einem warmen Gegenstande werden nur die oberflächlichen Schichten der Haut erwärmt, und bei der darauf folgenden Teemperaturausgleichung fährt die Temperatur in den Wärmeendorganen fort, während der Zeit der Nach- sensation zu steigen. In ähnlicher Weise sind die nach sehr kurzer Kältereizung zurückbleibenden Kälteempfindungen zu erklären. Zweitens entstehen nach inten- siven, lange dauernden Kältereizen zurückbleibende Kälteempfindungen, und diese sind dadurch gekennzeichnet, daß sie erst nach einer kleinen Pause nach der Weg- nahme des Reizes auftreten. Wahrscheinlich liegen hier nach Alrutz?) und Holm paradoxe Kälteempfindungen (siehe unten) vor, welche durch eine vom Blut bewirkte schnelle Erwärmung der vorher niedrig temperierten Kälteendorgane ver- ursacht sind. Während also die Ergebnisse der Untersuchungen über zurückbleibende Tem- peratursensationen der Weberschen Theorie nicht widersprechen, sprechen sie ent- schieden gegen die Heringsche. Durch Holms Versuche ist nämlich erwiesen, daß zurückbleibende Kälteempfindungen nur bei sehr intensiven Reizen entstehen. Reize mittlerer Intensität, welche doch sehr deutliche Kälteempfindungen hervor- rufen, geben keine nachdauernde Empfindung. Da aber nach Hering die absolute Temperatur der Endorgane reizend wirkt, so wäre man berechtigt, auch bei schwächerer Reizung zurückbleibende Kältesensationen zu erwarten. Die Lehre von der Verschiebbarkeit des physiologischen Nullpunktes kann hierbei zugunsten . der Heringschen Theorie kaum herangezogen werden, denn wenn der Nullpunkt genau so schnell verschoben wird, wie die Temperaturänderung vor sich geht, würde ja Herings Theorie mit der Webers zusammenfallen. ') Skand. Arch. f. Physiol., 8. 249, 1908. — 2) Undersökningar öfver y g smärtsinnet, Upsala 1901, 8. 113. m. Bedeutung der Temperatur der Endorgane. 677 Da die Schwierigkeiten, welche die andauernden und die zurückbleiben- den Temperaturempfindungen für die Theorie Webers ausmachten, als be- seitigt angesehen werden können, während Herings Theorie dabei auf immer größere Hindernisse stößt, dürfte vorläufig Webers Theorie als die zurzeit wahrscheinlichste zu betrachten sein. Die Frage kann aber nicht als ent- schieden angesehen werden, ehe nicht die physikalischen Konstanten für die äußeren Hautschichten so weit bekannt sind, daß die Wärmeausgleichung in der Haut quantitativ berechnet werden kann. Stellt man sich also auf den Boden der Weberschen Theorie, so fragt sich jetzt, was die Stärke der Temperaturempfindung bestimmt. Wenn auch dieses Problem noch nicht eingehend behandelt ist, kann man doch mit ziemlicher Sicherheit vermuten, daß die Intensität von der Geschwindigkeit der Änderung der Eigentemperatur der Endorgane vor allem bedingt ist, und daß demnach die Bedingung für eine Temperaturempfindung dahin präzisiert werden kann, daß die Endorgane in der Zeiteinheit von einer Temperatur- änderung betroffen werden müssen, welche eine gewisse noch nicht bestimmte Größe hat. Jedoch auch die Temperatur der Endorgane scheint, ohne als eigent- licher Reiz in Betracht zu kommen, von Bedeutung für den Reizerfolg zu sein, indem ein Reiz, der eine Temperaturänderung von derselben Geschwin- digkeit bewirken würde, wirksamer sein dürfte, wenn die von dem Reize ge- troffenen Endorgane ihre mittlere Temperatur haben, als wenn sie durch einen vorherigen Temperaturreiz erwärmt oder erkältet sind. Inwieweit dies durch Ermüdungserscheinungen oder durch die von der Temperaturlage bewirkten Erregbarkeitsänderungen beeinflußt wird, ist noch nicht genügend bekannt. Nach Goldscheider !), der die Bedeutung dieser Dinge zuerst hervorgehoben hat, entfaltet ein Temperaturreiz folgende für neue Reize bedeutungsvolle Einwirkungen auf die Temperaturnerven: 1. Er verändert die Temperatur der Haut und damit die Größe der Wärmeaufnahme oder -abgabe gegen- über den späteren Reizen. 2. Er schafft in den gleichsinnigen Nerven einen Erregungszustand, welcher zugleich mit der Nachdauer der ihm selbst zu- geordneten Empfindung die Reizempfänglichkeit derselben herabsetzt. 3. Er verändert mit der Hauttemperatur überhaupt auch speziell diejenige des nervösen Apparates und setzt, wahrscheinlich in gleichsinniger Weise, die Empfindlichkeit sowohl der gleichsinnigen wie ungleichsinnigen Nerven herab. Durch eine Temperaturänderung werden also die ungleichsinnigen Nerven durch eine Ursache in ihrer Erregbarkeit abgestumpft, während für die gleich- sinnigen mehrere Faktoren eine komplexe Wirkung zeitigen. Über andere Fak- toren, die hier mit ins Spiel kommen, aber nicht in unmittelbarem Zusammen- hang mit der Wirkungsweise der Endorgane stehen, siehe unten S. 679 ff. Wenn auch nach dem Gesagten die Webersche Theorie zurzeit als die wahrscheinlichste anzuerkennen ist, muß sie doch in der Weise erweitert werden, daß die Kälteendorgane nicht nur durch Temperatursenkung erregt werden, sondern auch durch eine genügend kräftige und schnelle Temperatur- erhöhung, wie die paradoxen Kälteempfindungen zeigen. Möglicherweise werden auch die Wärmeendorgane nicht nur durch Temperaturerhöhung, !) Ges. Abh. 1, 145. 678 Paradoxe Temperaturempfindungen. sondern auch durch sehr intensive Temperatursenkung erregt, wofür die paradoxen Wärmeempfindungen zu sprechen scheinen. Die paradoxen Temperaturempfindungen. Strümpell') hat zuerst fest- gestellt, daß Nervenkranke, wenn Kälteanästhesie vorhanden ist, nicht selten an- geben, beim Berühren der Haut mit Eisstückchen eine deutliche Wärmeempfindung zu haben. Sehr viel seltener ist nach seinen Beobachtungen die umgekehrte Er- scheinung, daß nämlich Wärmereize eine deutliche Kälteempfindung hervorrufen. Strümpell deutet diese Erscheinungen dahin, daß die Wärmenerven durch den stärkeren Kältereiz in Erregung versetzt werden, und daß in analoger ‚Weise die Kältenerven durch den stärkeren Wärmereiz erregt werden. Von physiologischem Interesse sind diese Beobachtungen Strümpells geworden, nachdem von Leh- mann?) und v. Frey°) konstatiert worden war, daß Kältepunkte mit einer Kälte- empfindung auch bei Reizung mit erwärmten Spitzen reagieren. - Die in dieser Weise entstehenden Kälteempfindungen werden nach v. Frey als „paradoxe“ bezeichnet. Die Richtigkeit dieser Angaben ist nachher von mehreren Forschern bestätigt worden (Alrutz‘), Kiesow°), Thunberg‘), Veress’?), Bader°), und als Resultat dieser Untersuchungen hat sich ergeben, daß die Fähigkeit, durch Wärmereize erregbar zu sein, nicht eine Eigenschaft nur weniger Kältepunkte ist, sondern allen Kältepunkten zukommt. Wenn man flächenförmige Wärmereizung anwendet, werden bei genügender Reizintensität auch die Kältepunkte mit erregt. Die zur selben Zeit entstehenden Wärmeempfindungen übertäuben aber die Kälte- empfindung, so daß es schwierig ist, dieselbe wahrzunehmen. Durch zweckmäßige Änderung des Wärmebestandes der Haut und durch besonders abgepaßte Reiz- mittel kann man aber auch bei flächenförmigew Reizung die paradoxen Kälte- empfindungen isoliert von der Wärmeempfindung hervorrufen. Die betreffenden Versuche fußen in erster Linie auf der Tatsache, daß die Kältenerven durchschnitt- lich oberflächlicher als die Wärmenerven enden’). Auch wenn man beinahe oder ganz wärmepunktfreie Gebiete mit genügend intensiver Wärme reizt, bekommt man isolierte Kälteempfindungen (Alrutz). So dürfte auch die von Nagel!) gefundene Kälteempfindung, welche von der Cornea und Conjunctiva ausgelöst wird, wenn ein Strom heißer Luft dagegen geleitet wird, zu erklären sein. Bei den paradoxen Kälteempfindungen liegt zwar die Vermutung nahe, daß nicht das Endorgan, sondern der Nervenfaden durch die Wärme als allgemeines Nervenreizmittel gereizt wird; daß aber doch in Wirklichkeit das Kälteendorgan durch das Wärmereizmittel affiziert wird, geht aus folgendem hervor. Erstens ‘wird dies durch die Tatsache bewiesen, daß bei zweckdienlicher Versuchsanordnung eine von jeder Schmerzempfindung freie Kältesensation bei Wärmereizung erhalten werden kann. Da nämlich die Schmerznerven oberflächlicher als die Kältenerven endigen, und da kein Grund zu der Annahme vorliegt, daß diese letzteren eine spezifische Reizbarkeit für hohe Temperaturen oder erstere eine solche für geringere besitzen, so müßte ein auf die Hautfläche applizierter Reiz, der ja immer kräftiger auf die oberflächlicheren Schichten wirkt, auch und in noch höherem Grade die Schmerznerven reizen, wenn er überhaupt als allgemeines Reizmittel wirkt. Da aber die dadurch hervorgerufene Kältesensation durchaus von Schmerz frei sein kann, muß man schließen, daß nicht der Nerv, sondern das Kälteendorgan gereizt ist. Eine weitere Stütze für diese Ansicht liefert die Tatsache, daß die paradoxen Kälteempfindungen unter Umständen durch so niedrige Temperaturen ausgelöst werden, daß diese nicht als allgemeine Nervenreizmittel wirken können. An normal temperierter Haut erhält man zwar bei punktförmiger Reizung die paradoxen Kälteempfindungen nach v. Frey erst bei wenigstens 45°, ausnahmsweise schon bei ‘) Deutsch. Arch. f. klin. Med. 28 (1881). — ?) Die Hauptgesetze des mensch- lichen Gefühlslebens 1892, 8. 35° — °) Leipziger Ber. 1895, 8. 172. — *)’ Skand. Arch. 7, 333, 1897. — 5) Wundts philos. Studien 14, 586, 1898. — °) Skand. Arch. 11, 391, 1901. — ?) Pflügers Arch. 89, 33, 1902. — ®) Wundts philos. Studien 18, 452, 1903. — °) Uber die dabei anzuwendenden Methoden siehe Thunberg, a.a. 0. — \ı°) Pflügers Arch. 59, 586, 1895. Topographie der Temperaturempfindlichkeit. 679 40°. Und um wirklich deutliche Kälteempfindungen zu erhalten, sind höhere Tem- peraturen — 50° und darüber — nötig. Wenn dagegen eine Hautstelle vorher ab- gekühlt ist, z. B. dadurch, daß sie in Berührung mit einem Gegenstande mit konstanter 10 gradiger Oberflächentemperatur gewesen ist, erhält man die ‚paradoxe Kälte- sensation schon ') durch einen 35 gradigen, ja vielleicht noch etwas darunter liegen- den Reiz. Unter solehen Umständen ist es möglich, daß die nach Wegnehmen des Kältereizes . durch die Blutzirkulation bewirkte Erwärmung die Kälteendorgane paradox erregen kann, eine Beobachtung, welche, wie erwähnt, zu der Er- klärung der nachdauernden Kälteempfindungen verwertet worden ist (Alrutz?), Holm’). Ob es auch eine paradoxe, also eine durch Kältereizung der Wärmenerven entstehende Wärmesensation gibt, ist noch nicht sicher entschieden. Die Un- sicherheit hat sicher zum Teil ihren Grund in der größeren Tiefe, in welcher die Wärmenerven im allgemeinen enden, und in der dadurch bedingten Schwierigkeit, die Wärmenerven mit intensiven Kältereizmitteln isoliert zu reizen. Wenn dabei Kälteempfindungen entstehen, dürften die eventuellen schwachen Wärmeempfindungen leicht übertäubt werden. Gegen die Möglichkeit solch paradoxer Reizbarkeit der Wärmenerven spricht zwar, daß weder Lehmann noch Alrutz noch Kiesow paradoxe Wärmeempfindungen erzielen konnten, obgleich sehr intensive Kältereiz- mittel (bis — 70°) zur Anwendung kamen. Anderseits sind aber für eine solche paradoxe Reizbarkeit die unter pathologischen Verhältnissen beobachteten „perversen Wärmeempfindungen“ ins Feld zu führen. Die einfachste Erklärung der von Strümpell beschriebenen perversen Temperaturempfindungen ist, daß sie die bei Wegfall der vorherrschenden Temperaturempfindungen deutlich hervortretenden paradoxen Empfindungen sind. Wenn also bei Lähmung der Wärmenervenenden ein heißer Gegenstand als kalt empfunden wird, rührt dies nur davon her, daß die paradoxe Kälteempfindung jetzt isoliert hervortritt und nicht durch die unter normalen Verhältnissen zur selben Zeit entstehende kräftige Wärmeempfindung übertäubt wird. Da Strümpell und andere Forscher beschreiben, daß, wenn Kälteanästhesie vorhanden ist, Eis als warm empfunden wird, so liegt die Deutung nahe, daß die Wärmenerven wirklich durch Kälte reizbar sind, und daß die so entstandene Wärmeempfindung durch die Lähmung der Kältenerven nur isoliert hervorgetreten ist. Indessen liegen, wie Alrutz hervorgehoben hat, mehrere Ver- wechslungsmöglichkeiten vor. Die Abhängigkeit der Temperaturempfindungen, besonders ihres Schwellenwertes, von verschiedenen Faktoren. Da die temperatur- empfindlichen Endorgane in der Haut eingebettet liegen, und da die Haut wenigstens nicht in nennenswertem Grade für strahlende Wärme durchgängig ist, werden die Endorgane unmittelbar durch die in der Haut vor sich gehen- den Temperaturänderungen gereizt. -Wenn wir jetzt die verschiedenen auf die Intensität der Temperaturempfindungen einwirkenden Variablen näher analysieren, dürfte es angemessen sein, zuerst die Bedeutung der ver- schiedenen von der Haut abhängigen Faktoren zu behandeln, und sodann auf den Einfluß verschieden angeordneter äußerer Reize überzugehen. Was die erstgenannten Faktoren betrifft, so hat sich für die Intensität der Temperaturempfindung die RER der Haut und der Ort und die Größe der gereizten Hautfläche als von Bedeutung erwiesen: “Welche Rolle der Eigentemperatur der Haut zukommt, und wie sie von den verschiedenen Theorien aufgefaßt wird, ist schon oben des ziäheren besprochen worden. !) Thunberg, Skand. Arch. f. Physiol. 11, 418, 1901. — °) Smärtsinnet, Upsala 1901, 8. 113. — °) Skand. Arch. f. Physiol. 14, 256, 1903. ® Er 680 Topographie der Temperaturempfindlichkeit. Nie Il / I Die Bedeutung des Ortes der Reizung ist zuerst von Weber!) unter- sucht Nachher haben besonders Nothnagel?) und Goldscheider?) Beob- achtungen darüber veröffentlicht. Indessen sind die Ergebnisse nicht als ganz rein anzusehen, da sie nicht nur durch die den verschiedenen Haut- ‘) Wagners Handwb. 3, 3. Abteil., 554. — ?) Deutsch. Arch. £. klin. Med. 2, 284, 1867. — °) Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. 18, 659, 1887. ” | \ j Topographie der Temperaturempfindlichkeit, 681 .. Fig. 119. NER stellen fest zukommenden Eigenschaften beeinflußt sind, sondern auch durch mehr zufällige Dinge, z. B. durch die Eigentemperatur der betreffenden Haut- stellen. Doch wäre es leicht, die Bedeutung der Eigentemperatur auszu- schließen, man brauchte nur den verschiedenen miteinander zu vergleichen- den Hautstellen. dieselbe Oberflächentemperatur zu geben, indem man sie genügende Zeit der Einwirkung einer und derselben konstanten Temperatur 682 Topographie der Temperaturempfindlichkeit. aussetzt. An den so vorbehandelten Hautstellen kann man nachher die Schwellenwerte bestimmen resp. die Intensitäten der durch überschwellige Reize ausgelösten Empfindungen miteinander vergleichen. Weber benutzte teils Glasphiolen, die er mit Öl füllte, durch Eintauchen in warmes oder kaltes Wasser temperierte und dann auf die Haut aufsetzte, teils einen großen Schlüssel, den er erwärmte oder abkühlte, und mit dessen abgerundetem Ende er die Haut berührte. Durch Vergleichen der Stärke der so ausgelösten Eindrücke bestimmte er die Empfindlichkeit der verschiedenen Hautstellen. Seine Werte sagen also nichts über die Schwellenwerte aus. Die Haut des Gesichtes schien Weber alle anderen Teile an Empfindlichkeit zu übertreffen, insbesondere galt dies von den Augenlidern und den Backen. Die Lippen standen den Lidern und Backen nach. Am Halse war die Empfindlichkeit für Temperatureindrücke viel geringer als im Gesichte. Die Haut in der Gegend der Medianlinie des Ge- sichtes, der Brust, des Bauches und des Rückens- war viel weniger empfindlich als die seitlich angrenzenden Teile, die Empfindlichkeit an der Nasenspitze viel geringer als an den Seiten der Nase, viel größer an den Nasenflügeln und am größten am unteren Rande des äußeren Teiles derselben. Dicht vor dem Tragus des Ohres war die Empfindlichkeit viel größer als an den Lippen, über dem unteren Rande der Kinnlade größer als am Kinn, in der Schläfengegend über dem Jochbein größer als in der Mitte der Stirn über der Glabella. Die innere Haut der Nase zeigte eine sehr geringe Empfindlichkeit, die Haut des Gehörganges dagegen eine große. Wie diese Wiedergabe der Weberschen Ergebnisse zeigt, umfassen sie bei weitem nicht alle Körperteile. Vollständiger sind die Angaben Nothnagels. Auch er berührte die einzelnen Körperteile verschiedener Individuen nach Webers Vor- gang mit dem cylindrischen Ende eines sehr großen kalten oder warmen Schlüssels (die Temperaturen sind nicht angegeben). Die wesentlichen Ergebnisse waren folgende. Die empfindlichsten Partien des Gesichtes, welchen nur noch die Seiten- wandungen des Rumpfes an die Seite zu stellen sind, sind die Lider, die Wangen und Schläfen, die stumpfeste ist der Nasenrücken. Der Rumpf ist stumpfer als das Gesicht. Die vordere Thoraxwand ist unten meist empfindlicher als oben, der Rücken unempfindlicher als die vordere Wand des Rumpfes. Die Medianlinie ist im Gesicht wie am Rumpf stumpfer als die seitlichen Partien, das Sternum stumpfer als die Linea alba. Hand und Finger sind meist gleich empfindlich, der Vorderarm empfindlicher als die Hand, der Oberarm empfindlicher als der Vorder- arm. Analoge Verteilung der Empfindlichkeit findet sich an den unteren Extremi- täten. Die entsprechenden Partien sind am Bein stumpfer als am Arm. Das Ver- halten der einzelnen Flächen an den verschiedenen Extremitäten ist kein konstantes, doch meist erschien die Streckseite am Oberarm und Oberschenkel empfindlicher als die Beugeseite, am Unterarm und Unterschenkel umgekehrt. Die Dorsalfläche der Finger und Hand war empfindlicher als die Volarfläche. Die Ergebnisse Webers und Nothnagels lassen deutlich erkennen, daß sie vor der Entdeckung der Dualität der Temperaturempfindungen gewonnen sind. Nach dieser Entdeckung konnte man mit großer Wahrscheinlichkeit erwarten, daß eine vollständige Über- einstimmung zwischen den topographischen Verhältnissen der Wärme- und Kälte- empfindlichkeit sich nicht würde nachweisen lassen. Dies ist auch nach Gold- scheiderder Fall. Er verwendete für die Reizung der Kältenerven Metallcylinder von ungefähr 15° C, für die der Wärmenerven Cylinder von 45 bis49°. Um die Empfindlich- keit der verschiedenen Hautstellen zu klassifizieren, unterscheidet Goldscheider 12 Stufen der Kälteempfindlichkeit, bezüglich der Wärmeempfindlichkeit 8 Stufen. Je höher die Empfindlichkeit ist, desto höher wird die Zahl, durch welche sie ge- kennzeichnet wird. Die von Goldscheider an den verschiedenen Körperstellen gefundenen Empfindlichkeiten kommen in den Figuren 118 (Kälteempfindlichkeit) und 119 (Wärmeempfindlichkeit) zur Anschauung. Die Verhältnisse finden sich nach Goldscheider bei verschiedenen Individuen ziemlich übereinstimmend wieder. Jedoch kann gegen diese Goldscheiderschen Untersuchungen eingewendet werden, daß die Bestimmung der Intensität der Wärmeempfindungen unter Anwendung so hoher Temperaturgrade gemacht ist Bedeutung der Fläche. 683 (Metalleylinder von 45 bis 49°), daß dabei sicher nicht die reinen Wärmeempfindungen allein, sondern gleichzeitig die durch Hinzutreten der paradoxen Kälteempfindungen entstehenden Hitzeempfindungen die Klassifizierung mit bestimmt haben (Alrutz'), und es muß zurzeit dahingestellt bleiben, ob nicht die topographischen Verhältnisse für die Wärmeempfindlichkeit bei Untersuchung mit niedrigeren Reiztemperaturen sich anders gestalten. Bei der Deutung der Ungleichheit der Empfindungsintensitäten von ver- schiedenen Hautstellen legt Goldscheider das größte Gewicht auf die Verbreitung der Nerven. Die Stellen von hoher Empfindungsintensität entsprechen den dichten Nervenkonzentrationen in den Zentren faserreicher Innervationsbezirke, die Stellen von niedriger Empfindungsintensität den Zentren faserarmer Innervationsbezirke und den Hautpartien, welche durch die periphersten Nervenausläufer versorgt werden. Es wäre möglich, diese Deutung durch Bestimmungen der Anzahl der Kälte- und Wärmepunkte in den verschiedenen Bezirken zu verifizieren. Über die ° Bedeutung der verschiedenen Tiefenlage der Endorgane ist noch nichts Bestimmtes zu sagen. Die Schwellenwerte der Temperaturreize sind von Eulenburg*) gemessen worden. Er benutzte zwei verschieden temperierte Thermometer von zweckmäßiger . Form, von denen das eine sich auf oder möglichst nahe der. neutralen Eigen- temperatur der zu prüfenden Hautstelle befand — das andere oberhalb oder unter- halb dieses Temperaturgrades geändert wurde, bis eine eben merkliche Kälte- oder Wärmeempfindung entstand. Sowohl für den Kälte- wie für den Wärmesinn wechselten bei einer Hauttemperatur von 27 bis 33°C die Schwellenwerte zwischen 0,2 und 1,1°C. Im allgemeinen stehen die von Eulenburg erhaltenen Resultate den Nothnagelschen hinsichtlich der meisten Körperregionen ziemlich nahe. Im großen nd ganzen schienen diejenigen Körperteile, welche am häufigsten unbedeckt bleiben Gesicht, Hände), die bei weitem feinste Unterschiedsempfindlichkeit für thermische Reize zu besitzen. Beachtenswert ist auch die ungleiche Feinheit der Temperatur- sinne an den Extremitäten; beispielsweise fand Eulenburg am Öber- und Unter- “ schenkel die Unterschiedsempfindlichkeit in der Nähe des Kniegelenks viel feiner als in den vom Kniegelenk entfernteren Abschnitten nach Fuß und Rumpf zu. Bedeutung der Fläche. Schon Weber?) hat hervorgehoben, daß die Größe des Stückes der Haut, welches gleichzeitig von einem warmen oder kalten Körper affıziert wird, einen Einfluß auf die Empfindung der Wärme hat. Wenn man z. B. in dieselbe warme oder kalte Flüssigkeit den Zeige- finger der einen Hand und die ganze andere Hand gleichzeitig eintaucht, so ist die Empfindung in beiden Gliedern nicht dieselbe, sondern in der ganzen Hand intensiver. Weber teilt mit, daß man in dieser Weise Wasser, das 291/;0R warm ist und in das man die ganze Hand eintaucht, für wärmer hält als Wasser, das 32°R warm ist und in das man nur einen Finger ein- taucht; in dieselbe Täuschung wird man versetzt, wenn man Wasser von 17° und 19°R in der beschriebenen Weise untersucht. Es ist indessen zu be- merken, daß zwar die Bedeutung der Fläche ganz sicher in der Richtung, wie es Weber darstellt, liegt, aber daß in den erwähnten Versuchen möglicher- weise die verschiedene Empfindlichkeit der verschiedenen Partien der Hand von Einfluß gewesen ist. Nähere einwandfreie Bestimmungen liegen noch nicht vor. Die Eigenschaften des äußeren Reizes, welche auf den Reiz- erfolg von Einfluß sind. Die äußeren Röizmittel, welche Temperatur- empfindungen hervorrufen, können in vielfacher Weise variieren. Es können !) Noch nicht veröffentlichte Untersuchung. — ?) Zeitschr. f. klin. Med. 9; 174, 1885. — °) Wagners Handwb. 3, 2, 553. 684 Einfluß der Wärmekapazität. — Bedeutung des Wärmeleitungsvermögens. feste, flüssige und gasförmige Körper in Frage kommen, und diese können durch Wärmeleitung oder durch Wärmestrahlung wirken; sie können gute oder schlechte Wärmeleiter sein und entweder eine kleine oder große Wärmekapazität besitzen. Sie können die Haut überall gleichförmig berühren oder ihre Gestaltung erlaubt nicht eine gleichförmige Berührung. Die Be- deutung der meisten von diesen Faktoren ist noch nicht durch quantitative Messungen klargestellt. Am einfachsten liegen die Verhältnisse bezüglich des Einflusses der Wärmekapazität, welcher in folgender Weise formuliert werden kann: Jeder die Haut berührende Gegenstand, dessen Temperatur von derjenigen der oberflächlichsten Hautschicht differiert, der also die allgemeine Bedingung für thermische Reizung erfüllt, muß außerdem je nach seiner Temperatur eine gewisse minimale Wärmekapazität haben, um überhaupt eine Temperatur- empfindung hervorzurufen. Wenn diese Wärmekapazität nicht erreicht wird, wird keine Empfindung erhalten, wenn sie eben erreicht wird, bekommt man eine minimale Empfindung, die bei erhöhter Kapazität an Stärke zunimmt. Endlich erreicht man einen Grenzwert der Wärmekapazität, oberhalb dessen die Empfindung nicht mehr an Intensität gewinnt. Dagegen kann die Zeit- dauer der Empfindung auch dann noch weiter beeinflußt werden. Man kann, von dieser Bedeutung der Wärmekapazität ausgehend, der Haut verschieden kräftige thermische Reize zuführen, indem man sie mit gleich temperierten Gegenständen von verschiedener Wärmekapazität berührt. Die Anwendung allzu extremer Temperaturen begegnet aber praktischen Schwierigkeiten. Inner- halb gewisser Temperaturgrenzen aber sind die Versuche leicht ausführbar, und hier haben sich Silber- oder Kupferlamellen (sog. Reizlamellen) von ver- schiedener Dicke als vorzüglich geeignet erwiesen!,,. Durch Anwendung solcher Lamellen kann man leicht die Wärmemenge bestimmen, welche für eine Wärmeempfindung erforderlich ist. = Die Bedeutung des Wärmeleitungsvermögens. Unter sonst iden- tischen Verhältnissen ist die Temperaturempfindung um so intensiver, je besser der als Reiz verwendete Gegenstand die Wärme leitet. Ob dies ganz allgemein gültig ist, oder ob es eine obere Grenze gibt, über welcher, durch Körper noch besseren Wärmeleitungsvermögens keine weitere Erhöhung der Intensität der Temperaturempfindung erreichbar ist, ist noch nicht unter- sucht. Es ist bei dieser Bedeutung des Wärmeleitungsvermögens möglich, eine Serie ungleich gut wärmeleitender Gegenstände von einer und derselben Temperatur so zu ordnen, daß sie eine Skala ungleich kräftiger Temperatur- empfindungen hervorrufen. Das oben Gesagte gilt nur von der Intensität der bei der ersten Berührung entstehenden Empfindungen. Während einer längeren Berührungszeit können neue Verhältnisse sich einstellen, indem durch den Wärmeaustausch die Ober- flächentemperatur des Gegenstandes sich ändert. In dieser Weise kann z. B. bewirkt werden, daß eine erste Kälteempfindung in eine Wärmeempfindung umschlägt. Hering hat Beispiele hierfür gegeben. Legen wir eine Hand an einen schlechten Wärmeleiter — wie z. B. Wachstaffet — von Zimmer- temperatur, so fühlt sich derselbe anfangs kühl an, bald aber verschwindet ‘) Thunberg, Upsala Läkaref. förh. 1894/95. Unterschiedsempfindlichkeit für Temperaturreize. 685 die Kühle und macht einer deutlichen, bis zu einem gewissen Grade wachsen- den und lange anhaltenden Wärmeempfindung Platz. ‚In analoger Weise erhalten wir Wärmeempfindungen, wenn wir Handschuhe oder Kleider an- ziehen. Die so entstehende Wärmeempfindung beruht auf der durch den Wärmeaustausch entstehenden höheren Oberflächentemperatur des schlechten Wärmeleiters. Je schlechter der Wärmeleiter ist, desto höher wird seine Oberflächentemperatur, wenn der Wärmestrom ein stationäres Stadium erreicht hat; sie kann dann mit derjenigen der Haut als identisch angesehen werden. Je schneller sie erreicht wird, desto kräftiger ist die dabei ent- stehende Wärmeempfindung. Der obere Grenzwert dieser Geschwindigkeit der Temperaturänderung ist dadurch bestimmt, daß die Erwärmung vom Blut aus durch die Hautschichten hindurch erfolgen muß. Das eben Gesagte gilt mutatis mutandis auch für die Abkühlung eines zuerst hoch temperierten schlechten Wärmeleiters. Die Bedeutung der Oberflächenbeschaffenheit. Je besser ein Gegenstand mit seiner Berührungsfläche sich der Haut anschmiegt, desto größere Bedeutung hat sein Wärmeleitungsvermögen für den Wärmeaustausch und für die Empfindung. Wenn nennenswerte Zwischenräume hier und da sich finden, ist natürlich auch das Wärmeleitungsvermögen des den Zwischen- raum ausfüllenden Mediums von Bedeutung. Ist, wie gewöhnlich, die Luft . das Medium, so bewirkt dies im allgemeinen gleichfalls eine Verschlechterung des Wärmeleitungsvermögens des berührenden Gegenstandes. Was oben über die Eigenschaften gesagt wurde, kraft deren ein äußerer Reiz auf den Reizerfolg seinen Einfluß ausübt, ist nichts als eine Zusammen- stellung der einfachsten und leicht kontrollierbaren Erfahrungstatsachen. Für Behandlung des Problems in seiner ganzen Ausdehnung und für quanti-. tative Bestimmungen sind die meisten erforderlichen Zahlenwerte über das Wärmeleitungsvermögen und die Wärmekapazität der Haut usw., wenigstens in anwendbarer Form, noch nicht da!). Einige mathematische Betrachtungen über die Wärmebewegung in der Haut bei äußeren Temperatureinwirkungen sind von Goldscheider?) geliefert worden. Die Unterschiedsempfindlichkeit für Kälte- und Wärmereize. Die Bestimmungen der kleinsten.noch wahrnehmbaren Temperaturdlifferenzen zweier, sonst gleicher fester Körper oder Flüssigkeiten sind meistens zu der Zeit gemacht, als das Dasein besonderer Kältenerven und besonderer Wärme- nerven noch nicht bekannt war. Man hat infolgedessen nicht genau zwischen der Leistungsfähigkeit der Wärmenerven einerseits und derjenigen der Kälte- nerven anderseits unterschieden. Auch hat man zwei verschiedene Fragen nicht genügend auseinandergehalten, nämlich erstens die, wie groß der Temperaturunterschied zweier Reize sein muß, um einen eben merklichen Unterschied der dadurch hervorgerufenen zwei Kälteempfindungen oder zwei Wärmeempfindungen hervorzurufen, und zweitens die Frage, wie nahe ein- ander auf der Thermometerskala die beiden Temperaturen liegen, welche eine minimale Kälte- resp. eine minimale Wärmeempfindung hervorzurufen !) Siehe die Literaturzusammenstellung in Mrateks Handbuch der Haut- krankheiten, Wien 1901, 8. 199. — °?) Alfred Goldscheider, Ges. Abh. 1, 355. 686 Unterschiedsempfindlichkeit für Temperaturreize. imstande sind. Diese letzte Frage befaßt sich ja nicht mit der kleinsten Differenz der Reize, welche zwei ungleich intensive Empfindungen derselben Qualität hervorrufen, sondern bezieht sich auf einen Vergleich der Schwellen-. werte zweier Empfindungen verschiedener Qualität mit Rücksicht auf ihre Lage auf der Thermometerskala. Die Unterschiedsempfindlichkeit für Kälte- und Wärmereize muß verschieden gefunden werden je nach der Art des Reizes, und zwar in dem Sinne, daß die Unterschiedsempfindlichkeit um so höhere Werte annimmt, je bessere Wärmeleiter bei der Untersuchung Verwendung finden. Von den so mit verschiedenen Wärmeleitern erhaltenen Werten ist der obere Grenzwert von größtem Interesse, da ja bei einer Bestimmung der Unterschiedsschwelle zunächst beabsichtigt wird, die Leistungsfähigkeit des Sinnesnerven festzustellen. Um diesen oberen Grenzwert sicher zu erreichen, dürfte es angemessen sein, möglichst gute Wärmeleiter anzuwenden, so daß man annehmen kann, daß die Berührungsfläche während des Versuches sich auf konstanter Temperatur hält. Da weiter der Wärmezustand der unter- suchten Hautstelle von Bedeutung ist, muß dieser bekannt sein; diese Bestimmung ist auch, wie schon Hering!) betont hat, notwendig, damit die Frgel: vorgehobenen Gesichtspunkte bei den bisherigen Untersuchungen zu wenig im Auge behalten wurden, ist bei der Beurteilung der hierunter mitgeteilten Ergebnisse im Gedächtnis zu behalten. 9 Aus naheliegenden Gründen ist in &ster Linie die Fähigkeit unserer Hände und Finger, Temperaturunterschiede zu erkennen, näher untersucht worden. Weber), von dem die ersten einschlägigen Angaben herrühren, fand, daß es am zweckmäßigsten ist, eine und dieselbe Hautstelle nacheinander mit den zu ver- gleichenden Körpern in Berührung zu bringen. Taucht man nämlich zwei Finger derselben Hand gleichzeitig in zwei nebeneinander stehende Wassergefäße, so ist die Möglichkeit, zu vergleichen, sehr beeinträchtigt. Besser gelingt sie zwar, wenn man zwei entsprechende Finger der rechten und linken Hand benutzt, aber viel vollkommener führt man die Vergleichung zweier Temperaturen aus, wenn man die beiden Finger abwechselnd in die beiden Gefäße eintaucht, und am allervoll- kommensten, wenn man denselben Finger oder dieselbe Hand bald in das eine, bald in„das andere Gefäß eintaucht. Unter diesen Umständen kann man nach Weber bei großer Aufmerksamkeit mit der ganzen Hand noch die Verschiedenheit zweier Temperaturen wahrnehmen, die nur ein Fünftel oder sogar ein Sechstel eines Grades Reaumur beträgt. Nachher hat Fechner?) die gleiche Frage in Angriff genommen mit der besonderen Absicht, zu prüfen, ob das Webersche Gesetz sich in diesem Falle gültig erweisen würde oder nicht. Wie Fechner richtig bemerkt, ist die Reizgröße hierbei durch die Differenz zwischen der Reiztemperatur und der Indifferenztemperatur bestimmt. DBeachtet man jedoch die Art und Weise, wie er seine Versuche anstellte, so kann man nicht anerkennen, daß damit eine Prüfung des Weberschen Gesetzes vorgenommen wurde. Er tauchte nämlich zuerst die Finger in ein Gefäß mit Wasser, bis sie eine konstante Temperatur angenommen hatten *), dann abwechselnd in dieses und in ein anderes Gefäß, dessen Temperatur geändert wurde, bis der Temperaturunterschied merkbar wurde. In dieser Weise wird je eine Bestimmung des eben merklichen Reizes für die Wärme- und die Kältenervenenden abwechselnd gemacht, nicht aber eine Prüfung der Gültigkeit des Weberschen Gesetzes, welches fordert, daß man zwei Kältereize oder zwei Wärmereize anwendet und feststellt, welche Reizgrößen zwei eben merklich ver- schieden intensive Kälte- resp. Wärmeempfindungen auszulösen vermögen. ') Hermanns Handb. 3, 434. — ?) Wagners Handwb. 3, 2, 554. — °) Elemente ' der Psychophysik 1, 201, 1860. — *) Was Fechner damit meint, geht freilich nicht aus seinen Mitteilungen hervor. sse verschiedener Versuche vergleichbar werden. Daß die hier her- Au mia Zi le ar de te Unterschiedsempfindlichkeit für Temperaturreize. 687 . Fechners Versuche sind jedoch insofern interessant, als sie angeben, wie groß. der eben merkliche Reiz bei verschiedener Lage der Indifferenztemperatur ist. Er fand die größte Empfindlichkeit gegenüber Reiztemperaturen zwischen 10 bis 20’R, und zwar war dieselbe hier so groß, daß die eben merklichen Tempe- raturunterschiede mittels des benutzten Thermometers nicht mehr gemessen werden konnten, obwohl dasselbe sehr wohl gestattete, den zwanzigsten Teil eines Grades Reaumur abzuschätzen. Bei Temperaturen, welche unter 10°R liegen, nimmt die Empfindlichkeit viel rascher mit der Tiefe der absoluten Temperatur ab als bei Temperaturen oberhalb 20°. Lindemann!'), dessen Versuche nach der Methode der mittleren Fehler aus- geführt wurden, fand beim Eintauchen der Hand bis an die Handwurzel die größte Unterschiedsempfindlichkeit für Temperaturen zwischen 26 bis 39°C. Im Mittel konnte er eine Temperaturdifferenz von Ys C noch deutlich unterscheiden. Er bestätigte übrigens die Angabe Fechners betreffs der raschen Abnahme der Unterschiedsempfindlichkeit für niedrige Temperaturen. Alsberg*) benutzte als Reize zwei Gläser mit verschieden temperiertem Wasser; er tauchte, ohne zu wissen, in welchem Glase das wärmere oder kältere Wasser enthalten war, das Endglied des Zeigefingers zuerst in das eine und ließ es dort zwischen 10 bis 20 Sekunden verweilen, trocknete rasch ab und steckte den Finger in das zweite Glas. Er konnte in dieser Weise unterscheiden: bei 10°C 0,9°, bei 15° 0,4°, bei 20° 0,5°, bei 25° 0,7°, bei 30% 0,5°, bei 35° 0,1°, bei 40° 0,2°. Es muß befremden, "daß nach diesen Resultaten die Empfindlichkeit bei niedrigen Teinpärstiieie Unregel- mäßigeiten zeigt. Nothnagel?) ist denn auch zu anderen Resultaten gekommen. Seine ausgedehnten Untersuchungen ergaben folgendes: Das feinste Unterschei- dungsvermögen liegt ent en zwischen 27 bis 33°C, nur wenig unsicherer ist es bis 39° aufwärts, dann bi (sch. haft) ziemlich schnell wesentlich unsicherer. Von 27 bis 14° abwärts nimmt die pfindungsschärfe etwa gleich stark ab wie von 33 bis 39° aufwärts und fällt von 14 bis 7° wieder schnell ab. Die Versuche wurden in derselben Weise angestellt, wie sie Fechner gemacht hatte, nur daß Nothnagel nicht wie Fechner zwei, sondern nur einen Finger eintauchte. Bei weiteren Versuchen, in denen er als Temperaturreize zwei cylindrische, wasser- gefüllte Gefäße mit kupfernem Boden von 1'/, Zoll Durchmesser anwendet, hat er die Unterschiedsempfindlichkeit verschiedener Körperteile miteinander verglichen. Man unterscheidet auf dem Sternum 0,6°C, Brust oben außen 0,4°C, Oberbauch ‘in der Mitte 0,5%, Rücken in der Mitte 1,2°, Rücken seitlich ‚ Hohlhand 0,5 bis 0,4, Handrücken 0,3°, Vorderarm, Streckseite 0,2°, Vorderarm, Beugeseite 0,2°, Oberarm, Streckseite 0,2°, Oberarm, Beugeseite 0,2°, Fußrücken 0,5 bis 0,4%, Unt&r- schenkel, Streckseite 0,7°, Unterschenkel, Beugeseite 0,6°, Oberschenkel, Stueekseite 0,5°, Oberschenkel, Beugeseite 0,5°, Wange 0,4 bis 0,2°, Schläfe 0,4 bis 0,3°. Bei der Beurteilung dieser Werte ist zu berücksichtigen, daß die Hauttemperatur der verschiedenen Stellen nicht angegeben ist. Über den Einfluß einiger Variablen auf die Unterschiedsempfindlichkeit für Temperaturreize hat Alsberg Versuche angestellt. Er fand, daß Anämie eines . Fingers eine deutliche Verfeinerung des Unterscheidungsvermögens bewirkte, wäh- rend Hyperämie dasselbe nicht wesentlich zu alterieren schien. Über den Ein- fluß andauernder Kälte und Hitze teilte Nothnagel einige Versuche mit. Legte er bei verschiedenen Personen auf die Innenseite des Vorderarms einen Eisbeutel eine halbe bis eine Stunde lang, so wurde an dieser Stelle Wärme und Kälte viel weniger intensiv empfunden als am anderen Arm. Bei der Prüfung mittels der oben erwähnten Gefäße zeigte sich, daß an dieser Stelle, wo normal 0,3 bis 0,2° C unterschieden wurden, jetzt erst eine Differenz von 1 bis 3°C zur Wahrnehmung gelangte. Wurde die Hand eine halbe bis eine Stunde lang in Wasser von 42 bis 45°C getaucht, so wurden erst 0,4 bis 0,3°C mit dem Finger der eingetauchten Hand unterschieden, mit der anderen Hand schon 0,2 bis 0,1° C. !) De sensu caloris. Halsi 1857. Dissertation. — *) Untersuch. über d. Raum- und Temperatursinn. Marburg 1863. Dissertation. — °) Deutsch. Arch. f. klin. Med. 2, 284, 1867. nd? 688 Bedeutung des Schmerzes. Wie diese Darstellung zeigt, sind die bisherigen Untersuchungen über die Unterschiedsempfindlichkeit für Temperaturreize spärlich, und die meisten Fragen, z. B. über die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes, über die Be- deutung der Adaptation usw., bleiben noch zu lösen. Der zeitliche Verlauf der Temperaturempfindungen ist nicht ein- gehend untersucht. Zwischen den Kälteempfindungen und den Wärme- empfindungen besteht der Unterschied, daß bei vergleichbarer Reizintensität die ersteren langsamer anschwellen als die letzteren, eine Erscheinung, welche durch die tiefere Lage der Wärmeendorgane wahrscheinlich bedingt ist. Wie häufig Kälte- resp. Wärmeempfindungen, ohne zu verschmelzen, ein- ander folgen können, ist noch nicht untersucht; ebenso ist die Frage offen, welche Empfindungen bei schnell intermittierenden Wärme- und Kältereizen entstehen. VI. Die Hautschmerzempfindungen. Unter „Schmerzempfindungen“ werden hier Empfindungen eigenartiger Qualität verstanden, welche schon bei sehr schwacher Intensität einen sehr unangenehmen Gefühlston haben, der ihnen unauflösbar anhaftet. Dieser zwischen dem Gefühlston und dem übrigen Empfindungsinhalt bestehende feste Zusammenhang ist eine für die Schmerzempfindungen charakteristische Eigentümlichkeit. Gewisse Geschmacks- und Geruchsempfindungen sind zwar auch durch einen ausgeprägt unangenehmen Gefühlston ausgezeichnet, aber dieser kann bei ein und derselben Empfindungsintensität durch andere Um- stände sehr beeinflußt werden, z. B. durch Zumischung anderer Empfindungen. Um ihrem wesentlichen Merkmal gerecht zu werden, haben die Schmerz- empfindungen ihren Namen ausschließlich nach ihrem 'Gefühlston erhalten, während die Namen der übrigen Hautempfindungen deren Qualität angeben. Aber eben auf die Tatsache, daß der Gefühlston der Schmerzempfindungen . ausschließlich für die Bezeichnung bestimmend gewesen ist, ist es wohl zurück- zuführen, daß man die Vergleichbarkeit der Schmerzempfindungen mit den anderen Emfindungen ebenso wie ihre spezifische Qualität lange Zeit über- sehen hat. Im folgenden wird der Schmerz als eine mit den übrigen Emp- findungen vergleichbare Empfindung angesehen, welche wie diese Qualität, Intensität, Lokalzeichen und Gefühlston hat. Die teleologische Bedeutung des Schmerzes besteht darin, den Körper gegen solche intensive Reize jeder Art zu schützen, welche die Integrität desselben bedrohen. Daß indessen die Schmerzempfindungen nicht als unfehl- barer Indikator für drohende Schädigungen anzusehen sind, zeigt die Er- fahrung. Teils entstehen bisweilen sehr kräftige Schmerzempfindungen, z. B. bei Neuralgien, ohne daß der Körper oder die Gewebe entsprechend geschädigt sind, teils fehlen die Schmerzempfindungen, obwohl die Gewebe angegriffen werden, z. B. in vielen Fällen, wenn Bakterien den Körper an- greifen. Man kann zwar die Zweckmäßigkeit der Schmerzempfindungen etwas größer finden, wenn man sich erinnert, daß häufig das Individuum gar keinen Nutzen von Nachrichten über Gewebsschädigungen haben kann, da es dem schädlichen Einfluß nicht entfliehen kann. Vor allem aber ist zu betonen, daß jede Zweckmäßigkeit in der organischen Welt begrenzt ist und Schmerznerven. — Funckes Standpunkt. 689 daß die Sinnesorgane wie alle anderen Organe nur zur Funktion unter nor- malen Verhältnissen und nicht für seltene Ausnahmezustände zweckmäßig eingerichtet sind. Häufig bringen sie schon Nachricht von einer den Geweben drohenden Gefahr, nicht nur von bereits vor sich gehenden Zerstörungs- prozessen, wie sonst vielfach angenommen wird }). Wenn man die Haut z. B. mit Wärme reizt und von kaum als warm empfundenen Temperaturen zu höheren übergeht, so wird die Wärmeempfin- dung allmählich intensiver und endlich schmerzhaft. In derselben Weise gehen die Druckempfindungen in Druckschmerzempfindungen, die Kälte- empfindungen in Kälteschmerzempfindungen über. Es läge nahe, diese Beob- achtungen so zu deuten, daß Schmerz durch eine sehr intensive Erregung derselben Nerven entsteht, welche, schwächer erregt, unsere gewöhnlichen Sinnesempfindungen auslösen. Eine solche Deutung ist zurzeit wenigstens in ihrer allgemeinen Fassung ganz verlassen, wenn auch die Ansichten bezüglich mancher Detailfragen sich noch gegenüberstehen. Doch hat die Theorie be- sonderer Schmerznerven — Nerven also, welche nur Empfindungen der für. die Schmerzempfindungen eigentümlichen Qualität auslösen — immer mehr Anhänger gewonnen. Der erste, der für die Existenz bassitläiee Schmerznerven eingetreten ist, scheint Brown-Sequard?) gewesen zu sein, der schon früh einen mit beson- deren Nervenfasern ausgerüsteten Schmerzsinn annahm. Gleichfalls schon vor langer Zeit hat sich auch Funcke) für eine solche Möglichkeit ausgesprochen. In einer ausgezeichneten Darstellung der verschiedenen Möglichkeiten der Auslösung des Schmerzes hebt er z. B. hervor, daß die Beobachtungen über Analgesie ohne Anästhesie sehr gegen die Annahme sprechen, daß dieselben Nerven den Schmerz und die übrigen Empfindungsqualitäten vermitteln. Die isoliert auftretende Analgesie läßt sich — so argumentiert Funcke — nicht aus einer Abstumpfung der Empfindlichkeit der peripherischen Enden eines für Tast- und Schmerzempfindung gemeinschaftlichen Nervenapparats erklären, denn abgesehen von den Tatsachen, welche ganz bestimmt auf eine zentrale Quelle des Zustandes hinweisen, wäre es paradox, eine Abstumpfung für starke mechanische und thermische Reize, welche Schmerz erzeugen, anzu- nehmen und die Erregbarkeit desselben Apparates für schwache Reize gleicher Art fortbestehen oder sogar wachsen zu lassen. Ein analoges Räsonnement verbietet, die Erklärung in einer Herabsetzung der Reaktionsfähigkeit eines gemeinschaftlichen zentralen Empfindungsapparates für starke Erregungen wie sie die Schmerzreize an der Peripherie auslösen, zu suchen. Unter solchen Umständen sieht er sich zu der Annahme gezwungen, daß mindestens vom Rückenmarke an eine Scheidung der Wege und Apparate für Tast- und Schmerzeindrücke stattfindet, und zwar im Sinne der zuerst von Schiff) aufgestellten Hypothese, nach welcher die Tasteindrücke durch die Fasern der weißen Hinterstränge, die Schmerzeindrücke durch die graue Substanz !) Siehe z. B. Griesinger, Arch. f. physiel. Heilkunde 1 (1843); Naunyn, Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 25, 287, 1889; Tschisch, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 26 (1901); Strümpell, Deutsch. med. Wochenschr. 1904, S. 1461. — ?°) Journ. de Physiol. 6, 124, 232, 581, 1864 (nur durch Referat bekannt). — °) Hermanns Handb. 3 (2), 294 u. ff. — *) Lehrbuch d. Physiol. 1, 228. Lahr 1858 (zit. nach Funcke). Nagel, Physiologie des Menschen. III. 44 690 Funckes Standpunkt. — Schmerzpunkte. den betreffenden Empfindungsapparaten zugeleitet werden. Ob die Scheidung erst im Rückenmark beginnt oder bereits diesseits desselben im peripheri- schen Teil der Tast- und Schmerzwerkzeuge vorhanden ist, läßt er unent- schieden. Für den ersteren Fall entwickelt er die Vorstellung, daß eine und die- selbe Nervenfaser ihre Erregungen in dem Rückenmark auf zwei Bahnen überführen kann, und zwar würden die Bahnen von großem Widerstand, d.h. diejenigen, welche zunächst wenigstens in der grauen Substanz verbleiben, für die Leitung der Schmerzempfindungen benutzt, dagegen müßten die von geringerem Widerstande in die weiße Substanz übertreten und als Längs- fasern eines Hinterstranges zu den Tastempfindungsapparaten im Hirn - führen. Dabei wäre leicht zu begreifen, daß die durch Tastreize erweckten schwachen Erregungen ungeteilt zu den Tastempfindungsapparaten abflössen, daß die starken, durch Schmerzreize erzeugten Erregungen dagegen an der Teilungsstation der Bahnen sich verzweigend zu einem kleineren oder größeren Bruchteil unter Überwindung des größeren Widerstandes in die andere Bahn eintretend zu den Schmerzempfindungsapparaten vordrängen. Im zweiten Falle, d. h. bei der Annahme einer von der Peripherie bis zum Zentrum durchgehenden Scheidung des Tast- und Schmerzapparates muß nach Funcke vorausgesetzt werden, daß die Tast- und Schmerznerven- fasern gesondert, jede wahrscheinlich mit anderer Endvorrichtung, entspringen und, isoliert zum Rückenmark verlaufend, jede für sich in die ihr zugehörige weitere Bahn einmünden. Mit großer Wahrscheinlichkeit spricht nach ‚Funcke zugunsten einer solchen Scheidung der von den Histologen allgemein angenommene Gegensatz zwischen solchen Nervenfasern, welche mit freien Enden in den Epithelialüberzug der Haut hineinragen, und solchen, deren Enden mit besonderen Terminalapparaten in Verbindung treten. Die weitere Deutung, daß erstere den durch die groben allgemeinen Reize zu erwecken- den Schmerzempfindungen, letztere den durch die spezifischen Tastreize her- , vorzurufenden Tastempfindungen dienen, ergibt sich von selbst. Bei der Wahl zwischen diesen zwei von Funcke so klar hervor- gehobenen Möglichkeiten haben die Forscher auf diesem Gebiete sich lange Zeit fast sämtlich für die erste erklärt, wenn auch einige entschieden für die letztere eingetreten sind. Durch die sorgfältigen Studien v. Freys über die Schmerzpunkte der Haut hat jedoch, soweit man zurzeit urteilen kann, diese letztere sich als die richtige erwiesen. Zur Klärung des Problems sind übrigens Beiträge von mehreren Seiten geliefert. (Siehe die Kontroversen zwischen Nichols!), Marshall?), Witmer°) und Strong*), zwischen Richet und Fredericgq’). Die Schmerzpunkte. Bei seinen mit punktförmigen Reizen aus- geführten Untersuchungen fand Blix unter anderem, daß man hier und da die Nadelspitze ziemlich tief in die Haut einführen konnte, ehe die geringste Schmerzempfindung zu bemerken war, während gewisse Punkte so empfind- lich waren, daß ein leiser Druck auf die Nadel genügte, um Schmerz ‘) Philos. Rev. 1 (1892); Psychol. Rev. 2 (1895); ebenda 3 (1896). — *) Philos. Rev. 1 (1892); Psychol. Rev. 2 (1895). — ?) Journ. of neur. and mental diseas. 1894. — *) Psychol. Rev. 2 (1895); ebenda 3 (1896). — °) Rev. Scientifique 6 (1896). A u hu ln Zn u a LE A mn Ai nn Schmerzpunkte. 691 hervorzurufen. Eine Untersuchung über die Topographie der Schmerz- empfindlichkeit !), welche er vornahm, schien ihm jedoch für die Annahme von spezifischen Endapparaten des Schmerzsinnes keine Stütze zu liefern. Er ließ daher die Frage offen, sprach aber doch die Vermutung aus, daß der Schmerz entsteht, wenn die Gewalt den sensiblen Nervenfaden selbst trifft, er mag sonst peripherisch mit einem Endorgan beliebiger Natur ver- bunden sein. Für die Ansicht, daß es keine besonderen Schmerznerven gibt, ist Goldscheider) entschieden eingetreten. Da er nun Analgesie der Kälte- und Wärmepunkte festgestellt hatte, betrachtet er als schmerzempfindende Apparate die Drucknerven, an denen nach ihm starke Reizung einen intensiven Schmerz hervorrufen soll; auch die zwischen den Druckpunkten nach seiner Meinung endenden besonderen Nerven, die Gefühlsnerven, sollen in gleicher, wenn auch viel schwächerer Weise auf Druck- und Schmerzreize reagieren. Ganz’ anders liegen aber die Verhältnisse nach den ausgedehnten Unter- suchungen v. Freys3). Nach ihm kann man mit passenden mechanischen Reizen isolierte, eng umschriebene, mit den Druckpunkten im allgemeinen nicht zusammenfallende Orte maximaler Schmerzempfindlichkeit nachweisen. Nach diesem Resultat ist die Folgerung unabweisbar, daß unter diesen Stellen maximaler Schmerzempfindlichkeit, den Schmerzpunkten, besondere Schmerznervenenden liegen. Unter gewöhnlichen Umständen ist es zwar nicht möglich, bei mechanischer Reizung dieser Punkte eine von Berührung- und . Druckempfindung freie Erregung der Schmerzpunkte zu erreichen. Wenn man aber nur sehr spitzige Reize verwendet, wenn man weiter den Versuch - nach Durchfeuchtung der Epidermis zwischen fern voneinander liegenden Druckpunkten anstellt, kann man die Schmerzempfindungen ohne vorauf- gehende oder begleitende Druckempfindungen erhalten. Durch diese und ebenso durch die weitere Beobachtung, daß isolierte Schmerzempfindungen in derselben Weise durch chemischen Reiz, sowie unter gewissen Bedingungen auch durch den elektrischen Reiz zu erhalten sind, ist die Auffassung des Schmerzes als einer durch zu starken Reiz veränderten Druckempfindung ausgeschlossen. Die Schmerzpunkte sind durch eine für schwache Reize sehr lange Latenz und durch große Trägheit gegenüber rasch sich ändernden bzw. oszillierenden Reizen ausgezeichnet und zeigen auch durch diese Eigen- tümlichkeit, daß sie mit den Druckpunkten nicht identisch sind. Sie sind viel zahlreicher als die Druckpunkte; man kann annehmen, daß sich durch- schnittlich über 100 im Quadratcentimeter finden, also mindestens viermal so zahlreich als die Druckpunkte. Große Differenzen zeigen auch die Druck- und Schmerzpunkte, was die Schwellenwerte bei mechanischer Reizung auf verschiedenen Reizflächen be- trifft. Wenn man größere Flächen anwendet (zwischen 3,5 bis 12,6 qmm) und ihren Reizwert durch ihren Druck auf die Flächeneinheit ausdrückt, finden sich als Schwellenwerte für die Druckempfindung Werte bis herab zu 20 mg/qm oder 0,002 Atm., für die Schmerzempfindungen 2 Atm. (die Y) Zeitschr. f. Biol. 25, 158, 1885. — *°) Ges. Abh. 1, 199. — °) Leipziger Abh. 1896. 44 * 692 Adäquater Reiz der Schmerznervenenden. Atmosphäre — 10g/mm). Die Empfindlichkeit der Nervenenden des Druck- sinnes ist demnach für die Einwirkungen genannter Flächengröße etwa 1000 fach größer als die der Schmerznerven. Mit der Abnahme der Reiz- fläche gewinnt aber ein gegebener mechanischer Reiz relativ an Wirksam- keit für die Schmerzpunkte, derart, daß für sehr kleinflächige Reize die Schmerzschwelle tiefer liegen kann als die Druckschwelle. Man vertrat früher allgemein die Meinung, daß Schmerz erst dann auf- tritt, wenn der die Haut treffende Reiz so stark ist, daß er als allgemeiner Nervenreiz auf die Nerven direkt wirkt, wobei häufig auch die Haut und der Nerv eine Schädigung erfahren sollten. Bei näherem Studium der Sache hat man indessen gefunden, daß Schmerz durch so schwache mechanische (v. Frey!) und thermische Reize (Verf. ?) ausgelöst werden. kann, daß ihnen eine direkte Verletzung der Nerven nicht zugeschrieben werden kann; auch sind sie zu schwach, um als allgemeine Nervenreize in Betracht zu kommen. Daß die Schmerzempfindung bei andauernder Deformation der Haut andauernd ist, spricht ebenfalls gegen eine direkte Wirkung des mechanischen Reizes auf die Nerven. Dagegen spricht auch die Beobachtung, daß man bei momentan wirken- den mechanischen und thermischen Reizen, die eben die Schmerzschwelle überschreiten, eine sehr (0,9 Sekunden) verzögerte Schmerzsensation erhält. Diese Verzögerung kann nicht durch eine verlangsamte Leitung in den Nerven oder im Rückenmark erklärt werden, sondern muß auf peripherische Ursachen zurückgeführt werden, da sie die für peripherische Ursachen charakteristische Abhängigkeit von Art und Angriffspunkt der Reize unzwei- deutig aufweist; sie spricht also gegen die Annahme, daß die Reize die Nerven direkt als Angriffspunkt benutzen. Als allgemeiner Nervenreiz an- gewendet, zeigt der momentane mechanische Reiz ja keine solche Latenz, und dasselbe dürfte auch von dem momentanen thermischen Reiz gelten. Alles dies nötigt zu der Annahme, daß in den Enden der Schmerznerven oder um dieselben Vorrichtungen existieren, welche diese schwachen Reize in Nerven- reiz transformieren. Da die Latenzzeit für momentan wirkenden thermischen Reiz dieselbe ist wie bei ebensolchem Druckreiz, werden wahrscheinlich die beiden Reizarten in derselben Weise transformiert. v. Frey hat die Ansicht ausgesprochen, daß die mechanischen Reizmittel einen wahrscheinlich physi- kalisch-chemischen Zwischenprozeß in den Endorganen auslösen. Seine Vorstellung über die Art dieses Zwischenprozesses geht von der Auffassung aus, daß die freien Nervenenden im Stratum germinativum die Schmerzempfindungen vermitteln. Für diese Ansicht, welche, wie oben an- gegeben, schon Funcke ausgesprochen hat, hat v. Frey mehrere wichtige Gründe angeführt. Die trotz Verkleinerung der Fläche unveränderte Wirk- samkeit von Reizen konstanten Druckes, welche er gefunden hat, die niedrige Punktschwelle bei elektrischer Reizung, das primäre Auftreten der Schmerzempfindung beim Anätzen der Haut, fordern, daß die Empfindung des Schmerzes ihren Auslösungsort näher der Oberfläche als die Druck- empfindung haben muß. Näher der Oberfläche als die Tastkörperchen — die Endorgane der Drucknerven an unbehaarten Hautstellen — liegen aber ') Leipziger Abhandl. 1896, 8. 261. — ?) Skand: Arch. f. Phys. 12, 394 1901. Summationserscheinungen. — Verschiedene Schmerzqualitäten. 693 nur die intraepithelialen Nervenenden, welche daher als die Organe der (ober- flächlichen) Schmerzempfindung der Haut zu betrachten sind. Zu dem gleichen Schlusse wurde v. Frey auch durch seine Untersuchungen über die Verbreitung der einzelnen Empfindungsarten über die Hautoberfläche geführt. Die Cornea, deren Nervenendigungen intraepithelial sind, besitzt seiner Mei- nung nach, ihren Randteil ausgenommen, nur Schmerzempfindung. Diese intraepithelialen Nervenenden werden nach der Meinung v. Freys!) durch eine Veränderung der umgebenden Flüssigkeit gereizt, welche durch eine unter der Druckerhöhung aus den Zellen in die Zwischenräume übertretende Flüssigkeit verursacht wird; die Reizung erfolgt dann entweder, weil die an den Nerv herantretende Lösung zu verdünnt ist (infolge Undurchlässigkeit der Zellwand für die in der Zelle gelösten Stoffe), oder weil neue fremdartige Stoffe an den Nerv gelangen. Gegen die Annahme, daß die freien intraepithelialen Nervenenden die anatomische Grundlage der Schmerzpunkte sind, sind gewisse Einwände nicht zu unterdrücken, bezüglich deren hier auf das S. 655 Gesagte verwiesen werden kann ?). Summationserscheinungen bei der Auslösung des Schmerzes. Richet )hat auf den Unterschied der Empfindungsintensität bei Applikation eines einzelnen Induktionsschlages und mehrerer solcher hingewiesen. Bei einer Stärke der Schläge, bei welcher ein einzelner Schlag keinen Schmerz hervorruft, gibt eine Reihe solcher vielleicht eine sehr schmerzhafte Empfin- dung. In der Tat entstehen auch bei Anwendung anderer Reize Schmerz- empfindungen durch Summation mehrerer, einzeln schmerzunterschwelliger Erregungen. Als ein für die Entstehung der Schmerzempfindungen :charakte- ristisches Merkmal kann jedoch eine solche Summation nicht angesehen werden, denn alle anderen Nerven zeigen ein solches Verhalten mehr oder weniger ausgeprägt, und Schmerzempfindungen können auch durch einen einzelnen genügend starken Reiz ausgelöst werden. Das ungewöhnlich deutliche Hervortreten der Summation bei der Auslösung der Schmerzempfindungen dürfte von der großen Trägheit der Schmerznervenenden (ev. der Ganglienzellen oder anderer nervöser Teile) bedingt sein, die auch in der großen Reaktions- zeit für schwache Schmerzreize zum Ausdruck kommt (s. S. 710). Gold- scheider) hat indessen die Summation als den wesentlichen inneren Vorgang, welcher der Schmerzempfindung zugrunde liegt, angesehen (s. S. 710). Das ist bei seinem Standpunkte verständlich, ist aber bei Annahme besonderer Schmerznerven ganz überflüssig. Die verschiedenen Schmerzqualitäten. Daß unsere Schmerzempfin- dungen sehr verschiedener Art sein können, ist eine alltägliche Erfahrung und damit hängt zusammen, daß der Sprachgebrauch für die nähere Speziali- sierung über eine ganze Reihe von Bezeichnungen verfügt; so spricht man ‘) Leipziger Abhandl. 1896, 8. 261. — ?) Siehe auch Oppenheimer, Schmerz- und Temperaturempfindung. Berlin 1893. Nach O. werden die Schmerzempfin- dungen durch die Gefäßnerven besorgt. — °) Recherches exp6rimentales et eliniques sur la sensibilite. Paris 1877. — *) Über den Schmerz. Berlin 1894, S. 20 (daselbst mehrere Literaturangaben). 694 Stechender und dumpfer Schmerz. von stechendem, schneidendem, drückendem, ziehendem, dumpfem, brennen- dem, klopfendem usw. Schmerz. Diese Unterschiede sind großenteils nicht durch wirkliche Qualitäten der durch die Schmerznerven ausgelösten Empfin- dungen bedingt. Durch Beimischung anderer Empfindungen, durch Eigen- tümlichkeiten in der räumlichen Verbreitung, im zeitlichen Verlaufe erhalten die Schmerzempfindungen häufig einen besonderen Charakter. Durch Bei- mischung von Wärme- (und Kälte-Jempfindungen entstehen die brennenden Schmerzen, durch den rhythmischen Wechsel der Intensität entstehen die klopfenden Schmerzen usw. Inwieweit alle die Eigentümlichkeiten, welche die verschiedenen Schmerz- arten zeigen, in dieser Weise erklärt werden können, ist eine Frage, deren Lösung bei der Schwierigkeit, die verschiedenen Schmerzarten einer experimentellen Analyse zu unterwerfen, noch nicht endgültig geliefert ist. Durch Beobachtungen auf dem Gebiete der Hautschmerzen, wo eine solche Analyse am leichtesten ausführbar ist, ist es jedoch wahrscheinlich gemacht, daß es zwei Arten Schmerznerven gibt, von welchen die eine die stechenden Schmerzempfindungen, die andere die dumpfen auslösen (Thunberg!). Wenn man an die Haut sehr oberflächlich wirkende Schmerzreize appliziert, erhält man nur stechende Schmerzempfindungen, sei es, daß die Reize thermisch, mechanisch, elektrisch oder chemisch sind, sei es, daß sie langsam anschwellen oder schnell angreifen. Wenn man dagegen auf große, in die Höhe ge- hobene Hautfalten drückt und den Druck auf’die Mitte, nicht auf die Biegungskante ausübt, so daß der Druck auf die tieferen Teile kräftig wirkt, erhält man bei schwächster Reizung eine dumpfe Schmerzsensation. Das- selbe ist der Fall bei präformierten Hautfalten, z. B. den Ohrzipfeln, den Hautfalten zwischen den Fingern. Dieser Unterschied in dem Charakter der Empfindungen ist weder durch Beimischung anderer Empfindungen zu er- klären (da solche hier nur wenig mitspielen), noch ist es wahrscheinlich, daß die verschiedene Reizungsweise die Verschiedenheiten der Empfindungen zu erklären vermöchte. Gegen diese Möglichkeit spricht der große Unterschied zwischen den beiden Empfindungsarten, ferner auch der Umstand, daß man, wie auch oberflächlich wirkende Reize appliziert werden, niemals eine dumpfe Schmerzempfindung erhält. Beruhte die bei tieferem Druck ent- stehende dumpfe Schmerzsensation nur auf der Reizungsweise, so könnte man ja erwarten, daß sie auch durch zweckmäßige Änderungen der Reizungs- weise der oberflächlichen Schichten der Haut zu erhalten wären, z. B. wenn eine kleine Hautfalte sehr langsam gedrückt würde. — Die Tatsache, daß man von den kleinsten Hautfalten nur stechende Sensationen erhält, spricht also dafür, daß die nervösen Bildungen, die den dumpfen Schmerz ver- mitteln, an tiefere Schichten gebunden sind. Bedenkt man, daß, wenn eine größere Falte einem gleichförmigen Drucke ausgesetzt wird, der schwächste Schmerz erzeugende Reiz nur den dumpfen Schmerz hervorruft, so ist dies wohl dahin zu deuten, daß die nervösen Bildungen, die dies vermitteln, für Druck empfindlicher sind als die, welche den stechenden Schmerz vermitteln, da ja der Reiz diese letzteren mindestens in gleichem Grade treffen muß. ‘) Skand. Arch. f. Physiol. 15, 394, 1901. Siehe auch Alrutz, Undersök- ningar öfver smärtsinnet. Upsala 1901, p. 97. Stechende Empfindungen. 695 Auch die Ergebnisse bei Anwendung von thermischen, elektrischen und chemischen Reizmitteln (siehe Thunberg und Alrutz!) lassen sich in gleichem Sinne verwerten, d. h. dahin, daß in oder unmittelbar unter der Haut zwei Arten Schmerznerven sich finden mit verschie- denen spezifischen Energien; die eine Art gibt stechende, die andere dumpfe Schmerzempfindungen. Es wurde angenommen, daß dieselben Schmerznerven sowohl durch Kälte-Wärmereize wie durch mechanische Reize erregt werden können. Gegen einen solchen Standpunkt ist der Einwand gemacht, daß gewisse pathologische Beobachtungen für besondere Druckschmerznerven, besondere Wärmeschmerznerven usw. sprechen 2). Man hat z. B. Analgesie gegen mechanische Reize gleichzeitig mit Hyperalgesie gegen thermische Reize gefunden. Die vorliegenden Beobachtungen sind jedoch zu wenig zahlreich, “und bei der Deutung dieser Dinge ist zu berücksichtigen, daß man durch Nadelstiche nur schwache Schmerzempfindungen hervorrufen kann und daß, wenn die Nadel bei vermehrtem Druck durch die Epidermis gedrungen ist, die stechende Schmerzempfindung häufig verschwindet. Eine unbedeutende Hypalgesie kann, wenn man dies nicht berücksichtigt, eine Analgesie vor- täuschen. Übrigens wäre es möglich, daß die Nervenfasern unter patholo- gischen Verhältnissen abnorme Verknüpfungen eingehen könnten. Wenn z.B. die Endorgane der Temperaturnerven mit den Schmerznerven in Verbindung träten, könnte eine Hyperalgesie gegen Temperaturreize entstehen ohne Druckhyperalgesie usw. J Die bei schwächster Erregung der Schmerznerven entstehenden Empfindungen. Wenn man die Haut mit einer spitzen Nadel berührt, er- hält man oft schwache, stechende Sensationen, die durchaus nicht mit irgend welchem Schmerz verbunden sind. Trotzdem dürften diese $techenden Empfindungen durch dieselben Nerven ausgelöst werden, die bei stärkerer Reizung die wirklich schmerzhaften stechenden Sensationen veranlassen. Diese Empfindungen können nämlich nicht als eine durch einen spitzen Gegenstand ausgelöste Berührungsempfindung gedeutet werden, was daraus hervorgeht, daß sie auch durch schwache elektrische und thermische Reizung zu erhalten sind. Da sie qualitativ mit den Berührungs- oder Temperatur- empfindungen nichts zu tun haben, bei höherer Reizintensität dagegen ohne Qualitätsänderung in die schmerzhaften stechenden Sensationen übergehen, ist ihr Zusammenhang mit diesen letzteren klar. Auch von der Mundhöhle und den Nasenhöhlen werden, besonders bei chemischer Reizung, Sensationen ausgelöst, die gleichfalls als stechend be- zeichnet werden können, und die nicht schmerzhaft wirken, solange sie sehr schwach sind, die es aber bei größerer Intensität werden. Das Freisein dieser Sensationen von Schmerz wird recht gut durch den Umstand beleuchtet, daß sie ganz sicher eine wichtige Komponente in der Geschmacksempfindung darstellen, die durch verschiedene unserer Gewürze, z. B. Senf und Pfeffer, erregt wird, und zwar auch bei Intensitäten, wo diese Empfindungen immer !) Smärtsinnet. Upsala 1901. — ?) Strong, Psychol. Rev. 2 (1895). Alrutz, 3.8.0.8. 71: Ka . ) \ u 696 Algesimetrie. noch angenehm sind. Auch Kohlensäure (in kohlensäurehaltigen Getränken) und Alkohol können angenehme zusammengesetzte Empfindungen geben, von denen diese stechenden Empfindungen einen Bestandteil ausmachen. Die Tatsache, daß dieselben Nerven, welche die stechenden, mit sehr un- angenehmem Gefühlston versehenen Schmerzempfindungen auslösen, auch die schwachen, beinahe oder gar nicht gefühlsbetonten Stichempfindungen auslösen, machen ihre Benennung als Schmerznerven etwas inexakt; vielleicht wäre es besser, sie als Stichnerven oder Stichschmerznerven und die von ihnen aus- gelösten Empfindungen als Stichempfindungen, bei höherer Intensität als Stichschmerzempfindungen zu benennen. Wenn die hier vorgetragene Meinung richtig ist, kann dies für die Auffassung einiger schwächerer Empfindungen von Bedeutung sein, deren Klassifikation noch strittig ist. Die Schmerzempfindlichkeit verschiedener Hautstellen. Algesi- metrie. Die Schmerzempfindlichkeit verschiedener Hautstellen ist Gegen- stand mehrerer Untersuchungen gewesen, von denen die Mehrzahl klinischen Bedürfnissen ihren Ursprung verdankt. Die Resultate sind indessen keines- wegs als sicher anzusehen, da die Methoden häufig mangelhaft waren. Mechanische Reize. Wie abhängig die Ergebnisse von den Methoden sind, geht deutlich aus einem Vergleich der mit zwei verschiedenen Appa- raten, dem Björnströmschen und dem Moczutkowskischen Algesimeter, erhaltenen Werte hervor. Der Algesimeter Björnströms!) ist eine Kneifpinzette, die es ermöglicht, eine Hautfalte zu heben und auf dieselbe einen auf einer Skala in Kilogramm ables- baren Druck zu applizieren. Wenn man stets gleich große Hautfalten aufhebt, wenn man den Druck immer in derselben Weise anbringt und nur einmal bei jeder Untersuchung dieselbe Hautfalte kneift, und wenn man endlich darauf sieht, daß die Hauttemperatur normal ist, bekommt man nach der Angabe Björn- ströms konstante Werte. Der Schwellenwert wechselt für die verschiedenen Körperteile zwischen '/, bis 12kg. Als allgemeines Resultat seiner Untersuchungen ist hervorzuheben: Herabsetzung der Sensibilität über allen dicht unter der Haut liegenden prominierenden Knochenpartien, wie über den Knöcheln, dem Ellbogen, den Klavikeln, der Spina scapulae, dem Trochanter major, der Kniescheibe und den Malleolen, weiter die Herabsetzung an einigen Beugefalten, wie in den Hand- gelenken, den Ellbogengelenken, der Achselhöhle, der Kniekehle, an den Augenlidern. Moczutkowskis?) Apparat erlaubte, eine Nadel mit veränderlichem Druck gegen die Haut zu setzen. Sein Apparat berührte die Haut mit einer konvexen Oberfläche von 1cm Durchmesser. In derselben war ein zentrales) Loch, durch welches eine Imm dicke Nadel hervortrat, welche in einer scharf geschliffenen, imm hohen konischen Spitze endete. Diese Nadel konnte in einer verschiedenen, in 0,lmm ablesbaren Länge über die konvexe Oberfläche hervorgeschraubt werden. Im ganzen kann die Spitze 2mm hervortreten. Die Schmerzempfindlichkeit wird dadurch bestimmt, daß man untersucht, wieviel die Nadel über die Oberfläche hervorgeschoben werden muß, um bei Druck gegen die Haut Schmerz hervorzurufen. Moczutkowski teilt eine Zusammenstellung über die Empfindlichkeit verschiedener Stellen mit. Sie wechselt bei Gesunden zwischen 0,15 bis 1,5 mm Nadellänge. Der Mittelpunkt der kleinsten Schmerzempfindlichkeit der Haut ist nach Moczut- kowski das Becken, und von diesem Ort aus erhöht sich allmählich die Empfind- lichkeit, wenn man sich dem Kopf, den Fingern und den Zehen nähert. Wie bei Anwendung des Björnströmschen Algesimeters ist dabei die Dicke der zwischen ') Nove acta soc. scient. Upsala 1877. Siehe auch Pacht. Über die cutane Sensibilität usw. Inaug. Diss., Dorpat 1879. — *?) Nouvelle Iconographie de la Sal- petriere 11, 230, 1898. Algesimetrie. 697 der Haut und den darunter liegenden Knochen befindlichen Schicht von großer Bedeutung, aber in gerade entgegengesetzter Weise, so daß die Schmerzempfindlich- keit nach Moczutkowski um so größer ist, je dünner diese Schicht ist. Die Deutung dieses scheinbar paradoxen Befundes dürfte darin liegen, daß die oberflächlichsten Hautschichten einen höheren Schwellenwert als die tieferen, eventuell das Periost, haben. Da die oberflächlicheren Hautschichten über promi- nierenden Knochenpartien leichter verschiebbar sind, kann man sie hier mittels der Björnströmschen Kneifzange isoliert heben, und ihre höhere Schmerzschwelle bestimmt hier den erhaltenen Wert. Wenn man dagegen einen Druck gegen einen dicht unter der Haut liegenden Knochen ausübt, bestimmen die tieferen Schichten, eventuell das Periost, den Wert, weil sie empfindlicher sind und bei der Anlage- rung an den unterliegenden Knochen für Druckreize sehr zugänglich sind. Bei den durch den Björnströmschen Apparat für die verschiedenen Körperteile erhaltenen Werten ist vielleicht auch der Umstand von Bedeutung, daß die in den erhobenen Hautfalten liegenden Nerven nicht nur gedrückt, sondern auch gedehnt werden, was ja leicht geschieht, wenn die Haut mit unterliegenden Geweben fest verbunden ist. Auf die vielen anderen Methoden für mechanische Hautreizung!) kann hier nicht eingegangen werden, nur mag hervorgehoben werden, daß die - Methoden, bei welchen Nadeldruck gegen die Haut ausgeübt wird, nur auf der Applikation eines Druckes auf die Haut, nicht auf einem Eindringen der Spitze in dieselbe beruhen. Bei normalen Individuen wenigstens liegt die Schmerzschwelle weit unter einem Drucke, der ein Eindringen in die Haut bewirkt. Ja für sehr spitze Nadeln liegt die Sache so, daß die Schmerz- empfindung schwächer wird, vielleicht verschwindet, wenn die Nadelspitze in die Haut eindringt; das ist bei der Anwendung jedes Nadelalgesimeters zu berücksichtigen. Thermische Reize. Theoretisch kann sowohl Wärme wie Kälte als Schmerzreiz verwendet werden. Es ist indessen natürlich, daß Wärmereizung leichter zu bewerkstelligen ist. Die einfachste Weise, die Schmerzempfind- lichkeit mit Wärmereizen zu bestimmen, besteht darin, den Temperaturgrad zu suchen, welchen ein die Haut berührender, gut wärmeleitender Gegenstand haben muß, um eine Schmerzempfindung hervorzurufen. Die ausführlichsten thermoalgesimetrischen Beobachtungen rühren von Do- nath?) und Vereß?) her. Die äußersten Grenzen für das Auftreten des Kälte- schmerzes waren nach Donath — 11,4 und 2,8° C, für das Auftreten des Wärme- schmerzes 36,3 und 52,6°C. Auch Vereß, der nur das Auftreten des Wärmeschmerzes untersuchte, fand für die verschiedenen Körperteile bedeutende Unterschiede. Eine minimale Schmerzempfindung wurde durch Temperaturen zwischen 44 und 52° hervorgerufen, es bestand also zwischen den Schwellenwerten an verschiedenen Körperteilen ein Unterschied von nicht weniger als 8°. Berechnet man, wieviele Hundertstel der ganzen Körperfläche die den verschiedenen Schwellenwerten ent- sprechenden Körperteile betragen, so erhält man die folgende Tabelle. BU a en ee br Dres Tl AIR ei EP BE ae rer BR er area He Be Be N u BB N RA EN re er ee BEE u ae RE RLTE Ba N A ns FT BR A ei 3 GE !) Siehe Kulbin, L’annee psychologique 1896, p. 83 u. 438. v. Bechterew, Neurol. Zentralbl. 1899, S. 386. Hess, Deutsch. med. Wochenschr. 1892, 8. 210. Buch, Petersb. med. Wochenschr. 1891 u. 1892. MacDonald, L’intermediaire des biologistes 13, 288, 1898. Thunberg, Ups. Läkaref. förh. 8, 560, 1902/03. — 2) Arch. f. Psychiatrie 15, 695, 1884. — °) Pflügers Arch. 89, 1, 1902. 698 Algesimetrie. Bei diesen verschiedenen Empfindlichkeiten der verschiedenen Körperteile ist die Dicke des Stratum corneum von großer Bedeutung derart, daß ein um so kräftigerer Reiz erforderlich ist, je dicker das Stratum corneum ist. Ob andere Umstände, z.B. eine geringere Anzahl der Nervenenden in der Flächeneinheit, auch mitspielen, mag dahingestellt bleiben. Übrigens sind die Methoden von Donath und Vereß nicht einwandfrei. Thunberg') hat eine Methode angegeben, mit einer und derselben hohen Temperatur die Schmerzempfindlichkeit zu bestimmen. Wenn man über eine Serie ungleich dicker Metalllamellen, z.B. Silberlamellen, disponiert, welche der leichteren Handhabung wegen an einem schlecht wärmeleitenden Griff befestigt sind, und sie auf einer und derselben hohen Temperatur, z. B. 100°, hält, indem man sie auf ein kochendes Wasserbad stellt, und wenn man sie dann mit der Haut in Berüh- rung bringt, so gibt jede, je nach ihrer Dicke, eine bestimmte Wärmemenge an die Haut ab. Wenn man in einer Tabelle die in Milligramın ausgedrückten Gewichte der Silberlamellen, welche bei einer Berührungsfläche von l1qcm eben zur Auslösung einer schwachen, stechenden Schmerzempfindung hinreichen, an- ordnet, so findet sich, daß das nötige Gewicht für den größten Teil der Körper- oberfläche zwischen 45 und 60 mg liest, daß es dagegen auf gewissen Stellen, auf der Volarfläche der Hände und der Finger und ebenso an den Füßen, zu einem ungleich höheren Werte, 100 bis 1000 mg, aufsteigt. Durch Berechnung der Wärme- menge, welche die Metalllamelle an die Haut abgibt, wenn ihre Bluttemperatur (hier = 38° angenommen) sinkt, erhält man eine Vorstellung von den Wärme- mengen, welche zur Hervorrufung von minimalen Schmerzempfindungen auf 1gqcem Hautoberfläche appliziert werden müssen. Die Werte liegen im allgemeinen zwischen 167,40 bis 223,9 mg-Kalorien, können aber am Fuße und an den Händen auf 372 bis 3720 steigen. Hierbei sind die Dicke des Stratum corneum und der Wärme- grad der die Schmerznerven deckenden Hautschicht von großer Bedeutung. Elektrische Reize. Die bis jetzt vorliegenden Bestimmungen der Empfindlichkeit verschiedener Hautstellen für elektrische Reize sind meistens mit veralteten Methoden ausgeführt worden, und die Ergebnisse haben auch wenig Wert. Prüft man, wie Bernhardt?) zuerst getan hat, die Haut mit Induktionsströmen, so findet man die Schmerzschwelle je nach dem Epi- dermiswiderstand bei verschiedenem Rollenabstand. Die so erhaltenen Zahlen, welche den Rollenabstand angeben, haben indessen einen sehr beschränkten Wert, weil sie ja bei verschiedener Stärke des primären Stromes und je nach der Anordnung des Induktionsapparates verschieden sind. Wenn man, wie Tschieriew und de Watteville3) in die sekundäre Leitung des Induktoriums einen so großen Widerstand — bis 3000000 Ohm — einführt, daß der verschiedene Epidermiswiderstand seine Bedeutung ver- liert, so findet man die gleiche Schmerzempfindlichkeit an allen Hautstellen. Nur wenige Versuche liegen vor, durch welche diese Fragen mit absolut graduierten Instrumenten und unter Berücksichtigung der verschiedenen Variabeln in Angriff genommen wurden. Über die Bedeutung der Frequenzen der Wechselströme hat v. Zeynekt) Versuche angestellt. Es kamen für langsamen Wechsel (0,3 bis 1 pro Sek.) Sinusströme zur Verwendung, die von einer Spule geliefert wurden, in welcher sich eine zweite, von Gleichstrom durchflossene Spule gleichmäßig drehte. Für Stromwechsel von 5 bis 110 pro Sekunde diente ein Kohlrauschscher Sinusinduktor, für Wechselströme von 600 bis 5000 Stromwechseln pro Sekunde eine besonders konstruierte Dynamo- ‘) Upsala Läkaref. förh. 30, 521, 1894/95. — *) Die Sensibilitätsverhältnisse d. Haut. Berlin 1874. Siehe auch Bernhardt, Arch. f. klin. Med. 19, 382, 1877. — ®) Brain 2, 163, 1879. — *) Göttinger Nachr. 1894, zit. nach Ergebn. d. Phys. 2 (2), 116. g 8 u ae TE iu Schmerzempfindlichkeit innerer Teile. 699 maschine, deren Strom noch durch einen Transformator geleitet wurde. Endlich wurden Teslaströme angewendet. Im allgemeinen ergab sich, daß mit zunehmen- der Reizfrequenz die zur prickelnden Hauterregung!) erforderliche Stromstärke wächst. Für hohe Wechselzahlen stieg die für die Reizschwelle nötige Strom- stärke proportional der Quadratwurzel der Wechselzahl an. Bei den Ver- suchen mit Teslaschwingungen trat keine prickelnde Empfindung auf. Chemische Reize. Grützner?) hat Lösungen verschiedener chemi- scher Stoffe auf kleine Wunden der Finger, welche absichtlich beigebracht waren, aufgepinselt. Um die reizenden Wirkungen der verschiedenen Stoffe zu bestimmen, wurde die Zeit beobachtet, welche von dem Auftragen der Flüssigkeit bis zum Auftreten eines deutlichen Schmerzes verstrich. Jod- natrium erzeugte z. B. nach 5, Bromnatrium nach 10, Chlornatrium nach 50 Sek. eine Schmerzempfindung, wenn sie in der Stärke einer Normallösung angewendet wurden. Schmerzempfindlichkeit der Mundhöhle. Die Wangenschleimhaut, die hinteren Teile des Mundraumes und die hintere Zungenhälfte haben eine wenig ausgebildete Schmerzempfindlichkeit. Einige Stellen der Wangen- schleimhaut sind normal völlig schmerzfrei, auch wenn sie mit sehr kräftigen mechanischen und elektrischen Reizen untersucht werden (Kiesow’). Vo. Die Schmerzempfindlichkeit innerer Teile. Über die Sensibilitätsverhältnisse der inneren Teile liegen Untersuchungen in größerer Anzahl vor. Die Physiologen des 17. und 18. Jahrhunderts teilen mehrere durch Tierexperimente gewonnene Resultate mit, und in der Zeit vor der Einführung der Äther- oder Chloroformnarkose in die Chirurgie wurden an Menschen viele wichtige Beobachtungen gemacht; allerdings widersprechen sich die Angaben aus dieser Zeit in vielen Punkten. Für Untersuchungen der Sensibilitätsverhältnisse der tieferen Teile ist eine neue Zeit angebrochen, seitdem die Methode, große Operationen bei nur lokaler Betäubung anzustellen, in die Chirurgie eingeführt ist; denn mehr als bei allgemeiner Narkose bietet sich hier Gelegenheit, die Sensibilität der verschiedenen Gewebe zu beobachten. Eine sowohl in der älteren wie in der neueren Literatur häufig wieder- kehrende Auffassung der Sensibilitätsverhältnisse der tieferen Teile nahm an, daß ein qualitativer Unterschied zwischen dem gesunden und dem kranken Zustande bestehen sollte. Wenn gesund, sollte ein Organ, auch wenn es ge- waltsamen Reizen ausgesetzt wurde, keinen Schmerz auslösen können, wenn es dagegen krank würde, könnte es Sitz sehr ausgeprägter Schmerzen werden. Solche Angaben liegen über mehrere der inneren Organe vor, besonders aber der Organe der Brust- und Bauchhöhle. Folgender Ausspruch eines Chirurgen *) dürfte als charakteristisch für die bisherige allgemeine Auffassung der Chirurgie angeführt werden. !) Vielleicht beziehen sich also diese Untersuchungen auf die Drucknerven und nicht auf die Schmerznerven. — ?) Pflügers Arch. 58, 69, 1894. Siehe auch Rollet, ebenda 74, 451, 1899. — °) Wundts philos. Stud. 14, 567, 1898. — *) Bier, Die Entstehung des Collateralkreislaufes, Virchows Arch. 147, 455, 1897. 700 Lennander s Untersuchungen. „Bekamntlich besitzt der Darm keine Berührungs-, Tast-, Temperatur- oder Schmerzempfindung in dem Sinne, wie die äußeren Körperteile mit diesen Eigen- schaften versehen sind. Daß man beim Menschen Darmteile, ohne daß der geringste Schmerz empfunden wird, schneiden, brennen, stechen, quetschen kann, ist jedem Chirurgen von der Anlegung des Anus praeternaturalis her bekannt. .. . Derselbe Darm, den man, ohne daß er die geringste Empfindung davon hat, stechen, brennen, schneiden und quetschen kann, vermag trotzdem die fürchterlichsten Schmerzen zu empfinden. Man denke nur an die heftigen Schmerzen, welche gewisse Krankheiten am Darm hervorrufen, und die wütend schmerzhaften Kolikanfälle bei chronischen Hindernissen im Darm.“ Und Richet!) spricht folgende Auffassung aus, welche als unter den Physiologen üblich angesehen werden kann. „Cette difference de sensibilite entre des parties enflammees et des parties saines est cette, que certains organes, absolument insensibles normalement, deviennent, sensibles aux exeitations douloureuses quand ils s’enflamment.“ So verhält es sich nach Richets Meinung ungefähr mit der Sensibilität bei gewissen „Organes vis- ceraux, dont la sensibilite normale est pour le moins tres obtuse. L’estomac, les intestins, la vesicule biliaire, la vessie sont dans ge cas“. Es ist das Verdienst Lennanders?), eine kritische Sichtung der schon vorhandenen Angaben und eine Serie neuer Untersuchungen vorgenommen zu haben; dadurch sind wahrscheinlich die Gegensätze zwischen dem kranken und dem gesunden Zustande zum großen Teil nur als scheinbar klargestellt, oder wenigstens eine vorher nicht berücksichtigte Möglichkeit, welche viele Schwierigkeiten leicht beseitigt, in die Diskussion eingeführt und die Fragestellung schärfer präzisiert worden. Nach Lennanders Untersuchungen sind alle die Schmerzen, die von der Bauchhöhle ausgelöst werden können, bloß auf die Teile zurückzuführen, die von den Intercostal-, Lumbal- und Sacralnerven innerviert werden, also besonders auf das Peritoneum parietale. Das Peritoneum parietale ist sowohl in gesundem wie in krankem Zustande empfindlich. Besonders ist es überaus empfindlich für mechanische Reize, für “ Ziehungen und Dehnungen. Die intraperitoneal gelegenen N dagegen und das Peritoneum viscerale vermitteln weder in gesundem noch krankem Zustande Schmerz- empfindungen. Besonders haben direkte Untersuchungen gezeigt, daß der Darmkanal und die Mesenterien, der Magen, der vordere Rand der Leber und die Gallenblase, die Milz, das Pankreas, das große Omentum, die Serosa an der Harnblase, sowie das Nierenparenchym unter allen Umständen un- empfindlich sind. Wann und wie entstehen dann die Schmerzen, welche die Bauchkrankheiten begleiten? Sie entstehen dadurch, daß die krankhaften Prozesse in den unempfindlichen inneren Teilen in irgend einer Weise das empfindliche Peritoneum parietale reizen. Häufig dürfte bei Darmkrankheiten eine übermäßige Peristaltik oder eine übermäßige Darmausdehnung einen Zug auf das Peritoneum parietale ausüben, wobei die sehr häufig vorkommen- den Adhäsionen von Bedeutung sind. Auch dürfte bisweilen die Reizung des Peritoneum parietale chemischer Natur sein, indem die in den kranken Teilen gebildeten chemischen, toxischen oder infektiösen Stoffe dahin diffun- ‘) Dietionnaire de Physiol., Paris. — °) Mitteilungen aus den Grenzgeb. d. Med. u. Chirurg. 10 (1902) und Upsala Läkaref. förh. 9, 54, 1903/04 ebenda mehrere geschichtliche Notizen. ee a ee Reflexschmerz. 701 dieren. Dadurch, daß unter diesen Umständen eine Hyperalgesie des Peri- toneum parietale entsteht, erklärt es sich, daß sehr geringfügige Reize bei Krankheiten intensive Schmerzen auslösen können. Dieselbe Verteilung der Sensibilitätsverhältnisse wie die Bauchhöhle zeigen vielleicht auch andere Körperhöhlen. Es ist nämlich wahrscheinlich, daß die Lungen keine Schmerzempfindungen auslösen können, während die Pleura parietalis schmerzempfindlich ist. — Ebenso dürften vielleicht das Ge- hirn und die Schilddrüse gefühllos sein. Überhaupt ist es nach Lennander wahrscheinlich, daß alle diejenigen Organe, die nur vom N.sym- pathicus oder N. vagus nach dem Abgange des N. recurrens innerviert werden, keine Schmerzempfindungen auslösen können. Weitere Mitteilungen Lennanders!) machen es wahrscheinlich, daß die Schleimhaut des Rectums, der vorderen Wand der Scheide, die Gebärmutter, die Eierstöcke, die Eileiter und die angrenzenden Teile der Ligamenta lata der Schmerzempfindungen entbehren. Die Patienten reagieren nicht auf hier vorgenommene operative Eingriffe, vorausgesetzt, daß sie ohne Dehnung des Bindegewebes ausgeführt werden können, welches die Genitalia interna mit Beckenwand und Peritoneum parietale verbindet. Wahrscheinlich haben auch Hoden und Nebenhoden in ihren serosabekleideten Teilen keine Schmerz- nerven, während die Hüllen und das parietale Blatt der Tunica vaginalis schmerzempfindlich sind. Das Periost ist sehr schmerzempfindlich. Die Knochensubstanz und das Knochenmark scheinen unempfindlich zu sein, oder, wenn sie Schmerznerven von dem Periost erhalten, müssen diese sehr kurz sein, denn wenn das Periost auf einer Stelle weggeschabt ist, ist der Knochen bis an die Grenze des Periosts unempfindlich 2). Zurzeit ganz unvermittelt im Verhältnis zu Lennanders Unter- suchungen steht die besonders durch Head?) aktuell gewordene Lehre von den Reflexschmerzen. Schon Lange) hatte mit Rücksicht auf die Tat- sache, daß die inneren Organe gegen Berührung, ja sogar Schnitte, unemp- findlich sind, hervorgehoben, daß die Schmerzen, welche durch Krankheiten innerer Organe entstehen, hauptsächlich reflektierte, irradiierende sind und daß in den schmerzhaften Gegenden oft Hyperästhesien entweder gleichzeitig mit oder zwischen den Schmerzanfällen sich entwickeln. Langes Arbeiten blieben aber unbeachtet. Nachdem aber Roß°) 1888 seine Studien über die Reflexschmerzen veröffentlicht hatte, und nachdem Mackenzie®#) und beson- ders Head die Hyperalgesie der Haut eingehend beschrieben hatten, die mit dem Schmerz bei Visceralkrankheiten so häufig verbunden ist, ist dies Gebiet in den Vordergrund des Interesses getreten. Heads Ansicht geht dahin, daß in den inneren Organen Schmerzempfin- dungen ausgelöst werden können, — zwar nicht durch alle Reize, sondern nur durch solche, welche von reißendem oder zerrendem Charakter sind — aber daß diese so ausgelösten Empfindungen meistens unrichtig lokalisiert werden’). !) Upsala Läkaref. förh. 9, 90, 1903. — ?) Siehe auch Bloch, Nord. med. Ark. 1899, Nr. 33. — °) Brain 16, 1; 17, 339 oder Head, Die Sensibilitäts- störungen d. Haut bei Visceralkrankheiten, Berlin 1898. — *) Siehe die Histor. Fabers im Deutsch. Arch. f. klin. Med. 65, 338. — °) Brain 1888. — °) Medical chronicle, August 1892. — 7) Die -Sensibilitätsstörungen usw., 8. 108. AO ° Reflexschmerzen. Zwar wird der Schmerz häufig in dem kranken Organ selbst gefühlt, aber er besteht dann nur in einem „dumpfen“, „schweren“, „matten“ Gefühl. Der eigentliche Schmerz, welcher „scharf“, „empfindlich“, „stechend“ ist, wird auf die Körperoberfläche bezogen, anstatt auf das tatsächlich erkrankte Organ. Diese unrichtige Lokalisation setzt Head in Verbindung mit der ge- ringen Empfindlichkeit der inneren Organe und erläutert seine Deutung mit folgendem Beispiel: Wenn ich mich in den Fuß steche, so fühle ich nirgends Schmerz als am Fuße selbst in der Gegend des Stichpunktes. Ist indessen die Empfindlichkeit am Stichpunkt krankhaft vermindert, wird der Schmerz nicht mehr auf den Stichpunkt, sondern etwas weiter nach oben auf eine Stelle intakter Sensibilität bezogen (eventuell bei intakter Sensibilität des gegenüberliegenden Fußes auf den entsprechenden Punkt des letzteren — Allocheirie). Die Lokalisation hängt in diesem Beispiele von folgendem Ge- setze ab: Wird ein schmerzhafter Reiz an einer Stelle geringer Empfindlich- - keit appliziert, welche in enger zentraler Verbindung mit einer Stelle von viel größerer Empfindlichkeit steht, so wird der hervorgerufene Schmerz in dem Gebiet höherer Empfindlichkeit viel stärker gefühlt als in dem weniger empfindlichen Teil, an dem der Reiz tatsächlich angebracht worden war. Aber demselben Gesetze gehorcht auch die Lokalisation der von inneren Or- ganen ausgelösten Schmerzen. Diese Organe sind nämlich weniger empfind- lich als die Haut, und ihre Nerven stehen in dem Rückenmark in enger zen- traler Verbindung mit den Hautnerven. Die von den inneren Organen kommenden sensiblen Nerven treten nämlich nach Head in intime Verbin- dung mit Hautschmerzfasern desselben Spinalsegments. Im Zusammenhang mit dieser Nervenanordnung findet Head auch die bei Visceralkrankheiten entstehenden Hauthyperalgesien begründet. Wenn nämlich in den sensiblen Nervenbahnen von einem erkrankten Organ aus Impulse zum Rückenmark gelangen, so müssen diese in dem Spinalsegment, . in welches sie geleitet werden, eine Störung veranlassen. Irgend ein zweiter sensibler Impuls, der aus einem anderen Teile zu demselben Spinalsegment geleitet wird, muß dadurch eine tiefgehende Änderung erleiden, da er ja nicht mehr auf ein normales, in Ruhe befindliches Rückenmark trifft, sondern auf ein solches, dessen Funktion bereits gestört ist. Der zweite Reiz muß auf diese Weise verstärkt werden können, so daß ein vielleicht normalerweise nur unbequemer Reiz sehr schmerzhaft erscheinen kann. Diese Ansichten stützt Head auf eingehende Untersuchungen der bei verschiedenen Organkrankheiten auftretenden hyperalgetischen Hautzonen. Er fand, daß diese Zonen für jedes erkrankte Organ charakteristisch und scharf begrenzt waren. Head fand weiter, daß die Zonen, in denen Herpes Zoster auftritt, die gleichen sind, die bei Hyperalgesie zu finden sind. Es erhob sich also die Frage, in welcher Weise diese Hautzonen der Gliederung des zentralen Nervensystems entsprechen. Mit dem Verlaufe und der Ausbreitung der Hautnerven stimmen sie nicht überein. Eher gleichen sie den Ausbreitungen der hinteren Nervenwurzeln. Es geht ja auch schon aus den Untersuchungen von Bärensprung!) und den in letzter Zeit von Head und Campbell?) veröffentlichten Feststellungen hervor, daß das ‘) Ann. des Charitekrankenhauses 9, 10, 11. — ?) Brain 1900. it Kitzel und Jucken. 703 Spinalganglion bei Zostererkrankung angegriffen ist. Doch konnte man da- gegen den Einwand erheben, daß die Ausbreitungszonen der Hinterwurzeln nach Sherrington!) übereinandergreifen. Head war daher zuerst der Meinung, daß seine hyperalgetischen Zonen einem Segment des Rückenmarkes entsprächen. Nachdem nun aber durch neue Untersuchungen von Sher- rington?) gefunden ist, daß in den Wurzelgebieten die Überlagerung für die Fasern verschiedener Empfindungsqualitäten eine verschieden starke ist, für die Schmerzfasern eine geringere als für die taktilen Fasern, und nach- dem die Herpeszonen als periphere Projektion der Spinalganglien durch die Sektionsbefunde von Head und Campbell erwiesen sind, ist es wahrschein- lich, daß auch die hyperalgetischen Zonen so aufzufassen sind. ° Was die Lage der verschiedenen Hautzonen betrifft, die den Rückenmarks- segmenten oder den Nervenwurzeln entsprechen, mag folgendes®) mitgeteilt werden: Wenn wir jede Zone nach den vom Rückenmark ausgehenden Nervenwurzeln be- nennen, bekommen wir 8 Cervicalzonen, 12 Dorsalzonen, 5 Lumbalzonen und 4 Sacralzonen, welche alle ziemlich rechtwinklig auf der Längsachse des Körpers der Reihe nach von oben nach unten geordnet sind; die Extremitäten denkt man sich rechtwinklig zu der Längsachse des Körpers, wie dies bei den vierfüßigen Tieren der Fall ist, mit dem Daumen nach vorn und den Unterextremitäten etwas verdreht, wie sie in der fötalen Stellung stehen. Jedes Organ kann Hyperalgesie in mehreren Zonen hervorrufen. So können nach Head bei Krankheiten in Aorta -und im Herzen Hyperalgesien in der 1. bis zur 8. Dorsalzone auftreten. Bei Krankheiten der Lunge kann man Hyperalgesien in der 3. bis 9. Dorsalzone, bei Leberkrankheiten in der 7. bis 10. Dorsalzone, bei Nierenleiden in der 10. bis 12. und in der 1. Lumbalzone, bei Krankheiten der Blase, der Prostata, Testes, Uterus und Adnexa in den unteren Dorsal- und oberen Lumbalzonen beobachten. Bei den Verdauungskrankheiten endlich treten die Hyperalgesien in der 7. bis 12. Dorsal- zone und speziell bei Krankheiten des Magens und im oberen Teile des Dünn- darmes in der 7. bis 9., bei Erkrankungen des Darmes in der 9. bis 19. Dorsalzone auf. Die Verdauungsorgane werden indessen nicht nur durch den N. sympathicus, sondern auch durch den N. vagus innerviert und hierauf gründet Head seine Ansicht von dem reflektorischen Kopfschmerz und der reflektorischen Kopfhaut- hyperalgesie bei Organkrankheiten, und er hat eine Reihe von Kopfzonen beschrieben, welche in bestimmtem Verhältnis zu den Zonen des Truncus stehen. VII. Die Empfindungen von Kitzel und Jucken. Zu den interessantesten Erscheinungen auf dem Gebiete der Hautsinnes- physiologie gehören die Eigentümlichkeiten, welche die Empfindungen von Kitzel und Jucken zeigen. Die großen Schwierigkeiten, die der Erklä- rung dieser Erscheinungen beim jetzigen Stande unserer Kenntnisse entgegen- stehen, deuten darauf hin, daß mehrere von unseren Vorstellungen über den Ablauf und die Verbreitungsweise der Nervenerregung noch zu komplettieren sind. Es ist unter solchen Umständen zu bedauern, daß bisher keine syste- matischen Untersuchungen über diese Frage durchgeführt wurden. Was bis- her vorliegt, sind größenteils nur zufällige Beobachtungen und theoretische Erörterungen, in denen der betreffende Verfasser sich nicht selten in Wider- sprüche gegen die eigenen Angaben verwickelt. Obgleich die Empfindungen von Kitzel und diejenigen von Jucken manche Übereinstimmungen zeigen, !) Philos. Transact. of Roy. Soc. London 184, 190. — ?) Journ. of Physiol. 27. — ®) Nach der Zusammenstellung Fabers, |. c. 704 Kitzel und Jucken. zeigt doch die psychologische Analyse mit großer Wahrscheinlichkeit, daß beide als zwei voneinander verschiedene Empfindungsqualitäten zu betrachten sind. Als juckend werden die Empfindungen definiert, welche bei verschie- denen Hautkrankheiten vorkommen oder durch Insektenbisse entstehen, welche aber leicht auch dadurch hervorgerufen werden können, daß eine feine Steck- nadel (z. B. Spitzenfläche 0,001 qmm) gegen die Haut mit einer abgepaßten Belastung (z. B. 1g) drückt. Die dabei entstehende Empfindung ist, wie Alrutz!) hervorgehoben hat, typisch juckend. Diese letztere Tatsache zeigt, daß es nicht möglich ist, die von Spezialärzten für Hautkrankheiten aus- gesprochene Ansicht zu acceptieren, daß das Jucken (Pruritus) ins Gebiet der Parästhesien gehört, d. h. eine Gefühlsanomalie darstellt, welche keine Steigerung oder Verminderung der Normalbedingungen bedeutet, sondern eine Abart derselben sei, d.h. also ein dem gesunden Körper so gut wie fremdes Gefühl (Jeßner?). Als kitzelnd werden die Empfindungen bezeichnet, welche an behaarten Hautstellen entstehen, wenn man darüber sehr leicht, z. B. mit einer Feder, hinstreicht, wobei es häufig genügt, daß nur die Haare getroffen werden; dazu zu rechnen sind auch die Empfindungen, welche an unbehaarten Stellen, z. B. an den Lippen, und zwar unter denselben Reizbedingungen wie an be- haarten Hautteilen auftreten. Eine kitzelnde Empfindung entsteht aber auch bei kräftigem Drucke auf die Fußsohle, gegen die Rippen usw. Hier erhebt sich die Frage, ob nicht diese tiefen Kitzelempfindungen von den oberflächlichen ganz verschieden sind, wieStanley Hall und Allin?) meinen. Gegen die scharfe Unterscheidung zwischen den juckenden und den kitzelnden Empfindungen könnte man den Einwand machen, daß es Empfin- dungen gibt, bei welchen es schwierig ist, zu sagen, ob sie als juckend oder kitzelnd anzusehen sind. Diese Tatsache ist jedoch keineswegs entscheidend. Möglicherweise sind nämlich die betreffenden Empfindungen Mischempfin- dungen, welche die Zusammengehörigkeit der Kitzel- und Juckempfindungen nicht mehr beweisen als z. B. die Existenz von Mischempfindungen von Druck und Wärme die Zusammengehörigkeit dieser Empfindungen. Man hat sich früh gefragt, in welchem Verhältnis die Empfindungen von Jucken und Kitzel zu den übrigen Hautempfindungen stehen. Man steht vor der Alternative, ob die juckenden und kitzelnden Empfindungen mit den anderen Hautempfindungen gleich geordnet sind, in welchem Falle man sich gern besondere Nerven mit den spezifischen Energien der Juck- bzw. Kitzelempfindlichkeit denken würde, oder ob sie irgendwelche Modifikationen anderer Hautempfindungen sind, wobei natürlich nur die Druck- und Schmerz- empfindungen in Frage kommen können. Die meisten Forscher haben sich für die letztere Möglichkeit aus- gesprochen, wenigstens was die Kitzelempfindungen betrifft. (Doch scheinen die meisten nicht den hier hervorgehobenen strengen Unterschied zwischen kitzelnden und juckenden Empfindungen anzuerkennen und im allgemeinen den Begriff „Kitzel“ etwas weiter als hier gefaßt zu haben.) ‘) Undersökningar öfver smärtsinnet, p. 10—14, Upsala 1901. Da eine Historik der juckenden und kitzelnden Empfindungen. — ?) Pathologie und The- rapie des Hautjuckens, 1. Tl., 8. 4, Würzburg 1900. — °) Amer. Journ. of Physiol. 9, 19117, 1897. ld nn a ee ee er ” Kitzel und Jucken. 705 Schon Weber!) glaubt z. B., daß die kitzelnden Empfindungen dadurch entstehen, daß die krregung auf angrenzende Teile ausstrahlt, wofür die Beobachtung spricht, daß die Empfindung den Reiz beträchtlich überdauert, ja daß sie bisweilen nachher kräftiger werden kann. Weber hebt auch den großen Unterschied verschiedener Stellen hervor, indem gewisse Teile sehr kitzlich und andere es so gut wie gar nicht sind, und nach Dohrn?) wären vielleicht diese überdauernden Empfindungen von lokalen vasomotorischen Reflexen ab- hängig; für diese Annahme führt er an, daß eine juckende Stelle gewöhnlich etwas gerötet ist. Auch Funcke?) schließt sich der Auffassung Webers an, daß die Kitzelempfindung eine sekundäre Folge der primären Berührungs- empfindung ist, hebt aber als eigentümlich und bemerkenswert hervor, daß schwache Reize diese Ausstrahlungen hervorrufen, starke aber nicht, Auch Goldscheidert), der den Drucknerven das Vermögen, Schmerz auszulösen, zuschreibt, schreibt diesen auch die kitzelnden Empfindungen zu. Er teilt einige Beobachtungen über Momente mit, welche das Kitzeln aus- löschen. Stieht man mit einer Nadel oder einem spitzen Hölzchen in irgend einen Punkt der Haut ein, so ist unmittelbar darauf selbst nach mäßigem Druck in einem gewissen Umkreise die Haut unfähig, Kitzel wahrzunehmen. Die Größe dieses Bezirks wächst mit der Stärke des angewendeten Druckes, ebenso hängt hiervon sowie von der individuellen Disposition der Hautregion für Kitzelreize die Zeitdauer der Unempfindlichkeit für Kitzelreize ab. Auch die Druck- und Schmerzempfindlichkeit in der Umgebung ist etwas ab- gestumpft. Goldscheider findet diese exzentrische Anästhesierung in zen- tralen Vorgängen begründet. Die zentrale Erregung soll sich auf einen gewissen Umkreis erstrecken, in welchem infolgedessen schwächere Er- regungen unter der Bewußtseinsschwelle gehalten werden. Für die Lokali- sation der Erscheinung im Zentrum spricht auch die Umkehrung des Ver- suches: Streicht man leise über ein Gebiet der Haut, so daß ein nachdauerndes Kitzelgefühl entsteht, und reizt nun in der Mitte der gereizten Stelle nur mäßig einen Punkt, so ist in demselben Moment das nachdauernde Gefühl verschwunden. Auch v. Frey’) scheint dieser Auffassung der Beziehung des Kitzels zum Drucksinn zu huldigen; er faßt also den Kitzel nicht als eine primäre Empfindung auf, sondern als eine sekundäre im Sinne von H. Quincke., In derselben Weise dürfte man auch die juckenden Empfindungen in Be- ziehung zu den Stechschmerzempfindungen bringen können. Es ist in der Tat wahrscheinlich, daß der juckende Charakter, wenn man von seinem unbehaglichen Gefühlston absieht, eben durch den hingezogenen Verlauf der Sensation — jeder kleinste Zeitwert der juckenden Sensation ist eine Stich- sensation — ihre Irradiation und Tendenz, Reflexe auszulösen, konstituiert wird. Vieles bleibt jedoch vorläufig unerklärt. Wodurch ist der so auffällige Gefühlston der kitzelnden und juckenden Empfindungen bedingt? Weshalb !) Wagners Handwörterb. 3, 2. Abteil., 493; siehe auch die Beobachtungen S. 495, 515, 566 bis 567,578 bis 579. — ?®) Zeitschr. f. rat. Med. 10, 339, 1861. — ®) Hermanns Handb. 3, 2. Abteil., 313 bis 314. — *) Siehe die etwas wechselnden Meinungen dieses Verfassers: Ges. Abh., S. 45 bis 46, 81 bis 84, 202 bis 205, 259, 262, 269; ebenso: Über den Schmerz, Berlin 1894, 8. 31. — °) Leipz. Abh. 1896, S. 217; siehe auch Leipz. Mitteil. 1894, S. 192 und 286. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 45 706 Hitzeempfindung. verschwindet der juckende und kitzelnde Charakter bei vermehrter Reizung ? Ohne eingehende Untersuchungen können diese und andere hierher gehörige Fragen nicht beantwortet werden). Gegen die oben entwickelte Auffassung der kitzelnden und juckenden Empfindungen hat Alrutz?) sich ausgesprochen. Nachdem er gefunden hatte, daß es alle Übergänge zwischen den kitzelnden und juckenden Empfindungen gibt, und daß reine kitzelnde Empfindungen von den Feldern zwischen den Druckpunkten ausgelöst werden, schließt er, daß die Drucknerven die Kitzel- empfindungen nicht vermitteln. Er nimmt an, daß es besondere Nerven gibt, welche die juckenden und kitzelnden Empfindungen auslösen und welche weder mit den Druck- noch mit den Schmerznerven identisch sind. Gegen die Beweiskraft der Gründe, welche für die Auffassung als Übergangs- empfindungen angeführt werden, ist schon oben hervorgehoben worden, daß es sich vielleicht nur um Mischempfindungen handelt, welche durch gleich- zeitige Reizung der Druck- und Schmerznerven entstanden zu denken sind. Übrigens wäre es möglich, daß es an verschiedenen Schleimhäuten, an der Cornea undifferenzierte Druck-Schmerznerven gibt, welche auch juckend- kitzelnde Empfindungen auslösen. Die Beobachtung, daß die Zwischenfelder der Druckpunkte kitzelnde Empfindungen auszulösen vermögen, ist nur bei- läufig mitgeteilt. Wenn sie bestätigt wird, ist sie jedoch von größtem prin- zipiellen Gewicht für die hier erörterten Fragen. IX. Zusammengesetzte Hautempfindungen und ihre Analyse. Die verschiedenen Arten von elementaren Hautempfindungen werden häufig zur selben Zeit von einer und derselben Hautstelle ausgelöst, und es entstehen nunmehr Mischempfindungen. Daß bei intensiveren Kältereizen die Kälteempfindung sich mit einer Schmerzempfindung vermischt, ist ja allbekannt, und in derselben Weise ent- steht bei intensiver Wärme- resp. Druckreizung der Wärme- resp. Druck- schmerz. Wenn man z. B. einen schmerzhaften Druck mit einem mäßig kalten resp. einem mäßig warmen Gegenstand ausübt, setzt sich die ent- stehende Empfindung aus drei Einzelempfindungen zusammen (Wärme-, Druck-, Schmerzempfindungen, — Kälte-, Druck-, Schmerzempfindungen), was ja keiner Erklärung bedarf. Bemerkenswert ist, daß häufig an derselben Hautstelle die Wärme- und die Kältenerven zur selben Zeit gereizt werden können. Man erreicht dies durch Anwendung von Wärmereizen solcher Intensität, daß sie auch die Kältenerven paradox erregen. Die dabei entstehende Empfindung hat beson- ders Alrutz3) untersucht. Sie hat nach ihm einen spezifischen Charakter und wird von ihm „Hitzeempfindung“ genannt. Gemäß ihrer Entstehungsweise kann diese Hitzeempfindung nur von Hautstellen ausgelöst werden, welche sowohl Kälte- wie Wärmeempfindlichkeit besitzen: ein Reizmittel von einer Temperatur, durch welche an gewöhnlichen Hautstellen Hitzeempfindung aus- gelöst wird, erzeugt an einer Hautstelle, welche nur Kälteendorgane hat, ‘) Siehe Thunberg, Skand. Arch. f. Physiol. 12, 440, 1901. — ?) Undersök- ningar öfver smärtsinnet, Upsala 1901, p. 89. — °) Skand. Arch. f. Physiol. 10, 340, 1900. Empfindungen von Glätte und Rauhigkeit. 707 nur eine paradoxe Kälteempfindung, an einer Hautstelle, welche ausschließlich Wärmeendorgane besitzt, nur eine gewöhnliche Wärmeempfindung. Alrutz ist weiter der Ansicht, daß die Hitzeempfindung eine ganz eigen- artige Temperaturempfindung ist, welche für die Psyche ganz einfach ist und introspektiv nicht in Komponenten zerlegt werden kann. Gegen diese scharfe Abgrenzung der fraglichen Empfindung sind vom Verfasser !) Ein- wendungen erhoben worden. Bei gleichzeitiger und an derselben Stelle lokalisierter Reizung der Kälte- und Wärmenerven dürfte nämlich die über- wiegende Sensation immer als solche apperzipiert werden, und dasselbe beobachtet man auch nach einiger Übung bezüglich der schwächeren, wenn sie nur nicht so minimal ist, daß sie überhaupt keinen Einfluß ausübt oder der Empfindung nur eine unbedeutend andere Färbung gibt. Nach dieser Auffassung wird also bei allmählich wachsender Wärmereizung die reine Wärmeempfindung, wenn die Kältenerven schwach gereizt werden, zunächst etwas anders gefärbt, doch so, daß die Wärmeempfindung ganz deutlich dominiert; bei noch inten- siverer Reizung ist es allmählich möglich, auch die jetzt hervortretende paradoxe Kälteempfindung wahrzunehmen, was aber nicht hindert, daß die Mischempfindung die ihr eigentümliche Färbung zeigt 2). Zusammengesetzte Empfindungen, in welchen auch Hautempfindungen enthalten sind, sind die Empfindungen von Glätte und Rauhigkeit. Eine Erörterung der Bedingungen für die Entstehung dieser Empfindungen zeigt, welches die eingehenden Komponenten sind. Durch die einfache Berührung eines Gegenstandes mit einer wenn. auch noch so empfindlichen Hautstelle, z. B. einer Fingerspitze, erhält man keine Vorstellung von dem Grade von Glätte oder Rauhigkeit, der die Oberfläche des Gegenstandes auszeichnet. Nimmt man eine Reihe von Gegenständen, deren Oberflächenbeschaffenheit beträchtlich differiert, z. B. Sandpapier, ver- schiedene Zeuge, Papier von verschiedener Rauhigkeit, Metallblech usw., so findet man, wenn man damit nur die Haut berührt oder mit der Haut sie berührt, daß man auf diese Weise nur sehr grobe Differenzen beobachten kann. Erst wenn man, während z. B. die Fingerspitze die Oberfläche berührt, den Finger über die Fläche verschiebt, oder wenn man, bei Ruhelage der Fingerspitze, den berührenden Gegenstand verschiebt, hat man die günstigen Bedingungen für eine wirkliche Auffassung des Charakters der Oberfläche. Die Sensation_.setzt sich also aus einer gleichförmigen Berührungsempfindung und einer Empfindung der mit Leichtigkeit gleichzeitig vor sich gehenden Verschiebung der Tastfläche gegenüber einem Gegenstande zusammen, also teils aus einer Hautempfindung, teils aus einer Empfindung aus dem Gebiete des Muskelsinnes. Je gleichförmiger die Berührungsempfindung ist und je leichter die Verschiebung der Tastfläche vor sich geht, um so höher schätzen wir die Glätte des Gegenstandes; je weniger diese Bedingungen erfüllt sind, um so rauher erscheint uns die Oberfläche. Diese Auffassung wird durch die Analyse einer eigentümlichen Täuschung von Glätte bestätigt). Wenn man nämlich bei vorgestreckten Armen die beiden Hände an beide Seiten eines vertikalen Metalldrahtnetzes so hält, daß !) Skand. Arch. f. Physiol. 11, 415, 1901. — ?) Siehe auch die Bemerkungen Kiesows, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 26, 231, 1901. — ®) Thun- berg, Upsala Läkaref. förh. 8, 660, 1902/03. 45* 708 Apperzeptionszeiten. die Volarseite der Hände und Finger durch die Netzmaschen einander be- rühren, und wenn man dann die Hände zurückzieht, so daß sie also über das Drahtnetz hingleiten, unter Beibehaltung der gegenseitigen Lage, so hat man ein eigentümliches, beinahe öliges Gefühl von starker Glätte. Bei dieser Illusion von Glätte werden diese konstituierenden Empfindungen ausgelöst, obgleich kein glatter Gegenstand da ist. Die kontinuierliche, gleichförmige Berührungsempfindung entsteht dadurch, daß der größere Teil der Hände und der Finger — die Stellen, die von den Metalldrähten nicht geschieden werden — gleichförmig einander berühren, und das Gefühl der Verschiebung tritt auf, wenn die Metalldrähte der Haut entlang gleiten. Von einander nahe liegenden Hautstellen ausgelöst, schmelzen diese Empfindungen zusammen zu einer Empfindung von Glätte. Die Empfindungen von Nässe und Trockenheit sind nicht elementare Empfindungen, sondern Schlüsse, welche in verschiedener Weise aufgebaut werden können, wobei auch Muskel- und Gesichtsempfindungen in wechseln- der Weise mitspielen können. Eine Kälteempfindung, welche von einer Be- rührungsempfindung nicht begleitet ist, wird häufig als von einer Flüssigkeit verursacht aufgefaßt, was daraus erklärt werden kann, daß beim Nieder- tauchen eines Körperteiles in eine Flüssigkeit der Drucksinn fast gar nicht erregt wird, daß also die entstehenden Temperaturempfindungen ungemischt sind. Im Zusammenhang damit steht eine eigentümliche Illusion von Nässe, welche entsteht, wenn man die Stirn mit einem sehr kalten Gegenstande z. B. 20 Sek. berührt. Nach dessen Fortnahme dauert die Kälteempfindung noch einige Zeit fort und zugleich hat man ı den Eindruck, daß die Stirnhaut deutlich naß. sei. X. Die Apperzeptionszeiten der Hautempfindungen. Die Hautempfindungen verschiedener Qualität werden unter sonst ver- gleichbaren Umständen ungleich schnell perzipiert, wie durch Reaktionszeit- versuche festgestellt ist. Für dieselben Körperregionen sind erstens die Temperaturreaktionszeiten länger als die Druckreaktionszeiten — und zweitens die Wärmereaktionszeiten länger als die Kältereaktionszeiten (Herzen, Stern, Ewald und Rosenbach!) und besonders Tanzi2), Gold- scheider?°), v. Vintschgau und Steinach‘). Zum Vergleich zwischen Kälte- und Wärmereaktionszeiten mag folgende Tabelle I (s. £. S.), welche die Reaktionszeit in Sekunden angibt, mitgeteilt werden. Die Reaktionszeiten der Temperaturempfindungen sind im übrigen sehr wechselnd und erfahren im allgemeinen durch Schwäche des Reizes, Dicke der Epidermis, mehr oder weniger schlecht entwickelten Temperatur- sinn eine wesentliche Verlängerung. Folgende Tabelle II zeigt nach v. Vintschgau, und Steinach das Verhältnis der Reaktionszeiten einerseits für Druckempfindungen, anderseits für Wärme- und Kälteempfindungen. !) Genaueres über ihre Versuche siehe bei Dessoir: Über den Hautsinn, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1892, 8. 316. — ?) Tanzi, Sulle sensazioni del freddo e del caldo, Milano-Torino 1886, zitiert nach Schäfers Textbook, 1900. — ®) Ges. Abh. 1, 312. — *) Pflügers Arch. 43,. 152, 1888. Apperzeptionszeiten. 709 Tabelle 1. Goldscheider v. Vintschgau Steinach a Wärme Kälte "Wärme Kälte Wärme Kälte 49 bis 50° | 14 bis 15° | 48 bis 49° | 2 bis 6° |48 bis49°| 2 bis 6° | i | Gesicht u.a nn ' 0,190 0,135 = Bier 2 nie Rechte Seite des Ge- sichts . . . . . ee? EN 0,160 0,152 0,124 0,115 Linke Seite des Ge- sicht. ne; _ _ 0,170 0,161 0,142 0,120 Obere Extremität . 0,270 0,150 = .— — — Carpalgegend . . . In _, 0,205 0,186 0,173 0,152 Tabelle Il. % Wärme : = N Körpergegend 48 bis 490 Druck | Unterschied | Kälte Druck | Unterschied Rechte Schläfe 0,166 0,119 0,047 0,160 0,119 0,041 Linke Schläfe . 0,154 0,119 0,035 0,143 0,19 0,024 Antithenar . . | 0,208 0,126 0,082 0,206 0,126 0,080 Die Bedeutung der Reizweise zeigt sich deutlich in den Untersuchungen Tanzis. Während in den bisher erwähnten Versuchen der Temperaturreiz durch Berührung mit einem festen Gegenstande von bestimmter Tempe- ratur angebracht wurde, verwendete er als Temperaturreizmittel eine Flamme resp. Äther, oder er berührte die Haut mit warmen resp. kalten Metallscheiben. Als Mittelwert von vier verschiedenen Versuchspersonen und 30 Reaktionsversuchen für jede von diesen erhielt er bei der ersten Versuchsanordnung Kälte (beinahe schmerzhaft) 0,227 Sek., Wärme (beinahe schmerzhaft) 0,507 Sek., Wärme (schwach) 1,160 Sek. Bei der letzteren Versuchsanordnung waren die Mittelwerte von vier Versuchsindividuen aus je 50 Versuchen: Kälte 0,137, Wärme 0,162, einfache Berührung 0,129. Die Zeiten sind also, was die Temperaturempfindungen betrifft, viel kürzer als im vorigen Falle. Daß die Temperaturempfindungen eine längere Reaktionszeit als die Druckempfindungen haben, muß wenigstens zum Teil durch die Zeit bedingt sein, welche vergeht, ehe der Temperaturreiz durch Leitung zu den Schichten der temperaturempfindlichen Organe gedrungen ist. In Übereinstimmung mit dieser Deutung steht auch die Tatsache, daß der Unterschied größer an Hautstellen ist, deren Epidermis sehr dick ist. Die durchgehend längere Reaktionszeit der Wärmeempfindungen ist durch die wahrscheinlich tiefere Lage der Wärmeendorgane bedingt. Die bisherigen Angaben der Apperzeptionszeiten der Temperaturempfin- dungen beziehen sich auf die Verhältnisse der Kälteendorgane bei Kältereizung und der Wärmeendorgane bei Wärmereizung. Da man indessen durch das- selbe Wärmereizmittel sowohl die Wärmenerven wie die Kältenerven (paradox) 710 Spätkommende Schmerzempfindungen. reizen kann, entsteht auch die Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis im Auftreten der so entstandenen Temperaturempfindungen. Es hat sich gezeigt, daß hier kein konstantes Verhältnis besteht. Je nach dem Wärmebestand der Haut und der Beschaffenheit des verwendeten Reizes erfordert die Apperzeption der paradoxen Kälteempfindung kürzere oder längere oder dieselbe Zeit wie die durch denselben Reiz ausgelöste Wärmeempfindung. Es hängt das zweifellos von der entgegengesetzten Wirkungsweise der beiden konkurrierenden Faktoren ab. Für eine kürzere Apperzeptions- zeit der Kälteempfindungen wirkt die oberflächlichere Lage der Kälteend- organ begünstigend, dieser Vorteil wird aber durch ihre höhere Schwelle zum Teil kompensiert !). Die Reaktionszeiten der Schmerzempfindungen zeigen große Ver- schiedenheiten. Häufig sind sie sehr groß, größer als überhaupt die Reaktions- zeit irgend einer anderen Empfindung. ‘In manchen Versuchen kann dies dadurch bedingt sein, daß der Reiz sehr langsam anschwillt, so daß eine nicht unwesentliche Zeit vergeht, bis der Schwellenwert für Hervortreten einer Schmerzempfindung erreicht ist. Aber auch wenn der Reiz momentan diesen Schwellenwert erreicht, ist die Apperzeptionszeit sehr groß, wie schon lange bekannt ist. Stößt man z. B. beim Gehen mit einer empfindlichen Zehe gegen einen Stein, so tritt der Schmerz regelmäßig merklich später ein als die Tast- empfindung 2). Übt man mit einer Nadel einen momentanen Druck gegen die Haut aus, so hat man bei gewisser Stärke des Reizes außer der ersten sofort eintretenden Druckempfindung nach einem empfindungslosen Intervall eine Stechschmerzempfindung (Goldscheider?°). In dem ersten Falle handelt es sich sicher um den dumpfen Schmerz, im letzten um den stechenden. Beide zeigen also trotz momentanen Auftretens eines maximalen Reizes eine ganz deutlich längere Apperzeptionszeit als die Druckempfindung. Die Reak- “ tionszeit der stechenden Empfindungen beträgt bei schwachen, aber momentan vorhandenen mechanischen und thermischen Reizen ungefähr 1,3 Sekunden ®). Wenn man die Stärke des Reizes erhöht, wird bei Anwendung momentan auftreffender thermischer und mechanischer Reize die Reaktionszeit der Stech- empfindung bei einer bestimmten Größe des Reizes plötzlich sprungweise erniedrigt.. Von der ursprünglichen Zeitdauer von etwas mehr als 1 Sekunde sinkt sie plötzlich auf ungefähr nur #0/,,u Sekunden oder noch weniger, aber auch die Stechempfindung mit der längeren Apperzeptionszeit bleibt bestehen. Man bekommt also bei einer einzelnen momentanen Hautreizung zwei stechende Empfindungen. Dies Phänomen der zwei zeitlich getrennten Schmerzempfindungen bei einer einzigen Reizung ist von Goldscheider und Gad’) mit dem Phänomen einer ersten Druckempfindung und einer nachfolgenden Schmerzempfindung, das bei etwas schwächerer Reizung häufig entsteht, in Zusammenhang gebracht. Sie nennen die spätere dieser Empfindungen die sekundäre und denken sich ihre Entstehung in folgender Weise auf einer Summierung beruhend. Die Berührungs- und Schmerzempfindungen werden ihrer Ansicht nach durch ‘) Siehe Thunberg, Skand. Arch. f. Physiol. 11, 419, 1901. — ?) Funcke, Hermanns Hädb. 3, 2. Abteil., 300. — °) Ges. Abh. 8. 44. — *) Siehe Thunberg, Skand. Arch. f. Physiol. 12, 394, 1901. — °) Ges. Abh. 1, 397. Lokalzeichen. TEL - dieselben Nerven der Haut vermittelt. Diese Nerven teilen sich im Rückenmark in zwei Bahnen, deren eine direkt zu dem Zentrum für die Druckempfindungen geht. Eine Reizung der Haut bewirkt also auf diesem Wege eine Berührungs- empfindung. Zum Teil wird aber der Reiz auch auf der zweiten Bahn im Rückenmark nach dessen grauer Substanz fortgeleitet und trifft dort auf Zellen, die vorderhand nur in einen veränderten Reizbarkeitszustand ver- setzt werden. Erst wenn mehrere Reize nacheinander auf diese Weise die Zelle erreicht haben — schon ein einziger mechanischer Hautreiz ruft mehrere solche zentripetalen Nervenerregungen hervor — wird die angehäufte Energie in Arbeit umgesetzt, und die Zelle sendet nun selbst einen Reiz aus, der auf seinem besonderen Wege das Gehirn erreicht und dort eine Schmerzempfindung hervorruft. Weil also eine Summierung von Reizen in dieser Bahn stattfindet, nannten sie dieselbe die Summierungsbahn. Diese Deutung erklärte nur das Phänomen, daß einer primären Berührungs- empfindung nach einem empfindungslosen Intervall eine Schmerzempfindung folgt. Durch die Annahme, daß ein einziger Reiz von genügender Stärke imstande ist, durch die Summierungsbahn durchzubrechen, erklären sie die Tatsache, daß schon die primäre Sensation eine Schmerzempfindung sein kann. Nach- dem die Existenz besonderer Schmerznerven durch die Entdeckung der Schmerzpunkte sehr wahrscheinlich gemacht ist, wird die Deutung dieses Phänomens anders. Das Phänomen einer ersten Berührungsempfindung, von einer spät kommen- den Schmerzempfindung begleitet, kann nicht dieselbe Erklärung wie das Phä- nomen zweier nacheinander folgender Schmerzempfindungen haben. Daß ein momentaner Nadelstich erst eine Druckempfindung, dann eine Schmerz- empfindung gibt, wird durch die größere Trägheit des Schmerzorgans verursacht, wie v. Frey durch eine Analyse der Resultate zeigte, die man bei Reizung der verschiedenen Sinnespunkte erhält. Nur wenn ein Druck- und ein Schmerzpunkt nahe aneinander liegen, treten die beiden Empfindungen auf. An freiliegen- den Druckpunkten bekommt man nur die zuerst kommende Druckempfindung, die Stechempfindung aber bleibt aus!). An frei liegenden Schmerzpunkten beobachtet man dagegen nur das Phänomen, daß bei stärkerer momentaner Reizung zwei nacheinander kommende Stechempfindungen entstehen, und dies kann in der Weise erklärt werden, daß eine gleichzeitige Reizung der Nerven und der Nervenenden stattfindet. Die erste leitet die Erregung augen- blicklich zentralwärts, die letztere erst nach ihrer bestimmten Latenzzeit (Thunberg?). XI. Die Lokalisation der Hautempfindungen °). Lokalzeichen. Orts- oder Raumsinn. Um eine Hautempfindung, ebenso wie die meisten anderen Empfindungen, eindeutig zu charakterisieren, muß man ihre Qualität, ihre Intensität, ihre Lokalisation und ihre Lage in der Zeit angeben. Man kann dies auch so ausdrücken, daß die fraglichen Empfindungen nicht nur Qualität und Intensität als feste Eigenschaften oder !) Leipziger Abh. 1896, 8. 243. — ?) Skand. Arch. f. Physiol. 12, 432, 1901. — ®) Eine eingehende kritische Literaturzusammenstellung mit eigenen Untersuchungen liefert V. Henri, Uber die Raumwahrnehmungen des Tastsinnes, Berlin 1898. 712 Lokalzeichen. — Ortssinn. Attribute haben, sondern auch ein Etwas, was ihre Lage im Raum, ebenso wie ein anderes Etwas, was ihre Lage in der Zeit bestimmt. Was einer Haut- empfindung ihren bestimmten Ort in dem räumlichen Vorstellungsbild unserer Körperoberfläche gibt, nennt man häufig nach Lotze!) ihr Lokalzeichen, _ Unsere Fähigkeit, die Hautempfindungen zu lokalisieren, bezeichnet man kurz als den Ortssinn oder Raumsinn der Haut. Da jedoch der Ausdruck Orts- oder Raumsinn irreleiten kann, wird er im folgenden nicht angewendet. Es wird also nicht von einem feineren oder gröberen Orts- oder Raumsinn . die Rede sein, sondern von einer feineren oder gröberen Lokalisation der Empfindungen oder von einem mehr oder weniger ausgebildeten Vermögen, die Empfindungen zu lokalisieren. Das Wort „Sinn“ scheint sowohl in der Sprache des täglichen Lebens wie in der Fachsprache einer schärferen Präzision zu entbehren. Von den ver- schiedenen Bedeutungen, die ihm zukommen, hat man wohl im allgemeinen in der Sinnesphysiologie beim Gebrauch .des Begriffes „Sinn“ den Zweck maßgebend sein lassen, die Empfindungen dadurch zu klassifizieren, so daß jede einfache Empfindung ihren Platz innerhalb eines gewissen Sinnes, und nur innerhalb dieses hat. Wenn man die physiologische Bedeutung dieses Ausdruckes durch diese Definition festlegt, hat der Ausdruck Ortssinn keine Existenzberechtigung, denn es bleiben überhaupt keine Empfindungen übrig, welche ausschließlich als Funktionen eines „Ortssinnes“ gelten könnten. Es gibt ja keine Empfindungen, die nur Ortsempfindungen sind. Beidem Ausdruck Ortssinn ist eine den meisten Empfindungen zukommende Eigenschaft — die Lokalisation — herausgegriffen und als Anlaß zur Konstruktion eines besonderen Sinnes benutzt worden. Das für die anderen Sinne maßgebende Prinzip der Einteilung und Definition ist also verlassen, und es werden nicht direkt vergleichbare Begriffe (wie Drucksinn und Ortssinn) einander gleich geordnet. Die noch vielfach gangbare Annahme, es existiere ein besonderer Orts- sinn der Haut, rührt von Weber?) her, der den Tastsinn nach drei Gesichts- punkten auflöste und Temperatursinn, Drucksinn und Ortssinn unterschied. Auch Lotze scheint eine der Weberschen ähnliche Vorstellung gehabt zu haben. Für Lotze war nämlich das Lokalzeichen eine zweite Empfindung, die zur selben Zeit als die Haut- bzw. Gesichtsempfindungen entstand, also nicht einfach ein bleßes Moment dieser Empfindungen bildete, welches seiner Natur nach aufs innigste und integrierend mit der Qualität der Empfindung verknüpft sein mußte, wie besonders Stumpf?) hervorgehoben hat. Doch scheint Lotze seine ursprüngliche Fassung des Lokalzeichens später etwas verändert zu haben. Für die Erklärung unseres Vermögens, eine Hautempfindung an den Ort des Reizes zu lokalisieren, muß man annehmen, daß bei Erregung der Elemente der zugehörigen nervösen Zentren im Gehirn irgend welche Faktoren mitspielen, welche den psychischen Effekt der Erregung des einen Elementes von dem Effekt der Erregung eines anderen verschieden machen. Jedes ') Medizinische Psychologie, Leipzig 1852, 8. 331. — ?) Wagners Handwb. 3, 2. Abteil., 511. — °) Siehe Stumpf, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 4, 70, 1893. Simultan- und Successivschwellen. 713 Element hat also sein eigenes Individual- oder Spezialzeichen, das für die Lokalisation der Hautempfindungen innerhalb des räumlichen Vorstellungs- bildes unserer Körperoberfläche verwendet wird. Dies Individualzeichen der Elemente in den empfindenden Zentren muß nach dem Gesetz der exzentrischen _ Projektion durch das Bewußtsein als eine Eigenschaft der Nervenenden gelten, und demgemäß spricht man von dem Lokalzeichen der Nervenenden. Da der Ausdruck Lokalzeichen etwas zu viel zu sagen scheint, hat v. Frey!) die Bezeichnung Merkzeichen vorgeschlagen: denn man ist zwar imstande, zwei von benachbarten Nervenenden ausgelöste sonst identische Druck- 'empfindungen zu unterscheiden, kann aber dabei ihre gegenseitige Lokalisation nicht wahrnehmen. Es mag indessen hervorgehoben werden, daß dabei der. Unterschied immer doch als ein Ortsunterschied wahrgenommen wird. Die Untersuchungen der Feinheit unseres Lokalisationsvermögens sind im allgemeinen in der Weise angestellt worden, daß man Schwellenwerte der Lokalisationsfähigkeit bestimmt hat. Man hat dabei gefunden, daß die Schwellenwerte bei verschiedenen Untersuchungsmethoden sehr verschieden ausfallen, und daß man derer mehrere unterscheiden muß. Man kann sie in zwei Gruppen verteilen. I. Simultanschwellen. Wenn man eine Hautstelle mit zwei Spitzen von veränderlicher Distanz zu derselben Zeit berührt, bekommt man entweder den Eindruck einer einzigen berührenden Spitze oder den eines Gegenstandes von erkennbarer Größe, dessen Richtung man auch vielleicht erkennen kann, oder endlich von zwei Spitzen. Bestimmt man die kleinsten Spitzendistanzen, bei denen jeder dieser verschiedenen Eindrücke sich einstellt, so erhält man, der Benennung Fechners?) folgend, teils die Schwelle der erkennbaren Größe mit oder ohne Richtungserkennung (im ersten Falle — simultane Richtungsschwelle v. Freys), teils die Schwelle der erkennbaren Distanz oder Duplizität (— simultane Duplizitätsschwelle, scheint immer mit Rich- tungserkennung verbunden zu sein). II. Successivschwellen. Wenn man zuerst einen Punkt der Haut berührt, nachher entweder denselben oder einen anderen, so findet man, daß eine gewisse Distanz zwischen den zwei Punkten liegen muß, wenn die Ver- suchsperson unterscheiden soll, ob ein anderer oder der gleiche Punkt bei der zweiten Reizung getroffen ist. Diese kleinste Distanz gibt die Successiv- schwelle für die einfache Unterscheidung von Orten auf der Haut (— Successivschwelle v. Freys). Wenn die Versuchsperson die gegenseitige Richtung der zwei Punkte eben bemerken kann, spricht man von der Successivschwelle mit Richtungserkennung. Die Untersuchungsmethoden. I. Die Bestimmungen der Simultan- schwellen sind nur in der Weise ausgeführt worden, daß man die Haut mit zwei Spitzen von wechselnder Distanz berührte, worauf die Versuchsperson den Eindruck zu beschreiben hatte: sie hatte Seen achen, ob eine oder zwei Spitzen, ob Größe oder Richtung erkennbar waren oder nicht? (Methode an- !) Würzburg. Ber. 1902, AT. 2) Elemente der Psychophys. 1, 245, 1860. 714 “ Analyse der Untersuchungsmethoden. gegeben von Weber!). Die Bestimmung der Successivschwellen ist in zwei verschiedenen Weisen ausgeführt worden. II. Entweder berührt man eine Hautstelle mit einer Spitze und läßt nachher die Versuchsperson, die die Be- rührung fühlte, aber nicht sah, die berührte Stelle mit einer Spitze anzeigen (Weber?). Ill. Oder auch man macht nach einer ersten Berührung eine neue, die entweder denselben oder einen anderen Punkt trifft. Die Versuchs- person hat nur anzugeben, ob der erstberührte Punkt bei der zweiten Be- rührung getroffen wird oder nicht oder wo die zweite Berührung erfolgte (Czermak?), Goltz), Judd). Wie die Analyse zeigt, sind diese Methoden einander recht ungleich. In der Methode II, wie sie im allgemeinen ausgeführt wird, wird man bei der Lokalisation von dem Erinnerungsbilde einer Berührung geleitet. Die Ver- suchsperson soll jetzt mit Hilfe ihres Gesichtssinnes und ihres Muskelsinnes mit einer Spitze einen Punkt treffen und.setzt auch die Spitze auf einen Punkt nieder. Es ist dabei möglich, daß sie nach diesem Niedersetzen der Spitze bemerkt, daß die jetzt entstehende Berührungsempfindung mit der vorigen nicht identisch war. Man kann sie dann entweder den Versuch fortsetzen lassen, bis sie glaubt, den richtigen Punkt sicher getroffen zu haben, oder man kann auch bei dem zuerst erhaltenen Werte bleiben. Im ersten Falle ist der erhaltene Wert mehr ein Ausdruck des Vermögens, eine Berührungsempfindung im Vorstellungsbild unserer Körperoberfläche zu lokalisieren, im zweiten Falle bezeichnet er die Fähigkeit, einen Punkt durch die Berührungsempfindungen zu identifizieren; indessen tritt weder die eine noch die andere Funktion in dieser Methode ganz rein heraus. In beiden Fällen ist der Betreffende ja durch das Erinnerungsbild geleitet, nicht durch einen dauernden Eindruck, und wenn es der Versuchsperson erlaubt ist, den Ver- such zu wiederholen, nachdem sie die Nichtidentität des zu treffenden und des getroffenen Punktes bemerkt hat, so ist bereits eine neue Empfindung von dem unrichtig getroffenen Punkte ausgelöst worden und kann den Versuch erschweren. Diese Umstände machen die Resultate der Methode nicht ganz rein. Schlechte Resultate brauchen nicht in einem wenig ausgebildeten Lokalisationsvermögen ihre Wurzel zu haben, sondern können durch schnelles Verschwinden der Erinnnerungsbilder verursacht werden oder durch Schwierig- keiten, die nötigen Bewegungen in der Eile sicher auszuführen. In der Methode III ist es zwar ein Erinnerungsbild, das die Versuchs- person leitet; indessen kann die zweite Berührung, deren Identität oder Nichtidentität mit der ersten herausgefunden werden soll, so schnell wie über- haupt wünschenswert nach der ersten gemacht werden; es liegt hier also keine Gefahr vor, daß das Erinnerungsbild verbleichen könnte. Die Versuchs- person hat übrigens nur ihren Eindruck mitzuteilen und braucht keine ab- gepaßte Bewegung zu machen, so daß das Versuchsergebnis durch diese Kompli- kation nicht getrübt werden kann. Das letzte gilt auch für Methode I, bei. der es auch nur auf den Eindruck der Versuchsperson ankommt und keine ‘) Annotationes anatomicae et physiologicae 1834 (1829), p. 44; s. Wagners Handwb. d. Physiol. 3, 2. Abteil., 524 f. — ?) Sitzungsber. d. sächs. Ges. d. Wissensch. 1852, 8. 87. — °) Sitzungsber. d. Wien. Akad. 17, 588, 1855. — *)' De spatii sensu cutis, Inaug.-Diss., Leipzig 1858. — °) Wundts philos. Studien 12, 409, 1896. Vergleich der verschiedenen Schwellen. 715 Fehlerquellen durch das Verwischen des Erinnerungsbildes eingeführt werden können. Endlich mag hervorgehoben werden, daß durch die Methoden I und III nur das relative Lokalisationsvermögen geprüft wird, also das Vermögen, zwei Berührungsempfindungen miteinander zu vergleichen und im Verhältnis zueinander zu lokalisieren. Aber wenn auch zwei Empfindungen in dieser Weise richtig lokalisiert werden, kann doch noch ein gemeinsamer systema- tischer Fehler das Resultat trüben, ähnlich wie es z. B. der Fall ist, wenn zwei durch ein Prisma gesehene Punkte zwar richtig im Verhältnis zueinander gesehen werden, aber doch an unrichtigem Ort lokalisiert werden. Die Methode II gibt dagegen das absolute Lokalisationsvermögen, wenn man nur ' den ersten Versuch, den Punkt zu treffen, berücksichtigt. Als eine Modifi- kation dieser letzteren Methode kann diejenige von Henri!) und Pills- bury?) angesehen werden. Nach dieser Methode hat die Versuchsperson die Aufgabe, den berührten Punkt nicht auf dem betreffenden Körperteil, sondern auf einer Photographie oder einem Gipsmodell desselben zu zeigen. Ein Apparat, der erlaubt, die Haut mit zwei Spitzen gleichzeitig zu be- rühren, wird Ästhesiometer genannt. Am einfachsten ist es, einen gewöhn- lichen Zirkel oder einen Stangenzirkel anzuwenden, dessen Spitzen abgestumpft sind und aus einer schlecht wärmeleitenden Substanz verfertigt sind (um Temperaturempfindungen auszuschließen). Zweckmäßig ist es auch (nach Vierordt?°), einen Satz Brettchen anzuwenden, auf denen je zwei Nadeln so befestigt sind, daß ihre (mäßig stumpfen) Spitzen einen unabänderlichen Abstand haben. Man hat etwa 30 solcher Nadelpaare nötig von etwa 0,3 bis zu 80 mm Spitzenabstand. Für besondere Zwecke sind kompliziertere Apparate angegeben (Griesbach), Binet’), Bolton), v. Frey’). Bolton ver- wandte in seinem Ästhesiometer zwei kleine Metallstäbchen mit Elfenbein- spitzen, die beim Aufsetzen frei in Löchern der Zirkelarme spielten, so daß sie nur mit ihrem Eigengewicht, im ganzen 5gm, auf die Haut drückten. Hierdurch wurde ein -immer gleichartiger Druck erreicht. v. Frey hat eine Einrichtung zur simultanen Reizgebung beschrieben, welche besonders für Reizung der Druckpunkte geeignet ist. Für die Methode III hat Judd’°) einen zweckmäßigen Apparat angegeben. Was die Resultate betrifft, zu denen man bei diesen Untersuchungen gekommen ist, so mag von vornherein die wichtige Tatsache hervorgehoben werden, daß ein sehr großer Unterschied einerseits zwischen den Simultan- schwellen, insbesondere der Schwelle der erkennbaren Duplizität, ander- seits der Successivschwellen, besonders der Successivschwelle für die einfache Unterscheidung von Orten auf der Haut besteht. Während diese letztere Schwelle von der Distanz zweier Druckpunkte repräsentiert wird (v. Frey, 1898), ist die Schwelle der erkennbaren Duplizität mehrmals — bis hundertmal — größer und kann auf gewissen Körperteilen 50 mm und mehr betragen (Weber, 1829). Bezüglich der anderen hier nicht besonders !) Arch. de Physiol. 1893, p. 619 ff. — ?) Amer. Journ. of Psych. 7, 1. Abteil., 42#f. — °) Siehe Kottenkamp u. Ullrich, Zeitschr. f. Biol. 6, 38, 1870. — *) Pflügers Arch. 68, 65. — °) Annee psychol. 7, 231, 1901. — °) Kraepelins psychol. Arb. 4, 147. — 7) Siehe Brückner, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 26, 33, 1901. — ®) Wundts philos. Studien 12, 416, 1896. 716 Webers Untersuchungen. berücksichtigten Simultan- und Successivschwellen finden sich ebenfalls ähnliche Unterschiede, indem die Simultanschwelle größer als die Successivschwelle zu sein scheint, doch ist der Unterschied nicht so ausgeprägt, ja die Werte können sogar zusammenfallen oder ein umgekehrtes Verhältnis zeigen; jedoch scheint es, daß die bezüglichen Arbeiten nach ihrer Anlage keine reinen Ver- suchsergebnisse zeitigen konnten. Da die Fragestellung auf dem Gebiete unseres Lokalisationsvermögens noch immer ihr Gepräge von den Weberschen Untersuchungen her hat, dürfte es geeignet sein, mit diesem anzufangen. 1829 hat E. H. Weber!) seine bekannte Methode angegeben, um die Lokalisation der Berührungsempfindungen zu prüfen. Er beschreibt seine Methode mit folgenden Worten: „Ich berührte bei verschiedenen Menschen, die ihre Augen verschlossen oder abwendeten, mit zwei kleinen gleichgestalteten Körpern gleichzeitig zwei Teile der Haut und fragte sie, ob sie fühlten, daß ein oder mehrere Körper sie berührten und in welcher Richtung die Linie liefe, durch die sie sich die berührten Teile der Haut verbunden denken könnten.“ Nach einer Beschreibung des von ihm an- gewendeten Zirkels, der abgeschliffene Spitzen hatte, um einen Tasteindruck, nicht eine Schmerzempfindung hervorzurufen, fährt er fort: „Indem ich nun den Zirkel anfangs mehr, dann aber immer weniger öffnete, gelangte ich zu derjenigen Ent- fernung der Enden der Schenkel desselben, wo die zwei Eindrücke anfingen als ein einziger Eindruck empfunden zu werden. Auch dann konnte der Beobachter noch bestimmen, ob die Linie, die die Enden des Zirkels verbindet, in der Längs- richtung seines Körpers und seiner Glieder oder in querer Richtung läge. Denn er empfand zwar nur einen Eindruck, aber der berührte Teil der Haut schien eine längliche Gestalt zu haben, und er konnte sagen, wohin der größere und der kleinere Durchmesser dieses länglichen berührten Teiles der Haut gerichtet wäre. Wurde nun aufgeschrieben, bei welcher Entfernung der Enden des Zirkels noch zwei Berührungen unterschieden wurden, oder wenigstens die Richtung der Schenkel des Zirkels noch bestimmt werden konnte ...., und die Arbeit allmählich über die verschiedenen Teile der Haut fortgesetzt, so erhielt ich eine Übersicht über die Feinheit des Tastsinns, insofern er sich als Ortssinn äußert.“ Folgende Zusammenstellung enthält die von Weber ermittelten Werte. Die Werte unter A geben in Millimetern (abgerundet) die Entfernung der Zirkelspitzen an, die erforderlich ist, um zwei Berührungen zu fühlen, oder — was in den meisten späteren Reproduktionen der Weberschen Zahlen vergessen ist — um aussagen zu können, ob die Hautempfindung als von einer Spitze oder von einem länglichen Gegenstande herrührend bezeichnet wird. Im zweiten Falle ist angegeben worden, ob der Gegenstand die Haut in Längsrichtung oder Querrichtung usw. berührte. Die Tabelle enthält also miteinander vermischt Werte der simultanen Duplizitätsschwelle und der Schwelle der erkennbaren Größe mit Richtungserkennung. A | B l 1 | Zungenspitze 2 ı Volarseite des letzten Fingergliedes | s . . . . 4,5 | Roter Lippenrand, Volarseite des zweiten Fingergliedes ') Panegyrin. med. indicentis d. 13. mens. Nov. 1829; zit. nach Wagners Handwtb. 3, 2. Abteil., 524, Empfindungskreise. 717 A 5 B 7 Dorsalseite des dritten Fingergliedes, Nasenspitze, Volarseite des Cap. oss. metacarpi 9 Mittellinie des Zungenrückens, Zungenrand, nicht roter Teil der Lippen, Metacarpus des Daumens 11 Plantarseite des letzten Zehengliedes, Rückenseite des zweiten Finger- gliedes, Backen, äußere Oberfläche des Augenlids 16 Haut über dem vorderen Teil des Jochbeins, Plantarseite des Mittel- fußknochens der großen Zehe, Dorsalseite des ersten Fingergliedes 23 Haut über dem hinteren Teil des Jochbeins, Stirn, hinterer Teil der Ferse 27 Behaarter unterer Teil des Hinterhaupts 31 Rücken der Hand 33 Hals unter der Kinnlade, Scheitel 41 Kreuzbein, Haut über den Glutaeen, Unterarm, Unterschenkel, Fußrücken 45 Brustbein 54 Nackenhaut, Rückenhaut über den fünf oberen Brustwirbeln und in der Lenden- und unteren Brustgegend 68 Rückenhaut’ an der Mitte des Halses und des Rückens, Mitte des Oberarmes und des Oberschenkels Wie aus dieser Tabelle ersichtlich, zeigen verschiedene Regionen große Differenzen. Die niedrigsten Werte verhielten sich zu den höchsten etwa wie 1:70. Das beste Lokalisationsvermögen zeigte nach dieser Methode die Zungenspitze, nächstdem die Volarseite der letzten Fingerglieder; am wenigsten ausgebildet war das Lokalisationsvermögen an der Rückenhaut. An Armen und Beinen sind die kleinsten noch unterscheidbaren Entfernungen in der Querrichtung kürzer als in der Längenrichtung. Weber hat auch das oben als Methode I bezeichnete Verfahren an- gewendet und teilt darüber folgende Werte mit!). Die Ziffern geben in Millimetern (abgerundet) die Fehler an, welche beim Versuch, einen vorher berührten Hautpunkt zu treffen, gemacht werden. Mitte der vorderen Seite des Oberschenkels 16 | 8,5 | Mitte der Volarseite des Vorderarmes 6,5 | Mitte des Handrückens 4,3 | Mitte der Hohlhand 1 | Volarseite der Fingerspitzen 6,3 | Auf der Stirn 5,4 | Am Kinn 1 | An den Lippen Bei einer Vergleichung zwischen dieser Tabelle und der vorigen zeigt sich, daß die Werte bei successiver Reizung kleiner als bei simultaner Reizung sind. Die Bedeutung dieses Befundes scheint indessen Weber nicht bemerkt zu haben; vielmehr war es vor allem der große Simultanwert, der ihn be- schäftigte und den er zu erklären versuchte. Für diese Erklärung hat er den !) Verhandl. d. sächs. Gesellsch. d. Wissensch. 1852, 8. 88. 718 Physiologische und anatomische Empfindungskreise. Begriff „Empfindungskreis“ aufgestellt, der für seinen Urheber ursprünglich ein anatomischer Begriff war. Jeder Empfindungskreis soll dadurch ausgezeichnet sein, daß er durch einen elementaren Nervenfaden (eine markhaltige Nerven- faser) versorgt wird. Jede Nervenfaser tritt entweder durch Schlängelung oder durch Verästelung oder in beiderlei Form mit mehreren Punkten der Oberfläche ihres Empfindungskreises in Berührung. Jeder dieser Empfindungs- kreise soll einen besonderen Ortswert besitzen, aber eine Unterscheidung innerhalb seiner Fläche nicht mehr gestatten, in diesem letzten Umstande liegt die erklärende Bedeutung dieser Annahme von Empfindungskreisen. Durch diese Annahme wird erklärt, daß zwei auf die Haut gesetzte Spitzen unter Umständen nur eine einzige Berührungsempfindung auslösen. Wenn die zwei Spitzen nur eine und dieselbe Nervenfaser reizen, können sie gar keinen anderen Effekt verursachen, als wie er durch eine einzige Spitze hervorgerufen wird. Und wenn die zwei Spitzen zwei Nervenfasern reizen, - deren Endausbreitungen einander berühren, ist ja auch derselbe Effekt mit einer einzigen Spitze zu erreichen, und so ist der Eindruck einer einzigen Spitze anstatt zweier auch in diesem Versuch leicht erklärlich. Wenn dagegen eine Empfindung einer einzigen Spitze entsteht, obgleich zwischen den zwei gereizten Empfindungskreisen ein dritter Kreis ungereizt - bleibt, liegt zwar darin kein Beweis gegen die Annahme solcher Empfindungs- kreise, aber anderseits kann aus dieser Annahme die Empfindung nur einer berührenden Spitze nicht erklärt werden. Diese Annahme anatomischer Empfindungskreise, also Hautgebiete, die nur durch eine einzige Nervenfaser innerviert werden, hat demnach eine sehr begrenzte theoretische Bedeutung und erklärt nicht jede Zusammenschmelzung der durch zwei Spitzen gesetzten Reize zu einer einheitlichen Empfindung. In der Tat fand man schon früh, daß häufig eine Empfindung nur einer einzigen Spitze entstand, obgleich zwischen den berührten Punkten mindestens ein, möglicherweise mehrere ungereizte Empfindungskreise angenommen werden mußten; mit anderen Worten, daß häufig viele zwischenliegende ungereizte Empfindungskreise nötig waren, damit zwei berührende Spitzen auch zwei getrennte Empfindungen erzeugten. Dafür konnte schon früh angeführt werden, daß der simultane Schwellenwert durch Übung sehr vermindert werden kann (Volkmann 1) — was indessen durch spätere Untersuchungen (siehe unten) fraglich geworden ist — aber vor allem, daß der Schwellenwert bei successiver Reizung bedeutend niedriger als bei simultaner Reizung er- halten wurde. Diese Tatsache wurde auch schon durch von Weber mit- geteilte Beobachtungen sichergestellt, wenn auch Weber ihre Bedeutung nicht bemerkte; besonderes Gewicht legten erst Lotze, Goltz?) und Czer- mak°) auf diese Erscheinung, und der letztgenannte Forscher suchte die wirkliche Größe der anatomischen Empfindungskreise zielbewußt durch eine Bestimmung der Schwellenwerte bei Successivreizung zu bestimmen. Seine Untersuchungen können zwar nicht den Anspruch erheben, die wirkliche Größe der Empfindungskreise bestimmt zu haben, aber sie erlaubten doch, einen !) Ber. d. sächs. Ges. d. Wiss. 1858. — ?) De spatii sensu cutis. Inaug.-Diss., Leipzig 1858. — °) Sitzungsber. d. Wien. Akad. 1855, 8. 474; siehe auch Judd, Wundts philos. Studien 12 (1896), wo mehrere geschichtliche Notizen zu finden sind. ie Physiologische und anatomische Empfindungskreise. 719 oberen Wert aufzustellen und diesen Wert mit der kleinsten wahr- nehmbaren Spitzendistanz bei Simultanreizung zu vergleichen. Das Ergebnis war, daß diese letzterwähnte Distanz auf gewissen Hautstellen min- ' destens zwei oder dreifach größer als der obere Wert der Empfindungskreise sein muß. Aus alle dem geht hervor, daß die Erklärung Webers, welche die isolierte periphere Endausbreitung jeder einzelnen Nervenfaser voraussetzt, die Erscheinung nicht erschöpfend zu begründen vermag, daß zwei Spitzen einfach empfunden werden. Dasselbe läßt sich auch von der Theorie Czer- maks behaupten. Auch Czermak nahm an, daß jede Nervenfaser sich isoliert verzweigt, aber die Ausläufer der „elementaren Nervenfäden“ sollen sich nach ihm untereinander verschlingen, etwa wie die Baumwurzeln im Walde, so daß jedes Flächenstück Wurzeln vieler Bäume, bzw. Ausläufer vieler Nervenfäden erhält. Dem einzelnen Nervenfaden wird auch hier ein einheitlicher Raumwert zugesprochen, sein Ausbreitungsgebiet repräsentiert also einen Empfindungskreis. Diese Kreise liegen aber nicht neben-, sondern übereinander und decken sich zum größten Teil. Zwar können durch diese Annahme Czermaks mehrere Phänomene besser als durch die W ebersche Theorie erklärt werden, aber die Hauptsache — die große Differenz zwischen simultanen und successiven Schwellenwerten — läßt auch sie rätselhaft. Während der wissenschaftlichen Diskussion über diese Fragen ist der Begriff „Empfindungskreis* von verschiedenen Forschern in wechselnden Bedeutungen angewendet. Wie oben erwähnt, war er für Weber ein ana- tomischer Begriff: die periphere Endausbreitung einer elementaren Nerven- faser, und repräsentierte also eine ganz unbekannte Größe. Da indessen seine Aufgabe darin bestand, gewisse physiologische Verhältnisse zu erklären, ist der Begriff „Empfindungskreis“ bald ein mehr physiologischer geworden. Er wurde, wenn auch nicht ausgesprochen, so doch stillschweigend schon von Weber und nachher von vielen Forschern häufig mit der Hautfläche identi- fiziert, innerhalb deren zwei berührte diametral gelegene Punkte bei simul- taner Berührung eine Empfindung von nur einer berührenden Spitze hervor- rufen. Ein Empfindungskreis, in dieser Weise bestimmt, hat nichts Hypo- thetisches in sich, sondern ist Ausdruck für ein physiologisches Faktum und ist nach Form und Größe experimentell bestimmbar. Sein Diameter wird ja annähernd von dem simultanen Schwellenwert repräsentiert, und seine Form ist auf solchen Hautstellen, wo der Schwellenwert in verschiedenen Richtungen gleich groß ist, rund; dagegen oval, wenn — z. B. auf den Extremitäten — der Schwellenwert in Längsrichtung größer als in Querrichtung ist. Die Größe und Form der anatomischen Empfindungskreise war dagegen durch die simultane Schwelle nicht zu bestimmen. Weber!) läßt auch die Frage ihrer absoluten Größe unbeantwortet, erwähnt nur beiläufig, daß sie vielleicht sehr klein, „daß man sie so klein denken kann, wie man will“, im Verhältnis zur Größe der Schwellendistanz. Dagegen glaubte Weber etwas über die relative Größe und Gestalt der anatomischen Empfindungskreise aussagen zu können. Je kleiner der simultane Schwellenwert, desto kleiner !) Ber. d. sächs. Ges. d. Wiss. 1852, 8. 104 u. 117. 7209 Bernstein s Irradiationshypothese. sind nach ihm die anatomischen Empfindungskreise, und wenn der Schwellen- wert in einer Richtung größer als in einer anderen ist, ist dies dadurch be- dingt, daß die Empfindungskreise länglich sind und den größeren Durchmesser stets nach derselben Richtung kehren. Weber hat dabei nicht die Möglich- keit berücksichtigt, daß vielleicht auf verschiedenen Körperteilen und in ver- schiedenen Richtungen mehrere ungereizte zwischenliegende Empfindungs- kreise nötig sind, um zwei Spitzen besonders zu empfinden. Überhaupt war es unmöglich, aus den simultanen Schwellenwerten irgendwelche Schlüsse bezüglich der Größe und der Form der anatomischen Empfindungskreise zu ziehen, nachdem bewiesen war, daß es für die getrennte Auffassung zweier Spitzen nicht hinreichend war, daß nur ein einziger Empfindungskreis zwischen ihnen eingeschaltet lag. Da also die von Weber und Czermak und anderen vertretene An- nahme fester anatomischer Empfindungskreise die auffallende Größe des simultanen Schwellenwertes nicht erklären konnte, lag es nahe, diese Tat- Fig. 120. wa ı en Be € Be u e h\ 1 5 pP sache als ein Irradiationsphänomen zu interpretieren. Ein beachtenswerter Versuch in dieser Richtung rührt von Bernstein!) her, der die Hypothese einer in den empfindenden Zentren stattfindenden Irradiation aufstellte. Als anatomische Voraussetzungen einer solchen Irradiation postuliert er Ver- bindungen der zentralen Elemente, die unsere Druckempfindungen auslösen, und ferner wäre anzunehmen, daß diese Elemente in einer solchen Fläche angeordnet sind, daß sie als geometrisches Abbild der empfindenden Haut- fläche betrachtet werden kann, und daß demnach benachbarte Punkte der einen auch benachbarten Punkten der anderen entsprechen. Die Details seiner Hypothese sind aus der beigegebenen Abbildung zu entnehmen. Es sei (Fig. 120) durch die Linie pp die periphere Fläche, durch die Linie OO die zentrale Fläche dargestellt, in welcher sich die zentralen Endstationen der Nervenfasern nn befinden; nun möge durch die Faser 1 eine Erregung dem zentralen Elemente 1 zugeleitet sein. Die Fläche der Erregung sei durch ') Untersuchungen über den Erregungsprozeß im Muskel- und Nervensystem. Heidelberg 1870. Lehrbuch d. Physiol. 1894, 8. 568. v. Freys Bestimmung der Successivschwelle. 7231 die Ordinate ab ausgedrückt, und die Kurve bed gebe an, daß sich die Er- regung in der zentralen Fläche mit abnehmender Stärke ausbreitet. Man darf nun nach den Erscheinungen der Irradiation und nach anderen Er- fahrungen aus der Physiologie der Zentren die Annahme hinzufügen, daß sich der Ausbreitung der Erregung durch die zentralen Elemente ein Wider- stand entgegenstellt, welcher die Erregung allmählich vernichtet. Es wird daher die Erregung sich in der zentralen Fläche nur über einen gewissen Bezirk ausbreiten können, dessen Größe von dem Widerstande der zen- tralen Elemente und von ihrer Dichtigkeit in der Flächeneinheit abhängig sein wird. Nimmt man an, daß der Widerstand der Stärke der Erregung proportional sei, so nimmt die Kurve bcd die gezeichnete Gestalt an. Die Grenze des Irradiationskreises würde dort liegen, wo die Erregung den Schwellenwert erreicht. Dem zentralen Irradiationskreis entspricht demnach ein peripherer Irradiationskreis, der sich über ebensoviele Endbezirke der Fasern erstreckt, als der erstere zentrale Elemente umfaßt. Denken wir uns ferner einen zweiten Reiz vom Punkte 2 der Peripherie dem zentralen Ele- mente 2 zugeführt, in solcher Nähe des Punktes 1, daß die beiden Irradiations- kreise in weiter Ausdehnung übereinanderfallen, so werden die beiden Kurven der Erregung bed und fgh sich zu einer gemeinsamen Kurve ik] addieren. Rücken aber die Punkte 1 und 2 weiter auseinander, so würden an dem Gipfel dieser Kurve zwei Maxima auftreten, die immer weiter auseinander- rücken, je weiter sich die Punkte 1 und 2 voneinander entfernen. Solange nun die beiden Irradiationskreise nur ein gemeinsames Maximum der Erregung zwischen sich erzeugen, kann eine Trennung der gereizten Punkte in der Wahrnehmung nicht stattfinden. Die Möglichkeit einer solchen Trennung ist erst gegeben, wenn die Punkte so weit voneinander abstehen, daß sich ein doppeltes Maximum bildet. Diese Entfernung ist dann der Durchmesser eines Empfindungskreises.. Man sieht ein, daß alsdann entsprechend der Auffassung Czermaks und anderer zwischen den gereizten Punkten eine gewisse Anzahl von Endbezirken der Nervenfasern liegen müssen. Wie aus dem oben Mitgeteilten hervorgeht, war schon früh eine Diffe- renz zwischen der simultanen und der successiven Schwelle beobachtet worden. Wie groß diese Differenz wirklich war, ist aber erst spät festgestellt worden, und zwar vor allem durch die Untersuchungen von Judd!) und in end- gültiger Form von v. Frey. Es ist das Verdienst v. Freys und seiner Mit- arbeiter (Brückner, Metzner?), daß sie in systematischer Weise das Ver- halten der Schwellenwerte bei isolierter Reizung der Druckendapparate untersucht haben. Das wichtigste Ergebnis ist, daß jedes Nervenende und jeder Druckpunkt von jedem anderen unterschieden werden kann, wenigstens an den Orten, wo sie nicht so dicht stehen, daß ihre isolierte Erregung technisch undurchführbar ist. Die Bedingungen dafür sind folgende: 1. Beschränkung der Reize auf die zwei Druckpunkte, die zur Untersuchung gewählt sind. 2. Nicht zu geringe und für beide Orte möglichst gleiche Stärke der Reizung. . !) Wundts philos. Stud. 12 (1896). — ?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. der Sinnesorg. 26, 33, 1901; 29, 164, 1902. Nagel, Physiologie des Menschen. III 46 722 Zentrale oder periphere Irradiation. Diesen beiden ersten Bedingungen wird am besten genügt, wenn man sehr kleinflächige (stigmatische) Reize auf die vorher genau bezeichneten Orte der Nervenenden wirken läßt. 3. Reizung der beiden Orte nacheinander, nicht gleichzeitig. In bezug auf das Intervall der beiden Reize haben sich zwischen !/, und 3/, Sek. keine auffälligen Unterschiede ergeben. Dagegen werden bei Intervallen von !/, bzw. 2 Sek. die Resultate merklich schlechter und die Beurteilung schwieriger. Reizt man in der angegebenen Weise zwei benachbarte Druckpunkte, so hat man den Eindruck, als ob der Reiz sich auf der Haut verschöbe In welcher Richtung dies geschieht, ist aber sofort mit Sicherheit erst dann möglich anzugeben, wenn die Entfernung der beiden Reize um das Mehrfache größer ist als der Abstand benachbarter Druckpunkte. Sollen endlich die beiden Reize bei gleichzeitiger Einwirkung unterschieden werden, so muß ihre Entfernung noch weiter um ein Erhebliches wachsen. Durch v. Frey ist also gezeigt, daß sogar jeder Druckpunkt eindeutig bestimmt ist. v. Frey sieht sich daher zu der Annahme genötigt, daß ent- weder jeder Endapparat durch einen besonderen Nervenfaden mit dem Gehirn verbunden ist oder daß Teilungen vorkommen und daß die Zweige der Nervenfäden sich zur Versorgung der Endapparate derart kombinieren, daß jeder Endapparat von jedem anderen verschieden innerviert ist. Nach dieser Entdeckung kann man sagen, daß die Frage der ana- tomischen Empfindungskreise beantwortet ist; zwar nicht so, daß es jetzt bestimmt ist, ob die Enden einer elementaren Nervenfaser, wie Weber glaubte, ein kleines Hautgebiet allein versorgen, oder ob — nach Czermak, die End- ausbreitungen übereinander greifen — diese Frage ist noch offen —; aber so, daß das Gebiet, innerhalb dessen zwei die Haut berührende Spitzen eine und dieselbe anatomische Einheit reizen und daher nicht verschieden empfun- den werden können, mit dem kleinen Bezirk identisch ist, von dem aus ein Druckpunkt einzeln zu reizen ist. Die Verschmelzung simultaner Reize wird nach v. Frey — wie vorher von Bernstein — durch eine im Zentrum statt- findende Ausbreitung oder Diffusion der Erregung verursacht. Die physio- logischen Empfindungskreise sind nach ihm nur die Projektion der zentralen Erregungskreise auf die Hautoberfläche. Daß eine Unterscheidung zweier Tastpunkte, deren zentrale Diffusions- kreise sich zum großen Teile decken, doch bei successiver Reizung möglich. ist, ist nach v. Frey wahrscheinlich dadurch bedingt, daß beim Abklingen des ersten Reizes der Diffusionskreis sich verkleinert, d. h. die Erregung in - der Peripherie rascher erlischt als im Zentrum. Folgt nun die zweite Er- regung nach, so wird sich der ihr entsprechende Diffusionskreis entweder gar nicht bis zum Zentrum des ersten erstrecken oder es nur mit der schwach erregten Peripherie berühren. Daß es unter solchen Umständen zu größeren Erregungsdifferenzen innerhalb des gemeinschaftlichen Diffusionsfeldes kommt, ist leicht ersichtlich. Die Annahme eines verschieden raschen Abklingens ungleich starker Reize ist aber eine solche, welche sich durch mancherlei Er- fahrungen aus der allgemeinen Nervenphysiologie und insbesondere aus dem Gebiete des Tastsinnes stützen läßt. Prüft man die Theorie von Bernstein und von v. Frey, so scheint die An- nahme einer Irradiation der Reizung beinahe unanfechtbar zu sein. Bei dem Te en Bedeutung der Beweglichkeit. 723 jetzigen Standpunkte unserer Kenntnisse ist es überhaupt schwierig, eine andere Erklärung zu geben. Auch die Annahme, daß die Irradiation im zentralen Nerven- system stattfindet, ist sehr wahrscheinlich. Doch ist die Möglichkeit einer peri- pheren Irradiation nicht ausgeschlossen. Es ist durch die histologischen Forschungen sichergestellt, daß die sensiblen Nervenfäden in der Haut ein oder mehrere Ge- flechte bilden. Wenn ein solches Geflecht auch einen physiologischen Zu- sammenhang der Nervenfäden desselben Sinnes repräsentiert und wenn von diesem Geflecht die Nervenfäden zu den Endorganen gehen, kann man auch hierin eine Erklärung sehen. Dadurch, daß die von jedem Endorgan kommende Erregung sich ‘in ganz bestimmter Weise auf die von dem Geflecht zum Zentrum gehenden Nervenfasern verteilen muß, ist eine eindeutige Bestimmung jedes Endorgans er- reicht; dadurch, daß in dem Geflecht die Erregung irradiiert, wird die Zusammen- schmelzung zweier Erregungen erklärt. Diese übrigens nicht sehr wahrscheinliche Mög- lichkeit wäre übrigens leicht zu prüfen durch eine Untersuchung darüber, ob zwei auf den beiden Rändern einer scharf geschnittenen Wunde liegende Punkte bei gleich- zeitiger Reizung unterschieden werden. In diesem Falle wäre ja die eventuelle periphere Verbindung weggefallen. Die wahrscheinlichste Annahme bleibt bis auf weiteres, daß eine zentrale Irradiation stattfindet. Einer Nachprüfung scheint die viel zitierte Angabe Goldscheiders!) zu bedürfen, daß zwei benachbarte Druckpunkte bei simul- taner Reizung unter Umständen eine Doppelempfindung geben. Diese Angabe steht mit allen übrigen Erfahrungen der Sinnesphysiologie in Widerspruch, nach welchen für eine Doppelempfindung mindestens ein unerregtes Element zwischen den ge- reizten Elementen liegen muß; sie steht aber auch im Gegensatz zu v. Freys mit sicheren Methoden gemachten Beobachtungen. Übrigens ist es sehr fraglich, ob nicht Goldscheider, der spitze Nadeln verwendete, mit Stechempfindungen, also von den Schmerznerven vermittelten Empfindungen, und nicht mit Druckempfin- dungen zu tun hatte. Die Abhängigkeit der Simultanschwellen von verschiedenen Faktoren. Der von Weber gefundene große Unterschied zwischen den kleinsten auffaßbaren Spitzendistanzen an verschiedenen Orten muß nach der hier entwickelten Theorie von einem Unterschied in der Größe der Irradiation der Erregungen in dem Gehirn verursacht werden. Wodurch dieser Unter- schied bedingt ist, ist nicht bekannt. Ein Versuch, die Tatsachen unter einem gemeinsamen Gesichtspunkte zusammenzufassen, ist von Vierordt?) gemacht worden. Nach ihm hängt die Feinheit des Lokalisationsvermögens — durch die kleinste wahrnehmbare Spitzendistanz gemessen — in den einzelnen Körperteilen von ihrer in hohem Grade verschiedenen Beweglichkeit ab, also auch in den einzelnen Hautbezirken desselben Körperteils von der verschie- denen Bewegungsgröße (Exkursionsweite) der Hautstellen. Deshalb ist das Lokalisationsvermögen stärker ausgebildet 1. in den Körperteilen, welche die ausgiebigsten Bewegungen vollführen, sowie in einem einzelnen Körperteil in dessen peripheren Bezirken und 2. in den Körperteilen, die besonders häufig und schnell bewegt werden. Wie Vierordt und seine Mitarbeiter?) (Kotten- kamp und Ullrich, Paulus, Riecker und Hartmann) durch sehr aus- gedehnte Untersuchungen gezeigt haben, fügen sich die Resultate dieser Regel im allgemeinen ganz gut ein. Ob indessen die verschiedene Beweglichkeit als die bestimmende Ursache der Verschiedenheiten der simultanen Schwellen- werte angesehen werden kann, ist doch nicht ganz entschieden. In solchem Falle sollte die durch die größere Beweglichkeit verursachte größere In- !) Ges. Abh.' 1, 194. — ?) Pflügers Arch. 2, 297, 1869. — ?) Zeitschr. f. Biol. 6, 53 u. 73, 1870; 7, 237, 1871; 9, 95, 1873; 10, 177, 1874; 11, 79, 1875. 46* 724 Einfluß des Alters, der Übung. anspruchnahme einer gewissen Hautstelle zum Tasten eine Verminderung der zentralen Irradiationskreise verursachen !). Im vorigen wurde das Lokalisationsvermögen — durch Messung der Simultanschwelle untersucht — als eine für jede Stelle bestimmte Größe an- gesehen. Diese ist aber tatsächlich dem Einfluß mehrerer Umstände unter- worfen. Es sei gleich zuerst hervorgehoben, daß hier vieles auf die Methodik ankommt, hauptsächlich auf die Stärke und Gleichheit der Reize, wie in der letzten Zeit v. Frey scharf hervorgehoben hat. Dieser Umstand ist wichtig, weil die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, daß mehrere Untersuchungen über Einflüsse auf die Simultanschwelle anders ausgefallen wären, wenn die angewendeten Methoden besser und mit größerer Kritik durchgearbeitet worden wären. Zu berücksichtigen ist auch, daß die meisten Werte der eben wahr- nehmbaren Spitzendistanz als Mittelwerte zwischen weit verschiedenen Extre- men zu deuten sind. - Von Czermak?) ist angegeben und von anderen bestätigt, daß das Alter einen Einfluß auf die Resultate ausübt, und zwar in der Richtung, daß die wahr- nehmbare Spitzendistanz bei Kindern viel kleiner als bei Erwachsenen ist. Eine Ursache dürfte darin liegen, daß die Nervenenden der Haut bei Kindern dichter liegen als bei Erwachsenen. Die Abnahme des Lokalisationsvermögens ist doch durch das Wachstum nicht vollständig erklärt. Setzt man voraus, daß die Abnahme der Feinheit des Lokalisationsvermögens genau proportional sei der Zunahme der Hautausdehnung, so müßten die Kinder zum Teil in riesige Dimensionen auswachsen, um die gewöhnlichen Feinheitsgrade Erwachsener zu bekommen. Eine Vermehrung der Anzahl der Primitivfibrillen scheint während des Wachstums nicht mehr statt- zufinden®?), dazu nimmt Czermak als einen anderen Erklärungsgrund die dünnere und zartere Beschaffenheit der die Nervenausbreitungen deckenden unempfindlichen Schichten bei den Kindern; auch zentrale Vorgänge scheinen eine Rolle zu spielen. Da das Längenwachstum die Zunahme in den anderen Durchmessern an mehreren Teilen des Körpers, z. B. an den Extremitäten, überwiegt, kann dies vielleicht zur Erklärung der größeren Simultanschwelle in Längsrichtung als in Querrichtung herangezogen werden. Der Einfluß der Dehnung tritt auch hervor bei Dehnung der Bauchhaut der Schwangeren oder bei Streckung eines beweglichen Körper- teiles, wie des Halses. Von Volkmann‘) ist zuerst angegeben, daß die Simultanschwelle durch Übung sehr vermindert wird. Dies wurde von späteren Forschern in der Haupt- sache bestätigt (Krohn°), Solomons‘®), Washburn’), Tawney°), Funcke°), Dreßler'’), Judd').. Sehr bemerkenswert ist es jedoch, daß in den langen Untersuchungsreihen, welche. die Schüler von Vierordt, sowie Camerer aus- geführt haben, die Übung keine hervorragende Rolle gespielt hat. Und die Unter- suchungen von Tawney scheinen gezeigt zu haben, daß die Verkleinerung der Schwelle bei Übung nur scheinbar ist und dabei die Suggestion ‘der Versuchs- personen ausschlaggebend ist. Wenn die Suggestion durch das Ausbleiben der Vexierfehler als nicht mitspielend erwiesen ist, bekommt man auch keine Vermin- derung. der Schwelle. In Übereinstimmung hiermit gibt auch Tawney an, daß ‘) Eine ausführliche Darstellung der von Vierordt und seinen Mitarbeitern gefundenen Werte enthält Vierordts Grundriß der Physiologie. Fünfte Auflage. Tübingen 1877. — ?) Wiener Sitzungsber. 15, 466, 487, 1855 und Moleschotts Untersuch. 1, 202. — °) Harting, Recherches micrometriques, Utrecht 1854.. — *) Ber. d. sächs. Ges. d. Wiss., math.-phys. Abteil. 10, 38, 1858. — °) Journ. of Nerv. and Ment. diseases 7, 219, 1893. — °) Psychol. Rev. 4 (1897). — 7) Über den Einfluß von Gesichtsassoziationen auf die Raumwahrnehmungen der Haut, Leipzig, Engelmann, 1895. — °) Wundts philos. Stud. 13 (1898). — °) Hermanns Handb. 3 (2), 381. — !°) Amer. Journ. of Psychol. 6, 324, 1894. — ") Wundts philos. Stud. 11, 409, 1895. \ » i 1 Einfluß der Ermüdung. 725 die durch Übung erhaltene scheinbare Verkleinerung der Raumschwelle nicht auf die eingeübte und die ihr symmetrische Hautstelle beschränkt ist, wie von Volk- mann und Dreßler angegeben war. Als ein Beweis für den Einfluß der Übung ist die Tatsache geltend ge- macht worden, daß Blinde mit der tastenden Fingerspitze Details viel besser als Sehende unterscheiden können, daß sie z. B. das Gepräge einer Münze zu erkennen imstande sind, ferner die Tatsache, daß auch bei Sehenden, welche ihr Beruf zu einer regelmäßigen Anwendung der Tastorgane nötigt, das Unterscheidungsvermögen sehr verfeinert ist, so daß z. B. geübte Schriftsetzer mit Leichtigkeit die Buch- stabenform der Lettern mit den Fingerspitzen erkennen. (Czermak!), Goltz?), Gärtner), Heller®‘), Washburn). Es wird aber von Heller bemerkt, daß der Unterschied zwischen Sehenden und den Blinden in dieser Beziehung ent- schieden nicht so groß ist, wie früher angenommen wurde, und Uhthoff°) konnte gar keine feinere Schwelle bei den Blinden als bei den Sehenden finden. Gries- bach‘) behauptet sogar, daß, wenn auch kein erheblicher Unterschied zwischen Blinden und Sehenden in dem Unterscheidungsvermögen für taktile Eindrücke be- steht, so doch kleine Differenzen zugunsten der Sehenden sprächen. Da die Er- gebnisse verschiedener Forscher so außerordentlich differieren, muß die Sache als unentschieden angesehen werden. Als ein Beweis für die Verminderung der simul- tanen Raumschwelle durch Übung können die Verhältnisse bei Blinden jedenfalls nicht angesehen werden. Manche Verhältnisse, welche eine größere Feinheit des Tastvermögens der Blinden anzudeuten scheinen, z. B. die Geschwindigkeit, mit der ein Geübter die Braillesche Punktschrift liest, können aus ihrer großen Übung, die Eindrücke zu deuten, und aus den an die Eindrücke fest geknüpften Assoziationen hergeleitet werden und brauchen nicht als ein Beweis für eine niedrigere Raum- schwelle angesehen werden. Daß sowohl die spezielle Ermüdung des Tastorgans wie allgemeine körper- liche oder geistige Ermüdung auf die Werte, welche das Lokalisationsvermögen gibt, Einfluß ausüben müssen derart, daß allmählich schlechtere Werte erhalten werden, kann wohl als selbstverständlich angesehen werden. Doch liegen noch nicht aus- reichende Untersuchungen vor. Zwar teilt schon Wundt?) ziemlich ausführliche Angaben über Messungsergebnisse mit, welche er bei öfter wiederholter Reizung derselben Hautstelle mit gleich weit entfernten Zirkelspitzen erzielte; er fand, daß die zuerst wahrgenommene Distanz zwischen zwei Punkten sich bei Ermüdung verringert, ja vielleicht verschwindet. Und Griesbach®) hat eine große Anzahl von Versuchen an Gymnasiasten und anderen Personen über den Einfluß der geistigen Ermüdung angestellt und fand eine starke Herabsetzung der Empfindlich- keit schon nach einer Stunde geistiger Anstrengung, die sich nach einer Ruhepause wieder verringerte. Griesbachs Untersuchungen schienen sogar in der kleinsten wahrnehmbaren Spitzendistanz einen Maßstab der psychischen Ermüdung gegeben zu haben. Gegen Griesbachs Untersuchungen hat indessen Bolton?) schwer- wiegende Einwände gemacht, sowohl bezüglich der Methode wie der Resultate. Er hat nicht die geringste zahlenmäßige Beziehung zwischen der Größe der Raum- schwelle und dem Grade der geistigen Ermüdung feststellen können. Es zeigte sich, daß die Bestimmung einer einigermaßen zuverlässigen Raumschwelle eine so große Anzahl von planmäßig angeordneten Einzelversuchen erforderte, daß sie in einer Sitzung wegen der bald auftretenden Ermüdungserscheinungen ganz unmöglich war. Erst wenn viele Tage hintereinander unter sorgfältigster Vermeidung der zahlreichen konstanten und variabeln Fehler gearbeitet wird, konnte eine Fest- stellung der Wirkung bestimmter Einflüsse auf die Raumschwelle wahrscheinlich !) Sitzungsber. d. Wien. Akad. 17, 563, 1855. — *) De spatii sensu eutis, p. 9, Königsberg 1858. — °) Zeitschr. f. Biol. 17, 56, 1881. — *) Wundts philos. Stud. 11, 226, 1895. — °) Untersuchungen über das Sehenlernen eines siebenjährigen blind- geborenen und mit Erfolg operierten Knaben, S. 54, Hamburg u. Leipzig 1891. — 6) Pflügers Arch. 74, 577, 1899 u. 75, 365, 1899. — 7) Beitr. z. Theorie d. Sinnes- wahrnehmung 1862, 8. 37. — ®) Arch. f. Hygiene 24 (1895). — °) Kräpelins psychol. Arbeiten 4, 175 bis 234. 726 Wahrnehmung der Größe und der Gestalt. gemacht werden. Aber solche Bestimmungen liegen noch nicht vor. Überhaupt scheint es, daß man die Schwierigkeiten bei den hierher gehörigen Versuchen unter- schätzt hat, und daß die Ergebnisse ohne genügende Kritik verwertet worden sind. Obgleich ja der simultane Schwellenwert wahrscheinlich von zentralen Zuständen in erster Linie abhängig ist, ist es nicht ausgeschlossen, daß auch periphere Momente Einfluß ausüben können. Da man aber erst in letzter Zeit die Schwierigkeiten der diesbezüglichen Untersuchungen eingesehen hat, wäre es wünschenswert, daß die vorliegenden Angaben über periphere Ein- flüsse auf den Schwellenwert nachgeprüft würden. Mehrere solche Versuche liegen vor. So soll nach Brown-Sequard!) und mehreren Forschern (Rumpf?), Klinkenberg°), Serebrenni*), Schmey°) die Hyperämie eine Verfeinerung der Unterschiedsempfindlichkeit bewirken. Nach Alsberg soll im Gegenteil eine Vergrößerung des Schwellenwertes durch Hyperämie bewirkt werden, aber seine Methode soll nach Klinkenberg unbrauchbar sein. Im Gegensatz zur Hyperämie soll die Anämie nach Angaben von Alsberg‘°), Klinkenberg’), Rumpf®) und Eulenburg°’) von einer Herabsetzung der Empfindlichkeit begleitet sein, und in derselben Weise soll Kälte wirken. Eine Vergrößerung der Simultanschwelle soll auch angeblich die verminderte Empfindlichkeit begleiten, welche bei Druck auf die Hautnerven, z.B. beim sogenannten Eingeschlafensein der Glieder oder bei der lokalen Applikation anästhetischer oder narkotischer Mittel, wie Ather, Chloroform, Morphium, entsteht (Kremer'®). Wahrnehmung der Größe und der Gestalt der Objekte. Die Fähigkeit, die Berührungsempfindungen zu lokalisieren, bedingt unsere Schätzung der Größe und der Form eines die Haut berührenden Gegenstandes, sofern andere als Hautempfindungen, also besonders Gesichts- und Muskel- empfindungen, ausgeschlossen sind. Um überhaupt eine solche Schätzung ausführen zu können, ist es bei simultaner Berührung erforderlich, daß die . Größe des Gegenstandes die simultane Schwelle der erkennbaren Größe über- trifft. Nur wenige Zahlen liegen indessen über diese Schwelle vor. Für die Mitte der Volarseite des Vorderarmes ist sie von Judd!!) zu 6 bis 12mm bestimmt (mit wahrnehmbarer Richtung 28 bis 48mm). Da diese Schwelle an verschiedenen Körperteilen verschieden sein dürfte, leuchtet es ein, daß je nach der berührten Hautstelle ein Gegenstand verschieden groß geschätzt wird. Aber auch Gegenstände, welche die Schwellenwerte der verschiedenen Hautstellen übertreffen, werden verschieden geschätzt, wie aus Camerers 22) Untersuchungen hervorgeht. Seine Methode, die als die Methode der Äqui- valenz bezeichnet wird, bestand darin, daß er auf eine bestimmte Hautstelle zwei Spitzen einwirken ließ, deren Distanz größer als die Simultanschwelle war, und nachher für eine zweite Hautstelle diejenige Distanz ermittelte, die als gleich groß aufgefaßt wurde. Das Verhältnis zwischen den so als gleich !) Arch. de physiol. 1858, p. 344 ff. — °) Verh. d. zweiten med. Kongr. zu Wiesbaden 1883, 8. 202ff. — °) Über den Einfluß der Hautreize auf die Sensi- bilität der Haut. Inaug.-Diss., Bern 1876. — *) Der Raumsinn der Haut. Inaug.- Diss., Bonn 1883. — °) Du: Bois-Reymonds Arch.. 1884, 8. 309. — °) A. a. O,., 8. 518. — 7) A. a. O., 8.24. — °®) A. a. O., 8. 304. — °) Berl. klin. Wochenschr. 1865, 8. 510. — '°) Pflügers Arch. 38, 271, 1883. — '!) Wundts philos. Stud. 12, 431, 1896. Vgl. auch die Werte Webers, betreffend das Vermögen, die kreis- förmige Figur und den von ihr eingeschlossenen Raum einer Röhre wahrzunehmen. Ber. d. sächs. Ges. d. Wiss. 1852, 8. 97. — !?) Zeitschr. f. Biol. 23, 509 ff., 1887. EEE CELL WELTERBE UTTW Lokalisation der Temperaturempfindungen. 797 aufgefaßten Längen wird Äquivalenzverhältnis genannt. Zum Beispiel: Da eine Distanz von 4 Pariser Linien), an der Stirn aufgesetzt, gleich groß wie eine solche von 2,4 Linien, an der Oberlippe aufgesetzt, geschätzt wird, ist das Äquivalenzverhältnis 4/2,4 — 1,67; diese Zahl sagt also aus, daß an der Stirn ein 1,7 mal so großer Sinnesreiz notwendig war wie an der Oberlippe, um gleiche Empfindung hervorzurufen. Für zwei miteinander verglichene Hautstellen wechselt dies Verhältnis mit der Distanz der Spitzen, so daß die Äquivalenzverhältnisse mit wachsender Distanz sich mehr und mehr der Ein- heit nähern und bei größeren Distanzen gleich großer Strecken gleich auf- gefaßt werden. Über die Unterscheidbarkeit ungleich großer Flächen von gleicher Form liegen einige Angaben von Eisner?) vor, wonach zirkelrunde Flächen, wenn sie einen Durchmesser von 1 bzw. 2mm haben, an der Fingerspitze unterschieden werden. Am Handrücken sind die entsprechenden Zahlen 2 und 6mm, am Rücken 2 und 25 mm. Die Fähigkeit, die Gestalt einer aufgesetzten Fläche zu erkennen, ist sehr wenig ausgeprägt, ja fast gar nicht vorhanden. Wir fühlen zwar, wenn wir nacheinander zwei anders gestaltete Flächen aufsetzen, daß die Form derselben eine verschiedene ist, aber eine nähere Bestimmung über die Form derselben zu machen, ob z. B. die eine dreieckig, die andere rund ist, ist nicht möglich. Besser scheinen Gestalten wahrgenommen zu werden, wenn die Eindrücke der verschiedenen Details successiv kommen (fortfahrend, ohne daß dabei Muskelsinnsensationen vorkommen. Man kann z. B. auf die Haut geschriebene Buchstaben, wenn sie genügend groß sind, erkennen (Weber), Churchill®). Wahrscheinlich steht dies in Zusammenhang mit dem Unterschiede zwischen der Simultanschwelle und der Successivschwelle. Die Lokalisation der Temperaturempfindungen. Über die Lokali- sation unserer Temperaturempfindungen liegen nur wenige Angaben vor; diese Frage ist nicht in systematischer Weise, mit Berücksichtigung der verschiedenen in Betracht kommenden Schwellenwerte behandelt, und die wenigen vorliegenden Beobachtungen scheinen eine Nachprüfung zu erfordern; die Lokalisation unserer Wärme- und Kälteempfindungen wäre natürlich für sich zu behandeln. Nach Rauber?) sollen die Wärmeempfindungskreise sich im allgemeinen ebenso wie die Druckempfindungskreise verhalten. Er benutzte strahlende Wärme, indem er erwärmte. Metallkugeln in Bohrlöcher von Holzplatten legte und die letzteren auf die Haut setzte. Die’ Lokalisation der Kälteempfindungen wurde nicht untersucht, was bei der früheren Anschauung von der Einheit des Temperatursinnes nicht wundernehmen kann. Goldscheider‘) hat die Simultanschwelle bei Reizung isolierter Kälte- punkte resp. Wärmepunkte untersucht, wobei die mechanische Reizung der Druck- nerven möglichst ausgeschlossen wurde. Er fand dabei unerwartet niedrige Minimal- werte; ja, zwei benachbarte Temperaturpunkte sollen nach ihm bisweilen als doppelt !) Eine Pariser Linie = 2,25 mm. — ?) Beurteilung der Größe und der Gestalt von Flächen. Inaug.-Diss., Erlangen 1888. — °) Sitzungsber. d. sächs. Ges. d. Wiss., math.-phys. Kl., 1852/54, 8. 85. — *) Wundts philos. Stud. 18, 478, 1901/03, wo eine Analyse dieser Versuche gegeben ist. — °) Rauber, Über den Wärmeortssinn. Zentralbl. f. d. med. Wissensch. 1869, S. 372. — °) Ges. Abh. 1, 179. 728 Lokalisation der Schmerzempfindungen. — Mitempfindungen. - empfunden und dabei die zwischenliegende Distanz durchgehends zu weit geschätzt werden. (Siehe die Bemerkungen hierüber 8. 723.) Czermak!) und Klug?) haben untersucht, in welchem Abstande man die stumpfen oder ebenen Enden £&ines kalten und eines warmen Stäbchens auf die Haut setzen muß, damit die Verschiedenheiten ihres Ortes gerade nicht mehr wahr- genommen werden können. Man fühlt dann an einer und derselben Hautstelle Wärme und Kälte, was den Beobachter in eine eigentümliche, nicht zu beschrei- bende Verwirrung versetzt. Auch ein Schwanken der Wahrnehmung, ähnlich dem Wettstreite der Sehfelder, soll unter Umständen eintreten. Durch die Auslösung der Wärme- und der Kälteempfindung von derselben Hautstelle entsteht aber auch bisweilen eine Mischempfindung besonderer Art. Wenn z. B. zu einer kräftigen Wärmeempfindung eine intensive, an derselben Hautstelle lokalisierte Kälteempfin- dung sich addiert, hat man bisweilen den Eindruck, als ob die Temperatur plötz- lich erhöht würde. Die dabei entstehende Empfindung ist derjenigen ahnlich, welche man in sehr heißem Wasser bekommt). . Die Lokalisation der Schmerzempfindungen. Es ist eine alte Be- hauptung, daß die Schmerzempfindungen im allgemeinen sehr schlecht lokali- siert werden, ‚und dies soll auch als für die in der Haut ausgelösten Schmerzempfindungen gültig sein. Es muß indessen hervorgehoben werden, daß diese Angabe nicht durch Versuche begründet ist und, was die stechenden Schmerzempfindungen der Haut in ihren schwächeren Intensitäten betrifft, wahrscheinlich unrichtig ist. Ein großes noch nicht hinreichend erforschtes Feld liegt hier vor. Überhaupt ist keiner von den verschiedenen Schwellen- werten des Lokalisationsvermögens, welche oben (siehe S. 713) erwähnt sind, für die Schmerzempfindungen durch systematische Messungen aufgesucht. Mitempfindungen und verwandte Erscheinungen. Die Größe der Simultanschwelle hat, wie oben hervorgehoben ist, zu der Annahme einer Irradiation der Erregung, eines Überspringens der Erregung von der primär erregten Bahn auf andere Bahnen geführt. Durch Irradiation werden auch der diffuse Zahnschmerz bei Pulpitis nur eines Zahnes, das im Halse lokalisierte Gefühl bei Berührung des Gehörganges bewirkt. Am häufigsten findet die Irradiation nach nahe benachbarten Nervengebieten statt *). Das Überspringen der Erregung kann aber auch ausnahmsweise auf entfernter gelegene Nervenbahnen bzw. Ganglienzellen erfolgen, und die Empfindung wird dann nach räumlich von der primär erregten Stelle weit entlegenen Körperteilen exzentrisch projiziert. (Entferntere Mitempfindungen.) Die auf die wirklich erregte Hautstelle lokalisierte Empfindung nennt man häufig die primäre, die andere die sekundäre. Bisweilen, jedoch sehr selten, ist auf der primär erregten Bahn die erzeugte Empfindung sehr gering oder Null, so daß die auf der sekundär erregten Bahn erzeugte Empfindung sich für das Bewußtsein vorwiegend oder allein geltend macht. (Übertragene Empfindung, paradoxe Empfindung (Quincke.) Besonders sind es die Stichempfindungen, welche solche entferntere Mit- empfindungen hervorrufen. Kowalewsky’) hat versucht, einige Gesetz- ‘) Sitzungsber. d. Wien. Akad. 1855, 8. 500. — ?) Arb. d. physiol. Anst. zu Leipzig 11, 168, 1876. — °) Thunberg, Skand. Arch. f. Physiol. 11, 432, 1901. — ‘) Siehe die grundlegenden Ausführungen Quinckes, Zeitschr. f. klin. Med. 17 (1886). — °) Hoffmann-Schwalbes Jahresber. 13 (2), 26. A EEE ir FE ac En lim, Verwechslungen. 7239 mäßigkeiten für diese Schmerzempfindungen aufzufinden. 1. Die Mitempfin- dung erscheint stets an derselben Seite des Körpers, an welcher die Reizung stattgefunden hatte. 2. Die Mitempfindungen erscheinen gewöhnlich in Re- gionen, die ihre Nerven von höher gelegenen Wurzeln des Rückenmarks im Vergleich zu den ursprünglich erregten erhalten. 3. Größtenteils gruppieren sich die Mitempfindungen auf der hinteren Seite des Körpers, in der Um- gegend des Oberarmes und des Schulterblattes }). Verwechslungen durch fehlerhafte Lokalisation. Unter ganz normalen Verhältnissen besteht nach Henri?) eine gewisse Neigung, bei Lokalisation einer Berührung, die einen bestimmten Finger getroffen hat, die Finger zu verwechseln. Fordert man Versuchspersonen auf, die Hand mit gestreckten, nicht unterstützten Fingern vorzuhalten und unter Ausschluß der Augenkontrolle die berührte Phalanx zu benennen (End-, Mittel- oder Grund- glied), so gelingt dies fast stets ohne die geringsten Schwierigkeiten. Unter der Voraussetzung aber, daß nach erfolgter Berührung orientierende Bewegungen streng untersagt sind, besteht bei manchen Individuen im Falle der Berührung der drei mittleren Finger eine gewisse Unsicherheit über den berührten Finger, und die rasche und richtige Angabe ist zeitweilig erschwert. Dabei werden mit unverkennbarer Vorliebe Ring- und Mittelfinder miteinander verwechselt. In derselben Weise werden die drei mittleren Zehen und insbesondere die zweite oder die dritte nicht selten miteinander verwechselt, besonders von Individuen, welche in der Selbstbeobachtung nicht geübt sind. Solche Verwechslungen treten um so häufiger auf, je ungewöhnlicher die Haltung der Finger oder der Zehen ist (siehe E. Müller). Geradezu konstant) ist eine solche Verwechslung bei dem bekannten Versuch des Aristoteles, der darin besteht, daß eine kleine, zwischen den gekreuzten Mittel- und Zeigefingern gehaltene Kugel als doppelt empfunden wird. Dieser Aristoteles- Fig. 120 b. sche Versuch, in folgender Fig. 120.a. von Henri angegebener Weise abgeändert, zeigt, daß bei gekreuzter Lage die Finger verwechselt werden. (Siehe die Figuren, welche der Arbeit Henris entlehnt sind.) Es seien in der nor- malen Lage der Finger (vgl. die Figur) die Punkte a und b berührt. Wird nun die Versuchsperson aufge- fordert, auf einer Zeichnung ihrer Finger, welche die- selben in normaler Lage SITE III !) Siehe auch Mayer, Über eine vom Nabel ausgelöste [Mitempfindung, Jahrb. f. Psychiatr. u. Neurol. 22 (1902). — ?) V. Henri, Über die Raumwahrnehmung des Tastsinnes, Berlin 1898, 8. 126. — °) Berl. klin. Wochenschr. 1903, 8. 689. — *) Genaueres über dasselbe siehe Henri, 8. 67. 730 Subjektivierung und Objektivierung der Hautempfindungen. wiedergibt, die berührteu Stellen zu lokalisieren und sich dabei die Lage der Finger genau vorzustellen, daber keine Bewegung zu machen, so zeigt dieselbe auf dieser Zeichnung sehr nahe bei a und b gelegene Punkte, die in Fig. 120 bdurch OÖ eingetragen sind. Die Punkte a und b entsprechen nun bei gekreuzter Lage a’ und b’ (Fig. 120a). Wenn man diese Punkte in der gekreuzten Lage der Finger berührt, so zeigt die Versuchsperson auf einer Zeichnung, die die Finger in gekreuzter Stellung wiedergibt, die Punkte a” und b”. Drückt man a’, so erscheint es der Versuchsperson, daß der Punkt a” gedrückt wird, und ebenso korrespondiert b’ mit b”. Diese Ver- wechslungen und ihre Bedingungen zeigen, daß das Vermögen, Tasteindrücke zu lokalisieren, nur die gewöhnlichen Verhältnisse beherrscht, daß es aber unter abnormen Bedingungen nicht ausreichend ist und daß bei der Lokali- sation andere Empfindungsarten (Bewegungsempfindungen, Gesichtsempfin- dungen) von Bedeutung sind; es steht das in guter Übereinstimmung mit der genetischen Theorie der Deutung unserer. Sinneseindrücke. Bezüglich der verschiedenen genetischen und nativistischen Theorien muß auf die Dar- stellungen Henris und der psychologischen Lehrbücher verwiesen werden. XII. Die Subjektivierung und Objektivierung der Hautempfindungen. Unsere Empfindungen werden häufig in zwei große Gruppen geteilt, die man die äußeren und die inneren Empfindungen nennen kann und welche sich dahin charakterisieren lassen, daß die äußeren von uns objektiviert, d. h. als Eigenschaften von äußeren Gegenständen aufgefaßt werden, die inneren dagegen nicht objektiviert, sondern als Zustände unser selbst gedeutet werden. Diese Kategorien entsprechen E. H. Webers Sinnesempfindungen und Gemeingefühlen. Da indessen diese letzteren unzweifelhaft ebenso gut Empfindungen wie die ersteren sind, scheint, wie Öhrwall!) bemerkt, der Aus- druck „Gemeingefühle“* ungeeignet, ebenso wie die Ausdrücke „Organempfin- dungen“, „Sensations syst&matiques“. Eine bestimmte Empfindung muß aber nicht unter allen Umständen ent- weder eine innere oder eine äußere sein, sondern kann bisweilen objektiviert, bisweilen als ein Zustand unseres eigenen Körpers aufgefaßt werden. Das ist auch mit den Hautempfindungen der Fall, und eben diese Tatsache hat Weber?) zu einer Analyse geleitet, welche gezeigt hat, was der Objektivierung der Empfindungen zugrunde liegt. Folgendes Beispiel mag nach Weber angeführt werden. Die Temperatur unserer Haut kann auf doppelte Weise erhöht werden, durch eine vermehrte Zuführung von Wärme von innen, wenn mehr warmes Blut in die Haut strömt, und durch die vermehrte Mitteilung von Wärme von außen. In beiden Fällen fühlen wir, daß unsere Haut wärmer wird. Übt der Körper, der uns mehr Wärme von außen mitteilt, zugleich einen Druck auf unsere Haut aus, so sind wir nicht zweifelhaft, daß die Wärme von außen komme; wir fühlen dann, daß der drückende Körper warm sei. Wirkt aber die strahlende Wärme auf uns ein, so ist es viel schwerer ') Skand. Arch. f. Physiol. 11, 251, 1901. — *) Wagners Handwörterb. 3 (2), 485. u rn Gesetz der spezifischen Sinnesenergien. 731 zu entscheiden, ob die Wärme von außen oder von innen auf uns wirke. Erst durch geeignete Bewegungen ist die Entscheidung möglich. Läßt man jemand seine Augen schließen und nähert seinem Gesichte einen glühenden ' Eisenstab und läßt die Person dann den Kopf wiederholt nach rechts und links und in anderer Weise bewegen, so empfindet sie sehr bestimmt, daß die Wärme von außen kommt und kann die Lage der Wärmequelle bestimmen, weil bei den Kopfbewegungen die Art der Wärmeempfindung sich ändert. Wäre die Wärmequelle in unserer Haut, so würde sie sich zugleich mit unserer Haut bewegen und ihren relativen Ort beibehalten. Durch Empfindungen unserer eigenen freiwilligen Bewegungen kommen wir mittels einer Reihe un- bewußter Schlüsse schon früh dahin, daß wir die Empfindungen, welche sich’ bei unseren Bewegungen in regelmäßiger Weise ändern, als Eigenschaften äußerer Gegenstände auffassen, andere aber, welche durch äußere Bewegungen nicht geändert werden, als Zustände unseres eigenen Körpers. Dieselbe Ursache, welche es, wie Weber gezeigt hat, bedingt, daß eine Wärmeempfindung bisweilen eine objektivierte, bisweilen eine nicht ob- jektivierte ist, ist auch für unsere übrigen Hautempfindungen gültig. Auch unsere Schmerzempfindungen, welche wohl als typische Gemeingefühle meistens aufgefaßt werden, werden doch bisweilen objektiviert und werden als Eigen- schaften äußerer Objekte aufgefaßt. Es handelt sich um die Schmerzemp- findungen, die allein oder mit anderen Empfindungen vermischt bedingen, daß wir einem Gegenstande die Eigenschaften scharf, stechend spitzig, bren- nend heiß zuschreiben, insoweit dies von den Hautsinnen abhängt. Wenn die Kriterien, von welchen man sich bei der Wahl zwischen Sub- jektivierung und Objektivierung leiten läßt, ungenügend sind, werden häufig Irrtümer gemacht, wie aus Külpes!) Versuchen hervorgeht. Bekanntlich entstehen spontan, ohne äußere Reize, häufig Hautempfindungen, z. B. schwache Berührungsempfindungen. Külpe applizierte an einer Hautstelle seiner Ver- _ suchspersonen dann und wann mechanische Reize, ließ sie aber über alle Sensationen, die sie an der Versuchsstelle verspürten, berichten, insbesondere angeben, ob sie dieselben für subjektiv oder objektiv hielten, und wenn be- sondere Motive sie dazu veranlaßten, diese mitteilen. Es zeigte sich dabei, daß häufig die Empfindungen falsch objektiviert wurden, beinahe niemals aber subjektiviert. Die Motive der Subjektivierung und der Objektivierung waren bei den Versuchspersonen verschieden. ' XII. Die Physiologie der Hautsinne und das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien. Der Ausgangspunkt der Versuche, durch welche Blix die Existenz be- sonderer Kälte-, Wärme- und Drucknerven bewiesen hat, war das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien von Johannes Müller, ein Gesetz, das so formu- liert werden kann: Die Empfindungen, welche entstehen, wenn ein Sinnesnerv erregt wird, haben immer dieselbe Qualität, unabhängig von der Art und dem Angriffspunkt des Reizmittels. Es fragt sich, inwieweit die bisherigen Erfah- rungen der Physiologie der Hautsinne sich diesem Gesetze unterordnen. !) Wundts philos. Stud. 19, 508, 1902. 732 ö Gesetz der spezifischen Sinnesenergien. Zurzeit kann man behaupten, daß, wenn auch noch einige Schwierigkeiten bestehen, die meisten Ergebnisse in guter Übereinstimmung mit diesem Ge- setze stehen und zugleich die beste Stütze desselben bilden. Ein Folgesatz dieses Gesetzes ist, daß jede abgegrenzte Empfindungsqualität durch eigene Nervenendorgane vertreten sein muß. Durch die v. Freysche Entdeckung der Schmerzpunkte und die Schlüsse, zu denen sie berechtigt, ist die größte Schwie- rigkeit aus dem Wege geräumt worden. Doch ist es zurzeit noch nicht abgemacht, wie die von der Haut ausgelösten juckenden und kitzelnden Empfindungen auf- zufassen sind, ob sie abgegrenzte Empfindungsqualitäten sind, oder ob sie nur Schmerz - bzw. Druckempfindungen sind, welche durch einen besonderen Gefühlston, durch ihre Irradiation und ihre Tendenz, Reflexe auszulösen, einen besonderen Charakter erhalten haben. Weitere Untersuchungen hierüber und über die Frage, ob die juckenden und kitzelnden Empfindungen durch besondere Nerven ausgelöst werden, sind notwendig, ehe die Gültigkeit des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergien auch in diesem Falle als gesichert betrachtet werden kann. Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien fordert, daß auch inadäquate Reize, wenn sie eine Erregung bewirken, dieselbe Empfindungsqualität aus- lösen, welche den betreffenden Nerven bei adäquater Reizung charakterisiert. Dagegen fordert dies Gesetz keineswegs, daß jeder Sinnesnerv oder jedes End- organ auf alle möglichen Reizmittel reagiere!). Über das Verhalten der Hautnerven in dieser Richtung hat schon Blix mitgeteilt, daß elektrische Hautreizung verschiedene Sensation an verschiedenen Hautstellen hervorruft. Auf dem einen Punkte entsteht nur Schmerz-, auf einem anderen Kälteemp- findung, auf einem dritten Wärmeempfindung, auf einem vierten vielleicht Druckempfindung, und Blix schließt aus diesen Beobachtungen, daß die Art der Empfindung nicht von der Art des Reizmittels, sondern von der spezifi- schen Energie des Nerven abhängig ist. Reizbarkeit der Drucknerven durch inadäquate Reize hat man bisher nur bei elektrischer Reizung konstatieren können. Die Reizbarkeitsverhältnisse der Kälte- und Wärmenervenenden sind besser untersucht. Schon Gold- scheider?) hat angegeben, daß diese Punkte durch mechanische Reize — Druck, Stoß — erregt werden können, und diese Angabe ist von mehreren Forschern (Donaldson?°), Kiesow*), Alrutz5) bestätigt, wenn von anderen allerdings auch bestritten worden (Dessoir®), Nagel”). Auch durch chemische Reizung der Kälte- und Wärmenerven werden die ent- sprechenden Empfindungen ausgelöst, wie Goldscheider®) für Menthol und Kohlensäure gezeigt hat. Rollets?) Angabe, daß die durch Menthol hervor- gerufenen Kälteempfindungen von den Schmerznerven ausgelöst werden, scheint nicht genügend begründet zu sein. Von theoretischem Interesse ist die Frage, ob die Kälteendorgane anders als mit Kälteempfindungen, die Wärmeendorgane anders als mit Wärmeemp- findungen antworten können. Hierüber gibt Kiesow!®) an, daß Kälte, auf !) Siehe Öhrwalls ausführliche Darstellung. Skand. Arch. f. Physiol. 11, 260, 1901. — ?) Ges. Abh. 1, 118. — °) Mind .1885. — *) Wundts philos. Stud. 11, 135, 1895. — °) Skand. Arch. f. Physiol. 7, 327, 1897. — °) Dubois- Reymonds Arch. 1892, 8. 250. — 7) Pflügers Arch. 59, 576, 1895. — *®) Ges. Abh. 1, 250 u. 305. — °) Pflügers Arch. 74, 457, 1899. — !°) Wundts philos. Stud. 11, 135, 1895. Gesetz der spezifischen Sinnesenergien. 733 Wärmepunkte appliziert, niemals Kälteempfindung erzeugt, dagegen wurden von ihm von den Kältepunkten Wärmeempfindungen erhalten, was Nagel!) und Kelehner und Rosenblum?) bestätigt haben, Alrutz?) aber be- streitet. Wie Kiesow selbst hervorgehoben hat, erlaubt dies nicht den Schluß, daß die Kälteendorgane mit Wärmeempfindungen antworten. Wahr- scheinlich ist hier eine Wärmeempfindung vorhanden, die durch Leitung der Wärme bis zu in der Nähe liegenden Wärmeendorganen entstanden zu denken ist. Dann wäre der Gegensatz zwischen den vorliegenden Angaben nur scheinbar, und man kann zurzeit behaupten, daß die Ergebnisse Alrutz’, dessen Methodik es gestattete, vom Kältepunkte aus nur das unterliegende Kälteendorgan zu erregen, die oben erwähnte Deutung eg Die Frage dürfte jedoch weiterer Untersuchung wert sein. !) Zeitschr. f. Psych. u. Physiol. d. Sinnesorg. 10, 277, 1896. — ?) Ebenda 21, 174, 1899. — °) Skand. Arch. f. Physiol. 7, 326, 1897. Die Lage-, Bewegungs- und Widerstandsempfindungen ') von W. Nagel. Der Versuch einer lehrbuchmäßigen Darstellung der Lehre von den Lage-, Bewegungs- und Widerstandsempfindungen begegnet zurzeit noch erheblichen und eigenartigen Schwierigkeiten. Zunächst gibt es natürlich auf diesem Gebiete wie in fast allen Teilen der Physiologie noch theoretische Fragen, über deren Beantwortung die Anschauungen bewährter Forscher weit auseinander- gehen. Ferner klafft hier wie anderwärts noch so manche Lücke in unserer Kenntnis der Tatsachen. Eine ganz besondere Schwierigkeit aber bietet sich in der Behandlung dieses Kapitels der Sinnesphysiologie infolge der Not- wendigkeit, recht heterogene Dinge zusammen behandeln zu müssen, ohne die Möglichkeit, dieser Heterogeneität so recht Rechnung zu tragen. Die an und für sich sehr wenig glücklich gewählten Ausdrücke „statischer Sinn“ und „Muskelsinn“ kennzeichnen zwei Gebiete der Sinnesphysiologie, die sich begrifflich wohl scharf scheiden lassen, deren getrennte Behandlung aber wohl nur demjenigen gelingen dürfte, der sich über gewisse Unsicherheiten und Lücken unserer tatsächlichen Erfahrung leichter hinwegsetzt, als es mir zurzeit noch erlaubt und möglich erscheint. Wohl heben sich aus dem Gesamtgebiet die Widerstandsempfindungen als eigenste Domäne des sog. !) Die namentlich hinsichtlich des sog. statischen Sinnes enorm angeschwollene Literatur zitiere ich hier nur insoweit, als es sich um Arbeiten handelt, deren In- halt für die von mir vorgetragene Lehre von entscheidender Bedeutung ist, außer- dem etliche der wichtigsten gegnerischen Arbeiten. Wer sich spezieller orientieren will, als dies mit Hilfe vorliegenden Werkes möglich ist, findet reichhaltige Lite- raturangaben an folgenden Stellen: v. Stein, Die Lehre von den Funktionen der einzelnen Teile des Ohrlabyrinths. Jena (G. Fischer) 1894. (Eine kritische, nicht immer sonderlich glückliche Revue der Literatur bis 1894.) Stern, Die Literatur über die nichtakustische Funktion des inneren Ohres. Arch. f. Ohrenheilk. 39, 248 bis 284, 1895. (Die Literatur ist mit großer Voll- ständigkeit gesammelt, geschickt zusammengestellt und für jede der 248 Arbeiten der Inhalt angedeutet.) Literatur über die Pathologie der „Orientierung“ ist neuerdings zusammen- gestellt von Fr. Hartmann, Die Orientierung. Leipzig (Vogel) 1902. Reichhaltige Literaturangaben über Muskelsinn und Verwandtes finden sich bei Woodworth, Le mouvement. Paris 1903. Be Allgemeines. — Lageempfindungen. 735 Muskelsinnes, die Empfindungen der Drehbeschleunigung als zweifellos dem Sinne des Labyrinths („statischer Sinn“ will hier gar nicht passen) zugehörig deutlich heraus; wohin gehören aber die Empfindungen der Lage (Orientie- rung) des Gesamtkörpers und der Augen, wohin die Empfindung der Pro- gressivrbewegung? Trotzdem uns die letzten Jahrzehnte vorzügliche Leistungen auf diesem Gebiete der Sinnesphysiologie gebracht haben (ich denke hier vor allem an die Arbeiten Breuers), werden sich doch nur wenige getrauen, diese Fragen in Kürze zu beantworten. Der Sachkundige wird vielmehr zu- gestehen, daß in diesen beiden Teilgebieten unseres Sinneslebens sich das, was man in weitester Bedeutung Muskelsinn und was man statischen Sinn nennt, zusammentut zu gemeinsamer Leistung; und trotz des von verschie- . denen Seiten aufgewandten Scharfsinns hat sich die Analyse der Bewegungs- und Lageempfindungen noch nicht auf den Punkt bringen lassen, wo sie uns befriedigende Klarheit über das Ineinandergreifen des Muskelsinnes und des statischen Sinnes geben könnte. Es ist das ja nicht etwas sonst Unerhörtes; auch auf anderen Gebieten der Sinnesphysivologie begegnen wir ähnlichen Schwierigkeiten, ich erinnere nur an die nicht ganz einfachen Beziehungen zwischen Geruch und Geschmack. Aber erstens ist in diesem Falle die Möglichkeit der experimentellen Fest- stellung doch gegeben, ob eine bestimmte Empfindung durch Reizung der Riechnerven oder der Schmecknerven eintritt; und zweitens betrachtet man ja — mit wieviel Recht, bleibe dahingestellt — Geruch und Geschmack als zwei in sehr ähnlicher Weise arbeitende Sinne, was niemand von den zwei Sinnesgebieten behaupten wird, die im Labyrinth einerseits und in den sen- sibeln Nerven der Muskeln, Sehnen und Gelenke anderseits repräsentiert sind. Unter diesen Umständen erscheint es mir angebracht, der Behandlung des hier in Frage kommenden Materials eine Gliederung zugrunde zu legen, die zwar den Stempel des Provisorischen an sich trägt, dafür aber den Vorteil bietet, Tatsachen und Hypothesen nach Möglichkeit klar auseinander zu halten und den Anschein zu vermeiden, als ob wir über das Wesen der Lage- empfindungen und gewisser Bewegungsempfindungen im klaren wären, wo wir es meines Erachtens noch nicht sind. So bespreche ich denn zuerst das über Empfindungen der Lage und Bewegung empirisch Festgestellte, und nehme erst nachträglich in den weiteren Kapiteln Stellung zu den Hypothesen, die zur Deutung dieser Er- scheinung aufgestellt worden sind. Den Widerstandsempfindungen, die, wie erwähnt, sich reinlicher gegen das übrige abgrenzen lassen, bleibt ein besonderes Kapitel vorbehalten. I. Die Lageempfindungen. Im allgemeinen kann man sich ohne Zuhilfenahme des Gesichtssinnes über die Lage des Körpers als eines Ganzen im Raum und über die Lage der einzelnen Körperteile zueinander Rechenschaft ablegen. Auch über die Richtung und den Umfang sowohl von aktiv durch Muskelkraft wie passiv durch äußere Einwirkung erzeugten Bewegungen des Körpers als eines Ganzen oder einzelner Teile desselben vermögen wir, wiederum ohne Beteili- gung einer Gesichtswahrnehmung, im allgemeinen ziemlich richtig zu urteilen. 736 Orientierung gegen die Vertikale. Bei den Wahrnehmungen, um die es sich hier handelt, werden wir allerdings für gewöhnlich durch den Gesichtssinn in wirksamer Weise unterstützt, und es ist nicht zu verkennen, daß die plötzliche Ausschaltung des Sehvermögens uns zunächst ganz bedeutend desorientiert. Es gibt indessen Sinnesemp- findungen, die uns, sobald wir durch Verschluß der Augen dazu veranlaßt werden, die erwähnten Wahrnehmungen über die Lage unseres Körpers in nicht allzu unvollkommener Weise gestatten. Ihre Analyse und die Frage, wie sie mit den Gesichtsempfindungen zusammen arbeiten, soll im vorliegen- den Abschnitte behandelt werden. 1. Die Empfindung der Orientierung des unbewegten Körpers gegen die Vertikale. Die präziseste Empfindung über die Lage des Körpers ist diejenige der bestimmten Orientierung zur Vertikalen (Schwererichtung). Nehmen wir der Einfachheit halber zunächst an, der Körper sei gerade gestreckt, d.h. sowohl der Kopf wie die Beine in der Verlängerung des Rumpfes. Der so gestreckte Körper sei auf einem großen Brette bequem gelagert, das um eine horizontale Achse, also in vertikaler Ebene beliebig geneigt werden kann. Ein derartiges „Zapfenbrett“ (Fig. 121) hat Delage!) bei seinen Versuchen > LS a I ar Verstellbares Lagerungsbrett („Zapfenbrett“) nach Delage und Aubert, zu Versuchen über die Lageempfindungen, über die Orientierung vielfach verwendet. Die folgende Darstellung stimmt in den meisten Punkten mit derjenigen Delages überein, beruht aber durch- weg auch auf eigener Beobachtung. Gibt man dem Brette irgend eine Neigung gegen die Vertikale, so ist die Versuchsperson, die (auf dem Rücken liegend, mit geschlossenen Augen) diese Neigung natürlich mitmacht, imstande anzugeben, ob das Brett und der Körper vertikal, horizontal oder irgendwie schief liegen. Wer in Selbst- beobachtung und in Winkelgrößenbeurteilung einigermaßen geübt ist, gibt sogar mit ziemlicher Bestimmtheit den Grad der Neigung des Zapfenbrettes ‘) Etudes exp6rimentales sur les illusions statiques et dynamiques de direc- tion etc. Deutsch unter dem Titel: Physiologische Studien über die Orientierung, von H. Aubert. Tübingen 1888. Orientierung gegen die Vertikale. 137 an. Leicht konstatiert man, daß man das Urteil nicht auf Grund einer Beobachtung über die Winkelgröße der mit dem Brette vorgenommenen Be- wegung abgibt, sondern auf Grund des Zustandes, in dem man sich nach vorgenommener Bewegung befindet. Das Urteil über das Maß der Bewegung hält man selbst für unsicherer als das Urteil über die Lage. Man bemerkt ferner, daß man auf Grund von unter sich verschiedenen Empfindungen urteilt. Bei senkrechter oder nahezu senkrechter Körperstellung empfindet man den Druck der Unterlage gegen den Rumpf als sehr gering, bei horizon- taler Lage als stark. Dafür ist im ersten Falle der Druck der Fußsohlen gegen das Fußbrett stark, im letzteren schwach. Geht man von der Hori- zontallagerung aus und läßt sich bald mit dem Kopf, bald mit den Füßen’ abwärts neigen, so empfindet man die Tendenz zum Gleiten des Körpers in der einen oder anderen Richtung; man erkennt dies an Verschiebungen zwi- schen den Kleidern und dem Körper, auch zwischen der Haut und den tiefer gelegenen Körperteilen. Handelt es sich um erheblichere Neigungen, so fühlt man auch deutlich, daß in den Gelenken der auf dem Brette lose aufliegenden Arme irgend etwas vor sich geht. Ist der Kopf tiefer als der Rumpf oder auch nur gleich hoch gelagert, so fühlt man Blutandrang zum Kopf; bei Stellungen, in denen der Kopf höher wie der Rumpf liegt, fällt diese Sensa- tion weg. Zu allen diesen Empfindungen, die mehr oder weniger deutlich auf be- stimmte Körperstellen zu lokalisieren sind, tritt noch eine Empfindung, die in keiner Weise zu lokalisieren ist — ebensowenig wie eine gewöhnliche Gesichts- oder Gehörsempfindung — und die ganz entschieden den Haupt- anteil an dem Gesamteindruck ausmacht. Es ist die Lageempfindung im engeren Sinne. Sie äußert sich in der Weise, daß wir, auch wenn die er- wähnten anderen Empfindungen, die ein gewisses Urteil über die Körperlage ermöglichen, wegfallen, doch ein Urteil darüber fällen können, wo „oben“ und wo „unten“ ist, mit anderen Worten, wie die Richtung der Schwerelinie im Verhältnis zu unseren Körperachsen verläuft. Der Nachweis, daß wir tatsächlich eine unmittelbare Empfindung unserer Lage zur Vertikalen haben und diese durch den Schwerezug bedingt ist, muß bei weitem schwieriger und weniger überzeugend sein als der Nachweis von der Existenz der übrigen spezifischen Sinnesempfindungen und ihren Reiz- ursachen, weil wir den Einfluß der Schwere auf irgend ein Organ unseres Körpers nicht wie den Einfluß von Licht, Wärme und Schall experimentell ° ausschalten können. Dennoch glaube ich (abweichend von früher von mir geäußerten Anschauungen '), daß die Annahme spezifischer, von Haut- und Gelenkempfindungen unabhängiger Lageempfindungen unvermeidlich ist, und zwar auf Grund folgender Überlegungen. Liegt man auf einer weichen Unterlage regungslos mit geschlossenen Augen, so ist man stets imstande, ein Urteil darüber abzugeben, wie die Körperlängs- und -querachse zur Vertikalen orientiert ist. Bei genauer Selbstbeobachtung erkennt man, daß die Haut- und Gelenkempfindungen durch die ruhige Lage so schwach und unbestimmt geworden sind, daß man sie überhaupt nur bei gespannter Aufmerksamkeit sich zum Bewußtsein !) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 16, 398. Nagel, Physiologie des Menschen. III. ; 47 738 Delages Versuche. bringen kann. Wird die Stellung der Unterlage durch einen Anderen langsam verändert, so glaubt man in jedem Augenblicke die Lage ziemlich genau an- geben zu können, man kann es sich vorstellen, wie für das Auge sich der Neigungswinkel darstellen würde. Diese Vorstellungen sind allerdings unter gewissen Bedingungen objektiv um erhebliche Beträge falsch, das tut aber bier nichts zur Sache. Wesentlich ist, daß man eine Empfindung hat, durch die man über die Lage zur Vertikalen bestimmt unterrichtet zu sein glaubt. Die weitgehende Unabhängigkeit dieser Empfindung von den Haut- und Gelenkempfindungen kann man sich veranschaulichen, wenn man den Körper samt Extremitäten an das Zapfenbrett fest anbinden läßt, so daß der Druck der Unterlage viel stärker ist, als er durch das Körpergewicht bestimmt wird. Man kann auch durch Bänder einen Zug in bestimmter Richtung am ganzen Körper oder an einzelnen Teilen desselben anbringen, der entweder den Schwerezug unterstützt oder ihm entgegenwirkt. Durch alle diese Vor- kehrungen wird die Vorstellung von der Körperlage nur sehr unwesentlich verändert. Bei beträchtlichen Neigungen wird allerdings das Gefühl des Gleitens auf der Unterlage und damit der Eindruck der geneigten Lage, wie mir scheint, durch festes Anbinden des Körpers etwas vermindert; doch ist dieser Einfluß nicht erheblich. Durch einen an irgend einem Punkte der Körperoberfläche angreifenden Zug Täuschungen über die Lage künstlich hervorzurufen, finde ich bis jetzt ganz unmöglich. Aus all diesem folgt, daß die Lageempfindung sehr wahrscheinlich durch ein im Inneren des Körpers gelegenes Sinnesorgan vermittelt wird. Wenn man im Bad völlig untertaucht, wirkt der Auftrieb dem Einfluß der Schwere auf den Körper als Ganzes und auf die einzelnen Extremitäten entgegen, ein Druck der Unterlage (des Bodens) auf den Körper ist nicht mehr vorhanden, auch nur ein äußerst geringer Schwerezug an den Extremitäten. Trotzdem bewahrt der Untergetauchte bei geschlossenen Augen und ohne aktives Tasten eine deutliche und bestimmte Vorstellung davon, was oben und was unten ist, mit anderen Worten eine bestimmte Empfindung seiner Orientierung zur Vertikalen. Dies ist ein zweiter Hinweis auf ein durch die Schwere beeinflußtes Sinnesorgan im Inneren des Körpers. Es sei schon hier darauf hingewiesen, daß nach den Erfahrungen von James (s. u. 8. 789) manche Taubstumme der Fähigkeit entbehren, beim Tauchen unter Wasser noch die Vertikalrichtung zu erkennen; die unangenehme Folge, die dieser Mangel für die Betreffenden hat, das beängstigende Gefühl der Unmög- lichkeit, die Richtung nach oben und unten zu unterscheiden, zeigt erst, wie be- deutungsvoll für den Normalen jene Unterscheidungsfähigkeit ist. Über die objektive Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit des Urteils, das man über die Orientierung zur Vertikalen bei geschlossenen Augen fällt, macht Delage (l.c.) folgende auch von Aubert bestätigte Angaben, die mit meinen eigenen Erfahrungen in der Hauptsache übereinstimmen, mit dem Unter- schiede, daß ich mich nicht entschließen könnte, so bestimmte zahlenmäßige Angaben zu machen. Liegt man auf dem Zapfenbrett auf dem Rücken, so beurteilt man die Neigung des Brettes richtig nur dann, wenn sie 50 bis 60° (Beine unten, Kopf oben) betrügt. Bei geringeren Neigungen des Brettes und somit der a u Lageschätzung. 739 Körperlängsachse gegen die Vertikale unterschätzt man die Neigung etwas. Um zu glauben, daß man um 45° geneigt sei, muß man um 50° geneigt sein. Bei Lagerungen, in denen man um mehr als 60° gegen die Vertikale geneigt ist, überschätzt man die Neigung. Gegen 75 bis 78° hält man sich für horizontal, bei 90°, d. h. wenn man wirklich horizontal liegt, glaubt man um etwa 10° nach hintenüber geneigt zu sein. Von da an steigert sich die Täuschung rasch. Um 15° nach hinten geneigt, glaubt man sich über 45° geneigt; liegt man, Kopf abwärts, um 30° unter die Horizontale geneigt, so hat man den Eindruck, als ob man direkt auf dem Kopfe stände. Tabelle (nach Delage). Wirklicher Winkel Scheinbarer Winkel 0° (vertikal) We, (Neigung näch vorn) 5° (Neigung nach hinten) 0° (vertikal) 45° > 5 2 ‚ 40° (Neigung nach hinten) 50° B » » | 45° » » E 60° n » n \ 60° ” ” n 75 — 78° (Neigung nach hinten) ' 90° (horizontal) 90° (horizontal) 90 + 10° = 100° (Kopf abwärts) 90 + 15° = 105° (Kopf abwärts) 20: 45° = 185°, 3 90 + 30° = 120° „ u 90 + 90° = 180° (vertikal, Kopf nach unten) Statt einfacher Angaben über die geschätzte Größe des Neigungswinkels verwandte Delage auch die Markierung der für vertikal gehaltenen Richtung durch einen in der Hand gehaltenen Stab. Bei diesen Lagebeurteilungen ist die Stellung des Kopfes zum Rumpf von nennenswertem Einfluß. Beugung des Kopfes nach vorn vergrößert die Fehler, die bei Beurteilung der Neigung von O0 bis 60° begangen werden, verkleinert sie jenseits 60°. Rückwärtsbeugung wirkt gerade entgegengesetzt (Delage). Ich fand bei genau horizontaler Lage im ganzen, aber durch ein . Kissen unterstütztem Kopfe, die Überschätzung der Neigung nur unbedeutend, doch immer noch nachweisbar, auch wenn ich das Brett mehrfach um die Horizontallage herum hatte oszillieren lassen, so daß eine Desorientierung über die wahre Lage eintrat. Auf dem Zapfenbrette Delages kann man auch die Lageempfindungen in der reinen Seitenlage studieren, wobei eine Drehung des Körpers um die sagittale Achse zur Wirkung kommt. Delage und Aubert sagen hierüber, daß die Täuschungen hier dieselben wie in der Rückenlage zu sein scheinen. Ich habe die Beobachtungen in der Seitenlage besonders bevorzugt, weil sie sich zur Kombination mit Beobachtungen über die optische Orientierung zur Vertikalen besonders eignen. Die oben erwähnten Erfahrungen über die Unter- bzw. Überschätzung der Körperneigung fand ich auch in diesem Falle bestätigt. Sachs und Meller!) haben die Beobachtungen über Wirkung sagittaler Drehungen erleichtert, indem sie den Körper der Versuchsperson an ein um !) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 31 (1903). 47* 740 Sachs und Mellers Versuche. eine horizontale Achse dröhbares Brett festschnallten. Das jeweilige Urteil über die Lage wurde dadurch markiert, daß mit den Händen ein kurzer Stab auf „scheinbar vertikal“ eingestellt wurde. Weil hierbei die Stabstellung mittels der tastenden Hände kontrolliert und reguliert wird, sprechen Sachs und Meller von „haptischer“ Lokalisation im Gegensatz zur optischen. Der Ausdruck ist unzutreffend: Die Lageempfindung gibt uns ein (richtiges oder falsches) Urteil über die Orientierung unseres Körpers. Die tastenden Hände kontrollieren die Lage des Stabes zum Körper, nicht zur Vertikalen. Der Tastsinn hat mit der Orientierung zur Vertikalen nichts zu tun. Sachs und Meller haben ihre sagittalen Drehungen, wie es scheint, nur bis zu 60° durchgeführt und zum Teil wohl infolge dieser Beschränkung nicht den Umschlag der Lagetäuschung bemerkt, der, wie oben bemerkt, etwa bei 60° Neigung in Rücken- wie Seitenlage stets eintritt. Sie geben an, daß bei Seitwärtsneigung des ganzen Körpers die scheinbare Vertikale (ihre „hap- tische“ Vertikale) nach der gleichen Seite geneigt geschätzt, die Neigung also unterschätzt wird. Dies gilt aber nur für mäßige Neigungen, bei stärkeren ist das Gegenteil der Fall. Von größerem Interesse sind die Versuche von Sachs und Meller über getrennte Kopf- und Körperneigungen in sagittaler Ebene. Auch hier wurde wieder das Urteil über die scheinbare Vertikale durch entsprechende Stab- haltung markiert. Bleibt der Kopf, durch Gebißhalter fixiert, vertikal, und der auf dem Brett aufgeschnallte Körper wurde um die sagittale Achse schief gestellt, so wird die Neigung überschätzt, z. B. bei (tatsächlich) 40° um 10°, bei 60° um 15%. Wurde der Körper vertikal gelassen, dagegen der Kopf um die sagittale Achse seitwärts geneigt, so wird die Neigung unterschätzt, bei 40° um 3°, bei 60° um 6°. Über die Beziehungen zur optischen Lokalisation s. unten, Versuche, die den Einfluß schiefer Kopfhaltung auf die Lagebeurteilung mittels des in den Händen gehaltenen Stabes zum Ausdruck bringen, sind übrigens schon von Delage, dann auch von Breuer!) und mir?) ausgeführt : worden. Delage ließ die Versuchspersonen mit verbundenen Augen an einem in den Händen gehaltenen Stabe die senkrechte Richtung und die Median- richtung („geradeaus“) anzeigen, bei gewöhnlicher Kopfhaltung und bei starker Drehung des Kopfes um eine der drei Achsen. Er fand, daß sich die Versuchspersonen dann in dem Sinne täuschten, daß die vorgenommene Kopf- drehung überschätzt wurde: bei Kopfneigung nach rechts wich der Stab, der die Vertikale angeben sollte, oben nach links von der wahren Vertikalen ab, bei Neigung nach hinten wich der Stab oben nach vorn ab usf. Breuer bestätigt diese Beobachtungen, soweit sie Neigungen des Kopfes um die sagittale und transversale Achse betreffen, nicht aber bei Drehungen um die longitudinale (vertikale) Achse. Ich habe bei solchen Versuchen sehr in- konstante Resultate erhalten, bald im Sinne Delages oder Breuers, bald auch ganz regellos. Bei frei stehendem Körper und freier Haltung des Stabes in den Händen erscheint mir die Methode zu unvollkommen, um die Ge- winnung zuverlässiger Resultate zu gestatten. ') Arch. £. d. ges. Physiol. 48 (1891). — °) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 16 (1898). EEE RER Beziehung zur optischen Orientierung. 741 v. Cyon!) hat ähnliche Versuche angestellt, bei denen die Versuchs- person mit verbundenen Augen an senkrechter Wand senkrechte und wage- rechte Striche (mit Hilfe eines Lineals) zu zeichnen hatte, einmal bei auf- rechter, dann bei seitlich geneigter Kopfhaltung. Abgesehen von gewissen konstanten persönlichen Fehlern ergab sich das mit den oben erwähnten Erfahrungen übereinstimmende Resultat, daß bei Linksneigung des Kopfes die Vertikale mit dem oberen Ende nach rechts abweichend gezeichnet wurde. 2. Die Beziehungen zwischen den Lageempfindungen und der optischen Orientierung. Die Orientierung durch die Augen ist von der Orientierung durch die allgemeinen Lageempfindungen in hohem Grade unabhängig, wie sich am deutlichsten an den möglichen Täuschungen bei diesen Wahrnehmungen zeigt. An einer geraden Linie, die wir als einziges unterscheidbares Objekt auf sonst ganz gleichförmigem Grunde einer senkrechten Wand sehen, erkennen wir deutlich eine bestimmte Richtung im Verhältnis zur Vertikalen. Schon sehr kleine Abweichungen von der Vertikalen werden erkannt, von mir z. B. solche von 1°, bei einer Lichtlinie von 40cm Länge auf absolut dunklem Grunde aus 2m Entfernung gesehen. Für manche Personen scheint die tat- sächliche Vertikale namentlich bei monokularer Betrachtung nicht vertikal, . sondern sie machen bei der Vertikaleinstellung einen konstanten Fehler. Einen extremen Fall dieser Art haben Sachs und Meller ?) beschrieben. Die wirklich vertikale Lichtlinie erschien bei binokularer Betrachtung ver- tikal, bei monokularer Betrachtung dagegen um 14° seitwärts geneigt. Sachs und Meller nennen diese Erscheinung „Inkongruenz der Netz- häute“. Man könnte auch von einer Art Rotationsschielen sprechen. Bei Seitwärtsneigung des Kopfes oder des ganzen Körpers (der auf dem Zapfenbrett Delages in Seitenlage liegen kann, oder wie bei den Versuchen von Sachs und Meller an ein Brett angeschnallt wird, das um eine hori- zontale Achse drehbar ist) sieht man die wahre Vertikale schief, in ent- gegengesetztem Sinne geneigt, als es der Körper ist (Aubert?). Mit steigender Neigung nimmt die scheinbare Schiefheit zu, doch nicht pro- portional und ohne Konstanz. Bei Kopfneigung zur Schulter um 0 bis 40° pflegt das „Aubertsche Phänomen“ noch nicht aufzutreten, die Vertikale erscheint vertikal. Bei stärkerer Neigung tritt das Phänomen plötzlich auf und bleibt auch bei beliebig lange dauernder Seitenlage bestehen. In horizontaler Seitenlage erscheint für die meisten Beobachter die wirklich vertikale Lielhtlinie um etwa 20 bis 40° geneigt, und zwar im umgekehrten Sinne wie der Beobachter. Man hält also eine Richtung für senkrecht, die in Wirklichkeit um 20 bis 40° nach derselben Seite geneigt ist wie der Beobachter, mit anderen Worten man unterschätzt optisch die Neigung um jenen Betrag. Gleichwohl hat man zur selben Zeit auf Grund der allgemeinen Lage- empfindung die Vorstellung um mehr als 90° gegen die Vertikale geneigt zu sein (Delage, s. o. $. 739), überschätzt also in dieser Hinsicht die Neigung. Letz- teres geschieht auch bei offenen Augen, während man die Lichtlinie betrachtet. Die Gesichtstäuschung wie die Lagetäuschung verschwinden indessen sofort (erstere vollständig, letztere teilweise, in wechselndem Maß), wenn im Gesichtsfeld Objekte sichtbar sind, deren Stellung zur Vertikalen wir durch Erfahrung gut kennen, z. B. Möbel, Fenster oder Türen. !) Arch. f. d. ges. Physiol. 94 (1903). — ?) Arch. f. Ophthalm. 57 (1904). — ®) Arch. f. path. Auat. 20 (1860). 742 Orientierung des bewegten Körpers. Da im allgemeinen die Fähigkeit, einen rechten Winkel richtig zu schätzen, ziemlich gut ist, vermag man auch über die Horizontale, als auf der Vertikalen senkrecht stehende Richtung, mit dem Auge recht sicher zu urteilen; die Genauigkeit, mit der man eine isoliert gesehene Linie wirk- lich horizontal zu stellen vermag, ist darum nur wenig geringer als die Genauigkeit der Vertikaleinstellung. | Wesentlich anders gestalten sich die Dinge beim Blick auf eine nicht vertikale Ebene. Blickt man z. B. auf dem Rücken liegend nach der Zimmer- decke, so erkennt man alsbald einen tiefgreifenden Unterschied gegen die vertikale Fläche: es gibt auf dieser horizontalen Ebene keine bevorzugte Richtung, in die man eine frei bewegliche Linie ohne Vergleichsobjekt mit ähnlicher Sicherheit einstellen könnte wie die Vertikale in der vertikalen Fläche. Bei aufrechter Körperstellung fällt die Vertikalrichtung mit der Körperlängsachse zusammen; in der Rückenlage ist die Richtung der Körperlängsachse im Gesichtsfeld aber keineswegs so ausgeprägt, daß man einen an der Decke angebrachten drehbaren Zeiger auch nur annähernd so genau in die Längsachse einstellen könnte wie bei aufrechter Stellung. In letzterer hat man eine tatsächliche optische Empfindung der vertikalen Richtung, für die auf der horizontalen Ebene jedes Analogon fehlt. Diese Tatsache weist aufs bestimmteste auf die Mitwirkung eines durch die Gravitation beeinflußten Organes hin (s. u. 8. 790 ff). Mach') spricht von der Empfindung der bevorzugten „Symmetrielage“ einer Geraden, die von dem Körper in dessen Längsrichtung gesehen wird. Jede andere Stellung der Geraden soll als „Schieflage“, als Abweichung von der Sym- metrielage empfunden werden. Ich finde, daß hiervon sehr wenig übrig bleibt, wenn 1. die Symmetrielage zufolge der Körperstellung nicht mit der Vertikalen zusammenfällt und wenn 2. im Gesichtsfelde die betreffende Gerade das einzige hervortretende Objekt ist, der eigene Körper aber und die nächste Umgebung der Gesichtswahrnehmung entzogen sind. Liegt man z. B. auf dem Bauch auf einem Tische, schließt das eine Auge und blickt mittels des anderen durch ein dicht ans Gesicht angedrücktes Rohr über den Tischrand nach dem Fußboden hinab, so hat man (abgesehen von den ersten Momenten), von Dielen, die nicht in der Symme- trierichtung des Körpers oder Kopfes verlaufen, keineswegs den Eindruck einer Schieflage. Alle Richtungen sind unter sich gleichwertig; ganz anders, wenn man in ähnlicher Weise durch ein Rohr gegen die senkrechte Wand blickt: da gibt es eine gut markierte senkrechte, eine wagerechte Richtung, alle anderen sind „schief“. Die Symmetrielage nehmen wir also nur wahr, solange wir unseren Körper deutlich und bewußt wahrnehmen. 3. Die Orientierung des bewegten Körpers gegen die Vertikale. Wenn der in objektiv unveränderter Orientierung gegen die Vertikale verharrende Körper passiv bewegt wird, wird der subjektive Eindruck der Lage (Orientierung) unter gewissen Umständen merklich verändert, es treten Täuschungen über die Lage zur Vertikalen ein. Da diese Lagetäuschungen weiter unten doch zur Besprechung kommen müssen, seien sie hier nur in aller Kürze erwähnt. Während der Rotation auf einer karussellartigen Vorrichtung empfindet man (bei geschlossenen Augen) als vertikal eine Richtung, die von der wahren Vertikalen nach der Resultante aus Gravitations- und Centrifugalbeschleuni- ') Die Analyse der Empfindungen. IV. Aufl., 1902, S. 95. ‚Empfindung der Gliederlage. 743 gungsrichtung hin abweicht (Mach). Diese Täuschung besteht sowohl bei gleichförmiger wie bei ungleichförmiger Drehung. Bei geradliniger Progressivbewegung fehlt eine analoge Lagetäuschung sicher, solange die Bewegung eine gleichförmige ist. Ob bei ungleichförmiger Bewegung Lagetäuschungen auftreten, steht nicht fest. Bei Drehbewegungen unterliegen wir auch Täuschungen über die Stellung der gesehenen Objekte zur Vertikalrichtung (Purkinje). Es ist eine be- kannte Erfahrung, daß beim schnellen Durchfahren von Kurven in der Eisen- bahn die Häuser usw., die man vom Wagen aus sieht, schief zu stehen scheinen. Auch bei der Karussellbewegung trifft dies zu; die wahre Vertikale wird als schief gesehen, als annähernd vertikal erscheint ein Pendel, das auf- dem Karussell mit rotiert und sich in die Resultante aus Gravitations- und Horizontal- (Centrifugal-) Beschleunigung einstellt (Mach). Breuer und Kreidl!) haben gezeigt, daß diese Verdrehung der opti- schen Vertikale auf einer realen Raddrehung der Augen beruht, deren man sich nicht bewußt wird. Viele Taubstumme unterliegen dieser Täuschung nicht, die wahre Verti- kale bleibt für sie auch in der Karussellvorrichtung scheinbar vertikal (Kreidl2). 4. Die Empfindung der Lage der einzelnen Körperteile. Auf diesem Gebiete ist unser Wissen zurzeit noch lückenhafter wie auf . den bisher besprochenen. Im allgemeinen sind wir, ohne Zuhilfenahme des Gesichtssinnes, imstande, uns über die Lage der einzelnen (äußeren) Teile unseres Körpers zueinander Rechenschaft zu geben. Wir wissen, ob der Arm oder das Bein in seinen verschiedenen Gelenken gebeugt oder gestreckt ist, wir vermögen uns auch den Grad der Beugung einigermaßen klar zu machen. Das gleiche gilt auch für die Stellung der Finger, des Kopfes und Rumpfes, der Lippen, weit weniger schon für die Zehen und die Zunge. Von einigen anderen, ebenfalls will- kürlich bewegbaren Teilen, wie Gaumensegel und Kehlkopf, erhalten wir überhaupt keine direkten Stellungs- oder Lageempfindungen. Bei näherer Überlegung ergibt sich, daß eine genauere Vorstellung von den Stellungen unserer willkürlich aktiv bewegbaren Körperteile nur in den Fällen überhaupt möglich ist, in denen unter normalen Verhältnissen die Kontrolle durch den Gesichtssinn möglich ist. Teile, deren Stellung wir nie oder nur selten durch den Gesichtssinn wahrnehmen, ergeben auch keine bestimmten Lage- oder Stellungsempfindungen. Zur Gesamtvorstellung einer bestimmten Gelenkstellung gehört also für den Normalsinnigen die Vorstellung vom Gesichtsbild des mehr oder weniger gebeugten Gelenkes. Interessant ist in dieser Hinsicht unser Verhalten gegenüber der Zehenstellung. Obwohl jedermann in der Lage sein wird, zu beurteilen, ob die ganze Zehen- reihe im Metatarso-phalangealgelenk gestreckt oder gebeugt ist, werden wohl die wenigsten eine durch Lageempfindung begründete Vorstellung davon haben, in welcher Stellung die einzelnen Phalangengelenke stehen, falls es sich nicht um passiv erzeugte ungewöhnliche Stellungen handelt. Ich glaube, !) Arch. f. d. ges. Physiol. 70, 494. — *) Ebenda 51, 133. 744 Empfindung der Gliederlage.. daß hierbei neben der durch die Fußbekleidung erzeugten Verkümmerung der Zehenbewegung die Tatsache entscheidend ist, daß wir den größten Teil unseres Lebens hindurch die Zehenstellung weder durch den Gesichtssinn, noch durch das Betasten mit den Händen genau kennen lernen. Von der Stellung der Zunge im Munde wissen wir nur das, was uns der Tastsinn der Zungenspitze und der sonstigen Mundschleimhaut zu erkennen gibt, von den Verschiebungen der hinteren Zungenteile weiß der Laie ebensowenig wie von den (doch willkürlich erzeugbaren) Bewegungen des Gaumensegels. Wer imstande ist, die Ohrmuschel willkürlich zu bewegen, erfährt nur durch den Spiegel, welche Bewegungen er durch den Willensimpuls erzeugt. Das gleiche gilt von den Bewegungen der Nasenflügel, ja in gewissem Maße selbst von anderen mimischen Bewegungen. Von der Augenstellung sei hier nur erwähnt, daß wir uns auch ihrer nur in recht unvollkommener Weise bewußt sind. \ Sicherlich ist die Quelle unserer Erfahrung über die Gelenkstellungen nicht allein der Gesichtssinn (das beweisen die Blinden, die z. B. über ihre Arm- und Fingerstellungen nicht im unklaren sind). Auch mit Heranziehung der Hautsensibilität, des Betastens mit den Händen, haben wir offenbar noch nicht das Ursprungsgebiet für die Empfindungen der Gliederlagen erschöpft; wir werden vielmehr gezwungen, noch Empfindungen anzunehmen, die im Innern der Glieder oder, allgemeiner gesagt, der beweglichen Körperteile ihren Ursprung haben. Absolute Unempfindlichkeit der Haut eines Gliedes, wie sie bei Hysterie und Syringomyelie vorkommt, nimmt nach allgemeiner Erfahrung nicht die ; Möglichkeit, bei geschlossenen Augen über die Stellung. des betreffenden Gliedes ein Urteil abzugeben. Wohl aber tritt die Unmöglichkeit hierfür ein, wenn auch die „tiefe Sensibilität“, die Gesamtheit der Empfindungen von Muskeln, Sehnen und Gelenken wegfällt. Den Beweis hierfür hat haupt- sächlich Goldscheider geliefert, auf dessen Untersuchungen weiter unten, S. 760, einzugehen sein wird. Überaus lehrreich sind auf diesem Gebiete die seltenen Fälle. von voll- kommener Aufhebung der Sensibilität eines Gliedes bei erhaltener Motilität. Einen solchen Fall, der die betreffenden Erscheinungen in ungewöhnlicher Reinheit zeigte, hat kürzlich Strümpell!) sorgfältig untersucht und be- schrieben. Es handelte sich um eine Stichverletzung des Halsmarks (die in Heilung aus- ging). Am rechten Arm (mit Ausnahme der-Schultergegend) war die Empfindlich- keit in allen Sinnesqualitäten aufgehoben, die. Motilität aber erhalten. Die Dia- gnose lautete daraufhin auf Durchtrennung des rechten Hinterhorngraus und des äußeren Teiles des rechten Hinterstranges. Wir berücksichtigen hier nicht die erheblich umfangreicheren Störungen in den ersten Wochen und Monaten nach der Verletzung, sondern nur diejenigen des rechten Armes, die noch nach °/, Jahren in deutlicher Weise zum Ausdruck kamen. Der Patient weiß bei geschlossenen Augen nicht, ob der Arm und die Finger gebeugt oder gestreckt sind. Er ist nicht imstande, die Hand bei geschlossenen Augen in einer bestimmten Stellung zu halten, sie geht vielmehr allmählich in eine gekrümmte Haltung über, ohne daß der Patient etwas davon empfindet. Auf die Störungen in den aktiven Bewegungen werde ich unten zurückkommen. ') Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 23 (1902). a Lu 1 Zn a Strümpells Beobachtungen. 745 Dieser seltene Fall ergibt das klare Resultat, daß bei Aufhebung der oberflächlichen und der tieferen Sensibilität von Hand und Unterarm die völlige Unmöglichkeit besteht, unter Ausschluß des Sehvermögens eine Fig. 122. - Nach Strümpell. Der Patient mit vollständiger Sensibilitätslähmung am rechten Arm vermag bei offenen Augen beide Hände in die gleiche Stellung zu bringen und so zu erhalten. Bei ges Augen verändert die rechte Hand ohne Wissen und Willen des Patienten ihre Stellung in der durch die Figur dargestellten Weise. direkte Wahrnehmung der Hand- und Fingerstellung zu gewinnen. Aus leicht begreiflichen Gründen muß es noch viel seltener gelingen, Fälle zur Beob- achtung zu bekommen, bei denen rein nur die oberflächliche oder nur die 746 Empfindung der Gliederstellung. tiefe Sensibilität vernichtet ist, und geeignete, auf diese Fragen hin gut beob- achtete Fälle sind mir hiervon nicht bekannt. Daß in manchen sorgfältig untersuchten Fällen von Hautanästhesie, z. B. bei Syringomyelie, weder der erwähnte Mangel des Stellungsbewußtseins, noch die (im Strümpellschen Falle sehr evidente), Ataxie oder Koordinationsstörung erwähnt wird, spricht dafür, daß diese Erscheinungen in jenen Fällen tatsächlich fehlten. Hysterische Anästhesien aber sind, wie Strümpell mit Recht betont, zur Beurteilung der hier interessierenden Fragen nur in beschränktem Maße verwertbar, weil es sich bei ihnen offenbar um Störungen in den höheren Zentren des Gehirns handelt, die weit kompliziertere Bedingungen setzen als die einfachen peripheren oder im Rückenmark bedingten Empfindlichkeitsstörungen. Aus dem Schlaf oder Halbschlaf erwachend ist man zuweilen für einen Augenblick außerstande, sich zu vergegenwärtigen, wie die einzelnen Extremi- täten gelagert sind. Bei der geringsten Bewegung, die man beim vollen Er-. wachen kaum vermeiden kann, tritt aber die richtige Vorstellung der Lage wieder ein. Es fragt sich nun: hat man während des Schlafens die zuvor eingenommene Stellung vergessen und ist es unmöglich, bei absolut ruhiger Lage eine Lageempfindung zu haben, oder ist im Moment des Erwachens noch eine wirkliche partielle Empfindungslähmung vorhanden, die Ungewiß- heit über die Lage also eine Folge des unvollkommenen Wachseins? Mir scheint ein sicherer Anhalt zur Beantwortung dieser Frage zu fehlen. Par- tielle Empfindungslähmungen im’ halbwachen Zustande existieren wohl zweifel- los, so gut wie in der unvollkommenen Narkose. Anderseits erscheint es jedoch auch durchaus nicht unwahrscheinlich, daß wir bei völliger Regungslosigkeit auch im wachen Zustande keine Empfindung der Lage der Glieder (überhaupt keine Lageempfindung außer der Orientierung gegen die Vertikale) hätten. Dieser Zustand kommt für den normalen Menschen, der intakte Motilität be- sitzt, nicht zur Beobachtung, weil eine solche völlige Regungslosigkeit nie vorhanden ist und man namentlich bei Aufmerksamkeit auf den Zustand eines Gliedes kleinere. unmerkliche Bewegungen mit demselben wohl nicht vermeiden kann. Vielleicht läßt sich bei einer motorischen Lähmung eines Gliedes über diese Frage etwas Sicheres ermitteln. Die Empfindungen, die man beim aktiven Betasten eines Gegenstandes hat, gehören nur zum Teil dem eigentlichen Tastsinn an. Die Tastempfin- dungen oder, genauer ausgedrückt, die durch mechanische Reizung der Hautsinnesnerven ausgelösten Berührungsempfindungen reichen nicht aus, um uns die Gestalt und Größe eines Gegenstandes erkennen zu lassen, der auch nur einige Centimeter langist. Wir bedürfen vielmehr zur Orientierung über die Gestalt und Ausdehnung des Getasteten entweder der direkten Wahrnehmung der gegenseitigen Lage mehrerer gleichzeitig tätiger Tast- flächen oder der Wahrnehmung und Abschätzung der beim Tasten ausge- führten Bewegungen. Entsprechend unserer Grundeinteilung soll hier nur die erstere Seite des Problems kurz berührt werden. Befinden sich die Finger einer Hand in irgendwelcher Stellung zueinander, unbewegt, wie wir hier voraussetzen, und werden mehrere Stellen der Finger durch einen Gegenstand berührt, z. B. durch eine Kugel, die eine andere Person an unsere Hand heranbringt, so sind wir, ohne mit den berührten Fingern aktiv zu tasten, imstande, ein ungefähres Urteil über die Größe und Gestalt des . Empfindung der Gliederstellung. 747 berührten Gegenstandes abzugeben, infolge davon, daß wir über die gegen- seitigen Abstände der einzelnen gleichzeitig gereizten Hautpartien orientiert sind. Da es sich, der Voraussetzung nach, hierbei nicht nur um verschie- dene Punkte an ein und demselben Fingerglied handelt (also Punkte, deren Distanz im wesentlichen immer konstant bleibt), sondern auch um Punkte an verschiedenen Fingern, müssen wir, da wir bei der angedeuteten Berührung der Finger mit der Kugel tatsächlich die Empfindung eines körperlichen, räumlich ausgedehnten Gegenstandes haben und an diesem bestimmte Dimensionen erkennen, die Stellung der Finger zueinander bei jener Wahrnehmung in Anrechnung bringen, auch wenn wir sie uns nicht zuvor bewußtermaßen klar gemachthaben. Die gleichzeitige Berührung zweier Punkte des Handrückens erzielt den Eindruck einer einigermaßen bestimmten Distanz, die gleichzeitige Berührung der Spitze des Daumens und Zeige- fingers zwar im einzelnen Falle ebenfalls, aber je nachdem letzterenfalls die beiden Fingerspitzen bei der Berührung sich nahe oder fern standen, erkennt man ohne weiteres die Distanz der berührenden Objekte als mehr oder weniger groß. Ob wir also wirkliche Empfindungen der Lage einzelner Glieder zueinander haben oder nicht — die Berührungsempfindungen er- geben jedenfalls ein verschiedenes Wahrnehmungsresultat je nach der tat- sächlichen Lage der berührten Glieder zueinander !). Die Frage, ob derartige Lageempfindungen existieren, kann meines Er- achtens mit dieser Konstatierung nicht als entschieden bezeichnet werden. Es könnten je nach der Gliederstellung verschiedene centripetale Innervations- ströme auf die Tastwahrnehmungen Einfluß gewinnen, ohne daß man sich ihrer auf irgend eine Weise bewußt werden könnte, so wie gewisse centri- petale Erregungen, die vom Labyrinth ausgehen, auf die Augenstellung und damit auf die Gesichtswahrnehmungen Einfluß haben. Anderseits erscheint mir aber auch die Hypothese nicht widersinnig, daß uns eine bestimmte Emp- findungskategorie gegeben sei, ohne daß wir uns dessen klar bewußt sein müssen. Man kann für eine kombinierte Wirkung mehrerer Sinnesorgane halten, was eine Empfindung eigener Art ist; die Empfindung der Orientierung gegen die Vertikale ist, wie oben auseinandergesetzt wurde, eine besondere Emp- findungsqualität. Ich bin der Überzeugung, daß ‚reine psychologische Analyse und Selbstbeobachtung uns über diese Frage keine Klarheit wird schaffen können; ich sehe auch keine Möglichkeit, wie das psysiologische Experiment Entscheidung liefern könnte. Die Pathologie allein, Beobachtung von Fällen mit entsprechend begrenzten Ausfallserscheinungen werden hier das letzte Wort zu sprechen haben. Fördert doch ein einziger gut beob- achteter Fall, wie der erwähnte Strümpellsche, unendlich viel mehr als das viele, was an theoretischen Betrachtungen für und wider in der Literatur niedergelegt worden ist. Auf die Beteiligung der Hautempfindungen bei der Wahrnehmung der Extremitätenstellung einzugehen unterlasse ich an dieser Stelle, da dieser Faktor in dem nachfolgenden Kapitel behandelt wird. !) Es sei hier daran erinnert, daß die Größenschätzung mittels der Augen in beträchtlichem Grade von dem Spannungszustande oder der Stellung der Augen- muskeln (der inneren wie der äußeren) beeinflußt wird. 748 Empfindung der Drehbeschleunigung. 4 Die Bewegungsempfindungen. 1. Die Empfindung der Bewegung des ganzen Körpers. Die Empfindung der Bewegung des ganzen Körpers kann rein nur zur Geltung kommen, wenn es sich um passive Bewegung handelt, da jede aktive Bewegung zugleich Verschiebung der einzelnen Teile gegeneinander und da- von abhängige komplizierende Verhältnisse bedingen muß. Wir unterscheiden die geradlinige Progressivbewegung und die Dreh- bewegung; jede Bewegung in krummer Bahn läßt sich aus diesen beiden Bewegungsarten zusammengesetzt denken. Mach!) hat darauf aufmerksam gemacht, daß wir eine Progressiv- bewegung sowohl wie eine Drehbewegung (mit Ausnahme eines ganz speziellen Falles, der unten erwähnt wird) bei geschlossenen Augen nur wahrnehmen können, solange sie nicht gleichförmig ist, sondern eine positive oder negative Beschleunigung erfährt. Betreffs der Progressivbewegung ist dieses Mach sche Gesetz aus der alltäglichen Erfahrung leicht als richtig zu erkennen. Im Eisenbahnzuge, besser noch auf einem Dampf- oder Segelschiffe, ist man bei geschlossenen Augen gänzlich außerstande, die Fahrtrichtung wahrzunehmen, solange nicht das Tempo merklich beschleunigt oder verlangsamt wird. Nachts auf freiem Felde im Eisenbahnzuge fahrend kann man sich selbst bei offenen Augen willkürlich in die Situation des Vorwärts- oder Rückwärts- fahrens hineindenken, unmöglich jedoch während der Zug anfährt oder die Fahrt verlangsamt. Über die Täuschung bezüglich der Bewegungsrichtung, die im Falle der Fahrtverlangsamung auftreten kann, vgl. unten S. 749. Um das Machsche Gesetz auch für Drehbewegungen als gültig zu erweisen, bedarf es besonderer Versuchsanordnungen, die dem Körper eine gleichförmige Drehbewegung zu geben gestatten. Mach, Delage und Aubert haben solche angegeben. Das Gesetz scheint in aller Strenge gültig zu sein. Die Bemerkung Delages, daß es erst längerer Bewegung bedürfe, um die Bewegungsempfindung verschwinden zu lassen, trifft nur insofern zu, als alle Apparate zur Erzeugung einer Progressivbewegung oder Drehung des Körpers infolge der Trägheit diesem erst allmählich eine wirklich gleichförmige Bewegung erteilen können. Wir werden nicht zweifeln, daß im selben Moment, in dem die Gesamtmasse des Körpers in gleichförmige Bewegung gesetzt und das durch den Bewegungsbeginn gestörte innere Gleichgewicht der Organe wiederhergestellt ist, die Bewegungsempfindung verschwindet. Darin hat nun allerdings Delage recht, daß bei den aktiven Bewegungen, die wir ausführen können, niemals die Bedingungen gegeben sind, unter denen die Bewegungsempfindung verschwindet; beim gleichmäßigsten Gange oder Lauf, bei der gleichmäßigsten Drehung im Tanz ist doch immer noch so viel - Ungleichmäßigkeit vorhanden, ein so rascher Wechsel positiver und negativer Beschleunigung, daß diese stets empfunden werden wird. Von großer theoretischer Bedeutung ist die Beobachtung Machs, daß man, in passiver gleichförmiger Bewegung befindlich, die Bewegung alsbald wieder wahrnimmt, sobald man den Körper oder auch nur den Kopf dreht. ‘) Sitzungsber. K. Akad. Wien 1873, und Grundlinien der Lehre von den Be- wegungsempfindungen. Leipzig 1875. u a De Be Beschleunigungsempfindungen. 749 Man bestätigt dies leicht, wenn man, im Eisenbahnabteil liegend, von der Seitenlage in die Rückenlage übergeht oder umgekehrt. Man empfindet dann einen Augenblick die Bewegung und erkennt ihre Richtung. Infolge einigermaßen längerer gleichförmiger Bewegung tritt bei und nach plötzlichem Anhalten oder auch nur merklicher Verlangsamung unter Umständen zwingend die Empfindung. der gegensinnigen Bewegung auf (Mach). Aktiv ist solche Nachempfindung nur durch rasche Drehbewegung zu erzeugen. Völlige Gleichförmigkeit der Bewegung ist übrigens kein Erfordernis für Erzeugung der Nachempfindung. Passive Drehbewegung und passive Progressivbewegung in vertikaler Richtung ergeben die günstigsten Bedingungen für das Entstehen gegen- sinniger Bewegungsempfindung während der objektiven Verzögerung der Bewegung oder nach dem Aufhören einer objektiven Bewegung. Für die geradlinige Progressivbewegung in horizontaler Ebene ist diese scheinbare Bewegungsumkehr nicht leicht zu beobachten, hauptsächlich des- halb, weil unter den relativ günstigsten Bedingungen (rasches Anhalten eines Eisenbahnzuges) zu starke konkurrierende Empfindungen neben der spezifischen Bewegungsempfindung auftreten. Das Vorwärtsgleiten des Gesäßes auf dem Sitze und die erfahrungsmäßige Bekanntschaft mit den Begleiterscheinungen des Anhaltens (Bremsgeräusch usw.) lassen die spezifische Bewegungsempfin- dung im umgekehrten Sinne der wahren Bewegung nicht leicht zum Bewußtsein kommen. Analoge Fälle von Hemmung der Sinneseindrücke ließen sich aus anderen Gebieten der Sinnesphysiologie in großer Zahl anführen und nehmen den beschriebenen Beobachtungen, die nur unter günstigen Bedingungen gemacht werden können, nichts von ihrer theoretischen Bedeutung. v. Cyon und Delage bestreiten die Empfindung der Bewegungsumkehr in der Eisenbahn. Delage macht übrigens das wichtige Zugeständnis, daß bei starken negativen Beschleunigungen solche Empfindungen doch ein- treten könnten, und gibt einen Fall an, wo er, mit Lesen beschäftigt, wirk- lich den Zug in umgekehrter Bewegung glaubte, während er nur die Fahrt sehr verlangsamte. Eigentümlich und mit der Machschen gegensinnigen Nachempfindung nicht zusammen zu werfen ist die bekannte Nachempfindung nach anhaltenden rhythmischen Bewegungen. Nach bewegter Seefahrt kann man oft stunden- lang die rhythmische Auf- und Niederbewegung empfinden ?). Die für gewöhnlich willkürlich ausgeführten Bewegungen sind viel zu kurzdauernd, um zu einer Nachempfindung zu führen. Ein annäherndes Maß der Empfindlichkeit für Drehbeschleunigungen gewann Mach, indem er sich auf einen horizontalen Stab setzte, der um eine vertikale Achse oszillierende Drehungen ausführte, deren Dauer und Umfang variiert werden konnten; für Mach wurden diese Schwingungen unmerklich, wenn die Schwingungsdauer 14 Sekunden, das Exkursionsmaximum !) Es wird hier dem Nervensystem ein nachdauernder rhythmischer Vorgang aufgezwungen, ähnlich wie manche nyktitropisch reagierenden Pflanzen ihre Nykti- tropie, d. h. rhythmische Bewegungen, die mit dem Wechsel von Nacht und Tag zusammenhängen, auch bei konstanter Helligkeit oder Dunkelheit noch tagelang beibehalten. 750 Schwellenwerte. — Machs Versuche. 10° betrug. Für einen, anderen Beobachter betrugen die entsprechenden Zahlen 16 Sekunden und 13°. Der Schwellenwert der Winkelbeschleunigung liegt hiernach zwischen 2 und 3°. Delage-Aubert geben an, daß bei passiver Rotation des RR, liegenden Körpers um die vertikale Achse noch Drehungen im Betrage von 2° Winkelgeschwindigkeit pro Sekunde empfunden werden können. Das steht mit Machs Erfahrungen in Widerspruch, da nach Mach nur die Winkelbeschleunigung, nicht aber die Winkelgeschwindigkeit maßgebend für die Drehungsempfindung ist. Die Angabe dürfte also mit größter Vor- sicht aufzunehmen sein. Brauchbarer ist die Angabe Delages, daß er, in einer Seilschaukel sitzend, noch bei Ausschlägen der Schaukel von etwa !/," eben eine Bewegungsempfindung hatte. Hier handelt es sich um wechselnd positive und negative Beschleunigungen. Die Richtung der positiven Beschleunigung wird stets empfunden, wenn überhaupt Bewegungsempfindung eintritt. Ist die Beschleunigung eine negative, so wird, wie erwähnt, die wahre Bewegungsrichtung nicht empfunden, sondern es tritt die Täuschung gegensinniger Bewegung auf, diese aber zwin- gend, falls keine konkurrierenden Momente vorliegen. Bei Bewegungen des Gesamtkörpers in kreisförmiger oder irgendwie gekrümmter Bahn, mag sie gleichförmig oder ungleichförmig sein, tritt eine Täuschung im Gebiete der Lageempfindungen ein: das Urteil über die Lage des Körpers zur Vertikalen wird gefälscht. Mach hat auch hierüber die ersten systematischen Beobachtungen gemacht, wozu er sich einen großen Fig. 124. Apparat (Fig. 124) bauen i ließ, der es ermöglichte, daß der Beobachter, in einem Kasten sitzend, gedreht wurde wie auf einem Karussell. Der Kasten mit dem Beob- achter konnte längs eines Radius des (gedachten) Karussellbodens verscho- ben werden, bis die senk- rechte Drehungsachse des ganzen Apparates Machs Rotationsapparat zum Studium der Bewegungs- und Lag- durch ihn hindurchging. . empfindungen. 2 In diesem Falle wurde der Beobachter nur um seine eigene Längsachse gedreht, blieb aber an seinem ._ Platze. Wurde der Kasten weiter hinausgeschoben, so durchlief der Beob- achter eine kreisförmige Bahn. Der Kasten ließ sich so stellen, daß der Beobachter nach der Achse hinblickte oder in radialer oder tangentialer Richtung nach außen. Beim Blicken nach der Drehungsachse hin hat man nun den Eindruck, nach hintenüber (den Kopf von der Achse weg) geneigt zu sein. Ist die Bewegung eine gleichförmige, so ist diese Lagetäuschung vorhanden, ohne daß gleichzeitig Bewegungsempfindung vorhanden ist. Damit der Beobachter die Empfindung habe, vertikal zu stehen, muß er mit dem Kopfe der Achse zugeneigt sein, mit anderen Worten, der Körper ei ne nm | : \ - Empfindung der Gliederbewegung. 751 müßte statt in den wahren Vertikalen etwa in derjenigen Richtung orientiert sein, welche als Resultierende aus der Schwerkraft und der Centrifugalkraft aufzufassen ist. Je schneller die Drehung, desto mehr wird die Centrifugal- kraft gegenüber der Schwerkraft überwiegen, desto mehr wird also die als vertikal empfundene Richtung von der wahren Vertikalen abweichen. Delage hat beobachtet, daß man beim Schaukeln in einer gewöhnlichen Hängeschaukel die Schwingungsebene bei geschlossenen Augen nur dann richtig erkennt, wenn der Kopf vertikal steht. Bei Kopfneigung zur rechten Schulter erscheint die Schaukelebene stark nach links geneigt. Man hat karussellartige Vorrichtungen gebaut, die aus einer großen, um eine vertikale Achse drehbaren Hohltrommel bestehen, in der sich zahireiche Menschen aufhalten können. Der Boden ist nicht eben, sondern steigt zum Rande auf, wie bei den Radrennbahnen. Wie auf letzteren der Radfahrer bei seiner aktiven Fortbewegung sich in starker Neigung gegen die Vertikale, dagegen etwa senkrecht zu der schrägen Bodenfläche einstellt, so auch die Personen, die in jener Hohltrommel passiv rotiert werden. Man glaubt (bei geschlossenen Augen) in solchem Apparate vertikal zu stehen, wenn man in Wirklichkeit mit dem Kopfende stark gegen die Drehungsachse hin geneigt steht. Voraussetzung ist natürlich gleichförmige Bewegung und Wegfall von Gesichtsobjekten, die die wirkliche Vertikale erkennen lassen (letztere würden die Erscheinung bedeutend komplizieren). Andeutungsweise kann man ähnliche Beobachtungen in jedem Eisenbahn- zuge machen, der eine große Kurve durchfährt. Steht man mit geschlossenen Augen tatsächlich senkrecht, so glaubt man nach der konvexen Seite der Kurve geneigt zu sein. 2. Die Empfindung der Bewegung einzelner Körperteile. Was oben über die Wahrnehmung der Lage (Stellung) beweglicher Körperteile im allgemeinen und der Extremitäten im speziellen gesagt wurde, läßt sich zum großen Teil auf die Wahrnehmung ihrer Bewegungen über- tragen. Aktive oder passive Bewegungen eines Körperteiles erzeugen im all- gemeinen bestimmte Empfindungen, auf Grund deren man erkennt, 1. daß überhaupt Bewegung stattfindet, 2. welchen Betrag diese Bewegung erreicht, 3. in welcher Richtung sie erfolgt. Die letzteren Wahrnehmungen haben natürlich eine von Fall zu Fall erheblich wechselnde Genauigkeit. Auch die Deutlichkeit der Empfindung, die den Eintritt einer Bewegung ganz im allgemeinen anzeigt, wechselt übrigens je nach dem bewegten Körperteil, doch geht sie nicht parallel der Deutlichkeit der Lageempfindung, die wir von den einzelnen Teilen haben. Bewegungen der Zehen z. B. emp- finden wir, wie mir scheint, nicht sehr viel weniger deutlich wie solche der Finger, wenngleich die Vorstellung von ihrer Gelenkstellung eine höchst unvoll- kommene ist (s. o. S. 743). Noch viel ausgeprägter ist der Unterschied bei der Zunge und den verschiedenen mimischen Bewegungsorganen. Es kommen hier eben zum Teil andere Gesichtspunkte in Betracht. Vor allem spielen bei der Wahrnehmung derartiger Bewegungen die Hautempfindungen eine große Rolle, die beider Lagewahrnehmung ganz zurück- 752 Empfindung der Gliederbewegung. treten. Suchen wir uns klar zu machen, wonach wir bei geschlossenen Augen beurteilen, ob ein absolut ruhig gehaltenes Glied in Beugung oder Streckung liegt, so hilft uns die Hautempfindung dabei im allgemeinen nur, wenn es sich um extreme Lagen handelt, die zur Spannung der Haut auf der einen oder zur Faltenbildung auf der anderen Seite eines Gelenkes führen. Beides wird nur bei hohen Graden empfunden. Anders bei Bewegung; bei manchen Bewegungen fühlt man deutlich, daß der Zustand der Haut irgendwie sich ändert. Ganz besonders merkbar werden die Hautempfindungen, wenn infolge der Bewegung eine Reibung der Haut etwa an Kleidungsstücken oder an anderen Körperteilen gefühlt wird. Auf diesem Umstande beruht es z. B., daß Bewegungen der Zunge so leicht erkannt werden, solange diese die übrigen schleimhautbekleideten Teile des Mundes berührt. Wer „Innervationsempfindungen“ annimmt, wird jedenfalls voraussetzen müssen, daß diese bei den Bewegungen in ausgeprägterer Weise auftreten als bei ruhiger Haltung eines Körperteiles. Ich komme hierauf weiter unten zurück. Sicher ist, daß neben den Hautempfindungen noch andere Empfindungen als Quelle der Wahrnehmung aktiver wie passiver Bewegungen in Betracht kommen. Das Gesamtgebiet dieser Empfindungen pflegt als Muskelsinn bezeichnet zu werden. Da aber selbst diejenigen Autoren, die diesen Aus- druck gebrauchen, größtenteils zugeben, daß die damit gemeinten Empfin- dungen nur zum Teil in sensiblen Muskelnerven, im übrigen aber in Sehnen und Gelenken ausgelöst werden, scheint mir die Verwendung der Bezeich- nung Muskelsinn nicht sonderlich zweckmäßig. Immerhin ist eine solche Benennung noch sachgemäßer als die Einbeziehung der Bewegungsempfin- dungen in den „Tastsinn“ oder in die „Gemeingefühle“. Daß die aktiven Bewegungen außer durch den Gesichtssinn auch durch lokal in den bewegten Teilen entstehende Empfindungen gefühlt und mit ihrer Hilfe reguliert werden, ist eine alte Lehre, der Ch. Bell zuerst Anerkennung verschaffte. Jetzt ist sie allgemein angenommen. Daran zum mindesten zweifelt wohl niemand, daß die Bewegungen der einzelnen Körperteile durch centripetale Innervationen fortwährend geregelt werden. : Exner!) hat die Abhängigkeit der motorischen Innervation von den sensiblen Nerven durch die meines Erachtens nicht besonders glücklich gewählte Bezeichnung „Senso- mobilität“ festzulegen gesucht. Exner ging bei seinen Betrachtungen von der Erfahrung aus, daß namentlich in solchen Organen, in denen fein ab- gestufte Muskelkontraktionen eine wichtige Rolle spielen, wie z. B. im Kehlkopf, Ausschaltung der centripetalen Nervenbahn bei intakten centri- fugalen Nerven schwere Funktionsstörung machen kann. Analoges beob- achtet man ja nun auch an den Extremitäten, vor allem an den Händen, deren feiner abgestufte Bewegungen durch Ausfall der Sensibilität ebenfalls vernichtet werden. Der oben erwähnte, von Strümpell beobachte Fall, in. welchem die sensible Innervation des einen Armes durch eine Rücken- marksverletzung aufgehoben war, dient auch hierfür wieder als deutlichste Bestätigung. Während der Patient wohl imstande war, mit der betreffenden Hand einen kräftigen Druck auszuüben und unter Kontrolle der Augen den !) Arch. f. d. ges. Physiol. 48 (1891). 753 Fingern jede beliebige Stellung zu geben, fehlte ihm bei geschlossenen Augen durchaus die Fähigkeit, irgendwie feiner abgestufte Fingerbewegungen aus- zuführen, die Finger in bestimmter Reihenfolge zu heben usw. Die vom Willen beeinflußbare motorische Leitungsbahn war hier zweifellos intakt, auch konnten die einzelnen Muskelgruppen isoliert in Tätigkeit . gesetzt werden, zum Zweck. der Erzielung bestimmter Stellungen, jedoch nur unter der Regulierung durch den Gesichtssinn, dessen der Gesunde zu gleichem Zwecke nicht bedarf. Sherrington und Mott!) fanden bei Affen beträchtliche Bewegungs- störungen nach Durchschneidung der sensiblen Rückenmarkswurzeln für die betreffenden Extremitäten. H. Munk?) beschreibt die Störungen als wesent- lich geringer und auch qualitativ abweichend von genannten Autoren. Näher auf diese Frage wie auch auf die einschlägigen Arbeiten H. E. Herings einzugehen ist hier nicht der Ort. Messende Versuche über die Schwellenwerte der Bewegungs- empfindungen an den Extremitäten hat Goldscheider?) ausgeführt; er stellte erstens den Schwellenwert der Winkelbewegung fest, die in einem Gelenk (passiv) ausgeführt werden muß, damit ohne Kontrolle des Gesichts- sinnes eben die Bewegung als solche erkannt wird. Zweitens mußte aber auch die Geschwindigkeit berücksichtigt werden, da der Schwellenwert ver- schieden gefunden wird je nach der Geschwindigkeit der Bewegung, und zwar niedriger mit steigender Geschwindigkeit. In der folgenden Tabelle sind nach Goldscheider die für einige seiner Gelenke geltenden Schwellenwerte der Bewegung und der Geschwindigkeit an- gegeben. Die Schwellenwerte der merkbaren Gelenkbeugung sind nach dem oben Gesagten im allgemeinen nur für eine bestimmte Geschwindigkeit gültig, die ich in der Tabelle nicht angebe. Übrigens ändert sich die Schwelle mit mäßigen Geschwindigkeitsänderungen nicht erheblich. Im dritten Stabe der Tabelle sind noch die für die Praxis der Sensibili- tätsprüfung wichtigeren sicher merklichen Werte es Gelenkbewegung angegeben. Schwellenwerte der Bewegungsempfindung. Schwelle | Schwelle Sicher merk- else | der d. Geschwin-| liche Werte Exkursion digkeit d. Exkursion Grad Grad pro Sek. Grad Zweites Ce Zaipe- | 1,03 — 1,26 —_ 1,1— 1,8 Erstes 0,72 — 1,05 -- 0,7— 1,5 Metacarpo-Phalangealgelenk ger 0,34 — 0,43 — 0,4 — 0,5 Handgelenk .. .- 2. : 2.ns 0,26 — 0,42 u 0,3 — 0,6 Ellenbogengelenk . .. . 2» 2.2... 0,40 — 0,61 0,47 — 0,6 0,5 — 0,8 Schultergelenk . . - . .. 2 2... 0,22 — 0,42 0,3 — 0,35 0,3 — 0,6 122 Se 0,50 — 0,79 | 0,25 — 0,6 0,5 — 1,0 3 Be N PS N 0,50— 0,70 | 0,44 — 0,62 0,5 — 1,0 a Ne 7 ET ER 1,15 — 1,30 | 0,,8— 1,4 La 48 !) Proc. R. Soc. London 57, 1895. — *) Sitzungsber. Berliner Akad. d. Wiss. 48, 1903. — ?) Zentralbl. f. Physiol. 1887 u. Arch. f. (Anat. u.) FRyaol. 1889. Auch in den „Gesammelten Abhandlungen“ 2 (1898). Nagel, Physiologie des Menschen. III. 48 754 Größenschätzung bei Bewegungsempfindung. Das Schultergelenk «bedarf nicht nur der relativ geringsten Winkel- drehung, sondern auch der geringsten Geschwindigkeit, um Bewegungen er- kennen zu lassen; die Sensibilität des Fußgelenkes dagegen zeigt sich in beiden Beziehungen am stumpfsten. Für klinische Prüfung der Gelenksensibilität hat Goldscheider einen Bewegungsmesser!) angegeben, mit dem diese Prüfung an den meisten Gelenken ausführbar ist. Bei aktiv ausgeführten Bewegungen liegt der Schwellenwert im all- gemeinen noch etwas niedriger als bei den passiven. Abstumpfung der Hautsensibilität durch kräftige Faradisierung setzt die Empfindlichkeit für Bewegung wenig, Querdurchströmung eines Ge- lenkes dagegen (ebenfalls mit faradischem Strome) merklich herab (Gold- scheider). E Bei Blinden, welche die Blindenschrift geläufig lesen, scheint es nach den Untersuchungen von Hocheisen?) besonders die Verfeinerung der Be- wegungsempfindungen zu sein, infolge deren diese Personen imstande sind, den Zügen der Reliefschrift zu folgen. Der sog. Ortssinn der Haut kommt hierfür weit weniger in Betracht. Die Verfeinerung der Bewegungsempfin- dungen der Blinden konnte Hocheisen mittels des Goldscheiderschen Bewegungsmessers direkt nachweisen. Kinder zeigten sich den Erwachsenen in dieser Hinsicht überlegen, und zwar auch die sehenden. Über den Ort der Auslösung der hier besprochenen Bewegungsempfin- dungen an den Extremitätengelenken, sowie über ihre Beziehungen zu den Empfindungen der Gliederlage vgl. Kapitel IV. Versuche über die Größenschätzung bei aktiv oder passiv aus- geführten Bewegungen sind sehr vielfach ausgeführt worden. Dabei wurde häufig eine störende Komplikation dadurch in den Versuch gebracht, daß nicht der Umfang einfacher Beugung und Streckung in einem bestimmten Gelenk als zu beurteilende Größe gewählt wurde, sondern geradlinige Be- wegungen, die stets eine mehr oder weniger komplizierte Benutzung mehrerer Gelenke voraussetzen). Derartige Versuchsanordnungen sind unter anderen von Delabarre*), Cremer’), Bloch®), Falk’), Fullerton und Cattel°), Woodworth?’) beschrieben worden. Einer Vorrichtung mit rein radiusförmiger Bewegung des gebeugten Unterarmes (Drehung im Schultergelenk) bediente sich ganz neuerdings Angier (noch nicht veröffentlichte Untersuchung). Die Untersuchungen, die von den genannten Autoren ausgeführt wurden, bezweckten in der Hauptsache Messungen der Genauigkeit, mit der zwei Strecken bloß mit Hilfe der Bewegungsempfindungen ihrer Größe nach ver- glichen werden können. Jastrow!) hat gezeigt (was von vornherein wahr- ‘) Berliner klin. Wochenschr. 1900. — ?) Der Muskelsinn Blinder. Inaug.-Diss. Berlin 1892. — °) Hierauf hat schon Külpe (Grundriß der Psychologie 1893, S. 354) aufmerksam gemacht. — *) Über Bewegungsempfindungen. Inaug.-Diss. Freiburg i. Br. 1891. — °) Über das Schätzen von Distanzen bei Bewegung von Arm und Hand. Inaug.-Diss.. Würzburg 1887. — °) Rev. scientif. 45, 294 — 301, 1890. — 7) Versuche über die Raumschätzung mit Hilfe von Armbewegungen. Inaug.-Diss. Dorpat 1890. — °) On the perception of small differences ete. Univ. of Pennsylvania, Philosoph. Series 2 (1892). — °) Psychol. Review. Monograph. Suppl. Nr. 13, 1899. — !°) Mind 11, 539—554, 1886. a ne Widerstandsempfindung. 755 scheinlich war), daß eine solche Vergleichung wesentlich ungenauer ist wie eine mit Hilfe des Gesichtssinnes ausgeführte. Den entsprechenden Nachweis für die Empfindung der Gliederlage führten Bowditch und Southard!). Den erheblichen Einfluß der Übung bei solchen Versuchen demonstrierten be- sonders Kramer und Moskiewicz?). Mehrfach sind auch die Bewegungsempfindungen der beiden Körperseiten miteinander verglichen worden, wobei sich das Hauptinteresse auf gleichzeitig ausgeführte symmetrische Bewegungen mit beiden Händen konzentrierte. Die Bevorzugung des rechten Armes bei vielen Beschäftigungen konnte nicht wohl . ohne Einfluß auf die relative Feinheit der Bewegungsempfindungen bleiben. Untersuchungen in dieser Richtung sind von Uremer°), Delabarre‘®), Hall und Hartwell5), Loeb®), Ostermann’) und anderen ausgeführt worden. Als bemerkenswertes Ergebnis ist zu verzeichnen, daß Rechtshänder im allgemeinen, wenn sie mit beiden Händen gleich große Bewegungen machen wollen, die Bewegung mit dem linken Arm größer machen; nur solche Leute, die viel Handarbeiten verrichten, pflegen sich umgekehrt zu verhalten, sie unterschätzen also im Gegensatz zu den übrigen Personen die Bewegungen des rechten Armes. III. Die Widerstandsempfindungen. Widerstand, der sich den aktiven Bewegungen entgegensetzt, wird be- kanntlich wahrgenommen und kann graduell taxiert werden. Drückt man mit einem Finger auf einen elastischen Gummiball, so hat man im ersten Moment die Berührungsempfindung, deren Intensität bei weiterem Drücken zunimmt. Führt man den Druck schnell aus, so tritt zugleich ausgeprägte Bewegungsempfindung auf, wie bei jeder ähnlichen Fingerbewegung. Dazu tritt aber als dritte Empfindungsqualität, trennbar von der Berührungs- und der Bewegungsempfindung, die Widerstandsempfindung. Auch beim Drücken auf einen festen, nicht merklich elastischen Körper entsteht Widerstandsempfindung, in diesem Falle ohne Bewegungsempfindung. Die Stärke der Widerstandsempfindung beim Druck auf einen Körper bestimmt unser Urteil über dessen „Konsistenz“. An und für sich könnte man annehmen, dieses Urteil wäre schon durch die Berührungs- und Bewegungsempfindung ermöglicht, da man beim Druck auf einen starren Körper steigende Druckempfindung, aber keine Bewegungs- empfindung hat, während beim Druck auf einen nachgiebigen Körper die Bewegungsempfindung hinzukommt. Es gäbe, wenn diese Auffassung das Richtige träfe, keine eigentliche einfache Empfindung, sondern nur eine zu- sammengesetzte Wahrnehmung des Widerstandes. Es ist indessen leicht festzustellen, daß die tatsächliche Sachlage anders ist. Zunächst erkennt man beim Drücken auf einen Widerstand leistenden Körper deutlich, daß außer an der Berührungsstelle noch in anderen Teilen der drückenden Extremität lokalisierte Empfindungen den Gesamteindruck !) Journ. of Physiol. 3, 232, 1881. — ?) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 25, 101, 1901. — ®) 1. c. — *) 1. ec. — °) Mind 9, 93, 1884. — 6) Arch. f. d. ges. Physiol. 41, 114, 1887. — ?) Die Symmetrie im Fühlraum der Hand. Inaug.-Diss. Würzburg 1888. 48* 756 Paradoxe Widerstandsempfindung. charakterisieren, um so deutlicher, je stärker man drückt und je größer der Widerstand ist. Ganz vorzugsweise sind es die Gelenkstellen, auf die diese Empfindungen lokalisiert werden; bei stärkerem Druck kommen noch un- bestimmte Empfindungen in der Gegend der tätigen Muskeln und Sehnen hinzu, Empfindungen, die bis ins Schmerzhafte gehen können. Daß die Ge- samtheit dieser Eindrücke ohne notwendige Beteiligung von Hautempfindungen als Widerstandsempfindung zum Bewußtsein gelangen kann, geht noch be- sonders daraus hervor, daß auch, wenn die von der Berührung betroffene Haut anästhetisch gemacht worden ist, die Widerstandsempfindung nicht aus- ‘bleibt, wie es auch gleichgültig ist, ob der unvermeidliche Druck auf die Haut eng lokalisiert ist oder durch Übertragung der Druck- und Zugwirkung auf große Flächen (wassergefüllte Gummimanschetten) verteilt wird (Gold- scheider). Näheres über diese Frage siehe im folgenden Kapitel, wo auch zweckmäßigererweise die Erfahrungen über Schwellenwerte der Widerstands- empfindung und ihre Differenzen in verschiedenen Gelenken zur Erörterung kommen. Als „paradoxe Widerstandsempfindung“ bezeichnet Gold- scheider folgende von ihm entdeckte, leicht zu bestätigende Erscheinung. Man hält in der Hand einen Faden, an den unten ein nicht zu leichtes Ge- wicht gebunden ist. Wenn bei Senkung der Hand mit dem Faden das Ge- wicht den Boden berührt, fühlt man einen deutlichen Widerstand, wie wenn man statt des Fadens mit einem festen Stab den Boden berührte. Die Emp- findung wird wie bei dem bekannten Weberschen Stäbchenversuch nach außen projiziert, an die Stelle, wo das Gewicht den Boden berührt. Bei fortgesetzter Senkung des Armes, der hierbei völlig vom Zuge des Gewichtes entlastet wird, fühlt man einen federnden Widerstand, der plötzlich nachläßt, ganz ähnlich, wie wenn man eine verbogene Blechplatte von der konvexen Seite her durch- drückt, bis sie plötzlich nachgibt und sich durchbiegt. Drückt man einen elastischen Stab, der mit seinem unteren Ende auf dem Fußboden aufsteht, vom anderen Ende her mit der Hand zu- sammen, so empfindet man natürlich Widerstand gegen die Durchbiegung; wechselt man nun durch Heben und Senken der Hand zwischen verschie- denen Graden der Durchbiegung des Stabes, so hat man nicht nur beim Niederdrücken, wobei man gegen den elastischen Widerstand des Stabes arbeitet, sondern auch beim Nachlaß im Druck das Gefühl eines deutlichen Widerstandes. Der Goldscheidersche Versuch, dessen nahe Beziehungen zu dem letzt- | erwähnten auf der Hand liegen, wird von dem Autor dadurch erklärt, daß die das Objekt haltenden Finger durch Muskelspannung äquilibriert sind, welch letztere bei der Entlastung noch fortdauert. Infolgedessen treffen die in Bewegung begriffenen Finger im Moment der Entlastung auf einen Wider- stand von der Größe der Muskelspannung, d. h. des bis dahin wirkenden Gewichtes. Bei dem Versuch mit dem elastischen Stabe sind die Bedingungen ganz ähnliche, nur tritt an die Stelle der Entlastung durch Aufstoßen des Gewichtes auf die Unterlage die Entspannung durch Hebung der Hand vermittelst der Öberarmmuskeln. Man fühlt also abwechselnd den Widerstand des elasti- schen Stabes und der elastischen Muskeln in ihrem Spannungszustande. 2 re ee Schwereempfindung. 757 Die Erscheinung der paradoxen Widerstandsempfindung diente Goldscheider und Blecher') dazu, den Schwellenwert der Widerstandsempfindung für ver- schiedene Gelenke vergleichend zu bestimmen. An den einzelnen Phalangen der Finger, an der Hand oder am Arme wurden mit Hilfe eines Bandes (und breiter, wassergefüllter Gummimanschette, die den Druck verteilt) verschiedene Gewichte angehängt und festgestellt, wie groß das Gewicht sein muß, damit bei seinem Auf- setzen auf feste Unterlage (also bei Entlastung der Extremität von dem Zug des Gewichts) eben noch die erwähnte stoßähnliche Widerstandsempfindung auftritt. Durchgehends sinkt der Schwellenwert, je weiter nach der Peripherie (Fingerspitze) hin der Aufhängungspunkt gelegt wird. Als Beispiel sei eine Versuchsreihe an- geführt, bei der die Senkung des belasteten Armes im Schultergelenk erfolgte. Das kleinste Gewicht, bei welchem noch Widerstandsempfindung auftrat, betrug 8,1g, wenn es an der Endphalanx, 11,0g, wenn es an der zweiten Phalanx, 15,1g, wenn es an der ersten Phalanx des Zeigefingers, 25,3g, wenn es an der Hand, etwa 50g, wenn es am Unterarm, 77,4g, wenn es am Oberarm hing. Wurde der wirksame Druck auf eine kleine Hautpartie beschränkt, so konnten Goldscheider und Blecher neben der Widerstandsempfindung noch die lokale Empfindung einer Druckabnahme in der Haut konstatieren, eine Empfindung, deren Schwellenwert merklich in die Höhe ging, wenn die betreffende Hautpartie durch lokale Kokain- injektion anästhesiert war. Die Empfindung der Schwere ist der Empfindung des Widerstandes nahe verwandt, ja sie ist in gewissem Sinne nur ein Spezialfall jener. Hebt man den horizontal ausgestreckten Arm, an dem ein Band mit angehängtem Gewicht befestigt ist, in die Höhe, so ist, wie kaum zu bezweifeln sein wird, unter geeigneten Umständen die Empfindung dieselbe, wie wenn an dem nicht durch Gewicht beschwerten Bande irgend eine Bremsvorrichtung an- gebracht ist. Ob es möglich ist, diesen Versuch so auszuführen, daß die Versuchsperson tatsächlich außerstande ist, den Widerstand des Gewichts und der Bremsvorrichtung zu unterscheiden, kann bezweifelt werden; indessen zeigt schon ein einfacher Orientierungsversuch, daß die resultierenden Empfin- dungen tatsächlich qualitativ gleichartig sind. Zu bedenken ist natürlich, daß die Geschwindigkeit, mit der die Armhebung ausgeführt wird, in den beiden Fällen in ganz verschiedenem Maße in Betracht kommt. Hält man mit ausgestrecktem Arm ein Gewicht, so ist natürlich die Wirkung genau dieselbe, wie wenn eine andere äquivalente Kraft in gleicher Weise an der gleichen Stelle ziehend wirkt. Die Empfindung der Schwere als solche existiert nicht, die „Schwere“ ist eine Abstraktion auf Grund von Empfindungen des Druckes und des Widerstandes, und der Begriff der Schwere ist für unsere Vorstellung unlösbar von der Vorstellung eines lastenden Gegen- standes; bei der Widerstandsempfindung ist die Bezugnahme auf den wider- standleistenden Gegenstand eine weit weniger zwingende. Die ganze Beur- teilung des Wesens der Schwere und der quantitativen Schwereschätzung fällt somit mehr in das Gebiet der Psychologie als der Physiologie. Ich beschränke mich daher auch hier auf wenige kurze Bemerkungen über diesen Gegenstand. E. H. Weber?) hat gefunden, daß Unterscheidung der Schwere zweier Gewichte mit merklich größerer Sicherheit und Genauigkeit erfolgt, wenn die Gewichte von der Versuchsperson gehoben werden, als wenn sie ihr von einer anderen Person auf eine bestimmte Hautstelle aufgelegt werden. Weber ») Arch. £. (Anat. u.) Physiol. 1893 u. Goldscheider, Ges. Abhandl. 2, 309. — 2) Artikel: Tastsinn und Gemeingefühl in Wagners Handwörterbuch der Physiol. 3 (2), 547, 1846. 758 Schwereschätzung nach Müller und Schumann. fand im ersteren Falle noch Gewichte unterscheidbar, die sich wie 39:40 verhielten, im zweiten Falle, also bei bloßer Beurteilung des Druckes auf der Haut, war bei dem Verhältnis 29:30 die Unterscheidung nur noch eben möglich. Bekanntlich ist die Schwereempfindung besonders geeignet, um an ihr das sog. Webersche Gesetz über die Unterschiedsschwellen bei verschiedenen absoluten Reizgrößen zu demonstrieren. Nach G. E. Müller und Schumann!) wird bei der vergleichenden Hebung zweier unbekannter Gewichte im allgemeinen beide Male derselbe motorische Impuls erteilt, und das Urteil über das Schwereverhältnis der Gewichte auf Grund der Geschwindigkeiten der eintretenden Bewegung gefällt. Dieselben Autoren haben die Bedingungen der Schwereschätzung nach den verschiedensten Richtungen untersucht, in ähnlicher Weise, doch mit zum Teil abweichendem Resultat Fullerton und Cattel?). Auf diese Untersuchungen kann hier nicht näher eingegangen werden. Einige wichtige Tatsachen, die hierher gehören, finden weiter unten bei der Diskussion über die Auslösungsstellen der Widerstandsempfindungen ihre Erwähnung. IV. Theoretisches über die Bewegungs- und Lageempfindungen nicht-labyrinthären Ursprungs, sowie über die Widerstands- empfindungen. In dem Gesamtgebiet der in den vorhergehenden Kapiteln besprochenen Bewegungs- und Lageempfindungen ergibt sich als eine naheliegende Teilung die folgende: Ein Teil dieser Empfindungen bezieht sich auf Lagen und Be- wegungen unseres Körpers als eines Ganzen, wobei die gegenseitige Stellung der beweglichen Körperteile zueinander außer Betracht bleibt; die zweite Gruppe von Empfindungen unterrichtet uns anderseits gerade darüber, wie die einzelnen Körperteile zueinander stehen, und ob in den Gelenken Ruhe- oder Bewegungszustand herrscht. Nach der Auffassung mancher Autoren entspricht dieser Teilung nach dem Wahrnehmungsinhalt eine Sonderung nach den percipierenden Sinnesorganen, es werden die Wahrnehmungen der ersten Kategorie mittels des Labyrinths, die der zweiten mittels der Gelenk- nerven gemacht. Wenn diese Annahme auch in der Hauptsache gewiß zutreffend ist, so bedarf sie doch meines Erachtens der Ergänzung, daß ein erheblicher Teil von den Empfindungen der Lage und Bewegung des Gesamtkörpers nicht- labyrinthären Ursprungs ist. Auf solche Empfindungen, die zu der eigent- lichen Lageempfindung als sekundäre Begleiterscheinungen hinzutreten, wurde schon oben hingewiesen, und schon hier möge erwähnt werden, daß auch bei den Empfindungen der Bewegung des ganzen Körpers, namentlich den Pro- gressivbewegungen, solche Begleiterscheinungen nicht fehlen. Delage hält sogar diffuse Empfindungen in den inneren Organen, Eingeweiden usw. für die eigentliche Quelle der Empfindung von Progressivbewegung. Daß bei plötzlichen Ungleichförmigkeiten in der horizontalen oder verti- kalen Progressivbewegung besondere Empfindungen im Unterleib auftreten, !) Arch. f. d. ges. Physiol. 45, 56, 1889. — *°) On the Perception of small Differences etc. Univ. of Pennsylvania, Philosophical Ser. 2 (1892). A = Theoretisches. — Innervationsgefühle. 759 ist zweifellos. Da eine genauere Analyse dieser Sensationen einstweilen noch fehlt und auch schwer durchführbar sein dürfte, da ferner über ihren Anteil an der Bewegungswahrnehmung nichts Bestimmtes hat ermittelt werden können, begnüge ich mich mit diesem kurzen Hinweis auf sie. Die Funktionen des nach dem Vorgang von Ch. Bell so genannten, vielumstrittenen Muskelsinnes zerfallen in drei Gruppen: die Empfindungen der Lage, die Empfindungen der Bewegung der beweglichen Körperteile und die Empfindungen des Widerstandes bei Ausführung von Bewegungen oder bei dem Bestreben, bestimmte Lagen einzuhalten. Um die Erforschung und gegenseitige Abgrenzung dieser drei Teil- funktionen des Muskelsinnes hat sich in erfolgreichster Weise A. Gold- scheider bemüht, dessen Auffassung ich mich auch in den wesentlichsten Punkten anschließe. Wie schon oben gelegentlich bemerkt wurde, können die Empfindungen der Bewegung und der Lage von Extremitäten nicht aus Hautempfindungen, speziell also Empfindungen des Druckes oder der Spannung im Gebiete der Haut- nerven abgeleitet werden, wie Schiff!) versucht hat. Diese Sensationen wirken dabei höchstens in ganz untergeordneter Rolle als Begleiterscheinungen mit und können nur in speziellen (oben erwähnten) Fällen eimen erheblicheren Anteil wenigstens an der Bewegungs- und Widerstandsempfindung haben. Während hierüber nur einerlei Meinung herrschen dürfte, besteht oder bestand Meinungs- verschiedenheit darüber, ob die Bewegungs- und Widerstandsempfindung auf centripetalen Erregungen anderer Herkunft (von Muskel-, Sehnen-, Gelenk- nerven) beruhen oder auf sog. Innervationsgefühlen, d. h. auf dem Bewußt- werden des centrifugalen Innervationsstromes in den motorischen Bahnen 2). Es hat sich gezeigt, daß man der Annahme solcher Innervationsgefühle nicht bedarf, um die hier in Rede stehenden Tatsachen zu erklären, und es darf als sehr fraglich bezeichnet werden, ob ihre Existenz sich irgendwie wird nachweisen lassen. Am wichtigsten für die Frage nach der Existenz von Innervationsempfindungen sind Fälle von rein sensibler Lähmung einer Extremität, wie sie unter anderen von Strümpell beschrieben sind; vgl. hierzu den oben zitierten Fall?) und besonders auch einen älteren Fall®); dieser betraf einen Knaben, bei dem von den Sinnesorganen nur ein Auge und ein Ohr funktionsfähig waren. Trotz intakter motorischer Innervierung konnte der Patient ohne Zuhilfenahme des Gesichtssinnes nicht einzelne Muskel- gruppen bewegen, z. B. nicht einen einzelnen Finger beugen. Später, als die Sensibilität sich besserte, konnte er bei geschlossenen Augen einen Finger isoliert bewegen, vorausgesetzt, daß die Hand auf fester Unterlage lag und ihm so die Möglichkeit gegeben war, die Finger gleichzeitig oder nachein- ander fest auf die Unterlage aufzudrücken und sich so durch die sensiblen Reize den betreffenden Finger, den er bewegen sollte, gewissermaßen heraus- zusuchen. Auch die Empfindungen des Widerstandes und der Schwere. leiden bei sensibler Lähmung und erhaltener motorischer Innervation beträchtlich. So !) Lehrb. d. Physiol. 1, 156, Lahr 1858 bis 1859. — *) Für die Innervations- gefühle ist namentlich Wundt eingetreten (Grundz. d. physiol. Psychol.)., — ®) Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 23 (1902). — *) Deutsches Arch. f. klin. Med. 22 (1878). 760 Innervationsgefühle. — Muskelsinn. beschreiben Gley und Marillier!) einen derartigen Fall, in welchem infolge von Anästhesie der oberen Körperhälfte die Gewichtsschätzung für Gegen- stände fehlte, die mit dem Arm hochgehalten wurden. Auch die plötzliche Entlastung wurde nicht gefühlt. Ein ähnlicher interessanter Fall ist von Landry ?)-beschrieben. Die klinische Literatur enthält noch zahlreiche ähnliche Fälle, die hier nicht erwähnt werden können. Gegen die Zurückführung der. Widerstandsempfindung beim Gewicht- heben auf Innervationsgefühle spricht übrigens sehr entschieden der von Bernhardt?) beschriebene und von Goldscheider bestätigte folgende Versuch: Man hat die Empfindung der Schwere beim Heben eines an der Extremität befestigten Gewichtes nicht nur dann, wenn die Hebung durch willkürliche Muskelkontraktion bewirkt wird, sondern auch, wenn die Kon- traktion durch elektrischen Reiz ausgelöst wird. Sogar die Unterschieds- empfindlichkeit ist bei den auf elektrischen Reiz ausgeführten Gewichthebungen nicht nennenswert geringer als bei den willkürlichen. Eine weitere Tatsache, die speziell gegen die Heranziehung von Inner- vationsempfindungen zur Erklärung der Wahrnehmung der Lage und Hal- tung eines Gliedes spricht, hat Goldscheider aufgedeckt: Kräftige Faradi- sation eines Fingergliedes hebt die Empfindung der Haltung dieses Fingers fast völlig auf, obgleich die bei Fingerbewegung beteiligten motorischen Nerven und Muskeln hierbei ganz unaffiziert bleiben. Auch die oben beschriebene Erscheinung der „paradoxen Widerstandsempfindung“ (Goldscheider) führt keineswegs auf die Annahme von Innervationsempfindungen, sondern auf peripherisch entstehende Widerstandsempfindungen. Ein für die Existenz von Innervationsempfindungen zuweilen an- geführtes Argument ist folgendes: Wenn die Ausführung einer intendierten Bewegung passiv gehindert wird) oder infolge Lähmung der Muskeln unmöglich ist, soll doch „Bewegung empfunden“ werden. Das ist, wie leicht ersichtlich, eine Verwechslung von Bewegungsempfindung und Bewe- gungsvorstellung. Man hat, wie es ja schon der Name „Muskelsinn“ zum Ausdruck bringt, die tiefe, nicht in die Hautsinnesorgane zu lokalisierende Sensibilität zunächst vorwiegend oder gar ausschließlich auf die centripetalen Muskel- nerven bezogen, ausgehend hauptsächlich von der Tatsache, daß die Muskeln schmerzen können und auch bei starker Ermüdung gewisse in die Muskeln lokalisierte Sensationen auftreten. Inwieweit solche Muskelempfindungen tatsächlich bestehen und welches ihre physiologische Bedeutung ist, soll hier nicht erörtert werden. Außer Zweifel dürfte es stehen, daß sie hinsichtlich der Vermittelung der Bewegungs- und Lageempfindungen, sowie der Wider- ') Revue philosoph. 1887, p. 411. — ?) Gaz. des höpiteaux. 1855, Obs. III (zitiert nach Goldscheider). — °) Arch. f. Psychiatrie 1872, 8. 618. — *) Vgl. Sternberg, Arch. f. d. ges. Physiol. 37, 1, 1885. DBetreffs näherer Diskussion dieser und ähnlicher Erfahrungen aus der Theorie der Innervationsempfindungen überhaupt vgl.: Müller und Schumann (l. c.), Woodworth (l. c.), Goldscheider (l. e.), W.Wundt, Grundz. d. physiol. Psychol., sowie L. Kerschner, Zur Theorie der Innervationsgefühle. Ber. d. naturw.-med. Vereins Innsbruck 23 (1896/97), wo auch die ältere Literatur gesammelt ist. aastgr- Gelenk- und Muskelempfindungen. 761 standsempfindungen hinter den Gelenkempfirdungen!) weit zurück- stehen. Die Bewegungsempfindungen sind zwar nicht so scharf lokalisiert wie - die Druckempfindungen in der Haut, aber immerhin bestimmt genug, um erkennen zu lassen, daß man sie in die Gegend der Gelenke verlegt, nicht in die Gegend, wo die Muskeln liegen. Deutlich markiert sich dieser Unter- schied natürlich da, wo Muskeln und durch sie bewegte Teile weit ausein- ander liegen, wie bei den Fingern. In der Tat hat man Empfindung in der Gegend, wo z. B. die Fingerbeugemuskeln liegen, nur bei krampfhaft starker Zusammenziehung dieser Muskeln, während man bei schwachen Kontraktionen ausschließlich die Empfindung in den Fingern lokalisiert. Das Gold- scheidersche Verfahren der Erzeugung von Hypästhesie in den Gelenken durch faradische Durchströmung bewirkt, wie schon oben erwähnt wurde, eine bedeutende Abstumpfung der Bewegungsempfindung, während sie die sensiblen Muskelnerven in keiner Weise beeinflussen kann. Ob und inwieweit die Gelenksensibilität durch die Sensibilität der Mus- keln, Sehnen und Fascien bei der Vermittelung der Bewegungsempfindungen _ unterstützt wird, scheint mir nach den vorliegenden Tatsachen schwer fest- zustellen. Die Argumentationen Goldscheiders, die- bestimmt sind, die Muskelnerven als gänzlich irrelevant für die Bewegungsempfindung zu er- weisen (vor allem die Kleinheit der wahrnehmbaren Gelenkexkursionen hebt Goldscheider als wichtig hervor), scheinen mir nicht ganz zwingend. Daß die Zunge, ein sehr mobiles Organ ohne Gelenke, auffallend undeutliche Be- wegungs- und Lageempfindungen ergibt, ist zweifellos richtig ünd wurde auch schon oben bemerkt; noch unvollkommener scheinen mir die Wider- standsempfindungen der Zunge zu sein. Aber das beweist nicht allzu viel, denn erstens ist die Zunge ein Organ, von dem man sich kaum vorstellen kann, daß die Empfindungen der mit ihm ausgeführten Bewegungen sonderlichen ‚biologischen Wert haben, und zweitens muß bedacht werden, daß die ent- sprechenden Empfindungen im Kehlkopf mit seinen komplizierten Gelenken noch weniger ausgebildet sind. Beide Organe, Zunge wie Kehlkopf, müssen für die Sprachfunktion in feinst abgestuften Bewegungen verwendet werden. Aber diese Bewegungen beherrschen wir nicht bewußtermaßen, und wir be- dürfen ihrer Kenntnis nicht. Ich schließe aus dem Gesagten, daß die Stumpfheit der in der Zunge auslösbaren Bewegungsempfindungen nichts für die ausschließliche Lokali- sation der Bewegungsempfindungen in den Gelenken beweist. Darin jedoch wird Goldscheider gewiß recht haben, daß die Gelenksensationen bei weitem die wichtigsten sind. Das bedeutungsvollste Argument für die Auffassung liegt in den schon erwähnten Goldscheiderschen Faradisationsversuchen: Kräftige Faradisation eines Gelenkes erhöht den Schwellenwert der merkbaren passiven Gelenkbiegung deutlich und setzt die Deutlichkeit der Lageempfindung bis zum fast völligen Schwinden herab. Da die Erzeugung von Hypästhesie durch Faradisierung eine nichts weniger als’ideale Methode ist, wäre der Versuch, mit anderen Mitteln die Gelenke zu anästhesieren und Schwellen- !) Auf die Bedeutung der Gelenksensibilität haben besonders Lewinski, Virchows Arch. 77 (1879) und Goldscheider (l. c.) hingewiesen. 762 Gelenksensibilität. bestimmungen, ähnlich den Goldscheiderschen, auszuführen, wohl recht lohnend. Über die Art, wie die Bewegungsempfindungen in den Gelenken aus- gelöst werden, wissen wir ebensowenig wie über den genaueren Ort der dabei tätigen Endorgane. Mit großer Wahrscheinlichkeit kann nur behauptet werden, daß es die Nerven der Gelenkkapseln sind, die hierbei in Betracht kommen. Noch weniger Bestimmtes weiß man über die Organe der Wider- standsempfindungen; Goldscheider nimmt, wie ich glaube mit vollem Recht, an, sie müssen von den Organen der Bewegungsempfindung getrennt sein, da die Bedingungen ihrer Tätigkeit wesentlich andere sind. Vor allem kann die Empfindung des Widerstandes eintreten, ohne daß eine merkliche Winkel- drehung im Gelenk dabei nötig wäre. Goldscheider hat sich bemüht, in Tierversuchen festzustellen, ob die Gelenkenden empfindlich sind. Das Ergebnis war für die mit Knorpel über- zogenen Partien negativ, positiv dagegen für das knöcherne Gelenkende bis nahe an die Knorpelgrenze. Die Versuche erscheinen übrigens mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, weil als Reagens auf die stattfindende sensible Reizung (Druck, Hitze) die Atmung diente und aus einer Modifikation der regu- lären Atmungskurven auf erfolgreiche Reizung vom Gelenk geschlossen wurde. Als Perceptionsstelle der Schwereempfindungen vermutet Goldscheider die Sehnen, deren Spannung empfunden wird, als Perceptionsstelle der Wider- standsempfindungen die Gelenke, die mehr oder weniger stark gedrückt werden. Dazu tritt noch die Hautsensibilität, die einen allerdings nicht be- deutenden Anteil an der Empfindung des Widerstandes zu haben scheint. Daß Schwere- und Widerstandsempfindung qualitativ verschieden seien, schließt Goldscheider aus dem oben erwähnten Versuch der „paradoxen Wider- standsempfindung“. Wenn die beiden Empfindungen sich qualitativ glichen, so müßte sich, meint Goldscheider, in dem Moment, wo man das am Faden gehaltene Gewicht auf den Boden aufsetzt, eine Steigerung der bis dahin vorhandenen Empfindung bemerkbar machen, während in Wirklichkeit die Schwereempfindung aufhöre und der Widerstandsempfindung Platz mache. Ich kann diese Überlegung nicht ausschlaggebend finden, um daraufhin die Schwereempfindung und Widerstandsempfindung für spezifisch verschiedene Empfindungsqualitäten zu erklären. Näheres Eingehen auf diese Frage ist hier ausgeschlossen. V. Der Schwindel und die Drehungsreflexe. 1. Die Arten des Schwindels und die Bedingungen für seine Entstehung. Unter der Bezeichnung Schwindel werden recht verschiedenartige sub- jektive Erscheinungen zusammengefaßt, die zum Teil als rein physiologisch, zum anderen Teil als pathologisch zu bezeichnen sind. Schwindel nennt man unter anderem das Unbehagen, das viele Menschen befällt, wenn sie aus großer Höhe hinabblicken oder an steiler Wand hinaufblicken. Dies Gefühl kann auch bei der bloßen Vorstellung: einer derartigen Situation auftreten; es kann mit einer Art Angstgefühl verbunden sein, doch ist dies nicht unbedingt notwendig. Schwindel. 763 In der Physiologie und Pathologie wird das Wort Schwindel meistens in anderer Bedeutung gebraucht, nämlich als Ausdruck für eine Täuschung über den Bewegungszustand des Körpers. Im Zustande des Schwin- ‘ dels glaubt man irrtümlich, die umgebenden Objekte drehten sich um den Körper oder dieser drehe sich um irgend eine Achse. Die Täuschung tritt sowohl bei offenen wie bei geschlossenen Augen ein, es scheinen sich die gesehenen, wie unter Umständen auch die getasteten Gegenstände zu bewegen, und auch wenn man mit geschlossenen Augen frei steht oder sitzt, ohne mit den Händen etwas zu berühren, tritt die Illusion der Drehung des Körpers im Raume oder des Raumes um den Körper ein. Welche von diesen beiden Täuschungen auftritt, hängt offenbar von verschiedenen Umständen ab, die sich schwer übersehen und experimentell kaum beherrschen lassen. Un- behagen kann auch bei dieser Art Schwindel hinzukommen, gehört aber nicht so sehr zum Wesen der Sache wie bei dem Schwindel beim Blick aus der Höhe („Höhenschwindel“).,. Wir beschäftigen uns hier nur mit dem Schwindel der zweiten Art („Scheinbewegungsschwindel‘“). Man könnte diese Art Schwindel etwa definieren als eine (häufig mit dem Gefühl des Unbehagens verknüpfte) Täuschung über die augenblickliche Stabilität des Körpers; die Täuschung besteht entweder darin, daß man den eigenen Körper bewegt glaubt oder daß man den Eindruck hat, die tatsäch- lich feststehenden Objekte der Umgebung bewegten sich, und der Körper stände ruhig. Hierin liegt freilich weder eine erschöpfende, noch eine für alle Fälle ausreichende Begriffsbestimmung des Schwindels. Zutreffender, aber den theoretischen Erörterungen der späteren Abschnitte etwas vor- greifend können wir den Schwindel definieren als den Ausdruck eines Miß- verhältnisses zwischen den Empfindungen des Bewegungszuständes unseres Körpers, die uns durch das Ohrlabyrinth vermittelt werden, und denjenigen, die die übrigen Sinne zur Quelle haben. Wenn ein Teil der Sinnesorgane signalisiert: der Körper ist in Ruhe, und ein anderer Teil signalisiert: der Körper ist in Bewegung, so resultiert Schwindel, ebenso wenn die Sinnes- organe bezüglich der Umgebung des Körpers widersprechende Eindrücke vermitteln. ’ Die Bedingungen für das Zustandekommen des Scheinbewegungsschwin- dels sind sehr mannigfaltig. Ziemlich vollständig zusammengestellt wurden sie schon vor langer Zeit (1826) von Purkinje!'), der freilich, wie auch viele neuere Forscher, unter den Schwindelerscheinungen die bei Tieren objektiv nachweisbaren motorischen Reaktionen mitrechnete, die auch beim Menschen mit den Schwindelgefühlen verknüpft sein können und sich in der Haupt- sache als eine Gegenbewegung gegen eine wahre oder eine vorgetäuschte Bewegung darstellen. Wir können, auf Purkinjes Einteilung weiter bauend, folgende Ent- stehungsursachen für den Schwindel aufzählen: !) Diese Zusammenstellung findet sich im zweiten Bulletin der naturw. u. bot. Sektion der schles. Ges. f. vaterl. Kultur im Jahre 1826. Abgedruckt nebst den anderen Bulletins über den Schwindel in Auberts physiologischen Studien über die Orientierung, Tübingen 1888. Außerdem ist zu erwähnen Purkinjes Arbeit: Beiträge zur näheren Kenntnis des Schwindels. Medizin. Jahrb. d. österr. Staates (2) 6, 79, 1820. 764 Entstehung des Schwindels. 1. Drehbewegungen‘des Körpers um eine beliebige im Körper gelegene Achse. 2. Gewisse Progressivbewegungen des Körpers in gekrümmter Bahn, die sich im allgemeinen nach dem Schema der Rotation um eine außerhalb des Körpers gelegene Achse auffassen lassen. Insbesondere kommen hierbei oszillierende Bewegungen in Betracht, wie sie die Schaukeln verschiedener Konstruktion und das schwankende Schiff ergeben. Doch wirken auch kon- tinuierliche Bewegungen (Karussellbewegung) in gleicher Weise schwindel- erzeugend. 3. Durchleitung des galvanischen Stromes durch den Kopf in der Quer- richtung, namentlich von Ohr zu Ohr. 4. Lokale Reize und Verletzungen in verschiedenen Teilen des Gehirns (Abscesse, Eehinococcen oder Hydatiden, apoplektische Herde). 5. Anämie des Gehirns bei beginnender Ohnmacht und verwandten Zu- ständen. 6. Gewisse Giftwirkungen, namentlich die des Alkohols. Purkinje gibt (l. c.) an, daß besonders starker Schwindel schon bei den gewöhnlichen Körperbewegungen eintritt, wenn eine Mischung von Weingeist und „Terpen- tinspiritus“ eingenommen worden ist (schon 20 Tropfen sollen genügen). 7. Bei offenen Augen kann Schwindel unter allen den Bedingungen ent- stehen, bei denen das Binokularsehen plötzlich gestört oder aufgehoben ist, bei Augenmuskelläbmungen, beim Tragen unüberwindbarer Prismen, aber auch, wenn dem einen Auge ein sehr unscharfes Bild, dem anderen ein scharfes geboten wird. 8. Wenn die übrigen Sinne mit Ausnahme des Gesichtssinnes die Wahr- nehmung des Ruhezustandes unseres Körpers vermitteln, gleichzeitig aber Gesichtswahrnehmungen Bewegungen des Körpers vortäuschen, tritt ebenfalls Schwindel ein. 9. Bei offenen wie bei geschlossenen Augen kann starker Schwindel in- folge von Erkrankungen des inneren Ohres (Labyrinthes) auftreten. Er ist z. B. eines der wichtigsten Symptome der sogenannten M&niereschen Krank- heit (s. u.). Eine etwas eingehendere Besprechung kann hier nur einem Teil dieser Entstehungsursachen des Schwindels zuteil werden. Am bekanntesten und wichtigsten ist der Drehschwindel, der bei Rotation des Körpers um seine Längsachse, aber auch bei passiver Rotation um eine zu dieser Längsachse parallele Achse (Karussellbewegung) auftritt. Während solcher Rotation ist subjektiv bemerkbar eine Desorientierung über die Lage des Körpers relativ zu den umgebenden Objekten, zugleich ein mehr oder weniger ausgesprochenes Unbehagen, das sich bis zu wirk- licher Übelkeit (Ekel) steigern kann; sehr bald hat man nicht mehr den Eindruck, daß nur man selbst bewegt werde, die umgebenden Objekte fangen scheinbar an sich auch zu drehen, sie stehen nicht mehr fest. Solange man z. B. auf dem Karussell noch den Eindruck hat, daß die umgebenden Häuser und Bäume fest stehen, pflegt auch kein eigentlicher Schwindel aufzutreten. Nach einer längeren und hinreichend schnellen Drehung in einem bestimmten Sinne tritt beim Anhalten die Empfindung der Drehung im um- gekehrten Sinne auf, vorausgesetzt, daß während der Drehung die Augen RENNEN >_ ee Zn u a ec au Drehsch windel. 765 geschlossen waren oder daß im Gesichtsfelde sich nur Objekte befanden, die die Drehung vollständig mitmachten (Machscher Drehschwindel). Hat man aber während der Drehung die feststehenden Objekte an sich ‚vorbeipassieren sehen, so tritt als Nachempfindung eine Scheinbewegung der Gesichtsobjekte in der gleichen Richtung ein wie während der ursprünglichen Drehung (Purkinjescher Drehschwindel). Drehschwindel der letzteren Art fehlt bei mir fast völlig, ich bemerke ihn höchstens in Andeutungen. Dagegen habe ich nach aktiven Rotationen um die aufrechte Körperlängsachse das deutliche Gefühl, daß die Rotation im gleichen Sinne noch fortbestehe, und zwar sowohl bei offenen wie bei geschlossenen Augen. Dabei besteht ein Zwang, diese Drehbewegung wirklich fortzusetzen; nach hin- reichend langer Rotation wird dieser Zwang unwiderstehlich. Scheinbewegung der ' umgebenden Gegenstände fehlt dabei. In dieser Hinsicht bestehen erhebliche individuelle Differenzen. Personen, bei denen eine Nachwirkung der Rotation in dem eben beschriebenen Sinne besteht, vertragen bekanntlich das Tanzen mit nur einigermaßen schneller Drehung nicht. Der ältere Darwin!) und Purkinje?) fanden, daß die Richtung des Drehschwindels ganz wesentlich von der Haltung des Kopfes während der (aktiven oder passiven) Drehung bestimmt wird. „So ist, wenn man das Gesicht während dem Sichdrehen nach oben wendet, die Richtung des Schwin- dels, sobald der Kopf wieder in seine gewöhnliche Lage gebracht wird, ein senkrechtes Rad, dessen Querdurchmesser von einer Seite zur anderen geht. Wird der Kopf bei dem Sichdrehen auf die eine oder andere Schulter gelegt, so ist der Schwindel in der Richtung eines senkrechten Rades, dessen Quer- durchmesser von vorn nach hinten geht.“ Dasselbe gilt für die bei mir eintretenden (scheinbaren) Nachdrehungen. Wende ich bei aktiver Rotation um die Körperachse den Blick zur Decke hinauf, so besteht nach dem Anhalten die Bewegung in gleichem Sinne schein- bar fort, solange ich den Kopf in dieser Lage lasse. Bringe ich ihn aber wieder in die gewöhnliche Stellung, so besteht eine scheinbare Drehung um eine sagittale Achse, mit Neigung, nach der Seite zu fallen. War der Kopf während der Rotation zur Schulter geneigt, so ist die Nachwirkung bei wieder aufgerichtetem Kopf eine Scheindrehung um eine Körperquerachse mit Nei- gung, vorn- oder hintenüber zu fallen. Bemerkenswert ist mit Rücksicht auf spätere theoretische Erörterungen, daß nach den Untersuchungen von James?) bei zahlreichen Taubstummen durch Rotation kein Drehschwindel ausgelöst werden kann. Unter 519 Taub- stummen hatten 186 keinen Drehschwindel, während unter 200 Gesunden nur einer nicht schwindlig wurde. Auf die weniger genau untersuchten Schwindelerscheinungen bei Drehungen um außerhalb des Körpers liegende Achsen (Karussel, russische Schaukel u. dgl.) kann hier nicht eingegangen werden. Der Schwindel beim Schaukeln in der gewöhnlichen Hängeschaukel ist kompliziert. Da die Be- wegung in einem bestimmten Sinne immer nur kurz dauert und gleich wieder durch die gegensinnige abgelöst wird, kommt ‘es beim plötzlichen Anhalten Y) Zoonomia, übersetzt von Girtanner. — *?) 10. Bull. d. naturw. Sektion d. schles. Ges. f. vaterl. Kultur 1825. Abgedruckt in Auberts physiol. Studien über die Orientierung. — °) Amer. Journ. of Otology 4 (1882). 766 Drehschwindel. — Galvanischer Schwindel. meist nicht zu deutlichen Nachempfindungen, wenigstens nicht zu Bewegungs- empfindungen, sondern nur ev. zum Gefühl des unsicheren Stehens, nicht selten verbunden mit Übelkeit. Auch kann hier wie bei der Nachwirkung des Schlingerns und Stampfens eines Schiffes die eigentümliche Erscheinung einer rhythmischen Nachempfindung auftreten, d. h. man hat nach längerer Zeit die Empfindung, als ob die rhythmische Bewegung noch immer anhielte. Genauer sind diese Eindrücke, die oft erst nach einer beträchtlichen Latenz- zeit auftreten, meines Wissens nicht erforscht. Alle die besprochenen Erscheinungen des Drehschwindels treten, aller- dings im verminderten Maße, auch auf, wenn die Gesichtswahrnehmungen während und nach der Rotation ausgeschlossen bleiben. Der auf dem Karussell schwindlig Gewordene fühlt bei geschlossenen Augen gleichsam den Boden unter den Tastflächen seiner Füße weggleiten, und dem bei Rotation um die Längsachse (Tanzbewegung) schwindlig Gewordenen scheint der Tisch oder Stuhl, an dem er sich bei geschlossenen Augen hält, seitwärts aus- zuweichen. Ob ein Mensch, der weder durch den Gesichtssinn, noch durch den Tast- und Muskelsinn die umgebenden Gegenstände wahrnimmt, schwindlig werden (d.h. das Gefühl des Schwindels haben) kann, ist nicht bekannt. Es ist mir sehr wahrscheinlich, daß er die objektiven Schwindelerscheinungen, das Taumeln nach einer Rotation, zeigen wird, richtigen Schwindel aber nicht oder nur in geringem Maße fühlen würde. Der sogenannte „galvanische Schwindel“ ist schon von sehr vielen Autoren untersucht und beschrieben worden. Die ersten genaueren Beob- achtungen rühren von Purkinje!), Remak?) und Brenner?) her. Hitzig*®) behandelte die Erscheinungen des galvanischen Schwindels in ausführlicher Abhandlung, ebenso später Kny’°). Der galvanische Schwindel tritt am leichtesten auf bei Querdurchströ- mung des Kopfes, wobei die Elektroden beiderseits in der Fossa mastoidea aufgesetzt sind. Querdurchströmung weiter vorn oder hinten wirkt schwächer, ebenso Schrägdurchströmung. Durchströmung in der Richtung von vorn nach hinten wirkt bei mäßiger Stromstärke gar nicht schwindelerzeugend. Die Empfindlichkeit verschiedener Personen erweist sich als sehr ver- schieden, bei manchen Personen bewirkt schon ein Strom von vier bis fünf Daniells Schwindel, andere brauchen (bei gleichen Zuleitungsverhältnissen) das Doppelte. Am reinsten ist die Erscheinung bei geschlossenen Augen oder im Dunkeln zu beobachten. Man hat bei Stromschluß das Gefühl des Um- sinkens nach der Kathodenseite, bei Stromöffnung das Gefühl der umgekehrten Bewegung. Da die vom Rumpf und den Extremitäten ausgehenden Haut- sensationen mit dieser Scheinbewegung in Widerspruch stehen, qualifiziert sich das durch den Strom bewirkte Gefühl deutlich als Schwindelgefühl. Bei schwachen Reizen tritt eine objektiv nachweisbare Reaktion weder bei Stromschluß noch -Öffnung ein. Bei stärkeren Strömen wird eine solche bemerkbar, und zwar in Form einer Gegenbewegung gegen die Scheinbewegung, !) Rusts Magazin f. d. ges. Heilk. 23, 297, 1827. — ?) Galvanotherapie d. Nerven- und Muskelkrankheiten, Berlin 1858. — °) Unters. u. Beobacht. a. d. Ge- biete d. Elektrotherapie, Leipzig 1868. — *) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1871 und Gesamm. Abhandl. 1, 336. — °) Arch. f. Psychiatr. 18 (3). DE ich ee Galvanischer Schwindel. 767 d. h. man neigt Kopf und Rumpf beim Stromschluß nach der Anode, bei Öff- nung nach der Kathode hin. Eine im Dunkeln frei stehende Person kann schon durch mäßig starke Ströme zum Umstürzen nach der Anodenseite gebracht werden. Bei schwachen Strömen hört der Schwindel nach der Schließung wie nach der Öffnung aber bald auf. Bei starken Strömen ist während der Durchströmung dauerndes Schwindelgefühl vorhanden, und auch der Kathodenöffnungsschwindel hält minutenlang an. Bei geöffneten Augen treten Scheinbewegungen der Gesichtsobjekte auf, und zwar namentlich bei starken Strömen in ziemlich komplizierter Weise. Abweichend von Hitzig und Kny finde ich unter geeigneten Umständen das Auftreten von Scheinbewegungen als erstes Symptom der Stromwirkung, d. h. bei Stromstärken, die noch keinen Schwindel machen. Die hier in Be- tracht kommenden Scheinbewegungen beschrieb schon Purkinje. Es ist im wesentlichen eine Kreisbewegung des gesamten Gesichtsfeldes. „Die Rich- tung der Kreisbewegung dieses Schwindels geht aufwärts von der rechten zur linken Seite, wenn der Kupferpol im rechten Ohre, der Zinkpol im linken ist.“ (Purkinje,l. c.) Am leichtesten und schon bei ganz schwacher Galvanisierung beobachtet man diese Scheindrehung des Gesichtsfeldes, wenn man im dunklen Raume eine isolierte leuchtende Linie betrachtet. Diese Linie, die vertikal gestellt sein möge, macht bei Stromschluß mit ihrem oberen Ende einen Ausschlag nach der Kathodenseite und erscheint dann, solange der Strom geschlossen ist, in andauernder Drehbewegung in der gleichen Richtung. Dabei ist die paradoxe Erscheinung zu bemerken, daß trotz dieser anhaltenden Schein- drehung die Linie sich nicht weiter von der Vertikallage zu entfernen scheint als im Moment des Stromschlusses. Um im hellen Zimmer, wenn das Gesichtsfeld mit den Bildern der um- gebenden Gegenstände erfüllt ist, nennenswerte Scheinbewegungen zu erzielen, bedarf es wesentlich höherer Stromstärken. Auch wenn man, auf dem Rücken liegend, eine an der Decke angebrachte Linie betrachtet, macht diese bei Durchleitung des Stromes von Ohr zu Ohr an- dauernde Drehbewegung, die aber (abweichend von dem soeben erwähnten Falle der vertikalen Linie) bald zu einer völligen Desorientierung über die Lage der gesehenen Linie relativ zu den Körperachsen führt. Es gibt für unseren Gesichtssinn auf hori- zontaler Fläche keine Richtung, die so ausgezeichnet wäre wie die vertikale Rich- tung einer auf vertikaler Ebene gezeichneten Geraden. Vgl. hierzu: Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 16, 384 f. Daß während des Eintrittes galvanischen Schwindels objektiv nachweis- bare Augenbewegungen zwangsmäßig, d. h. ohne Wissen und Willen der Versuchsperson, auftreten, dürfte Hitzig zuerst festgestellt haben. Um sie nachzuweisen, bedarf es schon ziemlich starker Ströme. Man beobachtet horizontalen Nystagmus, d. h. eine schnell ruckende Bewegung in der Richtung des positiven Stromes, gefolgt von langsamerer Rückbewegung. Damit verknüpft sich, wie es scheint stets, eine Rollbewegung des Bulbus, bei der das obere Ende des Vertikalmeridians in der Richtung des positiven Stromes, also zur Kathode hin abgelenkt wird. Diese Rollbewegung, welche das Auftreten der Purkinjeschen Rad- drehung des Gesichtsfeldes im Moment des Stromschlusses erklärt und somit 768 ; Gesichtswinkel. die Hauptursache des galvanischen Schwindels ist, erfolgt (wenigstens bei mir) schon.bei Stromstärken, bei denen ein horizontaler Nystagmus noch völlig fehlt. ? Der langsamen Scheindrehung des Gesichtsfeldes während der dauernden Durchströmung entspricht natürlich keine dauernde Rotation des Auges, und selbst das Bestehen eines minimalen, dem objektiven Nachweis entzogenen rotatorischen Nystagmus ist nicht recht wahrscheinlich. Es ist daran zu erinnern, daß auch bei Schiefhaltung des Kopfes ohne Galvanisierung eine im Dunkeln isoliert gesehene Lichtlinie anhaltend langsame Scheindrehung erfährt. Über den Effekt isolierter elektrischer Reizung einzelner Bogengänge vgl. unten 8. 788. Oben wurde der Satz aufgestellt, daß Schwindel im allgemeinen dann auftritt, wenn die Angaben des Labyrinths einerseits und der übrigen Sinnes- organe anderseits über den Bewegungszustand des Körpers in Widerspruch miteinander stehen. Die bisher besprochenen Erscheinungen des Dreh- schwindels sowohl wie die des galvanischen Schwindels werden nun heutzu- tage wohl fast von allen Autoren so aufgefaßt, daß das Labyrinth (das Bogengangsystem), durch mechanischen oder elektrischen Reiz erregt, Be- wegungsempfindung, speziell Drehungsempfindung auslöst; sobald diese Empfindungen mit den vom Gesichts- und Tastsinn vermittelten in Wider- spruch geraten, tritt Desorientierung über den Bewegungszustand, mit anderen Worten Schwindel ein. Umgekehrt kann nun aber auch das Auge die eigentliche Auslösungs- stelle für das Schwindelgefühl sein. Wenn die spezifischen Organe der Be- wegungsempfindungen und der Tastempfindung die Erkenntnis vermitteln, daß der Körper unbewegt ist, und nun ein Gesichtseindruck eintritt, den wir gewohnheitsmäßig auf eine Körper- oder Kopfbewegung beziehen, tritt Schwindel auf. Begreiflicherweise kann dieser Fall nur unter ganz bestimmten Bedingungen verwirklicht sein: Keine Desorientierung, kein Schwindel tritt ein, wenn sich ein Gesichtsobjekt bewegt, das nur einen kleinen Teil des Gesichtsfeldes einnimmt (etwa eine vor uns stehende andere Person). Selbst eine plötzlich unerwartete Bewegung verwirrt unsere Orientierung nicht. Anders liegt die Sache, wenn ein großer Teil des Gesichtsfeldes plötzlich eine gleichsinnige, gleichförmige und zumal unerwartete Bewegung ausführt; das geschieht z. B., wenn man in einen großen Spiegel blickt und dieser, ohne daß man es sogleich bemerkt, durch Luftzug leicht bewegt wird: die in ihm gespiegelten Wände des Zimmers mit allem, was an ihnen steht ‘oder hängt, führen dann eine Scheinbewegung aus, die bei als so stabil bekannten Objekten unerwartet ist und unserem Bewußtsein leicht als Bewegung unseres eigenen Körpers erscheint. Andere Empfindungen aber haben wir nicht, die auf diese Bewegung hindeuten, daher das Resultat, das Schwindelgefühl. Ganz Ähnliches beobachtet man, wenn man an einem stehenden Eisenbahnzuge entlang geht, dessen Bild etwa die Hälfte des Gesichtsfeldes ausfüllt; beginnt der Zug sich unerwarteterweise zu bewegen, so haben wir das Gefühl, der ganze Boden drehe sich mit uns, es wird uns schwindlig. Erwarten wir in einem solchen Falle den eintretenden Bewegungsvorgang oder beobachten wir ihn mit Aufmerksamkeit, so fehlt im allgemeinen jede Spur von Schwindel. ee Gesichtsschwindel. 769 Ich betone diesen Schwindel visuellen Ursprunges besonders, weil seine Existenz in der Regel nicht so sehr beachtet wird wie die des labyrinthären ‘ Schwindels; und doch sind beide Formen auf ganz den gleichen Umstand zurückzuführen, auf die Discrepanz zwischen den labyrinthären und den optischen Bewegungsempfindungen. Ich zweifle nicht, daß von Blinden oder von Beobachtern, die die Augen geschlossen halten, unter Umständen auch die Discrepanz zwischen den labyrinthären Empfindungen und den- jenigen, die von der Haut und den Muskeln ausgelöst werden, zu Schwindel führen kann. Ein Hinweis auf die Möglichkeit, daß selbst ein Widerspruch zwischen Gesichtseindruck und Muskelsinnseindruck Schwindel oder schwindelähnliche Gefühle erzeugen kann, scheint mir in der oben angeführten Tatsache zu liegen, daß Personen, die an Brillentragen nicht gewöhnt sind oder "un- geeignete Brillen tragen, häufig angeben, daß sich alles vor ihnen zu drehen scheine, mit anderen Worten, daß sie Schwindel empfinden. Jeder kann sich von etwas Ähnlichem überzeugen, wenn er für einige Zeit eine Brille trägt, die seine Augen zu einer ungewöhnlichen, ihren muskulösen Gleichgewichts- verhältnissen nicht entsprechenden Stellung zwingt. Schon beim Aufsetzen einer solchen Gläserkombination pflegt ein unbehagliches schwindelähnliches Gefühl aufzutreten, deutlicher noch, wenn die Brille wieder abgenommen wird und die Augen wieder in ihre gewohnte Stellung zurückkehren sollen. Besonders deutlich und auch etwas länger anhaltend ist die Desorientierung nach dem Tragen von Gläsern, die eine Höhendifferenz beider Gesichtslinien erzeugen. Viel länger noch besteht ein ähnlicher Gesichtsschwindel bei plötz- lich eintretenden Augenmuskellähmungen, speziell Trochlearislähmung, bzw. den diesen in ihrer physiologischen Wirkung gleichzustellenden Schielopera- tionen. Wenngleich dieser Schwindel mit einem richtigen Drehschwindel nicht allzuviel Ähnlichkeit mehr aufweist, ist die von den Patienten allgemein gebrauchte Bezeichnung doch immerhin beachtenswert und gibt zu erkennen, daß es sich zum mindesten um verwandte Zustände handelt. Nach ihrer Entstehung noch weiter vom Drehschwindel abweichend und doch nicht ohne eine gewisse subjektive Ähnlichkeit ist eine eigentümliche schwindelartige Empfindung, die bei ruhiger Betrachtung verwirrender Bilder auftritt; ist z. B. auf einem Blatt Papier ein und derselbe Druck zweimal mit geringer Seiten- oder Höhenverschiebung angebracht, so gibt das einen seltsam verwirrenden Eindruck, ähnlich demjenigen bei Betrachtung einer richtigen Druckschrift mit falschem Konvergenzgrad; nur ist bei dem Doppel- druck die Verwirrung noch aufdringlicher, weil hier nicht eines der beiden Bilder durch Exklusion eines Auges oder Wettstreit beseitigt werden kann. In der Tat haben denn auch viele Personen bei Betrachtung eines solchen verschobenen Druckes ein geradezu peinliches Gefühl, das sie mit Schwindel zu vergleichen pflegen. Es wäre dies ein Schwindel rein visuellen Ursprunges, das Endglied der Reihe von Schwindelarten, an deren anderem Ende der (rein labyrinthäre) Drehschwindel liegt, und. deren Mittelglieder in den oben erwähnten Fällen zu finden sind, bei denen die Augenmuskeln eine wichtige Rolle spielen. Vgl. übrigens bezüglich des Gesichtsschwindels und der Scheinbewegungen oben 8. 368 ff. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 49 770 Schwindel. Über die übrigen Arten der Entstehung von Schwindel, die oben auf- gezählt wurden (und zu denen wohl noch weitere hinzugerechnet werden könnten), läßt sich zurzeit vom physiologischen Standpunkte noch nicht viel. sagen. Auf Grund unserer allgemeinen Auffassung über die Entstehung des Schwindels versteht es sich von selbst, daß alle diejenigen Momente, welche die Funktion des Labyrinths oder des Augenmuskelapparates durch Angriff in der Peripherie oder an irgend einem Punkte des Zentralorganes stören, Schwindel oder die Disposition zu Schwindel herbeiführen müssen, um so mehr, je schneller die Störung eintritt; daher also der Schwindel bei Laby- rintherkrankungen, bei Lähmungen oder Verletzungen der Augenmuskeln oder bei irgendwelchen Erkrankungen in den Gehirnteilen, die mit diesen Organen in nahem Zusammenhange stehen, vor allem auch im Kleinhirn, auf dessen Rolle noch weiter unten zurückzukommen sein wird. Recht beachtenswert ist jedenfalls die Tatsache, daß der Augenmuskel- apparat, zufolge seiner engen funktionellen Verknüpfung mit dem Labyrinth, : für die Entstehung des Schwindels eine wesentlich andere: Rolle spielt als die übrige Muskulatur des Körpers. Umfangreiche Innervationsstörungen am Bewegungsapparate des ganzen Körpers, vom Kopfe an abwärts, mögen sie die centripetalen oder die centrifugalen Nervenbahnen betreffen, können die Stabilität des Körpers schwer schädigen, können auch beispielsweise das Stehen und Gehen ohne die regulierende Hilfe des Auges unmöglich machen; zu Schwindel aber führen sie nicht. Der Tabiker, der bei geschlossenen Augen umfällt, kann dabei Schwindel empfinden. Aber er fällt nicht, weil er schwindlig wäre, sondern er empfindet Schwindel infolge der plötzlichen unvorhergesehenen Drehbewegung. Man kann nun freilich sagen, auch der Gesunde, der, durch heftige Rotation schwindlig gemacht, taumelt, tut dies nicht infolge des Schwindel- gefühles, sondern weil das durch die Rotation vorübergehend geschädigte Sinnesorgan (Labyrinth) an Präzision der reflektorischen Innervation ein- gebüßt hat und den Körper nicht mehr stabil zu halten vermag. Aber diese Schädigung ist eben stets mit dem Gefühl des Schwindels verbunden, die Störung der reflektorischen Muskelinnervation bei Tabes u. dgl. tritt dagegen, obgleich äußerlich häufig ähnlich erscheinend, ohne Schwindel als notwendige Begleiterscheinung auf. 2. Die Reflexe bei kohinllagen des Kopfes oder des ganzen Körpers. Bei gewissen Progressivbewegungen in geradliniger oder krummer Bahn sowie bei Drehungen des Körpers um irgend eine Achse treten bestimmte Reflexe auf. Wir können hier in der Hauptsache absehen von gewissen Reflexbewegungen, die in den. Extremitäten auftreten können, wenn der Körper mit erheblicher Geschwindigkeit nach unten, in der Richtung der Schwere sinkt oder stürzt; das Erheben der Hände, der Versuch, etwas Festes zu ergreifen, Reaktionen, die hierbei fast regelmäßig beobachtet werden, könnten allerdings als echte Reflexbewegungen bezeichnet werden, denn sie sind schon beim kleinen Kinde, das noch keinerlei Erfahrung über die eventuelle Zweckmäßigkeit dieser Bewegungen hat, deutlich ausgebildet. In Kompensatorische Rollungen. 771 dieselbe Kategorie dürften die Bewegungen gehören, welche die Katze ausführt, um beim Falle aus der Höhe auf die Füße zu fallen. Mehr Interesse bietet eine andere Gruppe von Reflexen, die aufs engste mit Bewegungen des Körpers verknüpft sind. Am genauesten erforscht sind die von der Lageveränderung abhängigen Augenbewegungen!). Wird der Kopf um eine sagittale Achse seitswärts zur Schulter geneigt, so führen beide Augen sogenannte Rollungen oder Rad- drehungen in entgegengesetzter Richtung aus. Die Richtung der Blicklinien kann dabei unverändert bleiben, es ist eine reine Rollung des Bulbus an- nähernd um die Blicklinie als Achse, falls der Blick geradeaus in die Ferne gerichtet ist. Hunter, der diese Rollungen zum ersten Male beschrieb, Baches, sie kompensierten die Kopfdrehung völlig, so daß der Vertikalmeridian der Netzhaut zunächst vertikalbliebe. Beim Anhalten der Bewegung aber sollte die Bewegung alsbald wieder völlig rückgängig werden, auch wenn der Kopf in der schiefen Lage verharrte. J. Müller bestritt dies. A. Hueck wiederum meinte, Kopfneigungen bis zu 25 bis 28° würden völlig kompensiert. Darüber - hinaus sollte das Auge den Kopfbewegungen folgen. In der Folgezeit wurden dann die Raddrehungen wieder von verschiedenen Autoren bestritten, von anderer Seite wurde ihre Existenz wieder nachgewiesen (Zusammenstellung der Literatur s. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 3, 331). A. Nagel?) maß die kompensatorischen Raddrehungen mit Hilfe seines Hornhautastigmatismus und fand, daß etwa ein Sechstel der Kopfneigung durch Raddrehung kompensiert werde. Mulder?) zeigte dann, daß eine Proportionalität zwischen Kopfdrehung und Bulbusdrehung nicht bestehe, was ich *) bestätigen konnte, und zwar mittels der gleichen Versuchsmethode (Bestimmung des blinden Fleckes), durch die Contejean und Delmas’) wieder einmal die Nichtexistenz von kompensatorischen Raddrehungen hatten nachweisen wollen. Wenn ich den Kopf um die Blicklinie des geradeaus gerichteten rechten Auges nach rechts neige, bleibt das Auge durch kompensatorische Rollung um Beträge zurück, die aus der nachstehenden Tabelle ersichtlich sind (Mittel aus 20 Versuchsreihen): Kopfdrehung . 2.2... | 10°] 20° | 30°.| 40° | 50° | 60° | 0° | 80° |.900 | 100° Raddrehungswinkel .. .. | 1,30 | 3,80 | 5,90 | 5,40 | 6,90 6,70 6,80 8,0° | 8,1°| 8,6° Kompensiert wurden somit \ı E # a2] 2 [iR | 1 | ‚t Eu en xr ER von der Kopfdrehung . . J | 7,7 | 52 3, e% 7,4 179 |.9 /10,3| 10 11,1 11,8 Fig. 125 (a. f. 8.) veranschaulicht dieses Resultat. Delage$) hat die Untersuchung auf alle vier Quadranten der Kreisdrehung ausgedehnt. Seine Ergebnisse scheinen indessen mit einer gewissen, wohl in der Methode begründeten Unsicherheit behaftet zu sein, da sie in einem bestimmten Punkte, der unten S. 773 erwähnt wird, von den Resultaten anderer Beobachter abweichen. !) Vgl. auch oben 8. 317f. — ?°) Arch. f. Ophthalmol. 17, 247, 1871. — 3) Ebenda 21, 68, 1875. — *) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 12, 331. — 5) Arch. de physiol. (5), 6, 687, 1894. — °) Arch. zoolog. exper. (4), 1, 261—306, 1903. 49* 772 Kompensatorische Rollungen. Bei Tieren können die Rollungen leichter gemessen werden. Daß bei vielen ; Tieren solche vorkommen, hatte schon Hueck (l. e.) und v. Gräfe!) gesehen. Besonders ausgiebig sind die Drehungen bei Kaninchen und anderen Nagern, hier am ausgeprägtesten bei Drehung des Kopfes um die Querachse. Zur Demonstration der kompensatorischen Augenbewegungen eignen sich Kaninchen sehr gut. Man schneidet die langen Haare in der Umgebung des Auges ab, kokainisiert dieses und legt auf den Corneascheitel einen etwa 5cm langen, in der Mitte 3mm breiten, an den Enden sich verschmälernden Streifen Löschkarton auf, der durch Capillarität von selbst anklebt. Erteilt man dann dem Kopfe passive Drehungen um die Querachse, so erkennt man leicht die starken kompen Fig. 125. At B 0° 100 20° 30° 40° 500 60° 70° 800 90° 100° Dauernde kompensatorische Rollungen bei Seitwärtsneigung des Kopfes. Die untenstehenden Zahlen geben die Kopfneigung an. Aus dem Verhältnis, in dem die über einer Zahl stehende und bis zu der “ ausgezogenen Diagonale reichende Ordinate durch die punktierte Linie geteilt wird, ergibt sich, wie groß der durch Bulbusrollung kompensierte Teil der Kopfneigung ist, satorischen Rollungen. Fesselung des Tieres und Anlegen eines Lidhalters ist über- flüssig. Auch bei Fröschen gelingt diese Demonstration leicht. In Fig. 126 sind die Bulbusrollungen eines Frosches und eines Kaninchens nach demselben Prinzip wiedergegeben, wie oben in Fig.. 125 die meines eigenen rechten Auges. Die letztere Kurve ist auch in die Fig. 126 mit aufgenommen. Die Diagonale des Quadrates repräsentiert aber hier die Kopfdrehung um 360°, für Kaninchen und Frosch um die Querachse, für den Menschen um die sagittale Achse des Kopfes. Man erkennt leicht, daß beim Kaninchen die Kopfdrehungen bis zu etwa 25° durch entgegengesetzte Augenrollung völlig kompensiert werden, und zwar geschieht dies dauernd, das Auge bleibt in dieser Stellung stehen. Sehr bemerkenswert ist, daß die bei diesen Untersuchungen gewonnenen Kurven ver- schieden aussehen je nach der Drehungsrichtung, die man dem Tiere erteilt. Das- ') Arch. f. Ophthalmol. 1, 28, 1854. Kompensatorische Rollungen. 773 selbe hat neuerdings Delage!) in interessanten Versuchsreihen für seine eigenen Augen festgestellt, indem er sich, auf einem Stuhle unbeweglich befestigt, um eine Achse drehen ließ, die in sagittaler Richtung durch die Nasenwurzel ging, und zwar um volle 360°. Die Messung der hierbei eintretenden Rollungen vermochte er nach der von Javal?) und A. Nagel°®) angewandten Methode mit Hilfe seines Hornhautastigmatismus zu bewerkstelligen. Delage fand, ebenso wie ich früher bei Tieren, daß nicht etwa einer be- stimmten- Seitenneigung des Kopfes ein bestimmter Rollungswinkel entspricht (hier- bei ist konstante Einhaltung der Blickrichtung, vorausgesetzt), sondern daß der Fig. 126. ” Be; A 2 ya e ur £ N Br ] /1 4/- | BF 1 ! u 11% T ER Y | / # ; F AK A / ”E E z 7 Z4uE 4 E4 2 vH VX KK AN A \A Al \Ar B 0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200 220 240 260 280 300 320 340 360 Graphische Darstellung der komp torischen Rollungen bei Drehung des Kopfes um die Augen- achse, M vom Menschen, F vom Frosch, K vom Kaninchen. Das Ordinatenstück zwischen der aus- gezogenen Diagonale und der Kurve gibt in Winkelgraden an, um wieviel der Augapfel hinter der Kopfdrehung zurückbleibt (unterer Teil der Figur) oder ihr vorauseilt (oberer Teil der Figur) — : negative und positive Rollung. Rollungswinkel im allgemeinen ein verschiedener ist, je nachdem die betreffende Seitenneigung durch Drehung rechtsherum oder linksherum erreicht wurde. Die überraschende Angabe Delages, daß bei einer bestimmten Seitenneigung beide Augen zwar gleichsinnige, aber im allgemeinen verschieden große Rollungen (im Sinne der Kompensation der Kopfdrehung) ausführen, konnte von Angier‘) nicht bestätigt werden. Weder für ihn selbst, noch für mich und andere Ver- "suchspersonen traf jene Angabe zu, die also wohl auf einer persönlichen Besonder- heit des Augenmuskelapparates bei Delage beruhen muß. Angier untersuchte die Augenstellung mit Hilfe von Nachbildern. !) Arch. de zoolog. exper. (4) 1 (1903). — ?) In der französischen Ausgabe von Helmholtz’ Physiologischer Optik, 8. 671. — ?) v. Gräfes Arch. f. Ophthalm. 17, 247, 1871. — *) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. der Sinnesorg. 37, 1905. 774 Objektive Schwindelerscheinungen. Wegen der zum Teil recht erheblichen Verschiedenheiten, welche die kompen- satorischen Raddrehungen bei verschiedenen Tierklassen aufweisen, vgl. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 12, 346f. Dort ist auch beschrieben, wie bei manchen Tieren mit leichtbeweglicher Halswirbelsäule die kompensatorischen Augenbewegungen durch entsprechende Drehungen des ganzen Kopfes ergänzt oder (bei Tieren mit unbeweglichen Augen, wie den Eulen) ersetzt werden. Bei Tieren sieht man auch häufig andere Kopfbewegungen als solche um die Augenachse durch Augenbewegungen teilweise kompensiert. Sehr bekannt ist das von den Fischen, die im allgemeinen die Tendenz erkennen lassen, bei Schwankungen des Körpers um seine Längsachse die Äqua- torialebenen der Augen vertikal zu erhalten. Auch beim Menschen kommt Ähnliches vor. Breuer!) hat gefunden, daß Blinde Drehungen des Kopfes um die Querachse (also mit Hebung und Senkung des Kinnes) mit Hebung und Senkung der Augenachsen kompensieren. Am Sehenden kann man dies weniger leicht demonstrieren, weil die Fixationstendenz hemmend wirkt. Kleine Kinder zeigen dagegen diese Kompensationsbewegungen, die entschieden reflektorischen Charakter tragen, zuweilen sehr deutlich. Im Dunkelzimmer fehlen übrigens diese Reflexbewegungen auch beim sehenden Erwachsenen nicht ganz, wovon man sich unter anderem durch Momentbeleuchtung über- zeugen kann (auch durch Nachbilder.. Wechselt man bei geschlossenen Augen zwischen aufrechter und vornübergebeugter Haltung und betastet währenddessen mit leicht. aufgelegten Fingern die Lider, so fühlt man deut- lich, wie bei der Neigung nach vorn die Hornhaut nach oben, bei der Auf- richtung nach abwärts rollt. Neben diesen Bewegungen der Augen, die zu einer von der normalen Ruhe- und Gleichgewichtsstellung abweichenden Lage der Augen führen, gibt es auch solche, die nur vorübergehend sind und mit dem Aufhören der Kopf- bewegung rückgängig werden. ‚Sie werden im folgenden Abschnitte besprochen. 3. Die sogenannten objektiven Schwindelerscheinungen. Unter den gleichen Bedingungen, unter denen Schwindel entsteht, lassen sich gewisse objektive Reaktionen an den vom Schwindel befallenen Individuen erkennen. Da sie auch bei Tieren beobachtet werden können und hier die Möglichkeit vorliegt, sie zu weit höherer Intensität zu treiben als beim Men- schen, hat man die Untersuchungen an Tieren begreiflicherweise besonders häufig und gründlich angestellt. Viele Autoren bezeichnen auch die als Er- folg der raschen passiven Rotationen auftretenden Reaktionen direkt als Schwindel (Drehschwindel). Ich verstehe indessen unter Schwindel stets nur jene bestimmte Gruppe subjektiver Erscheinungen, wie wir sie im vorletzten Abschnitte behandelt haben, und vermeide die Anwendung des Ausdruckes auf die objektiven Reaktionen, weil wir uns erstens nicht davon überzeugen können, inwieweit bei Tieren mit den betreffenden Reaktionen Schwindel- gefühl verknüpft ist, und weil es zweitens unter den objektiven Reaktionen solche gibt, deren Bezeichnung als Schwindel entschieden nicht paßt und auch nicht üblich ist. Die Abgrenzung solcher Reaktionen aber gegen die anderen, die man mit größerem Recht als Schwindelreaktionen bezeichnen könnte, ist !) Med. Jahrb. d. Wien. Ärzte 1874. DE a a An Le Nystagmus. 775 / eine unscharfe. Zur letzteren Gruppe gehören hauptsächlich nach Drehung auftretende Nachbewegungen des ganzen Körpers, zur ersteren Bewegungen des Kopfes, der Augen und des ganzen Körpers, die während der Rotation auftreten. a) Augen- und Kopfnystagmus bei Rotation. Die Erscheinungen des Nystagmus waren großenteils schon Purkinje bekannt. Später wurden sie am Menschen besonders von Breuer, an Tieren von Ewald genauer studiert. Neuerdings hat v. Stein zahlreiche Beob- achtungen über Nystagmus an Gesunden und an Ohrleidenden (Taubstummen) angestellt (Zentralbl. f. Physiol. 14, 222, 1900). Näheres Eingehen auf diese Versuche unterlasse ich, da das Neue, was sie bringen, doch wohl erst in ausführlicherer Darlegung begründet sein müßte. Bei nicht zu langsamer Rotation um die Körperlängsachse tritt beim Menschen ein deutlicher horizontaler Augennystagmus (— Augenschwan- ken) auf; die Augen bleiben zunächst etwas hinter der Kopfdrehung zurück, sie führen eine gewissermaßen kompensatorische Drehung aus, durch die die Blickrichtung trotz der Kopfdrehung für eine kurze Zeit annähernd dieselbe bleibt. Alsdann geht bei anhaltender Drehung das Auge wieder in die Mittel- lage (Richtung geradeaus) zurück. Diese letztere Bewegung vollzieht sich bei weitem schneller als die erste; sie wird sogleich wieder von einer neuen kompensatorischen Drehung abgelöst usf. So kommt ein regelmäßiger Wechsel schneller und langsamer Augenbewegungen zustande, ganz ähnlich wie wenn man in der Eisenbahn zum Fenster hinausblickt und die vorüberziehenden Objekte betrachtet. Namentlich bei Kindern sieht man bekanntlich diesen Nystagmus in der Eisenbahn sehr deutlich; die Augen folgen verhältnismäßig langsam den Objekten, um bei deren Verschwinden hinter dem Fensterrahmen schnell wieder in der Fahrtrichtung vorzufliegen und ein neues Gesichtsobjekt zu erfassen. Von dem erstbeschriebenen Rotationsnystagmus unterscheidet sich aber dieser „Eisenbahnnystagmus“ ganz wesentlich dadurch, daß ersterer auch bei geschlossenen Augen, im Dunkeln und sogar bei Blinden auftritt, und daß er sich nicht willkürlich unterdrücken läßt. In der Eisenbahn kann man durchs Fenster „ins Leere“ starren, ohne ein Objekt zu fixieren, dann bleibt der Nystagmus aus, wie stets im Dunkeln, Den Nystagmus bei Drehung mit geschlossenen Augen kann man, wie Breuer zeigte, leicht erkennen, indem man die Finger auf die geschlossenen Augenlider eines anderen legt, mit dem man sich zusammen auf einer Dreh- scheibe drehen läßt. Derselbe Horizontalnystagmus tritt auch ein, wenn die Rotation um eine außerhalb des Körpers liegende senkrechte Achse erfolgt (Karussell- bewegung) mit Blick nach der Achse oder von der Achse weg. Er erlischt jedoch, wenn die Rotation gleichmäßig geworden und die Bewegungsempfin- dung verschwunden ist. : Über den Nystagmus bzw. sein häufiges Fehlen bei Taubstummen vgl. S. 78% Ein vollkommen analoger Nystagmus der Augen kommt auch bei Rota- tion des Körpers oder Kopfes um andere Achsen als die Körperlängsachse zustande. Gut bekannt ist ein solcher Nystagmus bei Drehungen um die 776 Nystagmus. Sagittalachse oder um die festgestellte Blicklinie als Achse. Hierbei treten, wie schon oben ($. 771) erwähnt, kompensatorische Rollungen der Augen | ein. Diese schießen anfangs erheblich über das Maß hinaus, (das nachher beibehalten wird; bei einer schnellen Neigung des Kopfes auf die rechte Schulter machen beispielsweise beide Augen Drehungen mit dem oberen Ende des Vertikalmeridians nach links. Erfolgte die Kopfneigung hinreichend schnell, so ist der Impuls zur kompensatorischen Rollung so stark, daß sie die Kopfneigung fast völlig kompensiert, den vertikalen Netzhautmeridian also nahezu senkrecht hält. Sowie aber die Kopfbewegung zur Ruhe kommt, wird die Rollung durch eine entgegengesetzte Drehung wieder rückgängig, bis zu jenem relativ kleinen Betrage von Dauerkompensation der Seiten- neigung, von dem oben des näheren die Rede war. Jene vorübergehende Rollung nun, die während der Kopfbewegung eintritt, ist keine kontinuierliche, sondern eine nystagmische; der Vertikalmeridian des Auges folgt zunächst immer nur einem gewissen Betrage der Kopfneigung, um dann mit einem schnellen Ruck wieder annähernd in die Vertikallage zurückzugehen. Bei einer schnellen Seitwärtsneigung des Kopfes um 90° erfolgen etwa 6 bis 10 solcher Stöße des „Nystagmus rotatorius“. Rotiert der Körper in horizontaler Rücken- oder Bauchlage um die Blick- linie eines Auges, so erfolgen ebenfalls nystagmisch intermittierende vor- übergehende Rollungen im Sinne der Drehungskompensation, sie werden jedoch, im Gegensatz zu dem Falle der vorhin beschriebenen, mit Verlagerung der Kopfachsen gegen die Vertikale verknüpften Drehungen alsbald wieder völlig rückgängig, sobald die Bewegung anhält. Alle diese Bewegungen betreffen stets beide Augen annähernd in gleichem Maße. Sehr wahrscheinlich, aber meines Wissens nicht bewiesen ist das Vor- kommen analoger Nystagmuszuckungen bei Rotationen des Körpers um die Querachse des Kopfes. Die hier besprochenen Nystagmen führen wie auch meistens der Nystag- mus anderen Ursprungs nicht zu Scheinbewegungen der Gesichtsobjekte, sie werden subjektiv überhaupt nicht wahrgenommen (während sie objektiv am Auge eines anderen leicht zu sehen sind). Sie teilen diese Eigenschaft mit manchen willkürlichen Bewegungen von kleinem Betrage und großer Ge- schwindigkeit, wie sie z. B. beim Lesen stets ausgeführt werden. Vgl. über diesen Punkt unter anderen Holt). Sowohl horizontaler wie rotatorischer Nystagmus kommt auch bei Tieren vor. Außerdem gibt es bei Vögeln einen „Kopfnystagmus*. Eine Taube, die, auf einer Drehscheibe sitzend, rotiert wird (etwa eine Umdrehung in 1 bis: - 2 Sekunden), zeigt dieses Pendeln des Kopfes aufs deutlichste, ebenso wenn man die Taube vor sich in den Händen hält (Kopf nach vorn, vom Experi- mentator abgewandt) und nun mit dem Tiere in den Händen sich langsam auf dem Absatze umdreht. Der Kopf bleibt dauernd um ein gewisses Maß in dem der Rotation entgegengesetzten Sinne abgelenkt und pendelt nun während des Drehens nystagmisch um diese Lage. In einem speziellen, von !) Eye-Movement and Central Anaesthesia. Psychol. Rev. 4, 1903; Harvard Psych. Studies 1, 1903. Nachbewegungen. 7717 Ewald angegebenen Falle z. B. pendelte der Kopf in horizontaler Ebene zwischen einer Ablenkung von 95 und 120%. Ewald!) nennt in solchem Falle 120° den Reaktionsendwinkel, 25° die Nystagmusphase. b) Nachbewegungen des ganzen Körpers nach Rotation. Bei Besprechung des Drehschwindels wurde oben schon erwähnt, daß nach anhaltenden raschen Drehungen des Körpers um die Längsachse unter Umständen der Zwang besteht, die Drehung wider Willen in gleichem Sinne noch fortzusetzen. Bei manchen Menschen bedarf es dazu nur einer einzigen vollständigen Achsendrehung des Körpers, bei anderen tritt diese Erscheinung erst nach längerer Rotation auf. Sie ist sehr wohl zu unterscheiden von der durch das Trägheitsgesetz bedingten Nachwirkung einer Drehung. Hält man eine Person, die durch mehrere rasche Umdrehungen Drehschwindel bekommen hat, plötzlich für einen Augenblick fest und läßt sie dann los, so wirkt die vorausgegangene Drehung immer noch in der Weise nach, daß Tendenz zur Weiterdrehung besteht. Da die Reaktion hauptsächlich auf Kopf und Rumpf wirkt und keine geordneten aktiven Drehbewegungen mit Hilfe der Beine auslöst, kommt nur ein Taumeln zustande. Die Person fällt um, wenn sie sich nicht festhalten kann. Auch bei Tieren haben die auf solche Weise ausgelösten Nachbewegungen in der Regel etwas Ungeordnetes, Taumelndes an sich, doch kommt es hier leichter zu wirklichen aktiven Nachrotationen um die vorherige Achse der passiven Drehung, einmal weil bei diesen Tierversuchen meist schnellere und längere Drehungen möglich sind, als man sie beim Menschen riskieren darf, dann aber auch deshalb, weil bei den meisten Tieren das Gleichgewicht des Körpers ein viel stabileres ist als beim Menschen, der im Schwindel ein- fach umfällt; Vierfüßer rutschen im gleichen Falle etwas ungeschickt in so- genannter Uhrzeigerbewegung auf dem Boden herum. Auch schwimmende Wirbeltiere zeigen die Nachbewegung nach Rotation: Froschlarven, die auf der Drehscheibe rotiert worden sind, schwimmen nachher mit heftigen Schwanz- schlägen in kleinen Kreisen in der Drehrichtung herum, jedoch erst von dem Entwickelungsstadium an, in welchem das Labyrinth ausgebildet ist (Schaefer?). Bei wirbellosen Tieren ohne labyrinthähnliches Organ fehlen analoge Reaktionen gänzlich. Auf manche Einzelheiten der hierher gehörigen Beobachtungen wird weiter unten bei den Erörterungen über den Auslösungsort des Drehschwindels zurückzukommen sein. Anhaltende schnelle Rotationen des Körpers, sowohl aktive wie passive, versetzen den gesamten Nerven- und Muskelapparat des Körpers bei Mensch und Tier in einen Zustand der Unsicherheit und Schwäche, die Fähigkeit, Objekte zu fixieren, ist beeinträchtigt, das Binocularsehen ist gestört, es kann hochgradiges Übelbefinden und Erbrechen eintreten. Die Achse der aktiven Nachdrehungen nach dem Aufhören passiver Rotation wird durch die Art der Anbringung des Tieres auf der Drehscheibe bestimmt. Das auf der Drehscheibe sitzende Kaninchen macht nachher, auf !) Physiolog. Unters. ü. d. Endorgan d. Nerv. octavus. Wiesbaden 1892. — 2) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 7, 1ff. 778 "Labyrinth. den Tisch gesetzt, Uhrzeigerbewegungen; das um die Körperlängsachse rotierte Tier rollt auch nachher um diese Achse (Mach). Die Analogie zu den oben S. 765 beschriebenen Erscheinungen des subjektiven Purkinjeschen Dreh- schwindels liegt auf der Hand; bestimmend istin beiden Fällen die Lagerung des Kopfes zur Rotationsachse, nicht die des Rumpfes. VI. Erfahrungen über die Funktionen des Labyrinths. 1. Historische und anatomische Vorbemerkungen. Beobachtungen an Tieren waren es, die zuerst die Aufmerksamkeit auf die Beziehungen lenkten, die zwischen dem Ohrlabyrinth und der hier be- sprochenen Kategorie von Empfindungen heutzutage angenommen werden, Flourens!) sah 1828, daß Verletzung und Reizung der halbzirkel- förmigen Kanäle (Bogengänge) der Taube Zwangsbewegungen und Ver- drehungen des Kopfes im Gefolge haben. Nach Durchschneidung eines oder beider horizontaler Bogengänge fand Flourens Pendelbewegungen des Kopfes in der horizontalen Ebene, bei Durchschneidung eines der vertikalen Gänge Bewegungen in dessen Ebene. Nach ausgedehnten Zerstörungen am Laby- rinth mit Erhaltung der Schnecke erschien der Gehörssinn nicht geschädigt, wohl aber die Stabilität des ganzen Körpers, die Lokomotion war schwer geschädigt, das Fliegen unmöglich. Das Tatsächliche von Flourens’ Untersuchungen wurde bald von vielen Seiten bestätigt, doch deuteten die meisten Autoren zunächst die bei Verletzung der Bogengänge entstehenden Reizerscheinungen und Zwangsbewegungen als Ausdruck subjektiver Schalleindrücke 2); andere?) dachten an direkt oder indirekt durch die Operation bewirkte Schädigung des Kleinhirns, dessen Beziehung zu Zwangsbewegungen man schon kannte. In ein neues bedeutungsvolles Stadium trat die Forschung nach der Funktion der Bogengänge 1870 durch die Untersuchungen von Goltz), der auf Grund seiner Versuch an Fröschen zu der Auffassung des Bogengang- systems als eines Sinnesorgans für das Gleichgewicht des Kopfes gelangte. Die Art, wie Goltz sich die Wirkungsweise der Bogengänge im einzelnen dachte, wurde bald durch Mach) und Breuer $) als nicht zutreffend erkannt, und auch die Bezeichnung der Bogengänge als Organe des „Gleichgewichts- sinns“ kann heutzutage nicht widerspruchslos hingenommen werden. In der Hauptsache aber hatte Goltz unzweifelhaft recht, und das Verdienst, der Forschung den richtigen und späterhin so erfolgreichen Weg gewiesen zu haben, bleibt ihm unbestritten. !) Experiences sur les canaux semieirculaires ete. M&m. de l’Acad. 9 (1828) und Compt. rend. Acad. scienc. 52, 673. — *) Diese Auffassung wurde auch noch in neuerer Zeit vertreten, so von Vulpian, Lecons sur la physiologie du systeme nerveux, Paris 1866, p. 600; von A. Tomascewicez, Diss., Zürich 1877; Laborde, Trav. Lab. physiol. Fac. med., Paris 1885, p. 31; Preyer, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 40, 596. — °) Vgl. unter anderen: Bötticher, Arch. f. Ohrenheilk. 9, 1; Baginsky, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1881 u. 1885. — *) Arch. f. d. ges. Physiol. 3, 172. — °) Sitzungsber. d. Wiener Akad. 68 (1873) u. 69 (1874). — °) Anzeiger d. k. k. Gesellsch. d. Ärzte, 1893, Nr. 7 u. Wiener med. Jahrb. 1874 u. 1875; Arch. f. d. ges. Physiol. 44, 135 und 68, 596. Bau des Labyrinths. 779 Die Untersuchungen über die Funktion des Labyrinths, die sich an die Goltzsche Publikation anschlossen, zählen nach Hunderten und ihre Aufzäh- lung an dieser Stelle erscheint daher ausgeschlossen. Abgesehen von etlichen Arbeiten, deren Ergebnis aus besonderen Gründen unten erwähnt werden muß, sei hier nur das Werk von Ewald!) über das Endorgan des Nervus octavus besonders genannt, in dem die sorgfältigen Untersuchungen dieses Forschers über die Funktion des Labyrinths hauptsächlich der Taube nieder- gelegt sind. Auch wer, wie ich, den Folgerungen Ewalds sich nicht in allen Punkten anschließen kann, wird doch die Bedeutung seiner mit großem Auf- wand an Zeit und Mühe und mit glänzender Technik ausgeführten Versuche voll anerkennen. Die folgende Darstellung stützt sich denn auch in der- Hauptsache auf die Angaben Ewalds. Fig.‘ 127. Fig. 128. Rec. ellipt. A. sup. A. lat. - foram. _ Fenestra cochl. Fig. 127. Abguß des linken knöchernen Labyrinths von außen (aus Henle-Merkels Grundriß der Anatomie). Fig. 128. Linkes knöchernes Labyrinth von oben. * Abgüsse der auf der Pyramis vestibuli mündenden = Kanälchen. (Aus Henle-Merkels Grundriß der’Anatomie.) A. sup. Ampulle des oberen Bogen- R ganges. Fig. 129. Cr. c. Gemeinsamer Schenkel des Recess. labyr. oberen und hinteren Bogen- ganges. A. post. Ampulle des hinteren Bogenganges. A. lat. Ampulle des äußeren Bogenganges. Das häutige Labyrinth, das die Endigungen des Ramus vestibularis Nervi acustici enthält, liegt in einem im Felsenbein aus- Duct. cochl. ” Utricul. gesparten Hohlraume, dem h 3 D Linkes häutiges Labyrinth von außen. va, vp vorderer, hinterer knöchernen Labyrinth. Bogengang. Ah horizontaler Bogengang. * Vorhofsblindsack, Fi g 127 zei gt einen Abguß **4Kuppelblindsack des Ductus cochlearis. (Aus Merkel, Topo- graphische Anatomie). des linken knöchernen La- byrinths vom Menschen, vergrößert, von außen, Fig. 128 dasselbe von oben. Fig. 129 veranschaulicht die Gestalt des häutigen Labyrinths. Bei Tieren der höheren Wirbeltierklassen ist der Bau des Labyrinths demjenigen des Menschen sehr ähnlich. !) R. Ewald, Physiologische Untersuchungen über das Endorgan des Nervus octavus. Wiesbaden (Bergmann) 1892. 780 Bogengänge. > Aus der schematischen F ig. 130 ist die Orientierung der Bogengänge zueinander ersichtlich. Sie sind paarweise zusammengeordnet; rechts und Fig. 130. Schema der Bogengänge der Taube (nach Ewald). Man sieht von hinten in den geöffneten Schädel hinein. In der Ebene A liegt der Canal. ant., in der Ebene E der Canal. extern., in der Ebene P der Canal. post. links entsprechen sich je die hori- zontalen Bogengänge, die ihren Bogen nach außen kehren. Die beiden anderen Paare verlaufen nicht in frontaler und sagittaler Ebene, sondern zwischen beiden Richtungen etwa die Mitte haltend, und zwar so, daß der rechte vor- dere und der linke hintere etwa parallel verlaufen, ebenso der rechte hintere parallel dem linken vorderen. Die beiden vertikalen Bogengänge jeder Seite laufen mit ihrem hinteren Schenkel zu- sammen, so daß im Utriculus nur fünf statt sechs Einmündungs- stellen vorhanden sind. An dem einen Ende besitzt jeder Kanal eine kugelige Erweiterung, die Ampulle, in welche ein das Sinnesepithel tragender Wulst so weit vorspringt, daß dieses nahezu in die Achse des Kanals zu stehen kommt. Das Sinnes- epithel (Fig. 131) trägt lange, biegsame Haare von bei weitem Fig. 131. III | / \\) Hörhaare — ı | Limitans acust. Haarzelle Nervenfaser a A, AAN ns % N Sinnesepithel und Nervenendigungen in den Ampullen, A Osmiumsäurebehandlung, B Silberbehand- lung. (Nach v. Lenhossek aus Henle-Merkels Grundriß der Anatomie.) Zu Seite 781. Tafel I. Fig. 1. Querschnitt der Fig. 2. Querschnitt der Ampulla horizontalis (externa) vom Zeisig. — Ampulla sagittalis (superior) von der Taube (nach Breuer). Nagel, Physiologie des Menschen. III. Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig. Otolithenapparat. 781 größeren Dimensionen, als sie die gewöhnlichen Flimmerzellen aufweisen. Die Haare sind von einer schleimartigen oder gelatinösen Masse zu- sammengehalten, flottieren also nicht frei in der Endolymphe (vgl. Taf. II, Fig. 1 u. 2). Nicht selten findet man den ganzen Haarschopf stark auf die Seite gebogen, wie vom Winde umgelegte Halme. Bei jeder nicht ganz schonenden Präparation reißt das ganze aus Haaren und Schleimmasse be- stehende Gebilde, die Cupula terminalis, vom Epithel ab. Näheres über den Bau der Cupula und des Epithels siehe bei G. Retzius, Biologische Untersuchungen 6 und bei J. Breuer, Sitzungsber. k. Akad. Wien, mathem.- naturw. Kl. 112 (3), 1903. Geeignete Demonstrationspräparate der Cupula sind besonders leicht und’ schön vom Labyrinth des Hechtes zu gewinnen. Die Nervenendorgane im Utriculus und Sacculus sind denjenigen der Ampullen ziemlich ähnlich gebaut. Jeder dieser beiden Labyrinthteile ent- hält eine sog. Mucula acustica, zu der die Nerven treten. Die übrigen Wand- teile sind nervenlos. Fr Das Epithel der Maculae trägt kürzere Haare als das der Cristae in den Ampullen. Ihre Spitzen sind wie bei diesen durch eine festere Masse 'zusammengebacken; diese Masse (Otoconium) besteht aber hier aus den sog. Otolithen, mikroskopischen Kristallen von kohlensaurem Kalk. Da die Maculae und Cristae mit dem Hören sehr wahrscheinlich nichts zu tun haben, kann die Bezeichnung M. u. C. „aeustica* nur noch historische Be- deutung haben. Verworn hat den Vorschlag gemacht, die „Otolithen“ der höheren wie niederen Tiere nunmehr „Statolithen“ zu nennen, eine Anderung, die ich in- dessen nicht eigentlich notwendig finde, da durch den Stamm „Oto“ noch keines- wegs die Beziehung zum „Hören“ gegeben ist. Fig. 132 gibt ein Bild von dem Otolithenorgan der Macula utriculi von der Taube. Auf der Otolithenmasse sieht man einen schleimartigen Tropfen, der nach Breuers neue- ren Untersuchungen durch Schleimfäden mit der Utriculus- wand zusammen- hängt und offenbar von dort aus erneuert und erhalten wird. Über die Anord- nung der Ötoconien im Raume wird wei- ter unten noch zu sprechen sein. Detaillierte An- gaben über Bau und Anordnung der Sin- Querschnitt durch die Macula utriculi in der Ebene des Frontalkanals (nach J. Breuer). Fig. 132. Epithel Otolith Tropfen nesepithelien sowohl in den Ampullen wie im Utrieulus und Sacculus finden sich bei Breuer in dessen Arbeit aus dem Jahre 1903 (Sitzungsber. k. Akad. d. Wissensch. Wien; mathem.-naturw. Kl. 112, III). 782 Ausfallserscheinungen bei Labyrinthverlust. 2. Die Wirkung des Labyrinthverlustes bei Tieren. Die Analyse der Funktion des Labyrinths geht am zweckmäßigsten von der Beobachtung der Erscheinungen aus, die man an Tieren nach Entfernung des Labyrinths beobachtet; wir folgen hierin der Beschreibung von R. Ewald, die ich, soweit ich sie nachgeprüft habe, durchaus bestätigen kann. Auch von anderer Seite liegen mehrfach Bestätigungen vor. Einzelne Ab- weichungen s. u. Das Verhalten von Tauben nach beiderseitiger völliger Ent- fernung des häutigen Labyrinths. Hervorzuheben ist zunächst, daß die Wirkungen der Operation anfangs sehr auffallende und deutliche sind, daß sie aber im Laufe einiger Monate so weit zurückgehen, daß sie nur bei spezieller Prüfung bestimmter Funktionen deutlich zum Ausdruck kommen. Am interessantesten sind natürlich die dauernden Ausfallserscheinungen. Die labyrinthlosen Tauben gehen in normaler Weise, ohne jede eigent- liche ataktische Störung. Die Bewegungslust ist entschieden vermindert, doch tritt zeitweise eine gewisse Unruhe und Hast in den lokomotorischen und sonstigen Bewegungen hervor. Die Muskeln zeigen sämtlich eine ab- norme Schlaffheit und die Gliedmaßen daher eine auffallende Beweglichkeit. Die „grobe Kraft“ der Muskulatur ist entschieden vermindert, wie man bei den verschiedensten Versuchen bemerkt. Ein 40g schwerer Ring beispiels- weise, der um den Hals der Taube gelegt ist, zieht bald den Kopf nach unten, während eine nicht operierte Taube dieses Gewicht leicht trägt. Eine 20g schwere Bleikugel, die mit einem Faden am Schnabel des Tieres befestigt ist, zieht den Kopf stark nach unten. Fällt die Kugel bei den Bewegungen des Tieres nach hinten auf den Rücken, so wird der Kopf in stark rückwärts gebeugter Stellung durch das Gewicht fixiert; eine normale Taube überwindet das Gewicht mit Leichtigkeit. Der (unbeschwerte) Kopf wird, namentlich wenn die Augen verdeckt sind, etwas nach hinten übergebeugt gehalten. Die labyrinthlosen Tauben können nicht mehr fliegen, sie flattern nur kraftlos und ungeschickt auf kurze Strecken; dabei sind die Flugbewegungen wohl koordinierte. Dennoch ist der Flug entschieden schlechter als bei einer Taube ohne Großhirn !), die kraftvollere Bewegungen macht und beim Nieder- fliegen normal auf den Boden auffliegt, während die labyrinthlose Taube mit dena Rumpfe heftig auf den Boden aufschlägt. Anderseits fliegt die groß- hirnlose Taube nur, wenn sie in die Luft geworfen wird, die labyrinthlose dagegen versucht den Flug auch zuweilen spontan. Die labyrinthlose Taube kann anfangs nicht selbständig fressen, lernt es aber bei geeigneter Behand- lung mit der Zeit wieder. | Daß die Taube ohne Labyrinth noch hören sollte, ist eine Angabe Ewalds, die wohl von den meisten Autoren auf irrige Deutung seiner Ver- suche zurückgeführt wird. Erörterung dieser Frage erübrigt sich hier. Die Störungen nach nur einseitiger Entfernung des Labyrinths sind von anderer Art. Sie verlieren sich übrigens nach einigen Wochen oder Monaten wieder völlig. Die Tiere können fliegen und selbständig fressen. ‘) Diesen Unterschied speziell habe ich stets nachweisbar und besonders be- merkenswert gefunden. pe sie N ri Ausfallserscheinungen bei Labyrinthverlust. 783 Sind aber seit der einseitigen Operation erst wenige Tage vergangen, so sieht man der Taube die Störungen sogleich an. Sie schwankt beim Gang, fällt nicht selten um. Es entwickelt sich dann eine immer deutlicher werdende Kopfverdrehung, die bei sehenden Tieren in Anfällen von verschiedener Dauer auftritt, bei blinden Tauben dauernd wird. Stets wird der Kopf nach der operierten Seite hin geneigt. Die Drehung kann so weit gehen, daß der Scheitel nach unten kommt. Die verschiedenartigsten Reize lösen die Ver- drehungsanfälle aus. Wird nun während dieses Stadiums auch das zweite Labyrinth entfernt, so bleiben die Verdrehungsanfälle sofort aus. Prüft man, wie schwere Gewichte an das Bein einer Taube gehängt werden müssen, um das Bein passiv zu strecken, so findet man das Bein der _ labyrinthlosen Seite durch erheblich geringere Gewichte streckbar. An den Füßen aufgehängt, zeigt sich eine einseitig operierte Taube ebenfalls schwächer als eine normale, die sich aufzurichten und in die Höhe zu fliegen vermag, soweit es der Faden gestattet. Eine gewisse Muskelschwäche scheint bei einseitiger Operation dauernd bestehen zu bleiben, die Kopfverdrehungen indessen verlieren sich mit der Zeit völlig: Bei Säugetieren gelingt die Entfernung des ganzen Labyrinths lange nicht mit solcher Reinlichkeit und Eleganz wie bei Vögeln, und auch die an ihrer Stelle vielfach versuchte Durchschneidung des Nervus acusticus ist nicht ohne so tiefgreifende Schädigungen anderer Teile ausführbar, daß man vertrauen könnte, hier rein nur die Wirkung des Labyrinthausfalls vor sich zu haben. Ich verzichte daher auf die Beschreibung der nach solchen Operationen ge- machten Beobachtungen und werde sie nur weiter unten bei einigen speziellen Fragen zu erwähnen haben. Sehr leicht gelingt dagegen die Entfernung des ganzen Labyrinths ohne . nennenswerte Nebenverletzungen bei Fröschen nach einer von Schrader!) angegebenen Methode, bei der man von der Mundhöhle aus das Felsenbein anbohrt, um das Labyrinth mit einem Häkchen herauszuholen. Die Aus- führung der Operation am Frosch, die in wenigen Minuten gemacht werden kann, empfiehlt sich zu Demonstrationszwecken ganz besonders; wenn auch die Erscheinungen bei den niedriger organisierten Tieren weniger mannigfaltig sind als bei Vögeln, so stimmen sie doch im Prinzip mit den oben beschriebenen überein und führen zu den gleichen theoretischen Schlüssen wie jene. Auch der beiderseitig labyrinthlose Frosch zeigt eine deutliche Muskel- schwäche. Nimmt man ihn in die Hand, so fühlt man die Kraftlosigkeit seiner Befreiungsversuche. Er sitzt meist platter, zusammengesunken da, hebt den Kopf fast nie so in die Höhe, wie es ein gesunder Frosch oft lange Zeit hintereinander tut. Er springt viel seltener, wenn er nicht irgendwie gereizt wird. Der Sprung ist schwächer und sieht häufig ganz seltsam un- geschickt aus; zuweilen springt der Frosch fast senkrecht in die Höhe, wie es der normale nie tut. Dabei überschlägt er sich häufig und fällt nun mit dem Rücken nach unten auf den Boden, was.beim gesunden Tier ebenfalls nie geschieht. Auch richtet sich der labyrinthlose Frosch lange nicht so schnell und sicher wieder auf, wenn er auf den Rücken gelegt wird. Ist er !) Arch. f. d. ges. Physiol. 41, 75. 784 Labyrinthreflexe. durch einige Sprünge ermüdet, so bleibt er auch wohl lange Zeit auf dem Rücken liegen. Sehr auffallend zeigt sich die Abnormität im Wasser. Auch hier fällt zunächst die Mvskelschwäche auf; alle Bewegungen sind schlaffer und energie- loser als in der Norm. Setzt man einen labyrinthlosen Frosch auf die Hand und taucht diese langsam ins Wasser, bis der Frosch untergetaucht ist, und zieht nun vorsichtig die Hand unter dem Tiere weg, so sinkt dieses nicht selten wie leblos zum Grunde, unter Beibehaltung seiner vorigen sitzenden Stellung. Wirft man das Tier dagegen ins Wasser, so macht es Schwimm- bewegungen, bei denen aber ein mattes Strampeln mit beiden Beinen ab- wechselnd viel häufiger beobachtet wird als beim normalen Frosche. Zwischen- durch sieht man dann auch wieder etliche kräftige koordinierte Schwimmstöße mit beiden Beinen gleichzeitig. Dabei ist die Haltung des Körpers im all- "gemeinen die normale. Doch sieht man zuweilen, was beim normalen Frosch nie vorkommt, eine Achsendrehung des Tieres, durch die für einen Augenblick die Bauchseite nach oben kommt. Daß ein Frosch eine etwas längere Strecke mit dem Bauch nach oben schwimmt, kommt spontan, soweit ich gesehen habe, nur bei ermüdeten Tieren vor, bei diesen aber sowohl gleich nach der Operation wie auch viele Wochen später. Überhaupt bleiben die hier er- wähnten Erscheinungen lange, vielleicht dauernd bestehen. Läßt man einen labyrinthlosen Frosch mit dem Bauch nach oben sacht ins Wasser fallen, so kann man meistens einige Schwimmbewegungen in dieser abnormen Lage beobachten. Nach einseitiger Labyrinthentfernung sind die Erscheinungen der Muskel- schwäche nur angedeutet. Ein solcher Frosch bleibt auch nicht auf dem Rücken liegen, schwimmt auch nicht auf dem Rücken. Dagegen überschlägt er sich ebenfalls häufig beim Sprung und springt fast stets in krummer Bahn. Das am meisten in die Augen fallende Symptom ist die Kopfver- drehung, die sofort nach der Operation einsetzt und nicht nur wie bei der Taube anfallsweise besteht, sondern anhaltend (der Kopf wird auf der labyrinthlosen Seite tiefer gehalten). Im Wasser sinkt der Frosch mit der operierten Seite tiefer hinab, die Extremitäten der operierten Seite hängen schlaffer. Weitere Einzelheiten bezüglich des Verhaltens einseitig oder doppelseitig operierter Tiere s. unter anderen bei Ewald (l. c.). Über die Wirkung der Zerstörung und der Reizung einzelner Bogengänge s. u. S. 786 ff. 3. Die Labyrinthreflexe. Die oben erwähnten, bei Bewegungen des Rumpfes und Kopfes eintreten- den Reflexbewegungen werden großenteils im Labyrinth ausgelöst. Die kompensatorischen Augenbewegungen und Kopfbewegungen ver- schwinden, sobald das Labyrinth zerstört oder der Acusticus durchschnitten ist. Bei Kaninchen, denen der Acusticus von der Paukenhöhle aus zerstört ist, hören die Raddrehungen des Auges, durch welche aktive und passive Kopfbewegungen um die Querachse großenteils kompensiert werden, sofort auf, wenn die Operation beiderseitig ausgeführt ist. Bei Fröschen fallen die Augen- und Kopfbewegungen weg, durch die passive Körperbewegungen teil- De u un re u Ne An en Labyrinthreflexe. 785 weise kompensiert werden. Der normale Frosch, auf dem Froschbrett auf- gebunden, hebt den Kopf, wenn man das Brett um die Querachse des Tieres langsam so dreht, daß das Kopfende des Tieres sich senkt, d. h. er kompen- siert die Drehung zu einem gewissen Bruchteil. Gleichzeitig rotieren die Augen so, daß auch hierdurch der Verlagerung’ des Netzhauthorizontes ent- gegengewirkt wird. Nichts von diesen Erscheinungen zeigt der labyrinthlose Frosch. Er bewegt Kopf und Augen mit der Unterlage, auf der er befestigt ist, ohne irgend eine Reaktionsbewegung. Auch bei Fischen hebt Labyrinth- zerstörung die kompensatorischen Augenbewegungen auf. Loeb!) fand dies bezüglich der kompensatorischen Hebungen und Senkungen der Blicklinie bei Drehungen des Fisches (Seyllium) um seine Längsachse. Ich habe die. kompensatorischen Rollungen bei Süßwasserfischen in gleicher Weise vom Labyrinth abhängig gefunden. Schlangen, Blindschleichen und Eidechsen, die man in der Mitte des Körpers faßt, pflegen den Kopf horizontal zu halten, gleichviel, wie man den Körper hält und bewegt. Da sie dies auch bei verklebten Augen noch tun, ist es sehr wahrscheinlich, daß auch hier das Labyrinth als Auslösungsort für den Reflex funktioniert, wobei die Schwerkraft in der unten noch näher zu besprechenden Weise als Reiz wirkt. Auch bei Vögeln dürfte das Labyrinth die gleiche Funktion haben, und auf Labyrinthreflexen wird es wohl zum größten Teil beruhen, wenn z. B. Eulen, die, am Rumpfe gehalten, in verschiedene Lagen gebracht werden, den Kopf fast stets in derselben Lage halten, in der er auch bei aufrechter Rumpfhaltung steht, d. h. den Scheitel oben. Bei Tauben allerdings scheint nach Ewalds Beobachtungen für die Auslösung der kompensatorischen Kopf- bewegungen auch der Gesichtssinn eine nicht unwichtige: Rolle zu spielen. Die kompensatorischen Raddrehungen des menschlichen Auges aber sind von den Gesichtseindrücken gänzlich unabhängig und unzweifelhaft vom Labyrinth beherrscht (Breuer). Sie fehlen auch bei Blinden nicht. Daß sie nicht etwa als assoziierte Mitbewegungen aufzufassen sind, geht schon daraus hervor, daß sie auch ohne jede aktive Tätigkeit der Rumpf- und Extremitäten- muskulatur auftreten, wenn der Körper unbeweglich auf einem Brett befestigt ist und mit diesem um eine sagittale Achse gedreht wird, Der Augen- und Kopfnystagmus (s. o. S. 775) fehlt bei Tieren ohne Labyrinth vollständig, wie besonders überzeugend Ewald an Tauben gezeigt hat. Um alle nystagmischen Bewegungen des Kopfes zu beseitigen, müssen allerdings die Augen exstirpiert oder verschlossen sein, oder es muß dafür gesorgt sein, daß die sämtlichen im Gesichtsfelde des Tieres befindlichen Objekte mit rotieren. Der Behauptung v. Cyons?), der Nystagmus wie über- haupt die Reaktionen auf der Drehscheibe würden durch die Verschiebung der Gesichtsobjekte bewirkt, weil Frösche mit Dunkelkappe sie (häufig) nicht mehr zeigen, ist durch Breuer®) und mich) widersprochen worden. Das Überziehen einer Dunkelkappe hemmt allerdings diese wie auch andere Reflexe, dasselbe tun aber auch beliebige andere sensible Reize, wie z. B. das feste Umschnüren eines Beines. Y) Arch. f. d. ges. Physiol. 49, 175, 1891. — *) Arch. f. Physiol. 1897, 8. 29 bis 111. — ®) Arch. f. d. ges. Physiol. 68, 596. — *) Ztschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 16, 392. Nagel, Physiologie des Menschen. III. 50 786 Labyrinthtonus. 4. Der Labyrinthtonus. Es ist das Verdienst R. Ewalds, zuerst mit Nachdruck darauf hin- gewiesen zu haben, daß ein großer Teil der Störungen und Anomalien, die man an labyrinthlosen Tieren beobachtet, auf Schwäche und Atonie der Muskulatur beruht, die unmittelbar nach der beiderseitigen Entfernung des Labyrinths einsetzt. Es wurde oben schon auf einige dieser Erscheinungen hingewiesen; hier sei noch kürz erinnert an die Schlaffheit der Glieder des Frosches und an die ähnlichen Schwächeerscheinungen bei Tauben, die sich namentlich beim Flug bemerkbar machen. Ewald gibt (l. c.) noch eine ganze Anzahl spezieller Versuche an, durch die die Schwäche der verschiedenen Muskel- gruppen nachgewiesen werden kann. Auch beim Hunde fand er Ähnliches. Außer der Schädigung der groben Kraft und der Herabsetzung des Tonus bemerkt man an den Muskelaktionen einen Mangel an Präzision, der nach Erfahrungen der allgemeinen Muskelphysiologie mit der Tonusver- minderung unschwer in Verbindung zu setzen sein dürfte. Ewald nimmt an, daß jedes Labyrinth mit jedem Muskel des Körpers in Beziehung steht und den Tonus der Gesamtmuskulatur beherrscht, daß aber die Beziehungen zu den einzelnen Muskelgruppen sehr ungleich nahe sind; bei den einzelnen Tierarten dürften diese Verhältnisse erheblich wechseln. Ewald!) hat nach- gewiesen, daß die Totenstarre bei Tieren später auf der Seite mit zerstörtem Labyrinth als auf der anderen eintritt. Nach allen diesen Erfahrungen stellt sich also der Einfluß des Labyrinths auf die Muskulatur sehr ähnlich demjenigen dar, den die Gesamtheit der centripetalen Nerven überhaupt ausübt, und die Wirkung der Labyrinth- entfernung ähnelt in den von Ewald besonders hervorgehobenen Punkten der Wirkung, die man bei der Durchschneidung der hinteren Rückenmarks- wurzeln beobachtet. Man kann gewiß von einem speziellen „Labyrinthtonus* oder, wie Ewald sagt, „Ohrtonus“ sprechen, wird diesen aber nur als einen besonderen Fall des Reflextonus überhaupt auffassen müssen. Recht zweifel- haft erscheint es mir, ob es zweckmäßig ist, mit Ewald am Labyrinth die zwei von den beiden Hauptästen des Acusticus versorgten Teile als Hör- labyrinth (Schnecke) und Tonuslabyrinth (übrige Abschnitte des Laby- rinths) zu unterscheiden. Es würde hiermit die Bedeutung der Bogengänge und der übrigen Endorgane des Ramus vestibularis für die Tonuserhaltung in einer einseitigen und den Tatsachen doch nicht hinreichend entsprechenden Weise in den Vordergrund gestellt werden. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Labyrinthtonus durch Vermittelung des Kleinhirns zustande kommt, dessen enger funktioneller Zusammenhang mit dem Labyrinth einerseits, dem gesamten Muskelsystem anderseits außer Zweifel steht; vgl. hierzu unten S. 804 ff. 5. Die Wirkung der Ausschaltung und Reizung einzelner Bogengänge. Bei Vögeln gelingt es verhältnismäßig leicht, einen einzelnen Bogengang außer Funktion zu setzen oder zu reizen. Die Folgen der Verletzung eines ') Arch. f. d. ges. Physiol. 63, 521, 1896. Zerstörung und Reizung der Bogengänge. 787 einzelnen Bogenganges gehören zu denjenigen Erscheinungen, die schon Flourens beobachtet hatte, als er zum erstenmal die Aufmerksamkeit auf die eigenartigen Funktionen des Labyrinths lenkte. Um rein zu experimen- tieren, muß man entweder zunächst den Blutsinus entfernen, der an jedem Bogengang entlang läuft, oder unter Schonung dieses Sinus den knöchernen Kanal eröffnen. Das eleganteste Verfahren hat Ewald angegeben, der in den angebohrten knöchernen Kanal Plombierungsmasse eintreibt, die den häutigen Kanal auf eine längere Strecke komprimiert und veröden läßt, so daß man späterhin den ganzen Kanal durchschneiden oder herausnehmen kann, ohne ein Tröpfchen der Endolymphe zu verlieren oder auch nur das häutige Labyrinth zu eröffnen. h Die auf die eine oder andere Weise bewirkte Zerstörung eines Bogen- ganges hat, abgesehen von den während der Operation auftretenden Reiz- erscheinungen (s. u.) so gut wie gar keine Wirkung auf das Verhalten eines Tieres, um so weniger, je reiner, d. h. mit je weniger Nebenverletzungen ge- arbeitet wird. Merkliche Störungen treten dagegen auf, wenn auch der in derselben Ebene orientierte Kanal der anderen Seite ausgeschaltet ist. Die auffallendste Wirkung dieser Operation ist ein häufig auftretendes und oft lange anhaltendes Hin- und Herpendeln des Kopfes in der Ebene der zer- störten Kanäle. Bei der Lokomotion der Tiere (Tauben) kommt es leicht zu _ Kreis- und Rundbahnbewegungen. C. J. König!) fand und Breuer?) bestätigte, daß dieselbe Wirkung wie durch Plombierung der Gänge auch durch Einbringung von Cokain in die Perilymphräume erzielt werden kann. Erfolgreiche mechanische Reizung einzelner Bogengänge hat zuerst (1875) Breuer erzielt. Ewald hat die Methodik vervollkommnet und inter- 'essante neue Versuche ausgeführt. Zerrung oder Durchschneidung eines Bogenganges hat die unmittelbare Folge, daß der Kopf nach der anderen Seite gewendet wird; kurze Zeit danach kehrt sich dann die Bewegung um (Breuer). Ähnlich wirkt der chemische und osmotische Reiz, der beim Ein- bringen eines Kristalles von Salz u. dgl. in den Bogengang zustande kommt. Auch das Cokain wirkt zunächst in dieser Weise reizend durch Wasser- entziehung. Alle diese Reize wirken nur dadurch, daß sich ihre Wirkung bis auf die Ampulle erstreckt, während der nervenlose Bogengang selbst nicht reizbar ist, wie besonders klar Ewald zeigte. Wird der knöcherne Kanal an einer beliebigen Stelle eröffnet und nun durch eine in das Löch gesteckte Borste oder Nadel auf den häutigen Kanal ein Druck oder Stoß ausgeübt, so tritt alsbald eine einmalige Pendelbewegung des Kopfes in der Ebene des betreffenden Kanals auf. Die gleiche Wirkung erzielte Ewald durch eine am Kopf der Taube angekittete winzige Hammervorrichtung, die pneumatisch betrieben wird, also auch auf größere Distanz in Tätigkeit gesetzt werden kann. Auch durch kleine an den eröffneten Kanal angesetzte Schläuche kann eine künstliche Strömung der Endolymphe erzeugt werden. !) Contribution & l’etude experimentale des canaux semieirculaires. Thöse, Paris 1897.:— ?) Sitzungsber. Wiener Akad. d. Wissensch., mathem.-naturw. Kl., 112 (1903). { 50* 788 . Elektrische Labyrinthreizung. Alle diese Reizungen versagen, wenn die betreffende Ampulle durch Cokain anästhesiert ist. Auch durch elektrischen Reiz können die einzelnen Ampullen erregt werden (Breuer!), und sie lösen dann Kopfbewegungen in der Ebene des betreffenden Kanals aus. Die isolierte Reizung gelingt nur bei Anwendung besonderer Vorsichtsmaßregeln, während man die diffuse Erregung eines Labyrinths leicht erhält, wenn man nur die eine Elektrode an das freigelegte Labyrinth anlegt. Die Folge dieser diffusen Erregung ist die von Breuer so genannte „galvanotropische Reaktion“, bestehend in einer Neigung des Kopfes zur Anode hin. Derartige Reaktionen sind bei sehr vielen Tieren, auch Säugetieren, leicht hervorzurufen, und sie entsprechen durchaus den auch beim Menschen erzielten. Für isolierte Reizung einzelner Ampullen ‚eignen sich am besten Tauben. Die galvanotropische Reaktion tritt schon bei sehr geringen Stromstärken deutlich auf (0,05 Milliamp. nach Jensen, Arch. f. d. ges. Physiol. 64, 218), die durch isolierte Reizung der Ampulla externa erzeugte Kopfwendung erst bei wesentlich stärkeren Strömen. Weitere Einzelheiten über diese Versuche s. bei Breuer (1903). 6. Störungen der Bewegungs- und Lageempfindungen als Folge von Labyrintherkrankungen. Die Erfahrungen aus der Pathologie des Labyrinths beim Menschen können an dieser Stelle nicht übergangen werden, wenigstens insoweit sie uns wichtige Ergänzungen zu den physiologischen Beobachtungen ergeben. Als Menieresche Krankheit?) bezeichnet man einen Symptomenkomplex, der so ziemlich dem entspricht, was man nach den Erfahrungen an Tieren mit lädiertem Labyrinth bei einem Menschen erwarten müßte, dessen Labyrinth’ krank ist. Außer Schwerhörigkeit bzw. Taubheit und störenden subjektiven Geräuschen beobachtet man starken Schwindel, Zwangsbewegungen, unsicheres Gehen und Stehen, bei höheren Graden auch Erbrechen und Ohnmacht. Blutungen oder Entzündungen im Labyrinth stellen sich als Ursache dieses Symptomenkomplexes heraus, der übrigens in sehr ähnlicher Weise auch bei entzündlichen und geschwulstigen Prozessen auftritt, die den Acusticusstamm schädigen. Zu bedenken ist, daß in allen diesen Fällen das dem Labyrinth und dem Acusticusstamme so nahe liegende Kleinhirn von diesen Affektionen leicht mit betroffen wird und daß Kleinbirnerkrankungen sehr ähnliche Er- scheinungen bewirken können wie VPE EEE En Näheres hierüber s. in der klinischen Literatur. Interessanter, weil vom ohystölöglachän: Standpunkte Hasler verwertbar, sind die chronischen Affektionen des Labyrinths, die zur Taubstummheit führen, wenn sie in früher Kindheit auftreten. Auch angeborene Defekte des Labyrinths mit gleicher Wirkung kommen vor. Allerdings findet man nicht bei allen Taubstummen Labyrinthaffektionen. Mygind?) hat die Labyrinthe von 118 Taubstummen bei der Sektion untersucht und bei 80 derselben (67 Proz.) pathologische Veränderungen gefunden. Vestibulum und Schnecke ') Arch. f. d. ges. Physiol. 44, 145 (1888) u. Sitzungsber. Wien. Akad. 112, 49 (1903). — ?) Gaz. med. de Paris 1861. — °?) Arch. f. Ohrenheilk. 30, 76. EI rn a a I FE Labyrintherkrankungen. — Taubstummheit. 789 waren etwa gleich häufig Sitz der Erkrankung (je 40 Proz.).. Die Bogen- gänge waren in etwa 56 Proz. der Fälle ergriffen. Es ist nun sehr be- merkenswert, daß auch durchaus nicht alle Taubstummen Anomalien im Ge- biete der Bewegungs- und Lageempfindungen aufweisen und daß ebenfalls die Reflexe, die man neuerdings mit dem Labyrinth in Zusammenhang bringt, nur bei einem Teil der Taubstummen fehlen oder merklich geschwächt sind. So vermißte Kreidl!) den horizontalen Augennystagmus bei passiver Drehung um die Vertikalachse in etwa 50 Proz. seiner Fälle von Taubstummheit (109 Fälle wurden untersucht). Bei einer weiteren (kleinen) Zahl von Fällen (etwa 18 Proz.) war der Nystagmus subnormal oder ganz geringfügig. Bei anderen Versuchen, in denen Kreidl annähernd die Bedingungen‘ des oben erwähnten Machschen Versuches mit Karussellbewegung einhielt, verfielen 21 Proz. der Taubstummen nicht in die bei Normalen unvermeid- liche Täuschung über die Orientierung zur Vertikalen. Es waren das sämtlich solche, die auch keinen Drehnystagmus hatten. Ein erheblicher Prozentsatz dieser Kranken zeigte auch gestörte Lokomotion, namentlich bei geschlossenen Augen, sie konnten meistens nicht mit geschlossenen Augen auf einem Beine stehen. James?), der zuerst die Aufmerksamkeit auf die Örientierungs- störungen der Taubstummen gelenkt hat, fand, wie schon oben erwähnt, unter 25 Taubstummen 15, die, unter Wasser tauchend, völlig die Orientierung verloren, den Boden des Bassins und dessen Wände nicht mehr unterscheiden konnten und nicht wußten, in welcher Richtung sie sich zu bewegen hatten, um die Oberfläche zu erreichen, während sie derartige Störungen nicht hatten, wenn sie den Kopf über Wasser behielten. Ferner konstatierte James, daß von 519 Taubstummen 186 bei rascher Rotation um die Vertikalachse nicht schwindlig wurden, während von 200 Gesunden 199 Schwindel bekamen ?). Jene 15, die beim Tauchen desorientiert wurden, gehörten alle zu den schwindelfreien. Daß diese verschiedenen Störungen der Empfindung wie der Reflexe nicht gleich häufig und nicht immer alle zusammen gefunden werden, erklärt sich nach der weiter unten auseinanderzusetzenden theoretischen Auffassung dieser Störungen sehr einfach daraus, daß ein Teil derselben auf Defekten der Otolithenapparate im Labyrinth, ein anderer auf Schädigung der Bogen- gänge beruhen dürfte. Diese beiden Affektionen aber treten nicht stets zu- sammen auf, sondern die Bogengänge sind, wie aus der oben erwähnten Statistik von Mygind hervorgeht, häufiger erkrankt als die Otholiten- apparate. !) Arch. f. d. ges. Physiol. 51, 119. — *) Amerie. Journ. of otology 1887. — ®) Nach passiver Rotation verhält sich also der normale Mensch zum schwindel- freien Taubstummen gewissermaßen wie in Tyndalls hübschem Versuch das rohe Ei zum gekochten: das rohe Ei, auf der Tischplatte zur Rotation gebracht, dreht sich, wenn man es auf einen Augenblick angehalten hat, sofort wieder weiter, während das gekochte Ei stets ruhig liegen bleibt, wenn die Rotation einmal unter- brochen war. — So irreführend dieser Vergleich sein kann, so anschaulich und belehrend kann er in richtiger Beleuchtung sein. Er versinnbildlicht die Rotations- remanenz im flüssigen Labyrinthinhalt. 790 ‚Theorie der Labyrinthfunktion. VII. Theoretisches über die Funktionen des Labyrinths. 1. Die Mach-Breuersche Theorie !). Bis zum Jahre 1870 betrachtete man das gesamte häutige Labyrinth als Sitz des Gehörssinns. Da man über die Funktion der Schnecke schon spezielle Theorien hatte und sie als das Gehörsorgan xorT&£oyrv auffaßte, mußte man für die „Maculae acusticae“* des Utrieulus und Sacculus mit ihren Otolithen sowie für die halbzirkelförmigen Kanäle Spezialfunktionen ersinnen; die auf beweglichen Haaren schwebenden Otolithen schienen ebenso wie die Gehör- steine in den Otocysten wirbelloser Tiere besonders geeignet, bei Schall- einwirkungen in Schwingung zu geraten und dabei die darunter liegenden Nervenendigungen mit Hilfe der Haare zu erregen. Da die Perception der Töne verschiedener Höhe schon an die Schnecke vergeben war, blieb für den Otolithenapparat die Wahrnehmung der Geräusche als Domäne vorbehalten. Die Bogengänge, deren Anordnung in den drei Dimensionen des Raumes längst bekannt und aufgefallen war, sollten nach einer ziemlich verbreiteten Ansicht zur Perception der Schallrichtung dienen. Es ist heutzutage nicht ganz leicht zu verstehen, wie so wenig plausible Hypothesen, namentlich diejenige bezüglich der Otolithen, so lange Zeit ruhig hingenommen werden konnten. Es zeigt sich hierin wieder zum Teil wenig- stens eine der ungünstigen Wirkungen der J. Müllerschen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien. Die Sinnesepithelien des Labyrinths hängen alle- samt mit dem Nervus acusticus zusammen, also müssen sie allesamt spezi- fische Gehörsempfindung vermitteln; das war der verhängnisvolle Fehl- schluß. Preyer?) versuchte die Gehörsfunktionen der Bogengänge zu retten durch die Annahme, daß es die spezifische Energie der Ampullen- nerven sei, „ein mit Schall verbundenes Raumgefühl zu geben, und zwar ein Richtungsgefühl“. Die Zahl derer, die noch jetzt an akustische Funktion der Otolithen- apparate und der Bogengänge glauben, dürfte sehr klein sein. Erwähnt sei indessen, daß noch ganz neuerdings Hensen?) gegen die neue, auch von mir in diesem Werke vertretenen Auffassung des Labyrinths aufgetreten ist; seine Gegengründe dürften indessen durch die neuesten Darlegungen Breuers) entscheidend widerlegt sein. Wie schon oben erwähnt. wurde, hat zuerst Goltz) das Labyrinth, speziell die Bogengänge als eine Vorrichtung bezeichnet, die zur Erhaltung des Gleichgewichtes dient. „Sie sind sozusagen Sinnesorgane für das Gleich- gewicht des Kopfes und mittelbar des ganzen Körpers.“ ‘) Die hier als Mach-Breuersche Theorie bezeichnete Auffassung der La- byrinthfunktion wurde, wie ich ausdrücklich bemerken möchte, fast gleichzeitig mit den genannten Autoren auch von Crum Brown veröffentlicht. Da indessen die eingehende Begründung und namentlich die sich bald als notwendig erweisende Modifikation der Theorie nur von Mach und Breuer herrührt, scheint mir die Bezeichnung der Theorie als Mach-Breuersche, unbeschadet der Verdienste Crum Browns, doch gerechtfertigt. — ?) Arch. f. d. ges. Physiol. 50, 596. — °) Ebenda 74, 37. — *) Sitzungsber. d. Wiener Akad., mathem.-naturw. Kl. 112 (1903). — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 3, 172. u a F Machs und Breuers ältere Theorie. 791 Über die Wirkungsweise der Bogengänge entwickelte dann Goltz seine Anschauung in folgender Form: „Wir wollen annehmen, daß die in den Am- pullen vorhandenen Nervenendigungen in ähnlicher Weise geeignet sind, durch Druck oder Dehnung erregt zu werden, wie etwa die dem Drucksinne dienenden Nerven der äußeren Haut. Die in den Bogengängen befindliche Flüssigkeit (Endolymphe) wird nach bekannten physikalischen Gesetzen die- . jenigen Abschnitte der Wandung am stärksten anspannen, welche am meisten nach abwärts gelegen sind. Je nach der Stellung des Kopfes wird die Ver- teilung des Druckes der Flüssigkeit wechseln, und einer jeden Kopfhaltung wird demgemäß immer eine bestimmte Form der Nervenerregung ent- sprechen.“ Breuer nahm den biologischen Grundgedanken der Theorie auf, berkien aber, daß die eben angeführte physikalische Auffassung über die Reizent- faltung im Bogengangsystem nicht aufrecht zu halten sei. Die Endolymphe könnte dehnend auf die einzelnen Ampullen je nach der Schwererichtung nur dann wirken, wenn das häutige Labyrinth in Luft oder einem anderen Medium aufgehängt wäre, das wesentlich geringere Dichte besitzt als die Endolymphe. Nun ist aber das Labyrinth in die Perilymphe gebettet, eine Flüssigkeit von gleicher oder doch sehr ähnlicher Dichte wie die Endolymphe. Die Schwere also kann es nicht sein, durch die der Inhalt der Kanäle vorwiegend auf die Ampullennerven wirkt. Die im wesentlichen richtige Erklärung gaben Mach (l. e.), Breuer und Brown!) fast gleichzeitig und unabhängig voneinander, indem sie darauf hinwiesen, daß bei jeder Drehbewegung des Kopfes der endolympha- tische Inhalt der Bogengänge zufolge der Trägheit zunächst etwas zurück- bleiben, in demjenigen Bogengange also, in dessen Ebene die Drehung erfolgt, eine gegensinnige Strömung der Endolymphe eintreten muß. Da, wie oben beschrieben, die Ampullennerven mit ihrer Cupula in das Innere des Kanales weit hineinragen, müssen sie von der Strömung ergriffen und seitwärts ab- gebogen werden, was voraussichtlich zu einer Erregung der zwischen den Haarzellen endigenden Nerven führt. Je nach der Drehungsachse des Kopfes wird der beschriebene Vorgang in dem einen oder anderen der Bogengänge auftreten, und zwar stets in je einem Bogengang des rechten und einem des linken Labyrinths. Kopfdrehung um die Longitudinalachse wird in den beiden horizontalen (äußeren) Bogengängen Strömung erzeugen; Drehung in der Ebene des rechten vorderen Vertikalgangs muß zufolge der eigenartigen Anordnung der Gänge (vgl. Fig. 130) gleichzeitig auch auf den linken hinteren Bogengang wirken usw. Bei denjenigen Bewegungen, die nicht genau in der Ebene eines der Kanäle erfolgen, und das ist die überwiegende Mehrzahl aller, werden mehrere Kanäle gleichzeitig in Tätigkeit treten. Es ist nun aber klar, daß die physikalischen Bedingungen für die durch Trägheit bewirkte gegensinnige Strömung der Endolymphe nur so lange ge- geben sind, als der Bogengang als Ganzes eine Beschleunigung seiner Dreh- bewegung erfährt. Sehr bald nachdem die'Bewegung eine gleichförmige ge- worden ist, muß im Innern der Kanäle Ruhe herrschen, Wand und Inhalt bewegen sich mit gleicher Geschwindigkeit und ohne gegenseitige Verschie- Y) Journ. of Anat. and Physiology 8, 327. 792 Machs und Breuers ältere Theorie. bung. Die verbogen gewesenen Sinneshaare der Ampullen samt Cupula werden wieder in ihre Ruhelage zurückkehren. Sowie jedoch der Drehbewegung eine positive oder negative Beschleuni- gung zugefügt wird, spielt sich von neuem eine Verschiebung des endo- lymphatischen Inhalts ab. Insbesondere muß bei plötzlichem Anhalten der Drehung die Endolymphe die ihr mitgeteilte Bewegung noch eine kurze Zeit fortsetzen, und diese Strömung wird die Cupula im Sinne der vorher- gegangenen Drehungsrichtung verbiegen. Über die spezielleren Bedingungen der Flüssigkeitsbewegung in den Ampullen (sie scheinen in den verschiedenen Ampullen verschieden zu sein) vgl. Breuers ausführliche Erörterungen. Um erhebliche Verbiegungen der Cupula wird es sich wohl sicherlich nicht handeln. Die Wiederherstellung einer Normalruhestellung des Gebildes könnte man sich durch Elastizität oder durch aktive einseitige Konten der Cilien erklären. Das bisher Gesagte enthält wenigstens im Gnalitativen keine Voraus- setzung, an deren Berechtigung ernstlich zu zweifeln wäre, es handelt sich um einfache physikalische Prozesse, die sich an geeigneten Modellen leicht klar machen lassen (vgl. hierüber namentlich Mach, Bewegungsempfindungen, 1. Kap. Die mechanischen Grundsätze). Ein recht zweckmäßiges Modell zur Veranschaulichung der Mach-Breuer- schen Theorie der Bewegungsfunktion ist in Freiburg i. B. im physiologischen In- stitut seit längerer Zeit im Gebrauch. Fig. 133 zeigt das sehr ähnliche Modell, das Fig. 133. Fig. 134. Durchschnitt des Rohres mit dem in der Flüssigkeit Modell zur Erläuterung der Bogengangsfunktion. . hängenden Pendel. ich zur Demonstration verwende. Auf einer Drehscheibe kann ein ringförmiges Kupferrohr von 6cm Rohrweite in langsame Rotation versetzt werden. Es ist mit Wasser fast ganz gefüllt. An einer Stelle seiner Oberseite besitzt es eine Schlitz- öffnung, durch die ein leichtes Pendel ins Wasser hinabhängt; das Pendel ist in einem einfachen Achsenlager aufgehängt und verlängert sich oberhalb der Achse in einen langen Strohhalm, der die Stellung weithin sichtbar macht. Versetzt man die Scheibe (am besten durch einen gleichmäßig laufenden Motor) in Rotation, so zeigt das Pendel das Zurückbleiben der Flüssigkeit, der Halm neigt sich nach vorn. Je mehr die Drehung gleichförmig wird, desto mehr richtet sich der Halm auf, und verfügt man- über eine recht gleichmäßige Rotationseinrichtung, so kann man selbst bei ziemlich raschem Gang den Zeiger vertikal stehen sehen. Jede positive oder negative Beschleunigung markiert sich aber sofort durch entsprechende Bewegung des Zeigers. Nach dem Anhalten legt sich der Halm stark zurück, der Ausdruck der Rotationsremanenz. Machs und Breuers neuere Theorie. } .- 793 Der ernsteste Einwand !), der der Mach-Breuerschen Theorie und insbesondere auch ihrer Erläuterung durch ein Modell wie das oben be- schriebene gemacht werden kann, gründet sich auf die Kleinheit der Dimen- sionen der Bogengänge, speziell ihre geringe Weite. Diese beträgt beim Menschen bis zu etwa 0,1mm?, bei der Taube 0,04mm?2). In so engen Kanälen ist die Reibung des Inhaltes an der Wand so beträchtlich, daß sie das bei einer Beschleunigung erteilte Trägheitsmoment ganz oder fast ganz aufzehrt. Zu einer irgendwie erheblichen Strömung des Inhaltes kann es also nicht kommen. Mach sowohl wie Breuer haben dieses Bedenken bald erkannt und ihm durch die ergänzende Annahme Rechnung getragen, daß es sich nur um außerordentlich kleine Massenverschiebungen im Labyrinth handele, also nicht um Strömungswirkung, sondern um Stoßwirküng der Endolymphe auf die Cupula. Am Prinzip der Lehre ändert das natürlich nichts. Ihre spezielle Ausgestaltung nach bestimmter Richtung siehe bei Breuer. Erwähnt sei hier nur, daß, wie Breuer treffend sagt, man sich auch jeden Bogengang durch eine membranöse Scheidewand durchtrennt denken könnte, in der sich die mechanisch erregbaren Nervenenden befinden. Der Stoß der Flüssigkeit würde die Scheidewand nach der einen oder anderen Richtung vorbuchten, die Nerven dabei zerren. So wäre also Erregung möglich, ohne daß ein tatsäch- licher Flüssigkeitsstrom zustande kommt. Im Bogengang fehlt nun aller- dings eine sölehe Membran, aber die in das Lumen hineinragende Cupula muß, da sie gerade im Wege des Flüssigkeitsstoßes steht, einigermaßen ähnlich wirken. An dem beschriebenen Modell könnte man auch eine nach diesem Prinzip wirkende verschließende Membran anbringen, deren Verbiegung durch den Flüssig- keitsstoß wiederum durch einen Zeiger angezeigt werden könnte. Den tatsächlichen Verhältnissen noch näher kommt man dadurch, daß man _ das Wasser im Modellrohr durch eine halbflüssige Substanz ersetzt, deren Zähigkeit durch innere und äußere Reibung das Zustandekommen einer Strömung bei mäßigen Umdrehungsgeschwindigkeiten selbst in dem weiteren Rohr verhindert. Hierzu kann z. B. heißer, noch nicht erstarrter Stärkekleister dienen. Das in diesen eintauchende Pendel zeigt die oben beschriebenen Ausschläge zwar nicht in so großem Umfang wie bei Wasserfüllung, aber immer noch überraschend deutlich ; auch die Schiefstellung bei plötzlichem Anhalten der Drehung ist evident und keineswegs nur momentan, wie man bei dem völligen Fehlen einer Strömung ver- muten könnte. Machen wir nun mit Mach und Breuer die Annahme, daß jede Ver- biegung der Sinneshaare in den Ampullen die Empfindung einer Kopf- drehung in dem dieser Verbiegung entgegengesetzten Sinne be- wirke, so ist der größte Teil der bei Drehung auftretenden Empfindungen aufs einfachste erklärt. Wir erinnern uns der oben erwähnten Feststellung %) Minder gewichtig ist der Einwand von Hensen (Arch. f. d. ges. Physiol. 74, 37), die bei vielen Tieren, speziell bei Fischen, recht ungleiche Länge der ein- zelnen Bogengänge spreche gegen die Mach-Breuersche Theorie. Breuer (Wiener Sitzungsber. 112, 1903) weist hingegen treffend darauf hin, daß von dem besonders langen Bogen, dem vorderen Vertikalkanal, dasjenige Stück, um das es.länger ist als die übrigen Gänge, aus seiner eigentlichen Ebene stark abgebogen ist, bei Bewegungen in jener Ebene mechanisch also gar nicht in Betracht komnit. — ?) Biner Wulf, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1901. 794 Empfindung der Beschleunigung. Machs, daß im Beginn einer Drehbewegung, sowie während jeder positiven Beschleunigung einer Drehbewegung diese als solche empfunden wird, und zwar im richtigen Sinne, daß aber eine Drehbewegung, sobald sie gleich- förmig geworden ist, überhaupt nicht mehr empfunden wird (solange die Stellung des Kopfes zur Drehungsachse unverändert bleibt, s. u.), daß endlich beim Eintritt negativer Beschleunigung die Empfindung der gegensinnigen Drehung erfolgt. Auch der Machsche Drehschwindel erklärt sich auf diese Weise: nach dem Anhalten der Drehung erzeugt die noch weiter im Sinne der Drehung vorstoßende Lymphe bzw. die Verbiegung der Cupula die Empfindung der Rotation in umgekehrter Richtung. Die Mach-Breuersche Deutung des Bogensystems als eines Sinnes- organs zur Empfindung der Beschleunigung von Drehbewegungen wird also den fundamentalen Tatsachen der Drehungsempfindungen aufs beste gerecht. Sie rückt aber auch manche spezielle, auf den ersten Blick über- raschende Beobachtungen dem Verständnis näher. So erklärt sich hiernach, warum ein Beobachter, der, passiv in gleichförmige Rotation versetzt, keine Drehempfindung mehr hat, bei plötzlicher aktiver Drehung des Kopfes um 90° die Rotation und ihre Richtung wieder richtig empfindet. Es wird da- durch dem bisher ruhenden Inhalt eines Bogengangpaares eine vorübergehende Beschleunigung erteilt. Wohl mit allen anderen Sinnesorganen teilt, wie ich mit Breuer, De- lage u. a. annehme, das Bogengangsystem die Eigenschaft, außer den Emp- findungen auch Reflexe auszulösen. In seiner Eigenschaft als reflexaus- lösendes Organ scheint der Bewegungsapparat im wesentlichen den gleichen Erregungsgesetzen zu folgen wie der Sinnesapparat. Als reagierende Organe kommen in erster Linie die Augenmuskeln in Betracht, die bei Körper- drehungen den Augen Drehungen erteilen. Hier sei auf diese Reflexe nur kurz hingewiesen, wir werden auf sie sogleich zurückzukommen haben, wenn die übrigen Teile des Labyrinths besprochen sind. Mach hatte schon, als er die Theorie der Labyrinthfunktion entwickelte, die Ansicht ausgesprochen, es dürften nicht nur für die Perception der Dreh- beschleunigungen, sondern auch für die Perception der Beschleunigungen geradliniger Progressivbewegungen und für die Perception der Lage (Orien- tierung zur Vertikalen) besondere Organe im Labyrinth existieren. Breuer unternahm die Prüfung dieser Frage an der Hand scharfsinniger Über- legungen und geschickter Versuchsanordnungen. Es ist ihm gelungen, das zum mindesten sehr wahrscheinlich zu machen, daß die spezifische Empfin- dung der Lage vom Otolithenapparat vermittelt wird. Hinsichtlich der Perception der Progressivbeschleunigung im Labyrinth hat sich Breuer mit Recht sehr vorsichtig ausgesprochen. Ich halte es für die Progressiv- bewegung in horizontaler Ebene nicht für erwiesen, daß dem Labyrinth eine derartige Funktion zuzuschreiben ist, jedenfalls ist sie, wenn überhaupt vor- handen, äußerst schwach entwickelt, wie übrigens auch Breuer selbst zugibt. Grundlage der Breuerschen Theorie der Lageempfindung ist die An- nahme, daß der Otolithenklumpen auf der Macula so viel dichter ist als die Endolymphe, daß er bei den verschiedenen Kopfstellungen die Sinneshaare der Macula in verschiedener Weise durch Zug oder Druck reizt. Bei hori- zontaler Lage einer Macula würde der Otolith senkrecht von oben nach Theorie der Otolithenorgane. 795 unten auf die Haare drücken, die ihn tragen. Bei der umgekehrten Lage, Ötolithen unten, Epithel der Macula oben, muß die Otolithenmasse an den Haaren ziehen. In allen dazwischen liegenden Stellungen des ganzen Systems muß an den Haaren eine Verbiegung eintreten, die ein Maximum etwa dann erreichen würde, wenn die Ebene der Macula und der Otolithen- platte senkrecht im Raume steht. Der sofort in die Augen fallende Unterschied dieser Wirkungsweise gegenüber der oben skizzierten Funktion der Cupula in den Ampullen liegt darin, daß die supponierten Zug-, Druck- und Verbiegungswirkungen im Otolithenapparat, soweit es die mechanischen Verhältnisse betrifft, so lange anhalten müssen, als die Stellung des ganzen Systems im Raume dieselbe bleibt, während die mechanischen Einflüsse auf die Cupula nur so lange be- stehen, als die Bewegung des Labyrinthinhalts eine Beschleunigung erfährt. Aus der von uns angenommenen Wirkungsweise des Bogengangsystems dauernde Empfindungen der Kopflage oder anhaltende tonische Beeinflus- sungen reflektorisch innervierter Muskelgruppen zu erklären, geht nicht wohl an, seitdem die Auffassung von Goltz verlassen ist, der zufolge die Gravitation des Ampulleninhaltes entscheidend für die dort ausgelösten Emp- findungen sein sollte. Hier hat nun die Breuersche Theorie die Goltz- sche abgelöst, indem sie das Gravitationsprinzip zwar beibehielt, es aber zutreffender auf die Otolithen statt auf die Endolympbe anwandte. Bei der hiermit angenommenen Duplizität der Labyrinthfunktion hinsichtlich der Erregungsweise erklärt sich aufs beste die Trennung der Empfindungen und Reflexe, die nur wäbrend der Kopfbewegung auftreten, und derjenigen, die von der dauernden Lage des Kopfes im Raume abhängen. Wie oben auseinandergesetzt wurde, gibt es Empfindungen der Lage des Körpers, die neben den Haut- und Gelenkempfindungen bestehen und von einer künst- lichen Verstärkung und Schwächung der letzteren unabhängig sind. Diese Lageempfindungen beziehen sich allerdings ganz überwiegend auf die Lage des Kopfes; über die Lage des Kopfes relativ zum Rumpfe geben uns an- derseits die Haut- und Gelenkempfindungen hinreichend sichere Auskunft, um zu verhindern, daß (bei geschlossenen Augen) die Lage des Gesamt- körpers nur. nach der Lage des Kopfes beurteilt werde und somit grobe Täuschungen eintreten. Solche sind denn auch für die normalen Verhält- nisse des täglichen Lebens gänzlich. vermieden, und es bedarf besonderer Versuchsanordungen, wie der oben erwähnten Beobachtungen Delages auf dem „Zapfenbrett“, um überhaupt nachzuweisen, daß Täuschungen über die Körperlage durch ungewöhnliche Kopfstellungen bewirkt werden können. Es gibt auch „Reflexe der Lage“, wie man sie abkürzend im Vergleich zu den Reflexen auf Körperdrehbewegungen bezeichnen kann. Es sind das beim Menschen hauptsächlich die kompensatorischen Augenbewegungen, die bei Einnahme einer Schieflage des Kopfes eintreten und bei anhaltender Schieflage auch bestehen bleiben. In die gleiche Kategorie gehören die Re- flexe, durch die, wie oben erwähnt, die Vögel, die Schlangen und Echsen den Kopf in bestimmter Orientierung zur Vertikalen halten, gleichgültig, wie der Rumpf orientiert ist. Es ist nicht zu leugnen, daß derartige Reaktionen auch unter Heranziehung nur der Bogengänge als reflexauslösender Organe zur Not erklärt werden könnten, jedoch nur in etwas gezwungener Weise. 796 ‚Theorie der Otolithenorgane. Es könnte daran gedacht werden, daß die durch die Erregung der Ampullar- nerven bewirkten Augenmuskelreaktionen nach dem Aufhören des Beschleunigungs- reizes wieder zum Teil rückgängig werden, ohne daß nun gerade sogleich der wirkliche Gleichgewichtszustand der Augenmuskulatur wiederhergestellt zu werden braucht. In diesem Falle wären die bei dauernder Schieflage des Kopfes be- stehenden Bulbusrollungen nicht als Ausdruck eines anhaltenden Erregungszustandes im Labyrinth zu betrachten. Gegen diese Auffassung spricht aber, wie schon Breuer hervorhob, die Beobachtung A. Nagels, daß die Rollung der Augen auch eintritt, wenn man sich aus der Rückenlage in die Seitenlage wälzt, wobei man kaum annehmen kann, daß in der auf die Drehungsebene senkrechten (frontalen) Ebene dem Bogenganginhalt ein Drehungsimpuls gegeben wird. Die Rollungen anderseits, . die eintreten, wenn man mit auf die Brust gesenktem Kinn, also ab- wärts gerichtetem Blick, Drehungen um die bh ar ausführt (Breuer), sind stets nur vorübergehende, sie werden völlig rückgängig, wenn die Bewegung sistiert wird. Hierbei wird eben das Labyrinth gegen die Vertikale nicht verstellt, die Gravitation wirkt unverändert, ganz anders, als wenn die Gesichtsebene ver- tikal steht und in dieser Ebene seitwärts geneigt wird. Bei weitem wahrscheinlicher ist es, daß diese mit Schieflagen des Kopfes verknüpften Reflexe in einem Sinnesorgan ausgelöst werden, in welchem der Schwerezug die Rolle des Reizes spielt. Ein solches Organ aber ist das Oto- lithenorgan. Über die Lage der Otolithenplatten beim Menschen gibt Breuer an, daß die Macula utriculi mit der Ebene der sogenannten hori- zontalen Bogengänge in gleicher Richtung orientiert ist; "bei normaler auf- rechter Kopfhaltung sind beide um 45° nach rückwärts geneigt. Die Ebene der Otolithenplatten des Sacculus liegt beiderseits parallel in einer Sagittalebene, von hinten oben nach vorn unten in einem Winkel von 45° verlaufend. Aus Breuers anatomischen Untersuchungen geht ferner hervor, daß bei der Katze und dem Meerschweinchen die Macula des Utriculus und die des Sac- culus in aufeinander senkrechten Ebenen stehen. Die niederen Wirbeltiere bis zu den Vögeln aufwärts besitzen noch eine dritte Macula mit Otolithen in der sog. Lagena. Die Orientierung der drei Maculae hat Breuer zu- sammengestellt, indem er jedesmal die „Gleitrichtung“ der Otolithenplatte angibt. Bei den Fischen: Utriculus horizontal, Sacculus horizontal von vorn nach hinten. Lagena vertikal von oben nach unten. Beim Frosch: Utrieulus horizontal, Sacculus? Lagena vorn oben innen nach unten hinten außen. Bei den Vögeln: Utriculus horizontal, vorn innen nach hinten außen. Sacculus: horizontal, vorn außen nach- hinten innen. Lagena: oben (außen hinten) nach unten (innen vorn). Breuer ist geneigt anzunehmen, daß die MR mit der „Per- ceptionsrichtung* zusammenfällt, d. h. daß eine horizontal verschiebliche Ötolithenplatte der Perception horizontaler Bewegungen und der horizontalen Lage diene. Man könnte sich mangels genauerer Feststellungen auch vor- stellen, daß die horizontale Macula gerade für die Perception vertikalen Zuges oder Druckes bestimmt ist. Für die Breuersche Auffassung ist jedenfalls die Tatsache nicht sonderlich günstig, daß beim -Menschen die Progressivbeschleunigungen in vertikaler Richtung entschieden am deutlichsten empfunden werden, während doch gerade das Organ der Lagena mit seiner vorwiegend vertikalen Gleitrichtung dem Menschen fehlt. Erhebliche Be- deutung wird indessen derartigen Überlegungen nicht zukommen, da noch allzu viel von den tatsächlichen Verhältnissen unbekannt ist. a ee 4 Theorie der Otolithenorgane. 797 Vom physikalischen Standpunkt aus erscheinen, wie Breuer hervorhebt und in der Tat zuzugeben ist, die Otolithenapparate auch geeignet, die Em- pfindung der Beschleunigung einer Progressivbewegung zu vermitteln. Wie . die Schwerkraft, so könnte und müßte auch die Trägheit die Otolithen mit ihren biegsamen Trägern, den Haaren, verschieben, im Beginn einer geradlinigen Progressivbewegung müßten die Otolithen zunächst etwas zurückbleiben, solange die Bewegung noch eine positive Beschleunigung erfährt. Die relative Verschiebung zwischen Otolithenmasse und Maculaepithel wäre in diesem Falle etwa dieselbe, wie wenn der Kopf aus der vertikalen Normalstellung hinten- über geneigt würde. Umgekehrt, eine negative Beschleunigung geradliniger Progressivbewegung würde so wirken müssen wie eine Vornüberbeugung des Kopfes. Demgemäß sollte man eigentlich in diesen Fällen den Eintritt von Lage- täuschungen erwarten; man müßte z. B., wie Breuer anführt, bei einem Sprung nach vorwärts den Eindruck haben, hintenüber geneigt zu sein. Derartige Erfahrungen hat man aber meines Wissens bis jetzt nicht gemacht. Wohl aber kommt die Empfindung der Schieflage bei tatsächlicher gerader Normalstellung zustande, wenn der Körper in gekrümmter Bahn bewegt wird, z. B. bei der Karussellbewegung und besonders bei der Rotation in dem Machschen Apparat, in dem der Beobachter in einer Kreisbahn bewegt wird mit der Blickrichtung zur senkrechten Rotationsachse hin oder von dieser weg. In diesem Falle wirkt auf die Otolithen außer der in gewohnter Weise wirkenden Schwerkraft die Centrifugalkraft, und die wirksame Zugrichtung liegt in der Resultierenden aus diesen beiden Kräften. - Wie schon oben erwähnt wurde, tritt nun in diesem Falle in der Tat die Täuschung auf, daß die Achse des Körpers schief stehe, also gegen die Vertikale verlagert sei, und zwar im Sinne der Annäherung an jene Resul- tante aus Schwere- und Üentrifugalbeschleunigung. Bemerkenswert ist bei dieser Lagetäuschung, daß sie, soweit bekannt, nicht nur während der beschleunigten und verlangsamten Rotation auftritt, sondern auch bestehen bleibt, wenn diese gleichförmig ist. Hierdurch erscheint die Zurück- führung der Empfindung auf Strömung oder Stoß im Labyrinthinhalt unzu- lässig, es ist vielmehr in diesem Verhalten ein deutlicher Hinweis auf das Otolithenorgan als Auslösungsort zu erblicken. Dabei bleibt freilich immer noch unerklärt, warum die Richtung der Massenbeschleunigung nur bei den Bewegungen in gekrümmter Bahn, nicht aber bei den geradlinigen empfunden wird. Breuer, der (ohne einen ganz überzeugenden Beweis) auch die Existenz der Empfindung von Progressiv- bewegung annimmt, stellt die Hypothese auf, die Erregung des Otolithen- organs erzeuge Lage- oder Bewegungsempfindung, je nachdem gleichzeitig die Ampullennerven mit erregt werden oder nicht, d. h. in den Fällen, in denen (durch Erregung in den Ampullen) eine Drehungsempfindung auftritt, werde die Veränderung der Angaben des Otolithenapparates als Lageveränderung interpretiert; wenn keine Drehungsempfindung sie begleitet, als Progressiv- bewegung. Um diese Annahme plausibel zu machen, verweist Breuer auf gewisse analoge Fälle, in denen die Erregung eines Sinnesorgans verschieden gedeutet werden kann, je nachdem bestimmte andere Empfindungen die erstere begleiten oder nicht. So wird das Hingleiten eines Bildes über die 798 ‚Theorie der Otolithenorgane. Netzhaut auf Bewegung des gesehenen Objekts bezogen, wenn die Augen- muskelnin Ruhe bleiben, während das Objekt im allgemeinen ruhend erscheint, wenn man die Bewegung des Auges oder Kopfes empfindet. Ich kann diese Auffassung darum nicht zutreffend finden, weil nach | Machs Erfahrung die Empfindung der Schieflage bei Kärussellbeiwenuin auch während der gleichförmigen Drehung stattfand, d. h. also unter Um- ständen, unter denen überhaupt keine Drehungsempfindung und keine Er- regung der’‘Ampullennerven vorhanden ist. Ich würde eher daran denken, daß die Otolithenorgane auf eine relativ langsame Reaktionsweise eingerichtet sind, in der Art, daß eine Verschiebung der Otolithenplatten wohl durch dauernde Einwirkung der Gravitation oder der Üentrifugalkraft erzielt wird, daß dagegen unter den Beobachtungsbedingungen, die für uns gegeben sind, wenn wir eine geradlinige Progressivbewegung ausführen, die Periode positiver oder negativer Beschleunigung zu kurz oder die Beschleunigung selbst zu geringfügig ist, um das träge Organ zu erregen. Dadurch würde sich erklären, warum wir beim Sprung nach vorn nicht die Empfindung der Rückwärtsneigung haben und ebensowenig beim An- fahren und Anhalten eines Eisenbahnzuges entsprechenden Lagetäuschungen unterliegen. Das Otolithenorgan, das uns durch die Empfindung der Lage wertvoll ist, würde unnütz und unzweckmäßig, wenn es auch bei der Pro- gressirbewegung in Tätigkeit träte. Ich glaube also, daß die Otolithenappa- rate uns überhaupt nur Lageempfindungen vermitteln, daß aber die Erregung durch Progressivbewegung ganz oder doch fast ganz verhindert ist, wenigstens für diejenigen Bewegungsarten, die uns häufig vorkommen. Die Empfindung der Progressivbewegung ist ja, wie schon oben erwähnt wurde, eine recht unvollkommene. Bei gleichförmiger Bewegung fehlt sie (wie übrigens auch im Falle der Drehbewegung) völlig. Die Be- schleunigung (positive oder negative) einer horizontalen geradlinigen Bewegung empfinden wir nur, wenn'es sich um sehr erheblichen Geschwindigkeitswechsel handelt (Eisenbahn). Schon auf Dampf- oder Segelschiffen fällt für mich die Empfindung der translatorischen Bewegung fort. Auch die bei der Dreh- bewegung so deutliche Empfindung gegensinniger Drehung bei verzögerter Rotation hat, wie oben erwähnt, bei der Progressivbewegung nur ihr sehr unvollkommen entwickeltes Analogon: bei sehr schnellem Anhalten eines Eisenbahnzuges kann die Empfindung der Bewegungsumkehr auftreten, doch findet man dieses Phänomen erstens überhaupt nicht häufig und stets nur ziemlich undeutlich ausgeprägt. Im Ruderboot, dessen Bewegung verlang- samt wird, tritt diese Bewegungstäuschung überhaupt nicht auf, wie schon Delage bemerkt hat; die Verzögerung erfolgt hier in zu geringem Ausmaße. Anderseits wären gerade in dem glatt und geräuschlos gleiten- den Boote die Beobachtungsbedingungen weit günstigar als im rollenden Eisenbahnzuge. Sehr viel deutlicher ist die Beschleunigungsempfindung und Bewe- gungstäuschung bei der Progressivbewegung in vertikaler Richtung (im Aufzug, in der Förderschale eines Schachtes). Hier wird die Beschleunigung beim Bewegungsbeginn empfunden, und trotz der relativ geringen Maximal-. geschwindigkeit tritt fast stets bei der Verlangsamung der Bewegung die Empfindung der Bewegungsumkehr ein. Ob diese einzige deutliche Emp- i Energien der Labyrinthsinne. 799 findung der Progressivbewegung vom Labyrinth vermittelt wird und even- tuell von welchem Teile desselben, das sind meines Erachtens nach durchaus offene Fragen. Es wäre doch immer noch zu erwägen, ob nicht kombinierte Funktion der Bogengänge hierbei im Spiele ist. Nachempfindungen nach längerer Progressivbewegung in irgendwelcher Richtung scheinen nicht vorzukommen oder jedenfalls nur bei excessiv starkem Bewegungsreiz. Die spezifische Disposition für den adäquaten Reiz ist vielleicht bei keinem Sinnesorgan so klar verständlich wie bei den Ampullen- und Oto- lithenapparaten auf Grund der Mach-Breuerschen Hypothese. Andere Reize sind mit großer Sicherheit ferngehalten — daß jene Organe zur Reaktion auf Schallwellen besonders geeignet seien, wird wohl heutzutage kaum mehr behauptet werden —; anderseits gibt uns die Theorie die Möglichkeit, die Massenbeschleunigung als wirksamen Reiz für die beiden ÖOrganarten zu denken, und zwar in den verschiedenen Formen der Gravitation, der Trägheit und der Centrifugalkraft. In den: übrigen Sinnesorganen des Menschen dagegen ist, wie bekannt, die Anordnung der Nervenendigungen, soweit sie überhaupt für mechanischen Reiz erregbar sind, so getroffen, daß eine Umformung einer etwaigen Massenbeschleunigung in einen wirksamen mechanisehen Neryenreiz ausgeschlossen erscheint. ‘Auch dem Prinzip der spezifischen Sinnesenergien fügen sich die (nicht akustischen) beiden Sinnesorgane im Labyrinth recht gutein. Vor allem erweist sich die Bewegungsempfindung als ein Empfindungsgebiet durchaus eigener Art, ohne Verbindungsglieder zu anderen Sinnesgebieten hinüber, also als eine Modalität der Empfindung im Sinne von Helmholtz. Unter den Bewegungsempfindungen sind es ja wiederum die Drehungs- empfindungen, die am schärfsten markiert heraustreten. Ihre Analyse führt ohne weiteres zu einer Gliederung nach drei Komponenten, entsprechend den . drei Dimensionen des Raumes. Minder zuversichtlich wird man sich über die Qualitäten der Empfindung von translatorischer (Progressiv-) Bewegung aus- sprechen können, bezüglich deren es doch manchem immer noch schwer fällt, sie als einfache Empfindung anzuerkennen. Wie aus den vorausgehenden Kapiteln erhellen dürfte, ist auch, wenigstens bei den jetzigen Arbeitsmethoden, wenig Material an die Hand gegeben, den Zweifelnden von der Existenz spezifischer Empfindungen der Progressivbewegung zu überzeugen. Am ehesten dürfte das noch hinsichtlich der Bewegung in vertikaler Richtung gelingen. Drehungsempfindungen irgendwelcher Art in Progressivbewegungen aufzulösen, würde mir ebenso sehr wiederstreben, wie die Bewegungsempfin- dung in eine kontinuierliche Reihe von Lageempfindungen aufzulösen; schon die Deutlichkeit der Drehempfindung gegenüber der Undeutlichkeit der Progressivbewegungsempfindung spricht hiergegen. Was die Lageempfindung betrifft, so existiert sie ja zweifellos als eine besondere Empfindungsmodalität, aber, für mich wenigstens, nur als eine Emp- findung der „Orientierung zur Vertikalen“. -Was andere Autoren berichten, spricht mehr oder weniger deutlich im selben Sinne. Darum kann ich auch, wie gesagt, Mach nicht beipflichten, wenn er sagt, die Empfindung der Drehung oder der Progressivbewegung lasse sich psychologisch auflösen in 800 Energien der Labyrinthsinne. eine Folge von Lageempfindungen !). In aufrechter Stellung um die verti- kale Achse gedreht haben wir unter geeigneten Umständen Drehungsempfin- dung. Die einzelnen Lagen aber, die wir dabei hintereinander durchlaufen, empfinden wir alle in genau der gleichen Qualität, d. h. einfach als Vertikal- lage, und nicht als Vertikallage mit Gesicht nach Nord, nach Ost, nach dieser oder nach jener Richtung. Eine solche psychologische Auflösung arbeitet also mit fingierten Empfindungselementen und ist unfruchtbar wie die ganze Lehre von den Empfindungselementen überhaupt. Es möge übrigens nicht unerwähnt bleiben, daß Mach selbst die Mög- lichkeit zugesteht, daß der „Empfindung der Geschwindigkeit“ (wie er sich an dieser Stelle ausdrückt) ein Vorgang eigener Art zugrunde liegt. Es liegt natürlich nahe, auch der Modalität der Lageempfindung eine Gliederung nach drei Qualitäten, wiederum entsprechend den Dimensionen . des Raumes, zuzuschreiben. Breuer sucht ihr anatomisches Korrelat in den drei Otolithenapparaten mit ihrer verschiedenen „Gleitrichtung“, braucht dieselben Organe aber auch, wie aus obiger Darstellung erinnerlich, für die Empfindung der Progressivbewegung und mußte nun eine Hilfsannahme machen, um zu erklären, warum die Maculaepithelien in einem Falle spezifische Lageempfindung, im anderen Bewegungsempfindung vermitteln. Ich kann, wie gesagt, diese Hilfsannahme nicht glücklich finden und überhaupt die Vermittelung von Bewegungsempfindungen durch die Otolithenorgane nicht für hinreichend erwiesen halten. Erkennt man den Bogengängen und den Otolithenapparaten beziehungs- weise die spezifische Energie der Drehungsempfindung und der Lage- empfindung zu, so erhebt sich sogleich die weitere Frage, ob im Epithel der einzelnen Ampulle bzw. Macula Nervenendigungen von zwei verschiedenen Ener- gien enthalten sind, deren Erregung die Empfindung entgegengesetzter Bewegung bzw. Orientierung bewirkt, oder ob die Verbiegung der Sinnes- haare in der einen oder der anderen Richtung gegensätzliche Empfindung vermittelt, trotzdem Nervenfasern von nur einer Art vorhanden sind. Die dritte Möglichkeit endlich wäre die, daß jedes einzelne Epithel nur in einerlei Weise anspricht, z. B. jede einzelne Ampulle nur bei Drehung in einem be- stimmten Sinne. Um die Gesamtheit der Drehungsempfindung heraus- zubekommen, muß dann ein untrennbarer Zusammenhang zwischen den Angaben der beiderseitigen Labyrinthe gefordert werden, in der Art, daß etwa der horizontale Bogengang der rechten Seite auf Rechtsdrehung des Kopfes um die Vertikalachse, der linke horizontale auf Linksdrehung reagiert oder umgekehrt. Mach hatte sich in seiner ersten Mitteilung zur Bogengangsfrage im ersteren Sinne entschieden, d. h. zweierlei Nervenendigungen in einem Epithel postuliert. Späterhin, in seiner ausführlicheren Publikation schloß sich Mach der Anschauung Browns an, der das Zusammenarbeiten beider Labyrinthe voraussetzte. | Auf Grund der -Versuche Ewalds mit dem pneumatischen Hammer wird diese Auffassung nicht mehr aufrecht erhalten werden. können. Ent- scheidend scheint mir folgender Versuch (Ewald, 1. c., $S. 264). Der pneu- ') Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen, $S. 122. „Gleichgewichtssinn“. 801 matische Hammer (s. o., $. 787) ist so am Kopf einer Taube umgebracht, daß er beim Niedergehen den rechten horizontalen Bogengang komprimiert. An und für sich könnte nun die Flüssigkeit nach beiden Seiten ausweichen, zur Ampulle hin und zum ampullenlosen Ende. Der letztere Weg aber ist durch eine Plombe im knöchernen Kanal gesperrt. Wird nun durch Luftdruck der Hammer vorgetrieben, so reagiert das Tier regelmäßig mit einer starken Kopfwendung nach links in der Ebene des Kanals. Trotzdem der Hammer andauernd den häutigen Gang komprimiert, kehrt der Kopf alsbald in die Normalstellung zurück. Wird jetzt der Hammer vom Bogengang abgehoben, so daß die Endolymphe wieder zurückströmen kann, so erfolgt eine Kopf- wendung nach rechts. Entgegengesetzte Lymphbewegungen in einem und demselben Kanal erzeugen also entgegengesetzte Kopf- wendungen und demgemäß aller Wahrscheinlichkeit nach auch entgegen- gesetzte Drehungsempfindungen. Bemerkenswert ist, daß beim horizontalen (äußeren) Kanal der Flüssig- keitsstoß zur Ampulle hin die stärkere Reaktion auslöst, bei den beiden anderen Kanälen dagegen die umgekehrte Flüssigkeitsverschiebung die wirk- samere ist. 2. Andere Auffassungen von der Funktion des Labyrinths. Nur in aller Kürze sei erwähnt, daß dieselben Gründe, welche Mach zu seiner Theorie der Labyrinthfunktion führten, zunächst auch auf ein anderes im Kopf befindliches Organ, das Gehirn, als Auslösungsort der Bewegungs- empfindung führen konnten; so nahm denn ‚auch tatsächlich Purkinje das Gehirn hierfür in Anspruch. Mach erwog dieselbe Möglichkeit, um sie aber alsbald durch die bessere Theorie zu ersetzen. Goltz. Die Mach-Breuer-Brownsche Theorie der Labyrinth- funktion in ihrer durch Breuer hinsichtlich der Otolithenapparate ergänzten Form steht meines Erachtens in ihren wesentlichen Grundlagen heutzutage unbestreitbar festgegründet. Wo noch einzelne Fragen der Erklärung ‘ harren, darf man die Zuversicht hegen, daß diese später zu gebende Er- klärung sich der jetzigen Theorie zwanglos einfügen wird, und selbst wenn in irgend welchen Einzelheiten sich Modifikationen als notwendig erweisen sollten, bleibt die Aufstellung und Durcharbeitung dieser Theorie eine glänzende Geistestat. Ihre Bedeutung wird auch dadurch nicht gemindert, daß Goltz zuvor, nur durch unvollkommene physikalische Vorstellungen an der vollen Erkenntnis der Wahrheit gehindert, jenen Forschern mächtig vorgearbeitet hatte, indem er den Satz aufstellte, die Bogengänge seien neben eventueller Beteiligung am Hören Organe des Gleichgewichtssinnes. Man hat auch späterhin noch vielfach von Bogengängen als Gleich- gewichtsorganen gesprochen und durch die Aufstellung des Begriffs „stati- scher Sinn“ diese Auffassung gewissermaßen festgelegt. Mir erscheint diese Bezeichnung nicht zweckmäßig, weil sie die Bedeutung der im Laby- rinth vertretenen Sinnestätigkeiten viel zu einseitig wiedergibt. In der oben gegebenen Darstellung der Labyrinthfunktion fand sich kaum ein Anlaß, überhaupt vom Gleichgewicht zu sprechen. Es soll damit nicht gesagt sein, daß das Labyrinth mit der Gleichgewichtsregulierung überhaupt nichts zu tun habe. Es gehört gewiß mit zu den Aufgaben des Labyrinths, den Körper Nagel, Physiologie des Menschen. III. 51 -802 Ewalds Standpunkt. in den verschiedenen Ruhestellungen und während der Lokomotion äquilibriert zu erhalten. Seine Tätigkeit hierbei läßt sich auflösen in die Vermittelung der Lage- und Bewegungsempfindungen und die Auslösung der für die Gleich- gewichtserhaltung nötigen Reflexe. Namentlich die letzteren aber kommen keineswegs dem Labyrinth als etwas Spezifisches zu, sondern es arbeitet in dieser Beziehung mit den Organen des sog. Muskelsinnes stets zusammen. Jede Störung des Körpergleichgewichtes beim Umsinken nach einer Seite hat abnorme Spannungsverhältnisse in den Muskeln, Sehnen, Fascien, Gelenken und der Haut zur Folge, wodurch die centripetalen Nerven dieser Gewebe erregt werden und reflektorisch auf Auslösung einer Gegenbewegung hin- wirken, unterstützt allerdings vom Labyrinth, Daß jene nichtlabyrinthäre Gleichgewichtsregulierung indessen eine bedeutende Rolle spielt, beweisen die Taubstummen mit Labyrinthausfall, bei denen statische Störungen nur bei sorgfältiger Beobachtung festgestellt werden können. Ewald. Charakteristisch für die Auffassung Ewalds ist, wie schon erwähnt, die Hervorhebung der tonuserhaltenden Wirkung des Labyrinths, des Tonusmangels nach Labyrinthausfall. Daneben sieht Ewald im Labyrinth zwei Sinnesorgane: das „Goltzsche Sinnesorgan“ (die Bogengänge) und den Ötolithenapparat. Die Tätigkeit dieser Sinnesorgane denkt sich Ewald, soweit dies aus seinen Ausführungen zu entnehmen ist, wohl ungefähr in der auch von mir hier vertretenen Art. Hinfällig dürfte die Annahme Ewalds geworden sein, daß die Haare auf dem Epithel der Ampullen flimmern und hierdurch eine Strömung im Labyrinth erhalten werde. Wie Breuer be- sonders überzeugend gezeigt hat, kann man den in der Cupula zusammen- gebackenen Haaren Flimmerbewegung nicht zutrauen, und eine Strömung in dem engen Kanale würde selbst durch ganz bedeutend größere Kräfte nicht erzeugt werden, als. sie ein solcher flimmernder Haarschopf bestenfalls liefern könnte. Was den Labyrinthtonus betrifft, so darf seine Existenz als durch Ewald unzweifelhaft erwiesen gelten. Die Bedeutung des Labyrinths für die Gleichgewichtsregulierung dürfte vorzugsweise in dieser Tonusregulierung liegen. Mit zahlreichen anderen centripetalen Nerven zusammen erhält der Nervus vestibularis die Gesamtmuskulatur in der 'tonischen Spannung, die die Vorbedingung einer Stabilität des Körpers ist. Beginnt der Körper nach einer Seite hin zu fallen, so erregt die passive Bewegung die Ampullar- organe, es tritt eine Tonusverstärkung der dem Fall entgegenarbeitenden Muskeln ein. Neben diesen Reflexen labyrinthären Ursprungs haben die auf die Augenmuskeln begreiflicherweise stets das meiste Interesse erregt; ich stimme aber Ewald darin zu, daß es sich bei den ocularen Reflexen nur um einen besonders auffälligen Spezialfall des Reflexes auf einen großen Teil der Körpermuskulatur handelt, Delage. Nicht ‘ohne Interesse, aber meines Erachtens doch nich sonderlich glücklieh war der Versuch Delages, die Lage- und Bewegungs- täuschungen, die nach der 'hier vorgetragenen Theorie im wesentlichen auf das Labyrinth als Entstehungsort zurückgeführt werden, aus Täuschungen über den Kontraktionszustand der Augenmuskeln zu erklären. ‘Bei dem überaus engen Zusammenhang zwischen dem Augenmuskelapparat und dem Labyrinth ist es leicht verständlich, wenn die Delagesche Theorie nach Delages Standpunkt. 803 Inhalt und Beweisgang manchen Berührungspunkt mit der Mach-Breuer-. schen Theorie hat. So hat, wie oben erwähnt, Delage ja auch die Lage- und Bewegungsempfindungen speziell in ihrer Abhängigkeit von der Kopfhaltung studiert und ist ebenfalls zu dem Ergebnis gekommen, daß das Organ jener Empfindungen im Kopfe liegen müsse; speziell erkannte Delage, daß ungewöhnliche Kopfhaltung zu typischen Täuschungen auf dem Gebiet der Bewegungs- und Lageempfindungen führt. Das Besondere aber an.der Lehre Delages nun geht von seiner Beob- achtung aus, daß alle Kopfverdrehungen, und nicht nur die mit Verlagerung der Kopfachsen gegen die Vertikale verknüpften, zu jenen Täuschungen führen. Drehung des Kopfes um die horizontal-sagittale Achse führt zu den bekannten Hueckschen Rollungen, Drehung um die horizontal-frontale Achse zu kompensatorischen Blickhebungen bzw. Senkungen; Delage be- hauptet nun, auch Drehungen um die vertikal-longitudinale Kopfachse führe zu unbeabsichtigten Mitbewegungen der Augen in der Orbita. Er hat damit unzweifelhaft recht, nicht aber damit, daß, wie in jenen beiden ersten Fällen, so auch mit der Kopfdrehung um die Vertikalachse Orientierungs- täuschungen eintreten müssen. Für Delage sind die kompensatorischen Augenbewegungen Quelle der Orientierungstäuschungen und zwar auch der- jenigen, die bei geschlossenen Augen oder im Dunkeln eintreten; er läßt die Kopfstellung nach der Augenstellung beurteilen. - Die experimentelle Grundlage dieser Auffassung erscheint nicht hin- länglich gesichert, die entscheidenden Versuche, welche die Unabhängigkeit der Lagetäuschungen von den Verlagerungen des Kopfes gegen die Verti- kale und damit von einem durch Gravitation erregbaren Sinnesorgan dartun sollten, konnten weder von Breüer, noch von v. Cyon!), noch von mir bestätigt werden (s. o.). Diese Abweichung der Anschauung Delages von der hier vertretenen erstreckt sich übrigens, wie schon nach diesen kurzen Bemerkungen er- sichtlich, zunächst nur auf die Empfindungen der Lage, die ja in der Tat noch nicht mit der wünschenswerten Sicherheit evident nachzuweisen sind, - und eine speziellere Analyse zurzeit noch nicht zulassen. Was Delage als positive Anschauung über die Empfindungen der Progressivbewegung mitteilt, läßt sich im wesentlichen in folgendem Satze wiedergeben: „Die Empfindungen der Fortbewegung sind wahrschein- lich allgemein, hervorgebracht durch einen Druck der Flüssigkeiten des Or- ganismus gegen die Gefäße und die Wandungen ihrer Behälter, durch einen Zug der verschiedenen Eingeweide an ihren Anheftungsstellen und an ihren eigenen Teilen, und vielleicht durch eine Wirkung auf die benachbarten nervösen Organe, wie z. B. die Plexus; mit einem Worte, durch eine Art von Ebbe- und Flutbewegung aller Teile unseres Organismus, welche eigene Beweglichkeit haben 2). Y) Arch. f. d. ges. Physiol. 94 (1903). Erwähnt sei hier noch die Beobachtung Delages, daß beim Schaukeln in seiner „Schaukel ohne Drehung“ mit geschlossenen Augen die Schaukelebene eine scheinbare Verschiebung erleiden soll, wenn die (geschlossenen) Augen eine starke Seitenwendung ausführen, nicht aber, wenn der Kopf seitwärts gewendet wird. Diese und manche andere beachtenswerte Angabe Delages verdiente nachgeprüft zu werden. — ?) Delage,l. c., 8. 95. 51* a a - 804 v. Cyons Standpunkt. — Raumsinn. Das sind Vermutungen, deren ernstere Erwägung mangels jeder experi- mentellen Grundlage hier nicht am Platze ist. In der Beurteilung der Funktion der halbzirkelförmigen Kanäle steht Delage im wesentlichen auf dem Standpunkt, wie er in den obigen Aus- führungen vertreten- wurde; er sieht in ihnen Perceptionsorgane für die Drehbewegungen und zugleich „excitomotorische Organe“, die bei Kopf- drehung Reflexe vor allem auf de Augenmuskeln auslösen. v. Cyon. Einer der Autoren, die sich viel mit der Piysiolsßle des Labyrinths beschäftigt haben, ist v. Cyon; das Labyrinth ist für ihn der Sitz des Raumsinnes. Durch die Ebenen der Bogengänge ist für ihn ein physiologisches Koordinatensystem gegeben, auf welchem unsere Raum- vorstellung beruht. Die Täuschungen über unsere Lage im Raume bei schiefen Kopfhaltungen kommen durch die Verlagerung der Bogengangsebenen und eine dadurch bedingte Umwertung jenes Koordinatensystems zustande. Diese Richtungstäuschungen findet v. Cyon durch mannigfache intercurrente Reize sehr beeinflußbar, durch den Lichtreiz, Schallreiz (vor allem Musik bei Musikalischen), auch durch den „Willensreiz*. Von der Richtung der Blicklinien sind die Richtungstäuschungen (Lagetäuschungen) nach v. Cyon nicht in dem Maße abhängig, wie Delage (s. o.) es annimmt, doch aber in der Intensität von ihnen beeinflußbar. Der Mach-Breuerschen Theorie der Bogengangsfunktion und speziell des Erregungsmodus der Ampullarnerven steht v. Cyon durchaus ablehnend gegenüber, da er den normalen Erreger der Bogengänge in den Schallwellen sieht. Hierin liegt eine gewisse Ähnlichkeit mit der Anschauung Preyers (s. o., 8. 790). Die Art, wie v. Cyon sich das Bogengangsystem als Quelle der Raum- vorstellung tätig denkt, ist mir, wie ich offen gestehen muß, nicht verständ- lich geworden, weshalb ich auf näheres Eingehen auf seine Theorie (wenn von einer solchen zu reden ist) verzichten muß. VIII. Anhang. Die Zentralorgane der Bewegungs- und Lage- " empfindungen. Entsprechend der Darstellung in den übrigen Kapiteln der Sinnes- physiologie in diesem Werk soll auch hier keine eingehende Behandlung der Zentralorgane gegeben werden, die beim Zustandekommen der Bewegungs- und Lageempfindungen von Bedeutung sind. Ein wenigstens ganz flüchtiges Eingehen auf sie wird sich indessen aus dem Grunde nicht vermeiden lassen, da es unerläßlich ist, einen Blick auf die Beziehungen des Kleinhirns zu diesem Sinnesgebiet zu werfen. Erwähnt wurde schon oben, daß man vielfach versucht hat, die Er- scheinungen, die man bei Tieren nach operativen Verletzungen am Labyrinth beobachtet, auf unbeabsichtigte und unvermeidliche Schädigungen oder Reizungen des räumlich so nahe benachbarten Kleinhirns zu beziehen. Heutzutage kann man wohl sagen, daß manches von dem, was man für Erfolge der Labyrinthexstirpation oder namentlich der Durchschneidung des Acusticusstammes hielt, auf Nebenverletzungen am Kleinhirn beruhte. Mindestens ebenso bestimmt aber kann man sagen, daß das typische Bild Labyrinth und Kleinhirn. 805 des totalen und des partiellen Ausfalls der Labyrinthfunktion jetzt, vor allem dank der Ewaldschen Untersuchungen, in solcher Reinheit und Schärfe vor uns liegt, daß man mit voller Sicherheit behaupten darf, daß als Erfolg des Eingriffes sich im Kleinhirn nur allenfalls solche degenerative Veränderungen einstellen können , die die notwendige Folge von Verletzungen. der Nerven- fasern sind, die etwa vom Labyrinth zum Kleinhirn gehen. Von einer völligen Klarheit über die Beziehungen zwischen Labyrinth und Kleinhirn sind wir freilich noch weit entfernt. 3 _B. Lange!) hat die Frage von. der anderen Seite angegriffen und ge- fragt, inwieweit die nach Kleinhirnverletzungen gefundenen Störungen (Zwangsbewegungen usw.) auf Verletzungen der zentralen Acustieusendi- gungen zurückzuführen sind. Lange kam zu dem Ergebnis, daß das Klein- hirn nicht als Zentralorgan der Labyrinthfunktion aufgefaßt werden könne. Als besonders wichtig betrachten Lange wie Ewald die Tatsache, daß bei einer beiderseitig labyrinthlosen Taube die Entfernung eines Kleinhirnteils ebenso heftige Störungen bewirkt, als bei einer vorher intakten Taube. Das beweist für die Hauptfrage nicht viel. Zu bemerken ist überdies, daß bei Tauben mit beschädigtem Kleinhirn nach einseitiger Labyrinthexstir- pation sofort, und nicht erst nach längerer Zeit, wie sonst, die Kopfver- drehung auftritt (Stefani?), Lange). Stefani und Weiß?°) haben übrigens nach Labyrinthexstirpation degenerative Veränderungen der Kleinhirnzellen beobachtet, und zwar beider- seitig nach nur einseitiger Operation. Diese Angaben wurden dann von verschiedenen Seiten bestritten (u. a. von Spamer®). Neuerdings hat in- dessen Stefani’) seine Angaben von neuem bekräftigt, indem er.nach den Methoden von Marchi und Nißl den Eintritt der Degenerationserscheinungen genau verfolgte. Er fand wiederum Degeneration im Kleinhirn (und auch in verlängertem Mark), und zwar beiderseitig. Die Purkinjeschen Zellen fanden sich nur in den Fällen ergriffen, in denen als Folge der Labyrinth- operation schon die Kopfverdrehung eingetreten war. Am meisten betroffen ist die weiße Substanz der hinteren Windungen. Die Entartungen im ver- längerten Mark betreffen die vestibulare (mediale) Acusticuswurzel, auch im Tuberculum acusticum, der Substancia reticulata, der Abducenswurzel und in den Fibrae arcuatae zeigen sich Degenerationen. Im Abducenskern zeigten sich nach Stefani die Degenerationen auch in solchen Fällen, in denen die Kopfverdrehung noch fehlte. Beachtenswert ist übrigens auch die Bemerkung von Lui®), daß das Kleinhirn sich bei den verschiedenen Tierklassen immer zu der Zeit fertig entwickelt, wo die Tiere laufen lernen. Nach diesen Erfahrungen wird man der Formulierung Stefanis betreffs der Kleinhirnfunktion zustimmen dürfen, wonach dieses ein Zentralorgan ist, dessen Tätigkeit hauptsächlich durch die Impulse von seiten des Labyrinths angeregt und unterhalten wird und dessen Funk- tion im wesentlichen in der Erhaltung des muskulären Tonus ») Arch. f. d. ges. Physiol. 50 (1891). — ?) Fisiologia dell’ encephalo, Milano 1886 u. Aecad. di Ferrara, 1874 u. 1879. — ®) Aecad. di Ferrara, 1877. — *) Arch. f. d. ges. Physiol. 21 (1880). — °) Arch. ital. biol. 40 (1903). — °) Riforma Medica, No. 20, 1894. 806 Labyrinth und Kleinhirn. besteht, der zur Erzielung stabiler Körperhaltung im normalen Gleichgewicht notwendig ist. Es wird nur hinzuzufügen sein, daß das Kleinhirn außer aus dem Labyrinth auch sehr wichtige Erregungen von an- deren sensiblen Bahnen beziehen muß, nicht zum wenigsten wohl von den sensiblen Muskel- und Gelenknerven, durch Vermittelung der Hinterstränge. Diese Auffassung ist sonst mit der Lucianischen bezüglich der Kleinhirn- funktion wie mit der Ewaldschen von der Funktion des „Tonuslabyrinths“ wohl vereinbar }). Die Kleinhirnrinde als ein Zentralorgan für die Bewegungs- und Lage- empfindungen in gleichem Sinne zu betrachten, wie es die Hinterhaupts- rinde für die Gesichtsempfindungen ist, geht sicherlich nicht an. Die Be- deutung des Labyrinthes ist indessen mit seiner, reflektorisch zu denkenden, Wirkung als tonuserhaltendes Organ nicht erschöpft, sondern es vermittelt ja auch Empfindungen. Ob und wo etwa in der Hirnrinde ein wahres Rindenfeld für diese Funktion liegt, steht zurzeit nicht fest, wenngleich seine Existenz als höchst wahrscheinlich anzunehmen ist. Für die Empfindungen der Lage und Bewegung der Glieder oder, all- gemein gesagt, der einzelnen beweglichen Körperteile liegt das Rindenfeld, wie als sicher angenommen werden kann, in den zugehörigen Foci der Zentralwindungen, der Munkschen Fühlsphäre. Beweisender als die zahl- reichen hierauf deutenden Tierversuche, die ich hier übergehe, sind die Er- fahrungen am Menschen, wie sie F. Krause?) bei Exstirpation von Rinden- feldern wegen Rindenepilepsie gemacht hat. Unter den Wirkungen dieser Operation interessiert hier speziell der Verlust der „stereognostischen“ _ Funktion der Hand, deren Rindenfeld exstirpiert wurde (nachdem es durch faradische Reizung aufgesucht worden war). Die Patienten können, obgleich die Sensibilität und Motilität des Gliedes erhalten ist, die Form eines mit der Hand befühlten Körpers nicht mehr erkennen, wenn die Augen ver- schlossen sind; sie können beispielsweise einen Würfel nicht mehr als solchen erkennen. Auf analogen Störungen, die komplizierter sind als einfache Sensibilitätsabstumpfung, beruht zweifellos auch das abnorme Verhalten der Tiere, bei denen das Rindenfeld einer Extremität entfernt ist. ‘) Näher kann hier auf die Bedeutung des Kleinhirns für den Muskelsinn ‘ nicht eingegangen werden; vgl. den Abschnitt über Kleinhirn (Bd. IV dieses Hand- buchs), sowie aus der Literatur die Arbeiten von Lussana, Fisiologia e patologia del cervelletto, Padova 1885; Luciani, Il cervelletto, Firenze 1891; Stefani, Fisiologia del encephalo, Milano 1886; Lewandowsky, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1903; Sergi, Arch. ital. biol. 1902; Duceschi e Sergi, Archivio di fisiol. 1, (1904). — *) „Hirnchirurgie“‘, Deutsche Klinik, 1904. Verlag von Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig. Handbuch der topographischen Anatomie zum Gebrauch für Aerzte von Dr. Fr. Merkel, Professor der Anatomie in Göttingen. Mit zahlreichen mehrfarbigen Abbildungen. gr. 8. geh. Erster und zweiter Band. Preis pro Band 28 #., geb. 30,75 I. Dritter Band. 1. und 2. Lieferung. Preis 15,50 #M. : A. Ecker’s und R. Wiedersheim’s Anatomie des Frosches. Auf Grund eigener Untersuchungen durchaus neu bearbeitet von Dr. Ernst Gaupp, a. o. Professor und Proseetor am vergleichend anatomischen Institut zu Freiburg im Breisgau. ; Erste Abtheilung. Lehre vom Skelet und vom Muskelsystem. Mit 114 meist mehrfarbigen eingedruckten Abbildungen. Dritte Auflage. gr. 8. geh. Preis 12 MM. Zweite Abtheilung. Lehre vom Nerven- und Gefässsystem. Mit 146 zum Theil mehrfarbigen in den Text eingedruckten Abbildungen. Zweite Auflage. gr. 8. geh. Preis 25 M. Dritte Abtheilung. Lehre von den Eingeweiden, dem Integument und den Sinnesorganen. Mit 240 zum Theil mehrfarbigen in den Text eingedruckten Abbildungen. Zweite Auflage. gr. 8. geh. Preis 33 Mb. Zum Abonnement empfohlen : eiträge zur chemischen 3& Physiologie und Pathologie Zeitschrift für die gesamte Biochemie, unter Mit- wirkung von Fachgenossen .herausgegeben von Franz Hofmeister o. Professor der physiologischen Chemie an der Universität Strassburg. nnnnnnnnNeNn Die „Beiträge zur chemischen Physiologie und Pathologie“ erscheinen seit 1. Juli 1901 in zwanglosen Heften, von denen 12 einen Band von 36 Druckbogen bilden. Preis pro Band 15 Mk. Bestellungen nehmen sämtliche Buchhandlungen des In- und Aus- landes entgegen. Probehefte werden auf Verlangen auch unmittelbar von der unterzeichneten Verlagshandlung geliefert. Die Verlagsbuchhandlung Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig. Verlag von Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig. J. Henle’s Grundriss der Anatomie des Menschen. ERW Pröfessor der Anatomie in Göttingen. Zwei Bände (Text und Atlas) in Lexikonformat. Jeder Band einzeln käuflich. Preis pro Band geh. M. 14.—, geb. in Halbfranz M. 16.—. ; Die vierte Auflage von Merkel-Henles Grundriß der Anatomie ist in wesentlich ver- änderter Gestalt erschienen. Die im Jahre 1895 neu vereinbarte anatomische Nomenklatur wurde durch- weg eingeführt. Der Text wurde vollständig umgearbeitet und mit den neuesten Ergebnissen der Forschung in Einklang gebracht. An den Anfang der Kapitel ist, wo es immer tunlich war, eine allgemein orientierende.und entwicklungsgeschichtliche Übersicht gestellt worden, an den Schluß wurden jedesmal kurze Bemerkungen über die Altersunterschiede aufgenommen, und es wurden solche Varietäten ex namhaft gemacht, welche entweder besonderes Interesse darbieten, oder auf welche man bei den Sezier- übungen gefaßt sein muß. Am Schluß des Ganzen findet man eine ganz kurze Anleitung zum Präparieren, sowie ein Ver- zeichnis der wichtigsten Synonyme. Letzteres soll/den Herren Ärzten, welche das Buch zu Rate ziehen, das sichere Verständnis ungewohnter Bezeichnungen der neuen Nomenklatur vermitteln, und es soll bei der Lektüre älterer medizinischer Werke als Wegweiser in dem Irrgarten alter Namen dienen. Durch ein daran sich anschließendes ausführliches alphabetisches Register wird der Gebrauch des Buches wesentlich erleichtert. Kein anderes der vorhandenen Lehrbücher ähnlichen Umfanges weist N - einen so reichhaltigen Inhalt auf. Merkel-Henle’s Grundriß kommt einem wirklichen Bedürfnis entgegen und dient sowohl dem Studierenden als zuverlässiger Wegweiser bei seinen Studien, wie er auch dem Arzte, welcher sich anatomischen Rat holen will, sichere Auskunft zu geben vermag. > Anatom. Anzeiger XX. Band No. 1: m u Auf dem Raum von nur 647 Druckseiten und unter einem reichlich bescheidenen Titel bringt dieses Werk weit mehr als dick- und vielbändige Handbücher, bringt es einfach — alles! | Wir haben in diesem „Grundriß“ ein Werk, das in der kurzen klaren Behandlung und über- | sichtlichen Anordnung des Stoffes das Muster eines Lehrbuches für Anfänger darstellt, anderer- seits aber als Nachschlagewerk den höchsten Anforderungen entspricht — in letzterer Hinsicht möchte ich es geradezu als einen „Thesaurus anatomiae humanae“ bezeichnen! Elementar genug für ö den Anfänger und gleichzeitig erschöpfend reichhaltig für den eigentlichen Fachmann — diesem Werke [ gegenüber ziehe ich die im übrigen so wohlbegründeten Anklagen zurück, die ich noch vor kurzem gegen die gesamten deutschen Lehr- und Handbücher der menschlichen Anatomie erheben mußte! [Professor W. Pfitzner in Strassburg.) en Centralblatt für Chirurgie, 28. Jahrg. No. 50: Die Neubearbeitung hat ein Lehrbuch geschaffen, das dem Studierenden, wie dem Arzt in | gleicher Weise entgegenkommt und es meisterhaft verstanden hat, den Bedürfnissen beider gerecht zu werden. k - Der Merkel-Henle’sche Grundriß ist ein anatomisches Lehrbuch ersten Ranges. Und wenn nicht alles täuscht, so wird es für lange Zeit eine dominierende Stellung unter den anatomischen Lehrbüchern gewinnen, zum Nutzen derer, die es gebrauchen, und zur Ehre seiner Verfasser. [Professor E. Gaupp in Freiburg i. B.] Der Atlas ist auch in einzelnen Heften käuflich: Heft I: Osteologie M. 2.40, Heft II: Syndesmologie M. 1.20, Heft III: Myologie M. 2.50, Heft IV/V: Integumentum und Splanchnologie M. 4.50, Heft VI/VIL: Sinnesapparate und Neurologie M. 7.—, Heft VIII: Angiologie M. 1.60, u. Heft IX als Anhang: \ Bilder für die topographische Präparation der Nerven und Gefähe M. 1.80. © ge BINDIRG SZCE. JAN. - 3 QP Nagel, Willibald A 31 Handbuch der Physiologie N34 des Menschen Bd.3 cop.2 Biological & Medical PLEASE DO NOT REMOVE CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY it Bert, Ar Das? 44 RIRBSULtIE he KiSuerT Ft = Per BESE lb Kar HEHE Be Eon: ae ee Meat P Fegr er RE u Te Dur 2 Be re Ze ez Fe = re 3: 5 ER 2 ee Y Ale DERAUE ze 5, Dear nr Ss > 1 le! En) Fur rin Ba rn Ierd. N Veu BI Eaet Ka 1 in j nam N han irn KEISDIE, Kl ein PA! Eh, er 670 \ DIET Min